Vdoc - Pub Tugend Und Gemeinwohl Grundzge Hermeneutischen Denkens in Der Postklassischen Koranischen Ethik Am Beispiel Der Maqid Theorie Von A Ib [PDF]

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447109581 — ISBN E-Book: 9783447197250 Diskurse der

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Vdoc - Pub Tugend Und Gemeinwohl Grundzge Hermeneutischen Denkens in Der Postklassischen Koranischen Ethik Am Beispiel Der Maqid Theorie Von A Ib [PDF]

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Zitiervorschau

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Diskurse der Arabistik Herausgegeben von Hartmut Bobzin und Angelika Neuwirth Band 25

2018

Harrassowitz Verlag · Wiesbaden

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Mohammed Nekroumi

Tugend und Gemeinwohl Grundzüge hermeneutischen Denkens in der postklassischen koranischen Ethik am Beispiel der maqāṣid-Theorie von aš-Šāṭibī

2018

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at http://dnb.dnb.de

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter http://www.harrassowitz-verlag.de © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-6807 ISBN 978-3-447-10958-1 e-ISBN PDF 978-3-447-19725-0

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Inhalt Vorwort ...............................................................................................................

IX

1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen ............................ 1.1 Fragestellung ............................................................................................. 1.1.1. Die Verortung der Ethikfrage in der islamischen Theologie................. 1.1.2. Kontroversen der islamischen Ethikdebatte .......................................... 1.1.3. Die vorzügliche Ethik und die Frage der Rezeption des griechischen Erbes .......................................................................... 1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen ........................................................ 1.2.1. Die ethischen Wurzeln der islamischen Rechtstheorie: entstanden aus dem Konflikt der Interpretationen ................................ 1.2.2. Die Ethikfrage im Lichte der maqāṣid-Theorie: šarīʿa, fiqh, aḫlāq...... 1.2.3. Glaubensorientierte Lebensführung im Verhältnis von Anerschaffenheit (fiṭra) und Vernunft (ʿaql) ................................. 1.2.4. Aš-Šāṭibīs Ethik im Verhältnis von Pflicht und Ausrichtung ............... 1.3. Zur Methodenfrage .................................................................................. 1.3.1. Das ethische Prinzip der Fürsorge als Ort zur Begründung der Pflicht. 1.3.2. Die Frage von Hierarchie und Organisation im Verhältnis von maqāṣid und aḥkām .......................................................................

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa .. 2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht .............. 2.1.1. Diskursethische Argumentation im Verhältnis zur rationalen Urteilsfindung ....................................................................................... 2.1.2. Rechtliche Analogie, Absicht und diskursethische Moralbegründung . 2.1.3. Moralnormen im Kontext teleologischer Begründungsansätze ............ 2.2. Moralbegründung der maqāṣid im Lichte der theologischen Hermeneutik ............................................................................................. 2.2.1. Von expliziter Bedeutung zum impliziten Aufforderungsakt – Absicht im Spannungsfeld zwischen Wille und Grund ........................ 2.2.2. Die rhetorischen Wurzeln von aš-Šāṭibīs diskursethischer Moralbegründung ................................................................................. 2.2.3. Zur Verstrickung von Finalität und Kausalität bei der ethischen Urteilsfindung ....................................................................................... 2.2.4. Schlussbetrachtung ...............................................................................

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung ...................................... 3.1. Vorbemerkungen: Maṣlaḥa – ein historischer Überblick ......................... 3.1.1. Maṣlaḥa als Prinzip deduktiven Schließens .......................................... 3.1.2. Maṣlaḥa als Schöpfungsprinzip ............................................................

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VI

Inhalt

3.1.3. Maṣlaḥa als Methode der Rechtsfindung .............................................. 80 3.2. Ethische Ausrichtung im Verhältnis von Pflicht und Verantwortung ..... 83 3.2.1. Rechtschaffenes Handeln aus dem Blickwinkel der Pflichtmoral ......... 83 3.2.2. Maṣlaḥa und Freiheitsbegriff der Rationaltheologie ............................. 86 3.2.3. Ausrichtung auf maṣlaḥa im Horizont des taklīf-Begriffs .................... 90 3.3. Im Spannungsfeld zwischen Rationaltheologie und Rechtstheorie .......... 94 3.3.1. Maṣlaḥa muʿtabara: Glaubensorientierte Urteilsfindung im Verhältnis zur rationalen Güterlehre ................................................ 94 3.3.2. Maṣlaḥa im Kontext abwägender Vernunft gemäß situationsabhängiger Urteilsfindung .......................................... 101 3.3.3. Zuordnung von maṣlaḥa-Kategorien zur Güterabwägung .................... 107 4. Ethische Ausrichtung als identitätsstiftend .................................................. 4.1. Verantwortungsethik als Grundlage religiöser Identitätsbestimmung ..... 4.2. Zur Verhältnisbestimmung grundlegender Zielsetzungen der šarīʿa ....... 4.3. Vom Schutz der Seele zur sozialen Verantwortung des Selbst ................ 4.4. Schlussbetrachtungen ...............................................................................

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid ....... 5.1. Leitendes Erkenntnisinteresse .................................................................. 5.1.1. Zusammenwirken von maqāṣid und aḥkām .......................................... 5.1.2. Selbstständige Urteilsfindung zwischen Verstandesreflexion und geistiger Sinnsuche ........................................................................ 5.1.3. Menschliche Willensfreiheit im Verhältnis zur göttlichen Pflicht ........ 5.2. Aš-Šāṭibīs theologische Moralnormativität (aḥkām šarʿiyya) im Horizont göttlicher Gemeinwohlideale ............................................... 5.2.1. Die konstitutiven Elemente moralischer Normativität .......................... 5.2.2. Pflichtnormen: Aḥkām taklīfiyya – Kategorien moralischen Verhaltens . 5.2.3. Intermediäre Verhaltensnormen: Empfehlenswertes und Verwerfliches als Abstufungsmerkmale des moralischen Urteils................................... 5.3. Verortung des Erlaubten innerhalb der Verpflichtungsnormen ............... 5.3.1. Das Erlaubte als Grundstein moralischer Erfindung ............................. 5.3.2. Das Erlaubte als Vorbeugung vor sündhaftem Verhalten ..................... 5.3.3. Normativität unter dem Aspekt des sozialen Handlungsumfelds .......... 5.3.3.1. Die jussive Form der Moralpflicht: Deontologie im Horizont von Sprechhandlungen .............................................................................. 5.3.3.2. Ḥukm als Sachmoment im sittlichen Urteil: Pflichtmoral im Horizont sittlicher Urteilsfindung (šarīʿa ʿarabiyya)..........................................

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6. al-Aḥkām al-waḍʿiyya als konstitutive Regeln des sittlichen Handelns ...... 6.1. Ethikrelevante handlungsinterne Regeln der Glaubenspraxis .................. 6.2. Das Verhältnis von Anlass und Ergebnis bei der ethischen Urteilsbildung (asbāb vs. musabbabāt) ............................................................................ 6.3. Hermeneutik der Handlung im Horizont teleologisch-ethischer Urteilsfindung: von Ursache und Wirkung ..............................................

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Inhalt

VII

6.4. Perspektiven und Ausblick: aḥkām und der moderne Begriff der Gerechtigkeit ............................................................................................ 186 7. Schlusswort und Ausblick .............................................................................. 193 Anhang ................................................................................................................ Literaturverzeichnis ........................................................................................ Personenverzeichnis ........................................................................................ Glossar ............................................................................................................ Arabische Kontextbelege ................................................................................

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Vorwort Diese Arbeit erwuchs dem aus der aktuellen Umbruchphase der Islamischen Theologie entspringenden dringenden Desiderat, die erkenntnistheoretischen Grundlagen der islamischen Ethik- und Moraltheorie epistemologisch zu erforschen und ihre methodischen Wurzeln theologisch und ethisch zu ergründen. Die Auswahl des spätmittelalterlichen Rechtstheorie-Werks al-Muwāfaqāt von Abū Isḥāq Ibrāhīm ibn Mūsā aš-Šāṭibī1 (gest. 790/1388) als Ausgangspunkt dieser Fragestellung verortet die hier durchgeführte Diskussion methodisch und theoretisch im genealogischen Prozess der Relektüre und Rekonstruktion der islamischen Tradition in der Moderne. Dies zieht eine tiefgreifende Reflexion über die moderne Auffassung bzw. Rezeption theologischer Grundbegriffe aus dem islamischen Erbe unmittelbar nach sich. Dabei werfen die hier diskutierten Themen eine Vielzahl kontroverser Fragen auf, die Gegenstand zahlreicher Studien und außerordentlich komplexer Debatten waren. Was diese Arbeit bei der Erörterung von ethischen und moralischen Grundfragen wie Freiheit, Verantwortung, Tugend und Gemeinwohl aber zunächst interessiert, ist nicht die formale Aufstellung der islamischen Normativität hinsichtlich ihrer praktischen Anwendung, die zweifellos einen besonderen Stellenwert in der lebhaften aktuellen Diskussion um das Verhältnis zwischen theologisch-ethischen und zivilrechtlichen bzw. institutionellen Verhaltensnormen des modernen Staates einnimmt. Im Folgenden geht es vielmehr um eine epistemologische Auseinandersetzung mit den den praktischen Moralnormen zugrunde liegenden tiefgreifenden wissenschaftstheoretischen Ideen sowie mit den Denkvoraussetzungen ihrer ideengeschichtlichen Entwicklung und mit ihrer Verortung in moderne Denkprozesse. Dies sind Themenbereiche, die traditionell, wenn auch nur ansatzweise, Disziplinen wie dem ʿilm uṣūl al-fiqh (Rechtstheorie) und dem ʿilm al-aḫlāq (Ethik) untergeordnet waren. Motiviert ist dieser methodische Vorgang durch den Kerngedanken, dass die eigentlichen Herausforderungen für die heutige islamische Ethik primär das gestörte Verhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs der Gelehrsamkeit und dem volksislamischen Diskurs betreffen. Denn auf der einen Seite konnte sich der wis1 Abū Isḥāq Ibrāhīm ibn Mūsā aš-Šāṭibī, geboren in Granada und nicht in Xàtiva, wie sein Name eigentlich zu verstehen gibt, ist einer der bedeutendsten spätklassischen Vertreter der westislamischen Mālikiyya, für die Granada die damalige Hauptstadt war. Der Autorität Mālik ibn Anas (gest. 179/796) folgend, verdankt aš-Šāṭibī seinen bedeutenden Rang auch seinem Werk al-Muwāfaqāt über das zielgerichtete Verständnis des Gesetzes und dessen Auswirkungen auf die Rechtsableitung. (Vgl. Muḥammad aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀšūr: Maqāṣid ašŠarīʿa al-islāmiyya, neue Auflage, Kairo 2005, S. 38.)

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X

Vorwort

senschaftliche Diskurs der Gelehrsamkeit seit dem Beginn der postklassischen Phase (um das 7./13. Jh.) über die Kolonialphase hinweg bis zum Scheitern des Anschlusses an die Moderne in der islamischen Glaubensgemeinschaft kaum Gehör verschaffen. Demgegenüber steht auf der anderen Seite ein volksislamischer Diskurs, dessen Auswüchse von einem passiven, resignierten, mit Aberglaube behafteten Bruderschaftsdenken bis hin zu einem organisierten, politisch orientierten, militanten Gedankengut reichen. Ein Versuch zur Ausarbeitung einer angewandten Moralnormativität im Islam wäre heute insofern nicht nur verfrüht, sondern er wäre einerseits theoretisch und methodisch kaum durchführbar, und andererseits würde er sozialwissenschaftlich und theologisch kaum über die Stufe einer Symptombehandlung hinausgehen. Belegt wird dies nicht zuletzt durch das Scheitern zahlreicher Reformvorhaben des praktischen islamischen Rechts, welche seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in den islamischen Ländern in Gang gesetzt wurden und sich auf oberflächliche und mitunter formale Änderungsvorschläge beschränkten. Begründet ist der hier angelegte theoretische Rahmen der Relektüre islamischtheologischer Tradition dadurch, dass jegliche moderne Auseinandersetzung mit dem praktischen islamischen Moral- und Normensystem nur dann Anspruch auf Kohärenz, Plausibilität und Allgemeingültigkeit erheben kann, wenn die ihr zugrundeliegenden theoretischen Prinzipien und Grundsätze ideengeschichtlich herausgearbeitet und im Lichte moderner Denkansätze epistemologisch neugelesen bzw. neudefiniert werden. Die Notwendigkeit einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem theologischen Erbe des Islams ist nicht zuletzt darin erkennbar, dass alle theologischen Fachdisziplinen von der Hadith-Wissenschaft über die Koranexegese bis hin zur Rechtswissenschaft sich Methoden und Ansätzen bedient haben, die dem weltlichen bzw. menschlichen Wissen entsprungen sind. Der heutige Versuch einiger der Islamischen Theologie zugerechneter pseudowissenschaftlicher Ansätze, jeglichen epistemologischen Einfluss des antiken Denkens auf die islamische Tradition auszublenden oder gar abzustreiten, führte zu einer verheerenden Ambiguität zwischen dem Heiligen und dem Profanen im kollektiven Bewusstsein der Gläubigen. Außerdem trug er dazu bei, die selbstständige Urteilsfindung und die Rolle der menschlichen Vernunft beim Verstehen des Gottesworts einzuschränken. Dass die der Koran- und Hadith-Exegese inhärenten sprachtheoretischen und analytischen Begriffe zum einen hellenistische Hintergründe haben und zum anderen das Produkt einer ingeniösen, diachronischen und diskursorientierten rationalen Reflexion waren, wird in der islamischen Gelehrsamkeit kaum bestritten. Ebenso wenig waren die in der griechischen Philosophie verankerten erkenntnistheoretischen Wurzeln der grundlegenden Begriffe der Rechtstheorie wie etwa manṭiq (Logik), qiyās (Syllogismus) und ʿilliyya (Kausalität) im islamischen theologischen Diskurs umstritten, deren Entwicklung durch die islamische Philosophie das europäische Denken von der Aufklärungsepoche bis heute maßgeblich geprägt hat. Zentrale analytische Begriffe der Moderne wie Argumentation, Abwägung, rationale

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Vorwort

XI

Begründung und Deliberation lassen sich bis in die Blütezeit der islamischen Theologie im 3./9. Jahrhundert zurückverfolgen, was die Arbeit der Relektüre heute in einer ideengeschichtlichen Herangehensweise verorten lässt. Das der vorliegenden Arbeit als Grundlage dienende hermeneutische Potenzial der Rechtstheorie speist sich auch aus ihrer Nähe zur Tugendlehre, die im Laufe ihrer Entwicklung zu einer theologischen Ethik über ein vollendetes Konzept der Handlungstheorie verfügte. Leider hatte die von der Tugendlehre entwickelte Ethik kaum Einfluss auf den Prozess der Normableitung in der Rechtstheorie. Ausgenommen sind lediglich Rechtstheorien, die dem Ansatz der maqāṣid zuzurechnen sind. Die Besonderheit der auf die Intention bzw. Zielsetzung des Gotteswortes ausgerichteten Rechtstheorie offenbart sich in ihrer von ethischen Maximen ausgehenden Normableitung. Der Schlussstein ethischer Ausrichtung der Offenbarung ist nach aš-Šāṭibī die Glückseligkeit der Gläubigen im Dies- und im Jenseits. Diesem Verständnis nach geschieht die moralische Urteilsfindung im Koran nicht durch eine unmittelbare Unterteilung koranischer Aussagen gemäß der fünf bekannten Rechtsnormen, nämlich Verbot, Gebot, Verwerfung, Empfehlung und Erlaubnis. Vielmehr geht es bei einer Normableitung um eine rationale Reflexion über das Verhältnis zwischen Moral- und Rechtsnorm sowie ethischer Maxime, die aus den Offenbarungsquellen abgeleitet wird. Aš-Šāṭibīs Grundthese zur Begründung moralisch-theologischer Pflichten lautet: Die Moral- und Rechtsnormen sind im Lichte der von Vernunft und Glaube festgelegten ethischen Ausrichtung aus den Offenbarungsquellen abzuleiten. Ihre Fragestellung ist rituelles bzw. weltliches Handeln unter dem Aspekt von sittlich und theologisch Schädlichem oder Nützlichem. Das Wissen um ein moralisches Urteil zielt nach aš-Šāṭibīs intentionalem Ansatz nicht auf die Festlegung seiner Umsetzungsart ab, sondern auf die vernunftorientierte Plausibilisierung des ihm zugrunde liegenden Werts und seine Übertragung in die entsprechende Pflichtform. Wie die Disziplinen Koranexegese (tafsīr) und Koranwissenschaften befasste sich ab dem 3./9. Jahrhundert auch die islamische Rechtstheorie mit der Koranhermeneutik. Sie entwickelte dabei eine eigenständige Auslegungsmethodik, in deren Mittelpunkt die Ableitung von Rechts- und Moralnormen aus der Offenbarung stand, und die bis heute als vielversprechend für die praktische Orientierung der Exegese gilt. Die Bedeutungsanalyse der tafsīr-Wissenschaft deutete hingegen ab dem Beginn des 4./10. Jahrhunderts auf die Etablierung des theologischen Sinns in den koranischen Denkinhalten hin und vernachlässigte somit das hermeneutische Potenzial einer am Sprachwandelprozess orientierten, diachronischen und glaubensorientierten semantischen Ableitung theologischer Fachbegriffe. Im Lichte der Frage nach der verbindlichen Ableitung von Rechts- und Verhaltensnormen aus dem Koran entwickelten sich bereits in der frühislamischen Exegese die Grundzüge hermeneutischen Denkens über komplexe Offenbarungsinhalte. So gelten die Auslegungen von ʿAbdallāh ibn ʿAbbās (gest. 68/687), ʿAlī ibn Abī Ṭālib (gest. 40/661), Ubayy ibn Kaʿb (gest. 30/651) und ʿAbdallāh ibn Masʿūd (gest.

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XII

Vorwort

32/652), auf die die gesamte exegetische Tradition zurückgeht, für eine Vielzahl präskriptiver Koranverse als richtungsweisend. Die exegetischen Überlegungen von ʿAbdallāh ibn ʿAbbās galten primär dem Abweichungsprozess, der in Folge des semantischen Wandels einzelner Wörter von den bei den Arabern damals anerkannten sprachkonventionellen Bedeutungen zu glaubensorientierten theologischen Fachtermini zu einer neuen Wahrnehmung faktischer Lebensrealität führte. So wurden Ideen des Glaubens, die den Menschen damals kaum zugänglich waren, stufenweise ins Bewusstsein der Gemeinschaft eingeführt. Dieser semantische Abweichungsprozess verlief in den Anfängen der glaubensstiftenden Offenbarungen lexikalisch am Beispiel neuer religiös belegter Verwendungsweisen einzelner Begriffe wie etwa zakāt (Almosenabgabe), ṣālāt (Gebet) und ḥaǧǧ (Pilgerfahrt). Die mit dem neuen Glauben einhergehende Umwandlung des empirischen Selbst erlangte ihren Höhepunkt bei dem Aufruf zum Umdenken, das beispielhaft in der theologischen Bedeutung des Wortes zakāt ihren Ausdruck findet. Dieses Wort, das vor der Offenbarung vor allem „Vermehren“ bedeutete, nahm im Koran nun die Bedeutung „großzügige Abgabe an Bedürftige“ an. Im Koran sind sowohl die konventionelle Bedeutung (Q 9:103) als auch der theologische Inhalt des Wortes zakāt (Q 2:110) belegt. Der Verhältnisbestimmung beider Bedeutungsebenen galt das Interesse der früheren Koranexegese. „Nimm von ihrem Besitz ein Almosen, mit dem du sie rein machst und läuterst, und bete für sie, denn dein Gebet ist für sie eine Beruhigung! Allah ist Allhörend und Allwissend.“ (Q 9:103)2 In diesem Vers wird ṣalāt im Sinne von Bittgebet und zakāt im Sinne von Reinheit (auch ein Begriff der Emphase) verwendet. Die theologischen Bedeutungen finden sich in Pflichtversen wie z.B.: „Und verrichtet das Gebet und entrichtet die Abgabe. Und was ihr für euch selbst an Gutem vorausschickt, werdet ihr bei Allah finden. Was ihr tut, sieht Allah wohl.“ (Q 2:110) Das hermeneutische Potenzial der frühen Koranexegese zeigt sich in einer Frage, die das Wesen und den ethischen Sinn der Offenbarung offenkundig zu machen verhilft, nämlich: Wie kann man etwas vermehren, indem man es ausgibt? Die von der Hermeneutik gelieferte Antwort auf diese Frage herrührend aus dem Sufismus, dass nur die Liebe durch Ausgabe vermehrt werden könne, zieht zwei grundlegende Hypothesen zum Koran nach sich: erstens, dass die koranische Sprache eine Sprache der (Nächsten-)Liebe und Fürsorge sei, die eine bedingungslose Überwindung des Selbst erfordere; zweitens, dass sich ein angemessenes und theo2 Q = Qurʾān. Die Koranzitate stammen, wenn nicht anders angegeben, aus: Abdullah Frank Bubenheim/Nadeem Ata Elyas: Der edle Qur’ān und die Übersetzung seiner Bedeutungen in die deutsche Sprache, Medina 2004.

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Vorwort

XIII

logisch relevantes Verständnis des Korans nicht mit der Umschreibung seiner Sprache der Liebe in eine Sprache des Gesetzes vereinbaren lasse. 3 Diese Idee lässt sich mit Hilfe einer Vielzahl früherer Deutungen von ʿAbdallāh ibn ʿAbbās bestätigen. So wird das Wort ẓulm in Q 31:13 als Ungerechtigkeit gegenüber sich selbst gedeutet und auf diese Weise dem Unglauben gleichgestellt. Indem die Gefühlsneigung (hawā) über den gläubigen Willen gestellt wird, entsteht eine Beigesellung Gottes (širk), die als Ungerechtigkeit gegenüber sich selbst von ʿAbdallāh ibn ʿAbbās bezeichnet wird. Auch hierbei ergibt sich ein hermeneutischer Zugang, der eine Reflexion über das Verhältnis zwischen Selbstliebe und Selbstschätzung in der Offenbarung hervorruft. Diese vielversprechende Verhältnisbestimmung zwischen der Offenbarung und der aus ihrem besonderen Sprachgebrauch ausgehenden ethischen Botschaft trat im Prozess der Kanonisierung der Exegese schon ab dem 3./9. Jahrhundert wieder in den Hintergrund. Aufgrund der Wandelbarkeit der Denkvoraussetzungen in der Exegese, deren Methodik sich historisch an den sich ständig verändernden Vollzugszusammenhängen im Leben der Gläubigen orientierte, ist es unabdingbar, dass die moderne normative Koranhermeneutik heute die Tradition in ihrer theologischen und methodischen Bandbreite rezipiert, und zwar von den Anfängen der Überlieferungsexegese (tafsīr bi-l-maʾṯūr) mit ihren Hauptvertretern ʿAbdallāh ibn ʿAbbās und Muǧāhid ibn Ǧabr (gest. 104/722) über die Etablierungsphase bei Abū Ǧarīr aṭ-Ṭabarī (gest. 310/923) bis hin zur Blütezeit der rational-theologischen Koranauslegung bei azZamaḫšarī (gest. 538/1143) und ar-Rāzī (gest. 606/1210). Zugleich sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die aufgrund der veränderten Lebensrealität und dem damit einhergehenden Einfluss der Politik auf die Theologie ab dem 3./9. Jahrhundert eingetretene Pluridisziplinarität, allem Positiven zum Trotz, zu einer Verschlossenheit in den theologischen Wissenschaften geführt hat, allen voran in der traditionellen Koranexegese. Die Einzelbereiche der Koranwissenschaften wie Offenbarungsanlässe, Abrogation, Vieldeutigkeit, mekkanische und medinensische Suren etc. haben dem Verständnisprozess in der Geschichte zwar den methodischen Unterbau geliefert, doch eine tiefgreifende gegenseitige theoretische Befruchtung zwischen Koranwissenschaft und Koranexegese ist ausgeblieben. Während sich die klassische Exegese zunehmend auf die Überlieferung tradierter Untersuchungsmethoden konzentrierte, entwickelte die Rechtstheorie einen herausragenden hermeneutischen Ansatz, dessen Relevanz für den Lebensvollzug der Gläubigen immer mehr an Bedeutung gewann. So hat unter anderem al-Ġazālī (gest. 505/1111) in seinem Werk al-Mustaṣfā die analytischen Begriffe herausgearbeitet, die den präskriptiven Charakter einzelner Koranverse argumentativ und handlungstheoretisch plausibel nahelegen. 3 Vgl. ausführlicher Mohammed Nekroumi/Arnulf von Scheliha: „Klug sein angesichts der Unergründlichkeit des Lebens“. In: Silke Lechner/Heide Stauff/ Mario Zeißig (Hg.): Deutscher Evangelischer Kirchentag, München 2016, S. 101-110.

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XIV

Vorwort

Der hermeneutische Ausgangspunkt der rechtstheoretischen Exegese war die rhetorische Unterscheidung zwischen beschreibenden und vorschreibenden Aussagen, was eine grundlegende Reflexion über den Unterschied zwischen Bedeutung des Wortlauts und Aufforderungswert der Sprechhandlung nach sich zog. Des Weiteren kam es im Rahmen der Analyse zu einer kreativen Systematisierung der Satztypologie, welche die Ableitung der Norm von der Aussage argumentativ und handlungstheoretisch begründete. Der andalusische Gelehrte aš-Šāṭibī, der im 8./14. Jahrhundert die Blütezeit des islamischen Rechtsdenkens maßgeblich prägte, eröffnete durch sein Verständnis der maqāṣid (Intentionen) neue Zugänge zu den Grundfragen der Rechtstheorie, wie etwa zur Differenzierung des Allgemeinen vom Spezifischen, des Kontextgebundenen vom Kontextunabhängigen, des Eindeutigen vom Vieldeutigen sowie des Expliziten vom Vorausgesetzten, und trug somit zur Herausbildung einer situationsrelevanten Urteilsfindung bei, in deren Mittelpunkt die Frage der Handlungszurechnung steht. Die heute innerhalb wie außerhalb islamischer Fachkreise geführte heftige Debatte um das wahre Wesen moralischer Lebensführung in der normativen Gestalt der šarīʿa geht hingegen häufig am theologischen Kern dieser Frage vorbei und wird mutatis mutandis auf die juristische, politische und populärwissenschaftliche Ebene übertragen, sodass eine fachspezifische theologische Auseinandersetzung von vornherein ausgeschlossen ist. Während sich der islamische Mainstream allen Vorhaben der Relektüre und Rekonstruktion der Tradition meist verschließt und ausgediente, kontextgebundene scholastische Ideen und Textauslegungen in vereinfachter Form weiter vermittelt, herrscht im globalen bzw. europäischen Diskurs über den Islam eine amateurhafte Neigung zu Apologie, Projektion und Generalisierung. Angesichts des heutigen, oft mit Bildungsfremdheit einhergehenden Strukturwandels in den islamischen Gesellschaften meinen die etablierten religiösen Institutionen, dass sich das Rekonstruktionsvorhaben nicht als allgemein kommunikabel erweist. Hinzu kommt die Abweichung der Fragestellung durch fachfremde Denkströmungen insgesamt, denen zufolge kein öffentlicher Bedarf an einer Relektüre besteht, was zu einer Marginalisierung des fachspezifischen theologischen Diskurses führt, die letzten Endes auf Verflachung und Reduktion des theologischen Erbes hinausläuft. Im heutigen Tumult der vielen ineinander verstrickten Diskurse über den Islam besteht die Herausforderung eines zeitgenössischen theologischen Ansatzes primär darin, einen Beitrag zur notwendigen und bisher ausgebliebenen Selbstsortierung der islamischen Theologie zu leisten. Es wäre zu kurz gegriffen, angesichts der aktuellen komplexen Situation der Muslime in der Welt die Aufgabe der Theologie allein daran zu messen, inwiefern sie diesem oder jenem abweichenden oder auch fachfremden Gedankengut unmittelbar entgegenwirkt, so als bestünde ihre Aufgabe in erster Linie aus Reaktion. Vielmehr wäre die neue Aufgabenstellung darin zu suchen, zu eruieren, wie der seit Jahrhunderten starre akademisch-theologische Dis-

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Vorwort

XV

kurs aufholen und den Anschluss an die moderne wissenschaftliche Debatte finden kann. Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, sich einer solchen Aufgabe kritisch und interdisziplinär zu stellen. Deshalb versucht sie, die Denkvoraussetzungen und die damit einhergehenden konnotativen Argumentationsvorgänge erkenntnistheoretisch zu untersuchen und ihre Kohärenzprinzipien hermeneutisch zu hinterfragen, um so Wege und Perspektiven für neue, zeitgemäße hermeneutische Ansätze auszuloten. Diese Arbeit besteht nebem dem Vor-und Schlusswort aus sechs Kapiteln. Das erste skizziert kurz die Fragestellung der Arbeit und befasst sich darüber hinaus mit den konzeptionellen Grundsätzen von aš-Šāṭibīs Rechtstheorie. Zum einen geht es um die historische und wissenschaftstheoretische Verortung der maqāṣid-Theorie innerhalb benachbarter Fachdisziplinen, zum anderen um ihren normativen Charakter und ihre Stellung gegenüber den klassischen rechtstheoretischen Ansätzen. Dabei wird im Zuge einer Diskussion fachspezifischer Grundbegriffe wie šarīʿa (göttliche Rechtsordnung), fiqh (positives Recht), ʿaql (Vernunft) und fiṭra (Anerschaffenheit) der hermeneutische Charakter dieser ethisch ausgerichteten Rechtstheorie aufgezeigt. Sowohl hinsichtlich der Rechtstheorie als auch mit Blick auf die Tugendlehre muss ausgewiesen werden, inwiefern die maqāṣid-Theorie als eine eigenständige Disziplin betrachtet werden kann, in der der theoretische Rahmen hervorgebracht wird, um Elemente der Rechtstheorie und Grundsätze der Tugendlehre in einer umfassenden Ethiktheorie zu vereinen. Dieses erste Kapitel will Argumente für die Abhängigkeit zwischen dem deontologischen Gesichtspunkt der šarīʿa und dem teleologischen Charakter der Offenbarung liefern. Die von aš-Šāṭibī der Offenbarung zugeschriebenen drei Arten der Zielsetzung ethischer Urteilsfindung weisen den Weg zu einer ausgewogenen Verhältnisbestimmung zwischen Moralpflicht und ethischer Ausrichtung als Ort des Tugendhaften. Diese Zielsetzungen, genannt maqāṣid, sind durch ihren teleologischen Charakter gekennzeichnet. Während die sogenannten ḍarūriyyāt (notwendige Maximen, die auf den Schutz des Glaubens, des Lebens, der Fortpflanzung bzw. der Familie, von Eigentum sowie der intellektuellen Fähigkeit abzielen) auf die Regelung des moralischen Verhaltens ausgerichtet sind, sind die ḥāǧiyyāt bedürfnisbezogene und die taḥsīniyyāt an der Wohlfahrt orientierte Maxime und im Bereich der Tugenden anzusiedeln. Die ḥāǧiyyāt implizieren nach aš-Šāṭibī diejenigen normativen Aspekte, die fakultativ sind, um die Härten der Pflichten zu mildern, sodass dem Gottesgebot ohne Kummer oder Ungemach gefolgt werden kann. Aš-Šāṭibī stellt sie hierarchisch unter die ḍarūriyyātMaximen und nennt hierfür die Einzelheiten des Handelsrechts als Beispiel. Die taḥsīniyyāt-Maximen, die dem Wohlbefinden der Gläubigen dienen sollen, werden wiederum den ḥāǧiyyāt-Maximen untergeordnet. Im zweiten Kapitel wird, ausgehend von den vorangegangenen Ausführungen, das Verhältnis zwischen Vernunft und Glaube beim Verständnis der Offenbarung eingehend diskutiert. Diese Auseinandersetzung betrifft vor allem die Frage rationaler Begründung der Moral- und Rechtsnormen der šarīʿa, was eine umfassende hermeneutische Reflexion über die Schlüsselbegriffe von aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theo-

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Vorwort

rie hervorrief, die seiner Begründbarkeitstheorie zugrunde liegen, wie etwa causa (ʿilla), Absicht (niyya), Motiv (ġaraḍ) und Anlass (sabab). Im Lichte der modernen Auffassung von Handlung und Ereignis wird aš-Šāṭibīs Argumentation aus der Perspektive des Begründungsdenkens philosophischer Ethik betrachtet. Schwerpunkt dieses zweiten Kapitels ist das Verhältnis zwischen Begründen und Verstehen bei der Ableitung der Moralnormen aus dem Gotteswort. Hieran anknüpfend widmet sich das dritte Kapitel der wirksamen Aufgabe des islamischen Ethos in der Gestaltung des Gemeinwesens. Verdeutlicht wird dies durch die Ausarbeitung des teleologischen Charakters der Offenbarung als eine Botschaft, deren ethische Ausrichtung dem deontologischen Gesichtspunkt Sinn und Orientierung verleiht. Der teleologische Charakter führt zunächst in das Verhältnis zwischen den ethischen Maximen und dem Gemeinwohl (maṣlaḥa) als Schlussstein der ethischen Ausrichtung ein. Dabei liegt im ersten Abschnitt der Akzent auf den Diskussionszusammenhängen hinsichtlich der Entstehung des Werturteils, sowohl in der islamischen Theologie als auch in der philosophischen Ethik. Neben einer Betrachtung hermeneutischer Fragen zum Verhältnis von theologischen und rationalen Auffassungen zu Tugend und Gemeinwohl wird versucht zu erschließen, was es mit den Begriffen Sünde, Vergebung, Begierde und Willen im Prozess der Verstrickung in der Handlungsrealität auf sich hat. Mit der Konzipierung einer an der modernen Ethik orientierten Verhältnisbestimmung zwischen den von aš-Šāṭibī ausgearbeiteten verschiedenen ethischen Maximen untereinander erfolgt im vierten Kapitel ein Erweiterungsentwurf der hermeneutischen Tragweite jeder ethischen Kategorie im Hinblick auf ihr Verhältnis zu den anderen. Hierbei wird ausgehend von der Maxime des „Schutzes des Selbst“ der Begriff der ethischen Selbstheit eingeführt und in seiner Relation zu den Maximen „Schutz des Glaubens“, „Schutz des Geistes“, „Schutz der Familie“ und „Schutz des Besitzes“ theologisch-hermeneutisch definiert. Das fünfte Kapitel widmet sich den Eigenschaften der theologischen Moral- und Rechtsnormen, genannt al-aḥkām aš-šarʿiyya. Gegenstand des ersten Abschnitts ist aš-Šāṭibīs Konzeption der Pflichtnormen (al-aḥkām at-taklīfiyya) und ihr Verhältnis zur ethischen Ausrichtung. Im sechsten Kapitel werden die sogenannten konventionellen Normen untersucht. Dabei wird zunächst das wahre Wesen dieser Normen als konstitutive Regeln diskutiert. Dieser innovative Begriff offenbart den tiefgreifenden Charakter von ašŠāṭibīs Moraltheorie, insofern die konstitutiven Regeln dem Urteil den ihm fehlenden Umfeldsrahmen hinzufügen. Pflichtakte werden somit aus zwei Perspektiven gedacht: einerseits aus dem sprechhandlungstheoretischen Gesichtspunkt und andererseits aus dem situativen und kontextualen Zusammenhang der Sprechakte. In diesem Abschnitt liegt der Akzent allerdings auf der Frage der Zurechnung im Lichte des kausalen Handlungsumfelds. So werden die Begriffe sabab (Anlass) und musabbab (Wirkung/Ergebnis) hinsichtlich ihres hermeneutischen Potenzials untersucht und anhand von aš-Šāṭibīs Ausführungen diskutiert.

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Vorwort

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Am Schluss dieses Teils wird schließlich auf die Verhältnisbestimmung zwischen dem theologischen Begriff der Moral- bzw. Pflichtnorm und der zivilrechtlichen Idee der Gerechtigkeit eingegangen. Diskutiert wird dabei die im dritten Kapitel aufgeworfene Frage des Verhältnisses von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit im Hinblick auf die juristische Definition der Gerechtigkeit als Ausblick für eine künftige Untersuchung zur Relation von göttlichem und menschlichem Recht. Die wesentlichen konzeptionellen Phasen der gesamten Abhandlung sind vom Allgemeinen zum Spezifischen gedacht und bauen thematisch und formal aufeinander auf. Von der Frage der rationalen Begründbarkeit der šarīʿa im zweiten Kapitel, über das Thema der ethischen Ausrichtung im dritten und vierten Kapitel, bis zum Problem der Moralnormativität im fünften und sechsten Kapitel wird das Verhältnis zwischen maqāṣid und aḥkām als zentraler Gegenstand der Diskussion hervorgehoben. In allen sechs Kapiteln der Arbeit wird das Gespräch mit der philosophischen Ethik und der modernen Sprachtheorie gesucht. Dieser Methode liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Rekonstruktion des islamisch-theologischen Erbes nur in einer beständigen interdisziplinären Auseinandersetzung mit den geistigen Errungenschaften der Moderne gelingen kann. Ein Wort noch zum Verhältnis zwischen Haupt- und Untertitel dieses Buches, die formal auf verschiedene Sachverhalte verweisen, sich aber inhaltlich ergänzen: Während der Haupttitel „Tugend und Gemeinwohl“ auf Schlüsselbegriffe der im Buch geführten Diskussion verweist und den theologischen Charakter der Arbeit hervorhebt, verdeutlicht der Untertitel „Grundzüge hermeneutischen Denkens in der postklassischen koranischen Ethik am Beispiel der maqāṣid-Theorie von aš-Šāṭibī“ ihre erkenntnistheoretische und ideengeschichtliche Zielsetzung als Projekt von Relektüre und Rekonstruktion. Die Übersetzung arabischer Fachbegriffen in die deutsche Sprache ist nicht immer eins zu eins möglich, sondern hängt immer vom jeweiligen Kontext ab. Deshalb kann es zu verschiedenen Übersetzungen ein und desselben arabischen Fachbegriffs kommen. Ich möchte all jenen, die mich während der Entstehungsphase dieser Monographie moralisch wie fachlich begleitet und unterstützt haben meinen Dank und meine Verbundenheit ausdrücken, vor allem Herrn Prof. Stefan Schreiner, Herrn Prof. Erdal Toprak Yaran und Herrn Prof. Arnulf von Scheliha, Herrn Prof. Tarek Badawia und Herrn Prof. Lutz Edzard. Herrn Prof. Hartmut Bobzin gilt ebenso mein besonderer Dank für seine Bereitschaft, die Monographie im Rahmen der von Ihm und Frau Prof. Angelika Neuwirth herausgegebenen Buchreihe „Diskurse der Arabistik“ aufzunehmen. Ganz herzlich danke ich meinen früheren Mitarbeiterinnen Frau Farina Stockamp und Frau Dr. Sarah Wagner für die Korrektur der Textquellenübersetzung sowie für die alle ersten Formatierungen. Meine besondere Verbundenheit gilt all meinen Kollegen, die mich stets mit wertvollen Bemerkungen und Denkanstößen im Prozess der Redaktion begleitet haben, und die mich in der Endphase der Redaktion

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Vorwort

an der einen oder anderen Stelle zum Nachdenken brachten, wenn auch nicht all ihre Anregungen Eingang in das finale Manuskript finden konnten. Herrn Farid Suleiman möchte ich ebenso für seine Geduld sowie seine sorgfältige Lektoratsarbeit und Endformatierung danken.

Erlangen, den 15. November 2017

Mohammed Nekroumi

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen 1.1 Fragestellung 1.1.1. Die Verortung der Ethikfrage in der islamischen Theologie In der heutigen lebhaften Diskussion um die islamische Ethik stößt man in der Fachliteratur kaum auf Studien, die sich ideengeschichtlich und epistemologisch, mit Blick auf die ganze Bedeutungstiefe ethischer Begriffe und mit dem Wandel des normativen Konzepts der šarīʿa in den unterschiedlichen Epochen der islamischen Geistesgeschichte aus hermeneutischer Sicht befassen. Auslöser der modernen Debatte um Bedeutung und Anliegen des Begriffs šarīʿa war die Frage nach der Beständigkeit und Allgemeingültigkeit göttlicher Ge- und Verbote. Damit rückt seit Beginn des 20. Jahrhunderts die maqāṣid-Theorie zunehmend ins Interesse islamischer Theologen. Das arabische Wort maqāṣid bedeutet allgemein „Ziele“, und es meint hier explizit die Ziele der šarīʿa bzw. die Intentionen des Gesetzgebers, welche in der Rationaltheologie als erschließbarer Ausdruck des göttlichen Willens verstanden werden. Die Leitfiguren der islamischen Reformbewegung wie Muḥammad ʿAbduh, Muḥammad aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀšūr, Muḥammad ʿAllāl al-Fāsī u.a. waren der festen Überzeugung, dass die ethischen Weisungen des Korans, die von der islamischen Rechtsmethodik systematisiert wurden, eine gute Grundlage für eine theologisch fundierte und zeitgemäße Auslegung der Quellen der šarīʿa bilden.1 Als Forschungsthema wurde die Frage der islamischen Ethik in der Postmoderne in Verbindung mit moraltheologischen und sozialethischen Lebensfragen bislang fast nur im Rahmen einzelner Beiträge behandelt, die weder wissenschaftliche Kontinuität noch theologische Fundierung erlangten. Die erwähnenswerten Entwürfe zur ethischen Ausrichtung der šarīʿa können in zwei Kategorien geteilt werden: a) Einmalige Aufsätze: Dazu gehören u.a. die Arbeiten von Kevin Reinhardt, 2 Werner Zager3 und Norman Calder.4 1 Vgl. Mohammed Nekroumi: „Die theologisch-ethische Ausrichtung der Scharia zwischen Gottesrecht und menschlichem Gemeinwohl“, in: Friedmann Eißler/Michael Borchard (Hg.): Islam in Europa. Zum Verhältnis von Religion und Verfassung, Berlin 2013, S. 57-77. 2 A. Kevin Reinhart: „Islamic Law as Islamic Ethics”, in: Journal of Religious Ethics 11/2 (1983), S. 186-203. 3 Werner Zager: „Hingabe an Gottes Willen. Ethik im Islam“, in: ders. (Hg.): Ethik in den Weltreligionen. Judentum – Christentum – Islam, Neukirchen-Vluyn 2002, S. 69-94. 4 Norman Calder: „Ikhtilāf and Ijmāʿ in Shāfiʿī’s Risālah“, in: Studia Islamica 58 (1983), S. 5581.

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

b) Monographien: Dazu gehören die Grundlagenstudien von Muhammad Khalid Masud,5 Bernard G. Weiss,6 Wael B. Hallaq,7 Mohammed Arkoun,8 Aḥmad arRaysūnī9 und Nasr Hamid Abu Zaid.10 Ältere Arbeiten wie die von Tilman Nagel, 11 Joseph Schacht12 und Harald Motzki13 über islamisches Recht gehen auf den Untersuchungsgegenstand eher historisch ein und präsentieren ein knappes theoretisches und methodisches Gerüst für die Leitfrage islamischer Lebensführung im Lichte der Offenbarung. Es gibt somit – trotz steigenden Interesses an einer zeitgemäßen Definition des islamischen Ethos – keine umfassende und in ihrer Methodik überzeugende Studie zur islamischen Ethik- bzw. Moraltheorie. Obwohl der Schlüsselbegriff šarīʿa von der Rechtstheorie als Schöpfungsordnung betrachtet wird und damit unmittelbar im Bereich der moralischen Gesetzlichkeit bzw. in der Ordnung des Gemeinwesens angesiedelt ist, sind nach wie vor nur Teilaspekte einer theologischen Ethik14 ausgearbeitet, die sich grundlegenden Fragen nach Wesen und Ausrichtung der lex dei (šarʿ Allāh) als einheitsstiftender Begründungsort aller Gesetzlichkeiten von den „Naturgesetzen“ über die „logischen Gesetze“ bis hin zur „moralischen bzw. sittlichen Rechtssetzung“ stellt.15 Von solchen definitorischen Fragen und den damit verbundenen erkenntnistheoretischen Auseinandersetzungen sind die heutigen Studien zu Wesen 5 Muhammad Khalid Masud: Islamic Legal Philosophy. A Study of Abū Isḥāq al-Shāṭibī’s Life and Thought, Islamabad 1977. 6 Bernard G. Weiss: The Spirit of Islamic Law, Athens (Georgia, USA) 2003. 7 Wael B. Hallaq: An Introduction to Islamic Law, Cambridge/New York 2009; ders.: Shari’a. Theory, Practice, Transformations, Cambridge/New York 2009; ders.: The Origins and Evolution of Islamic Law, Cambridge/New York 2005; ders.: Authority, Continuity, and Change in Islamic Law, Cambridge/New York 2001. 8 Mohammed Arkoun: Rethinking Islam. Common Questions, Uncommon Answers, Boulder 1994. 9 Aḥmad ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šāṭibī, 5. Aufl., Herndon 1995. 10 Nasr Hamid Abu Zaid: Mafhūm an-naṣṣ. Dirāsa fī ʿulūm al-qurʾān, Beirut/Casablanca 1990. 11 Tilman Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001. 12 Joseph Schacht: An Introduction to Islamic Law, Oxford 1966. 13 Harald Motzki: Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur Mitte des 2./8. Jahrhunderts, Wiesbaden 1991. 14 Der Begriff „Theologische Ethik“ wird in dieser Arbeit lediglich als eine deutsche Wiedergabe der hier angenommenen extensiven Auffassung der Disziplin der uṣūl al-fiqh verwendet, der die maqāṣid-Theorie als methodologische Grundlage dient. Die ethische Dimension der islamischen Rechtstheorie intentionaler Prägung geht aus der dem Begriff qaṣd (Absicht/Intention) inhärenten Nähe zu grundlegenden ethischen Kategorien wie etwa Gewissen und Verantwortung hervor. Diese Übersetzung lässt sich insofern begründen, als es nach Johannes Fischer in der christlichen Theologie „keine fixen Standards gibt, an denen Beiträge zu dieser Disziplin sich messen lassen und vor denen sie ausgewiesen werden müssen“. Fischer überlässt die fachspezifische Definition der „Theologischen Ethik“ „mehr oder weniger der individuellen Kreativität“. (Vgl. Johannes Fischer: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart/Berlin/Köln 2002, S. 8.) 15 Vgl. hierzu Friedrich W. Graf: Moses Vermächtnis, München 2006, S. 24.

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1.1 Fragestellung

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und Anliegen islamischer Ethik als unabdingbarer Bestandteil der šarīʿa maßgeblich geprägt. Von Interesse ist hier vor allem die Zuordnung von sittlicher Normensetzung und ethischem Werturteil. Versteht man den fiqh (islamische Normenlehre) als diejenige wissenschaftliche Disziplin, „die den Anspruch des Glaubens an die sittliche Lebensführung zum Gegenstand hat“,16 so hebt man die durch ihre Entwicklungsgeschichte fortwährende Wandlung dieser Disziplin von einer „Normenlehre“ zu einem „Erkenntnisprozess“ hervor. Problematisch bleibt bei der Diskussion um die islamische Ethik die Annäherung von Rechtsetzung und moralischem Werturteil. Für den marokkanischen Denker Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī korrespondiert die griechisch inspirierte „Ethik“ mit der islamisch-theologischen Unterdisziplin ʿilm al-aḫlāq (Tugendlehre),17 die sich, trotz der bedeutenden Werke, die sich damit befassten, zu keiner eigenständigen Wissenschaft etablieren konnte. ʿIlm uṣūl al-fiqh könne nicht als ʿilm al-aḫlāq betrachtet werden, da dieser Wissenschaftsbereich sich seit dem 3./9. Jahrhundert zu einer rein normativen Wissenschaft entwickelt habe, deren Hauptanliegen es gewesen sei, ethische Kategorien wie Freiheit, Verantwortung und Tugend in einer festen Systematik von konkreten Rechtsbestimmungen und Normen auszuarbeiten. 18 Die Frage nach der ethischen Implikation der šarīʿa und ihrer rationalen Begründung ist bis heute sowohl theologisch als auch sozialethisch und gesellschaftspolitisch relevant. Zur islamischen Ethikdebatte gehört seit dem Ende des 13./19. Jahrhunderts neben der Kritik an dem vermeintlich anachronistischen Straf- und Privatrecht der šarīʿa auch die Klage, dass ʿilm uṣūl al-fiqh den Grundprinzipien von ʿilm al-aḫlāq kaum Platz einräume und in ihrer Rechtsordnung der Unterschied zwischen Göttlichem und Weltlichem, Sündhaftem und Strafrechtlichem auf der Vernunftebene nicht immer klar auszumachen sei. Von daher lasse sich, so al-Ǧābirī, die Forderung nach einer Neudefinition des Geltungsbereichs des šarʿ Allāh und nach einer Neuorientierung der moralisch-ethischen Auslegung des Korans aus der Perspektive vernünftiger Ordnungsfähigkeit begründen. 19 Diese Fragestellung ist, zumindest was die islamische Tradition angeht, nicht neu. Sie findet sich in der Rationaltheologie 20 der späten klassischen Phase was alǦābirī auch einräumt und weshalb er die Ethik als einen interdisziplinären Wissenschaftsbereich bezeichnet, welcher fachübergreifend, in allen theologischen Feldern, von der Exegese über den fiqh bis hin zu Philosophie und Mystik, vertreten war.

16 Konrad Hilpert: „Moraltheologie“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., 10 Bde., Freiburg 1993-2001, Bd. 7, 1998, S. 462-467. 17 Siehe zu Vertiefung des Begriffs ʿilm al-aḫlāq Mohammed Arkoun: Der Islam. Annäherung einer Religion, Heidelberg 1999, S. 235. 18 Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, Beirut 2012, S. 11-21. 19 Vgl. ebd., S. 14. 20 Bei den hier deckungsgleich verwendeten Begriffen „Rationaltheologie“ und „systematische Theologie“ handelt es sich in dieser Arbeit um ungefähre Wiedergaben des Terminus ʿilm alkalām. Im weiteren Verlauf wird „Rationatheologie“ als Übersetzung bevorzugt.

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

Die islamische Rationaltheologie hat seit ihrer Entstehung versucht, die moralisch-theologischen Vorstellungen ins Verhältnis zum rationalen Denken zu setzen und damit hermeneutische Brücken zwischen Glaube und Vernunft einerseits sowie religiösem und weltlichem Ethos andererseits zu bauen. Während die islamische Rechtstheorie darauf abzielte, das menschliche Handeln ausgehend von den Glaubensgrundsätzen zu ordnen, trugen die Rationaltheologie und auch die Mystik durch ihre Suche nach dem „wirklich“ Guten im Prozess ihrer Beschäftigung mit dem ʿilm al-aḫlāq zum Grundverständnis des Verhältnisses von Glaube und Vernunft bei. 21 Weil die rechte Glaubenserkenntnis (ʿirfān) nach al-Ǧābirī der Vernunft (burhān) nicht entbehren könne, könnten ʿilm uṣūl al-fiqh und ʿilm al-aḫlāq einander nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Daher ruft er dazu auf, unter Rückgriff auf die Errungenschaften aller theologischen Disziplinen eine eigenständige islamische Ethik zu erarbeiten, die neben der Tugendlehre auch ʿilm uṣūl al-fiqh und die praktische Normenlehre umfasse und dabei die besonderen Fragen der Moderne berücksichtige. Dies setze die Verortung der theologischen Ethik im Kontext von Rationalität und Wissenschaftlichkeit voraus. Nach al-Ǧābirī könne ein solches Unternehmen nur gelingen, wenn es zu einer Wiederbelebung der traditionellen Rationaltheologie und der damit einhergehenden Rehabilitation von burhān komme, der durch die Vorherrschaft von ʿirfān in den Hintergrund geraten sei. Als herrschende Kulturform der islamischen Aufklärungsepoche drängte sich nach al-Ǧābirī die Rationalität, insbesondere in den Zeiten Ibn Rušds (lat. Averroes, gest. 595/1198), durch die ihr zugeschriebene ordnende Funktion jeglicher theologischer Reflexion auf. Ihr argumentatives Potenzial speiste sich aus der Grundmaxime ethischer Urteilsfindung, die das Moralische gleichermaßen als eine Sache des Wissens und des Glaubens begriff. Bei der Auseinandersetzung von Vernunft und Offenbarung im Streben nach ethisch-theologischer Urteilsfindung sieht al-Ǧābirī Ibn Rušds ethisches Denken als Krönung einer genealogischen Entwicklung philosophischer Reflexion zum Verhältnis von ʿirfān und burhān bzw. von der Situierung der Moral und ihrer Begründung.22 21 Als richtungsweisend für die Rationaltheologie galten u.a. folgende Werke: Muḥammad ibn ʿUmar az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ fī uṣūl ad-dīn, hg. von Sabine Schmidtke, Stuttgart 1997; Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī: Taṣaffuḥ al-adilla, hg. von Sabine Schmidtke/Wilfred Madelung, Wiesbaden 2006; Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhumā, hg. von Muḥammad Ṣaġīr Ḥasan al-Maʿṣūmī, Islamabad 1968. Im Bereich der Mystik wurden die Spätwerke alĠazālīs und die Traktate Ibn ʿArabīs (gest. 638/1240) meist der Ethik zugeordnet. In der Rechtstheorie galten die exklusiv der Ethik zugeschriebenen Werke von Miskawayh (gest. 421/1030), Ibn al-Muqaffaʿ (gest. 139/756) und Ibn Sīnā (gest. 428/1037) als eigenständige Arbeiten, denen eher eine ergänzende Funktion zur etablierten Normenlehre zugewiesen wurde. 22 Die Aussöhnung von Offenbarung und Vernunft bei Ibn Rušd geschieht in Anlehnung an alFārābīs (gest. 339/950) Theorie der Emanation und als Reaktion auf die in der Spätphase von al-Ġazālīs theologischem Denken formulierte Skepsis gegenüber der Philosophie und der damit verbundenen natürlichen Ethik. Diese Auseinandersetzung zwischen rationalem Wissen und Glaubenserkenntnis war zuvor von zahlreichen islamischen Philosophen geprägt worden. So zog z.B. al-Kindī (gest. 259/873) die Offenbarung der Philosophie als Wissensquelle vor,

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1.1 Fragestellung

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Das ethische Urteilen ist somit als Produkt methodisch geordneten Nachdenkens über die Frage nach dem wirklich Guten anzusehen, bei dem der durch das Zusammenwirken von Glaube und Vernunft hervorgerufene Prozess der Selbstauslegung als Grundbedingung ethischen Werturteils in Gang gesetzt wird. Die zentrale Fragestellung in al-Ǧābirīs epistemologischem Vorhaben, die für die vorliegende Arbeit eine wichtige Anregung war, lautet: Wie ist es historisch und theologisch zu erklären, dass sich ʿilm uṣūl al-fiqh ab einem bestimmten Zeitpunkt als glaubensorientierte Moralvorstellung vom ʿilm al-aḫlāq als aus den Offenbarungsquellen rational erschlossene Tugendlehre theoretisch wie methodisch abgrenzte, sodass eine unüberwindbare epistemologische Kluft zwischen den beiden Disziplinen entstand und sich das Bild der šarīʿa als rigide Normenlehre durch setzte, d.h. die Betonung ihres deontologischen Charakters gegenüber ihrem teleologischen? Die vorliegende Studie will diese Frage beantworten, indem sie aus der überwältigenden Fülle ethischer Ansätze im Islam und vor dem Hintergrund einer interdisziplinären Relektüre von aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theorie, basierend auf seinem Monumentalwerk al-Muwāfaqāt, das Konzept einer an der Offenbarungsintention orientierten praktischen Ethik zu entwickeln sucht. In Anlehnung an al-Ǧābirī und ausgehend von der spätislamischen Rechtstheorie am Beispiel von aš-Šāṭibīs maqāṣidTheorie werden im Rahmen dieser Arbeit Kategorien einer theologischen Ethik aus der Perspektive der islamischen Normenlehre erarbeitet, was einen Beitrag leisten soll zu einer erkenntnistheoretischen Annäherung zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und ʿilm al-aḫlāq. Dadurch soll einem wichtigen Ziel der zeitgenössischen islamischen Theologie näher gekommen werden, nämlich der Errichtung einer islamisch-theologischen Ethik als eigenständige Disziplin. 1.1.2. Kontroversen der islamischen Ethikdebatte In der heutigen Ethikdebatte stehen sich im islamisch-theologischen Diskurs zwei Tendenzen gegenüber. Auf der einen Seite macht eine Reihe moderner, rationaltheologisch orientierter Denker, darunter al-Ǧābirī in seinem Werk al-ʿAql al-aḫlāqī alʿarabī, deutlich, dass die islamische Ethik nicht unabhängig vom System der arabisch-islamischen Wissenschaften und der Geschichte betrachtet werden kann, und während nach Abū Bakr ar-Rāzī (gest. 313/925) Gott den Menschen mit seinem Verstand erschaffen habe, mit dem er die Wahrheit erkennen könne. Al-Fārābī sah nach platonischem Vorbild die Offenbarung und die Philosophie, wie die Welt der Ideale und die materielle Wirklichkeit bei Platon, als zwei Ausdrucksformen derselben Wahrheit und gelangte damit zum ethischen Konzept des Idealstaats (al-madīna al-fāḍila) als Oberbegriff menschlicher Gemeinwohlideale. Durch Ibn Bāǧǧa (lat. Avempace, gest. 532/1138) kam al-Fārābīs Auseinandersetzung mit Platon und Aristoteles erstmals nach Andalusien, womit die Frage der Transzendenz neu aufgeworfen wurde. Neue Maßstäbe zur Begründung ethischer Urteilsfindung setzte Ibn Ṭufayl (gest. 581/1185) durch sein Werk Ḥayy ibn Yaqẓān, in dem er die Geschichte von einem Kind erzählt, das auf einer verlassenen Insel aufwächst und durch eigene geistige Anstrengungen die Philosophie als vernunftgemäße Gottesschau entdeckt, um danach selbstständig das von Gott gewollte moralische Verhalten zu finden. (Vgl. Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq, 5. Aufl., Casablanca 2013, S. 29-55.)

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

dass im Gegensatz zu anderen Wissenschaften wie Grammatik, Morphologie, Rhetorik, Normenlehre und ihre Methodologie, Hadith-Wissenschaft plus die mit ihr verbundene Wissenschaft der Überliefererkritik, Logik und Rationaltheologie.23 Auf der anderen Seite betonen einige der Rechtstheorie zuzurechnende zeitgenössische Gelehrte, dass sich das Verhältnis zwischen Ethik und Rechtstheorie durch eine Nähe auszeichnet, deren Einfluss für eine Entwicklung moralischen Denkens im Islam historisch, genealogisch und methodisch unabdingbar ist. 24 Als Vertreter einer dem ašʿaritischen Denken nahestehenden Rationaltheologie widerspricht der zeitgenössische marokkanische Gelehrte Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān der Behauptung al-Ǧābirīs, dass sich die islamische Ethik keiner der traditionellen Wissenschaften als Unterdisziplin zuordnen lasse. Laut ʿAbd ar-Raḥmān deutet die Tatsache, dass erstens die Verbindung zwischen šarīʿa und ʿilm al-aḫlāq unumstritten sei und dass zweitens eine Besonderheit der Form und der Herleitung der islamischen Ethik existiere, darauf hin, dass eine gewisse Systematisierung inhaltlicher Grundzüge moralischen Denkens im Islam bereits im ʿilm uṣūl al-fiqh vorhanden sei.25 Die theologischen Wissenschaften standen laut ʿAbd ar-Raḥmān zwar mit dem ʿilm al-aḫlāq in einem Spannungsverhältnis und er vermischte sich mit ihnen, vor allem mit der Rationaltheologie und der Methodologie der Normenlehre. 26 Diese Vermischung war für die Normenlehre jedoch von Vorteil, weil diese mit der praktischen Handlungsphilosophie verknüpft wurde und nicht bloß Gegenstand theoretischer Reflexion zum Werturteil war. Die Ethik hing mit dem praktischen Verhalten zusammen. Deshalb gibt es kein Gebot oder Verbot in der šarīʿa, wovon die ethische Norm nicht profitiert. „Die šarīʿa hat zwei vervollständigende Aufgaben: zum einen bezogen auf die Normenlehre, zum anderen bezogen auf die Ethik.“27 Da die Herleitung und das Ziel der Norm nichts anderes als die Ethik selbst sei, so ʿAbd ar-Raḥmān, verdiene es ʿilm uṣūl al-fiqh, „Methodologie bzw. Theorie der Ethik“ genannt zu werden anstatt „Methodologie der Normenlehre bzw. Rechtstheorie“. Es sei unumstritten, dass die Ethik Dreh- und Angelpunkt von ʿilm uṣūl al-fiqh sei, woraus zu schließen sei, dass ethische Kategorien schwerpunktmäßig in den

23 Laut ʿAbdallāh al-ʿArwī begann diese Denkströmung Anfang des 20. Jh. mit Muḥammad ʿAbduh in Ägypten. Dieser Tendenz werden weitere islamische Denker zugeordnet wie: Majid Fakhr: Ethical Theories in Islam, Leiden u.a. 1991; Fazlur Rahman: „Some Key Ethical Concepts of the Qurʾan“, in: Journal of Religious Ethics 11 (1989), S. 170-185; ʿAbdallāh alʿArwī: Mafhūm al-ʿaql, Beirut 1996, S. 23-63; Khaled Abou El Fadl: Reasoning with God. Rationality and Thought in Islam, Oxford 2002, S. 173.) 24 Diese Tendenz lässt sich selbst in verschiedene Strömungen teilen. Beispielhaft sind hier folgende Autoren: Muḥammad ʿAmmāra: al-Islām wa-ḥuqūq al-insān. Ḍarūrāt lā ḥuqūq, Kairo 1989; Rahman: „Some Key Ethical Concepts“. 25 Vgl. Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān: Taǧdīd al-manhaǧ fī taqwīm at-turāṯ, Casablanca 2012, S. 93, 110. 26 Ebd., S. 386. 27 Ebd., S. 270.

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1.1 Fragestellung

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einzelnen Zweigen praktischer Urteilsfindung vorhanden und somit umfassend im Normableitungsprozess involviert seien.28 ʿAbd ar-Raḥmāns Standpunkt kann nicht als Gegenargument zu al-Ǧābirīs These zum erschwerten Verhältnis zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und ʿilm al-aḫlāq verstanden werden. Denn die Idee einer methodischen Vermischung bzw. Verstrickung zwischen šarīʿa und ʿilm al-aḫlāq legte al-Ǧābirī bereits in seinen ersten Schriften zur Ethik nahe, indem er betonte, dass die Tugend im Zentrum des Korans stehe und seine Kernbotschaft ethisch sei: „Ich denke nicht, dass die Menschen damals zwischen Versen der Normen und Versen der Tugend unterschieden haben. Denn alles im Koran bezieht sich auf Normen, und alles in ihm bezieht sich auf die Tugend. Vermutlich ist diese Vermischung, ja diese Einheit zwischen aḥkām und aḫlāq im Koran der Grund, der Gelehrte des Islams dazu bewegte, in der Normenlehre, in der Hadith-Wissenschaft und in der Methodologie das religiöse Wissen zu sehen, das Moralnormen und ethisches Prinzip umfasst. Folglich sei es nicht notwendig, sich [gesondert] mit der Wissenschaft der Ethik, oder wie es in einer späteren Epoche bezeichnet wurde: der ‚Ethik des Korans‘, zu beschäftigen. In Wahrheit ist der Koran ein Buch der Ethik.“29 Al-Ǧābirī erläuterte rund zwanzig Jahre später seine Einschätzung näher, indem er zwischen zwei Phasen, der Prä- und der Post-Verschriftlichungsphase der islamischen Tradition, in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und ʿilm al-aḫlāq unterschied. Nachdem es zu einer Wende bei jenen moralischen Prinzipien gekommen war, die in der Umayyadenzeit eine gewisse Relevanz für die gegenseitige Bekämpfung mit dem Ziel des Machtgewinns und der Verteilung von Reichtümern gehabt hatten, setzte nach al-Ǧābirī ein Prozess der Abspaltung der Moralnorm von der ethischen Ausrichtung ein. Diese Abspaltung schritt schnell voran, da die Moralprinzipien der šarīʿa nicht in den menschlichen Seelen verwurzelt waren und somit nicht als Grundstein ethischer Identität fungierten. 30 ʿAbd ar-Raḥmāns Standpunkt hinsichtlich der Anerkennung einer wissenschaftstheo-retischen Unabhängigkeit von ʿilm al-aḫlāq zeichnet sich dagegen durch eine gewisse Ambiguität aus, da die Themenschwerpunkte dieser Disziplin zwar eine Nähe zur Normenlehre aufwiesen, die Disziplin sich jedoch dem Charakter einer allgemeinen theoretischen Überlegung über Werturteile nicht entziehen konnte. Dennoch hält ʿAbd ar-Raḥmān an der Hypothese fest, dass insofern ʿilm uṣūl al-fiqh und das Normensystem der šarīʿa grundlegende Elemente ethischen Urteilens enthalten, was sie zu den besten Kandidaten zur Verkörperung einer umfassenden Ethik, im eigentlichen Sinne des Begriffs, mache. Trotzdem bleiben die Fragen bestehen, worin die von al-Ǧābirī bezeichnete Leere in der traditionellen islamischen 28 Vgl. ebd.: Suʾāl al-aḫlāq, S. 29-55. 29 Al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, S. 61. 30 Vgl. durchgehend ebd.

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

Ethik begründet liegt und inwiefern die klassische Rechtstheorie als eine Ableitungsquelle moderner ethischer Reflexion fungieren kann. Letztere Frage dient der vorliegenden Arbeit als Hintergrund und zählt zu den Gründen, wieso der maqāṣidTheorie von aš-Šāṭibī als eine weitgefasste Rezeption der traditionellen Rechtstheorie gegenüber anderen theologisch-ethischen Ansätzen der Vorzug gegeben wird, da sie sich eines weiteren Glaubens- bzw. Vernunftverständnisses bedient. 1.1.3. Die vorzügliche Ethik und die Frage der Rezeption des griechischen Erbes Eine Ethikforschung, wie man sie aus den modernen lateinischen oder angelsächsischen Quellen kennt, ist im islamisch-theologischen Erbe nach al-Ǧābirī nur ansatzweise vertreten. Ausgenommen davon seien Schriften von Miskawayh, Ibn Abī Uṣaybiʿa (gest. 668/1270), Ibn Bāǧǧa, ar-Rāġib al-Iṣfahānī (gest. nach 409/1018), al-Māwardī (gest. 450/1058), al-Ġazālī und wenigen anderen. Die islamische Rezeption der griechischen Ethik, innerislamisch zunächst als die Übernahme eines fremden Erbes betrachtet, war laut al-Ǧābirī von Anfang an davon getrübt, dass der traditionellen islamischen Theologie eine eigene Moraltheorie fehlte, was für kontroverse Diskussionen sorgte. 31 Die islamische Relektüre griechischer Ethik als „Ethik der Glückseligkeit“,32 die hauptsächlich in der Unterdisziplin der Tugendlehre stattfand, war stets beherrscht von einer universellen Wertediskussion zwischen dem persischen Erbe, stellvertretend für die ethische Gehorsamkeit, dem arabischen Erbe, stellvertretend für die ethischen Tugenden, und dem mystischen Erbe, stellvertretend für die ethische Vergänglichkeit, das nach al-Ǧābirī die Ausarbeitung einer eigenständigen Disziplin der Ethik maßgeblich verhinderte. Was das islamische Erbe angeht, das dem Koran entstammt, so habe es bis auf einige Ausnahmen kaum Einfluss auf die Bildung einer arabisch-islamischen Ethiktheorie in der klassischen Epoche gehabt. Al-Ǧābirī zufolge spiegelte sich der geringe Einfluss des islamischen Erbes bei der Entwicklung einer eigenständigen Ethikdisziplin in der Methode praxisorientierter fiqh-Gelehrter wieder, die jenen Teilen der šarīʿa, die sich mit ethischem Verhalten befassen, nur eine oberflächliche Rolle zuwiesen, sodass sie keinen Eingang in die Normenlehre fanden. Gekennzeichnet durch ihren spärlichen Inhalt beschränkten sich die ethischen Bereiche in der früheren fiqh-Wissenschaft lediglich auf psychosoziale Aspekte und wurden in den dazugehörigen Unterdisziplinen kaum systematisiert. Das Bedürfnis der Islamisierung griechischer Ethik sei grundsätzlich auf die Erfordernisse des Zusammenlebens verschiedener Kulturen in der islamischen Gesellschaft zurückzuführen, welche den Prozess der Bildung einer Wertegemeinschaft vorantrieben und die Entwicklung einer islamischen Ethik somit notwendig machten.

31 Vgl. ebd., S. 11-19. 32 Ebd., S. 12.

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1.1 Fragestellung

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Die Auseinandersetzung mit der griechischen Ethik, die ihren Höhepunkt mit der Übersetzung der monumentalen Nikomachischen Ethik von Aristoteles erreichte, verdankte al-Ǧābirī die Ausarbeitung ethischer Begriffe, wie etwa des Fachterminus „ethisches Gewissen“ (al-qalb), dessen Wurzeln man bis zum 3./9. Jahrhundert verfolgen kann. Hierzu ist der Theologe und Mystiker al-Ḥāriṯ al-Muḥāsibī (gest. 243/857) zu erwähnen, der von einem „ethischen Gefühl“ und vom „Herz“ im Sinne von Gewissen sprach.33 Das gleiche gilt für die in der islamischen Moralphilosophie des 5./11. Jahrhunderts weitverbreitete sogenannte „Theorie der Mitte“, die besagt, dass die Tugend die Mitte zwischen den beiden Übeln sei. Unter Rückgriff auf Aristoteles’ mesotes-Lehre argumentierte al-Ġazālī in seinem Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn: „Das Gelobte ist die Mitte und sie ist die Tugend, während die beiden Ränder verdammte Schlechtigkeiten sind [...]. Die Mitte wird mit dem Namen der Weisheit ausgezeichnet, die Grundlagen der Ethik und ihre Wurzeln lassen sich in vier Eigenschaften unterteilen: Weisheit, Mut, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit.“34 Der aus der Spannung zwischen den verschiedenen kulturbedingten Wertesystemen der Muslime entsprungene Impuls zur praktischen Vernunft führte die muslimischen Ethiker zum Rückgriff auf die griechische Tradition und insbesondere auf das Erbe Galens, dessen Definition der Ethik fast allen bekannten islamischen Ethik-Werken als Grundlage diente.35 Für die meisten muslimischen Ethiker ist es zwar unumstritten, dass eine islamische Relektüre der griechischen Ethik stattgefunden hat, jedoch sorgte die Wiedergabe hellenistischer Begriffe in islamischen Kategorien immer wieder für heftige Kontroversen, wie etwa die Zuordnung der griechischen Ethik zur islamischen Tugendlehre. Diese Zuordnung bedeutete einen Widerspruch in der Reihenfolge der Prioritäten des Allgemeinen und des Spezifischen insofern, als sich die islamische Tugendlehre ausschließlich mit jenen Regeln moralischen Verhaltens befasste, die im Gegensatz zu den notwendigen fiqh-Normen eher im Bereich des Fakultativen angesiedelt waren. So wurde die islamische Tugendlehre zeitweise von der Idee beherrscht, ethisches Handeln lediglich als Bewahren der vollkommenen bzw. nob33 Vgl. auch Abū ʿAbdallāh al-Ḥāriṯ ibn Asad al-Muḥāsibī: al-ʿAql wa fahm al-Qurʾān, Beirut 1971, S. 272f. (Vgl. ebenfalls die dt. Übersetzung und Analyse von Berenike Metzler: Den Koran verstehen. Das Kitāb Fahm al-Qurʾān des Ḥāriṯ b. Asad al-Muḥāsibī, Wiesbaden 2016, S. 34.) 34 Abū Ḥāmid al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, hg. von Hans Bauer, 40 Bde., Halle 1961, Bd. 3, S. 54. Einen ähnlichen Standpunkt vertrat laut al-Ǧābirī auch ar-Rāġib al-Iṣfahānī bereits vor alĠazālī in seinem Traktat aḏ-Ḏarīʿa ilā makārim aš-šarīʿa. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī alʿarabī, S. 10.) 35 Al-Ǧābirī hervor, dass sich einige berühmte muslimische Ethiker, wie etwa al-Iṣfahānī, Miskawayh, und al-Ġazālī, ausdrücklich auf die Definition Galens stützen, der die Ethik als einen Zustand der Seele bezeichnet, „die den Menschen dazu aufruft, Taten zu verrichten, ohne dabei zu überlegen und ohne die Wahl zu haben“. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, S. 11, 322f.)

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

len Handlungen (faḍāʾil, Sg.: faḍīla) anzusehen. Die eigentliche Bedeutung des Begriffs faḍīla, der sich in der Tradition im Sinne von „nobles bzw. vorzügliches Verhalten“ etablierte, offenbart ein kaum überwindbares theoretisches Paradoxon bei der Definition der Ethik, wenn man an der griechischen Auffassung des Begriffs festhält, nämlich im Sinne der Ausrichtung auf das gute Leben. Im Wort faḍīla schwingt der ursprüngliche semantische Gehalt der Wortwurzel f-ḍ-l „Überschuss, Überfluss“ mit, was mitunter darauf hindeutet, dass es sich dabei um „überschüssiges“ bzw. „überflüssiges“ ethisches Verhalten handelt. Hierzu vermerkt ʿAbd arRaḥmān zu Recht: „Die Tugend (al-faḍīla) kommt sprachlich von ‚Überschuss‘, und der Überschuss ist mehr als das, was man benötigt, bzw. das, was nach Befriedigung des Bedürfnisses übrig geblieben ist.“36 Dabei muss man entgegenhalten, dass Ethik für das menschliche Leben als unverzichtbar gilt. Hier kommt ein weiterer zentraler Denkinhalt islamischer Moralvorstellung zum Ausdruck, der die Fragestellung dieser Arbeit wesentlich mitbeeinflusst hat. Die von den fuqahāʾ (Juristen) häufig angewandte Methode moralischer Urteilsfindung, die eine Einschränkung von ʿilm al-aḫlāq in den vorzüglichen Taten des Menschen vertrat, war am Ausschluss der Rechtstheorie von dem Ethikdiskurs maßgeblich beteiligt. Nichts in der Etymologie oder in der Geschichte erfordert jedoch die von den fuqahāʾ vorgenommene Unterscheidung zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und ʿilm alaḫlāq. Die Leitfragen theologischer Ethik waren stets zentrale Bestandteile der Rechtstheorie und der Rationaltheologie. Auch verkörperte die maqāṣid-Theorie den Höhepunkt des Zusammenwirkens von Rechtstheorie und Moralphilosophie, wobei die Prinzipien der Ethik zum Maßstab für den Schlussstein ethischer Ausrichtung in der fiqh-Wissenschaft, dem „Gemeinwohl“, erhoben wurden. Bei dieser Hypothese stützt sich ʿAbd ar-Raḥmān auf den prophetischen Hadith: „Ich wurde entsandt, um die Tugenden zu vervollkommnen“,37 um klarzustellen, dass die Entsendung des Propheten (sas) nicht nur zur Vervollständigung, die nicht zwingend erforderlich erscheint, sondern vielmehr für die notwendige Angelegenheit der Errichtung des ethischen Selbst erfolgte, was zu den notwendigen Zielen der šarīʿa gehört. Die bisher genannten Argumente für die Unterscheidung von Rechtstheorie und Ethik sind für die aktuelle Fragestellung durchaus von Bedeutung: die Mehrdeutigkeit des Begriffs aḫlāq, die methodische Unabgeschlossenheit der islamischen Ethiktheorie, die Vermischung von arabischen und griechischen Traditionen sowie 36 ʿAbd ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq, S. 53. Diese Bedeutung findet man in der arabischen Grammatik wieder, in der das Wort fuḍla als freie bzw. verzichtbare Verb-Ergänzung im Gegensatz zu ʿumda als enge bzw. unverzichtbare Verb-Ergänzung verstanden wird. (Vgl. Mohammed Nekroumi: Interrogation, Polarité et Argumentation. Vers une Théorie Structurale et Enonciative de la modalité en arabe classique, Hamburg 2003, S. 85-88.) 37 Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Buḫārī: al-Adab al-mufrad, hg. von Muḥmmad ʿAbd al-Qādir ʿAṭā, Beirut 1990, S. 90.

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1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen

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der Einschluss ethischer Maximen in eine Dialektik von Teleologie und Deontologie. Diese Argumente scheinen jedoch nicht genug, um das Vorhaben einer Annäherung zwischen Ethik und Rechtstheorie ins Abseits zu stellen. Die Gegenargumente treffen lediglich auf eine eingeschränkte Auffassung von Rechtstheorie zu – eben auf jene, die die Aufgabe von ʿilm uṣūl al-fiqh auf die Ableitung der Pflichtnormen reduziert.

1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen 1.2.1. Die ethischen Wurzeln der islamischen Rechtstheorie: entstanden aus dem Konflikt der Interpretationen Ursprünglich wurde die Wissenschaft uṣūl al-fiqh als eine einführende Disziplin des „Wissenschaft von den Meinungsverschiedenheiten im Recht“ (fiqh al-ḫilāf) entwickelt, in deren Mittelpunkt die Diskussion um das Verhältnis zwischen dem Pflichtcharakter und der ethischen Ausrichtung der Offenbarung stand. Die Wissenschaft uṣūl al-fiqh war somit zur Weiterentwicklung der Rechtsdoktrin in den einzelnen Rechtsschulen bestimmt, sodass ihre Rolle oft zu Unrecht auf die Orientierung und Lenkung von Deutungsunterschieden der Rechtsquellen beschränkt wurde. Ab dem 5./11. Jahrhundert entstand allerdings eine „Wissenschaft der Rechtspolemik bzw. Rechtsdialektik“ (ʿilm al-ǧadal), die sich neben der Wissenschaft uṣūl al-fiqh besonders mit der Diskussion strittiger Normableitungen befasste. Zwar erörterte ʿilm al-ǧadal die gleichen Fragestellungen wie ʿilm uṣūl alfiqh, jedoch nur aus einer rein methodischen Perspektive. Folglich wurde die Frage der Normableitung einerseits unter dem Blickwinkel der Dialektik und andererseits unter dem der Argumentation ohne jeden Bezug zur Lebensrealität der Gemeinschaft angegangen. Mit ihrem methodisch verankerten Rückgriff auf die rhetorische Auffassung der Normableitung, die auf die Achtung von Kontext und Situation im Deutungsprozess der Offenbarung großen Wert legte, zeichnete sich die Wissenschaft uṣūl al-fiqh als umfassende Fachdisziplin aus, in deren Rahmen dem ʿilm al-ǧadal eher die Rolle eines analytischen Instrumentariums zukam. 38 Ibn al-Qaṣṣār (gest. 397/1006) begann sein Werk zu fiqh al-ḫilāf mit einer Einführung zu ʿilm al-ǧadal und al-Ǧuwaynī (gest. 478/1085) verwendete den Großteil der Ergebnisse seiner dialektischen Analyse zu den Analogie- und Begründungsvorgängen (taqāsīm al-ʿilal wa-iǧrāʾ alaqyisa)39 in seiner Abhandlungal-Qiyās, einem wichtigen Teil von al-Burhān, um 38 Ähnlich unterschied Ibn al-Ḥāǧib (gest. 646/1248-9) in seinem einzigen Werk zur Rechtstheorie zwischen dem ʿilm uṣūl al-fiqh und dem ʿilm al-ǧadal. Er nutzte denselben dialektischen Hintergrund, um die Prinzipien des sogenannten tarǧīḥ (Abwägung) bei der Klassifizierung der Intentionsarten festzulegen. Schon in dieser frühen Phase wurde der Koraninterpretation ein offizieller intentionalistisch-methodischer Rahmen gegeben. 39 Vgl. ʿAbd al-Malik ibn ʿAbdallāh al-Ǧuwaynī: al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, hg. von ʿAbd alʿAẓīm ad-Dīb, 2 Bde., 2. Aufl., Kairo 1980, Bd. 2, S. 923-964.

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

die Verhältnisse zwischen Textdeutung und Kontext des Lebensvollzugs zu verdeutlichen.40 Die Auseinandersetzung mit dem analytischen Instrumentarium rief eine Reflexion über Wahrhaftigkeit und moralischen Wert des Handlungsvollzugs hervor, was eine theoretische Untersuchung des Verhältnisses zwischen Absicht und Grund der Offenbarung nach sich zog.41 So entwarf al-Ǧuwaynī das innovative Konzept einer fünfteiligen Kategorisierung von Motiven und Intentionen der Offenbarung (ʿilal und maqāṣid),42 in der die Kriterien und Grenzen des Analogieschlusses bei der theologischen Normenableitung aufgezeigt werden. Diese Überlegungen waren eine Art Grundsteinlegung für die Bedeutung der ethischen Implikation in der moralisch-theologischen Urteilsfindung. Zwischen fiqh als theologischem positivem und auf ritueller Praxis beschränktem Recht und ʿilm al-ǧadal als rein methodischer Disziplin, die sich primär mit Argumentationsfragen auseinandersetzte, ließ sich die Wissenschaft uṣūl al-fiqh ab dem 4./10. Jahrhundert durch ihre Verbindung von Offenbarung und Lebenswirklichkeit im Bereich der Ethik verorten. Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen textwissenschaftlich begründeter Normableitung aus Koran und Hadith und hermeneutischer Reflexion über theologisch-ethische Urteilsfindung wurde erst Anfang des

40 Eine der wichtigsten Phasen in der Entstehung der Intentionstheorie stellte laut Aḥmad ad-Dīb der Ansatz al-Ǧuwaynīs dar. Seit der postklassischen Ära war sein Hauptwerk al-Burhān für die Rechtsgelehrten die Hauptquelle der Rechtswissenschaft, wie es zuvor nur das ar-Risāla von aš-Šāfiʿī (gest. 204/820) in seiner Funktion als Referenzbuch für die Nachkommen gewesen war. Schon al-Ǧuwaynīs Vater hatte einen Kommentar zu ar-Risāla verfasst, der laut al-Ġazālī eine Wende mit Blick auf den Einflussbereich dieses Werkes auf die weitere Entwicklung der Rechtstheorie darstellt. Dass das Werk al-Burhān einen so großen Einfluss auf die spätere Wissenschaft von uṣūl al-fiqh gewann, ist vor allem al-Ǧuwaynīs Schüler al-Ġazālī zu verdanken. Auch der Begriff maqāṣid kann auf al-Ġazālī und al-Ǧuwaynī zurückgeführt werden. Al-Ǧuwaynī war einer der ersten, der diesen Begriff und einige seiner Synonyme wie aġrāḍ (Ziele) in seinen Analysen bewusst und sinngemäß einsetzte. Die Ableitung von Verund Geboten aus dem Koran ist nach al-Ǧuwaynī ohne die Berücksichtigung von maqāṣid kaum vorstellbar. (Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān, Bd. 2, S. 294f.) 41 Schon Ende des 3./9. Jh. untersuchte al-Ḥakīm at-Tirmiḏī (gest. 318/936) die Gründe und Ziele der Vorschriften der šarīʿa und gelangte so zum Begriff maqāṣid, der in zwei Werken von ihm erwähnt wird: im übertragenen Sinne in al-Ḥaǧǧ wa-asrāruhu (Die Pilgerfahrt und ihre Geheimnisse) und im eigentlichen Sinne in aṣ-Ṣalāt wa-maqāṣiduhā (Das Gebet und seine Zwecke). At-Tirmiḏī geht in seiner Argumentation jedoch weniger hermeneutisch als mystisch vor, indem er sich bei der Definition ethischer Maximen primär auf seine Intuition beruft. So fasst er z.B. die rationalen Ziele, die hinter dem Ritualgebet stehen sollen, als Erscheinungsbilder individueller Gotteserfahrung auf. (Vgl. Abū ʿAbdallāh Muḥammad ibn ʿAlī al-Ḥakīm at-Tirmiḏī: as-Ṣalāt wa-maqāṣiduhā, hg. von Ḥusnī Naṣr Zaydān, Kairo 1965, S. 12.) 42 Es scheint, als sei al-Ǧuwaynī tatsächlich der Urheber der fünfteiligen Kategorisierung der maqāṣid und der ʿilal šarīʿa. (Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šāṭibī, S. 49.) Auf diese Kategorisierung wird später noch im Detail eingegangen.

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1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen

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5./11. Jahrhunderts durch den Einfluss von kalām-Wissenschaft auf fiqh zum Angelpunkt von uṣūl al-fiqh. Im Zuge der Diskussion um die Bedeutung rationaler Werturteile (gut und böse) im Prozess der Normableitung aus dem Koran griffen al-Ġazālī und aš-Šīrāzī auf die rationaltheologischen Abhandlungen des berühmten Universalgelehrten al-Bāqillānī (gest. 403/1013) zurück, sodass ab dem frühen 5./11. Jahrhundert Elemente der philosophischen Ethik in die theologisch-hermeneutische Argumentation über Moral und Ethik miteinflossen.43 Obwohl überzeugter Ašʿarit, war al-Bāqillānī ein Anhänger des raʾy-Ansatzes, in dem die Vernunft Vorrang vor der Offenbarung hat. 44 Seine Abhandlungen haben dadurch einen tiefen hermeneutischen und textanalytischen Charakter, in dem weder Konzepte der theologischen Ethik, die Intentionstheorie eingeschlossen, noch Grundsätze der praktischen Moral zu finden sind.45 Seine sprachwissenschaftliche Kompetenz und seine tiefgründige Rhetorik verleihen seinen Analysen zum Koran einen literarischen Aspekt, dessen Einfluss weit über das 5./11. Jahrhundert hinausreichte. Die Zurückhaltung der Rationaltheologen, Ideen der praktischen Moral anzusprechen, geht darauf zurück, dass das Verhältnis zwischen Rechtstheorie und Rationaltheologie als interdisziplinär aufgefasst wurde. Der Weg, den die Rechtsgelehrten einschlugen (ṭarīqat al-fuqahāʾ), war von einer spekulativen Auffassung der Vernunft geprägt, während die Vernunft in der Herangehensweise der Rationaltheologen (ṭarīqat al-mutakallimīn) lediglich eine methodische Reflexionsebene war.46 43 Al-Bāqillānīs Werk at-Taqrīb wa-l-iršād fī tartīb ṭuruq al-iǧtihād gilt bis heute als Referenzquelle zum Verhältnis von Rationaltheologie und Rechtstheorie. (Vgl. Abū Bakr Muḥammad ibn aṭ-Ṭayyib al-Bāqillānī: at-Taqrīb wa-l-iršād aṣ-ṣaġīr, hg. von ʿAbd al-Ḥamīd ibn ʿAlī Abū Zunayd, 3 Bde., Beirut 1993-1998.) 44 Für eine allgemeine Betrachtung seiner Methodik siehe Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī (gest. 911/1505): al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, Beirut (Nachdruck), o.J. (im Anhang Iʿǧāz al-Qurʾān von al-Bāqillānī). 45 Dennoch wurde ihm, genau wie al-Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār (gest. 415/1024), später vorgeworfen, übertrieben philosophisch-ethische und sprach-logische Elemente in ihre rechtstheoretischen Abhandlungen integriert zu haben, obwohl al-Bāqillānīs Beitrag zur Etablierung der Intentionstheorie als wesentlicher Bestandteil der Rechtstheorie weder von einem uṣūl-Wissenschaftler noch von einem faqīh bestritten werden kann. (Vgl. Muṣṭafā ʿAbd ar-Rāziq: Tamhīd li-tārīḫ alfalsafa al-islāmiyya, Kairo 1966, S. 249.) 46 Als Rationaltheologen wurden bei Ibn Ḫaldūn (gest. 808/1406) vor allem die Ašʿariten alǦuwaynī und Abū Ḥāmid al-Ġazālī sowie die Muʿtaziliten ʿAbd al-Ǧabbār und Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī (gest. 436/1044) als Anhänger der taʿlīl-Theorie, genannt. Sie unterschieden in ihren Werken zwischen der Rechtstheorie (ʿilm uṣūl al-fiqh) und dem positiven Recht (fiqh). Hierbei wird deutlich, dass es keine kategorische Trennung zwischen den Schulen der ahl ar-raʾy und der ahl al-hadith gab, sondern in beiden Schulen iǧtihād praktiziert wurde. Ibn Ḫaldūn sieht jedoch die Vernunft lediglich als Instrument im Verständnisprozess der Überlieferung und kritisiert somit offensichtlich den apriorischen Vernunftbegriff der Muʿtazila (Vgl. alMuqaddima, hg. von Alī ʿAbd al-Wāḥid, Kairo 1962, Bd. 1, S. 350ff, und Bd. 3, S. 992-1110

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

Während die Verbindung zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und fiqh nie bestritten wurde, teilte sich kurz nach al-Bāqillānī ʿilm uṣūl al-fiqh in zwei Strömungen: Auf der einen Seite gab es Rechtsgelehrte, die sich den Inhalten der Rationaltheologie und der philosophischen Ethik bedienten, um theoretische Grundsätze ethischer Urteilsfindung unter Rückgriff auf Vernunft und Glaube zu definieren, und auf der anderen Seite entwickelte sich eine praktisch orientierte Rechtsmethodik, deren Anhänger von den Grundlagen der Dogmatik ausgingen, um zu einer kontextualen Normableitung zu gelangen. Diese letztgenannten fuqahāʾ hielten den Bezug zwischen der Rechtstheorie und dem positiven Recht aufrecht und konnten so jedem theoretischen Prinzip eine rein rechtliche Ausarbeitung zuordnen. Die Überzeugungskraft dieser Wissenschaftsdefinition von uṣūl al-fiqh im 5./11. Jahrhundert wird nachvollziehbar, wenn man beispielsweise das Wek Kitāb maʿrifat al-ḥuǧaǧ aš-šarʿiyya des Ḥanafiten Abū lYusr al-Bazdawī (gest. 493/1100) mit dem Werk al-Mustaṣfā von al-Ġazālī vergleicht. Es ist anzunehmen, dass die Gründer des „Weges der Rationaltheologen“ die wichtige Rolle von ʿilm uṣūl al-fiqh im Bereich der Koranwissenschaften erkannten und erfolgreich versuchten, die Perspektiven dieser Disziplin zu erweitern. Dabei beschränkten sie sich nicht mehr nur auf die Rechts- und Moralnormen (alaḥkām aš-šarʿiyya), wenn sie über die Theorie der „Rechtsfindungsgrundsätze“ reflektierten. Hierbei ging es nicht nur um inhaltliche und methodische, sondern auch um politische Beweggründe, da durch die Etablierung des „Weges der Rationaltheologen“ die politisch sehr einflussreichen Juristen geschwächt werden sollten. Alles in ʿilm uṣūl al-fiqh, und so auch die Lehren an sich, waren Mittel, um die Herrschaft der Juristen über die Gemeinschaft zu sichern und zu stärken. Wer nicht zu den Juristen (fuqahāʾ muǧtahidūn) gehörte, wurde aus der Gruppe ausgeschlossen, deren einheitlich vertretene Meinung in einer Frage aufgrund der Quelle des iǧmāʿ für alle nachfolgenden Generationen verbindlich ist. Die Rationaltheologen hofften, dass ihnen durch ihre Nutzung von ʿilm uṣūl alfiqh ebenfalls die machtvolle Bezeichnung als muǧtahidūn zukommen würde, um in die Gruppe der ahl al-ḥall wa-l-ʿaqd (die Gruppe derer, die die Macht besaßen, eine Bestätigung oder eine Anfechtung eines Gesetzentwurfs institutionell durchzusetzen) aufgenommen zu werden.47 Sie konnten dieses Ziel erreichen, indem sie die praktische fiqh-Ausübung durch einen muǧtahid als absurd bezeichneten. Ein muǧtahid ist nach ihrer Auffassung ein Gelehrter, der dadurch besonders qualifiziert sei, dass er die Methoden der Wissenschaft der uṣūl al-fiqh anwende, um sowie Bd. 3, S. 1035ff.). Zum rationaltheologischen Begründungsansatz siehe auch Ibn ʿᾹšūr: at-Taḥrīr wa t-tanwīr, Tunis, 1984, Bd. 1, S. 379-381, sowie Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, Casablanca/Beirut 1993, S. 138ff. 47 Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 134 sowie Bernhard G. Weiss: „Interpretation in Islamic Law: The Theory of Ijtihād“, in: The American Journal of Comparative Law 26 (1978), S. 199-212.

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1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen

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Rechtsgrundsätze im Sinne des Offenbarungstexts zu begründen und nicht um die bereits vorgenommenen Normenableitungen in Frage zu stellen. Die Rationaltheologen warfen ihrerseits die Frage auf, wie man bestätigen könne, dass eine alleinige vertiefte Kenntnis der bereits etablierten Rechtsgrundsätze ein Urteil über die Qualität eines muǧtahid zulässt. Dies würde nämlich bedeuten, dass die vorherige Kenntnis des Forschungsgegenstandes den Zugang zur theologischen Forschung und die Qualität des Forschers bedingt. Dieser Argumentation zufolge wäre die vernunftmäßige Urteilsfindung (iǧtihād) aus der Sicht der fuqahāʾ nicht mehr und nicht weniger als die Forschung nach etwas schon Bekanntem, was wiederum dem wahren Wesen der vernunftorientieren moralischen Urteilsfindung widerspricht. Für die Rationaltheologen können infolgedessen die Ableitungen der muǧtahidūn sowie die Kenntnisse von fiqh allersamt nicht Teil des „Instruments des iǧtihād“ (ālat al-iǧtihād) sein. Eine methodisch nachvollziehbare Definition des iǧtihād wäre, nach den Postulaten der Rationaltheologie, dadurch möglich, dass die reine Methodenlehre vonʿilm uṣūl al-fiqh von der Normenlehre des fiqh strikt getrennt wird, sodass grundsätzlich ein kritischer Zugang zum Erkenntnisrahmen des praktischen Rechts und eine rationale Auseinandersetzung mit deren theologisch-ethischen Grundlagen gewährleistet werden können. Auch wenn Ibn Ḫaldūn den „Weg der Juristen“ und den „Weg der Rationaltheologen“ so darstellte, als unterschieden sie sich nur in der Herangehensweise, ging es den Rationaltheologen in Wahrheit darum, die Disziplin der Normenlehre neu zu strukturieren und zu definieren. Falls „die“ Rationaltheologen die Form der Fragen des fiqh „enthüllten“, dann geschah das nicht, um dieses besser zu formalisieren, sondern um ʿilm uṣūl al-fiqh vom fiqh loszulösen. Die Reaktion der Juristen, die ebenfalls gute Argumente sowie Erfahrung in Dialektik hatten, ließ nicht lange auf sich warten.48 Auch in anderen Punkten bezüglich der uṣūl al-fiqh verbreiterte sich die Kluft zwischen den Juristen und den Rationaltheologen. Die Juristen hielten jedoch an ihren textgebundenen und traditionstreuen theoretischen Prinzipien und ihren Methoden zum Verständnis des Rechts fest und erhoben den Anspruch auf die Allgmeingültigkeit dieser Prinzipien selbst für den Bereich der Rationaltheologie. Darüber hinaus machten sich besonders die Ašʿariten zur Zeit al-Bāqillānīs Gedanken, in der die Grenzen zwischen rationaler und juristischer Denkmuster noch fließend waren und in der man versuchte, die Normenableitung rational, ethisch und theologisch zu begründen. Der Gefahr einer Verabsolutierung eines kontextgebundenen und von Menschen abgeleiteten Normensystems bewusst, sprach sich al-Bāqillānī ausdrücklich für die rationale Begründung theologischer Moral- und Rechtsnormen aus, obwohl seine Zeitgenossen die beschriebene Entwicklung mit großer Sorge sahen, vor allem, weil die Juristen durch die Entwicklung der 48 Vgl. Abū l-Ḥaǧǧāǧ Yūsuf ibn Muḥammad al-Miklātī (gest. 626/1229): Lubāb al-ʿuqūl fī r-radd ʿalā l-falāsifa fī ʿilm al-uṣūl, hg. von Ahmed Alami-Hamedane, Philosophische Fakultät Fes 2012, S. 409.

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

koranischen Lexikologie vermehrt feststellten, dass es sich bei den Rechtsbegriffen oder „juristischen Termini“ (al-asmāʾ aš-šarʿiyya) um vieldeutige Lexeme handelt, deren juristischer Sinn aus deren allgemeinen theologischen Sprachgebrauch im Koran einerseits sowie aus deren konventionellen linguistischen Bedeutung andererseits abgeleitet wird. Die Einmischung der Rationaltheologen in den Bereich von uṣūl al-fiqh kann an zwei Faktoren festgemacht werden: Auf der einen Seite missfiel ihnen die Herrschaft der Juristen auf diesem Gebiet, weil sie deren Umsetzung und Methode für inadäquat hielten. Auf der anderen Seite waren deren Themen in der wissenschaftlichen Diskussion keineswegs rein juristischer Natur, was wiederum zu theologischen Spannungen führte. In diesem Kontext sollte noch einmal das alBurhān von al-Ǧuwaynī erwähnt werden, in dem kein Zweifel daran gelassen wird, dass der Weg der Juristen falsch und der der Rationaltheologen richtig sei. So reagiert er auf die von dem Muʿtaziliten al-Kaʿbī (gest. 319/931) formulierte Ablehnung des Erlaubten in der šarīʿa wie folgt: „Wer die Rolle der [ethischen] Intentionen (maqāṣid) bei [der Ableitung von] Geboten und Verboten nicht wahrnimmt, kann keine klare Sicht in den Fragen der šarīʿa haben.“49 Die Diskussion zwischen Rationaltheologen und Rechtsgelehrten um Werturteile lief auf die Kontroverse zum Grundkonzept theologischer Ethik hinaus, was die Frage der rationalen Begründung göttlicher Gebote aufwarf. Infolge dieser Idee einer Begründung (taʿlīl), der die rational erschlossenen ethischen Maximen zugrunde lagen, versuchte al-Ǧuwaynī durch den maqāṣidBegriff zwischen der rational nachvollziehbaren und weltlich unbegründbaren Bildung theologischer Urteile (aḥkām) zu unterscheiden.50 Er unterteilte alle Gesetzgebungen und Vorschriften der šarīʿa nach ihren Intentionen in fünf Kategorien: 51 a) Gesetzgebungen, die mit grundlegenden und notwendigen Zielen (ḍarūrāt) verbunden sind, wie z.B.: Die Bestrafung des Mörders (qiṣāṣ; wörtl. Wiedervergeltung) lässt sich durch die Notwendigkeit zum Schutz des Lebens unschuldiger Dritter durch Abschreckung (ḥifẓ ad-dimāʾ al-maʿṣūma) begründen. 49 Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān, Bd. 1, S. 295 (für das arab. Original siehe unten, S. 217); zum Werk al-Ǧuwaynīs vgl. auch Tilman Nagel: Die Festung des Glaubens. Triumph und Scheitern des islamischen Rationalismus im 11. Jahrhundert, München 1988. 50 Diese Analyse entstammt dem Kapitel al-Qiyās (Die Analogie). Die Unterscheidung der verschiedenen maqāṣid und ʿilal zielte darauf ab, die Durchführbarkeit der Analogie bei der Gesetzgebung zu überprüfen. (Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān, Bd. 2, S. 923-964.) 51 Die folgende Aufstellung basiert auf Mohammed Nekroumi: „Koraninterpretation im Kontext intentionalistischer Rechtstheorien. Zu argumentativen und kommunikationstheoretischen Aspekten göttlicher Offenbarung in Šāṭibīs (gest. 780/1388) maqāṣid-Theorie“, in: Mohammed Nekroumi/Jan Meise (Hg.): Modern Controversies in Qur’anic Studies, Berlin 2009, S. 153196.

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1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen

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b) Gesetzgebungen, die im Zusammenhang mit dem Gemeinwohl (maṣlaḥa) stehen, jedoch die Stufe der notwendigen Zielsetzung nicht erreicht haben, wie z.B. die zwischenmenschlichen Beziehungen im Kontext sozialer Interaktion. 52 c) Gesetzgebungen, die weder mit notwendigen noch mit gemeinnützigen Anliegen im Zusammenhang stehen, sondern vielmehr mit dem Streben nach gutem Benehmen und der Ablehnung des Schlechten, wie z.B. die rituelle Waschung und die Regeln zur Einhaltung der Sauberkeit (ṭahāra).53 d) Gesetzgebungen, die weder mit einem Bedarf noch mit einer Notwendigkeit zu tun haben. Es handelt sich hier um gute Taten, für die es kein ausdrückliches Gebot in der šarīʿa gibt und die deswegen fakultativ sind.54 e) Gesetzgebungen, für die keine Begründung in der šarīʿa vorliegt und hinter denen keine ethische Intention erkennbar ist. Da aber hinter allen Gesetzgebungen der šarīʿa nachvollziehbare ethische Zielsetzungen anzunehmen sind, ist diese Kategorie sehr eingeschränkt insofern, als nach der šarīʿa auch Rituale und Gebete klaren ethischen Zielen zugeordnet werden können, wie z.B. dem Erhalt des menschlichen Anstands (vgl. Q 29:45). Daher verbleiben in dieser Kategorie nur einzelne detaillierte Bestimmungen in Bezug auf die Rituale, wie etwa die Formen der Bewegung und die Zahl des Niederkniens beim Gebet (ṣalāt) sowie die Festlegung der Fastenzeit auf keinen anderen Monat als den Ramadan, die sich kaum einer rationalen Zielsetzung unterordnen lassen.55 Die Betrachtung dieser Kategorien macht deutlich, dass al-Ǧuwaynīs Auffassung mit Blick auf die Intention des Gesetzgebers den später entwickelten drei Kategorien der ethischen Absichten der šarīʿa in der Rechtstheorie als theoretische Grundlage diente, nämlich den ḍarūriyyāt (notwendige ethische Maxime), den ḥāǧiyyāt (bedürfnisbezogene ethische Maxime) und den taḥsīniyyāt (wohlfahrtsorientierte ethische Maxime). Des Weiteren diente der von ihm entworfene Begriff aḍḍarūriyyāt al-kubrā (grundsätzliche ethische Maxime) als Hintergrund für die Hauptzielsetzungen ethischen Urteils, die für den Normableitungsprozess in der postklassischen Rechtstheorie als unentbehrlich galten. Besonders die fünf ethischen Maxime (aḍ-ḍarūriyyāt al-ḫams)56 galten seit der Standardisierungsphase der Intentionstheorie, dank al-Ġazālīs al-Mustaṣfā, als Hauptbestandteil, ja Grundstein rational orientierter Normableitung, wie etwa bei den ahl ar-raʾy (Anhänger [vernunftgestützter] Meinung). Der innovative Charakter von al-Ġazālīs Werk geht nicht nur aus seinem hervorragenden Systematisierungsversuch hervor, sondern 52 53 54 55 56

Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān, Bd. 2, S. 923-927. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 924-937. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 947. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 958. Es handelt sich hierbei um die fünf Maximen der Gesetzgebung im Islam. Der Gesetzgeber zielt laut dieser Sicht durch die Formulierung der šarīʿa darauf ab, fünf Grundlagen des weltlichen Lebens zu schützen und zu erhalten: dīn (Glaube), nafs (Seele/Leben), ʿaql (Vernunft), nasl (Nachwuchs), māl (Eigentum).

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

offenbart sich auch in der ethisch-theologischen Verbindung, die zwischen maqāṣid und maṣāliḥ (menschliche Interessen/Gemeinwohl; Sg. maṣlaḥa) hergestellt wird. Bemerkenswert war dabei die Klassifizierung menschlicher Interessen nach dem Grad ihrer Wichtigkeit bzw. Eindeutigkeit, was als Hintergrund für die Hierarchie der maṣāliḥ auf der Grundlage ihrer Stellung in der bereits definierten dreiteiligen Prioritätenabstufung diente: notwendige Maxime (ḍarūriyyāt), bedürfnisbezogene Maxime (ḥāǧiyyāt) und wohlfahrtsorientierte Maxime (taḥsīniyyāt).57 1.2.2. Die Ethikfrage im Lichte der maqāṣid-Theorie: šarīʿa, fiqh, aḫlāq Geprägt durch den Geist der frühislamischen fruchtbaren Diskussion zwischen Rationaltheologen und Juristen um das Wesen göttlichen Rechts lässt sich das Erbe aš-Šāṭibīs als Krönung jener Tradition betrachten, die den Versuch einer Annäherung zwischen Normenlehre und Theologischer Ethik wagte. Eines der wichtigsten Merkmale von aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theorie liegt in der Grundidee, dass der Begriff šarīʿa in seiner umfassenden Bedeutungstiefe als theologische Ethik im Sinne von ʿilm al-aḫlāq neugelesen werden kann. Diese Gleichsetzung beruht nicht nur auf der reichhaltigen islamischen Tradition zur Tugendlehre, sondern auch auf der bereits in der zeitgenössischen Rationaltheologie herausgearbeiteten Definition, nach der das Anliegen theologischer Ethik in der Auseinandersetzung „mit der sittlichen Orientierung des Lebens und Handelns einer bestimmten [Glaubens-] Gemeinschaft von Menschen“58 liegt. In der šarīʿa lässt sich ebenso die von alǦābirī dem Begriff ʿilm al-aḫlāq zugeschriebene Eigenschaft erkennen, Bestandteil im Rahmen ihrer öffentlichen Funktion an der vernunftorientierten Diskussion über moralische und rechtsethische Fragen zu sein Nach diesem weiten Begriff von šarīʿa als „theologische Ethik“ könnte ʿilm al-aḫlāq als eine Teildisziplin der šarīʿa gelten, deren Zuständigkeitsbereich der allgemeinen ethischen Ausrichtung zugeordnet werden kann, zumal nach al-Ǧābirī ʿilm al-aḫlāq keine Eigenständigkeit in der theologischen Tradition zugestanden wurde.59 Auf die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen ʿilm al-aḫlāq und fiqh als Moraltheologie innerhalb der šarīʿa bestimmen lässt, gingen die islamischen Rechtsgelehrten bis zu al-Ġazālīs Tod in unterschiedlicher Weise ein, ohne jedoch zu einer wissenschaftlichen Systematisierung des Verhältnisses der Moralnorm zum 57 Al-Ġazālī legte besonderen Wert auf die feinen Unterschiede zwischen diesen Kategorien, wobei er stets darauf hinwies, dass die Formulierung und Klassifizierung von Moral- und Rechtsnormen (al-aḥkām aš-šarʿiyya) nach Priorität dem iǧtihād (selbständige Urteilsfindung) des Gelehrten überlassen ist. Die Besonderheit seines Ansatzes liegt jedoch darin, dass er die Intentionen als Bestandteil der dem Text gehörenden Situationsfaktoren zurechnet, was die Voraussetzungen für die Entstehung einer neuen Auffassung der Rechtsableitung hervorbrachte. (Vgl. Abū Ḥāmid al-Ġazālī: al-Mustaṣfā min ʿilm al-uṣūl, 2 Bde., Damaskus o.J., Bd. 1, S. 286-293, 325.) 58 Fischer: Theologische Ethik, S. 78. 59 Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, S. 8; Fischer: Theologische Ethik, S. 78.

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ethischen Prinzip zu gelangen. Wie richtungsweisend und innovativ aš-Šāṭibīs Werk in dieser Frage ist, sieht man in seinen Ideen zu Anliegen und Geltungsbereich der šarīʿa, in denen das Verhältnis zwischen ethischer Ausrichtung in Form von maqāṣid und Moralnorm in Form von aḥkām wie in kaum einem anderen Ansatz der Rechtstheorie systematisiert und hierarchisch aufgestellt wurde. Wie schon im Vorwort detaillierter beschrieben, weisen die von aš-Šāṭibī der šarīʿa zugeschriebenen drei Kategorien der Zielsetzung ethischer Urteilsfindung den Weg zu einer ausgewogenen Verhältnisbestimmung zwischen Moralpflicht und Tugend. Während die sogenannten ḍarūriyyāt auf die Regelung moralischen Verhaltens ausgerichtet sind, sind ḥāǧiyyāt „bedürfnisbezogene“ und die taḥsīniyyāt „wohlfahrtorientierte“ Maxime und im Bereich der Tugenden anzusiedeln. Die ḥāǧiyyāt implizieren nach aš-Šāṭibī jene normativen Aspekte, die fakultativ einzusetzen sind, um die mit der Umsetzung von Pflichten einhergehenden Mühen zu verringern. Aš-Šāṭibī stellt sie hierarchisch unter die ḍarūriyyāt-Maximen. Die taḥsīniyyāt-Maximen, welche dem Wohlbefinden der Gläubigen dienen sollen, werden nun den ḥāǧiyyāt-Maximen untergeordnet. Da die taḥsīniyyāt-Maximen in keinem direkten Verhältnis zu den ḍarūriyyāt-Maximen stünden, sei die Rechtmäßigkeit ethischen Verhaltens ohne deren Einfluss sichergestellt. 60 Beispielhaft hierfür sind die Empfehlung, Sklaven zu befreien, die Pflicht zur Großzügigkeit gegenüber Armen und die Vorgaben zum Verhalten auf öffentlichen Plätzen wie z.B. am Ende des Testaments von Luqmān (waṣiyyat Luqmān): „O mein Sohn, verrichte das Gebet, gebiete das Rechte und verbiete das Verwerfliche und ertrage standhaft, was dich trifft. Gewiss, dies gehört zur Entschlossenheit (in der Handhabung) der Angelegenheiten (17). Und zeige den Menschen nicht geringschätzig die Wange und gehe nicht übermütig auf der Erde einher, Allah liebt niemanden, der eingebildet und prahlerisch ist (18). Halte das rechte Maß in deinem Gang und dämpfe deine Stimme, denn die widerwärtigste der Stimmen ist wahrlich die Stimme der Esel (19).“ (Q 31:17-19) Dass die šarīʿa ohne ethische Implikationen kaum vorstellbar wäre, legt bereits ihre von den fiqh-Gelehrten festgelegte Zielsetzung nahe, die zentralen Bereiche des Lebens und Daseins im Sinne Gottes zu regeln. 61 Aš-Šāṭibī verdeutlicht den 60 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Beirut o.J., Bd. 2, S. 7. 61 Welche Bereiche des Lebens die šarīʿa regeln sollte, war zunächst umstritten, aber mit der Zeit wurde aus dem Rechtskonzept eine allumfassende Ethiktheorie, was im Zuge der Analyse erläutert wird. Laut Nagel wird eine umfassendere Bandbreite des Wirkungsbereichs der šarīʿa formuliert, bei der das Gottesrecht „alle Angelegenheiten des Lebens, die überhaupt auftreten können, umfasst, seien es solche des Glaubens und des Ritus, seien es solche der Beziehungen [der Menschen untereinander], der Verwaltung […], der Politik, der Gesellschaft, seien es die unterschiedlichen Bindungen zwischen den Individuen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft oder zwischen ihr und anderen ihr friedlich oder feindlich gesonnenen

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

Anspruch auf umfassende Geltung, den die göttliche Weltordnung im Islam mithin erhebt, wie folgt: „Das Festlegen von Gesetzmäßigkeiten dient indes dem Wohlergehen der Menschheit, sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft“.62 „Und ich meine mit ‚Wohlergehen‘ [alles] das, was sich auf die ‚Praxis‘ des menschlichen Lebens und die Vollkommenheit seines Daseins bezieht, sowie dass er ohne Ausnahme zu dem befähigt wird, was ihm beim Nachgehen seiner geistigen und körperlichen Bedürfnisse hilft, damit er ein erfülltes Leben führt.“63 Aš-Šāṭibī erinnert durch seine Theorie der Zielsetzungen theologischer Ethik daran, dass die Offenbarung zum Leben gehört, bevor sie sich ins Exil der Schrift begibt. Šarʿ (die moralische Instanz) bedeutet den Eintritt Gottes durch Gesetze und Verordnungen in die Welt, mit dem Ziel, einen Weg (šarīʿa)64 zu Ihm aufzuzeigen. Der Wegweiser im Bereich zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen ist das Streben nach richtigem Verstehen (fiqh).65 Der Prozess des Verstehens fügt der bloßen Handlungsvorschrift des Verbots bzw. Gebots die fehlende moralische Beurteilung hinzu. Eine korrekte moralische Beurteilung setzt jedoch eine genaue Kenntnis von Gottes Willen im Bereich des menschlichen Lebens voraus, wohl wissend, dass die aus dem fiqh-Prozess entstandene Erkenntnis bei der Urteilsfindung lediglich relative Gewissheit erlangen kann.66 Eine selbstständige Auslegung der Quellen setzt daher die Notwendigkeit eines vermuteten Wissens67 voraus. Die Gewissheit liegt eher im moralischen Handeln als

62 63 64 65

66 67

Gemeinschaften. [Dies alles regelt die šarīʿa] in einer Art und Weise, die die Lösung der Probleme, die Abwehr von Verwirrung und die Behebung von Schwierigkeiten und Beständigkeiten auf dem richtigen Weg und im höchsten Ideal garantiert.“ (Nagel: Das islamische Recht, S. 3.) Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 4. Ebd., Bd. 2, S. 20. Für den arabischen Wortlaut siehe unten, S. 217. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes šarīʿa, nämlich „Weg zur Tränke“, schwingt in dem Fachterminus aber noch mit, da šarīʿa hier auch als „Weg zum Heil“ verstanden wird. Laut Reinhardt ist mit fiqh im Allgemeinen der Prozess gemeint, der zu „Verständnis und Erkenntnis“ in einer Entscheidung führt und der sich bei der Urteilsfindung mit der Ableitung der Rechtsnormen aus den Textquellen befasst und als ʿilm uṣūl al-fiqh, aber auch als „Rechtstheorie“ oder „Fundamentwissenschaft“ bezeichnet wird. (Vgl. A. Kevin Reinhart: „Islamic Law as Islamic Ethics”, in: Journal of Religious Ethics 11/2 (1983), S. 186-203.) Eine absolute Sicherheit des in den Dingen Verborgenen ist nach aš-Šāfiʿī einzig und allein das Vorrecht Gottes (Calder: „Ikhtilāf and Ijmāʿ in Shāfiʿi’s Risāla”, S. 78). Als „Wissen“ werden in der theologischen Tradition Kenntnisse bezeichnet, die „von Gott den Menschen übermittelt, unumstößlich wahr sind“ (Nagel: Das islamische Recht, S. 13). In seinem theologischen Traktat al-Wāḍiḥ unterteilt Ibn ʿAqīl (gest. 513/1119) das Wissen in drei Bereiche: „Ein Bereich, der nur durch die Vernunft erkennbar ist, […] ein Bereich, der nur durch die Offenbarung erkennbar ist […], und ein Bereich, der gleichermaßen durch Offenbarung und Vernunft erkennbar ist.“ Abū l-Wafāʾ ibn ʿAqīl: al-Wāḍiḥ fī uṣūl al-fiqh, 5 Bde., Beirut 1999, Bd. 1, S. 64.

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im Wissen, das unvollkommen, von Endlichkeit gekennzeichnet und immer nur ein Versuch ist, das Verborgene eines Handlungsziels zu antizipieren.68 Die gewonnene Beurteilung (ḥukm) am Ende dieses vom Glauben geleiteten Erkenntnisprozesses wird untermauert durch den Rückgriff auf die vier auf Offenbarung gegründeten Fundamente (uṣūl) und ist daher wahrhaftig und moralisch gültig. Welche Rolle bei der Ableitung von Rechtsnormen die Vernunft spielt, klang bei der Hierarchie der normativen Quellen sowie bei der Stellung des Menschen in Bezug auf die Offenbarung schon an. 69 Anders als in der Rationaltheologie, in der es um die Symmetrie des Verhältnisses zwischen Vernunft und Offenbarung im Prozess der Erkenntnis ging, beschränkten sich die Rechtstheoretiker auf die Funktion der Vernunft als Weg zur Gottesintention und als Instanz zur Beurteilung der irdischen Tugenden.70 Fortan waren viele Rechtsgelehrte der Ansicht, dass die Qualität moralischen Handelns in seinem Vollzugszusammenhang durch den „gesunden Menschenverstand“ hinsichtlich weltlichen Werturteils erkennbar sei. 71

68 Die Rechtsableitung aus den Textquellen wird nicht jedem Einzelnen nach Gutdünken erlaubt. Seine zugrunde liegende Methodik ist durch die Wissenschaft der uṣūl al-fiqh bestimmt, in deren Werken die vier Hauptsäulen der Rechtstheorie, nämlich die normativen Quellen (aladilla aš-šarʿiyya), die Struktur der Rechtsnormen (binyat al-ḥukm aš-šarʿī), die interpretative Methodik der Ableitung von Gesetzen (manhaǧ al-istiqrāʾ) sowie die selbständige Urteilsfindung (iǧtihād) erläutert werden, die der faqīh neben den Hilfswissenschaften wie etwa Sprachwissenschaft, Logik und Argumentation beherrschen soll. (Vgl. Norman Calder/M. B. Hooker: „Sharīʿa“, in: EI2, URL: http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaediaof-islam-2/sharia-COM_1040?s.num=185&s.start=180, letzter Zugriff: 16.02.2017.) 69 Vgl. u.a. Birgit Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, Berlin 2002, S. 87ff. 70 Der Frage, inwiefern eine Verbindung zwischen Verstand und Offenbarung geschaffen wird, sodass die göttliche Ordnung nicht einfach Glaubenssache des Einzelnen wird, widmet sich grundsätzlich die Theologie. (Vgl. u.a. George Makdisi: Religion, Law and Learning in Classical Islam, Hampshire/Brookfield 1991, S. 62.) 71 Im 3./9. Jh. spalteten sich die islamischen Gelehrten in solche, die davon ausgingen, dass genügend Wissen zur Beurteilung moralischen Verhaltens vorhanden sei, und jene, die wieder verstärkt auf die eigentlichen Quellen, also auf die oben genannten Quellen der islamischen Rechtswissenschaft, zurückgreifen wollten. Zwei wenig strukturierte Bewegungen herrschten im 3./9. Jh. vor: zum einen „die Leute der Tradition“ (ahl al-ḥadīṯ), denen Mālik b. Anas vorstand und die ihren Sitz in Medina hatten, zum anderen die „Anhänger der Ratio“ (aṣḥāb arraʾy), angeführt von Abū Ḥanīfa (gest. 150/767) und seinen zwei großen Begleitern Abū Yūsuf (gest. 182/798) und aš-Šaybānī (gest. 189/805), deren Schule in Kufa dominierte. Diese Teilung bleibt allerdings schematisch, da die Entstehung und Entwicklung des maqāṣid-Ansatzes eher bei denen zu beobachten war, die zu den aṣḥāb as-sunna gerechnet wurden. Aš-Šāfiʿī änderte die Differenzierung der Schulen nach „lokalen Merkmalen“ in eine Unterscheidung nach „personellen Merkmalen, wonach die ersten die „Anhänger von Mālik“ und die zweiten die „Anhänger von Abū Ḥanīfa“ genannt wurden. Aš-Šāfiʿīs Einrichtung der Wissenschaft der uṣūl al-fiqh hatte eher mit der Art und Weise zu tun, wie in diesem Zusammenhang die Rechtsvorstellungen rivalisierten und sich aus dieser konfliktreichen Situation herauskristallisierten. (Vgl. u.a. Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, S. 64-69.)

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

1.2.3. Glaubensorientierte Lebensführung im Verhältnis von Anerschaffenheit (fiṭra) und Vernunft (ʿaql)72 Da es sich bei der šarīʿa um eine göttliche Weltordnung handelt, sind die Quellen moralischer Verpflichtung, nach jussiver Deutung, überlieferte Aufforderungsakte, die nicht durch den Verstand ersonnen, sondern durch den Koran offenbart und in der Hadith-Tradition gesammelt und erläutert wurden. Laut aš-Šāṭibī rührt der eindeutige Vorrang der göttlichen Offenbarung gegenüber dem Verstand daher, dass der Mensch zwar ein verlässliches Wissen benötigt, um moralisches Verhalten mit seiner komplexen Verstrickung in der menschlichen Realität bewerten zu können, jedoch steht die Offenbarung krönend als Schlussstein jeder Handlungskausalitätskette, um sie zu legitimieren oder außer Kraft zu setzen.73 Fiqh-Wissen kann die apriorische Vernunft deswegen nicht erbringen, weil sie nur das sieht, was ihrem eigenen Entwurf entspringt. 74 So entsteht zwischen Offenbarung und Vernunft ein dialektisches Verhältnis, welches einem Doppelprinzip der Bestimmtheit unterworfen scheint, das dem Auslegungsprozess von fiqh dem hermeneutischen Verstehen eines Diskurses durch die Wechselbeziehung zwischen Teil und Ganzem annähert. Der Mensch kann nur den Teilbereich der göttlichen Weltordnung begreifen, zu dessen Verständnis Gott ihn per „Veranlagung“ befähigt hat. Was es aber mit dem Verhältnis von Veranlagung und Verpflichtung auf sich hat, lässt sich nur anhand einer Klärung der gegenseitigen Verstrickung von moralischer Verantwortlichkeit des Menschen und 72 Den Überlegungen dieses Abschnitts dient folgender Aufsatz als Grundlage: Nekroumi: „Die theologisch-ethische Ausrichtung der Scharia zwischen Gottesrecht und Gemeinwohl“. Bei dem Begriff fiṭra handelt es sich um die gute Veranlagung des Menschen, die auch als Hang zum Guten gedeutet wird. In diesem Sinne wird Anerschaffenheit definiert. 73 Das klare Bekenntnis der Rechtsgelehrten zum Vorrang der Offenbarung gegenüber der Vernunft wird oft auf die in der Spätphase der mündlichen Überlieferung herrschende Skepsis und das Misstrauen gegenüber dem menschlichen Verstand zurückgeführt, die aus der Furcht des aufgrund schwacher Überlieferungsketten hervorgerufenen spekulativen Denkens entstanden. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, S. 11-13.) 74 Laut ʿAbd ar-Raḥmān lässt nicht der Verstand den Menschen unterscheiden [was unterscheiden; oder ist die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier gemeint?], sondern die Ethik. Sie sei dem Menschen angeboren und prägender als der Verstand, den auch Tiere haben. Sie sei unvergänglich. Der Verstand sei unbeständig, und daher könne man sich nicht auf ihn stützen. Folglich sei der Verstand nicht unabhängig. ʿAbd ar-Raḥmāns Einwand betrifft die Gelehrten, die den Verstand als Verantwortungsträger sehen, im Gegensatz zu denen, die die Handlung verantwortlich machen, weil sie der Theorie der Philosophen zustimmten, die den Verstand als einziges Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier ansahen, von dem der Mensch profitiert. Er sagt: „Warum kann es nicht sein, dass das Vermögen des Verstandes des Menschen dasselbe Auffassungsvermögen ist, wie die Tiere es auch besitzen, das sie zu ihrem Futterplatz führt und das ihnen hilft, zwischen Nützlichem und Schädlichem zu unterscheiden. Weiterhin zeigt es ihnen den kürzesten Weg zu ihrem Schlafplatz, selbst wenn sie mehrere Versuche benötigen. Es ist wirklich erstaunlich, dass die muslimischen Gelehrten als Besonderheit des Menschen nur den Verstand hervorheben.“ (Vgl. Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān: Suʾāl al-ʿamal, Casablanca 2012, S. 80f.)

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1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen

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Sinnhaftigkeit seines Daseins sehen. Hier wird mit der Vorstellung der Anerschaffenheit als Dreh- und Angelpunkt ethischer Ausrichtung die „Entzweiung“ von Offenbarung und Vernunft zunächst aufgehoben. Im Gegensatz zur Lesart der deterministischen Rationaltheologie, die in der Anerschaffenheit einen Gegenpol zur Vorherbestimmung sieht, weist Ibn ʿĀšūr in Anlehnung an aš-Šāṭibīs maqāṣidBegriff auf die Äußerung Gottes hin, die die „anerschaffene Unschuld“ als Gottes Schöpfungsplan nennt.75 „So richte dein Gesicht aufrichtig zur Religion hin als Anhänger des rechten Glaubens, – (gemäß) der natürlichen Anlage Allahs, in der Er die Menschen erschaffen hat. Keine Abänderung gibt es für die Schöpfung Allahs. Das ist die richtige Religion. Aber die meisten Menschen wissen nicht.“ (Q 30:30) Aš-Šāṭibīs fiṭra-Begriff entspringt keiner fatalistischen Deutung göttlichen Wirkens in der Welt, sondern einer dynamischen Idee, der zufolge jede Urteilsfindung das Produkt eines Abwägungsprozesses ist, bei dem Glaube und Vernunft gleichermaßen beteiligt sind. So lässt sich aš-Šāṭibīs Ethik, trotz seines Bekenntnisses zur Ašʿariyya, nur schwer in eine der bekannten rationaltheologischen Denkströmungen einordnen.76 Laut den Verfechtern der Willensfreiheit in der islamischen Rationaltheologie, wie etwa al-Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār, hat der Mensch von seiner Geburt an die Fähigkeit (ahliyya), Gottvertrauen anzunehmen.77 Diese Fähigkeit besitze er, weil Gott den Menschen, sofern er bei „gesundem Verstand“ sei, mit einer instinktiven Vernunft und einem Gewissen geschaffen habe. Wird die menschliche Empfindlichkeit berührt, wenn es um moralisches Wissen geht, so sei es die Pflicht des Menschen, nach seinem von Gott gegebenen moralischen Gewissen zu handeln. Werde einem mündigen Erwachsenen ein Anlass gegeben, moralisch zu handeln, dann solle er dies tun, und zwar nicht, weil er dazu aufgefordert sei, sondern gemäß der ethischen Verantwortung, die ihm auferlegt wurde. Der Philosoph Ibn Sīnā unterscheidet allerdings zwischen instinktiver und wahrhafter Veranlagung, wobei er nur der letzteren den Begriff fiṭra zuspricht und sie mit der Vernunft gleichsetzt. Die wahrhafte Veranlagung (fiṭra) manifestiere sich 75 Vgl. Ibn ʿĀšūr: Maqāṣid aš-šarīʿa al-islāmiyya, S. 54. 76 In seinem Korankommentar al-Kaššāf deutet az-Zamaḫšarī den Begriff fiṭra als angeborene Fähigkeit zur Ergebung in den Gotteswillen (islām) und als Prädisposition zum Monotheismus, welcher bereits von den früheren Buchreligionen verkündet wurde, so wie aus Q 42:13 hervorgeht: „Er hat euch von der Religion festgelegt, was Er Nūḥ anbefahl und was Wir dir (als Offenbarung) eingegeben haben und was Wir Ibrāhīm, Mūsā und ʿĪsā anbefahlen: Haltet die (Vorschriften der) Religion ein und spaltet euch nicht darin (in Gruppen). Den Götzendienern setzt das schwer zu, wozu du sie aufrufst. Allah erwählt dazu, wen Er will, und leitet dazu, wer sich (Ihm) reuig zuwendet.“ 77 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Šarḥ al-uṣūl al-ḫamsa, hg. von ʿAbd al-Karīm ʿUṯmān, Wahba-Verlag, Kairo 2006, S. 88ff. Bei dieser Ausgabe handelt es sich um eine kritische Paraphrase des Werkes von ʿAbd al-Ǧabbār durch Aḥmad Mānkdīm Šašdīw (gest. ca. 425/1034).

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

unter anderem in hypothetischen und rational verifizierbaren Vorsätzen sowie bewährten und allgemein verbreiteten Ideen und Weisheiten, deren Wahrheitsgehalt entweder von der sittlichen Konvention bezeugt wird, wie der Satz „Gerechtigkeit ist schön!“, oder vom gesellschaftlichen Konsens. 78 Aus der Perspektive des maqāṣid-Ansatzes entspringt die „anerschaffene Art“ des Menschen einer intentionalen Handlung Gottes, die sich gemäß dem zwischen Gott und seinem Geschöpf in der Präexistenz geschlossenen Bund (mīṯāq) vollzieht und im ḥanīfischen Urmonotheismus ihren äußeren Ausdruck findet. 79 Die Quellen der šarīʿa bilden gemeinsam mit den Lebenszusammenhängen Auslegungsindizien, die dem Wiederentdeckungsprozess der fiṭra als Hintergrund dienen können. Die intentionalistische Moraltheorie setzte sich durch ihr Verständnis der fiṭra als Handlungsauftrag über den rationaltheologischen Konflikt zwischen den Verfechtern der Prädestination und denen der Willensfreiheit hinweg. 80 Das Paradoxon, dem zufolge die Anerschaffenheit ein Ziel an sich sein sollte, obwohl sie schon als Ausgangspunkt des Schöpfungsakts ein anderes Ziel verfolgt, wäre auf diese Weise gelöst, wenn man den Weg des Gläubigen nicht unbedingt als Vorwärtsbewegung (in eine für ihn unbekannte Zukunft) versteht, der er machtlos ausgeliefert zu sein scheint, sondern als Rückwärtsbewegung in Richtung seines ursprünglichen Glaubenszustands.81

78 Ibn Sīnā: Kitāb an-Naǧāt, hg. von Majid Fakhry, Beirut 1985, S. 99. Dass fiṭra mit dem Verstand identifizierbar sei, wurde bereits von einigen Theologen des 3. Jh. betont. In diesem Zusammenhang hebt al-Ḥāriṯ al-Muḥāsibī (gest. 243/857) das schöpfungstheologische Verhältnis zwischen fiṭra und ʿaql hervor, indem er erläutert: „So erwählte Er Adam und seine Nachkommenschaft und nahm von ihnen den Bund (mīṯāq) entgegen, indem Er ihnen einen zufriedenen Verstand anerschuf“. (Siehe dt. Übersetzung und Analyse von Berenike Metzler: Den Koran verstehen, S. 25, sowie al-Muḥāsibī: al-ʿAql wa fahm al-Qurʾān, S. 264). 79 Van Ess verweist darauf, dass der Theologe al-Ḥasan al-Baṣrī (gest. 110/728) einer der ersten Verfechter der Willensfreiheit war, die den fiṭra-Begriff mit dem Urmonotheismus gleichsetzten, um der prädestinatianischen Auslegung von Q 30:30 Einhalt zu gebieten, da die Willensfreiheit des Menschen kaum mit einer vorherbestimmten, anerschaffenen „guten“ Natur vereinbar zu sein scheine. (Vgl. van Ess: Zwischen Hadith und Theologie, S. 106.) 80 Um die Frage zu umgehen, wie der Unglaube vorherbestimmt sein kann, wenn der Mensch von Natur aus gläubig und gut ist, sahen sich die prädestinatianischen Theologen wie z.B. ašŠaybānī (gest. 189/805) und Ibn al-Mubārak (gest. 181/797) dazu gezwungen, die fiṭra auf einen bestimmten Zeitpunkt (Erlangen der Verstandesreife) oder eine bestimmte Gruppe (die Zeitgenossen des Propheten) einzuschränken. (Vgl. ebd., S. 107f.) 81 So betont die islamische Exegese z.B., dass die im Koran erzählten Prophetengeschichten nur in einem bestimmten Sinne retrospektiv zu verstehen sind. Einzig nach der Sicht des identifizierten Erzählers scheinen die überlieferten Begebenheiten sich einstmals abgespielt zu haben. Im Koran finden sich unter den in der „Quasi-Vergangenheit“ der Erzählstimme überlieferten Geschichten Entwürfe, Erwartungen und Antizipationen, mit deren Hilfe die Figuren der Erzählung durch die Wahrnehmung der sogenannten ʿibar (Lebensweisheiten) sich auf ihre sterbliche Zukunft hin ausrichten. (Vgl. u.a. Muḥammad Aḥmad Ḫalaf Allāh: al-Fann al-qaṣaṣī fī l-qurʾān al-karīm, Kairo 1999; Alan Jones: „Narrative Technique in the Qurʾān and in Early Poetry“, in: Journal of Arabic Literature 25/3 (1994), S. 185-191.)

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1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen

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Diese beiden Aspekte lassen sich eindeutig in der von dem frühen Rationaltheologen Ġaylān ad-Dimašqī (gest. 114/732) postulierten Definition von fiṭra erkennen, in der diese als primäre und angeborene Gotteserkenntnis von der durch die Offenbarung vermittelten „erschaffenen Unschuld“ unterschieden wird. 82 In Ġaylāns theologischen Überlegungen nimmt der Verstand einen besonderen Platz bei der Ergründung anerschaffener Gotteserkenntnis ein – eine Position, die man in der späteren muʿtazilitischen Theologie wiederfindet.83 In ihrer Gleichsetzung der fiṭra mit dem Verstand als Mittel zur Erkenntnis der göttlichen Schöpfungsordnung scheint die intentionale Rechtsauslegung den muʿtazilitischen Ansichten recht nah. Die spätere Rechtstheorie lehnte die muʿtazilitische Idee einer rationalen Theologie und einer natürlichen Ethik jedoch vehement ab, da der Verstand in der Rechtstheorie des fiqh eine ziemlich nuancierte Funktion zugeteilt bekommt, die sein Hauptbetätigungsfeld in der Vorstellungswelt der Offenbarungsbotschaft einschränkt.84 Aš-Šāṭibīs Ethikbegriff zufolge gehorcht der Verstand Gott von sich aus, da dieser den Menschen zu Gott wende und der Mensch nur durch ihn die an ihn gerichtete Rede Gottes wahrnehmen könne. 85 Die Grenzen menschlicher Vernunft gegenüber der transzendentalen Offenbarungswelt ergäben sich dem Zwang der leiblichen und erdhaften Verfasstheit, dem die menschliche Handlungsrealität unterworfen sei, wie der folgende Hadith darstellt: „Kullukum li-Ādam wa-Ādam min turāb“ (Ihr Menschen stammt allesamt von Adam ab, und Adam ist aus Erde entstanden).86 Nach aš-Šāṭibīs ašʿaritischer Sichtweise missachtet der Mensch die Pflichten der šarīʿa nicht aufgrund seines Vernunftsdenkens, sondern weil er, eigenen Regungen folgend, Gottes Absicht mit seinem Schöpfungswerk missversteht und den Sinn der göttlichen Ordnung aus dem Blick verliert. Doch durch die glaubende Erkenntnis, 82 Dies würde bedeuten, dass die von Ibn ʿAsākir (gest. 571/1176) postulierte Zweideutigkeit der fiṭra (Vgl. ʿAlī ibn al-Ḥasan ibn ʿAsākir: at-Tārīḫ al-kabīr, 5 Bde., Damaskus 1927, Bd. 3, S. 177-179) eine paraphrastische Beziehung zwischen Q 30:30 und dem berühmten Hadith „Jedes Kind wird im Stand der fiṭra geboren; erst seine Eltern machen es zu einem Juden, Christen oder Magier“ (Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Buḫārī (gest. 256/870): Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, 9 Bde., Vaduz 2000, Bd. 1, S. 254, Nr. 1374) von vornherein ausschließt. (Vgl. van Ess: Zwischen Hadith und Theologie, S. 106.) 83 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Šarḥ al-uṣūl al-ḫamsa, S. 67ff.; az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ, 1997, S. 17f. und 27f. 84 Zum Vernunftbegriff vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 55 und S. 61. Hierauf wird im Folgenden analytischen Teil noch detailliert eingegangen. 85 Das bedeutet mitunter, dass die šarīʿa nicht einfach einen Akt des Bekenntnisses des Gläubigen verlangt und nur Kraft des Glaubens für ihn gilt. Der Weg zu Gott muss in Folge dessen im Verstand unmittelbar oder mittelbar verankert sein. (Vgl. u.a. Nagel: Das islamische Recht, S. 13-15.) 86 Vgl. Abū Dāwūd: Sunan Abī Dāwūd, Beirut o.J., Bd. 4, S. 492, Hadith-Nr.: 5118. Die philosophischen Ursprünge dieser Idee finden sich bereits in Aristoteles’ Definition menschlicher Handlung als eine dem Zwang unserer Verankerung in der Erde unterworfenen mimèsis (Nachahmung) (Vgl. Paul Ricoeur: Soi-même comme un autre, Paris 1990, S. 185).

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

dass die Handlungsanweisungen der šarīʿa dem Willen Gottes entsprechen, schwinde das Empfinden der mit der Umsetzung des Gebots verbundenen Bürde und der Mensch „lebt wieder aus seiner ihm wesensmäßigen eigenen natürlichen Veranlagung zu Gott“.87 Der Mensch sei, seinem Wesen nach, dem Befolgen göttlicher Moralbestimmungen verpflichtet und müsse so zu diesem Umstand, unter Rückgriff auf die ihm von Gott gegebene Vernunft, Stellung beziehen, entweder der Verpflichtung nachzukommen oder sie zu missachten: „Wer rechtschaffen handelt, der [tut es] zu seinem eigenen Vorteil, und wer Böses tut, der [tut es] zu seinem eigenen Nachteil. Und dein Herr ist keiner, der den Dienern Unrecht zufügt.“ (Q 41:46) Die Frage moralischer Urteilsfindung scheint in aš-Šāṭibīs Theorie an der Anerkennung der ungleichmäßigen Beziehung zwischen „guter Veranlagung“ als „Hang zum Guten“ und „Verpflichtung“ zu haften, welche grundlegend mit der notwendigen ethischen Maxime des Schutzes des Verstandes bzw. der intellektuellen Fähigkeit im Verhältnis stehen. Hier ergibt sich ein hermeneutisches Deutungspotenzial, das es in der Diskussion um die Rolle der Vernunft in der sich im Werden befindenden islamischen Ethik zu nutzen gilt.88 Obwohl fast alle ašʿaritischen Tendenzen davon ausgehen, dass die Willensfreiheit gegenüber der Achtung göttlicher Ordnung, gemäß dem Bund, den Gott mit Adams Nachkommenschaft geschlossen hat, dem Menschen gewährt wurde, sorgte die Frage des Zusammenwirkens von natürlicher Veranlagung und Verpflichtung im Prozess der konkreten Umsetzung moralischer Pflichten auf der einen Seite und den damit verbundenen Idealen des Gemeinwohls im Vollzugszusammenhang auf der anderen für komplexe methodische Kontroversen. Diese veranlassten aš-Šāṭibī dazu, den aus der kausalen Handlungstheorie entwickelten analytischen Begriffen von „Ursache und Wirkung“ (sabab wa-musabbab) sowie „das Blockieren der Mittel“ (sadd aḏ-ḏarāʾiʿ) einen besonderen Wert beizumessen. Eine moderne Relektüre dieser Begriffe im Lichte der modernen kausalen Handlungstheorie steht leider noch aus89.

87 Nagel: Das islamische Recht, S. 12. Die Übersetzungs- bzw. Erklärungsansätze zum Begriff fiṭra in der deutschen Orientalistik sind so vielfältig wie die islamischen Traditionen, auf die sie sich berufen. Während die einen Begriffe wie „Veranlagung“, „kindliche Unschuld“ und „anerschaffene Art“ (vgl. van Ess: Zwischen Hadith und Theologie, S. 101-106) verwenden, ziehen andere eigenständige Termini wie z.B. „Hingeschaffenheit“ vor (vgl. Nagel: Das islamische Recht, S. 12). Es geht hier jedoch nicht darum, den Begriff fiṭra zu definieren, sondern um die Relation zwischen Absichtstheorie und fiṭra. 88 In der Tradition zeichnen sich zwei grundlegende Tendenzen ab. Die erste geht davon aus, dass der Mensch aufgrund einer inneren, in seiner Natur liegenden „Veranlagung“ und Befähigung moralisch handeln muss, während die zweite meint, dass der Mensch aufgrund eines von außen gegebenen „Auftrags“ bzw. gemäß der ihm auferlegten „Verpflichtung“ (taklīf) moralisch handeln muss. (Vgl. u.a. Ibn ʿAsākir: at-Tārīḫ al-kabīr, Bd. 3, S. 176f.) 89 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 4, S. 143ff.

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1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen

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1.2.4. Aš-Šāṭibīs Ethik im Verhältnis von Pflicht und Ausrichtung Aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theorie führte durch ihre Bezugnahme auf die frühislamische Tradition in Medina, deren Auslegungsmethodik der Offenbarungsquellen keinen Unterschied zwischen Norm und Ausrichtung machte, eine ethisch-diskursive Beziehung zwischen Vernunft und Offenbarung ein, welche den hermeneutischen Charakter des ʿilm uṣūl al-fiqh hervorhob. Diese Herangehensweise half nicht nur dabei, auf der Grundlage einer überwiegend normativen Wissenschaft eine umfassende Ethiktheorie zu entwerfen, die in der Lage war, die soziale und weltliche Realität legal zu erfassen, sondern sie schuf durch ihren intentionalen Ansatz auch einen Ethikbegriff, welcher ausgehend von den Diskussionen zwischen Mystikern, Rationaltheologen und Rechtsgelehrten eine ethische Reform vorantrieb, die auf einer gegenseitigen Relation zwischen Begriffen der philosophischen Ethik und den Offenbarungsvorschriften im Hinblick auf ein Gesamtkonzept sozialer Fürsorge beruht.90 Dass aš-Šāṭibī die Existenzgründe der šarīʿa anhand der drei Kategorien ethischer Maximen ḍarūriyyāt, ḥāǧiyyāt und taḥsīniyyāt bestimmt,91 bedeutet jedoch keineswegs, dass er an die Schaffung einer weltlichen Ethik im heutigen Sinne dachte,92 denn hierdurch sollte eher gewährleistet werden, dass die Interessen der Gläubigen in der passenden Art und Weise im Diesseits und Jenseits gewahrt sind und Gott im besten Interesse seiner Subjekte handelt. Im Gegensatz zur weltlichen Normvorstellung von Aristoteles muss die göttliche Weltordnung stets den Aspekt der Handlungen und ihre Auswirkungen auf das Schicksal im Jenseits vor Augen haben. Die Reflexion über die „wahre“ göttliche Absicht kann zu einer besseren Einschätzung der Auswirkung einer Handlung auf das Schicksal ihres Vollziehers im Jenseits verhelfen und somit den geeigneten Weg zu Buße und Sühne im Diesseits weisen. Dass der auf das Jenseits bezogene Aspekt der maqāṣid eine zentrale Rolle in ašŠāṭibīs Argumentation einnimmt, zeigt sich, indem es sich bei seiner Theorie nicht um eine Ethik handelt, die auf der bei den Rationaltheologen beliebten Dichotomie 90 Ali Benmakhlouf: Averroès, Paris 2004, S. 208; ders.: L’identité, une fable philosophique, Paris 2011, S. 160. 91 Diese drei Kategorien sind die raison d‘être der Moraltheologie, und deshalb soll deren Hierarchieordnung im Hinblick auf das Eingreifen auf das praktische Leben unberührt bleiben (vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 7ff.) 92 Die philosophische Konvention neigt dazu, in Anlehnung an die aristotelische Definition der sogenannten Eupraxie (gutes Handeln) den Begriff der Ethik für die Ausrichtung auf ein erfülltes Leben vorzubehalten. Die Eupraxie ist somit „selbst ein Ziel“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik VI, hg. und übers. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a.M. 1998, Bd. 6, S. 34-45), wogegen die poièsis und die entsprechende poetische Wissenschaft „ein Ziel außerhalb ihrer selbst hat“ (vgl. Aristoteles: Aristoteles' Nikomachische Ethik. WBG, 3. Auflage, 2013, S. 24ff.) Die Abhandlungen von Wolfhart Pannenberg (Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967) spiegeln auf hervorragende Weise den Einfluss des aristotelischen Erbes auf die christliche Theologie wider. Das Werk Ethical Theories in Islam von Majid Fakhry geht hingegen nicht ausführlich auf den Vergleich zwischen islamischen und griechischen Quellen ein.

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

„gut vs. böse“ gründet. Aš-Šāṭibīs Abhandlungen zur kausalen Handlungstheorie sind eher von der ašʿaritischen Sicht geprägt, welche Prädikaten wie „gut und böse“ einen relationalen Status zuschreibt,93 der ihnen jegliche Entitäteneigenschaften entzieht. Die ḍarūriyyāt bezeichnen jene Aspekte der Ethik, die im Rahmen einer relationalen Dynamik unbedingt notwendig für die Regelung aller irdischen Aspekte des Daseins sind, mit dem Ziel, die Glückseligkeit im Dies- und (wohlgemerkt) im Jenseits zu erreichen.94 Mit der Vorstellung einer über das irdische Leben hinausgehenden Glückseligkeit werden die Dualitäten von Körper und Seele, Glaube und Vernunft sowie Endlichem und Unendlichem hier zunächst als ein Kontinuum dargestellt, was der wahrhaften Idee der Religion als Einheit des Göttlichen und Menschlichen nahekommt.95 Inspiriert von den Mystikern seiner Zeit warnt aš-Šāṭibī mit solchen Aussagen vor der Anwendung eines Wissens, das auf einem rein apriorischen Syllogismus beruht, bei deren kausalen Handlungstheorie das Verhältnis des Menschen zur Ganzheit der Schöpfung und zum Göttlichen verloren geht. Unter Rückgriff auf diese Überlegungen, die durch die Diskussion zwischen Rechtsgelehrten einerseits sowie Mystikern und Rationaltheologen andererseits entstanden sind, baute aš-Šāṭibī sein fundamentales Denkgerüst auf, in dessen Rahmen er seine gemäß der Idee der Offenbarung formulierte soziale Theorie entwickelte. So lässt er durch seine Botschaft an die Theologen wissen, dass eine bedingungslose Verbindung des Korans mit rationalen Wissenschaften wie Logik, Physik und Metaphysik keine Berechtigung habe. Seine Skepsis gegenüber einem reinen Rationalismus richtete sich indirekt an das philosophische Erbe Ibn Rušds,96 dessen Kommentare zu

93 Der in dieser Arbeit verwendete Begriff des „relationalen“ Status basiert auf der kausaltheoretischen These der sogenannten „Akzidenzien“. Unter Akzidenz (ʿaraḍ) versteht man jede veränderliche Eigenschaft eines sonst gleichbleibenden Trägers („Substanz“ oder „Essenz“, arab.: ǧawhar). In der ašʿaritischen Sichtweise nimmt Gott den jeweils momentanen Zustand der Welt zum Anlass (occasio), um den nächsten Zustand zu erschaffen. (Vgl. Dominik Perler/Ulrich Rudolph: Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabischislamischen und im europäischen Denken, Göttingen 2000, S. 116.) Als Ergänzung zu Perler und Rudolph ist zu sagen, dass die Ašʿariten mit der Idee der Akzidenz ihre Annahme untermauern wollten, dass Gottes Allmacht nicht in die handlungsinterne Kausalität der Menschen interveniert, die durch ihre Verstrickung in interaktive Handlungen für das Hervorrufen von Eigenschaften wie „gute“ oder „böse“ Neigungen verantwortlich sind. 94 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 136. 95 Dabei handelt es sich um eine Eigenschaft, die nach Hegel aus dem „unpolemischen Begriff“ der Religion entspringt. (Vgl. Matthias Häussler: Der Religionsbegriff in Hegels Phänomenologie des Geistes, München 2008, S. 116f.) 96 Vgl. Ibn Rušd: Tahāfut at-tahāfut, hg. von Maurice Bouyges, Beirut 1930, S. 519; Anke von Kügelgen: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam, Leiden 1994. Bei aš-Šāṭibī finden sich indirekte Hinweise auf die Standpunkte der Rechtswissenschaft hinsichtlich der Philosophie (vgl. al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 281.)

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1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen

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Aristoteles’ Konzept des „Seins“ dem islamischen Denken jede Dimension von Transzendenz und Gemeinschaft entzogen.97 Jenseits der von der griechischen Philosophie entlehnten Paradoxa von Subjekt vs. Objekt und real vs. irreal wollte aš-Šāṭibī aus rechtstheoretischer Sicht die rationaltheologische Grundmaxime seiner Ethik klarstellen, indem er betonte, dass jede Erkenntnis mit einem Glaubensakt beginne.98 Die Handlung und ihr Gesetz seien lediglich äußere Manifestationen des Glaubens. Der Koran wirft durch seine Einheitslehre (tawḥīd) ein philosophisches Existenz-Prinzip auf, das sich mit den im damaligen Andalusien verbreiteten aristotelischen Erkenntnisgattungen wie der des „Seins“ und des „Faktums“ nicht umfassen lasse. 99 Aš-Šāṭibīs Rechts- und Ethiktheorie beruft sich unmissverständlich auf eine Theologie der Tat und nicht des Seins. Dem Schöpfungsakt steht ein Glaubensakt 97 Aristoteles unterscheidet in seiner Kategorienlehre zehn Seinsweisen: die Substanz, die das Primäre, das Identifikationsgebende und das Aussagende, d.h. das Selbst-sein, ist, und die neun Akzidenzien, welche die Sekundären sind, die einen Träger (die Substanz) brauchen, nicht beschreibend und nicht aussagend sind sowie nicht für sich selbst stehen können. In Anlehnung an die Lehre von Aristoteles postuliert Ibn Rušd, der von aš-Šāṭibī nur an wenigen Stellen im al-Muwāfaqāt-Werk erwähnt wird, die Substanz als den Grundbaustein des Seins und hält somit bewusst Abstand zur Transzendenz. Entsprechend der Einteilung der Wissenschaften gliedert Ibn Rušd auch das Objekt des Erkennens in fünf Teile, das in ebendiese zerfällt: „Das Objekt, seine Arten, deren Akzidenzien, die Prinzipien der Substanz und die Postulate der Einzelwissenschaften.“ (Vgl. Max J. H. Horten: Die Metaphysik des Averroës, Frankfurt a.M. 1960, S. 209.) Daraus folgend geht die Definition des Begriffs des „Seienden“ mit Prädikaten einher, die beinhalten, dass er weder univok noch äquivok, sondern analog zu verstehen ist und sich mit dem ordo logicus, den geistigen Inhalten und dem ordo ontologicus decken muss. Somit muss das Seiende, um sich als solches zu definieren, „das Wahre (das Sein im Verstande) und dasjenige, das außerhalb des Geistes existiert (das logische und ontologische Sein)“ sein. (Vgl. Horten: Die Metaphysik des Averroës, S. 9; al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī alʿarabī, S. 257ff. und S. 315.) 98 Hier sieht man eine gewisse Ähnlichkeit zu Hegels Kritik am dichotomen Denken des Verstands, woraus sich nach Jean-Claude Wolf einige interessante Perspektiven ergeben: „nämlich ein Denken, das Glaube und Vernunft, Endliches und Unendliches nicht nur trennt, sondern auch die Beziehung dieser Pole begrifflich variiert.“ Wolf erläutert diese Idee folgendermaßen: „Eine Dichotomie oder (Disjunktion) [sind die Klammern auch im Original? sie erscheinen mir hier sinnlos] ist eine Zweiteilung, in der die unterschiedenen Teile beziehungslos auseinander fallen. Eine begriffliche Unterscheidung wird zur begrifflichen Trennung. Was als Beziehung der getrennten Begriffe übrig bleibt, ist das Verhältnis der abstrakten Negation, der Paradoxa der „Beziehung der völligen Beziehungslosigkeit“. (Vgl. Jean-Claude Wolf: „dass der Mensch durch Erkennen unsterblich ist – Hegels Deutung der Erzählung vom Sündenfall“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 58/2 (2011), S. 453-470.) 99 Ibn Rušd hingegen vermittelt zwischen der Transzendenz und der materiellen Welt, die in einem Verhältnis der Diskontinuität zueinander stehen, das Bewegung als eine zeitlose Tätigkeit annimmt, die aber in der materiellen Welt als eine zeitlich erscheinende Form auftritt. (Vgl. Mohammed Nekroumi: „Die Frage des Seienden im Horizont von Ibn Rušds (Averroes’) Vernunftbegriff“, in: Milad Karimi/Mouhanad Khorchide (Hg.): Islamische Gelehrte neu gelesen, Freiburg, 2015, S. 127-148.)

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

gegenüber, und jedem Wissen geht der Glaube voraus. Zwischen Wissen und Tat sowie zwischen Glaube und Gesetz kann es keine Dualität geben, da das Wissen durch die Tat auf den Glauben abzielen soll.100 Aš-Šāṭibīs Alternative zu den philosophischen Dichotomien bestand nicht etwa darin, die Funktion der Vernunft bei der Normableitung zu neutralisieren. Vielmehr ging es ihm darum zu zeigen, dass der Gegenstand rationaler Überlegung nicht das Wesen Gottes ist, sondern die Erkenntnis der Wahrheit in der göttlichen Offenbarung. Mit seiner transzendentalen Vorstellung zu Mensch und Gesellschaft, die durch die Idee der Absicht hervorgerufen wird, kam aš-Šāṭibī gleichwohl der Sicht Ibn ʿArabīs über die in der wohlverwahrten Tafel (al-lawḥ al-maḥfūẓ) verborgene „Wahrheit Gottes“101 ganz nah. Er bemängelte in der Mystik jedoch das totale Ausblenden des sozialen Charakters, der aufgrund der im Seinspantheismus 102 implizierten exzessiven Profundität zur Entfremdung eines Teils der Gemeinschaft führe und der zwischenmenschlichen Dimension fundamentaler Glaubensinhalte wie „Fürsorge“ und „Gemeinwohl“ innerhalb des Sozialgefüges kaum Platz lasse. Die Ausblendung des Gemeinschaftsbegriffs in der Mystik prangert auch alǦābirī an, und er führt sie auf die Ausschaltung des Verstands in der mystischen Ethik zurück, die bedingungslos mit dem individuellen Verhalten gleichgesetzt wird. Aš-Šāṭibī distanzierte sich jedoch nur von jener Tendenz in der Mystik, die das Erlangen der Erkenntnis ausschließlich von der individuellen Erfahrung abhängig macht, die durch Begriffe wie Herz, Gewissen, Sehnsucht, Verlangen, Liebe, Leidenschaft, Anziehung, Vergänglichkeit und Einheit zum Ausdruck gebracht wird. In seinen Ausführungen zum ʿaql-Begriff im Kapitel adilla aš-šarʿiyya hebt aš-Šāṭibī aber nicht die Unterscheidung zwischen Begriffen „Herz“ und „Verstand“ als Urteilskraft hervor, wohl wissend, dass der Koran an mehreren Stellen vom Herz im Sinne eines Erkenntnisweges spricht.103

100 Hierzu: Q 15:29, 32:9 (vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 31) 101 Hier wird man an die mystische Idee Ibn ʿArabīs (gest. 638/1240) erinnert, die von einem ethischen Gott als eine besondere Stufe des verborgenen Weltprinzips ausgeht. (Vgl. u.a. Maḥmūd Ġurāb: Šarḥ kalimāt aṣ-ṣūfiyya min kalām aš-šayḫ al-akbar Muḥyī ad-Dīn ibn alʿArabī, Damaskus 1982; William Chittick: Imaginal Worlds. Ibn al-ʿArabī and the Problem of Religious Diversity, Albany 1994.) 102 Der Begriff impliziert das Eingehen des Selbst in die göttliche Sphäre. 103 Während ʿAbd ar-Raḥmān eine ähnliche Linie vertritt wie Ibn Qayyim, weist al-Ǧābirī darauf hin, dass der Begriff des Gewissens, dem der Begriff des Herzens als Grundlage diene, aus der Gnosis stamme und dass sein Erscheinen in der arabisch-islamischen Kultur der Übersetzung der griechischen Logik zur Zeit der ʿAbbāsiden in der Periode Maʾmūns zu verdanken sei. (Vgl. Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ ad-dīn, 3. Aufl., Beirut/Casablanca 2013, S. 294; sowie al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, S. 11)

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1.3. Zur Methodenfrage

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1.3. Zur Methodenfrage Wie in der Einführung bereits erläutert, will diese Untersuchung aš-Šāṭibīs maqāṣidTheorie nicht bloß wiedergeben oder reproduzieren. Vielmehr geht es um den Versuch einer hermeneutischen Auseinandersetzung mit den Schlüsselbegriffen dieses Ansatzes aus moderner ethisch-theologischer Perspektive, was eine Redefinition klassischer analytischer Konzepte bzw. ihre Verortung in der wissenschaftstheoretischen Debatte der Moderne voraussetzt. Ein solches Unternehmen bringt gewisse Herausforderungen mit sich, weil die Übertragung traditioneller islamisch-theologischer Begriffe in eine moderne Wissenschaftssprache immer die Gefahr einer Projektion oder Missdeutung in sich birgt. Daher wird in der Arbeit auf die genaue Eingrenzung grundlegender Begriffe geachtet, die maßgeblich zur methodischen Gestalt der Gesamtanalyse beitragen. 1.3.1. Das ethische Prinzip der Fürsorge als Ort zur Begründung der Pflicht In aš-Šāṭibīs Abhandlung zu Gegenstand und Anliegen von maqāṣid lassen sich zwei moraltheologische Positionen unterscheiden, die seinerzeit um die richtige Deutung ethischer Intentionalität konkurrierten und die im Zentrum des methodologischen Aufbaus dieser Arbeit stehen: Der von aš-Šāṭibī vertretenen traditionsreichen Haltung, welche die Absichtsanalyse mit Kausalerklärung gleichsetzt, wird die ẓāhiritische Theorie gegenübergestellt, die jegliche Rationalisierung göttlichen Wirkens auf die Welt ablehnt. Im Zentrum von aš-Šāṭibīs Argumentation steht die Hypothese von ar-Rāzī, der zufolge der absichtliche Charakter göttlichen Wirkens auf die Welt mit einem ihm entsprechenden Typ der Kausalerklärung verknüpft werden soll. Im Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird so dem teleologischen Aspekt gegenüber dem deontologischen der Vorzug gegeben. Es wird methodisch zu klären sein, wie der Ašʿarit ar-Rāzī offensichtlich für die Vorstellung der Muʿtazila plädiert, die es vehement ablehnt, dem göttlichen Handeln Willkür und Verwerfung zuzuschreiben – eine Frage, der sich aš-Šāṭibī ausführlich widmet. Eine weitere methodische Hürde, die diese Arbeit zu überwinden versucht, besteht darin, den Umstand zu hinterfragen, dass sich sowohl die Verfechter als auch die Gegner der Begründungstheorie auf dieselben normativen Quellen aus dem Koran berufen, die die Offenbarung als raḥma (Erbarmen Gottes, Q 16:89, 2:29 etc.), yusr (Erleichterung) und tasḫīr (Dienstbarmachung [der Schöpfung]) beschreiben, um das sog. taʿlīl-Prinzip ausdrücklich zu befürworten oder abzulehnen. Aus einer modernen theologischen Perspektive betrachtet stellt die von ar-Rāzī und aš-Šāṭibī auf der Basis der Barmherzigkeit Gottes konzipierte Verbindung zwischen maqāṣid und aḥkām eine methodische und theologische Herausforderung dar, die nur durch eine hermeneutisch und theologisch fundierte Reflexion über die Zusammenhänge zwischen Deontologie als Verpflichtungscharakter und Rational-

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

theologie als Zielsetzung in der islamischen Ethik in Angriff genommen werden kann. Angelpunkt für einen solchen Ansatz ist es, eine Definition der islamischen Ethik zu entwerfen, welche gleichermaßen die Ausrichtung von Gottesplan für die Menschen und die Bedingungen für deren Verwirklichung umfasst. Die Leitfrage eines solchen Vorhabens lautet: Inwiefern sind Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes als Instrumente des Gemeinwohls in einem kohärenten Moralsystem vereinbar und welche Rolle spielen Begriffe wie Fürsorge, Erbarmen Gottes und Kausalität in der Verbindung zwischen maqāṣid und aḥkām? Legt man die aristotelische Ethik-Definition als „Ausrichtung auf ein erfülltes Leben“ zugrunde, so lässt sich aš-Šāṭibīs maqāṣid-Konzept in das philosophische Erbe einordnen, in dem die Ethik durch ihre teleologische Perspektive nach Aristoteles gekennzeichnet ist.104 Dennoch setzt sich die maqāṣid-Theorie im Gegensatz zur aristotelischen Ethik, die nur von einem als relativ zu begreifenden „Guten für uns“ ausgeht, mit dem unerschöpflichen Gebrauch des Prädikats „gut“ auseinander. Hier muss ein differenzierter Gemeingut-Begriff erarbeitet werden, was den Gegenstand des abschließenden Teils der maqāṣid-Analyse bildet. Aš-Šāṭibīs Güterlehre ist zwar stets von der Maxime beherrscht, dass der Zweck der Offenbarung auf das Wohlergehen des Einzelnen und der Gemeinschaft im Dieswie im Jenseits ausgerichtet ist.105 Die Besonderheit des Begriffs des Wohlergehens im Dies- und im Jenseits liegt nach aš-Šāṭibī jedoch in seinem direkten Verhältnis zum maṣlaḥa-Konzept, das wiederum eine Nähe zum Absichtsbegriff aufweist. 106 Diese Einführung des Begriffs maṣlaḥa in den Begriff qaṣd107 macht allerdings eine hermeneutische Untersuchung der Beziehung von Handlungsziel und Aufforderungsaktintention notwendig, was in der Rationaltheologie bisher nur ansatzweise durchgeführt wurde. Fraglich ist, ob hier die moderne Handlungstheorie eine wirksamere Hilfe bieten kann. 1.3.2. Die Frage von Hierarchie und Organisation im Verhältnis von maqāṣid und aḥkām Den Abschluss der Arbeit bildet die Frage nach dem Verhältnis zwischen maqāṣid und aḥkām, welche die Gliederung der Arbeit insgesamt durchzieht und inhaltlich maßgeblich prägt. Die der Arbeit als Organisationsprinzip dienende Unterscheidung zwischen maqāṣid und aḥkām basiert auf einer bestimmten Auffassung des Verhältnisses von Ethik und Moral in der modernen Hermeneutik, der zufolge die Ethik für die Ausrichtung auf ein erfülltes Leben und die Moral für die Artikulierung dieser Ausrichtung in Normen vorbehalten bleibt.108 Diese Unterschei104 105 106 107 108

Vgl. Aristoteles: Aristoteles' Nikomachische Ethik, S. 30ff. Vgl.aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 4. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 29. Qaṣd ist der Singular von maqāṣid. Vgl. Paul Ricoeur: Das Selbst als ein anderer, übers. von Jean Greisch, München 1996, S. 208.

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1.3. Zur Methodenfrage

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dung dient dem Ziel, das Primat der ethischen Ausrichtung, in Form von maqāṣid, gegenüber der moralischen Verpflichtung, und in Form von aḥkām, zu begründen. Nach diesem Schema lässt sich die theologisch-ethische Ausrichtung der šarīʿa in Anlehnung an aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theorie auf zweierlei Weise bestimmen: zum einen von ihrem transzendentalen, glaubensorientierten Streben nach eschatologischem Heil, dem sie primär dient, und zum anderen von ihrem moralisch-sittlichen Anspruch her, den Muslimen praktische Orientierung für ihr Leben und Handeln anzubieten. Dass Transzendenz und Immanenz, Jenseits und Diesseits, von der Absicht des Gesetzgebers durchzogen und miteinander verbunden sind, kann man an aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz eindeutig erkennen. Die thematische Aufteilung seines Werks zeigt unmissverständlich, dass die aḥkām für die Artikulation ethischer Prinzipien in Form von Praktiken vorzubehalten sind, zumal der europäische Begriff „Moral“, genauso wie das ḥukm-Konzept, deontisch durch den Verpflichtungscharakter der Norm definiert wird. Aš-Šāṭibī drückt seine methodischen Vorzüge dadurch aus, dass er die aḥkām offenkundig durch die maqāṣid einschließen lässt.109 Aus hermeneutischer Sicht ist die Relation zwischen maqāṣid und aḥkām vergleichbar mit der Relation zwischen den Zielen eines Gläubigen und seinen tatsächlichen Handlungen, die er einsetzt, um diese zu erreichen. Durch den Hinweis, dass die deontische Natur der aḥkām der teleologischen Perspektive der maqāṣid untergeordnet ist, verringert aš-Šāṭibī den Abstand zwischen wuǧūb (Sollen) und wuǧūd (Sein), was auf eine klare Abgrenzung zwischen Beschreiben und Vorschreiben in der Offenbarung drängt. Somit gibt es mehrere Möglichkeiten, den hermeneutischen Gesichtspunkt im Rahmen dieses Ansatzes einzuführen. Zunächst zeichnet sich zwischen den maqāṣid und den einzelnen Entscheidungen des Menschen eine Art hermeneutischer Zirkel ab. Hiermit verhält es sich wie mit einem Text (sprich dem Koran), indem das Ganze und der Teil in Bezug zueinander verstanden werden. Der intentionalistische Ansatz fügt der bloßen Idee der Bedeutung jene der Bedeutung für jemanden hinzu und umfasst dadurch Glaubensinhalte wie Fürsorge und Barmherzigkeit als unabdingbare Bestandteile der ethischen Ausrichtung. Die maqāṣid-Theorie lässt das Primat der Ethik gegenüber der Moral bzw. der Ausrichtung gegenüber der Norm unmissverständlich zu, insofern die moralischen Normen bloß als Sachmomente im ethischen Urteil gelten, die dem Prozess rationaler Reflexion über die Offenbarungspräskription untergeordnet werden sollen.110 Auf der Ebene der ethischen Ausrichtung kann der Schutz der fünf oben genannten notwendigen Maximen nur gewährleistet werden, wenn sie sich nicht in einer Gegensatzbeziehung befinden, da sie sich, so aš-Šāṭibī, ergänzen und 109 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 106. 110 Eine ähnliche Argumentation gibt es in der zeitgenössischen christlichen Theologie. Nach Heinz E. Tödt besteht die ethische Reflexion im Prozess des methodisch geordneten Nachdenkens über sittliche Urteile, mit denen man eigenes Verhalten zu klären und zu steuern versucht; Heinz E. Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, S. 22.

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1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen

miteinander interagieren. Nun stellt sich aber die Frage, wie sich die Verhältnisse zwischen den zu schützenden ethischen Maximen im Spannungsfeld aus weltlichem und eschatologischem Heil zusammensetzen. Beim ethischen Urteilen gilt es nach aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz, eine Hierarchie der oben genannten fünf ethischen Maximen aufzuweisen, die auf einem Organisationsprinzip beruhen, das die spezifische Natur jeder Absichtskategorie und ihr Verhältnis zu den anderen Kategorien gleichermaßen berücksichtigt. Aus theologisch-hermeneutischer Sicht besteht eine an aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz orientierte Herausarbeitung islamisch-theologischer Ethik – wie von einigen zeitgenössischen Theologen wie al-Ǧābirī, Abu Zaid und Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān angedeutet – darin, die Geltungsbereiche der Maximen dahingehend auszuweiten, dass die in Koran und Hadith verankerten Züge eines Weltethos herangezogen werden. Ähnlich wie die Maxime zum Schutz des Verstandes, die auf die Idee der Verantwortung hinausläuft, beschränkt sich z.B. die Maxime zum Schutz des Selbst nicht auf das allgemein von den fuqahāʾ hervorgehobene koranische Gebot „und tötet nicht die Seele, die Allah verboten hat (zu töten), außer aus einem rechtmäßigen Grund“ (Q 6:151). Diese Maxime sollte vielmehr auf ein Gebot ausgeweitet werden, das dem Oberbegriff der Fürsorge und der Überwindung des Selbst untergeordnet wird, der unter anderem aus dem folgenden Gebot hervorgeht: „Und Er ist es, Der euch aus einem einzigen Wesen/Selbst hat entstehen lassen“ (Q 4:1, 6:98). Die Relektüre von aš-Šāṭibīs Begriff des Selbst (nafs) zieht zwangsläufig eine Diskussion um die ethische Selbstheit in der islamischen Rationaltheologie nach sich. Eine solche Definition des Begriffs nafs setzt eine erkenntnistheoretische Rekonstruktion des gesamten traditionellen Denkmusters voraus, was die vorliegenden Abhandlungen in Gang zu setzen ersuchen.

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa 2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht Im vorangegangenen Kapitel wurden die Grundfragen der maqāṣid-Theorie hinsichtlich der ihr zugrundeliegenden unterschiedlichen theologischen Erklärungsansätze sowie der historische Kontext ihrer Entstehung erläutert. In den folgenden Ausführungen wird näher auf das Verhältnis zwischen dem teleologisch geprägten maqāṣid-Ansatz und der rational orientierten kausalen Handlungstheorie eingegangen. Im Mittelpunkt dieser Fragestellung steht die von aš-Šāṭibī angeführte Diskussion zweier in jener Zeit vorherrschender Denkströmungen, die den thematischen Schwerpunkt des ersten Teils dieses Kapitels im Wesentlichen mitprägt. Es handelt sich dabei um die Auseinandersetzung zwischen den Ẓāhiriten einerseits, die sich an eine strikt explizite Bedeutung der Offenbarung halten und andererseits den rationaltheologisch geprägten Gelehrten, die der praktischen Vernunft einen besonderen Stellenwert bei der konnotativen Deutung des Korans beimessen. Der letztgenannten Auffassung folgend, befasst sich der zweite Abschnitt dieses Kapitels mit der hermeneutischen Begriffsanalyse. In dieser wird anhand der Diskussion bezüglich Finalität und Kausalität die Widerlegung des ẓāhiritischen Deutungsmusters der ratio legis bei aš-Šāṭibī dargelegt. Wie einleitend im methodisch-historischen Kapitel beschrieben wurde, nehmen die Verfahren zur Begründung rechtlicher Normen in der theologischen Diskussion eine zentrale Rolle ein. Die besondere Aufmerksamkeit, die der Begründung göttlicher Rechtsordnung im intentionalistischen Ansatz gewidmet wird, rührt daher, dass ein privilegierter Zugang zur Handlungsabsicht überwiegend durch die Antworten geliefert wird, die man auf die Frage nach dem Grund gibt. Die frühere Rationaltheologie wirft bereits im 3./9. Jahrhundert die Annahme auf, dass die Kausalitätsfrage eine ausgesprochene Affinität zur Problematik der Absicht offenbart, so wie al-Ḥakīm at-Tirmiḏī sie in seinem Rechtstraktat Iṯbāṯ al-ʿilal aufgezeigt hat. 2.1.1. Diskursethische Argumentation im Verhältnis zur rationalen Urteilsfindung Die Moralnormen sind, nach aš-Šāṭibī, grundlegend im Lichte der von Vernunft und Glaube festgelegten ethischen Ausrichtung von den Offenbarungsquellen abzuleiten. Wie es bereits von der Rationaltheologie erläutert wurde, geht der maqāṣid-Ansatz

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

davon aus, dass die Fragestellung theologischer Moralnormen (al-aḥkām) rituelles bzw. zwischenmenschliches Handeln unter dem Aspekt von sittlich-theologisch Schädlichem oder Nützlichem betrachtet. Folglich setzt das Wissen um ein moralisch-theologisches Urteil eine tiefgreifende Auseinandersetzung gleichermaßen mit rationalen sowie mit theologischen Begründungs-denkmuster voraus.1 Die rationale Begründung von Moral- u. Rechtsnormen (taʿlīl al-aḥkām), der die ethische Maxime des „Schutzes des Intellekts“ zugrunde liegt, lasse sich, nach ašŠāṭibīs Ansicht, dadurch rechtfertigen, dass die Errichtung moralischer Pflichten, die aus dem Offenbarungsdiskurs hervorgehen ausschließlich im Interesse des Menschen im Dies- und im Jenseits erfolge: „Das Festlegen von Gesetzmäßigkeiten sorgt indes für das Wohlergehen der Menschheit, sowohl für das Diesseits, als auch für das Jenseits.“2 Dieser Grundsatz offenbart eine doppeldeutige Auffassung der islamischen Ethik, wie sie in aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz definiert wird. Auf der einen Seite weist diese Auffassung Charaktereigenschaften vom Begründungsdenken der Rationaltheologie der Muʿtazila auf, die für das sittliche Handeln der Gläubigen Begründungen aufzustellen sucht. Andererseits ist sie von der hermeneutischen Ausrichtung der Rechtstheorie erfasst, die sich darum bemüht zu erschließen, worin die ethische Zielsetzung göttlicher Botschaft bestehe.3 Diese Ambiguität ruft eine tiefgreifende Diskussion um den Begriff des Wohlergehens bzw. des Nützlichen hervor. Der Schwerpunkt theologischer Auseinandersetzung über das Konzept der Rechtsnormenbegründung kreist primär um die Fragen, wie sich die dem Begriff des Wohlergehens zugrundeliegende Vernunftauffassung auf die Begründung der Moralnormen auswirkt, und welche Rückschlüsse sich daraus für die ethische Urteilsfindung erschließen. Diese Auseinandersetzung ist der Anlass für aš-Šāṭibī, die rationale Begründbarkeit theologischer Rechtsbestimmung von Anfang an als eine umstrittene Angelegenheit zu erklären:

„In der Kalāmwissenschaft war eine Meinungsverschiedenheit aufgekommen und ar-Rāzī behauptete, dass die Gebote Gottes überhaupt nicht begründbar seien, ebenso wenig wie seine Taten. Die [Bewegung der] Muʿtazila einigte sich darauf, dass die Gebote des Erhabenen durch die Wahrung des Wohlergehens der Menschheit bedingt sind. Die meisten der späteren Rechtsgelehrten machten sich diese Meinung zu Eigen.“4

1 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 61. 2 Ebd., Bd. 2, S. 4. 3 Vgl. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, hg.von Ṭaha Ǧābir Fayyāḍ al-ʿUlwāni, 6 Bde., Riad 1980, Bd. 2, S. 291; Abū Ḥāmid al-Ġazālī: al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād, hg. von Muḥammad Muṣṭafā Abū lʿIllā, Kairo 1972, S. 37. 4 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 4 (für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 217). Im Kapitel der maqāṣid-Theorie äußert sich aš-Šāṭibī zur Ausrichtung der šarīʿa ausführlicher. Die

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2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht

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Dabei stellt, wie in der Einführung des al-Muwāfaqāt besprochen, die Thematik der Begründbarkeit der šarīʿa sowohl in der Rationaltheologie als auch in der Rechtstheorie eine der schwerwiegendsten Kontroversen dar. Die Tatsache, dass sich aš-Šāṭibī in dem soeben erwähnten Zitat bezüglich des taʿlīl-Begriffs auf die Position der Muʿtazila beruft, bedeutet keineswegs, dass er sich die iʿtizālTheologie5 zu Eigen macht. Vielmehr geht es dabei um ein accord de principe, der den Beginn einer systematischen Widerlegung des Begründungskonzeptes der Muʿtazila darstellte. Dass das Wort Gottes zum Wohlergehen der Menschen herabgesandt worden sei, ließe sich, so aš-Šāṭibī, primär durch die Auslegung offenbarter Quellentexte selbst bestätigen. Der rationalen Inferenz, die aus dem Handlungsumfeld faktischen Lebensvollzugs hervorgeht, komme dabei eine bedeutende Schlüsselrolle zu: „Und falls die [Methode der] Induktion dieses ebenfalls beweise und sie in diesem Fall auch nützlich für die Wissenschaft sei, so können wir entschlossen feststellen, dass der Sachverhalt für alle Bereiche der šarīʿa [allgemein] gültig ist, wenn feststeht, dass der Gesetzgeber mit den Rechtsvorschriften auf die Wahrung des dies- und jenseitigen Wohlergehens abziele.“6

zahlreichen Hinweise auf die Theologen kommen bei aš-Šāṭibī häufig im Kontext komplexer Kontroversen vor. Jedoch vermeidet er es in den meisten Fällen, sich mit deren Ideen oder Standpunkten auseinanderzusetzen. Ihm sind durchaus die Grenzen, sich nicht intensiv mit der Rationaltheologie zu beschäftigen, bewusst, die man der Rechtswissenschaft in der Geschichte gesetzt hat. Die ausführlichste Diskussion, die sich aš-Šāṭibī mit den Theologen erlaubt, findet in der Einleitung des maqāṣid-Bandes statt und zählt nicht mehr als zwei Seiten. (vgl. ebd., Bd. 2, S. 4.) 5 Unter dem Begriff iʿtizāl-Theologie versteht man im Allgemeinen jene theologische Reflexion, in der der apriorischen Vernunft gegenüber der Überlieferungsquelle Vorzug gegeben wird. Dieser Grundsatz wird jedoch in dieser Abhandlung hinterfragt. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql alaḫlāqī al-ʿarabī, S. 170-172.) 6 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 5 (Siehe den arab. Wortlaut unten, S. 217). Die Zielsetzung des Schöpfers zur Bewahrung des Glaubens, des Lebens, der Fortpflanzung und Familie, des Eigentums und der intellektuellen Fähigkeit werden nach aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀšūr (vgl. Ibn ʿĀšūr: Maqāṣid aš-šarīʿa al-islāmiyya, S. 77f.) auch induktiv durch Textquellen der mekkanischen Suren belegt, wie etwa Q 6:151: „Sag: kommt her! Ich will euch verlesen, was euer Herr verboten hat: Ihr sollt Ihm nichts beigesellen, und zu den Eltern gütig sein; und tötet nicht eure Kinder aus Angst vor Armut - Wir versorgen euch und auch sie; und nähert euch nicht den Abscheulichkeiten, was von ihnen offen und was verborgen ist, und tötet nicht die Seele, die Allah verboten hat (zu töten), außer aus einem rechtmäßigen Grund! Dies hat Er euch anbefohlen, auf dass ihr begreifen möget.“ und in Q 60:12: „O Prophet, wenn gläubige Frauen zu dir kommen, um dir den Treueid zu leisten, dass sie Allah nichts beigesellen, nicht stehlen, keine Unzucht begehen, ihre Kinder nicht töten, keine Verleumdung vorbringen, die sie vor ihren (eigenen) Händen und Füßen ersinnen, und sich dir nicht widersetzen in dem, was recht ist, dann nimm ihren Treueid an und bitte Allah für sie um Vergebung. Gewiss, Allah ist Allvergebend und Barmherzig.“

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

Implizit galt die mit Berufung auf das Induktionsverfahren zum Ausdruck gebrachte Kritik aš-Šāṭibīs an die Muʿtazila in erster Linie ihrem Rationalitätsbegriff, dem zufolge der Mensch als vernunftbegabtes Wesen per se die Fähigkeit hat, die von Gott geschaffene Lebenswelt eigenmächtig zu ordnen und in die ewige Wahrheit der Schöpfung Einsicht zu erhalten. Aš-Šāṭibīs transzendentalem Induktionsverständnis gemäß geht die diskursethische7 Deutung der Offenbarungstexte jeglicher zweckrationaler Normenbegründung voraus. Gleichwohl hält er eine Letztbegründung theologischer Rechtsnormen durch transzendentaldiskursive und handlungstheoretische Reflexion für möglich, indem er auf das „Apriori der Auslegung“ verweist: „Der Gesetzgeber hat eine ausführliche Erklärung in Bezug auf die [vordergründigen] Motive und die [hintergründigen] Weisheiten gegeben, die der Aufstellung der Gesetzgebung hinsichtlich der Sitten und Bräuche als Hintergrund dienen. [Doch] das Meiste, was durch den Einbezug des Handlungsumfeldes begründet wird, würde im Fall einer rationalen Betrachtung angenommen.“8 So stimmt aš-Šāṭibī einerseits der muʿtazilitischen These der Existenz einer Logik ethischer Begriffe zu, der man sich rational denkend nicht entziehen kann. Andererseits widmen sich die von ihm mit Rückgriff auf Autorität und allgemeingültige Verbindlichkeit der Textquellen in Erwägung gezogenen Einwände gleichermaßen der instrumentalen Auffassung des Wohlergehens. Diese Auffassung entspricht dem muʿtazilitischen Rationalitätskonzept und ging dem AverroesKonzept burhān voraus, das dem modernen Begriff „Zweckrationalität“ 9 nahe kommt, der jedoch mit ihm nicht deckungsgleich ist. Der Rationalitätsauffassung der Muʿtazila zufolge, schöpfe der Mensch aus seiner angeborenen rationalen Begabung das Vermögen zum zielgerichteten und nützlichen Denken und Handeln, sodass er

7 Die Bezeichnung „diskursethisch“ wird hier in Anlehnung an den der islamischen Rhetorik entsprungenen Begriff ḫaṭāba (was so viel wie „normative Redekunst“ bedeutet) verwendet, deren kommunikativ-argumentative Rationalität die gesamte islamische Ethiktradition prägt. Wie in der Erzähltheorie geht die insgesamt normativ orientierte islamische Rhetorik davon aus, dass der ḫaṭāba-Begriff, der nach Ibn Ḫaldūn als syllogistische Argumentationskunst definiert wird, grundsätzlich moralisch aufgeladen ist. (Vgl. Ibn Ḫaldūn: al-Muqaddima, hg.von Ḥuǧr ʿĀṣī, Beirut 1991, S. 308.) 8 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 233. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 217. 9 Mit dem modernen Begriff „Zweckrationalität“, der nach Max Weber eine gewisse Dominanz des instrumentalistischen Denkens impliziert, ist hier lediglich das zielgerichtete Denken gemeint. Auf die islamische Tradition übertragen, handelt es sich beim Begriff „Zweckrationalität“ um eine Charaktereigenschaft der theologisch geprägten Wertrationalität (vgl. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 566f). Der spätentwickelten umstrittenen abendländischen terminologischen Unterscheidung zwischen Rationalität und Vernunft kann in diesem Zusammenhang nicht Rechnung getragen werden. Daher werden in den vorliegenden Ausführungen beide Begriffe als Synonyme verwendet.

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2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht

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Schäden und Nutzen intuitiv und naturgemäß erkennen könne.10 Im Unterschied zur muʿtazilitischen Ethiktheorie erhebt aš-Šāṭibī jedoch nicht den Anspruch, selbst mit einer der Offenbarung untergeordneten spekulativen Vernunft eine Letztbegründung von Moral- und Rechtsnormen leisten zu können. Dem moraltheoretischen Universalisierungsgrundsatz der Normenlehre verpflichtet, der der Diskursargumentation gegenüber der apriorischen Vernunftreflexion Vorrang gewährt, kommt aš-Šāṭibī der modernen diskursethischen Rationalitätsauffassung nahe. 11 Eine deontologische Letztbegründung der Moral- und Rechtsnormen, wie man sie aus der praktischen fiqh-Wissenschaft kennt, lässt sich daher im maqāṣid-Ansatz kaum erkennen. Im Gegensatz zur islamischen philosophischen Ethik, die sich grundlegend einem reinen handlungstheoretischen Rationalitätsverständnisses bedient, geht der maqāṣid-Ansatz von einer Konsenstheorie der Wahrheit aus, die sich an der glaubenden Erkenntnis von Gottes Willen als Letztprinzip ethischer Begründung orientiert. Das enge muʿtazilitische Rationalitätsverständnis, das in der Tradition der Rechtstheorie schon früh auf Kritik stieß, wird in aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz in Richtung auf den der Normenlehre zugrundeliegenden diskursethischen Vernunftbegriff geöffnet, demzufolge Moral- und Rechtsnormen in begründbare und unbegründbare unterteilt werden. So werden Verhaltensnormen, die dem praktischen Lebensvollzug des Menschen entspringen, der sittlichen Urteilsfindung zugeordnet (aḥkām al-ādāt wa-l-muʿāmalāt) und als rational begründbar durch die ethischen Werturteile des Nutzens und des Schadens erklärt: „Über die šarīʿa ist bekannt, dass sie für das Wohlergehen der Menschheit errichtet wurde und dass die Verpflichtung im Allgemeinen entweder dazu da ist, einen Schaden abzuwenden, einen Nutzen zu ziehen oder aber beides zusammen.“12 Aš-Šāṭibī argumentiert für seine Theorie teleologischer Moralpflichtbegründung diskursethisch und handlungstheoretisch, indem er impliziert, dass, wenn sich das 10 Diese Idee geht auf den Universalgelehrten al-Ǧuwaynī zurück, der klarstellt: „Es ist unbestritten, dass die Vernunft das Vermeiden jeglichen Unheils und das Erlangen möglichen Nutzens anstrebt. Und die Ablehnung dessen ist jenseits jeglicher Vernunft, weil dies eigentlich das Recht des Menschen ist.“ (al-Ǧuwaynī: al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, Bd.1, S. 91.) 11 Der moderne Begriff der „Diskursethik“ geht auf Jürgen Habermas‘ und Karl-Otto Apels Theorie der kommunikativen Rationalität zurück, der zufolge das zweckrationalistische Denken lediglich eine untergeordnete Form kommunikativer Rationalität sei, da zielgerichtetes Handeln stets kommunikatives Argumentieren zur Voraussetzung habe. Im Unterschied zu Habermas schließt Apel eine diskursethische Letztbegründung der Moral nicht grundsätzlich aus. (Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1988, Bd. 1, S. 532 sowie Karl-Otto Apel: „Rationalitätskriterien und Rationalitätstypen. Versuch einer transzendentalpragmatischen Rekonstruktion des Unterschieds zwischen Vernunft und Verstand“, in: Axel Wüstehube (Hg.): Pragmatische Rationalitätstheorien. Studies in Pragmatism, Idealism und Philosophy of Mind, Würzburg 1995, S. 41.) 12 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 145. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

Handeln jedes Gläubigen auf das Wohlbefinden der Gemeinschaft ausrichte, jedes Gemeinschaftsmitglied als potentiell Handelnder für sich das Recht auf das Wohlergehen voraussetze. Die aus der ethischen Maxime des „Schutzes des Selbst“ hervorgehende Transitivität (des Seins) dient demnach dazu, dieses Recht auch anderen Gläubigen der Diskursgemeinschaft zuzugestehen. Diesem Deutungsmuster liegt eine Auffassung des Glaubens zugrunde, nach der dem Interesse des Einzelnen mit Berufung auf die aus dem Begriff des Eingottglaubens hervorgehende Gemeinschaftsstimme, von Fall zu Fall Einhalt geboten werden kann. Dass das teleologische Moralkonzept aš-Šāṭibīs die Aporien instrumentaler Begründungstheorien zu überwinden versucht, sieht man darin, dass der Schwerpunkt seiner normativen Moralbegründung nicht auf die Rechtfertigung ethischer Zielsetzungen gesetzt wird, sondern vielmehr auf dem Verfahren der Abwägung von Handlungsmöglichkeiten und den damit verbundenen Handlungszielen liegt. Ar-Rāzīs Idee einer theologisch-rationalen Zielsetzung moralischer Pflicht folgend, plädiert aš-Šāṭibī dafür, die ethische Ausrichtung einem Überlegungsprozess zu unterziehen, wobei sich die Definition letzter Handlungsziele primär an der Unterscheidung zwischen weltlichen und gottesdienstlichen Pflichten orientiert. Die fundamentale Zielsetzung der gottesdienstlichen Handlungen sind nach aš-Šāṭibī Gottesverehrung und die Einhaltung von vorgeschriebenen Handlungsrahmen. Die erste normative Quelle dafür liefert, ihm zufolge, unter anderem auch die [Methode der] Induktion. Demnach sind viele Pflichten aus dem Bereich der gottesdienstlichen Handlungen, hinsichtlich ihrer Struktur, ihres Ausmaßes und ihrer Zeitvorgaben, sowie ihrer Voraussetzungen nicht rational begründbar.13 Deutlich wird nach dieser Aussage, dass die mit der rituellen Praxis verbundenen Handlungen keine rationalen Handlungen im eigentlichen Sinne sind und somit nicht den inhärenten Abwägungsprozessen unterworfen werden sollen, die für weltliche Handlungen gelten.14 Dabei kann das Argument der instrumentalen Vernunft, die rituelle Praxis habe kein weiteres Ziel außer sich selbst, hier nicht greifen, da selbst gemeinnützige Handlungen im Koran, deren Ziel nachvollziehbar zu sein scheint, von jeglicher Begründung absehen. So heißt es z.B. in Q 76:9: „Wir speisen euch nur um Allahs Angesicht willen. Wir wollen von euch weder Belohnung noch Dank.“ Ohne prinzipiell auszuschließen, dass rituelle Praktiken bestimmte für den Menschen erschließbare Weisheiten implizieren können, lässt die Diskursethik ašŠāṭibīs die Möglichkeit einer Begründung gottesdienstlicher Handlungen offen. Die 13 Ebd., Bd. 2, S.228. 14 Im Anschluss an Gosepath erläutert Stefan Grotefeld, dass eine Handlung rational ist, „wenn die betreffende Person – ihre abgewogenen Ziele, Hintergrundmeinungen und die Berücksichtigung aller verfügbaren relevanten Evidenzen vorausgesetzt – diejenige Alternative wählt, die die Gesamtheit ihrer Ziele optimal zu erfüllen verspricht.“ (Stefan Grotefeld: „Rationalität, Vernunft und Moralbegründung“, in: Alberto Bondolfi/Stefan Grotefeld/Rudi Neuberth (Hg.): Ethik, Vernunft und Rationalität, Münster 1996, S. 79.)

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2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht

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Frage, ob dabei eine umgekehrte Verhältnisbestimmung zwischen rituellem Handeln und kognitivem Denken vorausgesetzt werde, die sich ihrerseits auf zwischenmenschliches Verhalten auswirke, lässt sich nur schwer beantworten. Als Argument für diese Vermutung kann der Umstand gelten, dass der Glaube in aš-Šāṭibīs Intentionstheorie als eine Grundmotivation zu ethischem Handeln anzusehen ist, obwohl dort die Begründung moralischer Pflichten teilweise, nämlich wenn es um weltliche Handlungen geht, der menschlichen Vernunft ausdrücklich überlassen wird. Diese zweistufige Begründungsauffassung geht auf die sich an der Lehre der bipolaren Wirkung orientierenden ašʿaritischen Ethik zurück, die sich auch in der spätsunnitischen (ab dem 5./11. Jh.) rechtstheoretischen Moraltheorie wiederfindet. Im Unterschied zur muʿtazilitischen These der vorherrschenden Vernunft, geht die ašʿaritische Begründungstheorie von dem Postulat einer doppelten Moralbegründung und einer zweidimensionalen Ethik aus. Dass die ašʿaritische theologische Ethik damit mehr Fragen aufwirft als sie zu beantworten vermag, scheint eine der Folgerungen zu sein, die sich aus der Methodik der Rationaltheologie im Allgemeinen ergibt, die im Zuge der folgenden Ausführungen erläutert wird. Welche Rolle die Überlieferung (an-naql) bei der Begründung der göttlichen Rechtsordnung spielt und welche Funktion der rationalen Urteilsfindung dabei zugeteilt wird, kann man an der besonderen Stellung erkennen, die aš-Šāṭibī dem Koran in seinem intentionalistischen Ansatz zuschreibt. Was aš-Šāṭibīs rationale Begründung der Normenlehre der šarīʿa aber auf der theologischen Ebene zur Folge hatte, kann man am besten an der regen und aufschlussreichen Diskussion erkennen, die aš-Šāṭibī mit den Ẓāhiriten führte und die in einer Fortsetzung der traditionellen Auseinandersetzung um die Bedeutung des Analogieschlusses (qiyās) als rationales Instrument der Rechtsableitung mündete. Frühere sunnitische Rechtsgelehrte, vor allem die Anhänger des maqāṣidAnsatzes, wie al-Ǧuwaynī15 und al-Qarāfī (gest. 684/1285),16 sahen eine Inkompatibilität zwischen maqāṣid aš-šarīʿa, qiyās und taʿlīl. Die Verteidiger des Analogieschlusses und der rationalen Begründung der Vorschriften der šarīʿa griffen aber dabei die fundamentalen Aussagen des istiqrāʾ (textuelle Induktion) nicht an. Im Gegenteil, zu dem, was vermutet werden kann, präsentieren die Werke aš-Šāṭibīs den istiqrāʾ-Vorgang als ein zentrales analytisches Werkzeug innerhalb der maqāṣid-Methodik, der zufolge die Textquelle und der darauf bezogene erläuternde Metatext sich bei der Normenableitung argumentativ ergänzen. 17 Die 15 Vgl. Nagel: Die Festung des Glaubens, S. 78ff. 16 Vgl. Sherman A. Jackson: Islamic Law and the State. The Constitutional Jurisprudence of Shihāb ad-Dīn al-Qarāfī, Leiden 1996, S. 144. 17 Zu diesem Wettstreit: Vgl. Robert Brunschvig: „Herméneutique normative dans le judaisme et dans l’Islam“, in: ders. (Hg.): Études sur l’Islam classique et l’Afrique du Nord, Paris 1986, Bd.6, S. 248f. Dominik Perler und Ulrich Rudolph argumentierten ihrerseits: „während dieser Zeit [12. Jahrhundert] lassen sich in den kalām-Texten nämlich keine Anzeichen für eine Auseinandersetzung über das Problem Kausalität erkennen.“ (Dominik Perler/Ulrich Rudolph:

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

Diskussionen aš-Šāṭibīs mit den damals mächtigen Ẓāhiriten waren ausschlaggebend für die Festlegung der Anwendungsbereiche der Induktionsmethode und des Analogieschlusses. So markiert das späte 6./12. Jahrhundert eine entscheidende Etappe hinsichtlich der Fragestellung der Vereinbarkeit von Vernunft und Glaube. Dem Diktat ašʿaritscher Rechtstradition folgend erweitert aš-Šāṭibī die Bedeutung der normativen Quellen (adilla), anknüpfend an die vom Grammatiker Ibn alAnbārī (gest. 577/1181) in seinem sprachdogmatischen Traktat18 aufgestellte Ordnung der sprachlichen Quellen. Die von al-Anbārī formulierte strenge Hierarchie der drei normativen Quellen: naql, qiyās und istiṣḥāb al-ḥāl (Annahme der Kontinuität des Status quo) wird von aš-Šāṭibī nur formal übernommen, wobei die dritte Komponente von aš-Šāṭibī überhaupt nicht in Betracht gezogen wird, da es sich dabei um eine sekundäre Rechtsfindungsmethode der Šāfiʿiten handelt, „nach welcher – bei fehlendem Hinweis auf eine eine Änderung erfordernde Ursache – in dubio der herrschende Zustand beibehalten werden kann“. 19 Die sogenannten kulliyāt (universale Maximen theologischer Ethik) fungieren hierbei als Ergebnis menschlicher Anstrengung, mittels derer der naql gemäß situations- und kontextbedingten Faktoren auszulegen ist.20 Den Schwerpunkt von aš-Šāṭibīs Argumentation in Bezug auf kulliyāt bildet die Verhältnisbestimmung zwischen rational begründeten und offenbarungsgestützten Moral- und Rechtsquellen. Dabei wird die Sonderstellung des Korans als Dreh- und Angelpunkt ethischer Ausrichtung hervorgehoben. In seiner Abhandlung zu „dem Kapitel der normativen Quellen“ (kitāb al-adilla) stellt er die Hypothese auf, dass die fünf ethischen Grundmaximen primär aus mekkanischen Suren abgeleitet seien, während die medinensischen Suren deren Umschreibung in institutionell geordneten Moralnormen zum Gegenstand haben. Um seine Annahme zu untermauern, führt ašŠāṭibī die grundlegenden Intentionen der Gesetzgebung (maqāṣid at-tašrīʿ) in Verbindung mit mekkanischen Textquellen im Einzelnen aus. Er nimmt hier vor allem Bezug auf die Bedeutung der ersten Offenbarungsphase. 21 Die medinensischen Koranverse mit normativem Gehalt sind lediglich als Spezifizierungen (furūʿ) der allgemein aufgefassten mekkanischen Koranverse

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Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabisch-islamischen und im europäischen Denken, S. 106-109.) Diese These kann allerdings nur bedingt verallgemeinert werden. Denn der Diskussion um kausale Begründungstheorie kam nach ar-Raysūnī durch den Einfluss der Mystik in Andalusien eine besondere Dimension zu. (Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, 98ff.) Es handelt sich um die stark an der Rechtstheorie orientierte linguistische Abhandlung von Attiya Amer (Hg.): Lumaʿ al-adilla fī uṣūl an-naḥw, Stockholm 1963. Ulrich Haarmann: „Religiöses Recht und Grammatik im Klassischen Islam“, in: ZDMG Supplement 2 (1974), S. 168f. Aus der Rekonstruktion der Beziehung zwischen dem Sprachlichem und dem Extralinguistischem in der Interpretation der naql-Beweise haben viele Nachfolger aš-Šāṭibis gelernt. Dies belegt die analytische Reife des Werkes al-Iqtirāḥ fī uṣūl an-naḥw des ca. zwei Jahrhunderte später verstorbenen as-Suyūṭī (Vgl. as-Suyūṭī: al-Iqtirāḥ fī uṣūl an-naḥw, Hydarabad 1892.) Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S.33.

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2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht

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(uṣūl) anzusehen.22 Aš-Šāṭibī geht sogar so weit, dass er die fünf ethischen Grundmaximen der Offenbarung, als Kernelemente der Ethik, von dem Prozess der Abrogation (an-nasḫ) ausnimmt, da sie ein Bestandteil der kulliyāt bilden, die grundsätzlich von der Abrogation nicht betroffen sind. Die Abrogation, die durch die medinensischen Suren des Korans ausgeführt wurde, zielte ausschließlich darauf ab, das Nebensächliche (ǧuzʾiyyāt) der mekkanischen Koransuren detaillierter auszuführen. Interessant an aš-Šāṭibīs Ansatz ist seine Aussage, dass die Abrogation der kulliyāt textuell nicht möglich sei.23 Bemüht um eine ethisch-normative Eingrenzung des Abrogationsbegriffs geht aš-Šāṭibī detailliert auf die Unterscheidung zwischen dem Prozess der Spezifizierung (taḫṣīṣ) und dem Vorgang der Abrogation (nasḫ) ein. Dabei widmet er sich der Frage nach dem moralischen Sinn der Abrogation, die seinem Verständnis nach in der Hervorhebung der in den mekkanischen Suren verankerten theologischen Werte und Tugenden, wie Fürsorge, Gerechtigkeit, Geduld, Versöhnlichkeit, Dankbarkeit und Treue, begründet liegt. Diese Werte macht er zum Hauptkriterium einer argumentativen Verhältnisbestimmung zwischen den thematisch in Relation stehenden Offenbarungen, die eine paraphrastische oder textuelle Zugehörigkeit suggerieren. So erschwert er zugleich bewusst die Anwendung des herkömmlichen Abrogationsverfahrens. Dabei sollen bei der diskursiv-normativen Verhältnisbestimmung unterschiedlicher Koranverse, die ähnliche moralische Denkinhalte aufweisen, zwei methodische Grundsätze in der Analyse herangezogen werden.24 Auf textueller Ebene setzt aš-Šāṭibī daher eine umfassende Induktion voraus, in deren Rahmen eine systematische und vergleichende Quellenuntersuchung zum normativen Gegenstand vollzogen wird. Auf der theologisch-moralischen Ebene müssen die aus den Textquellen rational erschlossenen ethischen Prinzipien sowohl in der Hypothesenstellung als auch bei der Formulierung der angestrebten Zielsetzung im selben Maße wie die Offenbarungsquellen bei der Normenableitung herangezogen werden. Diese zum Umdenken über die Funktion von nasḫ verleitende Herangehensweise entspringt aus aš-Šāṭibīs Vorstellung der Hierarchie von normativen Quellen, die er ausführlich im kitāb al-adilla erläutert: „Die Rechtsquellen sind von zweierlei Art: Die erste geht auf die [schriftliche] Überlieferung zurück, während die zweite der reinen Vernunft (ar-raʾy al-maḥḍ) zugeordnet wird. Diese Unterteilung gilt ausschließlich für die Kategorisierung der Rechtsquellen. Ansonsten ist bei der Ableitungen von den Rechtsnormen jeder Teil vom anderen abhängig.“25 Bei der genaueren Betrachtung von aš-Šāṭibīs Skepsis gegenüber der herkömmlichen Definition von nasḫ ist festzustellen, dass er die Relevanz dieses Begriffs für 22 23 24 25

Ebd., Bd. 3, S. 33-34. Vgl. ebd, Bd. 3, S. 78. Vgl. ebd., Bd. 3, S. 79. Ebd., Bd. 3, S. 29. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.

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die Rechtstheorie allmählich in Frage stellt. Dies wird deutlicher in den Koranbelegen, die seiner Untersuchung als Textgrundlage dienen. Im Zuge seiner Analyse umstrittener Abrogationsfälle, die er nicht als solche anerkennt, widmet er sich der Ausarbeitung des Begriffs „Spezifizierung“, dem er gegenüber der Abrogation offensichtlich Vorrang gibt. Seine Zurückhaltung hinsichtlich des Begriffs nasḫ rührt von der Befürchtung her, dass die reichhaltige Welt der Offenbarung durch eine einfache syllogistische und zum Teil willkürliche Herangehensweise verarmt und auf ein knappes Gerüst deontologischer Rechtssätze reduziert wird. Mit der Annahme, dass die universellen Maximen ethischen Verhaltens grundsätzlich im Koran und insbesondere in den mekkanischen Suren verankert sind, will aš-Šāṭibī keineswegs die Gültigkeit der medinensischen Suren oder des Hadith bestreiten, sondern lediglich der Intentionstheorie einen fundamentalen, ursprünglichen Charakter verleihen, eine Frage, die er am Anfang der Diskussion über die rationale Begründung des Rechts im Vorfeld klärt. Diese differenzierte Haltung zum Koran könnte unter Umständen als Versuch ausgelegt werden, die Kluft zwischen der etablierten Rationaltheologie als eine Wissenschaft, die die Wirklichkeit aus der Perspektive des Korans unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit befragt, und dem der Rechtstheorie inhärenten Ethikverständnis, bei dem der Verantwortungsaspekt des Glaubens im Mittelpunkt steht.26 Dadurch soll gezeigt werden, dass Rationaltheologie und Ethik sich gleichermaßen auf eine dem Glauben entspringende Befragung der Wirklichkeit berufen. Nach einer Feststellung ar-Rāzīs geht es in der ethischen Urteilsfindung um einen vom Koran angeleiteten Umgang mit jenen widerspruchsvollen Formen von Vernunft, wie sie sich in den Debatten der Rationaltheologie zeigten.27 Sein Argument für die Annäherung von Vernunft und Glaube stützt sich auf die theologische Annahme, dass Gott den Menschen in einer Weise erschaffen habe, dass er in moralischen Kategorien der Vernunft denke und ihn infolgedessen zu den von der Offenbarung beabsichtigten ethischen Maximen rechtleitet.28 2.1.2. Rechtliche Analogie, Absicht und diskursethische Moralbegründung In der maqāṣid-Theorie wird das Bestreben zu moralischem Handeln als Korrelat, das dem Glauben inhärenter Motivation entspringt, betrachtet. Nicht zuletzt deswegen wird die Diskussion um die Begründung der Moralnormen der šarīʿa von

26 Vgl. Hans Bauer: Die Dogmatik al-Ghazali's nach dem II. Buche seines Hauptwerkes, Halle a.d.S. 1912, S. 67. 27 Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 291. Viel eindeutiger lässt sich diese Annahme bei der Exegese von Koranversen zeigen, in denen sich die Prophezeiung unter erkennender Teilnahme an der Weltwirklichkeit als wahr erweist, wie etwa in der koranischen Geschichte von Moses und dem Weisen. (Vgl. Q 18:65-70) 28 Vgl. Lenn Evan Goodman: „Did al-Ghazali Deny Causality?“, in: Studia Islamica 47(1978), S. 89ff.

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2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht

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einer Begriffsanalyse beherrscht, die die Thematik von verschiedenen Seiten dieser facettenreichen Fragestellung beleuchtet. Die Antwort auf die Frage, ob aš-Šāṭibī eine logisch-rationale Letztbegründung theologisch-moralischer Pflichten für möglich hält, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die Imprägnierung von Vernunft durch Glauben in der islamischen Rechtstheorie gedacht wurde. Mit dieser Fragestellung ging eine weitgefasste Auseinandersetzung zum Begriff taʿlīl einher, die eine umfassende Untersuchung des gängigen Analogie-Konzepts hervorrief.29 Die Bedeutung des Begriffs taʿlīl lässt sich auf die Verwendung des Wortes ʿilla30 sowohl in der früheren Korangrammatik als auch in der klassischen Rechtstheorie zurückführen. Van Ess fasst in seiner Erkenntnislehre die juristische Bedeutung von ʿilla wie folgt zusammen: ʿIlla ist „das Merkmal (waṣf), das einer Sache oder Handlung seine juristische Qualifikation (ḥukm), ob erlaubt oder verboten, verleiht“.31 Der Begriff ʿilla (causa) spielt bei der Aufstellung der vierten Rechtsquelle qiyās insofern eine grundlegende Rolle, als er die Verbindung zwischen propositio minor und conclusio im Rahmen des Analogieschlusses deduktiv herstellt. Es handelt sich um eine zur Begründung des ḥukm aus dem expliziten Quellentext entnommene 29 Eine Vielzahl analytischer Abschnitte des Kapitels al-Maqāṣid ist – wenn auch nicht systematisch – der Diskussion des Begriffs taʿlīl (Begründbarkeit) gewidmet. Bei der Verwendung des analytischen Begriffs des taʿlīl bedient sich aš-Šāṭibī der reichhaltigen Tradition der Rechtswissenschaft. (Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 153ff.) 30 Der von den Theologen entwickelte Terminus ʿilla stand im Mittelpunkt ihrer philosophischen Überlegungen bezüglich der ontologischen causa auf der Suche nach der Realität des Verhältnisses zwischen Schöpfer und Schöpfung (maʿlūl: Wirkung). (Vgl. u.a. Ǧamāl ad-Dīn Abū l-Ḥasan ʿAlī ibn Yūsuf al-Qifṭī (gest. 646/1248): Inbāḥ ar-ruwāt ʿalā anbāh an-nuḥāt, 4 Bde., Kairo 1950, Bd. 2.) In der Logik wurde der Begriff ʿilla für die Bezeichnung des im Rahmen des Analogieschlussverfahrens zwischen aṣl und farʿ verbindenden Mittelbegriffs waṣf ǧāmi verwendet, wie dies Robert Brunschvig verdeutlicht. (Vgl. Robert Brunschvig: „Logic and Law in Classical Islam“, in G.E. Grünebaum (Hg.): Logic in Classical Islamic Culture, Wiesbaden 1970, S. 9-120.) Die Grammatiker bedienten sich ebenso des Begriffs ʿilla. Sie meinten allerdings damit nicht die ratio legis, sondern die formale Ursache für die Einordnung eines bestimmten Morphems oder Segments als Ableitung von einem gegebenen Grundsatz (aṣl). (Vgl. u.a. Abū l-Fatḥ ibn Ǧinnī (gest. 392/1002): al-Ḫaṣāʾiṣ, hg. von M.A. Naǧǧār, 3 Bde., Beirut 1952; Ulrich Haarmann: „Religiöses Recht und Grammatik im Klassischen Islam“, in: ZDMG Supplement 2 (1974), S. 165.) Bei Sībawayh (gest. ca. 180/796) merkt man jedoch eine gewisse Konfusion zwischen ʿilla und ʿāmil (Regent), die zwar in den letzten Jahrzehnten Gegenstand einiger Monographien war, aber bisher keine umfassende linguistische Erklärung fand. (Vgl. Sībawayh: al-Kitāb, hg. von Hartwig Derenbourg, 2 Bde., Paris 1881; Josef van Ess: Die Erkenntnislehre des ʿAḍudaddīn al-Īcī, Wiesbaden 1966, S. 312f.; 382ff.; sowie Josef van Ess: The Logical Stucture of Islamic Theology, Wiesbaden 1970, S. 35ff., 48f.; Mohammed Nekroumi: „Zur Rezeption klassisch-arabischer philologischer Termini in der modernen Arabistik“, in: ZDMG 157 (2007) 1, S. 77-102.) 31 Van Ess: Die Erkenntnislehre des ʿAḍudaddīn al-Īcī, S. 383. In diesem Zusammenhang bezieht sich die Definition der ʿilla von Josef van Ess ausschließlich, auf den juristischen Gebrauch des Wortes.

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

causa. Die Rechtsnorm des Alkoholverbots wurde einigen Theologen zufolge nicht direkt aus dem Korantext erschlossen, da die entsprechende normative Quelle (dalīl) im Koran nur den aus Weintrauben gewonnenen Wein verpönt. Die Rechtsgelehrten definierten den Verbotsgrund des Alkohols analogisch im Hinblick auf eine aus der expliziten Bedeutung des entsprechenden Koranverses erschlossene causa. In diesem Fall liegt diese in „der Unreinheit und der betäubenden Wirkung“ 32 begründet.33 Das Analogieschlussverfahren der Rechtstheorie, das dem qiyās bayānī (diskursive Analogie) der Rhetoriker formell ähnelt, geht von dem Merkmal eines bereits in der Offenbarung verkündeten Urteils aus, um es als ratio legis in einem präskriptiven Syllogismus als Grundlage moralischer Urteilsfindung zu nutzen. So wird aus zwei Prämissen ein Ergebnis erschlossen, das als verbindliches Urteil gilt. Als Beispiel hierfür wird häufig der Fall des Weinverbots angeführt: a) Kullu muskirin ḥarām (proposito maior): Alles Berauschende ist verboten. b) Kullu nabīḏin muskir (propositio minor): Jeder Traubenwein ist berauschend. c) ḥurrimat ʿalaykum an-nabīḏ/al-ḫamr (conclusio):34 Traubenwein ist verboten. ʿIlla ist hier also ein Merkmal, das die juristische Gleichstellung von Alkohol und Wein erlaubt, indem sie einen gemeinsamen konstitutiven Faktor beider Produkte impliziert.35 Vor diesem Hintergrund entstand der sozial-ethische taʿlīl-Begriff, der zwar bereits bei Šihāb ad-Dīn al-Qarāfī zu einem analytischen Werkzeug entwickelt wurde,36 seine Entfaltung jedoch erst in der maqāṣid-Theorie aš-Šāṭibīs erfuhr.37 32 Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, S. 95. 33 In Bezug auf al-Qarāfīs Werk (Šihāb ad-Dīn al-Qarāfī: Šarḥ tanqīḥ al-fuṣūl fī iḫtiṣār al-maḥṣūl fī l-uṣul, hg. von Ṭaha ʿAbd ar-Raʾūf Saʿd, Kairo 1973) stellt Sherman A. Jackson die Verbindung zwischen ʿilla und menschlichem Interesse wie folgt her: “Briefly stated, the ʿillah is the underlying reason for which a thing is believed to have been designated a legal cause. This is commonly conceived in terms to how such designation serves the interests of humanity, e.g., the preservation or promotion of life, religion, property, soundness of mind, or, according to some, honor. Where there is a clear connection between the underlying reason and some human interest, ”appropriateness“, or what the scholars refer to as ”munāsabah“ is said to exist.” (Jackson: Islamic Law and the State, S. 120.) Aš-Šāṭibī arbeitete an der Entwicklung der Interaktion zwischen maṣlaḥa und ʿilla weiter, was seiner maqāṣid-Theorie eine tiefgreifende Reformkraft verliehen hat. 34 Die Rechtstradition weist eine Vielzahl von Syllogismen auf. Das Verbot des Traubenweins wird auf den Dattelwein durch eine andere Konstellation der logischen Sätze übertragen: a) Berauschendes ist verboten (ʿilla) b) Dattelwein ist berauschend (waṣf) c) Dattelwein ist verboten (farʿ). (Vgl. al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 138.) 35 Qiyās soll hier nicht mehr näher erläutert werden, da es sich hierbei in erster Linie um die Wurzeln des taʿlīl handelt. Auf die Bedeutung der Analogie in der Intentionstheorie wird im folgenden Kapitel detailliert eingegangen. 36 Sherman A. Jackson zeigt die von al-Qarāfī durchgeführte Erweiterung der ʿilla-Prozedur als Gegenpol zum taqlīd-Vorgang „auf Autorität basierendes Recht“. Sherman A. Jackson bezeichnet ʿilla als ratio essendi. (Vgl. Jackson: Islamic Law and the State, S. 119f.) 37 Den Verfechtern der Kausalität zufolge muss es zwischen ʿilla und sabab unterschieden

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Die Einzigartigkeit der taʿlīl-Theorie aš-Šāṭibīs, so einige Forscher,38 resultiert aus der Erkenntnis, dass das bis zum 8./14. Jahrhundert gültige Recht nicht mit den sozio-ökonomischen Änderungen dieses Jahrhunderts in Andalusien mithalten konnte, woraus bei ihm der Anspruch erwuchs, in seiner Rechtstheorie Antworten auf die Probleme dieser Zeit zu finden, um so das Recht den neuen sozialen Bedingungen anzupassen. Dies geht jedoch nur durch eine klare Trennung zwischen rational Begründbarem und ontologisch Wahrnehmbarem im Koran. 39 Der Grundsatz (aṣl) lautet bei aš-Šāṭibī: Die „Begründbarkeit“40 der Rechtsnormen betreffe ausschließlich jene, die sich auf die menschlichen weltlichen Handlungen sowie Sitten (ʿādāt) bezögen. Die rituellen Gebote Gottes seien hingegen nicht rational begründbar. Im Kontext einer heftigen Auseinandersetzung

werden. ʿIlla dient zur Begründung einer Rechtsnorm, während sabab die Handlung selbst meint, die als Gegenstand der Rechtsnorm fungiert. (Vgl. al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 143.) 38 Vgl. u.a. Masud: Islamic Legal Philosophy. S. 99f., siehe auch Wael B. Hallaq: „The Primacy of the Qur´an in Shatibi’s Legal Theory”, in ders. (Hg.): Law and Legal Theory in Classical and Medieval Islam, Burlington 1995, S. 69-90. 39 Für aš-Šāṭibi wird die Zielsetzung des Gesetzgebers zum Schutz der intellektuellen Fähigkeit durch Verse aus medinensischen Koransuren belegt, insofern, als dass das Verbot berauschender Mittel gemäß eines abgestuften deontischen Prozesses erfolgte, das erst in der medinensischen Phase eingeführt wurde. Zunächst lautete die Botschaft: „Sie fragen dich nach berauschendem Trunk und Glückspiel. Sag: In ihnen (beiden) liegt große Sünde und Nutzen für die Menschen. Aber die Sünde in ihnen (beiden) ist größer als ihr Nutzen. Und sie fragen dich, was sie ausgeben sollen. Sag: Den Überschuss. So macht Allah euch ein Zeichen klar, auf dass ihr nachdenken möget.“ (Q 2:219); danach vollzog sich eine Pflichtsteigerung, die für die Lebenslage der neu gegründeten, jedoch theologisch reifgewordenen islamischen Gemeinde in Medina zumutbar scheint: „O die ihr glaubt, nähert euch nicht dem Gebet, während ihr trunken seid, bis ihr wisst, was ihr sagt, noch im Zustand der Unreinheit – es sei denn ihr geht bloß vorbei – bis ihr den ganzen (Körper) gewaschen habt […].“ (Q 4:43); „O die ihr glaubt, berauschender Trank, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind nur ein Gräuel vom Werk des Satans. So meidet ihn, auf das es euch wohl ergehen möge!“ (Q 5:90); „Der Satan will (ja) zwischen euch nur Feindschaft und Hass säen durch berauschenden Trank und Glücksspiel und euch vom Gedenken Allahs und vom Gebet abhalten. Werdet ihr (damit) nun wohl aufhören?“ (Q 5:91). Die zeitliche Abfolge bei der Herabsetzung einschlägiger Koranverse zu den fünf grundlegenden Maximen des Gesetzgebers wird dadurch erklärt, dass das Verhältnis zwischen deren ethischen Kategorien hierarchisch aufgestellt ist. Genauso wie aš-Šāṭibī eine paraphrase Beziehung zwischen mekkanischen und medinensichen Suren herstellt, argumentiert er für eine intertextuelle Verbindung zwischen Koran und Sunna im Hinblick auf die drei Intentionskategorien aḍ-ḍarūriyyāt, al-ḥāǧiyyāt und at-taḥsīniyāt, wobei er ein besonderes Augenmerk auf die Notwendigkeiten legt: „denn genauso wie die zum Erhalt des Lebens notwendigen Maximen im Koran verankert sind, wurden sie besonders in der Prophetentradition detailliert ausgeführt.“ („fa-ḍ-ḍarūriyāt kamā taʾaṣṣalat fī l-qurʾān tafaṣṣalat fī s-sunna“ (Aš-Šāṭibī: alMuwāfaqāt, Bd. 2, S. 46f. Bd. 4, S. 20.) 40 Mit dem Begriff „Begründbarkeit“ wird hier keineswegs Bezug auf die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Begründbarkeit, die von Friedo Ricken: Allgemeine Ethik, Stuttgart 1998 gemacht wird, genommen.

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

mit den Anhängern41 der Begründbarkeit ritueller Gebote unterscheidet aš-Šāṭibī zwischen reiner Wissenschaft ṣulb al-ʿilm und der Pseudowissenschaft mulḥ alʿilm.42 Demnach betreiben diejenigen,43 die eine Begründbarkeit der rituellen Gebote verteidigen, keine „reine Wissenschaft“, da eine solche Haltung jeder rationalen Grundlage entbehre. Denn damit die Wissenschaft als „reine“ Wissenschaft anerkannt werden könne, muss sie drei fundamentale Bedingungen erfüllen, bzw. drei Merkmale besitzen: al-ʿumūm wa-l-iṭṭirād (Generalisierung und Regelmäßigkeit), aṯ-ṯubūt min ġayr zawāl (Konstanz und Beständigkeit) und ḥākim lā maḥkūm ʿalayh (wirkend und nicht Objekt einer Wirkung). Die Festlegung von Weisheiten, die man aus etwas erschließt und deren Sinn nicht rational nachvollziehbar scheint, wie die rituellen Praktiken, basiere dagegen überwiegend auf Vermutungen und spekulativem Denken: „Die abgeleiteten [hintergründigen] Weisheiten, deren Sinn nicht rational nachvollziehbar ist, insbesondere die der gottesdienstlichen Handlungen, wie das Festlegen der rituellen Waschung an den spezifischen Körperstellen, das rituelle Gebet in dieser Art und Weise, das Heben der beiden Hände und das Aufstehen sowie das Verbeugen und das Niederwerfen, und dass es [das Gebet] in dieser Form ist und nicht in einer anderen, und das Festlegen des Fastens [nur] am Tag und nicht in der Nacht, die Zeiteinteilung der rituellen Gebete zu diesen festgelegten Zeiten und nicht an anderen Tages- oder Nachtzeiten […] und ähnliche Fälle, für die der Verstand keine rationale Erklärung hat. Jedoch kommen einige Leute, und betrachten sie [die abgeleiteten Fälle] als Weisheiten und behaupten, dass sie in diesen Fällen mit der Intention des Gesetzgebers übereinstimmen. Und alles basiert auf Thesen und Vermutungen, die nicht kohärent sind […].“44 Hinter den einzelnen Bewegungen des rituellen Gebets oder der Bestimmung der Zeiten seiner Durchführung verberge sich laut aš-Šāṭibīs Annahme keine durch die menschliche Vernunft erschließbare Weisheit (ḥikma oder sirr), außer der einer individuellen Gotteserfahrung. Anders verhalte es sich mit den Sonderregelungen (ruḫaṣ), durch die der Gesetzgeber in bestimmten Situationen auf die Verminderung 41 Der ḥanbalitische Rechtsgelehrte Ibn Qayyim al-Ǧawziyya (gest. 751/1350) war zwar einer der überzeugten Anhänger der rationalen Begründung bzw. Rechtfertigung aller rituellen Rechtsgebote samt der dazu gehörigen einzelnen Akte, wie Gebetszeiten (awqāt aṣ-ṣalāt) oder Bedingungen ritueller Waschungen (šurūṭ al-wuḍū) etc., jedoch meinte er, ähnlich wie alĠazālī und aš-Šāṭibī, dass im Allgemeinen die hinter den rituellen Geboten Gottes verborgenen Weisheiten für die Vernunft des Menschen unzugänglich bleiben. (Vgl. Ibn Qayyim: Iʿlām almuwaqqiʿīn an rabb al-ʿālamīn, hg. von Mašhūr ibn Ḥasan, 7 Bde., Dār Ibn al-Ğawzī, Riad 2002, Bd. 3, S. 329.) 42 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 53ff. 43 An dieser Stelle verweist aš-Šāṭibī indirekt auf die Haltung von Abū Ḥanīfa, für den eine allgemeine Begründbarkeit der šarīʿa gilt, solange kein textueller Gegenbeweis vorliegt (Vgl. Muḥammad Abū Zahra: Abū Ḥanīfa hayātuhū wa-ʿaṣruhū - ārāʾuhū wa-fiqhuhū, Kairo 1947.) 44 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 55f. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.

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der Last ritueller Pflichten für den Gläubigen abziele.45 Die besondere Eigenschaft der rituellen Gebote liege darin, dass sie alle induktiv begründbar seien. Die Textquellen verwiesen, wenn auch ohne Berücksichtigung der Einzelheiten, explizit auf den Sinn der rituellen Pflichten eines Muslims, und es bedürfe keiner Inferenz, d.h. keines Erschließungsverfahrens, um deren Bezug zum Interesse des Menschen festzustellen.46 Doch die Begründung der rituellen Gebote sei methodisch nicht mit der Begründung der auf die weltlichen Handlungen des Menschen bezogenen Rechtsnormen zu vergleichen, obwohl die Rechtfertigung beider Kategorien auf der ethischen Basis des menschlichen Interesses beruhe, so aš-Šāṭibī. Im Gegensatz zum Zweck der weltlichen Handlungen lasse sich die Zielsetzung der rituellen Akte nicht systematisch und rational erfassen. Die auf sie bezogenen Sinngebungen bzw. Weisheiten seien lediglich Produkt allgemeiner Auslegung. Man dürfe aber als Gläubiger bei der Durchführung ritueller Gebote bewusst auf die vermeintlich daraus resultierenden weltlichen und jenseitsbezogenen Wirkungen und Zwecke abzielen: „Und es ist [dem Gläubigen] erlaubt, dass man sowohl auf die diesseitigen, als auch auf die jenseitigen Wirkungen [der gottesdienstlichen Handlungen] abzielen darf.“47 Eine genaue Betrachtung der taʿlīl-Argumentation aš-Šāṭibīs in seinem Werk alMuwāfaqāt besonders in Verbindung mit seinem anderen „quasi-juristischen“ Werk al-Iʿtiṣām verdeutlicht, dass sich seine theoretische Arbeit im Wesentlichen gegen die Mystiker dieser Zeit richtete, die seiner Meinung nach eine rigide Auslegung des Rechts befürworteten. Die Legitimierung des qiyās und seiner taʿlīl-Mechanismen als anerkannte Rechtsmethode implizierte auf der anderen Seite die Erkenntnis, dass die Textquellen inadäquat für die Schaffung eines ausgewogenen und rational annehmbaren Rechtsdiskurses sind. Das taʿlīl-Verfahren bei aš-Šāṭibī steht im Mittelpunkt seiner Anstrengungen um zwischen dem facettenreichen menschlichen Leben und dem transzendentalen Universum des Korans 48 eine Brücke zu schlagen. Bei ihm trifft die folgende von Kevin Reinhart formulierte Aussage vollkommen zu:

45 Auch hier gibt aš-Šāṭibī den Anhängern der Begründung ritueller Rechtsnormen nur bedingt Recht. Denn es sind seines Erachtens lediglich einzelne Fälle, die der Formulierung einer Regel nicht bedürfen. So schreibt er: „Und das, was bei ihnen passend ist, ist abgezählt und es gibt nichts Vergleichbares dazu, wie zum Beispiel die mit einer Handlung verbundenen Mühen, und deshalb erlaubte Verkürzung [vom Gebet] und Fastenbrechen und Zusammenlegen von zwei Gebeten des Reisenden und ähnliches.“ Ebd., Bd. 2, S. 230. 46 Vgl. zum Gebet Q 20:14, Q 29:45; zum Fasten Q 2:183; zur Almosen- bzw. Solidaritätsabgabe Q 9:103; und zur Pilgerfahrt Q 22:27-28. 47 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 147. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218. 48 Paul Ricoeur findet, dass die semantische Referenz einer heiligen Schrift in der Gedankenwelt (le Monde du Text) und in dem Anspruch, den er schafft, verkörpert wird; alles andere entsteht nach einer hermeneutischen Auseinandersetzung mit dieser Schrift. (Vgl. Paul Ricoeur u.a.: „Herméneutique de l’idée de Révélation”, in: La Révélation 7 (1977), S. 15-54.)

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“By grounding all of life in the relatively small body of revelation texts, Muslim scholars insured the universalistic and transnational character of Islamic intellectual and moral life”. 49 Doch die Kritik aš-Šāṭibīs richtet sich in dieser Hinsicht nicht nur an die Mystiker, wie etwa Ibn al-ʿArabī, sondern auch an die Rationaltheologen, insbesondere an die Ẓāhiriten, unter ihnen z.B. Ibn Ḥazm (gest. 456/1064), die im Analogieschluss eine formale Schranke für ihren frei waltenden raʾy sahen.50 Das Problem sieht aš-Šāṭibī hauptsächlich in dem textgebundenen Ansatz der Ẓāhiriten, die sich seiner Ansicht nach strikt „an die explizite Bedeutung der heiligen Texte halten und die Rolle der Vernunft grundlegend zurückweisen, was letztlich auf einen Ausschluss der bereits von der Tradition in Konsens angenommenen Analogie-Methode hinausläuft.“51 Die entschlossenen Gegner des Analogieschlusses und des taʿlīl-Verfahrens, wie die Mehrheit der Ḥanbaliten, der Ẓāhiriten 52 und der Ašʿariten, beriefen sich nach ašŠāṭibī auf eine detaillierte Interpretation der Texte als Rechtsquelle, wohingegen die Verteidiger des Analogieschlusses, nämlich einige Mālikiten, Šāfiʿiten und mehrheitlich Ḥanafiten53 sowie Muʿtaziliten erklärten, dass ihre Regeln außerhalb der Reichweite der Texte liegen würden, und ihre Ausführungen auf Basis von Überlegungen in den Texten erstellt worden seien. Sie sahen also den Analogieschluss als eine Möglichkeit der Extrapolation von Recht aus den fundamentalen

49 A. Kevin Reinhart: „Islamic Law as Islamic Ethics”, in: Journal of Religious Ethics 11/2 (1983), S. 192. 50 Im Hinblick auf die Definition und Anwendungsart des Analogieschlusses erläutert Ignaz Goldziher in Anlehnung an Ibn Ḥazm, dass sich in der Geschichte der islamischen Rechtstheorie zwei Methoden nebeneinander herausgebildet haben: „Während die eine nach einer materiellen Ähnlichkeit der miteinander in Beziehung gesetzten Rechtsfälle, des geschriebenen und des neuerdings aufgetauchten, zu suchen vorschreibt, fordert die andere Methode dazu auf, die Ursache, die ratio des zum Vergleich herangezogenen überlieferten Gesetzes zu ergründen, den Geist des Gesetzes zu erforschen und zu sehen, ob das frei herausgefundene Kausalitätsverhältnis, in welchem das Gesetz zu einem ungeschriebenen Prinzip steht, den neuerlich aufgetauchten Fall mit einschließt oder nicht.“ (Ignaz Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte. Beitrag zur Geschichte der muhammedanischen Theologie, Leipzig 1884, S. 12.) Der ersteren Methode wurde von den Ẓāhiriten der Vorzug gegenüber allen anderen Ansätzen gegeben. 51 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 61. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218. 52 Vgl. bezüglich der Ẓāhiriten: Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte. 53 Während Abū Zahra die Ḥanafiten als Repräsentanten aller Befürworter des Analogieschlusses bezeichnet (Vgl. Abū Zahra: Abū-Ḥanīfa hayātuhū wa-ʿaṣruhū - ārāʾuhū wa-fiqhuhū.), stellt Ignaz Goldziher die Zugehörigkeit Abū al-Ḥanīfas zu den qiyās-Anhängern in Frage. (Vgl. Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte, S. 13.)

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Texten. Dabei teilten sie die Einstellung ihrer Gegner, indem auch sie völlig eigenständig formuliertes Recht nicht als göttliches Recht akzeptieren konnten. 54 Merkwürdig in der von aš-Šāṭibī ausgeführten Diskussion um die rationale Begründung der Rechtsnormen scheint jedoch sein Angriff auf den Standpunkt von Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī,55 dem Einzigen, der von aš-Šāṭibī in diesem Kontext namentlich erwähnt wird. Eigentlich richtet er seine Kritik vielerorts im Buch an die Ẓāhiriten, zu denen sein Landsmann Ibn Ḥazm gehört, der dem Analogieschluss ein ganzes Kapitel in seinem Buch al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām56 widmet. Die Präsentation ar-Rāzīs als Vertreter der taʿlīl-Gegner in al-Muwāfaqāt ist insofern unverständlich, als dass die ablehnende Haltung bezüglich der rationalen Begründung der šarīʿa ausschließlich in seinen philosophischen Abhandlungen zu finden ist, in denen er sich als Ašʿarit der ašʿaritischen Auffassung verpflichtet fühlt.57 In den juristischen Werken ar-Rāzīs war seine Haltung gegenüber dem taʿlīl-Konzept hingegen eher positiv. Dabei muss in Erinnerung gerufen werden, dass ar-Rāzī ein treuer Anhänger des Analogieschlusses war, wie er selbst in seinem Werk al-Maḥṣūl fī ʿilm uṣūl al-fiqh beteuerte.58 Aufgrund der engen, ja dialektischen Beziehung zwischen qiyās und taʿlīl ergibt sich die unbestreitbare Zugehörigkeit ar-Rāzīs zum Kreis der taʿlīl-Anhänger. Die Entwicklung des von den Ašʿariten ins Leben gerufene munāsaba-Konzepts,59 das maslak al-munāsaba (Weg der Situationsangemessenheit) heißt, ist 54 Vgl. Abū Ḥāmid al-Ġazālī: Maǧmūʿat rasāʾil al-Ġazālī, hg. von Yāsir Sulaymān Abū Šādī, Kairo 2011, S. 224f. 55 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 4. 56 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, 8 Bde., Beirut 1983, Bd. 8, S. 78-113. 57 Konkret handelt es sich hier um eine Anspielung aš-Šāṭibīs auf die von ar-Rāzī verteidigte ašʿaritische Auffassung, die die Existenz jeglichen Sinns und Zwecks hinter der göttlichen Schöpfung abstreitet, da die Anerkennung einer solchen zweckgebundenen Intention bei Gott die Existenz einer gewissen Abhängigkeit seines Wesens von äußeren Faktoren impliziert. Diese Darstellung wurde von ar-Rāzī mit der berühmten ašʿaritischen Maxime untermauert: „al-mustakmalu bi-ġayrihi nāqiṣun bi-ḏātihi“, (vgl. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: Tafsīr mafātiḥ alġayb, 32 Bde., Teheran o.J., Bd. 2, S. 154.) 58 Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 240. 59 Dieses Konzept besagt: Wenn sich für eine Rechtsnorm irgendein Interesse als passend (munāsib) erweist, so fungiert dieses Interesse als causa (ʿilla) für die zwischen Rechtsnorm und Interesse erfolgte Anpassung. Je nachdem ob ein kausaler Zusammenhang zwischen der ratio legis und dem Urteil angenommen wird, werden unterschiedliche Definitionen für die Angemessenheit genannt: 1. Angemessen ist das, was zum Erreichen und Erhalten dessen führt, was angenehm für den Menschen ist. Das wäre etwas, was die Ursache des Nutzens bringt (manfaʿa) und die Ursache des Schadens abwendet (maḍarra). 2. Die Gegner des kausalen Zusammenhangs zwischen der ratio legis und dem Urteil weisen die These zurück, dass der menschliche Verstand in der Lage ist, den Willen Gottes hinter einem Urteil zu erkennen. Daher verneinen sie auch die Nutzung des ratio legis zur neuen Urteilsfindung. Angemessenheit ist demnach für sie das, was intelligente Menschen denken, was geeignet (mulāʾim) sein müsste. 3. Ar-Rāzī bestimmt drei Kriterien um ein angemessenes Merkmal zu bestimmen: (1.) Real sein (ḥaqīqī), (2.) im Gesetz erwogen (iʿtibār fī l-šarʿ) (3.) geeignet (mulāʾim) sein für den bestimmten Fall, mit oder ohne Beweis durch die Quellen. Er gibt

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schließlich ar-Rāzī zu verdanken. Als eine der wichtigsten Kategorien der sogenannten masālik al-ʿilla (Wege der causa) fungiert maslak al-munāsaba als methodisches Instrument, das zum Ziel hat, das Verhältnis zwischen Rechtsnorm und dem eventuell damit verbundenen Interesse für die Menschen informal und undialektisch zu präsentieren. Dies wird der ašʿaritischen Auffassung gerecht, die immer wieder ihre Ablehnung einer systematischen kausalen Beziehung zwischen ḥukm und maṣlaḥa betont hat.60 Genauso wie ar-Rāzī den Analogieschluss als einen rechtsgültigen Nachweis (ḥuǧǧa) im islamischen Recht, nach dem gehandelt werden soll, betrachtet, besteht aš-Šāṭibī auf die diskursanalytische Rolle von qiyās,61 indem er eine paraphrastische Verhältnisbestimmung zwischen den normativen Quellen (al-adilla aš-šarʿiyya), die auf die rein schriftlicher bzw. sprachlicher Überlieferung (an-naql al-maḥḍ) zurückzuführen sind und denen, die sich auf die bloße Vernunft (ar-raʾy al-maḥḍ) stützen, voraussetzt.62 Das Verhältnis der ersten Kategorie, die aus dem Koran und der Sunna besteht, zur zweiten Kategorie, die Konsens (iǧmāʿ) und Analogie (qiyās bzw. raʾy) umfasst, ist in aš-Šāṭibīs Ansatz hermeneutisch gedacht.63 Bei qiyās bzw. raʾy handelt es sich um ethisch-rationale Begriffe, die aufgrund ihres reinen erläuternden Charakters offenbar der gängigen spekulativen Vernunft zugeordnet werden können. So kategorisierte aš-Šāṭibī, wie weiter oben auch schon in einem Zitat deutlich wurde, die normativen in diejeinigen, die druch schirftliche Überlieferung tradiert wurden, und diejenigen, die auf der freien Urteilsfindung durch die Vernunft basieren. 64 In

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61 62

63 64

jedoch die Beziehung zwischen diesen drei Kriterien nicht an. So scheint es, dass sie kumulativ sind und daher nur die Erfüllung aller drei Kriterien ein Merkmal als angemessen bestimmt und in Folge dessen als ratio legis für ein Urteil in Frage kommt. (Zur islamwissenschaftlichen Rezeption dieses Konzepts vgl. Felicitas Opwis: Maṣlaḥa and the Purpose of Law, Leiden 2010, S. 91f.; sowie die klassischen Arbeiten von Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte; Nagel: Die Festung des Glaubens.) Für die Rechtfertigung seiner Anerkennung des taʿlīl-Konzepts führt ar-Rāzī folgende Argumentation aus: „Al-munāsaba tufīdu ẓanna al-ʿilliya, wa-aẓ-ẓannu wāǧibun al-ʿamalu bihi.“ („Die Tatsache, dass Rechtsnorm und menschliches Interesse häufig zusammenpassen, führt zur Vermutung/Annahme einer Kausalität zwischen den beiden, und jede Annahme muss bei der Definition von Rechtsnormen berücksichtigt werden.“) (Ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 237-242.) Vgl. ebd., Bd. 2, S. 245f. Wie alle Werke der Rechtstheorie beginnt al-Muwāfaqāt nach einem traditionellen Kapitel über Definitionen mit einem Abschnitt über die formelle Klassifikation der normativen Quellen (aladilla aš-šarʿiyya). Bei dem Begriff „normative Quellen“ handelt es sich um die wortwörtliche Wiedergabe von Beweisen (al-adilla aš-šarʿiyya), die kaum zufriedenstellend ist. In Anlehnung an eine bestimmte arabische Übersetzungstradition wird allerdings in dieser Arbeit von Fall zu Fall entschieden, ob man sich aus Erleichterung für den Leser an die gängigen Übersetzungen hält oder nicht. Aš-Šāṭibī verwendet abwechselnd den Begriff qiyās und den Begriff raʾy für die Bezeichnung der vierten normativen Quelle. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 29.) Ebd., Bd. 3, S. 29.

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solchen Standpunkten offenbart sich die diskursethische Eigenschaft von aš-Šāṭibīs Rationalitätsbegriff, die der ethischen Zielsetzung der šarīʿa untergeordnet wird. Somit wird die Hierarchie der vierteiligen Klassifizierung verbindlicher Moral- und Rechtsquellen von den Maximen ethischer Ausrichtung (nämlich: maqāṣid aḍḍarūriyāt „die zur Aufrechterhaltung der menschlichen Existenz erforderlichen Faktoren“, al-ḥāǧiyāt „die bedürfnisbezogenen Faktoren“ und at-taḥsīniyāt „die zur Erleichterung des menschlichen Lebens in der Gesellschaft beitragenden Faktoren“) durchzogen.65 Die aus den normativen Quellen entnommenen „Universalbestimmungen“ zur Normenableitung bezeichnet aš-Šāṭibī als al-kulliyāt an-naṣṣiyya und definiert sie als die aus dem Koran und der Sunna entnommenen Prinzipien zur Erschließung der Moral- und Rechtsnormen. Diese werden von den generellen Prinzipien (al-kulliyāt al-ʿāmma) unterschieden, die sich aus der Induktion (istiqrāʾ) bezüglich textueller Belege ergeben, wie etwa der allgemeinen Maxime der Rechtsleitung aḍ-ḍarūriyāt tubīḥ al-maḥẓūrat,66 ergeben. Die Erkenntnis der Rechtsverbindlichkeit des Analogieschlusses ist so nur aus der von Offenbarung und Vernunft sichergestellten ethischen Aussagekraft der ratio legis zu gewinnen. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, wie das Verhältnis zwischen normativen Quellentexten und normativen Vernunftaussagen im Rahmen der Rechtsfundamente (uṣūl al-adilla) bestimmt wird: „Ansonsten ist [bei den Ableitungen der Moral- und Rechtsnormen] jeder Teil von dem anderen abhängig. Die durch Textquellen erfolgte Argumentation setzt die [rationale] Überprüfung als notwendig voraus, genauso wie die freie Urteilsfindung keine rechtliche Gültigkeit erlangt, wenn sie sich nicht auf die Textquellen stützt.“67 Aš-Šāṭibī widerspricht hier der zentralen These ar-Rāzīs, die besagt, dass der Analogieschluss trotz fehlender Sicherheit als Beweis der Normenableitung anzuerkennen sei und dass der Gläubige sich bedingungslos an die theologischmoralischen Urteile halten solle, die mit Hilfe von qiyās gefällt werden.68 Ob diese Feststellung als Bekenntnis zu einer glaubenden „historischen“ Vernunft zu verstehen ist, die jegliche Begründung der Moral nur im Kontext von Offenbarungstradition vorsieht, lässt sich im Werk aš-Šāṭibīs nicht klar erkennen. Für aš-Šāṭibī ist die Logik für moralische Urteilsfindung zwar notwendig, dies 65 Wie aš-Šāṭibī an verschiedenen Stellen im Buch zeigt, stammt diese Klassifizierung der normativen Quellen aus der Tradition aš-Šāfiʿīs, der sie fast identisch auflistet, auch wenn die Kategorien nicht immer gleich benannt sind. In der Forschung gibt es dazu aber auch Gegenstimmen: “The usual account of the Risālah’s contents - namely, that aš-Šāfiʿī has a Theory of ‘Four sources’ of law, does not correspond to what one actually finds in the Risāla.” (Joseph E. Lowry: „Does Shāfiʿī have a Theory of Four Sources of Law?“, in: Bernhard G. Weiss (Hg.): Studies in Islamic Legal Theory, Leiden/Boston/Köln 2002, S. 23-50.) 66 Was so viel bedeutet wie „Not bricht Gebot“. 67 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 29. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218. 68 Vgl. Opwis: Maṣlaḥa and the Purpose of Law, S. 89ff.

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erlaube aber nicht, rationale Moralbegriffe an die Stelle von Textautorität und Gelehrtentradition zu setzen. Logisch betrachtet sei die Erschließung des Urteils aus den ersten Prämissen des qiyās ein rationaler Akt. Jedoch falle die ratio legis, die maßgeblich zu einer Urteilsfindung verhilft, unter die Kategorie des „gewusst bzw. erfahrenen“ (maʿrūf), was sowohl sichere Erkenntnis, die den Textquellen oder Sitten entspringt als auch vermutetes wahrscheinliches Wissen (ʿilm ẓannī) im Sinne einer Deliberation über moralische Diskursabsichten einschließt. Daher sind die normativen Quellen insofern grundsätzlich in der ersten Quellen-Kategorie (Koran und Sunna) verankert, als man die zweite Kategorie (Konsens und freie Urteilsfindung) nicht durch die Vernunft, sondern durch die erste Kategorie festlegt.69 „wenn man über die Textgrundlagen der Sunna nachdenkt, ergibt sich, dass sie lediglich Erläuterungen des Korans darstellen. Und dies ist ihr allgemeiner Charakter.“70 Aš-Šāṭibī geht in seiner diskursbezogenen Moraltheorie offenbar von einem Rationalitätsbegriff aus, bei dem die Begründbarkeit von Rechtsnormen im Wesentlichen mit deren Konsistenz und Kohärenz im Kontext der Auslegungstradition des Korans zusammenhängt. Die hier aufgestellte These, dass eine reine rationale Letztbegründung von Moralnormen zum Scheitern verurteilt sei, speist sich aus dem Gedanken, dass weder Vernunft noch Offenbarung einen alleinigen Anspruch auf eine absolut plausible Rechtfertigung vom ethischen Urteil erheben könnten, da von der bei der Urteilsfindung in Gang gesetzten Deliberation über Diskursabsichten und Handlungsziele gleichermaßen von normativen Quellen und deren Auslegung durch die Vernunft auszugehen ist. 71 Der normative Offenbarungsdiskurs (ḫiṭāb aš-šarʿ) bleibt hingegen die Quelle der Beweiskraft von iǧmāʿ und raʾy. Auch ar-Rāzī hing dieser Meinung an. Allerdings setzte er den Schwerpunkt an anderer Stelle, indem er sich auf die Angemessenheit als einen Indikator zur Erkennung der ratio legis (ʿilliyya) der Urteile fokussierte, 72 während aš-Šāṭibī das Interesse auf deren Ableitungsart im Kontext richtete:

69 Dazu äußert sich aš-Šāṭibī in al-Muwāfaqāt ausdrücklich: „für die Einschränkung der normativen Quellen bezogen auf die Offenbarungstexte“ Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 30. 70 Ebd., Bd. 3, S. 31. Für den arab. Wortlaut siehe oben, S. 219. 71 Aš-Šāṭibī betont ausdrücklich im ersten Band von al-Muwāfaqāt (genannt: al-Muqaddimāt wal-aḥkām), dass den textuellen normativen Quellen kein absoluter Wert (qaṭʿī) zuzuordnen sei, wenn die rationalen normativen Quellen (qiyās, raʾy) dies nicht zuließen. Genauso wie der iǧmāʿ der Zuverlässigkeit und der Richtigkeit der Überlieferung diene, helfe der qiyās bzw. raʾy bei der inhaltlichen Zusammenführung von den sich auf eine vergleichbare Rechtsnorm beziehenden, disparaten Texten des naql, um daraus Aufschluss über die Intention des Gesetzgebers zu erlangen (Vgl. ebd., Bd. 1, S. 19ff.) 72 Vgl. Goodman: „Did al-Ghazali Deny Causality?“, S. 48,87; ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 327.

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„Wenn man die Tatsache betrachtet, dass der Konsens, die Einzelüberlieferung und die Analogie auch Beweisquellen darstellen können, so lässt sich das auf diese Zusammenhänge untereinander [, dass sie sich aufeinander beziehen und voneinander abhängig sind,] zurückführen, weil ihre Beweise [die der Rechtsquellen] aus kaum eingrenzbaren Stellen stammen. Und trotzdem gehen diese verbindlichen Rechtsquellen auf verschiedene Zusammenhänge zurück, die sich nicht in einer Kategorie zusammenfassen lassen. Wichtig ist, dass diese Quellen denselben Zweck haben, nämlich die Beweisführung. Und wenn sich die normativen Quellen für den Gelehrten vermischen, so entsteht die Möglichkeit einer Anfechtung der Rechtsquellen. Die früheren Rechtsgelehrten haben diese Angelegenheit jedoch nicht berücksichtigt und auch kaum darauf hingewiesen, sodass die Nachfahren diese ebenfalls vernachlässigten. Auf diese Weise erschwerte sich die Beweisführung durch einzelne Koranverse oder Hadithe insofern, als man sie nicht unter Berücksichtigung des Konsenses einbezogen hat. So erhob man Einspruch gegen diese normativen Quellen, einen nach dem anderen. Daraufhin wurde die Argumentation aufgrund dessen als schwach eingestuft, entgegen der Regeln der Ableitung, die auf eine klare und unanfechtbare Gesetzgebung abzielen sollten. Denn wenn man, so wie die Gegenposition es vertritt, die normativen Quellen der šarīʿa hinsichtlich deren universalen und deren praxisbezogenen Eigenschaften betrachtet, [indem] man nämlich die normativen Quellen der šarīʿa bei der Rechtsaufstellung gesondert heranzieht, so würde man ohne Einbeziehung der Vernunft zu keinem rechtskräftigen Urteil gelangen. Dabei ist das Beziehungsfeld der Vernunft dem Glauben untergeordnet. Dieses Ordnungsschema erweist sich bei der Hierarchisierung der normativen Quellen als unentbehrlich.“73 Hier soll nun auf die von aš-Šāṭibī vorgeschlagene Neudefinition der Sunna als „Zweite Textquelle“ aufmerksam gemacht werden. Vorher waren qawl (Aussage), fiʿl (Tat) und iqrār (Billigung) des Propheten (sas) unter einer einzigen Kategorie subsumiert. Aš-Šāṭibī betrachtet die Sunna jedoch als alleinigen Referenzrahmen der Aussagen des Propheten (sas). Sie ist dem Propheten (sas) das gleiche, was der Koran für Gott ist. Neben der Sunna des Propheten (sas) gibt es seine Taten und Billigung, die nur teilweise Beweiskraft im rechtlichen Bereich haben, insbesondere wenn sie durch eine Einzelüberlieferung tradiert werden. 74 Bemerkenswert ist der Aufruf aš-Šāṭibīs, die Beweiskraft der Aussagen des Propheten (sas) bei zweifelhaften Überlieferungen in Bezug auf den Koran zu überprüfen. Dies bestätigt die Annahme, dass aš-Šāṭibī von einer gewissen autonomen Koranethik ausgeht, die als Grundlage einer überlieferungskritischen Befragung autoritativer Quellen dienen

73 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 25. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 219. 74 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 13, Bd. 4, S. 8.

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soll. Hier zitiert aš-Šāṭibī eine Aussage von ʿĪsā ibn al-Abān (gest. 221/835-6), ohne dabei seine Meinung explizit zu vertreten: „Und bei ʿĪsā ibn al-Abān [liest man]: Wenn euch ein Hadith des Propheten vorgetragen wird, so vergleicht ihn mit dem Buch Gottes. Wenn er damit übereinstimmt, so akzeptiert ihn, und wenn nicht, dann lehnt ihn ab.“ 75 Zuletzt hebt aš-Šāṭibī hervor, dass die Pflichtenlehre primär als Produkt der Auslegung normativer Aussagen anzusehen sei. Dieses Postulat trage zur Klärung seines methodischen Umdenkens bei, die rational erschlossenen Quellen nicht unabhängig von den Textquellen zu behandeln. Die Kontroverse der Verhältnisbestimmung zwischen Textquellen und Vernunft-reflexion in den uṣūl al-fiqh wurde damit hermeneutisch neu aufgestellt.76 Betrachtet man aš-Šāṭibīs Haltung zur kausalen Begründungstheorie, so wird deutlich, dass er sich über die Möglichkeit, für seine Moralbegründung in den drei syllogistischen Sätzen zu argumentieren, hinwegsetzt. 2.1.3. Moralnormen im Kontext teleologischer Begründungsansätze Aš-Šāṭibīs teleologischer Argumentation zufolge setze das Handeln jedes Menschen, das auf das Wohlbefinden der Gemeinschaft ausgerichtet ist, die Annahme voraus, dass die causa (ʿilla) des Gemeinwohls der göttlichen Weisheit (ḥikma) zuzuordnen sei. Dabei stimmt er zum Teil der Grundthese ar-Rāzīs zu, dass Gott aufgrund seiner von allen Muslimen anerkannten Weisheitseigenschaft (ḥakīm) ausschließlich für das Hervorrufen eines gewissen Interesses agiere. Alles andere würde bedeuten, dass Gott willkürlich in die Lebenswelt wirke (ʿābiṯ), was sowohl durch den Koran als auch durch den Konsens und die Vernunft widerliegt werden kann. Was aš-Šāṭibī an ar-Rāzīs Begründungskonzept kritisiert, ist die Verallgemeinerung rationaler Werturteile, der zufolge die Relevanz theologischer Rechts- und Moralnormen allein am rational erkennbarem Gemeinwohl im Gegensatz zum erkennbaren Verderben (mafsada) zu identifizieren sei. Noch anfälliger für Kritik schien aš-Šāṭibī die muʿtazilitisch ausgerichtete Begründungstheorie ar-Rāzīs, die zweckrationalistisch zu beweisen versucht, den Taten Gottes Willkür und Verwerfung abzustreiten und Seine Wirkung auf die Welt zwangsläufig auf das gute Handeln zu beschränken. 77 So plädierte der ašʿaritische ar-Rāzī offensichtlich für die muʿtazilitische Haltung,

75 Ebd., Bd. 3, S. 13. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 219. 76 Denn während im ersten Teil von al-Muwāfaqāt eine gewisse Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht wird, den rationalen normativen Quellen wie dem qiyās eine eigenständige Abhandlung zu widmen, wird dies erneut im dritten Teil infrage gestellt, mit der Begründung, dass jegliche Behandlung von adilla vom Koran und der Sunna auszugehen hat (Vgl. ebd., Bd. 3, S. 257.) 77 Ar-Rāzī zitiert zahlreiche Koranverse, die die Offenbarung der göttlichen Mitteilung als raḥma, yusr oder tasḫīr beschreiben. Ar-Rāzī wird vorgeworfen, etwas zum Ausdruck zu bringen, was kein ašʿaritischer Gelehrter zu denken wagen würde. (Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 242.)

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mit Berufung auf normative Quellen, die den taʿlīl ausdrücklich befürworten sollen.78 Rationaltheologisch übertrifft die Darstellung ar-Rāzīs hinsichtlich der Kontroverse rationaler Begründbarkeit der šarīʿa bei weitem die von aš-Šāṭibī in Kitāb al-aḥkām durchgeführte Analyse der Zielsetzung und der Zweckbestimmung göttlicher Rechtsnormen insofern, als es ar-Rāzī besser gelungen ist, methodisch zwischen dem Ansatz der Rationaltheologen und dem der Rechtsgelehrten zu unterscheiden. Vielleicht liegt dies daran, dass zu Lebzeiten ar-Rāzīs die Diskussion zwischen den Mutakallimūn und den Fuqahāʾ an Heftigkeit noch nicht verloren hatte. Andererseits muss daran erinnert werden, dass die hauptsächlichen DiskursProtagonisten aš-Šāṭibīs die Mystiker seiner Epoche waren, da die KalāmWissenschaft im 9./15. Jahrhundert in Andalusien sowohl von den Mystikern, als auch von den Rechtsgelehrten mit der Ketzerei gleichgesetzt wurde, wie dies in der muqaddima al-kalāmiyya von al-Muwāfaqāt deutlich zum Ausdruck gebracht wird.79 Aš-Šāṭibī verdankt ar-Rāzī eine klare methodische Trennung zwischen dem muʿtazilitischen und dem ašʿaritischen rechtstheoretischen Ansatz in Bezug auf die rationale Begründung der šarīʿa, die Ersterem zur Erarbeitung seiner innovativen Intentionstheorie verhalf. Denn die Besonderheit von aš-Šāṭibīs Ansatz entstand aus seinem Versuch, auf der Grundlage von ar-Rāzis These einen Mittelweg zwischen muʿtazilitischer und ašʿaritscher Auffassung zu finden. Ausschlaggebend ist dabei ar-Rāzīs Aussage gewesen, in der er erklärt: „Es wurde ein Konsens darüber erzielt, dass die Rechtsvorschriften ein Gemeinwohl sind. Entweder, weil sie es sein müssen, wie die [Bewegung der] Muʿtazila sagte, oder aber weil sie es aus dem Wohlwollen [Gottes] heraus sind, wie wir sagen.“80

78 Es handelt sich um die auch von aš-Šāṭibī als Beweisführung für taʿlīl verwendeten Koranverse, nämlich: (Q 21:107): „Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner gesandt“; (Q 2:29): „Er ist es, Der für euch alles, was auf der Erde ist, erschuf und Sich hierauf dem Himmel zuwandte und ihn dann zu sieben Himmeln formte; und Er ist aller (Dinge) kundig.“; (Q 45:13): „Und Er hat euch alles, was in den Himmeln und was auf der Erde ist, dienstbar gemacht, alles von Sich aus. Darin sind wahrlich Zeichen für Leute, die nachdenken“; (Q 22:78): „Und müht euch für Allah ab, wie der wahre Einsatz für Ihn sein soll. Er hat euch erwählt und euch in der Religion keine Bedrängnis auferlegt, dem Glaubensbekenntnis eures Vaters Ibrahim: Er hat euch Muslime genannt, zuvor und (nunmehr) in diesem (Koran), damit der Gesandte Zeuge über euch sei und ihr Zeugen über die Menschen seid. So verrichtet das Gebet, entrichtet die Abgabe und haltet an Allah fest. Er ist euer Schutzherr. Wie trefflich ist doch der Schutzherr, und wie trefflich ist der Helfer!“. (Vgl. Robert Brunschvig: „Devoir et Pouvoir. Histoire d'un Problème de Theologie Musulmane“, in: Studia Islamica 20 (1964), S. 5-46.) 79 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 35ff. 80 Ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 291. Für den arabischen Wortlaut siehe oben, S. 219.

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

Auf der Suche nach einer Alternative zu dem von der Muʿtazila verteidigten rational-dialektischen Verhältnis zwischen Rechtsnorm und Interesse ist es aš-Šāṭibī gelungen, das auf einem Zufall basierende Verhältnis zwischen ḥukm und maṣlaḥa von den Ašʿariten zu systematisieren. 81 Eine Auseinandersetzung mit der philosophischen Argumentation Ibn Ḥazms bezüglich des taʿlīl-Konzepts hätte ašŠāṭibī jedoch viel weiter gebracht als die Diskussion über die ziemlich eindeutige Position ar-Rāzīs. Schließlich begründete Ibn Ḥazm gemäß der andalusischen Tradition seine Ablehnung von taʿlīl durch die zur damaligen Zeit epistemologisch etablierte Trennung zwischen der Sphäre des religiösen und der des weltlichen geisteswissenschaftlichen Denkens. Der weltlich-pragmatische Sinn religiöser Rechtsnormen könne, nach Ibn Ḥazms Auffassung, nur intertextuell erkundet werden. Die Anerkennung eines weltlichen Zwecks hinter dem Rechtsdiskurs komme seiner Meinung nach nur in Frage, wenn die offenbarten Texte explizit darauf Bezug nehmen, sonst seien die Gebote Gottes nicht durch eine weltliche Sinngebung zu begründen. Diese Haltung ist für die Ẓāhiriten typisch, und so kann sich Ibn Ḥazm auf Vordenker berufen: „Und diese sagten: Über all das, was nicht in der šarīʿa durch einen [Quell-] Text untermauert wurde, ist es nicht erlaubt zu sagen, dass es der Grund für dieses oder jenes sein kann. Abū Sulaymān [Dāwūd ibn ʿAlī, gest. 270/884] und all seine Anhänger, Gottes Wohlgefallen auf ihnen, sagten: ‚Gott stellt die Rechtsbestimmungen grundsätzlich nicht für eine bestimmte causa auf. Wenn Gott der Erhabene oder sein Gesandter festgeschrieben haben, dass irgendein Sachverhalt dieses oder jenes Ziel erfüllt hat, so wissen wir, dass Gott Anlässe für jegliche Ereignisse [Sachverhalte und Ziele] erschaffen hat, die [ihrerseits] dem Offenbarungsgeschehen als Handlungsumfeld dienten.‘“82 Ibn Ḥazm geht soweit, die rationale Begründung der Rechtsnormen und den Analogieschluss als Satanswerk zu bezeichnen, da Satan das einzige Wesen gewesen sei, das es gewagt habe, Gott nach den Beweggründen seiner Taten zu fragen, indem er sich dem Befehl Gottes, vor Adam niederzuknien, widersetzte. 83 Dass man Gott nicht nach Seinen Handlungsmotiven fragen dürfe, sei nach Ibn Ḥazm im Koran verankert. So heißt es dort: „Er wird nicht gefragt nach dem, was Er tut; sie werden aber gefragt.“ (Q 21:23) 81 Der gelungene Systematisierungsversuch aš-Šāṭibīs lässt sich anhand einer genauen Betrachtung der von ihm unterschiedenen Kategorien der aḥkām aš-šarʿiyya, die unter der oben erwähnten gleichnamigen Sektion ausführlich besprochen wurden, erkennen. 82 Vgl. Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 583. Für den arabischen Wortlaut siehe oben, S. 219. 83 In dem von Ibn Ḥazm aufgeführten Koranvers heißt es in Q 7:12: „Er (Allah) sagte: ‚Was hat dich davon abgehalten, dich niederzuwerfen, als Ich (es) dir befahl?‘ Er sagte: ‚Ich bin besser als er. Du hast mich aus Feuer erschaffen, ihn aber hast Du aus Lehm erschaffen.‘“ (Siehe Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 615.)

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2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht

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Wenn man die Argumentation Ibn Ḥazms genauer betrachtet, stellt man fest, dass der Unterschied zwischen seiner Position und der von aš-Šāṭibī hinsichtlich von taʿlīl keinesfalls auf einer sachlichen Grundlage basiert.84 Ibn Ḥazm gibt selbst zu, dass sein Streit mit den Anhängern des taʿlīl-Konzepts der uneinheitlichen Verwendungsweise mehrdeutiger Begriffe geschuldet sei. So betont er:

„Und die Wurzel allen Unheils, Blindheit, Verwirrung und Übels ist Verwechslung von Begriffen sowie, dass mit einem Begriff mehrere Bedeutungen impliziert werden [Vieldeutigkeit]. Verwendet der Sprecher einen Begriff, von dessen Bedeutungen er nur eine bestimmte beabsichtigt und der Hörer versteht es auf eine andere Art und Weise als vom Sprecher gemeint, so entsteht Unheil und Komplexität. Insofern haben wir die vier Begriffe causa, Motiv, [unmittelbarer] Grund und Zeichen erläutert und wir haben erklärt, dass deren Bedeutungen auf verschiedene Denkinhalte verweisen und dass ihre Begriffsinhalte verschieden sind. Und wir haben diesen Unklarheiten ein Ende gesetzt, indem wir die Begriffe causa und Grund deutlich voneinander abgegrenzt haben.“85 Dies erklärt wahrscheinlich die etwas zurückhaltende Stellungnahme aš-Šāṭibīs gegenüber der Haltung der Ẓāhiriten im Allgemeinen, und der von Ibn Ḥazm im Besonderen.86 Ibn Ḥazm geht es in erster Linie darum, die logische und philosophische Verwendung des Worts ʿilla (causa), die historisch belegt ist, auf den philosophischen Diskurs zu beschränken. Der Begriff causa habe im rechtlich-religiösen Diskurs nichts zu suchen, so sein Hauptargument. Deshalb schlägt er den Rechtsgelehrten vor, in der Kontextsuche nach dem Zweck religiöser Rechtsgebote, den etwas weniger fachlichen Ausdruck sabab anstatt ʿilla zu gebrauchen, da dieser nicht zwingend eine Relation zwischen ḥukm und ġaraḍ 87 impliziert. 84 An dieser Stelle trifft die bezüglich der qiyās-Skeptiker allgemeine Aussage auf Ibn Ḥazms Standpunkt zu: „Analogie ist [...] nur zulässig, wenn sie sich nach dem göttlichen Willen richtet, sofern dieser überhaupt für uns Menschen auf den Begriff zu bringen ist.“ (Nagel: Die Festung des Glaubens, S. 196.) 85 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 583 (für den arab. Wortlaut siehe oben, S. 220). Anders als in der Beiruter Edition der „Dār al-kutub al-ʿilmiyya“ von 1985, die hier als Grundlage dient, wird die o.g. Aussage Ibn Ḥazms in einer früheren Beiruter Edition (nämlich der von 1983, Dār al-āfāq) in leicht veränderter Form überliefert. Jedoch unterstützen beide Lesarten die ablehnende Haltung Ibn Ḥazms gegenüber der durch verschiedene Begriffskonnotationen entstandenen Konfusion. 86 Aš-Šāṭibī zeigt eine gewisse Sympathie für die Ẓāhiriten, insbesondere im Kontext seiner Abhandlung über Verbote und Gebote, sowie bezüglich der aḥkām. (Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 61f.) 87 Dem Begriff ġaraḍ wird von Ibn Ḥazm der Vorzug gegenüber ʿilla, sabab, maʿnā und ʿalāma gegeben. (Vgl. Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 605.) Im Hintergrund dieser terminologischen Entscheidung steht die Absicht Ibn Ḥazms, zwischen der juristischen und der philosophischen Terminologie eine klare Trennung zu ziehen.

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

Die ʿilla ist, nach Ibn Ḥazms Ansicht, alles andere als sabab, da erstere eine Eigenschaft bezeichnet, die das sich Ereignen eines Sachverhaltes unmittelbar erzwingt. Die ʿilla und die daraus resultierende Wirkung (maʿlūl) sind so unzertrennlich, wie das Feuer und der daraus entstehende Brand. „Der Unterschied zwischen ʿilla und sabab, sowie der zwischen Zeichen und Motiv ist explizit und eindeutig, sodass jeder Gültigkeit in seinem (Begriffs-) Spektrum genießt, und keiner eine Begründung benötigt, weder in der šarīʿa, noch durch eine Beurteilung mit Hilfe eines Analogieschlusses. So wahr Gott uns (bei der Klarstellung) helfe, sagen wir: ʿilla ist ein Begriff für jede Eigenschaft, die einen Sachverhalt als notwendig voraussetzt. Denn causa lässt sich überhaupt nicht von der Wirkung trennen, so wie das Feuer die causa des Brennens ist […] kann grundsätzlich keiner von beiden ohne den Anderen existieren und geht keines von beiden dem anderen zeitlich voraus.“88 Sabab erzwingt laut Ibn Ḥazms These keineswegs das sich Ereignen der mit ihm hypothetisch verbundenen Wirkung (musabbab). Der Zorn kann z.B. eine Ursache für den Sieg sein und infolgedessen den Sieg tatsächlich herbeiführen. Die Entscheidung des Sieges liegt aber beim Zornigen insofern, als er über den Willen verfügt, zu siegen oder nicht. Ibn Ḥazms Vorstellung der ʿilla war aš-Šāṭibī zu philosophisch.89 Sie wurde von aš-Šāṭibī in der theologischen Einleitung der al-Muwāfaqāt-Abhandlung scharf kritisiert, weil sie impliziert, dass die Formulierung der Rechtsnormen aufgrund der damit verbundenen Wirkungen dem Gesetzgeber aufgezwungen worden sei. AšŠāṭibī schließt sich damit der sunnitischen Tradition an, die besagt, dass der Gesetzgeber sich freiwillig, eigenmächtig und gezielt selbstverpflichtet, die mit der Formulierung der Rechtsnormen in Zusammenhang stehenden Gründe zu berücksichtigen.90 Die in der šarīʿa enthaltene Bewahrung des menschlichen Interesses sei der Gnade, Huld und Gunst Gottes. Was aš-Šāṭibī an dem Konzept sabab der Ẓāhiriten störte, ist die Tatsache, dass dadurch jedes interpretative Räsonnement auf der Grundlage des Textes im Vorfeld ausgeschlossen zu sein scheint. Aš-Šāṭibīs Skepsis gegenüber Ibn Ḥazms Terminologie ist nicht unbegründet insofern, als Ibn Ḥazm selbst jede Annäherung zwischen ʿilla und maʿnā (Sinn/Bedeutung) vehement bekämpfte. So schreibt er: „Und die causa [einer Handlung] wurde auch Bedeutung [einer Handlung] genannt, und dies ist ein maßloser Unfug, denn die Bezüge [zwischen causa 88 Vgl. ebd., Bd. 8, S. 603. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220. 89 Das Konzept der Ursache bei Ibn Ḥazm basiert auf einem epistemischen Wahrheitsbegriff, der die Wahrheit auf nicht-metaphysische Objektivität einschränkt. 90 In diesem Zusammenhang meint aš-Šāṭibī ʿilla ǧaʿliyya „von Gott geschaffene ‚ratio legis‘ bzw. ‚ratio‘“. (Bezüglich der Übersetzung vgl. Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte, S. 11.)

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2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht

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und Bedeutung] sind nicht korrekt, da die Bedeutung eine Erläuterung des Wortlauts ist.“91 In diesem Kontext entstand die Idee bei Ibn Ḥazm, den am meisten bei sunnitischen Rechtsgelehrten92 verbreiteten Begriff qaṣd, der rhetorisch belegt ist, durch den allgemeinen Terminus ġaraḍ zu ersetzen. Für Ibn Ḥazm ist die Unterscheidung zwischen sabab, den er als Alternative zu ʿilla vorschlägt und ġaraḍ von grundlegender Bedeutung. So betont er: „Aber der Grund entspricht jedem Sachverhalt, für dessen Erfüllung der [frei] Handelnde eine Tat vollzogen hat und wenn er es nicht gewollt hätte, hätte er es nicht gemacht. [...] Was das Motiv angeht, so ist es ein Sachverhalt, den der Handelnde [aktiv] anstrebt und in die Tat umsetzt.“93 Ibn Ḥazm scheint dem Konzept aš-Šāṭibīs näher zu stehen, wenn er erläutert, dass hinter den Rechtsnormen Gründe (asbāb) liegen können, und dass die Rechtsnormen infolgedessen Ergebnisse (musabbabāt) dieser Gründe sein können. Jedoch schränkt er diese Regel erheblich ein, indem er einerseits bekräftigt, dass die kausalen Beziehungen zwischen Rechtsnormen und ihren Ursachen keinesfalls deduktiv ausgehend vom Text erschlossen werden können, und dass andererseits der ultimative Zweck der Rechtsnormen nichts anderes als das Glück im Jenseits sei. Dass Ibn Ḥazms Standpunkt in Bezug auf die Begründbarkeit der Rechtsnormen komplizierter war als manche Rechtsgelehrten dachten, wurde aš-Šāṭibī spätestens in der Diskussion um maṣlaḥa deutlich. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Aussage Ibn Ḥazms bezüglich des Alkoholverbots, in der er die Frage stellt: Wenn der Alkohol wegen seiner berauschenden Wirkung verboten worden sei, warum wurde er in den früheren Offenbarungen, sprich Thora und Bibel, nicht verboten und weshalb war er in früheren Zeiten des Islams erlaubt? Sein Fazit lautet: „Wenn Torheit und Trunkenheit der Grund für das Verbot des Alkohols wären, so hätte Allāh ihn [Alkohol] von Beginn an verboten, dabei war er [Alkohol] hingegen jahrelang im Islam erlaubt.“94 Dem taʿlīl-Verfahren Ibn Ḥazms sind mit der durchaus rational nachvollziehbaren Achtung des Willen Gottes klare Grenzen gezogen. Sein Standpunkt, wie der aller Ẓāhiriten, war ein Produkt des kaum lösbaren Paradoxons: Wie kann man die šarīʿa auf der einen Seite als den Inbegriff einer von Gott gegebenen Ordnung betrachten, wenn man auf der anderen Seite darauf beharrt, dass die Umsetzung der Rechtsnormen im Alltagsleben von rational erschlossenen Zweckerwägungen 91 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 603. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220. 92 Es sind hier insbesondere die Rechtsgelehrten gemeint, die die Intentionstheorie in der Rechtswissenschaft begründet haben, wie al-Ǧuwaynī, al-Qarāfī, ʿAbd ar-Raḥmān al-Isnawī (gest. 772/1370), Ibn ʿAbd as-Salām und al-Ġazālī (siehe Kapitel 1). 93 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 603. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220. 94 Ebd., Bd. 8, S. 609. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220.

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

abhängig zu machen sind? Solch eine Fragestellung wurde von aš-Šāṭibī hingegen vermieden, da er darin eine Art Vermischung zwischen dem Wort Gottes und Gott selbst sah. Nach aš-Šāṭibīs Auffassung ziele die Begründung der Rechtsnormen lediglich darauf ab, ein besseres Verständnis des juristischen Diskurses zu ermöglichen. Bei dem taʿlīl gehe es nicht um eine logisch-philosophische Begründung der šarīʿa, sondern vielmehr um einen hermeneutischen Ansatz, der die Ableitung der Rechtsgebote von den heiligen Texten anhand eines argumentativen Räsonnements zu gestalten versuche.

2.2. Moralbegründung der maqāṣid im Lichte der theologischen Hermeneutik 2.2.1. Von expliziter Bedeutung zum impliziten Aufforderungsakt – Absicht im Spannungsfeld zwischen Wille und Grund Wenn man allerdings das taʿlīl-Verfahren aš-Šāṭibīs als Räsonnement bezeichnet, könnte dies anachronistisch anmuten. Dies hat jedoch nichts mit der „Inferenz“ 95 in der modernen Hermeneutik zu tun. Aš-Šāṭibī war vor allem aus praktischen Gründen Anhänger des taʿlīl-Ansatzes, auch wenn er diesen Ansatz nicht als Methode bezeichnet hätte. Das weithin akzeptierte Diktum, dass ein Text ein Leben abseits der Intention seines Autors führt, ein Leben, das durch argumentative Auslegung und semantische Analyse von den Empfängern facettenreich wird, hat nichts mit dem in aš-Šāṭibīs Rechtsabhandlung benutzten Wort taʿlīl zu gemein. Für ihn war bei der Untersuchung der Begründbarkeit der Rechtsnormen nur die Intention des göttlichen Autors für die Formulierung des Rechts entscheidend. Ebenso wie das ẓāhiritische Gedankengut Ibn Ḥazms, so ist auch das taʿlīl-Verfahren aš-Šāṭibīs in einem „voluntaristischen“96 Denken über Recht begründet. Diese Verknüpfung ist 95 Der Begriff stammt aus der analytischen Philosophie, zu deren Begründern Gottlob Frege und Ludwig Wittgenstein gehören. Nach der Auffassung von Paul Grice, einem der prominenten Sprachphilosophen der Moderne, erfolgt die Definition des Sinns einer Aussage nur durch eine rationale Erschließung, der sowohl linguistische (syntaktische Struktur des Textes) als auch extra-linguistische Faktoren (Kontext, Situation, Umfeld, etc.) als Grundlage dienen. Ludwig Wittgenstein zufolge sind Sprechakte sowie Verhaltensnormen zwar wertneutral, jedoch ist er der Meinung, dass jede „Verhaltensregel nicht nur formuliert, sondern auch in einem konkreten Kontext angewendet werden können muss, um ihre lebenspraktische Bedeutung zu entfalten.“ (Rebekka Klein: „Nächstenliebe als transgressive Norm. Situationsethik und die Heuristik kontextueller Verhaltensorientierungen“, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 56 (2012), S. 40f.) Die Inferenz oder der Rückschluss zielt darauf ab, ein Sprach- oder Handlungsverhalten mit Berücksichtigung konkreter Anwendungskontexte zu interpretieren. (Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M., 2001, S. 220f.) 96 Voluntarismus bedeutet hier, dass man seinen Blickwinkel auf die Natur des Rechts richtet. Hierbei ist taʿlīl ein Instrument des Zweckrationalismus, das neben dem maqāṣid-Ansatz zur Analyse der Texte beiträgt, auf denen das Recht basiert. Voluntarismus, so scheint es, führt geradewegs zu taʿlīl, wohingegen ein taʿlīl-Anhänger nicht zwangsweise ein „Voluntarist“ sein

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die Konsequenz der Bedeutung von Wörtern wie maqaṣūd oder ġaraḍ, die man sowohl mit „beabsichtigt“ als auch mit „gewollt“ übersetzen kann. Für aš-Šāṭibī ist somit eine beabsichtigte Bedeutung (al-maʿnā al-maqṣūd) eine gewollte Bedeutung (al-maʿnā al-murād). Die Ẓāhiriten wollten natürlich nicht, dass den Begriffen, die im Koran Verwendung finden, eine bestimmte Bedeutung zugewiesen wird, für die es im expliziten Wortlaut des Korans kein Indiz gibt. Hat ein Wort mehrere lexikalische Bedeutungen, so entsteht der Inhalt der Aussage durch die Isolierung der „richtigen“ Bedeutung. Ẓāhiritisches Gedankengut und Zweckrationalismus sind dabei entgegengesetzte Seiten der gleichen Münze. So sieht aš-Šāṭibī keinen Widerspruch zwischen der Tatsache, dass das Recht vom göttlichen Willen festgelegt wird und dem Umstand, dass das Recht der göttlichen Intention entspringt und anders herum.97 „Es gibt Menschen, die behaupten, dass der Koran [zugleich] explizite und implizite Bedeutungen enthalte […] und al-Ḥasan [al-Baṣrī] […] hat erläutert, dass das Explizite die deutliche Rezitation sei, und dass das Implizite das Begreifen dessen sei, was Gott andeuten will, weil Gott der Erhabene sagte: „Was ist mit diesem Volk, dass sie beinahe keine Aussage verstehen“ [Q 4:78]. Die Bedeutung davon ist, dass sie [die Menschen] nicht verstehen, was Gott andeuten will. Er meint damit nicht, dass sie die Wortbedeutung nicht verstehen. Wie könnte Er das behaupten, wo er [der Koran] doch in ihrer Sprache herabgesandt wurde? Sondern es geht darum, dass sie die Aussage Gottes nicht verstehen. Und die explizite [Wort-] Bedeutung ist eine Sache, die die Empfänger als Araber verstehen können, während die Ausrichtung der Aussage [von Gottes Wort] eine andere ist. Es besteht kein Zweifel daran, dass die letztere von Gott herabgesandt worden ist. Und wenn man nachdenkt, wird man überhaupt keine Streitfragen über den Koran finden.“98 Der Begriff ẓāhir bezeichnet somit die durch die Sprachkonvention der Araber festgelegte lexikalische Bedeutung, für aš-Šāṭibī eine Vorstufe der Interpretation, während das Wort bāṭin das Begreifen vom göttlichen Willen impliziert: „Sinn und Zweck dieser Aussage ist, dass mit dem Expliziten die arabische Wortbedeutung und mit dem Impliziten die Ausrichtung der Sprache und des Diskurses Gottes gemeint sind.“99

muss. (Zum Begriff „Voluntarismus“ vgl. Bernard G. Weiss: The Spirit of Islamic Law, S. 5557.) 97 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 23. Nach aš-Šāṭibīs Auffassung vereinigt sich im Fall der Sunna die göttliche Intention mit dem Willen des Propheten. (Vgl. ebd., Bd. 2, S. 46f.) 98 Ebd., Bd. 3, S. 286. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 221. 99 Ebd., Bd. 3, S. 287. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 221.

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In einer betont diskursiven Perspektive ist der Gedanke einer Subsumierung der Kausalität in Form einer diskursiven Argumentation bei aš-Šāṭibī dazu bestimmt, der Absicht Gottes, die den Schlussstein seiner Rechtsableitung bildet, als Stütze zu dienen. Nun wirft aber diese Vorgehensweise die Frage nach der terminologischen und hermeneutischen Tragweite der Begriffe Kausalität und Absicht in den verschiedenen theologischen Ansätzen von neuem wieder auf. Ein Zugang zum ašŠāṭibīs Standpunkt zum Verhältnis zwischen Begründungsdenken und Intentionalität kann sich nur durch eine Gegenüberstellung einschlägiger theologischer Standpunkte hinsichtlich der Systematisierung inhärenter Charaktereigenschaften dieser Begriffe ergeben. Die Begriffsanalyse von qaṣd bei aš-Šāṭibī, die bisher in dieser Abhandlung absichtlich im Hintergrund gehalten wurde, rief eine Art äußerst nuancierter und differenzierter Analyse hervor, die sich von al-Ġazālīs bedeutendsten Werken zur Kausalität und Absicht, al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād100 und Tahāfut al-falāsifa101, herleitet. Für al-Ġazālī sind die Begriffe niyya, irāda und qaṣd synonyme Ausdrücke, deren semantischer Gehalt ein „Doppeltes in sich schließt, ein Erkennen und ein Tun.“102 Geprägt von einer gewissen mystischen Sicht schreibt al-Ġazālī qaṣd und niyya einen nach Innen orientierten transzendentalen Wert zu. Sowohl bei dem einen als auch bei dem anderen handelt es sich um „die Bewegung des Innern zu dem, was der Mensch als seinem Ziel angemessen erachtet, sei es für diese oder jene Welt.“ 103 In der Absicht sieht al-Ġazālī lediglich einen Ausdruck des Willens und die „Bewegung der Seele entsprechend der Begierde und Neigung nach dem hin, was dem Ziel [...] angemessen ist“.104 Eigenartigerweise lehnt aš-Šāṭibī diese interiorisierende, heute würde man sagen, phänomenologische, Definition der maqāṣid entschieden ab.105 In seinen Abhandlungen über maqāṣid vermeidet aš-Šāṭibī bewusst den Gebrauch von Begriffen wie irāda oder etwa niyya, weil seine Auffassung von qaṣd eine andere zu sein scheint.106 Zwar vermeidet er leider jede Definition des letzteren, 100 Vgl. al-Ġazālī: al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād, S. 151-156. 101 Vgl. Muḥammad ʿAbd al-Hādī Abū Rīdah: Al-Ġazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie, Madrid 1952, S. 100f. 102 Al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, Beirut 2004, S. 1734. 103 Ebd., S. 1734. 104 Ebd., S.1734 f. 105 Phänomenologisch betrachtet ist die Absicht die Ausrichtung seines Bewusstseins auf etwas, das vom Subjekt getan werden soll. Für die analytische Philosophie ist die Absicht nicht Intentionalität im Sinne Husserls. Sie bezeugt nicht die Selbsttranszendenz eines Bewusstseins, wie von dem Begriff niyya suggeriert wird. (Vgl. Elizabeth Anscombe: Intention, Ithaca 1967, S. 151.) 106 Beim Begriff maqāṣid handelt es sich um eine Pluralform, die gleichermaßen für zwei Singularwortformen, nämlich qaṣd und maqṣid verwendet wird, wobei das letztere Wort, wie bereits weiter oben erwähnt, durch das ihm zugefügte lokative Präfix-Morphem „ma“ eine nähere semantische Verwandtschaft zur Pluralform aufweist. Bei den beiden lokativbelegten Begriffen handelt es sich um zwei wichtige Termini der Rhetorik, die die Sprechintention

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2.2. Moralbegründung der maqāṣid im Lichte der theologischen Hermeneutik

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jedoch lässt eine allgemeine Betrachtung der Gliederung des Kapitels Kitāb alMaqāṣid darauf schließen, dass er dem Begriff qaṣd einen besonderen und methodisch differenzierten semantischen Gehalt zuzuschreiben vermag. Aš-Šāṭibī unterscheidet bewusst zwischen menschlicher und göttlicher Absicht, dennoch verwendet er für die beiden Gebrauchsweisen denselben Begriff, nämlich qaṣd mit derselben analytischen Konnotation. Die methodische Herangehensweise lässt eindeutige Rückschlüsse auf aš-Šāṭibīs Eigenart des Begriffs qaṣd zu. Durch seine Verbindung zwischen maqāṣid und ʿilal zielt die Analyse aš-Šāṭibīs darauf ab, der theologischen Definition der Absicht als Ausrichtung eines Bewusstseins auf etwas, das vom Subjekt getan werden soll, entgegen zu wirken. Für ihn ist die Absicht nicht Intentionalität im Sinne Ibn Ḥazms. Qaṣd bezeugt nicht die Selbsttranszendenz eines Bewusstseins, wie das von dem Begriff niyya suggeriert wird. Hierin den Rhetorikern folgend, will aš-Šāṭibī vermutlich nichts von Phänomenen wissen, die nur der privaten Anschauung zugänglich sind und die folglich durch eine private, hinweisende Beschreibung erfasst werden könnten. Deshalb zieht er durch den exklusiven Gebrauch des Begriffs qaṣd eine klare Grenzlinie zwischen Intention einerseits und anderen Begriffen wie irāda, niyya oder ġaraḍ andererseits. Was hat es nun mit der ẓāhiritischen Unterscheidung zwischen sabab, ġaraḍ, qaṣd und ʿilla auf sich? Nichts in der Etymologie oder in der Geschichte der Rhetorik über die Verwendung der Begriffe drängt sie auf. Ibn Ḥazms Ablehnung von taʿlīl scheinen andere tiefgreifende und jenseits der Begriffsanalyse liegende Bedenken als Hintergrund gedient zu haben. In der Unterscheidung zwischen beiden Begriffspaaren sabab/ġaraḍ und qaṣd/ʿilla lassen sich unschwer zwei Erbschaften erkennen: ein theologisch-philosophisches Erbe, in dem die Religion durch eine gewisse ethische Ausrichtung gekennzeichnet ist und ein rechtstheoretisches Erbe, in dem die Offenbarung durch den Verpflichtungscharakter der šarīʿa definiert wird. Denn in der theologisch-philosophischen Tradition, der Ibn Ḥazm angehörte, lassen sich dagegen die Begriffe ġaraḍ, qaṣd, ʿilla und sabab zwei unterschiedlichen Redewelten zuordnen. Begriffe wie ʿilla oder sabab stehen laut philosophischer Tradition eng mit dem Begriff ḥadaṯ (Ereignis) in Verbindung. Nun ist aber Ibn Ḥazm davon überzeugt, dass der Begriff sabab (Anlass) keine zwingende Beziehung zum musabbab (Wirkung) unterhält, wie das bei dem Begriff ʿilla (causa) in Bezug auf maʿlūl (Wirkung) der Fall ist. Da qaṣd nach ẓāhiritischer Auffassung ein aus der

einer Aussage aus der Perspektive kontext- und situationsbezogener Faktoren analysierte. (Vgl. Muḥammad ibn ʿAlī as-Sakkākī (gest. 626/1229): Miftāḥ al-ʿulūm, hg. von Naʿīm Zarzūr, Beirut 1983.) Aus hermeneutisch-ethischer Sicht hat der Begriff maqāṣid keine bestimmende oder klassifizierende Konnotation, sondern er setzt die Handlung aufgrund seines lozierenden semantischen Gehalts in einen ethischen Horizont, in dem „das moralische Urteil im hypothetischen Modus durchexerziert wird.“ (Vgl. Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 208.)

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Kausalität resultierender Begriff ist, entschied sich Ibn Ḥazm für das Wort sabab, um den Grund göttlicher Offenbarung zu bezeichnen. 107 Im Gegensatz zu fiʿl (Handlung), der zum Bereich des „Geschehenmachens“ 108 gehört, ist ḥadaṯ dem Bereich des Geschehens zuzuordnen. Das Ereignis ist Gegenstand einer Beobachtung, d.h. eines ḫabar (feststellenden Aussage), die wahr oder falsch sein kann; eine Handlung ist weder wahr noch falsch. Deshalb spricht man im Falle einer Handlung vom ġaraḍ al-fiʿl (Handlungsmotiv). Aus diesem Gegensatz ergibt sich ein doppelter Bezug zur Idee der Wahrheit. Während man hinsichtlich des Begriffs ḥadaṯ von Wahrheit spricht, kann ein fiʿl hingegen lediglich als wahrhaft beschrieben werden. Genauso wie sabab eine Art lockere Beziehung zum Schöpfungsakt ḥadaṯ zugeschrieben wird, entspringt, laut Ibn Ḥazm, eine göttliche Handlung aus einem Handlungsmotiv und keineswegs aus einer von der Handlung unabhängigen Intention. Ibn Ḥazm zog insofern den Gebrauch des Begriffs ġaraḍ vor, als dass ein Motiv logischerweise im Begriff der vollzogenen oder zu vollziehenden Handlung impliziert sei. Man vermeide dadurch eine Abspaltung zwischen Gottes Rede und seinem Willen. Eine solche Sichtweise basiert auf einer Regel, die sich unter Philosophen etabliert hat: Man kann kein Motiv ohne die daraus resultierende Handlung erwähnen. Die innere Verbindung zur Handlung, die den Begriff ġaraḍ kennzeichnet, schließt die extrinsische, kontingente und in diesem Sinne empirische Kausalverbindung aus, die der Begriff ʿilla suggeriert.109 Der von aš-Šāṭibī, und außerdem von den Anhängern der taʿlīl-Theorie, verwendete Begriff ʿilla impliziert, zumindest im Sinne Ibn Ḥazms, eine logische Heterogenität zwischen Ursache und Wirkung, insofern man die eine ohne die andere erwähnen kann (z.B. Schöpfung ohne Schöpfer). Die theologischen Folgen einer solchen Kausalerklärung der Offenbarung wollten die Ẓāhiriten deshalb nicht mittragen, da die Analyse der Beziehung zwischen dem offenbarten Text und seinem juristischen Ziel im Sinne einer Ursache-Wirkung-Struktur dazu beiträgt die Subjektfrage auszulassen. Ein weiterer Einwand gegen die kausale Handlungserklärung seitens der Ẓāhiriten liegt nach Ibn Ḥazm darin, dass die „Ursachenforschung“ Gottes Schöpfungsakt mit menschlichem Handeln gleichzusetzen scheint. Denn nach dem Grund einer göttlichen Handlung zu suchen, bedeutet zu verlangen, dass diese 107 Vgl. Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 203ff. 108 Zum Begriff des „Geschehenmachens“ erläutert Ricoeur: „Eigenartigerweise ist der Begriff, der in dieser ganzen Diskussion fehlt und der etwas später zum ausgeschlossenen Begriff werden wird, der des Handelnden. Nun ist aber der Bezug auf den Handelnden, der es uns verbietet, den doppelten Gegensatz von Geschehenmachen und Geschehen, von Motiv und Ursache zu Ende zu führen.“ (Paul Ricoeur: Das Selbst als ein Anderer, übers. von Jean Greisch, München 1996, S. 85.) 109 Eine ähnliche Sichtweise findet man bei einigen zeitgenössischen Philosophen wie etwa Abraham I. Melden: Free action, London 1961 oder Arthur Danto: Analytical Philosophy of Action, Cambridge 1973. (Dt. Analytische Handlungsphilosophie, Königstein 1979.)

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Handlung in einen weiteren menschlichen Kontext (Situation: maqām und Aussage: maqāl) gestellt wird, der gewöhnlich aus Interpretationsregeln und aus Ausführungsnormen besteht, von denen man annimmt, dass sie dem Handelnden, Gott in diesem Falle, und der Interaktionsgemeinschaft, also den Menschen, gemeinsam sind. Geht man jedoch von aš-Šāṭibīs rhetorischer und diskursethischer Auffassung bei taʿlīl al-aḥkām (Begründung der Rechtsnormen) aus, so stellt man fest, dass der, dem Ableiten von Rechtsnormen zugrunde liegende, Syllogismus anderer Natur ist, als die von den Logikern übernommene Schlussfolgerung, die von Ibn Ḥazm vehement abgelehnt wurde. 2.2.2. Die rhetorischen Wurzeln von aš-Šāṭibīs diskursethischer Moralbegründung Die Besonderheit des von aš-Šāṭibī übernommenen qiyās der Rhetoriker liegt darin, dass er versucht eine bereits vorliegende Handlung, nämlich die Offenbarung, zu erklären, um daraus ein „prospektives Motiv“ abzuleiten. Nun bedeutet aber die Erklärung der göttlichen Offenbarung durch die Ausrichtung auf ein späteres Resultat schlicht einen praktischen Schluss vorzunehmen, der der ʿilla eine diskursive Komplexität verleiht, die aus ihr einen Ausgangspunkt einer zukünftigen Handlungsanweisung bzw. Aufforderung macht, die durch die Synthese des Analogieschlusses ausgedrückt wird. Die Schädlichkeit des Alkohols fungiert z.B. als ʿilla für sein ḥukm – in diesem Fall das Verbot – und bildet gleichzeitig die Basis der Intention Gottes, die Menschen vor Schädlichem zu bewahren. Man befindet sich hier auf dem sicheren Boden, den einstmals die Rhetoriker unter dem Titel qiyās šarʿī (juristische Analogie)110 beschritten hatten. Die Rechtstheoretiker, aš-Šāṭibī inbegriffen, stellten ihre taʿlīl-Theorie in den Dienst der göttlichen Rechtsprechung, sodass das Ergebnis ihres Syllogismus die Form einer Handlungsanweisung annahm. Das von Ibn Ḥazm kritisierte taʿlīlKonzept gilt nur für die Fälle, bei denen es um die Behandlung von beschreibenden bzw. feststellenden Aussagen geht. Der Irrtum der Ẓāhiriten, sagen die Rechtstheoretiker, bestehe darin, dass man die Analogie zu einer Schlussfolgerung mache, die beweiskräftig ist, während sie 110 Passender ist wahrscheinlich die Übersetzung dieses Begriffs als „praktischer Syllogismus“. Anscombe wies nach, dass die logische Analogie des Aristoteles sich auf Beschreibungsaussagen beschränkt und dass der praktische Syllogismus mehr Adäquatheit auf der semantischen Ebene besitzt (Vgl. Elizabeth Anscombe: Absicht, München, 1986, S. 125f.). Jedoch wies die moderne Handlungsemantik nicht darauf hin, dass der sogenannte „praktische Syllogismus“ ein Produkt und eine Errungenschaft islamischer Rechtstheorie war, da ein solches Konstrukt nirgends in der alten griechischen Tradition zu finden ist. Die Besonderheit von qiyās šarʿī liegt darin, dass seine einzelnen Sätze und Propositionen nicht beschreibend, sondern vorschreibend sind. Während die Hypothese und Antithese Sachverhalte ausdrücken, deren Wahrhaftigkeit auf einem bestimmten moralischen und ethischen System aufgebaut ist, wird durch die Synthese eine Aufforderung zum Handeln formuliert. Durch diese unbewusste Erneuerung machte die islamische Tradition den Weg frei für eine diskursive Logik, die dem sozialen Dasein des Menschen (wuǧūd) näher ist.

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eine Schlussfolgerung sei, die in der Form einer ḥukm (rhetorisch: Aufforderung) zur Handlung führen soll. In Ibn Ḥazms Strategie dient nach heutigem Verständnis111 die Kausalerklärung ihrerseits dazu, die Handlungen nicht in eine versteckte, sondern in eine erklärte Relation einzufügen, die aus dem Ereignisbegriff, im Sinne eines musabbab (zufälligen Vorkommnisses), eine Klasse von feststellenden Aussagen bzw. von festen Objekten macht, die keinerlei Abhängigkeit zu den asbāb aufweisen. Bei der Verbindung zwischen sabab und musabbab handelt es sich, nach Ibn Ḥazm, um ein menschliches Konstrukt, das immer wieder den Umfeld-Faktoren unterworfen werden muss. Die ausschließliche Sorge um die Wahrheit, die Ibn Ḥazm dem logischen Syllogismus zu Recht unterstellt, trägt in der Tat zur Verwischung des Interesses an der Zuschreibung der Handlung an ihren Vollzieher bei. Die Ausschaltung des Handelnden wird noch verstärkt durch die Betonung der objektiven Seite des Handlungsgrundes. Die Wurzeln von aš-Šāṭibīs qiyās-Begriff finden sich bereits in der früheren islamischen Rhetorik, die in der Geschichte der Orientalistik nicht immer umfassend erkenntnistheoretisch rezipiert wurde. Man beschäftigte sich zwar beispielsweise mit frühen Rhetorik-Kommentaren, die bereits berühmte Philosophen wie Ibn Sīna oder Ibn Rušd verfassten. Jedoch widmete sich kaum jemand der Frage, wie sich das Verständnis und der Gebrauch des Begriffs Rhetorik im Verhältnis zu Ethik und Rechtstheorie außerhalb der Philosophie weiterentwickelten.112 Im Laufe der Zeit hat die Rhetorik zwei verschiedene Veränderungen durchlebt, die von einer Diskussion zwischen Moraltheologie und Philosophie ausgezeichnet war. Zum einen tauschte sie auf dem Weg von der griechischen in die muslimische Welt ihre Zugehörigkeit zu den Philosophen gegen die zu den theologischen Rechtsgelehrten ein und zum anderen erfuhr sie auch inhaltliche Veränderungen. Dies wird bereits bei al-Ġazālī deutlich. Während ḫaṭāba (arabische Rhetorik) zu Zeiten al-Farābīs noch als syllogistische Kunst galt, deren Ziel ein Akt des Überzeugens war, gelangte sie bei al-Ġazālī im Zuge seiner Absichtstheorie zu der Bedeutung des rhetorischtheologischen Syllogismus. Al-Ġazālī ist sich der theologisch und oratorischen 111 Vgl. bezüglich der modernen Definitionen von Kausalität u.a. Donald Davidson: Essays on Actions and Events, Oxford 1980, S. 25. (Dt. Handlung und Ereignis, Frankfurt a.M. 1985.) 112 Lange Zeit wurde ihr ein Einfluss auf eine andere Form der arabischen Rhetorik nachgesagt: die balāġa. Es handelt sich hierbei jedoch um einen Deutungsfehler, der sich auch auf die Rezeption des Analogiebegriffs in der islamischen Ethik niederschlug. In einen Widerspruch verstrickt sich diesbezüglich selbst die Encyclopedia of Islam (EI), in der der Artikel über balāġa auf die Übersetzung der Rhetorik ins Arabische verweist, ohne darauf einzugehen, dass eben diese Übersetzung das erste Mal mit ḫaṭāba wiedergegeben wurde und widmet sich dann dem griechischen Einfluss auf balāġa. Hier wird also versucht, einen Einfluss von Aristoteles auf balāġa nachzuweisen, der nur für ḫaṭāba nachweisbar ist. Einen Artikel zu ḫaṭāba enthält die EI2 im Übrigen nicht.

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Bedeutung der aristotelischen Rhetorik dabei durchaus bewusst und unterscheidet genau zwischen der Rhetorik der Griechen und der der arabisch-islamischen Tradition, die den formalen Aspekt des auf Syllogismus reduzierten Rhetorikbegriffs in den Vordergrund stellte und dessen inhaltliche Aspekte eher vernachlässigte. Diese These weist ʿĀbid al-Ǧābirī am Beispiel eines Werkes von Isḥāq Ibn Wahb (gest. 292/305) nach, in dem die inhaltliche Veränderung des Verständnisses von ḫaṭāba im Sinne von bayān (Eloquenz) besonders deutlich wird. Demnach ist ḫaṭāba als bayān bāṭin (implizite Eloquenz) ein Syllogismus, der zwei Arten von Prämissen umfasst: sichere und bloß vermutete. 113 Ihr Ziel ist es, den Zuhörer zu der ihm nützlichen ethischen und religiösen Reinheit anzuregen. Die Vertrauenswürdigkeit einer Prämisse richtet sich also nach religiösen Werten und nicht mehr beispielsweise nach der öffentlichen Meinung. Die zeitliche Spanne zwischen griechischen Philosophen und muslimischen Rechtsgelehrten fällt somit mit einer typologischen Veränderung zusammen. In formaler Hinsicht führt die Reduktion der ḫaṭāba auf die syllogistische Rhetorik zu einem Wegfall dessen, was bei den Philosophen Aristoteles und al-Farābī das Gleichnis (tamṯīl) war. In materieller Hinsicht erfährt ḫaṭāba währenddessen eine theologische Färbung. Die hieraus entstandene Begriffsveränderung lässt sich an einigen Beispielen verwandter Wörter der arabischen Sprache ablesen: So wird z.B. ḫaṭīb für das Wort „Redner bzw. Prediger“ verwendet. Diese ethische Dimension des Begriffs erklärt zugleich seine besondere Verwendung im spätislamischen theologischen Diskurs, bei dem ḫuṭba als ein primärer Autoritätsdiskurs verstanden wird. In einer ausführlichen Abhandlung widmet sich ʿĀbid al-Ǧābirī im Rahmen seiner historischen Analyse zum Verhältnis zwischen islamischer und griechischer Tradition einzelnen Werken bestimmter Autoren, in denen einschlägige Begriffe der Rhetorik in verschiedenen Bedeutungen verwendet werden. Zunächst wird festgestellt, dass sich die Rhetorik in der islamischen Tradition zumeist auf rhetorische Figuren beschränkt und daneben andere Aspekte in der modernen Betrachtung arabisch-islamischer Rhetorik vernachlässigt werden. Tatsächlich umfasst eines der ersten Werke über balāġa von Ibn al-Muʿtazz (gest. 296/908) einen Katalog rhetorischer Figuren. 114 Am Ende ihrer Entwicklung, im 7./13. Jahrhundert also, stellen die rhetorischen Figuren jedoch nur noch den letzten und kleinsten von drei Teilen der balāġa, die aus bayān, maʿānī, badīʿ besteht, dar. Ibn al-Muʿtazz betont hingegen, dass es sich bei den rhetorischen Figuren der balāġa um eine genuin arabische Tradition handele, die sich bereits in koranischen Prophetenerzählungen wiederfinde. Obwohl er weder Aristoteles noch die Rhetorik in seinem Werk erwähnt, führt er unter den rhetorischen Figuren beispielsweise istiʿāra (Metapher) auf, die sich, wie auch z.B. muṭābaqa (Antithese) in der 113 Vgl. al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 36. 114 Es handelt sich hierbei um Ibn al-Muʿtazz: Kitāb al-badīʿ, hg. von Ignatius Kratchkovsky, London 1935.

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Rhetorik wiederfindet. So viele Ähnlichkeiten hinsichtlich der rhetorischen Figuren auch bestehen mögen, ist es dennoch auffällig, dass Ibn al-Muʿtazz nicht dieselben arabischen Begriffe benutzte, wie die, die in der arabischen Übersetzung der Rhetorik115 verwendet werden: Hier wird Metapher beispielsweise mit taġyīr (Abweichung/Änderung) wiedergegeben. Dennoch lässt sich durch die genannten Ähnlichkeiten zumindest ein indirekter Einfluss der Rhetorik auf dieses Werk von Ibn al-Muʿtazz nachweisen. Ein weiteres, für die Geschichte der balāġa wichtiges Werk stammt von al-Ǧāḥiẓ (gest. 255/868).116 Es beschäftigt sich mit bayān, das am Ende der Ausprägung der balāġa neben den maʿānī (Bedeutungslehre) eines ihrer zwei Hauptelemente konstituiert. Der sich hier scheinbar widerspiegelnde Vorrang der ḫuṭba geht jedoch wahrscheinlich nicht auf die Rhetorik des Aristoteles zurück. Avril zeigte in einer seiner Schriften117 zu demselben Werk von al-Ǧāḥiẓ, dass es sich bei bayān um einen sowohl arabisch als auch religiös-islamisch gefärbten Legitimationsdiskurs handelt. Dabei war ḫuṭba (bei den Arabern) allerdings schon immer mehr als nur eine ethisch-religiöse Moralpredigt gewesen, da sie oft zu konkreten politischen Zwecken benutzt wurde. Auch wenn die Rhetorik keinen Einfluss auf bayān hatte, ist ein Vergleich beider Werke interessant: Denn gewissermaßen war bayān für die Araber, was die Rhetorik für die Griechen bedeutete. In der Folge befasst sich ʿĀbid al-Ǧābirī mit einem Werk von Isḥāq ibn Wahb,118 in dem dieser sich mit den verschiedenen Arten auseinandersetzt, durch die die Dinge voneinander unterscheidbar sind. Diese Unterscheidung ist die Grundbedeutung des Wortes bayān. Während er zu diesem Zweck den verschiedenen Arten der Syllogismen ein ganzes Kapitel widmet, erscheinen die Syllogismen auch noch einmal als Unterkapitel über bayān. Ibn Wahb unterscheidet die Syllogismen dabei nach Art und Anzahl ihrer Prämissen und Schlussfolgerungen. ʿĀbid al-Ǧābirī stellt dabei fest, dass manche im Werk Wahbs auftauchende Begriffe und Konzepte aus der falsafa (Philosophie) stammen. Er folgert, dass das Werk zwar keinen direkten Einfluss der Rhetorik widerspiegelt, es aber dennoch auf einen Einfluss der falsafa hindeutet. ʿĀbid al-Ǧābirī kommt letztlich zu dem Schluss, dass Ibn Wahb das Wort ḫaṭāba in einem nicht-hellenistischen Sinne benutzte. Eine letzte Schlussfolgerung zum Verhältnis der rechtlichen Analogie zur Rhetorik kann man schließlich aus dem Gesamtwerk Ibn Ḫaldūns formulieren. Hier zeigt sich, dass auch im 8./14. Jh. noch eine lebendige Erinnerung an ḫaṭāba 115 Aristoteles: al-Ḫaṭāba, at-tarǧama al-ʿarabiyya al-qadīma, hg. von. ʿAbd ar-Raḥmān alBadawī, Kairo 1959. 116 ʿAmr ibn Baḥr al-Ǧāḥiẓ: Kitāb al-bayān wa-t-tabyīn, 2 Bde., hg. von ʿAbd as-Salām Muḥammad Hārūn, Kairo 1948. 117 M. H. Avril: „Généalogie de la ḫuṭba dans le Kitāb al-bayān wa al-tabyīn de Ǧāḥīẓ”, in: Bulletin d’Etudes Orientales 46 (1994), S. 197-216. 118 Isḥāq ibn Wahb: al-Burhān fī wuǧūh al-bayān, hg. von Aḥmad Maṭlūb/Ḫadīǧa al-Ḫadīṯī, Bagdad 1967.

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bestand, die beweist, dass auch die falsafa zu dieser Zeit noch nicht in Vergessenheit geraten war. Zudem zeigt dieses Werk, dass sich Ibn Ḫaldūn der ethischen Dimension der aristotelischen Rhetorik durchaus bewusst war. Darüber hinaus scheint er hierin auch Parallelen zu seinem eigentlichen Betätigungsfeld, der Erforschung von Kultur und Gesellschaft zu sehen. Zuletzt unterscheidet Ibn Ḫaldūn zwischen der Wissenschaft (ʿilm) seines eigenen Fachbereichs und der Kunst (fann), der er Rhetorik und Politik zuordnet. Hieraus lässt sich vielleicht, eine frühe Unterscheidung zwischen Ethik und Rechtstheorie ablesen. Ḫaṭāba als Bezeichnung der syllogistischen Rhetorik ist das einzige Element der Rhetorik, das in der arabisch-muslimischen Zivilisation erhalten geblieben ist und der Rechtstheorie maßgeblich eine diskursethische Orientierung gab. Sie zeichnet sich durch die Art und Weise ihrer Prämissen, ihrer Form und ihrer Funktion aus und gleicht in diesen Punkten der Rhetorik des Aristoteles. Der Inhalt des Syllogismus wurde in der Philosophie jedoch mehrfach auf die Logik reduziert. In der maqāṣid-Theorie zeigt sich die Entfaltung islamischer Rhetorik durch die von dem theologischen Sprachgebrauch eingeführten Veränderungen. 2.2.3. Zur Verstrickung von Finalität und Kausalität bei der ethischen Urteilsfindung Aus diesem ethisch-diskursiven Hintergrund distanziert sich aš-Šāṭibī ausdrücklich in seiner Analyse der Beziehung zwischen ʿilla und maʿlūl von der logischen Analogie. Für ihn steht die Wahrhaftigkeit des offenbarten Textes als ein juristischer Akt im Vordergrund in der von ihm übernommenen Kausalität. Die Offenbarung als absichtlich vollzogen zu beschreiben, bedeutet, sie durch den Grund zu erklären, den der Handelnde hatte, das zu tun, was er tat.119 Kennt man den primären Grund der Offenbarung, so ist man im Stande die Absicht zu definieren, aus der die Offenbarung vollzogen worden ist. Phänomenologisch gesehen kann die von aš-Šāṭibī adoptierte Kausalanalyse letztlich als eine Beziehung zwischen einzelnen, diskreten Ereignissen betrachtet werden, die sich dem von den Ẓāhiriten beteuerten „Sehen“ entziehen, sofern das „Sehen“ sich in Aussagen ausdrückt, die man für wahr oder falsch halten kann. Die Offenbarung als eine vorschreibende Absichtserklärung ist hingegen der Wahrhaftigkeit zuzuordnen. Die stets reflexive und gewissermaßen subjektive Dimension der Intention kann nur in Bezug auf die Rechtmäßigkeit bzw. Wahrhaftigkeit der Zuschreibung einer Absicht zu ihrem Vollzieher analysiert werden. Dem Handelnden eine Absicht zuzuschreiben, bleibt nun ein Glaubensartikel, dem die Ontologie der Offenbarung vollkommen gerecht wird. So beweist allein schon die durch die Wahrhaftigkeit implizierte bloße Möglichkeit der Verdächtigung, dass die Rede über

119 Glaubt man Elizabeth Anscombe so sind die Fälle, in denen Handlungsgrund und Ursache dazu neigen, sich zu vermischen, jene, in denen die Motive selbst rückwärts blicken, z.B. im Falle der Rache oder Dankbarkeit (Vgl. Anscombe: Absicht, S. 33.)

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die Absicht eines Textes einen Bezeugungscharakter besitzt. Denn die Wahrhaftigkeit ist nicht Wahrheit im Sinne der Angleichung des Erkennens an den Gegenstand. Ein weiteres Ergebnis des intentionalen Ansatzes besteht darin, dass die Ableitung des Rechts jedem Absolutheitsanspruch entbehrt, da die Beziehung zwischen Handelndem und Absicht sich ausschließlich auf der Grundlage der ontologischen Natur der Bezeugung herstellen lässt. Aš-Šāṭibī widmet sich der Suche nach qaṣd im Offenbarungstext wohlwissend, dass der Offenbarungsakt eine Handlung darstellt, die ein bestimmtes Ziel verfolgt. Der Koran ist nur im historischen Sinne ein gewaltiges Ereignis (nabaʾ aẓīm), dessen damalige Offenbarungsanlässe (asbāb an-nuzūl) einen typologischen Charakter hatten. Als Aufforderungsakt mit einer „ethischen Botschaft“ bleibt der Offenabrungstext stets offen für eine auf der Grundlage des sich im ständigen Wechsel befindenden sozialen Umfeldes durchzuführende Ursachenforschung, die immer wieder neue Ziele aufstellt, die den neuen Lebensbedingungen der Menschen gerecht werden. Aš-Šāṭibīs Argumentation zufolge stehen Begriffe wie qaṣd, niyya und irāda in einem besonderen Zusammenhang zueinander. Betrachtet man die oben genannten Kontexte, in denen im al-Muwāfaqāt von qaṣd gesprochen wird, genauer, so kann man unschwer die Differenzen zwischen den genannten drei Begriffen verstehen. Während der Begriff qaṣd sich eher mit der heute geläufigen substantivischen Verwendung der Absicht im Sinne „Absicht-zu“ vergleichen lässt, scheint das Wort niyya einer adverbialen Gebrauchsweise der Absicht im Sinne „absichtlich etwas tun oder getan zu haben“ zu entsprechen. Hierin, den sich mit positivem Recht befassenden Gelehrten folgend, spricht ašŠāṭibī von niyya nur in Bezug auf Phänomene, die der persönlichen Anschauung des Gläubigen zugänglich seien und die folglich durch eine subjektive hinweisende Beschreibung erfasst werden könnten, wie etwa die Absicht, die den rituellen Gebeten eines Muslims vorausgehen solle. Man kann sagen, dass rituelle Praktiken, wie ṣalāt (Gebet), ṣiyām (Fasten) und zakāt, absichtlich ausgeführt werden müssen, statt in dem Sinne, dass die Handlung mit einer gewissen Absicht ausgeführt wird, um etwas zu erlangen, was zur Zeit der Ausführung der Handlung noch nicht aufgetreten ist; vielmehr finden hier Absicht und Handlung zeitgleich statt. So fungiert die Handlung selbst als Ziel und nicht als Mittel zum Zweck. Dass die rituellen Gebete ihrerseits auch mit einem gewissen Ziel verrichtet werden, darüber waren sich die Rechtsgelehrten vollkommen einig. Jedoch geht es bei dieser Zielsetzung dann um ein qaṣd.120 Im Begriff qaṣd ist demnach die Ausrichtung auf die Zukunft ebenso stark ausgeprägt wie die Zukunftsorientierung von niyya schwach ausgeprägt ist. Zwar zählten sowohl niyya als auch qaṣd zu den mentalen Ereignissen, jedoch wird ausschließlich qaṣd mit einem ihm entsprechenden Typ der Kausalerklärung verknüpft. 120 Vgl. u.a. al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, S.1734f., und aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 246.

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Zu sagen, dass die Offenbarung mit einer bestimmten Absicht herabgesandt wurde, bedeutet im Verständnis der Rechtstheoretiker nicht nur, dass sie sich auf etwas Verborgenes beruft, was die Mystiker als sirru Allāh (Geheimnis Gottes), eine Art virtus dormitiva (verborgene Tugend) bezeichnen, sondern impliziert vielmehr, dass der Zugang zum eigentlichen Sinn der islamischen Rechtsquellen nur durch die Erstellung eines Systems und eines Systemgesetzes möglich wäre. Der maqāṣidAnsatz, als eine Absichtsanalyse, fügt dem Begriff der Erklärung durch einen Zweck den der bewussten Ausrichtung durch einen Handelnden hinzu, der im Stande ist, sich als Subjekt seiner Handlungen zu erkennen. Dadurch scheint die rechtstheoretische Deutung der Verhältnisse zwischen ʿilla (causa) und qaṣd nicht nur dem Begriff qaṣd neue Perspektiven zu öffnen, sondern auch dem Begriff niyya einen Platz in ihrem theoretischen Rahmen einzuräumen. Qaṣd zählt nicht zu den Attributen Gottes, da es nicht um eine beobachtbare Handlung geht. Versucht man qaṣd irgendeinem Redeakt nach Art des Versprechens gleichzustellen, so merkt man, dass ihm der Apparat von Konventionen und damit auch der Verpflichtungscharakter fehlt, aufgrund dessen der Handelnde sich verpflichtet fühlt. Man würde sich dem Ziel sicherlich näher befinden, wenn man die Intention auf die Glaubensbezeugung zurückführen würde, dass man tatsächlich etwas tun will oder dass man es tun könnte, wenn man es tun wollte. Auf diese Weise gleicht die Kategorisierung der Intention einer kanonischen Analyse des Wollens (irāda), das einem grundlegenden Attribut Gottes entspricht. Gewiss gehören qaṣd und irāda zur selben Gattung der „Pro-Einstellung“, die durch Werturteile zum Ausdruck gebracht werden. Jedoch unterscheidet man in der islamischen Tradition zwischen verschiedenen Stufen einer „Absichts-Ausbildung“. Zwar bedeuten sowohl qaṣd als auch irāda oder raġba (Begierde) in gewisser Hinsicht auch „zu einem Urteil kommen“, jedoch schreiben die Rechtsgelehrten nur dem qaṣd die Eigenschaft eines uneingeschränkten Urteils (ḥukm) zu, das einen Analogieschluss beenden kann. Die raġba hingegen entspringt aus der Kraft der Triebe (al-quwwa aš-šahwāniyya) und würde nur einer Art prima-facie-Urteil entsprechen. Der Unterschied zwischen Absicht und bloßer Lust wird hierdurch respektiert. Irāda gilt unter den Theologen als eines der umstrittenen Attribute Gottes, da die Theologie über keinen einheitlichen Willensbegriff verfügt, so wie man ihn bei den Rechtsgelehrten vorfindet. Durch die Herabsendung der Offenbarung geschah, laut den Rechtsgelehrten, der Wille Gottes. Sein Wille ist gleichzeitig Macht, und diese lässt sich in Seiner Schöpfung feststellen. Gottes Wille bedarf keiner Kausalerklärung, da man Ihn nicht nach den Gründen Seiner Handlungen fragen darf. Die Skepsis, die die Ẓāhiriten, allen voran Ibn Ḥazm, gegenüber dem kausalen Erklärungsansatz geäußert haben, entsprang aus ihrer Sorge, Gotteswirkung auf Erden in Form menschenähnlicher Handlungsketten darzustellen, in denen Kausalitätseffekte für die Umstände göttlicher Entscheidungen gehalten werden, während umgekehrt die gewollten Ergebnisse absichtlicher Handlungen zu neuen Sachverhalten werden, die neue Kausalketten nach sich ziehen. Diese gegenseitige

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

Verstrickung von Intentionalität und Kausalität scheint den Ẓahiriten allerdings typisch für menschliche Handlungen zu sein. Die hier zur Verdeutlichung der Unterschiede zwischen den soeben aufgelisteten Begriffen herangezogene Handlungssemantik beschränkt sich prinzipiell auf die Beschreibung und die Analyse jener Diskurse, in denen der Handelnde sein Handeln zur Sprache bringt, abgesehen von jeder auf Erlaubtes und Verbotenes ausgerichteten präskriptiven Einstellung. Im gleichen Maße wird der Handelnde im Rahmen der kausalen Theorie weit davon entfernt sein, sich einem für sein Wort und sein Tun verantwortlichen Selbst gleichzusetzen. Man darf sich daher nicht wundern, dass der Urheber der Handlung (in dieser Semantik) selbst als ein ethisch neutraler, weder lobens- noch tadelnswerter Handelnder erscheint. Diese zweite Stufe tritt bei aš-Šāṭibī allerdings ab dem Moment ein, in dem qaṣd als verbindender Faktor zwischen allen anderen Begriffen und der ethischen Ausrichtung hervordringt. Handlung (fiʿl) und Handelnder (fāʿil) gehören dem gleichen begrifflichen Schema an, das Begriffe wie Umstände (aḥwāl), Intentionen (maqāṣid), Motive (aġrāḍ), Beweggründe (ʿilal), willentliche bzw. unwillentliche Handlungen (Zwang bzw. ikrāh), gewollte Resultate usw. enthält. Es ist diese Ausrichtung der Absichts-Frage auf den Begriff des innerweltlichen Ereignisses, die potentiell die Vernebelung oder gar die Verdeckung der Frage nach der Entität des Handelnden in sich birgt, die zum höchst unpersönlichen Begriff des maʿlūl bzw. ḥadaṯ – Handlung im Sinne vom Ereignis – als zentrales Anliegen des Rechtstheoretikers führt. Dennoch kann die von aš-Šāṭibī verwendete Begrifflichkeit nur verdeutlicht werden, wenn die mit ihr zusammenhängende Realität strikt definiert wird. Für aš-Šāṭibī sind sozialtheologische Aspekte wie Willensfreiheit, Vorherbestimmung und Glückseligkeit Zentralbegriffe in der Diskussion über die Ausrichtung der Intention Gottes. Ähnlich wie in der spätislamischen Rationaltheologie impliziere der menschliche Wille, nach aš-Šāṭibī, freiwillige und unfreiwillige Handlungen. Diese Willensfreiheit dient im Normensystem als Sockel einer moralischen Definition der Tugend, die einerseits maßgeblich zur Festlegung des Anwendungsbereichs der Normenlehre beiträgt. Andererseits korrespondieren die Ziele der šarīʿa auch mit der Definition der irdischen Tugenden insofern, als sie auf das ultimative und von Gott gewollte Interesse des Menschen hinausläuft, nämlich die maṣlaḥa. Hier gilt es zu untersuchen, wie der maṣlaḥa-Begriff aufgespannt zwischen Finalität und Kausalität gleichermaßen als Hauptkriterium für die rationale Begründung der šarīʿa und als „Sinnbild“ ihrer Ausrichtung fungiert. Und um eben dieses Paradoxon ging es auch in der Diskussion um die Begründbarkeit der Moralnormen der šarīʿa. 2.2.4. Schlussbetrachtung Die in diesem Fazit zugrundeliegenden Anhaltspunkte, sollen mit Rückgriff auf einige moderne Rezeptionsprojekte islamischer Tradition auf das Potential der

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2.2. Moralbegründung der maqāṣid im Lichte der theologischen Hermeneutik

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Begründungstheorie des maqāṣid-Ansatzes hinweisen, aus der bisher lediglich als Rechtswesen betrachteten Rechtstheorie eine umfassende Ethiktheorie zu erarbeiten. Deutlich dürfte aus der Diskussion um die Begründbarkeit der Rechts- und Moralnormen der šarīʿa der Umstand geworden sein, dass sich ein Zusammenhang zwischen Werturteil und Vernunfttheorie in der traditionellen islamischen Theologie nachweisen lässt. Aš-Šāṭibīs Ansatz konnte des Weiteren zeigen, dass ein muʿtazilitischer Rationalitätsbegriff eine annehmbare theologisch-ethische Begründung der Pflichtenlehre eher erschwert als fördert. Eine rationale Rechtfertigung der Normenlehre im Sinne einer zwingenden Ableitung moralischer Vorschriften anhand vorausgesetzter und als unbestreitbar erklärter logischer Kategorien moralischen Denkens, wie etwa nach dem Muster eines natürlichen Syllogismus ist nach aš-Šāṭibī zum Scheitern verurteilt. So werden sowohl vernunftfeindliche Ansätze wie die der Zāhiriten, die sich auf eine ausschließlich traditionsgebundene Schriftauslegung berufen, als auch zweckrational begründete Moraltheorien, die auf dem Nützlichkeitscharakter des menschlichen Handelns basieren, disqualifiziert bzw. desavouiert. Ein Festhalten an der oberflächlichen Deutung der Überlieferung kann, genauso wenig wie die zweckrationale Erwägung, das eigene Interesse über die moralischen Pflichten fürs Gemeinwohl stellen. Dass die Ausarbeitung ethischer Kategorien ausgehend von der maqāṣid-Theorie eine tiefgreifende Reflexion über das Verhältnis von Vernunft und Glaube auf den Plan ruft, ist Gegenstand einer bis heute fortwährenden Diskussion. Immer wieder wurde die muʿtazilitische Fragestellung, ob das Gute vor der Existenz der šarīʿa gut gewesen war und dann besser wurde,121 als Ausgangpunkt für die Frage nach der Funktion des Verstandes bei der ethischen Urteilsfindung genutzt. Aš-Šāṭibīs Idee einer diskursethischen Moralbegründung aufgreifend, widerspricht Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān offenkundig der Aussage apriorischer Rationalität, dass der Verstand Grundlage der Ethik sei und stellt ihm die glaubende Erkenntnis als ethische Quelle gegenüber. Nach Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān ist die glaubende Erkenntnis der Ursprung des Menschen sowie seiner Identität. Seine Kritik richtet sich an das, was er Aristoteles‘ Erbe im islamischen Denken nennt, insbesondere an das philosophische Dogma der Antike, dem zufolge der Verstand das entscheidende Charakteristikum des Menschen sei, das die übrigen Geschöpfe nicht besitzen. Für ihn ist die Ethik im Sinne tugendhaften Handelns die Grundeigenschaft, „von der alle anderen menschlichen Eigenschaften hervorgehen, wobei auch sie eine ist. Die Vernunft verdient es, der Ethik zugeordnet zu werden und soll dieser ethischen Basis angehören.“122 Im Anschluss an dem der maqāṣid-Theorie zugrunde liegenden fiṭra-Begriff postuliert ʿAbd ar-Raḥmān, dass die Tugenden (makārim al-aḫlāq) angeboren und somit prägender im Menschen als der Verstand seien. Im Gegensatz zur Vernunft zeichnet sich Ethik durch ihre Unvergänglichkeit aus. Und Unbeständigkeit der 121 ʿAbd ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq, S. 14f. 122 Ebd., S. 14.

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2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa

Vernunft macht aus ihr einen schlechten Kandidaten für die Ausarbeitung ethischer Werte. Seine Einwände gegen das Postulat philosophischer Ethik, die Vernunft zum Verantwortungsträger zu machen, begründet er damit, dass auch andere Lebewesen zielgerichtetes und zweckorientiertes Handeln kennen, sodass „das menschliche Verstandesvermögen dasselbe Auffassungsvermögen sein kann, was mitunter auch die Tiere besitzen, das ihnen hilft, auf kürzestem Weg zu ihrem Futterplatz und sicherem Schlafplatz zu finden oder gar zwischen Nützlichem und Schädlichem zu unterscheiden.“123 Bemerkenswert in Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmāns Relektüre der maqāṣid-Theorie ist es, einen theologischen Vernunftbegriff zu skizzieren, der mit der modernen Idee des Glaubens vereinbar zu sein scheint. Dabei versucht er, das bei aš-Šāṭibī angedeutete Konzept eines erleuchteten Herzens als Quelle der glaubenden Erkenntnis im Koran und Sunna zu fundieren. „Reisen sie denn nicht auf der Erde umher, so dass sie Herzen bekommen, mit denen sie begreifen, oder Ohren, mit denen sie hören? Denn nicht die Blicke sind blind, sondern blind sind die Herzen, die in den Brüsten sind.“ (Q 22:46 u.a.) Eine tiefgreifende Lektüre des Vernunftbegriffs in aš-Šāṭibīs Ethiktheorie führt demnach unmittelbar zu der Fragestellung des Erkenntniswegs in der Theologie, sodass sich einer fundierten Reflexion über das Herz die Idee des Gewissens aufdrängt. Auf der Suche nach den Wurzeln des Begriffs Gewissen wird man zunächst in der Mystik fündig, in der die Ethik mit dem tugendhaften Verhalten gleichgesetzt wird und wo in der Moraltheologie von Erkenntnis und von Wissen die Rede ist. Hier stellt sich die Frage, inwiefern aš-Šāṭibīs Vernunftbegriff mit der Erkenntnistheorie der Mystik vereinbar ist, wo doch die Rechtstheorie, die bei den Mystikern ausgeblendete soziale Verantwortung als Grundbedingung theologischer Ethik hervorhebt. Dabei drängt sich der Gedanke auf, der Rechtstheorie eine andere Gewissensauffassung zuzuschreiben, die darin begründet liegt, dass die šarīʿa von den Menschen verlangt, ihre Interessen mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen. Damit wird den Gläubigen einen auf Glaube beruhendes Motiv nahelegt, ein voneinander wechselseitiges Gewissen auszubilden. Dieser Umstand wirft die zu Anfang erwähnte Frage des Verhältnisses zwischen Schutz des Selbst als Ort der ethischen Selbstheit und dem Begriff des Gewissens als eine Grundvoraussetzung des Seins auf. Dieser Umstand dient den folgenden Ausführungen zu maṣlaḥa als Kerngedanke.

123 ar-Raḥmān: Suʾāl al-ʿamal, S. 81f.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung 3.1. Vorbemerkungen: Maṣlaḥa – ein historischer Überblick Beim maṣlaḥa-Begriff handelt es sich um eine islamisch-theologische Auffassung des „Guten“, das die Krönung des rechtschaffenen Handelns eines Gläubigen darstellt. Die erste Aufgabe der islamischen Ethik liege nach aš-Šāṭibī darin, das Wissen um das Gemeingut hervorzuheben. 1 Welche Vorstellung auch immer sich jede Rechtsschule von maṣlaḥa gebildet hat, so ist diese das letzte Ziel des Handelns eines Menschen. Doch im Gegensatz zur aristotelischen Ethik, in der die Rede nur von einem Guten für „uns“ vorhanden ist, 2 setzt die islamische Rechtstheorie einen unerschöpflichen und für die Gemeinschaft allgemeingültigen Gebrauch des Prädikats „gut“ voraus, was bei der Definition des Begriffsbereiches des Guten, der sich vom individuellen, am Privatnutz Orientierten über das soziale bis hin zum eschatologischen Wohlergehen erstreckt, zur Entwicklung methodischer Abwägungsprozesse geführt hat. Die durch den Glauben suggerierte eschatologische Perspektive des Wohlergehens hindert die Menschen, den Theologen zufolge, einerseits daran ethische Verantwortung ganz vorwiegend bei der Eindämmung von den Folgen religiösen Fehlverhaltens im Sinne der Lebenserhaltung wahrzunehmen, andererseits verleiht sie dem ethischen Dasein eine transzendentale Dimension. Die islamisch-rechtstheoretische Definition vom Guten umfasst gleichermaßen sogenannte „sittliche“ und „präsittliche“ Güter. Die letzteren werden von Franz 1 Im Vergleich zur christlichen Ethik wird das Gute in der islamischen Rechtstheorie nicht zwangsläufig im Verhältnis zum Bösen betrachtet, da weder Erbsünde noch Erlösung im Islam existieren. Allerdings scheint das Wissen um Gut und Böse sowohl im Christentum als auch im Islam „das Ziel aller ethischen Besinnung zu sein“, wie Dietrich Bonhoeffer hinsichtlich der christlichen Ethik zu Recht vermerkt. (Dietrich Bonhoeffer: Ethik, hg. von Eberhard Bethge, München 1963, S. 19-21.) 2 In den ersten Zeilen der Nikomachischen Ethik erklärt Aristoteles die Ausrichtung seiner Ethik wie folgt: „Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik VI, Bd. 1, 1094a, 1-3; cf. Aristoteles: Aristoteles' Nikomachische Ethik, übers. von Ursula Wolf, 3. Auflage, WBG, Darmstadt 2013, S. 24.) Zeitgenössischen Interpretationen zufolge verhindert diese auf uns bezogene Relativität nicht, dass das „relativ Gute in keinem besonderen Gut enthalten ist. Es ist eher das, was allen Gütern mangelt.“ (Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 11. Sofern nicht auf die deutschsprachige Ausgabe dieses Werkes verwiesen wird, wurde die Übersetzung in das Deutsche von mir vorgenommen.) Ein wesentlicher Unterschied zur islamischen Ethik liegt allerdings auch darin, dass der für die islamische Ethiktheorie zentrale eschatologische Aspekt in der aristotelischen Ethik fehlt.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

Böckle „als reale Gelegenheiten, die unabhängig vom persönlichen Denken und Wollen existieren“ bezeichnet. Die sogenannten „sittlichen“ Güter sind, nach Böckle, verantwortlichem menschlichen Handeln zur Beachtung aufgegeben. 3 So haben sich bis heute die Anwendungsbezüge und Bedeutungen von maṣlaḥa, ausgehend von den beiden Grundlinien, maṣlaḥa als „untergeordnete“ Methode der Rechtsinterpretation und moralischen Urteilsfindung (insbesondere al-maṣlaḥa almursala) sowie maṣlaḥa als göttliches Schöpfungsprinzip (Begriff maṣlaḥa bedeutet allgemein „Veranlagung“ oder „Gemeinwohl“), weiter aufgefächert. Im traditionellen islamischen Rechtsdenken intentionalistischer Prägung wurde maṣlaḥa als sozialwissenschaftliches oder ethisches Konzept, d.h. als „unabhängiger Wert“ mit der Bedeutung „öffentliches Interesse“ oder „Gemeinwohl“, aber ebenso weiterhin, wie bereits von Anfang an, als theologischer Begriff in Form eines Bestandteils der Ethiktheorie (insbesondere als Unterprinzip von qiyās) wie auch weiterhin als methodisches Prinzip, diskutiert.4 3.1.1. Maṣlaḥa als Prinzip deduktiven Schließens Als Prinzip deduktiven Schließens findet maṣlaḥa5 im Zusammenhang mit der Theorie der vier Quellen des Rechts (uṣūl al-fiqh) nach aš-Šafiʿī Anwendung. Diese sind Koran, Sunna, iǧmāʿ und qiyās. Vor aš-Šāfiʿī hat es neben den vier o.g. noch weitere Rechtsquellen gegeben. Dazu gehören z.B. auch ʿurf (Gewohnheitsrecht) und ʿāda (Sitte).6 Ursprünglich, das heißt im frühen Islam, war maṣlaḥa eines der unabhängigen Prinzipien, die neben den Textquellen sowie dem qiyās und raʾy existierten. Bekanntlich kam es jedoch nach Herausbildung der Rechtsschulen dazu, dass allein die vier Rechtsquellen, die dem methodischen Vorgehen aš-Šāfiʿīs weitgehend folgten, die Rechtsanwendung dominierten. 3 Vgl. Franz Böckle: Fundamentalmoral, München 1977, S. 259. 4 Felicitas Opwis: “Maṣlaḥa in Contemporary Islamic Legal Theory”, Islamic Law and Society, Vol. 12, No. 2 (2005), 182-223, S. 182ff. 5 Die terminologische Bedeutung der maṣlaḥa gleicht ungefähr den Begriffen „öffentliches Interesse“, „Gemeinwohl“, „Wohlergehen“ oder „Nutzen“; abgeleitet aus der Wurzel s-l-ḥ, und dem drei-radikaligen Verb salaḥa oder saluḥa „heil“ oder „makellos sein“; im Zusammenhang damit das aus dem X. Stamm abgeleitete Verbalsubstantiv: istiṣlāḥ (Berücksichtigung von maslaḥa). In der subjektiven Definition des Verbes saluḥa in der islamischen Glaubenslehre schwingt die in der christlichen Theologie verbreitete Konzeption der „Reinheit“ als „Befreitsein“ von Makel mit. Hierzu sagt der Prophet (sas): „Im Körper des Menschen ist ein Muskel. Wenn er rein ist, so ist der ganze Körper rein und wenn er unrein ist, so ist der ganze Körper unrein: dieser Muskel ist das Herz.“ Al-Buḫārī: Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Bd. 1, S. 16, Hadith-Nr. 52. 6 Aber auch Prinzipien wie: 1) sabab (Anlass), 2) munāsaba (Gelegenheit), 3) qaṣd (Ziel), das gut ist oder Gutes herbeiführen kann, 4) istiḥsān (wörtl.: Billigung/Zustimmung), abgeleitet vom X. Stamm des Verbs ḥasuna (gut sein); ein bevorzugtes Konzept der ḥanafitischen Methode des Analogieschlusses basierend auf der impliziten Bedeutung des Texts, daher eine Variante des raʾy (Meinung). Im Gegensatz zur Anwendung des Analogieschlusses, basierend auf dem expliziten Text: istidlāl (wörtl. Beweisführung, Argumentation, Gedankengang, Folgerung, Beweis), abgeleitet vom X. Stamm des Verbs dalla (zeigen/bezeichnen), 6) sadd aḏḏarāʾiʿ (Blockieren der Mittel), etc.

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3.1. Vorbemerkungen: Maṣlaḥa – ein historischer Überblick

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Ebenso im Zusammenhang mit der Herausbildung der Rechtsschulen führte der Einfluss der Traditionalisten (ahl al-ḥadīṯ) dazu, dass die vier genannten HauptRechtsquellen je nach Rechtsschule eine unterschiedliche Gewichtung erhielten, insgesamt jedoch Koran und Sunna – tendenziell bei allen Rechtsschulen – als Primärrechtsquellen betrachtet wurden, weil diese als Textquellen die exaktesten Rechtsquellen und daher im Prinzip imstande seien, allein das Leben der muslimischen Gesellschaft zu regeln. So wurden Gültigkeit und Reichweite des Einsatzes einer anderen Rechtsquelle (von den Hauptrechtsquellen: iǧmāʿ und qiyās, etc.) zunehmend davon abhängig gemacht, inwieweit die jeweilige Aussage durch einen autoritativen Text (nuṣūṣ: Koran oder Hadith) gestützt wurde.7 Diese Beziehung zwischen Textstelle und einer rechtlichen Entscheidung wird im System von ašŠāfiʿī durch qiyās hergestellt. Der autoritative Text (Koran und kanonisierter Hadith) wurde so zum Prüfstein der nicht-textgebundenen Rechtsquellen. Hier wird deutlich, dass dieses traditionalistische Denken das gesamte Rechtsdenken in methodisch deduktive Bahnen lenkte und induktives Vorgehen einschränkte. Entsprechend wurde maṣlaḥa von šāfiʿitischen Juristen nach dem genannten Kriterium aufgeteilt in: 1. maṣlaḥa muʿtabara (für eine akzeptable Entscheidung durch Text gestützt), 2. maṣlaḥa mulġāt (für eine abzulehnende Entscheidung, da autoritativer Text entgegensteht), 3. maṣlaḥa mursala (durch autoritativen Text weder gestützt noch widersprochen). 8 Da die beiden erstgenannten Kategorien von maṣlaḥa unter Juristen aller Richtungen nie strittig waren, wurde hauptsächlich al-maṣlaḥa al-mursala kontrovers diskutiert, sodass diese Kategorie schließlich häufig insgesamt für das Konzept von maṣlaḥa zu stehen begann. Neben dieser geschilderten Entwicklung von maṣlaḥa als Konzept der Rechtsfindung bzw. Rechtsinterpretation erhielt sie außerdem schon früh eine zweite Bedeutung, nämlich die des grundlegenden Prinzips göttlichen Wirkens, dessen Resultat sich in den Regelungen des Korans und des Hadith findet. 3.1.2. Maṣlaḥa als Schöpfungsprinzip Als Urheber der Intentionstheorie verwendet al-Ǧuwaynī anstelle von maṣlaḥa zumeist istiṣlāḥ als Synonym, wobei man als Leser seines Werkes geneigt ist, darin ein Zeichen seiner Zurückhaltung bezüglich eines gewagten Terminus wie maṣlaḥa zu sehen. Denn, wie unter den Morphologen allgemein bekannt ist, impliziert der Präfix „s“ des zehnten Stammes stets eine Konnotation des Strebens. Da der Begriff maṣlaḥa in sich die Bedeutung eines göttlichen Schöpfungsprinzips birgt und häufig als Oberbegriff des „höchsten Guts“ fungiert, wird er nach al-Ǧuwaynī aufgrund der 7 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 30 8 Vgl. Masud: Islamic Legal Philosophy, 182ff.; ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, S. 80ff.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

Frömmigkeit mancher faqīhs bewusst vermieden. In seinem Werk al-Burhān unterscheidet al-Ǧuwaynī drei disparate Orientierungen in Bezug auf den Begriff istiṣlāḥ: 1. Die Haltung Muḥammad ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarīs (gest. 310/923), wonach ausschließlich solche maṣāliḥ akzeptabel seien, die durch autoritative Texte (uṣūl; Sg.: aṣl) bestätigt werden. Dies führe dazu, dass sich sowohl maṣlaḥa mulġāt wie auch maṣlaḥa mursala als unanwendbar erweisen.9 2. Die Interpretation der Anhänger der mālikitischen Rechtsschule, wonach maṣlaḥa ohne zusätzliche Stütze autoritativer Text oder Beachtung des Prinzips der Situationsangemessenheit (munāsaba) mit anderen (textgestützten) Entscheidungen anwendbar ist. Vor allem scheint al-Ǧuwaynī die Tatsache zu stören, dass bei den mālikitischen Rechtsdenkern dem iǧmāʿ der Gelehrten bei der Anwendung von maṣlaḥa ein besonderer Stellenwert beigemessen wird, da dieser als Voraussetzung für die Gültigkeit der Entscheidung fungiere. 3. Die šāfiʿitische Auffassung, die auch von der Mehrheit der Ḥanafiten übernommen wurde, wonach maṣlaḥa mursala unter der Voraussetzung anwendbar sei, dass sie eine kontextuelle oder situationsbedingte Ähnlichkeit zu den anderen Interessen aufweise, die durch autoritativen Text in ihrer Gültigkeit bestätigt sind.10 Auf dieser Basis kommt al-Ǧuwaynī bei der Beurteilung von Handlungen mithilfe des qiyās z.T. zu einem anderen Ergebnis als mithilfe des istiṣlāḥ. Dennoch ist bei ihm istiṣlāḥ eine Unterkategorie von qiyās.11 3.1.3. Maṣlaḥa als Methode der Rechtsfindung In dem Versuch, einen mittleren Weg zwischen Befürwortern und Gegnern des Einsatzes von al-maṣlaḥa al-mursala zu finden, lehnte Ibn Taymiyya (gest. 728/1328) maṣlaḥa als eine Methode, ähnlich dem raʾy, ähnlich dem istiḥsān und ähnlich der mystischen Offenbarung kašf und ḏawq sowie sämtliche Vorgehensweisen, deren Validität ihm suspekt waren, als Methoden der Rechtsfindung ab.12 Auf der anderen Seite widersprach er der Annahme, dass maṣlaḥa und die göttlichen 9 Vgl. Muḥammad ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī: Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl al-qurʾān, 30 Bde., Kairo 1954, Bd. 29, S. 60f. 10 Auf der Grundlage einer kritischen Betrachtung der o.g. drei Interpretationen entwickelt alǦuwaynī in seiner eigenen Theorie fünf Kategorien des sogenannten istiṣlāḥ, die er nach dem Grad ihrer gesellschaftlichen Notwendigkeit unterscheidet. Die Zuordnung erfolgt hierbei anhand der ʿilla und der maʿnā (der Bedeutung) jeder Kategorie: 1.) öffentliches Wohl und öffentliches Interesse: unabdingbar notwendig (ḍarūra); 2.) Bedarf (al-ḥaǧāt al-ʿāmma): allgemein notwendig (unterhalb ḍarūra angesiedelt); 3.) nicht erforderliche, jedoch vorzügliche Handlungen (makrūmāt); 4.) lobenswerte (empfehlenswerte) Handlung; 5.) Restkategorie für Handlungen, die sich keiner der erstgenannten Kategorien zuordnen lassen (Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, Bd. 2, S. 924 und 937f.) 11 Ebd., Bd. 2, S. 1118. 12 Vgl. Taqī ad-Dīn Aḥmad Ibn Taymiyya: Ṣiḥḥat uṣūl maḏhab ahl al-madīna, hg.von asSaqqā, Kairo 1988.

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3.1. Vorbemerkungen: Maṣlaḥa – ein historischer Überblick

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Anordnungen (aš-šarīʿa) verschieden seien. Dies wird z.B. dann angenommen, wenn behauptet wird, dass maṣlaḥa so etwas wie das Ziel einer göttlichen Anordnung sei. Demgegenüber stellte er seine Auffassung, nach der maṣlaḥa bereits den Texten der Offenbarung inhärent sei. Mit anderen Worten: Er geht davon aus, dass alle denkbaren maṣāliḥ bereits mit den autoritativen Texten festgelegt seien. Dazu gehört für Ibn Taymiyya allerdings auch die Annahme, dass Gottes Anweisungen im Rahmen von aš-šarʿ hingegen auf maṣlaḥa basieren. Dieser Zusatz zu seiner grundlegenden Annahme, die eher traditionalistisch ist, ist wichtig für das Verständnis Ibn Taymiyyas, da er daraus die Eigenverantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen ableitet. In den Überlegungen von Ibn Qayyim al-Ǧawziyya (gest. 751/1350), die weitgehend denen von Ibn at-Taymiyya und al-Ǧuwaynī folgen, wird für maṣlaḥa häufiger die Bezeichnung siyāsa verwendet. Für Ibn Qayyim spielt maṣlaḥa eine wichtige Rolle, um rechtliche Verpflichtungen, rechtliche Begründung und rechtliche Veränderung zu erklären. Als Vertreter der ḥanbalitischen Position nennt er folgende fünf Rechtsquellen: 1. nuṣūṣ: Quellentexte; 2. fatāwā ṣ-ṣaḥāba: Rechtsgutachten der Prophetengefährten; 3. sīrat aṣ-ṣaḥāba: eine Auswahl aus den Meinungen der Prophetengefährten; 4. al-ḥadīṯ al-mursal: ein Bericht mit einem Prophetenausspruch, der eine Lücke im isnād (Überlieferung) aufweist; 5. qiyās aḍ-ḍarūra: Analogieschluss hinsichtlich einer Notsituation. 13 Dies ergibt mehr Raum für die Anwendung von maṣlaḥa, als nach dem System der vier Rechtsquellen nach aš-Šāfiʿī. Ibn Qayyim war der Auffassung, dass eine „interessenorientierte“ Begründung der Anweisungen Gottes zulässig sei, weil sich viele Beispiele für einen solchen Umgang mit den Anweisungen Gottes im Koran und in der Sunna fänden. Viel umfassender und methodisch ausgewogener wirkt hingegen die Definition von maṣlaḥa des berühmten enzyklopädischen Rechtsgelehrten al-Ġazālī. In seinem Standardwerk al-Mustaṣfā formuliert al-Ġazālī erstmals eine vollständige Definition des Begriffs maṣlaḥa als Schlüsselbegriff für die heranwachsende Sozialethik. 14 Insgesamt hat maṣlaḥa bei al-Ġazālī den Charakter eines Annexes zu seinem Konzept der uṣūl al-fiqh und erreicht nicht den Stellenwert einer veritablen Rechtsquelle. Bei ihm hat der Begriff „Gemeinwohl“ außerdem auch keine selbstständige methodische Funktion bei der Rechtsinterpretation und -auslegung. Vielmehr hat sein Konzept von maṣlaḥa eine methodische Hilfsfunktion als Sozialfaktor für qiyās, der vier Komponenten beinhaltet:

13 Vgl. Ibn Qayyim: Iʿlām al-muwaqqiʿīn ʿan rabb al-ʿālamīn, Bd. 2, S. 50ff. 14 Vgl. al-Ġazālī: al-Mustaṣfā, Bd. 1, S. 287f.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

1. aṣl: die (textuelle) Quelle, aus der der Analogieschluss hergeleitet wird; 2. farʿ: das Gebiet, für das eine Analogie gesucht wird; 3. ʿilla: der Grund, aus dem ein Analogieschluss im betreffenden Fall zulässig ist, und dieser wird nach al-Ġazālī aus traditioneller Evidenz entweder explizit (im Fall von Evidenz aus Koran oder Hadihe) oder implizit (im Fall der Evidenz aus iǧmāʿ) hergeleitet. Hierbei können zwei Methoden angewandt werden: a) aṣ-ṣabr wa t-taqsīm: Beobachtung und Klassifikation der Fälle; b) al-munāsaba: Tauglichkeit oder Situationsangemessenheit. In diesem Zusammenhang diskutiert al-Ġazālī auch maṣlaḥa als eines der zentralen Elemente der Affinität zu aš-šarʿ; 4. ḥukm: die Entscheidung bzw. das Ergebnis der Anwendung des qiyās. Fälle der ersten Kategorie können als Basis von qiyās zu gültigen Entscheidungen führen. Fälle der zweiten Kategorie sind nicht verwendbar und deren Gebrauch nicht erlaubt. Bei Fällen der dritten Kategorie wird zusätzlich das Kriterium der Effektivität (quwwa) herangezogen: Hieraus ergeben sich drei Stufen der Effektivität von maṣlaḥa, die nicht durch Text bestätigt sind: 1. ḍarūrāt: essentiell notwendig, um den Fortbestand der fünf Grundelemente von aš-šarʿ zu garantieren; 2. ḥāǧāt: sind maṣlaḥa, die für sich genommen nicht essentiell sind, in Bezug auf das Gesamte aber notwendig, um maṣāliḥ insgesamt zu realisieren; 3. taḥsīnāt: sie gehören weder zu eins noch zu zwei. Da es sich um keine selbstständige Kategorie handelt, dient sie lediglich der Verfeinerung der Anwendung von Punkt eins und zwei. Fälle aus den Kategorien ḥāǧāt (bedürfnisbezogene Maximen) und taḥsīnāt (ergänzende fakultative Maximen) können hingegen nie ohne zusätzliche Bestätigung durch autoritativen Text eine rechtmäßige Entscheidung darstellen. Soweit sie eine entsprechende textuelle Bestätigung haben, sind sie nach al-Ġazālī dem qiyās zuzuordnen, ansonsten dem istiṣlāḥ oder istiḥsān und als solche keine rechtmäßigen Entscheidungen. Die Beziehung zwischen ṣāliḥ (gut) und munāsib (angemessen) besteht nach al-Ġazālī darin, dass maṣlaḥa die Grundüberlegung und Basis bei der Entscheidung über die Angemessenheit (munāsaba) einer Sache, einer Angelegenheit oder einer Handlung darstelle.15 Insgesamt kann gesagt werden, dass al-Ġazālī in theologischer, wie auch in rechtlicher Hinsicht das Konzept maṣlaḥa mit Reserviertheit behandelte. In theologischer Hinsicht lehnte er ein Konzept von maṣlaḥa, wonach „Gemeinwohl“ die Bedeutung des Nutzens für die Menschheit annimmt, ab und machte dessen Einsatz grundsätzlich von einer Bestätigung durch einen autoritativen Text abhängig. In juristischer Hinsicht machte er maṣlaḥa als Methode der juristischen Begrün15 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 285f.

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3.2. Ethische Ausrichtung im Verhältnis von Pflicht und Verantwortung

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dung zu einer Hilfsfunktion für qiyās. Al-Ġazālīs Definition und Klassifikation des Konzepts maṣlaḥa hatte weitreichenden Einfluss auf viele seiner Nachfolger auf dem Gebiet von uṣūl al-fiqh, vor allem bis zu ar-Rāzī im 7./13. Jahrhundert. Sein Einfluss auf heutige Bestimmungsversuche kann immer noch als bedeutend betrachtet werden. Die gegenwärtige Debatte islamischer Ethik konzentriert sich weitgehend auf die Rolle des maṣlaḥa-Verfahrens als höchstes Kriterium zur Begründung moralischer Rechtsnormen, damit der Gläubige ein rechtschaffenes Leben im Sinne der islamischen Rechtsordnung führen kann. Nun blickt aber das rechtschaffene Leben auf zwei Seiten: zum einen auf die Seite des Teleologischen, dessen Ausweitung zum Begriff der Verantwortung führt, zum anderen auf die Seite des Deontologischen, bei dem der Verpflichtungscharakter im Mittelpunkt steht. Betrachtet man die Diskussion um den Begriff maṣlaḥa in der islamischen Rechtstradition aus theologischhermeneutischer Perspektive, so zeichnet sich darin ein Doppelprinzip der Bestimmtheit des Prädikats „gut“ aus, deren Dreh- und Angelpunkt das Verhältnis zwischen Pflicht und Ausrichtung ist. Dabei scheint die Intentionstheorie aš-Šāṭibīs klare Stellung zu einer Verantwortungsethik zu beziehen, in der die deontologische Auffassung der Norm (ḥukm) an die teleologische Auffassung der Ethik als Ausrichtung auf maṣlaḥa gebunden bleibt. Ohne in irgendeiner Weise den Bruch leugnen zu wollen, den der intentionalistisch-teleologische Ansatz aš-Šāṭibīs mit der reichhaltigen Tradition des deontologischen Denkens vollzieht, ist es jedoch angebracht, diejenigen Züge seiner Ethiktheorie hervorzuheben, durch die die Pflichtenlehre der aḥkām an die zielgerichtete Auffassung der maqāṣid methodisch sowie rechtlich geknüpft wird.

3.2. Ethische Ausrichtung im Verhältnis von Pflicht und Verantwortung 3.2.1. Rechtschaffenes Handeln aus dem Blickwinkel der Pflichtmoral Maṣlaḥa als Begriff des „höchsten Guts“ ist in der rechtstheoretischen Festlegung ethischen Verhaltens maßgebend, da nur in ihm der rekursive, hervorbringende Charakter des göttlichen Rechts zur Geltung kommt. Während der teleologisch gerichtete Intentionsansatz die Gefahr reinrationaler Auslegung nahelegt, neigt die Pflichtenlehre (taklīf) der statisch-unproduktiven Gesetzlichkeit zum Opfer zu fallen.16 In dieser Unterscheidung zwischen Ausrichtung und Verpflichtung lässt sich 16 Das „höchste Gut“ wird hier je nach Begründungsbezug im Sinne einer der beiden Lesearten, die Daniel Keller hinsichtlich der Entwicklung des kantischen Paradigmas vertrat, verstanden: „[…] eine eher gemeinschaftlich universelle Bestimmung des höchsten Guts als ethisches Gemeinwesen […] und eine eher individuelle Bestimmung des höchsten Guts.“ (Daniel Keller: Der Begriff des höchsten Guts bei Immanuel Kant. Theologische Deutungen, Paderborn 2008, S. 17.)

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

unschwer der Gegensatz zweier Erbschaften erkennen: ein intentionalistisches Erbe, in dem die Rechtsordnung der šarīʿa durch ihre teleologische Perspektive gekennzeichnet ist, und ein textualistisch-ẓahiritisches Erbe, in dem die Rechtsbestimmung deontologisch durch den Verpflichtungscharakter der Norm definiert wird. Die Idee der Ausrichtung auf das Wohlergehen, das aus der zielgerichteten Interpretation der Offenbarung hervorgeht, öffnet jedoch die Perspektive für eine situationsangemessene ethische Urteilsfindung, bei deren Ableitung die Offenbarung und die Vernunft gleichermaßen berücksichtigt werden. 17 Gleichwohl führt der Begriff des taklīf den Bereich der Bedeutung ein, in dem sich – verbunden mit Anweisungen, etwas Gutes zu tun – Einschätzungen normativer Art entfalten können. 18 Hieraus ergibt sich ein Primat der Ethik (maqāṣid) gegenüber der Moralnormen (aḥkām), sodass der deontologische Gesichtspunkt bei der Rechtsableitung der teleologischen Perspektive untergeordnet ist. Die Verankerung des deontologischen Moments in der teleologischen Zielsetzung offenbart die Stellung, die der Begriff der Absicht bei al-Ġazālī zu Beginn der Wiederbelebung der Religionswissenschaften (Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn) einnimmt: „Die Absicht ist stets besser als die Handlung“.19 Dem rationalen Verständnis dieser Aussage zufolge kann maṣlaḥa dem Begriff des „höchsten Guts“ nur im Sinne einer „reinen Absicht“ entsprechen.20 Die daraus resultierende Konsequenz besteht darin, maṣlaḥa als ethische Ausrichtung einer Prüfung durch aḥkām zu unterwerfen. Diese Aussage al-Ġazālīs erinnert zunächst sehr an die etwa 700 Jahre später formulierte Behauptung des deutschen Philosophen Kant, der betonte, dass der Träger des Prädikats „Gut“ nichts anderes als der Wille sei. Aber in der kantischen Moral nimmt der Wille den Platz ein, der in der islamischen Ethik durch die wahrhafte Absicht des Gläubigen besetzt ist. Die wahrhafte Absicht erkennt man an ihrer Zielrichtung, den Willen an seinem Verhältnis zum Gesetz. Während das Wollen sich in Sprechakten ausdrückt, die zur Gruppe der Imperative gehören, sind Absichts-Ausdrücke als Untergruppe der Wunschredeakte – Glückseligkeit inbegriffen – dem optativen Typus zuzuschreiben. Der Wille ist aufgrund seiner fundamentalen Verfassung nichts anderes als die im Prinzip allen vernunftbegabten Wesen gemeinsame praktische Vernunft. Wegen seiner endlichen Verfassung ist er jedoch empirisch durch Gefühlsneigungen be17 18 19 20

Vgl. aš-Šāṭibī: al-Iʿtiṣām, hg. von Mašhūr ibn Ḥasan, o.O. o.J., Bd. 3, S. 8-12 Vgl. al-Ġazālī: al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād, S. 151. Vgl. al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, S.1735. Sollte sich die hier angenommene Interpretation von al-Ġazālīs Aussage bestätigen, so könnte man darin einen gewissen Parallelismus zu Kants Idee von dem absoluten Wert des bloßen Willens kaum leugnen: „Es ist überall nichts in der Welt, ja auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ´ohne Einschränkung´ für gut könnte gehalten werden, als allein ein ´guter Wille´“. (Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. von Wilhelm Weischedel, 4 Bde., Frankfurt a.M., 1974, Bd. 1, S. 18f., zitiert nach Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 26f.), der noch ergänzend hinzufügt: „Kant verdeutlicht damit die Aufgabe, sittliche Urteile als integrierte Erkenntnis- und Willensakte zu denken.“

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3.2. Ethische Ausrichtung im Verhältnis von Pflicht und Verantwortung

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stimmt.21 Die moralische Reflexion besteht, nach Kant, in einer geduldigen Prüfung der Anwärter auf den Titel des „Guten ohne Einschränkung“, sodass der uneingeschränkt gute Wille, gemäß des höchsten Prinzips der Autonomie, dem sich selbst gesetzgebenden Willen gleich wird. Für einen solchen Willen nimmt bei Kant das „Gute ohne Einschränkung“ die Form der Pflicht an, was die allgemeinste Formulierung des kategorischen Imperativs, den das Subjekt an sich selbst richtet, belegt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“22 Betrachtet man nun aber den kategorischen Imperativ vom Gesichtspunkt einer Theorie des Redeakts aus, so wirft er ein spezifisches Problem auf. Wie es schon in der klassisch arabisch-islamischen Rhetorik bekannt war, verlangen Aufforderungsakte nicht nur, dass Sprecher und Angesprochener einer Sprechinteraktion voneinander unterschieden werden, sondern auch, dass die Beziehung zwischen Befehl und Gehorsam an Erfolgsbedingungen geknüpft wird, die von Konventionen und Sprechsituationen maßgeblich abhängen. Al-Ġazālīs Auffassung von der Verpflichtung klingt folgendermaßen: „Taklīf ist eine Diskursgattung, die einen Bezug hat, nämlich den Gegenstand der Verpflichtung, bei dem ausschließlich vorausgesetzt wird, dass er verstanden wird, nicht jedoch, dass er möglich ist. Die Möglichkeit der Umsetzung stellt keine Voraussetzung zur Verwirklichung der Rede dar. Denn der taklīf ist eine Rede, die von einem Verstehenden [Sprecher] in Richtung eines Verstehenden [Hörer] hervorgeht, und diesbezüglich eines verständlichen Gegenstandes, sodass der Sprecher sich vom Hörer unterscheidet. Dieses bezeichnet man als taklīf.“23 Sowohl die soziale Konvention als auch die Sprechsituation setzen im Falle des Befehls einen Sprecher, der befiehlt, und einen Empfänger, der aufgrund der Erfüllungsbedingungen des Imperativs genötigt wird, zu gehorchen, voraus. Die Fähigkeit zu befehlen und zu gehorchen oder eben nicht, hat Kant demselben Subjekt zugeordnet, sodass er die Neigung durch ihre Fähigkeit zum Ungehorsam definiert, was einer innewohnenden Passivität gleichgesetzt wird. Auf diese Weise entsteht Kants Argumentation zufolge die Querseite des Willens, nämlich das Begehren, das Kant als „pathologisch“ und als mögliche Ursache zur Entstehung des Bösen nennt.24 Der metaphysischen und praxisfernen Auffassung der Urteilsbildung in Kants Philosophie liegt eine abstrakte und zeitlose Idee der Vernunft zugrunde, die man in einigen Strömungen der islamischen Rationaltheologie wiederfindet. Das Grundprinzip der gesamten Philosophie Kants war, nach Tödt, 21 Friedrich Nietzsche (1885) geht sogar davon aus, dass die Moralen nur eine „Zeichensprache der Affekte“ sind. (Vgl. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart 1991, S. 96.) 22 Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Berlin 1968, Bd. 4, S. 421. 23 Al-Ġazālī: al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād, S. 151. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 221. 24 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. 4, S. 378ff.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

„das Prinzip der Identität: Vernunft galt als Vermögen der ‚Einheit‘, das selbst zeitlos alles umspannte, was in der Zeit ist. Uns stellt sich Vernunft als zeitlich und geschichtlich bedingt dar. Darum können wir nicht mehr einer unveränderten kantischen Pflichtethik folgen.“25 In dieselbe Richtung argumentiert Arendt, im Sinne einer zeitgebundenen Definition der Vernunft, die dem Begriff des Guten in der islamischen Rechtstheorie nahe kommt: „Das Böse – wenn [man es] hinsichtlich des Selbst bestimmt – bleibt so formal, so inhaltsleer wie Kants kategorischer Imperativ, dessen Formalismus seine Kritiker so oft in Rage versetzt hat. Wenn Kant sagte: Jede Maxime, die kein universal gültiges Gesetz werden kann, ist unrecht, so ist das, als hätte Sokrates gesagt, jede Tat sei Unrecht, mit deren Urheber ich nicht mehr zusammenleben möchte.“26 Die islamische Pflichtenlehre, deren Ursprung im Begriff der Beauftragung liegt, entgeht durch ihren transzendentalen und glaubensorientierten Vernunftbegriff dem inhaltsleeren Formalismus von Kants kategorischem Imperativ. Dies lässt sich gut in der rationaltheologischen Diskussion um Vorbestimmung und Willensfreiheit feststellen.27 3.2.2. Maṣlaḥa und Freiheitsbegriff der Rationaltheologie Im Gegensatz zur Rechtstheorie war die islamische Rationaltheologie in der Frage der Willensfreiheit geteilter Meinung. Anders als die sogenannte muʿtazilitische These, in der der Mensch einen eigenen freien Willen besitzt, weshalb er im Jenseits Rechenschaft über seine Taten ablegen soll, sind die Ašʿariten der Meinung, dass der Mensch lediglich einen eingeschränkten Willen besitze, der von der Allmacht Gottes im Vorfeld der Handlung beeinflusst werden kann und infolgedessen nur zum Teil zurechnungsfähig sei. Laut ašʿaritischer Auffassung besitze nur Gott die Kraft, die zum Handeln befähigen könne, sodass die Handlungsfähigkeit des Men-

25 Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 27. 26 Hannah Arendt: Über das Böse, München 2003, S. 96. 27 Während die „Willensfreiheit“ als Zentralbegriff der praktischen Philosophie Kants so viel bedeutet wie: das Vermögen einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetz unter einer anderen Ursache steht, die sie der Zeit nach bestimmte (vgl. Gerhard Schweppenhäuser: Nietzsches Überwindung der Moral, Würzburg 1988, S. 26), unterscheidet die islamische Theologie den menschlichen zweckgebundenen Willen, der zum Vollzug einer Handlung veranlasst, vom ewigen und zweckungebundenen Willen Gottes, der die Welt durch die Allmacht in dieser Form, unter vielen anderen möglichen Formen hervorgebracht hat. Der Willensfreiheit wird demnach durch die Vernunft, der Eigenschaft zuerkannt, ein Ding von seinesgleichen auszuwählen und durch die Kraft Gottes zu verwirklichen. (Vgl. Abū Rīdah: Al-Ġazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie, S. 100f.)

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3.2. Ethische Ausrichtung im Verhältnis von Pflicht und Verantwortung

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schen nur durch die Aneignung (kasb) des Menschen der göttlichen Eigenschaft des Willens erfolgen könne.28 Die Muʿtaziliten deuten die Entzweiung von Wille und Kraft so, dass sie dem Erhabenen nur die letztere als ewige Eigenschaft zuschreiben. Ihre Zurückweisung der ašʿaritischen Aneignungsthese liege darin begründet, dass eine Verwicklung göttlicher Kraft (qudra) in die Handlungen des Menschen, seien sie nun gut oder übel, für sie nur möglich sein könne, wenn der Wille ausschließlich von dem Menschen selbst ausgehe. Alles andere würde einen Verstoß gegen das Gerechtigkeitspostulat bedeuten.29 Da Gott laut muʿtazilitischer Glaubenslehre gerecht ist und aus ihm daher das Böse nicht resultieren kann, spielt die Möglichkeit des Menschen, selbst über seine Taten entscheiden zu können, eine grundlegende Rolle im Prozess des Auftretens verwerflicher Handlungen. Gott ist allmächtig und hat keinen Gegenspieler im dualistischen Sinne, der für das Böse verantwortlich gemacht werden kann.30 So sorgfältig die Bedeutung der Vernunft für menschliches Handeln zu bedenken ist, so entschieden fordern auch zahlreiche Koranverse dazu auf, sich auf Gottes Willen zu verlassen und sich in ihn zu ergeben, wie etwa in Q 81:29: „Und ihr könnt nicht wollen, außer dass Allah will, (Er), der Herr der Weltenbewohner“. Denn hätte der Mensch, wie von den Ašʿariten als Einwand geäußert wurde, ausschließlich eigene Entscheidungsfreiheit, so wäre Gott in seiner eigenen Allmacht eingeschränkt.31 Doch weist ar-Rāzī – nochmals zur Abgrenzung von der Position der Muʿtazila – darauf hin, dass während die Muʿtaziliten glauben, dass Gott verpflich28 Vgl. Abū Bakr ibn al-Furāk (gest. 406/1015): Muǧarrad maqālāt al-Ašʿarī, hg. von Daniel Gimaret, Beirut 1987, S. 90-93. 29 Das Argument für die Entzweiung von Wille und Kraft liegt nach muʿtazilitischen Theologen darin, dass die Kraft als Eigenschaft teilbar ist, d.h. man kann sie zwei Gegensätzen (z.B. Gott und Mensch) zuschreiben, ohne dass es zur Verstrickung von Verantwortlichkeiten kommt. Der Wille kann hingegen wegen der in ihm implizierten Wahlfreiheit nur individuell sein. Mit diesem Gedanken intendieren die Rationaltheologen jedoch, dass das Sich-Ereignen des Bösen unabhängig vom göttlichen Willen geschieht. (Vgl. az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ, S. 15.) 30 Vgl. ebd., S. 24. Eine ähnliche Position vertritt nach der Auslegung von Heinz E. Tödts auch Dietrich Bonhoeffer, indem er beteuert, dass „der Mensch sich nicht damit begnügte, alle Lebensorientierung aus Gottes Hand und Schöpfung entgegenzunehmen, sondern im Sündenfall für sich das Recht beanspruchte, selbst zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und dementsprechend selbst zu wählen.“ Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 46.) 31 Im Gegensatz zum Islam schränkt sich Gott im Christentum in dieser Allmacht insofern selbst ein, als er dem Menschen das Versprechen gegeben hat, in seinen Handlungen frei zu sein. Hier gibt es, nach Gruenbaum, einen gut erkennbaren konzeptionellen Unterschied, der jedoch auch eine Gemeinsamkeit zwischen Islam und Christentum aufweist: Sowohl aus der dem Islam zugeschriebenen „eingebildeten“ als auch aus der dem Christentum „tatsächlichen anerkannten Handlungsfreiheit“ entsteht das Böse. Die Aporie einer solchen Aussage liegt jedoch darin, dass die Islamische Theologie ein Konzept des Bösen nach christlichem Vorbild nicht kennt, da es im Islam weder eine Erbsünde noch einen Widersacher Gottes gibt, die für die Entstehung des Übels verantwortlich gemacht werden können (vgl. Gustave E. von Grunebaum: „Observations on the Muslim Concept of Evil“, in: Studia Islamica, No. 31 (1970), S. 117-134)

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

tet sei, maṣlaḥa als Ziel zu berücksichtigen, die Mehrheitsmeinung unter den fuqahāʾ ist, dass Gott nicht dazu verpflichtet sei, ausschließlich Gutes anzuordnen, sondern dies (zufällig) aus Güte heraus so getan habe. 32 Mit Rückgriff auf Aussagen von Koran und Sunna löst die ašʿaritische Theologie den scheinbaren Widerspruch zwischen der Allmacht Gottes und Willensfreiheit des Menschen in folgender Weise auf: Der Mensch habe in Wirklichkeit nur ein auf das Diesseits beschränktes Bewusstsein und somit auch lediglich eine relative Entscheidungsfreiheit, die der Allmacht Gottes keineswegs zuwiderlaufen könne. 33 Aus dem daraus entstehenden eingeschränkten Antizipationsvermögen menschlicher Urteilskraft34 ergebe sich die Fehlbarkeit des Menschen, die aus seiner relativen Entscheidungsfreiheit einen Prüfstein seiner Gesinnung macht: „Gewiss, Wir haben (alles), was auf der Erde ist, zu einem Schmuck für sie gemacht, um sie zu prüfen (und um festzustellen), wer von ihnen die besten Taten begeht.“ (Q 18:7)35 Als ein Gegenpol zu maṣlaḥa gilt mafsada (Übel) bei der Mehrheit der Theologen im Allgemeinen genauso als etwas Reales, das weder verdrängt, noch verharmlost oder als Produkt göttlicher Vorherbestimmung abgetan werden kann. Abstrakt wird das Übel bei den Ašʿariten als etwas definiert, das sich genau da befindet, wo sich alle Widersprüchlichkeiten der menschlichen Existenz treffen. Folglich ist der Mensch frei und gleichzeitig unfrei, und er ist fähig, dank der Aneignungsgabe göttlicher Eigenschaften, Dinge stellvertretend erschaffen zu können, die aber, genau wie er selbst, unbeständig und vergänglich sind. 36 32 In seinem ziemlich umfangreichen Werk al-Mahṣūl werden von Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī die Anfangsarbeiten von Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī und al-Ġazālī nicht nur kombiniert und deren Konzepte umformuliert, sondern als Grundlage für eine innovative Sichtweise bezüglich maṣlaḥa verwendet, die zwischen purem Textualismus und reinem Syllogismus einen neuen Mittelweg einzuschlagen versucht, das aus al-Mahṣūl eine der einflussreichsten Schriften für spätere Arbeiten auf dem Gebiet der uṣūl al-fiqh machte. Dies lässt sich heute an der Anzahl der Kommentare und weiteren Abhandlungen zu al-Maḥṣūl ablesen. 33 Vgl. folgenden Koranvers Q 9:37: „Ihre bösen Taten sind ihnen ausgeschmückt worden. Allah leitet das ungläubige Volk nicht recht.“ (Vgl. zum selben Denkinhalt: Q 2:212; Q 3:14; Q 6:122; Q 3:54: „Und sie schmiedeten Ränke, und (auch) Allah schmiedete Ränke; und Allah ist der beste Ränkeschmied“ und Q 6:123; Q 7:99.) 34 Urteilskraft wird hier das menschliche Vermögen genannt, das in Interpretations- und Abwägungsprozessen zur Findung der Werturteile gebraucht wird. (Vgl. Klaus Tanner: „Ein verstehendes Herz. Über Ethik und Urteilskraft“, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 56/1 (2012), S. 9f.) 35 Vgl. zu diesem Kontext die Koranverse Q 5:48; Q 6:165 und Q 67:2. 36 Vgl. dazu Koranverse aus denen die Willensfreiheit des Menschen hervorgeht, wie etwa Q 74:38: „Jede Seele haftet für das, was sie erworben hat“ oder Q 4:79: „Was dich an Gutem trifft, ist von Allah, und was dich an Bösem trifft, ist von dir selbst. Und Wir haben dich als Gesandten für die Menschen gesandt. Und Allah genügt als Zeuge“. (Vgl. auch Q 4:62; 16:34.) Diesen stehen zahlreiche andere Verse, die auf eine Vorherbestimmung hindeuten gegenüber, wie etwa Q 76:30: „Und ihr könnt nicht(s) wollen, außer dass Allah (es) will. Gewiss, Allah ist All wissend und All weise.“ oder Q 2:142: „Die Toren unter den Menschen werden sagen: ‚Was hat sie von der Gebetsrichtung, die sie (bisher) einhielten, abgebracht?‘ Sag: Allah gehört der Osten und der Westen. Er leitet, wen Er will, auf einen geraden Weg.“ (Siehe auch Q 2:213;

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3.2. Ethische Ausrichtung im Verhältnis von Pflicht und Verantwortung

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Um genau den von der Offenbarung geleiteten Umgang mit jenen widerspruchsvollen Erscheinungsbildern des menschlichen Lebens und wie sie sich im Lichte der rationalen Betrachtungsweise spekulativer Theologie zeigen, geht es in der islamischen Ethik. Das Verständnis des menschlichen Geistes in seiner Wandelbarkeit bzw. Fehlbarkeit bedarf der Rechtstheorie zufolge einer glaubensorientierten Wahrnehmung der Vorläufigkeit der Lebenserfahrung. 37 Der Übergang von dem Wahrheitsanspruch der rationalen Theologie zur Wahrhaftigkeitssuche der Ethik vollzieht sich in deren gemeinsamen Verhältnis zur Glaubenswirklichkeit in der Welt. Die glaubensbezogene Erkenntnis der Wahrheit in der sogenannten kalām-Wissenschaft bildet den epistemologischen Rahmen für die Begründbarkeit ethischer Verantwortung in einer stets durch das Zusammenwirken von Glaube und Wirklichkeitserfahrung veränderten Lebenswelt. In der islamischen Rechtstheorie wird demnach die Willensfreiheit dem durch Anerschaffenheit und Beauftragung hervorgerufenen Verantwortungsbewusstsein untergeordnet, sodass keine Asymmetrie bei der Wahlfreiheit zwischen Gut und Übel bestehen kann. Dem Sprachgebrauch Kants bzw. Nietzsches zufolge wird dem Menschen im Islam eher ein ihm von Gott eingepflanzter „Hang zum Guten“ zugeschrieben. 38 Als Parallele des Hangs zum Bösen, bei dem dem Menschen eine bewusste Entscheidung für einen bösen Willen unterstellt wird, scheint der von Paul Ricoeur herausgearbeitete Begriff der „Fehlbarkeit“ dem islamischen Freiheitsbegriff der „Güte Gottes“ wesentlich näher, da er auf eine neutrale und auf Zufall basierte Entwicklung zum Bö2:253; 2:272; 2:284; 28:56 etc.) Sowohl Prädestinatianer als auch Verfechter der Willensfreiheit berufen sich auf die Interpretationsvielfalt dieser Koranverse. 37 Das islamisch-rechtstheoretische Vernunftverständnis scheint zwei zeitgenössische philosophische Traditionen innerhalb eines Mischmodells miteinander zu koordinieren. In ihrer weltlichen Vorstellung des „Guten“ weist die islamische Rechtstheorie eine gewisse Affinität zu Wilhelm Diltheys Erkenntnis einer Geschichtlichkeit der Vernunft auf, die sich ebenfalls bei dem arabischen Denker Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī (Vgl. Mohammed Abed al-Jabri: Kritik der arabischen Vernunft, Berlin 1999.) wiederfindet. Die transzendentale Wahrnehmung des Guten, die mit dem Begriff der Glückseligkeit deckungsgleich zu sein scheint, lässt hingegen einen Vergleich mit der sogenannten „reflektierenden Vernunft“ Georg W. F. Hegels zu, nach dessen Definition die Wahrheit des Seienden nicht abgeschlossen und in sich fertig gegeben ist, sondern sich erst in unserem Erkennen und Tun vollendet. (Vgl. Georg W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952; Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973; Thomas Herfurth: Diltheys Schriften zur Ethik: der Aufbau der moralischen Welt als Resultat einer Kritik der introspektiven Vernunft, Würzburg 1992, S. 129ff.) 38 Laut Friedrich Nietzsches Annahme sind alle bösen Handlungen „durch den Antrieb der Erhaltung, oder, genauer durch Absicht auf Lust und Vermeiden der Unlust des Individuums […] motiviert“. Die bösen Handlungen, welche uns am meisten empören beruhen, nach Friedrich Nietzsche „auf dem Irrtum, dass der andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem Belieben gelegen habe, uns dies Schlimme nicht anzutun“. (Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, 3 Bde. München 1954, Band 1, S. 506-507.) Der Unterschied zur islamischen Auffassung liegt hier genau bei den Aporien, die von den Begriffen der Willensfreiheit und Lust hervorgerufen werden.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

sen hindeutet.39 Mit dem Glauben wird durch die göttliche Beauftragung an den Menschen eine der Widersprüchlichkeiten des menschlichen Daseins angemessene Freiheit, aber auch die dazu gehörende Verbindlichkeit hervorgerufen. Nirgends lassen sich die Aspekte dieser neuen Freiheit besser erkennen als in der Doppeldeutigkeit des taklīf-Begriffs. 3.2.3. Ausrichtung auf maṣlaḥa im Horizont des taklīf-Begriffs Abgesehen von der theologischen Unhaltbarkeit jener Definition des taklīf-Begriffs, die darin lediglich ein Synonym des Verpflichtungscharakters in der Rechtsnorm sieht, lässt der rechtstheoretische Ansatz aš-Šāṭibīs durch die von ihm implizierte Verhältnisbestimmung zwischen Werturteil, Verpflichtungscharakter und Anerschaffenheit eine neue Herangehensweise zum deontologischen Gesichtspunkt der šarīʿa zu.40 Bei der Verpflichtung im Sinne von Beauftragung handelt es sich nach aš-Šāṭibī um einen von Gott in Richtung Menschen ausgehenden intentionalen Akt, der einen Verständnisprozess (fiqh) in Gang setzen soll und nicht etwa auf einen bloßen Gehorsam hinausläuft. Aš-Šāṭibī steht so in der guten intentionalistischen Tradition al-Ġazālīs, der den Begriff taklīf als einen Aufforderungsakt41 Gottes versteht, der den Menschen in erster Linie zu einer Reaktion sprachlicher Natur auffordert: „Gott kann darüber entscheiden, den Menschen das aufzuerlegen, was sie ertragen können oder nicht. Die Muʿtaziliten lehnten diese Annahme ab. [Dagegen] beinhaltet die Glaubenslehre der Sunniten die Verpflichtung[bzw. Beauftragung] eine Bedeutung [bzw. Wahrheit] in sich, nämlich, dass es sich dabei um eine ‚Rede‘ handelt, die einen Urheber hat, von dem nichts vorausgesetzt wird, außer dass er ein Sprecher ist. Der Empfänger dieser Rede ist der Verpflichtete, von dem vorausgesetzt wird, dass er die Rede versteht, sodass man im Falle, wenn man unbelebte Materie (ǧamād) oder einen Geistesgestörten (maǧnūn) anspricht, weder von Diskurs noch von Beauftragung reden kann.“42

39 Der Idee der Fehlbarkeit des Menschen im Islam liegt eine berühmte Aussage des Propheten (sas) zugrunde: „Jeder von euch ist fehlbar und die besten aller Fehlbaren sind die Reumütigen.“ (at-Tirmiḏī, Abū ʿĪsā: al-Ǧamiʿ al-kabīr, Beirut, 1996, Bd. 4, S. 273, Hadith-Nr. 2499.) Zum modernen Begriff der Fehlbarkeit bei Paul Ricoeur siehe u.a. Hans-Jörg Ehni: Das moralisch Böse, Freiburg/München 2006, S. 182. 40 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 136. 41 Wie bereits in einer Studie zur Modalität im Koran gezeigt wurde, drückt ein jussiver oder anordnender Sprechakt eine Aufforderung (ṭalab) zum Handeln oder ein Ersuchen um eine Handlungsanweisung aus und unterscheidet sich dadurch von der zweitwichtigsten Kategorie vorschreibender Aussagen, die lediglich eine rednerische verbale Reaktion nach sich zieht. (Vgl. Nekroumi: Interrogation, Polarité et Argumentation, S. 229.) 42 al-Ġazālī: al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād, S. 151f. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 221.

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3.2. Ethische Ausrichtung im Verhältnis von Pflicht und Verantwortung

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In einem entsprechenden Koranvers (Q 33:72) ist der Mensch den ihm von Gott verbal angetragenen „Pakt der Freiheit“ eingegangen, wohlwissend, dass er mittels seines Verstandes über diese Vereinbarung Rechenschaft abzulegen hat. So heißt es: „Wir haben (nach Beendigung des Schöpfungswerks), das Gut (des Heils), das (der Welt) anvertraut werden sollte, (zuerst) dem Himmel, der Erde und den Bergen angetragen. Sie aber weigerten sich, es auf sich zu nehmen, und hatten Angst davor. Doch der Mensch nahm es (ohne Bedenken) auf sich. Er ist ja wirklich frevelhaft und töricht.“ (Q 33:72)43 Der zentrale Aspekt von taklīf ist grundsätzlich in der Intentionalität des Phänomens der „Verkündigung“ zu suchen, in dem sich der Sinn des Glaubens manifestiert. Die Annahme des göttlichen Auftrages durch den Menschen entspricht in diesem Zusammenhang der Anerkennung der mit der Verkündigung verbundenen Verantwortung. Der Dreh- und Angelpunkt von taklīf liegt im Begriffsbereich des „Dienens“ (al-ʿibāda).44 Jedoch lässt sich al-ʿibāda kaum auf die Idee der Unterwerfung einer Rechtsbestimmung reduzieren. Vielmehr handelt es sich dabei um die Übernahme eines bereits durch die von Gott in den Menschen verpflanzte Anerschaffenheit ethischen und anthologischen Verantwortungsbewusstseins. 45 Die Beauftragung versteht sich hier als eine „Grunderfahrung“ des Menschen, die mit der Errichtung einer neuen Lebenswelt und dem Beginn einer „Mission“ verbunden ist. 46 Die „Beauftragung“ läuft nicht auf eine bloße ethische „Verwaltung“ der Sterblichkeit bzw. Endlichkeit hinaus.47 Es geht eher um die Gestaltung des eigenen Lebens eines 43 Diese Übersetzung stammt vom Autor. Eine einfachere, aber wenig erläuternde Übersetzungsvariante ist bei Bubenheim und Elyas zu finden: „Wir haben das anvertraute Gut den Himmeln und der Erde und den Bergen angeboten, aber sie weigerten sich, es zu tragen, sie scheuten sich davor. Der Mensch trug es – gewiss, er ist sehr oft ungerecht und sehr oft töricht.“ 44 Dies lässt sich aus der von aš-Šāṭibī übernommenen Auslegung des Koranverses Q 51:56: „Und Ich habe die Ǧinn und die Menschen nur (dazu) erschaffen, damit sie Mir dienen.“ erschließen. Aš-Šāṭibīs Erklärung zufolge spiegelt dieser Vers das oberste Ziel der göttlichen Rechtsordnung wider. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 14.) 45 Aš-Šāṭibīs Analyse des islamischen „Verpflichtungsbegriffs“ geht im Gegensatz zu Kants kategorischem Imperativ von dem Schöpfungsprinzip aus, nachdem der menschliche Geist als Ebenbild Gottes verstanden wird. Dem aristotelischen Konzept des menschlichen Daseins inhärenten Erfahrungsbezug wird in der islamischen Rechtstheorie eher eine untergeordnete Rolle auf der Ebene der Praxis zugeschrieben. (Vgl. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Berlin 1968, Bd. 4, S. 421) 46 Die besondere Dimension der Beauftragung des Menschen lässt sich am besten im folgenden Koranvers erkennen: „Und als dein Herr zu den Engeln sagte: ‚Ich bin dabei, auf der Erde einen Statthalter einzusetzen‘, da sagten sie: ‚Willst Du auf ihr etwa jemanden einsetzen, der auf ihr Unheil stiftet und Blut vergießt, wo wir Dich doch lobpreisen und Deiner Heiligkeit lobsingen?‘ Er sagte: ‚Ich weiß, was ihr nicht wisst.‘“ Q 2:30. 47 Die Behauptung, der Mensch sei „durch seine Existenz unter die ‚Pflichten‘ der Šarīʿa taklīf gestellt“, drückt ein ziemlich eingeschränktes Verständnis des taklīf aus. (Thomas Amberg: Auf dem Weg zu neuen Prinzipien islamischer Ethik. Muhammad Shahrour und die Suche nach religiöser Erneuerung in Syrien, Würzburg 2009, S. 405.)

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

Gläubigen und um das sich Verstehen im Lichte der koranischen Mitteilung, die den Gläubigen „im Horizont eines Gesamtsinns“ in Richtung eines bestimmten Endes der Geschichte führt. Weil aber alle geschichtliche Erkenntnis nur vorläufige Gültigkeit hat, eröffnet die Offenbarung durch das von ihr suggerierte transzendental antizipierende Denken die Perspektive für ein Ganzheitsverständnis des lebensgeschichtlichen Zusammenhangs menschlichen Daseins.48 In aš-Šāṭibīs Rechtsdenken bilden „fiṭra“ und „taklīf“ kein gegensätzliches Begriffspaar. Die Zielsetzung der šarīʿa als Ausdruck der alles durchdringenden göttlichen Ordnung führt im Verhältnis der Verpflichtung bzw. Beauftragung zum Status der „Anerschaffenheit“: „Wenn Gott ein Geschöpf erschaffen hat, in dem Gut und Böse vermischt sind, dann ist das Gute das, wofür die Schöpfung gedacht wurde […] Und dies entspricht auch der Aussage der Strömung der Muʿtazila, dass das Böse und die Schäden sich ohne Absicht und gegen den Willen Gottes ereignen. Denn Gott ist erhaben über dies.“49 Während der Verpflichtungsdiskurs die Schaffung einer neuen Lebenssituation hervorruft, die neue Perspektiven für den Gläubigen eröffnet, spiegelt die Anerschaffenheit eine gewisse ethische und ontologische Ausrichtung des religiösen Daseins wider. Durch die Beauftragungsbotschaft bringt die Offenbarung ein neues Merkmal in das menschliche Dasein, verbunden mit der Auflage entsprechend darauf zu reagieren. Es ist also allein die Kraft des Gesetzgebers, sprich Gottes, die zu moralischem Handeln verpflichtet. Der maqāṣid-Ansatz trägt somit durch die implizierte Intentionalität der Verkündigung zur methodischen Überwindung der Dichotomie der Anerschaffenheit vs. Verpflichtung wesentlich bei.50 Aš-Šāṭibīs These zufolge korrespondiert die Absicht des Gesetzgebers insofern mit der Anerschaffenheit des Menschen, als sie auf das Ziel moralischen Handelns gemäß den Bestimmungen der šarīʿa hinausläuft, nämlich der maṣlaḥa. Ferner wurde dadurch, dass man die Intentionstheorie am Angelpunkt zwischen Schöpfungs- und Pflichttheorie angesiedelt hat, der intendierte Sinn

48 Die von dem Begriff der Anerschaffenheit ausgehende Überlappung vom „Anfang“ und „Ende“ der Geschichte lässt eine Relektüre der islamischen Ethik zu, die den islamischen Existenzbegriff genau zwischen dem historischen Ansatz Wilhelm Diltheys, der davon ausgeht, dass die Ganzheit des Lebens erst von dessen Ende her erfassbar wäre, und der antizipatorischen These Georg W. F. Hegels, die den Gedanken der Unsterblichkeit des Menschen im Erkennen begründet sieht, verortet. (Vgl. Jean-Claude Wolf: „dass der Mensch durch Erkennen unsterblich ist – Hegels Deutung der Erzählung vom Sündenfall“, S. 58; Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, S. 137f.) 49 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 23. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 222. 50 Die zweite Theorie moralischen Handelns der radikalen taklīf-Anhänger entsprang den beiden Rechtsschulen der Ḥanbaliten und Šāfiʿiten. Sie sehen in der Offenbarung das Ereignis, das die Moral erschuf. Die Herangehensweise der Ḥanbaliten und Šāfiʿiten betont die von außen geschaffene Verbindlichkeit, gemäß moralischer Kenntnis zu handeln. (Vgl. Raysūnī, Aḥmad ar-: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, 210f. )

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3.2. Ethische Ausrichtung im Verhältnis von Pflicht und Verantwortung

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der Verkündigung zu einem natürlichen Übergang zwischen Teleologie und Deontologie gemacht. So spielen die Prädikate „gut“ (maṣlaḥa) und „verpflichtend“ (taklīf), wenn sie auf die Handlung des Menschen angewandt werden, dieselbe Rolle wie der von alĠazālī erwähnte diskursive Satz im Verhältnis zu Diskurspartnern oder wie die von der Rechtstheorie zur Begründung der Rechtsnormen herangezogenen Handlungssätze im Verhältnis zur Stellung der Handelnden. 51 Die Beauftragung setzt wiederum eine permanente und ständig wiederkehrende Verstandesarbeit voraus, da der Mensch aufgrund seiner selbstständigen Vernunft von Gott als Statthalter ausgewählt wurde: Das taklīf-Prinzip steht im gleichen Verhältnis zum als Gesamtheit verstandenen Selbst (nafs), wie die Maßstäbe zur Erlangung der untergeordneten Lebensziele (maqāṣid ǧuzʾiyya) zu deren übergeordneten Ziel, der maṣlaḥa. Durch die im Beauftragungskonzept implizierte ethische Verantwortung erhält das Wort nafs als Einzelbegriff eine einschätzende, wertende Bedeutung, die den Menschen als mukallaf (Beauftragter) qualifiziert. Ein zentraler Aspekt des taklīf-Prinzips stellt das ihm inhärierende Zusammenspiel zwischen Lebensaufgabe des Menschen und seiner Vernunft dar. Der göttliche Auftrag taklīf besteht in der religiösen Lebensführung des Menschen gemäß eines vernunftmäßigen Verständnisses der Offenbarung.52 Der Begriff maṣlaḥa ist fortan beim verstandesmäßigen Überdenken des verantwortlichen Verhaltens unentbehrlich, 53 da er im Verhältnis zwischen Glaubensgehorsam und Glaubenserkenntnis als Nahtstelle fungiert.

51 Indem der Sprecher durch seinen Beitrag im diskursiven Satz sich selbst bezeichnet und der Handelnde durch seine Intervention in das Handlungsgeflecht seine Fähigkeit zeigt etwas zu tun, lassen sich seine Handlungen problemlos in die Kategorien „gut“ und „verpflichtend“ einordnen. Als Urheber einer Handlung trägt der Mensch im Bereich der „Pflicht“ in Gestalt eines von außen aufdrängenden moralischen Zwangs Verantwortung für sein Handeln. Die Zielsetzung seines Verhaltens wird dann Gegenstand von Bewertungen und Schätzungen, welche sich aus dem Blick ergeben, den jeder ethisch Handelnde auf sich selbst wirft. (Vgl. Ricoeur: Soimême comme un autre, S. 209.) 52 Diese Konzeption unterscheidet sich grundlegend von der aristotelischen Ergon-Theorie, die die Aufgabe und Funktion des Menschen in der guten Ausübung einer vernunftgemäßen Tätigkeit sieht. Für Aristoteles ist die Glückseligkeit durch eine gewisse Art der menschlichen Tätigkeit für den Menschen prinzipiell erreichbar und sie erfüllt sein Leben als Ganzes, vorausgesetzt, dass er neben vernunftgemäßer Tätigkeit auch Tüchtigkeit oder Tugend (aretē) besitzt. (Vgl. Jean-Claude Wolf: Das Böse als ethische Kategorie, Wien 2002, S. 42.) 53 Verantwortung besagt in diesem Zusammenhang, sich vor einer Übermacht verantworten zu müssen. Maṣlaḥa als Bewertungskriterium menschlichen Verhaltens impliziert demnach, dass Verantwortung und Schuld ohne Voraussetzung einer gewissen Freiheitsvorstellung nicht denkbar sind. Der Verstand spielt im Beauftragungsprozess eine Schlüsselrolle bei der Festlegung religiöser Grenzen der Freiheit. (Vgl. zum Verhältnis von Freiheit und Verantwortung u.a. Helmut Kussäther: Was ist Gut und Böse?, Neukirchen-Vluyn 1979, S. 13f.)

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

3.3. Im Spannungsfeld zwischen Rationaltheologie und Rechtstheorie 3.3.1. Maṣlaḥa muʿtabara: Glaubensorientierte Urteilsfindung im Verhältnis zur rationalen Güterlehre54 Aš-Šāṭibīs Kritik am rationalen Erklärungsmuster des Werturteils ist eine Fortsetzung der ašʿaritischen Vorarbeit unter den aufgeschlossenen Bedingungen Andalusiens des 7./13. Jahrhunderts, unter denen zumindest in einigen Wissenschaftszentren, wie etwa Granada, ein offenes Bekenntnis zu Mystik und gnostischem Denken keine bedrohlichen Konsequenzen mehr hat. Eine Hauptform der intentionalistischen Auffassung vom Guten ist die so genannte maṣlaḥa muʿtabara. Es handelt sich bei maṣlaḥa muʿtabara um jene Interessen, bei deren Erlangung keine schädlichen Folgen oder üblen Nebenwirkungen zu erkennen sind. Offenbar geht es dabei um Interessen, die gleichermaßen von den rationalen und textuellen Rechtsquellen im Konsens als solche anerkannt werden, wie der Schutz des Glaubens, des Lebens oder des Intellekts. 55 Es leuchtet auf Anhieb ein, dass aš-Šāṭibī in dieser Frage auf die Tradition von al-Ġazālī baut, der sowohl maṣlaḥa muʿtabara als auch mafsada muʿtabara auf Handlungen beschränkt, die aus dem Bereich der fünf notwendigen ethischen Maximen der ḍarūriyāt und ihren im Koran und Sunna belegbaren Textbezügen entspringen. 56 Dabei bleibt bei aš-Šāṭibī die Rolle der Offenbarung in der ethischen Urteilsfindung maßgebend, sodass er den Begriff maṣlaḥa muʿtabara von der muʿtazilitischen 54 Die Inferenzmethode aš-Šāṭibīs zur Aufschlüsselung rechtlicher Werturteile wird hier u.a. in Anlehnung an Heinz E. Tödt (1988) und Norman Daniels (1996) „ethische Urteilsfindung“ genannt. Die Reflexion zur sozialkonventionellen Wertvorstellung wird hier gemäß dem von ašŠāṭibī verwendeten Begriff ʿurf sittliche Urteilsbildung genannt. Durch den von aš-Šāṭibī im Prozess der Rechtsfindung verwendeten, Intentionsbegriff werden grundliegende analytische Verfahrensschritte wie etwa die Untersuchung der Verhältnisbestimmung zwischen Rechtsnormen und Verhaltensoptionen oder die Prüfung der Kohärenz zwischen Rechtsprinzipien und Verhaltensregeln erkennbar, die in der modernen Ethikforschung, wenn auch in anderer Form, durchaus gängig sind. (Vgl. Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 13-21; Norman Daniels: Justice and Justification. Reflective Equilibrium in Theory and Practice, Cambridge 1996.) 55 Aḥmad ar-Raysūnīs Analyse zufolge handelt es sich bei maṣlaḥa muʿtabara um Interessen, deren negative Nebenwirkungen aus geringfügiger Bedeutung für die menschlichen Handlungen vernachlässigt worden sind, sodass diese keinerlei rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. (Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, S. 65.) Im Grunde umfasst aber diese Kategorie bei aš-Šāṭibī überwiegend Handlungen, deren Werturteil ausdrücklich von der Offenbarung festgelegt wurde, wie etwa die rituellen oder gottesdienstlichen Handlungen (Gebet, Fasten, Pilgerfahrt etc). 56 Al-Ġazālī formulierte bereits im 5./11. Jh. die allgemeine Regel zur Definition von maṣlaḥa als Gegenpol zu mafsada, indem er die Meinung vertrat, dass jede Handlung, die den erhalt der fünf Notwendigkeiten gewährleistet, zweifellos maṣlaḥa sei, und umgekehrt, jede Handlung, die den Erhalt der selben Notwendigkeiten gefährdet, mafsada sei. (Vgl. al-Ġazālī: al-Mustaṣfā, Bd. 1, S. 287.) Genau diesen Weg schlägt aš-Šāṭibī in seiner Definition der Kategorien der maṣlaḥa und mafsada ein, die er allerdings in diesem Zusammenhang als absolut (muṭlaq) bezeichnet.

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3.3. Im Spannungsfeld zwischen Rationaltheologie und Rechtstheorie

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apriorischen Vernunftauffassung des Guten abgrenzt, die von Gut und Böse als abstrakte Kategorien mit eigenständiger Existenz ausgeht.57 „Das, was in der Kalāmwissenschaft und in der Rechtsmethodik deutlich gemacht wurde, ist, dass der Verstand weder das Gute noch das Schlechte erkennen kann.“58 Der Einwand aš-Šāṭibīs gilt allerdings nicht der Vernunft im Allgemeinen, sondern dem muʿtazilitischen Apriorismus, bei dem die Zeitlichkeit und Vielgestaltigkeit der menschlichen Vernunft zu Gunsten ihres vermeintlich absoluten und von der Lebenswirklichkeit unabhängigen Charakters vollkommen ausgeblendet wird. 59 Am deutlichsten findet man die apriorische Haltung bei dem Muʿtaziliten Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī (gest. 436/1044), der an die Existenz einer eigenständigen Entität des Guten glaubte. Er gebrauchte den Begriff maṣlaḥa und seinen Plural maṣāliḥ sowohl in seinem allgemeinen Sinne (als der Schöpfung vorgeordnete ethische Kategorie), als auch in seiner methodisch-rechtlichen Bedeutung im Rahmen der Theorie der vier Rechtsquellen. Glaubt man Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī, so kann maṣlaḥa als juristischer Begriff nur als Synonym des „rechtlich Guten“ verstanden werden. In seiner Pluralform maṣāliḥ bezieht sich dieser Terminus jedoch auf bestimmte Kontexte und Situationen, die aufgrund in deren Rahmen stattgefundenen Konstellationen unterschiedlicher Handlungsarten das Gute hervorrufen. 60 Dabei steht bei ihm der Bezug von maṣlaḥa als abstrakte Entität einerseits zum Begriff istiṣlāḥ, den er als rationale Begründung einer Handlung definiert, und andererseits zu ʿilla im Mittelpunkt der Diskussion. Als Muʿtazilit argumentiert Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī gegen die Anhänger der Überlieferung (naql), die behaupten, maṣlaḥa könne nicht begründet bzw. rational 57 Die Haltung aš-Šāṭibīs erinnert an die Vernunftskepsis David Humes, für den die Vernunft nur ein Instrument der wesentlich affektiv bestimmten Tugend ist. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 37 sowie Ludwig Siep: Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt a.M. 2004, S. 344.) 58 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 61. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 222. 59 Inspiriert von der muʿtazilitischen Auffassung einer realen Existenz von Gut und Böse vertrat Naǧm ad-Dīn aṭ-Ṭūfī (gest. 716/1316) eine in den Augen der šāfiʿitischen Gelehrten extreme Position insofern, als er den bedingungslosen (voraussetzungslosen) Einsatz des maṣlaḥa-Prinzips selbst bis hin zum Übergehen bzw. Ignorieren des Textes vertrat (Yūsuf al-Qaraḍāwī: Dirāsa fī fiqh maqāṣid aš-šarīʿa, 4 Aufl.. Kairo 2012, S. 109-111, vgl. Naǧm ad-Dīn aṭ-Ṭūfī (gest. 716/1316): at-Taʿyīn fī šarḥ al-arbaʿīn, Beirut/Mekka o.J., S. 246.) 60 Diese Bedeutungsverschiebung zwischen Singular- und Pluralform des maṣlaḥa-Begriffs findet man ebenso bei aš-Šāṭibī. Anders als bei Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī wird allerdings der Singularform von maṣlaḥa in aš-Šāṭibīs Rechtsdenken die praxisbezogene Funktion einer ethischen Ausrichtung zugeschrieben, dessen Wesen von dem Vollzugszusammenhang des Lebens abhängt. Maṣlaḥa gleicht in aš-Šāṭibīs Gedankengang einer theoretischen Reflexion über moralisch-sittliche Urteilsbildung. So wird in den verschiedenen Abhandlungen zu maṣlaḥa im alMuwāfaqāt bewusst auf den Gebrauch abstrakter und von der Rationaltheologie beliebter Urteilskategorien, wie etwa ḫayr (höchstes Gut) und šarr (radikales Böse) verzichtet, wie hier weiter unten detailliert ausgeführt wird.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

erfasst (d.h. rational definiert) werden. Das rechtlich Gute (al-maṣāliḥ aš-šarʿiyya) resultiere aus solchen Handlungen, für die Verpflichtung bestehe. 61 Allerdings unterlässt er eine Aufzählung von maṣāliḥ und gibt auch keine Erläuterung zum Zusammenhang zwischen al-maṣāliḥ aš-šarʿiyya und dem abstrakten Begriff maṣlaḥa als allgemeine ethische Kategorie. In der Diskussion um „Gut“ und „Böse“ bleibt aš-Šāṭibī der induktiven ašʿaritischen Methode treu, die dem Schriftbeweis (an-naql) Vorrang vor der rationalen Argumentation (al-ʿaql) gibt. Trotzdem arbeitete er in seiner Rechtsphilosophie mittels ihrer Abgrenzung von der Rationaltheologie einen eigenständigen Vernunftbegriff heraus, der in hohem Maße zum Verständnis grundlegender Züge rechtstheoretischer Urteilsbildung beiträgt. Denn laut aš-Šāṭibīs Annahme denkt die Offenbarung der Vernunft voraus, doch die Offenbarungsbotschaft wird erst im Rückblick der Vernunft angemessen verstanden: „Wenn die Überlieferung [der Quellentexte] und der Verstand in den Fragen der šarīʿa ergänzend wirken sollen, so wäre dies unter der Bedingung annehmbar, dass die Überlieferung dem Verstand vorausgeht, und der Verstand der Überlieferung nachfolgt. Der Verstand kann sich nur so viel Raum im theoretischen Rahmen herausnehmen, wie ihm die Überlieferung erlaubt. Wenn es dem Verstand erlaubt gewesen wäre, über die Überlieferung hinaus zu wirken, hätte die Grenze, die die Überlieferung bestimmt, keinen Sinn.“ 62 In einer modernen Ausdruckweise ist die apriorische Vernunft nach aš-Šāṭibīs Schlussfolgerung deswegen nicht fähig, alleine das Gute vom Verwerflichen konsequent zu unterscheiden, weil sie „nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem [eigenen] Entwurf hervorbringt“.63 In Anbetracht seiner außerordentlich innovativen Idee des höchsten Guts (almaṣlaḥa al-muʿtabara) als Ausrichtung allen intentionalen Handelns werden die Einwände aš-Šāṭibīs gegen jegliche rational-ontologische Überführung der Frage nach dem „Guten“ in die Sphäre des Objektiven verständlich.64 Gleichwohl scheint 61 Davon unterscheidet er die Mittel, die den Vollzug der aufgetragenen Handlungen ermöglichen. Diese haben alle einen Bezug zu maṣlaḥa. Diese Mittel sind: 1) dalīl (wörtl. Beweis): textbezogene Evidenz hinsichtlich einer Ablehnung oder Akzeptanz einer Handlung; 2) amāra (wörtl. Merkmal, Anzeichen): ein adäquates Zeichen für eine bestimmte Eigenschaft; 3) ʿilla (wörtl. Grund, ratio legis): begründet einen Analogieschluss und taugt daher als Basis für die Definition von maslaha; 4) sabab (wörtl. Grund, Mittel): Ursache einer Handlung und zuletzt 5) šarṭ (wörtl. Bedingung): Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, um die Durchführung einer Handlung zu gewährleisten. Insgesamt ist maṣlaḥa für al-Baṣrī ein Ziel, für das ʿilla und die übrigen o.g. Begriffe Mittel darstellen. (Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 240f.) 62 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 61 (für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 222). Diese Aussage erinnert sehr an den kantischen Begriff der „Neuen Freiheit“, auf den in den folgenden Ausführungen ausführlicher eingegangen wird. 63 Vgl. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt a.M. 1974, Bd. 2, S. 23. 64 Die Intentionen der Einzelnen sollen im Endergebnis auf die Zielsetzung göttlicher Rechtsordnung (šarīʿa) hinauslaufen, sodass die Glückseligkeit im Dies- und im Jenseits gewährleistet

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3.3. Im Spannungsfeld zwischen Rationaltheologie und Rechtstheorie

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seine intentionalistische Auffassung des höchsten Guts kaum mit der kantischen Subjektivierung der Urteilskraft vereinbar.65 Die Ablösung der muʿtazilitischen ontologisch-objektivierenden Bestimmung des Guten in der Rechtstheorie bedeutete jedoch nicht notwendig die Verabschiedung des Verhältnisses zwischen Vernunft und Offenbarung, sondern setzte es in Form einer anderen Hierarchie fort: „Das, was in der Kalāmwissenschaft und in der Rechtsmethodik deutlich gemacht wurde, ist, dass der Verstand weder das Gute noch das Schlechte erkennen kann. Und wenn wir dem Verstand gegenüber der Überlieferung eine übergeordnete Rolle zuschreiben würden, dann hätten ihm von der Religion keine Grenzen gesetzt werden können.“66 Aus der Perspektive von aš-Šāṭibīs Verständnis der Vernunft als Instrument zur Erkenntnis religiöser Wahrheiten kann die Frage nach der Vernünftigkeit des Guten als Handlungsintention (qaṣd) als Frage nach der handlungstheoretischen Begründung göttlicher Rechtsnormen ausgelegt werden. Dies gilt als Basis der Verhältnisbestimmung zwischen Vernunft, Offenbarung und sittlicher Urteilsbildung: „Und wenn die normativen Quellen der šarīʿa auf die [ethischen] Universalmaximen und die handlungsspezifischen Regeln angewendet werden, so wie es von der soeben genannten Gegenposition erläutert wurde, könnte man überhaupt nicht auf ein zweifelloses Urteil schließen, außer wenn man die Vernunft miteinbeziehen würde, wohingegen die Vernunft der Religion untergeordnet ist. Denn diese Anordnung ist für die Aufstellung der fundamentalen normativen Quellen unentbehrlich. Die [muslimische] Gemeinschaft, ja sogar alle Konfessionen, einigten sich darauf, dass das Aufstellen des Rechts der Erhaltung der fünf notwendigen ethischen Maxime dient. Und diese sind: Schutz der Religion [bzw. des Glaubens], der Seele [bzw. des Selbst], der Fortpflanzung bzw. der Familie, des Besitzes und der intellektuellen Fähigkeit.“67 Die Zielsetzungen der šarīʿa lassen sich nicht nur theologisch durch die Idee der Ausrichtung des Menschen auf maṣlaḥa begründen, vielmehr sind sie gleichermaßen aus der Erkenntnis der Gemeinschaft des sittlich Guten erschließbar:

werden kann (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 20) 65 Es zeichnet sich bei aš-Šāṭibīs Verständnis des Guten eher eine Annäherung zum Standpunkt moderner theologischer Ethikkonzepte ab. In diesem Zusammenhang erweist sich ein Vergleich von aš-Šāṭibīs Gedankengang zu Werturteilen mit Otfried Höffes Definition des Guten als „ein Relationsbegriff, indem die wertende Einstellung eines Subjekts [zum] Seienden zum Ausdruck kommt“, trotz der Zeitspanne zwischen den beiden Denkern, als angebracht. (Otfried Höffe: „Das Gute“ in: Otfried Höffe: Lexikon der Ethik, München 2002, S. 110f.) 66 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 61. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 222. 67 Ebd., Bd. 1, S. 25f. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 222.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

„Die Gemeinschaft erkennt [die Zielsetzungen der šarīʿa] als notwendig an, obwohl diese weder in einer konkreten normativen Quellen festgelegt worden sind, noch konnten wir [in den Textquellen] eine Rechtsgrundlage finden, auf die sie speziell zurückgeführt werden können. Vielmehr wurde die Vereinbarkeit dieser Grundlagen mit der šarīʿa durch eine Mehrzahl der normativen Quellen festgestellt, die man nicht in einer Kategorie zusammenfassen kann.“68 Die sich bei aš-Šāṭibī aus der Distinktion zwischen weltlichem und eschatologischem Gut ergebende, begriffliche Vielfalt des Werturteils hat insofern keine Relevanz für die Diskussion um das höchste Gut, 69 als dass den Begriffen des höchsten Guts (al-maṣlaḥa al-muʿtabara) bzw. des radikalen Übels (al-mafsada almuʿtabara) lediglich ein rein rechtlich-theoretischer Gültigkeitsanspruch zugeschrieben wird: „Im Endergebnis sind die durch die šarīʿa anerkannten Nutzen und Schäden rein und auf keinen Fall vermischt, weder im Großen noch im Kleinen. Und selbst, wenn man getäuscht worden wäre, dass sie vermischt worden seien, so sind sie es aus der theologisch-rechtlichen Perspektive nicht. Denn mit dem untergeordneten Nutzen oder dem untergeordneten Schaden wird das gemeint, was gemäß der Gewohnheit durch Aneignung geschieht. Dieses erfolgt ohne zusätzliche Beeinflussung, die die Einmischung des Gesetzgebers voraussetzt. Und von diesem Maß behauptet man, dass es sich nicht um das Ziel des Gesetzgebers bei der Aufstellung der Rechtsnormen handelt. Die normative Quelle dafür sind zweierlei Dinge: Einerseits, wenn der untergeordnete Aspekt das Ziel des Gesetzgebers, also ich meine damit vom Gesetzgeber anerkannt wäre, wäre der Vollzug einer Handlung weder absolut geboten noch absolut verboten. Sondern sie wäre geboten hinsichtlich des Nutzens, der in ihr steckt und verboten hinsichtlich des Schadens, den sie beinhaltet. Wobei bereits bekannt ist, dass dies nicht kategorisch der Fall ist.“ 70 Im Hinblick auf die Definition des weltlich Guten verknüpft aš-Šāṭibī seine Idee von der šarīʿa als Bestimmungsinstanz von „gut“ und „böse“ mit einem anderen Gedanken, der in der šāfiʿitischen Schule ebenfalls Anhänger besessen hatte. Mit gut und verwerflich meint man lediglich Pseudokategorien, die keinesfalls tatsächlich dem 68 Ebd., Bd. 1, S. 25f. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 223. 69 Das bei den Theologen verbreitete Begriffspaar ḫayr vs. šarr (Gut vs. Böse) benutzt aš-Šāṭibī ausschließlich, wenn er sich mit rational-theologischen Thesen befasst. Ansonsten verwendet er zuweilen die altbekannte Dichotomie der Juristen maṣāliḥ vs. mafāsid (Interessen vs. Verderben) und mal die wenig bei den Rechtsgelehrten verbreitete Dualität manāfiʿ vs. maḍārr (Nutzen vs. Schaden). (Vgl. Ibn Qudāma al-Ḥanbalī (gest. 620/1223): Rawḍat an-nāẓir wa-ǧunnat al-munāẓir, 1. Bd., Kairo o.J., Bd.1, S. 312.) Die letztere Dichotomie kommt bei ihm jedoch häufig in Verbindung mit handlungstheoretischen Abhandlungen zur Analyse sittlicher Urteilsbildung vor. 70 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 21. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 223.

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3.3. Im Spannungsfeld zwischen Rationaltheologie und Rechtstheorie

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Guten und dem Verwerflichen entsprechen.71 Aš-Šāṭibīs Gedankengang hinsichtlich ethischer Werturteile wirkt allerdings theoretisch präziser und methodisch ausgereifter. Aus ethisch-theoretischem Blickwinkel kann nach aš-Šāṭibīs Analyse das apriorische Vermögen der Vernunft nicht aus sich heraus das „Wohlergehen“ erkennen, das als allgemein für jeden Gläubigen in jeder Situation, sowie auch im Diesund im Jenseits gelten könnte.72 „Nutzen und Schaden sind im Allgemeinen [Handlungs-] Begleiterscheinungen. Und dass sie Begleiterscheinungen sind, bedeutet, dass sie je nach Kontext, Person oder Zeit ihres Eintretens schädlich oder nicht schädlich sein können [...]. Viele der Nutzen können sich für andere als Schaden erweisen. Und dies alles ist dadurch zu erklären, dass der Nutzen und Schaden für die Errichtung dieses Lebens rechtens oder verboten sind und nicht dazu da sind, körperliche Bedürfnisse zu erlangen.“73 Hier klingt deutlich die Vorstellung einer Lebenswelt nach dem Begriff der Vorläufigkeit an, in der die Fehlbarkeit die anerschaffene gute Natur des Menschen ins Gegenteil verkehrt. Das Gute wird nicht von sich aus oder auf der Grundlage rationaler Kriterien konzipiert, die dem Werturteil die Eigenschaft eines Prädikats des Seienden verleihen, sondern vor allem nach einem binären relational (vertikal zwischen Gott und Mensch sowie horizontal zwischen Mensch und Mensch) aufgestellten Prozess. So überwindet die Vernunftauffassung von aš-Šāṭibīs Rechtsphilosophie durch ihre glaubende Erkenntnis von Wahrheit und Wirklichkeit gleichermaßen die Aporien prädestinatianischer „Zeitlichkeit“ und muʿtazilitischen „Apriorismus“ des Verstandesbegriffs. 74 Für den abwägungsorientierten Vernunftbegriff 71 Mit ḥaqīqa verweist aš-Šāṭibī auf den oben diskutierten Wahrheitsbegriff der Philosophen und Rationaltheologen, der der Idee der Objektivität des Guten zugrunde liegt. In der Diskussion um die sittliche Urteilsfindung geht die Rechsttheorie bei der Unterscheidung von Gut und Böse lediglich von einem handlungstheoretischen Standpunkt aus, bei dem jegliches Urteil ein Produkt kontext- und situationsabhängiger Abwägung ist. (Vgl. u.a. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 240.) 72 Die Analyse aš-Šāṭibīs stellt somit eine Verfeinerung der Position ar-Rāzīs dar, die davon ausgeht, dass das „Gutsein“ als Eigenschaft, die der menschlichen Natur angemessen ist oder auch mit dessen Streben nach Verbesserung zusammenhängt, in den Ausprägungen „gut“ und „schlecht“ zweifellos mit dem Verstand erfasst werden könnten. Bis hierhin nimmt ar-Rāzī eine Position ein, die derjenigen der Muʿtaziliten nahekommt. Doch grenzt er sein Konzept von maṣlaḥa auch gegen diese Richtung ab, indem er sagt, dass „gut“ und „schlecht“ als allgemeine moralische Kategorien, die „sittlich“ zu Lob oder Tadel führen, nur durch aš-šarʿ etabliert werden können. (Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 237ff.) 73 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 30. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 223. 74 Die hier angenommene dreiteilige Vernunftsdefinition entspringt einem modernen Verständnis des Verstandsbegriffs al-Ġazālīs. Er unterschied in seiner mystischen Phase drei Erkenntniswege: Erkenntnis des Geistes (dient dem Verständnis von Inhalt und Gesetz der Offenbarung gemäß des vernunftmäßigen Erfassens weltlicher Wahrheit), Erkenntnis der Seele (ihr Gegenstand ist das Wissen um praktische Ausübung religiöser Tugenden und der Umgang mit „Willensneigungen“) und Erkenntnis des Herzens (ein glaubensorientiertes Wissen, das dank der mystischen Enthüllung zur wahren Erkenntnis Gottes führt). (Vgl. al-Ġazālī: al-Iqtiṣād fī l-

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

aš-Šāṭibīs ist die Überwindung des Bösen ohne das Einschreiten von Gott in die Lebenswelt kaum denkbar, da es sich im sozialen Verhaltensgeflecht nicht unbedingt um Entscheidungen zwischen Gut und Böse handelt, sondern um die Erkenntnis, dass jede Verhaltensweise gute wie böse Folgen miteinschließt, die dem Handelnden eine gewisse Wahrnehmung von Verantwortung über das eigene mögliche Fehlverhalten abverlangt.75 Die Überführung der Frage nach dem Werturteil in die Sphäre der Intention des Gesetzgebers scheint insofern berechtigt, als der Gläubige von den ambivalenten Lebenslagen, in denen er sich immer wieder befindet, moralisch herausgefordert wird und der Hilfe eines Wegweisers bedarf. Auf der Ebene der Rechtsnormen rechtfertigt die Überlagerung der Eigenschaften des „Pseudoguten“ mit denen des „Pseudoverwerflichen“ den einiger Bestimmungen der šarīʿa scheinbar inhärenten Widerspruch, dass eine Handlung gleichzeitig verboten und geboten werden kann. 76 Trotz seiner Ablehnung der muʿtazilitischen und maturidischen Haltung, die darin bestand, dem Guten und dem iʿtiqād, S. 47f.; Abū Rīdah: Al-Ġazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie, S. 87-92.) Die Kategorisierung der Kenntnisse bei al-Ġazālī in apriorische (innere Gegebenheiten des Bewusstseins), sinnliche (Verallgemeinerungen aufgrund der Beobachtung von Naturphänomenen) und vermittelte (die einem durch wahrhafte Menschen vermittelt werden) scheint mit der Klassifizierung der Vernunftsebenen des modernen Theologen Wolfhart Pannenbergs vergleichbar, wenn auch nicht deckungsgleich zu sein. Wolfhart Pannenberg (1967) arbeitete drei typische Formen der Vernunft heraus: nämlich erstens die apriorische Vernunft, die der Metaphysik Kants und Aristoteles zugeschrieben wurde; zweitens die vernehmende Vernunft, die u.a. als Instrument zur Erkenntnis religiöser Wahrheiten dient und bei der der Bezug zur Sinneswahrnehmung als die entscheidende Kontrolle für wahre Urteile betont wird; und drittens die historische zeitlich gebundene Vernunft Diltheys, die den vorläufigen Charakter geschichtlicher Erfahrung hervorhebt. (Vgl. Wolfhart Pannenberg: Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen S. 244f.) Wolfgang Greive weist allerdings darauf hin, dass Wolfhart Pannenberg in seinen späten Arbeiten fünf Typen der Vernunft nennt. Ausgangspunkt dieser Unterteilung ist laut Greive die vernehmende Vernunft, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit in Philosophie und Theologie lange Zeit (auch bei al-Ġazālī [meine eigene Bemerkung]) bestimmt hat. (Vgl. Wolfgang Greive: „Theologie der Vernunft: Wolfhart Pannenbergs Vorlesung ‚Theologie der Vernunft‘, in: Kerygma und Dogma, Jg. 58/2 (2012), S. 97-177, hier: S. 103.) 75 Aš-Šāṭibī verewigt hier ein traditionelles Postulat, das bereits von seinem geistigen Lehrer alQarāfī informell angerissen wurde (Vgl. Šihāb ad-Dīn al-Qarāfī: Šarḥ tanqīḥ al-fuṣūl fī iḫtiṣār al-maḥṣūl fī l-uṣūl, S. 78.), indem er bezüglich der Verstrickung von Gut und Böse folgendes erklärt: „Genauso wie jedes Gut (irgend)einen Schaden enthält, selbst wenn dieser unwahrscheinlich erscheint, kann ein Schaden auch gute Folgen haben, auch wenn diese nicht immer [rational] erschließbar sind.“ (Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 26-39.) Zum Gutsein gehört daher auch: „[…] als Vorhalt des Mögens über die Vergangenheit ständige Reue und bedingungslose Vergebung“. (Helmut Kussäther: Was ist Gut und Böse?, S. 71.) 76 Hier wird häufig auf die Rechtsnorm des Alkoholverbots verwiesen, der zufolge Alkoholgenuss als Verstoß angesehen wird, jedoch die Einnahme alkoholhaltiger Medikamente erlaubt wird. Aš-Šāṭibī stellt die Frage der Vernunftsmäßigkeit dieses Rechtsverbotes wie folgt: „Wie sonst [außer durch die vernunftunabhängigen Kriterien der šarīʿa] hätte man denn das Erlauben des Alkoholkonsums begründet, wenn die Vernunft zwei gegensätzliche Wirkungsformen dieser Substanz erkennt: eine ermunternde und von Sorgen befreiende, auf der einen Seite, und eine Geist und Seele trübende Wirkung, auf der anderen.“ (Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 32.)

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3.3. Im Spannungsfeld zwischen Rationaltheologie und Rechtstheorie

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Verwerflichen eine eigenständige Existenz außerhalb der šarīʿa anzuerkennen, stürzte sich aš-Šāṭibī nicht voll und ganz in die entgegengesetzte Richtung der Ašʿariten. Im Allgemeinen steht er aber in der guten Tradition einer praktischen Philosophie, deren Anhänger immer wieder versucht haben, sich von den beiden altbekannten Polen der Rationaltheologie zu distanzieren. Indem er die Auffassung einiger Muʿtaziliten über die Existenz von Gut und Böse als eigenständige Geschöpfe Gottes zurückweist, eröffnet aš-Šāṭibī durch die Einführung eines juristischsittlichen Werturteils die Perspektive, das Böse ebenso wie das Gute als etwas zu verstehen, dessen Ort und dessen Quelle im menschlichen Handeln selbst liegt. 77 Einer Abspaltung des Glaubens vom Denken entgegenwirkend setzt sich ašŠāṭibī im Rahmen seiner Abhandlung zum Begriff maṣlaḥa mit den ašʿaritischen Kategorien von taḥsīn (Urteil nach dem Prinzip des Guten) und taqbīḥ (Urteil nach dem Prinzip des Verwerflichen) auseinander. Das gesamttheoretische Gerüst von ašŠāṭibīs Intentionsansatz basiert auf einer bestimmten Relationsvorstellung von maṣāliḥ vs. mafāsid (Interesse vs. Schaden), die der ašʿaritischen Kategorie der „Situationsangemessenheit“ entspringt. 78 3.3.2. Maṣlaḥa im Kontext abwägender Vernunft gemäß situationsabhängiger Urteilsfindung In Anlehnung an al-Ǧuwaynī79 unterscheidet aš-Šāṭibī hinsichtlich des Geltungsbereiches sittlicher Werturteile kategorisch zwischen dem der apriorischen Vernunft zugeordneten philosophischen Standpunkt und dem sozialorientierten juristischtheologischen Paradigma. Damit wurde das anthropologisch-soziale Fundament islamischer Ethik hervorgehoben, sodass die Frage nach einem reflektierten Umgang mit dem Spannungsverhältnis von göttlichen Rechtsbestimmungen und der immanenten Güte der Praxis in den Mittelpunkt ethischer Überlegung rückte. Daraus resultiert die Erkenntnis, Werturteile im Sinne einer Situationsangemessenheit von Rechtsnormen festzulegen:

77 Für eine strenge Unterscheidung zwischen theologischer und juristischer Argumentation plädierte auch der geistige Vater des praktischen Rationalismus al-Ǧuwaynī: „Es ist unbestritten, dass die Vernunft das Vermeiden des Unheils und das Streben nach den möglichen Nutzen voraussetzt. Die Ablehnung dessen ist jenseits jeglicher Vernunft, weil dies eigentlich das Recht des Menschen ist. Der Dreh- und Angelpunkt unseres Anliegens ist das, was gut oder schlecht hinsichtlich des Rechts Gottes ist.“ (al-Ǧuwaynī: al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, Bd. 1, S. 91.) 78 Eines der repräsentativsten und gleichermaßen meist diskutierten Werke über die ašʿaritische Auffassung der maṣlaḥa stellt zweifellos das von Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī verfasste Buch al-Maḥṣūl fī ʿilm al-uṣūl dar. (Ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2.) 79 Dem Begriff Zweckrationalismus bei Tilman Nagel liegt die auf Herbert Spencer zurückgehende Güterauffassung zugrunde, die den Begriff „gut“ als wesensgleich mit dem Begriff „zweckmäßig“ ansetzt. (Vgl. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart 1991, S. 253.) Die theologisch und transzendental begründete Güterlehre al-Ǧuwaynīs als Zweckrationalismus zu bezeichnen, scheint daher einem gewissen Reduktionismus zu entspringen. (Vgl. Nagel: Die Festung des Glaubens, 195ff.)

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

„Wenn die Nutzen und Schäden also hinsichtlich des kontext-, personen- und handlungsumfeldabhängigen Rechtsdiskurses zu beurteilen sind, sodass der vermeintliche Nutzen in bestimmten Zeiten und Umständen und je nach Person erlaubt und nicht erlaubt ist, wenn diese Umstände fehlen. So stellt sich die Frage, wie die Behauptung haltbar sein könne, dass die Grundlage des Erlaubten der Nutzen und die Grundlage des Verbotenen das Schädliche ist.“80 Die kurzen Ausführungen aš-Šāṭibīs zur Rolle der Situationsangemessenheit bei der ethischen Urteilsbildung konnten bereits zeigen, dass es einen breiten Bezug des sittlich Guten zur individuellen Handlungskonstellation gibt. Aus diesem Grund stellt aš-Šāṭibī die bedingungslose Verknüpfung der Rechtsanwendung an rational erschlossene Werturteile in Frage. Streng angewendete Rechtsnormen, deren Geltungsbereich über die Handlungszusammenhänge hinweggesetzt wird, können zur Gefährdung des höchsten Guts göttlicher Gesetzgebung, nämlich der Gerechtigkeit führen. Aš-Šāṭibī weist damit ausdrücklich auf die Bedeutung von Milde (yusr/līn) und Sanftmut (raḥma/luṭf) als Bestandteile göttlicher Intention bei der Rechtsanwendung hin und unterscheidet so zwischen strengen und intentionsgemäßen Rechtssatzungen, die auf die besonderen Umstände individueller Handlungen Rücksicht nehmen, wie Gott in Q 20:2 gegenüber seinem Propheten verkündet: „Wir haben den Qur'an nicht auf dich [als Offenbarung] hinabgesandt, damit du unglücklich bist [bzw. damit du Leid und Mühe erfährst]“.81 Für die ethische Urteilsfindung sind nach aš-Šāṭibīs Auffassung die Macht der Sitte, die Heilige Schrift und die Intention seines Urhebers ausschlaggebend. Gutes und Verwerfliches lassen sich so nur durch textinterpretative Erkundung der Intention des Gesetzgebers unter Berücksichtigung sittlichen Werturteils erkennen, die mit Hilfe von Umfeldfaktoren den normativen Wert einer Handlung maßgebend mitbestimmen. Also muss bei der Urteilsbildung erkenntnistheoretisch eine umfassendere Kontextstruktur angenommen werden, ohne dabei einem rationalistischen Pragmatismus anzuhängen. Im antizipierenden Prozess der Handlungsintention, sich auf ein Gutes hin zu orientieren, vollzieht sich eine permanente Überschreitung des Gegebenen, die der Vernunft jegliches Wahrnehmungsvermögen zum Ziel menschlicher Handlungsabsichten entzieht. Diese Erkenntnis öffnet die Perspektive für eine vernunftgemäße Anerkennung der Offenbarung als glaubensorientiertes Bestimmungsprinzip ethischer Werturteile: 80 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 31f. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 223. 81 Hierzu kann man zahlreiche Koranverse zitieren, auf die bereits in einem anderen Zusammenhang hingewiesen wurde, wie z.B. Q 21:107: „Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner gesandt.“; oder Q 3:159: „Durch Erbarmen von Allah bist du mild zu ihnen gewesen; wärst du aber schroff und hartherzig, so würden sie wahrlich rings um dich auseinandergelaufen. So verzeihe ihnen, bitte für sie um Vergebung und ziehe sie in den Angelegenheiten zu Rate. Und wenn du dich entschlossen hast, dann verlasse dich auf Allah! Gewiß, Allah liebt die sich (auf Ihn) Verlassenden.“

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3.3. Im Spannungsfeld zwischen Rationaltheologie und Rechtstheorie

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„Die Interessen [bzw. Güter], die im irdischen Leben sichergestellt sind, werden aus zwei Perspektiven betrachtet: Zum einen aus der Perspektive des Umfelds ihres Vorhandenseins, zum anderen aus der Perspektive ihres Zusammenhanges mit dem rechtlichen Diskurs.“82 Der Begriff „irdisches“ bzw. „sittliches“ Gut ist aš-Šāṭibīs Ansatz zufolge, zwar mit dem Denkinhalt „nützlich“ (nāfiʿ) im Sinne dessen wesensgleich, was sich konventionell von jeher als „zweckmäßig“ bewährt hat, allerdings darf es damit nicht als „wertvoll im höchsten Grade“ seine Geltung behaupten.83 Als letzter Gegenstand intentionalen Handelns ist das diesseitige Gut aufgrund der Unberechenbarkeit möglicher Handlungsfolgen im Vorfeld prinzipiell nicht erkennbar. Deshalb geht aš-Šāṭibī in seiner Abhandlung zum erkenntnistheoretischen Status weltlicher Werturteile zur Abwägung aus dem Rahmen allgemeiner Wertediskussionen in konkrete Handlungssituationen über.84 Das Erfassen des ethischen Urteils in den außerhalb des Bereiches guter Absichten liegenden realen Handlungssituationen stößt auf Grenzen der Vorhersehbarkeit. Deshalb erweist sich bei der ethischen Urteilsbildung in unvorhersehbaren Situationen eine kontextangemessene Abwägung mit Rückgriff auf Vernunft und Offenbarung als unausweichlich. Da sich der normative Wert einer Handlung nach ihrem vermeintlichen Resultat bemisst, soweit dies ermittelbar bzw. abschätzbar ist, sollte der Rechtsgelehrte in jedem einzelnen Fall, bei dem die Gefahr einer Konfusion zwischen „gut“ und „schlecht“ besteht, die Folgen der betreffenden Handlung abwägen, um zu einer angemessenen Urteilsbildung gelangen zu können. 85 Die Abwägung erfolgt dabei nach denselben Hierarchieregeln, die nach dem Prinzip lebensnotwendiger ethischer Maxime (aḍ-ḍarūriyāt) organisiert sind. Geraten z.B. bei einer Handlung zwei Interessen, wie der Erhalt des Lebens und der des Besitzes, in Konflikt, so ist es unbestritten, dass der Erhalt des Lebens Vorrang hat. So schreibt aš-Šāṭibī:

82 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 20. 83 Aš-Šāṭibīs Begriff des irdischen Guts (maṣlaḥa mursala), der hier als eine Vorstufe seiner Dreiteilung des Guten dient, ist beim Überdenken ethischen Verhaltens zwar unentbehrlich, legt aber aufgrund seines engen Bezugs zur Tugendlehre die Gefahr des Subjektivismus nahe. Der Begriff des höchsten Guts (maṣlaḥa muʿtabara) bleibt für aš-Šāṭibī aufgrund seines aus der Verbindung zum Koran entspringenden rekursiven Charakters für die ethische Urteilsbildung maßgebend. Einen ähnlichen Ansatz findet man bei Friedrich Schleiermacher, der die formalen ethischen Grundbegriffe in drei Kategorien unterteilt: Pflicht, Tugend, Gut; und dabei den Begriff des höchsten Guts aufgrund seines hervorbringenden Charakters als maßgebend für die ethische Urteilsfindung bezeichnet. (Vgl. Friedrich Schleiermacher: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, hg. von Otto Braun, 2. Auflage, Leipzig 1928.) 84 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 4, S. 217ff; Franz von Kutschera: Grundlagen der Ethik, Walter de Gruyter, Berlin 1999, S. 86ff.) 85 Angesichts der Abhängigkeit der situationsbedingten (mawāqiʿ al-wuǧūd) und textuellen (alḫiṭāb aš-šarʿī) Faktoren voneinander, erklärt aš-Šāṭibī, dass von Fall zu Fall entschieden wird, indem jeweils die Schwächen des einen Ansatzes durch die Stärken des anderen auszugleichen sind. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 20.)

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„Die Nutzen, die einem mukallaf zu Gute kommen, sind in der Regel durch Schäden getrübt, genauso wie die Schäden auch von einigen Nutzen umgeben sind. Dementsprechend sagt man zum Beispiel, dass die Seelen geachtet und geschützt werden sollen und dass deren Erhalt erforderlich ist, wobei es zu bevorzugen wäre, sie am Leben zu erhalten, wenn man vor der Wahl stehen würde, sie entweder am Leben zu erhalten und dafür seinen Besitz aufzuwenden, oder aber sie zu vernichten, um seinen Besitz zu erhalten. Wenn aber das Erhalten [des Selbst] zur Auslöschung des Glaubens führen würde, so wäre es zu bevorzugen, den Glaube zu erhalten, auch wenn dies zum Verlust des Selbst führen würde.“86 Im Gegensatz zu Kants kategorischem Imperativ, bei dem alle möglichen Verfehlungen mit gleicher Härte untersagt zu sein scheinen, läuft die Urteilsfindung in aš-Šāṭibīs Rechtssystem nach einem differenzierten und kontextsensitiven Muster ab. So werden z.B. Diebstahl und Mord, Fälschung und falsches Zeugnis ablegen, je nach ihren Bezügen zu den jeweiligen Zielsetzungen der šarīʿa unterschiedlich kategorisiert und bewertet.87

86 Ebd., Bd. 2, S. 21. Diese „existenzielle“ Verbindung zwischen Glaubens- und Lebenserhaltung soll hier im Zusammenhang des von aš-Šāṭibī der Offenbarung zugeschriebenen implizierten, identitätsstiftenden Charakters bei der Deutung der Relation von Glaube und Dasein verstanden werden. Mit dem Glauben wird ein neues Dasein gegeben, sodass das eine ohne das andere kaum vorstellbar sei. Diese Lesart lässt sich mit der metaphorischen Gebrauchsweise der Verben „beleben“ und „töten“ in Bezug auf die Religion bzw. den Glauben als unanimiertes Subjekt gut begründen. Das Motiv der Selbsterhaltung ist so keine Naturkonstante im „Kampf um das Leben“, die die individuellen Handlungen bestimmt, wie es Nietzsche behauptete. (Vgl. Schweppenhäuser: Nietzsches Überwindung der Moral, S. 33.) 87 Diesem Vergleich dient die Kritik, die Hannah Arendt gegenüber dem strengen Formalismus Kants geäußert hat, als Hintergrund. Hannah Arendt fügt hinzu: „In Kants Aussage ist das Böse dasselbe, ob es den Menschen zum Dieb oder zum Mörder macht; es handelt sich um die gleiche unheilvolle Schwäche in der menschlichen Natur.“ (Arendt: Über das Böse, S. 97.) Diese aus dem logischen Schlussfolgern entspringende Eigenschaft ist allerdings für streng radikale religiöse Rechtsfindung charakteristisch. Bereits im frühen islamischen Mittelalter entfachte die Diskussion zwischen zwei berühmten Theologen al-Ḥasan al-Baṣrī und seinem Schüler Wāṣil ibn ʿAṭāʾ (gest. 131/748-9) über den rechtlichen und eschatologischen Status von Menschen, denen Großsünden zu Last gelegt worden sind. Während Wāṣil ibn ʿAṭāʾ dem „Großsündenbegeher“ ohne jegliche Berücksichtigung der Sündenart ein ewiges Verweilen in der Feuerhölle vorhersagte und ihn damit praktisch einem ungläubigen Verbrecher gleichsetzte, lehnte al-Ḥasan al-Baṣrī mit Verweis auf die Bedeutung der im Koran und Hadith an Ausmaß des Schadens orientierten verankerten Abstufung von Sünden und der Möglichkeit von Vergebung dieses Rechtsspruch ab. (Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid: Mafhūm an-naṣṣ. Dirāsa fī ʿulūm al-qurʾān; ders.: Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, übers. von Chérifa Magdi, mit einer Einl. von Navid Kermani, Frankfurt a.M. 1996; Ḥasan Ḥanafī: ad-Dīn wa-ṯ-ṯawra fī miṣr, 6 Bde., Kairo 1988-1989; ders.: Al-Yasār al-islāmī. Kitābāt fī n-nahḍa al-islāmiyya, Kairo 1981; ders.: at-Turāṯ wa-t-tağdīd. Mawqifunā min at-turāṯ al-qadīm, Kairo 1992; ders.: Islam in the modern World. Bd.1: Religion, ideology and development, Bd. 2: Tradition, revolution and culture, Kairo 1995.)

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In aš-Šāṭibīs Deutung zum Urteilskontext spielt die binäre Wertung von „gut“ und „böse“ die Rolle einer „praktischen Vernünftigkeit“, 88 in deren Vollzug abwägende Überlegungen zu Absichten und Zielen des Handelns eingehen. Die Frage der Urteilsfindung wird dadurch von dem Bereich des in einigen Rechtsschulen überbewerteten logischen Schlussfolgerns, das den Anspruch erhebt, von konkreten Zusammenhängen menschlicher Handlungsbezüge völlig unabhängig sein zu können, in die Analyse realitätstypischer Verhaltensalternativen überführt, die „ein mehr oder weniger an Ungutem enthalten oder enthalten können, sei es auch nur in unvorhergesehenen Folge- oder Nebenwirkungen“.89 Auf diese Weise kann die glaubende Erkenntnis als äußerst vielgestaltiges Überzeugungsfeld den Ansprüchen einer rationalen Verantwortungsethik mit Rekurs auf ein selektives, aus dem Geschehen heraus gewonnenes Handlungswirklichkeitsverständnis gerecht werden. Dabei geht es nicht um die Wahl zwischen eindeutig gut und eindeutig ungut, sondern lediglich um ein Abwägen, welcher Urteilsentscheid den rechtlichen Vorzug verdient, also am ehesten zu verantworten ist. 90 Die Verantwortungspflicht des Gläubigen als mukallaf91 ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen offenbarungsgestützter Güterabwägung und der aus dem Kontext erschließbaren Absicht des Handelnden, sich intensiv „auf die Wirklichkeit und das in ihr Mögliche einzulassen und dabei die Folgen des eigenen Tuns als etwas zu betrachten, was dem ‘Täter‘ zugerechnet wird, wofür er sittlich einzustehen hat.“92 Deshalb besteht aš-Šāṭibī auf die islamisch-theologische Unterscheidung zwischen niyya (subjektive Intention) und qaṣd (das im Vorfeld durch ein Erschließungsverfahren erkennbare Handlungsziel), die bei der Urteilsfindung maßgebend sind. 93 Demnach leitet das Abwägungsverfahren dazu an, verschiedene Ebenen der Hand88 Dem Begriff der „praktischen Vernünftigkeit“ liegt hier eine Übersetzung Hans-Georg Gadamers des aristotelischen Begriffs der phronesis, auch als „praktische Weisheit“ bekannt, zugrunde (Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik VI, S. 6.). Die Bezeichnung „praktische Vernünftigkeit“ trägt dazu bei, die hier mit der Idee aš-Šāṭibīs der „abwägenden Vernunft“ verbundenen analytischen Aspekte konzeptionell zu erfassen. 89 Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 32; vgl. Arendt: Über das Böse, S. 148f. 90 Vgl. u.a. Klaus Tanner: „Ein verstehendes Herz. Über Ethik und Urteilskraft“, S. 9-21; Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 30ff. 91 Der Begriff mukallaf konnotiert sowohl Beauftragung als auch Verpflichtung und kommt somit dem griechischen Begriff „Ergon“ nahe. Die Polysemie des Begriffs mukallaf erfordert daher stets eine kontextabhängige Übersetzung, der in dieser Arbeit Rechnung getragen wird. 92 Max Weber: „Der Sinn der ‚Wertefreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“, in: ders. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, (hg.) Johannes Winckelmann. Tübingen 1985, S. 489-540. Hier wird Bezug auf Max Webers rationales Konzept der „Verantwortungsethik“ genommen. 93 Es soll in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass durch die Beschreibung von aš-Šāṭibīs Ansatz als intentionalistisch nur ein Teilaspekt seiner Gesamttheorie zum Ausdruck gebracht wird (Vgl. Weiss: The Spirit of Islamic Law, S. 80-87).

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

lungsabsicht zu erkennen, sodass eine Handlung nicht allein nach niyya, aus der sie vermeintlich entspringt, zu beurteilen sei, da man kaum eine Möglichkeit hätte, zwischen objektiv guten Handlungen und solchen zu unterscheiden, denen nur eine fromme subjektive Intention zugrunde läge. 94 Umgekehrt ist aus der Perspektive der glaubenden Erkenntnis einzuräumen, dass eine Handlung, die sich von außen gut darbietet, erst dann rechtlich gut ist, wenn sie subjektiv aus einer guten Intention hervorgeht. Sofern sich aber niyya als unzugänglich für eine situationsangemessene Urteilsfindung erweist, führt aš-Šāṭibī eine neue moralische Maxime namens sadd aḏ-ḏarāʾiʿ (Blockieren der Mittel) ein, der zufolge alle objektiv als gut einzustufenden Handlungen vom Repertoire des Guten ausgeschlossen werden, wenn sich der Handelnde davon einen unrechtmäßigen individuellen Vorteil erhofft.95 De facto handelt es sich dabei um ein Bestimmungsprinzip, das einer eventuellen Umgehung von Rechtsnormen Einhalt gebietet. Jedoch wirft diese Fokussierung auf die individuelle Handlungsintention erneut die Frage nach der Eingrenzung spezifischer Eigennutzorientierung im Kontext verantwortlichen Verhaltens auf, der aš-Šāṭibī mit einer Dreiteilung der Güter, nämlich maṣlaḥa muʿtabara (höchstes Gut), maṣlaḥa mursala (sittliches Gut bzw. praktisches Interesse) und maṣlaḥa mulġāt (von der Gesetzgebung als ungültig erklärte Gut bzw. abrogiertes Interesse) begegnet. Mit der im Begriff der Intention implizierten Idee der Ausrichtung wird verdeutlicht, dass der Mensch in Relationen lebt und agiert und im Rahmen der daraus resultierenden Wechselbeziehungen entweder als Lei94 Diesem Gedanken liegt eine berühmte, dem ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb zugeschriebene Aussage zugrunde, in der es heißt: „Oh Gottesdiener! Zeigt uns eure guten Werke, denn uns [Menschen] wurde vorgeschrieben, nach dem Äußeren [explizit nachweisbaren] zu urteilen.“ (Vgl. asSaḫāwī, Muḥammad: al-Maqāṣid al-ḥasana fī bayān kaṯīr min al-aḥādīṯ al-muštahara ʿalā lalsina, Dār al-kitāb al-ʿarābī, Beirut, 1985, S. 162f.) As-Saḫāwī stellt die Echtheit dieser Überlieferung aber infrage. 95 Der Ausdruck sadd aḏ-ḏarāʾiʿ bedeutet so viel wie „Blockieren der Mittel“ und dient in ašŠāṭibīs Rechtsdenken dazu, einem eventuellen Missbrauch gottesdienstlicher oder wohltätiger Handlungen für unrechtmäßigen Eigennutz, sei er sozial oder politisch, Einhalt zu gebieten. Es handelt sich um ein Instrumentarium, das die normative Gültigkeit und den moralischen Wert religiöser Werke auf den Prüfstand stellt. Durch die Anwendung dieses Instrumentariums kann z.B. die Entrichtung einer Almosensteuer für nichtig erklärt werden, wenn der Wohltätige damit auf eine politische oder gesellschaftliche Einflussnahme abzielt. Auf der weltlichen Ebene kann die Wahrhaftigkeit einer gottesdienstlichen Handlung nur rückwirkend durch aus ihr entspringende Resultate überprüft werden. Für die eschatologische Annahme menschlicher Werke ist die der Handlung inhärente Absicht ausschlaggebend. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 4, S. 134ff., Bd. 2, S. 157.) Im Endergebnis ist die „wohltätige“ Handlung, wie etwa Almosengabe oder Sklavenbefreiung nicht an sich, sondern nur in Bezug auf ihren Handlungskontext als gut oder verwerflich einzustufen. In der modernen islamischen Diskussion um die Anwendung dieses Inferenzverfahrens wird häufig die politische Instrumentalisierung dieses Verfahrens kritisiert, die daraus einen Unterstellungsmechanismus entwickelt hat, mit dessen Hilfe politische Demonstrationen oder offene Verurteilungen des Herrschers offiziell verboten werden. Die von Thomas Amberg vorgeschlagene deutsche Entsprechung „Blockieren der Mittel“ stimmt insofern nur mit der modernen Anwendung des Begriffs überein. (Vgl. Amberg: Auf dem Weg zu neuen Prinzipien islamischer Ethik, S. 255f.)

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dender unter Einwirkung steht und/oder als Handelnder selbst einwirkt. 96 In der glaubenden Erkenntnis ist die Zielvorstellung „keineswegs, eher Unrecht zu leiden als zu tun, sondern […] Anderen Gutes zu tun“.97 Daher wird laut islamischer Glaubenslehre der Bezeugung des Anderen im Jenseits beim jüngsten Gericht eine besondere Rolle beigemessen. Das aus der Abwägung entstehende Werturteil spiegelt also nicht einfach die von außen symmetrisch erscheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse wider, vielmehr reflektiert es einen verantwortlichen Umgang mit den Bezügen einer stets im Veränderungsprozess befindlichen Handlungswirklichkeit. Die Dreiteilung der Güter zielt bei aš-Šāṭibī darauf ab, die verschiedenen Bezüge ethischer Werturteile methodisch sowie rechtlich zu systematisieren. 3.3.3. Zuordnung von maṣlaḥa-Kategorien zur Güterabwägung Als Teilbereich der spätislamischen praktischen Philosophie, verfolgt die Rechtsethik aš-Šāṭibīs neben der Verwirklichung des eschatologischen und seelischen Heils auch praktische Interessen.98 Daraus ergibt sich bei aš-Šāṭibī eine Vielgestaltigkeit des Guten, in der nicht bloß das Zweckmäßige oder Nützliche als Hauptkomponente im Prozess der Abwägung fungiert. Vielmehr geht es in aš-Šāṭibīs Abwägungsmethodik um die Analyse der Verhältnisbestimmung zwischen praktischen Interessen und dem von Gott gewollten und mit großer Hoffnung ersehnten Wohlergehen.

96 Das von der islamischen Rechtstheorie ausgearbeitete binäre Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Intention scheint sich nach einem Handlungsschema zu richten, das der von Max Weber formulierten zweiteiligen Unterscheidung zwischen Handlung und sozialer Handlung nahekommt. Hier erläutert Weber: „‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern, als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. Soziales Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1976, S. 1.) 97 Hannah Arendt: Über das Böse, S. 108. Hierzu gibt es zahlreiche Koranverse wie z.B. Q 41:34: „Nicht gleich sind die gute Tat und die schlechte Tat. Wehre mit einer Tat, die besser ist, (die schlechte) ab, dann wird derjenige, zwischen dem und dir Feindschaft besteht, so, als wäre er ein warmherziger Freund.“ In einem berühmten Hadith heißt es: „Der Prophet wurde gefragt: Wer ist der Tugendhafteste unter den Menschen. Er antwortet: Es sind die, die für ihre Mitmenschen am wohltätigsten sind.“ (Vgl. Nāṣir ad-Dīn al-Albānī: Silsilat al-aḥādīṯ aṣ-ṣaḥīḥa wa šayʾ min fiqhihā wa fawāʾidihā, 9 Bde., Riad 1995-2002, Bd. 1, S. 789.) Zur modernen Auffassung dieser Frage des Werturteils siehe u.a. Arendt: Über das Böse, S. 109f. 98 M. Khalid Masud war einer der ersten islamischen Theologen, der den Begriff Rechtsphilosophie für die Bezeichnung der Rechtstheorie aš-Šāṭibīs verwendete und damit auf das interpretatorische Potential des intentionalistischen Ansatzes aufmerksam machte. (Vgl. Masud: Islamic Legal Philosophy, S. 37.) Diese Annäherung zwischen theologischer Ethik und praktischen Interessen findet man u.a. auch bei Heinz E. Tödt hinsichtlich christlicher Ethik. (Vgl. Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 25.)

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

Im Hinblick auf die Rechtsprechung der šarīʿa teilt aš-Šāṭibī, wie bereits erwähnt, die maṣlaḥa in drei Kategorien: maṣlaḥa muʿtabara, maṣlaḥa mulġāt und maṣlaḥa mursala, wobei sich die weltliche maṣlaḥa mursala als „Korrelat des menschlichen Strebens“ nur in Bezug auf die sittliche Lebensführung (al-ʿurf ) umfassend definieren lässt.99 a) Maṣlaḥa muʿtabara („höchstes Gut“ als abwägungsunabhängige Kategorie ethischen Werturteils): Bei der Abwägung handelt es sich aš-Šāṭibīs Analyse zufolge um ein der praktischen Vernunft inhärentes Verfahren, dessen Anwendungsbereich sich auf die Urteilsfindung im Kontext faktischer Lebenserfahrung beschränkt. So wird maṣlaḥa muʿtabara als abstraktes rechtliches Werturteil aus jeglicher einem Handlungsumfeld gebundenen Urteilsfindung ausgenommen. 100 Aus dieser Charaktereigenschaft, vom Handlungsumfeld unabhängig zu sein, ergibt sich die rechtliche Allgemeingültigkeit maṣlaḥa muʿtabara, die im Vorfeld des Geschehens dem Rechtsgelehrten zu einer offenbarungsorientierten Urteilsfindung verhilft. Auf diese Weise können Verbote und Gebote theoretisch unabhängig von den Aporien realer Handlungssituationen aufgestellt werden. Das höchste Gut ist entlang dieser Deutung das von Gott intendierte und verpflichtend gemachte Ziel, das sich vom Zweckmäßigen, Nützlichen oder Angenehmen unterscheidet, ohne diese zu negieren. Fortan ist maṣlaḥa muʿtabara als moralischer Begriff nicht handlungsleitend. Es handelt sich dabei eher um ein ethisch-theoretisches Kriterium, das einer moraltheologischen Theoriebildung entsprungen ist. Entscheidend für aš-Šāṭibīs Lesart ist, dass der Begriff maṣlaḥa muʿtabara keineswegs als Unterkategorie des muʿtazilitschen rationalen und absoluten Werturteils betrachtet werden kann, dem zufolge weder das Ereignen vom Guten noch das vom Bösen der Intention Gottes entspricht. Aš-Šāṭibī stimmt zwar zu, dass in gewissen Situationen die weltlich-ethische Bewertung der Handlung allein dem Willen des Menschen überlassen sei. 101 Jedoch stellt er klar, dass es für 99 Ibn Qayyim verringert den Unterschied zwischen maṣlaḥa muʿtabara und maṣlaḥa mursala, indem er die letztere Kategorie ebenfalls als Produkt rationaler Interpretation der Offenbarung ansieht. (Vgl. Ibn Qayyim: Iʿlām al-muwaqqiʿīn ʿan rabb al-ʿālamīn, Bd. 4, S. 553ff.) Aš-Šāṭibīs binäre Unterteilung des maṣlaḥa-Begriffs in rein textuelle und überwiegend konventionelle Güter, ist mit der bereits erwähnten Distinktion Franz Böckles zwischen präsittliche und sittliche Güter im Prinzip vergleichbar. Denn obwohl die sogenannten präsittlichen Güter bei Böckle keinen Bezug zur Heiligen Schrift zu haben scheinen, stehen sie jedoch aufgrund ihres apriorischen Charakters dem Begriff maṣlaḥa muʿtabara konzeptionell nahe. (Vgl. Böckle: Fundamentalmoral, S. 259.) 100 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 20 und Bd. 4, S. 217. 101 Diese Idee basiert auf dem in der Theologie allgemein bekannten muʿtazilitischen als Frage formuliertes Argument für die menschliche Willensfreiheit: Wie kann Gott die Menschen im Jenseits nach ihren guten bzw. schlechten Taten beurteilen, wenn diese Taten von Gott selbst vorgeschrieben worden sind oder sich nach Seinem Willen ereigneten? Die von aš-Šāṭibī zitierte Aussage lautet: „Die Rechtsschulen der Muʿtazila sagen, dass das Böse und die Schäden gegen den Willen (Gottes) geschehen.“ (Vgl. ebd, Bd. 2, S. 23)

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3.3. Im Spannungsfeld zwischen Rationaltheologie und Rechtstheorie

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ihn als Rechtsgelehrten beim Begriff maṣlaḥa muʿtabara nicht um eine Entsprechung der Ur-Intention (qaṣd; Pl.: quṣūd) Gottes gehe, die seinem Schöpfungsakt (al-qaṣd al-ḫalqī at-takwīnī) zugrunde liegt. Vielmehr interessiert ihn die juristische Intention, deren Hauptanliegen in der Gestaltung der menschlichen Lebenswirklichkeit besteht und deren Ausrichtung sich im Konzept des höchsten Gutes reflektiert. Aš-Šāṭibīs Rechtsverständnis zufolge dient maṣlaḥa muʿtabara dazu, einen abstrakten Rechtsrahmen zu bilden, der im Vorfeld der Handlungswirklichkeit grundlegende Rechtsnormen festsetzt. Als Hauptkriterium der Urteilsbildung ist der Begriff maṣlaḥa muʿtabara auf der Grundlage zweier Quellen konzipiert. Der Koran und ihre Auslegungstradition bilden zwar eine Primärquelle, jedoch ist das Wissen um das Gute in der Lebenswirklichkeit einer Gemeinschaft als Sekundärquelle für jede ethische Urteilsfindung konstitutiv. Im Wissensprozess um die Urteilsbildung kommen nach aš-Šāṭibī Vernunfterkenntnis und Glaube zusammen. Im Wissensvollzug setzt eine offenbarungsgestützte Erkenntnis als vernunftmäßige Wahrnehmung faktischer Handlungszusammenhänge die Ziele und Ausrichtungen des Handelns voraus, die die Vielfalt und Unvorhersehbarkeit möglicher Handlungsoptionen berücksichtigt. Hier setzt die Brücke zwischen Offenbarung und Vernunft im Lebensvollzug an. Mit dem Begriff maṣlaḥa muʿtabara wird der praktische Bezug des Rechts derart hervorgehoben, dass der allgemeingültige Anspruch absolutistischer Gesetzgebung, Rechtsnormen für das Gute „an sich“ oder für das Böse „an sich“ aufzustellen, außer Kraft gesetzt wird.102 Mit der Bezeichnung des höchsten Guts bzw. des radikalen Übels als absolut (muṭlaq) weist aš-Šāṭibī auf den extra-kontextuellen Abstrahierungscharakter der Urteilsbildung hin. Dabei wird im selben Zuge eine Subjektivierung des Werturteils von vornherein ausgeschlossen. Aš-Šāṭibī veranschaulicht den Prozesscharakter der Ausrichtung auf ein Werturteil durch seine Kritik an der muʿtazilitischen Gleichsetzung von privatem und gemeinschaftlichem Gut. Denn der Sinn einer Kategorie des höchsten Guts liegt nach aš-Šāṭibī u.a. auch darin begründet, dass die Verkehrung des religiösen Strebens nach dem Guten in ein rationales Streben nach eigenem Glück nicht so leicht zu vermeiden ist, wenn man das rationaltheologische (extra-textuelle) vom rechtlichen (intra-textuellen) methodisch und konzeptionell nicht klar trennt. Der allgemeingültige Charakter des höchsten Guts ist ausschließlich auf der Ebene der Rechtssatzungen, d.h. im Vergleich zu anderen Rechtsnormen, relevant. Daher wird bei der Definition des höchsten Guts oder des radikalen Übels eine unumstrittene Befürwortung von mindestens zwei verschiedenen Rechtsquellen, wie 102 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 21. Hier wird klar, dass aš-Šāṭibī mit seinem intra-textuellen Zweckrationalismus den universellen Rationalismus der Muʿtazila, der als solcher in reiner theologischer Vernunft gründet, ebenso überwindet, wie er die integrative Auffassung der Ašʿariten in Bezug auf die Werte, die sich mit der Geltung des faktisch Offenbarten zufriedengeben, zurückweist.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

etwa Gelehrtenkonsens (iǧmāʿ) und rationaler Urteilsfindung (iǧtihād) vorausgesetzt. Dabei beziehen die nur aus quellenbelegten Werturteilen abgeleiteten Rechtsnormen lediglich eine relative Gültigkeit, die auf das Handlungsumfeld ihrer Anwendung beschränkt ist. Aus diesem Grund ergibt sich die Falschheit der Aussage „alles Gute sei erlaubt und alles Übel sei verboten“103 in der šarīʿa. Umgekehrt ist festzuhalten, dass das Gute bzw. das Schlechte aus der Perspektive göttlicher Rechtsordnung besser einzugrenzen zu sein scheint. Aus dem antizipierenden Charakter göttlicher Rechtsordnung speist sich die Allgemeingültigkeit der göttlichen Gebote. Deshalb rehabilitiert aš-Šāṭibī den berühmten Spruch: Alles, was Gott befiehlt, führt letztendlich zum höchsten Gut, und alles, was Er verbietet, führt letztendlich zum radikal Bösen. 104 Ausschlaggebend bei der theologischen Urteilsbildung ist lediglich der Inhalt göttlicher Verpflichtung bzw. Beauftragung für das Diesseits,105 deren Dreh- und Angelpunkt im Grundprinzip der Verantwortung liegt. Der Ausdruck maṣlaḥa (Gutes) bzw. mafsada (Schaden) kommt auf der rechtlichen Ebene vielmehr im Sinne göttlicher Rechtsgebote, der Befehle, der Verbote oder der Empfehlung zur Geltung, die nicht in der natürlichen Beschaffenheit von etwas, sondern im Verhältnis des präskriptiven Diskurses zu etwas begründet sind. Diese handlungsimmanente und diskursive Sichtweise der Urteilsfindung ist eng mit aš-Šāṭibīs eigener intentionalistischer Analyse verbunden, in der sich sittlich-moralische Urteile grundsätzlich wie religiöse Rechtsnormen darstellen. Die Frage, ob sich das Gute auf etwas bezieht, das vor der von der šarīʿa abgeleiteten Urteilsbildung an sich gut ist, sodass maṣlaḥa im Allgemeinen nicht nur richtig getroffen, sondern auch verfehlt werden kann, beantwortet aš-Šāṭibī unter der zweiten Güter-Kategorie namens maṣlaḥa mursala, die im Folgenden in den Fokus rücken soll.106 b) Maṣlaḥa mursala (sittliches Gut im Spannungsfeld göttlicher Rechtsordnung und sozialer Konvention) Die Idee der maṣlaḥa mursala geht aš-Šāṭibīs Analyse zufolge a priori von der Verwirklichung des Heils durch eigene Werke aus. Aus der Perspektive des Rechtsdiskurses wird das weltliche Gemeingut als maṣlaḥa mursala anerkannt,

103 Ebd., Bd. 2, S. 31f. 104 Ebd., Bd. 2, S. 21. 105 Ebd., Bd. 2, S. 13. Dies beinhaltet alles, was der Begriff „Beauftragung“ an Verantwortlichkeitsaspekten enthält, wie bereits oben ausgeführt wurde. 106 So beschrieb Ibn ʿAbd as-Salām (gest. 660/1262) die Vorexistenz von Gut und Böse in Bezug auf die Offenbarung: „Denn schon vor der Verkündung des Rechts war es jedem Vernünftigen offenkundig, dass die Erlangung des reinen Nutzens und das Abwenden der reinen Schäden von sich und von den anderen erstrebenswert ist. Und der Großteil der diesseitigen Nutzen und Schäden sind durch den Verstand erkennbar.“ (ʿIzz ad-Dīn asSulamī Ibn ʿAbd as-Salām: Qawāʿid al-aḥkām fī maṣāliḥ al-anām, hg. von Ṭaha ʿAbd arRaʾūf Saʿd, 2 Bde., Beirut, o.J., Bd. 1, S. 5f.)

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wenn es gemäß den Traditionen und Gebräuchen gegenüber dem Übel mafsada als abwägend (rāǧiḥa) gilt.107 Der Begriff maṣlaḥa mursala stellt also als Endziel eines Willens, der den Menschen zu einer Handlung treibt, die Frage nach der Natur des Guten, jedoch nicht in einem ausschließlich positiven Sinn, wie das bei maṣlaḥa muʿtabara der Fall ist. Vielmehr geht es bei der Erkennung von maṣlaḥa mursala auch um die Erfassung ihres negativen Sinns insofern, als der Handelnde in seinem Streben nach Gütern veranlasst wird, das Übel zu identifizieren und sich im Prozess des Vollzugszusammenhangs zu fragen, wie dieses vermieden werden könne. Aš-Šāṭibīs Begriff des Übels ist allerdings nicht mit Hegels Denkinhalt des Negativen als mächtige Kraft, die die Dialektik des Werdens antreibt, gleichzusetzen. Hier läuft das Verständnis vom Übel lediglich auf eine handlungsinhärente Eigenschaft hinaus, die ausschließlich auf der Ebene der Praxis Relevanz hat. Deshalb gehört die binäre Relation zwischen „gut“ und „böse“ bei aš-Šāṭibī dem Bereich der immanenten Güter der Praxis, also von maṣlaḥa mursala, die parallel zu der rein theologisch aufgefassten maṣlaḥa muʿtabara einen ergänzenden, aus der Lebenswirklichkeit entspringenden Charakter des Werturteils inne-hat. Mit Rückgriff auf die fünf grundlegenden zum Lebenserhalt notwendigen Zielsetzungen der göttlichen Rechtsordnung fokussiert aš-Šāṭibī den Anwendungsbereich von maṣlaḥa mursala auf die weltlichen Kriterien ethischen Urteils, sodass der Schutz „materieller“ Bedingungen des Lebenserhalts, wie etwa der Schutz des Eigentums oder der Schutz der Fortpflanzung bzw. Familie gegenüber umstrittenen eschatologischen Gütern Vorrang genießt. 108 So wird dem Beitrag der Vernunft bei der Anwendung des religiösen Rechts im praktischen Lebensvollzug ein bedeutendes Mitgestaltungsrecht eingeräumt. Die Grenzen zwischen der Sphäre der Sitte und der des Rechts im göttlichen Sinne des Wortes sind also fließend: „Die irdischen [diesseitigen] Nutzen und Schäden werden nach dem, was konventionell überwiegt, gemäß eines Abwägungsprinzips aufgefasst: 107 Ein Urteil, das als maṣlaḥa mursala klassifiziert ist, muss nach al-Ġazālī drei Eigenschaften aufweisen, um als rechtmäßig gültige Entscheidung akzeptiert zu werden: es muss sich um ḍarūra (Notwendigkeit) handeln, er muss einen unbestrittenen Charakter bzw. Textbezug haben (qaṭʿiyya) und sollte die Gesamtheit der islamischen Gesellschaft berücksichtigen (kulliyya). (Vgl. al-Ġazālī: al-Mustaṣfā, Bd. 1, S. 288.) 108 Als wahrhafter Gläubiger sollte man z.B. nicht aktiv die kriegerische Begegnung mit seinem Feind anstreben oder wünschen, den Märtyrertod zu erlangen, da dies als Verstoß gegen das Gebot der Erhaltung von menschlichem Leben gilt. Lebenserhalt genießt gegenüber eschatologischen Gütern Vorrang, solange die Sinnhaftigkeit des Daseins nicht durch einen von außen drohenden Verlust des Glaubens gefährdet ist. Der Tod ist und bleibt laut koranischer Beschreibung ein Unglück, siehe z.B. Q 5:106: „O die ihr glaubt, wenn einem von euch der Tod naht zu der Zeit, da (er sein) Vermächtnis (macht), (soll) das Zeugnis unter euch (erfolgen) durch zwei gerechte Personen von euch, oder durch zwei andere, (die) nicht von euch (sind), wenn ihr im Land umherreist und euch dann das Unglück des Todes trifft […].“

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

Überwiegen die Nutzen [einer Handlung bzw. eines Gegenstandes], so wird sie konventionell als Nutzen anerkannt. Deswegen wird eine Handlung, die beide Folgen gleichermaßen nach sich zieht, dem überwiegenden Aspekt zugeschrieben. Was die zweite Ansicht hinsichtlich des Zusammenhanges mit dem rechtlichen Diskurs angeht, so entspräche der Nutzen dem Ziel des Gesetzgebers, wenn er nach Gewohnheitsrecht im Vergleich zum Schaden überwiegen würde.“109 Das muʿtazilitische Postulat, das besagt, dass Gott eine Schöpfung hervorgebracht habe, deren Gut und Böse miteinander verwoben seien, stellt aš-Šāṭibī deshalb nicht infrage, weil er das diesseitige Werturteil aus einer handlungsbezogenen Perspektive betrachtet. Die binäre Relation zwischen „gut“ und „böse“ hat hinsichtlich der Schöpfungsintention keine Relevanz, sofern die Ausrichtung auf das Gute für die dem Schöpfungsakt intendierte Absicht charakteristisch bleibt. Es scheint, dass das, was die beiden Entitäten ḫayr und šarr110 in aš-Šāṭibīs Annahme ausmachen, nicht ihr höchst umstrittenes Wesen ist, sondern die „Relation“, die sie zu den beiden Parametern des Schöpfers und der Schöpfung unterhalten. Die Erkenntnis um Gut und Böse liegt insofern „an der Wurzel der Entzweiung zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mitmensch sowie Mensch und Mitwelt“, wie Heinz E. Tödt mit Verweis auf die christliche Ethiktheorie Bonhoeffers zu Recht erklärte.111 Die sogenannte maṣlaḥa mursala wird genau an der Schwelle zwischen der ersten und zweiten Dimension angesiedelt, sodass deren Ableitung nicht unbedingt mit der sicheren Erkenntnis des Guten verbunden ist, wie es in der Rationaltheologie der Fall ist, sondern eher mit ihrer glaubensorientierten Realisierung in der menschlichen Handlungswirklichkeit zusammenhängt. 112 Wird das Gute als ein solcher Handlungsbegriff ausgewiesen, so hat die Urteilsfindung immer mit Glaube 109 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 20f. 110 So ist bei aš-Šāṭibī der Bannkreis des muʿtazilitischen „Rationalismus“ durchbrochen, ohne dass er seine glaubensorientierte Quellenauslegung aufgegeben hat. Maṣlaḥa ist entweder ǧuzʾiyya (spezifisch), d.h. explizit durch eine normative Quelle zum Ausdruck gebracht, oder kulliyya (universal). Die Letztere stellt eine Maxime dar, die gleichermaßen aus den rationalen und textuellen Rechtsquellen durch eine Erschließung zum Ausdruck gebracht werden kann, die besagt, dass jeder mukallaf in jedem der verschiedenen Vollzugszusammenhängen seines Handelns einer spezifischen Rechtsnorm unterworfen ist. In diesem Kontext sollte die Unterteilung von maṣlaḥa in ihren bei aš-Šāṭibī vorgekommenen verschiedenen Kategorien der Handlungssituation entsprechend verstanden werden. (Vgl. ebd., Bd. 2, S. 23-25f.) 111 Vgl. Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 46; Ralf Lutz: Der hoffende Mensch, Tübingen 2012, S. 81f. 112 In diesem Zusammenhang geht es eher um das, was Robert Brunschvig „rationalisation (limitée) de la foi“ nennt. (Vgl. Brunschvig: „Devoir et Pouvoir. Histoire d'un Problème de Théologie Musulmane“, S. 16.) Aš-Šāṭibī, der eher der ašʿaritischen Theologie näherstand, vertrat offensichtlich in einigen Punkten den muʿtazilitischen Ansatz, insbesondere in solchen, die die Unterscheidung zwischen irdischem und eschatologischem Gut betreffen. (Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 29.)

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zu tun, da die menschliche Handlungswirklichkeit, die sich auf ein Gutes hin ausrichtet, einen antizipierenden und Gegebenheit überschreitenden Charakter hat, der für den Verstand nicht ohne weiteres zugänglich ist. Der Schöpfer kennt seine Schöpfung besser, als diese sich selbst kennt, denn wie es schon im Koran verkündet wurde (Q 50:16): „Wir haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was (alles ihm) seine Seele einflüstert, und Wir sind ihm doch näher als seine Halsschlagader“. Die „Unergründlichkeit“ von Gottes Rechtleitungswegen zum Guten führt ašŠāṭibī anhand des Beispiels eines Arztes an, der seinem Patienten ein im Geschmack bitteres und im Geruch verwerfliches Medikament verabreicht, mit dem Zweck diesen von seiner Krankheit zu heilen: „Die Schöpfung wurde auf keinen Fall für das Böse ins Leben gerufen, selbst wenn das Böse ein Teilbestand ist, so wie ein Arzt, der einem Patienten eine bittere Medizin verabreicht. Er verabreicht sie dem Patienten nicht wegen der Bitterkeit und der in ihm enthaltenen Abscheulichkeit, sondern wegen der von ihm ausgehenden erhofften Heilung und Erholung. So betrachten die Theologen alle nach einem kausalen [handlungsinternen] Prinzip eintretende Schäden, deren Ursachen nachvollziehbar sind. Da der Gesetzgeber bei der Aufstellung der šarīʿa auf das Gute abzielt, kann er nicht gleichzeitig einen Schaden intendieren, obwohl das Letztere dem Guten [notwendig] inhärent ist.“113 Dem Konzept maṣlaḥa mursala liegt ein glaubensorientiertes Schöpfungsprinzip zugrunde: Ebenso wie Gott das Wohlergehen des Menschen anders sieht, als es sich der Mensch für sich selbst und seinesgleichen vorstellt, wird auch der Mensch mit dem Hintergrund des Glaubens fähig, das Wohlergehen anders zu betrachten, als er es aus der Perspektive seines eigenen Begehrens tun würde. So spricht Gott im Koran zu seinen Dienern (Q 2:216) hinsichtlich ihrer Gefühlsneigungen in folgender Weise: „Vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch ist, und vielleicht ist euch etwas lieb, während es schlecht für euch ist. Allah weiß, ihr aber wisst nicht.“114 Das höchste Gute im Sinne des Gemeinwohls zeichnet sich vor den allgemeinen Gütern nicht dadurch aus, dass ihm bestimmte rational nachvollziehbare Interessen zugrunde liegen, sondern dass in ihm das Wohlergehen auf eine Art und Weise gewahrt bleibt, dass ihm jegliche Formen eines Objekts des eigenen Begehrens 113 Ebd., Bd. 2, S. 23. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 224. 114 Der Kontext dieser Koranaussage Q 2:216 lautet: „Vorgeschrieben ist euch zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist. Aber vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch ist, und vielleicht ist euch etwas lieb, während es schlecht für euch ist. Allah weiß, ihr aber wißt nicht.“

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entzieht. Das ethisch-islamische Verständnis des Gemeinwohls wird daher in der Rechtstradition vom Objekt des eigenen Begehrens klar unterschieden. Dabei wird laut islamischem Recht das Begehren an sich nicht verpönt.115 Das Objekt des Begehrens, das durch Verlangen nach Freude (laḏḏa) und Glücklich sein (faraḥ) angestrebt wird, ist in der islamischen Moralvorstellung an sich nicht als ein Übel angesehen. Eheschließung wird z.B. im islamischen Recht nicht nur als Akt zur Verwirklichung des Gebotes der Fortpflanzung betrachtet. Vielmehr zielt diese Gesetzgebung durchaus auf die daraus resultierende Freude und Glück sein ab.116 Anerkannt als legitimes menschliches Verlangen werden die natürlichen Bedürfnisse des Menschen im Rahmen der immanenten Güter der Praktik unter der Kategorie des diesseitigen Interesses (al-ḥāǧiyāt) aufgeführt.117 Die Frage, in welchen Situationen der Mensch seinem Begehren nicht nachgeben darf, entscheidet nach den muslimischen Rechtsgelehrten die Offenbarung. Hierzu wird häufig auf Koranverse verwiesen, die zwischen Neigungen und aufrichtigen Gefühlen unterscheiden.118 Tief verankert in der menschlichen Seele offenbart das Begehren das, was allen Lebewesen gemeinsam ist, sodass es als ein ständig von äußeren Reizen angezogener Gegenspieler des Willens eine Übermachtstellung gegenüber der Vernunft einnimmt. Weil die Leidenschaften auf diese Weise kaum unter die Kontrolle der Vernunft gebracht werden können, ist nach islamischer Glaubenslehre allein ein glaubensorientierter Wille in der Lage, ein Nachgeben gegenüber dem

115 Ausgehend von Q 23:71: „Wenn die Wahrheit ihren Neigungen gefolgt wäre, gerieten die Himmel und die Erde und wer in ihnen ist, wahrlich ins Verderben. Aber nein! Wir kamen zu ihnen mit ihrer Ermahnung, sie aber wenden sich von ihrer Ermahnung ab“ unterscheidet ašŠāṭibī zwischen Wollen und Begehren. 116 Hierzu kann man zahlreiche Koranverse anführen, z.B. Q 7:31: „O Kinder Adams, legt euren Schmuck bei jeder Gebetsstätte an und eßt und trinkt, aber seid nicht maßlos! – Er (Allah) liebt nicht die Maßlosen“; Q 2:223: „Eure Frauen sind euch ein Saatfeld. So kommt zu eurem Saatfeld, wann und wie ihr wollt. Doch schickt (Gutes) für euch selbst voraus. Und fürchtet Allah und wisst, dass ihr Ihm begegnen werdet. Und verkünde den Gläubigen frohe Botschaft“; Q 2:187: „Erlaubt ist euch, in der Nacht des Fastens mit euren Frauen Beischlaf auszuüben; sie sind euch ein Kleid, und ihr seid ihnen ein Kleid. Allah weiß, dass ihr euch selbst (immer wieder) betrogen habt, und da hat Er eure Reue angenommen und euch verziehen. Von jetzt an verkehrt mit ihnen und trachtet nach dem, was Allah für euch bestimmt hat, und esst und trinkt, bis sich für euch der weiße vom schwarzen Faden der Morgendämmerung klar unterscheidet! Hierauf vollzieht das Fasten bis zur Nacht! Und verkehrt nicht mit ihnen, während ihr euch (zur Andacht) in die Gebetsstätten zurückgezogen habt! Dies sind Allahs Grenzen, so kommt ihnen nicht zu nahe! So macht Allah den Menschen Seine Zeichen klar, auf dass sie gottesfürchtig werden mögen“. 117 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 20. 118 Vgl. u.a. Q 3:14: „Ausgeschmückt ist den Menschen die Liebe zu den Begierden, nach Frauen, Söhnen, aufgehäuften Mengen von Gold und Silber, Rassepferden, Vieh und Saatfeldern. Das ist der Genuss im diesseitigen Leben. Doch bei Allah ist die schönste Heimstatt.“; Q 79:40-41: „Was aber jemanden angeht, der den Stand seines Herrn gefürchtet und seiner Seele die [bösen] Neigungen untersagt hat, so wird der [Paradies]garten [ihm] Zufluchtsort sein.“

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Begehren zu verhindern.119 Ohne Beistand durch die Offenbarung kann die Vernunft zum Sklaven der Leidenschaft werden, wie es bereits in Q 25:43 metaphorisch erläutert wurde: „Was meinst du wohl zu einem, der sich seine Neigung zu seinem Gott nimmt? Würdest du denn Sachverwalter über ihn sein können?“ Die Übermacht des Begehrens lässt sich am Beispiel des Sündenfalls des Propheten Josephs (as) gut zeigen, der laut koranischer Erzählung trotz seiner prophetischen Berufung beinahe der Verführung der Gemahlin seines hochvermögenden ägyptischen Gönners nachgegeben hätte, wenn Gott ihm nicht die Kraft, zu widerstehen gegeben hätte „Es verlangte sie nach ihm, und es hätte ihn nach ihr verlangt, wenn er nicht den Beweis Seines Herrn gesehen hätte. Dies [geschah], damit Wir das Böse und das Schändliche von ihm abwendeten. Er gehört ja zu Unseren auserlesenen Dienern.“ (Q 12:24) Durch die Abwendung des Bösen und das Hervorrufen des Guten zielt die šarīʿa nach aš-Šāṭibī primär darauf ab, die Errichtung des diesseitigen Lebens im Dienste des jenseitigen Lebens angemessen zu gestalten. Der ultimative Zweck der šarīʿa besteht darin, die Dienerschaft der Gläubigen gegenüber Gott durch ihre Befreiung von den eigenen Neigungen, sowie durch eine glaubensorientierte Lenkung des Begehrens (ahwāʾ) zu erlangen. Deshalb sind die Begriffe maṣlaḥa und laḏḏa (Lust/Genuss) in der juristischen Sprache nicht austauschbar. Dies gilt auch für die Begriffe maḍarra (Schaden) und alam (Schmerz). „Und dies alles ist dadurch zu erklären, dass die Nutzen und Schäden für die Errichtung dieses Lebens rechtens oder verboten sind und nicht dazu, um körperliche Bedürfnisse [bzw. Begierden] zu erlangen.“120 Laḏḏa genau wie alam stehen nicht in einem unmittelbaren Verhältnis zu den religiösen Werturteilen von Gut und Übel, sodass nicht alles, was als gut erkennbar ist, unbedingt zur diesseitigen Freude führt und nicht alles, was als Übel eingestuft werden kann, zwangsläufig ein diesseitiges Leiden impliziert. So lässt sich aus dem o.g. Koranvers ein weiteres Verständnis zum Begriffspaar Freude vs. Schmerz ableiten, das sich dem Kausalitätsbezug zur Handlungswirklichkeit entzieht. Wenn jemand krank ist oder eine schlechte Ernte hat, dann geschieht dies nicht aus dem Grund, dass derjenige gesündigt hat. 121 Mit Glück und Leiden stellt Gott die 119 Nach Hannah Arendt ist der Wille „der Schiedsrichter zwischen Vernunft und Begehren, und als solcher ist allein er frei.“ Denn „Was auch immer die Vernunft auf der einen Seite mir sagt, kann überzeugend oder auffordernd sein, meine ‚appetitūs‘auf der anderen Seite werden als begehrende Reaktionen auf alles verstanden, was auf mich von außen wirkt.“ (Arendt: Über das Böse, S. 104f.) 120 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt Bd. S. 30. Diese Aussage wird mit Rückgriff auf Q 2:16 untermauert. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 224. 121 Die kausale Vorstellung hielt sich in bestimmten theologischen (christlichen wie islamischen) Denkrichtungen sehr hartnäckig, weil die Tatsache, dass der Mensch nur leide,

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

Menschen auf die Probe, um ihre Gesinnung zu testen. Dadurch erübrigt sich die in der babylonischen und hebräischen Geschichte aufgeworfene Frage nach denjenigen, die unschuldig leiden. Im Prozess dieser Infragestellung entstand das Bild des leidenden Gerechten, also desjenigen, der ungerecht leiden muss und hierfür keine Antwort findet. Zu diesen Gestalten ist auch die Hiobsfigur zu zählen. 122 Als er sich in seiner Not an Gott wendet, erhält Hiob (Ayyūb) auch hier keine Erklärung für sein Leid. Er wird lediglich ohne Begründung für das Geschehen von seinem Leiden erlöst. „Und [auch] Ayyūb, als er zu seinem Herrn rief: ‚Mir ist gewiss Unheil widerfahren, doch Du bist der Barmherzigste der Barmherzigen. Da erhörten Wir ihn und nahmen das Unheil, das auf ihm war, von ihm hinweg, und gaben ihm seine Angehörigen und noch einmal die gleiche Zahl dazu, aus Barmherzigkeit von Uns und als Ermahnung für diejenigen, die [Uns] dienen.‘“ (Q 21:83-84) Doch macht die Grunderfahrung Hiobs dem Menschen sein Unvermögen deutlich, die Pläne Gottes bei seiner Weltlenkung zu verstehen. 123 Freude und Leiden korrespondieren zwar nicht mit maṣlaḥa mursala bzw. mafsada mursala, jedoch sind sie auf der untergeordneten Ebene der bedürfnisbezogenen Güter der Praxis mit diesen verbunden und unterhalten somit gleichermaßen ein binäres Verhältnis zum menschlichen Streben und zur göttlichen Intention. Dabei ist Gottes Barmherzigkeit als Schlüsselbegriff für Freude und Leiden konstitutiv. Aš-Šāṭibīs Überlegung zum Verhältnis der Gefühlsneigungen und immanenten Güter der Praxis speisen sich aus der von ar-Rāzī intendierten Relation zwischen menschlichen Bedürfnissen und der šarīʿa inhärenten göttlichen Weisheit, nämlich der Barmherzigkeit und Fürsorge. Einem modernen Verständnis von ar-Rāzīs Barmherzigkeitsbegriff zufolge entspringt das Begehren aus dem von der Fürsorge bzw. Barmherzigkeit hervorgerufenen Bewusstsein des „Mangels“, das das Bedürfnis weil er zur Sünde neige, Gott für unschuldig erklärte. Diesem Denkinhalt liegen zahlreiche Koranverse zugrunde, wie etwa Q 6:6: „Haben sie nicht gesehen, wie viele Geschlechter Wir vor ihnen vernichteten, denen Wir auf der Erde eine feste Stellung verliehen hatten, wie Wir sie euch nicht verliehen haben, und auf die Wir den Regen ergiebig (hinab)sandten, und unterhalb derer Wir Flüsse strömen ließen? Und da haben Wir sie für ihre Sünden vernichtet und nach ihnen ein anderes Geschlecht entstehen lassen.“ Es war nicht Gott, der den Menschen Übel erleiden ließ, sondern der Mensch hatte sich seine Lage selbst verschuldet, lautet die Antwort der rationalen Theologie. (Vgl. az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ, 15ff.; und für die moderne theologische Hermeneutik vgl. Paul Ricoeur: La symbolique du Mal. Souillure, Péché, Culpabilité, Paris 1991, S. 117.) 122 In der christlichen Überlieferung bekommt Hiob, der ungerechtfertigterweise leidet, von seinen Freunden den Vorwurf gemacht, irgendwann gesündigt zu haben, denn „Wohl aber habe ich gesehen: Die da Frevel pflügten und Unheil säten, ernteten es auch ein.“ (Hiob 4,8) 123 Für die Rationaltheologie beginnt der Prozess des Verstehens schon mit der Frage, wie alles angefangen hat um eine Sinnlosigkeit des Bösen zu vermeiden: „Woher kommt das Übel?“ (Vgl. az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ, 27f.)

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3.3. Im Spannungsfeld zwischen Rationaltheologie und Rechtstheorie

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nach Freuden weckt. Durch dieses Bewusstsein des Mangels nimmt der Gläubige im Rahmen eines Prozesses der Rückwirkung der Barmherzigkeit auf die ethische Ausrichtung sich selbst als ein Gemeinschaftswesen wahr.124 Mit dieser, der Sozialethik folgenden Auffassung der Barmherzigkeit, ist der Übergang vom selbstbezogenen Eigennutz zum gemeinschaftlichen Gut gemacht. Hier liegt der Grund für aš-Šāṭibīs Ablehnung Ibn ʿAbd as-Salāms mystischer Überlegungen zum Begriff des Begehrens, bei dem die spirituelle Freude (laḏḏa wuǧdāniyya) als letztes Ziel menschlichen Strebens betrachtet wird. In aš-Šāṭibīs Sozialethik wird die mystische maṣlaḥa als geistige Gotteserfahrung in dem Bereich der individuellen Glückseligkeit angesiedelt. 125 Gleichwohl geht aus aš-Šāṭibīs Haltung eine implizite Zurückweisung der sogenannten ibāḥiyya (Libertinismus) des Guten hervor, deren von der Sinnlichkeit beherrschten Philosophie Gutheit und Begehren gleichsetzt. Auf das Rechtsdenken aš-Šāṭibīs hatte die Lehre von ibāḥiyya jedoch kaum einen Einfluss, da diese von vorneherein die moralische Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen ausschließen. Für sie vollzögen sich alle menschlichen Handlungen nach einer Vorbestimmung aus der Ewigkeit her, sodass der Unterschied zwischen Sünden und guten Taten von der Allmacht Gottes kaum eine Bedeutung beigemessen werde.126 124 Diese Lektüre lässt sich durch den von ar-Rāzī verwendeten Begriff munāsaba (Situationsangemessenheit) bestätigen, der Gegenstand zweier Definitionsansätze bei ar-Rāzī war: Einer davon betrifft das Handeln des Individuums. Hier hat munāsib die Bedeutung von einer im menschlichen Handeln bereits grundgelegten ambivalenten Handlungs-Disposition, die sowohl ins Positive (laḏḏa – Freude/Genuss), wie ins Negative (alam – Schmerz/Qual) tendieren kann. Der zweite Definitionsansatz hat die Bedeutung von: Angemessenheit bzgl. des Handelns der Weisen gemäß der Sitte (fī l-ʿāda). Was die Idee des Mangels angeht, so kann man den Fastenritus als Beispiel nennen. Die Entbehrung, die von den Gläubigen im Fastenmonat Ramadan erwartet wird, hebt das für den sozialen Zusammenhalt notwendige Bewusstsein des Mangels hervor. Das u.U. von der Entbehrung hervorgerufene Nachempfinden des Mangels wirkt freilich bei der Begründung der Moralnorm des Fastens mit. (Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 237-242.) 125 Beeinflusst durch die spätklassische Mystik (at-taṣawwuf) definiert Ibn ʿAbd as-Salām maṣlaḥa als spirituelle Freude (laḏḏa wuǧdāniyya). In Ibn ʿAbd as-Salāms Betrachtung des theologischen Konzepts maṣlaḥa werden Merkmale der juristischen Korrektheit mit den Eigenschaften der Frömmigkeit vereint. Maṣlaḥa bezeichnet nach Ibn ʿAbd as-Salām nicht nur laḏḏa und faraḥ, sondern auch alle dazu beitragenden Faktoren einschließlich der Mittel, einen solchen asketischen Zustand zu erreichen. Auf diese Weise werden die verschiedenen maṣāliḥ dann in solche des Diesseits und solche des Jenseits aufgeteilt, wobei erstere auch durch den Verstand erfasst werden können, während letztere nur durch naql (Text, Tradition, Offenbarung) etabliert werden können. Bei Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī (gest. 656/1259) wird der Einfluss sufischen Denkens auf das Konzept von maṣlaḥa noch stärker deutlich, dagegen wirken die Definitionen wenig rational. (Vgl. Ibn ʿAbd as-Salām: Qawāʿid al-aḥkām fī maṣāliḥ al-anām, Bd. 1, S. 47.) 126 Mit der libertinischen Denkrichtung hatte sich al-Ġazālī in seinen Traktaten zur Widerlegung der Philosophie ausführlich auseinandergesetzt. (Vgl. Abū Rīdah: Al-Ġazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie, S. 56f.) Al-Ġazālī sah im sogenannten Libertinismus ein Zeichen der sittlichen und geistigen Dekadenz, die es zu bekämpfen gilt.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

Dem Begehren nachgeben entspräche lediglich der niederen Natur des Menschen und seiner von Gott erschaffenen schwachen, von der Sinnlichkeit beherrschten Seele. Von den Libertinern könnte daher folgender Spruch stammen: „Glück ist einigermaßen das, was dem Vorwärtsdringen der Begierde Einhalt gebietet“, 127 wobei die Mystiker eine solche Aussage annehmen würden, wenn damit ihre Auffassung von Begierde gemeint wäre. Beim Konzept der maṣlaḥa mursala wird das Begehren im Prozess der Urteilsfindung als natürliches Vermögen vom Willen und Verstand beherrscht, wobei dem Willen als individuelles freies Vermögen die glaubensorientierte niyya vorausgeht. Der Verstand steht dabei als eine gemeinsame Eigenschaft aller Vernunftswesen im Zentrum des sittlich-konventionellen Werturteils.128 Die theologisch-ethische Deutung von maṣlaḥa mursala begreift es als Ergebnis eines evolutionären gemeinschaftlichen Prozesses, der aus sich heraus auf eine neue Ebene der zwischenmenschlichen Interaktion von Eigennutzorientierung zum Gemeingut übergeht: „Und unter ihnen gibt es einige Menschen, die sagen: Die Nutzen und die Schäden des Jenseits können nur durch das göttliche Recht erkannt werden. Und was die diesseitigen angeht, so werden sie durch die aufgrund von Lebensumständen bedingten Handlungen, Lebenserfahrungen, Sitten und systematisches Denken erkannt […]. Derjenige, der den Abwägungsprozess zwischen Nutzen und Schäden dem Kontext gemäß erkennen will, sollte dieses anhand seiner Vernunft beurteilen. Angenommen, der Gesetzgeber hätte sich nicht dazu geäußert, so könnte er dann auf ihrer Grundlage [, sprich Abwägung,] Moral- und Rechtsnormen aufbauen. Auf diese Weise werden sie kaum vom [vermeintlichen] Ziel des Gesetzgebers abweichen, mit Ausnahme der gottesdienstlichen Handlungen, deren Nutzen und Schäden nicht auf den ersten Blick erkennbar sind […]. Und wie bereits erwähnt, ist dieses auch Gegenstand einer [anhaltenden] Diskussion, denn was das Jenseits angeht, so kann man dessen Angelegenheiten lediglich durch die Offenbarung erkennen.“129 Durch gemeinsame Sitten – und nicht etwa durch zwingende Rechtsnormen – ist nach aš-Šāṭibī die Idee des sittlichen Guts (maṣlaḥa mursala) für die Gemeinschaft grundlegend gekennzeichnet. Maṣlaḥa mursala ist somit ein grundlegender Relationsbegriff zwischen dem höchsten Gut und dem diesseitigen körperlichen Wohlergehen. Das Erlangen des diesseitigen Guten resultiert nach aš-Šāṭibī nicht ausschließlich aus der moralischen Autorität der religiösen Norm, sondern orientiert 127 Vgl. Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 204. Dem gleichen Gendankengang begegnet man in Abū Rīdah: Al-Ġazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie, S. 57ff. 128 Wo aber die soziale Wirklichkeit pluralistisch und nicht mehr im Sinne einer Konvention verlässlich ist, wird die offenbarungsgestützte Abwägung im Kontext des Handlungsumfelds zu einer unentbehrlichen Prozedur für die Urteilsfindung. 129 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 46f. Bd. 2, S. 37. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 224.

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sich vielmehr an der Konventionsdynamik wechselseitiger Verhaltenserwartungen im sozialen Umfeld. Der Diskussion um ein islamisches Ethos werden damit Perspektiven eröffnet, die ethische Ausrichtung einem Doppelprinzip der Bestimmtheit zu unterwerfen, das sich gleichermaßen an die Norm sowie an dem heuristischen Verhalten von Individuen richtet, vor dem Hintergrund kollektiver Gewohnheiten im Sinne eines Gemeinwohls zu agieren. 130 Innovativ an aš-Šāṭibīs Ansatz ist, dass das ihm zugrunde liegende Verständnis von Rechtsnorm diese als evolutionären Prozess einer Interaktionsdynamik ansieht, die sich jenseits der Eigennutzorientierung der glaubenden Erkenntnis unterwirft. Für die Handlungssituationen, bei deren Werturteil Verstand und Offenbarung nicht einer Meinung sind, führt aš-Šāṭibī die Kategorie des sogenannten „abrogierten Gutes“ (al-maṣlaḥa al-mulġāt) ein, deren theologisch-ethischer Sinn bis heute kaum die von ihm verdiente Beachtung fand, obwohl es sich dabei um einen Schlüsselbegriff im Gesamtgerüst islamischer Rechtsordnung handelt. c) Maṣlaḥa mulġāt (Privatnutzorientierung, abrogiertes Gut und zweifelhaftes Interesse): Die Diskussion um maṣlaḥa mursala führt aš-Šāṭibī zu einer anderen Kategorie von maṣlaḥa, die er mulġāt (abrogiert) nennt. Ein Interesse (maṣlaḥa) kann abrogiert werden, wenn es infolge eines Abwägungsprozesses (tarǧīḥ) zu Gunsten eines an Wert höheren anderen abgelöst werden muss. Bei der Definition sämtlicher Kategorien der maṣlaḥa bleibt nach aš-Šāṭibīs Methode die Abwägung von vorrangiger Wichtigkeit. Tarǧīḥ erfordert nach aš-Šāṭibī zunächst einmal, dass man sich darüber klar wird, welche negativen Folgen die durch bestimmte Handlungsweisen erstrebenswerten Güter eventuell nach sich ziehen können. Anhand der Induktion soll als erstes überlegt werden, wie sich die verschiedenen maṣāliḥ (Güter/Interessen), die mit den zur Wahl stehenden Handlungsmöglichkeiten erreichbar sind, zueinander verhalten. 131Derartige Abwägungskriterien müssen auf ihren Zusammenhang und das in ihnen maßgebende Güterprinzip als das Notwendige hin geordnet werden. So ist die Frage zu stellen, welche offenbarungsund konventionsgemäß relevanten Güter hier auf dem Spiel stehen. Weiter ist zu 130 Diese Sichtweise wird von der heutigen sogenannten Situationsethik unterstrichen. (Vgl. u.a. Joseph Fletscher: Situation Ethics. The New Morality, Louisville/London 1966, S. 80-86; Johannes Fischer u.a.: Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik, Stuttgart 2008, S. 230.) 131 Moderne muslimische Theologen, wie Yūsuf al-Qaraḍāwī, verwenden bis heute die tarǧīḥProzedur, indem sie bei der Anpassung der Moral- und Rechtsnormen an die aktuelle Lebenssituation der Muslime immer wieder ähnliche abwägende Fragen formulieren, die bereits von aš-Šāṭibī im 8./14. Jh. entworfen worden sind, wie z.B.: Welches Interesse ist größer, welches ist kleiner? Welches kommt einem weiteren Personenkreis zugute, welches einem engeren? Welches wirkt sich tiefgehender aus, welches weniger tiefgehend? Welches ist von längerer, welches von kürzerer Dauer? etc. Zur Rezeption der islamischen abwägenden Vernunft in der Moderne (Vgl. Rotraud Wielandt: Offenbarung und Geschichte im Denken moderner Muslime, Franz Steiner Verlag, Bd. 25, S. 49ff. u. 70ff., Wiesbaden 1971).

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

fragen, wer durch den in einer Handlungssituation sich ergebenden Schaden zur Rechenschaft gezogen wird. Bei der Urteilsfindung im Falle von maṣlaḥa mulġāt handelt es sich zwar im Allgemeinen um Güterabwägung im Blick auf möglichen Schaden bzw. Nutzen, da diese in der Praxis ineinander verwoben sind, es ist jedoch kein einfaches Unterfangen, die „Schuldfrage“ im Handlungsgeflecht eindeutig zu beantworten. Genau auf dieser Ebene scheint die Kategorie der abrogierten Güter als analytischer Begriff zu greifen. Die Bedeutung des Begriffs des abrogierten Interesses zeigt sich in besonderem Maße in der Diskussion um das Alkohol- und Glücksspielverbot, die beide Nutzen und Schaden nach sich ziehen. Die aus dem Koranvers zu Alkoholkonsum und Glücksspiel abgeleiteten Rechtsnormen wurden nach aš-Šāṭibī auf der Grundlage einer Abwägungsanalyse als verbindlich erklärt. Da die Aufbewahrung der intellektuellen Fähigkeit und der damit verbundenen menschlichen Urteilskraft gegenüber dem durch den Weingenuss erstrebten Interesse, wie etwa Heiterkeit, Entspannung oder intensive Lebenslust, den Vorzug verdient, werden sämtliche dem Alkoholkonsum zugeordneten „Nutzen“ aus dem Repertoire des Guten ausgeschlossen. Das „abrogierte Gut“ (al-maṣlaḥa al-mulġāt) lässt sich anhand einer Abwägung eventueller negativer Folgewirkungen verschiedener Handlungsoptionen gegeneinander abgrenzen132. Die bezüglich der genannten abrogierten Güter formulierte Rechtsnorm sollte nach aš-Šāṭibī jedoch auf die einzelnen und vom Gesetzgeber bezeichneten Handlungssituationen eingeschränkt werden. Lebensfreude oder finanzieller Gewinn sind als solche nicht von der aus dem Koranvers zum Alkoholkonsum und Gewinnspiel abgeleiteten Rechtsnorm betroffen. 133 Andersherum ist die Einnahme des Alkohols als chemische Substanz in Arzneimitteln erlaubt. Denn von der Handlung, in der ein Schaden vermutet wird, wird offenbar vorausgesetzt, dass deren Vollzug in der Lebenswelt adäquat von der Moral- und Rechtsnorm her geordnet werden soll. Beim Alkohol- und Glücksspielverbot geht es um die Festlegung der Grenzen eines Spielraumes und nicht unbedingt um das Verbot einer Substanz oder Handlung an sich. Hier zeigt sich der tiefgründige soziale Charakter von aš-Šāṭibīs Analyse. Berauschende und betäubend wirkende Mittel zu sich zu nehmen oder sich Glücksspielen zu widmen, bedeutet, Ungutes für sich und für die anderen bewusst in Kauf zu nehmen, das objektiv in Schuld verwickelt, selbst wenn der womöglich zum Übel führenden Handlung eine gute Absicht vorausgeht. Dieser Deutung liegt eine Aussage des Propheten (sas) zugrunde, in der vor möglichen Verfehlungen zweifelhafter Handlungen gewarnt wird, die üble Folgen nach sich ziehen könnten:

132 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 32. 133 Vgl. ders.: al-Iʿtiṣām, Bd. 3, S. 8-12.

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„Man waqaʿa fī š-šubuhāt waqaʿa fi-l-ḥarām.“ – „Wer sich in zweifelhafte Handlungen verwickelt, nimmt die [daraus entstehenden möglichen] verwerflichen Folgen in Kauf.“134 Durch die Einführung der Kategorie der abrogierten Güter erweist sich die Schuldsprache als indirekt und bildhaft. Diese Kategorie offenbart, dass das, was die Schuld für die glaubende Erkenntnis ist, sich nicht mit dem deckt, was der sozialen Konvention nach das Böse ist, da Menschen in bestimmten zweifelhaften Handlungen nicht mehr die Beleidigung eines ethischen Gottes, nicht mehr die Verletzung der Gerechtigkeit, die sie anderen Menschen schulden, oder die Verletzung der Personenwürde sehen. Gottesrecht enthält häufig genaueste Vorschriften auf Gebieten, die für die Menschen ethisch neutral sind, und hält Handlungen für nicht unrein, die man von der Tradition oder Stammesgesetzgebung als „schlecht“ kennengelernt hatte. Das abrogierte Gut kommt bei Handlungen ins Spiel, die erst im Glauben an Gott als schlecht zu beurteilen sind. Doch die praktische Vernunft bleibt dabei nicht vollkommen unbeteiligt. Denn durch diesen Begriff wird eine Auslegungsdynamik in Gang gesetzt, in der die Bindung an die Gemeinschaft und deren Lebensformen durch Anerkennung der mitmenschlichen Zusammengehörigkeit und gegenseitigen Selbstachtung als Kerngedanke im Mittelpunkt des Werturteils steht. Deutungen und Analysen des Verhältnisses vom rechtmäßigen Eigennutz (maṣlaḥa mursala) zum Gemeingut (maṣlaḥa muʿtabara) speisen sich im Rechtsdenken aš-Šāṭibīs aus der glaubenden Erkenntnis (ṣulb al-ʿilm) in der Lebenswelt, aus dem Koran sowie seiner Auslegungsgeschichte. Das abrogierte Gut steht hierbei als Bindeglied zwischen Tugend und Sünde und zeigt, dass der Übergang zwischen beiden Polen nicht über eine Kluft führt, sondern fließend über sämtliche Handlungsoptionen hinweg verläuft. Diese Kategorie betont den Tatbestand, dass das Übel je nach Handlungssituation dem Guten zum Verwechseln ähnlich erscheinen kann. Hier entsteht der praktische Rahmen menschlicher Fehlbarkeit, aus der sich das Sündhafte speist. Der Umstand, dass aufgrund der Unvorhersehbarkeit menschlicher Handlungsfolgen ein Abwenden des Bösen nicht immer im Vorfeld möglich ist, verlangt von dem Menschen eine Bereitschaft zum Sündenbekenntnis als Zeichen von Demut und Umkehr zum ursprünglichen Wesen der fiṭra. Der Begriff des abrogierten Guts macht das Unvermögen des Menschen deutlich, seine eigene anerschaffene Natur und deren Neigungen permanent und in allen Lebenslagen zu verstehen, sodass die Sündenerfahrung in ihrem Höherpunkt als Selbstentfremdung erlebt wird. „An dem Tag wird jede Seele das, was sie an Gutem getan hat, bereitfinden. Und von dem, was sie an Bösem getan hat, hätte sie gern, wenn zwischen ihr

134 Muslim ibn al-Ḥaǧǧāǧ (gest. 261/875): Ṣaḥīḥ Muslim, hg. von Naẓr ibn Muḥammad, 2 Bde., Riad 2006, Bd. 2, S. 750, Hadith-Nr.1599.

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3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung

und ihm ein weiter Abstand wäre. Und Allah mahnt euch zur Vorsicht vor sich selbst. Allah ist gnädig zu den Menschen.“ (Q 3:30) Das Sündenbekenntnis ist insofern eine schmerzhafte Erfahrung, als es das Schuldgefühl ausdrückt, mit dem der Mensch leben muss und das ihn seine Nichtwürdigkeit spüren lässt. So führt die Frage nach der Schuld zur Frage nach ihrem Verhältnis zum Selbst. Die Erfahrung, die ein Gläubiger im Sündenbekenntnis eingesteht, offenbart seinen frommen Wunsch, sich vom Sündhaften als vergängliches Inzident des Selbst zu distanzieren. Und dieses Gefühl wird sprachlich in folgender Form umgesetzt: „Die Sünde macht mich mir selbst fremd.“ 135

135 Hier handelt es sich um eine Steigerung der Aussage Paul Ricoeurs: „Die Sünde macht mich mir selbst unverständlich.“ (Vgl. Paul Ricoeur: Spirituelle Intelligenz: Glaube zwischen Ich und Selbst, Freiburg/ Breisgau 2005, S. 53)

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4. Ethische Ausrichtung als identitätsstiftend 4.1. Verantwortungsethik als Grundlage religiöser Identitätsbestimmung Maṣlaḥa bildet den Schlussstein ethischer Ausrichtung von aš-Šāṭibīs Intentionsansatz. Im Gemeinwohl drückt sich der zielgerichtete (teleologische) Gesichtspunkt der šarīʿa aus, der sich aus den unmittelbar auf die Handlung des Menschen angewandten Bewertungen und Schätzungen zusammensetzt. Maṣlaḥa als ethische Ausrichtung zeichnet sich dadurch aus, dass sie unmittelbar auf die handlungstheoretische Ebene antizipiert, die in der koranischen Erzählung zu den Prophetenbiographien einem bestimmten gläubigen Dasein zugeschrieben wird. Die Orientierung an der koranischen Erzählung gewährt einen Daseinssinn, auf den die Offenbarung primär abzielt. So steht in Q 12:3: „Wir erzählen dir die schönste Erzählung dadurch, dass Wir dir diesen Koran offenbart haben. Du warst vordem einer von denen, die (davon) keine Ahnung hatten.“1 Indem sie die Ausrichtung auf das „wahre Leben“ narrativisiert, verleiht die koranische Erzählung dieser die wieder erkennbaren Züge geliebter oder verehrter Figuren, welche dem Gläubigen Handlungsorientierung und Lebenssinn gewähren. 2 „Wahrlich, in der Erzählung über sie ist eine Lehre für die Einsichtigen. Es ist keine Geschichte, die erdichtet wird, sondern die Bestätigung dessen, was vor ihm vorhanden war, und eine ins einzelne gehende Darlegung aller Dinge, und eine Rechtleitung und Barmherzigkeit für Leute, die glauben.“ (Q 12:111)

1 Erzählen bedeutet, so Paul Ricoeur: „[…] einen imaginären Raum von Gedankenexperimenten auszuarbeiten, in denen das moralische Urteil im hypothetischen Modus durchexerziert wird“. (Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 200.) Indem sie den Charakter narrativisiert, gibt die Erzählung ihm seine Bewegung zurück, die in den erworbenen Dispositionen und den sedimentierten Identifikationen mit verschwunden war. (Vgl. u.a. Stefan Scharfenberg: Narrative Identität im Horizont der Zeitlichkeit. Zu Paul Ricoeurs ‚Zeit und Erzählung‘, Epistemata 2011, S. 402ff.) 2 Demnach korrespondiert die ethische Ausrichtung als Sinnsuche mit dem ursprünglichen semantischen Gehalt des arabischen Begriffs für Religion „dīn“, der so viel wie „Kredit“ bedeutet. Mit Rückgriff auf diese etymologische Konvention wird dieser Begriff häufig durch den Ausdruck „Sinnkredit“ gedeutet. Eine solche Hypothese scheint durchaus vertretbar, wenn man den Begriff Sinn als etwas versteht, was dem Leben seinen Wert und Zweck gibt. (Vgl. Ricoeur: Das Selbst als ein Anderer, S. 33; Lutz: Der hoffende Mensch, S. 197.)

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4. Ethische Ausrichtung als identitätsstiftend

Die Tugenden fungieren in der koranischen Erzählung als identitätsstiftende Eigenschaften des Gläubigen.3 Dabei handeln die Tugendhaften nicht einfach auf das vermeintlich Gute hin, „sondern aufgrund dessen begrifflicher Fassung als Erfüllungsgestalt des Seins schlechthin immer auch schon als verdankt aus diesem heraus.“4 Das Gemeinwohl wird auch über das dies- und jenseitige Wohlergehen gefasst, das von aš-Šāṭibī als Hauptzielsetzung der göttlichen Rechtsordnung bezeichnet wird.5 Geht man von der Annahme aus, dass ein Lebensziel für die Errichtung eines als Einheit aufgefassten Daseins unentbehrlich ist, 6 so könnte man behaupten, dass der Gläubige erst in Verbindung mit der in der Offenbarung implizierten ethischen Ausrichtung auf das Gute ein im Sinne des Schöpfers erfülltes Leben führen könne. Dieser Lesart zufolge wird die intentionale Vorstellung vom Guten bei aš-Šāṭibī erst unter der Voraussetzung einer Verzahnung mit der Angeschaffenheit als ethischen Seinsbegriff verständlich.7 3 Vgl. Q 2:62: „Gewiss, diejenigen, die glauben, und diejenigen, die dem Judentum angehören, und die Christen und die Säbier - wer immer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt und rechtschaffen handelt, – die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, und keine Furcht soll sie überkommen, noch werden sie traurig sein.“; Q 2:130: „Wer wird das Glaubensbekenntnis Ibrahims wohl verschmähen außer dem, der selbst betört ist? Wir haben ihn (Ibrahim) ja bereits im Diesseits auserwählt, und im Jenseits gehört er wahrlich zu den Rechtschaffenen.“; Q 3:39 „Und da riefen ihm die Engel zu, während er betend in der Zelle stand: ‚Allah verkündet dir Yahya, ein Wort von Allah zu bestätigen, einen Herrn, einen Keuschen und Propheten von den Rechtschaffenen.“; und als Bezeichnung für Jesus in Q 3:45-46: „Als die Engel sagten: ‚O Maryam, Allah verkündet dir ein Wort von Ihm, dessen Name al-Masīḥ ʿIsā, der Sohn Maryams ist, angesehen im Diesseits und Jenseits und einer der (Allah) Nahegestellten. Und er wird in der Wiege zu den Menschen sprechen und im Mannesalter und einer der Rechtschaffenen sein.‘“ Mit „Rechtschaffenen“ wird hier die Übersetzung des aus dem Verb ṣaluḥa (tugendhaft sein) abgeleiteten Aktivpartizips ṣāliḥ gemeint, das zur selben Wurzel wie maṣlaḥa gehört und in Verbindung mit dem Begriff ʿamal (Handlung/Werk) semantisch dem Denkinhalt des Tugendhaften ähnlich ist. Eine Verbindung zwischen dem Sein und Handeln findet man vielerorts im Koran z.B. Q 20:15: „Gewiss, die Stunde kommt – Ich hielte sie beinahe (ganz) verborgen –, damit jeder Seele das vergolten wird, worum sie sich bemüht.“; Q 53:39: „Und dass es für den Menschen nichts anderes geben wird als das, worum er sich (selbst) bemüht“; Q 74:38: „Jede Seele haftet für das, was sie erworben hat.“ 4 Im modernen Sprachgebrauch kann im Anschluss an Paul Ricoeur festgehalten werden, dass durch die koranische Erzählung eine narrative Einheit des Seins ausgearbeitet wird, die die Beständigkeit in der Zeit des Charakters und diejenige der Selbstständigkeit zusammenhält. (Vgl. Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 203; Lutz: Der hoffende Mensch, S. 83.) 5 „Das Festlegen von Gesetzmäßigkeiten ist indes für das Wohlergehen der Menschheit [...] sowohl für die Gegenwart, als auch für die (eschatologische) Zukunft.“ (Aš-Šāṭibī: alMuwāfaqāt, Bd. 2, S. 4.) 6 Vgl. Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 194. 7 Als Sinnsuche kann die Ausrichtung auf das Gute nicht über das irdische Glück gefasst werden. Es ist nach K. Riesenhuber: „weder nur faktischer Endpunkt oder Wirkung des Strebens, noch resultiert Gutheit aus der Emotion, der Präferenz oder Werteentscheidung des autonomen Subjekts; vielmehr weiß das Streben sich selbst nach seiner Intentionalität, Wesensprägung das Wirkmächtigkeit (causa efficiens) als der Zielursächlichkeit (causa finalis) des an sich Guten

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4.1. Verantwortungsethik als Grundlage religiöser Identitätsbestimmung

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„Und einer [jeden] Seele und Dem, Der sie zurechtgeformt hat. Und ihr dann ihre Sittenlosigkeit und ihre Gottesfurcht eingegeben hat! Wohl ergehen wird es ja jemandem, der sie läutert, und enttäuscht sein wird ja, wer sie verkümmern lässt.“ (Q 91:7.10) Die koranische Offenbarung, die die Grundlage von aš-Šāṭibīs Überlegung zum Guten bildet, identifiziert daher die Frage des Wohlergehens mit der Frage nach der Läuterung der Seele, die im intentionalen Ansatz einer Art Selbstauslegung nahekommt. Der handlungsmäßige Zug, der sich aus der Läuterung der Seele ergibt, läuft auf ein an der Offenbarungsintention orientiertes Dasein hinaus. Der ursprüngliche Inhalt und Gegenstand der Ausrichtung auf das Gute wird durch ihre Verbindung zur Intention göttlicher Rechtsordnung transzendiert, indem das Gute nicht primär in den immanenten Gütern der Praxis gesucht wird, sondern in der Erkundung einer ethischen Absicht. So gesehen kann die Ausrichtung auf das Gute über die Intentionssuche als Sinnsuche gefasst werden. Dabei eröffnet sich eine Perspektive, im offenbarten Wort Gottes die Grundvoraussetzung für ein einheitliches Dasein als Gläubiger zu sehen, das durch die im Koran erzählten Prophetenbiographien und Heilsgeschichten rückblickend nachträglich organisiert und als „narrative Einheit“ zusammengefasst wird.8 Wenn die Erzählung dazu beiträgt, dem in Handlungsfragmente verstrickte Dasein (d.h. Selbigkeit)9 durch die Errichtung einer narrativen Identität zu einem einheitlichen Selbst (d.h. Selbstheit) zu verhelfen, so bestünde die Rolle der Offenbarung darin, dem in der narrativen Identität verankerten Verantwortungsbewusstsein einen ethischen Rahmen zu verleihen.10 Die verantwortungsethische Dimension des Selbst ergibt sich aus der Charaktereigenschaft der Handlungsinteraktion, die durch eine Asymmetrie zwischen dem, der tut, und dem, der leidet, gekennzeichnet ist.11 Die šarīʿa führt die aus der sozialen Interaktion entstehenden Rollen des Tuns und Erleidens in das Feld von Bewertung und Entlohnung ein,

8

9 10

11

verdankt.“ (Karl Riesenhuber: „Gut, das Gute. I. Philosophisch“, in: Walter Kasper (Hg.): Lexikon für Theologie und Kirche, 11 Bde., Freiburg i. Br., 1995, Bd. 4, S. 1113f.) Hierzu vgl. Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Darmstadt 1988; Paul Ricoeur geht in diesem Zusammenhang weiter, indem er betont: „Wie könnte schließlich ein Handlungssubjekt seinem eigenen, als Ganzes genommenem Leben eine ethische Qualifikation verleihen, wenn dieses Leben nicht zusammengefasst wäre, und wie könnte es zusammengefasst sein, wenn nicht genau in Form einer Erzählung?“ (Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 7.) Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Wiesbaden, 2004. Die narrative Identität hält nach Paul Ricoeur: „[…] beide Enden der Kette zusammen: Die Beständigkeit in der Zeit des Charakters und diejenige der Selbstständigkeit“, wobei letztere, auch als Pol der reinen Selbstheit bezeichnet, voraussetzt, dass sich die Person so verhält, „dass der Andere auf sie zählen kann. Weil auf mich jemand zählt, bin ich einem anderen über meine Handlungen Rechenschaft schuldig.“ (Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 202f.) Es handelt sich bei diesen Handlungsinteraktionsbezügen um Wechselbeziehungen, die als Handlungsumfeld die Menschen veranlassen, entweder selbst in das Handlungsgeflecht einzuwirken oder unter Einwirkung anderer zu stehen. Heinz E. Tödt fasst diesen Prozess

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4. Ethische Ausrichtung als identitätsstiftend

„indem der Erleidende als Empfänger von Verdientem oder Opfer von Unverdientem erscheint, je nachdem, ob der Handelnde sich parallel hierzu als Verteiler von Belohnungen oder Strafen erweist.“ 12

4.2. Zur Verhältnisbestimmung grundlegender Zielsetzungen der šarīʿa Aus einem hermeneutisch-methodischen Blickwinkel gesehen scheint das Verhältnis zwischen maqāṣid und ḥukm in diesem Zusammenhang vergleichbar mit der Relation zwischen umfassendem Lebensentwurf einerseits und den ihm untergeordneten menschlichen Praktiken, wie etwa Berufe, Künste etc. andererseits. Der Lebensplan eines mukallaf erhält so eine bewegliche und widerrufliche Form, die durch eine Hin-und-her-Bewegung zwischen mehr oder weniger entfernten Intentions-Idealen einerseits und der Abwägung von Vor- und Nachteilen bei der Wahl eines bestimmten Lebensplans auf der Ebene der Handlungen andererseits bestimmt wird. Hier entsteht der Spielraum für Umkehr, Reue und Vergebung. Die Aufrechterhaltung der zum Schutz des menschlichen Lebens notwendigen Bedingungsgrundlagen (ḍarūriyāt) wird nicht nur durch das stetige Hervorrufen des Guten und durch die Abwendung von Schäden erreicht. Vielmehr geht es aš-Šāṭibī um die aus den dialektischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Zielsetzungen der šarīʿa entstehenden Moral- und Rechtsbestimmungen. Der Sinn des Rechts

folgendermaßen zusammen: „Vom Handeln sprechen wir, wenn die Einwirkung des Menschen ´nach außen´ überwiegt; vom Leiden, wenn die Einwirkung ´von außen´ überwiegt, wenn also das Erfahren oder die Macht der Widerfahrnisse das Übergewicht hat.“ (Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 28.) Die in meiner Arbeit aus der islamischen Tradition inspirierte Relation zwischen „Sein“ und „Handeln“ wird von Heinz E. Tödt aus einer christlichen Perspektive folgendermaßen erklärt: „Im Handeln wie im Erleiden steht jeweils die Bestimmtheit des Selbstseins, die Identität, auf dem Spiel. Es geht jedem Menschen darum, ein Selbst zu sein, Identität zu gewinnen.“ (Ebd., S. 28.) 12 Paul Ricoeur (Vgl. Paul Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 179-193.) geht jedoch an diesem Stadium seiner Hypothese nicht von einem religiösen Hintergrund der ethischen Bewertung aus. Er vertritt eher die Idee Walter Benjamins, der zufolge die narrative Funktion ohne ethische Implikation unvorstellbar wäre. Dies lege bereits „die Verwurzelung der literarischen in der mündlichen Erzählung auf der Ebene der Präfiguration der Erzählung nahe.“ (Walter Benjamin: „Erzählen als Erfahrungsaustausch“, in: Ders.: Gesammelte Schriften,7 Bde., 1988-1999, Frankfurt a.M., Bd. 1.2, 1989, S. 691-704.) Hierzu vgl. auch Martin Heidegger: „Einleitung in die Phänomenologie der Religion [WS 1920-1921]“, in: Ders.: Phänomenologie des religiösen Lebens. Gesamtausgabe, 102 Bde., Frankfurt a. M. 1950, Bd. 60, S. 1-156. Beim authentischen „Gläubigen-Dasein“ von Paulus handelt es sich nach Martin Heidegger um ein komplexes Werkzeug der persönlichen Existenz, dessen Intensität eine totale, radikale und einmalige Rekonfiguration der Lebenswelt hervorruft. (Vgl. Sylvain Camilleri: „Heidegger, lecteur de Saint Paul“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 2011, S. 58.)

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4.3. Vom Schutz der Seele zur sozialen Verantwortung des Selbst

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ist somit der Schutz und die Erhaltung der Handlungen, die hauptsächlich ein hohes Gemeinwohl bringen, und ein Verbot der Handlungen, die hauptsächlich unnötige Schwierigkeiten oder Hindernisse produzieren. Der Schutz der notwendigen Lebensgrundlagen und das Abwenden des mit einer Handlung verbundenen Schadens gestalten sich im Rahmen eines gegenseitigen Einflusses, der einer glaubensorientierten Überlegung des Guten für die Gemeinschaft (und wohl gemerkt nicht ausschließlich für den Einzelnen) folgt. Dass es sich hierbei um ein Paradigma handelt, das nicht auf das Dasein des Selbst beschränkt ist, lässt sich dadurch erschließen, dass die Intentionstheorie in ein theologisches System integriert ist, das stimmig das reale Leben erfasst, und damit aber auch auf das Jenseits vorbereitet. Von diesem transzendental begründeten Ethikbegriff hängt jedoch das Verständnis von aš-Šāṭibīs Gedankengerüst ab, insofern als die in seiner Konzeption des Guten formulierte enge Verbindung zwischen Dies- und Jenseits sich nicht einem bloßen irdischen Gemeinwohl unterordnen lässt.13 Indem dieser theologische Ansatz einen Dualismus zwischen Glauben und Realität zurückweist, schafft er einerseits die Bedingung, durch eine unauflösliche Verbindung zwischen Transzendenz und Gemeinschaft den im damaligen Andalusien drohenden Zerfall des Sozialgefüges zu überwinden. Andererseits eröffnete er durch die in der Maxime „Schutz des Selbst“ verankerte Idee der göttlichen Schöpfungsabsicht die Perspektive für eine ausdehnbare Einheit zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, die dem Begriff des Individuums bzw. des Selbst eine andere, überzeitliche Dimension verleiht.

4.3. Vom Schutz der Seele zur sozialen Verantwortung des Selbst Auf der Ebene der ethischen Ausrichtung kann der Schutz der fünf notwendigen Lebensgrundlagen nur gewährleistet werden, wenn sie sich nicht in einer Gegensatzbeziehung zueinander befinden, da sie sich aš-Šāṭibīs Annahme zufolge ergänzen und in einem interaktiven Verhältnis zueinanderstehen sollen. Bruchstellen innerhalb dieser Kategorien führen zu Chaos und Unordnung, da sie sich nicht nur untereinander, sondern auch mit den Praktiken dialektische Relationen unterhalten. Aus diesem Grund stehen die mit den „Notwendigkeiten“ verbundenen Handlungsfelder in unmittelbarer juristischer Beziehung zu den strengsten Rechtsnormen, wie ḥarām oder wāǧib. Es stellt sich aber die Frage, wie sich die Verhältnisse zwischen den zu schützenden Lebensgrundlagen zusammensetzen. Es 13 Eine ähnliche Auffassung vertritt Karl Riesenhuber, indem er beteuert: „Kommt so Gutheit primär dem Seienden in sich selbst zu, sofern es sich in seinem Wesen und Sinnziel verwirklicht hat (gut in sich: perfectum), so besteht Gutheit grundlegend im Sein selbst als sich aus unbedingter Sinn- und Wesensfülle verwirklichendem Akt. Sein und Gutheit sind daher nicht als Faktizität und Wert radikal verschieden, sondern obwohl begrifflich unterschieden, ontologisch identisch.“ (Riesenhuber: „Gut, das Gute. I. Philosophisch“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 4, S. 1113-f.)

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4. Ethische Ausrichtung als identitätsstiftend

gilt eine Hierarchie der fünf Intentionen aufzuweisen, die auf einem Organisationsprinzip beruhen soll, das gleichermaßen die spezifische Beschaffenheit jeder Absichtskategorie und deren Verhältnis mit den anderen berücksichtigt. So gesehen dürfte sich z.B. der Schutz des Selbst nicht auf das allgemein von den Gelehrten hervorgehobene Gebot in Q 6:151 beziehen: „[…] und tötet nicht die Seele, die Allah verboten hat (zu töten), außer aus einem rechtmäßigen Grund […]“. Vielmehr handelt es sich um ein Gebot, das dem Oberbegriff der „Fürsorge“ und „Barmherzigkeit“ untergeordnet werden soll, das u.a. aus dem Gebot in Q 6:98: „Und Er ist es, Der euch aus einem einzigen Wesen / Selbst hat entstehen lassen […]“ hervorgeht. Einer solchen „transitiven“ Erklärung des Selbst steht jedoch die Gefahr der von den Mystikern vorausgesetzten vermeintlichen Reflexivität von nafs im Wege. Dieser sicherlich bestehenden Gefahr zum Trotz beteuert die Glaubenslehre, allen voran die von ar-Rāzī bzw. al-Ġazālī, in Anlehnung an die Rationaltheologie, dass Fürsorge und Verantwortungsbewusstsein nicht von außen zum Selbst hinzukomme, sondern dass sie ihre im Koran und im Hadith verankerte und bisher übergangene Heteronomie entfalte.14 Die Einführung des Begriffs der Fürsorge in den Begriff des Selbst suggeriert unmissverständlich die Existenz eines Anderen, der nach den Mystikern aus der kosmischen Einheit des Seins bestehe. Vor diesem Hintergrund sollte die Aussage des heiligen Korans verstanden werden, dass alle Menschen aus einem einzigen Selbst (Seele) entspringen. Das Paradoxon, das sich in der Ethik aus der Entzweiung des Selbst in einem autonomen und einem heteronomen Aspekt ergibt, konnte von aš-Šāṭibī mit Rückgriff auf die mystische Tradition Ibn ʿArabīs überwunden werden, der zufolge die Unterscheidung zwischen den zwei Dimensionen des Begriffs nafs, nämlich „Selber“ (als Substanz) und „Selbst“ (als Essenz) eine Kontinuität zweiten Ranges offenbart, die grundsätzlich der Interaktion menschlichen Handelns im Diesseits inhärent ist.15 Die Wurzeln des islamisch-theologischen Begriffs einer „ethischen Selbstheit“ lassen sich bis zu ar-Rāzīs Epoche zurückverfolgen. In seiner Abhandlung Das Selbst und die Seele (an-nafs wa-r-rūḥ) unterscheidet ar-Rāzī zwischen zwei Ebenen des Seins: nafs und rūḥ. Im Gegensatz zum Begriff nafs, der auf eine gewisse ethische Implikation hindeutet, bezeichnet das Konzept rūḥ lediglich eine mit der Leiblichkeit verbundene Eigenschaft der Autonomie im Sinne einer innigen Fähigkeit zum selbstständigen Handeln. Bei rūḥ handelt es sich nach ar-Rāzī um 14 Vgl. Tariq Jaffer: „Fakhr al-Dīn al-Rāzī on the Soul (an-nafs) and the Spirit (al-rūḥ)“, in: Journal of Qur’anic Studies 16/1 (2014), S. 93-119. Ar-Rāzī erläutert hinsichtlich des Verhältnises zwischen dem Selbst und dem Anderen folgendes: “das potentielle Wesen (Dasein) kann nur aufrgrund der Existenz eines anderen (seines Gegenübers) existieren und je mehr dieses Wesen dem Anderen seine Existenz widmet, umso faktischer wird die Existenz des ersteren für den zweiten“ (Vgl. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhimā, S.21.) 15 Vgl. hierzu auch ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhimā, S.46.

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4.3. Vom Schutz der Seele zur sozialen Verantwortung des Selbst

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eine schöpfungstheologische Beschreibung des Seins, die den geheimnisvollen Charakter göttlicher Machtsphäre offenbart. Ausgehend vom Koranvers Q 17:85, 16 der die Unergründlichkeit der wahren Natur von rūḥ betont, bestreitet ar-Rāzī die auf die materialistische Lehre zurückgehende Leiblichkeit der Seele. Nach ar-Rāzī kann das wahre Wesen von rūḥ weder mit dem Körper noch mit etwas Körperhaften gleichgesetzt werden.17 Die irdische Verfasstheit von rūḥ vollziehe sich im diesseitigen Leben in dem Spannungsverhältnis, das sie abwechselnd bald zum Göttlichen bald zum Weltlichen verbindet. Folglich ist rūḥ grundsätzlich von einem Charakter der Unbeständigkeit gekennzeichnet. Die Verstrickung von rūḥ im materiell orientierten Handeln des Diesseits bereitet dem Menschen zwar Lust und Vergnügen, jedoch zieht sie Leid und Schmerz im Jenseits nach sich. Ähnlich wie rūḥ weist die Struktur von nafs ebenfalls vielfältige Zustände auf, die sich in drei Stufen unterteilen lassen. Die höchste Stufe des Daseins, die in dieser Arbeit dem Begriff Selbstheit annimmt, zeichnet sich durch den Verzicht auf weltliche Güter, Zuwendung an Gottesverehrung und Hingabe zum glaubensorientierten Wissenserwerb aus. Die niedrigste Stufe ist für das Dasein gedacht, das in den niederen Handlungen des Diesseits verstrickt ist und infolgedessen die Gegenwart Gottes nicht wahrnehmen kann. Dazwischen befindet sich die mittlere Kategorie des Daseins, die in einem Spannungsverhältnis zwischen der höheren und niederen Welt steht, wobei diese der schwankenden, unbeständigen Natur des Menschenbilds entspricht. In den letzten beiden Kategorien offenbart sich die Charaktereigenschaft der „Selbigkeit“ als eine zeitliche Auffassung des Daseins. 18 Übertragen in eine zeitgenössische hermeneutische Lektüre, vollzieht sich der Übergang von der Selbigkeit in die ethische Selbstheit im Prozess des Erwerbs glaubensorientierten Wissens um die göttliche Rechtleitung mit dem damit verbundenen rituellen und weltlichen Handeln. Dieses Wissen ist nach ar-Rāzī Gegenstand der Fachdisziplin der Ethik. Einen zentralen Stellenwert hat bei diesem Wissenserwerb das Herz (qalb) inne, das in ar-Rāzīs Theologie als Sitz des Intellekts (Q 22:46; 7:178) sowie des Verstehens, der Ignoranz und der Fahrlässigkeit bezeichnet wird.19 Somit kann man anknüpfend an Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmāns 16 „Sie fragen dich nach dem Geist. Sag: Der Geist ist vom Befehl meines Herrn, euch aber ist vom Wissen gewiss nur wenig gegeben“. 17 Nach Tariq Jaffer liegt dieser Auffassung des Begriffs rūḥ ar-Rāzīs Auslegung von Q 17:85 zugrunde. Ar-Rāzīs Auslegung richtete sich, nach Tariq Jaffer, gegen die Traditionen der falsafa und des kalāms, indem er eine materialistische Lehre der Seele aus dem Stoizismus übertrug und Elemente der Theorie Abū Isḥāq an-Naẓẓāms miteinbezog. (Ar-Rāzī: Kitāb annafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhumā, S. 97f.) 18 Ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhumā, S. 57. 19 Folglich leiten, nach ar-Rāzī, Augen und Ohren das, was sie sehen und hören, an das Herz weiter, das dann über das Gehörte und Gesehene entscheidet. Auch der Glaube wird dem Herzen zugeschrieben (Q 5:41, 16:106, 49:14, 58:22). Auch verschiedene Hadithe weisen darauf hin, dass das Herz der Sitz des Wissens und des Glaubens ist.

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4. Ethische Ausrichtung als identitätsstiftend

Ethiktheorie schlussfolgern, dass das Herz als Ort des Gewissens im Mittelpunkt des Prozesses der Bezeugung steht.20

4.4. Schlussbetrachtungen In den vorangegangenen Ausführungen dürfte klargeworden sein, dass bei einem weit gefassten Verständnis von maqāṣid als Prinzipien theologischer Ethik, die Ausarbeitung ethischer Begriffe aus den rechtstheoretischen Konzepten kaum Probleme aufwirft. Die Interpretation der Maxime des Schutzes des Selbst als ethisch-theologische Kategorien, deren Gegenstand die Definition einer ethischen Selbstheit, zu deren Vervollkommnung das Gemeinwohl als Schlussstein ethischer Ausrichtung und als Zielsetzung des Daseins beiträgt, hilft die Begriffe der Rechtstheorie vom rein deontologischen Rahmen, in dem der fiqh sie seit Jahrhunderten gefangen hielt, zu befreien, um ihre Bestimmung für eine Ethiktheorie hervorzuheben. Inwiefern spiegelt sich das Gemeinwohl als Offenbarungsabsicht in den Moralund Rechtsnormen der šarīʿa wider? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es einer ethisch-diskursiven Untersuchung der Rechtsnormen im Hinblick auf die in ihnen implizierten Sprechakte. Durch eine Sprechaktanalyse der Rechtsbestimmungen zeichnet sich nun eine Interpretationsperspektive zwischen Barmherzigkeit als ultimativem Ziel der Offenbarung und den einzelnen Rechtsurteilen ab, die zur Regelung des praktischen Lebens aller Gläubigen errichtet sind. Das Gemeinwohl ist für aš-Šāṭibī nicht etwas, was sich der kausalen Verkettung von außen oder von oben in Gestalt eines moralischen Zwanges aufdrängt, sondern steht hierbei am Anfang eines jeden Handlungsprozesses als Anhaltspunkt einer Entscheidung ethischer Natur, die durch ihre finalbedingte Eigenschaft kausal verbundenen Handlungen als Konfigurationseinheit dient. Die Rechtsnormen (aḥkām) spiegeln hingegen lediglich begrenzte, wenn auch berechtigte und sogar unumgängliche, Faktoren zur Verwirklichung des Gemeinwohls wider.21 Die moralischen Regeln 20 Das Herz ist nach ar-Rāzīs Argumentation das erste Organ, das im menschlichen Körper entsteht und damit der Führer des Körpers. Die Seele strömt durch das Herz in den restlichen Körper. Intelligente Menschen behaupten, sie können nur durch ihr Herz wissen und erkennen. Das Herz ist somit der Ort des Wissens, der Ort der Intention des Wissens und der Willenskraft für die Bewegung. Vgl. ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhumā, S. 52-60. 21 Bei der bisher in der Rechtstradition am Rande vermerkten thematischen Trennung der Rechtsnormen (kitāb al-aḥkām) von den „Intentionen der šarīʿa“ (kitāb al-maqāṣid) in ašŠāṭibīs Werk al-Muwāfaqāt handelt es sich nicht nur um einen taxonomischen (klassifikatorischen) Vorgang. Vielmehr hat man es hier mit einem in der islamischen Geschichte einmaligen innovativen Rechtsverständnis zu tun, das darin besteht, den teleologischen Aspekt vom deontologischen Moment der šarīʿa eindeutig zu differenzieren, mit allen Implikationen, die mit einem solchen methodischen Schritt verbunden sind. In diesem scheinbar rein klassifikatorischen Vorgang liegt die Begründung für den Primat der Ethik gegenüber der Moral, bzw. der Ausrichtung gegenüber der Norm.

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4.4. Schlussbetrachtungen

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(aḥkām šarʿīyya) schreiben sich in den weiteren Kreis derjenigen Vorschriften ein, die eng mit den Praktiken „allgemeine aḥkām bzw. asbāb“ verbunden sind, zu deren Eingrenzung sie beitragen.22 Auf der Ebene zeitgenössischer Gesellschaftsordnung schöpft diese zweite ethische Maxime der šarīʿa „Schutz des Selbst“ ihre Daseinsberechtigung aus dem Begriff der Menschenwürde, wenn dem letzteren ein überpositives, vorstaatliches Fundament zuerkannt werden kann. 23 Der aufklärerischen Rekonstruktion der Idee der Menschenwürde aus dem islamischen Glauben liegt häufig der Koranvers Q 17:70 zugrunde: „Und gewiß, bereits verliehen Wir den Kindern Adams Würde, Wir haben sie auf dem Festland und auf dem Meer getragen und sie von den guten Dingen versorgt, und Wir haben sie vor vielen von denen, die Wir erschaffen haben, eindeutig bevorzugt.“

22 Ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhumā, S. 92f. und 135ff. 23 Vgl. Hans-Georg Dederer: „Die verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde“, in: B. Beck/C. Ties (Hg.): Moral und Recht. Philosophische und juristische Beiträge, Passau 2011, S. 131.

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid 5.1. Leitendes Erkenntnisinteresse 5.1.1. Zusammenwirken von maqāṣid und aḥkām Das Streben nach maṣlaḥa als Korrelat des irdischen und eschatologischen Wohlergehens steht in schöpfungstheologischer Sicht mit der Bewahrung der fünf würdigen Existenzgrundlagen (elementaren Zielsetzungen) in einem interaktiven Verhältnis. Die Ergründung der Zielsetzungen der šarīʿa (ʿilm al-maqāṣid) dient als Teilbereich von uṣūl al-fiqh primär dem Interesse, die Intention des göttlichen Diskursurhebers zu erschließen, damit der Mensch seiner Gott anerschaffenen „Wesensart gemäß leben kann“.1 Maqāṣid als Gemeinwohlideal göttlichen Willens wird im fiqh-Verständnis auf Ebene der Lebenswirklichkeit in moralische Verbindlichkeiten und rechtlichen Regeln übersetzt, die aus dem Verpflichtungscharakter von aḥkām hervorgehen. In aḥkām offenbart sich das Eintreten Gottes in die Lebenswelt mit dem Ziel, dem Menschen den Weg einer theonomen Lebensgestaltung im Sinne göttlicher Offenbarung aufzuzeigen. Das Verhältnis von maqāṣid zu aḥkām gleicht einem Ableitungsprozess, bei dessen Durchführung die vom Menschen aus den im Offenbarungsdiskurs implizierten Wertidealen erschlossenen Verhaltensnormen des Gemeinwesens dem inneren Sinn der von Gott geschaffenen Ordnung entsprechen sollen. Die reziproke Relation und das Zusammenwirken von maqāṣid und aḥkām bei der Normableitung wurden im Laufe der

1 (Vgl. Graf: Moses Vermächtnis, S. 23). Hier lassen sich nach Friedrich W. Graf grundsätzliche, religionsübergreifende Ähnlichkeiten im Prozess des Verständnisses des göttlichen Schöpfungsgesetzes erkennen. „Zumal in den drei monotheistischen Weltreligionen, im Judentum, Christentum und Islam, bergen die jahrtausendealten Motivspeicher Konzeptionen eines ius divinum, die in Metaphern von hoher, bis in die Gegenwart wirkungsmächtiger Suggestivkraft zwei religiöse Imaginationsmuster eng miteinander verknüpfen: Gott als Schöpfer und Gott als Gesetzgeber.“ (Graf: Moses Vermächtnis, S. 22.). Die islamische Idee der Gleichsetzung göttlicher Rechtsordnung (šarʿ) mit der Anerschaffenheit (fiṭra) kommt der talmudischen Weisheit näher, die die Tora als göttliche Normenlehre mit einem in der Präexistenz vom Schöpfergott eingeschriebenen Nomos identifiziert. (Vgl. Graf: Moses Vermächtnis, S. 22-25.) Im rabbinischen Judentum wird ḥalaḫa, wie šarīʿa, als Weg der Rechtleitung, „mit dem der Mensch durch göttliche Offenbarung in seinen Handlungen geführt wird“, gesehen (Vgl. Amberg: Auf dem Weg zu neuen Prinzipien islamischer Ethik, S. 33). Siehe hierzu auch Stefan Schreiner: Die jüdische Bibel in islamischer Auslegung, hg. von Friedmann Eißler/Mathias Morgenstern, Tübingen 2012.

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5.1. Leitendes Erkenntnisinteresse

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ideengeschichtlichen Entwicklung islamischer Ethik unter ganz unterschiedlichen Erkenntniszusammenhängen und Problemfeldern gedeutet. 2 Wertkonservative Rechtsgelehrte versuchen jedoch maqāṣid eng an das seit dem 3./9. Jahrhundert bereits etablierte Normensystem von aḥkām zurückzubinden.3 Bei einem weit gefassten Verständnis von šarīʿa als theologische Ethik warf die Verortung der aḥkām innerhalb von maqāṣid im spätmālikitischen Rechtsdenken keine Probleme auf. Ferner wird fiqh als Fachbegriff und Unterdisziplin von uṣūl alfiqh ab dem 3./9. Jahrhundert die Aufgabe zuteil, die praktische Anwendung von Rechts- und Moralnormen im Lichte ethisch-sittlicher Orientierung menschlichen Lebens und Handelns zeitgemäß zu systematisieren.4 Durch seinen Verpflichtungscharakter zielte fiqh auf eine praxisbezogene Gestaltung der im Rahmen von uṣūl alfiqh aus der Offenbarung abgeleiteten Normen für alle Lebensvollzüge des Gläubigen ab, um deren Gebundenheit an die Tatsache, dass der Gläubige Teil der göttlichen Schöpfung ist, sichtbar zu machen. 5 Beim Verpflichtungsbegriff des fiqh handelt es sich nicht um einen bloßen Ausdruck des göttlichen Imperativs, sondern um die geistliche Orientierung des 2 Siehe hierzu das Unterkapitel 2.1. zur Begründbarkeit von Rechtsnormen. 3 Vgl. hierzu etwa Yūsuf al-Qaraḍāwīs Kritik an der vernunftorientierten Auslegung von Naǧm ad-Dīn aṭ-Ṭūfīs Aussage, dass das Prinzip des Gemeinwohls gegenüber dem Textbeweis Vorrang genießt. Denn „was das praktische Gemeinwohl [im Lebensvollzug] der Gläubigen angeht, so lässt es sich [primär] mit Rückgriff auf Sitte und Vernunft erschließen“. (Yūsuf alQaraḍāwī: Dirāsa fī fiqh maqāṣid aš-šarīʿa, 4 Aufl.. Kairo 2012, S 109-111, vgl. Naǧm ad-Dīn aṭ-Ṭūfī (gest. 716/1316): at-Taʿyīn fī šarḥ al-arbaʿīn, S. 246.) Eine umfassende Ausführung zur Rezeption von aṭ-Ṭūfīs Hadith-Exegese bietet auch Allāl al-Fāsī, der in seiner innovativen Arbeit zur maqāṣid-Theorie den Standpunkt aṭ-Ṭūfīs vertritt, dem zufolge das Gemeinwohl als universeller Rechtsbeweis betrachtet werden soll, dessen Geltungsanspruch bei Normenableitung der vieldeutigen oder schwach überlieferten Textquelle übergeordnet werden soll. (Vgl. Muḥammad ʿAllāl al-Fāsī: Maqāṣid aš-šarīʿa al-islāmiyya wa-makārimuhā, Fes/Rabat 1993, S. 143f.) 4 In Wirklichkeit hat sich die Wissenschaft der uṣūl al-fiqh von einer ursprünglich rein rechtlichen Wissenschaft, wie sie es bei aš-Šāfiʿī war, zu einer propädeutischen Wissenschaft in Bezug auf alle religiösen Wissenschaften des klassischen Islams entwickelt, in ähnlicher Weise wie die Logik für alle philosophischen Wissenschaften verbindlich war. (Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, Beirut 2012, S. 536-537.) 5 Das islamische Recht (al-fiqh) hat sich ab dem 2./8. Jahrhundert auf völlig autonome Weise in jeder der großen muslimischen Städte derart entwickelt, dass im Zentrum des muslimischen Reiches verschiedene positive Rechtsordnungen angewandt wurden und jeder Vertreter dieser Rechtsinterpretationen erhob den Anspruch, die jeweils einzig legitime Version zu verteidigen. Andererseits sahen diese Rechtsgelehrten wahrscheinlich nie die Notwendigkeit, Theorien auszuarbeiten, mit denen sie ihre Pflichtenlehre ethisch begründen und gegen mögliche widersprechende rationaltheologische Thesen verteidigen konnten. Die lokalen fiqh-Methoden hatten sich zwar auf sehr unabhängigen Wegen entwickelt, jedoch lief diese Entwicklung häufig auf die Vergrößerung der Kluft zwischen Moral (Pflicht) und Ethik (Ausrichtung) hinaus. Unfähig einen Anschluß an die Ethikthemen von der Tugendlehre zu finden, brachte eine so große Vielfalt der fiqh-Theorien aber die Gefahr mit sich, zur Fanatisierung der Denkrichtungen beizutragen (at-taʿaṣṣub al-maḏhabī) und die Gemeinschaft tief zu spalten. (Vgl. ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq, S. 53.)

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

gesamten Lebensvollzugs eines Gläubigen im Sinne einer bestimmen Schöpfungsweisheit. Das Wesen des Imperativs von Gottes Gebot weist in den islamischen Moral- und Rechtsnormen eine semantische Vielfalt auf, die sich vom juristischen bis hin zum ethisch-sittlichen erstreckt, ohne sich in einer bestimmten Kategorie sittlichen Urteils einschränken zulassen. Einem modernen Deutungsmuster der maqāṣid-Theorie zufolge, zeichnet sich fiqh hauptsächlich durch seinen allgemeinen, formal deontologischen Charakter aus. So gesehen, lässt sich in terminologischer Übertragung aus der theologischen Hermeneutik aussagen, dass das Normensystem von fiqh eher einer umfassenden Pflichtmoral, sprich einer Moraltheologie, als einem positiven Rechtsgesetz nahekommt. 5.1.2. Selbstständige Urteilsfindung zwischen Verstandesreflexion und geistiger Sinnsuche Dass maqāṣid die Rechts- und Moralnormen einschließt, bedeutet nichts anderes, als dass sich die von den Rechtsgelehrten beteuerte Ewigkeit, sprich die absolute Gültigkeit und Unvergänglichkeit der einheitlichen Gesetzgebung Gottes, grundsätzlich auf die ethische Ausrichtung der Offenbarung in Form von maqāṣid aš-šarīʿa und keineswegs auf aḥkām aš-šarīʿa bezieht.6 Dabei setzt das Festlegen von maqāṣid eine ständige Verstandesarbeit auf einer höheren Ebene voraus, nämlich der der hermeneutischen Auslegung des Korans. Bei dieser binären Unterteilung der göttlichen Weltordnung in ethische Ausrichtung und Moralnorm unterscheidet ašŠāṭibī zwischen zwei Arten der selbstständigen Urteilsfindung. Erstere wird der praktischen Rechtsanwendung zugeordnet und gilt ohne zeitliche Einschränkung für die gesamte Glaubensgemeinschaft. Was die zweite Art von iǧtihād angeht, so befasst sie sich nach šāfiʿitischer Auffassung mit der Normableitung aus den heiligen Quellen und eignet sich ausschließlich für den Gelehrten (faqīh) als Auslegungsautorität und Inhaber verbindlicher Deutungskompetenz. 7 Insofern sich diese Kategorie selbstständiger Urteilsfindung hauptsächlich mit der Auslegung vieldeutiger normativer Textquellen unter Berücksichtigung verändernder Lebensumstände befasst, wird deren Geltungsanspruch zeitlich begrenzt.

6 Zum Verhältnis jüdischer und islamischer Schöpfungsgesetzkonzepte vgl. Schreiner: Die jüdische Bibel in islamischer Auslegung, hg. von Friedmann Eißler/Mathias Morgenstern Tübingen 2012. 7 Aber stärker noch als die šāfiʿitische Lehre der Richtigkeit des iǧtihād hatte die Einrichtung der Wissenschaft der uṣūl al-fiqh als erste Aufgabe die Ermöglichung des Dialogs zwischen den Vertretern der verschiedenen Lehren. Wenn man von den Grundsätzen der Rechtsfindung redet, sie auf kritische Art und Weise etabliert und die Methodik definiert, dann verlangt das von jedem Rechtsgelehrten (muǧtahid), dass er jederzeit fähig sein muss, den Beweis seiner Aussagen zu erbringen: Uṣūl al-fiqh erzwingen also die Argumentation auf der Grundlage einer Doktrin, die dem Prinzip der Beweisbarkeit folgt. Und genau diese Fragestellung verortete die Diskussion um die Begründbarkeit theologischer Moral und Rechtsnormen im interdisziplinären Bereich zwischen uṣūl al-fiqh, al-aḫlāq und al-kalām. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 4, S. 64-69 sowie S. 76-78.)

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5.1. Leitendes Erkenntnisinteresse

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In diesem Zusammenhang verwendet aš-Šāṭibī den Begriff taḥqīq al-manāṭ (situations- und zweckgebundene Urteilsfindung) als Hinweis für den vergänglichen und unabgeschlossenen Charakter textbezogener Deutungsprozesse. Legale normkonforme Handlungen können letztlich zu Unrecht werden, wenn der ihnen zugrunde liegende Offenbarungstext missgedeutet bzw. missverstanden wird. AšŠāṭibīs Worte zum angemessenen Verständnis der göttlichen Botschaft lassen erahnen, dass es sich bei seinem iǧtihād-Begriff nicht um eine bloße geschichtlich profane Verstandesreflexion handelt. Die mystische Vorstellung eines verstehenden Herzens, deren Ursprung sich im emanziperten Sufismus Andalusiens findet, bietet aš-Šāṭibī offenbar ein Musterbeispiel dafür, dass das wahre Werkzeug glaubender Erkenntnis in der über das Sinnliche und Äußerliche erhabenen Wahrnehmung des Geistes zu suchen sei.8 Durch die Etablierung der selbstständigen Urteilsfindung als Quelle der Rechtsableitung öffnete die islamische Ethik- und Normenlehre seit dem 2./8. Jahrhundert der menschlichen Vernunft eine Perspektive gleichermaßen beim Prozess der Normenableitung sowie bei der praktischen Gestaltung der Rechtsanwendung aktiv und verbindlich mitzuwirken. 9 5.1.3. Menschliche Willensfreiheit im Verhältnis zur göttlichen Pflicht Das Ende der frühislamischen Vorstellung einer deontologischen Verpflichtungsmoral deutete sich dort an, wo im andalusischen teleologischen Rechtsdenken zunächst nach einer vermeintlichen Absicht der göttlichen Gesetzgebung gesucht wurde. Ohne in irgendeiner Weise die neue Verhältnisbestimmung überbewerten zu wollen, die die Intentionstheorie aš-Šāṭibīs zwischen maqāṣid und aḥkām suggeriert, ist es doch angebracht hervorzuheben, dass die daran anschließende Entwicklung des islamischen Rechts sich immer stärker am weltlichen Gemeinwohl ausrichtete. 10 Die Kernfrage islamischer Moralität hat sich jedoch durch die Auseinandersetzung mit der damals fortschrittlichen andalusischen Philosophie nicht wesentlich verändert. In der Diskussion um die Frage nach maṣlaḥa als Gemeingut und als Schlussstein islamischer Moralität blieb der göttliche Wille entscheidend. Selbst für muʿtazilitisch bzw. rationaltheologisch eingehauchtes philosophisches Denken war der menschliche Wille nicht der alleinige Träger des Prädikats gut, wenn es um die Ableitung bzw. Auslegung von Moral- und Rechtsnormen ging. Mit dem rational8 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 163, Bd. 4, S. 70. 9 Zwei wenig strukturierte Bewegungen herrschten im 3./9. Jahrhundert vor: Zum einen „die Leute der Tradition“ (ahl al-ḥadīṯ), denen Mālik ibn Anas (gest. 179/795) vorstand und die ihren Sitz in Medina (Stadt des Propheten (sas)) im Ḥiǧāz hatten, und zum anderen die „Anhänger der ratio“ (aṣḥāb ar-raʾy), angeführt von Abū Ḥanīfa (gest. 150/767) und seinen zwei großen Begleitern Abū al-Yūsuf (gest. 182/798) und aš-Šaybānī (gest. 189/805), deren Schule in Kūfa dominierte. (Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, S. 238). 10 Yūsuf al-Qaraḍāwī lehnt diese Tendenz vehement ab, mit der Begrüdung, dass die vernunftorientierte Auslegung des maqāṣid-Ansatzes damit zu Unrecht und übermäßig betrieben wurde. (Vgl. al-Qaraḍāwī: Dirāsa fī fiqh maqāṣid aš-šarīʿa, S. 83-91.)

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

theologischen Willensbegriff (irāda) war in der islamisch-andalusischen Philosophie unauflöslich der für vernünftiges Begehren charakteristische Gedanke der Gefühlsneigung (hawā) verbunden. Dies basiert auf der Endlichkeit des Menschen, die auf der empirischen Ebene den menschlichen Willen kennzeichnet. 11 In seinem Begriff des „Willens“ nimmt al-Ġazālī kritisch Aristoteles‘ Konzept von vernünftigem Begehren auf und formt es in eine Unterkategorie des Willens um. In einer an Kants Philosophie orientierten terminologischen Übertragung lässt sich der islamische Willensbegriff seit dem 6./12. Jahrhundert als die im Prinzip allen vernunftbegabten Wesen gemeinsame praktische Vernunft deuten. 12 Anders als beim kantischen kategorischen Imperativ, wo der Mensch in einer Art Selbstgesetzlichkeit nach Vernunftsmaximen zu handeln hat, nimmt das Gute als Produkt theologischen Werturteils in der islamischen Pflichtenlehre nicht die Form eines moralischen Zwanges an. Das Verhätnis des Guten zum Gesetz ist nach aš-Šāṭibīs maqāṣid-Verständnis teleologischer Prägung. Dass sich islamisches und kantisches Willenskonzept hier diametral gegenüberstehen, wird an der Aporie des kantischen Maximenbegriffs deutlich, bei dem sich der Aufstieg von der endlichen Verfassung des Willens – sprich Gefühlsneigung – zu einer als autonome Gesetzgebung verstandenen praktischen Vernünftigkeit ohne Rückgriff auf die Transzendenz vollzieht.13 Wie diese Gefühlsneigung bei jeder Wahlmöglichkeit im Handlungskontext verbindlich zu zügeln ist, ist genauso unerforschbar wie der Ursprung des Übels selbst. Dies zeigt die bemerkenwerte Abhandlung aš-Šāṭibīs zum Verhältnis des Handlungsmotives zum Handlungsergebnis deutlich.14 Hier wird ersichtlich, dass das Rätsel des Ursprungs des Übels sich in dem Rätsel widerspiegelt, das die faktische Ausübung der Freiheit im Hinblick des moralischen Urteils beeinträchtigt. Ähnlich wie in der augustinischen Tradition geht die islamische Moralphilosophie in ihrer Deutung menschlicher Willensfreiheit vom faktischen Lebensvollzug und dem damit verbundenen moralischen Situationsurteil aus, obwohl der Begriff von Entscheidungsfreiheit in der islamischen Rationaltheologie mehr in Richtung Handlungs- als Willensfreiheit geht.15

11 Zum Begriff fiʿl (Handlung) in Verbindung mit Wille und Kraft siehe Muḥammad ʿĀbid alǦābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 196-197, 200. 12 Obgleich in der kantischen Moral der Wille den Platz einnimmt, der in der aristotelischen Ethik durch das vernünftige Begehren besetzt war. Hermeneutisch präzisiert Paul Ricoeur „das Begehren erkennt man an seiner Zielrichtung, den Willen an seinem Verhältnis zum Gesetz.“ (Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 251.) 13 Ein ähnliches Verständnis von Kants Maximenbegriff vertritt auch Maria Schwartz: „Erziehung zur Freiheit - Kants Methodenlehren“ in: Theologie und Philosophie 88/1 (2013), S. 26ff. 14 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 135ff. Darin wird im Abschnitt zu den konstitutiven Regeln auf das moralische Situationsurteil ausführlich eingegangen. 15 Vgl. Norbert Fischer: „Kants Verhältnis zum christlichen Glauben“, in: Theologie und Glaube 102/1 1 (2012), S. 40f.

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5.1. Leitendes Erkenntnisinteresse

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Da die Willensfreiheit des Menschen laut islamischer Rationaltheologie ursprüngliche Makel zu haben scheint, die ihr Vermögen, sich für oder gegen Gottes Rechtsordnung zu entscheiden, beeinträchtigt, muss die theologisch ultimative Ausrichtung auf das Wohlergehen die Prüfung göttlicher Moral- bzw. Rechtsverpflichtung auf sich nehmen. Die dem menschlichen Wesen inhärente Willensspaltung kann nur von der Gnade Gottes, die überwiegend an die Achtung seiner Gebote verknüpft ist, aufgehoben werden.16 Dadurch kann der deontologische Charakter der Moral- und Rechtsnormen der šarīʿa seine Verbindlichkeit, Legitimität und Beständigkeit gegenüber der ethischen Ausrichtung behaupten. Die Ableitung von Moral- und Rechtsnormen aus dem Koran kann folglich nicht dem Ermessen menschlicher Vernunft überlassen werden, wenn ihm die glaubende Erkenntnis fehlt, die einer Perspersion des Willens entgegenwirken kann. 17 So gesehen, könnte man durchaus mit Rückgriff auf die aufklärerische Verstandesreflexion behaupten, dass der islamische Begriff von Willensfreiheit die Entstehung des Übels gewissermaßen als Folge eines Umsturzes göttlicher Rechtsordnung ansieht, die verlangt, die Achtung der moralisch-rechtlichen Bestimmung Gottes über die Gefühlsneigung zu stellen.18 Dabei handelt es sich nicht um eine Verteufelung des Begehrens, das laut Koran der Gott gewollten fiṭra des Menschen entspricht. Vielmehr geht es bei der Entstehung des Übels um einen „schlechten“ Gebrauch des freien Willens. Wie die göttliche Rechtsordnung zum Begehren steht, spiegelt sich am deutlichsten in den Pflichtnormen der šarīʿa wider, die laut al-Ǧuwaynī kaum Gebote zur Erfüllung instinktiver Bedürfnisse enthält. Das instinktive Begehren sei nach al-Ǧuwaynī deshalb selten Gegenstand einer Aufforderung in der Pflichtenlehre der šarīʿa, weil der Mensch aus seiner natürlichen Veranlagung nach ihm strebe. Vielmehr sei das Anliegen von šarīʿa, den Umgang mit Begehren und Gefühlsneigungen durch Verbote oder Anweisungen zu reglementieren, um dem übermäßigen Verlangen nach Lust und sinnlicher Freude Einhalt zu gebieten. Gebote und Aufforderungen beziehen sich hingegen auf Handlungen, die die 16 Anders als in der christlichen Theologie, in der die Willensschwächung auf die Ursünde Adams und Evas zurückzuführen ist, die als Erbsünde im Menschengeschlecht fortbesteht (vgl. Christoph Horn: Augustinus (Groß Denker), München 1995, S. 135f.), haben die verschiedenen Willensformen in der islamischen theologischen Vorstellung mit der variablen Verfasstheit des Selbst (nafs) zu tun. Diese gilt als Teil vom Gottesplan, die Menschen im Gefecht ihres Lebensvollzugs auf die Probe zu stellen (vgl. u.a. Q 5:48; 6:165; 11:7). (Vgl. al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 175 u. 463ff.) 17 Selbst bei Kant beeinflusst der Hang zum Bösen den Gebrauch der Freiheit – die Fähigkeit gemäß der Pflicht zu handeln, kurz: die Fähigkeit, tatsächlich autonom zu sein. Diese ungewöhnliche Situation eröffnet im Übrigen der Religion einen von der Moral unterschiedenen Raum; denn Kant zufolge hat die Religion nichts anderes zum Thema als die Erneuerung der Freiheit, das heißt „die Wiederherstellung der Herrschaft des guten Prinzips über die Freiheit.“ (Immanuel Kant: Kants Werke, Bd. 6, Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin 1968, S. 34; vgl. Ricoeur: Soi-même comme un autre., S. 262.) 18 Vgl. Alan Gewirth: Reason and Morality, Chicago 1978, S. 171, 190.

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

Menschen aus Veranlagung vermeiden oder ablehnen, wie z.B. gottesdienstliche Praktiken oder den Einsatz für die Rechte der Mitmenschen. 19 In der Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Einwirken auf die Weltordnung ist für aš-Šāṭibī das systematisch entscheidende Paradoxon der Frage nach Willensfreiheit auf das Verhältnis zwischen maqāṣid und aḥkām zurückzuführen. Die Ableitung von Rechts- und Moralnormen aus den Offenbarungsquellen wird einer von Vernunft und Glaube angeführten geduldigen Abwägung zwischen den Anwärtern auf den Titel des Guten maṣlaḥa unterworfen, die eine Prüfung der Verhältnisbestimmung der maqāṣid, im Sinne einer Unterkategorie der Gesinnungsethik zu aḥkām šarʿiyya, als eine Form von Moral- und Rechtsgesetz immer wieder hervorruft. Deuten nun aber die Zielsetzungen der šarīʿa durch die Merkmale, die im vorangegangen Kapitel erläutert wurden, auf Allgemeingültigkeit hin, so betont aš-Šāṭibī, dass die Moral- und Rechtsnormen aḥkām šarʿiyya ohne Verhältnis zur Ausrichtung auf das Wohlergehen im Dies- und Jenseits nicht vorstellbar seien. Diese Verankerung der deontologisch geprägten Pflichtmoral (aḥkām šarʿiyya) in der teleologischen Zielsetzung maqāṣid offenbart die Stellung, die der Begriff der wahrhaften Absicht bei aš-Šāṭibī20 zu Beginn seiner Abhandlung zur Intention des Gläubigen bzw. Verpflichteten einnimmt: Die theologische Bewertung einer Handlung hänge fundamental von der ihr vorausgegangenen Absicht ab. Denn die Absichten seien die „Seelen“ der aus ihnen entsprungenen bzw. entspringenden Handlungen.21 Eine fromme und pflichtkonforme Ausführung göttlicher Gebote könne nur gelingen und von Gott anerkannt werden, wenn sie maßgeblich aus einer wahrhaften Absicht des Gläubigen zur Verwirklichung einer der Zielsetzungen der šarīʿa maqāṣid entspringe. Auf das rationaltheologische Denken übertragen bedeutet dies, dass sich die Notwendigkeit der wahrhaften und aufrichtigen Intention zum Handeln aus der unergründlichen Konstitution des freien Willens und der daraus resultierenden Unvorhersehbarkeit der Handlungsfolgen ergebe.22 19 Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, Bd. 2, S. 919, 938. 20 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 106, 246. 21 Dies erinnert sehr an die Idee des guten Willens bei Kant, der in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ postuliert: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt 1974, Bd. 4, S. 260.) Der hier hervorzuhebende Unterschied zwischen den beiden soeben genannten Denkanstössen liegt in der Art des Verhältnisses, die von Wille und Absicht zur Handlung unterhalten wird. Während der Wille der Ort der Frage „Was soll ich tun?“ ist, drückt sich die Absicht, ähnlich wie die Hoffnung, in Redeakten optativen Typs aus und räumt dem göttlichen Willen somit ein Interventionsrecht ein. 22 Zum Verhältnis der Konstitution des Willens zur vieldeutigen Verfasstheit des Selbst siehe Abū ʿAlī ibn al-Ḥusain ibn Abdullāh Ibn Sīnā, lat. Avicenna: Kitāb aš-Šifāʾ, hg. von ʿAbd arRaḥmān Badawī, Kairo 1966, S. 285 und Ibn Sīnā: Kitāb an-Naǧāt, S. 222. Nach Ibn Sīnā lässt sich die Selbstheit nach ihrem Grundvermögen in zwei Gattungen unterteilen: Einerseits die Selbstheit/Seele als faktisches Bewegungsprinzip, das dem Körper zur Erfüllung von Handlungen verhilft. Diese dient dem Bewegungsdrang des Körpers und seinen Bedürfnissen.

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5.1. Leitendes Erkenntnisinteresse

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Für aš-Šāṭibī werden die Voraussetzungen des ethischen Handelns durch Intentionalität, Urteilskraft und stärker noch die Durchführbarkeit von Kriterien der moralischen und juristischen Zurechnung bestimmt. Zwang, Unwissenheit oder Versehen gelten ausdrücklich als Entlastung von der Verantwortung gegenüber moralisch-theologischen Pflichten.23 So führe der Zugang zum Wesen eines glaubensorientierten Lebensvollzugs über die Frage, inwiefern die von Gott vorgeschriebenen Rechts- und Moralnormen (aḥkām šarʿiyya) mit den übergeorneten Zielsetzungen von šarīʿa maqāṣid im Handlungsumfeld zueinanderstehen. Für ašŠāṭibī gilt hier als erstes zu sehen, dass sich das Verständnis von der Verbindung zwischen maqāṣid und aḥkām gleichermaßen über Glaubenserkenntnis und kognitive Überzeugung sowie Affekt und Verstand erschließe. Der vorliegenden Abhandlung wird daher zunächst die Aufgabe einer Rechtfertigung dieses Umstandes vorbehalten sein, sodass es nötig ist, die ethischen Zielsetzungen der šarīʿa als Prüfstein der Legitimität von moralisch-theologischen Normen anzunehmen. Es wird noch zu zeigen sein, auf welche Weise die Rechtsanwendungsfragen, die den mit dem deontischen Moment zusammenhängende Formalismus hervorrufen, von dem Pflichtcharakter der Rechtsnorm zur Teleologie der maqāṣid zurückzuführen sind. Diese zweite Verortung ist, wie es sich noch näher in einigen von ašŠāṭibī diskutierten Fallbeispielen zeigen wird, von grundlegender Bedeutung für die Klärung der Frage, wie sich die ethische Ausrichtung in Form der fünf ethischen Zielsetzungen von maqāṣid durch die praktische Normenanwendung anreichert und in das moralische Situationsurteil eingebracht wird. Im Zentrum der zweiten Etappe dieser Wegstrecke, die dem Verständnis zwischenmenschlicher Rechtsbestimmungen dient, steht die Rolle des aus dem Begriff des Gemeinschaftszusammenhalts entspringenden Verantwortungspostulats als ein Widerhall der Fürsorge, die laut Schöpfungsgesetz das Urverhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft widerspiegelt. Ferner ist es zur Konkretisierung dieser hermeneutischen Leseart hilfreich, sich das Verhältnis zwischen Intentionen (maqāṣid) und Moral- und Rechtsnormen (aḥkām) als eine Relation zwischen dem umfassenden Lebensentwurf und den menschlichen Praktiken vorzustellen. 24 Im Spannungsfeld zwischen mehr oder weniger entfernten Gemeinwohlidealen in Form einzelner Kategorien von maqāṣid gestalten sich die glaubensorientierten Lebenspläne durch eine Abwägung von Werturteilen beim ethischen Handeln.

Andererseits als dynamisches Prinzip der Aneignung intellektueller Fähigkeit und Erkenntnis: die geistige Seele. (Vgl. ausführlicher al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 175, 463ff.) 23 Mit dieser Deutung moralischen Verhaltens wird der Unterschied zwischen Zuschreibung und Zurechnung hervorgehoben. Handlungen, die nicht aus einer vorsätzlichen Absicht emanieren, können dem Handelnden genauso wenig zugerechnet werden, wie diejenigen, die von ihm aus Versehen im Schlaf- oder Unbewusstheitszustand ausgehen Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 118) 24 Dieses Gleichnis von Paul Ricoeurs methodischen Überlegungen zur Moraltheorie ist von Immanuel Kant inspiriert. (Vgl Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 262ff.)

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

5.2. Aš-Šāṭibīs theologische Moralnormativität (aḥkām šarʿiyya) im Horizont göttlicher Gemeinwohlideale 5.2.1. Die konstitutiven Elemente moralischer Normativität In den islamischen Moral- und Rechtsnormen (aḥkām) zeigt sich nach aš-Šāṭibī die Intention göttlicher Rechtsordnung, die Lebenswirklichkeit des Gläubigen so zu konzipieren, dass sein Wohlergehgen im Dies- und im Jenseits sichergestellt wird. Moralische Verbindlichkeiten sowie Moral- und Rechtsnormen lassen sich ausschließlich in ihrem Verhältnis zu den Zielsetzungen der šarīʿa rechtfertigen. Der Pflichtenkodex von fiqh soll folglich in seiner konkreten Anwendung den Prozess grundlegender Erforschung des inneren Sinns göttlicher Offenbarung unterordnen, der sich bei der Urteilsfindung selektiv der vier bereits erwähnten Rechtsquellen bedient. Eine koranische Vorschrift „tu dies“ reicht in diesem Sinne nicht aus, die moralische Bewertung der Handlung zu verstehen. Ausschlaggebende Voraussetzung für eine verbindliche Urteilsfindung ist eher das genaue Verstehen von Gottes Willen im Bereich des menschlichen Lebens. Es handelt sich bei fiqh um eine Erkenntnis, die bei der Urteilsfindung primär auf die Erlangung einer relativen Gewissheit abziehlt. Absolutes Wissen zu den möglichen Hintergründen göttlicher Rechtsordnung ist einzig und allein das Vorrecht Gottes. Auf dem Feld des Lebenvollzugs, in dem die Idee göttlichen Rechts Anwendung findet, liegt die Aufgabe der Zielsetzungen und Intentionen von šarīʿa darin, dem deontischen Moment im Handlungskontext Sinn und Orientierung zu geben. Vor diesem Verständnis gilt es zunächst die traditionelle Hierarchie der beiden Hauptkategorien der Moral- und Rechtsnormen, nämlich vorschreibenden Verhaltensnormen (aḥkām taklīfiyya) und sozial-sittlichen konstitutiven Regeln (aḥkām waḍʿiyya), aufrechtzuerhalten, die auf ihrer jeweiligen Ebene ein spezifisches Organisationsprinzip besitzen, das eine Vielfalt von Verknüpfungen zur menschlichen Handlungswirklichkeit in sich schließt. Die fünf vorschreibenden Verhaltensnormen: Erlaubnis (ibāḥa), Empfehlung (nadb), Gebot (īǧāb), Verwerfung (karāha) und Verbot (taḥrīm) haben die Aufgabe, die Glaubenspraxis hinsichtlich ihrer individuellen und interaktiven Vollzugszusammenhänge für das Leben und Handeln zu gestalten. Demgegenüber sollen die sozial-sittlichen konstitutiven Regeln die theologischen und rationalen Rahmenbedingungen des Handlungsvollzugs und die damit verbundenen Anforderungen der Rechtsgültigkeit verdeutlichen. Diese Normengattung umfasst alles, was als Grund oder Voraussetzung (sabab), als notwendige Bedingung (šarṭ) oder als Hindernis (māniʿ) einer Handlungssituation im Verhältnis zu ihrem moralischen Status aufgefasst werden kann. Die Moral- und Rechtsbestimmungskategorien25 der šarīʿa sieht 25 In der scholastischen Rechtsliteratur werden drei Kategorien des Begriffs ḥukm unterschieden: Bestimmung nach rechtlichem Maß (Richterspruch), Bestimmung nach dem Wahrheitsgehalt (konstitutive Regeln des Handlungs- und Beurteilungsumfelds) und schließlich die Bestimmung nach dem moralischen Status (vorschreibende Verhaltensnormen). Die ersten beiden Formen

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5.2. Aš-Šāṭibīs theologische Moralnormativität

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aš-Šāṭibī durchzogen von einer Sinnbeziehung, die sich fundamental an maqāṣid orientiert. Die fünf verpflichtenden Verhaltensnormen26 (aḥkām taklīfiyya) gehören neben den dem Handlungsumfeld inhärenten konstitutiven Regeln (aḥkām waḍʿiyya) zu dem weiteren Kreis derjenigen Bestimmungen, die traditionell als Moral- und Rechtsnormen (aḥkām šarʿiyya)27 bezeichnet werden, die allgemein mit der Normbildung in der Handlungsrealität verbunden sind. Ungeachtet aller Unterschiede zeichnen sich diese Normenkategorien durch ihr gemeinsames Verhältnis zur ethischen Ausrichtung aus, die auf die Zielsetzungen der šarīʿa und ihre Gemeinwohlideale hinauslaufen. So werden die Moralnormen bewusst zu einer Unterkategorie des ethischen Urteils, während die maqāṣid zu Hauptsäulen eines universalen islamischen Ethos erhoben werden. Die Einführung des Intentionsbegriffs in das Verhältnis der Verhaltensnormen zu konstitutiven Regeln, wirft ein neues Licht auf das Verhältnis der Handlung zur Moralnorm. Durch eine Ausweitung des Handlungsumfelds fügen die konstitutiven Regeln der bei der Anwendung moralischer Normen vorausgesetzten Handlungsintention einen sozial-sittlichen Charakter hinzu. Der in der Normenlehre vertretene deontische Ansatz kann nach modernem Verständnis der Intentionstheorie aš-Šāṭibīs lediglich aufgrund seines Bezuges zu der aus dem Begriff der Gemeinschaft (umma) hervorgehenden gegenseitigen Verantwortung Bestand haben; näherhin durch den Glauben des Einzelnen an eine einvernehmliche Einigung der Gemeinschaft über die Ausrichtung des ethischen Verhaltens auf das Gemeingut.28 Die Vorstellung einer dem Lebensvollzug gewidmeten, deontischen, normativen Ordnung für den Gemeinschaftsbund der Gläubigen diente mitunter dazu, ein sind anwendbar und können auch als ein Index betrachtet werden, der vom Sichtbaren, Erkenntlichen bis zum nicht Vorhandenen, welches deduktiv erschlossen werden soll, reicht. Ob Maßstab oder Index, beide Normenkategorien sind unumstritten. Aš-Šāṭibīs Interesse galt hauptsächlich den letzten beiden Kategorien. Für Eine umfassende Übersicht über das Verhältnis zwischen den apriotischen Grundsätzen der Logik und den ethischen Maximen der maqāṣid siehe u.a. ʿAbd as-Salām ar-Rafʿī: Fiqh al-maqāṣid wa aṯaruhu fī l-fikr an-nawāzilī, Casablanca 2010, S. 264-280 sowie Bernard G. Weiss: The Search for God’s Law, Herndon 2014, S. 107. 26 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 76. 27 Auf die kontroverse Diskussion zur Definition des Begriffs ḥukm šarʿīa wird in dem darauffolgenden Unterkapitel detailliert eingegangen. Samuel A. Jackson liefert die allgemein bekannte und in der europäischen Literatur zur islamischen Rechtstheorie inzwischen angenommene Definition: „The ḥukm šarʿī establishes in religious terms the status of specific human actions relative to specific thing. It speaks not to the essence of things in themselves but only to the propriety of specific human actions towards them.“ (Jackson: Islamic Law and the State. The Constitutional Jurisprudence of Shihāb al-Dīn al-Qarāfī, S. 116.) Diese Definition Jacksons umfasst gleichermaßen rein juristische Begriffseingrenzungen, die in der früheren islamwissenschaftlichen Literatur gängig waren, wie etwa von Schacht: An Introduction to islamic Law, S. 1-3; Nagel: Das Islamische Recht. Eine Einführung, S. 90-95 sowie welche, die den deontischen Aspekt in den Vordergrund stellen, wie etwa Baber Johansen: Contingency in a sacred Law, Leiden 1998, S. 25f. 28 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 42.

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

Rechtssystem zu entwerfen, in dem das Gerechte vom Guten (im Sinne einer Gesinnungsethik) getrennt wird.29 Dabei sei im Vorfeld angemerkt, dass in der begründungsorientierten Auffassung von maqāṣid die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Gutheit nicht vordergründig der Rechtfertigung strafrechtlicher Praxis im Islam diente. Zwar weist aš-Šāṭibī daraufhin, dass es bei Strafmaßnahmen, wie etwa hundert Peitschenhiebe für Unzucht (Q 24:1-5), das Abtrennen der Hand für Diebstahl (Q 5:38) etc., zweifellos um Handlungen geht, die der Kategorie des Übels zuzuschreiben seien.30 Jedoch ergänzt er anknüpfend an den Intentionsgedanken, dass der Bewertungsvorgang des moralischen Handelns grundsäztlich von Relationen und nicht von Entitäten ausgehe; d.h. in welchem inneren Zusammenhang die Handlung einerseits mit der ihr zugrundeliegenden Intention und andererseits mit dem Handlungsumfeld, in dem sie vollzogen wird, stehe. Der Maßstab allen Werturteils sei die Absicht zur Förderung göttlicher Gemeinwohlideale.31 In diesem Kontext sollte die folgende Aussage des Propheten (sas) verstanden werden: „Die Taten werden nach den Absichten beurteilt, und jedem wird vergolten, was er beabsichtigt hat.“32 In den Debatten über den Vorrang des deontischen Verpflichtungscharakters der šarīʿa vor ihren ethischen Zielsetzungen trat jedoch in der postklassischen Theologie die Prozedur einer dem Offenbarungssinn verschlossenen Generierung von Handlungsnormen an die Stelle jedes vorgängigen Bekenntnisses zu Gemeinwohlidealen. Die innovative Lehre aš-Šāṭibīs über das reziproke Verhältnis zwischen Gemeinwohlidealen und Rechtssetzung betonte die Vorläufigkeit des weltlichen Rechts und räumte den Rechtsgelehrten freie selbstständige Urteilsfindung ein. Auf diese Weise beantwortet aš-Šāṭibīs Ansatz eine der kontroversesten Fragen der Rationaltheologie: Inwieweit könne der vor- bzw. ungeschichtliche Bund, den Gott mit Adam in der Vorzeit abgeschloßen hat, für eine geschichtliche Gesellschaft bindend 29 Hierzu wird häufig die Aussage des zweiten Kalifs ʿUmar aufgeführt: „Zeigt uns eure guten Taten, denn wir [Rechtshüter] sind verpflichtet, nach dem Äußeren zu beruteilen. Das Wissen über das Verborgene ist nur Gott vorbehalten.“ (Vgl. Muḥammad Ibn Ali aš-Šawkānī (gest. 1255/1839): Nayl al-ʾawṭār, al-Maṭbaʿa al-ʿuṯmāniyya al-miṣriyya, Kairo 1938, Bd. 1, S. 369). Nach an-Nisāʾī geht das Diktum, nach dem Äußeren zu beurteilen, auf eine Aussage des Propheten zurück, in der implizit zur Beurteilung nach beobachtbaren Sachlage aufgrufen wird (Vgl. Abū ʿAbd ar-Raḥmān Aḥmad an-Nasāʾī (gest. 302/915): as-Sunan, Dār al-kutub alʿilmiyya, 8 Bde., Beirut o.J., Bd. 8, S. 233). 30 Die aḥkām sind nach aš-Šāṭibī auf das Wohlergehen des mukallaf und nicht auf seine Bestrafung ausgerichtet (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 41. Zur strafrechtlichen Praxis in Form von ḥudūd im Sinne von Normensetzungen menschlichen Sozialverhaltens vgl. u.a. Maḥmūd Šaltūt: al-Islām ʿaqīda wa-šarīʿa, Kairo/Beirut 2001, S. 279-302. 31 Dass das handlungbezogene Werturteil zwischen Gesetz und Vernunft „aufgespannt“ ist, wurde bereits auf ähnliche Weise von Augustinus (354-430 n. Chr.) erörtert. Auf seiner exegetischen Spurensuche verweist Norbert Fischer auf die Frage des Augustinus, ob Ehebruch erlaubt sei, wenn die „Goldene Regel“ dabei beachtet würde (dass man einem anderen also nicht antut, was man sich selbst nicht gefallen ließe). (Vgl. Fischer: „Kants Verhältnis zum christlichen Glauben“, S. 41.) 32 Vgl. al-Buḫārī: Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Bd. 1, S. 2, Nr. 1.

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5.2. Aš-Šāṭibīs theologische Moralnormativität

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sein.33 Übertragend gesehen, bedeutet dies, Gottesrecht anzuwenden, die Lebenswirklichkeit im Sinne der Absicht des Korans zu gestalten, wohlwissend, dass diese Absicht im Umkehrschluss ihre Geschichte erzählt und auf ihre Zukunft antizipiert. Dieses Verständnis von Gottesrecht resultiert offensichtlich aus der Gleichsetzung von theologischer Verbindlichkeit der Offenbarungsschriften und dem weltlichen Geltungsanspruch der selbstständigen Urteilsfindung bei der zeitgemäßen Ableitung von Handlungsnormen. Diese an sich nicht ausschließlich aš-Šāṭibī vorbehaltene Methodik wird heute von weltoffenen theologischen Ansätzen besonders betont. 34 Bei der Frage nach der Vereinbarkeit von islamischer Moralität und den Anforderungen säkularer Gesetzgebung plädiert z.B. Muḥammad aš-Šaḥrūr für eine Aufhebung der Trennung von Gottesrecht und Menschrecht, da die überzeitlichen Normen von šarīʿa in ihrer konkreten Umsetzung einer zivilen, positiven Gesetzgebung bedürfen. Demgegenüber warnen wertkonservative Theologen vor einer Gleichsetzung von göttlicher und menschlicher Gesetzgebung und der damit einhergehenden Kollektivierung selbstständiger Urteilsfindung und sehen darin die Gefahr einer gegenläufigen Entwicklung in Gestalt der Neutralisierung religiöser Ansprüche in einem, vom weltanschaulichen Pluralismus geprägten, öffentlichen Raum.35 5.2.2. Pflichtnormen: Aḥkām taklīfiyya – Kategorien moralischen Verhaltens Der teleologische Gesichtspunkt von maqāṣid drückt sich in Werturteilen und Schätzungen aus, die einen direkten Bezug auf die Handlungen der Gläubigen nehmen. Weil maqāṣid ihre Prinzipien unmittelbar aus den Offenbarungsschriften speisen, gelten sie als Universalquellen der Rechtsfindung und sind befugt, Aussagen des Glaubens in theologische Postulate zu verwandeln, die einen Begründungsrahmen für theologische und soziale Legitimität der Verhaltensnormen bieten. 36 Die deontischen Prädikate, die aus aḥkām taklīfiyya hervorgehen, drängen sich dem Verpflichteten in Form von Geboten, Verboten, Empfehlungen, Missbilligungen oder Erlaubnissen auf. 33 Dieser Frage gegenüber erläutert Thomas Amberg: „Ihre Verhaltensweisen und Handlungen sieht jede Religionsgemeinschaft in einem grundsätzlichen Bezug zu den theonomen Satzungen und Handlungsprinzipien [der] Offenbarungsschriften gestellt. Gleichzeitig sind diese Religionsgemeinschaften, als lokale Sozialgemeinschaften, auf der Ebene von Familie und von ihren einzelnen Individuen, in äußere Lebensbedingungen und Lebensformen eingebunden. Menschliches Handeln ist durch Handlungsabsichten, durch die Interessen von Gruppen wie Einzelpersonen bestimmt. Werte und Normen wandeln sich mit der Veränderung eines sozialen Kontextes.“ (Vgl. Amberg: Auf dem Weg zu neuen Prinzipien islamischer Ethik, S. 29.) 34 Vgl. Muḥammad aš-Šaḥrūr: Naḥwa uṣūl ǧadīda, Kairo 2005, S. 103; Amberg: Auf dem Weg zu neuen Prinzipien islamischer Ethik, S. 190f. 35 Vgl. al-Qaraḍāwī: Dirāsa fī fiqh maqāṣid aš-Šarīʿa, S. 95. Zu dieser Debatte in der christlichen Theologie vgl. Fischer: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, S. 32. 36 Dies ist nach Johannes Fischer auch eine besondere Charaktereigenschaft der theologischen Ethik christlicher Prägung. (Vgl. Fischer: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, S. 35.)

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

Hinsichtlich des Vergleiches islamischer Pflichtmoral mit modernem positivem Recht ist laut Christoph Zehetgruber anzumerken, dass die Kategorien, nach denen menschliches Verhalten bei letzterem eingeteilt wird, lediglich „jene des Erlaubten und des Verbotenen sind, wobei ein Zuwiderhandeln gegen Verbotsnormen mit einer staatlichen, rein säkularen Sanktion geahndet wird.“37 Es handelt sich bei aḥkām taklīfiyya also um eine allgemeine Bestimmung nach dem moralischen Status. Die fünf Kategorien des moralischen Verhaltens können nach aš-Šāṭibī aufgrund ihrer Abhängigkeit von den ihnen zugrundeliegenden Zielsetzungen der šarīʿa nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben, jedoch verkörpern sie die moralischen Pflichten aller Gläubigen. Das bemerkenswerte an der Herangehensweise aš-Šāṭibīs in seiner Abhandlung zu aḥkām taklīfiyya ist indessen, dass sich die von ihm auf dem Relationsbegriff basierende, gewählte Analyse der Verhaltensnormen von der Annahme einer vorgängigen Essentialisierung von Verbot und Gebot abhebt und dabei die Kategorie des Erlaubten ins Zentrum moralischen Urteils rückt. Den fünf Kategorien des moralischen Urteils sind keine feststehenden vom Kontext unabhängige Aufforderungakte eigen. Sie sind einem Doppelprinzip der Bestimmtheit unterworfen. Einerseits schwanken die Aufforderungswerte der moralischen Normen nach Art und Maß der Verstrickung vollzogener Handlungen in den Bereichen des Guten oder des Schlechten, sodass absolutem Verbot und reinem Gebot eher die Funktionen zweier Orientierunghorizonte zukommen. Andererseits sollen die aus den Moral- und Rechtsnormen abgeleiteten und auf die Praxis angewandten Aufforderungen in Bezug auf die maqāṣid-Kategorie aufgestellt werden, zu der sie im Verhältnis stehen: „Die [fünf] verpflichtenden Moral- und Rechtsnormen hängen, sowohl im Falle des Handlungsvollzugs als auch im Falle der Handlungsunterlassung grundlegend mit der [ethischen] Ausrichtung [der šarīʿa] zusammen.“ 38 So variiert die Verbindlichkeit der rechtlich-moralischen Aufforderungen je nachdem, ob sie aus notwendigen, bedürfnisbezogenen oder ergänzenden, ethischen

37 Christoph Zehetgruber: Islamisches Recht versus europäische Werteordnung, Wien 2010, S. 63. Im traditionellen islamischen fiqh werden Verbote und Gebote etwas differenzierter angesehen. Gebote werden als erforderlich bzw. verpflichtend (wāǧib oder farḍ) bezeichnet. Es sind die Pflichten, die jeder Muslim erfüllen muss, ungeachtet seines persönlichen Strebens nach Frömmigkeit. (Darunter fallen z.B. sowohl zwischenmenschliche Handlungen wie Almosengaben, als auch gottesdienstliche Praktiken wie Fasten im Ramadan oder das fünfmalige tägliche Gebet.) Ihre Vernachlässigung oder ihre Unterlassung sollte bestraft werden, im Diesseits wie im Jenseits. Bei dem Verbot (maḥẓūr oder ḥarām) geht es im Allgemeinen um Handlungen, die die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft sichern. Deren Ausführung wird bestraft und deren Unterlassen wird belohnt. Eine dieser Handlungen als legitim zu bezeichnen, wird nach wertkonservativen Gelehrten als ein Beweis der Glaubensabtrünnigkeit angesehen. (Vgl. u.a. Yūsuf al-Qaraḍāwī: Erlaubtes und Verbotenes im Islam, übers. von Ahmed von Denffer, München 1989, S. 148f.) 38 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 106. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 225.

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5.2. Aš-Šāṭibīs theologische Moralnormativität

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Gemeinwohlidealen entpringen.39 Entscheidendes Merkmal für die Urteilsbildung ist nach aš-Šāṭibī die Varibilität des moralischen Status einer Handlung in ihrem Verhältnis zu den fünf verschiedenen Rechtsvorschriften im Hinblick auf das Wohlergehen der Gemeinschaft.40 Dadurch lässt sich das besondere Interesse ašŠāṭibīs an den Zwischenstufen der moralischen Normen, nämlich dem Empfehlenswerten (mandūb) und dem Verwerflichen (makrūh) – als heimliche „Seelen“ von Gebot und Verbot – erklären, die eine realitätsnahe Erfassung des menschlichen Verhaltens ermöglichen. 5.2.3. Intermediäre Verhaltensnormen: Empfehlenswertes und Verwerfliches als Abstufungsmerkmale des moralischen Urteils Das Empfehlenswerte (mandūb) wird im Rechtsdenken aš-Šāṭibīs nicht nur als ein Begriff vielfältiger tugendhafter Umschreibungen im islamischen Moralsystem angesehen, der sowohl Bereiche des rechtschaffenen Sozialverhaltens wie etwa freiwillige Almosengabe (ṣadaqat at-taṭawwuʿ) oder Streitschlichtung (Q 49:10), als auch optionale religiöse Praktiken, wie zusätzliches Fasten außerhalb Ramadans oder die ʿumra-Wahllfahrt miteinschließt.41 Vielmehr geht es bei aš-Šāṭibīs Begriff des Empfohlenen um eine Unterkategorie des Gebotenen, bei dessen praktischer Anwendung der soziale Sinn für das Gemeinwesen im Handlungskontext zu erkennen gilt. Zwar bestätigt aš-Šāṭibī, dass beim Empfehlenswerten die Verrichtung belohnt und die Unterlassung nicht bestraft werden, jedoch gilt dies für ihn nur solange die Vernachlässigung des Empfohlenen nicht in den Bereich des Verbotenen gelangt, nämlich dann, wenn die Interessen des Gemeinwesens gefährdet sind. Bestes Beispiel hierfür mag die Empfehlung zur Eheschließung sein. Entgegen traditioneller Moralauffassungen, die die Pflicht zur Ehe für jedes einzelne Mitglied der Gemeischaft mit der Wahrung der Keuschheit begründen, vertritt aš-Šāṭibī diesbezüglich eine differenziertere Meinung. 42 Für ihn steht jedem Individuum die 39 Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, 5. Aufl, 1995, S. 179. 40 Die Vielzahl konkurrierender Deutungsmethoden beim fiqh zeigt sich darin, dass in den vier bekannten Rechtsschulen die fünf Moral- und Rechtsvorschriften unterschiedlich geordnet werden. Die Einzigartigkeit von aš-Šāṭibīs Ansatz liegt darin, dass seine Abhandlung zu den fünf Verpflichtungsnormen keiner vorgängigen Klassifizierung folgt. Als erste Kategorie des moralischen Urteils wird bei aš-Šāṭibī das Erlaubte beprochen; die vier übrigen Kategorien werden dann gleichermaßen im Verhältnis zum Erlaubten und zueinander analysiert. Die von ihm übernommene Ordnung entspricht seiner Untersuchungsmethode, die darin bestand, die verschiedenen Pflichtnormen im Rahmen eines kontrastiven Ansatzes im Hinblick auf ihre Bezugnahme zu maqāṣid zu analysieren. Dies könnte eine Deutung von ar-Raysūnīs Frage diesbezüglich sein. (Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, S. 182f.) Man vergleiche zur schematischen Darstellung traditioneller Klassifizierungen: Peter Antes u.a. (Hg.): Der Islam. Religion, Ethik und Politik, W. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln, 1991, S. 67ff. 41 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 94. 42 Der sittlich-konservativen Auffassung des Ehegebots liegen in der wortwörtlichen Auslegung

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

freie Wahl zu, die Ehe einzugehen oder es zu unterlassen. Eine Gesellschaft kann sich allerdings in ihrer Gesamtheit der Eheschließung nicht entziehen, da dies ein klarer Verstoß gegen die Fortpflanzungsmaxime bedeuten würde, die dem Fortbestehen des menschlichen Lebens auf der Erde dient. Diesem Normenverständnis liegt eine Deutung aš-Šāṭibīs des Koransverses (Q 5:89) zugrunde: „O ihr, die ihr glaubt, verwehrt nicht die guten Dinge, die Allah euch erlaubt hat, und übertretet nicht, siehe Allah liebt nicht die Übertreter.“ Hier wird dem Einzelnen im Rahmen des moralischen Gesellschaftskonsenses in hinreichendem Maß das Recht zu einem gewissen Individualismus zugesprochen. 43 Die hier im Bezug auf Eheschließung aufgeführte Rechtsauslegung wird in aš-Šāṭibīs Darstellungen als Ergebnis einer Verhältnisbestimmung der Moralnormen von Gebot und Empfehlung gezeichnet. Jeder empfehlenden Vorschrift dient folgende Maxime als Hintergrund: „Wenn eine Handlung teilweise empfohlen wird, so sollte sie in ihrer Ganzheit als Pflicht verstanden werden.“44 Die Verhaltensvorschrift der Missbilligung (makrūh) umfasst Handlungen, die dem „grauen“ Bereich der moralischen Pflicht zugerechnet werden können. Die Vermeidung von verwerflichen Handlungen wird als Weg zur Frömmigkeit aufgefasst, da es prinzipiell um Praktiken geht, deren Vollzug zwar keine Strafe nach sich zieht, deren Unterlassung jedoch belohnt wird. In aš-Šāṭibīs Argumentation sind verwerfliche Handlungen nur in gewissem Maße unwesentlich für den sittlichmoralischen Status innerhalb der Glaubensgemeinschaft verantwortlich. Im Rahmen des affirmativen Aspektes ruft das vorausgesetzte Gemeinwohl als heimliche „Seele“ des Verbots stets im Handlungskontext eine Abwägung hervor, die unter den Handlungskategorien im Hinblick auf die ethische Ausrichtung die Anwärter auf das Prädikat von maṣlaḥa auslotet. So gesehen ließe sich ein moralisch

zahlreiche Quellenbelege zu Sexualität und Ehe zugrunde. Die anti-rationalistische und von der Orthodoxie geprägte Tradition hat die Aussage des Propheten (sas) zur übermäßigen Askese in der Regel anders verstanden. So wurden Hadithe wie etwa: „Nach Abū Ayyūb: Der Prophet (sas) sagte: Vier Sachen gehören zu den Verhaltensregeln der Gesandten: die Schamhaftigkeit, das Benutzen von Wohlgerüchen, der Zahnstocher und die Heirat“ im Sinne einer vorschreibenden Bestimmung zur Eheschließung gedeutet (Vgl. Adel Theodor Khoury: Der Ḥadīth. Urkunde der islamischen Tradition, 5. Bde., Gütersloh, 2009, Bd. 3, S. 20, Hadith-Nr.: 2902; zu dieser Frage siehe auch. Yūsuf al-Qaraḍāwī: Ummatunā bayna l-qarnayn, Kairo 2002, S. 155-162). Unterschiedlich bewerten hingegen die modernen Gelehrten die mit der Unterlassung der Ehe „einhergehenden“ sogenannten geschlechtlichen „Perversionen“ wie etwa Homosexualität oder Selbstbefriedigung (Vgl. u.a. Antes u.a. (Hg.): Der Islam. Religion, Ethik und Politik, S. 78.) 43 Durch seinen differenzierten Blick bietet aš-Šāṭibīs Ansatz einen Vorzug gegenüber Abū Ǧarīr aṭ-Ṭabarīs (gest. 310/923) Auslegung des Eheschließungsgebots mittels des Koranverses (Q 5:89). Aṭ-Ṭabarī stützt seine Exegese auf folgende Überlieferung Muǧāhid ibn Ǧabrs: „Einige Leute, darunter ʿUṯmān Ibn Maẓʿūn und ʿAbdallāh Ibn ʿUmar, wollten ihre Frauen verlassen, sich kastrieren und grobe Kleidung tragen. Da wurde dieser und der folgende Vers geoffenbart.“ (Al-Qaraḍāwī: Erlaubtes und Verbotenes im Islam, S. 148-149.) 44 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 94.

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5.2. Aš-Šāṭibīs theologische Moralnormativität

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verwerfliches Verhalten wie z.B. Ehescheidung nur im Kontext seines Vollzugs und hinsichtlich der dahinterstehenden Handlungsintention als solches erkennen. Die Einstufung der Ehescheidung in die verwerfliche Handlungskategorie lässt sich nicht etwa durch die vermeintliche Abscheu, die offenbar die islamische Moralität gegenüber dem christlichen Ideal der Ehelosigkeit geäußert haben soll, begründen.45 Vielmehr wird sich bei der moralischen Einstufung der Ehescheidung auf die Gefährdung der sozial-ethischen Werte berufen, die aus den Offenbarungsquellen hervorgehen. In Koran und Sunna ist die Ehe ein Sinnbild für Barmherzigkeit und soziale Fürsorge, so heißt es in Q 2:183: „Sie sind euch ein Kleid und ihr seid ihnen ein Kleid“, was nach al-Qaraḍāwī, soviel bedeutet, dass jeder der Ehepartner dem anderen Schutz, Bedeckung, Stütze und Schmuck sein sollte. 46 Die so verstandene Bedeutung des festen Bandes der Ehe, mit dem Gott den Mann und die Frau verbindet, bietet demnach dem praktisch angelegten Recht die Möglichkeit, den theologisch psychologischen Charakter der Füsorge zu verorten. Nämlich in den zwischenmenschlichen und sentimentalen Eigenschaften, die dem Zusammenleben des Ehepaars entspringen: das Teilen von Leid und Freud sowie die gleichmäßige Verteilung von Rechte und Pflichten. Die moralische Einstufung des verwerflichen Handelns, wie der Ehescheidung, orientiert sich, nach aš-Šāṭibīs Deutung an dem Maß des Schadens, der im Falle einer Scheidung einem der beiden Ehepartner einerseits und dem Gemeinwesen andererseits widerfährt. Scheidung ist dann erlaubt, wenn alle von der Gemeinschaft unternommenen Aussöhnungsbemühungen fehlschlagen. Sollten die Schäden des Fortbestehens einer Ehe bei dem Abwägungsprozess gegenüber dem von der ethischen Ausrichtung auf Fürsorge und Fortpflanzung hervorgehenden Nutzen überwiegen, sodass dadurch andere Universalmaximen des ethischen Verhaltens wie etwa der Schutz des Lebens, der intellektuellen Fähigkeit oder des Glaubens gefährdet werden, so kann die Mißbilligung als eine Kategorie des Erlaubten verstanden werden. Das Verwerfliche unterhält also ein Spannungsverhältnis einerseits zum Erlaubten und andererseits zum Verbotenen, von dem es ursprünglich hergleitet wurde. Vor diesem Hintergrund sollte die Aussage des Propheten (sas) verstanden werden: „Unter den erlaubten Dingen ist die Scheidung Allah am meisten verhasst […]“.47 Das Verwerfliche gilt als etwas, das von Gott verabscheut wird, und kann im Falle einer unvermeindlichen Zwangslage in Richtung des Erlaubten tendieren und im Falle einer übermäßigen Widmung in das Verbotene umstürzen. Die Komplexität des von aš-Šāṭibī bei der Einstufung moralischer Normen in Gang gesetzten Abwägungsprozesses rührt daher, dass menschliche Handlungen nach seiner Auffassung stets von einer gewissen Ambivalenz gekennzeichnet sind, die nur durch 45 Vgl. Antes: Der Islam. Religion, Ethik, Politik, S. 76. 46 Vgl. al-Qaraḍāwī: Erlaubtes und Verbotenes im Islam, S. 173. 47 Abū Dāwūd: Sunan; cf. Khoury: Der Ḥadīth. Urkunde der islamischen Tradition, Bd. 3, S. 48, Hadith-Nr.: 3042).

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

die Einbeziehung des Glaubens bei der Suche nach rechtschaffendem Verhalten aufzuheben ist. Folglich müssen die Offenbarungsgebote bei der Klarstellung eines Rechtsfalles von einer Analyse faktischer Handlungszusammenhänge untermauert werden. Deutet man aus dieser Perspektive den Koranvers Q 2:183, so sieht man darin die Äußerung einer Norm der Gleichberechtigung, die sich von der Annahme einer Ungleichheit zwischen den Ehepartern abhebt, die dem islamischen Eherecht immer wieder vorgeworfen wird. Die Ehescheidung rückt unmittelbar in den Bereich des Erlaubten, wenn das Zusammenleben für einen der Handlungsträger zu Leid und Qual wird, gleichgültig, ob es Mann oder Frau ist. 48 Anstelle der von wertkonservativen Gelehrten beteuerten angeborenen Ungleichheit zwischen Mann und Frau wird hier eine Assymetrie anderer Art sichtbar: nämlich eine zwischen Handelnden und Leidenden, die für die ethische Urteilsbildung maßgebend ist. Hier muss der Gerechtigkeitsgedanke ansetzen, um eine „hinnehmbare“ Trennung im Scheidungsfall zu ermöglichen. Am äußersten Ende der Auflösung des festen Ehebandes krönt die Gnade Gottes den Handlungsbeschluss beider Ehepartner für den weiteren Verlauf des Lebens: „Wenn sie sich jedoch trennen, kann Allah beide aus seinem Reichtum entschädigen“ (Q 4:129). Die Vermeidung des größeren Unheils durch das kleinere Übel in Gestalt einer verwerflichen Handlung verdient Gottes Gnade und Wiedergutmachung. In den intermediären Moralbestimmungen spiegelt sich die Dynamik des menschlichen Bemühens um die Herstellung gottgewollter Gerechtigkeit wider, die die Intervention von Gottes Gnade hervorruft. Dabei zeigt Q 4:129 mitunter, dass der Gottessegen nicht allein aufgrund der Gesetzeskonformität des menschlichen Handelns erfolgt. Vielmehr hebt sich die Gnade Gottes grundsätzlich von den Folgen und Verstrickungen der menschlichen Handlungswirklichkeit ab. So heißt es nach Q 3:129: „Und Allah gehört (alles), was in den Himmeln und was auf der Erde ist. Er vergibt, wem Er will, und Er straft, wen Er will. Und Allah ist Allvergebend und Barmherzig.” Hierbei hat die wahrhafte Handlungsabsicht des Menschen gerade durch ihre Affinität zum höchsten Gut eine Sonderstellung auf dem Weg zum Heil inne. 49 Das 48 Ohne konkret darauf einzugehen, verwischt aš-Šāṭibīs Deutung von Moralnormen sämtliche Grenzen zwischen Mann und Frau und macht die dem Islam vorgeschobene Ungleichbehandlung beider Geschlechter in Ehe- und Erbrecht zur Nebensache. Bei alldem wird deutlich, dass im Zentrum von aš-Šāṭibīs theologischer Ethik der Mensch in seiner Eigenschaft als mukallaf, die sein „Ergon“ im Leben auszeichnet, steht. (Zum Thema Gleichheit zwischen Mann und Frau vgl. Zineb Miadi: „Gleiche Rechte für Mann und Frau“, in: Stefan Batzli/Fridolin Kissling/Rudolf Zihlmann (Hg.): Menschenbilder Menschenrechte, Zürich 1994, S. 89ff.) 49 In dem von aš-Šāṭibīs theologischer Ethik suggeriertem Zusammenwirken von Glaube und Gesetzeskonformität beim Streben nach gerechtem Handeln lässt sich der Gegensatz zweier Traditionen erkennen: einer jüdischen Tradition, in der Gerechtigkeit deontisch durch die

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5.3. Verortung des Erlaubten innerhalb der Verpflichtungsnormen

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Verwerfliche und das Empfehlenswerte befinden sich inmitten der Übergangsstrecke von der Handlungsfreiheit zur Norm. Die vom Gerechtigkeitsprinzip geforderte Gegenseitigkeit schwankt je nach Vollzugszusammenhang zwischen dem Elan der Handlungsfreiheit und dem Zwang des Gebotes. Dabei zeigen gerade die im Zwischenbereich angesiedelten Moralnormen der Missbilligung und Empfehlung die Schwierigkeit, menschliches Handeln in dichotome Katagorien von gut und schlecht zu unterteilen. Wenn man sich die menschliche Handlungsrealität als einen „Stolpergang“50 durch die Gestalten des Übels vorstellt, die sich im von dem Begriff des Mangels (ḥāǧa) eröffneten intersubjektiven Bereich vollzieht, so sollte die deontische Struktur der Moralpflicht die Vielfalt und die Dynamik der Interaktionsbereiche aufweisen, die aus den ethischen Maximen (maqāṣid) hervorgehen51. Die Vielgestaltigkeit des Übels hat ihr Gegenstück in der Variabilität der moralischen Vorschriften. Dieses Verständnis der Moralnorm als Relation, das sich bei aš-Šāṭibī klar nachweisen lässt, wurde bisher in der Diskussion um islamische Moralität wenig beachtet, sodass die so wichtigen und handlungsrealitätsnahen intermediären Moralbestimmungen in der Regel auf den Zwischenbereich verbotener und gebotener Dinge reduziert worden sind. Die Konsequenz für den Umgang mit der Moralund Rechtsnorm als Relationsbegriff liegt in jenem Streben nach Innovation, das ašŠāṭibī durch seine bemerkenwerte Abhandlung zur moralischen Kategorie des Erlaubten zu erkennen gibt.

5.3. Verortung des Erlaubten innerhalb der Verpflichtungsnormen 5.3.1. Das Erlaubte als Grundstein moralischer Erfindung Das besondere Interesse aš-Šāṭibīs an der Kategorie des Erlaubten (mubāḥ) ist nicht nur auf seine Zugehörigkeit zur mālikitischen Rechtschule zurückzuführen, in der diese Thematik besonders hervorgehoben wurde. Vielmehr hat die Hervorhebung Erfüllung des göttlichen Schöpfungsgesetzes gekennzeichnet ist und einer christlichpaulinischen Tradition, in der gerechtes Handeln, wie übrigens die Gnade, geschenkweise dem Glauben entspringt. (Vgl. Erich Naab: „Gerechtigkeit und Glaube“, in: Theologie und Glaube 103/1 ( 2013), S. 1-3; Graf: Moses Vermächtnis, S. 23ff.) 50 Q 84:6: „O du Mensch, du mühst dich hart zu deinem Herrn hin, und so wirst du Ihm begegnen.“ 51 Das Gefühl des Mangels beim Einzelnen dient in diesem Zusammenhang als Zwischenbereich zwischen Autonomie und Heteronomie, der das Verhältnis von Idividuum und Gemeinschaft affektiv bewusst macht. Durch das Gefühl des Mangels lässt sich die Verantwortung des Selbst gegenüber dem Anderen nicht rein deontisch durch den Zwang der Norm begründen. Aus diesem Prozess entspringt im Islam die Fürsorgepflicht des Individuums gegenüber der Gemeinschaft und umgekehrt. Die in der šarīʿa aufgesetzte Norm der Fürsorge (takāful) geht mit der anerschaffenen Neigung des Menschen zur Heteronomie einher. Im Hadith wird die angeborene Abhängigkeit der Menschen untereinander Grundgerüst für Zusammenhalt. So heisst es im Hadith: „Die Gläubigen stehen zueinander wie ein festes Mauerwerk, jedes Teil stützt das andere.“ (Al-Buḫārī: Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Bd. 3, S. 1232, Hadtih-Nr.: 6095.)

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dieser Kategorie bei ihm mit seiner diffenrenzierten und betont theologischethischen Betrachtung religiöser Pflichten zu tun. 52 Dem statischen mubāḥ-Begriff der Ḥanbaliten setzte aš-Šāṭibī ein dynamisches Konzept entgegen, dem eine relationelle und situationsabhängige Definition der Norm zugrunde liegt. Nach ḥanbalitischer Auffassung, die heute als unstrittig gilt, gilt der Grundsatz, dass Dinge/Handlungen erlaubt sind, sofern Gegenteiliges nicht bewiesen ist (al-aṣl alibāḥa).53 Diese Lesart geht aus einer dogmatisch begründeten Deutung zahlreicher Koranversen und Aussagen des Propheten (sas) hervor, in denen die Nutzbarkeit und Erlaubtheit der erschaffenen Dinge betont wird, allen voran aus Q 2:29: „Er ist es, Der alles, was auf der Erde ist, für euch geschaffen hat […]“54. Diese scheinbar weit gefasste Vorstellung des Erlaubten ḥanbalitischer Prägung setzt auf der praktischen Ebene eine enge Verbindung zwischen Pflicht und Gegenstand der Pflicht. Genau diesem übermäßigen, fast dialektischen Verhältnis vom Gottesgebot als überzeitlicher Spechhandlung und historisch bedingtem Lebensvollzug wollte die anadalusische Theologie entgegenwirken. Traditionell galt das Erlaubte als indifferent (mubāḥ) hinsichtlich seines moralisch-sittlichen Status. Erkennbar erlaubte Handlungen waren jedoch seit den Anfängen des 4./10. Jahrhunderts immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen unter den Rechtsgelehrten einerseits und zwischen ihnen und den Rationaltheologen andererseits. Während einige Rechtsgelehrte beteuerten, dass der Einzelne selbst über die Unterlassung bzw. Ausführung erlaubter Handlungen bestimmen könne, betonten vernunftorientierte Theologen den verpflichtenden Charakter des Erlaubten. Eine dritte Meinung, die überwiegend die Mystiker vertraten, prangerte den negativen Einfluss an, den erlaubte Handlungen auf den aufrichtigen Glauben und die damit verbundene asketische Lebensführung ausüben können und setzten eine umfassende normengetreue Erfüllung erlaubter Praktiken mit der Duchführung verbotener Handlungen gleich. Mit Blick auf z.B. auf das alles menschliche Wirken umfassende koranische Gebot, Gottes Erdreich zu bevölkern, verliert die Behauptung, das Erlaubte sei wesenhaft eine Aufforderung zum Unterlassen, an Überzeugungskraft. Denn die von der Offenbarung vorgeschriebenen rechtsschaffenen Handlungen hängen hermeneutisch gesehen mit dem Zwang leiblicher und erdhafter Verfasstheit des Menschen zusammen. Die historische Bedeutung des Fünf-Kategorien-Systems, das durch die Einführung des Erlaubten in den ersten beiden Jahrhunderten nach der Hidschra seine Endform erlangte, bestand darin, dass es den Kompromiss zwischen den moralischen Maximalisten, am stärksten repräsentiert durch die Ḫariǧiten, und den praktischen Anforderungen einer an der Gesellschaftsentwicklung orientierten So52 Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, S. 181ff. 53 Vgl. Taqī ad-Dīn Aḥmad Ibn Taymiyya: Maǧmūʿ al-fatāwā ibn Taymiyya, 37 Bde., Rabat, o.J., Bd. 20, S. 312f; Ders.: al-Qawāʿid an-nūrāniyya, hg. von Muḥmmad ibn ʿAbd ar-Razāq Ḥamza, Kairo o.J., S. 112f.; al-Qaraḍāwī: Erlaubtes und Verbotenes im Islam, S. 23f. 54 Vgl. hierzu u.a. Q 45:13, Q 31:20.

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zialethik aufzeigt, vertreten durch Rationaltheologen und Rechtstheoretiker, die sich immer weiter ausdehnte. Dieses hierarchische Moralsystem suggerierte aufgrund der Diskussion um die jussive Bedeutung des Erlaubten ab dem 5./11. Jahrhundert die Vorstellung einer zweigestuften Mitgliedschaft in der islamischen umma: solche, die sich den Gesetzen ergeben und sich innerhalb der von den Rechtsgelehrten definierten Moral und Rechtsnormen bewegen, und solche, die nach Frömmigkeit streben und im Glaubensakt das Wesentliche sehen, was Menschen vor Gott recht machen. In diesem epistemologischen Umfeld sollte man die Abhandlung aš-Šāṭibīs zum Erlaubnisgebot verorten. Dass die fünf Kategorien des moralischen Urteils nicht nur das islamische Verständnis über ein rechtschaffenes Leben bewerten, sondern vielmehr eine ausdrückliche Ablehnung der Doppeldeutigkeit moralischer Kategorien in einfach nur gut oder schlecht im Sinne einer positiven Rechtsauffassung bedeuten, lässt sich am Besten in der von aš-Šāṭibī mühsam herausgearbeiteten Aufforderungsstruktur des Erlaubens erkennen. Hierin liegt offenbar die Begründung dafür, dass aš-Šāṭibī im Rahmen seines Traktates zu den Moralbestimmungen sein Hauptaugenmerk auf das Erlaubnisgebot richtet. Eine ernstzunehmende Deutung seiner Hervorhebung von Sinn, Funktion und moralischer Tragweite des Erlaubnisakts muss folglich genau hier ansetzen. Den ersten Baustein in aš-Šāṭibīs Herausarbeitung der Kategorie des Erlaubten bildet die Feststellung einer Loslösung des Erlaubnisakts von dem sonst für alle Verhaltensnormen geltenden Charakter des Zwanges: „Das Erlaubte soll gemäß seiner Wesensart [und hinsichtlich seiner Rechtsverbindlichkeit] weder als Aufforderung zum Tun noch als Aufforderung zum Unterlassen verstanden werden [...] und es ist gleichgültig hinsichtlich der Absicht des Gesetzgebers, ob man es tut oder unterlässt.“ 55 Der tiefere Grund dieser Verhältnisbestimmung zwischen dem Erlaubten und der ihm zugrunde liegenden Gleichgültigkeit der Absicht des Gesetzgebers liegt offenbar in jenem impliziten Vorhaben der šarīʿa, bei dem die Mitwirkung menschlicher Vernunft und dem damit zusammenhängenden Erfahrungswert eine wesentlich größere Bedeutung bei der selbstständigen Urteilsfindung in den Angelegenheiten irdischer Lebensbereiche beigemessen werden. 56 So ist das Erlaubte nur als solches zu verstehen, wenn man voraussetzt, dass der Urheber des rechtlichen Diskurses hinter dem Erlass des Erlaubten weder die Absicht einer Aufforderung, es zu tun, noch die Aufforderung, es zu lassen, impliziert. Aš-Šāṭibīs Interpretation erfährt im Laufe seiner Auseinandersetzung mit den Vertretern unterschiedlicher Denkströmungen eine beeindruckende Bewährung insofern, als dabei die Gleichgültigkeit der Absicht des Gesetzgebers hinsichtlich des Erlaubten als Ausdruck einer Aufforderung zum Wählen (taḫyīr) umgedeutet wird, wodurch

55 Ebd., Bd. 1, S. 104-105. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 225. 56 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 89-92.

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der jussive Wert der Erlaubnis moralisch wieder greifbar wird.57 Darin spiegelt sich die Tatsache, dass mit der Aufforderung zum Wählen, sowohl der individuellen Verantwortung des Handelnden gegenüber der Gemeinschaft, als auch dem damit einhergehenden vernunftmäßigen Abwägungsprozess, eine Schlüsselfunktion bei der moralischen Urteilsfindung zukommt.58 Die Fragen, die alle auf verschiedene Weise das Verhältnis von Tun und Nicht-Tun beim Erlaubten umkreisen, werden von aš-Šāṭibī in drei Etappen entfaltet und hinsichtlich ihrer Beziehung zum Gemeinwesen sowie zur Verantwortlichkeit des Einzelnen ausgelotet. 5.3.2. Das Erlaubte als Vorbeugung vor sündhaftem Verhalten Dem Konzept der Verhältnismäßigkeit bei der Einhaltung göttlicher Gebote folgend wendet sich aš-Šāṭibī der mystischen Deutung des Erlaubten zu, die in der Ausführung zulässiger Handlungen die Gefährdung der menschlichen Gottesfurcht sieht. Die Skepsis der Mystiker gegenüber einem strikt an der Normenkonformität orientierten Vollzug erlaubter Handlungen im diesseitigen Leben rührt von ihrem Bedenken her, dass selbst eine gezügelte Zulassung des Begehrens schleichend eine Vernachlässigung ritueller Pflichten nach sich ziehe. Gegen diese radikal asketische Haltung, bei der dem spirituellen Wohbefinden des Einzelnen gegenüber dem sozialen Gemeinwohl Vorzug gegeben wird, wendete aš-Šāṭibī theologisch argumentierend ein, dass das moralisch reglementierte Ausleben erlaubter Handlungen dem sündhaften Verhalten im sozialen Kontext eher als Vorbeugung diene. Zur besonderen Kategorie des Erlaubten gelten diejenigen Handlungen, bei denen durch Rechtsverstöße sowohl die Anweisungen Gottes als auch die Rechtsansprüche der Menschen betroffen sind, wie etwa unzulässiger Geschlechtsverkehr.59 Diese augenscheinlich moralisch-sittliche Meinungsverschiedenheit offenbart allerdings die Zuspitzung einer seit dem 5./11. Jahrhundert tobenden Diskussion um die Stellung menschlicher Werke im Spannungsfeld zwischen individueller Frömmigkeit und sozialer Verantwortung. Diese am Rande der Dogmatik ausgeführte Auseinandersetzung war zumeist auf das Verhältnis von Mystik und theologischer Ethik fokussiert und fand ihren Höhepunkt in al-Ġazālīs Werk Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn. Zu dieser von der Mystik hervorgehobenen Ambiguität bei der Abgrenzung zwischen Zulässigkeit und Unzulässigkeit einer Handlung mag beitragen, dass die Übergänge vom Individuellen zum Sozialen nicht immer fließend sind. Zulässige Handlungen sind nicht als solche zu erkennen, weil sie ihrem Wesen nach immer so sind, sondern schwanken je nach ihrer moralischen Stellung im sozialen 57 Aš-Šāṭibī erteilt damit sowohl den Moral-Maximalisten als auch den Moral-Minimalisten eine klare Absage und verlegt die Diskussion um die Aufforderungsart des Erlaubten auf die Ebene der Begriffsdefinition. (Vgl. ebd., Bd. 1, S. 78-81.) 58 Dabei geht es auch um Verantwortlichkeit gegenüber sich selbst, die in den Bereichen von Menschrechte und Gottesrechte angesiedelt werden soll (Vgl. ebd., Bd. 1, S. 81). 59 Eheschließung als Vorbeugung gegen Hurerei und Unzucht, die die Maxime zum Schutz der Familie verletzten. (Vgl. ebd., Bd. 1, S. 82 und S. 91)

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Vollzugszusammenhang zwischen den bereits erwähnten fünf Kategorien der Pflicht. So schreibt aš-Šāṭibī: „Das Erlaubte kann durch diejenigen Sachverhalte zum Unerlaubten werden, [die einen Ausschluss ausgeführter Handlungen vom Bereich des Zulässigen bewirken.]“60 Aš-Šāṭibī argumentiert aus der Perspektive eines Gesellschaftskonzepts, in dessen Überlegungsrahmen theologisch-ethische Bewertungen und sozial-moralische Regelungen menschlichen Verhaltens ineinandergreifen können. Das Beispiel der Regulierung der sexuellen Praxis macht deutlich, wie sehr im islamischen Moralsystem die Rechte und Güter des Einzelnen mit jenen der Allgemeinheit miteinder verzahnt sind.61 Nicht zuletzt geht es bei der Differenzierung zwischen mystischer und ethischer Auffassung des Erlaubten um den Zusammenhang zwischen den „Rechten“ Gottes und jenen der Menschen. Entgegen der Argumentation der Mystiker, die basierend auf dem Ablenkungscharakter der weltlichen Freuden bei der Verrichtung vorgeschriebener Gottesdienste auf ein umfassendes Enthaltsamkeitsgebot hinausläuft, betont aš-Šāṭibī, dass die „Rechtsansprüche“ Gottes nicht prinzipiell den Rechtsansprüchen des Menschen vorgehen.62 Auf der Annahme basierend, dass eine Verknüpfung von dies- und jenseitigen Folgen einer erlaubten Handlung ausschließlich im Falle der Ausführung und nicht im Falle einer Unterlassung stattfindet, erwidert aš-Šāṭibī, dass man eher umgekehrt, entweder für die Gründe der Unterlassung einer erlaubten Handlung oder für die mangelnde Dankbarkeit für die immanente Güte des Erlaubten im Jenseits zur Rechenschaft gezogen werde. Exemplarisch dafür sind die folgenden koranischen Verse: „Seht ihr nicht, dass Allah euch das, was in den Himmeln und was auf der Erde ist, dienstbar gemacht hat, und euch mit Seinen Gunsterweisen überhäuft hat, äußerlich und innerlich? Doch gibt es unter den Menschen manchen, der über Allah ohne (richtiges) Wissen, ohne Rechtleitung und ohne erleuchtendes Buch streitet.“ (Q 31:20)

60 Vgl. ebd, Bd. 1, S. 90. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 225. 61 Die umma hat lediglich als fiktives Gebilde eine starke Stellung gegenüber dem Einzelen inne. Hierfür hat aš-Šāṭibī eine einprägsame Formulierung verwendet: Die Unterlassung erlaubter Handlungen ist seitens des Einzelnen zulässig, jedoch seitens der Gemeinschaft unzulässig: „wenn wir annehmen, dass alle Menschen eine erlaubte Handlung unterlassen, so käme dies der Unterlassung einer notwendigen Pflicht gleich“. (Ebd, Bd. 1, S. 93. Hier spricht einiges gegen die Auffassung einer strikten Rechtsauslegung, wonach die islamische Moralvorstellung weniger den Schutz der Sphäre des Einzelnen, als vielmehr den Schutz kollektiver Rechte der Gemeinschaft fördere. (Vgl. u.a. Muhammad Fathi al-Dirini: “Justice in the Islamic shariʿa”, in: Gerald E. Lampe (Hg.): Justice and Human Rights in Islamic Law, Washington 1977, S. 43f.) 62 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 81.

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und: „Sag: Wer hat den Schmuck Allahs verboten, den Er für Seine Diener hervorgebracht hat, und (auch) die guten Dinge (aus) der Versorgung (Allahs)? Sag: Sie sind im diesseitigen Leben für diejenigen (bestimmt), die glauben, und am Tag der Auferstehung (ihnen) vorbehalten. So legen Wir die Zeichen ausführlich dar für Leute, die Bescheid wissen.“ (Q 7:32) Im Erlaubten offenbart sich die anerschaffene leibhafte und erdhafte Verfasstheit des Menschen, ohne die man nicht von ihm behaupten könnte, dass er als Individuum handle und erleide. In diesem Rahmen werden die im Erlaubten zwischen Verbot und Gebot hin und her schwankenden, moralischen Werte miteinander konfrontiert und bilden somit den Sockel der Verantwortbarkeit des Handelnden für seine Taten. Die Mystik und die theologische Ethik haben gemeinsam, dass sie menschliches Verhalten im Horizont des Glaubens zu erschließen suchen. Jedoch ist die Ethik an eine Erfassung des menschlichen Handelns gleichermaßen als Individuum und als soziales Wesen interessiert. In einer modernen Fachbegrifflichkeit übertragen sucht die Ethiktheorie aš-Šāṭibīs den Zugang zu einer Versöhnung von Individual- und Sozialethik, die gleichermaßen auf ein transzendales und weltliches Ziel ausgerichtet ist.63 Die Auslegung zulässiger Verhaltensnormen soll nach aš-Šāṭibīs Argumentation imstande sein, Variationen der Urteilsfindung im Handlungskontext auszudenken, in denen die flüchtige Verfasstheit des Erlaubten berücksichtigt wird. Im Blick auf die selbstständige Urteilsfindung im Rahmen komplexer Handlungsverläufe unterschied aš-Šāṭibī folglich zwischen Situationen, in denen das Erlaubte bewusst als Mittel zum Vollzug des verwerflichen Verhaltens genutzt wird, und solchen, in denen die Ausführung eines zulässigen Verhaltens mit einer vermeintlichen Ablenkung von der Erfüllung einer Pflicht einhergeht. Die Aporien, die aus den beiden soeben genannten Handlungssituationen hervorgehen, lassen laut Aḥmad ar-Raysūnī, gewahr werden, wie grundlegend die Handlungsintention für die moralische Urteilsbildung sein kann.64 Ein Missbrauch der erlaubten Handlungen für die Verwirklichung unrechtmäßiger Zwecke wird durch die Anwendung des aus der praktischen Analogie entspringenden Präventionsprinzips sadd aḏ-ḏarāʾiʿ (Ausschluss juristischer Instrumentalisierung) verhindert.65 Sollte dem erlaubten Verhalten die Absicht zum Vollzug einer missbilligten oder gar verbotenen Tat zu63 So schreibt Johannes Fischer: „[Die] Individualethik hat es mit der Orientierung individuellen Lebens und Handelns zu tun. Darin ist auch das gemeinsame Leben und Handeln einer Gemeinschaft von Individuen eingeschlossen, insofern auch dieses je individuell verantwortet werden muss. Demgegenüber denkt Sozialethik über die Gestaltung sozialer Strukturen nach, innerhalb derer Menschen leben und handeln.“ (Fischer: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, S. 57.) 64 Ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, S. 90ff. 65 Vgl. hierzu Ibn Qayyims ausführliche Abhandlung zu diesem Thema in seinem Werk: Iʿlām almuwaqqiʿīn an rabb al-ʿālamīn, Bd. 4, S. 535.

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grunde liegen, so wird die für diesen Zweck in Gang gesetzte gesamte Handlungskette einer anderen Urteilskategorie als der des Erlaubten untergeordnet. Ausschlaggebend für die moralische Urteilsbildung ist die Frage, welcher ethischen Maxime die verletzte Moralnorm zuzuschreiben wäre. 66 Durch die Betonung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ethischer Ausrichtung und moralischer Pflicht ist es ašŠāṭibī wie keinem zuvor gelungen, aus der Willkür reflexiver Normableitung aus Präzedenzfällen Urteilslegitimität herzuleiten.67 Durch die Einführung des Absichtsbegriffs bei der moralischen Urteilsfindung werden erlaubte Handlungen in einem Zwischenbereich von Verbot und Gebot angesiedelt, sodass deren moralischer Status an die Abwägung von den im Handlungsumfeld enstehenden Vor- und Nachteilen bei der Wahl einer bestimmten ethischen Ausrichtung orientiert wird. Dementsprechend wird die Spannweite des Erlaubten zwischen Gebot und Verbot stets im Hinblick auf die Verbindlichkeit der Rechtsquelle, die bei der Urteilsbildung herangezogen wird, diskutiert. So variiert der moralische Status zulässiger Handlungen, je nachdem, ob die ihnen zugrunde liegende Urteilsbildung (ḥukm) einer universellen (aṣl kullī) oder einer fakultativen Rechtsquelle (aṣl ǧuzʾī) entspringt.68 Ein zulässiges Verhalten, dessen Erfüllung beispielsweise keine notwendige ethische Maxime verletzt, deren Auslassung aber dem Gläubigen auf irgendeine Weise Schaden zufügt, wird trotz der damit verbundenen negativen Folgen erlaubt.69 In diesem Fall gilt es anhand eines rationalen Abwägungsprozesses (at-tarǧīḥ) eine moralische Hierarchie von Praxiseinheiten aufzuweisen, die auf der Grundlage einer Verdeutlichung finaler Beziehungen ermöglicht, beabsichtigte ZielHandlungen von denen, die instrumental als Mittel zur Erreichung anderer Ziele durchgeführt werden, zu unterscheiden. Dabei müsse man laut aš-Šāṭibī stets zwischen Legitimität und Nützlichkeit einer Handlung abwägen: „Wenn sich die gesetzlich festgelegten Regeln mit dem Verwerflichen vermischen, z.B. beim Kauf und Verkauf, Treffen mit Menschen und bei jemandem Zuflucht suchen, und wenn sich das Unheil und das Verwerfliche 66 Hierbei kann das Erlaubte, nach aš-Šāṭibī, auch positiv der Verwirklichung „einer notwendigen, bedürfnisbezogenen oder ergänzenden ethischen Maxime dienen“. (Vgl. aš-Šāṭibī: alMuwāfaqāt, Bd. 1, S. 90). 67 Diese Herangehensweise aš-Šāṭibīs bildet den Kerngedanken für innovative Auslegungsimpulse zu einigen Fragen der Gegenwart, wie etwa der Frage, ob Mediengebrauch von Internet, Fernseher oder Kino laut islamischem Moralsystem verboten oder erlaubt ist; oder wie weit man weltlicher Obrigkeit Gehorsam schuldig sein sollte, wenn sie göttliche Vorschriften für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert. In Ägypten galt der aus der islamischen rechtlichen Tradition überlieferte Spruch: „Die Abwendung des Bösen genießt gegenüber dem Streben nach Gutem den Vorrang“ lange als theologisches Instrument zum Verbot von Volksaufständen. (Vgl. u.a. Nasr Hamid Abu Zaid: Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses.) 68 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 91f., wobei dieser Gedanke an mehreren Stellen in dem Werk vorkommt, was auf die Hervorhebung der Rolle von maqāṣid bei der Formulierung von aḥkām deutlich hinweist. 69 Aš-Šāṭibī verweist diesbezüglich auf den Sinn der Zulässigkeit der Ehescheidung. (Vgl. ebd., Bd. 1, S. 91f).

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auf der Erde verbreiten, sodass man sich als Verpflichteter bei der Erledigung seiner Aufgaben oder in seinem Verhalten den Umständen entsprechend nicht davon befreien kann, auf Verwerfliches zu treffen und damit konfrontiert zu werden, so setzt die offensichtliche Auslegung des göttlichen Gesetzes [bzw. göttlichen Rechts] voraus, dass er von dem, was er um sein Ziel zu erreichen gerade tut, ablässt. Aber die rechtmäßige Auslegung setzt voraus, dass man seinen Bedürfnissen nachgehen muss, gleichgültig, ob dieses Bedürfnis das Endziel oder ein Teil des Bestrebens ist. Und in beiden Fällen werden diese Bedürfnisse als grundsätzliche angestrebt, ganz gleich, ob sie es tatsächlich sind oder ob sie einem übergeordneten Ziel dienen. Denn wenn der Gesetzgeber das Auslassen dieser Handlungen vorgäbe, so engte er den Lebensbereich des Verpflichteten ein und würde dessen Leben erschweren. Und dies wäre das Auferlegen von etwas, das der Mensch nicht zu leisten vermag.“70 Aš-Šāṭibī stellt infolgedessen die Frage, was geschehen würde, wenn sich plötzlich alle Menschen in der Gesellschaft entschieden, erlaubte Handlungen nicht zu tun, und kommt zum Schluss: „Angenommen, dass alle Menschen [in einer Glaubensgemeinschaft] sich entschliessen würden, erlaubte Handlungen zu unterlassen, so entspräche dieses Vorgehen der Vernachlässigung einer gebotenen, notwendigen Regel. Die Erfüllung [des Erlaubten] würde sich in diesem Fall von der Normenkategorie der Empfehlung zu einer Pflichtkategorie im Allgemeinen verändern.“71 Aš-Šāṭibīs Auffassung vom Erlaubten lässt die Deutung zu, dass nur die gemeinsame Werten, an die die Gemeinschaft glaubt, – und dies aus freier Übereinkunft – die Idee grundlegend kennzeichnet, dass der gesellschaftliche Bund gegenüber den Mitmenschen Verantwortung übernimmt. Das Recht auf Wahlfreiheit zwischen Tun und Nicht-Tun bei dieser Kategorie vom Erlaubten steht nur dem Einzelnen zu. Der Gemeinschaft als moralische Institution wird dieses Recht hingegen nur unter Auflagen gewährt. Durch die besondere Stellung, die die Kategorie des Erlaubten im Rahmen der Pflichtenlehren von maqāṣid inne hat, offenbart sich das implizite „institutionelle“ Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. zwischen dem Selber und Selbst am deutlichsten. Versteht man Institution als eine Struktur des Zusammenlebens einer historischen oder religiösen Gemeinschaft, die sich nicht auf die zwischenmenschlichen Beziehungen ihrer Mitglieder reduzieren lässt, so können aḥkām auf dem Feld der Institution nur aufgrund der Idee eines Gesellschaftsbundes Fuß fassen. 70 Ebd., Bd. 3, S. 173 (für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 225.). Für eine ausführliche Diskussion dieses Themas siehe: Mohammed Nekroumi: „Koraninterpretation im Kontext inentionalistischer Rechtstheorien.“, S. 166f. 71 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 93. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 225.

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Die Bedeutung der Beziehung, die das Erlaubte mit den anderen Kategorien moralischen Urteils unterhält, hebt die Funktion der glaubensorientierten Vorstellung eines Gesellschaftsbundes hervor, das Gerechte vom Guten zu differenzieren. Man könnte aus moderner Perspektive sagen, dass der Bund (al-ʿurwa al-wuṯqā)72 der Gemeinschaft (umma) auf der Ebene der Institution diejenige Stelle einnimmt, die der Glaube auf der individuellen Ebene der religiösen Praxis innehat. Während aber der individuelle Glaube als eine Sache des Bewusstseins im Sinne eines „Faktums der Vernunft“ gelten kann, d.h. als das Faktum, das religiöse Moralität per se anerkannt wird, kann der Gesellschaftsbund nur als eine Vorstellung verstanden werden, die in der moralischen Reflexion über das Verhältnis von Selber und Selbst, Selbstachtung und Selbstschätzung zur Geltung kommt. 73 Um das Erlaubte als Pflicht im Kontext der gesellschaftlichen Verantwortung zu rechtfertigen, bedarf es einer Ausschaltung der Selbstliebe gegenüber der Selbstschätzung. Die Ausschaltung der Selbstliebe wird im Koran als Grundbedingung der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft erhoben. So liest sich Q 59:9 wie folgt: „Und diejenigen, die in der Wohnstätte und im Glauben vor ihnen zu Hause waren, lieben (all die,) wer zu ihnen ausgewandert ist, und empfinden in ihren Brüsten kein Bedürfnis nach dem, was (diesen) gegeben worden ist, und sie ziehen (sie) sich selbst vor, auch wenn sie selbst Mangel erlitten. Und diejenigen, die vor ihrer eigenen Habsucht bewahrt bleiben, das sind diejenigen, denen es wohl ergeht. Q 59:9 suggeriert nicht nur eine gewisse Differenzierung zwischen Selbstliebe und Selbstschätzung, sondern impliziert vielmehr, dass Selbstliebe eine Art Abirrung der Selbstschätzung ist. Dies zeigt noch einmal mehr, dass das Geheimnis um die besondere Aufmerksamkeit aš-Šāṭibīs für die Kategorie des Erlaubten, das jahrhundertelang für Missdeutung sorgte, nur adäquat entschlüsselt werden kann, wenn die Verhältnisbestimmung zwischen aḥkām und maqāṣid im Rahmen einer Theorie der theologischen Hermeneutik angegangen wird. Durch die Ausarbeitung hermeneutischer Zusammenhänge zwischen den ethischen Kategorien von Selbstliebe, Selbstachtung und Selbstschätzung zeigt sich die Affinität des Erlaubten zum Begriff der Fürsorge. In der Kategorie des Erlaubten offenbart sich die ethische Charaktereigenschaft der Moralpflicht der šarīʿa, Selbstachtung als Sinnbild des individuellen Gehorsams zur Norm und Selbstschätzung als 72 Vgl. Q 2:256; Q 31:22. 73 Zwar spricht Kant nur in Bezug auf das Bewusstsein, das man von dem Vermögen der Selbstgesetzgebung des moralischen Subjektes innehat, von einem Faktum. Dieses Bewusstsein aber ist der einzige uns zur Verfügung stehende Zugang zu der Art von synthetischer Beziehung, die die Autonomie zwischen Freiheit und Gesetz herstellt. In diesem Sinne ist das Faktum der Vernunft nichts anderes als unser Bewusstsein von dieser ursprünglichen Verbindung. Ein Bewusstsein, dessen spezifische Form, die Bezeugung des „Wer“ in ihrer moralischen Dimension annimmt; mit anderen Worten: das Zeugnis vom praktischen Status des freien Willens. (Vgl. Paul Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 258.)

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

Inbegriff ethischer Verantwortung als zwei untrennbare Bedingungen moralischer Urteilsfindung. In der von der islamischen Theologie vertretenen Auffassung des Selbst (nafs) als ethische Selbstheit steht die Ausschaltung von Selbstliebe nicht dem Selbsthass gegenüber. Die hermeneutischen Zugänge hinsichtlich des Verhältnisses von Selbstliebe und Selbsthass spiegeln sich ziemlich eindeutig in Paul Ricoeurs Denken wider: „Immerhin muß der Einbruch des Anderen, der die Abgeschlossenheit des Selben durchbricht, der Komplizenschaft jener Verzichtsbewegung begegnen können, durch die das Selbst sich für den Anderen als Selbst verfügbar macht. Denn die Krise der Selbstheit sollte nicht bewirken, dass der Selbsthass an die Stelle der Selbstschätzung tritt.“74 Selbstachtung kann hier als diejenige Selbstschätzung verstanden werden, die durch das Raster der deontischen aḥkām taklīfiyya hindurchgegangen ist.75 Durch den ihr zugeschriebenen neutralen Charakter lässt sich die Kategorie der „Erlaubnis“ (ibāḥa) in einen Zwischenbereich von Vorschrift und freier Wahl verorten, in dem der deontische Gesichtspunkt der šarīʿa, Praktiken und Lebensbereichen als Wegweiser dient und der die der Moralpflicht zugrunde liegende und vorausgesetzte geschuldete Achtung für die Mitmenschen mit dem teleologischen Anspruch des göttlichen Gebots, für und mit den Mitmenschen in einer rechtsschaffenden Gemeinschaft zu leben, verbindet. Die vom Erlaubten vorausgesetzte Wahlfreiheit lässt die in den Gemeinwohlidealen von maqāṣid enthaltene ethische Ausrichtung auf die Glückseligkeit im Dies- und im Jenseits an die Stelle des normativen Zwanges in den Vordergrund des moralischen Urteils treten. Ohne in irgendeiner Weise den Bruch leugnen zu wollen, den der Formalismus der islamischen Jurisprudenz mit der teleologischen und eudaimonistischen ethischen Tradition vollzieht, ist es doch angebracht, zweierlei hervorzuheben: einerseits diejenigen Züge, durch die die ethische Tradition auf den Formalismus vorauseilt, und andererseits jene, durch die die deontische Auffassung von fiqh stets an die teleologische Auffassung ethischer Reflexion, sei es in uṣūl al-fiqh oder in ʿilm alaḫlāq gebunden blieb. Deutet nun aber die in uṣūl al-fiqh oder ʿilm al-aḫlāq hervorgebrachte ethische Reflexion durch die Merkmale, die in der Diskussion um die Kategorie des Erlaubten in Erinnerung gerufen wurden, auf den Universalismus (kulliyāt) hin, so ist auch die moralische Verpflichtung in aḥkām taklīfiyya ohne Rückgriff auf die in maqāṣid formulierte Ausrichtung auf die „Glückseligkeit im Dies- und im Jenseits“ kaum auszumachen. Die Verankerung von ḥukm taklīfi als deontisches Sachmoment 74 Paul Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 206. 75 Zur Erinnerung: Wie bereits im ersten Teil dieser Abhandlung erläutert wurde, bezeichnet die Selbstachtung die Selbstheit aus der Perspektive ihrer Konformität zur Norm, während Selbstschätzung als ethische Ausrichtung des Selbst verstanden wird. In dieser Arbeit wird Selbstschätzung den maqāṣid und Selbstachtung den aḥkām untergeordnet.

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5.3. Verortung des Erlaubten innerhalb der Verpflichtungsnormen

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im moralischen Urteil in der teleologischen Zielsetzung der maqāṣid offenbart die Stellung, die der Begriff der guten Absicht in al-Ġazālīs kausaler Handlungstheorie einnimmt (an-niyya aḥsanu min al-ʿamal; also: die Absicht ist besser als die Handlung).76 Das Erlaubte fördere demnach den Durchgang durch die Gestalten des menschlichen Begehrens im Horizont des von der Fürsorge eröffneten intersubjektiven Bereichs. So finde sein Gegenstück in den den vier übrigen Moralnormen untergeordneten Aufzählungen von Verboten und Geboten Anwendung, die aus den maqāṣid-Prinzipien hervorgehen: Schutz des Selbst, Schutz des Glaubens, Schutz des Intellekts, Schutz des Hab und Guts und Schutz der Fortplflanzung und Familie.77 5.3.3. Normativität unter dem Aspekt des sozialen Handlungsumfelds 5.3.3.1. Die jussive Form der Moralpflicht: Deontologie im Horizont von Sprechhandlungen Betrachtet man nun aber die Moral und Rechtsnormen vom Gesichtspunkt einer Theorie des Redeakts aus, werfen sie einerseits die Frage nach ihrer linguistischen Verortung auf. Anderseits ist theologisch ihr jussiver Charakter und juristische Verbindlichkeit zu klären. Indem die theologischen und linguistischen Eigenschaften der Aufforderung gegenübergestellt werden, kennzeichnet die Beziehung zwischen Befehl und Gehorsam einen neuen Unterschied zwischen jussiver Form der Aussage und moralisch-ethischer Verpflichtung des Gebots. In Anlehnung an die arabisch-islamische Rhetorik geht die Jurisprudenz davon aus, dass die einer Handlungssituation zugrunde liegende Vorstellung auf einer besonderen Sinnbeziehung beruht. Diese Sinnbeziehung kommt im Begriff der konstitutiven Regeln (qarāʾin al-maqām) zum Ausdruck, der aus der Rechtstheorie entlehnt und dann auf die rhetorische Disziplin von ʿilm al-maʿānī ausgedehnt wurde, die ihrerseits heute in der modernen Hermeneutik in die Theorie der Praxis reintegriert wurde. 78 Legt man die von John Searle vorgenommene Ausweitung des Begriffs der konstitutiven Regeln auf das Gebiet der Sprechakte zugrunde, in deren Rahmen auch 76 Vgl. al-Ġazālī: Islamische Ethik. Über Intention, reine Absicht und Wahrhaftigkeit, hg. und übers. von Hans Bauer, Verlag Max Niemeymer, Halle an der Saale 1916, S. 45-60.Diese Aussage erinnert sehr an Kants bekanntes Postulat in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ (Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt 1974, Bd. 7, S. 18). 77 Vergleichbar mit: Du sollst nicht töten, Du sollst nicht stehlen, Du sollst nicht lügen, Du sollst nicht betrügen, etc. 78 Erinnert sei hier an die moderne Überlegung zum Begriff des sozialen Handelns, welcher seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer diskursiv bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist. (Vgl. u.a. Jürgen Kreft: „Vom möglichen Umschlag sozialwissenschaftlicher Theorie in Praxis und Ontogenese. Ein Versuch über Kohlberg“, In: Kommunikation und Reflexion (Hg.) Wolfgang Kuhlmann und Dietrich Böhler, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1982, S. 574ff. pp. 563-590.

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

diese als Handlungen oder Phasen umfassende Praktiken betrachtet werden, so wären die in der islamischen Jurisprudenz ausgearbeiteten Pflichtnormen, d.h. ibāḥa (Erlaubnis), nadb (Empfehlung), īǧāb (Obligation), karāha (Missbilligung) und taḥrīm (Verbot) als illokutionäre Akte zu bezeichnen, die eine Reaktion verbaler oder handlungsmäßiger Art nach sich ziehen.79 So würden sich die den Pflichtnormen zugeschriebenen Sprechhandlungen wie etwa Versprechen, Befehlen, Warnen, Feststellen nur durch ihre illokutive Kraft unterscheiden, die selbst durch die sogenannte qarāʾin al-maqām konstituiert wird, die z.B. besagt, dass das Warnen bedeutet, sich der Verpflichtung zu unterwerfen, morgen das zu sanktionieren, vor dem man heute einen anderen warnt. Sicherlich kam die späte Entwicklung der islamischen Rhetorik aš-Šāṭibī bei der Aufstellung seiner maqāṣid-Theorie zugute. Die bemerkenswerte Bedeutungstiefe seiner Überlegungen zu den Moral- und Rechtsnormen ist bis heute kaum ausschöpfend in den Untersuchungen zu diesem Gegenstand zur Geltung gekommen, was wohl der geistigen Verarmung innerhalb der theologischen Bildung geschuldet ist. Durch die Unterscheidung zahlreicher Subkategorien 80 bei al-aḥkām at-taklīfiyya zeigt aš-Šāṭibī, dass es dem Gelehrten bei der Ableitung von Moralund Rechtsnormen der šarīʿa nicht um die Aufstellung eines Straf- oder Zivilgesetzes, sondern vielmehr um die Errichtung eines ethischen Systems des menschlichen Handelns geht. Diese Überschneidung von Recht und Ethik im Islam hob bereits Robert Brunschvig als ein typisches Merkmal des jüdischen Einflusses auf den Islam hervor: „Die Tatsache, dass diese intermediären Werte, die sich wesentlich von dem Sprechakt der Auffoderung unterscheiden, sei es Gebot oder Verbot, klar definiert sind und tatsächlich ins Feld der Pflichtenlehre fallen, führt hinreichend zu der Überzeugung, dass diese Gesetzgebungen jeglichen Rahmen des Juristischen sprengen, sodass sie eher auf die ethische Dimension antizipieren […] Diese [der Pflichtmoral der šarīʿa entspringenden] Aufforderungsakte selbst sind sehr oft allein moralischer Art. Und es ist siginifikant, dass die mit dem Verbot verbundenen strafrechtlichen Sanktionen aus einem juristischem Gesichtspunkt und sogar jenseits kultureller Normen nicht in der Hand des Menschen liegen, sondern der Macht Gottes untergeordnet sind.“ 81 In aš-Šāṭibīs Pflichtenlehre ist ḥukm taklīfī (preskriptive Moral- und Rechtsnorm) ein direkter Aufforderungsakt, der sich zwischen Tun und Nicht-Tun verorten lässt. 79 Vgl. zur Sprechakttheorie u.a. John R. Searle: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969, auf das Arabische angewandt Nekroumi: Interrogation, Polarité et Argumentation. 80 Robert Brunschvig schlägt den Begriff „Valeurs intermédiaires“ für die Subkategorien vor, um die präskriptiven Rechtsnormen zu bezeichnen, die sich weder in die Kategorie des Verbots noch in die Kategorie des Erlaubten vollständig integrieren lassen. (Vgl. Brunschvig: „Herméneutique normative dans le judaisme et dans l’Islam“, S. 237-242.) 81 Ebd., S. 237.

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Doch die jussiven Werte der verschiedenen al-aḥkām at-taklīfiyya sind primär an deren Verhältnisse zu maqāṣid orientiert. Geht man von einer hermeneutischen Interpretation der Fachsprache aš-Šāṭibīs aus, so stellt man fest, dass es sich bei dem Begriff ḥukm um eine bestimmte Kategorie von kalām bzw. ḫitāb Allāh handelt, nämlich um die „Rede“ Gottes in Bezug auf die Handlungen der Gotterhabenen, die gebietet oder die freie Wahl lässt. Aš-Šāṭibīs Normenlehre beruft sich dabei unmissverständlich auf die ašʿaritische Auffassung zur göttlichen Rede, nach deren Deutung der Begriff ḥukm als Ausdruck einer Sprechhandlung verstanden wird, die gleichermaßen zwei Ebenen des göttlichen Wortes sowohl im Sinne eines Wortlautes, als auch im Sinne einer Bewussheitsrede zugeschrieben werden kann. Ein hermeneutischer Zugang zur Pflichtenlehre aš-Šāṭibīs ergibt sich nur, wenn man die ašʿaritische Verhältnisbestimmung einerseits zwischen ḥukm als geistige Rede,82 d.h. im Sinne einer Intention und als mündliche Rede (ḫiṭāb), und andererseits zwischen geistigem Diskurs und Sprechakten als Ausgangspostulat voraussetzt. Dieser binären Auffassung des Begiffs ḥukm liegt folgende rechtstheoretische Definition zugrunde: „Es sei der geistige Diskurs und die Bedeutung (semantischer Gehalt) des Befehls und des Verbots, der Verpflichtung und der Untersagung.“ 83 Es handelt sich um eine doppelte Definition, die eine hermeneutische Dimension in einer theologischen Betrachtungsweise des Begriffs „Diskurs“ integriert. Was an dieser Stelle jedoch die Aufmerksamkeit des Hermeneutikers erregt, ist, dass diese Definition rein linguistisches und nicht-rein linguistisches Vokabular eng miteinander verbindet. Im ersten Fall ist es der Begriff ḫiṭāb, der auf ein besonderes Interesse bei dem späteren Rechtsgelehrten Abū l-Baqāʾ al-Kaffāwī (gest. 1094/1683) stieß, der eine methodische Brücke zwischen Sprachlichem und Theologischem schlug: „Die Rede bezeichnet den Ausdruck einer durch die Konventionen festgelegten Bedeutung, aber auch ihrem in der Seele entstehenden Denkinhalt. Der Diskurs jedoch entspricht entweder dem Wortlaut [der Rede] oder der Seelenrede, die zwecks Verständigung an den anderen gerichtet ist. Über die Rede Gottes kam eine Meinungsverschiedenheit auf insofern, als man sich gefragt hat, ob man sie in der Ewigkeit vor der Existenz der Angesprochenen als Diskurs bezeichnen kann, als Herabsendung dessen, was zuerst sein wird, und an der Stelle dessen, was zuerst hervorgebracht werden soll. Denn derjenige, der sagt, dass der Diskurs die Rede ist, die auf Verständigung abzielt, würde die Rede in der Ewigkeit auch als Diskurs bezeichnen, weil dessen Ausrichtung im Allgemeinen Verständigung ist. Und für diejenigen, die sagen, dass die Rede Gottes dem Verständnis derer dient, die fähig sind zu verstehen, ist die Rede in der Ewigkeit kein Diskurs. Und die Mehrheit der 82 Daran hat aš-Šāṭibī als Ašʿarit festgehalten. 83 Vgl. Abū l-Baqāʾ al-Kaffāwī: al-Kulliyāt. Muʿǧam fī l-muṣṭalaḥāt wa-l-furūq al-luġawiyya, 5 Bde., Damaskus 1985, Bd. 2, S. 220.

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Sunniten, die dem erhabenen Gott eine Seelenrede zugeschrieben haben, begründet dies damit, dass es bereits in der Ewigkeit einen Befehl sowie einen verneinten Befehl, einen Behauptungssprechakt gab und einige fügen auch die Fragestellung und die vokative Aussage hinzu. Und die Ašʿariyya behauptete, dass Gott seine Rede ausschließlich durch einen Sprechakt zum Ausdruck gebracht hat, nämlich dem der Behauptung.“84 Unter ḫiṭāb versteht aš-Šāṭibī Rede (kalām), was für den durch konventionelle Festlegung bezeichneten Ausdruck und dessen Bedeutung steht, die im Geist bleibt. Die Rede ist entweder mündlicher oder geistiger Diskurs, der an den anderen gerichtet ist, um etwas zu verstehen zu geben. Auch hier verbindet die Definition ašŠāṭibīs Sprachliches und Nicht-Sprachliches eng miteinander. Der Hermeneutiker ist natürlich mehr an der genauen Definition der Rede als an den anderen gerichteten Diskurs interessiert. Denn ihn interessiert nicht unbedingt die Unterscheidung der beiden Diskurse, die für ihn ein theologisches Problem darstellt.85 Hermeneutisch gesehen, ist ḥukm šarʿī die auf die Intention des Gesetzgebers gestützte juristische Interpretation der Koransuren. Dies gibt im Übrigen aš-Šāṭibī zu verstehen, wenn er sagt, dass sich die Moral- und Rechtsnormen aus dem Koranund der Sunna ableiten. Wenn aber die intentionalistischen Rechtsgelehrten ḥukm mit ḫiṭāb gleichsetzen, so handele es sich dabei, wie die zweite Definition von ḥukm als Intention zeige, um ḫiṭāb nafsī (Seelenrede), der der Inhalt von ḫiṭāb lafẓī (Wortlaut) ist, der wiederum der Ausdruck für Gottes Intention (bzw. ḫitāb nafsī) ist. Ḥukm als die Intention Gottes steht folglich vor ḫiṭāb lafẓī. Wenn ḥukm sich also aus der Heiligen Schrift ableitet und Ausdruck für kalām lafẓī ist, der zugleich dessen Inhalt ist, und dieser wiederum Ausdruck der Intention (ḫiṭāb nafsī) bzw. gleichzeitig Moral- und Rechtsnorm ist, so ist es der theologischen Tradition gelungen, einen wunderbaren hermeneutischen Kreis zu errichten, der in erster Linie seiner Suche nach der unvergänglichen Absicht des Gesetzgebers (qaṣd aš-šāriʿ) zu verdanken ist. Der hermeneutische Charakter des Ansatzes von aš-Šāṭibī rührt unmittelbar daher, dass es sich bei der Moral- und Rechtsnorm bzw. Intention nicht um eine wörtliche Aussage (einen Wortlaut) des Korans handelt. Indem man etwas, das nicht wörtlich 84 Ebd., Bd. 2, S. 286 (für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 161.). In der Enzyklopädie von Abū al-Baqāʾ al-Kaffāwī findet man eine offensichtlich ašʿaritische Definition des ḫiṭāb, in der das Konzept der Seelenrede eine zentrale Rolle spielt, jedoch wird dabei dem qaṣd eine Nebenrolle beigemessen. 85 Doch ist diese Unterscheidung bereits in der Philosophie der Antike zu finden. Die Theorie von Porphyrios (gest. 305 n. Chr.) von den tres orationes oder den drei Diskursarten (schriftlich, mündlich und geistig) wurde von uṣūl al-fiqh neu gelesen, obwohl das Schreiben (kitāba) und dem zufolge die „Offenbarungsschrift“ (kitāb) als Ausdruck eines Inhalts verstanden wird, der kalām lafẓī (gesprochenes Wort) ist, das wiederum als Ausdruck eines Inhalts verstanden wird, der kalām nafsī (geistiges Wort) ist. (Vgl. Pierre Larcher: „Quand en arabe, on parlait de l’arabe. III. Grammaire, Logique, Rhétorique, dans l’islam postclassique“, in: Arabica 39/3 (1992), S. 358-384.) Die Besonderheit der Rezitation für den koranischen Diskurs kann keineswegs mit der normalen mündlichen Rede Porphyrios verglichen werden.

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im Koran geschrieben steht, mit qāla Allāhu (Gott hat gesagt) versieht, geht die theologische Hermeneutik bei den beiden Kategorien von kalām soweit, dass ein kalām nafsī zugleich ein kalām ist, da er sich auf die ultimative Intention des Gesetzgebers bezieht. Indem die theologische Hermeneutik die Aufteilung von kalām, so wie es die theologische Tradition praktiziert, als eine Aufteilung der göttlichen Botschaft ansieht, ebnet sie den Weg für die Exegese, den Offenbarungsdiskurs in zwei Ebenen zu unterscheiden: einerseits auf der Ebene der Ausführung der Sprechakte zwischen dem Urheber der Worte (Gott) und dem Sprecher (Prophet), andererseits auf der Ebene der Rezeption zwischen Hörer (die Menscheit) und Empfänger (Gläubigen). Der Begriff al-kitāb, der der Niederschrift des vom Propheten überlieferten Offenbarungswortlautes auch im transzendentalen Sinne entspricht und als ein Synonym besonderer Art für den Koran angesehen wird, wird häufig von ašŠāṭibī semantisch mit der Intention des Gesetzgebers im Kontext des Lebensvollzuges in Verbindung gebracht. Al-kitāb stehte wiederum der Urschrift, sprich der wohl aufbewahrten Tafel (al-lawḥ al-maḥfūẓ), gegenüber.86 Verständlich wird diese Sichtsweise insofern, als sie gleichzeitig suggeriert, der Koran in seiner Schriftform (al-muṣḥaf)87 sei eher eine in menschlicher Sprache und im historischen Kontext artikulierte Rede, die den Menschen die ewige Wahrheit und die Gebote Gottes, die ebenfalls auch die früheren Botschaften Gottes an die Menschheit enthalten, näher erläutert und im Bezug auf ihre Lebensrealität nachvollziehbar macht. Diese Vorstellung entspringt dem Begriff der Abrogation, dem zufolge Gott sich der Menscheit in der Geschichte sukzessiv offenbart. Durchzogen von der Intention göttlicher Gemeinwohlideale unterhalten die drei monotheistischen „Himmelsbotschaften“ ein intertextuelles Verhältnis, das an der Veränderbarkeit menschlicher Realität orientiert ist. Dies impliziert folgendes: Indem Gott sich dafür entschieden hat, zu den Arabern in ihrer Sprache zu sprechen und so sicherstellte, dass ihnen Sein Diskurs sofort verständlich ist, hat Er sich gleichwohl dafür entschieden, als Gott, der die gesamte Schöpfung durchdringt, von Seinem Recht, Gesetzgeber zu sein, zurückzutreten. Durch die von der Offenbarung abgeleitete Pflichtenlehre tritt nur der Gesetzgeber zu Tage und nicht Gott an sich, da die Gottesbotschaft als Glaubensinhalt viel umfassender ist. Aš-Šāṭibī setzt diese Lehre immer dann ein, wenn es zu einem Konflikt zwischen dem Recht Gottes und dem des Menschen kommt. Im Rahmen der grundlegenden Intentionen des Gesetzgebers erwähnt aš-Šāṭibī die Rolle der Offenbarungslässe beim Verständnis der šarīʿa, zu denen auch die sprachkulturelle Ebene gehört. Das normative Verständnis der Offenbarung setzt gleichermaßen ein tiefgreifendes Wissen der semiotischen Komponente der Offenbarungssprache voraus. Mit inbegriffen sind aus den im Koran eingeflossenen Fremdwörtern, die aus einer 86 Die Aussage aš-Šāṭibīs setzt das Wort kitāb mit dem lawḥ maḥfūẓ gleich (Vgl. aš-Šāṭibī: alMuwāfaqāt, Bd. 2, S. 61.) 87 Vgl. Mohammed Arkoun: Lectures du Coran, Paris 1982, S. 27ff.

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abweichenden semiotischen Sphäre stammen. Aus dem spezifischen sprachkulturellen Vorstellungsrahmen des Korans ergibt sich ein Zugang zur sittlichen Urteilsfindung. Die hermeneutischen Ebenen der verschiedenen Redearten im Koran und ihre kommunikationstheoretischen Aspekte können auf der Grundlage des intentionalistischen Ansatzes aš-Šāṭibīs wie folgt abgebildet werden: Genauso wie Gott nicht als Sprecher, sondern als Urheber der Offenbarung, d.h. nicht als der Verantwortliche für den Wortlaut, sondern als der Verantwortliche für die Sprechakte verstanden wird, die im Wortlaut zum Ausdruck kommen, genauso wird der Angesprochene nicht als ein schlichter Hörer verstanden, sondern im Sinne der zeitgenössischen Diskursanalyase als Empfänger, d.h. als Empfänger des Sprechaktes, der bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, wie Urteilskraft, Glaube, Fähigkeit zur Entschlüsselung der semiotischen Kodierung der Offenbarungssprache etc. Demnach ergeben sich unterschiedliche Formen der sittlichen Urteilsfindung zwischen Hörer und Empfänger. Der Begriff mukallaf offenbart die deontologische Tragweite des Empfängers im arabischen theologischen Diskurs. Es ist nicht zu übersehen, dass die Einteilung von ḫiṭāb bei aš-Šāṭibī in enger Beziehung zu der des kalām bei den Rhetorikern steht. Da wo die Rhetoriker kalām in informative Aussage (ḫabar) und nicht-informative Aussage (ġayr ḫabar) unterteilen, teilen die Rechtsgelehrten ḫiṭāb in ṭalab (Forderung; Synonym zu iqtiḍāʾ) und ġayr ṭalab (nicht auffordernde Aussage) auf. Die Ersetzung von kalām durch ḫiṭāb und die Fokussierung auf ṭalab anstelle von ḫabar unterstreicht den hermeneutischen und teleologischen Charakter dieser speziell von den intentionalistischen Rechtsgelehrten übernommenen Einteilung. Betrachtet man unterschiedenen Kategorien der Moral- und Rechtsnormen genauer, so scheint es, dass je nachdem, ob es sich um eine Handlung (fiʿl) oder neine Unterlassung (tark), und ob es sich um kategorisch (ǧāzim) oder nicht-kategorisch (ġayr ǧāzim), ob es sich bei ṭalab um eine Verpflichtung (īǧāb) oder um ein Verbot (taḥrīm) handelt, eine Empfehlung (nadb) oder eine Verwerfung (karāha) ist. Genauso wie bei den Rhetorikern ġayr ḫabar im Allgemeinen als inšāʾ bezeichnen, in nicht-jussive (ġayr ṭalabī) und jussive (ṭalabī) unterteilt wird, wird ġayr ṭalab in taḫyīr und Behauptung (iḫbār) unterteilt. Im ersten Fall ist es eine Erlaubnis (ibāḥa), im zweiten Fall schreibt sie nichts vor, sondern beschreibt nur (waṣf); hier ist sie keine Vorschrift mehr, sondern eine freie Wahl. Diese fünf gesetzgebenden Sprechakte bilden die o.g. aḥkām šarʿiyya, sprich die fünf präskriptiven Rechts- und Moralnormen. Obwohl es bei aš-Šāṭibī genauso viele vorschreibende aḥkām šarʿiyya gibt wie bei den Rhetorikern Arten von ṭalab, stellt man fest, dass nur vier davon unter ṭalab fallen und die fünfte unter taḫyīr. Jedoch ist taḫyīr nichts anderes als zwischen „tun“ und „nicht tun“ wählen zu lassen; wodurch taḫyīr und infolgedessen mubāḥ, nicht weniger in Beziehung zu den vier anderen aḥkām stehen, obwohl sie sich auf einer anderen Ebene als ṭalab befinden, die logisch in ein Viereck eingeteilt wird. Übertragen in eine zeitgenössische Fachsprache halten sich die wechselseitigen

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Verdienste der negativen („tue nicht...“) und der positiven Formel („tue...“) im Gleichgewicht; „das Verbot lässt die Spannweite der nicht verbotenen Dinge offen; so lässt es im Bereich des Erlaubten Raum für die moralische Erfindung. Umgekehrt bezeichnet das positive Gebot deutlicher das Motiv des Wohlwollens, das dazu anleitet, etwas für den Nächsten zu tun.“88 Der deontologische Ansatz in aš-Šāṭibīs Intentionstheorie liegt darin begründet, dass der Mechanismus juristischer Interpretation des Korans aus sprachwissenschaftlicher Sicht eine Theorie der Aussage, genauer der Sprechakte, ist, und dass auf dieser Ebene eine enge Wechselwirkung zwischen den Grundlagen der Jurisprudenz (uṣūl al-fiqh) und den beiden Bestandteilen der Rhetorik (al-balāġa), genannt ʿilm al-maʿānī und ʿilm al-bayān, besteht, und dass die theologische Unterscheidung der beiden Kategorien von kalām – nämlich kalām nafsī und kalām lafzī – linguistisch als eine Unterscheidung zwischen „Urheber“ des Diskurses vs. „Sprecher“ neu interpretiert werden kann, was das Tor zu einer polyphonen und hermeneutischen Sichtweise des koranischen Textes öffnet. 5.3.3.2. Ḥukm als Sachmoment im sittlichen Urteil: Pflichtmoral im Horizont sittlicher Urteilsfindung (šarīʿa ʿarabiyya) Mit Rückgriff auf die koranische Verortung göttlicher Botschaft in ihrem Rezeptionsumfeld89 betont aš-Šāṭibī den sittlichen Charakter der Verpflichtungen 88 Ricoeur: Das Selbst als ein Anderer, S. 265. 89 Der Koran weist an mehreren Stellen darauf hin, dass er auf Arabisch offenbart wurde (Vgl. Q 12:2; 13:37; 20:113; 42:7; 43:3; 44:12.), vor allem in einem klaren (mubīn) Arabisch (Vgl. Q 16:103; 39:195.), damit die mukallafūn (Verpflichteten) den Koran gleich verstehen können (Vgl. Q 9:97; 41:3,44; 44:58). Zu diesem kontrovers diskutierten Thema kann man in diesem Zusammenhang auf mehrere zeitgenössische Arbeiten verweisen, wie die von Christoph Luxenberg: Die Syro-aramäische Lesart des Korans. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 2000; Claude Gilliot: „Zur Herkunft der Gewährmänner der Propheten”, in: K.H. Ohlig/G.-R. Puin (Hg.): Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin 2005, S. 148-178; Ders.: „Les ‘informateurs’ juifs et chrétiens de Muḥammad. Reprise d’un problème traité par Aloys Sprenger et Theodor Nöldeke”, in: JSAI 84/22 (1998), S. 84-126; Rainer Voigt: „Akkadisch summa ‘wenn’ und die Konditionalpartikeln des Westsemitischen. Vom Alten Orient zum Alten Testament“, in: M. Dietrich/W. Röllig (Hg.) Festschrift für Wolfram Freiherrn von Soden, Neukirchen-Vluyn 1995, S. 517-528; Ders.: „Die Präpositionen im Semitischen. Über Morphologisierungsprozesse im Semitischen“, in: Lutz Edzard/Mohammed Nekroumi (Hg.): Tradition and Innovation. Norm and Deviation in Arabic and Semitic Linguistics, Wiesbaden 1999, S. 22-43. Diese haben allerdings kaum neuere Erkenntnisse in Bezug auf das linguistische Phänomen der Entlehnung in der Koransprache hervorgebracht als die, die man aus den älteren Arbeiten Theodor Nöldeckes (Vgl. Theodor Nöldecke: Zur Grammatik des klassischen Arabisch, Wien 1896; Alphonse Mingana: „Syriac Influence on the Style oft he Qurʾān”, in: Bulletin of the John Rylands Library Manchester 11 (1927), S. 77-98.) gewinnen konnte. Der einfache Grund hierfür ist, dass sich die modernen Arabisten und Semitisten kaum von den in der Linguistik

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der šarīʿa: „Diese gesegnete šarīʿa ist arabischen Ursprungs und frei von sprachsystembedingten nicht-arabischen Einflüssen.“90 So hat sich bei den Rechtstheoretikern die Vorstellung durchgesetzt, dass sich der Koran semiotisch und sprachtheoretisch an die Gemeinschaft eines bestimmten Sprachraumes wendet, was gemäß dem Ansatz aš-Šāṭibīs in keiner Weise mit dem universellen Anspruch des Korans, eine Botschaft an die ganze Menschheit zu sein, im Widerspruch steht. Demnach formuliert er indirekt einen wesentlichen Unterschied zwischen Hörer (sāmiʿ) und Empfänger (mukallaf). Im Gegensatz zum Hörer91 ist der Empfänger stets veranlasst, der arabischen Sprache mächtig zu sein, um den Inhalt der Mitteilung richtig zu verstehen. Dabei geht es nicht nur um die Sprache als Kommunikationsmittel, sondern vielmehr als semiotisches, soziologisches und literarisches Phänomen. In dieser Richtung sollte man seine folgende Aussage verstehen: „Gegenstand der Betrachtung soll hier lediglich sein, dass der Koran insgesamt in arabischer Sprache [„als Zeichensystem“] herabgesandt worden ist. So kann sein Verständnis nur auf diesem Wege angestrebt werden. Und derjenige, der ihn verstehen will, soll dies aus der Perspektive des arabischen Sprachsystems tun. Es gibt außer diesem keinen anderen Weg, sein Verständnis anzustreben. Hier liegt der Sinn dieser Angelegenheit.“92 So gesehen sollten die Intentionen des Gesetzgebers in Hinblick auf die im arabischen Sprachsystem kodierten, Denkinhalte definiert werden, die auf der Grundlage einer bestimmten Sprachintuition des native speaker (fiṭra) zustande gekommen sind: „Der sprachlichen Intuition [der Araber] zufolge wird eine allgemeine Aussage verwendet, um eine explizite Bedeutung wiederzugeben oder um einen besonderen spezifischen Inhalt oder aber je nach Kontext den Sinn des Allgemeinen und des Spezifischen auszudrücken. Mit dem Allgemeinen kann also auch das Spezifische und mit dem Expliziten das Implizite gemeint sein. Und all das lässt sich entweder vom Anfang, von der Mitte oder vom Ende einer Aussage erkennen. Die Araber drücken sich durch Aussagen aus, deren seit Anfang des 19. Jahrhunderts neu entwickelten Ansätzen über Sprachwandel- und Natürlichkeitstheorien, angefangen mit Roman Jakobson: La charpente phonique du langage, Paris 1980 bis hin zu den Arbeiten von Wolfgang U. Wurzel (Vgl. Wolfgang U. Wurzel: „Adaptionsregeln und heterogene Sprachsysteme“, in: Wolfgang U. Dressler/Oskar E. Pfeiffer (Hg.): Phonologica 1976. Akten der dritten Internationalen Phonologie-Tagung, Wien 1976, S. 175-182.) und Wolfgang U. Dressler (Vgl. Robert-Alain Beaugrande/Wolfgang U. Dressler: Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1982.), inspirieren ließen. 90 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 49. 91 Mit Hörer ist hier jeder gemeint, der den Koran akustisch wahrnimmt, sich aber nicht unbedingt angesprochen fühlen muss, wie z.B. Christen und Juden in der mekkanischen Gesellschaft zur Zeit der Herabsendung der göttlichen Mitteilung. 92 Ebd., Bd. 2, S. 49. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 226.

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5.3. Verortung des Erlaubten innerhalb der Verpflichtungsnormen

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Anfang auf deren Ende, oder aber deren Ende auf deren Anfang aufgebaut wird. Sie äußern sich durch Ausdrücke, die entweder durch ihre inhärenten Bedeutungen erkennbar sind, oder durch das, worauf sie hinweisen. Wie allgemein bekannt ist, verwenden die Araber verschiedene Bezeichnungen für ein und denselben Gegenstand, so wie sie auch verschiedene Dinge durch einen Begriff bezeichnen. Und all diese Phänomene sind bei den Arabern in dem Maße bekannt, dass sie sich deren sicher sind, ebenso wie sie sich über das Wissen ihrer Sprache gewiss sind. Denn der Koran entspricht sowohl in seinen Bedeutungen, als auch in seiner stilistischen Struktur dieser Ordnung.“93 Das Verständnis des Korans ist also kulturell wie sittlich in einem Sprachsystem verschlüßelt, im weitesten Sinne dem Wort des Arabischen. Die Tatsache, dass es sich beim koranischen Arabisch nicht um eine bestimmte Volkssprache oder Mundart handelt, veranlasst aš-Šāṭibī immer wieder von lisān al-ʿarab und nicht von luġat al-ʿarab zu sprechen. Das Wort lisān (Sprachsystem) zeichnet sich gegenüber dem Begriff luġat (Sprachgebrauch) durch seine semiotische Funktion aus, als Kulturspeicher einer Textgemeinschaft zu dienen, und erlaubt somit hemeneutische Zugänge zum Ungesagten. Damit will aš-Šāṭibī sich von einer über lange Zeit hinweg immer wieder aufgestellten Behauptung distanzieren, die Araber hätten ihre Sprache im Laufe der Geschichte immer als die auserwählte Sprache empfunden. Deshalb spricht er in seinem Werk al-Muwāfaqāt in Bezug auf die Araber immer nur von ihrer Sprache; die Araber sind für ihn arabisch-sprechende Menschen bzw. diejenigen, die über eine bestimmte Sprachkompetenz bezüglich des Arabischen zum Zeitpunkt der Offenbarung verfügen. Sie sind somit die Hauptadressaten und Empfänger dieser Offenbarung. Aufgrund dieser breit gefassten Definition des Empfängers und seiner Sprache richtet sich der Koran nach aš-Šāṭibīs Auffassung an die gesamte Menschheit und die arabische Sprache ist diejenige, die am besten seine Lehren verbreiten kann, weil sie, übertragen in moderner Begrifflichkeit, die Sprache der universellen Transzendenz ist. Die von aš-Šāṭibī beanspruchte Universalität der koranischen Botschaft offenbart sich in der Verhältnisbestimmung dreier Begriffe, die seine Vorstellung von dem allgemeingültigen Charakter der moralischen Normativität maßgeblich prägten. An drei verschiedenen Stellen seiner Abhandlung zur Zielsetzung der Offenbarung bezeichnet er den Begriff šarīʿa als ummiyya (als gemeinschaftlich und sittlich orientiert), als ʿarabiyya (arabisch) und zuletzt als kawniyya (universal). Ein Zugang zu aš-Šāṭibīs Verständnis seines Universalcharakters der šarīʿa ergibt sich nur, wenn die Begriffe ummiyya und ʿarabiyya aus der ihnen zugrunde liegenden kulturellen Gebundenheit abgelöst werden. Dies tut aš-Šāṭibī geschickt, indem er ummiyya dem sittlichen Bereich, und ʿarabiyya dem semiotischen Bereich 93 Ebd., Bd. 2, S. 50. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 226.

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

zuordnet. Eine Moraltheorie ist für ihn also per se kulturgebunden und semiotisch verschlüsselt.94 Dies erinnert sehr an die Schlußfolgerung des zeitgenössischen Philosophen Alasdair MacIntyres, dem zufolge eine rationale Begründung der Moral nur im Kontext von Traditionen möglich sei. Eine apriorisch rationale Rechtfertigung moralischer Normen scheitere nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich eine rationale Konsensbildung hinsichtlich ethischer Prinzipien begründungstheoretisch mehrfach als Utopie erwiesen habe.95 Aš-Šāṭibīs Deutung des universalen Charakters der Offenbarung geht mit der allgemeinen Auffassung des Islams als Ergebenheit des Menschen in den Willen Gottes einher. Dieser koranischen Idee zufolge offenbart der Begriff islām den allen drei Buchreligionen gemeinsamen monotheistischen Charakter, dessen historische Manifestation im Denkinhalt des Wortes dīn (Religion/Sinnschuld) ihren äußeren Ausdruck findet. Bemerkenswert ist aber, dass der semantische Gehalt des Wortes „Glaube“ nach traditioneller christlicher Glaubenslehre eine Nähe zum Begriff dīn aufweist insofern, als der ursprüngliche lexikalische Sinn beider Begriffe (Kredit) in der theologisch-terminologischen Bedeutung mitschwingt. Die historische Konkretisierung des Glaubens durch die Verkündigung von Dekalog und šarīʿa umschreibt, wenn auch unvollkommen, den Bundesschluss zwischen Gott und Mensch in einer präskriptiven Relation von Befehl und Gehorsam, die zwangsläufig der kasuistischen Auslegung Grenzen setzt. In allen drei monotheistischen „Weltreligionen“, Judentum, Christentum und Islam, bedeutet Gehorsam gegenüber dem ius divinum die Anerkennung des durch die Verkündigung vermittelten Lebenssinns. Aus der unaufhebbaren Vieldeutigkeit des Begriffs dīn erklärt sich nicht zuletzt auch das mit seiner lexikalischen Bedeutung zusammenhängende Verständnis einer „Sinn-Schuld“, das aus den Schöpfungsgesetz-Vorstellungen aller drei Himmelsreligionen hervorgeht. Dass es sich bei aš-Šāṭibīs umma-Begriff um ein dynamisches Konzept handelt, das einem Doppelprinzip der Bestimmtheit unterworfen zu sein scheint, lässt sich an dem Auslegungsverhältnis der koranischen Botschaft zu früheren göttlichen Verkündigungen sehen. Die jeweiligen Offenbarungsschriften der drei Buchreligionen stehen laut dem Koran in einer hermeneutischen Wechselbeziehung gleichermaßen zueinander wie auch zur sogenannten Urschrift. Das vieldeutige Wesen des Begriffs umma haftet bei der Offenbarung an dem dynamischen Verhältnis von Veranlagung und Verpflichtung. Hier wird mit der Vorstellung der Anerschaffenheit (fiṭra) als Dreh- und Angelpunkt monotheistischer

94 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 52-53. 95 Alasdair MacIntyres Argument stützt sich auf die Idee, dass Gemeinschaften schon immer in Traditionen verhaftet sind, sodass die rationale Überlegung über moralische Fragen keineswegs den Bezug der Wertevorstellung zur Tradition ausschließt. (Vgl. Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Darmstadt 1988, S. 394.)

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5.3. Verortung des Erlaubten innerhalb der Verpflichtungsnormen

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Urgemeinschaft zunächst die Zweiteilung bzw. Entzweiung von Empfängergemeinschaft (umma al-istiǧāba) und Hörergemeinschaft (umma ad-daʿwa) aufgehoben. Anders als die Lesart der deterministischen Rationaltheologie, die in der Anerschaffenheit einen Gegenpol zur Vorherbestimmung sah, weist Ibn ʿĀšūr in Anlehnung an aš-Šāṭibīs maqāṣid-Begriff auf die Äußerung Gottes hin, die die anerschaffene Unschuld als Gottes Schöpfungsplan ausspricht. So heißt es in Q 30:30: „So richte dein Gesicht aufrichtig zur Religion hin als Anhänger des rechten Glaubens, – (gemäß) der natürlichen Anlage Allahs, in der Er die Menschen er schaffen hat. Keine Abänderung gibt es für die Schöpfung Allahs. Das ist die richtige Religion. Aber die meisten Menschen wissen nicht.“ Es lässt sich damit feststellen, dass sich schöpfungstheologisch die Frage nach einer eschatologischen multireligiösen Heilsgemeinschaft erübrigt. Bei der konkreten Dreiteilung des Begriffs umma in Muslime, Juden und Christen handelt es sich theologisch um eine Differenzierung zweiten Grades, die sich lediglich auf der Ebene des Diesseits ergibt. Daraus folgend impliziert der Begriff „Glaubensgemeinschaft“ im Koran nach dieser Lesart zwangsläufig die Vielfalt. Da es sich bei der Verkündigung um einen dynamischen fortlaufenden dem Organon-Prinzip unterworfenen Kommunikationsprozess zwischen Gottesboten (bzw. deren Überlieferern) und ihren Mitmenschen handelt, befindet sich die Gemeinschaftsstruktur im ständigen Wandel und entwickelt sich stets im Horizont diskursiver Interaktion zwischen Empfänger-Gemeinschaft (umma al-istiǧāba), d.h. die Gemeinschaft derer, die der Botschaft des Gesandten (sas) gefolgt sind, und Hörer-Gemeinschaft (umma ad-daʿwa), die zur Annahme der Botschaft eingeladen wird. Im Laufe dieses unabgeschlossenen Kommunikationsprozesses bleibt die Frage des Heilsgeschehens im Jenseits im verborgenen göttlichen Wissen vorbehalten. Im Rahmen dieses interaktiven Kommunikationsprozesses gilt die ganze Menschheit, im schöpfungstheologischen Sinne, als angesprochene Gemeinschaft, in der grundsätzlich alle am Kommunikationsgeschehen teilnehmenden Partner, Juden, Christen, Muslime, aber auch andere, eingeschlossen sind. Weil aber der Begriff Menschheit – eingeführt als ein zwischen der Verschiedenheit der Personen vermittelnder Begriff – die im Koran gepriesene Andersheit schwächt und nahezu eliminiert, hebt die koranische Botschaft die mit Rücksicht auf die Pluralität der Personen betrachtete Universalität hervor und grenzt sich durch den Aufruf zum ursprünglichen Monotheismus Abrahams (ḥanīf) von jüdischer und christlicher Verkündigung ab. Vor diesem Hintergrund sollte die im Koran (Q 2:142) geforderte Änderung der Gebetsrichtung von Jerusalem zur Kaaba in Mekka verstanden werden. Vielversprechend für die Ausarbeitung eines multikonfessionellen Gemeinschaftskonzepts scheint in diesem Zusammenhang der in Anlehnung an Jan Assmann vorgeschlagene Begriff der intertextuellen Gemeinschaft zu sein. Dabei nutzt Assmann die Diskussion, um den Begriff der Textgemeinschaft in seinem Entwurf einer „Gedächtnisgeschichte“ als erkenntnistheoretischen Rahmen für seine Mono-

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5. al-Aḥkām at-taklīfiyya – Grundfragen der Pflichtmoral der maqāṣid

theismus-Kritik zu verstehen. Zwar erweise sich der Rückgriff auf die Schrifttradition abrahamitischer Religionen für die Ausarbeitung eines Konzepts intertextuellen Gemeinschaftslebens als hilfreich, jedoch werfe er auf der Ebene der Umsetzbarkeit viele Fragen auf. Intertextualität im linguistisch-interaktiven Sinne bedeute nicht ein bloßes Nebeneinanderstellen verschiedener Texte hochverbindlichen und autoritativen Inhalts in einem soziolinguistischen Umfeld. Vielmehr gehe es bei einem intertextuellen Ansatz darum, Erkenntnisse zu erlangen, wie sich das Zusammenleben der Textgemeinschaften durch das wechselseitige Wirkungsverhältnis im Geflecht des Handlungs- und Deutungsprozesses vollzieht und sich verändert.96 Dies setzt aber ein Kommunikationsumfeld ohne jegliche Abgrenzung zum anderen voraus, was theologisch, der Gefahr einer Relativierung theologischer Konzepte zum Trotz, noch einiges an Auslegungsarbeit bedeutet, wie Blum bereits darlegte.97 Der theologische Rahmen für ein solches Vorhaben ist im Koran schon vorgegeben, dem zufolge allen heiligen Schriften von Muslimen, Christen und Juden eine Urschrift auf der „wohlbewahrten Tafel“ zugrunde liegt (Q 85:22). Rationaltheologen ašʿaritischer Prägung argumentieren, dass die allen Buchreligionen zugrunde liegende Urschrift in Form einer „Seelenrede“ Gottes durch ihre Ewigkeit und Allgemeingültigkeit gekennzeichnet sei. Die „bewahrte Tafel“ ist somit als semantischer Bewusstseinsinhalt zu verstehen, der aus deren Umschreibung in die verschiedenen Variationen menschlicher Sprache seinen polysemen Charakter herleitet. Der intertextuelle Charakter offenbart sich im Koran am deutlichsten in seinen an biblische Urszenen orientierten Prophetengeschichten, in denen die Erzählungen nur in einem sehr bestimmten Sinne retrospektiv erscheinen. Sieht man die multikonfessionelle Gesellschaft nicht im extensiven und aufzählenden Sinne der Summe aller Glaubensgemeinschaften, sondern im prinzipiellen Sinne in dem, was sie achtungswürdig macht, so läge die Aufgabe eines Konzepts friedlichen Zusammenlebens in der Festlegung der allen Buchreligionen gemeinsamen ethischen Ausrichtung auf Tugend und Gemeinwohl. Die gottgewollte monotheistische Gemeinschaft versteht sich nach intertextueller Deutung als vielstimmige Lobpreisung des Schöpfers. Das intertextuelle Verhältnis abrahamitischer Buchreligionen manifestiert sich in der sprachlichen Eigenart, durch die ihr offenbarender Charakter zum Ausdruck gebracht wird. Religiöse Symbolsprachen haben nach Graf die Eigenschaft, fluider, variationsfähiger und deutungsoffener als postmoderne interkulturelle Säkularsprachen zu sein. Das Potenzial

96 Vgl. Jan Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“ in ders./Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988, S. 9-19. 97 Vgl. Matthias Blum: „Von der ‚Verwerfung‘ Israels zur ‚bleibenden Erwählung‘? Aktuelle kontroverstheologische Sichtweisen zum Verhältnis Kirche und Israel“, in: Hansjörg Schmid u.a. (Hg.): Kirche und Umma. Glaubensgemeinschaft in Christentum und Islam, Regensburg 2014, S. 151-159.

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5.3. Verortung des Erlaubten innerhalb der Verpflichtungsnormen

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monotheistischer Religionen liegt darin, die „Approbation von Vielfalt“ zu fördern.98

98 Vgl. Graf: Moses Vermächtnis, S. 23ff.

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6. al-Aḥkām al-waḍʿiyya als konstitutive Regeln des sittlichen Handelns 6.1. Ethikrelevante handlungsinterne Regeln der Glaubenspraxis Konventionelle Normen (al-aḥkām al-waḍʿiyya) sind außersprachliche Bedingungen zur Erfüllung jussiver Aufforderungsakte. Schwerpunkt dieses Verhältnisses ist die intentionalistische Relation zwischen Ursachen und Wirkungen (al-asbāb wa-lmusabbabāt) im Handlungsumfeld. Im Gegensatz zu präskriptiven Rechtsgeboten (al-aḥkām at-taklīfiyya), die einen jussiven Charakter besitzen und in den Handlungsakt direkt und umfassend eingreifen, dienen die konventionellen Rechtsgeboten (al-aḥkām al-waḍʿiyya) dazu, die Handlungen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, wie Eheschließung, Bestreitung des Lebensunterhalts, im Einzelnen in Anlehnung an ein bestimmtes epistemologisches und kognitives Umfeld zu ordnen bzw. zu organisieren. Al-Qarāfīs Definition zufolge lässt sich der sogenannte ḥukm waḍʿī aus der Perspektive des Adjektivs waḍʿī (positiv/konventionell) erklären. Es handelt sich um einen juristischen Akt, der von Gott zur Konvention aufgestellt wurde, um als Gegenpol und Regent zu den präskriptiven Rechtsgeboten zu fungieren. 1 Es sind Regeln, die dazu dienen, die Durchführbarkeit bzw. die Undurchführbarkeit von alaḥkām at-taklīfiyya zu beurteilen. In der rhetorischen Fachsprache wird man hier von Situations- und Kontextmaximen reden, die für eine erfolgreiche Erfüllung des Aufforderungsaktes notwendig sind. Die Durchführbarkeit jedes einzelnen Aufforderungsakts hängt von drei grundlegenden Bedingungen ab, nämlich: Motiv (ġaraḍ), Anlass (sabab), Bedingung (šarṭ) und Hindernis bzw. Verletzung (māniʿ) einer Maxime.2 Für den intentionalistischen Ansatz aš-Šāṭibīs sind die Motive einer rechtlichen Handlung sowie die daraus entstehenden Auswirkungen von großer Bedeutung. Im Rahmen seiner Fragestellung, ob die Handlungen der Verpflichteten auch von der Perspektive der von ihnen verursachten Ergebnisse beurteilt werden sollen, befasst sich aš-Šāṭibī ausführlich mit der juristischen Kategorie des Erlaubten. Sowohl die erlaubten als auch die verbotenen Handlungen der Verpflichteten sind nach ašŠāṭibīs-Hypothese lediglich Mittel zum Zweck, die darauf ausgerichtet sind, bestimmte Ergebnisse zu erzielen, die wiederum die Inhalte der Intention des Verpflichteten offenbaren. Durch die geschickte Anwendung der intentionalistischen Methode gelang es aš-Šāṭibī aus der Handlung als Anlass (sabab) und der daraus

1 Vgl. Šihāb ad-Dīn al-Qarāfī: Šarḥ tanqīḥ al-fuṣūl fī ḫtiṣār al-maḥṣūl fī l-uṣūl, Kairo 1973, S. 67-79. 2 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 135.

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6.1. Ethikrelevante handlungsinterne Regeln der Glaubenspraxis

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entstehenden Wirkung als mögliches Ergebnis (musabbab) einen einzigen juristisch verbindlichen Akt zu machen, der zugleich illokutiv und perlokutiv greift. Jedoch geht aš-Šāṭibī nicht so weit, das Verhältnis zwischen dem Handlungsanlass und dem daraus möglich entstehenden Ergebnis als Maßstab juristischer Beurteilung zu sehen. Auf diese Weise wird der im praktischen islamischen Recht weit verbreiteten juristischen Tendenz entgegengesetzt, die Verbote und Gebote aus einer zwingenden Wechselbeziehung zwischen Anlass und Ergebnis einer Handlung abzuleiten. 3 Das Dogma leitet missverständlich eine zwingende Verbindung zwischen Anlass und Ergebnis einer Handlung aus der normativen Intention Gottes ab, die aber eigentlich nur von einer gewissen Verbindung zwischen diesen ausgeht. Vor allem impliziert die Intention Gottes ein Verhältnis zwischen einzelnen Praktiken und deren Zielsetzungen: „Bei der Aufstellung der Handlungsanlässe setzt der Akteur die [Verwirklichung] der Handlungsergebnisse voraus. Und ich meine mit dem Akteur den Gesetzgeber.“4 Das Bestreiten etwa des Lebensunterhaltes durch Kauf, Verkauf (in Form von Handel), Landwirtschaft oder die Ausübung eines Berufes sind rechtlich als Handlungen oder Praxiseinheiten zu betrachten, die im Hinblick auf die daraus entstehenden Auswirkungen zu bewerten bzw. zu beurteilen sind. Kaufen als erlaubter Akt steht z.B. in der šarīʿa mit bestimmten von ihm hervorgerufenen Auswirkungen in Verbindung, wie der Errichtung von besseren Lebensbedingungen, des Erlangen von rechtsmäßigem Besitz oder einfach Genuss des im Besitz befindlichen Eigentums.5 Genauso dient die Eheschließung (nikāḥ) bestimmten gesellschaftlichen und seelischen Interessen der Menschen wie dem Ausleben der Sexualität, der Fortpflanzung, der Schutz des Erbes und der Familie als Grundlage. Wie bei den erlaubten Handlungen hängt die Bewertung bei den verbotenen Handlungen mit den daraus entstehenden Auswirkungen zusammen. Verbotene Handlungen wie etwa Ehebruch (zinā), Alkoholkonsum oder Wut (ġaḍab) sind Ergebnisse (musabbabāt) wie auch Anlässe (asbāb), die im Hinblick auf ihre Auswirkungen in der Gesellschaft sowie auf den einzelnen Menschen betrachtet werden. Dieser Annahme zufolge richtet sich das verbindliche Rechtsgebot nach den Ergebnissen einer

3 Als moderner Vertreter dieser Position z.B. verbietet al-Qaraḍāwī jeglichen Anlass zur einer Handlung, der zu einem möglichen Ergebnis entweder in Form eines Verbotes oder einer Verwerfung führt. Bspw. fällt unter diese Kategorie das Verbot des alleinigen Reisens von Frauen ohne eine Person, die mit ihr in einem die Ehe ausschließenden verwandschaftlichen Verhältnis steht. Zwar ist das Reisen an sich nicht verboten, sondern die möglichen daraus enstehenden verbotenen Handlungen wie etwa Ehebruch oder Unzucht. (Vgl. al-Qaraḍāwī: Erlaubtes und Verbotenes im Islam, S. 131ff.) 4 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 142. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 226. 5 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 142-143.

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6. al-Aḥkām al-waḍʿiyya als konstitutive Regeln des sittlichen Handelns

Handlung und nicht unbedingt ausschließlich nach der bloßen Erfüllung eines verbalen oder verhaltensmäßigen Anlasses.6

6.2. Das Verhältnis von Anlass und Ergebnis bei der ethischen Urteilsbildung (asbāb vs. musabbabāt) Nach aš-Šāṭibī soll die Ausrichtung der Handlungsintention auf dem daraus resultierenden Ergebnisse als allgmeine Maxime verstanden werden, die besagt, dass die Gebote Gottes formuliert wurden, um das Gute hervorzurufen und das Verwerfliche abzuwenden (ǧalb al-maṣāliḥ wa darʾ al-mafāsid). Wenn alle Anlässe und Auswirkungen der Handlungen auf die eben genannte Maxime zurückgeführt und an den Rechtsgeboten gemessen werden, so fungieren sie als rechtsmäßige musabbabāt. Diese systematische Argumentation führte aš-Šāṭibī zu einer schwierigen theologischen Frage, die auf zweierlei Weise beantwortet werden kann: Gehen die aus den von Gott vorgeschriebenen Handlungen entstandenen Ergebnisse mit seiner Intention einher, oder richtet sich seine Intention auf die eigentliche Ausführung einer Handlung aus, ohne die daraus entstandenen Auswirkungen zu berücksichtigen? Diese Fragen scheinen umso wichtiger, wenn es um die verbotenen Handlungen geht. Denn eine Verallgemeinerung der These, dass asbāb von Gott gewollt sind, um musabbabābāt hervorzurufen, impliziert eine gefährliche Unterstellung, die man in Form der folgenden Frage zum Ausdruck bringen kann: Sind Handlungen wie Mord, Diebstahl und Ehebruch vom Gott absichtlich als Mittel geschaffen worden, um die dadurch entstehenden Auswirkungen hervorzurufen und sie im Endeffekt strafbar zu machen?7 Die Fragestellung veranlasst aš-Šāṭibī eine zweiteilige Kategorisierung der Verbindung zwischen sabab und musabbab vorzunehmen: A. Musabbabāt, für die die asbāb aufgestellt worden sind: Diese betreffen hauptsächlich erlaubte Handlungen, die überwiegend mit den grundlegenden Absichten (almaqāṣid al-aṣliyya) des Gesetzgebers zusammenhängen. Im Rahmen dieser Kategorie werden aber auch Handlungen ausgeführt, die mit den fakultativen Zielsetzungen (al-maqāṣid at-tābiʿa) in Verbindung stehen.

6 Z.B. das alleinige Reisen von Frauen, oder die Vermischung der Geschlechter im öffentlichen Raum gelten nicht per se in der šarīʿa als Anlässe juristischen Urteils. 7 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 191 sowie 212ff. Das Verhältnis zwischen vorgeschriebenen Moral- und Rechtsnormen wie z.B. Almosenabgabe oder Fasten und den damit verbundenen Zielsetzungen, wie etwa Armutsbekämpfung oder Mäßigung- ist rational nachvollziebar und so mit Gottes Intention leicht zu vereinbaren. Andere jedoch von Gott verbotene aber erschaffene Handlungen wie Mord, Diebstahl, Unzucht etc. sind laut ašʿaritischer nicht zwingend mit Gottes Intention zu verbinden.

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6.2. Das Verhältnis von Anlass und Ergebnis bei der ethischen Urteilsbildung

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B. Musabbabāt, von denen man annimmt oder erfährt, dass die Handlungsursachen (asbāb) für sie geschaffen worden sind, und Wirkungen, von denen man weder weiß noch vermutet, dass die Anlässe für deren Verwirklichung aufgestellt worden sind. Diese Kategorie umfasst die komplexen Fälle menschlichen Handelns, welche in drei Untergruppen geordnet werden können: a. Musabbabāt, von denen man weiß, dass die asbāb für deren Verwirklichung aufgestellt worden sind (z.B. Eheschließung und Nachwuchs, Fasten und Mäßigung etc.). b. Musabbabāt, von denen man weiß, dass die asbāb nicht für deren Verwirklichung aufgestellt worden sind (z.B. Blutrache und Mord, Scheidung und Eheschließung etc.). c. Musabbabāt, von denen man nicht weiß, ob die asbāb für deren Verwirklichung aufgestellt worden sind oder nicht (z.B. Handel und die Entstehung eines Zinsertrages oder mutʿa-Ehe, d.h. die Ehe, die zwecks Genuss und auf Zeit geschlossen wird, etc.).8 Die von aš-Šāṭibī implizierte Verallgemeinerung der Beziehung zwischen musabbabāb und asbāb, die übrigens in der vierten Abhandlung von al-Muwāfaqāt ausdrücklich vorkommt, scheint sich demnach ausschließlich auf die Unterkategorie (a) zu beziehen. Bei der Unterkategorie (b) wird eine Intention des Gesetzgebers, die musabbabāt und asbāb miteinander zu verknüpfen, kategorisch ausgeschlossen. Was aber die Unterkategorie (c) angeht, so macht aš-Šāṭibī die Bestätigung der Gesetzgeberintention in Bezug auf die kausale Verbindung zwischen Anlass und Auswirkung von iǧtihād abhängig, wenn diese Intention nicht explizit im Offenbarungstext geäußert wird.9 Rhetorisch gesehen ist für aš-Šāṭibī eines aber klar: Von dem mukallaf als Empfänger des göttlichen Gebotes wird lediglich die Ausführung des jussiven Aktes in Form einer sprachlichen oder außersprachlichen Handlung erwartet. Der Aufforderungsakt des göttlichen Gebotes zielt nicht zwingend auf die Verwirklichung der resultierenden Wirkung ab. Anders formuliert: Die menschlichen Handlungen werden laut šarīʿa nicht im Hinblick auf die daraus resultierenden Wirkungen beurteilt, es sei denn der Handelnde beabsichtigt bewusst im Voraus deren Erfüllung.10 Im Zuge der Ausführung eines Handlungsanlasses ist der Verpflichtete 8 Vgl. ebd., Bd.1, S. 179-181. 9 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 184ff. 10 Es handelt sich hierbei um eine bemerkenswerte Schlussfolgerung aš-Šāṭibīs, da die Rhetorik im Allgemeinen die Befehlskraft des jussiven Diskursakts (ṭalab) nur auf der Ebene seiner Erwartungshaltung im Bezug auf die unmittelbare Erfüllung des Verlangten (Illokution) einschränkt. (Vgl. Saʿd ad-Dīn at-Taftazānī (gest. 792/1390): Muḫtaṣar ʿalā talḫīṣ al-miftāḥ, 4 Bde., Kairo 1899-1900; für die arabisch-klassische Rhetorik; bzw. Oswald Ducrot: Le Dire et le Dit, Paris, 1984; für die moderne Rhetorik.) Die Existenz eines perlokutiven Akts, der auf die tatsächliche Verwirklichung des Handlungsergebnisses abzielt, ist in der modernen Pragmatik sehr umstritten. (Vgl. u.a. Geoffrey Leech: Principles of Pragmatics, New York 1983.)

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6. al-Aḥkām al-waḍʿiyya als konstitutive Regeln des sittlichen Handelns

von jeglicher Pflicht befreit, irgendeine Wirkung für seine Handlung zu intendieren. Nach aš-Šāṭibī seien die Wirkungen der Handungen im allgemeinen Sinne eine Angelegenheit Gottes, da Er der Allwissende hinsichtlich des menschlichen Wohlergehens ist.11 Die Intention des Gesetzgebers, Wirkungen bestimmter Handlungen verwirklicht zu sehen, vollzieht sich jenseits der Zielsetzung göttlichen Gebots. Die erste Zielsetzung ist theologisch-ontologisch begründbar, während die zweite eher diskursiv und juristisch zu verstehen sei. Laut aš-Šāṭibī sei in den Quellen der šarīʿa nichts was auf eine Pflicht zur Berücksichtigung des Handlungsergebnisses hinweist. Denn dies liege außerhalb der Fähigkeit des Verpflichteten, vorausgesetzt, dass der Verpflichtete kein Vorwissen zu seinem Handlungsergebnis besitzt. 12 Der Verpflichtete wird folglich von jeglicher Verantwortung gegenüber den Wirkungen seiner Handlungen befreit, besonders dann, wenn er sich den rechtmäßigen Handlungsanlässen (al-asbāb al-mašrūʿa) widmet: „Es ist für den Verpflichteten nicht notwendig, bei der Ausführung der Handlungsanlässe die Ergebnisse im Blick zu haben oder auf sie abzuzielen. Das, worauf abgezielt wird, ist lediglich, die aufgestellten Moral- und Rechtsnormen zu befolgen, seien sie nun Handlungsanlässe oder nicht. Gleichgültig, ob sie kausal begründbar sind oder nicht.“ 13 Was soviel heißt, dass der Verpflichtete auf die in den Quellen der šarīʿa festgelegten Wirkungen der Rechts- und Moralnormen abzielen darf. Hierbei sind die Alternativen einem Abstufungsprozess untergeordnet, der auf der Grundlage des Vorausgesetzten aufgestellt wird: a) Im Falle einer vorausgesetzten Intention zur Erzielung einer Wirkung steht der mukallaf vor drei Alternativen: 1. Er kann seine Handlung mit der Implikation vornehmen, dass er der ausschlaggebende Faktor bei der Festlegung des Ergebnisses seiner Handlung ist, sodass es demnach eine dialektisch zwingende Beziehung zwischen Anlass und Wirkung bestehe. In diesem Falle entferne sich der mukallaf von dem durch das Prinzip der Einheit Gottes in der šarīʿa verankerten Frömmigkeitscharakter der Dienerschaft. Eine solche Annahme darf laut der Aussage aš-Šāṭibīs keiner rechtmäßigen Handlung als Intention dienen. 2. Er kann vor der Ausführung seiner Handlung davon ausgehen, dass jede Handlung nach dem Gewohnheitsprinzip zu einer bestimmten Wirkung führt, die man als ihr natürliches Ergebnis bezeichnen kann. Diese auf Gewohnheitsrecht basierende Annahme wird hingegen von aš-Šāṭibī für bestimmte Situationen akzeptiert. 11 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 138, 172. 12 Ebd., Bd. 1, S. 140. 13 Ebd., Bd. 1, S. 140. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 226.

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6.2. Das Verhältnis von Anlass und Ergebnis bei der ethischen Urteilsbildung

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3. Er kann an seine Handlung mit der Annahme herangehen, dass Gott der Einzige ist, der die Ergebnisse des menschlichen Handelns hervorbringen oder verhindern kann, so wie Er es will. Dieser Stufe der Beurteilung sollte laut aš-Šāṭibī gegenüber den vorherigen Stufen Vorzug gegeben werden. b) Im Falle einer nicht vorausgesetzten Intention zur Erzielung einer Handlungswirkung impliziert aš-Šāṭibī bei dem mukallaf drei Annahmen: 1. Er sieht in den Handlungen ein Zeichen Gottes, die Menschen auf die Probe zu stellen. Der Mensch ist in diesem Sinne von Gott beauftragt, solche Handlungen durchzuführen, damit diese als Anlässe (sabab) zur Verwirklichung einer von Gott vorgeschriebenen Wirkung (musabbab) dienen. Der Menschenwille ist hier nicht relevant, da es sich um eine Prüfung Gottes handelt. 2. Er kann seine Handlungen vornehmen, ohne an deren Ergebnisse zu denken. Er sieht sich in diesem Fall als ein Diener Gottes, der den Grundlagen der Dienerschaft gerecht werden will, indem er sich weder für die Anlässe noch für ihre Wirkungen interessiert. Die Kausalität wird hier als eine reine Angelegenheit Gottes angesehen. 3. Er kann die vorgeschriebenen Handlungen als legitime Mittel betrachten, deren Ergebnisse oder Wirkungen nur von Gott bestimmt werden können. Dieser Annahme zufolge können die von Gott vorgeschriebenen Handlungen als eine Prüfung für die Menschen interpretiert werden. Aš-Šāṭibī sieht in dieser Stufe eine Zusammenfassung aller positiven Aspekte der anderen Kategorien und plädiert ausdrücklich für die Annahme eines solchen Standpunktes. 14 Durch eine Betrachtung von aš-Šāṭibīs Kommentaren zu jeder einzelnen Stufe stellt man fest, dass der mukallaf im Falle von Unwissen nur indirekt verantwortlich für die Ergebnisse seines Handelns gemacht werden kann. Dies ist nicht verwunderlich, da in der Rechtstheorie das Prinzip der Dienerschaft als Schlussstein des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch angesehen wird. „Die Zwecke und das Zusammenspiel von Ursache und Wirkung bilden [...] keinen zuverlässigen Leitfaden auf dem Weg zur Unterwerfung des ganzen Lebens der Gläubigen unter die von Gott verfügten Normen“, 15 wie Tilman Nagel früher einmal in Bezug auf einen von aš-Šāṭibīs Vorgängern, nämlich al-Ǧuwaynī, auf dem Gebiet von maqāṣid betonte. Was aber bei aš-Šāṭibī die Besonderheit ausmacht, ist sein ständiges Bemühen zwischen dem Prinzip der Dienerschaft und der rationalen Urteilskraft einen Mittelweg zu finden. Seine Skepsis gegenüber einer Überbewertung von musabbabāt rührt

14 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 145-166. 15 Vgl. Nagel: Die Festung des Glaubens. Triumph und Scheitern des islamischen Rationalismus im 11. Jahrhundert, S. 230.

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daher, dass er die Gottesfurcht bei der Begründung der kausalen Verkettung hervorhebt.16 Sollte man jedoch über die notwendige Frömmigkeit verfügen, die einen davor bewahrt, sich in Gottesangelegenheiten einzumischen, und einen vor dem Gefühl schützt, die Wirkungen seiner Handlung mitbestimmen zu können, so ist die Berücksichtigung von musabbabāt nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Da die Missachtung der Wirkung bei verwerflichen bzw. verbotenen Taten fatale Folgen haben kann, fordert aš-Šāṭibī den mukallaf auf, möglichst die Ergebnisse seiner Handlungen im Blick zu halten. Um dies textuell zu belegen, zitiert aš-Šāṭibī zahlreiche Koranverse und Hadithe, die auf die Wirkung bestimmter verbotener Handlungen warnend hinweisen, wie z.B. Q 5:32: „Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Israʾils vorgeschrieben: Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne (dass es) einen Mord (begangen) oder auf der Erde Unheil gestiftet (hat), so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhälten hätte. Unsere Gesandten sind bereits mit klaren Beweisen zu ihnen gekommen. Danach aber sind viele von ihnen wahrlich maßlos auf der Erde geblieben.“ Die Berücksichtigung der Wirkung wird von aš-Šāṭibī insofern gefordert, als sie eine wesentliche Rolle bei der Überprüfung der Legitimität und Rechtmäßigkeit der Handlungsanlässe, die dazu geführt haben, spielen. Auf der Grundlage einer Berücksichtigung der Wirkung bei der Arbeit eines Arztes, eines Kochs oder eines Handwerkers haben die Rechtsgelehrten bei solchen Berufen die Vergabe einer Gewährleistung im Gesetz verankert. Die Gewährleistung gilt laut aš-Šāṭibī nur bei einer Nachlässigkeit des Handelnden bei der Ausführung einer Tätigkeit. Zum Schluss fasst aš-Šāṭibī die positiven Aspekte einer intentionalistischen Berücksichtigung der Wirkungen bei der Ausführung einer Handlung wie folgt zusammen: „Derjenige, der sich ausschließlich mit den Handlungsergebnissen als Hinweis für die Richtigkeit oder die Falschheit der als Hintergrund dienenden Handlungsanlässe auseinandersetzt, erlangt daraus eine hervorragend kohärente Methode, die die genaue Analyse des Zusammenspiels der Handlungsanlässe gemäß der Rechtsordnung oder etwas anderem ermöglicht. Daher wurden die expliziten Handlungen in der Rechtsordnung ein Hinweis für das, was [als Maßstab für die moralische Urteilsfindung] impliziert ist. Und diese bilden ein grundlegendes Fundament des Rechtsverständisses [fiqh] sowie für die normativen und experimentellen Rechtsbestimmungen.“17

16 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 171ff. 17 Ebd., Bd. 1, S. 171. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 227.

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6.3. Hermeneutik der Handlung im Horizont teleologisch-ethischer Urteilsfindung 179

Hier wird ein interessanter Vergleich zwischen der Dichotomie implizit (bāṭin) vs. explizit (ẓāhir) und der Dualität Anlass (sabab) vs. Wirkung (musabbab) dargestellt. Genauso wie das explizite Verhalten über den dahinter steckenden Standpunkt viel sagen kann, kann die Wirkung einer Handlung viel über die Natur der Handlung aussagen. Alles in allem kann die Berücksichtigung der Wirkung einer Handlung nur auf der Grundlage der Intention des Handelnden beurteilt werden: „Wenn die Berücksichtigung des Ergebnisses einer guten Handlung dazu führen kann, dass die Durchführung dieser Handlung gefördert wird, [so ist es im Sinne des Gesetzgebers], die Wirkung zu berücksichtigen, da dies dazu dient, das Gute hervorzurufen (ǧalb al-maṣlaḥa). Wenn die Berücksichtigung des Ergebnisses dazu führen würde, den Vollzug der [offenbar zum Guten verleitenden] Handlung zu verhindern, abzuschwächen oder zu verzögern, so wäre das, was das Hervorrufen einer Schlechtigkeit gleich käme.“18

6.3. Hermeneutik der Handlung im Horizont teleologisch-ethischer Urteilsfindung: von Ursache und Wirkung Die sogenannten al-aḥkām al-waḍʿiyya sind keine moralischen Regeln. Sie setzen lediglich die Bedeutung bestimmter Verhaltensformen fest. Zwar bringen einem die konstitutiven Regeln nach Ricoeur „auf die Spur der moralischen Regeln, insofern diese die Verhaltensweisen beherrschen, die eine Bedeutung erhalten können. Aber dies ist nicht mehr als ein erster Schritt in Richtung der Ethik“. 19 Die Einführung des Begriffs al-aḥkām al-waḍʿiyya unterstreicht jedoch den Interaktionscharakter, der die meisten Praktiken in deren konkreten Vollzugszusammenhang auszeichnet. Unter dem semantischen Aspekt wird die Bedeutung miteinbezogen, wie der Angesprochene die dem Handlungssatz durch den Sprecher zugewiesene Bedeutung rezipiert. Darüber hinaus bildet die durch die Rhetorik eingeführte Interlokution als Verpflichtungscharakter der Aussage lediglich die verbale Dimension des Handelns.20 Die al-aḥkām al-waḍʿiyya und insbesondere der Themenbereich asbāb vs. 18 Ebd., Bd. 1, S. 172-173. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 227. 19 Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 190. 20 Selbst der mühsam von Paul Grice erarbeitete Begriff von „Maximes of conversation“ scheiterte letzten Endes an der Überwindung der Symmetrie zwischen Sprecher und Hörer sowie an der Schaffung einer extralinguistischen umfassenden Systematsierung des Kommunikationsumfelds, das die moderne Hermeneutik zur Erweiterung des interaktiven Felds durch die Einführung der Dichotomie „Handelnder vs. Leidender“ bewegte. (Vgl. Nekroumi: Interrogation, Polarité et Argumentation. Vers une Théorie Structurale et Enonciative de la modalité en arabe classique.)

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musabbabāt werden daher von aš-Šāṭibī bewusst in das praktische Feld angesiedelt und aus der Perspektive der kausalen Handlungstheorie diskutiert. Durch das interaktionelle Konzept konventioneller Regeln lässt sich die theologische Ethik aš-Šāṭibīs umissverständlich in der Handlungssemantik verorten. Damit wird eine methodisch grundlegende Ergänzung seiner auf die Theorie der Sprechhandlung basierenden Pflichtenlehre gewährleistet, die im Äußerungsakt gründet und offen für die Selbstbezeichnung des Gläubigen als Sprecher bzw. als Partner im Diskursgeschehen der Gemeinschaft ist. Zwar bietet die Diskursrhetorik bei der Definition des Handelnden eine größere Hilfe als die Handlungssemantik, jedoch nur bis zu einem bestimmten Punkt, insofern es mehr bedeutet, sich als Handelnden zu bezeichnen, anstatt sich als Sprecher wahrzunehmen. Auf diese Weise wird die dem sozialen Verhalten des Gläubigen inhärente doppelte Voraussetzung offenkundig gemacht: nämlich einerseits, dass Pflichthandlungen konventionellen Regeln unterworfen werden können, und andererseits, dass Gläubige als Handelnde für ihre Taten und für damit einhergehende Ergebnisse verantwortlich gemacht werden können, was bei der theologischen Urteilsfindung eine zusätzliche Deliberation auf Handlungsziele nach sich zieht. Eine der wichtigsten Aufgaben von al-aḥkām al-waḍʿiyya besteht in der Klärung der Frage, inwiefern der Gläubige verantwortlich für seine Handlungen gemacht werden könne, die ihrerseits als erlaubt oder unerlaubt gelten und somit die Frage nach der Zurechnung stellen. So werden gleichzeitig Gebote und Verbote auf der Ebene der Pflichthandlungen und Belohnung bzw. Lob sowie Bestrafung bzw. Tadel auf der Seite der Verpflichteten bestimmt. Die besondere Bedeutung, die den konventionellen Regeln der al-aḥkām alwaḍʿiyya im Rahmen der maqāṣid-Rechtstheorie beigemessen wird, rührt aus dem tiefgreifenden methodischen Anliegen, das Verhältnis zwischen moralischer Zuschreibung und logischer Zurechnung im Prozess situativer Urteilsfindung auszuarbeiten. Die von aš-Šāṭibī hervorgehobene Rolle des Begriffspaars Anlass und Wirkung wird offensichtlich von der Intention geleitet, die handlungstheoretischen Aspekte diesseitiger Fehlbarkeit bzw. Sündhaftigkeit hermeneutisch zu ergründen. Mit der Dichotomie asbāb vs. musabbabāt wird andererseits der Grundstein für außersprachliche Regeln gelegt, die neben den semantischen Postulaten der Sprechakttheorie eine handlungsorientierte Zusammenstellung der Praktiken leiten. Wie es soeben in aš-Šāṭibīs Analyse von asbāb vs. musabbabāt deutlich gemacht wurde, sind aus der Perspektive der Handlungstheorie nicht einzelne Handlungen, sondern lediglich Handlungsketten ausschlaggebend, die in der heutigen Philosophie der Praxis Praktiken genannt werden. Aš-Šāṭibīs Verständnis von menschlichem Handeln, sei es weltlicher Berufsausübung, ritueller Praxis oder Füsorge-Wohltat, wurzelt durch ihre zugrunde liegende vorausgesetzte Intention in der glaubenden Erkenntnis, dass jedes Tun eines Menschen einer von Gott geleiteten, menschlichen Willensfreiheit vorausgeht. Die vom

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6.3. Hermeneutik der Handlung im Horizont teleologisch-ethischer Urteilsfindung

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faqīh vorzunehmende Überlegung über die Handlungsziele kann lediglich einen apriorischen Sondierungscharakter haben. Die Endziele einer Praxis sind für den faqīh genauso unerforschbar wie die Motive ihrer Erfüllung und Entstehung. Diese aus der dialogischen Bestimmung des Menschen entspringende Sichtweise geht bereits auf die Auslegung des zweiten Kalifen ʿUmar hinsichtlich der Festlegung einer moralischen Urteilsfindung zurück, in der er verkündete. 21 Diesem Deutungsmuster liegt offenbar der in den Hadith-Quellen überlieferte Aufruf zugrunde, wonach sich der Gläubige der wahrhaften Rückbesinnung auf die gewissenhafte Ausführung von Handlungen und Praktiken widmen soll, ohne sich im Voraus mit der Bewertung der vermeintlichen Ergebnisse und Ziele tiefgründig auseinanderzusetzen.22 Damit wird zugleich deutlich gemacht, dass aufgrund der Verortung des menschlichen Handelns in einen fortwährenden unabgeschloßenen Handlungsprozess, der stets aus jedem Urteil ein Sachmoment macht, Letztbegründungen nicht Gegenstand menschlicher Überlegung sein können. Die Reinheit der Absicht ist daher von grundlegender Bedeutung. Die Erfassung der Handlungswirklichkeit, die aus der Methode von asbāb vs. musabbabāt hervorgeht, spiegelt unmissverständlich den Kerngedanken von maqāṣid wider, wonach die menschliche Existenz als eine widerrufliche Hin- und Herbewegung zwischen Gemeinwohlidealen einerseits und Moral- und Rechtsnormen, die als Wegstrecke dorthin dienen, andererseits, nachgezeichnet wird. Dieser Handlungspluralität liegt nicht nur eine vorherbestimmte Charaktereigenschaft des Menschen zugrunde, sondern sie zeichnet auch den Weg des Gläubigen zu Gott aus, wie es in Q 84:6 heißt: „O du Mensch, du mühst dich hart zu deinem Herrn hin, und so wirst du Ihm begegnen.“ Als treibende Kraft dieser Handlungspolarität gilt die menschliche Willensfreiheit, die in aš-Šāṭibīs Abhandlung asbāb vs. musabbabāt nicht oder nur selten explizit diskutiert wird. Aš-Šāṭibīs Überlegung über das Verhältnis von Handlungsmotiven und Handlungszielen beruht offenbar auf einer reinen transzendentalen Idee der Freiheit, der zufolge das Subjekt fern von phänomenaler Bindungen das Vermögen zur selbstständigen Initiierung handlungsimmanenter Kausalreihen innehat, was letzten Endes auf die Plausibilisierung moralischer Zurechnung hinausläuft. 23 Einerseits dient die transzendentale Freiheit als hypothetischer Ausgangspunkt dazu, die Charaktereigenschaft der praktischen Freiheit als Unabhängigkeit des Willens von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit herauszukristallisieren. 21 Der Ausspruch wurde bereits übersetzt, siehe oben, Fußnote 94. 22 Gemeint sind hier Gedanken über einen möglichen Erfolg oder Misserfolg einer bevorstehenden Handlung, die üblicherweise bei der Vorzugswahl zwischen mehreren Handlungsoptionen auftreten und letzten Endes zu Hemmung oder gar zur Handlungsunterlassung führen können. 23 Nach Ricoeur: „Eine transzendentale Freiheit ist eine intelligible Freiheit, sofern man intelligibel dasjenige an einem Gegenstand der Sinne nennt, was selbst nicht Erscheinung ist.“ (Ricoeur: Soi-même comme un autre, S 135.)

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Andererseits wirft sie eine der grundlegendsten Fragen moralischer Zurechnung auf, nämlich die des Anfangs einer Handlungskette. Denn nur durch die Gewährleistung einer gewissen Vollständigkeit der kausalen Reihe, der im Zuge des Handlungsvollzugs voneinander abstammenden Ursachen, kann eine logische Zuschreibung der Handlung festgestellt werden, die als Grundbedingung für die moralische Zurechnung gilt. Mit dem Begriff sabab wird auf diese Weise eine zweite weltlich definierte Idee des Anfangs eingeführt, die sich auf den bereits von aš-Šāṭibī ausgearbeiteten schöpfungstheologischen Konzept des Anfangs (al-ḫalqī at-takwīnī) gründet. 24 Übertragen auf die kantische Terminologie wäre der eine der sogenannte Anfang innerhalb des Weltlaufes, der andere der Anfang der Welt.25 Dass es sich bei einem Anfang in der Welt nicht um eine absolute Initialbewegung der Zeit, sondern der Kausalität handelt, lässt sich an seiner Eigenschaft erkennen, seine umfassende Funktion nur auf begrenzte Reihen von Ursachen auszuüben. Somit werden andere Kausalreihen erkennbar, die von anderen Subjekten initiiert werden. Durch den Gedanken des Anfangs in der Welt, der aus dem sabab-Begriff hervorgeht, wird einerseits in der islamischen Jurisprudenz ein Referenzrahmen für die überlieferte theologisch-ethische Weisheit dargelegt, die besagt, dass sich der Gläubige den notwendigen Mitteln zur Erlangung seiner abgesteckten Ziele bedienen und sich nicht auf die Erwartung der Wirkung Gottes beschränken soll (alaḫḏ bi-l-asbāb). Andererseits wird durch die Ausarbeitung des sabab-Begriffs versucht, dem flüchtigen Charakter des „Anfangs in der Welt“ eine Beständigkeit nachzuweisen, die eine moralische Zurechnung im Kontext des dynamischen Handlungsprozesses möglich macht. Wohlwissend, dass das Verhältnis von sabab und musabbāb einer kausalen Ontologie zuzuschreiben wäre, in der die Ereignisse und nicht die Absichten im Mittelpunkt stehen, setzt aš-Šāṭibī bewusst das Augenmerk auf die Frage der Vereinheitlichung der Ursachen-Reihe und knüpft die Funktion von sabab an dessen intentionale Zielsetzung sowie an die kognitive Kompetenz des Handelnden und des Urteilenden. Das Intergrationsvermögen der Absicht, von dem die gesamt kausale Reihe, die der betreffenden Handlungskette als Hintergrund dient, durchzogen wird, fungiert als Prämisse moralischer Zurechnung. Die Ontologie des Ereignisses setzt jedoch eine Vielzahl möglicher Anfänge voraus, sodass die Hürde der Abgrenzung einer Ereignissphäre, für die ein Handelnder zur Verantwortung gezogen werden kann, fast als unüberwindbar 24 In der Schöpfungstheologie sowie in der Rationaltheologie wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern die Rede vom Erhabenen als Ursache (ʿilla) für die Schöpfung (maʿlūl) theologisch vertretbar sein könne, da Kausalität an sich eine Eigenschaft des menschlichen Geistes zu sein scheint. (Vgl. Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, hg. von Mohammed Ahmed Abd al-ʿAzīz, ʿĀkif, Ägypten 1978, Bd. 8, S. 1132.) 25 Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 479.

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erscheint. Die Frage einer möglichen Verstrickung des Gläubigen in den entfernten Folgen seines Tuns wird in der Jurisprudenz entweder in den Bereich menschlicher Demut oder in die Sphäre göttlicher Gnade angesiedelt. Weil die rechtstheoretische Überlegung primär je Ereignissphäre nur eine einzige Reihe von Ursachen verfolgt, werden nach der Ablösung der Auswirkungen einer Handlung vom Handelnden die Folgen menschlicher Initiativen den von göttlicher Wirkung durchzogenen Naturgesetzen26 zugeschrieben: „Und ihr könnt nicht(s) wollen, außer dass Allah (es) will. Gewiß, Allah ist allwissend und allweise.“27 Hier wird noch einmal mehr klar, wie schwer sich die islamische Jurisprudenz mit dem Thema Schuldzuweisung bzw. der moralischen Zurechnung tut. Für die Demut des faqīh spricht die von allen Rechtsgelehrten anerkannte Maxime zur Schuldzuweisung: „Im (geringsten) Zweifel für den Angeklagten“. Auf der einen Seite kann eine Handlung Auswirkungen hervorrufen, von denen gesagt wird, sie sei ungewollt und gar ins Gegenteil verkehrt. Auf der anderen Seite scheint es nicht immer leicht zu sein, den Unterschied zwischen dem, was dem Handelnden und dem, was der kausalen Verkettung zuzuschreiben wäre, auszumachen.28 Bemerkenswert in aš-Šāṭibīs komplexer Abhandlung zu Handlungsmotiven und Handlungszielen ist der zum Schluß suggerierte Gedanke, dass die Bestimmung eines Wendepunktes, an dem die Verantwortung eines Handelnden endet, eher eine Sache selbständiger Urteilsfindung (iǧtihād) als logischer Feststellung ist.29 Sünde, Reue und Rechtschaffenheit sind Sachmomente moralischen Handelns, dessen reziprokes Verhältnis von einem Kontinuum geprägt ist.30

26 Was hier zu denken gibt, ist, dass das, was mit Naturgesetzen in der islamischen Jurisprudenz gemeint ist, kaum mit Kants „absoluter Spontaneität der Ursachen“ zu tun hat, die er durch das Vermögen definiert, „eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen“. (Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 446.) 27 (Q. 76:30) 28 Nach Wilhelm Schapp ist „die Handlung eines jeden (und seine Geschichte) nicht nur in den physischen Lauf der Dinge, sondern in den sozialen Lauf menschlicher Tätigkeit verstrickt.“ (Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, S. 159ff.) 29 Es ist Herbert Hart, der die Formulierung dieser bemerkenswerten Idee wagte. (Vgl. Herbert Lionel Adolphus Hart: „The Ascription of Responsibility and Rights”, in: Proceedings of the Aristotelian Society 49 (1948), S. 171-194.) 30 Diese Grundmaxime trifft offenbar auf alle Kategorien moralisch-theologischen Urteils zu. So verhält es sich mit der Relation zwischen Gläubigen und Andersgläubigen. Eine der am häufigsten verwendeten Bedeutung des Worts kāfir (Andersgläubiger) im Koran ist die der Undankbarkeit. Desweiteren wird in Sachen Glaube und Unglaube seitens der Jurisprudenz auf einen überlieferten Hadith des Propheten (sas) verwiesen, in dem eine Parabel erzählt wird, welche die Muslime dazu aufruft, keine Waffengewalt gegenüber andersgläubigen Kämpfern auszuüben, die sich in einer schutzlosen Situation befinden, da aus diesen rechtschaffene Gläubige werden können, deren Frömmigkeit bei weitem die der Angreifer übertreffen könnte (Buḫārī: Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Bd. 2, S. 632f., Hadith-Nr. 3267.)

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Diese Idee durchzog aš-Šāṭibīs Gedankengerüst über die ganze bisher zurückgelegte Wegstrecke, angefangen von der Definition des Begriffs des Seins bis hin zur Ausarbeitung des Konzepts der Gemeinschaft. Aš-Šāṭibī ging zwar nicht soweit, die beiden Ebenen von sabab (als Anfang der Welt und als Anfang in der Welt) den zwei später von Kant erarbeiteten Begriffen der Willensfreiheit, nämlich der transzendentalen und der intelligiblen, gegenüber zu stellen. Vielmehr schlug er indirekt durch die Idee der Intention einen Ausweg aus der Antinomie zwischen göttlichem Willen und menschlicher Freiheit bzw. zwischen empirischem und intelligiblem Charakter der Handlungsfeiheit vor. Die Deliberation über die menschlichen Handlungsziele mag von einem Gegenstand ausgehen, der keine Erscheinung ist, nämlich dem vorausgesetzten kausalen Begriff sabab. Der Angelpunkt moralischer Zurechnung orientiert sich dennoch an der daraus entstehenden Wirkung (musabbab), die in der Erscheinung angetroffen wird.31 Als Wirkungsprodukt der intelligiblen Form der Freiheit deutet musabbab in seiner Eigenschaft als ein aus der Erscheinung entspringender empirischer Charakter auf eine gewisse Initiative des Handelnden hin, dessen logische Dimension sich im Begriff sabab manifestiert. Menschliches Handeln als ein Eingriff in den Lauf der Welt, um die von Gott gewollten bzw. im göttlichen Wissen verankerten Veränderungen zu bewirken, ist kein willkürlicher Zugriff inmitten des Laufes weltlicher Handlungswirklichkeit, der aus der Verbindung disparater Arten von Kausalitäten entspringt. Vielmehr handelt es sich dabei um eine von der Intention geleitete Initiative, die sich der Handlungsstruktur aufzwingt. Die Verdienste von aš-Šāṭibīs Kausalitätsansatz liegen in seinem Streben, teleologische Elemente, die einen praktischen Schluß und systemische Segmente, die eine kausale Erklärung zulassen, miteinander zu vebinden. Worauf es bei der moralischen Urteilsfindung ankommt und worin die Schwierigkeit der Zurechnung besteht, sind gerade die Nahtstellen zwischen teleologischen und systemischen Aspekten. In der islamischen Jurisprudenz ist jedes Ergebnis eines praktischen Syllogismus eine Aufforderung zum Handeln oder eine wirkliche Handlung, die entweder eine neue Tatsache in die Ordnung der Welt einführt oder ihre Einführung in den Lauf der Welt verlangt. In beiden Fällen wird eine neue Kausalkette ausgelöst.32 31 Die Unterscheidung beider Begriffe der Freiheit geht auf Kants These zurück, in der er erläutert: „Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig“. (Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 472.) 32 Die angemessenste Darstellung einer solchen Verbindung scheint diejenige zu sein, die G.H. von Wright in Zusammenhang mit seinem sog. „quasi-kausalen Modell“ vorbringt. (Vgl. Georg Henrik von Wright: Explanation and Understanding, London 1971; dt. Erklären und Verstehen, Frankfurt a.M. 1974.)

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6.3. Hermeneutik der Handlung im Horizont teleologisch-ethischer Urteilsfindung

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Die Initiierung eines sabab-Vorgangs im Prozess einer kausalen Verkettung hat nichts mit der sogenannten Basishandlung zu tun, die nach Danto keiner anderen vorausgegangenen Zwischenhandlung bedarf, um das Ereignen einer gewissen Wirkung hervorzurufen. Die Affinität zwischen den Begriffen von Basishandlung und Urtatsachen liefere ein theologisches Argument für die Ablehung der Idee eines Kausalitäts-Ausgangszustands für die menschliche Realität. Diesem Verständnis zufolge würde der Gedanke eines Anfangs in der Welt mit einem negativen Aspekt behaftet, bei dem jeder Basishandlung ein rückwärtsgewandter Status in der Bewegung vorausginge. In der Rationaltheologie handele es sich hierbei um eine schöpfungstheologische Fragestellung, die dem göttlichen Bereich vorzubehalten wäre.33 Genau genommen lässt diese negative Auffassung des Anfangsbegriffs die Frage der Zuschreibung einer Handlung an ihren Vollzieher unentfaltet. In der schöpfungstheologischen Argumentation zum Schöpfungsakt setze die Erwähnung des Schöpfers der Suche nach einer Ursache ein Ende, sodass die Fragestellung auf einer anderen Ebene, nämlich der Ebene der Motivation der Schöpfung, fortgesetzt werde. Der hermeneutische Ansatz aš-Šāṭibīs hinsichtlich der Verkettung von Ursachen und Zielen scheint sich an dem bereits von ar-Rāzī und al-Ġazālī eingeführten munāsaba-Prinzip zu orientieren, dem zufolge der Handelnde Kraft seiner Fähigkeit zum Handeln eine Tat, zu welcher er fähig ist, mit dem im Voraus von Gott vorherbestimmten Ausgangszustand aus dem Laufe der Welt zusammenfallen lässt. Die Geschlossenheitsbedingungen einer weltlichen kausalen Reihe schreibt aš-Šāṭibī dem Handelnden zu. Mit dem Gedanken dieser binären Wirkung traut aš-Šāṭibī dem Gläubigen die Fähigkeit zu, durch seine Handlung und sein Bewirken eines Anfangszustands mit Rückgriff auf sabab eine geschlossene Ursachen-Reihe von ihrer Umwelt abzulösen und infolgedessen die dem Weltlauf innewohnenden Entfaltungsmöglichkeiten freizusetzen. Dieser Eingriff in den Lauf der Welt ist an einer Nahtstelle zwischen dem Handlungsvermögen des Handelnden und den, aus den Gegebenheiten des gesamten Kausalitätprozesses der Welt, zu verorten.

33 Was in der analytischen Handlungstheorie dem kantischen Begriff absoluter Spontaneität entspricht, scheint mit dem von A. Danto entworfenen Begriff der „Basishandlungen“ deckungsgleich zu sein. (Vgl. Arthur Danto: „Basic Actions“, in: American Philosophical Quarterly 2 (1965); dt. „Basis-Handlungen”, in: G. Meggle (Hg.): Analytische Handlungstheorie, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1977, Bd. 1, S. 89-110.)

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6.4. Perspektiven und Ausblick: aḥkām und der moderne Begriff der Gerechtigkeit Zunächst stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit. Dabei geht es um das Menschen-Recht vs. Gottes-Recht im „Kontext einer theologischen Ethik der Fürsorge“. Dieser Charaktereigenschaft des Normensystems von fiqh liegt die Komplexität und Mehrdimensionalität der šarīʿa als Schöpfungsgesetz zugrunde, aus dem unterschiedliche Vorstellungen der Gesetzlichkeit wie etwa der Ordnung der Natur, der Ordnung des Gemeinwesens oder das Sittengesetz hervorgehen. 34 Offensichtlich wirken die drei Dimensionen in der göttlichen Weltordnung wechselseitig aufeinander. Aus diesem Hintergrund lässt sich also das Normensystem von fiqh als Teildisziplin der šarīʿa auf mindestens zweierlei Weise bestimmen, nämlich von dem praktischen Zweck, dem sie dient, und von dem theologischen Werturteil her, an dem sie sich orientiert. Ersteres ist der Fall bei ihrer präskriptiven Funktion zur Wahrung des Gleichheitsprinzips (musāwāt) in der Aufstellung zwischenmenschlicher Rechts- und Verhaltensnormen. Der Anspruch auf Gleichheit ergibt sich aus dem ausgleichenden Charakter des islamischen Gerechtigkeitsprinzips. Güter oder Lasten werden demnach im diesseitigen Leben im Verhältnis zu Leistung und Würdigkeit des Verpflichteten nach einem an dem Lebensvollzug orientierten Abwägungsprozess ausbalanciert und proportional verteilt.35 Hierzu bedarf es selbstständiger Urteilsfindung des faqīh im Handlungskontext. Was den zweiten Aspekt des Normensystems betrifft, so rührt er aus den Begründungsfragen her, weshalb und mit welchem Ziel das Gebotene überhaupt 34 In der Bedeutungsanalyse religionsübergreifender Rezeptionen des göttlichen Schöpfungsgesetzes unterscheidet man zwei Unterarten von lex dei-Vorstellungen, nämlich zum einen die Schöpfungsordnung, welche dem Natur- oder dem platonischen Kosmosgesetz nahe kommt und zum anderen zwei Formen institutioneller Gesetzlichkeit, nämlich die ausgleichende Gemeinschaftsordnung, die im weitesten Sinne die Form eines zwangsgeleiteten positiven Rechtsgesetzes annimmt und die moralisch orientierte Sittennormativität, in der man eine Art moderne zivilrechtliche Vertragsvereinbarung und -konvention erblicken könnte. (Vgl. Martha Nussbaum: Philosophie und Politik: Für eine aristotelische Sozialdemokratie, Essen 2002, S. 206ff.) In der Fachsprache weist der Begriff Gesetz (qānūn) heutzutage eine recht heterogene Vielzahl an Verwendungsweisen auf, die sich kaum zu einem einheitlichen Oberbegriff zusammenfügen lassen. Man spricht freilich von Naturgesetzen, logischen Gesetzen, Sittengesetzen usw. Hierin liegt offenbar die Erklärung dafür, dass die islamische Ethik- und Rechtstheorie dem Gebrauch des arabischen Terminus qānūn fernblieb. Im juristischen Sprachgebrauch war qānūn in der spätislamischen Geistesgeschichte entweder dem naturwissenschaftlichen Fachterminus oder dem vom menschlichen Gesetzgeber aufgestellten positiven Rechtgesetz vorbehalten. 35 Vgl. u.a. Q 4:135: „O die ihr glaubt, seid Wahrer der Gerechtigkeit, Zeugen für Allah, auch wenn es gegen euch selbst oder die Eltern und nächsten Verwandten sein sollte! Ob er (der Betreffende) reich oder arm ist, so steht Allah beiden näher. Darum folgt nicht der Neigung, dass ihr nicht gerecht handelt! Wenn ihr (die Wahrheit) verdreht oder euch (davon) abwendet, gewiss, so ist Allah dessen, was ihr tut, kundig.“

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durchgeführt werden soll. Angesichts der Tatsache, dass die Verpflichtung des Schöpfers an seine Geschöpfe rituelle Praxis (ʿibādāt) ebenso wie ethische und moralisch-normative Handlungsvorschriften (muʿāmalāt) umfasst, lassen sich die Begründungsfragen mit Begriffen philosophischer Werturteile, wie etwa Gutheit oder Glückseligkeit nicht ausschöpfend beantworten. Denn die im Koran und der Sunna verkündete göttliche Rechtsordnung zeichnet sich grundlegend durch ihr spezifisches Gerechtigkeitskonzept aus, das alle bisher bekannten menschlichen Maßstäbe des gerechten Handelns derart umstösst, dass es sie zum Teil außer Kraft setzt.36 Die antike Vorstellung von Gerechtigkeit als Gleichheitsprinzip einer symmetrischen Verteilung von Rechten und Pflichten einerseits, Nutzen und Belastungen andererseits, stellt lediglich einen Teilaspekt eines im Sinne des Schöpfers rechtschaffenen Lebens dar,37 nämlich derjenige, der für die Verankerung einer sogenannten iustitia distributiva (Verteilungsgerechtigkeit) in der Rechtsordnung des Gemeinwesens notwendig ist. Die islamische Auffassung der iustitia distributiva ist jedoch mit der gnostischen und kosmischen Gerechtigkeitskonzeption einer absoluten Gleichheit keineswegs vergleichbar. Dass die Menschen in ihrer Beschaffenheit sowie in ihrem Handlungsvermögen unterschiedlich sind, entspricht laut koranischer Verkündigung Gottes Plan: „Er ist es, Der euch zu Nachfolgern (auf) der Erde gemacht und die einen von euch über die anderen um Rangstufen erhöht hat, damit Er euch mit dem, was Er euch gegeben hat, prüfe. Gewiß, dein Herr ist schnell im Bestrafen, aber Er ist auch wahrlich allvergebend und barmherzig.“ (Q 6:165)38 Die Umsetzung des islamischen Gleichheitsprinzips in der, augustinisch ausgedrückt, civitas terrena orientiert sich folglich an den Unterschieden der Menschen (in ihrer Verfasstheit) innerhalb der Gemeinschaft. Dabei hebt die islamische Ethik 36 Vgl. u.a. Q 5:8: „O die ihr glaubt, seid Wahrer (der Sache) Allahs als Zeugen für die Gerechtigkeit. Und der Hass, den ihr gegen (bestimmte) Leute hegt, soll euch ja nicht dazu bringen, dass ihr nicht gerecht handelt. Handelt gerecht. Das kommt der Gottesfurcht näher. Und fürchtet Allah. Gewiß, Allah ist kundig dessen, was ihr tut.“ 37 Aristoteles: Aristoteles' Nikomachische Ethik, S. 96ff. 38 Den Koranversen, die die Ungleichheit bei Belohnung und Bestrafung mit dem ungleichmäßigen Handlungswillen und der unvergleichbaren Leistung des Menschen rechtfertigen, wie etwa Q 40:58: „Nicht gleich sind der Blinde und der Sehende und auch nicht diejenigen, die glauben und rechtschaffene Werke tun, und der Missetäter. Wie wenig ihr bedenkt!” oder Q 6:132: „Für alle wird es Rangstufen geben, je nachdem, was sie getan haben. Und dein Herr ist nicht unachtsam dessen, was sie tun“, (vgl. hierzu auch u.a. Q 4:95; 5:100; 11:24; 13:16; 16:76; 39:9.) stehen zahlreiche Koranverse gegenüber, die die Ungleichheit bei der Schöpfung als Gottesplan verkünden, wie z.B. Q 43:32: „Verteilen etwa sie die Barmherzigkeit deines Herrn? Wir verteilen doch unter ihnen ihren Lebensunterhalt im diesseitigen Leben und erhöhen die einen von ihnen über die anderen um Rangstufen, damit die einen von ihnen die anderen in Dienst nehmen. Aber die Barmherzigkeit deines Herrn ist besser als das, was sie zusammentragen.“ (Vgl. hierzu u.a. auch Q 6:83; 12:76; 17:21.)

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teleologischer Prägung den utilitaristischen Charakter der Gerechtigkeit als Optimierung des Guten für die größte Anzahl der Gemeinschaftsmitglieder hervor (ʿumūm al-maṣlaḥa). Im Hinblick auf die Gestaltung des diesseitigen Lebens wird Gerechtigkeit theologisch durchaus als Tugend des Gläubigen gedacht. Diese wird nach rationaltheologischer Auffassung der Muʿtazila, wie übrigens alle menschlichen Tugenden, als Abbild göttlicher Gerechtigkeit verstanden. 39 Damit geht einher, dass die Ableitung rechtlicher Normen aus den Offenbarungsquellen an die unumstößliche Maxime gebunden werden muss, der zufolge Gott gerecht ist und nur im Sinne des Wohlergehens seiner Diener handelt und urteilt. 40 Diese Offenbarungswahrheit, die in Koran und der Sunna in Vorstellungen von Einheit und Gerechtigkeit Gottes, Warnung und Verheißung, Gnade und Vergebung des reuigen Sünders verkündet wird, gilt es bei az-Zamaḫšarī rational zu begreifen, ohne deren Inhalt auf eine weltlich-sinnliche Verstandesweisheit zu reduzieren. 41 Als erstes Zeichen göttlicher Gerechtigkeit ist die menschliche Willensfreiheit zu nennen, die für die Muʿtazila als Kriterium zur Rechtfertigung von Belohnung und Bestrafung beim Endgericht dient. Wie es aus dem muʿtazilitischen theologischen Prinzip „Verheißung und Drohung“ (al-waʿd wa-l-waʿīd) hervorgeht, wird der Mensch legitimerweise aufgrund seines ihm durch die Offenbarung vermittelten Wissens über die Konsequenzen seines Handelns zur Verantwortung gezogen.42 Nach der spätmuʿtazilitischen Lehre verstoße eine rein transzendentale Deutung 39 Gerechtigkeit zählt nach muʿtazilitischer Auffassung zu den sogenannten Wesenseigenschaften Gottes und dient als Berechtigungsprinzip göttlichen Gebots insofern, als sie die Maxime begründet, der zufolge die koranische Pflichtenlehre von den Menschen nur das verlangen würde, was sie Kraft ihres gottgegebenen Vermögens leisten können. Hier bietet sich ein Exkurs an: Im muʿtazilitischen Denken wird deswegen zwischen Wesenseigenschaften und Handlungseigenschaften Gottes unterschieden, um seine Einheit, Erhabenheit, Hoheit und Andersheit zu untermauern. Dieser Unterscheidung liegt die Analyse zugrunde, dass Eigenschaften, wie Wissen, Kraft, Wille oder Gerechtigkeit nicht vom Gotteswesen losgelöst gedacht werden können, weil sie sich aufgrund ihres beständigen rationaltheologischen Charakters von der Ewigkeit Gottes als untrennbar erweisen. Die aus Gleichnis zur menschlichen Sinneswahrnehmung erschlossenen Gotteshandlungseigenschaften, wie Sprache, Gehör oder Sicht, werden hingegen dem Erhabenen metaphorisch zugeschrieben, um Seine Wirkung auf die Lebenswelt in einer dem Menschen zugänglichen Sprache zu erklären. (Vgl. azZamaḫšarī: al-Minhāǧ fī uṣūl ad-dīn; al-Baqillānī: at-Taqrīb wa-l-iršād aṣ-ṣaġīr; Nasr Hamid Abu Zaid: Mafhūm an-naṣṣ. Dirāsa fī ʿulūm al-qurʾān; Tilman Nagel: Geschichte der Islamischen Theologie, München 1994, S. 107ff.) 40 Vgl. zur konzeptionellen Entwicklung unterschiedlicher muʿtazilitischer Denkströmmungen Sabine Schmidtke: „Neuere Forschungen zur Muʿtazila unter besonderer Berücksichtigung der späteren Muʿtazila ab dem 4./10. Jahrhundert“, in: Arabica XLV (1998), S. 379-381. 41 Vgl. az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ fī uṣūl ad-dīn, S. 27f. 42 Das Prinzip göttlicher Gerechtigkeit steht im Spannungsfeld zweier weiterer muʿtazilitischer Prinzipien, nämlich einerseits „Verheißung und Drohung“ und andererseits „Gebot des Guten und Verbot des Tadelnswerten“ (al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan al-munkar), deren Funktion es ist, die Legitimität des göttlichen Urteils zu untermauern. Ersteres erfüllt die jedem Gesetz inhärente Bedingung des Mitteilens. Im zweiten wird hingegen der für jede Gesetzgebung notwendige institutionelle Rahmen zum Ausdruck gebracht.

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göttlichen Rechts gegen das Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit, es müsse aber die Behauptung der Ǧabriyya hingenommen werden, dass Gott der Urheber menschlichen Handelns und daraus folgend auch verwerflichen Handelns sei. 43 Aus der früheren muʿtazilitischen Glaubenslehre wird folgendes Postulat überliefert: Gott kann das Übel nicht tun, weil Er es nicht will. Sünde und Leid sind Bestandteile menschlichen Handelns, die von Gott als Prüfsteine für die Menschen im Diesseits geduldet werden. Die Muʿtaziliten verweisen diesbezüglich auf Koranverse, wie etwa in Q 42:30: „Und was immer euch an Unglück trifft, es ist für das, was eure Hände erworben haben. Und Er verzeiht vieles“, um die Verantwortung des Menschen bei der Gerechtigkeitsfrage hervorzuheben. Laut muʿtazilitischer Auffassung bedeutet die Tatsache, dass Gott das Böse nicht aus der Welt beseitigt, keinewegs, dass Er missgünstig oder schwach wäre, sondern lediglich, dass Er den Menschen eine gewisse Willens- und Handlungsfreiheit gewährt, um sein Gerechigkeitsprinzip kundzutun. Die Frage einer transzendentalen Rechtfertigung des Übels wird dadurch relativiert. Die Interventionsfähigkeit Gottes in die Lebenswelt vollzieht sich auf einer für den Menschen unbegreifbaren Ebene, die eine lebensdienliche praktische Vernunft übersteigt und Werte wie Gnade, Barmherzigkeit oder Segen bzw. Heil (al-luṭf) bereitstellt. So heißt es nach Q 12:100: „Gewiß, mein Herr ist feinfühlig (in der Durchführung dessen), was Er will. Er ist ja der Allwissende und Allweise.“ Die Wirkung Gottes in die Lebenswelt vollzieht sich nach dem Qadariten Abū l-Huḏayl al-ʿAllāf (gest. 225/840) dadurch, dass sich Seine Seinsfülle auf die gesamte Schöpfung erstreckt, und folglich ein „zugrunde gehen“ der Welten verhindert. Mit Gottes Kraft können die Menschen im Diesseits aufgrund der endlichen Verfassung ihres Willens lediglich unvollkommene Handlungen ausführen, die erst im Jenseits ihre Vollkommenheit finden.44 Aufgrund seines freien Willens könne der Mensch mit Gottes Kraft eine Handlung selbst vollziehen oder unterlassen, da er dabei weder durch die anerschaffene Fähigkeit zu Handeln, noch durch die Kraft selbst zu einer bestimmten Handlung gezwungen werde. 45 Geleitet von einer vernunftmäßigen glaubenden Erkenntnis ließe sich das muʿtazilitische Denken von einer an dem Weltgericht orientierten Gerechtigkeit 43 Hellenistische und christlich-dogmatische Hintergründe der theologischen Lehren spekulativer Natur entfaltet ʿĀbid al-Ǧābirī in seinen Schriften zur frühislamischen Philosophie. Er stellt dar, dass die Lehren der Muʿtazila bis zur Epoche von al-Qāḍī ʿAbd al-Ǧābbār keinen direkten Einfluß der griechischen Philosophie oder der christlichen Dogmatik aufweisen. Die Koinzidenz von Platonismus und islamischer Rationaltheologie erblickt er in der Ausrichtung auf die Transzendenz der Existenz und der Ideenlehre. (Vgl. al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 154-156) Mehr Licht darauf werfen die neuen Editionen der Schriften der Muʿtazila (Vgl. Schmidtke: „Neuere Forschungen zur Muʿtazila unter besonderer Berücksichtigung der späteren Muʿtazila ab dem 4./10. Jahrhundert“, S. 392.) 44 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Šarḥ al-uṣūl al-ḫamsa, 131-136; Nagel: Geschichte der Islamischen Theologie, S. 107ff. 45 Die von Gott stammende Kraft zu handeln, ist potenziell und nimmt keineswegs die Form eines Zwanges an.

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prägen. Obgleich einige Juristen unter ihnen den Unterschied zwischen dem Ungläubigen, dem Sünder und dem schweren Sünder im Strafmaß beim Jüngsten Gericht hervorheben und dem bereuenden Sünder einen Erlass seiner Verfehlungen in Aussicht stellen.46 Diesem spekulativ-rationalen Gerechtigkeitsverständnis der Muʿtaziliten stand in der ašʿaritischen Theologie die Vorstellung einer göttlichen transzendentalen und menschliche Maßstäbe überschreitenden Gerechtigkeitskonzeption gegenüber.47 Im Gegensatz zur muʿtazilitischen Auffassung, der zufolge Gerechtigkeit als vernunftsmäßiger Denkinhalt zu den notwendigen Eigenschaften Gottes zählt, betonen die ašʿaritischen Theologen, dass Gerechtigkeit als transzendentales Konzept dem gerechten Willen Gottes entspringe, dem zufolge die Schöpfung nach Gotteswort gerecht sei. Die weltliche Gerechtigkeit spiegle lediglich den von den Menschen begreifbaren Teil der allumfassenden Gerechtigkeitssphäre des Erhabenen wider. Charakterzüge göttlicher Gerechtigkeit können nur teilweise durch menschliche Vernunft erfasst werden. Denn wenn der Erhabene die Sünder nach Maßstab ihrer Sünden bestrafen würde, so gelänge keiner in den Himmel. Den Weg zum Heil beschreibe die Stimme des Herzens. Aus Barmherzigkeit und Gnade werden alle Vergehen des Menschen erlassen, wenn er wahrhaftig umkehrt und authentische Hinwendung zu Gott zeige 48. Den Ašʿariten gelang es, durch diese Aussöhnung der transzendentalen und der weltlichen Gerechtigkeitskonzeption den Weg für eine glaubensorientierte Ethik zu ebnen, bei der die Verpflechtung menschlicher und göttlicher Sphären als Kontinuum zwischen Dies- und Jenseits verstanden wird.49 Während die spätmuʿtazili46 Nach Abū l-Huḏayl al-ʿAllāf (gest. ca. 221/841) schwebt der schwere Sünder zwischen Glauben und Unglauben, und darf infolgedessen nicht von der Glaubensgemeinschaft ausgestoßen werden. Sollte er keine wahrhafte Reue vor seinem Tod zeigen, so erhält er die ewige Strafe Gottes. (Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Šarḥ al-uṣūl al-ḫamsa, 137ff. sowie Vgl. al-Ašʿarī, Abū l-Ḥasan (gest. 324/935): Maqālāt al-islāmiyyīn, hg. von M. Muḥyī ad-Dīn Abd al-Ḥamīd, Beirut, al-Maktaba al-ʿaṣriyya, 1990, Bd. 1, S. 332f.) 47 Wie bereits im vorangegangen Teil dieser Arbeit dargelegt wurde, ist beim Umgang mit dem muʿtazilitischen Rationalitätsbegriff Vorsicht geboten. Es handelt sich hierbei nicht um eine apriorische Verstandesreflexion, welche gemäß ihrer logischen Urteilsformen lediglich auf das Erkennen des Endlichen und Abstrakten ausgerichtet ist. Die menschliche Vernunft dient, laut az-Zamaḫšarī, primär der Deutung herabgesandter Offenbarungswahrheiten. (Vgl. azZamaḫšarī: al-Minhāǧ fī uṣūl ad-dīn, S. 67). 48 Siehe (Q 5:39): „Wer aber bereut, nachdem er Unrecht getan hat, und es wiedergutmacht, so nimmt Allah seine Reue gewiss an. Allah ist allvergebend und barmherzig.“ 49 Was diese Konstellation für den Gerechtigkeitsbegriff islamischer Rationaltheologen bedeutet, lässt sich paradigmatisch an Abū l-Ḥassan al-Ašʿaris Ausführungen zur Sünde zeigen. Mit Rückgriff auf Q 39:53: „Sag: O Meine Diener, die ihr gegen euch selbst maßlos gewesen seid, verliert nicht die Hoffnung auf Allahs Barmherzigkeit. Gewiss, Allah vergibt die Sünden alle. Er ist ja der Allvergebende und Barmherzige.“ argumentieren ašʿaritische Theologen dafür, dass dem reuigen Sünder alle Sünden infolge der Aufrichtigkeit seines Umkehrens und seiner Hinwendung zu Gott erlassen werden. (Vgl. al-Ašʿarī, Abū l-Ḥasan: Maqālāt al-islāmiyyīn, Bd. 1, S. 231.) Wertkonservative Exegeten widersprechen dieser Deutung und ergänzen, dass die im o.g. Koranvers erwähnte Vergebung ausschließlich sündhaftes Verhalten bei gottesdienstlichen

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tische Theologie auf die Frage nach dem Leiden in der Welt (siehe bāb al-ālām) mit der Rückwendung der Gerechtigkeitsfrage an Gott antwortete und nach einer Rechtfertigung der Emanation des Übels aus göttlichem Handeln suchte, lehnten die Ašʿariten diese Umkehrung der Frage kategorisch ab und erklärten jegliche augenscheinliche Ungerechtigkeit Gottes mit der Unergründlichkeit seines Wirkens auf die Lebenswelt. So steht in Q 21:23: „Er wird nicht befragt nach dem, was Er tut; sie aber werden befragt.“50 Das bedeutendste Erbe, das die theologische Ethik der spätislamischen andalusischen Normenlehre hinterließ, ist indessen eine Idee der Gerechtigkeit, die nach heutigem Verständnis als bivalent zu bezeichnen wäre, insofern als sie sich zugleich an zwei gegenseitig ergänzenden ethischen Begriffen orientiert: einerseits an dem Gemeinwohl als eine Entfaltung der Fürsorge für den gesichtslosen Jedermann in der Gesellschaft51, andererseits an dem Anspruch einer Normenkonformität (Legalismus), in deren Gestalt als fiqh sich Gottes gewollte Gerechtigkeit in eine rein deontologisch konzipierte Pflichtenlehre aufzulösen scheint. Vom Standpunkt theologischer Erkenntnis aus führt die auf maqāṣid ausgerichtete Gerechtigkeitskonzeption zu der bedeutenden Einsicht, dass darin die dem islamischen Glauben eigentümliche Fürsorge sich nicht von dem Gleichheitsgebot abzulösen kann, wohlwissend, dass diese beiden Konzepte unterschiedliche Implikationen auf der Vollzugsebene aufweisen. Hermeneutisch gesehen stellt die Fürsorge dem Selbst einen anderen gegenüber, der ein Angesicht ist, während die Gleichheit ihm einen anderen zum gegenüber gibt, der ein Jeder ist. 52 Weil das Prinzip göttlicher Gerechtigkeit sich nicht immer als erkennbar erweist, können die Moral-und Rechtsnormen der šarīʿa nicht in ihrer Gesamtheit rational begründet werden. In Gott lösen sich alle Gegensätze menschlicher Realität auf. Getrieben von der Sorge um die Klärung des Verhältnisses zwischen maqāṣid und aḥkām und der eventuell daraus resultierenden Hürde für die selbstständige Urteilsfindung, wurde im angewandtem ẓāhiritisch beeinflussten postklassischen fiqh stets der Versuch Handlungen umfasst. Sünden, die durch Fehlverhalten den Menschen gegenüber entstehen, können nur nach deren Zustimmung vollends erlassen werden. 50 Die Deutung des Prinzips göttlicher Gerechtigkeit als eine an Gott gerichtete Frage nach einer Rechtfertigung des Leidens hat offenbar die rational angehauchte christliche Theologie der Renaissance unter den Problemtitel der „Theodizee“ gestellt. Felix Heidenreich erinnerte daran, dass die Theodizee-Frage im Christentum vor allem nach Naturkatastrophen wie dem sich in Lissabon 1755 ereigneten verheerenden Erdbeben eine ideengeschichtliche Bedeutung erlangte. (Vgl. Felix Heidenreich: Theorien der Gerechtigkeit, Stuttgart 2011, S. 64f.) Die soeben ausgeführte islamisch-theologische Diskussion zur göttlichen Gerechtigkeit hat gezeigt, dass, anders als von Edith Düsing angenommen, die Tradition des Islams die Theodizeefrage wohl im großen Stil zugelassen hat. (Vgl. Edith Düsing: „Hegels Philosophie der Liebe“, in: Theologie und Philosophie 88/1 (2013), S. 1-26.) 51 Vgl. Q 76:8 und 76:9. 52 Zum Verhältnis des Gerechten zum Guten vgl. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart; sowie u.a. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1975, S. 81-83.

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unternommen, dem juristischen Gerechtigkeitskonzept jeglichen teleologischen Grund zu entziehen und so den Rückgriff auf maqāṣid bei der Ableitung von Rechtsbestimmungen zu erschweren. Diesem Versuch widersetzte sich aš-Šāṭibī vehement, indem er den deontischen Status der šarīʿa von ihrer ethischen Ausrichtung abhängig machte. Der dem Normensystem von fiqh inhärente Blick auf die Seite des Legalen steht mit der Ausrichtung auf das durch maqāṣid definierte theologische Gemeingut in einer Wechselbeziehung. Die soeben genannten Bestimmungsmerkmale der Legalität und der Ausrichtung auf Gemeingut entspringen aus den Grundprinzipien von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, in denen der innere Sinn der šarīʿa zum Ausdruck kommt.53 Somit werden Barmherzigkeit und Fürsorge nach Ibn Qayyim zu maßgebenden Kriterien theologisch-ethischer Urteilsfindung. Als eine der bedeutendsten weltlichen Rechtsquellen bietet sich nach aš-Šāṭibī ebenfalls die Sittlichkeit einer Gemeinschaft an. Die Ausrichtung auf das Gemeinwohl bietet den ethischen Rahmen für eine umfassende Moral- und Rechtsvorstellung, bei der das Verhältnis zwischen Legalität im Sinne einer Ordnungskonformität und Legitimität als Garant der Sinnhaftigkeit der Gesetzgebung für das menschliche Wohlergehen konstitutiv im Prozess der Normenableitung mitwirkt. Diesem Verständnis zufolge stellt fiqh nur eine begrenzte, wenn auch berechtigte und sogar unumgängliche Verwirklichung der šarīʿa-ethischen Ausrichtung dar, die im maqāṣid-Begriff als einer der bedeutendsten Quellen der Normableitung ihren Ausdruck findet.

53 Exemplarisch dafür ist etwa Ibn Qayyims umfassende Definition zur Ausrichtung der šarīʿa: „Die Grundlage der šarīʿa und deren Unterbau bestehen aus der Weisheit von Gottes Geboten sowie aus [der Wahrung] des Gemeinguts der Gläubigen im diesseitigen wie im jenseitigen Leben. Die [šarīʿa] ist in ihrer Gesamtheit [und ihrem Wesen nach Sinnbild] für Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Weisheit.“ (Ibn Qayyim: Iʿlām al-muwaqqiʿīn ʿan rabb al-ʿālamīn, Bd. 4, S. 337; vgl. Muḥammad ʿAllāl al-Fāsī: Maqāṣid aš-šarīʿa al-islāmiyya wa-makārimuhā, S. 50; sowie u.a. Sayyid Quṭb: al-ʿAdāla al-iǧtimaʿiyya fī l-Islām, 14. Aufl., Kairo 1995.)

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7. Schlusswort und Ausblick Die vorangegangenen Ausführungen wagen den Versuch anhand einer modernen Relektüre von aš-Šāṭibīs Werk al-Muwāfaqāt die grundlegendsten und bedeutendsten ethischen Prinzipien des Korans innovativ herauszuarbeiten. Das Ziel der vorgenommenen hermeneutischen Entschlüsselung der theologisch-moralischen Begriffe aus aš-Šāṭibīs Rechtsdenken besteht primär in der Ausarbeitung eines ethischen Systems, das genuin koranischen Ursprungs ist. Die in der vorliegenden Abhandlung skizzierte hermeneutische Ausarbeitung des islamisch-theologischen Erbes erhebt gleichermaßen einen erkenntnistheoretischen sowie einen sozialethischen Anspruch. Die mit der textwissenschaftlichen Analyse ethischer Begriffe einhergehende Veranschaulichung der Bedeutungstiefe der theologischen Tradition im Islam offenbart einerseits das Potential dieser Tradition, sich in den zeitgenössischen Methodenkontroversen zu Untersuchung tradierter Offenbarungstexte aktiv und ingeniös zu beteiligen. Andererseits weist das islamischtheologische Erbe durch seine Aufgeschloßenheit gegenüber philosophischer Vernunftreflexion zu Moral und Ethik Grundzüge einer universalen Sozialethik auf, deren Relektüre und Rekonstruktion einen grundlegenden Beitrag zur Beantwortung kontroverser Fragen interreligöser und pluraler Gesellschaftsformen leisten kann. Die Dialogfähigkeit der islamischen Theologie wird nicht zuletzt durch deren Charktereigenschaft hervorgehoben, dass der Islam, wie Hansjörg Schmid zurecht hinwies, „anders als die christlichen Kirchen keine lehramtlichen Nominierungsinstanzen kennt“1 und per se sich eines breitgefächerten Pluralitätsbegriffs bedient. Die Dialogfähigkeit und die Akzeptanz der Andersheit, die der Methodenvielfalt in der islamischen theologischen Tradition als Grundlage dienten, mögen heute aufgrund der Berufung orthodoxer Strömungen auf einen ritualistischen Islam, deren Aufgabe eher in der Rechtfertigung des Rückgriffs auf Gewalt oder in der Mobilisierung der Maßen als in der Ausarbeitung einer Theologie definiert wird, in den Hintegrund geraten. Dies ist jedoch lediglich das Resultat der gescheiterten Etablierung eines akademischen theologischen Diskurs, der in der Lage wäre, sich den neuen Herausforderungen des wissenschaftlichen Denkens zu öffnen. Es dürfte nach dem in dieser Arbeit präsentierten Zusammenschau grundliegender Ethikbegriffe deutlich geworden sein, dass die koranische Botschaft nicht nur explizite Weisungen zum Verhältnis von Heiligem und Profanem liefert, sondern in die Tiefen der individuellen Subjekte hinabsteigt, „um den Glauben an Gott, den Einen und Einzigen, zu verwurzeln, um ausgehend von diesem Glauben ein geistiges Leben zu begründen, das zum Ausdruck bringt, dass die Menschen 1

Hansjörg Schmid: Islam im europäischen Haus, Herder, 2012, S. 534.

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Schlusswort und Ausblick

weder bloße biologische Wesen sind noch einfache Rädchen, die im Räderwerk brudermörderischer Kämpfe entfesselt werden. Der Islam ist vor allem silm, d.h. Frieden, jener des Herzens, der inneren Heiterkeit und des Friedens unter den Völkern.“ 2 Hierin liegen die höchsten Absichten des Korans, welche von aš-Šāṭibī durch seinen fünf ethischen Maximen rational und theologisch kontextbezogen erläutert wurden. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die muslimischen Gelehrten fiqh stets als menschliches Bemühen, das Wort Gottes vernunftmäßig und gleichermaßen glaubensorientiert zu verstehen, bei dem der Anpassung und Wandelbarkeit menschlicher Lebenswirklichkeit mehr Raum und Gewicht eingeräumt werden als den vorgeschriebenen rituellen Praktiken. Im Blick auf theologisch-ethische Grundfragen und ihre Relevanz für die moderne Korandebatte können im Folgenden noch weitere Kerngedanken quer zu den einzelnen Themeneinheiten festgehalten werden. Auf verschiedenen Ebenen der Auseinandersetzung mit der islamischen Rechtstradition wurde die Wahrnehmung einer reziproken Beziehung zwischen weltlicher und göttlicher Ethik erkennbar. Dabei wurde der Verantwortungsbegriff in religiösen, sozialen und moralischen aufgefächert. Vielversprechend erweist sich dabei der Vesuch der islamischen Ethik, Gottesgebote rational zu begründen. Unter dem Aspekt rationaler Begründbarkeit religiöser Pflichten hebt die islamische Rechtstradition bewusst die Wechselbeziehung von Vernunft und Glaube hervor und streitet somit die Kluft zwischen dem Religiösen und dem Profanen ab. Selbstachtung und Respekt des Familien- und Gesellschaftsbundes usw. sind genauso achtungswürdig wie der Artikel der Glaubensbezeugung. Der Verhältnisbestimmung ethischer Maxime steht nach aš-Šāṭibī eine intertextuelle Betrachtungsweise der Quellen islamischer Rechtsprechung, nämlich das Wort Gottes (Koran), die Worte, Handlungen und stillschweigenden Zustimmungen des Propheten Muḥammad (sas) (Sunna), der Konsens der Gelehrten (iǧmāʿ) und der Analogieschluss (qiyās), gegenüber. Aš-Šāṭibī verweist hierbei auf die Gefahr, die Quellen der Rechtsprechung als vier separate, unabhängige Quellen zu betrachten, da sie alle herangezogen werden, um der göttlichen Beurteilung so nah wie möglich zu kommen. Der Koran hebt zudem hervor, dass es nur eine gesetzgebende Autorität gibt (Q 6:63). Diese Gesetzgebung bleibt allerdings theologischer Prägung und ist in den ethisch-moralischen Bereich zu verorten. Durch die Unterscheidung göttlicher und menschlicher Kausalitäten wird in der islamischen Moral- und Rechtsvorstellung der weltlichen Gesetzgebung einen besonderen eigenständigen Wirkungsbereich eingeräumt. Die besondere Stellung weltlicher Jurisprudenz und die Eigenständigkeit ihres Wesens wird nicht zuletzt durch die Annahme erkennbar, dass das Beenden einer weltlichen kausalen Handlungskette, die die Grundlage einer moralischen bzw. juristischen Urteils-

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Mohamed Aziz Lahbabi: Der Mensch: Zeuge Gottes, S. 194-195.

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findung bildet, eher eine Sache menschlicher Entscheidung und Abwägung als eine Gelegenheit der offenbarten Feststellung ist. Die Hypothese einer rationalen Begründbarkeit religiöser Pflichten, welche dem Kerngedanke einer Trennung zwischen religiösem und weltlichem Recht zugrunde lag, wurde allerdings nicht von allen islamischen Denkströmungen angenommen. Dies zeigt, dass die Theolgie sich mit einem rein rationalen Ethik- und Rechtsbegriff schwer tat. Diese Überzeugung beruht auf einer diskursethischen These, welche besagt, dass ein apriorischer Rationalitätsbegriff, wie der der philosophischen Ethik und der Muʿtaziliten, keine theologisch annehmbare Moralbegründung erlaubt. Ethiktheorien, die sich eines weiteren diskursorientierten Rationalitätsverständnisses bedienen, verheißen hingegen, das Paradoxon zu lösen, indem sie Hypothesen aufstellen, die sich aus der Perspektive einer Wechselbeziehung zwischen Offenbarungsurheber und Offenbarungsempfänger, bzw. zwischen Textbedeutung und Textdeutung begründen lassen und einer theologisch-ethischen Argumentation näherstehen. Gemäß seiner Botschaft von universeller Tragweite ruft der Koran religiöse Motivation hervor, deren Gültigkeit nur durch die Verbindung mit der sozialen Wirkung erfolgen kann. Glaube und Gesetz werden bei dieser Vorstellung gleichgestellt. Zwar betont die Glaubenserkenntnis, dass der Koran die Vernunft in hohen Ehren hält und sie oftmals adressiert, jedoch schlussfolgert sie, dass in Abwesenheit eines offenbarten Nomos der Mensch nicht in der Lage sei, zwischen dem höchsten Guten und dem radikal Schlechten zu unterscheiden oder gar ewig gültige ethische Gesetze zu erlassen, da sowohl die Komplexität der menschlichen Handlungswirklichkeit als auch die Antizipation auf essentielle Handlungsziele sich für den Verstand als unergründlich erweisen. Diesem Verständnis zufolge wird die Offenbarung von einer besonderen humanistischen Tendenz geprägt, nämlich von jener, die „nicht in ein blindes prometheisches Streben verfällt“ und den Glauben an Gott, den „obersten Garanten des Gleichgewichts und der Ordnung im Universum“3, als etwas betrachtet, was der Vernunft vorausdenkt.

Spricht man der Vernunft nun die Möglichkeit der Fehlbarkeit zu, ist festzustellen, dass es unentbehrlich ist auf eine höhere Autorität zurückzugreifen, die die Angelegenheiten bestimmt und dem Menschen zu erkennen gibt, wobei die menschliche Vernunft es selbst ist, die einem vorschreibt sich der höheren Macht, d.h. Gott, hinzugeben, da sie begreift, dass niemand bewanderter im Recht und fähiger sein kann, die Bedürfnisse seines Geschöpfs zu kennen, als derjenige, der das Gesetz erließ und den Menschen schuf. Das aus der Theorie der Vereinbarkeit von Offenbarung und Vernunft hervorgehende doppelte Engagement, Glaube und Gesetz gleichmäßig zu beachten, läuft auf die Wahrung des Gemeinguts als Endziel hinaus.

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Mohamed Aziz Lahbabi: Der Mensch: Zeuge Gottes, S. 194.

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Da die koranische Ethik aber Ergebnis eines komplexen Ableitungsprozesses ist, bei dem sich menschliches Wissen und göttliche Erleuchtung als unabdingbare Voraussetzungen erweisen, ist eine Reflexion über das Wesen des menschlichen Willens als Gegenpol zur glaubenden Erkenntnis unumgänglich. Eine hermeneutisch begründete Unterteilung der Tugenden und der Güte in ihrem Verhältnis zum Verantwortungsbegriff kann bei der Definition von individuellem und gemeinschaftlichem Abhilfe schaffen. Als Teil der Schöpfung ist der Mensch mit allen geschaffenen Wesen solidarisch verbunden. Laut Q 22:65 wurde alles erschaffene auf der Welt dem Menschen anvertraut und seiner Vormundschaft unterstellt, „unter der notwendigen Voraussetzung, als Gemeingut der gesamten Menschheit verstanden werden zu können.“4 Die menschliche Vorsorgepflicht nimmt durch die Wahrung des Gleichgewichts zwischen den ethischen Maximen: Schutz des Glaubens, Schutz des Selbst, Schutz des Intellekts, Schutz der Familie und Schutz des Besitzes eine konkrete Gestalt an. Dreh- und Angelpunkt dieses Gleichgewichts ist die Beziehung zwischen Schutz des Glaubens und Schutz des Selbst, die die Grundlage der Ausarbeitung einer ethischen zurechnungsfähigen Selbstheit darstellt. Unter diesem ethischen Gesichtspunkt sollen die Gebote und Verbote im Koran als deontologische Sachmomente im sittlichen Urteil hinsichtlich ihres Verhältnisses zum teleologischen Charakter der ethischen Maximen angesehen werden. Hinsichtlich der islamischen Pflichtenlehre führt diese Erkenntnis zur Schlussfolgerung, dass im Koran nicht etwa Entitäten oder Einzeldinge, wie etwa Sexualität, Musik, Alkohol, bestimmte Speisen, verboten oder geboten sind, sondern vielmehr die Verhältnisse, die die Menschen im Geflecht sozialer Interaktion zu diesen Entitäten unterhalten, die zu einem gebotenen Nutzen oder einem verbotenen Schaden führen können. Gesellschaftlich gesehen ist es erforderlich im normativen Auslegungsprozess der Offenbarung über die Verortung der theologischen Ethik zwischen dem sittlichsozialen Zwang einerseits und der Kraft der gesetzgebenden menschlichen oder göttlichen Instanz zu reflektieren. Es stellt sich zudem die Frage, auf welche Ebene die islamische theologische Ethik heute im angespannten Verhältnis zwischen der Moralität der Masse als Ergebnis des kollektiven Zwangs und dem Streben der Obrigkeit nach Wolfahrtsideal ansetzen soll. Hierzu wurde im Rahmen dieser Arbeit auf den spirituellen Aspekt koranischer Normativität hingewiesen, die dem Individuum unabhängig von der bloßen Konformität sozialer Vorschriften erlaubt, durch seelische Erbauung und Entfaltung seiner narrativen Identität die Bewahrung seiner Selbstheit in einer dialogischen und kritikfähigen Beziehung zur Gesellschaft anzustreben. Doch um einerseits das Individuum zu bewahren, es andererseits aber einzuschränken, sodass vorhergenanntes vermieden wird, mahnt der Koran vielfach vor den beiden Feinden der Moralität: die Verfolgung impulsiver Begierden und die blinde Nachahmung (Q 2:170). Folglich muss dem individuellen Element der 4

Mohamed Aziz Lahbabi: Der Mensch: Zeuge Gottes, S. 196.

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Rationalität zugesprochen werden, sodass die reflektierende aktive Seele in der Lage ist, moralisch zu sein. Der nafs-Begriff bleibt also Dreh- und Angelpunkt der koranischen Ethik, was jeglicher Auseinandersetzung mit der islamischen Normenlehre per se komplex macht. Will man die Disziplinen, die sich mit der islamischen Normenlehre auseinandersetzen einem bestimmten Wissenschaftsbereich zuordnen, welcher in Übereinstimmung mit ihrem vorherrschenden Gegenstand stehen würde, so kann man feststellen, dass es im Falle der koranischen Ethik nicht möglich ist, diesen Wissenschaftsbereich einseitig zu betiteln, da es das individuelle, soziale, menschliche und göttliche in unnachahmlicher Weise verbindet. Will man dennoch diesem Normensystem einen Namen geben, der dem theologischen Diskurscharakter gerecht werden kann, so scheint die Frömmigkeit (taqwā) der Dreh- und Angelpunkt zu sein, wobei taqwā als ein reiner Glaubensinhalt, Hochachtung gegenüber dem göttlichen Gesetz ausdrückt, welche die beiden extremen Gefühle der Liebe und Furcht zu vereinen und abzuschwächen versucht, sodass sie in der Lage ist, zu einer moralischen Handlung anzuregen oder von ihr fernzuhalten. Das wahre Wesen von taqwā offenbart die ethische Natur von Gotteswort, in dem vielerorts auf Tugend und Gemeinwohl als Wege zur Glückseligkeit hingewiesen wird (Q 68:4). Dies bringt uns nun zu einem Ausblick, mit dem die Arbeit enden möchte. Die theologisch-ethische Botschaft des Korans ist, damals wie heute, nur durch eine glaubensorientierte Vorstellung des Sakralen zugänglich, welche den Denkinhalt des Sprachzeichens im Offenbarungsdiskurs maßgeblich prägt. Dem Imaginären als Bestandteil göttlicher Symbolsprache muss dabei Rechnung getragen werden. Die moderne Geschichte der Bibelhermeneutik hat trotz der Vorherrschaft des positivistischen Wissenschaftsgeists der Postmoderne bewiesen, dass eine wissenschaftliche Reflexion über die Offenbarung nicht unbedingt auf eine Entsakralisierung bzw. Entmythologisierung des Wort Gottes hinausläuft. Die Anwendung neuerer hermeneutischer Interpretationsmethoden auf den Offenbarungstext geht laut Arkoun mit der Gefahr einer Verfremdung seiner ethisch-spirituellen Botschaft einher.5 Der heutige Aufruf zu einer theologisch-gerechten Lektüre des Korans mit wissenschaftlichem Anspruch steht vor der Herausforderung, die geistigen Distanzen, sowohl zwischen unserem heutigen säkularen Sprachverständnis und der Sprache des Korans als auch zwischen dem Koran als Rezitation und als schriftlich niedergelegtem Buch, wenn nicht zu überwinden, so doch zu mindern.6 5 Mohammed Arkoun: Ouvertures sur l’Islam, Paris 1989, S. 65. 6 Die Schwierigkeiten, die mit einer solchen Interpretation verbunden sind, umschreibt Arkoun wie folgt: „Notre culture ne peut plus se mouvoir dans cet univers qu’elle qualifie de magique, superstitieux, irréal, irrational, imaginaire, fabuleux, légendaire: tout un vocabulaire qui traduit la différence, le rejet, l´éloignement, la disqualification plutôt que l’intégration dans une intelligibilité compréhensive, c’est-à-dire qui accueille la totalité des faits et phénomènes offerts à l’analyse.“ Arkoun ist es ein zentrales Anliegen, „dévoiler des significations dans réduire le

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Den Koran bewusst zu lesen bedeutet, sich seine imaginären Dimensionen anzueignen, welche sich vor allem in seiner Poesie und in der von ihr ausgehenden suggestiven Wirkung äußern. Das Gotteswort zu verstehen bedeutet, sich mit der ästhetischen Struktur des Korans im Sinne eines Glaubensbeweises des Islams auseinanderzusetzen, um auf dieser Grundlage die ethischen Prinzipien im Sinne einer gläubigen Selbstheit abzuleiten7. Bereits in der klassischen Mystik bestand die spirituelle Macht des Korans darin, dass seine kraftvolle Poesie während der Rezitation bei den Muslimen ein Gefühl der Gegenwart Gottes auslöste – und zwar, ähnlich wie bei den biblischen Psalmen, nicht nur im Sinne einer seelischen Erbauung, sondern auch im Sinne einer seelischen Reinigung. Das Schöne, Gute und Wahre wird demnach in der koranischen „Poesie“ zusammengeführt. Seit den Anfängen der Koranexegese (Ende des 2./8. Jahrhundert) wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, inwiefern die Unterscheidung zwischen mekkanischer und medinensischer Suren einer theologischen Orientierung für Lesart und Verständnis ethischer Weisungen des Korans als Grundlage dient. Die metrischen, rhetorischen und semantischen Besonderheiten mekkanischer Suren standen stets im Mittelpunkt der Argumentation derer, die den mekkanischen Offenbarungen eine gewisse theologische und normative Universalität zusprachen. Die zeitgenössische Koranhermeneutik sieht heute den Ausweg aus der Patsituation moderner Missdeutungen und fehlerhafter Lesarten des Korans in eine Neubewertung der alten Aufteilung in mekkanisch und medinensisch und begründet diesen Vorgang mit dem gleichermaßen spirituellen und liturgischen Charakter des mekkanischen Korans. Die islamische theologische Ethik unterstreicht ihrerseits den spirituellen Anspruch mekkanischer Offenbarung mit Hinweis auf Koranverse der mekkanischen Phase, wie etwa Q 5:105 oder 74:38, welche klare Züge einer Gesinnungsethik aufweisen. Das Hauptmerkmal mekkanischer Offenbarung liegt in dessen Entfaltung einer Glaubenssemantik, welche aus dem neuen metaphorischen Sprachgebrauch von Wörtern und Aussagen im Glaubensdiskurs hervorgeht. Die Umwandelung des empirischen Selbst vollzieht sich zunächst in einem transzendentalen Sprachgebrauch. Die neue Glaubenswelt bedient sich einer verfremdenden Symbolik, in der die Erwartungshorizonte neuaufgestellt werden. Der Prozess der abweichenden und theologisch gefärbten Verwendung von Wörtern und rhetorischen Bildern erreichte seinen Höhepunkt in der Mitte der mekkanischen Phase der Offenbarung. So wird zunächst auf die Verfremdung bekannter kaufmännischer Denkinhalte zurückgegriffen. Das in den mekkanischen Suren eingeleitete Gemeinwohl kann nur in der ontologischen Sphäre des Glaubens nachvollziehbar sein, in der das Selbst per se als transitive Entität wahrgenommen wird. Dies bedeutet, dass die vom Koran mystère, le caractère ineffable de ce qui est dévoilé, montrer sans démontrer ni mettre hors circuit les moyens de la connaissance.“ (Ebd., S. 78.) 7 N. Kermani: Gott ist schön, C.H. Beck, München 1999, S. 85.

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vorausgesetzte Fürsorge nicht von Außen zum Selbst hinzukommt, sondern vielmehr als integrativer Bestandteil des Selbst verstanden wird. Das enge Verhältnis zwischen Fürsorge und Selbstheit lässt sich aus dem schöpfungstheologischen Begriff des gemeinsamen einheitlichen Ursprungs des Menschen erschließen, der im Koran als Grundsatz des Glaubens betrachtet wird. „O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, Der euch aus einem einzigen Wesen Selbst schuf, und aus ihm schuf Er seinen Gegenüber und ließ aus beiden viele Männer und Frauen sich ausbreiten. Und fürchtet Allah, in Dessen (Namen) ihr einander bittet, und die Verwandtschaftsbande. Gewiß, Allah ist Wächter über euch.“ (Q. 4:1) Anders als in der philosophischen Ethik der Antike, in der die Rede nur von einem Guten für „uns“ sein kann, setzt die koranische Glaubenslehre einen unerschöpflichen und für die Gemeinschaft allgemeingültigen Gebrauch des Prädikats „gut“ voraus. In den mekkanischen Offenbarungen kann das „wahre“ Wohlergehen und das höchste Gut (maslaha mu’tabara) nur durch den Verzicht auf individuellen und am Privatnutz orientierten Gut erreichbar sein. Das soziale Gemeinwohl ist hingegen ein Ausdruck und Erscheinungsform des höchsten Gutes. Die koranische Güterlehre umfasst gleichermaßen sogenannte „sittliche“ und „präsittliche“ Güter. Die präsittlichen Güter, welche unabhängig vom persönlichen Denken und Wollen existieren, gelten als universal und sind überwiegend den mekkanischen Suren zuzuordnen. Die sogenannten „sittlichen“ Güter sind diejenigen, die dem verantwortlichen menschlichen Handeln im Lebensvollzug zur Beachtung aufgegeben werden. Diesen letzteren liegen Koranverse der medinensischen Phase und eine reichhaltige Hadithliteratur zu zivilrechtlichen Fragen, wie z.B. Eheschließung, Ehescheidung, Verhalten im Kriegszustand, Umgang mit Apostasie etc. zugrunde. Das medinensische Konzept des Guten, das sich im Laufe der islamischen Geschichte durchgesetzt hat, ist eher juristischer Natur und wird der Konformität zum Gesetz gleichgestellt. Das wahre Wesen des Gemeinwohls im Koran geht allerdings überwiegend aus dem uneingeschränkten humanistischen Anspruch hervor, demzufolge das Wohlergehen als Erfüllungsgestalt des Selbst anzusehen ist. Das Streben nach Glückseligkeit geht, laut koranischer Glaubenssemantik, nur in Erfüllung durch die Wahrnehmung der Fürsorge-Pflicht gegenüber dem Anderen, dem gesichtslosen Jedermann.

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Personenverzeichnis ʿAbd al-Ǧabbār, al-Qāḍī (gest. 415/1024) 13, 23 ʿAbd ar-Raḥmān, Ṭaha 6, 7, 10, 22, 30, 34, 75, 76, 129 ʿAbdallāh ibn Masʿūd (gest. 32/652) XII Abu Zaid, Nasr Hamid 2, 34 ʿAlī ibn Abī Ṭālib (gest. 40/661) XI ʿAllāf, Abū l-Huḏayl al- (gest. ca. 221/841) 189, 190 Arendt, Hannah 86, 104, 115 Arkoun, Mohammed 2, 197 Assmann, Jan 169 ʿAṭāʾ, Wāṣil ibn al- (gest. 131/748-9) 104 Avempace Siehe Ibn Bāǧǧa Averroes Siehe Ibn Rušd Avicenna Siehe Ibn Sīnā Bāqillānī, Abū Bakr Muḥammad ibn aṭṬayyib al- (gest. 403/1012) 13, 14, 15 Baṣrī, Abū l-Ḥusayn al- (gest. 436/1044) 13, 88, 95 Bazdawī, Abū l-Yusr al- (gest. 493/1100) 14 Brunschvig, Robert 112, 160 Danto, Arthur 185 Dāwūd ibn ʿAlī (gest. 270/884) 58 Ess, Josef van 24, 45 Fārābī, Abū Naṣr Muḥammad al- (gest. 339/950) 4, 5 Fischer, Johannes 2, 143, 154 Ǧābirī, Muḥammad ʿĀbid al- 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 18, 30, 34, 69, 70, 89, 189 Ǧāḥiẓ, ʿAmr ibn Baḥr al- (gest. 255/868) 70 Ġaylān ad-Dimašqī (gest. 114/732) 25 Ġazālī, Abū Ḥāmid al- (gest. 505/1111) XIII, 4, 8, 9, 12, 13, 14, 17, 18, 48, 61,

64, 68, 81, 82, 83, 84, 85, 88, 90, 93, 94, 99, 100, 111, 117, 128, 136, 152, 159, 185 Ǧuwaynī, Abū l-Maʿālī al- (gest. 478/1085) 11, 12, 13, 16, 17, 39, 41, 61, 79, 80, 81, 101, 137, 177 Hallaq, Wael B. 2 Ḥasan al-Baṣrī, al- (gest. 110/728) 24, 104 Hegels, Georg W. F. 28, 29, 89, 111 Heidegger, Martin 126 Ibn ʿAbbās, ʿAbdallāh (gest. 68/687) XI, XII, XIII Ibn ʿAbd as-Salām (gest. 660/1262) 61, 110, 117 Ibn Abī Uṣaybiʿa (gest. 668/1270) 8 Ibn al-Anbārī, ʿAbd ar-Raḥmān ibn Muḥammad (gest. 577/1181) 42 Ibn al-Ḥāǧib (gest. 646/1248-9) 11 Ibn al-Mubārak (gest. 181/797) 24 Ibn al-Muqaffaʿ (gest. 139/756) 4 Ibn al-Muʿtazz (gest. 296/908) 69, 70 Ibn al-Qaṣṣār (gest. 397/1006) 11 Ibn ʿAqīl, Abū l-Wafāʾ (gest. 513/1119) 20 Ibn ʿArabī, Muḥī d-Dīn (gest. 638/1240) 4, 30, 128 Ibn ʿAsākir, ʿAlī ibn al-Ḥasan (gest. 571/1176) 25 Ibn Bāǧǧa (gest. 532/1138) 5, 8 Ibn Ḫaldūn (gest. 808/1406) 13, 15, 38, 70, 71 Ibn Ḥazm (gest. 456/1064) 50, 51, 58, 59, 60, 61, 62, 65, 66, 67, 68, 73 Ibn Qayyim al-Ǧawziyya (gest. 751/1350) 30, 81, 108, 154, 192 Ibn Rušd (gest. 595/1198) 4, 28, 29, 68

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Anhang

Ibn Sīnā, Abū ʿAlī (gest. 418/1037) 4, 23, 138 Ibn Taymiyya, Taqī ad-Dīn (gest. 728/1328) 80, 81 Ibn Ṭufayl (gest. 581/1185) 5 ʿĪsā ibn al-Abān (gest. 221/835-6) 56 Isḥāq Ibn Wahb (gest. 292/305) 69, 70 Isnawī, ʿAbd ar-Raḥmān al- (gest. 772/1370) 61 Kaffāwī, Abū al-Baqāʾ al- (gest. 1094/1683) 161, 162 Kant, Immanuel 83, 84, 85, 86, 89, 91, 96, 97, 100, 104, 136, 137, 138, 139, 157, 159, 182, 183, 184, 185 Kindī, Abū Yaʿqūb ibn Isḥāq al- (gest. 259/873) 4 MacIntyres, Alasdair 168 Māwardī, Abū l-Ḥasan al- (gest. 450/1058) 8 Miskawayh, Abū ʿAlī (gest. 421/1030) 4, 8, 9 Muǧāhid ibn Ǧabr (gest. 104/722) XIII, 146 Muḥāsibī, al-Ḥāriṯ al- (gest. 243/857) 9, 24 Pannenberg, Wolfhart 27, 100 Qaraḍāwī, Yūsuf al- 119, 133, 135, 147, 173 Qarāfī, Šihāb ad-Dīn al- (gest. 684/1285) 41, 46, 61, 172

Rāġib al-Iṣfahānī ar- (gest. nach 409/1018) 8, 9 Rāzī, Abū Bakr ar- (gest. 313/925) 5 Rāzī, Faḫr ad-Dīn ar- (gest. 606/1210) XIII, 31, 36, 40, 44, 51, 52, 53, 54, 56, 57, 58, 83, 87, 88, 99, 101, 116, 117, 128, 129, 130, 185 Ricoeur, Paul 49, 66, 89, 122, 123, 124, 125, 136, 139, 158, 179, 181 Šāḏilī, Abū l-Ḥasan aš- (gest. 656/1259) 117 Šāfiʿī, Muḥammad ibn Idrīs aš- (gest. 204/820) 12, 20, 21, 53, 78, 79, 81, 133 Šaybānī, Muḥammad ibn al-Ḥasan aš(gest. 189/805) 21, 24, 135 Sībawayh (gest. ca. 180/796) 45 Suyūṭī, Ǧalāl ad-Dīn as- (gest. 911/1505) 42 Ṭabarī, Muḥammad ibn Ǧarīr aṭ- (gest. 310/923) XIII, 80, 146 Tödt, Heinz E. 33, 87, 94, 107, 112, 125, 126 Ṭūfī, Naǧm ad-Dīn aṭ- (gest. 716/1316) 95, 133 Ubayy ibn Kaʿb (gest. 30/651) XI Zamaḫšarī, Muḥammad ibn ʿUmar az(gest. 538/1143) XIII, 23, 188, 190

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Glossar ʿābiṯ (willkürlich in die Lebenswelt wirkend) ʿādāt (Sitten) aġrāḍ (Ziele/ Motive) aḥkām (Moral- und. Rechtsnormen) ahliyya (Fähigkeit) ahwāʾ (Begehren) aḥwāl (Umstände) al-adilla aš-šarʿiyya (normative Quellen) al-aḥkām aš-šarʿiyya (Moral und Rechtsnormen) alam (Schmerz/Qual) al-asmāʾ aš-šarʿiyya (juristischer Termini) al-kulliyāt al-ʿāmma (generelle Prinzipien) al-kulliyāt an-naṣṣiyya (Universalbestimmungen) al-maṣāliḥ aš-šarʿiyya (das rechtlich Gute) al-quwwa aš-šahwāniyya (der Kraft der Triebe) al-ʿumūm wa-l-iṭṭirād (Generalisierung und Regelmäßigkeit), ʿāmil (Regent), naql (Überlieferung, Tradition, Text) ʿaraḍ (Akzidenz) ar-raʾy al-maḥḍ (der reinen Vernunft) asbāb an-nuzūl (Offenbarungsalässe) aṣl (Grundsatz) taʿlīl (Begründung) aṯ-ṯubūt min ġayr zawāl (Konstanz und Beständigkeit) bayān (Eloquenz) bayān bāṭin (implizite Eloquenz) bāṭin (implizit) binyat al-ḥukm aš-šarʿī (Struktur der Rechtsnormen) burhān (Vernunft) dalīl (normative Quelle) ḍarūriyāt (notwendigen Bedingungsgrundlagen, lebensnotwendige ethische Maxime) faḍīla ; Pl. faḍāʾil (vollkommene bzw. noble Handlung) fāʿil (Handelnder) fann (Kunst) faraḥ (Glück, Freude) fiʿl (Handlung) fiqh (islamische Normenlehre) fiqh al-ḫilāf (Wissenschaft bzgl. der juristischen Kontroversen) fiṭra (Anerschaffenheit) fuqahāʾ (Juristen) furūʿ (Spezifizierung)

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ġaraḍ al-fiʿl (Handlungsmotiv) ǧawhar (Substanz, Essenz) ǧuzʾiyya (spezifisch) ǧuzʾiyyāt (nebensächliche Dinge) ḫabar (informative Aussage oder feststellende Aussage) ḥadaṯ (Ereignis) ḥāǧiyāt (bedürfnisbezogene Faktoren) ḥakīm (weise ) ḥākim lā maḥkūm ʿalayh (wirkend und nicht Objekt einer Wirkung) ḥaqīqī (real) ḫaṭāba (normative Redekunst) hawā (Gefühlsneigung) ḥikma (Weisheit) ḫiṭāb aš-šarʿ (normativer Offenbarungsdiskurs) ibāḥa (Erlaubnis) ibāḥiyya (Libertinismus) īǧāb (Gebot, Obligation, Verpflichtung) iǧmāʿ (Konsens) iǧtihād (rationale Urteilsfindung) ʿilal (Handlungsgründen) ʿilla (causa) ʿilliyya (Kausalität) ʿilm (Wissen, Wissenschaft) ʿilm al-aḫlāq (Ethik, Tugendlehre), ʿilm al-ǧadal („Wissenschaft der Rechtskontroversen“) ʿilm uṣūl al-fiqh (Rechtstheorie) inšāʾ (Aufforderungsaussage) irāda (Wille) ʿirfān (Glaubenserkenntnis) istiqrāʾ (textuelle Induktion) istiṣḥāb al-ḥāl (Annahme der Kontinuität) iʿtibār fī l-šarʿ (im Gesetz erwogen) iʿtizāl (theologische Reflexion) karāha (Verwerfung) kasb (Aneignung) kulliyāt (Universalismus, universale Maximen) kulliyya (universal) laḏḏa (Freude, Lust, Genuss) maʿānī (Bedeutung) maḍarra (Schaden) mafsada (Übel, Schaden) maʿlūl (Wirkung, Verursachtes) manfaʿa (Nutzen) manhaǧ al-istiqrāʾ (Induktionsverfahren)

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Glossar

manṭiq (Logik), maqāṣid (Intentionen) maqāṣid at-tašrīʿ (Intentionen der Gesetzgebung) maʿrūf (gewusst, auch: sittlich gut) maṣāliḥ (menschliches Interesse, Gemeinwohl) masālik al-ʿilla (Wege der causa) maṣlaḥa Pl. maṣāliḥ (menschlichen Interessen, Gemeinwohl) maṣlaḥa mursala (weltliches Gemeingut) maslak al-munāsaba (Weg der Situationsangemessenheit) mīṯāq (Bund) muǧmiʿīn (Gemeinschaft) mukallaf (Beauftragte. Empfänger, Verpflichte) mulāʾim (geeignet sein) mulḥ al-ʿilm (Pseudowissenschaft) munāsib (angemessen) munnāsaba (Eignung; Angemessenheit) musabbab Pl. musabbabāt (Wirkung, Ergebnis) muṭlaq (absolut) nabaʾ aẓīm (ungeheures Ereignis) nadb (Empfehlung) nafs (Selbst) nasḫ (Abrogation) niyya (subjektive Intention) qaṣd Pl. quṣūd (Intention) qaṣd aš-šāriʿ (Absicht des Gesetzgebers) qaṭʿī (absoluter Wert ) qiyās (Syllogismus; Analogie) qiyās bayānī (diskursive Analogie) qiyās šarʿī (juristische Analogie) qudra (göttliche Kraft) raġba (Begierde) rāǧiḥa (abwägend) raḥma (Sanftmut), luṭf (Sanftmut) līn (Milde) uṣūl al-adilla (Rechtsfundamente) ḥuǧǧa (rechtsgültigen Nachweis) ruḫaṣ (Sonderregelungen) sabab (Grund, Anlass) sadd aḏ-ḏarāʾiʿ (Blockieren der Mittel) ṣāliḥ (gut) sāmiʿ (Hörer) šarʿ Allāh (lex dei) sirr (Weisheit)

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sirr Allāh (Geheimnis Gottes) ṣiyām (Fasten) ṣulb al-ʿilm (glaubende Erkenntnis) šuyūḫ (Gelehrte) tafaḍḍul (Virtuosität) ṭahāra (Sauberkeit) taḥqīq al-manāṭ (situations- und zweckgebundene Urteilsfindung) taḥrīm (Verbot) taḥsīn (Urteil nach dem Prinzip des Guten) taḫṣīṣ (Spezifizierung) taḫyīr (Wählen) taklīf (Verpflichtung) taʿlīl al-aḥkām (Begründung der Moral- und Rechtsnormen) taqbīḥ (Urteil nach dem Prinzip des Verwerflichen) tarǧīḥ (Abwägung) tasḫīr (Disposition der Schöpfung im Dienste des Menschen) uṣūl (Fundament, mekkanische Grundtexte) uṣūl al-fiqh (Rechtstheorie) yusr (Erleichterung) waṣf (Merkmal) ẓāhir (äußerer Wortsinn) ẓannī (Vermutetes)

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‫‪Arabische Kontextbelege‬‬ ‫‪Die Anordnung der folgenden arabischen Kontextbelege richtet sich nach ihrem‬‬ ‫‪Erscheinen im Haupttext.‬‬ ‫‪Zitat 1‬‬ ‫ومن لم يتفطن لوقوع المقاصد في األوامر والنواهي‪ ،‬فليس على بصيرة في وضع الشريعة‪.‬‬

‫‪1‬‬

‫‪Zitat 2‬‬ ‫وضع الشرائع إنما هو لمصالح العباد في العاجل واآلجل معا ‪...‬وأعني بالمصالح ما يرجع إلى قيام حياة‬ ‫اإلنسان‪ ،‬وتمام عيشه‪ ،‬ونيله ما تقتضيه أوصافه الشهوانية والعقلية على االطالق‪ ،‬حتى يكون منعما على‬ ‫‪2‬‬ ‫اإلطالق‪.‬‬ ‫‪Zitat 3‬‬ ‫قد وقع الخالف فيها في علم الكالم‪ ،‬وزعم الرازي أن أحكام هللا غير معللة بعلة البتة‪ .‬كما أن أفعاله كذلك‪ .‬وأن‬ ‫المعتزلة اتفقت على أن أحكامه تعالى معللة برعاية مصالح العباد‪ ،‬وأنه اختيار أكثر الفقهاء المتأخرين‪...‬‬

‫‪3‬‬

‫‪Zitat 4‬‬ ‫فإذا دل اإلستقراء على هذا‪ ،‬وكان في مثل هذه القضية مفيدا للعلم‪ ،‬فنحن نقطع بأن االمر مستمر في جميع‬ ‫تفاصيل الشريعة ‪ ...‬إذا ثبت أن الشارع قد قصد بالتشريع إقامة المصالح األخروية والدنيوية وذلك على وجه ال‬ ‫يختل لها به نظام ‪ ...‬فال بد أن يكون وضعها على ذلك الوجه أبديا وكلِّيا وعا ّما في جميع أنواع التكليف‬ ‫‪4‬‬ ‫والمكلفين وجميع األحوال‪.‬‬

‫‪Zitat 5‬‬ ‫الشارع توسع في بيان العلل والحكم في تشريع باب العادات ‪ ...‬وأكثر ما علل فيها بالمناسب الذي إذا عرض‬ ‫‪5‬‬ ‫على العقول تلقته بالقبول‪...‬‬ ‫‪1 Für die Übersetzung siehe oben, S. 16.‬‬ ‫‪2 Für die Übersetzung siehe oben. S. 20.‬‬ ‫‪3 Für die Übersetzung siehe oben, S. 36.‬‬ ‫‪4 Für die Übersetzung siehe oben, S. 37.‬‬ ‫‪5 Für die Übersetzung siehe oben, S. 38.‬‬

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‫‪218‬‬

‫‪Anhang‬‬

‫‪Zitat 6‬‬ ‫المعلوم من الشريعة أنها شرعت لمصالح العباد‪ .‬فالتكليف كله إما لدرء مفسدة‪ ،‬وإما لجلب مصلحة‪ ،‬أو لهما‬ ‫‪6‬‬ ‫معا‪.‬‬ ‫‪Zitat 7‬‬ ‫األدلة الشرعية ضربان‪ :‬أحدهما ما يرجع إلى النقل المحض والثاني ما يرجع إلى الرأي المحض‪ ،‬وهذه القسمة‬ ‫هي بالنسبة إلى أصول األدلة‪ ،‬وإال فكل واحد من الضربين مفتقر إلى اآلخر‪ ،‬ألن اإلستدالل بالمنقوالت ال بد‬ ‫‪7‬‬ ‫فيه من النظر‪ ،‬كما أن الرأي ال يعتبر شرعا إال إذا استند إلى النقل‪.‬‬ ‫‪Zitat 8‬‬ ‫الحكم المستخرجة لما ال يعقل معناه على الخصوص في التعبدات‪ ،‬كاختصاص الوضوء باألعضاء‬ ‫المخصوصة‪ ،‬والصالة بتلك الهيئة من رفع اليدين والقيام والركوع والسجود‪ ،‬وكونها على بعض الهيئات دون‬ ‫بعض‪ ،‬واختصاص الصيام بالنهار دون الليل‪ ،‬وتعيين أوقات الصلوات في تلك األحيان المعينة دون ما سواها‬ ‫من أحيان الليل والنهار ‪ ...‬إلى أشباه ذلك مما ال تهتدي العقول له بوجه وال تطور نحوه فيأتي بعض الناس‬ ‫فيطرق إليها ِحكما يزعم أنها مقصود الشارع من تلك األوضاع‪ ،‬وجميعها مبني على ظن وتخمين غير مطرد‬ ‫‪8‬‬ ‫في بابه‪ ،‬وال مبني عليه عمل‪ ،‬بل كالتعليل بعد السماع لألمور الشواذ‪.‬‬ ‫‪Zitat 9‬‬ ‫ويصح القصد إلى ُم َسبَّباتِها الدنيوية واألخروية‪.‬‬

‫‪9‬‬

‫‪Zitat 10‬‬ ‫ان هذا الرأي هو رأي الظاهرية‪ ،‬ألنهم واقفون مع ظواهر النصوص من غير زيادة وال نقصان‪ .‬وحاصله عدم‬ ‫‪10‬‬ ‫اعتبار المعقول جملة‪ ،‬ويتضمن نفي القياس الذي اتفق األولون عليه‪.‬‬ ‫‪Zitat 11‬‬ ‫وإال فكل واحد من الضربين مفتقر إلى اآلخر‪ ،‬ألن اإلستدالل بالمنقوالت ال بد فيه من النظر‪ ،‬كما أن الرأي ال‬ ‫‪11‬‬ ‫يعتبر شرعا إال إذا استند إلى النقل‪.‬‬

‫‪6 Für die Übersetzung siehe oben, S. 39.‬‬ ‫‪7 Für die Übersetzung siehe oben, S. 43.‬‬ ‫‪8 Für die Übersetzung siehe oben, S. 48.‬‬ ‫‪9 Für die Übersetzung siehe oben, S. 49.‬‬ ‫‪10 Für die Übersetzung siehe oben, S. 50.‬‬

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‫‪219‬‬

‫‪Arabische Kontextbelege‬‬

‫‪Zitat 12‬‬ ‫‪12‬‬

‫فأنت إذا تأملت موارد السنة وجدتها بيانا للكتاب‪ ،‬هذا هو األمر العام فيها‪.‬‬

‫‪Zitat 13‬‬ ‫وإذا تأملت أدلة كون اإلجماع حجة أو خبر الواحد أو القياس حجة فهو راجع إلى هذا المساق‪ ،‬ألن أدلتها‬ ‫مأخوذة من مواضع تكاد تفوت الحصر‪ ،‬وهي مع ذلك مختلفة المساق‪ ،‬ال ترجع إلى باب واحد‪ ،‬إال أنها تنتظم‬ ‫المعنى الواحد الذي هو المقصود باالستدالل عليه‪ .‬وإذا تكاثرت على الناظر األدلة عضد بعضها بعضا فصارت‬ ‫بمجموعها مفيدة للقطع؛ فكذلك األمر في مآخذ األدلة في هذا الكتاب‪ ،‬وهي مآخذ األصول‪ ،‬إال أن المتقدمين من‬ ‫األصوليين ربما تركوا ذكر هذا المعنى والتنبيه عليه‪ ،‬فحصل إغفاله من بعض المتأخرين‪ ،‬فاستشكل االستدالل‬ ‫باآليات على حدتها وباألحاديث على انفرادها‪ ،‬إذ لم يأخذها مأخذ اإلجماع فك َر عليها باالعتراض نصا نصا‪،‬‬ ‫واستضعف االستدالل بها على قواعد األصول المراد منها القطع ‪ ...‬ولو أخذت أدلة الشريعة على الكليات‬ ‫المعترض لم يحصل لنا قطع بحكم شرعي ألبتة‪ ،‬إال أن نشرك العقل‪ ،‬والعقل إنما ينظر من‬ ‫والجزئيات مأخذ هذا‬ ‫ِ‬ ‫‪13‬‬ ‫وراء الشرع‪ ،‬فال بد من هذا االنتظام في تحقيق األدلة األصولية‪.‬‬ ‫‪Zitat 14‬‬ ‫وعند عيسى بن أبان يجب (عرض خبر الواحد على الكتاب إذا كملت شروط صحته)‪ ،‬محتجا بحديث في هذا‬ ‫‪14‬‬ ‫ٌ‬ ‫حديث فاعرضوه على كتاب هللا‪ ،‬فإن وافق فاقبلوه‪ ،‬وإال فردوه‪.‬‬ ‫المعنى‪ ،‬وهو قوله‪" :‬إذا رُوي لكم‬ ‫‪Zitat 15‬‬ ‫انعقد اإلجماع على أن الشرائع مصالح‪ ،‬إما وجوبا كما هو قول المعتزلة‪ ،‬أو تفضال كما هو قولنا‪.‬‬

‫‪15‬‬

‫‪Zitat 16‬‬ ‫وقال هؤالء‪ :‬وأما ما ال نص فيه فال يجوز أن يقال فيه‪ :‬إن هذا سبب كذا‪ .‬وقال أبو سليمان‪ ،‬وجميع أصحابه‬ ‫رضي هللا عنهم‪ :‬ال يفعل هللا شيئا من األحكام وغيرها لعلة أصال بوجه من الوجوه‪ ،‬فإذا نص هللا تعالى أو‬ ‫رسوله (ص) على أن أمر كذا لسبب كذا أو من أجل كذا ‪ ...‬فإن ذلك كله ندري أنه جعله هللا أسبابا لتلك األشياء‬ ‫‪16‬‬ ‫في تلك المواضع التي جاء النص بها فيها‪.‬‬ ‫‪11 Für die Übersetzung siehe oben, S. 53.‬‬ ‫‪12 Für die Übersetzung siehe oben, S. 54.‬‬ ‫‪13 Für die Übersetzung siehe oben, S. 55.‬‬ ‫‪14 Für die Übersetzung siehe oben, S. 56.‬‬ ‫‪15 Für die Übersetzung siehe oben, S. 57.‬‬ ‫‪16 Für die Übersetzung siehe oben, S. 58.‬‬

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‫‪220‬‬

‫‪Anhang‬‬

‫‪Zitat 17‬‬ ‫و األصل في كل بالء وعماء و تخليط وفساد‪ ،‬اختالط أسماء ووقوع اسم واحد على معاني كثيرة‪ ،‬فيخبر المخبر‬ ‫بذلك اإلسم‪ ،‬وهو يرد أحد المعاني التي تحته فيحمله السامع على غير ذلك المعنى الذي أراد المخبر‪ ،‬فيقع البالء‬ ‫واإلشكال ‪ ...‬وإذ قد بينا هذه األسماء األربعة‪ ،‬وهي العلة والغرض والسبب والعالمة‪ ،‬وبينا أن معانيها مختلفة‪،‬‬ ‫‪17‬‬ ‫وأن مسمياتها شتى‪ ،‬وحسمنا داء من أراد إيقاع اسم العلة في الشريعة على معنى السبب‪...‬‬ ‫‪Zitat 18‬‬ ‫الفرق بين العلة وبين السبب‪ ،‬وبين العالمة وبين الغرض – فروق ظاهرة الئحة واضحة‪ ،‬وكلها صحيح في‬ ‫بابه‪ ،‬وكلها ال يوجب تعليال في الشريعة‪ ،‬وال حكما بالقياس أصال‪ ،‬فنقول وباهلل تعالى التوفيق‪ :‬إن العلة هي إسم‬ ‫لكل صفة توجب أمرا ما إيجابا ضروريا‪ ،‬والعلة ال تفارق المعلول البتة‪ ،‬ككون النار علة اإلحراق ‪ ...‬ال يوجد‬ ‫‪18‬‬ ‫أحدهما دون الثاني أصال‪ ،‬وليس أحدهما قبل الثاني أصال وال بعده‪.‬‬ ‫‪Zitat 19‬‬ ‫وقد سمي أيضا العلل معاني‪ ،‬وهذا من عظيم شغبهم‪ ،‬وفاسد متعلقهم‪ ،‬وإنما المعنى تفسير اللفظ‪.‬‬

‫‪19‬‬

‫‪Zitat 20‬‬ ‫أما السبب فهو كل أمر فعل المختار فعال من أجله لو شاء لم يفعل ‪ ...‬وأما الغرض فهو األمر الذي يجري إليه‬ ‫‪20‬‬ ‫فاعل ويقصده ويفعله‪.‬‬ ‫‪Zitat 21‬‬ ‫إن الشدة واإلسكار لو كانا علة التحريم لكانت الخمر حراما مذ خلقها هللا تعالى ‪ ...‬وقد كانت حالال في اإلسالم‬ ‫‪21‬‬ ‫سنين‪.‬‬ ‫‪Zitat 22‬‬ ‫ومن الناس من زعم أن للقرآن ظاهرا وباطنا ‪ ...‬وفسر [الحسن] بأن الظهر والظاهر هو ظاهر التالوة‪،‬‬ ‫والباطن هو الفهم عن هللا لمراده‪ ،‬ألن هللا تعالى قال (فمال هؤالء القوم ال يكادون يفقهون حديثا) والمعنى ال‬ ‫يفهمون عن هللا مراده من الخطاب‪ ،‬ولم يرد أنهم ال يفهمون نفس الكالم‪ ،‬كيف وهو منزل بلسانهم؟ ولكن لم‬

‫‪17 Für die Übersetzung siehe oben, S. 59.‬‬ ‫‪18 Für die Übersetzung siehe oben, S. 60.‬‬ ‫‪19 Für die Übersetzung siehe oben, S. 60.‬‬ ‫‪20 Für die Übersetzung siehe oben, S. 61.‬‬ ‫‪21 Für die Übersetzung siehe oben, S. 61.‬‬

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‫‪221‬‬

‫‪Arabische Kontextbelege‬‬

‫يحظوا بفهم مراد هللا من الكالم ‪ ...‬فظاهر المعنى شئ وهم عارفون به ألنهم عرب‪ ،‬والمراد شئ آخر‪ ،‬وهو‬ ‫‪22‬‬ ‫الذي ال شك فيه أنه من عند هللا‪ ،‬وإذا حصل التدبر لم يوجد في القرآن اختالف البتة‪.‬‬ ‫‪Zitat 23‬‬ ‫‪23‬‬

‫وحاصل هذا الكالم‪ :‬أن المراد بالظاهر هو المفهوم العربي‪ ،‬والباطن هو مراد هللا تعالى من كالمه وخطابه‪.‬‬

‫‪Zitat 24‬‬ ‫والتكليف نوع خطاب وله متعلق وهو المكلف به وشرطه أن يكون مفهوما فقط‪ ،‬وأما كونه ممكنا فليس بشرط‬ ‫لتحقيق الكالم فإن التكليف كالم‪ ،‬فإذا صدر ممن يفهم مع من يفهم فيما يفهم وكان المخاطب دون المخاطب‬ ‫سمي تكليفا‪ ،‬وإن كان مثله سمي التماسا‪ ،‬وإن كان فوقه سمي دعاء وسؤاال‪ ،‬فاالقتضاء في ذاته واحد وهذه‬ ‫األسامي تختلف عليه باختالف النسبة‪ ،‬وبرهان جواز ذلك أن استحالته ال تخلو إما أن تكون المتناع تصور‬ ‫ذاته‪ ،‬كاجتماع السواد والبياض‪ ،‬أو كان ألجل االستقباح‪ ،‬وباطل أن يكون امتناعه لذاته‪ ،‬فإن السواد والبياض ال‬ ‫يمكن أن يفرض مجتمعا‪ ،‬وفرض هذا ممكن إذ التكليف ال يخلو إما أن يكون لفظا وهو مذهب الخصم وليس‬ ‫‪24‬‬ ‫بمستحيل أن يقول الرجل لعبده الزمن قم‪ ،‬فهو على مذهبهم أظهر وأما نحن فإنا نعتقد أنه اقتضاء يقوم بالنفس‪.‬‬ ‫‪Zitat 25‬‬ ‫إن هلل تعالى أن يكلف العباد ما يطيقونه وما ال يطيقونه‪ ،‬وذهب المعتزلة إلى انكار ذلك‪ ،‬ومعتقد أهل السنة أن‬ ‫التكليف له حقيقة في نفسه وهو أنه كالم وله مصدر وهو المكلف‪ ،‬وال شرط فيه إال كونه متكلما‪ ،‬وله مورد‬ ‫وهو المكلف وشرطه أن يكون فاهما للكالم فال يسمى الكالم مع الجماد والمجنون خطابا وال تكليفا‪ ،‬والتكليف‬ ‫نوع خطاب وله متعلق وهو المكلف به وشرطه أن يكون مفهوما فقط‪ ،‬وأما كونه ممكنا فليس بشرط لتحقيق‬ ‫الكالم فإن التكليف كالم‪ ،‬فإذا صدر ممن يفهم مع من يفهم فيما يفهم وكان المخاطب دون المخاطب سمي تكليفا‪،‬‬ ‫وإن كان مثله سمي التماسا‪ ،‬وإن كان فوقه سمي دعاء وسؤاال‪ ،‬فاالقتضاء في ذاته واحد وهذه األسامي تختلف‬ ‫عليه باختالف النسبة‪ ،‬وبرهان جواز ذلك أن استحالته ال تخلو إما أن تكون المتناع تصور ذاته‪ ،‬كاجتماع‬ ‫السواد والبياض‪ ،‬أو كان ألجل االستقباح‪ ،‬وباطل أن يكون امتناعه لذاته‪ ،‬فإن السواد والبياض ال يمكن أن‬ ‫يفرض مجتمعا‪ ،‬وفرض هذا ممكن إذ التكليف ال يخلو إما أن يكون لفظا وهو مذهب الخصم وليس بمستحيل أن‬ ‫‪25‬‬ ‫يقول الرجل لعبده الزمن قم‪ ،‬فهو على مذهبهم أظهر وأما نحن فإنا نعتقد أنه اقتضاء يقوم بالنفس‪.‬‬

‫‪22 Für die Übersetzung siehe oben, S. 63.‬‬ ‫‪23 Für die Übersetzung siehe oben, S. 63.‬‬ ‫‪24 Für die Übersetzung siehe oben, S. 85.‬‬ ‫‪25 Für die Übersetzung siehe oben, S. 90.‬‬

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‫‪222‬‬

‫‪Anhang‬‬

‫‪Zitat 26‬‬ ‫فإذا خلق هللا تعالى خلقا ممتزجا خيره بشره‪ ،‬فالخير هو الذي خلق الخلق ألجله‪ .‬ولم يخلق ألجل الشر وإن كان‬ ‫واقعا به ]…[ وهو أيضا مشير إلى مذاهب المعتزلة القائلين بأن الشرور والمفاسد غير مقصودة الوقوع‪ ،‬وأن‬ ‫‪26‬‬ ‫وقوعها إنما هو على خالف اإلرادة‪ .‬تعالى هللا عن ذلك علوا كبيرا‪.‬‬ ‫‪Zitat 27‬‬ ‫ما تبين في الكالم واألصول‪ ،‬من أن العقل ال يحسن وال يقبح‪ ،‬ولو فرضناه متعديا لما حده الشرع‪.‬‬

‫‪27‬‬

‫‪Zitat 28‬‬ ‫إذا تعاضد النقل والعقل على المسائل الشرعية‪ ،‬فعلى شرط أن يتقدم النقل فيكون متبوعا‪ ،‬ويتأخر العقل فيكون‬ ‫تابعا‪ ،‬فال يسرح العقل في مجال النظر إال بقدر ما يسرحه النقل ‪ ...‬لو جاز للعقل تخطي مأخذ النقل‪ ،‬لم يكن‬ ‫‪28‬‬ ‫للحد الذي حده النقل فائدة‪.‬‬ ‫‪Zitat 29‬‬ ‫ما تبين في الكالم واألصول‪ ،‬من أن العقل ال يحسن وال يقبح‪ ،‬ولو فرضناه متعديا لما حده الشرع‪".‬‬

‫‪29‬‬

‫‪Zitat 30‬‬ ‫ولو أخذت أدلة الشريعة على الكليات و الجزئيات مأخذ هذا المعترض لم يحصل لنا قطع بحكم شرعي البتة إال‬ ‫أن نشرك العقل‪ ،‬والعقل إنما ينظر من وراء الشرع‪ ،‬فال بد من هذا االنتظام في تحقيق األدلة األصولية ‪ ...‬فقد‬ ‫اتفقت األمة‪ ،‬بل سائر الملل‪ ،‬على أن الشريعة وضعت للمحافظة على الضروريات الخمس – وهي ‪ :‬الدين‪،‬‬ ‫‪30‬‬ ‫والنفس‪ ،‬والنسل‪ ،‬والمال‪ ،‬والعقل‪.‬‬ ‫‪Zitat 31‬‬ ‫و علمها عند األمة كالضروري‪ ،‬ولم يثبت ذلك بدليل معين‪ ،‬وال شهد لنا أصل معين يمتاز برجوعها إليه‪ ،‬بل‬ ‫‪31‬‬ ‫علمت مالءمتها للشريعة بمجموع أدلة ال تنحصر في باب واحد‪.‬‬

‫‪26 Für die Übersetzung siehe oben, S. 92.‬‬ ‫‪27 Für die Übersetzung siehe oben, S. 95.‬‬ ‫‪28 Für die Übersetzung siehe oben, S. 96.‬‬ ‫‪29 Für die Übersetzung siehe oben, S. 97.‬‬ ‫‪30 Für die Übersetzung siehe oben, S. 97.‬‬ ‫‪31 Für die Übersetzung siehe oben, S. 98.‬‬

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‫‪223‬‬

‫‪Arabische Kontextbelege‬‬

‫‪Zitat 32‬‬ ‫فالحاصل من ذلك أن المصالح المعتبرة شرعا أو المفاسد المعتبرة شرعا هي خالصة غير مشوبة بشيء من‬ ‫المفاسد‪ ،‬ال قليال وال كثيرا‪ .‬وإن تُ ُوهِّ َم أنها مشوبة‪ ،‬فليست في الحقيقة الشرعية كذلك‪ ،‬ألن المصلحة المغلوبة أو‬ ‫المفسدة المغلوبة إنما المراد بها ما يجري في االعتياد الكسبي من غير خروج إلى زيادة تقتضي التفات الشارع‬ ‫إليها على الجملة‪ .‬وهذا الم قدار هو الذي قيل إنه غير مقصود للشارع في شرعية األحكام‪ .‬والدليل على ذلك‬ ‫أمران‪ :‬أحدهما أن الجهالة المعلومة ولو كانت مقصودة للشارع –أعني معتبرة عند الشارع – لم يكن الفعل‬ ‫مأمورا به بإطالق‪ ،‬وال منهيا عنه بإطالق‪ .‬بل كان يكون مأمورا به من حيث المصلحة‪ ،‬ومنهيا عنه من حيث‬ ‫‪32‬‬ ‫المفسدة‪ .‬ومعلوم قطعا أن األمر ليس كذلك‪.‬‬ ‫‪Zitat 33‬‬ ‫المنافع والمضار عامتها أن تكون إضافية ال حقيقية‪ .‬ومعنى كونها إضافية أنها منافع أو مضار في حال دون‬ ‫حال‪ ،‬وبالنسبة إلى شخص دون شخص‪ ،‬أو وقت دون وقت ‪ ...‬فكثير من المنافع تكون ضررا على قوم ال منافع‬ ‫‪33‬‬ ‫‪ ...‬وهذا كله بين في كون المصالح والمفاسد مشروعة أو ممنوعة إلقامة هذه الحياة‪ ،‬ال لنيل الشهوات‪.‬‬ ‫‪Zitat 34‬‬ ‫والمصالح والمفاسد إذا كانت راجعة إلى خطاب الشارع ‪ -‬وقد علمنا من خطابه أنه يتوجه بحسب األحوال‬ ‫واألشخاص واألوقات‪ ،‬حتى يكون االنتفاع المعين مأذونا فيه في وقت أو حال أو بحسب شخص‪ ،‬وغير مأذون‬ ‫‪34‬‬ ‫فيه إذا كان على غير ذلك ‪ -‬فكيف يسوغ إطالق هذه العبارة أن األصل في المنافع اإلذن وفي المضار المنع؟‬

‫‪Zitat 35‬‬ ‫المصالح المبثوثة في هذه الدار ينظر فيها من جهتين‪ :‬من جهة مواقع الوجود‪ ،‬ومن جهة تعلق الخطاب الشرعي‬ ‫‪35‬‬ ‫بها‪.‬‬ ‫‪Zitat 36‬‬ ‫المنافع الحاصلة للمكلف مشوبة بالمضار عادة‪ ،‬كما أن المضار محفوفة ببعض المنافع‪ ،‬كما نقول إن النفوس‬ ‫محترمة محفوظة ومطلوبة اإلحياء‪ ،‬بحيث إذا دار األمر بين إحيائها وإتالف المال عليها‪ ،‬أو إتالفها وإحياء‬ ‫‪36‬‬ ‫المال‪ ،‬كان إحياؤها أولى‪ .‬فإن عارض إحياؤها إماتة الدين‪ ،‬كان إحياء الدين أولى وإن أ ّدى إلى إماتتها‪.‬‬ ‫‪32 Für die Übersetzung siehe oben, S. 98.‬‬ ‫‪33 Für die Übersetzung siehe oben, S. 99.‬‬ ‫‪34 Für die Übersetzung siehe oben, S. 102.‬‬ ‫‪35 Für die Übersetzung siehe oben, S. 103.‬‬ ‫‪36 Für die Übersetzung siehe oben, S. 104.‬‬

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‫‪224‬‬

‫‪Anhang‬‬

‫‪Zitat 37‬‬ ‫فالمصالح والمفاسد الراجعة إلى الدنيا إنما تفهم على مقتضى ما غلب‪ :‬فإذا كان الغالب جهة المصلحة‪ ،‬فهي‬ ‫المصلحة المفهومة عرفا‪ .‬ولذلك كان الفعل ذو الوجهين منسوبا إلى الجهة الراجحة ‪ ...‬وأما النظر الثاني فيها‬ ‫من حيث تعلق الخطاب بها شرعا فالمصلحة إذا كانت هي الغالبة عند مناظرتها مع المفسدة فحكم اإلعتياد‪ ،‬فهي‬ ‫‪37‬‬ ‫المقصودة شرعا‪ ،‬ولتحصيلها وقع الطلب على العباد‪.‬‬ ‫‪Zitat 38‬‬ ‫ولم يخلق ألجل الشر وإن كان واقعا به‪ .‬كالطبيب عندهم إذا سقى المريض الدواء المر البشع المكروه‪ .‬فلم يسقه‬ ‫إياه ألجل ما فيه من المرارة و األمر المكروه‪ ،‬بل ألجل ما فيه من الشفاء والراحة‪ ...‬فكذلك عندهم جميع ما في‬ ‫الوجود من المفاسد المسببة عن أسبابها ‪ ...‬إن الشارع – مع قصده التشريع ألجل المصلحة – ال يقصد وجه‬ ‫‪38‬‬ ‫المفسدة‪ ،‬مع أنها الزمة للمصلحة‪.‬‬ ‫‪Zitat 39‬‬

‫المنافع والمضار عامتها أن تكون إضافية ال حقيقية‪ .‬ومعنى كونها إضافية أنها منافع أو مضار في حال دون‬ ‫حال‪ ،‬وبالنسبة إلى شخص دون شخص‪ ،‬أو وقت دون وقت ‪ ...‬فكثير من المنافع تكون ضررا على قوم ال منافع‬ ‫‪39‬‬ ‫‪ ...‬وهذا كله بين في كون المصالح والمفاسد مشروعة أو ممنوعة إلقامة هذه الحياة‪ ،‬ال لنيل الشهوات‪.‬‬ ‫‪Zitat 40‬‬ ‫ومنها أن بعض الناس قال‪( :‬إن مصالح الدار اآلخرة ومفاسدها ال تعرف إال بالشرع‪ .‬وأما الدنيوية فتعرف‬ ‫بالضرورات والتجارب والعادات والظنون المعتبرات – قال‪ :‬من أراد أن يعرف المناسبات في المصالح‬ ‫والمفاسد را ِج َحها من مرجوحها‪ ،‬فليعرض ذلك على عقله‪ ،‬بتقدير أن الشارع لم يَ ِرد به‪ ،‬ثم يبني عليه األحكام‪،‬‬ ‫فال يكاد حكم منها يخرج عن ذلك‪ ،‬إال التعبدات التي لم يوقف على مصالحها أو مفاسدها) هذا قوله‪ .‬وفيه بحسب‬ ‫ما تقدم نظر ‪ ،‬أما أن ما يتعلق باآلخرة ال يعرف إال بالشرع فكما قال‪ .‬وأما ما قال في الدنيوية فليس كما قال من‬ ‫‪40‬‬ ‫كل وجه‪.‬‬ ‫‪Zitat 41‬‬ ‫األحكام الخمسة إنما تتعلق باألفعال‪ ،‬والتروك بالمقاصد‪.‬‬

‫‪41‬‬

‫‪37 Für die Übersetzung siehe oben, S. 111.‬‬ ‫‪38 Für die Übersetzung siehe oben, S. 113.‬‬ ‫‪39 Für die Übersetzung siehe oben, S. 115.‬‬ ‫‪40 Für die Übersetzung siehe oben, S. 118.‬‬ ‫‪41 Für die Übersetzung siehe oben, S. 144.‬‬

‫‪© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden‬‬ ‫‪ISBN Print: 9783447109581 — ISBN E-Book: 9783447197250‬‬

‫‪Arabische Kontextbelege‬‬

‫‪225‬‬

‫‪Zitat 42‬‬ ‫المباح من حيث هو مباح ال يكون مطلوب الفعل وال مطلوب االجتناب ‪ ...‬وأن فعله وتركه في قصد الشارع‬ ‫بمثابة واحدة‪.‬‬

‫‪42‬‬

‫‪Zitat 43‬‬ ‫المباح يصير غير مباح باألمور الخارجة ‪....‬‬

‫‪43‬‬

‫‪Zitat 44‬‬ ‫القواعد المشروعة باألصل إذا داخلتها المناكر‪ ،‬كالبيع والشراء والمخالطة والمساكنة‪ ،‬إذا كثر الفساد في‬ ‫األرض واشتهرت المناكر‪ ،‬بحيث صار المكلف عند أخذه في حاجته‪ ،‬وتصرفه في أحواله‪ ،‬ال يسلم في الغالب‬ ‫من لقاء المنكر أو مالبسته‪ ،‬فالظاهر يقتضي الكف عن كل ما يؤديه إلى هذا‪ .‬ولكن الحق يقتضي أن ال بد له من‬ ‫اقتضاء حاجته‪ ،‬كانت مطلوبة بالجزء أو بالكل‪ ،‬وهي إما مطلوب باألصل‪ ،‬وإما خادم المطلوب باألصل‪ .‬ألنه‬ ‫إن فرض الكف عن ذلك أ ّدى إلى التضييق والحرج‪ ،‬أو تكليف ما ال يطاق‪.‬‬

‫‪44‬‬

‫‪Zitat 45‬‬ ‫فلو فرضنا ترك الناس كلهم ذلك لكان تركا لما هو من الضروريات المأمور بها‪ ،‬فكان الدخول فيها واجبا‬ ‫‪45‬‬ ‫بالكل‪.‬‬ ‫‪Zitat 46‬‬ ‫الكالم يطلق على العبارة الدالة بالوضع وعلى مدلولها القائم بالنفس‪ ،‬فالخطاب إما الكالم اللفظي أو الكالم‬ ‫النفسي الموجه نحو الغير لإلفهام‪ .‬وقد جرى الخالف في كالم هللا هل يسمى باألزل خطابا قبل وجود المخاطبين‬ ‫تنزيال لما سيوجد منزلة الموجود أوال‪ .‬فمن قال‪ :‬هو الخطاب هو الكالم الذي يقصد به اإلفهام سمي الكالم في‬ ‫األزل خطابا‪ ،‬ألنه يقصد به اإلفهام في الجملة‪ .‬ومن قال‪ :‬هو الكالم الذي يقصد به إفهام من هو أهل للفهم على‬ ‫ما هو األصل ال يسميه في األزل خطابا‪ .‬واألكثر ممن أثبت هلل تعالى الكالم النفسي من أهل السنة على أنه كان‬

‫‪42 Für die Übersetzung siehe oben, S. 151‬‬ ‫‪43 Für die Übersetzung siehe oben, S. 153.‬‬ ‫‪44 Für die Übersetzung siehe oben, S. 155.‬‬ ‫‪45 Für die Übersetzung siehe oben, S. 156.‬‬

‫‪© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden‬‬ ‫‪ISBN Print: 9783447109581 — ISBN E-Book: 9783447197250‬‬

‫‪226‬‬

‫‪Anhang‬‬

‫في األزل أمر ونهي وخبر‪ ،‬وز اد بعضهم اإلستخبار والنداء أيضا‪ .‬واألشعرية على أنه تكلم بكالم واحد وهو‬ ‫‪46‬‬ ‫الخبر‪.‬‬ ‫‪Zitat 47‬‬ ‫إنما البحث المقصود هنا أن القرآن نزل بلسان العرب على الجملة‪ ،‬فطلب فهمه إنما يكون من هذا الطريق‬ ‫خاصة ‪ ...‬فمن أراد تفهمه ‪ ،‬فمن جهة لسان العرب يفهم‪ ،‬وال سبيل إلى تطلب فهمه من غير هذه الجهة‪ .‬هذا هو‬ ‫‪47‬‬ ‫المقصود من المسألة ‪...‬‬ ‫‪Zitat 48‬‬ ‫و(العرب) فيما فطرت عليه من لسانها تخاطب بالعام يراد به ظاهره‪ ،‬وبالعام يراد به العام في وجه والخاص‬ ‫في وجه‪ .‬وبالعام يراد به الخاص‪ ،‬والظاهر يراد به غير الظاهر‪ .‬وكل ذلك يعرف من أول الكالم أو وسطه أو‬ ‫آخره‪ .‬وتتكلم بالكالم ينبئ أوله عن آخره‪ ،‬أو آخره عن أوله‪ .‬وتتكلم بالشيء يعرف بالمعنى كما يعرف باإلشارة‪.‬‬ ‫وتسمي الشيء الواحد بأسماء كثيرة‪ ،‬واألشياء الكثيرة باسم واحد‪ .‬وكل ذلك معروف عندها ال ترتاب في شيء‬ ‫‪48‬‬ ‫منه هي‪ ،‬وال من تعلق بعلم كالمها‪ .‬فإذا كان كذلك‪ ،‬فالقرآن في معانيه و أساليبه على هذا الترتيب‪.‬‬ ‫‪Zitat 49‬‬ ‫وضع األسباب يستلزم قصد الواضع إلى المسببات‪ ،‬أعني الشارع‪...‬‬

‫‪49‬‬

‫‪Zitat 50‬‬ ‫ال يلزم في تعاطي األسباب من جهة المكلف‪ ،‬اإللتفات إلى المسببات وال القصد إليها‪ ،‬بل المقصود منه الجريان‬ ‫‪50‬‬ ‫تحت األحكام الموضوعة ال غير‪ ،‬أسبابا كانت أو غير أسباب‪ ،‬معللة كانت أو غير معللة‪.‬‬ ‫‪Zitat 51‬‬ ‫فمن إلتفت إلى المسببات من حيث كانت عالمة على األسباب في الصحة أو الفساد‪ ،‬ال من جهة أخرى‪ ،‬فقد‬ ‫حصل على قانون عظيم يضبط به جريان األسباب على وزان ما شرع أو على خالف ذلك‪ .‬ومن هنا جعلت‬ ‫األعمال الظاهرة في الشرع دليال على ما في الباطن‪ .‬فإن كان الظاهر منخرما‪ ،‬حكم على الباطن بذلك‪ .‬أو‬ ‫‪51‬‬ ‫مستقيما حكم على الباطن بذلك أيضا‪ .‬وهو أصل عام في الفقه وسائر األحكام العاديات والتجريبيات‪...‬‬

‫‪46 Für die Übersetzung siehe oben, S. 161.‬‬ ‫‪47 Für die Übersetzung siehe oben, S. 166.‬‬ ‫‪48 Für die Übersetzung siehe oben, S. 166.‬‬ ‫‪49 Für die Übersetzung siehe oben, S. 173.‬‬ ‫‪50 Für die Übersetzung siehe oben, S. 176.‬‬ ‫‪51 Für die Übersetzung siehe oben, S. 178.‬‬

‫‪© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden‬‬ ‫‪ISBN Print: 9783447109581 — ISBN E-Book: 9783447197250‬‬

‫‪227‬‬

‫‪Arabische Kontextbelege‬‬

‫‪Zitat 52‬‬ ‫إن كان اإللتفات إلى المسبب من شأنه التقوية للسبب‪ ،‬والتكملة له‪ ،‬والتكملة له‪ ،‬التحريض على المبالغة في‬ ‫إكماله‪ ،‬فهو الذي يجلب المصلحة‪ .‬وإن كان من شأنه أن يكر على السبب باإلبطال‪ ،‬أو باإلضعاف‪ ،‬أو بالتهاون‬ ‫‪52‬‬ ‫به‪ ،‬فهو الذي يجلب المفسدة‪.‬‬

‫‪52 Für die Übersetzung siehe oben, S. 179.‬‬

‫‪© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden‬‬ ‫‪ISBN Print: 9783447109581 — ISBN E-Book: 9783447197250‬‬

‫ﻭﷲ ﺃﻋﻠﻢ‬ Und Gott ist allwissend.

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447109581 — ISBN E-Book: 9783447197250

Ahmed H. al-Rahim

Berenike Metzler

The Creation of Philosophical Tradition

Den Koran verstehen

Biography and the Reception of Avicenna’s Philosophy from the Eleventh to the Fourteenth Century A.D. (Diskurse der Arabistik 21) 2018. Ca. IX, 250 pages, pb ISBN 978-3-447-10333-6 E-Book: : ISBN 978-3-447-19365-8 In Vorbereitung / In Preparation

H

each ca. € 42,– (D)

ow is a philosophical tradition created? What role does literary biography play in the formation of intellectual reception history? Through a detailed analysis of the lives and works of post-Avicenna (d. 1037) philosophers, Ahmed H. al-Rahim traces the history and development of the Avicennan tradition from the eleventh to the fourteenth century A.D. Section 1 of the book investigates the genres of Arabo-Islamic biobibliographical and prosopographical writings as a source for the history of Arabic philosophy, delineating their literary tropes, the construction of philosophical authority, and the relationship of Sunnī and Šīʿī Islam to logic and philosophy. Section 2 presents fourteen biobibliographical studies with a critical inventory of the works of Avicenna’s disciples and the philosophers who created the Avicennan philosophical heritage in the Islamicate world. As a work of intellectual archaeology, presenting hitherto unexamined textual and manuscript evidence, this book demonstrates the intellectual vitality of postclassical Arabic philosophy as reflected in the exegetical genres of commentary, supercommentary, and gloss in the medieval madrasa tradition.

Das Kitāb Fahm al-Qurʾān des Ḥāriṯ b. Asad al-Muḥāsibī (Diskurse der Arabistik 22) 2016. XII, 377 Seiten, gb 170x240 mm ISBN 978-3-447-10577-4 E-Book: ISBN 978-3-447-19488-4

B

je € 82,– (D)

erenike Metzlers Band umfasst eine Edition, eine deutsche Übersetzung und eine Analyse des Kitāb Fahm al-Qurʾān des frühislamischen Gelehrten Ḥāriṯ b. Asad al-Muḥāsibī. Die Frage nach den angemessenen Instrumenten zur Entschlüsselung des Wortes Gottes sowie der rechtmäßigen Befolgung desselben war im (theologie-) geschichtlich sehr bewegten 9. Jahrhundert n.Chr. ein zentraler Diskussionspunkt – und er ist es bis heute. Das Kitāb Fahm al-Qurʾān ist einzigartig in seiner facettenreichen Behandlung des Themas: Sie erstreckt sich von der Rolle des Verstandes im Offenbarungsprozess über Passagen zu den Vorzügen des Korans und spekulative Auseinandersetzungen mit theologischen Gegnern bis hin zu rechtshermeneutischen und linguistischen Fragestellungen bei der Versauslegung. Der Einleitungsteil der Arbeit enthält eine Einführung zur Zeitgeschichte und zum Autor sowie eine gattungskritische Untersuchung des Textes mitsamt Informationen zum Manuskript. Im Hauptteil folgen eine annotierte zweisprachige Edition des 50 Folien starken Manuskripts sowie eine zehn Kapitel umfassende Analyse des Werkes. Den Schlussteil bilden eine Einordnung des Kitāb Fahm al-Qurʾān in die theologischen Debatten seiner Zeit, der Versuch einer Chronologisierung der Werke des Autors und schließlich eine Beantwortung der Frage, wie der Koran nach Muḥāsibī richtig zu verstehen sei. Im Anhang befinden sich neben einer Bibliografie ein Koranstellen- und Hadithverzeichnis. Die Autorin verfolgt den Ansatz, den Text in den Vordergrund zu stellen und durch eine detaillierte, v.a. terminologische Analyse desselben einen Beitrag zur Erforschung der frühislamischen Theologie zu liefern, der starre Kategorisierungen in Begriffe wie Rationalismus, Traditionalismus und Sufismus aufzubrechen versucht.

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447109581 — ISBN E-Book: 9783447197250

Nora Schmidt

Katarzyna Starczewska

Philologische Kommentarkulturen

Latin Translation of the Qur’ān (1518/1621)

Abū ʿUbaidas Maǧāz al-Qurʾān im Licht spätantiken Exegesewissens (Diskurse der Arabistik 23)

Commissioned by Egidio da Viterbo Critical Edition and Case Study (Diskurse der Arabistik 24)

2016. X, 257 Seiten, 6 Tabellen, br 170x240 mm ISBN 978-3-447-10696-2 E-Book: ISBN 978-3-447-19566-9

2018. Ca. 956 pages, hc 170x240 mm ISBN 978-3-447-10862-1 E-Book: ISBN 978-3-447-19690-1 In Vorbereitung / In Preparation

A

je € 54,– (D)

bū ʿUbaida (gest. 825), Mitbegründer der arabischen Philologie, schuf mit Maǧāz al-Qurʾān einen der frühesten Kommentare zum Koran. Dieser konzentriert sich auf sprachliche Aspekte der Offenbarungsschrift und wird daher meist als Wegbereiter der erst später voll ausgebildeten arabischen Exegese, Sprachwissenschaft und Rhetorik gelesen. Entgegen dieser Perspektive auf die frühislamische Kommentarkultur als vorsystematische Phase arabischer Schriftgelehrsamkeit betrachtet Nora Schmidt den philologischen Kommentar Abū ʿUbaidas als eigenständigen und lehrreichen Teil einer spätantiken Philologiegeschichte. Mithilfe literaturwissenschaftlich orientierter Methoden erarbeitet sie die Techniken des philologischen Korankommentars selbst und diskutiert die Bedeutung der Epochenkonstruktion „Spätantike“ für die Beschreibung frühislamischer geistiger Errungenschaften. Das Herkunftsmilieu der Koran-, aber auch der arabischen Sprachwissenschaften wird anhand einer für „die Spätantike“ zentralen hermeneutischen Streitfrage, der Haltung zu allegorischer oder aber literaler Auslegung heiliger Schriften, nachvollzogen. Mittels Allegorese und literaler Interpretation werden nicht nur hermeneutische, sondern vor allem auch religionspolitische Standpunkte unterschiedlicher Gemeinschaften vertreten. Diese Dynamik wird in diesem Buch auch für die Deutung der frühen Koranexegese beansprucht.

I

each ca. € 128,– (D)

n the spring of 1518 an Italian cardinal, Egidio da Viterbo, travelled from Rome to Spain on a Papal mission. While the official purpose of the visit was to convince King Charles V to collaborate against the Turks, the Papal legate pursued another, more covert goal. The Cardinal sought to obtain for himself a translation of the Qur’ān. The translation was prepared for the Cardinal by Juan Gabriel, a Muslim convert (Morisco) from Teruel, formerly known as Ali Alayzar. Seven years later, this text was corrected by another convert of Spanish origin, the famed Leo Africanus. This book contains both an edition and study of Egidio da Viterbo’s Qur’ān. The critical edition is based on the two existing manuscripts and is the first published work to include the full text of this Qur’ānic translation. It includes the original translation, the corrections of the text made by Leo Africanus, an appendix with Qur’ānic glosses and a case study devoted to persons involved in the translation. The study serves as an introduction to the Latin text, exploring the context in which Muslim converts to Christianity collaborated with church authorities. It enumerates and analyzes the Morisco translator’s diverse philological tools, which could have been used by the clergymen for polemical purposes. At the same time, it offers further insight into European studies of Arabic during the period.

© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 9783447109581 — ISBN E-Book: 9783447197250