Das Straßenkinderprojekt als Organisation: Organisationale Charakteristika und ihr Bezug zur Qualität am Beispiel eines Jugendheims in Brasilien 3531174185, 9783531174181 [PDF]


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Das Straßenkinderprojekt als Organisation: Organisationale Charakteristika und ihr Bezug zur Qualität am Beispiel eines Jugendheims in Brasilien
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Zitiervorschau

Anna Schmid Das Straßenkinderprojekt als Organisation

VS RESEARCH

Anna Schmid

Das Straßenkinderprojekt als Organisation Strukturen, Prozesse und Qualität am Beispiel eines Heims in Brasilien

VS RESEARCH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Dissertation Universität Zürich, 2007. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Sommersemester 2007 auf Antrag von Prof. Dr. Heinz Gutscher und Prof. Dr. Theo Wehner als Dissertation angenommen.

1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Verena Metzger / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17418-1

Este trabalho é dedicado aos meninos da Chácara em Quatro Pinheiros, com muito carinho e com profunda gratidão pela acolhida e por tudo que já me ensinaram sobre a vida, e à memoria dos meninos da Chácara Anderson Amaral, Jocenan Biscarra, Daniel Lopes Leão, Marcos Oliveira de Souza e José Ivan Vargas, já falecidos. Nunca desistam!

Vorwort

Mein erster Dank gilt meinen Doktorvätern Heinz Gutscher und Theo Wehner. Sie haben das Nationalfondsprojekt, das dieser Studie zugrunde liegt, gemeinsam mit mir eingegeben und es mit wissenschaftlicher Kompetenz und persönlichem Interesse begleitet. Ein besonderer Dank geht zudem an Riccardo Lucchini (Universität Fribourg) für die freundliche und fachlich ausgezeichnete Beratung gerade auch in der Anfangsphase der Forschungsgestaltung. Besonders dankbar bin ich meinen gleichzeitig mit mir promovierten Kolleginnen Katrin Wodzicki und Carmen Lebherz (†), deren Fachkompetenz, kritisches Auge und grosse Hilfsbereitschaft dieser Arbeit in vielerlei Hinsicht zugute gekommen sind. Weitere Kolleginnen und Kollegen an der Universität Zürich und der ETH Zürich haben ebenfalls Feedback und einzelne Ideen beigetragen; auch ihnen gebührt mein Dank. Den in Brasilien tätigen Professoren Geovanio Edervaldo Rossato (Universidade Estadual de Maringá) und Araci Asinelli da Luz (Universidade Federal do Paraná in Curitiba) danke ich für den interessanten fachlichen Austausch. Im Weiteren danke ich Ruedi Baumgartner, Walter Egli, Dieter Zürcher und den weiteren Dozierenden des Nachdiplomstudiums für Entwicklungsländer (Nadel, ETH Zürich) für die ausgezeichnete Schulung im Rahmen des Zertifikatslehrgangs. Mein Dank geht auch an Barbara Becker, Geschäftsführerin des Nord-Süd-Zentrums der ETH Zürich, und ihrem Team, für ihre Beratung und die Möglichkeiten, meine Arbeit einem grösseren Publikum vorzustellen. Dank gebührt zudem den Professoren Manfred Max Bergman (Universität Basel) und Véronique Mottier (University of Cambridge) für ihren exzellenten Kurs in qualitativen Forschungsmethoden. Alle diese Personen haben mir wichtige Kenntnisse und Ermutigung für meine Forschung vermittelt. In Brasilien sei den vielen Personen herzlich gedankt, welche sich direkt oder indirekt an der Forschungsarbeit beteiligt haben, in Interviews, Texten und Gesprächen Auskunft gegeben oder aber mir auch Unterkunft, Beratung und Einblick in die brasilianische Gesellschaft und Situation der Strassenkinder gegeben haben. Es sind dies in der Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros der Leiter Fernando de Gois, frühere und gegenwärtige Vorstandsmitglieder, Angestellte und Freiwillige sowie eine grosse Zahl ehemaliger und gegenwärtiger 7

Jungen, insbesondere auch jene, die als Mitglieder des Forschungsteams zusätzlich zu Gestalt und Inhalt der Forschung beigetragen haben. Besonders erwähnt sein sollen hier auch Adilson Pereira de Souza und Júlio Cézar de Oliveira, welche mir bereits als Jugendliche der Chácara im Alter von 11 bzw. 15 Jahren die Situation der Strassenkinder besonders strukturiert näher brachten und nun als junge Erwachsene wertvolle Impulse und Ratschläge zur vorliegenden Forschungsarbeit beitrugen. Dank gebührt auch zahlreichen Personen aus dem Netzwerk der Chácara, darunter Olímpio de Sá Sotto Maior Neto, Generalstaatsanwalt von Paraná und Spezialist für die Rechte des Kindes. Einen sehr herzlichen Dank spreche ich zudem Ana Paula Döring, Hilda Romanowski Tratch und Evanir Turra aus für ihre grosse Unterstützung meiner Tätigkeit im Rahmen der vorliegenden Arbeit. Marianne Spiller und Heidi Wyss, Leiterinnen des Nachbarprojektes ABAI, danke ich für interessante Gespräche. Dem Schweizerischen Nationalfonds für die Wissenschaftliche Forschung SNF und der White Emperor Foundation/Dr. Margrit Egnér-Stiftung gebührt mein Dank für die finanzielle Unterstützung, ohne die das Forschungsprojekt nicht hätte durchgeführt werden können, aber auch für den zuvorkommenden Umgang und das persönliche Interesse am untersuchten Thema, das ich immer wieder erfahren durfte. Tatjana Rollnik-Manke danke ich herzlich für die professionelle Begleitung der Publikation im VS Verlag für Sozialwissenschaften und Anja Steinhauer für das Layout. Die Zusammenarbeit und der Austausch mit vielen Personen haben schlussendlich zur vorliegenden Studie geführt und diese möglich gemacht und werden, so hoffe ich, weitere Arbeiten in diesem Fachbereich ermöglichen. Ganz am Anfang dieses Weges stehen meine Eltern Ursula und Fred W. SchmidWeidmann und meine Schwestern Regula Schmid Keeling und Barbara Schmid. Ihnen darf ich nicht nur für grosse Unterstützung, sondern zusätzlich für Beratung in mehreren Aspekten der Forschungsarbeit danken. Anna Schmid

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Inhalt Vorwort............................................................................................................. 7 1 Einleitung .................................................................................................... 13 1.1 Ausgangslage der Studie ............................................................................ 14 1.1.1 Mängel in residentiellen Institutionen für Strassenkinder................. 14 1.1.2 Fehlendes Wissen über Organisation ................................................ 16 1.1.3 Fehlendes Wissen über Qualität ........................................................ 18 1.1.4 Die Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros ................................. 20 1.2 Forschungsziele und Forschungsfragen ..................................................... 24 1.3 Bedeutung und Beiträge der Forschungsarbeit .......................................... 25 1.4 Wissenschaftliche und materielle Rahmenbedingungen ............................ 27 2 Einführung in Themenbereiche und Theorie ........................................... 28 2.1 Brasilien ..................................................................................................... 28 2.2 Strassenkinder ............................................................................................ 31 2.2.1 Begrifflichkeiten und Zahlen ............................................................ 32 2.2.2 Lebenssituation, Eigenschaften und Wünsche .................................. 33 2.3 Strassenkinderprojekte ............................................................................... 41 2.4 Organisation ............................................................................................... 48 2.5 Qualität, Nachhaltigkeit und Entwicklung der Organisation ..................... 54 2.5.1 Qualität und Nachhaltigkeit .............................................................. 54 2.5.2 Organisationale Veränderung, Entwicklung und Qualität ................ 56 2.5.3 Organisationale Qualität und organisationales Lernen ..................... 58 3 Methodische Gestaltung der Studie .......................................................... 62 3.1 Anforderungen, Grenzen und Möglichkeiten der untersuchten Organisation ............................................................................................... 63 3.2 Position der Forscherin .............................................................................. 65 3.2.1 Anforderungen .................................................................................. 65 3.2.2 Eigenschaften und Gestaltung........................................................... 66 3.3 Methodik .................................................................................................... 73 3.3.1 Einzelfallstudie ................................................................................. 73 9

3.3.2 Vereinbart und kommuniziert ........................................................... 75 3.3.3 Organisationspsychologisch ............................................................. 76 3.3.4 Praxis- und wissensorientiert ............................................................ 78 3.3.5 Qualitativ und primär induktiv.......................................................... 80 3.3.6 Partizipativ ........................................................................................ 82 3.4 Erhebungsmethoden................................................................................... 86 3.4.1 Einzelinterviews................................................................................ 87 3.4.2 Gruppeninterviews ............................................................................ 88 3.4.3 Gruppengespräche ............................................................................ 88 3.4.4 Texte und Gruppenübung der Jungen ............................................... 89 3.4.5 Tonaufnahmen öffentlicher Anlässe ................................................. 91 3.4.6 Sichtung administrativer Dokumente................................................ 91 3.4.7 Punktueller, illustrativer Beizug weiterer Materialien ...................... 91 3.5 Daten, Bearbeitung und Analyse ............................................................... 92 3.5.1 Datenumfang, Transkription und Übersetzung ................................. 92 3.5.2 Analyseprozess ................................................................................. 93 3.6 Wissenschaftliche Güte.............................................................................. 95 3.6.1 Gültigkeit .......................................................................................... 95 3.6.2 Zuverlässigkeit .................................................................................. 99 3.6.3 Repräsentanz ................................................................................... 101 3.7 Sicherheit und Ethik................................................................................. 103 4 Die Phänographie der Organisation Chácara ........................................ 105 4.1 Wurzeln der Organisation ........................................................................ 105 4.1.1 Bürgerinitiative in der Favela ......................................................... 107 4.1.2 Bürgerinitiative auf der Strasse ....................................................... 111 4.1.3 Kinder und Jugendliche auf den Strassen von Curitiba .................. 116 4.1.3.1 Anzahl, Geschlecht und Alter ............................................ 118 4.1.3.2 Lebensfelder....................................................................... 119 4.1.3.3 Kontext „Eigene Familie“ .................................................. 128 4.1.3.4 Gründe, auf die Strasse zu gehen, und Gründe, sie zu verlassen............................................................................. 130 4.1.3.5 Kontext „Strasse“ ............................................................... 132 4.1.3.6 Erlebte Gesellschaft ........................................................... 135 4.1.3.7 Rollen, Aktivitäten und Fähigkeiten .................................. 138 4.2 Handlungsbasis ........................................................................................ 143 4.2.1 Stärkung und Entwicklung von Kenntnissen und Praxis ................ 144 4.2.2 Aktivierung der Kinder und Jugendlichen und Aufbau einer gemeinsamen, solidarisch interagierenden Gruppe......................... 145 10

4.2.3 Stärkung und Förderung der Kinder und Jugendlichen .................. 147 4.2.4 Vorbereitung einer konkreten Lösung ............................................ 149 4.2.5 Organisationale Gemeinsamkeiten der vorbreitenden Phasen ........ 151 4.3 Zielgruppe und Ziele................................................................................ 153 4.3.1 Zielgruppe und Aufnahmekriterien ................................................. 153 4.3.1.1 Kinder und Jugendliche der Strasse ................................... 153 4.3.1.2 Jungen ................................................................................ 155 4.3.1.3 Alter ................................................................................... 157 4.3.1.4 Herkunft ............................................................................. 157 4.3.1.5 Freiwilligkeit ...................................................................... 158 4.3.2 Ziele ................................................................................................ 158 4.4 Struktur .................................................................................................... 171 4.4.1 Physische Struktur .......................................................................... 171 4.4.2 Soziale Grundkonzeption ................................................................ 178 4.4.3 Soziale Struktur............................................................................... 182 4.4.3.1 Akteure und weitere Beteiligte .......................................... 183 4.4.3.2 Position der Jungen ............................................................ 187 4.4.3.3 Bindungen und Beziehungen ............................................. 188 4.4.3.4 Zusammenfassung.............................................................. 196 4.5 Transformationsprozess ........................................................................... 198 4.5.1 Aktivitäten und Tätigkeitsfelder ..................................................... 198 4.5.2 Ausführungsmodalitäten ................................................................. 205 4.5.2.1 Partizipation ........................................................................ 207 4.5.2.2 Gegenseitige soziale Integration ......................................... 218 4.5.2.3 Evaluative Gestaltung der Handlung .................................. 225 4.5.3 Prozess ............................................................................................ 230 4.6 Die Organisation im Licht theoretischer Überlegungen .......................... 233 4.6.1 Strukturen, Prozesse und ihre Begründungen ................................. 235 4.6.2 Aspekte des Gestaltungsprozesses .................................................. 238 5 Organisation, Qualität und Nachhaltigkeit: Erkenntnisse und Empfehlungen ........................................................................................... 241 5.1 Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit .............................. 243 5.1.1 Relevanz ......................................................................................... 244 5.1.2 Effektivität ...................................................................................... 248 5.1.2.1 Aufnahme und Verbleib der Jungen in der Chácara ........... 251 5.1.2.2 Förderung der Fähigkeiten der Jungen ................................ 253 5.1.2.3 Stärkung der persönlichen Grundlagen der Jungen............. 257 5.1.2.4 Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen ............. 259 11

5.1.3 Nachhaltigkeit ................................................................................. 262 5.2 Wahrgenommene Lebensqualität in der Organisation ............................. 267 5.3 Adaptivität der Organisation .................................................................... 276 5.3.1 Organisationsentwicklungszyklus................................................... 278 5.3.2 Organisationale Kapazität ............................................................... 283 5.3.3 Adaptivität als Qualitätsdimension ................................................. 285 6 Gute residentielle Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien: Von den Forschungserkenntnissen zum Organisationsleitfaden.............................................................................. 287 6.1 Generalisierbarkeit und Anwendbarkeit der Forschungserkenntnisse ......287 6.2 Leitfaden: So kann eine gute residentielle Organisation für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien gestaltet werden ....................... 289 6.3 Drei wichtige ergänzende Bemerkungen zur Qualität ............................. 295 6.3.1 Relevanz: Der Unterschied zwischen Zementierung und Linderung sozialer Ungleichgewichte ............................................ 295 6.3.2 Die „Hühnerzucht“ macht nicht den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Projekt................................................ 295 6.3.3 Qualität ist wichtig, Imperfektion auch........................................... 296 7 Abschluss und Ausblick............................................................................ 298 7.1 Erkenntnisse und Beitrag an Wissenschaft und Praxis ............................ 298 7.2 Weiterführende Schritte ........................................................................... 301 8 Bibliographie ............................................................................................. 304 9 Anhänge ..................................................................................................... 319 Anhang 1: Beteiligte und Arten der Beteiligung ........................................... 319 Anhang 2: Empfehlungen „Aprendendo com a Chácara“ – „Von der Chácara lernen“ ............................................................. 321 Anhang 3: Die Studie in Kürze ...................................................................... 325 Anhang 4: O estudo em breve........................................................................ 326 Anhang 5: Study abstract ............................................................................... 328

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1 Einleitung

Ein Bild, das ich nicht vergessen werde, stammt aus einem Projekt, welches von vielen Strassenkindern besonders gefürchtet wird. Kleine Buben unter 13 Jahren leben dort hinter einer hohen Mauer in einer ehemaligen Villa. Diese ist innen kahl; es riecht nach Urin. Die Buben tragen altmodische weinrote Kittel. Beim Essen ist es verboten, zu sprechen. Ein uniformierter Polizist steht in bedrohlicher Pose daneben. Eine von der Stadt zugeteilte „Betreuerin“ brüllt mit hasserfülltem Gesichtsausdruck Befehle. Die Leiterin, eine engagierte Erzieherin, ist so vielen Vorschriften unterworfen, dass sie daran nichts ändern kann. Ein Bub zeigt mir in der Ecke des Gartens, gleich bei der Mauer, eine grosse, starke Kiefer: „Hier können wir raus, wenn es gar nicht mehr geht“. (Bericht der Autorin in ihrer früheren Rolle als Vereinspräsidentin, Freunde brasilianischer Strassenkinder, Newsletter, Juli 1998, S. 4)

Diese Studie untersucht die Organisation von residentiellen Strassenkinderprojekten in Brasilien anhand eines konkreten Falles und setzt sie in Bezug zu Fragen der Qualität. Hunderttausende Kinder und Jugendliche arbeiten und/oder leben in Brasilien auf der Strasse. Entsprechend viele Strassenkinderprojekte gibt es, darunter auch residentielle, in denen Kinder und Jugendliche wohnen. Die Qualität dieser Projekte variiert stark; Beispiele wie das eingangs genannte sind nicht ungewöhnlich. Oft fehlen geeignete organisationale Strukturen und Prozesse, welche sowohl die gute Qualität der Arbeit als auch die Beständigkeit und Entwicklungsfähigkeit der Projekte sichern würden. Viele Organisationen stehen ab einem gewissen – häufig sehr frühen – Punkt in ihrer Entwicklung still, brechen gar zusammen, müssen geschlossen werden. Mängel der Organisation und der Qualitätsorientierung eines Projektes gefährden dessen Effektivität und Fortbestand oft noch stärker, als dies Geldmangel und äussere Einflussnahmen oder sogar Bedrohung ohnehin schon tun. Die vorliegende Arbeit präsentiert die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Nachhaltige Führung und Organisationsentwicklung von Strassenkinderprojekten in Brasilien“. Dieses wurde von der Autorin von August 2002 bis Juli 2006 durchgeführt, mit der Absicht, einen Beitrag zur Verbesserung der Organisation und Qualität von Institutionen in Brasilien zu leisten, welche auf der Strasse lebende Kinder und Jugendliche aufnehmen. Diese Organisationsart wurde bisher noch nie einer organisationspsychologischen Analyse unterzogen. Geschehen 13

sollte dies nun mittels einer empirischen Untersuchung der „Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros“, eines aus einer Basisbewegung in einer Armensiedlung entstandenen Projekts für Jungen der Strasse nahe der Zweimillionenstadt Curitiba im Süden Brasiliens. Dieses wird von Strassenkindern, Fachleuten und Medien wegen seiner Arbeitsweise und seinen Resultaten häufig als besonders „gutes“ Projekt bezeichnet. 1.1 Ausgangslage der Studie Es sind vier Aspekte, welche zur Konzipierung und Durchführung des Forschungsprojektes geführt haben, nämlich: ƒ

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Gesetzesverstösse und andere gravierende Mängel in Institutionen, welche in Brasilien Kinder und Jugendliche der Strasse aufnehmen, und das wachsende Interesse von brasilianischen Projektmitarbeitenden, Fachleuten und „Policy Makers“ für Fragen der Qualität solcher Institutionen. Der noch wenig entwickelte fachliche Diskurs über Qualität in solchen Institutionen und insbesondere das Fehlen von Positiv-Definitionen von Qualität sowie von Erkenntnissen darüber, wie Strukturen und Prozesse der Organisation gestaltet sein können, um gute Qualität zu begünstigen. Das Fehlen von empirischen Organisationsanalysen, und damit des Wissens um die spezifischen organisationalen Strukturen und Prozesse von Institutionen, welche in Brasilien und anderswo Kinder und Jugendliche der Strasse aufnehmen. Die Existenz der „Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros“. Diese wird von Fachleuten und Beteiligten häufig als qualitativ besonders gut bezeichnet, wurde jedoch nie empirisch beschrieben.

Diese Aspekte sollen nun näher besprochen und die daraus resultierenden Forschungsfragen dargestellt werden. 1.1.1 Mängel in residentiellen Institutionen für Strassenkinder Gemäss Silva (2004) gibt es in Brasilien über 3'000 Kinderwohnheime, Waisenhäuser und Erziehungsanstalten (zusammengefasst als „Abrigos“ bezeichnet), in welchen über 100'000 Kinder und Jugendliche leben. Mehr als die Hälfte davon sind Strassenkinder, also Kinder und Jugendliche, die weniger als 18 Jahre alt sind und sich zuvor einen Grossteil der Zeit auf der Strasse aufhielten oder gar 14

dort lebten. Wie für alle Kinder und Jugendlichen gilt auch für sie die seit 1990 in Brasilien gültige Gesetzgebung über die Rechte des Kindes, welche im Kinderrechtstatut (Estatuto da Criança e do Adolescente, ECA) festgehalten ist. Diese umfassende Gesetzessammlung ist auf folgende Grundsätze ausgerichtet: Art. 3. Without prejudice to the full protection treated of in this Law, the child and adolescent enjoy all the fundamental rights inherent to the human person and, by law or other means, are ensured of all opportunities and facilities so as to entitle them to physical, mental, moral, spiritual and social development, in conditions of freedom and dignity. Art. 4. It is the duty of the family, community, society in general and the public authority to ensure, with absolute priority, effective implementation of the rights to life, health, nutrition, education, sports, leisure, vocational training, culture, dignity, respect, freedom and family and community living. The guarantee of priority encompasses: a) precedence in receiving protection and aid in any circumstances; b) precedence in receiving public services and those of public relevance; c) preference in the formulation and execution of public social policies; d) privileged allocation of public resources in areas related to the protection of infancy and youth. Art. 5. No child or adolescent will be subject to any form of negligence, discrimination, exploitation, violence, cruelty and oppression, and any violation of their fundamental rights, either by act or omission, will be punished according to the terms of the Law. Art. 6. The social ends towards which this Law is directed, the requirements of the common good, individual and collective rights and duties, and the peculiar condition of children and adolescents as persons in development will be given due consideration in construing this Law. (www.eca.org.br/ecai.htm, 24.7.2004. Kommentierter Text in Originalsprache: Cury, Amaral e Silva & Mendez, 1992)

Im Rahmen einer von der brasilianischen Regierung in Auftrag gegebenen Untersuchung von 589 – also etwa einem Fünftel – der genannten Institutionen, stellte die Forschergruppe um Silva (2004) fest, dass viele von ihnen von einer Fokussierung auf die Grundsätze des Kinderrechtsstatuts noch weit entfernt seien und einem alten Modell der Internierung und Disziplinierung anhingen. So gab mehr als die Hälfte der befragten leitenden Verantwortlichen an, die Vorschriften des brasilianischen Kinderrechtsstatuts ECA zu kennen, diese in ihren Institutionen jedoch bisher nicht umgesetzt zu haben.

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Im Juni 2006 wurden zudem die Ergebnisse der ebenfalls von der brasilianischen Regierung ausgelösten unabhängigen Inspektion von 30 staatlichen Erziehungsanstalten1 bekannt (Conselho Federal da Ordem dos Advogados do Brasil & Conselho Federal de Psicologia, 2006). Diese kritisierten Überbelegung, Mangel an adäquater Infrastruktur, Nichtentlassung nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen maximalen Internierungsdauer sowie Mangel an schulischen Massnahmen, Berufsbildung und rechtlicher Unterstützung. In 56% der untersuchten Institutionen wurde zudem berichtet, dass Kinder und Jugendliche von Angestellten geschlagen würden. Es sind nicht nur diese aktuellen Studien, welche von Mängeln berichten. Während der Feldforschung erlebte die Autorin im April 2004, wie ein etwa 14jähriger Junge2, der zum Kennenlernen in die Chácara kam, panisch und tränenüberströmt auf den Stufen eines der Häuser stehen blieb und um keinen Preis eintreten wollte. Nach einigem Zureden sagte er, er habe Angst, hier, wie in all den bisherigen Institutionen, wieder vergewaltigt zu werden. Bereits in dem Projekt lebende Jungen berichteten der Autorin danach, bei ihrem Eintritt ebenfalls zunächst gefürchtet zu haben, wiederum physische und sexuelle Gewalt durch andere Jungen sowie durch Mitarbeitende zu erleben. Der Autorin sind seit dem Jahr 1995 nicht nur von betroffenen Kindern und Jugendlichen, sondern zum Teil auch von Institutionsmitarbeitenden und externen Fachleuten häufig und regelmässig zuverlässige Berichte über von Mitarbeitenden und Betreuten ausgeübte physische und sexuelle Gewalt, Vernachlässigung und Mangel an Förderung in staatlichen und nicht-staatlichen – darunter auch kirchlichen – Institutionen zugetragen worden. 1.1.2 Fehlendes Wissen über Organisation Wie in Kapitel 2 weiter ausgeführt wird, konnte in der deutsch-, englisch-, portugiesisch-, französisch- und spanisch-sprachigen Literatur keine eingehende organisationspsychologische Beschreibung einer residentiellen Institution gefunden werden, welche in Brasilien oder anderswo Kinder und Jugendliche der Strasse aufnimmt. 1

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Unidades de internação de adolescentes em conflito com a lei, unter anderem auch “Educandários” (Erziehungsanstalten) oder “FEBEM” (Fundação Educacional do Bem Estar do Menor) genannt. Diese nehmen straffällig gewordene Minderjährige im Alter von 12 bis 18 Jahren auf, darunter je nach Institution viele Strassenkinder, welche kleinere Vergehen, wie zum Beispiel Taschendiebstahl, begangen haben. In der vorliegenden Arbeit wird immer das Alter des Jungen zum Zeitpunkt des erwähnten Ereignisses bzw. Zitats genannt.

Miranda und Stoltz (1999) beschreiben in ihrem Buch die pädagogische Arbeit der im Rahmen der vorliegenden Studie zu untersuchenden Chácara. Sie geben zahlreiche Hinweise zur Organisation des Projektes in den ersten Jahren, dies auf eine eher anekdotische Weise, aber mit einem Auge für die hauptsächlichen Prozesse. So wird angemerkt, wer gewisse Themen aufbrachte, wer darüber entschied und wie etc. Eine ähnliche Publikation ist Swifts „Children for Social Change“ (1997), welche die Arbeit des Salesianer-Ordens in der „Republik von Emmaus“ in Belém do Pará beschreibt. Diese Darstellung enthält Hinweise zur Rolle des Gründers Padre Bruno und seiner Mitstreiter sowie zu einer Anzahl organisatorischer Themen, welche in der 25-jährigen Geschichte des Projektes aufgetaucht sind, analysiert diese jedoch nicht weiter. So wird zum Beispiel der Ablösungsprozess des Gründervaters Padre Bruno vom Projekt – ein wichtiger wie kritischer Moment einer jeden Organisation – wohl genannt, aber nicht weiter beschrieben. Es gibt wohl einige Literatur über die Führung und Verwaltung von Nichtregierungsorganisationen; diese übernimmt jedoch vorwiegend die Erkenntnisse, welche Management- und Organisationslehre zumeist in Grossbetrieben im Industrie- oder Dienstleistungssektor in Europa oder Nordamerika gewonnen haben. Im Weiteren beschränkt sie sich zumeist auf einzelne Aspekte der Administration und richtet sich nicht auf das Wesen und Funktionieren einer Organisation als Ganzes aus. Aufgrund der Kontingenz-Theorie der Organisation (siehe Rollinson & Broadfield, 2002, S. 512), welche in Kapitel 2 näher besprochen wird, muss jedoch angenommen werden, dass solche Erkenntnisse nicht eins zu eins auf Organisationen wie Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien übertragen werden können, da sich diese in anderen kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kontexten befinden und andere Aufgaben und Ziele haben. So stehen auch keine empirisch gewonnenen Erkenntnisse zur Verfügung, welche zu einer Stärkung des Bewusstseins für organisationale Aspekte und Qualität im Fachdiskurs, aber auch in der Praxis solcher Institutionen dienen könnten. Bei der Mitarbeit beim Aufbau eines (in dieser Studie nicht beschriebenen) residentiellen Projektes für Kinder und Jugendliche sowie bei der Lektüre der Literatur über die Arbeit mit Kindern der Strasse hat die Autorin zudem den Eindruck gewonnen, dass der Fokus der Aufmerksamkeit zumeist auf der Beziehung zwischen Institution und Betreuten liegt – sei dieser lediglich verwaltend oder pädagogisch gestaltet –, dass aber der weitere institutionelle, organisatorische Kontext kaum in Überlegungen und Diskurs einbezogen wird. Eine Wahrnehmung von solchen Institutionen als Organisationen mit bestimmten strukturellen und prozessualen Charakteristika scheint häufig nicht vorhanden zu sein.

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1.1.3 Fehlendes Wissen über Qualität In brasilianischen Zeitungen und Zeitschriften wird die Qualität von Organisationen, welche unter anderem Strassenkinder aufnehmen, häufig dann thematisiert, wenn schwerwiegende Probleme wie Todesfälle und Misshandlungen in Erziehungsanstalten an die Öffentlichkeit dringen, so zum Beispiel im Fall der „Pädagogischen Stiftung für das Wohlergehen des Minderjährigen“ (Fundação Educacional do Bem Estar do Menor, FEBEM) in São Paulo. Unter anderem im Jahr 1999 berichtete eine der meistgelesenen Zeitschriften Brasiliens ausführlich, wie die mehreren hundert minderjährigen Internierten gegen 16 Stunden am Tag nur mit Shorts bekleidet in Reihen und mit erhobenen Händen auf dem Betonboden sitzen mussten, sich nicht miteinander unterhalten und während des Tages nur zweimal zur Toilette gehen durften. Detailliert wurden ausserdem von Aufsehern angewandte Foltermethoden beschrieben. In einem Interview in der gleichen Zeitschrift bezeichnete der Präsident der Gewerkschaft der Aufseher die Institution als „Konzentrationslager“. Zur Zeit der Berichterstattung schoss die Polizei auf die Eltern der Jugendlichen, welche sich während einer Rebellion in der Institution, beunruhigt um das Wohl ihrer Söhne, ausserhalb der Mauern versammelt hatten. 600 Jugendliche flohen, wenig später kamen bei weiteren Unruhen vier Jugendliche ums Leben. (Klintowitz, 1999; Silva, 1999; Veja, 1999; Folha do Paraná, 26.10.1999, 27.10.1999a, 27.10.1999b; Nunomura & França, 3.11.1999; Zakabi, 3.11.1999) Ein neuerer, ebenfalls in den Medien thematisierter Fall sind die Unruhen in der Jugenderziehungsanstalt Educandário São Francisco in Curitiba, welche im September 2004 sieben Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren das Leben kosteten (Gueths, 25.9.2004; Taborda, 26.9.2004). In jenem Moment wurden dort 237 Jugendliche in der für 150 Jugendliche vorgesehenen Institution festgehalten. Der Sekretär für Arbeit, Beschäftigung und soziale Förderung von Paraná und damit oberster Vorgesetzter der Institution konstatierte in einem Zeitungsartikel, dass die Angestellten der Institution sowohl durch ihr Handeln als auch durch ihre Unterlassungen die Schuld für den Tod der Jugendlichen trügen (Ciranda, 26.9.2005). Bereits ein Jahr früher hatte er an einer von ihm organisierten Konferenz3 gefordert, dass zur Verbesserung der mangelhaften Situation im Educandário São Francisco sieben neu zu errichtende Institutionen für jugendliche Straftäter (darunter viele Strassenkinder) errichtet werden sollten:

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Vortrag des Sekretärs für Arbeit, Beschäftigung und soziale Förderung des Teilstaates Paraná. Konferenz Medidas Sócio Educativas des Núcleo de Coordenação Estadual da Assistência Social der Secretaria de Estado do Trabalho, Emprego e Promoção Social. Curitiba, PR, 7. – 18.11.2003.

Wir setzen auf alternative Strafen. [Die Institutionen] werden von kleiner Dimension sein. Ihr Ziel soll es sein, die Minderjährigen wieder herzustellen (recuperar) und sie von neuem in die Gesellschaft einzufügen. Die physische Struktur wird anders sein als die heute vorhandene, und die psychopädagogischen Methoden, welche angewendet werden, sind auch anders als die heute benützten. (Bordinhão, 18.11.2003)4

Er äusserte sich jedoch bei dieser Gelegenheit nicht dazu, was konkret unter einer „Wiederherstellung“ und „Wiedereinfügung“ der Kinder und Jugendlichen zu verstehen sei, und wie diese „anderen“ Strukturen und Methoden auszusehen hätten. Die bereits erwähnte, mehr als zwei Jahre nach den Todesfällen landesweit durchgeführte Inspektion der Bundesregierung kritisierte im März 2006 das Educandário São Francisco nach wie vor wegen der ungenügenden Ausbildung seiner Mitarbeitenden, der Unterbindung des Kontaktes zwischen den Betreuten und ihren Familien, aber auch wegen mangelnder Hygiene aufgrund geborstener Leitungen sowie ungenügender Versorgung mit Strom und Licht (Conselho Federal da Ordem dos Advogados do Brasil & Conselho Federal de Psicologia, 2006; Pereira, 2.6.2006). Häufig fehlt ein fachlich fundierter und vor allem auch ein in praktische Handlungen mündender Diskurs über die organisationale Gestaltung und Qualität solcher Institutionen. Sowohl an der bereits genannten Konferenz, an der Mitarbeitende der staatlichen Sozialarbeit teilnahmen, als auch an einer Anzahl weiterer von der Autorin besuchter Konferenzen drehte sich der Diskurs beinahe ausschliesslich darum, dass es genügend Institutionen geben müsse, in die man Kinder und Jugendliche einweisen könne, und dass es mehr Geld brauche, um die dort arbeitenden Personen (zu welcher Gruppe die meisten Teilnehmenden dieser Konferenzen gehörten) zu bezahlen5. Besonders fehlen auch Positiv-Definitionen von Qualität. Natürlich sind Aspekte wie Unruhen und Folterungen in Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse als qualitativ ausserordentlich negativ zu beurteilen. Es ist jedoch einsichtig, dass gute Qualität in einer Organisation mehr ist als Abwesenheit von Gesetzesverletzungen. Über die Vorschriften des brasilianischen Kinderrechtsstatutes und Ansprüche bezüglich finanzieller Effizienz seitens von staatlichen Kontrollorganen hinaus konnten jedoch in der Literatur keine systematisch be4

5

Texte in portugiesischer, spanischer und französischer Sprache werden jeweils in der deutschen Übersetzung der Autorin wiedergegeben, Texte deutscher und englischer Sprache im Original. IV Conferência Estadual dos Direitos da Criança e do Adolescente: Pacto pela Paz Uma Construção Possível. Konferenz des Conselho Estadual dos Direitos da Criança e do Adolescente und der Secretaria do Trabalho, Emprego e Promoção Social do Paraná. Curitiba, PR, 15. – 18.10.2003. Encontro Macro-Regional Infância e Juventude – Violência e Violação dos Direitos. Konferenz der Universidade Estadual de Maringá (UEM) und dem Centro Universitário de Maringá (CESUMAR). Maringá, PR, 30.10.2003.

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schriebenen Aspekte von guter Qualität in derartigen Organisationen gefunden werden. Zusätzlich zu Definitionen von Qualität fehlen auch Erkenntnisse darüber, wie organisationale Strukturen und Prozesse gestaltet sein können, um guter Qualität zuträglich zu sein. Wenn neue Institutionen für Kinder der Strasse aufgebaut oder bestehende umgewandelt werden sollen, scheint es jedoch wichtig, dass nicht nur Aspekte von Qualität im Sinne von Standards definiert werden, sondern dass auch Überlegungen gemacht werden, wie die Organisation gestaltet werden könnte, damit sie diese erreichen kann. 1.1.4 Die Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros Frage: Was würdest Du jemandem über die Chácara und ihre Arbeit sagen, der sie noch nicht kennt? Antwort: Ich würde sagen, dass sie ein interessantes Projekt ist, in dem Veränderungen stattfinden, und dann würde ich uns selbst als Beispiel erwähnen, wie wir uns verändert haben. (20-jähriger Junge6, Eintritt Chácara 1994, zum Zeitpunkt der Befragung Student der Betriebswirtschaft und Erzieher der Chácara, Interview, 27.3.2003)

Es sind nicht nur Defizite wie Missstände in Institutionen für Kinder der Strasse und das Fehlen von Organisationsanalysen solcher Institutionen, welche zur vorliegenden Forschungsarbeit geführt haben, sondern auch die Existenz eines Projektes für Jungen der Strasse nahe der Stadt Curitiba im Süden Brasiliens, welches seit dem Jahr 1993 besteht und sich stetig weiter entwickelt hat, sowie der privilegierte Zugang der Autorin zu demselben. Die „Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros“ der Stiftung „Fundação Educacional Meninos e Meninas de Rua Profeta Elias“ liegt abgelegen am Rande des ländlichen Weilers „Quatro Pinheiros“7 beim Ort Mandirituba8, der sich eine gute Stunde Autofahrt südlich von Curitiba befindet. Curitiba ist die Hauptstadt und mit 2.7 Millionen Einwohnern9 grösste Stadt des südbrasilianischen Staates Paraná.

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Das angegebene Alter bezieht sich immer auf den Zeitpunkt der Entstehung des zitierten Textes. „4 Pinien“. Im Jahr 2000 hatte Mandirituba im Dorfkern 6'268 und in den vielen, zum Teil recht weit entfernten Weilern weitere 11'272 Einwohnerinnen und Einwohner (http://www.pr.gov.br/comec/ ormc.html, 18.8.2005). Diese Zahl bezieht sich auf die „Região Metropolitana de Curitiba“, das heisst, auf Stadt und Agglomeration.

Abbildung 1:

Lokalisierung der Chácara

Die Chácara besteht seit dem Jahr 1993 und wird von Strassenkindern, Fachleuten und Medien häufig als besonders gutes Projekt bezeichnet. So veröffentlichten lokale, regionale und nationale brasilianische Medien, darunter auch Fachmedien, seit der Gründung der Chácara im Oktober 1993 über 100 positiv formulierte Artikel über deren Arbeit. Allein im ersten Halbjahr 2006 wurde das Projekt zum Beispiel in der Zeitschrift des Verbandes der Magistraten des Staates Paraná (Novos Rumos, April/Mai 2006), welche unter anderem an alle Richterinnen und Richter verteilt wird, sowie in der hauptsächlichen, landesweit verteilten pädagogischen Zeitschrift (Profissão Mestre, März 2006) sehr positiv beschrieben. In dieser hiess es dabei über die Arbeit der Chácara: „Auch dies ist 21

ein Weg, Brasilien zu verändern.“ (S. 5). Im gleichen Jahr wurde das Projekt in einer Zeitschrift der Katholischen Universität in Curitiba (Comunicare, Mai 2006) auf über 16 Seiten ausführlich dargestellt. Im Weiteren ist die Chácara in einer Anzahl von Gruppierungen engagiert, welche sich für die Rechte des Kindes und ähnliche Themen einsetzen, und wird sie immer häufiger auch von Behördenmitgliedern beigezogen, wenn es um die Beurteilung von Umständen in Institutionen in Curitiba und Region oder um die Selektion, Schulung oder (notfallmässige) Zurverfügungstellung sowie Vermittlung von geeigneten leitenden Personen oder Mitarbeitenden geht. So konnte sie zum Beispiel aufgrund ihrer eigenen Initiative und nach Vereinbarung mit dem zuständigen Sekretär für Arbeit, Beschäftigung und soziale Förderung des Staates Paraná wenige Tage nach den Todesfällen in der Jugendstrafanstalt Educandário São Francisco in Zusammenarbeit mit einer Pädagogikprofessorin und einem benachbarten Kinderprojekt10 eine Schulung mit Selbstevaluationselementen mit den Angestellten des Educandários durchführen. Ein weiteres Beispiel ist ein pädagogischer Fachkurs nach den „Vier Pfeilern der Erziehung“ der Unesco („Lernen des Seins, Lernen des Zusammenlebens, Lernen des Wissens und Lernen des Tuns“), welchen die Chácara vom April bis Dezember 2006 zusammen mit der Universidade Federal do Paraná für Mitarbeitende von Projekten, Institutionen und Sozialbehörden anbot. Seit ihrer Gründung im Jahr 1993 sind zudem um die 20 wissenschaftliche Forschungsarbeiten verschiedener brasilianischer Universitäten sowie der Universitäten von Barcelona und Zürich zumeist zu pädagogischen (und mit Ausnahme der vorliegenden Arbeit nicht zu organisatorischen Themen) in der Chácara durchgeführt worden (der Autorin liegen vor: Bona (2005), Fritz (1998), Miranda (2001), Oliveira (2001), Rigoni (1999), Rossato (2001, 2003a+b), Teixeira (2003), Tratch, Guedes & Hilgemberg (1998), Turra (1995), Wal et al. (1998)). Im Jahr 1996 gewann die Chácara zudem zwei Professorinnen dafür, unter Mitarbeit erwachsener Beteiligter der Chácara ein Buch über deren Entstehungsgeschichte, Grundsätze und pädagogisches Konzept zu schreiben, welches von der Unicef unterstützt und finanziert sowie mit einem Vorwort ausgestattet wurde (Miranda & Stoltz, 1999). Gleichzeitig wurde ein Buch der damals in der Chácara lebenden Jungen veröffentlich, in dem sie über ihr Leben vor und auf der Strasse sowie in der Chácara berichteten (Fundação Educacional Meninos e Meninas de Rua Profeta Elias, zit. als Fundação E., 1999).

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Associação Brasileira de Amparo à Infância (ABAI), 1979 von der Schweizerin Marianne Spiller, einer der 2005 für den Friedensnobelpreis nominierten „1000 Frauen für den Frieden“, zusammen mit einem lokalen Team gegründet. Vor dem Aufbau der ABAI hatte sie in Paris mit Obdachlosen gearbeitet, in der Organisation Emmaus des „Vaters der Armen“ Abbé Pierre.

Der privilegierte Zugang der Autorin zur Chácara war ein weiterer Grund, diese für die vorliegende Untersuchung zu wählen, hatte sie doch vor Beginn der Forschungsarbeit bereits seit sieben Jahren als Leiterin des Schweizer Unterstützungsvereins mit der Chácara und als Freiwillige in dieser gearbeitet.11 Anlass für die Wahl der Chácara war schliesslich auch das Interesse ihrer Mitglieder am Forschungsvorhaben. Dieses entstand nach zahlreichen Gesprächen mit dem Koordinator, Erziehenden und Jungen der Chácara sowie ausgehend von den praktischen Erfahrungen und Beobachtungen der Autorin in ihrer früheren Arbeit mit der Chácara. Das Interesse für das Thema und der Zeitpunkt der Untersuchung ergaben sich unter anderem aufgrund von drei Aspekten im Entwicklungsstand der Chácara: ƒ

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Die Chácara näherte sich ihrem zehnten Geburtstag und fand immer mehr Interesse bei Behörden und Mitarbeitenden anderer Institutionen, was sich in der stetigen Zunahme von Besuchern aus Fachkreisen in der Chácara zeigte. Viele dieser Besucher stellten die Frage, was sie tun müssten, um eine ähnliche Organisation wie die Chácara aufzubauen, was zum Bedürfnis der Chácara führte, über eine empirische Untersuchung und Publikationen zu diesem Thema zu verfügen. Eine grosse Gruppe von Jungen, welche in den Jahren 1993 bis 1996 eingetreten waren, war erwachsen geworden und stand vor dem Übertritt in ein eigenständiges Erwachsenenleben. Einige Jungen arbeiteten als Erziehende in der Chácara oder zeigten Interesse an dieser Tätigkeit, und ein Junge hatte die Absicht, ein eigenes Projekt aufzubauen. Entsprechend zeigte eine Anzahl erwachsener „Jungen“ zunehmend Interesse an organisatorischen Fragen, welche sie unter anderem auch mit der Autorin diskutierten. Der Chácara stand mit einer Verdoppelung der Anzahl aufgenommener Jungen von etwa 40 auf über 80 das grösste Wachstum ihrer bisherigen Existenz bevor. Zusammen mit dem zehnten Geburtstag rief diese Veränderung unter allen Beteiligtengruppen der Chácara die Frage nach der Identität der Organisation hervor und danach, wie diese sich entwickeln müsse, um dieses Wachstum zu bewältigen und ihren spezifischen Charakter und ihre Grundwerte nicht zu verlieren.

So bestand einerseits ein echtes Bedürfnis sowohl in der Chácara als auch ausserhalb, wissenschaftliche Erkenntnisse über deren Organisation zu gewinnen und sie diesbezüglich zu beschreiben, und anderseits ein besonderes Interesse und eine besondere Motivation der Beteiligten der Chácara, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. 11

Auf Zugang und Position der Forscherin wird in Kapitel 3.2 vertieft eingegangen.

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1.2 Forschungsziele und Forschungsfragen Vor dem geschilderten Hintergrund ist die Absicht entstanden, einen Beitrag zur organisatorischen Gestaltung und Qualität von residentiellen Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse zu leisten. Dieser Beitrag sollte möglichst praxisorientiert sowie situations- und lokationsgerecht und damit auch für Praktiker und andere Fachleute glaubwürdig und anwendbar sein, welche sich in der Region mit solchen Institutionen beschäftigen. Es ist das erste Mal, dass ein Strassenkinderprojekt einer organisationspsychologischen Analyse unterzogen wird. Organisation und Qualität sind im Umfeld brasilianischer Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse, wie bereits erwähnt, bisher eher wenig diskutierte Themen. Es ist deshalb weder Absicht noch Anspruch der vorliegenden Arbeit, die Frage der Organisation von residentiellen Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien abschliessend zu behandeln. Die Intention ist vielmehr, mit den Erkenntnissen dieser Untersuchung eine erste, empirisch fundierte Basis zu legen für einen entsprechenden Fachdialog und Entwicklungsprozess unter den Personen, welche direkt oder indirekt mit solchen Institutionen beschäftigt sind, sowie für die Diskussion und weiterführende Untersuchungen innerhalb der Forschungsgemeinschaft. Wie in Kapitel 7 aufgeführt, sind nach Abschluss der Forschung verschiedene Aktivitäten geplant, um diesen Prozess zusätzlich zu fördern. Im Rahmen der organisationspsychologischen Untersuchung sollen die organisatorischen Strukturen und Prozesse sowie ihre Begründung und Entwicklung im Sinne einer Phänographie, also aufgrund von Aussagen der verschiedenen am Projekt beteiligten Personen rekonstruiert werden, das heisst, die Organisation so dargestellt werden, wie sie von den an ihr beteiligten Personen in der Praxis konzipiert und umgesetzt wird. Im Weiteren interessiert, wie die so herauskristallisierten organisationalen Strukturen und Prozesse mit Fragen der Qualität und Nachhaltigkeit in Bezug gesetzt werden können und, zu guter Letzt, welche Erkenntnisse auf andere Organisationen übertragen werden können. In diesem Zusammenhang wurden folgende Forschungsziele angestrebt und dazu Forschungsfragen formuliert: ƒ

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Erstellung einer Phänographie der Chácara als Organisation: í Wie sieht die Organisation Chácara aus, und was sind die für sie charakteristischen organisationalen Strukturen und Prozesse? í Wie begründen die an ihr beteiligten Personen diese Strukturen und Prozesse, bzw. wie lassen sich diese herleiten? í Wie sieht der Prozess der Gestaltung der Organisation aus?

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Inbezugsetzung der Phänographie der Chácara mit Aspekten von Qualität und Nachhaltigkeit í Wie können Qualität und Nachhaltigkeit für eine solche Organisation definiert werden? í Wie können die Strukturen und Prozesse der Organisation gestaltet werden, um zur Erreichung dieser Qualität und Nachhaltigkeit beizutragen?

Wie in Kapitel 3 im Zusammenhang mit der Methodik erläutert, wurde mit der Forschungsarbeit die Absicht verfolgt, die Organisation Chácara vorwiegend aufgrund von Aussagen der an ihr beteiligten Personen zu beschreiben. Eher als ein theoriegeleitet-deduktives Vorgehen bot sich dafür eine induktive Vorgehensweise an. Für die hier erwähnten Forschungsfragen bedeutet dies, dass diese notwendigerweise eher weit gefasst formuliert wurden, und dass die ihnen zuzuordnenden Einzelthemen und -aspekte erst im Rahmen der induktiven Analyse sichtbar wurden. Diese werden in den Kapiteln 4 und 5 im Rahmen der Forschungserkenntnisse und Resultate ausführlich dargestellt. Im Rahmen der Reflexion der Erkenntnisse wird im Übrigen in Kapitel 6 ein Fokus auf die Frage gelegt, welche der beschriebenen organisationalen Strukturen und Prozesse unter welchen Bedingungen auf andere Institutionen übertragen werden können, die Kinder und Jugendliche der Strasse in Wohnstätten aufnehmen. 1.3 Bedeutung und Beiträge der Forschungsarbeit Die vorliegende Untersuchung ist von Bedeutung für eine Anzahl von verschiedenen Bereichen, welche sowohl die künftige Gestaltung von Organisationen wie der Chácara als auch die wissenschaftliche Erkenntnis besonders im Rahmen der Organisationspsychologie umfassen. Sie leistet erstens einen Beitrag an die Organisation und Qualität von Institutionen in Brasilien (und, in gewissem Masse, anderswo), welche Kinder und Jugendliche der Strasse aufnehmen. Sie stärkt die untersuchte „Chácara“ in deren organisationalen Prozessen sowie in der Kapazität, zur Ausbildung von Beteiligten anderer Institutionen und Beratung von Behördenmitgliedern im Sozialbereich beizutragen. Sie bietet den Beteiligten anderer Institutionen wissenschaftliche Erkenntnisse zu Fragen der Organisation und Qualität und kann zur Förderung eines fachlich fundierten Diskurses unter Praktikern, Wissenschaftern und „Policy Makers“ zu diesen Themen genützt werden. Zweitens leistet die Forschung einen Beitrag an die Organisationslehre, und zwar dadurch, dass sie mit der Untersuchung eines aus einer Basisbewegung 25

entstandenen Strassenkinderprojektes in einem Land des Südens Erkenntnisse über eine neue, bisher kaum oder gar nicht wissenschaftlich untersuchte Organisationsart erzeugt. Sie trägt damit zur Schliessung einer Lücke bei und kann zusätzliche Anregungen für die herkömmliche Organisationslehre liefern. Drittens trägt die Forschung durch den Austausch mit Fachleuten der Universität Zürich, der ETH Zürich und den Universitäten Curitiba, Fribourg und Maringá zum internationalen Forschungsaustausch bei und erstellt eine Brücke, die künftig auch anderen Forschenden und ihren Projekten zugute kommen kann. Viertens leistet sie einen Beitrag an die Perspektiven der Entwicklungszusammenarbeit. Sie stärkt die – in den Augen der Autorin in der internationalen Zusammenarbeit noch zu selten wirklich umgesetzte – Haltung, dass in Basisprojekten in einem Land des Südens durchaus effektive Methoden zur Organisation und deren Entwicklung bestehen, welche im selben und möglicherweise auch in anderen Ländern des Südens mit Erfolg verbreitet werden könnten und der Situation in diesen Ländern besser entsprechen würden als fraglos übernommene westlich/industrielle Organisationsmethoden, die oft den gedanklichen Hintergrund zu den Entwicklungsprojekten bilden, welche „Gebernationen“ in „Entwicklungsländern“ durchführen. Die vorliegende Forschung gibt den Menschen, welche sich und ihr Umfeld am Ort entwickeln, eine Stimme und fördert dadurch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit ebenbürtiger Partner, wie sie auch die staatlichen und nicht-staatlichen internationalen Entwicklungsorganisationen anstreben. Fünftens können besonders die Überlegungen und Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit zu Fragen der Organisationsgestaltung und Qualität im wirtschaftlichen Zusammenhang der Steuer- und Spendengelder nützlich sein, welche die Schweiz und schweizerische Organisationen zugunsten von Strassenkinderprojekten in Brasilien einsetzen. Eine informelle telefonische Umfrage bei den grossen Schweizer Hilfswerken ergab zu Beginn der vorliegenden Forschung, dass im Jahr 2001 mindestens zwei bis drei Millionen Franken in brasilianische Strassenkinderprojekte12 flossen, ein Betrag, der durch private Stiftungen und Vereine noch einmal um mindestens zwei Millionen Franken erhöht wurde. Hinter diesen Beträgen stehen Tausende von Spenderinnen und Spendern und, über die namhaften Beiträge des Bundes an die Hilfswerke, alle Schweizer Steuerzahlenden. Sie alle haben ebenfalls ein Interesse daran, dass Institutionen, welche in Brasili12

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Hier herrscht allerdings grosse Begriffsunklarheit. Es sind sehr unterschiedliche Organisationen, welche von Hilfswerken gegenüber Geldgebern als „Strassenkinderprojekte“ bezeichnet werden. Die meisten davon beziehen sich auf nicht ständig auf der Strasse lebende Kinder und Jugendliche und sind demnach nicht residentiell. Häufig entsteht der Eindruck, dass jedes aus armen Verhältnissen stammende oder elternlose Kind als „Strassenkind“ bezeichnet werde. Für eine genauere Definition siehe Kapitel 2.2.

en Kinder und Jugendliche der Strasse aufnehmen, über eine gute Organisation und Qualität verfügen. 1.4 Wissenschaftliche und materielle Rahmenbedingungen Das in der vorliegenden Arbeit dargestellte Forschungsprojekt „Nachhaltige Führung und Organisationsentwicklung von Strassenkinderprojekten in Brasilien“ wurde vom August 2002 bis Juli 2006 durchgeführt und umfasste vier Forschungsaufenthalte in Brasilien und in der untersuchten Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros (13. März – 11. Mai 2003, 1. Oktober bis 9. Dezember 2003, 18. März – 16. Mai 2004, 24. Februar 2005 – 30. April 2005). Ein weiterer Aufenthalt diente der Weitergabe und Diskussion der gemachten Erkenntnisse (10. Oktober – 5. Dezember 2006). Das Projekt wurde von der Autorin geleitet und durchgeführt sowie von Professor Dr. Heinz Gutscher (Sozialpsychologie, Universität Zürich) und Professor Dr. Theo Wehner (Zentrum für Organisationsund Arbeitswissenschaften (ZOA) der ETH Zürich13) betreut. In spezifischen Fragen fanden ein wissenschaftlicher Austausch sowie eine Beratung durch folgende Personen statt (in Reihenfolge der Kontaktnahme): Professor Dr. Riccardo Lucchini (Soziologie, Universität Fribourg), Professor Dr. Araci Asinelli da Luz (Pädagogik, Universidade Federal do Paraná in Curitiba, Brasilien), Professor Dr. Geovanio Edervaldo Rossato (Sozialwissenschaften, Universidade Estadual in Maringá, Brasilien) und Professor Dr. Max Bergman (Soziologie, Universität Basel). Während drei Jahren wurde das Forschungsprojekt vom Schweizerischen Nationalfonds finanziell unterstützt. Im Weiteren wurde es durch Beiträge der folgenden Institutionen und Personen ermöglicht: White Emperor Foundation/ Dr. Margrit Egnér-Stiftung (in den nicht vom SNF finanzierten Phasen), Abteilung Sozialpsychologie der Universität Zürich (Infrastruktur), Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften der ETH Zürich (Konferenzbesuch), Fundação Educacional Meninos e Meninas de Rua Profeta Elias in Brasilien (Kost und Logis), Hilda Romanowski Tratch in Brasilien (Beitrag an Kost und Logis). Die Autorin selbst leistete ebenfalls einen grösseren Finanzierungsbeitrag.

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Bis Ende 2004 „Institut für Arbeits- und Organisationspsychologie (IFAP)“.

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2 Einführung in Themenbereiche und Theorie

Wie aus den Forschungsfragen in Kapitel 1.2 hergeleitet werden kann, sind für die vorliegende Untersuchung vier Themenbereiche zentral. Es sind dies: Strassenkinder, Strassenkinderprojekte, Organisation sowie Qualität, Nachhaltigkeit und Entwicklung von Organisationen. Im vorliegenden Kapitel soll anhand der Fachliteratur ein Überblick über diese Themenbereiche gegeben werden. Primär wird hierbei die einschlägige organisationswissenschaftliche Literatur exemplarisch und im Hinblick auf ihre Aussagekraft für die Fragestellung der Untersuchung diskutiert. Da Strassenkinderprojekte auch der Entwicklungszusammenarbeit zugerechnet werden, werden zusätzlich Beiträge aus der Literatur dieses spezifischen Bereichs beigezogen. Strassenkinder und Strassenkinderprojekte in Brasilien existieren in einer spezifischen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Situation. Im Sinne eines kurzen Überblicks soll diese hier einleitend und ohne den Anspruch einer abschliessenden Darstellung in ihren charakteristischen Zügen skizziert werden. Ziel des Kapitels ist es, den Leser in die zentralen Themenbereiche der Studie einzuführen und den Boden für die empirische Untersuchung zu bereiten, indem die bisherigen Erkenntnisse zur Nutzung in der Studie bereit gestellt und die Forschungslücken aufgezeigt werden, welche die Studie zu schliessen sucht. 2.1 Brasilien Mit einer Fläche von etwas über 8.5 Millionen km2 ist Brasilien beinahe so gross wie Europa (ca. 10.5 Millionen km2). Trotz seines grossen Bevölkerungswachstums von etwa 108 Millionen im Jahr 1975 auf 187 Millionen im Jahr 2006 ist es wesentlich dünner besiedelt als Europa (ca. 860 Millionen Einwohner). Das Land ist geprägt von starken Migrationsbewegungen vom Land in die Städte von Personen auf der Suche nach einem Auskommen. Ausgelöst wurde diese Migration in erster Linie durch die forcierte Industrialisierung in der Zeit der Militärdiktatur, welche bis ins Jahr 1985 andauerte. Während im Jahr 1980 noch

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32.41% der Bevölkerung auf dem Land lebten, waren es im Jahr 2000 nur noch 18.75%14. Die Kleinbauern- und Wanderarbeiterfamilien, welche auf dem Land ihr Auskommen verloren haben, verfügen meist nicht über die Voraussetzungen, in den Städten Arbeit im formellen Sektor zu finden. Die meisten von ihnen versuchen, sich in einer Brettersiedlung am Stadtrand niederzulassen und sich dort finanziell über Wasser zu halten. Die Strassen der Stadtzentren bieten hier eine der Möglichkeiten, im informellen Sektor, also zum Beispiel als Papiersammler, Schuhputzer, Autoaufpasser, Kaugummi- oder Zigarettenverkäufer zu einigen Reais zu kommen. Manchen Frauen gelingt es, Arbeit als Haushaltshilfen zu finden, während Männer im Taglohn auf Baustellen arbeiten. Fallen auch diese Möglichkeiten weg, stellen Betteln oder illegale Tätigkeiten wie Diebstahl, Drogenhandel oder Prostitution oft die einzigen Einkommens- und Überlebensmöglichkeiten dar. Studien zeigen, dass Brasilien mit einem Gini-Koeffizienten15 von 0.59 weltweit eines der Länder mit der grössten Ungleichheit zwischen Reich und Arm ist. Die ärmsten 20% der Bevölkerung verdienen 2.4% der nationalen Einkommenssumme, während die reichsten 20% ganze 63.2% des Einkommens verdienen16. Auf der Vermögensseite ist die Diskrepanz noch grösser. Rossato (2003 a, S. 33) zitiert Studien der Weltbank und der UNO, gemäss welcher Brasilien zu den zehn reichsten Ländern der Welt gehört, auf dem Human Development Index jedoch hinter 160 anderen Ländern zurück steht, eine Tatsache, die von Sampaio (1993, zitiert in Rossato, 2003, S. 33) als „Gesellschaft der Apartheid“ zwischen den Armen und der Elite bezeichnet wurde. Er zitiert weiter eine Studie der brasilianischen Regierung aus dem Jahr 1999, welche anhand des „Index der Lebensbedingungen“ des UNDP durchgeführt wurde und feststellte, dass 63% der Bevölkerung in den Kategorien „in absolutem Elend“ („miserável“), „besitzlos“ und „arm“ existierten und weitere 15% von einem knapp genügenden Einkommen zehrten. Zur Veranschaulichung ist zu erwähnen, dass es auch im „reichen“ Süden, der „Kornkammer“ Brasiliens, Erwachsene

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Alle Daten in diesem Abschnitt vom Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE); www.ibge.gov.br, 11. September 2006. Ginikoeffizient (auch Gini-Index): statistisches Maß für Verteilungsgleichheit, entwickelt vom italienischen Statistiker Corrado Gini. Der Wert kann beliebige Größen zwischen 0 und 1 annehmen. Je näher an 1 der Ginikoeffizient ist, desto größer ist die Ungleichheit. Der Ginikoeffizient wird unter anderem von der Weltbank und dem United Nations Development Program (UNDP) in Bezug auf Einkommen und Besitz verwendet. Weltbank 2005 World Development Indicators, http://devdata.worldbank.org/wdi2005/Table2 _7.htm, 3.9.2006.

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und Kinder gibt, die verhungern oder erfrieren17, und dass es Strassenkinder gibt, welche in der dritten Generation auf der Strasse leben. Für viele der in Armut lebenden Kinder und Jugendlichen ist Kinderarbeit trotz entsprechender gesetzlicher Vorschriften nach wie vor an der Tagesordnung. Von den 5- bis 9-jährigen Kindern arbeiteten im Jahr 2001 1.84% (296'705), von den 10- bis 14-jährigen 11.61% (1'935'269), von den 15-jährigen 24.66% (862'275) und von den 16- und 17-jährigen 35.06% (2'388'266)18. Die Chancen auf berufliche und soziale Eingliederung eines grossen Teils der Bevölkerung werden durch eine sehr geringe bis geringe Schulbildung entscheidend geschmälert. Von der Gesamtbevölkerung im Alter von 10 Jahren und mehr hatten im Jahr 2003 11.5% die Schule während 0 bis weniger als 1 Jahr besucht, etwa 15% während 1 bis 3 Jahren und weitere etwa 32% während 4 bis 7 Jahren19. Die Analphabetismusrate unter Erwachsenen beträgt 11.6%20; der Prozentanteil funktionalen Analphabetismus dürfte wesentlich höher sein. Sobrado (2002) verfolgt die Wurzeln der Ungleichheit in Lateinamerika in die (vorkapitalistische) Kolonialzeit zurück. Damals erhielten Gefolgsleute der spanischen bzw. portugiesischen Krone Ländereien in Lateinamerika mit der Absicht der Stärkung bestehender Machtverhältnisse in Europa und nicht etwa mit der Absicht, auf diesen Ländereien zu produzieren21. Das dahinterstehende System des „Clientelismo“, in dem der Einzelne aufgrund seiner Beziehungen zu mächtigen Personen sozialen Status erreicht, besteht gemäss der Aussage von Sobrado bis heute. Es führt dazu, dass diejenigen, welche über keine solchen Beziehungen verfügen, marginalisiert sind und bleiben. Gadotti (1999), Leiter des vom Volkserzieher Paulo Freire begründeten Instituto Paulo Freire, schreibt in diesem Zusammenhang: Die ‘Verstrassung’ ist die Konsequenz eines wirtschaftlichen Systems, das auf der Ungerechtigkeit basiert, welche die Ausgrenzung, die Armut, die Leute auf den Strassen der Städte und den Landarbeiter ohne Land produziert. Es ist das System des ‘wilden Kapitalismus’, welches Abfallberge an der Peripherie der grossen Städte bildet, auf denen sich Geier, Tiere und menschliche Wesen versammeln und sich um 17

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In den Monaten Juni bis September können die Temperaturen zum Beispiel in der Region Curitiba auf den Gefrierpunkt sinken, dies bei einer hohen Luftfeuchtigkeit. Alle Daten in diesem Abschnitt vom Website des Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística, http://www.ibge.gov.br, 3.9.2006. Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística, http://www.ibge.gov.br, 3.9.2006. UNDP Human Development Report, http://hdr.undp.org/reports/global/2005; 3.9.2006. Eine zuverlässige Geschichte Brasiliens von der „Entdeckung“ durch Europäer im 15. Jahrhundert bis ins Jahr 1985 (Ende der Militärdiktatur) findet sich in Burns (1993). Lévi-Strauss (1978; 1999) und Zweig (1981) geben sehr gute Einblicke in die rasante Veränderung bzw. Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Eine kritische (Sozial-) Geschichte Lateinamerikas findet sich bei Galeano (1974 sowie 1991a, 1991b, 1991c).

die selben Überreste des Luxus der Eliten streiten. Es ist das System, welches die Arbeit zwischen ausgebeuteten Arbeitern und Arbeitslosen aufteilt. Es ist das System, welches den arbeitenden Müttern keine Zeit lässt, ihre Kinder zu erziehen, welche sie häufig lange Stunden zu Hause angebunden lassen müssen, aus Angst, sie würden auf der Strasse belästigt. (S. 12)

Brasilien verfügt seit dem Jahr 1985 über eine demokratische Staatsform sowie über eine Gesetzgebung, welche internationalen Standards entspricht. Mit dem im Jahr 1990 eingeführten Kinderrechtsstatut Estatuto da Criança e do Adolescente (ECA), der brasilianischen Umsetzung der UNO-Rechte des Kindes, liegt ein fortschrittliches, umfangreiches und detailliertes Regelwerk für den Schutz und die Förderung der brasilianischen Kinder und Jugendlichen vor. Seitens von Regierungsstellen und Nichtregierungsorganisationen gibt es Bemühungen, die soziale und wirtschaftliche Situation des Landes insgesamt sowie zugunsten einer grösseren Gleichheit der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu verbessern. Häufig hapert es jedoch bei der Umsetzung von gesetzlichen Vorschriften, wie die eingangs zitierten Studien zur Situation in Institutionen für Kinder und Jugendliche zeigten. Die komplexen Zusammenhänge von wirtschaftlichen, politischen und weiteren gesellschaftlichen Faktoren sowie die tiefe Verwurzelung der gegenwärtigen Lebenssituation der Bevölkerung in der Geschichte und Kultur der brasilianischen Gesellschaft bedeuten, dass Verbesserungen in vielen Bereichen einer umfassenden gesellschaftlichen Veränderung bedürfen. Trotz vieler positiver Bemühungen in den verschiedensten Bereichen verläuft eine derartige Veränderung zumeist in einem Prozess, der Jahre oder Jahrzehnte dauert oder gar über mehrere Generationen verläuft. 2.2 Strassenkinder Ein Strassenkinderprojekt ist – wie immer es auch gestaltet sein mag – eine Reaktion auf das Vorhandensein von Strassenkindern. Einer Übersicht über Strassenkinderprojekte muss deshalb eine Übersicht über diese Kinder vorangehen. Es sind Forschende aus den Disziplinen Soziologie, Psychologie und Pädagogik, aber auch Volkswirtschaft und Jurisprudenz, welche sich mit Strassenkindern und speziell mit Strassenkindern in Brasilien befasst haben. Sie haben sich für die Fragen der Definition und Anzahl dieser Kinder, die Beziehungen zwischen ihnen und der weiteren Gesellschaft, ihre Aktivitäten auf der Strasse, ihre persönlichen Eigenschaften sowie für die Ursachen und Gründe interessiert, welche zum Gang auf die Strasse und zum Verlassen derselben führen. 31

2.2.1 Begrifflichkeit und Zahlen Der Begriff der „Strassenkinder“ („Meninos de Rua“) wurde in Brasilien ab Ende der 1970er Jahre gebräuchlich. Ab diesem Zeitpunkt nahm die Zahl der sich auf der Strasse aufhaltenden Kinder und Jugendlichen aufgrund der Armut sowie der Vertreibung vom Land und der Migration in die Städte stark zu. Wie Rossato (2003a, S. 53) schildert, gibt es verschiedene Möglichkeiten, Strassenkinder zu definieren. Im Jahr 1985 übernahm die Unicef eine weitgefasste Definition von Strassenkindern als: (...) alle Mädchen und Jungen, für welche die Strasse (im weitesten Sinne des Wortes, also einschliesslich unbewohnter Häuser, unbebauter Grundstücke etc.) hauptsächlicher Wohnort und/oder die Quelle dessen, was sie zum Überleben benötigen, ist, und die nicht über Schutz, Betreuung oder angemessene Anleitung durch einen verantwortlichen Erwachsenen verfügen. (Unicef, 1985, zitiert in Rossato, 2003a, S. 57)

Aufgrund dieser Definition schätzte die Unicef im Jahr 1985, dass es weltweit 100 Millionen Strassenkinder gebe, von denen 40 Millionen in Lateinamerika und davon 7 Millionen in Brasilien (davon 30% Mädchen) lebten (Lusk & Mason, 1985, S. 155; zitiert in Rossato, 2003a, S. 57). Diese hohen Zahlen führten zu einem grossen Interesse der Weltöffentlichkeit, aber auch zu wissenschaftlichen und politischen Disputen darüber, ob sie bzw. die dahinter liegenden Definitionen „richtig“ seien. Im Jahr 1989 passte die Unicef ihre Definition an und unterschied neu zwischen drei Gruppen von Kindern und Jugendlichen: a. Kinder in Risikosituationen. Eine Kategorie von Kindern, die zu Hause leben, in extrem armen Siedlungen, wo sie ihre minimalen Subsistenzbedürfnisse nicht befriedigen können. Die Betreuung durch die Familie ist ungenügend, und sie leben in Randgebieten, in denen es kaum Zugang zu öffentlichen Diensten, Schulen oder relevanten Gemeindeprogrammen gibt. b. „Kinder auf der Strasse“. Eine Kategorie von Kindern, die auf der Strasse arbeiten. Sie verbringen einen grossen Teil des Tages auf der Strasse, unterhalten aber regelmässigen Kontakt mit ihren Familienangehörigen. Sie übernachten möglicherweise hin und wieder auf der Strasse, übergeben aber ihr Einkommen an ihre Eltern. c. „Kinder der Strasse“. Eine Kategorie von Kindern, für welche die Strasse der hauptsächliche Wohn- und Arbeitsort ist. Sie sind minderjährig und haben das Elternhaus zumeist freiwillig verlassen; es befinden sich unter ihnen aber gleichermassen auch Waisen und verlassene Kinder. (Oude & Kruijt, 1996; S. 10–11, zitiert in Rossato, 2003a, S. 61).

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Aufgrund dieser angepassten Definitionen berichtete die Unicef im Jahr 1993 anstelle der bisher 100 Millionen nur noch von 30 Millionen Strassenkindern weltweit, von denen 15 Millionen in Lateinamerika lebten. (Rossato, 2003a, S. 63) Zählungen der auf der Strasse übernachtenden Kinder und Jugendlichen ergaben eine Gesamtzahl von 797 in Rio de Janeiro (1993) und 895 in São Paulo (1994), wie Hecht (1998, S. 100) berichtet. Er schloss daraus, dass es pro Million Einwohner in Grossstädten 115, also landesweit etwa 13'000 Kinder und Jugendliche in dieser Situation gebe. Für die Stadt Curitiba, bei der sich das im Rahmen der vorliegenden Studie zu untersuchende Projekt "Chácara" befindet, gibt es differenzierte Zahlen aus dem Jahr 1995 (Gomide, 1995). Von den 1'154 dort auf der Strasse angetroffenen Kindern und Jugendlichen waren 24% Mädchen und 76% Jungen mit der folgenden Altersverteilung: 0 í 2 Jahre Ƃ ƃ

3 í 6 Jahre Ƃ ƃ

7 í 10 Jahre Ƃ ƃ

11 í 14 Jahre Ƃ ƃ

15 í 18 Jahre Ƃ ƃ

> 19 Jahre Ƃ ƃ

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97

59

6

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53

162

394

240

5

Von diesen Kindern und Jugendlichen schliefen zum Zeitpunkt der Befragung 78.9% zu Hause bei der Familie oder nahen Verwandten, während 21.1%, also 244, auf der Strasse wohnten (Gomide, 1995, S. 7). Dies ergibt eine höhere Rate als die von Hecht festgestellte von etwa 166 Kindern und Jugendlichen auf eine Million Einwohner (Curitiba hatte damals etwa 1.5 Millionen Einwohner). Auf die urbane Bevölkerung Brasiliens von etwa 155 Millionen im Jahr 2006 hochgerechnet, würde dies bei unveränderten Verhältnissen landesweit eine Gesamtzahl von etwa 121'700 Strassenkindern ergeben, von denen etwa 96'000 mehrheitlich bei Familienangehörigen übernachten, während etwa 27'500 vorwiegend auf der Strasse übernachten. Von Fachleuten, die mit Strassenkindern arbeiten, sei es in privaten oder staatlichen Organisationen, wird angenommen, dass die Zahl der Kinder auf den Strassen Curitibas, und vor allem diejenige der ganz auf der Strasse lebenden, seit der Untersuchung von Gomide zugenommen hat. 2.2.2 Lebenssituation, Eigenschaften und Wünsche Verschiedene Autoren kritisieren, dass in den Medien, bei Vertretern der Sozialpolitik, aber auch in der weiteren Gesellschaft einseitige oder realitätsfremde Annahmen über Strassenkinder im Umlauf sind. Lucchini (1998) analysierte 33

Diskurse über Strassenkinder in Rio de Janeiro, Montevideo und Mexico City und schreibt: Die theoretischen Überlegungen zu Strassenkindern stehen noch am Anfang. Hingegen gibt es eine Vielzahl von beschreibenden und journalistischen Schriften, welche das Strassenkind zumeist als ohnmächtiges Opfer einer endemischen Gewalt der ärmsten Gesellschaften darstellen. Der Eindruck entsteht, dass das Kind unfähig sei, eine Wahl zu treffen, weil es lediglich die Gelegenheiten nützt, die sich ihm anbieten. Das Kind wird als unfähig der Antizipation beschrieben, als Resultat der Desorganisation der Familie, der Krise in der Gemeinschaft und dem erweiterten familiären System, aber auch der Armut und der sozialen Ungerechtigkeit. Das Strassenkind wird als impulsiv und apathisch dargestellt, und es entsteht der Eindruck, es sei unfähig, sein eigenes Benehmen zu kontrollieren. Es wird als auf das „Sofort“ ausgerichtet, als „Gefangenes der Gegenwart“ verstanden. [Es heisst,] das Strassenkind werde von seinen Impulsen und Wünschen beherrscht. Das Strassenkind wird auch bezüglich seines Alters und physischen Erscheinungsbilds beurteilt. Je kleiner es ist, desto mehr wird es als ein Opfer gesehen, das es zu retten gilt. Wenn es hingegen wie ein Jugendlicher aussieht, dann ist es ein potentieller Delinquent, vor dem man die Gesellschaft schützen muss. So nähren die Massenmedien und viele Verantwortliche von Sozialprogrammen ein reduziertes und abschätziges Bild des Strassenkindes. Nun, dieses Bild entspricht nicht der psychosozialen Heterogenität, welche charakteristisch für die Strassenkinder ist. (S. 26)

Die meisten dieser Annahmen gründen auf der wahrgenommenen Devianz des Aufenthalts und des Verhaltens der Kinder auf der Strasse von gesellschaftlichen Erwartungen. Die Kinder auf der Strasse werden oft als ein gesellschaftlicher Störfaktor gesehen, der entfernt werden muss. Dabei wird weder auf die spezifischen Lebenssituationen und Ansichten der einzelnen Kinder eingegangen, noch werden die Rollen und Verhaltensweisen der übrigen individuellen und institutionellen Akteure im gesellschaftlichen Raum in eine Analyse miteinbezogen. Hinsichtlich der Situation in Brasilien beschreibt Rossato (2003b, S. 46í47), wie sich auf der Strasse aufhaltende Kinder in der Gesellschaft häufig als gefährlich und asozial wahrgenommen werden, und wie ihnen dann weitere Merkmale attribuiert werden, so zum Beispiel „ohne Beschäftigung“, „faul“, „high“, „minderwertig“, „geistig und emotional defizient“, „ohne Kultur“, „ohne gute Manieren“ und „nicht zivilisiert“. Ein solches Verständnis führt zu einer Bekämpfung dieser Kinder und Jugendlichen. Exemplarisch für eine solche Haltung zitiert der Autor einen Ausschnitt aus einem vermutlich Ende der 1980er oder Anfang der 1990er Jahre entstandenen Dokument der „Escola Superior de Guerra“, des Instituts für Strategie des brasilianischen Verteidigungsministeriums:

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(...) Wenn wir annehmen, dass dieses Universum [der Kinder und Jugendlichen der 22 Strasse] heute bereits 200'000 Minderjährige umfasst (...), befürchten wir, dass es zu Beginn des nächsten Jahrhunderts ein Kontingent von Marginalen, Missetätern und sogar von Mördern in der Grösse unseres Heeres geben wird. (...) Wenn dannzumal die Polizeikräfte nicht in der Lage sein werden, dieser Situation zu begegnen – und die Vernunft sagt, dass dies mit fataler Sicherheit geschehen wird – dann werden die konstitutionellen Mächte der Exekutive, Legislative und Judikative die Mitwirkung der Streitkräfte anfordern können, damit sie die harte Aufgabe übernehmen, dieser Horde von Banditen entgegenzutreten, sie zu neutralisieren und sie tatsächlich zu zerstören, damit Recht und Ordnung aufrechterhalten bleiben. (Escola Superior de Guerra, zitiert in Silva, 1992b, S. 13, zitiert in Rossato, 2003b, S. 52í53)

Es gibt in Brasilien eine zweite Sichtweise auf die sich auf der Strasse aufhaltenden Kinder, welche milder als die vorangegangene scheint, jedoch ebenfalls von einer einseitigen Beurteilung und von der Devianz der Kinder von gesellschaftlichen Normen ausgeht. Auch sie berücksichtigt weder deren reale Situation und Ansichten noch den weiteren Kontext und seine Akteure. Ein von Alves-Mazzotti (1996) befragter Erzieher sprach von den Kindern als „schmutzige kleine Herzchen“ (S. 513, zitiert in Rossato, 2003b, S. 67). In dieselbe Richtung gehen Titel von Büchern über sich auf der Strasse aufhaltende Kinder, wie zum Beispiel „Asphalt Angels“ (Holtwijk, 1998). Rossato (2003b, S. 68í69) führt aus, dass in diesem Fall die Kinder als arme, korrumpierte Geschöpfe gesehen werden, als desorientiert und verloren, als unfähig, zwischen „gut“ und „schlecht“ zu unterscheiden, und schliesslich als „unschuldige Opfer“. Diese Sichtweise führt nach seinen Untersuchungen zu Schuldgefühlen in Teilen der Gesellschaft und zur Absicht, diese Kinder so schnell wie möglich vor der imminenten Verdammnis (oft im religiösen Sinn, d.h. vor der Hölle) zu retten. Den beiden erwähnten Sichtweisen ist gemeinsam, dass das Kind als Objekt der Gesellschaft verstanden wird, welches nicht den Platz einnimmt, welches ihm diese Gesellschaft zuweist, sich also deviant bezüglich deren Erwartungen verhält. Es wird nicht als ein staatsbürgerliches Subjekt verstanden, das aufgrund seiner Bürgerrechte und unabhängig von seiner gegenwärtigen Lebenssituation oder Herkunft Teil der Gesellschaft und ihrer Strukturen ist. Aufgrund der Beobachtung, dass nur ein kleiner Teil der armen Kinder ihr Leben auf der Strasse verbringt, hat Lucchini (1996a) untersucht, welche Aspekte zum Gang des Kindes auf die Strasse beitragen. Er stellte dabei fest, dass der Gang auf die Strasse ein gradueller Prozess mit verschiedenen Zwischenstufen ist, zwischen denen die Kinder häufig wiederholt hin und her wechseln. Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb die Zahl der Kinder und Jugendlichen auf der 22

Mit eckigen Klammern […] werden in Zitaten Ergänzungen der Autorin markiert, welche den Sinn der Aussage erhellen.

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Strasse fluktuiert. Der Prozess des Ganges auf die Strasse – oder besser des Ganges zwischen Lebenskontexten – wird von zwei Dimensionen geprägt, einer physischen, welche sich auf die Zeitdauer bezieht, die das Kind in einem Lebenskontext verbringt, und einer sozialen, bei welcher es um die Existenz oder Absenz von Bindungen zu den Eltern oder anderen Personen geht. Wo ein Kind auf dem Kontinuum zwischen verschiedenen Lebenskontexten steht, hängt von einer Anzahl Faktoren ab. Lucchini hat diese aufgrund von Befragungen von Strassenkindern in verschiedenen Ländern Lateinamerikas wie folgt definiert: ƒ ƒ ƒ

ƒ

ƒ

Biologische (z. B. Alter, Geschlecht). Familiäre (z. B. Aufbau und Struktur der Familie, Stärke und Qualität der Beziehungen, wirtschaftliche Situation der Familie, Grad der Verwurzelung der Familie in der Stadt). Auf die Strasse bezogene (Bild des Kindes von der Strasse, frühere Kontakte mit Leuten auf der Strasse, Zugang zur Strasse, Zugehörigkeit des Kindes zu einer Gruppe oder Bande von Kindern, die Rentabilität von Aktivitäten auf der Strasse, die polizeiliche Unterdrückung und die Gewalt zwischen den Kindern selbst). Auf den städtischen Raum bezogene (Grösse der Distanz zwischen dem Wohnort und der Strasse, wo das Kind seinem Einkommen nachgeht, die Geschwindigkeit, mit der es vom einen zum anderen Ort gelangen kann, die Art des städtischen Raumes, den das Kind durchqueren muss, um zu „seiner“ Strasse zu kommen). Übergeordnete (z. B. die wirtschaftliche und soziale Situation des Landes im Allgemeinen sowie die staatliche Sozialpolitik) (1996a, S. 137í139).

Gemäss Lucchini (2003) beginnt ein Kind dann die Strasse zu verlassen, wenn das von ihm gewünschte Selbst- oder Idealbild nicht mehr mit der Lebensweise auf der Strasse vereinbar ist. Auch hier wird der genannte Beziehungsaspekt sichtbar: Dieses Bild wird häufig aufgrund einer positiven Referenz konstruiert. Diese Referenz ist eine Person, deren Respekt das Kind erlangen möchte, welche nicht auf der Strasse lebt, und welche die Tatsache, dass das Kind auf der Strasse lebt, nicht begrüsst. (S. 22)

Die Motivation zum Verlassen der Strasse sieht er von insgesamt sechs Dimensionen geprägt: ƒ 36

Die Strasse wird als Risiko gesehen, in Haft zu geraten.

ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Die Strasse offeriert keine Zukunft mehr (die spielerischen und instrumentellen Aspekte verlieren ihre Attraktivität). Die Kosten des Aufenthalts auf der Strasse werden höher als der Nutzen. Die Kameraden zeigen eine positive Einstellung gegenüber der Absicht, die Strasse zu verlassen. Eine Begegnung erlaubt die Wiederherstellung einer Eltern(teil)-KindBindung und eine Neugestaltung der Identität. Eine Begegnung eröffnet eine glaubwürdige Alternative zur Strasse und die Möglichkeit der Integration in die gewöhnliche Gesellschaft. (S. 30)

Lucchinis Erkenntnisse machen nicht nur auf die Heterogenität und Dynamik des Aufenthalts von Kindern und Jugendlichen auf der Strasse aufmerksam, sondern zeigen auch eine klare Unterscheidung zwischen dem Kind und dem ihn umgebenden Raum. Das Kind hält sich wohl in einem bestimmten Raum auf, dessen Bedingungen es unterworfen ist. Zugleich ist es aber auch ein aktiver Agent, welcher diesen Raum auf seine eigene Art und Weise wahrnimmt und, soweit möglich, gestaltet. In dieselbe Richtung geht ein Begriff, der in Brasilien zunehmend verwendet wird: „crianças e adolescentes em situação de rua“, also „Kinder und Jugendliche in einer Lebenssituation der Strasse“. Damit soll derselben Tatsache, wie sie Lucchini befunden hat, Ausdruck gegeben werden: dass die Strasse weder Persönlichkeit noch ewig andauerndes Schicksal der Kinder ist. Sie stellt eine von mehreren Lebenssituationen dar, in welcher sich Kinder über eine kürzere oder längere Zeit befinden und welche sie mitgestalten. Die Vielfältigkeit des Lebens der Kinder und Jugendlichen auf der Strasse und die Limitationen gewisser gängiger Sichtweisen ergaben sich auch aus der Studie von Gomide (1995) in Curitiba. Diese zeigte, dass die Aktivitäten der Kinder auf der Strasse vielfältiger und seltener illegaler Natur waren, als häufig in Bevölkerung oder Medien kolportiert: Es zeigte sich, dass 59% von ihnen arbeiteten, 23% allein oder in Gruppen umher wanderten, 10% bettelten, 6% spielten und 2% Leim schnüffelten. Die Mehrheit – 42% – überbrachte das verdiente Geld ganz oder teilweise den Eltern, 35% kauften damit Essen und 18% kauften Kleider. Lediglich 4% gaben an, damit Drogen zu kaufen. (...) Sieben Prozent gaben an, Taschendiebstähle auszuführen, um zu Geld zu kommen. (S. 12)

Die 59% der arbeitenden Kinder und Jugendlichen waren im informellen Sektor tätig und zwar im Strassenverkauf, als Papiersammler, Autowäscher, Träger, Schuhputzer, Früchte-Pflücker, Flugblattverteiler oder sonstige Hilfsarbeiter (S. 12í13). 37

Bezüglich illegaler Tätigkeiten nennt Bondaruk (2005, S. 44), selbst hochrangiges Mitglied der Militärpolizei, die Zahl der polizeilich registrierten Delikte von Kindern und Jugendlichen in Curitiba und Region und zeigt, dass nur der kleinste Teil, nämlich 14%, von Minderjährigen begangen wurde. In dieser Gruppe befinden sich unter anderem Kinder und Jugendliche der Strasse. Bei den meisten der Delikte handelte es sich um Diebstähle. In weiteren 22% der Fälle waren Minderjährige an Delikten Erwachsener beteiligt, während 64% der Delikte von Erwachsenen begangen wurden. Bondaruk (2005, S. 56) befragte mit Mitarbeitenden 415 Kinder und Jugendliche (22% weiblich, 78% männlich) auf den Strassen von Curitiba sowie in sozialen Institutionen, welche Strassenkinder aufnehmen. Etwa die Hälfte von ihnen (49%) beantwortete die Frage nach der Herkunft ihres Einkommens. Am häufigsten nannten sie Diebstahl (14%) und Betteln (12%), gefolgt von Prostitution (6%), Tätigkeiten in einem Sozialprojekt der Militärpolizei („Formando Cidadão“, 5%), Altpapiersammeln (4%), sonstige Arbeiten (3%), Autos-Bewachen (3%), Drogenhandel (2%) und Jonglieren an Verkehrsampeln (1%). Gomide (1995) und ihre Mitarbeitenden befragten die Strassenkinder im Weiteren nach ihren Problemen auf der Strasse und stellten fest, dass diese vor allem den Gebrauch und Handel von Drogen, deren Wirkungen sowie die Umstände des Drogenkonsums am häufigsten erwähnten. Weiter erwähnt wurden unmittelbar bedrohliche Probleme wie zum Beispiel Kälte und Hunger, strukturelle Probleme, wie zum Beispiel der Zerfall der Familienstruktur, Misshandlungen durch die Polizei, der Mangel an Arbeit, sowie soziale Probleme, wie zum Beispiel Diskrimination, Zurückweisung und fehlende Unterstützung. Rizzini & Butler (2003, S. 14) bezeichnen all diese Phänomene als „Formen sozialer Gewalt“. Im Zusammenhang mit Fragen der Gewalt beschreiben Rizzini und Butler (2003), wie die Kinder und Jugendlichen auf der Strasse Freiheiten finden, die sie zu Hause nicht hatten, gleichzeitig aufgrund der dort erlebten Angst und Gewalt jedoch bald erkennen, dass diese Freiheit illusorisch ist. Sie zitieren unter anderem eine Studie der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, welche befand, dass nach Angaben der Staatsanwaltschaft in den Jahren 1989 bis 1991 in Brasilien 5'644 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 5 und 17 Jahren gewaltsam zu Tode gekommen waren. Auch Human Rights Watch ist zum Schluss gekommen, dass arme Kinder und Jugendliche zum Ziel von Tötungen durch Polizisten und Todesschwadrone werden, weil sie als Kriminelle angesehen werden. Zur Gewalt an Kindern trägt nach ihrer Ansicht im Weiteren der Mangel an Polizeistreifen in armen Stadtgebieten bei, die Überzeugung, dass das Rechtssystem nicht funktioniere sowie eigentliche Traditionen gewalttätigen Verhaltens, von denen viele noch auf die Zeit der Militär38

diktatur zurückgehen. In allen Fällen, so Human Rights Watch, verstärke ein Teufelskreis aus Nachlässigkeit, Missachtung oder gar Komplizität seitens offizieller Stellen das Problem und führe zu einer kontinuierlichen Fortsetzung der Gewalt (Human Rights Watch, 1994, S. 30, zitiert in Rizzini & Butler, 2003, S. 32). In ihrem Human Rights Report schreibt Human Rights Watch im Jahr 2000, dass sich die zuvor geschilderte Situation der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Brasilien nicht wesentlich verändert habe: Over the years, Human Rights Watch had attempted to highlight the serious nature of the human rights abuses committed against street children by law enforcement personnel in Brazil, Bulgaria, Colombia, Guatemala, India, Kenya, and Sudan, and on the gross lack of police accountability for abusive actions. Widespread impunity and the slowness of law enforcement bodies to investigate and prosecute cases of abuses against street children allowed violence against street children to continue 23 unchecked.

Insgesamt 55% der von Bondaruk befragten Kinder und Jugendlichen aus Curitiba gaben an, bereits Gewalt durch die Hand von Polizisten erlitten zu haben. Etwa die Hälfte von ihnen (54%) äusserte sich zur Anzahl solcher Erlebnisse. Dabei gaben 27% an, solches ein- bis dreimal erlebt zu haben, während 13% von „mehr als dreimal“ und 14% von „vielen Malen“ sprachen. Bondaruk begründet gewaltsame Handlungen seitens von Polizisten teilweise mit der Geschichte der militärischen und polizeilichen Institutionen in Brasilien und führt aus: (...) Während der ganzen Entwicklungsgeschichte der brasilianischen Polizei war deren charakteristischster Zug, dass sie mehr der Bewahrung der Staatsmacht und der Interessen ihrer Vertreter diente als dem Schutz der Bürger im Allgemeinen. (2005, S. 73)

Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen auf der Strasse wird nicht nur von Angehörigen der Polizei, sondern auch von anderen Erwachsenen ausgeübt. Gegenüber Bondaruk und Mitarbeitenden gaben die Befragten an, etwa gleich viel Angst vor Polizisten wie vor kriminellen Erwachsenen zu haben.24 Die schwierigen Bedingungen, unter denen die Kinder und Jugendlichen auf der Strasse leben, und die mangelnde Begleitung durch Erwachsene führen dazu, dass sie sich körperlich und in ihrer Persönlichkeit nicht so entwickeln können, 23 24

Von http://www.hrw.org/wr2k/Crd.htm#TopOfPage, (8.9.2006) Es ist bekannt, dass Strassenkinder häufig auch in ihren anderen Lebenskontexten Gewalt erleben, so zum Beispiel in der Familie oder in anderen Institutionen (siehe z. B. die eingangs zitierten Studien der brasilianischen Regierung).

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wie ihre gesunden, angemessener ernährten und betreuten Altersgenossen. Gleichzeitig müssen sie jedoch ganz besondere Fähigkeiten entwickeln, um auf der Strasse zu überleben. So schreibt Graciani (1999): Wer auf der Strasse lebt, braucht Agilität, Flexibilität und viel körperliche Bewegung, um diese aufrecht zu erhalten. Es ist notwendig, immer wieder den Aufenthaltsort zu ändern und ein anderes Territorium zu suchen. Die Strasse entspricht einer permanenten Veränderung und ist absoluter Unsicherheit unterworfen. Es ist unmöglich vorauszusehen, was in der nächsten Stunde oder am nächsten Tag geschieht. Man muss immer bereit sein zu handeln oder zu reagieren, zu kreieren und neu zu kreieren, Arten zu erfinden oder wieder neu zu erfinden, wie man auf der Strasse überleben oder überhaupt leben kann (...). (S. 131)

Lucchini (1993) unterscheidet zwischen instrumentellen und symbolischen Kompetenzen. Zu ersteren zählt er die sichtbaren Fähigkeiten, welche die Kinder und Jugendlichen bei der Ausübung ihrer vielfältigen Arbeiten und Tätigkeiten zur Beschaffung von Mitteln auf der Strasse zeigen. Zu zweiteren zählt er diejenigen Kompetenzen, welche Kinder und Jugendliche benötigen, um ihre längerfristigen Überlebensstrategien und ihre Bezugssysteme auf der Strasse zu gestalten. Hier erwähnt er Aspekte wie Freiheitssinn, Solidarität, kritisches Denken und das Schaffen von Möglichkeiten. In einem weiteren Artikel (2003) erwähnt er, dass sprachliche bzw. kommunikative Fähigkeiten von den Strassenkindern als eine der für das Leben auf der Strasse wichtigsten Kompetenzen gesehen werden. So schreibt er: „Das Strassenkind ist ein hoch kompetenter Verhandler.“ (S. 16) Entsprechend beschreibt er, wie die Gruppen der Strassenkinder auf Kompetenzen basiert strukturiert sind: Die Reputation des Kindes in seinem Netzwerk ist eine Funktion der Kompetenzen und Fähigkeiten, welche man ihm zuerkennt. So gibt es eine Hierarchie der Reputationen, welche in ihrer Funktion der hierarchisierten Organisation von Banden mit einer zentralisierten Leitungsrolle entspricht. Es ist diese differenzierte Verteilung von Reputationen, welche die Ordnung im Netzwerk sicherstellt, und nicht Beziehungen, welche durch die Unterwerfung unter einen Anführer reguliert sind. Diese Form des Funktionierens ist gut an den Kontext der Strasse angepasst, der durch ständige Veränderung und die räumliche Mobilität der Kinder geprägt ist. (S. 18)

Gomide (1995) erwähnt die in der Bevölkerung verbreitete Ansicht, dass Strassenkinder glücklich seien, sich nicht verändern und frei leben wollten. Ihre Studie befand entgegen dieser Meinung, dass Strassenkinder Hilfe bzw. Veränderung suchen:

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Ihre Antworten betreffen unmittelbare Bedürfnisse, wie zum Beispiel einen Ort, an 25 dem sie essen können (9.5% ), affektive Bedürfnisse, wenn sie aufgrund der Wahrnehmung, dass die familiären Bindungen bereits aufgelöst sind, um ein Ersatzzuhause bitten (8.9%), Bedürfnisse bezüglich des [längerfristigen] Überlebens, da 54.5% um Arbeit sowie um Tagesschulen (44%) und Berufskurse (23.7%) bitten, und damit zeigen sie, dass sie trotz allem über eine gewisse Vorstellung der Zukunft verfügen. (S. 14)

Die meist genannten Wunschberufe der von Bondaruk (2005, S. 67) befragten 415 Kinder und Jugendlichen aus Curitiba waren: Fussballspieler/-in (7%), Lehrer/-in (6%), Anwalt/Anwältin (5%), Arzt/Ärztin (5%), Polizist/-in (5%), Lastwagenfahrer/-in (3%). Einzelne weitere Berufe wurden von 52% der Kinder und Jugendlichen genannt, während lediglich 7% die Frage nicht beantworteten. Zwei Drittel der Befragten (67%) gaben an, die Hoffnung zu haben, eines Tages ein besseres Leben zu führen. In Bezug auf die in der brasilianischen Gesellschaft vorhandenen sozialen Repräsentationen von Strassenkindern schreibt Rossato (2003b): (...) Was das Thema der Strassenkinder anbelangt, so finden wir in der Vorstellung der brasilianischen Gesellschaft verschiedene Weisen vor, diese zu bestimmen, zu beurteilen oder zu klassifizieren. Diese Weisen äussern sich in verschiedenen Meinungen, Zeugnissen, Empfindungen, Haltungen, Aussagen, Gesten und sozialen Ideen und führen zu distinkten Handlungsansätzen (...). (S. 38í39)

Die Art und Weise, in der diese Kinder und Jugendlichen gesehen werden – sei es aufgrund von sozialen Konstruktionen oder aufgrund von wissenschaftlichen Studien – beeinflusst die verschiedenen Projekte und Institutionen, welche auf sie ausgerichtet sind. Darauf soll im nächsten Kapitel eingegangen werden. 2.3 Strassenkinderprojekte Gemäss Lusk (1989, S. 63, zitiert in Lucchini, 1998, S. 27) können Sozialprogramme für Strassenkinder entlang eines Kontinuums klassifiziert werden. Dieses erstreckt sich zwischen dem Konzept der Anpassung der sozioökonomischen Systeme an die Bedürfnisse des Einzelnen einerseits und der Idee der Anpassung des Einzelnen an die Anforderungen sozialer Systeme anderseits. Je nachdem, wie das Strassenkind als soziale Problematik eingeschätzt wird, gibt es gemäss Lucchini (1998, S. 27) vier mögliche Ansätze: 25

Es waren Mehrfachnennungen möglich.

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ƒ ƒ ƒ ƒ

Das strafend-korrigierende Vorgehen. Das rehabilitierende Vorgehen. Den Zugang zum Kind in seinem natürlichen Umfeld auf der Strasse. Das präventive Vorgehen.

Rossato (2003b) identifizierte im Rahmen seiner Forschung ebenfalls zwei verschiedene sozialpolitische Ansätze, welche gegenüber Strassenkindern in Brasilien zumeist angewandt werden, denjenigen der „Bestrafung“ (meist von staatlichen Organen verfolgt) und denjenigen der „Rettung“ (meist von religiösen Organisationen verfolgt). Er zeigt, dass das Kind auf der Strasse in beiden Fällen nicht als Teil der Gesellschaft gesehen wird, sondern als ausserhalb der Gesellschaft stehend, von dieser deviant, entweder als zu bestrafende Bedrohung oder als Opfer bzw. als zu rettende „verlorene Seele“. Ein Beispiel für erstere Sichtweise sind brasilianische Projekte, welche aus Militärkasernen bestehen, in welche Strassenkinder eingesperrt werden. Der zweite Ansatz zeigt sich zum Beispiel in der Aussage einer Nonne in Curitiba. Diese erklärte der Autorin im Jahr 1998, ihr Projekt verfüge über eine hohe Mauer, um zu verhindern, dass sich die Mädchen hinausschlichen und Kontakt mit ihren „in Sünde lebenden“ – gemeint waren die materiell armen – Eltern aufnähmen. In beiden Fällen finden die Ungleichheiten der Gesellschaft direkten Niederschlag in den Zielen der Organisation. Lucchini (1998) schreibt in Bezug auf Organisationen, welche das Kind als Opfer verstehen: Dies führt unter anderem dazu, dass Interventionsprogramme eingeführt werden können, ohne dass die normativen Prämissen ihrer Handlungen explizit begründet werden. In anderen Worten wird keinerlei Exegese der Erwartungen gemacht, welche das Programm an das Verhalten der Kinder stellt, an welche es sich richtet. So ist die Versuchung gross, als Modell der Normalität einfach dasjenige der sozial begünstigten Gruppen (eines Teils der Mittelschicht und der Bourgeoisie) zu übernehmen. Der institutionalisierte Diskurs definiert die Armen und Ausgeschlossenen so implizit als deviant. Dies ist einigermassen paradox für eine Vorgehensweise, welche sich (offiziell) gegen die sozialen Ungleichheiten richtet, deren Opfer die Kinder sind! (S. 30 – 31)

So arbeitende Institutionen sind somit auf das Wohlergehen eines Segments der Gesellschaft ausgerichtet, zu welchem die Kinder und Jugendlichen nicht gehören. Sie sprechen die Kinder und Jugendlichen als Problem für dieses Gesellschaftssegment an, und nicht zum Beispiel als junge Staatsbürger mit Rechten und Pflichten, die gesehen und gehört – also in ihrer Eigenart und nach ihren Bedürfnissen – in die Gesellschaft miteinbezogen werden könnten bzw. sollten. Diese Haltung widerspricht der seit dem Jahr 1988 gültigen brasilianischen Ver42

fassung, welche im Artikel 277 den Kindern und Jugendlichen absolute Priorität vor allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft zuspricht: Es ist die Pflicht der Familie, der Gesellschaft und des Staates, mit absoluter Priorität das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Leben, auf Gesundheit, auf Ernährung, auf Erziehung, auf Freizeit, auf Berufsbildung, auf Kultur, auf Würde, auf Respekt, auf Freiheit sowie auf familiäres und komunitäres Zusammenleben sicherzustellen, und sie im Übrigen vor allen Formen von Vernachlässigung, Diskriminierung, Ausbeutung, Gewalt, Grausamkeit und Unterdrückung zu schützen.

Es gibt Strömungen in der Arbeit mit Strassenkindern in Brasilien, welche den Protagonismus26 von Kindern und Jugendlichen ähnlich den Empfehlungen Lucchinis aufnehmen. So stellte Aussems (1996, S. 289) fest, dass der pädagogische Diskurs in Brasilien stark von den Überlegungen des Volkspädagogen Paulo Freire durchsetzt sei. Dieser hinterfragte die Ungleichheiten der Gesellschaft in der Meinung, nachhaltige Veränderungen in den Lebensbedingungen der ausgegrenzt werdenden Bürger seien nur durch ein Bewusstmachen gesellschaftlicher Zusammenhänge möglich. Der Titel seines bekanntesten Buches ist zugleich Forderung: „Pädagogik der Unterdrückten – Bildung als Praxis der Freiheit“ (1966/1973). Freire geht davon aus, dass die in Armut lebenden Menschen Lateinamerikas ihren Zustand der Unterdrückung längst internalisiert hätten: Da die Unterdrückten das Bild des Unterdrückers internalisiert und seine Richtlinien akzeptiert haben, fürchten sie sich vor der Freiheit. Freiheit würde verlangen, dass sie dieses Bild aus sich vertreiben und es durch Autonomie und Verantwortung ersetzen. (S. 34)

Ziel der pädagogischen Arbeit ist für ihn die Befreiung der Menschen aus herrschenden Verhältnissen, und zwar durch die Bewusstmachung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Zusammenhänge und Widersprüche, aufgrund derer die Menschen lernen: ... in den geschichtlichen Prozess als verantwortliche Subjekte einzutreten, das Streben nach Selbstbehauptung aufzunehmen ... (Freire, 1973, S. 25)

Verschiedene, zumeist nicht-staatliche Strassenkinderprojekte in Brasilien arbeiten auf der Basis der Überlegungen von Freire und streben eine Sicht der Kinder und Jugendlichen als Protagonisten ihrer eigenen Förderung an. Darunter befin26

„Der Begriff markiert eine Position, die die Kinder ins Zentrum der Gesellschaft rückt und ihnen die Kraft und Kompetenz zutraut, in der Gesellschaft eine wesentliche Rolle zu spielen.“ (Liebel, 1999, S. 309)

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den sich auch kirchliche Projekte, welche ihre Arbeit im Menschenbild der Befreiungstheologie begründen und dieses zumeist auch mit den Überlegungen Freires verbinden. So sieht zum Beispiel die katholische, national tätige „Pastoral do Menor“ („Minderjährigenpastorale“) seit ihrer Gründung ihre Aufgabe auch in der Denunzierung unhaltbarer Zustände. Giustina (1987) schildert ihre Haltung als: (...) Protest gegen die Gesellschaft, die sich im Gegensatz zum Evangelium benimmt, indem sie solche Zustände generiert. Die utopische Dimension der prophetischen Transformation besteht darin, ein neues gesellschaftliches Zusammenleben zu suchen, in welchem die Minderjährigen Protagonisten und Autoren ihrer Geschichte und derer ihrer Geschwister sind. (S. 51)

Die auf die Arbeit mit Strassenkindern spezialisierte Pädagogin Graciani (1999) setzt diese Feststellung in ihrem Buch „Sozialpädagogik der Strasse“ in einen weiteren Zusammenhang und erwähnt die von Lucchini ebenfalls erwähnten Institutionen, welche nicht den Interessen derer entsprechen, an die sie sich eigentlich wenden: Die Volkspädagogik [gemäss Freire] entsteht als politisch-pädagogische Alternative im Widerspruch mit den staatlichen Erziehungsprojekten, welche die Interessen des Volkes nicht vertraten oder sich gar dazu hergaben, diese zu negieren. (S. 47)

Sie ergänzt Freires „Bildung als Praxis der Freiheit“ um weitere, verwandte Begriffe wie: „Erziehung als Produktion und Konstruktion von Wissen“, „emanzipatorische Erziehung“, „Erziehung als Bedingung des demokratischen Lebens“, Erziehung als „Kriterium und Bedingung der Entdeckung der Daseinsberechtigung der Dinge“ (1999, S. 49). Diese Begriffe und der dahinterstehende ganzheitliche Ansatz gegenüber Kindern und Jugendlichen klingen an Schriften älterer Autoren an, welche oft auch zum Lesestoff der Mitarbeitenden von Projekten mit entsprechender Ausrichtung gehören, angefangen mit Rousseaus „Émile“ (Erstausgabe 1762; 1999) und Pestalozzis „Pestalozzi über seine Anstalt in Stans“ (Erstausgabe 1799; 1997) bis hin zu Makarenkos „Pädagogisches Poem“ (Erstausgabe 1957; 1960) und Freinets „L’éducation du travail“ (Erstausgabe 1946; 1998, 2000). Die Volkspädagogik nach Freire mündete unter anderem in die „Sozialpädagogik der Strasse“. Dieser Begriff kam in Brasilien gegen Ende der Militärdiktatur in den 1970er Jahren auf. Er entstand im Rahmen einer eigentlichen Bewegung, zu deren grossen Verdiensten unter anderem die Erstellung des brasilianischen Kinderrechtsstatuts aufgrund der UNO-Rechte des Kindes und die Formierung der Nationalen Strassenkinderbewegung (Movimento Nacional Meninos e 44

Meninas de Rua) gehören. Swift (1997) und Oliveira (2000) beschreiben diese Bewegung und deren starken Einbezug von Kindern und Jugendlichen ausführlich. Die „Pedagogia Social da Rua“ ist eine Form der „Gassenarbeit“, der direkten Arbeit von „Volkspädagogen“ oder „Strassenpädagogen“ auf der Strasse mit Personen, welche sich dort aufhalten. Graciani (1999) gibt in ihrem gleichnamigen Buch umfassenden Einblick in diese Arbeit und beschreibt sie als eine „pädagogisch-politische Handlungsweise gemeinsam mit den marginalisierten Bevölkerungsgruppen der Städte“ (S. 27). Der Fokus dieses Ansatzes liegt dabei auf der Bewusstmachung bis hin zur Mobilisierung und Politisierung dieser Bevölkerungsgruppen, mit der auf den Überlegungen Freires basierenden Idee, dass diese Gruppen so in der Lage sein werden, ihre eigene Situation zu verbessern und eine gerechtere Gesellschaft zu erkämpfen. So schreibt der „Vikarbischof des Volkes der Strasse“, Monsignor Lancellotti, im Klappentext von Gracianis Buch: Die Kinder und Jugendlichen der Strassen entdecken und konstruieren zusammen mit ihren Erzieherinnen und Erziehern einen Raum der Freiheit und Mitverantwortung, der die Unmöglichkeit einer Situation und einer Zeit in Frage stellt.

Durch den Fokus auf die Strassenkinder und deren Einbezug hat die Sozialpädagogik der Strasse eine Vielzahl an Erkenntnissen über die Kinder und ihre Situation erbracht und zur Entwicklung eines spezifischen Arbeitsansatzes sowie von damit verbundenen Methoden geführt. Obwohl so politische, soziale und pädagogische Fortschritte erzielt werden konnten, scheint die Mobilisierung, die Bewusstmachung und das „Empowerment“27 der Kinder und Jugendlichen der Strasse jedoch nicht zu einer Reduktion von deren Anzahl geführt zu haben. In den Augen der Autorin liegt dies in erster Linie an einem Mangel an echten, von den Strassenkindern als attraktiv, nützlich und nachhaltig empfundenen alternativen Lebensorten zur Strasse. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit einer „residentiellen“ Institution für Strassenkinder. Der Begriff „Institution“ verweist darauf, dass es sich bei solchen Einrichtungen um Organisationen mit einem formellen Rahmen und Strukturen handelt. Als residentiell werden Institutionen verstanden, in denen Kinder und Jugendliche leben. Wie bereits in Kapitel 1 erwähnt, gibt es in Brasilien über 3'000 Kinderwohnheime, Waisenhäuser und Erziehungsanstalten, in welchen 27

Empowerment: Strategien und Maßnahmen, die geeignet sind, das Maß an Selbstbestimmung und Autonomie im Leben der Menschen zu erhöhen und sie in die Lage zu versetzen, ihre Belange (wieder) eigenmächtig, selbstverantwortet und selbstbestimmt zu vertreten und zu gestalten.

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über 100'000 Kinder und Jugendliche leben, davon mehr als die Hälfte ehemalige Strassenkinder. Sie halten sich aufgrund gesetzlicher Vorschriften und/oder einem Mangel an Alternativen in den Institutionen auf. Die hier zu untersuchende Chácara wird als Strassenkinderprojekt bezeichnet. Der Begriff Projekt bezieht sich darauf, dass der Aufenthalt der Kinder und Jugendlichen in dieser Institution temporärer Natur sein soll. So schreibt das brasilianische Kinderrechtsstatut ECA vor, dass dem Kind so schnell wie möglich die Rückkehr in die eigene Famlie oder die Aufnahme in einem anderen familiären Umfeld ermöglicht werden soll. In der Realität wohnt jedoch der grösste Teil der in Wohnheimen und Waisenhäusern lebenden Kinder und Jugendlichen bis zur Erreichung ihrer Volljährigkeit dort, da die Rückkehr in die Familie oder die Aufnahme in einer anderen Familie nicht möglich ist bzw. nicht ermöglicht wird. Sowohl die Existenz von residentiellen Institutionen für Strassenkinder als auch der Wunsch von vielen Kindern und Jugendlichen, nicht auf der Strasse zu leben, sind also Realitäten, die nicht ignoriert werden können. Es wurde bereits festgestellt, dass Kinder und Jugendliche, welche den Lebenskontext Strasse verlassen wollen, Zugang zu einem anderen Lebensraum benötigen, welcher eine in ihren Augen echte Alternative zur Strasse darstellt. Solange die Ursachen für ihren Gang auf die Strasse nicht behoben sind, welche in anderen Kontexten – zum Beispiel der Familie – und im Verhältnis des Kindes zu diesen Kontexten vorlagen, ist eine Rückkehr direkt von der Strasse in die Familie zumeist illusorisch. Andere als die Herkunftsfamilien zu finden, welche Kinder und Jugendliche aufnehmen, die über längere Zeit auf der Strasse gelebt haben, ist meist ebenfalls unmöglich. Wenn familiäre Lebenskontexte verschlossen sind und der Kontext der Strasse das Überleben und/oder die vom Kind gewünschte Entwicklung nicht mehr bietet, bleiben als Alternative nur residentielle Organisationen, welche das Kind aufnehmen können. Die zitierte Bewegung zu Gunsten der Strassenkinder, in deren Rahmen unter anderem die Sozialpädagogik der Strasse entstanden ist, hat kaum Institutionen hervorgebracht, welche ihren Grundsätzen und Forderungen – also zum Beispiel dem Protagonismus der Strassenkinder und der Veränderung gesellschaftlicher Ungleichgewichte – entsprechen. Nicht zuletzt deshalb scheinen in Brasilien nach wie vor Institutionen wie die eingangs von staatlichen Studien kritisierten zu überwiegen, welche die Protagonismus-orientierten Grundsätze des Kinderrechtsstatutes nicht umsetzen und die Bedürfnisse, das Potential, die Rechte, Pflichten und Interessen der Kinder und Jugendlichen weitgehend ignorieren. Bei der Lektüre der Bücher über die historische Entwicklung der Bewegung (Swift, 1997; Oliveira, 2000) sowie der für die Sozialpädagogik der Strasse und Erkenntnissen über die Kinder hoch relevanten Publikationen von Lucchini 46

(1996a, 1996b, 1996c, 1997a, 1997b, 1998, 2000, 2001), Graciani (1999), Rizzini et al. (2003) stellt sich die Frage: Und nun? Wie weiter für Kinder und Jugendliche, welche nicht auf der Strasse leben möchten und für die es keinen ihren Bedürfnissen, Fähigkeiten und Wünschen entsprechenden Ort gibt, an dem sie aufgenommen werden könnten? Lucchini (1998, S. 27) schreibt, dass die Ressourcen der Strasse und des Kindes auf der Strasse genützt werden sollen, um eine angemessene Intervention zu gestalten. Es soll damit vermieden werden, dass das Kind in einer Institution gezwungen wird, sich an pädagogische Praktiken anzupassen, welche seine Lebensweise und Biographie nicht berücksichtigen. Er deutet damit ein zentrales Spannungsfeld an, auf dessen einen Seite Institutionen stehen, welche notwendigerweise über formelle Strukturen und Regeln verfügen müssen. Auf dessen anderen Seite befindet sich der von ihm und den Vertreterinnen und Vertretern der Sozialpädagogik der Strasse geforderte Ansatz, das Kind in seiner spezifischen Situation und hinsichtlich seiner individuellen Wünsche, Fähigkeiten und Potentiale anzusprechen und mit ihm zusammen Lösungen zu finden, welche bestehende soziale Ungleichgewichte nicht replizieren. Es stellt sich die Frage, wie diese beiden scheinbar gegensätzlichen Anforderungen an residentielle Projekte für Strassenkinder miteinander vereinbart werden können. Rossato (2003b) erwähnt, dass es residentielle Projekte gebe, in denen der Versuch gemacht werde, beide Anforderungen miteinander zu verbinden. Er bezeichnet den pädagogischen Ansatz dieser Projekte als „alternativ“, da dieser im Strassenkind das „Andere“ respektiere. In solchen Projekten seien die Strassenkinder Protagonisten und Mitverantwortliche ihres eigenen Veränderungsprozesses. Zum Verhältnis von Projekt und Kindern in diesem Kontext führt er aus: Die alternative pädagogische Tendenz entzieht sich der Herausforderung, „die Strassen [von den Strassenkindern] zu reinigen“ und kümmert sich nicht sehr darum, zu wissen, ob die Kinder [grundsätzlich] bereit seien, ihr Leben angesichts der zur Verfügung stehenden Alternativlösungen [zur Strasse] zu ändern. Sie kümmert sich im Gegenteil darum, dass diese Alternativprogramme in demjenigen Moment bereit sind, die Kinder aufzunehmen, in dem sich diese verändern wollen oder müssen. In diesem Fall ist ein Betreuungsprogramm bereit, sie in dem Moment aufzunehmen und/oder sie zu unterstützen, indem es ihnen weitgehende Partizipation bei allen Entscheidungen und in der Organisation der täglichen Aktivitäten garantieren kann. (S. 102)

Rossato erwähnt im Weiteren eine Studie von Rizzini und Wiik (1990, S. 46 und S. 64, zitiert in Rossato, 2003b, S. 111). Diese befand, dass die untersuchten Sozialinstitutionen in Rio de Janeiro, welche sich selbst als „alternativ“ bezeichneten, dies oft taten, ohne dass ihre Arbeit gemäss den entsprechenden Kriterien 47

erfolgt wäre. Als Beispiel für eine Institution, welche weitgehend als „alternativ“ im dargestellten Sinne verstanden werden kann, führt er die Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros auf, die Gegenstand der vorliegenden Studie ist: (...) In erster Linie fällt [in der Chácara] der Entschluss auf, die armen und verlassenen Kinder als Protagonisten zu sehen und zu bezeichnen, welche nicht nur an einer persönlichen Veränderung teilhaben sollen, sondern auch an einer gesellschaftlichen. Dieser partizipative Charakter macht sie zu einem Beispiel der alternativen pädagogischen Tendenz und zu einer Chácara der Jungen der Strasse (...). (S. 131)

Er beschreibt einige Aspekte von deren Praxis, so den Protagonismus der Jungen und den sozialen Integrationsprozess, an dem alle Beteiligten – Jungen, Erziehende, Nachbarn etc. – mitwirken, indem sie durch die Lösung von Konfliktsituationen die Gemeinschaft entwickeln. Eine tiefer gehende Analyse der Chácara wird von Rossato jedoch nicht durchgeführt. Seine positive Beurteilung des Arbeitsansatzes der Chácara als „State-Of-The-Art“ mag zutreffen, entspringt sie doch nicht zuletzt seiner Mitarbeit bei Konzipierung und Aufbau derselben, einem mehrmonatigen Arbeitsaufenthalt in ihr im Jahr 2000 sowie seinem mehrjährigen Engagement in der nationalen Strassenkinderbewegung. Erst eine umfassende wissenschaftliche Analyse der Chácara kann jedoch detaillierte und fundierte Erkenntnisse über deren Organisation erbringen und diese für die Chácara selbst und für andere Projekte nutzbar machen. Es ist deshalb Absicht der vorliegenden Arbeit, im Rahmen der vorgenommenen organisationspsychologischen Studie die in diesem Kapitel diskutierten Forschungen über Strassenkinder und den Zugang zu ihnen um die kritische Auseinandersetzung mit residentiellen Projekten und Institutionen – am Beispiel der Chácara – zu ergänzen. 2.4 Organisation Darüber, wie residentielle Organisationen für Kinder und Jugendliche der Strasse gestaltet sind oder sein sollen, ist, wie eingangs erwähnt, kaum etwas bekannt. Aus den bisherigen Ausführungen ist hervorgegangen, dass in ihnen ein starker Fokus auf die Kinder in ihrer Eigenart und spezifischen Situation, ihren Bedürfnissen, Fähigkeiten und Potentialen gelegt und ihnen eine Protagonistenrolle in ihrer eigenen Entwicklung zugeschrieben werden soll. Im Weiteren soll ein Ziel der Arbeit mit Strassenkindern darin liegen, bestehende soziale Ungleichgewichte nicht zu belassen oder gar zu verstärken, sondern diese abzubauen. Dies sind zweifelsohne wichtige Elemente der Arbeit mit Strassenkindern, sei es auf der Strasse oder in Organisationen. Sie reichen jedoch nicht aus, um eine Organisati48

on als angemessenen alternativen Lebenskontext für diejenigen Strassenkinder zu gestalten, denen in der Realität keine anderen Alternativen offen stehen. Bisher gibt es keine Organisationsanalysen von residentiellen Projekten und Gestaltungsempfehlungen, welche darauf aufbauen würden. Als Basis für die Schliessung dieser Lücke sollen hier zunächst in der Organisationslehre und der Entwicklungszusammenarbeit verwendete Konzepte der Organisation dargestellt und hinsichtlich ihrer Eignung für Strassenkinderprojekte diskutiert werden. Eine Organisation ist eine aus Menschen bestehende soziale Konstruktion. Sie ist auf einen Zweck bzw. ein Ziel ausgerichtet. Sie besteht aus verschiedenen Teilen, welche in einer Struktur angeordnet sind. In ihrem Inneren laufen Prozesse ab. Hierauf weisen Rollinson und Broadfield (2002) hin: (...) a basic definition which would encompass all major conceptualisations of an organisation is: [Organisations are] social entities brought into existence and sustained in an ongoing way by humans to serve some purpose, from which it follows that human activities in the entity are normally structured and coordinated towards achieving some purpose or goals. (S. 3)

Zudem ist sie ein dynamisches, offenes System, wie unter anderem die Autoren Katz und Kahn (1966/1978) in ihrer „Open Systems Theory“ festgestellt haben: This approach emphasises two aspects of social behavior patterns: (1) their system character, so that movement in one part leads in predictable fashion to movement in other parts, and (2) their openness to environmental inputs, so that they are continually in a state of flux. (S. 3)

Für die Gestaltung jeder Organisation – auch einer solchen, welche Lebenskontext für Strassenkinder sein und zu einer Veränderung der Gesellschaft beitragen soll – sind also definitorische Konzepte für die verschiedenen Aspekte nötig, welche in den beiden hier erwähnten Definitionen genannt werden oder mit diesen in Zusammenhang stehen. Aufgrund der beiden Definitionen kann im Weiteren davon ausgegangen werden, dass Organisationen wohl Ähnlichkeiten untereinander aufweisen, dass sie sich aber in vielem auch unterscheiden, werden sie doch von unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen Situationen mit verschiedenen Zielen geformt, und befinden sie sich ständig im Fluss. In der Anfangszeit der Organisationstheorie wurde noch davon ausgegangen, dass es eine ideale Organisationsform gebe (siehe zum Beispiel Brech (1965), Fayol (1916), Parker-Follet (1926) und Urwick (1943, 1947)). Wie Rollinson und Broadfield erwähnen, stellte zum Beispiel Fayol eine Liste von 14 Prinzipien auf, wie eine Organisation strukturiert sein sollte. Bereits seit den 49

1950er Jahren wurde dieser Ansatz von wissenschaftlicher Seite kritisiert, und zwar vor allem, weil er die Möglichkeit ignoriert, dass es Einflussfaktoren gibt, welche gewisse Strukturen geeigneter für eine Organisation machen als andere. Aus der Erkenntnis dieser Einflussfaktoren entstand die Kontingenztheorie, deren Vertreter (z. B. Burns & Stalker, 1961; Lawrence & Lorsch, 1969; Thompson, 1967; Woodward, 1965): (...) took as their guiding principle the simple but elegant idea that the most appropriate structure for an organisation is the one that best suits its particular circumstances. (Rollinson & Broadfield, 2002, S. 512)

Die Literatur zu Fragen der Organisation stammt zum grössten Teil aus der Organisationslehre, darunter vor allem der Organisationspsychologie, sowie aus der Betriebswirtschaft. Auffällig ist, dass sie mit wenigen Ausnahmen aus den USA, aus westeuropäischen Ländern oder, in Zusammenhang mit gewissen Themen, aus Japan kommt und häufig auf dem Wissen über Wirtschaftsorganisationen wie (Gross-)Firmen und Fabriken basiert (vgl. z. B. Baumgartner, Häfele, Schwarz & Sohm, 1998; Gairing, 1999; Gros, 1994; Katz & Kahn, 1978; Schuler, 2004, Strohm & Ulich, 1997), und zwar Letzteres auch dann, wenn sie Studien über oder Empfehlungen an Organisationen im Sozialbereich macht (vgl. z. B. Lotmar & Tondeur, 1998; Maelicke, 1994; Neto & Froes, 1999; Schiersmann & Thiel, 2000; Schwarz, Purtscher & Giroud, 1999). In der gängigen Managementlehre und -praxis scheint die Idee einer „idealen“ Organisations- bzw. Führungsform gemäss der langjährigen Erfahrung der Autorin in einer Grossbank und in der Zusammenarbeit mit Beraterfirmen, aber auch aufgrund der Lektüre von Managementliteratur häufig immer noch implizit, wenn nicht gar explizit vorhanden zu sein. Dies scheint auch dort zuzutreffen, wo Managementinstitute oder Firmen ihre diesbezüglichen Erkenntnisse NonProfit-Organisationen (NPO) bzw. Sozial- und Entwicklungsorganisationen im In- und Ausland zukommen lassen. Managementinstitute, die sich ihrer diesbezüglichen Verantwortung bewusst sind, weisen wohl auf Unterschiede zwischen Non-Profit-Organisationen – darunter Sozialwerke und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit – und Firmen hin. Oft wenden sie jedoch trotzdem die anhand von europäischen und nordamerikanischen Firmen entwickelte Betriebswirtschaftslehre auf Non-Profit-Organisationen an, wenn auch mit gewissen Abstrichen in Bereichen, wo sie diese für nicht anwendbar halten. Sie nehmen hingegen zusätzliche Erkenntnisse und Erfahrungen, die nur solchen Organisationen eigen sind, kaum oder gar nicht in ihre Lehre auf. Organisationen im Sozialbereich scheinen implizit als Organisationen verstanden zu werden, welche selbst kein spezifisches und anwendbares Organisationswissen produzieren. 50

Auch die Kommunikation von Erkenntnissen ist oft von einem Jargon geprägt, welcher der firmenbezogenen Betriebswirtschaft entstammt und der Sprache und der Organisationskultur von Non-Profit-Organisationen wie zum Beispiel Sozialwerken und -projekten unter Umständen fremd und kaum zugänglich ist. Ein illustratives Beispiel dafür ist das Verbandsmanagementsinstitut in Freiburg, welches das „Freiburger Management-Modell für NPO“ anwendet. Gemäss Klappentext des gleichnamigen Buches (Schwarz, Purtschert & Giroud, 1999), wendet sich dieses an die ganze Bandbreite von NPO von Wirtschafts- und Arbeitnehmer-Verbänden, Kammern, Genossenschaften, Vereinen, Kirchen, Parteien und sozialen, philanthropischen, kulturellen und ähnlichen Organisationen. Als Anliegen des Buches deklariert der erste Satz des Klappentextes „Nonprofit but Management“ (Klappentext), als ob all diese – zum Teil seit vielen Jahren bestehenden – Organisationen bisher nicht oder nur sehr ungenügend strukturiert und geführt worden wären. Zur Aufgabe des Buches heisst es: Die Management-Lehre von NPO hat in enger „Tuchfühlung“ mit der allgemeinen, auf Profit-Unternehmungen ausgerichteten Betriebswirtschaftslehre (BWL) zu bleiben, weil in dieser Disziplin ein Vielfaches an Forschung und damit an Weiterentwicklung im Vergleich zum NPO-Bereich geleistet wird. Somit war es unsere Aufgabe, den wissenschaftlichen Fortschritt in der allgemeinen BWL für die NPOLehre aufzubereiten und – mit den teils erforderlichen Modifikationen – in unser Modell einzuarbeiten. (S. 7)

Obwohl die Autoren des „Freiburger Management-Modells für NPO“ auf gewisse Unterschiede zwischen Organisationen hinweisen, entsteht der Eindruck, dass ihre Grundannahmen es kaum erlauben, die Organisationserkenntnisse einer brasilianischen Bürgerorganisation, welche unter Umständen nicht der „allgemeinen BWL“ entsprechen, der Multiplikation in ähnlichen oder anderen Organisationen als würdig zu empfinden. Umgekehrt heisst dies, dass man, wenn man Organisationsmodelle aus Wirtschaftsorganisationen auf ein residentielles Strassenkinderprojekt anwendet, das Risiko eingeht, nur festzustellen, welche Aspekte der „allgemeinen BWL“ im Strassenkinderprojekt vorkommen oder nicht vorkommen, hingegen Aspekte übersieht, welche im Strassenkinderprojekt vorkommen, nicht aber in der Wirtschaftsorganisation. Vor dem Hintergrund von Beispielen wie dem genannten kommentieren Sülzer und Zimmermann (1996), Fachleute der Organisationsberatung in der Entwicklungszusammenarbeit: Die Wahrnehmungen bestimmter Eigentümlichkeiten von Organisationen ist von der eigenen Organisationserfahrung beeinflusst. Werden diese subjektiven Organisationsvorstellungen auf andere Organisationen und Verhältnisse übertragen, so ver-

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führt dies dazu, nach Rezepten und Passepartout-Lösungen zu suchen. Es gibt aber weder für den Staat noch für Unternehmen noch für gemeinnützige Basisorganisationen oder Privathaushalte zwingende oder ideale Organisationsformen. Organisationsphantasien und Idealvorstellungen von der einzig möglichen und besten Organisation behindern die Sicht auf die Vielfalt organisatorischer Gestaltungsmöglichkeiten. (S. 43)

Aus dieser Einsicht heraus formulieren sie basierend auf der „Open-SystemsTheorie“ und der Kontingenztheorie ein „inhaltsleeres“ Konstrukt, welches auf alle Arten von Organisationen angewendet werden kann. Dieses charakterisiert eine Organisation als: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Ein offenes System: nimmt Leistungen aus der Umwelt auf und gibt Leistungen an die Umwelt ab (permanenter Austausch, koordiniert durch Märkte). Nach aussen abgrenzbar: durch Räume und Gebäude, Mitgliedschaft, Teilnahme an der Produktion und Wertschöpfung, Ziele, Normen, Regeln und Rollen. Leistungsorientiert und zweckgerichtet: Transformationen von Inputs in Outputs, koordiniert durch ökonomische, soziale und politische Ziele. Auf Überleben ausgerichtet: Anpassung der Strukturen und Prozesse an die Umwelt. Ein Netzwerk von Teilsystemen: soziale (Menschen, Wissen und Technologie, Rollen, Beziehungen etc.) und technische (Geld, Maschinen, Kommunikationsmittel etc.). (S. 38)

Fowler, Goold und James (1995) definieren ein Rahmenkonzept für Nichtregierungsorganisationen (NRO bzw. NGO), welches ebenfalls über fünf verschiedene Aspekte verfügt: 1) Identity/Attitude/Values, 2) Vision/Mission/Strategy, 3) Systems and Structures, 4) Skills and Abilities und 5) Material and Financial Resources. Sie weisen darauf hin, dass diese Aspekte hinsichtlich einer unterschiedlichen Gewichtung beziehungsweise einer logischen Gestaltungsabfolge zu ordnen seien, wie hier durch die Nummerierung angegeben. Sie kommentieren dazu: According to this model, first principles for a healthy NGO would be to be clear about its identity and attitude to the world, which in turn shapes its vision of our society and its purpose in it, which in turn shapes its strategies to be adopted and the tasks to be carried out, which in turn defines the structures and systems that need to be in place and the staff to be employed, the skills and abilities they need, and the whole is then supported by adequate resourcing. Put slightly differently, form fol-

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lows function. Inevitably, these phases do overlap and are repeated at different stages of an organisation’s development. (S. 6)

Diese Gewichtung kommt auch im „Logical-Framework-Approach“ (LFA) des United Nations Development Program zum Zug (UNDP, 2000). Dieses Modell hat die Projekt- und Programmplanung im Entwicklungszusammenhang stark geprägt und wird ähnlich von der schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA, 1996, 1997, 2000a, 2000b) in ihrem Project Cycle Management (PCM/PEMU) und dem Development Assistance Committee (DAC) der OECD (http://www.oecd.org/dac) verwendet. Es geht davon aus, dass folgende Elemente der Organisation in einer durch die Nummerierung angegebenen logischen Abfolge zu gestalten sind: 1) Oberziel, 2) Projektziel, 3) geplante Leistungen/Resultate, 4) geplante Aktivitäten und Prozesse, 5) Ressourcen. Die hier geschilderten Rahmenkonzepte ähneln sich stark und können als unterschiedliche Formulierung desselben Konzeptes verstanden werden. Im Sinne einer Metatheorie beschreiben sie den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ von Organisationen. Sie geben die Dimensionen vor, anhand derer Organisationen beschrieben (sowie geplant, betrieben und weiterentwickelt) werden können. Der Entwicklungskontext umfasst heute alle Arten von Organisationen, darunter kommerzielle (zum Beispiel im Bereich der Förderung von kleinen und mittelgrossen Betrieben), staatlich-institutionelle (zum Beispiel im Bereich der Gestaltung von staatlichen Sozialinstitutionen) sowie eine Vielfalt von weiteren Organisationstypen wie Basisorganisationen, Wohltätigkeitsorganisationen, Mobilisierende Organisationen, Genossenschaften, Interessengemeinschaften und Verbände, Entwicklungsorganisationen und Beratungsorganisationen (dazu Sülzer und Zimmermann, 1996, S. 239í240). Dabei gibt es viele Mischformen. So umfasst zum Beispiel die untersuchte Chácara Aspekte einer Basisorganisation, einer Wohltätigkeitsorganisation, einer Mobilisierenden Organisation, einer Genossenschaft, einer Interessengemeinschaft und zunehmend auch einer Entwicklungs- und Beratungsorganisation. Wie dargelegt, kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass die Chácara über dieselben organisationalen Charakteristika verfügt wie die von der Organisationslehre am häufigsten untersuchten Wirtschaftsorganisationen der westeuropäischen und US-amerikanischen Industrie. Es muss zunächst eine eigentliche Phänographie dieser spezifischen Organisation Chácara erstellt werden. Wegen ihrer „Inhaltsleere“ kann dafür eine Metatheorie der Organisation im Sinne der genannten Rahmenkonzepte beigezogen werden. In Kapitel 3.3.3 wird im Zusammenhang mit der Forschungsmethodik näher auf die Verwendung einer Metatheorie der Organisation eingegangen.

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2.5 Qualität, Nachhaltigkeit und Entwicklung der Organisation Wie im vorangehenden Kapitel festgestellt, entstehen Organisationen mit dem Zweck der Erreichung von Zielen. Entsprechend interessiert die Qualität, mit der Organisationen ihre Ziele verfolgen und erreichen. Aufgrund der Kontingenz und Dynamik der Organisation stehen Qualität und Nachhaltigkeit der Organisation in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Organisation bzw. deren grundsätzlicher Kapazität zur Entwicklung. In der Folge soll nun zunächst auf gebräuchliche Konzepte von Qualität und Nachhaltigkeit eingegangen werden. Daraufhin folgen Überlegungen zur Notwendigkeit der Entwicklung der Organisation, damit sie ihre Leistungsfähigkeit und damit Qualität aufrechterhalten und weiter verbessern kann. Schliesslich werden zwei dafür zentrale Konzepte vorgestellt, dasjenige der organisationalen Kapazität und dasjenige des organisationalen Lernens. Damit soll die Basis für die spätere Inbezugsetzung der Erkenntnisse der empirischen Untersuchung mit Aspekten der Qualität und Nachhaltigkeit gelegt werden. 2.5.1 Qualität und Nachhaltigkeit Die gebräuchlichen Konzepte von Qualität beziehen sich zumeist auf das Mass, in welchem die Organisation die von ihr definierten Ziele erreicht. Dies trifft auch auf das Rahmenmodell zu, welches von den bereits erwähnten Institutionen (der schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA, dem Development Assistance Committee DAC der OECD und den entwicklungsorientierten Organisationen der UNO (zum Beispiel dem United Nations Development Program UNDP) und anderen mehr verwendet wird. Das Modell umfasst drei Ebenen bzw. Konzepte der Qualität: ƒ ƒ ƒ

Relevanz: Das Übereinstimmen der Ziele eines Vorhabens mit den Bedürfnissen der Nutzniesser, des Landes und globalen Prioritäten. Effektivität: Das Ausmass, in dem die Ziele eines Vorhabens erreicht wurden (unter Berücksichtigung ihrer entsprechenden Gewichtung). Effizienz: Die Wirtschaftlichkeit, mit der die Ressourcen (Finanzen, Studien, Zeit etc.) in Leistungen und Produkte umgewandelt werden.28

Ein weiteres, ebenfalls von der DEZA und anderen Organisationen verwendetes Konzept ist dasjenige der Nachhaltigkeit. Dieses geht über die Erreichung der 28

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Nach: DEZA Glossar „Die 27 am häufigsten gebrauchten Begriffe in der DEZA in den Bereichen Evaluation und Controlling. Keine Jahreszahl.

unmittelbar angestrebten Ziele hinaus und bezieht sich auf weiterführende Wirkungen und Nutzen: ƒ

Nachhaltigkeit: Die Dauerhaftigkeit der Fortsetzung der erzielten Nutzen und Wirkungen eines Vorhabens auch nach dessen Beendigung.29

Die erwähnten Konzepte sind weitgehend inhaltsleer, so dass sie sich auf verschiedene Typen von Entwicklungsvorhaben – darunter auch den Aufbau und die Entwicklung von Organisationen im Sozialbereich – anwenden und für diese entsprechend spezifisch ausgestalten lassen30. Die Messung von Grössen der Relevanz, Effektivität und Effizienz wird dem kontingenten und dynamischen Charakter von Organisationen nicht vollständig gerecht. Entsprechend basieren neuere Konzepte der Qualität und Leistungsfähigkeit wie diejenigen des Total Quality Management31 oder der Organisationsentwicklung32 (und insbesondere deren systemische Ansätze33) auf einer ganzheitlicheren Sicht der Organisation und beziehen sich nicht nur auf Resultate, sondern auch auf organisationale Strukturen und Prozesse. Sie nehmen auch die Dynamik und Situativität der Organisation auf und sehen Qualität und Leistungsfähigkeit nicht als ein einmalig zu erreichendes Ziel, sondern als einen ständigen Prozess, der nie zu Ende ist. Wohl vor dem Hintergrund ähnlicher Überlegungen setzt die DEZA die Qualitätsdimensionen Relevanz, Effektivität und Effizienz in Zusammenhang mit der Organisationsplanung und -entwicklung, wie die folgende Darstellung zeigt:

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31 32 33

Nach: DEZA Glossar „Die 27 am häufigsten gebrauchten Begriffe in der DEZA in den Bereichen Evaluation und Controlling. Keine Jahreszahl. Diese Evaluationsebenen wurden im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit definiert, können vermutlich aber auf alle Arten von Organisationen und zum Beispiel auch auf Firmen, welche Konsumgüter oder Dienstleistungen produzieren, übertragen werden, wobei dort im Rahmen der Relevanz die Ausrichtung auf den Markt und auf Kundenbedürfnisse die Ausrichtung auf Entwicklungsbedürfnisse ersetzen würde. Siehe zum Beispiel Büssing in: Schuler, 2004, S. 591 oder Zollondz, 2002, S. 192í193. Siehe zum Beispiel Gairing, 1999, S. 12í13. Zu welchen häufig auch die Open-Systems-Theory von Katz & Kahn (1966/1971) gezählt wird.

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Abbildung 2:

Planung und Evaluation auf drei Ebenen: eine Illustration (DEZA, 2002, S. 6)34

In der Evaluation wird hier die Qualität im Sinne der Bestimmung eines erreichten Zustandes beurteilt, das heisst, in Beantwortung der Frage: wie relevant, effektiv und effizient ist ein Vorhaben bzw. eine Organisation (rechte Hälfte von Abbildung 2). In der Planung und Gestaltung stellt sich hingegen die Frage, wie die Organisation ihre Strukturen und Prozesse gestalten kann, damit sie Relevanz, Effektivität und Effizienz erreicht (linke Hälfte von Abbildung 2). Hier ist der bereits erwähnte „top-down“-Ansatz der Planung bzw. Organisationsgestaltung dargestellt, bei dem die Projektziele vom Oberziel abgeleitet werden und Aktivitäten so ausgewählt und gestaltet werden, dass sie in möglichst hohem Masse zur Erreichung der Projektziele beitragen. 2.5.2 Organisationale Veränderung, Entwicklung und Qualität Soll die Organisation der Zielerreichung – ihrer „Raison d’Être“ – gerecht werden und entsprechend gute Qualität aufweisen, genügt es nicht, sie in der Abfol34

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Verfügbar auf: http://162.23.39.120/dezaweb/ressources/resource_de_23569.pdf am 10.7.2006.

gelogik des vorgestellten Modells zu gestalten. Aufgrund ihres kontingenten und dynamischen Charakters sieht sie sich vor der Herausforderung, die Gestaltung ihrer Strukturen und Prozesse den ständig sich verändernden Innen- und Aussenbedingungen anzupassen. Sie wird nicht nur einmal, sondern ständig gestaltet. Sie muss sowohl stabil als auch flexibel sein, um weiterhin zu bestehen (also als Gebilde nachhaltig zu sein) und relevant, effektiv und effizient sein zu können. Deutlich wird dies zum Beispiel aus einer qualitativen Organisationsanalyse von Wehner, Ostendorp & Ostendorp (2002), welche vier Beschreibungsdimensionen von gemeinwohlorientierten Freiwilligeninitiativen ergeben hat, von denen eine der Stabilität, zwei der Analyse und eine der Flexibilität der Organisation zugeordnet werden können. Sie schreiben: Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass sich vier Beschreibungsdimensionen (sinnerzeugende ureigene Idee; Sensibilität gegenüber Zeitfragen; Sensibilität für innere soziale Prozesse; produktiver Umgang mit Hindernissen) herauskristallisieren lassen. Gelingt es den jeweiligen Organisationen, diese vier Beschreibungsdimensionen gut aufeinander abzustimmen und eine Balance zwischen Beständigkeit (Vermittlung der ureigenen Idee) und Wandel über die Zeit hinweg (Austausch und Nähe zur Basis) herzustellen, dann kann von Good Practice gesprochen werden. (S. 48)

Die in dieser Untersuchung aufscheinenden Dimensionen lassen sich in Zusammenhang bringen mit (Organisations-) Entwicklungsansätzen sowie Ansätzen der strategischen Planung und des Projektmanagements. Sie weisen darauf hin, dass zur Anpassung an innere und äussere Veränderungen sowohl eine Analyse von äusseren und inneren Umständen notwendig ist als auch eine aktive Gestaltung dieser Umstände. Die Entwicklungszusammenarbeit bezieht sich häufig auf Ansätze der Aktionsforschung (Lewin, 1951), welche eine Anzahl von Schritten zur Gestaltung von Veränderung vorsieht: Problemidentifikation, Informationsbeschaffung und -analyse, Handlungsplanung, Handlung und erneute Evaluation (in Rollinson & Broadfield, 2005, S. 628í629). Im (betriebswirtschaftlich orientierten) strategischen oder Projektmanagement wird von einer Abfolge bzw. einem Kreislauf von Analyse der Ausgangslage (inklusive Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken), Identifikation des Handlungsbedarfs, Planung der notwendigen Schritte, Implementation und Monitoring/Evaluation ausgegangen. Brasilianische Basisbewegungen wiederum wenden oft die Grundsätze der „Conscientização“ an, der Bewusstseinsbildung bzw. des kritischen Bewusstseins nach den Überlegungen der „Pädagogik der Unterdrückten“ des Volkspädagogen Paulo Freire (1973). Wie bereits erwähnt, geht dieser davon aus, dass Menschen ihre Umwelt und ihr Leben dann gestalten können, wenn sie sich der 57

verschiedenen Zusammenhänge und Abhängigkeiten und ihrer eigenen Rolle und Gestaltungsmöglichkeiten bewusst sind. Die Bewusstseinsbildung und die daraus resultierende Praxis erfolgen aufgrund eines Prozesses des Dialogs, der Reflexion. Dieser Prozess kann – in eine andere Terminologie gefasst – ebenfalls als ein Kreislauf von Analyse, Handlungsplanung/-vorbereitung, Handlung, Evaluation und erneuter Handlungsplanung/-vorbereitung etc. verstanden werden. Clodomir Santos de Morais und andere Autoren haben aus diesem Ansatz die „Capacitação Massiva“ („Befähigung grosser Gruppen“), eine hoch partizipative Methode der Befähigung zu Organisation und Einkommensgenerierung grosser (Basis-)Gruppen entwickelt, welche zum Beispiel in der Organisationsentwicklung der brasilianischen Landlosenbewegung MST und beim Aufbau und der Entwicklung weiterer Bürgerorganisationen in Lateinamerika und Afrika sowie auch in England verwendet wird (siehe Carmen, 1996; Carmen & Sobrado, 2000). 2.5.3 Organisationale Kapazität und organisationales Lernen Die Ansätze der Aktionsforschung, des betriebswirtschaftlichen strategischen Managements und der Bewusstseinsbildung und „Capacitação Massiva“ unterscheiden sich in einer Anzahl von Aspekten, verfügen aber, wie gezeigt, über Ähnlichkeiten bezüglich der hauptsächlichen Schritte des Anpassungs- und Entwicklungsprozesses der Organisation zugunsten der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung ihrer Leistungsfähigkeit bzw. ihrer Fähigkeit, Qualität und Nachhaltigkeit zu erreichen. Damit eine Organisation aber diese Organisationsentwicklung vornehmen kann, genügt es nicht, dass sie weiss, was zu bestimmen ist (z. B. die Projektziele) und welche Schritte (z. B. Analyse) dazu nötig sind. Sie muss über die Kapazität verfügen, diese Schritte auch tatsächlich zu tun. Zudem muss sie lernfähig bzw. eine „Lernende Organisation“ sein, um diese Kapazität aufbauen zu können. Sorgenfrei und Wrigley (2005) erwähnen dies in Bezug auf Organisationen der Zivilgesellschaft (CSOs): (...) CSOs require the ability to observe and analyse their environment and continuously adapt to new situations by developing flexible ways of operating while staying true to their vision and mission. In doing so, they are anticipating and proactively responding to internal and external forces for change rather than limiting themselves to adopting short-term, reactive coping strategies. To do this successfully, CSOs therefore need the capactiy to continuously reflect critically and act effectively. (S. 8)

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Fowler et al. (1995) beziehen sich auf (grosse) Nichtregierungsorganisationen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und erwähnen vier hauptsächliche Dimensionen, welche zu organisationaler Kapazität beitragen, von denen angenommen werden kann, dass sie sich auch auf kleinere lokale Organisationen anwenden lassen: Competencies are determined by the quality of people (staff) and the way they are organised. Staff quality is determined by their knowledge, skills, motivation and attitudes. Organisational competence comes from how people are focused and enabled to work together. Important factors in making this happen are the identity, mission, vision, systems, structures etc. Resources relate to the quality, reliability and utilisation of non-human means such as finance and materials, which are mobilised and transferred. (...) Relationships are the key linkages NGOs must maintain in the wider context to achieve their mission (...). Learning is determined by the way in which an NGO recognises and deals with its own operational experience and analysis of performance in relation to standards and norms which ensure quality and continuous improvement. The ability to learn is strongly related to an organisation’s culture and willingness to continually take a critical stance towards what it is doing. (S. 7)

Das Konzept der “Capacity” lenkt den Fokus auf eine dynamische Organisation, bei der es zwar wichtig ist, was sie tut, aber vor allem auch, wie sie diese Tätigkeit entwickelt. In früheren Konzepten der Organisation bzw. organisationaler Qualität wurden oft eher einzelne Aktivitäten hervorgehoben, welche direkt mit den Dienstleistungen oder Produkten der Organisationen in Verbindung standen. Im „Capacity“-Konzept werden nun grundlegende Aspekte der sozialen Strukturen und Prozesse der Organisation hervorgehoben. Diese tragen nicht nur dazu bei, dass die Effizienz und Effektivität der direkt mit dem „Produkt“ der Organisation in Verbindung stehenden Aktivitäten gesteigert werden können. Sie sorgen darüber hinaus für ein an sich funktions- und entwicklungsfähiges Organisationsgebilde, indem sie zum Beispiel auch die Fähigkeit der Organisationsmitglieder zur konstruktiven Zusammenarbeit umfassen. Der Begriff der „Lernenden Organisation“ nimmt den vierten von Fowler et al. (1995) genannten Punkt auf, die Lernfähigkeit. Gemäss Britton (1998) geht es dabei vor allem um das Lernen aufgrund des in der Organisation selbst vorhandenen Wissens. In einer Aussage, die unter anderem wie ein Echo der Überlegungen von Freire (1973) erscheint, zitiert er den Begriff des „reflective practitioner“ und schreibt: 59

A learning organisation, therefore, supports its members to translate information into knowledge and wisdom and then converts the tacit wisdom of its individual members into explicit wisdom which can be accessed and used by others both within and outside the organisation. The process of articulation involves helping people express what may initially appear to be inexpressible – their subjective insights, intuitions and understanding developed through experience. Individuals may need considerable support and encouragement to make their wisdom available to others. Organisational learning, therefore, requires what Donald Schon (1978) has called reflective practitioners working in an enabling learning environment. Reflective practitioners are individuals who are skilled in the process of reflecting on their practice whilst they are acting, and doing so in a way that enables them to do their jobs more thoughtfully and effectively. Learning organisations need reflective practitionars who are able and willing to challenge continuously their own assumptions and the assumptions of their colleagues in a constructive way which generates new insights and leads to the development of explicit wisdom. (S. 5)

Britton (1998) nimmt die bereits erwähnten Schritte des Adaptationsmechanismus der Organisation auf und sieht nach Swieringa & Wierdsma (1992) organisationales Lernen als einen ständigen Prozess von Denken, Entscheiden, Tun und Reflexion. Darauf aufbauend stellt er die „acht Schlüsselfunktionen einer lernenden NGO“ nach Slim (1993) dar. Bei diesen kommen zum „Sammeln interner Erfahrungen“ die Aspekte „Zugriff auf externe Erkenntnisse“, „Kommunikationssysteme“, „Schlussfolgern“, „Entwicklung eines Organisationsgedächtnisses“ und „Integration der Erkenntnisse in Strategie und interne Politik“ hinzu. Alle diese Aspekte sind sowohl direkt als auch über den Aspekt der praktischen Anwendung der Erkenntnisse miteinander verbunden. Grundlage für den Funktionskreis von Britton ist eine Kultur, welche das persönliche und organisationale Lernen grundsätzlich gut heisst und fördert. In diesem Rahmen ist organisationales Lernen seiner Ansicht nach intentional, kontextspezifisch, auf konkrete, aktuelle Herausforderungen oder Probleme ausgerichtet und nachfrageorientiert (Britton, 1998, S. 8). Dabei geht es nicht nur um direktes Lernen zum Beispiel darüber, wie eine Handlungsweise verbessert werden kann, sondern auch um ein „Lernen des Lernens“, eine Konzeption, die wiederum derjenigen der organisationalen Kapazität (das heisst der Entwicklungsfähigkeit der Organisation) nahe steht. So schreibt Gairing (1999) in Bezug auf die Stärkung der Problemlösefähigkeit der Organisation und ihrer Mitglieder: Die Qualität des Lernens ist also nicht nur an der Fähigkeit zu messen, Veränderungen im kognitiven, psychomotorischen und affektiven Bereich zu erreichen, sondern

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den Prozess des Veränderns bewusst zu reflektieren und sich dadurch selbstverantwortlich lernfähig zu halten. (S. 211)

Die Lernfähigkeit der Organisation stellt Britton in direkten Zusammenhang mit der Überlebens-, Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit bzw. der Nachhaltigkeit der Organisation selbst: (...) if NGOs do not learn, they are likely to cease to exist as they will not be able to adapt sufficiently well to the changing circumstances in which they find themselves. This is the Action Learning expert, Reg Revan’s 1983 classic L/C equation (where L, the rate of learning must be greater or equal to C, the rate of change). (1998, S. 7)

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Qualität und Nachhaltigkeit im Sinne der Erreichung geplanter Ziele der Organisation untrennbar mit der Gestaltung, Anpassung und aktiven Weiterentwicklung organisationaler Strukturen und Prozesse verbunden sind. Die Untersuchung der Organisation Chácara soll sich deshalb nicht nur auf zielorientierte Kriterien der Qualität, sondern auch auf Prozesse und Mechanismen der Organisation auf dem Weg zu Qualität und Nachhaltigkeit richten.

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3 Methodische Gestaltung der Studie

Die Methodik dient der Erreichung des Forschungsziels. Sie ist der gemeinsame Nenner, unter dem die Forschungsgestaltung und -durchführung entwickelt und Methoden der Datenerhebung, -auswertung und -interpretation gestaltet und eingesetzt werden. Forschung bezieht sich auf einen spezifischen Kontext, einen spezifischen Gegenstand und ein spezifisches Ziel. Methodik und Methoden können nur dann Erkenntnisse generieren, welche das Forschungsziel erfüllen, wenn sie diese Bezüge aufweisen, und wenn sie dem Forschungsziel sowie dem Forschungskontext an sich angemessen sind. Der Forschungskontext der vorliegenden Arbeit umfasst vor allem die untersuchte Organisation Chácara in Brasilien. Diese befindet sich in einem spezifischen Umfeld und verfügt über spezifische Eigenheiten in ihren organisationalen Strukturen und Prozessen sowie in ihren Möglichkeiten und Grenzen für eine Forschungsarbeit. Der Forschungskontext umfasst ebenfalls die Autorin, welche bezüglich der untersuchten Organisationen bestimmte Positionen und Rollen inne hat und im Rahmen des Forschungsauftrages und des wissenschaftlichen Arbeitens ebenfalls über spezifische Möglichkeiten und Grenzen verfügt. Lamnek (1995) fordert die: ... Anpassungsfähigkeit des methodischen Instrumentariums an das Untersuchungsobjekt und die Situation, nicht umgekehrt. (S. 22)

Dies gilt in besonderem Masse im Fall der Analyse und Diagnose von Organisationen, da diese, wie bereits erläutert, als an sich kontingent und dynamisch zu charakterisieren sind. Entsprechend heisst es in den „Leitlinien zur Organisationsdiagnose“ des Nachdiplomstudiums für Entwicklungsländer der ETH und des KEK (keine Jahreszahl): Es existiert kein perfektes, universell geltendes Organisationsdiagnoseinstrument. Jede Diagnose ist situationsspezifisch und mit angepassten Instrumenten zu gestalten. (S. 1)

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Resultate von Forschungen, bei denen Methodik ohne ein Bewusstsein für den spezifischen Forschungskontext und ohne Anpassung an dessen Eigenheiten, Potentiale und Grenzen gestaltet wird, sind in ihrer Validität und Anwendbarkeit stark eingeschränkt. In der vorliegenden Untersuchung wurde demgegenüber grosser Wert darauf gelegt, die Methodik – und damit Forschungsmethoden, -prozesse und -rollen – so zu wählen und auszugestalten, dass sie der Spezifizität von Kontext, Objekt und Ziel der Forschung angemessen war.35 In Ergänzung zum bereits geschilderten Forschungsgegenstand und Forschungsziel sollen hier zunächst die Anforderungen, Möglichkeiten und Grenzen des Forschungskontextes Chácara sowie die spezifische Situation und Position der Forscherin und deren Konsequenzen für die Forschung dargestellt werden. Innerhalb dieses Rahmens wird daraufhin auf die Methodik und Herleitung der Methoden, auf die Methoden der Datenerhebung sowie auf die gewonnenen Daten und die Methoden für deren Auswertung eingegangen. „Last but not least“ werden dann Forderungen und Umsetzung von Fragen der wissenschaftlichen Güte – Gültigkeit, Zuverlässigkeit und Repräsentanz – sowie die Themen Sicherheit und Ethik behandelt. 3.1 Anforderungen, Grenzen und Möglichkeiten der untersuchten Organisation In den zwei Jahren vor Beginn der Forschung führte die Autorin mit dem Koordinator, aber auch mit anderen Mitgliedern und Beteiligten der zu untersuchenden Organisation Chácara Gespräche, welche dem Herantasten an die Forschungsaufgabe und letztlich deren Aushandeln dienten. Dabei entstand die gemeinsame Einsicht, dass die Forschungsmethodik der Kultur der Chácara und vor allem deren lernorientiertem und partizipativem Charakter angemessen sein sollte. Die beteiligten Personen sollten nicht als passive Forschungsobjekte, sondern als kompetente Subjekte behandelt werden. Die Resultate sollten einen Zugewinn an Erkenntnis darstellen und für die Entwicklung der Chácara sowie für die Förderung anderer Projekte und Institutionen praktisch nutzbar sein. Zudem sollte die Methodik dergestalt sein, dass sie die tägliche Arbeit der Chácara nicht nur nicht behinderte, sondern – sollte dies möglich sein – gar stärkte. Im Verlauf dieses Gesprächsprozesses wurden so die spezifischen Anforderungen, Grenzen und Potentiale der Chácara in Bezug auf die Organisationsanalyse er35

Das Forschungsdesign wurde zudem wiederholt in Forschungskolloquien an der Universität Zürich, der ETH Zürich und der Universität Fribourg sowie im Rahmen von Vorträgen an der Unversidade Federal do Paraná und der Universidade Estadual de Maringá mit Professoren und Professorinnen sowie akademischen „Peers“ ausführlich diskutiert.

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sichtlich. Die Autorin gelangte dabei zur Überzeugung, dass ein methodisches Vorgehen, welches diese grundsätzlichen Anforderungen nicht aufnehmen würde, nicht auf echtes Interesse und Engagement seitens der Mitglieder der Chácara stossen und deshalb auch nicht wirklich relevante und anwendbare Resultate generieren würde. Bezüglich von Grenzen zeigten sich an erster Stelle die eingeschränkten Ressourcen. So hatten im täglichen Betrieb der Chácara insbesondere die Betreuung und Begleitung der dort aufgenommenen Jungen erste Priorität und Vorrang vor den Forschungsabsichten. Wegen dem relativ unvorhersehbaren Charakter des Tagesablaufs in der Chácara konnten Forschungsschritte wie zum Beispiel Interviews in Zeitpunkt und Reihenfolge nur annähernd geplant werden. Eine weitere Grenze bezüglich der Methodik wurde vor allem von einigen Jungen zu Beginn der ersten Feldforschungsphase erwähnt. Sie wollten keine standardisierten, schriftlichen „Fragebogen mit Fragen, die nichts mit uns und unserer Realität zu tun haben“36 ausfüllen, wie sie es wiederholt im Rahmen von studentischen Arbeiten und Untersuchungen durch Mitglieder von lokalen universitären Institutionen hatten tun müssen. Im Rahmen der Möglichkeiten für die Forschungsmethodik bot die Chácara zahlreiche Vorteile, darunter langjährige Praxiserfahrung des Koordinators und der Betreuer, eine regelmässig angewandte, aktiv geförderte Reflexions- und Evaluationspraxis und Lernkultur sowie eine partizipative, die Jungen und Erziehenden in hohem Masse einbeziehende Arbeitsweise. Alle Mitglieder der Chácara, Jungen und Erwachsene, waren es gewohnt, Dritten gegenüber die Chácara zu erklären, da sie viele Besucher in der Organisation empfingen und sich in Initiativen der Aufklärung und Schulung sowie der Gestaltung von Sozialpolitik ausserhalb der Organisation engagierten. Einige Mitglieder der Organisation, darunter der Koordinator, waren bereits selbst an der Gestaltung und Durchführung von Forschungsvorhaben beteiligt gewesen. Zudem verfügte die Chácara über ein weites Beziehungsnetz mit interessierten Personen aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft, zu dem sie der Autorin Zugang geben konnte.

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Spontane mündliche Mitteilung eines 14-jährigen Jungen, März 2003. Ähnliche Äusserungen wurden in diesem Zeitraum von drei weiteren Jungen sowie von zwei Erziehenden gemacht.

3.2 Position der Forscherin 3.2.1 Anforderungen Das „Forschungsobjekt Organisation“ stellt klare Anforderungen an die Position von Distanz und Nähe, welche die Forscherin im Rahmen der Organisationsanalyse erreichen muss. Dies hängt damit zusammen, dass nicht alle Teile einer Organisation im selben Masse für alle Personen sichtbar sind. Welche Teile sichtbar sind und wie sehr, hängt von der Position der betrachtenden Person im Verhältnis zur Organisation ab. In der Entwicklungszusammenarbeit wird je nach Weltregion entweder das Bild eines im Wasser schwimmenden Nilpferdes oder eines Eisberges (siehe z. B. Sülzer und Zimmermann, 1996, S. 60 ff.) verwendet, um darzustellen, dass für Aussenstehende der kleinere Teil der Organisation direkt sichtbar ist – Organigramme, Gebäude, Anzahl Personen, Statuten und so weiter –, während der grössere Teil der Organisation nur für deren Mitglieder direkt erfahrbar ist, so zum Beispiel Macht- und Einflussverhältnisse, gelebte Wertsysteme, Interaktions- und Gruppennormen, Vertrauen, Engagement, Beziehungen und vieles mehr. Gemäss Sülzer und Zimmermann (1996, S. 60) ist der unsichtbare Teil der Organisation der für eine Charakterisierung der Organisation bedeutendere. Angelehnt an diese Autoren heisst es im entsprechenden Ausbildungsblatt des Nachdiplomstudiums für Entwicklungsländer der ETH Zürich, eine externe Person, welche bei der Durchführung einer Analyse die unsichtbaren Teile der Organisation vernachlässige, gleiche „dem Kapitän der Titanic, welcher die Ausmasse des Eisberges falsch einschätzte“ (Nadel/KEK, undatiert). Bungard nimmt auf denselben Aspekt Bezug, wenn er schreibt, Forschende müssten aufgrund der Spezifizität von Organisationen „das jeweilige Anwendungsfeld ausgiebig kennen lernen (...), um überhaupt sinnvoll eine Studie planen, durchführen und auswerten zu können“ (in Schuler, 2004, S. 133). Unterstrichen werden soll hier, dass Bungard damit dafür plädiert, dass der sich unter Wasser befindende Teil der Organisation bereits in der Planungsphase der Forschung, also vor deren Durchführung, in gewissem Masse bekannt sein müsse. Die Autorin nimmt aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung zudem an, dass auch die Mitglieder einer Organisation nicht all deren Teile im selben Masse wahrnehmen können, da sie in unterschiedlichem Masse Zugang zu diesen haben. Im Weiteren bedeutet die Tatsache, dass Mitglieder einer Organisation deren Teile erlebend erfahren, noch nicht, dass sie sich dieser auch bewusst werden und sie explizit formulieren können. So hat die Autorin in verschiedenen Organisationen beobachtet, dass sich Mitglieder wohl kompetent innerhalb der Organisation bewegten, über gewisse, sie betreffende Teile der Organisation wie zum 65

Beispiel die von Sülzer und Zimmermann (1996) genannten Beziehungen, Wertsysteme und Gruppennormen jedoch nicht spontan Auskunft geben konnten. Vor diesem Hintergrund scheint es unabdingbar, dass Forschende „einen halben Schritt neben der Organisation stehen können“, das heisst, dass sie nicht nur die Innensicht der Organisation aufnehmen, sondern auch eine praktische und theoretische Aussenperspektive einnehmen können. Nur in Kombination beider Perspektiven ist es möglich, angemessen nachfragen, spiegeln und strukturieren, interpretieren und in Bezug setzen zu können und damit den Weg zum expliziten Ausdruck impliziter Organisationserfahrung zu bahnen. Bartunek und Louis (1996) bezeichnen die Kombination von Aussen- und Innensicht als wichtigen Einflussfaktor für die Qualität der Erforschung einer Organisation: People who are insiders to a setting being studied often have a view of the setting and any findings about it quite different from that of the outside researchers who are conducting the study. These differences, we believe, have significant implications for the quality of knowledge that will be gained from the research, its potential to enhance insiders’ practice, and the relationships insiders and outsiders have with each other. (S. 1)

So stellt die Organisationsanalyse an die Forscherin die Anforderung, Zugang zur inneren, gelebten und erlebten Realität der Organisation zu finden, und zwar nicht nur indirekt über die befragten Organisationsmitglieder, sondern in gewissem Masse auch direkt, das heisst mittels ihrer eigenen Person. Gleichzeitig muss sie aber auch über eine Aussensicht der Organisation verfügen, damit die Innensicht angemessen explizit gemacht, interpretiert und dargestellt werden kann. 3.2.2 Eigenschaften und Gestaltung Die forschende Person kann ihre Position im Verhältnis zur untersuchten Organisation immer nur teilweise wählen und gestalten. Auch die Mitglieder der Organisation werden ihr eine oder mehrere Positionen zuweisen. Zudem verändern sich Positionen häufig im Laufe der Zeit. Beispielsweise wird mancher „Outsider“, der mit der Erforschung einer ihm unbekannten Organisation beginnt, durch den Kontakt mit den Organisationsmitgliedern bald in geringerem oder grösserem Mass auch zum „Insider“. Stand die Forscherin bereits vor der Forschung in Kontakt mit der untersuchten Organisation, wird sie zudem bereits über eine oder mehrere Positionen sowie über verschiedene Beziehungen zu den Organisationsmitgliedern verfü66

gen. Diese können mit Beginn der Forschung nicht einfach abgelegt werden. Sie können sowohl hinderlich für die Forschung sein als auch von grossem Nutzen. Im vorliegenden Fall hatte die Autorin vor der Forschung während acht Jahren sowohl Aussen- als auch Innenpositionen im Verhältnis zur Chácara eingenommen und zwar in folgenden Funktionen: ƒ ƒ ƒ

Freiwillige Mitarbeiterin im Projekt selbst (seit 04/1995)37. Als Gründerin und Präsidentin/Vorstandsmitglied eines Schweizer Unterstützungsvereins (1995–2002).38 Sowie als freiwillige Mitarbeiterin eines weiteren brasilianischen Projektes, welches die Chácara zu replizieren versuchte (10/98 – 04/01).

In dieser Zeit hatte sie sich durchschnittlich zweimal jährlich in den Projekten aufgehalten und insgesamt während etwa sechs Monaten in der Chácara und während drei Monaten in letzterem Projekt gelebt. Aus diesem Werdegang der Autorin ergab sich gegenüber der Organisation eine Position, welche sowohl externe als auch interne Elemente umfasste. Dabei ist der interne Teil als von der Peripherie her kommend und zunehmend zentraler werdend zu bezeichnen, ohne dass jedoch das Zentrum der Organisation erreicht wurde. Diese Positionierung soll an drei Beispielen illustriert werden. Bereits die Arbeit im Schweizer Unterstützungsverein bedurfte einer Kombination von Aussen- und Innenperspektive. So forderte die Aufgabe der Autorin, dass sie die Realität der Chácara aus eigener Anschauung und Praxis kenne und die Anliegen von deren Mitgliedern aufnehme. Dies musste jedoch aus einer gedanklich und rechtlich unabhängigen, für den gegenseitigen Kontakt aufgeschlossenen, zugleich aber auch kritischen Position heraus geschehen, da weitere Anliegen, wie zum Beispiel diejenigen der Spenderinnen und Spender oder gesetzliche Anforderungen ebenfalls beachtet werden mussten. Der Grad der Peripherität oder Zentralität der Autorin in der Chácara vor Beginn der Forschung, aber auch während dieser, kann nicht generell bestimmt werden. Grund dafür ist, dass die Position in der Organisation aus der Sicht verschiedener Mitgliedergruppen und/oder in Bezug auf verschiedene Bereiche der Organisation unterschiedlich verstanden zu werden scheint und sich über die Zeit auch verändern kann. Ein Beispiel dafür ist der Bereich der organisatorischen 37

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Zum Anteil der Freiwilligenarbeit während der Feldforschung/Datenerhebung siehe auch Kapitel 3.6.2 Diese Rolle wurde vor Beginn der Forschung bewusst niedergelegt, um Konflikte zwischen Forschungsarbeit und Fragen der Projektfinanzierung und -kontrolle zu vermeiden. Der Verein Freunde brasilianischer Strassenkinder (www.meninos.ch) finanziert die Chácara seit 1995, im Jahr 2006 noch zu etwa 40–50 % der jährlichen Gesamtkosten.

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Gestaltung, also der Führung und Koordination, der Chácara. Ab Beginn der Zusammenarbeit im Jahr 1995 wurde die Autorin seitens des Koordinators und anderer Projektmitglieder über Entscheidungs- und strategische Themen der Organisation informiert. Mit der Zeit wurde sie zudem informell und auf privater Ebene in gewissen Fragen konsultiert. Dies hing teilweise mit ihrer Rolle als Präsidentin des finanzierenden Vereins zusammen, bezog sich zunehmend aber auch auf Themen, welche von vorwiegend oder rein interner Bedeutung waren. Nach Abschluss der Feldforschung (und nunmehr 11 Jahren der Zusammenarbeit) wurde sie vom Koordinator gebeten, Workshops zu Aufbau und Durchführung der ersten strategischen Planung in der Organisation zu gestalten und zu moderieren. Damit wurde ihr erstmals formell eine Rolle in der Mitgestaltung der Organisation zugewiesen. Diese Entwicklung kann so verstanden werden, dass die Position der Autorin von der Peripherie her kommend zunehmend zentraler wurde. Wirklich zentral ist sie jedoch nicht, denn dies würde Beteiligung an der formellen Entscheidungsmacht bedeuten. Über diese verfügen innerhalb der Chácara der Koordinator, die Mitarbeitenden und die betreuten Kinder und Jugendlichen. Ein anderes Beispiel ist dasjenige des täglichen Zusammenlebens. Hier schien der Autorin vor allem von den Jungen von Beginn weg eine einschliessende, eher zentralere Rolle zugewiesen zu werden. So suchten viele Jungen eine enge, familiäre und fürsorgliche/mütterliche Beziehung und öffneten sich der Autorin gegenüber entsprechend. Gemäss Aussagen von Jungen und Erwachsenen wurde sie schnell zu einer wichtigen und, zusammen mit anderen Organisationsmitgliedern, zu einer der wenigen längerfristigen Bezugspersonen, über welche die Jungen aufgrund ihrer familiären Situation verfügten. Im täglichen Leben der Chácara während der Freiwilligenaufenthalte zeigten die Jungen und die Projektmitarbeitenden zudem die Erwartung, dass die Autorin sich an allen Aktivitäten des Haushaltes – Kochen, Putzen, Waschen, Aufgaben-Machen, Spielen, Plaudern etc. – beteiligen sollte. In der Wahrnehmung der Autorin war es wiederholt ihre etwas zentralere Rolle in Bezug auf die Zielgruppe und auf den täglichen Haushalt der Chácara, welche die langsame Zunahme ihrer Zentralität in Bereichen wie demjenigen der organisationalen Gestaltung förderte. Die Position der Autorin vor und während der Forschung war nicht nur durch ihre Nähe und Distanz zur Organisation oder zu einzelnen Organisationsteilen geprägt, sondern auch durch Beziehungen. Sowohl die Jungen als auch die Mitarbeitenden den Chácara hatten Lebenssituationen wie Armut, sozialen Ausschluss, Misshandlungen, Gewalt, Bedrohungen und Krankheiten durchlebt. Ihre Organisation Chácara bestand ebenfalls in einer schwierigen Situation, welche wiederholt von Nahrungs- und Geldmangel, gelegentlichen Bedrohungen und dem Umgang mit den prekären Lebensumständen, in denen sich die Jungen be68

fanden, geprägt war. Gleichzeitig gelangen kleinere und grössere Erfolge. Die Autorin durchlebte viele dieser Situationen zusammen mit den Mitgliedern der Chácara. Aus diesem Miteinander entstanden starke, auch emotional geprägte Beziehungen. Aufgrund der Nähe der persönlichen Beziehungen befürchtete die Autorin zunächst, dass der Koordinator und weitere Mitarbeitende der Chácara die Beforschung der Organisation als Infragestellung ihrer Rollen und Arbeit empfinden könnten. Sie vermutete auch, dass ihre neue Rolle als Forscherin und nicht mehr als freiwillige Mitarbeiterin zu Spannungen in den Beziehungen mit den Chácaramitgliedern führen könnte. In der ersten und zweiten Feldforschung traten kurzzeitige Blockierungen im Forschungsprozess auf, welche nach Meinung der Autorin unter anderem mit ihrer neuen Rolle und der Anpassung an diese in Verbindung gebracht werden konnten. Diese konnten jedoch durch den Dialog oder ein einfaches „Aussitzen“ gelöst werden. Eine scheinbare Einschränkung, welche ebenfalls mit der Thematik von Nähe und Distanz zur Organisation verbunden ist, trat insofern in der Feldforschung auf, als die Forscherin nicht zur Beobachtung zu den wöchentlichen Koordinationssitzungen von Koordinator und Erziehenden sowie von Koordinator, Erziehenden und Jungen zugelassen wurde.39 Begründet wurde dies in erster Linie mit der Vertraulichkeit des dort Diskutierten und dem Bedürfnis der Beteiligten, sich in diesen Gesprächen unbeobachtet fühlen zu können. Es zeigte sich jedoch, dass Jungen, Erziehende und Koordinator durchaus bereit waren, der Forscherin von Themen und Verlauf der Sitzungen zu erzählen, ohne jedoch einzelne Namen zu nennen. Dabei erwähnten sie auch kritische und negative Punkte, welche zur Diskussion gekommen waren. Zudem wurden die meisten, wenn nicht alle Themen auch ausserhalb der Sitzungen informell besprochen in einem Rahmen, in den die Forscherin durchaus eingeschlossen wurde. Schlussendlich führte die Zugangsbeschränkung nicht zu einer Einschränkung der Forschung. Im Gegenteil: Die Suche nach Alternativen führte zu zusätzlichen Informationen – zum Beispiel Reflexionen seitens der Sitzungsteilnehmer – welche im Rahmen der formellen Sitzungen wohl nicht erhältlich gewesen wären. Eine Grenze, die sich in der Feldforschung zeigte, war, dass Führungsrolle, -ausübung und -einfluss des Koordinators von der Autorin nicht untersucht werden konnten. Dafür mag es zwei hauptsächliche Gründe geben. Einerseits ist es 39

Es stand ihr jedoch offen, eigene Anliegen auf Ankündigung in den Sitzungen vorzubringen und diese danach zu verlassen. Ebenso wurde sie einige Male zu speziellen Themen oder Fragen in die Sitzungen gerufen. Zudem waren ihr Verlauf und Vorgehen dieser Sitzungen insofern bekannt, als sie während ihrer Aufenthalte in den Anfangsjahren der Chácara regelmässig an ihnen teilgenommen hatte. Im Übrigen wurden auch andere Personen in der Chácara, welche dort keine ständige pädagogische Aufgabe hatten, nicht zu den Sitzungen zugelassen.

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die Philosophie des Projektes (und des Koordinators), dass dieses partizipativ geführt werde. Damit liegt ein Schwerpunkt der Arbeit des Koordinators (sic!) auf der Befähigung und Aktivierung anderer Personen und ist es ihm ein Anliegen, seine eigene – sehr zentrale, hoch aktive – Rolle möglichst wenig in den Vordergrund zu stellen und zunehmend anderen zu übergeben. Anderseits empfand die Autorin, dass es ihrer sozialen Position und Rolle in der Chácara nur eingeschränkt zukam, in diesem Bereich systematisch und tief zu „bohren“. Diese Grenze wird jedoch auch nicht als Limitation der vorliegenden Studie empfunden, bewegt sich diese doch auf der Ebene der gesamten Organisation mit ihren Strukturen und Prozessen und befasst sich nicht mit Rollen und Einfluss einzelner Mitglieder. Gesamthaft gesehen war die Autorin der Meinung, dass die Vielseitigkeit ihrer Position im Verhältnis zur Chácara eine Anzahl von Vorteilen mit sich bringe, welche die geplante Forschung überhaupt erst ermöglichten und etwaige Nachteile bei weitem überwiegen würden. Als hauptsächliche Vorteile können genannt werden: ƒ

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Rasche und umfassende Legitimierung der Durchführung der Forschung durch die Autorin. Die Autorin verfügte bereits über eine gute Akzeptanz in der Organisation. Entsprechend legitimierten sie die Vorstandsmitglieder der Chácara zur Durchführung der Forschung, ohne zusätzliche Bedingungen zu stellen. Als Begründung dafür gaben sie an, nach dem, was die Autorin bereits für das Projekt und die Jungen getan habe, sei es ihr Recht, die Forschungsarbeit durchzuführen. Privilegierter Zugang zum gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umfeld. Die Jungen hatten der Autorin ab 1995 auf der Strasse gezeigt, wie sie dort gelebt hatten und wie diese „funktionierte“. Die Mitglieder der Chácara hatten ihr Zugang zu allen relevanten Bereichen auch ausserhalb des Projektes gegeben, darunter einige, zu welchen Aussenstehende keinen Zutritt hätten: Familien, Favelas, Strasse, andere Projekte, Gericht, Gefängnis, Sozialbehörde, Schule, lokale Gemeinde etc. Die Autorin lernte so das Umfeld und die Situation der Organisationsmitglieder in diesem kennen und wurde befähigt, sich in diesem Umfeld adäquat zu verhalten. Diese Aspekte waren für die Durchführung der Forschung unabdinglich. Privilegierter Zugang zu den Sprachen der Strasse und der Favelas. Die Autorin hatte Portugiesisch zunächst in der Chácara gelernt. Die Sprache der hier lebenden Jungen, welche jener der Population auf der Strasse entspricht, zeichnet sich durch ihren sehr spezifischen, lokalen und teilweise weit von der Standardsprache entfernten Gebrauch von Vokabular und Grammatik aus. Durch den Kontakt mit den Familien der Jungen sowie mit

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den Erziehenden lernte sie die ihrerseits spezifische Sprachvariante der Favelas in Curitiba kennen. Die in diesen Umfeldern vorkommenden, von den Betroffenen als schwierig empfundenen oder auch illegalen Ereignisse werden häufig in sprachlichen Codes kommuniziert. Viele Elemente dieser Sprachvarianten sind in einem brasilianischen Slangwörterbuch nicht zu finden und sind auch für einheimische Personen, welche nicht aus den entsprechenden Bevölkerungsgruppen und Umfeldern kommen, nicht verständlich. Für die Durchführung der Untersuchung waren diese Kenntnisse und die Möglichkeit, von den Chácaramitgliedern aufgrund des Vertrauensverhältnisses jederzeit Erklärungen zu erhalten, von entscheidender Bedeutung. Privilegierter Zugang zur Alltagspraxis in der Chácara. Aufgrund der Integration der Autorin in die Alltagspraxis der Chácara war es möglich, das Forschungsvorgehen in einer Art zu kommunizieren und durchzuführen, welche innerhalb dieser Praxis verständlich und akzeptabel war. Ohne diese Möglichkeit wäre es wesentlich schwieriger und/oder aufwändiger gewesen, das Forschungsvorhaben und seine Durchführung genau auf die Situation dieser Organisation anzupassen. Eine geringere Anpassung hätte unter Umständen zu weniger motivierten Untersuchungsteilnehmenden sowie zu einer geringeren Angemessenheit, Verständlichkeit und Anwendbarkeit der Resultate führen können. Privilegierter Zugang zu einzelnen Mitgliedern und Beteiligten. Das Vertrauensverhältnis zu den Mitgliedern der Chácara führte zu einer Bereitschaft der Jungen und Erwachsenen, sowohl Einblick zu geben in zum Teil sehr persönliche – darunter auch traumatische – Erfahrungen als auch in Aspekte der Organisation, die Aussenstehenden verborgen geblieben wären. Gesprächspartner erwähnten wiederholt, dass sie gewisse Dinge Aussenstehenden gegenüber nicht äussern würden, so zum Beispiel kritische Aussagen über Aspekte der Chácara, welche von Aussenstehenden nicht angemessen verstanden werden könnten. Kontrollmechanismus für das Forschungsvorgehen. Das durch die Aktualität des Forschungsvorhabens ausgelöste Interesse der Chácaramitglieder sowie die als Folge der Integration der Forscherin entstandene soziale Kontrolle unterstützten auch die Kontrolle des Forschungsvorgehens. So fragten Chácaramitglieder wiederholt nach Forschungsabsicht und -design, Erhebungs- und Auswertungsmethoden, Resultaten und späterer Nutzung der Daten. Dies trug in der Erfahrung der Autorin zu einer zusätzlichen Fokussierung und Qualitätskontrolle bezüglich Angemessenheit und Anwendbarkeit des Forschungsvorgehens bei.

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Bereits etablierte Position der Forscherin als „dazugehörige Aussenstehende“. Die Autorin verfügte bereits über eine Position, welche, wie von der Organisationsanalyse verlangt, externe und interne Elemente kombinierte. Diese Kombination war sowohl von ihr als auch von den Chácaramitgliedern eingeübt. So waren es die Chácaramitglieder gewohnt, dass die Autorin eigenständig (also nicht in die Organisationshierarchie eingegliedert) Themen bearbeitete, welche thematisch den Alltagsaktivitäten in der Chácara übergeordnet waren. Der weitgehende Zugang zur Organisation konnte deshalb kombiniert werden mit der Durchführung einer Forschung, deren letzte Regie, Entscheidungs- und Interpretationsmacht jederzeit bei der Forschenden lagen. Die Forschung wurde in klar definierten zeitlichen Phasen sowie ausgehend von einem eigens dafür eingerichteten Arbeitsplatz durchgeführt. In Zeitabschnitten, in denen die Autorin nicht Forschungstätigkeiten, wie zum Beispiel Interviews, nachging, wurde sie hingegen in derselben Art und Weise vollumfänglich in die täglichen praktischen Arbeiten der Chácara einbezogen wie bereits vor der Forschung. Der Studie kam zugute, dass dank der bereits etablierten Position der Forscherin als „dazugehörige Aussenstehende“ kaum Spannungen um Rollen und Erwartungen auftraten bzw. die wenigen auftretenden Spannungen bald und gut gelöst werden konnten und die Feldforschungsarbeit in ihrer Essenz nicht beeinträchtigten. Bei einer noch ungeklärten Rollenverteilung, mit der die Forscherin bei einer anderen Ausgangslage konfrontiert gewesen wäre, hätte zusätzlich Zeit in die Etablierung der erforderlichen, zweifachen Position investiert werden müssen. Besonderes Verständnis der Möglichkeiten und Herausforderungen der Explizitmachung impliziten Praxiswissens. Die interne Position der Forscherin im Projekt bedeutete, dass nicht nur die von ihr zu befragenden Personen, sondern auch sie selbst im Rahmen der Forschung vor der Aufgabe stand, implizites Praxiswissen explizit zu machen. Dies förderte das Verständnis der Autorin für diesen Prozess und ihre Fähigkeit, eine Vorgehensweise zu finden und Fragen zu formulieren, welche implizites Wissen zum Vorschein bringen würden. Gleichzeitig war sie sich der Reichhaltigkeit des in der Organisation vorhandenen Wissens bewusst. Diese Kenntnis trug zur Planung der Forschung und Strukturierung der Datenerhebung bei. Zugleich erlaubte sie es, Informationen zu erhalten und bezüglich ihrer Aussagekraft adäquat einzuschätzen. Möglichkeit längerer Feldforschungsphasen in der Chácara. Mehrere einheimische Forschende hatten der Autorin gegenüber geäussert, dass sie die Lebensbedingungen in der Chácara als zu einfach oder zu unbequem empfänden und/oder dass das Zusammensein mit den Jungen aufgrund von de-

ren Anzahl, Lebhaftigkeit oder Lebensgeschichten für sie zu belastend sei. Deshalb würden sie sich nur während des Zeitraums dort aufhalten, der für ihre Arbeit – das Ausfüllen von Fragebogen, eine Aktivität mit den Kindern etc. – nötig sei. Auf keinen Fall würden sie jedoch dort übernachten oder länger bleiben wollen. Die Autorin war gewohnt, in der Chácara zu leben und zu arbeiten und wurde darin von deren Mitgliedern unterstützt. So war es ihr möglich, während mehreren Feldforschungsphasen von insgesamt 12 Monaten in der Chácara deren Praxis zu teilen und aus nächster Nähe zu beobachten. Damit verfügte sie über sehr vielseitige Informationen, die ihr nicht zugänglich gewesen wären, wäre sie nur gerade für die Durchführung der Interviews dorthin gereist. Schliesslich schien ihre längere Anwesenheit in der Wahrnehmung der Organisationsmitglieder die Glaubwürdigkeit ihrer Forschung zu steigern. Bei der Gestaltung von Forschungsablauf und -methodik sowie bei der Wahl der Methoden wurden die Anforderungen und Grenzen der Chácara für die Forschungsmethodik, darunter auch für die Position der Forscherin, weitestgehend berücksichtigt. Die Möglichkeiten der Chácara und die Vorteile der bestehenden Position der Forscherin wurden in der methodischen Gestaltung und Durchführung der Forschung genutzt. Dies war deshalb möglich, weil die Charakteristika der Chácara und der Position der Forscherin im Gesamten gut mit den Gütekriterien wissenschaftlicher Arbeit (siehe Kapitel 3.6) vereinbar waren. In der Folge soll nun die resultierende methodische Gestaltung dargelegt werden. 3.3 Methodik 3.3.1 Einzelfallstudie Im Rahmen der vorhandenen Forschungsliteratur hatte keine wissenschaftliche Analyse einer residentiellen Organisation für Strassenkinder gefunden werden können. Deshalb stellte sich die Frage, ob in einer erstmaligen Analyse eine grössere Anzahl solcher Organisationen oder nur eine einzige erforscht werden sollte. Würden mehrere Organisationen gewählt, so müssten diese entlang definierter Kriterien entweder als ähnlich oder als kontrastierend behandelt werden können. Ohne dass bereits eine entsprechende Untersuchung vorlag, und im Wissen um die Kontingenz von Organisationen, war die Definition solcher Kriterien jedoch nicht möglich. Dies sprach für die Erstellung einer Phänographie einer einzelnen Organisation. Die in diesem Rahmen gewonnenen Beschrei-

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bungsdimensionen würden dann gegebenenfalls in Folgestudien auf andere Organisation angewandt werden können. Zwei weitere Gründe für die Wahl eines Einzelfalles waren die zur Verfügung stehenden Ressourcen sowie der Zugang zu Organisationen für Forschungszwecke. Es war davon auszugehen, dass die Forschungsarbeit aufgrund der Absicht, eine Organisation umfassend zu beschreiben, sowie aufgrund von Aspekten wie den offenen, vertieften und deshalb langen Interviews und des für die Transkription nötigen Zeitbudgets sehr aufwändig werden würde. Für die gesamten Arbeiten stand nur eine Arbeitskraft zur Verfügung. Da eine solche Organisation noch nie untersucht worden war, schien es sinnvoller, die Ressourcen auf eine tiefer gehende Analyse einer Organisation zu verwenden als eine grössere Anzahl von Organisationen notgedrungen eher oberflächlich zu beschreiben. Die Chácara war eine bereits seit dem Jahr 1993 bestehende, umfangreiche, vielfältige und zu einer gewissen organisationalen Reife gelangte Organisation. Aufgrund dieser Eigenschaften konnte angenommen werden, dass sie reichhaltiges Material für die Erstellung einer Phänographie bieten würde. Mitglieder, Beteiligte, externe Fachleute und Medien beurteilten die Organisation als qualitativ gut. Obwohl diese Einschätzung nie untersucht worden war, war doch davon auszugehen, dass eine Analyse der Chácara Erkenntnisse über Aspekte liefern würde, welche gute Qualität kennzeichnen oder zu einer solchen beitragen. Was den Zugang zu residentiellen Organisationen für Strassenkinder anbelangt, muss angemerkt werden, dass dieser weder im formellen noch im informellen Sinne einfach ist. Normalerweise erlauben solche Organisationen Forschenden nicht, sämtliche Mitglieder und Beteiligte frei und ohne Zensur und Beeinflussung zu befragen und/oder über einen längeren Zeitraum am Alltag der Organisation teilzunehmen. Hierfür gibt es verschiedene Gründe: bürokratische Strukturen und langsame Bewilligungsprozesse, eine Mentalität der „Wegschliessung“ aufgrund der Tatsache, dass viele dieser Organisationen – darunter auch die staatlichen – teilweise oder ganz mit dem Jugendstrafvollzug verbunden sind, und vermutlich auch die eingangs zitierten Unzulänglichkeiten und Missbräuche, die in vielen Organisationen vorkommen. Aber auch wenn Zugang besteht, sind Mitarbeitende und Betreute dieser Organisationen oft Personen, welche aufgrund ihrer Lebenserfahrung unbekannten Personen mit grosser Vorsicht begegnen und nicht bereit sind, sich solchen ohne weiteres zu öffnen und vertieften Einblick nicht nur in die positiven, sondern auch in die schwierigen Seiten der Organisation zu geben. Die Chácara wurde auch aufgrund des privilegierten Zugangs der Forscherin für die Einzelfallstudie gewählt. Zudem bot die Chácara dank ihrer Kontakte zu anderen Organisationen sowie zu Personen, welche in und mit diesen arbeite74

ten, die Möglichkeit, zusätzlich zur Einzelfallstudie doch auch gewisse Informationen über andere Organisationen einzuschliessen sowie einige vergleichende Überlegungen anzustellen. Die Datenauswertung wurde zudem bis zu einem Aggregationsniveau vorangetrieben, von dem angenommen wurde, dass es hoch genug sei, um eine gewisse Generalisierbarkeit der Erkenntnisse zu ermöglichen. Dies bedeutet unter anderem, dass versucht wurde, eher zu Gestaltungsgrundsätzen für die Organisation zu gelangen als zu hoch detaillierten, preskriptiven Checklisten für einzelne Handlungsschritte. Die Generalisierbarkeit der Erkenntnisse wurde im Weiteren dadurch gestützt, dass diese vor dem Hintergrund der existierenden Organisationsliteratur reflektiert wurden. 3.3.2 Vereinbart und kommuniziert Wie bereits dargestellt, wurden die Gründe und Ziele der Forschung sowie einige grundsätzliche methodische Aspekte mit den Mitgliedern der Chácara vorgängig vereinbart. Dieses Vorgehen nimmt Überlegungen von Lamneks Konzept der „Forschung als Kommunikation“ (1995, S. 23) auf und kann als Reziprozität zwischen Forschender und Beforschten beschrieben werden. Es zeigte sich, dass eine solche Reziprozität eine weitere Grundbedingung für eine erfolgreiche Durchführung des Forschungsvorhabens war. Die Mitglieder der Chácara empfanden die Forschung als einen sogar über die unmittelbare Forschung hinausgehenden Austausch, in dem jede „Seite“ ihren Teil leisten musste. Ein Jugendlicher formulierte den Grund, weshalb er und seine Kollegen sich bereitwillig für die Forschung zur Verfügung stellten, gegenüber der Forscherin sinngemäss wie folgt: Soviele Leute kommen und machen hier eine Forschungsarbeit und fragen uns, was unsere Träume seien und was wir einmal werden wollen. Aber sie helfen uns nicht, dies dann auch umzusetzen. Du jedoch hast Deinen Teil schon getan. (16-jähriger Junge, Eintritt Januar 1996, Interview, 27. April 2003)

Der Information der Mitglieder über Ziele und Vorgehen der Forschung wurde grosse Bedeutung zugemessen. Die Jungen wurden vor Beginn der Forschung in einer ihrer wöchentlichen Sitzungen mündlich informiert, ebenso die Erziehenden und Vorstandsmitglieder der Chácara, welche zudem ein Merkblatt erhielten. Dieses enthielt Informationen über die wichtigsten Aspekte der Forschungsarbeit und war im (Sprach-)Stil der Chácara gehalten. Dabei dienten informelle Vorgespräche dazu, von den künftigen Lesenden zu erfahren, zu welchen Aspekten der Forschung sie Fragen hatten. Zum Teil wurde das Merkblatt gemeinsam gelesen 75

oder vorgelesen. Wie aus Kommentaren und Rückfragen hervorging, wurde das Merkblatt gut verstanden und positiv aufgenommen und sein Inhalt Dritten gegenüber in angemessener Weise mündlich mitgeteilt. Durch die längeren Aufenthalte in der Chácara und aufgrund des grossen Interesses von deren Mitgliedern war es zudem möglich, in unzähligen informellen Gesprächen die Forschung darzustellen und zu diskutieren. Diese wurden mit Personen aller Altersgruppen geführt, auch mit den Jüngsten der Jungen. Jeder Person, welche ein Interview gab oder sonst Informationen übermittelte, wurden vorgängig Absicht und Gestaltung der Forschung noch einmal einzeln dargelegt. 3.3.3 Organisationspsychologisch Es wird davon ausgegangen, dass es letztlich Inhalt und Gestaltung organisatorischer Strukturen und Prozesse sind, die in Organisationen zu besserer oder schlechterer Qualität und Nachhaltigkeit führen. Deshalb wurde ein organisationspsychologischer Ansatz für die vorliegende Untersuchung gewählt. Dies heisst, dass die Methodik, basierend auf den in Kapitel 2.4 vorgestellten theoretischen Überlegungen, ein Rahmenmodell der Organisation umfasst. In den Sozialwissenschaften sind im Verlauf der Zeit verschiedene und zum Teil gegensätzliche Ansichten darüber entstanden, inwieweit – gerade bei der Erforschung eines unbekannten Gegenstands in einem kulturell anderen Umfeld – bereits bestehende Theorien angewandt werden können und sollen. Wohl nicht zuletzt als Reaktion darauf, dass Forschungsfelder durch die enge Brille vorgefasster Theorien oft reduziert oder ungenügend beschrieben wurden, formulierten Glaser und Strauss (1998) die „Grounded Theory“. Ihr zufolge ... emergieren zentrale Kategorien und Konzepte quasi von selber aus dem Datenmaterial, wenn der Forscher oder die Forscherin möglichst voraussetzungslos an ihr empirisches Untersuchungsfeld herangehen. (Kelle & Kluge, 1999, S. 11)

Kelle und Kluge (1999) kritisieren diese Meinung und zitieren Lakatos Aussage, dass es „keine Wahrnehmung geben (kann), die nicht von Erwartungen durchsetzt ist“ (1982, S. 14, zitiert in Kelle & Kluge, 1999, S. 17). Sie schreiben dazu: Die Entwicklung neuer Konzepte anhand empirischen Datenmaterials ist also eine Art „Zangengriff“, bei dem der Forscher oder die Forscherin sowohl von dem vorhandenen theoretischen Vorwissen als auch von empirischem Datenmaterial ausgeht. (S. 21)

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Diese Überlegung gilt wohl nicht nur für die Entwicklung neuer Konzepte, sondern auch für die Gestaltung von Forschungsarbeiten und die Auswertung von Daten. Zudem scheint es sinnvoll, den Begriff des theoretischen Vorwissens um denjenigen des Alltagswissens der Forschenden zu ergänzen. Dieses ist nicht nur nicht negierbar, sondern auch von grosser Bedeutung für die Forschungsmethodik. Kelle und Kluge (1999) betonen: ... der Forscher oder die Forscherin müssen schliesslich über alltägliche Sprech- und Verstehenskompetenzen verfügen, weil sie sonst gar nicht in der Lage wären, Handlungen und Äusserungen der Akteure im untersuchten Feld zu verstehen. (S. 30)

Es muss ein methodischer Mittelweg gefunden werden, welcher sicher zwischen den Abgründen „zuviel bzw. zu beschränkte Theorien“ und „gar keine bzw. nicht bewusst gemachte (und deshalb umso „störendere“) Theorien“ hindurch führt. In der vorliegenden Studie schien es aufgrund der erwähnten Überlegungen angemessen, eine theoretische Durchdringung des Forschungsgegenstandes zugunsten der Erstellung einer eigentlichen Phänographie zurückzustellen. Die Forschungsarbeit verfolgte so, wie bereits erwähnt, nicht das Ziel, ein neues Organisationsmodell zu entwickeln. Es wurde jedoch angenommen, dass die Organisationsanalyse Erkenntnisse generieren würde, mittels derer in einer etwaigen Folgearbeit ein detaillierteres, das heisst „inhaltsreicheres“ theoretisches Konzept für diese Art der Organisation erstellt werden könnte. Als Hilfsmittel für die Strukturierung des Forschungsvorgehens im Allgemeinen und der Datenerhebung und -analyse im Speziellen wurde ein einfaches Rahmenmodell gewählt. Dieses wurde im Rahmen des hermeneutischen Zirkels der Datenanalyse aufgrund induktiv entstandener Dimensionen angepasst und in deduktiven Schritten wieder eingesetzt, um dann im nächsten induktiven Schritt gegebenenfalls wieder angepasst zu werden.

Abbildung 3:

Rahmenmodell der Organisation 77

3.3.4 Praxis- und wissensorientiert Hauptsächliche Absicht der vorliegenden Studie ist es, einen Beitrag an die Qualität und Nachhaltigkeit von residentiellen Organisationen für Strassenkinder in Brasilien zu leisten. So sollte die Methodik es erlauben, Erkenntnisse zu generieren, welche von Mitgliedern und Beteiligten zugunsten einer qualitativ guten und nachhaltigen Praxis ihrer Organisationen genützt werden könnten. Als methodischer Grundsatz wurde hier die Idee eines „Lernens aus der Praxis für die Praxis“ übernommen. Deshalb wurden die Datenerhebung sowie die Überprüfung und Präsentation der Forschungserkenntnisse im Rahmen von fünf Feldforschungsphasen durchgeführt, davon zwei im Jahr 2003 und je eine in den Jahren 2004, 2005 und 2006. Die Datenerhebung wurde während des Aufenthalts im Jahr 2005 abgeschlossen. Die Feldaufenthalte dauerten jeweils zwei bis drei Monate; insgesamt betrug ihre Dauer etwa 12 Monate. Im Weiteren wurden Methoden verwendet – Interviews, Analyse von Texten und administrativen Organisationsdokumenten – welche sich dazu eigneten, das Wissen der verschiedenen Mitgliedergruppen und Beteiligten der Organisation zu erfassen. Zudem wurde als Rahmen für diese Verfahren der Praxisalltag dieser Personen durch teilnehmende Beobachtung miterfahren und erfasst. Die längeren Forschungsaufenthalte der Autorin in der Organisation beruhten unter anderem auf der Annahme, dass sie in einer spezifischen Forschungsrolle die ihr aus der Praxis bekannte Organisation „mit anderen Augen“ sehen würde. Es schien ihr für die Qualität der Forschung wichtig, diesem eigenen Erkenntnisprozess die nötige Zeit einzuräumen. Im Weiteren wurde davon ausgegangen, dass die Mitglieder und Beteiligten solcher Organisationen über Praxis- und Expertenwissen verfügen. Dies steht im Gegensatz zu früheren wissenschaftlichen Traditionen, welche wissenschaftliches Spezialwissen als dem Alltagswissen überlegen sahen. In diesen Studien kamen „beforschte“ Personen lediglich als Informationslieferanten zum Einsatz und wurden nicht als der Erklärung und Interpretation mächtige Experten ihres eigenen Alltags verstanden. Wehner illustriert dies mit dem schönen Beispiel vom Arzt, der den Patienten bittet, die Zunge herauszustrecken, um ihm dann ohne weitere Befragung mitzuteilen, was ihm fehle (mündliche Mitteilung, Juli 2003). Heute kommt eine andere Wissensdefinition zum Tragen. Wissenschaftliches Wissen wird nicht länger als „besseres“ oder „wahreres“ Wissen gesehen. So schreibt Hitzler (2000), jede Wissenschaft sei eine: ... besondere Variante der Wirklichkeitskonstruktion (...) ein System von gesellschaftlichem Sonderwissen, das sich eben mehr oder weniger gut dazu eignet, ge-

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sellschaftliche Wirklichkeits-Konstruktionen ihren Prinzipien, mässigkeiten und Regeln nach zu rekonstruieren. (S. 163)

ihren

Regel-

Wissenschaftliches Wissen allein genügt nicht, wenn es um die Erfassung einer Wirklichkeit und die Umsetzung von Erkenntnissen in die Praxis geht. Hitzler (2000) betont hier die Wichtigkeit von Alltagswissen, welches: ... vor allem ein bestimmtes Wissen darüber ist, wie man mit Wissen umzugehen hat, nämlich pragmatisch, d.h. bezogen auf die Notwendigkeit, sein Leben zu „vollziehen“. (S. 159)

Entsprechend dieser Erkenntnis wurde für die vorliegende Arbeit die Wissensdefinition von Probst et al. (1998) übernommen: Wissen umfasst die Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten, die Individuen zur Lösung von Problemen einsetzen. Dies umfasst sowohl theoretische Erkenntnisse als auch praktische Alltagsregeln und Handlungsanweisungen.

Auf zwei weitere Aspekte des Praxiswissens in Strassenkinderprojekten soll hier speziell hingewiesen werden. Erstens ist die Erfassung des Praxiswissens in Strassenkinderprojekten auch deshalb wichtig, weil der grosse Erfahrungsschatz von Mitarbeitenden und Betreuten solcher Organisationen häufig nicht bekannt gemacht und weitergegeben wird. Dies geschieht einerseits, weil Ressourcen zu dessen Kommunikation fehlen, und anderseits, weil dieses Wissen aufgrund des sozialen Gefälles in der Gesellschaft von seinen Trägern als unwichtig betrachtet oder von Aussenstehenden als irrelevant bezeichnet oder gar ignoriert wird. Zweitens verfügen Menschen, welche sich in ihrer praktischen Arbeit Tag für Tag mit einem Thema beschäftigen, nicht nur über Alltags- und Expertenwissen, sondern in vielen Fällen durchaus auch über theoretisches Wissen, analytische Fähigkeiten und wissenschaftliche Neugier und Absichten. Im Falle der untersuchten Chácara hat zum Beispiel der Projektkoordinator Geistes- und Sozialwissenschaften studiert und führt vor dem Hintergrund von Freires „Bildung als Praxis der Freiheit“ (1966, 1970, 1973) regelmässig qualitative Befragungen sowie analytische Aktivitäten mit den Kindern und Jugendlichen durch. Diese Aktivitäten entsprechen durchaus wissenschaftlichen Kriterien im Sinne von Hitzler (2000, S. 164), welcher Wissenschaft als „eine aufgehellte, geläuterte, folgerichtige und systematische Entwicklung des gesunden Menschenverstandes“ bezeichnet.

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3.3.5 Qualitativ und primär induktiv Für Erhebung und Analyse wurde eine qualitative Forschungsmethodik gewählt. Dafür gibt es zwei hauptsächliche Gründe. Erstens sind Strassenkinderprojekte bisher bezüglich ihrer Organisation und deren Entwicklung nicht untersucht worden. Es geht also zunächst um eine Rekonstruktion des Feldes, um die Erstellung einer eigentlichen Phänographie. Mayring (1995) zitiert Lewins Aussage (1981, S. 97): „Zur Bestimmung der Quantität eines Objektes ist immer auch das Quale anzugeben, dessen Quantum bei diesem Objekt bestimmt werden soll.“ Er kommentiert dazu: Das heisst, dass am Anfang wissenschaftlichen Vorgehens immer ein qualitativer Schritt steht. Ich muss erst wissen, was ich untersuchen will, ich muss es benennen (Nominalskalenniveau). (…) Erst auf dieser Basis können quantitative Analyseschritte vorgenommen werden, sofern sie angestrebt werden. (S. 19)

Die vorliegende Untersuchung steht genau so am Anfang eines wissenschaftlichen Vorgehens. Dies bedeutet, dass zunächst mit qualitativen Methoden Informationen erhoben und induktiv kategorisiert werden müssen. Zweitens muss die Methodik es erlauben, ein möglichst holistisches Bild der Organisation zu zeichnen. Dies entspricht einem direkten, praktischen Bedürfnis der Mitglieder des untersuchten Projektes, aber auch einer Forderung der Entwicklungs(zusammen)arbeit, muss doch die Organisation zunächst einmal als Ganzes erkennbar – und damit gestaltbar – sein. Ein solch holistisches Bild kann nur mittels qualitativer Methoden gezeichnet werden. Bogdan und Taylor (1975) schreiben dazu: Qualitative methodologies refer to research procedures which produce descriptive data: people’s own written or spoken words and observable behaviour. This approach ... directs itself at settings and the individuals within those settings holistically; that is the subject of the study, be it an organization or an individual, is not reduced to an isolated variable or to an hypothesis, but is viewed instead as part of a whole. (...) Qualitative methods allow us to know people personally and to see them as they are developing their own definitions of the world. We experience what they experience in their daily struggle with their society. We learn about groups and experiences about which we may know nothing. Finally, qualitative methods enable us to explore concepts whose essence is lost in other research approaches. Such concepts as beauty, pain, faith, suffering, frustration, hope and love can be studied as they are defined and experienced by real people in their everyday lives. (zitiert in Lamnek, 1995, S. 4)

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Gerade auch der letzte Satz ist von Relevanz für die vorliegende Forschungsarbeit. Dies zeigt sich unter anderem am Beispiel der Ziele der Chácara. Hier zeigten bereits die Vorabklärungen zur Forschung, dass diese Konzepte aus der Sicht der betreuten Kinder und Jugendlichen „ein neues Leben haben“ („ter uma nova vida“) oder „jemand sein im Leben“ („ser alguém na vida“) hiessen. Dies sind komplexe Konzepte, an welche sich bei einer ersten Erfassung nur qualitativ ausgerichtete Forschung annähern kann. Ein qualitatives Vorgehen ist auch deshalb nötig, weil die Chácara daraufhin untersucht werden soll, welche Lektionen („Learnings“) sie aus ihrer eigenen Erfahrung ziehen kann. Dies entspricht nicht zuletzt einer Anforderung der Entwicklungszusammenarbeit, welche heute einen wichtigen Schwerpunkt in der Erkennung, Förderung und Multiplikation lokaler Lösungsansätze setzt. Zu einer Erhebung solcher Ansätze eignen sich vor allem qualitative Methoden (siehe zum Beispiel Sülzer & Zimmermann, 1996). Im Übrigen entsprechen qualitative Methoden auch eher als andere Methoden der brasilianischen Kultur mit ihrem tendenziell eher partikularistischen (das heisst auf die Beziehungssituation ausgerichteten) und zirkulären (also nicht linearen) Denk- und Kommunikationsstil.40 Auch die Beteiligten selbst fühlen sich durch eine qualitative Methodik ernster genommen und sind motivierter, an der Forschung mitzudenken und zu arbeiten. Die Tatsache, dass ein ehemaliger Strassenjunge, der sein Leben lang nur mit Verachtung behandelt wurde, nicht nur einen standardisierten Fragebogen zum Ankreuzen vorgelegt bekommt, sondern plötzlich merkt, dass er Kenntnisse und Erfahrungen mitzuteilen hat, welche gehört werden und auch für andere Projekte und Jugendliche wichtig sind, kann einen sehr positiven Einfluss auf seine Entwicklung haben. Entsprechend diesen Überlegungen wurden sowohl für die Erhebung als auch für die Auswertung der Daten qualitative Methoden gewählt. Für die Erhebung waren dies hauptsächlich explorative, stark narrativ orientierte Interviews und Gruppengespräche, Tonaufnahmen von öffentlichen Anlässen und die Sichtung von Texten der Organisationsmitglieder sowie von administrativen Dokumenten der Organisation. Für die Analyse der transkribierten Tondokumente und Texte wurde eine explorative Inhaltsanalyse verwendet, mit welcher sowohl Informationen als auch Sinnkonstruktionen beziehungsweise sowohl explizite als auch implizite Kommunikationsinhalte analysiert wurden. Dabei war das Vorgehen primär induktiv, es enthielt jedoch im Sinne des hermeneutischen Zirkels auch deduktive Phasen.41 40 41

Siehe Trompenaars & Hampden-Turner, 1998. Eine detaillierte Darstellung des Analysevorgehens findet sich in Kapitel 3.5.2.

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3.3.6 Partizipativ Der Begriff der Partizipation wird viel benützt, gerade auch wenn es um Untersuchungen und Arbeiten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit geht. Er tauchte Mitte der 1970er Jahre auf, als zunehmend klar wurde, dass Entwicklungsstrategien nötig waren, welche die Betroffenen unmittelbarer in die Entwicklungsprozesse miteinbezogen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass der Begriff ursprünglich von den stärkeren Partnern in der Entwicklungszusammenarbeit, also von den Geldgebern, geprägt wurde. Diese wollten die „Betroffenen“ mehr involvieren aus der Einsicht heraus, dass Finanzen nur effizient, effektiv und nachhaltig umgesetzt werden könnten, wenn die Betroffenen an Entwicklungsvorhaben beteiligt waren und diese ihren Bedürfnissen entsprachen. Lokale Organisationsformen kommen aber nur auf dem höchsten Niveau der Partizipation zum Tragen. In vielen der Projekte der Entwicklungszusammenarbeit bedeutet Partizipation heute noch lediglich, dass den „Betroffenen“ mitgeteilt wird, worum es im Projekt geht und wie es sie betrifft; sie werden konsultativ, aber nicht entscheidend beigezogen oder sind diejenigen, welche das Projekt praktisch umsetzen müssen (z. B. Eade & Williams, 1998, S. 15). Neben dieser „Schule“, welche die Partizipation als Mittel zum Erfolg von Entwicklungsprojekten versteht, gibt es eine zweite, welche eher der Tradition von Basisorganisationen gerade in Ländern wie Brasilien entspricht. Diese sieht Partizipation als notwendiges Mittel, um aus der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen Zugang zu dieser zu geben und so die strukturellen Ursachen der Armut anzugehen. Wie bereits erwähnt, war die Partizipation von „Betroffenen“ in der Wissenschaft über eine Nutzung als Datenlieferanten hinaus lange Zeit kein Thema. Die vorliegende Forschung nimmt hingegen beide genannten Überlegungen zur Partizipation auf. Einerseits will sie durch die Partizipation der Mitglieder der Chácara und durch Einbezug von deren Wissen und Fähigkeiten die Qualität und Anwendbarkeit der Forschung sichern. Anderseits will sie durch die Aufnahme der Partizipation in die Forschung die Bemühungen der Chácara hinsichtlich des Einbezugs ausgeschlossener Menschen in die Gesellschaft reflektieren und unterstützen. Sie übernimmt damit die von Schütze (1978) beschriebene Einstellung: Der kommunikative Sozialforscher behandelt das informierende Gesellschaftsmitglied als prinzipiell orientierungs-, deutungs- und theoriemächtiges Subjekt. (S. 116)

Nicht nur im Rahmen der Wissenserfassung, sondern auch bezüglich der Absicht, den Forschungsprozess als Beitrag zur Organisationsentwicklung der 82

Chácara zu nützen, kam der Partizipation in der vorliegenden Untersuchung grosse Bedeutung zu. Wie Schütze (1978) schreibt, konstruieren Personen ihre Wirklichkeit auch, wenn sie sie darstellen und interpretieren: Mit seinen Definitions- und Interpretationsleistungen deutet aber das Gesellschaftsmitglied nicht nur die ihm zugängliche Wirklichkeit, sondern konstituiert diese auch damit. (S. 116)

So wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Annahme getroffen, dass der aktive Einbezug der Mitglieder der Chácara in die Gestaltung der Forschung und nicht nur in deren Informations-, sondern auch Interpretationsprozess zu einer Stärkung der konstituierenden Prozesse der Organisation beitragen würde. Entsprechende Effekte waren tatsächlich beobachtbar. So übernahmen sowohl Mitarbeitende als auch Jungen in der Forschung aufgetauchte Themen (z. B. die Identität der Organisation nach einer grossen Wachstumsphase) und Methoden (z. B. Interviews mit Beteiligten) und brachten diese in Prozesse und Aktivitäten der Chácara ein, welche nicht in Zusammenhang mit der Forschung standen. Natürlich lassen sich nicht alle Fragen partizipativ angehen und können nicht alle am Projekt Beteiligten auf dieselbe Art und Weise an der Forschung partizipieren. Eine nicht zu vernachlässigende Rahmenbedingung für den Grad der Partizipation können zum Beispiel die verfügbaren zeitlichen Ressourcen sowohl auf Seite der „Beforschten“ als auch auf Seite der Forscherin sein. Die allgemeine Regel eines Forschungsprojektes, zwischen ideal Wünschbarem und Möglichem abzuwägen, trifft auch hier zu. In der vorliegenden Arbeit fanden, wie beschrieben, Vorschläge und Kommentare verschiedener Mitglieder Eingang in die Definition von Absicht, Zielen und methodischem Vorgehen der Forschungsarbeit sowie von Position und Rolle der Forscherin. Im Rahmen der Partizipation wurden zudem alle Mitglieder der Chácara um aktive Mithilfe gebeten. Die Bitte war kaum nötig. Nicht zuletzt viele der Jungen, aber auch ein guter Teil der Erziehenden zeigten grosse Motivation, einen Beitrag an die Forschung zu leisten. Als hauptsächlichen Grund nannten sie ihre Hoffnung, so das eigene und andere Projekte weiter voran treiben und weiteren Strassenkindern, darunter Geschwistern und Freunden der Jungen, helfen zu können. Ebenfalls von grosser Bedeutung war für sie, gehört und in ihrer Erfahrung und ihren Meinungen ernst genommen zu werden. Eine besondere partizipative Vorgehensweise war die Bildung und Mitarbeit eines Forschungsteams von Jugendlichen der Chácara. Sie soll hier etwas ausführlicher erläutert werden. Das Forschungsteam war während des zweiten und dritten Forschungsaufenthaltes (Oktober/November 2003 und März/April 2004) aktiv. Insgesamt wa83

ren im Jahr 2003 ein 15-jähriger, zwei 16-jährige und ein 17-jähriger Junge am Team beteiligt. Geleitet wurde dieses von einem aus der Chácara ins Erwachsenenleben übergetretenen und nun ausserhalb der Chácara wohnhaften 19jährigen Jungen, den die Autorin seit ihrem ersten Aufenthalt im Jahr 1995 kannte. Mit Ausnahme eines Jungen hatten alle Gruppenmitglieder vor dem Aufenthalt in der Chácara auf der Strasse sowie in anderen Projekten gelebt. Zur Mitarbeit in der Forschungsgruppe meldeten sie sich freiwillig, nachdem ihnen (und allen anderen interessierten Jungen) das Forschungsvorhaben dargelegt worden war. Dabei war sowohl darauf hingewiesen worden, dass ihre Kenntnisse und Fähigkeiten für die Forschung von grosser Bedeutung seien, als auch darauf, dass eine Mitarbeit weiterbildenden Charakter habe und damit nützlich für ihre schulische und berufliche Entwicklung sein könne. Die Gruppe traf sich während der Aufenthalte der Autorin auf Wunsch der Jungen jeweils am Samstagmorgen von 8.30 bis 12 Uhr bei einem Tisch an einem ungestörten Platz am Waldrand oder, in einem Fall, auf einem Platz in der Stadt, auf dem sich auch Strassenkinder aufhielten. In Abwesenheit der Autorin traf sie sich zweimal am Wohnort des Gruppenleiters. Die Forscherin übernahm die Kosten für die notwendigen Busreisen des Leiters in die Chácara und stellte das notwendige Material – Kassettenaufnahmegeräte, Batterien, Kassetten, Papier etc. – zur Verfügung. Ab Mitte des ersten Forschungsaufenthaltes entschädigte sie den Gruppenleiter für seine Arbeit und während des zweiten Aufenthaltes die Gruppenmitglieder. In Absprache mit dem Koordinator der Chácara und, im Fall der Gruppenmitglieder, auch mit dem Gruppenleiter wurde beschlossen, dass zunächst keine Zahlungen gemacht werden sollten, damit nur echt für die Sache motivierte Jungen sich an der Arbeit beteiligten. Die Entschädigungsansätze wurden mit denselben Personen vereinbart. Dabei wurde ein für das lokale Gefüge fairer Ansatz bezahlt, der einer – so den Jungen kommunizierten – Kürzung unterworfen wurde. Diese wurde damit begründet, dass die Jungen mit ihrer Mitarbeit im Forschungsteam etwas von dem an die Chácara zurückgaben, was sie von dieser erhalten hatten. Dies entsprach dem normalen Vorgehen der Chácara und wurde von den Jungen verstanden und für gut befunden. Die Aktivitäten der Gruppe umfassten folgende Teile: ƒ ƒ

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Durch Autorin moderierte Entwicklung eines Konzeptes von Forschung und von Regeln der Interviewführung durch die Jungen. Entwicklung von Teilforschungsfragen, Definition der zu Befragenden, Formulierung von Interviewfragen, Durchführung von Interviews, Entwicklung von Interpretationsmechanismen und Interpretation durch die Jungen, gemeinsame Besprechung von Interviews und Intepretationen in der Forschungsgruppe.

ƒ ƒ

Gestaltung und Durchführung der „Gincana“ (Befragung vermischt mit Geschicklichkeitsspielen) im Haus der jüngsten Jungen durch zwei Jungen und die Autorin. Darlegung des ganzen Forschungsvorhabens durch die Autorin, Diskussion mit den Jungen, Kommentare, Beratung unter den Jungen (z. B. dazu, wer zu welchen Themen am besten befragt würde und wie; Existenz von und Umgang mit „verborgenem Wissen“ der Organisation etc.).

Als Begleitaktivität wurden auf Wunsch der Jungen Fähigkeiten wie Erstellung von Traktandenlisten, Protokollierung der Sitzungen und Transkription von Interviews eingeübt. Die von den Jungen geführten Interviews werden in Kapitel 3.4 zusammen mit den anderen Interviews dargestellt. Die Jungen machten mehrere wichtige Beiträge zur Forschungsgestaltung, hatten sie doch Zugang zu Bereichen der Organisation – zum Beispiel dem „Inneren“ der Gruppe der dort lebenden Jungen – welche der Autorin verborgen waren. Damit konnten sie Anregungen geben, wer zu bestimmten Themen befragt werden könnte, oder welche bisher nicht beachteten Themen zusätzlich aufgenommen werden sollten. So schlugen sie unter anderem vor, Mitarbeitende und externe Unterstützende der Chácara nicht nur danach zu fragen, was sie zur Chácara beitrügen, sondern auch, was sie durch ihr Mitwirken in der Chácara gewännen. In diese Richtung zielende, sehr offene Fragen in Interviews trugen in der Folge zu einem tieferen Einblick in Aspekte wie die Beziehung zwischen Erziehenden und Jungen bei. Diese Beziehung stellte sich als besonders charakteristisches und relevantes Element der Organisation heraus und wäre ohne den Beitrag der Jungen der Forschungsgruppe nicht in derselben Weise ans Licht getreten. Einen anderen wichtigen Einblick gab ein ausführliches Gespräch über die Geschichte der Chácara, in welchem die Gruppenmitglieder bemerkten, dass es verschiedene, distinkte Generationen von Jungen in der Chácara gebe, die sich hinsichtlich gewisser Aspekte unterschieden. Sie beklagten, dass die heutigen Jungen nicht mehr wüssten, wie es gewesen sei, als es in der Chácara nicht genug zu essen gegeben habe und die Jungen für das Projekt und ihr Leben hätten kämpfen müssen. Deshalb sei es wichtig, den Jungen die Geschichte und Identität der Chácara wieder näher zu bringen. Diese Diskussion trug zu den Erkenntnissen über das Spannungsfeld zwischen institutioneller Entwicklung und Partizipation bei, welche später in Kapitel 4 präsentiert werden. Die Jungen, welche keine formellen Kenntnisse wissenschaftlicher Vorgehensweisen hatten, liessen im Rahmen ihrer Zusammenarbeit eine beeindruckende Vielfalt analytischer und organisatorischer Fähigkeiten erkennen. Auf der Basis von sehr offenen Fragen der Autorin erstellten sie unter anderem eine um85

fassende Liste von Interviewregeln. Zur Kontrolle ihres Vorgehens entwickelten sie in eigener Initiative ein ganzes Interviewsystem, nach dessen Vorgabe zuerst der Leiter der Forschungsgruppe die Autorin bei einem Interview begleitete, danach er selbst eines durchführte, bei dem ihn ein Junge begleitete, worauf ein nächstes gemacht wurde, bei dem dieser Junge, überwacht vom Leiter, die Fragen stellte. Dieses System setzten sie so lange fort, bis alle Jungen in der Gruppe angelernt waren und jeder ein Interview durchgeführt hatte. Die Partizipation der Forscherin am normalen Tagesablauf der Chácara während der Feldforschung kann im Übrigen als reziproke Partizipation verstanden werden: Während die Mitglieder der Chácara diese alltäglich betrieben und sich an der Untersuchung beteiligten, betrieb die Forscherin die Untersuchung und beteiligte sich am Betriebsalltag der Chácara. Sie gewann dabei den Eindruck, dass dies bei den Mitgliedern der Chácara zur Wahrnehmung einer sozialen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung bei unterschiedlicher fachlicher Spezialisierung führte. Dies war wichtig für die Akzeptanz der Forschung und Forscherin durch die Chácaramitglieder, wie zum Beispiel ein Dialog zwischen zwei Jugendlichen zeigte: Als sich der eine beklagte, dass die Forscherin in der Chácara zu Mittag esse, obwohl sie am Morgen nicht im Haushalt mitgearbeitet habe, antwortete ihm der andere, dass sie doch am Morgen an der Forschung gearbeitet habe, und dass dies auch ein wichtiger Beitrag sei. Neben den partizipativen Elementen enthielt die Forschung auch nicht partizipative Aktivitäten, so zum Beispiel die Analyse von Dokumenten und von wissenschaftlichen Arbeiten Dritter über die „Chácara“. Im Übrigen wurde die Partizipation insofern etwas limitiert, als bis nach Ende der Interviews in der Chácara keine bereits entstandenen übergeordnete Erkenntnisse der Forschungsarbeit an Mitglieder und Beteiligte der Chácara weitergegeben wurden. 3.4 Erhebungsmethoden Die hauptsächlichen Erhebungsmethoden waren ausführliche, explorative Interviews und Gruppengespräche offenen und stark narrativen Charakters, Tonaufnahmen von öffentlichen Anlässen der Chácara sowie die Sichtung von Texten von Chácara-Mitgliedern und von administrativen Dokumenten der Organisation. Zunächst sollen die einzelnen Methoden etwas näher dargestellt werden.

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3.4.1 Einzelinterviews Es wurden 26 Einzelinterviews durchgeführt. Von diesen waren 22 explorativ, das heisst unstrukturiert bis kaum strukturiert und narrativ gestaltet. Sie verfügten über einige problemzentrierte Elemente im Sinne einer Fokussierung auf einzelne Themen der Organisation (wie in Kapitel 3.5 bezüglich des hermeneutischen Zirkels beschrieben). Die Forscherin führte 21 dieser Interviews durch und der Leiter des Forschungsteams der Jungen, ein 19-jähriger ehemaliger Junge, eines. Die Interviewpartner wurden aufgrund von Überlegungen zur Erfassung von Praxiswissen sowie verschiedener Sichten auf die Chácara ausgewählt. Bei den befragten Jungen handelte es sich hierbei um solche, die besonderes Interesse daran zeigten, der Autorin die Chácara zu erklären. Zwei von ihnen befanden sich gerade in der ersten Integrationsphase und zwei hatten mit Problemen der Integration in die Chácara zu kämpfen. Dadurch konnten sie zusätzliche Aspekte der Organisation beleuchten zu denjenigen, welche im umfangreichen vorliegenden Textmaterial einer grossen Anzahl weiterer Jungen vorlagen. Die Interviews fanden während der beiden Forschungsaufenthalte im Jahr 2003 sowie während des Aufenthaltes im März und April 2004 statt. Befragt wurden: ƒ

ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

2 erwachsene „ehemalige Jungen“ im Alter von 24 und 20 Jahren, von denen ersterer als Erzieher in der Chácara arbeitete. Der zweite war verheiratet und lebte und arbeitete als Vater eines Sohnes ausserhalb der Chácara (nach dem Interview wurde er zum Leiter des Forschungsteams der Jungen). 7 Jungen der Chácara (2 = 12 Jahre alt, 1 = 13 Jahre, 1 = 14 Jahre, 2 = 16 Jahre, 1 = 19 Jahre). Der Koordinator der Chácara, 2 Interviews. 3 Erzieher der Chácara (davon 1 durch den Leiter des Forschungsteams der Jungen). 4 Vorstandsmitglieder der Chácara (alle weiblich, davon drei Gründungsmitglieder). 4 weitere Fachpersonen: 1 Pädagogikprofessorin (seit Gründung dabei, pädagogische Beratung und Mitarbeit), 1 Psychotherapeutin (Supervision der Erziehenden und des Koordinators), 1 Staatsanwalt für Kinderrechte (und Generalstaatsanwalt von 1994 – 1998 und wieder seit 2008, seit Gründung dabei) und 1 Pater (an der Familienarbeit beteiligt, seit Gründung dabei).

Die weiteren vier Einzelinterviews wurden vom Forschungsteam der Jungen anhand von Rahmenangaben zur Forschungsabsicht strukturiert und selbständig 87

durchgeführt. Sie enthielten vorwiegend offene Fragen und hatten deshalb ebenfalls einen narrativen, jedoch stärker problemzentrierten Ansatz als die unstrukturierten Interviews. Befragt wurden: ƒ ƒ ƒ

1 20-jähriger, noch in der Chácara lebender Junge. 1 als Freiwillige in der Chácara tätige Pädagogikdozentin. 2 Nachbarn (seit Gründung beteiligt, einer davon bereits seit der Jugendarbeit in der Favela, aus der die Arbeit mit der Chácara herauswuchs).

3.4.2 Gruppeninterviews Als Folge der Verfügbarkeit der befragten Personen fanden im selben Zeitraum, in dem auch die Einzelinterviews stattfanden, fünf Gruppeninterviews statt: ƒ ƒ

3 vom Forschungsteam der Jungen durchgeführte strukturierte, narrative, problemzentrierte Interviews mit Bewohnern der Nachbarschaft der Chácara (2 Ehepaare sowie eine Gruppe von 3 Frauen). 2 von der Autorin durchgeführte nicht strukturierte, explorative, narrative Interviews mit einigen problemzentrierten Elementen mit 1 Erzieherin der Chácara, an deren Ende auch 1 16-jähriger Junge Auskunft gab, sowie mit der Leiterin und Ko-Leiterin des Nachbarprojektes ABAI (beides Schweizerinnen).

3.4.3 Gruppengespräche Da sich im Verlauf der Forschung herauskristallisierte, dass das pädagogische Konstrukt sowie die „Identität“ der Chácara und deren Entwicklung für die Organisation von grosser Bedeutung seien, wurden zwei je dreistündige explorative Gruppengespräche durchgeführt, bei denen die Autorin lediglich einige Themen ansprach und dann dem Gespräch unter den Beteiligten viel Raum liess, dabei jedoch auch sicherstellte, dass alle Anwesenden zu Wort kamen. Es waren dies: ƒ ƒ

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1 Gruppengespräch mit 3 Erziehern (davon 1 ehemaliger Junge) und 2 Erzieherinnen (November 2003). 1 Workshop zur Geschichte und zu besonders signifikanten Momenten der Chácara mit 4 Vorstandsmitgliedern (3 Frauen (davon 1 Gründungsmitglied) und 1 Mann (Gründungsmitglied) und 2 Erziehern (davon 1 ehemaliger Junge) (April 2004).

Das Interesse und Engagement der Beteiligten war während dieser beiden Gespräche sehr gross, so dass die koordinierenden Beiträge der Forscherin minimal gehalten werden konnten. In den Einzelinterviews waren mit Ausnahme des Koordinators der Chácara alle Personen nur einmal befragt worden. Am ersten Gruppengespräch nahm ein Erzieher und ehemaliger Junge teil, der zuvor bereits einzeln interviewt worden war, sowie eine Erzieherin, die nachher noch einzeln interviewt wurde. Derselbe Erzieher und ehemalige Junge nahm auch am Workshop teil. Zwei der an diesem Workshop beteiligte Frauen aus dem Vorstand wurden ebenfalls einzeln interviewt (je eine vor und eine nach dem Workshop). Der zweite der am Workshop teilnehmenden Erzieher wurde später vom Leiter des Forschungsteams der Jungen einzeln interviewt. Die Teilnehmenden des ersten Gruppengesprächs setzten sich aus allen zu jenem Zeitpunkt in der Chácara anwesenden Erziehenden zusammen. Die Teilnahme am Workshop zur Geschichte und zu signifikanten Momenten der Chácara beruhte auf Freiwilligkeit (er wurde an einem Abend in der Stadt durchgeführt). Neben der zeitlichen Verfügbarkeit hatte hier vermutlich die Identifikation mit der Geschichte/Identität der Chácara und/oder mit dem Forschungsanliegen einen Einfluss darauf, wer am Workshop teilnahm. Obwohl einige Personen sowohl an Gruppengesprächen als auch an Einzelinterviews teilnahmen, ergaben sich kaum thematische Überschneidungen, da der Fokus der Gespräche jeweils ein anderer war. 3.4.4 Texte und Gruppenübung der Jungen Es wurde grosser Wert darauf gelegt, die Ansichten der Jungen der Chácara in die Untersuchung miteinzubeziehen, da sie das Zielpublikum der Organisation darstellen. Zusätzlich zu den durchgeführten Einzelinterviews stand eine Vielzahl von Texten von Jungen zur Verfügung, von denen die meisten in den Jahren 1993 bis 2004 und unabhängig von der vorliegenden Forschung erstellt worden waren. Darunter befand sich das von 34 Jungen verfasste Buch „Histórias de Nossas Vidas“ (Meninos de Quatro Pinheiros, 1999). Dieses Buch wurde in den Jahren 1996 bis 1998 von den damals in der Chácara lebenden Jungen verfasst. Sie beschrieben dafür – auf freiwilliger Basis und ohne weitere Vorgaben – zwischen einer halben und bis zu 10 und mehr Seiten über ihre bisherige Lebensgeschichte und -erfahrung. Die Texte wurden daraufhin in Zusammenarbeit mit einer Journalistin auszugsweise den Kapiteln: „Vor der Strasse“, „Auf der Strasse“, „Einige Erfahrungen“ (v.a. mit Polizei und anderen Projekten/Institutionen) und „In der Chácara“ zugeteilt. Letzteres umfasst die Unterkapitel: „Die Wahl“ (der 89

Chácara), „Gründe für’s Dableiben“, „Weit weg von den Drogen“, „Arbeit“, „Zusammenleben“, „Die Gemeinde von Quatro Pinheiros“, „Schule“ und „Zukunft“. Es schien wichtig, auch die Ansichten der jüngeren, seit kürzerer Zeit in der Chácara lebenden Jungen zu erfassen, welche nicht an dem Buch mitgearbeitet hatten. Deshalb wurde im April 2003 eine „Gincana“, eine Mischung aus Workshop und Wettbewerb mit den Bewohnern des Vierten Hauses, welches diese Gruppe aufnimmt, durchgeführt. Der Workshop-Teil wurde von der Forscherin gestaltet, der allgemeine Rahmen sowie der Wettbewerbsteil von zwei Jugendlichen des Forschungsteams sowie einem weiteren Jugendlichen, der das Team informell unterstützte und an diesem Abend die Kinder in dem Haus betreute. Es nahmen 15 Jungen im Alter von 7 bis 13 Jahren teil42, welche von den mitarbeitenden Jugendlichen in drei möglichst heterogene Gruppen aufgeteilt wurden. Da ein Grossteil der Jungen des Lesens und Schreibens noch nicht vollumfänglich mächtig war, wurde mit Zeichnungen und dem Aufnahmegerät gearbeitet. Zwischen den einzelnen Teilen fanden Geschicklichkeitsspiele statt, welche, wie immer üblich bei Gincanas der Chácara, am Ende mit Süssigkeiten für jedes Team prämiert wurden. Zunächst erhielt jede Gruppe eine der folgenden, in Anlehnung an die Themen des Buches der Jungen formulierten Fragen: a. b. c.

Wie warst du, bevor Du in die Chácara kamst? Wie bist Du jetzt in der Chácara? Wie willst Du in Zukunft sein?

Jeder Junge machte daraufhin eine Zeichnung zur Frage seiner Gruppe. Dann erzählte er im Plenum, was auf seiner Zeichnung zu sehen sei. Daraufhin erhielt wiederum jede Gruppe eine der folgenden Fragen: d. e. f.

Weshalb bist Du in die Chácara gekommen? Was möchtest Du von der Chácara? Was war gut in den anderen Projekten? Was war schlecht in den anderen Projekten? Was ist gut in der Chácara? Was ist schlecht in der Chácara?

Die Mitglieder jeder Gruppe wählten einen Schreiber, befragten einander zu den gestellten Fragen und gaben dann die entstandenen Antworten der Autorin ab. Insgesamt umfasst das für die Forschung erhobene Datenmaterial Aussagen von über 60 in der Chácara lebenden Jungen, wobei die genaue Anzahl wegen der Anonymität der Texte im Buch der Jungen nicht genau feststellbar ist. Letz42

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Altersverteilung: 1 = 8 Jahre alt, 1 = 9 Jahre, 3 = 11 Jahre, 6 = 12 Jahre, 3 = 13 Jahre, 1 = 15 Jahre.

tere waren zum Zeitpunkt der Erstellung der Texte zwischen 8 und 20 Jahren alt. Die in die Analyse einbezogenen Textstellen entstammen je etwa hälftig Aussagen, welche unabhängig von der vorliegenden Forschung respektive im Zusammenhang mit ihr entstanden.43 3.4.5 Tonaufnahmen öffentlicher Anlässe Von vier öffentlichen Anlässen, bei denen sich die Chácara als Organisation präsentierte, wurden Tonaufnahmen erstellt: ƒ ƒ ƒ

Festakte zum 10-jährigen Jubiläum der Chácara vom 4. und 11. Oktober 2003. Familientag (an dem die Angehörigen der Jungen die Chácara besuchen), 23. November 2003. Präsentation der Chácara durch den Koordinator und eine Gruppe von Jungen an einer privaten Universität, 22. April 2004.

Auf diese Weise sollte auch erfasst werden, wie die Organisation Chácara von ihren Mitgliedern beteiligten und unbeteiligten Dritten gegenüber dargestellt wird. 3.4.6 Sichtung administrativer Dokumente Für Informationen über den offiziellen und rechtlich gültigen Rahmen sowie für Angaben zu den Jungen der Chácara wurden die Statuten, der Jahresbericht 2004 sowie administrative Daten der Jungen und ihrer Familien (Geburtsdatum, Eintritt in die Chácara, vorherige Situation, Wohnort der Familie etc.) gesammelt. 3.4.7 Punktueller, illustrativer Beizug weiterer Materialien Eine Anzahl von Materialien wurde von der Forscherin punktuell zur Erweiterung ihrer Hintergrundkenntnisse der Organisation beigezogen. Entsprechend wurden sie nicht einer strukturierten Analyse unterzogen. Dabei handelte es sich um: 43

Die genauen Zahlen analysierter Textstellen sind in Kapitel 4 im Rahmen der Darstellung der Resultate ersichtlich.

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ƒ ƒ ƒ

ƒ ƒ

ƒ

Studien zu pädagogischen Aspekten der Chácara (Fritz, 1998; Miranda & Stoltz, 1999; Oliveira, 2001; Rigoni, 1999; Teixeira & Drozdz, 2003; Tratch, Guedes & Hilgemberg, 1998; Turra, 1995; Wal et al., 1998). Notizen von einzelnen, informellen Gesprächen und eigenen Beobachtungen sowie Teile eines Forschungstagebuchs. Unterlagen und Protokolle der von der Forscherin mitvorbereiteten, aber unabhängig von der Forschung und erst nach Abschluss der Feldforschung durchgeführten Workshops zur kurz- und mittelfristigen strategischen Planung für die Projektmitarbeitenden. Protokolle und gemeinsam erarbeitete Unterlagen der Sitzungen der Forschungsgruppe von Kindern und Jugendlichen. Weitere administrative Unterlagen der Chácara von 1993 bis 2006: Kopien ihrer Projektpläne und -absichten, Protokolle der Sitzungen des Vorstandes und der Mitarbeitersitzungen; Unterlagen der Zusammenarbeit zwischen dem Projekt und seinem Schweizer Unterstützungsverein (1995 – 2006). Aufnahmen von Fernsehreportagen und Werbefilmen des Projektes sowie eine umfangreiche Sammlung von Photos und von Zeitungsartikeln (über die Chácara und über die Situation von Strassenkindern in Brasilien im Allgemeinen) aus den Jahren 1993 bis 2006.

3.5 Daten, Bearbeitung und Analyse 3.5.1 Datenumfang, Transkription und Übersetzung Alle Tondokumente, also Interviews, Gruppengespräche und Gruppenübung, zwei Festakte zum 10-jährigen Bestehen der Chácara mit Auftritten verschiedener Projektmitglieder, Behördenvertreter etc. sowie eine Präsentation des Koordinators und einiger Jungen an einer privaten Universität wurden verbatim transkribiert. Daraus ergaben sich Texte von insgesamt 16'500 Zeilen, was bei einem Zeilenabstand von einer Zeile etwa 311 A4-Seiten entspricht. Dazu kamen die Texte, welche die Jungen für ihr Buch und ausserhalb desselben erstellt hatten: noch einmal etwa 2'500 Zeilen (ca. 47 A4-Seiten), sowie Statuten und Jahresbericht 2004 der Chácara. Mit der Ausnahme eines in schweizerdeutscher Sprache durchgeführten Interviews sowie einiger Zeitungsartikel deutscher Sprache ist das gesamte genützte Datenmaterial in brasilianisch-portugiesischer Sprache abgefasst. Für die Datenanalysen wurden die Texte und Transkripte in ihrer Originalsprache verwendet. Die Übersetzung in die deutsche Sprache wurde für diejenigen Textstellen vorgenommen, welche in der vorliegenden Arbeit zitiert werden. 92

Bereits die Transkription, besonders aber die Übersetzung stellten eine besondere Herausforderung dar. So waren etliche der von Befragten verwendeten umgangssprachlichen Ausdrücke und zwar besonders diejenigen aus dem Umfeld der Strasse in der neusten Auflage des grössten Wörterbuchs der brasilianischportugiesischen Sprache (Ferreira, 1986) nicht erläutert. Da die Autorin ursprünglich in der untersuchten Chácara Portugiesisch gelernt hatte, kannte sie die Bedeutung der meisten dieser Begriffe; für einige musste sie jedoch auf Auskünfte von dort Beteiligten zurückgreifen. Für die Übersetzung selbst war ebenfalls das Sprachvermögen der Autorin nötig, da der umfangreichste existierende Dictionnaire ein mittelgrosses Taschenwörterbuch Portugiesisch-Deutsch ist, welches viele brasilianische Begriffe aus der Umgangs- aber auch Fachsprache nicht enthält. Um sicherzustellen, dass derselbe Begriff immer gleich übersetzt wurde, wurde eine Konkordanzliste geführt. Eine weitere Herausforderung stellten Begriffe dar, die Konzepte beinhalteten, für welche in der deutschen Sprache kein einzelner Begriff zur Verfügung steht, so zum Beispiel der sehr häufige Begriff „cidadania“ bzw. „resgate da cidadania“, der mit „Staatsbürgerlichkeit“ bzw. „Wiederherstellung der Staatsbürgerlichkeit“ nur annähernd übersetzt werden kann. In Fällen wie diesen wurde im Text jeweils auch der ursprüngliche brasilianische Begriff und/oder eine umschreibende Übersetzung verwendet. 3.5.2 Analyseprozess Die transkribierten Tondokumente und Texte wurden einer explorativen (also qualitativen) Inhaltsanalyse unterzogen. Das Vorgehen war iterativ und bestand, im Sinne eines hermeneutischen Zirkels, aus einem „Hin-und-Her“ zwischen Datenanalyse und -interpretation, zwischen induktiven und deduktiven Phasen. Dieser Prozess begann bereits mit der Erhebung der Daten und soll hier kurz dargestellt werden: 1. 2.

Die zu untersuchenden Themen wurden aufgrund der Forschungsfrage, der eigenen praktischen Erfahrung sowie dem in Kapitel 3.3.3. beschriebenen Rahmenkonzept der Organisation identifiziert. Zu diesen Themen wurden ein erstes Mal im Rahmen einer Feldforschung unstrukturierte sowie einige strukturierte Interviews durchgeführt, Beobachtungen gemacht und Dokumente der Organisation gesichtet. Damit wurden zwei Absichten verfolgt. Einerseits sollte inhaltlich etwas über die zu untersuchenden Themen sowie über die von den Befragten selbst gesetzten thematischen Schwerpunkte in Erfahrung gebracht und damit die Ausdehnung und Abgrenzung des Forschungsgegenstands genauer definiert werden. An93

3.

4.

5.

6.

7.

derseits sollten erste Erfahrungen mit der gewählten Methodik und den einzusetzenden Methoden gemacht werden, um das weitere methodische Vorgehen verfeinern und/oder noch besser anpassen zu können. Zudem sollte ein Eindruck gewonnen werden von der Qualität, Breite und Tiefe der zu erhaltenden Daten. Die Interviews wurden zunächst im Sinne einer explorativen Inhaltsanalyse induktiv codiert, und es wurden Kategorien von (strukturellen und prozessualen) Aspekten der Organisation gebildet. Dabei zeigte sich, dass auch Aspekte der Organisation erwähnt wurden, nach welchen nicht spezifisch gefragt worden war (als Resultat der Unstrukturiertheit der Interviews und der Offenheit der Fragestellungen). Die nun vorhandenen Aspekte der Organisation wurden in einer Vorgängerversion des Rahmenkonstrukts der Organisation (siehe Kapitel 3.3.3) zu einander in Bezug gesetzt, unabhängig davon, ob sie schon mit Daten gefüllt waren oder nicht. In einer deduktiven Analyse der Interviews, Beobachtungen und Dokumente wurden daraufhin diejenigen Dimensionen der Organisation identifiziert, zu denen bisher nur sehr wenige oder gar keine Daten vorlagen. Ebenfalls wurden Mitglieder- und Beteiligtengruppen identifiziert, von denen bisher keine Aussagen vorlagen. Zu diesen Dimensionen wurden nun im Rahmen von zwei weiteren Feldaufenthalten weitere unstrukturierte und einige strukturierte Interviews sowie Gruppengespräche und -übungen durchgeführt und weitere Ton- und Textdokumente beschafft. Es wurden im Weiteren Personen derjenigen Mitglieder- und Beteiligtengruppen befragt, welche zuvor nicht zum Zug gekommen waren. Daraufhin wurden alle nun vorhandenen Daten in Bezug auf die Dimensionen der Organisation erneut codiert und kategorisiert. Innerhalb der qualitativen Inhaltsanalyse wurden dabei je nach der Art des Datenmaterials, der Organisationsdimension und der entstehenden Erkenntnisse Ansätze der narrativen sowie der Informations- und der Diskursanalyse angewendet. Konkret bedeutet dies, dass sowohl Informationen als auch Sinnkonstruktionen und sowohl explizite als auch implizite Kommunikationsinhalte analysiert wurden.

Zur technischen Unterstützung dieses Analysevorgehens wurde Atlas ti Version 5 eingesetzt, eine Software, die sich für qualitative und induktive Analysen eignet und aufgrund ihrer Möglichkeiten der graphischen Darstellung die Bildung von Sinnzusammenhängen und Erarbeitung emergierender Konstrukte erleichtert. 94

3.6 Wissenschaftliche Güte Es ist von grosser Bedeutung für die Adressaten der vorliegenden Arbeit in Wissenschaft und Praxis, dass die Forschungsmethodik derart gestaltet ist, dass sie verständliche, glaubwürdige, der Realität angemessene und schliesslich auch praktisch umsetzbare Antworten auf die Forschungsfragen auszulösen vermag. Köckeis-Stangl (1980) hält fest, dass eine Annäherung an dieses Ziel möglich, eine vollständige Erreichung jedoch unmöglich ist: Wenn man soziale Realität als einen dauernd vor sich gehenden Konstruktionsprozess ansieht, an dem alle Gesellschaftsmitglieder in grösserem oder kleinerem Masse mitwirken, dann kann man nicht damit rechnen, dass es überhaupt eine Forschungsmethode gibt, die es gestattet, völlig eindeutige, längerfristig gültige, unwiderlegbare, zweifelsfrei wahre Aussagen über Elemente und Relationen der sozialen Realität zu machen. (S. 362)

Davon ausgehend, dass die Realität der Organisation dynamisch und facettenreich ist, wurde die empirische Arbeit so gestaltet, dass die Facetten der Organisation möglichst angemessen erfasst und beschrieben werden konnten. Gleichzeitig wurde der Beachtung der drei Kriterien wissenschaftlicher Güte, Gültigkeit, Zuverlässigkeit und Relevanz44, welche in der qualitativen Sozialforschung angewandt werden, grosse Bedeutung beigemessen. Diese Kriterien kommen in allen Bereichen der Methodik zum Tragen: Bei der Gestaltung von Forschungsablauf und -rolle, den Erhebungsmethoden sowie der Datenanalyse und -präsentation. Hier sollen nun ihre Definitionen und die diesbezüglichen Empfehlungen in der Literatur dargestellt und um eine Beschreibung der konkreten Umsetzung in der vorliegenden Studie ergänzt werden. 3.6.1 Gültigkeit Die Gültigkeit („Validität“) bezeichnet das Mass, in dem die Erkenntisse der Forschung „zutreffend“, „richtig“ sind, also das abbilden, was sie abbilden sollen. Lamnek (1995, S. 163 ff.) bezeichnet die Gültigkeit als wichtigstes Gütekriterium in der qualitativen Sozialforschung. Drei der von ihm genannten Validierungsarten wurden in der vorliegenden Arbeit übernommen. Sie alle haben einen interpretativ-kommunikativen Charakter, wie ihn Lamnek als charakteristisch für das qualitative Paradigma sieht. 44

Auf die Frage der Anwendbarkeit/Generalisierbarkeit der Resultate wird in Kapitel 6 vertieft eingegangen.

95

Unter ökologischer Validität wird die Gültigkeit im natürlichen Lebensraum der Untersuchten verstanden. Für den Datenerhebungsprozess heisst dies, dass er in diesem Lebensraum stattfinden und dessen Eigenheiten möglichst gut angepasst sein soll. Lamnek zitiert hier Vomerg (1983): Gültigkeit wird im interpretativen Paradigma damit in entscheidendem Masse zu einer praktischen Frage: Ob es gelingt, trotz der Tatsache, dass Forschung stattfindet, hinreichend realitätshaltige Interaktionsbedingungen zu schaffen und aufrechtzuerhalten. (S. 127, zitiert in Lamnek, 1995, S. 169)

Als geeignete Methoden empfiehlt er qualitative Interviews, Gruppendiskussion und teilnehmende Beobachtung. Diese seien in der Regel valider, weil die Daten näher am sozialen Feld entstünden, die Informationen nicht durch Forschungsraster prädeterminiert seien, die Daten realitätsgerechter und angemessener seien, die Relevanzsysteme der Untersuchten berücksichtigt würden, die Methoden offener und flexibler seien, eine kommunikative Verständigungsbasis existiere und eine sukzessive Erweiterung der Untersuchungsbasis auch auf extreme Fälle möglich sei (Lamnek, 1995, S. 171). Es ist in diesem Kapitel bereits dargelegt worden, dass der Datenerhebungsprozess in hohem Masse an den „Lebensraum“, das heisst an den Forschungskontext Chácara angepasst wurde. Dies geschah einerseits durch die Form der Integration der Forscherin und anderseits durch einen eigentlichen Aushandlungsprozess zu Zielen und Methodik der Forschung. Es wurden zudem die von Lamnek empfohlenen Erhebungsmethoden angewandt. In der Interpretation und Analyse der Daten sollen gemäss Lamnek die Lebensraum- und Umweltbedingungen der Untersuchten ebenfalls weitestgehend berücksichtig werden. Im vorliegenden Fall wäre es ohne solche Kenntnisse des Forschungskontextes gar nicht möglich gewesen, die Ton- und Textdokumente zu verstehen. Das offensichtlichste Beispiel ist die bereits erwähnte, spezifische Sprachvariante der befragten Personen. Im Rahmen der Datenanalyse wurden, wo notwendig, entsprechende Verständnisfragen mit Mitgliedern und Beteiligten der Chácara, und hier besonders mit den Jungen des Forschungsteams, geklärt. Vor allem ist der Lebensraum bzw. der Forschungskontext der Chácara jedoch deshalb bei der Datenauswertung berücksichtigt, weil diese im Rahmen des hermeneutischen Vorgehens primär induktiv geschah, indem aus den Daten der Chácara ein Auswertungsrahmen entstand, welcher dann an den Daten der Chácara wieder eingesetzt wurde. Bei der kommunikativen Validierung geht es gemäss Lamnek (1995, S. 163 ff.) darum, die Forschungsergebnisse an die Untersuchungsteilnehmer zurück zu übermitteln und im Verlauf dieses Prozesses die Überzeugung zu gewinnen, dass die Analyse und Interpretation zutreffend waren. 96

Auch diese Validierung geschah innerhalb des hermeneutischen Vorgehens, indem eine zweite Runde Interviews aufgrund einer ersten gemacht und die Daten ebenfalls in wiederholten Kreisen analysiert wurden. Es ging dabei jedoch nicht nur um eine Bestätigung bereits gemachter Erkenntnisse, sondern auch darum, zu bestimmten Punkten so vollständige Erkenntnisse wie möglich zu gewinnen. So wurde es unter anderem möglich, wenig genannte, aber relevante Aspekte in die Analyse miteinzuschliessen und damit fundiertere – und wohl validere – Erkenntnisse zu erzielen. In verschiedenen Momenten der Kommunikation entstand die Überzeugung, dass die Analyse und Interpretation der Daten zutreffend waren. Die beiden wesentlichsten Momente sollen hier erwähnt werden: ƒ

ƒ

Erste Forschungsresultate wurden auf Bitte der Chácara in einem zweiseitigen Merkblatt zusammen gefasst, welches Eingang in eine Publikation der Chácara über ihre Arbeit finden sollte (Anhang 2). Dieses stiess beim Projektkoordinator und weiteren Fachmitarbeitenden und -beteiligten, darunter die Pädagogikprofessorin, welche die Forschungsarbeit teils mitbetreut hatte, eine Sozialarbeiterin, eine Lehrerin und eine Ausbildungsspezialistin, auf positives Echo. Es wurde spontan geäussert, dass dies tatsächlich eine Beschreibung der Chácara sei. In einem Telefongespräch äusserte der Koordinator zudem, dass die Forschungserkenntnisse die Chácara so darstellten, wie sie sei, ihm jedoch auch einen neuen Blickwinkel auf die Organisation eröffneten. Der ebenfalls über den wissenschaftlichen Austausch mit der Forschung verbundene Soziologieprofessor, der beim Aufbau der Chácara beteiligt gewesen war und sie seither begleitete, äusserte ebenfalls, in den ihm präsentierten Forschungserkenntnissen ein angemessenes Bild der Chácara erkannt zu haben. Am 24. November 2006 lud die Chácara zusammen mit dem Nachbarprojekt ABAI Richter, Staatsanwälte und Vertreter von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen in Curitiba und Umgebung zu einer Fachtagung über die Jugendsozialpolitik ein („Encontro sobre políticas públicas para juventude“), bei der die vorliegende Studie während zweieinhalb Stunden präsentiert und diskutiert wurde. Diese Veranstaltung wurde offiziell unterstützt von einer Anzahl bedeutender staatlicher und nicht staatlicher Institutionen, nämlich dem Fachzentrum der Staatsanwaltschaft für Kinder und Jugendliche („Centro de Apoio Operacional das Promotorias da Criança e do Adolescente“), dem Jugendgericht („Vara de Adolescentes Infratores“), dem Forum zur Verteidigung der Rechte des Kindes und der Jugendlichen („Fórum de Defesa dos Direitos da Criança e do Adolescente“), dem Netzwerk zur Integration der residentiellen Institutionen [für Kinder und Jugend97

liche] („Rede de Integração de Abrigos“) und dem Sektor für Erziehungswissenschaften der Staatlichen Universität von Paraná. Es nahmen etwa 50 Personen teil, darunter ein Richter und eine Richterin, sechs Staatsanwältinnen und weitere Fachleute der Staatsanwaltschaft (welche für die Überweisung von Kindern und Jugendlichen in Institutionen und die Kontrolle der Institutionen zuständig sind), sieben Verantwortliche für Kinder und Jugendliche der Sozialbehörde aus verschiedenen Bezirken der Stadt Curitiba, die Präsidentin der Jugendkommission des Nationalen Anwaltverbandes im Teilstaat Paraná, Gründungs- und Vorstandsmitglieder sowie Koordinator, Erziehende und etwa 12 Jungen der Chácara, Lehrerinnen, zwei Unversitätsprofessorinnen und andere Fachpersonen mehr. Auch dieses gemischte und hochkarätige (Fach-)Publikum, dessen meisten Mitglieder die Chácara aus der einen oder anderen Perspektive bereits mehr oder weniger gut kannten, zeigte durch direkte Kommentare sowie durch Inhalt und Form der langen und lebhaften Diskussion über die Chácara und andere Institutionen, dass es aufgrund der präsentierten Forschungsergebnisse die Organisation Chácara wiedererkannt hatte. Als weitere Form der Validierung erwähnt Lamnek (1995, S. 163 ff.) die Validierung an der Praxis, bzw. an der sozialen Realität. Die Idee hinter dieser Art der Validierung besteht darin, aus der Datenanalyse entstandene Erkenntnisse als Hypothesen zu formulieren und zu beobachten, ob diese in der sozialen Realität der untersuchten Personen bestätigt werden. Lamnek (1995, S. 163 ff.) erwähnt hier die Schwierigkeit, dass die soziale Realität einen prozesshaften Charakter besitze und deshalb keine volle Übereinstimmung herbeigeführt werden könne. Ein indirekter Hinweis auf die Gültigkeit könnte nach Erachten der Autorin jedoch die Nutzbarkeit der Erkenntnisse in der Praxis sein. Diese wurde in der vorliegenden Arbeit nicht systematisch erhoben; es gab jedoch Hinweise, welche erste Aussagen zu deren Erfassung zuliessen. So wurden zum Beispiel nach Abschluss der Feldforschung in den Jahren 2004 und 2005 auf Wunsch der Chácara mehrere Workshops zur kurz- und langfristigen Planung der Chácara durchgeführt. Neben der Planung kam dabei der Analyse der Chácara in der kürzlichen Vergangenheit und in der Gegenwart grosse Bedeutung zu. Die Workshops wurden von der Autorin und einer Ausbildungsspezialistin aus dem Vorstand der Chácara gestaltet. Hierbei erwiesen sich die Forschungsresultate nicht nur als nützlich und nutzbar, sondern gar als unabdinglich. Wo sonst für die Workshops auf standardisierte, vorwiegend für Wirtschaftsunternehmen entwickelte Grundlagen hätte zurückgegriffen werden müssen, konnten nun sowohl Inhalt und Struktur der Workshops als auch Kommunikation und Einbindung/ 98

Aktivierung der Teilnehmenden in einer Art gestaltet werden, welche auf die spezifische organisatorische Realität der Chácara zugeschnitten war. Die Autorin ist der Meinung, dass dieser Einsatz der Forschungserkenntisse wesentlich dazu beitrug, dass die Teilnehmenden die Workshops positiv aufnahmen und aktiv und produktiv in ihnen arbeiteten. Aufgrund der hier dargelegten Punkte kann davon ausgegangen werden, dass die Validität des Verfahrens, der Daten und der Interpretation eher hoch ist. 3.6.2 Zuverlässigkeit Zuverlässigkeit (Reliabilität) ist, wie Lamnek (1995, S. 173) betont, ein genuin messtheoretischer Begriff der quantitativen Forschung. Bei diesem geht es um die Genauigkeit beziehungsweise um die Eliminierung von Verzerrung der Daten. Bei qualitativen Daten ist die Genauigkeit in dieser rechnerischen Art nicht erfassbar. Dennoch ist es natürlich empfehlenswert, möglichen Verzerrungen in Datenerhebung und -analyse entgegenzuwirken. McCall (1979) führt unter anderem folgende mögliche Störeinflüsse auf: reaktive Effekte, Ethnozentrismus, Überidentifikation, Kenntnisstand, versteckte Motive, Spontaneitätsbarrieren und emotionale Faktoren (S. 105 ff, zitiert in Lamnek, 1995, S. 177). Während Reaktivität in der Kommunikation zwischen Forscherin und „Erforschten“ einen wesentlichen Beitrag zur Reichhaltigkeit der Daten leistet, könnte es gleichzeitig zu Verzerrungen von Daten kommen. In der vorliegenden Arbeit wurden Schritte unternommen, um dies zu verhindern. So wurden Daten sowohl aufgrund reaktiver als auch nicht reaktiver Verfahren erhoben. Wissen und Ansichten der Jungen wurden zum Beispiel sowohl durch Interviews der Autorin (reaktiv) als auch durch Analyse ihrer nicht in Zusammenhang mit der Forschung entstandenen Texte (nicht reaktiv) erfasst. Damit war in gewissem Masse eine Kontrolle bzw. Relativierung von Daten aus reaktiven Verfahren möglich. In den (reaktiven) Interviews wurden zudem keine leitenden und tendenziösen Fragen gestellt und die Forscherin setzte alles daran, weder durch Aussagen noch durch emotionale Reaktionen eigene Meinungen zu den besprochenen Themen zu signalisieren. Im Weiteren wurden alle befragten Personen zu Beginn des Interviews oder Gruppengesprächs darauf hingewiesen, dass es keine „richtigen“ und „falschen“ Antworten gebe, sondern dass die Befragung darauf abziele, möglichst viele der unzähligen farbigen Steinchen des „Puzzles Chácara“ zu entdecken und zusammenzusetzen, inklusive der Gegensätze, welche sich zum Beispiel aus der Verschiedenheit der Persönlichkeit, Meinung, Funktion oder Position der Befragten ergebe. Es war spürbar, wie diese Erklärung zu einer

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Entspannung, Aktivierung und erhöhten Spontaneität der Interviewpartner führte. Ethnozentrische Ansätze der Forscherin waren wegen ihrer langjährigen, eher untergeordneten Rolle als Freiwillige im System der Chácara bereits wenig wahrscheinlich. Im Weiteren war die Forschungsgestaltung qualitativ und induktiv und förderte das Hervortreten lokaler Kenntnisse, Erfahrungen und Meinungen sowie auch lokaler Interpretationen, so dass auch kaum Raum für eine mögliche Ethnozentrizität der Forscherin bestand. Ausserdem wurde versucht, bei der Untersuchung zu vermeiden, dass die Kenntnisse, Erfahrungen und Meinungen einer einzelnen Gruppe von Mitgliedern oder Beteiligten unangemessen dominierten, während andere kaum in Erscheinung traten. So wurde eine Vielzahl von Personen in die Untersuchung miteinbezogen und zwar Personen aus allen Alters- und den meisten „Stakeholder“-Gruppen. Dies ermöglichte eine umfassende Auslotung von Aspekten der Organisation aus den verschiedensten Perspektiven. Besonders wurde Wert darauf gelegt, die Kenntnisse und Meinungen der in der Chácara lebenden Jungen in die Untersuchung miteinzubeziehen. Gleichzeitig wurden diese Perspektiven bei der Datenerhebung und -analyse getrennt, das heisst, diese Personen wurden separat befragt, und ihre Daten wurden separat ausgewertet bzw. nach Gruppenzugehörigkeit der Person geordnet und adäquat im entsprechenden Kontext interpretiert. Die Verwendung verschiedener Methoden – offene Interviews, Gruppenbefragungen und Dokumentenanalyse, ergänzt um Aspekte partizipativer Beobachtung – in der Erfassung von Daten der Organisation entspricht einer Triangulation unter methodisch-technischen Aspekten. Campell und Fiske (1959, zitiert in Lamnek, 1995, S. 248) bezeichnen diese als „multiple Operationalisierung“, welche nicht nur, wie vorgängig erwähnt, zu einer Validierung der Ergebnisse, sondern auch zu einem Ausschluss von Messartefakten beiträgt. Was McCall (1979, S. 105 ff., zitiert in Lamnek, 1995, S. 177) als „Überidentifikation“ bezeichnet, war ein Aspekt, dem aufgrund der Position der Forscherin in der untersuchten Organisation grosse Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Vor Beginn der Forschung hatten der Koordinator der Chácara und die Autorin bereits über ihren idealen Wohnort während der Forschung gesprochen. Dabei entstand die Überzeugung, dass es gut wäre, wenn die Autorin teils in der Chácara, teils ausserhalb, im Haus einer Freundin auf halbem Weg zwischen dem Stadtzentrum von Curitiba und der Chácara wohnen würde. Dafür sprachen unter anderem die von der Organisationsanalyse verlangte gleichzeitige Kombination und Trennung von Aussen- und Innenposition, aber auch praktische Aspekte wie die Tatsache, dass einerseits die Teilnahme am Alltag der Chácara und anderseits das Interviewen von Personen, welche in der Stadt lebten, der Zugang 100

zur dortigen Universität und Kommunikationsmitteln und ruhiges Arbeiten fernab von 80 Kindern und Jugendlichen möglich sein musste. Folglich lebte die Autorin pro Woche während jeweils vier bis sechs Tagen in der Chácara. In dieser Zeit hatte sie zumeist klar definierte und deklarierte Zeiträume, welche der Forschung gewidmet waren – im Allgemeinen an Wochentagen von 8 bis 12 Uhr und von 14 bis 16 Uhr. Die Zeit um Frühstück, Mittagessen und nach dem Nachmittagsimbiss bis gegen Mitternacht verbrachte sie hingegen mit den Jungen und innerhalb der regulären Aktivitäten der Chácara. Die zeitliche Abgrenzung sowie die in der Stadt verbrachten Tage halfen bei der Abgrenzung zwischen forschender und Alltagstätigkeit in der Chácara und erlaubten der Autorin auch, einerseits in den Alltag der Organisation einzutauchen, diesen anderseits aber auch regelmässig physisch zu verlassen und von aussen zu betrachten und zu überdenken. Die Sicht und Reflexion aus der Aussenposition wurde während der ersten beiden Aufenthalte durch das Führen eines Forschungstagebuchs unterstützt. Im Spannungsfeld zwischen der Zugehörigkeit zur Chácara und der Notwendigkeit einer Aussenposition waren zudem die Beratung durch mehrere Personen in und um die Chácara sowie durch die Professorin und die Professoren, mit denen die Forschungszusammenarbeit bestand, eine wichtige Unterstützung. Mit ihnen konnte die Forscherin auch über Unsicherheiten, wahrgenommene Schwierigkeiten und Konflikte und diesbezügliche Gefühle offen sprechen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Grad der Zuverlässigkeit – also unter anderem die Genauigkeit und Unverzerrtheit – der Daten und Resultate bei dieser Art von Forschung sowohl schwer definierbar als auch kaum „messbar“ ist, dass jedoch eine Anzahl von Schritten unternommen wurde, um Verzerrungen zu vermeiden. Analog der Aussage von Köckeis-Stangl (1980, S. 362) hat die vorliegende Untersuchung weder das Ziel, noch kann sie es haben, „völlig eindeutige, längerfristig gültige, unwiderlegbare, zweifelsfrei wahre Aussagen“ zu produzieren. Ihr Ziel ist es, den wissenschaftlichen Diskurs und die Praxis von Organisation und Qualität von residentiellen Organisationen für Kinder und Jugendliche der Strasse zu fördern und mit empirischen Erkenntnissen besser zu fundieren. Innerhalb dieser Zielvorgabe kann die Zuverlässigkeit der erzielten Resultate nach Erachten der Autorin als angemessen und genügend bezeichnet werden. 3.6.3 Repräsentanz Organisationsanalysen beschäftigen sich zumeist mit einzelnen Aspekten von Organisationen und weniger damit, das Bild einer Organisation als Ganzes zu schaffen. Bei der Lektüre solcher Studien entsteht oft das unbefriedigende Ge101

fühl, eine Sammlung von Einzelteilen vor sich zu haben, welche genau so gut für eine andere Organisation gelten könnten. Das lebendige Gebilde Organisation, diese in ihrem Charakter unverkennbare, gemäss der Kontingenztheorie einzigartige Konstruktion einer Gruppe von Menschen, welche sich aus ihrer Umwelt einen Auftrag definiert haben und diesen nun mit ihren Motivationen, Kenntnissen, Stärken, Schwächen, Möglichkeiten und Grenzen auszuführen versuchen, bleibt in der Sammlung von Einzelteilen verborgen. Unter dem Titel der Repräsentanz stellt sich die Frage nach dem Charakteristischen, dem „Typischen“ der Organisation. Hier folgt die vorliegende Studie Lamnek (1995), der schreibt: Die statistisch abzusichernde Repräsentativität [des quantitativen Paradigmas] wird vom Begriff des “Typischen” abgelöst. Die mit Hilfe qualitativer Erhebungs- und Interpretationsverfahren rekonstruierten Handlungsmuster sollen “typisch” sein für jene sozialen Gruppierungen, denen die Untersuchten angehören. (S. 191)

Kudera (1989) spricht im Zusammenhang mit dem „Typischen“ von einer “Abstraktion aufs Wesentliche” und beschreibt die dazu gehörende Typenbildung wie folgt: Ziel der Typenbildung ist – im Unterschied zum Repräsentativitätskonzept –, nicht die Übertragung von Begrenztem auf Allgemeines, sondern das Auffinden von Allgemeinem im Besonderen: Im jeweils besonderen Fall soll dessen allgemeines Erscheinen zur Darstellung gebracht werden. (S. 12, zitiert in Lamnek, 1995, S. 192í193)

Wie Lamnek (1995, S. 193) betont, heisst Typenbildung nicht, komplexe Sachverhalte auf einzelne Variablen oder eine Variablenkonstellation zu reduzieren. Vielmehr gehe es darum, eine eher ganzheitliche, weil realitätsgerechtere Sicht zu pflegen. Die Datenanalyse und -präsentation der vorliegenden Studie wurde entsprechend derart gestaltet, dass nicht etwa alle möglichen Aspekte der Organisation erscheinen, sondern die für die Organisation typischen bzw. charakteristischen45 herausgearbeitet wurden. Deren Identifizierung fand durch verschiedene Vorgehensweisen statt. Zum Beispiel wurde am Anfang von Interviews eine sehr offene Frage zur Chácara gestellt: „Was würdest Du jemandem, der die Chácara nicht kennt, sagen, was diese ist?“ oder „Wie ist die Chácara?“ oder auch „Erzähl mir von der Chácara!“ Aus den Antworten auf diese Art von Fragen gingen Schwerpunktsetzungen der Befragten hervor. Nach anderen Schwerpunkten wurde gefragt, so zum Beispiel: „Was ist das Wichtigste an der Arbeit 45

In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff „charakteristisch“ bevorzugt.

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der Erziehenden?“ Die sehr offenen und unstrukturierten Interviews führten dazu, dass die Befragten Schwerpunkte setzen mussten, und zwar durch die Wahl sowohl des Inhaltes als auch der Betonung ihrer Antworten. Auch in der Analyse von Dokumenten der Organisation und von Texten von Mitgliedern derselben waren Schwerpunkte ersichtlich, welche wiederum durch Erwähnung und Nicht-Erwähnung einzelner Themen und Einschätzungen sowie durch die aus dem Zusammenhang oder mittels qualifizierender Adjektive und Adverbien entstandene Betonung zum Ausdruck kamen. Lagen zu einem Thema viele Aussagen vor, war es zudem auch möglich, durch ein Auszählen von Antworten pro Kategorie oder Dimension Schwerpunkte zu erkennen. Zu Beginn der Forschung war nicht bekannt, ob die Chácara als „ganze Organisation“ ans Licht treten und ob es möglich sein würde, bestimmende Charakteristika herauszuschälen. Es zeigte sich jedoch im Verlauf der Datenanalyse und Interpretation, dass dies der Fall war, dass nämlich sowohl Informanten als auch Dokumente vielfältige und tief gehende Informationen lieferten, aber auch klare Schwerpunkte setzten, mittels derer die charakteristische organisationale Strukturen und Prozesse der Chácara identifiziert und beschrieben werden konnten. 3.7 Sicherheit und Ethik Der Sicherheit nicht nur der befragten Personen, sondern aller mit dem Projekt in Verbindung stehenden Kinder und Jugendlichen und ihren Familien sowie aller Mitarbeitenden und Beteiligten kommt absolute Priorität zu. Hinweise auf erlebte oder ausgeführte Gesetzesverstösse werden deshalb im folgenden Text nicht mit namentlich erwähnten Personen oder Institutionen in Verbindung gebracht. Die Ahndung und Bewältigung solcher Vorfälle ist von grosser Bedeutung, stellt jedoch nicht die Aufgabe der vorliegenden Arbeit dar, sondern muss auf anderen Wegen erreicht werden. Schwerwiegende Vorfälle wie zum Beispiel erlebte Misshandlungen werden – soweit dies dem Verständnis der Forschungsarbeit und ihrer Resultate dient – allgemein erwähnt, jedoch nicht im Detail beschrieben, obwohl der Autorin spontan zum Teil sehr detaillierte Angaben gemacht wurden. Damit soll auch die Würde der befragten Personen und ihrer Angehörigen geschützt werden. In den nachfolgenden Kapiteln werden die zitierten Personen jeweils so weit umschrieben, wie es für ein angemessenes Verständnis ihrer Aussagen nötig ist. Namen werden keine genannt, mit Ausnahme weniger Fälle, in denen eine Person auch ohne Namensangabe von Aussenstehenden klar identifiziert werden kann (z. B. der Koordinator der Chácara).

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Sowohl der Vorstand als auch alle Erziehenden, Kinder und Jugendlichen der Chácara sowie alle weiteren Befragten wurden über Motivation und Absicht der Forschung informiert und teilweise, wie in Kapitel 3 erwähnt, in deren Gestaltung miteinbezogen. Sämtliche befragten Personen sowie die Jugendlichen des Forschungsteams der Jungen beteiligten sich freiwillig an der Untersuchung, und der Koordinator der Chácara stellte alle Unterlagen der Organisation ebenfalls auf freiwilliger Basis zur Verfügung. Das Einverständnis zur Befragung und zur Verwendung von Unterlagen wurde in jedem Fall explizit eingeholt und gegeben. Den Befragten wurde absolute Vertraulichkeit zugesichert. Die Jungen des Forschungsteams sowie teilweise an der Transkription beteiligte Personen (ein Universitätsdozent und zwei Studierende) verpflichteten sich den Befragten gegenüber zu absoluter Vertraulichkeit sowie dazu, die Aussagen der Befragten weder an Dritte weiterzugeben noch ohne eine spezifische und explizite Bewilligung durch die befragten Personen in irgendeiner Art zu verwenden. Es wurde vereinbart, dass das Verfügungsrecht über jedes Interview bei der befragten Person liege. Sollten andere Personen als die Autorin Einblick in Interviewtranskriptionen wünschen, so wurde vereinbart, dass das Einverständnis dafür von der Autorin unter Vorlage der wörtlichen Transkription und genauer Angabe des Verwendungszweckes bei der jeweils befragten Person einzuholen wäre. Sollten zum Zeitpunkt der Anfrage noch minderjährige Jungen ihr Einverständnis zu einer Verwendung ihrer Aussagen geben, müsste dieses zusätzlich um das Einverständnis des Koordinators der Chácara – ihres gesetzlichen Vormundes – ergänzt werden. Die Transkriptionen der Interviews werden ausschliesslich von der Autorin aufbewahrt und den befragten Personen auf Wunsch jederzeit zur Verfügung gestellt. Der Forschungsprozess ist nun ausführlich beschrieben worden. Im folgenden Kapitel werden die Resultate des Analyse- und Erkenntnisprozesses eingehend dargestellt. Sie werden ergänzt und illustriert mit Beispielen aus Interviews und Texten. Dort, wo es sinnvoll scheint, werden zusätzliche illustrative Beispiele, welche nicht Bestandteil einer strukturierten Analyse waren, als solche gekennzeichnet aufgeführt. Damit soll den Lesenden die Möglichkeit eröffnet werden, nicht nur Resultate und Interpretationen entgegenzunehmen, sondern einen – wenn auch geographisch weit entfernten – Gegenstand in gewisser Weise auch selbst zu betrachten, zu entdecken und zu verstehen. Gelingt dies, hat die vorliegende Arbeit ihr Ziel erreicht, eine solide Grundlage für die Diskussion und Weiterentwicklung der Organisation und Qualität von residentiellen Institutionen und Projekten für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien zu erstellen.

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4 Die Phänographie der Organisation Chácara

In diesem Kapitel wird nun die aus der empirischen Organisationsanalyse resultierende Phänographie der Organisation Chácara vorgestellt. Diese besteht aus folgenden Elementen: 1. 2. 3. 4.

Wurzeln und Handlungsbasis der Organisation Zielgruppe und Ziele Physische und soziale Struktur Aktivitäten und Transformationsprozess

Diese Elemente der Organisation haben sich aufgrund der Datenanalyse als von charakteristischer Bedeutung für die soziale Konstruktion der Chácara erwiesen. Sie werden in der Reihenfolge besprochen, in der sie von den Mitgliedern der Chácara in der Organisationsentwicklung priorisiert wurden. Im Sinne der Forschungsfragen werden sowohl Beschreibungen von Form und Inhalt dieser Elemente (Frage 1.1) als auch deren Herleitungen und Begründungen durch die Organisationsmitglieder (Frage 1.2) aufgeführt. In Kapitel 4.5 wird die resultierende Phänographie noch einmal in Zusammenhang mit den Forschungsfragen gesetzt und vor dem Hintergrund der in Kapitel 2 dargestellten theoretischen Überlegungen reflektiert. Da der Schwerpunkt der Untersuchung auf einer Erhebung und Analyse von organisationalen Strukturen und Prozessen liegt, werden Fragen der pädagogischen Konzeption und Praxis der Chácara nur soweit dargestellt, wie sie auf der Ebene der Organisation an sich relevant sind. Nicht im Fokus der vorliegenden Arbeit liegen Aspekte der Administration und Finanzierung der Chácara. 4.1 Wurzeln der Organisation Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass die Chácara nicht erst mit der formellen Gründung und Eröffnung ihrer Häuser im Jahr 1993 entstand. Ihre Organisation entstand über Jahre aus einer Bürgerbewegung in einer Armensiedlung und einer späteren Initiative mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse heraus. In dieser Vorbereitungsphase, welche unter anderem eine mehrjährige Situations105

analyse und den Ausbau einer starken Handlungsbasis umfasste, wurden Aspekte der Organisation entwickelt, welche von grundlegender Bedeutung für das Erscheinungsbild und Funktionieren der Chácara sein würden. Miranda und Stoltz (1999) verankern ihre auf Interviews mit Beteiligten basierende Geschichte der Chácara mit folgendem ersten Satz fest in der Bürgerbewegung der Gemeinde Profeta Elias in der Vila Lindóia, einer Armensiedlung („Favela“) in Curitiba: Um die Entstehung der Fundação Educacional Meninos e Meninas de Rua Profeta Elias [formeller Name der Chácara] zu verstehen, ist es notwendig, mit demjenigen Kontext zu beginnen, zu dem sie unmittelbar gehört: der Gemeinde Profeta Elias. (S. 5)

Die induktive Analyse von Interviewaussagen, Texten und Dokumenten zeigt entsprechend eine Organisation, der von ihren Akteuren eine „Identität“ zugeschrieben wird, welche mit den „Wurzeln“ der Chácara begründet wird: der Herkunft und Erfahrung der am Entstehungsprozess beteiligten Personen und mit dem Verlauf dieses Prozesses. Der Entstehungsprozess wird von den damals Beteiligten meistens als erstes erwähnt, wenn sie nach dem Anfang oder auch der „Identität“ der Chácara gefragt werden. So sagte zum Beispiel der Koordinator der Chácara, Fernando de Gois, in einem Interview, dass man zwar schnell eine Infrastruktur hinstellen und Kinder hätte aufnehmen können, dass ein solch überstürztes Vorgehen jedoch nicht sinnvoll gewesen wäre: Es waren zwei Jahre, während derer wir eine Arbeit hier in der Gemeinde [Quatro Pinheiros in Mandirituba, in der sich die Chácara befindet] und mit den hier führenden Persönlichkeiten durchführten und die Gemeinde Profeta Elias [in Curitiba, hier koordinierte er damals seit einigen Jahren die Gemeindearbeit] vorbereiteten, für den Fall, dass ich nicht dort bleiben würde. Wir besprachen das Konzept der Chácara mit Personen von der Universität und mit anderen Personen, welche bereits Erfahrung hatten, und diskutierten es auch im Vorstand der Stiftung selbst und erarbeiteten so das pädagogische Konzept der Chácara. So gab es bereits eine ganze Planung, als die ersten Arbeiten der Chácara begannen. Wir hatten schon Erfahrungen gemacht im Kontakt mit anderen Personen, die direkt mit Strassenkindern gearbeitet hatten. So organisierten wir uns immer mehr und kümmerten uns gleichzeitig auch um die Finanzierung, aber wirklich ohne jede Eile. Wenn wir es gewollt hätten, wäre es sehr einfach gewesen, die Chácara zu kaufen und am nächsten Tag ein Haus hinzustellen

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und zu eröffnen, aber es gab andere Wege, welche zuerst begangen werden muss46 ten. (Interview, 20. April 2003)

Diese „Wege [der Organisation], welche zuerst begangen werden mussten“ sollen hier dargestellt werden, geordnet in zeitlicher Abfolge in 4.1.1. „Bürgerinitiative in der Favela“, 4.1.2. „Bürgerinitiative auf der Strasse“ und 4.1.4. „Aufbau der Handlungsbasis für die Chácara“. Da die Arbeit auf der Strasse eine Situationsanalyse der sich dort aufhaltenden Kinder und Jugendlichen umfasste, wird diese in Kapitel 4.1.3. mit besonderem Fokus nachvollzogen. 4.1.1 Bürgerinitiative in der Favela Die Stadt Curitiba, zu deren Agglomeration Mandirituba gehört, ist ein Ort der Kontraste; ein barocker Stadtkern, darum herum Stadthäuser vom Beginn des 20. Jahrhunderts sowie modernere Gebäude, welche in zum Teil sehr luxuriös gebaute Wolkenkratzer übergehen. Daneben befinden sich aber wenige Gehminuten vom Zentrum Hüttensiedlungen der Armen, durch welche sich übelriechende Kanäle ziehen, so zum Beispiel die Region Capanema/Vila das Torres hinter dem modernen Busbahnhof oder die Region Parolin, und am Stadtrand dann zum Teil riesige, ständig wachsende Armensiedlungen. Insgesamt leben mindestens 420'000 Menschen, bzw. 15.5% der Bevölkerung, unter der Armutsgrenze47. Der Prozentsatz ist mit 44% am höchsten in den weiter vom Stadtzentrum entfernten Teilen der Agglomeration48, während er in den näher gelegenen Teilen49 mit 20% und in der Stadt selbst 10% beträgt, obwohl letztere über die grösste absolute Zahl von Menschen unter der Armutsgrenze verfügt (143'811 Personen). Mindestens 6.13%, bzw. 169’700 der Bevölkerung von Curitiba und Agglomeration leben in Armensiedlungen50, sogenannten Favelas.51 46

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In Zitaten aus Interviews werden für die Wiedergabe vorgenommene Auslassungen (…) sowie Redepausen … gekennzeichnet. Hier definiert als weniger als 140 Reais (dh. ½ des staatlichen Minimalsalärs von 280 Reais zur Zeit der Untersuchung) Einkommen per Capita (ca. 62 CHF), gemäss Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE), www.ibge.gov.br. Umfasst die Agglomerationsorte Adrianópolis, Agudos do Sul, Balsa Nova, Bocaiúva do Sul, Campo Magro, Cerro Azul, Contenda, Dr. Ulisses, Itaperuçu, Quitandinha, Tijucas do Sul und Tunas do Paraná. Umfasst die Agglomerationsorte Almirante Tamandaré, Campina Grande do Sul, Fazenda Rio Grande, Lapa, Mandirituba, Piraquara, Quatro Barras und Rio Branco do Sul. Observatório Regional Base de Indicadores de Sustentabilidade Metropolitano de Curitiba (ORBIS MC), 26.1.2005 (http://www.observatorio.org.br/imprensa/rep26.pdf, 6.10.2005). Gemäss Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) ist eine „Favela“ ein “subnormales Agglomerat”, “ein zumeist unordentliches und dichtes Ensemble aus mindestens 51 Wohneinhei-

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Eine dieser Favelas ist die Vila Lindóia. Miranda und Stoltz (1999, S. 5 ff.) fassen deren Geschichte aufgrund von Erzählungen damals Beteiligter zusammen. Die Vila Lindóia begann im Jahr 1968, als Familien, die als Kleinbauern oder Landarbeiter wegen der Industrialisierung der Landwirtschaft durch die Militärdiktatur ihr Auskommen auf dem Land verloren hatten, auf einem illegal besetzten Stück Land nahe des Stadtzentrums von Curitiba aus Abfallmaterialien prekäre Hütten zusammenstiefelten. Hier überschwemmte ein nahe gelegener Kanal die Siedlung immer wieder, wurde ein geringes Einkommen mit Papiersammeln durch die ganze Familie verdient, musste Nahrung auf fliegenverseuchten Abfallhaufen gesucht werden und drangen immer wieder die Behörden und die Polizei ein, welche die Siedlung und ihre Bewohner häufig auch unter Anwendung von Gewalt bekämpften. Die Mönche des benachbarten Karmeliterklosters waren in der Vila Lindóia zunächst nur seelsorgerisch tätig, übernahmen dann aber ab dem Jahr 1979 die Grundsätze der Befreiungstheologie52 und wandten sich damit neu auch den materiellen Bedürfnissen der armen Bevölkerung zu. Gleichzeitig begannen sich die Familien der Vila Lindóia selbst zu organisieren. Einige Personen gründeten zusammen einen Einwohnerverein53 und, unter Führung der Karmeliter, eine Jugendgruppe und einen Bibelkreis. Ende des Jahres 1981 gab sich die Gemeinde einen Namen: „Gemeinde Profeta Elias“, nach einem Propheten, der mit dem Kampf des Volkes und der Frage der Organisation des Volkes um den Landbesitz assoziiert wird. Von da an baute die Gemeinde Kontakte mit verschiedenen Organisationen auf, welche zugunsten armer Gemeinden arbeiten: Mit dem Pastorale der Favelas, mit dem Serviço de Justiça e Paz54 und mit der landesweiten Bewegung der Einwohnervereine. Einige Mitglieder der Gemeinde reisten nach São Paulo, wo ein Einwohnerverein zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens erreicht hatte, dass besetzte Grundstücke den darauf siedelnden Familien zum Kauf überschrieben wurden. Schliesslich gelang es der Gemeinde Profeta Elias als zweiter Gemeinde in ganz Brasilien,

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ten (Baracken, Häuser), welches Land in fremdem Besitz (öffentlichem oder privatem) besetzt oder bis vor kurzem besetzt hat, und welches zum grössten Teil der essentiellen öffentlichen Dienste ermangelt“ (zitiert in: Observatório Regional Base de Indicadores de Sustentabilidade Metropolitano de Curitiba (ORBIS MC), 26.1.2005. (http://www.observatorio.org.br/imprensa/rep26.pdf, 6.10.2005). Für eine ausführliche Definition siehe Brockhaus Enzyklopädie, http://www.tanto.de. Wichtige Vertreter in Brasilien sind u.a. Leonardo Boff (Theologe) und sein Bruder Clódovis, Dom Helder Cámara (Erzbischof von Olinda und Recife), Dom Antonio Fragoso (emeritierter Bischof von Cratéus), Paulo Evaristo Kardinal Arns (emeritierter Erzbischof von São Paulo), Pedro Casadáliga (emeritierter Bischof von São Felix do Araguaia). Weitere bekannte lateinamerikanische Befreiungstheologen sind Gustavo Gutiérrez (Peru), Ernesto Cardenal (Nicaragua) und der 1980 ermordete Oscar Romero (Bischof von San Salvador). Associação de Moradores. Dienst für Frieden und Gerechtigkeit, für dessen Aufbau der Argentinier Adolfo Pérez Esquivel im Jahr 1980 den Friedensnobelpreis erhielt.

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dasselbe zu erreichen, eine Tatsache, über die sich viele ihrer Mitglieder noch zwanzig Jahre später mit Stolz äussern. Im März 1984 übersiedelten erstmals drei junge Karmeliter vom Kloster in die Vila Lindóia, Fernando (de Gois, der spätere Koordinator der Chácara), Osni und Euclides. Sie hatten eine katholische Ausbildung und sahen sich als Vertreter der Befreiungstheologie und -pädagogik. Sie brachten keine bereits vorproduzierten Projekte und Lösungen in die Vila Lindóia, sondern nahmen zunächst eine Analyse der Situation am Ort vor. Ihnen fiel auf, dass nicht alle Familien an den Entscheiden der Gemeinde beteiligt waren und dass es für die Kinder und Jugendlichen kaum Raum gab. Daraufhin argumentierten sie einerseits in der Gemeinde zugunsten einer Öffnung für die Kinder und nützten und förderten anderseits die Fähigkeiten der Kinder, um in diesen Raum einzutreten und der Gemeinde zu zeigen, dass das Miteinander mit den Kindern eine Bereicherung für alle sei. Dazu Fernando de Gois: Diese Gemeinde war sehr beständig und stark in der Frage der Spiritualität, in einer Religiosität í die sie schon hatte í des Kampfes, des Widerstands, aber es war noch eine sehr vom Machismo geleitete Arbeit. Ich sage es mal so, die Welt, die Gesellschaft wurden nicht für die Kinder gemacht (...). Und in dieser Gemeinde war es auch so, es waren immer dieselben Anführer, nämlich diejenigen Personen, die sich hervortaten, und andere, auch gute Personen, standen am Rand; so war es bei den Erwachsenen. In Bezug auf die Kinder erinnere ich mich, dass etliche Mütter sich 55 um die Kinder anderer kümmerten , während ihre eigenen Kinder auf der Strassen und in den Favelas „weggeworfen“ waren, und dass sich die Gemeinde nicht um diese Kinder sorgte (…) nun, das störte mich, und ich und die Gruppe, in der wir zusammen lebten, [wir beschlossen, etwas zu tun,] um die Gemeinde von den Kindern ausgehend zu organisieren. Und ich erinnere mich, dass die Leute reklamierten, dass die Kinder Steine warfen und störten, wenn Messen und Gottesdienste abgehalten wurden ... „Leute! Aber habt Ihr bemerkt, dass Eure Feiern nicht für die Kinder gemacht sind, (...) und darum machen sie nicht mit, weil es hier drin keinen Raum für sie gibt. Darum werden wir das ändern, wir werden Theaterstücke machen, die sie aufführen, [zusehen] dass sie Plakate malen, dass sie ihre eigene Kultur hierher in die Messe hineinbringen. Wenn Ihr gerne Texte beten wollt, dann werden sie singen wollen, nicht, man muss die beiden Seiten einbeziehen, und zulassen, dass ihre Kultur hereinkommt.“ Und als die Gemeinde begann, den Kindern und Jugendlichen die Türe zu öffnen, brachten diese viel mehr Kreativität herein als die Erwachsenen; sie 56 57 brachten Theaterstücke, Musik, Zeichnungen, L. machte Cordel -Gedichte, und 55 56

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Als Hausangestellte bei wohlhabenderen Familien. Damals ein Kind der Gemeinde, zum Zeitpunkt der Feldforschung Erzieher mit Koordinationsaufgaben in der Chácara. Cordel: eine traditionelle Gesangsart, ähnlich Bänkelgesang, zumeist mit politisch und sozial kritischen Themen und Kommentaren.

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all dies gab der Gemeinde neues Leben. Es gab einen Marsch zur Frage des Landbesitzes, und sie machten eine Musik-Band mit Büchsen, alle sangen und gingen bis vor die Präfektur, und so begannen die Dinge, als integrierte Arbeit zu funktionieren, weil man anfing, die Kreativität und Fähigkeiten der Kinder zu nützen, um dann mit den Erwachsenen zusammen Dinge zu erarbeiten. (Interview, 20. April 2003)

Die Karmeliter brachten also nicht fertige „Programme“ zugunsten von „Begünstigten“ in die Vila Lindóia, sondern erkannten und stärkten bereits vorhandene Ressourcen des Einzelnen und der Gruppe, so zum Beispiel bereits existierende Organisationsformen der dort lebenden Kinder und Jugendlichen. Einen der Ansatzpunkte dafür bildeten, gemäss Fernando de Gois, die Überlegungen des französischen Pädagogen Célestin Freinet58, welcher dafür plädiert hatte, den Prozess des Lehrens auf diejenigen Fähigkeiten auszurichten, welche Kinder bereits in sich tragen. So könnten die Kinder auf der Basis ihrer eigenen Alltagsaktivitäten lernen: Wir nützten die Kreativität der Anführer der Gemeinde ... wir stimulierten nur, aber es gab schon die Leute, die in der Katechese arbeiteten oder im Einwohnerverein, und so gab es schon verschiedene Anführer. Wir kanalisierten nur, machten bewusst, diskutierten, und nützten alles (...) [wir sagten] zum Beispiel: "Leute, lasst uns sehen, was die Kinder hier machen: Sie spielen Fussball. Also, es war Fussball, also musste man die Kinder auf der Basis des Fussballs organisieren, auf der Basis des "Drachen-Steigen-Lassens". Es war auf der Basis derjenigen Dinge, die sie am häufigsten taten, dass wir anfingen, mit der Gemeinde zu arbeiten. (Interview, 20. April 2003)

Im Sinne der Pädagogik von Paulo Freire59, welche davon ausgeht, dass die Bewusstmachung von sozialen Zusammenhängen eine wichtige Bedingung für die Befreiung der Menschen im Sinne einer eigenständigen Gestaltung ihres Lebens ist, wurde die Vernetzung mit den lokalen Schulen gepflegt. Stützunterricht und viele Freizeitaktivitäten (gemeinsames Kochen, Theater, Musik, Hütten Bauen etc.) wurden mit den Kindern durchgeführt. Mit Erwachsenen und Kindern zusammen wurden Kurse und Aktivitäten gestaltet (Makramé, Töpfern, Malen, Basteln, Haare-Schneiden, Maniküre, Schneidern für die Mütter, Maschinenschreiben, Alphabetisierung). Die Kinder und Jugendlichen stärkten damit ihre Fähigkeiten und ihr Bewusstsein für soziale Zusammenhänge und bildeten eine immer stärkere Gruppe, welche ihre Anliegen formulieren konnte und mehr Platz in der Gemeinde und in der weiteren Gesellschaft fand und erhielt. So erarbeite58 59

Siehe z. B. Freinet, C. (1998) Pädagogische Werke Bd 1 & 2, Paderborn: Schöningh. Siehe z. B. Freire, P. (1973) Bildung als Praxis der Freiheit. Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

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ten sie sogar Texte und Anträge, welche sie den Abgeordneten der Legislative zuhanden der konstituierenden Versammlung übergaben, als im Jahr 1987 die neue brasilianische Verfassung formuliert wurde. 4.1.2 Bürgerinitiative auf der Strasse Ein bedeutender nächster Schritt trat mit dem Gang der Mitglieder der Gemeinde Profeta Elias auf die Strasse ein. Hier entstand und entwickelte sich die konkrete Arbeit mit dem künftigen Zielpublikum der Chácara und wurden erste Fundamente für deren Realisierung gelegt. Auch dieser Schritt soll hier beschrieben werden. Mit der zunehmenden Organisation der Gemeinde Profeta Elias trat zunehmend ein Gedanke in den Vordergrund, den Fernando de Gois entwickelt hatte: Im Jahr 1983 ging ich in den Nordosten [Brasiliens], und dort entdeckte ich eine ganz andere Region, in der es viel mehr Solidarität gab als im Süden. Ich knüpfte dort viele Kontakte und nahm an Sitzungen und Begegnungen teil mit Dom 60 61 Hélder , Dom Antonio Fragoso und vielen anderen Führungspersönlichkeiten, von denen die meisten wie ich eine Erfahrung im religiösen Leben machten. So gab es viele religiöse Führungspersönlichkeiten, welche in Armensiedlungen integriert waren, mit der Bevölkerung der Strasse arbeiteten oder mit Arbeitern. Zu dieser Zeit erkannte ich, dass ich etwas anderes tun könnte, etwas anderes als immer nur zu beten und zu beten. (…) Mit diesen Personen zusammen las ich viel von Paulo Freire, Freinet und vielen anderen Autoren, welche sich mit einer Arbeit an der Basis, des Kampfes und des Widerstandes beschäftigen. Als ich aus dem Nordosten zurück kam, zog ich in die Vila Lindóia (…). Ich studierte im zweiten Jahr Philosophie, und ich arbeitete halbtags und studierte halbtags und lebte integriert in dieser Gemeinde. Der Staat hatte eine Gruppe von Professorinnen und Professoren, welche Erfahrungen mit der Methode von Paulo Freire in Kinderheimen gemacht hatten, und die mit der Bevölkerung arbeiteten. Wir taten uns mit ihnen zusammen, um Freinet und Paulo Freire zu studieren, und lernten dabei viel, im Gespräch und in der Umsetzung, und ich entdeckte dabei, dass ich eine spezifische Arbeit mit der Bevölkerung der Strasse entwickeln könnte. (Interview, 20. April 2003)

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Dom Hélder Câmara, 1909-1999, Erzbischof von Olinda und Recife, gilt als einer der profiliertesten Befreiungstheologen und bedeutendsten Kämpfer für die Menschenrechte in Brasilien. Von ihm stammen unter anderem bekannte Sätze wie: „Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennen sie mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum die Armen kein Essen haben, nennen sie mich einen Kommunisten.“ und „Wenn einer alleine träumt, dann bleibt es ein Traum. Wenn wir aber alle gemeinsam träumen, dann wird es Wirklichkeit.“ Dom Antonio Fragoso, geboren 1920, emeritierter Bischof von Cratéus, profilierter Befreiungstheologe.

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Im Jahr 1987, sechs Jahre vor Eröffnung der Chácara, suchte und fand Fernando unter den Mitgliedern der Gemeinde Profeta Elias Erwachsene und Jugendliche, welche mit ihm die Arbeit mit der Bevölkerung der Strasse aufnehmen wollten, wie eine damals beteiligte Frau in einem Interview berichtete: Und Fernando ... eines Tages lud er uns ein, eine Arbeit auf der Strasse zu machen, denn es waren nicht nur jene Kinder [der Gemeinde, in der die Befragte lebte], die in Gefahr waren, auf die Strasse zu gehen, sondern es waren bereits ziemlich viele Kinder auf der Strasse. Und er lud uns ein, um zu sehen, ob wir mit ihm gehen würden, um mit den Kindern zu sprechen, um die Situation der Kinder, die auf der Strasse waren, kennen zu lernen, und wir schlugen ein: "Gehen wir, gehen wir!" Meine Güte! Ich fand seine Idee phantastisch; ich fand, dass wir uns wirklich in erster Linie mit dem Kind beschäftigen müssen, so, wie es ist. (Interview, 26. April 2004)

Der Kern der ersten Gruppe aus der Gemeinde Profeta Elias, welche sich für den Kontakt mit den Kindern auf der Strasse zusammenfand, bestand aus Fernando Francisco de Gois, Aparecido Peixoto (Möbelschreiner, später Vorstandsmitglied der Chácara), Marlene Aparecida Carvalho Peixoto (Coiffeuse, später Vorstandsmitglied der Chácara), Luiz Antônio do Carmo (der Autorin nicht bekannt) und Marcos Mortais (der Autorin nicht bekannt), damals alle im Alter von Mitte bis Ende Zwanzig. Mitarbeiter waren aber auch Jugendliche, nämlich Raul Correia, José Carlos Gonçalves da Luz, Luís Carlos Martins und Valmir da Silva, die alle später Erzieher in der Chácara werden sollten. Die Mitglieder der Gruppe identifizierten sich stark mit den Strassenkindern und deren Situation, weil sie alle selbst aus armen Verhältnissen kamen, zeitweise obdachlos gewesen waren und unter dem reduzierten Zugang zu den Produkten und Dienstleistungen der Gesellschaft zu leiden hatten. Einer der vier erwähnten Jugendlichen erzählte in einem Interview: In meiner Kindheit machte ich immer grosse Schwierigkeiten durch. Mein Vater war Alkoholiker, das heisst, nicht mein Vater, mein Stiefvater; meinen richtigen Vater kannte ich nicht. Es gab dieses Problem des Alkoholismus in der Familie, und so war es eine Situation sehr grosser Armut, die ich in meiner Familie erlebte. (...) Ich wurde [zu Hause] übel zusammengeschlagen und hätte um mein Leben [fürchten müssen], wenn ich weiter bei meiner Familie geblieben wäre, und [wenn nicht], hätte es leider sein können, dass ich auf der Strasse gelandet wäre. So fand ich es besser, mein Zuhause zu verlassen. Fernando half mir dann [und sagte], sie hätten Platz in ihrem Haus62, und so kam es, dass ich bei ihnen wohnte. In diesem Haus beschäftigten wir uns mit [dem Thema] der ganzen Arbeit mit Kindern der Strasse sowie 62

Haus in der Vila Lindóia, in dem Fernando und die anderen Karmeliter arbeiteten.

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mit der Gruppe der Kinder und Jugendlichen der Gemeinde Prophet Elias, und so identifizierte ich mich immer [mit der Arbeit]. Ich arbeitete mit den Jungen, welche auf der Strasse waren, welche von Zuhause weggegangen waren wegen des Alkoholismus in der Familie, und auch mit den Jungen, die Karton sammelten, so, wie wir selbst es taten. Ich selbst überlebte lange dank dem Abfall, indem ich Karton sammelte, und so identifizierte ich mich immer mit dieser Realität. (Interview, April 2004)

Auch Fernando de Gois, der als einziges Mitglieder der Gruppe über einen Universitätsabschluss verfügte, begründet sein Engagement unter anderem mit der eigenen Herkunft: Meine Familie lebte [als Landlose] unter aufgespannten Plastikblachen, und trotzdem war meine Mutter eine grosse Anführerin. Sie organisierte die Leute, um zu Pensionszahlungen zu kommen, förderte ihr Bewusstsein für die eigenen Rechte, organisierte Versammlungen (…). Das habe ich auch [von ihr] gelernt. (Interview, 20. April 2003)

Und: Ich komme aus sehr bescheidenen Umständen und wohne in einem Land grosser Misere, und darum bewegte mich die Solidarität derjenigen Menschen sehr, die nichts haben. Ich hatte auch nichts, und ich habe auch heute nichts, aber ich bin glücklich, weil ich nichts habe und auch nichts brauche. Ich glaube, dass die Solidarität im Zusammenhang mit dem Leiden des Volkes und im Zusammenhang mit meinen eigenen Wurzeln mich sehr zum Denken anregte. Als ich zum Beispiel im Kloster war, hatte ich meine Dinge63. Heute habe ich kein Brot für alle, aber ich kann das kleine Brot, das ich habe, mit den anderen teilen. Ich muss auch nicht einen Kleiderschrank öffnen und in eine Krise geraten, weil ich nicht weiss, ob ich eine schwarze, rote oder gelbe Hose auswählen soll. Da gibt es ja auf der anderen Seite jemanden, der [gar] keine Kleider hat, der, wenn du so willst, nicht einmal das Recht aufs Leben hat. Und wir, in unserem kapitalistischen System, haben eine Krise vor lauter Überfluss und vergessen, dass das Leben des anderen wichtiger ist als jegliches anderes Gut. (...) Schau, das Wichtige ist, dass du den gegenwärtigen Moment gut lebst. Wenn du nicht das Leben Aller verbessern kannst, dann lebst du [einfach] diese Solidarität. Und so ging 64 ich, um in dieser peripheren Siedlung zu leben, oder auch hier in der Chácara, um die Gegenwart zu leben und nach Alternativen für die Gesellschaft zu suchen, und dies zusammen mit den Kindern und Jugendlichen. (Interview, 20. April 2003)

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Er trat kurz vor der endgültigen Weihe aus dem Kloster aus, um sich ganz der Arbeit mit armen Menschen – konkret dem Aufbau der Chácara – zu widmen. Favela Vila Lindóia.

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Im Jahr 1997, lange vor Beginn der vorliegenden Forschungsarbeit, fragte die Autorin an einem Abend in der Chácara eine Gruppe dort lebender ehemaliger Strassenjungen, was für sie auf der Strasse das Schwierigste gewesen sei. In ihren Antworten erwähnten die Jungen zwar, dass sie auf der Strasse Hunger, Gewalt, Drogen und Kälte erlebt hätten, fügten jedoch – entgegen den Erwartungen der Autorin – hinzu, dass dies nicht das Schwierigste gewesen sei, denn sie hätten ja in ihrem Leben schon gelernt gehabt, „ohne nichts zu leben“. Das Schlimmste sei für sie gewesen, dass die Menschen auf der Strasse sie nicht angesehen, sondern den Blick abgewandt hätten und an ihnen vorbeigegangen seien. Das Vorgehen der Gruppe aus der Vila Lindóia steht in starkem Kontrast zu diesem „Abwenden des Blickes“. Wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer einer ähnlichen Geschichte entspringenden Identifikation mit den Kindern und Jugendlichen der Strasse gingen die Gruppenmitglieder mit Respekt und Akzeptanz und ohne allzu viel Scheu auf diese zu. Sie behandelten sie als eigenständige Personen und wollten sie zunächst einmal kennen lernen – „ansehen“ – ohne ihnen irgendwelche „Lösungen“ aufzudrängen. So berichtet die bereits zitierte, an der damaligen Arbeit beteiligte Frau: Bevor wir aber auf die Strasse gingen, (...) hatten wir sogar ein bisschen Angst, waren ein bisschen unsicher, und wussten nicht, wie wir dies tun sollten, aber [wir sagten]: "Wir werden es zusammen lernen", und so beschlossen wir, dass wir an erster Stelle ihren Raum (der Strassenkinder) respektieren würden ... denn er ist ihr Ort ... nicht im Sinne, dass ihr Platz auf der Strasse ist, aber es ist der Raum, wo sie sich im Moment befanden ... und so würden wir nicht [auf die Strasse] gehen, um in die Privatsphäre des Einzelnen einzudringen; wir würden hingehen, um sie zu treffen und um ihre Ideen zu hören, denn wir wussten, dass kein Kind die Idee hat, das ganze Leben auf der Strasse zu verbringen, denn die Strasse ist niemandes Heim, nicht wahr? Auf der Strasse ist niemandes Heim, und so gingen wir mit nichts als uns 65 selbst und mit Mut . Wir beschlossen sogar, vorher zu beten; wir baten darum, dass es gut klappen solle. (Interview, 26. April 2004)

Der Entschluss, den privaten Raum der Kinder auf der Strasse zu respektieren und sie zu treffen, um ihre Ideen zu hören, brachte eine grundsätzliche Neuerung in der Zusammenarbeit mit dieser Population. Dass nicht alle Personen, die sich den auf der Strasse lebenden Kindern und Jugendlichen annäherten, auf diese Weise verhielten, geht aus der Fortsetzung des vorangegangenen Zitates hervor: Wir grüssten [die Kinder], hielten uns um sie herum auf, fragten nach ihrem Namen. So am Anfang schenkten sie uns nicht viel Beachtung (...) aber wir blieben da, sag65

“A cara e a coragem”. Redensart, wenn man sich mehr oder weniger allein auf etwas einlässt, ohne viel Absicherung und Vorbereitung.

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ten: "Schau, ich bin die [nennt ihren Namen], und dies hier ist [nennt den Namen ihres Ehemanns], und wir sind hier ... wenn ihr Hilfe braucht, dann sind wir hier". Wir begannen zu fragen, wann sie Geburtstag hatten: "Wie wär's, wenn wir ein Fest machen würden?", und so gewannen wir sie mit der Zeit. Sie wollten wissen, ob wir von der Präfektur seien, oder ob wir von der Universität seien, wer wir seien. Wenn wir von der Präfektur gewesen wären: Sie hatten schon herausgefunden, dass die Arbeit der Präfektur Assistenzialismus66 ist und fingen [darum] gleich an, um Kleider und Schuhe zu bitten; und die Universität mögen sie nicht sehr, weil die Leute sie nur benützen, verstehst Du, um die Note [für eine universitäre Studie] zu erhalten, und danach nie mehr auftauchen. Und wenn es ein Politiker war: Die Politiker machten ihnen auch Versprechungen, fotografierten und filmten [sie] sogar, und dann zahlten sie etwas, aber manchmal zahlten sie dann gar nicht, und wenn sie zahlten, dann war es nicht dasselbe [was versprochen worden war], sie betrogen sie. Und manchmal nahmen sie sie sogar an irgendeinen Ort mit, um sie dort zu filmen, zusammen mit irgendeinem Politiker, und liessen sie dann einfach dort zurück. So sagten wir, dass wir niemand von denen seien, dass wir Personen gleich wie sie seien, und dass wir ihre Freunde sein wollten, und da fassten sie [mit der Zeit] mehr Vertrauen zu uns. (Interview, 26. April 2004)

Und: Als sie gesehen hatten, wer wir waren, sahen sie, dass wir wirklich als Freunde da waren und nicht zu irgendeiner Bewegung gehörten, und so vertrauten sie uns mehr. (...) Wir gaben ihnen sogar unsere Telefonnummern zu Hause, unsere Adressen, und sagten: "Schaut, wenn ihr irgendetwas braucht ... [dann nehmt Kontakt auf]. (Interview, 26. April 2004)

Zusammengefasst, kann gesagt werden, dass die Gruppe, welche die ersten Arbeiten begann, die später zur Eröffnung der Chácara führte, aus Erwachsenen und Jugendlichen bestand, welche selbst aus sehr armen Verhältnissen stammten und phasenweise annähernd oder ganz obdachlos gewesen waren. Die aus der Armensiedlung Vila Lindóia stammenden Personen hatten in der dortigen Bürgerbewegung erste Organisationserfahrungen gesammelt. Diese wurden durch die Tätigkeit der in die Vila Lindóia gekommenen, von der Befreiungstheologie geprägten jungen Karmeliter verstärkt und schlossen nun mehr Personen – darunter vor allem auch die Kinder und Jugendlichen – ein. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Vila Lindóia hatten konkrete Erfolge ihrer Initiativen erlebt, und zwar nicht nur in der Armensiedlung, sondern auch auf einer politischen Ebene. Dabei hatten sie die Erfahrung gemacht, dass trotz der kargen finanziellen Ressourcen eine sozial benachteiligte persönliche und kommunitäre Situation ver66

Assistenzialismus (assistencialismo): punktuelles, nicht nachhaltiges Offerieren von Almosen, welche die Ursachen der Situation nicht beheben.

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bessert werden kann, wenn man sich in einer Gruppe zusammenschliesst, deren Mitglieder gemeinsam und solidarisch handeln, Kenntnisse und Fähigkeiten einsetzen und fördern, sich mit anderen Personen vernetzten und ihre Rechte einfordern. Unter anderem aufgrund dieser Erfahrung sowie einer starken Identifikation mit der Situation der Strassenkinder nahmen sie den Impuls des Karmeliters Fernando de Gois auf, sich nun diesen zuzuwenden, nachdem die Verhältnisse in der Armensiedlung besser geworden waren. Dabei begannen die künftigen Initianten und Initiantinnen der Chácara ihre Arbeit nicht mit der Gründung einer Organisation, sondern waren der Meinung, dass sie zunächst die Kinder und Jugendlichen der Strasse kennen lernen müssten, bevor sie mit ihnen zusammen Aktivitäten und eine Organisation entwickeln könnten: Sie nahmen eine Analyse der Ausgangslage vor. Unter anderem gewannen sie dabei durch das Zusammensein sowie durch Beobachtung und Befragung der Kinder und Jugendlichen Erkenntnisse, welche sich nicht nur auf deren Probleme, sondern darüber hinaus auf Ursachen, Beweggründe, Bedürfnisse und Potentiale bezogen. 4.1.3 Kinder und Jugendliche auf den Strassen von Curitiba Obwohl die Mitglieder der Gruppe der Gemeinde Profeta Elias dem Prozess des Kennenlernens und der eigentlichen Analyse, den sie bei und zusammen mit den Kindern und Jugendlichen auf den Strassen von Curitiba durchführten, hohe Bedeutung zumassen, hielten sie die resultierenden Erkenntnisse nie umfassend und systematisch schriftlich fest. Da die Interviewten die Wichtigkeit der Eigensicht und -darstellung der Kinder und Jugendlichen für die Chácara jedoch immer wieder betonten, wurde entschieden, diesen Prozess des Kennenlernens in der vorliegenden Studie in gewisser Weise nachzuvollziehen. Dafür wurde eine grosse Anzahl von Aussagen der Jungen der Chácara über ihr Leben zuhause, auf der Strasse, in den Händen der Polizei, in anderen Projekten und in der Chácara analysiert.67 Dieser Zugang wurde in der Annahme gewählt, dass er sich an die Kenntnisse der Mitarbeitenden der Chácara annähert, indem er die wichtigsten der ihnen zu Verfügung stehenden Auskunftspersonen und Informationsquellen erfasst. Die meisten dieser Aussagen waren vor bzw. ausserhalb der Forschung gemacht worden und alle gegenüber Personen, zu denen die Jungen in einem engen Vertrauensverhältnis stehen; im Falle der schriftlichen Texte zumeist gegenüber Personen, welche früher an der Strassenarbeit beteiligt oder selbst Strassenkinder 67

Aussagen von Mädchen lagen keine vor, da in der Chácara keine Mädchen leben. Für Gründe der Abwesenheit von Mädchen in der Chácara siehe Kapitel 4.1.3.1

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gewesen waren, im Falle der Interviews gegenüber der Autorin, mit der sie ebenfalls in einem Vertrauensverhältnis stehen, oder gegenüber anderen ehemaligen Strassenjungen aus dem Projekt. Einleitend werden nun die Kinder und Jugendlichen auf den Strassen von Curitiba bezüglich ihrer Anzahl, ihres Geschlechts und ihres Alters vorgestellt. Daraufhin beschreibt Kapitel 4.1.3.2 die durchlaufenen Lebensbereiche bzw. -kontexte der Jungen der Chácara aus deren eigener Sicht. In Kapitel 4.1.3.3 wird aufgrund ihrer Beschreibungen der Ausgangskontext „eigene Familie“ dargestellt, und in Kapitel 4.1.3.4 werden die Gründe geschildert, die sie für ihre Wechsel zwischen Kontexten angeben. Der Kontext „Strasse“ in der Wahrnehmung der Jungen ist Inhalt von Kapitel 4.1.3.5 und die Gesellschaft, die sie erleben, von Kapitel 4.1.3.6. Darauf folgt eine Analyse der Rollen, Aktivitäten und Fähigkeiten, von welchen die Jungen berichten, und eine Diskussion der zu ihrem Überleben notwendigen Kompetenzen. Die sozialen Kontexte „Eigene Kernfamilie“ und „Strasse“ sowie die Rollen und Aktivitäten der Kinder und Jugendlichen in ihnen sind von Bedeutung für die Organisation der Chácara, wird diese doch mit ihrer Gründung zur Akteurin im Feld der Beziehungen zwischen den betreuten Jungen und ihren Familien sowie der Gesellschaft und dem Staat. Ihre Population wird aus Kinder und Jugendlichen bestehen, die bestimmte Rollen und Aktivitäten gewohnt sind und über bestimmte Fähigkeiten verfügen. Wenn in diesem Zusammenhang über Lebenskontexte und Eigenschaften der Kinder und Jugendlichen der Strasse geschrieben wird, muss angemerkt werden, dass es sich hierbei nicht um detaillierte Analysen der Situation jedes Einzelnen geht, sondern um einen Überblick über die Aspekte, welche von einer Anzahl von Jungen der Strasse im Zusammenhang mit ihrer Situation genannt wurden. Dies bedeutet, dass die erwähnten familiären, gesellschaftlichen und persönlichen Aspekte zwar typisch sind für die Situation der Kinder und Jugendlichen der Strasse, dass sie aber nicht auf alle Jungen der Chácara und alle noch auf der Strasse lebenden Kinder und Jugendlichen in gleichem Masse zutreffen. Obwohl die Aussagen der Kinder sich auf einen grösseren Zeitraum beziehen, sind keine Unterschiede zwischen früheren und heutigen Beschreibungen der Kontexte „Eigene Kernfamilie“ und „Strasse“ festzustellen. Jungen verschiedenen Alters haben in informellen Gesprächen jedoch erwähnt, dass heute im Vergleich zu früher mehr jüngere Kinder auf der Strasse sind, Kinder und Jugendliche wesentlich mehr Zugang zu Waffen und harten Drogen haben (unter dem gewachsenen Druck stärker organisierter Drogenbanden in den Armensiedlungen), und dies ebenfalls in einem wesentlich jüngeren Alter als vor 10 oder 15 Jahren.

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Die Phase des Kennenlernens der Kinder und Jugendlichen – das heisst des späteren Zielpublikums der Chácara – dauerte drei bis vier Jahre. Sie wird von den damals Beteiligten als von fundamentaler Bedeutung für die Chácara beurteilt. Die von den Beteiligten in dieser Zeit gewonnenen Erkenntnisse sollen deshalb hier ebenfalls ausführlich dargestellt werden. Ergänzend zu den Interviews und schriftlichen Texten der Jungen wurden die Resulate einer Studie beigezogen, welche im Jahr 1993 von einer Psychologieprofessorin einer brasilianischen Universität in Zusammenarbeit mit den Gruppenmitgliedern in Curitiba durchgeführt wurde. Diese hatte das Ziel, demographische Daten und weitere Informationen über sämtliche sich auf der Strasse aufhaltenden Kinder und Jugendlichen zu erheben. 4.1.3.1 Anzahl, Geschlecht und Alter Im Jahr 1993 wurde von Gomide (1995), einer Anzahl von Personen aus der bereits erwähnten Strassenarbeit sowie von einigen Mitgliedern der Nationalen Strassenkinderbewegung68 in sehr sorgfältiger Arbeit erstmals versucht, alle sich auf den Strassen von Curitiba aufhaltenden Kinder und Jugendlichen statistisch zu erfassen. Die Untersuchung wurde erst abgeschlossen, als keine weiteren Kinder und Jugendlichen mehr gefunden werden konnten. Insgesamt wurden 1'154 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 18 Jahren erfasst und befragt; weitere 18 wurden angetroffen, waren aber nicht bereit, sich an der Studie zu beteiligen. Vier Fünftel der erfassten Kinder und Jugendlichen lebten bei der Familie, während ein Fünftel (243; 21%) angaben, auf der Strasse zu leben. Innerhalb der letzteren Gruppe gab es wesentlich mehr Jungen als Mädchen, nämlich 213 Jungen (88%) und 30 Mädchen (12%). Damals an der Untersuchung Beteiligte berichten, dass die meisten der 30 Mädchen bereits älter als 14 Jahre waren und mit älteren Jungen oder jungen Männern zusammen auf der Strasse lebten. Bei den Jungen war hingegen das ganze Altersspektrum von 6 bis 18 Jahren vertreten und war ein grosser Teil weniger als 14 Jahre alt. Der Projektkoordinator Fernando de Gois begründet die geringere Anzahl von Mädchen, welche ganz auf der Strasse leben, wie folgt69: 68 69

Movimento Nacional de Meninos e Meninas de Rua. Verschiedene Gruppen von Mädchen werden im Volksmund oder auch von Hilfsorganisationen als „Strassenmädchen“ bezeichnet, darunter in der organisierten Prostitution arbeitende Mädchen. Gemäss der vorgestellten Definitionen kann der Begriff auf diese Mädchen jedoch nicht angewendet werden, da sie sich weder den grössten Teil der Zeit auf der Strasse aufhalten noch dort leben. Ihre Situation ist oft noch schlimmer als die der Strassenkinder und der Zugang zu ihnen noch schwieriger. Das jüngste der organisierten Prostitution entronnene Mädchen, das die

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Es gibt Mädchen auf den Strassen, aber es ist halt so, die Familien haben eine Anzahl von Kindern, und in unserer kapitalistischen Gesellschaft geht der Junge Fussball spielen, Drachen steigen lassen, und die Mutter geht arbeiten und lässt das Mädchen [zu Hause], und es ersetzt die Mutter; manchmal ist das Mädchen [nur] sieben oder acht Jahre alt und übernimmt die Rolle seiner Mutter im Haus. So arbeitet das Mädchen mehr und kommt schlussendlich auf weniger Ideen (...) und so kommt es, dass es, wenn man heute eine Zählung durchführt, wesentlich mehr Jungen auf den Strassen gibt als Mädchen. (Vortrag Uniandrade, 22. April 2004)

Leider gibt es keine Studie über die Anzahl der ganz auf der Strasse lebenden Jungen und Mädchen in Curitiba, die neuer ist als diejenige von Gomide (1995). Der Augenschein der Autorin auf der Strasse sowie die Aussagen von Jungen und Mitarbeitenden der Chácara, welche Kontakt mit Kindern und Jugendlichen auf der Strasse pflegen, lässt jedoch vermuten, dass die Gesamtzahl sowie die Zahl der sehr jungen Kinder (< ca. 9 Jahren) und der Mädchen eher angestiegen ist. So sind etwa seit dem Jahr 2001 gelegentlich auch gemischte Gruppen von Kindern und Jugendlichen beider Geschlechter anzutreffen, welche auf der Strasse leben. 4.1.3.2 Lebensfelder Im April 2003, zu Beginn der vorliegenden Forschungsarbeit, wurde mit 15 Jungen im Alter von 7 bis 13 Jahren aus dem Vierten Haus der Chácara, welches Neuankommende und Jüngere aufnimmt, eine „Gincana“, ein Wettbewerb mit verschiedenen spielerischen Elementen durchgeführt70. In einer der Übungen wurde fünf Jungen die Frage gestellt: „Wie warst Du, bevor Du in die Chácara kamst?“ Da die meisten von ihnen noch nicht schreibsicher waren, wurden sie gebeten, ihre Antwort in einer Zeichnung festzuhalten und diese dann „dem Aufnahmegerät in einigen Sätzen zu erklären“. In ihren Antworten auf diese sehr offen gehaltene, aber auf persönliche Eigenschaften ausgerichtete Frage, stellten sich die Jungen als Akteure in Geschichten und Kontexten dar: Ich habe gezeichnet – ja, dass es eine Person gab, die so die alten Frauen bestahl, und die den Unterricht schwänzte, [und] nicht in die Schule ging. (12-jähriger Junge)

70

Autorin antraf, war sieben Jahre alt. Es hatte in einem Bordell in einer anderen brasilianischen Stadt gearbeitet, das von Politikern protegiert wurde. Siehe auch Kapitel 3.4.4.

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Ich habe gezeichnet, wie ich um ein paar Münzen bettle, und dann ist [einer] gekommen – und dann hat der Typ gesagt: „ich habe nichts“, und dann ist der VW-Bus der Sozialbehörde71 gekommen, und dann hat mein Freund gesagt, ich soll wegrennen, [und] dann bin ich weggerannt. (12-jähriger Junge) Ich habe mich gezeichnet, wie ich war, lange bevor ich hierher kam; ich habe gezeichnet, wie ich Leim schnüffle und Zigaretten rauche, und dann ist ein Polizist gekommen, hat die Waffe auf mich gerichtet, [und] dann wollte er mich schlagen, [und] dann bin ich drangekommen und musste ihm Drogen geben, und er schlug 72 mich immer weiter (...) ; ich bin hierher in die Chácara gekommen und habe das Leben geändert. (12-jähriger Junge) Ich war auf der Strasse und schnüffelte Leim, da kam der VW-Bus der Chácara und 73 hat mich in die Chácara gebracht. Ich bin [jetzt] schon gross und habe geheiratet . (8-jähriger Junge) Ich habe gezeichnet, wie ich einen Drachen steigen lasse, ein Haus, einen Baum, eine Wolke und eine Sonne. (11-jähriger Junge)

Auch als die Autorin im Jahr 1999, lange vor der vorliegenden Forschungsarbeit, die Kinder und Jugendlichen fragte, ob sie für ein Poster eines Benefiz-Anlasses eine Zeichnung eines Strassenkindes anfertigen würden, erhielt sie nicht etwa Einzeldarstellungen von Personen, sondern Zeichnungen von Geschichten und Kontexten:

71 72 73

Resgate social. Nicht verständlich. Er stellt sich hier sein künftiges Erwachsenenleben vor.

120

Abbildung 4:

Es ist Nacht. Ein Polizist hat einem Jungen den Leim weggenommen (er steht auf der Kühlerhaube des Polizeiautos) und erschiesst nun den Jungen. (Zeichnung und Beschreibung eines 11-Jährigen der Chácara, Februar 1997)

121

Abbildung 5:

122

Vor dem Busbahnhof von Curitiba. Von links: Hotels, ein Bus, die Bushaltestelle (Ponto), ein Junge, der eine Handtasche stiehlt, die bestohlene Person ruft: Hilfe, fangt den Dieb! Jemand kommt mit einer Pistole gerannt, schiesst (vermutlich ein Polizist aus dem Polizeiauto zwischen den Bäumen). Zwei Jungen sitzen auf einer Bank unter einem Baum und halten Säckchen mit Leim in der Hand. Auf der Wiese zwischen dem grossen Baum und dem Hotel rechts haben Jungen ein Feuer gemacht. Vor dem Hotel ein Junge, der Leim schnüffelt. Kommentar des Zeichners zur Stelle mit dem Feuer: „Hier wohnten wir.“ Texte oben: Geh nicht auf die Strasse. Nimm keine Drogen. (Zeichnung und Beschreibung eines 13-Jährigen der Chácara, Februar 1997)

Abbildung 6:

Zwei zentrale, nebeneinander gelegene Plätze in Curitiba: Praça Ozório (oben), Praça Rui Barbosa mit Bushaltestelle (unten). Zuunterst, von links: das weiter entfernte Projekt Piá der Präfektur von Curitiba mit dem grossen Baum, über den die Jungen jeweils über die Mauer aus dem Projekt kletterten, um auf die Strasse zu gehen, zwei Jungen und der Satz: „Fangt den Dieb“, ein Haus, ein Polizeiauto, ein Junge, der vor einem Haus steht, drinnen hat eine grosse, dicke (erwachsene?) Person mit einer Pistole gerade eine kleine Person erschossen („morto“), daneben die Bushaltestelle der Rui Barbosa. Darüber eine Bank, auf der drei Erzieher der Chácara sitzen (im Original mit Namen bezeichnet) und eine Person schläft. Darüber der Sandplatz der Ozório, auf der fünf Jungen Fussball spielen, im einen Tor der Zeichner, im anderen sein bester Freund (im Original alle mit Namen bezeichnet). (Zeichnung und Beschreibung eines ca. 12-Jährigen, Februar 1997) 123

Da sich die Jungen als Teil eines (und möglicherweise mehrerer) Kontexte beschreiben, scheint es der beste Weg der Annäherung an sie zu sein, eine Analyse dieser Kontexte durchzuführen sowie der Art, wie sie sich darin beschreiben und positionieren. Zu diesem Zweck wurden 132 Selbstzeugnisse in der Länge von einem Satz bis zu ein bis zwei gedruckten A4-Seiten in Hinblick auf die Kontexte, die sie erwähnen, analysiert. Mehr als die Hälfte der Selbstzeugnisse wurde unabhängig von der vorliegenden Forschung und grösstenteils vor deren Beginn verfasst. Die übrigen Aussagen stammen aus 9 Interviews mit Jungen, 1 Interview mit einem ehemaligen Jungen, aus Aussagen aus der bereits erwähnten „Gincana“ und einem Text, den ein jugendliches Mitglied des Forschungsteams für die Forschungsarbeit verfasste. Die analysierten 132 Texte bestehen aus insgesamt 590 Textstellen, welche sich 13 verschiedenen Kontexten zuordnen lassen (alphabetische Reihenfolge), wovon 8 (bzw. 974) Lebensräume der Kinder darstellen und 5 weitere Bereiche sind, welche die Kinder erwähnen: Lebensräume: Andere Familien Andere Kinderprojekte Chácara

Eigene Kernfamilie Eigene Favela Gefängnis/Gericht

Natur (als Wohnort) Strasse Zukunft

Schule Staat

Zivilorganisationen75

Weitere Bereiche: Arbeitswelt Kirche

Der auffälligste Aspekt der Texte der Jungen sind jedoch nicht die einzelnen Kontexte, welche sie erwähnen, sondern die grosse Anzahl von Wechseln innerhalb oder zwischen Kontexten. In insgesamt 154 Textstellen erwähnen die Kinder und Jugendlichen eine Vielfalt von Wechseln, nämlich 35 verschiedene Kombinationen von Ausgangs- und Ankunftskontexten, welche sie bereits erlebt haben.

74

75

Die Zukunft ist nicht ein Lebensraum, aber sie umfasst unter anderem, in welchem Lebensraum sich der Jugendliche nach dem Verlassen der Chácara sieht. Um diesen darstellen zu können, wird "Zukunft" hier als "virtueller Lebensraum" geführt. Z. B. Unicef, Nationale Strassenkinderbewegung Movimento Nacional de Meninos e Meninas de Rua (MNMMR) etc.

124

Es sind dies (in alphabetischer Reihenfolge): Andere Familie Andere Familie Andere Familie Anderes Projekt Anderes Projekt Anderes Projekt Andere Familie Andere Familie Andere Familie Chácara Chácara Chácara Conselho Tutelar Conselho Tutelar Eigene Favela Eigene Favela Eigene Favela Eigene Favela Eigene Kernfamilie Eigene Kernfamilie Eigene Kernfamilie Eigene Kernfamilie Fundação Ação Social Gefängnis Gefängnis Land Strasse/Stadtzentrum Strasse/Stadtzentrum Strasse/Stadtzentrum Strasse/Stadtzentrum Strasse/Stadtzentrum Strasse/Stadtzentrum Strasse/Stadtzentrum Strasse/Stadtzentrum Vila Lindóia79 76

77 78

Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö Ö

Andere Familie Chácara Conselho Tutelar76 Chácara Eigene Kernfamilie77 Strasse/Stadtzentrum Anderes Projekt Eigene Kernfamilie Strasse/Stadtzentrum Anderes Projekt Eigene Kernfamilie Strasse/Stadtzentrum Anderes Projekt Fundação Ação Social78 Eigene Favela Eigene Kernfamilie Spital Strasse/Stadtzentrum Andere Familie Chácara Eigene Favela Strasse/Stadtzentrum Conselho Tutelar Chácara Strasse/Stadtzentrum Stadt Andere Familie Anderes Projekt Chácara Eigene Kernfamilie Fundação Ação Social Eigene Favela Gefängnis Vila Lindóia Chácara

Conselho Tutelar: von der Bevölkerung gewählte und von den Stadtbehörden bezahlte Personen, welche in jeder Region der Stadt erste Anlaufstelle im Fall von Verletzungen der Rechte des Kindes sind. Eigene Kernfamilie: mindestens 1 biologischer Elternteil. Sozialbehörde der Stadt. Existiert mit demselben Namen auch auf Niveau des Staates Paraná.

125

Betrachtet man die Liste der in den Texten erwähnten Lebensräume sowie diejenige der beschriebenen Ortswechsel, so wird klar, dass es noch eine Anzahl weiterer Kombinationen von Ausgangs- und Ankunftskontexten gibt, welche in den analysierten Texten jedoch nicht erwähnt wurden. Diese Beobachtung wird gestützt durch die Nennung anderer Kombinationen, welche in informellen, in diese Forschung nicht miteinbezogenen Aussagen von Kindern und Jugendlichen erfolgte. Hier nicht aufgeführt, für die Jungen jedoch ebenfalls von Bedeutung, sind im Weiteren die geographischen Wechsel, welche sie zum Beispiel in Zusammenhang mit der innerbrasilianischen Migration zusammen mit ihren Familien erleben. Die meisten Kinder haben eine grössere Anzahl solcher Wechsel von Lebensraum – und damit auch von Bezugspersonen – erlebt, also von Brüchen, bei denen bisherige Orientierungen und Bindungen an Bezugspersonen verschwanden und neue erschienen oder gefunden werden mussten. Ihr Leben ist zum Teil seit ihrer Geburt ein „Hin-und-Her“ zwischen verschiedenen Lebensräumen. Dieses ist keineswegs linear und progressiv, hat im Fall der Verfasser der analysierten Texte zuletzt jedoch immer zum Wohnort Strasse geführt, von wo aus kaum oder gar kein Kontakt mit den eigenen Kernfamilien bestand.80 So weist die folgende Erzählung eines Jungen innerhalb von 13 Lebensjahren 11 Wechsel des Lebens- und Beziehungsraumes auf, wovon 9 im Alter von 8 bis 12 Jahren, also innerhalb von 4 Jahren erfolgten: Mein Name ist L., ich bin 13 Jahre alt und habe eine ziemlich komplizierte Geschichte. Ich bin in Curitiba geboren und wurde von meinen Onkeln registriert und ging zu meiner Grossmutter wohnen. Das alles geschah, weil ich keinen Vater hatte und meine Mutter minderjährig war. Als ich sieben Jahre alt war, lernte meine Mutter einen Typen namens M.B.P. kennen und hatte einen weiteren Sohn mit ihm. Ein Jahr danach starb meine Grossmutter, und mein Leben wurde noch seltsamer. Ich ging zu meinen Tanten wohnen, und es war eine von ihnen, die mich registrierte; beinahe hätte ich schon ihren Namen vergessen, er ist C.F.G., und sie hatte einen anderen Sohn in meinem Alter, und wegen des Sohns konnte sie mich nicht mehr bei sich behalten. So musste ich zu meiner Mutter wohnen gehen, die ich nicht einmal richtig kannte, und zu meinem Stiefvater, der so tat, als ob er gut sei, der sich in Wahrheit aber mit der Zeit als wildes Tier herausstellte. Sie bekamen noch ein Baby, dieses Mal ein kleines Mädchen, dessen Name C. war, und der erste Sohn hiess M. Sobald C. zur Welt gekommen war, fing mein Stiefvater an zu trinken, meine Mutter zu beschimpfen und zu sagen, dass ich nicht sein Sohn sei. Ich sagte ihm wiederholt, er solle sie in Ruhe lassen, aber ich war ihm nicht so wichtig, wie die eigenen Kin79

80

Gemeint ist hier die Vila Lindóia als Zwischenstation zwischen der Strasse und einem anderen Ort. Dieses Resultat bestätigt die in Kapitel 2.2 aufgeführten Feststellungen von Lucchini.

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der, die sie hatten. Je mehr ich sagte, desto mehr mochte sie ihn. So kam es, dass ich beschloss, bei dem Onkel zu wohnen, der mich [ursprünglich] registriert hatte. Aber er hatte auch schon eine andere Beziehung. Während der Zeit, in der ich bei meinem Onkel lebte, lernte ich, arbeitete ich und machte ich Kurse. In derselben Zeit bekam meine Mutter noch einen Sohn, B. Weil sie schon zwei [Kinder] hatte und jetzt noch dieses, bat sie mich schlussendlich, zurückzukommen, und ich Dummkopf stimmte zu. Mein Stiefvater trank immer noch und beschuldigte mich zu guter Letzt, Dinge getan zu haben, die nicht meine Schuld waren. So beschloss ich, von zu Hause wegzugehen. Ich versuchte, zu meinem Onkel zurückzukehren, aber er wollte nicht; er sagte nur, dass er mich an einen Ort bringen könnte, wo meine Probleme gelöst würden. Da ich nur 10 Jahre alt war und nicht richtig überlegen konnte, sagte ich zu. Er nahm mich mit und gab mich beim Conselho Tutelar ab. Dort sagten sie mir, dass ich, weil ich aus Curitiba war, zur Sozialbehörde ("FAS", "Fundação de Ação Social) transferiert würde. Bei der FAS sagten sie, dass sie nicht viel für mich tun könnten, und transferierten mich einfach 81 wieder zum Conselho Tutelar von Pinheirinho . Dort befragten sie mich zu meinem Leben und begleiteten mich in die erste Institution, in die ich kam, welche [nennt den Namen eines evangelikalen Projektes] hiess. Dort blieb ich drei Monate, ging dann schlussendlich aber auf die Strasse wegen der grösseren Jungen, welche Macht über mich haben wollten. Auf der Strasse lernte ich viele Jungen kennen und gewöhnte mich an dieses leichte Leben, und dies machte es mir schwer, in anderen Institutionen zu bleiben, weil die Drogen und die Freundschaften von der Strasse stärker waren. Ich suchte die Institutionen nur im Winter auf, weil es dann schlimm war, auf der Strasse zu schlafen. Ich blieb eineinhalb Jahre und lernte mit bereits 12 Jahren die Chácara Padre Eduardo Michelis kennen, bekannter unter dem Namen "Meninos de Quatro Pinheiros". Heute, im Alter von 13 Jahren, mache ich Kurse und gehe zur Schule. Ich habe viel von meinen Freunden und auch von den Erziehern gelernt, und nachdem ich jetzt schon 10 Monate in der Chácara bin, kann ich sagen, dass ich meine wahre Familie getroffen habe. (In eigener Initiative erstellter Text eines Mitglieds des Forschungsteams der Jungen zuhanden der Forschung, April 2003)

Zusammengefasst, beschreiben sich die Jungen der Chácara, von denen die meisten ehemals auf der Strasse lebten, in Bezug auf geographische und soziale Kontexte, und zwar auf eine mehr oder minder grosse Anzahl von solchen Kontexten, welche sie zwischen der eigenen Familie, anderen Familien, Institutionen und der Strasse durchlaufen.

81

Stadtteil von Curitiba.

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4.1.3.3 Kontext „Eigene Familie“ Der chronologisch erste Kontext, den die Jungen verlassen, ist derjenige der Familie. Er wird hier deshalb anhand der Beschreibungen der Jungen der Chácara dargestellt. Eine induktive Analyse von 130 Textstellen über das Leben in der Familie, welche die Jungen grösstenteils unabhängig von der vorliegenden Forschungsarbeit aufgezeichnet hatten, zeigt, dass Gewalt (26 Nennungen), Drogen/Alkohol (21 Nennungen) und Armut/Arbeit (18 Nennungen) die am häufigsten erwähnten Aspekte des Familienlebens waren, während vorwiegend positiv konnotierte Aspekte wie Schulbesuch (6 Nennungen) und Freizeit/Spielen (5 Nennungen) wesentlich weniger häufig erwähnt wurden. Gewalt, die wie in Abbildung 6 (übernächste Seite) gezeigt, häufig von den Kindern als letzter Auslöser für ihren Gang auf die Strasse bezeichnet wird, erscheint in den meisten Texten verknüpft mit den Aspekten Drogen/Alkohol sowie Arbeit/Armut, nämlich a) als Folge von Drogen und Alkohol, b) im wirtschaftlichen Zusammenhang, wenn ein Elternteil oder die Kinder nicht genügend Geld von der Arbeit, dem Betteln oder Stehlen heimbringen und c) als Strafe für als ungebührlich betrachtetes Verhalten der Kinder. Wenn hier nun Beispiele von Aussagen der Jungen zitiert werden, dann wird gleichzeitig zu bedenken gegeben, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen der Chácara ständig und mit allen Elternteilen belastende Erfahrungen gemacht haben, sondern dass ihre Texte auch positive Erfahrungen anführen. Allerdings ist es tatsächlich so, dass das Familienleben häufig als schwierig und/oder schlimm bezeichnet wird, und dass die Jungen extreme Situationen erlebt haben82. Die ersten fünf Zitate stammen aus dem Buch der Jungen „Histórias das Nossas Vidas“ (Fundação E., 1999, S. 20-26): Mein Leben in der Familie war sehr schlimm; ich kam nachmittags nach Hause und sie liessen mich nicht ins Haus hinein. Nebenan gab es eine verlassene Baustelle. Dort schlief ich in einem alten Kleiderschrank zusammen mit den Hunden. Meine Familie hat viele Schwierigkeiten, so, wie fast alle Familien der Kinder [in der Chácara]. Meine Familie hatte ein sehr schwieriges Leben. Auch ich hatte ein sehr schwieriges Leben, weil meine Mutter lange Zeit arbeitslos war. Aber Gott sei Dank gelang es ihr, eine Arbeit zu finden. Mein Vater trank viel, verspielte fast alles Geld und half fast gar nicht mit den Kosten zu Hause. (...) Bald ging ich von zu 82

Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass die familiären Vernachlässigungen und Misshandlungen nicht selten in ihrer Schwere über die hier zitierten, von den Jungen schriftlich festgehaltenen Beispiele hinaus gehen. Dies zeigen vertrauliche mündliche Mitteilungen, welche der Autorin über die Jahre ihrer Zusammenarbeit mit der Chácara von Jungen gemacht wurden.

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Hause weg, weil mein Vater mich immer schlug, und auch meine Brüder gingen. Und es wurde noch schwieriger, als mein Vater von drei Kugeln getroffen wurde, weil er Dinge getan hatte, die er nicht hätte tun sollen. Als ich acht Jahre alt war, litt ich sehr unter der Sucht meines Stiefvaters. Er ohrfeigte mich, meine Mutter und meine Geschwister wegen der kleinsten Dinge. Meine älteste Schwester war dreizehn, und mein Stiefvater kam betrunken nach Hause und versuchte, ihr Schlechtes anzutun. Eines Tages kam er betrunken nach Hause, um wieder dieselbe Sache zu tun, und da flüchtete sie. Als meine Mutter dies entdeckte, zeigte sie ihn bei der Polizei an. Wenn mein Vater zur Arbeit ging, kaufte meine Mutter eine Flasche Schnaps und versteckte sie im Haus, damit mein Vater sie nicht finden würde. Mein Vater kam dann nach Hause, merkte, dass meine Mutter nach Schnaps roch, und fing an, mit ihr zu diskutieren. Sie stritten und zerbrachen alles im Haus. Mein Vater schlug meine Mutter, meine Mutter floh und nahm uns alle mit, drei Jungen und zwei Mädchen. Ich machte viel Unfug, und deshalb wurde ich, wenn ich etwas anstellte, von meiner Mutter geschlagen; meine Mutter schlug mich schon mit dem Stiel eines Hammers, einer Kette und einem Gummischlauch.83 Bei mir zu Hause machten wir manchmal Schwierigkeiten durch; manchmal ass man, manchmal ass man nicht, es gab keine Sachen zum Spielen, es gab nicht viele Kleider zum Anziehen. (20-jähriger Junge, in Chácara seit dem 22.12.1994, Interview, November 2003) Ich fing sehr früh an zu arbeiten. Mit fünf Jahren war ich schon auf der Strasse, wo ich Süssigkeiten verkaufte, um meiner Familie zu helfen. Mein Vater trank viel, und wenn er nach Hause kam, schlug er alle, die zu Hause waren. Damals hatte ich zwei ältere Brüder, welche schlussendlich von zu Hause flohen und auf die Strasse wohnen gingen, weil sie zu Hause dermassen Hiebe bekamen í schaut, mein Vater schlug uns nicht mit dem Gürtel, er schlug uns mit Stromkabeln und Holzruten. Ich blieb nur, um zu Hause zu helfen. Ich erhielt nie ein Geschenk von meinem Vater, das heisst, doch, ich bekam eine Kiste, um Süssigkeiten zu verkaufen, und ich arbeitete jeden Tag. (Aus einem Vortragstext eines 21-jährigen Jungen, der im Alter von 11 Jahren in die Chácara gekommen war; Oktober 2004)

Im Rahmen ihrer Ziele beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf die Berichte von Jungen der Chácara über die Umstände, welche sie in ihren Familien erlebt haben, ohne sich einer Analyse der Ursachen für diese Umstände widmen zu 83

Dass manchmal Schläge als gerechtfertigte Bestrafung für „Fehlverhalten“ angesehen wird, zeigte sich der Autorin im Jahr 1999, als ein etwa 14-jähriger Junge in einem anderen Projekt mit einer „Flip-Flop“-Sandale in der Hand zum dortigen Projektkoordinator kam und ihn aufforderte, ihn damit zu schlagen, weil er „etwas angestellt habe, wofür er bestraft werden müsse“.

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können. Aus den Zitaten der Jungen geht hervor, dass es sich bei den Ursachen um komplexe Zusammenhänge verschiedener Aspekte handeln muss, darunter materielle Not, Überforderung der Eltern oder Betreuungspersonen in der eigenen Lebensführung und im Umgang mit anderen sowie Suchtprobleme. Es gilt aber auch zu erwähnen, dass im Kontakt der Chácara mit den Familien der Jungen sichtbar wird, dass viele der Mütter und Väter das Schicksal ihrer Söhne mit Schuldgefühlen und grosser Sorge verfolgen, dass sie sich – wenn ein gangbarer Weg aufgezeigt wird – im Rahmen ihrer Möglichkeiten für diese einsetzen und sich glücklich zeigen, wenn sie sich gut entwickeln und zum Beispiel erfolgreich die Schule besuchen. 4.1.3.4 Gründe, auf die Strasse zu gehen, und Gründe, sie zu verlassen Weshalb übersiedeln die Jungen auf die Strasse, und weshalb verlassen sie sie wieder? Diese Frage ist von besonderem Interesse für ein auf freiwilliger Teilnahme beruhendes Projekt wie die Chácara, muss doch angenommen werden, dass Kinder und Jugendliche dann in einem Projekt verbleiben, wenn es mit den Gründen in Einklang steht, welche sie benötigen, um die Strasse zu verlassen und an einem neuen Ort zu bleiben. Auch zur Beantwortung dieser Frage wurden die Aussagen der Jungen der Chácara beigezogen. Es sind insgesamt 69 Aussagen in den bereits erwähnten Selbstzeugnissen, welche induktiv analysiert wurden, und welche einen Auslöser oder Grund für den Gang auf die Strasse nennen, und 99 Aussagen, die begründen, aus welchem Anlass die Strasse verlassen wurde. Mit wenigen Ausnahmen entstanden die Aussagen im Rahmen von frei von den Jungen gestalteten Texten und kaum strukturierten Interviews, also nicht als Antworten auf eine spezifisch gestellte Frage nach den Ursachen. Der Lebensraum „Strasse“ wurde deshalb für die Analyse gewählt, weil, wie bereits erwähnt, die meisten Jungen der Chácara (73%) zuvor auf der Strasse gelebt hatten und eine Mehrzahl der anderen bereits einen beträchtlichen Zeitanteil auf der Strasse verbracht hatte. Bei der Analyse der Gründe wurde nicht unterschieden, ob es sich um einen kurz- oder längerfristigen Feldwechsel handelte, da vor allem die Art der von den Jungen genannten Auslöser interessierte. Sowohl beim Gang auf die Strasse als auch beim Verlassen der Strasse zeigten sich drei Dimensionen von erwähnten Auslösern oder Beweggründen. Der Wechsel kann 1. von anderen Personen erzwungen sein, 2. durch den Jungen als Flucht vor als unerträglich empfundenen Umständen erfolgen und 3. durch den Jungen wegen der wahrgenommenen Attraktivität des neuen Feldes erfolgen.

130

Häufig trifft mehr als eine dieser Dimensionen auf den Wechsel eines Jungen von einem Feld in ein anderes zu. Dimension 1. Von anderen erzwungen

2. Flucht

3. Anziehung durch neues Feld

Abbildung 7:

84

85

86 87

Feldwechsel Gang auf die Strasse Verlassen der Strasse Gang auf die Strasse Verlassen der Strasse Gang auf die Strasse Verlassen der Strasse

Kategorien (in Klammern Anzahl Textelemente) Von Familie vertrieben (2), von Familie verlassen (2), von Sozialbehörde auf Strasse geschickt (1), kein Platz in Projekt (3), Projekt wird geschlossen (1) Von Polizei/Behörden gefangen und in Projekt eingeschlossen (6)84

Zahl Textelemente 9

Gewalt zu Hause (14), Gewalt in anderen Projekten (3), Diebstahl in anderen Projekten (1), nicht spezifizierte Schwierigkeiten zu Hause und in anderen Projekten (3), Eingesperrtsein im Gefängnis/in Projekten (3) Kälte, Mangel an Kleidern und Hygiene (3), Gewalt (1), Drogen (5), nicht spezifisch genannte Gründe (3) Verdienstmöglichkeit (14), Freunde/mit Freunden mitgegangen85 (13), um Drogen zu nehmen86 (6), um sich zu amüsieren (2), aus Neugier (1) Ort für teilzeitigen oder vollständigen Aufenthalt vorhanden (27), von Erwachsenen eingeladen87 (22), mit Freunden/Geschwistern mitgegangen (12), um ein künftiges Projekt kennenzulernen/ zu prüfen (7), Bindung an die Familie (3), Möglichkeit eines Lebens in der Natur/mit Tieren (3), um das Leben zu ändern (2), um zu lernen (2), um das künftige Wohnhaus in einem Projekt zu bauen (2), um Geld nach Hause zu bringen (1)

24

6

12 36

81

Auslöser für den Gang auf die Strasse und für das Verlassen derselben

Häufig werden Kinder und Jugendliche von den Sozialbehörden eingefangen und ohne weitere Unterstützung zur Familie zurückgebracht. Wie die Jungen selbst immer wieder erwähnen, nützt dies nichts, da sich die Situation dort nicht verändert hat und sie deshalb innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen wieder auf die Strasse ziehen. Dies häufig in Zusammenhang mit der Flucht; man flüchtet gemeinsam mit einem Nachbarn, einem Bruder, einem Cousin o.ä. Häufig beim Verlassen eines Projektes/einer Institution. Im Gegensatz zu Zwang.

131

Die vorstehende Übersicht zeigt diese drei Dimensionen mit ihren Kategorien und der Anzahl dazugehöriger Textelemente. In Bezug auf den Gang in den Kontext „Strasse“ sowie das Verlassen desselben erwähnen die Jungen der Chácara als Grund für die von ihnen selbst vollzogenen Kontextwechsel in erster Linie das Verlassen von für sie untragbaren Bedingungen. Solche für Leib und Leben bedrohliche Bedingungen finden sie zumeist sowohl im Kontext der eigenen Familie (siehe auch Kapitel 4.1.3.3), von welchem sie direkt oder mit Umwegen auf die Strasse flüchten, als auch auf der Strasse selbst. So sagte der Koordinator der Chácara bei einer öffentlichen Veranstaltung: Niemand ist auf der Strasse, weil es dort gut ist, aber die Strasse ist der Weg für diejenigen, die keinen Weg mehr haben, die keinen Ausweg mehr haben. (Vortrag Uniandrade, 22. April 2004)

Sowohl beim Gang auf die Strasse als auch beim Verlassen derselben scheinen Beziehungen oder Bindungen zu anderen Personen wichtig zu sein: Beim Gang auf die Strasse das Zerbrechen der Beziehungen zwischen einem oder beiden Elternteilen und dem Kind respektive die Anregung und/oder Begleitung durch andere Kinder und Jugendliche, welche ebenfalls auf die Strasse gehen oder schon dort sind; beim Verlassen der Strasse die Anregung und Begleitung durch andere Kinder und Jugendliche sowie die Begleitung und die ohne Zwang, sondern über eine Bindung erfolgte Einladung durch Erwachsene. 4.1.3.5 Kontext „Strasse“ Die meisten Jungen der Chácara lebten vor ihrem Eintritt in diese auf der Strasse. Hier interessierte, wie sie diese erlebten. Es sind 129 Textstellen in zumeist unabhängig von der Forschungsarbeit erstellten Texten der Kinder und Jugendlichen, welche Aspekte des Lebens auf der Strasse beinhalten. Sie zeigen, dass die Jungen auf der Strasse nach wie vor in einem Umfeld mit lebensbedrohlichen physischen und materiellen Bedingungen leben, wo sie sich vor allem von der Polizei, aber auch von anderen Erwachsenen bedroht, statt geschützt und unterstützt, sehen. Die nachstehende Tabelle zeigt die Bedingungen auf, welche die Jungen der Chácara bezüglich des Kontexts „Strasse“ erwähnen, sowie deren Bewertung durch die Jungen:

132

Bedingung

Bewertung durch die Jungen

88

Frieren (11)

Negativ

Hunger (10)

Negativ

Angst (9)

Negativ

Leiden (8)

Negativ

Kein Ort zum Schlafen (7)

Negativ

Sterben (6)

Negativ

Freiheit (5)

Positiv

Schmutz (2)

Negativ

Nässe (1)

Negativ

Gefahr (1)

Negativ

Keine Kleider (1)

Negativ

Ungerechtigkeit (1)

Negativ

Drogeneffekte auf das Hirn (1)

Negativ

Verletzungen/Wunden (1)

Negativ

Vieles fehlt (1)

Negativ

Ungeziefer (1)

Negativ

Keine Möglichkeit des Schulbesuchs (1)

Negativ

Gibt Dinge, die es zu Hause nicht gibt (1)

Positiv

Abbildung 8:

Physische und materielle Bedingungen des Umfelds „Strasse“ (68) (in Klammern Anzahl Erwähnungen)

Zusätzlich zu den vorwiegend lebensbedrohlichen Bedingungen auf der Strasse beschreiben sich die Jungen auch als dort von der Polizei und weiteren Erwachsenen bedroht und nicht unterstützt, wie die folgende Tabelle zeigt:

88

Zwischen Juni und Oktober kann es in Curitiba bei gegen 100% Luftfeuchtigkeit bis zu 0° Celsius kalt werden.

133

Verhalten der Polizei (42)89

Verhalten anderer Erwachsener (18)

Verprügelt Kinder (15)90

Bedrohen/üben Gewalt gegen Kinder aus (8)

Verhaftet/sperrt Kinder ein (7)

Töten Kinder (4)

Verlangt kriminelle Handlungen v. Kindern (3)

Bringen Essen (3)

Misshandelt Kinder physisch/sexuell (3)91

Behandeln Kinder schlecht (1)

Bestiehlt Kinder (3)92

Zeigen keine Liebe/Fürsorge (1)

Bedroht Kinder (2)

Sehen Kinder nicht als Bürger (1)

Tötet Kinder (2) Übt Gewalt gegen Kinder aus (2) Entführt Kinder (1)93 Erpresst Kinder (1) Mag Kinder nicht (1) Versucht, Kinder zu erschiessen (1) Hat keine Gefühle (1)

Abbildung 9:

Verhalten anderer Menschen im Umfeld „Strasse“ (60) (in Klammern Anzahl Erwähnungen)

Die in den Tabellen zum Ausdruck kommende negative Einschätzung der Situation der Kinder und Jugendlichen, welche ganz auf der Strasse leben, wird von

89

90 91

92

93

Zum Thema des Verhältnisses zwischen der Polizei und Kindern auf der Strasse empfiehlt sich die Studie von Bondaruk (2005). Bei allen Aspekten mit Ausnahme des letzten sind der Autorin mehrere konkrete Fälle bekannt. Es wird auch von äusserst schweren Vergehen wie mehrfacher Vergewaltigung, teils unter Benützung stark verletzender Gegenstände, und der Anwendung von Elektroschocks berichtet. Sogar in Projekten lebende Jungen, die nicht (mehr) stehlen, erzählen, dass ihnen Polizisten, welche sie wiedererkannten, Kleider und Geld für den Eigengebrauch abnahmen. Von Kindern auf der Strasse werden Fälle berichtet, bei denen Polizisten ihnen Drogen abgenommen haben, um diese selbst zu konsumieren. Mehrfach wurden Kinder von Polizisten zum Drogenverkauf und zur darauf folgenden Übergabe des Geldes gezwungen. Um sie „loszuwerden“ (aus den 1990er Jahren sind Fälle bekannt, zum Beispiel wenn eine „wichtige“ Delegation von Personen der Wirtschaft oder Politik die Stadt besuchte), aber auch, um sie zu vergewaltigen und/oder zu töten.

134

einem Chácarabewohner im Buch der Jungen (Meninos de Quatro Pinheiros, 1999) so zusammengefasst: Die Strasse ist der Feind der Kinder und Jugendlichen.

Ein weiterer Junge sagte in einem Interview: Also auf der Strasse ist es ein anderes Leben. Auf der Strasse ist es Leben oder Tod. (Interview, 6. Mai 2003, 16-jähriger Junge, Eintritt Chácara 23.1.2003)

Da es keine zuverlässige Statistik über die Anzahl der auf der Strasse lebenden Kinder gibt, gibt es auch keine Zahlen zur Anzahl der Todesfälle unter ihnen. Aufgrund seiner Erfahrung erwähnte der Koordinator der Chácara im Jahr 1997, dass etwa 80% der ganz auf der Strasse lebenden Kinder und Jugendlichen vor dem Erreichen des 18. Lebensjahres den Tod fänden.94 4.1.3.6 Erlebte Gesellschaft Was bringt denn diese ganze Propaganda in der Zeitung / die besagt, dass hier die 95 Hauptstadt des Sozialen ist, / wenn ich auf der Strasse lebe, frierend und verlassen, / und dir dies egal ist? Refrain: Ich will, dass Du dich nicht hinter deinem schicken Anzug versteckst, / sondern mir deine brüderliche Liebe zeigst. Was bringt denn ein Stück Brot, wenn ich keinen Ort zum Schlafen habe. / Ich will Ausbildung und das Recht, mich frei zu bewegen. / Ich will nur, dass du, der Du gerade vor mir stehst, / siehst, wer ich wirklich bin und wie gross mein Leid ist. Refrain. Ich gehe durch die Strassen, werde Marginaler genannt, / Aber am meisten schmerzt, dass die Gesellschaft ihre Augen verschliesst. / Ich ertrage es nicht mehr, dass Du an mir vorbeigehst, / und so tust, als ob Du mich nicht siehst, und mich einfach sein lässt. Refrain. (Selbstgeschriebenes Lied der Jungen der Chácara, Entstehungsdatum unbekannt, ev. 2. Hälfte der 1990er Jahre)

94 95

Mündliche Mitteilung an die Autorin, Februar 1997. Die Stadt Curitiba, aus der die meisten Jungen der hier untersuchten Chácara stammen, wird in der relativ intensiv betriebenen Propaganda als fortschrittliche Stadt gefeiert, unter anderem mit den Bezeichnungen „Hauptstadt des Sozialen“„Hauptstadt der Ökologie“ oder früher auch „Stadt des Lächelns“.

135

Jungen und Gründungsmitglieder der Chácara berichten in ihren Aussagen wiederholt davon, wie sie das Verhältnis der Gesellschaft gegenüber den auf der Strasse lebenden Kinder und Jugendlichen erlebt haben. Es war anzunehmen, dass ein Projekt für diese Kinder sich in irgendeiner Form auf deren soziale Integration beziehen würde. Deshalb wurden entsprechende Hinweise dem Datenmaterial entnommen und sollen hier die hauptsächlich erwähnten Punkte aufgeführt werden. Für Kinder und Jugendliche repräsentieren Erwachsene die Gesellschaft. Die Analyse der Aussagen der Jungen der Chácara zeigt, dass sowohl der Kontext „eigene Familie“ als auch der Kontext „Strasse“ vorwiegend von Erwachsenen besetzt ist, welche die Kinder und Jugendlichen mit Gewalt angehen und/oder missbrauchen und ihnen die für das Überleben nötige Versorgung und Fürsorge nicht zukommen lassen können oder wollen. Dasselbe gilt für die anderen Kontexte, welche die Jungen erwähnen, seien es „andere Projekte“ (z. B. des Staates oder solche religiöser Ausrichtung), „andere Familien“ oder das „Gefängnis“.96 Sie erleben zudem häufig eine Gesellschaft von Erwachsenen, welche sie benützen und manipulieren, Versprechungen abgeben und diese nicht halten oder ihnen nicht beistehen. Dies zeigen Aussagen wie zum Beispiel die in Kapitel 4.1.2 aufgeführte, wonach Politiker sich im Rahmen des Wahlkampfes mit den Kindern fotografieren und filmen liessen, ihnen den dafür versprochenen Geldbetrag nicht oder in wesentlich geringerem Umfang als versprochen bezahlten, oder aber Kinder zum Filmen irgendwohin mitnahmen, ohne in irgend einer Weise für ihren Rücktransport zu sorgen. Dieselbe Teilnehmerin der Gemeinde Profeta Elias, welche dies berichtete, erzählt auch von Fällen der Zurückweisung der Strassenkinder durch Kirchenvertreter: Es war schwierig, denn es waren so kleine Kinder, es gab Kinder, die noch den Schnuller im Mund hatten, und nach einiger Zeit der Arbeit gab es einige Kinder, (...) die getauft werden wollten. "He ... Tante, wir glauben, dass wir den Teufel im Leib haben, und darum klappt es nicht für uns auf der Strasse" (...). Wir gingen und sprachen mit dem Bischof, sogar mit dem Bischof sprachen wir. Im ersten Moment war der Bischof nicht sehr überzeugt [von der Idee]: "Die Jungen, in dieser Situation, in der sie leben, in der sie stehlen und was sonst noch, wie sollten wir ihnen das Sakrament reichen können?“ (Interview, 26. April 2004)

96

Ab dem Alter von 13 Jahren können Jugendliche in Jugendstrafanstalten überwiesen werden. Der Autorin sind Fälle bekannt, in denen Strafanstalten (welche von Menschenrechtsorganisationen stark kritisiert wurden) überfüllt waren und die Jugendlichen deshalb in Erwachsenengefängnisse überwiesen wurden.

136

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Kinder und Jugendlichen der Strasse vorwiegend eine Gesellschaft erleben, welche den bereits zitierten Artikel 277 der brasilianischen Verfassung, in dem Kindern und Jugendliche „absolute Prioriät“ einräumt, wenig oder gar nicht einhält.97 Die Kinder und Jugendlichen werden, zusammen mit anderen Gruppen, von vielen Einzelpersonen, Medien und zum Teil in den Verlautbarungen politischer Organe „Marginale“ und „Ausgeschlossene“ 98 genannt, also als nicht zur Gesellschaft gehörende Personen. Oft werden sie dabei als ein „Übel“ gesehen, das die Gesellschaft verunstaltet und bedroht, so dass diese sich gegen sie wehren muss. In diesem Zusammenhang erscheinen sie nicht als junge, in der Entwicklung befindliche Menschen, welche Lösungen für die Probleme ihrer Lebenssituation brauchen oder gar aktiv zu solchen Lösungen beitragen könnten. So führte im Jahr 1999 ein auswärtiger Kandidat für die Wahlen in der Gemeinde, in der die Chácara liegt, seine Wahlkampagne mit dem Versprechen, „diesen Dreck aus der Chácara wegzuräumen“99, sobald er gewählt sei. Während der Politiker in diesem Fall von der darüber aufgebrachten lokalen Bevölkerung vertrieben wurde, wurden die Kinder, Jugendlichen und Betreuer eines Strassenkinderprojektes in einer anderen Ortschaft ebenfalls im Zusammenhang mit den Lokalwahlen im Beisein der Autorin vom Bürgermeister bedroht. Dieser führte einen Umzug teils bewaffneter Leute vor das Haus des Projektes, beschimpfte die dort Anwesenden, spuckte ihnen vor die Füsse, drohte ihnen mit dem Tod, liess sie nachts durch seine schiessenden Schergen erschrecken und anderntags durch die Polizei aus dem Ort vertreiben.100 Die mangelnde Fürsorge, Zurückweisung, Bedrohung, Verletzung und Misshandlung durch Erwachsene – und damit durch die Gesellschaft – wird in

97

98

99 100

Der Verfassungsartikel, welcher die Familie, die Gesellschaft und den Staat verpflichtet, mit absoluter Priorität die Rechte der Kinder und Jugendlichen zu wahren sowie diese u.a. vor Vernachlässigung, Diskriminierung und Gewalt zu schützen, findet sich vollständig in Kapitel 2.3. Constituição da República Federativa do Brasil 1988, http://www.planalto.gov.br/CCIVIL_03/ Constituicao/Constitui%C3%A7ao.htm (5. Februar 2007). Marginais (dieser Begriff wird in Zeitungen oft auch als Synonym für “Kriminelle” verwendet), Excluídos. Mündliche Mitteilung durch Mitarbeitende der Chácara, Oktober 1999. Ein weiteres Beispiel für stereotype Negativ-Ansichten über Strassenkinder wurde bei Vorträgen von Jungen und Mitarbeitenden der Chácara an Universitäten und/oder vor Personen aus sozialen Berufen (in beiden Fällen zumeist mehrheitlich Frauen) beobachtet. Hier prasselten häufig als erstes Fragen nach der Sexualität auf die Jungen ein. Dabei wurden 12-jährige und jüngere (häufig in der Vergangenheit von Erwachsenen sexuell missbrauchte) Jungen von den Anwesenden nach sexuellen Abenteuern auf der Strasse und Empfindungen dabei befragt, und zwar in einer Art, welche die Autorin nicht nur als dem Alter und der Situation der Kinder unangemessen, sondern auch als indiskret, aggressiv und sensationslüstern empfand.

137

der Frustration und Abscheu reflektiert, welche die Kinder und Jugendlichen der Strasse oft zum Ausdruck bringen, so zum Beispiel ein Junge in Curitiba: Ich habe schon Staatsanwälte, Richter, Patres, den Bischof und Nonnen um Hilfe gebeten, und keiner wollte mir helfen. Aber lass nur, ich werde mich der Polizei ausliefern, dann lande ich sicher im CEDITE101 und dort bleibe ich dann halt, und wenn ich dort nicht sterbe, dann werde ich, wenn ich wieder [heraus]komme, diese Stadt fertig machen. (Miranda & Stoltz, 1999, S. 15)

4.1.3.7 Rollen, Aktivitäten und Fähigkeiten Wie in Kapitel 2.2.2 im Rahmen der Einführung in Themenbereiche und Theorie dargestellt, gibt es verschiedenste Auffassungen darüber, was Kinder und Jugendliche der Strasse täten und wie sie geartet seien. Nur wenige davon gründen auf tatsächlichen Untersuchungen. Lucchini, dessen Publikationen in der Bibliographie aufgeführt sind, hat in diesem Zusammenhang Pionierarbeit geleistet. In der vorliegenden Forschungsarbeit betonten vor allem Personen, welche im Rahmen der Gemeinde Profeta Elias oder später der Chácara mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse gearbeitet hatten, die grosse Bedeutung der Rollen, Aktivitäten und Fähigkeiten, welche die Jungen in der Familie und auf der Strasse inne gehabt hatten. Von Relevanz sind diese Aspekte wohl in erster Linie deshalb, weil die Jungen bei Eintritt in die Chácara diese Rollen und Fähigkeiten sowie teilweise auch ihre bevorzugten Aktvititäten mitbringen. Entsprechend stellt sich die Frage, inwieweit diese Rollen, Fähigkeiten und Aktivitäten in die Organisation integriert werden sollten und könnten. Obwohl die Jungen sich sowohl bezüglich des Kontextes „eigene Familie“ als auch bezüglich des Kontextes „Strasse“ als Personen, die mit sehr schwierigen Bedingungen konfrontiert sind, beschreiben, stellen sie ihre Rolle in den beiden Kontexten unterschiedlich dar: als zumeist passive Empfänger von familiären Problemen und Misshandlungen im Kontext „eigene Familie“, aber als aktiv Handelnde im Kontext „Strasse“, welche Schritte (insgesamt 242 Erwähnungen) unternehmen, um unter den dort äusserst bedrohlichen Bedingungen zu überleben. Hier werden in den untersuchten Texten vor allem die materielle Versorgung (81 Erwähnungen) sowie die Selbstorganisation (39 Erwähnungen) genannt. Arbeiten, Betteln und Stehlen dienen der Sicherung des physischen Überlebens. Im Rahmen der Selbstorganisation werden Bildung und Gestaltung einer Gruppe auf der Strasse genannt, inklusive das Finden und die Gestaltung 101

Centro de Estudos e Diagnósticos e Indicação de Trabalho (eine Art Jugendgefängnis/Erziehungsanstalt).

138

von Aufenthaltsorten, die Organisation des Tagesablaufs, die Verwaltung von Finanzen sowie die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten. Dass die Gruppe ein wichtiger sozialer Referenzrahmen ist, zeigt sich auch in den Aussagen zum Zusammenleben (39), von denen sich die meisten auf Freundschaft, einige jedoch auch auf Gewalt und Diebstahl beziehen. Der Suchtmittelkauf und -konsum findet ebenfalls relativ häufig Erwähnung (59 Erwähnungen). Er wird von den Jungen mit verschiedenen Bedeutungen genannt, einmal als etwas, was den Hunger stille, die Angst nehme und Schwierigkeiten vergessen lasse, dann als etwas, was zur Gruppe auf der Strasse und in gewisser Weise zum „Unfug treiben“ gehöre, sowie als etwas, was sie in der Vergangenheit getan hätten und was für sie schädlich gewesen sei. Spielen und „Unfug treiben“ (Elemente, welche zum „Kind-Sein“ gerechnet werden könnten; 11 Erwähnungen), die Suche nach Lösungen (10 Erwähnungen), die Flucht vor Bedrohung (2 Erwähnungen) und die Unterstützung anderer (zum Beispiel alter Obdachloser) sind weitere, von den Jungen genannte Handlungen auf der Strasse. Die Tabelle auf der folgenden Seite zeigt diese Handlungen im Überblick. In den hier präsentierten Daten erweist sich, dass die Jungen der Chácara, welche bei ihren Familien und auf der Strasse mit Situationen extremer Bedrohung konfrontiert waren, besonders während ihrer Zeit auf der Strasse eine Vielzahl von Handlungen durchgeführt haben, die dazu dienten, ihr Überleben zu sichern. Leider ist es im Rahmen der vorliegenden Forschung nicht möglich, eine vertiefte Analyse aller Kompetenzen und Eigenschaften durchzuführen, welche Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis 18 Jahren diese Überlebenshandlungen ermöglichen. Es kann jedoch vermutet werden, dass sich auf einer Liste dieser Kompetenzen und Eigenschaften Fähigkeiten der Beobachtung und des schnellen Einschätzens von Situationen und Personen, physische und psychische Kraft respektive Geschicklichkeit finden würden, ebenso Fähigkeiten des Lernens, der Organisation, des „Wirtschaftens“, des Entscheidens und des Führens. Eine besondere Überlebensfähigkeit, welche der Autorin im Kontakt mit den Jungen der Chácara aufgefallen ist, ist diejenige des „Nach-Vorne-Sehens“. Mehrfach sagten ihr Jungen der Chácara noch vor Forschungsbeginn, es stimme, ihre Vergangenheit sei schwer gewesen und die Erinnerung daran sei immer präsent. Jedoch bleibe ihnen nichts anderes, als nach vorne zu schauen. Wenn man den „alten Geschichten“, den „Dingen des Todes“ verbunden bleibe, sterbe man über kurz oder lang. Als Grund für die letztere Aussage gaben sie zum Beispiel an, dass man „in den alten Geschichten gefangen“ verbittert würde. Man würde auf Verhaltensweisen, wie man sie in diesen „Geschichten“ erlebt habe, zurückfallen, so zum Beispiel auf Aggression, Drogenkonsum oder Gewalt, also Verhaltensweisen, welche bald zum Tod führen würden.

139

A. Materielle Versorgung (81)

D. Zusammenleben in der Gruppe (39)

Dritte bestehlen (45)

Freunde haben (24)

Essen kaufen/erbetteln/im Abfall finden (12)

Konfrontiert sein mit Gewalt in der Gruppe (8)

Betteln (11)

Diebstahl in der Gruppe (6)

Arbeiten (6)

Konfrontiert sein mit allgemeinen Problemen (1)

Kleider/Decken kaufen (3)

E. Spielen/„Unfug treiben“ (11)

Geld verdienen (2)

Spielen (6)

Bewaffneter Überfall/Diebstahl (2)

„Unfug treiben“ (4)

B. Suchtmittel kaufen und konsumieren (59) C. Organisation/Gruppengestaltung (39) Aufenthaltsort finden/gestalten (17)

Abenteuer erleben (1) F. Lösungen suchen (10) Projekte kennen lernen (3)

Erfahrene führen Neue ein (12)

Für kurze Zeit in Projekte gehen (2)

Gruppe bilden (5)

Ein besseres Leben anstreben (2)

Befehlen/gehorchen (3)

Rückkehr zur Familie überlegen (1)

Tagesablauf gestalten (1)

Einander auf Projekte hinweisen (1)

Geld zusammenlegen (1)

Beten (1) G. Flucht vor Bedrohung (2) H. Anderen helfen (1)

Abbildung 10: Aktivitäten der Jungen auf der Strasse (242) (in Klammern Anzahl Erwähnungen) Solche Aussagen und in die gleiche Richtung weisende Beobachtungen in der Chácara, in anderen Projekten und auf der Strasse lassen erkennen, dass die Kinder und Jugendlichen wohl per Definition als schwer und wiederholt traumatisiert betrachtet werden können, dass sie selbst jedoch, nachdem sie lange auf der Strasse überlebt haben, nicht in erster Linie auf ihre „Traumata“ fokussiert sind,

140

sondern sich „nach vorne“, auf ihr Überleben, auf „Dinge des Lebens“, wie sie sagen, ausrichten102. Im Widerspruch zu Bertolt Brechts Satz: „Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ beziehungsweise der Maslow’schen Bedürfnispyramide scheinen die Kinder und Jugendlichen der Strasse in Curitiba im Weiteren die Eigenschaft zu haben, nicht nur das physische Überleben und die materielle Versorgung zu den „Dingen des Lebens“ zu zählen, sondern auch ideelle oder spirituelle Aspekte. So gestalten sie zum Beispiel gemeinsame Feiern und stellen bei verschiedenen Gelegenheiten Freundschaft und Gemeinsamkeit über das materielle Ergehen. Ein Junge hielt in einem selbstverfassten Text fest: Auf der Strasse schnüffelten wir an Weihnachten Leim. Manchmal stahlen die Jungen, um Fleisch und Getränke kaufen zu können. Sie gingen in den Unterschlupf (mocó), suchten Ziegel und Holz zusammen und machten ein Feuer, um das Fleisch zu braten. So war die Weihnacht der Strassenkinder in den Unterschlüpfen, wenn sie nicht im Gefängnis waren. Es war sehr traurig, das Leben der Kinder auf der Strasse. (Text eines 15-jährigen Jungen, November 1996)

Im Rahmen der Organisation der Gruppe sind Solidarität und die Fähigkeit, zu teilen, wichtige Werte, wie die ersten Beteiligten an der Strassenarbeit beobachten konnten: Sie [die Kinder] fingen bald an, es uns zu sagen, wenn sie krank waren, oder darauf hinzuweisen, dass diese oder jene Person krank sei oder Fieber habe; dann fingen sie an, uns in ihre Unterschlüpfe mitzunehmen, dorthin, wo die kranke Person war. Der Unterschlupf ist der Ort, wo sie sich vor aller Welt verstecken, und dort verstecken sie manchmal auch irgendetwas, was sie gestohlen haben. Wir sahen, dass sie untereinander sehr einig waren. Manchmal, wenn sie sich nicht verstanden, gab es für sie kein Halten, dann stritten sie fürchterlich miteinander. Es gab grosse Gewalt, aber das Miteinander-Teilen ist bei ihnen auch sehr zentral; einer zieht sein Hemd aus, um es dem anderen zu geben; wenn einer krank ist, dann kümmern sie sich um ihn. (Interview mit einer an der Strassenarbeit beteiligten Frau, 26. April 2004)

Die Solidarität kann auch gegenüber Personen ausserhalb der Gruppe der Kinder und Jugendlichen spielen. So berichtet ein 24-jähriger Erzieher der Chácara, welcher im Jahr 1993 als einer der ersten Jungen in die Chácara eingezogen war:

102

Der Koordinator Fernando de Gois erwähnte der Autorin gegenüber, was die Jungen der Chácara sich von den dort anwesenden Erwachsenen am meisten wünschten, sei, in Momenten der Frustration oder der Wut von dem drohenden Rückfall in „alte Geschichten“ und entsprechende Verhaltensweisen mit deren Konsequenzen abgehalten zu werden (informelle, mündliche Mitteilung, ca. 2004).

141

Als ich auf der Strasse lebte, half ich immer den anderen Jungen, denen, die schwächer waren; ich gab ihnen mehr Schutz, damit die Grösseren sie nicht schlugen und misshandelten. (…) und weil ich bei den grösseren Jungen Einfluss hatte und gut mit ihnen befreundet war, (…) setzte ich mich immer dafür ein, dass die anderen, grösseren nicht die kleineren missbrauchten oder sie bestahlen – denn sie nahmen ihnen ihr Geld und ihre Drogen weg. Ich setzte mich immer ein, auch für die Bettler, sie taten mir leid, und ich wollte ihnen helfen, aber ich konnte nicht, weil ich selbst auf der Strasse war und auch Hilfe brauchte. Aber wenn ich einen Alten sah, jene kranken Personen, die um Almosen bettelten, dann schockierte mich das immer. Und auch in der Favela hatte ich dies schon, als ich zu Hause war. Ich ging mit fünf Jahren von zu Hause weg wegen des Elends. Wir waren wirklich sehr arm, wir hungerten sogar, und ich kannte diese Dinge. Dann ging ich auf die Strasse, und dort [ist es nochmals] ein anderes Leben, dort siehst Du viel Ungerechtigkeit, viel Leiden, und daran wächst Du auch, Du setzt dich dafür ein, zu helfen … meine Solidarität wuchs so beträchtlich. (Interview, 6. Mai 2003)

Wie weit diese Solidarität gehen kann, zeigt die Geschichte eines Mädchens der Strasse, welche in einem Interview von einer der Begründerinnen der Chácara erzählt wird: Zum Beispiel gab es ein Mädchen, das wir auf der Strasse kennen gelernt hatten, sein Name war B. Ich glaube, sie war neun Jahre alt und übersiedelte auf die Strasse, und wir sorgten uns um sie (…). Sie war ein gutes Mädchen, sie war nicht von Abscheu getrieben, sie war nicht gewalttätig und nahm keine Drogen. Sie war erst vor kurzem auf die Strasse gegangen, und wir wollten wissen, weshalb sie auf die Strasse gegangen war. Der Vater war weggegangen, und die Mutter hatte einen anderen gefunden, und sie hatte ein querschnittgelähmtes kleines Schwesterchen. Eines Nachts wachte sie auf und sah, wie der Stiefvater Verkehr mit dem [kleinen] Mädchen hatte, und so ging sie nie mehr nach Hause zurück. Dies schockierte sie sehr, und sie fing an, zu stehlen und das Geld nach Hause zu bringen. Sie tat das Geld in ein Stück Papier, auf das sie geschrieben hatte: „Dies ist, um Milch für das Baby zu kaufen“, und schob es unter der Tür hindurch. (Interview, 26. April 2004)

Der Autorin sind auch mehrere Fälle bekannt, in denen Kinder oder Jugendliche trotz teils drastischer Folgen für das eigene Wohlergehen zugunsten eines anderen auf einen Platz in einem Projekt verzichteten mit der Bemerkung, dieser habe den Platz nötiger als sie. Sie kennt zudem Fälle, in denen Kinder und Jugendliche der Strasse Geschwistern, Verwandten oder Freunden im eigentlichen Sinne das Leben gerettet haben.

142

4.2 Handlungsbasis Es war nicht nur eine Analyse der Situation und der Eigenschaften der Kinder und Jugendlichen auf der Strasse und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, welche in dieser Phase der Organisation noch vor der Gründung der Chácara stattfand. Der Prozess der Kontaktnahme auf der Strasse und der daran anschliessenden, mehrjährigen Arbeit muss auch als Aufbau und Entwicklung der Handlungsbasis verstanden werden, aufgrund derer später eine weiterführende, konkrete Initiative – die Chácara – aufgebaut werden sollte. Die in Kapitel 4.1.2 beschriebenen Aktivitäten können vier verschiedenen Aspekten der Bildung dieser Handlungsbasis zugeordnet werden: ƒ ƒ ƒ ƒ

Der Stärkung und Entwicklung der Fähigkeiten und Kenntnisse der Gruppe der Strassenarbeit. Der Aktivierung der Kinder und Jugendlichen und dem Aufbau einer gemeinsamen, solidarisch interagierenden Gruppe. Der Stärkung und Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sowie von ihren Fähigkeiten. Der Willensbildung und Vorbereitung zur Lancierung einer konkreten, weiterführenden Initiative.

Es konnte keine organisationspsychologische Studie gefunden werden, welche sich mit der „Organisation vor der Organisation“ beschäftigt. Dies mag unter anderem daran liegen, dass sich die meisten Studien mit bereits bestehenden Wirtschaftsbetrieben beschäftigen, sowie damit, dass die Menschen in solchen Betrieben als „Ressource“ verstanden werden, das heisst, nicht als eigentliche Träger und Betreiber der Firma. Entsprechend entsteht der Eindruck, es werde eine organisationale Struktur konzipiert (die Frage von wem oder weshalb spielt kaum eine Rolle), welche dann mit Menschen gefüllt werde. Es ist sicher kein Zufall, wenn sich in der Folge psychologische und betriebswirtschaftliche Untersuchungen sowie Managementstudien mit Fragen der Identifikation der Mitarbeitenden mit der Firma und ihrer Motivation, für diese zu arbeiten, beschäftigen. Der Aufbau der Handlungsbasis der Chácara suggeriert, dass eine aus einer Bürgerinitiative herauswachsende Institution den umgekehrten Verlauf nimmt oder nehmen kann: dass sie nämlich zuerst eine aus bestimmten Personen gebildete, lernfähige, motivierte und auf eine bestimmte Art funktionierende Gruppe ist, welche dann institutionelle Strukturen und Prozesse aus sich heraus und um sich herum gestaltet. Entsprechend ist es möglicherweise kein Zufall, dass im Umfeld von Basisorganisationen die Frage der angemessenen Gestaltung von

143

organisationalen Strukturen und Prozessen sowie der Institutionalisierung häufig betont wird. Da keine Beschreibung einer organisationalen „Vor-Phase“ bekannt ist, soll hier auf die einzelnen Aspekte dieses Abschnitts im Aufbau der Organisation Chácara etwas näher eingegangen werden. 4.2.1 Stärkung und Entwicklung von Kenntnissen und Praxis Die erwachsenen und jugendlichen Mitglieder der Gruppe, welche mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse arbeiteten, hatten zuvor im Rahmen der Bürgerbewegung in der Vila Lindóia eine ähnliche Arbeit erlebt. In diese waren sie jedoch selbst als Zielgruppe involviert gewesen. Nun nahmen sie neu die Rolle der Initianten und Koordinatoren an einem neuen Ort und gegenüber einer neuen Zielgruppe ein. Die bisher in diesem Kapitel aufgeführten Zitate über das Kennenlernen und die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse erwähnen alle Erfahrungen, die in der Praxis gemacht, und Erkenntnisse, die dabei gewonnen wurden. Es scheint jedoch, dass die Gruppe sich über das unmittelbar Erlebte hinaus bewusst war, sich in einem Lernprozess zu befinden, und dass sie diesen aktiv gestaltete. So wurden zum Beispiel nach jedem Aufenthalt auf der Strasse ganz im Sinne von Freires (1973) „Bewusstmachung“103 positive und negative Erlebnisse und Erfahrungen diskutiert: Die Reflexion über das Erlebte gehört regelmässig zur Praxis der Gruppe: darüber, wie jeder sich gefühlt hat, über Schwierigkeiten und über neue Wege. (Miranda & Stoltz, 1999, S. 13)

Das Erlebte und Wissen des Einzelnen wurde so zu explizitem, diskutiertem, konsolidiertem und damit nutzbarem Wissen in der Gruppe in einem Vorgehen, das sowohl an Supervision als auch an einen Ablauf von Handlung, Evaluation, Planung und erneuter Handlung erinnert. Im Sinne eines „Lernens an der Praxis“ und „Lernen Lernens“ konnten Wissen und Praxis so laufend überprüft und weiter entwickelt werden.

103

Conscientização.

144

4.2.2 Aktivierung der Kinder und Jugendlichen und Aufbau einer gemeinsamen, solidarisch interagierenden Gruppe Ein wichtiges Element der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse war deren Aktivierung und die Bildung einer gemeinsamen, solidarisch zusammenarbeitenden Gruppe aus ihnen und den Personen der Initiantengruppe der Gemeinde Profeta Elias. In einem ersten Schritt war es den Mitgliedern der Gruppe der Strassenarbeit wichtig, dass sich die Kinder und Jugendlichen selbst für eine Verbesserung der eigenen Situation engagierten, anstatt in eine Haltung von Almosen-Empfängern zu verfallen. Wie eine solche, von Gemeinsamkeit und gegenseitiger Solidarität geprägte Beziehung zustande kam, schildern Miranda und Stoltz (1999) aufgrund der Erzählungen von damals Beteiligten: Einmal hatten die Erzieher104 Schwierigkeiten, das Geld zusammenzubringen, welches sie für das Busticket brauchten, um am Sonntag zur Strassenarbeit zu gehen. Sie versammelten sich und beschlossen, dass sie in den Quartieren und im Stadtzentrum Papier sammeln würden, um dieses Problem zu lösen, aber auch, um die Realität der Kinder der Strasse und der Armensiedlungen, welche dank Abfall überleben, besser zu erfühlen. Die Gruppe ging jede Woche mit zwei Holzwagen los, und das Geld des Papierverkaufs wurde für das Notwendige aufgespart. Als die Kinder der Strasse davon hörten, glaubten sie es nicht, aber dann gingen sie in die Gemeinde [Vila Lindóia/Profeta Elias] und sahen, wie die Erzieher mit den Wagen loszogen. Da zeigten sie sich solidarisch (denn die Gruppe brachte ein Opfer, um ihnen helfen zu können) und vereinbarten ein Treffen mit der Gruppe im Stadtzentrum, um gemeinsam Papier sammeln zu gehen. (S. 20)

Zum Engagement der Kinder und Jugendlichen der Strasse trug wohl auch bei, dass die Gruppe aus der Gemeinde Profeta Elias ihnen in schwierigen und gefährlichen Situationen beistand und diese zum Teil mit ihnen zusammen durchlitt, so zum Beispiel bei Bedrohung und Misshandlung durch Polizisten. Die bereits zitierte Frau berichtet dazu: Wir wurden von den Polizisten angegangen; manchmal nahmen sie uns die Musik105 106 instrumente weg, liessen uns alle an die Wand stehen , und manchmal hatte es Oberschichtskinder gleich neben uns, die Haschisch rauchten, und [die Polizisten] unternahmen nichts, aber sie nahmen sich die Jungen [der Strasse] vor, die mit uns zu104

105 106

Mit der Zeit übernahmen die Gruppenmitglieder die Bezeichnung "Erzieher" bzw. "Strassenerzieher" (educador de rua). Zu Rolle und Tätigkeiten von Strassenerziehern siehe zum Beispiel Graciani (1999). Sie wurden im Kontakt mit den Kindern verwendet. In der „Durchsuchungsposition“: Gesicht gegen die Wand, ausgebreitete Arme und gespreizte Beine.

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sammen waren und Leim schnüffelten, und manchmal auch anderes. Und [die Polizisten] kamen und gingen uns an, entrissen den Jungen den Leim, warfen ihn auf den Boden, gaben den Jungen manchmal vor unseren Augen Fusstritte. (Interview, 26. April 2004)

Die Annahme, dass den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse nur geholfen werden könne, wenn sie willens und in der Lage seien, sich selbst zu helfen, wurde von den Gruppenmitgliedern der Gemeinde Profeta Elias auch direkt angesprochen. Dieselbe Frau erzählt zum Beispiel: Sie [die Kinder] fingen an, mehr Vertrauen zu uns zu haben, und begannen, an den Märschen in der Gemeinde [Vila Lindóia/Profeta Elias] teilzunehmen, an den Prozessionen und Demonstrationen, und so fingen wir an, das Thema Religion etwas mit ihnen aufzunehmen. Am Anfang gab es einige, die empört waren: „Wie können wir auf Gott zählen? Wenn Gott liebt und so sehr unser Bestes will, weshalb befinden wir uns dann in dieser schändlichen Lage?“ So gab es einige, die empört waren. Da sagten wir: „Nein, wir müssen auf die Hilfe Gottes zählen, darauf vertrauen, dass [die Dinge] bald besser werden, aber wir müssen auch unseren Teil dazu tun. Es ist nicht so, dass Gott allein seinen Teil tun soll (...), auch wir müssen unseren Teil tun.“ (Interview, 26. April 2004)

Der spätere Koordinator der Chácara, Fernando de Gois, lebte und schlief in dieser Zeit teilweise auf der Strasse, um die Strassenkinder besser beobachten und kennen lernen zu können. Er berichtet in einem Interview: Antwort: Schau, die grösste Herausforderung war die Gewalttätigkeit der Polizei, die Misshandlungen; die Drogen weniger, aber die grösste Herausforderung war die Gewalt. Ich erinnere mich gut, dass zu einer Zeit, als die [Nationale Strassenkinder-] Bewegung viel Arbeit machte, V. gefangen genommen wurde, und im ganzen Land wurden Strassenkinder exterminiert107, die ganze Zeit, auch hier in Curitiba; das war auch die Zeit, in der ich gefangen genommen wurde108; es ging soviel vor sich, die Bedrohung durch die Polizei war gross, es gab viel Gewalt. Frage: Welchen Effekt hatte dies auf Dich als Person? Antwort: Der Effekt, den dies hatte, war, dass ich [erkannte, dass ich] noch mehr arbeiten müsste. Ich war nie verängstigt wegen der Gewalt, im Gegenteil, ich weiss, dass ich heute geboren bin und morgen sterben werde; niemand stirbt vor seiner 109 Zeit . Weißt Du, ich trug mir Sorge, aber [das Ganze] spornte mich an, mehr Dinge zu tun, nicht, die Situation war so schwierig, und ich hatte ja noch Schutz, aber 107 108

109

Extermínio, die organisierte „Ausrottung“ von Strassenkindern. Ein Zeitungsartikel belegt diese Darstellung. Er zeigt ein Photo von Fernando, der erschöpft aussieht. Der Kommentar besagt, dass dieser von Polizisten zusammengeschlagen wurde. Wörtlich: am Vorabend.

146

die Strassenkinder hatten keinen. So ging ich zur Staatsanwaltschaft110, zum Anwaltsverband und zur Presse, um jegliche Art von Gewalt zu denunzieren. (Interview, 20. April 2003)

Aus den hier zitierten Aussagen entsteht der Eindruck, dass die Gruppe der Strassenarbeit vorlebte, dass Solidarität, Engagement und praktisches Handeln für Veränderungen in sozialen Situationen verantwortlich seien (und nicht, wie oft erwartet, materielle Mittel und der Einfluss „mächtiger“ Personen). Informelle Äusserungen der Kinder und Jugendlichen jener Zeit legen die Vermutung nahe, dass diese sich besonders durch den Gedanken angesprochen und motiviert fühlten, etwas bewirken zu können, obwohl sie nichts besassen. Dies überrascht nicht, schliesst diese Vorstellung doch an das aktive, lebenserhaltende Verhalten der Kinder und Jugendlichen auf der Strasse an. Obwohl der Impuls von der Gruppe der Gemeinde Profeta Elias – also von aussen – kam, wurde eine gemeinsame Gruppenorganisation entwickelt, in welcher das Zielpublikum gleichzeitig Mit-Träger und -Besitzer der Organisation und für die eigene Entwicklung verantwortlich war. 4.2.3 Stärkung und Förderung der Kinder und Jugendlichen Um die Rolle als Mit-Träger der Organisation und für die eigene Entwicklung Verantwortliche wahrnehmen zu können, mussten die Kinder und Jugendlichen ihre Fähigkeiten einsetzen und entwickeln können. Die Gruppe der Strassenarbeit förderte die Kinder und Jugendlichen darin so, wie sie es selbst zuvor in der Vila Lindóia erlebt und getan hatte. Dabei oktroyierte sie nicht völlig neue Elemente auf, sondern stützte sich auf bereits vorhandene Fähigkeiten und Ressourcen der Kinder und Jugendlichen. Die Frau, welche im Interview über die damaligen Aktivitäten berichtete, sagte dazu aus: Wir sahen, dass etwas, was die Kinder mögen, was alle mögen, die Musik ist, die Capoeira, und deshalb fingen wir an, Musikinstrumente auf die Strasse mitzuneh111 men: einen Berimbau , ein Tamburin, die Mundharmonika; A. [ein Mitglieder der Gruppe] kam mit der Mundharmonika, er spielte Tanzmusik auf der Strasse, machte einen [richtigen] kleinen Ball; sie machten Capoeira, und viele Leute hielten an, um zuzusehen, und die Leute applaudierten und begannen, [den Kindern] ihre Wertschätzung zu zeigen: „Meine Güte!! Du machst das sehr gut!“ Sie fingen an, Wertschätzung zu zeigen, für das, was die Jungen konnten. (Interview, 26. April 2004) 110 111

Ministério Público. Ein einsaitiges Rhythmus- und Melodieinstrument, das für die Capoeira verwendet wird.

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Ebenfalls wie bereits zuvor in der Vila Lindóia arbeitete die Gruppe mit Paulo Freires Idee der Bewusstmachung von Zusammenhängen durch Diskussionen der erlebten Praxis sowie mit Célestin Freinets Ansatz, welcher die Kinder mit den ihnen eigenen Fähigkeiten als hauptsächliche Ressource für deren Lernprozess sieht.112 Ein Beispiel hierfür lässt sich mit den Gesprächen anführen, die jeweils anschliessend an die gemeinsamen Papiersammelaktionen stattfanden: Die Erzieher und Kinder der Strasse machten auf diesen Wanderungen jeweils Feiern auf dem Gras vor den grossen Herrenhäusern und reflektierten über die Ungleichheit der Gesellschaft, in der wenige viel haben und viele nichts haben und auch noch vom Abfall abhängig sind, um zu überleben. Dabei kam auch wieder ein Satz auf, den die Kinder und Jugendlichen der Gemeinde Prophet Elias kreiert hatten: "Der Abfall der Reichen ist der Luxus der Armen"113. (Miranda & Stoltz, 1999, S. 20–21)

Ein weiteres Beispiel waren die Besuche der Kinder der Strasse in der Vila Lindóia, bei denen sich die Kinder und Jugendlichen im Kontakt mit den dortigen Familien ihrer Bedürfnisse stärker bewusst wurden: In der Gemeinde wurden sie freundlich aufgenommen; sie besuchten die Familien; im einen Haus frühstückten sie, in einem anderen duschten sie und assen zu Mittag, und sie spielten mit den Kindern, die schon in einem organisierteren Prozess standen. Dies führte dazu, dass sie begannen, das Bedürfnis zu spüren, wieder eine Familie zu haben. Die Erzieherinnen und Erzieher etablierten deshalb eine Arbeit, in der sie einige der Kinder [der Strasse] begleiteten, welche [daraufhin] zu ihren Familien zurückkehrten, und führten auch eine Reflexion darüber durch, weshalb und wie die Familien sich auflösen (...)." (Miranda & Stoltz, 1999, S. 18)

Wie zuvor in der Vila Lindóia und in der Gruppe der Strassenarbeit wurde auch hier von Bestehendem ausgegangen, entdeckten die Kinder und Jugendlichen mehr von sich selbst, von ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten und wurde ein Prozess gefördert, in welchem die Bedürfnisse der künftigen Zielgruppe der Chácara sichtbar und explizit wurden.

112 113

Siehe z. B. Freire, P. (1973). “O lixo do rico é o luxo do pobre.”

148

4.2.4 Vorbereitung einer konkreten Lösung Aufgrund des bisher beschriebenen Prozesses gewannen die Gruppenmitglieder zunehmend den Eindruck, dass sie den Kindern und Jugendlichen ein konkretes Projekt anbieten sollten, wie Miranda und Stoltz (1999) berichten: Im Verlauf der Arbeit auf der Strasse fühlten sich die Erzieherinnen und Erzieher oft bedrückt, weil sie keine Antworten auf die Sorgen und Fragen der Kinder der Strasse hatten, die immer wieder fragten, was das Ziel der Arbeit auf der Strasse sei, ob die Erzieherinnen und Erzieher sie von der Strasse holen würden, ob sie ein Haus für sie finden würden und so weiter. Die Erzieherinnen und Erzieher wussten im Prinzip, dass die Arbeit auf der Strasse im Rahmen ihrer Gruppe anfänglich das Ziel hatte, die Jungen und Mädchen der Strasse zu begleiten, sich mit ihnen solidarisch zu zeigen, die Situationen der Gewalt, welche sie auf der Strasse erlitten, anzuzeigen und einiges zu veranlassen, um dieses und andere Probleme des täglichen Lebens auf der Strasse zu lösen, sowie zu versuchen, mit ihnen zusammen Alternativen und Lösungen zu finden, um die durchlaufene Marginalisierung rückgängig zu machen. Aber die Bedrückung kam [immer] dann auf, wenn die Erzieherinnen und Erzieher gewahr wurden, dass es nicht in Ordnung war, die Kinder und Jugendlichen auf der Strasse immer zu begleiten, ohne ihnen ein konkretes Projekt anzubieten, das ihren dringlichsten Bedürfnissen auf eine konkretere Weise gerecht würde. (S. 17)

Mit diesem Wunsch nach einem weiterführenden, konkreten Projekt bewegte sich das Arbeitskonzept über die Stufe der Bewusstseinsweckung und Aktivierung hinaus. Freire (1973), aber auch Graciani in ihrem Buch über die Strassenarbeit „Pedagogia Social da Rua“ (1999) und andere Autoren beziehen sich ausschliesslich auf die Phase der Bewusstseinsweckung und Aktivierung. Es sind hingegen kaum Aussagen dazu zu finden, was geschehen solle, wenn Bewusstseinsweckung und Aktivierung von Kindern und Jugendlichen der Strasse einmal erfolgt sind. In diesem Zusammenhang muss auch die „Nationale Strassenkinderbewegung“ (Movimento Nacional de Meninos e Meninas de Rua) erwähnt werden. Diese wurde im Jahr 1985 gegründet, umfasste bald das ganze Land und widmet sich der Bewusstseinsweckung und Aktivierung von Strassenkindern. Aufgrund von verschiedenen informellen Gesprächen mit gegenwärtigen und ehemaligen Mitarbeitenden und Beobachtern entsteht gut 20 Jahre nach der Entstehung dieser Bewegung der Eindruck, dass die Organisation kaum längerfristige, konkrete Lösungen mit den Kindern oder für sie entwickelt hat. Einen Hinweis darauf erhielt die Autorin im Jahr 2003 von einem etwa 17-jährigen Jungen, der seit mehreren Jahren in einer brasilianischen Stadt von etwa 500'000 Einwohnern auf der Strasse lebte. Dieser merkte an, dass es in seiner Stadt lediglich 7 ganz auf der Strasse lebende Jungen gebe (eine Zahl, die vom Leiter der dortigen Nationa149

len Strassenkinderbewegung bestätigt wurde). Er erzählte, dass er schon lange in einem Haus leben möchte. Die Jungen würden jedoch von der Leitung der Bewegung dazu angehalten, als „Militantes“ (militante Kämpfer) weiterhin auf der Strasse zu leben.114 Es sei ihm und zwei anderen nun gelungen, hinter dem Rücken der Leiter in ein Haus zu ziehen. Es ist zu hoffen, dass es sich hierbei um einen isolierten Fall handelt. In der Einschätzung der Autorin deutet er jedoch, wenn auch überspitzt, eine Einstellung von Personen in der Strassenarbeit mit Kindern und Jugendlichen an, die nicht ganz selten ist. Um herauszufinden, wie ein konkretes Projekt aussehen könnte, wandten die damals an der Strassenarbeit Beteiligten ein Vorgehen in drei Schritten an, wie Miranda und Stoltz (1999) aufgrund der von ihnen zusammengefassten Erzählungen festhalten: ƒ

Befragung der Kinder und Jugendlichen der Strasse: Die Gruppe der Vila Lindóia/Profeta Elias sammelte sowohl während der eigenen Strassenarbeit als auch im Rahmen einer Untersuchung des Instituts für Forschung und Stadtplanung von Curitiba IPPUC115 über die Interessen der Präfektur hinausgehende, zusätzliche Informationen über die Wünsche, die tatsächlichen Bedürfnisse und die Vorstellungen, welche die Kinder und Jugendlichen auf der Strasse von einer idealen Institution hatten. Im Weiteren befragten sie Kinder und Jugendliche der Strasse von der berühmten Praça da Sé, dem Platz vor der Kathedrale von São Paulo, und nahmen an Anlässen mit Strassenkindern in verschiedenen Städten teil. Erfahrungsaustausch mit erfahrenen Praktikern: Die Gruppe baute einen Erfahrungsaustausch mit Erzieherinnen und Erziehern auf, welche auf der Praça da Sé in São Paulo mit Kindern und Jugendlichen der Strasse arbeiteten. Einbezug von weiteren Fachleuten: Die Gruppe bezog eine Anzahl von weiteren Fachpersonen in ihre Arbeit ein, darunter Unversitätsprofessorinnen (u.a. der Pädagogik und Psychologie), Studentinnen und Studenten, katholische Seminaristen und Mitglieder verschiedener Orden, Ärzte und einen jungen Staatsanwalt.

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Der Zeitpunkt des Beginns der weiterführenden Arbeit – der Gründung der Chácara – war nicht im Voraus geplant. Die Gruppe befand in einem konkreten Moment, dass die Zeit dafür jetzt gekommen sei. Unmittelbarer Anlass dafür war 114

115

Dazu muss ergänzt werden, dass der Leiter der dortigen Bewegung nie auf der Strasse gelebt hatte und mit seiner Familie in einem Haus wohnte. Instituto de Pesquisa e Planejamento Urbano de Curitiba.

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das Schicksal eines kleinen Jungen auf der Strasse, wie eine damals an der Gruppe beteiligte Frau berichtet: Und dann starb ein Junge auf der Strasse vor lauter Leimschnüffeln; es waren zwei ganz kleine Brüderchen, und es war der ältere, der starb, und der Tod jenes Jungen ... rüttelte uns alle auf, vor allem uns, die wir die Jungen begleiteten, und auch die Jungen selbst. Und der Kleine war sehr verzweifelt; was uns aufrüttelte, war die Verzweiflung des Kleinen, denn er hatte gar keine Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren, wegen der Gewalt im Haus, und so war die einzige Sicherheit, die er auf der Strasse hatte, sein Bruder, und nun war der Bruder gestorben. Die Verzweiflung jenes Jungen schockierte alle, sein grosses Leiden, und so sagten wir: "Wir könnten ein Theaterstück machen, [über] den Zyklus der Marginalisierung, wo er über dem Schwächsten zerbricht". Die Kinder und Jugendlichen der Strasse erfanden dieses Theaterstück und fingen an, es aufzuführen, an allen Schulen, den Universitäten [und] in den Kirchen, mit der eigentlichen Absicht [des Aufbaus] der Chácara, eines Hauses. (Interview, 26. April 2004)

Im Jahr 1991 begannen so die Arbeiten zum Aufbau der Chácara, welche im Oktober 1993 offiziell eröffnet werden konnte. 4.2.5 Organisationale Gemeinsamkeiten der vorbreitenden Phasen Die Organisation Chácara entstand nicht aus dem Nichts und nicht aufgrund einer Planung auf einem Reissbrett in einem weit von der Strasse entfernten Büro, sondern als gut vorbereitete, zeitlich dritte Phase einer Initiative zugunsten von benachteiligten Kindern und Jugendlichen. Diese folgte auf die erste Phase der Gemeindearbeit in der Vila Lindóia und die zweite Phase der Arbeit von jugendlichen und erwachsenen Mitgliedern der Gemeinde Profeta Elias der Vila Lindóia mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse. Bei beiden Vorgängeraktivitäten ging es, wie später auch bei der Chácara, darum, ein Segment der „Erwachsenengesellschaft“ aufzuschliessen und den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich dieser Organisation ihrerseits zu öffnen, damit gemeinsam konkrete Lösungen für ihr Leben und ihre Entwicklung erarbeitet werden konnten. Dazu sollten die Kinder und Jugendlichen mit ihren Fähigkeiten beitragen und so auch selbst Verantwortung übernehmen. Es waren jeweils die Beteiligten und die Zielgruppe des früheren Prozesses, welche den neuen Prozess zusammen mit der neuen Zielgruppe gestalteten. Die zwei Phasen oder Prozesse „Vila Lindóia“ und „Arbeit auf der Strasse“ weisen trotz jeweils unterschiedlichem Umfeld grosse Ähnlichkeiten auf:

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Zielpublikum: Sowohl bei der Gemeinde- als auch bei der Strassenarbeit besteht das Zielpublikum aus von der Gesellschaft ausgeschlossenen, von den öffentlichen Institutionen vernachlässigten und zum Teil verfolgten Personen, die sehr arm sind und kaum über formale Bildung verfügen. Ziel: In beiden Fällen besteht das Ziel darin, diese Menschen zu befähigen, ihr Bewusstsein von Rechten und sozialen Zusammenhängen sowie ihre Organisation zugunsten eines eigenständigen Lebens zu fördern. Ressourcen: Wichtigste Ressource ist jeweils das Zielpublikum selbst mit seinen Fähigkeiten und Potentialen; weitere Ressourcen werden über ein Netzwerk gewonnen, das sich in alle Gesellschaftsschichten hinein erstreckt. Spiritus rector für den Aufbau und die Koordination der Gruppen ist dieselbe Person, Fernando de Gois, ein ehemaliger Karmeliter-Mönch aus armen Verhältnissen mit Universitätsabschluss. Materiell kommen beide Prozesse mit sehr wenig aus. Ablauf: Bei beiden Initiativen geht es zuerst um ein respektvolles Kennenlernen der Zielgruppe. In einem zweiten Schritt werden aufgrund von deren Fähigkeiten und Bedürfnissen gemeinsam Aktivitäten zur Förderung ihrer Potentiale und zur Bewusstwerdung von sozialen Zusammenhängen eingeleitet, mit einem starken Fokus auf Solidarität und Übernahme von Verantwortung nicht nur für das eigene Leben, sondern auch gegenüber der Gesellschaft. In einem ständigen Zyklus von Evaluationen („Reflexionen“ genannt) definiert die Gruppe Ziele, zu deren Erreichung sie sich immer mehr organisiert. Auffällig ist, dass diese Reflexionen sehr stark an der Praxis orientiert und in diese integriert sind, so sehr, dass ihnen über eine Form des intellektuellen Lernens hinaus der Charakter einer gemeinschaftlichen, real ablaufenden Sozialisierung zugeschrieben werden kann. Resultate: Beide Initiativen sind auf langfristige Entwicklung ausgerichtet, bestehen aber aus vielen kleinen Schritten, die immer wieder zu konkreten, positiven „Resultaten“ führen, welche in der Folge Anerkennung und Unterstützung aus der weiteren Gesellschaft anziehen.

Die Organisation Chácara entstand so im Jahr 1993 als Fortsetzung eines Konzeptes, welches während mehr als neun Jahren durch „von der Gesellschaft ausgeschlossene“ Kinder, Jugendliche und Erwachsene entwickelt und erprobt worden war. Diese verfügten über keine oder nur sehr geringe formelle Schulbildung und hatten kaum finanzielle und materielle Ressourcen. Sie erfuhren jedoch die Unterstützung des Koordinators Fernando de Gois und der bereits in Organisation erprobten Mitglieder der vorhergegangenen Initiativen sowie eines wachsenden Netzwerkes von engagierten Fachpersonen. Dies trug dazu bei, dass sie ihre

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eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten erkennen und Aktivitäten in ihrem Sinne und zu Gunsten der ihnen vorschwebenden Ziele entfalten konnten. In den nächsten Kapiteln soll nun auf die Definition der Zielgruppe, die Gestaltung der Ziele und der dazu gegründeten Organisation Chácara näher eingegangen werden. 4.3 Zielgruppe und Ziele Aufgrund der bereits erwähnten Situationsanalyse und der Bildung, Mobilisierung und Entwicklung einer Gruppe, welche Strassenkinder in verschiedenen Situationen umfasste, definierten die Beteiligten nun, welcher Zielgruppe die Chácara dienen sollte. Daraufhin formulierten sie die Ziele des Projektes auf der Basis von Erkenntnissen und Bedürfnissen, welche sich im Verlauf der Strassenarbeit gezeigt hatten. Hier nun eine Übersicht über die Zielgruppe und die Ziele der Chácara. 4.3.1 Zielgruppe und Aufnahmekriterien Bei der Definition der Zielgruppe der Chácara wurde vor allem von den Erfahrungen der Strassenarbeit und der im Jahr 1993 durchgeführten Studie ausgegangen (Gomide, 1995). Es wurde beschlossen, die am stärksten gefährdeten Kinder und Jugendlichen auf der Strasse anzusprechen. Dies führte zur Aufnahme von „Kindern und Jugendlichen der Strasse“, also von Personen, welche ganz auf der Strasse lebten. Innerhalb dieser Gruppe wurden Jungen im Alter von 6 bis 18 Jahren aus Curitiba und Region ausgewählt, welche freiwillig bereit waren, sich an der Chácara zu beteiligen. Die folgenden Abschnitte geben Einblick in die Charakteristika der Zielgruppe. 4.3.1.1 Kinder und Jugendliche der Strasse Die von Gomide (1995) im Jahr 1993 zusammen mit Mitgliedern der Gruppe der Strassenarbeit der Vila Lindóia/Gemeinde Profeta Elias durchgeführte Studie hatte ergeben, dass es in Curitiba insgesamt 243 Kinder und Jugendliche gab, welche im Rahmen der von Gomide verwendeten Unicef-Definition von 1985 als Kinder und Jugendliche der Strasse zu bezeichnen waren:

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Kinder der Strasse sind alle Jungen und Mädchen, für welche die Strasse (im weiteren Sinne des Wortes, also unbewohnte Häuser und leer stehende Grundstücke einschliessend) zur gewohnten Wohnstätte und/oder Quelle des Überlebens geworden ist, und die nicht über Schutz, Betreuung oder Anleitung einer verantwortlichen erwachsenen Person verfügen. (Unicef-Definition von 1985, zitiert in Gomide 1995, S. 6)

Zum Zeitpunkt der Gründung der Chácara gab es wenige oder gar keine Organisationen in Curitiba, welche Kindern und Jugendlichen, die ganz auf der Strasse lebten, eine längerfristige Aufnahme und Perspektive boten. Die Autorin hörte in den Jahren ihrer Tätigkeit auch wiederholt die von Mitarbeitenden anderer Organisationen oder von Sozialbehörden vertretene Ansicht, bei solchen Kindern und Jugendlichen, welche ganz auf der Strasse lebten, „sei Hopfen und Malz verloren“ und bestehe keine Hoffnung mehr. Bei einem Besuch im Jahr 1997 in einer Organisation, welche im Nordosten des Landes gemäss eigener Aussage „Strassenmädchen“ tagsüber spielerische Aktivitäten anbot, stellte sie fest, dass von etwa 40 Mädchen, welche jeden Tag in die Institution kamen, nur ein einziges wirklich auf der Strasse lebte oder gelebt hatte. Obwohl dieses Mädchen mit seiner Lebhaftigkeit, seinem Interesse und seiner Intelligenz aus der Gruppe herauszuragen schien (und von den anderen auch als eine Art „Anführerin“ behandelt wurde), wurde der Autorin auch hier von den Projektverantwortlichen beschieden, bei Jugendlichen mit „einer solchen Geschichte“ gebe es „keine Hoffnung auf ‚Besserung’“. Es ist ihr seither aufgefallen, dass viele lokal oder in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit als „Strassenkinderprojekte“ bezeichnete Organisationen bei näherem Besehen nicht mit Kindern auf der Strasse arbeiten, sondern Präventionsarbeit leisten mit Kindern, welche zu Hause leben, aber gefährdet sind, auf die Strasse zu gehen. Die Gruppe der Kinder und Jugendlichen, welche ganz auf der Strasse leben, wird von vielen sogenannten Strassenkinderprojekten nicht aufgenommen, obwohl diese dem grössten Risiko an Leib und Leben unterworfen ist. Es ist diese am wenigsten geschützte, den grössten existentiellen Gefahren ausgesetzte Gruppe von Kindern und Jugendlichen auf der Strasse, welche gemäss den Statuten aus dem Jahr 1995 in der Chácara aufgenommen wird. Bei besonderer individueller Gefährdung werden zudem auch Kinder und Jugendliche aufgenommen, welche noch in einem familiären Umfeld leben, jedoch bereits kürzere oder längere Phasen ohne Begleitung durch verantwortliche Erwachsene auf der Strasse verbringen, wo sie arbeiten, betteln oder stehlen. In einzelnen Fällen werden im Weiteren Kinder aufgenommen, die sich noch kaum der Strasse angenähert haben, aber extremer Vernachlässigung oder Misshandlung ausgesetzt sind. Im Zweckartikel der Statuten werden die Mitglieder der Zielgruppe als „Jungen und Mädchen der ‚Klassen des (einfachen) Volkes‘ 154

(‚classes populares) und zwar vor allem diejenigen der Strasse“ umschrieben sowie als „Kinder und Jugendliche, welche sich in Risikosituationen116 befinden und/oder verlassen117 sind“. 4.3.1.2 Jungen Die Chácara nimmt nur Jungen auf. Als hauptsächlicher Grund dafür wird von Mitgliedern der Chácara die von Gomide koordinierte Studie von 1993 genannt, welche ergab, dass wesentlich weniger Mädchen (30) als Jungen (214) auf der Strasse lebten.118 Die Initianten und Initiantinnen der Chácara hatten vor deren Gründung in der Vila Lindóia, einer Favela in Curitiba, Gemeindearbeit mit Kindern und Jugendlichen beider Geschlechter geleistet sowie auf den Strassen von Curitiba mit Jungen und Mädchen gearbeitet. Da sie diese Vorgängeraktivitäten zunächst aufrecht erhielten und auch die Absicht hatten, in einer späteren Phase der Chácara zusätzlich zu den Jungen Mädchen aufzunehmen, nannten sie ihre Organisation "Pädagogische Stiftung Jungen und Mädchen [Hervorhebung der Autorin] der Strasse Profeta Elias". Sie kamen letztlich jedoch zum Schluss, dass weder den Mädchen noch den Jungen gedient sei, wenn aufgrund der geringen Zahl auf der Strasse lebender Mädchen einzelne von ihnen in eine Gruppe von zwanzig oder mehr Jungen eingegliedert würden, zumal sie aus der Arbeit auf der Strasse wussten, dass die meisten Kinder und Jugendlichen beider Geschlechter bereits sexueller Gewalt und/oder Prostitution ausgesetzt gewesen und deshalb in Bezug auf das andere Geschlecht verunsichert sind. So gehen sie davon aus, dass sich Jungen und Mädchen auf der Strasse je in einer geschlechtsspezifischen Lage mit geschlechtsspezifischen Bedürfnissen befinden119. Dazu wieder der Koordinator Fernando de Gois: Und mit den Mädchen, die auf den Strassen sind, ist es viel schwieriger, zu arbeiten, als mit den Jungen; Du kannst es sehen, sogar die religiösen Gemeinschaften entscheiden sich für die Jungen und nicht für die Mädchen. Warum? Weil, wenn das Mädchen auf die Strasse geht, dann hat es gewöhnlich schon alles verloren, es wurde vom Vater, Stiefvater oder anderen vergewaltigt, und es geht total zerstört [auf 116 117 118 119

„Situação de risco“. „Situação de abandono“. Siehe auch Kapitel 4.1.2.1. Die Autorin teilt diese – im Rahmen der vorliegenden Forschung nicht vertieft untersuchte – Einschätzung aufgrund ihrer eigenen Anschauung bei Besuchen in gemischt-geschlechtlichen Sozialprojekten und Unterkünften für Jugendliche der Strasse sowie von ihr von Jugendlichen beider Geschlechter zugetragenen anekdotischen Beispielen.

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die Strasse], und wenn es auf die Strasse geht und gar nichts mehr zu verlieren hat, dann ist der Grad der Zurückweisung und der Gewalt dieses Mädchens [gegenüber der Gesellschaft] sehr hoch. (Vortrag Uniandrade, 22. April 2004)

Er illustriert diese Einschätzung mit einer Anekdote: Einmal machten wir ein Treffen, da gab es Jungen und Mädchen der Strasse. Die Jungen kamen in der Gemeinde [Vila Lindóia] an, duschten, wuschen ihr Haar, verwandelten sich, und die Mädchen taten dasselbe, sie gingen und machten sich schön. Die Jungen [aber] schlossen die Mädchen aus und gingen mit den Mädchen der Gemeinde flirten, und riefen erstere mit Namen wie „Piranha“ (Hure), mit jenen [abschätzigen] Namen, die alle Leute für ein Mädchen verwenden. Dabei lebten diese [Mädchen der Strasse] ja mit den Jungen der Strasse. Es ist, was man von den Männern sagt: „Er schüttelt das Hemd, und alle Flecken fallen heraus“, aber die Frau bleibt für den Rest ihres Lebens gezeichnet. So nahmen sich die Jungen der Strasse ihre Freundinnen aus der Gemeinde, und die Mädchen wurden ausgeschlossen, und am Ende des Treffens nahmen sie [die Mädchen der Strasse] Steine, Messer, und wollten die Mädchen [der Gemeinde] töten. Sie sagten: „Dies sind die letzten Männer, die wir haben, und ihr wollt sie uns stehlen.“ Da versammelten wir alle und redeten darüber, und der Schmerz dieser Mädchen war so gross, stellt euch vor, sie waren schon so zurückgewiesen, wie man es nur sein kann, wenn man auf der Strasse lebt. Auf die Strasse flüchten sie vor der Gewalt zu Hause. Sie kommen auf der Strasse an und erfahren von der Polizei Gewalt, das Verhalten der Polizei den Jungen und Mädchen gegenüber ist aggressiv, geprägt von Respektlosigkeit gegenüber den Mädchen. Und in den Unterschlüpfen [auf der Strasse] zwingen die Jungen die Mädchen die Wäsche zu waschen, sie reproduzieren, was sie von zu Hause kennen; sie müssen das Essen für die Jungen machen, müssen Sex machen, wenn die Jungen es wollen, ihre Turnschuhe reinigen. So ist es schwierig für die Jungen auf der Strasse, aber für die Mädchen ist es noch schwieriger, es ist sehr kompliziert. (Vortrag Uniandrade, 22. April 2004)

Auch wenn in der Chácara selbst keine Mädchen der Strasse aufgenommen werden, so wird doch der Kontakt mit einigen anderen Institutionen gepflegt, welche Mädchen aufnehmen, und werden in einzelnen Fällen Mädchen dorthin vermittelt120. Mitglieder der Chácara und anderer Institutionen sowie auch die Autorin selbst haben etwa seit dem Jahr 2002 auf der Strasse den Eindruck gewonnen, dass mehr und auch jüngere Mädchen ganz auf den Strassen von Curitiba leben als in den 1990er Jahren. Die Mitarbeitenden der Chácara zeigen sich darüber 120

Gemäss der Auskunft des Projektkoordinators der Chácara gibt es jedoch eine noch geringere Anzahl von angemessenen und nachhaltigen Angeboten für Mädchen als für Jungen, und noch weniger Frauen (die es in erster Linie brauchen würde) und Männer, die bereit sind, mit Mädchen zu arbeiten, als solche, die sich für Knaben engagieren.

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sehr besorgt und haben der Autorin gegenüber wiederholt geäussert, etwas für diese Mädchen tun zu wollen. Sie sind der Meinung, dass man im Fall der Mädchen wiederum auf die Strasse gehen, sie in ihrer Eigenart und ihren Bedürfnissen kennen lernen und mit ihnen zusammen eine neue Projektidee erarbeiten müsste, wie dies beim Aufbau der Chácara für die Jungen geschehen war. Bisher fehlt es aber an Ressourcen (vor allem Zeit), die es den Chácara-Mitgliedern ermöglichen würde, diese Anstrengungen zu leisten. Einer der ersten im Jahr 1993 in die Chácara eingetretenen Jungen hat nach einigen Jahren der Arbeit als Erzieher in der Chácara im Jahr 2004 begonnen, ein Projekt in einer Favela aufzubauen, welches weniger als 14 Jahre alten, noch bei ihren Familien lebenden Kindern Freizeitbeschäftigung und Aufgabenhilfe anbietet und versucht, sie dabei zu unterstützen, nicht auf die Strasse zu gehen. In diesem Rahmen ist es ihm möglich, in einer Gruppe von bisher etwa 30 Kindern hälftig Mädchen und Jungen aufzunehmen. 4.3.1.3 Alter Im bereits zitierten Zweckartikel der Statuten der Chácara wird erwähnt, dass Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 6 und 18 Jahren sowie in Ausnahmefällen Kinder, welche jünger als 6 Jahre sind, aufgenommen würden. Die obere Altersgrenze entspricht dem brasilianischen Kinderrechtsstatut121, welches Personen im Alter von weniger als 14 Jahren als Kinder definiert, Personen zwischen 14 und 17 Jahren als Jugendliche und Personen, welche 18 Jahre oder älter sind, als Erwachsene. Die Mitglieder der Chácara legen Wert darauf, dass Jugendliche nicht einfach mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres aus der Chácara weggewiesen werden, mit dem Hinweis, dass „man dies bei einem eigenen Kind ja auch nicht tun würde“.122 4.3.1.4 Herkunft Mit einigen wenigen Ausnahmen nimmt die Chácara Jungen auf, welche in der Stadt Curitiba und Agglomeration sowie in der an diese angrenzende Stadt São José dos Pinhais auf der Strasse lebten und in den meisten Fällen auch aus dieser Region stammen bzw. dort Verwandte haben. Mitglieder der Chácara betonen, dass die Kinder und Jugendlichen sich nicht allzu weit von ihren Verwandten 121

122

Estatuto da Criança e do Adolescente ECA, siehe www.eca.org.br/ecai.htm, 24.7.2004. Kommentierter Text in Originalsprache: Cury, Amaral e Silva & Mendez, 1992. Wiederholt gehörte Aussage des Projektkoordinators und weiterer Mitglieder der Chácara.

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entfernt aufhalten sollten, damit der Kontakt zwischen Kindern und Verwandten sowie Sozialarbeit mit beiden möglich sei123. Im Kontrast dazu erinnert sich die Autorin an eine Sitzung mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Institutionen für Kinder aus armen Verhältnissen, an der sie etwa im Jahr 1998 in Curitiba teilnahm. An dieser erwähnte eine Nonne, in ihrer kirchlichen Organisation gebe es eine hohe Mauer, damit die dort lebenden Mädchen nicht mit den schlechten Einflüssen der Aussenwelt in Berührung kämen, und entsprechend werde ihnen auch der Kontakt mit ihren Verwandten und allem, was an ihr früheres Leben erinnere, verboten.124 4.3.1.5 Freiwilligkeit Anders als dies in den meisten anderen Organisationen der Fall ist, halten sich die Jungen freiwillig in der Chácara auf. Entsprechend ist in den Statuten der Chácara festgehalten, dass nur Kinder und Jugendliche aufgenommen werden, welche durch die Vermittlungs- und Vorbereitungsarbeit der eigenen Strassenerzieher (darunter ehemalige Strassenkinder) an diese gelangen. Kinder, welche ohne vorgängige Arbeit und gegen ihren eigenen Willen von der Polizei, Verwandten oder Sozialbehörden zur Chácara gebracht werden, werden dort nicht aufgenommen. 4.3.2 Ziele In der Phase der Strassenarbeit vor Beginn der Chácara, in den Gesprächen mit den Kindern und den Jugendlichen der Strasse, aber auch über den Austausch innerhalb des entstandenen Netzwerks von Fachleuten war zunehmend die Idee einer konkreten Alternative für die Kinder und Jugendlichen entstanden. Die Chácara sollte als erstes von möglicherweise künftig mehreren Projekten einer Stiftung gegründet werden. Dafür mussten bereits vorgängig Statuten vorliegen, in denen unter anderem Stiftungszweck und -ziele festgehalten waren. Aufgrund ihrer Analyse der Lebenssituationen, Bedürfnisse und Stärken der Jungen auf der Strasse formulierten Mitglieder der Gruppe der Strassenarbeit deshalb die Ziele der künftigen Organisation unter Beizug sowohl der Jungen als auch erfahrener Praktiker und weiterer Fachleute. Nach der Errichtung der Organisation kam es dann zu einer stetigen weiteren Spezifizierung der Ziele. In der Folge sollen nun die Resultate der Analysen zu Zielkonzept und Zielen der Organisation Chácara 123 124

Informelle, mündliche Mitteilungen. Informelle, mündliche Mitteilung.

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dargestellt werden, ebenso wie die Erkenntnisse zu den Zusammenhängen und Abstimmungen zwischen den Zielen der Organisation und den individuellen Zielen der betreuten Jungen. Die Statuten der Stiftung haben sich seit Gründung der Chácara nicht substantiell verändert125. In ihnen wird festgestellt, dass die Ziele der Stiftung sowohl nicht profitorientiert als auch philanthropisch seien. Der Zweckartikel lautet wie folgt: Jungen und Mädchen126 der „Klassen des einfachen Volkes“ („classes populares“) und vor allem denjenigen der Strasse ganzheitliche Unterstützung und Erziehung zu gewähren, in einem partizipativen und befreienden Prozess, der sie zu Protagonisten ihrer eigenen Förderung macht.

Das hauptsächliche Ziel der Chácara ist es also, die Kinder und Jugendlichen zu „Protagonisten ihrer eigenen Förderung zu machen“127. Es war jedoch bis zum Ende der Feldforschung in der Chácara noch kein Schriftstück erstellt worden, in welchem dieses Ziel explizit und detailliert definiert worden wäre. Deshalb wurde im Rahmen der Datenanalyse nach indirekten Beschreibungen von Zielen gesucht, aus denen das Konzept, welches diesen zugrunde liegt, abgeleitet werden könnte. Solche Beschreibungen fanden sich bei der Analyse des Jahresberichts 2004. Die dort aufgeführten Beschreibungen der durchgeführten Aktivitäten enthalten auch Hinweise auf die Komponenten des Ziels „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ sowie auf die Inhalte der Aktivitäten der „ganzheitlichen Unterstützung und Erziehung“ sowie auf die Aspekte, welche den Prozess der Organisation zu einem „partizipativen und befreienden“ machen. Die beiden letzteren Aspekte werden in den Kapiteln 4.4 und 4.5 behandelt, während nachfolgend der Fokus auf der Auswertung der Hinweise zum Ziel „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ liegt. Bei der Analyse des Jahresberichts 2004 wurden all jene Erwähnungen als „Ziele“ verstanden, bei denen es um etwas ging, das die Jungen erlernen, erwerben oder zukünftig erhalten sollten. Es sind insgesamt 45 Textstellen, bei denen eine Absicht bzw. ein Ziel in Zusammenhang mit bestimmten Aktivitäten oder allein stehend erwähnt wird. Mit der Software Atlas Ti induktiv analysiert, ergeben sich 10 verschiedene Dimensionen des Ziels der Chácara, welche drei verschiedenen Bereichen zugeordnet werden können. 125

126

127

Die einzige Änderung zwischen den Jahren 1993 und 2005 bezieht sich auf die Nationale Strassenkinderbewegung, welche nicht mehr wie am Anfang per Statuten eine(n) Vertreter(in) im beratenden Gremium der Chácara stellt. Die Mädchen werden in den Statuten erwähnt, um der Stiftung die Möglichkeit offen zu halten, sich in der Chácara oder in einer zusätzlichen Initiative für Mädchen einsetzen zu können. „Agentes da sua própria promoção“.

159

Die nachstehende Tabelle gibt einen Überblick über die 10 Dimensionen und die ihnen zugeordneten, aus den entsprechenden Textstellen des Jahresberichts 2004 gebildeten Kategorien. Die Namen der Kategorien bestehen dabei aus Paraphrasierungen (in Kurzform) der in ihnen zusammengefassten Textstellen. Bereich

Dimension

Kategorien/beabsichtigte Teilziele

A. Fähigkeiten

Lern-/Reflexionsfähigkeit

• Schulisches Lernen • Verstärkte allg. Lernfähigkeit • In der Gruppe lernen können • Reflexionswille • Verhalten in der Schule • In Gruppe leben und miteinander teilen • In Gruppe zusammenarbeiten • In der Gemeinde zusammenleben • Freundschaft • Gruppengeist, Kollegialität, Brüderlichkeit • Verantwortungsgefühl • Eigene Rolle verstehen • Sinn für Bürgerrechte und -pflichten • Gestaltungswille • Führungsfähigkeiten • Gesunder Ehrgeiz • Schulisches Wissen • Berufsbildung • Regeln und Grenzen des Zusammenlebens kennen • Soziale Realität kennen • Wissen, was für Veränderung zu tun ist • Frei von Sucht • Werte der Strasse • Zusätzliche Werte • Ohne Streit • Das Leben respektieren • Harmonie mit der Natur • Eigene Wurzeln wieder finden • Eigene Kultur pflegen • Beschaffung von Arbeitsstellen • Finanzieller Selbsterhalt • Familie unterstützen können • Wiederhergestellte Bindung an die Familie

Fähigkeiten des Zusammenlebens

Fähigkeiten als Bürger Veränderungsfähigkeit B. Persönliche Grundlagen

Schulisches, berufliches und gesellschaftliches Wissen Gesundheit Werte

kulturelle Verankerung Arbeit/ Einkommen familiäre Verankerung

160

C. Gesellschaftliche Bedingungen

Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit der Gesellschaft

• G. kennt die Situation der Kinder • G. schätzt die Kinder • G. bietet weitere Projekte f. Kinder

Abbildung 11: Aufgrund des Jahresberichts 2004 gebildete Dimensionen und beabsichtigte Teilziele Die hier genannten Ziele sind im Jahresbericht 2004 nicht mit der Absicht einer vollständigen Übersicht erwähnt, sondern werden dort lediglich im Rahmen der Begründung der einzelnen Aktivitäten aufgeführt. Entsprechend wird davon ausgegangen, dass die Chácara möglicherweise weitere Teilziele hat, die im Jahresbericht nicht explizit erwähnt sind. Aus der teilnehmenden Beobachtung ist zum Beispiel bekannt, dass die gesundheitliche Basis, welche die Chácara den Jungen zu geben versucht, nicht nur Suchtfreiheit, sondern unter anderem auch Aspekte wie zum Beispiel Hygienebewusstsein und Prävention von Krankheiten (beides durch Kurse gefördert) umfasst. Trotz ihrer Unvollständigkeit geben die im Jahresbericht erwähnten Absichten und Teilziele interessante Einblicke in die Philosophie der Chácara und tragen zum besseren Verständnis des Oberziels „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ bei. Besonders aufschlussreich scheint dabei die Möglichkeit der Gruppierung der Teilziele in drei Bereiche A bis C:

Abbildung 12: Im Jahresbericht 2004 erwähnte Ziele und Absichten: Dimensionen und Bereiche 161

Die Aktivitäten der Chácara zielen darauf ab, die Jungen bei der Entwicklung von persönlichen, sozialen und staatsbürgerlichen Fähigkeiten zu fördern (A), sicherzustellen, dass sie über die persönlichen Grundlagen verfügen, welche sie zur Ausübung dieser Fähigkeiten benötigen (B), sowie dazu beizutragen, dass die Gesellschaft die Jungen als gleichwertige Bürger aufnimmt und nicht ausschliesst (C). Aus den Inhalten der drei Bereiche ist ersichtlich, dass diese sich sowohl ergänzen als auch gegenseitig bedingen. So können zum Beispiel die Fähigkeiten der Jungen nicht gefördert werden, wenn die Jungen nicht gesund sind, materiell überleben und über Wissen verfügen. Umgekehrt können die Jungen sich Wissen nicht aneignen, wenn sie nicht über eine gute Lernfähigkeit verfügen, und sie können keine Rolle als aktive Bürger in der Gesellschaft übernehmen, wenn sie nicht über Fähigkeiten des Zusammenlebens und des bürgerlichen Handelns sowie über entsprechendes Wissen verfügen. Gleichzeitig nützen ihnen ihre Fähigkeiten und Grundlagen wenig, wenn sie sich in einer Gesellschaft befinden, welche sie konsequent ausschliesst; es wird sich aber eine Gesellschaft mit solchen Tendenzen auch nicht verändern, wenn es keine Menschen gibt, welche über die Fähigkeiten und Grundlagen verfügen, die Gesellschaft als aktive Bürger zu gestalten. Diese Interdependenz verlangt von einer Organisation, welche alle drei Bereiche fördern will, dass diese in der täglichen Praxis präsent sind und die zugehörigen Aktivitäten von den Jungen ausgeführt und geübt werden können. Dies ist in der Chácara vor allem dank der sehr weit gehenden Partizipation der Jungen an der Organisation und all ihren Funktionen möglich, wie aus den im Jahresbericht 2004 enthaltenen Aktivitäten und Zielen ersichtlich ist und in Kapitel 4.4 weiter ausgeführt wird. Paraphrasiert könnte das Konzept der Chácara wie folgt beschrieben werden: „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ haben eine Lebensperspektive, einen Lebensentwurf, einen „Traum“128 und sind persönlich sowie aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Lage, sich für dessen Realisierung einzusetzen. Um die Jungen dazu zu befähigen hat die Chácara das Ziel, die Fähigkeiten und Grundlagen der Jungen soweit zu fördern, dass sie: ƒ

Lern- und reflexionsfähig (eine mögliche Paraphrasierung wäre „entwicklungsfähig“) sind. Angemessen und brüderlich/solidarisch mit anderen Menschen zusammenleben und agieren.

ƒ 128

In der Chácara selbst wird der Begriff des „Traums“ häufig verwendet, im Sinne davon, dass die Jungen ihre Träume entwickeln und mit entsprechenden Aktivitäten unterstützt werden sollen.

162

ƒ ƒ

ƒ

Sich in der Gesellschaft bzw. im Staat als verantwortungsvolle, aktiv mitgestaltende Bürger mit Rechten und Pflichten verhalten. Über die dafür nötigen persönlichen und wirtschaftlichen Grundlagen verfügen, das heisst über: í schulisches, berufliches und gesellschaftliches Wissen í physische und psychische Gesundheit í Werte í kulturelle Verankerung í Arbeit/Einkommen í familiäre Verankerung Über die dafür nötigen gesellschaftlichen Voraussetzungen bzw. Rahmenbedingungen verfügen, das heisst, Zugang zu einer Gesellschaft haben, welche sie integriert und nicht ausschliesst.

Betrachtet man das so entstandene Konzept der „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“, fallen einige Besonderheiten auf. Erstens ist es in gewissem Sinne ein inhaltsleeres Konzept, denn es umfasst nicht eine Doktrin, was die Jungen in Zukunft denken und tun sollen, sondern die Idee, dass jeder von ihnen in der Lage sein soll, eigenständig zu denken, zu handeln und sein Leben zu gestalten. Dies illustriert auch die Aussage einer im Jahr 2003 in den Vorstand der Chácara eingetretenen Lehrerin: Das ist es, was den Unterschied [zu anderen Organisationen] macht. Wir dachten Folgendes: Die Chácara ist nicht ein Labor, und wir arbeiten nicht in ihr, um den Jungen zu formen und ihm zu sagen: Du wirst dieses oder jenes sein. Natürlich sind die Erzieherinnen und Erzieher eine gewisse Referenz für den Jungen, aber nicht in diesem Sinne, und ich bin der Meinung, dass es dies ist, was den Unterschied [zu anderen Organisationen] ausmacht. (Interview, 16. April 2004)

Zweitens zeigt die Analyse, dass sich das Ziel „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ besonders auf das zukünftige, eigenständige Erwachsenenleben der Jungen bezieht, also auf den Zeitpunkt des Austritts aus der Chácara und danach. Es geht dabei also um eine Befähigung für eine Zukunft, deren Umsetzung schliesslich in den Händen der Jungen liegt. Im Weiteren fällt bei der vorgestellten Analyse auf, dass in der Konzeption der Chácara zweimal die Absicht vorkommt, die Gesellschaft zu verändern: das eine Mal direkt durch die Chácara, wie unter C erwähnt, und das andere Mal indirekt durch die Jungen, welche als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ willens und fähig sein sollen, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten und zu verändern. Wie in Kapitel 4.5.2.2 näher dargestellt, verfügt die Chácara über ein Konzept der gegenseitigen sozialen Integration von Chácara und Gesellschaft. 163

Hinter diesem steht ein zusätzliches, über die Jungen hinausgehendes, übergeordnetes Ziel der Veränderung der Gesellschaft im Sinne der Erreichung einer solidarischen, gleichberechtigten Gesellschaft im bürgerrechtlich-demokratischen Sinn. Ein solcher Wandel ist von vielen Beteiligten und Faktoren abhängig und kann von der Chácara bestenfalls unterstützt und gefördert, nicht aber sichergestellt werden. Der Koordinator der Chácara hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Chácara unter anderem vom Gedankengut des oft als „Befreiungspädagoge“ bezeichneten Brasilianers Paulo Freire geprägt worden sei. Ein Zitat aus dessen bekanntestem Buch, „Pädagogik der Unterdrückten – Bildung als Praxis der Freiheit“ (1973) kann als Kommentar zum Begriff der „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ gelesen werden: Das also ist die grosse humanistische und geschichtliche Aufgabe der Unterdrückten: sich selbst ebenso wie ihre Unterdrücker zu befreien. Die Unterdrücker, die kraft ihrer Macht unterdrücken, ausbeuten und rauben, können in dieser Macht nicht die Kraft finden, die Unterdrückten oder sich selbst zu befreien. Nur die Macht, die der Schwäche der Unterdrückten entspringt, wird so stark sein, beide zu befreien. (...) Wer ist besser dafür präpariert, die entsetzliche Bedeutung einer unterdrückerischen Gesellschaft zu verstehen, als die Unterdrückten? Wer durchleidet die Auswirkungen der Unterdrückung mehr als die Unterdrückten? Wer kann die Notwendigkeit der Befreiung besser verstehen? Diese Befreiung wird ihnen nicht zufällig zuteil, sondern durch die Praxis ihres Ringens darum, durch ihre Erkenntnis der Notwendigkeit, dafür zu kämpfen. (S. 32í33)

In Kapitel 4.1.3 ist unter anderem beschrieben worden, wie die Kinder und Jugendlichen auf der Strasse aktiviert und gefördert wurden, und wie mit ihnen zusammen eine Gemeinschaft gebildet wurde, aus deren Bedürfnissen und Erfahrungen die Ziele der künftigen Organisation Chácara hergeleitet wurden. Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage, ob und inwieweit die nun besprochenen Ziele der Chácara mit den Zielen der Jungen in Zusammenhang stehen. Es war im Rahmen dieser Studie nicht möglich, auf der Strasse lebende Kinder und Jugendliche nach ihren Zielen zu befragen. Hingegen lag ausführliches Material der Jungen der Chácara vor, so zum Beispiel das bereits erwähnte, von ihnen geschriebene Buch „Histórias das nossas vidas“ (Fundação E., 1999) und weitere Texte, sowie einige Interviewaussagen. Dieses Material war vorwiegend ausserhalb der Forschung entstanden. Die Aussagen waren nicht als Antworten auf die spezifische Frage nach Lebenszielen hin entstanden, sondern wurden im Rahmen von offenen Fragen oder Themen abgegeben. Insgesamt wurden 228 Textstellen zu eher langfristigen bzw. Lebenszielen analysiert, wovon 26 Kommentaren über Ziele entsprachen und 202 konkrete Ziele bezeichneten. 164

Wie die nachstehende Tabelle zeigt, dreht sich ein Grossteil der von den Jungen erwähnten Ziele um die Dimensionen Familie (64 Erwähnungen), Beruf und Arbeit (38 Erwähnungen) und „Anderen helfen“ (32 Erwähnungen), gefolgt von der Dimension Erziehung/Bildung (18 Erwähnungen) und der Dimension „Position in der Gesellschaft“ (15 Erwähnungen). Dimension Familie (64)

Oberkategorie Herkunftsfamilie (42)

Kategorie

Teilkategorie

• Zur Herkunftsfamilie zurückgehen (21)

• Ja (13) • Nicht sicher (7) • Nein (1) • Ihr helfen (12)*129 • Sich gut mit ihr verstehen (3) • Ihr Freude bereiten (2) • Will verwandte Kinder zu Bürgern erziehen (1)* • Soll in Eintracht leben (3)

• Behandlung der Herkunftsfamilie durch den Jungen (18)

Eigene Familie (22)

• Klima in Herkunftsfamilie (3) • Eigene Familie haben (14) • Behandlung der eigenen Familie durch den Jungen (6)

Beruf/ Arbeit (38)

Beruf (23)

• Klima in eigener Familie (2) • Berufsarten (23)

Arbeit (15)

• Arbeiten allgemein (12) • Resultat der Arbeit (2) • Arbeitsweise (1)

129 130

• Familie gründen (9) • Eigene Kinder haben (3) • Heiraten/Frau haben (2) • Für eigene Familie sorgen* (5) • Eigene Familie glücklich machen (1)* • Soll anders als in Herkunftsfamilie sein (2) • Fussballspieler (11) • Lastwagenfahrer (5)130 • Arzt (2) • Erzieher (2) • Mechaniker (2) • Richter (1) • Arbeiten/Stelle finden (9) • Arbeiten statt stehlen (2) • Arbeit für Eltern finden (1)* • Geld verdienen (2) • Viel arbeiten (1)

Mit * markierte Teilkategorien werden zusätzlich der Oberkategorie „Anderen helfen“ zugeordnet. Ein von den Jungen immer wieder zitierter Grund, weshalb sie Lastwagenfahrer werden wollen, ist, dass sie dann „überall hinreisen“ und „die Welt sehen“ könnten.

165

Anderen helfen (32)

Zielgruppen (32)

• Herkunftsfamilie (14)

• Arme Menschen (7) • Eigene Familie (6)

• Strassenkinder (5)

Erziehung/ Bildung (18)

Position in der Gesellschaft (15)

Position (6)

Status (6)

Behandlung durch Gesellschaft (3) Ort zum Leben (11)

Gesundheit (9) 131

Was? (7) Wo? (3) Wie? (1) Ohne Sucht (9)

• Herkunftsfamilie helfen (12) • Arbeit für Eltern finden (1) • Verwandte Kinder zu Bürgern erziehen (1) • Den Armen helfen (7) • Für eigene Frau und Kinder sorgen (5) • Eigene Familie glücklich machen (1) • Strassenkindern besseres Leben geben (4) • Projekt wie die Chácara machen (1)

• Viel lernen (5) • Ausbildung machen (4) • Universität besuchen (4) • Schule besuchen (3) • Erziehung als Bürger erhalten (1) • Englischkurs (1) • Als Bürger gesehen, nicht marginalisiert (4) • In passender Schicht leben (1)131 • Viele Leute kennen (1) • „Jemand sein im Leben“ (4) • Beachtet werden (1) • Limousine fahren (1) • Nicht flüchten müssen (1) • Nicht misshandelt/unterdrückt werden (1) • In Würde leben können (1) • Eigenes Haus (7) • Von Strasse entfernt (2) • In einem schönen Umfeld (1) • Ohne Mangel (1) • Keine Drogen (9)

Dabei handelt es sich um ein Zitat von einem Jungen, der sagte, dass er sich unter wohlhabenden Leuten nicht wohl fühle bzw. „unter Seinesgleichen“ leben wolle.

166

Persönliche Entwicklung (6) Chácara (5)

Welt kennenlernen (1) Werte (1)

• Eigene Lebensweise verändern (4) • Sich ändern, wachsen, sich entwickeln (2) Der Chácara helfen* (3) Kontakt aufrechterhalten (2)

• Mit Chácara (1) • Mit Freunden in Chácara (1) • Welt kennenlernen (1) • Gott treu sein (1)

Abbildung 13: Lebensziele der Jungen der Chácara (in Klammern die Anzahl Erwähnungen132) Betrachtet man die Ziele der Jungen, fällt auf, dass diese im Gesamten inhaltlich konkreter sind als diejenigen der Organisation Chácara. Es zeigt sich, dass die Ziele der Chácara den Zielen der Jungen nicht absolut entsprechen. Eher sind sie diesen vorgeschaltet. Die meisten inhaltlichen Ziele der Jungen können schlussendlich nur die Jungen selbst erreichen, besonders wenn man aus der obigen Übersicht gewahr wird, dass sich der Grossteil davon auf soziale Beziehungen ausrichtet: diejenigen in der Herkunftsfamilie, in der künftigen eigenen Familie sowie in der Gesellschaft und anderen benachteiligten Menschen gegenüber. Sind die Organisationsziele der Chácara erfüllt, so die implizite Annahme, leisten sie einen Beitrag dazu, dass die Jungen ihre spezifischen Lebensziele (in der Chácara wie erwähnt „sohnho“, Traum, oder „proposta de vida“, Lebensentwurf genannt) definieren und sich ihnen möglichst gut annähern können. Bei einer solchen Zielstruktur liegt die Vermutung nahe, dass die Ziele der Chácara denjenigen der Jungen nicht nur vorgeschaltet sind, sondern dass sie diese auch beeinflussen und von diesen beeinflusst werden. Ein Zeichen dafür ist die Tatsache, dass alle Dimensionen der Ziele der Jungen in den Dimensionen der Ziele der Chácara gespiegelt sind. Stehen zum Beispiel für die Jungen künftige Beziehungen an erster Stelle, so legt die Chácara grossen Wert auf die Förderung von Fähigkeiten des Zusammenlebens und des Handelns als Bürger in der Gesellschaft. Ein Beispiel hierfür ist die Frage der Solidarität. Viele Jungen äussern den Wunsch, anderen – vor allem ihren Herkunftsfamilien oder anderen Kindern auf 132

Bei gleicher Anzahl: alphabetische Reihenfolge.

167

der Strasse – zu helfen; gleichzeitig ist Solidarität und der Einsatz für Andere ein expliziter Zielwert der Chácara. So schilderte deren Koordinator der Autorin nicht nur, wie sehr ihn die Solidarität unter armen Menschen immer beeindruckt habe, sondern auch, wie er beobachtet habe, dass viele Menschen, sobald es ihnen besser gehe, auf diejenigen herabsehen würden, die sich noch in derselben Situation befänden wie sie früher. Deshalb sei es ihm wichtig, das Thema der Solidarität und des sozialen Engagements mit den Jungen ständig zu behandeln. In einem Interview sagte er: Es gilt, die Jungen zu befähigen, dass sie durch die Denkfähigkeit und Intelligenz, welche sie haben, durch das Leben, das sie hatten, sich für ihre Zukunft, für ihr Leben einsetzen können, aber mit einer Vision der Solidarität, der Bewusstseinsweckung ... Du hast D. [ein 15-jähriger Junge] gesehen, als ihn die Leute von der Kirchgemeinde fragten: „Sagen wir mal in zehn Jahren, wie wollt ihr, dass euer Leben dann ist?“ [Er antwortete:] Ich will heiraten, ich will meine Familie, und, das will ich hier auch sagen, ich will Fussballspieler werden und ich will ein Projekt wie dieses hier aufbauen.“ Das heisst, obwohl die Jungen zur Schule gehen und heute in einer besseren Lebenssituation stehen, sollen sie sich erinnern, dass es noch mehr Kinder auf der Strasse gibt, dass wir in einer Welt des Konflikts und der Widersprüche leben, und dass wir Agenten der Transformation sein müssen. [Das heisst:] Ich kann nicht schweigen im Angesicht der Ungerechtigkeit, nicht wahr. Ich kann nicht [einfach] mein Haus haben, meine Familie haben, und damit ist dann alles gut. Es ist gut, aber ich muss darüber hinausgehen; ich muss wissen, dass ich bei einer Gewerkschaft mitmachen kann, bei einem Verein, bei einer Stiftung, nicht nur, um Dinge zu spenden, sondern um dafür zu sorgen, dass es eine Diskussion gibt, dass man eine Politik hat, und dass man Einfluss ausübt, um die Normen der Ungerechtigkeit zu verändern, und dass man [so] anfängt, eine gerechte Gesellschaft aufzubauen, von dem Ort aus, an dem man sich befindet; so sehe ich es für die Jungen. (Interview, 20. April 2003)

Aus diesem Diskurs wird ersichtlich, dass die Solidarität und das soziale bzw. staatsbürgerliche Engagement ein Ziel der Organisation Chácara ist, aufgrund dessen auch auf die Jungen eingewirkt wird und ihnen Zusammenhänge näher gebracht werden. Ein gewisses „Auseinanderklaffen“ zwischen den Zielen der Chácara und denjenigen der Jungen ist vor dem Hintergrund der Entwicklungsphase der Jungen durchaus sinnvoll. Gerade die Jungen von der Strasse haben bisher wenig Begleitung und Beratung erhalten und verfügen deshalb über einen eher eingeschränkten Vorstellungsradius davon, was in ihrer Zukunft alles möglich sein könnte. Dies zeigt sich gut in der Aussage eines Jungen, der mit 11 Jahren in die Chácara kam und zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt war, im Verwal-

168

tungssekretariat der katholischen Universität arbeitete und erfolgreich Betriebswirtschaft studierte: Frage: Dachtest du, dass Du eines Tages studieren und an der Universität arbeiten würdest? Antwort: (lacht) An der Universität arbeiten! Ich wusste nicht einmal, dass die Universität existiert. Ich wusste nicht, was eine Universität war; als ich hierher kam, wusste ich nur, was Schule war; nicht einmal, was die Oberstufe ist, wusste ich. (Interview, 27. März 2003)

Nach dem Gespräch kam er noch einmal zur Autorin und sagte: In Wirklichkeit wussten wir [beim Eintritt in die Chácara] gar nicht, was wir uns al133 les erträumen könnten. (Mündliche Mitteilung, 27. März 2003)

So ist vorstellbar, dass ein Junge eine gut bezahlte Arbeit zum Ziel hat, jedoch aufgrund seines Alters, seiner Kenntnisse oder seines Entwicklungsstandes nicht weiss, dass schulische und berufliche Ausbildung Bedingung dafür ist. Die Chácara hingegen hat das Ziel, ihm nicht nur zu einer Arbeitsstelle zu verhelfen, sondern ihn auch in seiner allgemeinen Lernfähigkeit zu fördern und ihm schulisches, berufliches und soziales Wissen zu vermitteln. Die Chácara nimmt die Ziele der Jungen auf und misst ihnen eine grosse Bedeutung bei. Dies zeigt sich, wenn das Buch, welches die Jungen verfasst haben (Fundação E., 1999), über ein separates Kapitel mit dem Titel „Zukunft“ verfügt, in welchem die Verfasser über 12 Seiten ihre Erwartungen und Ziele schildern. Es zeigt sich, wenn jeder Jahresbericht die Ziele der Jungen für das neue Jahr enthält, und wenn verschiedene Räume der Chácara mit Zeichnungen dekoriert sind, die, unterschrieben von jedem Jungen, dessen Traumberuf zeigen. Wie wichtig die Ziele der Jungen in der Organisation Chácara sind, zeigt sich im Weiteren jeder Person, welche in der Chácara eine Aktivität anstossen möchte, so auch der Autorin, als sie die Idee der nun vorliegenden Forschung und andere Vorhaben vorschlug. Über die Jahre waren es mehrere verschiedene Vorschläge, welche sie dem Koordinator gegenüber in der Hoffnung auf eine Reaktion erwähnte. Seine Antwort war immer dieselbe: „Sprich mit den Jungen und den Erzieherinnen und Erziehern darüber und sieh, was sie von diesem Ziel halten.“ Es liegt nahe, daraus abzuleiten, dass die – informierten, geförderten, in der Diskussion entwickelten – Ziele der Jungen in gewisser Weise der Massstab sind, an dem in der Chácara die Ziele, welche andere Personen „zugunsten“ der Jungen erreichen möchten, gemessen werden. 133

„Na verdade, a gente nem sabia com o que poderia estar sonhando.“

169

Gleichzeitig reflektieren die Mitarbeitenden der Chácara die Ziele mit den Jungen, zeigen ihnen weitere Möglichkeiten und streben eine Stärkung der Jungen bei der Erarbeitung ihrer eigenen Ziele an. Sie tun dies auf die verschiedensten Weisen, so zum Beispiel einmal im Jahr im Rahmen einer Wallfahrt nach Aparecida do Norte, dem 13 Busstunden entfernten wichtigsten Wallfahrtsort Brasiliens. Auf diese Wallfahrt bereiten sich die Jungen bereits einen Monat im Voraus vor. Im Rahmen verschiedener Wettbewerbe und Gespräche in grösseren und kleineren Gruppen denken die Jungen über ihre Ziele und Wünsche nach sowie darüber, ob sie das, was sie das letzte Mal beim Anzünden einer Kerze zur Erreichung ihres Ziels zu tun versprochen hatten, auch tatsächlich gehalten haben. Kurzfristige Ziele für die Jungen und für die Chácara als Organisation werden in wöchentlichen Sitzungen diskutiert und vereinbart sowie bezüglich ihrer Erreichung evaluiert. Auch die seit dem Jahr 2004 durchgeführte, mittel- und langfristige strategische Planung umfasst das Element der Befragung der Kinder und Jugendlichen und der Aufnahme ihrer Zielvorschläge in Gleichberechtigung mit denen der erwachsenen Mitglieder der Chácara.134 Im Folgenden soll nun aufgrund der Forschungsresultate auf die organisationale Struktur eingegangen werden, welche die Beteiligten der Chácara aufgrund der Analyse der Ausgangslage, der Bildung einer starken Gruppe und der Definition von Zielgruppe und Zielen verliehen haben. Der Übersichtlichkeit halber sollen hierfür die identifizierten Ziele der Chácara noch einmal abschliessend angeführt werden: ƒ

Übergeordnetes Oberziel: eine solidarische, gleichberechtigte Gesellschaft im bürgerrechtlich-demokratischen Sinn. Oberziel: die Jungen als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“, im Besitz eines Lebensentwurfs und persönlich sowie seitens der Gesellschaft in der Lage, sich für dessen Realisierung einzusetzen. Organisationsziele bezüglich der Jungen: í Ihre Fähigkeiten zu fördern: Lern-/Reflexionsfähigkeit, Fähigkeiten des Zusammenlebens, Fähigkeiten als Bürger, Veränderungsfähigkeit. í Ihre persönlichen Grundlagen zu stärken: Schulisches, berufliches und gesellschaftliches Wissen, Gesundheit, Werte, kulturelle Verankerung, Arbeit/Einkommen, familiäre Verankerung. í Ihre gesellschaftlichen Bedingungen zu verbessern: Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit der Gesellschaft.

ƒ ƒ

134

Diese Planung fand nach Abschluss der Feldforschung statt und ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit.

170

Mit der umfassenden Analyse der Ausgangslage und den, wenn auch impliziten, so doch geteilten Zielkonzepten verfügt die Chácara über die beiden gemäss Organisationsmodell in Kapitel 3.3.3 zentralen Pfeiler, zwischen denen Organisationen aufgespannt sind und funktionieren. 4.4 Struktur Die Mitglieder der Chácara untersuchten vor der Gründung ihrer Organisation die Situation und Eigenart der auf der Strasse lebenden Kinder und Jugendlichen und definierten auf dieser Basis sowie mit Hilfe von weiteren Expertenmeinungen die Zielgruppe sowie die Ziele der zu gründenden Organisation. Hier soll nun die Organisation beschrieben werden, welche die Mitglieder der Chácara zwischen ihrer Analyse der Ausgangslage und den von ihnen gewählten Zielen aufgespannt und gestaltet haben. Die induktiven Auswertungen des Datenmaterials haben gezeigt, dass sich die Beteiligten der Chácara auf zwei Strukturen der Organisation beziehen: eine materielle, sichtbare Struktur in einem real existierenden physischen Raum mit geographischer Lokalisierung, und eine nicht sichtbare, ideelle, soziale Struktur, welche die physische Struktur nützt und sich in ihr ausdrückt, sie jedoch in Bedeutung und Wirkung transzendiert. Zur Orientierung soll nun zuerst die materielle, sichtbare Struktur der Chácara dargestellt werden, bevor in einem zweiten Schritt auf deren ideelle, soziale Struktur eingegangen wird, wie sie aus Interviews mit Beteiligten und Dokumenten der Organisation hervor geht. Bei beiden Teilen der Struktur wird sich zeigen, dass sie nicht zufälliger Art sind, sondern auf den Bedürfnissen und Potentialen der Ausgangslage und speziell der Jungen aufbauen sowie auf die Erreichung der Organisationsziele ausgerichtet sind. 4.4.1 Physische Struktur Zur Chácara als physischer Struktur in einem Raum mit geographischer Lokalisierung wurden in den Interviews von den am Projekt beteiligten Erwachsenen nur wenige Aussagen gemacht. Trotzdem soll diesem Aspekt hier als erstem nachgegangen werden, um einen Einblick in deren Erscheinungsbild zu gewinnen.

171

Erwachsene und Jungen bezeichnen den physischen Raum und die geographische Lokalisierung der Chácara als sehr wichtig. Gleichzeitig weisen Erwachsene in einiger ihrer Aussagen auf die Grenzen dieser Wichtigkeit hin: Wir bemühen uns, die Philosophie der Arbeit nicht zu verlieren, denn sonst tun wir das, was den Familien [der Jungen] geschehen ist: Diese füllen [das Haus] mit Kindern und haben die physische Struktur nicht, um sich um alle zu kümmern. Im Gegensatz zur Chácara wollen manchmal (...) [bestimmte Leute135] helfen, mehr und mehr [Gebäude] zu bauen und 100 oder mehr Jungen hierher zu bringen. Aber wir können uns nicht nur um den physischen Aspekt der Chácara kümmern. Wir müssen uns um die Betreuung der Jungen kümmern. Nicht nur um den physischen Aspekt, sondern vor allem um den sozialen. (Frau aus der ehemaligen Strassenarbeit/Gründungs- und Vorstandsmitglied, Interview, 26. April 2004)

Die Organisation Chácara ist ein real existierendes physisches Gebilde aus Bauten und Anlagen in einem real existierenden geographischen Raum. Es kann angenommen werden, dass diese physische Existenz und geographische Lokalisierung von besonderer Bedeutung ist für eine Organisation, welche obdachlose Kinder und Jugendliche aufnimmt, die mit der Strasse einen Ort verlassen, an dem ihr Leben sowohl durch Umweltbedingungen (Kälte, Nässe, Schmutz etc.) als auch durch bestimmte soziale Bedingungen (Nähe zu Drogen, Gewalt etc.) in höchstem Masse gefährdet ist. Diese Bedeutung für die Organisation zeigt sich darin, dass das physische Erscheinungsbild der Chácara und ihre geographische Lokalisierung von den Wünschen der vor der Gründung der Chácara befragten Kinder und Jugendlichen der Strasse geprägt wurden, wie der Koordinator Fernando de Gois in einem öffentlichen Vortrag an einer Universität erwähnte: So kam die Idee einer Chácara (eines kleinen Landgutes) auf, und da fragte ich warum, [und sie sagten]: ‚Eine Chácara zuerst einmal deshalb, weil, als unsere Familien auf dem Land wohnten, sie viel mehr Kinder hatten, weil alle in der Landwirtschaft arbeiteten – sie hatten sieben oder acht Kinder – aber alle waren stark, weil sie mähten und pflanzten und alle zusammen waren.’ Das heisst, dass die Rückkehr auf das Land, in die Landwirtschaft, für diese Jungen wichtig war. Eine andere Sache, die für sie wichtig war – eine für uns sehr massgebliche Sache – war das Zusammenleben mit der Natur und mit den Tieren. Was Tiere anbelangt, so kann man dies in den Favelas und auch auf den Strassen beobachten: Man sieht den Papiersammler mit zwei oder drei Hunden oder sogar mit einer Katze. Weshalb? Dies ist so, weil, wenn wir unter uns Menschen leben, wir immer eine vertikale Beziehung haben gegenüber demjenigen, der [mehr] weiss, [mehr] kann 135

Nennt die betreffende Personengruppe.

172

und [mehr] hat (...). Wir alle wollen zuoberst sein, auch wenn dies heisst, dass wir die anderen niedertreten; das wichtigste ist, ganz oben zu sein. Wenn man jedoch mit Tieren zusammen lebt, dann hat man eine horizontale Beziehung. Und der dritte Punkt, den sie erwähnten, war die Frage der Drogen. (...). Nicht zuletzt darum wollten sie eine Chácara, um fern der Drogen leben zu können. (Vortrag Uniandrade, 22. April 2004)

Die Chácara liegt abgelegen am Rande von „Quatro Pinheiros“, einem zum Ort Mandirituba gehörenden Weiler136. Damit liegt sie eine gute Stunde Autofahrt südlich des Zentrums der Stadt Curitiba mit ihren 2.7 Millionen Einwohnern137. Quatro Pinheiros ist eine ländliche Siedlung in einer hügeligen Region auf etwa 1000 m.ü.M., in welcher der Atlantische Nebelwald zum grössten Teil gerodet wurde, in Nischen, wie Hügelkuppen oder schlechter zugänglichen Mulden und Bachtobeln, mit seinen typischen hohen, kandelaberförmigen Araukarien, einer Pinienart, jedoch noch existiert. Hier leben etwa 300 Familien mit meist niederem oder gar geringem Einkommen in relativ verstreut liegenden Holz- oder einfachen Backsteinhäusern. Gerade in der Gegend der Chácara sind es Kleinbauernfamilien, welche Mais, Maniok, Bohnen und Gartengemüse anpflanzen und wenige Milchkühe sowie Kleintiere halten. Der Weiler hat Zugang zur öffentlichen Elektrizitäts- und Wasserversorgung sowie zum Schulbus und, in der Chácara, zu günstiger, lokaler Arzt- und Zahnarztversorgung, verfügt über 3 öffentliche und einzelne private Telefonanschlüsse und umfasst im Weiteren zwei katholische und zwei evangelikale Kirchen, ein Postbüro, zwei Bars, ein kleines Geschäft, welches die notwendigsten Grundnahrungsmittel verkauft, und an der 20 Fussminuten von der Chácara entfernten, geteerten Hauptstrasse eine Haltestelle der Busse nach Mandirituba und Curitiba. Im etwa 15 Autominuten entfernten Hauptteil von Mandirituba gibt es die Infrastruktur einer kleinen Stadt mit Schulen, Spital, Supermarkt, Banken und so weiter. Die Stadt Curitiba, in der die Jungen auf der Strasse gelebt hatten, befindet sich etwa 90 Minuten Busreise entfernt. Die Distanz zur Stadt entspricht tatsächlich den Wünschen der Jungen. So ergab die induktive Analyse von 172 Textstellen aus Interviews sowie von zumeist unabhängig von der Forschung erstellten Texten der Jungen 37 Textstellen zu diesem Thema. In 33 von ihnen kritisieren die Jungen andere Organisationen bezüglich ihrer Nähe zur Strasse und zwar in zweierlei Hinsicht: einerseits, dass sich diese nahe dem Drogenmarkt und anderen, auf der Strasse lokalisierten Risiken und Gefahren befinde, und anderseits, dass die Nähe dazu führe, dass 136

137

Im Jahr 2000 hatte Mandirituba im Dorfkern 6'268 und in den vielen, zum Teil recht weit entfernten Weilern weitere 11'272 Einwohner (http://www.pr.gov.br/comec/ormc.html, 18.8.2005). Diese Zahl bezieht sich auf die „Região Metropolitana de Curitiba“, das heisst, auf Stadt und Agglomeration.

173

Probleme der Strasse wie Gewalt, Drogenkonsum und Diebstahl in die Projekte hineingetragen würden. Die folgenden zwei Zitate stammen aus dem Buch „Histórias de nossas vidas“ der Jungen (Fundação E., 1999): Es gab ein Projekt, das X138 hiess, aber dieses brachte nichts, es war wie ein Hotel; die Jungen kamen, duschten und assen, und dann gingen sie schon wieder auf die Suche nach Drogen; sie gingen hinaus und auf dem direkten Weg Leim kaufen. (S. Ich bin in keinem anderen Projekt geblieben, weil die Projekte dort in Curitiba nahe der Favelas und derjenigen Orte sind, an denen grosse Mengen von Drogen verschoben werden, und es gelingt einem nicht, so nahe bei den Drogen zu wohnen und sie nicht zu nehmen. (S. 84)

Bezüglich der Distanz zur Stadt merkt ein Junge allerdings an, dass diese gleichzeitig geographische Distanz zu den Familien bedeute. Tatsächlich muss die Chácara aufgrund davon einiges an Ressourcen aufwenden, um Besuche der Kinder bei ihren Familien bzw. Besuche der Familien in der Chácara zu ermöglichen. Auch in der praktischen Arbeit beim Aufbau einer anderen Organisation für Strassenkinder hat die Autorin die Erfahrung gemacht, dass ein Gleichgewicht zwischen Distanz und Nähe von der Stadt nötig ist. Distanz ist wegen der von den Jungen genannten Gründe sinnvoll. Zu weite Entfernung von grösseren Siedlungen mit ihrer Infrastruktur – Spital, Schulen etc. – und, noch wichtiger, mit ihrer gesellschaftlichen Struktur, erschwert die Verwirklichung von Zielen der Betreuung, Förderung und gesellschaftlichen Integration der Jungen jedoch, ja, kann diese sogar verunmöglichen. Eine „Chácara“ ist ein kleines Landgut, und auf eben einem solchen befindet sich auch die untersuchte Organisation gleichen Namens. In seiner Lage und seiner Gestaltung entspricht es den Wünschen der Jungen, wie die nachstehende Skizze des etwa 24’000 m2 messenden Areals und seiner wichtigsten Teile zeigt:

  138

 Ein von der Stadtregierung geführtes, residentielles Projekt für Jungen der Strasse in nächster Nähe eines grossen Drogenumschlagplatzes in einer Favela, des Busbahnhofs und des Stadtzentrums.

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Abbildung 14: Die Chácara im Überblick (Stand 03/2006; Wohnhäuser: Baujahr in Klammern) Gemäss Aussagen von Jungen und Erziehenden ist das 1. Haus als das zuerst erstellte der wichtigste Ort der Chácara, da hier die ersten Jungen lebten und die Chácara mit ihrer Arbeit begann. In praktischer Hinsicht ist das 5. Haus mit dem Büro und dem Theater- und Versammlungssaal seit seiner Erstellung das Zentrum der Organisation; da aber die einzelnen Wohnhäuser und dort lebenden Gruppen eine gewisse Autonomie haben, stellt jedes Wohnhaus seinerseits ein kleines Zentrum dar. Das 4. Haus nimmt die neu eintretenden, jüngeren Kinder auf. Es befindet sich 10 bis 15 Minuten zu Fuss entfernt von den anderen Häusern auf dem gegenüber liegenden Hügel, was den Kindern die Möglichkeit gibt, sich langsam einzuleben, während die bereits eingespielten Gruppen der Älteren nicht zu stark destabilisiert werden. Dieses Wohnhaus ist damit ein Beispiel dafür, dass die physische Form der Chácara auf die Eigenschaften des Zielpublikums und die Organisationsziele ausgerichtet ist. Neben Wohnhäusern sind Teiche, Wiesen und Wald vorhanden, welche – wie die Fussballplätze, der Saal im 5. Haus und einzelne Fernsehräume – der Freizeitgestaltung der Jungen dienen; dazu landwirtschaftliche Elemente wie Pflanzungen und Tierställe sowie Werkstätten für Automechanik, Töpferei und (nicht markiert, weil noch nicht über einen festen Standort verfügend) Schreine175

rei, Schneiderei und Siebdruckwerkstatt. Im 4. und 5. Haus befinden sich Schulräume für Nachhilfe, Computerkurse und Englischunterricht sowie je eine Bibliothek. Die von Freiwilligen geführte Arzt- und Zahnarztpraxis, das Waschhaus sowie die Waschküche beim 4. Haus tragen zu Gesundheit und Hygiene bei, während die Mahlzeiten in der Gemeinschaftsküche im 5., in der Küche im 4. Haus und, bei grösseren Anlässen, in der Grossküche zubereitet werden. Seit Anfang des Jahres 2005 mietet die Chácara zusammen mit der benachbarten Organisation ABAI139 ein Haus in Curitiba, welches von beinahe und ganz erwachsenen Jungen der Chácara und Abgängern der Alkohol- und Drogentherapiestation der ABAI bewohnt wird, die in der Stadt arbeiten und/oder studieren. Ausser der Miete tragen sie alle Kosten für Haus und Unterhalt selbst. Ende des Jahres 2005 erhielt die Chácara leihweise einen kleinen Hof in der Region, auf dem von der Strasse kommende Kinder und Jugendliche zuerst in einer betreuten Kleingruppe einige Wochen der Akklimatisierung verbringen, bevor sie in die Chácara übersiedeln. Die Chácara ist, im Gegensatz zu den meisten brasilianischen Institutionen für Kinder und Jugendliche, nicht durch einen Zaun oder eine Mauer von der Aussenwelt abgeschlossen. Die nächsten Nachbarn, 9 Kleinbauernfamilien, können innerhalb von 1 bis 5 Minuten zu Fuss erreicht werden, und der Durchgangsweg (die kleine Strasse links im Bild) verläuft mitten durch das Zentrum der Chácara. Allerdings dauert der Marsch zu Hauptstrasse und Bushaltestelle 20 Minuten und die Busfahrt in die Stadt weitere 90 Minuten. Die Jungen sind angehalten, je nach Alter um Erlaubnis zu fragen bzw. zu informieren, bevor sie kurzfristig an einen anderen Ort gehen. Will ein Junge die Chácara ganz verlassen, lässt er dies zumeist vorher wissen, worauf Erzieherinnen und Erzieher, aber spontan auch andere Jungen mit ihm ausführliche Gespräche führen. Es wird jedoch nie ein Junge physisch daran gehindert, die Chácara zu verlassen. Wie die Jungen wiederholt bestätigt haben, trägt dies dazu bei, dass sie in der Chácara bleiben, beziehungsweise nach einem Weggang in diese zurückkehren wollen. So berichtet ein ehemaliger Junge der Vila Lindóia, Mitglieder der Strassenarbeit, Gründungs- und heutiges Vorstandsmitglied der Chácara von einem Ereignis zu Beginn der Chácara: Fernando reiste zu seinen Eltern, nur für eine Woche, und weil wir noch ganz am Anfang standen, hatten wir keine Erfahrung, und die Jungen, die gerade erst von der Strasse gekommen waren, dachten sich: „Wir sind hierher gekommen, um alles zu haben, und jetzt haben wir kein Fleisch zum Mittagessen, und wir haben keine anständigen Kleider“. Sie wollten Kleider, Geld, um Kleider zu kaufen, Dinge zum Essen, und ich sagte, dass wir nichts solches hätten, dass wir alles gemeinsam aufbau139

Associação Brasileira de Amparo à Infância.

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en müssten. Da organisierten [zwei Jungen] die anderen Jungen und sagten: „Entweder kauft ihr Kleider für uns, oder ihr gebt uns das Geld [für den Bus], damit wir auf die Strasse gehen und stehlen können [was wir brauchen]. Was sollten wir da tun? Wir hatten keine Alternative, und so sagten wir: „Gut, ihr wollt das Geld für den Bus, und wir geben es euch.“ Ich weiss nur noch, dass von zwölf Jungen lediglich vier in der Chácara blieben. Als Fernando zurückkam, erzählten wir ihm, was passiert war. Wir kamen zum Schluss, dass wir das Beste getan hatten, das wir hätten tun können, denn sie dort [in der Chácara] festzuhalten, sie gefangen zu halten, war nicht unser Konzept. Und in gewisser Art und Weise half dies [den Jungen], ein besseres Urteil zu fällen, denn nachdem sie in die Chácara zurückgekehrt waren, gelang es ihnen, den Raum „Chácara“ und den Raum „Strasse“ zu beurteilen; es gelang ihnen von einer Woche auf die nächste den Unterschied [zwischen den beiden Räumen] zu erkennen. Danach floh weder der eine noch der andere Junge [welcher die Gruppe angeführt hatte] jemals wieder. (Gruppendiskussion, 20. April 2004)

Einer der erwähnten beiden Jungen – zu Abschluss der vorliegenden Forschungsarbeit Universitätsstudent, Koordinator eines eigenen Präventionsprojektes für Kinder einer Favela und Mitarbeiter in einer staatlichen Institution für jugendliche Straftäter – nennt in einem Interview als inzwischen Erwachsener den Grund, weshalb er trotz Mangels in der Chácara blieb: deren Lage in der Natur: Es gab nichts hier, nur jenes Haus; es gab kein Essen, es gab nichts, es gab keine Betten ... es war sehr, sehr bescheiden, wirklich sehr ärmlich. Aber es gefiel mir hier; es gefiel mir wegen der Natur. (...) Was mich am meisten bezauberte, war die Natur, zum Beispiel die Bäche, in denen wir spielen konnten; dieser Teil gefiel mir sehr (...). (Eintritt die Chácara Oktober 1993; zum Zeitpunkt des Interviews 24-jährig, 6. Mai 2003)

Tatsächlich ist die Lage der Chácara fern der Strasse und inmitten der Natur ein Aspekt, den die meisten Jungen positiv erwähnen, wie auch das folgende Zitat zeigt: Die Jungen bleiben in der Chácara, weil sie ein Ort ist, an dem es viel Natur gibt, Bäche, Bäume und viele Tiere. Und auch wegen der Ruhe. Hier gibt es nicht viel Lärm, und wir können ruhig schlafen, ohne Angst vor Räubern oder anderen Dingen. Hier ist ein sehr guter Ort zum Wohnen. (Fundação E., 1999, S. 69)

Zusammengefasst kann zur geographischen Lokalisierung und zum physischen Raum der Chácara gesagt werden, dass diese in hohem Grad den Bedürfnissen der Jungen zu entsprechen scheinen. Sie können sogar einen wichtigen Grund für die Übersiedelung eines Jungen in die Chácara und seinen Wunsch, dort zu bleiben, darstellen. 177

4.4.2 Soziale Grundkonzeption Mir war immer klar, dass das Wichtigste an einem Projekt nicht die materielle Struktur ist, nicht das Geld und die Häuser. Manchmal sind Besucher gekommen und haben gesagt: „Ach, diese Häuser sind so schön“. Und da habe ich gedacht: „Oje, die haben keine Ahnung; ein Haus zu bauen, ist einfach, aber das, was darin passiert, der Geist, der in den Menschen ist, das ist schwierig [zu bewirken]. (Interview, 2. April 2004)

Diese Aussage stammt von Marianne Spiller-Hadorn, Leiterin des sich ebenfalls in Mandirituba befindenden Projektes ABAI (Associação Brasileira de Amparo à Infância, „Brasilianische Vereinigung der Unterstützung für die Kindheit“). Sie bezog sich dabei unter anderem auf ihre 25-jährige Erfahrung, die sie beim Aufbau einer Pionierorganisation mit Sozialwaisenhäusern und einer grossen Anzahl weiterer Angebote gewonnen hatte, aber auch auf das „Schwesterprojekt“ Chácara, dessen Akzeptanz und Entwicklung in Mandirituba sie unterstützt und begleitet hatte. Aus vielen Aussagen von an der Chácara Beteiligten geht hervor, dass die Organisation auch für sie mehr ist als deren physische Struktur. So bezogen sich lediglich 11 von 276 Textstellen der offenen Interviews und weiteren Quellen von Mitarbeitenden sowie externen Fachleuten und Unterstützenden auf die Chácara als physische Struktur. Bei den Jungen erwähnten nur 19 von 158 Textstellen die physische Struktur dieser Organisation. Alle anderen Aussagen bezogen sich dagegen nicht auf physische Aspekte der Organisation, sondern auf deren soziale Gestalt, darauf, „was im Haus drin passiert“, und auf den „Geist der Menschen“, welche die Organisation bilden. Die Chácara hat das hauptsächliche Ziel, Jungen der Strasse zu „Protagonisten ihrer eigenen Förderung zu machen“. Wie in Kapitel 4.3.2 gezeigt, umfasst dieses Konzept, dass sie lern- und reflexionsfähig sind, angemessen und brüderlich/solidarisch mit anderen Menschen zusammenleben und agieren, sich in der Gesellschaft bzw. im Staat als verantwortungsvolle, aktiv mitgestaltende Bürger mit Rechten und Pflichten verhalten und über die dafür nötigen persönlichen und wirtschaftlichen Grundlagen sowie über einen Zugang zu einer integrierenden und nicht ausschliessenden Gesellschaft verfügen. Die Analyse der Daten hat ergeben, dass die Chácara von ihren Mitgliedern und Beteiligten in erster Linie als sozialer Rahmen verstanden wird, in dem die Entwicklung auf dieses Ziel hin stattfinden können soll. Es zeigte sich, dass die Chácara von ihnen als eine Art „Gesellschaft en miniature“ gesehen und gestaltet wird. Die hier vorgefundene Gemeinschaft erklären sie mit Begriffen, welche Konzepten der Menschenwürde und der demokratischen Staatsbürgerlichkeit mit ihren Rechten und Pflichten entsprechen. Diese Konzepte sind zwar weitgehend 178

in der brasilianischen Gesetzgebung verankert, jedoch nach Ansicht der Befragten in der brasilianischen Gesellschaft noch ungenügend verwirklicht. Die hauptsächlichen Aspekte dieser Grundkonzeption – Schuler (2004) würde sie als Kulturmerkmale im Sinne von geteilten Grundannahmen und Werten bezeichnen – sind Gegenstand dieses Kapitels und sollen in der Folge aufgrund der Forschungsresultate näher erläutert werden. Die Professorin, welche bereits Teile der Strassenarbeit und daraufhin die Chácara seit Anbeginn begleitete, sagte auf die Frage, was die Chácara sei, Folgendes: [Die Chácara] ist keine wohltätige Institution, sie ist ein Ort zum Wohnen, ein Ort zum Zusammenleben, zum Lernen des Zusammenlebens. (Interview, 5. Mai 2003)

Viele der befragten erwachsenen Beteiligten äusserten im Verlauf der Interviews in ähnlichem Wortlaut und mit Nachdruck, dass die Chácara „keine wohltätige Institution“ sei, sondern ein „Ort zum Zusammenleben“. Diese Kontrastierung wirkte auf die Autorin zunächst überraschend, könnte doch eine Organisation wie die Chácara durchaus als „wohltätig“ (da sie sich an benachteiligte Personen richtet) und als „Institution“ (da sie über Statuten, Vorstand, Angestellte, Infrastruktur etc. verfügt) bezeichnet werden. Obwohl in verschiedenen Interviews Teilaspekte davon etwas ausgeführt wurden und auch in einigen Dokumenten Hinweise auf sie gefunden werden konnten, lag weder mündlich noch schriftlich eine explizite Beschreibung dieser Kontrastierung an sich und ihrer konkreten Umsetzung in der Chácara vor. Erst die induktive Analyse der Interviews sowie einiger Dokumente erlaubte es, dieses Konzept zu erfassen und festzustellen, dass sich in Äusserungen wie der gerade zitierten die eigentliche soziale Grundkonzeption der Chácara widerspiegelt. Einen wichtigen Hinweis gab eine Aussage eines brasilianischen Staatsanwalts und Spezialisten für die Rechte des Kindes, welcher die Chácara ebenfalls seit deren Anfängen begleitet, auf die Frage, was ihm an dieser besonders gefalle: Es ist ganz besonders diese Art und Weise, in der man dort [in der Chácara] die Jungen so sehen kann, wie sie sind. Nicht als Diebe („pivete“), nicht als Bandenmitglieder („trombadinha“), nicht wie diese Etiketten [suggerieren], welche die Gesellschaft diesen Wesen aufdrückt, die in Wirklichkeit auf einem Lebenskurs sind, den sie nicht gewählt haben, und der einer Lebensweise entspricht, die niemand je freiwillig wählen würde. Ich bin der Meinung, dass das Perverseste an dieser Situation, welche sie erleben, die Haltung ist, sie für ihre eigene Randständigkeit verantwortlich zu machen, in der sie sich befinden, als ob sie sich freiwillig dafür entschieden hätten, am Rand der Güter und Dienstleistungen zu leben, welche die Gesellschaft

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produziert. Das Buch von Rossato140 zeigt, wozu sie gemacht werden: entweder zu „Mini-Banditen“ oder zu „armen Seelen“, die lediglich Wohltätigkeit verdienen. Als bezeichnend für die Chácara sehe ich, dass die Jungen dort eine Identität haben, einen Namen, eine Geschichte, eine Zukunft, dass sie ein Lebensprojekt errichtet sehen und auch eine Beziehung der Solidarität, die dort entsteht (...). Dies ist ein besonderer Umstand, den die Chácara anbietet, anders als die „totalitären Institutionen“, anders als die offiziellen Institutionen, in denen dem Menschenwesen keine Entwicklung erlaubt ist und nicht einmal die Identifikation dessen, was es in Tat und Wahrheit ist: ein Wesen in Entwicklung, ein Kind oder Jugendliches wie jedes andere, das dieselben Wünsche hat und dieselben Verhaltensweisen wie jedes andere, wie ein normales Kind oder Jugendliches. (Interview, 6. Mai 2004)

Aus diesem Zitat wird eine von den an der Chácara beteiligten Personen wahrgenommene Dualität sichtbar: Dort, wie in den Kapiteln 2.2, 2.3 und 4.1.3 werden eine Gesellschaft und ihre „totalitären Institutionen“ beschrieben, welche die Kinder und Jugendlichen in eine periphere, untergeordnete beziehungsweise abgewertete Position verweisen, in der ihnen lediglich Strafen oder Almosen zukommen. Hier eine Gemeinschaft – die Chácara – in welcher die Jungen Identität, Namen, Geschichte und Zukunft haben, eine Position im Zentrum und nicht am Rand erhalten, mit anderen in einer Beziehung der Solidarität (und nicht der Abwertung/Unterdrückung) verbunden sind und ein eigenes Lebensprojekt entwickeln. Diese Dualität wird nicht nur von den beteiligten Erwachsenen wahrgenommen, sondern auch von den Jungen der Strasse, wie dies bereits in Kapitel 4.1.3 dargelegt wurde. Der Koordinator der Chácara bezieht sich auf diese Dualität und den Auftrag, den sich Projekte geben, in der folgenden Erzählung: Antwort: Es gab ein Paar aus Rio Grande do Sul141; sie arbeitete in der Nationalen Strassenkinderbewegung142. Er war Ingenieur, und er sagte, dass die Institutionen die Kinder und Jugendlichen normalerweise einem ganzen Prozess der Bewusstseinsveränderung unterwürfen, weil sie auf der Strasse sehr viel zorniger, sehr viel gewalttätiger seien, und wenn sie in die Institutionen kämen, würden sie dort zur Bravheit umerzogen (…). Gemäss seiner Aussage – und ich gehe mit ihm einig – ist es so, dass der ganze Kampfgeist [der Jungen zugrunde gerichtet wird]. Man sieht viele Projekte, welche auf der Religiosität beruhen, und die Religion verbietet alles, und so betet man die ganze Zeit, diese ganzen Zustände … Einwurf der Interviewerin: … sie produzieren „brave Arme“ … Antwort: Genau! Man sieht, dass der Grossteil der Projekte darauf ausgerichtet ist, die Gesellschaft nicht zu verändern, sondern darauf, mit noch mehr Projekten wei140 141 142

Gemeint ist Rossato (2003 a). Teilstaat südlich des Teilstaates Paraná. Movimento Nacional Meninos e Meninas de Rua.

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terzufahren, um mehr Kinder und Jugendliche zu betreuen, und sie zur Bravheit zu erziehen. Natürlich gibt es auch Projekte, die in dieser Hinsicht politisch sind, die sich für Veränderungen, für Information einsetzen, aber leider haben die meisten Projekte eine Sicht der Welt, dass sie gut sei, so wie sie ist, und dass das, was man ändern müsse, die Kinder und Jugendlichen seien und nicht die Gesellschaft. (Interview, 20. April 2003)

Die Definition der Chácara als Gemeinschaft, deren soziale Struktur sich bezüglich der Identität, der Position und der Beziehungen ihrer Mitglieder von der Struktur der Gesellschaft und deren staatlichen Institutionen unterscheidet, beziehungsweise als Reaktion und Gegenstück zu dieser gedacht ist, findet sich auch im „Pädagogischen Konzept“ der Chácara aus dem Jahr 1995: Das Konzept ist, Kindern und Jugendlichen aus Curitiba und Umgebung Erziehung und umfassende Unterstützung zu bieten, mittels eines partizipativen und befreienden Prozesses, der sie zu Protagonisten ihrer [eigenen] Förderung macht. Ein pädagogisches Konzept für Kinder und Jugendliche (welche ehemalige Jungen der Strasse sind) muss klar und objektiv sein. Seine Erarbeitung muss mit deren Beteiligung derselben geschehen, und es muss ein Konzept sein, welches die Staatsbürgerlichkeit der Jungen wieder erstehen lässt. Es muss ein „alternatives“ und „alteratives“ Konzept143 sein, welches unsere Gesellschaft transformiert und welches dazu führt, dass die Jungen als Subjekte ihrer eigenen Geschichte behandelt werden. Dieses pädagogische Konzept muss sich der autoritären Pädagogik, der Pädagogik der Almosen, der Pädagogik der Unterwerfung, der Resozialisierung, der Umerziehung und der Reintegration entgegenstellen. 144 Das Konzept der Stiftung ist eine Arbeit in einem offenen Betreuungssystem , welches den Jungen das Zusammenleben in einer Gruppe anbietet, in der die Regeln und Grenzen mit ihnen und den Erziehenden abgesteckt werden, und in dem immer beachtet wird, dass das Konzept der Chácara für die Jungen existiert, und dass die Erziehenden nur „Facilitatoren“ des pädagogischen Prozesses sind, beziehungsweise Animatoren der Gruppe.

Hier wird stipuliert, dass die Position und Rolle der Jungen in der Chácara derjenigen von „Subjekten“, von Staatsbürgern mit Rechten und Pflichten entsprechen und damit zu einer Transformation der Gesellschaft beitragen soll. Das pädagogische Konzept der Chácara soll eine Alternative darstellen zur „autoritären Pädagogik, der Pädagogik der Almosen, der Pädagogik der Unterwerfung, der Resozialisierung, der Umerziehung und der Reintegration“, welche den Jungen eine Position und Rolle als „Objekte“ der Interessen und Absichten Dritter 143

144

Die Chácara wird in einigen Texten auch als „alternative und alterative Gemeinschaft“ bezeichnet. Im Gegensatz zu einem auf Zwang basierenden, geschlossenen System.

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zuweist und – so lässt sich aus dem Diskurs ableiten – das herrschende gesellschaftliche Ungleichgewicht weiter zementiert, anstatt zu seiner Verringerung beizutragen. Die in den hier aufgeführten Zitaten genannten Aspekte lassen sich über das Konzept der Staatsbürgerlichkeit hinaus mit dem Grundprinzip der Menschenwürde in Bezug setzen, wie es bereits Kant in seinen Schriften (1785; 1986) definiert hat und wie es in den UNO Menschenrechten und, in verschiedenen Formulierungen, in den Verfassungen einer Grosszahl von Ländern mit demokratischem Staatssystem verankert ist, darunter auch von Brasilien und der Schweiz. Dieses Grundprinzip umfasst die Achtung vor dem Anderen, die Anerkennung seines Rechts zu existieren sowie die Anerkennung der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen. Es sieht den Menschen als Zweck an sich, der keinem fremden Zweck unterworfen werfen darf (der also, wie im zitierten Pädagogischen Konzept erwähnt, Subjekt und nicht Objekt ist). Die Verankerung des „Pädagogischen Konzepts“ der Chácara in Konzepten der Menschenwürde und demokratischen Staatsbürgerlichkeit suggeriert unter anderem, dass die Chácara von den an ihr Beteiligten als eine Gemeinschaft gesehen wird, welche so ist, wie die brasilianische Gesellschaft aufgrund ihrer Verfassung und Gesetze eigentlich sein sollte. In diesem Sinne stellt sie eine Alternative zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umständen dar, welche den Jungen (und weiteren Mitgliedern der brasilianischen Gesellschaft) Menschenwürde und Staatsbürgerlichkeit verwehren. So sagte der Koordinator in einem Interview: Wir hielten es für notwendig, die Chácara als Referenz aufzubauen, nicht als Modell, aber als eine kleine Referenz für den Staat, für die sich organisierende Zivilgesellschaft, [als Beweis dafür,] dass man ein Projekt gestalten [kann], in dem Menschen als Subjekte [behandelt werden], dafür, dass man die Staatsbürgerlichkeit wiedergewinnt, aber dass man all dies mittels Partizipation zu erreichen sucht. (Interview, 20. April 2003)

Auf die in diesem Rahmen entstandene soziale Struktur soll nun näher eingegangen werden. 4.4.3 Soziale Struktur Wenn die eben beschriebenen Annahmen und Werte der sozialen Grundkonzeption der Chácara nicht nur Lippenbekenntnis sind, dann müssten sie – wiederum im Sinne der Kulturmerkmale Schulers (2004) – die Gestaltung der sozialen Strukturen und Prozesse der Organisation prägen. 182

Hier sollen nun aufgrund der Datenanalyse die Akteure der Gruppe der Erziehenden und Koordination in Hinblick auf ihre Herkunft, Motivation und weitere Charakteristika dargestellt werden. Für die Gruppe der Erziehenden ist typisch, dass ihre Mitglieder (zum Zeitpunkt der Feldforschung mit einer einzigen Ausnahme) bzw. ihre Familien auf der Suche nach besseren (wirtschaftlichen) Überlebensmöglichkeiten vom Land in die Stadt migriert sind. Sie tragen zwar noch Spuren ländlicher Kultur in sich, sind jedoch vor allem von städtischen, wirtschaftlich sehr armen Verhältnissen geprägt145 und haben – wie zum Beispiel die ehemaligen Jungen der Chácara unter ihnen – zum Teil selbst auf der Strasse gelebt. Der Koordinator verfügt über dieselbe Herkunft. Ein weiteres Merkmal dieser Gruppe ist die bereits erwähnte starke Identifikation der Erziehenden mit den Jungen, welche diese mit ihrer eigenen Geschichte begründen. Viele der Erziehenden kennen den Koordinator seit den 1980-er Jahren, als sie selbst als Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene an der von ihm koordinierten Gemeindearbeit in der Vila Lindóia und der Arbeit mit den Kindern auf der Strasse teilnahmen und diese mit ihm zusammen aufbauten und gestalteten. Aussagen wie: „Es wurde uns geholfen, nun helfen wir!“, oder wie die im folgenden Zitat von einem Erzieher und ehemaligen Jungen der Chácara gemachten, lassen eine besonders starke Motivation, den Jungen zu helfen, vermuten: Frage: Was ist das Wichtigste, was ein Erzieher in seiner Arbeit mit den Jungen haben muss? Antwort: Ich glaube, dass es die Liebe ist für das, was er tut. Ich glaube, das ist die Hauptsache. Den Rest der Schwierigkeiten ... mit denen können wir umgehen, nicht wahr. Ich glaube, dass es darum geht, die Arbeit aus Liebe tun zu wollen. Es bringt nichts, wenn der Erzieher – was hier nicht der Fall ist – [nur] an Geld denkt; er muss [die Arbeit? die Jungen?] wirklich mögen. Es bringt nichts, wenn er nur herkommt, um herzukommen, nur aus Gründen des Geldes, wegen eines Salärs. Er braucht eines, nicht wahr ... aber brauchen: jedermann braucht es, aber man muss ... so wie ich, ich arbeitete in einer Firma (...) und verdiente dort (...), aber ich sah, dass dies nicht meine Sache war, in der Industrie (...) zu arbeiten. Ich wollte hier sein, Fernando helfen, den Jungen helfen. Jeden Tag ging ich ins Stadtzentrum und traf dort meine Freunde, auf der Strasse, die so lebten, wie ich damals, und [ich wollte], dass sie wie ich die Möglichkeit hätten, diese zu verlassen. (Interview, 6. Mai 2003)

Als weitere Begründung für den Beizug von Erziehenden, welche selbst aus wirtschaftlich sehr benachteiligten Verhältnissen kommen und/oder einige Zeit selbst auf der Strasse gelebt hatten, wird vorgebracht, dass diese die betreuten Jungen besser verstehen könnten und diesen gegenüber über eine hohe Glaub145

Siehe auch Kapitel 4.1.1.

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würdigkeit sowie eine besondere Eignung als Vorbild verfügten, wie derselbe Erzieher beschreibt: Ich bin der Meinung, dass [die Gruppe der Erziehenden] eine gute Gruppe ist, eine Gruppe, die gut arbeiten kann. Logisch, Schwierigkeiten haben alle [mal], aber wenn man die Personen ansieht, die Fernando auswählte, die bereits der Arbeit mit ihm in der Vila Lindóia entstammten und von denen einige schon dort von ihm betreute Kinder waren – L., B. – das waren Jungen, denen er half, die er dort in der Siedlung aufzog – dann sind das Leute, welche die Problematik schon erlebt haben, sie immer noch erleben. Das macht es einfacher, mit den Jungen zu arbeiten. Warum, denkst du, hat Fernando nicht diese ausgebildeten Erzieher ausgewählt, diese staatlich geprüften? Weil die meisten von ihnen ein ... ein ausgewogeneres Leben haben. Ich glaube, dass sie nicht so viele Schwierigkeiten durchlebt haben – klar, einige schon – aber ich glaube, dass sie schon ein viel besseres Leben haben (...). Diejenigen, die wirklich aus der Favela kommen, von denen es nicht einmal allen gelungen ist, die Mittelstufe abzuschliessen, die höchstens bis zur fünften Klasse gekommen sind ... so, wie die Mehrheit unserer Erziehenden, die höchstens bis zur siebten Klasse gekommen sind ... danach sind sie in die Abendschule gegangen und haben den Abschluss gemacht ... dies sind Leute, die schon aus dem Leid kommen. Es gab immer schon eine Arbeit dort in der Siedlung, und als Fernando kam, begann er, dort [auch] eine Arbeit zu machen, und [die Leute] beteiligten sich immer daran, darum sind es bereits gut vorbereitete Leute. Logisch, sie brauchen mehr Vorbereitung [meint formelle Ausbildung], müssen immer danach streben, sich weiter vorzubereiten, und es gibt da und dort immer wieder einmal ein Problem, aber es ist eine sehr gute Gruppe hier. (...) Ich mag die Gruppe der Erziehenden hier. Jeder hat wieder eine andere Art, zu arbeiten, alle sind unterschiedlich (...). Was ihre Arbeitsmotivation anbelangt, so ist es ihr Anliegen, den Jungen zu helfen ... denn, wenn sie dies nicht tun, wer wird es dann tun? Immerhin sind sie hier und kümmern sich [um die Jungen]146. (Interview, 6. Mai 2003)

Das Verständnis, welches die ebenfalls aus wirtschaftlich armen Verhältnissen stammenden Erziehenden den Jungen entgegenbringen, spricht ein weiterer Erzieher an, der als Kind und Jugendlicher an der Jugendarbeit in der Vila Lindóia sowie an der Arbeit mit den Kindern auf der Strasse beteiligt gewesen war:

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Die Arbeit mit Strassenkindern und anderen benachteiligten Gruppen ist in Brasilien keine populäre, von vielen Stellensuchenden begehrte Arbeit. Wer sich eine Ausbildung aneignen konnte, die den Zugang zu einer gut bezahlten, mit gesellschaftlichem Prestige versehenen Arbeitsstelle ermöglicht, wird zumeist nicht eine geringer bezahlte Stelle annehmen wollen, die zudem von vielen Personen als mit dem „Stigma“ der Nähe zu benachteiligten Personen behaftet wahrgenommen wird. Natürlich gibt es Ausnahmen; es ist jedoch für solche Projekte schwierig, gute Mitarbeitende zu finden.

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Tatsächlich ergab die Datenanalyse, dass sich die soziale Grundkonzeption der Chácara in ihren Akteuren und Beteiligten sowie in deren Position, Rollen und Beziehungen spiegelt und dass sie sowohl im hauptsächlichen sozialen Prozess der Organisation abgebildet ist als auch durch diesen konstruiert und aufrechterhalten wird. In diesem Kapitel sollen deshalb drei für die soziale Struktur der Chácara charakteristische Aspekte auf der Basis der Daten dargestellt werden, nämlich ƒ ƒ ƒ

Gruppen von Akteuren und weiterer Beteiligte Position der Jungen Beziehungen und Bindungen unter den Akteuren und vor allem gegenüber den Jungen

4.4.3.1 Akteure und weitere Beteiligte Eine soziale Struktur wird von Personen gebildet. Hier sollen nun diejenigen Personengruppen mit ihren Charakteristika beschrieben werden, auf welchen die soziale Struktur der Chácara beruht. Die im Rahmen der Forschungsarbeit befragte, systemisch arbeitende Psychologin, welche für die Supervision der Mitarbeitenden der Chácara zuständig ist, spricht von drei Subsystemen von Akteuren innerhalb der Chácara: den Jungen, den Erzieherinnen und Erziehern sowie der Koordination (welche zum Zeitpunkt der Befragung aus einem einzelnen Koordinator bestand). Diese drei „Subsysteme von Akteuren“ wurden zur Zeit der Feldforschung in der Chácara explizit als Gruppen behandelt. So wurde zum Beispiel die Supervision der Erzieherinnen und Erzieher in Kleingruppen durchgeführt, wobei die Gruppe selbst Thema war, und nahm der Koordinator an separaten Supervisionssitzungen teil. Die Jungen ihrerseits beteiligten sich an einer Grosszahl von durch Erziehende oder externe Pädagoginnen durchführten Aktivitäten, welche unter anderem Verhalten und Beziehungen innerhalb ihrer Gruppe zum Thema hatten. Die Gruppe der Jungen wurde vor allem in Kapitel 4.1.3 bereits ausführlich beschrieben. Wie gezeigt werden konnte, sind diese nicht nur junge Menschen in Entwicklung, welche eine von Armut, Gewalt, Vernachlässigung und auch Drogengebrauch geprägte Geschichte erfahren haben, sondern zeichnen sie sich durch den Willen, bessere Lebensumstände zu erreichen, eine starke Bindungsorientierung sowie verschiedene (Über-)Lebensfähigkeiten, darunter organisatorische und gestalterische, aus.

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Ich habe lange dank Abfall überlebt, als ich Altpapier sammelte, und so habe ich mich immer mit dieser Realität identifiziert und fällt es mir heute leicht, diese besser zu verstehen. So bin ich der Meinung, dass ich heute mit den Jungen hier in der Chácara in einem sehr guten Dialog stehe. Ich identifiziere mich ihnen; es ist eine echte Identifikation. Dazu kommt, dass ich auch sehr gerne spiele, Witze erzähle … und ich spüre immer wieder, dass sie sich in meiner Nähe wohl fühlen, so, wie ich mich wohl fühle, weil ich mit ihnen zusammen bin, im Gespräch, beim Spiel. Deshalb ist es mein Ziel, viele solche Momente des Spiels, der Musik zu schaffen, denn ich weiss, dass diese Realität, die wir durchmachten, als wir klein waren, sehr schwierig war, und deshalb brauchen wir viel Fröhlichkeit, um diese ganze Traurigkeit der Vergangenheit zu vergessen. (Interview, April 2004)

Eine weitere Gruppe, welche ebenfalls längere Perioden innerhalb der Chácara verbringt, wird bisher in der Chácara nicht oder kaum als Gruppe von Personen in einer spezifischen Situation oder mit spezifischen Anliegen bezeichnet. Zu ihr gehören diejenigen Angestellten, welche zumeist an fünf Tagen pro Woche vorwiegend in Küche und Wäscherei sowie zum Teil in der Landwirtschaft tätig sind und so ihrerseits einen Beitrag zur Sicherstellung des Betriebs der Chácara leisten. Für sie ist unter anderem charakteristisch, dass sie aus der unmittelbaren Umgebung der Chácara stammen, nämlich aus der Gemeinde Quatro Pinheiros. Auch sie leben in wirtschaftlich sehr bescheidenen Verhältnissen, im Gegensatz zu den Erziehenden sind sie jedoch noch stärker von einer ländlichen und kleinbäuerlichen Kultur geprägt. Diese Personen sind, wie weitere Nachbarinnen und Nachbarn, welche die Chácara besuchen oder sporadisch Aufgaben darin übernehmen, von grosser Bedeutung für die Integration des Projekts und der aus der Stadt stammenden Jungen in der Gemeinde. Zudem tragen sie Dienstleistungen, welche die Chácara der Gemeinde anbietet, in diese hinein. Eine ganze Reihe von weiteren Gruppen ist an der Chácara beteiligt. Als Beteiligte werden dabei Personen und Gruppen bezeichnet, welche zur Chácara eine Art von Beziehung unterhalten, die einen Austausch und/oder gewisse gemeinsame Aktivitäten miteinschliesst. Personen und Gruppen, welche zum Beispiel einen reinen Besichtigungsbesuch in der Chácara machen oder Geld spenden, jedoch durch keine einen Austausch oder ein Miteinander umfassende Aktivitäten mit der Chácara verbunden sind, werden nicht zu den Beteiligten gezählt. Charakteristisch für die Gruppe der Beteiligten sind ihre grosse Vielfalt sowie die Tatsache, dass sie ein grosses, alle Teile der Gesellschaft abdeckendes Netzwerk darstellt. In einem nahe an der Chácara gelegenen Kreis befinden sich der Vorstand der Chácara beziehungsweise der Fundação Educacional Meninos e Meninas de Rua Profeta Elias, das übergeordnete Steuerungsgremium der Chácara, in dem neben dem Koordinator Fernando de Gois mehrere Gründungsmitglieder und weitere Fachleute einsitzen. 186

Weiter umfasst das Netzwerk die Familien der Jungen und die Gemeinden Quatro Pinheiros (Mandirituba) und Profeta Elias bzw. Vila Lindóia, Ehepaare einer Kirchgemeinde in einer „reichen“ Gegend von Curitiba, Mitglieder von Universitäten, Schulen und Berufsbildungsinstituten, Unternehmer, Behördenmitglieder (Beauftragte für Soziales, Sicherheit und Kinderrechte, RichterInnen, StaatsanwältInnen, Polizisten etc.), Fachleute aus Sozialwissenschaften und Medizin (Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Medizin, Zahnmedizin etc.), Glaubensgemeinschaften, Service-Clubs von Geschäftsleuten, eine Gruppe von Patinnen und Paten der Jungen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten, andere Kinder- und Sozialprojekte und -institutionen, Mitarbeitende verschiedener Medien, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und zum Teil von Hilfswerken, einen ErstLiga-Fussballclub, ausländische Freiwillige und Zivildienstleistende vor allem aus der Schweiz und Deutschland sowie andere mehr. Anhang 1 gibt einen etwas detaillierteren Überblick über die Beteiligten und ihre Rollen in Bezug auf die Chácara. Auch die Beteiligten tragen sowohl zur Integration der Chácara in die Gesellschaft als auch zur Integration von Impulsen der Chácara in der weiteren Gesellschaft bei. Sie leisten zudem einen wichtigen Beitrag an die Arbeit der Chácara sowie an das Wohlergehen und die Zukunft der dort lebenden Jungen. Auf die Integration der Chácara und der weiteren Gesellschaft wird zudem in Zusammenhang mit dem hauptsächlichen sozialen Prozess der Chácara in Kapitel 4.5.2.2 ausführlicher eingegangen. Eine vollständige Untersuchung über den in der Chácara angestrebten und beobachteten Prozess der gegenseitigen Integration überstiege den Rahmen der vorliegenden Arbeit. Eine entsprechend ausgerichtete weiterführende Studie könnte für diese und andere Organisationen, welche ihrerseits mit einer grossen Zahl verschiedener Beteiligter und Interessengruppen konfrontiert sind, von Interesse sein. 4.4.3.2 Position der Jungen Die Position der Akteure in der Organisation ist ebenfalls ein Aspekt von deren sozialer Struktur. Aufgrund der Interviews, der vorliegenden Texte und Dokumente sowie der partizipativen Beobachtung der Autorin kann gezeigt werden, dass es in den Augen der Beteiligten ein charakteristisches Merkmal der sozialen Struktur der Chácara ist, dass die Jungen eine zentrale Position einnehmen. So erwähnten die befragten erwachsenen Mitglieder und Beteiligten in einem grossen Teil ihrer beschreibenden Aussagen zur Chácara, nämlich in 77 von 276 Textstellen, entsprechende Aspekte der Position und Rolle der Kinder und 187

Jugendlichen in der Chácara. In diesen werden die Jungen unter anderem als Besitzer und Verantwortliche der Chácara bezeichnet, als diejenigen Akteure, welchen es obliegt, das Projekt Chácara zu zeigen und zu erklären, als Bürger, als Personen mit dem Recht, an diesem Ort sich selbst zu sein und ihre Individualität zu verwirklichen, als ‚für voll genommene’ Personen mit Potential, als Subjekte (und nicht Objekte), die an der Führung beteiligt sind. Die folgenden Zitate dokumentieren diese Aussagen: Der zentrale Wert ist, dass der Junge als Subjekt behandelt wird, nicht als Opfer, und auch nicht als „armer Kleiner“, sondern als Subjekt. (Koordinator, Interview, 19. April 2004) Das ist es, was von der Institution [Chácara] her am meisten erarbeitet wird: zu zeigen, dass sie Bürger sind, dass sie Personen sind mit denselben Rechten wie jede andere Person auch, und dass sie geliebt werden. (…) Ich sehe, dass sie den Raum haben, um sich selbst zu sein, sogar in denjenigen Dingen, mit denen wir nicht einverstanden sind (…). Ganz im Gegenteil, es gibt Spiele [der Jungen], die nicht angemessen sind, es gibt Gewohnheiten, die nicht einer perfekten Erziehung entsprechen, aber [die Jungen] werden respektiert. Ihre Transition ist sehr graduell, und das setzt gewisse Limiten. Das Ziel ist nicht, die Jungen als Frucht einer formellen Erziehung in grosse Intellektuelle zu verwandeln. Sie entwickeln ihr menschliches Potential unter besonderer Berücksichtigung ihrer Individualität. (Vorstandsmitglied und Lehrerin, Interview, 16. April 2004)

Das „Pädagogische Konzept“ der Chácara aus dem Jahr 1998 enthält mehrere Hinweise zur Position der Jungen in der Chácara. Es besagt unter anderem, dass es sich dabei um eine zentrale, derjenigen der Erziehenden (als „Facilitatoren“ bzw. „Animatoren“) vorgelagerte Position handle, die nicht einer Position der Unterwerfung oder Unterdrückung entsprechen solle. Die Stellung der Jungen, welche nicht als passive Objekte, sondern als Subjekte mit eigenen Rechten angesprochen werden, entspricht der bereits erwähnten Konzeption der Menschenwürde. Deren zentrale Verortung schliesst an die ebenfalls bereits erwähnte „absolute Priorität“ an, welche die brasilianische Verfassung und das brasilianische Kinderrechtsstatut Kindern und Jugendlichen einräumen. Die zentrale Position der Jungen wird besonders deutlich in der Rolle, die sie in der Chácara spielen und die in Kapitel 4.5.2.1 ausführlich beschrieben wird. 4.4.3.3 Bindungen und Beziehungen Ein weiterer, häufig erwähnter und deshalb als charakteristisch zu bezeichnender Aspekt der sozialen Struktur der Chácara ist, dass diese „eine Art Familie“ dar188

stelle. In diesem Zusammenhang wurde in den Aussagen der befragten Personen vor allem die Art der Bindungen und Beziehungen der Erwachsenen gegenüber den Jungen genannt, und zwar in 40 der bereits oben genannten 276 Textstellen in den Interviews mit den erwachsenen Beteiligten147. In einer Gruppendiskussion machten fünf Erzieherinnen und Erzieher auch einige Angaben zur Art der Beziehungen, welche sie untereinander pflegen. Die Bindungen der Erwachsenen gegenüber den Jungen werden von den Erziehenden zum Teil mit ihrer eigenen Geschichte begründet, so im Fall eines der ersten aufgenommenen Jungen der Strasse, der als Erwachsener als Erzieher in der Chácara tätig ist: Frage: Was scheint Dir besonders wichtig in der Betreuung der Jungen? Du hattest 148 gesagt, dass man sie immer ermutigen muss ... Antwort: ... Ja, man muss ihnen zeigen, dass dies hier der beste Weg für sie ist; sie aus jenem anderen Leben heraus holen. Ich selbst, der ich schon Junge der Strasse war, ich weiss, dass es hier die Möglichkeit einer besseren Zukunft gibt, als auf der Strasse zu bleiben, und so zeigen wir dies den Jungen. Man muss immer mit ihnen reden, immer das Gespräch suchen, denn es ist auch schwierig für die Jungen. Sie sind sehr jung und haben noch nichts von dem, was sie für sich möchten, definiert. Darum ist es wichtig, dass wir immer mit ihnen reden, denn sie sind schon durch so viele Projekte gegangen und es hat nichts [gebracht] – sie gingen hin, kehrten auf die Strasse zurück, gingen hin, kehrten zurück, waren wieder auf der Strasse ... und dann kommen sie hierhin. Das Projekt hier ist anders (...). Die Erziehenden wissen, wie mit den Jungen zu arbeiten ist, aber auch so ist es schwierig für diese. Da muss man sie immer ermuntern, immer mit ihnen reden. Vor allem muss man an sie glauben. Für mich [ist dies das Wichtigste], an sie zu glauben, dass sie dieselbe Chance erhalten, die ich hatte, oder sogar noch eine grössere, aus diesem Leben [auf der Strasse] herauszukommen. (...) Man muss immer versuchen, sie zu ermutigen. Man gibt sie 149 [wirklich] niemals auf, nicht wahr! (Interview, 6. Mai 2003)

Diese Art von engagierter Bindung wird – zusätzlich zur bereits beschriebenen zentralen Position der Jungen – als von besonderer Wichtigkeit für das Funktionieren der Organisation gesehen. So antwortete eine im Vorstand tätige Lehrerin auf die Frage, was ihrer Ansicht nach die Chácara zu Fall bringen könnte:

147

148 149

Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Zentralität der Jungen nicht nur der vom Kinderrechtsstatut vorgeschriebenen „absoluten Priorität“ entspricht, sondern, dass sie ein fest verankertes, orientierendes Element im Denken (und wie in Kapitel 4.4.3 und 4.4.3.2 ausführlicher beschrieben, im Handeln) der erwachsenen Beteiligten der Chácara ist. „Incentivar“. „Agora você nunca desiste deles, né!“

189

Ich bin der Meinung, [dass dies geschehen könnte], wenn die Chácara diese persönliche Bindung der Erziehenden an die (…) Jungen verliert. Das würde sie wirklich zerbrechen, (…) die gesamte Struktur der Arbeit würde sich auflösen, denn alle dort sind Väter, Mütter, ältere Brüder; ihre Bindung an die Jungen ist familiär. Es ist anders als [im Fall] einer Hausmutter150. Trotz des Namens sieht man [bei jenen] einen klaren Unterschied. Ich habe schon von Projekten gehört, in denen eine Familie im Haus lebte, Vater, Mutter und deren leibliche Kinder, zwei oder drei Kinder (…), und dann noch die Kinder des Sozialprojektes, und das leibliche Kind bekam Geschenke und die anderen nicht. Das heisst, in einem solchen Projekt trete ich als 151 „Hausmutter“ ein, aber in Tat und Wahrheit bin ich Fachkraft , denn die Beziehung, die ich mit jenen [betreuten] Kindern habe, ist nicht familiär. In der Chácara entsteht eine Bindung, die weniger idealisiert wird. Man ist nicht Mutter, aber man tut vieles, das der Rolle einer Mutter entspricht; man ist nicht Vater, aber man tut vieles, was der Rolle eines Vaters entspricht. (…) Wenn man heute eine Ausschreibung machen würde, um zum Beispiel Personen mit Universitätsausbildung anzustellen, aber diese Form der Bindung nicht aufbauen könnte, würde man die ganze Arbeit verlieren. Wenn die Chácara zum Beispiel [dem äusseren Druck] nachgegeben hätte und sehr viele Jungen aufgenommen hätte, ohne zuvor die ganze Arbeit zu strukturieren, die diesen Unterschied [in der Bindung zu den Jungen] ausmacht (…), glaube ich, dass sie nicht funktionieren würde. Das ist es, was heute in den meisten Projekten geschieht; man nimmt heute ein Kind auf, morgen tritt es aus, und es kommt ein anderes, ohne dass je eine Bindung aufgebaut würde; das ist ein grosses Problem der Institutionen. Die Chácara hat nicht diesen Charakter; sie hat eher den Charakter einer Gemeinschaft, einer Kernfamilie, mit Vätern, Müttern, Kindern. Alles wird miteinander geteilt und besprochen, es gibt Versammlungen, und sie ist immer noch eine funktionierende Gemeinschaft. (Interview, 16. April 2004)

Diese Bindung zwischen den Erwachsenen und den Jungen ist in der Chácara deutlich sichtbar. So sitzen beim Essen Erwachsene und Jungen vermischt an den Tischen und danach miteinander auf der Veranda. Die am Morgen ankommenden Erziehenden begrüssen alle Jungen, denen sie begegnen (und von denen sie bereits erwartet werden) mit einer Umarmung152, mit einem Winken, dem Namen, ohne, dass dies irgendwie vorgeschrieben wäre. Ein 19-jähriger, kürzlich aus der Chácara ausgetretener, aber dort noch als Freiwilliger mitarbeitender Junge sagte in einem Interview: Antwort: Die Rolle von Fernando ist wie die eines Vaters, für alle. Eines Vaters, einer Mutter. [Eine Rolle], mit welcher er der Gruppe hilft, mit welcher er all das gibt, 150

151 152

„Mãe social“, entspricht einem Konzept wie z. B. demjenigen in Kinderdörfern, wo jedes Haus über eine Hausmutter und eventuell einen Hausvater verfügt, welche eine Kleingruppe betreuen. „Técnica“. Hier muss berücksichtigt werden, dass Gesten körperlichen Kontaktes in Brasilien stärker Teil der normalen, nicht intimen Kommunikation sind als z. B. in der Deutschschweiz.

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was einem Vater, einer Mutter nicht gelungen ist, zu geben, was [diese] wegen des Alkohols nicht geben können. Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit, Liebe, Erziehung – das ist es, was er dort [in der Chácara] tut, das ist seine Rolle: Ein Vater zu sein, eine Mutter für alle Jungen. Frage: Und die anderen Erzieher?153 Antwort: Die Erzieher sind in Tat und Wahrheit [wie] ältere Brüder, also: Fernando ist der grosse Vater, und die Erzieher sind die älteren Brüder. Sie sind es, die die Gruppe begleiten, die kleinen Brüder, und versuchen, ihnen zu zeigen, was richtig ist und was falsch. (Interview, 27. März 2003)

Dieser vertraute, herzliche Umgang steht in starkem Kontrast zu Szenen, welche die Autorin in von der Stadt Curitiba betriebenen Häusern für Kinder und Jugendliche der Strasse beobachtet hat. Eine typische Szene in einem mehrfach besuchten solchen Haus sieht so aus, dass die dort tagsüber anwesenden Jungen und Mädchen im Gras ausserhalb des Gartentors sitzen, miteinander schwatzen oder mit gefundenem Abfall ein Spiel spielen. Die angestellten Männer und Frauen stehen derweil in leuchtend orangen Westen, auf denen der Name der verantwortlichen Behörde steht, im Gartentor selbst. Sie kehren den Kindern und Jugendlichen den Rücken zu, rauchen und unterhalten sich zum Teil lauthals über „die da“. Mehrmals, davon zweimal im Jahr 2005, beobachtete die Autorin zudem, wie ein männlicher Angestellter einem halbwüchsigen Mädchen Negatives und sehr Anzügliches nachrief. Die den Kindern und Jugendlichen ganz oder beinahe unbekannte Besucherin wird am selben Ort, sobald sie Interesse zeigt und das Gespräch aufnimmt, von ihnen umringt, herzlich empfangen und zum Mittagessen eingeladen. Es ist spürbar, dass sie den Kontakt und die Bindung suchen. Die Angestellten stehen derweil weiterhin desinteressiert beisammen, bis die Besucherin sie anspricht. Während dreier Besuche innerhalb von vier Wochen, welche zwischen einer halben Stunde und zwei Stunden dauerten, konnte die Autorin nie ein Gespräch zwischen einer mitarbeitenden Person und einem Kind oder Jugendlichen beobachten, das über einen Befehl „von oben nach unten“ hinaus ging. Begriffe wie „Liebe“ und „Zuneigung“ erscheinen oft im Diskurs der Mitarbeitenden der Chácara, so auch in folgenden Aussagen: Es ist so, ich arbeitete für die Stadt, aber das war vollkommen anders. [Hier in der Chácara] hat es mehr Liebe, nicht wahr. Wir hängen wirklich an ihnen (den Jungen), ob wir wollen oder nicht, wir hängen an ihnen (die Sprecherin und die anderen fünf anwesenden Erzieherinnen und Erziehern strahlen alle bei dieser Äusserung) … wer hier [in die Chácara] eintritt, bleibt entweder, weil es ihm gefällt – und dann klappt

153

Während des Aufenthalts dieses Jungen in der Chácara arbeiteten dort nur männliche Erzieher.

191

es auch – [oder er tritt wieder aus]. (Erzieherin, Gruppendiskussion, 25. November 2003) Die Priorität der Chácara (…) ist, dass der Junge angenommen wird, dass er respektiert wird, dass er Zuneigung spürt. Deshalb umarmen wir gerne die Jungen, spielen mit ihnen … auch Spielereien, in denen wirklich ein Kontakt entsteht, eine Zärtlichkeit, ein Lachen, ein Necken … zeigen ihnen wirklich auch diese Seite der Liebe, [aber natürlich] auch mit Grenzen; es ist [auch] nötig, zu korrigieren, und wir korrigieren liebevoll. Ich bin der Meinung, (…) dass man die grösstmögliche Liebe zeigen muss, die man für das Menschenwesen, für sein Kind hat, aber man muss auch korrigieren; man muss beides tun. (Mitglied der Arbeit in der Vila Lindóia und auf der Strasse, Gründungsmitglied, Vorstandsmitglied, Interview, 26. April 2004) Ich bin der Meinung, dass es nicht in erster Linie um Dinge geht, sondern um die eigentliche Liebe, darum, jedem Jungen, der dort [in der Chácara] ist, Liebe und Besorgtheit zu zeigen, unabhängig von seinen Schwierigkeiten und seiner Vergangenheit, damit er Vertrauen haben kann zu den Personen, die dort sind, und (…) merkt, 154 dass niemand von ihnen aus Eigennutz dort ist, dass niemand mit finanziellen Absichten dort ist, sondern für ihn selbst, für diesen Jungen, damit er ein würdiges Leben erlangen kann. (Mitglied der Arbeit in der Vila Lindóia und auf der Strasse, Gründungsmitglied, Vorstandsmitglied, Interview, 26. April 2004)

Ein weiteres Zeichen für die Zuneigung und das Engagement der Erziehenden für die Jungen ist in den Augen der Autorin, dass viele von ihnen an freien Wochenenden oder Feiertagen mehrere Jungen – vor allem neuere, die noch mit den Schwierigkeiten des Einlebens in der Chácara zu kämpfen haben – mit zu sich nach Hause nehmen, obwohl sie selbst nur knapp über genügend Mittel verfügen, um sich und ihre leiblichen Angehörigen mit Nahrung zu versorgen. So sollen diese auch Gelegenheit erhalten, sich in einer kleinen Gruppe und in einem „normalen“ Haushalt ausserhalb der Institution aufzuhalten. In den Augen der Erziehenden der Chácara ist es gerade die familiäre Bindung, welche bei den Jungen zu Veränderungen führt, wie ein Erzieher in einer Gruppendiskussion erwähnte: Schau, was im Leben eines Jungen einen grossen Unterschied macht, ist in erster Linie, dass er in ein familiäres Umfeld und Klima hineinkommt. Vor allem, wenn er etwas anderes antrifft, als er auf der Strasse erlebte: Zuneigung, Aufmerksamkeit, jemanden, der ihm eine andere Vision aufzeigt, der sich um ihn bemüht, [ihm Dinge] zeigt und in dem Moment korrigierend eingreift, in dem er Schwierigkeiten hat. (Erzieher, Gruppendiskussion, 25. November 2003)

154

„Segundas intenções”, „hidden agenda“.

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Denselben Aspekt erwähnt die an der Chácara beteiligte Pädagogikprofessorin: [Die Jungen] brauchen Werte, welche dauerhafte Bindungen darstellen. Dies bedeutet, dass die Leute dort [in der Chácara] sein sollen, weil sie die Jungen mögen und weil sie gerne mit ihnen zusammen sind, und zwar unabhängig von jeder spezifischen Handlung [, unabhängig vom Gedanken, dass:] „dieses oder jenes getan werden muss“, sondern deshalb, weil sie gerne mit ihnen zusammen sind (…). In diesem Sinne [geht es] um dauerhafte Werte: Zuneigung, Wahrhaftigkeit, korrektes Handeln, im Sinne eines korrekten Verhaltens ihnen gegenüber, Friedens, des sich dort Wohlfühlens (…), der Verantwortung. (Interview, 5. Mai 2003)155

Diese Bindung aufzubauen, ist jedoch nicht immer einfach, wie die für die Supervision der Mitarbeitenden verantwortliche Psychologin aus der Betreuung von einheimischen, freiwillig in der Chácara tätigen Studentinnen weiss: Ja, weil [die Studentinnen] neue Personen [in der Chácara] waren, die eine Bindungsmöglichkeit anboten, wurden sie auch als Bedrohung gesehen, das heisst, sie erlebten zum Teil sehr starke und auch sehr widersprüchliche Reaktionen. Es ist manchmal schmerzlich und beschwerlich, diese Bindung zu erlangen, und zwar genau deshalb, weil es eine Bindung ist, die dazu neigt, sich zu entwickeln, sich zu vertiefen. Und [der Junge] hat Angst, sich dieser [Bindung] zu überlassen, sich ihr zu öffnen. Gerade weil das Konzept eines der Präsenz, des Dabeiseins war, zeigten die Jungen Reaktionen von grosser Anhänglichkeit, gleichzeitig aber auch von Distanz. Das heisst, sie reagierten gegenüber [den Studentinnen] so, wie sie im Allgemeinen gegenüber der Gesellschaft reagieren, das heisst, sie haben ein grosses Bedürfnis, dazuzugehören, aber gleichzeitig auch eine grosse Wut auf die Personen, denen sie Zuneigung entgegenbringen. Es ist eine stark von Ambivalenz geprägte Bindung, wie sie aufgrund ihrer Lebenssituation auch nicht anders zu erwarten ist. (Interview, 3. April 2004)

Wie in Kapitel 4.1.3.4 dargestellt, ergab die Auswertung der Gründe, weshalb die Jungen von einem Lebenskontext in einen anderen wechseln, dass Bindungen zu anderen Menschen eine wichtige Rolle spielen. So überrascht es nicht, dass in Gesprächen ausserhalb der Feldforschung zur vorliegenden Arbeit Jungen der Autorin gegenüber mehrfach erwähnten, dass es diese Bindungen gewesen seien, welche sie von der Strasse weggeholt und ihnen den Aufbau eines anderen und eigenständigen Lebens ermöglicht hätten. Einige heute bereits erwachsene Jungen, sagten gar, dass sie ohne die Bindungen, welche Menschen der Chácara zu 155

Diese Überlegungen gehören zu einem Konzept der „Pädagogik der Präsenz“ (Pedagogia da Presença), zu welcher die Chácara gemeinsam mit der Universidade Federal do Paraná im Jahr 2005 über mehrere Monate eine Weiterbildung für Personen aus staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen und Ämtern anbot, die von etwa 40 Personen besucht wurde.

193

ihnen aufgebaut hätten, heute nicht mehr am Leben wären156. In den Interviews und Texten äusserten sich die Jungen kaum direkt zur Art der Beziehung zwischen ihnen und den Erziehenden; allerdings wurde auch nicht explizit danach gefragt. In insgesamt 38 Textstellen in Interviews und Texten sprachen sie jedoch über die persönliche Einstellung von Erziehenden in der Chácara und in anderen Projekten. Die Auswertung ergab, dass die Jungen die folgenden Einstellungen und Haltungen seitens der Erziehenden – welche alle mit der konkreten Ausübung wahrgenommener beziehungsweise existierender Bindungen in Zusammenhang gebracht werden können – als positiv beurteilen157 und/oder sich wünschen (in Klammern die Anzahl Erwähnungen): ƒ

Echtes Interesse, Liebe, Zuneigung, Geduld; keine Niedertracht, keinen Hass, keine Verachtung (8). Keine Gewalt, keine Aggression, kein Fluchen/Beschimpfen, keine Misshandlung, keine Grobheit (12). Mit den Jungen reden können und wollen, Konflikte im Gespräch lösen (7). Gerechte Behandlung: Nicht nur Tadel, sondern auch Lob, Belohnung oder Dank, lehrreiche Strafen (7). Ansprechpersonen im Konfliktfall, bei Krisen Hilfe gebend, als Vorbild und Respektspersonen wirkend (4).

ƒ ƒ ƒ ƒ

Aus den Aussagen von Jungen wird deutlich, dass sie eine Bindung zu den in der Chácara tätigen Erwachsenen empfinden, welche nicht dem Verhältnis eines Institutionszöglings gegenüber einem Fachmitarbeiter, sondern einer familiären, von gegenseitiger Zuneigung und Anerkennung getragenen Beziehung entspricht: Fernando, die Person von Fernando. Es war so, dass er das, was er tat, aus Liebe tat; wir spürten dies daran, wie er uns behandelte … das gefiel mir, und so blieb ich hier. (Ehemaliger Junge, Eintritt Oktober 1993, zum Zeitpunkt des Interviews 23-jährig und Erzieher in der Chácara, Interview, 6. Mai 2003) Die Chácara gab mir eine Schulbildung, sie gab mir ein Haus, in dem ich wohnen konnte, sie gab mir eine Familie. Ich hatte zwar eine Familie bei mir zu Hause, aber nicht so eine, wie ich hier in der Chácara habe. Die Chácara hat mir alles gegeben, was ich bis heute in meinem Leben erhalten habe. (20-jähriger Junge, Eintritt 22.12.1994, Mitarbeiter einer Firma und Universitätsstudent, Interview, November 2003) 156 157

Informelle, mündliche Äusserungen gegenüber der Autorin. In einigen Fällen wurde auch das Gegenteil der erwähnten Haltung als schlecht oder unerwünscht bezeichnet.

194

Eine Person, die ich sehr, sehr, sehr, sehr gern habe, ist Fernando. Ich mag alles an ihm. Die Art, wie er uns behandelt. Manchmal ist er nervös, aber das ist nichts Schlimmes. Er behandelt uns gut; er redet mit uns, wenn wir ein Problem haben, er fragt … es gibt so viele Dinge ... wenn Du traurig bist, wenn etwas passiert ist, dann kommt er und fragt, was geschehen sei, es ist super. (…) Ich würde sagen, dass das Wichtigste hier ist, dass die Leute uns gut aufnehmen, wenn wir hierher kommen. Die Leute behandeln uns gut. (16-jähriger Junge, Eintritt 22. Mai 2000, Interview, 6. Mai 2003) Ich habe hier gezeichnet, dass ich, als ich hier ankam, [zu den Leuten] hinging und sie grüsste, und sie begrüssten mich richtig! (12-jähriger Junge, Eintritt 2002, Gruppenübung, 27. April 2003) Aber ich habe auch die Jungen der Chácara sehr gern, und ich mag die Erzieher. Ich habe auch Fernando sehr gern, der mich hier in der Chácara akzeptiert hat. (Fundação E., 1999, S. 115)

Interessant ist, dass viele der Erziehenden tatsächlich miteinander verwandt sind und/oder einander seit Kindertagen kennen. Auch die Beziehung der drei als Erzieher arbeitenden ehemaligen Jungen zu den anderen Erziehenden ist familiär, sind sie doch während bis zu zehn Jahren in der Betreuung einiger von ihnen herangewachsen. Informell haben mehrere Erziehende erwähnt, dass die Blutsverwandtschaft gelegentlich auch Schwierigkeiten mit sich bringen kann, so zum Beispiel, wenn zwei Geschwister in der Chácara arbeiten und das ältere eine Führungsrolle über das Jüngere beansprucht. Gleichzeitig sagten sie aber aus, dass das Vertrauen und die soziale Kontrolle, welche über die engen, (nicht nur blutsverwandten) familiären Bindungen möglich sei, die Arbeit erleichtere. Im Allgemeinen bezeichnen sie die Qualität der Bindungen und Beziehungen in der Gruppe der Erziehenden als positiv. Ein Beispiel für ihr diesbezügliches Erleben zeigt sich im folgenden Dialogausschnitt dreier Erzieher und zweier Erzieherinnen auf die Frage: „Was gefällt Euch am besten an der Gruppe der Erziehenden“ in einem Gruppengespräch: Erzieher 1: Gut, ich würde sagen, unser Zusammenleben (...) hier, im Haus, in unserer Gruppe. Ich glaube, dass wir am meisten die Tatsache schätzen, dass wir unsere eigenen Lösungen finden können. (...) Wenn wir uns [gemeinsam] hinsetzen, wirklich hinsetzen [und miteinander reden], das gefällt mir. Diese Klarheit (...), dass wir uns vertraut genug fühlen, um uns zusammenzusetzen [und zu sagen]: „Kommt Leute, lasst uns dies einmal [miteinander] ansehen“ – natürlich soweit, wie möglich – „dieser Punkt ist gut“ ... dass wir einen Moment miteinander teilen und Revue passieren lassen können, was gerade abläuft, und miteinander reden können, das ist sehr gut.

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Erzieher 2: Ah, was ich das Beste an unserer Gruppe finde, ist die Freundschaft. Die Freundschaft, dass man mit allen reden kann, sich nicht streitet, nicht schlecht übereinander redet. Das ist es, was ich empfinde, und gut finde. Ich finde, die Hauptsache ist, dass wir uns untereinander gut verstehen. Wenn wir uns untereinander gut verstehen, dann können wir eine bessere Arbeit zugunsten der Jungen machen, denn die Jungen ahmen uns ja nach. Ich finde es gut, dass ich mit den einzelnen Erziehenden reden kann. Manchmal gibt es eine Schwierigkeit im Umgang mit den Jungen, und dann kann ich mit jedem einzelnen der Gruppe Ideen austauschen. Der eine oder andere weiss immer etwas, das hilft. Das gefällt mir sehr gut an der Gruppe hier. Erzieherin 1: Ich bin derselben Meinung. Was mir am besten gefällt, ist die Art und Weise. Manchmal haben wir ein Problem, über das wir reden; wir versammeln uns dafür jeden Freitag (...) und reden miteinander. Erzieherin 2: Auch für mich ist es unsere Freundschaft. Und die Einfachheit. Wir können uns in einer einfachen Art ausdrücken, alle als einfache, bescheidene Personen, und wir fühlen uns ungezwungen, frei, gleichberechtigt ... ähnlich, wie die Jun158 gen. Es gibt hier keine Majestäten . Erzieherin 1: Keiner will sich über den anderen erheben. Erzieherin 2: Keiner ist besser, keiner ist grösser als der andere, (...) und das führt dazu, dass wir uns [hier] wohl fühlen. Ich mag auch unsere Freundschaften, diesen Kontakt; (...) es ist wirklich eine Gruppe von Freunden. Wie schon gesagt wurde, wenn jemand Schwierigkeiten hat, dann treffen wir uns, sprechen die Sache an, reden darüber, lösen sie, ohne Intrigen. Erzieher 3: Ich mag auch dies: Wenn man etwas zu tun hat, kann man auf jeden einzelnen [der Gruppe] zählen. Sie sind nicht [einfach nur] Erziehende, die eine bestimmte Arbeit machen. Sie sind in schlechten und in guten Zeiten [zu allem] bereit – wenn es darum geht, Nachhilfeunterricht zu geben, wenn man aufs Feld muss, wenn ein Schwein aus dem Schweinestell geholt werden muss; alle stehen bereit, ohne zu reklamieren. Was ich am meisten an unserer Gruppe von Erziehenden schätze, ist diese Spontaneität: dass sie zu allem bereit sind, und dass ich jederzeit auf sie zählen kann.

4.4.3.4 Zusammenfassung Zusammenfassend konnte in diesem Kapitel aufgrund der in der Chácara gewonnenen Daten gezeigt werden, dass die befragten erwachsenen Akteure in dieser eine soziale Struktur wahrnehmen, der sie mehr Bedeutung beimessen als der physischen Struktur. Die soziale Struktur wird als „Ort des Zusammenlebens“ bezeichnet und besteht aus Menschen, welche bestimmte Positionen und Rollen innerhalb der Organisation innehaben und durch bestimmte Beziehungen miteinander verbunden sind. In den Aussagen der Befragten wird diese Struktur 158

„Grandeza“.

196

der Chácara im Kontrast zur Struktur „wohltätiger“, „offizieller“ und „totalitärer“ staatlicher Institutionen beschrieben. Diese werden als Repräsentanten und Aufrechterhalter der ungleichen Gesellschaft gesehen, welche die betreuten Kinder und Jugendlichen als fremdbestimmte Objekte einer Pädagogik der Autorität, der Almosen, der Unterwerfung, der Resozialisierung, der Umerziehung und der Reintegration unterwerfen. Im Gegensatz dazu wird die Chácara als „alternative Gemeinschaft“ bezeichnet, in welcher die Jungen eine zentrale Position als Staatsbürger mit Rechten und Pflichten einnehmen und ihre Menschenwürde respektiert sehen. In einem zweiten Teil des Kapitels wurde auf die verschiedenen Gruppen von Akteuren, die Position der Jungen und die wechselseitigen Beziehungen in der sozialen Struktur der Chácara eingegangen. Im engeren Kern können die Akteure drei „Subsystemen“ zugeordnet werden: den Jungen, den Erzieherinnen und Erziehern sowie der Koordination (welche zum Zeitpunkt der Befragung nur aus einer Person bestand). Zum Bestand des Projektes tragen aber auch in der Küche und Landwirtschaft angestellte Personen sowie ein Netzwerk weiterer Beteiligter bei. Im Rahmen von allgemeinen Beschreibungen der Chácara machten die Befragten auffallend viele Bemerkungen zur Art der Bindung und der Beziehungen, welche die Erwachsenen in der Chácara gegenüber den Jungen pflegen. Diese wurde als familiär sowie von Liebe, Zuneigung und Respekt geprägt beschrieben und als fundamental für das Funktionieren der Chácara und die Entwicklung der Jungen gesehen. Die Interviewpartnerinnen und -partner hielten aber auch fest, dass der Aufbau und die Aufrechterhaltung dieser Bindung nicht einfach ist, da die Jungen aufgrund ihrer Erfahrungen sie sowohl wünschen als auch zurückweisen. Eine Auswertung der Einstellungen und Haltungen von Erziehenden, welche die Jungen positiv beurteilen und/oder sich wünschen, weist darauf hin, dass sie ähnliche Bindungen und Beziehungen suchen wie diejenigen es sind, welche ihnen die Erziehenden anbieten. Anhand von einigen Aussagen aus Interviews wurde gezeigt, dass die Jungen eine Bindung zu den in der Chácara tätigen Erwachsenen empfinden, welche nicht dem Verhältnis eines Institutionszöglings gegenüber einem Fachmitarbeiter, sondern einer familiären, von gegenseitiger Zuneigung und Anerkennung getragenen Beziehung entspricht. Im Weiteren wurde anhand eines Ausschnitts eines Gruppengesprächs von Erziehenden gezeigt, dass diese sich auch untereinander als eine Gruppe mit familienähnlicher Struktur empfinden und dies überwiegend als Vorteil für ihre Arbeit sehen. Nachdem die Struktur der Organisation Chácara in ihren hauptsächlichen Zügen dargestellt worden ist, soll nun auf den Prozess eingegangen werden, der in dieser Struktur abläuft. 197

4.5 Transformationsprozess Die beschriebene soziale Struktur der Chácara macht es möglich, dass der zentrale Prozess der Organisation überhaupt ablaufen kann. Gleichzeitig bildet sie, zusammen mit der physischen Struktur, den Raum, in dem dieser Prozess abläuft. Der zentrale Prozess ist ein Transformationsprozess, welcher die in den Kapiteln 4.1 und 4.2 geschilderte Ausgangslage der Organisation und deren Zielpublikum in die in Kapitel 4.3.2 beschriebene Ziellage überführen soll. Jungen in einer lebensbedrohlichen Lage, aber mit dem Willen, ein besseres Leben zu führen, sowie mit einer Anzahl von Bedürfnissen und Kompetenzen ausgestattet, sollen zu „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ im staatsbürgerlichdemokratischen Sinne werden. Dieser Prozess besteht zunächst aus einzelnen, in der Chácara durchgeführten Aktivitäten, deren Inhalte hier aufgrund der Datenanalyse beschrieben werden sollen. Die Datenanalyse machte jedoch deutlich, dass der Transformationsprozess der Chácara noch stärker als durch das inhaltliche „Was“ der Aktivitäten durch deren „Wie“, das heisst durch gewisse Ausführungsmodalitäten, bestimmt wird. Daraus wurde gefolgert, dass die Chácara in ihrer Eigenart nur ungenügend charakterisiert würde, wollte man deren Beschreibung auf die Auflistung von Aktivitätsbereichen beschränken, wie dies zum Beispiel in betriebswirtschaftlich orientierten Organisationsanalysen oft getan wird. Der zweite Teil des vorliegenden Kapitels befasst sich deshalb mit diesen für die Chácara charakteristischen Ausführungsmodalitäten, während in einem dritten Teil Aspekte des eigentlichen Transformationsprozesses dargestellt werden. 4.5.1 Aktivitäten und Tätigkeitsfelder Im Zweckartikel der Statuten der Chácara ist festgehalten, dass die Kinder und Jugendlichen mittels „ganzheitlicher Unterstützung und Erziehung“ zu „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ werden sollten. In diesem Zusammenhang interessierte, welche Aktivitäten die Organisation Chácara durchführt und wie diese gestaltet sind, damit sie einer „ganzheitlichen Unterstützung und Erziehung“ entsprechen. Aktivitäten haben eine zentrale Bedeutung in einer Organisation, da sie es sind, die zwischen dem „Vorher“ (der Ausgangslage) und dem „Nachher“ (den Zielen) stehen, ja, die Erreichung dieser Ziele überhaupt erst bewirken. Als Aktivitäten der Chácara werden Tätigkeiten verstanden, welche die Mitglieder der Organisation oder auch weitere Beteiligte im Auftrag oder im Namen der Organisation ausführen. Im Folgenden werden die hauptsächlichen Aktivitäten im Sinne von Tätigkeitsfeldern der Chácara dargestellt, und zwar 198

aufgrund einer Analyse administrativer Dokumente der Organisation sowie ergänzender Informationen. Der vollständigste Bericht der Chácara über ihre Aktivitäten ist ihr Jahresbericht. Als Basis der Aktivitätenanalyse wurde der bei Abschluss der Feldforschung aktuellste vorliegende Jahresbericht gewählt, derjenige des Jahres 2004. Entsprechend stellt die nachfolgende Analyse eine Momentaufnahme des 11. Existenzjahres der Chácara dar, und zwar bezüglich tatsächlich stattgefundener Aktivitäten. Es muss hier angemerkt werden, dass es in den ersten Jahren der Chácara eine geringere Anzahl an Aktivitäten gab, welche auch nicht so umfassend ausgestaltet waren, wie dies im Jahr 2004 möglich war. Zur Auswertung des Jahresberichtes wurde ein induktives Vorgehen gewählt, das heisst, die Aktivitäten (im Bericht „atividades“ genannt) wurden entsprechend ihrer Erwähnung im Jahresbericht kategorisiert und gruppiert. Dieses Vorgehen ergab zunächst zwei Arten von Aktivitäten oder Tätigkeitsfeldern in der Chácara, nämlich: 1. 2.

Aktivitäten, welche sich direkt auf die Jungen in der Chácara beziehen. Aktivitäten, welche zusätzlich auf andere Gruppen ausgerichtet sind bzw. diese einbeziehen: die Jungen, welche (noch) auf der Strasse leben, die Familien der in der Chácara lebenden Jungen, die lokale Gemeinde und die Öffentlichkeit bzw. Gesellschaft.

Die Aktivitäten, welche sich direkt auf die Jungen der Chácara beziehen, werden im Jahresbericht 2004 auch so benannt und wie folgt aufgelistet: 1.1 Schule 1.1.1 Schulbesuch der Jungen 1.1.2 Zusammenarbeit mit Lehrpersonal 1.1.3 Aufgabenhilfe 1.1.4 Stützunterricht (inhaltlich) 1.1.5 Lernunterstützung (Lernfähigkeit) 1.1.6 Fortbildung des Lehrpersonals 1.2 Pädagogische Aktivitäten 1.2.1 Spiel 1.2.2 Lehre 1.2.3 Sport 1.2.4 Erziehung durch Arbeit

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1.3 Freizeit 1.3.1 geplante Freizeit 1.3.2 spontane Freizeit 1.4 Kultur 1.4.1 Theater 1.4.2 Musik 1.4.3 Lokale Bräuche 1.5 Haushalt 1.5.1 Organisation/Aufräumen 1.5.2 Putzen 1.6 Kurse 1.6.1 Informatik 1.6.2 Englisch 1.6.3 Fussballschule eines Erstligisten 1.6.4 Automechanik 1.7 Geburtstagsfeiern 1.8 Religion159 1.8.1 katholische und ökumenische Messen 1.8.2 Katechese (auf Wunsch) 1.8.3 Jahresthema Kirche (z. B. „Wasser“) 1.9 Ausbildung 1.9.1 Ausbildung der Erziehenden 1.9.2 Ausbildung der Jungen 1.9.3 Gemeinsame Ausbildung

Abbildung 15: 1. Aktivitäten mit den Kindern und Jugendlichen der Chácara Die Erziehung und Ausbildung der Jungen wird im Jahresbericht 2004 der Chácara als besonders wichtig bezeichnet: 159

Besuche evangelischer und evangelikaler sowie jüdischer Gruppen führen oft spontan oder organisiert zu Momenten gemeinsamer Reflexion und Einblicks in diese Glaubensrichtungen. Indigene und afrobrasilianische Traditionen, darunter auch solche religiöser Natur, werden in der Chácara ebenfalls präsentiert, zum Beispiel durch die Tupi-Indianer einer Landbesetzung bei Curitiba. Seit dem Jahr 2006 wird zudem zweimal monatlich von Brasilianern japanischer Abstammung eine freiwillige, gerade bei sehr lebhaften Jungen beliebte buddhistische Meditation angeboten.

200

Die Erziehung und Ausbildung160 ist die grosse Priorität der Stiftung, wenn es um die Erlangung der Bürgerrechte der Kinder und Jugendlichen geht, welche in der Chácara leben.

Aus den oben aufgelisteten Aktivitäten ist ablesbar, dass eine Grosszahl verschiedener pädagogischer Aktivitäten durchgeführt wird, welche sowohl verschiedene Lernebenen und -themen (wie z. B. schulisches Wissen, Persönlichkeitsentwicklung, Zusammenleben in der Gruppe etc.) als auch verschiedene Lernumfelder (wie z. B. Schule, Freizeit, Haushalt, Arbeit, Organisation der Chácara, Austausch mit verschiedensten Beteiligten etc.) sowie damit zusammenhängend verschiedene Lernmethoden (Unterricht, Diskussionen, Theater, Musik, Sport, Mitarbeit etc.) umfassen. Auch erstreckt sich die Erziehung und Ausbildung nicht nur auf die Kinder und Jugendlichen, sondern auch auf die Erzieherinnen und Erzieher. So ist deren Ausbildung gemäss Jahresbericht Teil der „Aktivitäten mit den Kindern“, sie ist also eng mit dieser verbunden und verschmilzt im Fall der Ausbildungen, an denen Erziehende und Jungen gemeinsam teilnehmen, sogar mit ihr. Im Weiteren erstreckt sich die Erziehung und Ausbildung auch auf Kreise ausserhalb der Chácara, so zum Beispiel auf die Lehrerinnen und Lehrer der öffentlichen Schulen, denen teilweise Weiterbildungskurse angeboten werden, welche indirekt dann wieder den dort unterrichteten Jungen der Chácara zugute kommen. Die Aktivitäten, welche andere Gruppen miteinbeziehen, betreffen Kinder, welche noch auf der Strasse leben, die Familien der Kinder in der Chácara, die lokale Gemeinde sowie die Öffentlichkeit als Ganzes. Im Jahresbericht 2004 werden sie wie folgt erwähnt und geordnet: 2.1 Arbeit mit Kindern auf der Strasse 2.2 Arbeit mit Familien der Kinder der Chácara 2.1.1 Hausbesuche bei den Familien 2.1.2 Besuche der Familien in der Chácara 2.1.3 Ausbildungstreffen für die Familien 2.1.4 Teilnahme an Festen der Chácara 2.3 Arbeit mit lokaler Gemeinde 2.3.1 Gemeinsame Aktivitäten

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Das Wort „educação“ kann sowohl mit „Erziehung“ als auch mit „Ausbildung“ übersetzt werden; gemeint sind hier beide Bedeutungen, wie aus der Aufgliederung der Aktivitäten im Jahresbericht 2004 hervorgeht.

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2.3.1.1 Teilnahme an Festen in der Chácara 2.3.1.2 Freizeit und Gesundheitsausbildung 2.3.1.3 Teilnahme an Kursen der Chácara 2.3.1.4 Teilnahme an Feiern in Gemeinde 2.3.1.5 Fussballspiel in Chácara 2.3.2 Zahnarztpraxis 2.4 Öffentlichkeitsarbeit 2.4.1 Medienkontakte 2.4.2 Wiss. Video Chácara u. Jugendstrafanstalt161 2.4.3 Vorträge u. Diskussionen an Universitäten 2.4.4 Wiss. Forschung durch Universitäten 2.4.5 öffentl. Musik- und Theaterpräsentationen 2.4.6 Bingo für Finanzierung der Arbeit 2.4.7 Anlässe am Tag des Kinderrechtsstatuts 2.4.8 Partizipation im nationalen Kinderrechtsrat u. ä. 2.4.9 Verfassung universitären Lehrmaterials 2.4.10 Öffentliche Diskussionsrunden 2.4.11 Von Chácara verfasste Bücher

Abbildung 16: 2. Aktivitäten, welche andere Gruppen miteinbeziehen Ohne dass dies im Rahmen der vorliegenden Arbeit weiter ausgeführt werden kann, soll hier darauf hingewiesen werden, dass es, soweit der Autorin bekannt, nur wenige residentielle Organisationen mit derselben oder einer ähnlichen Klientel gibt, welche eine so durchdachte und strukturierte Familienarbeit durchführen, wie sie in der Chácara üblich ist. Diesen Eindruck hat auch die bereits früher zitierte Leiterin des benachbarten Kinderprojektes ABAI, Marianne Spiller, gewonnen, welche die „Szene“ der Institutionen für Kinder und Jugendliche in der Region Curitiba und darüber hinaus seit dem Jahr 1979 kennt: Es ist sehr eindrücklich, wie dieses Projekt eben systemisch ist, also mit der ganzen Familie arbeitet, und es ist ganz erstaunlich, dass Fernando mit seinen Mitarbeiten161

Eine Unversität stellte mit der Chácara zusammen ein Video für die wissenschaftliche Lehre für Pädagoginnen und Pädagogen her, in welchem sowohl die Chácara als auch die Jugendstrafanstalt im Sinne von zwei verschiedenen Modellen portraitiert wurden.

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den nicht einfach nur die Mühe auf sich genommen hat, die auseinander gerissenen Familien wieder zusammenzusuchen – das ist ja eine grosse Anstrengung – sondern dass er mit diesen Familien sogar noch eine Art Elternschulung macht. Ich glaube, dies ist etwas Einmaliges; ich habe dies nie [irgendwo sonst] realisiert gesehen. Es ist doch so – heutzutage vielleicht weniger, aber früher hat man das immer wieder einmal gesehen –, dass sich die Leute eben zum Beispiel mit den Kindern identifizieren und dann gegen die Eltern sind, [das heisst,] dass sich die Leute nicht dem ganzen System der Familie in der Gesellschaft zuwenden können. Und in dieser Hinsicht hat die Chácara einen sehr guten familientherapeutischen Ansatz. (Interview, 2. April 2004)

Eine weitere, in der Chácara sehr ausgeprägte Aktvitität, welche im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht ausführlicher beschrieben werden kann, ist die Öffentlichkeitsarbeit. Diese hat nicht nur das Ziel, die Chácara – zum Beispiel zwecks Spendengewinnung – bekannt zu machen. Vielmehr wird sie auch zugunsten der Stärkung der Rechte des Kindes eingesetzt, zur sozialen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen auch wirtschaftlich privilegierter Herkunft sowie zur Unterstützung und Ausbildung von Mitarbeitenden bzw. Fachleuten anderer Organisationen. Ein besonderes Beispiel dieser Arbeit, an der auch die Jungen stark beteiligt sind, ist das von den Jungen verfasste Buch über ihr Leben und über die Chácara (Fundação E., 1999), welches zu den in das Datenkorpus der vorliegenden Arbeit aufgenommenen Texten gehört. Die Öffentlichkeitsarbeit ist Bestandteil einer Serie von Aktivitäten, welche als Austausch und Miteinander zwischen der Chácara und der weiteren Gesellschaft verstanden werden können, ein Vorgang, welcher in Kapitel 4.5.2.2 näher beschrieben wird. Aufgrund des Augenscheins und der praktischen Arbeitserfahrung in der Chácara fiel der Autorin auf, dass im Jahresbericht diejenigen Aktivitäten, welche direkt mit den Leistungen der Chácara gegenüber ihrer/ihren Zielgruppe(n) in Zusammenhang stehen, vollständig aufgeführt wurden. Andere jedoch, welche Aufbau, Erhalt und Weiterentwicklung der Organisation an sich dienen, wurden dagegen nur ansatzweise erwähnt. Diese Beobachtung wurde durch den Beizug eines Interviews mit einem in der Projektkoordination tätigen Erzieher weiter geprüft. Dieser erwähnte tatsächlich administrative Aktivitäten, welche im Jahresbericht nicht vermerkt sind. Das im Jahresbericht 2004 dokumentierte Aktivitätenuniversum der Chácara wurde deshalb um den folgenden dritten Tätigkeitsbereich ergänzt (S. Abb. 17 auf der folgenden Seite). Auch auf diese Aspekte kann in der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden, mit Ausnahme der in der Tabelle unter 3.3 aufgeführten Aktivität der Organisationsplanung. Auf Aspekte derselben wird in Kapitel 4.5.2.3 in Zusammenhang mit der evaluativen Gestaltung der Aktivitäten näher eingegangen. 203

3.1 Verwaltung 3.1.1 Personalbetreuung/-verwaltung 3.1.2 Finanzmittelbeschaffung 3.1.3 Finanzverwaltung 3.2 Mobilien/Immobilien: Bereitstellung/Pflege 3.3 Organisationsplanung und -kontrolle 3.4 Berichterstattung an Ämter, Rechtliches

Abbildung 17: 3. Führung und Verwaltung der Chácara Es fällt im Weiteren auf, dass in der Chácara Aktivitäten stattfinden, welche in den Statuten wohl angedeutet werden, im Jahresbericht jedoch nicht erwähnt sind. Obwohl es sich dabei um die Basisversorgung der Kinder und Jugendlichen handelt, sind diese Aktivitäten auch der – in der Chácara seit Jahren praktisch involvierten – Autorin erst nach einiger Zeit der strukturierten Analyse aufgefallen, und dies erst, nachdem sie bemerkt hatte, dass die unter „3. Führung und Verwaltung“ zusätzlich zitierten Aktivitäten im Jahresbericht fehlten. Werden diese Aktivitäten, welche einen grossen Teil der Arbeitszeit der Erzieherinnen und Erzieher in Anspruch nehmen, als so selbstverständlich und alltäglich angesehen (etwa im Sinne von Garfinkels (1967) „taken for granted“), dass sie gar nicht aufgeführt werden? Oder werden sie weniger als Aktivitäten, denn als Grundbedingung, als Form eines familiären Zusammenlebens etwa, gesehen? Die Aktivitäten, welche die Chácara im Zusammenhang mit der Basisversorgung der Kinder und Jugendlichen durchführt, werden ebenfalls ergänzend ins Aktivitätenuniversum der Chácara eingefügt, und zwar wegen ihrer grundlegenden Bedeutung an erster Stelle: 1.X Basisversorgung 1.X.1 Unterbringen 1.X.2 Betreuung 1.X.3 Ernährung 1.X.4 Kleidung 1.X.5 Seelische Unterstützung 1.X.6 Rechtliche Unterstützung

Abbildung 18: Ergänzung zu 1. Aktivitäten mit den Kindern und Jugendlichen der Chácara 204

Mit den beiden Ergänzungen „1.X Basisversorgung“ und „3. Führung/Verwaltung“ ergibt sich aus dem Jahresbericht 2004 nun ein Gesamtbild aller Aktivitäten und ihrer Anordnung im Aktivitätenuniversum der Chácara.162 4.5.2 Ausführungsmodalitäten Ich sage jeweils, dass die Chácara ein Raum ist. Sie ist ein Ort, ein Raum des Lebens und des Zusammenlebens, und darum ein Raum des Lernens und des Lehrens, und hauptsächlich des Lernens und des Lehrens der Menschlichkeit. Wie man zu einem Menschenwesen wird. Im Sinne eines Miteinander-Teilens von Schwierigkeiten, Lösungen, Erfolgen und Traurigem [sowie] des Einbezugs von Personen [in all ihrer] Verschiedenheit. Es ist im Umgang damit, dass man zu jemandem wird, zu ei163 nem Menschenwesen. (Pädagogikprofessorin, Interview, 5. Mai 2003)

Dieses Zitat ist die Antwort einer der an der Chácara beteiligten Pädagogikprofessorinnen auf die Frage, wie sie jemandem die Chácara beschreiben würde, der diese nicht kenne. Es lässt sich dahingehend verstehen, dass der zentrale bzw. der Transformationsprozess der Chácara in erster Linie ein Lernprozess ist, der aus dem Zusammenleben und der gemeinschaftlichen Bewältigung und Gestaltung des Lebensalltags entsteht. Der Begriff des „Zusammenlebens“ erscheint auch in einer Antwort, welche der Koordinator der Chácara der Autorin ausserhalb der vorliegenden Forschungsarbeit wiederholt gegeben hat, und zwar auf die Frage, bei welchen Aktivitäten der Chácara von ihr vermittelte ausländische Freiwillige mitarbeiten sollten: „Die hauptsächliche Aktivität ist das Zusammenleben mit den Jungen.“ Seine Aussage kann so verstanden werden, dass es eine Aktivität gibt, die den vorgängig inhaltlich geschilderten übergeordnet ist beziehungsweise diese vereint im – ganzheitlichen – Begriff des Zusammenlebens. Diese Interpretation ist nachvollziehbar, wenn man den Begriff des Zusammenlebens als prozessuale Spiegelung der bereits dargestellten strukturellen Elemente der Chácara als „Gemeinschaft“ bzw. „Gesellschaft en miniature“ sieht, in der die affektiven Bindungen von besonderer Bedeutung sind. In ihrer Arbeit als Freiwillige in der Chácara hat die Autorin zudem selbst erlebt, dass die verschiedenen Aktivitäten tatsächlich als Einzelteile eines Grösseren, nämlich des Zusammenlebens und

162

163

Die Aktivitäten werden im Jahresbericht 2004 teils numerisch, teils lediglich inhaltlich gegliedert. Im Rahmen der Analyse wurde auch die inhaltliche Gliederung in eine numerische umgewandelt. Der Ausdruck könnte auch mit „zu einem wahren Menschen“ bzw. „zu einem rechten Menschen“ übersetzt werden.

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gemeinsamen Betreibens des „familiären Haushaltes“ Chácara gesehen und behandelt werden.164 Die Summe der Inhalte der einzelnen, vorgängig geschilderten Aktivitäten macht allein weder das Zusammenleben in der Gemeinschaft Chácara noch den Transformationsprozess aus. So führt die Tatsache, dass die Jungen zur Schule gehen, Theater spielen, einen Automechanikerkurs besuchen, in der Hühnerzucht oder bei der Öffentlichkeitsarbeit und Verwaltung der Chácara mithelfen, nicht automatisch dazu, dass sie zu „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ werden. Die Inhalte der verschiedenen Aktivitäten sind wohl wichtig. Noch wichtiger als ihr „Was“ ist jedoch ihr „Wie“: die Art bzw. die Modalitäten ihrer Ausführung, damit die Ziele erreicht werden können. Es kommt darauf an, wie die Aktivitäten in ihrer Planung und Ausführung gestaltet werden. Darauf weist ein Satz hin, welchen die Autorin im Rahmen ihrer praktischen Arbeit in der Chácara als Freiwillige immer wieder von Erziehenden gehört und welcher sich ihr als ein pädagogischer Leitsatz eingeprägt hat. Dieser erwähnt eine allen Aktivitäten gemeinsame Ausführungsmodalität, nämlich deren pädagogische Gestaltung und Bedeutung: „Jede Aktivität ist eine pädagogische Aktivität.“ Ergänzt wurde dieser Satz jeweils mit der Bemerkung, dass es in der Chácara nicht einzelne, als pädagogisch bezeichnete Aktivitäten gebe, während andere als „nicht pädagogisch“ betrachtet würden. Vielmehr seien alle Handlungen pädagogisch und stellten sich als Lerngelegenheit dar, ob es sich nun um das Abwaschen von Geschirr, das Fussballspielen, das Erledigen von Hausaufgaben, das Vorführen eines Theaterstückes oder das Miteinander-Plaudern handle. So ist am einfachen Beispiel der Hühnerzucht leicht vorstellbar, dass diese in unterschiedlicher Weise zur Erreichung der Ziele der Chácara beitragen würde, je nachdem, wie die Aktivität gestaltet wäre. Wenig beitragen oder sogar schaden würde sie, wenn die Jungen zum Beispiel dazu gezwungen würden, lange Stunden in der Hühnerzucht zu arbeiten (was im übrigen ungesetzlich 164

Dies dürfte einen Einfluss auf die Wahrnehmung einzelner Aktivitäten als „Arbeit“ – bzw. als „bezahlbare“ Arbeit oder „professionalisierbare“ Arbeit - haben. In den Anfangsjahren der Chácara hat die Autorin oft gehört, hier zu arbeiten, sei kein „Job“, sondern eine „Proposta de Vida“, ein Lebenskonzept. Entsprechend gibt es seit jeher einen Diskurs unter den Beteiligten darüber, ob die Chácara z. B. „die Familie aller Beteiligten“ sei, inwieweit die Aufgabe des Privatlebens der Beteiligten bzw. dessen Einbezug in die Chácara verlangt werden könne oder solle, wieweit „professionalisiert“ werden könne oder müsse. Es scheint, dass sich an diesem Punkt zwei Konzepte in einem scheinbaren Widerspruch gegenüber stehen, mit dem sich die Organisation auseinander setzen muss: der familienähnlichen „Gemeinschaft“ einerseits und der „Institution“ im Sinne der organisatorischen Strukturen und Abläufe, die für die Führung der ständig wachsenden, komplexer werdenden Chácara nötig sind, anderseits. Die Autorin hat den Eindruck gewonnen, dass in der Bewältigung und Nutzung dieses scheinbaren Widerspruchs zweier interdependenter Konzepte die hauptsächliche Herausforderung und Entwicklungschance der Chácara (und möglicherweise auch anderer Organisationen) liegt.

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wäre), ohne auch andere Aktivitäten zur Auswahl zu haben. Mehr beitragen kann sie, wenn die Jungen, wie im Fall der Chácara, bereits die Idee der Hühnerzucht mitentwickelt und beim Bau des Stalls mitgeholfen haben, wenn sie dazu auf freiwilliger Basis höchstens ein bis zwei Stunden pro Tag und entsprechend ihrer physischen Fähigkeiten mitwirken sowie in ihrer Arbeit begleitet und bezüglich von Anforderungen wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Fleiss und Hygiene gemeinschaftlich beurteilt sowie an den Einnahmen beteiligt werden.165 In der Folge soll nun auf drei für die Chácara charakteristische Ausführungsmodalitäten des Transformationsprozesses eingegangen werden. Es sind dies die Partizipation der Jungen, die gegenseitige soziale Integration mit allen Teilen der Gesellschaft sowie die evaluative Gestaltung der Handlungen.166 Daraufhin soll dann der Mechanismus des Transformationsprozesses zusammenfassend beschrieben werden. 4.5.2.1 Partizipation Das bereits zitierte „Pädagogische Konzept“ der Chácara spricht – wie deren Statuten auch – von einem „partizipativen Prozess, der [die Kinder und Jugendlichen] zu Protagonisten ihrer eigenen Förderung macht“. Gemäss Eade und Williams (1995, S. 15) kann Partizipation in der Entwicklungszusammenarbeit heissen, dass die „Betroffenen“ Informationen erhalten, konsultiert werden, in Entscheide und Projektausführung involviert werden und/oder selbst Projektinitiativen ergreifen (anstatt auf Initiativen von aussen zu reagieren). Der Begriff der Partizipation umfasst also Aspekte von Rollen. Je nachdem, um welche Form der Partizipation es sich handelt, kommt den Handelnden eine andere Rolle zu. Bezüglich der Rolle der Jungen wird im „Pädagogischen Konzept“ der Chácara angemerkt, dass diese handelnde Subjekte (und nicht passive Objekte) seien und dass sie an der Gestaltung des pädagogischen Konzeptes selbst sowie an der Definition von Regeln und Grenzen beteiligt sein sollten. Während ersterer Aspekt wie bereits erwähnt einem allgemeinen Konzept von Menschenwürde entspringt, entspricht letzterer – die Mitgestaltung der Umwelt, in der sie leben,

165

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Die Beteiligung an den Einnahmen wird auch genützt, um die Jungen mit dem Anlegen eines persönlichen Sparheftes einerseits und der Freigabe eines Anteils zum freien Gebrauch andererseits beim Lernen des Umgangs mit Geld und beim Aufbau von Ersparnissen zu unterstützen. In Kapitel 5.3.2 wird zudem die Bedeutung dieser Ausführungsmodalitäten in Zusammenhang mit der Kapazität und Adaptivität und damit mit der Qualität und Nachhaltigkeit der Organisation diskutiert werden.

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sowie ihrer Regeln und Grenzen – dem ebenfalls erläuterten demokratischbürgerrechtlichen Konzept der „alternativen Gemeinschaft“ Chácara. Aussagen wie die folgenden weisen darauf hin, dass die an der Chácara Beteiligten – ob Erziehende, Koordinator oder externe Fachleute í von einem nach der Skala von Eade und Williams (1995) sehr hohen Grad der Partizipation der Jungen im Sinne der Übernahme einer Rolle als mitverantwortliche Chácaraund Staatsbürger ausgehen: Und man muss immer eher die Jungen die Chácara zeigen lassen, sie erzählen lassen, wie sie sich in der Chácara fühlen. Es obliegt nicht dem Erzieher, zu sagen: „Dies ist ein guter Junge“ und so fort; der Junge [selbst] wird erklären, wie es ihm geht, ob es ihm gut geht oder nicht. So überlassen wir es immer dem Jungen; er wird [die Leute] empfangen, er wird sie herumführen. Und er wird immer erzählen, wie es hier für ihn ist, ob es für ihn gut ist. (Im Projekt tätige Sozialarbeiterin und Vorstandsmitglied, Interview, 14. April 2004) Ein weiterer Aspekt ist die gemeinsame Verwaltung. Auch wenn Ideen noch so sehr in Fernandos Kopf entstanden sein mögen, stellt er sie doch zur Diskussion mit dem Ziel, dass jeder einzelne Junge sich als Protagonist fühlen kann. (Pädagogikprofessorin, Interview, 5. Mai 2003) Das Wenige, was ich von anderen Institutionen kenne, ist, dass diese sehr stark über den Kopf der Jungen hinweg geplant werden. Und manchmal – ich habe nur sehr wenige Besuche gemacht – sieht man, dass die Arbeit den Jungen gegenüber ausschliesslich mit Autorität und von oben herab gemacht wird: „Ich befehle und du [gehorchst]“. Nein, hier in der Chácara gehört alles euch [Jungen], wer befiehlt, das seid ihr selbst. Wer befiehlt? Jeder, der hier wohnt, hat das Recht zu sagen, wie [die Chácara] sein soll, und wie sie nicht sein soll. (Mitglied der Gruppe der Strassenarbeit, Mitgründerin und Vorstandsmitglied, Interview, 26. April 2004)

Interessant war natürlich die Frage, wie die Jungen selbst ihre Rolle in der Chácara wahrnehmen. Zur Beantwortung wurden insgesamt 120 Textstellen aus Interviews und Texten der Jungen kategorisiert, welche sich auf Aspekte von Position und Rolle bezogen. Die meisten dieser Aussagen waren nicht aufgrund spezifischer Fragen nach Position und Rolle gemacht worden. Die nachstehende Tabelle gibt eine Übersicht über die genannten Aspekte:

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Dimension Jungen nehmen an Aktivitäten für die Jungen teil (57)

Jungen helfen bei/übernehmen Aufgaben der Organisation Chácara (55)167

Kategorien • Gehen zur Schule (21) • Spielen (16) • Machen Berufskurse (5) • Machen Ausflüge (5) • Nehmen an pädagogischen Aktivitäten teil (3) • Arbeiten auswärts (3) • Machen Hausaufgaben (1) • Nehmen an Stützunterricht teil (1) • Studieren an Universität (1) • Gehen zur Messe (1) • Arbeiten im Betrieb der Chácara mit (25)

• Helfen beim Bau der Chácara (12) • Arbeiten in der Führung der Chácara (13)

167

Unterkategorien 1

Unterkategorien 2

• Arbeiten in Haus und Hof mit (24) • Arbeiten als (Hilfs-) Erzieher (1)

• Machen Öffentlichkeitsarbeit (8)

• Laden andere Leute ein (2) • Laden Strassenkinder ein (2) • Repräsentieren Chácara bei Anlässen (1) • Arbeiten mit der lokalen Gemeinde zusammen (1)

All diese Tätigkeiten finden nach den Vorschriften der brasilianischen Gesetzgebung und des Kinderrechtsstatuts, insbesondere zu Fragen der Kinderarbeit statt, das heisst, sie sind klar nicht als Kinderarbeit zu bezeichnen.

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Dimension

Kategorien

Unterkategorien 1

• Besitzen/führen/ gestalten die Chácara (5)

• Allgemein (5)

Jungen sind frei (4) Jungen organisieren sich selbst (3)

Unterkategorien 2 • Empfangen Leute aus dem Ausland (1) • Danken Spendern und informieren sie (1) • Besitzen die Chácara (3) • Haben Idee, weiteres Haus für Kinder zu bauen (1) • Sollten fähig sein, auch ohne Erwachsene Chácara zu führen (1)

• Helfen den Erziehenden (2) • Helfen Fernando (1) • Helfen der Chácara (1) • Arbeiten in der Chácara mit (1)

• Sind frei (2) • Können weggehen, wann sie wollen (2) • Lösen Probleme untereinander (2) • Organisieren sich (1)

Jungen versuchen, Gesellschaft zu ändern (1)

Abbildung 19: Aspekte von Rollen der Jungen in der Chácara aus deren eigener Sicht (Anzahl Nennungen in Klammern) Die Aussagen der Jungen bestätigen den hohen Grad von deren Partizipation an der Chácara. So berichten sie in etwa gleichen Teilen, dass sie an dem für sie vorgesehenen Angebot teilnehmen (47.5%) respektive an Aufgaben des Betriebs, 210

der Verwaltung und der Führung der Organisation mitwirken (45.8%). Auch ihre Ausdrucksweise – zum Beispiel das selbstverständliche „wir haben“ – weist darauf hin, dass sie sich als mitverantwortlich für die Chácara sehen: Ich gehe morgens zur Schule, und ich arbeite zwei Stunden am Tag. Wir bauen einen Stall für 9000 Hühner. Hier in der Chácara haben wir Enten, Gänse, Ziervögel etc. Wir gehen zum Schwimmen in den Bach; wir gehen in die Kirche; wir spielen. Wir haben drei Häuser, 22 Jungen, Erzieher, eine Siebdruckerei, einen Tischfussballkasten, einen Fussballplatz, ein Auto, einen Gemüsegarten, einen Blumengarten, Bienen, einen Fernseher und ein Videogerät, Waschmaschinen, eine Parabolantenne, eine Garage und ein Telefon. Dona Ana kocht jede Woche das Essen für uns. (Fundação E., 1999, S. 70) In diesem Jahr hatten die Jungen, die bereits in der Chácara wohnten, die Idee, ein zweites Haus zu bauen. Als der Hausbau begann, kamen wir Jungen der Strasse, um [jeweils] während einigen Tagen zu helfen, aber wir mussten [immer] auf die Strasse zurückkehren, wo wir nicht wussten, ob wir noch am Leben sein würden, wenn das Haus fertig gestellt wäre. (20-jähriger Junge, Eintritt: 22. Dezember 1994, Universitätsstudent und Mitarbeiter einer Firma, Text für öffentlichen Anlass, April 2004) Am Anfang war die Arbeit hier sehr mässig, aber als [Erzieher] N. hierher kam, wurde sie besser. Wir fingen an, uns ernsthaft um den Hühnerstall, die Pflanzungen und auch um das Reinigen des Hauses und das Aufräumen der Zimmer zu kümmern. (Fundação E., 1999, S. 91) Jetzt gerade haben wir von der Chácara eine Gruppe von Nonnen eingeladen, die eine Woche mit uns verbringen werden, und wir laden auch gleich die Gemeinde ein, zu kommen und einen Nachmittag mit uns zu verbringen. Wir werden einen Wettbewerb machen mit der Gemeinde. (Fundação E., 1999, S. 104) Jetzt wohne ich seit drei Jahren in der Chácara. Ich bin in der sechsten Klasse, und es geht mir viel besser als zuvor. Ich arbeite in der Chácara, gehe zur Schule und besuchte auch schon einen Englisch-Kurs. Ich bin mit dem Movimento Nacional dos Meninos e Meninas de Rua nach Brasília gereist und auch nach São Paulo, zusammen mit [einem Erzieher] und [einem weiteren Jungen], um an der Fernsehdiskussionsrunde im „Programa Livre“ von Serginho Groismann (bekannter Moderator) teilzunehmen. Es geht mir sehr gut. Wir bauen gerade das vierte Haus, in welchem Strassenkinder leben werden. (Fundação E., 1999, S. 74) Ja, es gibt hier Fernando, der zutiefst der Arbeit verpflichtet ist, die er tut, aber meiner Ansicht nach könnten die Jungen die Chácara betreiben, wenn es Fernando nicht gäbe, denn wer sein Leben verändern will, ist nicht Fernando, sondern es sind die Jungen. Und machmal denke ich, dass es wirklich eine sehr grosse Rolle ist, die Fernando wahrnimmt, wenn er die Jungen von der Strasse holt, und trotzdem gibt es

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noch einige, die herkommen und nur blöd tun wollen. Das Projekt gehört nicht Fernando. Es gibt Leute, die sagen: „Hier ist das Projekt von Fernando“, und dann denke ich: Es ist das Projekt der Chácara, es ist das unsrige (sagt dies strahlend und mit tiefer Freude in der Stimme). (16-jähriger Junge, Englischlehrer in privater Sprachschule und Chácara, Eintritt: 16. Januar 1996, Interview, 27. April 2003)

Gemäss einem bereits früher erwähnten Zitat einer Frau, welche in der Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen auf der Strasse tätig war und seit Anbeginn der Chácara für diese als Vorstandsmitglied arbeitet, waren es die Jungen, welche wünschten, sich in einem Haus selbst zu organisieren und die Regeln des Zusammenlebens aufzustellen, also in einem hohen Grade an der Führung und Gestaltung des Hauses zu partizipieren: Wir redeten mit den Jungen darüber (...), was sie für den Rest ihres Lebens wollten – auf der Strasse bleiben? „Nein.“ Ja, was wollten sie dann? „Ein Haus.“ Und wie sollte dieses Haus sein? Da fingen sie an, zu erzählen, dass es ein Ort sein sollte, an dem sie sich selbst organisieren würden, wo sie ihre Regeln haben und die Regeln des Hauses aufstellen würden. (Mitglied der Gruppe der Strassenarbeit und des Vorstandes, Interview, 26. April 2004)

Zu den Regeln, welche die Jungen mitbestimmt haben, gehört zum Beispiel das Rauchverbot. Im Jahr 2001 oder 2002 beschlossen die Jungen gemeinsam mit den Erziehenden, das Rauchen in der Chácara ganz zu untersagen. Zuvor durften die sich zumeist bereits im Teenager-Alter befindenden Jungen, welche bereits als Raucher von der Strasse gekommen waren, drei Zigaretten pro Tag rauchen. Es wurde jedoch mit Aufklärung über die gesundheitlichen Folgen des Rauchens sowie mit verschiedenen Motivationsschritten – zum Beispiel der Teilnahme am Fussballtraining, in welches nur sportliche Nichtraucher aufgenommen wurden – dazu beigetragen, dass die meisten Jungen sich mit der Zeit auch von den Zigaretten lösen konnten. Die Gruppe führte deshalb das Rauchverbot für alle Personen der Chácara, auch für Erziehende und Besucher, ein, unter anderem damit die nicht (mehr) rauchenden Personen nicht erneut „in Versuchung geführt“ würden. Auch aus dem Jahresbericht 2004 geht hervor, dass die Jungen an Ausbildungen und Konferenzen teilnehmen und dort die Chácara repräsentieren, zum Beispiel mit dem von ihnen entwickelten Theaterstück „Auf der Strasse gibt es kein Leben“ und dem von ihnen geschriebenen Buch „Geschichten aus unserem Leben“ (Fundação E., 1999), in welchem sie von ihrem Leben zu Hause, auf der Strasse und in der Chácara berichten und ihre Gedanken dazu äussern. Ältere Jungen übernehmen einzelne Erzieheraufgaben – zum Beispiel die Betreuung des Hauses der Kleinsten in der Nacht – oder werden bei Volljährigkeit als Mit212

arbeitende angestellt, und haben damit einen starken gestaltenden Einfluss auf die Chácara. Im Jahr 2005 sind 5 ehemalige Jungen im Alter von zwischen 18 und 26 Jahren im Erziehungsteam tätig, von denen drei auch starken Einfluss auf Koordinationsbelange nehmen, während ein weiterer 23-Jähriger seit zwei Jahren als Mitglied des Stiftungsrates amtet. Im Jahr 2002 wurden zwei Jungen im Alter von 12 und 14 Jahren aufgrund ihrer guten Partizipation in Schule und Chácara von der brasilianischen Pfadfinderbewegung ausgewählt, um zusammen mit zwei Mädchen ihr Land Brasilien an einem Jugendanlass der Unicef und der Fifa an der Fussballweltmeisterschaft in Korea zu repräsentieren. Die Analyse des Jahresberichts 2004 ergab, dass die Chácara gewisse Aktivitäten auch mit dem Ziel verfolgt, die Jungen in ihrer Partizipationsfähigkeit zu stärken und damit auch in ihrer Fähigkeit, die Chácara mitzugestalten, wie zum Beispiel das folgende Zitat aus dem Jahresbericht 2004 zeigt: Wenn immer möglich, werden länger andauernde Wettspiele durchgeführt, bei welchen erzieherisch wertvolle und kontroverse Themen behandelt werden und bei denen die Jungen lernen, zu arbeiten und in Gruppen zu partizipieren, wobei sich auch einige Führungspersönlichkeiten unter ihnen offenbaren.

Die Partizipation wird nicht nur bei Wettspielen, sondern bei den meisten, wenn nicht allen Aktivitäten zum Thema gemacht und eingeübt. So heisst es im Jahresbericht: Die Jungen erledigen zusammen mit den Erziehenden und Freiwilligen168 die ganze Organisation und Arbeit in den Häusern, und zwar so, wie sie es in der Gruppe vereinbart haben.

Konkret bedeutet dies, wie die Autorin selbst als Freiwillige in der Chácara gelernt hat, dass das Ziel wohl ist, zum Beispiel ein Haus zu reinigen, dass jedoch diesem Ziel die Ausführungsmodalität übergeordnet wird, es sei dies gemeinsam mit den Jungen zu vereinbaren und durchzuführen. Dies macht den Prozess für die Erziehenden und Freiwilligen um vieles anspruchsvoller, als es der doch eher einfache Inhalt dieser Aktivität vermuten liesse. Im Rahmen der Aktivitäten manifestieren sich somit Aspekte der Partizipation sowie auch des Sozialverhaltens und der Persönlichkeit der Jungen. Ihre von Erwachsenen begleitete Ausführung erlaubt es den Jungen, diese Aspekte bewusster wahrzunehmen, zu

168

Dabei handelt es sich zumeist um einzelne Personen aus dem Ausland, vorwiegend aus der Schweiz und aus Deutschland (letztere u.a. im Rahmen des Zivildienstes) sowie aus mehreren anderen Ländern.

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strukturieren, zu entwickeln, einzuüben und zu reflektieren. So heisst es im Jahresbericht 2004: Die Erzieherinnen und Erzieher sind bei allen an die Jungen gerichteten Aktivitäten anleitend, helfend und teilnehmend dabei. Diese Arbeitsweise der Chácara ist sehr belastend, da sie ganzheitliche Hingabe verlangt.

Zusammenfassend kann angemerkt werden, dass die Jungen in der Chácara eine Rolle innehaben, welche im Gesamten so hoch partizipativ ist, dass die Jungen nicht nur als Begünstigte, Nutzniesser oder Zielpublikum gesehen werden können, sondern darüber hinaus als wichtige Ressource und prägende Mitgestalter der Organisation Chácara angesprochen werden dürfen. Zu dieser Rolle muss angemerkt werden, dass sie nicht bei allen Gelegenheiten für alle Jungen gleich hoch partizipativ gestaltet ist bzw. sein kann. So können zum Beispiel ältere Jungen in anderer Art und Weise partizipieren als jüngere und müssen gewisse Aufgaben oder Tätigkeiten wegen der Anforderungen, die sie an die Ausführenden stellen, in unterschiedlichem Grad den Jungen überlassen werden. Gleichzeitig hat die Autorin in ihrer praktischen Tätigkeit als Freiwillige in der Chácara immer wieder den folgenden Leitsatz von Erziehenden gehört: „Jeder ist in jedem Moment Erziehender und Lernender.“169 Ergänzend wurde sie durch den Koordinator darauf hingewiesen, dass diese Annahme unter anderem dem Ansatz des Befreiungspädagogen Paulo Freire entspricht, welcher sich gegen die autoritäre Erziehung von „oben“ nach „unten“ wendet. Er sieht diese als Mittel zur Aufrechterhaltung von ungleichen sozialen Verhältnissen und plädiert für ein gemeinsames Lernen von Kindern und Erwachsenen als Partner, welche wohl über verschiedene, aber grundsätzlich gleichwertige Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen. Tatsächlich erwähnen Erziehende in der Chácara immer wieder, dass sie ihrerseits viel von den Jungen lernten, ein persönlicher Eindruck, den die Autorin aufgrund ihrer praktischen Arbeit als Freiwillige in der Chácara teilt.170 In den Augen der Mitglieder der Chácara ist diese Art eines gleichwertigen Verhältnisses – welches sich wie bereits zitiert zum Beispiel in der gemeinsamen Ausführung aller Aktivitäten zeigt – von grosser Bedeutung, damit die Jungen die Erziehenden als glaubwürdige, ihrerseits lernende Vorbilder sehen können, an deren Beispiel sie selbst wachsen können. 169 170

Wiederholte mündliche Aussage des Koordinators und verschiedener Erziehender in der Chácara. Sie ist im weiteren der Meinung, mit der vorliegenden Forschungsarbeit analog den Mitgliedern der Chácara ebenfalls in gewissem Sinne eine Rolle als Lernende und Erziehende übernommen zu haben, in dem sie anstrebt, aus den Erfahrungen der Jungen und Erwachsenen der Chácara zu lernen und die so gemachten Erkenntnisse unter anderem zugunsten des Lernens in der Chácara wieder in diese zurückzuführen.

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Gemäss Aussagen des Koordinators ist es zudem wichtig, dass auch er – und mit ihm alle anwesenden Erwachsenen – bei allen Arten von Arbeiten in Haus und Hof mitanpackt. Tatsächlich sieht man ihn trotz seines grossen Aufgabenpensums zum Beispiel oft gemeinsam mit einer Gruppe von Jungen jäten oder putzen. Es geht den Mitgliedern der Chácara nicht nur um einen hohen Grad der Partizipation der Jungen, sondern darum, dass alle Mitglieder gleichwertig an der Gemeinschaft teilhaben. Der hohe Grad der Partizipation der Jungen ist jedoch nicht nur aus pädagogischen Gründen sinnvoll, sondern auch deshalb, weil die Jungen dadurch in der Lage sind, Mitverantwortung für die Chácara zu übernehmen. Gerade in schwierigeren Situationen hat die Autorin immer wieder erlebt, dass die Jungen die Chácara und deren Betrieb gut kennen und sich verantwortungsbewusst und zuverlässig verhalten. Ein Beispiel dafür war ein Abend im März 2004, an dem ein einziger Erzieher, der zudem erst kürzlich eingetreten war, und die Autorin etwa 40 Jugendliche des ersten, zweiten und fünften Hauses betreuten. Ein soeben neu eingetretener Junge verhielt sich sehr nervös, begann einen Streit mit einem anderen, lief in die Küche, wo er ein Messer fand, und rannte mit diesem seinem Widersacher nach. Ohne dass der Erzieher oder die Autorin etwas gesagt hätten, waren sofort um die zehn Jugendliche im Alter von etwa 14 bis 17 Jahren zur Stelle, trennten die beiden Jungen ohne Gewalt, nahmen dem einen das Messer ab, hielten beide fest, bis sie sich beruhigten, teilten ihnen mit, dass Konflikte mit Worten und nicht mit Gewalt zu lösen seien, führten die beiden in zwei verschiedene Zimmer zur weiteren Beruhigung und zu einem Gespräch und sorgten wenig später, als der Projektkoordinator zurück kam, dafür, dass die beiden Jungen mit ihm sprechen konnten. Der Koordinator bemerkte in einem informellen Gespräch mit der Autorin lange vor der vorliegenden Forschung sogar, dass die damals 24 Jugendliche beherbergende Chácara niemals nur mit ihm und einem zweiten ständig dort lebenden Erzieher auskommen würde, wenn sie nicht auf die Ressource zählen könnte, welche die Jungen mit ihren Fähigkeiten und ihren Gruppenstrukturen darstellten. Er ergänzte, dass die Chácara die Organisationsformen und -fähigkeiten der Jungen der Strasse und ihrer Gruppen nütze und diesen lediglich andere Arten von Aktivitäten anbiete würde, als ihnen auf der Strasse zur Verfügung gestanden hätten. Einige erwachsene Beteiligte sowie beinahe oder schon ganz erwachsene Jungen haben angesichts der Verdoppelung der Zahl der betreuten Kinder und Jugendlichen in den Jahren 2004 und 2005 die Sorge geäussert, dass aufgrund dieses Wachstums und der komplexer gewordenen sowie stärker strukturierten Organisation die Mitsprache und Mitgestaltung der Chácara durch die Jungen bedroht sein könnte. So sagte in Anwesenheit einer Pädagogikprofessorin und 215

der Autorin, die als Moderatorin fungierte, ein Mitglied einer Gruppe von sechs Erziehenden (vier Männer, darunter ein ehemaliger Junge, und zwei Frauen): Es braucht mehr Partizipation der Jungen, so, wie im Leitbild vorgesehen. Diese ist dabei, sich etwas zu verlieren. Wir müssen den Jungen zu allen Themen eine Stimme und eine Mitsprachegelegenheit geben, und nicht nur dann, wenn wir eine Zusammenkunft einberufen, um über die Dinge sprechen, welche [die Jungen] nicht so getan haben, wie sie sollten. (Protokoll der ersten Sitzung zur kurzfristigen strategi171 schen Planung 2005, 19. April 2005 )

In der Folge formulierte die Gruppe – neben einer Anzahl anderer – entsprechende Ziele der Chácara für das Jahr 2005, wie das Protokoll einer weiteren Sitzung zeigt: Eine echte Partizipation der Jungen an allen Themen der Chácara (wieder) herstellen. Die Vision, Planung, Evaluationen und Ausführung verbessern, vor allem bezüglich der Beteiligung durch die Jungen selbst. Die Verfasserin dieses Satzes merkte im Weiteren mündlich an, dass bereits eine strategische Planung durchgeführt werde, was einer grossen Notwendigkeit entspreche, dass jedoch die Jungen in deren Rahmen vermehrt gehört werden sollten. Es wurden Beispiele dafür zitiert, wie die Jungen früher bei den Evaluationen und Planungen mitgemacht hätten. (Protokoll der zweiten Sitzung zur kurzfristigen strategischen Planung 2005, 26. April 2005)

In einer als Teil der Feldforschung durchgeführten Gruppendiskussion zur Geschichte der Chácara172, an welcher vier Vorstandsmitglieder (drei Frauen und ein Mann) und zwei Erzieher teilnahmen, wurde die Frage gestellt: „Was lernen wir aus der Geschichte der Chácara für deren Zukunft?“ Zwei der weiblichen Vorstandsmitglieder schrieben als Antwort darauf auf einen Poster: Die „Raison d’Être“ der Chácara, nämlich die Jungen, muss immer bewahrt werden. Die Berufung der Chácara: der Protagonismus der Beteiligten. Dies am Leben erhalten und dafür sorgen, dass die Professionalisierung es nicht auslöscht (im Sinne von ‚den Geist töten’). Die Verfasserin dieser Aussage ergänzte hierzu mündlich: Sie denke bei diesem Kommentar an die zunehmende Institutionalisierung der Chácara im Sinne einer stärkeren Strukturierung, einer besseren und effizienteren Organisa171

172

Die Autorin moderierte die Planungssitzungen sechs Monate nach Abschluss der Feldforschung zur vorliegenden Arbeit. Für die Aufführung der beiden ausserhalb der Forschung entstandenen Zitate wurde die Einwilligung der Chácara eingeholt. Da es in der Gruppendiskussion um die Geschichte – und damit auch um Themen wie Identität und Entwicklung – der Chácara ging, wünschten die Teilnehmenden, dass diese im Saal der Gemeinde Profeta Elias in der Favela Vila Lindóia in Curitiba stattfinden solle, dem Geburtsort der Strassenarbeit und der Chácara.

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tion und eines vielfältigeren Angebots. Diese Aspekte könnten dem Protagonismus der Jungen entgegenwirken. (Gruppendiskussion, vgl. Anm. 172, 20. April 2004)

Auf die Frage, was andere Projekte aus der Geschichte der Chácara lernen könnten, wurden von denselben Personen folgende Antworte notiert: Die Bedürfnisse der Jungen anhören, um sie betreuen zu können, und zulassen, dass sie an der täglichen Praxis der Projekte partizipieren (an den Entscheidungen und Aufgaben). (Gruppendiskussion, 20. April 2004)

Eine Sozialarbeiterin, welche im Vorstand sowie als Freiwillige in der Chácara tätig ist, erwähnte in einem Interview gar, dass es von allen Chácaramitgliedern und -beteiligten die Jungen seien – in diesem Fall die älteren und erwachsen gewordenen –, welche die Philosophie der Chácara und speziell deren Ausrichtung auf ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten am stärksten aufrechterhielten und verteidigten: Frage: Welches sind die Personen, welche die Philosophie der Chácara verteidigen? Antwort: Ich bin der Meinung, dass es die Jungen selbst sind, die diese am meisten verteidigen, und die Erzieher, die zuvor Jungen [der Chácara] waren, wie zum Beispiel [nennt zwei Namen]. Sie sind es, die sich am stärksten dafür einsetzen, dass die Strassen- und Vorbereitungsarbeit [mit den von der Strasse kommenden Jungen] gemacht wird. Sie stellen [davon abweichendes] Vorgehen immer wieder in Frage: „Ah, aber dieser Junge ist hier angekommen, und es wurde keine Strassen- und Vorbereitungsarbeit mit ihm gemacht“. Vor allem einer von ihnen [nennt Namen] stellt dies oft in Frage. Und wenn er die Strassen- und Vorbereitungsarbeit macht, dann kommt er und sagt: „Ich habe nun soundsoviele Jungen, die ich in die Chácara bringen kann.“ Also kennt er die Philosophie der Chácara, und deshalb übernimmt er die Strassen- und Vorbereitungsarbeit. Wer am meisten zugunsten der Philosophie streitet, sind wirklich die Jungen selbst, welche hier [in der Chácara] drin sind, welche wissen, dass die Philosophie ist, wie sie ist, und weil sie das Leben auf der Strasse kennen. (Interview, 14. April 2004)

Es scheint, dass der hohe Grad der Partizipation der Jungen an der Chácara von den an ihr beteiligten Personen einerseits als zentrales Element und Errungenschaft gesehen wird. Anderseits wird er aber auch als eine Komponente beurteilt, welche von der Komplexität und der – an sich positiv bewerteten – professionelleren oder strukturierteren Organisation der im Vergleich zu ihren Anfängen wesentlich grösseren Chácara bedroht wird. Unter einer „professionelleren und strukturierteren Organisation“ wird dabei unter anderem eine verstärkte Spezialisierung einzelner Personen auf spezifische Aufgaben, das heisst, eine stärkere Aufgabenteilung verstanden. Die Autorin vermutet in diesem Zusammenhang, 217

dass die in der Chácara als staatsbürgerlich verstandene Partizipation der Jungen an der Organisation nicht ein statischer Aspekt der Organisation ist, sondern ein Aspekt, der in seiner Ausprägung und praktischen Anwendung immer wieder neu gestaltet werden muss, und zwar nicht zuletzt als Reaktion auf sich entwickelnde und verändernde organisationale Strukturen und Prozesse. Zusammenfassend gilt in den Augen der Mitglieder und Beteiligten der Chácara für die Aktivitäten der Chácara die Ausführungsmodalität, dass diese unter einer so hohen Partizipation der Jungen wie nur möglich durchgeführt werden müssen, damit sie zu einem Zusammenleben im bürgerrechtlichdemokratischen Sinn der „alternativen Gemeinschaft“ Chácara führen. Der Grad der Partizipation der Jungen an der Chácara scheint so hoch zu sein, dass Partizipation eigentlich ein unzureichender Begriff für ihre Rolle ist, werden sie doch, wie zitiert, unter anderem als Besitzer und Mitverantwortliche der Chácara bezeichnet. Während der Begriff „Partizipation“ suggeriert, dass Personen zur Teilhabe an etwas zugelassen werden, das jemand anderem gehört, scheint die hier beschriebene Rolle und Bedeutung der Jungen in der Chácara es eher zu verlangen, dass diese als gleichwertige Partner in der Organisation und Gemeinschaft der Chácara bezeichnet werden. Der Koordinator der Chácara stellte im November 2006 die rhetorische Frage, wie denn ein in einer Institution aufgewachsener Erwachsener mit seinem Austritt aus der Institution plötzlich selbständig sein könne, wenn er zuvor in der Institution immer gegängelt worden sei. Die Autorin ist der Meinung, dass aufgrund der hier dargestellten Aspekte der Partizipation davon ausgegangen werden kann, dass die Chácara einen Beitrag zur Entwicklung der Jungen als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ leistet, und zwar vor allem dadurch, dass sie diese bereits im Projekt als Protagonisten der Organisation und Gemeinschaft Chácara versteht und anleitet. Sie ermöglicht ihnen damit, ihren Protagonismus in einer „Gesellschaft en miniature“ zu leben, zu lernen und zu üben. Damit befähigt sie sie, ihr zukünftiges Leben als Erwachsene in die eigenen Hände nehmen zu können. 4.5.2.2 Gegenseitige soziale Integration Heute gibt es in Brasilien Menschen, die nicht schlafen können, weil sie einen grossen Besitz haben und fürchten, dass dieser nachts gestohlen werden könnte, und es gibt Menschen, die zu grossen Hunger haben, um schlafen zu können. Das sind zwei Extreme, und solange diese Extreme nicht zusammenkommen und nicht zusammenarbeiten, werden wir diese widersprüchliche Gesellschaft haben. Aber wenn man sich an denselben Tisch setzt, von Angesicht zu Angesicht, einander gegenüber, dann fängt man an, eine neue [Art von] Gesellschaft einzuüben, und das ist es, was

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ich – natürlich eingedenk all meiner Einschränkungen – anstrebe, zu tun. (Koordinator, Interview, 20. April 2003)

Im Kapitel über die Ausgangslage der Jungen wurde beschrieben, dass diese eine Gesellschaft wahrnehmen, welche sie zurückweist. Im Kapitel über die Ziele der Chácara wurde dargestellt, dass die Mitglieder und Beteiligten der Chácara der Meinung sind, dass sich die Gesellschaft verändern müsse, damit eine wahre Integration und Verbesserung des Lebens der Jungen möglich sei. Und im Kapitel über die soziale Grundkonzeption der Chácara wurde aufgrund der Datenanalyse erläutert, dass die Chácara von Mitgliedern und Beteiligten als eine „alternative Gemeinschaft“ gesehen wird, eine „Gesellschaft en miniature“, in der nach Überlegungen zu Menschenwürde und bürgerlich-demokratischer Staatsbürgerlichkeit so zusammengelebt und gehandelt wird, wie es in der weiteren brasilianischen Gesellschaft aufgrund von Verfassung und Gesetzgebung eigentlich der Fall sein sollte. Trotz, oder, wie die eingangs zitierte Aussage des Koordinators der Chácara zeigt, gerade wegen dieser wahrgenommenen Kluft zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft – hier Personen, denen der Zugang zu den Ressourcen der Gesellschaft in vielen Teilen verwehrt bleibt, dort Personen, welche dazu vollumfänglich Zugang haben – setzen die Mitglieder und Beteiligten der Chácara auf einen Ansatz der gegenseitigen Integration dieser beiden „Seiten“. Dies äussert sich darin, dass versucht wird, möglichst alle Gruppen der Gesellschaft miteinzubeziehen, wie in Kapitel 4.4.3.1 mit der Erwähnung der verschiedenen an der Chácara beteiligten Personengruppen gezeigt wurde. Der Aspekt der gegenseitigen Integration wird – wie die gerade beschriebene Partizipation der Jungen – von der Autorin als weitere wichtige Ausführungsmodalität der Aktivitäten der Chácara und damit als charakteristischer Aspekt des Transformationsprozesses verstanden. Er soll in der Folge aufgrund der Analyse von Aussagen in Interviews, im Jahresbericht 2004 sowie in einem anlässlich des Jubiläumsfestes von 2003 entstandenen Bericht beschrieben werden. Gemäss den Berichten von Beteiligten begann die Chácara als soziale und physische Struktur unter anderem mit zwei Ereignissen, welche unter dem Aspekt der Integration der Chácara in die Gesellschaft und der Teilhabe der Gesellschaft an der Chácara verstanden werden können. So berichtet die Leiterin des benachbarten Projektes ABAI, Marianne Spiller-Hadorn, Folgendes von ihrer ersten Begegnung mit Beteiligten der Chácara: Eines Tages haben ein paar Leute an unsere Tür in der ABAI geklopft (…), die mir 173 dann erzählten, dass sie ein neues Projekt aufziehen wollten. Fernando war nicht 173

Der künftige Koordinator der Chácara.

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dabei. Was mich vom ersten Moment an sehr beeindruckte, war die Tatsache, dass es Leute von verschiedenen Organisationen waren, die gemeinsam etwas tun wollten. Da war jemand von der Minderjährigenpastorale, vielleicht jemand von einem staatlichen Projekt und jemand von einem katholischen Orden – da waren drei bis vier Organisationen vertreten. Und das gewann vom ersten Moment an meine Sympathie, die Tatsache, dass es ein Projekt ist, das vernetzt arbeitet, und ich dachte, wenn dieses den Strassenkindern helfen will, und wenn sich da verschiedene Organisationen die Hand geben und gemeinsam etwas tun wollen, dann will ich das auch unterstützen. (…) Ich habe beobachtet, wie Fernando, wie das neue Projekt, [wie sie] die Bevölkerung am Ort behandelten. Wenn er nur den Strassenkindern hätte helfen wollen und nicht auch sehr viel Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen für die lokale Bevölkerung gehabt hätte, dann hätte ich es nicht unterstützt. Weil er dies eben hatte – und das ist ein ganz wichtiges Kriterium, die Akkulturation am Ort – hatte [die Organisation] in meinen Augen bereits gut angefangen. (Interview, 2. April 2004)

Tatsächlich war die Integration der Chácara in die Gesellschaft beziehungsweise die Akzeptanz und Unterstützung der Chácara durch die Gesellschaft notwendig, damit die Organisation überhaupt beginnen und dann erfolgreich arbeiten konnte. Eine noch 13 oder 14 Jahre später von damaligen Mitarbeitenden und Beteiligten mit Gusto erzählte Geschichte zeigt deutlich, wie kritisch diese Situation der Integration sein konnte: Ich erinnere mich, dass es darum ging, das Grundstück [für die Chácara] zu kaufen. Die Schwestern der Göttlichen Vorsehung174 hatten einen Teil des Geldes gegeben, und da ging Fernando zu einer katholischen Vereinigung. Dort wurde eine Frau sich des Anliegens bewusst und wollte den [noch nötigen] Restbetrag geben. Sie war die Besitzerin eines Wohnblockes am Tiradentes-Platz, dort, wo das Kino Glória und der Schuhmacher Lima waren. Ich weiss nur, dass zwei Jungen dort einbrachen, um Schusterleim zu stehlen, und anfingen, ihn dort zu schnüffeln, und dann einschliefen. Es gab [da] eine Kerze oder so; ich weiss nur, dass das Gebäude daraufhin Feuer fing. Und am folgenden Tag – wir wollten schon [den Kaufpreis] zahlen (…) – da sagte Fernando: „Die Jungen haben das Gebäude abgebrannt, und jetzt wird diese Frau auf keinen Fall das Geld geben.“ Aber sie engagierte sich trotzdem und gab das Geld, und wir nützten es, damit die Chácara anfangen konnte, denn, wenn sie es nicht gegeben hätte … es war so, es fehlten nur wenige Tage [bis zum Ablauf des Kaufvertrages], und wenn wir nicht in dem Moment das Geschäft gemacht hätten, hätten wir den Kauf verloren. Soviel ich weiss, war sie es wirklich, die dafür sorgte, dass jenes Stück Land zur Chácara wurde, durch ihren guten Willen. Das ist von 174

Ein ursprünglich in Deutschland von einem Pater Eduard Michelis gegründeter katholischer Frauenorden. Nach diesem Pater wurde in den ersten Jahren das Landstück der Chácara als „Chácara Padre Eduard Michelis“ benannt.

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ganz grosser Bedeutung für die Chácara. (Mitglied der Strassenarbeit, Gründerin und Vorstandsmitglied, Interview, 26. April 2004)

Der Koordinator ergänzte diese Geschichte bei einem Vortrag an einer Universität mit der Erinnerung, dass die betreffende Frau damals gesagt habe, der Vorfall sei für sie ein Zeichen dafür, dass es wirklich nötig sei, ein Projekt für Kinder der Strasse zu eröffnen. Wie diese Frau gab es von Anfang an Personen aus Curitiba, welche die Chácara unterstützten, jedoch auch Personen, welche sich gegen diese stellten. So berichteten zum Beispiel Augenzeugen in informellen Gesprächen mit der Autorin davon, dass einige Polizisten, welche einzelne Jungen zuvor für Diebstähle und Drogenhandel eingesetzt hatten, sich sehr dagegen wehrten, dass diese nun ausser Reichweite in einer Chácara leben sollten. Die Begegnung zwischen Besuchern und Beteiligten aus der Stadt Curitiba und den Jungen der Chácara war und ist auch für letztere nicht immer einfach, wie die folgende Aussage eines zum Zeitpunkt des Interviews 15-jährigen Jungen bezüglich dieser oft wirtschaftlich besser gestellten Personen zeigt. In ihr kommen die Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Ungleichgewichts und die Internalisierung der erlebten Position des gesellschaftlichen Ausschlusses zum Ausdruck. Gleichzeitig kann sie als Hinweis auf die Wichtigkeit solcher Begegnungen verstanden werden: Antwort: [Die Besucherinnen und Besucher] lernen, mit uns zusammenzuleben, und wir lernen, mit ihnen zusammenzuleben. Frage: Und wie ist es, mit diesen Personen zusammenzuleben? Antwort: Es ist gut, aber es ist schwierig. Frage: Was ist schwierig? Antwort: Es ist schwierig, nahe bei einer reichen Person zu sein, die man nicht gut kennt; sie mit neuen Kleidern und du mit alten Kleidern, sie ganz elegant sprechend und du mit Fehlern sprechend. Das ist schwierig für uns. Frage: Was fühlst du in einem solchen Moment? Antwort: Dass sie intelligenter sind als wir. Sie haben studiert, und wir nicht. Frage: Aber sind sie deswegen bessere Menschen? Antwort: Ja, sie sind bessere Menschen, denn sie haben studiert, haben Arbeit, verdienen Geld, und wir verdienen keines. (Interview, 27. März 2003)

In Quatro Pinheiros, dem Weiler, in dem die Chácara liegt, waren die Bedenken der lokalen Bevölkerung gegenüber der Ankunft von Kindern der Strasse zunächst gross. Mitglieder der Gruppe um die Chácara machten während Monaten Besuche bei den lokalen Familien, um sie für das Vorhaben zu gewinnen. So berichtete ein Nachbar in einem vom Forschungsteam der Jungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit geführten Interview: 221

Es ist so, wir sind hier auf dem Land, und wir sind [auf so etwas] nicht vorbereitet. Im Allgemeinen würde jede Familie erschrecken, wenn eine fremde Person erscheint, und so auch wir, wenn jemand, von dem wir nicht wissen, wer er ist, in unserer Nähe ein Stück Land kauft. Und als ihr hierher kamt … ihr kennt den Ruf der „Strassenkinder von Curitiba“; es ist ein sehr schlechter Ruf. Und als ihr hierher kamt, wussten wir nicht, wie uns geschehen würde, aber ihr kamt, und wir sind Freunde geworden. (…) Ich und meine Gattin, wir kamen mit nach Aparecida do Norte und halfen, die Jungen zu betreuen, und wir waren in jener Kirche auf der Praça da Sé175, wo der Bruder von Fernando Pater war. Ich fühlte und fühle mich sehr wohl mit euch. Aber am Anfang waren wir ziemlich erschrocken, wir wussten nichts, wir waren es nicht gewohnt, aber bald wurde auch ich gerufen, bei einigen Aktivitäten mit euch in der Chácara mitzumachen, und meine Frau arbeitete in der Schule – ihr asst die Mahlzeiten, welche sie dort als Köchin zubereitete – und so wurde es immer besser, und heute sind wir gute Freunde, und ich kann nur Gutes über euch berichten, nichts Schlechtes. (von der Forschungsgruppe der Jungen geführtes Interview, November 2003)

Es waren einige Personen in Quatro Pinheiros, welche die Chácara von Anfang an besuchten und nach Möglichkeit unterstützten. Besonders berührt war die Autorin bei ihrem ersten Einsatz als Freiwillige von einer in grösster Armut in einem kleinen Bretterhaus im Wald lebenden, geistig leicht behinderten Nachbarin, welche selbst mehrere beinahe oder ganz erwachsene Kinder hatte. Sie brachte vom ersten Moment an jeden Samstag den damals ebenfalls in Armut in der Chácara lebenden Jungen und Betreuern einen Blumenstrauss (und tut dies auch 11 Jahre später immer noch), was von diesen als eine wichtige moralische Unterstützung empfunden wurde. Über gemeinsame Aktivitäten und die Öffnung des Angebotes der Chácara für die lokale Bevölkerung wurde diese über die Zeit immer stärker miteinbezogen. Wie sehr es dabei um eine eigentliche Bedingung oder Ausführungsmodalität der Chácara geht, zeigen Zitate wie das folgende: Bei allem, was in der Chácara passiert, gibt es nie diese Haltung: „Wir machen hier nun eine Arzt- und Zahnarztpraxis nur für die Jungen, oder wir machen hier eine Automechanikerwerkstatt für die Jungen, oder wir machen hier einen Fussballplatz für die Jungen …“ Es gibt hier keine solch verschlossene Mentalität. Es gibt immer den Einbezug der lokalen Gemeinde. (Lehrerin und Vorstandsmitglied, Interview, 16. April 2004)

Ebenfalls wird im Sinne einer Ausführungsmodalität darauf geachtet, dass sich die Chácara in der lokalen Gemeinde engagiert und an deren Anlässen teilnimmt. 175

Kathedrale von São Paulo (vor der sich jeweils viele obdachlose Kinder und Erwachsene aufhalten).

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Der Koordinator erwähnt in der praktischen Arbeit immer wieder einmal, dass sich externe Beteiligte deshalb in der Chácara engagierten, weil sie von dieser in irgendeiner Weise auch etwas erhielten. So führte die Chácara zum Beispiel in den Jahren 2004 und 2005 einmal pro Monat ein Bingo für die Frauen von Quatro Pinheiros durch. Dieses umfasste jeweils einen Vortrag und eine Fragestunde mit einem Arzt, eingeleitet von Vertretern der Gemeinde und der Chácara, welche darauf hinwiesen, dass das Wohlergehen der Jungen und überhaupt aller Kinder die Aufgabe aller in der Gemeinde sei. Einige Jungen übernahmen dabei jeweils die Aufgabe, in einer Umkehrung der zumeist in der Familie erlebten Rollenverteilung den teilnehmenden Frauen Kaffee und Gebäck zu servieren. Im Jahresbericht 2004 steht im Zusammenhang mit solchen Aktivitäten: Mit dem Ziel eines besseren Miteinanders mit der Gemeinde haben es die Mitglieder der Chácara nie unterlassen, an den Aktivitäten des religiösen, sozialen und politischen Lebens der Gemeinde teilzunehmen, wie sie auch immer die Mitglieder der Gemeinde einladen, an allen Aktivitäten [in der Chácara] teilzunehmen und bei diesen mitzuhelfen, zugunsten der Jungen der Chácara und der Gemeinde.

Gemeinsame Anlässe verbinden häufig die Landbevölkerung von Quatro Pinheiros mit Personen aus dem Nachbarprojekt ABAI sowie verschiedensten Beteiligten aus der Stadt Curitiba, Familienmitgliedern der Jungen, einzelnen ausländischen Freiwilligen und anderen mehr. So wird wiederum das getan und gleichzeitig eingeübt, was durch die Chácara erreicht werden soll: eine Integration von verschiedenen Gruppen der Gesellschaft zugunsten der Entwicklung und Förderung der ehemaligen Jungen der Strasse. So heisst es zum Beispiel von den Festivitäten zum 10-jährigen Bestehen der Chácara im Jahr 2003: Die Familien einer Anzahl von Jungen nahmen an den Festivitäten des 10-jährigen Jubiläums der Chácara und an der Einweihung des Gemeinschaftssaales teil, mit einem lebhaften Ball am 11. Oktober 2003. Die Familien blieben jeweils noch einen Tag länger in der Chácara und halfen, die Häuser zu putzen. (Schriftlicher Festbericht der Chácara, Oktober 2003)

Wie im Zusammenhang mit der Einladung zum Bingo für die Frauen erwähnt, bedarf die Begegnung zwischen den Jungen, den Mitarbeitenden der Chácara und externen Beteiligten und Besuchern einer gewissen Moderation. Diese wird von Mitarbeitenden der Chácara oder bereits stark involvierten externen Beteiligten wahrgenommen und dient dazu, die verschiedenen Gruppen einander verständlich zu machen, fast möchte man sagen, in einem interkulturellen Sinn. Es ist ihnen so gelungen, das bereits erwähnte, grosse Netzwerk mit ganz verschiedenen Personen und Gruppen aufzubauen, welche die Chácara unterstützen. 223

Gleichzeitig haben sie den Fokus auf die Jungen nie verloren. Eine Lehrerin, welche als Vorstandsmitglied der Chácara tätig ist, bemerkte dazu in einem Interview: Ich glaube, das Ziel war immer, wirklich einen Mittelweg zu finden, denn die Chácara wächst, und deshalb ist es nötig, der Hilfe interessierter Personen grosse Wertschätzung entgegenzubringen. Deshalb war es nie so, dass man zum Beispiel sagte: „Die Geschäftsleute (eine Gruppe von lokalen Spendern) sind nichts als Investoren; wir entscheiden alles und sie zahlen lediglich.“ Es herrscht wirklich die Idee vor, dass [die Chácara] ein Projekt ist, welches durch seine Existenz zu Modifikationen in der Gesellschaft führt, und deshalb haben auch die anderen Personen der Gesellschaft, welche [Unterstützung für] das Projekt übernehmen, ihr Recht auf eine Stimme und darauf, dass man im Rahmen des Möglichen auf sie eingeht. Gleichzeitig wird die absolute Priorität immer bei den Jungen liegen. Dies verbalisiert Fernando mit aller Klarheit in jedwelcher Situation. Wenn du dort [in der Chácara] ankommst, dann bist du Gast (in der brasilianischen Kultur eine Person, der besondere Aufmerksamkeit gebührt), aber, falls er einmal vor der Wahl steht, dir Aufmerksamkeit zu geben oder einem Jungen [der diese gerade benötigt], dann wird er seine Aufmerksamkeit dem Jungen geben. Wenn du im pädagogischen Handeln mit dem Jungen irgendeinen Konflikt erlebst, dann wird [Fernando] die Haltung und die Bedürfnisse [von dir als] Freiwillige nicht ignorieren, aber [er wird wissen wollen, in welcher Lösung] der Vorteil für den Jungen liegt, welche Probleme diese [Situation] für den Jungen mit sich bringt, welches die Gründe sind, dass dieser aufgibt oder sich verweigert. In diesem Sinne ist er sehr auf die Jungen ausgerichtet. So glaube ich, dass er wirklich einen Mittelweg zwischen den externen Unterstützern und den Jungen sucht, aber ich glaube auch, dass es ein Mittelweg ist, der immer mehr zugunsten der Jungen ist (…). (Interview, 16. April 2004)

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit konnte der Prozess der gegenseitigen Integration, welchen die Chácara betreibt, nicht vertieft untersucht werden. Eine künftige, entsprechend ausgerichtete weiterführende Studie könnte jedoch sowohl für diese als auch für andere Organisationen von Interesse sein. Während in den ersten Jahren der Schwerpunkt eher stärker auf der Integration der Chácara in der Gesellschaft lag, ersuchten in den letzten Jahren immer mehr Mitglieder der weiteren Gesellschaft um Integration in der Chácara, wie zum Beispiel die Aussage einer an der Chácara beteiligten Pädagogikprofessorin in einem Interview zeigt: Damals [als die Jungen der Chácara an der Universität ein Theaterstück aufführten], war es sehr berührend, denn die Chácara musste die Leute der Universität für sich gewinnen (…). Heute ist es umgekehrt: Wir, die wir von ausserhalb der Chácara sind, müssen die Chácara für uns gewinnen, wir müssen um einen Platz kämpfen, an

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dem wir akzeptiert werden; wir wollen dort akzeptiert sein. So ist es: Sie kämpften so sehr, um akzeptiert zu werden, und heute ist es so, dass wir dort [von ihnen] akzeptiert werden wollen. Das ist etwas ganz Besonderes. (Interview, 5. Mai 2003)

Auch der Jahresbericht 2004 nimmt Bezug auf den positiven Effekte für beide „Seiten“, Universität und Chácara, im Sinne einer gegenseitigen Integration und eines Beitrags zur Veränderung der Gesellschaft: In Tat und Wahrheit ist dies eine Art, welche die als Freiwillige [in der Chácara] arbeitenden [Pädagogik-] Professorinnen gefunden haben, um der Bevölkerung näher zu sein und die Universität zugänglicher und volksnäher zu machen, wenn schon nicht alle diese besuchen können, und so geht [die Unversität hier] zum Volk hin. (Jahresbericht 2004)

In den Statuten ist von der Chácara als alternativer und „alterativer“, also als andersartiger und transformierender Gemeinschaft die Rede. Mit der hier beschriebenen Ausführungsmodalität formen diese beiden Eigenschaften nun nicht mehr einen Gegensatz, sondern eine Einheit: Einerseits bezeichnen sie die Chácara als „Gesellschaft en miniature“, welche versucht, so zu sein, wie die Gesellschaft eigentlich sein sollte; anderseits erfassen sie deren Funktion als Transformatorin der Gesellschaft. Der dabei angestrebte Wandel soll nicht durch Opposition und Ab- beziehungsweise Ausgrenzung, sondern durch Integration, durch ein „An-Einen-Gemeinsamen-Tisch-Holen“ der verschiedensten Mitglieder und Gruppen der Gesellschaft und den Aufbau gemeinsamer Aktivitäten zustandekommen, welche alle auf das Wohl der Jungen und damit – so wird es in der Chácara gemäss informellen Aussagen verstanden – auf das Wohl der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft ausgerichtet sind. 4.5.2.3 Evaluative Gestaltung der Handlung Die Analyse der Forschungsdaten, ergänzt um teilnehmende Beobachtungen, hat ergeben, dass ein grosser Teil der Aktivitäten der Chácara Elemente der Evaluation und Reflexion beinhaltet. Hauptabsicht dieser Evaluation und Reflexion ist die Förderung sowohl des persönlichen als auch organisationalen – und damit gemeinschaftlich-gesellschaftlichen – Lernens der Mitglieder und Beteiligten der Chácara. So steht gleich in den ersten Sätzen der Einleitung zum Jahresbericht 2004: Zusätzlich dazu, dass dieser Bericht als Dokumentation darüber dient, wie die Stiftung die Mittel anwendet, welche sie durch Projektfinanzierung und andere Arten

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der Unterstützung erhalten hat, ist er auch ein Instrument des Lernens aus den Irrtümern und Erfolgen, von welchen über die Jahre berichtet wurde, mit der Absicht einer künftigen Vervollkommnung der pädagogischen Praxis.

Allein im Jahresbericht 2004 fanden sich 20 verschiedene Textstellen, dazu in den Interviews mit Jungen, Erziehenden und Beteiligten weitere 24, bei denen es um Analysen und Beurteilungen ging. Diese beziehen sich auf das Verhalten der Jungen, das Verhalten der Mitarbeitenden sowie auf die Analyse der Ausgangslage, die Einhaltung der Philosophie sowie die Planung und Zielerreichung der Chácara. Dazu kommen, zum Beispiel bei Anlässen mit den Familien der Jungen, Evaluationen über die Qualität der Beziehung zwischen Jungen, Verwandten und Chácara oder, bei solchen mit der lokalen Gemeinde, über Beziehungen und Kontakte zwischen Einwohnern, Jungen und Chácara. Charakteristisch für die Evaluationen ist, dass alle Mitglieder der Chácara sich gegenseitig evaluieren, so dass Meinungen und Ansichten der Jungen, aber auch Überlegungen der Erziehenden, des Koordinators und weiterer Mitarbeitenden sowie häufig auch weiterer Beteiligten miteinfliessen. Ein Beispiel für eine von den Jungen vorgenommene Evaluation findet sich in einem eigens diesem Thema gewidmeten Kapitel im Jahresbericht 2004: Evaluation der Jungen: In der letzten Jahresversammlung der Jungen wurden Gruppen gebildet, um die Evaluation der Aktivitäten vorzunehmen, welche in der Chácara während des Jahres durchgeführt wurden. Für die Evaluation wurden [gemeinsam] Fragen zur individuellen Beantwortung entwickelt, welche die hauptsächlichen Aktivitäten der Chácara umfassten. Nachstehend zitieren wir die Zusammenfassung der Antworten der Jungen: 1. Wie war das Zusammenleben dieses Jahr? Im Allgemeinen fanden die Jungen, dass es schlecht war; [es gab] viel Fluchen, Streit und Mangel an Respekt zwischen den Jungen und den Erziehenden gegenüber. 2. Wie war die Arbeit mit den Familien dieses Jahr? Die Jungen fanden, dass sie gut war, weil die Gruppe [von katholischen Ehepaaren einer wirtschaftlich wohlhabenden Region] die Familien [der Jungen] anhörte, die Treffen die Familien zusammen- und einander näherbrachte, und weil die Leute Ideen austauschten darüber, wie man die Familien und die Chácara verbessern könnte. Das Gute dieser Arbeit ist, dass sie die Familien lehrt, wie sie verhindern können, dass die Kinder auf die Strasse gehen. 3. Wie fandest du die Schule? „Sie war gut, weil einige Jungen sich anstrengten, das Schuljahr zu bestehen.“ „Der Stützunterricht mit einer Studentin und einem Studenten half, weil es uns gelang, viel zu lernen.“ „Es wurde viel geschwänzt, und einige zeigten wenig Interesse.“ 4. Wie war es dieses Jahr mit dem Rauchen?

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Die Jungen fanden, dass, wer Probleme habe, die Erziehenden bitten müsse, ihn zur Psychologin zu schicken. Es müsse mehr Dialog und Toleranz geben, und die Erziehenden müssten mehr mit den Jungen reden, welche [diesbezüglich] Schwierigkeiten haben, und es müsse [dazu] mehr Bewusstseinsbildung und pädagogische Aktivitäten geben. 5. Was hieltest du von den Erziehenden dieses Jahr? Die Jungen fanden, dass die Erziehenden ihnen mehr Aufmerksamkeit geben müssten, sich mehr mit ihnen unterhalten und mehr mit ihnen spielen sollten, vor allem mit den Jungen, welche mehr Schwierigkeiten haben. 6. Was braucht es, um die Chácara zu verbessern? Es braucht mehr Arbeit mit Psychologinnen, mehr pädagogische Aktivitäten für die Bewusstseinsbildung; die Regeln und Grenzen des Zusammenlebens müssen verbessert werden, es soll mehr Ausflüge geben, und die Streitereien und das Fluchen müssen beendet werden.

Evaluationen wie die gerade dargestellte werden häufig im Rahmen von Gincanas, von Spielen mit pädagogischem Inhalt, gemacht. Obwohl es dabei um ernsthafte Themen geht, sind diese Spiele die von den Jungen wohl am meisten geliebte Aktivität. Ein Jugendlicher beschrieb eine Gincana wie folgt: Frage: Was geschieht typischerweise in einer Gincana? Antwort: (Spricht sehr angeregt, strahlt) Ah, wenn man so spielt, dann vergisst man wirklich alles. Man verwandelt sich von Neuem in ein Kind. (…) Auch die Erzieher, wenn sie mit uns spielen, dann sind alle gleich, dann sind alle von gleicher Grösse. Keiner ist Erzieher, keiner ist Junge, keiner ist Fernando, alle sind gleich. Frage: Geht es in der Gincana nur ums Spielen? Antwort:Fernando macht etwa einmal im Monat eine Gincana. Zuerst macht er eine Gincana auf dem Papier, bei der man über das [eigene] Leben schreibt, über die [eigene] Geschichte, darüber, was geschehen ist, was man sich für die Zukunft vorstellt, was in der Chácara geschieht, wie man denkt, dass das Leben der [ausländischen] Freiwilligen ist und so weiter, und dann, nachdem wir schon viel geschrieben haben, kommen die Spielereien, Fussball, ein Spiel mitten in der Wildnis, eine Schatzsuche, (…) das ist super. (16-jähriger Jugendlicher, Englischlehrer in einer privaten Sprachschule und in der Chácara, Eintritt in die Chácara, 16. Januar 1996, Interview, 27. April 2003)

Ziel der Evaluationen beziehungsweise der Gincanas ist unter anderem die Unterstützung der Jungen darin, zu lernen, in einer Gruppe und Gemeinschaft zusammenzuleben und ihren Alltag dort zu gestalten, wie es die zwei folgenden Zitate aus dem Jahresbericht 2004 beschreiben: Es war der Stiftung immer ein Anliegen, die Jungen hinsichtlich ihrer Basisbedürfnisse zu unterstützen, aber sie unterliess es auch nie, sich um die Ausbildung der

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Jungen als Individuen und staatsbürgerliche Subjekte mit Rechten und Pflichten zu kümmern. Deshalb nehmen Aktivitäten zur Ausbildung des Bewusstseins der Jungen immer einen grossen Platz in ihrem Programm ein, damit diese eine Vorstellung der Realität haben, in welcher sie sich befinden, und davon, was sie tun müssen, um diese zu transformieren.

Und: Es wurden zwei Gincanas im ersten Semester realisiert und zwei im zweiten. Behandelt wurden die Themen Organisation, Hygiene, Aufnahme neuer Jungen, Drogen und Zusammenleben. Die Gincanas gehören zu den hauptsächlichen Aktivitäten, welche bei den Jungen den Wunsch auslösen, ihren Alltag zu erschaffen, neu zu gestalten, über ihn nachzudenken und ihn neu zu sehen, mittels Sport, pädagogischer Spiele, Geschicklichkeitsspielen und eines gesunden Wettbewerbs, was in ihnen Gruppengeist, Kameradschaft und Brüderlichkeit auslöst.

Ein evaluatives beziehungsweise auch dialektisches Vorgehen wird jedoch nicht nur in dieser im Voraus geplanten Form, sondern auch situationsbezogen im Zusammenhang mit gewissen Verhaltensweisen einzelner Jungen verwendet. Dabei wird gemeinsam mit ihnen evaluiert, was die Vor- und Nachteile bestimmter Verhaltensweisen für sie und für die Gruppe sind. Im selben evaluativen Stil werden die Jungen darin begleitet, diesen ihrerseits zugunsten einzelner Jungen und der Gemeinschaft anzuwenden, wie aus dem Interview mit einem bereits 19-jährigen, seit einem halben Jahr aus der Chácara ausgetretenen Jungen hervorgeht: Fernando entdeckte [dass ein Junge etwas getan hatte, das er nicht hätte tun sollen], und das legte er dann der Gruppe vor. Er versammelte alle und sagte zur Gruppe: „Hört mal, dieser Junge hat Folgendes getan, und jetzt? Wir Erziehenden habe eine Idee, was getan werden könnte, aber ihr seid seine Freunde, ihr lebt mit ihm, und ihr entscheidet, was eine [gute] Strafe für ihn wäre, damit er lernt, dass er dies nicht inmitten der Gruppe tun kann, weil es schlussendlich alle beeinträchtigt. (…) Frage: Und auf welche Weise entschied sich die Gruppe für eine Strafe? Antwort: Ja, es gab einige Jungen, die wollten den Kerl einfach fertig machen. Sie dachten nicht an die gute Seite der Sache, sondern wirklich nur an die schlechte Seite und wollten ihn fertig machen. Aber dann dachte die Gruppe: Besser ist, was für die [ganze] Gruppe gut ist und für ihn, damit er lernt, dies nicht mehr zu tun (…). Sie fingen an, Folgendes zu tun: Wenn jemand etwas Falsches getan hatte, dann musste er eine Arbeit für die Gruppe tun, zum Beispiel Gras schneiden, diese Dinge, die es in der Chácara zu tun gab, und darüber hinaus musste er etwas erforschen. Zum Beispiel, wenn es ein Streit gewesen war, dann musste er eine Untersuchung zum Thema Gewalt machen und diese dann der Gruppe präsentieren, der ganzen Gruppe. (Interview, 27. März 2003)

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Die beiden zitierten Aussagen weisen darauf hin, dass bei den Evaluationen von der im Moment existierenden Situation ausgegangen wird. Die Wahrnehmungen und Ressourcen sowie der Gruppenzusammenhalt und die Gruppendynamik dienen dabei als Basis für den entstehenden Reflexionsprozess, werden aber durch diesen auch weiter trainiert. Auffällig ist dabei, dass negative Vorfälle als Lernmöglichkeiten und Entwicklungschancen wahrgenommen und genützt werden. Ein analoges Vorgehen wird, wie folgender Ausschnitt aus dem Jahresbericht 2004 zeigt, von den Erziehenden angewandt, wenn sie jeweils ihre Arbeit auf den Erfahrungen der vergangenen Woche aufbauend planen: [Es werden] wöchentliche Versammlungen der Erziehenden [abgehalten], um die durchgeführten Aktivitäten der vergangenen Woche zu evaluieren und die kommende Woche zu planen.

Interessant ist, dass die Evaluation nicht nur dazu dient, die Einhaltung vorgegebener Abläufe und Ziele zu garantieren, sondern vor allem auch dazu, die pädagogische Praxis – wenn auch mit konstantem Fokus auf die Jungen – ständig zu überdenken und neu zu gestalten, wie aus den folgenden Zitaten aus dem Jahresbericht 2004 hervorgeht: Alle zwei Wochen nehmen die Erziehenden in zwei Gruppen aufgeteilt bei der Psychologin [Name der Psychologin] daran [an der Supervision] teil, um individuelle Anliegen der Erziehenden aufzunehmen sowie ihr Miteinander in der Gruppe, ihre Kommunikation, Organisation und ihre Beziehungen untereinander und mit den Jungen und auch das pädagogische Konzept immer wieder zu überdenken, dessen Raison d’Être die Jungen sind.

Und: Die Ausbildung [der Erziehenden] hat das Ziel, ein Moment der Evaluation, Reflexion und Konstruktion der pädagogischen Praxis zu sein, in dem die Erziehenden ihre Arbeit überdenken und neu gestalten können.

Auch bei den Erziehenden wird die Selbst-Evaluation als eine Selbst-Befähigung gesehen, als ein Lernen und eine Entwicklung der Person auf der Basis von Erfahrungen, Kenntnissen und Fähigkeiten, über welche sie bereits verfügt: Die Stiftung ist darum bemüht, den [Erziehenden] einige separate Momente der Freizeit und der Ausbildung zu ermöglichen, damit diese sich ihre praktische tägliche Arbeit besser vor Augen führen und sich so [selbst] evaluieren und befähigen sowie ihre Aktivitäten planen können. (Jahresbericht 2004)

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Wie bereits erwähnt, beurteilen sich in der Chácara die verschiedenen Mitglieder gegenseitig. Eine Erzieherin beschreibt dies in einem Interview und bezeichnet dabei die gegenseitige Evaluation von Jungen und Erziehenden als einen „Austausch von Demut“. Dieser Begriff spiegelt vermutlich das bereits geschilderte Konzept einer Gemeinschaft, in der keiner „besser“ ist, als der andere, und in der „jeder in jedem Moment Erziehender und Lernender“ ist: So, wie ein Junge zu uns kommt [und fragt]: Wie war ich heute? Habe ich es heute gut gemacht? Heute habe ich es gut gemacht, nicht wahr? Darum ist es uns auch ein Anliegen, uns untereinander zu evaluieren. Wie wir die Arbeit gemacht haben. Dies haben wir auch schon mit den Jungen gemacht. Wir haben sie gefragt: „Was haltet ihr von [unserer] Arbeit? Was muss verbessert werden?“ Nicht wahr, wir evaluieren die Jungen, und sie evaluieren uns. Dieser Austausch von … Demut176 tut gut. (Gruppendiskussion, 25. November 2003)

In Kapitel 4.1.2 wurde dargestellt, wie Evaluation und Reflexion der Praxis bereits in der ursprünglichen Strassenarbeit ein wichtiges Element waren. Aus vielen Aussagen entsteht der Eindruck, dass auch in der Chácara Evaluationen nicht nur spezifische Ereignisse sind, die zu bestimmten Zeitpunkten stattfinden, sondern dass sie im Sinne einer dialektisch-kritischen, oder man könnte auch sagen, einer gemeinsamen, bürgerrechtlich-demokratischen Gestaltung eine Ausführungsbedingung der meisten, wenn nicht aller Aktivitäten sind. Als solche stellen sie einen für die Mitglieder der Chácara selbstverständlichen Bestandteil ihres Alltags dar.177 Wie in Kapitel 3.1 angemerkt, erleichterte diese Tatsache die Arbeit an der vorliegenden Forschung wesentlich, waren doch die Mitglieder der Organisation bereits gewohnt, sich selbst, ihre Arbeit und ihre Organisation mittels Evaluationen zu „erforschen“ und zu bewerten. 4.5.3 Prozess Wie bisher gezeigt wurde, ist die Chácara als sozialer, von Konzepten der Menschenwürde und demokratischen Bürgerrechtlichkeit geprägter Raum respektive als alternative Gemeinschaft konzipiert. Diese wird von zum grössten Teil aus wirtschaftlich sehr armen Verhältnissen und/oder von der Strasse stammenden Menschen – Jungen, Erziehenden, Koordinator und weiteren Mitarbeitenden – gebildet, welche einander in von echter Zuneigung, Respekt und Engagement 176 177

„Humildade“. Auf den Zusammenhang der evaluativen Gestaltung der Handlung mit der Organisationsentwicklung und Organisationsqualität wird in Kapitel 5.4 eingegangen.

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geprägten Beziehungen verbunden sind. Die zentrale Position in dieser Gemeinschaft nehmen die Jungen ein. In diesem Raum läuft ein Prozess ab, der als Transformationsprozess charakterisiert werden kann, da es sein Ziel ist und – wie im nächsten Kapitel im Zusammenhang mit Resultaten und Qualität gezeigt werden wird – da er tatsächlich dazu beiträgt, dass die aufgenommenen Jungen der Strasse zu „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ werden. Dieser Prozess besteht wohl aus einzelnen Aktivitäten mit vorwiegend pädagogischem Inhalt; es wurde jedoch festgestellt, dass die Ansammlung solcher Aktivitäten ihn allein nicht ausmachen und nicht zur Erreichung seiner Ziele führen würde. Es sind bestimmte Ausführungsmodalitäten, das „Wie“ der Handlungen in der Organisation, welche den Transformationsprozess mit hervorrufen. Als hauptsächliche Modalitäten wurden die Partizipation der Jungen als Mitgestalter der Organisation sowie das gemeinsame, als gleichwertig betrachtete Handeln aller Akteure der Chácara geschildert, die gegenseitige Integration zwischen den Jungen beziehungsweise der Chácara und allen Teilen der Gesellschaft sowie die dialektisch-evaluative Prägung des Handelns. Aus den hier genannten Elementen lässt sich nun der Transformationsprozess in seinen hauptsächlichen Zügen rekonstruieren. Zunächst fällt auf, dass er von der sozialen Grundkonzeption sowie der Struktur der „alternativen Gemeinschaft“, ihren Eigenheiten und Ressourcen geprägt wird und in dieser abläuft. Gleichzeitig bringt er die soziale Struktur, die „alternative Gemeinschaft“ hervor, und gestaltet sie ständig neu. Dies geschieht durch die Mitwirkung von verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft – den ehemaligen Jungen der Strasse, den zumeist aus wirtschaftlich armen Verhältnissen stammenden Erziehenden sowie des Koordinators und der weiteren, aus den unterschiedlichsten sozialen Kreisen stammenden Beteiligten. Der Transformationsprozess entspricht einer Entwicklung des Einzelnen als Persönlichkeit und Staatsbürger mit demokratischen Rechten und Pflichten im Austausch mit einem von Konzepten der Menschenwürde geprägten, demokratischen Rechtsstaat (wie er in der brasilianischen Verfassung und Gesetzgebung vorgesehen ist). Dabei wird zugleich die Aufrechterhaltung, Gestaltung und Weiterentwicklung der Gesellschaft durch ihre Bürgerinnen und Bürger angestrebt. Die Jungen haben, wie bereits beschrieben, die zentrale Position im sozialen Raum der Chácara inne. Dieser Raum, diese Gemeinschaft, wird als ihr eigener Lebens- und Gestaltungsraum gesehen und über ihre Partizipation auch als solcher gestaltet. Eine als Vorstandsmitglied und Freiwillige in der Chácara tätige Sozialarbeiterin lokalisiert diesen sozialen Raum bezüglich der Jungen zwischen Recht (eigener, familiärer Ort der Aufnahme, der Wertschätzung, der Liebe und der familiären Bindung) und Pflicht (eigener Ort, der gepflegt werden muss, für 231

den Verantwortung übernommen werden muss). Aus ihrer Aussage geht hervor, dass es die Gestaltung dieses Raumes, der Gemeinschaft Chácara durch die Jungen ist, welche dazu führt, dass diese in der Chácara bleiben wollen und sich entwickeln: Das ist etwas, das ich in der Chácara sehe, [und] das gut ist: Wir arbeiten mit den Jungen, aber sie präsentieren, was ihnen gehört. Es wird jederzeit betont, dass die Chácara ihnen gehört, dass es ihr Raum ist, dass es ein familiärer Raum ist, ein Raum des Wachstums, welcher nicht Fernando gehört und auch niemand anderem, sondern ihnen, damit sie ihn pflegen, weil er ihnen gehört. Es hilft den Jungen, zu wissen, dass der Raum ihnen gehört. Es hilft ihnen, sich in ihrem Wert geschätzter zu fühlen und geliebter. Und wenn ein Junge keine familiäre Bindung zu Hause hatte, wenn der Junge auf die Strasse ging, weil er keine Bindungen hatte, (…), dann fühlt er sich [hier] gut aufgenommen, weil es sein Raum ist, den er pflegen muss, und so laufen die Dinge dann auf eine andere Art für ihn, nicht wahr. So kann er in diesem Sinne auch den Erzieher in Frage stellen; er kann dem Erzieher sogar helfen, sich zu entwickeln, durch die Erfahrung die er (der Junge) hat. (Interview, 14. April 2004)

Die Jungen sind, wie mehrfach betont, schon in der Chácara selbst Protagonisten – Mitverantwortliche, Handelnde – ihrer eigenen Förderung, haben die Gelegenheit, aufgrund ihrer Fähigkeiten und Ressourcen die Dinge zu tun und mitzugestalten, die sie lernen sollen, und stärken ihre diesbezüglichen Fähigkeiten durch das dialektisch-evaluative Vorgehen, an dem sie teilhaben, und welches nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Gemeinschaft und deren Organisation Chácara sowie die weitere Gesellschaft betrifft. Die Entwicklung der Jungen findet innerhalb der Gemeinschaft und Organisation Chácara statt. Deren Struktur, Eigenschaften und Prozesse haben einen fördernden und gestaltenden Einfluss auf ihre Entwicklung der Jungen. Umgekehrt üben die Jungen und ihre Entwicklung einen fördernden und gestaltenden Einfluss auf die Struktur, Eigenschaften und Prozesse der Gemeinschaft und Organisation Chácara und deren Entwicklung aus. Die Entwicklung der Jungen und die Entwicklung der Organisation sind untrennbar miteinander verbunden, bedingen und spiegeln einander gegenseitig. Die in Kapitel 5.3.1 enthaltenen Darlegungen zur organisationalen Kapazität weisen denn auch auf einen Zusammenhang zwischen Organisationsentwicklung und persönlicher Entwicklung der Mitarbeitenden hin. Im Rahmen ihrer praktischen Erfahrung in der Chácara sowie in einem anderen brasilianischen Projekt, an dessen Aufbau nach Vorbild der Chácara die Autorin in den Jahren 1998 bis 2001 aktiv beteiligt war, beobachtete sie ebenfalls, dass die Entwicklung der Organisation stark von der persönlichen Entwicklung und Entwick232

lungsfähigkeit der für die Koordination und Erziehung verantwortlichen Personen (und hauptsächlichen Vorbildfiguren der Kinder und Jugendlichen) abhängig ist. Persönliche Beeinträchtigungen von Koordinierenden und Erziehenden wie zum Beispiel aus inneren oder äusseren Gründen wiederholt auftretende psychische Probleme sind entsprechend sowohl der Entwicklung der Organisation als auch der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen abträglich.178 4.6 Die Organisation im Licht theoretischer Überlegungen Erstes Ziel der vorliegenden Arbeit war es, eine Phänographie der Organisation Chácara zu erstellen. Entsprechend sind in diesem Kapitel die hauptsächlichen Strukturen und Prozesse der Chácara mit ihren Charakteristika dargestellt worden. Abschliessend soll hier die so entstandene Phänographie im Sinne der Reflexion und des Beitrages an die Wissenschaft in Bezug zu den in Kapitel 2 aufgeführten theoretischen Erkenntnissen gesetzt und diskutiert werden. Dafür wird zunächst Bezug auf die ersten beiden Forschungsfragen nach organisationalen Strukturen und Prozessen der Chácara und deren Begründungen genommen und anschliessend die dritte Frage nach dem Gestaltungsprozess der Organisation soweit möglich beantwortet. Im Anschluss daran wird in Kapitel 5 das zweite Ziel der vorliegenden Arbeit behandelt, indem die in der Phänographie enthaltenen organisationalen Strukturen und Prozesse in Bezug zu Fragen der Qualität und Nachhaltigkeit gesetzt werden. Dabei geht es neben herkömmlichen und neu entwickelten Dimensionen von Qualität und Nachhaltigkeit unter anderem um Resultate und Adaptations- bzw. Entwicklungsprozesse der Organisation. In Kapitel 2.4 wurde ein gebräuchliches Rahmenkonzept der Organisation vorgestellt. Dieses besagt, dass Organisationen soziale Gebilde sind, die von Menschen geschaffen und aufrechterhalten werden, um ein Ziel zu erreichen. Innerhalb dieses Gebildes laufen Aktivitäten ab, welche zugunsten der Erreichung dieses Zieles strukturiert und koordiniert werden. (siehe Rollinson & Broadfield, 2002, S. 3) Die in diesem Kapitel vorgestellte Phänographie der Organisation Chácara beruht vorwiegend auf Daten aus explorativen und deshalb offenen (d. h. nicht strukturierten) Interviews oder aber aus Dokumenten der Chácara, welche unab178

Strassenkinderprojekte in Brasilien arbeiten in einem schwierigen Umfeld, in dem es zu psychisch belastenden Ereignissen kommen kann. Aus den im Text genannten Gründen soll Projekten an dieser Stelle empfohlen werden, der psychischen Gesundheit der Mitarbeitenden bei der Selektion und Ausbildung sowie in der Gestaltung des Arbeitsalltags und der Zurverfügungstellung von Dienstleistungen wie zum Beispiel Supervision die nötige Beachtung zu schenken.

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hängig von der Forschung entstanden sind. Dabei zeigt sich, dass in der Organisation Chácara von den Mitgliedern geteilte gedankliche Konzepte von Organisation vorhanden sind. Diese betreffen die Ziele, die physische und soziale Struktur, sowie einen Transformationsprozess, der nicht nur aus Aktivitäten besteht, sondern über bestimmte Eigenschaften verfügt, welche dazu beitragen, dass er von der Ausgangs- zur Ziellage zu führen vermag. Sie entsprechen so dem genannten Rahmenmodell der Organisation bei Rollinson & Broadfield (2002, S. 3) und damit auch den in Kapitel 2.4 dargestellten, in der Entwicklungszusammenarbeit bzw. in Bezug auf Nichtregierungsorganisationen verwendeten Rahmenmodellen der Organisation (DEZA, 1996, 1997, 2000a, 2000b; Fowler, Goold & James, 1995; Sülzer & Zimmermann, 1996). Die Konzepte der Chácara können aus folgenden Gründen von den Mitgliedern als geteilt (und deshalb für den organisationalen Charakter als charakteristisch) bezeichnet werden: ƒ

Sie beinhalten, wie gezeigt wurde, Impulse aller Gruppen von Mitgliedern und näheren Beteiligten – insbesondere auch der Zielgruppe der betreuten Jungen. Viele ihrer Teile wurden gemeinsam gestaltet und vereinbart. Sie bestimmen tatsächlich die alltägliche Handlungspraxis der Organisation, wo sie für alle Mitglieder erlebbar sind und von ihnen in einzelnen Teilen auch benannt und diskutiert werden. Teile der Organisation wurden explizit in Dokumenten und Interviews genannt, und es wurden Aspekte ausführlich beschrieben, welche sich Teilen der Organisation zuordnen liessen.

ƒ ƒ ƒ

Bis zu Beginn der Workshops zur strategischen Planung, welche nach Abschluss der Feldforschung vom Koordinator gewünscht wurden, wurde in der Chácara – soweit der Autorin bekannt – nie über Organisationsmodelle gesprochen. In den Befragungen und entsprechenden Analysen im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde augenscheinlich, dass das in der Chácara vorhandene organisationale Wissen teilweise implizitem Handlungswissen entspricht. Gleichzeitig zeigt die Analyse der Daten, dass die Chácara über eine detaillierte und reichhaltige organisationale Konzeption und entsprechende Praxis verfügt. 179 179

Wie organisationales und anderes Vorwissen des Koordinators und anderer Personen in die Basisbewegung in der Vila Lindóia, die Strassenarbeit und die Chácara eingebracht wurde, konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht untersucht werden. Ein wichtiger Schlüssel dazu dürfte in der Literatur des Volkserziehers Paulo Freire (1966/1973) liegen, der sich mit der „Bewusstmachung“ oder „Bewusstseinsweckung“ der benachteiligten, kaum an der Gesellschaft partizipierenden Gruppen befasste. Clodomir Santos de Morais baute auf Freires Überlegungen basierend Organisationswerkstätten für solche Gruppen auf, bei denen Organisationen ebenfalls

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Aufgrund der präsentierten Ergebnisse der Analyse und der hier aufgeführten Überlegungen kann angenommen werden, dass die Chácara von ihren Mitgliedern tatsächlich als Organisation verstanden wird (auch wenn es sich dabei teilweise um implizites Handlungswissen handelt): als ein Gebilde in einem bestimmten Umfeld und mit einem bestimmten Daseinsgrund und Ziel, welches über Komponenten verfügt, welche es aktiv zu gestalten gilt, damit die Ziele erreicht werden können. Bei ihren regelmässigen Kontakten mit Personen aus verschiedenen Institutionen für Kinder und Jugendliche im Staat Paraná hat die Autorin wiederholt den – empirisch nicht weiterverfolgten – Eindruck gewonnen, dass Organisationen gar nicht als solche wahrgenommen werden und häufig weder implizit noch explizit Konzepte der Organisation vorhanden sind. Ein Hinweis in diese Richtung ist das grosse Interesse, das von diesen Kreisen der vorliegenden Forschungsarbeit entgegen gebracht wird und die oft beobachtbare „Aha-Reaktion“, welche durch die Aussage ausgelöst wird, dass Institutionen für Strassenkinder Organisationen seien, die aktiv gestaltet werden müssten. Es ist schwer vorstellbar, dass eine Organisation effektiv geführt und gestaltet werden kann, wenn sie von ihren Verantwortlichen und/oder Mitglieder nicht als Organisation verstanden wird. Was bisher auch in der Chácara fehlte, war eine explizite, strukturierte Gesamtkonzeption der hauptsächlichen Teile der Organisation Chácara. Eine solche ist nun im Rahmen der vorliegenden Studie entstanden. Geteilte, implizite Konzepte von Aspekten der Organisation sind durch die Art der Datenanalyse explizit gemacht worden. Zusammen mit in der Chácara bereits expliziten Konzepten oder Konzeptteilen sind sie entlang eines Rahmenmodelles der Organisation strukturiert worden, das heisst benannt sowie konzeptionell zusammengefügt und zueinander in Bezug gesetzt worden. 4.6.1 Strukturen, Prozesse und ihre Begründungen Mit der Phänographie liegen nun auch mit Inhalten gefüllte Beschreibungen der Teile der Organisation Chácara vor, die in diesem Kapitel aufgrund der Datenanalyse ausführlich dargestellt wurden. Dabei zeigt sich, dass der Begründung der beschriebenen Strukturen und Prozesse der Chácara eine Konzeption der Gesellschaft sowie der Positionen und Rollen ihrer Mitglieder zugrunde liegt. aus der Praxis heraus und auf natürlichen Zusammenhängen beruhend entwickelt werden. Leider ist diese – in einigen Ländern Lateinamerikas und Afrikas, unterdessen aber auch in Grossbritannien – erfolgreich eingesetzte Praxismethode noch kaum beschrieben worden. Teilweise Beschreibungen finden sich in Carmen & Sobrado (2000).

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Diese beruht ihrerseits auf einer Kenntnis von Verfassung und Gesetzen des Landes sowie auf einer mehrjährigen, sorgfältigen Analyse der Situation der Kinder und Jugendlichen der Strasse und der weiteren Gesellschaft. Schliesslich wird eine Gesellschaft angestrebt, an der alle Mitglieder partizipieren und im bürgerrechtlich-demokratischen Sinne ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen. Diese Zusammenhänge spiegeln sich direkt in der Tatsache, dass die soziale Struktur der Chácara im Sinne einer „Gesellschaft en miniature“ beschrieben wird. Die betreuten Jungen werden als Personen wahrgenommen, die bisher von ihrer Staatsbürgerlichkeit und von ihrer Integration in der Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen worden sind. Deshalb erhalten sie in der Chácara eine zentrale, an allen Aktivitäten beteiligte Protagonistenrolle. Diese Rolle verschafft nicht nur den Bedürfnissen der Jungen die nötige Aufmerksamkeit. Sie sorgt auch dafür, dass die auf der Strasse und in der Familie erworbenen und trainierten Fähigkeiten, wie sie in Kapitel 4.1.3.7 aufgrund der Datenanalyse angesprochen wurden, Eingang in die Organisation finden und zugunsten der Entwicklung der Jungen genützt werden können. Diese Tatsache entspricht den Erkenntnissen und Empfehlungen von Lucchini (1998) und unterscheidet die Chácara von Institutionen wie den von Rossato (2003a) beschriebenen, in denen das Kind als deviant und folglich entweder als zu bestrafender Krimineller oder als zu rettende Seele betrachtet wird. In diesen Institutionen – gemäss Rossato in Brasilien die Mehrheit – wird das Kind in Widerspruch zur Verfassung und zum Kinderrechtsstatut als Objekt und nicht als staatsbürgerliches Subjekt mit Rechten und Pflichten verstanden, und werden bestehende soziale Ungleichheiten repliziert statt gelindert. Ein zweites Element wird ebenfalls als charakteristisch für die soziale Struktur der Chácara genannt und aufgrund seiner Wichtigkeit betont: die liebevollen Beziehungen der Erziehenden zu den Jungen sowie ein echtes persönliches Engagement, welches über die ebenfalls genannten pädagogischen Kompetenzen hinausgeht. Auch in diesem Sinne sind die Jungen nicht zu verwaltende Objekte, sondern sie erscheinen als junge Menschen in Entwicklung, welche entlang liebevoller, erzieherischer Beziehungen und nach dem Vorbild der sie betreuenden Erwachsenen wachsen. Damit wird nicht zuletzt die Anhänglichkeit der Jungen an die Organisation, in der sie sich freiwillig aufhalten, gefördert, zeigen doch die in Kapitel 4.1.3.4 beschriebenen Resultate unter anderem, dass die Jungen positive zwischenmenschliche Beziehungen und Bindungen zu anderen – besonders auch zu erwachsenen – Personen als Basis und Kraftquelle für ihre Abwendung von der Strasse und den Aufbau eines anderen Lebens nennen. Der aus der Analyse der Jungen hervor gegangene Befund zur Bedeutung von Beziehungen und Bindungen entspricht der Feststellung Lucchinis (2003, S. 22), dass ein Kind dann die Strasse zu verlassen beginnt, wenn das von ihm ge236

wünschte Selbst- oder Idealbild nicht mehr mit der Lebensweise auf der Strasse vereinbar ist. Wie in Kapitel 2.2.2 aufgeführt, kommentiert er dazu: Dieses Bild wird häufig aufgrund einer positiven Referenz konstruiert. Diese Referenz ist eine Person, deren Respekt das Kind erlangen möchte, welche nicht auf der Strasse lebt, und welche die Tatsache, dass das Kind auf der Strasse lebt, nicht begrüsst.

Dem gesellschaftlichen Konzept entsprechend sind die Ziele der Chácara darauf ausgerichtet, die Jungen mit den Fähigkeiten und Grundlagen auszustatten, die sie brauchen, um eine staatsbürgerliche Rolle ein- und ihre Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Dabei sind die Ziele nicht ideologisch oder sonstwie deterministisch geprägt. Innerhalb des staatsbürgerlichen Rahmens sollen die Jungen eine eigene Lebensperspektive entwickeln und sich für deren Erreichung einsetzen können. Ebenfalls in Einklang mit der Wahrnehmung der existierenden gesellschaftlichen Bedingungen sind die Ziele im Weiteren auf einen gegenseitigen und gemeinsamen sozialen Integrationsprozess von Jungen und weiteren Teilen der Gesellschaft sowie eine gesellschaftliche Öffnung für die Jungen ausgerichtet. Es wurde gezeigt, dass in der Chácara vielfältige und umfassende Aktivitäten angeboten werden, welche von ihrem Inhalt her zur Förderung der Fähigkeiten, Kenntnisse und Lebensgrundlagen der Jungen beitragen. Es wurde jedoch ebenfalls nachgewiesen, dass dem „Wie“ dieser Aktivitäten auf dem Weg zur Zielerreichung noch grössere Bedeutung zugemessen wird als dem „Was“. So wird Wert darauf gelegt, dass alle Aktivitäten unter den Ausführungsmodalitäten der Partizipation, der gegenseitigen sozialen Integration und – im Sinne der „Bewusstmachung“ von Freire (1973) – der evaluativen Gestaltung der Handlung durchgeführt werden. Dies entspricht wiederum der Konzeption der Chácara als einer „Gesellschaft en miniature“ und bedeutet unter anderem, dass die gegenseitige Integration von Jungen und Gesellschaft sich im Verhältnis zwischen den Jungen und der Organisation spiegelt: Die Organisation fördert die Jungen und ist gleichzeitig so angelegt, dass sie von ihnen mitgestaltet wird. Es fällt im Weiteren auf, dass die organisationalen Strukturen und Prozesse der Chácara von ihren Mitgliedern und daran Beteiligten in offenen Interviews überhaupt begründet werden. Während ihrer Tätigkeit in Firmen hat die Autorin die Erfahrung gemacht, dass Strukturen und hauptsächliche Prozesse als „gegeben“ verstanden und von den Organisationsmitgliedern normalerweise im Arbeitsalltag nicht begründet werden. Dies dürfte einer der Unterschiede zwischen einer aus einer Bürgerbewegung herausgewachsenen Basisorganisation und einer Firma sein, sind doch in ersterer die Mitglieder stärker mitverantwortlich für die 237

Gestaltung von Organisationsstruktur und -prozess der gesamten Organisation, als die Angestellten einer Firma es sein können. 4.6.2 Aspekte des Gestaltungsprozesses Die dargestellten Forschungsresultate zeigen, dass der Gründung der Organisation Chácara eine mehrjährige Phase voran ging, welche unter anderem der Analyse der Ausgangslage und, darauf aufbauend, der Definition der Organisationsziele diente. Die Ziele sind dabei, wie gezeigt, Teil eines umfassenden und differenzierten Zielkonzeptes, welches nicht nur die betreuten Jungen selbst, sondern die Gesellschaft im weiteren Sinne betrifft. Die lange Analysephase und die Differenziertheit des Zielkonzeptes können als Hinweis darauf verstanden werden, dass den beiden Eckpfeilern – der Ausgangslage und der Ziellage – zwischen denen die Chácara aufgespannt ist, grosses Gewicht beigemessen wurde. Dies kann als Manifestation einer soliden Verankerung der Organisation verstanden werden, im Sinne der „Identität“ und der „Wurzeln“, welche Mitglieder und Beteiligte der Chácara immer wieder erwähnten. Die Festlegung der Eckpfeiler der Chácara hat drei charakteristische Merkmale. Erstens fand sie nicht in reiner Gedankenarbeit etwa in einem Fachbüro fern von der Zielgruppe und ihrem Aufenthaltsort statt. Vielmehr wurde sie im Rahmen einer gedanklich reflektierten Praxis vorgenommen, in der Ideen immer wieder umgesetzt, getestet, evaluiert und angepasst wurden, und dies auf der Strasse sowie bei und mit den Kindern und Jugendlichen. Zweitens basiert sie nicht nur auf festgestellten Defiziten der Kinder und Jugendlichen und ihrer Situation, sondern baut ausdrücklich auf den Fähigkeiten, Ressourcen, Möglichkeiten, Motivationen, Wünschen und Potentialen der Kinder und Jugendlichen auf. Dieses Vorgehen steht in Einklang mit den Empfehlungen Lucchinis (1993, 2003), auf die Spezifizitäten der Person und Situation einzugehen und deren Ressourcen zur Verbesserung ihrer Verhältnisse zu nutzen. Zudem wurde sie auch auf der Basis einer Analyse der weiteren Gesellschaft realisiert, und auch hier wiederum nicht nur in Hinblick auf Defizite und Bedürfnisse, sondern auch auf Möglichkeiten, Ressourcen und Potentiale. Organisatorisch gesehen reflektieren die Pfeiler der Organisation damit nicht die Einstellung eines „Tabula-Rasa-Ansatzes“, bei dem in der impliziten Annahme, es herrschten nur Defizite am Handlungsort, der Versuch unternommen wird, diesem externe Lösungen aufzuoktroyieren. Ganz im Gegenteil wird ein ressourcenorientierter Ansatz angewandt, der suggeriert, dass mögliche Lösungen als der zu verändernden Ausgangslage inhärent verstanden werden und auf dieser aufbauen. 238

Das dritte charakteristische Merkmal der Eckpfeiler der Chácara ist, dass sie nicht nur auf sachlichen Überlegungen und Definitionen fussen, sondern von einer hinsichtlich ihrer Kompetenz sowie Handlungsfähigkeit und -willigkeit bewusst geförderten Gruppe von Menschen getragen werden. Vor der Gründung der Chácara wurden also die Ausgangslage analysiert, eine umfassende Vision der Gesellschaft und des Platzes der Jungen in ihr entwickelt, darauf aufbauend die Ziele definiert sowie eine Gruppe gebildet und gestärkt, welche diesen Prozess durchführte und verantwortete und die Organisation Chácara nach deren Gründung ebenfalls gestalten und verantworten würde. Dabei kommen die in Kapitel 2.3 beschriebenen Erkenntnisse und Empfehlungen von Freires (1973) „Erziehung als Praxis der Freiheit“ zum Tragen. Die Kinder und Jungen der Strasse sollen durch einen Prozess der Bewusstwerdung: ... in den geschichtlichen Prozess als verantwortliche Subjekte ein[...]treten, das Streben nach Selbstbehauptung auf[...]nehmen ... (S. 25)

und, wie Lancellotti (1999) schreibt, ... zusammen mit ihren Erzieherinnen und Erziehern einen Raum der Freiheit und Mitverantwortung [konstruieren], der die Unmöglichkeit einer Situation und einer Zeit in Frage stellt. (in Graciani, 1999, Klappentext)

Wie die Analyse der Chácara gezeigt hat, geht diese jedoch über eine Bewusstmachung hinaus. Von Erziehenden und Jungen der Strasse wurde eine Gruppe formiert, welche sich durch eine gemeinsame Praxis und deren ständige Evaluation in ihrer Kompetenz stärkt und zur Handlung in Form der Schaffung einer alternativen Struktur – der Organisation Chácara – befähigt. Erst nachdem diese Gruppe bestand, welche die Organisation tragen würde, und nachdem deren Eckpfeiler definiert worden waren, kam es zur Gründung und Strukturierung der Organisation Chácara. Dieses Vorgehen entspricht den Prinzipien einer „gesunden Nichtregierungsorganisation“, welche Fowler, Goold und James (1995) in ihrem Rahmenkonzept beschreiben. Ihr diesbezüglicher, in Kapitel 2.4 zitierter Kommentar soll hier der Übersicht halber noch einmal aufgeführt werden: According to this model, first principles for a healthy NGO would be to be clear about its identity and attitude to the world, which in turn shapes its vision of our society and its purpose in it, which in turn shapes its strategies to be adopted and the tasks to be carried out, which in turn defines the structures and systems that need to be in place and the staff to be employed, the skills and abilities they need, and the whole is then supported by adequate resourcing. Put slightly differently, form fol-

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lows function. Inevitably, these phases do overlap and are repeated at different stages of an organisation’s development. (S. 6)

Das Vorgehen der Chácara, zuerst das „Woher“ und das „Wohin“ zu definieren, bevor die Strukturen und Aktivitäten (und damit der Transformationsprozess) der Organisation gestaltet wurden, kann auch mit den Planungsebenen des von der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) verwendeten, in Kapitel 2.5 dargestellten Planungs- und Evaluationsmodells und den Planungsstufen des in Kapitel 2.4 erwähnten „Logical-Framework-Approach“ vereinbart werden. Diese beiden Modelle umfassen dieselbe Logik der Organisationsgestaltung. Sie enthalten jedoch nicht die von Fowler, Goold und James (1995) erwähnten Rahmenaspekte der Identität, der Einstellung gegenüber der Umwelt, der Vision der Gesellschaft und der Aufgabe und Rolle der Organisation in dieser, welche in der Analyse der Daten der Chácara so deutlich hervorgetreten sind. In der Einführung in Themenbereiche und Theorie in Kapitel 2 wurde auch die Erkenntnis von Katz und Kahn (1978) aufgeführt, dass Organisationen aufgrund ihres Systemcharakters und ihrer Offenheit für Einflüsse von aussen ständig in Bewegung sind. Die Analyse der Chácara hat ergeben, dass die Organisation nicht etwa ein einziges Mal bei ihrer Gründung „erfunden“ wurde, sondern dass ihrem kontingenten und dynamischen Charakter fortwährend Rechnung getragen wird. Zu dieser Schlussfolgerung führt die Überlegung, dass die erwähnten organisationalen Aspekte der Evaluation und Partizipation sowie der Fokus auf die Zielgruppe der Jungen und den Einbezug aller Teile der Gesellschaft unter anderem dazu beitragen, dass die äusseren und inneren Faktoren der Kontingenz und Dynamik der Organisation nicht nur erfasst, sondern auch genützt werden können. Motivation und Arbeitsgrundsätze der Organisation können im Verlauf der Zeit immer wieder neu hinterfragt, die Ausgangslage der Zielgruppe und Gesellschaft immer wieder neu analysiert und Ziele sowie die zu ihnen führenden Aktivitäten neu definiert werden. Aufgrund der hier dargestellten Aspekte entsteht der Eindruck, dass die Organisation Chácara sowohl über eine starke „Verwurzelung“ und Identität verfügt als auch gleichzeitig einen grundsätzlich adaptiven Charakters aufweist. Auf den adaptiven Charakter und weitere Aspekte des Entwicklungsprozesses der Organisation Chácara soll im folgenden Kapitel zu Organisation, Qualität und Nachhaltigkeit vertieft eingegangen werden.

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5 Organisation, Qualität und Nachhaltigkeit: Erkenntnisse und Empfehlungen

Sollte unser Strassenkinderprojekt Ihrer Meinung nach auch eine Hühnerzucht haben, damit es ein gutes Projekt ist? (Frage des designierten Leiters eines Projektes in der Region Curitiba an die Autorin anlässlich seines Besuches in der Chácara, April 2004)180

Was konstituiert ein „gutes“ residentielles Projekt für Kinder und Jugendliche der Strasse? Und welche organisationalen Strukturen und Prozesse tragen zu dieser „Güte“ bei? Absicht der vorliegenden Arbeit ist es, einen Beitrag zur Organisation, Qualität und Nachhaltigkeit von residentiellen Projekten für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien zu leisten. Als Grundlage hierfür wurde in den vorangehenden Kapiteln aufgrund der Resultate einer empirischen Forschung die Phänographie eines solchen Projektes – der Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros – erstellt. Um diese für die Praxis sowohl der Chácara als auch anderer Organisationen verstärkt nutzbar zu machen, soll sie nun in einem zweiten Schritt in Bezug zu Fragen der Qualität und Nachhaltigkeit gesetzt werden. Dies kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Sinne einer ersten, grundsätzlichen Diskussion getan werden. Eine wichtige Aufgabe der künftigen Forschung wäre es, die in dieser Arbeit präsentierten Erkenntnisse über die Qualität am Beispiel der Chácara, aber auch anderer residentieller Institutionen weiter zu vertiefen bis hin zur Entwicklung und zum Einsatz von spezifisch auf diese Art der Organisation angepassten Systemen und Instrumenten qualitätsorientierter Organisationsgestaltung und -entwicklung. In der vorliegenden Arbeit wurden im Zusammenhang mit Qualität und Nachhaltigkeit die folgenden beiden Fragen formuliert: ƒ ƒ

180

Wie können Qualität und Nachhaltigkeit für eine solche Organisation definiert werden? Wie können die Strukturen und Prozesse der Organisation gestaltet werden, um zur Erreichung dieser Qualität und Nachhaltigkeit beizutragen? Mündliche Mitteilung, Handnotiz.

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Diese beiden Fragen sollen hier anhand der im vorhergegangenen Kapitel präsentierten empirischen Organisationsanalyse der Chácara sowie des in Kapitel 2 aufgeführten theoretischen Wissens diskutiert werden. In der Folge werden drei Konzepte der Qualität und Nachhaltigkeit für residentielle Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse vorgeschlagen: In Kapitel 5.1 wird das in der Entwicklungszusammenarbeit gebräuchliche, sich auf Referenzwerte und damit letztlich auf die Ziele der Organisation beziehende Konzept von Qualität übernommen. Diskutiert werden die Dimensionen Relevanz, Effektivität und Nachhaltigkeit. Dabei wird, soweit möglich, auch eine entsprechende Bewertung der Chácara vorgenommen. In Kapitel 5.2. wird ein zusätzliches Konzept von Qualität neu entwickelt. Dieses geht aus den Aussagen der Beteiligten und speziell der Jungen der Chácara hervor. Es bezieht sich zwar ebenfalls auf Referenzwerte, jedoch nicht auf die Ziele der Organisation, sondern auf Eigenschaften des Alltags in der Organisation. Die Tatsache, dass die beiden angeführten Konzepte sich auf Referenzwerte beziehen, heisst, dass es darin um eine Bewertung der Organisation hinsichtlich von Zielgrössen geht. Diese kann immer nur im Sinne einer Momentaufnahme oder gegebenenfalls einer Serie von Momentaufnahmen erfolgen. In Kapitel 2.4 wurde im Rahmen der Darstellung theoretischen Wissens auf den systemischen, kontingenten und dynamischen Charakter von Organisationen hingewiesen. Rollinson und Broadfield (2002) fassten dies in ihrer bereits zitierten Aussage zusammen: ... the most appropriate structure for an organisation is the one that best suits its particular circumstances. (S. 512)

Auf das eingangs dieses Kapitels angeführte Beispiel angewandt, bedeutet dies, dass eine Hühnerzucht in einem Projekt „appropriate“, also angemessen und sinnvoll sein kann, während sie in einem anderen Projekt keinerlei Nutzen bringt. Es bedeutet ebenfalls, dass eine Hühnerzucht im selben Projekt heute sinnvoll sein kann, morgen jedoch aufgrund veränderter externer und interner Bedingungen keinen positiven Beitrag zur Erreichung der Ziele – gemäss Sülzer und Zimmermann (1996) „Raison d’Être“ jeder Organisation – mehr zu leisten vermag. Qualitätskonzepte, welche sich auf Referenzgrössen beziehen, haben durchaus ihren Nutzen und werden deshalb auch für die Überlegungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit eingesetzt. Eine ausschliessliche Ausrichtung auf Referenzgrössen, welche in Momentaufnahmen bewertet werden, scheint jedoch der Kontingenz und Dynamik des Gegenstandes Organisation nicht vollumfänglich gerecht zu werden. Bei einer Organisation wie der Chácara, deren Ziele sich auf Persönlichkeitsentwicklung und Befähigung beziehen, scheinen Momentauf242

nahmen zusätzlich unbefriedigend, weil diese nicht linear ablaufen und sie sich zudem in nur schwer bewertbaren Zügen zeigen. Das dritte, hier in Kapitel 5.3 dargestellte Konzept, welches in der vorliegenden Arbeit ebenfalls neu entwickelt wurde, wird der Kontingenz und Dynamik des Gegenstandes Organisation eher gerecht. Es hat prozessualen Charakter und bezieht sich nicht auf Referenzwerte, sondern auf Charakteristika organisationaler Strukturen und Prozesse, welche als qualitäts- und nachhaltigkeitsorientiert verstanden werden. Es stellt die Fähigkeit der Organisation dar, sich an innere und äussere Veränderungen anzupassen. Es bildet damit eine wichtige Ergänzung zu den ersten beiden vorgestellten Konzepten und ist, wie in Kapitel 6 gezeigt wird, von besonderem Interesse für die Praxis, da es sich darauf bezieht, wie eine Organisation in ihren Strukturen und Prozessen gestaltet werden muss, damit sie die ersten beiden Arten von Qualität überhaupt erreichen kann. 5.1 Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit Wie in Kapitel 2.5 dargelegt, wird in der Entwicklungszusammenarbeit vorwiegend ein Qualitätskonzept verwendet, welches sich auf Referenzwerte und letztlich auf die Ziele der Organisation bezieht. Die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit gibt folgende Definitionen an (DEZA, 2002): ƒ ƒ ƒ

Relevanz: Die Übereinstimmung der Ziele eines Vorhabens mit den Bedürfnissen der Nutzniesser, des Landes und globalen Prioritäten. Effektivität/Wirksamkeit: Das Ausmass, in dem die Ziele eines Vorhabens erreicht werden. Effizienz: Die Wirtschaftlichkeit, mit der die finanziellen, menschlichen und materiellen Ressourcen in Leistungen und Produkte umgewandelt werden.

Eine weitere aus der Entwicklungszusammenarbeit übernommene Definition ist diejenige der Nachhaltigkeit: ƒ

Nachhaltigkeit: Eine dauerhafte Fortsetzung der erzielten Nutzen und Wirkungen eines Vorhabens auch nach dessen Beendigung (im Sinne von Begriffen wie Lebensfähigkeit, Weiterentwicklungsfähigkeit, Dauerhaftigkeit etc.).

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird Nachhaltigkeit als Dimension von Qualität verstanden, das heisst Qualität wird als Oberbegriff behandelt, welcher 243

Nachhaltigkeit umfasst. Gleich zu Beginn soll hier angemerkt werden, dass es sich bei diesen Aspekten um Teile eines einzigen Qualitätskonzeptes handelt. Dies bedeutet, dass eine Organisation idealerweise von hoher Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit ist. Kombinationen wie Relevanz ohne Nachhaltigkeit, Effizienz ohne Effektivität oder Effektivität ohne Relevanz sprechen für niedrige Qualität oder sogar Kontraproduktivität einer Organisation. Hier soll nun vor allem auf die Aspekte Relevanz, Effektivität und Nachhaltigkeit eingegangen werden. Dabei sollen die oben aufgeführten Definitionen aus der Entwicklungszusammenarbeit übernommen und anhand des Beispiels der Chácara, wie sie in den in Kapitel 4 aufgeführten Forschungsresultaten erscheint, erläutert werden. Anschliessend soll die Organisation Chácara – soweit aufgrund der Datenlage möglich – bezüglich dieser Aspekte bewertet werden. Da der Fokus der vorliegenden Arbeit nicht auf Fragen der Finanzierung und administrativen Verwaltung gerichtet ist, wird das für die Qualität der Organisation ebenfalls wichtige Thema der Effizienz hier nicht weiter ausgeführt. Es soll lediglich angemerkt werden, dass gemäss Auskunft des Koordinators ein Junge in der Chácara pro Monat 630 Reais koste (Angabe vom 12. Februar 2007, entspricht etwa 388 Franken). Damit seien die Kosten eines Jungen in der Chácara wesentlich geringer als diejenigen Jugendlicher mit einem vergleichbaren Profil in den staatlichen Institutionen. Ebenfalls nicht weiter eingegangen wird auf die Einhaltung von Gesetzen als Qualitätsdimension. In Kapitel 1 wurden die Gesetzesverstösse erwähnt, welche gemäss Studien der brasilianischen Regierung sowie Auskünften von Betroffenen in vielen staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen für Kinder und Jugendliche in Brasilien festgestellt werden. Die brasilianische Gesetzgebung, darunter das Kinderrechtsstatut ECA, sind Produkt demokratischer Prozesse und entsprechen internationalen Standards. Entsprechend muss und kann die Einhaltung von Gesetzen als eine absolute, von einer Organisation nicht individuell ausgestaltbare qualitative Anforderung gesehen werden, welche ohne Abweichung eingehalten werden muss. 5.1.1 Relevanz Die Qualitätsdimension „Relevanz“ bewertet das Ausmass, in dem die Ziele eines Vorhabens mit den Bedürfnissen der Nutzniesser, des Landes und globalen Prioritäten übereinstimmen. Die Relevanz stellt die Frage nach dem Sinn der Ziele der Organisation und damit nach der eigentlichen Daseinsberechtigung der Organisation. Sie bedeutet 244

jedoch nicht, dass jede Organisation Ziele auf allen drei Ebenen – einzelner Nutzniesser, Land und Welt – haben müsste, sondern vielmehr, dass die Ziele einer Organisation sinnvoll in diese Ebenen eingefügt sein müssen. Es wurde im vorhergehenden Kapitel dargestellt, dass die Mitglieder der Chácara diese tatsächlich von sich aus als Organisation wahrnehmen. Wie in Kapitel 4.1 aufgezeigt, berichten Mitglieder und Beteiligte der Chácara davon, wie die Ziele der Organisation aufgrund eines Prozesses der Analyse von Jungen und Gesellschaft entstanden sind. Des Weiteren belegen die in Kapitel 4.3.3 aufgeführten Resultate der Analyse der Ziele der Organisation und der Jungen, dass die Organisationsziele zugunsten einer Erreichung persönlicher Ziele durch die Jungen gestaltet sind sowie zugunsten einer Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen insgesamt. Hieraus kann zunächst abgeleitet werden, dass die Mitglieder und näheren Beteiligten der Chácara der Relevanz der Ziele ihrer Organisation Bedeutung zumessen und dass sie deren aktive Gestaltung anstreben. Im Gegensatz dazu hat die Autorin hat im Verlauf ihrer Arbeit im Umfeld von Strassenkinderprojekten aber auch in einer internationalen Grossfirma sowie bei der Lektüre von Literatur der Organisationslehre den subjektiven Eindruck gewonnen, dass die Frage der Relevanz von Organisationszielen oft eher vernachlässigt wird. Es ist der Autorin im Weiteren aufgefallen, dass in den Broschüren vieler Hilfswerke und Projekte, welche sich an Strassenkinder richten, sowie in Zeitungsartikeln über solche Institutionen als Zeichen einer erfolgreichen Organisation häufig erwähnt wird, diese habe im letzten Jahr eine bestimmte (grosse) Anzahl Kinder „von der Strasse geholt“. Solche Formulierungen suggerieren, dass das Ziel dieser Institutionen primär im „Wegholen der Kinder von der Strasse“ liegt. Eine sinnvolle Inbezugsetzung zu Zielen der Kinder und zur unmittelbaren und weiteren gesellschaftlichen Situation ist zumindest in dieser Formulierung nicht erkennbar181. Im Gegenteil ruft diese Formulierung die von Rossato (2003a) beschriebenen, in Kapitel 2.3 erläuterten „bestrafenden“ und „rettenden“ Ansätze von Organisationen in Erinnerung, welche (eher kurzfristi181

Es empfiehlt sich, bei solchen Formulierungen seitens von europäischen Hilfswerken darauf zu achten, welche Dienstleistungen den „von der Strasse weg geholten“ Kindern tatsächlich angeboten werden. Häufig handelt es sich dabei um Essensausgabe, Nachhilfestunden, Freizeitaktivitäten und ähnliches, also um eine zeitweise Beschäftigung der Kinder beziehungsweise um Versorgung mit Dingen, die sie auf der Strasse nicht erhalten. Solche Dienstleistungen können durchaus ihre Berechtigung haben. Es fragt sich jedoch, ob die Bezeichnung „von der Strasse wegholen“ ihnen angemessen ist, und dies umso mehr, als sie zumindest in Brasilien in den meisten Fällen Kindern angeboten werden, welche nicht Kinder der Strasse, sondern in Favelas unbetreut sind, während ihre Eltern arbeiten. Es geht bei ihnen also um Unterstützungsangebote an Kinder, welche unter anderem als Prävention verstanden werden können, damit diese Kinder nicht auf die Strasse gehen oder gar dorthin übersiedeln.

245

ge) Bedürfnisse von bestimmten Teilen der Gesellschaft aufnehmen, die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen der Strasse sowie der Gesellschaft als Gesamtes jedoch kaum oder gar nicht berücksichtigen.182 Der Unterschied zwischen dieser Art von Einstellung und derjenigen der Chácara kommt in einer Interviewaussage eines auf Kinderrechte spezialisierten Generalstaatsanwaltes zur Sprache, welcher die Chácara seit Anbeginn beratend begleitet: Zu Beginn lag [die Chácara] noch in beinahe allem ganz in den Anfängen, aber ich glaube, dass das, was es [bereits] gab, klar definiert war, nämlich (...) das Ziel der Chácara, diese Idee (...) der Annäherung an die Jungen: dass man nicht die Praxis der „sozialen Müllabfuhr“ reproduzieren wollte, mittels derer Kinder von der Strasse weggerissen werden, sondern dass man die Kinder und Jugendlichen überzeugen und zunächst eine Beziehung zu ihnen aufbauen würde, entdecken würde, wer sie sind, woher sie kommen, was ihre Bedürfnisse sind, und ihnen vorschlagen würde, zu kommen und sich an dem Projekt in Quatro Pinheiros zu beteiligen. Ich glaube, dass dies ein wirklicher Unterschied ist [zu anderen Institutionen] [und] vor allem zur behördlichen Praxis, bei der es darum geht, die Strassen zu „reinigen“, [die Kinder] um jeden Preis [von der Strasse] wegzubringen, besonders an Weihnachten und Ostern und ähnlichen Daten, wenn die Kinder auf der Strasse nicht zu den offiziellen Slogans der „schönen und gerechten Stadt“, der „Hauptstadt der Ökologie“, der „Hauptstadt des Sozialen“ etc. passen. (Interview, 6. Mai 2004)

Der Zielfokus der Chácara ist also weit gefasst. Wie in Kapitel 4.3.2 gezeigt, beziehen sich die Ziele zum Beispiel nicht in erster Linie auf den geographischen Aufenthaltsort der Jungen mit seinen schwierigen Überlebensbedingungen und dem Verhalten, das die Jungen dort entwickeln. Vielmehr richten sie sich auf deren gesamte Lebenssituation, in der sie am Rande der Gesellschaft stehen, kaum Zugang zu Ressourcen und Förderungsmöglichkeiten haben und – gerade auch als Minderjährige – negativen und schädlichen Handlungen Erwachsener ausgeliefert sind. Als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ sollen sie Eingang in den gesellschaftlichen Raum finden und ihr Leben aktiv und eigenverantwortlich gestalten können. In dieser weiten, auf die Gesellschaft ausgerichteten Perspektive beziehen sich die Ziele der Chácara auf die drei Ebenen menschlicher Existenz: die individuelle Ebene (die Entwicklung der einzelnen Kinder und Jugendlichen), die interpersonale Ebene (das Zusammenleben und -handeln in Gruppen) und die Ebene gesellschaftlicher (darunter auch familiärer) und staatlicher Strukturen. Damit verbindet die Chácara die Bedürfnisse der direkten Nutzniesser – der Jungen – mit denjenigen der weiteren Gesellschaft 182

In diesen Überlegungen und dem folgenden Zitat scheint im Übrigen die Tatsache auf, dass die Relevanz der Ziele eine Bedingung für die in Kapitel 5.1.3 besprochene Nachhaltigkeit ist.

246

sowie mit globalen Prioritäten, indem sie eine gegenseitige Integration von Jungen und Gesellschaft anstrebt, in welcher alle Beteiligten ihre Rechte und Pflichten in einem staatsbürgerlich-demokratischen Sinne wahrnehmen. In Kapitel 4.3 wurde dargestellt, dass es sich bei den Zielen der Chácara nicht nur um ein Lippenbekenntnis handelt, sondern dass gegenseitige Integration von Jungen und Gesellschaft sowie staatsbürgerliches Handeln tatsächlich grundlegende Elemente der sozialen Struktur und der Praxis der Chácara sind. Beide Elemente entsprechen nicht einmaligen Vorkommnissen, sondern ständig ablaufenden, adaptiven Prozessen. Durch die bewusste Einführung ihrer Dynamik in die Chácara wird unter anderem eine ständige Überprüfung und damit Sicherstellung der Relevanz dieser Ziele durch die Organisationsmitglieder begünstigt. Im Weiteren sind die Ziele auf eine allgemeine Verbesserung gesellschaftlicher Zustände ausgerichtet, und nicht auf eine Zementierung bestehender Ungleichheiten. Vor diesem Hintergrund müssen die Ziele der Chácara als sehr relevant beurteilt werden und als von höherer Relevanz als diejenigen von Organisationen, die lediglich darauf ausgerichtet sind, Kinder und Jugendliche von der Strasse zu entfernen. Sie müssen ebenfalls als relevanter angesehen werden als die Ziele der von Rossato (2003a) beschriebenen Projekte „bestrafender“ und „seelenrettender“ Couleur, welche nicht die Entwicklung der Jungen als eigenständige, gleichberechtigte Staatsbürger und eine positive, nachhaltige gesellschaftliche Veränderung anstreben, sondern eine kurzfristige „Symptombekämpfung“ im Interesse dominanter Teile der Gesellschaft. Im Weiteren beruhen die Ziele, wie in Kapitel 4 gezeigt wurde, auf einer ausführlichen Analyse nicht nur der Defizite und Grenzen, sondern auch der Potentiale und Möglichkeiten der Ausgangssituation und der Jungen sowie weiterer involvierter Personen. Sie entsprechen so einem realen Bedürfnis und realen Möglichkeiten, und sind nicht etwa ideologisch-dogmatisch vorgegeben. Sie sind darauf ausgerichtet, Defizite zu beheben und Potentiale zu nutzen. Grenzen und Möglichkeiten der Situation sind in die Definition der Ziele miteinbezogen worden, so dass diese grundsätzlich erreichbar sind. Anliegen, Erfahrungen und Erkenntnisse verschiedenster Teile der Bevölkerung, von den Kindern und Jugendlichen der Strasse selbst über Praktizierende in anderen Organisationen bis hin zu universitären Fachleuten und Behördenvertretern flossen in die Definition der Ziele ein. Es muss angenommen werden, dass dieses Vorgehen zu einer Aggregation von Wissen und einer erhöhten Relevanz der Ziele im geschilderten Sinne führte. Darüber hinaus stärkte es vermutlich die Identifikation der Beteiligten mit den Zielen sowie die Bereitschaft, für Konzeption und Umsetzung Verantwortung zu übernehmen. In der Annahme, dass Relevanz der Ziele nicht genügt, wenn sich niemand für diese engagiert, wurde 247

damit wohl eine wichtige Basis geschaffen, dass diese in der Realität zum Tragen kommen konnten. Zusammenfassend können die Ziele der Chácara als relevant bezeichnet werden, weil sie: ƒ

Echten Bedürfnissen und Möglichkeiten der Zielgruppe sowie der weiteren Gesellschaft entgegenkommen. Nicht einen deterministischen Charakter aufweisen, sondern auf eine Förderung der eigenständigen persönlichen Entwicklung durch die Jungen der Zielgruppe und der gemeinsamen gesellschaftlichen Entwicklung durch die Zielgruppe und die weitere Gesellschaft ausgerichtet sind.

ƒ

Bezüglich der Beurteilung der Relevanz von Zielen in Projekten im Allgemeinen soll hier noch eine ergänzende Anmerkung angebracht werden: Bei der Lektüre von Unterlagen anderer, staatlicher und nicht-staatlicher Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien ist der Autorin wiederholt aufgefallen, dass die dort formell festgehaltenen Ziele der Organisation häufig durchaus relevant scheinen. Die in Kapitel 1 zitierten staatlichen Untersuchungen und Berichte von Kindern und Jugendlichen haben jedoch gezeigt, dass in vielen solchen Institutionen Vernachlässigung, ungenügende Förderung oder gar Misshandlungen vorkommen. Dies führt zur Vermutung, dass die Ziele wohl auf dem Papier vorhanden sind, dass die Mitarbeitenden sie jedoch nicht kennen, in ihrer konkreten Bedeutung nicht verstehen, nicht verinnerlicht haben oder nicht für wichtig halten183. In solchen Fällen müsste davon ausgegangen werden, dass die Mitarbeitenden der Organisation bewusst oder unbewusst auf individuelle und/oder andere als die offiziellen Organisationsziele hinarbeiten. Aufgrund dieser Überlegungen wird dringend empfohlen, dass bei einer Analyse der Relevanz von Zielen nicht nur in Dokumenten der Organisation schriftlich formulierte Ziele betrachtet werden, sondern dass auch überprüft wird, inwieweit diese in der Wahrnehmung und Arbeit der Organisationsmitglieder wirklich verankert sind. 5.1.2 Effektivität Die Qualitätsdimension „Effektivität“ beurteilt das Ausmass, in dem die Ziele eines Vorhabens erreicht werden.

183

Siehe z. B. Silva (2004): Leitende der Institutionen kennen Vorschriften des Kinderrechtsstatuts, führen diese jedoch nicht bei sich ein.

248

Aus der Organisationsanalyse der Chácara ist, wie in Kapitel 4.3.2 dargestellt, hervorgegangen, dass diese die nachstehenden Ziele verfolgt: ƒ ƒ ƒ

Übergeordnetes Oberziel: eine solidarische, gleichberechtigte Gesellschaft im bürgerrechtlich-demokratischen Sinn. Oberziel: die Jungen als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“, Verfasser eines Lebensentwurfs und Personen, die aus eigener Initiative sowie seitens der Gesellschaft in der Lage sind, sich für dessen Realisierung einzusetzen. Organisationsziele bezüglich der Jungen: í Ihre Fähigkeiten zu fördern: Lern-/Reflexionsfähigkeit, Fähigkeiten des Zusammenlebens, Fähigkeiten als Bürger, Veränderungsfähigkeit. í Ihre persönlichen Grundlagen zu stärken: Schulisches, berufliches und gesellschaftliches Wissen, Gesundheit, Werte, kulturelle Verankerung, Arbeit/Einkommen, familiäre Verankerung. í Ihre gesellschaftlichen Bedingungen zu verbessern: Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit der Gesellschaft.

Aus dieser Aufstellung geht hervor, dass die Chácara über eine Hierarchie von Zielen verfügt, zu deren Erreichung sie in grösserem oder geringerem Masse einen Beitrag leisten kann. In den Statuten ist das Oberziel erwähnt, die Jungen in ihrer Entwicklung zu „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ zu unterstützen. Das Konzept war zum Zeitpunkt der Feldforschung in der Chácara noch nicht explizit beschrieben worden, ist jedoch, wie in Kapitel 4.3.1 gezeigt werden konnte, aus Dokumenten wie dem Jahresbericht 2004 in recht grossem Detail ableitbar. Im Februar 2006 wurde in der Chácara gemäss Auskunft des Koordinators damit begonnen, ein detailliertes Zielkonzept niederzuschreiben. Die Aussage eines Erziehers, der sich bereits als Kind in der Vila Lindóia an den Arbeiten des Projektkoordinators beteiligt hatte und die Chácara seit ihrer Gründung begleitet, lässt vermuten, dass dieses Konzept die unter anderem im Jahresbericht 2004 implizit enthaltenen Organisationsziele festhalten wird. Gemäss der Aussage des Erziehers ist mit der Zeit klar geworden, dass es sich sowohl bei dem Ziel der Jungen als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ als auch bei dem übergeordneten Ziel einer solidarischen, gleichberechtigten Gesellschaft tatsächlich um Oberziele handelt, zu denen die Chácara lediglich einen langfristigen, partiellen Beitrag leisten kann. Für die Praxis des Projektes müssen diese Oberziele in konkrete Projektziele heruntergebrochen werden, auf deren Erreichung die Organisation unmittelbarer Einfluss nehmen kann. Frage: Gab es Veränderungen am Konzept [der Chácara] in den zehn Jahren [seit der Gründung]?

249

Antwort: Schau, ich bin der Meinung, dass das Konzept immer einer Veränderung unterworfen ist. Es erneuert sich jeden Tag. Als wir hier anfingen, hatten wir nicht diese umfassende Sichtweise von dem, was wir wollten. Wir hatten in Versammlungen festgelegt, dass es unser Ziel war, mit den Jungen zu arbeiten, aber häufig, wenn wir [ein Ziel] auf dem Papier festhalten, ist es ein sehr utopisches Ziel. Das Ziel ist: „Die Bürgerschaft der Kinder und Jugendlichen wieder erlangen, damit sie Protagonisten ihres Lebens als Bürger sein können“. Das heisst, es ist eine sehr utopische Sache, es ist keine Sache, die greifbar wäre. Heute haben wir ein Konzept, ein Ziel, das klarer ist, nämlich, dass der Junge, wenn er hier weggeht, einen Ort hat, an dem er wohnen kann, etwas zu essen hat, einen Beruf hat, und es ist uns klar, dass dieser ganze Rest, diese ganze Utopie, als Resultat davon geschehen wird, von diesem ersten Schritt, der gemacht wurde. Der Junge wird eine Bewusstheit für sein Leben entwickeln, und das ist ein natürlicher Prozess, denn er wird selbst die Notwendigkeit verspüren, die Arbeit weiterzuführen, die hier in der Chácara begonnen hatte. Wir sehen bei vielen Jungen – den grösseren, nicht wahr – dass sie die Notwendigkeit verspüren, den kleineren zu helfen, ihnen Ratschläge zu geben. Es kommt häufig vor, dass [nennt einen gerade erwachsenen Jungen, der als Hilfserzieher arbeitet], dass [nennt einen zweiten erwachsenen Jungen, der als Hilfserzieher arbeitet] überall Ratschläge geben und sich um die Jungen sorgen. Das ist eine wirklich tolle Sache; es ist eine Veränderung des Konzeptes, ein Resultat der Veränderung des Konzeptes, das schon nicht mehr dieses langfristige Konzept ist, das man ansah, um dann zu sagen: „Meine Güte, wann wird dies [dereinst] eintreten?“. Wir wollen die Gesellschaft verändern und wir sehen, dass dies nicht so einfach geht [sinngemäss übersetzt]. Es ist schwierig, das Bewusstsein der Leute zu verändern; dies wird langsam geschehen. Es gibt heute viele Leute, die sich aufgrund eines veränderten Bewusstseins in der Arbeit [der Chácara] engagieren, aber es ist ein sehr langsamer Prozess, und bis er wirklich geschieht, wissen wir, dass wir viel mehr für diese Jungen tun können, greifbare Dinge, konkrete Dinge, und das ist, was wir heutzutage anstreben, etwas Konkretes, und darauf baut unser Konzept auf. (Ehemaliger Junge aus der Gemeindearbeit in der Vila Lindóia und Erzieher, Interview, April 2004)

Diese Konkretisierung der Projektziele entspricht einerseits dem Anspruch einer jeden Organisation, besteht eine solche doch mit dem Zweck der Erreichung von Zielen und muss sie, soll sie ihrer „Raison d’Être“ gerecht werden, über konkrete und an sich erreichbare Ziele verfügen. Nur solche Ziele können auch bezüglich der Effektivität, mit der sie erreicht weden, beurteilt werden. Im Falle eines Sozialprojektes, welches Menschen – im Fall der Chácara ehemalige Jungen der Strasse – in ihrer Entwicklung fördert, kommt eine Schwierigkeit hinzu: Die Erreichung der Projektziele liegt nicht vollumfänglich in der Hand des Projektes. So kann dieses zum Beispiel wohl Schulunterricht offerieren und Jungen zum Schulbesuch anhalten, mit dem Ziel, ihnen schulisches Wissen zu vermitteln; es ist jedoch darauf angewiesen, dass die Jungen die entsprechenden Fähigkeiten auch entwickeln und in ihrem Handeln zeigen. 250

Wie steht es nun um die Effektivität der Chácara? Aufgrund der Erkenntnisse der Organisationsanalyse kann diese als positiv beurteilt werden. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, als wie positiv sie beurteilt werden kann, beziehungsweise zu welchen Referenzgrössen sie in Bezug gesetzt werden kann. In der Folge soll nun auf die Effektivität bezüglich der Erreichung der einzelnen Ziele der Chácara, soweit es die Datenlage erlaubt, näher eingegangen werden. 5.1.2.1 Aufnahme und Verbleib der Jungen in der Chácara Wie gezeigt wurde, hat die Chácara Ziele, welche um einiges über die Aufnahme und den Verbleib der Jungen in der Chácara hinausgehen. Beiden Momenten kommt trotzdem insofern eine grosse Bedeutung zu, als ohne die Anwesenheit der Zielgruppe in der Organisation jedwelche Effektivität – also die Erreichung von Zielen bezüglich der Zielgruppe – unmöglich wäre. In den Jahren ihres Bestehens ist es der Chácara gelungen, ihre Kapazität der Aufnahme von Jungen stetig zu erhöhen. Wie administrative Unterlagen zeigen, erfolgten grosse Wachstumsschritte insbesondere in den Jahren 1994/1995, 1998 und 2004/2005. Im Oktober 1993 zog eine erste Gruppe von etwa 8 Jugendlichen in die Chácara ein. Weitere 12 Jungen im Alter von 9 bis 11 Jahren wurden um die Jahreswende 1994/1995 aufgenommen. Bis ins Jahr 1998 kamen dann einzelne Jungen hinzu, bis im Jahr 1998 ein zusätzliches Gebäude die Aufnahme von weiteren 14 unter 14-jährigen Jungen erlaubte. Zu Beginn der Feldforschung im Jahr 2003 lebten 43 Jungen im Alter von 6 bis 18 Jahren in der Chácara, und ab Mitte des Jahres 2004 kamen weitere 28 Jungen hinzu. Während der Schlussphase der Feldforschung im Mai 2005 lebten insgesamt 71 Jungen in den Häusern der Chácara, und im August 2006 waren es um die 80. Die administrativen Unterlagen der Chácara zeigen, dass die 71 Kinder und Jugendlichen, welche im Juni 2005 in der Chácara lebten, tatsächlich zu der in den Statuten definierten Zielgruppe gehörten. So hatten die meisten von ihnen vor Eintritt in die Chácara ganz auf der Strasse gelebt (52, bzw. 73%). Weitere 12 (17%) waren dabei gewesen, ganz auf die Strasse zu gehen und/oder waren zu Hause grober Vernachlässigung und/oder Misshandlung ausgesetzt, während 7 (10%) direkt aus anderen Institutionen in die Chácara übergetreten waren und sich früher in einer der beiden genannten Situationen befunden hatten. Viele der Jungen, die in den ersten Jahren in die Chácara zogen, hatten sehr lange ganz auf der Strasse gelebt. In der Zwölfer-Gruppe, welche Ende 1994 eintrat, gab es zum Beispiel mehrere Jungen, welche vom Alter von 5 oder 6 Jahren bis in ein Alter von 11 oder gar 14 Jahren auf der Strasse überlebt hatten. Zehn Jahre später ist das Angebot von städtischen und Nichtregierungsorganisa251

tionen grösser, welche Kinder und Jugendliche in „Risikosituationen“ aufnehmen. Entsprechend scheinen heute Fälle von Kindern und Jugendlichen, welche drei oder mehr Jahre ohne Unterbrüche ganz auf der Strasse gelebt haben, seltener vorzukommen; Zahlen liegen dazu jedoch keine vor. Ebenfalls im Einklang mit den Statuten wurden Kinder (unter 14 Jahren) und Jugendliche (unter 18 Jahren) aufgenommen. So lebten im Juni 2005 gemäss dieser Definition 39 Kinder (55%), von denen 8 weniger als 10 Jahre alt waren, in der Chácara sowie 29 Jugendliche (41%) und 3 erwachsen gewordene Jungen (4%) im Alter von je 18, 21 und 22 Jahren. Leider verfügt die Chácara nicht über eine seit Anbeginn geführte Fluktuationsstatistik. Aussagen von an ihr Beteiligten sowie der umfassende Einblick der Autorin in das Projekt während 11 Jahren ergeben jedoch das Bild, dass ein Grossteil der Jungen über längere Zeit, zumeist bis zur Erreichung des Erwachsenenalters, in der Chácara verbleibt. Eine grössere Zahl von ihnen hat zuvor eines oder mehrere andere Projekte durchlaufen, hat diese jedoch wieder verlassen. Die in der Chácara bestehende, im Vergleich zu anderen Projekten in der Einschätzung der beteiligten Jungen und Erwachsenen jedoch geringere Fluktuation konnte über die Jahre reduziert werden. Bei den insgesamt 71 im Juni 2005 in der Chácara lebenden Jungen handelte es sich um eine relativ neue Population, von denen die meisten (45) im Jahr 2004 und in der ersten Hälfte des Jahres 2005 eingezogen waren. Von den übrigen Jungen lebten 15 seit zwei bis fünf Jahren in der Chácara und weitere 11 seit sechs bis elf Jahren. Hauptgrund für den grossen Anteil neuer Jungen in der Chácara ist einerseits ein vor allem in den Jahren 2002 und 2003 abgelaufener Generationenwechsel. Viele der in den Jahren 1994 bis 1997 eingezogenen Jungen zogen ganz oder beinahe volljährig mit Beginn der selbständigen Arbeitstätigkeit aus. Gleichzeitig wurden im Jahr 2004 ein weiteres Gebäude und zusätzliche Zimmer in renovierten Gebäuden sowie Anfang 2005 ein Haus in der Stadt bezugsbereit, wodurch um die 30 weitere Jungen aufgenommen werden konnten. Mit der Intensivierung der Arbeit mit den Familien der Jungen, dem Ausbau der Dienstleistungen für die Gemeinde, in der sich die Chácara befindet und der Unterstützung von anderen Projekten und Behörden in der Arbeit mit Strassenkindern hat die Chácara zudem den Kreis von zusätzlichen Nutzniessern in einer Art erweitert, welche sowohl den direkt beteiligten weiteren Personen als auch wiederum den Kindern und Jugendlichen der Strasse zugute kommt. Zusammenfassend kann deshalb die Chácara bezüglich der Erreichung ihres Zieles, Jungen der Strasse aufzunehmen, als effektiv beurteilt werden. Ein residentielles Projekt für Kinder und Jugendliche der Strasse kann nur wirksam sein, wenn diese in ihm verbleiben. Wie in Kapitel 4.1.2 aufgeführt, besteht die (Über-) Lebensstrategie der Kinder und Jugendlichen unter anderem 252

darin, dass sie Umfelder, in denen die Lebensbedingungen aus ihrer Wahrnehmung untragbar sind, verlassen und/oder Umfelder aufsuchen, in denen sie ihre Ansprüche an Lebensqualität und Zukunft eher verwirklichen zu können glauben. Es muss deshalb angenommen werden – und die Praxiserfahrung der Autorin in Projekten entspricht dieser These – dass die Kinder und Jugendlichen eines residentiellen Projektes, wenn es ihnen physisch möglich ist, „mit den Füssen stimmen“ und gegebenenfalls ein Projekt verlassen. Um diesen Aspekt besser zu kontrollieren und über eine Grundlage für etwaige Anpassungen innerhalb der Organisation zu verfügen, wird an dieser Stelle der Chácara und anderen, auf Freiwilligkeit basierenden residentiellen Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse empfohlen, eine Fluktuationsstatistik zu führen und wenn immer möglich Austrittsgründe der Kinder und Jugendlichen zu erfassen. Dies bedeutet, dass auch die Erwartungen bezüglich der optimalen Aufenthaltsdauer im Projekt definiert werden müssen. Ergänzt werden können derartige Informationen durch die Befragung der im Projekt lebenden Kinder und Jugendlichen nach ihren Gründen für den Verbleib und durch die Befragung von Kindern und Jugendlichen auf der Strasse danach, was sie in einer residentiellen Organisation erwarten. Diesem letzteren Aspekt der Qualität bzw. Qualitätserhebung ist Kapitel 5.2 gewidmet. 5.1.2.2 Förderung der Fähigkeiten der Jungen Wie in Kapitel 4.4 dargestellt, unternimmt die Chácara eine Grosszahl von Aktivitäten und beteiligt sie die Jungen in hohem Masse an der Gestaltung der Chácara mit dem Ziel, ihre Fähigkeiten im Bereich des Lernens und der Reflexion, des Zusammenlebens, des staatsbürgerlichen Handelns und der Veränderung zu fördern. Vor dem Hintergrund pädagogischen und entwicklungspsychologischen Wissens muss auf Grund der Art und Gestaltung der Aktivitäten angenommen werden, dass sich diese positiv auf die genannten Fähigkeiten der Jungen und damit auf die diesbezügliche Effektivität der Chácara auswirken. Da die Definition des Zieles der Förderung von Fähigkeiten jedoch erst als Resultat der empirischen Untersuchung entstand, konnte im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht strukturiert untersucht werden, inwieweit die Chácara bezüglich dieser Ziele effektiv ist. Bezüglich der schulischen Fähigkeiten lässt sich zeigen, dass alle Jungen die Schule besuchen und zwar mit dem Ziel des Abschlusses der Oberstufe. Im Juni 2005 besuchten die meisten in der Chácara lebenden Jungen, nämlich 33, die Unterstufe. Dies entspricht der Tatsache, dass in den Jahren 2003 bis 2005 eine grössere Anzahl eher jüngerer Jungen neu in die Chácara eingetreten war. 253

Weitere 27 besuchten die Mittel- und 5 die Oberstufe. Insgesamt 3 kürzlich eingetroffene Jungen standen noch vor der Einschulung, während 1 Junge die Oberstufe abgeschlossen hatte und zwei Jungen an der Universität studierten. Die Entwicklung bezüglich Leistung und Verhalten in der Schule wird, wie in Kapitel 4.4.1 erwähnt, durch eigens dafür in der Chácara mitarbeitende Pädagoginnen überwacht und begleitet sowie durch verschiedene unterstützende Massnahmen wie Nachhilfeunterricht, Aktivitäten zur Förderung der Lernfähigkeit, inhaltlich erweiterten Unterricht und psychologische Gruppenarbeit sowie Einzelbetreuung gestärkt. Der Chácara liegen organisierte Daten zu Schulleistung und -verhalten ihrer Jungen vor, aus welchen hervorgeht, dass gute schulische Fortschritte erzielt werden. Viele der Jungen holen gar in wenigen Jahren den ganzen Schulstoff nach, wie Beispiele von Jungen zeigen, welche im Alter von 11 oder noch mehr Jahren nicht lesen und schreiben konnten und mit 20 Jahren eine gute Universität besuchen. Von den älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen gingen im Juni 2005 insgesamt 6 neben ihrer schulischen oder universitären Ausbildung (welche nachts stattfindet) einer bezahlten Tätigkeit nach. Alter

Schulniveau

Tätigkeit

16

Oberstufe

Banklehre/-mitarbeit

17

Oberstufe

18

Oberstufe

19

Oberstufe 3. Jahr Universität (Business Administration) 2. Jahr Universität (Rechnungswesen)

Buchhaltungsbüro Büro der Chácara, zuvor 2 Jahre Banklehre Industriebetrieb

21 22

Erzieher in der Chácara Industriebetrieb

Abbildung 20: Berufliche Tätigkeiten in der Chácara lebender Jungen (Stand 30.6.2005) Im Jahr 2005 traten ein dann 24-jähriger ehemaliger Junge, der bereits als Erzieher in der Chácara arbeitete, und im Jahr 2006 der oben erwähnte 18-jährige als nun 20-jähriger in die Universität ein. Ersterer studiert Sozialarbeit und führt ein eigenes Präventionsprojekt für Kinder seiner Favela, letzterer absolviert ein Studium der Touristik. Im Dezember 2006 arbeiteten insgesamt 15 ältere Jugendliche und junge Erwachsene in Firmen, davon vier bei Banken im Rahmen von Ausbildungsprogrammen. Alle führten daneben ihre schulische oder universitäre Ausbildung fort. 254

In der Beobachtung der Jungen sowie in wiederholten Gesprächen mit ihnen – zum Teil über nunmehr 11 Jahre – ist der Eindruck entstanden, dass diese nicht nur bezüglich ihrer schulischen Fähigkeiten tatsächlich eine Entwicklung durchmachten. Ein Beispiel für eine Veränderung von Fähigkeiten lässt sich mit einem Erlebnis der Autorin mit der Ende 1994 eingetretenen Gruppe der Jungen illustrieren. Als sie die Jungen im Mai 1995 kennen lernte, lösten diese die meisten Alltagsfragen mit viel – gelegentlich auch aggressiv getönter – Lebhaftigkeit und Lärm, mit der Durchsetzung der einen und dem Rückzug oder dem Nachgeben anderer Jungen. Ein Jahr später kam die Autorin an einem Abend zum Haus der Gruppe und hatte zunächst den Eindruck, dass diese nicht zu Hause sei, weil es so still war. Als sie eintrat, erblickte sie die Gruppe der zwölf 11- bis 14-Jährigen zu ihrer grossen Überraschung um einen Tisch sitzend, jeder mit Papier und Bleistift vor sich, in eine Diskussion über die Planung der Chácara vertieft, bei der einer nach dem anderen sprach, Argumente ausgetauscht und schliesslich ein Konsens gefunden wurden. Da immer wieder Gespräche zwischen Erziehenden und Jungen beobachtet werden konnten, in denen gesagt wurde, dass sich „alles mittels Reden lösen lasse“184, und Evaluation und Planung, wie in Kapitel 4.5.2.3 beschrieben, ständig in der Praxis eingeübt und durchgeführt werden, ist die Autorin überzeugt, dass die pädagogischen Massnahmen der Chácara tatsächlich Veränderungen im Verhalten der Jungen im Sinne der Ziele bewirken. Auf anekdotischer Basis liegen zahlreiche Evidenzen für Veränderungen seitens der einzelnen Jungen und der Jungengruppen vor. Die folgenden Zitate werden in ihrer ganzen Länge aufgeführt, weil der Diskurs der beiden Jungen die seitens der Chácara vorgebrachten Argumente für eine Veränderung und deren Wirkung aufzeigt, also in beiden Fällen die Effektivität der Chácara bezüglich Sozialverhalten aus der Sicht der Jungen belegt: Frage: Wie warst Du, als Du hier ankamst? Antwort: (...) Lass mich sehen ... ich war gewalttätig, und zwar ziemlich [stark gewalttätig]. Frage: Wann warst Du gewalttätig? Antwort:Ah, so mit den Jungen, wenn wir Streit anfingen, dann habe ich ... den Kopf verloren (lacht etwas verlegen). Ich war ziemlich gewalttätig. Jetzt bin ich es nicht [mehr]. Jetzt bin ich ganz ruhig. In Frieden mit allen. Deshalb habe ich hier viele Freunde. Es war so ... als ich hier ankam, kannte ich auch kaum jemanden; ich sprach mit niemandem, [und] jetzt kennen mich alle ... ich glaube, alle mögen mich ... einige nicht, nicht wahr ... [aber] ich glaube, die Mehrheit [schon]. Frage: Und was geschah, dass Du die Gewalt bleiben liessest?

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„Tudo se resolve pela conversa.“ In der Chácara viel gehörter, vom Koordinator, den Erziehenden, aber auch von Jungen geäusserter Satz.

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Antwort: Ah, es war mit den Erziehenden, im Gespräch; Fernando, der mit mir sprach, und so begann ich, die Gewalt bleiben zu lassen. (...) Ich beschloss, nicht mehr mit den Jungen zu streiten. Ich hatte auch viele Freundschaften wegen Streitereien verloren, also brachten diese nichts. Ich verlor deswegen viele Dinge. Also hörte ich auf damit. Jetzt bin ich nicht mehr gewalttätig. Jetzt bin ich ganz ruhig. (...) Ja, es gab viele Dinge. Die Ausbildungstreffen, zu denen ich ging ... an denen über Gewalt gesprochen wurde ... so lernte ich es. (16-jähriger Junge, Eintritt 22. Mai 2005, Interview, 6. Mai 2003)

Und: Frage: Und wie war jene Gruppe der Jüngeren im zweiten Haus? Antwort: Ah, sie waren alle ... „lass uns Unfug anstellen“ ... alles Kinder, nicht wahr, viele Streitereien (...), wir waren Kinder, nicht wahr, wir mussten unsere Kindheit leben, die wir bis zu jenem Moment nicht gehabt hatten, und für die es hier nun eine Möglichkeit gab – also taten wir dies. Frage: Welchen Einfluss hatte dies auf das Zusammenleben im Haus? Antwort: Um die Wahrheit zu sagen, wollte am Anfang jeder mächtiger als der andere sein, denn so hatten wir schon im Stadtzentrum gelebt. Es kam nicht darauf an, ob einer klein oder gross war, aber jeder wollte den anderen herum kommandieren, schon von klein auf, und hier [in der Chácara] war es nicht anders. Dann lehrten uns die Erziehenden, dass es so nicht geht, dass wir gleichberechtigt leben müssten und keiner den anderen herumbefehlen solle. Wir müssen um Gleichberechtigung kämpfen, nicht wahr, denn ausserhalb [der Chácara] ist es ja anders. [Die Erziehenden] waren es, die unsere Denkweise veränderten [und uns beibrachten], dass die Welt schon voll von dieser Machtorientierung („maioral“) ist, dass jeder mächtiger als der andere sein will, und so versuchten sie, uns etwas anderes beizubringen. So fingen wir an, es zu lernen. Frage: Und als ihr dann schon einige Zeit in der Chácara verbracht hattet, etwas älter wart und die Chácara besser kanntet, wie war da das Zusammenleben? Antwort: Ja, da war es besser, denn, je mehr wir uns entwickelten, desto mehr wurde uns bewusst, dass wir ein gutes Zusammenleben haben mussten, denn [zuvor] waren wir diskriminiert worden und vieles mehr, und deshalb mussten wir einander helfen und nicht jeder den anderen fertig machen. Je grösser wir wurden, desto vernünftiger wurden wir. (19-jähriger Junge, Eintritt Anfang 1995, Austritt ca. Oktober 2002, Interview, 27. März 2003)

Vorhandene schriftliche Zeugnisse wie die gerade erwähnten sowie die sich über 11 Jahre erstreckenden Beobachtungen sind für die Autorin klare Hinweise darauf, dass die Chácara die Fähigkeiten der Jungen im schulischen und Verhaltensbereich, aber auch in der Übernahme von Verantwortung stark fördert. Das Thema der Stärkung derjenigen Fähigkeiten, welche die Jungen als „Protagonisten ihrer eigenen Förderung“ im Sinne der Definition der Chácara 256

benötigen, bietet sich für eine künftige Studie mit entwicklungspsychologischer Ausrichtung an. Ein Element einer solchen Studie könnte der Versuch sein, diese Fähigkeiten genauer zu definieren und die diesbezügliche Effektivität der Chácara empirisch zu erheben. Anderen Organisationen kann empfohlen werden, festzustellen, ob sie über ein Konzept der Entwicklung der betreuten Kinder und Jugendlichen verfügen, welche innerhalb ihrer Strukturen ablaufen bzw. gefördert werden soll. In Kapitel 1 wurden Erkenntnisse kürzlich erstellter Studien zitiert, die darauf hinweisen, dass eine beträchtliche Anzahl von entsprechenden Institutionen keine oder ungenügende Förderungsmassnahmen anbieten. Die Einführung solcher Massnahmen bedingt, dass ein grundlegendes Konzept der Entwicklung vorliegt, die gefördert werden soll. Im Rahmen der Massnahmen selbst dürfte es für Institutionen interessant sein, analog der Chácara nicht defizit-orientiert zu handeln (also Massnahmen nicht auf eine Behebung „devianten“, „kriminellen“ oder „moralisch verdorbenen“ Verhaltens auszurichten), sondern auf dem aufzubauen, was die Betreuten an persönlichen Ressourcen und Potentialen mitbringen. 5.1.2.3 Stärkung der persönlichen Grundlagen der Jungen Wie in der Aktivitätenanalyse in Kapitel 4.5.1 gezeigt wurde, führt die Chácara eine grosse Anzahl von Aktivitäten durch, um die persönlichen Grundlagen der Jungen zu stärken. Dabei werden besonders das schulische, berufliche und gesellschaftliche Wissen, die Gesundheit, die Entwicklung von Wertvorstellungen, die kulturelle Verankerung, Arbeit und Einkommen sowie die familiäre Verankerung der Jungen berücksichtigt. Auf die schulische Ausbildung ist im vorherigen Kapitel bereits eingegangen worden. Zu den Resultaten, welche in diesem Zusammenhang erreicht werden, liegen von Seiten der Chácara keine umfassenden und detaillierten Daten vor. Dennoch gibt es Hinweise, die sich zum Beispiel aufgrund der Ausbildungen und Berufstätigkeit erwerbstätiger Jungen, aber auch in Hinblick auf die Zusammenarbeit mit ihren Familien herleiten lassen. Folgende Momente legen die Annahme nahe, dass persönliche Grundlagen der Jungen gestärkt worden sind: Berufsausbildungen wurden unter anderem durch Kurse ermöglicht, die in der Chácara durchgeführt wurden. So schloss im Jahr 1995 eine Klasse von 12 Jugendlichen einen in Zusammenarbeit mit einem öffentlichen Bildungsinstitut durchgeführten Elektrikerkurs mit dem Diplom ab. Andere Jungen nahmen an öffentlichen, anerkannten Kursen zur allgemeinen oder spezifischen Vorbereitung auf Berufstätigkeiten innerhalb und ausserhalb der Chácara teil.

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Dank des aufgebauten Netzwerkes, welches auch eine Anzahl von Geschäftsleuten umfasst, gelingt es der Chácara zudem seit einigen Jahren, Jugendlichen im erwerbsfähigen Alter Arbeitsplätze im formellen Sektor zu vermitteln. Ausser der Junge wünsche dies selbst, trennt sich die Chácara von keinem Jungen im erwerbsfähigen Alter, ohne diesem eine Arbeitsstelle vermittelt zu haben. Eine Anzahl erwachsen ausgetretener Jugendlichen arbeitet tagsüber und besucht nachts die Schule, mit dem Ziel, später ein Studium aufzunehmen. Einige von ihnen besuchen bereits nachts die Universität. Weitere Angaben zum Werdegang ehemaliger Jungen finden sich in Kapitel 5.1.3 zum Thema der Nachhaltigkeit. Nach Einschätzung von Mitgliedern der Chácara kann und muss die Effektivität im Bereich der beruflichen Ausbildung und Berufstätigkeit noch gesteigert werden. Vor dem Hintergrund von Informationen aus anderen Organisationen – zum Beispiel denjenigen der in Kapitel 1 zitierten staatlichen Studien, welche befanden, dass viele der untersuchten Institutionen für Kinder und Jugendliche keine solche, den Anforderungen des Kinderrechtsstatuts entsprechende Vorbereitung auf das Berufsleben bieten – entsteht der Eindruck, dass die diesbezügliche Effektivität der Chácara jedoch um einiges höher ist als in einer Anzahl von anderen residentiellen Projekten für Kinder und Jugendliche der Strasse. Was die familiäre Verankerung der Jungen betrifft, hat die Chácara seit Anbeginn grossen Wert darauf gelegt, die Familien, mit denen die meisten Jungen jeden Kontakt verloren hatten, wieder aufzufinden. Die auf die Familie bezogene Arbeit mit den Jungen und ihren Angehörigen hat dazu geführt, dass mit wenigen Ausnahmen die meisten Jungen einen Teil ihrer Schulferien und bestimmte Wochenenden bei Verwandten verbringen können. Familiäre Schwierigkeiten, welche mit zum Gang der Jungen auf die Strasse geführt hatten, konnten zum Teil erheblich gemildert werden, sei es durch begleitende Gespräche, ermöglichte Therapien bei Suchtproblemen oder die Vermittlung von Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätzen für Familienangehörige. Mitglieder der Chácara beklagen jedoch, dass nicht genugend finanzielle Ressourcen vorhanden seien, um die Arbeit mit den Familien nach ihren Wünschen weiter auszubauen. Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit in Brasilien, der erst langsamen Einführung von Konzepten der Berufslehre, den schlechteren Startbedingungen für Personen aus armen Verhältnissen und der gemäss staatlichen Studien ebenfalls spielenden Diskrimination von Personen, die nicht weisser Hautfarbe sind (wozu die meisten Strassenkinder gehören), kommt der Frage der Berufsausbildung und Integration in die Arbeitswelt besondere Bedeutung zu. In der Chácara werden zum Zeitpunkt der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit eine Anzahl von weiteren Schritten diskutiert, darunter: eine noch stärkere Fokussierung auf die Vermittlung von allgemeinen, in der Berufswelt nötigen Einstellungen und Fähigkeiten, Berufsberatung und Schnupperlehren für Jugend258

liche, ein noch systematischeres Vorgehen bei der Kontaktaufnahme und Betreuung der Geschäftsleute, welche Stellen vermitteln können, und eine systematische Begleitung der arbeitenden älteren Jungen und jungen Erwachsenen185. Für andere Organisationen wird empfohlen, dass sie Vorhandensein und Inhalt eines Konzeptes dessen prüfen, was mit den von ihnen betreuten Kindern und Jugendlichen geschehen soll, wenn sie die Organisation als Erwachsene verlassen. Die Vorbereitung auf einen Beruf und die Hilfe beim Erlangen einer Arbeitsstelle müssen hier als Grundbedingung für ein eigenständiges (und durch legale Tätigkeiten finanziertes) Erwachsenenleben bezeichnet werden. Analog der Chácara empfiehlt sich der Aufbau guter Kontakte zu Firmen und die ständige Beschaffung von Informationen über entsprechende Initiativen seitens der Regierung, von Arbeitgeberverbänden und anderen Instanzen. Auch die Förderung allgemeiner, für Berufsausbildung und Arbeit notwendiger Fähigkeiten sowie Berufsberatung und die Begleitung in entsprechenden Ausbildungen oder Anstellungen befindlicher Jugendlicher und junger Erwachsener sollten vermehrt in Betracht gezogen werden. 5.1.2.4 Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen Wie gezeigt wurde, hat die Chácara ebenfalls das Ziel, die gesellschaftlichen Bedingungen zugunsten der Jungen derart zu beeinflussen, dass die Jungen auf eine aufnahmebereite und -fähige Gesellschaft zählen können. Mit ihrem in Kapitel 4.4.3.1 beschriebenen grossen Netzwerk von Personen aus den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft, welche aktiv an der Chácara teilhaben, trägt sie tatsächlich zu einer solchen Verbesserung bei. Während der Feldforschung konnte die Autorin mehrfach beobachten, dass Mitglieder staatlicher Behörden die Chácara aufsuchten. So waren zum Beispiel bei den Feiern zum zehnjährigen Bestehen der Chácara im Oktober 2003 unter anderem der für sämtliche sozialen Leistungen gegenüber Kindern und Jugendlichen – inklusive den Jugendstrafvollzug – zuständige Staatssekretär für Arbeit, Beschäftigung und soziale Förderung des Staates Paraná anwesend, aber auch der für die gesamte Arbeit der Polizei verantwortliche Staatssekretär für öffentliche Sicherheit des Staates Paraná, zwei Staatsanwälte, mehrere (Jugend-) Richterinnen und Richter, der gesamte Gemeinderat und weitere Behördenmitglieder der Gemeinde Mandirituba sowie Mitglieder der Sozialbehörden der Stadt Curitiba. 185

Diese Diskussion wurde unter anderem von der Autorin vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung im Personalwesen mitausgelöst.

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In einem Land wie Brasilien, welches stark von einem schichtspezifischen Denken geprägt ist, das heisst, über eine Gesellschaft verfügt, in der ein tiefer nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch sozialer Graben zwischen privilegierteren und weniger privilegierten Schichten liegt, ist die Anwesenheit von Personen wie den gerade genannten in einem Projekt für Strassenkinder ein eher ungewöhnliches und darum umso bedeutsameres Ereignis. Zwei Aussagen sollen hier als anekdotische Hinweise darauf zitiert werden, dass die Effektivität der Chácara bezüglich der Herstellung eines die Jungen aufnehmenden sozialen Umfelds als positiv beurteilt werden kann. Sie stammen von zwei der erwähnten Personen. Beiden wird ein hoher sozialer Status zugeschrieben und beide haben direkten Einfluss auf die Chácara und/oder auf die Politik gegenüber Kindern und Jugendlichen auf der Strasse. Ihre Aussagen können in gewissem Sinne als eine Umkehrung von herkömmlichen sozialen Haltungen verstanden werden. So dankt der Bürgermeister dafür, dass er und die Gemeindebehörden in die Chácara eingeladen worden sind, bezeichnet die Jungen nicht als Strassenjungen, sondern als Söhne und die Chácara als Haus für ganz Mandirituba: Vielen Dank, Fernando, für die Einladung und für die Gelegenheit, welche Du der Exekutive und Legislative hier in deinem Haus gibst, im Haus deiner Söhne, einem Haus, welches zu einem Haus für Mandirituba geworden ist. (Luiz Carlos Chimin Claudino, Bürgermeister von Mandirituba, öffentliche Ansprache zum zehnjährigen Jubiläum der Chácara, 4. Oktober 2003)

Gemäss der Aussage des Generalstaatsanwaltes sind die Jungen verantwortlich für den Erfolg der Chácara und verdienen dafür den Beifall der Gesellschaft. Er betont die grosse Anstrengung, die sie unternommen haben, und sagt, dass die Jungen die Staatsanwaltschaft von Paraná viel gelehrt hätten: Die hauptsächlichen Verantwortlichen für den Erfolg des Projektes [der Chácara] sind die Jungen; sie verdienen den Applaus, allen nur erdenklichen Applaus, der Gemeinde Mandirituba, der Gesellschaft von Paraná und von Brasilien. Sie sind das Beispiel, dass sie, wenn sie die richtige Chance erhalten, für sich und ihre Angehörigen ein besseres Leben aufbauen können. Wer eine der grössten Ehrungen hier erhalten muss, sind die Kinder der Strasse, Herr Staatssekretär [für Arbeit, Beschäftigung und soziale Förderung]; sie sind es, die uns vieles gezeigt und gelehrt haben. Ich sage, dass ich viel von den Jungen von Quatro Pinheiros gelernt habe. (...) Ich habe viel von den Jungen von Quatro Pinheiros gelernt, und die Jungen von Quatro Pinheiros haben meine Institution viel gelehrt; die Staatsanwaltschaft des Staates Paraná hat viel von den Jungen von Quatro Pinheiros gelernt. (Dr. Olímpio de Sá Sotto

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Maior Neto, Generalstaatsanwalt für Kinderrechte des Staates Paraná, öffentliche 186 Ansprache zum zehnjährigen Jubiläum der Chácara, 4. Oktober 2003)

Wie ein Protokoll von einem weiteren Anlass des zehnjährigen Jubiläums der Chácara zeigt, gibt es auch Vertreterinnen der Sozialbehörde der Stadt Curitiba, welche angeben, von der Chácara zu lernen: [Die Vertreterin der Sozialbehörde] sagte, dass die Stadtbehörden die Chácara mit einem kleinen bisschen unterstützten und dass die Chácara in Tat und Wahrheit einen grösseren Beitrag an [die Arbeit der Behörden von] Curitiba geleistet habe als umgekehrt. Sie sagte, dass die Stadtbehörden viel von Fernandos Arbeit gelernt hätten, zum Beispiel hinsichtlich der „Casa do Piá“ (staatliches Haus für Jungen der Strasse in Curitiba, welches früher unter anderem von Jungen stark kritisiert wurde), in der sie früher gearbeitet habe. Sie erinnerte sich daran, wie sie Fernando zu Beginn seiner Arbeit jeweils durch die Strassen von Curitiba habe wandern sehen, wo er viel erreichte, obwohl er über keinerlei physische oder materielle Struktur verfügte. Sie erinnerte sich auch, dass die Stadtbehörden damals eine sehr gute physische Struktur [für die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen der Strasse] hatten, und dass sie sich fragte, weshalb diese [in ihren Institutionen] nicht so viel erreichten wie Fernando und die Gruppe der Chácara. Sie sagte, sie sei sehr glücklich und beeindruckt, wenn sie die Chácara und die Jungen jetzt sehe, und hoffe, dass sich ein verstärkter Erfahrungsaustausch aufbauen lasse, um die Betreuung der Kinder und der Jugendlichen [seitens der Stadtbehörden] noch mehr zu verbessern. Sie sagte, sie sei immer froh, wenn ein Junge in die Chácara gebracht werde, denn diese mache eine Arbeit, die funktioniere. (Protokoll der Chácara des Jubiläumsanlasses vom 10. Oktober 2003)

Die Tatsache, dass es, wie bereits erwähnt, heute Geschäftsleute gibt, welche Jungen der Chácara als gewissenhafte und gute Arbeitskräfte schätzen und ihnen in einem Arbeitsmarkt Stellen anbieten, in welchem Personen armer Herkunft und besonders auch afrobrasilianischer Herkunft meist benachteiligt sind, kann nach Erachten der Autorin ebenfalls als positives Resultat im Rahmen der Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen für die Jungen gesehen werden, ebenso die Tatsache, dass Jungen und Familien im möglichen Rahmen wieder zueinander gefunden haben. Die hier beschriebenen Erfahrungen der Chácara zeigen, dass ein aus einer Bürgerbewegung in einer Favela entstandenes Projekt verschiedene Bereiche der Gesellschaft positiv beeinflussen kann, darunter auch für Sozialpolitik, Jugendstrafvollzug und Jugendfürsorge zuständige Behörden. Ein interessanter und nützlicher Schritt könnte es sein, diese Kontakte und Wirkungen strukturiert zu 186

Die Autorin kennt beide Redner und ist der Überzeugung, dass die hier zitierten Aussagen ernst gemeint und nicht etwa Höflichkeitsfloskeln sind.

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dokumentieren und zwar sowohl aus der Sicht der Organisation als auch aus der Sicht der beteiligten Personen, Behörden und Firmen, und daraus eine Art Ratgeber für die Interaktion zwischen diesen verschiedenen Akteuren zu erstellen. Damit könnte der Blick auf mögliche gemeinsame gesellschaftliche Fortschritte geöffnet werden. 5.1.3 Nachhaltigkeit In Wirklichkeit war die Chácara die Türe, die offene Türe zu unserer Zukunft. Die Chácara war meine Familie, sie half mir, dass ich zu dem wurde, was ich heute bin, die mir Kraft gab, sich um mich kümmerte. Ja, sie war alles, sie war meine Mutter, sie war mein Vater, sie war meine Geschwister. Sie war alles für mich, sie war eine mehr als nur wichtige Sache in meinem Leben. Sie war etwas, das mich geprägt hat, das mein Leben verändert hat, das nicht so einfach ausgelöscht werden kann, niemals, und alles, was ich von jetzt an erreiche, werde ich dank der Chácara erreichen. (19-jähriger Junge der Chácara, Eintritt mit 11 J., Austritt mit 19 J., Student der Betriebswirtschaft und seit 2004 Erzieher und Englischlehrer der Chácara. Interview, 27. März 2003)

Hohe Nachhaltigkeit wird, wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, als „eine dauerhafte Fortsetzung der erzielten Nutzen und Wirkungen eines Vorhabens auch nach dessen Beendigung“ definiert. Im Fall der Chácara bedeutet dies, dass sich das Konzept der Nachhaltigkeit darauf bezieht, wie sich das Leben der Jungen nach ihrem Austritt aus dem Projekt entwickelt. Ein Hinweis auf die so definierte Nachhaltigkeit ergibt sich aus informellen Notizen über die zweite Gruppe der Jungen, welche die Autorin bereits im Jahr 1997 für ihre praktische Arbeit in der Chácara und nicht spezifisch für die Forschungsarbeit zu erstellen begann, weshalb sie nicht vollständig bzw. vollständig detailliert sind. Zum Zeitpunkt eines Aufenthaltes der Autorin in der Chácara im Jahr 1997 lebten dort 21 Jungen. Die meisten von ihnen (ca. 12) waren zwischen 13 und 15 Jahre alt, die Mitglieder von zwei kleineren Gruppen (ca. 4 bzw. ca. 3) waren zwischen 9 und 12 beziehungsweise zwischen 16 und 18 Jahre alt. Im Jahr 2006, also neun Jahre später, war die Lebenssituation dieser, unterdessen bis auf zwei aus der Chácara ausgetretenen Jungen, gemäss den Auskünften, welche die Autorin beschaffen konnte, die folgende: Von den 21 Jungen verblieben 15 bis zum 18. Lebensjahr bzw. bis zur Berufstätigkeit in der Chácara, während sechs Jungen das Projekt kurz vor Errei262

chung des 18. Lebensjahrs auf eigenen Wunsch verliessen. Es hat sich gezeigt, dass das Alter von etwa 16 bis 17 Jahren insofern ein kritisches ist, als sich die Jungen oftmals bereits erwachsen und auf ein eigenständiges Leben vorbereitet wähnen, dies jedoch noch nicht wirklich sind. Aufgrund der erwähnten Austritte unternimmt die Chácara seit mehreren Jahren verstärkte Anstrengungen in Richtung der Bindung der Jungen in diesem Alter an das Projekt, indem in der Chácara motivierende Aufgaben zur Verfügung gestellt und der schulischen Ausbildung und beruflichen Förderungen zusätzliche Aufmerksamkeit geschenkt werden. Obwohl gelegentlich noch ein älterer Junge die Chácara verlässt, kommt dies gemäss den Auskünften von Mitarbeitenden inzwischen nur noch selten vor. Die der Chácara in Kapitel 5.1.2.1 vorgeschlagene Erstellung einer Fluktuationsstatistik und Erhebung von Austrittsgründen könnten hier weitere Klarheit schaffen. Was die Jungen betrifft, welche bis zur Erreichung der Volljährigkeit bzw. der Berufstätigkeit in der Chácara verblieben, waren der Autorin Anfang des Jahres 2006 folgende Informationen bekannt: Insgesamt acht Jungen standen, zum Teil seit Jahren, im Arbeitsleben im formellen Sektor. Gegenwärtige und vorhergegangene Arbeitsbereiche umfassten unter anderem Tätigkeiten in Administration/Sekretariat in grösseren Firmen der Region sowie der katholischen Universität und der Chácara, die Beschäftigung in einer Bäckerei, in einer Bank, in der Autozulieferindustrie, Englischunterricht in der Chácara und in einer privaten Sprachschule sowie Stellen als Erzieher in der Chácara, in einem Projekt der Halbgefangenschaft, als Gründer und Leiter eines Präventionsprojektes für Kinder in einer Armensiedlung und als Fussballtrainer eines Erstligisten in der Chácara. Neben ihrer Arbeitstätigkeit besuchten wie bereits erwähnt drei Jungen die Universität, davon einer in Betriebswirtschaft (3. Jahr), einer in Rechnungswesen und Sport (3. Jahr) und einer in Sozialarbeit (2. Jahr). Häufig üben diese Jungen mehrere Tätigkeiten nebeneinander aus. So arbeitete der Student der Sozialarbeit zunächst tagsüber als Erzieher in der Chácara und ist nun als Mitarbeiter in einem Projekt der Halbgefangenschaft tätig. Er besucht nachts (jeweils von 19 bis gegen 24 Uhr) die Universität und führt in seiner Freizeit das Projekt, welches er in der Armensiedlung seiner Herkunft mit seiner Frau und weiteren Freiwilligen aufgebaut hat und welches etwa 30 Kindern im Alter von etwa 7 bis 12 Jahren Beschäftigung und Nachhilfe ausserhalb der Schulzeit anbietet sowie Lebensoptionen fern von Drogenhandel und Strasse aufzuzeigen versucht. Weitere drei Jungen, welche bis zur Erreichung der Volljährigkeit und Berufstätigkeit in der Chácara verblieben waren, übten verschiedene, meist eher kurzfristige Tätigkeiten aus, und zwar teils im formellen, teils im informellen Sektor. Einer von ihnen war teilweise in den Bereich illegaler Aktivitäten gerutscht und versuchte, sich wieder davon zu lösen. Ein weiterer hatte sich nach 263

einigen Schwierigkeiten, welche mit seiner ursprünglichen Drogenabhängigkeit in Verbindung standen, sowohl in seinem beruflichen als auch im familiären Leben wieder gefangen. Der dritte hatte länger erfolgreich gearbeitet, war dann jedoch, ausgelöst durch familiäre Probleme, in eine Armensiedlung gezogen, in der er unter den Druck der dortigen Banden geriet. Nach seinem mit Hilfe der Chácara verwirklichten Weggang hatte er Mitte des Jahres 2006 wieder einen festen Wohnsitz sowie einen Arbeitsplatz gefunden. Von den übrigen vier Jungen, welche bis zur Erreichung der Volljährigkeit und Berufstätigkeit in der Chácara geblieben waren, konnten zwei beruflich nicht längerfristig Fuss fassen. Gemäss den Auskünften anderer Jungen stand dies unter anderem in Zusammenhang mit dem finanziellen Druck, dem die Familien der Jungen ausgesetzt waren, sowie mit den (illegalen) Einkommensmöglichkeiten, welche in den Siedlungen, in die sie zurückkehrten, offen standen. Während einer von ihnen deshalb zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, verstarb der andere im Jahr 2004, also drei Jahre nach seinem Austritt aus der Chácara, im Alter von 21 Jahren im Spitaltrakt eines Gefängnisses an einer Lungenentzündung, die möglicherweise im Zusammenhang mit AIDS aufgetreten war. Ein weiterer Junge wurde nach seiner Rückkehr zu seiner Familie HIV-positiv und konsumierte Drogen. Der vierte Junge dieser Gruppe, der im Jahr 1995 als 9-Jähriger in die Chácara gekommen war, hatte sich über die gesamte Zeit seines Aufenthaltes sehr gut entwickelt. Er lebte zuletzt im Haus der „grossen“ Jungen in Curitiba, arbeitete und schloss die Schule ab, mit der Absicht, danach die Aufnahmeprüfung an die Universität zu machen. Im Mai 2005 übersiedelte er in eine Favela, mit dem Wunsch, dort lebende Verwandte zu unterstützen und ein selbständiges Erwachsenenleben zu führen. Vermutlich im Zusammenhang mit dort existierenden Banden sowie finanziellen Problemen, aber auch aufgrund eines gewissen jugendlichen Übermutes, begann er, Geschäfte zu überfallen und Kassen auszurauben. Ende Dezember 2005 wurde er im Alter von 19 Jahren zusammen mit einem Kollegen im Anschluss an einen Raub in einem Supermarkt im Haus, in dem er sich versteckt hatte, von einem Grossaufgebot von Polizisten erschossen. Es ist angeführt worden, dass sechs Jungen der im Jahr 1997 in der Chácara lebenden Gruppe vor Erreichung des Erwachsenenalters ausgetreten sind. Einer dieser Jungen führte ein von Alkohol und Drogen, aber auch Gewalt geprägtes Leben auf der Strasse und verbüsst eine längere Gefängnisstrafe. Ein weiterer verliess die Chácara und kehrte zu seiner Familie zurück, übersiedelte jedoch im Zusammenhang mit finanziellen Schwierigkeiten und Drogenkonsum nach einiger Zeit wieder auf die Strasse. Wegen Taschendiebstahls und anderer Kleinvergehen verbrachte er daraufhin, mit jeweils mehrmonatigen Unterbrüchen, insge-

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samt drei Jahre in Gefängnissen187. Er hält, ob auf der Strasse oder im Gefängnis, weiterhin Kontakt mit der Autorin und schreibt ihr, wenn immer dies möglich ist. Im Jahr 2004 nutzte er einen Aufenthalt in Freiheit dazu, die Chácara aufzusuchen und mit den dort lebenden Jungen ein langes Gespräch über seine (äusserst beklemmenden) Erfahrungen im Gefängnis zu führen. Dabei riet er ihnen, ihre Chance in der Chácara besser zu nützen, als er selbst dies getan habe. Über den Verbleib eines weiteren Jungen ist nichts bekannt; möglicherweise ist er nicht mehr am Leben. Er war wiederholt zwischen Chácara, Verwandten und Strasse hin und her gependelt.188 Weitere drei der vorzeitig ausgetretenen Jungen leben in Favelas bei ihren Familien oder in der Nähe derselben und erhalten sich mittels Gelegenheitsarbeiten im informellen Sektor. Einer von ihnen teilte der Autorin im Jahr 2003 mit, dass er es sehr bereue, die Schule nicht beendet zu haben, und, dass er versuchen wolle, dies nun nachzuholen. Ob ihm dies wirtschaftlich möglich sein wird, scheint fraglich. Wie ist nun die Nachhaltigkeit der Chácara am Beispiel dieser Gruppe zu beurteilen? In Kapitel 4.3.1.1 wurde erwähnt, dass viele Organisationen Jungen wie diejenigen der Chácara, welche als „Jungen der Strasse“ ohne erwachsene Begleitung ganzzeitlich auf der Strasse gelebt hatten, nicht aufnehmen würden, da die Meinung verbreitet ist, dass bei solchen Jungen keine Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Situation bestehe. Die Tatsache, dass zwei Drittel (14) der Jungen der damaligen Gruppe neun Jahre später ein eigenständiges Leben (u.a. ohne illegale Tätigkeiten) führen, davon acht im formellen Beschäftigungssektor, dass drei Jungen erfolgreich ein Universitätsstudium absolvieren, vier als Erzieher in der Chácara tätig sind und einer, nach mehreren Jahren als Erzieher in der Chácara ein eigenes Präventionsprojekt für Kinder aufbaut und führt, zeigt ein ganz anderes, wesentlich positiveres Bild vom Potential dieser Zielgruppe. Jungen, welche zum Zeitpunkt der Feldforschung im Gefängnis sassen, auf der Strasse lebten oder in illegale Tätigkeiten involviert waren, konnten nicht strukturiert zu ihrer Beurteilung der Chácara befragt werden. Es gibt jedoch verschiedene Hinweise darauf, dass die Chácara auch auf Jungen eine positive Wirkung gehabt hat, welche als ältere Jugendliche oder junge Erwachsene nach ihrem Austritt in Schwierigkeiten gerieten. Dazu gehören Aussagen in persönli187

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In Brasilien gibt es eine „Zero-Tolerance-Policy“. Wer ein zweites Mal bei einem kleinen Vergehen wie zum Beispiel einem Taschendiebstahl erwischt wird, erhält automatisch eine bis zu zweijährige Gefängnisstrafe. Der Autorin sind mehrere Gefangene bekannt, die wegen eines – wiederholten – Diebstahls (zum Beispiel eines Pullovers und eines T-Shirts) zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurden und eine noch längere Strafe als diese absitzen mussten, weil vergessen wurde, sie nach Ablauf der Strafe zu entlassen. Bevor er, beinahe volljährig, endgültig austrat, sorgte er dafür, dass einer seiner Cousins und über diesen dessen jüngerer Bruder von der Strasse in die Chácara eintreten konnten. Beide sind in der Chácara geblieben und entwickeln sich persönlich, schulisch und beruflich positiv.

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chen Briefen des oben erwähnten Jungen, der als junger Erwachsener wiederholt Gefängnisstrafen wegen Kleinkriminalität abgesessen und mit Drogenabhängigkeit zu kämpfen hat, sowie die Tatsache, dass er eine Haftentlassung zur Beratung der noch in der Chácara lebenden Jungen nützte. Aufschlussreich erscheint zudem die Beobachtung, dass die meisten Jungen, welche länger in der Chácara lebten und später in schwierige Situationen gerieten, mit wenigen Ausnahmen den Kontakt mit dem Projekt aufrechterhalten und sich positiv über dieses äussern. Wie schwierig Nachhaltigkeit jedoch zu bewerten ist, zeigt der Fall des Jungen, welcher sich während etwa acht Jahren in der Chácara persönlich und schulisch sehr gut entwickelte und dann im Anschluss an einen Raub in einem Supermarkt zu Tode kam. In einen Raub war er beim Eintritt in die Chácara als kleiner Junge nie verwickelt gewesen. Während sechs oder sieben Jahren war er einer der sich sehr gut entwickelnden Jungen, der häufig als positives Beispiel erwähnt wurde. An seinem Fall zeigt sich besonders dramatisch, dass die Chácara die Entwicklung und das Schicksal eines Jungen nicht vollständig und nicht für immer positiv beeinflussen kann. So schreibt der ältere, ebenfalls in der Chácara aufgewachsene Bruder des Jungen in seinem Nachruf: [Mein Bruder] war etwas Besonderes für alle, die ihm begegneten. Er gewann Menschen leicht für sich. Es gelang ihm, zu einer Person mit Gefühlen, Charakter und Haltung zu werden. Die Chácara machte ihn zum Mann und rechten Menschen. Aber Menschen begehen Fehler. Seiner kostete ihn das Leben. [Mein Bruder] hatte eine gute Ausbildung, aber er liess sich mit den falschen Leuten ein. Er begann, Drogen zu nehmen, und, als wir kein Geld hatten, zu stehlen. (...) Am Tag des Raubes, bei dem er starb, stritten wir beinahe, weil ich nicht wollte, dass er hinging. Er sagte, dies sei der letzte. Er werde Geld beschaffen für Essen, Miete und einen Ausweis für eine Bewerbung. (21-jähriger ehemaliger Junge, Eintritt Ende 1994, Austritt Ende 2002, Brief an den Verein Freunde brasilianischer Strassenkinder, Mai 2006)

So stellt sich bezüglich der Nachhaltigkeit die Frage, welcher Grad der Nachhaltigkeit angestrebt werden kann und soll, und in welchem kleineren oder grösseren Zeitraum nach Austritt des Jungen aus der Chácara diese beurteilt werden soll. Obwohl die Chácara aufgrund der hier erwähnten Informationen als nachhaltig bezeichnet werden kann, wäre eine spezifische Untersuchung der Nachhaltigkeit ihrer Wirkung auf die Jungen sehr wünschenswert. Dazu würde gehören, sinnvolle und realistische Kriterien der Nachhaltigkeit einer solchen Organisation zu definieren, welche die Entwicklung der von ihr betreuten Personen stark fördern, deren Zukunft jedoch nicht vollumfänglich beeinflussen kann. 266

5.2 Wahrgenommene Lebensqualität in der Organisation Ich stand mit dem Auto an einer roten Ampel in Curitiba und hatte das Fenster heruntergelassen. Da kam ein etwa dreizehnjähriger Junge ans Fenster. Er hielt ein Messer in der Hand und sagte mit rauer und bedrohlich klingender Stimme: „He, rück dein Geld heraus!“ Ich sagte: „Kenne ich dich nicht aus der Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros?“ Da wurde er sofort ganz rot im Gesicht vor Verlegenheit, versteckte das Messer hinter seinem Rücken und sagte: „Tut mir leid, Tante189, bitte entschuldige.“ Dann ging er vom Auto weg an den Strassenrand. Dort drehte er sich noch einmal um und winkte mir zu. Frage: Kanntest Du ihn denn von der Chácara? Nein (schmunzelt), aber die meisten Jungen der Strasse wissen von der Chácara und halten sie für ein gutes Projekt, in dem die Jungen gut behandelt werden. Deshalb würden sie niemandem von dort etwas antun. (Mündliche Mitteilung einer freiwilligen Mitarbeiterin der Chácara, April 2005. Zwei weitere Frauen erzählten der Autorin ähnliche Geschichten.)

Im Zusammenhang mit der effektiven Zielerreichung durch die Chácara wurde bereits erwähnt, dass diese die von ihr angestrebten Ziele nur erreichen kann, wenn die Jungen sie für ein gutes Projekt halten, sich auch wirklich in ihr niederlassen und längerfristig in ihr bleiben. Da der Aufenthalt der Jungen in der Chácara im Gegensatz zu vielen anderen Institutionen freiwillig ist, ist die Chácara in dieser Hinsicht besonders gefordert. Als Qualität definiert werden soll hier deshalb der Grad der Lebens- und Organisationsqualität, welchen die Zielgruppe während ihres Aufenthaltes dem Projekt aufgrund ihrer eigenen Kriterien (sic!) zuweist. Es wird als Ergänzung zum vorgängig vorgestellten Konzept von Qualität als Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit verstanden. Im Rahmen der Forschungsarbeit interessierte, welche qualitativen Anforderungen an Wohnheime für Jungen der Strasse in den Texten der Kinder und Jugendlichen der Chácara und in den Interviews mit ihnen genannt werden, und welche davon sie gemäss ihren eigenen Berichten in der Chácara erfüllt oder nicht erfüllt sehen. Um dies zu erheben, wurden insgesamt 172 Textstellen analysiert, in welchen die Jungen Aspekte der Chácara sowie anderer Organisationen, welche sie aus eigener Anschauung kannten, explizit oder im Kontext als positiv, negativ oder auch wichtig bezeichnet hatten. Die Textstellen umfassen den Zeitraum von 189

Mit Tante, „tia“, werden sowohl mit der Familie befreundete Frauen als häufig auch in Projekten arbeitende Frauen angesprochen.

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1994 bis 2004 und entstammen etwa hälftig von in Zusammenhang mit der Forschung gemachten und davon unabhängigen Aussagen von über 40 Jungen aller Altersstufen. Die folgende Tabelle zeigt die aufgrund einer induktiven Analyse gebildeten Dimensionen und Kategorien der Qualität, welche in den genannten Textstellen vorkommen. Dabei ist zu beachten, dass Textstellen häufig mehrere Aussagen beinhalteten, die entsprechend in unterschiedliche Kategorien Eingang fanden. Zusammenleben der Jungen (60) • Allgemein (10) í Gutes Zusammenleben, gutes Miteinander (9) í Man lernt Zusammenleben (1) • Keine Gewalt, keine Misshandlung (21) • Respekt füreinander und für Erziehende (10) í Besitz respektieren (nicht stehlen, nicht in Sachen anderer wühlen) (4) í Selbstrespekt (2) í Respekt für andere (2) í Neue gut behandeln (1) í Respekt für Erziehende (1) • Friede, kein Streit, Ruhe (7)

Projekt allgemein besser als Leben vorher (28) • Besser als Strasse (14) • Besser als ausserhalb des Projektes (7) • Besser als Familie (3) • Keine Todesgefahr (2) • Keine Polizisten/Verhaftung (1) • Keine bösen Leute/Gefahren (1) Aufenthaltsbedingungen und -regeln (22) • Organisation, die längerfristig besteht (12) • Freiwilliger, freiheitlicher Aufenthalt (8) • Ort, an dem man bleiben will (2)

• Freundschaft, Zuneigung (6) • Miteinander reden (5)

í Können miteinander reden (1)

Gesundheit (22) • Keine Drogen, Alkohol und Zigaretten (16) • Möglichkeit, sich gut auszuruhen (3)

í Verspotten einander nicht (1)

• Keine Verletzungsgefahr (1)

í Fluchen nicht (3)

• Halten Ordnung (1)

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• Von Drogen gesunden können (1) • Bietet Hygiene (1)

Verhalten der Erziehenden (41)

Materielle Grundversorgung (19)

• Keine Aggression, keine Gewalt (12)

• Nahrung (10) • Allgemein: hat alles, was man braucht (4)

• Gerechte, lehrreiche Disziplinierung (8) í Können mit Jungen reden, wissen wie (5) í Auch mal Lob, Belohnung, Dank (3) í Keine Überreaktionen (2)

• Decken/Bett (2) • Dach über dem Kopf (2) • Kleider (1)

í Lehrreiche Strafen (2) í Reden mit Jungen (1)

Aktivitäten (27)

í Lösen Konflikte im Gespräch (1)

• Schulbesuch (8)

í Behandeln Jungen gerecht (1)

• Spielen, Freizeit (6)

• Echtes Interesse und Zuneigung (7) • Pädagogische Kompetenz allgemein (5) í Handeln pädagogisch (2) í Lernen Erziehen immer besser (1) í Haben pädagogische Ausbildung (1) í Haben pädagogische Fähigkeiten (1) • Rolle (3)

• Arbeit (4) í Berufsbildung/Vermittlung von Arbeit (2) í Mitarbeiten/mithelfen (1) í Keine Sklavenarbeit (1) • Ausflüge (3) • Tiere (3) • Sport (1)

í Ansprechperson im Konfliktfall (1)

• Computer (1)

í Helfen bei Krisen (1)

• Musik (1)

í Sind Vorbild (1) • Sind nicht von der Polizei (3)

Ort (19)

• Organisation/Koordination (3) í Arbeiten zusammen/besprechen sich (1) í Planen Aktivitäten (1)

• Distanz zu Drogen/Strasse (15) • Natur/frische Luft (3) • Keine Distanz zur Familie (1)

í Sind organisiert (1)

Abbildung 21: Dimensionen und Kategorien der von den Jungen erwähnten Aspekte der Qualität von residentiellen Organisationen für Jungen der Strasse (in Klammer Anzahl Nennungen)

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Wie die Tabelle zeigt, erwähnen die Jungen Aspekte von Qualität, welche sich in acht Dimensionen gliedern lassen. Diese stehen teilweise im Zusammenhang mit den Zielen der Jungen, so zum Beispiel die Erreichung eines von positiven zwischenmenschlichen Beziehungen geprägten Umfeldes (siehe Kapitel 4.3.2). Zudem beziehen sie sich jedoch auch auf Aspekte der organisationalen Strukturen und Prozesse. Diese betreffen die Lebensbedingungen während des Aufenthalts in der Chácara und anderen Projekten. Dabei fallen besonders viele Nennungen in zwei Dimensionen, bei welchen es um die Beziehungen zwischen den in der Organisation lebenden und arbeitenden Menschen und speziell um das Handeln zwischen ihnen geht. (Dimensionen „Zusammenleben der Jungen“ (60 Nennungen) und „Verhalten der Erziehenden“ (41 Nennungen). Aus den beiden Dimensionen entsteht der Eindruck, dass sich die Jungen eine Organisation wünschen, in welcher ein Miteinander besteht, welches von echter Zuneigung und Respekt sowohl der Jungen untereinander als auch zwischen den Erziehenden und den Jungen geprägt ist und nicht durch aggressive und gewalttätige Interaktionen, sondern durch Gespräche reguliert wird. Im Fall der Erziehenden scheint dies für die Jungen auch zu heissen, dass diese eine pädagogisch kompetente Rolle einnehmen. Das folgende Zitat eines 12-jährigen Jungen illustriert dies: Frage: Stellen wir uns vor, dass es da ein Projekt gibt, und wir gehen zum ersten Mal dorthin und wollen wissen, ob es ein gutes Projekt ist oder ein schlechtes, was sind dann die Dinge, die wir uns ansehen müssen oder von diesem Projekt wissen müssen? Antwort: Man sieht es am Zusammenleben und auch an den Erziehenden und ihrer Organisation, wie sie ihre Sitzungen machen, wie sie leben, daran sehen wir es. Frage: Und wie muss ein Erzieher sein? Antwort: Ein Erzieher muss Geduld haben, um sich um 40 oder 50 Jungen zu kümmern, nicht wahr. Frage: Und was dürfen Erziehende nicht tun? Antwort: Erziehende dürfen nicht aggressiv auf einen Jungen losgehen wegen einer Kleinigkeit; sie dürfen nicht physisch aggressiv sein. Zum Beispiel, wenn [ein Junge] ein Durcheinander auslöst und ein Erzieher kommt und ihn am Ohr zieht und ihm ein paar haut, dann ist das nicht das Richtige. Das Richtige ist, dass er sich mit dem Jungen hinsetzt und mit ihm spricht. (...) Frage: Stellen wir uns vor, wir sind Erzieher. Wir können hauen, wir können ein Gespräch führen. Wenn wir den Jungen hauen, was passiert dann? Antwort: Ich würde mit Fernando (dem Koordinator) sprechen, und Fernando würde mit dem Erzieher sprechen. (...) Frage: Und wenn der Erzieher mit dir sprechen würde? Ist dann etwas anders? Antwort: Ja! Weil er dann nur redet, nicht auf den Jungen losgeht und ihn auch nicht verletzt, und auch, weil wir durch das Gespräch mehr begreifen. Denn, wenn alles

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durch Schläge gelöst würde, würden wir niemals etwas begreifen. (12-jähriger Junge, Eintritt 27. August 2002, Interview, April 2004)

Ein erwachsen gewordener Junge kommentiert denselben Aspekt: Bevor ich mit [den Erziehenden der Chácara] gesprochen hatte, dachte ich, dass sie so seien, wie die missratenen Kerle in den anderen Projekten; ich dachte, dass sie auf dieselbe Art „Erzieher“ seien. Als ich sie dann kennen lernte, sah ich aber, dass sie ganz anders waren, wirklich feine Leute, die eine gute Arbeit machten. Alles an ihnen war gut. Sie gaben uns Unterstützung, lehrten uns, was falsch ist und was richtig, erzogen uns wirklich. Sie nahmen ihre Aufgabe als Erziehende wahr und schlugen uns nicht. Sie erzogen uns auf die richtigste Weise, die es gibt, nämlich durch Gespräche und durch Zeigen [wie man Dinge tut]. Nicht so, wie in den anderen Projekten, wo die Erziehung, die jene Typen auf uns anwendeten, auf Prügeln und anderem mehr beruhte. (20-jähriger Junge der Chácara, Eintritt Ende 1994, Austritt Ende 2002, seit Mitte 2003 Vorstandsmitglied der Chácara. Interview, 27.3.2003)

Die Autorin vermutet, dass das Verständnis der Jungen dafür, wie ein pädagogisch kompetentes Verhalten seitens der Erziehenden aussieht, durch ihre Erfahrung in der Chácara zusätzlich gestärkt worden ist. Aus der Indignation, mit der auch neu eingetretene Jungen über Angestellte anderer Organisationen und Institutionen, aber generell auch von anderen Erwachsenen im Umfeld der Familie oder der Strasse berichten, von deren Hand sie Erniedrigung, Gewalt und/oder Missbrauch erlebt haben, leitet die Autorin jedoch ab, dass sie durchaus bereits eine Vorstellung davon mitbringen, welche Verhaltensweisen von verantwortlichen Erwachsenen als negativ und welche als positiv zu beurteilen sind. Im Weiteren geht aus den Aussagen der Jungen hervor, dass für sie ein gutes Wohnheim eine echte Alternative darstellt zu den Bedingungen, welche sie andernorts erlebt haben, das heisst, dass das Leben in ihm besser ist als das frühere (Dimension „allgemein besser als vorher“). Der Aufenthalt darin soll auf freiwilliger Basis möglich und freiheitlich gestaltbar sein, und zwar einerseits, weil der Junge dies so wünscht, und anderseits, weil die Organisation ja längerfristig besteht (Dimension „Aufenthaltsbedingungen und -regeln“). Diese Aussage bezieht sich unter anderem klar auf die Nachhaltigkeit der Organisation an sich, und zwar im Sinne einer einfachen Definition von Nachhaltigkeit als Beständigkeit. In den Augen der Jungen muss eine Institution sowohl verfügbar als auch (auf freiwilliger Basis) zugänglich sein, damit sie als positiv empfunden wird. Wichtig ist den Jungen ebenfalls, dass die Organisation ihrer Gesundheit zuträglich ist, wozu sie vor allem das Nichtvorhandensein von Drogen, Alkohol und Zigaretten zählen (Dimension „Gesundheit“). 271

Ein gutes Projekt stellt in den Augen der Jungen auch ihre materielle Grundversorgung sicher (Dimension „Materielle Grundversorgung“) und bietet verschiedene Aktivitäten der Freizeit, aber auch der Berufsbildung, lässt die Mitarbeit der Jungen zu, missbraucht deren Arbeitskraft aber nicht (Dimension „Aktivitäten“). Im Weiteren sind die Jungen der Meinung, dass ein gutes Projekt fern von Drogen und Strasse lokalisiert sein muss (Dimension „Ort“). Auffällig ist, dass die Jungen sich im Rahmen ihrer Wünsche an die Qualität im Projekt nicht in erster Linie hedonistisch äussern, und dass sie auf Aspekte der Organisation an sich Bezug nehmen, so zum Beispiel bei der Erwähnung von „lehrreichen Strafen“ und in detaillierten Beschreibungen der Anforderungen an Erziehende. Aus Aussagen wie der oben zitierten entsteht der Eindruck, dass die hier angesprochenen Jungen ein tieferes Verständnis für pädagogische Verhaltensweisen und für die Strukturen ihrer Organisation haben. Dies ist vermutlich nicht zuletzt eine Folge des hohen Grades ihres Einbezugs sowohl in die konzeptionelle als auch in die praktische Gestaltung und Entwicklung der Chácara, wie sie in Kapitel 4.5.2.1 beschrieben wurde. Wie in Kapitel 4.1.3.4 gezeigt, haben die Jungen ihren Lebenskontext auf der Suche nach besseren (Über-)Lebensbedingungen immer wieder verändert oder verändern müssen. Es kann vermutet werden, dass diese Tatsache ihr Bewusstsein für Strukturen und Abläufe in den verschiedenen Kontexten zu einem Grad gefördert hat, der signifikant über das Bewusstsein derjenigen Kinder und Jugendlichen hinausgeht, welche nie mit solchen Situationen konfrontiert waren. Im Weiteren geht aus den Aussagen der Jungen auch hervor, dass ihre Qualitätskriterien häufig auf einem Vergleich verschiedener Kontexte und besonders auch verschiedener Institutionen basieren, in denen sie sich schon aufgehalten haben. Die meisten Jungen haben sich vor der Chácara in anderen Institutionen aufgehalten, die sie später wieder verliessen. Die Frage der Evaluation der Qualität eines Projektes stellt sich für sie ganz konkret und ist, angesichts der in Kapitel 1 zitierten Berichte über Missstände in solchen Organisationen, für ihr Wohlergehen von grosser Bedeutung. Die oben aufgeführten Dimensionen wurden induktiv aus Aussagen gewonnen, welche die Jungen sowohl zur Chácara, als auch zu anderen Institutionen gemacht hatten. Wie beurteilten sie nun die Qualität der Chácara bezüglich dieser Dimensionen? Das „Zusammenleben der Jungen“ in der Chácara wurde von den Jungen mit 31 Nennungen positiv beurteilt. In 4 Kategorien wurde darauf hingewiesen, dass sich dieses über die Zeit verbessert hätte („Selbstrespekt“, „Respekt für andere“, „Respekt für Erzieher“ und „Miteinander-Reden“). Der Aspekt „Friede, kein Streit, Ruhe“ wurde je viermal positiv und negativ erwähnt. Eine mögliche Interpretation dafür ist, dass einerseits in der Chácara mehr Friede als zum Bei272

spiel auf der Strasse wahrgenommen wird, dass es aber trotzdem zu Streitereien unter den Jungen kommt. In 2 Textstellen beklagten Jungen den Gebrauch von Fluchwörtern unter den Jungen und in 1 mangelnde Ordentlichkeit der Jungen. Im Gegensatz dazu gab es nur 1 positive Erwähnung bezüglich des „Zusammenlebens der Jungen“ in anderen Institutionen, jedoch 14 negative Erwähnungen, wovon sich 11 auf Streit und (u.a. sexuelle) Gewalt sowie 3 auf Diebstahl unter den Jungen bezogen. In 1 Textstelle wurde hingegen die Absenz von Diebstählen unter den Jungen anderer Projekte positiv erwähnt. Das „Verhalten der Erziehenden“ der Chácara wurde von den Jungen mit 15 Nennungen positiv beurteilt. In 3 Kategorien wiesen sie darauf hin, dass sich das Verhalten der Erziehenden gegenüber früher verbessert habe („keine Aggression/Gewalt“, „können mit Jungen reden, wissen wie“ und „keine Überreaktion“). Während in 1 Textstelle erwähnt wurde, dass gutes Verhalten belohnt werde, hielten 2 Textstellen fest, dass den Jungen für ihre Mitarbeit zuwenig gedankt werde. Eine weitere Aussage bezog sich auf mangelnde Aktivitätenplanung seitens der Erziehenden. Über das „Verhalten der Erziehenden“ in anderen Projekten äusserten sich die Jungen der Chácara mit der Ausnahme von drei Erwähnungen negativ. In insgesamt 16 Textstellen kritisierten sie mangelnde Fachkompetenz, mangelnde Motivation sowie in 6 Fällen Gewalt und Misshandlungen. In 3 Textstellen wurde im Weiteren angemerkt, dass Polizisten anstelle von Erziehenden in den Projekten arbeiteten. Mit 27 positiven Nennungen wurde die Chácara von den Jungen als „Allgemein besser als vorher“ geschildert. Ebenfalls positiv erwähnt wurde, dass ein längerfristiger Aufenthalt in der Chácara möglich sei (4 Nennungen) sowie, dass im Projekt Freiheit herrsche. Im Gegensatz dazu wurde bezüglich anderer Projekte kritisiert, dass diese nicht längerfristig Bestand hätten (12 Nennungen), bzw. dass sie derart seien, dass man nicht längerfristig in ihnen verbleiben wolle (2 Nennungen). In 4 Textstellen wurde erwähnt, dass den Jungen in anderen Projekten keine Freiheiten eingeräumt würden bzw. dass sie in diesen eingesperrt seien (3 Nennungen). Bezüglich der Dimension „Gesundheit“ in der Chácara wurde in 2 Textstellen erwähnt, dass es zu Beginn der Chácara noch zu Problemen mit Drogen und Zigaretten gekommen sei. Positiv erwähnt wurde, dass hier keine Verletzungsgefahr bestehe. Im Gegensatz dazu kritisierten die Jungen in 4 Textstellen den in anderen Projekten vorkommenden Drogenkonsum unter den Kindern und Jugendlichen, während in 1 Textstelle ein Junge die Absenz von Drogenkonsum in einem anderen Projekt positiv erwähnte. Die „Materielle Grundversorgung“ in der Chácara wurde mit 12 Nennungen positiv beurteilt; in 1 Textstelle wurde darauf verwiesen, dass zu Beginn des Pro273

jektes teilweise nicht genug Nahrung vorhanden gewesen sei. Ebenfalls in 12 Nennungen erwähnten die Jungen die „Materielle Grundversorgung“ in anderen Projekten positiv. Auch die „Aktivitäten“ der Chácara wurden von den Jungen mit insgesamt 17 Nennungen positiv beurteilt („Schulbesuch“ (7), „Spielen/Freizeit“ (2), „Berufsbildung/Vermittlung Arbeit“ (2), „mitarbeiten/helfen“ (1), „Ausflüge“ (2), „Tiere“ (2), Sport (1)). Die „Aktivitäten“ in anderen Projekten wurden in 5 Nennungen negativ bewertet (keine Freizeit/Spielmöglichkeiten (3), Sklavenarbeit (1) und keine Schule (1)). In 1 Nennung wurde hingegen die Möglichkeit des Schulbesuchs in einem anderen Projekt positiv erwähnt. Der „Ort“ der Chácara wurde von den Jungen in 11 Nennungen ebenfalls positiv beurteilt („Distanz Drogen/Strasse (8), „Natur/frische Luft“ (3). In 1 Nennung wurde hingegen die geographische Distanz der Chácara von der Familie des Jungen bemängelt. Der „Ort“ anderer Projekte wurde von den Jungen kritisiert, und zwar in 14 Nennungen, welche mangelnde geographische Distanz der Projekte zur Strasse und zum Drogenhandel in den Armensiedlungen betrafen. Ganz allgemein äussern sich die Jungen sehr positiv über die Chácara. Aus vielen informellen Gesprächen ging hervor, dass sie in anderen Projekten nicht geblieben waren, weil eine oder mehrere ihrer Anforderungen – wie zum Beispiel der Wunsch nach Gewaltfreiheit – nicht erfüllt wurden. So erwähnten sie wiederholt, dass die Chácara ihre letzte Chance bzw. Hoffnung gewesen sei, und dass sie ohne diese heute wohl nicht mehr am Leben wären. Die Anforderungen der Kinder und Jugendlichen an ein residentielles Projekt müssen erfüllt werden, damit diese im Projekt verbleiben und das Projekt seine Arbeit in Richtung der geplanten Wirkungen entfalten kann. In welcher Weise kann dies am besten geschehen? Die hier erwähnten Aussagen der Jungen geben wohl einen Einblick in die Anforderungen, welche sie an die Lebensqualität in der Chácara und in anderen Institutionen stellen. Dieser Einblick kann jedoch nicht als vollständig bezeichnet werden, da er nicht einer diesbezüglich gezielten Untersuchung entspringt. Wenn zuvor die Kontingenz und Dynamik der Organisation erwähnt wurde, muss an dieser Stelle zudem darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den erwähnten Aussagen um Momentaufnahmen des jeweiligen Zeitpunkts des Interviews oder des Verfassens eines Textes handelt sowie um die persönlichen Ansichten einzelner Jungen. Während ihren Aufenthalten in der Chácara hat die Autorin den Eindruck gewonnen, dass sich die Bedürfnisse der Jungen über die Zeit ändern können. So wurden zum Beispiel im Jahr 1995 Computer in der Chácara nie erwähnt, während im Jahr 2005 mehrere neu eingetroffene, jüngere Jungen an ihrem ersten Tag forderten, am Computer- und Englischunterricht teilnehmen zu können, da sie sonst das Projekt wieder verlassen würden. Andere 274

Forderungen, wie diejenige nach einem positiven zwischenmenschlichen Umgang unter Kindern und Erwachsenen oder nach einer Abwesenheit von Gewalt und Misshandlung, scheinen eher stabil zu bleiben. In weiteren Bereichen scheinen die Anforderungen unter anderem vom Bewusstsein der Jungen um pädagogische und organisationale Fragen oder auch von ihrem persönlichen Entwicklungsstand abzuhängen, so zum Beispiel, wenn sie „lehrreiche Strafen“ verlangen. Diese Überlegungen führen zum Schluss, dass in einem Projekt, welches, wie die Chácara, von seinen jugendlichen und erwachsenen Mitgliedern als Lebensraum verstanden wird, Qualität nicht nur hinsichtlich der Organisationsziele beurteilt werden kann, sondern auch in Bezug zur Lebensqualität im Projekt gesetzt werden muss. Die Anforderungen der Kinder und Jugendlichen an die Chácara müssen als Qualitätsdimension verstanden werden, weil sie es sind, die anwesend und motiviert sein müssen, wenn die Organisation ihre Ziele erreichen soll. Deshalb wird hier die von den Betreuten wahrgenommene „Lebensqualität im Projekt“ für residentielle Projekte als eigentliches Qualitätskonzept definiert, und zwar zusätzlich zu dem in Kapitel 5.1 dargestellten Konzept von Qualität als Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit. Es wird Organisationen mit ähnlicher Ausrichtung empfohlen, die Anforderungen der jeweiligen Gruppe von Kindern und Jugendlichen (und unter Umständen auch diejenigen der erwachsenen Mitarbeitenden) an die Organisation zu erheben. Darüber hinaus sollte mit allen Beteiligten ein Dialog über Verhaltensweisen – darunter auch pädagogische – und über strukturelle und prozessuale Aspekte geführt werden, welche den Organisationsalltag beeinflussen. Diese Massnahme kann der Entwicklung des Qualitätsverständnisses und -bewusstseins in der Organisation dienlich sein, indem sie zum Beispiel das Verständnis der betreuten Kinder und Jugendlichen für nötige, aber nicht in jedem Moment angenehme Aspekte wie zum Beispiel das Aufräumen des eigenen Zimmers, den Schulbesuch und andere mehr fördert. Auf dieser Basis sollte ein eigentliches Management der Qualitätsdimension „Lebensqualität in der Organisation“ möglich sein, und zwar nicht nur zur Steigerung des Wohlbefindens der Kinder und Jugendlichen, sondern vor allem auch zur entsprechenden Überprüfung und Weiterentwicklung von organisationalen Strukturen und Prozessen, der Selektion und Ausbildung von Mitarbeitenden und anderem mehr.

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5.3 Adaptivität der Organisation Die beiden bisher vorgestellten, einander ergänzenden Konzepte von Qualität erlauben es, Aspekte der Organisation in Momentaufnahmen zu bewerten. Wie bereits erwähnt, werden sie durch diese Charakteristik der Dynamik und der Kontingenz von Organisationen jedoch nicht vollumfänglich gerecht. Dynamik und Kontingenz von Organisationen bedeuten, dass in Organisationen ständig adaptive Prozesse ablaufen müssen, mit denen sie an innere und äussere Veränderungen angepasst werden. Dabei geht es sowohl um eine Aufrechterhaltung von Aspekten der Organisation trotz äusserer und innerer Veränderungen als auch um eine Anpassung von Aspekten der Organisation aufgrund von Veränderungen. Wehner, Ostendorp & Ostendorp (2002, S. 48) sprechen darum von einer „Balance zwischen Beständigkeit (...) und Wandel über die Zeit hinweg“. Die Erziehenden der Chácara erwähnen im Zusammenhang mit der Beständigkeit oft die „Identität“ der Chácara. Im Jahr 2003 fiel zudem auf, dass sie begannen, den Begriff der „Veränderung“ („mudança“) der Organisation durch den Begriff „Erneuerung“ („renovação“) zu ersetzen. Die allgemeinen Definitionen der bereits vorgestellten Konzepte der Qualität – Relevanz der Ziele, Effektivität der Zielerreichung, Nachhaltigkeit und wahrgenommene Lebensqualität – verändern sich nicht aufgrund des organisationalen Wandels. Was sich jedoch verändert, sind die Inhalte und die organisationalen Strukturen und Prozesse, welche mittels dieser Qualitätskonzepte bewertet werden. Dies bedeutet, dass der organisationale Wandel aktiv gestaltet werden muss, um die Qualität wie bisher zu erreichen oder gar zu verbessern. Eine aktive und gesteuerte Wandlung wird als Organisationsentwicklung bezeichnet. Dabei geht es nicht nur um Verbesserungen. Organisationen müssen aufgrund ihrer Dynamik und Kontingenz nur schon deshalb entwickelt werden, damit ihre bestehende Leistungsfähigkeit aufrechterhalten werden kann. Liefert sich eine Organisation passiv und/oder ungesteuert inneren und äusseren Veränderungen aus, verliert sie ihre Leistungsfähigkeit und sogar ihre Daseinsberechtigung unter Umständen sehr schnell. Es wurde bereits erwähnt, dass es Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse gibt, die sich ab einem gewissen Punkt nicht mehr weiterzuentwickeln scheinen. Es wird vermutet, dass dieser Punkt möglicherweise bei denjenigen Institutionen, deren Mitglieder über kein Konzept der Organisation verfügen, besonders früh in der Institutionsgeschichte auftritt. Weiter kann angenommen werden, dass er oft dann eintritt, wenn in der Organisation der Eindruck entsteht, man habe nun alles, was man brauche – zum Beispiel genügend Finanzen –, oder man habe nun die Organisation in ihren Strukturen so aufgebaut, wie es gut sei. Die Autorin hat im Staat Paraná drei einheimische Organisationen kennen ge276

lernt (zwei kirchliche und eine private), bei denen dies geschehen zu sein scheint. Ein Kennzeichen war die – dank ausländischer Finanzierung – sehr gute physische Infrastruktur dieser Institutionen kombiniert mit einer rasch zurückgehenden Zahl von Kindern und Jugendlichen, welche in der jeweiligen Infrastruktur lebten. Da es in diesen Institutionen keine Misshandlung und ähnliche Probleme gab, lag die Interpretation nahe, dass sie im Gegensatz zu früher nicht mehr dergestalt organisiert waren, dass sie den Bedürfnissen ihrer Zielgruppen und den Bedingungen ihrer Umwelt gerecht wurden. Unabhängig voneinander gemachte Bemerkungen von Verantwortlichen dieser drei Institutionen unterstützten diese Vermutung, äusserten sie doch Erleichterung darüber, dass ihre Institutionen jetzt endlich nach Jahren des Kampfes gesichert seien und nicht mehr die grossen und ermüdenden Anstrengungen der ersten Jahre unternommen werden müssten. Die bereits vorgestellten Qualitätskonzepte beinhalten die Bewertung des Grades, zu dem festgelegte Anforderungen von der Organisation erreicht wurden. Im Zusammenhang mit den Zielen der Chácara wurde erwähnt, dass die Definition solcher Anforderungen gerade dann schwierig ist, wenn diese sich auf menschliche Entwicklung beziehen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen entsteht das Bedürfnis nach einer Definition von organisationaler Qualität, welche sich auf den Weg der Organisation hin zu „Relevanz“, „Effektivität“ und „Nachhaltigkeit“ sowie „wahrgenommene Lebensqualität“ bezieht. Dafür bietet sich der Blick auf die adaptiven Aspekte in der Organisation an. In Kapitel 2.5 wurden im Rahmen der Einführung in die Theorie Aspekte von Organisationen aufgeführt, welche zu deren Adaptivität – ihrer inhärenten Anpassungsfähigkeit – beitragen. Diese sind: ƒ ƒ

Die laufende Durchführung eines antizipierenden und proaktiven Organisationsentwicklungszyklus. Die organisationale Kapazität zu dessen effektiver Gestaltung und Durchführung.

Es ist einsichtig, dass diese Aspekte aufgrund der Erkenntnisse der Organisationslehre zu Kontingenz und Dynamik der Organisation für alle Arten von Organisationen relevant sind. In der Folge sollen sie nun anhand des Beispiels der Chácara näher erläutert werden. Dabei werden die im vorgängigen Kapitel im Rahmen der Phänographie dargestellten Erkenntnisse beigezogen und hinsichtlich der Adaptivität der Chácara diskutiert.

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5.3.1 Organisationsentwicklungszyklus Es muss in der Organisation ein Organisationsentwicklungszyklus vorhanden sein, damit diese sich an veränderte äussere und innere Umstände anpassen kann. Ein solcher besteht aus einer Abfolge von Analyse, Planung, Handlung, Analyse/Evaluation und erneuter Planung und Handlung. Wie in Kapitel 2.5.2 dargestellt, werden diese Elemente von verschiedenen Autoren unterschiedlich bezeichnet. Sie finden sich aber in gleicher Art und Abfolge sowohl in den Ansätzen der Entwicklungszusammenarbeit (welche oft auf die Aktionsforschung bezogen werden) und der Betriebswirtschaft als auch im Konzept der von brasilianischen Basisorganisationen häufig verwendeten „Bewusstmachung“ („Conscientização“) Freires (1973) und der darauf aufbauenden „Befähigung grosser Gruppen“ („Capacitação Massiva“) von Morais (siehe Carmen, 1996; Carmen & Sobrado, 2000). Die in Kapitel 4 präsentierten Resultate der empirischen Untersuchung zeigen, dass in der Chácara ein Organisationsentwicklungszyklus durchgeführt wird. Zunächst verfügt die Chácara über die wichtigste Basis dafür: Sie wird von ihren Mitgliedern als Organisation mit Gestaltungsbedarf verstanden (siehe Kapitel 4.6). Im Weiteren entspricht der ursprüngliche Gestaltungsprozess der Chácara einem Organisationsentwicklungszyklus, begann er doch mit einer Phase der Analyse und der Zieldefinition, und wurden erst dann und auf dieser Basis die Strukturen und Prozesse gestaltet, welche zur Erreichung der Ziele führen sollten (siehe Kapitel 4.6.2). Ebenfalls der Grundstruktur eines Organisationsentwicklungszyklus zugeordnet werden kann die in Kapitel 4.5.2.3 geschilderte Ausführungsmodalität der evaluativen Gestaltung der Handlung in der Chácara. Gerade aufgrund dieses Moments kann geschlossen werden, dass hier ein ständiger Prozess der Organisationsentwicklung abläuft, wie es Sorgenfrei und Wrigley (2005, S. 8) fordern. Das folgende Zitat entstammt einem Gruppengespräch mit Erziehenden, in welchem diese spontan auf das Thema der Veränderung und Gestaltung der Chácara zu sprechen kamen. Es weist darauf hin, dass dieser Prozess – ebenfalls im Sinn von Sorgenfrei und Wrigley – auch antizipierend und proaktiv ist. Erzieherin 1: Die Chácara erneuert sich immer wieder. Erzieher 1: Genau. Erzieherin 2: Jeden Tag. Erzieher 2: Entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen. Erzieherin 1: Wir sehen uns jeweils heute an, was gestern schlecht war; dann können wir es morgen besser machen, um zu ändern, zu erneuern … zum Guten zu erneuern.

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Frage: Und wie wisst ihr, in welche Richtung diese Erneuerung gehen soll? Erzieherin 2: Indem wir zusammensitzen. Erzieher 2: Und die Schwierigkeiten besprechen, denen wir im [Praxis-]Alltag begegnen. Erzieherin 2: Wir sitzen zusammen und besprechen … Erzieher 2: … die Schwierigkeiten, denen wir uns gegenüber sehen, und finden einen anderen Weg, um zu sehen, ob dieser funktionieren wird. Erzieher 1: Und wenn er nicht funktioniert, versuchen wir es noch einmal [mit etwas anderem]. Erzieher 2: Wir versuchen es noch einmal. Frage: Das heisst, dass ihr, ausgehend von der gemachten Erfahrung, besprecht, wie es besser sein könnte? Erzieherin 2: Genau. Erzieher 2: Aber niemand weiss [eine garantierte Lösung]. Man muss eine Lösung suchen und sie ausprobieren. Wenn sie nicht funktioniert, halten wir an, setzen uns zusammen, bereden alles und probieren es dann auf eine andere Art. Denn so, wie es war, kann es nicht bleiben. Frage: Und wie wisst ihr es, wenn ihr eine gute Arbeit macht? Wenn es funktioniert? Erzieherin 1: Wenn wir … Erzieherin 2: … die Resultate haben. Erzieherin 1: [Wir wissen es] aufgrund der Resultate. Erzieher 1: Die Jungen selbst zeigen uns dies, nicht wahr. Wir sehen es durch sie. (Gruppengespräch, 25. November 2003)

In diesem – notwendigerweise langsamen – Prozess sieht die Pädagogikprofessorin, welche die Chácara seit ihren Anfängen in der Vila Lindóia begleitet, den Grund für die Beständigkeit der Chácara und ihrer Entwicklung: Ich glaube, dass diese Form des Vorgehens, in der alles diskutiert und einem [Reflexions-] Prozess unterzogen wird (...) – ich glaube, dass dieser Prozess deshalb langsam ist, damit alles, was konstruiert wird und bestehen bleibt, sehr tiefe Wurzeln hat. (Interview. 5. Mai 2003)

Hier soll nun auf die verschiedenen Aspekte und die Entwicklung des Organisationsentwicklungsprozesses in der Chácara eingegangen und der Bezug zu den Charakteristika des in Kapitel 2.5 dargestellten Organisationsentwicklungszyklus hergestellt werden. Die Jungen wurden seit Beginn der Chácara in Evaluationen und Planungen involviert, wie Jahresberichte und andere Dokumente zeigen. Dies geschah zumeist in der Form von „Gincanas“ (Wettbewerbsspielen). Auch das von ihnen verfasste Buch (Fundação E., 1999) umfasst Aspekte der Evaluation der Chácara. 279

Eine Gesamtbeschreibung und -evaluation der Arbeiten der vergangenen 12 Monate wird jeweils Ende Jahr von den Mitgliedern der Chácara aufgezeichnet und in einem Jahresbericht dargestellt. Seit dem Jahr 2001 gibt es jeweils auch nach sechs Monaten einen kürzeren Bericht. Ebenfalls Ende Jahr werden Ausrichtung, Aktivitäten und erforderliche Ressourcen für das neue Jahr geplant und festgehalten. Im Rahmen der Finanzierung werden einzelne Subprojekte – zum Beispiel der Bau von Häusern oder die Durchführung eines neuen pädagogischen Moduls – ebenfalls geplant und evaluiert. Diese Aktivitäten entspringen nicht nur dem Interesse der Chácara selbst, sondern auch Anforderungen von Gesetz und Geldgebern. Die im gerade aufgeführten Zitat beschriebene Alltagsplanung der Erziehenden und der Koordination wurde in den ersten Jahren der Chácara hingegen oft eher informell und – so der Eindruck aufgrund von Beobachtungen – zum Teil tendentiell eher reaktiv als proaktiv durchgeführt. In den ersten Jahren verfügte die Chácara zudem nur über wenige reale Möglichkeiten der Planung. Buchhaltungsunterlagen zeigen, dass ihre finanziellen Ressourcen damals sehr gering waren, zumeist zu unvorhersehbaren Zeitpunkten eintrafen und zu einem Zweck verwendet werden mussten, über den die Geldgeber ohne Konsultation der Chácara entschieden hatte. Somit lagen kaum Mittel vor, welche die Organisation hätte planend einsetzen können. Als einen der ersten Schritte führte die Autorin deshalb damals in ihrer Rolle als Gründerin des Unterstützungsvereins in der Schweiz eine Finanzierung ein, welche auf die Bedürfnisse der Chácara ausgerichtet und von dieser einsetzbar war. Diese Finanzierungsart erlaubte den Mitgliedern der Chácara, ihre organisationale Entwicklung eigengesteuert und intensiviert zu planen (und verlangte dies in gewisser Weise auch von ihnen, da Angemessenheit und Nutzen der Finanzierung so mit der Qualität ihrer Planung verbunden waren). Mit dem Wachstum der Chácara nahmen die Vielfalt der Stimmen und damit das Bedürfnis der Mitarbeitenden nach vermehrter Koordination zu. Entsprechend wurde die Alltagsplanung formeller und wurden im Voraus angekündigte, regelmässige Sitzungen zur Evaluation und Planung der laufenden Tätigkeiten durchgeführt. Sitzungsprotokolle zeigen auf, dass zum Zeitpunkt des Beginns der vorliegenden Arbeit wöchentliche Planungssitzungen der Mitarbeitenden sowie mit den Jungen stattfanden, in denen die vergangene Woche besprochen und die neue Woche geplant wurden. Dabei wurden auch organisationale Anpassungen wie Umverteilung von Arbeiten, neue Aktivitäten, andere Zeitplanung etc. diskutiert. Ebenfalls aufgrund der wachsenden Organisationsgrösse empfanden es Mitarbeitende gemäss informellen Auskünften als zunehmend schwieriger, die Organisation als Ganzes zu überblicken. Aktivitäten der Organisationsentwicklung 280

waren bisher tendentiell eher auf Teilbereiche sowie auf Evaluation und kürzerfristige Schritte ausgerichtet gewesen. Gerade auch im Hinblick auf die Verdoppelung der Anzahl der Jungen von etwa 40 auf etwa 80 in den Jahren 2004 und 2005 wuchs in der Chácara das Bedürfnis, die Aktivitäten der Organisationsentwicklung noch verstärkt auf die Organisation als Ganzes, auf zusätzliche Planung sowie auch auf längere Zeiträume auszudehnen.190 Im Auftrag des Koordinators gestaltete ein brasilianisches Vorstandsmitglied mit Erfahrung in Organisationsentwicklung zusammen mit der Autorin im Anschluss an die Feldforschung zur vorliegenden Studie Ende des Jahres 2004 und im Jahr 2005 erstmals Workshops zur „strategischen Planung“ in der Chácara. Diese umfasste eine langfristige Planung für die Jahre 2005 bis 2007 und eine kurfristiges für das Jahr 2005 und bezog alle Mitglieder der Chácara, deren Vorstand sowie einzelne weitere Fachpersonen direkt oder indirekt mit ein. Angesichts des starken Wachstums der Organisation äusserten zahlreiche Erziehende und Jungen in den Workshops und ausserhalb das Bedürfnis, festzustellen, was von der Organisation beibehalten und was verändert werden sollte. Ihr Anliegen war es dabei, über die unmittelbaren Fragen der Alltagsorganisation hinaus deren Identität und Zukunft zu besprechen. In einem Workshop überdachten die Teilnehmenden aus eigener Initiative gar die ursprünglichen hauptsächlichen Ziele der Chácara, beschlossen jedoch, dass diese beibehalten werden sollten. Angesichts der nunmehr grossen Zahl verschiedener Aktivitäten in der Chácara wünschten sie zudem eine wieder stärkere Fokussierung und strategische Ausrichtung der Aktivitäten auf die Ziele der Organisation. Die zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Forschungsresultate wurden genutzt, um für die Planungsworkshops eine Gestaltung und Sprache zu wählen, welche in hohem Grad an die Kultur der Chácara angepasst war. Diese Anpassung sollte vor allem die Explizitmachung des – wie gezeigt, reichhaltig vorhandenen – impliziten Praxiswissens der Teilnehmenden sowie der Förderung von deren Engagement in den Workshops und zugunsten der Planungsresultate fördern. Innerhalb dieser Anpassung an die Kultur der Chácara wurden jedoch gleichzeitig erstmals die hier vorgestellten Rahmenmodelle der Organisation und des Organisationsentwicklungszyklus eingeführt. Das erste Rahmenmodell wurde dabei für die Zuordnung des in die Planungsworkshops eingebrachten Praxiswissens der Teilnehmenden genützt, das zweite für die Einordnung der einzelnen Workshop-Aktivitäten in den Gesamtzyklus der Organisationsentwicklung. 190

Es wird vermutet, dass es sich hierbei nicht nur um ein Bedürfnis, sondern auch um einen fortgeschritteneren Reifestand der Organisation handelt, welcher eine längerfristige Planung erlaubt. Die finanzielle und teilweise auch soziale Situation der Chácara war in den ersten Jahren so unsicher, dass eine konkrete Planung nur für kurze Zeiträume möglich war.

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Diese Planungsvorgänge wurden nicht wissenschaftlich beforscht. Es entstand jedoch der Eindruck, dass das Verständnis für Fragen der Gesamtkoordination und Gestaltung der Chácara bei den Beteiligten wuchs. So gelang es ihnen, aufgrund sehr detaillierter, durch Erziehende und Jungen vorgenommene Analysen der Alltagspraxis konkretere Ziele als bisher für die Organisation und ihre Gestaltung in den entsprechenden Jahren zu formulieren. Dies wurde von ihnen gemäss ihrer Kommentare als nützlich für ihre Arbeit sowie als Fortschritt wahrgenommen. Überhaupt zeigten sich die Beteiligten angeregt durch die im Rahmen der Forschungsarbeit vorgenommenen Befragungen und durch die Planungsworkshops. Dies zeigte sich unter anderem darin, dass sie Fragen der Organisationsentwicklung vermehrt auch beim Mittagessen, in Kaffeepausen oder im Bus in die Stadt diskutierten. Der Autorin trugen sie unaufgefordert Kommentare, Ideen und Fragen zu, ausserdem führten sie eigenständig und unaufgefordert Befragungen bei einzelnen Gruppen durch, deren Resultate sie in den Workshops präsentierten. Die Workshops zur kurzfristigen Planung gestalteten sie von sich aus aktiv und in einem kooperativen Stil mit. Gemäss Aussagen wie den folgenden empfinden die Erziehenden die Möglichkeit, ihre Organisation Chácara mitzugestalten, als besonders positiv und motivierend: Erzieher: Wirklich, die Chácara lässt sich nicht vergleichen mit den anderen Orten, an denen ich arbeitete. [Ich meine dies] nicht wegen des Lohns ... Erzieherin 1: ... wegen der Verantwortung! Erzieher: Ja, diese ist [hier] anders. Total anders. Ich sehe hier die Möglichkeit, in dem Bereich zu arbeiten, der einem gefällt, Arbeiten zu machen, die einem gefallen, die eigenen Ideen umzusetzen, nicht wahr, und das ist ein Unterschied. In einer Firma gelingt einem dies zum Beispiel nicht. Man hat gute Ideen (...), aber diese werden nur selten genützt. 3 weitere anwesende Erzieherinnen und Erzieher: beistimmendes Nicken. (Gruppengespräch, 25. November 2003)

Es ist nach Erachten der Autorin jedoch noch zu früh, um von einer starken Verankerung des Entwicklungszyklus der Organisation als Ganzes in Alltag und Kultur der Chácara sprechen zu können. Sie glaubt, Bereiche desselben zu erkennen, welche noch vertieft in die Praxis der Chácara eingearbeitet werden könnten, darunter zum Beispiel die konkrete Umsetzung der Planung und ihre kontrollierende Begleitung. Der Ansatz der „Bewusstmachung“ von Freire (1973) bezieht sich ursprünglich auf Einzelpersonen und Gruppen, und zwar zu einem Zeitpunkt, in welchem diese (noch) nicht Teil einer Organisation mit institutionellem Charakter (also zum Beispiel eines Projekts o.ä. und mit definierten Organisationsstrukturen und Prozessen) sind. Das Wissen um Rahmenkonzepte der Organisation 282

und des Organisationsentwicklungszyklus stellt deshalb eine wichtige Ergänzung und Erweiterung für Organisationen wie die Chácara dar. Es kann dazu beitragen, dass die Organisation (wieder) von mehr Beteiligten als Ganzes gesehen und gestaltet werden kann, und, dass (wieder) zusätzlicher Raum für übergeordnete, nicht der Alltagspraxis entspringende, sondern strategische und „visionäre“ Ausrichtungen geschaffen werden kann. Vor dem Hintergrund des Modells staatsbürgerlich-demokratischer Integration der Chácara scheint es jedoch wichtig, dass dieser Zusatz aus der Organisationslehre gerade bei Bürgerbewegungen bzw. Basisprojekten gemeinsam mit den Mitgliedern aus der Praxis und Kultur derselben heraus erarbeitet wird und an deren reale Bedürfnisse anknüpft. Eine aus einer rein theoretischen Position heraus erfolgende Einführung von Konstrukten der Organisation und Organisationsentwicklung könnte von den Mitgliedern dieser Organisationen als ihrer Realität sehr fremd – und damit nicht anwendbar – oder gar als Denkkonzepte „aus der dominanten Gesellschaftsschicht“ – und damit nicht akzeptabel – wahrgenommen werden. Im folgenden Kapitel soll nun noch etwas vertieft auf die Bedingungen eingegangen werden, welche positiv zur Entwicklungskapazität einer Organisation beitragen. 5.3.2 Organisationale Kapazität Wie in Kapitel 2 ausgeführt, haben Fowler et al. (1995, S. 7) vier Dimensionen der Kapazität zusammengestellt, über welche eine Organisation bezüglich ihrer eigenen Entwicklung verfügt. Es sind dies: Kompetenzen, Ressourcen, Beziehungen und Lernen. Auf die Ressourcen (Qualität, Zuverlässigkeit sowie Nutzung von Finanzund Sachmitteln) soll hier nicht weiter eingegangen werden, da diese nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung waren. Erfahrungen wie die im vorangegangenen Kapitel zitierte zum Zusammenhang zwischen verfügbaren Finanzen und der Möglichkeit, überhaupt planen zu können, weisen jedoch auf die Bedeutung dieser Dimension hin. Die übrigen Dimensionen – Kompetenzen, Beziehungen und Lernen – sollen im Folgenden in Zusammenhang mit den in Kapitel 4 dargestellten Resultaten der empirischen Untersuchung gebracht werden. Dabei wird deutlich, dass sie in der Chácara stark ausgeprägt sind und bewusst gefördert werden. Bezüglich der Kompetenzen der Mitarbeitenden nennen Fowler et al. (1995, S. 7) Wissen, Fähigkeiten, Motivation und Einstellungen („attitudes“). Aus den in Kapitel 4 präsentierten Resultaten der Organisationsanalyse geht hervor, dass 283

in der Chácara bezüglich dieser Kompetenzen sowohl Mitarbeitende selektiert als auch bestehendes Wissen und Fähigkeiten genutzt und gefördert werden. So werden zumeist Mitarbeitende ausgewählt, welche die Situation der Kinder und Jugendlichen der Strasse und/oder in den Favelas aus eigenem Erleben kennen und selbst entsprechende (Über-)Lebenskenntnisse mitbringen. Durch die partizipative Organisation nützt die Chácara zudem Wissen, Fähigkeiten und Zukunftsvorstellungen nicht nur der mitarbeitenden Erziehenden, sondern auch der Jungen, welche, wie gezeigt wurde, sowohl Zielpublikum wie auch Betreiber und Gestalter der Chácara sind. Wie in Kapitel 4.5.1 dargestellt, werden vielfältige Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für die Erziehenden und die Jungen angeboten, die unter anderem auch Fragen der Gestaltung einzelner organisationaler Aspekte zum Thema haben. Durch die Beteiligung aller Mitglieder an allen Aktivitäten – auch denen der Organisationsgestaltung – und die evaluative Gestaltung aller Handlungen bietet die Chácara zudem zahlreiche Möglichkeiten des Lernens durch Tun und durch Reflektion des Tuns. Die staatsbürgerlichdemokratische Gesellschaftskonzeption und der Einbezug von Personen aus allen Teilen der Gesellschaft erlaubt zudem den Blick und das Lernen über die unmittelbare Organisation hinaus. Im Zusammenhang mit den Kompetenzen der Organisation nennen Fowler et al. (1995, S. 7) Fokussierung und Zusammenarbeit der Mitarbeitenden. Vor allem in Kapitel 4.2.3 wurde aufgeführt, dass bereits in der Vorphase und später in der Chácara selbst ein Schwerpunkt der Arbeit auf der Bildung einer handlungsmotivierten und –fähigen Gruppe gelegt wurde, deren Mitglieder – Mitarbeitende, Kinder und Jugendliche – einander solidarisch verbunden waren und alle Aktivitäten gemeinsam in Angriff nahmen. Es kann zudem vermutet werden, dass die Ausführungsmodalitäten „Partizipation“, „gegenseitige soziale Integration“ und „evaluative Gestaltung der Handlung“ einen wichtigen Beitrag zur Fokussierung der Chácara-Mitglieder auf die Bedürfnisse der Zielgruppe und der Gesellschaft sowie auf Ziele und einzelne Tätigkeiten der Chácara leisten. Was die Beziehungen anbelangt, also die Schlüsselverbindungen, welche die Organisation in ihrem Umfeld zugunsten ihres Zweckes unterhält, kann auf das unter anderem in Kapitel 4.4.3.1 aufgeführte grosse Netzwerk von Personen aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft verwiesen werden, welches schon vor Gründung der Chácara aufgebaut und danach erweitert aufgebaut wurde. Unter Lernen bzw. Lernfähigkeit verstehen Fowler et al. (1995, S. 7), wie in Kapitel 2 aufgeführt, die Art, in der die Organisation ihre Praxiserfahrung wahrnimmt und ihre Leistung analysiert sowie in Bezug zu Standards und Normen der Qualität und der ständigen Verbesserung setzt. Um dies tun zu können, unterstützt eine „lernende Organisation“ gemäss Britton (1998, S. 5) ihre Mitglie284

der in der Produktion von explizitem Wissen aufgrund von Erfahrung sowie von implizitem Wissen und Informationen. Damit stützt sie sie in ihrer Fähigkeit, sich als „reflective practitioners“ (Schon, 1978, zitiert in Britton, 1998. S. 5) zu verhalten. Die „Bewusstmachung“ von Freire (1973) geht mit ihrem Konzept der reflektierten Alltagspraxis von einem sehr ähnlichen Ansatz aus, auch wenn sie sich in ihrem Ursprung eher auf persönliche und gesellschaftliche denn auf organisationale Analyse und Entwicklung bezieht. Sie prägt die Handlungsweise in allen Bereichen der Chácara unter anderem durch die in Kapitel 4.5.2 beschriebenen Ausführungsmodalitäten Partizipation, gegenseitige soziale Integration und evaluative Gestaltung der Handlung. Die Entstehungsgeschichte der Chácara ist ein illustratives Beispiel für diese Lernkultur. Die in Kapitel 4.5.3 dargestellte gegenseitige Bedingung und Abhängigkeit der Entwicklung der Jungen respektive der Entwicklung der Organisation als „Gesellschaft en miniature“ zeigt zudem, wie tief die Kultur der Chácara von einem Konzept von Lernen und Entwicklung nicht nur der einzelnen Person, sondern auch der Organisation durchdrungen ist. Während also in der Integration und Durchführung des Organisationsentwicklungszyklus in der Chácara noch Verbesserungen denkbar sind, kann die Kapazität zur Organisationsentwicklung und deren Förderung aufgrund der empirischen Resultate als ausgeprägte Stärke der Chácara verstanden werden. 5.3.3 Adaptivität als Qualitätsdimension In Ergänzung zu den beiden bereits vorgeschlagenen Qualitätskonzepten – dem zielbezogenen von Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit und demjenigen der von den Jungen wahrgenommenen Lebensqualität im Projekt – soll hier aufgrund der vorangegangenen Überlegungen die Adaptivität der Organisation als Ansatz zu einem Qualitätskonzept formuliert werden. Damit sollen der Kontingenz und Dynamik der Organisation Rechnung getragen werden und Bedeutung und Aspekte des Wegs zu Leistung und Zielen der Organisation betont werden. Wenn dieser Weg nicht über bestimmte Elemente verfügt, wird es für die Organisation schwierig sein, gezielt Qualität in der Erreichung ihrer Ziele und der Balance zwischen Stabilität und Flexibilität zu erreichen. Hier muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der Formulierung der Adaptivität als Qualitätsansatz um einen Entwurf handelt, welcher aufgrund der Resultate der empirischen Untersuchung der Chácara und der zitierten Literatur entstanden ist. Dieser soll hier präsentiert, gleichzeitig aber zur – notwendigen! – weiteren Vertiefung im Rahmen von weiterführenden, praxis- und theorieorientierten Forschungsarbeiten empfohlen werden. 285

Im Ansatz der Adaptivität ist Qualität: ƒ

ƒ

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Das Mass, in dem die Organisation sich in ihrer Gesamtheit einem ständigen Organisationsentwicklungszyklus in der logischen Abfolge seiner Elemente unterzieht, der auf die Erreichung der Qualitätsdimensionen Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit sowie der Lebens- und Organisationsqualität ausgerichtet ist, welche die Zielgruppe aufgrund ihrer eigenen Kriterien während ihres Aufenthalts in der Organisation fordert. Das Mass, in dem die Organisation über organisationale Kapazität zur Organisationsentwicklung im Sinne der von Fowler et al. (1995) definierten Dimensionen „Kompetenzen der Mitarbeiter und der Organisation“, „Ressourcen“, „Beziehungen“ und „Lernen“ verfügt und diese aktiv fördert.

6 Gute residentielle Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien: Von den Forschungserkenntnissen zum Organisationsleitfaden

6.1 Generalisierbarkeit und Anwendbarkeit der Forschungserkenntnisse Mit der Organisation Chácara wurde ein Einzelfall untersucht. Die Theorien der Kontingenz und der Systemhaftigkeit von Organisationen weisen darauf hin, dass Organisationen nur beschränkt vergleichbar sind, weil sie situativ und in ständiger Bewegung begriffen sind. Aus den zahlreichen Aussagen von Mitgliedern und Beteiligten der Chácara, welche hier untersucht worden sind, lässt sich denn auch eine ganz spezifische Organisation – fast möchte man sagen Organisationspersönlichkeit – erkennen. Entsprechend ergab die empirische Untersuchung sehr spezifische Einblicke in die Chácara selbst, welche nun von dieser genützt werden können. Von besonderer Bedeutung für Wissenschaft und Praxis ist jedoch, dass ein Grossteil der vielfältigen und reichhaltigen Merkmale organisatorischer Gestaltung, welche aus dem Datenmaterial hervorgegangen sind, auf ein Niveau der Abstraktion und Formulierung geführt werden konnten, auf dem sie nach Erachten der Autorin sowohl für weitere residentielle Projekte und Institutionen sowie für die Chácara in künftigen Phasen der Organisation generalisierbar sind. Wie die vorangegangenen Kapitel 4 (und vor allem 4.6) und 5 aufzeigen, war dies durch eine reflektive Inbezugsetzung der Phänographie der Organisation Chácara mit einfachen, allgemeinen Rahmenmodellen der Organisation und des Organisationsentwicklungszyklus möglich. Daraus resultieren Aspekte der Organisation und Organisationsgestaltung, welche als spezifische Erweiterung und Präzisierung dieser Rahmenmodelle für residentielle Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien gelten können. Ein Erzieher der Chácara – selbst ehemaliger Junge der Gemeindearbeit in der Vila Lindóia, Mitglied der Strassenarbeit der ersten Jahre und Gründungsmitglied der Chácara, also seit über 20 Jahren involviert – betont, dass es schliesslich kein (Detail-) Rezept oder Modell für eine solche Organisation gebe, sondern, dass ein ständiger Lernprozess nötig sei: 287

[Die Chácara] ist eine Herausforderung für uns, etwas, wofür wir nie ein Rezept aus der Schublade ziehen können. Es gibt nie das perfekte Modell: „Schau, genau so müsste es sein!“, sondern du entdeckst während des Tages ständig, dass derjenige Schritt, den du gestern für richtig hieltest, doch nicht ganz gut war, und dass er [noch] verbessert werden kann. Das ist für mich der zentrale Punkt. (Interview, April 2004)

Eine Transferleistung wird in jedem Fall nötig sein, um die vorliegenden Erkenntnisse auf die Chácara oder auf weitere residentielle Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse anzuwenden. In dieser Transferleistung liegt jedoch nach Erachten der Autorin grosser Wert. Da, wie in der Studie dargelegt, Lernund Adaptationsprozesse für die Überlebensfähigkeit und Qualität von Organisationen von grösster Bedeutung sind, ergibt sich mit der Notwendigkeit einer Transferleistung die Verantwortung, aber auch die Chance, den Lernprozess und die Lernfähigkeit der Organisation zu nützen und zu stärken und damit einen Beitrag von fundamentaler Bedeutung an die Qualität der Organisation zu leisten. Darin liegt eine der eingangs deklarierten Absichten: Als Beitrag an die Praxis sollte mit der vorliegenden Studie eine erste, empirisch fundierte Basis gelegt werden für einen entsprechenden Fachdialog und Entwicklungsprozess unter den Personen, welche direkt oder indirekt mit solchen Institutionen beschäftigt sind, sowie für die Diskussion und weiterführende Untersuchungen innerhalb der Forschungsgemeinschaft191. In diesem Sinne soll im folgenden Kapitel ein Organisationsleitfaden für gute residentielle Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien vorgestellt werden. Erfahrenen Praktizierenden und Forschenden im Bereich von Organisationen wird auffallen, dass einige Aspekte des Leitfadens wohl spezifisch für residentielle Projekte der genannten Art sind, dass jedoch viele Aspekte auch auf die Gestaltung von Organisationen, die auf andere Ziele ausgerichtet sind, angewandt werden können. Dieses Thema kann im Rahmen der vorliegenden Studie nicht weiter verfolgt werden, bietet sich aber für eine künftige Untersuchung oder Reflexion an.

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Auf weiterführende Schritte in Forschung und Praxis wird in Kapitel 7 eingegangen.

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6.2 Leitfaden: So kann eine gute residentielle Organisation für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien gestaltet werden Wie erwähnt, wird der Organisationsleitfaden für gute residentielle Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien aus der Phänographie der Organisation Chácara und ihrer Inbezugsetzung zu den genutzten Rahmenmodellen der Organisation und des Organisationsentwicklungszyklus hergeleitet. Er entspricht einer Zusammenfassung und einer Aggregation der entsprechenden Erkenntisse auf ein „inhaltsleeres“ Niveau. Auf diesem ist er für residentielle Projekte und Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse – vorgeblich die erwähnte Transferleistung – anwendbar, wobei jede Organisation ihre eigenen Inhalte zu den vorgeschlagenen Schritten definieren muss. In dieser Form wird er hier vorgestellt. Gleichzeitig soll daran erinnert werden, dass eine Grosszahl weiterer, detaillierterer bzw. spezifischer auf die Chácara und Organisationen mit ähnlichem Auftrag ausgerichteter Forschungserkenntnisse zu den einzelnen Teilen des Leitfadens in den Kapiteln 4 und 5 aufgeführt werden. Es hat sich gezeigt, dass die Strukturen und Prozesse der Organisation Chácara von deren Mitgliedern in einer logischen Abfolge konstruiert wurden. Diese Abfolge ergibt sich auch aus der in Kapitel 2.4 im Rahmen der Theorie vorgestellten Grunddefinition von Organisationen: Diese existieren zur Erreichung von Zielen. Entsprechend müssen Strukturen und Prozesse auf die Erreichung von Zielen ausgerichtet sein. Dies ist erst möglich, wenn Ziele definiert worden sind.192 Ziele können zudem nur erreicht werden, wenn sie machbar sind. Die in Kapitel 5.1 dargestellte Qualitätsdimension der Relevanz repräsentiert im Weiteren die Forderung, dass Ziele relevant sein müssen. Machbare und relevante Ziele können nur aufgrund einer Analyse der Ausgangslage definiert werden. Auch eine Einschätzung, welche Aktivitäten notwendig und möglich sind, oder welche Ressourcen vorhanden sind oder fehlen, ist nur aufgrund einer Analyse der Ausgangslage möglich. Zudem ist die Qualitätsdefinition der Adaptivität mit der Forderung nach dem aktiven Umgang mit dem kontingenten und dynamischen Charakter der Organisation verbunden. Ein solcher ist ebenfalls nur aufgrund einer ständigen Analyse der Ausgangslage bzw. der äusseren und inneren Bedingungen, welche die Organisation beeinflussen, möglich. Entsprechend werden die organisationalen Strukturen und Prozesse im nachfolgenden Leitfa192

Es kann angenommen werden, dass fehlende Definitionen von Zielen dazu führen, dass implizite und/oder nicht reflektierte und/oder nicht geteilte soziale Konstruktionen zu Kindern und Gesellschaft verstärkt von den einzelnen Akteuren als Orientierungsgrössen für ihr Handeln in der Organisation beigezogen werden. Vor dem Hintergrund der in den Kapiteln 2.4 und 2.5 dargelegten Konzepte von Organisation und Qualität ist klar, dass dies die Ausrichtung der Organisation auf ihre Ziele sowie ihre Relevanz und Wirksamkeit stark beeinträchtigt.

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den in der Reihenfolge aufgeführt, welche der logischen Abfolge der Gestaltung entspricht. Diese Abfolge bezieht sich sowohl auf die erste Gestaltung einer Organisation als auch die Herleitungsreihenfolge der einzelnen Organisationsteile im Zyklus der Organisationsentwicklung. Begleitet wird der Leitfaden von einigen Kommentaren, welche nicht integraler Teil des Leitfadens sind, sondern als Ansätze zu Transferüberlegungen verstanden werden können. 1. Analyse der Ausgangslage der Organisation ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

Am Ort, wo sich die Zielgruppe aufhält. Durch zeitweise Integration in die Lebenssituation der Zielgruppe. Gemeinsam mit der Zielgruppe. Unter Beibezug von Fachleuten und anderen Personen aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft. In einem ständigen Prozess der Praxis und Evaluation. Der sich nicht nur auf die unmittelbare Zielgruppe, sondern auch auf die weitere Gesellschaft und das Verhältnis zwischen beiden bezieht. Der nicht nur Defizite der Zielgruppe und weiteren Gesellschaft erfasst, sondern auch Bedürfnisse, Fähigkeiten, Ressourcen und Potentiale.

2. Bildung einer handlungsfähigen und handlungswilligen Gruppe* ƒ ƒ ƒ ƒ

Durch Stärkung und Entwicklung der Kenntnisse und Praxis der Initiantengruppe. Durch Aktivierung der Zielgruppe sowie Stärkung ihrer Fähigkeiten und persönlichen Ressourcen. Durch den Aufbau einer gemeinsamen, solidarisch interagierenden Gruppe von Initianten und Zielpublikum. Durch Gespräche mit der Zielgruppe über konkrete Alternativen. * In einer nicht aus einer Basisbewegung entstehenden Organisation könnte dieser Schritt in zwei Teile aufgeteilt werden und vor/mit Gründung erst die Initiantengruppe und bei Aufnahme der Zielgruppe dann auch diese umfassen. In einer bereits bestehenden Organisation entspricht er der Bildung einer gemeinsamen Gruppe von Koordinierenden, Mitarbeitenden/Erziehenden und Zielgruppe, welche fähig und willens sind, gemeinsam „am selben Strick zu ziehen“.

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3. Definition von Zielen ƒ ƒ

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Hinsichtlich einer übergeordneten Zielvorstellung bezüglich des anzustrebenden Verhältnisses zwischen Zielgruppe und weiterer Gesellschaft* Aufgrund der vorhergegangenen Analyse von Defiziten, Bedürfnissen, Fähigkeiten, Ressourcen und Potentialen der Zielgruppe sowie der weiteren Gesellschaft**, also: í Angemessene, relevante Ziele (nicht kurzfristige Ziele oder „Symptombekämpfung“). í Erreichbare, „machbare“ Ziele. Vor dem Hintergrund, dass die Organisation die Entwicklung von Menschen anstrebt und diese nicht vollständig beeinflussen kann: Ziele, die nicht deterministisch, sondern auf die Befähigung der Zielpersonen ausgerichtet sind, ihre individuellen Zukunftsvorstellungen im Rahmen einer verantwortlichen staatsbürgerlichen Rolle zu definieren und umzusetzen. * In einer wirtschaftlich ausgerichteten Firma würden hier vermutlich in erster Linie Überlegungen zur weiteren Gesellschaft als Markt gemacht werden und würde der soziale Aspekt sekundär und vor allem im Sinne des heute üblichen Stakeholdermanagements und der Firma als „good citizen“ eine Rolle spielen. ** Die Autorin hat den subjektiven Eindruck gewonnen, dass es Firmen zumeist näher zu liegen scheint, die Defizite und Potentiale einer Situation abzuklären, als Organisationen mit sozialen bzw. „Entwicklungs“- Vorhaben, die oftmals stark und zum Teil beinahe einseitig defizitorientiert zu sein scheinen. In einigen Fällen spiegelt sich dies sogar in der Begriffswahl. So wird ein Teil der Schwellenländer von Hilfswerken als „Entwicklungsländer“ und gleichzeitig von Finanzinstituten als „Emerging Markets“ bezeichnet.

4. Gestaltung der Organisationsstruktur ƒ ƒ ƒ

Zugunsten der Erreichung der Organisationsziele. Eine rechtliche Struktur, nach den gesetzlichen Vorschriften. Eine physische Struktur, die: í Die Zielgruppe anspricht. í An einem Ort lokalisiert ist, welcher: • In erreichbarer Nähe derjenigen Personen, Infrastrukturen und Dienstleistungen ist, welche der Erreichung der Ziele zuträglich sind. • Sich in genügend grosser Distanz zu Personen und Aspekten der Gesellschaft befindet, welche die Zielgruppe gefährden. • Natürliche, gesunde Lebensbedingungen bietet. 291

ƒ

í Vor dem Hintergrund der Verfassung (frei wählbarer Aufenthaltsort) und der Einsicht, dass Entwicklung nicht erzwungen werden kann, sondern freiwillig sein muss, offen und nicht gefängnisartig geschlossen ist. Eine soziale Struktur: í Die als wichtiger verstanden wird als die physische. í Die das anzustrebende Verhältnis zwischen Zielgruppe und weiterer Gesellschaft vorausnimmt bzw. abbildet. í Die über Mitarbeitende (Erziehende) verfügt, welche: • Sich stark mit dem Organisationszweck identifizieren. • Hoch motiviert sind. • Die Situation der Zielgruppe aus eigener Anschauung kennen und sich mehrheitlich aus dieser oder aus Gruppen in verwandten Situationen rekrutieren. • Aufgrund ähnlicher Erfahrungen und ihres persönlichen, engagierten und integren Verhaltens bei der Zielgruppe über eine hohe Glaubwürdigkeit verfügen und sich deshalb besonders als Vorbilder eignen. í In welche die Familien der Zielgruppe, Nachbarn und Fachleute sowie weitere Personen aus allen Teilen der Gesellschaft einbezogen werden. í In welcher die Mitglieder der Zielgruppe eine zentrale Position einnehmen, aufgrund der Einsicht, dass sie es sind, welche die von der Organisation angestrebten Veränderungen in der Entwicklung ihrer Person umsetzen müssen. í In der echte, positive persönliche Bindungen der Mitarbeitenden (Erziehenden) zur Zielgruppe bestehen, welche von Zuneigung, Herzlichkeit, Einfühlungsvermögen und Vertrauen geprägt sind. í In der nicht gewalttätig oder aggressiv vorgegangen, sondern solidarisch gehandelt wird und Konflikte im Gespräch gelöst werden. í In der allen Personen (Mitarbeitenden/Erziehenden, Zielgruppe, Koordinator etc.) dieselbe soziale Wertigkeit zugesprochen wird.

5. Gestaltung des Transformationsprozesses ƒ ƒ

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Dessen Aktivitäten inhaltlich auf die Organisationsziele und deren Erreichung ausgerichtet sind. Dessen Aktivitäten ganzheitlich gestaltet sind, d.h. vor dem Hintergrund pädagogischer Überlegungen und des auf menschliche Entwicklung abzielenden Organisationszwecks sowohl verschiedene Lernebenen (z. B. Wissen, Persönlichkeitsentwicklung, Kompetenzen des Zusammenlebens etc.) als auch verschiedene Lernumfelder (z. B. Schule, Arbeit, Freizeit etc.)

ƒ

und verschiedene Lernmethoden (z. B. Unterricht, Diskussion, Theater, Sport, Mitarbeit etc.) umfassen. In dem, damit die Organisationsziele erreicht werden können, die Ausführungsmodalitäten der Aktivitäten noch wichtiger sind als deren Inhalt (also das „Wie“ wichtiger ist als das „Was“). Es sind dies: í Partizipation • Hoher Grad der Partizipation der Zielgruppe an allen Teilen der Organisation (u.a. Mitbestimmung von Regeln etc.): Mitglieder der Zielgruppe sind Protagonisten und gleichzeitig Ressource. • Alters- und situationsgemässe Partizipation (inkl. Einhaltung der Gesetzgebung zur Arbeit von Kindern und Jugendlichen). í Gegenseitige soziale Integration • Alle Gruppen der Gesellschaft werden in die Aktivitäten miteinbezogen. • Die Organisation wird gut in die lokale Umgebung integriert, z. B. durch Angebot von Dienstleistungen an diese und Einladungen zu Besuch und Mitmachen in der Organisation. í Evaluative Gestaltung der Handlung: • Alle Aktivitäten enthalten Elemente von Evaluation und Reflexion bzw. werden durch diese begleitet. • Alle Mitglieder evaluieren sowohl alle Aktivitäten als auch sich gegenseitig. • Die Evaluationen und Reflexionen werden für die Gestaltung von Aktivitäten und Strukturen genutzt. • Die Ergebnisse werden in der Organisation und, im Falle hauptsächlicher Ergebnisse, nach aussen kommuniziert. • Die Evaluationen und Reflexionen werden zur Förderung von Wahrnehmungsfähigkeit, persönlichen Ressourcen, kooperativem und konstruktivem Verhalten, Gruppenzusammenhalt und positiver Gruppendynamik genützt. í In dem die Zielgruppe Verantwortung trägt und diejenigen Dinge tut und zu tun lernt, welche sie nach Austritt aus der Organisation auch eigenständig tun müssen wird. í Der persönlich reife Mitarbeitende/Erziehende mit der Fähigkeit, sich ständig weiterzuentwickeln, bedingt bzw. eine Förderung der persönlichen Entwicklung und Entwicklungsfähigkeit seitens der Organisation sinnvoll macht.

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6. Sicherstellung von Qualität und Nachhaltigkeit ƒ

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Durchführung eines Organisationsentwicklungszyklus mit seiner Abfolge von Analyse/Evaluation, Planung, Handlung, Analyse/Evaluation und erneuter Planung und Handlung etc. Dieser soll ständig durchgeführt werden, einen antizipierenden und proaktiven Charakter haben sowie partizipativ und in den Organisationsalltag integriert durchgeführt werden. Zudem soll er auf ein möglichst hohes Mass an Relevanz, Effektivität, Effizienz, Nachhaltigkeit, von der Zielgruppe wahrgenommene Lebensqualität im Projekt und Adaptivität der Organisation ausgerichtet sein. Nutzung und Förderung der organisationalen Kapazität, also: í Der Kompetenzen der Mitarbeitenden/Erziehenden (Wissen, Fähigkeiten, Motivation und Einstellungen). í Derselben Kompetenzen der Zielgruppe, da diese im partizipativen, staatsbürgerlichen Paradigma auch Ressource der Organisation ist. í Der Kompetenzen der Organisation (Fokussierung und Zusammenarbeit der Mitarbeitenden/Erziehenden und – wiederum im partizipativen, staatsbürgerlichen Paradigma – der Zielgruppe als Ressource der Organisation). í Der Beziehungen bzw. Schlüsselverbindungen, welche die Organisation in ihrem Umfeld zugunsten ihres Zweckes unterhält. í Des Lernens bzw. der Lernfähigkeit, also der Art, in der die Organisation ihre Praxiserfahrung wahrnimmt und ihre Leistungen analysiert und in Bezug zu Standards und Normen der Qualität und der ständigen Verbesserung setzt. Entwicklung von bewertbaren Kriterien von Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit sowie entsprechenden Erhebungsmethoden sowie Einführung eines regelmässigen Monitorings, welches in den Organisationsentwicklungszyklus integriert ist. Entwicklung einer Methodik zur Erhebung der von der Zielgruppe verwendeten Kriterien zur Beurteilung und Bewertung der Lebensqualität im Projekt und Einführung eines regelmässigen Monitorings derselben, welches in den Organisationsentwicklungszyklus integriert ist. Entwicklung einer Bewertungsweise für die Vollständigkeit und Kohärenz des Organisationsentwicklungszyklus sowie Einführung eines regelmässigen Monitorings desselben. Entwicklung einer Bewertungsweise für die organisationale Kapazität sowie Einführung eines regelmässigen Monitorings derselben, welches in den Organisationsentwicklungszyklus integriert ist.

6.3 Drei wichtige ergänzende Bemerkungen zur Qualität 6.3.1 Relevanz: Der Unterschied zwischen Zementierung und Linderung sozialer Ungleichgewichte Aus der Entwicklungszusammenarbeit wurden die gebräuchlichen Qualitätsdimensionen Relevanz, Effektivität und Nachhaltigkeit übernommen, und es wurde die Aussage gemacht, dass sie alle – inklusive der in der vorliegenden Studie nicht behandelten Effizienz – wichtig sind. Vor dem Hintergrund der Literatur und den in Kapitel 4 dargestellten Forschungserkenntnissen hat sich jedoch gezeigt, dass im Kontext von residentiellen Projekten und Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien der Relevanz besondere Bedeutung zukommt. Damit ist das Mass angesprochen, in dem ein Vorhaben mit den Bedürfnissen der Nutzniesser, des Landes/der Gesellschaft sowie mit globalen Prioritäten übereinstimmt. Sowohl die befragten Personen in und um die Chácara als auch Autoren wie Lucchini (1998) und Rossato (2003a) kritisieren Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse, welche implizit auf die Ziele einzelner, gesellschaftlich dominanter Interessengruppen ausgerichtet sind und die Bedürfnisse der Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen der Strasse sowie die Bedürfnisse der Gesellschaft als Ganzes nicht miteinbeziehen. Diese Projekte sind damit auf eine reine „Symptombekämpfung“ ausgerichtet und zementieren oder verschlimmern gar die Situation der Zielgruppe und der weiteren Gesellschaft, welche sie vordergründig verbessern wollten. Gemäss Rossato (2003a) fällt ein Grossteil der brasilianischen Projekte in diese Kategorie. Da es bei dieser Thematik um die gesellschaftliche Inklusion bzw. Exklusion geht, kann zudem angenommen werden, dass sie auch für Organisationen gilt, welche andere Personen am Rand der Gesellschaft zum Zielpublikum haben. Eine umfassende Analyse der Ausgangslage und Definition der Ziele in der Art, wie sie von der Chácara vorgenommen wird, kann verhindern, dass Organisationsziele wegen ungenügender Information, Kenntnissen und Reflexion und/ oder wegen mangelnder Integration im Bewusstsein aller Organisationsmitglieder von geringer Relevanz und damit sowohl für die Zielgruppe als auch für die weitere Gesellschaft kontraproduktiv oder gar schädlich sind. 6.3.2 Die „Hühnerzucht“ macht nicht den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Projekt In Kapitel 5 wurde der designierte Leiter eines Projektes in der Region Curitiba zitiert, der die Autorin fragte, ob sie meine, sein Projekt sollte wie die Chácara 295

eine Hühnerzucht haben, um ebenfalls ein gutes Projekt zu sein. Er hat damit unwissentlich einen wichtigen Beitrag an die vorliegende Studie geleistet, lenkte er doch die Aufmerksamkeit der Autorin auf eine nach ihrer Wahrnehmung häufig vorkommende Erwartung von Personen in und um Strassenkinderprojekte in Brasilien. Diese besagt, dass einzelne Teile einer Organisation ohne weitere Überlegungen in eine andere hineinkopiert werden könnten, beziehungsweise, dass zum Aufbau eines „guten“ Projektes eine Checkliste von Aktivitäten und physischen Strukturen genüge, welche der Zielgruppe zur Verfügung gestellt werden sollten. Es soll deshalb an dieser Stelle betont werden, dass es nicht die Hühnerzucht ist, welche den Unterschied in der Qualität eines residentiellen Projektes für Kinder und Jugendliche der Strasse macht. Die wichtigste Erkenntnis aus der empirischen, organisationspsychologischen Erforschung der Chácara ist, dass die Qualität eines solchen Projektes auf den Charakteristika des Prozesses beruht, mittels dessen Ziele sowie Strukturen und Prozesse der Organisation gestaltet, ineinander und in die Umwelt integriert und weiterentwickelt werden. Es ist also nicht die Hühnerzucht als solche, welche den Unterschied bezüglich der Projektqualität macht, sondern es sind die Charakteristika des organisationalen Entscheidungsprozesses für oder wider eine Hühnerzucht bzw. für oder wider andere Aspekte der Struktur oder der Aktivitäten der Organisation. 6.3.3 Qualität ist wichtig, Imperfektion auch Die drei hier vorgestellten Konzepte von Qualität ergänzen sich, indem sie den Blick auf verschiedene relevante Aspekte der Organisation richten. Eingangs wurde erläutert, dass in einer Organisation die Qualitätsdimensionen der Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit gleichzeitig angestrebt werden müssen. Dasselbe gilt für die beiden weiteren Konzepte von Qualität. So sind Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit nicht erreichbar, wenn die betreuten Kinder und Jugendlichen die Organisation für schlecht befinden und deshalb nicht in ihr verbleiben. Sie kommen auch nicht zum Tragen, wenn die Organisation nicht über einen Organisationsentwicklungszyklus und die nötige Kapazität dafür verfügt. Keine Organisation wird je den Punkt qualitativer Perfektion erreichen können. Auch was einmal beinahe perfekt war, wird dies wegen der Kontingenz und Dynamik der Organisation nicht lange bleiben. Gute Qualität kann immer nur angestrebt, nie aber als ein für alle Mal erreicht verstanden werden. Was Bestand haben kann und letztlich muss, sind die Entwicklungs- und Lernprozesse der Organisation und ihrer Mitglieder. Sind diese intakt, dann ist 296

die Wahrscheinlichkeit gross, dass Fehler und qualitative Mängel der Organisation frühzeitig entdeckt und adäquat evaluiert und behandelt werden. Sie sind dann keine Stolpersteine, sondern können zur eigentlichen Entwicklungschance werden. In diesem Sinne hat sich die Chácara seit einigen Jahren ein Motto gegeben, welches jeweils in der Einleitung ihres Jahresberichtes steht: Die Irrtümer der Vergangenheit sind die grosse Vorbedingung für das richtig Getane der Zukunft.

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7 Abschluss und Ausblick

7.1 Erkenntnisse und Beitrag an Wissenschaft und Praxis Am Anfang der vorliegenden Studie standen Berichte über Gesetzesverstösse und andere gravierende Mängel in residentiellen Projekten und Institutionen für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien, ein wachsendes Interesse in Fachkreisen an der Qualität dieser Organisationen und ein Projekt – die Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros –, welches von Kindern und Jugendlichen, Mitarbeitenden, externen Fachleuten, Medien und „Policy Makers“ häufig als „qualitativ gut“ bezeichnet wird. Vor diesem Hintergrund machte es sich die vorliegende Studie zur Aufgabe, einen Beitrag an die Qualität solcher Projekte und Institutionen zu leisten. Dies sollte mittels eines organisationsanalytischen Ansatzes erfolgen. Grund dafür war das aufgrund der Organisationslehre gewonnene Verständnis, dass Resultate und Wirkungen und damit Qualität und Nachhaltigkeit von Projekten und Institutionen das Produkt organisationaler Strukturen und Prozesse sind. Da keine empirische Organisationsanalyse eines residentiellen Projektes für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien oder anderswo gefunden werden konnte, wurde mit der vorliegenden Studie erstmals eine solche erstellt, und zwar am Beispiel der Chácara der Jungen von Quatro Pinheiros. Damit sollte eine erste, empirisch fundierte Basis für einen entsprechenden Fachdialog und Entwicklungsprozess unter denjenigen Personen gelegt werden, welche direkt oder indirekt mit solchen Institutionen beschäftigt sind, sowie für die Diskussion und weiterführende Untersuchungen innerhalb der Forschungsgemeinschaft. Die Studie ergab reichhaltige Erkenntnisse, aufgrund derer die Aufgabe, die sie sich gesetzt hatte, als erfüllt betrachtet wird. Mittels Feldforschung und der Erhebung von implizitem und explizitem Praxiswissen der Mitglieder und Beteiligten der Chácara wurde zuerst eine Phänographie dieser Organisation mit ihren charakteristischen Strukturen und Prozessen erstellt. Ein besonderer Fokus lag hierbei auf dem Aspekt der Organisationsgestaltung. In einem zweiten Schritt wurde die Phänographie in Bezug zu Aspekten von Qualität und Nachhaltigkeit gesetzt. Die geläufigen Qualitätsdimensionen der Relevanz, Effektivität, Effizienz und Nachhaltigkeit wurden bezüglich ihrer Anwendbarkeit und ihres Nutzens für den Forschungsgegenstand diskutiert. Zusätzlich dazu konnten aufgrund 298

der Forschungserkenntnisse zwei weitere Dimensionen vorgeschlagen werden: die von der Zielgruppe wahrgenommene Qualität im Projekt sowie die Adaptivität der Organisation. Die Chácara wurde bezüglich dieser Dimensionen soweit bewertet, wie es aufgrund der Datenlage möglich war. Mittels der Herstellung eines Bezugs zwischen der Phänographie und je einem allgemeinen, „inhaltsleeren“ Rahmenkonzept der Organisation und des Organisationsentwicklungszyklus liessen sich die Forschungserkenntnisse auf ein Abstraktionsniveau anheben, auf dem sie auch auf andere residentielle Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien anwendbar sein können. In der Folge resultierte aus der Studie gar ein Instrument, nämlich ein Leitfaden für deren Organisation. Dieser kann als inhaltlich spezifisch auf diese Projekte und Institutionen ausgerichtetes Rahmenkonzept der Organisation und Organisationsgestaltung verstanden werden. Die dargestellten Resultate zeigen, dass die Studie mehrere Beiträge sowohl an die Wissenschaft als auch an die Praxis leistet. Den Organisationswissenschaften liegt nun erstmals eine umfassende Phänographie und Organisationsanalyse einer bisher nicht untersuchten Art von Organisation vor. Die Organisationslehre hat sich bisher vorwiegend auf profitorientierte Organisationen in den Industrieländern Europas, in Nordamerika und in Japan und hierbei vor allem stark auf Fertigungsbetriebe bezogen. Demgegenüber befasst sich die vorliegende Studie mit einer sozialen Institution in Südamerika, welche aus einer Basisbewegung materiell armer Personen – darunter die am wenigsten privilegierte Gruppe der ganz auf der Strasse lebenden Kinder und Jugendlichen – entstanden ist und geführt wird und sich über ihre unmittelbaren Ziele hinaus einen weiter gefassten gesellschaftlichen Auftrag gegeben hat. Die Phänographie der untersuchten Organisation Chácara wird durch spezifische Erkenntnisse zu Qualität und Nachhaltigkeit sowie ein ebenfalls spezifisch auf diese Art von Organisation ausgerichtetes Rahmenkonzept der Organisation und ihrer Gestaltung ergänzt. Somit liegt den Organisationswissenschaften erstmals ein Beispiel dafür vor, dass diese bisher unbeachtete Art von Organisation auch in organisationsanalytischer Weise erfasst und beschrieben werden kann. Damit verfügen sie nun auch über die Möglichkeit, diese Art der Organisation vergleichend mit den bisher untersuchten Organisationsarten in Bezug zu setzen. Damit können möglicherweise die Erkenntnisse über beide und vor allem auch über letztere um neue Einsichten erweitert werden. Im Weiteren leistet die Studie einen Beitrag an die Methodik und Methoden, welche in den Organisationswissenschaften zur Anwendung kommen. So bestätigt sie die Möglichkeit, eine Organisation in ihren Strukturen und Prozessen aufgrund von explorativen, sehr offenen Befragungen ihrer verschiedenen Mitglieder und Beteiligten zu rekonstruieren. Dabei besteht einer der Vorteile 299

dieses Vorgehens darin, dass nicht nur explizites und formelles Wissen erhoben, sondern auch das gemäss Sülzer und Zimmermann (1996) für die Organisation in ihrem Funktionieren und ihrer Kultur noch bedeutsamere implizite, vielfältige Praxiswissen an den Tag gebracht werden kann. Wie aus Kapitel 3 ersichtlich, wurde besondere Aufmerksamkeit auf die Anpassung der Methodik und Methoden an die Anforderungen, Möglichkeiten und Grenzen gelegt, welche seitens der Wissenschaft, des Forschungsgegenstandes und der Forscherin vorlagen. Die Sorgfalt, mit der diese Bedingungen analysiert und in der Forschung reflektiert wurden, hat sich positiv auf Umfang, Vielfalt und Reichhaltigkeit der erhobenen Daten sowie auf den Erkenntnisprozess ausgewirkt. Deshalb soll an dieser Stelle zu Handen der Wissenschaftsgemeinde die Wichtigkeit einer angemessenen und angepassten Forschungsmethodik bei der Untersuchung von Organisationen ausdrücklich betont werden. Zudem darf die vorliegende Studie auch als Beispiel dafür dienen, dass eine Organisation von einem Insider untersucht werden kann. Wird die Insiderrolle reflektiert und bewusst sowie derart gestaltet, dass sie wissenschaftlichen Gütekriterien genügt, können unter anderem Daten und Erkenntnisse gewonnen werden, welche für eine rein externe, die Involviertheit meidende Person schwer und teilweise gar nicht erreichbar wären. Zudem wurde gezeigt, dass eine Forschungsrolle mit Insider- und Outsiderelementen gestaltet und aufrechterhalten werden kann, und dass so – wieder unter Beachtung der Gütekriterien und einer bewussten Reflexion – gar eine der Forschung besonders dienliche Positionierung erreicht werden kann. Da auch die pädagogische Konzeption der Chácara wegen ihrer Verknüpfung und Interdependenz mit deren Organisation zur Darstellung kam, leistet die vorliegende Studie zudem auch einen Beitrag an die Erziehungswissenschaften. Im Rahmen der Praxis der Projekte und Institutionen für Strassenkinder liegt mit der Untersuchung nun eine umfassende Beschreibung des Konzepts und der organisationalen Praxis eines residentiellen Projektes für Kinder und Jugendliche der Strasse vor, welches von der Unesco als „innovativ und erfolgreich“ bezeichnet und von anderen Institutionen und „Policy Makers“ als Vorbild auf der Ebene des Bundesstaates Paraná und in neuster Zeit sogar auf nationalem Niveau verstanden wird, das jedoch nie einer systematischen Analyse unterzogen worden war. Damit sind die Erfahrungen der Chácara, aber auch Entwicklungsmöglichkeiten – so zum Beispiel bezüglich des Organisationsentwicklungszyklus – identifiziert und erstmals empirisch fundiert dargestellt. So sind sie klarer, strukturierter und besser in der Chácara und anderen Organisationen diskutierund anwendbar. Von besonderem Nutzen dürfte hier die in Form des Leitfadens dargestellten Erkenntnisse sein, und zwar nicht nur für bestehende, sondern auch für neu zu gründende Organisationen, da er unter anderem Wissen aus der ur300

sprünglichen Aufbauphase der Chácara umfasst, die, wie gezeigt, mit besonderer Überlegtheit und Sorgfalt gestaltet wurde. Für die Entwicklungszusammenarbeit und Institutionen und Gruppen, welche Projekte für Kinder und Jugendliche der Strasse in Brasilien finanzieren und unterstützen, dürften die Erkenntnisse zu Qualität und Nachhaltigkeit solcher Organisationen von Interesse sein. Besonders soll hier auf die Relevanz der Ziele und damit der Organisationen an sich hingewiesen werden, welche den Unterschied zwischen der Zementierung und der Linderung sozialer Ungleichgewichte macht. Ebenfalls von grosser Bedeutung ist, wie gezeigt wurde, ein grosses Mass an Adaptivität im Sinne sowohl eines angemessenen Organisationsentwicklungsprozesses als auch einer möglichst grossen Kapazität zur Organisationsgestaltung und -entwicklung. Diese Erkenntnis unterstützt diejenigen fortschrittlichen Stimmen in der Entwicklungszusammenarbeit, welche die Bedeutung des „Capacity Building“ betonen und fordern, dass lokalem Wissen und Potential noch wesentlich häufiger sowohl eine zentrale Rolle als auch Nutzung in Entwicklungsprozessen zugestanden werden müsse, und dass gleichzeitig lokale Verantwortung für lokale Entwicklung zuzulassen, zu fördern und zu fordern sei. 7.2 Weiterführende Schritte Eine Anzahl von weiterführenden Schritten ist zum Teil bereits geplant und soll durchgeführt werden, sobald die dafür nötigen Ressourcen und weiteren Rahmenbedingungen vorhanden sind. Die Mehrheit dieser Schritte umfasst sowohl wissenschaftliche als auch praktische Elemente. Beginnend mit einem rein wissenschaftlichen Schritt folgen Schritte mit hohem wissenschaftlichen Anteil im Bereich der Sozialpolitik und der Gestaltung von residentiellen Regierungs- und Nichtregierungsprojekten und -institutionen sowie ein Schritt für die Gestaltung der Chácara, der wissenschaftlich begleitet werden könnte. Mögliche weiterführende Schritte sind: ƒ

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Für die Organisationswissenschaften wäre es von Interesse, die Erkenntnisse der vorliegenden Studie über eine zuvor nie untersuchte Art der Organisation in Bezug zu denjenigen über die traditionell von der Organisationslehre berücksichtigten Organisationsarten zu setzen mit dem Ziel, existierende Modelle der Organisation zu überprüfen und gegebenenfalls um neue Erkenntnisse zu ergänzen. Anlässlich der grossen Präsentation der Forschungsresultate, welche im November 2006 unter anderem vor Fachleuten der Sozialpolitik und des Sozialwesens gegeben wurde, stellte ein Richter die Frage, ob und in wel301

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cher Art und Weise die Erkenntnisse über die Chácara – eine aus einer Basisbewegung, also „bottom-up“ entstandene Organisation – auf eine staatliche Institution anwendbar seien, die „top-down“ vorgegeben werde. Die Autorin ist der Meinung, dass dies im Sinne des Organisationsleitfadens durchaus möglich ist. Es wäre jedoch von grossem Interesse für die Praxis und die Wissenschaft, die vorliegende Studie in einer oder mehreren staatlichen residentiellen Institution für Kinder und Jugendliche zu wiederholen. Ziel wäre dabei nicht nur eine Reflexion bezüglich der Anwendbarkeit der Erkenntisse aus der Chácara auf staatliche Institutionen. Vielmehr sollte auch die Erstellung eines spezifisch auf solche Institutionen ausgerichteten Leitfadens zur organisationalen Anpassung in Richtung von mehr Qualität und Nachhaltigkeit ins Auge gefasst werden. Grund dafür sind nicht nur die eingangs zitierten Studien über entsprechende Defizite, sondern die Tatsache, dass immer häufige Verantwortliche den Wunsch äussern, in ihren Institutionen ähnlich gute und nachhaltige Resultate erzielen zu können wie die Chácara. Ein weiterer künftiger Schritt, der sich empfiehlt, wäre die Durchführung eines wissenschaftlichen und praxisorientierten Projektes, mittels welchem ein System der Qualitätskontrolle zuhanden der für die Überprüfung der residentiellen Regierungs- und Nichtregierungsprojekte und -institutionen verantwortlichen Staatsanwaltschaft erstellt würde. Das Bedürfnis nach einem solchen System wurde von einer für diese Aufgabe verantwortlichen Staatsanwältin anlässlich der Präsentation der Forschungsresultate im November 2006 geäussert. Sie bemerkte, dass die gebräuchlichen Qualitätskriterien von Effizienz und Effektivität bei der Überprüfung derartiger Projekte und Institutionen schwer anzuwenden und nicht von genügend umfassender Aussagekraft seien, und äusserte die Meinung, dass die zwei in der vorliegenden Studie entwickelten Qualitätsdimensionen der wahrgenommenen Lebensqualität im Projekt und der Adaptivitität der Organisation für die Verbesserung des Monitoringsystems von Nutzen sein könnten. In der von der Chácara im Jahr 2005 initiierten „Rede de Integração de Abrigos“, des „Netzwerkes zur Integration der residentiellen Institutionen [für Kinder und Jugendliche]“, sind um die 20 sowohl nicht staatliche als auch staatliche residentielle Projekte und Institutionen in Curitiba und Region Mitglied. Unter anderem entwickeln sie gemeinsam „Best-Practice“Kriterien in vier Bereichen der Pädagogik und der Administration. Mittels der vorliegenden Forschung soll hier zusätzlich das Thema der Organisation und Qualität eingeführt werden. Gemeinsam sollen die entsprechenden „Best-Practices“ erhoben und Schritte zur weiteren Verbesserung der Praxis in diesen Projekten definiert und vollzogen werden.

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In der Chácara selbst können unter Anwendung der Forschungserkenntnisse die strategische Planung bzw. der die weiterführende Gestaltung der Organisation als Ganzes betreffende Entwicklungszyklus vervollständigt und ganz in die Alltagspraxis integriert werden. Dazu gehört unter anderem die Definition von Erhebungsgrössen zu den einzelnen Qualitätsdimensionen und die Einführung eines entsprechenden, in den Entwicklungszyklus integrierten Monitoringsystems. Im Anschluss an die Publikation der vorliegenden Studie muss der erste durchzuführende Schritt ihre – ganze oder teilweise – Übersetzung in die portugiesische Sprache sein. Es besteht sowohl eine Nachfrage nach einer Übersetzung des vorliegenden Originals zuhanden der wissenschaftlichen Diskussion in Brasilien, als auch eine Nachfrage seitens der Praxis nach Veröffentlichungen in praxisorientierter Form. Hier soll an erster Stelle der Organisationsleitfaden zur Verfügung gestellt werden. Falls aufgrund der Ressourcen möglich, sollen die Erkenntnisse in Papierform, über Internet und in Workshops sozialisiert und zur Diskussion und Weiterentwicklung gestellt werden. Zudem sollen auf der Basis der vorliegenden Studie eigentliche Ausbildungsworkshops für Projektmitarbeitende und Verantwortliche, „Policy Makers“ und andere Interessierte mehr entwickelt und angeboten werden.

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8 Bibliographie

Anmerkungen: Das brasilianische Namensformat wird wie folgt zitiert: z. B. Clodomir (Vorname) Santos (Nachname der Mutter) de Morais (eigener Nachname): Morais, Clodomir Santos de. Eine detaillierte Übersicht über die in dieser Studie verwendeten Daten ist in Kapitel 3.4 enthalten. Adler, Patricia A. & Adler, Peter (1987): Membership roles in field research. Qualitative Research Methods Series 6. Newbury Park: Sage University Paper. Agnelli, Susanna (Hrsg.) (1986): Les enfants de la rue. L’autre visage de la ville. Rapport à la commission indépendante sur les questions humanitaires internationales. Nancy: Berger-Levrault. Amit, Vered (Hrsg.) (2000) Constructing the field. Ethnographic fieldwork in the contemporary world. London: Routledge. Amnesty International Schweiz (1988): Kinder als Opfer politischer Gewalt. Bern: Selbstverlag. Amnesty International (2000): Hidden scandal, secret shame. Torture and ill-treatment of children. Oxford: Selbstverlag. Amnesty International (2001): “Eles nos tratam como animais”. Tortura e maus-tratos no Brasil. Desumanização e impunidade no sistema de justiça criminal. London: Selbstverlag. Atkin, S. Beth (1996): Voices from the streets. Young former gang members tell their stories. Boston: Little, Brown & Company. Aussems, Alain: Contextes rue/milieu fermé: intervenants et images de l’enfant. Le cas brésilien. In: Lucchini, Riccardo (1996): Sociologie de la survie: l’enfant dans la rue. Paris: Presses universitaires de France. 286 – 303. Bakewell, Oliver; Adams, Jerry & Pratt, Brian (2003): Sharpening the development process. A practical guide to monitoring and evaluation. Intrac Praxis Guide No. 1. Oxford: Intrac. Barcellos, Caco (1992): Rota 66. A história da polícia que mata. São Paulo: Editora Globo. Barros, Betânia Tanure de (1996): O estilo brasileiro de administrar. São Paulo: Atlas. Bartunek, Jean M. & Louis, Meryl Reis (1996): Insider/outsider team research. Qualitative Research Methods Series 40. Thousand Oaks: Sage.

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Anhang 1: Beteiligte und Arten der Beteiligung

Beteiligte Familien der Jungen Bevölkerung von Quatro Pinheiros Vorstand der Chácara

Gemeinde Profeta Elias der Vila Lindóia Ehepaare der Kirchgemeinde Cabral Universitäten

„Gruppe der Unternehmer“ Polizei

Art der Beteiligung Besuchen Jungen, nehmen an Familientagen/ -ausbildung teil, helfen in Chácara, nehmen Jungen z. B. in Ferien zu sich etc. Beteiligt sich an gemeinsamen Aktivitäten mit Chácara, lädt Jungen z. T. zu sich ein, löst lokale Themen zusammen mit Chácara. Trägt zur Ausrichtung und Führung der Chácara bei, bewilligt deren Vorgehen und Finanzen, Vorstandsmitglieder arbeiten z. T. in der Chácara als Freiwillige mit (z. B. Coiffeuse, die allen Jungen die Haare schneidet). Nehmen Jungen zu Besuch bei sich auf, stellen Freiwillige, stellen z. T. Vorstandsmitglieder, nehmen an gemeinsamen Aktivitäten teil. Begleiten Familien der Jungen. Stellen Freiwillige und Teilzeitmitarbeitende v. a. in Psychologie und Pädagogik sowie Projekte, z. B. Informatiksystem für Projektadministration. z. T. Forschung im Auftrag der Chácara. Arbeiten teilweise an der Organisation von Anlässen und Feiern in der Chácara mit, z. B. bei den Familientagen. Macht Aufklärungsunterricht zu Themen wie Drogen in der Chácara. Stellt u.a. Busse für Ausflüge zur Verfügung. 4 Polizisten machen auf freiwilliger Basis einmal pro Woche mit den Jungen zusammen Musik und bauen mit ihnen eine Band auf.

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RichterInnen, StaatsanwältInnen

Arbeitgeber der Jungen

Berufsbildungsinstitut des Arbeitgeberverbands PsychologInnen, ÄrztInnen, ZahnärztInnen

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Machen u.a. Beratung und Aufklärungsunterricht zu Rechtsfragen, nehmen Ideen aus der Chácara für die Umsetzung des Kinderrechtsstatuts (welches diese mitgestaltet hatte) und der Qualität von Projekten und des Jugendstrafvollzugs auf. Ein Staatsanwalt spielt manchmal Fussball mit den Jungen. Rekrutieren teils weitere, über 16-jährige Jungen als Mitarbeitende in ihre Firmen, besuchen die Chácara teils regelmässig, beteiligen sich an Kursen zur beruflichen Ausbildung in der Chácara. Gestaltet und führt zusammen mit der Chácara als Pilotorganisation einen Kurs zur Vorbereitung auf die Lehre für Jugendliche der Chácara und benachteiligte Jugendliche der Umgebung durch. Führen zumeist auf freiwilliger Basis Einzel- und Gruppengesprächstherapien für die Kinder und Supervision für die Erwachsenen durch sowie Ausbildungssitzungen innerhalb der Chácara (Themen wie Alkoholismus, Sexualität etc.) und bieten ärztliche und zahnärztliche Versorgung für die Chácara und die Gemeinde Quatro Pinheiros an.

Anhang 2: Empfehlungen „Aprendendo com a Chácara“ – „Von der Chácara lernen“

Das folgende Merkblatt wurde im Mai 2006 aufgrund eines Teils der damals vorliegenden Forschungserkenntisse für einen Reader erstellt, den die Chácara über ihre Arbeit, Konzepte und Methoden Ende 2007 publizierte. Es empfiehlt die sorgfältige Analyse der Ausgangslage sowie die Definition relevanter und machbarer Ziele und unterstreicht vor allem die Bedeutung einer logischen Abfolge in der Konzipierung der Organisation analog den Erkenntnissen in Kapitel 4. Bei jedem Teilthema werden konkrete Beispiele von dessen Gestaltung in der Chácara genannt. Aprendendo com a Chácara dos Meninos de Quatro Pinheiros por Anna Katharina Schmid Certo dia, dois homens de um outro projeto, que estavam de visita na Chácara, se aproximaram e perguntaram: “Você acha que nós também deveríamos ter uma criação de frangos para o nosso projeto ser bom?” O que mais tenho aprendido com a Chácara é que fazer as coisas certas é importante, sim, mas que é mais importante ainda fazer as coisas do jeito certo. Criar frangos pode ser o certo num projeto, enquanto que não traz nenhum benefício a um outro. O que importa é o processo pelo qual as atividades chegam a ser criadas, como são encaixadas no projeto e como se realizam. É o “como” que faz a diferença nos resultados do projeto. A análise científica da organização da Chácara, financiada pelo governo suíço, que desenvolvi junto aos meninos, demais membros e colaboradores, entre 2003 e 2005, teve por objetivo descrever esse jeito da Chácara fazer as coisas. Os resultados apontam quatro lições principais: 321

1. Ter clareza de sua origem: Qualquer instituição ou projeto é uma organização criada por pessoas que perceberam alguma situação que elas desejam mudar. Antes de qualquer ação concreta, precisam conhecer bem a situação, os seus déficits, exigências e potencialidades. Sem esse conhecimento, sem essa raiz firme, o projeto não tem como existir. A maioria das pessoas que trabalham na Chácara mora em favelas ou até já morou na rua. Antes de fundar a Chácara, conviveram e conversaram bastante com os jovens nas ruas. Queriam construir um projeto com raiz firme na realidade deles. Perceberam as necessidades deles, bem como as grandes capacidades, potenciais e sonhos, graças aos quais eles conseguem sobreviver aos perigos de sua situação. Consultaram a Constituição Brasileira e o Estatuto da Criança e do Adolescente para melhor conhecer os direitos e deveres que a lei prescreve aos jovens cidadãos brasileiros. Trocaram idéias com pessoas de todos os setores da sociedade: famílias dos meninos, professores de escolas e universidades, juizes, promotores, vizinhos da Chácara, psicólogos, colegas em outros projetos, padres e religiosas, policiais e outros. Chegaram à conclusão de que o Brasil tem uma sociedade dividida, com crianças e adolescentes rejeitados por muitas pessoas que se sentem ameaçadas por eles. Ao mesmo tempo, convenceram-se do potencial dos próprios meninos e da sociedade para mudar essa situação. 2. Ter clareza de seus objetivos: Os objetivos do projeto devem ser elaborados sobre os déficits, exigências e potencialidades da situação a ser mudada. Um bom objetivo é concreto e atingível. Tem o caráter de uma mudança verdadeira e de longa duração. Os objetivos dão a direção ao projeto. Sem direção, não há resultado, a não ser por acaso. A intenção da Chácara é que cada menino possa construir a sua própria vida, enquanto cidadão respeitado, que exerce os seus direitos e deveres. No seu futuro, como adultos, os meninos querem viver num bom clima familiar (com a família de origem e com a família que irão formar), ter uma boa profissão e um emprego com um salário justo. Querem ajudar os outros. Querem uma posição de respeito na sociedade, moradia e saúde, longe das drogas. Para que realizem tais sonhos, a Chácara tem por objetivo ajudá-los a serem “agentes de sua própria promoção”, desenvolvendo as suas capacidades e recebendo, pela Chácara, as oportunidades necessárias à construção de suas vidas. Por isso, os objetivos 322

concretos da Chácara são: promover as capacidades dos meninos para aprender, refletir, conviver, agir de uma maneira adequada e solidária com outras pessoas e ter uma participação social responsável; contribuir para melhorar as condições pessoais e econômicas dos meninos, ou seja, os conhecimentos escolares, sociais e profissionais, a saúde física e psicológica, os valores morais, o resgate das raízes culturais, o emprego, o sustento e a integração familiar. Além disso, acreditando que os meninos têm que construir a sua vida, mas precisam de uma sociedade que não os exclua dos direitos e deveres de cidadãos, a Chácara tem também o objetivo de contribuir para uma sociedade mais justa, que seja de todos e para todos. 3. Criar um projeto coerente, que possa atingir seus objetivos: O projeto deve ser organizado de um jeito que conduza aos objetivos. Qualquer ser humano aprende pelo exemplo e pela prática. Por isso, o projeto deve ser um espelho de seus objetivos, ou seja, deve ser coerente com eles. Deve oferecer aos meninos a oportunidade de exercitar o que devem aprender. Qualquer ser humano pode crescer quando se sente seguro, respeitado e, em particular, no caso de crianças e jovens, quando se sentem amados. Por isso a posição, o papel das crianças e jovens atendidos e a qualidade da relação com os adultos que ali trabalham têm grande importância. Pode-se ter a estrutura física mais moderna, com funcionários muito bem formados e bem pagos, além de uma lista de atividades diversificadas, mas se faltar esta alma, esta coerência, o projeto não vai para frente. A Chácara é uma comunidade de todos e para todos, como prevê a Constituição Federal para a sociedade brasileira. Aqui o menino é prioridade absoluta, sendo tratado como sujeito e cidadão em desenvolvimento, que tem suas responsabilidades e deveres. A Chácara é dele. Ele não só participa das atividades educativas, mas também da manutenção, gerência e coordenação da Chácara, das ações, regras, avaliações, planejamentos e apresentações. Sempre orientado e acompanhado pela equipe educadora – que também põe a mão na massa! – com carinho verdadeiro, compreensão e firmeza. Sempre respeitando a sua idade, individualidade e capacidades, bem como o seu direito a bastante lazer. Desse jeito, ele aprende, constrói a sua vida, ensaia para ser um cidadão responsável e, ao mesmo tempo, contribui, com os seus conhecimentos, idéias e sonhos para melhorar a Chácara, como um dia ele contribuirá para melhorar a sociedade. O menino cresce com a Chácara e a Chácara cresce com o menino. Isso exige dos adultos que ali atuam, não só conhecimentos pedagógicos, mas um compromisso verdadeiro com o menino e boas competências sociais. E que sejam bem resol323

vidos, equilibrados, dispostos e capazes de desenvolver a sua personalidade. O menino aprende pelo exemplo deles, eles aprendem com o menino e juntos constroem a Chácara, que não poderia continuar se quebrasse esse processo mútuo, com o menino no centro. 4. Garantir a sustentabilidade e a qualidade do projeto: Um projeto precisa de dinheiro, sim. E o que é mais importante, precisa integrarse bem à sociedade, além de construir uma diversificada rede de colaboradores. Sem integração e rede, ele não serve para os meninos, nem para a sociedade. E sempre deve avaliar seus resultados, bem como as mudanças que acontecem dentro do projeto e ao seu redor, na busca de melhorar sempre a sua prática. Um projeto que não sabe desenvolver-se e adaptar-se, um dia será ultrapassado pela realidade, na qual não caberá mais. Antes do início das atividades da Chácara, em Quatro Pinheiros, os moradores dessa comunidade ficaram assustados com a vinda dos meninos de rua. Houve um longo processo de diálogo e encontros com os moradores, para que entendessem melhor a proposta e conhecessem os meninos. Várias pessoas da comunidade acabaram colaborando na Chácara. Os meninos e educadores participam muito da comunidade. Além disso, a Chácara oferece vários serviços e atividades para a comunidade e junto com ela, como, por exemplo, um consultório médico-odontológico. Também busca contatos e colaborações nos diversos setores da sociedade e até no exterior. E exige que o poder público assuma a sua responsabilidade para com os meninos. Acredita que quando todos nos sentamos na mesma mesa, é que começamos a ensaiar uma nova sociedade, mais justa e, enfim, melhor para todos. Uma vez que definiu os seus objetivos e a sua proposta, a Chácara tem como avaliar os seus resultados. E avalia também a sua prática. Todos participam das avaliações, tanto os meninos, quanto os demais membros – cada um se autoavalia e avalia o grupo. Também planejam o seu trabalho para poder abordar de forma ativa as exigências que se impõem. Se algo não deu certo, ocorrendo um problema ou alguma crise, eles conversam, criam juntos um novo caminho e tentam novamente. Não esperam ser perfeitos, nem enquanto pessoas, nem enquanto organização. Entendem a vida e a Chácara como um processo de aprendizado, um processo mútuo de construção. Os problemas pesam em qualquer lugar, mas na Chácara, parece que os meninos e os adultos tiram novas energias das dificuldades, que tornam as fraquezas e erros de hoje, uma lição para amanhã.

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Anhang 3: Die Studie in Kürze

Mehr als 100’000 Kinder und Jugendliche leben in Brasilien in über 3’000 residentiellen Institutionen: Kinderheimen, Waisenhäusern und Jugendstrafanstalten. Die Qualität der Institutionen variiert stark. Das Interesse an der Weiterentwicklung der Heime ist seitens von Institutionen, Sozialpolitik und der weiteren Fachgemeinde gross. Die vorliegende Studie präsentiert die Ergebnisse der ersten empirischen Organisationsanalyse einer residentiellen Institution für Kinder und Jugendliche in Brasilien oder in einem anderen Land und damit zentrale Erkenntnisse für deren qualitätsorientierte Gestaltung. Forschungsfeld ist die „Chácara dos Meninos de Quatro Pinheiros“ bei Curitiba in Südbrasilien für ehemalige Jungen der Strasse oder aus anderen Situationen grossen Risikos. Sie wurde im Jahr 1993 von Favela-Bewohnern und Strassenkindern gegründet und wird von UNDP und Unesco positiv beurteilt. Die Organisationsanalyse verfolgte zwei Ziele: Die Erstellung einer Phänographie der Chácara mit ihren charakteristischen Strukturen und Prozessen sowie deren Inbezugsetzung mit Aspekten von Qualität und Nachhaltigkeit. Mittels einer qualitativen und partizipativen Methodik wurde implizites und explizites Praxiswissen von Mitgliedern und Beteiligten der Chácara zur Organisation erhoben. Ein organisationspsychologischer Ansatz diente der Rekonstruktion der organisationalen Strukturen und Prozesse sowie der Zusammenhänge mit der Qualität der Organisation. Eine zentrale Erkenntnis ist, dass in dieser Art von Organisation teils andere, oder anders betonte, organisationale Aspekte als relevant gelten als in den Wirtschaftsorganisationen, welche meist im Fokus der Organisationslehre stehen, so die Handlungsbasis der Organisation, die Ausrichtung auf Fähigkeiten und Ressourcen der Kinder und Jugendlichen, die durchdachte soziale Grundkonzeption und soziale Struktur sowie der Imperativ der Modalitäten Partizipation, gegenseitige Inklusion und Evaluation bei allen Tätigkeiten. Die residentielle Institution für Kinder und Jugendliche erscheint als Sozialisierungsraum, in dem Konzepte sozialer Integration und sozialen Wandels, Ziele und Entwicklung der Organisation und die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen untrennbar miteinander verbunden sind. 325

Anhang 4: O estudo em breve

Mais de 100.000 crianças e adolescentes vivem em mais do que 3.000 organizações residenciais no Brasil, ou seja, em abrigos ou casas lares. A qualidade destas varia bastante, e o interesse por seu desenvolvimento e por sua qualificação como serviço público é grande entre integrantes dos próprios abrigos e serviços sociais, pelos representantes da política social e demais profissionais da área. Este estudo apresenta os resultados de uma análise organizacional empírica de uma entidade residencial para crianças e adolescentes. Sendo esta análise a primeira deste gênero feita no Brasil ou em qualquer outro país, ela oferece conclusões centrais com relação à orientação qualitativa deste tipo de organização. O campo de pesquisa é a “Chácara dos Meninos de Quatro Pinheiros” em Mandirituba, Região Metropolitana de Curitiba, PR, que acolhe meninos provenientes de situações de rua e vulnerabilidade social. Fundada em 1993 principalmente por moradores de uma favela e jovens de rua, é uma ONG repetidamente elogiada tanto por organismos locais e nacionais, bem como internacionais (PNUD, Unesco). Esta análise organizacional teve dois objetivos: o de produzir uma descrição detalhada da Chácara com suas estruturas e processos organizacionais característicos, e o de relacioná-los com parâmetros de qualidade e sustentabilidade. Usufruindo de uma metodologia qualitativa e participativa, foram levantados os conhecimentos práticos implícitos e explícitos de integrantes e demais envolvidos da Chácara a respeito da sua organização. Em seguida, foi aplicada uma abordagem baseada na psicologia organizacional para reconstruir as estruturas e processos organizacionais e relacioná-los com os padrões de qualidade da organização. Uma constatação central é a de que neste tipo de organização encontram-se aspectos organizacionais diferentes, ou com ênfases diferentes, daqueles encontrados nas organizações comerciais tão freqüentemente enfocados pelas ciências organizacionais, tais como: a base de ação da organização, a orientação pelas competências e recursos pessoais das crianças e adolescentes, a concepção social básica e estrutura social cuidadosamente pensada, além do imperativo das modalidades de participação, inclusão mútua e avaliação em todas as atividades realizadas. 326

A organização residencial para crianças e adolescentes emerge enquanto espaço de socialização onde conceitos de integração e mudança social, objetivos e desenvolvimento da organização, bem como o desenvolvimento das crianças e dos adolescentes são interligados inseparavelmente.

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Anhang 5: Study abstract

More than 100 000 children and adolescents live in Brazil in over 3 000 residential institutions that include children’s homes, orphanages and juvenile detention centres. The quality of these institutions varies greatly. Interest in their continued development is great among institutions, social policy makers and the larger expert community. This study presents the results of the first empirical organisational analysis of a residential institution for children and adolescents in Brazil or, indeed, anywhere in the world. Thus, it offers findings which are central to the qualityoriented development of such institutions. The research was completed at the “Chácara dos Meninos de Quatro Pinheiros” which cares for former boys of the street, or from other situations of high risk near the city of Curitiba in southern Brazil. The Chácara was founded in 1993 by the inhabitants of a shanty town and street children and has received favourable assessment by the UNDP, Unesco and others. The organisational analysis had two goals: to complete a phenography of the Chácara with its characteristic structures and processes, and to relate these to aspects of quality and sustainability. A qualitative and participatory methodology was used to gather implicit and explicit practice knowledge about the organisation from members and stakeholders of the Chácara. An organisational psychology approach then served to reconstruct the characteristic organisational structures and processes and to relate them to the quality of the organisation. A central finding is that different, or differently emphasised, organisational aspects are relevant in this type of organisation than in the business organisations commonly featured in the organisational sciences. Examples are the organisation’s basis of action, the orientation towards the children and adolescents’ competences and personal resources, the thoughtfully designed basic social concept and social structure as well as the imperative of the modalities participation, mutual inclusion and evaluation in all actions. The residential institution for children and adolescents emerges as a space of socialisation where concepts of social integration and social change, goals and organisational design, and the development of the children and adolescents, are interdependent and inseparably linked. 328