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German Pages 336 [337] Year 2008
1. Datentypen
Marianne Rabe Ethik in der Pflegeausbildung
Verlag Hans Huber Programmbereich Pflege Beirat Wissenschaft: Angelika Abt-Zegelin, Dortmund Silvia Käppeli, Zürich Doris Schaeffer, Bielefeld Beirat Ausbildung und Praxis: Jürgen Osterbrink, Salzburg Christine Sowinski, Köln Franz Wagner, Berlin
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Bücher aus verwandten Sachgebieten Pflegeethik Buresh/Gordon Der Pflege eine Stimme geben 2006. ISBN 978-3-456-84220-2 Remmers Pflegerisches Handeln Wissenschafts- und Ethikdiskurse zur Konturierung der Pflegewissenschaft 2000. ISBN 978-3-456-83290-6 Schnell Ethik als Schutzbereich 2007. ISBN 978-3-456-84492-3 Schnell/Heinritz Forschungsethik 2006. ISBN 978-3-456-84288-2 Schwerdt Eine Ethik für die Altenpflege 1998. ISBN 978-3-456-82841-1
Pflegepädagogik Glen/Wilkie (Hrsg.) Problemorientiertes Lernen für Pflegende und Hebammen 2001. ISBN 978-3-456-83550-1 Görres et al. (Hrsg.) Auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur: Wissenstransfer in der Pflege 2002. ISBN 978-3-456-83672-0 Groothuis Soziale und kommunikative Fertigkeiten 2000. ISBN 978-3-456-83308-8 Johns Selbstreflexion in der Pflegepraxis Gemeinsam aus Erfahrungen lernen 2004. ISBN 978-3-456-83935-6 Nussbaumer/v. Reibnitz Innovatives Lehren und Lernen Konzepte für die Aus- und Weiterbildung von Pflege- und Gesundheitsberufen 2008. ISBN 978-3-456-84547-0 Oelke/Menke Gemeinsame Pflegeausbildung 2., korr. u. erw. Auflage 2005. ISBN 978-3-456-84162-5
Oelke/Scheller/Ruwe Tabuthemen als Gegenstand szenischen Lernens in der Pflege 2000. ISBN 978-3-456-83323-1 Picado/Unkelbach Innerbetriebliche Fortbildung in der Pflege 2001. ISBN 978-3-456-83325-5 Poser/Schneider (Hrsg.) Leiten, Lehren und Beraten Fallorientiertes Lehr- und Arbeitsbuch für Pflegemanager und Pflegepädagogen 2005. ISBN 978-3-456-84207-3 Poser Netzwerkbildung und Networking in der Pflege 2008. ISBN 978-3-456-84456-5 Price Problem- und forschungsorientiertes Lernen 2005. ISBN 978-3-456-84258-5 Rau Die Situation der Krankenpflegeausbildung in der BRD nach 90 Jahren staatlicher Regelung 2001. ISBN 978-3-456-83625-6 Reinmann-Rothmeier/Mandl Individuelles Wissensmanagement 2000. ISBN 978-3-456-83425-2 Roes Wissenstransfer in der Pflege Neues Lernen in der Pflegepraxis 2004. ISBN 978-3-456-84068-0 Sieger (Hrsg.) Pflegepädagogik 2001. ISBN 978-3-456-83328-6 Stadler Medienkompetenz Handbuch zur Wissensverarbeitung für Pflegende und Hebammen 2008. ISBN 978-3-456-84642-2 Wagner/Osterbrink (Hrsg.) Integrierte Unterrichtseinheiten 2001. ISBN 978-3-456-83249-4 Weitere Informationen über unsere Neuerscheinungen finden Sie im Internet unter www.verlag-hanshuber.com.
1. Datentypen
Marianne Rabe
Ethik in der Pflegeausbildung Beiträge zur Theorie und Didaktik
Verlag Hans Huber
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Dr. phil. Marianne Rabe. Pflegeethikerin, Pädagogische Geschäftsführerin der Charité-Gesundheitsakademie, Berlin E-Mail: [email protected]
Lektorat: Jürgen Georg, Silke Scholze Herstellung: Peter E. Wüthrich Titelillustration: pinx., Design-Büro, Wiesbaden Umschlag: Atelier Mühlberg, Basel Druckvorstufe: Ursi Anna Aeschbacher, Biel /Bienne Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen oder Warenbezeichnungen in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen-Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Anregungen und Zuschriften bitte an: Verlag Hans Huber Lektorat: Pflege z.Hd.: Jürgen Georg Länggass-Strasse 76 CH-3000 Bern 9 Tel: 0041 (0)31 300 4500 Fax: 0041 (0)31 300 4593 [email protected] www.verlag-hanshuber.com 1. Auflage 2009 © 2009 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern ISBN 978-3-456-84665-1
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Inhaltsverzeichnis Danksagung .............................................................................................................. 11 Einleitung ................................................................................................................... 13 Teil I Grundlagen . .............................................................................................................. 19 1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos ........................... 21
1.1 1.1.1 1.1.2
Traditionen und Wertorientierungen der Pflege ..................................... 23 Entwicklung des Berufsethos der Pflege ................................................... 23 Pflegerisches Ethos im Spiegel der berufsethischen Kodizes . ................ 32
1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3
Traditionen der Pflegelehre ......................................................................... Entwicklung des Lehrerberufes in der Pflege . ......................................... Lehrer zweiter Klasse? . ................................................................................ Aufgaben und Belastungen von Pflegelehrer/innen ................................
1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5
Professionalisierung ..................................................................................... 47 Beruf oder Profession? ................................................................................. 47 Grundsätzliche Wertorientierung der Professionalität . ......................... 49 Persönliche Dimension der Professionalität . ........................................... 50 Ethik als Professionalisierungsmerkmal . .................................................. 51 Ethische Ambivalenz von Professionalisierungsprozessen ..................... 52
1.4 1.4.1 1.4.2
Pflegeausbildung im Wandel ....................................................................... 53 Impulse durch die Novellierung des Krankenpflegegesetzes ................. 53 Veränderungen im Selbstverständnis der Lehrenden und der Ausbildungsstätten ........................................................................ 54 Einflüsse der Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen . .......................... 55 Strukturveränderungen . ............................................................................. 56
1.4.3 1.4.4
42 42 43 45
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Inhaltsverzeichnis
2. Ethik ......................................................................................................................... 59
2.1 2.2 2.2.1
Die Entwicklung der Pflegeethik in Deutschland ................................... 62 Skizze der aktuellen Diskussion ................................................................. 67 Berufspolitische Orientierung: Medizinethik versus Pflegeethik ................................................................ 68 2.2.1.1 Braucht die Pflege eine eigene Ethik? ......................................................... 70 2.2.1.2 Ethische Medizinkritik ................................................................................. 74 2.2.2 Philosophisch begründete Ansätze . .......................................................... 77 2.2.3 Theologen und Pflegeethik: ein neues Verhältnis . .................................. 80 2.2.4 «Empirische Ethik» ...................................................................................... 82 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.2.4 2.3.2.5 2.3.2.6 2.3.3 2.3.3.1 2.3.3.2 2.3.3.3 2.3.4 2.3.4.1 2.3.4.2 2.3.4.3 2.3.4.4 2.3.5 2.3.5.1 2.3.5.2 2.3.6 2.3.6.1 2.3.6.2 2.3.7 2.3.7.1
Konturen einer Ethik pflegerischen Handelns ......................................... 84 Zum Grundverständnis: Ethik in der Pflege ............................................ 84 Neuorientierung der Ethik im Gesundheitswesen .................................. 89 Negativität und Gelassenheit ....................................................................... 91 Anthropologische Reflexion statt Begründung ....................................... 92 Einbeziehung von Fragen des guten Lebens . ........................................... 93 Gegen instrumentalistische Anwendungsorientierung . ........................ 94 Vereinbarkeit von Universalismus und Situationsbezug ........................ 95 Das Moralprinzip als Bezugspunkt der Ethik .......................................... 96 Die Begründungsfrage ................................................................................. 97 Teleologische oder konsequenzialistische Ethik ...................................... 98 Deontologische Ethik ................................................................................. 100 Die Unsinnigkeit der Abgrenzung und das Begründungsproblem .................................................................. 102 Anthropologische Reflexion von Moral .................................................. 104 Anthropologie und Ethik .......................................................................... 105 Leiblichkeit als für die Pflege zentrale anthropologische Dimension . ................................................................... 107 Widerfahrnis – ein Gegengewicht zur Überbetonung der Autonomie ............................................................................................ 109 Grenzsituationen ........................................................................................ 109 Personorientierung und der Streit um den Personbegriff ..................... 111 Die widerstreitenden Grundsatzpositionen zum Personbegriff ....................................................................................... 112 Personorientierung in der Pflege . ............................................................. 119 Prinzipien als Reflexionsbegriffe .............................................................. 123 Zum Verständnis von Prinzipien in der Ethik . ..................................... 123 Ethische Prinzipien für die Ethik in der Pflege . .................................... 125 Modell für die ethische Reflexion ..............................................................145 Kasuistik ...................................................................................................... 146
Inhaltsverzeichnis
2.3.7.2 Kritische Darstellung existierender Entscheidungsmodelle der Pflegeethik ............................................................................................. 148 2.3.7.3 Darstellung und Erläuterung des Reflexionsmodells ............................. 152 3. Didaktik .................................................................................................................... 161
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.3.1 3.1.3.2 3.1.4
Bildung und Didaktik – zum Grundverständnis ................................... 165 Bildung als zentrale Kategorie der Didaktik .......................................... 166 Negativität und Didaktik: zur Unverfügbarkeit des Lernens .............. 168 Person- oder Sachorientierung? ................................................................ 173 Der Einfluss persönlicher Faktoren auf das Lernen ............................... 175 Eine didaktische Kontroverse ................................................................... 177 Vermittlung und Methode als Selbstzweck? . .......................................... 179
3.2 3.2.1 3.2.2
Pflegedidaktische Konzepte ....................................................................... 182 Folgen der Umbruchsituation in der Pflegeausbildung ......................... 183 Zielorientierungen: Handlungsorientierung und Schlüsselqualifikationen ..................................................................... 185 Lernfeldorientierte Curricula in der Pflegeausbildung . ....................... 194
3.2.3 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.2.4 3.3.3 3.3.3.1 3.3.3.2 3.3.3.3 3.3.3.4 3.4 3.4.1
Ethik lehren und die Ethik des Lehrens .................................................. 199 Die Fragen der Schüler . ............................................................................. 199 Pädagogische Ethik und pädagogisches Ethos . ..................................... 201 Die Einstellung zu Schülern ...................................................................... 203 Personale Kompetenz von Lehrenden als Element ihres Ethos ................................................................................................... 204 Fachliche Kompetenz von Lehrenden als Element ihres Ethos ................................................................................................... 205 Selbstreflexion – pädagogische Ethik reflektiert das berufliche Ethos ................................................................................... 206 Schlussfolgerungen zur Vermittlung von Ethik in der Pflegeausbildung . ............................................................................ 207 Didaktische Grundsätze für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung . ............................................................................ 207 Zielorientierung für den Ethikunterricht ............................................... 208 Inhaltliche Fragen bei der ethischen Bildung von Pflegenden ............................................................................................ 209 Geeignete Lernformen für die ethische Bildung von Pflegenden ............................................................................................. 210 Zwischenfazit: das Theorie-Praxis-Problem als Herausforderung für Bildung .................................................................... 218 Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in Pflege, Ethik und Didaktik ..................................................................................... 219
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Inhaltsverzeichnis
3.4.2 3.4.3
Urteilskraft als Vermittlungsmedium ..................................................... 223 Ein theoretisch reflektiertes Konzept für die Praxis der Ausbildung . ................................................................. 224
Teil II Ergebnisse . ............................................................................................................ 225 4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung . ............................. 227
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4
Ethik in der Pflegeausbildung . ................................................................. Gesetzliche Bestimmungen . ..................................................................... Curricula und Ministerialerlässe zur Pflegeausbildung ....................... Entwicklung und Stand des Ethikunterrichts ........................................ Die Grenzen des «Faches» Ethik ..............................................................
4.2 4.2.1
Konzept des Ethikunterrichts für die Pflegeausbildung . ..................... 244 Ethik in der Pflegeausbildung als Querschnittsthema und als eigenes Wissensgebiet .................................................................. 245 Struktur des Konzepts ............................................................................... 247 Themen für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung in der Übersicht .......................................................................................... 248 Pflege, Ethik und Anthropologie (Grundlagen 1) ................................. 250 Wertorientierungen und Dialog (Grundlagen 2) . .................................. 251 Verantwortung für das eigene Handeln .................................................. 253 Rechte und Pflichten .................................................................................. 254 Fürsorge und professionelle Grundhaltung ........................................... 256 Autonomie ................................................................................................... 257 Grenzfragen am Anfang des Lebens . ...................................................... 258 Grenzfragen am Ende des Lebens I: Hirntod und Organtransplantation ......................................................... 260 Grenzfragen am Ende des Lebens II: Sterbehilfe, Therapiebegrenzung . ............................................................ 261
4.2.2 4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.3.3 4.2.3.4 4.2.3.5 4.2.3.6 4.2.3.7 4.2.3.8 4.2.3.9 4.3
229 229 232 239 242
Lernortvernetzung ..................................................................................... 262
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit ..................................................................... 265
5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3
Didaktische Vorüberlegungen .................................................................. Über die Notwendigkeit von Orientierungswissen am Anfang der Ausbildung . ..................................................................... Charakteristika der Zielgruppe, bezogen auf die geplante Lerneinheit ............................................................................ Inhaltliche Vorüberlegungen zur Verbindung von Pflege mit Ethik und Anthropologie als Grundlage des Pflegeverständnisses . .............
267 267 269 269
Inhaltsverzeichnis
5.1.4
Arbeitsformen und Methoden des Einführungsseminars ................... 270
5.2
Die Elemente des Einführungsseminars mit didaktisch-methodischen Kommentaren ........................................ 271 Einführung .................................................................................................. 271 Einführung in anthropologische Fragen ................................................ 272 Szenisches Spiel ............................................................................................ 276 Textarbeit ..................................................................................................... 280 Einführung in die Ethik ............................................................................. 282 Den Zusammenhang zwischen Ethik, Pflege und Anthropologie anhand einer Fallgeschichte herstellen ................................................... 283
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.3
Rückblick auf die Entwicklung der Einheit ............................................. 285
6. Institutionelle und organisationale Voraussetzungen für ethische Reflexion in der Praxis des Gesundheitswesens ................................................. 289
6.1 6.2 6.2.1
Institutions- und Organisationsethik . ..................................................... 291
Qualitätsentwicklung und Ethik .............................................................. Ethisch fundierte Qualitätsentwicklung in Krankenhäusern und anderen Pflegeeinrichtungen ............................................................ 6.2.1.1 Management und Ethik ............................................................................. 6.2.1.2 Klinische Ethik ........................................................................................... 6.2.2 Ethisch fundierte Qualitätsentwicklung in Bildungseinrichtungen . ........................................................................
293 295 295 298 299
Literaturverzeichnis ........................................................................................... 305 Anhang ...................................................................................................................... 315 A1
Richtlinie der Bundesärztekammer zur ärztlichen Begleitung Sterbender ....................................................... 317
A2
Resolution der Arbeitsgruppe «Pflege und Ethik»: ‹Der Mensch lebt nicht vom Brot allein› ................................................. 322
A3.1 Arbeitsblatt «Rechte und Pflichten» ........................................................ 325 A3.2
Ethik: Übungsarbeit zum Thema «Rechte und Pflichten» ................... 329
A4
Abbildung: Plakat zum Seminar Pflege, Ethik und Anthropologie ..................................................................................... 330
Über die Autorin .................................................................................................... 333 Sachwortverzeichnis ......................................................................................... 334
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Danksagung Mein besonderer Dank gilt denen, die mich trotz meiner unüblichen akademischen Laufbahn zur Promotion ermutigt und auf dem Weg begleitet haben – an erster Stelle meiner Doktormutter Ilse Bürmann, die überhaupt den Anstoß zu dem Projekt gab, und die mich mit gelassener Zuversicht, Ermutigung und konstruktiver Kritik in allen Phasen der Erstellung der Arbeit begleitete. Meiner philosophischen Lehrerin Theda Rehbock danke ich für viele neue Einsichten und ihre tatkräftige Unterstützung durch kritische Diskussion meiner Texte und ihre Ermutigung in schwierigen Phasen. Dank geht auch an meinen Zweitgutachter Hartmut Remmers für sein Interesse an der Arbeit und seine kritisch-konstruktiven Rückmeldungen in der Schlussphase. Uta Oelke und Helen Kohlen danke ich für ihre sorgfältigen inhaltlichen Rückmeldungen zu Teilen des Textes; Ute Warbein für ihr präzises Lektorat des gesamten Textes. Stellvertretend für alle Kolleginnen aus der Charité, die mich während der Zeit der Promotion ermutigt und ertragen haben, bedanke ich mich bei Magdalena Rösch und Hedi Francois-Kettner. Unserer Supervisorin Marjoke Westen verdanke ich wichtige Anregungen zum Thema professionelle Grundhaltung. Ganz besonders dankbar bin ich meinem Mann Gunnar Kristiansen, der meinen Entwicklungsweg mit großer Geduld und mit Optimismus begleitete und unterstützte. Ohne die großzügige Förderung durch die Evangelische Studienstiftung Villigst wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ich danke der Stiftung auch dafür, dass sie das Wagnis einer älteren Promovierenden unterstützte. Von den Promovierendentreffen im Haus Villigst kamen viele Impulse und das Erlebnis fröhlicher Gemeinschaft. Jürgen Georg, Lektor für den Bereich Pflege beim Verlag Hans Huber, danke ich für seine guten Ideen zur Gestaltung des Buches. Auch möchte ich hier einige Arbeitsgruppen und Organisationen dankend erwähnen, die mir seit Jahren ein wichtiges Forum der fachlichen Auseinandersetzung und persönlichen Entwicklung sind:
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Danksagung
• die
Akademie für Ethik in der Medizin, die als wissenschaftliche Fachgesellschaft die Themen oft schon lange vorher diskutiert, bevor sie eine breite Öffentlichkeit erreichen und in der ich ein lange gesuchtes interprofessionelles Forum fand;
• die Arbeitsgruppe «Pflege und Ethik» der Akademie, ein ermutigendes Beispiel für interprofessionelle Zusammenarbeit und Verständigung zwischen Pflegenden, Ärzt/innen, Philosoph/innen und Theolog/innen;
• die aus dem Studiengang für Lehrkräfte im Gesundheitswesen der Universität
Osnabrück hervorgegangene Supervisionsgruppe unter der Leitung von Ilse Bürmann, in der wir seit Ende des Studiums im Jahr 1990 unsere Berufs- und Lebenswege verfolgen und reflektieren;
• die Gruppe der von Uta Oelke und Gisela Ruwe ausgebildeten Spielleiter/innen für szenisches Spiel und, last but not least,
• die Sektion Bildung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft.
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Einleitung Es gibt eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der Bedeutung, die der Ethik in der Pflege allenthalben zugeschrieben wird, und ihrer tatsächlichen Vorfindlichkeit in Curricula, Unterrichtskonzepten oder in praktischen Diskursen. Die Ethik in der Pflege scheint trotz zahlreicher Veröffentlichungen in den letzten Jahrzehnten nicht an Kontur gewonnen zu haben. In wissenschaftlichen Diskursen spielt sie eine begrenzte, in praktischen fast gar keine Rolle; d. h. ethische Überlegungen finden sich eher in Präambeln und Leitbildern als in praktischen Konzepten. Die Umbrüche im Gesundheitswesen, die zu zahlreichen Strukturveränderungen sowohl in Kliniken als auch in Bildungseinrichtungen führen, stehen im Vordergrund und lassen ein Thema wie Ethik beinahe schon unzeitgemäß wirken. Diese Arbeit soll deutlich machen, dass ethische Reflexion den Kern der Pflege betrifft, und will damit ein Verständnis von Ethik in die Pflege hineintragen, das die vorherrschenden rationalistischen und formalistischen Konzepte von Ethik kritisiert und überschreitet, indem ethische Reflexion mitten in der Pflegepraxis und in der Ausbildung angesiedelt wird. Gerade an den Ausbildungskonzepten lässt sich das ungeklärte Verständnis von Ethik ablesen, das Ethik entweder zur Marginalie verkommen oder sich zu praxisfernen rationalistischen Konzepten aufblähen lässt. Die unbefriedigende Einbindung von Ethik in Ausbildungskonzepte war der Anlass für diese Arbeit. Sie will einen Beitrag zur theoretischen Klärung leisten und gleichzeitig konkrete Vorschläge in Form einer curricularen Konzeption vorlegen. Ethikunterricht in der Pflegeausbildung soll dazu beitragen, eine ethisch reflektierte professionelle Grundhaltung zu entwickeln. Die Notwendigkeit, Schwerpunkte zu setzen und auszuwählen, bestimmt jede wissenschaftliche Arbeit, besonders aber eine, deren Thema über mehrere Gegenstandsbereiche mit jeweils ausgeprägtem wissenschaftlichem Eigenleben gespannt ist. Denn um Ethik in der Pflegeausbildung zu konturieren muss einerseits die Pflege selbst betrachtet und die Rolle, die Ethik dort traditionell und in heutigen Diskursen spielt, untersucht werden, andererseits muss eine Standortbestimmung in der Didaktik vorgenommen werden, die der Spezifik der Pflege und der Ethik
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Einleitung
Rechnung trägt. Den größten Raum bei den theoretischen Vorüberlegungen nimmt die Positionierung zur Ethik ein, die – von der Analyse bestehender Konzepte ausgehend und der phänomenologisch-anthropologischen Neuorientierung der Ethik durch die Philosophin Theda Rehbock folgend – ein neues Verständnis der Ethik in der Pflege vorstellt und erläutert. Die theoretischen Überlegungen bilden den Begründungsrahmen für ein konkretes inhaltlich-curriculares Konzept für die Ethik in der Pflegeausbildung, das in den bisherigen Ausbildungskonzeptionen überwiegend fehlt, auch wenn Einigkeit über die Wichtigkeit von Ethik besteht. Viele Ausbildungskonzepte gründen sich auf didaktische Vorüberlegungen und auf Vorüberlegungen zum Verständnis von Pflege. Was hier oft noch fehlt, sind rote Fäden, die sich durch alle Wissensgebiete und Lernbereiche ziehen, die das Wesentliche des pflegerischen Handelns immer wieder deutlich machen und so auch Verbindungen zwischen den verschiedenen Lerneinheiten und Lernbereichen schaffen. Solche Querschnittsthemen sind neben und in Verbindung mit der Ethik auch Qualität, Kommunikation und Organisation. Der Anspruch dieser Arbeit kann es nicht sein, Grundlegungen zur Didaktik oder zur Ethik zu entwickeln. Es soll auch nicht lediglich ein weiterer Überblick über Modelle und Ansätze der Didaktik und der Ethik für die Pflege gegeben werden, sondern es werden, der Natur des Gegenstandes und der eigenen Erfahrung folgend, Schneisen durch den Stand der Forschung gezogen, die auf einen gemeinsamen Punkt hinführen, das Ziel dieser Arbeit: begründete Vorschläge für ein Bildungsangebot an Auszubildende in der Pflege in Bezug auf Wertorientierung, ethische Reflexion und die entsprechende Kompetenzentwicklung zu formulieren. Am Anfang steht eine Rückbesinnung auf die Ursprünge des pflegerischen Ethos. Das erste Kapitel nimmt mit einem geschichtlichen Rückblick Gehorsam, Nächstenliebe und Selbstlosigkeit als traditionelle Elemente des Pflegeethos in den Blick und stellt durch die Untersuchung der Ethik-Kodizes verschiedener Pflegeorganisationen einen Vergleich mit dem heute vorherrschenden Ethos her. Auch die Traditionen der Pflegelehre werden beleuchtet, denn sie bilden den Hintergrund für die heutigen Entwicklungen der Pflegeausbildung. Der dritte Schwerpunkt der Erkundungen zur Pflege ist die Professionalisierung, in deren Kontext zwar die Akademisierung kurz skizziert, die Entwicklung der Pflegewissenschaft jedoch nicht weiter nachgezeichnet wird. Der Schwerpunkt liegt eher auf den ethischen Implikationen der Professionalität. Die Ausbildung einer ethisch reflektierten professionellen und moralischen Grundhaltung wird in diesem Zusammenhang für wichtiger erachtet als die Entwicklung von Ethik als Professionalisierungsmerkmal. Zum Abschluss des Kapitels wird die aktuelle Umbruchsituation der Pflegeausbildung dargestellt, die gleichzeitig Herausforderung und Entwicklungschance für die Pflege ist.
Einleitung
Welches Konzept von Ethik in der Pflege sollte in der Pflegeausbildung vermittelt werden? Diese Frage bestimmt das zweite Kapitel, das mit einem Rückblick auf die Entwicklung dieser Bereichsethik und der Darstellung des aktuellen Forschungsstandes beginnt. Für den Zweck dieser Arbeit wurde die angloamerikanische Debatte ausgeklammert, denn die dortigen Entwicklungen der Pflege und Medizin sind ebenso unterschiedlich wie die vorherrschenden Ethikkonzepte. Ein Vergleich dieser Konzepte und Strömungen überschreitet die Möglichkeiten dieser Arbeit, die sich auf die Pflegeausbildung im deutschsprachigen Raum bezieht, und damit auch von dessen weltanschaulich-kulturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmt ist. Für das Profil der Pflege scheint immer auch ihre Abgrenzung zur Medizin bestimmend zu sein, so auch in der Ethik. Da Pflege und Medizin sich in einem gemeinsamen Handlungsfeld bewegen und mit dem Wohl des Patienten auch ein gemeinsames Ziel verfolgen, ist ein kritischer Blick darauf angebracht, wie sich die Medizin in der übergreifenden Bedeutung des Wortes als gesellschaftliche Institution und Praxis heute im Verhältnis zur Pflege darstellt. Es herrscht in der Medizin ein reduziertes, einseitig naturwissenschaftliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit vor, in dem der Kranke als Person ebenso verschwindet wie die Selbstbestimmung der Helfer – daraus resultieren ethische Probleme im Alltag der Pflegenden und Ärzte. Das in der Philosophie und in Teilen der Medizinethik verbreitete rationalistische Ethikverständnis wird den Problemen in nicht standardisierbaren Alltagssituationen und in Grenzsituationen des Lebens nicht gerecht. Deshalb wird hier mit dem phänomenologisch-anthropologischen Ansatz von Theda Rehbock eine Neuorientierung der Ethik (nicht nur) in der Pflege angeregt und in Grundzügen vorgestellt. Nach diesem Ansatz erfolgt ethische Reflexion nicht aus einer distanzierten und objektivierenden Perspektive, sondern grundsätzlich aus der Sicht der Beteiligten einer gesellschaftlichen Praxis. Dementsprechend besteht die Ethik in Pflege und Medizin auch nicht in einer bloßen «Anwendung» von Prinzipien. Es geht vielmehr darum, die der menschlichen Praxis zugrunde liegende moralische Orientierung in Form eines universalen Moralprinzips bewusst zu machen und sie im Hinblick auf die ethischen Probleme medizinischer und pflegerischer Praxis kritisch zu reflektieren. Diese ethische Reflexion erfolgt vor dem Hintergrund der gemeinsam geteilten menschlichen Grundsituation, die durch anthropologische Grundbedingungen wie Leiblichkeit, Zeitlichkeit und Interpersonalität gekennzeichnet ist. Die ethischen Prinzipien, Würde, Autonomie, Fürsorge, Gerechtigkeit, Verantwortung und Dialog, die auch das im vierten Kapitel vorzustellende Unterrichtskonzept prägen, werden als Aspekte des universalen Moralprinzips und der menschlichen Grundsituation verstanden. Eine in der Medizinethik viel diskutierte Frage ist die, ob alle Menschen auch Person sind, und nach welchen Kriterien dies ggf. zu entscheiden ist. Die unter-
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16
Einleitung
schiedlichen Positionen zum Personbegriff stehen für verschiedene Verständnisse vom Menschen, aber auch von Ethik und werden hier wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung für die Ethik helfender Berufe dargestellt. Wenn man davon ausgeht, dass Personalität an bestimmte empirisch feststellbare Eigenschaften wie Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zu kommunizieren gebunden ist, dann schließt man solche Menschen aus, die in besonderer Weise des Schutzes der Gemeinschaft bedürfen, z. B. Säuglinge, demente Menschen und Menschen im Koma, denn mit der Zuschreibung von Personalität ist die Anerkennung der Würde und Schutzwürdigkeit verbunden. Pflege und Medizin haben es oft mit Grenzsituationen zu tun, in denen sich die Frage stellt, was aus Sicht der Betroffenen angemessen ist. Solche Grenzfragen können aber nicht mit Hilfe abstrakter Kriterien, sondern nur im Kontext menschlicher Lebenspraxis beantwortet werden. Den Übergang zwischen den Vorüberlegungen zur Ethik und denen zur Didaktik bildet ein Modell zur ethischen Reflexion, das in Abgrenzung zu den gängigen «Entscheidungsmodellen» in der angewandten Ethik entwickelt wurde. Das Modell kann sowohl für die Bearbeitung von Fallgeschichten als auch zur Reflexion selbst erlebter Situationen eingesetzt werden und ist somit auch ein didaktisches Hilfsmittel. Die Situations- und Erfahrungsorientierung und damit auch die Arbeit mit Fallgeschichten sind nicht nur für das hier dargestellte Konzept von Ethik wichtig, sondern bestimmen auch den didaktischen Ansatz. Mit dem dritten Kapitel folgt die Standortbestimmung in der Didaktik, für die im ersten Schritt ein bildungstheoretisches Grundverständnis dargestellt wird. Aufbauend auf Wolfgang Klafkis kritisch-konstruktiver Didaktik werden mit der Unverfügbarkeit des Lernens Aspekte der Negativität ergänzt, die vor allem für die Förderung von Reflexion und letztlich einer professionellen Grundhaltung von Bedeutung sind. Auch die Frage des unterrichtlichen Zugangs ist für das Lehren und Lernen von Ethik wichtig: muss der Ethik-Unterricht, um auch für die Praxis der Lernenden bedeutsam sein zu können, vor allem auf Erfahrungsund Praxisbezug setzen? Oder sollte er von einer theoretischen Orientierung über Grundbegriffe und Konzepte der Pflegeethik ausgehen? Ilse Bürmanns Idee der wechselseitigen Ergänzung von Person- und Sachbezug hat, zusammen mit Martin Wagenscheins Dreierschritt von der Erfahrung zur Theorie, geholfen, diese Frage beantworten. Wie bildendes Lernen mit aktuellen pflegedidaktischen Konzepten wie der Handlungsorientierung und den Schlüsselqualifikationen verträglich ist, wird im zweiten Teil des Kapitels erläutert, das mit dem Konzept lernfeldorientierter Curricula außerdem den Rahmen vorstellt, in den der Ethikunterricht für die Pflegeausbildungen eingepasst werden muss. Schließlich wird in Bezug auf Ethikunterricht nach dem Interesse der Schüler und der Grundhaltung, dem pädagogischen Ethos, der Lehrer gefragt, bevor als
Einleitung
Ergebnis der Erkundungen in der Didaktik Eckpunkte für die ethische Bildung von Pflegenden vorgestellt werden. Bei den Lernformen vertieft ein exempla rischer Exkurs die erfahrungsorientierte Methode des szenischen Spiels. Am Übergang zwischen dem ersten Teil der Arbeit mit den theoretischen Grundlagen und dem zweiten Teil mit dem konkreten Konzept und seinem institutionellen Rahmen stehen einige Überlegungen zum Verhältnis von Theo rie und Praxis. Dieses bestimmt als Grundfrage sowohl die Pflegewissenschaft, als auch Ethik und Didaktik. In kritischer Abgrenzung zu einer in allen diesen Bereichen verbreiteten instrumentalistischen Anwendungsorientierung verstehe ich die konstitutive Spannung zwischen Theorie und Praxis als Lernanlass und als Herausforderung für Bildung, die darauf gerichtet sein soll, Urteilskraft als Vermittlungsmedium zu üben und zu fördern. Im vierten Kapitel wird das Unterrichtskonzept vorgestellt, das sich im Laufe der theoretischen Erarbeitung und im Licht neuer Lehrerfahrungen herauskris tallisierte. Am Anfang steht die Suche nach dem «Fach» bzw. dem Thema Ethik in den gesetzlichen Vorgaben und in den gerade neu entwickelten Curricula. Sie zeigt: Ethik ist, trotz der allgegenwärtigen Bekundung ihrer Wichtigkeit, in der Ausbildung ein Randthema geblieben, das die Pflege offenbar noch nicht zu ihrem eigenen Thema gemacht hat. Das hier entwickelte Konzept soll einen Beitrag dazu leisten, der Bedeutung von Ethik curricular und inhaltlich einen angemessenen Raum zu geben. Dafür wird Ethik einerseits in den beiden Grund lageneinheiten als eigenes Wissensgebiet dargestellt und vermittelt, und ande rerseits als Querschnittsfach konzipiert, das die gesamte Ausbildung durchzieht wie ein roter Faden, indem thematische Einheiten an andere, inhaltlich passende Lerneinheiten angehängt werden und so die ethische Perspektive zu Themen wie Qualitätssicherung oder Umgang mit chronisch Kranken ergänzen. Gleichzeitig ist das Konzept nicht als geschlossenes misszuverstehen – das Prinzip des offenen Curriculums ist besonders in der jetzigen Phase, in der weitgreifende Veränderungen in der Pflegeausbildung vorgenommen werden, eminent wichtig. Deshalb ist das Konzept nur ein Ausgangspunkt, um weiter zu experimentieren und immer wieder Neues zu erproben. Die vorgestellten Ein heiten sind überwiegend in dieser Form erprobt worden. Die Einführungseinheit, die, vor allem durch die Untersuchungen zur Ethik angeregt, völlig neu entwickelt und mehrfach erprobt wurde, wird im fünften Kapitel genauer vorgestellt. Hier werden exemplarisch die didaktischen Vorüberlegungen, methodischen Zugänge und inhaltlichen Schwerpunkte des zweitägigen Seminars dargestellt. Die Einführungseinheit «Pflege, Ethik und Anthropologie» will gleich zu Beginn der Ausbildung nicht nur Ethik als eigenes Wissensgebiet vorstellen, sondern ihre
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enge Verflechtung mit der Pflege und dem Verständnis vom Menschen deutlich machen. Zum Abschluss nimmt das sechste Kapitel das institutionelle Umfeld des moralischen Handelns in der Pflege und Medizin in den Blick. Institutionen sind nicht neutral, sie bilden mehr oder weniger gute Möglichkeiten und Freiräume für moralisches Handeln. Auch Qualität ist nichts Außermoralisches, denn das Gute muss immer auch moralisch gerechtfertigt werden. Deshalb geht ein formalistischer und schematischer Umgang mit Qualitätsentwicklung am Ziel vorbei – ohne eine ethische Basis wird Qualitätssicherung nur als Kontrolle und zusätzlicher Dokumentationsaufwand erlebt. Klinische Ethik ist ein neuer Zweig der Ethik im Gesundheitswesen, der ethisch fundierte Organisationsentwicklung mit verschiedenen Mitteln betreibt. Bildungseinrichtungen können ein Motor für Qualitätsentwicklung sein und ethische Kompetenz entwickeln helfen. Doch sie müssen selbst nach ethischen Grundsätzen geleitet werden, um diese Aufgaben gut wahrnehmen zu können. Im Lauf der Erarbeitung kristallisierte sich allmählich eine Passung der Theorien und Konzepte heraus, an denen ich mich zum Teil schon jahrelang orientiert hatte. Das Verständnis von Pflege als nicht in erster Linie naturwissenschaftlich, sondern eher anthropologisch und ethisch zu begründendem Phänomen ist dem Verständnis von Ethik als von der Praxis ausgehender Reflexion der Moral verwandt, und beide lassen die Orientierung an Klafkis kritisch-konstruktiver Didaktik und anderer damit kompatibler Konzepte sinnvoll erscheinen. Allen Konzepten, die für diese Arbeit wichtig sind, ist gemeinsam, dass sie nicht auf sichere, schnelle Lösungen setzen, sondern auf bewusste Wahrnehmung, Reflexion, Gelassenheit und die Einsicht in eigene Grenzen. Wie in der Ethik, so kann auch in der Sprache die starre Anwendung von Regeln kontraproduktiv sein. Weder die durchgängige Verwendung der männlichen Form und das damit verbundene automatisierte (und deshalb meist nicht stattfindende) Mitdenken der Frauen, noch eine zu Satzungetümen und unlesbaren Worten führende formal-inklusive Sprache schien mir deshalb wünschenswert. Sprache ist ein Abbild der Realität und beeinflusst diese, deshalb soll das Umdenken und Mitdenken in entsprechenden Formen seinen Ausdruck finden, die ich aber nicht als Regel festlege, sondern frei variiere. Wenn das mitunter zu Irritationen führt, so entspricht das der Lebendigkeit von Sprache und dient dem Anliegen der Emanzipation eher als eine schematische Lösung.
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Teil I
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Ergebnisse
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Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
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Ergebnisse
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
Die Geschichte und die heutigen Rahmenbedingungen der Pflege bilden den ersten Bezugsrahmen dieser Arbeit. Für ein Konzept des Ethikunterrichts in der Pflegeausbildung ist die Entwicklung des Berufsethos und des beruflichen Selbstverständnisses ebenso wichtig wie die Traditionen der Pflegeausbildung und die heutige Situation; beide werden in diesem Kapitel untersucht. Mit einem kurzen historischen Rückblick wird der Entstehung des beruflichen Ethos nachgegangen. Im Anschluss werden einige wichtige Stationen in der Entwicklung der Ausbildung und des Berufes selbst mit ihren Auswirkungen erörtert. Der inzwischen sehr umfangreiche Professionalisierungsdiskurs wird unter der Perspektive aufgenommen, welche Rolle Ethos und Ethik darin spielen. So soll ein Bild der Pflege entstehen, das den Hintergrund für die weiteren Überlegungen zur Ethik und Didaktik bilden kann.
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Traditionen und Wertorientierungen der Pflege Die spezifischen Traditionen der Pflege, auch wenn sie längst überholt scheinen, beeinflussen ihr Ethos bis in die heutige Zeit. Es geht hier vor allem um den christlichen Ursprung und die christliche Prägung der Pflege, sowie um die Folgen der Tatsache, dass die Pflege ein Frauenberuf war und ist. Deshalb soll der kleine geschichtliche Rückblick am Beginn dieser Arbeit die Faktoren herauskris tallisieren, die die Wertorientierungen der Pflege bis heute bestimmen.
1.1.1 Entwicklung des Berufsethos der Pflege
In der Geschichtsbetrachtung der Pflege sind sich die Autor/innen weitgehend einig, dass man von Pflege als Beruf erst ab den großen Entwicklungsschüben sprechen kann, die sie im 19. Jahrhundert erfuhr. Zuvor gab es zwar schon Ausbildungsansätze, aber es gab außer der Ordenspflege keine Organisationsform der Pflege. Dies änderte sich mit dem «Wandel des Hospitals zum Krankenhaus» (Seidler: 160). Während die Hospitäler zunächst Sammelbecken für Arme, Obdachlose, Kranke und Ausgestoßene wie etwa ledige Mütter und Findelkinder waren, in die sich kein einigermaßen wohlhabender Mensch freiwillig begeben hätte, entstand mit dem Allgemeinen Krankenhaus in Wien 1784 erstmals eine Einrichtung, die mehr den heutigen Krankenhäusern ähnelt: Es gab verschiedene Stationen für verschiedene Erkrankungen, Ärzte waren rund um die Uhr anwesend. Solche Krankenhäuser konnten mit dem unausgebildeten Lohnwartpersonal, das bisher das Gros der Pflegerinnen in den Hospitälern ausgemacht hatte, nicht mehr arbeiten; sie brauchten ausgebildete Pflegekräfte, die durch gute Versorgung und Beobachtung der Kranken die Erfolge der medizinischen
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Behandlung sicherten. Die Barmherzigen Schwestern oder Vinzentinerinnen, die als Pflegeorden international zum Einsatz kamen, hatten hier den besten Ruf. Dies inspirierte den pietistischen Pfarrer Theodor Fliedner zur Gründung eines evangelischen Mutterhauses in Kaiserswerth (1836) und zur Ausbildung von Pflegerinnen. Den Frauen aus schwachen sozialen Verhältnissen wurde so eine Existenzgrundlage geschaffen, sie wurden in eine Gemeinschaft integriert, theoretisch ausgebildet (um diese Zeit eine Besonderheit!) und über Gestellungsverträge1 in Krankenhäusern, aber auch bei Privatpersonen zum Einsatz gebracht. Wie stark der Einfluss des Glaubens auf diese Gemeinschaft und ihre Arbeitsauffassung war, beschreibt Johanna Taubert in ihren Ausführungen zur Krankenpflege als dienende Liebestätigkeit. Mit den dort genannten Stichworten «Das Weib sei dem Manne untertan» und «Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen» (Taubert 1994: 48) zeigt Taubert die Wurzeln jener Tugenden auf, die von den Pflegerinnen damals verlangt wurden und oft unbemerkt das Ethos der Pflege noch heute prägen: Unterordnung unter die männliche Autorität, Gehorsam2 und Selbstverleugnung. «Selbstlosigkeit bis zur Aufopferung, Gehorsam bis zur Unterwerfung waren die Tugenden, die mit der Nächstenliebe verknüpft wurden», schreibt Hans-Ulrich Dallmann in einem Artikel über die Grundlagen der Pflegeethik (Dallmann 2003: 8). Claudia Bischoff weist in ihrem Buch «Frauen in der Krankenpflege – zur Entwicklung von Frauenrolle und Frauenberufstätigkeit im 19. und 20. Jahrhundert» auf den Einfluss des bürgerlichen Weiblichkeitsideals des 19. Jahrhunderts auf die Entwicklung der Krankenpflege hin. Die Überzeugung von der natürlichen Bestimmung der Frau zur Hausarbeit schloss im 19. Jahrhundert eine normale Berufstätigkeit von Frauen aus. Die Krankenpflege, die gemäß damaliger Idee aus Berufung, aus Liebe und unbezahlt geleistet wurde, bildete hier eine Ausnahme – selbstverständlich neben der großen Zahl von Frauen und Kindern aus der Unterschicht, die in Fabriken schlecht bezahlte Schwerstarbeit leisten mussten, um überhaupt überleben zu können. Der Sicht der Frau als schutzbedürftiges Mängelwesen kam auch die (schon im 17. Jahrhundert mit den Vinzentinerinnen entstandene) Organisationsform des Mutterhauses entgegen. Die Frauen lebten ohne Ordensgelübde (aber zölibatär) in einer Gemeinschaft zusammen, deren Leitung ihren Arbeitseinsatz per Gestellungsvertrag mit den Einrichtungen regelte, die Pflegerinnen brauchten 1 ����������������������������������������������������������������������������������� Die Schwestern haben keinen Arbeitgeber, sondern werden vom Mutterhaus auf Anforderung in Krankenhäuser und andere Institutionen geschickt und gegen Entgelt eingesetzt. Sie unterstehen dem Mutterhaus, das für ihre Unterkunft, Verpflegung und Alterssicherung sorgt. 2 Dies kommentiert Anna Sticker: «Der Lernvorgang wurde nicht auf Einsicht, sondern auf Befehlen und Gehorchen aufgebaut. Zu denken hatte der Lernende nicht.» Sie verwies auch auf die Sitte, die Privatlektüre von Frauen (nicht nur in Mutterhäusern!) zu kontrollieren. «Frauen brauchen ihren Verstand nicht zu bilden» (zit. nach Taubert 1994: 81).
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
und anforderten. Positiv gesehen ermöglichten die Mutterhäuser ihren Mitgliedern die damals nicht zulässige Berufstätigkeit in einem geschützten Raum und sicherten sie für das Alter ab. Die Kritik am Mutterhaussystem richtet sich vor allem gegen die Entmündigung der Frauen, die noch im fortgeschrittenen Alter um Ausgang bitten mussten, einer strengen sozialen Kontrolle unterlagen und nur ein Taschengeld erhielten. In ihrer Arbeit «Wir sind die Pionierinnen der Pflege …» kritisiert Traudel Weber-Reich Bischoffs Sicht der Frauenrolle in der Pflege als zu pauschal und korrigiert und ergänzt sie durch eigene lokalhistorische Studien, mit denen sie zeigen konnte, dass christliche Krankenschwestern «weitgehend eigenständig eine Infrastruktur der beruflichen Pflege bis hin zum zeitgemäßen Krankenhausbau entwickelt haben». Bischoff und andere Autorinnen der neueren historischen Pflegeforschung hätten ihre Thesen nicht hinreichend auf empirisches Material gestützt, so Weber-Reichs Kritik: Krankenpflege sei keineswegs nur als Hilfsberuf für Ärzte ohne eigene Fachkompetenz entstanden. Vielmehr gab es seit Mitte des 19. Jahrhunderts von christlichen Krankenschwestern gegründete und geleitete «Krankenpflegehäuser», in denen teilweise sogar Pflegeausbildung betrieben wurde.3 Die Forschung übersieht oft, so Weber-Reich, dass es auch Mutterhäuser mit Frauen an der Spitze gab,4 die Geschäftsführerin, Krankenhausoberhaupt und Pflegeausbilderin zugleich waren, mächtige Frauen also, denen Ärzte und Pastoren untergeordnet waren. Ihre Untersuchungen zeigten aber auch, dass es vonseiten der Kirchen immer wieder Bestrebungen gab, die Macht der Frauen zurückzudrängen und durch das Fliednersche «Familienmodell» zu ersetzen. Sie beschreibt mehrere Fälle, in denen erfolgreiche Oberinnen durch Pastoren als Vorsteher ersetzt und ihre Leistungen im Nachhinein relativiert wurden. In wichtigen Punkten gibt es also auch Übereinstimmungen zwischen Weber-Reichs Befunden und den Thesen der von ihr kritisierten Autorinnen: Überall zeigt sich die Missachtung der Leistung von Frauen und die Furcht vor weiblicher Macht. Die freien Schwestern, die von Agnes Karll 1903 erstmals in einem Verband organisiert wurden (Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands), wohnten nicht in Mutterhäusern und ließen sich für ihre Arbeit bezahlen. Um 3
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Weber-Reich untersuchte Gruppen von Krankenschwestern und ihre Wirkungsstätten in Göttingen: das akademische Ernst-August-Hospital, die katholischen Stiftungen Alt- und Neu-Mariahilf, das evangelische Stift Alt- und Neu-Bethlehem und die Clementinenschwestern. In ihrer Dissertation «Wir sind die Pionierinnen der Pflege …» stellt sie auch deren Entstehungsgeschichte dar und betrachtet dabei das Friederikenstift, das Henriettenstift sowie das Clementinenhaus in Hannover, die Vinzentinerinnen in Hildesheim und den Evangelischen Diakonieverein in Berlin-Zehlendorf. Sie stützt sich überwiegend auf Primärquellen, also Briefe, interne Jahresberichte, Protokolle und Tagebücher. Etwa das Straßburger Diakonissenmutterhaus und das Bethanien in Berlin.
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die moralische Berechtigung von Bezahlung für die Pflege wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts noch erbittert gestritten.5 Dabei wurden die in Orden und Mutterhäusern organisierten Schwestern gegen die freien Schwestern (boshaft auch «wilde Schwestern» genannt) ausgespielt. In der Zeitschrift «Deutscher Frauenverband» ist 1901 zu lesen: «Kein Beruf verträgt es so wenig wie gerade der der Schwester, dass der Moment des Verdienstes in ihn hineingetragen und er zum Broterwerb wird. Im freiwilligen, selbstvergessenen Dienen liegt seine Größe: Durch Verdienenwollen könnte er gerade an seiner Zartheit und seinem inneren Werte verlieren» (Kruse 1987: 21). Die Verknüpfung des bürgerlichen Weiblichkeitsideals mit dem christlichen Ideal der Nächstenliebe (für beides ist die Ablehnung der Bezahlung ein Ausdruck) hielt die Pflege in dieser wichtigen Entwicklungsphase auf dem Status eines «Nicht-Berufes», in dem sie auch während des Aufkommens der freiberuflichen Krankenpflege mit Agnes Karll noch lange verharrte. Dies wurde durch die Diskussion um die Bezahlung verstärkt: Ein richtiger Beruf ist legitimerweise auch «Broterwerb». Auch hier ergänzt und korrigiert Weber-Reich die pauschale Meinung, Pflegende hätten durchgängig ohne Bezahlung gearbeitet, durch die Ergebnisse ihrer Studien: Bereits 1865 ist im Archiv von einem «Gehalt» für die Diakonissen und die Oberin des Henriettenstifts in Hannover die Rede (Weber-Reich 2003: 78), und bei der Gründung des Evangelischen Diakonievereins Zehlendorf 1894 stellte deren Gründer Zimmer klar: «Wir dürfen also von unserer Arbeit, die wir leisten, auch den entsprechenden Lohn erwarten […]» (Weber-Reich 2003: 144). Ein weiteres Beispiel für das ängstliche Festhalten an dem Ideal von weiblicher Selbstverleugnung ist die Diskussion um die Arbeitszeit. Die Arbeitszeit in der Krankenpflege war bis dahin überhaupt nicht geregelt. 16-Stunden-Schichten bei einem freien Nachmittag in der Woche waren durchaus üblich. 1919 sollte auf Initiative der Gewerkschaften die Arbeitszeit auf 8 bis 10 Stunden täglich an
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Dazu bemerkte die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm schon 1884 sehr hellsichtig: «Ich hoffe, beweisen zu können, daß zwei Grundprinzipien bei der Arbeitstheilung zwischen Mann und Frau klar und scharf hervortreten: die geistige Arbeit und die einträgliche Arbeit für die Männer, die mechanische und die schlecht bezahlte Arbeit für die Frauen; ich glaube beweisen zu können, daß der maßgebende Gesichtspunkt für die Theilung der Arbeit nicht das Recht der Frau, sondern der Vortheil der Männer ist, und daß der Kampf gegen die Berufsarbeit der Frau erst beginnt, wo ihr Tagelohn aufhört, nach Groschen zu zählen.» Wäre der Lohn für die Pflegearbeit hoch, so ist Dohm überzeugt, «so würde kein Beruf der Welt weniger für eine Frau geeignet sein, als dieser (…) und in gewohnter Huld würde man nimmer mehr den schwächlichen Frauen die ungeheure Last der Krankenpflege aufgebürdet haben» (zitiert nach Bischoff: 71 f. und 143).
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
sechs Tagen in der Woche begrenzt werden – bei vollem Lohnausgleich, denn die Löhne waren ohnehin sehr niedrig.6 In dieser Auseinandersetzung stimmte der von Agnes Karll geleitete Verband der Pflegerinnen Deutschlands mit der Arbeitgeberseite gegen die Begrenzung und Regelung der Arbeitszeit, denn die freien Schwestern waren besonders darauf bedacht zu betonen, dass auch sie sich, trotz Entlohnung für ihre Arbeit, aufopfern wollten. Ausgerechnet die Nationalsozialisten waren es, die als erste eine Aufwertung der Pflege betrieben, allerdings nur, um die Pflege für ihre Zwecke einzuspannen. Sie erkannten rasch die Bedeutung dieser großen Berufsgruppe für ihre gesundheitsund rassenpolitischen Ziele. Besonders die Gemeindeschwestern, die nahe an den Menschen sind, sollten nationalsozialistisches Gedankengut in die Familien tragen, Behinderte und soziale Auffälligkeiten melden und Überzeugungsarbeit für z. B. Sterilisationen von behinderten Menschen leisten. Schon 1933 begann eine organisatorische Gleichschaltung aller Pflegeverbände, deren Dachverband schließlich (ab 1936) direkt der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und damit der NSDAP unterstand (Steppe 1996: 62ff). Die Ideologie von der natürlichen Bestimmung der Frau zur Mutterschaft wurde zwar im Nationalsozialismus besonders hochgehalten, andererseits führte der Mangel an Pflegepersonal immer wieder zu Werbeaktionen mit Slogans wie «Neben der Aufgabe als Mutter hat die Frau keine schönere und weiblichere Betätigung als im Beruf der Schwester» (Steppe 1996: 71). Die damals üblichen sehr hierarchischen Strukturen in den Krankenhäusern und anderen Einrichtungen ließen die Gehorsamspflicht gegenüber dem Arzt als selbstverständlich erscheinen. Eine deutliche Verschiebung im offiziellen Ethos der Pflege zeigt dieses Zitat aus dem Eid der NS-Schwestern: «Ich verpflichte mich, (…) meine Berufsaufgaben als nationalsozialistische Schwester treu und gewissenhaft im Dienste der Volksgemeinschaft zu erfüllen (…)» (Steppe 1996: 64). Nicht dem Wohl des einzelnen Patienten, sondern der «Volksgemeinschaft» sollten sie fortan zuerst verpflichtet sein. 6
Die moralisch aufgeladene Atmosphäre dieser Auseinandersetzung illustriert ein Zitat des Chefarztes Prof. Dr. Kirschberg aus Königsberg (1919): «Es ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, dass die kritiklose Masse der gewöhnlichen Handarbeiter infolge Verhetzung und Irreleitung durch gewissenlose Agitatoren schließlich ihr Ideal in maximalen Arbeitslöhnen und minimalen Arbeitszeiten erblickt. Dass aber unter dem Krankenpflegepersonal, von dem man bisher annahm, es stünde auf einer wesentlich höheren Stufe der Bildung und besäße ein besonders ausgeprägtes sittliches Pflichtgefühl, eine derartige Bewegung ernsthaft Fuß fassen konnte, ist erstaunlich. Die Tatsache zeigt, dass schon erschreckend weite Kreise unseres Volkes von der Seuche der Arbeitsscheu und Verantwortungslosigkeit ergriffen sind. (…) Damit steigt das Pflegepersonal von der hohen Warte allgemeiner Wertschätzung und Achtung und wird zum zielbewussten nüchternen Lohnarbeiter herabgewürdigt.» (Zitiert nach Steppe 1985: 22).
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Die Verbrechen von Ärzten und Pflegekräften gegenüber Kranken und Behinderten und deren Aufarbeitung in zahlreichen Prozessen nach 1945 zeigten bei vielen Pflegenden einen erschütternden Mangel an Unrechtsbewusstsein. Sie argumentierten, sie hätten nur ihre Pflicht getan und, so wie sie es gelernt hätten, die Anweisungen der Ärzte befolgt. Dass sie zu einem eigenen moralischen Urteil nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sein könnten, war für viele offenbar undenkbar.7 Die Gerichte urteilten milde. Im Unterschied zu den Ärzten wurden nur wenige Pflegekräfte hingerichtet oder zu längeren Freiheitsstrafen verurteilt. Der folgende Auszug aus der Urteilsbegründung im 2. Hadamarprozess (1948) spiegelt die vorherrschende Einschätzung: «Bei den Angeklagten des Pflegepersonals ist das Gericht grundsätzlich der Auffassung, dass abweichend von der Beurteilung der Ärzte eine gewisse Milde bei der Beurteilung ihrer Taten vertretbar ist. (…) Alle Angeklagten des Pflegepersonals sind Menschen von einfachem Geist, die als Pfleger dem Arzt und als Untertanen der Staatsführung zu gehorchen gewohnt waren. Sie waren alle innerlich zu unselbständig und von einer zu starken Trägheit des Willens besessen, um Situationen von solcher Schwere (…) in ausreichendem Maße gewachsen zu sein. Nicht verbrecherische Gesinnung, sondern menschliche Schwäche veranlaßte die Angeklagten, die Stimme der Natur oder die des Gewissens zu überhören und willensschwach den Weg zu beschreiten, auf dem ihnen Menschen vorangingen, denen sie zu gehorchen gewohnt waren» (zitiert nach Steppe 1993: 167). Das Versagen der Krankenpflege wurde wie auch bei anderen Berufen erst recht spät aufgearbeitet. Dass man durch zu viel Gehorsam und Mangel an moralischer Autonomie und Urteilskraft schuldig werden kann, ist eine der Lehren, die die Pflege ziehen musste und die, wenn auch mit Verzögerung, zu einer Neuorientierung in der Berufsauffassung und Ethik beitrug. Zunächst aber blieb in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der Krankenpflege, wie auch in vielen anderen Berufen, zumindest äußerlich alles beim Alten. Sogar die Lehrbücher aus nationalsozialistischer Zeit wurden nach einigen Streichungen weiter verwendet. Auch die steilen Hierarchien im Krankenhaus 7
Hilde Steppe, auf deren Forschung ich mich hier hauptsächlich stütze, wies allerdings auch darauf hin, dass der Widerstand von Pflegekräften noch nicht genügend erforscht ist. Nicht wenige haben sich auch geweigert, an Tötungen von Kranken mitzuwirken, oft ohne dass es für sie gefährliche Folgen hatte. Steppe teilt die Pflegenden der damaligen Zeit in fünf Hauptgruppen ein: Die Begeisterten (die schon vor 1939 rechtsradikal waren), die Angepassten (der größte Teil!), die Verfolgten (über die noch keine Forschungsergebnisse vorliegen), die Widerständigen (hier hat Steppe selbst erste Ergebnisse vorgelegt) und die Gehorsamen (die an Patientenmorden mitwirkten). Steppe 1995, nach einem Vortrag auf dem Nürnberger Kongress «Medizin und Gewissen».
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und damit die Unterordnung der Pflege unter die Ärzte blieben weitgehend bestehen. Die Geschichte der Pflege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist erst ansatzweise untersucht worden. Marianne Schmidbaur (2002) teilt in ihrer Untersuchung zur Professionalisierung die Entwicklung der Pflege im 20. Jahrhundert in fünf Phasen ein:8 1. Die Frauenberufsidee, 1903–1913 2. Die Berufskonstruktion, 1914–1933 3. Die Indienstnahme der Krankenpflege, 1933–1945 4. Die Wiederaufnahme des Professionalisierungsprojektes, 1945–1972 5. Die Arbeit am Professionalisierungsprozess, 1972 bis heute. Die Betrachtung unter dem Blickwinkel der Professionalisierung bietet sich an, weil die Entwicklung der Pflege in den Jahrhunderten seit dem Beginn der Ordenspflege im Mittelalter bis einschließlich des 19. Jahrhunderts eher religiös geprägt war, so dass Pflegearbeit eher ein Dienst am Nächsten, eine Berufung, als ein Beruf war. Bereits im 19. Jahrhundert gibt es jedoch Anfänge von Professionalisierung durch den Bedarf an geschulten Pflegerinnen im Zuge der Entwicklungen in der Medizin und der in diesem Zusammenhang verstärkten fachlichen Ausbildung der Pflegerinnen. Das Krankenpflegegesetz von 1957 schrieb eine zweijährige Ausbildung mit 400 theoretischen Unterrichtsstunden und ein anschließendes Berufspraktikum vor. Die Leitung der Krankenpflegeschulen lag meist in der Hand von Ärzten. Erst ab 1985 war es auch möglich, dass eine Unterrichtsschwester selbständig eine Krankenpflegeschule leitete.9 Währenddessen existierten in den USA schon pflegewissenschaftliche Studiengänge und es wurden neue humanistische Auffassungen auf die Pflege übertragen und als Patientenorientierung diskutiert. Diese Diskussion kam erst in den 1970er-Jahren in Deutschland an und beeinflusste neben der Pflege auch die Medizin.
8 ���������������������������������������������������������������������������������������� Sie stützt sich auf eine Analyse der Mitteilungsblätter der Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands und ihrer Nachfolgeorganisationen, dem Agnes-KarllVerband und dem Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (Schmidtbaur 2002: 45). 9 Krankenpflegegesetz 1985 § 5: «Krankenpflege- und Kinderkrankenpflegeschulen sind […] staatlich anzuerkennen, wenn sie 1. entweder von einer Unterrichtsschwester oder einem Unterrichtspfleger, gemeinsam von einer Ärztin oder einem Arzt und einer Unterrichtsschwester oder einem Unterrichtspfleger oder gemeinsam von einer Unterrichtsschwester oder einem Unterrichtspfleger und einer Leitenden Schwester oder einem Leitenden Pfleger geleitet werden …»
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In den 1970er-Jahren setzte, beeinflusst durch die Studentenbewegung und die neue Frauenbewegung in der Krankenpflege, eine Neuorientierung ein, die Gesellschaftskritik, Ideen der Frauenemanzipation und damit Kritik an Hierarchieverhältnissen und geschlechtsspezifischer Machtverteilung mit der Kritik an der Gesundheits- und Berufspolitik verband.10 Monika Bobbert sieht in ihrem geschichtlichen Rückblick die 1970er-Jahre als Anfang eines «neuen kritischen Bewusstseins» und zahlreicher innerberuflicher Diskussionen, z. B. über den Auftrag der Pflege (Bobbert 2002: 41). Die Idee der beruflichen und persönlichen Emanzipation stellt einen Wendepunkt für das berufliche Ethos dar, dessen traditionelle Gehalte infolge der Kritik der 1970er-Jahre stärker hinterfragt wurden. Emanzipationsprozesse führen, wie die Frauenemanzipation in der neuen Frauenbewegung zeigte, an ihrem Beginn manchmal zu radikalen Abgrenzungen. Ähnliches war auch in der Krankenpflege zu beobachten, die sich entschieden gegen die Idee des Dienens und des Gehorsams wandte. Besonders erbittert wurde der Kampf gegen die Unterordnung unter die Medizin geführt, mit einigen durchaus fragwürdigen Auswirkungen, von pauschaler Kritik bis hin zur Imitation von Macht- und Standessymbolen («Pflegevisite», «Pflegediagnosen»), um selbst an Macht und Anerkennung zu gewinnen. In der Ausbildung wurde mit den Novellierungen des Krankenpflegegesetzes in den Jahren 1965 und 1985 eine weitere Erhöhung der Theoriestunden bis auf 1600 und eine Zielformulierung für die Ausbildung erreicht; die Sonderstellung der Pflegeausbildungen im System der beruflichen Bildung blieb jedoch bestehen. 1967 wurde der Pflegeprozess erstmals beschrieben; 1969 erschien die erste Auflage des Pflegelehrbuchs «Juchli» der gleichnamigen Schweizer Ordensschwester, das über Jahrzehnte das meistbenutzte Lehrbuch in der Pflegeausbildung war.11 Neben den Kapiteln zu den Aufgaben der Pflege und den Pflegemaßnahmen enthielt dieses Werk schon immer im einleitenden Kapitel grundsätzliche Ausführungen sowohl zum Selbstverständnis der Pflege als auch zu ihren anthropologischen Grundlagen. Juchli war sich dabei stets bewusst, dass sich die Pflege in einem Veränderungsprozess befindet und ließ ihre Folgerungen aus pflegeinternen Debatten in ihre Konzepte einfließen. Sie schildert den Menschen als Person, die eingespannt ist in vier Beziehungsfelder: mit sich selbst (Eigenwelt), mit anderen (Mitwelt), mit der Umwelt und in einen transpersonalen, spirituellen Bezug (Überwelt) (Juchli 1997: 18–33). Juchli sieht am Ende des 20. Jahrhunderts die Wende vom eher technisch 10 Vgl. auch Schmidbaur 2002: 184. In den von ihr untersuchten Zeitschriften werden die 1970er-Jahre als Phase der Emanzipation vom bürgerlichen Frauenbild und vom Status der Pflege als Heilhilfsberuf beschrieben. 11 ����������������������������������������������������������������������������������������� Liliane Juchli hat das erste didaktisch aufbereitete Lehrbuch vorgelegt, in dessen Veränderungen durch acht Auflagen sich auch die Entwicklungen der Pflegeausbildung und des Pflegeverständnisses spiegeln. Die achte Auflage erschien 1997. Nach dem Ausscheiden von Juchli als Autorin kam im Jahr 2000 als 9. Auflage das Nachfolgewerk «Thiemes Pflege» heraus. Herausgeber/innen: Kellnhauser et al.
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
ausgerichteten Pflegeberuf (wofür auch die Einteilung in Grund- und Behandlungspflege bzw. spezielle Pflege ein Ausdruck sei) hin zur Profession, zur «Pflegekunde», die Pflege als Problemlösungs- und Beziehungsprozess versteht (Juchli 1997: 4). Die Akademisierung der Pflege begann in den 1980er-Jahren. 1979 begann die Universität Osnabrück mit einem Modellversuch für einen weiterbildenden Studiengang für Lehrpersonen an Schulen des Gesundheitswesens, der 1982 in einen Regelstudiengang überführt wurde. 1984 startete der Modellstudiengang für Pflegelehrer an der FU Berlin, der allerdings nicht verlängert wurde. 1987 bekam Ruth Schröck den ersten Lehrstuhl für Pflegewissenschaft in Deutschland an der FH Osnabrück. Die Akademisierung der Pflege war vor allem am Anfang innerhalb der Berufsgruppe sehr umstritten. Die Debatte um die Professionalisierung der Pflege (Näheres dazu unter 1.3) war so eng mit der Frage der Akademisierung verbunden, dass andere Aspekte der Professionalisierung, wie etwa die personale Orientierung der Pflege oder die Berufsorganisationen, darüber aus dem Blick gerieten. Mit der Denkschrift «Pflege braucht Eliten» begann die Robert-Bosch-Stiftung 1992 ein groß angelegtes Promotionsförderungsprogramm, das an seinem Ende ca. 130 Promotionen, Habilitationen und Studienbesuche im Bereich der Pflege ermöglicht hat. 22 der ehemaligen Stipendiaten haben heute Professuren inne.12 Inhaltlich standen bei den wissenschaftlichen Arbeiten die Bereiche Geschichte, Qualitätsentwicklung und die Rezeption amerikanischer Pflegetheorien im Vordergrund (Schmidbaur 2002: 188). Von den 47 Promotionsstipendiaten bearbeiteten nur drei ein Thema aus der Ethik, bei weiteren drei Stipendiat/innen hat das Thema ethische Bezüge.13 In der ersten Phase der Akademisierung spielte die Ethik offenbar nur eine untergeordnete Rolle. Nach den ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Ethik in der Pflege in Deutschland von Marianne Arndt (1996) und Ruth Schwerdt (1998) kam die Diskussion über Ethik innerhalb der sich verwissenschaftlichenden Pflege erst allmählich in Gang. Wie der Blick auf die neuere Geschichte der Pflege zeigt, war das Berufsverständnis der Pflege von Anfang an (d. h. seit man ab Anfang des 19. Jahrhunderts, wenn auch mit Einschränkungen, von einem Pflegeberuf sprechen kann) stark moralisch geprägt, wobei die Moralvorstellungen nicht nur von den Pflegenden selbst kamen, sondern vor allem gesellschaftlichen Erwartungen entsprachen. Diese 12 Zahlen aus: www.bosch-stiftung.de/foerderung/wissenschaft/fr_02010000html; 16. 2. 2006. 13 �������������������������������������������������������������������������������������� Robert Bosch Stiftung 2002. In der Broschüre «Zehn Jahre ‹Pflege braucht Eliten›» werden alle Stipendiaten und Kollegiaten vorgestellt, die im Zeitraum von 1992 bis 2002 von der Stiftung gefördert wurden, darunter Hospitanten, Masterstudenten, Teilnehmer an Postgraduiertenprogrammen, Promovierende und Habilitanden. Von diesen haben ein Thema aus der Ethik: Marianne Arndt, Karin Kersting, Ruth Schwerdt. Ethische Bezüge sind vorhanden bei Bauer (Patient’s Privacy), Bischoff-Wanner (Empathie in der Pflege) und Borker (Nahrungsverweigerung in der Pflege). Von vier Stipendiat/innen wird Ethik als Arbeitsschwerpunkt genannt: Elsbernd, Rau, Rübenstahl, Windels-Buhr.
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moralische Fremdbestimmung der Pflege hat ihre Wurzeln in der Unterordnung der Frauen unter die Männer und in den christlichen Idealen der Selbstlosigkeit und des Gehorsams. Die Bezahlung der Pflegearbeit und Verbesserungen der Ausbildung waren wichtige Schritte auf dem Weg der Verberuflichung. Die Professionalisierungsbestrebungen setzten mit dem Streben nach Eigenständigkeit und der Abgrenzung von der Medizin ein und wurden durch die Akademisierung gefördert. Im Zusammenhang mit der Professionalisierung wurde auch die Ethik in der Pflege wieder stärker thematisiert. Die meisten berufsethischen Kodizes, die im folgenden Abschnitt besprochen werden, entstanden in der Zeit der Professionalisierungs- und Akademisierungsdebatte ab Anfang der 1990er-Jahre. 1.1.2 Pflegerisches Ethos im Spiegel der berufsethischen Kodizes
Berufsethische Kodizes geben die «offiziellen» Wertorientierungen einer Berufsgruppe wieder (nicht unbedingt die faktischen moralischen Orientierungen der einzelnen Berufsangehörigen). Sie gelten darüber hinaus als Professionalisierungsmerkmal und spiegeln daher auch den Entwicklungsstand einer Berufsgruppe. Der erste pflegeethische Kodex wurde 1950 von der American Nurses Association formuliert; 1953 folgte der erste international gültige Kodex des International Council of Nurses (ICN). Bezüglich der faktischen moralischen Orientierungen sieht Bobbert in ihrer Untersuchung zur Geschichte der Pflege und zur Entwicklung der Pflegeethik eine Veränderung der moralischen Orientierungen der Pflege nach dem Zweiten Weltkrieg von Gehorsam und Loyalität hin zur Orientierung am Wohl des Patienten.14 In Deutschland gelten vor allem die nationalen Kodizes der verschiedenen Verbände. Von den internationalen Dachverbänden ist der Kodex des ICN (International Council of Nurses) bekannt. Die bedeutendsten deutschen Kodizes sind die der folgenden Organisationen: 15
• «Die
ethische Verantwortung der Pflegeberufe» der katholischen Pflegeorganisationen Caritas-Gemeinschaft, Caritasverband und des Katholischen Berufsverbandes (1998)
• die «Ethischen Leitlinien» des Evangelischen Fachverbandes für Kranken- und Sozialpflege16 (1993)
14 �������������������������������������������������������������������������������������� Bobbert (2002): 54. Das Kapitel zur geschichtlichen Entwicklung des Pflegeverständnisses (23–71) enthält auch eine sehr gute Darstellung der angloamerikanischen Pflegewissenschaft und -ethik. 15 Dazu kommen einige fachlich oder regional begrenzte Kodizes, wie etwa der Kodex der Deutschen Gesellschaft für Fachkrankenpflege DGF, aus dem unter 1.3.4 zitiert wird. 16 Der Name wurde 2002 in «Evangelischer Fach- und Berufsverband für Pflege e.V.» geändert.
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
• Berufsethische Grundsätze des Deutschen Roten Kreuzes (1998) • die «Berufsordnung für professionell Pflegende» der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schwesternverbände und Pflegeorganisationen (ADS)17 (2002).
Im Folgenden werden die Texte der genannten Kodizes in ihrem Aufbau beschrieben und auf die dort benannten ethischen Prinzipien oder Wertorientierungen sowie auf konkrete Verhaltensregeln untersucht.18 Neben der offiziellen Funktion der pflegeethischen Kodizes kann durchaus davon ausgegangen werden, dass sie einige, wenn auch nicht alle Elemente des Pflegeethos spiegeln. Diese sollen abschließend umrissen werden. International Council of Nurses (Überarbeitung von 2000)
Dieser Kodex ist der bekannteste der berufsethischen Kodizes. Er ist vergleichsweise knapp gefasst und allgemein formuliert; das mag an seiner überregionalen Geltung liegen. Der ICN-Kodex gibt einen Rahmen vor, den viele nationale und regionale Pflegekodizes auf verschiedene Weise ausgestaltet haben. Neben einer Präambel umfasst der Kodex vier Abschnitte: 1. Pflegende und ihre Mitmenschen 2. Pflegende und die Berufsausübung 3. Pflegende und die Profession 4. Pflegende und ihre Kollegen. In der Präambel wird neben den grundlegenden Aufgaben der Pflege19 die Achtung der Menschenwürde als übergeordneter Wert benannt mit den näheren Bestimmungen «Recht auf Leben, auf Würde und auf respektvolle Behandlung». Es folgt das Verbot der Diskriminierung auf Grund von Alter, Geschlecht, Glauben, Hautfarbe etc. Der 1. Abschnitt beginnt mit dem Grundsatz: «Die grundlegende berufliche Verantwortung der Pflegenden gilt dem pflegebedürftigen Menschen.» Danach wird das Recht des Patienten auf Information und auf vertraulichen Umgang mit Informationen benannt. Die restlichen Ausführungen dieses Abschnitts betonen die gesellschaftliche Verantwortung der Pflege, z. B. soll sie mithelfen, «Maßnahmen zugunsten der gesundheitlichen und sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung, besonders der von benachteiligten Gruppen, zu veranlassen …» 17 ����������������������������������������������������������������������������������� Die ADS ist ein Zusammenschluss der christlichen Schwesternschaften und Pflegeorganisationen sowie des Deutschen Roten Kreuzes. 18 Dabei stütze ich mich auf eigene Vorarbeiten, vgl. Rabe (2000) und (2001). 19 Gesundheit fördern, Krankheit verhüten, Gesundheit wiederherstellen, Leiden lindern.
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Im 2. Abschnitt steht die persönliche Verantwortung der Pflegenden im Vordergrund, wobei die Pflicht zur Fortbildung hier ebenso auftaucht wie die Forderung nach gesundheitsbewusstem Verhalten und einer professionellen Grundhaltung. Im 4. Abschnitt steht der wichtige Satz: «Die Pflegende greift zum Schutz des Patienten ein, wenn sein Wohl durch Kollegen oder eine andere Person gefährdet ist.» Hier wird die pflegerische Anwaltsfunktion gefordert, die in der angloamerikanischen Diskussion als advocacy bezeichnet wird. Im 2. Abschnitt wird diese Anwaltsfunktion in Bezug auf den medizinisch-technologischen Fortschritt konkretisiert: Pflegende sollen gewährleisten, «dass der Einsatz von Technologie und die Anwendung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse vereinbar sind mit der Sicherheit, der Würde und den Rechten des Menschen.» Damit wird der Pflege eine Art moralischer Wächterfunktion zugeschrieben. Katholische Pflegeorganisationen
Das Heft «Die ethische Verantwortung der Pflegeberufe» (1998) geht inhaltlich über das üblicherweise von Kodizes zu Erwartende hinaus. «Mit diesem Positionspapier sollen die Grundlagen und wesentliche Elemente einer christlichen Ethik für Pflegeberufe dargelegt und ihre Relevanz für das konkrete pflegerische Handeln aufgezeigt werden» heißt es in der Einleitung. Die Gliederung umfasst folgende Punkte: 1. Pflegende im Spannungsfeld komplexer Ansprüche und Verpflichtungen zur Begründung der Notwendigkeit einer Ethik für Pflegeberufe 2. Ethik – zum grundsätzlichen Verständnis 3. Das christliche Menschenbild und seine Relevanz für eine Ethik in der Pflege 4. Ethische Konfliktsituationen in der Pflege 5. Anregungen für eine ethische Reflexion 6. Praktische Konsequenzen für Pflegemanagement, Aus-, Fort- und Weiterbildung. Im 2. Punkt werden Grundbegriffe der Ethik erklärt, was in keinem der anderen Texte geschieht.20 Das christliche Menschenbild wird grundlegend durch die 20 «Ethik meint das systematische Nachdenken (hier ist eine Fußnote eingefügt, in der deontologische und teleologische Reflexion erläutert wird, Anm. d. Verf.) über die sittlichen Maßstäbe des menschlichen Handelns bezüglich der Frage: Was sollen wir tun?» Im nächsten Abschnitt heißt es: «Das Wohlergehen der Menschen gilt dabei als ein zentraler Leitwert». Die ethische Verantwortung der Pflegeberufe: 11. Die anschließende Charakterisierung eines «pragmatistisch-utilitaristischen», eines «materialistischen» und eines «wertorientierten» Ansatzes der Ethik ist allerdings plakativ und unvollständig und wäre m. E. für diesen Zusammenhang entbehrlich.
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
Zuschreibung einer elementaren Würde charakterisiert, die durch das Geschaffensein von Gott begründet wird. Gleich im nächsten Abschnitt wird jedoch darauf verwiesen, dass auch für andere weltanschauliche Richtungen die Idee der Menschenwürde zentral steht, weshalb mit diesen das Gespräch und die Zusammenarbeit gesucht werden müssten. Aus diesem Menschenbild werden sechs «ethische Leitkonstanten» abgeleitet, in denen die Pflicht zum respektvollen, die Eigenheiten des Einzelnen achtenden Umgang mit Menschen betont wird. Auch soll die Sorge für den Menschen Vorrang vor wirtschaftlichen und anderen Interessen haben. Ausdrücklich wird «jede Form der Instrumentalisierung der Kranken für die Befriedigung der persönlichen Belange von Helfenden» abgelehnt (S. 6). Bei den praktischen Konsequenzen, die im 6. Teil dargestellt werden, wird die Verantwortung des Managements für die Möglichkeit ethischer Reflexion und moralischen Handelns in einer Institution erläutert und die bemerkenswerte Forderung formuliert, paternalistische Strukturen zu hinterfragen (S. 28). Evangelischer Fachverband für Kranken- und Sozialpflege21
Der Kodex ist in sechs Abschnitte gegliedert: 1. Aufgaben und Ziele 2. Ganzheitliche Hilfe zur Selbsthilfe 3. Leben und Gesundheit als Gabe und Aufgabe 4. Begleitung von Leidenden, Sterbenden und Trauernden 5. Verantwortung für den Beruf und am Arbeitsplatz 6. Hilfen geben und empfangen. Der Text ist stark religiös gefärbt. Er beginnt mit den Worten: «Weil Gott in Jesus seine Liebe zu uns bezeugt hat, verstehen wir unseren Beruf als einen Auftrag Gottes, die empfangene Liebe weiterzugeben und so zum Wohl und zum Heil der Menschen zu wirken.» Als Ziel der «Unterstützung und Begleitung» wird im 2. Abschnitt benannt: «… die größtmögliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit des kranken oder behinderten Menschen und sein inneres Wachsen und Reifen, damit er seinen Weg bejahen und zu seinem Glauben finden kann.» Auch das eigene Beispiel, das Vorleben christlicher Grundsätze wird gefordert («müssen wir … selbst ein Beispiel für verantwortlichen Umgang mit der eigenen Gesundheit geben»). 21 2002 umbenannt in «Evangelischer Fach- und Berufsverband für Pflege e.V.»
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Ein verhältnismäßig großer Abschnitt (ca. ein Viertel des Textes) ist der «Begleitung von Leidenden, Sterbenden und Trauernden» gewidmet. Auch hier werden hohe Anforderungen an die Pflegenden formuliert: «Durch unser Handeln, unser Sein und unser Wort bezeugen wir dem Leidenden und auf den Tod zugehenden Menschen Jesus Christus als den Auferstandenen, an dem Gottes Liebe und die Hoffnung eines neuen Lebens deutlich werden.» Bereits im ersten Abschnitt wird Menschenwürde als Orientierung genannt, allerdings nicht als oberstes Prinzip. Das Prinzip der Autonomie ist im ersten Abschnitt hinter der Forderung nach Respektierung der Persönlichkeit, verständlicher Information und nach Mitverantwortung und Mitwirkung der Patienten zu erkennen. Der zweite Abschnitt beginnt mit dem Grundsatz: «Jedes menschliche Leben verdanken wir Gott, dem Schöpfer.» Hier wird das Prinzip der Unverfügbarkeit des Lebens erläutert mit einer kleinen Einschränkung am Schluss «… respektieren wir den Wunsch von Schwerkranken oder ihren Angehörigen, lebensverlängernde Maßnahmen zu beenden, soweit dies vor Gott verantwortbar und der Würde des Menschen gemäß ist.» Aus den Ausführungen im 4. Abschnitt lässt sich indirekt das Prinzip der Fürsorge erkennen (Begleitung, Zuwendung). Im 5. Abschnitt wird Verantwortung genannt, die auch auf die Einrichtung ausgedehnt wird, in der man arbeitet. Einzelne Regeln werden mit Glaubenssätzen verbunden, z. B. «In der Gewissheit, dass Gottes Kraft «in den Schwachen mächtig» ist, helfen wir dem Behinderten, seine Situation zu bejahen …» (3. Abschnitt). Insgesamt wird eine starke Einheit von Glauben und Handeln gefordert, wie etwa in der Zielorientierung: «Die Verkündung des Evangeliums und die Vermittlung christlicher Wertvorstellungen sind die Grundanliegen, die unser Handeln und Reden prägen» (5. Abschnitt). Ein Hinweis auf den zweiten Teil des Nächstenliebegebots «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst», also auf Selbstsorge und Selbstbegrenzung der Pflegenden, fehlt. Insgesamt knüpft der evangelische Berufskodex am stärksten an die traditionellen Wertorientierungen an. Deutsches Rotes Kreuz
Die berufsethischen Grundsätze der Schwesternschaften vom Deutschen Roten Kreuz lehnen sich inhaltlich an die sieben Grundsätze des Internationalen Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes an. Diese sind für eine straff und militärähnlich organisierte internationale Hilfsorganisation gedacht und sollten in ihrer ursprünglichen Bedeutung vor allem die Arbeit der Rotkreuzhelfer an Kriegsschauplätzen ermöglichen, indem sie ihre Unabhängigkeit und Neutralität betonten. Das Humanitätsprinzip als übergeordnetes Prinzip sollte ursprünglich diese Neutralität unterstreichen, indem betont wird, dass die Arbeit des Roten
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
Kreuzes dem einzelnen Menschen und nicht einer Kriegspartei galt. Die sieben Grundsätze spiegeln also ihrem Ursprung nach das Selbstverständnis einer Hilfs organisation. Deshalb mussten den Grundsätzen, um als Grundlage einer Berufsethik dienen zu können, teilweise etwas mühsam berufsethische Bedeutungen zugewiesen werden. Auch die inhaltlichen Überschneidungen der einzelnen Grundsätze sind mit dieser Entwicklung zu erklären. In der Präambel wird gefordert, dass «jedes einzelne Mitglied» der Schwesternschaften «die Grundsätze in ihrer Bedeutung kennen» muss. Zu den einzelnen Grundsätzen ist jeweils ein grundsätzlicher erläuternder Text formuliert worden, daneben werden jeweils Folgerungen für das Pflegeverständnis und, in einer gesonderten Spalte, für das Verständnis von Schwesternschaft abgeleitet, die ich für meine Beschreibung jedoch ausgeklammert habe. Im Folgenden gebe ich einige Inhalte und prägnante Zitate zu den einzelnen Grundsätzen wieder.
• Menschlichkeit
«Grundlage der Menschlichkeit ist die Achtung vor dem Menschen, … die Anerkennung der jedem Menschen eigenen Würde …» Zum Pflegeverständnis finden sich hier acht inhaltlich recht verschiedene Aussagen wie die Forderung nach Ganzheitlichkeit, Wichtigkeit der Gesundheitsförderung, Verständnis von Pflege als «Bewahrung dessen, was Wohlbefinden und Zufriedenheit des Patienten bewirkt.» Die Aussagen haben allerdings wenig ethische Bezüge im engeren Sinn.
• Unparteilichkeit
wird u. a. mit Verteilungsgerechtigkeit und Unvoreingenommenheit in Verbindung gebracht. Im pflegeethischen Teil wird wie im ICN-Kodex ein Diskriminierungsverbot formuliert, zusätzlich die Forderung, «dass wir uns unserer Gefühle wie z. B. Sympathie und Antipathie bewußt werden, um den Patienten möglichst vorurteilsfrei zu pflegen.» Hier wird Selbstreflexion gefordert, und damit eine moralische Grundhaltung der Pflegenden.
• Neutralität
«Neutralität heißt nicht nichts tun», stellt der Kommentar klar. Für das Pflegeverständnis werden einige etwas vage Aussagen über die Neutralität in möglichen beruflichen Konfliktsituationen angeschlossen.
• Unabhängigkeit
Neben der weltanschaulichen, wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit der Hilfsorganisation wird hier auch die Wichtigkeit der moralischen Unabhängigkeit der Helfenden betont. Unabhängigkeit im Pflegeverständnis bedeutet den Wunsch nach einem eigenen Pflegekonzept und sogar nach einem eigenen Berufsbild, welches in seinen Konturen aber nicht weiter verdeutlicht wird.
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• Freiwilligkeit
«Humanitäre Hilfe sollte immer ein gewalt- und zwangfreies Geschehen sein». Hier könnten sich nun als ethische Grundsätze sehr gut die Achtung der Autonomie der Patienten und die Ächtung von Gewalt in der Pflege anschließen. Statt dessen wird auf die Freiwilligkeit der Helfer und ihres Pflegeverständnisses eingegangen.
• Einheit
«Das Rote Kreuz vereint Menschen in ihrer ganzen Verschiedenheit». Dieses Einende wird anthropologisch begründet mit der Überzeugung, «dass jeder Mensch zur Erhaltung seiner Existenz auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen ist.» Für das Pflegeverständnis wird hier die Forderung nach einheitlichem, begründetem Handeln und einem entsprechenden Pflegekonzept abgeleitet.
• Universalität
«verstehen wir als Prinzip der Koordination der Hilfsgesellschaften». Mit etwas anderem Akzent wird hier die Forderung nach einem einheitlichen Pflegeverständnis wiederholt. Bei den Grundsätzen der Unabhängigkeit und der Universalität wird besonders deutlich, dass ihnen nachträglich etwas mühsam Inhalte zugewiesen wurden, die für die Berufsethik von Bedeutung sein sollen.
Für eine Organisation, die sich auf sieben weltweit bekannte Grundsätze stützt, scheint es nahe liegend, auch die Berufsethik mit diesen Grundsätzen zu fundieren. Das bringt aber Nachteile mit sich, weil sich die Grundsätze inhaltlich überschneiden und auch nicht spezifisch für Ethik sind. So werden wichtige ethische Prinzipien wie Autonomie, Verantwortung und Fürsorge in diesem Ethikkodex nicht explizit genannt. Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schwesternverbände und Pflegeorganisationen (ADS)
In ihrer Berufsordnung von 2002, dem neuesten der untersuchten Kodizes, verweisen die beteiligten Organisationen (christliche Pflegeorganisationen und Rotes Kreuz) ausdrücklich auf ihre je eigenen ethischen Kodizes. Interessant ist, dass hier ein begrifflicher Unterschied zwischen Berufsordnung und berufs ethischem Kodex gemacht wird. Bei einigen Organisationen, vor allem beim ICN und dem Roten Kreuz, überschneidet sich beides. Die Berufsordnung hat folgende Elemente: 1. Allgemeines 2. Definition und Ziele der Pflege 3. Aufgabenbereiche der Pflege
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
4. Berufspflichten 5. Berufliches Verhalten. Die Berufsordnung enthält einige wichtige normative Forderungen, die in den anderen Kodizes nicht zu finden sind. So wird unter 3. zur Mitwirkung bei medizinischer Diagnostik und Therapie gesagt: «Sie vergewissern sich, dass die Leistungsempfänger die notwendigen Informationen erhalten und in die Maßnahmen eingewilligt haben.» Hier wird der Pflege wieder die Wächterfunktion zugeschrieben, die sich mit anderer Pointierung schon im ICN-Kodex findet. Da die unzureichende Information von Patienten vor diagnostischen und therapeutischen Eingriffen ein Alltagsproblem der Pflege ist, werden Pflegende diese klare Aussage als hilfreiche Orientierung sehen und sich ggf. darauf berufen können. Unter Punkt 5 wird unter dem Stichwort «Verantwortung der professionell Pflegenden gegenüber den Interessen der Gesellschaft» u. a. formuliert: Professio nell Pflegende «machen nachhaltig darauf aufmerksam, wenn auf Grund personeller und finanzieller Bedingungen eine sichere Gesundheitsversorgung nicht mehr gewährleistet ist.» Diese Ermutigung zur Veröffentlichung evtl. interner Missstände steht aber in Konflikt mit Bestimmungen in den einzelnen Berufsordnungen, die zum Teil eine weitgehende Loyalitätspflicht vorschreiben, wie zum Beispiel die Aussage zur Schweigepflicht in der Berufsordnung des Deutschen Roten Kreuzes: «… über interne Angelegenheiten des Tätigkeitsbereiches und der Schwesternschaft» dürfen «Dritten gegenüber keine unbefugten Mitteilungen» gemacht werden, auch nicht nach Verlassen der Schwesternschaft. Der Berufsordnung der ADS kommt schon deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sich hier mehrere Berufsverbände der Pflege zusammengetan haben – ein erster Schritt, um die organisatorische Zersplitterung der Pflege in Deutschland zu überwinden. Der nächste nötige Schritt dazu wäre allerdings, die EinzelKodizes der beteiligten Verbände tatsächlich aufzugeben und durch eine allgemeine Berufsordnung zu ersetzen. Zentrale Elemente des (kodifizierten) Ethos der Pflege
Trotz der unterschiedlichen weltanschaulichen Ausrichtung der Träger und der recht unterschiedlichen Gestaltung der Kodizes gibt es viele inhaltliche Gemeinsamkeiten. So werden durchgängig die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, die Würde und der Respekt vor Verschiedenheit als zentrale Werte gesehen. Die Personorientierung tritt deutlich vor die – ebenfalls thematisierte – Gemeinwohlorientierung. Verantwortung, Vertraulichkeit und Achtung der Autonomie sollen das Verhalten der Pflegenden bestimmen. Ethische Reflexion wird als wichtiger Bestandteil des Selbstverständnisses der Pflege beschrieben. Dies bedeutet eine Abkehr vom Gehorsamsideal, welches das Berufsethos der Pflege bis in die Mitte des 20 Jahrhunderts prägte.
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Als Spezifikum des Pflegeethos findet sich in mehreren Kodizes die Forderung nach einer Anwaltsfunktion der Pflegenden für die Patienten, z. B. gegenüber den Ärzten oder gegenüber Angehörigen sowie eine Wächterfunktion, die Patienten etwa vor Übergriffen oder Fehlverhalten von Kollegen schützen soll. Diese Prinzipien und Werte decken sich durchaus mit dem, was in den wenigen bisher vorhandenen Untersuchungen über das faktische Ethos der Pflege gefunden wurde.22 Bei der Entwicklung und Formulierung von berufsethischen Kodizes spielen aber immer auch berufspolitische Überlegungen eine Rolle. Deshalb wird in mehreren Kodizes die Eigenständigkeit der Pflege, aber auch ihre Verantwortung für eine gute Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen betont. Bekanntheit und Wirksamkeit berufsethischer Kodizes
Da der Ethikunterricht in der Pflegeausbildung unterschiedlichste Inhalte hat, ist es zur Zeit nicht gesichert, dass die Inhalte pflegeethischer Kodizes und deren Bedeutung in der Ausbildung durchgängig vermittelt werden. Nach einer Befragung von Schopp et al. von 2004 haben nur etwa ein Drittel der befragten Pflegekräfte in der Ausbildung oder in Fort- und Weiterbildungen Unterricht zum Thema Ethik bekommen (Schopp 2004: 159 und 163). Werner Schweidtmann kommt in einer Untersuchung von 1997 jedoch zu anderen Zahlen. Demnach haben drei Viertel der Pflegenden, aber nur knapp ein Viertel der Ärzte in der Ausbildung Ethikunterricht gehabt (Schweidtmann 1997: 6). Diese erhebliche Diskrepanz lässt sich nicht allein durch eventuell verschiedenartige methodologische Zugänge erklären. Bei Ethik-Fortbildungen höre ich oft, dass Pflegende sich an Inhalte des Ethikunterrichts in ihrer eigenen Ausbildung kaum erinnern können. Diese Tatsache mag bei manchen auch zu der Vorstellung führen, gar keinen Unterricht gehabt zu haben. Die Qualität des Unterrichts wurde in der Studie von Schweidtmann recht kritisch beurteilt. Nur 18 % der Befragten haben ihn als hilfreich in Erinnerung, bei den Pflegenden waren 60 % der Befragten mit dem Ethikunterricht unzufrieden (Schweidtmann: 7). Aber auch diejenigen, die Unterricht hatten, erinnern sich kaum an berufsethische Kodizes und ihre Inhalte. Eilts-Köchling et al (2000) fanden in einer Studie bei Pflegenden aus vier Krankenhäusern, dass nur ca. 25 % der Befragten berufsethische Grundsätze kennen. Die Autorinnen sehen dies als Hinweis dafür, dass «die Diskussion um Pflegeethik fast ausschließlich auf der akademischen Ebene stattfindet» (EiltsKöchling 2000: 45), d. h. keine praktische Relevanz hat. Die Mehrheit der Befragten wünscht sich allerdings mehr Informationen vor allem durch Ausbildungsstätten bzw. Fort- und Weiterbildungseinrichtungen. Auf die Frage nach dem Nutzen berufsethischer Grundsätze wurde an erster Stelle die Entscheidungshilfe für 22 Zum Beispiel Wettreck (2001), der in seiner qualitativen Studie das Selbstverständnis und Ethos der Pflegenden erforschte.
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
ethische Konfliktsituationen genannt, gefolgt von der Verdeutlichung von Pflichten und Rechten. An vierter Stelle steht mit 45 % der Befragen die Aussage: «Sie sind ein Beitrag zur Professionalisierung der Krankenpflege». Gesellschaftliche Erwartungen an pflegerisches Ethos
Auch wenn die berufsethischen Kodizes nicht die wünschenswerte und notwendige Bekanntheit haben, das ungeschrieben überlieferte Ethos der Pflege gehört zum Allgemeingut: Nicht nur Berufsangehörige selbst, sondern auch die Öffentlichkeit hat ein Bild von Pflege, in dem sich von den traditionellen Werten noch viel findet, obwohl Aufopferung, Gehorsam und Berufung heute nicht mehr als zeitgemäß gelten. Dies äußert sich z. B. in Bewerbungsgesprächen, bei denen einige immer wiederkehrende Aussagen weniger über die Person des Bewerbers verraten als über seine Wahrnehmung des gesellschaftlich Gewünschten oder Normalen in Bezug auf den zu erlernenden Beruf. In zahlreichen Bewerbungsgesprächen, die ich als Leiterin einer Krankenpflegeschule zwischen 1987 und 2002 geführt habe, wurden von den Bewerber/innen immer wieder folgende Stereotypen über den Pflegeberuf benannt:
• «Zur Pflege muss man geboren/berufen sein.» Dies entspricht der Idee, dass die Pflegetätigkeit der Natur, etwa der Frau, gemäß ist.23 Interessant ist zudem, dass der religiös geprägte Begriff der Berufung regelmäßig verwendet wurde, obwohl die Bewerberinnen mehrheitlich aus dem weitgehend atheistischen Brandenburg stammen.
• «Man muss bereit sein, über die normale Arbeitszeit hinaus zu arbeiten.» Auch
wenn die Diskussion um die Bezahlung der Pflege achtzig Jahre zurückliegt: in der öffentlichen Wahrnehmung ist Pflege immer noch ein Beruf, in dem man nicht auf Rechte oder auf Geld achten darf, sondern opferbereit sein sollte.24
• «Pflegende
haben immer Verständnis und verlieren nie die Geduld.» Hier scheint das Ideal der Selbstlosigkeit durch, das in der Hausordnung von Kaiserswerth folgendermaßen klingt: «Die Direktion vertraut darauf, daß jede sich unter dem Beistand des Heiligen Geistes in allen Stücken durch Gehorsam, Geduld und Selbstverleugnung als eine treue Jüngerin Christi … zu beweisen suchen wird» (zitiert nach Taubert 1994: 58).
Frank Weidner beschreibt die «Anwendung von Weiblichkeitsideologien» und die «ethisch begründete Einforderung von Opferbereitschaft» als Hindernisse bei der Professionalisierung der Pflege (Weidner 1995: 119). Als Ergebnis der 23 Vgl. Bischoff 1997: 78–86 über die «besondere Eignung» der Frau zur Krankenpflege. 24 Vgl. dazu die Diskussion um die Arbeitszeit im Jahr 1918. Bischoff 1997: 4.
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geschichtlichen Entwicklung haben diese Haltungen das Pflegeethos und auch das Bild der Gesellschaft von der Pflege und die Rollenerwartungen an die Pflege nachhaltig geprägt. Im Zuge der Akademisierung werden sie heute vermehrt beschrieben und kritisiert und beginnen sich zu verändern. 1.2
Traditionen der Pflegelehre Die beschriebenen Traditionen der Pflege und ihr überliefertes Ethos haben auch die Pflegelehre geprägt. Da die Ausbildung, und damit die Lehrenden, für die Sozialisation der Pflegeschüler/innen und die Rezeption von Theorie in der Pflege eine wichtige Rolle spielt, wird hier die spezifische Entwicklung der Pflegelehre in Deutschland beschrieben.
1.2.1 Entwicklung des Lehrerberufes in der Pflege
Die Berufsgeschichte der Lehrkräfte für Pflege, die sich parallel zur Pflege entwickelte, zeigt deutlich vorprofessionelle Spuren. Weil Pflege kein richtiger Beruf war, sondern vor allem als Assistenztätigkeit für die Ärzte gesehen wurde, musste man dafür auch nicht «richtig» lernen, sondern nur in der Praxis angeleitet werden und (vom Arzt) dazu etwas Hintergrundwissen bekommen. Was die Verortung des Berufes der Lehrkräfte für Pflege betrifft, so ist die heute häufigste Form der Lehrerausbildung an Fachhochschulen ebenso eine «Sonderform der Lehrerausbildung», wie es die bis Mitte der 1990er-Jahre übliche Weiterbildung für Unterrichtsschwestern und -pfleger war (Dielmann 2002: 42). Dies liegt an der Sonderstellung der Pflegeausbildung im deutschen Bildungssystem,25 die möglicherweise eine Spätfolge der Betrachtung der Pflege als Hilfstätigkeit ist. Die «Schulschwester» war ursprünglich eine, die für den Stationsbetrieb nicht mehr tauglich war, und ihre Hauptaufgabe lag nicht im Unterrichten, sondern im Organisieren. Für die Unterrichtstätigkeit war zunächst keine besondere Weiterqualifikation vorgesehen. Erst in den 1950er-Jahren entstanden Weiterbildungslehrgänge.26 Der zweifelhafte Ruf der Lehrtätigkeit als Tätigkeit für die 25 Die Krankenpflegeausbildung unterliegt nicht dem Berufsbildungsgesetz, sondern ist nach einem Berufsgesetz (Krankenpflegegesetz und Ausbildungs- und Prüfungsverordnung) geregelt, welches Spielraum für die Länder lässt. So ist die Krankenpflegeausbildung in Berlin der Senatsverwaltung für Gesundheit unterstellt, während sie in Bayern der Schulverwaltung zugeordnet ist. Die Altenpflege war bis 2000 Ländersache; das in diesem Jahr erlassene bundeseinheitliche Altenpflegegesetz trat nach einer Verfassungsklage von Bayern erst 2003 in Kraft (Dielmann 2002: 19). 26 Ertl-Schmuck 1990 weist allerdings in ihrer Untersuchung der Curricula und Konzepte der Weiterbildungen darauf hin, dass die Schwesternhochschule des Deutschen Roten Kreuzes in Göttingen bereits seit 1903 und die der Diakonie in Berlin seit 1946 bestehen (S. 48).
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
gesundheitlich Angeschlagenen setzte sich lange Zeit dadurch fort, dass viele Pflegende sich die Weiterbildungsmaßnahme als bezahlte Rehabilitationsmaßnahme organisierten.27 Der Beruf der Unterrichtsschwester28 wurde von vielen nicht aus Interesse an Theorie und Unterricht gewählt, sondern als Aufstiegsmöglichkeit oder als Möglichkeit, dem stressigen Stationsgeschehen zu entfliehen. Vor diesem Hintergrund wird es verständlicher, dass viele Pflegelehrerinnen Schwierigkeiten mit der Identität als Lehrerin haben. Auch in der aktuellen Situation spielt die ungeklärte Identität eine Rolle, denn die Lehrenden sollen widerstreitenden Forderungen genügen. Sie sollen zum einen das erforderliche Fachwissen aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten auf aktuellem Stand beherrschen und andererseits nicht nur wissen, «wie es in der Praxis gerade läuft», sondern auch praktisch handlungsfähig sein und z. B. Schüler anleiten können.29 1.2.2
Lehrer zweiter Klasse?
Trotz dieser hohen Anforderungen sehen sich gerade die weitergebildeten Lehrkräfte als «Lehrer zweiter Klasse» an – das sind sie ja auch, was die Ausbildung und die Bezahlung betrifft. Auch entspricht das bisherige Aufgabenspektrum der Lehrkräfte für Pflege mit dem geringen Unterrichtsanteil nur teilweise dem eines Lehrers an allgemeinbildenden Schulen. Roswitha Ertl-Schmuck hat 1990 die Curricula und die didaktisch-methodischen Konzepte von Weiterbildungslehrgängen für Unterrichtsschwestern analysiert. Sie konstatiert «weitgehende Konzeptlosigkeit», die möglicherweise auch mit dem Fehlen von gesetzlichen Regelungen bezüglich der Ausbildung von Unterrichtsschwestern zusammenhängt.30 Viele weitergebildete Lehrer/innen fühlen sich durch die aktuellen berufspolitischen Entwicklungen einmal mehr zu Lehrern zweiter Klasse gemacht. Die Tendenz zur Akademisierung der Lehrerausbildung, die jetzt gesetzlich veran27 ���������������������������������������������������������������������������������� Die Kosten betrugen lt. Ertl-Schmuck 1990 zwischen 9 000 und 14 000 DM. Voraussetzung für die Förderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz war auch die Einstufung des angestrebten Abschlusses als Mangelberuf. 28 ���������������������������������������������������������������������������������������� So lautete die offizielle Bezeichnung der Lehrenden in der Pflege. Im neuen Krankenpflegegesetz von 2003 ist von «Lehrkräften» die Rede (z. B. § 4 Abs. 3 Satz 2). 29 Vgl. Rau 2001: 223: «Die Ergebnisse (seiner Untersuchung, Anm. d. Verf.) zeigen, dass, etwas überspitzt ausgedrückt, die hauptamtlichen Lehrkräfte in der Krankenpflegeausbildung durch die Lehrerbildung befähigt werden müssten, fast alle Fachbereiche der APrV (Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Pflegeberufe, M.R.) unterrichten zu können.» 30 Der wissenschaftliche Leiter des Weiterbildungslehrganges für Unterrichtsschwestern vom Berliner Senat in den 1980er-Jahren fragte gerne danach, was Unterrichtsschwestern denn nun den ganzen Tag tun und sprach von einer «ökologischen Nische». In dieser Aussage spiegelt sich die allgemeine Geringschätzung des Pflegeberufes und seiner Ausbildung, aber auch der «Hilfslehrer», die nur relativ wenig Unterricht machten.
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kert ist, weckt bei vielen Zukunftsängste, aber auch das Gefühl von Entwertung: Die langjährige Erfahrung mit Ausbildung scheint plötzlich nicht mehr auszureichen. Lehrende für Pflege erfahren im Gefüge der Zusammenarbeit mit der Praxis immer wieder Entwertungen, z. B. durch die Frage der Pflegenden auf Station, wenn sie dort zur Anleitung kommen: «Kommst du auch mal arbeiten?» Solche Spitzen verletzen, werden aber meist übergangen. Viele Pflegelehrer/innen vertreten ihre eigene Arbeit nicht selbstbewusst. Die Beschuldigung, die hier indirekt vermittelt wird, ist ja die, dass Lehrende nicht richtig arbeiten, sich vor der «eigentlichen Arbeit am Bett» drücken. Vermutlich teilen viele Pflegelehrer/ innen diese unausgesprochene Beschuldigung in Form eines unbewusst schlechten Gewissens. «Wer in der Pflege Karriere macht, verliert die Autorität vor Ort» schreibt Rainer Wettreck. «Er steht zudem unter dem chronischen Verdacht, in der richtigen Pflege versagt zu haben und die Flucht in die Karriere angetreten zu haben» (Wettreck 2001: 25). Die Pflegewissenschaft stößt immer wieder auf das Problem, dass ihr eigentlicher Gegenstandsbereich, die Pflege, noch nicht klar definiert ist. Ähnlich unbestimmt ist der Tätigkeitsbereich der Lehrkräfte für Pflege. Traditionsgemäß sind sie einfach «Mädchen für alles». Sie organisieren Einsatzpläne, setzen Curricula um, unterrichten, erproben neue Lehrformen, beraten Fremddozenten, machen Verwaltungsarbeiten, haben den Überblick über die aktuelle Fachliteratur, verwalten die Bibliothek, leiten Schüler/innen in der Praxis an, betreuen Schüler/ innen bei Liebeskummer und in Lebenskrisen, basteln Anschauungsmaterial, nehmen Prüfungen ab und sind berufspolitisch tätig. 31 31 Ein Schaubild des Weiterbildungsinstituts für Pflegelehrer/innen der Diakonie in Bad Kreuznach teilt die Aufgaben der Unterrichtsschwestern wie folgt ein: • Förderung der menschlichen und beruflichen Qualifikation der Auszubildenden • Zusammenarbeit mit Pflegedienstleitung und Stationsleitungen zur qualifizierten praktischen Ausbildung • Zusammenarbeit mit der Krankenhausverwaltung in Bezug auf Finanzierung, Einkauf, rechtliche Fragen • Zusammenarbeit mit den Aufsichtsbehörden in Bezug auf Prüfung, Gesundheitsüberwachung etc. • Information und Interessenvertretung der Pflege/Pflegeausbildung gegenüber der Gesellschaft • Interessenvertretung, Berufsentwicklung und Nachwuchsförderung in den Berufsverbänden und Lehrervereinigungen (Landesarbeitsgemeinschaften der Unterrichtsschwestern und -pfleger) • Beschaffung und Weiterentwicklung aktueller Unterrichtsmedien • Zusammenarbeit mit den nebenamtlichen Dozenten.
(Zit. nach Ertl-Schmuck 1990: 89.) Ertl-Schmuck nennt in ihrer Einleitung S. 13 f. darüber hinaus die Formulierung von Bildungszielen, die Einsatzplanung und das Führen von Einstellungsgesprächen.
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
1.2.3 Aufgaben und Belastungen von Pflegelehrer/innen
1994 untersuchte Uta Oelke die tatsächliche Aufgabenverteilung von Pflegelehrer/ innen (Oelke 1994a). Im Ergebnis unterscheidet sie drei Tätigkeitsfelder: «Unterricht, praktische Ausbildung und Prüfungen», «Beratung und Kooperation» und «Planung und Organisation». Die Zahl der wöchentlich erteilten Unterrichtsstunden lag bei durchschnittlich 8 (wenn Prüfungen und praktische Anleitung einbezogen wurden, so lag der Schnitt zwischen 11 und 15 Std.). Das bedeutete, dass die Pflegelehrer etwa 40 % der theoretischen Ausbildung abdeckten, während 60 % von Fremddozenten geleistet wurde.32 Dies ist eine Erklärung dafür, dass die Organisationstätigkeiten einen so großen Raum einnehmen und auch einen Belastungsfaktor darstellen. Für Planung und Organisation wendeten die befragten Lehrkräfte ebenso viel Arbeitszeit auf wie für Unterricht, praktische Ausbildung und Prüfungen, nämlich 11 bis 15 Stunden/Woche. Der kleinste Arbeitszeitanteil entfiel auf den Bereich Beratung und Kooperation mit 6 bis 10 Stunden/Woche. Es ist zwar anzunehmen, dass die Zahl der Unterrichtsstunden inzwischen etwas gestiegen ist, aber an der grundsätzlichen Verteilung der Tätigkeiten hat sich nicht viel geändert. In dem bunten Mix von Tätigkeiten spiegelt sich die unklare Berufsrolle der Pflegelehrer. Die Vielfältigkeit der Anforderungen wird oft auch als Vorteil gesehen, enthält jedoch die Gefahr einer strukturellen Überforderung dadurch, dass die Lehrer/innen im Zweifel für alles zuständig sind. Dies zeigt sich aktuell bei der weitgehend widerspruchslosen Hinnahme der Anforderung, die neuen gesetzlichen Bestimmungen umzusetzen, die ja einen Paradigmenwechsel bedeuten und bewirken sollen – wie immer in braver Fleißarbeit, handgestrickt und ohne zusätzliche Ressourcen. Dass das Scheitern – oder zumindest deutliche konzeptionelle und inhaltliche Schwächen der mühsam erarbeiteten Lehrpläne – dabei vorprogrammiert ist, wird offenbar von allen Akteuren verdrängt. In ihrer Untersuchung fragte Oelke auch nach beruflichen Belastungen von Pflegelehrer/innen und kam im Ergebnis auf acht verschiedene Problemfelder. Spitzenreiter waren Probleme in den Bereichen «Unterrichtsvor- und nachbereitung» (38 % der Befragten), «Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis» (33 %) und «Ziele, Inhalte und Methoden von Unterricht» (33 %). Probleme mit der «eigenen Mitwirkung bei der praktischen Ausbildung» geben 28 % der befragten Lehrer/ innen an. Oelke beobachtete im Problembereich «Umgang mit Schüler/innen», der nur von 12 % überhaupt genannt wird, dass «Schwierigkeiten im Umgang mit Schüler/innen, die die Person der Lehrenden selbst betreffen, wie z. B. Ängste 32 ������������������������������������������������������������������������������������� Rau (2001) kam hier allerdings auf einen niedrigeren Prozentsatz. Nach seiner bundesweiten Untersuchung beträgt der Anteil des durch Fremddozenten abgedeckten Unterricht 43,8 % (Rau: 108).
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und Unsicherheiten gegenüber Lernenden, Durchsetzungsschwierigkeiten oder «Nähe-Distanz-Probleme» fast gar nicht erwähnt werden. Hier scheint jedoch ein blinder Fleck zu liegen: In mehrjähriger Supervisionserfahrung in verschiedenen Zusammenhängen und in meiner Leitungstätigkeit ist mir immer wieder die große Unsicherheit vieler Pflegelehrerinnen sowohl bezüglich der Unterrichtsinhalte als auch bezüglich des Umgangs mit Schülerinnen begegnet. Angst und Unsicherheit von Lehrenden ist vor allem unter Lehrern ein Tabu, das Horst Brück 1978 als einer der ersten zum Thema machte.33 Es blieb in der didaktischen Literatur ein Randthema, obwohl es für das Gelingen von Unterricht und für die Arbeitszufriedenheit der Lehrer von großer Wichtigkeit ist. Die Professionalität von Lehrern und damit auch ihre pädagogische Wirksamkeit hängen eng mit ihren Fähigkeiten zur Selbstreflexion und ihrem Umgang mit eigenen Gefühlen zusammen. Dies wird in Kapitel 3 dieser Arbeit näher erläutert. Bei Ute Andresens Betrachtung gelingenden Unterrichts wird die persönliche Dimension mitgedacht: Sie sieht drei Dialoge als Merkmal gelingenden Unterrichts, erstens den Dialog zwischen dem Lehrer und jedem einzelnen Schüler, zweitens den zwischen dem Lehrer selbst und dem Unterrichtsgegenstand und drittens den zwischen jedem Schüler und diesem Gegenstand (nach Bürmann 2003: 115). Der zweite dieser Dialoge ist bei Pflegelehrer/innen oft durch Unsicherheit und strukturelle Überforderung gestört, da es zur typischen «déformation professionelle» gehört, dass sie glauben, alles können und wissen zu müssen. Dies führt zu einem dauernden Gefühl der Überforderung, das ein forschendes und neugieriges Sich-Einlassen auf die Sache im Sinne Wagenscheins erschwert. Auch Ilse Bürmann sieht die Notwendigkeit, an der Beziehungsfähigkeit und den Haltungen von Lehrern zu arbeiten (Bürmann 2003, 120 ff). Sie hat dazu ein gestalttherapeutisches Konzept entwickelt, das ein «biografisches Selbstverstehen» ermöglicht, in dem auch sinnliche, körperlich fundierte Wahrnehmungen zugelassen werden und das schließlich die pädagogische Fähigkeit wachsen lässt, «herauszufordern, ohne sich zu bemächtigen». Solche persönliche Auseinandersetzung mit eigenen Wahrnehmungen, Ängsten und Stärken ist eine ebenso wichtige Voraussetzung für die Professionalisierung der Pflegelehrerinnen wie das durch die Akademisierung der Lehrerausbildung in der Pflege langsam sich 33 In seinem Buch «Die Angst des Lehrers vor seinem Schüler» stellt er die These auf, dass die Lehrer ihre eigenen kindlichen Anteile abwehren müssen, dass ihre Rolle und ihr Erwachsensein durch die Kindlichkeit der Schüler bedroht sei und so Angst ausgelöst würde. Dies lässt sich auf den Umgang der Pflegelehrer mit den Auszubildenden schlecht übertragen, da es sich bei diesen um junge Erwachsene handelt. Brücks Hinweis auf die Ausgrenzung von Betroffenheit aus der Lehrerausbildung ist jedoch auch für die Pflegelehre wichtig, sein Konzept eines selbsterfahrungsorientierten Seminars für Studierende beachtenswert.
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einstellende größere didaktische und fachliche Wissen und Können. Eine besondere Bedeutung erhalten subjektorientierte Elemente der Lehrerausbildung auch durch die verstärkten Forderungen an die Lehrer, die persönlichen Potenziale der Schülerinnen zu stärken, diese zu beraten und zu begleiten. Deshalb hält Uta Oelke die Studierenden an der Evang. Fachhochschule Hannover zur Reflexion ihrer Berufsbiografie an. Sie sollen eigene typische «Pflege-Muster» erkennen, damit sie diese nicht unbedingt an die Auszubildenden weitergeben (Oelke 2003: 13 ff.; Oelke 2007).
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Professionalisierung Die in der beruflichen Diskussion allgegenwärtige Professionalisierung soll als weitere Spur der Entwicklung der Pflege und ihrer Ethik hier näher beleuchtet werden. Professionalisierung wird oft als Mittel zur Verselbständigung und Weiterentwicklung der Pflege gesehen und scheint vor allem macht- und berufspolitische Ziele zu verfolgen. Ein wichtiger Motor der Professionalisierungsbestrebungen ist der Wunsch nach Abgrenzung von der Medizin und der Profilierung als eigenständiger Beruf. Wohlverstandene Professionalisierung könnte demgegenüber mehr das Eigene, das ethische Gut der Pflege, in den Mittelpunkt stellen.
1.3.1 Beruf oder Profession?
Der berufssoziologische Begriff der Professionalität kam aus der angloamerikanischen Diskussion in den 1970er-Jahren in der deutschen Pflege an und prägt seither auch hier zunehmend die Fachdiskussion. Allerdings wird der Begriff in unterschiedlichen Bedeutungen und mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Bezügen verwendet. Ich stütze mich vor allem auf die Arbeiten von Frank Weidner (1995), Marianne Schmidtbaur (2002), Ellen Bögemann-Großheim (2002) sowie von Rainer Wettreck (2001), der seine «Perspektiven professioneller Pflegeethik» mit der Methode der Grounded Theory gewonnen hat. Es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass es Unterschiede zwischen Berufen und Professionen gibt und worin diese im Wesentlichen bestehen: Eine Profession nimmt gesellschaftlich wichtige Aufgaben wahr34 und hat sich dazu Expertenwissen angeeignet, das sie durch Einfluss auf die Ausbildung und die 34 Wettreck sieht in Bezug auf den gesellschaftlichen Auftrag der Pflege ein Paradoxon: «Pflege ist (…) ein Dienst für die Gemeinschaft außerhalb der Gemeinschaft», weil es ihre Aufgabe ist, die Gesellschaft von der Konfrontation mit Erschütterndem zu entlasten (Wettreck 2001: 193).
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Prüfungen selbst kontrolliert. Voraussetzung für das gesellschaftliche Mandat der Profession ist neben der Wichtigkeit ihrer Aufgaben auch die Gemeinwohlorientierung, der u. a. durch berufsethische Kodizes Rechnung getragen wird. Folge des gesellschaftlichen Mandats ist die weitgehende berufliche Autonomie von Professionen, die sie von externer Kontrolle befreit. Die Pflege wird als typischer Fall einer Semiprofession gesehen, die nach Professionalisierung strebt, um mehr berufliche Autonomie und Anerkennung zu erreichen und sich aus der Subordination unter die Ärzteschaft zu befreien. Auch in Wettrecks «alltagsbegründeter Professionstheorie» wird die Medizin als Profession und die Pflege «nur» als Beruf gesehen, vor allem wegen der diffusen Konturen des Wissens, der Zuständigkeiten, aber auch der Mentalität und Verantwortlichkeit (Wettreck 2001: 117 f.). Wettreck beschreibt zwei verschiedene Professionsverständnisse: zum einen ein personal-existenzielles Verständnis, bei dem die Professionalität sich in einer bestimmten engagierten Haltung äußert (ähnlich Patricia Benners «expert»), und zum anderen ein handlungsbezogenes, technokratisches Verständnis, bei dem persönliche Distanzierung und Neutralität als professionell betrachtet werden. Da das technokratische Verständnis überwiegt, stellt er fest, «dass die Professionalisierungs-Anstrengungen der modernen Pflege bisher auf halbem Wege stehen bleiben. Das zentrale, aber fragmentarische Alltags-Erleben an der Basis, «wirklich zu pflegen», wird nur begrenzt aufgenommen und in seiner Wert-orientierenden, Sinn-stiftenden wie Berufs-gründenden Dynamik nicht hinreichend erkannt.» Die Pflege passt sich in ihrem Professionsverständnis dem der Medizin an, in dem Fachlichkeit und persönliche Neutralität dominieren und die Frage nach dem «unvertretbaren» pflegerischen Zugang zum kranken Menschen in den Hintergrund tritt (Wettreck 2001: 117 f.). Für meinen Focus der Ethik in der Pflegeausbildung und ihrer Didaktik erscheinen mir vor allem die folgenden Aspekte bedeutsam zu sein, auf deren Erörterung ich mich beschränken möchte:
• Professionalität ist per se wertorientiert. • Zur professionellen Praxis gehört eine entsprechende
persönliche Haltung. Allerdings ist Professionalität keine Charaktereigenschaft oder Tugend, sondern sie ist eingebettet in ein institutionelles Umfeld.
• Ethik wird als Professionalisierungsmerkmal gesehen. • Professionsprozesse sind ethisch ambivalent.
1. Pflege und Pflegeausbildung: Spuren des beruflichen Ethos
1.3.2 Grundsätzliche Wertorientierung der Professionalität
Die Annahme, dass Professionalität grundsätzlich eine Wertorientierung erfordert bzw. mit ihr einhergeht, bezieht sich sowohl auf die persönliche Ebene, indem bei den Mitgliedern der Profession klare Wertorientierungen und ein dementsprechendes Verhalten erwartet werden, als auch auf die berufspolitische Ebene, auf der sich eine moralische Orientierung in berufethischen Kodizes, aber auch in berufsständischen Sanktionsmechanismen ausdrückt. Zur Wertorientierung gehören dabei nicht nur die Gemeinwohlorientierung, sondern vor allem auch die Orientierung am Wohl des Einzelnen und die Respektierung des Selbstbestimmungsrechtes. Gemeinwohlorientierung und die Orientierung am Wohl des Einzelnen können miteinander konfligieren, wie die Geschichte zeigt.35 Als Ergebnis der allmählichen ethischen Neuorientierung der Pflege nach ihrem Versagen zur Zeit des Nationalsozialismus stellen heute alle berufsethischen Kodizes die Person des Patienten und damit die Orientierung am Wohl des Einzelnen über das Gemeinwohl. Eine weitere Lehre aus der Geschichte ist die, dass die Verantwortung den Gehorsam als Grundhaltung abgelöst hat. Die Tatsache, dass Pflege – als grundlegende menschliche Tätigkeit – grundsätzlich wertorientiert ist, wird von vielen Autoren hervorgehoben.36 Die Pflege und Betreuung von Kranken und Bedürftigen ist eine anthropologische Grundtatsache, eine Antwort auf die menschliche Grundsituation der Verletzlichkeit und Sterblichkeit. Die meisten Pflegenden nennen als Motiv für ihre Berufswahl das Bedürfnis, anderen zu helfen oder Menschenliebe. Wettreck fand in seiner Untersuchung über die Pflegewirklichkeit heraus, dass die Pflegenden in der Zusammenarbeit mit Ärzten von diesen oft als eine moralische Instanz betrachtet werden.37 Dies entspricht der Wächter- und Anwalts35 Vgl. den Abschnitt zum Nationalsozialismus unter 1.1.1. 36 Zum Beispiel Arndt 1996: 7 und 10 «Pflege als moralische Notwendigkeit»; Lay 2004: 11 «Pflege(n) ist ethisch relevantes Handeln», welches ethische Reflexion braucht. Rehbock warnt allerdings vor Auffassungen, die von einem unveränderlichen Wesen der Pflege und der Medizin ausgehen und behaupten, dass diese etwas inhärent Moralisches hätten. Dies bedeute eine Immunisierung gegenüber Kritik (Rehbock 2005b: 116 und 137 f.) Die hier vertretene Auffassung einer grundsätzlichen Wertorientierung der Pflege meint allerdings nicht, dass die pflegerische Praxis grundsätzlich moralisch gut sei, sondern dass sie grundsätzlich in ethischen Kategorien gedacht wird. 37 ��������������������������������������������������������������������������������������� Wettreck 2001: 49. Eine der Perspektiven, die nach dieser Untersuchung der Pflege zugeordnet werden, ist die ethische, hier in dem Sinn, dass Pflegende Fürsprecher für Patienten sind, oder protestieren, wenn sie ein Vorgehen nicht mittragen können. «Solange die Pflege nichts sagt …» Ebd., 124: Pflege ist (aus der Sicht der Ärzte) Warninstanz für ethische Fragwürdigkeit, häufig aber auch naiv und moralisierend. Ebd., 143: Pflege ist «moralischer Seismograph in medizinischen Entscheidungssituationen».
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funktion, die der Pflege zugeschrieben wird und die sie selbst auch als ihre Aufgabe sieht, wie aus den Ethik-Kodizes des ICN und der ADS hervorgeht.38 Das Erleben menschlichen Leids erzeugt laut Wettreck eine existenzielle ethische Erfahrung, ein Angesprochenwerden und damit Verantwortlichwerden angesichts der spürbar gemeinsamen menschlichen Grundsituation.39 Zur professionellen Haltung wird diese existenzielle Erfahrung durch Reflexion: durch Benennen und Besprechen der existenziell-ethischen Dimension, durch Verzicht auf heimliche moralische Größe, durch selbstbewusstes und konstruktives Umgehen mit den Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Arbeit (Wettreck 2001: 100). 1.3.3 Persönliche Dimension der Professionalität
In seinem Beitrag zum professionellen Handeln von Lehrern beschreibt Ewald Terhart die Entdeckung des «personalen Faktors» als Gegenbewegung zu der Gleichsetzung von Professionalisierung mit Verwissenschaftlichung, die in der ersten Phase der Professionalisierung des Lehrerberufs Ende der 1960er-Jahre erfolgt war. Herrschte in der Phase der Bildungsreform noch der Gedanke der Verwissenschaftlichung der Lehrerarbeit auf der Basis empirischer Lern- und Unterrichtsforschung sowie durch Verwissenschaftlichung der Ausbildung angehender Lehrer vor, so wird dieses enge, technokratische Verständnis von Professionalität zunehmend abgelehnt und der Denkhorizont geöffnet für diejenigen Faktoren, die in der Tradition der Pädagogik, aber auch im klassischen, berufssoziologischen Konzept von Professionalität schon immer eine wichtige Rolle innehatten: Berufung für den Beruf, persönliche, intuitive, moralische und soziale Elemente als notwendige Voraussetzungen kompetenter und verantwortungsvoller Berufsausübung … (Terhart 1996: 456).
Bezogen auf die Pflege bedeutet dies, die psychosozialen und personalen Kompetenzen40 mehr als bisher als Ausdruck von Professionalität anzuerkennen. Zur psychosozialen Kompetenz gehören Fähigkeiten und Eigenschaften wie eine grundsätzliche Menschenfreundlichkeit ebenso wie freundliches Verhalten, eine dialogische Grundhaltung, die darauf setzt, unterschiedliche Einschätzungen und Konflikte gemeinsam zu lösen, eine dem Gegenüber angepasste und diesem hilf38 Vgl. unter 1.1.2. 39 «Was jener aktuell und akut erlebt, ist auch für mich potenziell, grundsätzlich erwartbar, nicht ausschließbar, latent drohend … Indem ich involviert werde, erlebe ich zugleich etwas Unmittelbares, ursprünglich «Ethisches»: … herausgerufen werden aus der eigenen geschützten Identität in eine Verantwortung für den Anderen …» (Wettreck 2001: 93). 40 ������������������������������������������������������������������������������������ Im Rahmen des Konzepts der Schlüsselqualifikationen, mit dem in der beruflichen Bildung viel gearbeitet wird, werden verschiedene Kompetenzen als Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten beschrieben. Dazu ausführlicher unter 3.2.
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reiche Gesprächsführung, die Fähigkeit zum Zuhören, Empathie, Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, bewusstes und verantwortungsvolles Umgehen mit Vorurteilen sowie mit Sympathie und Antipathie, Balance zwischen Nähe und Distanz. Bei der personalen Kompetenz, die natürlich Schnittmengen mit der psychosozialen aufweist, geht es vor allem um den Umgang mit sich selbst und um die ganz eigene Art und Weise, den Anforderungen des Berufs und der eigenen Lebensumstände gerecht zu werden. Zur personalen Kompetenz gehören neben der Fähigkeit zur (Selbst-) Reflexion41 auch Selbstbewusstsein, Zuversicht, Humor, Phantasie, Urteilskraft, Beschäftigung mit existenziellen, religiösen oder spirituellen Dimensionen und die Bewusstheit über eigene Wertvorstellungen. Die psychosoziale und personale Kompetenz ermöglichen eine professionelle Grundhaltung, die mehr umfasst als einige Charaktereigenschaften oder Tugenden. Eine solche Grundhaltung ist keine Privatsache; ihre Förderung ist Ziel der Ausbildung – dazu gehört unter anderem das Besprechbar-Machen des scheinbar rein Privaten, der eigenen Haltung, des persönlichen Verhaltens. Der wichtigen Frage, wie diese Bildungsziele durch Unterricht gefördert werden können, wird im 3. Kapitel nachgegangen. 1.3.4 Ethik als Professionalisierungsmerkmal
Die Pflege ist nach überwiegender Einschätzung keine Vollprofession, sondern eher eine Semiprofession. Ihr Streben nach Anerkennung als Profession hat auch mit dem grundsätzlichen Wunsch nach mehr gesellschaftlicher Anerkennung zu tun. Dieses Streben ist mit eine Erklärung für den Eifer, mit dem die verschiedenen Berufsorganisationen in den 1990er-Jahren berufsethische Kodizes erarbeiteten. Im Kodex der DGF ist die Professionalisierung explizit als Ziel vermerkt.42 Damit stellt sich aber die Frage nach den Schwerpunkten und Zielen der Berufsethik. Ein berufsethischer Kodex ist einerseits Ausdruck der Wertsetzungen in einer Berufsgruppe – nicht in dem Sinn, dass er die Realität abbildet, sondern dem Nachdenken über berufliches Handeln normative Orientierung gibt. Damit verbunden ist andererseits auch der Wunsch, die Prinzipien und Regeln eines Kodex
41 Oelke unterscheidet hier die Selbstreflexionsfähigkeit, die ethische Reflexionsfähigkeit und die politische Reflexionsfähigkeit (Oelke 2005: 653 f.). 42 ������������������������������������������������������������������������������������� «Diese ethischen Regeln sollen Intensivpflegenden eine Grundlage für moralisches Handeln in der Intensivpflege bieten, das berufliche Selbstverständnis der Intensivpflegenden darstellen sowie die Autonomie der Intensivpflege untermauern. Darüber hinaus sollen diese ethischen Regeln ein Baustein auf dem Weg zur Professionalisierung sein» (Hervorhebung durch d. Verf., Deutsche Gesellschaft für Fachkrankenpflege: Ethische Regeln der Intensivpflege S. 1).
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mögen zur Verbesserung der beruflichen Praxis und damit zum Ansehen des Berufsstandes beitragen. Beide Ziele ergänzen einander. Wenn der Wunsch nach Anerkennung als Profession sehr im Vordergrund steht, besteht die Gefahr, die Ethik als Mittel zum Zweck zu benutzen. Da die Berufsethik allgemein als Professionalisierungsmerkmal gilt (und in der merkmalstheoretischen Betrachtung ist hier schlicht die Existenz eines berufsethischen Kodex gemeint), könnte die Aufmerksamkeit sich zu sehr auf die bloße Existenz von Kodizes richten, statt auf die Verankerung der Ethik im beruflichen Alltag von Pflegenden.
1.3.5
Ethische Ambivalenz von Professionalisierungsprozessen
Dass die Professionalisierung Standardisierungen und Schematisierungen der pflegerischen Abläufe zur Folge hat, bedeutet einerseits größere Einheitlichkeit und damit auch fachliche Verlässlichkeit, gefährdet aber andererseits auch die vielbeschworene individuelle und patientenorientierte Pflege. Im Einzelfall kann die Professionalität sogar mit der Autonomie der Patienten konfligieren, wenn das pflegefachlich Geforderte von den Gepflegten abgelehnt wird. Schematisierungen bergen immer die Gefahr falscher Anwendung in sich. So wurden etwa Bögen und Checklisten zum Führen eines Aufnahmegespräches entwickelt. Hauptziel des Aufnahmegespräches ist es natürlich, mit dem Patien ten Kontakt herzustellen und eine Vertrauensbasis zu schaffen. Wenn dann aber Pflegende auf Grund mangelnder Fähigkeit zur Gesprächsführung oder aus Zeitdruck einfach nur die entsprechenden Kästchen ankreuzen, ohne den Patienten überhaupt richtig wahrzunehmen, dann ist nicht nur ein grundsätzlich gutes Instrument schlecht angewendet worden, sondern der Patient ist als Objekt behandelt worden. Ähnliches gilt für den Umgang mit der Pflegeplanung, die leider überwiegend noch immer ohne Mitwirkung des Patienten formuliert wird, so dass Ziele definiert werden, die in vielen Fällen nicht die Ziele des Patienten sind und über die er oft nicht einmal informiert ist. Ethisch noch fragwürdiger kann der Einsatz von Fragebögen bei der Biographiearbeit im Altenpflegebereich sein. Hier werden zum Teil sehr intime Details und Daten erfragt, ohne dass diese angemessen gesichert werden bzw. für die Gestaltung der Pflege Folgen haben. Eine weitere Gefahr von Standardisierung ist, dass etwa Checklisten und EDV-gestützte Pflegeberichte dazu einladen, Dinge abzuhaken, die so nicht erfolgt sind. Dies ist schon bei konkreten Fakten eine Gefahr; da es sich hier aber um Urkundenfälschung und damit um einen Straftatbestand handelt, wenn man z. B. wahrheitswidrig abhakt, einen Patienten mobilisiert zu haben, wird dies seltener vorkommen als die Behauptung, Unterstützung, Beratung und Betreuung angeboten oder geleistet zu haben. Bei diesen kann immer behauptet werden, sie
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würden in die Pflegemaßnahmen integriert und diese ständig begleiten – was ja auch sinnvoll wäre, nur in der Praxis nicht so häufig und regelmäßig geschieht, wie es der Selbstwahrnehmung und dem Anspruch von Pflegenden entspricht. Ein Teil der Professionalisierungsbemühungen in der Pflege, wie etwa die eben erwähnte Standardisierung oder die Übernahme des neutralen Professionsverständnisses der Medizin, führt zu Funktionalisierung und Rationalisierung und kann dem Selbstverständnis von Pflege zuwiderlaufen. Dieses beinhaltet ja gerade das Engagement und die Parteinahme für die Schwachen und Verletzlichen; es geht von der gemeinsam geteilten menschlichen Grundsituation aus und ist somit an der Person orientiert, und die zentralen Fähigkeiten in diesem Professionsverständnis sind nicht überwiegend funktionaler sondern personaler Natur. Für die Pflegewissenschaft, darauf weist Remmers hin, bedeutet eine Orientierung an technokratischer Rationalität den Verlust der kritischen Funktion von Wissenschaft (Remmers 2000a: 133).
1.4
Pflegeausbildung im Wandel
1.4.1 Impulse durch die Novellierung des Krankenpflegegesetzes
Nachdem die wichtigste Neuerung des Krankenpflegegesetzes (KrPflG) von 1985 die Formulierung von Ausbildungszielen war (KrPflG 1985 § 4), bringt die Novellierung von 2003 (die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung trat zum 1. 1. 2004 in Kraft) mehr Veränderungen: Der theoretische Anteil der Ausbildung wird erheblich erweitert und ihre inhaltliche Orientierung an Unterrichtsfächern wird durch eine Orientierung an Lernfeldern und beruflichen Kompetenzen ersetzt (Näheres dazu im 4. Kap.). Die praktische Ausbildung findet insgesamt stärkere Beachtung, indem klare Vorgaben zur Sicherung der Ausbildungsqualität durch den Einsatz von Praxisanleiterinnen gemacht werden. Da diese auch als Prüferinnen bei der Praktischen Prüfung mitwirken werden, ist ein Anlass gegeben, die Zusammenarbeit zwischen den Schulen und den Praxisbereichen zu verstärken. Im § 3 des Gesetzes, der mit der Benennung von Ausbildungszielen auch das Tätigkeitsfeld der Pflege umreißt, wird betont, dass Pflege auch für präventive, rehabilitative und palliative Maßnahmen zuständig ist. Außerdem wird hier erstmals ein eigenständiger Bereich für die Pflege beschrieben, nämlich die Feststellung des Pflegebedarfs, die Dokumentation, Evaluation und Qualitätsentwicklung der Pflege sowie Beratungstätigkeiten. Das Monopol der Ärzte zur Anordnung pflegerischer Maßnahmen bleibt dabei jedoch bestehen.
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Eine ins Auge fallende, inhaltlich jedoch umstrittene Veränderung ist die Neufassung der Berufsbezeichnung von «Krankenschwester/Krankenpfleger» in «Gesundheits- und Krankenpflegerin bzw. -pfleger».43 Die Abschaffung der Anrede «Schwester», die sowohl auf die christlichen Wurzeln der Pflege verweist als auch eine semantische Ungleichheit mit der Anrede «Pfleger» enthielt, war von Berufsverbänden schon lange gewünscht worden. Eine Berufsbezeichnung berührt immer auch das Selbstverständnis der Berufsangehörigen. Sich mit dem Wortungetüm «Gesundheits- und Krankenpflegerin» zu identifizieren, wird für viele Pflegende schwierig sein. In der Praxis werden in der Pflege tätige Frauen, seien sie nun Pflegehelferinnen oder Schülerinnen, vermutlich noch lange mit «Schwester» angeredet werden. Die starke Betonung der Gesundheit als «Leitkategorie der Ausbildung», die sich übrigens auch in der Betonung von Prävention und Rehabilitation in der theoretischen Ausbildung zeigt, bewertet Karin Reiber als positiv, da sie eine «Abwendung von der Defizitorientierung hin zur Kompetenzorientierung» bedeute (Reiber 2004: 48). Das Gesundheitsparadigma als Zielorientierung für die Pflege sollte aber gerade unter ethischen Gesichtspunkten auch kritisch hinterfragt werden. Pflege existiert aufgrund dessen, dass es Krankheit und Bedürftigkeit gibt, und ihr Ethos beinhaltet eine Parteinahme für Schwache und Hilfsbedürftige. Auch wenn sich die meisten Menschen immerwährende Gesundheit wünschen, so gehören doch Krankheit, Hilflosigkeit und Gebrechlichkeit zur menschlichen Grundsituation. Wird die Gesundheit als Ideal absolut gesetzt, dann kann das zu einer Entwertung der Patienten führen, die nicht mehr gesund werden können – und zu einer Entwertung derer, die sie betreuen. Das neue Krankenpflegegesetz hat wichtige Impulse zur Weiterentwicklung der Pflegeausbildung gegeben und dabei auch Diskussionen und Forderungen der Pflege aufgegriffen. Unabhängig davon erfolgten gleichzeitig die durch den Professionalisierungsdiskurs angestoßenen Veränderungen an den Schulen. 1.4.2 Veränderungen im Selbstverständnis der Lehrenden und der
Ausbildungsstätten
Die Einführung von Curricula, die seit Anfang der 1990er-Jahre an immer mehr Schulen erfolgte, setzte ein Umdenken der Lehrer/innen in Gang: Durch ihre überwiegend fächerintegrative Struktur regten die Curricula dazu an, sich vom Den43 Entsprechend «Kinderkrankenschwester / Kinderkrankenpfleger» in «Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin bzw. -pfleger». Diese berufspolitische Wortschöpfung ist wohl eher aus Hilflosigkeit entstanden und wird sich nach meiner Überzeugung nicht in die normale Sprache einbürgern. Auch ich werde in dieser Arbeit weiter von Krankenschwestern und -pflegern, Pflegenden oder «der Pflege» sprechen; gemeint sind jeweils professionell Pflegende mit einer dreijährigen Ausbildung.
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ken in Fächergrenzen zu lösen und sich stärker auf die Pflege selbst zu besinnen. Auch wenn die Medizinorientierung in der Pflegeausbildung schon lange kritisiert worden war: hier zeigte sich noch einmal, wie tief sie im Ausbildungsalltag und in der grundsätzlichen Orientierung der Lehrerinnen verankert war. Die Ausbildung von der Pflege her denken hieß, neue Schwerpunkte zu setzen und sich mit neuen Lernformen vertraut zu machen. Die Arbeit mit fächerübergreifenden Lerneinheiten stellte auch neue Anforderungen an die Stundenplanung, da es natürlich sinnvoll ist, die Einheiten möglichst wenig zu zerstückeln und ihre Bestandteile in einer sinnvollen Reihenfolge anzubieten. Außerdem erfordert sie viel mehr als die vorherige fächerorientierte Struktur, sich auf neue Methoden einzulassen, weil in fächerübergreifenden Einheiten die inhaltlichen Zusammenhänge deutlicher werden. So liegt es besonders nahe, die Schülerinnen zur Eigenarbeit anzuregen, etwa in Form von Problemorientiertem Lernen oder Projekttagen, Hospitationen (etwa in Sozialeinrichtungen) und Arbeitsaufträgen. Die Organisationsstrukturen der Schulen, oft mehr durch Gewohnheit und Tradition als durch ständige Veränderung geprägt, gerieten in Bewegung und gewannen an Bedeutung. Für die Implementierung von Curricula, zentralen Stundenplänen und einer regelmäßigen Zusammenarbeit mit den Einsatzstellen der Praxis mussten zentrale Konzepte gefunden werden; man konnte sich nicht wie zuvor auf das Engagement und die Interessenschwerpunkte einzelner Lehrerinnen stützen. Zudem ermöglicht das neue Gesetz ausdrücklich neue Ausbildungsmodelle wie Teilzeitausbildung und integrierte Ausbildung, z. B. mit der Altenpflege und der Kinderkrankenpflege. Die Qualitätsdiskussion hatte die Krankenpflegeschulen erreicht. Leitbilder wurden entwickelt, Schulteams verständigten sich auf pädagogische Ziele und versuchten sich mit Projekten und Konzepten zu profilieren – auch aus Gründen der Selbsterhaltung, da viele kleinere Schulen im Zuge der Spardebatten von Schließung oder Fusionierung bedroht waren und sind. 1.4.3 Einflüsse der Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen
Die Finanznot vieler Krankenhäuser führte vielerorts zur Reduzierung von Ausbildungsplätzen und Einsparungen an den Pflegeschulen. Viele Träger wollen durch die Fusion von Ausbildungsstätten Geld sparen, Immobilien umnutzen und neue Strukturen schaffen. Dass «Zwergschulen» mit 45 Ausbildungsplätzen, wie es sie vielerorts gab, den vielfältigen Anforderungen und veränderten Rahmenbedingungen der Pflegeausbildung oft allein auf Grund der mangelnden Kapazitäten nicht mehr gerecht werden können, wird auch von vielen Pflegelehrern gesehen. Kritisiert wird jedoch die rein wirtschaftliche Zielrichtung vieler Veränderungsprozesse. Einsparungen sind nur dort wirklich ein Gewinn für das Unternehmen, wo die Entwicklung der Qualität ein gleichrangiges Ziel ist.
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Zwischen 1995 und 2003 wurden etwa 20 % der Ausbildungsplätze in der Kranken- und Kinderkrankenpflege oder Krankenpflegehilfe abgebaut (die Zahlen dieses Abschnitts stammen aus Dielmann 2005: 2). Die Altenpflegeausbildung, die inzwischen bundeseinheitlich gesetzlich geregelt ist, hat dagegen im gleichen Zeitraum etwa 20 % zugelegt; dieser Trend hält aber möglicherweise wegen der auslaufenden Umschulungsförderung nicht an. Der Abbau der Ausbildungsplätze in den Krankenpflegeschulen ist möglicherweise das Ergebnis von Fehleinschätzungen. Viele Ausbildungsträger konnten über die Höhe ihrer Ausbildungskosten keine exakten Angaben machen, als diese für die geplante Umstellung der Ausbildungsfinanzierung benötigt wurden, schreibt Gerd Dielmann in einem Artikel über aktuelle Ausbildungstrends in den Gesundheitsberufen (2005: 3). Die neue Finanzierungsregelung sieht vor, dass die Kosten für die Ausbildung nicht wie zuvor im Gesamtbudget verschwinden dürfen, sondern zweckgebunden verwendet werden müssen. Die Mehrkosten, die durch die Erhöhung der Theoriestunden im neuen Krankenpflegegesetz und durch die Vorschriften über die Praxisbegleitung entstehen, sollen durch einen Ausbildungsfonds ausgeglichen werden, in den auch die Krankenhäuser einzahlen müssen, die nicht selbst ausbilden. Dielmann folgert: «Unbeschadet der Änderungen im Finanzierungssystem war und ist die Ausbildungsfinanzierung gesichert, auch wenn viele Krankenhausmanager das nicht wahrhaben wollen und weiter auf Abbau drängen» (Dielmann 2005: 25). Wie wichtig gerade angesichts der Finanznot im Gesundheitswesen eine vorausschauende Planung ist, zeigt ein Blick in die Zukunft: Die sich abzeichnende demographische Entwicklung ist hinreichend bekannt. Gleichzeitig wird die Zahl der Schulabgängerinnen mit mittlerem Bildungsabschluss, die sich oft für Gesundheitsfachberufe entscheiden, ab 2007 stark abnehmen (um etwa 15 %) (Dielmann 2005: 5). Dies zeigt auch die Wichtigkeit einer qualitativ guten und attraktiven Ausbildung – und die Widersinnigkeit der zur Zeit öfter diskutierten Idee, auch noch an den Ausbildungsvergütungen zu sparen. 1.4.4 Strukturveränderungen
Die Strukturveränderungen in der Pflegeausbildung sind sowohl durch das veränderte Selbstverständnis als auch durch den Kostendruck verursacht worden. Das kann eine produktive Mischung ergeben, wenn mit den neuen Ideen zu anderen Organisationsformen gefunden wird, die sowohl Ressourcen sparen als auch die Qualität entwickeln. Leider wird die Diskussion um neue Strukturen oft auf die ökonomischen Aspekte verengt. Dann besteht aber die Gefahr, dass die Qualität auf der Strecke bleibt bzw. auf formale Kriterien reduziert wird. Fusionen werden im Gesundheitswesen von vielen als geeignetes Mittel gesehen, um Einsparungen mit Strukturveränderungen zu verbinden. Deshalb ist es zu einer großen Zahl von Klinikfusionen gekommen. Auch die Pflegeschulen
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sind stark von Fusionen betroffen. Fusionen von kleineren Pflegeschulen sind auch politisch gewollt, und durch sie sind zum Teil recht große Bildungszentren entstanden. Es ist die Frage, wo eine kritische Größe liegt, die eine Bildungseinrichtung im Gesundheitswesen schwerfällig macht und Innovationen verhindert. Über die schädlichen Wirkungen von Fusionen wird momentan nicht gern diskutiert. Allerdings wurde dabei so manche gute Schule mitsamt ihrer Kultur und Innovationskraft vernichtet, ohne dass etwas vergleichbar Gutes daraus entstand. Auch die Folgen für die Mitarbeiter werden oft nicht bedacht. Eine Verbindung von Aus-, Fort- und Weiterbildung unter einem Dach erscheint allerdings grundsätzlich sinnvoll, zum einen, weil die Lehrkräfte besser eingesetzt werden können und dadurch die Gelegenheit haben, mit verschiedenen Zielgruppen aus der Pflege zu arbeiten und deren Perspektiven kennen zu lernen, zum anderen, weil inhaltliche Verbindungen vor allem zwischen dem Aus- und dem Fortbildungsbereich im Hinblick auf die Verbesserung der praktischen Ausbildung und der Verringerung der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis sehr wünschenswert sind. Für die internen Strukturen bedeutet das, dass sich die Lehrer auch weiterhin spezialisieren können, allerdings nicht auf ein Fach, sondern auf einzelne Lernbereiche, die sie dann in den verschiedenen Ausbildungsgängen, aber auch in der Fort- und Weiterbildung unterrichten können. Bei der Entwicklung von Strukturen muss das erhalten werden, was sich bewährt hat. Dazu gehört das Kurssystem für die Grundausbildungen, um gemeinsames Lernen in einer Gruppe zu ermöglichen, die über drei Jahre zusammen bleibt. Im Fort- und Weiterbildungsbereich wird inzwischen gern mit übergreifenden Modulen gearbeitet (hier ist von Hygiene bis Ethik alles Mögliche sinnvoll denkbar), so dass es während einer berufsbegleitenden Weiterbildung keine festen Lerngruppen mehr gibt, sondern verschiedene Module besucht werden, in denen sich dann bekannte und neue Teilnehmer/innen mischen. Für die Grundausbildungen, in denen die Lernenden noch jünger und meist Berufsanfänger sind, ist die gegenseitige Unterstützung in einer festen Gruppenstruktur dagegen ein Stück Qualität, ermöglicht es doch auch der zuständigen Kursleiterin, gezielt persönliche Lernbegleitung zu leisten. Strukturveränderungen in der Pflegeausbildung sind für die Qualitätsentwicklung wichtig; sie sind allerdings nicht an sich gut, sondern müssen gut vorbereitet und kritisch reflektiert werden. Im ersten Kapitel wurde der Entwicklung des pflegerischen Ethos nachgegangen, das sowohl positive als auch zu kritisierende Anteile enthält und die Pflegepraxis wie auch die Pflegelehre prägt. Zu kritisieren sind, und das wird im Ethik-Kapitel weiterverfolgt, vor allem der unkritische Gehorsam und die Tendenz zur Selbstverleugnung. Als positive Elemente des Ethos treten die Personorientierung und die Anwaltsfunktion der Pflege hervor.
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Mit dem Professionalisierungsdiskurs wurde einer der wichtigsten Antriebsfedern von Innovationen in der Pflege und Pflegelehre in den letzten Jahrzehnten aufgegriffen, die auch die Entwicklung der Pflegeethik vorangebracht hat. Schließlich wurden die gegenwärtige Situation der Pflegeausbildung und aktuelle Entwicklungslinien dazu dargestellt, dies als Hintergrund sowohl der Überlegungen zur Ethik als auch zur Didaktik.
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Ethik
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Ergebnisse
2. Ethik
Die Entwicklung der Ethik in der Pflege steht in engem Zusammenhang mit ihrer Professionalisierung und Akademisierung, die im ersten Kapitel dargestellt wurden. Dieses Kapitel soll nun das grundsätzliche Verständnis von Ethik in der Pflege klären und sie in den Diskursen der Ethik und Pflegewissenschaft verorten – als weiterer Baustein der fachlichen Grundlage für die Entwicklung eines Konzepts für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung. Was Ethik eigentlich ist und was sie für die normative Handlungsorientierung etwa in der pflegerischen oder medizinischen Praxis und für die Bewältigung der hier auftretenden ethischen Probleme zu leisten vermag, ist auch in der philosophischen Ethik nicht hinreichend geklärt. Eine kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Positionen im weiten Feld der Ethikdebatten ist daher für die Ethik in der Pflege unumgänglich, kann aber im Rahmen dieser Arbeit nicht in vollem Umfang geleistet werden. Das Ethikverständnis, das im Folgenden zugrundegelegt und entwickelt wird, orientiert sich in den Grundzügen an der Konzeption der Ethik als philosophischanthropologische Reflexion und als Kritik der Moral von Theda Rehbock. Diese Konzeption vermittelt theoretische Grundlagen und praktische Probleme in einer Weise, die speziell für die Pflege, aber auch für das ganze Gesundheitswesen nach meiner Einschätzung besonders fruchtbar ist. Im Zentrum stehen hier die Personorientierung und die Nähe zur menschlichen Grundsituation. Daraus ergibt sich eine kritische Distanz zu szientistischen und rationalistischen Konzepten des Menschen, der Krankheit und der Moral, wie sie in der Medizin und in der Medizinethik vorzufinden sind. Die Begriffe Ethik und Moral werden in der üblichen Weise unterschieden, nach der unter Moral die faktisch vorhandenen, oft unreflektierten und ungeschriebenen Normen und Verhaltensregeln verstanden werden, die das tägliche Handeln und Urteilen bestimmen, und unter Ethik die systematische Reflexion dieser Normen und Regeln.44 Folgt man der Kantischen Konzeption, dann gehört zur Moral auch die den Normen bzw. Maximen zugrunde liegende moralische Grundorientierung («Gesinnung»), die durch die Ethik expliziert, bewusst gemacht und in ihren Konsequenzen für die kritische Beurteilung faktischer Normen reflektiert, aber nicht neu eingeführt wird. Der Begriff des Ethos als einer moralisch gerechtfertigten Grundhaltung z. B. von Angehörigen helfender Berufe ist dem der Moral insofern verwandt, als es um faktisch vorhandene Orientierungen geht, im Unterschied zur Moral geht es 44 Vgl. z. B. Pieper 1994: 17–57; Arndt 1996: 16; Kettner 2002: 410; einige Autoren, wie etwa Beauchamp und Childress 1994: 5 verzichten ausdrücklich auf eine begriffliche Unterscheidung zwischen Ethik und Moral.
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hier jedoch um typische sittliche Haltungen und Verhaltensweisen von Gruppen (z. B. Angehörige eines bestimmten Berufes, einer Schicht oder einer anderen sozialen Gruppe). Im ersten Kapitel wurden die Entstehung des pflegerischen Ethos sowie die Gründe erläutert, die zu einer kritischen Hinterfragung des traditionellen, auf Gehorsam und christliche Werte gründenden Ethos führten. Ein Ethos muss also selbst durch die Ethik bewusst gemacht, analysiert und, wie die Moral, kritisch reflektiert werden. Nach einem Blick auf die Entwicklung der Pflegeethik in Deutschland und ihrer Abgrenzung von der Medizinethik (2.1), der auch die Kritik eines einseitigen und reduktionistischen Verständnisses von Medizin einbezieht, wird die aktuelle Diskussion in der Pflegeethik nachgezeichnet (2.2). Mit der kritischen Ethikkonzeption von Theda Rehbock wird ein Ansatz vorgestellt, der den Rahmen für eine praktisch fruchtbare ethische Reflexion des pflegerischen Handelns und Urteilens bilden kann (2.3.2 bis 2.3.5). Am Ende des Kapitels werden mit dem Konzept ethischer Prinzipien als Reflexionsbegriffe (2.3.6) sowie mit einem Modell zur ethischen Reflexion (2.3.7) methodische Vorschläge für die Praxis ethischer Reflexion und Vermittlung gemacht, die gleichzeitig Verbindungen und Übergänge zur Erörterung der didaktischen Fragen im nächsten Kapitel herstellen.
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Die Entwicklung der Pflegeethik in Deutschland Die Ethik als «Theorie in praktischer Absicht» (Pieper 1994: 59) war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein eher marginaler Teilbereich der Praktischen Philosophie. Sie gewann durch die Fortschritte der Medizin und anderer Naturwissenschaften und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten und Grenzfragen erheblich an Bedeutung. Seitdem hat sie sich bis zur Unübersichtlichkeit in verschiedene Schulen und Richtungen ausdifferenziert. Für die Untersuchungen, die zur Konturierung einer Ethik in der Pflege führen, habe ich mich auf die deutschsprachigen Konzepte beschränkt. Obwohl anglo amerikanische Ethiktheorien allein dadurch bedeutsam sind, dass sie für das Feld der Pflege schon weiter entwickelt und ausgearbeitet sind, gehen sie ebenso wie die Pflegetheorien, wie Remmers zeigt,45 überwiegend von einem anderen Wissenschafts- und Ethikverständnis aus, dessen Explikation und Bewertung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Deshalb habe ich in die nun folgende 45 Remmers vergleicht die europäische und angloamerikanische Wissenskultur und stellt bei letzterer eine stärkere Verzahnung von Wissenschaft und Gesellschaft, eine geringere Bedeutung der kritischen Reflexion und einen deutlichen Einfluss des Pragmatismus fest. So kommt es, dass systemtheoretische und verhaltenswissenschaftliche Konzepte in der angloamerikanischen Pflegewissenschaft überwiegen (Remmers 2000a: 123-140).
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kritische Standortbestimmung nur solche Autoren und Ansätze einbezogen, die auch in der deutschsprachigen Debatte eine Rolle spielen. Monika Bobbert unterscheidet in ihrem historischen Rückblick drei Phasen der Entwicklung der Pflegeethik in Deutschland (Bobbert 2002: 62–71), die ich hier aufnehme, weil ich sie für zutreffend halte und die ich mit einer kurzen Beschreibung von Inhalten ausgewählter Publikationen verbinde. Die erste Phase der Pflegeethik, «bürgerlich-weibliche und caritative Tugenden» erstreckt sich bis in die 1970er-Jahre und wurde im ersten Kapitel dieser Arbeit ausführlicher beschrieben. Es folgte eine Phase der «umfassende(n) Versorgung des Patienten im Sinne einer Ethik des ‹guten Lebens›», die bis Ende der 1980er-Jahre angesetzt wird. Hier besann sich die Pflege auf ihre Ziele und stellte klar, dass die helfende Beziehung zum Patienten eine zentrale Aufgabe der Pflege ist. Kennzeichnend für diese Phase ist die sozialwissenschaftliche Orientierung, die zu einer Fülle von Publikationen über Gesprächsführung, Begleitung in Krisensituationen, zur Förderung des Wohlergehens und zur Einbeziehung der Biographie und des sozialen Umfelds des Patienten in die Planung der Pflege führte. Eine besondere Rolle spielten Veröffentlichungen von Theologen.46 Die Dominanz des Themas «Tod und Sterben» in der Pflegeethik geht auf diese Entwicklungsphase zurück. 1980 veröffentlichten Franz Josef Illhardt und Eduard Seidler die Ergebnisse einer Befragung von Bildungseinrichtungen für Pflegende und Hebammen über Stundenanteile, Themen, Dozenten und Stellenwert des Ethikunterrichts in der Pflegeausbildung. Sie zeigten schon damals Trends auf, die auch heute noch aktuell sind, etwa, dass Ethikunterricht zumindest in Teilen berufsübergreifend angeboten werden sollte und dass sich das Thema Ethik als Querschnittsthema durch alle Fächer ziehen sollte. Die 1989 von Hilde-Dore Abermeth vorgelegte Monographie «Ethische Grundfragen in der Krankenpflege», eine Art Leitfaden für Lehrende, ist inhaltlich mit der Forderung nach Patientenorientierung der zweiten Phase zuzuordnen, da sie keinerlei Bezüge zur philosophischen Ethik enthält, wie es für die folgende Phase der «modernen» Pflegeethik typisch ist. Mit seiner starken Orientierung an christlichen Tugenden kann dieses Werk teilweise der ersten Entwicklungsphase zugerechnet werden und ist damit ein Beispiel für Bobberts These, dass die beschriebenen Phasen «sich überlappen und heute noch nebeneinander bestehen – gewissermaßen als unterschiedliche systematische Verständnisse
46 ���������������������������������������������������������������������������������������� Bobbert weist hier besonders auf die in der Pflege viel rezipierten Werke von Paul Sporken hin, etwa «Umgang mit Sterbenden» (1976), «Die Sorge um den kranken Menschen» (1977) und zusammen mit Curt Genewein «Menschlich pflegen» (1979).
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von Ethik bzw. Moral» (Bobbert 2002: 55).47 Abermeths Themenauswahl für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung reicht von «Christlicher Glaube, Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit» über «Beruf, Berufsverständnis, Berufung» bis hin zu «Probleme in der Pflege alter und verwirrter Menschen» (Abermeth 1989: 13). Hintergrund für die Betonung der Orientierung an der Person des Patienten war die «Ganzheitlichkeitsbewegung», die als eine kritische Reaktion auf die verbreitete Orientierung an dem einseitig naturwissenschaftlichen Verständnis von Krankheit entstand, wie es in der Medizin vorherrscht. Die dritte Phase schließlich, die Bobbert als «ethische Reflexion moralischer Konflikte – ‹moderne› Pflegeethik» bezeichnet, begann Ende der 1980er-Jahre mit der Rezeption pflegeethischer Literatur aus den USA und Großbritannien. Mit der 1988 erschienenen Übersetzung von Verena Tschudins «Ethik in der Krankenpflege» lag ein neues Lehrbuch vor, das inhaltlich Anschluss an philosophische Konzepte suchte und ethische Grundbegriffe darstellte. Allerdings sind Tschudins Begriffsbestimmungen und die Versuche, ethische Grundbegriffe auf die Pflegepraxis anzuwenden, noch sehr fragmentarisch und teilweise irreführend.48 Ebenfalls 1989, als es in der Pflege nur einzelne Forschungsprojekte, aber noch keinen pflegewissenschaftlichen Lehrstuhl gab, wurde der «Deutsche Verein zur Förderung von Pflegewissenschaft und -forschung» gegründet. Dort gibt es seit 1997 auch eine Sektion «Ethik», die es sich zur Aufgabe gemacht hat, eine eigenständige Pflegeethik zu entwickeln.49 Anfang der 1990er-Jahre begann im Zuge der Professionalisierungsdebatte die Überarbeitung und Erarbeitung von pflegeethischen Kodizes durch die zahlreich in Deutschland vorhandenen Pflegeverbände. Der DBfK50 entwickelte 1993 in Anlehnung an den Kodex seines Dachverbandes, des International Council of Nurses, eine neue «Berufsordnung» mit pflegeethischen Elementen. Der Evange47 ������������������������������������������������������������������������������� Abermeth schrieb auch «Gespräche auf der Krankenstation» (1982) und «Patientenzentrierte Krankenpflege» (1983), die thematisch der zweiten Phase zugeordnet werden können. 48 Zur Definition von Moral und Ethik zitiert sie Thompson, Melia und Boyd: Moral habe «einerseits mit Sexualität und andererseits mit religiösem Dogmatismus» zu tun; Ethik enthalte etwas «eher Geistiges und Objektives». Tschudin 1988: 33. Ihr Versuch, den Begriff der Teleologie auf die Pflege zu übertragen, wirkt fast erheiternd: «Übertragen wir diese Theorie auf die Krankenpflege, sehen wir, dass eine streng ausgelegte Pflegemethode ihre Berechtigung hat. Zum Beispiel‚ ‹wenn alle ihre Arbeit gut (oder vorschriftsgemäß) machen, dann sind Patienten und Krankenschwestern glücklich›.» (Tschudin 1988: 18). 49 Quelle der Informationen z. B. www.pflegewiki.de/wiki/DV_Pflegewissenschaft; Stand 27. Juli 2006. Seit dem 1. Januar 2006 ist der DV zur wissenschaftlichen Fachgesellschaft geworden und nennt sich jetzt «Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft». Die vierteljährlich erscheinende Verbandszeitschrift heißt nach wie vor «Pflege & Gesellschaft». 50 Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (früher: für Krankenpflege).
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lische Fachverband folgte im gleichen Jahr mit seinen «Ethischen Leitlinien»; die anderen Kodizes stammen aus dem Jahr 1995. Wie der näheren Darstellung der Inhalte im ersten Kapitel zu entnehmen ist, wurden die meisten dieser Kodizes in den letzten Jahren (nach 2000) überarbeitet und weiterentwickelt. 1992 veröffentlichte Volontieri seine Studie über den Ethikunterricht auf der Grundlage einer Befragung von Krankenpflegeschulen. Sie machte die verbreitete Unsicherheit gegenüber dem Fach Ethik deutlich. Immerhin 25 % der befragten Schulen gaben an, gar keinen Ethikunterricht anzubieten (Volontieri 1992: 12). Der Stundenumfang von Ethik für die dreijährige Ausbildung variierte stark und betrug im Durchschnitt 43 Stunden (Volontieri 1992: 19). Inhaltlich stand das Thema Sterben und Tod an erster Stelle eines sehr weiten Spektrums von angebotenen Themen, die überwiegend von Unterrichtspflegekräften und Theologen unterrichtet wurden (je ca. 41 %). In einer Zeit, in der die meisten Krankenpflegeschulen noch ohne den didaktischen Bezugsrahmen eines Curriculums mit eigenen Lehrplänen oder Lernzielkatalogen der jeweiligen Bundesländer arbeiteten, betonte Volontieri schon die Notwendigkeit einer curricularen Einbettung der Ethik. Auch sah er den Zusammenhang zwischen Ethik und Professionalität und die Notwendigkeit institutioneller Veränderungen zur Verwirklichung ethischer Grundsätze (Volontieri 1992: 27). 1993 gab es ein Schwerpunktheft der Deutschen Krankenpflege-Zeitschrift zum Thema Ethik. Das Themenspektrum der dreizehn Fachartikel von Pflegenden, Ärzten, Philosophen und Theologen reichte von theoretischen Beiträgen, etwa zur Ethik Albert Schweitzers oder dem Konflikt zwischen Fürsorge und Autonomie, Altern und der Pflege alter Menschen bis hin zu Fragen der Aufklärungsproblematik und den Grenzen der Medizin. Den größten Raum aber hatte die Frage der Vermittlung von Ethik mit fünf Beiträgen. Dieses Sonderheft mit seinem interdisziplinären Zuschnitt und der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas war ein Vorläufer der «modernen» Pflege ethik im engen Sinne, die, so Bobbert, erst ab der Mitte der 1990er-Jahre begann, und bei der sich die Diskussion um die Ethik in der Pflege mit Fragen der Professionalisierung und Akademisierung der Pflege, mit Fragen also nach dem beruflichen Selbstverständnis und der Entwicklung der Pflegewissenschaft verbindet. Thematisiert wurde in dieser Phase gerade auch die Frage, ob die Pflege innerhalb der herrschenden Rahmenbedingungen und angesichts ihrer mangelnden beruflichen Autonomie überhaupt «frei zum moralischen Handeln» sei.51 51 Diese Frage stand als Motto über der ersten Veranstaltung der AG Pflege und Ethik in der Akademie für Ethik in der Medizin 1996 im Rahmen der Lippischen Pflegetage in Lemgo. Den Hauptvortrag unter dem Titel «Nicht frei zu moralischem Handeln?» hielt Marianne Arndt.
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Marianne Arndts Artikel über Fehler bei der Medikamentengabe (1994) war ein erster Versuch, eigene Fragestellungen der Pflegepraxis in die Diskussion zu bringen. 1994 wurde vom Deutschen Berufsverband für Krankenpflege eine Übersetzung von Sara Fry’s «Ethik in der Pflegepraxis» herausgegeben. Das Werk orientiert sich am Kodex des International Council of Nurses und kommentiert diesen. Im Mittelpunkt steht die «Anleitung für ethische Entscheidungsfindungen» (so der Untertitel des Buches), und es enthält das erste pflegerische Entscheidungsmodell, das in Deutschland publiziert wurde. Moralisch fundiert sei eine Entscheidungsfindung, so Fry, wenn die Konfliktsituation und die ihr zugrunde liegenden Wertvorstellungen analysiert werden. Sie wendet ihr Modell auf einige der zahlreichen Fallgeschichten an, anhand derer sie die theoretischen Aspekte erläutert.52 Auch Johanna Tauberts historische Untersuchung über die «berufliche Entwicklung zwischen Diakonie und Patientenorientierung» (1994) lieferte wichtige Informationen über die Entstehung des pflegerischen Ethos, welches nun kritisch hinterfragt wurde. Taubert verbindet diese Analyse mit Überlegungen zu Möglichkeiten einer verstärkten Patientenorientierung in der Pflege. Im Rahmen eines Symposiums über Pflegewissenschaft 1994 hielt Ruth Schröck einen kritischen Vortrag zum Stand der Pflegeethik und ihrer Vermittlung (Schröck 1995: 315–323). Sie bezeichnete die Konzentration des Ethikunterrichts auf «dramatische» Themen wie Reanimation, Organtransplantation u. Ä. als «Leben und Tod Mythos». Die Pflege solle sich auf Probleme ihres eigenen Handlungsfeldes besinnen (Verletzung der Würde durch die Pflege, unangemessene Machtausübung, Gehorsam aus Bequemlichkeit) und sich nicht zu sehr auf die Kontroversen mit den Ärzten konzentrieren, was sie mit «Mythos des Hippokrates» umschreibt. 1995 wurde die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Pflege und Ethik in der Akademie für Ethik in der Medizin gegründet, die sich seither vor allem mit Fragen der Vermittlung von Ethik beschäftigt und dazu mehrere Veranstaltungen für Pflegende und Lehrende durchgeführt hat.53 Im gleichen Jahr erschien mit «Ethik. Arbeitsbuch für Schwestern und Pfleger» des Autorenteams Eva Hoppe, Uwe Körner, Ernst Luther und Angelika Nitsche 52 ������������������������������������������������������������������������������������� Fry’s Modell wird unter 2.3.7.2 zusammen mit anderen Modellen in seinen Einzelschritten vorgestellt. 53 Die Ziele der Arbeitsgruppe sind: • Das Bewusstsein für die ethischen Grundlagen von Pflege fördern; • Entwicklung und Erprobung von Wegen, die Pflegenden eine stärkere Beteiligung an ethikrelevanten Entscheidungen in Institutionen erlauben; • Förderung des interdisziplinären ethischen Dialogs zwischen Pflegenden, Politikern, Medizinern und anderen heilberuflich Tätigen. Eine der Veranstaltungen für Lehrende wurde als Broschüre der Akademie für Ethik in der Medizin dokumentiert (Ethik-Theorie im Pflegeunterricht, 2002). 2005 erschien unter dem Titel «Für alle Fälle …» eine didaktisch und philosophisch kommentierte Fallsammlung für den Ethikunterricht. Die Autorin ist Mitbegründerin der Arbeitsgruppe.
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das erste deutschsprachige Lehrbuch für die Pflegeausbildung, das die philosophischen Wurzeln der Ethik darstellt und darüber hinaus durch Fragen und Impulse zur Diskussion über Wertorientierungen für verschiedene pflegerische Handlungsbereiche anregt. Besonders bemerkenswert ist, dass dieses frühe Werk der sich entwickelnden deutschen Pflegeethik bereits Themen wie «ethische Ansprüche an die Leitungstätigkeit» (S. 72 ff.), «Umgang mit Fehlern und Fehlverhalten» (S. 75) und Paternalismus (S. 41) aufgreift, die erst Jahre später die allgemeine Debatte in der Pflege erreichten. Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wert des Lebens wird der gesellschaftliche und pflegerische Umgang mit alten und behinderten Menschen ausführlich thematisiert. Das Werk hat damit wichtige Akzente für die sich entwickelnde Pflegeethik gesetzt. 1996 erschienen das viel beachtete Lehrbuch «Ethik denken – Maßstäbe zum Handeln in der Pflege» von Marianne Arndt, das als wichtigster Beitrag zu den Veröffentlichungen mit berufspolitischer Orientierung unter 2.2.1 kurz beschrieben wird. Die weitere Entwicklung der Ethik in der Pflege wird hier nicht mehr im Einzelnen nachgezeichnet. Sie geht in die aktuelle Debatte über, die ihre Wurzeln in der Mitte der 1990er-Jahre hat und im folgenden Abschnitt dargestellt wird. Der eingangs behauptete enge Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Ethik und der Akademisierung und Professionalisierung in der Pflege wird auch in diesem Rückblick sichtbar. Erst zum Ende der 1980er-Jahre begannen in Deutschland mit der Phase der modernen Pflegeethik nicht nur die Rezeption angloamerikanischer Literatur, sondern auch eigene Akzentsetzungen durch die Rückbesinnung auf die philosophischen Wurzeln der Ethik. 2.2
Skizze der aktuellen Diskussion In der aktuellen Diskussion innerhalb der Ethik in der Pflege unterscheide ich vier Schwerpunkte, wobei es nicht um eine Einteilung in Zweige und Richtungen der Ethik in der Pflege geht, sondern um eine Charakterisierung nebeneinander existierender und miteinander verbundener Aspekte der Debatte. 1. Berufspolitische Orientierung: Medizinethik versus Pflegeethik 2. Philosophisch begründete Ansätze 3. Theologen und Pflegeethik: ein neues Verhältnis 4. «Empirische Ethik». Entsprechend ist auch die folgende Zuordnung einzelner Autor/innen nicht mehr als der Versuch, die Diskussionsschwerpunkte deutlich zu machen und keinesfalls als Etikettierung misszuverstehen. Die Positionen und Konzepte der Autor/innen werden hier kurz charakterisiert, um einen Eindruck vom breiten Spektrum der
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Debatte in der Pflegeethik zu geben. Auch hier gilt mein Interesse vor allem dem Verständnis und der theoretischen Fundierung von Ethik in der Pflege und nicht einer vollständigen Wiedergabe der Inhalte. 2.2.1 Berufspolitische Orientierung: Medizinethik versus Pflegeethik
Zunächst soll im Zusammenhang mit der berufspolitischen Orientierung in der Ethikdiskussion der Pflege das Verhältnis der Pflegeethik zur Medizinethik näher beleuchtet werden, da die Entwicklung der Ethik im Gesundheitswesen im Kleinen einige Aspekte der geschichtlichen Entwicklung spiegelt. Die berufspolitische Orientierung begann bereits in den 1970er-Jahren mit starken Abgrenzungs- und Profilierungstendenzen der Pflege gegenüber der Medizin und ist auch in der aktuellen Diskussion noch präsent. Von den genannten vier Schwerpunkten hat sie die längste Geschichte und nimmt wegen ihrer anhaltenden Aktualität in dieser Darstellung auch den größten Raum ein. Die Abgrenzung und Selbstbehauptung der Pflege ist vor dem Hintergrund der Geschichte von Unterdrückung und Instrumentalisierung der Pflege durch die Ärzteschaft verständlich, notwendig und berechtigt. Das gilt auch für den Bereich der Ethik. Die Abgrenzung kann aber auch zu weit gehen und irreführend sein, wenn darüber aus dem Blick gerät, dass Pflegende und Mediziner eine gemeinsame moralische Aufgabe haben und dass sie beide Grund haben, die Entwicklungen in der Medizin kritisch zu hinterfragen. Deshalb werden im Anschluss an die Darstellung der berufspolitisch orientierten Position Grundlinien einer ethischen Kritik des Medizinsystems vorgestellt und als gemeinsames Anliegen von Medizinern und Pflegenden deutlich gemacht. Die Entwicklung der Ethik im Gesundheitswesen spiegelt die dortigen Machtverhältnisse: Es dominiert die «Medizinethik», die bis heute vielfach mit ärztlicher Ethik gleichgesetzt wird oder mit dem Anspruch auftritt, die Pflegeethik mit zu umfassen, ohne diesem Anspruch gerecht werden zu können.54 Die Pflegeethik 54 Der Theologe Illhardt und der Medizinhistoriker Seidler kritisieren in ihrem Beitrag von 1980 die standespolitische Ausrichtung von Berufsethiken und fahren fort: «Es ist auch historisch gesehen nicht mehr geboten, Einzelethiken wie ‹Ärztliche Ethik›, ‹Berufsethik der Krankenschwester›, des Apothekers, der MTA usw. gegeneinander abzugrenzen.» (Illhardt/Seidler 1980: 25). Obwohl sie mit der ausdrücklichen Beschäftigung mit der Ethik in der Pflege einen Schritt zur Anerkennung der Pflege als gleichberechtigtem Partner tun, unterstützt ihr Vorschlag, alles unter der medizinischen Ethik zu subsumieren, ohne dass sie es vermutlich beabsichtigten, die Dominanz der Medizin gegenüber der Pflege, weil er die spezifischen Machtstrukturen außer Acht lässt. Illhardt/Seidler schlagen zwar einen zumindest punktuell gemeinsamen Ethikunterricht für Mediziner und Pflegende vor, ihre Befragungen von medizinischen Hochschullehrern und Dozenten in der Pflegeausbildung ergab aber, dass ein Drittel beider Gruppen sich gemeinsamen Ethikunterricht nicht vorstellen kann (S. 29).
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wird nur am Rande wahrgenommen und ist in den aktuellen Diskussionen (etwa um Klinische Ethik) nur wenig präsent. Bereits 1986 gründeten einige Ärzte und Theologen die Akademie für Ethik in der Medizin als interdisziplinäres Forum, zunächst mit dem Ziel, die Institutionalisierung der Medizinethik in Deutschland voranzutreiben, was in der Folge auch gelang. Die Interdisziplinarität der Akademie erstreckt sich mittlerweile auch auf die Pflege, deren Beteiligung ausdrücklich gewünscht wird. Inzwischen hat die Akademie mehr als 500 Mitglieder. Mediziner bilden mit 85 % die stärkste Gruppe, gefolgt von Philosophen und Theologen. Der Anteil der Pflegenden beträgt bisher nur ca. 5 %. In der berufspolitischen Diskussion der Pflege und Pflegewissenschaft wird immer wieder die Eigenständigkeit der Pflege gegenüber der Medizin betont, was in Bezug auf Ethik die Frage aufwarf, ob nicht die Pflege eine ganz eigene Ethik brauche, mit eigenen Prinzipien, eventuell auch eigenen Methoden und Begrifflichkeiten. Keinesfalls sollte die Pflegeethik als Teil der Medizinethik verstanden werden – darauf zielte Schröck mit der schon erwähnten Bezeichnung «Mythos des Hippokrates». Es sei unsinnig anzunehmen, dass die Pflegeethik «eine Unterkategorie der Medizinethik sein muss, etwa so, wie Steuerethik ein Bestandteil einer sogenannten Wirtschaftsethik sein könnte» (Schröck 1995: 319). Arndts Lehrbuch von 1996 ist in diesen Diskussionskontext einzuordnen; sie versucht, Konturen einer eigenständigen Ethik in der Pflege zu umreißen und wissenschaftlich zu fundieren. Dabei geht sie von einer immanenten Moralität der Pflege aus. Die berufliche Eigenständigkeit der Pflege und ihre Professionalisierung sind, wie sie betont, untrennbar verbunden. Arndts theoretische Grundlegung vereint allerdings eine sehr bunte Mischung moralphilosophischer Ansätze.55 Kant ist mit dem Begriff der Pflichtenethik, jedoch nicht als Urheber des heutigen Verständnisses von Menschenwürde vertreten; daneben der Utilitarismus, Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung und schließlich Carol Gilligan als Vertreterin der Feministischen Ethik, der eine «Ethik des Rechts» gegenübergestellt wird. Zusätzlich sieht Arndt ein gelebtes oder inhärentes ethisches Pflegewissen als Grundlage der Werte Kooperation, kontextgebundenes Verstehen und Förderung der Eigenverantwortlichkeit (Arndt 1996: 50 ff.). Verantwortungsethik und Prinzipienethik werden schließlich zu fünf Prinzipien einer Ethik der Verantwortung verbunden.56 Als Grundlage für moralische Entscheidungsfindung schlägt Arndt den Pflegeprozess vor (vgl. dazu auch unter 2.3.7.2). 55 ������������������������������������������������������������������������������������� Dies kritisiert – nach ausführlicher Analyse – auch Karin Kersting 2002. Arndt kombiniere in einer «assoziativen Vorgehensweise» Fragmente von widerstreitenden ethischen Ansätzen zu einem scheinbar harmonischen Ganzen (Kersting 2002: 266–268). 56 Es sind: Achtung vor dem Wert des Lebens, Das Gute und Richtige, Gerechtigkeit und Fairneß, Wahrheit und Ehrlichkeit, individuelle Freiheit und Selbstbestimmung (Arndt 1996: 66–69).
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Arndt beklagt die mangelnde berufliche Autonomie der Pflege und fordert, dass die Pflegewissenschaft von der Pflege (und nicht von Medizin, Psychologie oder Soziologie) bestimmt werden muss. Allerdings sei Abgrenzung von der Medizin nicht der richtige Weg, sondern die Pflege habe eine Position «in der Mitte zwischen dem bürokratischen System des Gesundheitswesens und den Anforderungen einer Medizinwissenschaft, die durch die Ärzte repräsentiert wird» (Arndt 1996: 13). Mit der Gleichsetzung «der Ärzte» mit der «Medizinwissenschaft» und dem «Medizinsystem» wird allerdings übersehen, dass es auch Kritik aus der Ärzteschaft an einem einseitig naturwissenschaftlichen Verständnis von Gesundheit, an funktionalistischen Behandlungskonzepten, ja sogar am ärztlichen Paternalismus gibt. 2.2.1.1 Braucht die Pflege eine eigene Ethik?
Im Grunde besteht Einigkeit darüber, dass die Pflege eine eigene Identität schon entwickelt hat und weiter stärken sollte und dass sie ihre eigene Perspektive auf den Patienten und auf ethische Fragen im Gesundheitswesen selbstbewusst vertreten sollte. Strittig ist nur, wie das sinnvollerweise geschehen sollte. Theda Rehbock hat im Jahr 2000 diese Diskussion mit ihrem Artikel «Braucht die Pflege eine eigene Ethik?» aufgegriffen: Sie beschreibt Medizin und Pflege als institutio nalisierte Ausdrucksformen einer allgemein menschlichen Praxis gegenseitiger Hilfe. Die Notwendigkeit ethischer Reflexion für beide Berufe ergibt sich aus der grundsätzlichen Asymmetrie der Hilfssituation. Allerdings sieht Rehbock «zahlreiche ethische Gründe für eine Aufwertung der genuin pflegerischen Praxis gegenüber dem medizinischen Bereich» (Rehbock 2000: 281; Hervorh. im Original). Pflegende haben durch die Eigenart der Pflegetätigkeit eine eigene Perspektive auf ethische Probleme und auch «eigene», pflegespezifische Probleme; sie müssen zum einen ihre eigene Praxis eigenständig ethisch reflektieren und zum anderen an allen wichtigen patientenbezogenen Entscheidungen beteiligt werden, da sie oft genauer über die Lebenssituation und die Wünsche der Patienten Bescheid wissen als die Ärzte. Die Forderung nach einer eigenständigen Pflegeethik im Sinne einer eigenen Moraltheorie hält Rehbock allerdings für kontraproduktiv, weil Spezialethiken nicht verallgemeinerbar sind und weil die Pflege aufgrund ihrer Verflechtung mit den anderen Berufen im Gesundheitswesen ihre Tätigkeit im Gesamtzusammenhang sehen muss. Damit wendet sie sich gegen «Sonderethiken», auch für die Medizin. Vielmehr sollten Pflege und Medizin gemeinsam, jeweils aus der eigenen Perspektive, die Medizin als Wissenschaft, Institution und Praxis kritisch hinterfragen und zu verändern versuchen. Auch Reinhard Lay nimmt diese Debatte auf. Er stellt klar, dass exklusive Theorien oder Prinzipien für die Pflegeethik nicht sinnvoll sind, sieht aber viele gute
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Gründe, die Pflegeethik als Bereichsethik zu etablieren. Dies begründet er mit den Spezifika pflegerischer Arbeit und der besonderen Beziehung zwischen Pfle genden und Gepflegten. Der berufspolitische Akzent liegt bei ihm (ähnlich wie bei Arndt) auf der Forderung nach mehr beruflicher Autonomie für die Pflege als Voraussetzung für moralisches Handeln. Daraus leitet er die Notwendigkeit der Hinführung von Auszubildenden und Pflegenden zu politischer Interessenver tretung durch Gewerkschaften und Berufsverbände ab (Lay 2004: 87–96). Monika Bobbert (2003: 72–84) untermauert die Idee einer pflegerischen Bereichs ethik mit der Beschreibung eines eigenen pflegerischen Handlungsfeldes, das, aus der Perspektive des Patienten durch die Beziehungen verschiedener Hand lungsträger strukturiert und in weitere Teilbereiche aufgegliedert wird.57 Diese Handlungsfelder beinhalten jeweils typische Fragestellungen und könnten ein «Arbeitsprogramm der Pflegeethik» umreißen. «Handlungsfeld Pflegeperson – Patient Handlungsfeld Patient – Pflegeperson – Angehörige Handlungsfeld Patient – Arzt – Pflegeperson Handlungsfeld Patient – Pflegeperson – andere Patient(inn)en Handlungsfeld Patient – Pflegeperson – Kolleg(inn)en Handlungsfeld Patient – Pflegende – Institution Handlungsfeld Patient – Pflegende – Gesundheitswesen»
Auch wenn sich im Zuge der Differenzierung und Professionalisierung die spe zifischen Handlungsfelder der einzelnen Berufe deutlich abzeichnen, so besteht doch ein übergeordnetes gemeinsames Handlungsfeld, auf das sich auch der gesellschaftliche Auftrag bezieht. Das lässt sich mit Hilfe von Bobberts Schema gut explizieren. Ersetzt man bei allen Handlungsfeldern die Begriffe «Pflege person» bzw. «Pflegende» durch «Ärztin/Arzt», so zeigt sich, dass das Schema ebenfalls Sinn macht, dass also das Handlungsfeld der Ärzte ganz eng mit dem pflegerischen verwoben ist, auch wenn die konkreten Tätigkeiten und die dahin terliegenden Wissens- und Verstehensstrukturen verschieden sind. Viele Unterscheidungen zwischen Medizinethik und Pflegeethik erweisen sich bei genauerer Betrachtung als künstlich bzw. nicht haltbar. So wird die Medizin 57 Ergänzend nennt Bobbert noch Handlungsfelder, in denen ethische Thematiken ohne direkten Bezug zu Patienten vorkommen: Aus-, Fort- und Weiterbildung, Mitarbeiter führung und Supervision, Pflegeforschung sowie «Pflegepraxis in Bezug auf Theorien und Ziele» und «Pflegende – therapeutisches Team». Eine ähnliche, nur nicht so weit ausdifferenzierte und (statt der Patienten) auf die Pflegenden focussierte Einteilung nahm schon Ertl-Schmuck vor, die folgende Handlungsebenen in Pflegesituationen benennt: «Patient – Pflegende – Angehörige», «Pflegende und an der Pflege beteiligte Berufsgruppen», «Pflegende und Institution» und «Pflegende und Gesundheitssystem» (Ertl-Schmuck 2000: 278 f.).
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ethik üblicherweise als Prinzipienethik mit einer vorrangigen Orientierung an Autonomie, die Pflegeethik eher als Situationsethik mit einer vorrangigen Orientierung an Fürsorge gesehen (so etwa bei Arndt 1996). Bei diesen Orientierungsgrundsätzen handelt es sich jedoch nicht um Gegensätze, sondern um einander bedingende Momente der einen Ethik, die für alle Heilberufe Orientierung sein muss (vgl. dazu 2.3.6). Angesichts der sich verändernden Rahmenbedingungen und der steigenden Komplexität der Aufgaben wäre es «verfehlt, an einem überholten Idealbild beruflicher Autonomie und Unabhängigkeit festzuhalten» (Rehbock 2005b: 142), weil die Berufe im Gesundheitswesen mehr denn je auf Zusammenarbeit angewiesen sind. Dies gilt sowohl für die Medizin als auch für die Pflege. Pflegeethik kann und muss als Bereichsethik die spezifischen Tätigkeitsbereiche von Pflegenden und ihre durch die große Nähe zum Patienten geprägten Erfahrungen und Verantwortlichkeiten reflektieren sowie eigene Antworten und Beiträge aus dieser Perspektive formulieren und vertreten. Die eigene Perspektive der Pflege kann jedoch nur deutlich werden und z. B. zur Entscheidungsfindung beitragen, wenn sie auch kommuniziert wird, wozu eine gemeinsame ethische Sprache und Perspektive erforderlich ist. Auch hier ist die Pflege also wieder auf die anderen Akteure verwiesen. Wenn Pflegeethik überwiegend in Abgrenzung von der Medizinethik konzipiert wird, dann nimmt sie nicht an der regen interdisziplinären und internationalen Debatte teil, wie sie etwa in der Akademie für Ethik in der Medizin stattfindet, sondern bewegt sich nur in ihrer eigenen Welt; sie ist nicht vernetzt und wird mit ihrer wichtigen patientennahen Perspektive nur wenig wahrgenommen. Die Pflege selbst sollte ihre Abgrenzung als notwendige Phase im Prozess ihrer Emanzipation von der Medizin sehen, sich aber zugleich selbstbewusst an einer kritischen Debatte über das Gesundheitswesen und die Ziele der Medizin beteiligen. Dort ist ihre Stimme und Perspektive besonders notwendig als Ergänzung und Korrektur der anderen Disziplinen. Hinsichtlich der Frage der Abgrenzung und Professionalisierung der Pflege ist eine kritische Reflexion des Medizinbegriffs vonnöten. Wenn unter Medizin, wie dies durchaus üblich ist, alle Aktivitäten zur Gesunderhaltung der Menschen und Behandlung von Krankheiten subsumiert werden, dann umfasst dieser weite Begriff von Medizinethik auch die Pflege, die Physiotherapie, das Hebammenwesen und andere Heilberufe. Der Begriff «Medizin» hat im allgemeinen (durchaus auch im wissenschaftlichen) Sprachgebrauch, zwei Bedeutungen und kann deshalb irreführend sein. Zum einen meint Medizin die gesamte Heilkunde, zum anderen aber nur auch die Mediziner, d. h. den ärztlichen Berufsstand. Rehbock unterscheidet drei Bedeutungsdimensionen des Medizinbegriffs: Medizin als
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Wissenschaft, als Institution und als Praxis (Rehbock 2005b: 139–141). Hier ist nur die erste Dimension, die der Medizin als Wissenschaft, auf den ärztlichen Berufsstand begrenzt, die beiden anderen, Medizin als Gesundheitswesen und Medizin als Praxis des Helfens, umfassen auch die Pflege. Angesichts der Geschichte der Unterordnung der Pflege unter die Ärzteschaft, ihrer Entwertung und Instrumentalisierung durch Ärzte sowie der aktuellen Machtkonflikte58 sollte allerdings die Eigenständigkeit der Pflege auch sprachlich zum Ausdruck gebracht werden. Ebenso wie das Bemühen um inklusive Sprache durch explizite Nennung beider Geschlechter notwendig sein kann, solange die Gleichberechtigung nicht wirklich realisiert ist, sollte die Pflege nicht der Medizin sprachlich unter- oder zugeordnet werden, solange Pflegende und Ärzte nicht wirklich auf Augenhöhe zusammenarbeiten (vgl. Lay 2004: 88). Eine gleichberechtigte Zusammenarbeit schließt übrigens eine Weisungsberechtigung nicht aus; entscheidend ist die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung, aber auch die Anerkennung und Wertschätzung der jeweiligen Arbeit durch die Gesellschaft. Der weite Medizinbegriff macht deutlich, dass Medizin nicht die exklusive Domäne von Ärzten ist. Trotzdem ist es sinnvoll und notwendig, sprachlich zu differenzieren und die ärztliche und die pflegerische Berufsgruppe nicht kurzerhand in einem Begriff zusammenzufassen. «Medizinethik» ist deshalb als übergreifende Bezeichnung ungeeignet und sollte durch einen Ausdruck wie «Ethik im Gesundheitswesen» ersetzt werden, wie es Marianne Arndt schon 1996 (S. 17) vorschlug.59 Warum es sinnvoll ist, von Ethik in der Pflege (und nicht etwa Ethik für die Pflege) zu sprechen, wird unter 2.3.1 erläutert. Der Begriff «Pflegeethik» wird in dieser Arbeit synonym mit «Ethik in der Pflege» verwendet.60
58 Es gibt aktuell zahlreiche Versuche, die Pflege auf der institutionellen Ebene wieder zu entmachten, indem sie aus Leitungsgremien etwa von Krankenhäusern entfernt wird. Die Folge ist eine erneute hierarchische Unterordnung der Pflege unter die Ärzteschaft. Der Ärztestreik von 2006 ist auch ein Symptom für die Standes- und Machtorientierung vieler Mediziner, die nicht etwa bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen für alle fordern, sondern einen exklusiven Tarifvertrag für sich erreichen wollen, was bei gedeckelten Krankenhausbudgets auf Kosten anderer Berufsgruppen gehen muss. 59 Remmers (2000a: 18) spricht von Medizin- und Pflegeethik als Typen beruflicher Sonder ethiken, die trotz ihrer spezifischen Fragestellungen gleichwohl mit der philosophischen Ethik verbunden sind. Lay schlägt eine noch weitergehende Binnendifferenzierung für die Ethik in der Pflege vor, er unterscheidet nämlich zwischen Ethik in der Pflegewissenschaft, der Pflegepädagogik und im Pflegemanagement und schließlich der Pflegeethik als Ethik in der Pflegepraxis (Lay 2004: 67). 60 Arndt (1996: 17) macht hier einen Unterschied; sie verbindet mit Ethik in der Pflege eher die berufs- und standespolitischen, mit Pflegeethik dagegen die normativen Dimensionen.
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Grundlagen
2.2.1.2 Ethische Medizinkritik
In der Philosophie, Soziologie und Medizintheorie hat die Kritik der Medizin schon Tradition (Jaspers, Wieland, v. Weizsäcker, v. Uexküll/Wesiack). Volontieri wies bereits 1992 darauf hin, dass zu den Aufgaben der Pflegeethik durchaus auch die ethische Beurteilung ärztlichen Handelns gehört und dass der Diskurs über medizinethische Fragen grundsätzlich von der ganzen Gesellschaft zu führen ist, auch wenn die Ärzteschaft diesen Diskurs lieber auf die eigenen Reihen begrenzen würde (Volontieri 1992: 84 f.). Die Pflegewissenschaft sollte diesen Diskurs verstärkt aufnehmen und für die Pflegeethik fruchtbar machen, wie dies etwa bei Remmers schon geschieht, der bei seiner Untersuchung von Handlungssystemen der Pflege auf die Spannung zwischen der technisch-instrumentellen Einstellung des Medizinsystems und der eher personbezogenen Orientierung der Pflege hinweist (Remmers 2000a: 169). Rehbock gibt weitere Anstöße in diese Richtung, indem sie die Möglichkeiten und Grenzen der drei von ihr unterschiedenen Dimensionen der Medizin (als Wissenschaft, als Institution und als Praxis) aus einer lebenspraktischen und anthropologischen Perspektive untersucht, die im überwiegend naturwissenschaftlich-technischen Wissenschaftsverständnis der Medizin normalerweise ausgeklammert bleibt.61 Dieses naturwissenschaftliche Verständnis, so Rehbock, ist aufgrund der Dominanz und Definitionsmacht der Medizin auch in das alltägliche Erleben von Leiden, Krankheit und Hilfsbedürftigkeit eingedrungen. Der Naturalismus der Medizin62, d. h. ihr naturwissenschaftlich verengter Blick, ist zwar für Erkenntnisse in der Physiologie oder Pathologie und für daraus resultierende medizinische Therapien methodisch notwendig; problematisch wird er dann, wenn diese Sichtweise verabsolutiert und mit der Realität der Phänomene von Krankheit, Schmerz und Leid gleichgesetzt wird. Dann erscheint die Erfahrung des Betroffenen als etwas vermeintlich rein «Subjektives» unwichtiger und weniger aussagekräftig zu sein als «objektive» Labor- und andere Befunde.63 Das «Verschwinden der Person» (Rehbock) und ihrer lebenspraktischen Realität ist die Folge. Die gemeinsam geteilte Lebenserfahrung und primäre Realität von Krankheit als existenzielle Bedrohung wird durch die reduktionistische Sichtweise der Medizin in den Hintergrund geschoben; im medizinischen System wird Krankheit zum bloßen Objekt medizinischer Diagnose- und Therapieverfahren. Die Aufmerksamkeit des Arztes gilt allzu leicht nur «der Krankheit und nicht 61 Rehbock 2005b, V. Ethische Kritik der Medizin: 136–175. 62 Als naturalistisch werden Positionen bezeichnet, deren «Geltungsansprüche allein auf natürliche (wissenschaftlich erfasste) Tatbestände, auf natürliche Genesen oder natürliche Einsichten gestützt werden». Die natürliche Welt und besonders die Naturwissenschaften werden als Grundlagen der Erkenntnis gesehen (vgl. Mittelstraß 2004, Band 2: 964). 63 Vgl. dazu auch Remmers 2000a: 229: die Wissensstrukturen der Medizin beruhen auf Artefakten.
2. Ethik
der Person selbst, der Geschichte der Krankheit, aber nicht der Geschichte des Kranken» (Rehbock 2005b: 148). Diese Perspektive überträgt sich oft auf die Pflegenden und die Patienten selbst, so dass auch sie mehr auf abstrakte Werte als auf die wahrnehmbaren Phänomene achten. So erlebte ich bei Patient/innen in der Hämatologie, die wegen Leukämien und ähnlichen Krankheiten behandelt wurden, wie sehr ihre Stimmung und Hoffnung von der Zahl der «Zellen» abhing – ein wichtiger Laborparameter und mögliches Indiz für die Wirksamkeit der Therapie ist die Zahl der reifen Leukozyten. Dieses physiologische Faktum ist für sich genommen kein Zustand, der tatsächlich sichtbar oder fühlbar wäre, sondern ein abstrakter Wert, der erst im Zusammenhang mit der persönlich erfahrenen Krankheit Realität gewinnt. Trotzdem beschäftigte diese Zellzahl die Betroffenen oft mehr als ihr tatsächliches Befinden; ob sie unter Schmerzen und Übelkeit litten, schien weniger bedeutsam zu sein als diese abstrakte Zahl. Damit wird etwas ausgeblendet, was ethisch besonders relevant ist: das Erleben der Krankheit durch den Kranken selbst. Das ethische Problem einer naturwissenschaftlichen Medizin ist nicht die Reduktion auf physiologische Vorgänge als solche, sondern das Absolutsetzen der rein physiologischen Sichtweise als allein mögliches Verständnis der objektiven Realität von Krankheit und Leiden. Aus dieser «metaphysischen Deutung» erwächst, so Rehbocks These, eine Selbstentfremdung und Fremdbestimmung nicht nur des Kranken, sondern auch derer, die ihn betreuen. Wenn der Kranke hinter all den Befunden seine eigene Realität nicht mehr wahrnimmt und die Krankheit zum Phänomen außerhalb seiner Lebenspraxis wird, dann hat er sich von sich selbst entfremdet, was seinen Entscheidungsspielraum beschneidet. Die Fremdbestimmung besteht darin, dass durch die Autorität der naturwissenschaftlichen Sichtweise medizinisch-technische Vollzüge zum Selbstzweck werden und weder von den Akteuren noch von den Patienten als Teil einer sehr viel umfassenderen ärztlichen und pflegerischen Fürsorge erlebt werden. Weil hier vom Kontext der menschlichen Lebenspraxis abstrahiert wird, werden vorschnell Entscheidungen zu Operationen getroffen oder schmerzhafte Behandlungen wie etwa Zytostatikatherapie weitergeführt, ohne zu fragen, ob sie für die Lebenswirklichkeit und Lebensqualität dieses Menschen noch positive Effekte haben. In der Pflege lässt sich diese Fremdbestimmung beispielsweise an der brisanten Frage der Ernährung und Flüssigkeitsversorgung bei alten Menschen deutlich machen. Um Missständen zu begegnen, wurden mehrere Richtlinien zur Ernährung und Flüssigkeitsversorgung herausgegeben.64 Vor allem die Richtlinie des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen blendet die institutionellen Rahmenbedingungen der pflegerischen Arbeit aus und formuliert deshalb unrealistische Ansprüche. Soziale, kulturelle und psychologische 64 2003 von der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin und eine weitere, noch ausführlichere, vom Medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen.
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Aspekte der Ernährung werden zwar erwähnt, bleiben aber bloße Lyrik, wenn sie bei der Evaluation der Pflegequalität, zu der diese Richtlinie zunehmend herangezogen wird, keine Rolle spielen. Kriterien sind hier nur medizinische Vorgaben zum Ernährungsstatus (z. B. Body-Mass-Index). Den Pflegenden wird im Grunde die ständige Verletzung der Autonomie älterer Menschen nahegelegt, indem sie dafür verantwortlich gemacht werden, dass ihre alten Patient/innen eine bestimmte Mindestmenge essen und trinken.65 Die Selbstentfremdung und Fremdbestimmung betrifft also auch Ärzte und Pflegende, wenn sie unter scheinbaren Sachzwängen die moralische Zielsetzung ihres Handelns verfehlen. Selbstentfremdung und Fremdbestimmung können nur überwunden werden, wenn man eine personbezogene Sichtweise der naturalistischen grundsätzlich überordnet, oder, wie Schwerdt es ausdrückt: «Der technische Imperativ ist dadurch zu entmachten, daß er dem guten Leben wieder untergeordnet wird» (Schwerdt 1998: 426). Welche Bedeutung hat diese Medizinkritik für die Ethik in der Pflege? Sie zeigt, dass die Ausklammerung der Lebenswirklichkeit zu Fehleinschätzungen führt, dass also ethische Reflexion nicht den Fehler machen sollte, von außen, gleichsam aus einer Beobachterperspektive auf die Phänomene zu schauen und von der Lebenspraxis zu abstrahieren. Fragen des guten Lebens und des Erlebens der Betroffenen sind wichtige Bezugspunkte der Ethik. Die Ethik im Gesundheitswesen muss der Personorientierung gegenüber der technisch-funktionalistischen Reduktion in der heutigen Medizin ein moralisches Primat einräumen.66 Diese 65 ���������������������������������������������������������������������������������������� «Im Rahmen ihrer Sorgfaltspflicht sind Pflegefachkräfte z. B. verpflichtet, Mangelernährung bei Bewohnern vorzubeugen und zu erkennen. Hierzu gehört es, den Ernährungszustand regelmäßig zu eruieren, zu dokumentieren und ggf. den Arzt zu informieren.» (Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen 2003: 28). «Die Erlebnis- und Lebensqualität sollte sich bei der Unterstützung beim Essen und Trinken wiederfinden, die eine pflegerische Aufgabe darstellt.» (Ebd.: 32). «Als grober Orientierungsrahmen sollte sichergestellt werden, dass 1,5–2l Flüssigkeit täglich aufgenommen werden.» (Ebd.: 41). Auf S. 58 folgen Tipps für die Sicherung der Trinkmenge, z. B. «Trinkwecker als Erinnerung für Personal». Als Mindestziel in Bezug auf die Sondenernährung wird ausreichende Kalorien- und Flüssigkeitsversorgung genannt, nicht etwa das Wohlbefinden des Patienten oder eine verbesserte Lebensqualität (ebd.: 88). Vgl. dazu die Resolution der AG Pflege «Lebt der Mensch vom Brot allein?», die im September 2006 veröffentlicht wurde (Anhang 2). 66 Rehbock weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ein Ersatz der naturwissenschaftlichen Sichtweise durch eine «ganzheitliche» Medizin nicht das Problem erfasst, da auch die «ganzheitliche» Sichtweise, absolut gesetzt, ethisch kritikwürdig ist. In einer kritischen Analyse ganzheitlicher Ansätze der Medizin (v. Uexküll/Wesiack, v. Weizsäcker) kommt sie zu dem Schluss, dass auch diese Sichtweisen reduktionistisch sein können und dass einige Theorien darüber hinaus bemächtigende und autonomieverletzende Tendenzen haben (Rehbock 2005b V.7. «Der Patient als Person und das Ideal der Ganzheitlichkeit»: 158–175).
2. Ethik
Aspekte finden sich ausführlicher in der Darstellung der Konturen der Ethik in der Pflege unter 2.3. Die berufspolitisch geprägte Sicht der Pflegeethik hat aufgrund der Geschichte und Berufstradition eine Berechtigung, sollte aber im Sinne der Einheit der Ethik im Gesundheitswesen in der weiteren Entwicklung überwunden werden. Zu dieser gemeinsamen Ethik aller Heilberufe gehört auch die ethische Medizinkritik, die nicht mit einer Kritik an Ärzten zu verwechseln ist.
2.2.2
Philosophisch begründete Ansätze
Ein Merkmal der «modernen» Pflegeethik, wie Monika Bobbert sie beschreibt, ist, dass sie nicht mehr auf Tugenden und Ethos und auf die christlichen Wurzeln des Berufes setzt, sondern den Anschluss an die philosophische Diskussion innerhalb der Angewandten Ethik sucht. Dabei werden philosophische EthikKonzepte diskutiert bzw. für die Pflegeethik nutzbar gemacht, was hier an drei Beispielen vorgestellt wird. Ruth Schwerdts 1998 vorgelegte Dissertation war in Deutschland die erste explizit philosophische Untersuchung zur Ethik in der Pflege. Sie beleuchtet die Konzepte von Singer, Jonas und Buber auf ihre Eignung für die Grundlegung einer Ethik für die Altenpflege. Besondere Aufmerksamkeit widmet sie Singers Konzept, das wegen des engen Personbegriffes, der Idee von der Ersetzbarkeit des Menschen, der Negation des Leidens und der individualisierenden Betrachtungsweise des Menschen als ungeeignet für die Altenpflege kritisiert wird. Hans Jonas’ Lebensund Verantwortungsethik mit dem auf alles Lebendige ausgedehnten Würdebegriff und seiner Idee vom richtigen Gebrauch der Macht als positive Pflicht können nach Schwerdts Analyse als Grundlage für eine personale Verantwortungsethik der Altenpflege dienen – dies in Verbindung mit dem dialogischen Prinzip Martin Bubers, das als integrative Basis und wichtigster Bezugsrahmen von Schwerdts Konzeption hervortritt. Diese Grundlegung einer Ethik für die Altenpflege leistet darüber hinaus Pionierarbeit bei der wissenschaftlichen Darstellung von Altenpflege und ihrer Werte. Schwerdt wählt für ihre Grundlegung die Sinnhorizonte «Erziehung» und «Gesundheit». Die Beschreibung von Entwicklungsaufgaben des Alters oder der Erziehungsbegriff als Bezeichnung für pflegerische Interventionen werfen allerdings Fragen nach dem Verständnis von Patientenautonomie auf. Schwerdts Darstellung (z. B. Altenpflege als «milder Parentismus», S. 345) lässt eine gewisse Distanz zu herkömmlichen Autonomiekonzepten erkennen. Sie versteht Autonomie in Anlehnung an Buber als negative Freiheit, als «Aufkündigen von Bindungen», was ja in der Realität der institutionalisierten Altenpflege tatsächlich kaum möglich
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ist. Wichtig für Schwerdts Verständnis von Autonomie ist die kommunitaristische Idee der «Beheimatung in einer Gemeinschaft» (Schwerdt 1998: 346). Schwerdt selbst kritisiert einen «normativen Anspruch eines idealtypischschematisch gezeichneten Reifungsplans der Persönlichkeit» (Schwerdt 1998: 352) – dieser kann zwar als Zielorientierung akzeptiert werden, aber nicht als Leistungsanspruch, denn ethische Fragen stellen sich, wie Schwerdt zu Recht betont, gerade bei denjenigen, die nicht «erfolgreich» altern und, so möchte ich ergänzen, sie stellen sich auch bei denen, die sich wohlmeinenden pflegerischen Erziehungskonzepten eigensinnig widersetzen. Die Selbsterziehung von Pflegenden im Umgang mit schwerkranken und sterbenden Menschen wird als Grundlage der Tugendethik beschrieben. Grundsätzlicher Orientierungspunkt dieser Tugendethik ist das gute Leben. Als wichtigste Tugenden für die Altenpflege beschreibt Schwerdt «Urdistanz und Beziehung» als immer neu zu findende Balance; Dialogbereitschaft als «ontologische Grundlage der Moralität»; Askese als «Bescheidung von Machtinteressen und Kultivierung von Gefühlseinflüssen» und «Ziehen der Demarkationslinie im situativen Kontext» (Schwerdt 1998: 406–416). Letzteres meint die Fähigkeit, potentiell überfordernde Situationen im Sinne von Selbstsorge und Respekt vor dem Pflegebedürftigen zu lösen, eine Fähigkeit, die Gewalt in belastenden Situationen vermeidet. Diese Fähigkeit bewahrt auch vor Resignation und moralischer Überforderung. Eine differenzierte Ausleuchtung von Wissenschaftstheorie und Ethik aus pflegewissenschaftlicher Perspektive hat Hartmut Remmers mit seinem 2000 erschienen Werk «Pflegerisches Handeln» geleistet. Ausgehend von einer Untersuchung pflegerischer Handlungssysteme werden Einsichten für die Grundlegung einer Verantwortungsethik gewonnen. Dabei erfolgt auch eine Kritik der Medizin und eine kritische Untersuchung pflegewissenschaftlicher Konzepte und ihrer Prämissen. Als Spezifikum des pflegerischen Handlungsfeldes arbeitet Remmers seine Diffusität und strukturelle Ungewissheit heraus, die sich aus dem Umgang mit dem Individuellen, Nicht-Standardisierbaren und Nicht-Vorhersehbaren ergibt. Wichtig ist dabei auch die spezifische Nähe der Pflegenden zu dem Patien ten aufgrund der ständigen Konfrontation mit seiner Lebenssituation, aber auch mit seiner Leiblichkeit. Diese Nähe und personbezogene Orientierung stehen in Spannung mit der technisch-instrumentellen Einstellung des Medizinsystems. Ethik in der Pflege, so wird bei Remmers deutlich, reflektiert nicht nur ihre Handlungsgrundsätze, sondern auch ihr berufliches Ethos, dessen Wurzeln er kritisch beleuchtet. Theoretisch gründet sich sein Konzept auf die Diskursethik, kombiniert mit einer von phänomenologischen und anthropologischen Zugängen geprägten Care-Ethik. Durch die Verschränkung dieser beiden Elemente gelingt die Verbindung von Kontextbezug und Universalität, die nötig ist, um die je eigene Begrenztheit dieser Positionen zu überwinden.
2. Ethik
Für die Zusammenhänge dieser Arbeit ist besonders seine Skepsis gegenüber ausschließlich rationalistischen Konzepten interessant, die notwendig wichtige Dimensionen des Situationskontextes und des Erlebens von Anderen ausklammern. Diese Dimensionen sind für die asymmetrischen Beziehungen in der Pflege moralisch bedeutsam, und Remmers entwickelt Kontextualität und Perspektivenverschränkung als orientierende Handlungsprämissen, die durch eine grundsätzliche Orientierung an den Prinzipien Würde und Verantwortung korrigiert und ergänzt werden. Als wichtige Aufgabe des Ethikunterrichtes sieht Remmers die Bewusstmachung des eigenen Wertsystems und von Gefühlen als wichtigen Elementen der anzustrebenden Reflexionsfähigkeit (Remmers 2000a: 286 f.). Von dieser grundlegenden Fähigkeit hängen weitere professionelle Handlungskompetenzen wie die kommunikative Interpretation und die Perspektivenübernahme ab. Aus der Dialektik von Fürsorge und Autonomie entwickelt Remmers schließlich als Rahmen der Pflegeethik die Ideen der diskursiven Professionalität und des advokatorischen Handelns, das den Patienten nicht bevormundet, sondern ihm hilft, seine eigene Autonomie wahrzunehmen. Monika Bobbert67 stellt mit ihrer Arbeit «Patientenautonomie und Pflege» (2002) ein ethisches Prinzip in den Mittelpunkt und nimmt dabei – ein Novum für die Pflegeethik – Bezug auf einen philosophischen Ansatz mit oberstem Moralprinzip, den «kognitivistischen begründungsethischen» Ansatz von Alan Gewirth (Bobbert 2002: 19). Damit soll für die Pflegeethik ein kohärentes moralphilosophisches Begründungssystem eingeführt werden, mit dem Rechte und Pflichten begründet und zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Das Recht von Patienten auf Achtung ihrer Autonomie beinhaltet nach Bobberts Einteilung fünf Arten von Rechten, die sie als «prima-facie-Rechte» bezeichnet: das Recht auf Zustimmung oder Ablehnung, das Recht auf Information, das Recht auf Festlegung des Eigenwohls, auf die Wahl zwischen möglichen Alternativen und schließlich das Recht auf eine möglichst geringe Einschränkung des Handlungsspielraums durch die Institution. Gewirths «Prinzip der Menschenrechte», dessen kategorische Geltung er mit einer Letztbegündungsargumentation zu zeigen versucht, zielt darauf ab, die Bedingungen der Handlungsfähigkeit (nämlich Freiheit und Zielgerichtetheit) für alle Menschen zu erhalten bzw. herzustellen. Allerdings liegt es im Wesen der Pflege, dass sie es mit Einschränkungen der Handlungsfähigkeit zu tun hat. Auch wenn ihr Ziel oft die Wiederherstellung der vollen Handlungsfähigkeit ist, so besteht daneben für viele Pflegesituationen auch das Ziel, bestmöglich mit einer Einschränkung leben zu lernen, diese also zu akzeptieren. Deshalb fehlt in dieser 67 ���������������������������������������������������������������������������������� Bobbert ist Psychologin und Theologin und könnte deshalb auch der Gruppe der Theologen zugeordnet werden. Da sie es aber unternimmt, aus einer philosophischen Theorie eine Grundlegung für die Pflegeethik zu entwickeln, erfolgt die Zuordnung hier.
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Grundlegung eine entscheidende Dimension der Pflege, ohne die über Pflegeethik nicht mit Anspruch auf universale Geltung geredet werden kann: die Fürsorge. Bobbert leistet im ersten Teil ihrer Arbeit eine überaus gründliche Standortbestimmung der Pflegeethik mit geschichtlichem Rückblick (vgl. die Phasen der Entwicklung der Pflegeethik und die Handlungsfelder, die unter 2.2 aufgenommen wurden) unter Einbeziehung der angloamerikanischen Literatur. Ihre Untersuchung pflegerischer Konzepte – vom Pflegeprozess bis hin zu Pflegediagnosen – auf ihre Implikationen für das Autonomieprinzip, kommt zu der Feststellung, dass das Thema Autonomie in der Pflege durchweg noch ein «blinder Fleck» ist. Wegen der scheinbaren Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit pflegerischer Hilfe wird oft von einer «automatischen Einwilligung» ausgegangen. Dagegen betont Bobbert, dass Patienten das Recht haben, gegen das pflegefachlich Gebotene ihr Eigenwohl anders zu bestimmen und dass die Patienten auch bei der Planung und Auswertung der Pflege einzubeziehen sind, weil eine Zielsetzung oder die Einschätzung von Ressourcen ohne die Mitwirkung der Patienten nicht Grundlage für ein einvernehmliches Handeln sein kann. 2.2.3 Theologen und Pflegeethik: ein neues Verhältnis
Hans-Ulrich Dallmann weist darauf hin, dass zur Geschichte der Pflege nicht nur ihre Unterordnung unter die Ärzte, sondern auch die Unterordnung unter Theologen gehört, und reflektiert vor diesem Hintergrund kritisch das pietistische Nächstenliebegebot Fliednerscher Prägung, das sehr auf Unterordnung und Gehorsam setzte und die Selbstliebe als sündig ausschloss. Vor diesem Hintergrund sei die Kritik an christlichen Motiven der Pflege berechtigt, und die Theologen könnten ein Stück Verantwortung für diese Geschichte der Unterdrückung übernehmen, wenn sie die Pflege bei der kritischen Rekonstruktion ihrer Quellen unterstützten. Dallmann betont, dass es ihm nicht um eine «theologische Rekolonialisierung» der Pflege gehe, sondern um einen «theologischen Verstehensvorschlag» (Dallmann 2003: 16). Er sieht das ungeklärte Verhältnis zwischen Fürsorge und Selbstsorge als ein Strukturproblem der Pflege an und geht der Frage nach, was Fürsorge für die Pflege bedeutet, und ob die in der Pflege viel beachtete Care-Ethik Auswege aus den genannten Strukturproblemen weist. Bei seiner Analyse von Care-Konzepten wird deutlich, dass auch dort das Verhältnis zwischen Fürsorge und Selbstsorge ungeklärt bleibt. In Dallmanns Reformulierung der Nächstenliebe liegt nun der theologische Beitrag zur Diskussion: «Selbstliebe und Nächstenliebe […] bedingen sich komplementär» (Dallmann 2003: 13). Unterordnung und Selbstaufopferung lassen sich nicht durch sie begründen, sondern die christliche Botschaft der Nächstenliebe beinhaltet,
2. Ethik
dass diese Nächstenliebe nicht eine ‹ver-sollte› Liebe ist, die mich als meine Pflicht nur noch mehr in Prozesse der Selbstrechtfertigung und Selbstlegitimation verstrickt, sondern eine verdankte Liebe, die mich zur Wahrnehmung meiner selbst und der anderen in Situationen glückender Wechselseitigkeit befreit (Dallmann 2003: 17).
Rainer Wettreck trägt mit seiner «empirisch-phänomenologischen» Studie ebenfalls zur Klärung des Selbstverständnisses von Pflege und Pflegeethik bei. Ausgehend von soziologischen Analysen des Pflegealltags beschreibt er die anthropologische Dimension der Pflege und das, was er als den Kern, als das «Eigentliche» der Pflege sieht: der besondere Zugang zu den Patienten durch ein Sich-Einlassen und eine Grundhaltung der Solidarität, stellvertretende Wahrnehmung der Interessen von Patienten, dem kranken Menschen Bedeutung geben durch Anteilnahme; Sinnerfahrung durch Mitempfindung und leibliche Resonanz, das Bewusstsein eines Dienstes für die Gemeinschaft, die Dimension des Transzendenten sowie als eigener Handlungsbereich das Leibliche und die «Abbruchkante des Normalen». Im Idealfall gehört dazu eine «gelassene Professionalität», die «Distanz in der Ergriffenheit wahren kann.» (Wettreck 2001: 215).68 Wettreck schließt an diese Analysen Überlegungen zu einem wertorientierten Management in der Pflege an, und ist damit einer der ersten, die die enge Verbindung von Management und Ethik auch für die Pflege gesehen haben.69 Das Management müsse den Rahmen für die persönliche Entwicklung der Pflegenden bieten, die Voraussetzung für personorientierte Pflege ist; ebenso Möglichkeiten für Teamentwicklung. Abläufe und Routinen seien nicht wertneutral, sondern müssten sich an einer wertorientierten Unternehmensperspektive ausrichten. Ulrich Körtner entwirft in seinem 2004 erschienenen Lehrbuch «Grundkurs Pflegeethik» ein philosophisch-theologisch reflektiertes Konzept der Pflegeethik, das er selbst der «theologischen Verantwortungsethik» zuordnet. Er hat ein eigenes Kapitel über Ethik und Anthropologie aufgenommen, in dem auch das Konzept der Person erläutert wird, und damit neue Akzente bei der Auswahl der Themen für die Ausbildung gesetzt. Mit Themen wie Zwangsernährung, Macht und Ohnmacht und «erzwungene Unehrlichkeit in Bezug auf die Prognose bei Sterbenden» greift er genuin pflegeethische Fragestellungen auf und bezieht in die jeweilige Darstellung neben ethischen auch rechtliche Grundsätze ein. Ein Modell der ethischen Urteilsbildung und die Arbeitsweise Klinischer Ethikkomitees werden 68 Im Rahmen seiner «Wert-orientierten Archäologie des Pflege-Alltags» entwirft Wettreck eine «definitorische Skizze des Pflegerischen» (Wettreck 2001: 210–212). Im anschließenden Abschnitt beschreibt er Kernperspektiven, des Pflegealltags und Fragmente eines eigenen professionellen «Blicks» (212–216). Meine zusammenfassende Charakterisierung enthält Elemente aus beiden Abschnitten. 69 Weitere Veröffentlichungen dazu: Rabe 1997, Städtler-Mach 1999, Lay 2004.
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vorgestellt. Am Ende stehen acht praxisnahe und pflegerelevante Fallbeispiele, deren Besprechung eine gute Vorbereitung für reale Problemlagen ist. 2.2.4 «Empirische Ethik»
Der Trend zur deskriptiven, d. h. empirisch fundierten Ethik, hat sich im letzten Jahrzehnt deutlich verstärkt. Obwohl empirische Ethik eine notwendige Ergänzung der normativen Ethik ist, scheint sie die normative Ethik vor allem in der Medizinethik fast schon zu dominieren (vgl. unter 3.4.1). Vollmann weist darauf hin, dass der Anteil von empirischen Studien in internationalen Fachzeitschriften zwischen 1990 und 2003 von 5,4 % auf 15,4 % angestiegen ist, wobei zunehmend auch mit qualitativen Methoden gearbeitet werde.70 Er nennt folgende Gründe für diese Entwicklung: Zum einen werden mit empirischen Untersuchungen die Faktoren erfasst, die auf der Seite der Patienten und Angehörigen in medizin ethischen Problemlagen relevant sind. Zum anderen können auch die faktischen Bedingungen von Entscheidungsfindungen oder Hintergründe von Argumenten (wie z. B. des Arguments der schiefen Ebene) erforscht und die Wirkung neu entwickelter Instrumente wie der Ethikberatung geprüft werden. Für die deutsche Debatte um Ethik in der Pflegausbildung sind besonders die schon erwähnten Erhebungen zum Ethik-Unterricht von Illhardt und Seidler (1980) sowie von Volontieri (1992) bedeutsam (vgl. auch 4.1.3). Eine wichtige Rolle spielen im Rahmen der empirischen Ethik Studien zu Einstellungen von Pflegekräften, Medizinern, Patienten oder Angehörigen, z. B. zu Patientenverfügungen oder zu Fragen der Therapiebegrenzung.71 Die erste qualitative Studie legten 1996 Astrid Elsbernd und Ansgar Glane vor, unter dem Titel «Ich bin doch nicht aus Holz. Wie Patienten verletzende und schädigende Pflege erleben». Sie hatten insgesamt 19 Patienten aus Selbsthilfegruppen mit focussierten Interviews und einem offenen, nicht-standardisierten 70 Er beruft sich dabei auf eine Untersuchung von Borry, Schotsmans und Dierickx aus dem gleichen Jahr (Vollmann 2006: 350). 71 Einige Beispiele: • Eilts-Köchling et al. 2000: Der Bekanntheitsgrad berufsethischer Grundregeln innerhalb der Berufsgruppe der Pflegenden (s. auch unter 1.1.2). • Dlubis-Dach/Glogner 2001: Durch welche Faktoren werden Therapiebegrenzungen auf internistischen Intensivstationen beeinflusst? In dieser Untersuchung findet ein Vergleich der Einstellungen von Pflegenden und Ärzten statt, ebenso wie bei Kettner 2005, der das Moralbewusstsein von Pflegenden und Ärzten vergleicht. • Schopp, Dassen et al. 2004: Autonomie und informierte Zustimmung in der Pflege aus der Sicht von Patienten und Pflegenden. • Luderer/Behrens 2005: Aufklärungs- und Informationsgespräche im Krankenhaus, sowie • die unter 4.1.3 zitierten Untersuchungen zum Ethikunterricht in der Pflegeausbildung.
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Fragebogen nach verletzendem oder schädigendem Verhalten von Pflegenden befragt. Ihre Ergebnisse zeigen die Wichtigkeit der «kleinen Dinge» in der Gestaltung der Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten. Elsbernd/Glane unterscheiden drei Dimensionen von verletzendem oder schädigendem Verhalten: das «routinisierte» Handeln ohne Teilnahme oder Zuwendung, das die Betroffenen als gleichgültig oder nachlässig empfanden; die Verweigerung von Hilfen, die die Patienten als nötig erachteten, wie etwa Haarewaschen und Nägelschneiden und schließlich aggressives Verhalten (Elsbernd/Glane 1996: 154 ff.). Besonders belastend fanden die Befragten psychische Verletzungen dadurch, dass sie nicht ernst genommen, alleingelassen, bloßgestellt oder erniedrigt wurden. Diese für die Pflege «unbequeme» Studie zeigt ein wichtiges Feld der ethischen Reflexion auf, von dem durch die anfängliche Konzentration der Pflegeethik auf berufspolitische und medizinethische Fragen zunächst abgelenkt wurde. Inzwischen sind Tabuthemen wie Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen, Gewalt in der Pflege, Scham und Ekel fast überall zum festen Ausbildungsbestandteil geworden.72 Karin Kersting nimmt in ihrer deskriptiven Studie von 2002 den Konflikt zwischen Theorie und Praxis, zwischen ethischem Anspruch und Realität der Pflegeausbildung in den Blick. Dazu befragte sie Auszubildende in offenen Interviews zu einer Dilemmasituation, in der das Gelernte und die Anforderungen einer wenig professionellen Praxis aufeinanderprallen. Mit einem Teil der Auszubildenden wurde nach dem Examen ein Folgeinterview zu der gleichen Situation durchgeführt. Die Auswertung erfolgte mit der Methode der objektiven Hermeneutik nach Oevermann. Kersting geht, am Begriff der «bürgerlichen Kälte» von Gruschka orientiert, der Frage nach, wie Auszubildende lernen, gegenüber dem Widerspruch der Anforderungen «kalt», d. h. unempfindlich zu werden. Als Ergebnis formuliert sie 12 Reaktionsmuster auf den Konflikt, die sehr lebendig und ausführlich beschrieben werden und deren häufigstes «Idealisierung falscher Praxis» ist. Die Reaktionsmuster werden in einer «Kälteellipse» nach dem Grad der «Erkenntnis des Norm-Funktionswiderspruchs» angeordnet, von naiven Mustern wie «fraglose Übernahme» bis hin zu «Einsicht in Kälte», dem Reaktionsmuster, das mit der «Einsicht in die immanente Unauflösbarkeit des Widerspruchs und damit in die objektiv Kälte verursachenden Strukturen» (Kersting 2002: 208) offenbar als eine Art höchster Stufe der Erkenntnis angesehen wird. Auch wenn die düstere Wahrnehmung der Realität fragwürdig erscheint, die die Studie auszeichnet – Kersting geht davon aus, dass der Einzelne, der gegen die 72 Im Curriculum von Oelke gibt es dazu ein eigenes Themenfeld: «Mit schwierigen sozialen Situationen umgehen» (IV.4.) mit den Lerneinheiten «Macht und Hierarchie», «Angst, Aggression und Abwehr», «Gewalt in der Pflege», «Sexuelle Belästigung», «Helfen und Hilflos-Sein», «Nähe und Distanz», «Abschied und Trauer» sowie «Ekel».
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«objektiv Kälte erzeugenden Strukturen» anzugehen versucht, sogar zu ihrer Stabilisierung und zur Verwischung von Widersprüchen beiträgt – so gibt sie doch gut begründete Hinweise darauf, dass in der Ausbildung nicht angemessen auf die Schwierigkeiten eingegangen wird, denen die Auszubildenden in der Praxis begegnen, und dass nicht selten unerfüllbare Idealforderungen vermittelt werden mit der Folge, dass diese von vornherein nicht ernst genommen werden. Die These, dass Versuche der Lösung moralischer Konflikte dazu dienen können, strukturelle Probleme zu verschleiern, begründet Kersting u. a. anhand einer ausführlichen Analyse der Konzepte von Fry und Arndt zur Bearbeitung moralischer Konflikte, auf die im Kontext mit der Betrachtung verschiedener Entscheidungsmodelle unter 2.3.7 verwiesen wird. In dieser Darstellung der verschiedenen Schwerpunkte der pflegeethischen Diskussion nahm die Betrachtung der berufspolitisch ausgerichteten Konzepte einen großen Raum ein, da sie das Feld der Ethik in der Pflege absteckt, in dem sich auch die anderen Konzepte von Ethik in der Pflege bewegen. Das Verständnis von Pflege, Medizin und Gesundheit ist bestimmend für das Verständnis der Ethik in der Pflege, das im nächsten Abschnitt entwickelt wird.
2.3
Konturen einer Ethik pflegerischen Handelns Zur Bestimmung der Umrisse einer Ethik in der Pflege wird zunächst das grundsätzliche Verständnis von Ethik in der Pflege geklärt (2.3.1). Anschließend werden die spezifischen Merkmale des philosophischen Konzepts von Rehbock skizziert, an dem sich dieses Ethik-Konzept orientiert (2.3.2). Die Abschnitte zur Begründungsfrage (2.3.3), zur anthropologischen Fundierung von Ethik (2.3.4) und zum Personbegriff (2.3.5) nehmen aktuelle Ethik-Diskurse auf und geben dazu eine Positionierung mit Bezug zur Pflegepraxis. Schließlich werden sechs ethische Prinzipien (2.3.6) und ein Modell für die ethische Reflexion (2.3.7) vorgestellt.
2.3.1 Zum Grundverständnis: Ethik in der Pflege
Ethik wird von Pflegenden oft als etwas Theoretisches gesehen, das weitab von der Praxis liegt und dieser unrealisierbare Normen setzt. Darauf gründet sich auch der Widerstand, den manche Praktiker gegen Ethik in der Pflege oder Medizin haben: Man glaubt, hier werde einem wohlbegründet das Unmögliche abverlangt, an dem man innerhalb der realen Bedingungen des Gesundheitswesens scheitern müsse. Demgegenüber soll hier Ethik als Teil der Praxis entworfen werden, als Aufgabe nicht nur der Philosophen, sondern auch der Akteure im Gesundheitswesen selbst.
2. Ethik
Dieses Konzept geht zum einen von der Kantischen Annahme aus, dass jeder Mensch, ohne dass man ihn besonders belehren muss, schon über Moralität verfügt. Deren Grundbegriffe sind ihm nur oft selbst nicht bewusst, da es ungewohnt ist, über sie zu reflektieren. Aufgabe der Ethik ist es daher nicht, von außen ethische Prinzipien an die Praxis heranzutragen, sondern den Praktikern Unterstützung bei ihrer Rückbesinnung auf die Grundlagen ihrer Moralität zu geben und sie zur Kritik herrschender Moral anzuregen. Ethische Reflexion wird notwendig, wo die tägliche Praxis Fragen und Konflikte aufwirft, und wo durch neue Grenzsituationen das bisher Selbstverständliche fraglich wird. Sie dient der Rückbesinnung auf die Grundlagen der moralischen Orientierung und der Klärung wichtiger Begriffe, leistet aber auch, wo dies notwendig ist, eine Kritik fragwürdiger Praxis und der sie leitenden problematischen Regeln und Normen sowie eine Kritik der Rahmenbedingungen, die diese Praxis bestimmen. Somit ist, wie Rehbock schreibt, die Ethik selbst Teil der Praxis, mit einer eigenen moralischen Verantwortung für die moralische Kultur dieser Praxis. Denn «die Moral» ist weder etwas, was sich gewissermaßen von außen in die Praxis einführen und bloß vorschreiben ließe, noch etwas, was hier schon fertig vorhanden und nur noch zu beschreiben wäre. Moral gibt es vielmehr nur, sofern sie sich im Zuge des konkreten menschlichen Handelns und Lebens als dessen normative Grundorientierung realisiert und herausbildet, und das ist gar nicht möglich ohne das – sich von sich selbst kritisch distanzierende – Sich-zu-sich-Verhalten durch die ethische Reflexion normativer Handlungsorientierungen (Rehbock 2005b: 75; Hervorh. im Original).
Das bedeutet, dass Ethik nicht nur die Theorieebene der Moral ist und sich damit in einer ganz anderen Sphäre bewegt als die Praxis, sondern dass ethische Reflexion und Bewertung schon beim Entstehen von Moral im Spiel ist. Ethik als Teil der Praxis zu sehen bedeutet auch, sie nicht an Experten zu delegieren, sondern ethische Reflexion des eigenen Handelns und des Handelns der Institution als moralische Aufgabe aller Handelnden zu begreifen, allerdings in Kooperation mit anderen Disziplinen und so auch mit der philosophischen Ethik. Bei der Reflexion der Pflegepraxis können vier Typen von Situationen als Anlässe zur Reflexion unterschieden werden: 1. Persönliches Fehlverhalten gemessen an den spezifischen fachlichen Anforderungen und ethischen Prinzipien, 2. Konflikte zwischen den ethischen Prinzipien, vor allem zwischen der Fürsorge und der Autonomie, 3. Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten von Pflegenden infolge institu tioneller Zwänge und mangelhafter Rahmenbedingungen und schließlich
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4. die klassischen Grenzsituationen, die durch die Fortschritte der Medizin erzeugt werden. Beispiele sollen diese verschiedenen Problemlagen illustrieren: In Situationen im Sinne von 1. geht es um das eigene Verhalten und Handeln oder das von Kolleg/innen – von dem Zweifel, ob man selbst sich einem Menschen gegenüber richtig verhalten hat, bis hin zum Umgang mit beobachtetem Fehlverhalten anderer, zum Beispiel gewalttätigen Übergriffen oder unkorrekter Durchführung von Pflegemaßnahmen. Auch wenn es keinen Zweifel darüber gibt, dass jede Form von Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen nicht hinnehmbar ist, so gibt es doch Graubereiche. Wo endet Unfreundlichkeit und beginnt die Entwürdigung? Wo endet Fürsorge, und wo wird sie zum Übergriff?73 Kann ein Fehler wieder gut gemacht werden oder folgt man besser der im Gesundheitswesen üblichen Praxis des Verheimlichens und Vertuschens? Gerade für die Beurteilung des Verhaltens und des Umgangs mit kranken Menschen helfen starre Regeln oft nicht weiter; hier kann die Rückbesinnung auf ethische Prinzipien hilfreich sein, die ihrerseits Ausdruck des der menschlichen Praxis zugrunde liegenden Moralprinzips sind (vgl. Abschnitt 2.3.7). Bei der Beurteilung des persönlichen Verhaltens greifen die persönliche und die institutionelle Verantwortungsebene ineinander: Wie ist die Kultur einer Institution, wie wird dort mit Fehlern umgegangen, wie ist der institutionelle Rahmen für das persönliches Verhalten? (Vgl. dazu Kap. 6). Für Situationen im Sinne von 2. sei folgendes Beispiel genannt: Es gehört nach allgemeiner Auffassung zur guten Pflege, pflegebedürftige Patienten möglichst früh zu mobilisieren und zu aktivieren. Das bedeutet etwa, den Patienten zur Körperpflege und zum Essen aus dem Bett zu helfen und sie wenn irgend möglich zum Herumlaufen zu ermutigen. Die frühe Mobilisation bettlägeriger Patienten ist ein zentraler Punkt der pflegerischen Prophylaxe gegen Pneumonie, Dekubitus, Thrombose und Kontrakturen. Die Kranken selbst wehren sich nicht selten gegen Mobilisation, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Diese Willensäußerungen werden aber von den Pflegenden, einer «maternalistischen»74 Berufstradition folgend, oft gar nicht ernst genommen und durch Überredung oder das Schaffen von Fakten unterlaufen. Die Überzeugung, das fachlich Richtige sei zum Wohl des Patienten unbedingt geboten, verdrängt hier die beginnende Sensibilisierung 73 Vgl. auch Rabe 2003: Übergriffe, Zwang und Gewalt in der Pflege. In: Wiesemann 2003: 107–121. 74 Dieser Ausdruck ist eine Entsprechung zum Begriff des Paternalismus, der Haltung, als Professionelle besser zu wissen als der Patient selbst, was für diesen gut ist. Der im Wort enthaltene Vergleich mit der Rolle des Vaters wird hier wegen des überwiegenden Anteils von Frauen in der Pflege «verweiblicht».
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der Pflege dafür, dass Autonomie der Patienten auch bei Pflegemaßnahmen zu beachten ist und dass es keine ethische Rechtfertigung dafür gibt, Patienten zu ihrem angeblichen Wohl zu zwingen bzw. überhaupt von außen zu bestimmen, was zu ihrem Wohl ist. Das Problem wird durch institutionelle Gewohnheiten noch verstärkt. Eine Pflegerin, die dem Wunsch des Patienten nachkommen möchte und auf die Mobilisation verzichtet, wird dafür vermutlich sowohl innerhalb des Pflegeteams als auch vom zuständigen Arzt kritisiert. Auch hier zeigt sich die enge Verflechtung zwischen der persönlichen und der institutionellen Verantwortungsebene. Zu Situationen im Sinne von 3., die eine weitere Herausforderung für ethische Reflexion darstellen, kommt es, wenn auf Grund der Finanzknappheit und der «Sparzwänge» im Gesundheitswesen neue Gewohnheiten und Regeln entstehen, wie etwa, für die Hilfe beim Essen nicht mehr als 20 Minuten Zeit zu haben75 oder Patienten nicht mehr zur Toilette zu begleiten, sondern sie statt dessen mit Inkontinenzmaterial oder Dauerkatheter zu versorgen. Damit werden Pflegende gezwungen, gegen den gelernten «state of the art» zu verstoßen. Sie sind aber durch den direkten Umgang mit den pflegebedürftigen Menschen besonders intensiv mit deren Not konfrontiert. Deshalb verursachen solche institutionellen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen Unzufriedenheit und Spannungserfahrungen und schränken die persönlichen Möglichkeiten der Pflegenden zu moralischem und sachgerechtem Handeln ein. Die strukturelle Unmöglichkeit, Pflege so zu praktizieren, wie sie entsprechend der Fachdiskussion, den ethischen Anforderungen und den Vorgaben des Krankenpflegegesetzes gut und angemessen wäre, verstärkt überdies bei vielen die Überzeugung, die Theorie oder das in der Ausbildung Gelernte sei grundsätzlich unbrauchbar und ungeeignet für die realen Verhältnisse der Praxis. Neben den Problemen in und mit der Pflegepraxis stellen sich für die Pflege durch die Fortschritte der Medizin auch neue ethische Fragen im Sinne von 4., die den klassischen Grenzsituationen der Ethik im Gesundheitswesen entsprechen. Diese Fortschritte haben es der Medizin unter anderem ermöglicht, «daß ������������������ sie mit technischen Mitteln die biologischen Prozesse im Übergang zwischen Noch-Nicht75 Für das Essen von Hauptmahlzeiten einschließlich Trinken ist ein Richtwert von 15 bis 20 Minuten vorgesehen. www.mds-ev.org/index2html; 10. 2. 2007 (Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung, unter 4.2). Dabei sollen die Pflegenden aber laut der maßgeblichen Broschüre des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) von 2003 für Erlebnis- und Lebensqualität sorgen (S. 32); den Ernährungszustand beobachten (S. 43 ff.), die erforderlichen Prophylaxen integrieren (S. 17), die Essensgewohnheiten ermitteln und Essenszeiten flexibel gestalten und die angebotenen Gerichte appetitlich darreichen (S. 56). Die Pflegeperson «sollte sich hinsetzen, um dem Bewohner das Gefühl zu vermitteln, dass ausreichend Zeit für die Hilfestellung besteht» (S. 57).
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Leben und Leben sowie zwischen Leben und Tod gewissermaßen bremsen, über lange Zeit künstlich anhalten kann und damit Zustände herstellt, die es früher so nicht gegeben hat» (Rehbock 2005b: 31). Pflegende begleiten Menschen in diesen neuen Zuständen, die sich in mehrfacher Hinsicht als Grenzsituationen darstellen (vgl. unter 2.3.4.4), und bei denen sich das Richtige nicht von selbst versteht. Sie pflegen Komapatienten, Patienten, die für hirntot erklärt wurden und Patienten, die wegen unerträglicher Schmerzen in der letzten Lebensphase sediert werden. Gerade bei den Menschen, die nicht mehr für sich selbst sprechen können, ist die Parteinahme der Pflegenden für den Patienten und die Wahrnehmung seines mutmaßlichen Willens besonders wichtig. Die ethische Reflexion soll gewährleisten, dass Pflegende sich nicht durch die normative Kraft des Faktischen von einer sensiblen Problemwahrnehmung abhalten lassen und dass sie auf Distanz zu den täglichen «Sachzwängen» gehen können. Trotz der nötigen Distanz muss die Reflexion jedoch aus der Teilnehmerperspektive und nicht von einem Standpunkt außerhalb des Geschehens erfolgen. So bekommen theoretische Überlegungen und formale Prinzipien nur in Bezug auf eine entsprechende Praxis, auf entsprechende Situationen einen Sinn, weil sie hier konkretisiert werden. Die Wahrnehmungen der Pflege und ihre spezifische, durch große Nähe geprägte Sicht der Situation eines Patienten ist für professionelle Entscheidungen über Grenzfragen unerlässlich. Rehbock weist darauf hin, dass die Rede von Ethik in der Pflege bzw. in der Medizin auch fragwürdige Implikationen haben kann, wenn Ethik als Bestandteil und als Wesensmerkmal des Berufes vereinnahmt wird, so als sei Heilen und Pflegen per se moralisch gut. 76 Dies führt dann zu einer Immunisierung gegenüber Kritik von außen und kann die Grundlage für die Annahme sein, Pflegeethik könne nur durch die Pflegenden selbst betrieben werden. Die Pflege steht jedoch ebenso wie die Medizin aufgrund ihres gesellschaftlichen Mandats in der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Die ethische Reflexion des pflegerischen Handelns kann deshalb nicht auf Pflegende begrenzt sein. Ethik als Teil der Praxis verstehen heißt, dass die ethischen Fragestellungen und Argumentationen Bezug zur pflegerischen Praxis haben müssen, aber nicht, dass die ethische Reflexion exklusiv der Pflege vorbehalten ist. Als Teilbereich der Ethik im Gesundheitswesen geht die Ethik in der Pflege von den theoretischen Grundlagen und Begriffen der philosophischen Ethik aus und konzentriert sich besonders auf die Bereiche und Fragestellungen, die das pflegerische Handlungsfeld betreffen, wobei die Beziehung zu den Patienten im Mittelpunkt steht.
76 ������������������������������������������������������������������������������������� Rehbock 2005b: 116 ff. Bei den Medizinern führt die Überzeugung, dass ärztliches Handeln immer ein moralisches sei, zu der Bezeichnung, ein Handeln sei «unärztlich», wenn es den moralischen Standards nicht entspricht.
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Gleichzeitig muss die ethische Reflexion verschiedene Ebenen unterscheiden, von denen eine nicht mehr «in» der Pflege liegt: die persönliche, institutionelle und gesellschaftspolitische Ebene. Diese Ebenen der Entscheidung und Verantwortung77 zu differenzieren ist bei der Analyse pflegeethischer Probleme wichtig, um den Einfluss institutioneller Strukturen und gesundheitspolitischer Entscheidungen auf die täglichen Handlungsmöglichkeiten der Pflegenden deutlich zu machen. So wird deutlich, wo die individualethische Verantwortung des Einzelnen endet und in eine sozialethische Mitverantwortung für die Kultur und Struktur von Institutionen und der Gesellschaft insgesamt übergeht. Die Unterscheidung dieser drei Verantwortungsebenen hat sich bei der Analyse von ethisch problematischen Situationen als fruchtbar erwiesen und erscheint deshalb auch in meinem Modell zur ethischen Reflexion (s. unter 2.3.6). 2.3.2 Neuorientierung der Ethik im Gesundheitswesen
Die folgende theoretische Fundierung und Konturierung der Ethik in der Pflege orientiert sich an dem phänomenologisch-anthropologischen Ansatz von Theda Rehbock, die mit ihrer Kritik an den vorherrschenden rationalistischen und formalistischen Ethikkonzepten ein neues Verständnis von Ethik erschließt und das Verhältnis zwischen ethischer Theorie und Praxis neu bestimmt. Durch seine Ausrichtung an den Grundbedingungen des Menschseins stellt Rehbocks Konzept eine sehr gute Grundlage für die Ethik in der Pflege dar, denn die persönliche, auch leibliche Nähe zu den Patienten, zu ihrer Verletzlichkeit, ihrem Leiden und ihrer Sterblichkeit ist für die Pflege konstitutiv. Im Zentrum des Konzepts steht die Auseinandersetzung mit dem «Personsein in Grenzsituationen». Die Personorientierung ist ein Kernpunkt der Ethik im Gesundheitswesen. Grenzsituationen zu beschreiben, anstatt von der Planbarkeit und Beherrschbarkeit aller Handlungen und Prozesse auszugehen, setzt einen wichtigen neuen Akzent für einen adäquaten Umgang mit der «strukturellen Unsicherheit»78 der pflegerischen Tätigkeit. Rehbocks Programm einer Neuorientierung der Ethik wird zunächst vorgestellt; im Anschluss werden drei für die Ethik in der Pflege besonders wichtige Punkte vertiefend dargestellt: die Begründungsfrage, das Verständnis von Ethik 77 Vgl. auch Arndt 1996: 20 f.; sie spricht von drei Bereichen des moralischen Handelns. 78 ������������������������������������������������������������������������������������ Remmers stellt mit Bezug zu Rabe-Kleberg dar, dass durch die Komplexität des pflegerischen Handlungsfeldes und die Verschiedenheit der Anforderungen, die an die Pflege gestellt werden, die strukturelle Unsicherheit (Remmers 2000a: 17) geradezu ein Merkmal des Pflegehandelns ist, was eine Herausforderung an die Ausbildung beinhaltet, «Kompetenzen des flexiblen Umgangs mit nichtvorhersehbaren Entwicklungsverläufen» (ebd.: 187) zu fördern.
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als anthropologischer Reflexion von Moral und die Auseinandersetzung um den Personbegriff. Der Rahmen der Pflegeethik wird ergänzt durch ethische Prinzipien, die für die Pflege, aber auch für das Gesundheitswesen insgesamt grundlegend sind, und die nicht als Prinzipien mittlerer Reichweite, sondern als Konkretisierungen des universal gültigen Moralprinzips verstanden werden (2.3.6) sowie durch ein Modell zur ethischen Reflexion, das ich in kritischer Abgrenzung zu den gängigen Entscheidungsmodellen entwickelt habe (2.3.7). Rehbock sieht in der zeitgenössischen Ethik systematische Probleme, die eine grundlegende methodische Umorientierung notwendig machen: den vorherrschenden Szientismus,79 Rationalismus und Naturalismus sowie die Probleme der Moralbegründung. Dies klang schon in ihrer Medizinkritik an (2.2.1.2). Sie spricht von einer neuen Kopernikanischen Wende,80 einer Umkehrung der Richtung des Denkens: Der Blick muss sich zurück auf uns selbst richten, nicht auf uns selbst als Einzelsubjekte, sondern auf uns selbst als Teilnehmer einer gemeinschaftlichen Praxis. Ethik kann nicht aus einer Beobachterperspektive betrieben werden. Die Verwirrung objektivistischer Versuche, das Personsein zu erfassen, indem die Person zum Objekt gemacht wird, kann nur durch die Rückbesinnung auf den personalen Sinnhorizont der menschlichen Existenz gelöst werden. So kann die Ethik zwar nicht zu «sicheren» Lösungen der drängenden medizinethischen Fragen kommen, aber zu einer gemeinsamen begrifflichen Basis, die eine Verständigung erst ermöglicht, und darüber hinaus zu der Einsicht, dass die universale Reichweite und Geltung ethischer Prinzipien vereinbar ist mit ihrer situationsgerechten Auslegung. Dieser Zugang ist insofern phänomenologisch,81 als er auf Wahrnehmung und Reflexivität setzt, von der Lebenswelt als Sinnhorizont ausgeht und damit ein 79 ������������������������������������������������������������������������������������ Kritische Bezeichnung für ein Wissenschaftsverständnis, das die Verfahren der Naturwissenschaften zum ausschließlichen Maßstab für menschliches Denken und Handeln macht (vgl. Mittelstraß 2004, Band 4: 194). 80 �������������������������������������������������������������������������������� Der Begriff der Kopernikanischen Wende knüpft an einen Ausspruch Kants zu Kopernikus’ Erkenntnis der Planetenbewegungen an und bezeichnet Kants Beschreibung der transzendentalen Einstellung, wonach sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten müssen, statt umgekehrt die Erkenntnis nach den Gegenständen. In der Philosophie steht er seitdem für grundlegende Veränderungen der Sichtweise (vgl. Mittelstraß 2004, Band 2: 469 f.). 81 Phänomenologie: von Edmund Husserl begründete philosophische Denkrichtung, die sich seither stark ausdifferenziert hat. Sie geht von der genauen Untersuchung des Gegebenen im Sinnhorizont der gemeinsamen Lebenswelt aus. Dieser Sinnhorizont macht subjektive Erfahrung vermittelbar und nachvollziehbar. Wichtige Gemeinsamkeiten mit der anthropologischen Herangehensweise sind die Elemente der Leiblichkeit («als Medium des Bezugs zur Welt», Höffe 2001: 273) und der Negativität. Phänomenologische Ansätze finden sich außer in der Philosophie auch in der Pädagogik (vgl. unter 3.1.2) und in der Literatur.
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neues Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis beinhaltet. Auch die ihn prägenden negativen Einsichten, wie sie im nächsten Abschnitt dargestellt werden, sind wichtige Elemente phänomenologischen Denkens. Sechs Aspekte dieser Neuorientierung der Ethik werden im Folgenden skizziert. Ihre Ausgangspunkte sind Negativität als philosophische Erkenntniskritik und Gelassenheit als Haltung des Denkens und der Praxis. 2.3.2.1 Negativität82 und Gelassenheit
Rehbock stützt sich auf Thomas Rentsch, der die anthropologische Negativität als Grund der Philosophie beschreibt: Aus der Bedürftigkeit des Menschen und seiner Suche nach Sinn ergibt sich erst die Notwendigkeit der Philosophie. Die tägliche Erfahrung anthropologischer Negativität in Form von Bedrohtheit, Endlichkeit und Fehlbarkeit wird ergänzt durch Negativitätsphänomene im Zusammenleben: «in den Gestalten der Asymmetrie, in Herrschaft und Gewalt, Ferne, Fremdheit und Nichtverstehen zwischen Ethnien, Klassen, Generationen, in der sexuellen Differenz, zwischen Kranken und Gesunden, Privilegierten und Deklassierten» (Rentsch 2000: 10). Diese anthropologische Negativität hat inhaltliche Konsequenzen für die Ethik, so Rentsch, nämlich die Unableitbarkeit unserer freien Handlungen, die Unverfügbarkeit unseres Lebens und die wechselseitige Entzogenheit der Personen. Negativität weist auf die konstitutive Begrenztheit des Erkenntnisvermögens auch der Ethik hin und ist Grundlage der Kritik einer überzogenen Sollensethik und von affirmativen Beschreibungen des Guten. Sie legt gegenüber der rationalistischen Betriebsamkeit von Begründungs- und Letztbegründungsversuchen und dem Aktionismus der Ethik eine Haltung der Gelassenheit nahe, deren Bedeutung für die Ethik Rehbock ein eigenes Kapitel widmet (Rehbock 2005b: 76–103). Diese Bedeutung liegt zum einen in der Akzeptanz dessen, «was nicht von uns abhängt, was wir nicht handelnd beeinflussen können, was also den ‹Widerfahrnischarakter› des Lebens (Kamlah), das ‹Unverfügbare› (Kambartel) oder das ‹Schicksal› (Spaemann) ausmacht» (Rehbock 2005b: 83). Gelassenheit zeigt sich zum anderen in einer Unenttäuschbarkeit im moralischen Handeln: Entscheidend ist nicht der Erfolg, sondern das Bemühen. Wer sich der Begrenztheit der eigenen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten bewusst ist, muss nicht resignieren, sondern kann mit der inneren Freiheit der Gelassenheit neugieriger, offener und damit vermutlich auch erfolgreicher nach Erkenntnis und dem richtigen Handeln streben. Dies führt zu einer Selbstbescheidung der Ethik: Sie muss nicht mehr den Anspruch haben, für alles sichere Lösungen zu finden, 82 ���������������������������������������������������������������������������������� Rentsch weist darauf hin, dass es kaum Bezüge der philosophischen Negativitätsdiskussion zur praktischen Philosophie und Ethik gibt. Negativität zeigt sich ontologisch als Versagung und Nichtigkeit, anthropologisch als Neinsagenkönnen und logisch als Formen der Negation. (Rentsch 2000: 9)
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sondern kann nach Verständigung und Klarheit streben und damit Freiräume für Bildung schaffen, die eine Voraussetzung für gute Lösungen ist. So entzieht sich die Ethik der Indienstnahme und Instrumentalisierung durch einen einseitig prozeduralistisch und rationalistisch ausgerichteten mainstream. Gelassenheit als philosophische Einsicht und persönliche Haltung führt im praktischen Handeln zu einem größeren Respekt vor der Autonomie von Patien ten, zur Fähigkeit, einem Widerfahrnis wie dem Sterben entgegen dem Aktionismus der Medizin seinen Lauf zu lassen und zum Verzicht auf Moralisieren, Belehren und Besserwissen. Dies meint auch Schwerdt, wenn sie als pflegerische Tugend die Askese nennt: Bescheidung von Machtinteressen und des Wunsches nach Wirksamkeit (Schwerdt 1998: 412–415). 2.3.2.2 Anthropologische Reflexion statt Begründung
Mit Hilfe der Einsichten der Negativität kann an die Stelle des unproduktiven Begründungskarussells, das durch die Versuche entsteht, Ethik von einem «unbeteiligten» Standpunkt aus «objektiv» zu begründen, ein bescheideneres und realistischeres Verständnis von Ethik als gemeinsamer Reflexion der Maximen des Handelns und seiner Rahmenbedingungen treten, das sich an Explikationen des Moralprinzips orientiert, welches menschlichem Denken und Handeln immer schon zugrunde liegt. Rehbocks Rezeption von Kant betont im Gegensatz zu der anderer Autoren nicht nur die Abstraktheit und Formalität des von ihm beschriebenen Moralprinzips, sondern gleichzeitig dessen Verwurzelung in der Alltagswelt. Die Endlichkeit und Begrenztheit der Grundsituation ist kein Hindernis, sondern eher eine Bedingung für Erkennen und Handeln, denn die Sinnlichkeit, die scheinbar die Erkenntnis behindert, ermöglicht diese erst, indem sie ihr Widerstände bietet (Rehbock 2005b: 40 f. Sie verweist auf Kants KrV, B8). Auch diese Erkenntnis ist eine «negative». Das rationalistische Ideal einer «reinen», von nichts Empirischem behinderten Erkenntnis ist ebenso aufzugeben wie das einer sicheren, ewig gültigen (Letzt-) Begründung. Rehbock schlägt anstelle der fruchtlosen externen Moralbegründung eine aus der Teilnehmerperspektive erfolgende Begründung vor, «die sich – im Gesamtkontext einer entwickelten ‹moralischen Kultur› – darum bemüht, die begriffliche Grammatik der Begründung universaler moralischer Geltungsansprüche vernünftig aufzuklären und einsichtig zu machen» (Rehbock 2005b: 54) und zeigt mit ihrer Argumentation zum Grundsatzstreit um den Personbegriff überzeugend die Stärken einer internen Begründung auf. Anthropologische Reflexion ist keine bloße Methode, sondern ein eigenes Programm der Ethik, in dem die veränderte Perspektive, nämlich der Blick aus der Teilnehmer- statt aus der Beobachterperspektive, zu einer auch inhaltlichen Erweiterung der Ethik führt.
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Leiblichkeit, Zeitlichkeit, Interpersonalität, Sprachlichkeit und Kulturalität sind Faktoren, die die menschliche Grundsituation bestimmen. Deshalb bilden sie auch den Sinnhorizont für die Klärung von Grenzsituationen anstelle prozeduralistischer und formalistischer Konzepte mit scheinbar «sicheren» Entscheidungsverfahren. Wenn diese anthropologischen Grunddimensionen aus der ethischen Reflexion ausgeklammert bleiben, verfehlt sie ihren Sinn und bleibt wirkungslos. Dies wird unter 2.3.4 näher erläutert. Ein anthropologischer Reflexionsbegriff ist ein «begriffliches Instrument der Reflexion anthropologischer Grundbedingungen der Moral zum Zweck der kritischen Klärung ethischer Problemlagen» (Rehbock 2005b: 230). Der Personbegriff ist ein solcher anthropologischer Reflexionsbegriff und kein Klassifikationsbegriff, durch den Menschen (und Tiere) in Personen und Nicht-Personen eingeteilt werden, weil, wie Rehbock zeigt, der Mensch nicht sinnvoll als Nicht-Person gedacht werden kann. Die anthropologischen Reflexionsbegriffe werden von ethischen Reflexionsbegriffen wie den unter 2.3.6 vorgestellten Prinzipien ergänzt. 2.3.2.3 Einbeziehung von Fragen des guten Lebens
In der gegenwärtigen Ethik-Debatte wird überwiegend eine Trennung von «Streben» und «Sollen», also von gutem Leben und Moral, für richtig gehalten.83 Das kann aus methodischen Gründen richtig sein, um sie als verschiedene Dimensionen des Handelns zu beschreiben. Problematisch wird es, wenn die Unterscheidung als reale Trennung missverstanden wird, als seien gutes Leben und Moral zwei ganz verschiedene Sphären. Dies führt dann zur Unterscheidung von Gütern in «moralische» und «außermoralische», was schwer nachvollziehbar ist, weil das Gute natürlich auch selbst moralisch gerechtfertigt werden muss. Rehbock betont deshalb auch die Einheit der Moral.84 Einerseits ist «gutes Leben» nicht wirklich gut, wenn es nicht moralisch reflektiert wird, andererseits bleibt eine bloß formale Moral des Sollens, die keinen Bezug zur Lebenspraxis und ihren Gütern hat, abstrakt und bedeutungslos. Eine anthropologisch fundierte Ethik, die die Moral unter Rückbesinnung auf die gemeinsam geteilte Grundsituation und Lebenspraxis reflektiert, muss sich deshalb auch auf materiale Bedingungen des guten und gelingenden Lebens und Handelns beziehen. Besonders bedeutsam sind Fragen des guten Lebens für die Ethik im Gesundheitswesen. Schon die Frage nach Gesundheit und Krankheit schließt Fragen nach dem guten Leben ein. Gesundheit und Krankheit sind nicht ausschließlich 83 Vgl. Hübenthal 2002: 89: «Eudaimonismus». Auch Monika Bobbert unterscheidet in ihrer Darstellung der Ethikdiskussion der Pflege zwischen Strebensethik und Sollens ethik (Bobbert 2002: 47). 84 Rehbock 2005b: 70: «Solche Ansätze verkennen die Tatsache, dass es genau genommen nichts Gutes außerhalb der Moral gibt.»
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empirisch und medizinisch zu erfassen, sondern ihre Zuschreibung ist immer auch abhängig von persönlichen Werthaltungen und Erfahrungen. Das eigene Erleben der Patienten, ihre persönlich zu bestimmende Lebensqualität, wird neben den «objektiven» Befunden oft als unbedeutend betrachtet – auch von den Patienten selbst. Die anthropologisch reflektierende Sichtweise setzt dagegen das Leben der Patienten im Kontext ihrer Beziehungen zu anderen sowie ihre Wertorientierungen in Beziehung zu den klinisch-«objektiven» Realitäten. Ebenso impliziert die oft gestellte Frage, was Pflege eigentlich ist, immer auch die Frage, was gute Pflege ist, wie Pflege also sein sollte, das heißt, die deskriptive und die normative Perspektive sind auf dieser fundamentalen begrifflichen Ebene nicht zu trennen. Die Unsinnigkeit solcher strikten Unterscheidungen wird am Beispiel der Deontologie und der Teleologie unter 2.3.3 im Kontext der Begründungsfrage dargelegt. 2.3.2.4 Gegen instrumentalistische Anwendungsorientierung
In einer Zeit wachsender moralischer Herausforderungen bei gleichzeitigem Zurücktreten verbindlicher und allgemein geteilter Wertorientierungen sehen viele die Aufgabe der Ethik darin, moralische Fragen systematisch zu reflektieren, begründete Lösungsansätze und -verfahren vorzuschlagen und damit Handlungsorientierung zu geben. Gleichzeitig gibt es begründete Zweifel daran, dass dies im Rahmen einer wissenschaftlichen Disziplin möglich ist.85 Rehbock sieht in den überhöhten Erwartungen an die Ethik als «Theorie des richtigen Handelns» oder gar als «Mittel zum Zweck der Erreichung der bestmöglichen Welt»86 ein instrumentalistisches Missverständnis der Aufgabe der Ethik, das zudem die Gefahr einer Expertokratie mit sich bringt. Ein Ethikverständnis, das nach quasi-objektiven, «sicheren» Argumenten und Einsichten strebt, ist zu kritisieren, weil es die Begrenztheit menschlichen Erkenntnisvermögens allgemein und ethischer Methoden im Besonderen ignoriert und existenzielle Probleme quasi technisch lösen will. Diesem Verständnis entsprechen die Versuche, etwa den Personbegriff zu operationalisieren, um Kriterien für konkrete Handlungssituationen zu gewinnen oder in Entscheidungsmodellen Verfahren für eine optimale und «sichere» Lösung ethischer Probleme zu präsentieren. Gegen die instrumentalistische Anwendungsorientierung setzt Rehbock eine theoretisch reflektierte Praxisorientierung (Rehbock 2005b: 64–75). Ethik, und sei sie noch so theoretisch, muss in der Praxis ansetzen, die Grundlagen der dort 85 �������������������������������������������������������������������������������� Vgl. dazu Düwell/Hübenthal/Werner 2002: 18–23 über «die Bedeutung der (Angewandten) Ethik in der aktuellen Diskussion». 86 Rehbock 2005b: 65; sie zitiert Nida-Rümelin 1996 bzw. Meggle 1993.
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wirkenden Urteilskraft bewusst machen, eine theoretisch reflektierende Distanz ermöglichen, die moralische Grundorientierung klären und die menschliche Grundsituation als Sinnkontext moralischen Handelns verdeutlichen. Ethik soll für die Praxis wirksam und bedeutsam sein, ohne dass sie auf ein Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele – die selbst der moralischen Überprüfung bedürfen! – reduziert wird. Die Vermittlungsinstanz zwischen Normen und Fakten, zwischen Theorie und Praxis, ist die praktische Urteilskraft (Kant, KpV; A 120 ff.). Für ihre Anwendung kann es keine Regeln geben; deshalb braucht es auch keine Experten der Urteilskraft. Da die Urteilskraft sowohl für das Ethik-Konzept bedeutsam ist, als auch für das Konzept der Vermittlung von Ethik – hier gilt es, Urteilskraft als zentrales Element ethischer Kompetenz zu fördern – wird sie in einem gesonderten Abschnitt genauer erläutert (3.4.2). 2.3.2.5 Vereinbarkeit von Universalismus und Situationsbezug
Aus Rehbocks Infragestellung einer externen Begründbarkeit von Moral folgt allerdings nicht, dass Moral nur partikular gültig sei und es keine universale Gültigkeit geben könne. In Übereinstimmung mit Rentschs Negativitätsphilosophie betont Rehbock, dass sich die unbedingte und universale Geltung von Personstatus und Menschenwürde nicht auf positive Eigenschaften gründet, sondern negativ auf die Einsicht in die Endlichkeit der Existenz und Nicht-Objektivierbarkeit der Person. Aus diesen Konstitutionsbedingungen der Unableitbarkeit, der Nichtobjektivierbarkeit und der wechselseitigen Entzogenheit ergibt sich ferner die methodische Konsequenz eines negativen ethischen Universalismus. Negativ deswegen, weil dieser Universalismus aus Gründen der Negativitätsreflexion keinerlei positive ontologische oder metaphysische Voraussetzungen mehr hat. Es ist gerade das Fehlen solcher das Wesen des Menschen festlegenden Bestimmungen, die Einsicht in die untilgbare interexistenzielle Entzogenheit und Unverfügbarkeit, die diesen Universalismus jenseits der unaufhörlichen philosophischen und wissenschaftlichen Selbstvergewisserungsversuche der Subjekte in der Neuzeit ausmacht. Das biblische Bilderverbot war die archaische Vorgestalt dieser Einsicht (Rentsch 2000: 95).
Moral gilt immer mindestens für Gruppen und ist im Grunde nur dann sinnvoll, wenn sie nach dem für alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft Gültigen fragt. Mit der Vernunft hat der Mensch die Fähigkeit bekommen, sich als Teil der ganzen Menschheit, und nicht nur einer partikularen Gruppe zu erleben und deshalb von den unmittelbaren eigenen Normen zu abstrahieren und sie auch aus einer übergeordneten Perspektive zu beurteilen. Universal gültig und für alle verbindlich kann nur eine formale moralische Grundorientierung sein, die dann, um auch material Gehalt bekommen zu können, mit Blick auf eine konkrete Situation mit Inhalt gefüllt und in ihrer
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Bedeutung diskutiert wird. Das heißt, Kontextbezogenheit und Universalität schließen einander nicht aus, wie manche Ethikkonzeptionen suggerieren, sondern ergänzen einander. Formale oberste Prinzipien bleiben inhaltsleer, wenn ihre praktische Bedeutung nicht anhand von paradigmatischen Geschichten oder konkreten Situationen verdeutlicht und kritisch reflektiert wird. 2.3.2.6 Das Moralprinzip als Bezugspunkt der Ethik
In Bezug auf Kants Kategorischen Imperativ formuliert Rehbock eine eigene Interpretation, die ihn als ein in der Praxis schon wirksames und gleichwohl höchstes und formales Moralprinzip versteht: Ein höchstes Moralprinzip wie der Kategorische Imperativ formuliert – entgegen der üblichen Auffassung – nicht ein von der Ethik festgelegtes Kriterium oder Verfahren der Begründung moralischer Normen, das gewissermaßen von außen in die moralische Praxis eingeführt und auf sie angewandt wird. Es expliziert vielmehr ein in der Praxis selbst bereits angewandtes und wirksames formales Prinzip des moralischen Urteils, das «Richtmaß» oder den «Kompaß», den wir, wie Kant sagt, «jederzeit wirklich vor Augen haben», wenn wir moralisch urteilen (Rehbock 2005b: 113).
Die Tatsache, dass es verschiedene Versuche gibt, den Kern der Moral begrifflich auf den Punkt zu bringen, widerlegt nicht die Annahme, dass es einen Kern der Moral gibt. Der Kategorische Imperativ und Kamlahs praktische Grundnorm, das Diskursprinzip der Diskursethik, Autonomie und Gerechtigkeit setzen je verschiedene Schwerpunkte, sind aber inhaltlich durchaus verwandt. Universalismus, also die uneingeschränkte Gültigkeit formaler Prinzipien, ist die gemeinsame Basis, auf die ethische Reflexion trotz unterschiedlicher Einstellungen und kultureller Prägungen rekurrieren kann und somit eine Voraussetzung für die Anerkennung von Menschen in ihrem Anderssein. Toleranz ist die Basis für Universalität, sie ist eine Art allgemeingültige Minimalmoral. Rehbocks Impulse zur Neuorientierung der Ethik führen dazu, ihren Zweck neu zu denken: Sie steht nicht mehr auf dem Podest der Experten für das Gute und Richtige, sondern begibt sich mitten in die Lebenspraxis und gibt damit den Subjekten ihre moralische Autonomie und ihre Verantwortung zurück. Sie entfernt sich von Dogmen, ist aber nicht relativistisch. Sie geht von einem Moralprinzip aus, das in der menschlichen Praxis liegt und deshalb nicht unabhängig von Fragen des guten Lebens ist. Die anthropologische Reflexion als Grundlage von Rehbocks Konzept «ermöglicht keine positiv-theoretische Begründung von Moral von einem moralexternen Standpunkt aus, wohl aber die negativ-praktische Einsicht in die Endlichkeit und Nicht-Objektivierbarkeit der menschlichen Grundsituation als Grenzsituation» (Rehbock 2005b: 310, Hervorh. im Original).
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2.3.3 Die Begründungsfrage
So sehr es zu begrüßen ist, dass die Pflegeethik sich in ihren theoretischen Bezügen an der philosophischen Ethik orientiert, so sehr ist die kritiklose Übernahme der irreführenden Typisierungen und Einteilungen verschiedener theoretischer Richtungen zu bedauern. Die Beschreibungen der Unterschiede etwa zwischen teleologischen und deontologischen Ethikkonzepten stehen in vielen Lehrbüchern für die Ethik in der Pflege isoliert im «Theorieteil» und bleiben meist folgenlos für die «Anwendungsbereiche». Die Unterscheidungen können zwar sinnvoll sein, um unterschiedliche philosophische Ansätze zu charakterisieren; es ist jedoch wenig hilfreich, wenn die angestrengte Unterscheidung verschiedener Typen von Ethik mehr Raum einnimmt als die ethische Reflexion selbst. Dass die Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen den zahlreichen Ethikansätzen viel weniger thematisiert werden als die Unterschiede, liegt an der verbreiteten Überbetonung des Pluralismus. Es wird allgemein und unhinterfragt davon ausgegangen, dass es in unserer pluralistischen Gesellschaft keine gemeinsame Wertorientierung mehr gibt. Dem widerspricht Rehbock mit dem Hinweis, dass es sehr wohl Übereinstimmungen auf der Ebene ethischer Grundbegriffe wie Würde, Menschenrechte und Autonomie gibt, während die Reichweite und die konkrete Bedeutung der Grundbegriffe strittig sind (Rehbock 2005b: 39). Um eine Grundlage der Moral zu formulieren, die unabhängig vom Streit ethischer Theorien auf allgemeine Zustimmung stoßen kann, haben Tom Beauchamp und James Childress ihre vier Prinzipien (respect for autonomy, nonmaleficience, beneficience, justice), die als klassische Prinzipien der Medizinethik gelten, als «mid-level principles» beschrieben. Sie seien prima facie einsichtig und akzeptabel, weil sie der «common morality» entsprächen, hätten jedoch aufgrund der unterschiedlichen theoretischen Begründungen keine universale Geltung (Beauchamp/Childress 1994: 44–119). Ihren «principlism» formulieren Beauchamp und Childress in Opposition gegen die prinzipienethischen Ansätze, die von nur einem Moralprinzip als Grundlage des moralischen Urteils ausgehen. Dieses Moralprinzip wird gewöhnlich als höchstes und alleiniges Kriterium, beziehungsweise als formales Verfahren der Begründung moralischer Urteile oder Normen verstanden. Gerade in dieser Funktion, oder gar als Mittel zur Lösung der Probleme angewandter Ethik hat es sich jedoch als unbrauchbar erwiesen. Versteht man jedoch, Rehbock folgend, ein höchstes Moralprinzip wie den Kategorischen Imperativ Kants als explizite Formulierung der der menschlichen Vernunft innewohnenden moralischen Grundorientierung, die in der menschlichen Praxis verankert, aber normalerweise nicht bewusst ist, dann erweist es sich als verfehlt, Mehr-Prinzipien-Theorien gegen monistische Theorien auszuspielen, wie Beauchamp und Childress es tun.87 87 Vgl. dazu Rehbock 2005b: 66 und ebd. II.6: 122–126: «Universalität der moralischen Grundorientierung».
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Das so verstandene Moralprinzip ist seinerseits mittels ethischer Prinzipien in eine Reihe formaler moralischer Urteilsgesichtspunkte (z. B. Achtung der Autonomie, Fürsorge oder Gerechtigkeit) auszudifferenzieren und unter Rückbesinnung auf die conditio humana anthropologisch zu reflektieren. Die Einheit der Moral in Form einer gemeinsamen moralischen Grundorientierung ist auf diese Weise ebenso zu wahren wie die Vielfalt von Aspekten des moralischen Urteils, die bezogen auf die jeweilige Handlungssituation zu berücksichtigen sind. Deshalb geht das Konzept ethischer Prinzipien, wie es unter 2.3.6 vorgestellt wird, durchaus von einer universalen Gültigkeit der dort erläuterten Prinzipien Würde, Autonomie, Fürsorge, Gerechtigkeit, Verantwortung und Dialog aus. Das Problem ist nicht die Verschiedenheit von Moraltheorien selbst, die die verschiedenen Aspekte von Moral hervorheben und beschreiben, sondern die Tendenz von Moraltheorien, einen bestimmten Aspekt von Moral zu verabsolutieren und die je begrenzte Berechtigung anderer Theorien zu verkennen.88 Dies sei am Beispiel der deontologischen und der teleologischen Ethik erläutert, die als Grundtypen der normativen Ethik beschrieben werden. Die Teleologie als Lehre von der Zielgerichtetheit von Vorgängen führt in der Ethik zu einer Ausrichtung an Zielen bzw. an «dem Guten», während die deontologische Ethik, als deren Paradebeispiel die Kantische Ethik gilt, sich an «dem Richtigen», der moralischen Pflicht, orientiert. 2.3.3.1 Teleologische oder konsequenzialistische Ethik
Die Teleologie geht auf die aristotelische Lehre des orestikon zurück, des Strebens, das allen Dingen innewohnt, ihre spezifische Aufgabe (ergon) zu erfüllen und zu vervollkommnen. Aristoteles ordnet dem Strebevermögen und dem Vernunftvermögen der Seele verschiedene Arten von Tugend (aretē) zu, die sich im guten Handeln ausdrückt.89 Aristotelischer Herkunft ist auch die heute noch übliche Bezeichnung «Strebensethik» für teleologische Ethikentwürfe. In der Neuzeit verbreitete sich die Ansicht, dass es keine übergeordneten Seins ziele oder der Natur innewohnenden Ziele gibt, und es kam zu einer Vervielfältigung der Ziele, zu einer «Pluralisierung des Guten» (Hübenthal 2002: 65). Als Folge davon werden in der zeitgenössischen Ethik die Konzepte als teleologisch bezeichnet, «die eine Trennung zwischen moralischer Richtigkeit und außermo88 Vgl. Dazu Beauchamp/Childress 1994: 19: «A confusing feature of contemporary moral theory is that false rivalries and misleading statements of method often result from pigeonholing theories too readily, and assuming that the proponents of one method exclude the other methods in their moral thinking.» Und, S. 20: «It is easy to mislabel and stereotype philosophical methods.» 89 Aristoteles, Nikomachische Ethik Buch VI zur phronesis, Kap 1 und 2 sowie 13; vgl. dazu Wolf 2002: 140–145.
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ralischer Gutheit vornehmen und das moralisch Richtige ausschließlich dadurch bestimmen, dass es das außermoralisch Gute auf bestmögliche Weise fördert» (Hübenthal 2002: 61). Entscheidend für die moralische Qualität einer Handlung sind also ihre Folgen, weshalb teleologische Ethikentwürfe auch als konsequenzialistisch bezeichnet werden. Das prominenteste Beispiel teleologisch-konsequenzialistischer Ethikkonzeptionen für die Ethik im Gesundheitswesen ist, vor allem durch die umstrittenen Schriften von Peter Singer,90 der Utilitarismus, der «das größte Glück der größten Zahl»,91 und die bestmögliche Welt anstrebt und damit das Prinzip des Nutzens als oberstes moralisches Kriterium sieht. Dazu müssen die außermoralischen Güter, die den Nutzen ausmachen, genauer definiert werden. Dies geschieht in Form von «Axiologien», den Theorien des nichtmoralisch Guten oder der Werte. Dieter Birnbacher, der die Vielfalt der Axiologien ausführlich darstellt, unterscheidet intrinsische Werte an sich und extrinsische Werte; monistische (Beispiel: Utilitarismus mit nur einem höchsten Gut, dem Glück) und pluralistische Güterlehren; singularistische (Egoismus), partikularistische (Nationalismus) und universalistische (Menschenrechte) Axio logien, Verteilungstheorien, subjektivistische versus objektivistische Axiologien (Birnbacher 2003: 241–278). Schon die komplizierten Differenzierungen geben einen Eindruck davon, dass es durchaus mühsam ist zu begründen, wie außermoralische Güter zur Grundlage der Moral werden können. Die Berücksichtigung und Abwägung der Folgen einer Handlung für alle davon Betroffenen ist für ein moralisches Urteil selbstverständlich notwendig, für ein adäquates Verständnis von Moral aber noch keineswegs hinreichend. Das Gute ist nur eine Dimension von Moral, die andere ist die Dimension der Verpflichtung, die auf die subjektive Haltung des Handelnden verweist. In konsequenzialistischen Ansätzen fehlt diese Reflexion auf die subjektive Seite der Moral, d. h. sowohl auf die das Handeln leitende Grundorientierung oder «Gesinnung» des Handelnden als moralische Person als auch auf ihre Beziehung zur Person des Anderen als moralisches Gegenüber. Das gibt der konsequenzialistischen Abwägung etwas Unpersönliches, sie ist wie ein technisches Verfahren, mit der Glück und Unglück erfasst werden können. Dabei ist es durchaus unklar, wie eine Quantifizierung von Glück oder Nutzen praktisch erfolgen kann und wie Abwägungen zwischen verschiedenen Gütern zu begründen sind.
90 Peter Singers Buch «Praktische Ethik», das erstmals 1979 veröffentlicht wurde, hat zu heftigen Diskussionen über das Tötungsverbot geführt. 91 Jeremy Bentham (1748–1832), der Begründer des Utilitarismus, formulierte dieses Prinzip der Glücks- oder Nutzenmaximierung in seinem Werk «An Introduction to the Principles of Morals and Legislations» 1789.
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Bei einer solchen Abwägung und Berechnung werden, wie Robert Spaemann kritisiert, sittliche Normen in technische verwandelt. Außerdem würde eine lückenlose Analyse aller Handlungsfolgen endlos werden. «Wenn wir die Gesamtheit der Handlungsfolgen in Betracht ziehen müssten, kämen wir vor lauter Kalkulieren nicht mehr zum Handeln» (Spaemann 1999: 67). Ein grundsätzliches Problem des Utilitarismus ist die reduktionistische Auffassung von Glück als einer messbaren Verfassung und das damit verbundene eingeschränkte Verständnis von gutem Leben (Rehbock 2005b: 49). In der Medizin und Pflege sind solche vereinfachten Sichtweisen durchaus verbreitet, wenn etwa Gesundheit und Wohlbefinden mit der Abwesenheit oder der Verminderung klinischer Symptome oder pathologischer Befunde gleichgesetzt werden, die aktuelle Befindlichkeit des Kranken im Kontext seiner Lebenssituation und seines Verständnisses von Krankheit dagegen unbeachtet bleibt. Dies findet auch einen Niederschlag in Versuchen, eine abstrakte Lebensqualität zum Maßstab der Beurteilung ärztlichen Handelns zu machen, etwa in der zur Zeit viel diskutierten evidence based medicine. Mit der Maßeinheit «QUALY» (quality adjusted life year) will man die Anzahl Lebensjahre erfassen, die kranke Menschen durch eine Therapie gewinnen, und die nicht durch Gebrechlichkeit und Leiden, sondern durch Selbständigkeit und Symptomfreiheit bestimmt sind. Weitere Einwände gegen utilitaristische Konzepte folgen aus ihrem Grundsatz, dass nicht Leben ein Wert an sich ist, sondern die Lebensqualität, das Erleben (vgl. Birnbacher 2002: 106). Dies hat etwa in der Medizinethik Konsequenzen, die dem Moralempfinden widersprechen, zum Beispiel, dass die Tötung eines Neugeborenen weniger problematisch sei als die Tötung eines Primaten.92 Das utilitaristische Maximierungsprinzip, so Rehbock, ist zwar als Kriterium in bestimmten Kontexten durchaus sinnvoll. «Es ist aber nur ein Verfahren oder Kriterium unter anderen, nicht das für die Moral konstitutive Prinzip» (Rehbock 2005b: 50, Hervorh. im Original). 2.3.3.2 Deontologische Ethik
Die «Lehre vom Sollen» wird auch als «Pflichtenethik» und, wegen ihrer Ausrichtung an den Motiven und der Grundhaltung des Handelnden, als «Gesinnungsethik» bezeichnet (Werner 2002: 122). Als ihr Begründer gilt Immanuel Kant, der als Moralprinzip den Kategorischen Imperativ in der am meisten bekannten sog. «Gesetzesformel» folgendermaßen formuliert: «Handle nur nach derjenigen 92 Singer nennt als Kriterium die Fähigkeit, Wünsche hinsichtlich seiner eigenen Zukunft zu haben, und erläutert: «Tötet man eine Schnecke oder einen 24 Stunden alten Säugling, so vereitelt man keine Wünsche dieser Art, weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben.» (Singer 1994: 123).
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Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde» (Kant GMS, BA 52). Kants Verständnis von Pflicht ist nicht das einer von außen auferlegten Beschränkung; das Zusammenwirken der menschlichen Vernunft und des guten Willens führt vielmehr zu einer Selbstverpflichtung, einer inneren Bindung an das Moralgesetz, das selbst nichts anderes als die praktische Grundform der menschlichen Vernunft ist. Damit nimmt Kant den ursprünglichen Sinn von «Autonomie» auf; es geht dabei nicht um unbegrenzte Freiheit und Beliebigkeit der Wünsche, sondern um Selbstgesetzlichkeit und Selbstverantwortung. Deshalb ist, im Zusammenhang mit den absehbaren Folgen einer Handlung, die Intention des Handelnden und die sie leitende praktische Grundorientierung (Gesinnung) für die moralische Beurteilung entscheidend. Die Gesinnung ist aber kein rein innerer, von den Folgen der Handlung abtrennbarer Zustand, sie besteht vielmehr darin, «das Gute» für alle Beteiligten zu wollen, anzustreben und unter «Aufbietung aller Mittel» handelnd zu realisieren. Darin unterscheidet sich Kant zufolge das «gute Wollen» vom «bloßen Wunsch» (Kant GMS, BA 3). Der Kategorische Imperativ wird oft als eine Art Gedankenexperiment zur Überprüfung von Handlungen oder als Instrument, Kriterium oder Verfahren der Entscheidungsfindung missverstanden. Diese Interpretation geht in die Richtung der bereits kritisierten instrumentalistischen Anwendungsorientierung (vgl. unter 2.3.2.4) und greift zu kurz. Als oberstes und universales Moralprinzip dient der Kategorische Imperativ Kant vielmehr dazu, die Grundform moralischen Urteilens zu explizieren, welche die moralische Urteilspraxis der «allgemeinen Menschenvernunft» bereits konstitutiert, ohne dass wir uns dessen bewusst sind (Kant GMS, BA 21; vgl. auch Höffe 2004: 172). Mit Hilfe verschiedener Formulierungen des Kategorischen Imperativs artikuliert Kant verschiedene Aspekte der Moral und konkretisiert das Prinzip in der «Metaphysik der Sitten» für die Bereiche des Rechts und der Moralität, die ausdifferenziert wird in zwei moralische Grundhaltungen: die der Achtung und die der «praktischen Liebe», die das «Wohlwollen» und «Wohltun oder die »Wohltätigkeit» und die «Teilnehmung» beinhaltet.93 Diese Grundhaltungen prägen auch die heutige Ethik im Gesundheitswesen in Form der bekannten Prinzipien Autonomie und Fürsorge, deren gemeinsame Grundlage bei Kant die Würde des Menschen ist. Den deontologischen Ethikansätzen werden auch die Diskursethik, der vertragstheoretische Ansatz von John Rawls und der handlungstheoretische Ansatz von Alan Gewirth zugeordnet (Werner 2002: 125). Diese Theorien haben gemeinsam, dass sie, Kant folgend, von einem obersten Moralprinzip ausgehen: dem Diskursprinzip, dem Gerechtigkeitsprinzip bei Rawls und dem «Prinzip der konstitutiven 93 Kant MS A39–42 und ab A116: Tugendpflichten gegen andere; Liebespflichten; ab A139: Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung; abschließend über Freundschaft als Vereinigung von Liebe und Achtung: A152–158.
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Konsistenz» bei Gewirth. Bei allen prinzipienethischen Konzepten nach Kant wird eine «starke» (Letzt-) Begründung für notwendig gehalten, damit das Moralprinzip als unbedingt und universal gültig anerkannt werden kann (Werner 2002: 141). Reflexive Argumente nehmen den «Skeptiker» in den Blick, der behauptet, das betreffende Prinzip sei ungültig. Sie versuchen zu zeigen, dass sich der Skeptiker in einen Selbstwiderspruch verwickelt, weil er bestimmte Bedingungen für sich selbst schon in Anspruch nehmen muss, die für das Moralprinzip konstitutiv sind – im Fall des Diskurses, indem er eine Behauptung vorbringt;94 im Fall der Autonomie bei Gewirth, indem er wie alle Handlungsfähigen wünscht, dass die Bedingungen seiner Handlungsfähigkeit geschützt und von allen respektiert werden. Diskurs und Autonomie sind zwar moralisch relevante Bedingungen des menschlichen Lebens, aber es kommt zu einer Engführung der Moralbegründung, wenn sie zum einzigen Grundprinzip der Ethik gemacht werden, denn die Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die hier vollständig ausgeklammert werden, sind nicht weniger moralrelevante Aspekte der conditio humana (vgl. Rehbock 2005b: 51). Die Diskursethik und der Gewirthsche Ansatz gehen dagegen ausschließlich von diskurs- bzw. handlungsfähigen Menschen aus. Gerade bei Kranken sind diese Fähigkeiten oft vorübergehend oder dauerhaft eingeschränkt oder verloren gegangen, so dass sich die Frage erhebt, wie sie bei der moralischen Beurteilung von Handlungen berücksichtigt werden können (vgl. dazu die Ausführungen zum Personbegriff unter 2.3.5). 2.3.3.3 Die Unsinnigkeit der Abgrenzung und das Begründungsproblem
So allgegenwärtig die Unterscheidung zwischen dem deontologischen und dem teleologischen Ethiktyp ist: sie ist sehr allgemein und wird oft idealtypisch zugespitzt und simplifiziert. Sowohl innerhalb der Gruppe der teleologischen als auch der deontologischen Ethiktheorien kann es große Differenzen geben, so dass die Zuordnung wenig aussagekräftig ist. Zudem gibt es nicht wenige Theorien, die Merkmale von beiden Grundtypen aufweisen. Auch wenn die Diskursethik und Gewirth nicht utilitaristisch argumentieren, sondern sogar ausdrücklich gegen utilitaristische Argumente eintreten, so setzen 94 Dietrich Böhler formuliert das Argument des performativen Selbstwiderspruches als Antwort an den Skeptiker so: «Sie haben eine Behauptung mit dem Anspruch auf Verständlichkeit und Prüfbarkeit (als argumentativen Dialogbeitrag) gegenüber uns als Dialogpartnern aufgestellt und damit zugleich Ihren Willen zum argumentativen Dialog bekundet wie auch uns versprochen, einen verständlichen und prüfbaren Dialogbeitrag vorzubringen. Wie aber sollen wir (oder auch Sie selbst) eine Äußerung als Dialogbeitrag nehmen, deren Aussage eben das leugnet und zerstört, was Sie als Dialogpartner selber wollen und wozu Sie in der Dialogsituation mit uns verpflichtet sind: Verständlichkeit Ihrer Rede als performativ-propositionales Ganzes und dialogbezogene Prüfbarkeit Ihrer Aussagen?» Böhler 2001: 52 (Hervorh. im Original)
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sie doch mit der Diskurs- bzw. Handlungsfähigkeit menschliche Eigenschaften als Bedingung dafür, dass ein Mensch bei moralischen Abwägungen berücksichtigt wird und haben damit eine Gemeinsamkeit mit dem Utilitarismus. Gewirth entwickelt darüber hinaus eine Güterlehre,95 Rawls hat gesellschaftliche Grundgüter definiert;96 auch das ist sonst eher ein Merkmal teleologischer Theorien. Gleichzeitig setzt sich jedoch mehr und mehr die Einsicht durch, dass die strikte Entgegensetzung von Moral und gutem Leben nicht sinnvoll ist. Spaemann verweist darauf, dass es keine sinnvolle Ethik gibt, die die Folgen außer Acht lassen könnte, und auch keine, die auf ein grundlegendes Prinzip verzichten kann (Spaemann 1999, S. 64 ff.). Die strikte Unterscheidung zwischen «dem (moralisch) Richtigen» und «dem (außermoralischen) Guten» als zwei getrennten Sphären geht an der Realität vorbei, weil die Reflexion von moralischen Grundsätzen nicht ohne das Nachdenken über die Bedingungen des guten Lebens auskommt und weil das Gute immer schon ein (bis zu einem gewissen Grade) moralisch reflektiertes Gutes ist. Die Frage nach dem moralisch richtigen menschlichen Leben impliziert daher die Frage nach dem guten menschlichen Leben. Auch Kant fühlte sich an diesem Punkt missverstanden. Er sei keineswegs der Ansicht, dass die Beachtung des Moralgesetzes völlig ohne Rücksicht auf Glückseligkeit geschehen sollte. «Nach ����������������������������������������������������� meiner Theorie ist weder die Moralität des Menschen für sich, noch die Glückseligkeit für sich allein, sondern das höchste in der Welt mögliche Gut, welches in der Vereinigung und Zusammenstimmung beider besteht, der einzige Zweck des Schöpfers» (Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis; Band VI: 132). Die Frage nach der Moralbegründung und die immer weiter verfeinerte Diffe renzierung zwischen verschiedenen Ethiktypen und Theorieansätzen nimmt in der Ethik so viel Raum ein, dass sie oft den Blick für die eigentliche Aufgabe praktischer Ethik verstellt: Grundlage zu sein für eine systematische Reflexion und Kritik der Praxis und damit eine Unterstützung bei der Suche nach Antworten auf drängende Fragen. Rehbock betont, darin Kant folgend, die Unmöglichkeit einer externen Begründung der Grundlagen der Moral unter Rekurs auf außermoralische Fakten (Rehbock 2005b: 54). Solche aufs Ganze gehenden, absoluten Begründungsansprüche seien wegen der Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens sinnlos und würden nicht einmal von den Naturwissenschaften aufrechterhalten. Eine externe Moralbegründung ist eine solche, die quasi aus der Beobachterperspektive, untersuchend und beschreibend, rein deskriptiv erfass95 ������������������������������������������������������������������������������������� Er unterscheidet folgende Gruppen von Gütern, die die Handlungsfähigkeit konstitutieren: «Elementargüter» wie etwa Freiheit und Wohlergehen, «Nichtverminderungsgüter» und «notwendige Zuwachsgüter», wobei die Elementargüter die wichtigsten sind (Bobbert 2002: 156–161). 96 Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen, Vermögen (Düwell 2002: 11).
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bare Fundamente für eine Begründung der Moral zu gewinnen versucht. Als Beispiel dafür kann der Utilitarismus dienen, der von einer deskriptiven Theorie des Menschen ausgeht und daraus das Nutzenprinzip ableitet. Dabei wird aus der Tatsache, dass Menschen nach Lust streben und Unlust meiden, dass sie ihre Interessen und Bedürfnisse befriedigen wollen, ein Kriterium und Maßstab zur Beurteilung von Handlungen gemacht. Eine interne Moralbegründung, wie sie bei Kant zu finden ist, geschieht dagegen aus der Teilnehmerperspektive und setzt in der gemeinsam geteilten menschlichen Grundsituation und der gemeinsamen Praxis an, zum Beispiel im Gesundheitswesen. Das bedeutet nicht, dass die hier herrschenden Üblichkeiten und Normen unkritisch zugrunde gelegt werden, sondern dass der übergeordnete Maßstab zu ihrer kritischen Beurteilung, wenn auch meist nicht bewusst, doch allgemein vertraut ist, dass er also nicht durch die philosophische Ethik gewissermaßen von außen in die Praxis hineingebracht werden kann. Das Moralprinzip ist notwendig formal und steht deshalb in Differenz zu inhaltlich bestimmten Normen und Regeln. Die ethische Reflexion muss einerseits das Moralprinzip bewusst machen und es andererseits in kritischer Distanz zur Praxis auf diese beziehen, was jedoch etwas anderes ist, als eine unbeteiligte Beobachterposition einzunehmen. Auch eine interne Moralbegründung bedient sich durch Rückbesinnung auf normative Grundbedingungen menschlicher Praxis einer reflexiven Argumentation. Im Unterschied zu den anderen Konzepten, die von der Außenperspektive der distanzierenden Wissenschaft her argumentieren oder ein verkürztes Verständnis menschlicher Praxis etwa als Diskurspraxis zugrunde legen, wird hier von vornherein die allen Menschen gemeinsame und theoretisch nicht hintergehbare Teilnehmerperspektive eingenommen.97 2.3.4 Anthropologische Reflexion von Moral
Die enge Verbindung zwischen Anthropologie und Ethik ist prägend für Rehbocks Konzept und begründet in besonderer Weise seine Eignung als Grundlage für die Ethik in der Pflege. Denn Pflege ist als Grundform menschlicher Hilfe und Solidarität mit dem Schwachen grundsätzlich moralisch motiviert, aber durch die 97 Vgl. Rehbock 2005b: 54. Für die Moralphilosophie gilt hier ähnliches, wie es Wilhelm Kamlah für die philosophische Anthropologie formulierte: «Die uns heute bekannten methodisch-empirischen Wissenschaften vom Menschen, z. B. Anatomie, Physiologie, Psychologie, setzen sich die ‹Erkenntnis des Menschen› zum Ziel und drücken ihre Erkenntnisse in kognitiven Sätzen aus. Dafür zahlen sie den Preis, dass sie reduktiv vom Menschen sprechen, d. h. unter Absehung davon, dass wir selbst, auch als empirische Erforscher des Menschen und der übrigen Welt, Menschen sind (…). Die philosophische Anthropologie geht an ihr Geschäft heran mit dem entschiedenen Willen, nicht auch wieder diesen Preis zu zahlen.» (Kamlah 1973: 93).
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Konfrontation mit Grenzsituationen und eigener Fehlbarkeit ebenso grundsätzlich auf ethische Reflexion verwiesen. Diese Reflexion muss das Verständnis vom Menschsein klären, da die Pflege es mit den menschlichen Grundbedingungen der Verletzlichkeit, Gebrechlichkeit, Abhängigkeit und Endlichkeit zu tun hat – und sie muss aus der Teilnehmerperspektive und nicht aus unbeteiligter Distanz erfolgen. Wegen dieser besonderen Bedeutung erscheint die anthropologische Reflexion von Moral hier als eigener Punkt und nicht als Merkmal von Rehbocks Neuorientierung unter 2.3.2. 2.3.4.1 Anthropologie und Ethik
Philosophische Anthropologie, so Wilhelm Kamlah, «ist der Versuch, im philosophischen Gespräch Lebenserfahrungen auszutauschen» (Kamlah 1973: 42). Es geht dabei also nicht um Selbstbeobachtung, sondern um intersubjektiv geteilte Erfahrung, wobei die alltägliche Sprache eine wichtige Quelle anthropologischer Einsichten ist. Sie bildet die Grundlage für die begrifflichen Klärungen des menschlichen Selbstverständnisses und der Moral. Zu allen Zeiten war der Mensch ein Wesen, das in Gruppen und Gemeinschaften lebte, sich sprachlich verständigte, einen Begriff von Zeit und der eigenen Endlichkeit hatte und für kranke und schwache Mitmenschen sorgte. Die menschlichen Fähigkeiten zum Denken und Reden sind die Voraussetzung dafür, sich der Zeit und der Welt bewusst zu werden, also auch für Kultur und Wissenschaft. Das sind keine zufälligen, empirischen Eigenschaften des Menschen, sondern strukturelle Grundbedingungen menschlicher Praxis im Ganzen, an der der Einzelne unter allen denkbaren Bedingungen teilhat. Rehbock beschreibt als wesentliche, das menschliche Sein strukturierende und konstituierende Grundmomente Leiblichkeit, Sprachlichkeit, Interpersonalität und Kulturalität (vgl. Rehbock 2005b: 31–37). Die conditio humana als die unhintergehbare, allen Epochen und Kulturen gemeinsame menschliche Grundsituation, bildet den Rahmen für unser Handeln und für unsere Urteile. Aus der Einsicht, dass wir Menschen alle bedürftig und deshalb aufeinander angewiesen sind, ergibt sich für Kamlah folgende «praktische Grundnorm» der Ethik: «Beachte, dass die Anderen bedürftige Menschen sind wie du selbst, und handle demgemäß!» Kamlah geht es nicht um einen von außen an den Menschen gerichteten Imperativ, sondern um eine Einsicht in unhintergehbare Bedingungen unseres Daseins, welche die Anerkennung der praktischen Grundnorm einschließt.98 98 Kamlah 1973: 95. Dies nötigt zum Handeln (also nicht: jemand fordert jemanden zu etwas auf, sondern: jemandem ist etwas geboten: 128). Diese Verbindlichkeit wird in der zweiten Formulierung der Grundnorm noch deutlicher: «Es ist jedermann jederzeit geboten zu beachten, dass seine Mitmenschen bedürftig sind wie er, und demgemäß zu handeln.» (S. 96).
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«Philosophische Anthropologie ist deskriptiv und normativ zugleich» (Kamlah 1973: 50). Während viele Autoren (auch in der Pflegeethik) zumindest begrifflich streng zwischen deskriptiver und normativer Ethik trennen (allerdings bleibt die Trennung meist ebenso folgenlos wie die zwischen teleologischer und deontologischer Ethik), werden diese Dimensionen der Ethik von Kamlah als miteinander verschränkt gesehen: Das moralische Handeln spielt sich im Kontext der menschlichen Grundsituation ab und wird von dieser geprägt. Diese Grundbedingungen der menschlichen Situation sind formale Voraussetzungen der Moralität, die der menschlichen Praxis immer schon zugrunde liegen, ja sie allererst ermöglichen. Rehbock spricht von anthropologischen Präsuppositionen der Moral und nennt als Beispiel Kants weitere Ausformulierung des Kategorischen Imperativs in die sogenannte Selbstzweckformel: «Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst». Kant schreibt in der Begründung, dass der Mensch sich notwendig sein eigenes Dasein so vorstellt, dass die vernünftige Natur, dass jeder Mensch, Zweck an sich selbst ist (Kant, GMS, BA 66). Diese Idee und das damit verbundene Verbot der Instrumentalisierung sind die Grundlage des heutigen Verständnisses von Würde und Personalität und der Menschenrechte. Dieses Verständnis kommt nicht durch eine externe Betrachtung zustande, sondern es expliziert «die für die personale Existenzform konstitutive und insofern notwendige Auffassung des Menschen von sich selbst, die von vornherein moralisch orientiert ist» (Rehbock 2005b: 57; Hervorh. im Original). Hier wird deutlich, dass anthropologische und ethische Reflexion miteinander verschränkt sind. Die ethischen Prinzipien sind einerseits auf die anthropologischen Bedingungen der Vernunft bezogen (Würde und Autonomie) und andererseits auf die grundsätzliche Bedürftigkeit und Abhängigkeit aller Menschen, die durch ihre Leiblichkeit bedingt sind (Fürsorge und Dialog). Zum Verständnis ethischer Prinzipien als Reflexionsbegriffe siehe Kap. 2.3.6. Als Einwand gegen eine anthropologische Moralbegründung wird oft der Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses erhoben: es werde vom Sein auf das Sollen geschlossen, wenn normative Forderungen auf anthropologischen Gegebenheiten aufbauen. Kamlah wie auch Rehbock weisen demgegenüber darauf hin, dass es nicht um ein «Schließen» von dem einen auf das andere geht. Kamlah betont besonders die Einsicht, die hier eine Rolle spielt: Wer die von ihm formulierte Grundnorm wirklich versteht, muss die darin enthaltene normative Forderung einsehen, das heißt als gültig anerkennen (Kamlah 1973: 98). Ethik als anthropologische Reflexion von Moral verstehen bedeutet, Endlichkeit und Verletzlichkeit, Leiblichkeit, Sprachlichkeit und Interpersonalität sowie Geschichtlichkeit als Sinnhorizont zu sehen, ohne den über existenzielle und ethische Fragen, wie sie sich mit den Grenzsituationen des Lebens stellen, nicht sinnvoll nachgedacht werden kann.
2. Ethik
Dieser Sinnhorizont verweist auf die Begrenztheit und Fallibilität von Urteilen und ermutigt dazu, die prinzipielle Unabschließbarkeit der Reflexion einzugestehen. 2.3.4.2 Leiblichkeit als für die Pflege zentrale anthropologische Dimension
Die Leiblichkeit ist eine anthropologische Dimension, auf die besonders die Pflege immer wieder verwiesen ist. Krankheit und Leiden durchbrechen die Selbstverständlichkeit, gesund zu sein. Plötzlich rückt der Leib als Basis des gesamten Lebens ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die phänomenologische Unterscheidung zwischen Leib als Medium des Empfindens und Kommunizierens und Körper als biologischer Organismus ist in diesem Zusammenhang wichtig, denn der Leib und damit die Person des Kranken geraten in der naturwissenschaftlichtechnischen Betrachtung des Leibes als Körper oft aus dem Blick. Durch ihre große, gerade auch leibliche Nähe zum Patienten hat für die Pflege der Leib als solcher jedoch eine größere Bedeutung als der bloße Körper. Wahrnehmungen und Handlungen (z. B., wenn sie für den Patienten mit Schmerzen verbunden sind), werden von Pflegenden auch körperlich nachvollzogen. Wettreck bezeichnet die spezifisch leibgebundene Kommunikation mit nicht sprachfähigen Patienten als «Synästhesie», ein von ihm zitierter Intensivpfleger spricht von der «komische(n) Gegenseitigkeit» dieser nonverbalen Kommunikation (Wettreck 2001: 204 f.). Wettreck sieht in dem intensiveren Umgang der Pflege mit der Leiblichkeit der Kranken, der «leibliche(n) Kommunikation», eine «Autorität der pflegerischen Körpernähe».99 Die leibliche Nähe löst gleichzeitig Gefühle bei den Helfern aus, wenn diese sich nicht durch innere Distanzierung entziehen. Die existenzielle Erschütterung von Kranken wird für die Helfer leiblich fühlbar (Wettreck 2001: 88). Remmers verweist aber auch auf die Gefahr, dass pflegerische Körpernähe übergriffig werden kann, er spricht von «subtiler Fremdbemächtigung» (Remmers 2000a: 173). Leibliche Informationen prägen auch die Intuition, jenen Teil von Erfahrung also, der nicht kognitiv und sprachlich erfasst wird, sondern als Atmosphäre, als ethisches Unbehagen, als Ahnung oder Unsicherheit in Erscheinung tritt (Wettreck 2001: 78). Intuition wird jedoch in der naturwissenschaftlich geprägten Medizin und Pflege überwiegend nicht ernst genommen, womit eine wichtige Wahrnehmungs- und Kommunikationsdimension ausgeklammert bleibt. Die anthropologische Dimension der pflegerischen Perspektive beschreibt Wettreck als eine Zugangsweise zum Patienten, die «an der menschlichen Lebensbedingung der Leiblichkeit, der Bedürftigkeit, der Notwendigkeit vitaler Lebensgrundlagen und sozialer Ressourcen, der Alltäglichkeit, des Eingespanntseins in 99 Wettreck 2001: 43. Auch Remmers spricht von der «spezifischen Körpernähe» der Pflege, Remmers 2000a: 166.
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Lebensgrenzen, Zyklen, kreatürliche Vorgaben menschlichen Seins ansetzt und dem Schrecken von Zerbrechlichkeit, Identitätsverlust, Krankheit, Altern, Behinderung, Sterben und Tod die berufliche Leistung mitmenschlich-solidarischer und fachlich-kompetenter Hilfe/Sorge entgegensetzt» (Wettreck 2001: 103). Aus der Konfrontation mit menschlichem Leid ergibt sich eine moralische Forderung, so Wettreck: Krankheit, Behinderung, Sterben und Tod mitzuerleben erschüttert normalerweise in einem ursprünglichen mit-menschlichen Erleben: Es geht «unter die Haut», «berührt», «betrifft». […] Das erlebte Leid des Kranken erreicht den anderen mit Unmittelbarkeit, mit leiblicher Resonanz, «schlägt» auf die Stimmung, ist «im Raum», belegt die «Atmosphäre». Die Anteilnahme und Beteiligung am kranken Anderen geschieht […] in einer unmittelbaren, vorsprachlichen, suggestiven, teilweise kaum bewussten Form, zunächst ohne Chance der Ausgrenzung und Abgrenzung. […] Was jener aktuell und akut erlebt, ist auch für mich potentiell, grundsätzlich erwartbar, nicht ausschließbar, latent drohend – und wird sympathisch mitvollzogen. […] Und im Beteiligt-Sein am Erleben des Anderen geschieht ein Zweites, geradezu zwillingshaft. Indem ich involviert werden, erlebe ich gleichzeitig etwas Unmittelbares, ursprünglich «Ethisches»: angesprochen werden, ver-ungleichgültigt werden, herausgerufen werden aus meiner eigenen geschützten Identität in eine Verantwortung für den Anderen. […] Es ist die Geburtsstunde des «Ethischen» überhaupt, prinzipiell offen, ungeprägt, vor jeder pragmatisch-rationalen Aushandlung. Zunächst ohne Begrenzung gefordert, werde ich verantwortlich gemacht (Wettreck 2001, 93 f.).
Wettrecks Schilderungen beschreiben treffend die besonders intensive Konfrontation von Pflegenden, Seelsorgern und anderen, die kranken Menschen nahe kommen, mit existenziellen und ethischen Fragen. In seiner Darstellung fehlen allerdings Vernunft, Reflexion und Urteilskraft als unverzichtbare Elemente des «Ethischen». Ohne sie bleibt ein vorsprachliches Erleben bloß individuelles Gefühl und ist nicht vermittelbar, möglicherweise sogar trügerisch und unberechtigt, somit auch keine allgemeingültige moralische Forderung. Die Aufgabe der Ethik besteht darin, die unbedingt und universal gültige moralische Forderung, etwa im Sinne der Kamlahschen Grundnorm, bewusst zu machen, sie für konkrete Situationen mit Inhalt und Bedeutung zu füllen und in ihrer Anwendung kritisch zu reflektieren. Einerseits darf Ethik nicht einseitig intuitionistisch sein, weil damit das rational-reflexive Moment ausgeblendet wird, das ebenfalls zur menschlichen Grundsituation gehört. Sie darf aber auch nicht schematisch und funktionalistisch nur nach Kriterien und Normen für das Handeln fragen, denn damit wird ausgeklammert, wie begrenzt die Reichweite der Autonomie ist und von wie viel Unwägbarem sie abhängt: In jeder Handlung, so Kamlah, steckt ein Teil Widerfahrnis.
2. Ethik
2.3.4.3 Widerfahrnis – ein Gegengewicht zur Überbetonung der Autonomie
Ein weiterer wichtiger Grundbegriff der philosophischen Anthropologie und ein Grundbegriff der unter 2.3.2.1 als bedeutsam für die Ethik gewürdigten Negativität ist der Widerfahrnisbegriff, den Kamlah so beschreibt: Im Unterschied zur Handlung ist ein Widerfahrnis nicht von uns beabsichtigt, ja nicht einmal beeinflussbar, es geschieht uns einfach. Widerfahrnisse als solche annehmen heißt von dem Anspruch Abstand nehmen, dass man alles im Leben selbst bestimmten kann und sollte. Unser aller Leben ist gleichsam eingespannt zwischen den Widerfahrnissen Geburt und Tod. Gleichsam das erste und das letzte Wort hat für uns nicht unser eigenes Handeln. Aber auch, wenn wir handeln, widerfährt uns stets etwas. Es gibt Widerfahrnisse ohne Handeln, aber es gibt kein pures Handeln (Kamlah 1973: 35).
Von Widerfahrnis wird heute kaum gesprochen, nicht nur, weil das Wort ungebräuchlich ist (es findet sich z. B. nicht im Brockhaus), sondern auch, weil es für das Selbstverständnis vieler Menschen heute besonders wichtig ist, das eigene Leben selbst gestalten zu können. Ein oft fragwürdiges Verständnis von Autonomie ist zum alles beherrschenden Ideal geworden, das sich auch auf die Situationen von Krankheit, Leiden und Endlichkeit erstreckt, die wir nur sehr begrenzt beeinflussen, aber nicht selbst vollständig bestimmen können. Möglicherweise versucht der moderne Mensch, dem Widerfahrnischarakter von Geburt, Krankheit und Tod zu entgehen, indem er diese in die Zuständigkeit und Definitionsmacht der Medizin legt und sich damit selbst eine gewisse Kontrolle ermöglicht. Ein geplanter Kaiserschnitt oder der Tod durch aktive Sterbehilfe scheint weniger Widerfahrnis als aktive Entscheidung zu sein. Widerfahrnisse führen uns im Sinne anthropologischer Negativität die Unverfügbarkeit und Unbeeinflussbarkeit des Schicksals vor Augen und fordern zu einer Gelassenheit heraus, die uns akzeptieren lässt, was wir nicht beeinflussen können, und die ein wichtiges Korrektiv für die Ethik ist, regt sie doch an zu Bescheidenheit, zum Loslassen des Wunsches nach «sicheren» Lösungen und zum Verzicht auf Moralisieren (vgl. Rehbock 2005b: 76–105). 2.3.4.4 Grenzsituationen
Ethische Probleme stellen sich im Gesundheitswesen vor allem an Grenzen: Grenzen des Machbaren und Beeinflussbaren, der Grenze zwischen Leben und Tod, verschwommenen Übergangsbereichen, in denen trennscharfe Unterscheidungen sowie eindeutige Urteile unmöglich sind. Rehbock hat deshalb den von Karl Jaspers geprägten Begriff der Grenzsituation ins Zentrum ihres Ethikkonzepts gestellt. Nach Jaspers sind Grenzsituationen durch Unvermeidbarkeit, Unveränderbarkeit, Unaufhebbarkeit und Endgültigkeit gekennzeichnet
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und verweisen damit auf die menschliche Grundsituation.100 Grenzsituationen erzeugen zum einen existenzielle Betroffenheit, weil sie die menschliche Existenz im Ganzen erschüttern, zum anderen Ratlosigkeit, weil sie oft nicht eindeutig entscheidbar und beurteilbar sind. Darin sieht Rehbock den Grund für die Heftigkeit und weltanschauliche Aufladung vieler medizinethischer Debatten (etwa um Schwangerschaftsabbruch oder um den Umgang mit Hirntoten). Nicht der Wertepluralismus unserer Gesellschaft oder die Unübersichtlichkeit des medizinischen Fortschritts schafft die größte Verunsicherung, sondern die existenzielle Unausweichlichkeit dieser Grenzsituationen, die jeden von uns betreffen und die jedem von uns widerfahren können. Rehbock beschreibt vier Dimensionen, in denen medizinethische Probleme als Grenzsituationen zu verstehen sind (Rehbock 2005b: 21–44):
• Semantische
Dimension: Grundbegriffe wie Krankheit und Tod haben, bedingt durch den medizinischen Fortschritt, unscharfe Ränder bekommen: Ist ein Hirntoter wirklich gestorben oder befindet er sich im Sterbeprozess? Ist der Träger eines Virus schon krank? Die Bedeutung der Grundbegriffe, so Rehbock, erschließt sich erst durch Rückbesinnung auf konkrete Situationen.
• Erkenntniskritische Dimension: Dadurch, dass die moderne Medizin Mög-
lichkeiten hat, Zwischenzustände «zwischen Noch-Nicht-Leben und Leben sowie zwischen Leben und Tod» (Rehbock 2005b: 31) künstlich anzuhalten und zu verlängern, wird sie als allmächtig angesehen und verkennt die Begrenztheit ihrer Perspektive und ihrer Methoden. Damit werden wichtige Grundbedingungen des Menschseins ausgeklammert, die für die Medizin maßgeblich sind: Leiblichkeit, Sprachlichkeit, Interpersonalität, Kulturalität. Diese und nicht die begrenzte Sicht der Medizin bilden den Sinnhorizont, in dem der Umgang mit Grenzsituationen geklärt werden kann.
• Praktisch-existenzielle Dimension: Krankheit, Schmerzen, Gebrechlichkeit
und Leiden; die Situationen also, mit denen Pflege und Medizin es täglich zu tun haben, sind Grenzsituationen des menschlichen Lebens, deren Unausweichlichkeit allen Menschen gemeinsam ist, auch wenn dies gern verdrängt wird. Um damit gut umzugehen, braucht man eine durch Reflexion geschulte Urteilskraft, die sich auf die conditio humana und damit auch auf die Bedingungen des guten Lebens besinnt.
• Anthropologisch-existenziale Dimension: Hier wird die durch Endlichkeit geprägte menschliche Grundsituation selbst als Grenzsituation gesehen. Grenzsituationen sind damit nicht Ausnahmesituationen, sondern «elementare existenziale Bedingungen der Möglichkeiten unseres Lebens als unaufhebbare Grenze eben dieser Möglichkeiten» (Rehbock 2005b: 41). So ist die Leiblichkeit
100 Vgl. ��������������������������������������������������������������������������������� Mittelstraß 2004, Bd. 1: 85 und Bd. 2: 308. Auch Ruth Schwerdt spricht im Jasperschen Sinn von Grenzsituationen (Schwerdt 1998: 21).
2. Ethik
nicht ein Hindernis für Verstandeserkenntnis, sondern sogar deren notwendige Bedingung, weil sie Leben, Denken und Handeln allererst ermöglicht. Die «apriorische Situationalität» (Rentsch), das In-Geschichten-Verstrickt-Sein (Schapp, nach Rehbock, 2005b: 42) gehört selbst zur conditio humana und ist allen vier Dimensionen eigen: Zur Klärung semantischer Unklarheiten und zur Erkenntnis der Grenzen und Bedingungen von Erkennbarkeit muss auf konkrete, eventuell paradigmatische Situationen zurückgegriffen werden. Die Einsicht in die Unausweichlichkeit von Verletzlichkeit und Sterblichkeit wird ebenso in Situationen begriffen wie die Begrenztheit der menschlichen Grundsituation letztlich als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis verstanden wird. Deshalb hat die ethische Kasuistik zu Recht an Bedeutung gewonnen (siehe auch unter 2.3.7.1). Situationalität ist ebenso wie die im folgenden Punkt dargestellte Personalität ein wichtiger Bezugspunkt der Ethik. Zwischen beiden gibt es einen inneren Zusammenhang: Situationen und Geschichten sind immer auf Menschen als Person bezogen, und der Mensch ist als Person nur im Kontext konkreter Situationen und Geschichten denkbar. 2.3.5
Personorientierung und der Streit um den Personbegriff
Die wechselseitige Anerkennung anderer Menschen als personales und moralisches Gegenüber beruht auf einer anthropologischen Präsupposition der Moral (vgl. unter 2.3.4.1). Wenn wir einem anderen Menschen begegnen, stellen wir nicht erst anhand empirischer Eigenschaften und Fähigkeiten fest, dass auch dieser ein Mensch ist, sondern wir unterstellen es von vornherein «im praktischen Kontext gemeinsam geteilter Situationen und Geschichten» (Rehbock 2005b: 59). Dies gilt ganz selbstverständlich auch für schwer kranke, demente oder komatöse Menschen. Die in der Philosophie weit verbreitete Trennung des Personbegriffs vom Begriff des Menschen widerspricht deshalb unserer moralischen Grundorientierung und Intuition. Aus der gemeinsamen Perspektive des Menschseins gesehen erscheint es recht absurd, dass es Menschen geben soll, die nicht Person sind.101 101 Der Dokumentarfilm «Der Pannwitzblick» beschreibt den Blick der NS-Ärzte auf die von ihnen als «leere Menschenhülsen», «Ballastexistenzen» abqualifizierten kranken und behinderten Menschen. Der Begriff, der bis heute als Symbol für den abwertenden Blick der «Gesunden» auf die «Behinderten» steht, ist benannt nach dem KZ-Arzt Pannwitz, der in Auschwitz den italienischen Schriftsteller Primo Levi in den Tod schicken wollte. Levi überlebte und schrieb u. a. das viel beachtete Buch «Ist das ein Mensch?». In dem Film beschreibt er den Blick, mit dem Pannwitz ihn maß, so: «Könnte ich aber bis ins letzte die Eigenart jenes Blicks erklären, der, wie durch die Glaswand eines Aquariums, zwischen zwei Lebewesen ausgetauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnten, so hätte ich damit auch das Wesen des großen Wahnsinns des Dritten Reichs erklärt.» www.medienwerkstatt-wien.at/files/titles/pannwitzblick_main.htm, 30. 5. 2006
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Die Bedeutung der Personorientierung für das Ethos und die Professionalität von Pflegenden klang bereits im ersten Kapitel an. Hier soll nun die Bedeutung des Personbegriffs als Kern eines anthropologisch und lebensweltlich fundierten Konzepts von Ethik in der Pflege dargestellt werden. In der Praxis von Medizin und Pflege gibt es durch ein biologistisches Verständnis von Krankheit und die daraus resultierenden institutionellen Strukturen jedoch Tendenzen, die Person zu missachten (vgl. dazu unter 2.2). Remmers weist darauf hin, dass die Pflege sich in besonderer Weise in einem Spannungsfeld befindet: Personenbezogenes Handeln verlangt ein Verstehen des Einzelfalles mit seinem lebensweltlichen Erfahrungshorizont; die institutionelle Realität ist jedoch geprägt von «operationellen Einstellungen einer technisch-instrumentellen Optimierung von Regelabläufen» (Remmers 2000a: 169 f.). Der Personbegriff und die darzustellenden verschiedenen Auffassungen dazu beziehen sich vor allem auf medizinethische Problemstellungen – es geht um Grenzsituationen und Entscheidungsfragen. Für die Pflege sind diese Fragen deshalb von Bedeutung, weil sie mit den Folgen medizinischer Entscheidungen z. B. um Therapiebegrenzung konfrontiert ist, meist ohne an den Entscheidungen selbst beteiligt zu sein. Auch weil zu fordern ist, dass sich dies ändert, müssen Pflegende sich zu den grundsätzlichen medizinethischen Debatten, die ja zugleich gesellschaftspolitische Wertfragen sind, positionieren. Darüber hinaus stellt sich für die Pflege die Frage nach der Personorientierung noch einmal anders, nämlich als Frage nach der Gefährdung der Person, ihrer Autonomie und ihrer Würde vor allem auch in den Normalsituationen des täglichen pflegerischen Umgangs mit kranken Menschen. Nach einer Darstellung der Grundsatzpositionen zum Personbegriff wird hier deshalb der Frage nachgegangen, welches Verständnis von Personorientierung die Pflege bereits hat, an welchen Stellen sie selbst dazu beiträgt, Kranke als Person zu missachten und als bloßes Objekt zu behandeln. 2.3.5.1
Die widerstreitenden Grundsatzpositionen zum Personbegriff
Der Begriff der Person steht in der Ethik zum einen normativ für den moralischen Status des Menschen als autonomes, selbst entscheidendes und verantwortliches Subjekt mit spezifischen Rechten und Pflichten, das als Teil einer Gemeinschaft mit deren anderen Mitgliedern durch wechselseitige Anerkennung als moralisches Gegenüber, durch Achtung, Solidarität und Rücksichtnahme verbunden ist. Zum anderen bezeichnet der Begriff der Person auch deskriptiv das Subjekt bestimmter personaler Eigenschaften wie der Fähigkeit zu kommunizieren und Gefühle auszudrücken, Selbstbewusstsein, persönliche und soziale Bindungen sowie Zeitbewusstsein (vor allem die Fähigkeiten, sich zu erinnern und für die Zukunft zu planen). Umstritten ist, ob die Begriffe Mensch und Person deckungsgleich sind oder ob die Anerkennung als Person an bestimmte empirische Kriterien wie das
2. Ethik
aktuelle Vorhandensein der genannten Eigenschaften und Fähigkeiten gebunden sein soll; umstritten ist daher auch, inwieweit den Menschen, die nicht (mehr) über personale Eigenschaften verfügen, Schutzrechte eingeräumt werden, und ob nicht auch hochentwickelte Tiere ähnliche Eigenschaften wie Personen haben und deshalb mehr als bisher zu respektieren und zu schützen sind (vgl. Sturma 2002: 440–447). Theda Rehbock stellt in einer ausführlichen Analyse zwei einander widersprechende Grundpositionen gegenüber (Rehbock 2005b, Kap. VI–VIII), die nicht nur ein unterschiedliches Verständnis vom Begriff der Person haben, sondern daraus auch Konsequenzen für das Verbot oder die Liberalisierung umstrittener medizinischer Praktiken wie Schwangerschaftsabbruch oder Sterbehilfe ableiten. Sie hat dafür die Positionen idealtypisch charakterisiert und neben den Kritikpunkten auch die Einsichten herausgearbeitet, die beide Positionen in die Debatte einbringen, und die es weiter aufzunehmen gilt. Die «metaphysisch-konservative Position» geht davon aus, dass alle Menschen ihrem Wesen nach Personen sind, und leitet daraus eine restriktive Einstellung zu den genannten Praktiken ab, während die «empiristisch-liberale Position» den Personstatus anhand empirischer Fakten überprüfen will und grundsätzlich eine weitgehende Liberalisierung der umstrittenen Praktiken befürwortet. Während also die metaphysisch-konservative Seite meint, die Zugehörigkeit aller Menschen zur Gruppe der Personen sei a priori vorentschieden, meint die Gegenseite, sie sei aufgrund empirischer Feststellungen entscheidbar (Rehbock 2005b: 207 f.). Bei beiden Positionen werden mit der Zuerkennung des Personstatus der unbedingte Schutz des Lebens und die Berücksichtigung des Betroffenen als moralisches Gegenüber verbunden, dessen Autonomie zu respektieren ist. Entsprechend schwer wiegt daher auch die Aberkennung des Status als Person. Da aber keine der beiden Positionen ein Interesse daran hat, möglichst viele Menschen aus der Gruppe der Personen auszuschließen, gibt es verschiedene Argumente, mit denen auch solche Menschen in den Kreis der Personen aufgenommen werden können, die aktuell nicht oder nicht mehr über personale Eigenschaften verfügen, wie etwa Föten, Neugeborene, schwer Demente, Bewusstlose und Komatöse. Ein Beispiel dafür ist das Potenzialitätsargument (schon die befruchtete Eizelle trägt in sich das Vermögen, sich zu einem Menschen mit individuellen Anlagen zu entwickeln und ist diesem deshalb moralisch gleichzusetzen) auf der konservativen Seite der Debatte. In der liberalen Position finden Argumente Beachtung, die auf negative Folgen einer Tötung von Nicht-Personen z. B. für nahe stehende Personen hinweisen. Der Streit um die Extension und die Sinnhaftigkeit des Personbegriffes zeigt, wie klärungsbedürftig er ist. Zum Zweck der Klärung dieses Begriffs und aufgrund seiner zentralen Bedeutung speziell auch für die Medizin- und Pflegeethik
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kennzeichne ich die beiden von Rehbock beschriebenen Positionen etwas ausführlicher. Die «metaphysisch-konservative» Position. Theo Kobusch spricht von der «Metaphysik der Person» in dem Sinn, dass der für das Recht und für Staatsverfassungen so wichtige Personbegriff ohne Bezug auf seine metaphysische Vorgeschichte nicht verständlich ist. Er weist darauf hin, dass Theologie und Metaphysik auch Grundlagen für vernünftige Einsicht und wichtige Elemente unseres Moralverständnisses erzeugt haben, nicht nur, wie gerade von den liberalen Kritikern oft behauptet wird, Irrationalität und Dogmatismus (vgl. Rehbock 2005b: 189). Der Grundgedanke der metaphysisch-konservativen Position ist, dass alle Menschen wesenhaft und naturgemäß auch Personen sind, worauf sich die Unantastbarkeit der Menschenwürde und der Schutz des menschlichen Lebens als höchstem Rechtsgut gründen. Die christliche Variante dieses Arguments ist die Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Außerdem wird von einigen Vertretern dieser Position (z. B. Hans Jonas) ein normatives Naturverständnis vertreten, das in der menschlichen Natur einen für das Handeln normativ maßgebenden Wert an sich sieht und ihr ein ihr inhärentes Ziel zuschreibt. Daraus ergibt sich dann das Verbot, die Natur zu manipulieren, z. B. durch Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe (vgl. Rehbock 2005b: 213). Essentiell für Personalität sind laut Robert Spaemann Selbstdifferenz und Interpersonalität. Die Selbstdifferenz kann als das Bewusstsein beschrieben werden, das einer Person die Fähigkeit gibt, sich zu sich selbst zu verhalten, vergleichbar mit Plessners exzentrischer Positionalität. Wenn Menschen diese und andere personale Fähigkeiten noch nicht oder nicht mehr haben, dann ist dies wie der Defekt eines Stuhles, dem ein Bein fehlt: Er bleibt doch ein Stuhl. Ebenso wird der Mensch, der nicht sprechen und handeln kann, deshalb nicht zum Tier oder zum Nicht-Menschen (vgl. Rehbock 2005b: 194f.). Ohne Interpersonalität kann Personsein nicht sinnvoll gedacht werden, oder mit Spaemanns Worten: «Person�������� sein ist das Einnehmen eines Platzes, den es gar nicht gibt ohne einen Raum, in dem andere Personen ihre Plätze haben» (zit. nach Rehbock 2005b: 197). Die metaphysisch-konservative Position greift sogar auf biologische Gegebenheiten zurück, um den Beginn menschlichen Lebens und die Einzigartigkeit des Menschen zu begründen, die sich demnach am individuellen Genom zeigen lässt. Rehbock kritisiert diese Position als metaphysischen Naturalismus. Personale Charakteristika wie Selbstdifferenz und Interpersonalität sind zwar für das Menschsein als solches, d. h. unabhängig vom faktischen Zustand des Menschen, konstitutive Grundzüge. Deren Bedeutung ist aber nicht in solchen biologischen Gegebenheiten zu verankern. Nur durch eine phänomenologische Analyse dieser Grundzüge im Kontext menschlicher Lebenspraxis ist vielmehr zu verstehen, wie und warum sie gerade auch für die adäquate Beschreibung von menschlichen
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Situationen des Mangels und des Verlustes personaler Fähigkeiten relevant und notwendig sind. Nur so ist es auch möglich, personale Eigenschaften im Hinblick auf die konkrete Situation in ihrer normativen Bedeutung für das menschliche Handeln zu begreifen, die ja nach Situation verschieden ist. Andernfalls führt die Gleichsetzung des Personbegriffs mit dem Begriff des Menschen zu rigoristischen und nicht vernünftig einsichtigen Konsequenzen eines allzu weitgehenden Verbotes medizinischer Praktiken. Indem der Beginn des menschlichen Lebens und damit des moralischen Personenstatus an das biologische Faktum der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle gebunden und gradueller Lebensschutz von den Vertretern dieser Position überwiegend abgelehnt wird, müsste bereits die Anwendung einer Spirale als moralisch verwerfliche Tötung gelten, da hier befruchtete Eizellen an der Einnistung in der Gebärmutter gehindert werden. Dies wird allerdings nur von wenigen vertreten. Auch bei den Grenzfragen am Ende des Lebens können sich fragwürdige Konsequenzen ergeben: Wenn der Lebensschutz absolut gesetzt wird, wird die Autonomie der Patienten missachtet, die etwa einen Abbruch lebenserhaltender Therapie wünschen, weil sie ihren Zustand nicht mehr ertragen (möchten), und ihr Leiden wird nicht ernst genommen. Die Missachtung des Leidens und der Autonomie kranker Menschen ist auch ein wichtiger Kritikpunkt von liberaler Seite, der mit dem Vorwurf des Dogmatismus verbunden ist. Diesem Vorwurf ist allerdings nicht, wie die liberale Position meint, zu entkommen, indem man die Reichweite des Personenbegriffs in Bezug auf Menschen einschränkt und ganze Gruppen von Menschen davon ausnimmt. Vielmehr bedarf es einer differenzierten, situationsspezifischen Auslegung der normativen Bedeutung des Personbegriffs sowie der Würde und der Autonomie der Person für das konkrete Handeln. Eine wichtige Methode dieser Auslegung ist auch die Praktizierung und Übung moralischer Urteilskraft mittels ethischer Fallbesprechungen (vgl. unter 2.3.7.1 zu Kasuistik und unter 3.4.2 zur Urteilskraft). Die «empiristisch-liberale» Position. Peter Singer kritisiert den «Speziesismus» der traditionellen Ethik, der darin besteht, dass Interessen von Tieren in ähnlicher Weise missachtet würden, wie der Rassismus die Interessen von Menschen mit bestimmter Rassenzugehörigkeit missachtet (Singer 1994: 82–114). Nicht Gattungszugehörigkeit, sondern das Vorhandensein von Interesse am Leben und von Leidensfähigkeit seien deshalb Voraussetzungen für moralische Rücksichtnahme. Folgt man dieser Idee, dann sind nicht alle Menschen Personen, da die Zuschreibung von Personalität vom Vorliegen bestimmter empirischer Merkmale wie dem Bewusstseinszustand und grundlegenden geistigen Fähigkeiten abhängt. Singer selbst unterscheidet deshalb auch zwischen «Mitgliedern der Spezies homo sapiens» und «Personen» (Singer 1994: 120) und differenziert
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bei Lebewesen grundsätzlich zwischen drei Gruppen: «Selbstbewusste» Lebewesen, die im eigentlichen Sinn Person sind, bloß empfindende und bewusste Lebewesen, zu denen viele Tiere, aber auch Säuglinge und einige Geisteskranke gehören, und als dritte Gruppe nicht bewusste Lebewesen, etwa Pflanzen. Seine Unterscheidungen sind schon mit Blick auf die Fragen nach dem Tötungsverbot angelegt.102 Während dies für selbstbewusste Lebewesen uneingeschränkt gilt, weil sie Interesse am Weiterleben haben, gilt es für die bloß empfindungsfähigen Lebewesen nur eingeschränkt, gemäß dem utilitaristischen Nutzenkalkül: Erfolgt die Tötung schmerzlos, so ist sie dem Betroffenen selbst gegenüber kein Unrecht, da er über kein Lebensinteresse verfügt; gegen die Tötung spricht allenfalls, dass die Gesamtmenge des Glücks in der Welt vermindert wird, indem diesem Wesen zukünftige Lusterfahrungen unmöglich gemacht werden, und dass sie zudem bei Angehörigen Trauer sowie in der Gesellschaft Angst und Unsicherheit auslösen kann. Das menschliche Leben selbst ist demnach kein Wert an sich, sondern Glück oder Lust ist der entscheidende Wert, und dieser ist verrechenbar mit der Lust anderer, was unter Umständen auch für die Tötung eines Menschen sprechen kann. Wenn zum Beispiel ein behinderter Säugling getötet wird und die Eltern später ein nichtbehindertes Kind bekommen, wäre demnach die Glücksbilanz günstiger, als wenn das behinderte Kind am Leben bliebe und «leide» und damit auch seinen Eltern Leid verschaffe. Tristram Engelhardt jr. hat vier weitere Kategorien sozialer Personen eingeführt, die einer Gradualisierung des Personbegriffs entsprechen, demnach kann man mehr oder weniger Person sein. Dauerhaft Komatöse sind nach seiner Einteilung gar nicht mehr Person, sondern tot.103 Diese Einteilung bedeutet eine Operationalisierung des Personbegriffes mit dem Ziel, ihn als Kriterium für die Unterscheidung von Personen und Nicht-Personen handhabbar zu machen. «Dieses operationalistische Verständnis ethischer Begriffe passt folgerichtig in eine insgesamt instrumentalistisch orientierte Ethik»,������������������������� kritisiert Rehbock (Rehbock 2005b: 226; Hervorh. im Original), denn hier wird die kategoriale und unbedingte Geltung des Personbegriffes verlassen, er wird operationalisiert, gradualisiert und temporalisiert. Für die Fragen nach der Zulässigkeit umstrittener medizinischer Praktiken folgt aus der empiristisch-liberalen Position eine Relativierung des Lebensschutzes; die Liberalität dieser Position besteht in einer weitgehenden moralischen und rechtlichen Akzeptanz umstrittener medizinischer Praktiken. Die Autonomie des Patienten, seine Wünsche und Interessen, sind der wichtigste Maßstab; 102 Vgl. die Darstellung von Singers Personkonzept bei Schwerdt 1998: 61–70. 103 Person1: Person «in the strict sense» als «moral agent»; Person2: kleine Kinder; Person3: Neugeborene; Person4: einstige Personen, die minderer Kommunikation fähig sind; Person5: schwer geistig Behinderte, die niemals Person waren oder sein werden (nach Rehbock 2005b: 226).
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entsprechend werden der Schwangerschaftsabbruch und die aktive Sterbehilfe als unter bestimmten Bedingungen moralisch vertretbar angesehen. Die philosophische Kritik an der empiristisch-liberalen Position richtet sich zum einen gegen ihr Grundverständnis ethischer Begriffe, aber auch gegen eine reduktionistische Auffassung vom Menschen. Kobusch kritisiert die Tendenz, Personen als «durch spezifische »Eigenschaften« ausgezeichnete »Klasse« von (natürlichen) Dingen» (zit. nach Rehbock 2005b: 190) zu sehen und sie damit zu naturalisieren (anderen Gegenständen in der Natur gleichzusetzen) und zu verdinglichen. In dieser objektivierenden Perspektive wird das Besondere des Personbegriffes unverständlich, denn Personalität kann nicht als Eigenschaft zugeschrieben, sondern nur unterstellt oder vorausgesetzt (präsupponiert) werden. «Sie ist kein Prädikat, sondern Sinnhorizont möglicher Prädikation überhaupt» (Rehbock 2005b: 287). Wenn man Personalität oder Würde an das aktuelle Vorhandensein bestimmter Eigenschaften bindet, blendet man die konstitutiven Sinnbedingungen des Menschseins als Personsein aus, die gerade auch für Situationen des Mangels oder Verlustes dieser Eigenschaften konstitutiv sind. Dass zum Beispiel der Verlust bzw. das Nichtvorhandensein der Sprachfähigkeit für den Menschen ein schweres Unglück, für Tiere aber der Normalzustand ist, wäre ohne Zugrundelegung dieser Sinnbedingungen nicht zu verstehen. Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt an dieser Position ist ihre individualisierende und atomisierende Betrachtungsweise des Menschen,104 denn die Tatsache, dass Personalität nur intersubjektiv oder interpersonal, d. h. in Beziehung zum anderen Menschen, denkbar ist, wird hier ausgeklammert. Ebenso wird der Gesamtkontext der personalen Lebensgeschichte eines Menschen ausgeblendet, indem spezielle Momente, Zustände oder Phasen des menschlichen Lebens isoliert betrachtet werden. Rehbock kritisiert beide Extrempositionen, sieht aber gerade in ihrer Pointiertheit auch wichtige Einsichten klar ausgedrückt: auf der metaphysisch-konservativen Seite die Bindung des Personbegriffs an den Begriff des Menschen sowie die unbedingte Geltung und Achtung der Menschenwürde; auf der empiristisch-liberalen Seite die Forderung, dass moralisches Urteilen den individuellen, empirischen und situativen Realitäten gerecht werden muss. Obwohl sie so gegensätzlich scheinen, haben beide Positionen gemeinsam, dass sie die Realität in Bezug auf die Sinnbedingungen menschlicher Existenz verkürzen und verzerren. Die konservative Position macht den Fehler, aus abstrakten Wesenseigenschaften des Menschen und daraus resultierenden formalen Moralgrundsätzen inhaltliche Normen und rigorose Verbote abzuleiten; 104 Vgl. Rehbock 2005b: 181, Schwerdt 1998: 104 f.
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sie verkennt damit die inhaltliche Offenheit und konkrete, situationsspezifische Auslegungsbedürftigkeit der Prinzipien. Wenn die Einzigartigkeit des menschlichen Genoms als Begründung dafür dient, diesem personale Eigenschaften und Rechte zuzuschreiben, dann liegt zudem ein naturalistischer Fehlschluss vor.105 Die Situation eines Embryos oder die Situation eines Schwerstkranken, Hirntoten oder Sterbenden ist vielmehr in mehrfacher Hinsicht als Grenzsituation zu verstehen (vgl. dazu 2.3.3.2). Die Bedeutung anthropologischer Grundbegriffe und ethischer Prinzipien ist hier in besonderem Maße auslegungsbedürftig, was hohe Anforderungen an ihre moralische Reflexion impliziert: Diese muss mit großer Sorgfalt, mit Phantasie und unter Abwägung aller relevanten Kontextbedingungen erfolgen. Der Naturalismus der empiristisch-liberalen Position ist noch offenkundiger, denn sie stützt sich noch stärker auf naturwissenschaftliche – meist medizinische und biologische – Erkenntnisse und macht die Personeigenschaften zu Kriterien, zu empirischen Merkmalen, aus deren Vorhandensein moralische Schutzrechte bis hin zum Recht auf Leben abgeleitet werden. Hier werden «die universale Reichweite des formalen moralischen Personenstatus und die unbedingte Geltung daraus resultierender moralischer Grundsätze» (Rehbock 2005b: 227) in Frage gestellt. Damit wird verkannt, dass die Realität gerade auch in Grenzsituationen des menschlichen Lebens nur vor dem Hintergrund eines moral point of view beschreibbar und beurteilbar ist, der durch die Personalität des Menschen konstituiert wird. Die metaphysisch-konservative Position ist grundsätzlich überzeugender, vor allem wegen der Betonung der grundsätzlichen Identität von Mensch und Person; zu kritisieren ist aber ihre Tendenz zum Dogmatismus, Rigorismus und zur daraus resultierenden Missachtung der Autonomie und des konkreten Leidens. Rehbocks Untersuchung zum Personbegriff zeigt, dass dieser kein Kriterium für die Zu- oder Aberkennung von Rechten sein kann. Die begriffliche Trennung zwischen Mensch und Person kann nicht aufrechterhalten werden, denn der Mensch ist unter allen denkbaren Bedingungen als Person zu betrachten und zu behandeln. Das ist nicht auf Grund mysteriöser, übersinnlicher Personeigenschaften der Fall, sondern weil der Mensch im Kontext der personalen Sinnbedingungen der conditio humana gar nicht anders gedacht werden kann. Wenn wir medizinethische Probleme entscheiden müssen, geht es überhaupt nicht um die Frage, wer Person ist, aufgrund welcher Kriterien und welche Normen daraus abzuleiten sind. Es geht vielmehr darum, im Kontext personaler 105 Als naturalistischer Fehlschluss wird die Ableitung moralischer Normen oder deren Begründung aus Fakten bezeichnet. «Der diesem Fehlschluß zugrundeliegende methodische Fehler besteht in der Meinung, mit Hilfe rein deskriptiver Aussagen ließen sich ethische Grundbegriffe, Prinzipien oder Normen definieren, begründen oder anwenden.» (Rehbock 2005b: 235, Hervorh. im Original).
2. Ethik
Sinnbedingungen konkret zu beurteilen, was wir unseren Mitmenschen in ihrer spezifischen Lebenslage an Schutz und Anerkennung moralisch schulden. 2.3.5.2
Personorientierung in der Pflege
Personorientierung beinhaltet anthropologische und ethische Aspekte, die wechselseitig aufeinander bezogen sind und deshalb als Orientierung für die Pflege gemeinsam reflektiert werden müssen. Ein Hilfsmittel dieser Reflexion sind die im nächstfolgenden Abschnitt vorgestellten Prinzipien, die als ethisch-anthropologische Reflexionsbegriffe zu verstehen sind. In anthropologischer Hinsicht umfasst der personale Sinnhorizont Dimensionen wie Leiblichkeit, Interpersonalität und Lebensgeschichtlichkeit. Die ethischen Aspekte der Personorientierung sind die Selbstzweckhaftigkeit und damit die unverlierbare Würde des Menschen und die wechselseitige Anerkennung aller Menschen als personales Gegenüber. Diese Aspekte bilden den Kern der Moral überhaupt. Im Kontext der Darstellung des Personbegriffs werden hier abschließend einige Gesichtspunkte erläutert, die die konstitutive Bedeutung der Personorientierung für die Pflege verdeutlichen sollen. Sie sind aber nicht in dem Sinn zu verstehen, dass die Pflege die Personorientierung allein für sich in Anspruch nimmt. Personorientierung ist eine grundsätzliche moralische Forderung an alle im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen, die sie auf je verschiedene Weise und mit verschiedenen Schwerpunkten verwirklichen. Personorientierung ist eine zentrale normative Forderung an gute Pflege und wird im Alltag der Pflege oft nicht ausreichend verwirklicht. Bedeutend ist allerdings, wie auch Schwerdt betont, die grundsätzliche Orientierung und nicht nur das Ausmaß der Realisierung (Schwerdt 1998: 419). Pflegende sind durch die große zeitliche Intensität, die Intimität und die Kör pernähe der Pflegearbeit auch in Grenzsituationen etwa des Komas, der schweren Demenz, ja sogar des Hirntodes und des Todes unausweichlich mit den Eigenheiten und mit dem Lebenskontext des Patienten, das heißt: mit seinem Personsein, konfrontiert. Daher ist es für Pflegende besonders undenkbar anzunehmen, dass ein schwer kranker, sterbender oder hirntoter Mensch nicht mehr Person ist bzw. ein Frühgeborenes noch nicht Person ist. Ihre Hauptaufgabe besteht ja darin, auch das «beschädigte» Leben lebbar machen zu helfen. Deshalb gehen auch die momentan so beliebten Betonungen des «Gesunden» als Ziel der Pflege, die ja sogar zur Umbenennung der Berufsbezeichnung in «Gesundheits- und Krankenpfleger/in» geführt haben, am Kern der Pflege vorbei. Jeder Mensch, der Pflege braucht, hat eindringlich die Schwäche und Verletzlichkeit seines Körpers erfahren müssen. Die Erfahrung der Hilfsbedürftigkeit ist für viele eine Erschütterung ihres autonomen Selbstbildes und kann Scham,
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Verzweiflung, aber auch Aggression auslösen. Ein Unfall oder eine plötzliche bedrohliche Diagnose bricht mit Macht in die Normalität des Lebens ein, in dem sich plötzlich alles ändert. Pflegende begleiten die ihnen anvertrauten Menschen bei der Bewältigung solcher Widerfahrnisse. Der Umgang mit Gefühlen, der im Kontakt der Kranken mit Ärzten meist von beiden Seiten ausgeklammert wird, hat oft seinen Ort in der Pflegebeziehung. Die Pflegende nimmt die Kranken von vornherein mit den Bezügen der Interpersonalität und der Kulturalität wahr: Sie weiß, welche Angehörigen ihnen nahe stehen, erfährt auch oft von familiären oder sozialen Problemen und kann daraus bisweilen auch das Lebensgefühl der Patienten, mithin ihre Vorstellung von einem guten Leben, erahnen. Der «pflegerische Blick» bezieht in die Wahrnehmung neben aktuellen Beobachtungen auch die Abläufe, Fakten aus der Krankengeschichte, Erfahrungen und Gefühlsäußerungen des Patienten und die Reaktionen des Umfeldes mit ein.106 Auf aktuelle Probleme in der Pflege, wie etwa, dass eine Mobilisation schlecht geht oder ein Patient nicht essen will, wirken möglicherweise auch Faktoren ein wie eine knappe Information bei der Visite, die den Patienten verunsichert, Angst vor Untersuchungen, die Notwendigkeit, sich an dauerhafte körperliche Veränderungen zu gewöhnen, etwa nach einer Amputation oder der Anlage eines anus praeter.107 Durch ihre ständige Präsenz bei den täglichen Verrichtungen des Patienten und die Zuständigkeit rund um die Uhr ist für die Pflege der reduzierende Blick auf Fakten und Befunde, wie ihn die Medizin überwiegend hat, gar nicht möglich, hier geht es immer auch um das Befinden und die Realität des Patienten in seiner Situation und Lebensgeschichte und damit um die Person in ihrer Unverwechselbarkeit und mit ihren Eigenheiten. Durch eine oft intuitive, nicht bewusst reflektierte Fähigkeit zur Perspektivenübernahme können Pflegende eher erfassen, wie einzelne Patienten bestimmte 106 ������������������������������������������������������������������������������������ Remmers spricht von einer «Entschränkung des klinischen Blicks» dadurch, dass «pflegerisches Handeln stets über das typisierbare Krankheitsbild hinaus auf einen lebensweltlichen Hintergrund des Kranken verwiesen ist.» Remmers 2000a: 226. 107 Künstlicher Darmausgang, der nach manchen Eingriffen am Darm angelegt werden muss. Auch wenn in einigen Fällen eine operative Rückverlegung möglich ist, müssen die Patienten mindestens für einige Monate, oft aber auch dauerhaft, die Versorgung des Stomas und das Wechseln der Beutel übernehmen. Dies geht bei vielen mit starken Ekelgefühlen und Ängsten vor sozialer Ausgrenzung einher. Diese Aspekte werden bei der Entscheidung für ein invasives Vorgehen oft nicht ausreichend bedacht und in der Aufklärung nicht deutlich genug geklärt mit der Folge, dass manche Menschen (es betrifft nicht selten alte Menschen) sich an der erfolgreichen Operation nicht mehr freuen können, weil sie sich stigmatisiert fühlen und, wenn sie selbst nicht in der Lage sind, die Versorgung zu übernehmen, dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen sind. Nicht wenige würden ihr Einverständnis zur OP nicht geben, wenn sie sich die Lebenswirklichkeit mit anus praeter vorher hätten klar machen können (vgl. Remmers 2000a: 225 zum normativen Orientierungsdilemma zwischen den technischen Normen eines Therapieplanes und der Folgenkalkulation im Blick auf das Wertesystem des Patienten).
2. Ethik
Abläufe und institutionelle Zwänge erfahren und was die Krankheit, die Hilfsbedürftigkeit und eine eventuelle Behinderung für das Lebensgefühl und das Lebenskonzept des Patienten bedeuten. Die Pflege muss verstärkt Reflexionsund Argumentationsfähigkeit entwickeln, um diese intuitiven Wahrnehmungen in medizinethische Debatten einzubringen. Pflegende sind mit der Fragilität der menschlichen Identität konfrontiert, wenn sie Menschen pflegen, die vorübergehend oder dauerhaft verwirrt sind. Hier zeigt sich in besonderer Weise die Notwendigkeit, den anderen als personales Gegenüber zu respektieren, ihn nicht als einen Fall von «Verrücktheit» abzuschreiben und trotz der Verwirrtheit, so gut es geht, seine Bedürfnisse zu erfassen. Die Pflege von Menschen mit fortgeschrittener Demenz, die wenig reagieren, manchmal aber aggressive Ausbrüche haben, schwer zu «führen» sind und keine Aussicht auf Besserung mehr haben, ist eine der größten fachlichen und ethischen Herausforderungen für die Pflege. Alle Konzepte zum Umgang mit dementen Menschen setzen auf Personorientierung. Da werden Erinnerungen geweckt, es wird an gewohnte Tätigkeiten, Geräusche und Musik und damit an die Lebensgeschichtlichkeit der Betroffenen angeknüpft und so versucht, ihnen ein würdevolles Leben ohne unnötige institutionelle Begrenzungen zu ermöglichen. Der Erfolg liegt darin, dass die Patienten weniger aggressiv sind, weniger Medikamente brauchen und mehr Reaktionen zeigen, was für die Pflegenden entlastend ist und die Arbeitszufriedenheit erhöht. Besonders deutlich zeigt sich die konstitutive Personorientierung der Pflege beim Umgang mit Komapatienten. Es gehört zum pflegerischen state of the art, mit komatösen Menschen grundsätzlich so zu sprechen, als ob sie das Gesagte verstehen könnten, und so mit ihnen umzugehen, als wenn sie etwas spüren und empfinden könnten. Damit wird zum einen der Begrenztheit des medizinischen Wissens über diesen Zustand zwischen Leben und Tod Rechnung getragen, zum anderen äußert sich in diesem Verhalten der grundsätzliche Respekt vor einem Menschen, und sei er in seinen Fähigkeiten noch so eingeschränkt. Dieser Umgang ist also mehr als ein «so tun als ob», er drückt eine Grundhaltung aus. Würde man, wie z. B. Äußerungen von Singer nahe legen, Komapatienten tatsächlich als «vegetables», den Pflanzen ähnliche bloße Organismen sehen, dann wäre es völlig überflüssig, mit ihnen zu sprechen und sie behutsam zu berühren. Gleichzeitig zielen pflegerische Konzepte wie basale Stimulation und Kinästhetik auf andere als bloß verbale Kommunikationsebenen und versuchen auch auf diese Weise, mit der Wahrnehmungs- und Lebenswelt komatöser Menschen umzugehen. Auch die immer neue Begegnung mit der Endlichkeit ist für die Pflege unausweichlich. Für keine andere Berufsgruppe trifft die alte Weisheit so unmittelbar
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zu, dass wir mitten im Leben vom Tode umgeben sind. Pflegende können der Konfrontation mit dem Tod nicht ausweichen; sie ist Teil ihres Alltags und verbindet sich mit Routinetätigkeiten und mit der «normalen» Pflege ihrer anderen Patienten. Pflegende sehen die Anzeichen des nahenden Endes, sie sind manchmal die einzigen, die es ertragen, am Bett eines nach Luft ringenden Sterbenden auszuharren, wenn die Angehörigen gegangen sind und die Ärzte das Zimmer schon seit Tagen meiden. Die letzte Lebensphase ist die Domäne der Pflege. Dabei könnten palliative ärztliche Maßnahmen auch hier noch vieles erleichtern und verbessern. Die einseitig szientistische und «erfolgs»orientierte Ausrichtung der Medizin führt, ohne dass dies beabsichtigt ist und entgegen offiziellen Bekundungen,108 zu einer systematischen Vernachlässigung von Betreuung, Begleitung und Palliation durch die Medizin. Auf der anderen Seite sind auch Pflegende daran beteiligt, kranke Menschen zum Objekt zu machen, zum Teil in einer unbewussten Nachahmung des machtvollen und die Patienten oft ignorierenden Habitus der Mediziner. Solche Tendenzen zur Objektivierung des Kranken und damit zur Verletzung ihrer Würde werden im Kontext der Prinzipien im nächsten Abschnitt anhand von Beispielen erläutert. Eine wichtige Voraussetzung für eine tatsächliche Personorientierung der Pflege insgesamt ist die personale Kompetenz der Pflegenden selbst. Um authentisch und professionell, einfühlsam und mit der nötigen Distanz mit den Patienten umzugehen, müssen Pflegende eine ethisch reflektierte, professionelle Grundhaltung entwickeln, die mit Gefühlen wie Angst, Aggression, Ekel, Trauer und Hilflosigkeit bei sich selbst und bei anderen umgehen kann und dazu befähigt, wie Ruth Schwerdt sagt, im situativen Kontext nötigenfalls eine Demarkationslinie zu ziehen, ohne das Gegenüber zu belehren und zu verletzen (Schwerdt 1998: 422 f., vgl. auch Oelke 2000: 12). Humor und Selbstbewusstsein sind ebenso Elemente dieser Kompetenz wie die Offenheit für den Umgang mit existenziellen Fragen und Erfahrungen. Pflegende als Person zu stärken und ihre eigenen Kompetenzen zu entwickeln ist damit auch ein wichtiges Ziel der Ausbildung; dies wird im folgenden Didaktik-Kapitel ausführlicher dargestellt. Rehbock beschreibt Personalität als anthropologischen Reflexionsbegriff, in kritischer Abgrenzung gegen die Verwendung dieses Begriffes als Klassifikationsbegriff. Der Personalität als anthropologischem Reflexionsbegriff entspricht die Würde als ethischer Reflexionsbegriff, die als oberstes Prinzip der Moral 108 Vgl. Grundsätze der Bundesärztekammer zur Betreuung Sterbender (Anhang 1); dort heißt es in Abschnitt I «Ärztliche Pflichten bei Sterbenden»: «Der Arzt ist verpflichtet, Sterbenden, d. h. Kranken oder Verletzten mit irreversiblem Versagen einer oder mehrerer vitaler Funktionen, bei denen der Eintritt des Todes in kurzer Zeit zu erwarten ist, so zu helfen, dass sie unter menschenwürdigen Bedingungen sterben können.»
2. Ethik
im Zentrum der folgenden Beschreibung ethischer Prinzipien steht. So können anthropologische und ethische Reflexion als Rahmen einer Pflegeethik verbunden und im Hinblick auf ihre jeweilige Bedeutung für die Pflegepraxis zumindest ansatzweise konkretisiert werden. 2.3.6 Prinzipien als Reflexionsbegriffe
In der medizinischen und pflegerischen Ethik ist die Rede von Prinzipien sehr verbreitet. Dabei werden sehr unterschiedliche moralische Orientierungen als Prinzipien benannt. Wie die hier vorgestellten sechs ethischen Prinzipien einzuordnen sind, wird unter Rekurs auf verschiedene prinzipienorientierte Ansätze der Ethik erläutert. 2.3.6.1 Zum Verständnis von Prinzipien in der Ethik
Grundsätzlich sind zwei Arten von Prinzipien zu unterscheiden: zum einen ein oberstes Moralprinzip, das das gesamte Ethikkonzept bestimmt. Dabei handelt es sich um ein formales Prinzip wie etwa den Kategorischen Imperativ von Kant, die Goldene Regel,109 das Diskursprinzip der Diskursethik, das Prinzip der Glücksmaximierung beim Utilitarismus oder das Prinzip der Achtung der Autonomie (als Basis der Handlungsfähigkeit) bei Alan Gewirth. Die klassischen Prinzipien der Medizinethik von Beauchamp und Childress (1994): respect for autonomy, nonmaleficence, beneficence, justice, (meist mit Autonomie, Nicht Schaden, Wohltätigkeit oder Fürsorge und Gerechtigkeit übersetzt), werden auch als «Prinzipien mittlerer Reichweite» bezeichnet, wenn sie im Unterschied zu einem obersten Moralprinzip keinen Universalitätsanspruch erheben (zur Prinzipienethik vgl. 2.3.3.2). Prinzipien mittlerer Reichweite sind in der Ethik im Gesundheitswesen sehr verbreitet; auch viele Autoren der Ethik in der Pflege arbeiten damit. Hier findet sich eine bunte Mischung an Begriffen, die begrifflich zum Teil auf verschiedenen Ebenen liegen und in verschiedenen Kombinationen präsentiert werden. Sara Fry nennt folgende Grundsätze: Wohltätigkeit, Gerechtigkeit, Autonomie, Aufrichtigkeit, Loyalität (Fry 1994: 26 ff.). Arndt spricht von fünf Prinzipien der Verantwortung: Achtung vor dem Wert des Lebens, das Gute und Richtige, Gerechtigkeit und Fairness, Wahrheit und Ehrlichkeit, individuelle Freiheit und Selbstbestimmung (Arndt 1996: 67 ff.) Reinhard Lay schließlich, der einen verglei109 Die bekannteste Form der Goldenen Regel ist: «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu». Sie geht zurück auf die Bergpredigt: «Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten» (Matth. 7, 12).
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chenden Überblick über Prinzipien in der Pflegeethik erstellt hat, schlägt selbst folgende Liste von Prinzipien vor: Förderung von Wohlergehen/Wohlbefinden, Förderung von Autonomie/Selbständigkeit, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, dialogische Verständigung (Lay 2004: 102). Kants Unterscheidung von drei Ebenen der Moral ermöglicht eine Klärung dieser begrifflichen Undeutlichkeit: Er unterscheidet die Prinzipienebene von der Ebene der Maximen und der Ebene des Handelns. Die Prinzipienebene umfasst bei Kant das Moralgesetz in der Form des Kategorischen Imperativs. Dieser ist formal, allgemein gültig und kann in verschiedene Gesichtspunkte ausdifferenziert werden, die hier als Prinzipien bezeichnet werden, weil sie selbst formal und universal sind. Maximen dagegen sind subjektive Bestimmungsgründe des Handelns, Grundhaltungen, die von Normen, Tugenden und Pflichten näher bestimmt werden.110 Hier gibt es allerdings im Sprachgebrauch fließende Übergänge. Tugenden (wie etwa Mitleid oder Fürsorge) können sehr abstrakt und formal sein, dann liegen sie auf der Prinzipienebene, oder sie sind auf konkrete Situationen bezogen, dann sind sie ihrerseits moralisch beurteilungsbedürftig und liegen auf der Ebene persönlicher Grundsätze oder Maximen. Die Orientierung an Prinzipien ist ein Hilfsmittel der ethischen Reflexion; deshalb sind Vorschläge zur Auswahl geeigneter Prinzipien nicht absolut zu setzen, enthalten sie doch immer auch ein Vorverständnis über das Handlungsfeld, zu dessen Reflexion die Prinzipien herangezogen werden sollen. Prinzipien haben für die praktische Ethik auch heuristische und didaktische Funktionen, heuristische als Bezugspunkt, um die Richtigkeit von Aussagen zu beurteilen und didaktische, um ethische Reflexion zu strukturieren. Als Reflexionsbegriffe dienen die Prinzipien der Rückbesinnung auf den anthropologischen und moralischen Sinnhorizont unserer Existenz. Kant verwendete den Ausdruck «Reflexionsbegriffe» für solche Begriffe, die sich nicht direkt auf Gegenstände der Erfahrung beziehen, sondern auf die Bedingungen möglicher Erfahrung.����������������������������������������������������� «Grundbegriffe wie Menschenwürde, Autonomie, Gerechtigkeit oder der Kategorische Imperativ beruhen auf nachträglichen Abstraktionen gegenüber der moralischen Praxis», schreibt Rehbock (Rehbock 2005b: 110 Kant bezeichnet diese Ebene nicht direkt als Prinzipienebene, er spricht vom Moralgesetz oder vom praktischen Gesetz. Prinzipien bezeichnet er als «Vorstellung des Gesetzes» (GMS, BA 36). Am Anfang der «Kritik der praktischen Vernunft» heißt es: «Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Sätze unter sich hat. Sie sind subjektiv oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird; objektiv aber, oder praktische Gesetze, wenn jene als objektiv, d.i. für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens gültig erkannt wird» (KpV, A 35; Hervorhebungen im Original) (vgl. dazu Höffe 2004: 186 f.).
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114). Sie haben keine eigene Realität, sondern helfen, die moralische Praxis zu reflektieren. Gemeinsam bilden diese ethischen Grundbegriffe verschiedene Aspekte des Moralprinzips. Die Bezeichnung «Prinzipien mittlerer Reichweite» ist also für dieses Verständnis der Prinzipien nicht zutreffend, weil sie in ihrer Geltung nicht begrenzt, sondern universal gültig sind. 2.3.6.2 Ethische Prinzipien für die Ethik in der Pflege
Die von mir formulierten sechs Prinzipien sind mit Blick auf die Pflegepraxis als kritische Grundorientierung ausgewählt. Ihre Wichtigkeit auch für andere Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen liegt aber auf der Hand. Die Auswahl wurde durch die Frage bestimmt, was im Gesundheitswesen und besonders in der Pflege, moralisch auf dem Spiel steht, was besonders verletzlich oder für die Bewahrung einer moralisch guten Praxis besonders wichtig ist. Alle genannten Prinzipien sind auch in dem Sinn formal, dass sie Ausgangspunkt für je eigene ethische Theorien sind (Abb. 1). Die Würde des Menschen steht als übergeordnetes Prinzip im Mittelpunkt, mit der Vorstellung, dass sie die oberste Orientierung für die Ethik (nicht nur) im Gesundheitswesen ist und alle möglichen anderen Prinzipien schon enthält. Dies entspricht dem im Kategorischen Imperativ enthaltenen Verständnis des Menschen als «Zweck an sich».
Autonomie
Fürsorge
Dialog
Würde
Verantwortung
Abbildung 1: «Ethische Prinzipien»
Gerechtigkeit
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Die Würde ist das unbestimmteste und formalste der Prinzipien – die anderen fünf Prinzipen sind auf sie bezogen und stellen Ausdifferenzierungen dar, die in ihrer Gesamtheit verschiedene Aspekte der Würde enthalten. Die Prinzipien ergänzen und korrigieren einander. Die Überbetonung eines Prinzips, etwa der Autonomie, führt zur Verletzung anderer Prinzipien, etwa der Fürsorge oder der Gerechtigkeit. Die Autonomie wird zwar in der Medizinethik zunehmend wichtig; die Pflege aber hat ihre Bedeutung erst ansatzweise akzeptiert, weil maternalistische Berufstraditionen (neben der Fremdbestimmung des Pflegeberufes selbst) sehr wirkungsmächtig sind. Die Fürsorge hingegen muss gegen ihre Kritiker verteidigt werden, die sie als überholt ansehen: Sie ist spezifisch für das Selbstverständnis und das Tätigkeitsfeld der Pflege und soll hier als emanzipierendes und nicht entmündigendes Prinzip vorgestellt werden, das eng mit der Autonomie und mit Selbstsorge verbunden ist. Gerechtigkeit ist in verschiedener Hinsicht von Bedeutung: auf der Ebene der Pflegebeziehung als Diskriminierungsverbot, auf der institutionellen, rechtlichen und gesellschaftspolitischen Ebene aber auch als Grundsatz der gerechten Verteilung von Ressourcen. Verantwortung setzt Autonomie voraus. Da es um die berufliche Autonomie der Pflege noch nicht gut bestellt ist, bestehen auch Unsicherheiten über das Ausmaß ihrer Verantwortung. Vor dem Hintergrund der Geschichte, aber auch im Kontext der aktuellen Professionalisierungsbestrebungen kommt der moralischen Verantwortung in der Pflegeethik eine große Bedeutung zu. Der Dialog schließlich ist im Gesundheitswesen noch so schlecht entwickelt, dass der Mangel an dialogischer Grundhaltung, etwa die Sprachlosigkeit zwischen den Berufsgruppen, aber auch innerhalb der Berufsgruppe der Pflege viele moralische Probleme (mit) verursacht. Die Prinzipien sind zunächst einmal formale Grundsätze, die aber in ihrer Bedeutung für das Gesundheitswesen und die Pflege inhaltlich zu konkretisieren sind. Aus den Prinzipien ergeben sich allgemeine Handlungsgrundsätze für die Pflege, allerdings nicht durch Deduktion, sondern durch Reflexion. Die «vermeintliche Ableitbarkeit inhaltlich konkreter Handlungsnormen aus formalen moralischen Grundsätzen», ohne Reflexion spezifischer Situationsbedingungen, bezeichnet Rehbock als «normativistischen Fehlschluss» (sie folgt darin Otfried Höffe; Rehbock 2005b: 259). Die konkrete Bedeutung der Prinzipien für Situationen, Fragen und Herausforderungen der Praxis kann immer nur durch Analyse von Situationen und die Abwägung der Ziele, Aufgaben und Werte der Beteiligten, also durch Urteilskraft erfasst werden. Die Prinzipien sind nicht in dem Sinne «anwendbar», dass sich das richtige Handeln bzw. richtige Handlungsnormen bei der Betrachtung der
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Prinzipien von selbst ergeben. Der von Kant geprägte Begriff der Urteilskraft (Kant spricht von praktischer Urteilskraft; vgl. dazu unter 3.4.2) bezeichnet die Fähigkeit, allgemeine Grundsätze auf konkrete Situationen anzuwenden. Dazu gehört auch die Einschätzung, welche konkrete Fragestellung unter welches Prinzip fällt. Im Folgenden stelle ich die von mir ausgewählten Prinzipien mit Erläuterungen zu ihren formalen und materialen Anteilen sowie mit ihrer Bedeutung für die Pflege dar. Eine erschöpfende Behandlung dieser ethischen Grundbegriffe ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten, weshalb diese Skizze zwangsläufig exemplarischen Charakter hat. Würde. Die Würde ist ein Grundbegriff der Ethik im abendländischen Denken. Ihren Ursprung hatte sie zunächst in der christlichen Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen; seit der Aufklärung wurde sie überwiegend mit der Vernunftfähigkeit des Menschen begründet. Gleichzeitig ist die Würde auch Grundlage der Rechtsordnung und konkretisiert sich in den Menschenrechten, die ihrerseits nicht hierarchisch geordnet sind. Einzelne Grundrechte können zwar eingeschränkt werden, die Menschenwürdenorm selbst jedoch nicht. Micha Werner widerspricht der These, die Würde sei bloß eine Sammelbezeichnung der Grundrechte, die selbst keine moralische Substanz hat (Werner 2000: 261 f.). Sie dient als Entscheidungsmaßstab bei Kollisionen zwischen den Grundrechten und ist der Grund für ihre Geltung. Hier zeigt sich die enge Verbindung zum Konzept der Autonomie. Deren Voraussetzungen (Freiheit, Leben, Gesundheit) sollen durch die Menschenrechte geschützt werden. Bei Kant findet die Idee der Würde ihren Niederschlag in der sog. «Selbstzweckformel» des Kategorischen Imperativs: «Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest» (Kant, GMS, BA 66,67). Würde kommt dem Menschen als Person, als «Zweck an sich», zu, und unterscheidet damit den Menschen von bloßen Sachen, denen nur ein relativer Wert zukommt. Die gegenseitige Zuschreibung von Würde ist die zentrale anthropologische Präsupposition (vgl. unter 2.3.3.1) und impliziert das Grundverhältnis wechselseitiger Anerkennung. Versucht man, den Gehalt des Würdebegriffs positiv zu beschreiben, etwa durch Benennung von Eigenschaften wie Bewusstsein, Kommunikationsfähigkeit u.ä. (ähnlich wie bei dem untrennbar mit der Würde verbundenen Personbegriff), dann wird, so Rehbock, sein spezifischer moralischer Gehalt unverständlich, «da gerade die Menschen, die nur eingeschränkt oder gar nicht über diese Eigenschaften verfügen, diejenigen sind, deren Würde am verletzbarsten ist» (Rehbock 2005b: 299; vgl. auch Rentsch 2000: 117 und Remmers 2000a: 317). Deshalb ist im Zusammenhang mit Würde auch oft
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von ihrer Unantastbarkeit oder ihrer Verletzbarkeit die Rede – beides negative Bestimmungen. «Nicht auf positive Eigenschaften oder Qualitäten gründet sich die Menschenwürde, sondern auf die praktisch-immanente Einsicht in die Nicht-Objektivierbarkeit des Menschen als Person» (Rehbock 2005b: 299; Hervorh. im Original). Diese Nicht-Objektivierbarkeit ist die Voraussetzung der wechselseitigen Anerkennung, die natürlich faktisch oft nicht gegeben ist. Die wechselseitige Anerkennung der Menschen als moralisches Gegenüber, als Person, und damit die Anerkennung der Unantastbarkeit der Würde, ist allerdings als Teil der menschlichen Grundsituation eine «anthropologische Präsupposition», die auch kontrafaktisch anzunehmen ist, und bildet damit den Hintergrund für die Wahrnehmung und Beschreibung der Verletzung dieser wechselseitigen Anerkennung als Missachtung der Würde (vgl. Rehbock 2005b: 303). Zur negativen Bestimmung der Würde gehört auch, dass nicht in erster Linie die großen Leistungen der Menschen als Grund ihrer Würde gesehen werden, sondern gerade ihr Umgang mit der Endlichkeit, dem Elend, dem Unvollkommenen und der Schuld und die Anerkennung dieser «negativen» Faktoren als Teil der menschlichen Grundsituation. Die Würde ist ein universales Prinzip, daher wird der Begriff immer wieder wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit kritisiert. Tatsächlich kann man mit der Würde z. B. im Kontext medizinethischer Diskussionen, etwa im Fall eines schwer und unheilbar Kranken gegensätzliche Maßnahmen begründen: sowohl den Abbruch der Therapie als auch ihre Weiterführung (Werner 2000: 268). Das Problem zeigt die Notwendigkeit einer inhaltlichen Deutung von Prinzipien, bei der versucht werden soll, die Perspektive des Betroffenen einzunehmen (und ihn damit in seiner Autonomie zu achten) und als Helfer eigene Werturteile klar davon zu unterscheiden. Es helfen also die anderen genannten Prinzipien zu einer näheren Bestimmung dessen, was Würde in einem bestimmten Fall bedeutet. Viele Menschen empfinden Krankheit und Behinderung durch die damit verbundene körperliche Hinfälligkeit und Abhängigkeit als grundsätzliche Einschränkung und Bedrohung ihrer Würde, weil der Verlust der Autonomie hier so deutlich wird: Die körperliche Schwäche oder Behinderung macht abhängig von Helfern, die vieles anders machen als man selbst; viele Kranke fühlen sich außerdem dem übermächtigen Expertenwissen und den institutionellen Routinen ausgeliefert und «zur Nummer gemacht». Zur «Nummer» wird der Patient auch bei allen Formen der verrichtungsorientierten Organisation der Pflegearbeit wie etwa der Funktionspflege.111 111 Die Funktionspflege gilt heute als überholt und wird zunehmend durch Gruppenpflege und Bezugspflege ersetzt. Dabei werden einzelne Patienten oder Patientengruppen (meist mehrere Zimmer) über mehrere Tage von denselben Pflegekräften betreut.
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Funktionen und Verrichtungen, wie etwa Waschen, Baden, Mobilisieren, Verbände machen, bilden das Organisationsprinzip, nach dem die Zeit, aber auch die Pflegepersonen eingeteilt werden. Dadurch begegnet der einzelne Patient im Laufe eines Tages einer Vielzahl von Pflegenden, die oft nur für eine Verrichtung kommen, die sie bei allen Patienten der ganzen Station durchführen. Ein hoffentlich mittlerweile weitgehend verschwundener Klassiker dafür war die «Vitalzeichenrunde», zu der meist die Auszubildenden in der besten Zeit der Mittagsruhe (dann sind alle Patienten im Zimmer) herumgeschickt wurden, um von allen Puls, Blutdruck und Temperatur zu erheben, die aber bei den meisten Krankheitsbildern keinen dramatischen Schwankungen unterliegen und deren feierlicher Eintrag in die Patientenkurve eher ein Ritual als eine sinnvolle Tätigkeit für die Pflege repräsentiert. Auch durch Sprache werden Menschen «zur Nummer gemacht»; etwa durch die verbreitete Bezeichnung «Patient» für konkrete Personen in der Sprache der Professionellen. Heißt es etwa in der Übergabe «Patient fühlt sich wohl», oder: «Patient war mit seinen Angehörigen Kaffee trinken», dann ist dies eine distanzierende Redeweise, die mit dem Namen auch die Person des Patienten außen vor lässt. Die Steigerungsform dieser Ignoranz ist die durchgängige Abkürzung «Pat.» in schriftlichen Berichten. Micha Werner nennt als Beispiele für die Bedeutung der Würde für die medizinische Praxis den Heilauftrag, die Aufklärung und die Schweigepflicht (Werner 2000: 264). Für die Pflege sind zu ergänzen das Überschreiten von Körper- und Schamgrenzen, die Abhängigkeit von Unterstützung bei sehr persönlichen Lebensaktivitäten wie Körperpflege, Ernährung und Ausscheidung, aber auch von Verständnis, Zuwendung und Begleitung. Es sind also auf der Anwendungsebene der Prinzipien verschiedene Schwerpunktsetzungen für Medizin und Pflege zu erkennen: Für die Medizin liegen die Herausforderungen für die Wahrung der Würde eher im Bereich der Respektierung von Autonomie, für die Pflege eher im Bereich der Fürsorge. Da Autonomie und Fürsorge aber, wie im Folgenden erläutert wird, einander korrigierende und ergänzende Prinzipien sind, ist entsprechend zu fordern, dass die Ärzte die Fürsorge und die Pflegenden die Autonomie als jeweils ergänzendes Prinzip besonders beachten sollten. Autonomie. Die Verwendung des Begriffs spiegelt oft das Missverständnis wider, es gehe bei der Autonomie um größtmögliche Selbstverwirklichung, weil das Ideal des unabhängigen und ungebundenen Menschen dem Zeitgeist entspricht. Die ursprüngliche Wortbedeutung ist dagegen «Selbstgesetzlichkeit» (griech. Autos = Selbst und nomos = Gesetz) und bezog sich auf die griechische Polis. Sie wurde von Kant aufgenommen, der die Autonomie als Ausdruck menschlicher
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Freiheit zum zentralen Element der Ethik machte. Autonomie ist «die Eigenschaft des Willens, sich selbst Gesetz zu sein» (Kant GMS BA 98). Dieser «gute Wille» wird von Kant als Grundlage des Guten überhaupt gesehen.112 Im Kantischen Sinn bedeuten Freiheit und Autonomie also nicht uneingeschränkte Selbstbestimmung, sondern die Bindung des Subjekts an selbst gesetzte moralische Normen, also Selbstbeschränkung, und damit die Voraussetzung von Moralität überhaupt. Wenn Autonomie als rein individuelle Selbstverwirklichung gesehen wird, dann bleibt die anthropologische Grundtatsache ausgeklammert, dass jeder Mensch grundsätzlich auf Gemeinschaft verwiesen ist. Ohne die Fürsorge seiner Mitmenschen und auch die des Staates (Infrastruktur) kann niemand Autonomie entwickeln. Rehbock beschreibt es so: Autonomie bedeutet, dass wir unser je eigenes Leben auf durch andere unvertretbare und selbstverantwortliche Weise selbst führen können und müssen, indem wir uns zu uns selbst, zum Anderen und zur Welt verhalten und unser Leben sinnvoll gestalten. Entgegen einem verbreiteten individualistischen Verständnis bedeutet Autonomie jedoch nicht, dass wir dies alleine tun könnten (Rehbock 2005b: 299).
Beziehungen zu anderen sind also nicht lediglich Beziehungen zwischen völlig autarken Subjekten, sondern beinhalten auf Grund der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen voneinander notwendigerweise die wechselseitige Anerkennung und die daraus resultierende moralische Forderung wechselseitiger Achtung. Grundsätzlich ist die Autonomie für die Ethik im Gesundheitswesen deshalb ein wichtiges Prinzip, weil sie in den Institutionen und Abläufen der modernen Medizin und Pflege besonders bedroht ist. Dies liegt neben der Eigendynamik von Institutionen vor allem an der paternalistischen Tradition weiter Bereiche des Gesundheitswesens, der Grundhaltung, besser als der Patient selbst zu wissen, was für diesen gut ist. Dieser Anspruch der Medizin auf die Definitionsmacht von Wohl und Gesundheit gründet sich auf ihre Expertise, die jedoch durch die Sicht und die persönlichen Wünsche des einzelnen Patienten ergänzt werden müsste, wenn sie wirklich zu seinem Wohl sein soll. Der Paternalismus wird in der medizinethischen Diskussion überwiegend als Sorge für das Wohl des Patienten beschrieben, der aus verschiedenen Gründen für nicht kompetent gehalten wird, sein eigenes Wohl «richtig» zu erkennen; diese Sichtweise blendet allerdings einen wichtigen Aspekt aus: den der Macht. Die Medizin tritt mit dem machtvollen Habitus des allgemein anerkannten Experten auf, schon deshalb wagen es viele Patienten nicht, den ärztlichen Therapievorschlägen zu widersprechen: Zeigen sie Zweifel, wird das von nicht wenigen Ärzten als Beleidigung und Infragestellung ihrer Kompetenz gedeutet 112 «Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille» (GMS, BA1; Hervorh. im Original).
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und entsprechend sanktioniert. Zweifel an der Behandlung oder Ablehnung der Behandlung führen oft genug zum Abbruch des Kontaktes oder zu Einschüchterungen113 und Drohungen wie der, dass der Patient die Klinik verlassen müsse, wenn er den Therapievorschlägen nicht folgen will. Die unter Ärzten verbreitete Rede von der «Führung» der Patienten macht deutlich, dass es hier um einen Machtanspruch geht. Inzwischen wird in der Medizinethik die (oft paternalistische) Orientierung am Wohl des Patienten immer mehr von der Orientierung an seinem Willen abgelöst. Allerdings ist dies mit einem verengten Verständnis verbunden: Respekt vor der Autonomie wird gleichgesetzt mit guter Aufklärung und der informierten Zustimmung des Patienten zur Diagnostik und Therapie. Die Auseinandersetzung der Medizin mit der Autonomie ist sehr von ihrer Verrechtlichung geprägt, oft geht es beispielsweise bei der Gestaltung der Aufklärung mehr um die Absicherung von Ärzten vor juristischen Ansprüchen als um einen echten informed consent, der den Patienten als Person einbeziehen und ernst nehmen müsste. Ein Beispiel dafür sind die immer länger und komplizierter werdenden schriftlichen Patienteninformationen und Einverständniserklärungen, die schon durchschnittlich gebildete Laien überfordern, von sozial benachteiligten Menschen ganz zu schweigen.114 So kommt es zu einer Formalisierung der Autonomie, die ihren ursprünglichen Sinn verfälscht. Die Pflege hat bisher, wie Monika Bobbert überzeugend an Beispielen zeigt, noch ein ungeklärtes Verhältnis zur Respektierung der Autonomie in ihrem eigenen Handlungsbereich, dem möglicherweise auch ein ungeklärtes Verständnis des Autonomiebegriffs zugrunde liegt. Bobbert differenziert das Recht des Patienten auf Achtung der Autonomie in fünf Elemente: 113 Im Zusammenhang um die Diskussionen um den Abbruch der Ernährung wird häufig berichtet, dass Angehörigen, die entgegen dem Vorschlag der Ärzte keine PEG-Sonde für ihre Familienmitglieder wünschen, von Ärzten vorgeworfen wird, sie wollten ihre Angehörigen verhungern lassen. Dies ist eine Polemik, die fachlich nicht begründbar ist und der in der Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (s. Anhang 1) formulierten Beratungspflicht entgegensteht. Dort steht : «Bei einwilligungsfähigen Patienten hat der Arzt die durch den angemessen aufgeklärten Patienten aktuell geäußerte Ablehnung einer Behandlung zu beachten, selbst wenn sich dieser Wille nicht mit den aus ärztlicher Sicht gebotenen Diagnose- und Therapiemaßnahmen deckt. […] Der Arzt soll Kranken, die eine notwendige Behandlung ablehnen, helfen, die Entscheidung zu überdenken.» Damit wird dialogisches Verhalten gefordert. 114 Bei klinischen Studien, bei denen die Information der potentiellen Teilnehmer/innen besondere ethische und juristische Bedeutung hat, werden diesen oft 20-seitige Informationen vorgelegt mit der Bitte, diese genau zu lesen. Sie unterschreiben dann, dass sie keine Fragen mehr haben. Ihrem Anspruch auf eine autonome Entscheidung würden ausführliche persönliche Beratungen viel eher gerecht, zu denen allerdings überwiegend die Zeit fehlt. Die überlangen «Informationen» dienen offenkundig vor allem der rechtlichen Absicherung der Auftraggeber der Studie (die Autorin hat als Mitglied einer Ethikkommission zahlreiche derartige Patienteninformationen kritisch begutachtet).
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• das Recht auf Zustimmung oder Ablehnung auch von Handlungen, die in
der Absicht zu helfen geschehen (sie spricht damit besonders die körpernahe Unterstützung durch die Pflege an, bei der meist von einer stillschweigenden Einwilligung ausgegangen wird);
• das Recht auf eine individuelle und situationsbezogene Information; • das Recht, selbst festzulegen, was als das eigene Wohl angesehen wird (auch gegen die fachlichen Überzeugungen der Helfer);
• das Recht auf Wahl zwischen verschiedenen möglichen Alternativen; • das Recht auf eine möglichst geringe Einschränkung des eigenen Handlungsspielraums durch die Institution (Bobbert 2002: 134–144).
Auch bei der Pflege geht es um Macht, wenn die Autonomie der Patienten ignoriert wird, aber mit einem etwas anderen Akzent: Durch die ständige Erfahrung der Geringschätzung des körpernahen und intimen Handlungsfeldes der Pflege wird auf die Infragestellung der Kompetenz, die auch hier mit der Ablehnung von Maßnahmen durch Patienten schnell verbunden wird, nicht mit einem Machtgestus, sondern eher mit moralischem Druck und Ausgrenzung reagiert. Ingrid Darmann beschreibt die Probleme von Pflegenden mit sog. «unkooperativen» Patienten: Ähnlich wie Ärzte reagierten Pflegende gekränkt, wenn Patienten ihren Rat nicht befolgen wollen und brechen die Auseinandersetzung ab (Darmann 2000: 220 f.). Das größte Problem mit Autonomie scheinen Pflegende aber nicht mit der Ablehnung oder Infragestellung von Maßnahmen zu haben, sondern mit selbstbewussten, fordernden Patienten, von denen sie sich wie Dienstboten behandelt fühlen. Dem entspricht die verbreitete Ablehnung von «1. Klasse-Patienten» durch Pflegende. Autonomie und Fürsorge werden oft als Alternativen oder gar als Entgegensetzung gesehen: Ist der Mensch klar, wach und kann seine Wünsche äußern, so regiert das Autonomieprinzip, ist er dement, verwirrt, komatös oder von anderem schweren Leiden geplagt, dann tritt das Fürsorgeprinzip an seine Stelle. Dem widerspricht Rehbock, auch wenn sie nicht in Abrede stellt, dass es echte Dilemmata geben kann, in denen Fürsorge und Autonomie tatsächlich miteinander konfligieren: «Wem wirklich am Wohl des Anderen liegt, darf dessen Willen nicht missachten. Wer wirklich die Autonomie des anderen achten will, dem kann auch dessen Wohl nicht gleichgültig sein» (Rehbock 2005b: 335; Hervorh. im Original). Wo aber zeigt sich die zu respektierende Autonomie eines dementen oder komatösen Menschen? Zum einen gibt es möglicherweise einen erklärten Willen in Form einer Patientenverfügung, deren Respektierung hierzulande noch keineswegs selbstverständlich ist. Erste Gerichtsurteile zu diesem Thema bestätigen, dass der erklärte Wille auch des bewusstlosen Patienten zu respektieren ist.
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Zum anderen ist im Tätigkeitsfeld der Pflege, das durch den täglichen Umgang mit vielen körpernahen Verrichtungen geprägt ist, besondere Sensibilität gerade auch für nichtverbale Signale gefordert. Gerade demente Patienten wehren sich manchmal gegen Pflegemaßnahmen und zeigen sich «unkooperativ», sie essen und trinken nicht oder spucken Essen und Trinken aus. Zwangsmaßnahmen sind nicht nur unmoralisch, sondern auch kontraproduktiv; die Konzepte für die Pflege Demenzkranker setzen durchweg auf behutsame Steuerung bei gleichzeitiger Wachheit für die Bedürfnisse und die Empfindungen des Patienten. Abwehrbewegungen und entsprechende Mimik bei bewusstseinseingeschränkten Menschen sollten keinesfalls als bloße Reflexe gedeutet werden, sondern es muss, gerade wenn solche Reaktionen wiederholt bei bestimmten Pflegehandlungen auftreten, auch die Möglichkeit mitbedacht werden, dass sie Ausdruck von Unbehagen und damit eines Willens sind. Eine solche Betrachtung nimmt den bewusstlosen Menschen als Person ernst und reduziert ihn nicht auf seine medizinischen Defizite: Sie wahrt seine Würde. Dass Würde und Autonomie durch den Verlust bestimmter Fähigkeiten nicht verschwinden, zeigt unser Umgang mit Verstorbenen. Die Totenruhe ist als Ausdruck der den Tod überdauernden Würde gesetzlich geschützt. Unabhängig von religiösen Orientierungen ist es üblich, Verstorbene würdevoll zu behandeln, ihren Willen zu respektieren, nicht schlecht über sie zu sprechen und ihrer zu gedenken. Die Personalität der Verstorbenen überdauert den Tod unabhängig davon, ob man an eine unsterbliche Seele glaubt oder nicht. Die Würde und wechselseitige Achtung ist eine anthropologische Präsupposition – ohne sie wäre die übliche Praxis des Umgangs mit Verstorbenen unverständlich. Insgesamt muss sich in der Pflege die Einsicht durchsetzen, dass auch pflegerische Fachkompetenz nicht über den Willen des Patienten zu stellen ist. Viele Pflegende sehen den pflegerischen state of the art als ein unbedingtes Muss an und nicht als Vorgaben, die der individuellen Situation anzupassen und nötigenfalls auch wegzulassen sind. Dies gilt besonders für das Ideal der aktivierenden Pflege. Es wird von Pflegenden nicht selten moralisch missbilligt, wenn Patienten sich nicht mobilisieren oder aktivieren lassen wollen, doch kann auch der Verzicht auf Autonomie Ausdruck von Autonomie sein.115 Gleichzeitig zeigt die Gleichsetzung von Autonomie mit Selbständigkeit und Unabhängigkeit ein verengtes Verständnis des Begriffs. In diesem Zusammenhang sind einige kritische Anmerkungen zu der sehr bekannten und allgemein gut akzeptierten Pflegetheorie von Dorothea Orem angebracht, die auf die Förderung der Selbstpflegefähigkeit der Patienten setzt, dabei aber die Patientenautonomie systematisch vernachlässigt. Orems Theorie 115 Vgl. auch Rehbock 2005b: 124. Auch Remmers weist grundsätzlich darauf hin, dass den Patienten Autonomie nicht aufgezwungen werden darf (Remmers 2000: 254).
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der Selbstpflege, des Selbstpflegedefizits und des pflegerischen Handlungssystems, geht nicht wie andere Pflegemodelle von Bedürfnissen, sondern von quasi objektiven, auf wissenschaftlichen Konsensen beruhenden Selbstpflege-Erfordernissen aus, denen sich ein vernünftiger, normal entwickelter Mensch eigentlich nicht entziehen dürfte. So entsteht der Eindruck, dass die Patientenautonomie dem Fachwissen der Pflegenden unterzuordnen ist. Damit beansprucht die Pflege die Definitionsmacht darüber, was normal ist und welche Selbstpflegedefizite bestehen. Orem geht davon aus, dass das Selbstpflegeerfordernis nicht vom Patienten selbst zu definieren ist. So schreibt sie: Wenn beispielsweise die Lebensstrukturen des Patienten das gewohnheitsmäßige Rauchen beinhalten, ist das Selbstpflegeerfordernis, die Lungen und den Körper frei von Teer und anderen gefährdenden Stoffen zu halten, ein aktuelles Erfordernis, und das Mittel zur Erfüllung ist, das Rauchen zu beenden … (Orem 1997: 222; Hervorh. im Original).
Auch Remmers kritisiert, «dass die von Orem akzentuierten Rollen ausschließlich aus der Handlungsperspektive der Profession zugewiesen werden» (Remmers 2000a: 143). Vom Willen des Patienten als begrenzendem Faktor für pflegerische Interventionen ist in Orems Ausführungen nicht die Rede. Manfred HülskenGiesler spricht sogar von einer «systematischen Ausblendung der Perspektive des Anderen» (Hülsken-Giesler 2002: 240). Die Autonomie der Patienten zu respektieren bedeutet also für die Pflege, Selbständigkeit und die Fähigkeit zu Selbstsorge bei den Patient/innen fördern, ohne sie aufzuzwingen und ohne eigene Wertungen und Einschätzungen anders als beratend einzubringen. Patientenorientierung heißt: dem Patienten helfen, den für ihn besten Weg zu finden. Um mit «eigenwilligen» Patienten humorvoll und wertschätzend umzugehen und kreativ nach Lösungen suchen zu können, die die Patienten auch nach der Entlassung als Hilfe ansehen und weiterführen, bedarf es persönlicher Fähigkeiten der Pflegenden, deren Grundlage die eigene Selbstsorge ist. Fürsorge. Obwohl die Fürsorge in Verruf gekommen ist, weil sie mit Paternalismus und Entmündigung und – besonders in der Pflege – mit Selbstaufopferung gleichgesetzt wird, ist sie aufgrund der leiblichen Nähe der Pflege und der zeitlichen Intensität der pflegerischen Betreuung eine besonders unverzichtbare ethische Orientierung der Pflege. Wenngleich sie auch als Tugend und Grundhaltung gesehen werden kann, fungiert sie doch auch als ethisches Prinzip. Der formale, prinzipielle Aspekt der Fürsorge liegt darin, dass sie eine Antwort des Menschen auf die anthropologische Grundsituation der Verletzlichkeit und des Leidens ist: Zu allen Zeiten haben Menschen es als moralisch gut angesehen, für Kranke und Schwache zu sorgen, so wie sie selbst sich von anderen in dieser Lage Fürsorge wünschen. In diesem Sinn ist Fürsorge eine «Grundform der menschlichen Praxis» (Rehbock 2005b: 325) und gleichzeitig eine universale moralische Orientierung.
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Richtig verstanden ist sie die professionalisierte Nachfolgerin des alten Liebesideals,116 indem sie nämlich nicht entmündigend, sondern vielmehr unterstützend ist, nicht mit der Autonomie im Widerspruch steht, sondern sie ergänzt. Fürsorge wird nicht ganz zu Unrecht oft mit Bevormundung und Entmündigung gleichgesetzt – sie ist auch lange so verstanden und praktiziert worden, und zwar nicht nur durch die Pflege, sondern auch durch die Medizin und selbst durch den Staat. Wir brauchen also eine Fürsorge ohne Paternalismus bzw. Maternalismus, die eine Parteinahme für den und Solidarität mit dem Patienten beinhaltet. Ein einseitiges Verständnis sowohl der Fürsorge als auch der Autonomie verkennt, dass auch der selbstbewusste, aktive Patient der Fürsorge bedarf, und dass auch der Komatöse und Demente eine Autonomie haben, die zu respektieren ist. Es ist Ausdruck pflegerischer Professionalität, beides wahrzunehmen und zu beachten. Gegen die Fürsorge wird manchmal eingewendet, dass sie defizitorientiert sei, da sie ja asymmetrisch ist. Asymmetrie ist allerdings eine anthropologische Grundgegebenheit und steht nicht in Widerspruch zur wechselseitigen Anerkennung als Person, auch wenn pflegerisches Handeln der Tendenz nach auf Verselbständigung setzt. Allerdings darf Selbständigkeit nicht zur Norm werden, denn Pflegende und Patienten (und deren Angehörige) müssen sich nicht selten auch mit dauernder Hilfsbedürftigkeit abfinden. Die allgegenwärtige Beschwörung von Gesundheit wirkt bei der zunehmenden Zahl chronisch Kranker zynisch. Sie betont einseitig kurative Aspekte und vernachlässigt palliative, die in besonderer Weise Aufgabe der Pflege sind. In berufsethischen Kodizes findet sich die Fürsorge oft auch in Form der Anwaltsfunktion (advocacy) wieder, dem Eintreten für Patienten und zu ihrem Schutz.117 Hier bestehen Überschneidungen mit dem Prinzip der Verantwortung. Der Theologe und Pflegewissenschaftler Hans-Ulrich Dallmann sieht das ungeklärte Verhältnis von Fürsorge und Selbstsorge als ein Strukturproblem des Pflegeberufs an (Dallmann 2003: 6). In der Geschichte der Pflege wurde mit dem Nächstenliebeideal zwar Unterordnung und Aufopferung, nicht aber Selbstsorge vermittelt, was immer auch die Gefahr der Selbstüberforderung in sich birgt, deren Folgen burnout und Gewalt ja inzwischen vielfach erforscht sind. Ein Gewaltpo116 «The secret of the care of the patient is in caring for the patient». Dieses Zitat des Arztes und Medizinethikers James Peabody illustriert den Zusammenhang zwischen Fürsorge, «caring» und Nächstenliebe (Zit. nach Katz 1986: XX). 117 Zum Beispiel im ICN-Kodex: «Die Pflegende greift zum Schutz des Patienten ein, wenn sein Wohl durch einen Kollegen oder eine andere Person gefährdet ist.» Näheres zu pflegeethischen Kodizes siehe unter 1.1.2.
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tential existiert vor allem da, wo die Selbstsorge der Helfer nicht gegeben ist. Für die Achtung der Autonomie eines Hilfsbedürftigen ist auch Selbstachtung des Helfenden notwendig. Selbstsorge ist also eine Vorbedingung sowohl für Autonomie als auch für Fürsorge. Angesichts der Tradition der Pflege fordert Rehbock eine Fürsorge ohne Selbstaufopferung, und damit auch die Selbstsorge der Pflegenden (Rehbock 2002: 20–22). Selbstsorge wird hier im Sinn von Sorge um unser eigenes Wohlbefinden verstanden, die wir selbst leisten müssen; dazu gehören Selbstwertschätzung und das Streben nach einem gelingenden, sinnerfüllten Leben. Wer sich in einem Helfersyndrom verrennt, wer sich selbst vergisst, der verfehlt vor lauter guten Absichten seine moralischen und fachlichen Ziele.118 Dass und wie Fürsorge, Selbstsorge und Autonomie einander ergänzen, lässt sich gut anhand einer paradigmatischen Fallgeschichte deutlich machen. Mit dieser Geschichte antwortet Jesus auf die theologische Frage nach der Auslegung des Gebotes «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst» («Wer ist mein Nächster?»). Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. […] Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme (Lukas 10, 25–37).
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist durchaus auch für eine säkulare Ethik bedeutsam, denn es beinhaltet wichtige moralische und praktische Grundsätze des Helfens:
• Die Grundlage der Fürsorge ist die Ansprechbarkeit für den Mitmenschen («es
jammerte ihn»), ein Mitgefühl aufgrund der gemeinsam geteilten menschlichen Grundsituation der Verletzlichkeit. Allen, die dort gingen, hätte es geschehen können, dass sie überfallen werden. Der Samariter geht zu dem Verletzten und wendet sich nicht ab. Er spürt den moralischen Appell, der aus der Not
118 In seinem Gedicht «An die Nachgeborenen» bittet Bertolt Brecht um Nachsicht für die, die in finsteren Zeiten leben und das Gute für die Menschheit wollen, aber selbst oft das Gute nicht leben können – in zornigem, hektischem Streben nach dem Guten «verging die Zeit, die auf Erden mir gegeben war» – und er endet mit der traurigen Feststellung:
«Ach, wir Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit Konnten selbst nicht freundlich sein» (Brecht 1976: 724). Ein trauriges Fazit, das auch manchmal am Ende von pflegerischer Selbstaufopferung steht. Wer sich selbst nichts gönnt und sich sich selbst nicht gönnt, wird unfreundlich, verbittert und zynisch. Er ist ein schlechter Helfer.
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eines Mitmenschen grundsätzlich an uns alle ergeht, und der die Grundlage mitmenschlicher Fürsorge ist.
• Der Samariter leistet lebensrettende, tatkräftige und uneigennützige Hilfe: Er versorgt den Verletzten so, wie er selbst in dieser Lage gern behandelt werden würde. Dafür nimmt er Unannehmlichkeiten auf sich.
• Gleichzeitig begrenzt er seine Hilfe: Der Samariter ändert nicht völlig seine Pläne, er opfert sich nicht auf, sondern er sorgt auch für sich selbst, indem er seine Reise fortsetzt. Seine Fürsorge ist aber nachhaltig, weil er den Wirt beauftragt, den Verletzten weiter zu pflegen.
• Hilfe kann also delegiert werden, sie kann bezahlt werden: Nichts anderes
geschieht in größerem Rahmen, wenn eine Gesellschaft für die allseits gewünschte und moralisch geforderte zwischenmenschliche Fürsorge Institutionen und Berufe schafft.
• Der
Samariter wahrt Distanz zu dem Hilfsbedürftigen. Er beschämt den Verletzen nicht, er sorgt für das Nötige und macht sich selbst überflüssig, ein Ausdruck des Respekts vor der Person des anderen, die auch heute als wichtige Tugend für Helfer aktuell ist (vgl. dazu Rehbock 2005b: 28–30).
Die Geschichte vom barmherzigen Samariter verweist auch auf die anthropologische Dimension als Grundlage der Ethik. Ohne Reflexion auf die conditio humana bleiben ethische Prinzipien praxisfern und können auch keine Wirkung für die Praxis entfalten. Seelische und leibliche Nähe, so Wettreck, löst bei den Helfern Gefühle bis hin zur existenziellen Erschütterung aus (Wettreck 2001: 88). Eine ähnliche Erschütterung wird von dem Samariter berichtet, wenn es heißt: «es jammerte ihn». Aus der Einsicht, dass wir Menschen alle bedürftig und deshalb aufeinander angewiesen sind, ergibt sich für Kamlah die schon erwähnte «praktische Grundnorm» der Ethik: «Beachte, dass die Anderen bedürftige Menschen sind wie du selbst, und handle demgemäß!» (Kamlah 1973: 95). Auch Kamlah beschreibt damit die Fürsorge als moralisches Prinzip, das die Anerkennung des Hilfsbedürftigen als personales Gegenüber einschließt. Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, so Robert Spaemann, ist die Haltung dessen, der bereit und imstande ist, bei der Verteilung von knappen Gütern oder bei ihrer Beanspruchung von sich selbst und seinen persönlichen Vorlieben und Sympathien abzusehen; der bereit ist, statt dessen einen Maßstab anzulegen, der gegenüber jedem Betroffenen gerechtfertigt werden kann (Spaemann 1999: 61).
Gerechtigkeit beinhaltet die wechselseitige Anerkennung, die jeder Mensch um seiner selbst willen verdient. Hier liegt ihre Verbindung zur Würde und Selbstzweckhaftigkeit des Menschen.
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Seit der Antike gilt die Gerechtigkeit als eine wichtige Tugend,119 oft sogar als Inbegriff der moralischen Grundhaltung, durch die die anderen Tugenden erst positive Wirkungen entfalten.120 Aristoteles unterschied erstmals zwischen Gerechtigkeit im Sinne von Rechtmäßigkeit, Verteilungsgerechtigkeit und ausgleichender Gerechtigkeit; Vorstellungen also, die noch heute das Verständnis von Gerechtigkeit prägen. Hier geht es nicht nur um die Tugend einer Person, sondern um ein Prinzip des Zusammenlebens in der Gesellschaft, einen übergeordneten Beurteilungsmaßstab. Dabei wird Gerechtigkeit mit der Idee der Gleichheit und Gleichberechtigung verbunden. Im Gesundheitswesen spielt Gerechtigkeit heute auf mehreren Ebenen eine Rolle: Zum einen gilt im persönlichen Umgang mit den Patienten die Forderung, niemanden zu diskriminieren121 und auch den Menschen, die wir als schwierig oder unsympathisch erleben, mit einer Art «Basis-Anstand» und «Basis-Respekt» zu begegnen. Das ist durchaus nicht dasselbe wie Gleichbehandlung, weil es für verschiedene Menschen Unterschiedliches bedeuten kann. Gerechtigkeit bedeutet hier also, jedem in der Weise gerecht zu werden, die seiner Persönlichkeit und seinen aktuellen Bedürfnissen entspricht. Bei großem Zeit- und Arbeitsdruck können Gerechtigkeitsprobleme auch für ein Team gegenüber einer Gruppe von Patienten auftreten, wenn man sich fragen muss, wen man jetzt angemessen versorgen kann und wen nur notdürftig. Ist es in solchen Situationen besser, die pflegerischen Leistungen für alle zurückzuschrauben, oder sollte man den besonders schwer Pflegebedürftigen mehr an pflegerischen Ressourcen zukommen lassen? Meist werden diese Fragen nicht bewusst gestellt, sondern situativ und individuell entschieden. So werden faktische Ungerechtigkeiten oft nur den Betroffenen bewusst, die Entscheidungskriterien und damit die Gerechtigkeitsauffassungen bleiben unklar. Auch auf der gesellschaftspolitischen Ebene stellt sich die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit, weil angesichts der Finanzprobleme eine Prioritätensetzung unvermeidlich ist. Auch hier werden Entscheidungen eher anhand nicht geklärter Kriterien getroffen, schlimmer noch, sie sind nicht selten Ergebnis von Lobbyarbeit. Diese ist nicht an sich schlecht, benachteiligt aber systematisch diejenigen
119 ����������������������������������������������������������������������������������������� Sie ist eine der vier Kardinaltugenden (Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit), die von Platon beschrieben und von Ambrosius von Mailand so genannt wurden. 120 Vgl. Mittelstraß 2002, Band 1: 745. Aristoteles nennt die Gerechtigkeit «die vollkommene Tugend» und zitiert ein Sprichwort: «In der Gerechtigkeit ist alle Tugend zusammengefasst». Vollkommen sei sie, weil sie auch den anderen einbeziehe (Aristoteles 2002, 1129b 25–35). 121 Dies ist der Focus, mit dem Gerechtigkeit in pflegeethischen Kodizes erscheint; beim Kodex des ICN steht die Forderung nach Gleichbehandlung gleich in der Präambel.
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Gruppen, die keine mächtige Lobby haben, wie etwa sozial Schwache, psychisch Kranke und viele andere Gruppen von chronisch Kranken. Im Kontrast dazu stehen etwa die High-Tech-Medizin (Intensivmedizin, Transplantationsmedizin) und die Arzneimittelversorgung. Die Auswirkungen der Ressourcenknappheit, aber auch die Folgen von Priorisierungen beeinflussen indirekt auch die Handlungsmöglichkeiten der Pflege. Die Frage nach Gerechtigkeit weist über individualethische Gesichtspunkte hinaus auf sozialethische Fragen hin, wie etwa auf Anforderungen, die sich aus dem gesellschaftlichen Mandat der Pflege ergeben. Hier kommen auch Nutzenerwägungen in dem Sinn ins Spiel, dass die Ansprüche des Einzelnen zu begrenzen sein können, wenn sie unverhältnismäßig sind. Durch die personale Ausrichtung der Pflege neigt diese allerdings dazu, sozialethische Fragen auszublenden (vgl. Remmers 2000: 278 ff.). Verantwortung. Verantwortung ist eine Verpflichtung zur Rechenschaft für das eigene Handeln gegenüber den von der Handlung Betroffenen oder der ganzen Gesellschaft. In Helferbeziehungen besteht Verantwortung gleichzeitig für eine anvertraute Person und ihr gegenüber (und zusätzlich gegenüber Angehörigen, der Institution und der Gesellschaft). Verantwortung ist also grundsätzlich nicht von Beziehungen zu trennen. Aus Kants Idee der Autonomie als Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung folgt, dass Freiheit und Verantwortung untrennbar verbunden sind. «Im Rahmen der Kantischen Ethik ist daher nicht nur Freiheit Voraussetzung der Verantwortlichkeit, sondern Verantwortlichkeit auch Grund der Freiheit» (Werner 2002, S. 523). Die wechselseitige Anerkennung als moralisches Subjekt, mithin die Anerkennung der Würde, beinhaltet auch die (möglicherweise kontrafaktische) Erwartung der Selbst- und Mitverantwortlichkeit. Prospektive Verantwortung meint eine Zuständigkeit oder Pflicht, wie etwa die Fürsorge für Kinder oder, in einem globalen Sinn, die Zukunftsverantwortung, wie sie von der Diskursethik gefordert wird (Apel, Böhler). Retrospektive Verantwortung beschreibt einen Kausalzusammenhang und damit oft Schuld; es geht um die Verantwortung für bestimmte Handlungen (oder Unterlassungen) und deren Folgen. Zwischen den beiden Arten, Verantwortung zuzuschreiben, besteht eine Korrespondenzbeziehung (Werner 2002, S. 521 f.). Eine verantwortungsethische Konzeption, die für die Ethik im Gesundheitswesen von Bedeutung ist, ist die von Hans Jonas, der angesichts der wachsenden Möglichkeit des Menschen zur Selbstvernichtung eine moralische Verantwortung für das Weiterbestehen menschlicher Existenz überhaupt fordert und sein «Prinzip Verantwortung» in folgenden Kategorischen Imperativ fasst: «Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden» (Jonas 1989: 36) Ein wichtiges Feld der
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Praxis des Prinzips Verantwortung sah Jonas selbst im Bereich der Medizinethik, der er vor allem zu den Themen Organtransplantation und Gentechnik wichtige Anstöße gegeben hat.122 Für die Pflege und ihr Selbstverständnis hat Verantwortung eine ganz besondere Bedeutung, galt Pflege doch lange als reiner Assistenzberuf, der keinen eigenen Entscheidungsbereich hat, sondern lediglich die Anordnungen der Ärzte ausführt. Ein extremer Beweis dafür, dass niemand seine persönliche Verantwortung abgeben kann und dass es fatal ist, blinden Gehorsam zu fordern oder dazu zu erziehen, war die oft kritiklose Beteiligung von Pflegenden an den Patientenmorden im Nationalsozialismus (vgl. unter 1.1.1). Die gerichtliche Aufarbeitung dieser Verbrechen trug der Tatsache Rechnung, dass Pflegende es nicht gewohnt waren, Verantwortung zu übernehmen, sondern Gehorsam als wichtiges Grundprinzip der Berufsausübung gelernt hatten. Es ist also nicht nur eine Forderung der Professionalität, dass Pflegende persönliche Verantwortung für ihr Handeln übernehmen sollen, sondern auch eine bittere Lehre aus der Geschichte. Noch immer zögern Pflegende, direkte Verantwortung zu übernehmen, behauptet Sabine Bartholomeyczik, denn sie sehen sich nicht als Einzelakteure, die auch eigene Akzente setzen, sondern als Teil eines Teams. Das macht Verantwortung schwer zuschreibbar, so Bartholomeyczik, die es als typisch für Pflegende ansieht, sich zwar für die liebevolle Durchführung angeordneter Tätigkeiten verantwortlich zu fühlen, nicht aber für die Inhalte der Anordnung (Bartholomeyczik 2006: 52). Pflegende müssen auch heute noch Anordnungen ausführen, mit denen sie möglicherweise nicht einverstanden sind. Damit übernehmen sie Mitverantwortung für das, was mit dem Patienten getan wird und müssen einen Umgang mit den Grenzen dessen finden, was sie mitverantworten können. Mitverantwortung hat jede/r Einzelne auch für das eigene Arbeitsumfeld. Dazu gehört es, Missstände aktiv anzugehen und nötigenfalls auch Kolleg/innen auf Fehlverhalten anzusprechen.
122 Die Diskussion um das Hirntodkonzept ergab sich als Folge der erweiterten medizinischtechnischen Möglichkeiten (Reanimation!) in den 1960er-Jahren. So konnten Menschen am Leben erhalten werden, die sonst nicht überlebt hätten. Bei denjenigen, deren Zustand sich nicht mehr besserte, erhob sich die Frage, ob die Beatmung und künstliche Kreislauf unterstützung aufrechterhalten werden müssten. Gleichzeitig bestand der Wunsch, die Technik der Organtransplantation weiterzuentwickeln. Jonas kritisierte die Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Tod des Menschen und die daraus abgeleitete Berechtigung, dem solcherart «Verstorbenen» Organe zu entnehmen als «pragmatische Umdefinierung des Todes» (Jonas 1990: 219 ff.). Gleichzeitig setzte er sich dafür ein, bei Hirntoten alle lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden. Seine Argumentation gegen die Gleichsetzung der Gehirnfunktion mit der Personalität war ein Vorlauf zur heutigen Diskussion um den Personbegriff.
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Persönliche Verantwortung zeigt sich in einer professionellen Grundhaltung, die der grundsätzlichen Asymmetrie der helfenden Beziehung gerecht wird. Zu einer solchen Haltung gehört zuallererst das Bewusstsein dieser Asymmetrie und der eigenen Macht, die durch Fachwissen und die Zugehörigkeit zum «System» entsteht, in dem der Patient ein Fremder ist (vgl. Darmann 2000: 219 ff.). Eine professionelle Grundhaltung umfasst vor allem personale Kompetenzen (vgl. dazu auch 3.2.2) wie den angemessenen Umgang mit eigenen Gefühlen, Empathie, Balance zwischen Nähe und Distanz, die es ermöglichen mit wechselnden und nicht vorhersehbaren Situationen umzugehen. So schreibt Kurt Bayertz: «Spezifisch für ‹Verantwortung› ist gerade, dass die Anforderungen vorher nicht formuliert werden können und dass daher im einzelnen offen bleiben muß, wie Verantwortung wahrgenommen wird» (zit. nach Remmers 2000a: 186; Hervorh. im Original). Verantwortung ist auch in der Gestaltung der Beziehung zum Patienten gefordert, und dort ist Personorientierung nicht immer mit persönlicher Nähe gleichzusetzen, sondern kann auch im bewussten Verzicht auf solche Nähe liegen.123 Schwerdt beschreibt es so: «Eine professionelle Haltung der Pflegenden besteht nun weder in bloß sachlicher Distanz zur Klientel noch in (symbiotischer) Überidentifikation und unvermittelter Nähe, sondern in einem Verhältnis, in dem die wesenhafte Verschiedenheit ungeschwächt fortdauert, zugleich aber auch noch in solcher Nähe die Selbständigkeit des Menschen gewahrt bleibt.» (Schwerdt 1998: 402)
Neben der persönlichen Verantwortungsebene sind für die Ethik im Gesundheitswesen auch die institutionelle und gesellschaftspolitische Ebene wichtig. Auch wenn dort die Zuschreibung der Verantwortung an einzelne Personen schwieriger ist, gibt es auf diesen Ebenen eine Moral. Die Träger der institutionellen Verantwortung sind die Führungskräfte. Sie gestalten den Handlungsrahmen, in dem sich die Mitarbeiter bewegen durch Personal- und räumliche Ausstattung, Führungsstil und Unternehmenskultur (siehe ausführlicher in Kap. 6). Damit Pflegende persönliche Verantwortung übernehmen können, ist es für sie wichtig, diese vom Bereich der institutionellen Verantwortung abzugrenzen, für den sie mitverantwortlich sind. Verantwortung als ethische Grundorientierung nimmt auch das klassische Prinzip der Medizinethik, primum nil nocere, auf, und hat damit eine enge Verbindung zur Qualitätsentwicklung. Ein zentrales Thema des Nichtschadens ist die Vermeidung von und der Umgang mit Fehlern, wobei der persönliche und der institutionelle Verantwortungsbereich sich überschneiden. In einer Studie über Fehler bei Medikamentengaben fand Arndt 1994, dass die Pflegenden von sich 123 Dazu Dallmann 2003: 13: «Zu einer reflektierten Praxis des nursing gehört es offenbar, auf caring auch verzichten zu können» (Hervorh. im Original).
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selbst Fehlerlosigkeit erwarten und emotional sehr betroffen und in ihrer Sicherheit erschüttert sind, wenn dennoch ein Fehler passiert (Arndt 1994: 130). Neben ihrer persönlichen Integrität hängt es auch von der Kultur und Atmosphäre ihres Umfeldes ab, ob sie Fehler eingestehen können oder verschweigen. Schließlich repräsentieren auch die Gesellschaft und die Politik eine Ebene der Entscheidung und Verantwortung im Gesundheitswesen. Gesellschaftliche Entwicklungen und Diskussionen beeinflussen Handlungsspielräume in den Institutionen des Gesundheitswesens ebenso wie die Gesetze und wirtschaftlichen Entscheidungen, die die Politik zu verantworten hat. Dialog. Auch wenn die griechische Vorsilbe «dia» eine Zweiheit nahe legt, den Dialog also als Zwiegespräch verstehen lässt, wird der Begriff im wissenschaftlichen Verständnis weiter gefasst und als «sprachlich geführte Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehr Personen, charakterisiert durch Rede und Gegenrede» (Mittelstraß 2002, Band 1: 471) verstanden, das Medium also von Unterhaltung und Streit, Verständigung und Konflikten zwischen Menschen. Demgegenüber geht der Begriff des Diskurses auf das lateinische discurrere (umhergehen) zurück, bezeichnet aber ebenfalls ein Gespräch und ist damit fast synonym mit dem Dialog (Mittelstraß 2002, Band 1: 472). Ähnlich wie bei den ursprünglich bedeutungsgleichen Begriffen Ethik und Moral hat sich auch zwischen Dialog und Diskurs im wissenschaftlichen Gebrauch der Begriffe ein Unterschied herauskristallisiert: Die dialogische Philosophie bezieht sich auf die Unmittelbarkeit der dialogischen Ich-Du-Beziehung und wird für «die Ausklammerung des Dritten», nämlich der Außenwelt kritisiert (Werner 2002: 523 f.). Die Diskursethik geht dagegen von einer «idealen Kommunikationsgemeinschaft» aus und legt das Schwergewicht auf Argumentation (Prüfung der Gründe für den Geltungsanspruch einer These; Böhler 1994: 765) und Konsens. Die dialogische Philosophie hat ihre Wurzeln in der jüdischen Tradition; ihr bekanntester Vertreter ist Martin Buber. Sie geht von der dialogischen Verfasstheit und von dem grundsätzlichen Angewiesensein des Menschen auf Gemeinschaft als anthropologischen Grundtatsachen aus: Im Dialog wird der Mensch Person. Buber sieht den Dialog als Prinzip nicht nur der Ethik, sondern auch der Pädagogik. Tatsächlich ist er ein wesentliches Element jeder helfenden Beziehung und damit auch für die Pflege besonders wichtig.124 Die Diskursethik als prominentester Teil der Kommunikationsphilosophie versteht den Diskurs als ein durch reflexive Letztbegründung erwiesenes oberstes Moralprinzip vom Range des Kategorischen Imperativs (vgl. dazu 2.3.3.2). Die bekanntesten Vertreter sind Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel. Als Prinzip einer Ethik im Gesundheitswesen wird der Dialog hier als Grundform der Achtung, der Würde und damit als Teilaspekt des universal gültigen 124 Ruth Schwerdt gründet ihre Tugendethik für die Altenpflege auf die Ethik Martin Bubers (Schwerdt 1998).
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Moralprinzips verstanden. Er steht in enger Verbindung mit den Prinzipien Gerechtigkeit und Verantwortung. Im Unterschied zum diskursethischen Verständnis kann der Dialog nicht auf argumentative Diskurse begrenzt werden, sondern muss im Sinn von Verständigung auch nonverbale und emotionale Dimensionen einbeziehen. Dialog als ethisches Prinzip beinhaltet gegenseitigen Respekt, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, das Bemühen um Verstehen und Konsens sowie Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit und Unvoreingenommenheit. Ein Blick in den Alltag des Gesundheitswesens zeigt, dass eine Kultur des Dialogs vielerorts noch nicht entwickelt ist. Statt dessen prägen Rituale, Machtstukturen und Zeitmangel den Umgang mit Patienten. So kann ein guter Grundsatz wie der informed consent zum Formalismus verkommen, der wenig mit individueller Aufklärung, aber viel mit rechtlicher Absicherung zu tun hat. Auch in der Pflege besteht die Gefahr, die Kommunikation mit den Patienten zu formalisieren und zu funktionalisieren. Eine dialogische Grundhaltung bedeutet mehr als die in der Pflege so oft beschworene Gesprächsbereitschaft. Es geht darum, nonverbale bzw. emotionale Signale der Patienten wahrzunehmen und zu versuchen, sie vom Patienten aus zu verstehen. Eine solche dialogische Grundhaltung ist besonders gefragt, wenn Patienten z. B. die Zustimmung zu Pflegemaßnahmen oder das Essen und Trinken «verweigern». Viele Pflegende nehmen dies dann zur Kenntnis und schreiben es in die Dokumentation.125 Andere aber fragen nach, versuchen die «Weigerung» als Signal zu verstehen und in Absprache mit dem Patienten nach Kompromissen und anderen Wegen zu suchen, die dem Willen und dem Wohl des Patienten dienen. Hier zeigt sich die Verbindung des Dialogs zur Fürsorge. Die verbreitete Sprachlosigkeit zwischen den Helfern verschiedener Berufsgruppen untereinander verursacht regelmäßig moralische Probleme und beeinträchtigt darüber hinaus die Arbeitszufriedenheit aller Beteiligten. Auch die Patienten spüren deutlich eine gute Stimmung oder Spannungen zwischen den Helfern und werden dadurch gestärkt oder verunsichert. In einer Untersuchung von Vollmann et al. 2004 standen Kommunikationsprobleme bei den Ursachen für ethische Probleme an zweiter Stelle, auch die Rivalität zwischen den Berufsgruppen wurde genannt.126 Ähnliche Befunde ergab eine Befragung von 794 125 Darmann zitiert eine Interviewaussage einer Pflegekraft über «unkooperative» Patienten: «Und ich hab zuerst versucht, mit ihm darüber zu sprechen und zu sagen, warum und wofür die Medikamente sind und nachher hab ich dann aber auch gesagt, da wurds mir einfach auch zuviel, weil es brachte überhaupt nichts, er war völlig uneinsichtig, da hab ich gesagt, es ist mir jetzt egal, ob Sie die Tabletten nehmen, es ist Ihre Sache, es ist Ihr Herz und nicht meins.» (Darmann 2000: 221). 126 Vollmann et al. befragten 27 ärztliche Direktor/innen und 32 Pflegedirektor/innen von Universitätskliniken. Kommunikationsprobleme wurden von 64,4 %, die Rivalität zwischen den Berufsgruppen von 18,6 % genannt.
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Mitarbeiter/innen der Medizinischen Hochschule Hannover, die in der direkten Krankenversorgung arbeiteten, durch das dortige Klinische Ethik-Komitee.127 Nicht umsonst wird im neuen Krankenpflegegesetz als Ausbildungsziel genannt, «interdisziplinär mit anderen Berufsgruppen zusammenzuarbeiten und dabei multidisziplinäre und berufsübergreifende Lösungen von Gesundheitsproblemen zu entwickeln» (KrPflG 2003 § 3 Abs. 2 Satz 3). Dazu gehört, dass die Beteiligten mehr miteinander und weniger übereinander reden, berufsständische und hierarchische Unterschiede weniger wichtig nehmen und sich auf das gemeinsame Ziel ihres Handelns besinnen. Pflegende müssen sich aktiv und konstruktiv in Diskussionen und Entscheidungsprozesse einbringen und Beteiligung fordern; Ärzte sollten es als selbstverständlich ansehen, wichtige Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Dafür bedarf es aber eines positiven Umfeldes, das in vielen Einrichtungen des Gesundheitswesens noch nicht gegeben ist. Wenn aus falsch verstandener Sparsamkeit Besprechungszeiten gestrichen und berufsübergreifende Fallbesprechungen als Luxus oder Zeitverschwendung betrachtet werden, fehlt in der Institution selbst die dialogische Kultur. Das «freie Wort», so Wehkamp, muss durch die Leitung von Gesundheitseinrichtungen geschützt werden, damit offen und konstruktiv ohne Ansehen der Hierarchien Probleme und Fehler angesprochen werden können (Wehkamp 2004: 18). Eine dialogische Kultur aufzubauen ist eine wichtige Investition in Qualität, wie verschiedene Ethik-Projekte an Kliniken zeigten. Der Zusammenhang zwischen Ethik, Qualität und der Verantwortung der Institution wird im sechsten Kapitel dargestellt. Für die ethische Reflexion ist Dialog deshalb so wichtig, weil er die Unsicherheit überwinden hilft, die durch die heutige Wertepluralität entsteht. Die Bedeutung der Prinzipien für eine bestimmte Situation und die verschiedenen Verständnisse der Prinzipien können nur im Dialog geklärt werden. Kommunikation ist ebenso wie Ethik, Qualität und Organisation ein Querschnittsthema, das die ganze Ausbildung begleiten sollte, und sie ist eine zentrale Dimension professioneller Kompetenz.
127 Kettner 2005: 530–532. In der Untersuchung zeigte sich, dass Pflegende mehr ethische Konflikte wahrnehmen als Ärzte, diesen aber weniger ethisches Bewusstsein zutrauen, als es der Selbsteinschätzung der Ärzte entspricht. Diese abweichende Wahrnehmung wurde als Ausdruck unzureichender Kommunikation interpretiert.
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2.3.7 Modell für die ethische Reflexion
Entscheidungsmodelle gehören zu vielen Ethik-Konzepten und sind in den meisten Lehrbüchern für Ethik in der Pflege zu finden. Sie geben eine sinnvolle Struktur und Reihenfolge für moralische Entscheidungen vor mit dem Ziel, dass keine wichtigen Aspekte übersehen werden und damit eine gut fundierte Entscheidung getroffen werden kann. Allerdings greift die Begrenzung auf «Entscheidung» zu kurz und offenbart Missverständnisse sowohl der pflegerischen Tätigkeit als auch des Sinns von Ethik. Die Pflege ist in anderer Weise als die Medizin mit Entscheidungen konfrontiert. Die klassischen Dilemmata, etwa Fragen der Therapiebegrenzung oder der Sterbehilfe, werden von Ärzten entschieden. Allerdings ist zu fordern, dass Pflegende in diese Entscheidungen regelmäßig einbezogen werden, wie dies in der Richtlinie der Bundesärztekammer zur Begleitung Sterbender geschieht.128 Auch wenn Pflegende selbst durchaus Entscheidungen zu treffen haben und an ihnen beteiligt sind, so steht wegen ihrer großen leiblichen Nähe zum Patienten und der zeitlichen Intensität der Betreuung für die Pflege die Notwendigkeit der konstanten Reflexion der eigenen Tätigkeit im Vordergrund. Schwerwiegende und konflikthafte Entscheidungen sind weniger prägend für den Pflegealltag als die Gestaltung der Pflegesituation, der Zusammenarbeit und des institutionellen Umfelds. Hier liegen Herausforderungen für die Reflexionsfähigkeit, die als wichtiges Element ethischer Kompetenz eine größere Bedeutung hat als die bloße Schulung von Entscheidungskompetenz. Das Missverständnis in Bezug auf die Ethik liegt in der schon erwähnten instrumentalistischen Verkürzung (2.3.2.4), die Ethik auf ein Hilfsmittel zur Problemlösung reduziert. Modelle mit vielen Einzelfragen stellen «Entscheidungsbäume» dar, deren Anwendung die Gefahr in sich birgt, schematisch zu werden und überdies die Illusion nährt, ein System oder Modell könne sicher zur richtigen Entscheidung führen. Damit wird die Fehlbarkeit und Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens ebenso ausgeblendet wie die für das Verständnis existenzieller Fragen unerlässliche Rückbesinnung auf die conditio humana als Sinnhorizont ethischer Reflexion. Die Arbeit mit Fällen und Geschichten ist eine eigene ethische Methode, deren Möglichkeiten und Grenzen im folgenden Abschnitt zur Kasuistik dargestellt 128 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung 2004. Hier heißt es in der Präambel: «Bei seiner Entscheidungsfindung soll der Arzt mit ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern einen Konsens suchen.» Kurz darauf im Abschnitt I (Ärztliche Pflichten bei Sterbenden) wird ergänzt: «In Zweifelsfällen sollte eine Beratung mit anderen Ärzten und den Pflegenden erfolgen.» (S. Anhang 1).
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werden. Zusammen mit der Betrachtung existierender Entscheidungsmodelle und der Darstellung und Erläuterung eines eigenen Reflexionsmodells entsteht ein Übergang zwischen dem ethischen und dem didaktischen Grundlagenkapitel dieser Arbeit. Selbst noch Teil der Ethik, weisen Kasuistik und Umgang mit Fällen schon über die Konturen der Ethik hinaus auf ihre Vermittlung. Denn, so Wolfgang Klafki, dessen kritisch-konstruktive Didaktik das hier vertretene Konzept bestimmt, «eine der zentralen Aufgaben des Unterrichts muss es sein, in exemplarischen Beispielen unterschiedliche Sichtweisen eines Problems, […] die darin sich ausdrückenden Interessen und Perspektiven herauszuarbeiten und alternative Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten zu verdeutlichen.» (Klafki 1996: 121).
Um Prinzipien situationsbezogen mit Inhalt zu füllen und damit die Urteilskraft zu schulen, liegt es nahe, im Ethikunterricht mit Fallgeschichten zu arbeiten. Solche Fallgeschichten sind auch in den meisten pflegeethischen Lehrbüchern zu finden.129 Fallgeschichten bieten die Möglichkeit, induktiv zu lernen, indem anhand einer speziellen Situation das Allgemeine nicht nur gezeigt, sondern auch mit der je für diese Situation spezifischen Bedeutung verstanden werden kann. Dieses Allgemeine im Ethikunterricht für die Pflege sind vor allem ethische Prinzipien, berufsethische Regeln, institutionelle und gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen der pflegerischen Arbeit, sowie anthropologische Konzepte. Auch die Klinische Ethik, vor allem die Ethik-Komitees, arbeiten mit Fallbesprechungen – allerdings geht es hier um reale Fälle, die zu ethischen Fragen oder Konflikten geführt haben, um Lösungsansätze und Konfliktbewältigung. 2.3.7.1 Kasuistik
Die Kasuistik, die Vorläufer sowohl in der katholischen Morallehre als auch in Medizin und Recht hat, gewann durch die Kritik an der Prinzipienethik an Einfluss für die Medizinethik. Albert Jonsen und Stephen Toulmin forderten in ihrem 1988 erschienenen Buch «The Abuse of Casuistry» die Rückbesinnung darauf, wie moralisches Nachdenken und Beraten sich abspielt: Anhand konkreter Fälle, so die Erfahrung von Jonsen und Toulmin, lässt sich eher Einigkeit erzielen als auf der Ebene moralischer Theorien und Prinzipien, die ihnen für eine Lösung der Probleme eher hinderlich erschienen (vgl. dazu Steigleder 2003: 152 ff.). Kasuistik geht vom Einzelfall und nicht von ethischen Theorien aus. Sie ist aber mehr als bloß ein Mittel zur Lösung ethischer Probleme, sondern dient der Schulung der Urteilskraft; der Fähigkeit, das Allgemeine mit dem Besonderen zu verbinden, die unter 3.4.2 im Kontext des Verhältnisses zwischen Theorie und 129 Zum Beispiel bei Tschudin 1988, Fry 1995, v. d. Arend/Gastmans 1996, Arndt 1996, Großklaus-Seidel 2002 und Körtner 2004.
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Praxis näher erläutert wird. Bei der Beurteilung stützt sich die Kasuistik auf das allgemeine Moralempfinden in Form von allgemein akzeptierten Maximen, die sich bei bestimmten Problemstellungen geradezu aufdrängen. Die Fälle werden hinsichtlich ihrer Morphologie beurteilt und in eine Taxonomie (strukturierte Systematik) von verschiedenartigen Fällen eingeordnet. Zur Morphologie eines Falles gehören die Umstände und Fakten, aber auch bereichsspezifische Grundfragen der klinischen Ethik wie die medizinischen Indikationen, die Präferenzen des Patienten, die Lebensqualität und der Kontext der Behandlung, z. B. institutioneller oder familiärer Hintergrund (Steigleder 2003: 155 f. mit Bezug auf Jonsen/ Siegler/Winslade). Wenn sich aus der morphologischen und taxonomischen Einordnung keine klare Beurteilung durch gängige Maximen ergibt, erfolgt ein Vergleich mit paradigmatischen Fällen, die in eindeutiger, beispielhafter Weise gut oder schlecht gelöst wurden. Ein klassisches Beispiel dafür ist das unter 2.3.6.2 im Kontext des Prinzips Fürsorge als Beispiel zitierte Gleichnis vom barmherzigen Samariter.130 Kritisiert wird an der Kasuistik ihre Skepsis gegenüber ethischer Theorie und die mangelnde kritische Distanz zur Alltagsmoralität (Steigleder 2003: 163 ff. und Rehbock 2005a: 206 ff.). Diese muss selbst moralisch reflektiert und kritisch überprüft werden, denn «das Normale ist eben nicht immer das Richtige» (Rehbock 2005a: 215). Unabhängig von Jonsen und Toulmin, die die Kasuistik für die angewandte Ethik wiederentdeckten, kann bei dem in der Ethik verbreiteten und notwendigen Fall- und Situationsbezug von Kasuistik gesprochen werden, wenn es um «die methodisch disziplinierte moralische Beurteilung und ethische Reflexion konkreter Fälle» (Rehbock 2005a: 206) geht. Die hier vertretene Konzeption von Ethik geht von einer Einheit und gegenseitigen Bedingtheit von Theorie und Anwendung aus: Ethische Theorien und Prinzipien bekommen nur im Hinblick auf konkrete Situationen der menschlichen Praxis Substanz, sie sind ihrerseits aber nötig, um sich nicht im Gewirr von Fakten zu verlieren, sondern eine übergeordnete Orientierung zur Beurteilung der Praxis zu haben. Rehbock unterscheidet drei Formen des Situationsbezugs: Grenzsituationen, Normalsituationen und paradigmatische Situationen. Bei den Grenzsituationen verschwimmen die Kriterien, weil es unscharfe Ränder z. B. zwischen Leben und Tod gibt. Grenzsituationen sind aber keine Ausnahme, sondern gehören zum Leben und zur Praxis im Gesundheitswesen. Sie können nicht isoliert geklärt wer-
130 Rehbock weist darauf hin, dass das Gleichnis eine Antwort Jesu auf die Frage nach der richtigen Anwendung des Nächstenliebegebotes ist. Jesus antwortet auf diese theoretische Frage nicht mit einer Regel oder Definition, sondern mit einer Geschichte, und macht sie zur paradigmatischen Geschichte durch seine Aufforderung: «So gehe hin und tu desgleichen!» (Rehbock 2005a: 217 f.).
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den, sondern nur im Licht der Grundbedingungen menschlichen Daseins.131 So wird bei der Grenzfrage des Umganges mit dem Hirntod auf die Normalsituation des Todes zurückgegriffen, um Anhaltspunkte für die moralische Beurteilung zu gewinnen. Eine Krankenschwester, die auf der Intensivstation auch hirntote Patienten zu pflegen hatte, sagte auf die Frage, ob ein Hirntoter tot sei: jedenfalls sei er nicht gestorben. Damit nahm sie Bezug auf das, was normalerweise zum Tod gehört. Normalsituationen können also eine Orientierung zur Beurteilung schwieriger Situationen sein, sie müssen aber, darin ergänzt Rehbock Jonsen und Toulmin, durchaus selbst Anlass für kritische ethische Reflexion sein, weil die alltägliche Praxis im Gesundheitswesen an vielen Stellen moralisch fragwürdig ist. Die Arbeit mit Fallgeschichten in der Pflegeethik gehört zur ethischen Kasuistik, wenn sie systematisch erfolgt. Eine Systematik, etwa in Form eines Modells, ist auch nötig, um solche Diskussionen didaktisch und praktisch fruchtbar zu machen. 2.3.7.2 Kritische Darstellung existierender Entscheidungsmodelle der Pflegeethik132
Der folgende chronologisch geordnete Überblick über die in der Pflegeethik bisher bekannten Modelle soll auch einige systematische Probleme dieser Modelle deutlich machen. Modelle der Medizinethik133 werden hier bewusst ausgeklammert, da ihre Darstellung den Rahmen dieser Arbeit überdehnen würde. Da alle Modelle den Anspruch erheben, konkrete Hilfsmittel für die Praxis zu sein, achte ich bei ihrer kurzen Charakterisierung auf Übersichtlichkeit und Praktikabilität. Allerdings bringt eine solche Zusammenstellung auch immer Verkürzungen mit sich und ist deshalb keine umfassende Analyse. Verena Tschudin (1988) sieht die an den Pflegeprozess angelehnten vier Schritte «Erkennen des Problems – Planung – Ausführung – Auswertung» als Grundlage für Entscheidungen vor, wobei sie jeden einzelnen Punkt noch in zahlreiche Einzelfragen untergliedert – insgesamt dreißig, die «lediglich zur Anregung dienen» sollen (vgl. Tschudin 1988: 107). Als Prinzipien gibt sie in Anlehnung an Thiroux (1980) vor: «Das Prinzip vom Wert des Lebens; das Prinzip vom Guten und Rich131 Ausführlicher zu Grenzsituationen unter 2.3.4.4. 132 Diese Darstellung bezieht eigene Vorarbeiten ein (Rabe 2005: 131–144; Strukturierte Falldiskussion anhand eines Reflexionsmodells). 133 Beispiele sind der Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis (1988), die «Ulmer Methode» (Baitsch/Sponholz 1994), die «Marburger Methode» (Heubel 1994) sowie die Modelle von Nüchtern 1994, Illhardt 1995 und Gordijn 2000. Zwar sind die meisten Modelle ebenso wie die pflegeethischen von der Konzeption her überwiegend auf Entscheidung ausgerichtet, in den Erläuterungen wird jedoch zum Teil die Reflexion selbst als bedeutsam beschrieben, so etwa bei Nüchtern.
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tigen; das Prinzip der Gerechtigkeit oder Fairness; das Prinzip vom Sagen der Wahrheit oder der Ehrlichkeit; das Prinzip der individuellen Freiheit» (Tschudin 1988: 109). Die Übertragung des berufspolitisch gewollten Modells des Pflegeprozesses auf die Ethik wirkt an einigen Stellen künstlich und kann irreführend sein. So wird die Entscheidung im Schritt der «Ausführung» verborgen, während sich im «Planungsteil» ethische Überlegungen finden. Sara T. Fry (1995) misst der Betrachtung von Wertvorstellungen große Bedeutung bei und unterscheidet ebenfalls vier Schritte: Kontext des Wertekonflikts – Bedeutung der Werte für die Beteiligten – Bedeutung der Konflikte für die Beteiligten – Was ist zu tun? Diese Schritte werden sehr aufwendig durch die Konstruktion eines Bezugsrahmens begründet und durch Kommentare erläutert. Um die Bedeutung der Werte für die Beteiligten zu ermitteln, ist es wichtig, so Fry, dass sich jeder zu dem Geschehen äußert (Fry 1995: 64). Dies erscheint schwer praktikabel. Fry wendet ihr eigenes Modell auf zahlreiche Fallbeispiele an. Dabei erscheint die Fallschilderung als Beantwortung der ersten Frage. Mit der Beantwortung der letzten Frage: Was ist zu tun? leistet sie der Illusion Vorschub, dass es eine sicher richtige Lösung für situationsbezogene ethische Probleme gäbe. Allerdings bleibt sie in ihren Ausführungen dazu recht allgemein.134 Marianne Arndt (1996) legt ähnlich wie Tschudin ein aus vier Hauptschritten (Informationssammlung – Planung – Durchführung – Bewertung) bestehendes Modell vor, das sich an den Pflegeprozess anlehnt. Die einzelnen Schritte werden durch insgesamt 28 Fragen konkretisiert. Neben den Prinzipien nach Thiroux135 werden hier zusätzlich sieben «Grundwerte des Menschseins» nach Fitzpatrick136 einbezogen. Wie diese Werte die moralische Beurteilung einer Situation beeinflussen sollen, wird allerdings nicht dargelegt. Durch die Vielzahl der zu beach tenden Einzelpunkte wird das Entscheidungsverfahren recht unübersichtlich. In den nachfolgenden Kapiteln befasst sich Arndt anhand zahlreicher Fallbeispiele mit ausgewählten Problemen der pflegerischen Praxis und mit Fragen im Zusammenhang mit Leben und Tod. Bei der Kommentierung der Fallgeschichten greift 134 Zum Beispiel heißt es in der «Antwort» auf eine Fallschilderung «Sind einige Patienten mehr wert als andere?» (es geht um Zugang zu Transplantationsorganen): «Die Tatsache, dass es Patienten gibt, die kein lebenserhaltendes Organ bekommen können, zeigt die Notwendigkeit auf, dass mehr Organe gespendet werden, und sollte nicht Anlass dafür sein, an der Gerechtigkeit des Vergabesystems oder gar an der geleisteten Pflege zu zweifeln.» (Fry 1995: 96). 135 Siehe oben unter den Bemerkungen zu Tschudin. 136 Gesundheit; die Fähigkeit zu denken und nach Wahrheit zu streben; die Möglichkeit zu arbeiten und kreativ zu sein; die Fähigkeit, sich an Kunst und Natur zu freuen; Freundschaft; Selbstbestimmungsfähigkeit; Fähigkeit und Möglichkeit zu religiöser Bindung (leicht gekürzt, d. Verf.) (Arndt 1996: 82).
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sie jedoch nicht (wie Fry) auf ihr eigenes Modell zurück. Im Kontrast zu dem komplizierten Modell steht ihre abschließende Bemerkung: «Nur durch moralisches Handeln lernen wir, moralisch zu sein.»137 Marion Großklaus-Seidel (2002) stellt ein organisationsethisches Modell der Ent scheidungsfindung mit vier Hauptschritten vor (Großklaus-Seidel 2002: 118–139), die jeweils durch Fragen weiter aufgeschlüsselt werden: Benennen – Beschreiben – Bewerten – Entscheiden. Wie auch bei anderen Modellen mit vielen Einzelfragen (z. B. Arndt) besteht die Gefahr, dass die zahlreichen Fragen zu kleinschrittig «abgearbeitet» werden, ohne dass wirklich eine ethische Reflexion stattfindet. Jede der im ersten Schritt benannten Handlungsmöglichkeiten soll im zweiten Schritt auf sieben (!) Aspekte untersucht werden (u. a. Interessen, Motive und die zugrundeliegende handlungsleitende Regel), um dann in einem dritten Schritt daraufhin überprüft zu werden, welche «anthropologischen Grundeinsichten» zum Ausdruck kommen und welche «interpersonalen Verfahrensmerkmale für Entscheidungen in Organisationen» eventuell vernachlässigt werden. Im letzten Schritt werden die Handlungsalternativen nach Prioritäten geordnet; dafür werden jedoch keine Kriterien angegeben. Das spezifisch Organisationsethische an diesem Modell ist nicht erkennbar. Wegen seiner Komplexität und wegen der recht abstrakten Begrifflichkeiten scheint es nur begrenzt praktikabel zu sein. Eine exemplarische Falldiskussion, die Großklaus-Seidel im Anschluss vornimmt, umfasst 16 Seiten und führt zu teilweise fragwürdigen Feststellungen.138 Ulrich Körtner (2004) hat für sein Lehrbuch «Grundkurs Pflegeethik» das «Schema ethischer Urteilsbildung» (Körtner 2004: 165) von Lange ausgewählt, das aus folgenden Schritten besteht: Analyse der Situation – Prüfung der subjektiven 137 Arndt 1996: 84. Als Ergebnis einer ausführlichen Analyse der Entscheidungsmodelle von Arndt und Fry kritisiert Karin Kersting, dass diese Modelle nicht etwa zur ethischen Sensibilisierung beitrügen, sondern eine «Beruhigung des schlechten Gewissens durch die aufwendige rhetorische Legitimation der weiterhin schlechten Praxis» (S. 252) darstellten. Diese sei vor allem durch einen Mangel an Ressourcen gekennzeichnet. Bei beiden Autorinnen würden die institutionellen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen ausgeblendet, und es werde geleugnet, dass die ethische Reflexion manche Probleme nicht lösen kann (Kersting 2002, Kap. 7 «Die Bearbeitung moralischer Konflikte in der Pflegeethik: 245–295). 138 In dem Fall (Großklaus-Seidel 2002: 123 ff.) geht es um eine offenkundig unberechtigte ärztlich angeordnete Fixierung einer sterbenden Patientin. Zwar geht die Autorin alle 16 Fragen des Modells durch und bezieht durchgängig die institutionellen Rahmenbedingungen ein. Fragwürdig erscheint aber eine von ihr offenbar unterstellte Gehorsamspflicht: «Im Falle der angeordneten Fixierung muss die Pflegekraft die Weisungen ausführen, und sie soll darauf vertrauen, dass die Entscheidung juristisch und ethisch korrekt getroffen wurde» (S. 125). Diese Überlegung, die allerdings nicht das Fazit der Falldiskussion darstellt, ist m. E. sowohl juristisch als auch moralisch unhaltbar.
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Bedingungen – Genaue Bestimmung des Konflikts – Abwägen von Verhaltensalternativen – Reflexion der Maßstäbe – Güterabwägung – Entscheidung – Überprüfung. Körtner verdeutlicht die einzelnen Schritte durch Stichpunkte. Die Güterabwägung soll durch die Bestimmung des «relativ höchsten erreichbaren Gutes bzw. des relativ kleinsten Übels» (Körtner 2004: 168) geschehen. Überprüfung meint die Überprüfung der Entscheidungsfindung vor der Umsetzung der Entscheidung. Mit der Einbeziehung von «Urteilsbildung» im Kommentar wird ein etwas anderer Focus gesetzt als bei den anderen Modellen, der über die bloße Entscheidung hinausgeht und mehr in Richtung Reflexion weist. Allerdings ist «Entscheidung» offenbar ein wichtiger Schritt in diesem Schema, das insgesamt nur recht knapp kommentiert wird. Reinhard Lay (2004) nimmt das Modell der konvergierenden ethischen Argumentation nach Gillen mit kleinen Ergänzungen als Grundlage und geht in folgenden Schritten vor: Benennung von vorsittlichen Gütern und Übeln – Konflikte in der Abwägung von vorsittlichen Gütern und Übeln – Hierarchie der vorsittlichen Güter und Übel139 – Benennung sittlicher (moralischer) Güter und Übel – (eventuell Hierarchisierung der sittlichen Güter und Übel) – Handlungsalternativen im Fallbeispiel – ethische Argumentation140 – konvergierende Sicht/Votum. Lays Modell ist mit dem betont analytischen Vorgehen und dem distanzierenden Einstieg in die Fallbearbeitung Beispiel für eine kognitivistische und formalistische Auffassung von ethischer Reflexion. Für die Einbeziehung von Emotionen und moralischen Intuitionen bleibt da wenig Raum, doch dies sind wichtige Faktoren zur Übung der Urteilskraft. Durch das formale Vorgehen werden Objektivität und Differenziertheit suggeriert; die für Laien schwierigen begrifflichen Unterscheidungen (vorsittliche und sittliche Güter, formale und materiale Prinzipien) lassen das Modell als nur für Ethik-Experten geeignet erscheinen. Ausgeklammert bleibt auch die institutionelle Ebene. Es geht ausschließlich um das Handeln Einzelner und seine ethische Reflexion.141 139 Für die Hierarchisierung werden ebenso wie für die Prioritäten bei Großklaus-Seidel keine Kriterien angegeben. 140 ���������������������������������������������������������������������������������� Bei der ethischen Argumentation werden aufgrund Gillens Erfahrungen in Ethik-Komitees sieben Argumentationsfiguren unterschieden: Menschen- und Weltbild, Natur- bzw. Sachgerechtigkeit, Konsequenzen, formale ethische Prinzipien, materiale (bereichs-) ethische Prinzipien, gelehrtes Ethos, Situation. Diese Argumentationsfiguren spielt Lay in der exemplarischen Falldiskussion durch. 141 �������������������������������������������������������������������������������������� Lay analysiert mit dem Modell exemplarisch einen Fall, für den institutions- und organisationsethische Bezüge sehr wichtig wären, die aber in seiner Diskussion gemäß der Schritte des Modells nicht vorkommen. Nach dem Ende der Diskussion gemäß dem Modell fügt er eine ergänzende Bemerkung ein, die die institutionelle Verantwortung betont (Lay 2004: 194).
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Lay, der selbst einen komplexen Fall mit Hilfe des von ihm vorgeschlagenen Modells diskutiert, vertritt die These: «Je komplexer die Situation ist, je schwerwiegender die Folgen sind …, desto höher sollte der Strukturierungsgrad der eingesetzten Hilfsmittel zur ethischen Beurteilung sein» (Lay 2004: 165). Das Gegenteil ist der Fall: Je komplizierter und abstrakter die Falldiskussion angegangen wird, desto unbefriedigender sind ihr Verlauf und ihre Ergebnisse. Deshalb sollten nach meiner Überzeugung Modelle zur Reflexion von Situationen möglichst einfach sein und Raum für den tatsächlichen Diskussionsverlauf lassen. Sie haben eher didaktische und heuristische Funktion als den Anspruch, ein sicher richtiges Ergebnis herzustellen. Überdies begünstigt ein kompliziertes Modell wie das von Lay den Eindruck, dass Ethik etwas für Spezialisten sei und dass die Praktiker selbst nicht mitreden könnten. Diese zum Teil kritische Würdigung der vorhandenen Modelle soll allerdings nicht suggerieren, dass das von mir entworfene Modell für alle Fälle und Entscheidungssituationen das beste sei. Grundsätzlich stellen alle Modelle Strukturhilfen für Diskussionen dar. Oft ist es bereits ein großer Durchbruch, wenn eine (vor allem berufsübergreifende!) Diskussion überhaupt zustande kommt. Wenn sie mit einem klaren Konzept gut moderiert wird, hängt es nicht nur vom gewählten Modell ab, ob sie gelingt. 2.3.7.3 Darstellung und Erläuterung des Reflexionsmodells
Der Sinn eines Modells besteht darin, die wichtigsten Punkte, die zu einer reflexionsorientierten Falldiskussion nötig sind, in einer sinnvollen Reihenfolge zu benennen. Die Lernmöglichkeiten werden dadurch erhöht, weil neben der Fallanalyse auch ethische Gesichtspunkte explizit thematisiert werden. Das Modell kann eine Hilfestellung sowohl für die Moderatorin als auch für die Gruppe darstellen. Es hilft dabei, eine Diskussion vor dem Abgleiten in Beliebigkeit und vor einseitiger Betonung eines Detailaspektes zu bewahren. Im Folgenden stelle ich ein einfaches Modell vor, mit dem ich einerseits alle wesentlichen Aspekte zu fassen versuche, das aber keine Fragelisten vorsieht, sondern in seinen einzelnen Schritten für die jeweilige Frage und ihren konkreten Situationskontext offen ist (Abb. 2). Ein entscheidender Faktor für die Einübung von Argumentationsfähigkeit ist es, die Teilnehmerinnen zum eigenständigen Formulieren und Begründen anzuregen. Dazu gehört auch die Suche nach den für den betreffenden Fall ethisch relevanten Einzelfragen, die hier nicht vorgegeben werden, sondern sich in der Diskussion herauskristallisieren.
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1. Situationsanalyse Persönliche Reaktionen Die Sicht der anderen: Perspektive aller am Fall beteiligten Personen Alternative Handlungsmöglichkeiten und ihre Folgen für die Betroffenen
2. Ethische Reflexion Benennung des ethischen Problems Formulierung der normativen Orientierungen und übergeordneten Prinzipien,1 die für diese Situation von Bedeutung sind Verantwortungsebenen:
persönlich institutionell gesellschaftspolitisch
3. Ergebnisse Ethisch begründete Beurteilung Konsens/Dissens Nötige praktische Konsequenzen und ihre Durchsetzung
1 Zu den normativen Orientierungen gehören die moralischen Normen, Grundsätze und Werthaltungen, die den Diskutanten zu dem Fall einfallen.
Abbildung 2: Modell für die ethische Reflexion
Die drei Hauptschritte «Situationsanalyse – ethische Reflexion – Ergebnisse» stellen die Grundform einer praxisorientierten ethischen Reflexion dar: Ausgehend von der konkreten Situation erfolgt mit der ethischen Reflexion zugleich eine Abstraktion, nämlich die Besinnung auf das Allgemeine, Grundlegende, und im letzten Schritt zum einen ein Rückbezug auf die Ausgangssituation und zum anderen ein Rückblick auf den Diskussionsprozess selbst und ein Ausblick bezüglich praktischer Konsequenzen.
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1. Situationsanalyse. Der Situationsanalyse geht die Schilderung der Situation voran, die auf verschiedene Weise erfolgen kann. Welche Form dabei gewählt wird, in welcher Sprache die Schilderung erfolgt und welche Fakten als relevant benannt werden, das ist immer schon Ausdruck eines Vorverständnisses, das durchaus mit moralischen Bewertungen verbunden sein kann.142 Gerade wenn Filme oder selbst erlebte Situationen als Fallgeschichte verwendet werden, sollte in der Bearbeitung über die Perspektive nachgedacht werden, aus der die Geschichte erzählt wird. Am Anfang der Diskussion steht die Frage nach den Gefühlen und spontanen Reaktionen der Teilnehmer/innen.143 Gefühle wie Unbehagen oder Ärger machen uns darauf aufmerksam, dass bei einer erlebten Situation noch etwas klärungsbedürftig ist. Gefühle und spontane Einfälle stehen auch am Anfang einer jeden Auseinandersetzung mit einer Fallgeschichte, die man nicht selbst erlebt hat. Sie haben deshalb am Anfang Raum, weil sie einen eigenen Bezug der Teilnehmerinnen zu dem Fall herstellen helfen und weil sie zum Störfaktor werden können, wenn sie keinen Platz bekommen. Als erste Reaktion werden oft moralische Gefühle wie Empörung und Mitleid, aber auch spontane moralische Urteile geäußert, an die in der ethischen Analyse angeknüpft werden kann. Mit der Betrachtung der Handlungen und möglichen Motive der beteiligten Personen wird die Situationsanalyse fortgesetzt. Es soll dabei versucht werden, die Situation aus der Perspektive der jeweiligen Person zu betrachten. Nur so werden alle Beteiligte als Person und moralischer Akteur anerkannt – eine Grundforderung der Moral überhaupt und damit eine ethisch bedeutsame Haltung auch für die Pflege. Auch die Beziehungen der Beteiligten zueinander sollen hier thematisiert werden. Da viele Fallgeschichten Fragen offen lassen, ist es durchaus sinnvoll, auch Vermutungen zu äußern und zu begründen. Die anschließende Sammlung verschiedener Handlungsalternativen hat vor allem den Sinn, sich klar zu machen, dass es immer mehrere Möglichkeiten gibt, mit einer gegebenen Situation umzugehen. Oft stehen Pflegende sehr unter dem Eindruck von Sachzwängen oder institutionellen Gewohnheiten. Deren kreative Überschreitung mit moralischer Phantasie kann manchmal ganz neue Möglichkeiten eröffnen.
142 Vgl. dazu Remmers 2000b: 8, Rehbock 2005a: 208 und Schulze-Kruschke/Salomon 2005: 168. 143 Anregung dazu gab das medizinethische Modell von Michael Nüchtern. Es hat sieben Schritte: Klärung der Betroffenheit – Problemformulierung – Wahrnehmung und Eingrenzung des Handlungsfeldes – Handlungsalternativen – normative Gesichtspunkte – wünschbare und weniger wünschbare Folgen – Entscheidung. In meinem Vergleich der Modelle habe ich es nicht aufgenommen, weil es nicht aus der Pflegeethik stammt. Nüchtern überschreitet die bloße Entscheidungsfindung hin zur Reflexion: «Der Anspruch des folgenden Schemas ist darum keineswegs die garantiert richtige Entscheidung, sondern die Einladung zu bewußter Urteilsbildung.» (Nüchtern 1994: 94).
2. Ethik
2. Ethische Reflexion. Nachdem im ersten Schritt die Situation in verschiedenen Facetten entfaltet wurde, bringt die Frage nach dem ethischen Problem die Diskussion auf den Punkt – oder aber sie zeigt, dass es keine Einigkeit über die Definition des Problems gibt. Anschließend sollen diejenigen Grundsätze, Prinzipien oder Werthaltungen benannt und diskutiert werden, die in dieser Situation verletzt werden oder bei ihrer Beurteilung zur Orientierung dienen können. Der Unterschied und ggf. die Spannung zwischen den faktisch geltenden Normen und den übergeordneten Prinzipien kann in diesem Zusammenhang exemplarisch zum Thema werden und zu einer Kritik der herrschenden Moral führen. Die Frage nach der Verantwortung für die Situation und nach den Ebenen, auf der die Verantwortung angesiedelt ist, vervollständigt die ethische Reflexion und bildet eine Grundlage für die abschließende Beurteilung. 3. Ergebnisse. Die «ethisch begründete Beurteilung» fasst die wichtigsten Erkenntnisse aus dem ersten und zweiten Schritt zusammen. Hierbei werden nicht selten Dissense deutlich, die ebenso zum Ergebnis einer ethischen Diskussion gehören wie die Formulierung dessen, was als Konsens gefunden wurde. Bei beiden sind (mit Blick auf das im dritten Kapitel vorgestellte Bildungsziel der ethischen Kompetenz) die Begründungen und Erläuterungen ebenso wichtig wie die Feststellungen, die dort getroffen werden. Auch wenn die Reflexion selbst vielleicht keine eindeutige Lösung für eine Frage gefunden hat, so können in der Diskussion doch Faktoren deutlich werden, die zu dem Problem beitragen, wie etwa schlechte Kommunikation zwischen Pflegenden und Ärzten, Mängel in der Organisation oder Schulungsbedarf. Daraus können konkrete Vorschläge erwachsen, die auch im Hinblick auf das Vorgehen zu ihrer Durchsetzung diskutiert werden sollten. Moderation mit einem Modell – Grundsätze und methodische Hinweise
Ich stimme Arie van der Arend und Chris Gastmans zu, die eine Gefahr beim Einsatz von Modellen darin sehen, dass «man ethische Begründungen auf eine Form der Anwendung von prozessmäßigen Entscheidungsbäumen reduziert».144 Ein Modell könne eine ethische Reflexion niemals ganz umfassen, diese müsse vielmehr konkrete Kriterien für jeden Fall selbst hervorbringen. Letzteres deckt sich mit meinen eigenen Moderationserfahrungen und ist der Grund für die offene Gestaltung des Modells. Formalistische Modelle erwecken einen falschen Anschein von Objektivität und sind Ausdruck einer instrumentalistischen Auffassung von Ethik als «sicherem» Weg der Problemlösung.
144 V. d. Arend/Gastmans 1996: 124. Eine ähnliche Einschränkung nennt auch Fry 1994: 62: Ein Modell sei keine «universell anwendbare Faustregel für richtiges Entscheiden».
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Grundlagen
Für die Moderation ist nicht das verwendete Modell zentral, sondern das Ziel der Diskussion – sei es Reflexion einer Praxissituation, ethische Beratung, Ausbildung oder Entscheidungsfindung. Entsprechend soll das Modell den Diskussionsprozess strukturieren und unterstützen, nicht regieren. Es darf nicht starr «angewendet» werden, sondern die Moderatorin muss für Unerwartetes offen sein. Was an einem Fall wichtig ist, definieren die TeilnehmerInnen manchmal anders als die Moderatorin.145 Die Moderatorin begleitet die Diskussionsteilnehmer bei einem Lernprozess. Nicht ihr Wissen und ihre Einsichten sind gefragt, sondern Respekt vor den Fragen und Denkwegen der Teilnehmerinnen, Wachheit und Intuition. Wenn es sich nicht um eine Einzelveranstaltung handelt, kann es sinnvoll sein, sich zunächst auf Diskussionsregeln zu einigen wie
• Inhaltlich beim Fall bleiben (also keine zusätzlichen Geschichten erzählen) • Meinungen und Stellungnahmen immer begründen • Zuhören und sich auf das von anderen Gesagte beziehen • Äußerungen von anderen nicht entwerten • konkrete Aussagen, keine Pauschalurteile. Die Moderatorin achtet auf die Reihenfolge der Meldungen, ermutigt zurückhaltende Teilnehmer und bremst die allzu Aktiven. Eigene Kommentare der Moderatorin oder gar theoretische Exkurse können den Diskussionsprozess stören. Allerdings ist es sinnvoll, sehr kurze oder unklare Äußerungen durch Nachfragen zu präzisieren (vgl. dazu auch Heubel 2005: 150 f.). Wenn die Moderatorin dabei selbst nicht zu viel Raum einnimmt oder den Eindruck erweckt, das Gesagte sei nicht gut genug, kann sie den Teilnehmerinnen helfen, mit ihren eigenen Worten möglichst genau auszudrücken, was sie meinen. Die Schritte des Modells bieten Gelegenheit für eine Zusammenfassung zwischendurch, die den Teilnehmerinnen wichtige Punkte noch einmal in Erinnerung ruft. Die Moderatorin greift ein, wenn die Diskussion durch Polemik, Dialoge oder Monologe auf Abwege gerät. Eine grundsätzliche Haltung der Wertschätzung aller Teilnehmerinnen und ihrer Äußerungen hilft ihr beim Bewältigen von «Störungen» wie etwa durch Teilnehmer, die sehr emotional reagieren und andere nicht ausreden lassen. Hintergrund solchen Verhaltens können unglückliche Erfahrungen, Unsicherheit oder Scheu vor existenziellen Fragen sein.
145 Constanze Giese unterstreicht in ihrem Beitrag «Falldiskussion als Reflexion eigener Praxis», dass es zur Urteilsfähigkeit gehört, selbst zu erkennen, welche Informationen für die ethische Reflexion von Wichtigkeit sind (Giese 2005: 163).
2. Ethik
Das «Zeitmanagement» der Diskussion ist eine weitere wichtige Aufgabe der Moderatorin. Überziehung der vorgesehenen Zeit und ein überstürztes Ende der Diskussion sind für alle Seiten unbefriedigend. Es kann gerade bei längeren Diskussionen auch sinnvoll sein, den Verlauf der Diskussion kurz nachzuzeichnen. In jedem Fall sollten Dissense ausdrücklich benannt und ihre Verdeutlichung als positives Diskussionsergebnis betrachtet werden. Dies ist im Hinblick auf die Einübung der Diskursfähigkeit wichtig, zu der es gehört, mit unterschiedlichen Meinungen konstruktiv umgehen zu können. Wenn eine Diskussion gut beendet wird, bleibt sie auch gut in Erinnerung. Nach einer Zusammenfassung durch die Moderatorin, die von den Teilnehmerinnen ggf. korrigiert werden kann, ist oft ein abschließendes «Blitzlicht» sinnvoll, bei der jede Teilnehmerin kurz sagt, wie sie aus der Diskussion herausgeht. Auch diejenigen, die sich in der Diskussion wenig geäußert haben, kommen hier noch einmal zu Wort. In ihrem eigenen Schlusswort sollte die Moderatorin etwa das Engagement und die Offenheit der Teilnehmer würdigen und das Positive des Diskussionsverlaufes hervorheben. Aus den Erfahrungen mit dem Modell resultieren die folgenden methodischen Hinweise:
• Beim zweiten Schritt der Situationsanalyse («Die Sicht der anderen») frage ich oft nach der Person, die in den spontanen Kommentaren entweder gar nicht genannt oder negativ bewertet wurde. Vorschnelle Urteile oder Vorwürfe sollten gemäßigt und konstruktiv gewendet werden. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn es sich nicht um ein konstruiertes Fallbeispiel handelt, sondern um die Reflexion einer Konfliktsituation in der Praxis, bei der die Diskutanten selbst beteiligt waren.
• Ein «Fallstrick» aller ethischen Falldiskussionen ist es, dass die Teilnehmer bei der Situationsanalyse meist sehr lebhaft sind, die ethische Reflexion aber oft nur schwer in Gang kommt. Wenn man als Moderatorin Scheu hat, zu steuern, nimmt die Situationsanalyse den größten Teil der Zeit ein, und die ethische Reflexion kommt zu kurz. Die Moderatorin muss sich bewusst sein, dass der Übergang vom ersten zum zweiten Schritt nicht einfach ist, weil hier eine Abstraktion von dem Erlebten gefordert wird. Hier geschieht der Übergang vom besonderen Fall zu allgemeinen Regeln und Prinzipien.
• Die Frage nach den normativen Orientierungen sollte offen gestellt werden,
d. h. ohne eine Liste mit Prinzipien vorzugeben; die Teilnehmerinnen sollten sie selbst formulieren. Hier werden die Ebenen von moralischen Normen und übergeordneten Prinzipien oft nicht unterschieden, dies korrigiere ich während der Diskussion nicht, denn das Ziel ist zunächst nicht die korrekte
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Grundlagen
Anwendung dieser begrifflichen Unterscheidung, sondern die Ermutigung zum eigenständigen Formulieren von ethischen Grundsätzen. Wichtig ist hingegen, dass die Grundsätze nicht nur benannt, sondern in ihrer Bedeutung für die konkrete Situation erläutert und begründet werden.
• Bei größeren Gruppen kann es hilfreich sein, sie nach einer Situationsanalyse im Plenum für die ethische Analyse in Kleingruppen aufzuteilen (mit klarem Arbeitsauftrag und Zeitbegrenzung) und anschließend die Ergebnisse zusammenzutragen und diese dann gemeinsam abzuwägen und zu beurteilen.
• Die Frage nach praktischen Konsequenzen (im dritten Schritt des Modells)
stellt sich vor allem dann, wenn es um die Diskussion konkreter Vorfälle in der Praxis geht. Es kann aber auch bei Falldiskussionen im Unterricht interessant sein, zu besprechen, wie bestimmte Probleme vermeidbar wären. Hier kommt die Diskussion wieder in der Praxis an. Bei der Frage nach Umsetzungsmöglichkeiten wird der Blick für das institutionelle und personale Umfeld ethischer Probleme geschärft, auch wenn der spezielle Fall nicht angemessen lösbar ist. Zur Übung der Urteilsfähigkeit kann es auch einmal sinnvoll sein, auf ein Ergebnis, z. B. in Form eines Votums, zu drängen.
• Die abschließend zu formulierenden Ergebnisse sollen unter Einbeziehung der
übergeordneten Grundsätze und der Verantwortlichkeiten begründet werden. Nicht selten ist es nötig, hier nachzuhaken und Begründungen ausdrücklich einzufordern.
Der Einsatz eines Modells sollte nicht schematisch erfolgen. Nimmt das Modell zu viel Raum ein, dann besteht die Gefahr, dass sich die Diskussion vom Interesse und eigenen Erkenntnissen der Gruppe wegbewegt, nur um alle Schritte einzuhalten. So können wichtige Aspekte des Problems oder weiterführende Gedanken der Teilnehmer/innen aus dem Blick geraten. Eine entwickelte Kultur der Reflexion kommt weitgehend ohne Formalisierungen aus. Wenn eine Gruppe von in der Reflexion geübten Beteiligten oder ein entsprechend erfahrenes Team eine Situation reflektieren oder eine Entscheidung treffen wollen, kann man sich einfach an die drei Grundschritte halten und deren Unterpunkte lediglich als Anregung sehen. Das Modell zur ethischen Reflexion steht im Rahmen eines kontextbezogenen und gleichzeitig prinzipienorientierten Konzepts von Ethik und grenzt sich von schematischen, mechanistischen Formen der Entscheidungsfindung ab, für die Ethik bloß ein Mittel zu einer sicheren Problemlösung ist. In diesem Zusammenhang sei zum Ende des Kapitels noch einmal an die Gelassenheit erinnert, die im Kontext mit der Negativität bereits erwähnt wurde (2.3.2.1). Gelassenheit als Ausdruck der Zurückhaltung gegenüber dem in der Ethik im Gesundheitswesen
2. Ethik
verbreiteten Aktionismus, zu dem auch die Überbetonung von Entscheidungszwängen gehört; Gelassenheit als Schutz vor Moralisieren und Rigorismus; Gelassenheit als Selbstbescheidung der Ethik, die überhöhte Ansprüche «lassen» kann und sich auf begriffliche Klärungen und kritische Reflexion konzentriert: So kann Ethik nachhaltiger wirken – auch im Sinne von Bildung! – als wenn sie sichere Lösungen verspricht (vgl. Rehbock 2005b: 76–105). Denn zur bildenden Auseinandersetzung mit Problemen gehört die Einsicht, dass auf die Frage nach der Lösung von Problemen verschiedene Antworten möglich sind (Klafki 1996: 61).
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Ergebnisse
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Didaktik
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Ergebnisse
3. Didaktik
Auf dem Weg zu einer theoretisch und praktisch gut fundierten Konzeption für die Vermittlung von Ethik in der Pflegeausbildung steht nun der letzte Klärungsschritt an. Nachdem im ersten Kapitel die Entwicklung der Pflege, insbesondere ihres Ethos und ihrer Professionalität dargestellt und kritisch erörtert wurde, war das zweite Kapitel einer Standortbestimmung in der Ethik gewidmet. Aus beiden ergeben sich Anfragen an die Didaktik, die die nun folgende Orientierung im Feld der Didaktik erleichtern. Die Positionierung zur Ethik (zum Beispiel die dort vertretene Personorientierung), aber auch die Besonderheiten des Pflegeberufes und seiner Ausbildung bestimmen die Auswahl der didaktischen Orientierungspunkte. Ethik als theoretisch-reflexive Klärung, Bewusstmachung und kritische Überprüfung der Moralität, die jeder Mensch schon mitbringt, ist notwendigerweise auch Teil der Berufspraxis von Pflegenden und Medizinern. Deren Berufsethos kann nur dann in der Praxis wirksam werden, wenn es bewusst reflektiert, angeeignet und im Hinblick auf praktische Situationen konkretisiert wird. Didaktische Konzeptionen und Methoden für die Vermittlung von Ethik in der Pflege, die in diesem Kapitel erörtert werden sollen, sind deshalb vor allem daran zu messen, ob und inwieweit sie geeignet sind, Pflegende zum eigenständigen ethischen Denken, Argumentieren und Reflektieren zu motivieren und zu befähigen. Gute Pflege ist nicht wertfrei, sie kann nicht auf technische Perfektion reduziert werden, sondern sie muss moralisch gegenüber dem Kranken als Person und gegenüber der Gesellschaft, von der die Pflege beauftragt ist, gerechtfertigt sein, sie muss also moralisch gut sein. Im Sinn der im Ethik-Kapitel skizzierten Prinzipien beinhaltet gute Pflege ein reflektiertes Gleichgewicht von Fürsorge und Respekt vor der Autonomie, Gerechtigkeit, verantwortliches und dialogisches Verhalten und, als Kristallisationspunkt dieser Aspekte, die Achtung und Bewahrung der Würde aller Menschen, mit denen Pflegende beruflich umgehen. Die Wurzeln für eine solche moralisch reflektierte professionelle Haltung zu legen und sie weiterzuentwickeln ist ein wichtiges Ziel der gesamten Ausbildung. Hier geht es um mehr als um Wissensaneignung, es geht um persönliche Entwicklung. Im Ethikunterricht werden Wertfragen explizit angesprochen und damit der Blick für diese sonst eher nicht bewusst mitlaufende Dimension geöffnet. Die Frage, wie «gute Pflege» gelehrt werden kann, beinhaltet die Frage, wie Reflexion, Wahrnehmung, Selbstdistanz, Kommunikationsfähigkeit und viele andere wichtige Kompetenzen «gelehrt» werden können, die Bedingungen für gute Pflege sind. Dies kann nicht auf den Ethikunterricht begrenzt bleiben. Personale und ethische Kompetenzen, wie sie für die Pflege grundlegend sind, können nicht erzeugt, sondern nur gestärkt und gefördert werden. Sie sind eine Herausforderung an Bildung.
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Grundlagen
Meine langjährigen Erfahrungen als Lehrerin für verschiedene Wissensgebiete in der Pflegeausbildung haben ein Verständnis von Lehren und Lernen gebildet, in dem Subjekt- und Erfahrungsorientierung zentral stehen. Entsprechend der menschennahen Tätigkeit der Pflege muss auch die Ausbildung zu dieser Tätigkeit den ganzen Menschen erfassen und nicht nur Kenntnisse und Fertigkeiten an ihn herantragen. Unterricht ist ein soziales Geschehen, in dem das Vorbild der Lehrerin und ihre Haltung zu den Schülerinnen, aber auch das Gruppengeschehen bedeutsam und prägend für das zukünftige berufliche Handeln sind. Deshalb kommt dem pädagogischen Ethos eine besondere Bedeutung zu. Es geht also um Bildung im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung, zugleich aber auch im Sinn von reflektierter und kritischer Wissensaneignung Dieses Verständnis knüpft an Wolfgang Klafkis kritisch-konstruktive Didaktik an und wird ergänzt durch Martin Wagenscheins genetisch-sokratisch-exemplarischen Ansatz sowie Ilse Bürmanns Brückenschlag zwischen Person- und Sachorientierung. Klafki verbindet die Bildungstheorie mit konkreten unterrichtsbezogenen Konzepten und hat mit der Idee von Bildung als Zusammenhang der drei «Grundfähigkeiten», der Fähigkeit zur Selbstbestimmung, zu Mitbestimmung und zu Solidarität (Klafki 1996: 52), einen geeigneten Rahmen auch für die Ausbildung einer Berufsgruppe abgesteckt, deren Hauptaufgabe die Solidarität mit und die Begleitung von kranken Menschen ist, und deren Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten aufgrund ihrer Geschichte noch entwicklungsbedürftig sind. Für ein Konzept des Ethikunterrichts ist dabei bedeutsam, dass Bildung nach Klafkis Verständnis fundamentale ethische Implikationen hat und über die Grundbildung hinaus auch die Erwachsenen- und Berufsbildung einbezieht. Martin Wagenscheins sokratisch-genetisch-exemplarischer Ansatz ist eine Ermutigung zu einer bildungstheoretisch orientierten Fachdidaktik, die er für Physik und Mathematik entwickelte. Übertragungen auf die Didaktik der Ethik scheinen gewagt; das Verbindende liegt in der Überwindung der Furcht vor Abstraktion, der Ermutigung zum eigenständigen, «laienhaften» Denken und Sprechen. Ilse Bürmanns Buch «Überwindung des Dualismus zwischen Person und Sache» schließlich war wegweisend bei meiner Orientierung in der Didaktik und gab wichtige Denkanstöße zur Frage der Person- oder Sachorientierung. Durch ihre Einbeziehung des genetischen Ansatzes von Wagenschein und der phänomenologischen Überlegungen von Meyer-Drawe hat sie darüber hinaus Akzentsetzungen meines eigenen Ansatzes mitbestimmt: die Bildungsorientierung, die Einsicht in die Unverfügbarkeit des Lernens und die wechselseitige Ergänzung von Person- und Sachbezug.
3. Didaktik
Struktur und Schwerpunktsetzungen im didaktischen Kapitel dieser Arbeit ergeben sich aus ihrem Zuschnitt der ausbildungs- und unterrichtspraktischen Bezüge: Am Anfang stehen allgemeindidaktische Überlegungen zu Bildung und Lernen und ihre Verbindungen mit der Ethik-Konzeption. Sie bilden den Rahmen für eine Betrachtung der didaktischen Konzepte, die die Pflegeausbildung prägen: das Schlüsselqualifikationen- und das Lernfeldkonzept, die ihrerseits auf Handlungs- und (Selbst-)Reflexionsorientierung beruhen. Im dritten Teil werden spezifische didaktische Fragen für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung erörtert, die professionelle, d. h. ethisch reflektierte Grundhaltung von Lehrenden wird umrissen, und es werden als Fazit dieses Kapitels didaktische Grundsätze formuliert, an denen sich die folgende Konzeption des Ethikunterrichts für die Pflege ausrichtet. Nicht ein unspezifischer Abriss der allgemeinen und fachbezogenen Didaktik soll also hier geleistet werden, sondern eine Klärung des didaktischen Feldes, in dem sich die Pflegeausbildung bewegt und der Faktoren, die die dort zu treffenden didaktischen Entscheidungen bestimmen. Den Abschluss der theoretischen Vorüberlegungen dieser Arbeit, auf denen das anschließend dargestellte Konzept beruht, bildet eine Betrachtung des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis, das sich als Problem oder Frage nicht nur für die Didaktik, sondern auch für die Ethik und die Pflegewissenschaft stellt.
3.1
Bildung und Didaktik – zum Grundverständnis Wolfgang Klafki schlägt vor dem Hintergrund der vielfältigen Verzweigungen der Didaktik und ihrer Erweiterung auch auf außerschulische Bereiche eine weite Definition vor, die auch für den Zusammenhang dieser Arbeit sinnvoll erscheint: Didaktik ist demnach die «übergreifende Bezeichnung für erziehungswissenschaftliche Forschung, Theorie- und Konzeptbildung im Hinblick auf alle Formen intentionaler […], systematisch vorbedachter «Lehre» […] und auf das im Zusammenhang mit solcher «Lehre» sich vollziehende Lernen» (Klafki 1996: 91). Zum Gegenstandsbereich der Didaktik gehören deshalb einerseits Untersuchungen über Ziele, Inhalte, Methoden, Medien, andererseits aber auch konkrete Bestimmungen zu Lernprozessen, zum Lehrerhandeln und die Klärung «verborgener» Prozesse, die mit dem Lehren und Lernen verbunden sind (Klafki 1996: 92 f.). Als kritisch-konstruktiv bezeichnet Klafki sein didaktisches Konzept deshalb, weil es sowohl die Befähigung zur Kritik als auch die Fähigkeit zu Gestaltung und Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen zum Ziel hat.
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Grundlagen
3.1.1 Bildung als zentrale Kategorie der Didaktik
Klafki formulierte in kritischer Reflexion auf klassische Ideen der allgemeinen Bildung, wie sie im 18. Jahrhundert entstanden sind, ein neues Konzept der Allgemeinbildung, dessen Hauptelemente ich hier kurz darstelle, da Bildung der Schlüsselbegriff einer Didaktik der Ethik ist. Klafki geht davon aus, dass die Didaktik ohne die allgemeine Zielkategorie «Bildung» nicht auskommt. Der Bildungsbegriff wurde als idealistisch überhöht oder als ideologisch kritisiert und deshalb durch die Begriffe «Emanzipation» oder «Mündigkeit» ersetzt, die ihrerseits aber nicht umfassend genug sind (Klafki 1996: 43 f.). Klafkis Verständnis von Bildung als Befähigung zur Autonomie beruht auf einer Sicht des Menschen als freies und zu vernünftiger Selbstbestimmung fähigen Wesens. Dieses Grundverständnis steht in der Tradition der Aufklärung und hat vor allem Wurzeln in der Kantischen Idee des «Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit»146, die die Forderung einer moralischen Entwicklung nach sich zieht: «Sich selbst besser machen, sich selbst kultivieren und […] Moralität bei sich hervorbringen, das soll der Mensch» (Kant, Vorlesung über Pädagogik, zit. nach Klafki 1996: 20). Die Nähe zu dem im vorigen Kapitel dargestellten Verständnis von Ethik liegt auf der Hand, weil auch dafür das Kantische Verständnis von moralischer Autonomie grundlegend ist. Für die Pflege bedeutet dies zum Beispiel, sich von einem falschen Verständnis von Gehorsam und Autorität zu lösen, Verantwortung für das eigene Handeln und für die eigenen moralischen Überzeugungen zu übernehmen und sie nötigenfalls auch gegen Widerstand zu vertreten. Voraussetzung dafür ist die Bewusstmachung und kritische Reflexion des pflegerischen Ethos. Bildung bedeutet für Klafki aber auch Subjektentwicklung, die nicht individualistisch, sondern als lebenslange Auseinandersetzung mit der Welt verstanden wird. Das heißt, dass ein gebildeter Mensch nicht zum «lebenslangen Lernen» aufgefordert werden muss, wie es gerade in der Berufspädagogik oft geschieht; lebenslanges Lernen ist dem Bildungsbegriff immanent.147 Hartmut von Hentig sieht Bildung als formatio, ein Gestalt-Gewinnen, das nicht von allein, aber auch nicht nur durch systematische Belehrung erworben werden kann, sondern von 146 Kant fährt erläuternd fort: «Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.» (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: ders. 1983: Werke in sechs Bänden, Band VI, S. 53/A 481). 147 v. Hentig spricht von «Bildung, die den einzelnen zum Subjekt seiner Handlungen, auch seiner Bildung macht» (v. Hentig 1999: 160).
3. Didaktik
einer kultivierten Umwelt auf den zu Bildenden übergeht, wenn dieser dazu eine innere Bereitschaft hat (v. Hentig 1999: 19–21). Der Gesichtspunkt der Subjektentwicklung spielt für die Ethik insofern eine Rolle, als zur ethischen Reflexion und zur Entwicklung einer moralischen Grundhaltung immer auch nichtkognitive Aspekte wichtig sind. Das berufspädagogische Schlüsselqualifikationenkonzept bezeichnet diese Fähigkeiten einer Person als «personale Kompetenz»; sie beinhaltet u. a. die Möglichkeit der Selbstdistanzierung, der Wahrnehmung eigener und fremder Gefühle und Phantasie. Bildungsfragen, so Klafki, sind grundsätzlich gesellschaftliche Fragen, weil Bildung letztlich auf die Verwirklichung einer menschlicheren Welt zielt. Indem Bildung zur kritischen Infragestellung des Gegebenen befähigt, hat sie eine politische Dimension und beinhaltet auch die moralische Forderung nach Mitverantwortung. Bildende Auseinandersetzung mit der Welt – Klafki spricht von «Bildung im Medium des Allgemeinen» – geschieht anhand zentraler Probleme der Gegenwart und soll die Bereitschaft zur Mitverantwortung fördern. Solche Schlüsselprobleme sind etwa die Friedensfrage, die Umweltfrage, die gesellschaftliche Ungleichheit, die «Gefahren und Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs-, Informations- und Kommunikationsmedien» und die «Ich-Du-Beziehung» (Klafki 1996: 59). Letztere findet sich (über eine Zweierbeziehung hinaus gedacht) in Gestalt des Dialogprinzips in meinem Konzept wieder, das neben dem dialogischen Verhalten auch die wechselseitige Anerkennung und berufsübergreifende Zusammenarbeit z. B. bei der ethischen Entscheidungsfindung beinhaltet. Bildung, so Klafki, soll nicht auf Eliten begrenzt sein, weshalb allgemeine Bildung die Forderung der «Bildung für alle» (Klafki 1996: 21) und damit die moralische Forderung nach Gerechtigkeit im Sinne von Chancengleichheit beinhaltet. Der Verwertbarkeitsanspruch an Bildung ist in der Berufsbildung so allgegenwärtig, dass man die Frage stellen muss, ob ein Bildungsanspruch im eigentlichen Sinn noch ernsthaft erhoben wird. Die Inhalte der Pflegeausbildung haben sich allmählich gewandelt: von der Fächerorientierung hin zur Handlungsorientierung und damit auch zu einer stärkeren Beachtung des spezifischen Praxisfeldes der Pflege. Die Forderung nach handlungsorientiertem Unterricht ist verständlich vor dem Hintergrund der Kluft zwischen Theorie und Praxis. Sie führt aber auch zu einer Infragestellung und Relativierung des Bildungsgedankens. Bildung ist, im Unterschied zu Qualifikation, nicht auf Verwertung ausgerichtet. Für bildendes Lernen «ist die Qualität des Prozesses wichtiger als sein kurzfristiges Ergebnis» (Bürmann 1997: 148). Es braucht den «Überschuss» (ebd.), das Reflektieren und Lernen, von dem man noch nicht weiß, wofür es gut ist, in welcher Kompetenz es einmal Gestalt gewinnen kann. Auch für die Ethik ist dieses selbstzweckhafte Erkenntnisinteresse zu fordern.
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Hartmut v. Hentig hat in seinem Essay über Bildung Maßstäbe formuliert, an denen Bildung sich bewährt. (v. Hentig 1999: 74–97) Verbindet man diese Maßstäbe mit dem, was für die Ethik in der Pflegepraxis bedeutsam ist, so zeigen sich die enge Verzahnung dieses Bildungsverständnisses mit dem hier vertretenen Verständnis von Ethik und damit erste Konturen für Zielorientierungen des Ethikunterrichts: 1. «Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit» – im Sinne von Wachheit für die Missachtung der Person des Patienten im Pflege- und Krankenhausalltag. 2. «Die Wahrnehmung von Glück»– im Sinne von Selbstsorge und Fürsorge, als Fähigkeit, die Perspektive des Patienten einzunehmen und mit ihm kommunizierend herauszufinden, was für ihn in einer bestimmten Situation gut ist. 3. «Die Fähigkeit und der Wille, sich zu verständigen» – als dialogische Grundhaltung sowohl Patienten als auch Kollegen gegenüber, die Voraussetzung für einen respektvollen Umgang mit Verschiedenheiten und Uneinigkeit. 4. «Ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz» – als bewusster Umgang mit der eigenen Lebensgeschichte und dem Wissen um die Biographie des Patienten, Bewusstsein der Endlichkeit, aber auch Wissen etwa über die Geschichte des Pflegeberufes mit seinem historischen moralischen Versagen in der Zeit des Nationalsozialismus. 5. «Wachheit für letzte Fragen» – reflektiertes Bewusstsein für eigene Wertorientierungen und die Bereitschaft, sich mit existenziellen Fragen auseinanderzusetzen. 6. «Die Bereitschaft zur Selbstverantwortung und zur Verantwortung in der res publica» – für die Pflege vor allem wichtig als Selbst- und Mitverantwortung in Institutionen, in denen die persönliche Zuschreibbarkeit von Verantwortung zunehmend zu verschwinden droht, sowie als kritischer und aktiver Umgang mit Problemen im eigenen Arbeitsbereich, aber auch als Bereitschaft zur Mitwirkung in Berufsorganisationen oder bei Aktivitäten zur Verbesserung des eigenen Arbeitsfeldes und des Gesundheitswesens insgesamt. 148 3.1.2 Negativität und Didaktik: zur Unverfügbarkeit des Lernens
Negativität ist, so Thomas Rentsch, eine anthropologische Grundgegebenheit. Sie äußert sich in der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens und in der «wechselseitigen Entzogenheit», wodurch das Zusammenleben und die Verständigungs148 Diese Art von Mitverantwortung wird in mehreren berufsethischen Kodizes gefordert, vgl. dazu Kap. 1.1.2.
3. Didaktik
versuche von Menschen bestimmt werden. Die Negativität macht die grundsätzliche Situiertheit und Begrenztheit des Erkenntnisvermögens deutlich und lädt damit zur Selbstbescheidung von Wissenschaft und zum Verzicht auf überzogene Ansprüche ein. Im Falle der Ethik geht es um Verzicht auf den Anspruch starrer Normierungen und absoluter Begründungen, im Falle der Didaktik um Verzicht auf den Anspruch, Bildung und Lernen erzeugen oder herstellen zu können. Ein Lehrer kann niemandem Begriffe und Ideen «geben», niemandem etwas «beibringen», wenn der Lernende sich den Stoff nicht aktiv aneignet, sein Vorverständnis aktiviert und bereit ist, es zu ergänzen oder neu zu ordnen. Wie diese Bedeutungszuweisung durch den Lernenden geschieht, von der ja das Lernen entscheidend abhängt, kann nicht erfasst werden. So steht alles Lehren […] vor der widersprüchlichen Aufgabe, das Nicht-Machbare zu ermöglichen, das Subjekt zur Eigenaktivität anzuregen, Prozesse zu fördern, die selbstorganisiert ablaufen und deren konkreter Ausgestaltung durch das Subjekt der Lehrende machtlos und letztlich unwissend gegenübersteht (Bürmann 1997: 17).
Dieser Widerspruch wird oftmals dadurch zu lösen versucht, dass das Erreichen der oftmals viel zu hoch gesteckten Ziele einfach behauptet wird. Das Aufschreiben und Benennen von Lernzielen wird schon mit ihrer Erreichung gleichgesetzt. Die Ungeklärtheit dessen, wie Lernen tatsächlich geschieht, wird durch den rituellen Charakter von Unterricht überspielt, kritisiert Andreas Gruschka, so dass es unwichtig wird, ob Vermittlung tatsächlich stattgefunden hat oder nicht. Nur am Rande nimmt die didaktische Literatur diese Merkwürdigkeit zur Kenntnis, dass das Voranschreiten im Stoff nicht abhängig gemacht wird von seiner Aneignung. In der didaktischen Literatur wird stattdessen durchweg vom erfolgreichen Lernen ausgegangen, nicht also vom Übergewicht des Diffusen der Vermittlung und vom Unterbieten der eigenen Ziele (Gruschka 2002: 87).
Erkennt man aber die Tatsache an, dass die Lehrer Lernen und Bildung nicht erzeugen, sondern bestenfalls fördern können, so erhebt sich die Frage, welche Ziele man für Unterricht realistischerweise überhaupt haben kann, wo sich doch so vieles im Unterrichtsprozess dem planenden Zugriff entzieht und unverfügbar, ja unbestimmbar bleibt. Ist es nicht naiv, soziale, personale oder ethische Kompetenz als Ziel zu nennen? Die bekannten Unwägbarkeiten des Lehr-Lernprozesses müssen nicht zu einem didaktischen Nihilismus führen, sondern sie fordern dazu heraus, die Bedingungen gelingenden Lehrens und Lernens genauer zu beschreiben und Lernerfolge verstärkt zu untersuchen. Es ist ja nicht so, dass es kein Wissen dar über gäbe, was das Lernen fördert bzw. behindert. Dazu existieren verschiedene Theorien, von der Gestaltpädagogik bis zum Konstruktivismus, deren anthropologische Grundannahmen sehr verschieden, deren Folgerungen aber kompatibel sind. Eventuell wird man nie mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit erfassen
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können, wie die verschiedenen Faktoren des Lehrens und Lernens zusammenwirken, sich verstärken oder hemmen, kurz, wie (und in welcher Zeit) Wissen, Fähigkeiten, Kompetenzen tatsächlich entstehen, denn uns ist, wie Käte MeyerDrawe es formuliert, «eine unmittelbare Sicht auf Lernen […] versagt» (MeyerDrawe 1996: 89). Dies anzuerkennen gibt Grund zur Bescheidenheit, nicht aber zur Resignation. Meyer-Drawe und Wagenschein beschreiben Lernen als diskontinuierlichen, oft krisenhaften Übergang zwischen Erfahrungs- und Theoriewissen – auch dies sind Aspekte von Negativität – und betonen dabei die produktiven Möglichkeiten von Brüchen und Widerständen, die sonst oft als Hindernisse des Lernens gesehen werden. Für das Lernen in Ausbildungszusammenhängen ist die Frage nach dem «Transfer», nach Übergängen und Verbindungen zwischen Theorie und Anwendung, von besonderer Wichtigkeit. Hier bietet eine phänomenologische Perspektive der Pädagogik Ansätze, die über die einfachen Ursache-Wirkungs-Annahmen vieler Modelle hinausgehen. Meyer-Drawe weist darauf hin, dass Lernen immer mit Vergessen verbunden ist: «Wenn wir einmal eine Fähigkeit erworben haben, sind wir außerstande uns vorzustellen, wie wir vorher waren» (Meyer-Drawe 1996: 87) – die Vorstufen des neu erworbenen Wissens sind verschwunden. Eine solche Betrachtung macht Stufenkonzepte der Entwicklung plausibel. Lernen setzt demnach ein wie auch immer geartetes Vorwissen voraus – Meyer-Drawe spricht von «unthematischem Vorverständnis». Sie verweist auf den negativen Charakter und die potenzielle Krisenhaftigkeit des Lernvorganges: Lernen wird oft durch eine Aporie angeregt. Wenn die bisherigen Kenntnisse und Vorannahmen ein Problem nicht lösen können, werden sie in ihrer Gültigkeit erschüttert. Die daraus folgende Irritation löst eine Suchbewegung aus, die zu einer Neuorientierung führt. Dabei werden die bisherigen Denkvoraussetzungen nicht einfach ersetzt, sondern umgestaltet. Obwohl dieses «Umlernen» auch positiv erfahren wird, sowohl wegen des Erkenntnisgewinns als auch wegen der geleisteten Grenzüberschreitung, darf das Krisenhafte daran, das mit der «Enttäuschung sicher geglaubter Erwartung» (Meyer-Drawe 1996: 89) einhergeht, nicht unterschätzt werden. Lernen vollzieht sich hier als Bruch und kann deshalb durchaus auch mit Widerstand verbunden sein. Auszubildende in der Pflege erleben oft ähnliche Brüche, wenn sie mit den im theoretischen Unterricht gelernten Modellen die um so vieles komplexere Praxis zu bewältigen versuchen. Eine erste Enttäuschung ist es für viele schon, wenn sie erfassen, dass der Unterricht (nicht nur in der Ethik, sondern auch in der Pflege) ihnen keine Rezepte, allgemeingültigen Handlungsmuster und sicheren Lösungen präsentieren kann, sondern dass immer eigene Anstrengungen, Trans-
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ferleistungen und Urteilskraft nötig sein werden, um in den nicht standardisierbaren Pflegesituationen den Patienten und der Situation gemäße Lösungen zu finden. Dies gilt sowohl für praktische Abläufe als auch für ethische Fragen. Eine wichtige Aufgabe der Ausbilderinnen ist es daher, Lernorte und Lernmöglichkeiten zu schaffen, die diese Brüche nicht zu Frustrationen, sondern zu Lernanlässen werden lassen. «Lernen ist unsicher wie Lehren: ein angestrengtes Suchen nach Wegen, die häufig in die Irre führen» (Gruschka 2002: 229). Wird diese Grundtatsache eingestanden, kann sie Lehrenden wie Lernenden neue Denk- und Handlungsspielräume eröffnen. Obwohl Martin Wagenscheins genetisch-sokratisch-exemplarischer Ansatz149 mit Blick auf den Physik- und Mathematikunterricht entwickelt wurde, bietet er für die Schaffung von Verbindungen zwischen Erfahrung und Theorie, zwischen «ursprünglichem Verstehen und exaktem Denken» (so der Titel von Wagenschein 1965) wichtige Einsichten, die auch der Pflegedidaktik Impulse geben können. Wagenschein geht wie Meyer-Drawe davon aus, dass der Übergang zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen sich nicht kontinuierlich entwickelt, sondern dass plötzliche Entdeckungen, Brüche und Durchbrüche dazugehören. Aufgabe des Lehrers ist es, das Lernen behutsam mit Impulsen zu begleiten und die Aporien, die die Erkenntnis fördern können und die der Lehrer zuvor auch mit erzeugt hat, nicht gleich aufzulösen. Für den Ethikunterricht scheint mir ein Erkenntnisweg fruchtbar zu sein, den Wagenschein für den Physikunterricht entwickelt hat. Er beschreibt ihn so: «Erst erfahre etwas, dann sage es beteiligt, schließlich fasse es nüchtern».150 Für den Physikunterricht bedeutet dies, dass es sinnvoll ist, von Naturphänomenen auszugehen und nicht von Theorien und Formeln, die von vielen doch nur oberflächlich übernommen, aber nicht verstanden werden.151 Die Phänomene sollen möglichst direkt erfahren und nicht durch komplizierte Versuchsanordnungen oder andere Präparationen verfälscht werden. Die dann folgende erste Versprachlichung soll 149 Wagenschein bezeichnet mit diesen drei Begriffen seine Lehrweise: Sie bildeten eine Einheit, und doch sei das Genetische «in dieser Dreiheit führend» (Wagenschein 1999: 75). Das Genetische steht dafür, dass sich die Pädagogik sowohl mit dem werdenden Menschen als auch mit dem entstehenden Wissen befasst. Dieses Werden vollzieht sich bevorzugt im sokratischen Gespräch. Exemplarizität ist nötig, weil das genetisch-sokratische Arbeiten eine besondere Gründlichkeit und deshalb eine Begrenzung der Themen erfordert. Die Auswahl der Themen geschieht unter der Fragestellung, ob in diesem Einzelnen das Ganze gespiegelt wird (ders.: 32). 150 Wagenschein 1976: 138. Den Hinweis darauf verdanke ich Ilse Bürmann (1997: 54). 151 ������������������������������������������������������������������������������������ Dies verdeutlicht Wagenschein an mehreren Beispielen: 80 % der Besucher einer Sternwarte, die allen sozialen Schichten angehören, können nicht erklären, warum «die Gestalt des Mondes vom Vollmond zum Halbmond, zur Sichel und zum Neumond wechselt» (Wagenschein 1999: 62).
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möglichst «beteiligt», das heißt mit eigenen Worten und unter Verwendung von Metaphern geschehen – Wagenschein spricht hier auch vom «animistischen» Sprechen, weil den Phänomenen quasi ein Eigenleben zugeschrieben wird: Die Luftblase «will» im Wasser nach oben. Die Kinder werden ermutigt, so zu reden, als seien die Dinge «Wesen wie du und ich». Erst im dritten Schritt wird von der eigenen Beschreibung zur Fachsprache übergeleitet. Dabei werden die subjektiven Anteile der Erklärung durch objektive ersetzt.152 Der Wagenschein’sche Erkenntnisweg lässt die Schüler im bildhaften, suchenden Sprechen die Zusammenhänge finden. Die Abstraktion, die im dritten Schritt folgt, ist nicht die eigentliche Erkenntnis, sondern nur ihre allgemeingültige Umformulierung. Sie ist nicht Ziel und Endpunkt der Erkenntnisbewegung, denn diese soll auch von der Abstraktion wieder zurück in die Lebenswelt gehen. Erst die Hin- und Herbewegung zwischen Erfahrung und Begriff ermöglicht eine Verankerung der Zusammenhänge im Geist, so dass sie handlungsleitend werden können. Dies ist für die Pflegeausbildung von zentraler Bedeutung, mehr als Grundidee, denn als direkt übertragbare Methode: Die Auszubildenden sollen nicht mit Wissen überladen in eine Praxis geschickt werden, in der sie mit diesem Wissen nichts anfangen können, sondern es muss eine Hin- und Herbewegung geben von Grundlagenwissen zum Fallverstehen, von den Regeln der Kunst zum Einzelfall. Dieser Grundsatz hat zwar in Gestalt der Handlungsorientierung und der neuen curricularen Lernfeldstrukturen Eingang in die Pflegeausbildung gefunden, deren Implementierung ist jedoch noch in den Anfängen und lässt oft genau diese Verbindungen vermissen, die solche Strukturen überhaupt erst sinnvoll machen.153 Wenn verschiedene Elemente des Theoriewissens unverbunden nebeneinander stehen und nicht wiederum mit den Praxiserfahrungen verknüpft werden, ist die Verwirrung womöglich noch größer als bei der bisher zugrunde gelegten Fächersystematik. Der Wagenschein’sche Dreierschritt hat auch das von mir entwickelte Modell zur ethischen Reflexion geprägt, das im zweiten Kapitel vorgestellt wird (2.3.7). Das Modell hat sich in der Unterrichts- und Fortbildungspraxis vielfach bewährt. Ausgehend von einer realen oder fiktiven Situation, über die «beteiligt» gesprochen wird, d. h. unter Einbeziehung von Gefühlen und spontanen Urteilen, erfolgt mit der ethischen Analyse eine Distanzierung von der konkreten Situation und die Suche nach der Bedeutung allgemeiner Begriffe (wie Normen und Prinzipien) 152 Aus der Beschreibung einer unten verschlossenen Fahrradpumpe, bei der man von oben die Luft zusammenpresst «je weniger Platz die Luft noch hat, desto mehr wehrt sie sich» wird die abstraktere Formulierung: «Je kleiner der Raum der Luft geworden ist, desto größer ihr Druck», aus der nach entsprechenden Messungen eine Formel abgeleitet werden kann (nach Bürmann 1997: 64 f.). 153 ����������������������������������������������������������������������������������� Eine Gefahr liegt auch in dem verbreiteten Missverständnis, dass Handlungsorientierung mit reiner Praxisorientierung gleichgesetzt wird, die theoretisches Wissen immer auf seine praktische Verwertbarkeit prüft.
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für diesen Fall. Diese Distanzierung ist ein «Bruch» mit dem vertrauten Denken, deshalb ist sie manchmal schwierig und mit Widerständen verbunden. Die Betrachtung endet mit einer erneuten Hinwendung zu der konkreten Situation. So kann ethische Reflexion aus der geschützten und in gewisser Weise künstlichen Sphäre des Unterrichts in die Praxis gelangen, etwa als die Fähigkeit, moralische Dimensionen von Situationen in der Pflegepraxis allererst als solche wahrzunehmen oder neue Handlungsmöglichkeiten in der gemeinsamen Beratung zu entwickeln. Darüber hinaus kann durch die Diskussion über die Bedeutung ethischer Prinzipien in konkreten und denkbaren Situationen eigenwertige Erkenntnis entstehen, die über die Bewältigung konkreter Praxissituationen hinausgeht, neue Perspektiven eröffnet und damit bildend wird. Wagenschein, Bürmann und Meyer-Drawe haben mit der Vorstellung eines häufig diskontinuierlichen und manchmal krisenhaften Überganges zwischen Erfahrung und Wissen wichtige Grundideen für die Vermittlung formuliert. Für Lehrerinnen, die sich um ein neues Verständnis ihrer eigenen Rolle bemühen, kann diese Erkenntnis hilfreich sein. Bürmanns Idee der Hin- und Herbewegung zwischen den Polen der Praxis und der Theorie zeigt auch die grundsätzliche Problematik eines einseitigen Zugangs. Wird nur auf Erfahrungs- und Praxisorientierung gesetzt, so fehlt das Hintergrundwissen, und es besteht die Gefahr eines einseitigen Modell-Lernens. Beim ausschließlich theoretischen Zugang wird die Übertragbarkeit in die Praxis vernachlässigt. Theorie und Praxis sind zwar nicht völlig voneinander verschiedene und getrennte Sphären, sie können aber nicht einander angeglichen werden. Ihr Verhältnis ist vielmehr das einer produktiven Spannung (vgl. dazu auch 3.4). 3.1.3 Person- oder Sachorientierung?
Seit Rousseau die Idee der freien Entfaltung der Persönlichkeit geprägt hat,154 hat die Subjektorientierung in der Pädagogik stets an Bedeutung gewonnen, auch wenn es immer wieder kognitivistische oder technokratische Gegenbewegungen und Ergänzungen gab, z. B. die Idee des programmierten Unterrichts in der 1980er-Jahren. Roswitha Ertl-Schmuck hat die Notwendigkeit einer subjektorientierten Didaktik für die Pflegeausbildung aufgezeigt, in der es noch immer ein Übergewicht von Medizinorientierung gegenüber Pflegeorientierung und von grundsätzlicher Wissensvermittlung (und damit von medizinischen Inhalten) gegenüber der För-
154 1762 erschien Rousseaus pädagogisches Lehrbuch «Émile oder über die Erziehung», das die idealtypische Bildung und Entwicklung eines Kindes beschreibt.
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derung personaler und moralisch-reflexiver Kompetenzen gibt.155 Aus der Medizinorientierung ergibt sich für die Pflegenden eine Geringschätzung der eigenen Arbeit und eine reduzierte Sicht auf den kranken Menschen. Demgegenüber sieht Ertl-Schmuck konstitutive Elemente des pflegerischen Handelns im Dialog, der Sorge für Menschlichkeit, der Balance zwischen Nähe und Distanz und der Unterstützung der Patienten bei ihrer eigenen Entwicklung durch Begleitung und Ermutigung. Dementsprechend ist es Aufgabe der Pflegeausbildung, die Fähigkeiten zur subjektorientierten Pflege zu stärken. Ertl-Schmucks Analyse fachdidaktischer Modelle und ihre Interviews mit Pflegelehrerinnen zeigten trotz einiger positiver Ansätze noch Entwicklungsnotwendigkeiten für die Pflegedidaktik. Neben der Subjekthaftigkeit der Patienten muss auch die der Auszubildenden gesehen und entwickelt werden. Dafür bedarf es nach Ertl-Schmuck einer Umorientierung der Lehrenden zum dialogischen Verhalten und zum Verzicht auf Machtmissbrauch. Ertl-Schmuck hat als Orientierung für die Didaktik verschiedene Konstellationen von Pflegesituationen beschrieben (je nach den beteiligten Personen, Gruppen oder Systemen), aus denen sie zehn Inhaltsfelder als Grundlage eines Curriculums konstruiert.156 Ertl-Schmucks Ansatz sollte um die Subjektorientierung in der Lehrerbildung ergänzt werden, wie sie etwa Uta Oelke an der Evangelischen Fachhochschule Hannover praktiziert: Die Studierenden der Pflegepädagogik werden dazu ange-
155 Sie errechnete aufgrund des bis 2003 gültigen Krankenpflegegesetzes einen Anteil des naturwissenschaftlichen und medizinischen Unterrichts von 41,9 %, gegenüber einem Anteil pflegerischer Inhalte von nur 30 % und sozialwissenschaftlicher Inhalte von 6,25 % (Ertl-Schmuck 2000: 113). Auch wenn sich durch die in der neuen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung nahegelegten curricularen Strukturen diese Verhältnisse sicher zugunsten der pflegerischen und sozialwissenschaftlichen Inhalte verschieben, so ist doch die grundsätzliche medizinisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung auch der Lehrkräfte ein Problem, das sich erst im Kontext einer positiven Weiterentwicklung des Berufes auflösen wird. 156 Die Handlungsebenen in den Pflegesituationen beschreibt Ertl-Schmuck wie folgt (ErtlSchmuck 2000: 278 f.): 1. Patient – Pflegende – Angehörige 2. Pflegende und an der Pflege beteiligte Berufsgruppen 3. Pflegende und Institution 4. Pflegende und Gesundheitssystem
Vgl. dazu die Einteilung von Bobbert, die im 2. Kapitel betrachtet wird. Bobbert versuchte, da sie ja die Autonomie der Patienten im Blick hatte, alle Handlungsfelder aus der Perspektive des Patienten zu konstruieren (2.2.1.1). Die Inhaltsfelder bei Ertl-Schmuck sind «Biographie und Identität», «Körperarbeit und sinnliche Wahrnehmung», «Interaktion», «Gesundheit und Krankheit», «Lernen und Entwicklung», « Pflegeorganisation», «Institution», «Pflegehistorie und Berufspolitik», «Pflegewissenschaft» und «Pflegewissenschaftstheorie und Methodologie» (Ertl-Schmuck 2000: 279 f.).
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halten, ihre eigene Berufs- und Lernbiografie aufzuschreiben und diese gemeinsam – u. a. mit Mitteln des Szenischen Spiels – zu reflektieren. Die Subjektorientierung in der Didaktik entspricht der Personorientierung in der Ethik und zeigt neben der inhaltlichen Verbindung der Disziplinen auch die Passung der hier zugrundegelegten Konzepte. Der pädagogische Imperativ, vom Schüler auszugehen, bedeutet grundsätzlich, dass es keine Zielbestimmung oder Planung von Unterricht geben kann, ohne die Teilnehmer in den Blick zu nehmen. 3.1.3.1 Der Einfluss persönlicher Faktoren auf das Lernen
Wie jemand lernt, ist von sehr verschiedenen Faktoren abhängig: vom Temperament ebenso wie von der Intelligenz, vom Fleiß und der Begabung, zugleich aber auch von Erfahrungen, sozialen und genetischen Faktoren. Gruschka unterscheidet bei Studierenden die folgenden sechs Strategien des Lernens. Er gründet sich dabei auf eigene Erfahrungen in der akademischen Lehrerausbildung, auf eigene empirische Vorarbeiten zur Entwicklungslogik pädagogischer Orientierungen sowie auf eine Arbeit von Hermann-Josef Schlicht (1994) «Schüler erzählen, wie sie Erzieher wurden» (Gruschka 2002: 23–30). 1. «Ich trage frei vor, was mich interessierte!» Ein selbstbewusster Lerntyp, dem die Lebendigkeit von Unterricht wichtig ist. 2. «Ich habe immer erfahren, dass ich nicht gut genug bin». Die immer wiederkehrende Erfahrung der eigenen Insuffizienz blockiert die Möglichkeiten dieses Lerners. 3. «Ich bemühe mich, die Ansprüche zu erfüllen.» Starke Lehrerorientierung, Wunsch nach kodifiziertem Wissen; einen eigenen Standpunkt zu formulieren, fällt schwer. 4. «Ich sag erst ja, wenn ich es wirklich verstanden habe.» Ein kritischer, insistierender Lerner. «Er ist gleichsam immer auf dem Weg und meidet damit das Ziel» (Gruschka 2002: 28). 5. «Wissenschaft lernt man durch Wissenschaft». Der für die Wissenschaft sozialisierte Student. 6. «Ich schaue, dass ich irgendwie mitkomme». Dies ist die größte Gruppe der Lernenden, sie beteiligen sich kaum und gewinnen keine klare Vorstellung vom Stoff. In der Pflegeausbildung tauchen nach meiner Beobachtung durchaus ähnliche Lerntypen auf, allerdings ist hier von vornherein eine starke Praxisorientierung
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vorhanden, die bei vielen Auszubildenden zu Vorbehalten gegen «zuviel» Theorie führt. Was die Wissenschaftsorientierung betrifft, so würde ich zwei Gruppen unterscheiden: Die eine, etwas größere Gruppe, ist stark medizinorientiert und würde «weiche» Themen wie Sozialwissenschaften, Ethik, Geschichte der Pflege und Pflegewissenschaft am liebsten ausklammern. Die andere Gruppe ist eher medizinkritisch und den «weichen» Fächern gegenüber aufgeschlossener. Es ist allerdings zu hoffen, dass mit der zunehmenden Erfahrungsorientierung in der Ausbildung und mit dem konsequenten Fall- und Situationsbezug im Unterricht und in den Prüfungen die Bedeutung der Pflege, der Ethik und der Sozialwissenschaften auch im Bewusstsein der Auszubildenden steigt. Wie bei den Studierenden, so ist nach meiner Erfahrung auch bei den Auszubildenden in der Pflege die Gruppe der «Stillen» die größte. In ihr verbergen sich geheime Talente, die aus Schüchternheit nicht zutage treten, junge Menschen mit echten Lern- bzw. Leseschwierigkeiten, aber auch solche, die wir Lehrerinnen der mittleren Generation als durch zu viel Medienkonsum verbildet einschätzen würden: Bei ihnen sind kaum eigene Bildungsbestrebungen erkennbar, sie lernen nur soviel, wie unbedingt nötig ist. Oft sind sie durchaus gute Praktikerinnen, aber es fehlt die eigenständige Selbstreflexion. Aus der Existenz verschiedener Lerntypen und Lernbiographien ergibt sich die Notwendigkeit einer Pluralität von Lernformen. Wenn so getan wird, als ob eine didaktische Vorgehensweise das Richtige für alle Schüler und alle Lernanlässe sei, werden wichtige Unterschiede und Zusammenhänge ignoriert.157 Auch die Sache selbst, in diesem Zusammenhang die Ethik, erfordert eine vielseitige Herangehensweise, da man ein unvollständiges Verständnis von Ethik vermittelt, wenn man ausschließlich den personorientierten oder den sach orientierten Zugang wählt. Ethikunterricht, der praktische Wirkung entfalten soll, reflektiert die Praxis vor dem Hintergrund theoretischen Wissens, aber auch vor dem Hintergrund persönlicher Erkenntnisse und Erfahrungen. Dazu müssen Person- und Sachorientierung im Lernprozess immer wieder miteinander verschränkt werden, wobei das zu stärken und zu ergänzen ist, was der Lernende bei sich bisher noch nicht hat entwickeln können. In der Vorbereitung auf ein Praxisfeld, in dem die Lernenden es mit von ihnen abhängigen Menschen zu tun haben, also eine hohe Verantwortung tragen, in dem Situationen nicht vorhersehbar und Tätigkeiten nicht standardisierbar sind, also auch nicht immer das gleiche Problemlösungsmuster angewendet werden 157 ����������������������������������������������������������������������������������� Dazu Bürmann 1997: 96: «Als ‹Monokultur› in einer Institution ist auch der überzeugendste Ansatz durch einen Mangel an ‹Fehlerfreundlichkeit› in seiner Produktivität gefährdet.» Vgl. auch Darmann 2004: 201: «Eine einseitige Präferierung des sogenannten ‹selbstorganisierten Lernens› das häufig zudem dahingehend missverstanden wird, dass Schüler in Kleingruppen aus Texten oder aus dem Internet Informationen gewinnen, ist […] nicht angebracht.» Nötig sei auch das Gespräch zwischen Lehrer und Schüler.
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kann, ist es sinnvoll, Lernende zu ermutigen und herauszufordern, sich auf eine Pluralität von Lernformen einzulassen, um damit ihre eigenen Lernmöglichkeiten zu erweitern. Die Lehrenden sind dazu aufgefordert, diese Pluralität anzubieten. Damit verbietet sich die ausschließliche Konzentration auf didaktische Modeerscheinungen wie die Moderationsmethode oder Problemorientiertes Lernen (POL).158 Beide haben einen sinnvollen Platz in der Pflegepädagogik, müssen aber wohlüberlegt eingesetzt und mit anderen Methoden kombiniert werden. Es verbietet sich auch ein ausschließlich person- oder subjektorientierter Zugang, wie er in der Pflegepädagogik manchmal erwogen wird. Person- und Sachbezug, Erfahrung und Wissenschaft, sollen sich nicht ausschließen, sondern einander sinnvoll ergänzen. 3.1.3.2 Eine didaktische Kontroverse
Nachdem die Lehrerweiterbildungen in der Pflege lange Zeit eher von lerntheoretischen, sachorientierten Didaktik-Konzepten beherrscht wurde, kamen mit der zunehmenden Orientierung an der kritisch-konstruktiven Didaktik auch subjektorientierte Aspekte zur Geltung. In den letzten Jahren konzentriert sich die Diskussion allerdings so stark und ausschließlich auf Schülerorientierung, Handlungsorientierung, Lernfelddidaktik und Problemorientiertes Lernen, dass ein Einspruch zur Rettung der Sache an mancher Stelle geboten erscheint. Wenn «Der Weg ist das Ziel» zum alles beherrschenden Motto wird, dominiert der Prozess die zu lehrende Sache so stark, dass diese beinahe nebensächlich scheint. Die Vermittlung ist das Medium, das Lernen ermöglichen soll. Sie ist mehr als nur ein Geschehen zwischen Lehrer und Schüler, denn sie bestimmt auch curriculare Entscheidungen. Vermittlung verändert die Sache in didaktischer Absicht und prägt das Verhalten der Lehrer und damit auch das der Schüler. Damit verfälscht die Vermittlung oft genug die Inhalte, um die es geht, meinen Kritiker wie Wagenschein und Gruschka. In seinem Aufsatz «Philosophieunterricht als Problem der Vermittlung» schildert Johannes Rohbeck die gegensätzlichen Positionen, die lange die Diskussion in der Didaktik (nicht nur der Philosophie) beherrschten: «die eher an der philosophischen Tradition Orientierten» auf der einen Seite und die «Vertreter von Schülerorientierung und Dialog» auf der anderen. Es geht darum, ob die Philosophie oder das Philosophieren gelernt werden soll, also um die Frage, ob die 158 POL (oder PBL = Problembasiertes Lernen) spielt in der Pflegeausbildung, aber auch im Medizinstudium eine zunehmend wichtige Rolle. Es handelt sich um eine Methode, komplexe Inhalte mit Bezug zur Praxis durch strukturiertes, selbstorganisiertes Lernen in Gruppen zu vermitteln. Ausgangspunkt ist eine Problemstellung oder Frage der Lernenden, die mit einem strukturierten Problemlösungsverfahren bearbeitet wird. Vgl. Schwarz-Govaers 2002.
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Schüler eher philosophische Texte lesen und verstehen sollen oder ob sie sich selbst zunächst ohne die Hilfe großer Denker mit Grundsatzfragen befassen sollen. Wenn Wulf Rehfus sich dagegen wendet, die Ideen großer Denker auf Schülerniveau herunterzutransformieren und statt dessen fordert, die Schüler zur Philosophie zu führen (Rehfus 1986: 99), so steht er damit in der Tradition Herbarts, der verächtlich über das «Hineinkindern» sprach.159 Inzwischen setzt sich jedoch die Einsicht durch, dass diese Entzweiung nicht sinnvoll ist. In der Philosophiedidaktik argumentiert Ekkehard Martens gegen die «falsche Alternative» von Sach- und Schülerorientierung. Für beide Zugänge gibt es gute Gründe, so Martens: Die eher text- und sachorientierte Herangehensweise führt zu abfragbarem Wissen, überfordert die Schüler nicht und gibt ihnen einen Überblick über die Struktur einer Wissenschaft oder Theorie. Die eher schülerorientierte Methode fordert mehr Eigenaktivität von den Schüler/innen, festigt das Selbstvertrauen und bringt fundiertes, weil selbst erarbeitetes Wissen hervor (Martens 1986: 90). Beide Zugänge, der vom Lernobjekt her und der vom Lernsubjekt her, haben ihre je eigenen Probleme: Der theoretisch orientierte Zugang kann die Teilnehmer passiv lassen und der dialogorientierte zum bloßen Austausch schlecht begründeter Meinungen werden. Martens fasst das in die Formel des «Philosophieunterrichts von oben herab», der «Produkte ohne Prozess» entstehen lasse, gegenüber dem «Philosophieunterricht von unten her», der zum «Prozess ohne Produkt» werden könne (Martens 1986: 91). Die Lösung sieht Martens in der Geschichte der Philosophie, die er als Problemgeschichte beschreibt, und im Wesen der Philosophie als einer gemeinsamen (dialogischen) Wahrheitssuche. Daraus ergibt sich als zentrales Ziel des Unterrichts die Anregung und Aufforderung zum Selbstdenken. Auch Konturen der Unterrichtsinhalte lassen sich aus der Philosophie rekonstruieren: «die Unterscheidungen von Sollen und Sein, Wirklichkeit und Schein, Wahr und Falsch» (Martens 1986: 96). Trotz einiger Parallelen in den Zielen, Inhalten und Methoden gibt es jedoch auch beachtenswerte Unterschiede zwischen dem Philosophieunterricht an Gymnasien und dem Ethikunterricht in Pflegeausbildungen. Sie betreffen vor allem die Ziele. Im Gymnasium stehen die Schulung von logischem Denken, der Erwerb von Grundkenntnissen zur Philosophie sowie die Hilfe bei existenziellen Orientierungen im Vordergrund. In der Pflegeausbildung geht es um die Klärung persönlicher und beruflicher Werte, um die Schulung im Diskurs darüber und 159 Zit. nach Gruschka 2002: 176. Der Philosoph und Pädagoge Johann Friedrich Herbart (1776–1841) gilt als einer der Begründer einer wissenschaftlichen Didaktik. Mit seiner Polemik wendete er sich gegen die Reformbewegung der Philanthropen, die stark von Rousseau beeinflusst war.
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um die Hilfe bei der kritischen Reflexion der beruflichen Praxis und ihrer normativen Grundlagen. Auch die Ethik kann man als Problemgeschichte und, wie Martens es ausdrückt, als Prozess des «Rechenschaftgebens» (Martens 1986: 89) sehen. Das Selbstdenken als leitendes Ziel sollte aber hier insbesondere durch die Übung praktischer Urteilskraft ergänzt werden. Die Inhalte des Ethikunterrichts sind grundsätzlich vor allem durch die Spannung zwischen Sollen und Sein bestimmt. Hinzukommen sollten jedoch die von Martens zu wenig thematisierten Fragen nach dem guten Leben und die Rückbesinnung auf die conditio humana, die für die Perspektive der Pflege besonders wichtig sind (vgl. Kap. 2). In der Zusammenführung der beiden scheinbaren Gegensätze, in der «Überwindung des Dualismus zwischen Person und Sache» (so der Titel des 1997 erschienenen Buches von Ilse Bürmann), liegt eine Hoffnung für die Entwicklung der Didaktik. Bürmann vertritt die These, «daß es möglich ist, Personenorientierung und Sachorientierung […] zu verschränken, ohne das eine mit dem anderen zu behindern» (Bürmann 1997: 9). Eine Behinderung von Bildungsprozessen sieht sie vielmehr in der Ausschließlichkeit eines Zuganges. Wenn nur erfahrungs- und personorientiert oder nur systematisch und sachorientiert gearbeitet wird, können sich die beiden Perspektiven nicht ergänzen. Auch in von Hentigs berühmtem pädagogischem Imperativ «Die Menschen stärken und die Sachen klären» kommt zum Ausdruck, dass die Überbetonung jeweils einer Seite falsch und kontraproduktiv ist.160 Bürmann macht zudem auf die Gefahr aufmerksam, dass durch das Ausspielen des lebensweltlichen gegen den wissenschaftlichen Erfahrungsmodus antirationalen Tendenzen Vorschub geleistet wird (Bürmann 1997: 27). Die Subjekt- und Personorientierung in der Didaktik ist das Ergebnis eines Emanzipationsprozesses, der die traditionelle Überbetonung der Sachorientierung abgelöst hat. Heute besteht allerdings eher die Gefahr, dass die Sache hinter Methoden verschwindet – auch in der Pflegepädagogik. Aus diesem Grund sind einige kritische Anfragen an den Stellenwert der Vermittlung und der Methoden in der Didaktik angezeigt. 3.1.4 Vermittlung und Methode als Selbstzweck?
Angesichts der Beliebtheit von Modellen, neuen Methoden und Erfolgsrezepten für Unterricht, von der auch die Pflegepädagogik erfasst ist, erhebt sich die Frage, ob es noch irgendwo um die Sache geht, die vermittelt werden soll, oder ob nicht 160 v. Hentig 1999: 55. v. Hentig hat dies durch die Einfügung des Wortes «und» in den ursprünglichen Satz «die Menschen stärken, die Sachen klären» hier betont.
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die Vermittlung auf Kosten der Sache unangemessen viel Raum einnimmt und die didaktische Präparation Bildung sogar verhindert, indem sie den Widerspruch aus den Dingen entfernt, wie Brecht es formulierte.161 Viele der Fallgeschichten etwa, die momentan überall als Grundlage von Lerneinheiten in pflegepädagogischen Curricula entstehen, werden auf ein bestimmtes Handlungsfeld hin konstruiert und haben damit nicht die Komplexität und Widersprüchlichkeit realer Situationen. Andererseits darf situationsbezogenes Lernen auch nicht in Beliebigkeit abgleiten: Es sollte doch immer noch klar sein, was gelernt werden soll. Andreas Gruschka, der die Rolle der Vermittlung kritisch untersuchte, unterscheidet drei Tendenzen bei neueren Konzepten, die er als «Totengräber der Didaktik» (Gruschka 2002: 328) bezeichnet: die Psychologisierung, die Didaktisierung und die Methodisierung. Ihre gemeinsame Wirkung ist die Zurückdrängung der Sache, um die es gehen sollte. Ein bekanntes Beispiel für die Psychologisierung in der Didaktik ist die Neurolinguistische Programmierung (NLP), die bei Lehrer- und Leitungsfortbildungen auch in der Pflege sehr beliebt ist. Sie beruht auf psychologischer Beeinflussung und sozialer Steuerung, wie folgende Zitate aus einem Handbuch für Lehrer zeigen: Nehmen Sie im Verlauf der ersten Minuten mit allen SchülerInnen Blickkontakt auf […] schaffen Sie damit Beziehungssuggestion. Wenden Sie sich den sozial am stärksten akzeptierten Schülern zu durch ein kurzes persönliches Gespräch. […] Erzählen Sie Witze. […] Das geistige Lachen aller Beteiligten bewirkt, dass sich die Atemrhythmen einander nähern. […] Nutzen Sie Entspannungsmethoden wie Muskelentspannung oder Phantasiereisen […] (Schmid-Oumard/ Nahler, zitiert nach Gruschka 2002: 329)
Im Vordergrund des Konzepts steht die (psychologische) Methode, erfolgreiche Verhaltensmuster nachzuahmen bzw. durch gezielte Beeinflussung von Schülern oder Klienten selbst erfolgreich zu sein. Die Sache hat dabei naturgemäß nur eine untergeordnete Bedeutung. NLP ist verführerisch für Lehrer/innen, die Probleme mit der Sache haben, denn sie verspricht ein angenehmes Unterrichtsklima, Beliebtheit und Erfolg trotz geringer inhaltlicher Dichte. Sehr verbreitet und erfolgreich sind auch didaktische Modelle und Leitfäden, wie etwa die Lehrerhandbücher von Hilbert Meyer.162 Diese Literatur richtet sich an 161 «»[…] Ob es nicht vieldeutig ist, für jeden möglichen Irrtum tragt ihr die Schuld. Es kann auch eindeutig sein und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig? Dann ist es unbrauchbar, was ihr sagt.» In: «Der Zweifler», Brecht 1976, Band 2: 588. 162 Meyers wichtigste Werke: «Trainingsprogramm zur Lernzielanalyse», 1973; «Leitfaden zur Unterrichtsvorbereitung», 1980; «Unterrichtsmethode», 1987; «Didaktische Modelle», 1991; «Schulpädagogik», 1997 (Gruschka 2002: 333).
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Leser, die eher schnelle Orientierung und Anwendbarkeit suchen als eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Sache der Didaktik, kritisiert Gruschka. Didaktik wird in Schemata, Definitionen und Übersichten stark vereinfacht dargestellt. Portraits der großen Denker nehmen mehr Raum ein als ihre Theorien. Damit wird den zukünftigen Lehrern auch eine Annahme über Vermittlung nahegelegt, die ihren Unterricht prägen wird: «Nicht der Lehrer vermittelt gut, der hilft, eine schwierige Aufgabe zu meistern, sondern der aus einer schwierigen eine einfache macht» (Gruschka 2002: 347). Als Beispiel für die Methodisierung des Lernens, die ebenfalls zum Verschwinden der Sache führt, nennt Gruschka die Trainingsbücher von Heinz Klippert, die zu «Verkaufsschlagern der Rezeptliteratur» (Gruschka 2002: 348) wurden. Klippert gehe von einer Kritik des Schulsystems aus, kritisiere aber auch die Schüler als verwöhnt und verhaltensgestört. Im Zentrum stehe bei ihm das Lernen des Lernens, das sich ohne Sachbezug auf das Training von Grundfertigkeiten wie Lesen, Exzerpieren, Gliedern und Nachschlagen reduziere. Fertige Übungen, Rätsel und Spiele erleichtern den Lehrern die Arbeit und entlasten sie von Unsicherheit, allerdings sehen sie weder für die Lehrer noch für die Schüler eigene Spielräume vor. An die Stelle der inhaltlichen Auseinandersetzung tritt der «kurzweilige Rätselspaß» (Gruschka 2002: 359). Dies, so Gruschka, entspricht Klipperts Bild von eher faulen und undisziplinierten Schülern, die nur durch ein straffes Konzept und «Spaß» zum Arbeiten animiert werden können. Obwohl gut eingesetzte Lernspiele motivierend sein können und Vergnügen im Unterricht durchaus erstrebenswert ist, muss doch die Gefahr beachtet werden, dass die Inhalte leiden und dass mit der Dominanz solcher Rezepte Lehrer und Schüler infantilisiert werden. Die in der Pflegebildung beliebte und oft verwendete Moderationsmethode weist ähnliche Probleme auf (z. B. Seifert 1997). Benutzt wird sie vor allem, um Vorannahmen und Erfahrungen der Teilnehmer einzubeziehen und sichtbar zu machen sowie zur Problemlösung. Ein Grundprinzip ist die Visualisierung durch Kärtchen und Plakate. Die Lernenden sollen ihre Gedanken auf Kärtchen schreiben und diese selbst in Gruppen ordnen. Für Gruppenarbeiten ist ein festes Schema vorgesehen, das zu schnellen Lösungen drängt, nicht aber zur Reflexion ermutigt. Die große Menge an beschrifteten Plakaten, die am Ende eines Fortbildungstages an den Wänden hängen, suggeriert eine Fülle von Ergebnissen, während sie tatsächlich oft nicht mehr als willkürliche Gedankenfragmente der Teilnehmer wiedergibt. Zudem sind die erarbeiteten Lösungen oft zu oberflächlich, um eine tatsächliche Hilfe für die Praxis zu sein. Gruschka verweist auf das scheinbare Paradox, dass Menschen, die eine Aversion gegen alles Didaktische haben, besonders gute Vorträge oder Vorlesungen halten können. Ein Beispiel dafür ist etwa Adorno, der seinen Erfolg als akade-
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mischer Lehrer auf die «Abwesenheit einer jeden Berechnung auf Einflußnahme, [… den] Verzicht aufs Überreden» zurückführte (Adorno 1977: 662). Was beim Überhandnehmen der Vermittlung aus dem Blick gerät, ist nicht nur die Sache, sondern die Zielorientierung des Unterrichts insgesamt. Die Auswahl sowohl von Inhalten als auch von Methoden muss sich auf übergeordnete Bildungsziele beziehen und im Blick auf diese Ziele überprüft werden, wobei die Methodenwahl sich am Inhalt ausrichten sollte und nicht umgekehrt. Zur Vermittlung anatomischen Hintergrundwissens sind andere Methoden sinnvoll als zur Einübung ethischer Reflexion. Bei beiden muss darüber hinaus geklärt werden, in welchem Kontext (z. B. welchem Lernfeld, s. unter 3.2.3) und mit welchem Ziel sie angeboten werden.
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Pflegedidaktische Konzepte Die Allgemeine Didaktik bildet den theoretischen Rahmen für fachdidaktische Überlegungen, ähnlich wie Bereichsethiken von Grundbegriffen und Methoden der Allgemeinen Ethik ausgehen. Klafki beschreibt das Verhältnis von Allgemeiner und Fachdidaktik als spannungsreich. Von seiten der Fachdidaktiker wird der Allgemeinen Didaktik vorgeworfen, dass ihre Theorien für die Unterrichtspraxis wenig hilfreich seien. Umgekehrt kritisieren Vertreter der Allgemeinen Didaktik einen «verengten Blick» der Fachdidaktiker, die vor allem unmittelbar einsetzbare Materialien und Rezepte erwarteten (Klafki 1994: 46). Klafki sieht das Verhältnis zwischen Allgemeiner und Fachdidaktik nicht als ein hierarchisches, sondern als ein «Verhältnis aufeinander angewiesener Gleichberechtigter, ein Verhältnis kritischer und konstruktiver Kooperation» (Klafki 1994: 51). Die Fachdidaktik ist dabei mehr als eine Vermittlungsinstanz zwischen Allgemeiner Didaktik und der jeweiligen Fachdisziplin, denn Unterrichtsinhalte müssen nicht nur wissenschaftlich, sondern auch didaktisch begründet sein. Die (Fach)Didaktik setzt dabei an der Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung oder an der exemplarischen Bedeutung für die Lernenden an und muss darüber hinaus auch die übergeordneten Bildungsziele im Blick behalten. Daraus erwächst ihr die Aufgabe, Räume für die kritische Hinterfragung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Positionen zu schaffen und damit einer naiven Fortschrittsgläubigkeit vorzubeugen (Klafki 1994: 57–60). Bevor einige berufspädagogische Konzepte, die in der Pflegedidaktik von Bedeutung sind, vorgestellt und kritisch beleuchtet werden, ist ein Blick auf die aktuelle Realität und die Rahmenbedingungen der Pflegeausbildung angebracht. Diese befindet sich durch die Professionalisierungsprozesse innerhalb des Berufes, durch tiefgreifende Strukturveränderungen im Ausbildungssektor des Gesundheitswesens (z. B. durch Fusionen von Krankenhäusern und Bildungsein-
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richtungen) und durch die Veränderungen infolge der neuen Gesetzgebung in einer Umbruchsituation.
3.2.1 Folgen der Umbruchsituation in der Pflegeausbildung
Die Lehrer/innen in den Pflegeberufen stehen heute mitten in einem Entwicklungsprozess sowohl der Pflege als auch des Lehrerberufes in der Pflege. Die Pflegepraxis steht zwischen den einander zum Teil widersprechenden Anforderungen der zunehmenden Ökonomisierung der Krankenversorgung einerseits (etwa in Gestalt des Abrechnungssystems DRG, Diagnosis Related Groups) und den neuen Erkenntnissen der Pflegewissenschaft andererseits. Da pflegewissenschaftliche Inhalte durch das Krankenpflegegesetz von 2004 mehr Raum bekommen, ist eine Zuspitzung der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis zu erwarten. Auf dieses Spannungsfeld muss die Ausbildung reagieren. Verbindungen zwischen Theorie und Praxis herzustellen war schon immer eine Herausforderung für die Berufspädagogik, wenn aber alles so stark in Bewegung ist wie zur Zeit, ist es besonders schwierig, Brücken zwischen Theorie und Praxis zu bauen. Nicht nur im Lernort Schule, sondern auch im Lernort Praxis werden alte Gewissheiten über Bord geworfen – Paradigmenwechsel ohne Ende. Die Lehrer/innen, selbst noch in der üblichen Weise durch Schule und Ausbildung sozialisiert, sind durch die Neuordnung der Ausbildungsgrundsätze herausgefordert, eine große Veränderung im Verständnis des Lernens und damit der Rolle des Lehrers mit zu tragen und mit zu gestalten. Sie müssen sich von der Idee lösen, Schülern etwas «beibringen» zu können, sondern lernen, individuelle Lernprozesse wahrzunehmen, zu initiieren und zu begleiten. Zusätzlich zu der aktuellen Herausforderung, ohne zusätzliches Personal eine grundsätzliche Neuordnung der theoretischen Ausbildung zu leisten, stehen die Pflegelehrerinnen auch durch die Unklarheit ihrer Aufgaben in einer strukturellen Überforderung. Durch das Gefühl der Allzuständigkeit und den ebenso verfehlten wie verbreiteten Anspruch, alles aus den weitverzweigten Wissensbeständen um die Pflege wissen zu müssen, hat sich bei vielen Pflegelehrer/innen ein schwieriges Verhältnis zur Sache ergeben: Es besteht immer eine latente fachliche Unsicherheit und ein damit verbundenes Insuffizienzgefühl – so wird Unterricht zum Problem. In ihrer Untersuchung zur Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern im Pflegebereich fand Oelke 1994, dass die Lehrer/innen den größten Schwachpunkt ihrer Vorbereitung auf die Lehrtätigkeit in der fachlichen Qualifikation sehen (Oelke 1994a: 132–136). Fast drei Viertel der Befragten fühlten sich ausgerechnet im Hauptfach der Ausbildung, der (Kinder-) Krankenpflege, fachlich schlecht qualifiziert. Dies hat dann oft zur Folge, dass für Unterrichtsvorbereitungen sehr viel Zeit benötigt wird. So beklagen auch 39 % der von Oelke
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Befragten, «daß sie zu wenig Zeit für eine gute Vor- und Nachbereitung des Unterrichts haben, […], dass die Vorbereitungsarbeiten oft umfangreich und mühselig seien und teilweise in der Freizeit erledigt werden müssen» (Oelke 1994b: 5). Was die didaktisch-methodischen Fähigkeiten betrifft, war die Einschätzung erheblich positiver. Ein hoher Prozentsatz fühlte sich bezüglich dieser Fähigkeiten gut qualifiziert, etwa beim Einsatz von Medien (68 %), beim Einsatz verschiedener Unterrichtsmethoden (61 %), beim Umgang mit Fragen und Einwänden (50 %). Bei den sozial-kommunikativen Kompetenzen war die Selbsteinschätzung allerdings wieder schlechter. Im Durchschnitt nur ein Drittel der Befragten fühlten sich gut qualifiziert für Fähigkeiten wie «ein gutes soziales Lernklima in der Klasse zu schaffen» (33 %), «von SchülerInnen Kritik anzunehmen» (34 %), «mit Sympathie/Antipathie gegenüber SchülerInnen umzugehen» (29 %). Dies weist auf Defizite der LehrerInnen bei den Kernkompetenzen hin, die sie bei den SchülerInnen fördern sollen. Im Zuge der Sparzwänge gibt es an manchen Schulen neuerdings die Forderung, nebenamtliche Lehrkräfte möglichst einzusparen und den Pflegelehrerinnen jeweils mehrere Lerneinheiten zuzuweisen, die sie weitgehend selbst unterrichten müssen. So stehen Lehrkräfte plötzlich vor der Situation, Grundlagen der Physik oder andere Themen unterrichten zu müssen, für die sie in keiner Weise ausgebildet sind.163 Im Kontrast dazu gibt es in manchen Bundesländern eine Überregulierung, indem genau festgelegt wird, welche Qualifikation ein Lehrer haben muss, um einen bestimmten (genau definierten) Teil einer Lerneinheit als haupt- oder nebenamtlicher Dozent unterrichten zu dürfen. Dies betrifft vor allem Länder, in denen die Pflegeausbildung an Berufsfachschulen und damit unter Aufsicht der Kultusministerien angesiedelt ist. Damit wird es Lehrenden unmöglich gemacht, Themen zu unterrichten, mit denen sie schon gearbeitet haben und für die sie aus- oder fortgebildet sind, nur weil sie die geforderte formale Qualifikation nicht haben. Solche Entwicklungen erschweren es, ein professionelles Verhältnis zur Sache zu finden. Gerade, weil sich so viel ändert, ist aber auch eine Rückbesinnung auf eigene Stärken und auf das Tragende im Lehren und Lernen sinnvoll. Hier ist für die Pflegeausbildung das Kursleitersystem zu nennen, das eine persönliche Betreuung der Lernenden immer schon vorsah und Übergänge zu neuen Formen der Lernberatung ermöglicht; aber auch die zahlreichen Projekte, mit denen selbstgesteuertes Lernen gefördert und die Verbindung zur Praxis verbessert werden können. Nicht alles, was als neuester Trend daherkommt, bewährt sich auch, und 163 Dies gilt übrigens auch für Ethik. In mehreren Ethik-Fortbildungen für Lehrende, bei denen ich im Referententeam war, berichteten Lehrer, dass ihnen der Ethikunterricht plötzlich zugeteilt wurde, ohne dass sie selbst sich bisher damit befasst hatten.
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manche Probleme entstehen momentan durch die Hektik, mit der viele Schulen meinen, das fast Unmögliche nebenbei schaffen zu müssen: Umstellung auf das Lernfeldkonzept, Einführung neuer Arbeitsformen wie problemorientiertes Lernen (für die es bei den Lehrern vor allem an eigenen Erfahrungen fehlt), Erarbeitung eines Praxiscurriculums und vieles mehr. Hier besteht die Gefahr, dass unter großer Belastung und Anstrengung letztlich unbefriedigende Ergebnisse entstehen. Eine neue Lehr- und Lernkultur muss langsam wachsen; plötzliche Brüche verunsichern Lehrende und Lernende. Wünschenswert ist eine größtmögliche Beteiligung der Lehrenden bei gleichzeitiger Orientierung an einem theoretischen Rahmen, der allmählich durch eigene Arbeit mit Leben gefüllt wird (vgl. dazu 6.2.2). 3.2.2
Zielorientierungen: Handlungsorientierung und Schlüsselqualifikationen
Die Frage nach den Zielen ist Grundlage und Voraussetzung organisierten Lehrens und Lernens. Sie legitimiert die Entscheidungen in Bezug auf Inhalte und Methoden und sollte diesen deshalb vorausgehen. Dieser Primat der Didaktik vor der Methodik164 wird von einigen überwiegend von Inhalten oder Methoden geprägten didaktischen Konzepten bestritten und in der von Pragmatismus geprägten Schulpraxis oft unterlaufen. Lehr- und Lernziele, Bildungsziele und Unterrichtsziele werden auf sehr unterschiedlichen Ebenen gesetzt. Sie reichen von operationalisierbaren «Feinzielen» bis hin zu umfassenden Bildungszielen wie den schon erwähnten «Grundfähigkeiten» zu Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität der kritisch-konstruktiven Didaktik Klafkis. Diese ist in der Ausbildung der Pflegelehrkräfte, wie auch in den wichtigsten Konzepten der Pflegepädagogik, stark vertreten. 165 Auch wenn die Orientierung an Zielen für den Anspruch systematischen und geplanten Lehrens und Lernens unverzichtbar ist, so haben sich kleinschrittige Zielformulierungen, wie sie in Weiterbildungen für Pflegelehrer/innen lange ver164 Klafki fordert den «Primat der Zielentscheidungen im Verhältnis zu allen anderen, den Unterricht konstituierenden Faktoren» (Hervorh. im Original). Auch wenn zu Recht von einer Interdependenz der für den Unterricht wichtigen Faktoren ausgegangen werden könne, so sei dies aber nicht im Sinne gleichartiger Abhängigkeitsbeziehungen misszuverstehen (Klafki 1996: 259). 165 Vgl. Ertl-Schmuck (2000), die elf Bildungseinrichtungen für die Aus- bzw. Weiterbildung von Pflegelehrern u. a. zu den theoretischen Grundlagen der dort vermittelten Didaktik befragte: Vier der Weiterbildungseinrichtungen nannten die kritisch-konstruktive Didaktik nach Klafki ausdrücklich als Bezugstheorie; bei den beiden Universitäten ist davon auszugehen, dass sie Bestandteil der theoretischen Ausbildung ist (S. 231 ff.). Pflegedidaktikerinnen, die sich auf Klafki beziehen, sind u. a. Wittneben (1991) und Oelke (2001).
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mittelt wurden, nicht bewährt.166 Die Lehrer wurden angehalten, für eine einzelne Unterrichtsstunde eine größere Zahl von Zielen auf verschiedenen kognitiven Ebenen zu formulieren. Der damit verbundene Anspruch der Überprüfbarkeit ist einerseits illusorisch und Zeichen einer Selbstüberschätzung der Didaktik. Andererseits führt er auch zu fragwürdigen Versuchen der Ergebnissicherung: Die (geplanten) Ergebnisse werden den realen Möglichkeiten angepasst, so dass es überwiegend zum Begriffslernen oder zu Wiederholungen kommt, wohingegen kritische Diskussionen, Analysen oder kreative Abweichungen vom Unterrichtskonzept als nicht planbar (und damit nicht erwünscht) herausfallen. Außerdem fehlt den zahlreichen kleinen Zielen, die meist nur auf eine Stunde oder eine Unterrichtseinheit bezogen sind, oft genug der Bezug zum «großen Ganzen» des Curriculums. Diese Form der lernzielorientierten Didaktik hat in der aktuellen Diskussion an Bedeutung verloren. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie sich die verschiedenen Ziele, die für die Ausbildung formuliert werden, zueinander verhalten; etwa der Anspruch, in der Ausbildung Bildung zu vermitteln zu der Forderung nach Handlungskompetenz. Im Unterschied zu den erwähnten kleinschrittigen Lernzielen geht es bei der Handlungsorientierung und den Schlüsselqualifikationen eher um eine grundsätzliche Zielbestimmung eines Bildungszweiges, einer Bildungsstätte oder einzelner Lehrer/innen. Mit den Schlüsselqualifkationen werden den Auszubildenden allgemeine Fähigkeiten vermittelt, die auch bei sich ändernden Rahmenbedingungen und schneller Wissenschaftsentwicklung nicht veralten und in den für die Pflege typischen nicht standardisierbaren Situationen hilfreich sind. Die Forderung nach Handlungsorientierung ist vor allem in der beruflichen Bildung so selbstverständlich geworden, dass die Bedeutungsvielfalt des Begriffes und die Vielfalt der theoretischen Bezüge, auf die er aufbaut, oft nicht reflektiert werden. Folgende Bedeutungsebenen sind für den Begriff der Handlungsorientierung zu erkennen: die bildungspolitische Ebene, die curriculare Ebene und die didaktische Ebene der konkreten Unterrichtsplanung.167 Die bildungspolitische 166 So etwa in den Konzepten von Möller und Peterßen (Peterßen 1982: 114 ff.). Oelke/Menke kritisieren in ihren didaktischen Erläuterungen zum Curriculum die engen operationalisierten Lernziele: «Aus kritisch-konstruktiver Sicht sticht bei derartigen Zielformulierungen insbesondere die inhaltliche Leere einerseits und normative Fülle andererseits […] hervor.» (Oelke/Menke 2002: 100). 167 Hierbei habe ich die Beschreibungen von Schneider 2003, Oelke 2004 und Büscher 2006 kombiniert, die diese Ebenen je etwas unterschiedlich bezeichnen: Schneider spricht von «bildungspolitischer Leitbildebene», «didaktisch-curricularer Ebene» und «didaktischunterrichtlicher Ebene» (S. 93 f.), Oelke von «Makro- bzw. bildungsstruktureller Ebene», «Meso- bzw. curricularer Ebene» und «Mikro- bzw. unterrichtlicher Ebene» (S. 14), und Büscher schließlich unterscheidet «bildungspolitische Willenserklärung», «curriculares Prinzip» und «didaktisches Prinzip» (S. 38).
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Ebene ist repräsentiert durch Verordnungen und Beschlüsse (z. B. die Handreichungen der Kultusministerkonferenz – KMK – für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen), die erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse aufgreifen, ohne selbst wissenschaftliche Begründungen zu geben. Deshalb besteht die Gefahr, dass eben diese wissenschaftlichen Begründungen auf der curricularen Ebene, und zwar vor allem im Bereich der konkreten Ausgestaltung von Curricula für die Planungen in einer Schule, unbeachtet bleiben, und nur eine planungstechnische, nicht aber eine didaktisch sinnvolle Umsetzung erfolgt. So unterscheidet die KMK «in einem pragmatischen Ansatz» «Lernen für Handeln» durch Orientierung an beruflich bedeutsamen Situationen und «Lernen durch Handeln», bei dem Handlungen Ausgangspunkt und Mittel des Lernens sind (KMK 2000: 10). Auf der Ebene der Unterrichtsplanung wird unter Handlungsorientierung dann vieles verstanden, von der inhaltlichen Ausrichtung des Unterrichts an den Anforderungen der Praxis bis hin zu methodischen Formen wie praktische Übungen, Projektunterricht oder Planspiel. Herbert Gudjons nennt als wesentliche Elemente handlungsorientierten Unterrichts die Beteiligung der Lernenden, das Ausgehen von einer echten Fragestellung, exemplarisches und entdeckendes Lernen, die Einbeziehung von Erfahrungen, aber auch von Bewegung und Motorik sowie offene Unterrichtskonzepte. Handlungsbezug stellt sich durch das eigene Handeln der Schüler her, also durch entsprechende Zurückhaltung des Lehrers, aber auch durch soziales Handeln in Kleingruppen und Projekten (Gudjons 1997: 18). Unter Handlungskompetenz versteht die KMK die «Bereitschaft und Fähigkeit des einzelnen, sich in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten. Handlungskompetenz entfaltet sich in den Dimensionen von Fachkompetenz, Personalkompetenz und Sozialkompetenz» (KMK 2000: 9).
In der Pflegeausbildung wurde seit Mitte der 1990er-Jahre die überwiegend lernzielorientierte Didaktik von der Handlungsorientierung und der Orientierung an Schlüsselqualifikationen abgelöst. Der Begriff wurde 1974 von Dieter Mertens eingeführt, bei dem die Fähigkeit zur Problembewältigung im Mittelpunkt stand und personale Fähigkeiten ausgeklammert blieben (Ertl-Schmuck 2000: 78). Diese Konzentration auf Problemlösung und auf den Arbeitsprozess sowie das Außerachtlassen übergeordneter Bildungsziele wie Selbst- und Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit wurden als grundlegende Probleme des Schlüsselqualifikationen-Konzepts kritisiert. Die Berufsbildung beschränke sich somit auf Erziehung zu Anpassung an die gegebenen Verhältnisse und Anforderungen. Lothar Reetz entwickelte zehn Jahre später ein Modell, das Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung ausdrücklich einbezieht. Er unterscheidet folgende drei Dimensionen:
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• sacheinsichtiges Verhalten • sozialeinsichtiges Verhalten • werteinsichtiges Verhalten (Ertl-Schmuck 2000: 79). Dieses Konzept überschreitet den sehr auf technische Qualifikationen konzentrierten Ansatz von Mertens. Nur eine allseitige Entwicklung der Persönlichkeit kann zu der Handlungsfähigkeit führen, die die moderne Berufswelt braucht. Dabei ist die Fähigkeit, Lösungsansätze auf neue Situationen zu übertragen, von großer Wichtigkeit. Damit werden die Schlüsselqualifikationen zu Bildungszielen, die die Grenzen der beruflichen Verwertbarkeit überschreiten. Ertl-Schmuck weist jedoch darauf hin, dass das Hauptziel des Konzepts kein emanzipatorisches sei: Das Subjekt werde sogar noch weiter in den Dienst der beruflichen Handlungsfähigkeit genommen, als es bei der Beschränkung auf fachliches Funktionieren der Fall ist. Erwin Bernhardt konkretisierte 1992 den Begriff der beruflichen Handlungskompetenz in
• Fachkompetenz, • Humankompetenz und • Sozialkompetenz (Ertl-Schmuck 2000: 85), einem Modell, das, um eine Dimension erweitert, nun die aktuelle Diskussion in der Pflegepädagogik prägt. 1998 konkretisierte Uta Oelke den in der Berufspädagogik inzwischen verbreiteten Ansatz mit Blick auf die Pflege in folgende Dimensionen:
• fachliche Kompetenz • psychosoziale Kompetenz • methodische Kompetenz • personale Kompetenz (Oelke 1998: 43). In der didaktischen Begründung ihres Curriculums lässt sich schon 1991 diese Struktur erahnen, wenn sie folgende Bildungsziele für die Pflegeausbildung benennt: die Fähigkeit zu sachgemäßer (fachliche Kompetenz), patientenorientierter (psychosoziale Kompetenz), geplanter (methodische Kompetenz) Pflege und, in Anlehnung an Klafki, zu einer «selbstbestimmten, mündigen und solidarischen Berufsausübung» (personale Kompetenz) (Oelke 1991: 110 f.).
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Auch die Handreichungen der Kultusministerkonferenz zur Erarbeitung von Rahmenlehrplänen (2000)168 und das neue Krankenpflegegesetz (2003)169 enthal� ten ähnliche Kompetenzdimensionen, die damit zu einer verbindlichen Orientie� rung für die Pflegeausbildung geworden sind. Remmers weist darauf hin, dass diese Unterteilung der Kompetenzbereiche nur eine analytische Reduktion ist, die nicht als kategoriale Unterscheidung missverstanden werden sollte. Insgesamt gehe es darum, kompetentes Handeln als solches zu beschreiben.170 Wie die Begriffe Qualifikation und Kompetenz zu bestimmen sind und wie sie sich zueinander verhalten, sei hier kurz erläutert. Der Deutsche Bildungsrat schreibt dazu: «Kompetenz bezeichnet den Lernerfolg in Bezug auf den einzelnen Lernenden und seine Befähigung zu selbstverantwortlichem Handeln in beruflichen, gesellschaftspolitischen und privaten Situationen. Demgegenüber wird unter Qualifikation der Lernerfolg in Bezug auf die Verwertbarkeit, d. h. aus der Sicht der Nachfrage […] verstanden.» (Deutscher Bil� dungsrat 1974 zit. nach Kultusministerkonferenz 2000: 9).
Kompetenz ist also eine persönliche Disposition, ein Potenzial zum Erwerb von Fähigkeiten. Sie wird als subjektive Tiefenstruktur171 beschrieben, die die Voraussetzung für erfolgreiches Handeln darstellt. Die ihr entsprechende Ober� flächenstruktur ist bei Chomsky die Performanz, die tatsächliche Ausführung von Leistungen, die aufgrund menschlicher Unzulänglichkeit durchaus Quali� tätsschwankungen aufweisen kann (Lenzen 1989: 877–884). In der beruflichen Bildung wird diese Oberflächenstruktur als Qualifikation bezeichnet. Im Unterschied zur Performanz werden Qualifikationen als allge� meine Fähigkeiten nicht nur in Absehung vom Subjekt, sondern auch von den je verschiedenen Handlungssituationen beschrieben. Menschen werden zu «Trä� gern» von Qualifikationen. «Der Qualifikationsbegriff unterstellt immer schon die gelungene praktische Ausführung der Arbeit» (Kade 1983: 864). Die pädagogische Kritik an der Engführung, die Leistungen auf berufliches Funktionieren reduziert, führte schließlich zur Erweiterung des Kompetenzbe� griffs um politische und gesellschaftliche Dimensionen wie Mitbestimmung und Lebensgestaltung (vgl. Kade 1983: 862 f.). 168 Kultusministerkonferenz 2000. In den Handreichungen wird unterschieden zwischen Fachkompetenz, Personalkompetenz und Sozialkompetenz, die gemeinsam die Voraus� setzung für Methodenkompetenz bilden. 169 Krankenpflegegesetz 2003 § 3 (Ausbildungsziel), Abs. 1. Dort wird gefordert, dass die Ausbildung fachliche, personale, soziale und methodische Kompetenzen vermittelt. 170 ��������������������������������������������������������������������������������� Remmers 2005, in einem unveröffentlichten Vortrag zur fachlichen Kompetenz, Lern� welten-Kongress. 171 Gemäß dieser strukturalistischen Sichtweise, die auf Chomsky zurückgeht, ist Lernen die Gestaltung der Transformation zwischen Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur (Lenzen 1989: 879), Stichwort «Kompetenz».
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Die Kritik am Konzept der Handlungsorientierung richtet sich aber auch darauf, dass es in der Literatur über handlungsorientierten Unterricht überwiegend keine befriedigende Reflexion über ihr Verhältnis zur Handlungstheorie gibt. Damit bleibt unbestimmt, was genau unter Handlungsorientierung zu verstehen ist, und jede kleine kreative Abweichung kann als Handlungsorientierung gesehen werden (Gruschka 2002: 133). Diese Reflexion hat jedoch mittlerweile eingesetzt. Christiane Büscher weist drei handlungstheoretische Konzepte als Grundlagen der Handlungsorientierung in der Pflegepädagogik aus: das Modell der vollständigen Handlung nach Volpert, die Struktur professionellen Handelns nach Oevermann und das Expertenhandeln nach Benner.172 Um handlungstheoretische Implikationen pflegepädagogischer Konzepte zu erfassen, schlägt Franziska Fichtmüller Kriterien vor, die in Zusammenarbeit mit der Sektion Bildung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft entwickelt wurden. Beleuchtet werden sollen die wissenschaftstheoretische Position eines Konzepts, die Intentionalität, die Handlungen zugeschrieben wird (z. B. teleologisch, nicht teleologisch); konstituierende Handlungsdimensionen (z. B. Emotion, Leiblichkeit, Sozialität), Prozessstruktur (z. B. hierarchisch, sequenziell oder offen), Bewusstseinsebenen, Reflexivität und Sinnhaltigkeit (Fichtmüller 2006: 159 ff.). Die Analyse verschiedener pflegedidaktischer Konzepte mit diesen Kriterien zeigte bisher eine überwiegend teleologische, instrumentelle Auffassung von Handeln und soll in Empfehlungen für einen der Spezifik der Pflege angemessenen Handlungsbegriff münden, der das prinzipiell Unabschließbare, nicht Planbare und die Situationsabhängigkeit der Pflege einbezieht. Das Schlüsselqualifikationen-Konzept wird auch aus bildungstheoretischer Perspektive kritisiert: Es strebe Bildung nicht um ihrer selbst willen an, sondern als Mittel zum Zweck einer besseren Verwendbarkeit des Menschen in einer sich rasch verändernden Arbeitswelt. Wenn man sie instrumentell verkürzt, hält man die Fähigkeiten für «herstellbar» und verkennt die Unverfügbarkeit von Lernen, die bei diesen komplexen Fähigkeiten besonders augenfällig sein sollte. Um nicht zu einer unkritischen Anpassung an bestehende Praxis zu werden oder in Aktionismus abzurutschen, muss Handlungsorientierung durch Refle172 Das Modell der vollständigen Handlung beruht auf der Handlungsregulationstheorie und beschreibt Handeln als bewusstes und zielgerichtetes Verhalten. Es ist wissensorientiert und birgt die Gefahr in sich, instrumentelles Wissen (z. B. Pflegestandards) über Begründungswissen zu stellen. Oevermanns Untersuchung der Struktur des professionellen Handelns weist Handeln als Brücke zwischen wissenschaftlichem Wissen und praktischem Tun aus, wobei das spontane Handeln anschließend begründet wird. Dabei spielen hermeneutischer Fallbezug und universalistische Regelanwendung eine wichtige Rolle. Patricia Benners Modell des Expertenhandelns beschreibt fünf Stufen vom Anfänger bis zum Experten, wobei auf dem Weg zum Expertentum Regeln zunehmend zurücktreten und Intuition an Bedeutung gewinnt (Büscher 2006: 41–44).
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xionsorientierung ergänzt und korrigiert werden. Rehfus fordert für die Philosophiedidaktik kritische Distanz zur Handlungsorientierung: der Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Weltaneignung müsse klar bleiben. Auch wenn Handeln als moralisch wertvoller als Nichtstun betrachtet werde, der Freiraum zum Denken sei nötig, deshalb müsse die Philosophiedidaktik grundsätzlich reflexionsbezogen sein (Rehfus 1986: 101 f.). Dies gilt auch für die Ethik im Gesundheitswesen, in dem oft die Idee vorherrscht, für Reflexion nun wirklich keine Zeit «übrig» zu haben. Über Handlungs- und Lernzielorientierung bemerkt Rehfus spöttisch: Auf das Leben, so wissen wir seit Seneca, soll die Schule vorbereiten. Wenn schon nicht Handlungsorientierung, so muss der Philosophieunterricht doch wenigstens «Lebensorientierung» sein. Besonders ernst nahmen die Lernzieltheoretiker das Leben. So ernst, dass sie meinten, dass es «bewältigt» werden müsse. Dazu lösten sie das Leben auf in «Lebenssituationen». Das Leben wird also nicht gelebt, vielmehr werden Lebenssituationen bewältigt. Deshalb muß Seneca korrigiert werden: nicht für das Leben lernen wir, sondern für Lebenssituationen. Das Leben aber ist kein Unterrichtsgegenstand, und wird es zu einem gemacht, verflüchtigt es sich (Rehfus 1986: 102; Hervorh. im Original).
Interessant an dieser Kritik ist, dass hier das Verschwinden der Phänomene durch didaktische Bearbeitung beklagt wird, das auch Wagenschein zu seinem Konzept des genetischen Lernens gebracht hat – und das, obwohl Rehfus grundsätzlich eher auf der Seite der Theorieorientierung steht. Ihm ist darin zuzustimmen, dass die Gefahr besteht, vor lauter Situations- und Handlungsorientierung die Orientierung an Theorie aufzugeben oder zu vernachlässigen. Die Lösung besteht aber, wie Bürmann gezeigt hat, letztlich in der Überwindung des Dualismus zwischen Handlungs- und Theorieorientierung. Bildung als «formatio», als Entfaltung der Persönlichkeit, ist letztlich eine Voraussetzung dafür, dass sich Kompetenzelemente wie etwa Empathie oder Kritikfähigkeit wirklich als Tiefenstruktur entwickeln können und nicht als bloße Attitüde. Neben der Kritik daran, dass der Schlüsselqualifikations-Ansatz zu sehr auf berufliche Verwertbarkeit ausgerichtet sind, erhebt sich auch die Frage, wie derart komplexe Persönlichkeitseigenschaften wie personale oder psychosoziale Kompetenz wohl gelehrt oder vermittelt werden können. Gruschka spricht von einer Überhöhung der möglichen Bildungswirkungen von Unterricht, wenn man davon ausgeht, dass «während des Fachunterrichts wie nebenbei für Schlüsselqualifikationen gesorgt und Schlüsselprobleme der Welt geklärt werden könnten» (Gruschka 2002: 87 f.).173 173 Vgl. dazu auch Oelke/Menke, die von einer»völligen Überschätzung des im Unterricht Mach- und Erreichbaren» sprechen (Oelke/Menke 2002: 101).
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Trotz dieser Probleme hat das Schlüsselqualifikationen-Konzept als Ziel orientierung, gleichsam als regulative Idee, durchaus eine Berechtigung. Denn diejenigen, die es für die Pflegepädagogik vertreten, beziehen sich ausdrücklich auf Klafkis Bildungsziele und wirken damit, wie etwa Uta Oelke, dem Verwertbarkeitsanspruch und der Verengung auf die Berufspraxis durch konkrete curriculare und methodische Vorschläge entgegen. Curricular geschieht das durch die Ausrichtung an der Lebens- und Berufswirklichkeit der Adressatinnen: Hier werden Bildungs- und Qualifizierungsansprüche verschränkt. Dazu einige Beispiele aus dem Curriculum von Oelke/Menke: Die medizinorientierte Einteilung «Pflege bei bestimmten Erkrankungen» wird von Oelke/Menke verlassen. Statt dessen werden Patientengruppen aus der Perspektive der Pflege zusammengefasst, wie etwa im Themenfeld II.1. «Menschen in existenziellen Lebenssituationen und/oder gesundheitlichen Problemlagen pflegen» mit Lerneinheiten wie II.1.4. «Schmerzbelastete Menschen pflegen», wobei es ausdrücklich auch um die Entwicklung einer eigenen Haltung zu existenziellen Fragen und die Sensibilisierung für «unterschiedliche Erlebens-, Verhaltens- und Bewältigungsformen geht» (Oelke/Menke 2002: 167) oder im Themenfeld III.1. «Die pflegerische Klientel in ihrem Lebenskontext wahrnehmen». Grundlagenwissen aus Politik, Recht und Ökonomie wird unter dem Aspekt behandelt, dass es sich hier um «Rahmenbedingungen von Pflege» handelt (Themenfeld III.2.). Die Subjektorientierung des Konzepts schlägt sich in einem eigenen Lernbereich (IV) nieder: «Berufliche und persönliche Situation der Pflegenden», mit Themenfeldern wie IV.2. «Berufliches Selbstverständnis entwickeln» oder IV.4. «Mit schwierigen sozialen Situationen umgehen». Wird die Instrumentalisierung und Funktionalisierung des Lernens solcherart überwunden, so schließen sich das Schlüsselqualifikationen-Konzept und bildungstheoretische Ansätze keineswegs aus.174 Klafki selbst hat darauf hingewiesen, dass die Bearbeitung von Schlüsselproblemen nicht nur als Grundlage zur Erarbeitung bestimmter Erkenntnisse geeignet ist, sondern auch zur «Aneignung von Einstellungen und Fähigkeiten, deren Bedeutung über den Bereich des jeweiligen Schlüsselproblems hinausreicht» (Klafki 1996: 63). Er nennt Kritikbereitschaft, Argumentationsbereitschaft, Empathie und vernetzendes Denken als Fähigkeiten, die jeweils inhaltsbezogene und kommunikationsbezogene Dimensionen haben. Die Nähe zu Fähigkeiten der personalen und kommunikativen Kompetenz ist unübersehbar, auch wenn Klafki den Begriff der Schlüsselqualifikation nicht verwendet.
174 �������������������������������������������������������������������������������������� Darauf verweist auch Ertl-Schmuck, die Schlüsselqualifikationen durchaus als Bildungsziele sieht, da sie auch zur Bildung des Subjekts beitragen. Sie betont jedoch die unterschiedlichen Interessen, die hinter den Konzepten stehen (Ertl-Schmuck 2000: 81).
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In seiner Bestimmung von Unterricht als sozialem Prozess betont Klafki außerdem die Bedeutung von Erfahrung für «den Aufbau sozialer Verstehensund Handlungskompetenz» und nennt als deren Elemente «Kommunikations-, Interaktions-, Kooperationsfähigkeit; Fähigkeit, Ich-Identität angesichts (eines) Beziehungsgefüges […] zu entwickeln, rationale Konfliktlösungsfähigkeit, Frustrationstoleranz ohne Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit» (Klafki 1996: 126). Die Schlüsselqualifikationen können bei der Curriculumentwicklung, bei der Auswahl von Inhalten, bei der Planung von Unterricht, aber auch bei der Leistungsbeurteilung als Orientierungsmaßstab dienen.175 Ähnlich wie bei den ethischen Prinzipien muss dabei aber ihr Status als übergeordnete Orientierung klar bleiben, so dass der Irrtum, solche Qualifikationen in einzelnen Unterrichtssequenzen erzeugen zu können, gar nicht erst aufkommt. Handlungsorientierung wird in der Pflegeausbildung auch von den Schüler/innen oft gefordert, allerdings meinen sie damit meist «Rezepte» für die Praxis ohne den Umweg über Orientierungswissen und Allgemeinbildung. Hier zeigen sich die Grenzen von Mitbestimmung: Die meisten Auszubildenden sind an Grundsatzfragen wie den Konstruktionsprinzipien eines Curriculums oder didaktischen Grundsätzen nur wenig interessiert, sondern kritisieren einzelne Themen als zu trocken oder als nicht relevant für die spätere Berufswirklichkeit. Kritik soll grundsätzlich ernst genommen werden; es ist aber zu differenzieren, woher das Unbehagen mit einem Thema oder einer Methode kommt. Auf der Seite der Lehrer (und der Schule, denn der institutionelle Rahmen und die Kultur einer Schule stellen hier wichtige Einflussgrößen dar) sind Offenheit und Experimentierfreude mit neuen Formen der Einbeziehung von Schülern in die Planung von Unterricht wünschenswert. Andererseits kann man Schüler aber mit dem Hinweis auf ihre Mündigkeit auch im Stich lassen und ihnen Dinge aufbürden, die nun einmal in der Verantwortung und in der Entscheidung der Lehrer und der Ausbildungsträger liegen: die curriculare Strukturierung und grundsätzliche Organisation der Ausbildung. Handlungsorientierung im positiven Sinn bedeutet, die tatsächlichen Verhältnisse und Probleme der Berufspraxis im Unterricht aufzugreifen, zu reflektieren und zu analysieren, aber auch, Gruppenkonflikte und -prozesse als Lernanlässe mit Übertragungsmöglichkeiten beispielsweise auf die Zusammenarbeit im Team zu 175 Erste Erfahrungen mit fallbezogenen mündlichen Prüfungen in der Krankenpflegeschule der Charité Berlin, zeigen, dass das Leistungsprofil der Prüflinge mit den Oelkeschen Schlüsselqualifikationen gut für ein Feedback zusammengefasst werden kann. Die Einbeziehung der Schlüsselqualifikationen in Leistungsbeurteilungen wird von Oelke/ Menke angeregt (Oelke/Menke 2002: 81 f.). Zu den Erfahrungen Huschka et al. 2008.
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verstehen und entsprechend zu bearbeiten. Das bedeutet, dass die Reflexion der Praxis der Bezugsrahmen ist, in dem theoretische Begriffe und Konzepte für die Auszubildenden bedeutsam werden können. Diese Überzeugung prägt auch das im folgenden Kapitel dargestellte Konzept der ethischen Kompetenzentwicklung in der Pflegeausbildung. Reflexion der Praxis bedeutet aber gerade nicht, dass den Praxisbedingungen nun eine normative Kraft zuwächst, denn Reflexion beinhaltet immer auch kritische Distanz und theoretische Klärung. Zielorientierungen wie die Schlüsselqualifikationen sind wichtig, um Curricula, Unterrichts- oder Lerneinheiten didaktisch planen und auswerten zu können. Gleichzeitig sollte Klarheit darüber bestehen, dass keine Kenntnisse, Fähigkeiten, Haltungen, ja, nicht einmal konkrete praktische Fertigkeiten, erzeugt werden können. Vielmehr muss man mit Blick auf die je aktuelle Lerngruppe Schritte planen, die geeignet erscheinen, bei den meisten Suchbewegungen, Erkenntnis, Irritation, Neugier, also eine Hinwendung zur Sache, auszulösen. In welchem Zeitraum sich dann ein Erfolg zeigt, ist notwendig so verschieden, wie Menschen nun einmal sind. Die meisten der personalen und psychosozialen Kompetenzen qualifizieren eine Person nicht nur für den Beruf, sie tragen – ebenso wie Bildung überhaupt – zu einem gelingenden Leben bei. Die Schlüsselqualifikationen stecken Zieldimensionen ab, an denen sich die Planung von Curricula, Lerneinheiten oder einzelnen Lernsituationen orientiert. Sie können allerdings nur dann wirklich gefördert werden, wenn der Anspruch auf Allgemeinbildung auch in der Berufsausbildung nicht aufgegeben wird.
3.2.3 Lernfeldorientierte Curricula in der Pflegeausbildung
Unterricht ist entsprechend dem Ziel der Handlungskompetenz auf die konkrete Berufswirklichkeit und damit auf das Ziel der Handlungsfähigkeit in verschiedenen komplexen beruflichen Situationen auszurichten. Dieser Grundsatz führte zur Analyse der Berufsfelder und zur Identifikation von verschiedenen Handlungsfeldern, aus denen dann Lernfelder konstruiert werden. So sind Unterrichtsinhalte nicht identisch mit der Sache, die dem lernenden Subjekt gegenübersteht, sondern sie sind in institutionellen Lehr- und Lern-Verhältnissen immer schon didaktisch ausgewählt, reduziert und präpariert. Die «reine», nicht didaktisierte Sache, tritt in der Regel gar nicht in Erscheinung. Schon bei der Auswahl der Inhalte wird auf den Bildungsgehalt, die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung oder Exemplarizität geachtet. So beinhaltet die Betrachtung des Lerngegenstands immer schon Fragen der Vermittlung. Die Tendenz, dass Inhalte überwiegend mit Blick auf ihre berufliche Verwertbarkeit ausgewählt werden, hat sich durch die Dominanz der Handlungsorien-
3. Didaktik
tierung und des damit verbundenen Lernfeldkonzepts verstärkt. Da dieses die curricularen Konzepte der Pflegeausbildungen176 heute entscheidend prägt, soll es hier kurz erläutert werden. Lernfelder entstehen durch didaktische Bearbeitung beruflicher Handlungsfelder und können einzelne Lerneinheiten, aber auch eine Gruppe von – meist fächerübergreifenden – Lerneinheiten umfassen. Lernfeldorientierte Curricula in der Berufsausbildung werden in den Handreichungen der Kultusministerkonferenz (KMK 2000) ausdrücklich gefordert und liegen mittlerweile für etwa ein Drittel der staatlich anerkannten Ausbildungsberufe vor. (Oelke 2004: 14) Die KMK gibt folgende Definition für Lernfelder: «Lernfelder sind durch Zielformulierung, Inhalte und Zeitrichtwerte beschriebene thematische Einheiten, die an beruflichen Aufgabenstellungen und Handlungsabläufen orientiert sind. Aus der Gesamtheit aller Lernfelder ergibt sich der Beitrag der Berufsschule zur Berufsqualifikation. In besonderen Fällen können innerhalb von Lernfeldern thematische Einheiten unter fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten vorgesehen werden. In jedem Fall ist auch für solche Einheiten der Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess deutlich zu machen.» (KMK 2000: 14).
Obwohl die KMK-Handreichungen für die Pflegeausbildungen aufgrund ihrer Sonderstellung im Bildungssystem nicht gelten, werden durch das neue Krankenpflegegesetz und die dazu gehörige Ausbildungs- und Prüfungsverordnung ähnliche Strukturen angelegt. Dort ist allerdings von «Themenbereichen» die Rede.177 Auf Länderebene werden die Bestimmungen durch verschiedene weitergehende Regelungen ergänzt. Durch diese auf der bildungspolitischen Ebene angesiedelten Rahmensetzungen wird ein Teil der Auswahl der Inhalte vorgegeben. Damit eng verknüpft ist die Frage, wie die Inhalte zu strukturieren sind. Werden sie konventionell nach Unterrichtsfächern eingeteilt oder werden nach bestimmten Gesichtspunkten fächerübergreifende Einheiten gebildet? Das Lernfeldkonzept geht von fächerintegrierenden Einheiten aus und begründet dies mit der Orientierung an beruflichen Handlungssituationen. Die Fächerintegration als Konstruktionsmerkmal von Curricula in der Pflege hat sich seit dem Erscheinen des ersten umfassenden, fächerintegrativen Curriculums von Uta Oelke 1991 zunehmend durchgesetzt. Oelke nennt folgende Argumente für die Fächerintegration: 176 ����������������������������������������������������������������������������������� Auf Lernfeldern basierende Curricula bestimmen nicht nur die Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung, sondern auch die Altenpflegeausbildung. 177 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege, 2003. Die Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 wird in zwei Abschnitte unterteilt. Der Abschnitt A. gibt den Rahmen für den theoretischen und praktischen Unterricht vor und beschreibt zwölf Themenfelder mit dazu gehörigen Zielen nach dem Muster «Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen …». Im Abschnitt B werden die Einsatzbereiche der praktischen Ausbildung mit Stundenzahlen angegeben.
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• Disziplinorientierte Curricula haben kaum Bezüge zu den Bedürfnissen und der Lebenswirklichkeit der Auszubildenden (Oelke 1991: 84).
• Die mit der Aufteilung nach Schulfächern verbundene Wissenschaftsorientie-
rung führt zu einer großen Stofffülle und damit zu passiver Reproduktion von Inhalten.
• Die mehrperspektivische Betrachtung eines Phänomens oder einer Problemlage ermöglicht exemplarisches Lernen (Oelke 2002: 104 ff.).
Wenn das Lernfeldkonzept berufliche Handlungsfelder zum Kriterium für die Auswahl und Zusammenstellung der Ausbildungsinhalte macht, ergeben sich verschiedene curriculare Ebenen, die in der aktuellen Diskussion vor allem begrifflich noch nicht einheitlich gefasst sind. Lernfelder umfassen mehrere berufliche Handlungssituationen, die gemeinsame Merkmale bzw. einen gemeinsamen Handlungskontext aufweisen und das dem Lernfeld entsprechende Handlungsfeld konstituieren. Die Lernfelder stellen didaktische Bearbeitungen der in der Praxis vorgefundenen Handlungsfelder dar. Bei der Beschreibung der Lernfelder werden grundlegende Ziele und Kompetenzen genannt, die zur erfolgreichen Bewältigung der Anforderungen in dem entsprechenden Handlungsfeld nötig sind, und die bei der Umsetzung der Planung als Orientierung dienen sollen. Die Handlungssituationen werden didaktisch weiter zu Lernsituationen aufbereitet (im Curriculum von Oelke/Menke als Lerneinheiten bezeichnet), die alle Kompetenzen und Inhalte benennen, die zum professionellen Handeln in der jeweiligen Situation als notwendig erachtet werden und teilweise recht umfangreich sein können.178 Die Lerneinheiten sind überwiegend fächerübergreifend und dienen als Planungsgrundlage für die konkrete Stundenplanung. Die Lernsituationen, also die kleinsten curricularen Einheiten, sollen in der konkreten Stundenplanung möglichst nicht geteilt werden und innerhalb eines Unterrichtsblockes möglichst komprimiert und in sinnvoller Reihenfolge angeboten werden. Dies ist eine Herausforderung an die Stundenplanung, die sich traditionell noch oft an den Terminen der nebenamtlichen Dozenten ausrichtet. Gleichzeitig ist es unerlässlich, den Schüler/innen den inhaltlichen Zusammenhang besonders von großen Lernsituationen (oder Lerneinheiten) immer wieder transparent zu machen und sie dazu anzuregen, selbst Fragen zu formulieren bzw. auf Lernsituationen zurückzublicken und sie auszuwerten. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die verschiedenen Begrifflichkeiten und curricularen Ebenen zweier aktueller Curricula der Pflegeausbildung (Tab. 1). 178 Zum Beispiel die Einheiten I.1.4 Bewegen: 44 Std; II.2.6 Menschen mit Erkrankungen des Ernährungs-, Verdauungs- und Stoffwechselsystems pflegen: 70 Std. Alle genannten Einheiten sind dem Oelke-Curriculum entnommen.
3. Didaktik
Tabelle 1: Curriculare Ebenen und ihre Bezeichnungen Oelke/Menke 2002
Ausbildungsrichtlinie NRW 20041
Grundsätzliche Strukturierung
4 Lernbereiche2
4 Lernbereiche3
Charakterisierung entsprechend Handlungsfeldern
13 Themenfelder4
11 Teilbereiche in den Lernbereichen I–III; Lernbereich IV besteht aus 15 Lerneinheiten
Unterteilung entsprechend Handlungssituationen
Beispiel: Lernb.IV: Berufliche und persönliche Situation der Pflegenden (260 Std.)
Beispiel: IV.4. Mit schwierigen sozialen Situationen umgehen (60 Std)
Insgesamt 77 Lerneinheiten
Beispiel: IV.4.6. Nähe und Distanz (8 Std)
Beispiel: III. Zielgruppen, Institutionen und Rahmenbedingungen pflegerischer Arbeit
Beispiel Teilbereich: Zielgruppen pflegerischer Arbeit
Insgesamt 92 Lerneinheiten
Beispiel: III.5. «Arme» und «reiche» Menschen
1 Die Richtlinie bildet in mehreren Bundesländern die ordnungspolitische Grundlage der Ausbildung, z. B. Berlin. 2 Folgende weitere Lernbereiche sind außer dem als Beispiel genannten bei Oelke vorgesehen: I. Pflegerische Kernaufgaben; II. Pflege von Menschen in besonderen Lebenssituationen und Problemlagen; III. Klientel und Rahmenbedingungen von Pflege. 3 I. Pflegerische Kernaufgaben; II. Ausbildungs- und Berufssituation von Pflegenden; IV. Gesundheitsund Krankenpflege bei bestimmten Patientengruppen. 4 Die Zahlenangaben beziehen sich auf das Curriculum für die Gesundheits- und Krankenpflege.
Die hier gezeigten Curricula waren im Bereich der Pflegeausbildung die ersten, die sich am Lernfeldkonzept orientierten. Inzwischen gibt es eine Vielzahl curricularer Vorgaben und Rahmenlehrpläne der Bundesländer, die sich zum Teil an den durch das Krankenpflegegesetz vorgegebenen Themenbereichen orientieren und diese weiter in einzelne Module unterteilen (vgl. auch 4.1.2). Oelke begründet ihre Verwendung des Terminus «Lernbereich» damit, dass der Begriff aus der Curriculumtheorie für den allgemeinbildenden Bereich komme. Je nach Entwicklung der «bildungspolitischen Lage» könnte er aber zukünftig durch den Begriff «Themenbereich» ersetzt werden. Auch der Terminus «Themenfeld» entspricht nicht dem von der KMK verwendeten; dort wird von «Lernfeld» gesprochen. Oelke will hier «eine gewisse Distanz zu den KMKHandreichungen» signalisieren und begründet dies mit der zu ausschließlichen Orientierung der KMK an Handlungsorientierung und mit bürokratischen Vorgaben (Oelke 2002: 109).
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Für die Schulen und die Lehrerinnen stellt die Umstellung der Curricula, aber vor allem auch der konkreten Unterrichtsplanungen, auf die Ideen der Handlungs- und Kompetenzorientierung sowie auf die Struktur des Lernfeldkonzepts einen entscheidenden Paradigmenwechsel dar. Die Lehrerinnen müssen konventionelles Lehrverhalten kritisch hinterfragen und mehr mit teilnehmeraktivierenden Methoden arbeiten. Die Zusammenarbeit mit den freiberuflichen Dozenten, die vielerorts nur wenig Vorgaben erhalten und sich in ihrer gewohnten Fächerlogik bewegen, muss intensiviert werden und es muss möglichst zu einer Konzentration auf eine kleinere Zahl besonders qualifizierter nebenamtlicher Dozenten kommen, die das Konzept inhaltlich mittragen und -gestalten. Gleichzeitig sind die Lehrerinnen als die Organisatorinnen und Begleiterinnen der Lernprozesse in der Ausbildung dafür verantwortlich, den Schülerinnen Zusammenhänge und Verbindungen aufzuzeigen, die diese nicht am Stundenplan ablesen können. Die Transparenz des Curriculums für die Schülerinnen und ihre Information über Ziele sind wichtige Voraussetzungen dafür, allmählich eine stärkere Beteiligung und Mitarbeit von Schülerinnen z. B. an der Planung von Theorieblöcken oder Unterrichtseinheiten zu erreichen. Durch die Konzentration auf Handlungssituationen und damit auf die Arbeitswelt kann das orientierende, strukturierende Hintergrundwissen in Vergessenheit geraten. Ohne dieses aber stehen die Lernsituationen und eventuell sogar deren einzelne Elemente wie unverbundenen Puzzleteile nebeneinander. Das Hintergrundwissen ermöglicht es den Lernenden erst nach und nach zu verstehen, wie alles mit allem zusammenhängt. Besonders am Anfang der Ausbildung müssen die Lehrer diese Zusammenhänge aktiv herstellen und aufzeigen. Sie können nicht erwarten, dass dies durch gute Planung quasi von selbst geschieht. In den Curricula finden sich deshalb auch allgemeinbildende Module wie «Lernen lernen».179 Zudem bieten die fächerübergreifenden Einheiten durchaus Raum für theoretische Grundlagen wie Geschichte, Recht, Wissenschaftstheorie etc. Die Curricula beinhalten absichtlich keine Vorschläge dazu, wie Einführungen geleistet und inhaltliche Verbindungen hergestellt werden können – in einer offenen Curriculumkonstruktion gibt es dafür Freiräume für die Schulen und die einzelnen Lehrerinnen. Diese werden allerdings bisher nur unzureichend genutzt. Lerneinheiten werden oft so miteinander kombiniert, wie es organisatorisch nützlich ist und aufgrund traditioneller, nämlich medizinischer Systematik sinnvoll erscheint.180 Eine Abstimmung der Inhalte von Theorieblöcken auf die 179 Oelke-Curriculum IV.1., Lernen lernen: 60 Std; NRW II.2., Lernen und Lerntechniken. 14 Std. und II.3. Soziales Lernen: 18 Std. II.5. Lernen in der praktischen Ausbildung: 8 Std.; Altenpflegecurriculum 4.2., Lernen lernen: 40 Std. 180 In den Pflegeausbildungen wird überwiegend mit einer größeren Zahl an Fremddozenten gearbeitet, an deren Terminkalender sich oft genug die Abfolge der Lerneinheiten orientiert.
3. Didaktik
Praxiseinsätze ist dabei schon sehr fortschrittlich. Nicht selten stehen thematisch recht unterschiedliche Lerneinheiten in einem mehrwöchigen Theorieblock unverbunden nebeneinander. Neben einer didaktisch reflektierten Block- und Stundenplanung sind Formen der Partizipation von Lernenden und verschiedene Möglichkeiten der Lernberatung noch stärker zu entwickeln. Beim ersteren ist an eine Vorbereitung des jeweils folgenden Theorieblocks durch Schüler in der Weise denkbar, dass die Schüler sich in Gruppen über die Inhalte jeweils einer der Lerneinheiten informieren, die für den folgenden Block geplant sind, dies der Klasse vorstellen und dazu Fragen und Interessenschwerpunkte entwickeln. So können auch Wünsche nach Exkursionen und Projekten rechtzeitig aufgenommen und in der Stundenplanung umgesetzt werden. Voraussetzung dafür ist allerdings Flexibilität bei der Stundenplanung, die jedoch für ein offenes Curriculum ohnehin zu fordern ist.
3.3
Ethik lehren und die Ethik des Lehrens Der allgemeindidaktische Rahmen ist abgesteckt, die Besonderheiten der Pflegedidaktik wurden erläutert und kommentiert. Was ist vor dem Hintergrund des hier entwickelten Didaktik- und Ethikverständnisses für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung zu bedenken? Im Sinne der Subjektorientierung wende ich mich zunächst den Beteiligten an diesem Lernprozess zu und beleuchte zum einen das Interesse der Schüler am Thema Ethik und zum anderen das Ethos der Lehrenden, beides entscheidende Faktoren für gelingenden Unterricht. Zusammenfassend folgen Grundsätze und Zielorientierungen, sowie Hinweise zu Methoden des Unterrichts.
3.3.1 Die Fragen der Schüler
Wertfragen sind für junge Erwachsene besonders wichtig; sie sind Teil der Selbstverständigung und der Orientierung in der Welt. Hier kann Ethikunterricht anknüpfen und die Fragen der Lernenden aufnehmen. Ferdinand Fellmann weist in seiner Arbeit zum Ethikunterricht darauf hin, dass die Fragen der Schüler/innen nicht immer mit denen des Lehrers übereinstimmen. Nach seiner Erfahrung kommt für junge Menschen vor der Frage nach Handlungsnormen die Frage danach, «wie es in der Welt, in der sie leben, zugeht» (Fellmann 2000: 27). Denn es fällt ja ins Auge, dass es eine Diskrepanz zwischen moralischen Ansprüchen und der Wirklichkeit gibt. Das führt bei manchen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu einer stark moralisierenden Betrachtungsweise, bei
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anderen zu Skepsis gegenüber Leitbildern bis hin zu grundlegender Ablehnung von Ethik. Die Neigung, schnell und kategorisch zu urteilen und das Übergewicht von Meinungen gegenüber Begründungen ist nicht nur eine typische Eigenschaft junger Menschen (vgl. dazu auch Lay 2004: 224), sondern durch gewisse mediale (Un)Kulturen auch insgesamt weit verbreitet (Talkshows, bei denen Präsentation wichtiger ist als der Inhalt; Verkürzung von Wortbeiträgen im Rundfunk; der allgemeine Trend zum Kurztext, etwa in SMS, e-mail u. v. m.). Fellmann beschreibt den «moralischen Rigorismus» junger Menschen so: «Sie haben kein Verständnis für die Gelassenheit, mit der Erwachsene auf unhaltbare Zustände reagieren, die sie nicht ändern können», weil sie grundsätzliche Fragen sehr absolut sehen und Kompromisse in wichtigen Fragen ablehnen. Im Prozess ihrer Orientierung in der Welt ist für Jugendliche die vordringliche Frage der Moral: «In welcher Welt leben wir?» (Fellmann 2000: 27) Erst danach, durch die Irritation über den Zustand der Welt, stellt sich die Frage «Wer bin ich?», die durch die Vielfalt und Unsicherheit sozialer und eigener Erwartungen und Vorbilder zunächst noch vor der klassischen Frage nach dem richtigen Handeln steht (Fellmann 2000: 28). Diese stellt sich allerdings umso drängender, wenn eine Orientierung in der Welt und über sich selbst erfolgt ist. Die Kritik junger Menschen am Zustand der Welt lenkt allerdings auch immer wieder die Aufmerksamkeit der Erwachsenen auf die Probleme, an die man sich oft fälschlicherweise gewöhnt hat. Moralität, so Fellmann, hat keine Lobby, so dass sich moralisch Handelnde leicht als die Dummen fühlen. Ethik als Reflexion der Praxis soll auch Kritik dieser Praxis leisten. Wichtig dafür ist allerdings, ob diese Kritik aus der Zuschauer- oder aus der Teilnehmerperspektive erfolgt (Fellmann 2000: 38). Eine Antwort auf die Frage, in welcher Welt wir leben, ist, sich selbst als Teil dieser Welt und damit als mitverantwortlich für ihren Zustand zu sehen, also die (bequemere) Zuschauerperspektive aufzugeben, was für die ethische Reflexion unerlässlich ist. In den Pflegeausbildungen ist die Welt, in der die Schüler sich zurechtfinden müssen, die der Institution, in der sie ausgebildet werden (neben der Schule ist das meist ein Krankenhaus) und damit gleichzeitig die gesellschaftliche Institution der Medizin. Auch hier gibt es eine Diskrepanz zwischen dem erklärten Ziel, eine gute und menschliche Versorgung zu gewährleisten, und der Realität, die immer mehr von ökonomischem Denken und Nützlichkeitserwägungen dominiert wird. Fragen, die Auszubildende in der Pflege bewegen, sind die, wie mit einer schlechten Praxis umzugehen ist, in der die Regeln und Grundsätze, die in der theoretischen Ausbildung vermittelt werden, nicht nur keine Beachtung finden, sondern durch die überwältigende Eigengesetzlichkeit von Gesundheitsinstitutionen ersetzt werden, die die Würde und Autonomie von Patienten, aber auch von Mitarbeitern regelmäßig missachtet. Die Frage ist also eine sehr grundsätz-
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liche: Was hat Ethik angesichts dieser allgegenwärtigen Missstände überhaupt für einen Sinn? Was nützt mir mein Berufsethos, was nützt mir Ethik, wenn ich in der Realität immer wieder ihre Vergeblichkeit und Unwirksamkeit erfahre? Was ist das richtige Handeln angesichts von Rahmenbedingungen, die dieses Handeln erschweren, wenn nicht unmöglich machen? Und ist nicht Ethik, neben der Qualitätssicherung und den zunehmenden administrativ-organisatorischen Zwängen (Dokumentation zu Abrechnungszwecken) nur eine weitere Zumutung, die Pflegenden das Leben schwerer macht? Die zweite Grundfrage der Moral stellt sich für Jugendliche laut Fellmann nicht in der klassischen Form des «Was soll ich tun?» sondern als die Frage «Wer bin ich?». Das hängt mit dem Prozess der Selbstfindung zusammen, in dem sich junge Menschen befinden. Sie erleben bei sich selbst einander widersprechende Strebungen und ein schwankendes Selbstbild. Erst die allmähliche Konturierung der Identität durch ein tätiges Leben lässt die Frage nach dem richtigen Handeln wieder in den Vordergrund treten. Übertragen auf die Pflegeausbildung ist dieser Wandel im Zusammenhang mit den zunehmenden Praxiserfahrungen zu beobachten. Während die Auszubildenden am Anfang der Ausbildung noch ein oft sehr idealistisches Bild von Pflege entwerfen, dem sie nachstreben, haben Pflegende mit mehrjähriger Berufserfahrung ein klareres Bild von ihren eigenen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen. Dazwischen liegt die Krise des «Praxisschocks», die manche resignieren und zynisch werden lässt, und die meist auch eine Krise des Moralempfindens ist.181 Genau darin liegt eine wichtige Aufgabe für den Ethikunterricht. Er soll Raum für Spannungserfahrungen der Schülerinnen geben, die sonst leicht verdrängt werden und durch gemeinsame Analyse und Reflexion diese Erfahrungen einordnen helfen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die Schülerinnen für sich neue Handlungsmöglichkeiten suchen können. Inhalte aus Natur oder Gesellschaft, so Klafki, können erst dadurch zu Unterrichtsthemen werden, dass sie mit Fragen der Schüler in Beziehung gesetzt werden (Klafki 1996: 260). Dies ist auch ein Kriterium für die Auswahl der Unterrichtsthemen für den Ethikunterricht. Er sollte für aktuelle Fragen und Probleme der Schüler/innen offen bleiben, auch wenn diese die Planung umwerfen. 3.3.2 Pädagogische Ethik und pädagogisches Ethos
Für den Ethikunterricht hat die Dimension des Ethos von Lehrenden besonderes Gewicht, da hier weniger die Vermittlung eines bestimmten Wissens im Vordergrund steht als die Förderung und Ermutigung zum rationalen Diskurs, zur 181 �������������������������������������������������������������������������������������� Kersting 2002 beschreibt dies in ihrer Untersuchung als Prozess der moralischen Desensibilisierung, vgl. unter 2.2.4.
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Wahrnehmung und Formulierung eigener Werthaltungen und zur Übertragung dieser Fähigkeiten und Sichtweisen in die berufliche Praxis. Allerdings ist eine Wertorientierung in der Auswahl der Ziele und Methoden für jedes Lehren grundlegend. Gemäß dem in Kapitel 2 dargelegten Verständnis von Ethik ist pädagogische Ethik eine berufliche Bereichsethik182 wie die Ethik in der Pflege und reflektiert die moralischen Aspekte des pädagogischen Handelns. Dazu gehören das pädagogische Ethos der einzelnen Lehrer, die moralische Bewertung von Zielen, Maßnahmen und Methoden183 sowie die moralischen Auswirkungen von schulischen Strukturen und ordnungspolitischen Rahmensetzungen. Pädagogische Ethik umfasst also ebenso wie andere berufliche Bereichsethiken eine persönliche, eine institutionelle und eine gesellschaftspolitische Ebene. Wenn im Folgenden die Grundhaltung «guter Lehrer» zu charakterisieren versucht wird, so geschieht dies im Bewusstsein, dass eine solche Skizze notwendig persönliche Konturen bekommt. Da guter Unterricht entscheidend von guten Lehrern abhängt, wie z. B. Rehfus betont (Rehfus 1986: 113), ist die Frage wichtig, was einen guten Lehrer ausmacht. Dies gilt in besonderem Maße für den Ethik unterricht. Ethiklehrer/innen müssen keine Übermenschen sein, werden aber von den Schüler/innen an der Kongruenz ihres Verhaltens mit den dort besprochenen Prinzipien (z. B. Dialog, Verantwortung, Gerechtigkeit) gemessen. Das pädagogische Ethos wird hier in den Dimensionen «Einstellung zu Schülern», «Personale Kompetenz» und «fachliche Kompetenz» dargestellt, die gemeinsam eine professionelle Grundhaltung von Lehrenden ausmachen.
182 Vgl. Derbolav: pädagogische Ethik als «Lehre von den Seins- und Sollensbedingungen des pädagogischen Handelns» und Günzler: ethische Reflexion als «eine Dimension des pädagogischen Denkens»; (beide zit. nach Wigger 1990: 311). Lay spricht ebenfalls von einer Bereichsethik, pädagogische Ethik sei «angewandte Ethik in der Erziehungswissenschaft» (Lay 2004: 198). 183 Lay untersucht in einem Abschnitt über pädagogische Ethik radikalkonstruktivistische Didaktik-Ansätze und kritisiert zum einen ihre mechanistische Auffassung vom Lernen, zum anderen die Idee der bewussten Irritation der Lernenden durch den Lehrer, die leicht übergriffig werden kann. Eine pädagogische Beziehung, so Lay, wird nicht beschrieben, und ohne die Wertschätzung des Lernenden können bewusst störende Interventionen des Lehrers destruktiv wirken. Als größtes Problem bei diesem didaktischen Ansatz sieht er jedoch sein «Wertevakuum» (Lay 2004: 201–211). Aus Marcel Remmes Artikel zur «Kritik konstruktivistischer Ansätze in der Pflegepädagogik» zitiert er als Kritikpunkte dieser Konzepte «ihr postmodernes Menschenbild, ihr Ethikdefizit, ihr technizistisches Vokabular sowie ihre szientistische und instrumentalistische Wissenschaftsauffassung» (Remme 2002: 261).
3. Didaktik
3.3.2.1 Die Einstellung zu Schülern
Martin Wagenschein sagte zur Frage, welche Tugenden ein guter Lehrer haben müsste: «Er müsste Kinder mögen. Mögen – mehr sage ich nicht» (zit. nach Bürmann 1997: 92). Aus Wagenscheins zurückhaltender Formulierung lässt sich Verschiedenes lesen: Zum einen, dass ein guter Lehrer nicht für alle Menschen gleich ist, dass aber die Zuneigung zu Kindern (respektive zu jungen Erwachsenen, wenn es um die Ausbildung geht) eine Voraussetzung dafür ist, mit den je eigenen Gaben und auf die je eigene Weise für andere ein guter Lehrer zu sein. Zum anderen scheint auch die Zurückhaltung selbst zur Tugend zu gehören: Kinder mögen genügt, sagt Wagenschein – von Berufung oder Liebe ist nicht die Rede. Zurückhaltung als pädagogische Haltung gebietet darüber hinaus, die Lernenden selbst die für sie richtigen Lernwege finden zu lassen, ihnen Zeit dazu zu geben und nicht zu schnell Lösungen anzubieten. Solche pädagogische Zurückhaltung speist sich aus Gelassenheit, Selbstvertrauen und Vertrauen auf das Interesse und die Mitarbeit der Schüler. Vor allem für den Ethikunterricht ist es wichtig, den Schüler/innen eigene Wertungen zu ermöglichen, ja sie sogar dazu zu ermutigen (vgl. Lay 2004: 200), denn hier gilt in besonderer Weise das, was Paschen als pädagogisches Paradoxon formulierte: «Das, was verbindlich gelehrt werden muß, kann nicht verbindlich gelehrt werden, es bedarf, um für den Zögling verbindlich zu sein, der eigenständigen Aneignung» (Paschen 1979, zit. nach Wigger 1990: 319). Aufmerksamkeit gegenüber den Schülern, ihren Äußerungen, den Gruppenprozessen, ist eine weitere Tugend der pädagogischen Moral. Das angestrengte Streben, so Wagenschein in seinem Aufsatz über Aufmerksamkeit, ist ein Hindernis sowohl auf der Seite des Lehrers («Ich muss weitergehen») als auch auf der Seite des Schülers («Ich muss mitkommen»; Wagenschein 1965: 359). Es verhindert die produktive Selbstvergessenheit, das gemeinsame Nachdenken, die echte Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit von Lehrern bedeutet, in Kontakt sein mit den Schülern, sie als Personen und als Gruppe wahrnehmen und nicht ihnen etwas «beibringen». Diese Aufmerksamkeit ermöglicht es, Störungen zu erkennen, die die Auseinandersetzung mit der Sache behindern, seien es nun Gruppenprozesse oder persönliche Reaktionen. Bürmann betont die Wichtigkeit des gestaltpädagogischen Konzepts der awareness, der «phänomenologischen Wahrnehmungsoffenheit» für die Haltung von Lehrern und beschreibt sie als eine «wache, nicht zielgerichtete Bereitschaft» (Bürmann 2003: 121), verschiedene, auch leibliche und emotionale Wahrnehmungen zuzulassen – eine eher passive Haltung, die aber der dialogischen verwandt ist, weil sie es erlaubt, sich gleichzeitig mitzuteilen und Fremdes aufzunehmen. «Dafür ist nicht nur ein Loslassen des Anspruchs auf Wirkungsmächtigkeit nötig, sondern auch ein – durchaus risikohaftes – Zulas-
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sen von Andersheit, Fremdheit, Unerwartetem und Unerwünschtem» (Bürmann 2003: 122). Wie sich das Ethos der Pflege an den schwierigen und widerspenstigen Patienten bewährt, so ist für das Ethos der Lehrenden im Ethikunterricht der wache und respektvolle Umgang mit Widerständen von Schülern bedeutsam, die manchmal aus Unsicherheit im Umgang mit existenziellen Fragen herrühren, aber auch Ergebnis eigener schlimmer Erfahrungen sein können (etwa mit Schwangerschaftsabbruch oder einem Sterbefall in der eigenen Umgebung), die durch das gerade behandelte Thema aktualisiert werden. Solche Widerstände äußern sich manchmal als Störungen des Unterrichts, etwa in Form von ständigen Einwänden gegen das Unterrichtskonzept, heftigem Insistieren, Rationalisieren oder anderen auffallenden, oft emotionalen Reaktionen. Wenn die Lehrerin solche Infragestellungen aushält ohne eskalierende Reaktionen, aber auch ohne die eigenen Auffassungen fallen zu lassen, dann stellt sie sich als Übertragungsobjekt zur Verfügung, an dem sich die Schülerinnen bilden und wachsen können (vgl. Bürmann 2000, 579). Voraussetzung dafür ist persönliche Souveränität; hilfreich sind Humor und Sanftheit. Oft brauchen solche «schwierigen» Schülerinnen nicht mehr als ein Signal, dass sie gesehen werden und so, wie sie sind, akzeptiert werden, um doch konstruktiv mitarbeiten zu können. 3.3.2.2 Personale Kompetenz von Lehrenden als Element ihres Ethos
Souveränitat, Humor und Sanftheit, die auch den Verzicht auf rollenbedingte Machtansprüche beinhaltet – damit sind schon einige wichtige Faktoren personaler Kompetenz angesprochen. Zur Grundhaltung eines guten Lehrers gehört außerdem ein reflektiertes Verhältnis zur eigenen Verantwortung. Wie die Grundhaltung als Ganzes, so spiegelt auch das Verantwortungsgefühl das Verständnis von Lehren und Lernen. Wird der Lehrer als omnipotent verstanden, als der, der alles wissen und steuern muss, so resultiert daraus eine riesige, den Einzelnen überfordernde Last an Verantwortung. Die Unverfügbarkeit des Lernens wird ausgeblendet. Das moderne Verständnis des Lehrers als bloßer Lernbegleiter und Moderator hingegen, der lediglich sokratisch Geburtshilfe184 bei der selbständigen Suche der Schüler nach der Wahrheit leistet, kann dazu führen, große Teile der Verantwortung auszugrenzen und abzugeben. So wird etwa die Verantwortung für Gruppenprozesse der Gruppe selbst übertragen, ebenso wie die Lernenden selbst 184 Heubel schildert das Vorgehen im Ethikunterricht als Maieutik. Sein Verständnis von Moderation schließt allerdings sehr wohl ein Zusammenspiel von direktiven und nondirektiven Verhaltensweisen ein (vgl. Heubel 2005: 150 f.).
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die Konturen des zu erwerbenden Wissens bestimmen sollen. Der Lehrer macht quasi nur Angebote, und es liegt in der Verantwortung des Schülers, wie er sie nutzt. Dabei geraten vor allem die Schüler aus dem Blick, die das Lernen bisher noch nicht gut lernen konnten. Beide Extrempositionen haben einen wahren Kern. Der Lehrer ist tatsächlich umfassend verantwortlich sowohl für die Konzeption und die Gestaltung des Unterrichts als auch für den fördernden Umgang mit der Gruppe und einzelnen Schülern. Er hat, so Bürmann, «die schwierige und von (… seinen) Adressaten nicht immer wertgeschätzte Aufgabe, etwas von ihnen wollen zu sollen» (Bürmann 2003: 113). Gleichzeitig kann er nur etwas erreichen, wenn er die Schüler erreicht, wenn sie aktiv werden, «mitmachen». Bescheidenheit, pädagogische Askese und die Einsicht in die Unverfügbarkeit von Lernprozessen setzen der Verantwortung Grenzen. Direktives und nondirektives Lehrerverhalten sind daher sinnvolle Ergänzungen, keine Gegensätze. 3.3.2.3 Fachliche Kompetenz von Lehrenden als Element ihres Ethos
Wie die Sache oft in der Vermittlung unterzugehen droht, so vergisst man auch bei der Frage, was ein guter Lehrer ist, leicht die Wichtigkeit eines guten Fachwissens und eines lebendigen Interesses für den Unterrichtsgegenstand. Wenn die eigene Beziehung eines Lehrers zum Thema gestört ist, wenn es ihn langweilt oder wenn es ihn verunsichert, weil er es selbst fachlich nicht gut durchdrungen hat, dann teilt sich dies den Lernenden ebenso mit wie Begeisterung und Engagement. Wenn Wagenschein fordert, der Lehrer müsse sein eigenes Verhältnis zur Sache immer wieder neu bedenken und finden, dann bedeutet das zum Einen, nicht jahrelang routinemäßig dasselbe Unterrichtskonzept zu benutzen, ohne es je zu hinterfragen oder anzupassen. Neu über den Unterrichtsgegenstand nachzudenken heißt aber auch, sich neuen fachlichen Fragen zu stellen, die Entwicklung der Fachdiskussion zu verfolgen, aktuelle gesellschaftspolitische Bezüge herzustellen und sich von den Fragen der Schüler, bei deren Beantwortung man ins Stocken geriet, zum Weiterdenken und -forschen anregen zu lassen. Bei Pflegelehrer/innen ist das Verhältnis zum Unterrichtsgegenstand fast schon habituell gestört. Das liegt einerseits an der oft unzureichenden fachlichen Ausbildung und andererseits an dem unklaren Tätigkeitsprofil der Lehrkräfte in der Pflege, wobei der schon erwähnte diffuse Anspruch, alles wissen und praktisch können zu müssen, die Unsicherheit noch weiter verstärkt. Für viele ist der Schritt in die Lehrtätigkeit eben auch eine Flucht aus der emotional und körperlich anstrengenden Pflegetätigkeit; dann fehlt eine primär pädagogische Motivation. Ethik in der Pflege ist vielen Lehrenden schon deshalb fremd, weil sie selbst dazu keinen Unterricht hatten, der ihr Verständnis von Ethik geklärt oder ihnen
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ethische Reflexion als Teil der Praxis nahe gebracht hat. Die noch undeutlichen Konturen dieses Wissensbereiches in der Pflegeausbildung werden auch durch die neuen gesetzlichen Bestimmungen nicht klarer, so dass die Lehrer, die Ethik unterricht übernehmen sollen und wollen, zunächst orientierungslos vor einer riesigen Stoff- und Literaturfülle stehen.185 So kann das Missverständnis, Ethik sei etwas für Experten, schon bei den Lehrenden seinen Anfang nehmen, eine Einstellung, die sich dann leicht auf die Schüler überträgt. 3.3.2.4 Selbstreflexion – pädagogische Ethik reflektiert das berufliche Ethos
Die kontinuierliche Selbstreflexion und gemeinsame Reflexion mit anderen schließlich muss alle hier genannten Tugenden begleiten, damit ein guter Lehrer nicht in Selbstgefälligkeit, übertriebene Idealisierungen oder aber in Selbstzweifel abrutscht, sondern seine Fähigkeiten situationsangemessen entfalten und aus Fehlern lernen kann. Gerade misslungene Unterrichtssituationen sind oft ein fruchtbarer Anlass zur Selbstreflexion, sollten aber nicht der einzige sein. Kontinuierliche Reflexion bedeutet, auch normal verlaufene oder besonders gelungene Unterrichte auf das je Besondere abzuklopfen und damit die eigene Aufmerksamkeit für Gruppenprozesse, die Lernprozesse Einzelner oder die Wirkungen des Lehrerhandelns zu schärfen. Auch darüber, worauf sich seine Verantwortung in der jeweiligen Situation erstreckt, ist Selbstreflexion des Lehrers nötig. Besonders wichtig sind Selbstreflexion und kollegiales Feedback im Hinblick auf Benotung und Beurteilung. Selbstreflexion ist ein entscheidender Bestandteil von Professionalität, die ihrerseits die Sphäre der rein persönlichen Haltungen überschreitet. Persönliches und berufliches Ethos gehen hier ineinander über. Voraussetzung für gelingende Selbstreflexion ist Selbstwertschätzung, eine Haltung, die auf Grund der Aufopferungs- und Unterordnungstraditionen in der Pflege gerade Pflegenden oft schwer fällt. Deshalb sollte die Beziehung des Lehrers zu sich selbst als Grundlage seines pädagogischen Handelns Thema in der Lehrerausbildung sein (vgl. dazu 1.2.3). Zuneigung zu den Lernenden, die doch Distanz wahrt, Aufmerksamkeit, Souveränität, Humor und Verzicht auf Machtansprüche, ein reflektiertes Verhältnis zur
185 Für die eigene Auseinandersetzung der Pflegelehrer mit der Sache «Ethik» bieten sich bisher nur Fernstudiengänge (z. B. Medizinethik, Fernuniversität Hagen) oder Weiterbildungskurse zum Ethikberater an (veranstaltet unter Mitwirkung der Akademie für Ethik in der Medizin, z. B. in Hannover und Erlangen). In der Charité gibt es seit 2007 einen berufsbegleitenden modularisierten Weiterbildungslehrgang zur Qualifizierung von Lehrkräften im Gesundheitswesen für den Ethikunterricht (in Zusammenarbeit mit der Akademie für Ethik in der Medizin). Neu entstanden sind auch Masterstudiengänge, z. B. in Freiburg.
3. Didaktik
eigenen Verantwortung, ein lebendiges Interesse für den Unterrichtsgegenstand und Reflexion, das sind wichtige Dimensionen des pädagogischen Ethos. Eine professionelle Grundhaltung zu entwickeln und zu erhalten liegt nicht nur in der Verantwortung des einzelnen Lehrers, sondern auch der Institution, die den Rahmen der Ausbildung stellt, sei es eine private, konfessionelle oder universitäre Bildungseinrichtung (vgl. dazu auch Kap. 6). Die Schulen sollten im Rahmen ihrer Qualitätsentwicklung Strukturen und Möglichkeiten gemeinsamer Reflexion anbieten wie z. B. gegenseitige Hospitation, Teamteaching, Supervision oder kollegiale Beratung, sowie die Selbstreflexion fördern und fordern.
3.3.3 Schlussfolgerungen zur Vermittlung von Ethik in der Pflegeausbildung
Unter vier Gesichtspunkten werden die Erkenntnisse aus dieser Orientierung in der Didaktik grundsätzlich und mit Blick auf den Ethikunterricht zusammengefasst: Zunächst werden einige Grundsätze vorgestellt, die für die Pflegeausbildung im Allgemeinen und den Ethikunterricht im Besonderen gelten und die bei der Auswahl der Inhalte und ihrer curricularen Einbettung (Kap. 4) als Orientierung dienen. Es folgen Überlegungen zu Zielen, Inhalten und Lernformen des Ethikunterrichts. 3.3.3.1 Didaktische Grundsätze für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
• Allen didaktischen Entscheidungen gehen Überlegungen zu Zielen auf ver-
schiedenen Ebenen voraus: auf der Ebene allgemeiner Bildungsziele (Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit) und der der Schlüsselqualifikationen, auf der inhaltlich-fachlichen Ebene (Ethik in der Pflege) und schließlich bereichs- und themenspezifische Konkretisierungen (Ziele in Bezug zu Lerneinheiten).
• Die Unterrichtsthemen werden mit Blick auf die Bildungsziele und auf daraus
abgeleiteten Kriterien wie Exemplarizität, Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung sowie Praxisbezug ausgewählt. Ihre Kombination und Anordnung im Curriculum soll dazu beitragen, Zusammenhänge transparent zu machen.
• Die
Verbindung zwischen Erfahrungswissen und theoriegeleitetem Wissen entsteht nicht durch «Induktion» oder «Deduktion», sondern durch selbständige Bedeutungszuweisung durch das Subjekt. Eine Hin- und Herbewegung zwischen beiden Polen sollte durch entsprechende Arbeitsformen ermöglicht werden. Urteilen und Reflektieren verbindet das Allgemeine mit dem Besonderen und soll deshalb im Ethikunterricht eingeübt werden.
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Grundlagen
• Eine
theoretisch reflektierte Praxisorientierung hilft beim Wissenstransfer. Wichtig dafür ist das systematische Lernen in der Praxis, etwa durch Lernortvernetzung.
• Aus der Verschiedenheit der Lernenden und den unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu den Themen (theoretisch, handlungsorientiert, erfahrungs orientiert) ergibt sich die Notwendigkeit der Pluralität von Lernformen und der prinzipiellen Offenheit von curricularen und Unterrichtskonzepten (Klafki 1996: 269).
• Diese Offenheit soll auch der Partizipation von Lehrenden und Lernenden Raum geben.
• Soziales Lernen muss mit gegenstandsbezogenem Lernen verschränkt werden.
Für den Ethikunterricht besonders bedeutsam ist Klafkis Verständnis von Unterricht als sozialem Prozess (Klafki 1996: 257).
• Als Rahmen für gelingendes Lehren und Lernen in der Ausbildung bedarf es einer positiven, reflexionsfreundlichen Organisationskultur sowohl der Schule als auch der Praxisbereiche.
3.3.3.2 Zielorientierungen für den Ethikunterricht
Den Rahmen bildet Klafkis Idee der Allgemeinbildung als «Bildung für alle zur Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit» (Klafki 1996: 40; Hervorh. im Original). Diese Bestimmung der obersten Ziele ist formaler Art, bezieht sich auf die gesamte Ausbildung, liegt entsprechenden Curricula zugrunde und muss für die einzelnen Anwendungsbereiche und Kontexte inhaltlich gefüllt werden. Aus dieser Zielbestimmung lassen sich also keine Inhalte oder Methoden ableiten, sie dient vielmehr der Orientierung für Planungsentscheidungen. Etwas konkreter sind die beschriebenen Schlüsselqualifikationen (fachliche, sozial-kommunikative, methodische und personale Kompetenz). Sie beschreiben jeweils ein Bündel an Fähigkeiten, die Voraussetzungen für gutes Handeln im beruflichen Kontext sind. Ethische Bildung berührt alle vier Fähigkeitsdimensionen. Nicht, um eine zusätzliche Dimensionen hinzuzufügen, sondern um eine Zielorientierung für den Ethikunterricht konkreter zu fassen, habe ich den Begriff der ethischen Kompetenz wie folgt definiert: «Ethische Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit zur Reflexion, Formulierung und Begründung der eigenen moralischen Orientierungen, die Fähigkeit zum Erkennen moralischer Probleme in der eigenen Praxis, Urteilskraft, Diskursfähigkeit, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Konflikt- und Kompromiss-
3. Didaktik
fähigkeit und schließlich die Wachheit und den Mut, auch tatsächlich moralisch zu handeln und für die Rahmenbedingungen des eigenen Handelns Mitverantwortung zu übernehmen.»186 186
3.3.3.3 Inhaltliche Fragen bei der ethischen Bildung von Pflegenden
Auch wenn die Fächergrenzen in den Bestimmungen für die theoretische Pflegeausbildung nicht mehr existieren und Ethik als für die Pflege konstitutive Perspektive ständig mitläuft (und entsprechend in fächerübergreifende Lerneinheiten eingebaut wird), so muss doch entschieden werden, was als theoretisches Grundwissen vermittelt werden soll. Die Auffassung, dass Ethik ein Konstitutivum der Pflege ist und nicht ein kleines, eher randständiges Thema, ist noch keineswegs selbstverständlich. Wird Ethik als grundlegendes Querschnittsthema der Pflegeausbildung verstanden, und das ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen, dann gehört sie auch zu den Inhalten, die gleich bei der Einführung in die Ausbildung eingeplant werden müssen, damit die Auszubildenden zumindest die Chance haben, Ethik als mit der Pflege fest verbunden kennen zu lernen. Deshalb wird in Kapitel 5 eine einführende Einheit von zwei Tagen vorgestellt, die in der Krankenpflegeschule der Berliner Charité erprobt und weiterentwickelt wurde. Eine grundsätzliche Frage, die bisher nur in Ansätzen diskutiert wurde, ist die, welche Inhalte im Ethikunterricht in der Pflegeausbildung vorgesehen werden sollen. Sollen die Schwerpunkte auf Wissensvermittlung (ethische Theorien und Konzepte) oder eher auf der Auseinandersetzung mit der eigenen Praxis liegen? Aus dem im zweiten Kapitel vorgestellten Ethikverständnis (Ethik als anthropologische Reflexion der Praxis) sowie aus den didaktischen Grundsätzen (Hinund Herbewegung zwischen den Polen Erfahrung und Theorie, Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung, Verschränkung von gegenstandsbezogenem und sozialem Lernen) ergibt sich die Notwendigkeit der Verbindung zwischen beiden. Wenn Ethik als Teil der Praxis angesehen wird, als fortlaufende Reflexion des eigenen moralischen Handelns und seiner Rahmenbedingungen, dann gehört ethische Reflexion zu den Grundkompetenzen, die in der Ausbildung gefördert werden sollten. Allgemeinbildung ist also nicht ein Mittel zur besseren Bewältigung der Praxis, das wäre eine verkürzte und funktionalistische Sichtweise, sondern sie bildet den Rahmen, in dem sich fachliche, methodische, soziale und personale Kompetenz allererst entwickeln können. 186 ���������������������������������������������������������������������������������� Rabe 2005: 131. Die dortige Definition wurde um die Elemente Konflikt- und Kompromissfähigkeit sowie (in Anlehnung an Böhler 2001) Mitverantwortung erweitert.
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Ethische Reflexion verbindet Praxiserfahrungen mit Theorie. Das Ziel der Vermittlung von Theorie ist nicht, den Schüler/innen ein Grundwissen über ethische Theorien zu geben, sondern ihnen mit diesen Theorien Möglichkeiten und Räume für die distanzierte und systematische Betrachtung und Beurteilung der eigenen Praxis – und um nichts anderes handelt es sich bei Reflexion – zu geben. In Kapitel 4 wird eine didaktisch begründete Themenauswahl für den Ethikunterricht im Detail und mit ihrer Einbettung in ein Curriculum vorgestellt, die sich an dem skizzierten Ethikverständnis und den didaktischen Grundsätzen orientiert. Die Reflexion kann auch andere Dimensionen des pflegerischen Handelns in den Blick nehmen, wie etwa Kommunikation, Organisation oder Qualität. Die ethischen Aspekte gehen jedoch allen diesen Dimensionen voraus, denn die Ziele, etwa im Hinblick auf Organisation oder Qualität, beinhalten immer schon Wertentscheidungen und damit moralische Entscheidungen. 3.3.3.4 Geeignete Lernformen für die ethische Bildung von Pflegenden
Die Grundsätze der Pluralität von Lernformen, der Offenheit der Planung und der Partizipationsmöglichkeiten der Teilnehmer geben den Rahmen auch für den Ethikunterricht vor. Als Zeitstruktur sind längere Einheiten zu empfehlen; in einer Doppelstunde (90 Minuten) lassen sich nur sehr begrenzte Themen mit eher informativem Schwerpunkt diskutieren. Einheiten von halben oder ganzen Tagen haben sich gut bewährt, im Rahmen von Projekten sind durchaus auch längere Einheiten denkbar. Die Arbeit mit Fällen hat in der gesamten Pflegeausbildung bis hin zur Prüfung stark an Bedeutung gewonnen, entsprechend wichtig ist auch die Übung im Umgang mit Fallgeschichten. Im Ethikunterricht haben Falldiskussionen und Diskussion selbst erlebter Fälle einen wichtigen Platz, weil sie ein Exempel darstellen und weil hier in kasuistischer Weise nach Parallelen mit anderen Situationen gesucht werden kann, aber auch, weil sie Denkbewegungen über das Besondere des Einzelfalles zu allgemeinen Grundsätzen oder Prinzipien und wieder zurück ermöglichen (vgl. das Reflexionsmodell unter 2.3.7). Die Diskussion von Fallgeschichten in Kleingruppen oder im Plenum fördert außerdem die Fähigkeit zum Formulieren der eigenen Werthaltungen, zur geordneten Reflexion und zur rationalen und verständigungsorientierten Argumentation. Diese Fähigkeiten werden auch im Hinblick auf zukünftig notwendige professionelle Kompetenz verstärkt, wenn die Schüler/innen (z. B. anhand des Reflexionsmodells) selbst moderieren lernen. Filmdiskussionen sind eine besondere Form der Falldiskussion, weil Filme viel stärker Emotionen ansprechen als auf andere Weise präsentierte Geschichten.
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Filmdiskussionen können dazu genutzt werden, den Einfluss von Gefühlen auf die Einschätzung einer Situation deutlich zu machen. «In ������������������������� der Erfahrung emotionaler Ergriffenheit wird deutlich, worauf die ethische Reflexion abzielt», schreibt Kurt Schmidt in seinem Beitrag «Bewegende Szenen» über den Einsatz von Spielfilmen im Unterricht. «Es geht kurz gesagt darum, die Ebenen zu wechseln und von den Gefühlen zu den Argumenten zu gelangen» (vgl. Schmidt 2005: 186; Hervorh. im Original). Da die Auszubildenden oft recht erfahrene Filmkonsumenten sind, denen eine Distanzierung vom unmittelbaren Filmerlebnis möglich ist, kann auch über den Einsatz und die Wirkung von filmischen Mitteln (Kameraführung, Schnitt, Musik) auf die Gefühle der Zuschauer reflektiert und damit das oft vernachlässigte Moment der Manipulation durch die verschiedenen Erzählperspektiven aufgenommen werden. Schmidt weist darauf hin, dass gerade auch Krankenhausserien zur ethischen Reflexion genutzt werden können und hebt dabei besonders die Serie «Emergency Room» hervor, in der das medizinische Umfeld meist sorgfältig recherchiert ist. Mit kleinen Episoden dieser Serie habe auch ich gute Erfahrungen gemacht, da ihre Geschichten eine alltagsnahe Komplexität aufweisen und dadurch nicht selten echte Dilemmata darstellen. Schriftliche Arbeiten, wie die ethische Analyse selbst erlebter oder vorgegebener Fälle, fördern ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, die Bewusstwerdung und Klärung eigener Werthaltungen und fordern dazu heraus, erlebte oder schriftlich vorgestellte Situationen mit Elementen ethischer Theorie in Verbindung zu bringen, indem die Aufgabenstellung die Analyse unter bestimmten Gesichtspunkten vorschreibt (etwa Rechte und Pflichten oder bestimmte Prinzipien). Eine besondere Herausforderung für viele Schüler ist hierbei auch das Formulieren eigener Erfahrungen. Textarbeiten dienen nicht nur dem Kennenlernen von Fachliteratur und dem Erwerb von Grundlagenwissen, sie schulen auch die methodische Kompetenz (Exzerpieren, Berichten, Umgang mit Fachsprache). Textarbeiten und schriftliche Arbeiten sind angesichts der zurückgehenden Lese- und Schreibkompetenz der Auszubildenden besonders notwendig. Sie müssen aber in einer Weise eingesetzt werden, die den sozialen Unterschieden und Bildungsunterschieden bei den Teilnehmerinnen Rechnung trägt. Dies gilt besonders für die Benotung, aber auch für den unterrichtlichen Umgang – so sollen bei der Diskussion von Texten nicht die ohnehin lese- und sprachgewandten Schülerinnen allzu sehr das Geschehen bestimmen, sondern die anderen sollten besonders ermutigt werden, ihr Verständnis des Textes, aber auch ihre Schwierigkeiten damit in Worte zu fassen. Ein wichtiges Ziel in diesem Zusammenhang ist es, die Scheu vor längeren und komplexeren Texten abzubauen und damit zur eigenständigen Nutzung von Fachliteratur zu ermutigen.
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Problemorientiertes Lernen (POL), das momentan oft als Königsweg allen Lernens etwas überbetont wird, eignet sich besonders zur Erarbeitung von Fragestellungen, die sich den Schüler/innen selbst stellen und setzt, wenn es wirklich von Schülern initiiert sein soll, eine entsprechende Offenheit der Stundenplanung voraus. POL-Projekte können sich über mehrere Tage bis hin zu einigen Wochen erstrecken. Sie setzen allerdings eine kontinuierliche und intensive Beratung durch Lehrer voraus, sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf die Lern- und Gruppenprozesse. Was man in der Schule lernt ist, so Gruschka, Affektbeherrschung und Gedankenbeherrschung. Durch den schnellen Wechsel der Fächer in dem üblichen 45-Minuten-Rhythmus der Schule (und den 90-Minuten-Rhythmus, der in der Pflegeausbildung vorherrscht) wird verhindert, das die Schüler sich dem Unterrichtsgegenstand wirklich annähern, sich gar faszinieren lassen: Sie lernen Distanz, Distanz auch von Situationen, von Leibempfindungen und von ihrer Phantasie – wo aber, fragt Gruschka, «lernt man das Herankommen, das Näherkommen?» (Gruschka 2002: 244 f.). Wenn es um die Förderung von personalen Kompetenzen und, fast noch wichtiger, die Verschränkung der Kompetenzdimensionen miteinander geht, kommt selbsterfahrungsorientierten Lernformen wie Rollenspielen, Supervision oder Phantasiereisen eine besondere Bedeutung zu. Bei ihrem Einsatz ist allerdings auch besondere Sorgfalt vonnöten, um Grenzüberschreitungen ins Therapeutische zu vermeiden. Grundsätzlich soll den Auszubildenden möglichst oft die Möglichkeit gegeben werden und sie sollen dazu herausgefordert werden, die objektivierende Sicht auf den Patienten, die die Medizin nahe legt, zu verlassen und sich in dessen Lage hineinzuversetzen. Damit bekommt die Rede von der gemeinsam geteilten menschlichen Grundsituation (Kap. 2) praktische unterrichtliche Bedeutung. Jeder von uns kann jederzeit in die Lage geraten, krank und hilfsbedürftig zu sein. «Wer professionell mit Krankheiten und Schmerzen, mit nackten jungen und alten Körpern, mit Angst, Scham, Ekel, Depressionen und Trauer umgehen muss, wird immer auch mit sich selbst konfrontiert», schreiben Oelke/Scheller/ Ruwe in ihrem Buch über Szenisches Spiel (Oelke/Scheller/Ruwe 2000: 10). Diese Konfrontation ist unangenehm und wird gern verdrängt. Erfahrungs orientierte Lernformen geben ihr Raum und ermöglichen so eine Bewusstwerdung dieser Wahrnehmungen und der damit verbundenen Gefühle, aber auch eine Auseinandersetzung damit. Das ist die Voraussetzung dafür, sein Herz im Kontakt mit kranken Menschen einen Moment lang für die Unsäglichkeit der Abgründe zu öffnen, in die ein Mensch durch Krankheit stürzen kann und mit diesem Angerührtsein gleichzeitig professionell umzugehen. Dafür ist es nötig, Distanz und Nähe verbinden zu können – eine professionelle Haltung, die Wettreck als
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«Distanz in der Ergriffenheit» beschreibt (Wettreck 2001: 215). Die Ermutigung zu solchem Wechsel der Perspektive ist natürlich nicht auf den Ethikunterricht begrenzt, sondern hat seinen Platz vor allem auch im Pflegeunterricht. Es genügt keinesfalls, mit erfahrungsorientierten Lernformen nur Betroffenheit zu erzeugen, das kann moralisch bedenklich und kontraproduktiv für die Akzeptanz dieser Methoden sein. Emotionale Beteiligung ist zwar Ziel und Mittel der Arbeit mit Selbsterfahrung, diese Arbeit muss aber auch Zusammenhänge aufzeigen, alternative Handlungsmöglichkeiten erkunden helfen, kurz, auch die Wege aus der Betroffenheit heraus weisen und Möglichkeiten der Distanzierung zeigen, die nicht zur inneren Abschottung und zu Zynismus führen. Beim Einsatz von Selbsterfahrungsmethoden ist die selbstkritische Frage unumgänglich, ob man als Lehrer über das nötige Wissen und die Erfahrung verfügt, diese Methode einzusetzen. Anfänger sollten zunächst die Methode aus der Teilnehmerperspektive kennen lernen – das gilt sowohl für Rollenspiele, als auch für Phantasiereisen187 und erst recht für das meist noch komplexere szenische Spiel – und sich in den ersten Unterrichtsversuchen begleiten lassen oder für kollegialen Austausch sorgen. Nötig ist auch die Transparenz gegenüber den Schülern, welchen Sinn die Methode hat. Im folgenden Abschnitt schildere ich exemplarisch die Möglichkeiten einer erfahrungsorientierten Methode, mit der ich selbst häufig gearbeitet habe188: Das szenische Spiel wurde von Uta Oelke, Ingo Scheller und Gisela Ruwe für die Pflegeausbildung weiterentwickelt und ist in besonderer Weise geeignet, die Fähigkeiten anzubahnen und zu stärken, die ich als Elemente der moralischen Kompetenz beschrieben habe: die Fähigkeit zum Erkennen moralischer Probleme in der eigenen Praxis, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, und, als Voraussetzung aller personalen Fähigkeiten, die Fähigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen, auszudrücken und mit Gefühlsäußerungen anderer umgehen zu können – Oelke/ Scheller/Ruwe sprechen von «Empathiefähigkeit» und «Reflexionsfähigkeit».
187 Phantasiereisen sind ein einfaches Mittel zur Sensibilisierung für eigene und fremde Gefühle. Ein interessantes Beispiel für die Pflegeausbildung gibt Imke Conrads (2002), die eine Phantasiereise zur Begegnung mit «schwierigen» Patienten konzipiert hat. 188 Oelke und Ruwe bieten Weiterbildungslehrgänge für Lehrkräfte an, in denen diese zu Spielleiterinnen für szenisches Spiel qualifiziert werden. Der zweiteilige Lehrgang umfasst zunächst sechs Wochenendseminare mit dem Schwerpunkt, eigene Spielerfahrungen zu machen, gefolgt von sechs weiteren mit dem Schwerpunkt, eigene Lehrerfahrungen zu reflektieren und schließlich selbst ein Thema mit Mitteln des szenischen Spiels zu bearbeiten. An einem solchen Lehrgang habe ich mit mehreren Kolleginnen teilgenommen. Szenisches Spiel ist seit Jahren ein fester Bestandteil der Ausbildung an der Krankenpflegeschule des Campus Benjamin Franklin der Berliner Charité.
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Exkurs: Szenisches Spiel als Methode zur moralischen Sensibilisierung
Das szenische Spiel, so wie es Ingo Scheller im Rahmen der Lehrerausbildung als Repertoire verschiedener Spielverfahren entwickelte, verbindet Elemente von Theaterpädagogik, Brechtscher Lehrstückarbeit, Commedia dell’Arte, Improvisationstheater, Psycho- und Soziodrama, dem «armen» Theater und dem «Theater der Unterdrückten». Seine leitende Fragestellung war, «was wir im Spiel eigener und fremder Rollen und Szenen über soziale Prozesse, über uns und andere Menschen lernen können» (Scheller 1998: 14). Erfahrungsorientierter Unterricht, so Scheller, soll den Erlebnissen, Phantasien, Gefühlen und «dunklen Seiten» Raum geben, die im Unterricht überwiegend ausgeklammert bleiben. Scheller beobachtete bei der Arbeit in der Hauptschule, dass die dortigen Schüler Stärken in «körper-, situations- und gruppenbezogenen Darstellungsund Kommunikationsweisen»189 haben, während eher mittelschichtsozialisierte Schüler/innen damit zunächst Schwierigkeiten haben. Das Szenische Spiel versucht, dieser Kommunikationsweise Raum und Ausdruck zu geben. Szenisches Spiel setzt bei Erlebnissen und Situationen an und sucht Zugänge, sie zu deuten und zu verstehen. Dabei spielt die Bewusstmachung der «Körpersozialisation» eine wichtige Rolle (Scheller 1998: 20 f.). Unter Körpersozialisation versteht Scheller das Erlernen körperbezogener Verhaltensweisen wie Bewegung im Raum, Haltungen, Gesten, Ausdruck von Gefühlen, Reden und Schweigen, Raum einnehmen und Positionen einnehmen, Umgang mit und Aneignung von Gegenständen. Um Verhalten zu verstehen, müssen sowohl die «innere» als auch die «äußere» Haltung betrachtet werden (Scheller 1998: 25). Die innere Haltung beschreibt Scheller als eingeschliffene Überzeugungen und Wahrnehmungen, die der Aufrechterhaltung vertrauter Normen und Machtverhältnisse dienen. Wenn Elemente dieser inneren Haltung bewusst werden, können ausgegrenzte Gefühle Raum bekommen und der Mut wachsen, sich auf neue Erfahrungen einzulassen. Äußere Haltungen, dazu gehören auch das Verhalten und die Sprache, sind vor allem durch die Fremdwahrnehmung zu erfassen, die oft nicht mit dem eigenen Selbstbild übereinstimmt. Ihre Bewusstmachung kann dazu ermutigen, nach anderen Verhaltensmöglichkeiten zu suchen. Uta Oelke und Gisela Ruwe knüpften an Schellers Vorarbeiten an und entwickelten diese gemeinsam mit ihm für die Pflegeausbildung weiter. Das Ergebnis ist das inzwischen in der Pflegeausbildung viel beachtete und eingesetzte Buch «Tabuthemen als Gegenstand szenischen Lernens in der Pflege», das neben der 189 ���������������������������������������������������������������������������������� Scheller 1998: 10. Diese Beobachtung deckt sich mit unseren Erfahrungen mit Auszubildenden der Krankenpflege: Oft zeigen Schüler/innen, die sonst in der theoretischen Ausbildung eher «schwach» erscheinen, eine deutliche Begabung und Spielfreude bei der Arbeit mit szenischen Verfahren.
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Darstellung der theoretischen Hintergründe des Ansatzes und seiner Grundformen auch sieben Lerneinheiten enthält, die sich in der Pflegeausbildung bewährt haben. Die Themen sind: Herzkranke, Alte Menschen, Visite, Trinkgeld, Sexuelle Belästigung, Gewalt in der Pflege und Pflege im Nationalsozialismus. Ingo Scheller ist mit Beiträgen zur Didaktik und einigen eigenen Übungen zur Selbstreflexion (zu Krankheit, Schmerzen, Ausscheidungen, Nacktheit und Tod) beteiligt. Oelke und Ruwe wurden durch Erfahrungen mit ihrer ersten szenischen Lerneinheit «Was ist Pflege?» zur Weiterarbeit angeregt. In den Bildern, die Pflegende zu dieser Frage aufbauten, zeigten sich «Müdigkeit und Ausgelaugt-Sein» ebenso wie die Unterordnung unter die Ärzte und die Ambivalenz der Kontakte zum Patienten. Die aktiven und ständig mit Verrichtungen beschäftigten Haltungen, die beim Spielen den Pflegenden zugewiesen wurden, waren nicht auf die eher in sich gekehrten und mit dem eigenen Leiden beschäftigten Haltungen der Patienten bezogen (Oelke/Scheller/Ruwe 2000: 12). Gerade weil in diesem Verfahren nicht mit normativen Idealbildern gearbeitet wird, regt es zur gemeinsamen Reflexion der eigenen Rolle und des Arbeitsfeldes der Pflege an und kann damit eine Sensibilisierung für die «Ungeheuerlichkeiten des Alltags» erreichen, wie es ein Teilnehmer nach einer kurzen Einführung in die Methode ausdrückte. Viele der Verfahren, die dieser Ansatz des Szenischen Spiels kombiniert, sind auch in anderen spiel- und theaterpädagogischen Ansätzen zu finden. Als Szenisches Spiel im engeren Sinn bezeichnet es Scheller, «wenn Spieler aus detaillierten Rollen- und Szenenvorstellungen heraus in vorgestellten Situationen handeln», d. h. selbst erlebte Situationen, ein Theaterstück oder eine Szene aus einem Text oder Film nachspielen und mit verschiedenen Methoden vertiefen und interpretieren. Am Anfang jeder Unterrichtseinheit, die mit Szenischem Spiel arbeitet, stehen Erkundungen, die sowohl zum Thema der Einheit hinführen als auch in die oft unvertrauten, ruhigeren und körperbetonten Arbeitsweisen einführen sollen. Dazu gehören Wahrnehmungsübungen, Bewegungs- und Körperübungen sowie Sprechübungen. Scheller unterscheidet bei szenischen Lerneinheiten die Erkundungs-, Aneignungs- und Interpretationsphase (Scheller 1998: 170 f.). Wahrnehmungsübungen regen dazu an, mit allen Sinnen zu arbeiten, vor allem auch mit dem Geruchs- und Tastsinn oder mit der Wahrnehmung des eigenen Körpers. Hier können Wahrnehmungen mobilisiert werden, die in der Pflege oft eine Rolle spielen, aber tabuisiert sind, wie etwa schlechte Gerüche. Als Bewegungsübung wird oft mit Gehen im Raum gearbeitet. Die Teilnehmerinnen können einiges über ihre eigene Haltung und über den Habitus anderer Menschen lernen, wenn sie aufgefordert werden, sich vorzustellen, sie gehen über den Flur der Station als Besucherin, als Pflegerin als Arzt oder als Patient.
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Zur Einstimmung auf die Unterrichtseinheit «alte Menschen» sollen die Teilnehmerinnen als alte, gebrechliche Menschen durch den Raum gehen. Aus der eigenen Erfahrung als Teilnehmerin bei dieser Übung erinnere ich mich an meinen heftigen Widerstand gegen dieses mühsame, stark verlangsamte Gehen, gegen die Darstellung von und Einfühlung in Gebrechlichkeit, bei der man überdies noch länger als einen Moment verharren musste. Diesen Widerstand habe ich auch bei Teilnehmerinnen immer wieder erlebt. Hier wird ein Tabu berührt. Meist folgt im Rahmen der Aneignungsphase die Frage nach eigenen Erlebnissen, Eindrücken oder Vorannahmen zu dem Thema. Diese können sehr gut mit Standbildern dargestellt werden. Situationsbezogene Standbilder sind auch zur Einführung in die Methode des Szenischen Spiels gut geeignet, weil sie mit verschiedenen Verfahren vertieft und interpretiert werden können und damit einen kleinen Überblick über die Möglichkeiten des Szenischen Spiels geben. Alle Teilnehmerinnen sind beteiligt (im Szenischen Spiel gibt es keine Zuschauer), können aber unterschiedlich aktiv oder exponiert sein; dies gilt auch für alle anderen Verfahren. Ein situationsbezogenes Standbild ist wie ein «Schnappschuss» der entscheidenden Szene einer erlebten Situation. Die Spieler werden von demjenigen, der die Geschichte erlebt hat, in der Konstellation und mit entsprechender Mimik und Körperhaltung aufgebaut (modelliert). Sie verharren schweigend in dieser Haltung. Die Beobachter versuchen dann zu erfassen, was in der Szene geschehen ist und können sich dazu verhalten, indem sie ihre eigenen Ideen und Einfälle, ihre Einfühlung in einzelne beteiligte Personen ausdrücken, entweder verbal oder durch Körperhaltungen. Auch die Spieler beteiligen sich an der anschließenden Reflexion oder Interpretation.190 In der Interpretationsphase werden Szenen nach Anweisung desjenigen nachgespielt, der sie erlebt hat und können mit Mitteln des Szenischen Spiels entweder gedeutet werden (Szenische Interpretation), oder es können alternative Handlungsmöglichkeiten erprobt werden (Szenische Rekonstruktion). Komplexe Spielzusammenhänge bieten auch Theaterstücke wie über das Altenheim «Abendrot» (Oelke/Scheller/Ruwe 2000: 123–156), das in der Gesundheitsund Krankenpflegeausbildung in der Gesundheitsakademie der Charité fester Ausbildungsbestandteil ist. Je nach Gruppengröße dauert das Seminar «Alte Menschen» einen oder zwei Tage. Dabei fühlen sich die Auszubildenden in eine der vorgegebenen Rollen eines Altenheimbewohners ein, schreiben eine Rollenbiographie und wählen passende Kleidung. Sie bleiben meist einen ganzen Tag in dieser Rolle und sehen damit die Welt aus einer völlig anderen Perspektive. 190 Bei Einsatzauswertungen mit dieser Methode kommen Dinge ans Licht, die bei einer nur verbalen Auswertung wahrscheinlich nicht benannt worden wären: z. B. herabsetzendes Verhalten einer Pflegekraft, die eine Schülerin in Anwesenheit mehrerer Patienten scharf kritisiert oder sexuelle Übergriffe von seiten eines Patienten.
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Die Spielleiterin versucht den Teilnehmern zu ermöglichen, im Schutz der Rolle Erfahrungen mit sich selbst und anderen zu machen und Verhaltensweisen zu erproben. Sie gibt den Spielern Sicherheit auf dem zunächst ungewohnten Terrain, erklärt die Regeln (z. B. dass während des Aufbauens von Standbildern nicht gesprochen wird) und ruft diese nötigenfalls in Erinnerung. Sie plant den Ablauf und weicht gegebenenfalls von dieser Planung ab, wählt geeignete Verfahren aus und leitet die Spieler an. Sie «greift in wechselnden Rollen fragend, impulsgebend, demonstrierend, korrigierend und konfrontierend in das szenische Geschehen eine und macht auf Aspekte aufmerksam, die die Spielerinnen in ihren Rollen und die Beobachtenden von sich aus nicht wahrnehmen (können)» (Scheller 1998: 36). Dabei sollte sie eigene Deutungen nicht durchsetzen, sondern als Angebote einbringen. Die Spielleiterin sollte unbedingt eigene Spielerfahrung haben. Anfängerin nen sollten zunächst mit einer erfahreneren Spielleiterin zusammenarbeiten. Bei größeren Gruppen ist es sehr empfehlenswert, zu zweit zu arbeiten. So kann man sich bei der Anleitung und Begleitung verschiedener Sequenzen und bei der Moderation der Nachgespräche abwechseln, und so zwischen einer aktiven und einer eher beobachtenden Rolle wechseln. Szenische Übungen sprechen manchmal für sich, grundsätzlich ist es aber wichtig, sich über das Erlebte auszutauschen und es mitzuteilen. Erfahrungsgemäß besteht auch das Bedürfnis dazu. Bei der Moderation der Reflexionsrunden, die manchmal kurz im Stehen (z. B. nach einer Bewegungsübung) oder im Sitzen in der Runde nach einer längeren Spielsequenz eingeschoben werden, sind Flexibilität und Einfühlungsvermögen der Spielleiterin gefragt. Die Spielerinnen und Beobachterinnen haben etwas erlebt und sollen Gelegenheit bekommen, ihre Gefühle, Wahrnehmungen und Erlebnisse in Worte zu fassen und sich darüber auszutauschen. Manchmal geht ein solcher Austausch von selbst über in grundsätzliche Überlegungen, etwa zur Rolle der Pflege, zu Veränderungsmöglichkeiten im Altenheim oder zur Gesundheitspolitik – eine Art beteiligtes Selbstdenken im Sinne Wagenscheins. Die Spielleiterin kann hierbei helfen, indem sie Verbindungen herstellt oder ermutigt, sie weiterzuverfolgen. Sie sollte jedoch nicht gezielt versuchen, einen «Transfer» zur Theorie zu schaffen. Szenisches Spiel ist ein anderer Lernmodus und soll es auch bleiben. Im rationalen Modus wird schon genug gearbeitet. Das Szenische Spiel ist eine Bereicherung der Ausbildung, denn es gibt Dimensionen Raum, die sonst nicht deutlich werden. Zudem hilft es bei der Übung der Wahrnehmung und des Ausdrückens von Gefühlen und bei der Übung von Beobachtung und Reflexion. Deshalb ist es besonders geeignet für die moralische Sensibilisierung und die Förderung von ethischer Kompetenz. Themen wie Macht und Ohnmacht, Gewalt in der Pflege, Nähe und Distanz, Umgang mit Fehlern, unheilbare Krankheit und Tod; Dialog und Sprachlosigkeit;
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Fürsorge und Bevormundung lassen sich sehr gut mit Szenischem Spiel bearbeiten und auf ihre existenziellen und ethischen Dimensionen untersuchen.
3.4
Zwischenfazit: das Theorie-Praxis-Problem als Herausforderung für Bildung Zum Gegenstandsbereich der Didaktik gehören, wie am Anfang dieses Kapitels beschrieben, erziehungswissenschaftliche Forschung und Theoriebildung, aber auch konkrete Entscheidungen über Ziele und Inhalte sowie die Klärung verschiedener Faktoren, von denen Lehren und Lernen bestimmt werden. Erfahrungs- und Handlungsorientierung, aber auch die Reflexionsorientierung, die prägend für den hier vertretenen Ansatz ist, suchen nach Verbindungen zwischen «Theorie» und «Praxis» im Sinne einer Hin- und Herbewegung. Auf diese Verbindungen sind auch Ethik und Pflegewissenschaft angewiesen, die beide in der Praxis wirksam sein möchten und im Hinblick auf die Praxis oder von dieser ausgehend forschen. Im Zusammenhang mit der Frage nach Theorie- und Praxisorientierung ist zum einen meist unklar, was sich hinter diesen großen Titeln genau verbirgt. Was ist Theorie? Was ist Praxis? Und wie verhalten sie sich zueinander? Diese Fragen müssen selbst «theoretisch» bzw. philosophisch geklärt werden. Zum anderen verbinden sich mit diesen Begriffen einige verborgene Wertungen, das zeigte schon die Darstellung der Kontroverse um Person- oder Sachorientierung. Ist Theorie besser, höherwertiger als Praxis? Oder sollte nicht vielmehr die Praxis der Maßstab alles Denkens sein? In seiner Vorlesung über Probleme der Moralphilosophie nahm Theodor W. Adorno dieses Problem auf. Wer theoretische Analysen mache, der werde oft gefragt: Ja, aber was sollen wir denn tun?, und zwar mit einem gewissen Oberton der Ungeduld, mit einem Oberton, der sagt: Ja, was soll uns denn diese ganze Theorie, das dauert ja alles viel zu lang … Und es verbindet sich das dann sehr leicht mit einer gewissen Art von Ranküne gegen das Denken überhaupt, mit einer Art Denunziation von Theorie (Adorno 1996: 12).
Adorno macht einerseits die Notwendigkeit der Theorie für die Praxis deutlich, betont aber andererseits, dass «Theorie, die keine Beziehung zu irgend möglicher Praxis enthält», leer, sinnlos, zum «toten Wissensstoff» wird (Adorno 1996: 16 f.). Wenn das philosophische Grundlagenproblem des Verhältnisses von Theorie und Praxis hier angerissen wird, dann mit dem bescheidenen Anspruch, zum Abschluss der theoretischen Vorüberlegungen dieser Arbeit der Frage nachzugehen, in welchem Verhältnis die «Theoriekapitel» zu den «Anwendungskapiteln» stehen und so einen Übergang zu dem Konzept zu schaffen, das durch diese Vorüberlegungen geprägt wurde, aber sie auch seinerseits geprägt und verändert hat.
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Ausgangspunkt dieser Arbeit war ein (in Konturen schon entwickeltes, durch Lehrerfahrung ständig sich veränderndes) recht erfolgreiches, aber theoretisch unzureichend unterlegtes Konzept. Im Zuge der theoretischen Fundierung hat sich das Konzept noch einmal deutlich verändert, und die Verzahnungen zwischen Theorie und Praxis wurden – gerade auch durch die curriculare Verortung – klarer. Andererseits hat das vorhandene Konzept seinerseits die theoretische Orientierung in den Bereichen Pflege, Ethik und Didaktik bestimmt. Wie sich das TheoriePraxis-Problem in diesen Bereichen zeigt, wird im Folgenden kurz skizziert.
3.4.1 Das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis in Pflege, Ethik und Didaktik
Pflege(wissenschaft), Ethik und Didaktik, die in dieser Arbeit zusammengeführt werden, sind Systeme des Nachdenkens über je verschieden akzentuierte Felder einer gemeinsamen Ausbildungs- bzw. Pflege-Praxis. Das Theorie-PraxisProblem äußert sich als die Erfahrung von Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit, die letztlich dazu führt, dass Theorie und Praxis als gegensätzliche, weit voneinander entfernte Sphären wahrgenommen werden, die nur schwer in Übereinstimmung gebracht werden können. Dies sei an Beispielen aus den drei Bereichen erläutert: Das Theorie-Praxis-Problem ist eine Kernfrage der Pflegeausbildung. Wie kann das in der Schule Gelernte in die Praxis transportiert werden? Von seiten der Auszubildenden kommt nicht selten der Vorwurf, das Schulwissen sei in der Praxis nicht anwendbar, weil es unrealistische Forderungen stelle oder veraltet sei. Das Ziel, sie durch Unterricht und praktische Übungen auf Einsätze in den Praxisbereichen vorzubereiten, werde verfehlt. Der Vorwurf ist insofern berechtigt, als es tatsächlich vorkommt, dass das vermittelte Wissen veraltet ist. Durch die im neuen Krankenpflegegesetz geforderte verstärkte Ausrichtung der Pflege an pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen, die bekanntlich bisher in der Pflegepraxis (in der sich der größere Teil der Ausbildung abspielt) kaum Niederschlag gefunden haben, ist das in der Schule Gelernte jedoch oftmals auch der Realität voraus. Durch solche Vorgaben wird versucht, etwas politisch und fachlich Gewolltes, nämlich die stärkere Verbindung zwischen Pflegewissenschaft und Pflegepraxis, über die Ausbildung und die Auszubildenden zu transportieren. Die Frustration der Auszubildenden darüber ist verständlich; gleichzeitig ist das Problem eine Herausforderung an die Ausbilder. Grundsätzlich ist jedoch die Erwartung, Theoriewissen bruchlos in die Praxis übertragen zu können, nicht gerechtfertigt und illusorisch. Sie beruht auf einem Missverständnis von Theorie und ihrer praktischen Anwendbarkeit. Pflege kann nicht nach einem festgelegten Schema quasi-automatisch durchgeführt werden,
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Grundlagen
auch wenn das Bedürfnis der Auszubildenden nach festen Regeln und einer klaren Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch verständlich ist. In der Pflege ist in besonderer Weise Urteilskraft (als die Fähigkeit, zwischen Allgemeinem und Besonderem zu vermitteln) gefragt, will man die individuelle Situation des Kranken als Person mit je eigener Lebensgeschichte und speziellen Bedürfnissen wahrnehmen. Die Ausbildung kann also nur im Sinne exemplarischen Lernens Grundwissen, vor allem aber Grundfähigkeiten vermitteln, um mit einer komplexen, nicht standardisierbaren Praxis und den individuellen Situationen der Kranken umzugehen, und sie muss darauf vorbereiten und dazu befähigen, das Gelernte selbständig auf neue Fragestellungen zu übertragen. Ähnlich wie zwischen der allgemeinen Didaktik und der Fachdidaktik besteht in der Ethik eine Spannung zwischen allgemeiner und angewandter Ethik bzw. zwischen theoretischer und praktischer Ethik. Auch hier scheint es um immanente Wertungen zu gehen: Die «Theoretiker» zeigen Ungeduld, wenn die Diskussion allzu sehr um Anwendungsfragen geht, die «Praktiker» werden missmutig, wenn sie nicht erkennen können, was sich mit einer Idee anfangen lässt. Die Praktiker erwarten von der allgemeinen, theoretischen Ethik, dass sie ihnen Grundlagen und Instrumente für die Lösung der Probleme liefert. Sie unterliegen damit einem instrumentalistischen Missverständnis der Ethik, wie es in dieser Arbeit bereits kritisiert wurde (siehe 2.3.2.4), und sind enttäuscht, wenn sich so abstrakte und universale Prinzipien der Ethik wie das Kantische oder das utilitaristische Moralprinzip nicht einfach «anwenden» lassen. Die «Ungeduld», von der Adorno spricht, ist auch bei vielen Ansätzen der Kasuistik, Situationsethik oder der Klinischen Ethik zu bemerken, die glauben, auf theoretische Grundlagenreflexionen verzichten zu können. Aufgabe der Ethik ist es ja gerade, die in der Praxis selbstverständlich akzeptierten, aber oft fragwürdigen Normen mit Bezug auf abstrakte und universale Prinzipien der Moral kritisch zu hinterfragen und zu beurteilen. Gegenüber allzu ungeduldigen Praktikern ist also an der Notwendigkeit der Theorie und einer im Grunde unaufhebbaren Differenz zwischen Theorie und Praxis festzuhalten.191 Die Theoretiker der philosophischen Ethik aber, die dazu neigen, metaethische und begründungstheoretische Untersuchungen als Selbstzweck zu betreiben, sind daran zu erinnern, dass der letzte Zweck dieser theoretischen Bemühungen die gelingende Praxis ist, 191 Vgl. hierzu Rehbock 2005b: 64–75, Kap. I.4. «Löst die Ethik die Probleme?». In seinem Beitrag anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Akademie für Ethik in der Medizin fordert auch Klaus Steigleder, für die Medizinethik «einen Freiraum zu organisieren, in dem es zunächst um nichts anderes zu tun ist, als Einsichten und Wissen zu erlangen» (Steigleder 2006: 312). Steigleder kritisiert in diesem Zusammenhang zu Recht die Tendenz in der Medizinethik, empirisch-deskriptive (historische oder sozialwissenschaftliche) Untersuchungen den philosophischen Reflexionen und Theorien normativer Ethik vorzuziehen und ethische Fragen vorrangig als politische zu verstehen.
3. Didaktik
dass der Philosophie hierfür eine gesellschaftliche Mitverantwortung zukommt und dass sie ohne diesen Bezug zur Praxis sinnlos und inhaltsleer würde, wie Adorno sagt. Auch der Streit zwischen Universalismus und Relativismus ist ein Ausdruck des Theorie-Praxis-Problems in der Ethik. Hierfür werden oft Kant und Aristoteles als Gegenpole gesehen: Kant als Begründer der Prinzipien- und Pflichten ethik, Aristoteles als Repräsentant für Kontextbezug und Orientierung an Fragen des guten Lebens. Otfried Höffe verweist allerdings darauf, dass eine solche Entgegenstellung auf einer verkürzten Wahrnehmung und ungenauen Rezeption beider Philosophen beruht, bei denen er viele Gemeinsamkeiten aufweist, von der Orientierung an formalen Prinzipien und der zentralen Rolle der Vernunft bis hin zu der Bedeutung der Urteilskraft und der Tugenden. Beide vertreten einen «Prinzipienuniversalismus», der zwar die Bedeutung der Erfahrung für die Vermittlung zwischen Prinzipien und Einzelfall anerkennt, sich aber dagegen ausspricht, dass die Erfahrung die Regeln definiert oder begründet (vgl. Höffe 1995: 282–294). Die verbreitete Spaltung der Realität in die zwei Sphären Theorie und Praxis verkennt, dass mit diesen Begriffen nicht klassifikatorisch zwei Bereiche der Wirklichkeit bezeichnet werden. Theorie und Praxis stehen vielmehr für abstrakte Aspekte menschlicher Realität, die zwar zum Zwecke begrifflicher Klärungen zu unterscheiden, zugleich aber untrennbar aufeinander verwiesen sind. Praxis bedarf der Theorie wie das Handeln des Denkens bedarf, ohne das es blind und orientierungslos wäre. «Es kann also niemand sich für praktisch bewandert in einer Wissenschaft ausgeben und doch die Theorie verachten, ohne sich bloß zu geben, dass er in seinem Fache ein Ignorant sei»,�������������������������������������������������� schreibt Kant in seinem Aufsatz «Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis» (Kant, Gemeinspruch: A 204). Kant zufolge ist die empirische Lebenspraxis zwar nicht die Begründungsbasis moralischer Normen, aber sie ist notwendiger Ansatz- und Bezugspunkt ethischer Theorie. Deshalb kann die Ethik zwar zur Klärung und kritischen Reflexion moralischer Grundorientierung und Urteilspraxis beitragen, aber dem Einzelnen das Bemühen darum letztlich nicht abnehmen. Ethik kann also, anders als etwa naturwissenschaftlich-technische Disziplinen, nicht bloß Sache für Experten sein. Gemäß der griechischen Ursprungsbedeutung von «Theorie» («anschauen») hat die Theorie immer einen mehr oder weniger kontemplativen Zug, sie entsteht durch Distanzierung von der Praxis, darf aber letztlich den Bezug zu ihr doch nicht verlieren, wenn sie nicht praktisch wirkungslos werden will.192 192 Vgl. dazu Aristoteles: «Das Denken für sich allein bewegt nichts, sondern nur das auf einen Zweck gerichtete und praktische Denken.» (Nikomachische Ethik: 1139b1).
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Grundlagen
Auch in der Didaktik ist das Theorie-Praxis-Problem bekannt. Es besteht einerseits als Diskrepanz zwischen der Unterrichtstheorie und der Unterrichtswirklichkeit, andererseits in der Frage der Wirkung didaktischer Bemühungen. Wie können angesichts der Unverfügbarkeit des Lernens Wissen vermittelt und Handlungsfähigkeit gefördert werden? Die Kontroverse um die Art des Zugangs – eher von der Erfahrung oder von der Theorie her – ist daher ein Kern des Theorie-Praxis-Konflikts in der Didaktik (vgl. unter 3.1.3.2). Die Untersuchung dieses Konflikts hat gezeigt, dass die Entgegensetzung von Sach- und Schülerorientierung falsch ist und dass die Didaktik vielmehr nach Verbindungen zwischen den beiden scheinbaren Gegenpolen suchen muss und den Lernenden immer wieder eine Hin- und Herbewegung zwischen beiden ermöglichen sollte, damit, wie Bürmann es formuliert «sie sich gegenseitig zu erhellen vermögen und damit ein Zusammenhang in der Verschiedenheit der Zugänge zur Wirklichkeit dem Subjekt erfahrbar wird» (Bürmann 1997: 40). In Lernsituationen, in denen etwa szenisches Spiel und gemeinsame Reflexion, Praxiserfahrung und theoretische Erarbeitung, Fallgeschichte und ethische Prinzipien gut miteinander verbunden werden, sieht sie ein «wesentliches Strukturmoment bildenden Lernens», weil die Lernenden hier Verschiedenheit der Zugänge und Zusammenhänge zwischen ihnen selbst erfahren können (Bürmann 1997: 41). Trotzdem sind die Übergänge zwischen Erfahrung und Theorie nicht selten diskontinuierlich und krisenhaft, aber auch darin liegen produktive Möglichkeiten. Ein differenzierter Umgang mit der konstitutiven Spannung zwischen Theorie und Praxis vermeidet jene platte Praxisorientierung, die alle Theorie passend zurechtschneiden und mit der Praxis in «Übereinstimmung» bringen will, denn damit werden Lernanlässe verschenkt. Ziel von Bildung ist es, erkennbar zu machen, dass Theorie und Praxis zwei Seiten derselben Realität und nicht zwei getrennte Sphären sind. Bürmann beschreibt dies in Anlehnung an C. F. von Weizsäcker als «Mitwahrnehmung», die Fähigkeit nämlich, das Allgemeine im Besonderen zu sehen und umgekehrt (Bürmann 1997: 38–43). Für die ethische Kompetenz bedeutet das beispielsweise, im alltäglichen Handeln überhaupt einzelne Situationen, einzelne Schicksale in ihrer allgemeinen Bedeutung zu erkennen und in der einzelnen Situation ethische Grundfragen als eine Dimension des Erlebens «mit wahrzunehmen», neben und mit der fachlich-pragmatischen also auch die ethische und existenzielle Dimension erfahren und erfassen zu können. Das Theorie-Praxis-Problem ist allgegenwärtig; allerdings beruht der Dualismus zwischen beiden auf einem Missverständnis, wie anhand von Beispielen aus den verschiedenen Wissensbereichen dieser Arbeit verdeutlicht wurde. Die Lösung des Problems kann nicht darin bestehen, das eine dem anderen anzugleichen oder gar unterzuordnen, sondern eine Brücke zu finden, die beides verbindet, so
3. Didaktik
dass beide sich im Licht des je anderen entwickeln können: Eine solche Brücke ist die Urteilskraft. 3.4.2 Urteilskraft als Vermittlungsmedium
Der Begriff der Urteilskraft wurde von Kant geprägt, der sie als die Fähigkeit beschreibt, Normen auf konkrete Situationen anzuwenden. Als praktisches Vermögen ordnet er sie dem Verstand zu, den er von der Vernunft unterscheidet.193 Kant schreibt in dem schon erwähnten Aufsatz «Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis»: Daß zwischen der Theorie und der Praxis noch ein Mittelglied der Verknüpfung und des Überganges von der einen zur anderen erfordert werde, die Theorie mag auch noch so vollständig sein wie sie wolle, fällt in die Augen; denn, zu dem Verstandesbegriffe, welcher die Regel enthält, muß ein Actus der Urteilskraft hinzukommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht; und, da für die Urteilskraft … [keine, Anm. d. Verf.] Regeln gegeben werden können, so kann es Theoretiker geben, die in ihrem Leben nie praktisch werden können, weil es ihnen an Urteilskraft fehlt (Kant, Gemeinspruch: A 201).
Kant fordert für die Anwendung und die didaktische Vermittlung ethischer Grundsätze eine «durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft». Sie sei erforderlich «um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen» (Kant, GMS: BA IX). Höffe sieht in der Ethik Verbindungen zwischen der Kantischen Urteilskraft und dem aristotelischen Klugheitsbegriff, der phronesis. In der Nikomachischen Ethik beschreibt Aristoteles die phronesis als praktische Klugheit, sittliche Einsicht und als Verstandestugend, deren Ziel das gute Leben im Sinne der eudaimonia ist, zu der ethische Tugend immer schon gehört.194 Aristoteles betont auch die Bedeutung der Erfahrung für die phronesis (Aristoteles, Nikomachische Ethik: 1141b15 und 1142a15). Erfahrung ist auch ein wichtiges Element des heutigen Verständnisses der Urteilskraft, die praktische Anforderungen mit übergeordneten Gesichtspunkten 193 Der Verstand bringt Begriffe hervor, um sinnliche Vorstellungen zu erfassen, kann aber nur Erscheinungen und nicht Dinge an sich erkennen. Die Vernunft «als reine Selbsttätigkeit» steht über dem Verstand; sie überschreitet die Sinnenwelt (Kant, GMS BA 107, 108). 194 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VI. In diesem Buch untersucht Aristoteles die verschiedenen Verstandestugenden und ihre Beziehung zu den Seelenteilen. Die phronesis gehört zum praktisch überlegenden Teil der Vernunft, während die Weisheit (sophia) zum denkenden Teil gehört, in dem Geist und Wissenschaft angesiedelt sind Die phronesis liegt zwischen der Vernunft und dem Strebevermögen.
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verbindet, indem sie prüft, welche Prinzipien oder Maximen auf eine konkrete Situation zutreffen und wie sie die Orientierung bestimmen. Damit ist Urteilskraft eine wichtige Voraussetzung für moralisches Handeln und ein Element ethischer Kompetenz. Die Urteilskraft begleitet das gesamte Denken und Handeln und ist allen Menschen zugänglich – sie ist also keineswegs auf die Ethik begrenzt. Sie ist allerdings bei verschiedenen Menschen unterschiedlich ausgeprägt, weil sie durch Reflexion und Erfahrung gespeist und geschärft wird. Neben Fakten und Gegebenheiten bezieht die Urteilskraft auch eigene Gefühle und Wahrnehmungen (etwa die Gefühle Anderer) in die Abwägung ein, ohne bloß intuitiv zu sein, denn ihre Verbindung zum Verstand ist für die Urteilskraft typisch. Urteilskraft ist für eine reflexionsorientierte Ethik von entscheidender Wichtigkeit, denn sie stärkt ihre kritischen Potenziale durch die immer neue Hin- und Herbewegung zwischen Situation und Prinzip, zwischen ethischer Theorie und ihrer Anwendung. Da die Urteilskraft, wie Kant sagt, nicht gelehrt, sondern nur geübt werden kann, muss die Ausbildung Übungsmöglichkeiten schaffen. Dies geschieht besonders durch die Kasuistik, auf die im Kontext der Bearbeitung von Fällen und dem Reflexionsmodell unter 2.3.7.1 näher eingegangen wird. 3.4.3 Ein theoretisch reflektiertes Konzept für die Praxis der Ausbildung
Als Ergebnis der bisherigen Untersuchungen wird in den folgenden Kapiteln ein Konzept vorgestellt, wie Ethik in die Pflegeausbildung integriert werden kann. Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen: Zunächst wird das Konzept als Ganzes vorgestellt – als didaktisch begründete Themenauswahl für die Pflegeausbildung und ihre curriculare Verortung (Kap. 4). Exemplarisch wird danach die im Rahmen dieser Arbeit neu entwickelte Einführungseinheit «Pflege, Ethik und Anthropologie» genauer vorgestellt (Kap. 5). Die Gesamtperspektive, die den Rahmen für die Verwirklichung des Konzepts und seine Ausweitung auf den Fort- und Weiterbildungsbereich sowie auf die Klinische Ethik bildet, wird als Abschluss und Ausblick in Kapitel 6 thematisiert. Theoretisch reflektierte Praxisorientierung bedeutet also, dass die Praxis der Bezugsrahmen für das Theoriewissen ist, dieses Wissen aber auch die kritische Distanzierung von der Praxis ermöglicht. Auch die Auswahl der Unterrichtsthemen orientiert sich an diesem Rahmen, und denkt mit Blick auf die kritische Funktion von Bildung immer auch darüber hinaus.
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Teil II
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Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
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4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
Als Ergebnis der Untersuchungen der ersten drei Kapitel soll nun ein Konzept des Ethikunterrichts für die Pflegeausbildung vorgestellt und begründet werden. Ein systematisches Konzept existiert bisher nicht, wie die Darstellung der gesetzlichen und curricularen Rahmenbedingungen am Anfang dieses Kapitels zeigt. Das hier vorgelegte Konzept kann in die meisten Curricula der Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflege leicht integriert werden; mit einigen Modifikationen auch in die Altenpflegeausbildung. Zunächst werden die Entwicklung und der Stand des Ethikunterrichtes anhand mehrerer empirischer Untersuchungen zu Inhalten, Stellenwert und Qualität von Ethikunterricht skizziert. Aufbauend insbesondere auf das im zweiten Kapitel dargestellte Ethikverständnis und auf die im dritten Kapitel formulierten didaktischen Grundsätze und Zielorientierungen werden dann die Konturen der Ethik in der Pflegeausbildung als Querschnittsthema, aber auch als eigenes Wissensgebiet umrissen. Die Themenauswahl des Konzepts wird begründet, und die einzelnen Themen werden in ihrer Bedeutung hinsichtlich der Ziele erläutert und exemplarisch im Curriculum von Oelke verortet.
4.1
Ethik in der Pflegeausbildung Die folgende Bestandsaunahme der Ist-Situation zeigt, dass dieses Wissensgebiet bisher in der Pflegeausbildung überwiegend nicht konsequent mitgeführt wird und dass es unklare Konturen hat, sowohl auf der Ebene der gesetzlichen Rahmenbedingungen als auch auf der curricularen Ebene.
4.1.1 Gesetzliche Bestimmungen
Nachdem die wichtigste Neuerung des Krankenpflegegesetzes (KrPflG) von 1985 die Formulierung von Ausbildungszielen war (KrPflG 1985 § 4), bringt die Novellierung von 2003 erheblich mehr Veränderungen mit sich, von denen hier nur diejenigen genannt werden, die für den thematischen Zusammenhang bedeutsam erscheinen. Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (KrPflAPrV), eine in Folge des KrPflG erlassene Rechtsverordnung, welche die Mindestanforderungen regelt, trat zum 1. Januar 2004 in Kraft. Die wichtigsten Veränderungen betreffen die theoretische Ausbildung. Ihr Umfang wird erweitert (Erhöhung der Stundenzahl von 1600 auf 2100) und sie wird inhaltlich völlig neu gefasst. An die Stelle der Unterrichtsfächer treten Fächergruppen, die unter dem Stichwort «Wissensgrundlagen» im Anhang A der KrPflAPrV folgendermaßen definiert werden: 1. «Kenntnisse der Gesundheits- und Krankenpflege, der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege sowie der Pflege- und Gesundheitswissenschaften (950 Std.)
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Ergebnisse
2. Pflegerelevante Kenntnisse der Naturwissenschaften und der Medizin (500 Std.) 3. Pflegerelevante Kenntnisse der Geistes- und Sozialwissenschaften (300 Std.) 4. Pflegerelevante Kenntnisse aus Recht, Politik und Wirtschaft (200 Std.).» Zusätzlich sind 200 Stunden zur Verteilung auf alle Bereiche vorgesehen. Das Lernfeldkonzept wird nicht explizit vorgeschrieben. Die Struktur der fächerübergreifenden Themenbereiche, die das Grundgerüst der Vorgaben der KrPflAPrV bilden, orientiert sich an beruflichen Kompetenzen und legt so für die curriculare Umsetzung die Erweiterung auf Lernfelder nahe. Die Themenbereiche werden in der Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 der KrPflAPrV (A. Theoretischer und praktischer Unterricht) wie folgt formuliert: Der theoretische und praktische Unterricht umfasst folgende Themenbereiche: 1. Pflegesituationen bei Menschen aller Altersgruppen erkennen, erfassen und bewerten 2. Pflegemaßnahmen auswählen, durchführen und auswerten 3. Unterstützung, Beratung und Anleitung in gesundheits- und pflegerelevanten Fragen fachkundig gewährleisten 4. Bei der Entwicklung und Umsetzung von Rehabilitationskonzepten mitwirken und diese in das Pflegehandeln integrieren 5. Pflegehandeln personenbezogen ausrichten 6. Pflegehandeln an pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichten 7. Pflegehandeln an Qualitätskriterien, rechtlichen Rahmenbestimmungen sowie wirtschaftlichen und ökologischen Prinzipien ausrichten 8. Bei der medizinischen Diagnostik und Therapie mitwirken 9. Lebenserhaltende Sofortmaßnahmen bis zum Eintreffen der Ärztin oder des Arztes einzuleiten 10. Berufliches Selbstverständnis entwickeln und lernen, berufliche Anforderungen zu bewältigen 11. Auf die Entwicklung des Pflegeberufs im gesellschaftlichen Kontext Einfluss nehmen 12. In Gruppen und Teams zusammenarbeiten.
Gerade aus dem übergreifenden Charakter der Themenbereiche der Ausbildungsund Prüfungsverordnung folgt jedoch, dass sie nicht unmittelbar in Lernfelder übersetzbar sind, die, wie im dritten Kapitel dargelegt, durch didaktische Bearbeitung konkreter beruflicher Handlungsfelder entstehen.195 Es ist deshalb sinn195 ��������������������������������������������������������������������������������� In den Handreichungen der Kultusministerkonferenz zur Erarbeitung von Rahmenlehrplänen heißt es: «Lernfelder sind durch Zielformulierung, Inhalte und Zeitrichtwerte beschriebene thematische Einheiten, die an beruflichen Aufgabenstellungen und Handlungsabläufen orientiert sind.» (Vgl. Kap 3.2.2).
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
voll, quer zu den Themenbereichen der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung Lernfelder zu definieren, die sich an konkreten Handlungsfeldern orientieren und ihrerseits wieder in Lerneinheiten unterteilt werden können. In den curricularen Vorgaben einiger Bundesländer werden die Themenbereiche der Ausbildungsund Prüfungsverordnung zu Lernfeldern umdefiniert. Die gesetzlichen Vorgaben sind jedoch eher eine Zielbeschreibung, die nach verschiedenen Qualifikationen strukturiert ist, als Lernfelder im Sinne von handlungsorientierter Didaktik. Die Themenbereiche der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung werden jeweils durch die Angabe von Lernzielen («Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen …») näher beschrieben. Die für das Thema Ethik bedeutsamen Lernziele finden sich vor allem zum Themenbereich 5 «Pflegehandeln personenbezogen ausrichten»: Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, • in ihrem Pflegehandeln insbesondere das Selbstbestimmungsrecht und die individuelle Situation der zu pflegenden Personen zu berücksichtigen, • in ihr Pflegehandeln das soziale Umfeld von zu pflegenden Personen einzubeziehen, ethnische, interkulturelle, religiöse und andere gruppenspezifische Aspekte sowie ethische Grundfragen zu beachten (Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 KrPflAPrV; Hervorh. d. Verf.).
Auch wenn der Gesetzgeber mit der Benennung der Schlüsselqualifikationen (fachliche, soziale, personale und methodische Kompetenz) als Teil des gesetzlichen Ausbildungszieles (KrPflG § 3) die Bedeutung der psychosozialen und personalen Kompetenz anerkennt, so werden diese bei der Aufschlüsselung der Themenbereiche im Anhang der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung nicht konkret gefasst und bekommen im Verhältnis zu ihrer Wichtigkeit zu wenig Raum. So werden wichtige Elemente der in § 3 KrpflG geforderten «personalen und sozialen Kompetenz», nämlich Diskursfähigkeit, Fähigkeit zur Selbstreflexion und Kritikfähigkeit, bei den Lernzielen nicht genannt. Beachtung findet allerdings die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die als besonders wichtige Qualifikation eigens genannt wird (KrPflG § 3 Abs. 2). Demnach soll die Ausbildung dazu befähigen, «interdisziplinär mit anderen Berufsgruppen zusammenzuarbeiten und dabei multidisziplinäre und berufsübergreifende Lösungen von Gesundheitsproblemen zu entwickeln.» Zwar wird im Lernziel zu Punkt 6 Kritikfähigkeit gefordert («Pflegehandeln mit Hilfe von pflegetheoretischen Konzepten … kritisch zu reflektieren»), ebenso im Lernziel zu Punkt 10 («sich kritisch mit dem Beruf auseinander zu setzen»), aber hier geht es nicht um die Kritikfähigkeit im Hinblick auf die eigene Haltung und das eigene Verhalten. Die Forderungen zu Punkt 11 («Entwicklungen im Gesundheitswesen wahrzunehmen … und sich in die Diskussion einzubringen») sowie zu Punkt 12 («pflegerische Erfordernisse in einem intra- sowie in einem
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interdisziplinären Team angemessen und sicher zu vertreten») weisen zwar auf Diskursfähigkeit hin, die wichtige Dimension der Verständigung über ethische Fragen wird aber ausgeklammert. Die unten beschriebenen curricularen Konzepte nehmen diese Punkte jedoch stärker auf. Die praktische Ausbildung soll durch die Verpflichtung zur Praxisanleitung verbessert werden. Die Einrichtungen, in denen praktisch ausgebildet wird, müssen Praxisanleiter/innen mit einer pädagogischen Zusatzqualifikation von 200 Stunden bereitstellen, und die Pflegelehrer/innen sollen die praktische Ausbildung durch Praxisbegleitung und Beratung der Anleiter unterstützen und mitgestalten (KrPflG § 4 (5) und KrPflAPrV § 2 (2)). Hier bieten sich neue Formen der Zusammenarbeit und neue Lernformen an wie Lernortvernetzung, Lernräume in der Praxis und gemeinsamer Unterricht durch Lehrer/innen und Praxisanleiter/innen (vgl. unter 4.4) die auch für die Förderung der ethischen Kompetenz bedeutsam sind. Wenn Ethik nicht nur «in der Schule» gelehrt wird, sondern auch ein Thema in der Praxisbegleitung, in der Reflexion von Praxissituationen und bei praktischen Prüfungen ist, wird ein besserer Transfer des schulisch Gelernten auf die eigene praktische Arbeit ermöglicht.
4.1.2 Curricula und Ministerialerlässe zur Pflegeausbildung
Die Bundesländer waren unterschiedlich aktiv darin, den Schulen Vorgaben für die großen Veränderungen zu geben, die die neuen Regelungen mit sich bringen. Die folgende Betrachtung begrenzt sich auf die Gesundheits- und Kinder/ Krankenpflege-Ausbildung. Dafür hat das Land Nordrhein-Westfalen bereits 1998 einen Modellversuch mit den neuen Strukturen durchgeführt und konnte pünktlich zum Inkrafttreten des Krankenpflegegesetzes 2003 eine erprobte und landesweit verbindliche Richtlinie vorlegen, die vom Land Berlin übernommen wurde. Inzwischen existieren in den meisten Bundesländern behördliche Regelungen, entweder in Form eigener Rahmenlehrpläne oder Richtlinien, oder aber in Form einer Übernahme der Richtlinien aus einem anderen Bundesland. Diese unterscheiden sich aber erheblich in ihrer Ausführlichkeit und den dort angelegten curricularen Strukturen. Richtungweisend war ohne Zweifel das Curriculum von Oelke/Menke, dessen Strukturebenen und weitere Aufteilung unter Mitautorschaft von Oelke weitgehend in das Altenpflege-Curriculum und die Ausbildungsrichtlinie von Nordrhein-Westfalen übernommen wurde. Die Bandbreite der behördlichen Vorgaben ist jedoch groß, von geschlossenen und bis in alle Details verplanten Curricula wie dem christlichen Curriculum «Pflegen können» und der bayerischen Lehrplanrichtlinie, bis hin zu den nur in Umrissen angelegten Rah-
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
menrichtlinien von Niedersachsen, in denen die Ebene der Lerneinheiten nicht ausgearbeitet ist, sondern nur elf sehr eng an die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung angelehnte Lernfelder mit Kommentaren und Stundenrichtwerten vorgegeben werden. Meine Durchsicht der aktuellen Curricula ergab, dass sich gegenüber dem unscharfen Ethikverständnis der 1990er-Jahren nur allmähliche Veränderungen zeigen. Immer noch wird Ethik zwar allgemein für wichtig gehalten, was in den einleitenden Kommentierungen der Curricula deutlich wird,196 aber die Umsetzung in konkrete Planungen bleibt hinter diesem Anspruch weit zurück. Der Vergleich mit anderen Themen lässt die Vermutung zu, dass Ethik inhaltlich noch nicht als Teil der Pflege gesehen wird. Denn die Detailgenauigkeit der Vorgaben z. B. bei medizinischen Themen oder beim Thema Hygiene steht in einem starken Kontrast zur Oberflächlichkeit der Vorgaben zum Thema Ethik. Themen wie Ethik-Kodizes, Ethik-Gremien und ethische Entscheidungsfindung haben sich im Zuge der Professionalisierung und der damit verbundenen Beschäftigung mit Ethik mittlerweile etabliert und finden auch in den Curricula zumindest teilweise ihren Niederschlag; Ethik erscheint in den meisten aktuellen Curriculumkonzepten allerdings noch immer als ein Randthema, das mit nur wenigen Stunden abgehandelt werden kann. Die Tabelle 2 gibt einen groben Überblick über den Stellenwert und die Verortung ethischer Themen in den aktuellen Curricula. Neben zwei überregional bekannten und oft verwendeten Curricula (Oelke/Menke und «Pflegen können») wird hier der größte Teil der bisher existierenden Vorgaben der Länder betrachtet. Dabei ist zu beachten, dass deren Differenzierungsgrad und didaktischer Anspruch recht verschieden ist. Einige haben einen ausführlichen didaktischen Begründungsrahmen, andere sind weitgehend unkommentierte Stoffverteilungspläne. Neben Berlin hat auch Mecklenburg-Vorpommern die Richtlinie aus Nord rhein-Westfalen übernommen. Sachsen-Anhalt verzichtet ganz auf ministerielle Vorgaben und überlässt die Ausgestaltung der gesetzlichen Vorgaben den Schulen. Die Länder Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen arbeiten im Norddeutschen Zentrum zur Weiterentwicklung der Pflege (NDZ) zusammen und haben 2004 die «Norddeutsche Handreichung zur Umsetzung des Neuen 196 Mehrfach wird Ethik im Zusammenhang mit den beruflichen Handlungskompetenzen, vor allem der personalen Kompetenz, erwähnt. So wird im sächsischen Curriculum gefordert, «neben der Vermittlung von fachlichem Wissen […] berufliches Ethos, menschliche Integrität, Verantwortungsbewusstsein und Leistungsbereitschaft weiter auszuprägen» (S. 5). Im thüringischen Curriculum heißt es: «Selbstkompetenz schließt die reflektierte Entwicklung von Wertvorstellungen und die selbstbestimmte Bindung an Werte mit ein» (S.2). Im niedersächsischen Curriculum werden bei den prinzipiellen Zielen das Handeln nach ethischen Grundsätzen, sowie Solidarität, Toleranz und Gleichberechtigung in der Gestaltung von Beziehungen genannt (S. 1).
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Ergebnisse
Tabelle 2: Ethik in den aktuellen Curricula für die Gesundheits- und Krankenpflege-
ausbildung
Curriculum
Einheit und Stundenzahl, die explizit für ethische Themen vorgesehen sind
Lerneinheiten, für die Besonderheiten ethische Aspekte erwähnt werden
Oelke/ Menke 2002
«Ethische Herausforderungen für Pflegende»: 14 Std.
Ethische Aspekte werden bei vielen Einheiten erwähnt, z. B. auch im didaktischen Kommentar zum Themenfeld «Körpernahe Unterstützung leisten» Näheres s. u.
Erfahrungsbezogener Teilbereich,1 in dem mit der Behandlung emotional belastender Tabuthemen auch Grundlagen für ethische Reflexion geschaffen werden
Pflegen können 2004
Ethik: 22 Std. davon 10 Std. im Rahmen der Praxisreflexion
«Rollenverhalten» (Normen – Werte – Rollen) «Pflegephänomen: Sterbender Mensch» (z. B. Leben als Geschenk Gottes, Anfang und Ende des Lebens, Sterbehilfe) Genetik und Reproduktionsmedizin (Ethische Aspekte und Standpunkte)
Christliche Anthropologie, 40 Std., ohne Bezug zu Ethik
Ausbildungsrichtlinie NRW 2004 (Autorin ist ebenfalls Oelke)
«Ethische Herausforderungen für Angehörige der Pflegeberufe»: 20 Std.
ähnlich wie bei Oelke/ Menke
Erfahrungsbezogener Teilbereich mit denselben Themen wie Oelke/Menke
Rahmenlehrplan Hessen 2004
Pflegerelevante Grundlagen der Ethik 2 Ohne Stundenangabe
Im Kontext mit der Pflege von Menschen mit Behinderungen: «Ethische Aspekte» (z. B. Leben als Wert, Menschenbild, Selbstbild, Euthanasie)
Übernahme der Themenbereiche der KrPflAPrV, zusätzlich Orientierung an «Pflegephänomenen»
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
Curriculum
Einheit und Stundenzahl, die explizit für ethische Themen vorgesehen sind
Lerneinheiten, für die Besonderheiten ethische Aspekte erwähnt werden
Vorläufiger Landeslehrplan Baden-Württemberg 2004
«Ethische Entscheidungen im Laufe des Lebens»: 10 Std.
«Fragen der Ethik in der Gesundheitsförderung» «Ethische Entscheidungen in der Rehabilitation»
Die NANDA-Klassifikation3 für Pflegediagnosen ist den darauf bezogenen Themenbereichen zugrundegelegt
Rahmenlehrplan RheinlandPfalz 2005
Lernmodul 14 «Pflegehandeln an ethischen Prinzipien ausrichten und verantworten»: 36 Std.
Keine weitere Erwähnung des Themas Ethik in anderen Lerneinheiten
Ein Grundlagenmodul wird von einem Modul mit Fallbezug unterschieden; bei allen Modulen wird eigens auf den Lernort Praxis eingegangen
Lehrplan Sachsen 2005
«Ethik oder Evangelische Religion oder Katholische Religion»: 60 Std.
«Ethische Aspekte der Rehabilitation» als Teilbereich eines Lernfeldes «Ethische Entscheidungsfindung in der Pflege»
Ethik oder Religion als Teil der allgemeinbildenen Inhalte ohne nähere Spezifizierung��������� Übernahme der Themenbereiche der KrPflAPrV.
Lehrplanrichtlinie Bayern 2005
Keine festgelegte Stundenzahl
Lernfelder «Zu Menschen Beziehungen entwickeln» «In der Ausbildung und im Beruf orientieren» (Grundlagen ethischer Entscheidungsfindung) «Die Bedeutung der Sexualität erkennen und Menschen mit Störungen sexueller Funktionen pflegen» (Schwangerschaftsunterbrechung und PID); «Berufliche Anforderungen bewältigen»(Handeln nach ethischen Maßstäben) «Besonderheiten in der Endphase des Lebens erkennen» 4
Lernfeld «Menschenbild» (80 Std.!) ohne Erwähnung von Ethik
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Ergebnisse
Curriculum
Einheit und Stundenzahl, die explizit für ethische Themen vorgesehen sind
Lerneinheiten, für die ethische Aspekte erwähnt werden
Besonderheiten
Lehrplanentwurf Thüringen 2005
«Pflegehandeln an ethischen Prinzipien ausrichten»: 48 Std. + 10 Std. Projekt
Im Kontext mit verschiedenen «Lernfeldabschnitten» werden unter dem Thema «berufsethische Grundfragen» ethische Themen angeboten, z. B. «Konfliktfeld Lebensanfang»; «Konfliktfeld Lebensende»
Übernahme der Themenbereiche der KrPflAPrV
Rahmenplan Brandenburg 2005
Ethische Herausforderungen für Pflegende (im Kontext mit Themenbereich 10): 6 Std.
Im Kontext mit den Themenbereichen 5 «Pflegehandeln personenbezogen ausrichten» und 10 «Berufliches Selbstverständnis entwickeln» werden «ethische Aspekte» mehrmals ohne inhaltliche oder zeitliche Konkretisierung erwähnt
Übernahme der Themenbereiche der KrPflAPrV
Rahmenrichtlinien Niedersachsen 2006
Von Umfang und Inhalt nicht näher umrissene Teile des Lernfelds «Pflege als Beruf ausüben»: «Pflegerelevante Dilemmata» und «Grundlagen der Ethik»
Lernfeld «Pflegesituationen erkennen …» Personenbezogenheit, Methode der Entscheidungsfindung ohne Angabe von Kontext; Lernfeld «Pflegequalität sichern»: Politische, rechtliche, ethische und wirtschaftliche Bedingungen pflegerischer Arbeit
Übernahme der Themenbereiche der KrPflAPrV, Ebene der Lernein-heiten ist nicht vorgegeben
1 Das Themenfeld IV.4. «Mit schwierigen sozialen Situationen umgehen» enthält folgende Themen: Macht und Hierarchie; Angst, Aggression und Abwehr; Gewalt in der Pflege; Sexuelle Belästigung; Helfen und Hilflos-Sein; Nähe und Distanz; Abschied und Trauer; Ekel. 2 Neben «Werte, Normen und Moralen» und «Schulen der Ethik» gehört hierzu u. a. auch «zur eigenen Gesundheitsvorsorge beizutragen» 3 International einheitliche Klassifikation von Pflegediagnosen der North American Nursing Diagnosis Association. 4 Nicht erwähnt wird die ethische Perspektive dagegen bei den Themen Intensivmedizin und Organtransplantation und beim Thema «Berufliches Selbstverständnis entwickeln», zu dem die Auseinandersetzung mit berufsethischen Kodizes gehören sollte.
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
Krankenpflegegesetzes» herausgebracht. Diese enthält theoretische Erläuterungen (z. B. zur Handlungsorientierung und den Kompetenzen) und praktische Hinweise für die Umsetzung und Planung der theoretischen und praktischen Ausbildung, jedoch keine curricularen Vorgaben. Obwohl meine Durchsicht der Curricula im Hinblick auf das Thema Ethik erfolgte, gab sie auch einen Einblick in die Entwicklung der Auffassung von Pflege, deren Veränderung ja vom Gesetzgeber durchaus intendiert und von Vertreterinnen der Berufsgruppe selbst auch gewünscht ist. Einige Eindrücke seien hier angedeutet: Die Eigenständigkeit bzw. die spezifische Perspektive von Pflege ist in den Curricula kaum erkennbar (ausgenommen Oelke/Menke und NRW, dazu s. u.). Statt dessen dominiert noch in unerwartetem Maß eine längst überwunden geglaubte Medizinorientierung, zum einen in der Form, dass nach wie vor naturwissenschaftliche Inhalte besonders ausführlich und detailliert aufgenommen werden, während die pflegerischen zu kurz kommen oder schematisch abgehandelt werden, zum anderen in einer bedrückenden Schematisierung von Pflege, die sich an das medizinisch-naturwissenschaftliche Wissenschaftsverständnis anlehnt.197 In diesen schematischen, meist nur stichpunktartig ausgeführten Darstellungen der pflegerischen Inhalte ist von der vielbeschworenen Hermeneutik und Phänomenologie keine Spur zu finden. Das gleiche gilt für die Handlungsorientierung, zumindest in den Konzepten, die mit analytisch-mechanischen Strukturkonzepten der Pflegethemen arbeiten, wie es beispielhaft im Hessischen Curriculum geschieht. Eine solche Herangehensweise verstellt den Blick auf Phänomene und Inhalte und ist genau das Gegenteil von handlungsorientiert: Kaum verschleiert scheint hier die alte Wissens- und Fächerorientierung durch. Als pflegerischer Anteil des «Pflegephänomens» «Flüssigkeitshaushalt und Ausscheidung» stehen im Hessischen Curriculum folgende Stichpunkte: «Beobachten: Aufspüren, Untersuchen, Abhören, Abtasten, Perkutieren, Überblick verschaffen, Verlauf beobachten, Inspizieren, Interpretieren. Assessmentinstrumente» und «Pflegekonzepte: Überwachen, Berechnen, Wiegen, Messen, Analyse, Testen, Screening».������������������������������������������������������������������� Gut, dass es die Einheit zur «personenbezogenen Pflege» gibt. Verbindungen werden allerdings meist nicht angelegt. Das im Folgenden vorgestellte Konzept für den Ethikunterricht wird exemplarisch auf das Curriculum von Oelke/Menke bezogen. Das Curriculum von Oelke von 1991 ist das erste Curriculum für die Pflegeausbildung, das seinen didaktischen und curriculumtheoretischen Begründungsrahmen klar ausweist; das Folgewerk von 2002 nimmt diesen Rahmen auf und erweitert ihn. Mit seiner Ausrichtung 197 Dem entspricht Darmanns Befund: «Der Pflegeunterricht wird gegenwärtig überwiegend von einem technokratischen Pflegeverständnis geprägt.» (Darmann 2004: 200).
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an Klafki, insbesondere an der Erfahrungs- und Reflexionsorientierung und der Orientierung an den Schlüsselqualifikationen, ist es mit dem hier vertretenen Ansatz gut kompatibel. Das Curriculum ist offen und fächerübergreifend angelegt und inhaltlich umfassend ausgearbeitet; zu jedem der insgesamt 13 Themenfelder gibt es einen didaktischen Kommentar, der die Zielorientierung und damit auch die Umsetzung mit nebenamtlichen Dozenten erleichtert. Die im Oelke/Menke-Curriculum vorgesehene Grundlageneinheit «Ethische Herausforderungen für Pflegende» sieht folgende Themen vor:
• Begriffsbestimmung bzw. -abgrenzung: Ethik, Moral, Recht • Werte • Ethische Grundprinzipien • Pflege-Dilemmata • Pflegerisches Handeln und Entscheiden in Grenzsituationen. (Oelke/Menke 2002: 235)
Es zeigt mit dem Schwerpunkt auf Urteils- und Entscheidungsfähigkeit und der Sensibilisierung für den Umgang mit Grenzsituationen, der im didaktischen Kommentar benannt wird, sowie mit der Einbeziehung begrifflicher Grundlagen der Ethik in die Themenauswahl ein klareres Ethikverständnis als die meisten anderen Curricula. Selbst wenn auch das Curriculum von Oelke/Menke in Bezug auf Ethik an einigen Stellen ergänzungsbedürftig ist, so ist es doch dasjenige, das Ethik am ehesten konsequent mitdenkt und benennt. Die didaktischen Kommentare beziehen die Lebenswirklichkeit sowohl der Patienten als auch der Pflegenden ein. Themen wie Macht, Verantwortung, Perspektivenübernahme, Autonomie und die Notwendigkeit einer reflektierten Grundhaltung kommen auch in anderen Lerneinheiten vor, wo sich dies anbietet, und nicht nur im Ethik-Modul. Der Überblick zeigt: Alle zur Zeit in der Bundesrepublik veröffentlichten Curricula der Pflegeausbildung sind in Bezug auf Ethik mehr oder weniger ergänzungsbedürftig. Ethik wird entweder in eine Einheit «ausgelagert» und dann in anderen nicht mehr erwähnt, oder sie wird überall «mitgedacht», oft indem schematisch mehrfach «Ethische Aspekte» ohne Spezifizierung genannt werden. Dadurch hat sie zu wenig Eigengewicht und geht in den anderen Bereichen unter. Diese Schwächen sollen durch das hier vorgelegte Konzept überwunden werden. Bei der Ethik handelt es sich nicht um ein isoliertes «Fach», sondern um eine für die Pflegepraxis unverzichtbare Perspektive, die einen sich durch alle Ausbildungsbereiche hindurchziehenden roten Faden bilden sollte, ähnlich wie die Themen Kommunikation, Qualität und Organisation. Um als eigene Perspektive
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
wahrnehmbar zu sein, muss Ethik aber auch als eigenes Wissensgebiet gelehrt werden, auf das Bezug genommen werden kann. 4.1.3 Entwicklung und Stand des Ethikunterrichts
Schon 1980 ermittelten Franz Josef Illhardt und Eduard Seidler in einer Umfrage den damaligen Stand des Ethikunterrichts in der Pflegeausbildung. Bei den 160 Ausbildungseinrichtungen, die an der Befragung teilnahmen, wurde Ethik überwiegend nicht als eigenes Fach angeboten, sondern in andere Fächer und Themen integriert (ca. 72 %; Illhard/Seidler 1980: 26). Erteilt wurde der Unterricht überwiegend von Theologen und Unterrichtsschwestern, aber auch von Ärzten und Sozialwissenschaftlern.198 Es zeichneten sich vier Arten der Vermittlung von Ethik ab: im Kontext mit Krankheitsbildern, als Reflexion von Praxiserfahrungen, systematisch-theoretisch und durch Falldiskussionen. Sehr aktuell sind immer noch die Forderung nach berufsübergreifendem Ethikunterricht für Studierende der Medizin und Auszubildende in der Pflege und das Verständnis von Ethik als einem Thema, das «quer durch möglichst viele Fächer als Denk- und Entscheidungsnotwendigkeit angesehen wird» (Illhardt/Seidler 1980: 28). 1992 erschien die von Konrad Blokesch und Wolfhart Bock von Wülflingen erstellte und von Franco Volontieri herausgegebene groß angelegte Studie «Ethik im aktuellen Lehrangebot von Krankenpflegeschulen der BRD», an der 296 Krankenpflegeschulen teilgenommen hatten. Die Autoren wollten den Stand des Ethikunterrichts nach der Änderung des Krankenpflegegesetzes von 1985 feststellen, das 120 Stunden für «Berufs-, Gesetzes- und Staatsbürgerkunde» vorschrieb, wobei Ethik einen Teil der Berufskunde darstellte. Die Stundenzahl für das Thema Ethik schwankte zwischen 20 und 70 Stunden (Volontieri 1992: 16), der Durchschnitt betrug 43 Stunden. Der Unterricht verteilte sich überwiegend auf alle drei Ausbildungsjahre. Ein Drittel der Schulen arbeiteten zur Zeit der Befragung nicht mit einem Curriculum.199 Der Ethikunterricht wurde überwiegend von Unterrichtsschwestern und -pflegern erteilt (85,3 %), gefolgt von Theologen (76,4 %). In der Frage, von wem der Ethikunterricht übernommen wird, gibt es, wie die Autoren selbst betonen, wichtige Unterschiede zu der Untersuchung von Illhardt/Seidler, in der die Theologen an erster Stelle stehen (74,8 %). Noch deutlicher ist der Unterschied in Bezug auf 198 ������������������������������������������������������������������������������ Mehrfachnennungen waren möglich. Dabei nannten 74,8 % Theologen, 68,7 % Unterrichtsschwestern und -pfleger, 44,3 % Ärzte, 26,3 % Psychologen und 4,6 % Soziologen als Dozenten (Illhardt/Seidler 1980: 27). 199 ���������������������������������������������������������������������������������������� Volontieri 1992: 23 f.: 32,1 % hatten kein Curriculum; 7,1 % machten zu der entsprechenden Frage keine Angaben, so dass die Quote vermutlich noch höher liegt.
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Ärzte als Dozenten für Ethikunterricht in der Pflegeausbildung: Während sie bei Illhard/Seidler mit 44,2 % als drittgrößte Gruppe der Dozenten erscheinen, stehen sie bei Volontieri mit 9,6 % an vierter Stelle hinter den Psychologen (15,3 %; alle Zahlen dieses Abschnitts aus Volontieri 1992: 27–30). Sehr interessant ist die ausführliche Untersuchung der Themen, die im Rahmen des Ethikunterrichts behandelt werden. Die Autoren haben (im Unterschied zu den im Folgenden beschriebenen Untersuchungen) keine Themen vorgegeben und erhielten insgesamt 1755 Nennungen als Antwort auf die Frage: «Welche Einzelthemen einer berufsbezogenen Ethik kommen zur Sprache?». Diese wurden von ihnen in sieben Kategorien eingeteilt, die in Tabelle 3 in der Rangfolge der Nennungen wiedergegeben werden. 200 Diese Vielfalt der Themen zeigt, wie verschwommen die Konturen der Ethik in der Pflege sind. Zwei Untersuchungen von 2001 setzen sich mit den Erwartungen von Auszubildenden an den Ethikunterricht auseinander. Barbara Nasterlack befragte 335 Auszubildende an Berliner Krankenpflegeschulen zu ihren Wünschen in Bezug auf Ethik-Unterricht und zu dessen Stellenwert. Fast 70 % der Befragten wünschen sich eine stärkere Behandlung ethischer Fragestellungen im Unterricht. Dabei steht vor allem der Themenbereich Tod und Sterben im Zentrum des Interesses. Offenbar, so Nasterlack, reichten die bisherigen Angebote zu diesem Thema nicht aus.201 Nasterlack ging auch der Frage nach, ob es 200 Volontieri 1992: 33 f. Die in Tabelle 3 zu jeder Kategorie genannten Themen wurden von mir exemplarisch ausgewählt. Auf S. 37 stellen die Autoren die meistgenannten Einzelthemen vor. Hier die ersten zehn Nennungen: Menschenbild mit 12,4 %; Sterbebegleitung mit 11,2 %; Abtreibung mit 6,3 %; Berufsrolle mit 5,4 %; Religion mit 5,0 %; Euthanasie mit 3,7 %; Tod und Sterben mit 3,0 %; Gentechnologie mit 3,7 %; Wahrheit am Krankenbett mit 2,5 % und Suizid mit 2,3 %. 201 Nasterlack 2001: 9 f. Allerdings gibt es hier ein methodisches Problem: Nasterlack fragte nach den thematischen Wünschen anhand von sieben Vorgaben. Diese lauteten (in der Reihenfolge, in der sie gewählt wurden): Sterbehilfe, Leben und Tod, Organtransplantation, lebensverlängernde Maßnahmen, unterschiedliche Religionen, geschichtliche Entwicklung und philosophische Texte. Die Möglichkeit, unter «Sonstiges» eigene Ergänzungen vorzunehmen, nahmen nur wenige der Befragten wahr. Nasterlack selbst räumt ein, dass Themen wie Schwangerschaftsabbruch und Suizid (entgegen ihrer Erwartung) wahrscheinlich deshalb nicht genannt wurden, weil sie in der Liste nicht vorgegeben waren. Das gilt auch für andere Themen wie Menschenbild, Rechte und Pflichten, oder ethische Probleme im Verhalten von Pflegenden (Gewalt, Fehler, Missachtung der Autonomie). Ein Vergleich mit der recht ähnlich angelegten Untersuchung von Lorenz macht dies deutlich. Auch Lorenz arbeitet mit vorgegebenen Themen, fasste diese allerdings ganz anders. Sie lauten (in der Reihenfolge, in der sie gewählt wurden): Bearbeitung menschlicher Krisensituationen und Grenzfragen menschlichen Lebens, Hilfen zum Umgang mit Patienten und Angehörigen, Orientierungshilfe zum beruflichen Selbstverständnis, Vermittlung von verschiedenen ethischen Ansätzen, Förderung der Kritikfähigkeit, Bearbeitung theologischer Stellungnahmen zu Grenzfragen menschlichen Lebens, Vermittlung von seelsorgerlichen Angeboten der Kirche (Lorenz 2001: 781).
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
Tabelle 3: Kategorien der Einzelthemen bei Volontieri mit Beispielen Sterben/Tod/Trauer
25,1 % Themen: Sterbebegleitung, Sterbehilfe, Begleitung Trauernder
Ethiken
19,7 % Menschenbild, Grundbegriffe der Ethik, Schutz des Lebens
Pflegepersonal
15,7 % Berufsrolle, Beziehung zu Patienten/Angehörigen, Berufsethik
Manipulative Möglichkeiten der Medizin
14,9 % Abtreibung, Gentechnologie, Organtransplantation
Religion
9,0 % Religion, Seelsorge, Jugendsekten, christliches Krankenhaus
Patient
8,8 % Suizid, Patientenverhalten, Behinderte, Alte, Sucht, Ausländer
Kommunikation
6,4 % Gesprächsführung, Gewalt, Sexualität, Konfliktbewältigung
Zusammenhänge zwischen der Einstellung zum Ethikunterricht und anderen Faktoren wie Religionszugehörigkeit, Alter, Geschlecht oder Herkunft gab. Dabei bestätigte sich aber nur der Zusammenhang zwischen dem Wunsch nach mehr Ethikunterricht und religiöser Überzeugung: Die Mehrheit von 75,5 %, die angab, an etwas außerhalb des wissenschaftlich Erfassbaren zu glauben, korrelierte mit der Gruppe derer, die sich mehr Unterricht zu ethischen Fragen wünschte (69,4 %). Isolde Lorenz, die 60 Schüler/innen an fünf Schulen befragte, ging der Frage nach, ob der Ethikunterricht den Erwartungen der Auszubildenden entsprach; das war bei fast der Hälfte (49,1 %) der Fall, bei 47,3 % der Befragten wurden die Erwartungen teilweise und nur bei 3,6 % gar nicht erfüllt.202 Als Kritikpunkte wurden genannt: oberflächliche Bearbeitung, Zeitmangel, Einseitigkeit, inkompetente Dozenten und mangelnde Konkretheit (Lorenz 2001: 782). Ihre Studie bestätigte, dass Ethikunterricht für die Auszubildenden einen hohen Stellenwert 202 Die von Lorenz vorgegebenen Antwortmöglichkeiten für die Erwartungen sind in der vorausgehenden Fußnote zum Vergleich mit Nasterlacks Antwortvorgaben aufgeführt.
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hat, denn die Befragten in vier von fünf Schulen wünschten sich mehr Ethik unterricht als dort angeboten wurde (Lorenz 2001: 784). Insgesamt wird deutlich, dass Ethikunterricht zwar von Auszubildenden als wichtig angesehen wird, ihren Bedürfnissen und Erwartungen aber oft nicht entspricht. Aus der Sicht der Schüler scheinen wichtige Kriterien für einen guten Ethikunterricht Praxisbezug, Meinungsaustausch und der Wunsch nach konkreten Verhaltensregeln für den Alltag zu sein. Diese Faktoren werden in der Untersuchung von Lorenz als Begründungen dafür genannt, dass der Ethik unterricht den Erwartungen der Befragten entsprach (Lorenz 2001: 782). Illhardts vier didaktische Zugänge sind nach wie vor aktuell und finden auch in dem von mir entwickelten Konzept einen Niederschlag: Statt im Kontext von Krankheitsbildern werden ethische Fragestellungen hier im Kontext von Lerneinheiten besprochen, die sich an beruflichen Handlungssituationen orientieren. Die Reflexion von Praxiserfahrungen und Falldiskussionen hat in der Pflegeausbildung insgesamt an Bedeutung gewonnen. Die nötigen systematisch-theoretischen Anteile haben ihren eigenen Ort (z. B. in einer eigenen Lerneinheit), werden aber auch mit den anderen Themen und Lerneinheiten verknüpft. 4.1.4 Die Grenzen des «Faches» Ethik
An der Vielfalt dessen, was inhaltlich als zur Ethik gehörig eingeordnet wird, hat sich seit den ersten Untersuchungen wenig geändert, denn die bisher üblichen Themenkataloge sind von einem ungeklärten Ethik-Verständnis und einer noch nicht vorhandenen Systematisierung dieses Bereiches für die Pflegeausbildung geprägt.203 Gleichzeitig ist es angesichts der Universalität der ethischen Perspektive für helfende Berufe nur natürlich, dass es Grenzbereiche gibt, die ethische 203 In einer Veranstaltung der Arbeitsgruppe Pflege und Ethik für Lehrkräfte in der Pflege (2002) wurden die Teilnehmer/innen gebeten, aufzuschreiben, welche Themen nach ihrer Meinung im Ethik-Unterricht behandelt werden sollten. Bei 31 Teilnehmer/innen ergab sich folgendes Bild (jeweils mit der Anzahl der Nennungen): Tabuthemen: Scham und Sexualität (3), Sexuelle Übergriffe (2), Ekel (2), Gewalt (4), Fixierung (1); Sterben und Tod (9); Ethische Grundbegriffe (7); Prinzipien (2), Verantwortung, Fürsorge, Würde (je 1), Gerechtigkeit (2); Gentechnik (2), In-Vitro-Fertilisation (2), Pränataldiagnostik (2); Präimplantationsdiagnostik (1); Transplantation/Hirntod (6); Sterbehilfe (5); Kommunikation (5); Sensibilisieren für ethische Probleme (4); Ethische Entscheidungsfindung, Falldiskussion (4); Menschenbild (4); Warum ethisch handeln? (3); Wahrheit am Krankenbett (3); § 218/Abtreibung (3); Suizid (3); Religionen im Krankenhaus (1), Zeugen Jehovas (2); Wann beginnt Leben (2); Therapiebegrenzung (2); EthikKodizes (2); Gesetzliche Grundlagen (2); Christliche Werte (1), Mitleid, Nächstenliebe (1); Umgang mit Straftätern (1), Todesstrafe (1); Sinnsuche/Sinnfindung (1); Patientenverfügung (1); Macht/Ohnmacht (1) (AG Pflege 2002: 46).
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
Dimensionen aufweisen, und bei denen zu fragen ist, ob ein Thema eher der ethischen oder aber der sozialwissenschaftlichen, pflegerischen oder QualitätsPerspektive zuzuordnen ist. So wird vielfach der ganze Themenkomplex «Tod und Sterben» zur Ethik gerechnet. Dabei geht es um so unterschiedliche Themen wie eigene Auseinandersetzung mit Tod und Sterben, Abschied und Trauer in verschiedenen Kulturen, Begleitung Angehöriger, Versorgung Verstorbener, die zwar allesamt auch eine ethische Dimension haben, aber doch nicht im engeren Sinne ethische Fragen sind. Sie sollten eher den Sozialwissenschaften oder der Pflege zugerechnet werden. Ethische Themen in diesem Kontext sind die Sterbehilfe und Therapiebegrenzung sowie der Umgang mit dem Willen des Patienten. Ruth Schröck bezeichnet die Konzentration der Ethik im Unterrichtsangebot auf Tod und Sterben, die sich auch aus den oben zitierten Untersuchungen ergibt, als «Leben und Tod Mythos» und führt aus: Wenn man sich die gängigen Themen anschaut, […] dann mag man schon glauben, dass das pflegerische Dasein ein immerwährendes menschliches Drama ist. Wiederbelebung, Sterben, Organtransplantation, Gentechnologie sowie die Reproduktion des Menschen betreffende Kontroversen wie Abtreibung und künstliche Befruchtung stehen da im Vordergrund. Niemand wird ableugnen, dass dies wichtige Themen unserer Zeit sind. Zum einen jedoch bestimmen sie kaum den Arbeitsalltag der größten Mehrheit der Pflegenden und zum anderen sind sie noch nicht einmal spezifisch medizinethische oder pflegeethische Probleme (Schröck 1995: 318).
Tod und Sterben sind Fragen, die die ganze Gesellschaft betreffen, meint Schröck und weist darauf hin, dass vor lauter Konzentration auf die dramatischen Fragen um Leben und Tod das tägliche Drama vieler Pflegebedürftiger aus dem Blick geraten kann: «Vielleicht braucht es mehr Beschäftigung mit der Moralität des alltäglichen Handelns, um die unsägliche Dramatik des am Bett angebundenen alten und verwirrten Menschen zu erkennen» (Schröck 1995: 319). Was die Themenauswahl betrifft, so ist Schröck zuzustimmen: Die Beschränkung auf die «großen» Fragen ist für die Ethik nicht angemessen, ethische Reflexion muss die gesamte Lebens- und Berufspraxis einbeziehen. Allerdings ist die Pflege wie keine andere Berufsgruppe mit dem Tod und der Angst vor dem Sterben konfrontiert. Deshalb muss das Thema in der Ausbildung mehrfach und aus verschiedenen Perspektiven behandelt werden. Dass die ethische Reflexion in der Pflege mehr vom eigenen Handeln im Alltag ausgehen soll als bislang üblich, ist ein wichtiger Grundsatz des hier vertretenen Ethikverständnisses und spielt in dem folgenden Konzept deshalb auch eine wichtige Rolle. Auch Fragen der Kooperation und Kommunikation, die in der Praxis zu Problemen führen, werden oft als Teil der Ethik gesehen. Hier sind zwar ethische Bezüge deutlich erkennbar, die in meinem Konzept in der Benennung des Dia-
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logs als ethisches Prinzip ihren Niederschlag gefunden haben, aber Kommunikationsformen und -störungen sind gleichzeitig auch ein psychologisches und sozialwissenschaftliches Thema. Ähnlich verhält es sich mit dem Thema «Umgang mit Migranten» und deren religiösen und kulturellen Bedürfnissen. Die Beschäftigung mit dem Eigenen und dem Fremden und der Umgang mit Anderssein hat ethische Dimensionen, ebenso die Reflexion über eigene Werthaltungen und Spiritualität; viele Aspekte jedoch, wie konkrete Informationen über andere Religionen, deren Krankheitsverständnis und Sitten, sprengen den Rahmen der Ethik. Ein weiteres an die Ethik angrenzendes Gebiet ist das des Rechts. Die Frage nach dem richtigen Handeln berührt neben Fragen der Moralität auch die der Legalität, da einige der Grenzfragen, die durch die moderne Medizin aufgeworfen wurden, wie etwa die Fragen nach der Berechtigung von Sterbehilfe oder der Reichweite von Patientenverfügungen, noch nicht gesetzlich geregelt sind und deshalb bei denjenigen, die diese Fragen in der Praxis zu entscheiden haben, neben den moralischen Dissensen auch große Unsicherheit über die Rechtslage verursachen. Beim Ausloten dieser Grenzbereiche des «Faches» Ethik werden die Grenzen der Disziplinarität für die Bildung deutlich: «Fächer» sind ebenso wie andere begriffliche Unterscheidungen Konstrukte. Sie sind notwendig, um die Ausbildung und den zu lehrenden Stoff zu strukturieren; entscheidend für konkrete Konzepte sind aber die übergreifenden Perspektiven und Zielhorizonte, in die ein Thema gestellt wird. Im Sinne der übergeordneten Zielorientierung in Gestalt der Schlüsselqualifikationen (fachliche, sozial-kommunikative, methodische und personale Kompetenz) und mit Blick auf das ergänzende Bildungsziel «ethische Kompetenz» ist Ethik für die Pflegeausbildung so zu konzipieren, dass sie einerseits als eigene Perspektive erkennbar und als eigenes Wissensgebiet bestehen bleibt, andererseits aber so mit den anderen für die Pflege wichtigen Fragehorizonten verschränkt wird, dass sie nicht als außerhalb der Pflegepraxis stehend, sondern als mit dieser fest verbunden verstanden wird.
4.2
Konzept des Ethikunterrichts für die Pflegeausbildung Aus dem im zweiten Kapitel entwickelten Verständnis von Ethik als anthropologischer Reflexion der Moral, die auch Aufgabe der Praxis ist, ergibt sich ebenso wie aus den im dritten Kapitel formulierten didaktischen Grundsätzen, dass die Lernenden zur eigenen Urteilsbildung, zur Selbstreflexion und zum Diskurs ermutigt und angeleitet werden sollen. Dies kann entweder durch Rückgriff auf eigene Erfahrungen oder durch Einbeziehung von Fallgeschichten geschehen, auf die die Pflegeausbildung ohnehin zunehmend ausgerichtet ist.
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
Voraussetzung für eine rationale Reflexion sind allerdings einige theoretische Grundlagen, denn die moralische Grundorientierung, die auf der gemeinsam geteilten menschlichen Grundsituation beruht (Verletzlichkeit, Sterblichkeit, Bedürftigkeit) muss bewusst gemacht, theoretisch reflektiert und ggf. kritisiert werden. Ethische Grundbegriffe und Grundlagen ethischer Theorien stellen das für die Urteilsbildung und den Diskurs notwendige Hintergrund- und Orientierungswissen dar. Sie bilden einen Bezugsrahmen, in dem sich mit zunehmender Erfahrung und fortschreitenden Kenntnissen immer mehr Zusammenhänge herstellen lassen. 4.2.1 Ethik in der Pflegeausbildung als Querschnittsthema und als eigenes
Wissensgebiet
Inhalte werden erst durch didaktische Reflexion im Hinblick auf Zielvorstellungen zu Themen, so Klafki. Zum Verhältnis zwischen Bildungszielen und Themen stellt er jedoch klar, dass Themen und Methoden nicht aus Zielen deduziert werden können. In der Begründung der Themenauswahl sollte vielmehr deutlich werden, «daß die Auseinandersetzung mit den vorgeschlagenen Themen […] die Entwicklung der Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit fördern kann. Solches Argumentieren hat den Charakter kritischer Interpretation unter den leitenden Zielvorstellungen. Das ist aber etwas anderes als Deduktion» (Klafki 1996: 118, Hervorh. im Original). Die spezifische Zielorientierung für den Ethikunterricht ist (neben den übergeordneten Bildungszielen) die bereits im 3. Kapitel vorgestellte ethische Kompetenz: «Ethische Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit zur Reflexion, Formulierung und Begründung der eigenen moralischen Orientierungen, die Fähigkeit zum Erkennen moralischer Probleme in der eigenen Praxis, Urteilskraft, Diskursfähigkeit, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Konflikt- und Kompromissfähigkeit und schließlich die Wachheit und den Mut, auch tatsächlich moralisch zu handeln und für die Rahmenbedingungen des eigenen Handelns Mitverantwortung zu übernehmen.»
Die Definition der ethischen Kompetenz geschieht nicht in der Absicht, diesen Kompetenzbereich den anderen hinzuzufügen, sondern das Spezifische der Ethik herauszuarbeiten. Dabei ergeben sich naturgemäß Überschneidungen mit Inhalten vor allem der sozialen und der personalen Kompetenz. Das zentrale Element der ethischen Kompetenz ist jedoch die Reflexionsfähigkeit. Diese kann weniger durch die Auswahl der Themen, als vielmehr durch ihre Kombination und die
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eingesetzten Methoden gefördert werden. Innerhalb der im folgenden Konzept vorgeschlagenen Module werden deshalb stets theoretisches Wissen und Erfahrungs- bzw. Situationsorientierung verbunden. Dabei ist durch geeignete Methoden eine Hin- und Herbewegung zwischen diesen beiden Polen zu ermöglichen. Kriterien der Themenauswahl sind die Bedeutsamkeit für die Lernenden selbst und die Frage nach den benötigten Orientierungen und Fähigkeiten im Blick auf die übergeordneten Ziele. Reine Schülerorientierung reicht also ebenso wenig für eine didaktische Begründung aus wie die ausschließliche Orientierung an den Erfahrungen der Lehrenden. Für die Auswahl der Wissensgrundlagen ist das Prinzip der Exemplarizität wichtig; für Entwicklung von Reflexions-, Urteilsund Diskursfähigkeit können das soziale Lernen in der Gruppe und die Thematisierung von Praxiserfahrungen vor dem Hintergrund des Gelernten genutzt werden. Deshalb wurden hier Themen ausgewählt, die Fragen nach dem richtigen Handeln aufwerfen und geeignet sind, die Pflegenden auch zur Reflexion ihres eigenen Handeln anzuregen, entgegen der verbreiteten Selbstwahrnehmung, dass die Pflege nichts zu sagen und nur wenig Handlungsspielraum habe. Ethik gehört zu den Themen, die auf Grund ihrer universalen Bedeutung für die Professionalität von Pflegenden als Querschnittsthemen anzusehen sind. 204 Weitere Querschnittsthemen, die in den meisten Lerneinheiten der Pflegeausbildung implizit oder explizit aufgegriffen werden sollten, sind Qualität, Organisation und Kommunikation. Diese Aspekte sind inhaltlich eng miteinander verschränkt und weisen Verbindungen zu den Schlüsselqualifikationen auf: So steht fachliche Kompetenz in besonders enger Verbindung zu Qualität, soziale Kompetenz zu Kommunikation, Methodenkompetenz zu Organisation und personale Kompetenz zu Ethik als Reflexion der Moral. Die genannten Querschnittsthemen sollten, wie die Ethik in diesem Konzept, nicht nur als eigener Bereich unterrichtet werden, sondern als Maßstab und übergreifende Perspektive ein Licht auf die verschiedensten Themen und Situationen werfen. Die Hauptelemente der Ethik, die mein Konzept prägen, sind
• der enge Bezug zur philosophischen Anthropologie, besonders im Hinblick auf die Grenzsituationen des menschlichen Lebens, die ethische Fragen aufwerfen und eine Rückbesinnung auf die conditio humana erfordern,
• die sechs ethischen Prinzipien, die im zweiten Kapitel beschrieben werden, besonders das Verhältnis zwischen Fürsorge und Autonomie,
204 Vgl. Hoppe et al. 1995: «Ethik ist kein abgrenzbares Lehrfach wie andere» (S. 3).
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
• die Einübung der ethischen Reflexion, besonders im Hinblick auf konkrete Problemsituationen in der Praxis und auf die Mitarbeit von Pflegenden in Ethik-Gremien (vgl. dazu 6.2.1.2).
Weiteres theoretisches Hintergrundwissen wie Hauptrichtungen der Ethik und der Unterschied zwischen juristischer und moralischer Perspektive werden im Kontext verschiedener Lerneinheiten vermittelt, wobei die Grundbegriffe die Orientierung am Anfang erleichtern, während die Vorstellung verschiedener Konzepte und Ansätze der Ethik, um nicht abschreckend zu wirken, zu einem Zeitpunkt erfolgt, wenn die Schüler/innen schon eigene Diskurserfahrungen mit dem Thema Ethik haben und Bezüge leichter herstellen können. Für das Unterrichtskonzept stellt sich also die Aufgabe, wegen der bisher unklaren Konturen der Ethik in der Pflegeausbildung diese einerseits als eigenen Bereich zu konturieren, andererseits auch als Querschnittsthema mit anderen Inhalten curricular zu verbinden (vgl. Götzelmann 2000: 67). Die Auswahl der Themen folgt damit weder einer ethischen noch einer pflegerischen Fachstruktur, sondern kombiniert die Notwendigkeit von Hintergrund- und Orientierungswissen mit dem eher handlungsorientierten Lernfeldansatz der heute gängigen Curricula.
4.2.2
Struktur des Konzepts
Das Konzept besteht aus neun thematischen Einheiten, die auf unterschiedliche Weise kombiniert bzw. in andere Einheiten integriert werden können. Es gibt zwei Grundlageneinheiten, von denen die erste die Verbindungen zwischen Pflege, Ethik und Anthropologie deutlich macht und die zweite weitere ethische Grundbegriffe und Spezifika der Ethik im Gesundheitswesen wie berufs ethische Kodizes und Klinische Ethik mit Fragen der persönlichen Wertorientierung verbindet. Die zweite Grundlageneinheit vertieft das Hintergrundwissen und ist eher für die zweite Hälfte der Ausbildung geeignet. Diese beiden Einheiten stehen curricular als Orientierungswissen für sich (z. B. als «Ethische Herausforderungen für Pflegende», bei Oelke/Menke als Teilbereich des Themenfeldes IV.2. «Berufliches Selbstverständnis entwickeln»). Für die anderen Einheiten wird – exemplarisch für das Curriulum von Oelke/ Menke – vorgeschlagen, welcher Lerneinheit sie zugeordnet werden können, so dass die Lerneinheiten entsprechend thematisch erweitert werden können. Entsprechende Zuordnungen und Erweiterungen sind unter Nutzung der Spielräume (Verfügungsstunden) und unter Beachtung des Grundsatzes der Exemplarizität auch in den meisten anderen Curricula möglich. Schwieriger wird es, wenn Curricula geschlossen angelegt und sehr kleinschrittig durchgeplant sind, wie etwa das Curriculum «Pflegen können» oder der Bayerische Lehrplan.
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Zusätzlich und vertiefend können und sollten einzelne Themen auch im Kontext der Praxisbegleitung und -reflexion angeboten werden. In jeder thematischen Einheit werden Verbindungen zwischen Problemstellungen der Praxis, allgemeinbildenden Inhalten und Hintergrundinformationen hergestellt. Bei sechs ausgewählten Frageund Problemstellungen werden exemplaAutonomie risch Bezüge zu je einem der ethischen Fürsorge Dialog Prinzipien hergestellt, um diesem im Licht einer konkreten Fragestellung Konturen Würde zu geben. Dies geschieht aus didaktischen Gründen und darf nicht zu dem MissverVerantwortung Gerechtigkeit ständnis führen, dass die ethischen Prinzipien isoliert betrachtet werden können. Das Verständnis der Prinzipien als verschiedene Aspekte des Moralprinzips wird deshalb in der Einführungseinheit geklärt (vgl. auch 2.3.6). Dort wird auch die Würde als Kern dieses Moralprinzips eingeführt, und ihre Verbindung zum Personbegriff aufgezeigt. Die Reihenfolge der Einheiten richtet sich nach den Gegebenheiten der Schule. Grundsätzlich ist es erstrebenswert, die erste Grundlageneinheit im Einführungsblock anzubieten, ebenso wie vermutlich die Einheit 3 als Teil des grundlegenden Lernbereiches I ziemlich am Anfang steht. Das Thema 4 kann gut mit einem Praxisauftrag verbunden werden und hat sich am Anfang der Ausbildung bewährt, weil es grundlegende Fragen anspricht, die viele Auszubildende gerade am Anfang der Ausbildung beschäftigen. 4.2.3 Themen für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung in der Übersicht
Bei der Umsetzung eines Curriculums für eine Ausbildungsstätte ist auch die Verteilung der Einheiten auf die Ausbildungsjahre wichtig. Hier muss experimentiert werden, um eine gute thematische Kombination zu erreichen, Häufungen eines Themas zu verhindern und eine gute Verbindung zum Praxisplan zu gewährleisten. Folgt man der von Oelke/Menke vorgeschlagenen Verteilung (Oelke/Menke 2002: 250–254), so würde sich mit der hier vorgeschlagenen Zuordnung der Ethik-Themen zu inhaltlich passenden Lerneinheiten eine starke Häufung von Ethik im zweiten Ausbildungsjahr ergeben: Dort sind nach dem Planungsvorschlag von Oelke/Menke alle Einheiten von II.1. «Pflege von Menschen in besonderen Lebenssituationen und Problemlagen» vorgesehen, dazu noch I.3.4. «Pflegequalität sichern».
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
Tabelle 4: Themen für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung in der Übersicht Einheit Thema Nr.
Zugeordnet zu Lerneinheit bei Oelke/Menke
Std. à 45 Min.1
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Grundlagen 1: Pflege, Ethik und Anthropologie
IV.2.2. Ethische Herausforderungen für Pflegende
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2
Grundlagen 2: Wertorientierungen und Dialog Quellen der eigenen Wertorientierungen: Religiosität und Spiritualität; Toleranz, Methoden der Falldiskussion und Entscheidungsfindung, Berufsethische Kodizes, Klinische Ethik (Ethik-Komitee, Ethik-Beratung, Ethik-Konsil), Forschungsethik und Ethikkommission
IV.2.2. Ethische Herausforderungen für Pflegende
Verantwortung für das eigene Handeln: Ethische Aspekte von Qualität Umgang mit Fehlern
I.3.4. Pflegequalität sichern
4
Gerechtigkeit: Rechte und Pflichten (theoret. Bezug: Pflichtenethik) Patientenrechte Analyse schwieriger Situationen im Umgang mit Patienten
III.1.1. Pat. im Krankenhaus
4
Fürsorge und professionelle Grundhaltung Paternalismus; Selbstsorge, Selbstaufopferung, Nähe und Distanz; Selbstreflexion
Exemplarisch zu II.1.5 Chron. Kranke oder zu IV.4.6 Nähe und Distanz
Autonomie Aufklärung, informed consent, mutmaßlicher Wille Patientenverfügungen Verletzung der Autonomie durch die Pflege
Exemplarisch zu II.1.6. Tumorkranke Menschen pflegen
Grenzfragen am Anfang des Lebens Behinderung, «Lebenswert», (Spät) Abbruch von Schwangerschaften, PND, PID (wahlweise) Würde und Personsein (theor. Bezug: Ethik des guten Lebens)
II.1.1. Schwangere, Wöchnerinnen und Neugeborene pflegen und/oder zu III.1.8. Behinderte Menschen pflegen
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4 4 4 2 2 (16)
2
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Einheit Thema Nr.
Zugeordnet zu Lerneinheit bei Oelke/Menke
Std. à 45 Min.1
8
Grenzfragen am Ende des Lebens I: Hirntod und Organtransplantation: Allokationsfragen Würde und Personsein
II.2.8. Menschen mit Erkrankungen des Harnsystems pflegen
6–8
Grenzfragen am Ende des Lebens II: Sterbehilfe Ablehnung oder Beendigung der Ernährung
II.1.2. Sterbende Menschen pflegen
8
Gesamt
72–76
9
1 Die in der Pflegeausbildung übliche Unterrichtsstunde hat 45 Minuten. Meist sind Doppelstunden die kleinste Stundenplaneinheit.
Es ist sicher sinnvoll, im ersten Jahr mehr als nur die Grundlageneinheit anzubieten. Die Einheit 4 hat sich dort gut bewährt, zumal sie mit einem Arbeitsauftrag verbunden werden kann, zu dem die Auszubildenden im ersten Jahr noch mehr Zeit und Motivation haben als später. Das Thema Tod und Sterben beschäftigt die Auszubildenden von Anfang an; es ist deshalb sinnvoll, die entsprechenden Einheiten über die Ausbildung zu verteilen, so dass das Thema mehrfach unter verschiedenen Gesichtspunkten angesprochen wird. Wenn hier davon die Rede ist, die vorgeschlagenen thematischen Einheiten mit Lerneinheiten aus dem OelkeCurriculum zu kombinieren, so heißt das nicht unbedingt, dass sie in direktem Zusammenhang mit den Einheiten oder als Teil der Einheiten angeboten werden müssen. Denkbar ist auch eine zeitliche Nähe, etwa im folgenden Unterrichtsblock. Meist ist es allerdings sinnvoll, die pflegefachlichen, medizinischen, rechtlichen und sonstigen Grundlagen vor der Ethik-Einheit einzuplanen. Erläuterungen zu den Themen 4.2.3.1 Pflege, Ethik und Anthropologie (Grundlagen 1)
Diese Einheit wird in Kapitel 5 ausführlich dargestellt und umfasst nicht nur eine Einführung in die Ethik, sondern versucht darüber hinaus, Ethik und Anthropologie als grundlegende Perspektiven der Pflege deutlich zu machen.
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
4.2.3.2 Wertorientierungen und Dialog (Grundlagen 2)
Ziel dieser weiterführenden Einheit ist es, den Dialog als ethisches Prinzip und als Element sowohl des persönlichen als auch des beruflichen Ethos mit Bedeutung zu füllen. Kommunikation ist wie Ethik ein Querschnittsthema, das die gesamte Ausbildung prägen sollte. Hier kann der Zusammenhang mit ethischen Fragen aufgezeigt werden: Der Mangel an dialogischem Verhalten verursacht regelmäßig ethische Probleme im Gesundheitswesen. Unter dem Gesichtspunkt der Allgemeinbildung bietet die Einheit die Möglichkeit, Einblick in entsprechende ethische Theorien wie die Diskursethik und das dialogische Prinzip Martin Bubers zu geben. Die Einheit kann in der Mitte oder gegen Ende der Ausbildung unterrichtet werden, wenn die Auszubildenden eigene Erfahrungen mit ethischen Diskussionen und Analysen machen konnten, z. B. durch Fallbesprechungen und die Analyse selbst erlebter Situationen, wie sie in der Leistungskontrolle zur Einheit 4 vorgesehen ist, oder in Ethik-Gremien. Diskurs und Reflexion werden als eigenes Thema in den Blick genommen – dabei wird vorausgesetzt, dass sie in anderen Zusammenhängen schon am Anfang der Ausbildung besprochen wurden, etwa in Form von Verabredungen über Diskussionsregeln, Arbeiten in Gruppen und Umgang mit Feedback. Die Pflege ist ein Tätigkeitsfeld, in dem regelmäßig persönliche und existenzielle Krisen zu bewältigen und zu begleiten sind. Die Bewusstmachung der Quellen eigener Wertorientierungen und der dialogische, wertschätzende Austausch über solche Orientierungen ist für die Helfer emanzipatorisch und bildet eine Voraussetzung dafür, mit den Wertorientierungen anderer respektvoll umzugehen und sich in der beruflichen und institutionellen Zusammenarbeit konstruktiv, selbstbewusst und dialogförmig zu verhalten. Ausgehend von Problemen der Entscheidungsfindung kann die Frage nach den persönlichen Wurzeln von Wertorientierungen entwickelt werden. Der Austausch über religiöse und spirituelle Orientierungen und Erfahrungen ist für viele fast ein Tabu. Erfahrungsgemäß wird die Gelegenheit zu einem solchen Austausch aber mit viel Engagement angenommen. Hier können die Lehrenden sich vom Bild der Hin- und Herbewegung leiten lassen: Vom persönlichen Engagement kann der Blick wieder auf die Strukturen ethischer Diskurse wandern, den Diskutierenden sollte Distanz zu der eigenen Überzeugung ermöglicht werden, z. B. in dem diese theoretisch eingeordnet wird (z. B. Regel-Maxime-Prinzip). Wenn theoretische Begriffe und Strukturen anhand der konkreten Beispiele deutlich geworden sind, kann die Aufmerksamkeit wieder zu ihrer Bedeutung für das Gelingen z. B. einer kontroversen Diskussion in der Praxis gehen. Distanz zu Meinungen, sorgfältige Begründungen, aber auch Wertschätzung aller Diskussionsbeiträge sind Ansatzpunkte für das Gelingen praktischer Diskurse.
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Es soll deutlich werden, dass ethische Grundüberzeugungen zum persönlichen, durchaus vulnerablen Bereich gehören. Dies ist auch der Grund für die emotionale Aufgeladenheit mancher Debatten im beruflichen Feld. Gleichzeitig gehört der reflektierte Umgang mit eigenen Gefühlen und Wertvorstellungen zur professionellen Kompetenz, überschreitet also die bloß persönliche Sphäre. Anhand einer Falldiskussion205 wird die Problematik der klinischen Entscheidungsfindung verdeutlicht. Einige Ansätze und Modelle hierzu werden vorgestellt; eventuelle Erfahrungen mit Klinischer Ethik (Ethikberatung, ethische Fallbesprechungen im Team, Ethik-Komitee, Ethik-Kommission) aus den praktischen Einsätzen können einbezogen werden. Dies kann durch einen entsprechenden Arbeitsauftrag vorbereitet werden. Wenn mehr Zeit vorhanden ist, können (z. B. im Rahmen eines Projekts) gezielt solche Gremien und Veranstaltungen von Auszubildenden besucht werden, unterstützt durch eigenständige Lektüre zum Thema, etwa zu Entscheidungsmodellen oder zur Moderation von Falldiskussionen. Im Rahmen eines Projekts oder in einer der folgenden Einheiten sollen die Schülerinnen selbst in kleineren Gruppen erste Versuche machen, eine Diskussion anhand eines vorgegebenen einfachen Modells zu moderieren. Wichtig ist dabei, dass eine Lehrerin quasi als Ko-Moderatorin dabei ist und Hilfestellungen gibt, wenn eine Schülerin als Moderatorin nicht mehr weiter kommt, und dass die Moderation mit denjenigen nachbesprochen wird, die sich darin versucht haben.
205 Wenn es zeitlich möglich ist, ist hier eine sequenzierte Diskussion zu empfehlen, wie sie die von Sponholz/Baitsch entwickelte «Ulmer Methode» vorsieht. Eine reale Fallgeschichte wird – möglichst von einem Beteiligten – unter Anleitung einer in der Methode erfahrenen Moderatorin vorgestellt. Dabei werden immer dann Unterbrechungen vorgesehen, wenn eine (auch scheinbar kleine) Entscheidung zu treffen ist. Die Gruppenmitglieder werden jeweils aufgefordert, eine begründete Entscheidung zu treffen. Erst dann wird der tatsächliche Fortgang der Geschichte berichtet. Diese Methode hat den Vorteil, dass der von vielen in der Praxis erlebte Entscheidungsdruck hier nachempfunden wird. Es wird nicht nur diskutiert und Empfehlungen abgegeben, sondern die Teilnehmerinnen werden aufgefordert, tatsächlich eine Entscheidung zu formulieren, wie vorläufig und korrekturbedürftig sie auch immer sei. Für den Einsatz dieser Methode ist eine entsprechend geschulte Moderatorin nötig; sie dauert mindestens 4 Stunden, besser ist jedoch ein ganzer Tag (vgl. Sponholz/Baitsch 1998: 192–198).
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
4.2.3.3 Verantwortung für das eigene Handeln
Verantwortung ist eine notwendige Bedingung für berufliche Eigenständigkeit und damit für Professionalisierung. Für Auszubildende wie auch für viele Pflegende liegt das Thema allerdings zunächst etwas fern, da sie sich nicht selten als fremdbestimmt und wenig einflussreich erleben. Erfahrungsbezogene Zugänge206 können Perspektivenwechsel ermöglichen und für die oft verkannte Macht der Pflege sensibilisieren. So können Schülerinnen erleben, dass aus der Sicht eines kranken Menschen auch eine Auszubildende als Teil des mächtigen Systems Krankenhaus wahrgenommen wird. Das Thema der moralischen Verantwortung von Pflegenden wird bisher zu wenig explizit behandelt. Dabei ist es besonders vor dem Hintergrund der Geschichte wichtig: Das Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschende Pflegeethos des Dienens und Gehorchens ließ für persönliche Verantwortung wenig Raum und erleichterte die Überschreitung der Grenze zur Inhumanität der Patiententötungen im Nationalsozialismus. Das Thema hat viele Facetten und kann in dieser Einheit nur exemplarisch in einigen Aspekten beleuchtet werden. Dabei bietet sich an, Verantwortung im Kontext mit dem Thema Qualität zu behandeln (Oelke/Menke I.3.4. «Pflegequalität sichern»). Der enge inhaltliche Zusammenhang zwischen Qualität und Ethik, der im sechsten Kapitel dieser Arbeit noch ausführlicher dargestellt wird, soll auch in der Ausbildung deutlich werden. Der Kontext mit Qualität ist deshalb sinnvoll, weil Verantwortung einerseits als persönliche Verantwortung verstanden und wahrgenommen werden soll, andererseits aber auch die institutionelle Bedingtheit von Qualität und damit von Freiräumen zu moralischem Handeln hier gut deutlich zu machen ist. Wenn Pflege als eigenständige Profession wahrgenommen werden will, muss sie für den eigenen Handlungsbereich auch Verantwortung übernehmen. Qualitätsentwicklungsprogramme sind häufig recht formal und systematisch angelegt und lassen damit nur wenig Raum für das subjektive Qualitätsempfinden des Patienten, das sich an anderen Kriterien orientiert als das der Professionellen. Ein oft vernachlässigtes Thema im Zusammenhang mit Qualität ist der Umgang mit Fehlern, der in den meisten Curricula bisher nicht erwähnt wird. Hier zeigen sich besonders deutlich die engen Verbindungen zwischen den Querschnittsthemen Qualität und Ethik, aber auch mit Kommunikation und Organisation, da die Rahmenbedingungen die Entstehung von Fehlern entscheidend mit bedingen. Fehler werden nicht nur den Patienten verschwiegen, sondern sie sind auch ein Tabuthema unter Pflegenden und Ärzten. Auch hat schlecht funktionierende Organisation – im Zweifel ist keiner zuständig – schon schwerwiegende Fehler verursacht. Der Umgang mit Fehlern wird entscheidend von der Kultur 206 Rollenspiel, szenisches Spiel, zu letzterem vgl. 3.3.3.4.
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des Arbeitsumfeldes bestimmt: Kann man Fehler eingestehen oder andere auf Fehler ansprechen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen? Ein anderer wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit verantwortlichem Handeln ist der Umgang mit schwierigen Patienten und, damit zusammenhängend, das Thema Gewalt in der Pflege. Es wird hier deshalb nicht explizit einbezogen, weil in dem Curriculum von Oelke/Menke dafür – im Kontext des Themenfeldes «Mit schwierigen sozialen Situationen umgehen» – mehrere Lerneinheiten vorgesehen sind: «Macht und Hierarchie», «Angst, Aggression und Abwehr», und «Gewalt in der Pflege» (je 8 Std.).207 4.2.3.4 Rechte und Pflichten
Das Thema Rechte und Pflichten hat, auf das Handlungsfeld der Pflege zugeschnitten, eine hohe Gegenwartsbedeutung für die Auszubildenden, die sich aufgrund ihrer Vorerfahrungen in Praktika z. B. mit «schwierigen» Patient/innen oft fragen, welche Rechte und Pflichten zunächst sie selbst haben. Die Frage der Schüler/innen ist eigentlich: haben Patienten denn nur Rechte und Pflegende nur Pflichten?208 Die Auszubildenden sehen oft die strukturelle Asymmetrie in der Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten noch nicht, weil sie sich selbst nicht als mächtig, sondern vielmehr als in der Hierarchie weit «unten» stehend erleben. Die Pflegebeziehung ist keine Beziehung zu einem Kunden, der frei ein Angebot auswählt, sondern eine Beziehung zu einem oft existenziell erschütterten, jedenfalls aber verunsicherten Menschen. Die Asymmetrie besteht auch im Hinblick auf Wissen um die Krankheit und geeignete Diagnose- und Therapieoptionen sowie bezüglich der Möglichkeit, Abläufe zu gestalten. Die grundsätzliche Asymmetrie in der Pflegebeziehung bewusst zu machen ist ein leitendes Ziel dieser Einheit. Gerechtigkeit ist für junge Menschen ein sehr wichtiges Prinzip, das aber in seiner Bedeutung ebenso klärungsbedürftig ist wie die anderen Prinzipien. Es wird deshalb exemplarisch dieser Einheit zugeordnet, weil beim Thema «Rechte und Pflichten» wegen des scheinbaren Übergewichts von Rechten für die Patienten und von Pflichten für das Personal die Gefahr von Missverständnissen besteht. Die moralische Bedeutung der strukturellen Asymmetrie zwischen Patienten und Pflegenden muss als Grund der besonderen professionellen Verantwortung aller Helferberufe verstanden werden, damit klar werden kann, dass Gerechtigkeit 207 Die Fallgeschichte «Der Klaps» (AG Pflege 2005: 110) eignet sich gleichwohl sehr gut für diese Einheit, da anhand dieser Geschichte auch Aspekte des Umgangs mit Fehlern und der Einfluss der institutionellen Verantwortungsebene thematisiert werden können. 208 ���������������������������������������������������������������������������������������� Darmann zeigte vier Strukturen pflegerischer Interaktion auf, die im Kontext dieser Einheit gut aufgegriffen werden können: Macht der Pflegekräfte, Entscheidungsfreiheit der Patienten, Druckmittel der Patienten, Entscheidungsfreiheit der Pflegekräfte (Darmann 2000: 220).
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
hier nicht Gleichheit bedeutet. Dies zeigt einmal mehr, dass die Prinzipien nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Die exemplarische Zuordnung zu einer thematischen Einheit, für die das jeweilige Prinzip besonders einschlägig ist, ist nur sinnvoll, wenn die Klärung des Prinzips im Lichte der anderen Prinzipien erfolgt. In Bezug auf Allgemeinbildung und Hintergrundwissen ist der Unterschied zwischen Recht und Moral von Bedeutung. Erarbeitet wird vor allem die moralische Perspektive der Rechte und Pflichten, die Pflegende und Patienten im Hinblick auf die anfangs eingeführten sechs ethischen Prinzipien haben; dabei stellen sich aber regelmäßig auch juristische Fragen, anhand derer der Unterschied zwischen moralischer und juristischer Perspektive verdeutlicht werden kann. Es bietet sich durchaus an, die Einheit in die zeitliche Nähe von Unterricht über rechtliche Fragen zu stellen. Außerdem sollen die Auszubildenden die 1999 gemeinsam von verschiedenen Organisationen unter Federführung der Bundesministerien für Justiz und Gesundheit herausgegebene Charta der Patientenrechte kennen lernen und kritisch diskutieren.209 Methodisch ist ein erfahrungsbezogener Zugang durch Situationsstandbilder mit szenischem Spiel möglich, mit denen am Anfang des Blocks Erlebnisse aus den Einsätzen dargestellt werden. Die Situationen werden dokumentiert und können in verschiedenen Unterrichten aufgegriffen werden. Für den Ethikunterricht werden eine oder mehrere Situationen ausgewählt, die sich unter dem Aspekt der Rechte und Pflichten analysieren lassen. Dabei wird gezeigt, wo sich die juristische und die moralische Perspektive überschneiden, und wo sie unterschiedlich sind. Für die Analyse wird den Schüler/innen eine Struktur angeboten, die sich an den ethischen Prinzipien ausrichtet. Sie formulieren anhand der von ihnen diskutierten Situation Rechte und Pflichten der Beteiligten. Die gesammelten Ergebnisse werden in eine schon vorhandene Zusammenstellung210 eingearbeitet und als Arbeitsergebnis verteilt. Hierauf lässt sich gut ein Arbeitsauftrag für die Praxis aufbauen, in dem die Auszubildenden aufgefordert werden, eine selbst erlebte schwierige Situation schriftlich zu beschreiben und zu analysieren. Für die Arbeit wird ein schriftlicher Auftrag erteilt; sie kann benotet werden. Für die Besprechung des Arbeitsauftrages ist im darauf folgenden Unterrichtsblock eine Doppelstunde einzuplanen. Erfahrungsgemäß werden die Berichte und Analysen engagiert und in guter Qualität ausgeführt; sie sollten deshalb zur Weiterarbeit genutzt werden, z. B. in der Form, dass die Schüler/innen in Zufallsgruppen einander ihren «Fall» und 209 www.bmj.bund.de/media/archive/226.pdf (25. 5. 08) sowie spezifische Verlautbarungen einzelner Kliniken, z. B. www.charite.de/fileadmin/user_upload/portal/charite/organisation/download/Patientenkodex01.pdf (25. 5. 08). 210 Anhang 3: Prinzipienschema zu Rechte und Pflichten, Arbeitsauftrag.
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ihre Analyse vorstellen und jede Gruppe einen Bericht auswählt, der im Plenum vorgestellt und ggf. näher besprochen wird. 4.2.3.5
Fürsorge und professionelle Grundhaltung
Die Bewusstmachung des eigenen Ethos und das Nachdenken über eine moralisch reflektierte, professionelle Grundhaltung von Pflegenden wird hier mit dem Prinzip der Fürsorge verbunden, die viele als Essenz des Pflegerischen ansehen, die aber oft im Sinne von Bevormundung und Bemutterung missverstanden wird. Fürsorge als ethisches Prinzip soll vor allem in seiner engen Verschränktheit mit den Prinzipien Autonomie und Würde verstanden werden. Das ist aus der Perspektive von Schülerinnen ein recht abstraktes Thema, zumal der Begriff Fürsorge gerade für junge Menschen ambivalent sein und mit Bevormundung gleichgesetzt werden kann, die einige von Eltern oder anderen Erwachsenen erlebt haben und erleben. Deshalb muss die Bedeutung der Fürsorge für die Pflege anhand konkreter Fragestellungen des Pflegealltags geklärt werden. Hier wird die exemplarische Verbindung mit der Einheit «Chronisch kranke Menschen pflegen» (Oelke/Menke II.1.5.) vorgeschlagen. Diese gehört zum Themenfeld «Menschen in existenziellen Lebenssituationen und/oder gesundheitlichen Problemlagen pflegen». Im Umgang mit chronisch Kranken entstehen oft Differenzen zwischen dem, was pflegefachlich als richtig gilt und den individuellen Lösungen, die Patienten für sich selbst bzw. gemeinsam mit den Angehörigen gefunden haben, d.h. die professionelle Fürsorge wird von den Patienten in Frage gestellt. Pflegende reagieren darauf nicht selten ablehnend und fühlen sich in ihrer Fachkompetenz nicht ernst genommen. Solche Konflikte haben die meisten Schüler/innen schon erlebt und sie können darüber einen Zugang zum Thema gewinnen und dabei lernen, «das ��������������������������������������������������� pflegerische Handeln nicht nur in seinen prinzipiellen Erfordernissen, sondern auch in seinen Modifikationsnotwendigkeiten und Variationsmöglichkeiten» (Oelke/Menke 2002: 168). Als Fallgeschichte dazu eignen sich z. B. verschiedene Ausschnitte aus Doris Lessings «Das Tagebuch der Jane Somers» (vgl. dazu Kohlen 2005: 178). Das ethische Problem der Spannung zwischen Autonomie und Fürsorge bietet Anlass zum Nachdenken über eine professionelle Grundhaltung, die zum angemessenen Umgang mit Anderssein befähigt und eine kritische Reflexion des üblichen pflegerischen Ethos voraussetzt. Da es um Haltungen geht, bietet sich zusätzlich eine Verbindung zu erfahrungsorientierten Einheiten an, in denen mit szenischem Spiel gearbeitet wird (z. B. IV.4.5. «Helfen und Hilflos-Sein» oder IV.4.6. «Nähe und Distanz»), oder es werden die selbst erlebten Situationen, in denen Patienten sich pflegerischer Fürsorge widersetzen, szenisch dargestellt und ausgewertet. Die genannten erfahrungsorientierten Einheiten illustrieren die Notwendigkeit von Selbstreflexion und Selbstsorge als Voraussetzung einer guten, d. h. die Würde und Autonomie respektierenden Fürsorge.
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
Theoretisch kann der Zusammenhang zwischen Fürsorge und Selbstsorge mit Hilfe von Texten verdeutlicht werden, wobei in jedem Fall der Begriff und die Problematik des Paternalismus thematisiert werden sollte. Beim Nachdenken über eine professionelle Grundhaltung zeigt sich die enge Verbindung zwischen personaler Kompetenz und Professionalität. 4.2.3.6 Autonomie
Jede/r kennt Geschichten über mangelhafte Aufklärung von Kranken über ihre Diagnose oder über die geplante Therapie. Für Pflegende sind diese Erfahrungen nicht selten konflikthaft, da sie mit den Fragen der unzureichend aufgeklärten Patienten und deren emotionalen Reaktionen auf schlechte Nachrichten bzw. unsensibel geführte Gespräche konfrontiert sind. Die Frage der Aufklärung ist deshalb ein guter Aufhänger für das Thema Autonomie. Dabei geht es nicht nur um die ärztliche Aufklärung, sondern auch um die Rolle der Pflegenden bei und nach einem Aufklärungsgespäch. Da Pflegende juristisch nicht zu eigenständiger Aufklärung befugt sind, nehmen vor allem Auszubildende häufig an, sie müssten Gespräche über diese Themen verweigern. Gerade hier ist jedoch auch die Anwaltsfunktion der Pflegenden wichtig: Sie können und dürfen Patienten ermutigen, sich über ihre eigenen Wünsche klar zu werden und sie dabei unterstützen und beraten – ein Beispiel für fürsorgliches Handeln zur Förderung der Autonomie. Im Zusammenhang mit Aufklärung kommt den Angehörigen eine wichtige Rolle zu: Sie können die Patienten dabei unterstützen, ihren eigenen Weg zu suchen und dabei ein wichtiger Mittler und Ansprechpartner für Ärzte und Pflegende sein. Nicht selten bitten die Angehörigen jedoch darum, die Patien ten nicht über eine schlimme Diagnose aufzuklären, und Ärzte geben dem nach, obwohl dies rechtswidrig ist.211 Rechtswidrig ist es bereits, wenn Ärzte die Angehörigen ohne ausdrückliche Erlaubnis des Patienten überhaupt über deren Diagnose informieren. Trotzdem kommt das regelmäßig vor und stellt die Pflegenden vor ethische Fragen: dürfen und müssen sie daran mitwirken, dass dem Patienten die Wahrheit verschwiegen wird, auch wenn er danach fragt? Die Diagnose «Krebs» gilt als Inbegriff der schlimmen Diagnose, die die Patien ten auch mit der Frage konfrontiert, wie sie (nicht) sterben wollen. Deshalb wird diese Einheit exemplarisch der Lerneinheit «Tumorkranke Menschen pflegen» (Oelke/Menke II.1.6.) zugeordnet.
211 Die Geschichte «Bald bist du wieder zu Hause» (AG Pflege 2005: 51 f.) beschreibt einen solchen Fall und ist für diese Einheit auch deshalb gut geeignet, weil sie zum Nachdenken darüber anregt, dass Autonomie auch in den Formen respektiert werden muss, die den Vorstellungen der Pflegenden nicht entsprechen.
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Das Thema Autonomie hat im Gesundheitswesen eine hohe Aktualität, da viele rechtliche Fragen zur Zeit noch ungeklärt sind. Eine gesetzliche Regelung der Handhabung von Patientenverfügungen ist in nächster Zeit zu erwarten. Anhand der Kontroverse um die Reichweite von Patientenverfügungen können verschiedene Konzepte von Autonomie verdeutlicht werden. Die Auszubildenden sollen Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung als Möglichkeiten kennenlernen, wie Patienten ihren Willen für die letzte Lebensphase im voraus schriftlich formulieren können. Dabei können einige der momentan vorhandenen Formulare vorgestellt werden. Ein eigener Versuch, diese auszufüllen, macht den Auszubildenden die Problematik von Vorausverfügungen für eine Situation deutlich, von der man nicht wissen kann, wie man sie erlebt. Das Problem der Autonomie stellt sich aber auch für das Handlungsfeld der Pflege. Ziel der Einheit ist es deshalb auch, die Auszubildenden für Autonomieverletzungen durch die Pflege zu sensibilisieren.212 Bei Pflegetätigkeiten wird meist eine stillschweigende Einwilligung vorausgesetzt; dennoch gibt es regelmäßig Widerstände von Patienten z. B. gegen Körperpflege, Mobilisation, Essen und Trinken. Wie mit diesen dialogisch und respektvoll umgegangen werden kann, muss auch im Kontext der entsprechenden Lerneinheiten des Themenfeldes «Körpernahe Unterstützung leisten» (Oelke/Menke I.1.) besprochen werden.213 Das vorherrschende begrenzte, verabsolutierende Verständnis von Autonomie als Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sollte für seine Betrachtung als ethisches Prinzip kritisch hinterfragt werden. Gleichzeitig ist der Reduktion des Themas auf Fragen der Aufklärung und des Umgangs mit Patientenverfügung ein durch Einbeziehung der anderen Prinzipien reflektiertes Verständnis von Autonomie entgegenzusetzen, das sie in enger Verbindung mit dem Prinzip der Würde und Personalität sowie mit Blick auf die grundsätzliche Verwiesenheit jedes Menschen auf Gemeinschaft konzipiert. 4.2.3.7 Grenzfragen am Anfang des Lebens
Hier geht es um eine existenzielle Grundfrage, die ebenso wie die Grenzfragen am Ende des Lebens für die Auszubildenden fundamentale Bedeutung hat. Viele haben schon einmal in der Familie oder im Freundeskreis eine solche Grenzproblematik miterlebt. Dies gilt besonders für Schwangerschaftskonflikte, da die meisten Auszubildenden in einer Lebensphase sind, in der sie sich bezüglich 212 Als Texte dazu eignen sich Ausschnitte von Elsbernd/Glane 1996 und Bobbert 2002. 213 Oelke/Menke weisen im didaktischen Kommentar auf diese Aspekte hin: Ziel sei es, «die SchülerInnen dafür zu sensibilisieren, die Machtposition, die sie als Pflegende gegenüber von ihnen abhängigen Menschen einnehmen, verantwortungsbewusst und wertschätzend auszulegen.» Pflegerische Verrichtungen müssten entsprechend der Situation der Pflegebedürftigen und «ihrer Bedürfnisse, Vorlieben und Abneigungen, Wünsche und Willensbekundungen» variiert und modifiziert werden (Oelke/Menke 2002: 137 f.).
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
Familie und Partnerschaft orientieren, so dass diese Themen naturgemäß eine besondere persönliche Bedeutung haben. Deshalb können hier auch unerwartete emotionale Reaktionen auftreten. Meist wird aber die Gelegenheit zum Austausch gerade deshalb lebhaft wahrgenommen, weil es in der zunehmend säkularen Lebenswelt der Auszubildenden sonst keine Räume und Gelegenheiten dafür gibt. Fundamentale Bedeutung hat auch der Begriff der Würde als Grundlage der Ethik und der Rechtsordnung, der hier im Kontext konkreter medizinethischer Fragestellungen besprochen wird. Anhand eines Fallbeispiels (z. B. Schöffler et al. 1998: 64 f.) oder einer Diskussion über umstrittene medizinische Praktiken wie Pränataldiagnostik, später Schwangerschaftsabbruch oder Präimplantationsdiagnostik (dabei exemplarisch eine auswählen) wird der Anfang des Lebens als ethische Grenzsituation herausgearbeitet (vgl. unter 2.3). Die Fragen, wann das menschliche Leben beginnt, ab wann es geschützt werden muss und welche Praktiken ethisch problematisch sind, führen zu der Frage nach der Würde und Personalität des Menschen. Das Prinzip der Würde wird im Zusammenhang mit den Themen besonders thematisiert, die sich mit Grenzfragen befassen (in diesem Konzept die Einheiten 7, 8 und 9), weil sich bei diesen besonders die Frage nach der Schutzwürdigkeit des Menschen um seines Menschseins willen stellt. Bei der Einheit, die zeitlich als erste angeboten wird, sollte der Begriff der Würde einführend vertieft werden. Für die Einheit 7 werden verschiedene Personkonzepte vorgestellt und mit eigenen Vorstellungen der Auszubildenden verglichen. Dabei geht es besonders um die Fragen, ob und mit welcher Begründung Menschen als Person betrachtet werden, was Würde beinhaltet und wie sie mit dem Personbegriff zusammenhängt. Das kann mit Hilfe von Texten erarbeitet oder anhand eines Lehrervortrags diskutiert werden. Dabei ist im Sinne der Hin- und Herbewegung zwischen Erfahrung und Theorie die wiederholte Bezugnahme auf die Fallgeschichte oder eine von Schülern erlebte Situation sinnvoll. Als Ergänzung zu der Diskussion der genannten medizinethischen Probleme ist wiederum eine Rückbesinnung auf das Handlungsfeld der Pflege sinnvoll. Die Anerkennung des Anderen als Person, auch wenn er schwach, bedürftig oder behindert ist, bestimmt das Ethos der Pflege. Hier sind kritische Rückfragen an die Pflegepraxis angebracht, damit nicht der Eindruck entsteht, dass Bedrohungen der Würde auf die Medizin begrenzt bleiben. Die Schüler/innen finden selbst Beispiele dafür, wo Patienten durch Pflegende entmündigt oder zur Nummer gemacht werden, wo also falsch verstandene Fürsorge zur Verletzung der Würde und Autonomie führt. Dabei soll die enge Verbindung zwischen den Prinzipien deutlich werden, in deren Zentrum die Würde steht. Die Einheit wird im Kontext der Lerneinheit «Schwangere, Wöchnerinnen und Neugeborene pflegen» (Oelke/Menke II.1.1.) angeboten. Erfahrungen aus
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den Praxiseinsätzen können hier ebenso aufgegriffen werden wie andere Fallgeschichten, die in der jeweiligen Schule für diese Einheit entwickelt wurden. 4.2.3.8 Grenzfragen am Ende des Lebens I: Hirntod und Organtransplantation
Das Thema Organtransplantation ist in den Medien sehr präsent, es wird kontrovers diskutiert. Dass die vom Hirntod Betroffenen nicht selten junge Menschen nach einem Verkehrsunfall (Motorrad!) sind, schafft eine zusätzliche Aktualität des Themas für die Auszubildenden. Ziel der Einheit ist es, die Argumente der Debatte kennenzulernen, bei der zwei Ebenen unterschieden werden: die existenziell-ethische Frage, ob ein Hirntoter wirklich tot ist, die Frage also nach dem Hirntod als Grenzsituation, und die praktisch-moralischen Fragen, ob und unter welchen Bedingungen man Hirntoten Organe entnehmen darf, wie sie zu verteilen sind, ob und unter welchen Umständen Lebendspende zulässig sein sollte und wie eine Einwilligung erfolgen kann. Den beiden Dimensionen des Themas entsprechen verschiedene Aspekte seines Bildungsgehaltes: als Grundund Grenzfrage hat es fundamentale, als praktische Frage exemplarische und aufklärerische Bedeutung. Um die verschiedenen Ebenen bewusst zu machen, die in den Debatten oft durcheinander gebracht werden mit der Folge, dass sich die Argumente nicht aufeinander beziehen, werden die Schülerinnen am Anfang dazu aufgefordert, einen Satz oder eine Frage einzubringen, die sie bei diesem Thema besonders bewegt. Die Beiträge der Schüler können dann den beiden Ebenen zugeordnet werden; meist überwiegen die praktischen Fragen wie etwa die nach der Organverteilung, Organhandel und der Verbindlichkeit der Willensäußerung im Organspendeausweis. Gesetzliche Fragen (Transplantationsgesetz) und die erwähnten praktischen Fragen sollten soweit möglich vorab geklärt werden und im Seminar nicht zu viel Raum einnehmen. Bei diesem Thema kann gut mit Filmen gearbeitet werden, da es medial sehr präsent ist. Es gibt hier typische Pro- und typische Kontrafilme, die die jeweilige Position mit filmischen Mittel darstellen.214 Zur Betrachtung der Filme gibt es einen Arbeitsauftrag, in dem nach eigenen Gefühlen gefragt wird, die der Film auslöst, aber auch zur Beobachtung der filmischen Mittel angeregt wird, mit denen bestimmte Schlussfolgerungen nahegelegt oder Stimmungen erzeugt werden (Musik, Perspektive, Tempo der Schnitte etc.). Den Abschluss kann als Leistungsnachweis eine schriftliche Argumentationsübung bilden. Dabei müssen die Schüler sowohl zur Hirntod-Debatte als auch 214 Zum Beispiel Bernd und Heidi Umbreit 1995 «Tod auf der Warteliste» («Pro»), Dieter Stengel, (ARD) 1993 «Ich pflege tote Patienten» («Kontra»). Einen anderen Zugang bietet Pedro Almodovar «Alles über meine Mutter», vgl. dazu Schmidt 2005: 182 ff.
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
zur Transplantations-Debatte je ein Pro- und Kontra-Argument formulieren, eine Übung sowohl der schriftlichen Ausdrucksfähigkeit als auch der Argumentationsfähigkeit, mit der überdies die Fähigkeit zur Differenzierung der beiden verschiedenen Inhaltsebenen des Themas erfasst wird. 4.2.3.9 Grenzfragen am Ende des Lebens II: Sterbehilfe, Therapiebegrenzung
Der Umgang mit Tod und Sterben ist ein existenzielles Thema mit fundamentaler Bedeutung für die Gesundheitsberufe. Wurde es früher oft erst am Ende der Ausbildung behandelt, so ist inzwischen die Einsicht verbreitet, dass es eines der Themen ist, die Auszubildende besonders drängend interessieren und nicht selten auch persönlich belasten. Daher ist es sinnvoll, Sterben und Tod mehrmals unter verschiedenen Gesichtspunkten zu thematisieren. Ein eher sozialpsychologischer Schwerpunkt ist die persönliche Bewältigung, das eigene Erleben, sowie die Betreuung und Begleitung von Sterbenden. Die im engeren Sinn ethischen Fragen stellen sich vor allem mit der Frage nach den Grenzen des Lebens und der Zulässigkeit von Therapiebegrenzung und Sterbehilfe. Das Thema wird hier exemplarisch der Lerneinheit «Sterbende Menschen pflegen» zugeordnet (Oelke/ Menke II.1.2.); es kann aber auch sinnvoll sein, die Einheit zu teilen, damit es nicht zu einem Überdruss an diesem wichtigen Thema kommt. Das Thema wird, ähnlich wie die Themen Schwangerschaftsabbruch und Organtransplantation, oft sehr emotional diskutiert, so dass die meisten Menschen dazu eine Meinung haben, sich aber nicht immer Gedanken über Begründungen gemacht haben. Im Sinn der Förderung der Reflexions- und Diskursfähigkeit ist das Ziel bei diesen kontroversen Themen, dass die Auszubildenden die wichtigsten Pro- und Kontra-Argumente in der Debatte und ihre ethischen Begründungen kennen, ihre eigene Meinung ethisch begründen und mit abweichenden Meinungen respektvoll umgehen können. Als Arbeitsform bietet sich wiederum ein Seminartag an. Geeignete Fallbeispiele sind der «Kemptener» oder der «Traunsteiner» Fall,215 beides Fälle von Sterbehilfe durch Abbruch der Ernährung, die ein gerichtliches Nachspiel hatten. Neben durchaus bedeutsamen Unterschieden liegt eine wichtige Gemeinsamkeit der beiden Fälle darin, dass Pflegende eine wichtige Rolle spielten, die unter Hinweis auf ihr Berufsethos die Mitwirkung an der Einstellung der Ernährung verweigerten. So kann eine Nähe zum Erleben der Schülerinnen hergestellt werden. 215 ������������������������������������������������������������������������������������ Eine Beschreibung des Kemptener Falles ist in AG Pflege 2005: 99; eine ethische Kommentierung aus der Sicht der Pflege in Rabe 2002 zu finden. Der Traunsteiner Fall wurde 2006 in zwei Veranstaltungen der Caritas in Bayern behandelt. Die Dokumentation mit Stellungnahmen aus ärztlicher, pflegerischer, juristischer und theologischer Sicht ist als Download unter www.lvbayern.caritas.de/aspe_shared/form/download. asp?nr=130273&form_asp?nr=130273&form_typ=115&ag_id=6865 erhältlich.
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Auch dieses Thema liegt im Grenzbereich zwischen Ethik und Recht; die Differenz zwischen der juristischen und ethischen Perspektive sollte thematisiert werden. Neben Informationen und Diskussionen zur Regelung der Sterbehilfe in den Niederlanden, der Definition und verschiedenen Formen von Sterbehilfe und terminaler Sedierung, der Besprechung der Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (siehe Anhang 1) spielen hier anthropologische Gesichtspunkte eine wichtige Rolle: der Tod als Widerfahrnis, das Ende des Lebens als Grenzsituation und als Teil der menschlichen Grundsituation. Abschließend kann eine Pro- und Kontra-Diskussion von den Schülerinnen in Gruppen vorbereitet und gemeinsam geführt werden, z. B. zum Thema: Sollte die aktive Sterbehilfe auch in Deutschland erlaubt werden? Bei Gruppen mit größerer Diskussionserfahrung können Einzelne auch versuchen, die Position argumentativ zu vertreten, die ihrer eigenen Meinung widerspricht. Weitere ethische Themen und Fragestellungen in der Pflegeausbildung
Die hier vorgestellte Auswahl versteht sich als exemplarisch. Es kann sinnvoll sein, davon abzuweichen und statt dessen, etwa aus aktuellem Anlass, andere Themen zu bearbeiten. So können für die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege exemplarisch besondere ethische Probleme herausgegriffen werden wie etwa die Problematik eines Cochlea-Implantats bei schwer hörgeschädigten Kindern (ohne Zuordnungsvorschlag im Curriculum) oder die operative Herstellung einer Geschlechtsidentität bei Kindern mit sog. Fehlbildungen (Intersexualität; zu Oelke/Menke II.2.10.Ki), bevor diese an der Entscheidung mitwirken können. Bei Kindern ist grundsätzlich die Frage der Autonomie und des informed consent mit anderem Schwerpunkt zu diskutieren.
4.3
Lernortvernetzung Wenn Ethik nicht nur als marginale Einheit gesehen und vermittelt wird, sondern als Querschnittsthema der ganzen Ausbildung, sollte sie auch in der Praxisbegleitung ihren Raum haben. Voraussetzungen dafür sind ein gutes Konzept für die praktische Ausbildung und eine enge Zusammenarbeit der Schule mit den Einsatzorten, vor allem mit den dort eingesetzten Mentorinnen. Die Mentorinnen spielen eine Schlüsselrolle bei der Übertragung des im Theorieunterricht Gelernten in die Praxis, weil sie zwischen diesen Sphären stehen. Wenn sie als Repräsentantinnen der Praxis schulische Konzepte nicht nur kennen, sondern auch mittragen, werden diese für die Schülerinnen erst zur realen Handlungsoption. Arbeitsaufträge, bei denen die Schülerinnen eigenständig Erkundigungen über reale Arbeitsaufgaben einziehen, diese dann unter Anleitung einer Mento-
4. Konzept für den Ethikunterricht in der Pflegeausbildung
rin durchführen und anschließend schriftlich oder mündlich darüber berichten, bildeten im Konzept des Modellversuches «Erschließung und Gestaltung neuer Lernfelder in der Pflegeausbildung»216 die Grundlage eines Praxiscurriculums. Auch ohne ein vollständiges Praxiscurriculum können Elemente dieses Modells genutzt werden. Bei der Aufgabenstellung ist darauf zu achten, dass die Themen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Reflexion ist ein Grundelement aller beruflichen Kompetenzen, hier ist Ethik ein Aspekt unter vielen, auf die reflektiert werden kann. Praxissituationen weisen auch Aspekte von Kommunikation, Qualität und Organisation auf und können unter anderem unter pflegerischen, medizinischen, ökonomischen, psychologischen und sozialen Gesichtspunkte betrachtet werden. Die Lehrer können durch den Wechsel der Perspektiven ein Gegengewicht zur faktischen Medizinorientierung in vielen Praxisbereichen herstellen. Damit die ethische Perspektive in das berufliche Grundverständnis integriert wird und nicht als exotisches Thema angesehen wird, muss sie sich mit den anderen Perspektiven in der Praxisreflexion verbinden. Für Berichte über Praxisaufgaben eignen sich die Praxisbegleitung und der einsatzbegleitende Kleingruppenunterricht. Die Praxisbegleitung sollte klar von Prüfungssituationen mit Notengebung getrennt werden; schließlich geht es hier um Lernberatung. Ein Feedback an den Lernenden kann und sollte dabei durchaus erfolgen. Für die Verwirklichung von Handlungs- und Praxisorientierung ist es wichtig, dass Praxis zum Lernort wird, so dass es im Erleben der Schüler nicht zu einer Kluft zwischen theoretischem Lernen in der Schule und dem «Arbeiten» in den Einsatzbereichen kommt. Das Konzept dezentraler Lernräume ermöglicht diese Annäherung der Lernorte, ebenso wie die Begleitung und Reflexion von Praxissituationen mit Lehrenden und die Einbeziehung von Patienten in Lernsituationen. Dabei ist allerdings darauf zu achten, dass Ähnlichkeiten mit ritualisierten Situationen wie der ärztlichen Visite vermieden werden. Sinnvoll und auch für die Patienten oft angenehm ist es, die Patienten über ihr Erleben der Krankenhaussituation oder ihre Vorgeschichte berichten zu lassen. Eine gute Möglichkeit der Praxisreflexion sind auch persönliche Lerntage bücher, für die die Schülerinnen ermutigt werden, persönliche Fragen zu reflektieren wie «Was mag ich an mir, was nicht? Was kann ich gut, was weniger? …» (Oelke 2005: 653). Auf ähnliche Weise können auch ethische Aspekte reflektiert
216 Müller 2005: 691. Ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Projekt der Universität Bielefeld in Zusammenarbeit mit der Forschungsgesellschaft für Gerontologie e.V., der Katholischen Schule für Pflegeberufe in Essen und dem Caritasverband. Im Rahmen des Projekts wurden von Klaus Müller und den Mitarbeiterinnen der Krankenpflegeschule 160 Lernaufgaben für die praktische Ausbildung entwickelt und erprobt (vgl. Müller 2007).
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werden, z. B. indem nach Vorbildern und Beispielen für moralisch gutes Handeln gefragt wird. Voraussetzung für die Förderung von personaler und kommunikativer Kompetenz ist eine positive Lernkultur der Bildungseinrichtung und der Praxisorte, in der Gefühle grundsätzlich Raum haben und konstruktives Feedback geübt wird (vgl. Kap. 6).
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«Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
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5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
Die Unterrichtseinheit «Pflege, Ethik und Anthropologie» ist Bestandteil des im 4. Kapitel entwickelten Konzepts (Einheit 1) und wird hier exemplarisch ausführlicher beschrieben. Sie wurde als einführende Unterrichtseinheit konzipiert und erprobt, die am Beginn der Ausbildung stehen sollte.
5.1
Didaktische Vorüberlegungen Zunächst wird mit Blick auf die Situation am Anfang der Ausbildung und auf die Lernenden begründet, warum zu diesem Zeitpunkt ein zweitägiges Seminar dieses Zuschnitts sinnvoll ist. Kommentare zur inhaltlichen Konturierung und zur Methodenauswahl ergänzen diese Vorüberlegungen.
5.1.1
Über die Notwendigkeit von Orientierungswissen am Anfang der Ausbildung
Während die Planung des Einführungsblockes217 traditionell vor allem darauf ausgerichtet war, die Auszubildenden «fit für die Praxis» zu machen, gewinnen im Zuge der Akademisierung der Pflegelehre Überlegungen Raum, den Grundlagen der Pflege auch im Sinne einer Grundlegung für das Lernen mehr Raum zu geben. Die Geringschätzung der «eigentlichen» Pflege durch die Pflegenden selbst wird oft beklagt; gleichzeitig wird mittlerweile gesehen, dass diese Geringschätzung bereits in der Ausbildung angebahnt wird, wenn zum Beispiel der Pflegeunterricht als Anhängsel des medizinischen Unterrichts erscheint oder gar als Lückenfüller für ausgefallene Stunden. Die Einführung in die Pflegeausbildung geschieht bisher überwiegend nicht systematisch. Nach einem Kennenlerntag geht es in medias res, und die Reihenfolge der Themen wird oft mehr durch den Terminplan der Honorardozenten diktiert als durch didaktische Überlegungen, wie die Inhalte sinnvoll aufeinander aufgebaut und miteinander verbunden werden können. Die Auszubildenden müssen in einer bunten Mischung verschiedener Lerneinheiten und Themenbereiche den roten Faden finden: Von «Lernen lernen»,218 Körperpflege, Grundlagen 217 Die Pflegeausbildung wird überwiegend in Form des Blocksystems gegliedert, das einen Wechsel von mehrwöchigem Unterricht mit praktischen Einsätzen von unterschiedlicher Dauer vorsieht. Am Beginn der Ausbildung steht immer eine theoretische Einführung (von zumeist 12 Wochen), der sogenannte Einführungsblock. 218 So heißt ein Themenfeld im Oelke-Curriculum, das insgesamt 60 Stunden umfasst. Es besteht aus den Lerneinheiten «Lernen und Lerntechniken» (18 Std.), «Soziales Lernen» (16 Std.) und «Lernen in Theorie und Praxis». Die NRW-Richtlinie sieht ähnliche Einheiten mit einer Gesamtstundenzahl von 70 Std. vor. Im Einführungsblock werden Teile davon zur Schulung der methodischen Kompetenz angeboten.
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der Ernährung, Bewegen von Patienten, Beobachten, Medikamente verabreichen, Gespräche führen, über Einführungen in die Pflegewissenschaft und zu rechtlichen Aspekten, Erste Hilfe, bis hin zu einer Einführung in die Ethik ist (fast) alles dabei. Diese oft verwirrende Vielfalt strukturiert sich für die Lernenden innerhalb der Unterrichtsform der fächerübergreifenden Lerneinheiten nur dann, wenn die Lerneinheiten im Stundenplan gut zusammengefügt und den Lernenden in ihrem Zusammenhang dargestellt werden. Der Trend zur Handlungsorientierung und zum Lernfeldkonzept in der Berufspädagogik führt bei den konkreten Planungen allerdings oft zur Vernachlässigung von Struktur- und Orientierungswissen und damit zum Verlust des Bildungsgehalts (vgl. BischoffWanner 2003: 8). Die Inhalte der einzelnen Lerneinheiten stehen dann für die Lernenden unverbunden nebeneinander. Die faktischen Inhalte des Einführungsblockes geben eine eindringliche, wenn auch unausgesprochene Einführung in das faktische Berufsverständnis. Ein wichtiger Akzent liegt auf dem Erlernen pflegerischer Grundfertigkeiten und des dazugehörigen Hintergrundwissens, meist aus der Anatomie/Physiologie. Diese Fächer stellen für viele Auszubildende eine Hürde dar, da für die Anatomie eine große Menge Lernstoff zu bewältigen ist und die physiologischen Zusammenhänge für manche Schüler/innen wegen der Verbindungen zu Physik und Chemie nicht leicht zu verstehen sind. Dadurch treten andere Inhalte des Einführungsblockes von der Bedeutung für die Lernenden her eher in den Hintergrund, und es wird ein recht medizinorientiertes Pflegeverständnis angebahnt. Deshalb ist es besonders wichtig, gleich am Anfang Kontrapunkte zu setzen und Pflege nicht als ausschließlich mit der Medizin verbunden darzustellen. Pflegewissenschaftliche Inhalte sollten nicht am Schluss der Ausbildung angeboten werden, sozusagen «für Fortgeschrittene»; es ist vielmehr sinnvoll, dass Grundkenntnisse wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens sowie Grundzüge der wissenschaftlichen Betrachtung von Pflege bereits am Anfang der Ausbildung vermittelt werden. Nur so haben die Lernenden überhaupt die Chance, ihre Praxiserfahrungen auch im Licht nicht-medizinischer Aspekte zu reflektieren. Die Konsequenz solcher Überlegungen ist, dass der Einführungsblock als Erstsituation und Weichenstellung für das Lernen in Theorie und Praxis verstanden und entsprechend konzipiert wird. Dazu müssen neben den handlungsorientierten Lerneinheiten auch solche vorgesehen werden, die Struktur- und Hintergrundwissen vermitteln. Die Einheit «Pflege, Ethik und Anthropologie» kann dafür ein Baustein sein. Sie hat zum Ziel, Pflege als eine ethisch orientierte Tätigkeit verstehen zu helfen und die enge Verbindung von Pflege mit der menschlichen Grundsituation deutlich zu machen. Die Rückbesinnung auf die conditio humana ist eine wichtige Grundlage des hier vertretenen Konzepts für eine Ethik in der Pflege. Das «medizinische» Bild von Pflege, das für viele ihrer Handlungsbezüge durchaus eine Berechtigung hat, wird so ergänzt und korrigiert durch ein Bild der in Anthropologie und Ethik eingebetteten Pflege.
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
Die Einheit umfasst zwei Tage und ist curricular vor allem der Einheit IV.2.2. des Curriculums von Oelke/Menke (Ethische Herausforderungen für Pflegende) zuzuordnen; einige Inhalte passen auch zur Einheit IV.2.1. (Grundfragen und Modelle beruflichen Pflegens). 5.1.2
Charakteristika der Zielgruppe, bezogen auf die geplante Lerneinheit
Die Ausbildungsgruppen in der Gesundheits- und Krankenpflege sind meist sehr heterogen zusammengesetzt, sowohl, was die Altersverteilung, als auch, was die schulische und berufliche Vorbildung und Vorerfahrung anbelangt. In einer Klasse sitzen beispielsweise die 17-jährige Realschulabsolventin, der ehemalige Philosophiestudent und die iranische Mutter mehrerer Kinder zusammen. Am Anfang der Ausbildung stehen das Kennenlernen und die Gruppenbildung sehr im Vordergrund. Alle sind neugierig aufeinander. Ein Gruppenethos und Gruppengewohnheiten haben sich noch nicht herausgebildet, d. h. es besteht eine große Offenheit, sich auf neue Zusammenhänge und Arbeitsformen einzulassen. Für die Kennenlernphase der Gruppe ist ein persönlich so bedeutsames Thema wie das des Seminars gut geeignet. Man besinnt sich auf Wesentliches, denkt über existenzielle Fragen wie Leben, Tod und Menschsein nach, über die man sonst nicht so oft spricht und kann sich auf diese Weise mitteilen und gegenseitig kennen lernen. Gleichzeitig sind die ersten Wochen der Ausbildung prägend für die Erschließung des in der Ausbildung zu lernenden Stoffes, für den Umgang mit verschiedenen Unterrichtsmethoden und für die eigene Lernhaltung in der Ausbildung. Wenn hier existenzielle Themen auch persönlich diskutiert und bearbeitet werden, ist dies eine erste (hoffentlich positive) Erfahrung mit der Möglichkeit und Notwendigkeit, sich auch persönlich einzubringen und mitzuteilen, zu diskutieren und gemeinsam nachzudenken und es ist ein Baustein auf dem Weg zur Diskurs- und Argumentationsfähigkeit. 5.1.3
Inhaltliche Vorüberlegungen zur Verbindung von Pflege mit Ethik und Anthropologie als Grundlage des Pflegeverständnisses
In diesem Einführungsseminar soll Pflege im Kontext von Anthropologie und Ethik dargestellt werden. Pflege ist nicht nur ein Beruf, sondern eine ethisch orientierte Handlungsform, eine Grundform menschlicher Anteilnahme. Ethik soll als Grundlage pflegerischen Handelns aufgezeigt werden; sie ist kein Ergänzungsthema für Fortgeschrittene, sondern gehört wesentlich zum pflegerischen Selbstverständnis. Als menschennaher Beruf ist Pflege darüber hinaus mit den Grundbedingungen des Menschseins konfrontiert (Verletzlichkeit, Sterblichkeit etc.).
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Das Seminar gibt eine erste Orientierung zum Selbstverständnis von Pflege. Die Schüler/innen werden natürlich oft die faktische Orientierung der Pflege an der Medizin oder an naturwissenschaftlichen Grundsätzen und Methoden erleben. Umso wichtiger ist diese anthropologisch-philosophische Betrachtung als Orientierungsrahmen am Anfang der Ausbildung. Sie zeigt, dass es auch andere Perspektiven gibt als die naturwissenschaftliche, und gibt erste Antworten auf die Frage nach dem proprium der Pflege. Für die Auszubildenden, das haben die ersten Erprobungen des Konzepts gezeigt, ist das Thema insofern persönlich bedeutsam, als sie am Anfang der Ausbildung durchaus den Wunsch nicht nur nach pragmatischer, sondern auch nach grundsätzlicher Orientierung haben über das, was den Pflegeberuf bestimmt und was sie selbst damit verbinden. Mit den anthropologischen und ethischen Fragen werden fundamentale und persönlich bedeutsame Themen aufgegriffen, die die Auszubildenden bewegen. Die Offenheit, sich einzubringen und auf das Seminarkonzept einzulassen, war in den bisher durchgeführten Seminaren sehr groß. Die Inhalte und Methoden der Teilsequenzen werden unter 5.2 genauer beschrieben. 5.1.4 Arbeitsformen und Methoden des Einführungsseminars
Die Form eines zweitägigen Seminars zu einem Themenbereich ist den Schüler/ innen, die den 45-Minuten-Takt der Schule kennen, zunächst nicht vertraut, wurde aber in den Probeläufen gut akzeptiert. In der Ausbildung wird überwiegend in Blöcken von 1 bis 2 Doppelstunden unterrichtet; das gibt erheblich mehr Gestaltungsmöglichkeiten als der 45-Minuten-Takt. Seminartag und Projektwochen kommen aber ebenfalls mit einer gewissen Regelmäßigkeit vor. Der Vorteil von ganzen Unterrichtstagen ist es, dass die Lehrerin mehr als sonst dem Rhythmus und den Interessenschwerpunkten der Lernenden folgen kann, indem sie die vorbereiteten Einzelelemente zeitlich flexibel hält. Die Kombination verschiedener Lernformen und Inhalte geschieht nicht zum Zweck der Abwechslung und «Unterhaltung», sondern in erster Linie, um eine geistige Bewegung zwischen Erfahrung und Theorie und damit Verbindungen zwischen beiden zu ermöglichen. Die Erfahrung zeigt, dass diese Arbeitsform durchaus anstrengend für Lehrende und Lernende ist; gleichzeitig wurde sie in den Auswertungen sehr positiv bewertet. Die Lehrerin muss einen Spannungsbogen aufrechterhalten, der die Konzentration fördert und offen macht für die Verbindungen, die hier hergestellt werden können. Wenn die einzelnen Elemente des Seminars unverbunden nebeneinander stehen, ist sein Erfolg gefährdet. Auszubildende der Gesundheits- und Krankenpflege, die oft schon praktische Vorerfahrungen in der Pflege haben, sind überwiegend praktisch denkende
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
Menschen. Manchen fällt theoretische Reflexion, Abstraktion und die Arbeit mit Texten recht schwer oder sie haben Erfahrungen oder Vorannahmen, dass sie das «sowieso» nicht können. Gleichzeitig wird mit dem szenischen Spiel auch eine nicht-kognitive Methode angeboten, die manchmal denen eher liegt, die sich mit Texten schwer tun. Ein «Nebenziel» des Einführungsseminars liegt darin, Methodenkompetenz zu schulen und die Schülerinnen zu ermutigen, sich auf unbekannte Methoden oder auf solche, von denen sie zunächst glauben, dass sie ihnen nicht liegen, einzulassen und damit positive Erfahrungen zu machen. Auch das Ineinandergreifen verschiedener Fachinhalte wird in dem Seminar exemplarisch deutlich und ist eine Einstimmung auf die Strukturierung der theoretischen Ausbildung in fächerübergreifenden Lerneinheiten.
5.2
Die Elemente des Einführungsseminars mit didaktisch-methodischen Kommentaren Um neue Zusammenhänge zu erfassen bzw. neue Informationen in Zusammenhänge zu bringen, erscheint es sinnvoll, nach einigen grundsätzlichen Begriffsklärungen (v. a. der Anthropologie) von Erfahrungen der Schülerinnen auszugehen, sich dann zur Abstraktion (Textarbeit) zu bewegen und die neu gewonnenen Erkenntnisse wieder im Licht der Praxis zu betrachten. Dies geschieht durch folgende Elemente: 1. Einführung, Vorstellung, Begriffsklärungen 2. Anthropologische Fragen 3. Szenisches Spiel: eine eindrückliche Erfahrung in der Pflege 4. Literaturarbeit und Berichte 5. Einführung in die Ethik 6. Falldiskussion: Zusammenhänge zwischen Ethik, Pflege und Anthropologie. Es folgen Erläuterungen zu den einzelnen Teilen:
5.2.1
Einführung
Zunächst wird der geplante Ablauf der beiden Tage kurz vorgestellt und die Begriffe Ethik und Anthropologie im Sinne vorläufiger Bestimmungen erklärt. Die Pflege wird dabei als sich entwickelnde Wissenschaft und als Praxis dargestellt; Ethik
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als das systematische Nachdenken über Verhaltensnormen und Alltagspraxis und Anthropologie als fächerübergreifende Betrachtung des Menschen. So soll ein erster Überblick über den Raum entstehen, der inhaltlich umfasst wird. Damit die Schülerinnen das Thema Anthropologie mit eigenen Überlegungen verbinden können, ist an einer Pinwand ein großes bebildertes Plakat vorbereitet, auf dem Pflege und Ethik als Dimensionen des Menschseins gezeigt werden (s. Anhang 4).219 Das Bild wird kurz erläutert. Die Schülerinnen erhalten dann beschriftete Kärtchen mit je einem Begriff, der zum Thema Menschsein gehört. Sie überlegen sich dazu einen Satz, eine Feststellung, These oder Frage, heften ihr Kärtchen an den Rand des Kreises und sagen ihren Satz. Auf den Kärtchen steht einer der Begriffe in Tabelle 5. Dieser Einstieg gibt bei einem zunächst sperrig wirkenden Thema als Erstes den Teilnehmenden das Wort und verhindert damit, dass die Lehrerin am Anfang zu lange redet und die Schülerinnen sich in eine passive Rolle begeben. Gleichzeitig gibt er der Lehrerin die Möglichkeit, ihrerseits die Schülerinnen kennenzulernen, wenn sie darum bittet, zusätzlich zu der gewünschten Äußerung zum eigenen Kärtchen noch einen prägnanten Satz zu sich selbst zu sagen: «Ich heiße Ina und komme aus Rostock» ist hier ebenso möglich wie ein Signal in der Kennenlernphase der Klasse «Ich bin Marie und freue mich, dass ich so eine nette Klasse habe».220 Oft bleiben solche Sätze gut in Erinnerung und erleichtern der Lehrerin, sich schneller die Namen zu merken. Auch wenn die Kommentare zu den Kärtchen eher ein zufälliges Gesamtbild ergeben: es sind immer einige Thesen dabei, die dazu beitragen, das Thema Anthropologie mit den eigenen Worten der Schülerinnen plastischer werden zu lassen. Man kann darauf in der nun folgenden Begriffsklärung Bezug nehmen und erste Verbindungen zur Ethik und zur Pflege herstellen. 5.2.2
Einführung in anthropologische Fragen
Anthropologie wird als Lehre von der Natur des Menschen bestimmt, die deren Mannigfaltigkeit und Komplexität zu erfassen versucht. Damit ist sie notwendig 219 Hierzu eignen sich Bilder von Menschen aller Herkünfte, verschiedenen Alters, Geschlechts und sozialen Standes in verschiedenen Situationen – etwa aus Zeitungen. Wir verwendeten Bilder aus dem Fotoband «The Family of Man» des Museum of Modern Arts. Dieses Buch nimmt auch in seiner Einteilung die Grundbedingungen des Menschseins auf. Die Kapitel handeln von Liebe und Ehe, Schwangerschaft und Geburt, dem Leben mit Kindern und dem Leben der Kinder, von Familie, Arbeit, Essen und Hungern, Musik, Tanz, vom Lernen, vom Altern und Sterben, vom Mitgefühl und vom Glauben, von Kampf und Gerechtigkeit und enthalten wunderbare Fotos aus aller Welt. 220 Aus einer der bisherigen Veranstaltungen; Namen wurden verändert.
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
Tabelle 5: Begriffe zum Menschsein Würde
Hass
Sprache
Freude
Familie
Krieg
Gemeinschaft
Phantasie
Sinnlichkeit
Wissen um die Geschichte
Körperlichkeit
(Nächsten-) Liebe
Glück
Kommunikation
Beschäftigung
Technik
Lebensunterhalt
Helfen
Abhängigkeit
Sinn
Spiritualität
Denken
Religion
Wissenschaft
Wissen um den eigenen Tod
Mitgefühl
transdisziplinär und stützt sich auf Methoden und Wissensbestände anderer Wissenschaften vom Menschen wie Geschichte, Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Theologie, Biologie, Philosophie und Ethik. Grundsätzlich ist zwischen empirischer und philosophischer Anthropologie zu unterscheiden. Der Zusammenhang von Anthropologie und Ethik wird in Anlehnung an Kamlahs praktischer Grundnorm erklärt: Aus der Einsicht in die grundsätzliche Bedürftigkeit und Abhängigkeit von anderen ergibt sich die moralische Forderung, einander als Menschen anzuerkennen und beizustehen (vgl. unter 2.3.4). Als Bezüge zwischen Anthropologie und Pflege werden vor allem die Körpernähe der pflegerischen Arbeit sowie ihre Nähe zu existenziellen Fragen und ihre Konfrontation mit Grenzsituationen herausgearbeitet. Der Begriff der conditio humana wird mit Hilfe des Plakats erläutert, das die Einführung begleitete. Alle dort dargestellten Begriffe stellen Konstanten des Menschseins dar und bilden in ihrer Gesamtheit die conditio humana, die nicht nur ein wichtiger Verstehenshintergrund für schwierige ethische Fragen ist, sondern vor allem in den Dimensionen der Leiblichkeit, Verletzlichkeit, des Verwiesenseins auf Gemeinschaft, der Endlichkeit und Sterblichkeit enge Verbindungen mit dem Handlungsfeld der Pflege aufweist. In der Pflege ist viel von Menschenbildern die Rede; verschiedene Perspektiven und Verständnisse des Menschen werden deshalb in dieser Einführung beispielhaft vorgestellt, wobei ihre spezifischen wissenschaftlichen und historischen Bezüge im Unterrichtsgespräch zusammengetragen und erläutert werden. Allerdings teile ich Hartmut von Hentigs Skepsis gegen derartige Bildnisse vom Menschen:
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Das Bildnis, so von Hentig, soll ein Maßstab sein und ist deshalb von unseren Wünschen und Ängsten geprägt. Gleichzeitig soll der Mensch im Zuge seiner freien Entfaltung selbst wählen können, an welchem Menschenbild er sich orientieren will. v. Hentig kommt zu dem Schluss: «Das Menschenbild, das gesucht wird, kann nicht eines vom Menschen im Singular sein; es muß sich auf den Menschen im Plural erstrecken.» Damit führt die Frage nach dem Menschenbild letztlich zu den Fragen nach dem guten Leben, nach der guten Gemeinschaft, dem richtigen Handeln und damit zur Ethik (v. Hentig 1999: 24 f.). Überdies, so wäre zu ergänzen, orientiert sich fast niemand an einem «reinen», statisch Menschenbild, also nur dem biologischen, religiösen etc., sondern unser individuelles Bild vom Menschen ist immer mehrperspektivisch. Im Sinne des entdeckenden Lernens schien es mir im ersten Durchlauf zunächst sinnvoll, die Schülerinnen die Bedeutung von Anthropologie und ihre Verbindungen zur Pflege und zur Ethik im Lauf des Seminars durch die verschiedenen methodischen Zugänge selbst erfassen zu lassen. Die Auswertung ergab aber, dass der Begriff der Anthropologie für viele unbekannt war und auch im Laufe des Seminars nicht im gewünschten Umfang Konturen bekam. Es hat sich bewährt, diese Begriffsklärungen vorauszuschicken. Sie geben einen Verständnishintergrund für die nun folgende Gruppenarbeit, in der die ganz persönlichen Einstellungen zu existenziellen und anthropologischen Fragen formuliert und diskutiert und schließlich mit dem begrifflichen Vorwissen verbunden werden. Gruppenarbeit: Nachdenken über Menschliches
Der schriftliche Arbeitsauftrag wird ausgeteilt und kurz erklärt. Zunächst sollen alle allein die Fragen lesen und über die Themen weiter nachdenken, die jedem besonders wichtig und interessant erscheinen und dazu einige Notizen machen. Dafür wird etwa zehn Minuten Zeit gegeben. Anschließend werden Zufallsgruppen à 3 bis 4 Personen gebildet, in denen ein Austausch stattfindet: Alle berichten davon, welche Themen sie besonders ansprechen und warum. Jede Gruppe wählt schließlich für den Bericht im Plenum drei Thesen oder Fragen aus, die in den Augen der Teilnehmer besonders wichtig sind und das in der Gruppe Besprochene sinnvoll zusammenfassen. Bei den Gruppenberichten schreibt die Lehrerin einige Stichpunkte auf einer Folie mit. So entsteht ein Überblick über die Themen, die besonders häufig genannt werden. Anhand dieser Folie und unter Rückgriff auf die von den Schülerinnen genannten Beispiele wird vor allem der Begriff der Anthropologie weiter erläutert und die Wichtigkeit dieser Perspektive für die Pflege verdeutlicht.
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
Arbeitsauftrag: Nachdenken über Menschlichkeit – Mensch-Sein – Menschenwürde Unsere Vorstellung vom Menschen und vom Menschsein prägt unsere Einstellung zur Pflege. Lassen Sie sich von folgenden Fragen anregen: (Sie brauchen die Fragen nicht alle «abzuarbeiten». Lesen Sie sie bitte zunächst durch und beschäftigen sich dann mit denen, die Sie besonders ansprechen und interessieren. Machen Sie sich dazu einige Notizen.) Was ist der Mensch? Höhepunkt oder Fehlentwicklung der Evolution? Gottes Ebenbild? Ein Zellhaufen? Was mag ich an Menschen? Wann sind sie mir grässlich? Wo beginnt das schützenswerte menschliche Leben, wo endet es? Aus welchem Grund genießt menschliches Leben einen besonderen Schutz? Worin liegt die Würde des Menschen? Was ist für mich lebenswert und wo wäre da ggf. eine Grenze? Wann wäre mir mein Leben nicht mehr lebenswert? Ist nach dem Tod alles zu Ende? Was geschieht mit der Seele, wenn wir sterben? Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Ist der Mensch von Natur aus gut – oder schlecht? Sind unsere Fähigkeiten und Eigenarten in den Genen festgelegt oder sind wir das Produkt von Erziehung und Umwelt? Was bedeutet Krankheit? Krise? Chance? Maschine kaputt? Prüfung durch Gott? Schicksal? Was bedeutet Leiden? Chance? Vermeidbares Übel? Komplikation? Was bedeutet Gebrechlichkeit, Hilfsbedürftigkeit? Etwas Störendes? Peinliches? Normales? Was bedeutet Behinderung? Vermeidbarer Schaden? Die Kraft, die im Schwachen mächtig ist? Ein Kostenfaktor? Menschliche Vielfalt? Tauschen Sie sich in Kleingruppen über Ihre Ideen aus. Jede Gruppe wählt drei wichtige Grundsätze oder Fragen für den Bericht im Plenum aus. Für den Bericht ist es auch interessant, über welche Fragen in der Gruppe eher Konsens und über welche Dissens bestand. Bitte legen Sie vorher fest, wer den kurzen Bericht im Plenum übernimmt.
Die zahlreichen Fragen geben einen Überblick über das Spektrum anthropologischer Fragen, ermöglichen den Schülerinnen aber auch, sich ihnen anhand eigener Erfahrungen oder gemäß dem eigenen Interesse zu nähern. Für die Einzelarbeit sind ca. 10 Minuten Stille nötig, die eine konzentrierte und verbindliche
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Arbeitsatmosphäre schaffen. Die anschließende Gruppendiskussion ist erfahrungsgemäß sehr lebhaft; dafür sollte ca. 30 Minuten Zeit sein. Bei der Plenumdiskussion entsteht anhand der durch die Auszubildenden ausgewählten Fragen ein Bild der Interessenschwerpunkte der Klasse. Es ergibt sich dabei von selbst, dass einzelne Fragen kurz diskutiert werden, wobei ethische und anthropologische Fragen und Argumente als solche gekennzeichnet und mit den Begriffen und Informationen der Einführung verbunden werden. Der Austausch über derart existenzielle Fragen und persönliche Grundüberzeugungen schafft eine Atmosphäre von Nähe und Offenheit. Dies ist eine gute Voraussetzung dafür, sich in der nächsten Sequenz auf eine neue, zunächst ungewohnte Methode einzulassen. 5.2.3
Szenisches Spiel
Zunächst wird die Methode des szenischen Spiels kurz erläutert, da es bei diesem Seminar meist zum ersten Mal in der Ausbildung eingesetzt wird. Es geht, wie unter 3.3.3.4 näher beschrieben, um Lernen mit allen Sinnen und um Arbeit mit eigenen Erfahrungen. Die Methode schärft den Blick für eigene körperliche Reaktionen, stärkt die Reflexionsfähigkeit, die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Situationen, Haltungen und Konstellationen und fördert die Wahrnehmung eigener Grenzen und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Die einzelnen Übungen werden hier kurz geschildert: Als Vorübung wird eine Bewegungsübung gewählt, die zum Thema hinführt. Die Schülerinnen werden aufgefordert, in ihrem eigenen Tempo jede/r für sich im Raum umherzugehen. Nach einer Weile kommt die Aufforderung: «Jetzt stellt euch vor, ihr seid Pflegende und lauft über den Flur einer Station».221 Der Gang verändert sich, die Schritte werden schneller. Viele wirken deutlich angespannter als beim anfänglichen freien Gehen. Nach der nächsten Anweisung: «Nun bewegt ihr euch als Patienten durch den Raum» sinken viele in sich zusammen, der Blick richtet sich zu Boden und der Gang wird verlangsamt oder durch ein Leiden behindert. Es folgt als letztes die Aufforderung, sich wie der Chefarzt oder die Chefärztin durch den Raum zu bewegen. Jetzt brauchen alle viel Platz, die Köpfe heben sich, die Arme schwingen raumgreifend, der Oberkörper wird aufgerichtet, die Schultern gestrafft. Zwischendurch wird jeweils «Stopp!» gerufen, was für die Spielerinnen bedeutet, kurz in der aktuellen Bewegung zu verharren und in den eigenen Körper hineinzuspüren. 221 ����������������������������������������������������������������������������������� Oelke empfiehlt grundsätzlich während der Übungen das «szenische Du». Die Spielleiterin übernimmt die Rolle eines «Hilfs-Ich», bei der die Anrede mit «Sie» zu viel Distanzierung von der gespielten Szene schaffen würde. Nach der Spielsequenz wird auf die gewohnte Anrede zurückgegangen.
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
Schließlich werden alle aufgefordert, sich für eine dieser drei Rollen zu entscheiden und in dem dafür typischen Gang herumzulaufen. Dabei sollen sie einander beobachten und in einer für die jeweilige Rolle typischen Haltung auf einander zugehen und einander begrüßen. In einer kleinen Austauschrunde (im Stehen) wird zunächst gefragt, wer an wem eine Rolle erkannt hat, dann danach, wie es ihnen in den verschiedenen Haltungen ging. Beobachtet werden hier typische Rollenhaltungen der Hauptakteure im Stationsalltag und der Zusammenhang zwischen Macht/Hierarchie und Haltung. Es folgt die körperlich-mimische Darstellung von Gefühlen durch Modellieren. Die Technik des Modellierens wird im szenischen Spiel häufig verwendet, deshalb ist es sinnvoll, sie am Anfang mehrmals einzuüben. Diejenige, die etwas darstellen will, verwendet den Partner sozusagen als «Modelliermasse», indem sie ihn durch Berühren in eine bestimmte Haltung bringt und ihm durch Zeigen die Mimik zuweist, die sie für passend erachtet. Beim Modellieren wird nicht gesprochen. Für das Modellieren von Gefühlen finden sich die Schülerinnen zu zweit zusammen und entscheiden, wer als erstes modelliert. Die «Bildhauerinnen» bekommen jede einen Zettel, auf dem ein Gefühlszustand bezeichnet wird, den sie mit dem Partner darstellen sollen (albern, erschrocken, ausgeglichen, stolz, empfindlich, trotzig, gelassen, beleidigt, glücklich, wütend, gelangweilt, schadenfroh, ängstlich, vergnügt, ungeduldig, überrascht, traurig, ärgerlich, fröhlich). Die so entstandenen Modelle bleiben wie Statuen stehen; eine Galerie der Gefühle entsteht. Diese wird erst durch die Gruppe der Modellierer betrachtet, dann versuchen diese, die durch die Statuen verkörperten Gefühle zu erraten. Danach folgt ein Wechsel, so dass jede/r einmal modelliert hat und einmal modelliert wurde. Anschließend wird das Thema «Pflege» mit Situationsstandbildern zum Thema «Eindrucksvolle Pflegesituationen» aufgenommen. Dabei sollen Vorannahmen und Erfahrungen der Schülerinnen zur Pflege sichtbar werden. Es werden spontan Gruppen à vier, maximal fünf Schülerinnen gebildet, die sich innerhalb kurzer Zeit über selbst erlebte Pflegesituationen austauschen sollen, die sie – positiv oder negativ – beeindruckt haben. Da nicht alle Schülerinnen über Pflegeerfahrung verfügen, ist es auch möglich, eigene Erfahrungen mit Pflege, die jemand eventuell als Patient gemacht hat, darzustellen. Jede Gruppe sollte zwei oder drei dieser Situationen auswählen und nachstellen. Das Aufstellen der Situation geschieht als Standbild, d. h. als unbewegte Momentaufnahme durch die Schülerin, welche die Situation erlebt hat. Sie wählt den charakteristischen Moment der Situation sowie die Protagonisten und modelliert deren Haltung. Die Situation soll durch die Haltungen und die Konstellation der Figuren verdeutlicht werden. Die Protagonisten prägen sich ihre Position im Bild und die Haltung gut ein, da
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das Bild eventuell mehrmals gezeigt wird. Außerdem suchen sie gemeinsam für jedes Bild eine prägnante Überschrift, die die Atmosphäre des Bildes möglichst erfasst. Diese Überschrift wird zunächst nicht mitgeteilt. Nun werden alle Bilder nacheinander vorgestellt. Dazu wird ein Ort im Raum zur «Bühne» erklärt. Die Zuschauer setzen sich so, dass sie gut sehen können; sie können sich auch im Raum bewegen, um ein Standbild aus einer anderen Perspektive anzuschauen. Dabei muss darauf geachtet werden, dass die Zuschauer nicht «in» das Bild hinein kommen. Ist ein Bild aufgestellt, so raten die Zuschauer, um was es sich handelt. Sie drücken dies in Form von möglichen Überschriften aus. Wird die richtige Überschrift erraten, oder kommt eine Deutung dem sehr nahe, wird das Bild aufgelöst und die Überschrift an die Tafel geschrieben. Die gezeigten Situationen spiegeln die Wahrnehmung der Berufsanfängerinnen von ihrem zukünftigen Beruf. Szenen, die mit der Hilfeleistung beim Essen zu tun haben, waren bei allen Gruppen präsent: Da wird ein Getränk «in den Hals geschüttet», Kollegen essen nebenbei, während einem Patient das Essen angereicht wird und es entsteht ein bedrückendes Bild einer Essrunde im Behindertenheim.222 Auch das Thema Ekel war immer vertreten, etwa in Situationen, in denen Patienten erbrechen oder Hilfe bei der Ausscheidung brauchen. Während bei Schülerinnen und Pflegenden mit etwas mehr Krankenhauserfahrung zu eindrucksvollen oder «typischen» Situationen in der Pflege immer auch Visitensituationen gezeigt werden (Oelke/Scheller/Ruwe 2000: 215), kam dieses Thema bei den «Anfängern» bisher nicht vor. Dafür wurden regelmäßig Reanimationssituationen (z. B. «Raucherraum» – Reanimation mit Zuschauern) oder der überraschende Tod von Patienten («Starrer Blick», «Augen zu und durch») nachgestellt. Mehrmals kamen Gesprächssituationen vor (als Diagnosemitteilung, aber auch als gemeinsame Nachbesprechung einer schwierigen Situation) und Stürze von Patienten aus dem Bett bzw. aus dem Rollstuhl. Für die vertiefte Bearbeitung werden zwei oder drei Bilder ausgewählt und noch einmal gestellt. Zunächst werden Projektionen der Beobachter sichtbar gemacht (Oelke/Scheller/Ruwe 2000: 62), indem diese aufgefordert werden, hinter eine Person zu treten, in die sie sich hineinversetzen können, dieser die Hand auf die Schulter zu legen und in Ich-Form zu sagen, was die Person gerade denken könnte. («Ich will hier weg!» – «Was machen die mit mir?» – «Mann, stellt der sich an!» …) Die Beobachter/innen können auf diese Weise zu mehreren Spielern gehen. Es entstehen oft sehr verschiedene Deutungen der gleichen Rolle. Dann werden auch die Spielerinnen gebeten, ihre Gedanken und Gefühle aus der Rolle heraus zu äußern. Für die Stimmenskulptur (vgl. Scheller 1998: 136) treten die Beobachter/innen hinter eine gewählte Person und sagen einen Satz wie bei der Interpretations222 Oelke/Ruwe weisen darauf hin, dass Situationen mit «Essenreichen» häufig im Kontext mit dem Thema Gewalt gezeigt wurden (Oelke/Scheller/Ruwe 2000: 214).
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
Übung. Jetzt bleiben sie jedoch stehen und merken sich ihren Satz. Wenn alle sich positioniert und ihren Satz gesagt haben, geht die Spielleiterin zwischen den Spielern hin und her und tippt diese an bzw. zeigt auf sie; dann wird der Satz im gleichen Tonfall wiederholt. Diese Methode ist gut geeignet, um die sehr unterschiedlichen Sichtweisen, die in einer Situation möglich sind, deutlich zu machen und einander gegenüber zu stellen. Zudem zeigt sie eindringlich, welche Kluft sich oft zwischen den Ängsten und Nöten der Patient/innen und der Routine und dem Funktionieren-Müssen der Pflegenden auftut. Nach der Vertiefung der Bilder setzen sich alle in den Kreis, und es folgt ein kurzer (zwangloser!) Austausch zu dem, was die Schülerinnen wahrgenommen und erlebt haben. Er kann angeregt werden durch die Frage, wie sich Pflege in diesen Bildern darstellt und welche Haltungen an Pflegenden und Patienten beobachtet wurden. Für die Sequenz mit szenischem Spiel braucht man einen großen Raum, in dem die Schülerinnen sich bewegen können, und in der alle Gruppen Platz haben. Die Gruppen sollten für die Vorbereitungsphase den Raum nicht verlassen. Am Anfang wird etwas Zeitdruck erzeugt, um die Schülerinnen zu ermuntern, nicht lange zu reden, sondern die Situationen auszuprobieren. Das Vorstellen der Bilder und das vertiefende Bearbeiten hat eine eigene Dynamik. Die meisten Teilnehmer/innen sind stark involviert. Auch deshalb ist das Nachgespräch wichtig. Hier bewegt man sich wieder vom Erleben hin zum Reflektieren. Das ist vor allem wichtig für die Akzeptanz der Methode. Auch wenn beim Spielen vieles geschieht und erfahren wird, das nicht gleich zugänglich und besprechbar ist, so sollten doch die Beobachtungen und Eindrücke im Plenum ausgetauscht werden. Hier können Verbindungen zu den Diskussionen der Gruppenarbeit über Menschsein hergestellt werden. Am Anfang des zweiten Tages steht ein kreativer Tagesbeginn, der ebenfalls mit szenischem Spiel gestaltet werden kann. Ein solcher Beginn ist als Gemeinschaftserlebnis und zur Auflockerung besonders deshalb sinnvoll, weil die Lernenden erfahrungsgemäß die Textarbeit sehr ernst nehmen und auch einen gewissen Ehrgeiz entwickeln. Ohne einen solchen Einstieg wäre die Arbeit des Vormittags einseitig kognitiv. Je nach der Stimmung in der Gruppe kann eine kurze Entspannungsübung gemacht werden oder ein szenischer Einstieg mit einer «Helfergalerie»223: Dafür finden die Schülerinnen sich zu zweit zusammen. Eine von beiden nimmt die Haltung eines Leidenden ein. Im Raum entsteht eine Galerie des Leidens, die zu betrachten alle, auch die Akteure, Gelegenheit bekommen sollen (indem sie nacheinander ihre Haltung aufgeben, die Galerie ansehen und ihren Platz und die Haltung wieder einnehmen). Dies kann vertieft werden, 223 Nach einer Idee von Gisela Ruwe.
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indem die Spielleiterin nacheinander alle Leidenden auffordert, einen Satz aus ihrer Haltung heraus zu sagen. Anschließend werden die Partner aufgefordert, zu «helfen», d. h. zu ihrem Partner zu gehen und eine komplementäre helfende Haltung einzunehmen. Jetzt dürfen die Leidenden ihre Haltung aufgeben und die entstandene Helfergalerie betrachten. Auch die Helfer können aus ihrer Haltung heraus Stellung nehmen. In der Nachbesprechung werden die Haltungen von Helfern und Leidenden verglichen. 5.2.4
Textarbeit
Anhand ausgewählter Texte zu den Themen Pflege, Ethik und Anthropologie sollen die Auszubildenden sich anschließend theoretische Aspekte des Themas selbst erarbeiten. Hier wird u. a. das Ziel verfolgt, verschiedene Arbeitsweisen einzuüben und damit die Methodenkompetenz zu erweitern. Es ist für die meisten die erste Berührung mit Fachliteratur. Deshalb sind ausführliche Erläuterungen und ein klarer Arbeitsauftrag besonders wichtig. Erst, wenn über den Umgang mit dem Text gesprochen wurde,224 werden die Texte vorgestellt und die Gruppen gebildet. Die Schülerinnen können selbst auswählen, welchen Text sie bearbeiten möchten, allerdings werden nicht mehr als fünf Schülerinnen pro Gruppe zugelassen. Es ist empfehlenswert, mindestens drei Teilnehmerinnen in einer Gruppe zu haben, weil sonst der gewünschte Effekt, dass diese sich die wichtigsten Inhalte gemeinsam klarmachen, geschmälert wird. Die Lehrerin sollte darauf achten, dass es nicht zu viele sehr kleine Gruppen gibt, weil sonst am nächsten Tag die Berichte ermüdend lange dauern. Zwei der Texte (Geißner) sind aus einem der aktuellen Lehrbücher für Pflege (Thiemes Pflege, Kellnhauser et al. 2000) andere aus Fachbüchern oder -zeitschriften. Die Texte sind vom Schwierigkeitsgrad her unterschiedlich (Tab. 6).
224 Folgende Tipps zum Umgang mit Texten werden den Schülerinnen nach der Erläuterung schriftlich gegeben: «Lassen Sie sich nicht davon abschrecken, wenn Sie nicht gleich alles verstehen. Halten Sie sich vielmehr an das, was Ihnen klar ist. Mut zur Lücke! Lassen Sie das Schwierige erstmal beiseite. Sie können es nach der Lesezeit in der Gruppe klären. Es ist grundsätzlich sehr zu empfehlen, sich zunächst mal einen Überblick zu verschaffen, wie der Text gegliedert ist, dann weiß man, was auf einen zukommt und liest bewusster. Wenn keine klare Untergliederung vorhanden ist, kann man für jeden Abschnitt selbst eine Überschrift suchen und daneben schreiben. Reinschreiben und markieren ist ohnehin empfehlenswert. Versuchen Sie beim Lesen unvoreingenommen zu bleiben. Oft merkt man bald seine eigenen Eindrücke und Urteile. Bei Texten, die man gut findet, sollte man Schwächen nicht übersehen und bei den anderen nicht die Stärken.»
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
Tabelle 6: Texte Autor
Thema
in:
Geißner
Menschenbild
Thiemes Pflege: 4–12
Geißner
Ethik
Thiemes Pflege: 12–24
Rehbock
Fürsorge: verstaubter Begriff oder zeitgemäßes Prinzip?
AG Pflege und Ethik 2002: 15–24
Körtner
Ethik und Anthropologie
Grundkurs Pflegeethik: 67–77
Körtner
Grundlagen und Probleme der Pflegeethik
Grundkurs Pflegeethik: 78–93
Rüegger
Sterben ist ein Teil des Lebens
Knellwolf/Rüegger 2004: 65–80
Großklaus-Seidel
Anthropologie; antikes Menschenbild
Ethik im Pflegealltag: 24–30
Großklaus-Seidel
Die christliche Sicht des Menschen
Ebd.: 30–38
Großklaus-Seidel
Das Maschinenmodell vom Menschen
Ebd.: 38–45
Großklaus-Seidel
Kant: Vernunft und Autonomie
Ebd.: 45–52 (ohne das Fallbeispiel)
Der Arbeitsauftrag lautet wie folgt: Vorgehen Bitte lesen Sie zunächst diesen Arbeitsauftrag gemeinsam durch. Dann nehmen Sie sich etwa 45 Minuten Zeit zum Lesen und tauschen sich anschließend erstmals über den Text aus (auch wenn ihn noch nicht alle fertig gelesen haben). Was sind die wichtigsten Inhalte, wie ist Ihr erster Eindruck? Zu Hause können Sie dann den Text in Ruhe fertig lesen.
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Ergebnisse
Am zweiten Tag bekommen Sie noch Zeit für die Diskussion des Textes und die Vorbereitung der Vorstellung im Plenum. Wenn Sie Fragen zum Text oder zum Arbeitsauftrag haben, stehen wir Lehrer/innen dafür zur Verfügung.
Arbeitsergebnis Morgen stellt jede Gruppe ihren Text den anderen vor (in ca. 10 Minuten). Dazu sollen Sie • die Gliederungspunkte des Textes auf eine Folie schreiben, als Übersicht auf einem Flip-Chart-Plakat einige wichtige Thesen festhalten (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) • einige interessante Zitate des Textes aussuchen und an passender Stelle vorlesen • eine allgemeine Bewertung des Textes geben (ob Sie mit dem Inhalt einverstanden sind, ob Sie den Text gut lesbar und informativ fanden usw.).
Erfahrungsgemäß brauchen die Schüler/innen am 2. Tag noch ca. eine Stunde, um sich über den Text auszutauschen und ihre Präsentation vorzubereiten (Folie und Plakat, Auswahl eventueller Zitate). Die Berichte dauern durchschnittlich 15 Minuten (wenn Gruppen sehr begeistert gearbeitet haben, auch länger). Hier muss für genügend Pausen gesorgt werden, da sonst die Aufmerksamkeit abfällt. Die Lehrerin kann anschließend an jeden Bericht die Gelegenheit für ein kurzes Feedback an die Schülerinnen nutzen (und auch die Gesamtgruppe dazu ermutigen), in dem vor allem die Stärken, ggf. aber auch offenkundige Schwierigkeiten der Gruppen angesprochen werden. Damit wird ein Anfang gemacht mit dem Einüben von Geben und Empfangen von konstruktivem Feedback, das als Voraussetzung von Kritikfähigkeit in der Ausbildung explizit thematisiert und eingeübt werden sollte. 5.2.5
Einführung in die Ethik
Wie am ersten Tag in der Einführung anthropologische Fragen vertieft wurden, so dient diese Einheit dazu, dem Thema Ethik deutlichere Konturen zu geben, zunächst durch eine Begriffsklärung. Hier werden die Begriffe Ethik, Moral und Ethos erläutert und zwischen den Ebenen von Meinung, Norm und Prinzip unterschieden. Dabei kann man jetzt auf Vorwissen aus der Textarbeit zurückgreifen. Das Thema Wertorientierungen/moralische Orientierungen wird durch eine Einzel- und Gruppenarbeit vertieft: Zunächst machen sich alle allein Gedanken darüber, welche Werte und Grundsätze ihnen persönlich wichtig sind und schreiben diese auf. Es folgt ein Austausch in Zufallsgruppen, bei dem auch die Bedeutung einzelner ausgewählter Werte diskutiert wird. Die Gruppen sollen
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
sich auf die drei Werte einigen, die ihnen gemeinsam am wichtigsten sind, und diese einzeln auf Kärtchen schreiben, aber im Plenumbericht auch diejenigen benennen, bei denen es keinen Konsens gab, sei es durch verschiedene Interpretation der Bedeutung des Wertes oder unterschiedlicher Einschätzungen seiner Wichtigkeit. In der Gesamtschau ergibt sich ein Profil der Wertorientierungen dieser Gruppe, auf das in späteren Unterrichten zurückgegriffen werden kann. Die genannten Werte werden gemeinsam daraufhin betrachtet, ob es sich eher um Normen oder um Prinzipien handelt, so wird der Unterschied zwischen materialen und formalen Orientierungen deutlich gemacht. Würde, Fürsorge, Autonomie, Verantwortung, Gerechtigkeit und Dialog werden anschließend als ethische Prinzipien für die Pflege vorgestellt; ihre Bedeutung für die Pflege wird im Unterrichtsgespräch erarbeitet. In einer weiteren kurzen Gruppenarbeitsphase (sechs Gruppen) werden für jedes der Prinzipien Umsetzungsbeispiele in Form möglichst konkreter Regeln für die Pflegepraxis formuliert. Auch hier können die Schüler/innen auf die Ergebnisse der Textarbeit zurückgreifen. Die Ebenen der Entscheidung und Verantwortung bilden den Abschluss dieser Einführung und verdeutlichen die Unterschiede zwischen individual- und sozialethischer Perspektive, aber auch die Bedeutung der Institution für die Freiräume zu moralischem Handeln. 5.2.6
Den Zusammenhang zwischen Ethik, Pflege und Anthropologie anhand einer Fallgeschichte herstellen
Die Prüfung Er litt. Er litt wie ein Hund. Verkrümmt lag er im Bett und stöhnte. Er gab sich Mühe, dass das Stöhnen nicht zu laut wurde. Wahrscheinlich hätte er vor Schmerzen am liebsten geschrieen, aber er biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten. Die harmlosen Sachen nützten längst nichts mehr. Morphium wäre angebracht gewesen. Aber er wollte nicht. Der Oberarzt versuchte, ihn zu überzeugen. Erfolglos. Der Chefarzt redete Klartext mit ihm und sagte, verderben könne man nichts mehr. «Ich weiß», war seine Antwort. Trotzdem wollte er nicht. Man steckte es hinter seinem Rücken seiner Familie. Aber das Zureden von Frau und Kindern änderte nichts. Alle waren ratlos. Die Pflegenden vermochten kaum mehr zuzusehen. «Ist er in einer religiösen Gruppe, die es ihm verbietet?» fragten sie. «Nein», sagte seine Frau. «Aber er hat es sich nie leicht gemacht. Bis vor wenigen Jahren trieb er Extremsport. Senkrechte Bergwände, gefrorene Wasserfälle hinaufklettern und solche Dinge. Das
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Ergebnisse
Schicksal herausfordern. Ich glaube, Schmerz und Tod sind etwas Ähnliches für ihn. Eine Herausforderung. Eine Prüfung.» «Eine Prüfung, die das Schicksal über ihn verhängt?» «Das auch. Aber vielleicht mehr noch eine Prüfung, in der er das Schicksal prüft – und uns.» Als es noch schlimmer wurde, fragte man sich, ob man nicht etwas verabreichen sollte, ohne es ihm zu sagen. «Er wird es sofort merken», wandte einer ein. «Dann geben wir eben so viel, dass er es nicht merkt», sagte ein zweiter. «Das dürfen wir nicht», erklärte die Stationsleiterin. «Es wäre Verrat.» (Knellwolf/Rüegger 2004: 18)
Diese Geschichte von Ulrich Knellwolf wird in Zufallsgruppen à 6 bis 8 Schüler diskutiert. Es ist eine der ersten Begegnungen mit einer Fallgeschichte in der Ausbildung. Sie bietet Anlass, anhand einer konkreten Situation über die Themen nachzudenken, die das Seminar ausmachten: das Ethos und das Selbstverständnis von Pflege, die Bedeutung von Leiden und Schmerz, aber auch der persönlichen Lebensgeschichte und -auffassung, Autonomie und Fürsorge. Die Geschichte wird frei (ohne Moderation oder Reflexionsmodell) in den Gruppen diskutiert. Dabei nehmen die Teilnehmerinnen zunächst alle spontan Stellung dazu, wie sie diese Geschichte empfinden. Dann werden die Zusammenhänge zwischen Pflege, Ethik und Anthropologie für diesen konkreten Fall diskutiert und benannt, etwa der Einfluss der Lebensauffassung auf das Krankheitserleben und die Wünsche an die Pflege, oder die Frage, was «gutes Sterben» wohl für diesen Menschen heißen mag. Abschließend wird ein ethisch begründeter Vorschlag gemacht, was die Pflegenden in dieser Situation tun sollten. Den Abschluss des Seminars bildet eine kurze Zusammenfassung, ausgehend von den Ergebnissen der letzten Gruppendiskussion, von denen Verbindungen zu den vorigen Teilen hergestellt werden. Bisher folgte eine Auswertung mit dem Fragebogen, die inzwischen weggefallen ist, da das Seminar inzwischen gut erprobt ist und durchweg gut angenommen wird. Eine Auswertung kann wieder eingeführt werden, wenn Neues ausprobiert werden soll. Den Abschluss bildet in jedem Fall ein «Blitzlicht», in dem alle Gelegenheit bekommen auszudrücken, wie sie aus diesem Seminar herausgehen.
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
5.3
Rückblick auf die Entwicklung der Einheit Die neue Lerneinheit wurde erstmals im April 2005 im Einführungsblock erprobt und seitdem für die meisten neuen Kurse in der Pflegeausbildung der Charité angeboten. Ziel der abschließenden kurzen Befragung mit einem Fragebogen war ausschließlich die Weiterentwicklung und Verbesserung der Unterrichtseinheit, deshalb wurde ein einfacher Fragebogen mit offenen Fragen und Raum für stichpunktartige Erläuterungen erarbeitet.225 Der Rücklauf der Fragebogen war deshalb relativ groß, weil für das (freiwillige) Ausfüllen Unterrichtszeit zur Verfügung gestellt wurde. Evaluationen mit Fragebogen, beispielsweise am Ende eines Blocks, sind an der Schule üblich. Zusätzlich wurden im ersten Durchlauf zwei Studierende der Pflegepädagogik, die an der Schule ein Praktikum machten, um Hospitation gebeten. Ihnen wurden vorab einige Leitfragen gegeben, nach denen sich die Beobachtung ausrichten sollte:
• Wie wurde der Wechsel zwischen erfahrungsorientierten und theoriegeleiteten Abschnitten wahrgenommen?
• War die Verbindung zwischen Pflege, Ethik und Anthropologie erfahrbar und verstehbar?
• Konnten die Teilnehmerinnen positive Erfahrungen mit verschiedenen Lernformen machen?
• Rückmeldungen zum Lehrerverhalten und allgemeine Anregungen. Nach der ersten Erprobung war der Gesamteindruck fast bei allen Teilnehmerinnen gut oder sehr gut. Am besten bewertet wurde die Arbeit «Nachdenken über Menschliches», am meisten Kritik gab es für die Ethik-Einführung, obwohl an dem Thema deutliches Interesse bestand. Bei der Textarbeit gab es etwas mehr skeptische Stimmen; mehrere fanden sie zu schwer, zu trocken u. Ä. (Daraufhin wurde die Textauswahl noch einmal verändert). Die Textarbeit wurde aber auch mehrfach als das Element genannt, das Schüler am meisten interessiert hat. Die 225 Die Fragen lauten: «Ziel des Seminars war, am Anfang der Ausbildung die Bedeutung der drei Bereiche Pflege, Ethik und Anthropologie und den Zusammenhang zwischen ihnen deutlich zu machen. Ist das bei dir gelungen?» «Wie fandest du die zwei Tage insgesamt?» «Was war gut, was war nicht so gut? Bitte bewerte die einzelnen Teile des Seminars stichpunktartig!» Hier wurden die oben beschriebenen Elemente des Seminars einzeln benannt. «Was hat dich inhaltlich am meisten interessiert?» «Sonstige Bemerkungen und Anregungen: …»
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Ergebnisse
Arbeitsformen und die Atmosphäre des Seminars und vor allem der Austausch untereinander wurden von den meisten als positiv erlebt: «Sehr gut, weil alle zugehört haben». «Keiner hat gelacht».226 Für die Weiterentwicklung der Einheit waren vor allem folgende Anregungen der Hospitantinnen ausschlaggebend:
• Der Zusammenhang zwischen Ethik, Anthropologie und Pflege wurde erst
am zweiten Tag deutlicher, die Bedeutung der Anthropologie blieb insgesamt etwas unklar.
• Die Einzeleinheiten «Einführung in die Pflege» und «Einführung in die Ethik»
sollten inhaltlich besser auf das Gesamtkonzept des Seminars ausgerichtet sein.
• Es sollte mehr Möglichkeiten für den Austausch im Plenum geben. Das Konzept wurde daraufhin etwas umgestellt: Da die Anthropologie für die Schüler/innen das unbekannteste Gebiet war, wurde eine entsprechende Einführung an den Anfang gestellt (eine Einführung in die Pflege hatte jeweils schon einige Tage vorher stattgefunden). Zur Erweiterung des Plenumsgesprächs wurde nach der Auswertung der Gruppenarbeit zum «Menschlichen» ein dort häufig genanntes Thema (z. B. Tod und Sterben, Gut und Böse etc.) aufgegriffen, um exemplarisch die Zusammenhänge zwischen Pflege, Ethik und Anthropologie deutlich zu machen. Die Einführung in die Ethik dagegen kann nach den Erfahrungen gut auf den zweiten Tag gelegt werden, denn hierzu wird – nach einer «Arbeitsdefinition» der Begriffe am Anfang – viel aus den zuvor bearbeiteten Texten gelernt. Bei den weiteren Auswertungen wurde mehrmals der Gesamteindruck geäußert, es sei positiver gewesen als erwartet. Offenbar löste das Thema «Pflege, Ethik und Anthropologie» bei einigen negative Erwartungen aus. «dafür, dass man ja auch Vorurteile hat … fand ich es total Klasse, Ethik hat noch nie so viel Spaß gemacht».227 Anthropologie ist für viele als Begriff zunächst unklar, die Bewertung der Einführung in ethische und anthropologische Grundbegriffe und ihre Zusammenhänge mit Pflege ist überwiegend positiv; manche sagen vorsichtig «zwar theoretisch, aber gut», andere sehen sich zum Weiterdenken angeregt: «man möchte jetzt mehr wissen». Für einige bleibt es aber theoretisch und «langatmig». Der Einstieg mit der Beteiligung aller und dem Plakat wurde immer wieder gelobt. 226 Zitate aus den Auswertungsbögen der ersten Erprobung. 227 Alle Zitate in diesem Abschnitt stammen aus den Auswertungsbögen des zweiten bis fünften Durchlaufs.
5. «Pflege, Ethik und Anthropologie» als grundlegende Unterrichtseinheit
Besonders gut wurde immer die Gruppenarbeit zum Menschenbild bewertet, vor allem wegen des Austausches untereinander und der Offenheit, mit der das geschieht, aber oft auch mit der Bemerkung, dass «man sich normalerweise über so was keine Gedanken macht». Entgegen den Befürchtungen vieler Lehrer, dass es Vorbehalte gegen das Spielen gibt, überwiegen die positiven Kommentare zum szenischen Spiel bei weitem. Es macht Spaß, es ermöglicht, die Dinge von einem anderen Standpunkt aus zu sehen und sich in die Lage von Patienten zu versetzen. «Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt, da ich dachte, dass ich nicht so der Typ dafür bin». Aber jetzt: «jederzeit gerne wieder!» Allerdings ist das von Gruppe zu Gruppe verschieden. Wenn es Vorbehalte gegen das szenische Spiel gibt, dann meist gleich von mehreren. In anderen Gruppen äußerten sich dagegen fast alle positiv. Die Textarbeit wird da schon etwas unterschiedlicher bewertet. Etwa ein Fünftel der Befragten fand die Texte zu schwierig oder zu theoretisch «alles ein bisschen zu philosophisch». Häufig wurden sie als Herausforderung bezeichnet «zunächst total schwierig und Spaß verderbend, aber äußerst informativ, wenn man es geschafft hat. Man hat das Gefühl, ein Stück mehr Wissen zu haben.» Viele fanden die Texte gut ausgewählt und leicht zu bearbeiten; hier spielen sicher Vorbildung und Vorerfahrung eine entscheidende Rolle. Bei den Bewertungen der Einführung in die Ethik wird deutlich, dass hier bereits Vorwissen einfließt und Verbindungen deutlich werden. Nicht wenige nennen «Ethik» oder «Pflegeethik» als das Thema, das sie am meisten interessiert. Nach den anfänglichen Schwierigkeiten in der ersten Erprobung des Seminars ist die Einführung in die Ethik jetzt offenbar am richtigen Platz. Auch die Fallbesprechung wird überwiegend positiv oder sehr positiv gesehen; einige kritisieren die Wiederholung der Fragestellung (Verbindung zwischen Pflege, Ethik und Anthropologie). Für andere hingegen ist sie einer der Punkte, die sie am meisten interessierte, sicher auch deswegen, weil hier die Auseinandersetzung mit den Kurskolleginnen gefordert war. Dass mit Zufallsgruppen gearbeitet wurde, kam überwiegend gut an; allerdings wurde von Einzelnen bemerkt, dass die Gruppenkonstellation ungünstig war und dies Einfluss auf die Qualität der Arbeit hatte (vor allem bei der Textarbeit). Das Ergebnis der Erprobungen ist die folgende Ablaufplanung (Tab. 7) für die zwei Tage (die natürlich je nach Gruppe variieren kann).
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Ergebnisse
Tabelle 7: Planungsübersicht des Seminarkonzepts Zeit
1. Tag
Zeit
2. Tag
8.00– 8.45
Einführung in das Seminar Assoziationen
8.00–9.15
Szen. Spiel: Helfergalerie 15 Min. Fertigstellung der Gruppenberichte zur Literaturarbeit 60 Min.
8.45–9.30
Einführung in die Anthropologie und ihre Zusammenhänge mit Pflege und Ethik
9.15–9.45
Gruppenberichte: 6 Gruppen, max. 15 Min. pro Gruppe: die ersten beiden
30 Min
Frühstückspause
30 Min.
Frühstückspause
10.00 –10.45
Einzel- und Gruppenarbeit: Nachdenken über Menschliches
10.15–11.30
Restliche 4 Gruppenberichte Nach jedem Bericht Diskussion im Plenum
10.45–11.30
Gruppenberichte Plenumsdiskussion mit Inputs und Beispielen zu den drei Bereichen
10 Min
Pause
30 Min
Mittagspause
11.40– ca. 13.15
Einführung in das Szenische Spiel
12.00–13.30
Einführung in die Ethik
30 Min
Mittagspause
10 Min
Pause
13.45–14.15
Einführung in die Literaturarbeit Methodentipps, Gruppenbildung
13.40–14.45
Falldiskussion im Hinblick auf Zusammenhänge von Pflege, Ethik und Anthropologie
14.15–15.15
Textlektüre und erste Diskussionen in den Gruppen
14.45–14.55
Auswertung: Fragebogen Mündlich: ein Satz zum Abschluss
15.15
Ende
15.30
Zwischenberichte im Plenum Ende
289
6
Institutionelle und organisationale Voraussetzungen für ethische Reflexion in der Praxis des Gesundheitswesens
314
Ergebnisse
6. Institutionelle und organisationale Voraussetzungen für ethische Reflexion
In dieser Arbeit wurde die Entwicklung von einem vorprofessionellen Ethos der Pflege, das von Fremdbestimmung, mangelnder Selbstwertschätzung und Selbstsorge der Pflegenden, aber auch von maternalistischer Bevormundung der Patienten gekennzeichnet war, hin zu einer ethisch reflektierten professionellen Grundhaltung skizziert. Diese Grundhaltung soll in der Ausbildung mit den dargestellten Konzepten gefördert werden. Damit sie sich wirklich im Gesundheitswesen verbreiten kann und nicht auf einzelne besonders engagierte Pflegende beschränkt bleibt, braucht es einen positiven institutionellen und organisationalen Rahmen. Dieser soll hier umrissen werden, da er die Möglichkeiten für moralisches Handeln im Gesundheitswesen entscheidend prägt und selbst wiederum eine Herausforderung für Bildung ist. Dabei zeigt sich der enge Zusammenhang zwischen Qualität und Ethik. Es werden Grundsätze eines ethisch orientierten Managements für Gesundheits- und Bildungseinrichtungen dargestellt.
6.1
Institutions- und Organisationsethik Für die ethische Reflexion wurden drei verschiedene Ebenen unterschieden, auf denen Entscheidungen gefällt und verantwortet werden: die persönliche, institutionelle und gesellschaftspolitische Ebene.228 Sie verweisen auf die Vielschichtigkeit von Verantwortung beim Handeln in institutionellen Zusammenhängen. Obwohl die ganz persönliche Verantwortung für das eigene Handeln und Verhalten immer bestehen bleibt, werden die konkreten Handlungsmöglichkeiten stark durch institutionelle Vorgaben und Gewohnheiten mitbestimmt: von der Personalausstattung und -struktur, von der Atmosphäre im Arbeitsbereich, vom Führungsstil der Vorgesetzten, von der Zugänglichkeit und Transparenz der Informationen, von der räumlichen und technischen Ausstattung und vom Dokumentationssystem. Die Institutionen als Organisationen im Gesundheitswesen haben also selbst eine Moral. Ihre moralische Verantwortung lässt sich nicht auf die moralische Verantwortung ihrer Mitarbeiter reduzieren. Denn hinter Achtlosigkeit, Zynismus oder sonstigem Fehlverhalten von Pflegekräften oder Ärzten steckt oft auch ein Versagen der Organisation bzw. des Managements, das für diese Organisation verantwortlich ist. In der Tat besteht die Herausforderung für Organisationen darin, moralisches Handeln nicht nur an Einzelpersonen zu delegieren, sondern ihre eigenen Prozesse und Verfahrensregeln so zu gestalten, dass bestimmte Werte überhaupt erst wirksam werden können. […] In diesem Sinne gibt es keine organisationale Unschuld. (Fischer 2006: 1)
Die Begriffe «Institutionsethik» und «Organisationsethik» überschneiden sich weitgehend, weshalb sie in diesem Zusammenhang synonym verwendet werden 228 Kap. 2.3.1 und im Reflexionsmodell unter 2.3.7. Sie werden zum Teil auch als Mikro-, Meso- und Makroebene bezeichnet (so etwa bei Wehkamp 2004: 21).
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Ergebnisse
können.229 Eng verbunden mit dem Begriff der Organisationsethik ist der Begriff der Organisationsentwicklung: Organisationsentwicklung ist Ausdruck von Organisationsethik. Organisationsentwicklung gibt den Rahmen für Qualitätsentwicklung vor, indem sie förderliche Strukturen und Abläufe einrichtet und hinderliche verändert. Die Qualitätsentwicklung kann aber ihrerseits Veränderungen von Strukturen und Abläufen nach sich ziehen. Institutions- bzw. Organisationsethik gewinnt an Bedeutung in einer Zeit, in der die zunehmende Ökonomisierung im Gesundheitswesen scheinbar keinen Raum und keine Ressourcen für Ethik lässt. Wenn es jedoch keine gemeinsame Basis gibt, auf die man sich bei schwierigen Entscheidungen besinnen kann, kommt es zum Kampf zwischen verschiedenen Interessengruppen um Macht und Einfluss, Leitbilder bleiben leere Phrasen und gut gemeinte Versuche der Mitarbeitermotivation laufen ins Leere. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass die Mitarbeiter/innen im Gesundheitswesen der Ethik, wie immer sie sie auch verstehen, eine hohe Bedeutung zumessen.230 Die meisten Menschen, die in helfenden Berufen arbeiten, haben auch moralische Gründe für ihre Berufswahl und ihr Ethos ist ihnen wichtig. Wird jedoch die Möglichkeit, auch diesem Ethos gemäß zu arbeiten, durch schlechte organisationale Rahmenbedingungen immer wieder beschnitten, so stellt sich eine tiefe Frustration ein, die auch als «moral distress» bezeichnet wird. Sie kann ganze Teams erfassen und äußert sich in destruktivem und zynischem Verhalten und einer mutlosen Grundstimmung, man könne ja sowieso nichts zum Positiven ändern. Mit dieser Haltung werden dann Auszubildende und Berufsanfängerinnen konfrontiert, die auf der Suche nach Orientierung sind – möglicherweise mit fatalen Folgen, denn die Mitarbeiterinnen in der Praxis sind für die Auszubildenden wichtige Vorbilder, mehr als die Lehrer, die ja nur für den geschützten Raum der Schule stehen. Die zunehmende Ökonomisierung hat den Kaufleuten im Krankenhausmanagement und im Management von Bildungseinrichtungen des Gesundheits229 Institutionen sind Sozialgebilde, die bestimmte gesellschaftliche Aufgaben regeln (z. B. Erziehung und Bildung, Produktion, Recht, Kultur). Organisationen sind arbeitsteilige Zusammenschlüsse von Menschen zur Erreichung bestimmter Zwecke. Organisation kann sich auf Prozesse beziehen oder Funktionen beschreiben (z. B. der Leitung). Sie ist aber auch Ausdruck für die Struktur, z.B. in Institutionen. 230 ��������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Vollmann et al. 2004: 1239, Kettner 2005: 531. Beide Autoren haben in ihren Befragungen sowohl die große grundsätzliche Bedeutung von Ethik, als auch Unterschiede zwischen Ärzten und Pflegenden erfasst. Nach Vollmanns Untersuchung sehen leitende Mitarbeiter der Pflege die Klinikseelsorge und interdisziplinäre Teambesprechungen als Unterstützung im Umgang mit ethischen Problemen an, während leitende Ärzte hier die Ethik-Kommissionen und Chef- und Oberarztvisiten nennen. Kettner fand Unterschiede bei dem, was als belastend erlebt wird: Während Pflegende «geringe Sensibilität», Kommunikationsprobleme und «unklare Entscheidungsfindung» als Belastungsfaktoren angaben, nannten Ärzte «Umstrittene Folgen von Entscheidungen» und «fehlende Übernahme von Verantwortung».
6. Institutionelle und organisationale Voraussetzungen für ethische Reflexion
wesens größeres Gewicht gegeben. Die grundsätzliche Kritik daran übersieht, dass auch ökonomische Verantwortlichkeit einen moralischen Wert hat (vgl. Wehkamp 2004: 21). Karl-Heinz Wehkamp sieht allerdings unterschiedliche Wertesysteme auf der Ebene der Organisation und des Managements und auf der Ebene derer, die in der Patientenversorgung tätig sind. Beide haben ihre Berechtigung: Pflegende und Ärzte haben die ihnen anvertrauten Patienten als Person im Blick, während das Management sich mehr an Kollektiven orientiert und Allokationsentscheidungen treffen muss. Auch Gerechtigkeitsargumente, die bei Allokationsentscheidungen und Fragen der Wirtschaftlichkeit eine Rolle spielen, sind moralische Argumente, so dass die Perspektiven der beiden Ebenen sich nicht ausschließen, sondern ergänzen. Der Mangel an Dialog zwischen den Ebenen des Managements und der Patientenversorgung führt jedoch dazu, dass Strukturveränderungen oft zu Lasten der Pflegenden und Ärzte gehen, die in der direkten Patientenversorgung arbeiten, stellte Wehkamp in mehreren Projekten zur Implementierung von Ethik in Kliniken fest. Hier zeigt sich erneut die enge Verzahnung der vier als Querschnittsthemen für die Pflegeausbildung genannten Elemente Ethik, Qualität, Organisation und Kommunikation (vgl. 4.2.1). Diese sind nicht nur für die Ausbildung, sondern auch für die Praxis in Gesundheitseinrichtungen grundlegend. Strukturveränderungen werden oft im Rahmen von Organisations- und Qualitätsentwicklung vorgenommen. Wenn sie aber schlecht kommuniziert werden und nicht ethisch, sondern nur ökonomisch begründet sind, werden sie als Belastung und Verschlechterung erlebt und entsprechend blockiert oder abgelehnt. Institutionen der Gesundheitsversorgung haben verschiedene Ziele: ethische, wirtschaftliche und politische. Das ethische Ziel, das Handeln im Krankenhaus am Interesse und Wohlergehen der Patienten auszurichten, muss jedoch Vorrang vor wirtschaftlichen Zielen haben; es ist gewissermaßen der Grund für die Daseinsberechtigung der Institution überhaupt.
6.2
Qualitätsentwicklung und Ethik Qualitätsentwicklung und -sicherung sind nicht nur wichtige Themen in der gesamten Fachdiskussion im Gesundheitswesen, sondern haben durch die gesetzliche Verpflichtung zu Qualitätssicherung in den Sozialgesetzbüchern V und XI vielerorts auch schon zu praktischen Konsequenzen in Form von entsprechenden Programmen, hausinternen Richtlinien und Leitbildern geführt.231
231 SGB V § 137; SGB XI § 80a. In: www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/; (bzw. /sgb_11), 10. November 2006.
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Angesichts der Allgegenwart des Themas Qualität ist es erstaunlich, dass dieses nur selten als mit der Ethik untrennbar verbunden gesehen wird. Dies ist vermutlich in dem prozeduralistischen und formalistischen Verständnis von Qualität begründet, das viele der Programme und damit oft auch der Akteure prägt. In der Medizin beispielsweise wird die Anzahl der Lebensjahre, die der Kranke mit guter Lebensqualität gewinnt (QUALYs, quality adjusted years) als Qualitätsindikator gesehen, ein in die Zukunft gerichteter Artefakt, kritisiert Wehkamp, der die Qualität der ärztlichen und pflegerischen Handlungen an dem Patienten vernachlässigt (Wehkamp 2004: 13). Die Verbindung von (Pflege-)Qualität und Ethik wird in der pflegeethischen Diskussion durchaus von einigen Autoren gesehen. Wettreck (2001) machte Vorschläge zu einem wertorientierten Management in der Pflege, Schwerdt (2002) stellte ein Projekt zur «Implementierung ethischen Denkens in den beruflichen Alltag Pflegender» vor, in dem es auch Teilprojekte für Lehrende und das Management gibt. Dort heißt es zur Begründung, dass «Pflegequalität und ethische Kompetenz untrennbar sind» (Schwerdt 2002: 135). Lay schließlich stellte die Ethik ins Zentrum seines Modells zur Pflegequalität (Lay 2004: 128). Zwar wird Qualitätsentwicklung überwiegend als ein Prozess verstanden, an dessen Anfang eine Diskussion über Werte stehen sollte, in der Praxis werden diese aber offenbar nur benannt und nicht in ihrer Bedeutung diskutiert und in die Umsetzung einbezogen. So bleibt Qualität ein messbarer Faktor, der von den Ärzten und Pflegenden vor allem mit einem erhöhten Aufwand für Dokumentation verbunden wird, aber selbst nicht als positive Entwicklung vor Ort erlebt wird, die den Patienten nützt und die die Zufriedenheit der Mitarbeiter erhöht. So stellt Wehkamp fest: Das «neue Qualitätsmanagement» unterscheidet sich vom althergebrachten durch seine Systematik, seine kritische Distanz zur Praxis und durch den Einsatz von Meßverfahren. Damit gerät es leicht in die Rolle des externen Kontrolleurs und des Mithelfers der Ökonomisierung und Rationalisierung (Wehkamp 2004: 16).
Qualitätsmanagement, das nur als vermehrte Dokumentation vor Ort bemerkbar wird, wird nicht nur nicht akzeptiert, es führt auch zu Widerständen und kann das Entstehen von Zynismus und Gleichgültigkeit bei engagierten Mitarbeitern begünstigen, die in der Regel viele eigene Ideen und Wünsche für Qualitätsverbesserungen haben. Überdies wird durch die Messverfahren die Illusion erzeugt, Qualität sei tatsächlich messbar. Realistischer wäre es, die Ergebnisse als Indizien für Qualität zu betrachten und sie nicht mit Qualität selbst zu verwechseln. Denn diese enthält Dimensionen, die nicht messbar sind und wird auch von subjektiven Faktoren beeinflusst. «Echte» Qualitätsentwicklung, so betont auch Wehkamp, muss unbequem sein und auf Fehler und Versäumnisse ohne Ansehen der Hierarchieebene konstruk-
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tiv reagieren (Wehkamp 2004: 16–18), und sie ist wertorientiert in dem Sinn, dass tatsächlich nach der Bedeutung von Werten in einer konkreten Situation oder Konfliktlage gefragt und darüber diskutiert wird. Qualitätstheorien versuchen das Gute zu beschreiben und zur Orientierung des täglichen Handelns zu machen. Es gibt aber nichts Gutes, das nicht auch moralisch gerechtfertigt werden kann (vgl. dazu Kap. 2.3.2.3). Qualität ist also immer auch moralisch zu bestimmen. Deshalb verbietet sich auch die Ausrichtung an rein ökonomischen Kriterien, denn diese erfasst nur einen Teil des (moralisch) Guten. Qualitätsentwicklung muss neben «ZDF» (Zahlen, Daten, Fakten) vor allem auch «weiche» Faktoren wie die Kultur und das Selbstverständnis eines Betriebes oder einer Abteilung, den Führungsstil und die Kommunikationskultur, Machtstrukturen und den Umgang mit Fehlern und Kritik umfassen, denn diese wirken sich unmittelbar auf das Wohlbefinden nicht nur von Mitarbeiter/ innen, sondern auch von Patient/innen aus. Im Folgenden werden einige Eckpunkte ethisch fundierter Qualitätsentwicklung beschrieben, wobei die Bereiche der Krankenversorgung und der Bildung unterschieden werden. 6.2.1 Ethisch fundierte Qualitätsentwicklung in Krankenhäusern und anderen
Pflegeeinrichtungen
Gesundheitseinrichtungen sind Akteure im Gesundheitswesen. So wie es keine «organisationale Unschuld» gibt, ist auch das Management niemals «wertneut ral». Ethisch fundierte Qualitätsentwicklung bezieht sich daher zum einen auf das Management im allgemeinen; für Kliniken ist darüber hinaus bedeutsam, inwieweit die Führungskräfte einen Rahmen für ethische Reflexion zur Verfügung stellen, indem sie Aktivitäten der Klinischen Ethik initiieren und finanzieren. 6.2.1.1 Management und Ethik
Führungskräfte im Gesundheitswesen tragen in doppelter Weise moralische Verantwortung: zum einen dafür, welchen Rahmen sie durch ihre Entscheidungen für moralisches Handeln im Alltag der Institution oder Abteilung schaffen, zum anderen für ihr persönliches Verhalten, ihren Führungsstil, ihre Haltung gegen über Mitarbeitern, Patienten und den verschiedenen Hierarchieebenen. Gegenüber letzteren ist von Leitungen im mittleren Management nicht selten Zivilcourage gefragt, weil ein herrschaftlicher, von Standesbewusstsein geprägter Umgangston in den Chefetagen vor allem von Krankenhäusern leider keineswegs selten ist. Der Führungsstil prägt ebenso wie die Ausstattung und die Verfahrensabläufe die Kultur einer Einrichtung, und diese kann verändert werden. Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden:
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Der Soziologe und Arzt Karl-Heinz Wehkamp startete 1999 zusammen mit der Klinikleitung ein Ethik-Projekt im Klinikum Nürnberg, dem größten kommunalen Klinikum Deutschlands mit 6000 Mitarbeiter/innen. Im Vorfeld des Projekts führte Wehkamp Interviews mit über 100 Mitarbeiter/innen und wurde mit viel Unzufriedenheit konfrontiert: «Wir brauchen keine Ethik, sondern Stellen!» wurde ihm gesagt (Wehkamp 2004: 9). Seine Untersuchung machte auch Gründe für die Unzufriedenheit deutlich, sie reichten von unbezahlten Überstunden bis hin zu schlechter Zusammenarbeit zwischen Pflegenden und Ärzten. Eine 25-köpfige Projektgruppe mit Vertretern aus allen Berufsgruppen erarbeitete den sogenannten «Ethik-Code» des Klinikums Nürnberg, in dem Grundpositionen des Klinikums z. B. bezogen auf den Umgang mit Patienten und Mitarbeitern als Orientierung für alle zusammengefasst wurden. So wurden Ethik und Qualitätsentwicklung verbunden. Ethikbezogene Fort- und Weiterbildung wurde angeboten und regelmäßige «Ethik-Cafés» durchgeführt, bei denen alle interessierten Mitarbeiter über aktuelle ethische Probleme wie z. B. den Umgang mit Patientenverfügungen diskutieren können. Als Haupt-Hemmnisse für Veränderungen beschreibt Wehkamp die Resignation bei den Mitarbeitern und autoritäre Führungskonzepte in den Leitungsebenen. Das Ethik-Projekt ist inzwischen am Klinikum Nürnberg fest etabliert und in ähnlicher Weise von Wehkamp an mehreren anderen großen Kliniken mit aufgebaut worden. Die Caritas Betriebs- und Trägergesellschaft (CBT) betreibt im Raum Köln 14 Altenpflegeheime, ein Kurheim und vier Wohnheime für Menschen mit geistiger Behinderung. In den Qualitätsleitlinien des mehrfach ausgezeichneten Unternehmens (zuletzt gewann es 2007 den 2. Preis beim Wettbewerb der Arbeitgeber im Gesundheitswesen mit 501 bis 2 000 Mitarbeitern) finden sich konkrete Grundsätze wie Mitarbeiterorientierung, Abbau von Hierarchien, Fehlerfreundlichkeit, Bemühen um eine respektvolle Sprache (Menschen werden weder als Pflegefall noch als Sterbefall bezeichnet), die aktive Einbeziehung ehrenamtlicher Mitarbeiter und die Partizipation von Heimbewohnern. Die Pflege wird zwar geplant, aber nicht standardisiert, sie soll sich nach den Bedürfnissen und Eigenheiten der Heimbewohner richten.232 «Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Eine Vertrauenskultur kann sich nur entwickeln, wenn es in einem Unternehmen ein ethisches Wertesystem für das Denken und Handeln der Mitarbeiter gibt», sagt Franz Joseph Stoffer, der Leiter der CBT (Stoffer 1999: 704).
232 www.cbt-gmbh.de/content/download/Qualitaetsleitlinien.pdf (2. 3. 2007).
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Leitungskräfte repräsentieren ihr Unternehmen oder ihre Abteilung nach innen und außen. Deshalb überschreitet ihre Verantwortung die persönliche Ebene und bezieht auch die institutionelle Ebene mit ein. Impulse für eine Veränderung der Leitungskultur und des Führungsstils in einem Haus können nur wirksam sein, wenn sie von der Leitungsebene initiiert oder unterstützt werden. Die Führungskräfte der verschiedenen Ebenen sind auch verantwortlich für die Initiierung und Begleitung von Projekten der Qualitätsentwicklung. Erfahrungen zeigen, dass dabei im Vorgehen eine Kombination von «top-down» und «bottom-up» am besten wirkt: Das Management gibt den Rahmen vor, etwa Ziele der Institution und die organisatorische Struktur der Projekte (vgl. Roes et al. 2000: 127 ff. und Wehkamp 2004: 26). Die Bearbeitung konkreter Themen, deren Verbesserung den Mitarbeiter/innen vor Ort besonders dringlich erscheint, wird aber kleineren Projektgruppen überlassen.233 Anzustreben ist, dass grundsätzlich berufsübergreifend gearbeitet wird, das fördert die Verständigung zwischen den verschiedenen Berufsgruppen und erhöht die Akzeptanz der Arbeitsergebnisse. Wichtig ist beim Projektmanagement eine klare Strukturierung durch eine Steuerungsgruppe, die aus Vertreter/innen der verschiedenen Leitungsebenen und Fachleuten aus der Mitarbeiterschaft besteht, und der regelmäßig die Zwischenergebnisse vorgelegt werden. Nur so kann vermieden werden, dass Arbeitszeit und -energie verschwendet werden, wenn Ergebnisse von Arbeitsgruppen nicht mit den Zielen und Vorstellungen des Managements übereinstimmen und deshalb nicht umgesetzt werden. Qualitätsverantwortung und Kostenverantwortung, die Praxissicht und die Sicht der Entscheider können auf diese Weise zusammengeführt werden. Es liegt in der Verantwortung des Managements, im Rahmen der Qualitätsentwicklung Projekte Klinischer Ethik zu ermöglichen.
233 ���������������������������������������������������������������������������������������� Einige Beispiele, die in einer seit mehreren Jahren laufenden Fortbildungsreihe für leitende Pflegekräfte genannt wurden: Als besonders dringlich wird das Problem erlebt, unter welchen Bedingungen Menschen im Krankenhaus sterben müssen. Projekte könnten hier sein: grundsätzliche Ermöglichung der Verlegung von Sterbenden in Einzelzimmer (dies hat wirtschaftliche Folgen, weil dann ein zweites Bett in dem Zimmer eventuell nicht belegt werden kann, und wird deshalb oft abgelehnt), Zusammenarbeit mit der Seelsorge und mit Ehrenamtlichen, würdiger Umgang mit dem Verstorbenen, Möglichkeit für die Angehörigen, nach dem Tod in Ruhe Abschied zu nehmen etc. Weitere Projekte könnten sein: gemeinsame Aufklärungsgespräche von Ärzten und Pflegenden, um die Kommunikation und Information zu verbessern; pflegerische Übergabe am Krankenbett unter Einbeziehung des Patienten; regelmäßige Besprechungen zwischen Pflegenden, Ärzten, Physiotherapeuten und anderen Gesundheitsberufen über Prognose, Therapieziele und Vorbereitung der Überleitung.
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6.2.1.2 Klinische Ethik
Klinische Ethik bezeichnet einen Zweig der Ethik im Gesundheitswesen, der sich auf die Förderung ethischen Denkens und ethischer Diskurse sowie ethisch begründeter Entscheidungsfindung in verschiedenen Praxisfeldern konzentriert. Die Anfänge in Deutschland liegen in der Gründung und Propagierung von sog. Ethik-Komitees vor allem durch Krankenhäuser in christlicher Trägerschaft ab 1997,234 die zur Gründung einer Vielzahl von Ethik-Komitees führte – im Jahr 2004 existierten ca. 70 Klinische Ethik-Komitees in Deutschland. Vergleichsweise schleppend war diese Entwicklung in den 36 deutschen Universitätskliniken, dort existierten 2004 nur zwei Klinische Ethik-Komitees, fünf weitere waren geplant (Vollmann et al. 2004: 1238). Ethik-Komitees sind interdisziplinär besetzte Gremien, in denen neben Pflegenden, Ärzten und eventuell anderen Berufsangehörigen auch Theologen oder Ethiker, eventuell ein Jurist sowie Laien- und Patientenvertreter sitzen. Jede/r, der im Krankenhaus arbeitet oder behandelt wird, kann Probleme, von denen sie/er selbst betroffen ist, dem Ethik-Komitee vorlegen. Dies geschieht meist durch eine kurze schriftliche Zusammenfassung und eine mündliche Vorstellung in einer Komitee-Sitzung. Die eigentliche Diskussion erfolgt aber meist ohne den Antragsteller. Das Ergebnis ist ein beratendes Votum, das allen Beteiligten schriftlich übermittelt wird. Ethik-Komitees sollen ein Forum sein für Abwägungen darüber, was dem Wohl des Patienten dient, medizinisch sinnvoll und wirtschaftlich ist, sie sollen Raum für die Besprechung existenzieller Fragen geben und Entscheidungsfindung begleiten.235 Die Beratung soll «herrschaftsfrei»236 und systematisch erfolgen, wobei für die Moderation Expertise notwendig ist; sie wurde öfter von Philosophen oder Theologen übernommen.
234 Der Deutsche Evangelische Krankenhausverband e.V. und der Katholische Kranken hausverband Deutschlands e.V. gaben 1997 gemeinsam die Broschüre «Ethik-Komitee im Krankenhaus» heraus, in der zur Einrichtung von Klinischen Ethik-Komitees aufgerufen wurde. In der Folgebroschüre gleichen Titels von 1999 wurde darauf hingewiesen, dass Ethik-Komitees einen hohen Stellenwert bei der Qualitätserhebung durch die von den kirchlichen Trägerverbänden gegründeten Zertifizierungsgesellschaft «proCum Cert» haben. 235 Vgl. Lauer in der Broschüre «Ethik-Komitee im Krankenhaus» (Deutscher Evangelischer Krankenhausverband, Deutscher Katholischer Krankenhausverband 1999: 8 f.). 236 Die Erfahrungen im Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Erlangen zeigten, dass Hierarchien und Unterschiede zwischen den Berufsgruppen die Diskussion im Komitee erschwerten: «In der Praxis war es weder einfach noch selbstverständlich, dass eine Krankenschwester mit einem Chefarzt als gleichberechtigtes Komiteemitglied kommuniziert oder ihm widerspricht.» (Vollmann/Weidtmann 2003: 235).
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Ursula Geißner stellt in ihrem Beitrag in der zweiten Broschüre «Ethik-Komitee im Krankenhaus» den Zusammenhang mit Organisationsentwicklung her, der wohl anfangs oft übersehen wurde: «Muß sich nicht erst die Organisation ändern, ehe das Ethik-Komitee implementiert werden kann? Kann sich die Organisation ändern, wenn das Ethik-Komitee installiert wird?»237 Ein Ethik-Komitee als Insel im Krankenhausbetrieb, auf der Diskurse gelingen, die sonst nirgends geführt werden, kann zwar für die Beteiligten und die von ihnen Beratenen positiv sein, sie wird jedoch nur ganz wenig an der Kultur der Institution ändern, wenn sie nicht von anderen Maßnahmen der Organisations- und Qualitätsentwicklung begleitet wird (vgl. dazu Wehkamp 2004: 27 und 30) und der gesamte Prozess von der Leitungsebene des Hauses aktiv mitgetragen wird. Deshalb wurden ergänzend neue, eher dezentral ansetzende Instrumente zur Förderung des ethischen Diskurses und zur Bearbeitung ethischer Konflikte entwickelt: Ethik-Arbeitskreise, Ethikberatung, ethischer Konsiliardienst, EthikVisite und Ethik-Café. Lay weist auf die Gefahr hin, dass Gremien die Tendenz unterstützen, ethische Fragen an Experten zu delegieren (Lay 2004: 164). Als Zentrum verschiedener Aktivitäten zur Organisationsentwicklung ist ein Ethik-Komitee jedoch sehr sinnvoll, da es die Koordination leisten kann. Vollmann weist darauf hin, dass Klinische Ethik von Bildungsmaßnahmen für die gesamte Mitarbeiterschaft flankiert werden sollte, denn «die Delegation von ethischer Verantwortung ist gerade nicht das Ziel klinischer Ethik» (Vollmann/Weidtmann 2003: 236). Bisher sind Klinische Ethik-Komitees überwiegend medizinisch dominiert; den Vorsitz hat meist ein Arzt oder Medizinethiker, und die Pflege stellt nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Mitglieder. Der Ethikunterricht in der Pflegeausbildung muss also zum Ziel haben, den Auszubildenden ein ethisches Grundwissen und Diskurserfahrungen zu geben, so dass sie sich selbstbewusst in konkrete Entscheidungsfindungen, aber auch in Ethik-Gremien einbringen können. 6.2.2
Ethisch fundierte Qualitätsentwicklung in Bildungseinrichtungen
Die Bedeutung der Bildung für die Entwicklung ethischer Kompetenz, aber auch für die Entwicklung einer wertorientierten Kultur und damit für Qualität in Institutionen ist durch die Ausführungen zum letzten Punkt deutlich geworden. Dementsprechend sind Bildungseinrichtungen, die mit Krankenhäusern verbunden sind, nicht nur Lieferanten des Nachwuchses in der Pflege und in anderen Gesundheitsfachberufen, sondern bei entsprechend enger Abstimmung 237 ��������������������������������������������������������������������������������� Ursula Geißner in der Broschüre «Ethik-Komitee im Krankenhaus» (Deutscher Evangelischer Krankenhausverband, Deutscher Katholischer Krankenhausverband 1999: 35).
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auch ein Motor der Qualitätsentwicklung. Wenn Klinische Ethik, wie oben beschrieben, nicht als einzelnes Gremium betrieben wird, sondern als Prozess mit verschiedenen Aktivitäten, der nach und nach viele Bereiche umfasst, sind Fortbildungen z. B. für die Mitglieder des Ethik-Komitees oder seiner Arbeitsgruppen, Workshops für Teams, eventuell sogar neue Weiterbildungskonzepte (etwa zur Ethikberatung) nötig. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Klinikleitung und der Bildungsstätte nutzt die Möglichkeiten einer solchen Einrichtung für den Gesamtbetrieb optimal aus, sie kann die Konzepte der Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen inhaltlich aufeinander abstimmen und dabei nicht nur einen qualitativ verbesserten und einheitlicheren Wissensstand der Beschäftigten erreichen, sondern auch das Profil des Hauses mitbestimmen. Wie aber müssen Strukturen, Kultur und Verfahren in Bildungseinrichtungen selbst beschaffen sein, um einen guten Rahmen für die Entwicklung von ethischer Kompetenz zu geben? In ihrem Positionspapier «Ausbildungsfinanzierung und Qualitätsstandards in den Pflegefachberufen» schlägt die Sektion Bildung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft vier Qualitätsmerkmale für Bildungseinrichtungen vor. Sie betreffen die Relation zwischen Lehrerinnen und Schülerinnen, den Bedarf an Fort- und Weiterbildung für die Lehrenden, Umfang und Qualifikationsbedarf der Praxisanleitung und die räumliche und sachliche Ausstattung der Schulen.238 Diese Faktoren bilden den Rahmen, in dem die Kultur der Bildungseinrichtung entwickelt werden kann. Im Zuge der Ökonomisierung im Gesundheitswesen werden Bildungseinrichtungen oft als überflüssige und unrentable Abteilungen wahrgenommen. Dies liegt allerdings auch an dem Mangel an kaufmännischer Kompetenz in den Bildungseinrichtungen selbst. Die Krankenhausleitungen haben vielfältigen Bedarf an Schulungen und Fortbildungen, die von einer angeschlossenen Bildungseinrichtung umgesetzt werden können (auch der Nachwuchs an Fachpersonal wird zunehmend wichtiger). Erst wenn in einem Wirtschaftsplan die Leistungen abgebildet werden, die die Bildungsstätte für den Träger erbringt, wird deutlich, dass Bildung kein Zuschussgeschäft ist. Die Strukturveränderungen, die wegen der überall praktizierten Fusionen von kleinen Bildungsstätten zu größeren Zentren zur Zeit nicht nur die Pflege(aus)bildung prägen, stellen auch Chancen zur Professionalisierung und inhaltlichen Weiterentwicklung dar. Die bisher übliche «Schulleitung» durch eine Lehrkraft für Pflege wird im Zuge der Vergrößerung und der Ökonomisierung zuneh238 Sektion Bildung 2006. Für die Lehrer-Schüler-Relation wird 1 : 15 vorgeschlagen; für die Fort- und Weiterbildung 50 Stunden/Jahr; für die Praxisanleitung ein Verhältnis von 1 : 10. Was die räumliche und sachliche Ausstattung anbelangt, wird auf einen erhöhten Bedarf durch die neuen Lernformen verwiesen, allgemein jedoch die Orientierung an den Standards für berufsbildende Schulen empfohlen.
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mend durch ein mehrköpfiges Management unter Einbeziehung kaufmännischer Kompetenz abgelöst. Kaufmännisches Denken und Managementerfahrung sind wichtige Ergänzungen der pädagogischen Kompetenz in der Leitung von Bildungseinrichtungen. Um eine dialogfreundliche Kultur zu ermöglichen, sollten (nicht nur) in Bildungseinrichtungen flache Hierarchien angelegt und durch Projektstrukturen ergänzt werden. Projekte als zeitlich begrenzte Leitungsaufgaben werden von den Mitarbeiterinnen getragen; sie entwickeln – in enger Absprache mit einer Steuerungsgruppe – Verfahrensstandards und Richtlinien, erproben sie und setzen sie um. So wird ein verbindlicher Rahmen für Verfahren wie Bewerbungen, Prüfungen, Stundenplanung, Einsatzplanung und Kursleitung geschaffen, der einheitliche Qualitätsstands sichert, aber dennoch Raum für Experimente und neue Ideen lässt. Auch die Leitung und Verwaltung der Bildungsstätte selbst werden durch die Projektstruktur transparenter, wenn in Projekten etwa die Aufgaben des Sekretariats und der Lehrer, die Raumverteilung und die Regelung der Arbeitszeit erarbeitet werden. Diese Mitverantwortung für das institutionelle Umfeld ist ein wichtiger ethischer Grundsatz. Eine positive Kultur der Bildungseinrichtung ist ebenso wie in anderen Institutionen eine Bedingung für die Möglichkeit und Motivation, Mitverantwortung wahrzunehmen; gleichzeitig wird die Kultur durch die Mitverantwortung auch ihrerseits geprägt und weiterentwickelt. Zu einer positiven Betriebskultur in Bildungseinrichtungen gehören die schon erwähnten flachen Hierarchien, die nicht nur durch strukturelle Vorgaben, sondern vor allem durch das Verhalten der Führungskräfte auch tatsächlich als flach und transparent erlebt werden. Ein Prüfstein für Leitungskompetenz ist der Umgang mit Mitarbeiterinnen beim Auftreten von Fehlern und Problemen. Ein dialogischer Umgang, d. h. ein ständiger Austausch und nicht nur dann, wenn Probleme auftreten, trägt dazu bei, problematische Entwicklungen frühzeitig erkennen und durch konstruktives Feedback und klare Vorgaben und Zielsetzungen bewältigen zu können. Auch Lehrerinnen werden zu einem dialogischen Umgang mit Schülerinnen am ehesten dadurch ermutigt, dass sie einen solchen Umgang selbst von ihren Vorgesetzten und Kolleginnen erleben. So kann bei den Schülerinnen ein Gegengewicht entstehen, das sie beim Umgang mit der dialogarmen Praxis im Krankenhaus begleitet: Die eigene Erfahrung, dass Konflikte und Probleme gemeinsam gelöst werden können und dass es einem persönlich damit besser geht, als wenn sie verdrängt und geleugnet werden, ist ein Baustein ethischer Kompetenz. Eine dialogische Kultur ist auch Voraussetzung für die Offenheit und Weiterentwicklung pädagogisch-didaktischer Konzepte. Dies ist besonders für die Arbeit mit dem Curriculum wichtig, da viele Lehrkräfte sich noch an die Idee gewöhnen müssen, dass ein gutes Curriculum gleichsam immer in Bewegung ist, was für die
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Lehrenden natürlich auch bedeutet, sich mit Anpassungen und Veränderungen immer neu auseinanderzusetzen und diese ggf. auch selbst zu initiieren. Offenheit und kontinuierliche Innovation ist für alle Unterrichts- und Prüfungskonzepte, für den Einsatzplan, das Praxiscurriculum und die Zusammenarbeit mit den Praxismitarbeitern und anderen Einrichtungen notwendig. Zur positiven Organisationskultur einer Bildungseinrichtung gehört die deutliche Präsenz ethischer und existenzieller Themen in vielen Lernzusammenhängen und die Übung in Selbstreflexion und Feedback. Wenn ethische Reflexion als Aufgabe von Pflegenden angenommen werden soll, muss sie eingeübt werden und nicht in einer curricularen Nische verschwinden oder an Experten delegiert werden. Ebenso wie jede Pflegelehrkraft unabhängig von Spezialisierungen und Schwerpunkten Grundlagen von Pflege unterrichtet, sollte sie auch die ethischen Dimensionen der von ihr unterrichteten Themen kennen und im Unterricht vertreten. Gerade die zunehmende Fallorientierung von Unterricht und Prüfungen in Aus-, Fort- und Weiterbildung der Pflege bietet die Chance, fächerübergreifend Zusammenhänge und Hintergründe wie Ethik, Sozialwissenschaften, Geschichte und Krankenhausbetriebslehre mitzuführen. Um den Lernenden in der Ausbildung oder in Weiterbildungskursen nicht nur kognitive und praktische Lernprozesse, sondern auch persönliche Entwicklungsprozesse zu ermöglichen, müssen sie auf verschiedene Weise persönlich gestärkt, unterstützt und beraten werden. Zu der sich verändernden Rolle der Lehrenden gehört es, soziale Verhaltensweisen wie etwa Feedback, Verhalten in Gruppen sowie Umgang mit Konflikten einüben zu helfen. Dies geschieht, indem sie Feedback nicht nur zu Leistungen, sondern auch zu Gruppenprozessen geben bzw. die Selbstreflexion der Lernenden über ihre Arbeitsweise oder ihr Verhalten in der Gruppe anregen. Die Auszubildenden bzw. Weiterbildungsteilnehmerinnen bringen bereits eine Lernbiographie mit bestimmten Begabungen, möglicherweise aber auch mit Versagensängsten und Blockaden mit. Die Lernberatung soll dazu beitragen, dass die Lernenden sich selbst in ihrem Lernverhalten reflektieren und nach Veränderungsmöglichkeiten suchen können. Wenn Beobachtung und Feedback zu Gruppenprozessen regelmäßig erfolgen, können Probleme Einzelner möglicherweise erkannt werden, bevor es zu dem Kreislauf von schlechten Noten, Ängsten, Vermeidungshaltung und erneuten schlechten Leistungen kommt. Bei Konflikten in den Praxiseinsätzen sind die Lehrkräfte der Bildungsstätte als Vermittler gefragt. Sie weisen Lernenden in schwierigen Situationen den Weg zu professionellem Verhalten und stärken die Rechte der Lernenden gegenüber Mitarbeiter/innen der Praxis, die aus Tradition dazu neigen, in Auszubildenden Hilfskräfte zu sehen, was durch ihre eigenen Erfahrungen und den Arbeitsdruck in den Praxisbereichen noch verstärkt wird. Gleichzeitig gibt es durch die Praxisanleiterkurse, die durch das neue Krankenpflegegesetz zur Pflicht gemacht
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werden, auch Bildungsimpulse in die Praxis hinein, die zu verstärktem Interesse der Praktiker/innen an Ausbildung führen. Die Schülerinnen sollen zu Selbst- und Mitverantwortung ermutigt werden. Dazu sind die bisher vorhandenen Formen der Partizipation von Schülerinnen wo immer möglich auszubauen. Neben der Jugend- und Auszubildendenvertretung, die von der Schulleitung und den Lehrkräften gefördert und deren Arbeit wertgeschätzt werden sollte, sollten Auszubildende in den Projektgruppen der Lehrerinnen (zu Bewerbungsgesprächen, Curriculum, Prüfungen etc.) mitwirken oder diese beraten. Gute Erfahrungen wurden bereits mit der eigenständigen Vorbereitung und Durchführung von Praxis- und Projektwochen oder der Schulstation durch Schüler einschließlich entsprechender Präsentationen gemacht. Aus-, Fort- und Weiterbildungsinstitute sollen die Entstehung ethischer Kompetenz fördern, die sich als (Selbst)Reflexionsfähigkeit, Diskurs- und Urteilsfähigkeit zusammenfassen lässt und eng mit personaler und psychosozialer Kompetenz verwoben ist. Dazu müssen sie als Organisation Raum für die Entfaltung geben durch eine reflexionsfreundliche Kultur, durch das Vorbild der Lehrenden und die gezielte Begleitung der Schüler/innen. Die Institutionen des Gesundheitswesens, in denen Pflegende schließlich arbeiten, sollten sich nicht als eine von «der Theorie» getrennte Sphäre verstehen, sondern als in Wechselwirkung mit der Bildungseinrichtung stehender Lernort. Wenn Themen wie Ethik, Qualität, Kommunikation und Organisation als übergreifende Themen verstanden und in verschiedene Aktivitäten integriert werden, wird der Zusammenhang mit und die Bedeutung von Bildung immer klarer. Organisationsethik und -entwicklung können dazu beitragen, dass die zunächst diffus empfundene Wichtigkeit von Ethik auch in der Praxis spürbar wird und dass die Ethik selbst Konturen bekommt. Diese Arbeit begann mit Erkundungen über die Entstehung des pflegerischen Ethos und die Anfänge der Pflegeethik. Die immer wieder festzustellende Unklarheit der Konturen und Konzepte der Ethik in der Pflege ist sicher einer der Gründe, weshalb diese – wie auch andere Bereichsethiken – in professionellen Diskursen eher ein Schattendasein führt. Auch die Verwechslung mit Moral ist verbreitet und führt zur Ablehnung von Ethik durch die Praktiker, denen sie doch eine Orientierungshilfe sein könnte. Ethik in der Pflege ist für viele eventuell auch deshalb abstrakt geblieben, weil sie nicht selten als bloßes Mittel und Merkmal der Professionalisierung dargestellt wurde, also nicht als die Praxis ständig begleitende Reflexion. Ethik sollte ebenso wie die Pflege selbst nicht schematisiert, standardisiert und formalisiert werden. Deshalb muss einem einseitig szientistischen und formalistischen Verständnis ein in der Lebenspraxis ansetzendes Konzept entgegengesetzt werden, das Situationsbezug und Universalismus verbindet, und
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das aus der Einsicht in die prinzipielle Unabschließbarkeit ethischer Reflexion eine Anregung zu Sorgfalt und Gelassenheit und nicht zu Resignation folgert. Dieses Ethikverständnis, das auf den Eigenwert des Innehaltens, des rationalen Diskurses ebenso wie der Sensibilisierung setzt, kann ein Anstoß dafür sein, dass die Berufsgruppe der Pflege Ethik mehr zu ihrer eigenen Sache macht.
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Ergebnisse
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Anhang
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Ergebnisse
Richtlinie der Bundesärztekammer zur Begleitung Sterbender
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Richtlinie der Bundesärztekammer zur ärztlichen Begleitung Sterbender (aus: Deutsches Ärzteblatt, Heft 19 vom 7. Mai 2004) Dokumentation Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung Präambel
Aufgabe des Arztes ist es, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht daher nicht unter allen Umständen. So gibt es Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sein können. Dann tritt palliativ-medizinische Versorgung in den Vordergrund. Die Entscheidung hierzu darf nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden. Unabhängig von anderen Zielen der medizinischen Behandlung hat der Arzt in jedem Fall für eine Basisbetreuung zu sorgen. Dazu gehören u. a.: menschenwürdige Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit sowie Stillen von Hunger und Durst. Art und Ausmaß einer Behandlung sind gemäß der medizinischen Indikation vom Arzt zu verantworten; dies gilt auch für die künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr. Er muss dabei den Willen des Patienten beachten. Ein offensichtlicher Sterbevorgang soll nicht durch lebenserhaltende Therapien künstlich in die Länge gezogen werden. Bei seiner Entscheidungsfindung soll der Arzt mit ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern einen Konsens suchen. Aktive Sterbehilfe ist unzulässig und mit Strafe bedroht, auch dann, wenn sie auf Verlangen des Patienten geschieht. Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein. Diese Grundsätze können dem Arzt die eigene Verantwortung in der konkreten Situation nicht abnehmen. Alle Entscheidungen müssen individuell erarbeitet werden. I. Ärztliche Pflichten bei Sterbenden
Der Arzt ist verpflichtet, Sterbenden, d. h. Kranken oder Verletzten mit irreversiblem Versagen einer oder mehrerer vitaler Funktionen, bei denen der Eintritt des Todes in kurzer Zeit zu erwarten ist, so zu helfen, dass sie unter menschenwürdigen Bedingungen sterben können.
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Die Hilfe besteht in palliativ-medizinischer Versorgung und damit auch in Beistand und Sorge für Basisbetreuung. Dazu gehören nicht immer Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr, da sie für Sterbende eine schwere Belastung darstellen können. Jedoch müssen Hunger und Durst als subjektive Empfindungen gestillt werden. Maßnahmen zur Verlängerung des Lebens dürfen in Übereinstimmung mit dem Willen des Patienten unterlassen oder nicht weitergeführt werden, wenn diese nur den Todeseintritt verzögern und die Krankheit in ihrem Verlauf nicht mehr aufgehalten werden kann. Bei Sterbenden kann die Linderung des Leidens so im Vordergrund stehen, dass eine möglicherweise dadurch bedingte unvermeidbare Lebensverkürzung hingenommen werden darf. Eine gezielte Lebensverkürzung durch Maßnahmen, die den Tod herbeiführen oder das Sterben beschleunigen sollen, ist als aktive Sterbehilfe unzulässig und mit Strafe bedroht. Die Unterrichtung des Sterbenden über seinen Zustand und mögliche Maßnahmen muss wahrheitsgemäß sein, sie soll sich aber an der Situation des Sterbenden orientieren und vorhandenen Ängsten Rechnung tragen. Der Arzt kann auch Angehörige des Patienten und diesem nahe stehende Personen informieren, wenn er annehmen darf, dass dies dem Willen des Patienten entspricht. Das Gespräch mit ihnen gehört zu seinen Aufgaben. II. Verhalten bei Patienten mit infauster Prognose
Bei Patienten, die sich zwar noch nicht im Sterben befinden, aber nach ärztlicher Erkenntnis aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit sterben werden, weil die Krankheit weit fortgeschritten ist, kann eine Änderung des Behandlungszieles indiziert sein, wenn lebenserhaltende Maßnahmen Leiden nur verlängern würden und die Änderung des Therapieziels dem Willen des Patienten entspricht. An die Stelle von Lebensverlängerung und Lebenserhaltung treten dann palliativmedizinische Versorgung einschließlich pflegerischer Maßnahmen. In Zweifelsfällen sollte eine Beratung mit anderen Ärzten und den Pflegenden erfolgen. Bei Neugeborenen mit schwersten Beeinträchtigungen durch Fehlbildungen oder Stoffwechselstörungen, bei denen keine Aussicht auf Heilung oder Besserung besteht, kann nach hinreichender Diagnostik und im Einvernehmen mit den Eltern eine lebenserhaltende Behandlung, die ausgefallene oder ungenügende Vitalfunktionen ersetzen soll, unterlassen oder nicht weitergeführt werden. Gleiches gilt für extrem unreife Kinder, deren unausweichliches Sterben abzusehen ist, und für Neugeborene, die schwerste Zerstörungen des Gehirns erlitten haben. Eine weniger schwere Schädigung ist kein Grund zur Vorenthaltung oder zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen, auch dann nicht, wenn Eltern dies fordern.Wie bei Erwachsenen gibt es keine Ausnahmen von der Pflicht zu leidensmindernder Behandlung und Zuwendung, auch nicht bei unreifen Frühgeborenen.
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III. Behandlung bei schwerster zerebraler Schädigung und anhaltender Bewusstlosigkeit
Patienten mit schwersten zerebralen Schädigungen und anhaltender Bewusstlosigkeit (apallisches Syndrom; auch so genanntes Wachkoma) haben, wie alle Patienten, ein Recht auf Behandlung, Pflege und Zuwendung. Lebenserhaltende Therapie einschließlich – ggf. künstlicher – Ernährung ist daher unter Beachtung ihres geäußerten Willens oder mutmaßlichen Willens grundsätzlich geboten. Soweit bei diesen Patienten eine Situation eintritt, wie unter I – II beschrieben, gelten die dort dargelegten Grundsätze. Die Dauer der Bewusstlosigkeit darf kein alleiniges Kriterium für den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen sein. Hat der Patient keinen Bevollmächtigten in Gesundheitsangelegenheiten, wird in der Regel die Bestellung eines Betreuers erforderlich sein. IV. Ermittlung des Patientenwillens
Bei einwilligungsfähigen Patienten hat der Arzt die durch den angemessen aufgeklärten Patienten aktuell geäußerte Ablehnung einer Behandlung zu beachten, selbst wenn sich dieser Wille nicht mit den aus ärztlicher Sicht gebotenen Diagnose- und Therapiemaßnahmen deckt. Das gilt auch für die Beendigung schon eingeleiteter lebenserhaltender Maßnahmen. Der Arzt soll Kranken, die eine notwendige Behandlung ablehnen, helfen, die Entscheidung zu überdenken. Bei einwilligungsunfähigen Patienten ist die in einer Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachte Ablehnung einer Behandlung für den Arzt bindend, sofern die konkrete Situation derjenigen entspricht, die der Patient in der Verfügung beschrieben hat, und keine Anhaltspunkte für eine nachträgliche Willensänderung erkennbar sind. Soweit ein Vertreter (z. B. Eltern, Betreuer oder Bevollmächtigter in Gesundheitsangelegenheiten) vorhanden ist, ist dessen Erklärung maßgeblich; er ist gehalten, den (ggf. auch mutmaßlichen) Willen des Patienten zur Geltung zu bringen und zum Wohl des Patienten zu entscheiden.Wenn der Vertreter eine ärztlich indizierte lebenserhaltende Maßnahme ablehnt, soll sich der Arzt an das Vormundschaftsgericht wenden. Bis zur Entscheidung des Vormundschaftsgerichts soll der Arzt die Behandlung durchführen. Liegt weder vom Patienten noch von einem gesetzlichen Vertreter oder einem Bevollmächtigten eine bindende Erklärung vor und kann eine solche nicht – auch nicht durch Bestellung eines Betreuers – rechtzeitig eingeholt werden, so hat der Arzt so zu handeln, wie es dem mutmaßlichen Willen des Patienten in der konkreten Situation entspricht. Der Arzt hat den mutmaßlichen Willen aus den Gesamtumständen zu ermitteln. Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen des Patienten können neben früheren Äußerungen seine Lebenseinstellung, seine
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religiöse Überzeugung, seine Haltung zu Schmerzen und zu schweren Schäden in der ihm verbleibenden Lebenszeit sein. In die Ermittlung des mutmaßlichen Willens sollen auch Angehörige oder nahe stehende Personen als Auskunftspersonen einbezogen werden, wenn angenommen werden kann, dass dies dem Willen des Patienten entspricht. Lässt sich der mutmaßliche Wille des Patienten nicht anhand der genannten Kriterien ermitteln, so soll der Arzt für den Patienten die ärztlich indizierten Maßnahmen ergreifen und sich in Zweifelsfällen für Lebenserhaltung entscheiden. Dies gilt auch bei einem apallischen Syndrom.
V. Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen
Mit Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen nimmt der Patient sein Selbstbestimmungsrecht wahr. Sie sind eine wesentliche Hilfe für das Handeln des Arztes. Eine Patientenverfügung (auch Patiententestament genannt) ist eine schriftliche oder mündliche Willensäußerung eines einwilligungsfähigen Patienten zur zukünftigen Behandlung für den Fall der Äußerungsunfähigkeit. Mit ihr kann der Patient seinen Willen äußern, ob und in welchem Umfang bei ihm in bestimmten, näher umrissenen Krankheitssituationen medizinische Maßnahmen eingesetzt oder unterlassen werden sollen. Anders als ein Testament bedürfen Patientenverfügungen keiner Form, sollten aber schriftlich abgefasst sein. Mit einer Vorsorgevollmacht kann der Patient für den Fall, dass er nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen zu äußern, eine oder mehrere Personen bevollmächtigen, Entscheidungen mit bindender Wirkung für ihn, u. a. in seinen Gesundheitsangelegenheiten, zu treffen (§ 1904 Abs. 2 BGB). Vorsorgevollmachten sollten schriftlich abgefasst sein und die von ihnen um- fassten ärztlichen Maßnahmen möglichst benennen. Eine Vorsorgevollmacht muss schriftlich niedergelegt werden, wenn sie sich auf Maßnahmen erstreckt, bei denen die begründete Gefahr besteht, dass der Patient stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Schriftform ist auch erforderlich, wenn die Vollmacht den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen umfasst. Die Einwilligung des Bevollmächtigten in Maßnahmen, bei denen die begründete Gefahr besteht, dass der Patient stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet, bedarf der Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes, es sei denn, dass mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist (§ 1904 Abs. 2 BGB). Ob dies auch bei einem Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen gilt, ist umstritten. Jedenfalls soll sich der Arzt, wenn der Bevoll-
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mächtigte eine ärztlich indizierte lebenserhaltende Maßnahme ablehnt, an das Vormundschaftsgericht wenden. Bis zur Entscheidung des Vormundschaftsgerichts soll der Arzt die Behandlung durchführen. Eine Betreuungsverfügung ist eine für das Vormundschaftsgericht bestimmte Willensäußerung für den Fall der Anordnung einer Betreuung. In ihr können Vorschläge zur Person eines Betreuers und Wünsche zur Wahrnehmung seiner Aufgaben geäußert werden. Eine Betreuung kann vom Gericht für bestimmte Bereiche angeordnet werden, wenn der Patient nicht in der Lage ist, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen, und eine Vollmacht hierfür nicht vorliegt oder nicht ausreicht. Der Betreuer entscheidet im Rahmen seines Aufgabenkreises für den Betreuten. Zum Erfordernis der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht wird auf die Ausführungen zum Bevollmächtigten verwiesen.
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Resolution der Arbeitsgruppe «Pflege und Ethik»: ‹Der Mensch lebt nicht vom Brot allein› Lebt der Mensch vom Brot allein? Kritische Anmerkungen der Arbeitsgruppe für Pflege und Ethik in der Akademie für Ethik in der Medizin239 zu der «Grundsatzstellungnahme Ernährung und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen»240 des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen
Der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen hat im Juli 2003 eine «Grundsatzstellungnahme Ernährung und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen» herausgegeben. Anhand dieser Grundsatzstellungnahme soll die Qualität der Pflege geprüft und verbessert werden. Es zeichnet sich ab, dass sie Eingang in die Ausbildung der Pflegenden findet. Ernährung und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen gehören zu den problematischsten und belastendsten Aufgaben im Alltag der Pflege. Die Arbeitsgruppe Pflege und Ethik der Akademie für Ethik in der Medizin begrüßt deshalb, daß der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen den Handlungsbedarf auf diesem Gebiet herausstellt. Die Arbeitsgemeinschaft Pflege und Ethik warnt aber davor, diese Grundsatzstellungnahme unkritisch zu übernehmen. Sie verengt den Blick und blendet die soziale Wirklichkeit mit den tatsächlichen Problemen aus. Im Einzelnen: Die Autoren der Grundsatzstellungnahme gehören alle dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen an. Spezifisch mit dem Alter befasste Disziplinen (Gerontologie, Psychologie, Soziologie, Ethik) und Interessenverbände (Seniorenorganisationen, DemenzSelbsthilfegruppen, Heime) sind offenbar nicht einbezogen worden. Die sozialen und kulturellen Aspekte von Essen und Trinken werden im Kapitel Physiologie und soziale Aspekte auf einer (!) von 13 Seiten zutreffend geschildert. Für das allen Maßnahmen notwendigerweise vorhergehende Assessment des Ernährungsstatus (Kap. 4) bleiben sie aber unberücksichtigt. Das Fehlen anerkannter Standards für Ernährungszustand und Essverhalten (S. 43) wird zwar erwähnt und die unzureichende Datenlage zum Problem der Ablehnung von Nahrung referiert (S. 62 ff.). Es werden auch durchaus weitreichende praktische Ratschläge 239 Arbeitsgruppen in der Akademie für Ethik in der Medizin e.V. sind offene Foren für den Austausch unterschiedlicher Standpunkte und Positionen. Der Inhalt der von ihnen veröffentlichten Beiträge wird allein von den genannten Autorinnen und Autoren verantwortet. 240 Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e.V. (MDS) (Hrsg.): Grundsatzstellungnahme. Ernährung und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen. Abschlussbericht Projektgruppe P 39. 127 Seiten. Essen, Juli 2003. Erhältlich durch: MDS, Lützowstr. 53, 45141 Essen, Tel. (0201)8327-0.
Resolution der Arbeitsgruppe «Pflege und Ethik»
gegeben (z.B. S.55–59), die Messmethoden zwecks Evaluation beschränken sich aber im Wesentlichen auf den aus medizinischer Sicht definierten Ernährungsstatus. Tatsächliche Defizite im Alltag der Versorgung älterer Menschen werden zwar erwähnt (S. 14, S. 62 ff.); gegenübergestellt werden ihnen aber lediglich die gesetzlichen Anforderungen. Es wird zustimmend zitiert (S. 22): «Das Handeln des Arztes muss aber in jedem Fall vom Patientenwillen bestimmt werden». Der Hinweis darauf, dass das für die Pflegenden in gleicher Weise gilt, fehlt. Die Verantwortung für Organisationsdefizite und Ressourcenmängel, die nicht bei den Pflegenden selbst liegen kann, bleibt ausgeblendet. Zwischen Nicht-essen-können und Nicht-essen-wollen wird richtigerweise unterschieden und eine schwedische Arbeit zitiert (S. 63): «Pflegende waren in dieser Studie häufig nicht in der Lage zu erkennen, ob die von ihnen betreuten Menschen nicht essen können oder nicht essen wollen.» Dass aber Nicht-essen-wollen Ausdruck eines langsamen Abschieds vom Leben oder von beginnender Todesnähe und die Ablehnung von Nahrung als letzte verbliebene Möglichkeit der Selbstbehauptung in einem Pflegeheim verständlich sein kann, bleibt unbeachtet. Unter der Überschrift Ethische Aspekte im Kapitel Versorgungskontext heißt es u. a.: «Paternalismus bedeutet in diesem Kontext das Prinzip der ärztlichen Fürsorge» … «Der sogenannte mutmaßliche Wille stellt gewissermaßen die paradoxe Synthese zwischen Paternalismus und Autonomie dar». Diese Sätze sind unhaltbar: Tatsächlich ist Paternalismus gerade eine Fehlform von Fürsorge, «mutmaßlicher Wille» ist ein korrekter Rechtsbegriff, richtig verstandene Fürsorge dient der Selbstbestimmung.
Die Hauptträger der Ernährung und Flüssigkeitsversorgung älterer Menschen sind die Pflegeberufe. Der Medizinische Dienst widmet der Ernährungsphysiologie, der Mangelernährung und Dehydratation und den berufsrechtlichen Forderungen den größten Teil seiner Grundsatzstellungnahme. Da er den sozialen, kommunikativen und organisatorischen Kontext weitgehend ausblendet, schiebt er indirekt den Pflegenden die Verantwortung für die tatsächlich bestehenden Defizite zu. Die älteren Menschen erscheinen eher als Objekte von Behandlung und weniger als Menschen mit eigenen Gewohnheiten, eigenen Wünschen und einem eigenen Willen. Wenn die Stellungnahme als Grundlage für die Evaluation der Arbeit der Pflegenden und für den Pflegeunterricht benutzt wird, wird das Gegenteil von dem bewirkt, was sie beabsichtigt. Eine wirkliche Verbesserung der Ernährungssituation wird so nicht erreicht, außerdem wird die gesellschaftspolitische Verantwortung für die Beseitigung bestehender Missstände verdeckt. Anne Gerling, Krankenschwester, Dipl.-Pflegepädagogin Dr. theol. Constanze Giese, Krankenschwester, Professorin für Ethik und Anthropologie Christel Häse, Krankenschwester, M.A. Philosophie und Soziologie PD Dr. med. Friedrich Heubel, Medizinethiker, Facharzt Neurologie und Psychiatrie Hella Hildebrandt-Wiemann, Krankenschwester, Dipl.-Pflegepädagogin
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Irmgard Hofmann, M.A. (phil.), Pflegeethikerin, Krankenschwester, Supervisorin Helen Kohlen, Krankenschwester, Studienrätin Ulrike Krupp, Dipl.-Religionspädagogin, Krankenhausseelsorgerin Dr. rer. medic. Jutta Müller, Qualitätsmanagementbeauftragte Monika Podbiel, Krankenschwester, Diplomtheologin Marianne Rabe, Lehrerin für Pflege, Leiterin Krankenpflegeschule PD Dr. phil. Theda Rehbock, Philosophin PD Dr. med. Fred Salomon, Chefarzt für Anästhesie, Theologe Dagmar Schäfer, Kinderkrankenschwester, Dipl.-Berufspädagogin Pflege Elke Schlosser, Fachkrankenschwester für Intensivpflege, Philosophin (M.A.) Dr. med. Andrea Ziegler, Assistenzärztin
Arbeitsblatt «Rechte und Pflichten»
A 3.1.
Arbeitsblatt «Rechte und Pflichten» und ihre Beziehung zu den ethischen Prinzipien Unterschied zwischen der juristischen und der moralischen Perspektive. Hier steht die moralische Seite im Vordergrund. Beispiele (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) 1. Würde Rechte Patient
Pflichten Patient
Rechte Personal
Pflichten Personal
Respektierung seiner Eigenarten
Respektierung der Personen, die ihn behandeln
Man braucht sich nicht diskriminieren oder beleidigen lassen
Den Patienten vor unwürdiger Behandlung schützen
freundlicher, zugewandter Umgang den Patienten nicht wie ein Objekt behandeln Recht auf Respektierung der Privatsphäre und auf Wahrung persönlicher Geheimnisse
sich würdevoll verhalten, um die eigene Würde und die anderer zu bewahren
mit den eigenen Gefühlen professionell umgehen, auch bei Antipathie «Basis-Anstand» wahren kein Tratsch über persönliche Eigenheiten von Patienten
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2. Autonomie – Selbstbestimmungsrecht Rechte Patient
Pflichten Patient
Rechte Personal
Pflichten Personal
verständliche und vollständige Aufklärung
Mitarbeit an der Therapie
Man muss nicht gegen eigene fachliche und weltanschauliche Überzeugungen handeln.
Man muss auch bei «schwierigen» Patienten ihre Sicherheit und Versorgung gewährleisten. Bei Fixierung nach humanen Alternativen suchen, z. B. Angehörige einbeziehen.
nicht gegen ihren Willen gepflegt zu werden Respektieren von Eigenheiten und Gewohnheiten, auch wenn man sie nicht billigt und soweit sie nicht Rechte anderer verletzen
Höflichkeit gegenüber Mitpatienten und Pflegenden Mit-Verantwortung für die eigene Gesundheit Hausordnung beachten Grenzen respektieren
Man darf Grenzen setzen! Man kann sich bei «schwierigen» Patienten mit anderen Pflegekräften abwechseln.
Freiheit, keine unnötige Fixierung
3. Fürsorge Rechte Patient
Pflichten Patient
Rechte Personal
Pflichten Personal
angemessen versorgt und gepflegt werden
Hilfe und Unterstützung annehmen
Hilfsbedürftigkeit erkennen
freundlicher und teilnehmender Umgang
kooperativ sein
Gute Selbstfürsorge ist nicht nur ein Recht, es ist die Basis jeder professionellen Haltung!
Rücksicht auf Mitpatienten
«Signale» wahrnehmen Prävention von gewaltgeladenen Situationen sich für das Wohl des Patienten einsetzen, auch gegenüber Kolleg/innen niemanden vernachlässigen
Arbeitsblatt «Rechte und Pflichten»
4. Gerechtigkeit Rechte Patient
Pflichten Patient
Rechte Personal
Pflichten Personal
Gleichbehandlung
Wertschätzung der Arbeit, die mit ihm geleistet wird
Schutz vor Diskriminierung durch Patienten wegen Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität, Aussehen etc.
eigene Werthaltungen kennen, d. h. z. B. wissen, wo ich ungerecht werden könnte
Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Alter, Nationalität, Hautfarbe, Krankheit, sexueller Orientierung, Geisteszustand, Religionszugehörigkeit
5. Verantwortung – Zu beachten: Juristische und moralische Mitverantwortung der Institution! Rechte Patient
Pflichten Patient
Rechte Personal
Pflichten Personal
wahrhaftiger Umgang, wenn Fehler passiert sind
Mit-Verantwortung für das Heilungsund Behandlungsgeschehen übernehmen
Information der Pflegenden über die Behandlung, Einbeziehung der Pflege in Entscheidungen
nach bestem Wissen und Gewissen handeln
die eigene Arbeit einteilen, wie es sinnvoll erscheint
sich eigene Vorurteile bewusst machen
angemessener und verständnisvoller Umgang auch bei emotionalen Reaktionen
Probleme nicht gewaltsam lösen
sich der eigenen Macht bewusst sein
die persönliche Verantwortung kann nicht delegiert werden sich für die Patienten einsetzen, Grenzen des eigenen Könnens deutlich machen, ggf. Handlungen ablehnen Fortbildungspflicht
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Anhang 3.1
6. Dialog Rechte Patient
Pflichten Patient
Rechte Personal
Pflichten Personal
freie Meinungsäußerung
Wahrhaftigkeit
freie Meinungsäußerung
dialogische Grundhaltung, auch gegenüber anderen Berufsgruppen
Empathie, Verständnis für sein Anderssein, Aufklärung über Fehler und Komplikationen Aufklärung und Beratung
Kompromissbereitschaft
angemessener Umgangston, vor allem von seiten der ande- Loyalität: kein Streit ren Mitarbeiter und vor den Patienten Vorgesetzten, aber auch der Patienten Kompromissbereitschaft auf die eigene Wortwahl achten Wahrhaftigkeit Absprachen bei Arbeitseinteilung
Ethik: Übungsarbeit zum Thema «Rechte und Pflichten» – Arbeitsauftrag
A 3.2.
Ethik: Übungsarbeit zum Thema «Rechte und Pflichten» – Arbeitsauftrag Das Schema zum Thema Rechten und Pflichten (Arbeitsblatt, eingeteilt nach ethischen Prinzipien) soll auf eine selbst erlebte Situation angewendet werden. Es soll etwas selbst Erlebtes sein, also keine Probleme konstruieren! Wer absolut keine Situation findet, bekommt eine fiktive Fallgeschichte zur Analyse. 1. Suchen Sie nach einer konflikthaften/schwierigen/unsicheren Situation aus Ihrem eigenen Erleben in der Pflege, bei der man sich fragen kann, wer denn nun welche Rechte und Pflichten hat. 2. Beschreiben Sie die Situation. Finden Sie dabei «Phantasienamen» für die Beteiligten. Die Schilderung soll aussagekräftig sein, nicht zu knapp, aber auch nicht vorab wertend. Gefühle und Eindrücke gehören aber durchaus zu einer guten Beschreibung. Bitte auch darauf eingehen, worin in diesem Fall eine Asymmetrie der Beziehung lag. 3. Versuchen Sie, auf den Punkt zu bringen, wo hier das ethische Problem lag, z. B. in Form einer Frage. 4. Gehen Sie die Situation anhand der Prinzipien wie im Schema durch und berücksichtigen dabei die Fakten, die Sie in der Fallbeschreibung genannt haben. Dabei müssen Sie nicht alle Prinzipien einbeziehen, sondern vor allem die, die Ihnen für die Situation besonders wichtig erscheinen – dies bitte kurz und möglichst konkret erläutern (Mind. zwei Prinzipien). Betrachten Sie auch die Patientencharta im Hinblick auf diese Situation und notieren, welche Punkte hier zutreffen. Wichtig ist auch die Frage, wo das Rechte-Pflichten-Schema einfach nicht zutreffend ist und an seine Grenzen stößt (z. B. muss man bei dementen oder psychisch veränderten Patienten den Begriff «Pflichten» evtl. ganz anders fassen). 5. Kommen Sie zu einer eigenen Schlussfolgerung mit kurzer Begründung: Welche Rechte/Pflichten wurden hier evtl. verletzt bzw. stehen hier im Vordergrund? Worin besteht in dieser Situation die professionelle Verantwortung der Helfer? Die Arbeiten werden benotet. Kriterien sind
• anschauliche Fallschilderung • Problem klar auf den Punkt gebracht? • Asymmetrie der Beziehung erfasst • Anwendung des Analyseschemas und der Patientencharta • klare und begründete Schlussfolgerung.
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Anhang 4
Abbildung: Plakat zum Seminar Pflege, Ethik und Anthropologie
Plakat zum Seminar Pflege, Ethik und Anthropologie
Wissen um den eigenen Tod
Wissen um die Geschichte
Krieg Mensch sein
Religion Phantasie
Menschsein
Wissenschaft
Würde
Lebensunterhalt
Sinn Denken
Freude
Kultur Mitgefühl
Körperlichkeit Spiritualität Ethik
Glück
Pflege Sprache Sinnlichkeit
Kommunikation Gemeinschaft
Zeit Beschäftigung
Abhängigkeit
Technik
Familie Nächstenliebe
Hass
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Ergebnisse
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Über die Autorin Marianne Rabe arbeitete als Krankenschwester in der Inneren Medizin, in der Gynäkologie (in Leiden, Niederlande) und in der Psychiatrie. Nach einer Weiterbildung zur Unterrichtsschwester und einigen Jahren Erfahrung in dieser Funktion übernahm sie die Leitung der Krankenpflegeschule am Universitätsklinikum Benjamin Franklin der FU Berlin. Sie schloss das weiterbildende Studium für Lehrkräfte im Gesundheitswesen an der Universität Osnabrück mit dem Zertifikat ab und promovierte dort mit der hier vorliegenden Arbeit im Fachbereich Erziehungswissenschaften unter Betreuung von Prof. Dr. Ilse Bürmann. Seit Mitte der 1990er-Jahre beteiligt sie sich mit Vorträgen und Veröffentlichungen am Diskurs um die Positionierung und Konturierung der Ethik in der Pflege. Sie ist Mitbegründerin der AG Pflege und Ethik in der Akademie für Ethik in der Medizin, langjähriges Vorstandsmitglied der Akademie für Ethik in der Medizin und arbeitet seit vielen Jahren in der Ethikkommission des Klinikums mit (das Universitätsklinikum Benjamin Franklin wurde mit der Charité zur Universitätsmedizin Berlin fusioniert). Außerdem ist sie Mitglied des HansJonas-Zentrums Berlin (Lehrstuhl Prof. Dietrich Böhler, FU) und in der Sektion Bildung der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft. Heute arbeitet Marianne Rabe als Pädagogische Geschäftsführerin in der Gesundheitsakademie der Charité Berlin. Dort bietet sie gemeinsam mit der Philosophin Theda Rehbock die modularisierte Weiterbildung «Ethikunterricht in den Gesundheitsberufen» an.
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Sachwortverzeichnis
A
Akademisierung 31 Anthropologie 92, 94, 104, 105, 107, 246 Anthropologie/Ethik/Pflege/ Unterrichtseinheit 265 – Arbeitsformen/Methoden 270 – Einführung 271 – Einführungsseminar/Elemente 271 – Eintwicklung/Lerneinheit 285 – Ethikeinführung 282 – Fallgeschichte 283 – Fragen, anthropologische 272 – Kontext/Pflegeverständnis 269 – Lerneinheit, geplante/Zielgruppe 269 – Orientierungswissen 267 – Seminarkonzept/Überblick 288 – Spiel, szenisches 276 – Textarbeit 280, 281 – Vorüberlegungen, didaktische 267 Anwaltsfunktion/advocacy 135 Anwendungsorientierung, instrumentalistische 94 Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schwesternverbände u. Pflegeorganisationen/ADS 38 Arbeitsgruppe Pflege/Ethik 322 Ausbildung s. Pflegeausbildung Autonomie s. Selbstbestimmung Axiologien 99 B
Beruf 47 Berufsbezeichnung 54 Berufsethik 51 Berufsethos/Professionalisierung 21 – Entwicklung 23 – Kodizies 32 Bildung 165, 166 Blick, pflegerischer 120 C
Curricula 54, 194 – Ausbildungsbestimmungen 232 – Ebenen/Bezeichnungen 197
Deutsches Rotes Kreuz 36 Dialog 125, 142, 251, 328 Didaktik 161 –, allgemeine/fachliche 183 – Didaktisierung 180, – Grundsätze 207 – Kontroverse 177 – Methodisierung 180 – Psychologisierung 180 – Subjektorientierung 173 – Theorie-Praxis-Problem 218, 222 Didaktik/Konzepte, pflegedidaktische 182 – Ausbildung/Umbruchsituation 183 – Curricula, lernfeldorientierte 194 – Handlungs-/Zielorientierung 185 – Schlussfolgerungen/ Zusammenfassung 207 E
Entscheidungsmodelle 145 – Darstellung, kritische 148 – Kasuistik 146 Ethik 51, 59; s. auch Pflegeethik –, deontologische 100 –, empirische 82 –, klinische 298 –, konsequenzialistische/teleologische 98 Ethik/Theorie-Praxis-Problem 218 – Urteilskraft 223 Ethik/Unterrichtseinheit, grundlegende s. Anthropologie Ethik-Komitees 298 Ethik-Konzepte, philosophische 77 Ethik-Konzepte/Begründungsfrage 97 – Abgrenzung/Problem 102 – Grenzsituationen 109 Ethikkonzeption, kritische 67, 75 Ethikunterricht s. auch Didaktik; Lehren/ Lernen – Bestimmungen, gesetzliche 229 – Curricula/Ministerialerlässe 232, 234 – Entwicklung/Stand 239 – Grenzen 242
Sachwortverzeichnis
– Themenbereiche 230 Ethikunterrichtskonzept 227, 244 – Hauptelemente 246 – Querschnittsthema/Wissensgebiet, eigenes 245 – Struktur 247 Ethikunterrichtskonzept/Themen 248 – Anthropologie/Ethik/Pflege 250, 262 – Autonomie 257 – Dialog/Wertorientierung 251 – Fürsorge/Grundhaltung, professionelle 256 – Grenzen am Anfang des Lebens 258 – Grenzen am Ende des Lebens 260, 261 – Rechte/Pflichten 254 – Themen, weitere 262 – Verantwortung f. d. eigene Handeln 253 F
Fachverband, evangelischer 35 Fremdbestimmung 75 Fürsorge 85, 125, 134, 256, 326 G
Gelassenheit 91 Gemeinwohlorientierung 49 Gerechtigkeit 125, 137, 327 Gesundheit/Krankheit 93 Grundlagen 19 Grundorientierung, moralische 61 Gutheit, außermoralische 98 H
Handlungsmöglichkeiten, eingeschränkte 85 Hirntod 260 Imperativ, kategorischer 96, 101 Institutionsethik 291 International Council of Nurses/ ICN 32, 33, 66 K
Kodizies, berufsethische 32, 50 – Bekanntheit/Wirksamkeit 40 – Erwartung, gesellschaftliche 41 – Gemeinsamkeiten 39 Kompetenz, ethische 208, 245 L
Lehren/Lernen 168 – Ethik/Ethos, pädagogischer 199, 201 – Faktoren, persönliche 175 – Fragen/Pflegende 209
– Fragen/Schüler 199 – Schlussfolgerungen/ Zusammenfassung 207 – Unwegbarkeiten 168 – Zielorientierung 208 Lehrer s. Pflegelehrer Leiblichkeit 107 Lernbiografien/-typen 175 Lernen, problemorientiertes/POL 177, 212 Lernformen 210 – Arbeit mit Fällen 210 – Arbeiten, schriftliche 211 – Filmdiskussionen 210 – Formen, selbsterfahrungsorientierte 212 – Phantasiereisen 213 – POL 212 – Sensibilisierung, moralische 214 – Textarbeiten 211 Lernortvernetzung 262 Lerntagebücher 263 Literaturverzeichnis 305 M
Medizinethik 68 – Medizinkritik 74 – Prinzipien 123 Menschenwürde 125, 127, 275, 325 Menschsein/Menschliches 273, 274 Moral 59, 85, 93, 95, 104 Moralprinzip 96, 97, 123, 248 N
Negativität 91, 109, 168 Organisationsentwicklung 292 Organisationsethik 291 Organtransplantation 260 Orientierungswissen 267 P
Paternalismus 130 Personenbegriff/-orientierung 111, 112 – Pflege 119 – Position, empiristisch-liberale 115 – Position, metaphysisch-konservative 114 Pflege/Prinzipien, ethische 123, 125 Pflege/Unterrichtseinheit, grundlegende s. Anthropologie Pflegeausbildung 53, s. auch Didaktik; Ethik; Lehren/Lernen – Konzept, theoretisch reflektiertes 224 – KrPflG-Novellierung 53 – Qualitätsdiskussionen/Veränderungen 54
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Sachwortverzeichnis
– Sparmaßnahmen 59 – Strukturveränderungen 56 – Theorie-Praxis-Problem 218 – Urteilskraft 223 Pflegeberichte, EDV-gestützte 52 Pflegeethik 59; s. auch Ethik – Abgrenzung Medizin/Pflege 68 – Altenpflege 77 – Ansätze, philosophische 77 – Diskussion, aktuelle 67 –, eigenständige 70 – Entwicklung 59 – Gelassenheit/Negativität 91 – Grundverständnis/Konturen 84 – Leben, gutes 93 – Neuorientierung 89 – Orientierung, berufspolitische 68 – Problemlagen 84 – Reflexion 92 – Theologen 80 Pflegeethik/Medizinethik 68, 74 Pflegeforschung, historische 23 Pflegelehre, traditionelle 42 Pflegelehrer 42, 183 – Aufgaben/Belastung 45 – Ausbildung/Bezahlung 43 – Berufsentwicklung 42 – Einstellung zu Schülern 203 – Ethos 201 – Fremdozenten 44 – Kompetenz, personelle 204 – Selbstreflexion 206 Pflegeorganisationen, katholische 34 Pflegepraxis/Reflexion s. Reflexion Pflichtenethik 100 Phänomenologie 90 Philosophendidaktik 178 Praxisanleiterinnen 53 Prinzipien, ethische 123, 246, 248 Professionalisierung 47, 256 – Beruf/Profession 47 – Dimensionen, persönliche 50 – Ethik 51 – Kompetenzen, personale/psychosoziale 50 – Schematisierung/Standardisierung 52 – Wertorientierung 49 Professionalisierungsprozesse 52 Programmierung, neurolinguistische/ NLP 180
Q
Qualitätsentwicklung 293, 295 – Bildungseinrichtungen 299 – Krankenhäuser/Pflegeeinrichtungen 295 – Management 295 QUALY 100 R
Reflexion, anthropologische 85, 92, 94, 104, 105 – Begriff/Prinzipien 122, 123, 125 Reflexion, ethische/Modell 145 – Darstellung/Erläuterung 152 – Ergebnisse 161, 155 – Hinweise, methodische 157 – Moderation/Grundsätze 155 – Orientierung, normative 153 – Reflexion 161, 155 – Situationsanalyse 161, 162 Richtigkeit, moralische 98 S
Schlüsselqualifikationen 182, 208, 231 Selbstbeschränkung 130 Selbstbestimmung 49, 75, 109, 125, 129, 257, 326 Situationalität, apriorische 111 Situationsbezug 95 Sollensethik 93, 100 Sterbebegleitung/-richtlinien 261, 317 Strebensethik 93, 98 T
Teleologie 98 Therapiebegrenzung 261 Traditionen 23, 42 Tugendethik 77, 78 U
Universalismus 95 V
Verantwortung 125, 139, 253, 327 Voraussetzungen, organisatorische u. institutionelle 289 W
Wende, kopernikanische 90 Wertorientierung 23, 251