Sprachgeschichte: Ein Handbuch Zur Geschichte Der Deutschen Sprache Und Ihrer Erforschung (Handba1/4cher Zur Sprach- Und Kommunikationswissenschaft / H) (German Edition) (Pt. 4) [2nd ed.] 3110180413, 9783110180411 [PDF]

This second edition of the handbook Sprachgeschichte (History of Language) is an extended revision of the first edition,

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German Pages 748 Year 2004

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Sprachgeschichte: Ein Handbuch Zur Geschichte Der Deutschen Sprache Und Ihrer Erforschung (Handba1/4cher Zur Sprach- Und Kommunikationswissenschaft / H) (German Edition) (Pt. 4) [2nd ed.]
 3110180413, 9783110180411 [PDF]

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Sprachgeschichte HSK 2.4 2. Auflage



Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Handbooks of Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer (†) Mitherausgegeben 1985⫺2001 von Hugo Steger

Herausgegeben von / Edited by / Edite´s par Herbert Ernst Wiegand Band 2.4 2. Auflage

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2004

Sprachgeschichte Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage Herausgegeben von Werner Besch · Anne Betten Oskar Reichmann · Stefan Sonderegger 4. Teilband

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2004

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die 앪

US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-018041-3 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ⬍http://dnb.ddb.de⬎ abrufbar. 쑔 Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: META-Systems GmbH, Wustermark Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin Einbandgestaltung und Schutzumschlag: Rudolf Hübler, Berlin

Inhalt Vierter Teilband XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen 194. 195. 196. 197. 198. 199. 200.

Anne Betten, Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte . . . . . . Kurt Gärtner, Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Kaempfert, Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in neuhochdeutscher Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Ernst, Die sprachliche Leistung und Wirkung der deutschen Klassik Thorsten Roelcke, Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wulf Köpke, Das Sprachproblem der Exilliteratur . . . . . . . . . . . . . . . Anne Betten, Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3002 3018 3042 3070 3092 3110 3117

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte 201. 202. 203. 204. 205. 206. 207. 208. 209. 210. 211. 212. 213.

Els Oksaar, Terminologie und Gegenstand der Sprachkontaktforschung . . Nikolaus Henkel, Lateinisch/Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niklas Holzberg, Griechisch/Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Isabel Zollna, Französisch und Provencalisch/Deutsch . . . . . . . . . . . . . Max Pfister, Italienisch und Rätoromanisch/Deutsch . . . . . . . . . . . . . . Karl Mollay (†)/Peter Bassola, Ungarisch/Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . Günter Bellmann, Slavisch/Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Kiefer, Jiddisch/Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert Hinderling/Cornelius Hasselblatt, Baltisch/Deutsch . . . . . . . . . . Hans-Peter Naumann, Skandinavisch/Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gilbert A. R. de Smet, Niederländisch/Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . ˚ rhammar, Friesisch/Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nils A Wolfgang Viereck, Britisches Englisch und amerikanisches Englisch/Deutsch

XX.

Das Deutsche im Sprachenkontakt II: Aspekte der Sprachgrenzbildung des Deutschen

214.

Wolfgang Haubrichs, Geschichte der deutsch-romanischen Sprachgrenze im Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3160 3171 3183 3192 3203 3218 3229 3260 3269 3282 3290 3300 3317

3331

VI

215. 216. 217. 218.

Inhalt

Stefan Sonderegger, Geschichte der deutsch-romanischen Sprachgrenze im Süden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Scheuringer, Geschichte der deutsch-ungarischen und deutschslawischen Sprachgrenze im Südosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vibeke Winge, Geschichte der deutsch-skandinavischen Sprachgrenze . . . Ludger Kremer, Geschichte der deutsch-friesischen und deutsch-niederländischen Sprachgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3347 3365 3380 3390

XXI. Deutsche Namengeschichte im Überblick 219. 220. 221. 222. 223. 224. 225.

Stefan Sonderegger, Namengeschichte als Bestandteil der deutschen Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Sonderegger, Terminologie, Gegenstand und interdisziplinärer Bezug der Namengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albrecht Greule, Schichten vordeutscher Namen im deutschen Sprachgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedhelm Debus/Heinz-Günter Schmitz, Überblick über Geschichte und Typen der deutschen Orts- und Landschaftsnamen . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Kleiber, Die Flurnamen. Voraussetzungen, Methoden und Ergebnisse sprach- und kulturhistorischer Auswertung . . . . . . . . . . . . . . Albrecht Greule, Überblick über Geschichte und Typen der deutschen Gewässernamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilfried Seibicke, Überblick über Geschichte und Typen der deutschen Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3405 3436 3460 3468 3515 3530 3535

XXII. Register 226. 227.

Anja Lobenstein-Reichmann, Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anja Lobenstein-Reichmann, Verfasserregister . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3553 3641

Erster Teilband Verzeichnis der Siglen für wissenschaftliche Zeitschriften, Reihen und Sammelwerke XVI Verzeichnis textlicher Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXI Geleitwort / Foreword / Avant-propos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXV Vorwort zur 2., vollständig neu bearbeiteten und erweiterten Auflage . . . . . . . . . XXIX Vorwort zur ersten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLI

I.

Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte

1. 2. 3.

Oskar Reichmann, Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung . . . . . . . . Peter von Polenz, Deutsche Sprache und Gesellschaft in historischer Sicht . . Joachim Schildt, Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte von Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Walter Blank, Deutsche Sprachgeschichte und Kirchengeschichte . . . . . . Ruth Schmidt-Wiegand, Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte bis zum Ende des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4. 5.

1 41 55 63 72

VII

Inhalt

6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

14. 15. 16. 17. 18. 19.

Ruth Schmidt-Wiegand, Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte seit dem Ausgang des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Armin Burkhardt, Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte . . Jürgen Bolten, Deutsche Sprachgeschichte und Wirtschaftsgeschichte . . . . Klaus-Peter Wegera, Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte des Alltags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich Cox/Matthias Zender (†), Sprachgeschichte, Kulturraumforschung und Volkskunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karlheinz Jakob, Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der Technik Harald Burger, Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der Philosophie Uwe Pörksen, Deutsche Sprachgeschichte und die Entwicklung der Naturwissenschaften. ⫺ Aspekte einer Geschichte der Naturwissenschaftssprache und ihrer Wechselbeziehung zur Gemeinsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Koller, Übersetzungen ins Deutsche und ihre Bedeutung für die deutsche Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Sonderegger, Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen in Grundzügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hugo Steger, Sprachgeschichte als Geschichte der Textsorten, Kommunikationsbereiche und Semantiktypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Grubmüller, Sprache und ihre Verschriftlichung in der Geschichte des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Grubmüller, Gegebenheiten deutschsprachiger Textüberlieferung bis zum Ausgang des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Schmitz, Gegebenheiten deutschsprachiger Textüberlieferung vom Ausgang des Mittelalters bis zum 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . .

II.

Sprachgeschichte in gesellschaftlichem Verständnis

20. 21.

Andreas Gardt, Die Sprachgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts . . Ulrike Haß-Zumkehr, Die gesellschaftlichen Interessen an der Sprachgeschichtsforschung im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . Georg Stötzel/Klaus-Hinrich Roth, Das Bild der Sprachgeschichte in deutschen Sprachlehrbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jochen A. Bär, Die Rolle der Sprachgeschichte in Lexika und sonstigen Werken der Verbreitung kollektiven Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Hinrich Roth, Positionen der Sprachpflege in historischer Sicht . . . Klaus Gloy, Sprachnormierung und Sprachkritik in ihrer gesellschaftlichen Verflechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alan Kirkness, Das Phänomen des Purismus in der Geschichte des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22. 23. 24. 25. 26.

III.

Wissenschaftshistorische Stufen sprachgeschichtlicher Forschung entlang der Zeitlinie

27.

Stefan Sonderegger, Ansätze zu einer deutschen Sprachgeschichtsschreibung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87 98 123 139 160 173 181

193 210 229 284 300 310 320

332 349 359 370 383 396 407

417

VIII

28. 29. 30. 31. 32. 33.

Inhalt

Stefan Sonderegger, Sprachgeschichtsforschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Putschke, Die Arbeiten der Junggrammatiker und ihr Beitrag zur Sprachgeschichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reiner Hildebrandt, Der Beitrag der Sprachgeographie zur Sprachgeschichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Schrodt, Sprachgeschichte in der Sicht strukturalistischer Schulen Willi Mayerthaler (†), Sprachgeschichte in der Sicht der Generativen Transformationsgrammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Cherubim, Sprachgeschichte im Zeichen der linguistischen Pragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV.

Geschichte und Prinzipien der Sprachgeschichtsforschung nach Beschreibungsebenen

34. 35. 36. 37. 38. 39.

43.

Manfred Kohrt, Historische Graphematik und Phonologie . . . . . . . . . . Otmar Werner (†), Historische Morphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Solms, Historische Wortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Reichmann/Dieter Wolf, Historische Lexikologie . . . . . . . . . . . . Herbert Ernst Wiegand, Historische Lexikographie . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Gärtner/Peter Kühn, Indices und Konkordanzen zu historischen Texten des Deutschen: Bestandsaufnahme, Typen, Herstellungsprobleme, Benutzungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Burger/Angelika Linke, Historische Phraseologie . . . . . . . . . . . Franz Hundsnurscher, Historische Syntax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Bammesberger, Geschichte der etymologischen Forschung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Stolt, Historische Textologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V.

Methodologische und theoretische Problemfelder

44. 45.

Thorsten Roelcke, Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte . . . Ludwig Jäger, Das Verhältnis von Synchronie und Diachronie in der Sprachgeschichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus J. Mattheier, Allgemeine Aspekte einer Theorie des Sprachwandels Walter Haas, Ansätze zu einer Theorie des Sprachwandels auf lautlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Leiss, Ansätze zu einer Theorie des Sprachwandels auf morphologischer und syntaktischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Fritz, Ansätze zu einer Theorie des Sprachwandels auf lexikalischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Walter Hoffmann, Probleme der Korpusbildung in der Sprachgeschichtsschreibung und Dokumentation vorhandener Korpora . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Kleiber, Möglichkeiten historischer Sprachgeographie I: Der hochdeutsche Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Goossens, Möglichkeiten historischer Sprachgeographie II: Der niederdeutsche und niederfränkische Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40. 41. 42.

46. 47. 48. 49. 50. 51. 52.

443 474 495 520 529 538

552 572 596 610 643

715 743 755 775 786

798 816 824 836 850 860 875 889 900

IX

Inhalt

53. 54. 55. 56. 57.

Werner Schröder, Editionsprinzipien für deutsche Texte des Früh- und Hochmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bein, Editionsprinzipien für deutsche Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Tarot, Editionsprinzipien für deutsche Texte der Neuzeit I: literarische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Woesler, Editionsprinzipien für deutsche Texte der Neuzeit II: nichtliterarische Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Krewitt, Probleme des Verstehens altdeutscher Texte und die Möglichkeiten ihrer Übersetzung ins Neuhochdeutsche . . . . . . . . . . . . . . .

VI.

Die genealogische und typologische Einordnung des Deutschen

58.

Elmar Seebold, Indogermanisch ⫺ Germanisch ⫺ Deutsch: Genealogische Einordnung und Vorgeschichte des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Binnig, Der Quellenwert des Gotischen für die sprachgeschichtliche Beschreibung der älteren Sprachstufen des Deutschen . . . . Heinrich Beck, Die germanischen Sprachen der Völkerwanderungszeit . . . Karl-Horst Schmidt, Versuch einer geschichtlichen Sprachtypologie des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thorsten Roelcke, Typologische Unterschiede in den Varietäten des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59. 60. 61. 62.

914 923 931 941 948

963 973 979 993 1000

Zweiter Teilband VII.

Aspekte einer europäischen Sprachgeschichte

63.

Christian Schmitt, Sprach- und Nationenbildung in Westeuropa (bis zur Jahrtausendwende) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Sonderegger, Sprachgeschichtliche Aspekte der europäischen Christianisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Schmitt, Latein und westeuropäische Sprachen . . . . . . . . . . . Klaus J. Mattheier, Die Herausbildung neuzeitlicher Schriftsprachen . . . . Richard Baum, Französisch als dominante Sprache Europas . . . . . . . . . Manfred Görlach, Englisch als neuer Typ von Weltsprache und europäische Nationalsprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baldur Panzer, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Wortschatz europäischer Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John Ole Askedal, Gemeinsamkeiten in der grammatischen Struktur europäischer Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64. 65. 66. 67. 68. 69. 70.

1015 1030 1061 1085 1107 1117 1123 1136

VIII. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen I: Das Althochdeutsche 71.

Dieter Geuenich, Soziokulturelle Voraussetzungen, Sprachraum und Diagliederung des Althochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1144

X

72. 73. 74. 75. 76. 77. 78.

Inhalt

Franz Simmler, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Althochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Sonderegger, Morphologie des Althochdeutschen . . . . . . . . . . . . Jochen Splett, Lexikologie und Lexikographie des Althochdeutschen . . . . Albrecht Greule, Syntax des Althochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . Jochen Splett, Wortbildung des Althochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . Alexander Schwarz, Die Textsorten des Althochdeutschen . . . . . . . . . . Stefan Sonderegger, Reflexe gesprochener Sprache im Althochdeutschen . .

IX.

Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen II: Das Altniederdeutsche (Altsächsische)

79.

Thomas Klein, Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Altniederdeutschen (Altsächsischen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Klein, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Altniederdeutschen (Altsächsischen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich Tiefenbach, Morphologie des Altniederdeutschen (Altsächsischen) Willy Sanders, Lexikologie und Lexikographie des Altniederdeutschen (Altsächsischen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irmengard Rauch, Syntax des Altniederdeutschen (Altsächsischen) . . . . . Jürgen Meier/Dieter Möhn, Wortbildung des Altniederdeutschen (Altsächsischen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willy Sanders, Die Textsorten des Altniederdeutschen (Altsächsischen) . . . Ulrich Scheuermann, Die Diagliederung des Altniederdeutschen (Altsächsischen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willy Sanders, Reflexe gesprochener Sprache im Altniederdeutschen (Altsächsischen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87.

X.

Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen III: Das Mittelhochdeutsche

88.

Ursula Rautenberg, Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Mittelhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Wegera, Grundlagenprobleme einer mittelhochdeutschen Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Simmler, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Mittelhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Grosse, Morphologie des Mittelhochdeutschen . . . . . . . . . . . . Klaus Grubmüller, Lexikologie und Lexikographie des Mittelhochdeutschen Norbert Richard Wolf, Syntax des Mittelhochdeutschen . . . . . . . . . . . . Herta Zutt, Wortbildung des Mittelhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . Hannes J. Kästner/Bernd Schirok, Die Textsorten des Mittelhochdeutschen Norbert Richard Wolf, Die Diagliederung des Mittelhochdeutschen . . . . Siegfried Grosse, Reflexe gesprochener Sprache im Mittelhochdeutschen Ulrike Kiefer, Das Jiddische in Beziehung zum Mittelhochdeutschen . . . .

89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98.

1155 1171 1196 1207 1213 1222 1231

1241 1248 1252 1257 1263 1270 1276 1283 1288

1295 1304 1320 1332 1340 1351 1358 1365 1385 1391 1399

XI

Inhalt

XI.

Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen IV: Das Mittelniederdeutsche

99.

Robert Peters, Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Mittelniederdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann Niebaum, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Mittelniederdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John Evert Härd, Morphologie des Mittelniederdeutschen . . . . . . . . . . Ingrid Schröder/Dieter Möhn, Lexikologie und Lexikographie des Mittelniederdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John Evert Härd, Syntax des Mittelniederdeutschen . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Cordes (†)/Hermann Niebaum, Wortbildung des Mittelniederdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Meier/Dieter Möhn, Die Textsorten des Mittelniederdeutschen . . . Robert Peters, Die Diagliederung des Mittelniederdeutschen . . . . . . . . . Karl Bischoff (†)/Robert Peters, Reflexe gesprochener Sprache im Mittelniederdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert Peters, Die Rolle der Hanse und Lübecks in der mittelniederdeutschen Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Timothy Sodmann, Die Verdrängung des Mittelniederdeutschen als Schreib- und Druckersprache Norddeutschlands . . . . . . . . . . . . . . . .

100. 101. 102. 103. 104. 105. 106. 107. 108. 109.

XII.

Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen V: Das Frühneuhochdeutsche

110.

Hans-Joachim Solms, Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Frühneuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Richard Wolf, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Frühneuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Wegera/Hans-Joachim Solms, Morphologie des Frühneuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Wolf, Lexikologie und Lexikographie des Frühneuhochdeutschen . . Johannes Erben, Syntax des Frühneuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Wegera/Heinz-Peter Prell, Wortbildung des Frühneuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hannes J. Kästner/Eva Schütz/Johannes Schwitalla, Die Textsorten des Frühneuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Reichmann, Die Diagliederung des Frühneuhochdeutschen . . . . . . Anne Betten, Zum Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Bentzinger, Die Kanzleisprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Knape, Das Deutsch der Humanisten . . . . . . . . . . . . . . . . . Fre´de´ric Hartweg, Die Rolle des Buchdrucks für die frühneuhochdeutsche Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Richard Wolf, Handschrift und Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Besch, Die Rolle Luthers für die deutsche Sprachgeschichte . . . .

111. 112. 113. 114. 115. 116. 117. 118. 119. 120. 121. 122. 123.

1409 1422 1431 1435 1456 1463 1470 1478 1491 1496 1505

1513 1527 1542 1554 1584 1594 1605 1623 1646 1665 1673 1682 1705 1713

XII

Inhalt

XIII. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen VI: Das Neuhochdeutsche in seiner Entwicklung vom 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 124. 125. 126. 127. 128. 129. 130. 131. 132. 133. 134. 135. 136. 137. 138.

Natalija N. Semenjuk, Soziokulturelle Voraussetzungen des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burckhard Garbe, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Neuhochdeutschen seit dem 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Heinrich Veith, Bestrebungen der Orthographiereform im 18., 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Mangold, Entstehung und Problematik der deutschen Hochlautung Klaus-Peter Wegera, Morphologie des Neuhochdeutschen seit dem 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Reichmann, Die Lexik der deutschen Hochsprache . . . . . . . . . . . Siegfried Grosse, Die Belebung mittelhochdeutschen Sprachguts im Neuhochdeutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ´ gel, Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. JahrhunVilmos A derts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudine Moulin-Fankhänel, Deutsche Grammatikschreibung vom 16. bis 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva-Maria Heinle, Wortbildung des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Endermann, Die Textsorten des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Wiesinger, Die Diagliederung des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus J. Mattheier, Die Durchsetzung der deutschen Hochsprache im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: sprachgeographisch, sprachsoziologisch Heinrich Löffler, Gesprochenes und geschriebenes Deutsch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Utz Maas, Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . .

XIV.

Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache seit der Mitte des 20. Jahrhunderts

139.

Lothar Hoffmann, Die Rolle der Fachsprachen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Schank/Johannes Schwitalla, Ansätze neuer Gruppen- und Sondersprachen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Clyne, Varianten des Deutschen in den Staaten mit vorwiegend deutschsprachiger Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Schmidt, Entwicklung und Formen des offiziellen Sprachgebrauchs der ehemaligen DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich Löffler, Die Rolle der Dialekte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts Rainer Wimmer, Sprachkritik in der wissenschaftlichen Diskussion des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140. 141. 142. 143. 144.

1746 1765 1782 1804 1810 1818 1847 1855 1903 1911 1918 1932 1951 1967 1980

1991 1999 2008 2016 2037 2047

XIII

Inhalt

145. 146. 147. 148. 149. 150. 151. 152. 153.

154. 155.

Rainer Wimmer, Sprachkritik in der Öffentlichkeit seit der Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Schoenthal (†), Impulse der feministischen Linguistik für Sprachsystem und Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regina Hessky, Entwicklungen der Phraseologie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arend Mihm, Die Rolle der Umgangssprachen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erich Straßner, Neue Formen des Verhältnisses von Sprache und Visualität seit der Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruth Römer, Entwicklungstendenzen der Werbesprache seit der Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Nail, Zeitungssprache und Massenpresse in der jüngeren Geschichte des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Brandt, Sprache in Hörfunk und Fernsehen . . . . . . . . . . . . . Ulrich Schmitz, Auswirkungen elektronischer Medien und neuer Kommunikationstechniken auf das Sprachverhalten von Individuum und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Born/Wilfried Schütte, Die Stellung des Deutschen in den europäischen Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Ammon, Geltungsverlust und Geltungsgewinn der deutschen Sprache seit der Mitte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2054 2064 2101 2107 2137 2146 2152 2159

2168 2175 2185

Dritter Teilband XV.

Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung im Gesamtüberblick I: Pragmatische und soziologische Aspekte

156. 157.

Ingo Reiffenstein, Bezeichnungen der deutschen Gesamtsprache . . . . . . . Ingo Reiffenstein, Metasprachliche Äußerungen über das Deutsche und seine Subsysteme bis 1800 in historischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Wegstein, Die sprachgeographische Gliederung des Deutschen in historischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Besch, Entstehung und Ausformung der neuhochdeutschen Schriftsprache/Standardsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Möhn, Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte I: Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Schildt, Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte II: Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Walter Hoffmann/Klaus J. Mattheier, Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte III: Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gaston Van der Elst (†), Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte IV: Nürnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Wiesinger, Die Stadt in der deutschen Sprachgeschichte V: Wien . . .

158. 159. 160. 161. 162. 163. 164.

2191 2205 2229 2252 2297 2312 2321 2341 2354

XIV

165. 166. 167.

Inhalt

Wilfried Seibicke, Fachsprachen in historischer Entwicklung . . . . . . . . . Dieter Möhn, Sondersprachen in historischer Entwicklung . . . . . . . . . . Utz Maas, Alphabetisierung. Zur Entwicklung der schriftkulturellen Verhältnisse in bildungs- und sozialgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . .

2377 2391 2403

XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung im Gesamtüberblick II: Sprachsystematische Aspekte 168. 169. 169a. 170. 171. 171a. 172. 173. 174. 175. 176. 177.

Heinrich Löffler, Hyperkorrekturen als Hilfe bei der Rekonstruktion von Sprachzuständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gotthard Lerchner, Konsonantische Lautsystementwicklungen in der Geschichte des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Wiesinger, Systementwicklungen des Deutschen im Bereich des Vokalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Nerius, Graphematische Entwicklungstendenzen in der Geschichte des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Simmler, Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen . . . . Richard Schrodt/Karin Donhauser, Tempus, Aktionsart/Aspekt und Modus im Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Erben, Hauptaspekte der Entwicklung der Wortbildung in der Geschichte der deutschen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oskar Reichmann, Hauptaspekte des Ausbaus und Umbaus des Wortschatzes in der Geschichte des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Mieder, Grundzüge einer Geschichte des Sprichwortes und der Redensart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John Evert Härd, Hauptaspekte der syntaktischen Entwicklung in der Geschichte des Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Stolt, Rhetorikkonzeptionen in der Geschichte der deutschen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Besch, Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel . .

2419 2425 2440 2461 2472 2504 2525 2539 2559 2569 2582 2599

XVII. Regionalsprachgeschichte 178. 179. 180. 181. 182. 183. 184. 185. 186. 187. 188.

Heinz Eickmans, Aspekte einer niederrheinischen Sprachgeschichte . . . . . Robert Peters, Aspekte einer Sprachgeschichte des Westfälischen . . . . . . Robert Peters, Aspekte einer Sprachgeschichte des Sassischen . . . . . . . . Ulrich Scheuermann, Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostfälischen . . . Joachim Gessinger, Aspekte einer Sprachgeschichte des Brandenburgischen Irmtraud Rösler, Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostniederdeutschen Klaus J. Mattheier, Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte . . . . . . . Hans Ramge, Aspekte einer Sprachgeschichte des Hessischen . . . . . . . . Gotthard Lerchner, Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen Alfred Klepsch/Helmut Weinacht, Aspekte einer fränkischen Sprachgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fre´de´ric Hartweg, Die Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, deutscher und französischer Standardsprache im Elsaß seit dem 16. Jahrhundert

2629 2640 2651 2663 2674 2699 2712 2729 2744 2767 2778

XV

Inhalt

189. 190. 191. 192. 193.

Konrad Kunze, Aspekte einer Sprachgeschichte des Oberrheingebietes bis zum 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Sonderegger, Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz Ingo Reiffenstein, Aspekte einer Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingo Reiffenstein, Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Wiesinger, Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2810 2825 2889 2942 2971

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen 194. Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte 1. 2. 3. 4. 5.

1.

Zur unterschiedlichen Verwendung des Begriffs Literatursprache Der Stellenwert literarischer Texte in der Sprachgeschichtsforschung Kriterien der Literatursprache/Sprache in der Literatur: Definitionsversuche Entwicklungsskizze der deutschen Literatursprache, unter Bezug auf die folgenden Artikel Literatur (in Auswahl)

Zur unterschiedlichen Verwendung des Begriffs Literatursprache

Kapitel XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen wurde für die 2. Aufl. dieses Handbuchs neu zusammengestellt. Von den 7 Beiträgen hat nur einer Verfasser und Thema mit einem Artikel der 1. Aufl. gemeinsam (Kaempfert, Art. 196; der geplante neue Art. Geschichte weiblicher Schreibstile wurde bedauerlicherweise nicht realisiert). Nicht nur wegen des veränderten Handbuchkonzepts, sondern auch wegen der (anderen) Definition des Begriffs Literatursprache unterscheidet sich der folgende Artikel von dem gleichnamigen Artikel Guchmanns (1984), auf den jedoch Bezug genommen wird; beide Artikel sind trotz des Abweichens in einer grundlegenden Prämisse komplementär zu benützen. Guchmann stand unter dem Eindruck der Annäherung von Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft in den 70er Jahren, obgleich sie kommentiert, daß sich die Tendenz, der Literaturwissenschaft „die Verfahren der strukturalen Linguistik aufzupfropfen“, als wenig ergiebig erwiesen habe (mit entsprechenden Lit.angaben ebd., 19). Umso bedeutender aber erscheint ihr die Auswirkung auf die Sprachwissenschaft selbst zu sein, „die Eigenart der Verfahren und Aufgaben der linguistischen Analyse des literarischen Textes, und namentlich des dichterischen Werkes, zu

klären“ (ebd.). Ihr Beitrag konzentriert sich daher auf den Text als Untersuchungsobjekt für beide Disziplinen, besonders die Richtung, der ihre eigenen bzw. die meisten sowjetischen und DDR-Forschungen dieser Jahre verpflichtet waren, nämlich die Entwicklung der „funktional-stilistische[n] Variabilität der deutschen Sprache“ (ebd., 21). Ins Zentrum der Ausführungen rückt ein Begriff von Literatursprache, den Guchmann v. a. auf den Prager Linguistenkreis und auf Blackall (1959/1966) zurückleitet. Die Prager unterschieden zwischen langue litte´raire (Havra´nek 1929) und langue poe´tique (Mukarˇovsky´ 1932 u. 1940). Für Literatursprache nach ihrer Definition ergab sich daher eine spezielle Verwendung: ´ NEKS (und „ ‘Literatursprache’ im Sinne HAVRA der Prager) ist in erster Linie, jedoch keineswegs ausschließlich, ‘Schriftsprache’. Genauer gesagt: die Charakteristika der Literatursprache kommen vornehmlich in ‘kontinuierlichem’ Sprachgebrauch, also in Texten oder redigierter Redetätigkeit, zur Geltung. Von dieser geschriebenen Form wird die gesprochene Literatursprache beeinflußt, die ihrerseits monologische und dialogische Vari´ NEK stellt schließlich anten kennt. […] HAVRA zwei in der Literatursprache angelegte gegenläufige Tendenzen heraus: diejenige, sich zur Gemeinsprache, zur Koine, zu entwickeln, und diejenige, zum ausschließlichen Besitz und typischen Merkmal der ‘herrschenden Klasse’ zu werden“ (Baum 1987, 40 f.). ⫺ Die „Existenzform von Sprache“, die Literatursprache in dieser Tradition bezeichnet, „wird wiederum mit Hilfe von Begriffen wie ‘bewußte Gestaltung’, ‘Normiertheit’, ‘überregionale Gültigkeit’, ‘Polyfunktionalität’ und ⫺ mit dem letzteren in Zusammenhang stehend ⫺ ‘stilistische Differenziertheit’ beschrieben“ (ebd., 48).

Zumindest in der geschriebenen Manifestation einer so verstandenen Literatursprache liegt hier offenbar eine weitgehende Dekkungsgleichheit mit den Texten vor, die Blackall in seiner Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache zugrundelegt (nämlich

3003

194. Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte

Philosophie, literarische Zeitschriften, Erzählprosa, Poesie u. a.). Guchmann spricht von einer „sehr weit gespannte[n] Bedeutungsstruktur“, räumt aber ein, daß der engl. Originalterminus Literary Language „einer funktionsmäßigen Annäherung an den Begriff ‘Schriftsprache’ gleichkam“, zumal im Englischen „keine bedeutungsnahen Konkurrenten“ zum Terminus Literatursprache existierten, während dieser in „anderen Studien […] häufig in eine mehrgliedrige Synonymenreihe einbezogen“ werde, „zu der auch Schriftsprache, Hochsprache, Standardsprache, Gemeinsprache gehören“ (Guchmann 1984, 21). Zu den (reichlich verwirrenden) Unterschieden im Gebrauch des Terminus Literatursprache bemerkt Guchmann nur, daß seine „inhaltliche Struktur“ „weitgehend durch das terminologische System geprägt“ sei, „in dem er funktioniert“ und z. B. in von Polenz’ Sprachgeschichte (Version von 1978) „äußerst selten“ vorkomme (ebd.). Wenn Literatursprache im Guchmannschen Sinne in sprachgeschichtlichen Arbeiten der 90er Jahre kaum noch verwendet wird, was ein Blick auf zentrale Artikel dieses Handbuchs bestätigt, liegt dies jedoch nicht nur am terminologischen System. In den 70er und 80er Jahren hatte der Terminus in der Historiolinguistik der DDR Hochkonjunktur; er erscheint z. B. durchgehend schon im Übertitel einer Publikationsreihe Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der syntaktischen Ebene (1470⫺1730). In der Einleitung des 1. Bandes dieser Reihe heißt es nach explizitem Bezug auf (frühere) Definitionen Guchmanns: „Die Literatursprache ist eine historische Kategorie; ‘Grad der Formgebung sowie Strenge der Auswahl [erg.: der sprachlichen Mittel] und Regelung können nicht nur in verschiedenen Literatursprachen, sondern auch in verschiedenen Perioden der Geschichte einer Sprache verschieden sein.’ “ (Kettmann/Schildt 1976, 18).

In der Neuaufl. unseres Handbuchs findet sich diese Auffassung von Literatursprache im wesentlichen unverändert noch bei Semenjuk (Art. 124). Ihr Vorgehen, Literaturund Schriftsprache für die nhd. Periode nun einfach gleichzusetzen und die in der Sprachgeschichtsforschung heute weitgehend üblichen Unterscheidungen von Schriftsprache für die Zeit vom 16. bis 18. Jh. und Standardsprache seit dem 19. Jh. (so Besch, vgl. Art. 159) als „eine der möglichen Varianten des Modellierens der Sprachsituation“ zu betrachten (ebd., 1749), dürfte kaum noch

Nachahmung finden. Eine Prämisse dieses Ansatzes ist es, die Entwicklung der dt. Sprache anhand von überwiegend schriftlichen Quellen zu beschreiben, die den (v. a. an Spitzenleistungen in Literatur, Philosophie, Wissenschaft orientierten) Sprachkultur-Vorstellungen des Bildungsbürgertums vom 18. bis 20. Jh. entsprechen und die „teleologische“ Perspektive des Ideals einer (kultivierten) Einheitssprache verfolgen (vgl. die Herkunft der Belege bei Straßner 1995). Gerade das aber wird derzeit aus einem eher soziopragmatischen Sprachgeschichtsverständnis grundsätzlich kritisiert (vgl. Reichmann, Art. 1, 13 f.; v. Polenz, Art. 2; s. u. 2.). Im Gegensatz zur allgemeinen Sprachgeschichtsschreibung ist die Auseinandersetzung mit dem „weiten“ Begriff von Literatursprache in Arbeiten zur Sprache der Dichtung/Literatur schon wegen seiner lange mehrdeutigen Verwendung fast unvermeidlich, um den (engeren) eigentlichen „literarischen“ Untersuchungsbereich zu bestimmen. Und es wird darauf zurückzukommen sein, daß die weite Definition für bestimmte Perioden der deutschsprachigen „Literatur“ durchaus angemessen ist.

2.

Der Stellenwert literarischer Texte in der Sprachgeschichtsforschung

2.1. Eine sich soziopragmatisch verstehende Sprachgeschichtsschreibung, wie sie v. Polenz theoretisch erläutert (z. B. 1995) und in seiner Deutsche[n] Sprachgeschichte (1991ff.) verwirklicht hat, ist wesentlich daran interessiert, „Einseitigkeiten“ der traditionellen bzw. „üblichen“ Sprachgeschichtsschreibung zu beheben, besonders jene, die durch die „bildungsbürgerliche Fixierung auf homogene Sprache“ entstanden sind (v. Polenz, Art. 2, 43 f.). Die Folge ist eine Hinwendung zur „natürliche[n] soziale[n] und funktionale[n] Heterogenität, Sprache des Alltags, der Subkulturen, Sprachnormenkonflikte“ (über deren Diskriminierung bzw. Ignorierung in den 70er und 80er Jahren u. a. Dieckmann, Gessinger, Knoop gearbeitet haben) und den regionalen und nationalen Varietäten des Deutschen (hervorgehoben von Clyne, Ammon, v. Polenz) sowie die „Forderung nach Sprachgeschichte als Textsortengeschichte“ (ebd., 44 f.). „Literarische Sprache“ (ebd., 50 u. 1999, 473 ff.) bzw. „Belletristische Literatursprache“ (1994, 300 ff.) spielt in diesem Rahmen nur eine Rolle unter vielen anderen

3004

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

und wird v. a. im Hinblick auf den Wandel ihrer „gesellschaftlichen Funktionen“ betrachtet (1994, 301). Einige Beispiele aus den „Phasen“ nach der „Etablierung einer im belletristischen Sinne autonomen deutschen Literatursprache in Poesie und literarischer Prosa“, einschließlich ihrer „Vorgeschichte“ seit Opitz’ „Poetikreform“ im frühen 17. Jh.: In der 1. Phase, „pauschal Barock genannt“, diente die Literatursprache „stark vom Hof- und Ständeleben abhängigen und kulturpatriotisch motivierten, auf das Ziel sprachenpolitischer und ständischer Prestigegewinnung gerichteten Aufgaben“, in der 2. Phase, „bekannt unter Stichwörtern wie Pietismus, Aufklärung, Rokoko, Empfindsamkeit“ hingegen diente sie vornehmlich als Bürgersprache, „d. h. als Mittel der Identitätsfindung für das sich in der beginnenden Krise der spätfeudal-ständischen Gesellschaftsordnung selbst konstituierende Neubürgertum“ (ebd., 300 f.). In der 3. Phase, die „literaturgeschichtlich mit Genie-Zeit und Sturm und Drang“ beginnt und „sich später zur Romantik“ fortsetzt und „im Prinzip als ‘Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur’ [S. J. Schmidt] bis in die Gegenwart“ reicht, wurde die „vorbildgebende Rolle von Literatursprache für gesamtgesellschaftliche Sprachkultivierung“ aufgegeben, „wobei ‘der Augenblick der gefestigten Norm zugleich schon der Augenblick der Revolte gegen die Norm’ [Eibl]“ war; „Literatur hat sozialgeschichtlich nicht mehr ‘subsidiäre’, sondern ‘komplementäre Funktion’ [Eibl]“ (ebd., 302). In der 4. Phase der Weimarer Klassik schließlich findet „auf höherer Kulturebene“ eine Rückkehr der Literatursprache „zu gesamtgesellschaftlichen Funktionen“ statt, aber „gerade dadurch wurde sie […] im 19. Jahrhundert zu Zwecken repräsentativer Öffentlichkeit bildungsbürgerlich konsumierbar“ (ebd., 303). Daraus folgt u. a., daß „Preziosität ebenso wie Epigonentum in der literarischen Sprache des 19. Jh. […] viel mit dem sozialgeschichtlichen Vorgang der gesellschaftlichen Harmonisierung zwischen neuer und alter Elite, mit Blick ‘nach oben’ und Abgrenzung ‘nach unten’ [Sengle] zu tun“ hat. ⫺ Eine „grundsätzliche Abwendung“ von dieser bürgerlichen „Bildungsreligion“ und der „bürgerlich vergesellschaftenden Entwicklung des literarischen Deutsch“ wurde um die Jahrhundertwende daher „für nicht mehr anpassungsbereite, künstlerisch ambitionierte Schriftsteller unausweichlich“ (Stichwort Sprachkrise). Die Künstler „besannen sich wieder auf die Unvereinbarkeit von Kunstsprache und Gemeinsprache“, moderne Literatur mußte sich „gegen die gesellschaftliche Instrumentalisierung literarischer Sprache für bildungsbürgerliche Zwecke der Sozialdistanzierung und -disziplinierung, also für die Autonomie der Literatur und der Autoren entscheiden“ (v. Polenz 1999, 477).

Die Linie, die v. Polenz hier zieht (an die sich Hinweise auf die Funktionen der jeweils cha-

rakteristischen sprachlichen Mittel anschließen), ist so neu nicht, doch zum einen in der sozialgeschichtlichen Analyse stringent durchgeführt, zum anderen in ihrer Stoßrichtung gegen die Auswirkungen bildungsbürgerlicher (Sprach-)Ideale bewußt der traditionellen Bewertung entgegengesetzt. Hinter der „Sprachkultivierungsarbeit des 17. bis 19. Jh.“ wird außer ihren Verdiensten um überregionale Verständlichkeit und Differenzierung des sprachlichen Ausdrucks die soziale „Symptomfunktion“ als Mittel der „nationalsprachlichen“ [nach Reichmann] und „der ständischen Identifizierung“ gesehen (v. Polenz 1995, 42). 2.2. Während v. Polenz mehr die sozialgeschichtlichen Bedingungen und Auswirkungen der Entwicklung der Literatursprache als einer von vielen Varietäten im Auge hat, nimmt Reichmann besonders die Rolle literarischer Texte und ihrer Sprache als Quellencorpora der traditionellen Sprachgeschichte ins Visier. Als generell bedenklich wird bereits die Konzentration auf die „höherschichtigen“ Varianten des Deutschen angesehen („sog. karolingische Hofsprache, mhd. Dichtersprache, Gemeines Deutsch, Hansesprache, nhd. Schriftsprache“, Art. 1, 9), gepaart mit der Beschränkung auf die schriftliche Überlieferung, so daß „die Soziolekte der breitesten, nämlich der untersten Sprecherschichten sowie alle genuin durch Mündlichkeit gekennzeichneten Gruppensprachen“, die gar nicht oder bis ins 20. Jh. hinein nur schwach belegt sind, beim „Mainstream der Sprachgeschichtsschreibung“ und ihrem Themenkanon kaum eine Rolle spielen: Infolge „der sozialschichtigen und sozialsituativen Filterfunktion der Schrift“ präsentiert(e) sich Sprachgeschichte vorwiegend als „Geschichte der höherschichtigen und genuin schreibsprachlichen Varietäten“ (ebd., 10). Besonders kritisiert wird die „über das überlieferungsbedingte Maß hinausgehende sprachideologische Verstärkung ihrer sozialen Hochlastigkeit“ bei einigen der renommierten Darstellungen wie Bach (1970), Eggers (1963 ff.), Langen (1957) sowie „Monographien vom Typ Blackall 1966“, die sich „streckenweise wie eine Geschichte der Literatursprache lesen“ (ebd., 11). Stattdessen solle die Selbstverständlichkeit, mit der „Sprachhistoriker ihre Corpora in den Literaturregalen der germanistischen Seminare zusammenstellen“, „einer Orientierung auf Überlieferungsbereiche“ weichen, „die die

194. Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte

von der Germanistik belegten quantitativ bei weitem überragen und vollständig andere Sinnwelten betreffen“, wie es programmatisch immer mehr gefordert und in jüngeren Sprachgeschichten (zumindest ansatzweise) erprobt wird. So entstehe „teilweise ein Gegenbild“ (wenngleich meist nur für die Neuzeit) zu jenem „Bild von Sprachgeschichte, das von einer (angenommenen oder tatsächlichen) literarischen Blütezeit zur anderen springt“, während zwischen diesen „Niedergang“ herrsche (ebd., 13). Diese „literaturbezogene Perspektive“, in der auch alle anderen Textsorten als Dokumente „vorhandener, verfallender oder sich herausbildender hoher ästhetischer Kultur“ betrachtet werden, sei „durch andere, teilweise noch zu entwickelnde Perspektiven“ zu ersetzen. Wenn als „Hervorbringer von Sprachgeschichte“ „breitere (mittlere) Sozialschichten mit alltagsüblichen, berufsbezogenen (usw.) Texten“ im Vordergrund stehen, wäre auch die nhd. Schriftsprache „historisch und systematisch […] nicht so sehr ‘Literatursprache’“ als vielmehr „im gewerbebürgerlichen Sprachverkehr entstandene, variable, nach ihrer kommunikativen Eignung zu beurteilende ‘Standardsprache’“ (ebd., 13 f.). Diese Argumentation Reichmanns bereichert auch die Diskussion über die Angemessenheit des Terminus Literatursprache, da sie ganz deutlich herausstellt, vor welchem geistesgeschichtlichen Hintergrund und Geschichtsverständnis eine Gleichsetzung von Schrift- und Literatursprache überhaupt erfolgen konnte. 2.3. Die genannten Darstellungen werden durch derartige grundsätzliche Kritik allerdings ihre Verdienste nicht vollständig einbüßen und für bestimmte, eben gerade das Verhältnis von Literatur und Sprache betreffende Fragestellungen sogar unvermindert interessant bleiben. Die Sprachgeschichtsschreibung hat noch viel zu tun, um Defizite aufzuarbeiten, aber je mehr dort aufgeholt und neu gewichtet wird, desto mehr steigt wiederum die Motivation, sich mit den Besonderheiten der „literarischen“ Textsorten in einem neu und präziser definierten Zusammenhang mit anderen Textsortentypen und deren Sprachverwendung auseinanderzusetzen (s. z. B. Stegers langjährige Bemühungen, die „Existenzweisen“ oder „Erscheinungsformen“ des Deutschen bzw. universelle „Semantiktypen“ / „Kommunikationsbereiche“ / „Sinnwelten“ funktional voneinander abzu-

3005 grenzen, wobei die Literatur und ihre Sprache einen Bereich ⫺ neben der Sprache in Institutionen, Technik, Wissenschaft, Religion und Alltag ⫺ darstellt, vgl. Art. 16, 287; ferner Steger 1988 u. 2000). Das „Suchen und Entdecken der eigenen Kultur- und Ästhetikideale in geschichtlichen Vorläufern“ (kritisiert von Reichmann Art. 1, 14) behält im Teilbereich einer (erst noch systematisch aufzuarbeitenden) literarischen Sprachgeschichte des Deutschen ebensoviel Reiz wie Berechtigung. Allerdings werden nur von sog. „Hochleistungen“ ausgehende Bewertungen dann mehr von kulturhistorischem Interesse als von weiterführendem Nutzen sein. Würde man etwa eine so materialreiche und gut geschriebene Darstellung wie die Langens (1957) nicht als „Deutsche Sprachgeschichte“, sondern als „Geschichte der deutschen Literatursprache vom Barock bis zur Gegenwart“ lesen, würden viele der von Reichmann genannten Probleme entfallen. Charakteristisch für den ganzen Ansatz bliebe aber beispielsweise, welche Rolle für Langens Bewertung der Begriff der sprachlichen Formung spielt, und nicht zufällig werden „Geformtheit und Auswahl“ auch in Guchmanns Definition von Literatursprache immer an erster Stelle genannt (vgl. 1984, 23, 25). Typisch für Langens Stilideale sind Bezeichnungen wie „kunstvolle Nachlässigkeit“ für Wielands Prosa, die jedoch, wie im 19. Jh. bei Heine, das „Ergebnis mühsamster Arbeit“ sei; Wielands Ausspruch „Meine ganze Schriftstellerei hält und nährt sich von der Feile“ dient dafür als Beleg (Langen 1957, 1068). Die „hastige Vielschreiberei der Jungdeutschen außer Börne und Heine“ kenne hingegen „trotz ihren Theorien in Wahrheit keine ‘Kunst der deutschen Prosa’ “ (ebd., 1288). Oder: Die Anfänge des naturalistischen Schrifttums in Deutschland seien „sprachlich recht unergiebig“, da „zunächst mehr negativ entformend als Protest gegen den Gestaltungswillen der bürgerlichen Dichtung“ (ebd., 1354). Entsprechend kann eine schon erreichte Stilhöhe „zerstört“ werden (wie „die seit Opitz bewußt geschaffene erhöhte Stilebene der Barockdichtung“ durch Christian Weise). Langen schreckt hier auch vor den Begriffen „Zersetzung“ und „Entartung“ nicht zurück (so ist das Sonett bei Andreas Gryphius noch „höchste Kunstform“, bei seinem Sohn Christian zeige sich jedoch seine „Entartung“ und „sprachliche Verrohung“, ebd., 1005 f.). Daß die literarische Form als allgemeiner stilistischer Maßstab gesetzt wird, zeigt sich z. B. in der Bewertung des Zeitungsstils: „Der neue Stil des Feuilletons, den Heine und Börne vor allem als Kunstform handhaben, wirkt hier in die Breite, er sinkt in die Mittelschichten und oft in die Niederungen ab“ (ebd., 1284). Allerdings darf der gehobene Stil auch nicht „um jeden Preis“ „gesucht“

3006

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

sein (wie etwa bei Geibel, ebd., 1326): Epigonenstil wird abqualifiziert, und so ist erstaunlicherweise Thomas Manns „artistisches Spiel“ eher „Ausdruck einer sich in Virtuosität erschöpfenden alternden Kultur, nicht schöpferischer Neubeginn“ (ebd., 1380). Der „Erneuerer unserer Dichtersprache“ und, bezeichnend für Langens Ansatz, „damit der deutschen Sprache überhaupt“ (ebd., 1385), war für diesen an persönlicher Genialität ausgerichteten Blick noch nicht zu erkennen.

2.4. Die Beispiele aus Langen stehen hier exemplarisch für den heute kritisierten Typus der älteren literaturorientierten Sprachgeschichten, die sich, z. T. unreflektiert, letztlich aber doch aufgrund der dahinterstehenden Kulturideologie, als Gesamtdarstellungen der Entwicklung der dt. Sprache verstanden. Wendet sich die allgemeine Sprachgeschichtsschreibung jedoch schwerpunktmäßig anderen Traditionen, Textsorten, Varianten der dt. Sprache zu, so wird konsequenterweise eine speziell auf die dt. Literatursprache konzentrierte Sprachgeschichte zu einer sprachwissenschaftlich-philologischen Aufgabe mit neuer Akzentsetzung. Sonderegger (1990, 31) hat ⫺ in Abwandlung eines Klopstock-Zitats ⫺ einige „grundsätzliche Überlegungen“ „An die“ gerichtet, „welche eine literarische Sprachgeschichte des Deutschen schreiben werden“. Zu den Vorarbeiten für ein solches Unternehmen zählt er aus der 1. Aufl. dieses Handbuchs (1984 f.) die Artikel von Guchmann, Grubmüller, Kaempfert, Seidler. ⫺ Besondere Bedeutung kommt nach wie vor den 11 Artikeln des Kapitels Literarische Aspekte im Lexikon der Germanistischen Linguistik (1980) zu, die von Linguisten, Literaturwissenschaftlern und Schriftstellern verfaßt wurden (Posner, Saße, Burger, Objartel, Blume, Große, Frühwald, Leibfried, Eibl, Heißenbüttel, Harig). ⫺ Mit Literaturangaben zu einzelnen Autoren, Epochen, Gattungen vgl. die Anmerkungen von Sonderegger (1990, 44 ff.).

Da das „Wesen[.] der Literatursprache“ in der „Forschung verschiedener Sprachkreise außerordentlich divergierend verstanden wird“, fordert Sonderegger, eine „Wesensbestimmung der deutschen Literatursprache“ nicht „als reine Theorie“ zu entwickeln, sondern „empirisch nur auf dem philologischen Erfahrungshintergrund deutscher Sprachund Literaturgeschichte aufzubauen“. Er formuliert „für ein neues breiteres Verständnis des geschichtlichen Werdens und Wandels einer deutschen Literatursprache“ 6 entscheidende Voraussetzungen (ebd., 34 f.).

Dazu gehören u. a. das Verständnis von Literatursprache als „sich immer wieder erneuernde[r] Manifestation eines deutschen Sprachbewußtseins“ und auch „Sprachbeherrschungsbewußtsein[s]“ (bei „Übersetzung und Vergleich mit anderen Sprachen“ bzw. den Auswirkungen „rezeptive[r] Vorbildwirkung“ in den verschiedenen Epochen); des weiteren die Berücksichtigung des Spannungsverhältnisses „innerhalb der Varietäten des Deutschen“ (horizontal, vertikal und temporal: besonders der „starke Anteil an Dialektalem“ habe sich „als unerhört reiches Sprachinstrument erwiesen“, gerade auch bei der Sprach(er)neuerung, um die es im Sprachkunstwerk stets auch geht); ferner die Beachtung der Abhängigkeit gattungsspezifischer Mittel (wie Vers und Reim) von den auf jeder Sprachstufe verschiedenen Sprachstrukturen (u. a. des Phonem- und Morphemsystems) (ebd., 36⫺ 41).

Besonders wichtig ist der Hinweis, daß der jeweils unterschiedliche dichterisch-literarische „Auswahlprozeß“ aus der Fülle der grammatischen, stilistischen und stratigraphischen Möglichkeiten bzw. Varietäten das „Neue oder Einmalige jedes Literaturproduktes“ bestimmt, so daß man „weder diachronisch noch synchronisch“ von der Literatursprache des Deutschen sprechen kann: Daher sei nicht nur „in jeder Sprachstufe des Deutschen“, sondern „selbst innerhalb dieser von verschiedenen Literatursprachformen“ auszugehen (ebd., 41⫺43). Obgleich für Sonderegger die Literatursprache die „Hochform sprachlicher Gestaltung“ darstellt (und ihm deswegen nach wie vor als besonders wichtiger Teilbereich der Gesamtsprachgeschichte gilt), ergibt sich daraus, daß „ihr Wesen“ nicht nur „auf bestimmte besonders hochstehende Wortkunstwerke“ einzuschränken sei (ebd., 32, 42). Mit diesem Ansatz können in eine literarische Sprachgeschichte sowohl alle in den verschiedenen Epochen als Literatur verstandenen Textsorten oder Gattungen (vgl. ebd., 42) als auch die auf Destruktion standardsprachlicher Normen und Experiment ausgerichteten oder aber an die Alltagssprache angenäherten literarischen Sprachformen der Moderne einbezogen werden.

3.

Kriterien der Literatursprache/ Sprache in der Literatur: Definitionsversuche

3.1. Obgleich die Bestimmung von Literatursprache hier ⫺ Sonderegger folgend ⫺ nicht rein theoretisch angegangen werden soll, sei

194. Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte

doch auf einige Positionen verwiesen, die für die folgenden (und die noch zu leistenden) epochenspezifischen Einzeldarstellungen klärende Vorüberlegungen enthalten. Besondere Bedeutung kommt zwei grundsätzlich zu unterscheidenden Definitionen von Literatursprache zu: der älteren, „auf Hamann und Humboldt zurückgehenden“, die Literatursprache „gegenüber der ‘Alltagssprache’ mit Hilfe von Kategorien aus der philosophischen Ästhetik als die voll entfaltete Sprache“ auffaßte, und der jüngeren, die Literatursprache von der Alltagssprache aus „als abweichende Sprache“ bestimmt (Saße 1980, 698; ähnlich Weiss 1995, 54 f., Steger 1982, 16 ff.). Die Anhänger des Abweichungsmodells, aber auch anders ausgerichtete moderne Theoretiker der Literatursprache stützen sich meist auf Jakobson, Mukarˇovsky´, Lotman und weitere Vertreter der Russischen Formalisten (z. B. Slovskij) bzw. der Prager Schule. Die Abweichungen werden häufig den drei Teildisziplinen der Semiotik (nach Morris) zugeordnet: der Syntaktik, Semantik und Pragmatik. Gerade die Einbeziehung der Pragmatik erlaubt es, auch solche Texte als literarisch zu betrachten, die weder durch besonders „vorbildliche“, noch durch abweichende, entautomatisierende Verwendung sprachlicher Mittel als „poetisch“ oder „ästhetisch“ zu definieren sind, was für eine alle Perioden der Schriftlichkeit umfassende literarische Sprachgeschichte ⫺ wie oben schon gesagt ⫺ von grundlegender Bedeutung ist. Posner (1980, 691) sieht es als das besondere Verdienst der sowjetischen Semiotiker um Lotman, als erste „außersprachliche semiotische Ebenen“ vorgesehen zu haben: Auf diesem Wege gelinge es, „je nach Erfordernis den gesamten soziokulturellen Kontext in die Darstellung poetischer Kommunikation einzubeziehen“, also z. B. auch das „Rollenverhalten des Senders“, „die Rezeptionserlebnisse bestimmter Empfängergruppen“, „Gepflogenheiten des Kunstmarkts bis hin zu den thematisierten Ausschnitten der Welt“. Gerade für frühere „Stadien der kulturellen Entwicklung“ erscheint es ihm wichtig, diese Formen der Entautomatisierung bei der Definition eines Kunstwerks mitzuberücksichtigen, da die Thematisierung des Sprachsystems selbst „in der Geschichte der Literatur erst relativ spät“ zu finden sei ⫺ nämlich eben in der sog. Moderne. Dagegen sei in „frühen Stadien der kulturellen Entwicklung […] die Entautomatisierung des durch religiöse und moralische Kodes bedingten Welt-

3007 und Gesellschaftsbezugs vordringlicher“ gewesen. Nur auf der Grundlage eines solchermaßen erweiterten Kodebegriffs lasse sich „ein gemeinsamer Nenner für die poetische Funktion etwa einer griechischen Tragödie, eines mittelalterlichen Versepos und eines Bühnenstücks von Pirandello oder Handke angeben“. 3.2. Steger (1982, 16 ff.) diskutiert in seinen Überlegungen zur Literatursprache sowohl die noch bis in die frühe Neuzeit geltende Mimesis-Theorie (poeta imitator) als auch das (allerdings ebenfalls auf die Antike zurückgehende, in der Renaissance wieder aufgenommene) neuzeitliche Poetik-Konzept, das den Autor als Schöpfer seiner eigenen (dichterischen) Welt sieht (poeta creator). Aus der „These von der Autonomie der Dichtung, die sich im 18. Jahrhundert durchsetzte“, ergab sich die „Notwendigkeit, poetische Sprache als eigengesetzliche, selbständige, autonome Sprache herauszustellen“ (Weiss 1995, 65). Dieser neue Dichtungsbegriff wird heute häufig in Verbindung mit Jakobsons „Postulat einer poetischen Funktion“ der Sprache gebracht, die die Dichtung/Wortkunst determiniert, „wenn sie die anderen je gleichzeitigen Sprachfunktionen (wie die Darstellungsfunktion, die phatische Funktion usw.) dominiert“ (Steger 1982, 23). Steger kritisiert jedoch, daß es „an einer näheren Bestimmung, wie die Dominanz festgestellt wird“, fehle, und kommt zu dem Schluß, daß es sich bei Jakobson nicht um eine poetische, sondern um eine stilistische Funktion handle, die er [Steger] eher „die Sprechintention ‘Stilniveau-Wahl’ nennen“ würde (ebd., 23 f.). „Daß dies so ist“, geht für Steger daraus hervor, „daß Jakobson das Prinzip der poetischen Funktion auch in der Alltagssprache, in Werbeslogans (I like Ike), ja in jederlei Text vorfindet, in dem nur der verwendeten Sprache selbst genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde.“ D. h. „ohne Rücksicht auf die methodisch unterschiedlichen Weltzugänge“ müßten auch derartige Texte als poetisch betrachtet werden (ebd., 24).

Adäquater erscheint Steger daher „die inhaltlich-funktionale Bestimmung des Poetischen“, die in der Literaturwissenschaft schon lange vor der Linguistik das formale Konzept der poetischen Sprache abgelöst hat (ebd.). Wenn Mukarˇovsky´ (1974, 144) die poetische bzw. ästhetische Funktion nicht als Eigenschaft definiert, sondern als „die Art und Weise, in der die Eigenschaften einer gegebenen Erscheinung ausgenützt werden“,

3008

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

und dementsprechend erklärt, daß es „überhaupt keine Eigenschaft“ gibt, „die Dichtersprache ständig und allgemein charakterisiert“, so folgert Steger daraus, daß poetische Sprache „strukturalistisch beschrieben werden muß als System spezif[ischer] Regeln der Verknüpfung von sprachlichen Versatzstükken aus allen Teilsystemen der Gesellschaft“ (ebd., 26). Weiss (1995, 62 f.) faßt die neue „Wendung der linguistischen Poetik“ in den 1970er Jahren so zusammen: „Mit anderen Worten: Was poetisches Merkmal (Differenzqualität) ist, wird entscheidend durch die jeweils vorausgesetzte und in die Analyse einzubeziehende gesellschaftliche Erwartungsnorm bestimmt.“ 3.3. In einem neuen, von der (funktionalen) Semantik ausgehenden Ansatz hat Steger (2000) die Literatursprache von der Alltagssprache und den Fachsprachen durch das jeweilige Verhältnis von Denotat und Konnotat zu unterscheiden versucht: Während diese bei der Alltagssprache „in den sprachlichen Ausdrücken fest und untrennbar verkoppelt erscheinen“, in den Fachsprachen hingegen „wertende und Gefühle auslösende Konnotationen möglichst vermieden werden“, werde die Sprache in der Literatur überwiegend durch „eine artifizielle Weiterentwicklung des Denotat-Konnotat-Typs“ als „Mittel für eine vollkommene Neukonstruktion von poetischer Welt geöffnet“ (ebd., 357, 359, 361). Dies bedeute, daß der Autor, besonders seit dem ausgehenden 19. Jh., für Prosa wie Lyrik einen eigenen Sprachtyp benutze, bei dem die Ausdrucksebene aus allen existierenden Ausdrucksmitteln/Varietäten (von der Phonetik bis zu den Texttypen) gewählt werden kann (wobei „die historischen Zeithorizonte und die Normen der Grammatik aufgehoben werden können“, ebd., 363), um zusammen mit einer jeweils der Gesamtintention des Autors angepaßten poetischen Semantik eine eigene poetische Welt zu konstruieren. Weniger linguistisch detailliert als essayistisch hat Henne (1996, 22) ähnliche Gedanken formuliert: „Was Literatursprache ist, Sprache in der Literatur, wissen ihre Leser. Sie bezieht sich auf eine vorgestellte und somit entworfene Wirklichkeit. Diese, wie Liebhaber der Literatur sagen, wirklichere Wirklichkeit hängt mit der realen Wirklichkeit zusammen, nimmt auf sie Bezug oder verweigert sich ihr.“

4.

Entwicklungsskizze der deutschen Literatursprache, unter Bezug auf die folgenden Artikel

4.1. Burger (1980, 707) beschreibt das schon mehrfach angesprochene Dilemma der Zuordnung mittelalterlicher Texte zur „Literatur“ folgendermaßen: Zwar könne man „auch bei heutigen Texten von Fall zu Fall im Zweifel sein“, doch mache sie „mindestens der pragmatische Rahmen“ als Literatur erkennbar. Für mittelalterliche Texte müsse dieser Rahmen hingegen erst erarbeitet werden, sei aus zeitgenössischen Äußerungen und den Texten selbst zu rekonstruieren. Daher resultiere die „Unsicherheit in Fragen der Abgrenzung und der Wertung“. Wenn für die ahd. Periode die „Spärlichkeit der Überlieferung“ dazu zwinge, „alles in deutscher Sprache Aufgeschriebene wenigstens als ersten tastenden Versuch in Richtung auf eine entwikkelte Literatursprache zu werten“, falle es demgegenüber schwer zu rechtfertigen, warum sich in der folgenden Periode alles nur auf die sog. mhd. „Blütezeit“ konzentriere, während „die gesamte übrige literarische Produktion als subliterarisch bzw. als Werk von ‘Vorläufern’ oder ‘Epigonen’ “ abgewertet werde. Allerdings hätten „die ‘Insider’ durchaus ein Bewußtsein von literarischem Rang“ gehabt, was sich z. B. an den berühmten Äußerungen Gottfrieds über Hartmann im Tristan dokumentiere. So problematisch der Kanon zugehöriger Texte für eine Literaturgeschichte des Deutschen unter dem Gesichtspunkt des hierfür heranzuziehenden Begriffs von Literatursprache ist, so sind sich außer den Zeitgenossen meist auch die philologischen Experten doch im wesentlichen einig, welche Autoren und Werke sich durch besondere sprachliche Qualität auszeichnen. Reichmann (Art. 1, 16 ff.) hat in einer Übersichtstabelle dargestellt, welche Einzelpersonen und Einzeltexte bzw. Textgruppen in 10 „neueren Darstellungen der dt. Sprachgeschichte“ von Eggers (1963 ff.) bis Straßner (1995) besonders herausgehoben werden. Für das Ahd. sind bei den Personen am häufigsten Otfrid, Notker und Williram genannt. Schon hier, noch mehr aber für die folgende(n) Epoche(n), wird die Bedeutung, die Einzelpersonen beigemessen wird, in Zusammenhang mit dem „idealistischen Persönlichkeitsbegriff des 19. Jhs.“ gebracht (ebd., 19); so werden z. B. bei Bach (1970, 166) „Persönlichkeiten von individueller sprachl. Schöpferkraft […] als

194. Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte

Führergestalten auf dem Gebiete der Sprache“, speziell bei der Ausbildung der Literatur- bzw. „Dichtersprache“ gesehen. Bereits für das Ahd. läßt sich daher, wie Wehrli (1984, 292) ausführt, „kaum von einem prohibitiven Sprachnotstand reden, so gern, etwa in Werkprologen, mit der Armut der deutschen Sprache kokettiert wird. Höchstens ließe sich von einem Mangel an Autoren reden, die in der Lage und willens wären, aus der sprachlichen Not (etwa im Hinblick auf komplizierten Satzbau und Abstraktwortschatz) eine Tugend zu machen.“

Über die genannten Einzelpersönlichkeiten hinaus werden besondere „Sprachleistungen, Eroberungen von Ausdrucksmöglichkeiten […], denen nichts Primitives anhaftet und denen nichts unerreichbar scheint“, v. a. der ahd. Isidor-Gruppe zugebilligt, weil sie „die anspruchsvollen theologischen Begriffe und Gedankengänge ihrer Vorlage in souveränschöpferischer Weise nachzubilden“ vermag, „nicht ohne Sorgfalt im Prosa-Rhythmus“ (ebd., 291). Aber selbst im Bereich der Interlinearversionen gibt es Fälle wie die Murbacher Hymnen, die zwar weitgehend der Vorlage folgen, aber „im Wortschatz, im Rhythmus und mit Stabreimen zugleich angestammte volkssprachliche Kunstmittel“ einbringen (ebd., 292). D. h. die Grenzen zwischen bloßem „Sprachdenkmal“ und Werken von höherem, „literarischen“ Anspruch sind schwer zu ziehen und bei jedem Text nach anderen Kriterien zu bestimmen (man vgl. etwa die Kapitel bei Wehrli 1984 zu „Rhetorik und Topik“, „Schönheit und Schönheitskunst“, „Zahlenallegorese, Zahlenkomposition“ etc.). 4.2. Daß sich „Sache und Sprache“ „nicht so billig trennen“ lassen und daher „das Zusammenwirken der Sach- und Sprach-Kriterien“ sowie der „Ort in der Literaturgeschichte“ bei jedem Text gesondert zu berücksichtigen sind, hat besonders Kuhn (1980, Zitat 28 f.) zu Leitprinzipien seiner Studien zum 13., 14. und 15. Jh. gemacht. Seine Fragen an (neue) Textgruppen sowie die großen schriftstellerischen Persönlichkeiten zielen stets darauf, wo „Qualitätskriterien und literarhistorisch wertende Einordnung ansetzen“ können, z. B. „eine neue Originalität und Intensität der Sprache“ und „ein besonderes Text- und Autorbewußtsein auf deutsch“ (ebd., 35). Grundlegend ist für Kuhn, jeden volkssprachlichen Schrifttext des Mittelalters zunächst als Teil einer schriftlichen „Zwischen-

3009 kultur“ zu begreifen, nämlich „ein Vermittlungsprodukt zwischen mündlich volkssprachlicher Laien- und schriftlich lateinischer Klerikerkultur“ (vgl. Grubmüller 1985, 1766 f., Wehrli 1984, 29 ff.). Daher betrachtet Kuhn es als die „erste, die philologische Aufgabe literarhistorischer Mediävistik“, „eine Phänomenologie jedes überlieferten Textes“ sowie eine typologisch-kulturgeschichtliche Beschreibung zu liefern. Erst danach stelle sich die „eigentliche Aufgabe: Ausgrenzung einer Literaturgeschichte“, deren Kernfrage lautet, welche literarischen Kriterien „durch alle Texte hindurch, durch die Sachbereiche wie die ästhetisch-literarischen Fiktionen“ greifen (ebd., 4, 8). Obgleich Kuhn diese Frage in seinen Analysen eher durch eine Reihe weiterer, oft offen bleibender Frage „beantwortet“, gibt er anregendere Impulse für historisch-stilistische Forschungen zur Literatursprache als es hauptsächlich nach Einheitlichkeit strebenden theoretischen Ansätzen möglich ist. Die Zunahme von Selbstaussagen der „Autoren zu ihrer literarischen Tätigkeit“ in mhd. Zeit zeugt nicht nur von dichterischem Selbstbewußtsein, sondern gibt auch Einblick in die zeitgenössischen Bewertungskriterien, unter denen das „bene tractare eines bekannten Stoffes“ das ist, was „den Dichter als Dichter ausweist“. Dichten gilt als „eine lernund lehrbare kunst“, die Techniken des ornatus werden mit den „Regeln der (aus der Antike tradierten) Rhetorik“ im Rahmen des Trivium systematisch vermittelt (Burger 1980, 710; mit Detailanalysen Haug 1992). Obgleich dieses Kriterium, das bis zur Regelpoetik der frühen Neuzeit immer wieder mit größtem Nachdruck als das maßgebliche Qualitätskriterium durchzusetzen versucht wird, dem modernen Literaturverständnis suspekt bzw. ungenügend ist, bleiben auch andere Ansätze, die nicht mit anachronistischen Wertmaßstäben arbeiten wollen, wie etwa die Rezeptionstheorie, umstritten. Während Burger (1980, 707) eher davon ausgeht, daß „Publikumserfolg auch für mittelalterliche Texte nicht einfach gleichzusetzen ist mit Qualität“ und dieses Kriterium daher nur am Rand erwähnt, mißt ihm Gärtner (Art. 195) eine profundere Bedeutung bei. Er versucht, differenziert abwägend zu zeigen, wie aus der Überlieferungsgeschichte der mittelalterlichen Texte vom 9. bis 15. Jh. doch Schlüsse über die Wertschätzung eines Werkes auch hinsichtlich seiner Sprachform (z. B. hinsichtlich des Verständnisses oder Nicht-Verständnisses

3010

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

für Innovationen auf verschiedenen sprachlichen Ebenen, von der Lautung bis zu Lexik und Syntax) gezogen werden können. Gerade auch die Anpassung vielbegehrter Texte an neue Gebrauchssituationen, verbunden mit veränderten Sprach- und Stilnormen, gibt Aufschluß über den Wandel literatursprachlicher zeitgenössischer Idealvorstellungen und ihrer konkreten Gestaltungsmittel (vgl. die exemplarischen Ausführungen zur Überlieferung des Passional). Die Untersuchung schreibsprachlicher Varianz (oder Konsistenz) in der Überlieferungsgeschichte eines Werkes liefert nicht nur sprachhistorisch interessante Belege für das Verhältnis von Dialekt(en) und überregionalen Ausgleichsprozessen. Sie eröffnet auch Erkenntnisse über das Prestige regionaler Literatursprachen bzw. ihren (zunehmenden) Normierungsgrad, über die Gültigkeitsdauer sprachlicher Vorbilder (einschließlich Kriterien für „Epigonen“-Debatten), über bedeutsame Stilwenden und über das Nebeneinander sprachstilistischer Varietäten. Um 1200 z. B. gab es nach Gärtner drei Varietäten der Literatursprache: die „traditionelle Sprache der Heldenepik und die Sprache der Artusromane“ sowie „die Sprache des Minnesangs“; sie unterscheiden sich in der Lexik (z. B. hinsichtlich der Verwendung bestimmter archaischer Kriegerbezeichnungen und Epitheta, und v. a. der Zahl von Neologismen und Entlehnungen aus dem Französischen), in Wortfolge und Syntax (an die Strophenmetrik gebunden bzw. eher sprechsprachlich) und in weiteren, von Reim, Formelschatz etc. abhängigen sprachlichen Charakteristika. 4.3. Als sprachgeschichtlich wie literaturgeschichtlich wichtige Stilwende (letztere sind nach Kuhn 1980 besonders geeignete Prüfsteine für alte und neue Qualitätskriterien) gilt allgemein der Übergang vom Vers zur Prosa in den verschiedensten Gattungen. Die Innovation ging, zumindest im Deutschen, nicht von der Literatur, sondern von Rechts-, Fach- und anderen Sachtextsorten aus und setzte sich in „literarischen“ Texten erst spät, und dann oft noch lange parallel zu Reimversionen durch (vgl. u. a. Wehrli 1984, 182 ff., Kuhn 1980, 27 ff., 68 ff.; zus.fassend Betten 1987). Noch entschieden Gebrauchssituation und Geschmacksvorlieben von Publikum und Auftraggebern über die Verwendung der „gebundenen“ Vers- oder der „freien“ Prosaform. Gärtner (Art. 195) hebt das Faktum, daß höfische Epen bis zur Reformationszeit, auch

durch Übernahme in das neue Medium des Drucks, präsent waren, in seiner Bedeutung gerade auch für die Literatursprache hervor. Andererseits aber dominierte die Produktion geistlicher Literatur, deren Textsorten seit Ende des 14. Jhs. fast ganz zur Prosa übergegangen waren. Daß dieser geistliche Prosastil, z. B. der breiten Legendenliteratur, zunächst am Stilideal der Bibel mit einfachen, verständlichen Parataxen ausgerichtet war, ist nicht nur auf die anfangs im Vergleich zur elaborierten lat. Prosastiltradition noch simpleren sprachlichen Möglichkeiten des Deutschen zurückzuführen, sondern von Fall zu Fall durchaus bereits bewußt kalkuliert und in (z. T. beträchlichen) stilistischen Alternativen realisiert (vgl. u. a. Betten 1987, 1995 u. Art. 119; Admoni 1990, Riehl 1993). Während Gärtner stilistische Varianz v. a. an der überlieferungsstarken geistlichen Literatur vorführt, konzentriert sich Objartel (1980) mehr auf den Einfluß des Lateinischen auf die dt. Prosa der Humanisten, der für ihn eine literatursprachliche Zäsur markiert: „Für den Ansatz neuzeitlicher Literatursprache um 1470/80 mag u. a. sprechen, daß humanistische Sprachästhetik ⫺ nach dem ‘Vorspiel’ in Böhmen (Henne 1978) ⫺ nunmehr Interesse in breiteren, insbesondere auch stadtbürgerlichen Bildungskreisen findet“ (ebd., 712).

Objartel geht es auch um die „soziale Markiertheit beider Sprachen“, die sich „tendenziell auf eine Polarisierung von Stilebenen und Sprachrollen (Komik/Vulgarität ⫺ Ernst/ Vornehmheit)“ auswirke, „wobei je nach Adressatenkreis, je nach ideologischem Vorzeichen und Wirkungsziel entweder die elegantia und subtilitas des Latein gegen die barbaries des Deutschen oder umgekehrt die Gemeinverständlichkeit und propagandistische Kraft des Deutschen gegen die Esoterik […] des Latein ausgespielt werden“ (ebd., 713).

Die Romanautor/inn/en des 15. Jhs. und die Prosabearbeiter älterer Versepen sowie Übersetzer lat. Vorlagen bedienen sich im Bereich der nun zum Durchbruch kommenden neuen (Unterhaltungs-)Gattung zunächst der schon erprobten Stilmodelle der „Schlichtheit, Klarheit, Sachbezogenheit“ der Chroniken und Legenden (zu den oft dargestellten Stilprinzipien zus.fassend Objartel 1980, 715). Präzise Stilüberlegungen und -prinzipien werden von den humanistischen Übersetzern formuliert (imitatio bzw. wort uˆz wort-Übersetzung, „modelliert nach der proprietas des Latein“ (ebd.), vs. dem mehr an der Sprech-

194. Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte

sprache orientierten aigne[n] oder gemaine[n] teutsch und der freieren sin uˆz sinÜbertragung). Beide Prosastilrichtungen entwickeln sich im 16. Jh. in großer Differenziertheit. Früher wurde v. a. der „tiefgreifende[.] Einfluß des Latein“ auf „Wortschatz, Wortbildung und Phraseologie“, „aber auch in der syntaktischen Strukturierung, die einen hohen Komplexitätsgrad erreicht“, sowie „hinsichtlich der rhetorisch-poetischen Elemente“ betont (ebd., 714 mit Lit.angaben). Die neuere Forschung hebt stärker die stilistische Differenzierung der einzelnen Textsorten und, als deren Teilbereich, auch der literarischen Gattungen hervor. Allgemein sprachgeschichtlich steht dies in Zusammenhang mit der weitgehenden Umorganisation und dem Ausbau der Mittel der Prosasyntax beim Übergang von der Hör- zur Leserezeption. Für die Literatursprache resultiert daraus das Nebeneinander verschiedenster, immer elaborierter werdender stilistischer Möglichkeiten, die nun nicht mehr nur nach Gattungstraditionen, sondern auch nach Vorlieben von Autoren(gruppen) bewußt eingesetzt werden (vgl. zus.fassend Betten 1987, 161 ff. und Art. 118; Admoni 1990, 160 ff., 176 ff.). In diesem Handbuchkapitel ist der frnhd. Periode kein eigener Artikel gewidmet. Gärtner (Art. 195) bezieht das 15. Jh. als Ausläufer der mittelalterlichen Entwicklungen mit ein, und Kaempfert (Art. 196) hat in Erweiterung zu (1985) eine kurze Passage über das 15. und 16. Jh. neu eingefügt. Um diese Lücke zu schließen, wäre auf das umfangreiche Kap. XII zum Frnhd. zurückzugreifen, in dem neuere Erkenntnisse zur Literatursprache dieser bedeutsamen Übergangszeit unter verschiedensten Gesichtspunkten behandelt werden. Der zentralen Rolle Luthers für die weitere literatursprachliche Entwicklung, seiner Sonderstellung in der Sprachgeschichte als erstem Individuum, das in einem breiten Spektrum von Textsorten Höchstleistungen in dt. Sprache für ihre generelle Entwicklung und für ihre stilistische Ausgestaltung erbracht hat, wird durch einen eigenen, weitgehend neuen Artikel (Besch, Art. 123) gerade auch in sprachstilistischer Hinsicht Rechnung getragen. Nach Luther erst setzt sich dann „die neue Weise durch, den literarischen Sprachgebrauch nach dem Vorbild eines Verfassers (oder einiger Verfasser) zu richten, die bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zur Tradition der deutschen Schriftsprache wurde“ (Admoni 1990, 162).

3011 Für die weitere Entwicklung von Allgemeinund Literatursprache ist ferner von Bedeutung, daß im 15. und vermehrt im 16. Jh. „die innere Vielsprachigkeit des Deutschen (bei gleichzeitigem Fehlen einer einheitlichen literatursprachlichen Überdachung)“ sowohl als „ein Verständigungsproblem“ wie auch „als ein ästhetisches Problem empfunden“ wurde. Sie setzte „allen Normierungsansätzen enge Grenzen“ und war daher auch eine der Ursachen, daß Luther lange Zeit für weite Kreise als Sprachvorbild diente (Objartel 1980, 717 f.). 4.4. Die Arbeit an dieser Normierung zur Schaffung einer einheitlichen, für alle Kommunikationszwecke tauglichen Schriftsprache steht dann im 17. und 18. Jh. im Zentrum des sprachhistorischen Interesses. Für die Geschichte der Literatur(sprache) ist von besonderer Bedeutung, daß die Grammatiker, Poetiker und Dichter der Barockzeit (meist in Personalunion) ein „dezidierter Kunstwille und Stilwille“ beherrscht, „Muster und Normen der Anwendung von Sprachelementen“ zu schaffen, „durch die sich poetische Texte mindestens graduell von nicht-poetischen unterscheiden“, und „das Kunstmäßige, Artistische“ dieser Literatursprache läßt sich nach bevorzugten Stilmerkmalen (z. B. als Amplifikation, Bildlichkeit, Steigerung, Antithese, bildnerisches Spiel mit dem Wortmaterial) zusammenfassen (Kaempfert, Art. 196, 3.). Die „barocke Rhetorik und Poetik“ lebte (nach Blume 1980, 721) „in der Überzeugung, daß mittels spezifischer lokutiver Strukturen (Tropen und Figuren der elocutio) spezifische perlokutive Effekte (motiones animae, Affekte) produzierbar seien“. Blume hebt hervor, daß „Literatur“ dem 17. Jh. „als Begriff (im Sinne von belles lettres)“ bzw. als „ästhetisch definierte Textklasse“ noch „völlig unbekannt“ war: Innerhalb „der rhetorisch definierten Textmenge ‘Rede’ (oratio)“ wurde nur unterschieden zwischen „Prosa“ (oratio soluta) und „der Sonderklasse ‘Poesie’ (oratio ligata; gebundene Rede)“. Der „belles-lettres-Begriff des 18. Jhs.“ habe sich erst in der 2. Hälfte des 17. Jhs. durch ein „Bewußtsein von der Sonderstellung des Romans innerhalb der Prosa bemerkbar“ gemacht, wobei besonders seine „Fiktionalität und Kunstmäßigkeit“ diskutiert wurden (ebd., 719). (Vgl. bereits oben 2.1. v. Polenz zur „Etablierung einer im belletristischen Sinne autonomen deutschen Lite-

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ratursprache in Poesie und literarischer Prosa“ im 17. Jh., 1994, 300). Blume betont des weiteren die „textsortenspezifische Heterogenität barocker Literatursprache, bedingt durch die Normen der Gattungspoetik“ (ebd., 720). Während die Sprachgeschichte sich auf die innersprachlichen strukturellen Bedingungen für die Ausbildung komplizierter Hypotaxen durch die eindeutige formale Unterscheidung von Haupt- und Nebensatz und die Durchsetzung des verbalprädikativen Rahmens (der Satzklammer) und ihre (extremen) Ausprägungen in den unterschiedlichsten Textsorten konzentriert, ist für die Literatursprachenforschung die Entfaltung und Ausschöpfung dieser syntaktischen Konstruktionstypen als Stilalternativen von Interesse. Im barocken Roman wird das sprachliche Muster des „Schachtelsatzes“ nunmehr zu artistischen Höhepunkten gesteigert. Diese Formen syntaktischer Komplexität haben zwar seit langem Vorläufer in der Urkunden- und Kanzleisprache, werden aber in dieser konsequenten Durchführung eben erst aufgrund der grammatischen Entwicklungen des 16./17. Jhs. möglich. Speziell für die Stilgeschichte ist es von Bedeutung, daß nunmehr die verschiedensten Möglichkeiten des Satzbaus durch ihre freie, bewußte Wählbarkeit einen funktionalstilistischen und ästhetischen Aussagewert erhalten. Die Prosasyntax läßt jetzt innerhalb derselben Gattung (besonders beim Roman) Stilalternativen zu. Zunächst werden diese noch nach den lat. Vorbildern dem Stil Ciceros bzw. Senecas oder Tacitus’ zugeordnet; „ ‘Asianismus’ und ‘Lakonismus’ stehen als Stilprinzipien nebeneinander“ (Kaempfert, Art. 196, 3.3.; vgl. Langen 1957, 984 ff., Admoni 1990, 198 ff., Betten 1993, 140 ff.). 4.5. Im 18. Jh. werden im Rahmen der Aufklärungspoetik die barocken Stilmuster des „Gekünstelten, Konstruierten, Weitläufigen, Pathetischen und Schmuckbeladenen“ abgelehnt, „ein neuer Stil essayistischer wie auch erzählender Prosa“ hat „Natürlichkeit“ und „Vernünftigkeit“ als Ideal (Kaempfert, Art. 196, 4.2.; vgl. Blackall 1966, 63 ff.; Admoni 1990, 203 ff.). Doch konnte sich dieser neue Zeitstil auch „teilweise an jener Literatursprache“ orientieren, „die die Opponenten des barocken Stils noch im 17. Jh. im Zuge der altdt., humanistischen, galanten und pietistischen Bewegungen entwickelten“. Als „rechter Spiegel des Verstandes“ (Leibniz) wird für die Sprache, auch für die poetische,

die „Eindeutigkeit der Wissenschaftssprache“ angestrebt und „claritas, veritas, puritas und perspicuitas“ gefordert (Große 1980, 726 f.). Die gerade während der Barockzeit erst geborene „Idee einer Dichtersprache“ als die „Idee einer besonderen Sprachform, die ihre eigenen Regeln und Muster hat und als solche gelehrt werden kann“ (Kaempfert, Art. 199, 4.1.), wird weitgehend ersetzt durch „die Ausbildung eines selbständigen poetologischen, später ästhetischen Systems, das nur noch locker mit dem rhetorischen Rahmen verbunden ist“ (Große 1980, 726). In der Prosa weicht zunächst die „Schwere des barocken Realienstils“ einer „ ‘wohlfließende[n]’ Rhythmik“ (ebd., 727 mit Zitat von Windfuhr). Kurz darauf fordert Klopstock „die strikte Scheidung zwischen poetischer und prosaischer Sprache, den erhabenen Stil für die erhabene Dichtart“, während das Rokoko wieder mit der Prosasprache rhythmisch experimentiert, so „daß ein unvermitteltes Übergehen der Prosasprache in den Vers (vers libre) möglich wird.“ Große faßt zusammen, daß solche Versuche Mitte des 18. Jhs. „der Prosasprache allmählich den Weg“ ebnen, „als Literatursprache endgültig anerkannt zu werden“ (ebd., 729). 4.6. Es soll hier im weiteren nicht detaillierter auf die sich nun immer schneller jagenden literarischen Richtungen und Ausprägungen der Literatursprache eingegangen werden, da darüber in den folgenden Artikeln eingehend gehandelt wird. Zur großen (dadurch aber auch vergröberten) Entwicklungslinie nur noch wenige Anmerkungen: Die „erneute Annäherung der Literatursprache an die Gemeinsprache“ in der Empfindsamkeit und die Hereinnahme des „individuelle[n] seelische[n] Affekt[s]“ in das Sprachmaterial im Sturm und Drang, „Negation vorgegebener Sprachmuster“ und gleichzeitige Suche nach „vorgegebenen Mustern unmittelbaren Sprechens“ (vermutet „im Volkslied, den Bardietten, dem Minnesang, der Bibel, den Archaismen, Dialekten und den volkssprachlichen Derbheiten“) sowie auch „Zurücknahme der Sprache“ und die „Geste des Schweigens“ sind bekanntlich noch längst nicht die letzten Stationen der Entwicklung im 18. Jh. (Zitate Große 1980, 730). Die 2. Hälfte des 18. Jhs. ist außerdem gekennzeichnet durch „eine reiche Entfaltung von Individualstilen“ (Kaempfert, Art. 196, 4.4., mit genaueren Ausführungen zu Lessing und Klopstock), gipfelnd in dem von Herder

194. Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte

formulierten „neuen Anspruch an den ‘Originalschriftsteller’ “ (ebd., 4.5.; vgl. v. Polenz 1994, 318 ff.). 4.7. Der am längsten anhaltende, Nachahmung und Gegenreaktionen bewirkende Einfluß geht sodann von der zeitlich an sich kurzen Periode der dt. Klassik, bzw. den beiden „Klassikern“ Goethe und Schiller aus. V. Polenz (1994, 334 f.) sieht „die literarisch so produktive Neuorientierung der Weimarer Klassik“ sprachgeschichtlich speziell bei Goethe „als zweite Phase einer Sprachkrise, als Korrektur einer extremen modischen Stilhaltung der jugendlichen Anfänge.“ Goethe habe „zwei Jugendphasen mit zwei persönlichen Sprachkrisen“ erlebt. Die erste Krise war der internormative Konflikt zwischen der natürlichen Umgangssprache seiner Adoleszenz zu der in der Leipziger Studienzeit geforderten elitären „modernen Bildungsnorm“; die zweite, als „Befreiung aus diesem Zwiespalt“ unter Herders Einfluß, „die Begeisterung für die Möglichkeiten ganz unkonventioneller, individualistischer Genie-Sprache“.

„Goethes klassische Wende“ ⫺ biographisch gesehen, aber doch zugleich auch prototypisch für die allgemeine Entwicklung, sein dritter sprachkritischer Wendepunkt ⫺ war demnach „eine Rückkehr zu der noch nicht ganz vollendeten Jahrhundertaufgabe des Bildungsbürgertums, eine in ober- und mittelschichtlicher Öffentlichkeit wirksame literarische deutsche Hochkultur zu entwickeln“ (ebd., 335). Doch wenn auch „Klarheit und Anschaulichkeit als die Stilideale seiner klassischen Periode“ zu erkennen sind (Kaempfert, Art. 196, 5.1. im Anschluß an Maurer), so wird dennoch nachdrücklich betont, daß es nicht möglich sei, „Goethes Sprachgestaltung im ganzen auf einen Nenner zu bringen“ (ebd.). Für die neuere Forschung ist es vielmehr der klassische Stil Schillers, seine „typisierende Sprache, die alles auf eine einheitliche, distanzierende Ebene hebt“ (Langen 1957, 1165), und, da „wesentlich rhetorischer und durchsichtiger“ als Goethes Sprache, „daher mehr zur Nachahmung und vielseitigen Anwendung“ verleitet habe (v. Polenz 1994, 337). Goethes „überreiche[.] Sprache“ sei dagegen durch „große Wandelbarkeit, Variabilität und Eigenwilligkeit“ gekennzeichnet und lasse „Versuche, die deutsche Sprache mit Goethes Sprache zu identifizieren“, wie es im „bildungsbürgerlichen Goethekult des 19. Jahrhunderts“ geschah, „als unangemessen und gegenstandslos erscheinen“ (ebd.).

3013 In den Handbuchartikeln von Frühwald (1980) und Ernst (Art. 197) sind die wichtigsten Forschungsergebnisse dieser für das Deutsche als so bedeutsam angesehenen Epoche im Hinblick auf die Literatursprache zusammengefaßt. 4.8. Bevor auf die Nachwirkungen der Klassik nochmals Bezug genommen wird, seien zwei repräsentative Urteile über die Bedeutung des gesamten 18. Jhs. für die (literatur-) sprachliche Entwicklung des Deutschen zitiert. Admoni (1990, 202), der außer den hier nur angedeuteten Richtungen und Personen v. a. noch auf Kant, Fichte, die Frühromantiker und die „zwei ganz eigenständige[n] Genies“ Hölderlin und Jean Paul Richter sowie den großen „Sprachmeister“ Wieland hinweist, hat stets die wechselseitige Abhängigkeit der allgemeinen und der speziell literarischen Sprachentwicklung im Auge: „Die Formulierung der feinsten Nuancen des Gedankens und des Gefühls wird jetzt möglich, sowohl eine maßvolle als auch eine enthusiastische. Dies bedeutet, daß die Sprache jetzt über ein hochdifferenziertes System von Wörtern und von syntaktischen Formen verfügt. Aber diese Formen, im Gegensatz zur Lexik, die außerordentlich bereichert wird, werden nicht neu geschaffen. Es ist vielmehr so, daß das 18. Jahrhundert eigentlich strukturell keine neue [sic!] grammatischen Erscheinungen schafft. Aber die im Laufe von Jahrhunderten entwickelten Formen werden geordnet und vervollkommnet und die ihnen innewohnenden Potenzen zur vollen Entfaltung gebracht. In diesem Sinne kann man sagen, daß das 18. Jahrhundert nicht nur die deutsche klassische Literatur und Philosophie geschaffen hat, sondern auch die klassische deutsche Sprache.“

Und Kaempfert (Art. 196, 4.5.) resümiert im Hinblick auf die folgende Entwicklung: Das 18. Jh. bietet „ein in der Geschichte des Deutschen bis dahin einzigartig vielgestaltiges Bild. Die Vielfalt der zum Teil antagonistischen Stilnormen und die Fülle großer und originaler dichterischer Leistungen […] haben der dt. Literatursprache jenen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten beschert, […] den die folgenden Generationen nur eher modifizierend als wirklich innovatorisch vermehren konnten.“

4.9. Der schwierigen Frage, auf welchen sprachlichen Ebenen und für welche gesellschaftlichen Schichten die (Literatur-)Sprache der Klassik im 19. und noch im 20. Jh. vorbildhaft blieb, versucht Ernst (Art. 197, 4.) nachzugehen. Welche Bedeutung die an

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der Klassik geschulten und z. B. in der elaborierten Sprachkultur Thomas Manns bis ins 20. Jh. nachwirkenden Stilideale zumindest für das Bildungsbürgertum bis zur Weimarer Republik besaßen, belegt u. a. Köpkes Darstellung der deutschsprachigen Exilliteratur nach 1933 (Art. 199). Obgleich das Exil nicht nur Autor/inn/en aller politischen Richtungen und „aller möglichen Gattungen, mit der Herkunft aus verschiedenen Regionen und Dialekten, bestimmt durch einen unterschiedlichen Epochen- und Personalstil“ enthielt (ebd., 2.), dominierte doch „eine konservative Tendenz, Bewahrung, Konservierung statt Neuerung und Experiment“ (ebd., 3.1.). Denn gerade „bei der erzwungenen wachsenden Entfernung von der deutschen Heimat wird Deutsch hier die durch Goethe, Lessing und Heine verbürgte heile Sprache des Humanen“ (ebd., 4.2.). Wie sehr diese Ideale, denen (klassische) Sprachkultur als Ausdruck von Kultur und Humanität gilt, von allen Emigranten, d. h. auch von der Masse der nicht schriftstellerisch Tätigen, verinnerlicht wurden, bezeugt der Stellenwert, den ein „gepflegtes“ Deutsch für die letzten der noch Lebenden selbst heute, über 60 Jahre nach der Emigration, noch besitzt. In Israel, wo das Deutsch des Bildungsbürgertums von vielen Tausend Einwanderern im privaten Bereich (z. T. wegen der Schwierigkeiten mit dem Erlernen des Neuhebräischen) auf hohem Niveau weiter gesprochen (jedoch kaum noch geschrieben und auch immer weniger gelesen) wurde und wird, nennen manche diese Sprache mit einem gewissen Stolz, in Absetzung zum heutigen „Neudeutsch“, „Weimarer Deutsch“, womit durchaus bewußt sowohl die Weimarer Republik wie auch die Weimarer Klassik assoziiert werden sollen (vgl. Betten 2000 sowie die Sprachaufnahmen und weiteren Artikel dieses Bandes). 4.10. Für die Literatursprache bzw. die Autoren selbst, sofern sie nicht epigonal sein wollten, erzwang das Erreichen eines Sprachniveaus, über das hinaus „eine weitere Kultivierung kaum mehr möglich erscheint“ (Kaempfert, Art. 196, 6.1.), jedoch eine grundsätzliche Neuorientierung. Bislang in die gesamtgesellschaftliche Aufgabe aller an der Sprache Interessierten eingebunden, nämlich eine einheitliche, normierte, allen kulturellen und wissenschaftlichen Anforderungen genügende Schriftsprache zu entwickeln, konnte dies nicht länger als Ziel betrachtet werden.

Nun hieß es vielmehr, „nach Innovationen Ausschau zu halten“ (ebd.), die Zeit der literarischen Revolten gegen die erreichte Norm begann (vgl. o. 2.1. v. Polenz mit Zitat von Eibl). „Traditionsbrüche“ kennzeichnen bereits die ersten Jahrzehnte des 19. Jhs., „Abkehr von der Formstrenge der Klassik, aber auch vom hieroglyphischen Arabeskenstil der Romantik“ (Frühwald 1980, 736), und von nun an wird eine „Wende“ der nächsten folgen. (Vgl. Leibfried 1980, Eibl 1980, v. Polenz 1999, 473 ff., Kaempfert, Art. 196, 6. mit Überblicken; speziell zum Satzbau Admoni 1987 u. 1990, 217 ff.). Während Eibl (1980) sich in seinem Artikel zur Literatursprache der Moderne weitgehend auf die „Lösungsversuche“ im 20. Jh., nach der von Hugo von Hofmannsthal 1902 im Brief des Lord Chandos exemplarisch formulierten Sprachkrise bzw. Sprachskepsis, konzentriert (vgl. dazu auch Saße 1977, Göttsche 1987, Kleinschmidt 1992), versucht Roelcke (Art. 198) die Sprachgeschichtliche[n] Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert einer systematischen Analyse und Klassifikation zu unterziehen. Grundsätzlich werden 3 Ausprägungen unterschieden (vgl. ergänzend Roelcke 2000 unter bes. Berücksichtigung der literarischen Gattungspräferenz für die einzelnen Experimenttypen): 1. Innovative Experimente, definiert als „Verfahren, neue Erfahrungen bei der Produktion und Rezeption von literarischen Werken zu sammeln“. Hier steht „die Entdeckung neuer Gestaltungsformen, die sich gegenüber der literarischen Konvention abheben, im Vordergrund“ (Art. 198, 2.). Dieser Typus dominiere in der Romantik in allen drei Gattungen als „Deviation gegenüber der klassischen Dichtungssprache“, und im Symbolismus v. a. in der Lyrik, gewandt „gegen den literarischen Sprachgebrauch des Realismus“ und „gegen die Allgemeinsprache“ (2000, 223, 225). 2. Konstellative Experimente „als Verfahren, gesellschaftliche und individuelle Konstellationen im Modell durchzuspielen“ (Art. 198, 2.). Die älteste Epoche dieses Typus sei der Realismus, in allen drei Gattungen, bes. aber der Epik, als „Deviation gegenüber der klassischen und der romantischen Literatursprache“, mit vorsichtiger „Annäherung an die allgemeine Literatur- oder Bildungssprache“ (2000, 226). Des weiteren werden Naturalismus (v. a. Drama), die sog. Dekadenzliteratur der 1. Hälfte des 20. Jhs. (v. a. Epik) und einzelne Vertreter der sog. epischen Literatur angeführt (bes. die Brechtschen Verfremdungseffekte als Deviation gegenüber dem Naturalismus). 3. Kommunikative Experimente „als Verfahren zur Gewinnung literarischer oder besser: sprachlicher und kommunikativer Erfahrungen“ (Art. 198,

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2.). Dieser Typus sei charakteristisch für das 20. Jh., ausgehend von der „Sprachskepsis um die Jahrhundertwende“; er setzt den „Bruch zwischen der Sprache und ihren Benutzern“ voraus, was zu „einer weitreichenden Hinterfragung literatursprachlicher Gestaltungsmöglichkeiten“ führt und „in einer grundsätzlichen Aufhebung literarischer Normbeschränkungen bei freier Wahl der sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten überhaupt gipfelt“ (2000, 231). Aus der 1. Hälfte des 20. Jhs. sind hier zuzuordnen Expressionismus (v. a. Lyrik) und Dadaismus (Lyrik und Parodie); in der 2. Jh.hälfte nehmen die kommunikativen Experimente einen noch breiteren Raum ein, es entwickeln sich zahlreiche Richtungen, zu deren bekanntesten die Konkrete Poesie gehört (2000, 233; vgl. dazu Heißenbüttel 1980 und die Besprechung seines Ansatzes bei Betten, Art. 200, 1.2.). Besonders die lyrische Gattung erweise sich für kommunikative Experimente als geeignet (s. Roelckes Gegenüberstellung von Gomringers schweigen mit Gedichten von Goethe und Eichendorff, 2000, 214 ff. und Art. 198, 2.; ausführlicher Betten, Art. 200, 3.1.6.⫺8., ferner u. a. Pausch 1988, 56 ff., Schmitz-Emans 1997, 131 ff.). Sie finden sich jedoch auch in anderen Gattungen, besonders im Drama (Roelcke 2000, 233 nennt als Beispiel Handkes Sprechstücke; vgl. mit ausführlichem Überblick über alle Gattungen Betten, Art. 200).

mitteln der Alltagssprache (wie in allen Literaturrevolten seit dem Sturm und Drang), sondern sogar Ununterscheidbarkeit von Alltags- und Literatursprache, wie sie z. B. Autoren der 70er Jahre anstrebten. Meist jedoch wird auch hier eher mit sparsamem Einsatz aus den linguistischen Repertoires von Umgangssprachen, Dialekten, Jargons etc. geschöpft, und aus dem gezielten Einsatz dieser Mittel resultiert zugleich eine starke Stilisierung. So läßt sich etwa an der so realistisch wie simpel bzw. primitiv klingenden Figurenrede eines Franz Xaver Kroetz zeigen, wie durch die bewußte Auswahl weniger sprachlicher Mittel aus Umgangssprache und Dialekt eine der sicherlich am kunstlosesten wirkenden, aber doch am kunstvollsten „gemachten“ Dialogsprachen der neueren Dramenliteratur entstand (vgl. Betten 1985, 218⫺290, 388 ff.). Schmitz-Emans (1997, 40) bezeichnet die „Demontage fragwürdiger Selbstverständlichkeiten“ als zentrales Anliegen moderner Literatur(sprache). Die Dichtung, „sprachgebunden wie sie ist“, habe 4 Möglichkeiten, „mit dem Formel- und Bildreservoire der geläufigen Sprache“ umzugehen:

4.11. Die letzten Überlegungen zu den Ausprägungen der Literatursprache(n) in der Moderne führen zurück zum Definitionsproblem (s. Abschn. 3.). Kuhn (1969, 285) hat die „moderne“ oder „neue Dichtersprache“ des 20. Jhs. beschrieben als „aus einer Folge von echten Revolutionen“ lebend, „die zwei immer extremere Pole zugleich erstrebten. Einmal: die immer nacktere Realität einzuholen, gerade in der Sprache ⫺ neu auch gegenüber dem realistischen Strom, der schon das neunzehnte Jahrhundert in seiner ganzen Breite durchzieht.“ (Vgl. zu den immer neuen Realismus-Programmen auch Eggers 1976, Betten 1985, 343 ff., Eykman 1985, 100 ff.). Zum anderen werde „zugleich der andere Pol verfolgt“: „immer direkter die Hintergründigkeit […] hereinzuholen in die Verantwortung, die Verbindlichkeit der Sprache selbst, auch durch Abstraktionen, Formeln, Sprachzerstörungen“ (Kuhn, ebd.). Zu diesem Pol gehören als „äußerste Konsequenz“ auch die „Entgrenzung“ der neuzeitlichen Kunst und der „Verfall des Kunstanspruchs“ ⫺ die Entkunstung der Kunst“, wie Pausch (1988, 17 f.) es im Anschluß an den Autor Dieter Wellershoff formuliert. Diese „Distanzlosigkeit“ zwischen Kunst und Leben bedeutet auf der Sprachebene nicht nur die Hereinnahme von Ausdrucks-

1. die „explizite Klage über die Falschheit der Wörter und Sätze“, 2. Die „Bloßstellung der Sprache durch Überzeichnung des scheinbar Selbstverständlichen“, 3. die „Verweigerung gegenüber dem ‘Verständlichen’ durch absichtsvolle Rätselhaftigkeit des Ausdrucks“, 4. die „Preisgabe, ja Zerstörung sprachlicher Zusammenhänge als Ausdruck des Bewußtseins von deren Künstlichkeit“ (ebd., 43).

Bei allen Kategorisierungsversuchen darf jedoch nicht vergessen werden, daß letztlich immer „der individuelle literarische Sprachbegriff als der Kern der literarischen Kreativität zu betrachten ist, über den immer nur ein Mensch verfügt, und zwar im Zusammenhang einer nicht unbedingt konsequenten Erscheinung“; jeder Künstler muß „seine Maßstäbe allein finden, weil er nach Benn allein ‘seiner individuellen Monomanie’ folgen muß“ (Pausch 1988, 49). Ergibt sich aus alldem überhaupt ein allgemein gültiger Satz für das Verhältnis der Verwendung von Sprache in der Literatur gegenüber allen anderen Kommunikationsbereichen, so vielleicht in der relativ weiten Formulierung von Henne (1996, 22): „Die Sprache in der Literatur ist eine gestaltete und insofern verdichtete Sprache, die andere sprachliche Existenzformen zur Grundlage hat und diese zugleich verändert.“

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Literatur (in Auswahl)

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Anne Betten, Salzburg

3018

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

195. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters 1. 2. 3. 4. 5.

Allgemeines Frühmittelalter Hochmittelalter Spätmittelalter Literatur (in Auswahl)

1.

Allgemeines

Eine Abgrenzung der Sprache literarischer Texte von der Sprache nichtliterarischer Texte ist für die überlieferten Zeugnisse des mittelalterlichen Deutsch vom 8. bis 11. Jh. kaum und im Hochmittelalter nur in eingeschränktem Maße möglich; erst die Expansion dt. Schriftlichkeit im Zuge eines im 12./ 13. Jh. einsetzenden allgemeinen Schriftlichkeitsschubs und die mit diesem zusammenhängende Ablösung des Lat. als universaler Schriftsprache auch im Bereich der nichtliterarischen Textsorten (Urkunden, Geschäftsschrifttum) ermöglichen Vergleiche mit der Sprache literarischer Texte auf breiterer Basis. Wie breit oder schmal diese Basis auch sein mag, in jedem Fall bilden die in den mittelalterlichen Handschriften direkt zugänglichen Überlieferungsfakten, die in der traditionellen Literatur- und Sprachgeschichtsschreibung bisher nur eine untergeordnete Rolle spielten, die Grundlage für diesen Vergleich. Die Vergleichsgrundlage in der Pergamenthandschriftenzeit (bis nach der Mitte des 14. Jh.) ist relativ schmal, sie verändert sich aber nachhaltig durch die Verwendung des Papiers als Überlieferungsträger auch für literarische Texte. Das Papier und die durch seine Einführung ermöglichte Ausbildung von schneller zu schreibenden Schriften (Kursive) sind verbunden mit einer erneuten Expansion dt. Schriftlichkeit zum Beginn des „Manuskriptzeitalters (1370⫺1469)“ (Neddermeyer 1998), in dem das dt. Sprachgebiet europaweit den stärksten Aufschwung seiner Buchkultur erfährt (ebda., 264). Der Buchdruck, der auf dem Höhepunkt der Handschriftenherstellung in den 1460er Jahren die Nachfrage nach volkssprachigen Texten zu decken beginnt, kam für die fast unbegrenzte Vervielfältigung von volkssprachiger Gebrauchsliteratur wie gerufen und beschleunigte auch einen Selektionsprozeß im Bereich der literarischen Texte, er war allerdings nur

der „Auslöser einer wesentlichen Beschleunigungsphase innerhalb eines längeren Zeitraums“ (ebda., 553). Die Überlieferungsfakten, d. h. die Handschriften und zum Ende des 15. Jhs. auch in begrenztem Umfang die Drucke, sind von besonderem Interesse für eine literarische Sprachgeschichte, welche die räumlichen, zeitlichen und sozialen Aspekte der Textüberlieferung berücksichtigt. Die überlieferte „deutsche Literatur des Mittelalters“ umfaßt „alle ‘geordneten’ Texte …, d. h. das Schrifttum schlechthin außer dem urkundlichen, soweit es sich auf bloße Rechtsverbindlichkeit beschränkt“ (Ruh 1985, 263); entsprechend dem erweiterten Literaturbegriff der Neuauflage des ‘Verfasserlexikons’ (1978 ff.), „der die Schriftlichkeit mit Literatur gleichsetzt“, ist unter Literatursprache im Mittelalter nicht ausschließlich die Sprache der Dichtung, sondern eine Varietät zu verstehen, die eine durch Selektionsprozesse gesteuerte Geformtheit aufweist, sich durch Multifunktionalität von den Fachsprachen absetzt und durch die Tendenz zur Absonderung von den engregional gültigen Dialekten von diesen abhebt (vgl. Guchmann 1984, 22 f.; Literatursprache2 bei Roelcke 2000, 477). In der Definition Stefan Sondereggers (1990, 43), die nicht auf die mittelalterliche Literatur beschränkt ist, kommt die innerhalb einer Kultur allgemein anerkannte ästhetisch ausgezeichnete Formung und Textstrukturierung hinzu (vgl. Literatursprache3 bei Roelcke, ebda.). Die mittelalterliche Schriftlichkeit war jedoch dominiert vom Latein, aus dem sich zunächst die ahd. und mhd. Gebrauchstexte (Seelsorge, Rechtspflege), die geistliche Dichtung und seit dem 12. Jh. die weltliche Dichtung ausgrenzt; vor allem aber wird nach der Mitte des 13. Jhs. in zunehmendem Maße durch die Entlatinisierung der Fachprosa das lat. Wissen in die Volkssprache „entbunden“ (vgl. 1271 Jacob van Maerlant im Prolog zu seiner ‘Rijmbijbel’ V. 21 f.: Scholastica [d. i. die ‘Historia scholastica’ des Petrus Comestor] willic ontbinden / In dietsche word uten latine; zit. nach Moolenbroek/Mulder 1991, 8). Im Unterschied zur neuzeitlichen Literatur wurde alle mittelalterliche Literatur, auch die Dichtung, „gebraucht“, und jeder aufs Pergament gelangte Text hatte einen selbstverständlichen Nutzen (vgl. Kuhn

195. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters

1980, 83), sei es ein volkssprachiger Hoheliedkommentar des 11. Jhs. oder eine Chronik des 12. Jhs. mit ihren formalen wie inhaltlichen Aktualisierungen bis ins 16. Jh. oder ein Artusroman mit seiner relativ konstanten Überlieferung vom 13. bis ins 15. Jh. oder Mystikerpredigten des 14. Jhs. mit ihrer ungebrochenen Rezeption bis in die Neuzeit. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des dt. Mittelalters, die von den Handschriften und ihren Gebrauchszusammenhängen ausgehen, lassen sich nur teilweise anhand von Ergebnissen der bisherigen Sprach- und Literaturgeschichtsschreibung ausziehen, denn der Gegenstand beider Disziplinen, der literarische Text im weitesten Sinne, ist auf Grund der mediengeschichtlichen Voraussetzungen im Mittelalter in der Regel eine unfeste, bewegliche Größe und existiert in so vielen Varianten wie es Handschriften gibt. „L’e´criture me´die´vale ne produit pas des variantes, elle est variance“ (Cerquiglini 1989, 111). Bei literarischen Werken hat man es im Gegensatz etwa zu den Urkunden, die in Traditionsbüchern und frühen Kopiaren z. T. sogar faksimileartig reproduziert werden, mit einem „unfesten Text“ (Bumke 1996, 53 ff.) zu tun und bei reicher Überlieferung mit einer enormen Menge von Varianten, aus denen durch textkritische Verfahren der ursprüngliche Text rekonstruiert werden kann. Dieses Rekonstruktionsprodukt, der kritische Text, ist in der Regel der Gegenstand nicht nur der dt. Literaturgeschichten, sondern auch der Sprachgeschichten. Varianz kann in dt. Urkundentexten des 13. Jhs. aber auch als bewußt eingesetztes und positiv konnotiertes Stilmittel verwendet werden (Mihm 2000). Die für die literarischen dt. Texte des Mittelalters charakteristische Variabilität auf allen sprachlichen Ebenen und ihre prinzipielle Anpassungsfähigkeit an aktuelle Nutzungsbedürfnisse und an regionale, zeitspezifische, ästhetische usw. Bedingungen dürften die Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in stärkerem Maße bestimmen als der kritisch fixierte Text, der die Varianz und Vielfalt ausblendet. Im folgenden soll daher die in der traditionellen Sprach- und Literaturgeschichtsschreibung allenfalls am Rande thematisierte Überlieferungs- und Textgeschichte von ausgewählten literarischen Texten, die in mehreren Handschriften über einen längeren Zeitraum, in verschiedenen Regionen und in unterschiedlichen Schichten und Gemeinschaften rezipiert wurden, im

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Mittelpunkt stehen. Für die Zeit der höfischen Klassik und in Verbindung mit der literatursprachlichen Entwicklung um 1200 werden allerdings die verschiedenen Aspekte einer Koineisierung detaillierter behandelt, und ausführlicher wird nur auf die Überlieferungsgeschichte von Wolframs ‘Parzival’ eingegangen. Den Ausgangspunkt für die überlieferungs- und textgeschichtlichen Einzelanalysen dt. literarischer Werke vom 9. bis 15. Jh. bildet erstens die Überlieferungsgeschichte, welche die äußeren, historischen Faktoren berücksichtigt, die nicht nur für die Entstehungsgeschichte und die Entstehungsbedingungen (Auftraggeber/Autor), sondern auch für die weitere Wirkungsgeschichte (Besteller/ Schreiber) maßgebend sind, und zweitens die Textgeschichte, welche die inneren, sprachlichen Faktoren berücksichtigt, die ausgehend von der meist nur rekonstruierten Erstfassung auch die wesentlichen Textveränderungen bis zum Versiegen der Überlieferung in den Blick nimmt. Historische und sprachliche Faktoren stehen dabei in Wechselwirkung, z. B. kann der Dichter eines umfangreicheren und daher in Abschnitten bekannt gemachten Werkes während der Entstehungszeit oder der ersten Rezeptionsphase unmittelbar nach der Entstehung, wenn das Interesse an dem neuen Werk am größten ist, Modifikationen vornehmen (mehrere Autorfassungen), es kann ein Auftraggeber nicht nur Veränderungen in der Form des Codex wie der Sprache eines literarischen Werkes fordern, wenn das Buch mitsamt Einrichtung und Ausstattung seinem Repräsentationsbedürfnis nicht genügt und der in ihm überlieferte Text veraltet und teilweise unverständlich geworden ist, sondern er kann auch ein bisher nur mündlich überliefertes Werk wie das Nibelungenlied in ein Buchepos verwandeln lassen oder eine repräsentative Sammlung von literarisch geschulten Kennern, die auch für die Redaktion der Texte zuständig sind, in einem großformatigen Codex zusammenstellen lassen.

2.

Frühmittelalter

Die im 8. Jh. einsetzende Verschriftlichung des Deutschen begann mit dem Eintragen von Glossen in lat. Texte nach ags. Vorbild und ist im Hinblick auf die Masse der erhaltenen Handschriften mit Deutschgeschriebenem bis zum 12. Jh. dominiert von der Glossen- und Glossarüberlieferung: Ihren über

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

1000 Handschriften aus diesem Zeitraum stehen weniger als 300 Handschriften mit zusammenhängenden volkssprachigen Texten gegenüber; das Verhältnis für das 8.⫺10. Jh. zeigt ein noch deutlicheres Übergewicht der Glossenhandschriften: Über 600 stehen den rund gut 60 Handschriften mit ahd. oder alts. Texten gegenüber (vgl. Bergmann/Stricker 1995, 14 f.; Bischoff 1971, 101), von denen nur etwa ein Dutzend eine buchmäßig selbständige Einheit bildeten, die übrigen aber keine reguläre Funktion in einem größeren Zusammenhang hatten, von den Beichten abgesehen, welche Hausrecht in den Sakramentarien gewannen (vgl. Bischoff 1971, 102 f.). Glossen und Glossare dienten nur ausnahmsweise dem Verständnis des Deutschen (wie z. B. das Sachglossar in der Handschrift des ‘Vocabularius Sancti Galli’, „das Vademecum eines angelsächsischen Missionars“, Haubrichs 1988, 231), ihre Hauptaufgabe war die Aneignung und Sicherung des Textverständnisses der lat. Literatur; die Erfüllung dieser Aufgabe war auch für die ersten Übersetzer und Autoren, die umfangreiche dt. Texte schufen, selbstverständlich; über die Glossen führte z. B. auch der Weg Otfrids von Weißenburg in die dt. Schriftlichkeit (Kleiber 1971, 149 f.). Den eigentlichen Anstoß zur Schaffung einer dt. Literatursprache gaben die Reformen Karls des Großen, deren Impulse noch das ganze 9. Jh. prägten. Die in Kapitularien überlieferten „Verdeutschungsbefehle“ (von Polenz 1959, 33) zur Durchführung einer oralen volkssprachigen Katechese und deren Begründung (quia in omni lingua Deus adoratur et homo exauditur, si iusta petierit, Frankfurter Synode 794) stehen im Zusammenhang mit der Schrift-, Lateinstudien- und Kirchenreform, deren wichtigster Grundsatz die Verwirklichung und Wiederherstellung der norma rectitudinis, der ‘Norm des Richtigen’, war. Verbindlich geregelt und normiert zugunsten einer allgemeinen Verständlichkeit in der Verwaltungspraxis wurden z. B. die Bezeichnungen für Monate und Winde; dem Bericht Einhards (Vita Karoli Magni, cap. 29) über diese staatliche Sprachregelung geht die Erwähnung der von Karl veranlaßten Aufzeichnung der barbara et antiquissima carmina über die Taten und Kriege der Vorfahren und die Anregung einer grammatica patrii sermonis voraus. Nicht nur die für Kirche und Kult wichtigsten Texte und die für die staatliche Verwaltungspraxis zentralen Wortfelder, sondern auch die Liedersammlung be-

durften für die Aufzeichnung einer grammatisch geregelten Sprache, einer Literatursprache mit Normanspruch. Dieser Anspruch wurde durch die Übersetzungen der sogen. ‘Isidor-Gruppe’ bereits gegen Ende des 8. Jhs. verwirklicht. Sie umfassen sowohl für die aktuelle kirchenpolitische Situation relevante theologische Traktate als Argumentationshilfe für die nicht lateinkundigen Laien im Umkreis des Hofes als auch das Matthäus-Evangelium als Grundlage für die christliche Verkündigung in der Volkssprache. Das Werk des vermutlich im Umkreis der klerikalen Elite am Hof Karls des Großen wirkenden Übersetzers ist das erste überlieferte Zeugnis für den Gebrauch des Deutschen als einer dem Lateinischen ebenbürtige Literatursprache. Die Übersetzungen sind nur fragmentarisch in zwei Handschriften als Bilingue erhalten: P (Paris, lat. 2326, geschrieben in einem nicht lokalisierbaren Skriptorium kurz nach 800) und MF (Monseer Fragmente, geschrieben im bairischen Kloster Mondsee um 810); sekundär bezeugt sind sie durch die Verarbeitung in dem um 820 im elsässischen Kloster Murbach geschriebenen Glossar Jc. Auch in einem Eintrag des 831 verfaßten Bibliothekskatalogs der pikardischen Abtei St. Riquier über eine dort vorhandene Passio Domini in theodisco et in latino könnte ein Exzerpt aus der IsidorGruppe gesehen werden (so Haubrichs 1988, 309; anders Hellgardt 1996, 48). Die rasche Verbreitung der Übersetzungen wird verständlich durch die Annahme, daß sie von der Hofbibliothek ausgingen (Matzel 1978, 300). Über die dialektgeographische Basis der in P bewahrten Sprache der Übersetzungen, die auch aus MF bzw. der erschlossenen nichtbair. Vorlage von MF rekonstruierbar ist, gibt es divergierende Auffassungen, denen allen aber die Lokalisierung in einer westlichen Varietät, einschließlich des Westfränkischen, gemeinsam ist. Matzel (zusammenfassend 1978, 298⫺301) hat zuletzt gezeigt, daß die sorgfältig geregelte Orthographie den südrheinfrk. Dialekt Lothringens zur Grundlage hatte und mit dem patrius sermo bei Einhard vermutlich die Sprache von Metz als die ‘Vätersprache’ Karls und seiner Vorfahren gemeint war. Diese wollte demnach der Herrscher im Rahmen seiner Reformen mit konsistenten Verschriftungsregeln „in den Rang einer Schriftsprache erheben“ (Haubrichs 1988, 311). Die Einhaltung grammatischer Normen zeigt sich nicht nur in der Orthographie, sondern auch in der Morphologie, die

195. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters

nicht ausschließlich auf einer einzelsprachlichen Varietät beruht, sondern auf einer bewußten Auswahl von südlichen, alemannischen und nördlichen, fränkischen Merkmalen (Matzel 1978, 300). Der Wortschatz ist „nahezu ganz frei von künstlichen neugeschaffenen Ausdrücken“ (Eggers 1986, 203), d. h. von den Glossenbetrieb prägenden Lehnübersetzungen; in ihm ist die Nähe zur Adelskultur am Hofe deutlich, wenn z. B. der egregius psalta Israhel (Ahd. Isidor 43, 21, ed. Eggers), d. h. König David als Schöpfer der Psalmen, im Deutschen als adalsangari Israhelo erscheint. Auch die Syntax ist unabhängig vom pedantischen Gelehrtenlatein der Vorlage: Wie in der Wortbildung die Lehnübersetzungen, so fehlen mit dem Ahd. nicht kompatible lehnsyntaktische Strukturen fast ganz; ein differenziertes System von Nebensätzen ist voll ausgebildet, wie das auch im ‘Heliand’ und in Otfrids Evangelienbuch der Fall ist. Es gibt schließlich noch stilistische Unterschiede zwischen Traktaten und Bibeltext; denn dieser wird mit Rücksicht auf seinen sakralsprachlichen Rang ⫺ wie in der Tradition der Bibelübersetzer von Hieronymus bis Luther ⫺ teilweise wörtlicher als die Traktate übersetzt. Auch verschiedene Textsortenstile (Traktat, Predigt, Bibelsprache) kann der Übersetzer also mit adäquaten Mitteln im Deutschen gestalten. Die norma rectitudinis als Reformziel wurde für das verwilderte Latein auf allen sprachlichen Ebenen erreicht, eine entsprechende Standardisierung für das Deutsche wurde durch die vermutlich im Umkreis des Hofes entstandenen Übersetzungen der Isidor-Gruppe wohl ebenfalls erreicht, aber sie blieb ohne jede Wirkung, denn schon in der Monseer Abschrift erfolgte eine Umsetzung ins Bairische. Als Paradebeispiel für Müllenhoffs These von einer einheitlichen „karlingischen Hofsprache“ im 8./9. Jh. mit allgemeiner Verbindlichkeit taugt die IsidorGruppe aufgrund ihrer beschränkten Wirkung nicht; der Text der Pariser Handschrift mit schriftsprachlicher Vorbildfunktion blieb ein Ansatz ohne Folgen. „Die karolingische Schriftsprache ist ein Phantom“ (Schröder 1959, 56; zur weiteren Kritik an dem von Müllenhoff und anderen vorgebrachten „Postulat einer programmatischen Einheit im Althochdeutschen“ vgl. Grubmüller 1985, 1767 f.). „Stammliches, gentiles Sonderbewußtsein“, wie es sich in dem von einem bair. Schreiber im 1. Viertel des 9. Jhs. aufgezeichneten ‘Kasseler Gesprächsbüchlein’ in den

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später bei Wolfram von Eschenbach (Parz. 121, 7⫺9) in ähnlicher Form verwendeten Beispielsätzen zur Glossierung von sapiens und stultus zu erkennen gibt: Tole sint Walha, spahe sint Peigira „dumm sind die Romanen, klug sind die Bayern“, prägt sich auch als sprachliches Sonderbewußtsein aus; die im Umkreis des Hofes entworfene exemplarische orthographische Norm erweist sich „als spezifisch fränkisch und im bairischen Sprachraum nicht recht adaptierbar“ (Haubrichs 1988, 25). Mit den großen Bibeldichtungen des 9. Jhs., mit der ‘As. Genesis’, dem ‘Heliand’ (vor 850) und Otfrids ‘Evangelienbuch’ (zwischen 863 und 871), beginnt die eigentliche Geschichte der schriftlich fixierten dt. Literatur, die in erster Linie Dichtung ist und von ihren Autoren auch ausdrücklich als solche gemeint war. Mit 5983 Stabreimzeilen bzw. 7418 endgereimten Langversen sind sie nicht nur die umfangreichsten Dichtungen der Karolingerzeit, sondern auch umfangreicher als die lat. Bibelepen von Juvencus bis Arator, in deren Tradition sich Otfrid ausdrücklich gestellt hat. Heliand. Die sekundär überlieferte und möglicherweise in Fulda von Hrabanus Maurus (822⫺842 Abt von Fulda, 847⫺856 Erzbischof von Mainz) oder in seinem Umkreis verfaßte ‘Heliand’-Praefatio nennt als Auftraggeber Ludouuicus piissimus (Ludwig der Fromme 814⫺840; vgl. Taeger 1981, 958 f.; oder Ludwig der Deutsche, 843⫺876, vgl. Haubrichs 1988, 338) und als Dichter einen Mann de gente Saxonum qui apud suos non ignobilis vates habebatur, der Altes und Neues Testament in Germanicam linguam poetice übersetzen sollte. Als Adressaten des gesamten Bibelwerkes werden die illiterati genannt, die volkssprachlichen, aber mit der mündlichen Adelskultur vertrauten Analphabeten. Der Autor war sowohl mit der Stabreimdichtung vertraut als auch theologisch gründlich gebildet (zu Autor und Werk vgl. die Literaturgeschichten u. a. Wehrli 1980, 67⫺76; Haubrichs 1988, 330⫺353; Kartschoke 1990, 140⫺153). Schon die überwiegende Bezeichnung Jesu als heˆliand, die auch als Werktitel für die erste wissenschaftliche Ausgabe von Johann Andreas Schmeller gewählt wurde, zeigt die Vertrautheit des ‘Heliand’-Dichters mit der theologisch fundierten Namenetymologie (hebr. Jesus ⫺ griech. so¯te¯r ⫺ lat. salvator ⫺ alts. heˆliand, vgl. ahd. nerrendeo in der Isidor-Gruppe).

3022

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Die erhaltene Überlieferung des ‘Heliand’ läßt sich aufgrund paläographischer Kriterien datieren und teilweise auch lokalisieren. Von den beiden nahezu vollständigen Handschriften ist M (München, Cgm 25) um 850 von zwei Schreibern im 822 gegründeten Kloster Korvey geschrieben (Bischoff 1979), C (London, Cotton Caligula A. VII) in der 2. Hälfte des 10. Jhs. in Südengland von einem Angelsachsen (Taeger 1984, XVI und XXXI) oder von einem Schreiber nl. Herkunft (Klein 1989, 97). Von den drei übrigen Textzeugen bietet V (Vaticana, Palat. Lat. 1447) ein Exzerpt mit dem Anfang der Bergpredigt, das etwa im 3. Viertel des 9. Jhs. in eine in Mainz geschriebene komputistische Hs. eingetragen wurde zusammen mit drei Exzerpten aus einer Kompilation von ags. und as. Genesis. Reste von zwei weiteren Handschriften sind das sprachlich dem ursprünglichen Text nahestehende Fragment P (Berlin, Dt. Hist. Museum, R 56/2537) und das zuletzt aufgefundene Fragment S (aus Straubing), beide um oder nach 850 geschrieben. Die ‘Praefatio’ mit den ‘Versus’ stammt höchstwahrscheinlich aus einer heute verschollenen Leipziger Handschrift, die vermutlich auch Luther kannte.

Die erhaltene Überlieferung läßt auf eine rasche Verbreitung des ‘Heliand’ schließen, denn um oder kurz nach 850 sind drei der erhaltenen Handschriften entstanden, aus deren Verhältnis zueinander sich weitere Vorlagen und Vorstufen erschließen lassen. Die frühe Exzerptüberlieferung in V, die verbunden ist mit Exzerpten aus der ‘Altsächs. Genesis’, zeigt, daß wenig später der nur fragmentarisch bezeugte alttestamentliche und der neutestamentliche Teil vereinigt worden waren in einem Ganzen, das nach dem SechsWeltalter-Schema der Weltchroniken gegliedert war; der alttestamentliche Teil umfaßte die fünf Weltalter des Alten Bundes, die zur Zeit der Evangelisten vergangen waren (thiu fıˆbi uuaˆrun agangan Heliand V. 47b), und der neutestamentliche Teil das sechste Weltalter, das mit Christi Geburt kommen sollte. Die Praefatio der verlorenen Leipziger Handschrift bezieht sich auf ein volkssprachiges vetus et novum testamentum. Die ‘Altsächs. Genesis’ ist außer durch die V-Exzerpte noch durch die in einer um oder kurz nach 1000 geschriebenen Handschrift (Oxford, Bodleian Library, Junius 11) der ‘Angelsächs. Genesis’ (V. 235⫺251) bezeugt, in der sie nach einer sprachlichen Adaptierung mit den ags. Teilen kompiliert wurde. Die für die Zeit vor 1000 nachweisbaren engen literarischen Verbindungen zwischen dem Festland und England werden ebenfalls durch die Heliand-Hs. C bezeugt. Die Heliandsprache, die aus Mangel

an vergleichbaren Varietäten ein ungelöstes Problem darstellt, spiegelt den auffallenden Überlieferungsbefund durch ihren Mischcharakter, der auf graphematischer und morphologischer Ebene Merkmale des Ags. und Ahd. bezeugt und für den ursprünglichen Wortlaut auf eine auf Auswahl beruhende Schreibsprache eines niedersächsischen Zentrums schließen läßt, von dem die lebhafte Verbreitung ⫺ vermutlich des gesamten as. Bibelwerkes ⫺ ihren Ausgang nahm, dessen Überlieferung jedoch „im alten Umkreis völlig ausgelöscht ist“ (Bischoff 1971, 128). Das Verhältnis der Heliandsprache zu den wenigen katechetischen und urkundlichen Texten des Alts. läßt sich nicht genauer bestimmen, weil die Vergleichsbasis zu klein ist. Das überlieferte Alts. wird daher im wesentlichen durch die orthographisch und morphologisch variantenreiche Sprache der Handschriften mit den Bibeldichtungen repräsentiert. Die Syntax dieser Stabreimdichtungen ist geprägt durch das Auseinanderfallen von syntaktischer und metrischer Einheit, indem die natürliche Pause am Zeilenende übersprungen wird (Hakenstil) und umfangreiche, bis zu 19 Langzeilen umfassende hypotaktische Gefüge verwendet werden, innerhalb derer die indirekte Rede immer wieder in die direkte übergehen kann. Die Langzeile kann bis zur Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit überfüllt werden (Schwellverse). Als stilbestimmendes Kunstmittel erscheint die Nominalvariation. Der Wortschatz ist überregional; kunstvolle neugebildete Komposita sind nicht prominent; zahlreiche inhaltlich zentrale Komposita werden häufig wiederholt und nicht durch gesuchte Bildungen wie etwa im ‘Hildebrandslied’ oder ‘Beowulf’ variiert. Durch die größere Füllungsfreiheit der Verse kommen die Synsemantica zum Zwecke einer expliziten Ausdrucksdifferenzierung stärker zur Geltung (zu Sprache und Stil vgl. zusammenfassend Taeger 1981, 968 f.). Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch: Sehr viel deutlicher als der Verfasser der ‘Heliand-Praefatio’ äußert sich Otfrid von Weißenburg im lat. Approbationsschreiben an Erzbischof Liutbert von Mainz (863⫺889), im Widmungsgedicht an König Ludwig den Deutschen (843⫺876) und im Eingangskapitel (I. 1, 1) über Anreger, Empfänger und die Gründe für die Abfassung seines ‘Evangelienbuches’, dabei geht er auch ausdrücklich auf die Schwierigkeiten bei der Verschriftlichung des Deutschen im Unterschied zum grammatisch geregelten und normierten Latein ein.

195. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters

Durch Otfrids Selbstzeugnisse und durch die paläographischen Untersuchungen Wolfgang Kleibers (1971) ist über sein Leben und Wirken sehr viel mehr bekannt als über fast jeden andern mittelalterlichen dt. Dichter (zusammenfassend Schröder 1989, 172⫺179, und die Literaturgeschichten u. a. von Wehrli 1980, 76⫺86; Haubrichs 1982, 354⫺377; Kartschoke 1990, 153⫺161). Als Anreger nennt er Mitbrüder und eine matrona Judith, als Adressaten diejenigen, die Schwierigkeiten haben, die lat. christlichen Dichter zu verstehen; ihnen will er die Lehren der Evangelien in ihrer propria lingua, d. h. in frenkisga zungun (I. 1, 114) verständlich machen, damit sie danach lebten und in frenkisgon nan (= Krist) lobotun (I. 1, 126). Literatur- und sprachgeschichtlich sieht er sich dabei an einem Anfang: Nist si (die fränkische Sprache) so (zum gotes lob) gesungan, mit regulu (grammatischer und metrischer Regulierung) bithuuungan (I. 1, 35). Von den Leistungen des Übersetzers der Isidor-Gruppe und dem ‘Ahd. Tatian’ (2. Viertel 9. Jh.), der in der Zeit in Fulda entstand, als Otfrid vermutlich dort unter Hrabanus Maurus (822⫺ 847) studierte, erwähnt er nichts. Von keinem größeren Werk der mittelalterlichen deutschen Literatur existiert eine vergleichbar autornahe Überlieferung. Die mit drei ganzseitigen Illustrationen versehene Handschrift V (Wien cod. 2687) ist die vom Dichter eigenhändig korrigierte Reinschrift; rund 3500 Korrekturen, von denen etwa die Hälfte die phonetischen und musikalischen Akzente betreffen, hat Kleiber (2000, 122 f.) gezählt und daraus geschlossen, daß Otfrid „sein Werk in jahrelanger Arbeit mehrfach überkorrigiert haben“ muß. Zwei Hauptschreiber, die an der Herstellung von V beteiligt waren, fertigten danach auch die Hs. P (Heidelberg, Cpg 52) an; 116 Verse in V schrieb Otfrid selbst. Die graphische Varianz der beiden Hauptschreiber von V und P ist noch nicht systematisch untersucht, ebensowenig sind „idiolektale, dialektale oder sprachhistorisch-sprachgeographische Aspekte“ auch in jüngeren Untersuchungen in Betracht gezogen (Kleiber 2000, 124). Die Schreibsprache von VP wird im Zirkelschluß mit dem Regionaldialekt „südrheinfränkisch“ gleichgesetzt und sogar als ‘Heimatdialekt’ Otfrids gewertet, das Verhältnis zu Merkmalen anderer regionaler Varietäten ist noch nicht untersucht, doch erste Ansätze zu einer systematischen Untersuchung der graphematischen Variation bei den Schreibern

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von VP unter besonderer Berücksichtigung der Korrekturen Otfrids und unter Einbeziehung der Urbarskripta und rezenten Dialekte sind von Kleiber (2000, 125⫺132) vorgelegt worden, ebenso zur wortgeographischen und sprachhistorischen Strukturierung des Otfrid-Wortschatzes (133⫺136). Auf die „Multifunktionalität“ von V und P (Haubrichs 1988, 377 f.) weisen die Tonbuchstaben für den gesanglichen Vortrag bestimmter Partien von V hin, ebenso die Neumierung der Verkündigungsszene in P. Eine konkrete Rezeptionsspur liefert ein Eintrag aus der Mitte des 11. Jhs. in P, auf Bl. 90r am unteren Rand fast unsichtbar eingeritzt zum Kapitel III. 12 (Bekenntnis und Berufung des Petrus, Mt 16, 13⫺19) die Worte: Kicila diu scona min filo las (‘Die edle Gisela hat viel in mir gelesen’); als Leserin wird mit guten Gründen die Kaiserin Gisela († 1043), die Gemahlin Konrads II. (1024⫺1039), vermutet (Schützeichel 1982, 48⫺58). Zur weiteren Benutzung von P, von der das in der 1. Hälfte des 11. Jhs. am Ende der Handschrift eingetragene ‘Georgslied’ zeugt, vgl. Haubrichs 1988, 376 und 411 f. Die Handschrift F (München, Cgm 14) wurde um 900 von dem im St. Gallischen Schriftstil gebildeten Priester Sigihard auf Veranlassung des zur Hofkapelle gehörenden und auch mit Weißenburg eng verbundenen Bischofs Waldo von Freising (883⫺906) angefertigt. Da die direkte Vorlage V war (Kleiber 1971, 22 f.), bietet sich die seltene, sonst fast nur bei kopialer Überlieferung von Originalurkunden anzutreffende Gelegenheit, den Abschreibe- und Aneignungsprozeß bei der Verbreitung einer Großdichtung im Skriptorium einer anderen Sprachlandschaft zu untersuchen. Sigihard hat die Vorlage anfangs weniger, ab Buch III dann konsequent in seine bair. Schreibsprache umgesetzt. Das charakteristische Merkmal von V, die sorgfältige Akzentuierung, hat er in ihrer Funktion nicht erkannt und daher nur unvollständig oder ganz entstellt bewahrt. Ein systematischer Vergleich von F mit V steht noch aus (vgl. die Ansätze und Beispiele bei Kleiber 1993, 93 ff.). Besonders aufschlußreich für den ‘Sitz im Leben’ von F sind die am Schluß Bl. 126r (Faksimile bei Masser 1993, 134) eingetragenen vier Langzeilen in der Form von zwei Otfrid-Strophen, die in Verkennung ihrer Funktion als ‘Sigihards Gebete’ in die Literaturgeschichte eingegangen sind, aber keineswegs von der Hand Sigihards stammen; es handelt sich vielmehr um dt. Versionen der in

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

der lat. Rubrik zitierten Versbenediktionen Tu autem domine miserere nobis. Domine. iube [be]nedicere. AMEN, mit denen die Lesungen der Nokturn und die klösterlichen Tischlesungen abgeschlossen werden (Bischoff 1971, 105; Ohly 1995, 2 f.; Masser 1993, 128⫺ 130, und VL 8, 1992, 1242 f.). Die Freisinger Otfrid-Handschrift fand also für die klösterliche Lectio Verwendung; die Tonbuchstaben in V und die Neumierung in P weisen auf ähnliche Gebrauchszusammenhänge. Aufschlußreich für die Überlieferungsund Textgeschichte sind auch die Reste von 26 Blättern der Otfrid-Handschrift D, des Codex Discissus, die „gewissenhaft, in getreuer Wahrung des sprachlichen Charakters“ (Bischoff 1971, 105) um 975, also ein Jahrhundert nach der Entstehung des Evangelienbuches, in Fulda aus V abgeschrieben wurde (vgl. Milde 1983). D ist also im Unterschied zu F äußerst konservativ kopiert worden in einem Jahrhundert, in welchem außer einem kurzen ‘Priestereid’ (VL 7, 827 f.) in zwei Freisinger Handschriften und der ebenfalls in Freising im Umkreis des Bischofs Waldo († 906) aufgezeichneten Versbearbeitung des ‘138. Psalms’ (vgl. Haubrichs 1988, 379⫺383) sonst kaum Deutschgeschriebenes aufs Pergament kam. Außer den vier erhaltenen Otfrid-Handschriften, die in Weißenburg, Freising und Fulda jeweils aus V abgeschrieben wurden, sind die Widmungsexemplare für den in Regensburg residierenden König Ludwig den Deutschen, den Erzbischof Luitbert von Mainz, den Konstanzer Bischof Salomo I. und die Studienfreunde Hartmut und Werinbert in St. Gallen anzunehmen. Von allen Dichtungen der Frühzeit hat Otfrids Werk die nachweisbar größte Wirkung und Verbreitung erfahren. Auch wenn die Handschrift P noch im 11. Jh. benutzt wurde, so bricht die Überlieferung des „poetischen Hauptwerkes der ahd. Literatur“ (Schröder 1959, 190) doch im 10. Jh. ab. Die literatursprachlich folgenreichste formale Neuerung Otfrids war der Übergang zum Endreimvers, der sich am Vorbild der ambrosianischen Hymnenstrophe orientierte. Zwei vierhebige Kurzverse werden gebunden durch den Endreim, den die letzte Silbe trägt, auch wenn sie unbetont ist. Für die Morphologie des Ahd. bietet gerade diese metrische Form eine ebenso vorzügliche Quelle wie später der reine Reim der Tonsilben in der Reimpaarepik um 1200. Die durchschnittlich 6oder 7-silbigen Kurzverse mit ihrer gegenüber dem Stabreim eingeschränkten Füllungsfrei-

heit lassen anders als die Stabreimzeile mehrsilbige Komposita kaum zu. Von den rund 200 Nominalkomposita Otfrids (gegenüber den 440 des kürzeren ‘Heliand’) sind ein Fünftel christliche Bildungen mit druˆt- (10x), einem Lieblingswort Otfrids, und worolt(27x) als Bestimmungswort, die das Auserwähltsein bzw. die Diesseitigkeit einer Person oder Sache bezeichnen und fast ausschließlich bei Otfrid belegt sind. Der christliche Wortschatz und dessen durch die Exegese aufzuschließender allegorischer Schriftsinn spielt bei Otfrid eine zentrale Rolle, die erst durch ein allegorisches Wörterbuch faßbar wird (Hartmann 1975). Syntaktische und metrische Strukturen entsprechen sich in der Regel, es herrscht also ein Zeilenstil, wie er auch charakteristisch ist für die frühmhd. Bibeldichtung. Zeilenstil und Strophenform stehen einem reich ausgebildeten System von Nebensätzen nicht im Wege (Wunder 1965), auch wenn Gefüge mit mehrfacher Hypotaxe wie im ‘Heliand’ oder auch in den ‘Straßburger Eiden’ von 842, dem bedeutenden Zeugnis für die dt. Rechtssprache des 9. Jhs. mit ihren komplexen hypotaktischen Strukturen (vgl. Gärtner/Holtus 1995, 121 f.), ungewöhnlich sind. Für die dt. Sprach- und Literaturgeschichte bietet die einzigartige Textüberlieferung in den erhaltenen vier Handschriften und deren Verhältnis zueinander (V als unmittelbare Vorlage für P, F und D) weiterhin ein ergiebiges Untersuchungsfeld. Am Endpunkt der ahd. Literatur, die immer wieder unverbundene Neuansätze (Isidor-Gruppe, ‘Heliand’, Otfrid) und keine Kontinuität aufweist (Schröder 1959), steht das Übersetzungswerk Notkers III. von St. Gallen († 1022), der wiederum keinen Vorgänger kennt und für den Schreiben in der Volkssprache einen „unerhörten Neubeginn“ bedeutet, eine res paene inusitata, wie er in seinem Brief an Bischof Hugo I. von Sitten (998⫺1017) über seine Lebensarbeit schrieb. Von seinen umfangreichen Werken, die die Artes liberales (einschließlich des Martianus Capella ‘De nuptiis Philologiae et Mercurii’), poetische Werke der Schullektüre (‘Cato’, Vergils ‘Bucolica’), Bibel (Psalter, Hiob) sowie Theologie und Philosophie (des Boethius ‘Consolatio Philosophiae’ und Trinitätsschrift) einschließen, sind viele verloren, die erhaltenen sind bis auf den Psalter meist nur unikal überliefert. Einzig die kommentierende Psalterübersetzung hat eine längerdauernde Wirkung gehabt. Notkers literaturgeschichtliche Bedeutung (Sonderegger 1987,

195. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters

1225⫺1228) liegt vor allem „in seiner bahnbrechenden Leistung für die Übersetzungsgeschichte des Deutschen“ (ebda., 1225); trotz der ihm vorausgegangenen regen Glossierungstätigkeit in St. Gallen vom 8.⫺10. Jh. und einer mit seinem Psalter verbundenen weiteren Glossierung steht Notker da „als ein einsamer Sprachmeister und Bildungsvermittler über die Volkssprache“ (ebda., 1228). Seine sprachgeschichtliche Bedeutung (ebda., 1229 f.) liegt ähnlich wie bei Otfrid darin, daß er für die Verschriftlichung der Volkssprache zunächst einmal ein differenziertes und vom lateinischen deutlich unterschiedenes Graphemsystem schaffen mußte, das mit Hilfe von Akzenten (Akut und Zirkumflex) und satzphonetischen Regelungen (Auslautgesetz) die Sprechsprache phonetisch möglichst genau wiedergab. Zur Akzentschreibung äußert er sich explizit im Brief an Hugo von Sitten: Oportet autem scire, quia verba theutonica sine accentu scribenda non sunt praeter articulos, ipsi soli sine accentu pronuntiatur acuto aut circumflexo. Die Akzentschreibung ist wie bei Otfrid und später bei Williram von Ebersberg nur in der autornächsten Überlieferung vollständig bewahrt, in den späteren Abschriften wird ihre Rolle von den ans Lat. gewöhnten Schreibern nicht erkannt, die Akzentzeichen werden daher nur unvollständig wiedergegeben, entstellt oder schließlich ganz aufgegeben. Gleichwohl liefert die Akzentschreibung das Vorbild für die Erweiterung des dt. Graphemsystems durch den Gebrauch von Superskripten, die in Kombination mit dem Grundbuchstaben einen neuen Lautwert wiedergeben (Diphthonge, Umlaute, bei Otfrid auch die Unterscheidung von konsonantischem i mit Akut und vokalischem i ohne Akut), für den das lat. Alphabet kein Zeichen besaß. Die am Anfang und Ende der ahd. Sprachund Literaturgeschichte stehenden Übersetzungsleistungen zeigen, daß die „von Regeln unbezwungene“ dt. Sprache (Otfrid) seit der ersten schriftlichen Fixierung umfangreicher zusammenhängender Texte Ende des 8. Jhs. jederzeit eines souveränen Ausdrucks fähig war und als Literatursprache gebraucht werden konnte, sowohl für literarische Texte mit Kunstanspruch wie für theologische Traktate, Predigten, Bibelübersetzungen und Bibelkommentare. Sogar die Umgangssprache kommt in den ‘Pariser Gesprächen’ aufs Pergament und zeigt in deutlichem Kontrast zu den konservativen Varietäten der Literatursprache einen „außerordentlich stark fort-

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geschrittenen“ Stand der Endsilbenabschwächung und satzphonetischer Elisionen (Haubrichs/Pfister 1989, 62⫺65; vgl. auch Sonderegger 1961, 269 f.). Die im Lat. übereinstimmend als lingua theotisca, teutonica oder germanica bezeichneten regionalen Varietäten zielen auf etwas allen Gemeinsames, aber nicht auf eine vom „bedürfnis des reichs“ geforderte „grössere einheitlichkeit“ (Müllenhoff). Sprecher und Schreiber der unterschiedlichen Sprachvarietäten des Deutschen ließen sich nicht auf das Vorbild einer Einheitssprache disziplinieren; „ein Volk ist keine Schulklasse“ (Wehrli 1980, 45). Die vor allem auf dem Gebiet der Graphematik und Morphologie immer wieder anhand der Überlieferung in den Handschriften zu beobachtende Variabilität, die gerade die Frühzeit mit ihren Traditionsbrüchen und wiederholten Neuanfängen kennzeichnet, ist nicht als regellos oder rückständig zu werten im Hinblick auf eine wie auch immer geartete Einheitssprache als nationalem Zielobjekt, von dem aus in anachronistischer Rückprojektion eine kaiserliche Kontinuität der Hofsprachen von den Karolingern bis zu den Hohenzollern postuliert werden kann (von Polenz 2000, 91). Die ‘Inkonstanten’ (Sonderegger 1979) in der Frühzeit sind besonders deutlich, und an ihrem Ende vor der Mitte des 11. Jhs. gibt es, wie die erhaltenen Handschriften zeigen, noch einmal einen Überlieferungsbruch zwischen dem Deutschen der Frühzeit und dem des Hochmittelalters, den ⫺ von den Glossen abgesehen ⫺ nur Notkers Psalter überwindet (vgl. Sonderegger 1979, 320⫺ 322).

3.

Hochmittelalter

Das Wiedereinsetzen der dt. Literatur und ihrer schriftlichen Überlieferung beginnt in der 2. Hälfte des 11. Jhs., doch ist der Bestand an erhaltenen Handschriften mit zusammenhängenden, im 11. und 12. Jh. aufgezeichneten dt. Texten nicht groß. Rund 240 Handschriften hat Hellgardt (1988) ermittelt. Für das 13. Jh. ist nach dem Aufkommen der weltlichen dt. Literatur und weiterer vom Lat. unabhängiger Gattungen eine erhebliche Zunahme zu verzeichnen; auf über 800 läßt sich die Zahl der dt. Handschriften schätzen (Bertelsmeier-Kierst 2000, 159; BertelsmeierKierst/Wolf 2000, 22 f.), von denen jedoch nur etwa 250 vollständig erhalten sind. In der zweiten Hälfte des 13. Jhs. wird das Deutsche

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

auch in rasch zunehmendem Umfang anstelle des Lat. im Bereich der pragmatischen Schriftlichkeit (Urkunden, Besitzverzeichnisse, Ordensregeln, Fachprosa usw.) benutzt. Im 11. und 12. Jh. bedeutet jedoch deutsch schreiben wie in den drei Jahrhunderten davor zunächst immer noch überwiegend dt. Glossen schreiben in Handschriften mit lat. Texten bzw. dt. Interpretamente in lat. Glossaren wie z. B. dem ‘Summarium Heinrici’ aus der 2. Hälfte des 11. Jhs., von dessen 45 erhaltenen Handschriften 21 vor 1200 geschrieben sind (Gärtner 1988, 18⫺27; Gärtner 2000, 111). An Vollhandschriften mit umfangreicheren dt. Texten aus der Zeit von 1050 bis 1170, die eine tragfähige Basis für sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchungen bieten könnten, gibt es insgesamt nur 14, davon 12 mit dem Hoheliedkommentar des Abtes Williram von Ebersberg († 1085) und zwei mit Notkers Psalter, von denen die ältere eine bair. Bearbeitung in der um 1100 geschriebenen Handschrift des sog. ‘Wiener Notker’ (Wien, cod. 2681) ist; die zweite, vom 2. Viertel des 12. Jhs., ist die einzige Handschrift mit dem vollständigen Text von Notkers Psalter (St. Gallen, cod. 21), in der ⫺ wie in einigen Williram-Handschriften aus der Zeit um 1200 ⫺ die lateinisch verbliebenen Teile interlinear deutsch glossiert sind. Es gibt allerdings vor 1170 schon drei Fragmente der ‘Kaiserchronik’, der umfangreichsten weltlichen Dichtung der frühmhd. Zeit; diese drei Fragmente repräsentieren die Reste der ersten rein dt. Handschriften, in denen lat. Elemente ganz fehlen. Sieht man einmal vom Glücksfall der dichten autornahen und dem Evangelienbuch Otfrids vergleichbaren Überlieferung von Willirams Hoheliedkommentar ab, so wird für die seit der 2. Hälfte des 12. Jhs. stark anwachsende dt. Literatur die zeitliche Differenz zwischen der Entstehung eines literarischen Werkes und den ersten erhaltenen Überlieferungsträgern zum Problem; wie im Falle der ‘Kaiserchronik’ sind es oft nur Fragmente, welche die ältesten Textzustände unvollständig dokumentieren, meist Reste aus kleinformatigen, schmucklosen Handschriften, die im 15. Jh. viel eher makuliert werden konnten als großformatige Kodizes, die ⫺ wie im Falle Willirams ⫺ durch ihren biblischen Inhalt zusammen mit der Symbiose von Latein und Deutsch vor der Zerstörung durch Makulierung im 15./16. Jh. bewahrt wurden. Für eine literarische Sprachgeschichte mit ihrer Abhängigkeit von den Überlieferungsfakten

(vgl. Bertelsmeier-Kierst 2000, 157 f.) ist die entstehungs- bzw. autorferne Überlieferung aber nur von zweitrangigem Interesse. Wohl können der regelmäßigere Vers und der reine Reim ab 1180 etwa als Garanten für die Erhaltung älterer Sprachzustände fungieren, das gilt aber auch nur in eingeschränktem Maße für die durch den Reim vor Veränderungen geschützten Versteile. Die Orientierung an den Überlieferungsfakten kann auch nicht die Überlieferungsgemeinschaften und vor allem die geistliche Literatur des Hochmittelalters außer Acht lassen, die in den Literaturgeschichten oft nur am Rande des Interesses liegen. Dieses gilt vor allem für die „höfische Literatur der Blütezeit“ (Johnson 1999), von der die weltliche Literatur eine fast ausschließliche Aufmerksamkeit erfährt. Die Literaturgeschichtsschreibung konstruiert sich angesichts des reicheren Quellenbefundes ihren Gegenstand eben nach dem Interesse, das sie bedienen will. Für den Quellenbefund ist im Vergleich zum 11. und 12. Jh. charakteristisch, daß im 13. Jh. die Textsortenvielfalt zunimmt und im Hinblick auf die absolute Zahl der erhaltenen Handschriften und Fragmente die Glossenüberlieferung geradezu marginalisiert wird, vor allem die reine Textglossierung, die Überlieferung der Glossare, d. h. der lat.-dt. Sachglossare, aber weitergeht. Ab 1280 steigt nach einem Vorspiel in den 1260er Jahren in Köln und Straßburg die dt. Urkundenüberlieferung sprunghaft an (von den rund 4500 erhaltenen dt. Originalurkunden stammen ca. 4000 aus der Zeit nach 1280); nach 1300 nimmt die Zahl der dt. Urkunden kontinuierlich zu und überwiegt im Südwesten und Süden bereits um 1320 die Zahl der lat. Urkunden. Eine gleichzeitige ebenso signifikante quantitative Zunahme ist im Bereich der literarischen dt. Hss. des 13. Jhs. (BertelsmeierKierst 2000, 159) zu verzeichnen; aus dem letzten Viertel des 13. Jhs. stammt über die Hälfte der rund 800 erhaltenen dt. Hss. Erst mit den Urkunden jedoch erfährt die vorher von der Literatursprache dominierte dt. Schriftlichkeit eine enorme Ausweitung. a) Frühmittelhochdeutsch (1050⫺1170) Aus der Zeit vom Wiedereinsetzen der dt. Textüberlieferung in der zweiten Hälfte des 11. Jhs. bis zum Beginn einer durch formale Neuerungen der Literatursprache geprägten Textüberlieferung um 1170 sind im folgenden Überlieferung und Textgeschichte von zwei Werken herausgegriffen, die aufgrund ihrer

195. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters

reichen Bezeugung für eine literarische Sprachgeschichte von besonderem Interesse sind. Williram von Ebersberg. Als geistlicher Autor eines theologischen Prosawerkes, dessen Entstehung und größte Wirkung in den Zeitraum und Umkreis der relativ klar abgrenzbaren frmhd. Literatur mit ihren rund 90 Texten fällt, ist Willirams dt. Hoheliedkommentar für die Literaturgeschichte nur von begrenztem Interesse (vgl. Wehrli 1980, 122⫺126; Haubrichs 1988, 276⫺279; Kartschoke 1990, 249⫺253), nicht dagegen für die Sprachgeschichte (vgl. Eggers 1986, 312⫺ 323). Williram stammte aus einem im Wormsgau begüterten Geschlecht, wurde vermutlich 1020 Mönch in Fulda, danach Scholasticus im Bamberger Kloster Michelsberg, bis er von Heinrich III. (1039⫺ 1056) zum Abt des Klosters Ebersberg (1048⫺ 1085) gemacht wurde. Er erfreute sich des persönlichen Umgangs mit dem Kaiser, der sein Gönner war, möglicherweise gehörte er eine Zeit lang zur Hofkapelle. Als egregius versificator war er bereits in seiner Bamberger Zeit bekannt, aber auch als Prosaautor trat er in Erscheinung. Ein Exemplar seines Hohelied-Kommentars widmete er (vermutlich 1069) dem jungen Heinrich IV. (1056⫺1106; geb. 1050). Die Orte seines Aufenthaltes und seine persönlichen Beziehungen zum Kaiserhof konnten ihm eine umfassende Kenntnis der sprachlichen Varietäten seiner Zeit verschaffen. Über seinen frühestens 1160 fertiggestellten Hoheliedkommentar äußert er sich im lat. Prolog; er erklärt die dreispaltige Einrichtung des lat.-volkssprachigen Doppelkommentars: in der Mittelspalte der Bibeltext, links davon der lat. Hexameterteil, rechts der dt. Prosateil mit der Übersetzung des Bibeltextes und anschließendem Kommentar in dt.-lat. Mischsprache, in der theologische Leitbegriffe und geläufige Schriftzitate in lat. Sprache syntaktisch geschickt und korrekt in den dt. Kontext eingefügt sind. Nach Wilhelm Scherer handelt es sich bei der Mischsprache des Kommentars um den Soziolekt der geistlichen Elite, den Williram „zu einer Literatursprache erhob“ (bei Gärtner 1999, 1163). Der dt. Bibeltext bleibt wegen seiner Dignität frei von lat. Elementen. Die Verwendung der teutonica als Kommentarsprache, mit der er neben den lat. Versen das Hohelied verständlicher machen will, war neu, auch Willirams Position in der Geschichte der dt. Bibelübersetzung ist einzigartig, insofern er der letzte namhafte theologisch gebildete Bibelübersetzer vor Luther war. Seine Kommentarsprache weicht so sehr ab von Notkers Verfahren, daß dieser kaum Vorbild gewesen sein kann. Neu in der ganzen Geschichte der Hoheliedexegese war auch sein Abweichen vom traditionellen Kommentarstil, indem die Sprecherrollen des Bibeltextes im Kommentarteil nicht aufgegeben werden, sondern auch der Kommentar konsequent als Dialog zwischen

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Braut und Bräutigam stilisiert wird, so daß der gesamte Text eine besondere poetische Dignität gewinnt, die durch den Kunstcharakter der Prosa noch erhöht wird (vgl. Eggers 1986, 315⫺319).

Vor dem Hintergrund der Überlieferungssituation der zwei Jahrhunderte nach 1050 bieten die insgesamt 14 Vollhandschriften und 5 Fragmente, die sich fast gleichmäßig über das gesamte dt. Sprachgebiet verteilen, eine einzigartige Chance, die durch keine metrischen Rücksichten eingeschränkte Variabilität des Deutschen auf allen sprachlichen Ebenen vor der Etablierung der „höfischen Dichtersprache“ zu untersuchen. In den beiden vermutlich zu Lebzeiten Willirams und möglicherweise unter seiner Kontrolle entstandenen Handschriften Eb (München, Cgm 10, aus Ebersberg) und Br (Breslau, cod. R 347) ist die autornahe Sprache vorzüglich bewahrt: das sorgfältig geregelte Akzentsystem mit seiner systematischen Unterscheidung von Längen und Kürzen unter Berücksichtigung der Wortbetonung, eine ebenso sorgfältige, aber in Grenzen variable graphematische und morphologische Regulierung und eine bewegliche, differenzierte Syntax mit klar geordneten hypotaktischen Strukturen, die sich von der frmhd. Bibeldichtung mit ihren überwiegend parataktischen Reihungen und einfachen Vorder-Nachsatzgefügen deutlich unterscheidet. Der Wortschatz ist von künstlichen Lehnübersetzungen und gesuchten Neubildungen frei, dabei ist natürlich zu berücksichtigen, daß Williram die theologischen Zentralbegriffe unübersetzt läßt. In der Wortbildung deuten sich bei Williram Erscheinungen an, die immer beliebter werden in der Folgezeit, so z. B. die im Ahd. noch wenig zahlreichen Ableitungen auf -lıˆch/-lıˆcho, die Diminutiva auf -lıˆn, bildkräftige Komposita wie waltholz für ligna silvarum, veltbluome für flos campi, halsziereda für monile, rebsnit für putatio usw. (weitere Beispiele bei Eggers 1986, 320⫺323). Die reiche Überlieferung bietet ein umfangreiches Material für die Untersuchung der Schreibsprachvarietäten des 12. Jhs. (vgl. die Variantenstatistiken bei Bartelmez 1967, XXVII). Charakteristisch für die in der Handschriftenüberlieferung zu beobachtende Schreibsprachenentwicklung ist der kontinuierliche Abbau der Varianz durch die Aufgabe der Akzentschreibung. Die variantenreiche autornahe Überlieferung mit ihrer hochdifferenzierten, aber unökonomischen Wiedergabe sprechsprachlicher Realitäten ist um

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

1200 einer variantenarmen, aber dafür um so ökonomischeren Praxis gewichen, die für den größten Teil des 13. Jhs. die Schreibsprachgeschichte des Deutschen bestimmt. Kaiserchronik.Von anderer Art ist die ebenfalls reiche Überlieferung der anonymen ‘Kaiserchronik’, einer Geschichte der römischen und dt. Kaiser von Caesar bis Konrad III. (1137⫺1152), die gegen Ende der frmhd. Periode entstand und von allen im 12. Jh. entstandenen volkssprachlichen Werken am breitesten überliefert ist (vgl. Nellmann 1983). Es gibt wohl keine sicheren Anhaltspunkte für Entstehungsort und Auftraggeber des Werkes, Lokalanspielungen machen Regensburg aber als das Zentrum für deutschsprachige Literatur des 12. Jhs. als Entstehungsort wahrscheinlich. Die alten Fragmente aus dem 12. Jh. sind im bair.-österr. Raum zu lokalisieren (Klein 1988, 114⫺120, 128⫺130), ebenso die Vorauer Sammelhandschrift Cod. 276 aus dem letzten Viertel des 12. Jhs. (vgl. VL 10, 1999, 516⫺521), die den autornahen Text der sogen. Rezension A (3 Handschriften, 13 Fragmente) vollständig bewahrt hat und die Grundlage für die maßgebende kritische Ausgabe durch Edward Schröder von 1895 bildet. Schon die Überlieferung des alten Textes findet in einer Weise statt, die charakteristisch ist für die Verbreitung der chronikalischen Literatur, zu der auch der Stoff der historischen Bücher der Bibel gehört: Wie die ‘Ags. Genesis’ bereits eine Kompilation aus as. und ags. Teilen ist, so auch der alte Text der ‘Kaiserchronik’, für den im Anfang u. a. die Geschichte Caesars aus dem ‘Annolied’ übernommen wird neben weiteren Texten, die nur noch als Grundstock der Kompilation, d. h. der Rezension A, weiterleben. Die Rezension A wird später mit anderen Geschichtswerken wie der ‘Sächsischen Weltchronik’ kompiliert, aber auch sonst noch angereichert im Laufe ihrer Geschichte. Als selbständiger Text hatte die autornahe Erstfassung, der in der Regel das ausschließliche Interesse der Sprach- und Literaturgeschichte gilt, eine wohl beachtliche, aber dennoch geographisch und zeitlich begrenzte Wirkung. Im Hinblick auf ihre literatursprachlichen Merkmale gehört die Rezension A noch ganz in die Tradition des ‘frmhd. Sprachstils’ (de Boor 1926), für den typisierende Epitheta und Zwillingsformeln, das Überwiegen der asyndetischen Parataxe und kaum gestufte Satzgefüge sowie der Zusammenfall von metrischen und syntaktischen Einheiten, wenn auch mit gewissen Tenden-

zen zur Brechung, charakteristisch sind (vgl. Eilers 1972, 150⫺152). In den Ansätzen zu umfangreicheren hypotaktischen Gefügen der frmhd. Bibeldichtung hat man die „Geburt des deutschen Nebensatzes“ (Tschirch 1989, 179 ff.) erkennen wollen; doch Asyndese und Satzverbindung sind literatursprachliche Merkmale der frmhd. Epik, ein voll ausgebildetes Repertoire von Nebensätzen findet sich schon bei Williram und vorher im Ahd. und Asächs.; allein der wenig umfangreiche rechtssprachliche Text der Straßburger Eide besteht nur aus komplexen Satzgefügen (Gärtner/Holtus 1995, 106⫺122). Zu Beginn des 13. Jhs. entstand in Bayern die Rezension B (von den drei vollständigen Handschriften eine noch aus der 1. Hälfte des 13. Jhs.; 8 Fragmente), die dem durch die neue höfische Epik bedingten Formwandel Rechnung trägt, indem die unreinen Reime beseitigt werden, der Text metrisch und stilistisch geglättet und außerdem um rund 1600 Verse gekürzt wird. Nach 1250 entstand, unabhängig von Rezension B, in Bayern eine weitere Bearbeitung, die Rezension C (5 Handschriften, 4 Fragmente). Der Bearbeiter, geschult am Stil Rudolfs von Ems, beseitigt die unreinen Reime und glättet die frei gefüllten Verse des alten Textes noch perfekter als der Bearbeiter B. Er verfaßt einen neuen Prolog, ergänzt mehrere Abschnitte und führt die Darstellung bis zum Jahre 1250 fort. Ähnlich wie die ‘Kaiserchronik’ wurde im 13. Jh. die gesamte frühhöfische Epik aus der 2. Hälfte des 12. Jhs. „neu bearbeitet oder neu gedichtet“ (Bumke 1996, 47). Die Bearbeitungsgeschichte der ‘Kaiserchronik’ geht jedoch noch weiter. Nach 1275 wird der alte Text in Prosa aufgelöst und als ‘Prosakaiserchronik’ oder ‘Buch der Könige niuwer eˆ’ mit dem Schwabenspiegel zusammen in einer Kombination von Geschichtsbuch und Rechtsbuch überliefert. Im 14. Jh. schließlich geht die Kaiserchronik, vor allem in der Rezension C, in die großen Weltchronikkompilationen ein, in denen sie zusammen mit der ‘Sächsischen Weltchronik’ den Grundstock für die Darstellung der Geschichte der römischen und dt. Kaiser bildet. Im 13. Jh. präsentierte sich die Bearbeitung C jedoch schon wie eine Ergänzung zur ‘Weltchronik’ Rudolfs von Ems. Auch von lat. Chronisten wurde die ‘Kaiserchronik’ benutzt: Bereits in einer Handschrift vom Ende des 12. Jhs. erscheint eine fast wörtliche Übersetzung der Verse 42⫺234 über die römischen Wochentagsnamen und

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Götter; eine stark kürzende Prosaübersetzung ist in einer Millstätter Handschrift von 1427 überliefert (vgl. Nellmann 1983, 961 f.; Vizkelety 1994, 341⫺345). Die Überlieferung der ‘Kaiserchronik’ mit ihren noch unedierten Bearbeitungen (zusammenfassend Gärtner 1995) bietet ein sprach- wie literaturgeschichtlich aufschlußreiches Beispiel für die Anpassung eines vielbegehrten Textes (Vollmann-Profe 1986, 46) an immer neue Gebrauchssituationen und Benutzerbedürfnisse. b) Höfische Klassik und mhd. Literatursprachen Reim und Vers waren der Hauptanlaß für die Textveränderungen in den Bearbeitungen der ‘Kaiserchronik’. Die in der zweiten Hälfte des 12. Jhs. aufkommenden Bemühungen um reinere Reime und um eine ausgewogenere Versfüllung werden durch Heinrich von Veldeke aufgenommen und zu maßgebenden sprachlichen und formalen Innovationen ausgestaltet, die für die dt. Sprach- und Literaturgeschichte zum zentralen Bezugspunkt werden. Die ‘höfische Dichtersprache’ mit ihrem Ausdrucksreichtum und ihrem Prestige wird von Veldeke nach dem Vorbild der frz. Literatursprache und den bereits bestehenden mhd. Literatursprachen initiiert, doch gerade die charakteristische formale Neuerung, der reine Reim, ist im Hinblick auf die in den verschiedenen dt. Sprachlandschaften bereits bestehenden Differenzen aufgrund der hd. Lautverschiebung und der im 12. Jh. einsetzenden Lautwandelvorgänge (Diphthongierung im Südosten, Monophthongierung und Dehnung im Mitteldeutschen und Nordwesten) eine Herausforderung, die große Umsicht und Vertrautheit mit den sprechsprachlichen Realitäten und literatursprachlichen Kenntnissen seines Publikums erforderte. Veldeke hatte dabei doppelte Rücksicht zu nehmen (Klein 1989, 101): einerseits auf das Nl. bzw. Mfrk. der Auftraggeber in seiner Heimat und die dort vertraute mfrk. Literatursprache und andererseits auf das Hochdeutsche bzw. Mitteldeutsche des durch Verwandtschaften und Besitzungen bedingten, weit nach Süden und Osten reichenden Kreises um die heimatlichen und später thüringischen Auftraggeber und die sonst bekannten Varietäten der rhfrk.-hess. und thür.-hess. Literatursprache. Konsequenz dieser doppelseitigen Rücksichtnahme, die den dialektneutralen Reim ermöglichte, war „die drastische Beschränkung der Reimmöglichkeiten“ (Klein/ Minis 1985, 87), die zum Rückgriff auf we-

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nige Reimtypen und Reimwörter zwingen und zum vermehrten Formelgebrauch, zu Füll- und Flickversen aus Reimzwang, der sich auch sprachstatistisch auswirkt. Veldeke vermied mit seiner Kunst des neutralen Reims die Regionalismen seiner maasländischen Heimat ebenso wie die der mfrk. Rheinlande; er vermied einerseits die im Mfrk. wie im Nl. geläufigen Reime von pronominalem dat/wat mit bat ‘besser’/sat ‘saß’, zıˆt mit wıˆt ‘weiß’ ebenso wie die im Hd. bei Hartmann von Aue und andern obd. Dichtern hochfrequenten Reime von tac mit lac/ mac und sprach mit sach; dagegen reimt er häufig (ge)sach mit (ge)lach (= lac)/dach (= tac)/mach (= mac) und orientierte sich dabei an einer über das engere Mfrk. hinausreichenden Literatursprache (Klein/Minis 1985, 65 f.). Veldeke wollte mit seiner neutralen Reimtechnik in einem großen, durch die hd. Lautverschiebung wie durch die Dehnung und Monophthongierung reich differenzierten Sprachgebiet von Mfrk. bis zum Rhfrk.Hess. seinem Publikum rehte rıˆme (Rudolf von Ems, Alexander, V. 3114) bieten, d. h. alle Dialektizismen vermeiden, für die man an den md. Höfen beim mündlichen Epenvortrag, der Hauptform der Rezeption im 12. und 13. Jh., vermutlich ein besonders feines Ohr hatte. Die Dialektunterschiede werden durch die Technik des reinen Reimes nur überbrückt, sie bleiben aber durchaus erhalten, die Technik des neutralen Reims bestätigt gerade ihre Existenz. Nur in seinen Epen verwendet Veldeke diese Technik, im nur maasländisch überlieferten ‘Servatius’ und in der nur hd. überlieferten ‘Eneit’. In seinen Liedern dagegen, die ebenfalls nur hd. überliefert sind, nimmt Veldeke keine Rücksicht auf eine überregionale Verträglichkeit seiner Reime; hier werden charakteristische mfrk. Regionalismen, wie aus den Reimen ablesbar ist, nicht vermieden: z. B. stat : gehat (= gehaz); plach : dach (= tac) : sach : mach (= mac); schelden (= schelten) : melden. Gerade auch in der Morphologie (z. B. -en 1. Sg. Ind. Präs.; is (= ist) : gewis) und im Wortschatz (blıˆde : strıˆde) ist die Sprache der Lieder regional geprägt und spiegelt ebenso wie die Überlieferung des ‘Servatius’ und der ‘Eneit’ im Grunde eine Diglossie-Situation im Bereich von zwei literatursprachlichen Varietäten mit unterschiedlicher Nähe zu lokalen und zu überregionalen sprechsprachlichen Varietäten der mobilen Oberschichten. Veldekes beschränkte Kenntnis des Hd., besonders des Obd., verhinderte, daß er sein

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Ziel, die Etablierung der Technik des neutralen Reims, ganz erreichte. Erst bei Hartmann ist nicht nur das erforderliche reimtechnische Können, sondern auch die umfassende Kenntnis der hd. Sprachvarietäten vorhanden, die zur Verbannung schwankender und vor allem variantenreicher hochfrequenter Formen wie alem. kam, kaˆmen / bair. kom, koˆmen und den unterschiedlichen Präteritumsformen von haben aus der Reimzone führte. Im Versinnern dagegen, z. T. aber auch im Reim zeigt gerade die beste und älteste Überlieferung des ‘Iwein’, des reimund verstechnisch perfektesten Werkes der höfischen Klassik, in der alten, im md.-nd. Grenzgebiet geschriebenen Hs. A (Cpg 397, vom Beginn des 2. Viertels 13. Jh.) teils vereinzelt nur, teils aber auch durchgängig, regionale Formen wie (ge)sien, gescien, siele, helpe, segen, grot, dat, allet, sal, wal, van, her, die, unse, dah usw. für die normalisierten Entsprechungen von (ge)sehen, geschehen, seˆle, helfe, sagen, groˆz, daz, allez, sol, wol, von, er, der, unser, tac, die von der obd. Hs. B (Gießen, Cod. 97, 2. Viertel 13. Jh.) bezeugt werden; diese selbst aber gehört mit ihrer Neigung zur Apokope und Synkope zum Bair., ebenso mit ihren Formen wie chom, chomen, gen, sten anstelle von Hartmanns durch den Reim gesicherte, im Alem. wie Md. geltenden konservativen Formen kam/quam, kaˆmen, gaˆn, staˆn. Auch für Hartmann ist daher die Diglossiesituation anzunehmen, die für das Alem. mit seinen konservativen Merkmalen im Bereich der Laute und Formen bis heute charakteristisch ist. Der Gebrauch von Adjektivabstrakta wie güete, lenge, schœne im Reim statt alem. güeti, lengi, schœni zeigt, daß Hartmann ohne Rücksicht auf die alem. Varietät dichtete und die Technik des neutralen Reims bei ihm nicht die gleiche Rolle spielte wie bei Veldeke. Das Streben nach dem neutralen Reim hat daher vermutlich Tendenzen zur Ausbildung einer orthographischen Norm gefördert, die noch dadurch unterstützt wurden, daß die Schreibung in abgesetzten Versen, die um 1220 aufkommt zusammen mit repräsentativen Formaten (Folio und Quart statt Oktav) und gegen Ende des 13. Jhs. allgemein üblich geworden ist (Schneider 1987, 91), gerade den Reim deutlich sichtbar exponierte und ihn immun machte gegen Veränderungen im Kopierprozeß. „Binnenworte und Reimworte sind als zwei verschiedene Klassen zu sehen; letztere stehen sprachgeschichtlich gesehen unter dem Einfluß einer überlandschaftlichen

Ausgleichstendenz, die geradezu darauf zielt, alles spezifisch Mundartliche auszumerzen“ (Besch 1965, 110). Noch im 14. und 15. Jh. behandeln die Schreiber gerade die Reimwörter konservativ, während sie im Versinnern gegen die Vorlage längst ihre regionalen Varianten setzen. Die durch den „reinen“, d. h. neutralen Reim der Dichter und die konservative Behandlung der Reimwörter durch die Schreiber aufgekommenen orthographischen Normierungstendenzen bilden vermutlich die wesentlichen Voraussetzungen dafür, daß in einer noch begrenzten Anzahl von Skriptorien im Süden von einer begrenzten Zahl von Schreibern, die an die lat. Normalorthographie gewöhnt waren, im Laufe des 13. Jhs. auf ostalem.-bair. Basis ein übermundartliches Schriftoberdeutsch geschaffen wurde, das wegen seiner Einheitlichkeit die Lokalisierung von Hss. aus dieser Zeit außerordentlich erschwert. Es handelt sich um eine relativ variantenarme, grammatisch geregelte Schreibsprache mit einem dem Lat. vergleichbaren Normanspruch. Die paläographischen Untersuchungen der dt. Handschriften des 13. Jhs. durch Karin Schneider (1987) bestätigen dies und haben neue Einsichten in die Überlieferungswirklichkeit ergeben, die gerade für eine literarische Sprachgeschichte aufschlußreich sind. Verglichen mit der Überlieferung etwa Willirams treten einerseits Entstehungszeit und Entstehungsort eines Werkes und andererseits das Einsetzen der ersten erhaltenen Überlieferung in einer der literatursprachlichen Varietäten immer weiter auseinander, wie das Beispiel des ‘Iwein’ zeigt. Es zwingen aber auch in manchen Fällen die nun verläßlichere, mit paläographischen und schreibsprachgeschichtlichen Argumenten gestützte Datierung und Lokalisierung der ältesten Fragmente eines Werkes zu Umdatierungen, die die bisherige Chronologie der Literaturgeschichte über den Haufen wirft (z. B. der Stricker, Heinrich von Hesler). Die in der 1. Hälfte des 13. Jhs. geschriebenen Handschriften, von denen in den meisten Fällen nur noch Fragmente erhalten sind, lassen jedoch eine hauptsächlich anhand von graphematischen und morphologischen Merkmalen seit den Anfängen der Germanistik immer wieder diskutierte Vorstellung von einer ‘mittelhochdeutschen Schriftsprache’, die vielfach mit der Sprache der höfischen Klassik bzw. ‘höfischen Dichtersprache’ gleichgesetzt wurde (Zusammenfassung der Forschung bei Bach 1965, 206⫺220; Grubmüller 1985, 1768 f.;

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Paul u. a. 1998, § 9), plausibel erscheinen. Ein im Orthographischen relativ einheitliches Zentraloberdeutsch weist z. B. die St. Galler Handschrift 857 (2. Viertel 13. Jh.) auf, die textkritisch bedeutendste Epenhandschrift des 13. Jhs., welche neben der Gießener Iwein-Hs. B für Karl Lachmann und Jacob Grimm die Basis für die Entwicklung des normalisierten Zeichensystems für das Einheitsmittelhochdeutsche war. In diese „Kunstsprache“ (Bach 1968, 214) wurden in den kritischen Klassikerausgaben die Texte umgesetzt, obwohl sie ⫺ auf die „besten“ Handschriften zurückgehend ⫺ dennoch „die Überlieferungsgrundlage unkenntlich macht“ (Fromm 1971, 202). Die St. Galler Handschrift wurde in einem Schreibzentrum geschrieben, in dem mindestens sieben Schreiber tätig waren (Bumke 1996, 147⫺162), von denen jedoch jeder trotz der Ausrichtung an einer bestimmten paläographisch und schreibsprachlich faßbaren Norm eine Reihe von individuellen Merkmalen aufweist, die eine alem. oder bair. Varietät durchscheinen lassen. Dieses bedeutende Skriptorium, in dem auch eine weitere ‘Parzival’-Hs. (Palmer 1992) und eine Nibelungenlied-Hs. (Schneider 1987, 136) hergestellt wurden, wird in Südtirol vermutet (ebda., 141 f.); dort wurde um 1230 auch die Carmina Burana-Handschrift (Clm 4660) geschrieben (ebda., 133). Einem anderen, ebenfalls im bair.-alem. Grenzraum lokalisierten Skriptorium lassen sich insgesamt neun Schreiber zuweisen, die ebenfalls im 2. Viertel des 13. Jhs. an der Herstellung von insgesamt vier Handschriften beteiligt waren, darunter die Parzival-Hs. G (Cgm 19), die Tristan-Hs. M (Cgm 51) und zwei nur fragmentarisch erhaltene Hss. des ‘Parzival’ und des ‘Willehalm von Orlens’ Rudolfs von Ems. Die urkundennahe Gebrauchsschrift weist darauf hin, daß die literarischen Handschriften als „Nebenproduktion einer Kanzlei“ (Schneider 1987, 154) entstanden, deren Schreiber trotz individueller, mehr oder weniger deutlich ausgeprägter teils alem., teils bair. Merkmale auf eine bereits seit längerem etablierte zentralobd. Schreibsprache (vgl. Klein 1988, 162) festgelegt waren; vieles spricht dafür, daß es sich dabei um die Königskanzlei Konrads IV. handelte (Bumke 1987, 56 f.), aus der auch die älteste dt. Königsurkunde stammt (Corpus der altdeutschen Originalurkunden, ed. F. Wilhelm, Nr. 7 v. J. 1240). In dieser Urkunde erscheint einer der führenden Köpfe und bedeutendsten Mäzene des spätstaufischen Literatur-

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kreises, der Schenk Konrad von Winterstetten († 1240), als Zeuge. Die Schreibsprache dieser Urkunde weist die gleichen archaischen Merkmale (Akzentschreibung, Superskripte) auf wie die der literarischen Handschriften. Sieht man von der relativen Einheitlichkeit in Graphematik und Morphologie des in den Hss. bezeugten Zentralobd. ab, so wurde die sogen. ‘höfische Dichtersprache’ im Hinblick auf ihren Wortschatz dadurch charakterisiert, daß um 1200 die in der archaisierenden Literatursprache des Nibelungenlieds hochfrequenten Kriegerbezeichnungen wie wıˆgant, recke, degen, helt und Epitheta wie mœre, balt, gemeit von Dichtern wie Hartmann z. T. ganz oder zunehmend gemieden wurden, vor allem in den nach frz. Vorlagen geschaffenen Werken. Diese weisen nun ihrerseits aber in der Lexik zahlreiche Entlehnungen aus dem Frz. auf und einige dem Obd. ursprünglich fremde Epitheta wie klaˆr, wert, kluoc, gehiure sowie typisch nordwestliche Formen wie waˆpen, dörper, ors, baneken, Diminutiva auf -kıˆn für obd. -lıˆn oder -el (vgl. zusammenfassend Kluge 1925, 274⫺287). Bei den Lehnwörtern aus dem Frz. „handelt es sich keineswegs nur um literarische Einflüsse von Pergament zu Pergament, von Buch zu Buch, sondern teilweise sicher um persönlichen Verkehr“ (ebda., 282). Für Hartmanns ‘Erec’, den ersten dt. Artusroman, läßt sich durch den Vergleich mit der direkten Quelle, Chre´tiens ‘Erec et Enide’, nachweisen, daß von den zahlreichen Erstbelegen unter den rund 80 frz. Lehnwörtern kaum einer direkt aus dem frz. Text entlehnt ist und daß für den größten Teil die frz. Äquivalente in der Quelle überhaupt fehlen. Hartmanns Lehnwörter sind wohl durch die Kontakte der Oberschichten über die Sprachgrenze hinweg vermittelt worden, sie müssen aber mit ihrer fremden Betonung und den bei Veldeke zuerst mehrfach belegten neuen Ableitungssuffixen -ıˆe und -ieren den dt. Dichtern wie ihrem Publikum bereits vorher bekannt gewesen und in der laikalen oberschichtlichen Sprechkultur als Prestigeformen gebraucht worden sein. Aus Chre´tiens Roman stammen sie jedenfalls nicht (Gärtner 1991, 86 f.). Die Orientierung an der Sprechsprache der mobilen feudalen Oberschicht scheint bei Hartmann vermutlich auch maßgebend dafür, daß die literatursprachlichen Archaismen aus der Heldenepik vermieden werden, die Prosawortfolge angestrebt wird, die Fesseln des neutralen Reimes durch die Verwendung

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von Pronomina und Adverbien erleichtert werden und durch Reimbrechung und Enjambement die metrische Struktur der sprechsprachlichen Syntax untergeordnet wird. Man vergleiche damit die Literatursprache des Nibelungenlieds, für die nicht so sehr die wenigen, wenn auch signifikanten sogenannten ‘veralteten’ oder ‘unhöfischen’ Wörter charakteristisch sind, sondern sein literatursprachlicher Formelschatz, seine archaische, an die Strophenmetrik gebundene Syntax und die Exponierung der semantisch gewichtigsten Wörter in den stumpf reimenden Abverskadenzen. Die traditionelle Sprache der Heldenepik und die Sprache der Artusromane stellen im Hinblick auf Lexik und syntaktische Stilistik verschiedene Varietäten der Literatursprache um 1200 dar, eine weitere Varietät bildet die Sprache des Minnesangs, deren Lexik nur wenige, längst assimilierte Lehnwörter wie prıˆs, tanz, schapel, prüeven aufweist, die bereits eigene Wortfamilien ausgebildet haben. Das Prestige des Dt. und der obd. geprägten Literatursprache im 13. Jh. dürfte durch die Werke der höfischen Klassik mit ihrer bedeutenden Literatur groß gewesen sein. Das zeigt sich an der Wirkung nach Süden über die Sprachgrenze hinweg und nach Norden innerhalb des dt. Sprachgebiets. 1215/16 dichtet der romanischsprachige Friauler Thomasin von Zerklære am Hofe des Patriarchen von Aquileia für die dt. Oberschicht seiner Region eine Summe der ethischen Normen, den ‘Welschen Gast’. Die Vorbildwirkung erstreckt sich auch auf das Nd. (vgl. Beckers 1982) bei Dichtern wie Berthold von Holle (Mitte 13. Jh.), in dessen letztem Werk, dem ‘Crane’, die rein nd. Reime besonders zurückgedrängt erscheinen, vermutlich um die Dichtung auch einem hd. Publikum annehmbar zu machen, ohne sie jedoch dem nd. zu entfremden. Berthold kannte wie Thomasin die Werke der höfischen Klassik, Wolfram nennt er ausdrücklich (‘Demantin’ V. 4834, 11670). Wolfram von Eschenbach: ‘Parzival’. Im Hinblick auf die Überlieferungsfakten ist Wolfram von Eschenbach der wirkungsmächtigste Dichter der höfischen Klassik gewesen und mehr als alle seine Zeitgenossen „schul- und traditionsbildend“ (Burger 1980, 707) geworden. Von keinen anderen Werken aus den drei Jahrzehnten um 1200 sind soviele Handschriften erhalten wie von seinen beiden großen Romanen. Wolframs Herkunft aus Eschenbach bei Ansbach im Fränkischen

und die außerliterarischen Anspielungen im ‘Parzival’ machen es wahrscheinlich, daß er „seine ersten Gönner im engeren Kreis seiner Heimat fand und erst später an einen der großen Höfe gelangte“ (Bumke 1999, 1378), d. h. wohl an den Hof des Landgrafen Hermann von Thüringen (1190⫺1217), der in allen drei epischen Werken genannt wird und der für den ‘Willehalm’ die frz. Quelle vermittelte und wahrscheinlich auch der Auftraggeber war. Obwohl der Herkunftsort im Fränkischen liegt und der Hof des bedeutendsten Gönners im Thüringischen, bezeichnet sich Wolfram selbst als Bayer (wir Beier Pz. 121, 7). Andere präzise geographische Anspielungen zeigen, daß er über den Wirkungskreis im Fränkisch-Bairischen und in Thüringen hinaus auch die Steiermark aus eigener Anschauung kannte. Er dürfte also nach seinen Selbstaussagen weit herumgekommen sein und eine profunde Kenntnis der md. wie der bair. sprechsprachlichen Varietäten gehabt haben. Aus den literarischen Anspielungen geht hervor, daß Wolfram mit der Literatur seiner Zeit und den wichtigsten literatursprachlichen Varietäten bestens vertraut war: Er kannte Eilharts ‘Tristant’ (6 Anspielungen), Hartmanns ‘Erec’ (13) und ‘Iwein’ (3), Veldeke (10) nennt er seinen meister (Wh. 76, 25) und beklagt dessen frühen Tod (Pz. 404, 28), mit der Heldenepik ist er vertraut, insbesondere aber mit dem Nibelungenlied (4), mit Walther von der Vogelweide (2) verband ihn der Aufenthalt am Thüringer Hof, auch Neidhart (1) erwähnt er (vgl. Schirok 1982, 26 und Bumke 1999, 1379). Der Einfluß der ofrk. Sprechsprache wird greifbar in Reimen wie suon : tuon, stuont : funt, hurte : fuorte/ruorte, gewuohs : fuhs, fuoz : guz, künde : stüende, dir : stier, liep : sip ‘Sieb’. Die Syntax der gesprochenen Sprache zeigt sich vor allem in den zahlreichen Konstruktionen Apokoinu, in den herausgestellten Nominativen (Linksversetzung) und in den Kongruenzerscheinungen (constructio ad sensum). Auf der Ebene des Wortschatzes weist die Winzerlexik nach Ostfranken (Kleiber 1989, 51⫺ 66). In der Lexik läßt sich die Eigenart von Wolframs Literatursprache besonders gut fassen, rund 400 frz. Lehnwörter benutzt er im ‘Parzival’, von denen er viele als erster gebraucht und auch in Umlauf gesetzt hat (Öhmann 1974, 347). Die aus dem Nordwesten stammenden Epitheta gehiure, klaˆr, kluoc, wert werden durch ihn populär, auch den von Hartmann und Gottfrid verpönten Wortschatz der Heldendichtung benutzt er ohne Anstoß; wie kein anderer nutzt er die Möglichkeiten der Wortbildung und bildet neue Komposita wie valschheitswant, mangen-stein / -swenkel / -wurf, straˆlsnitec;

195. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters aus rom. Elementen nach dt. Wortbildungsregeln wie sarapandra-test ‘Drachen-kopf’, schahtela-kunt ‘Burg-graf’ und Ableitungen wie sloz-lıˆch, wolkenlıˆch, duzen-lıˆche. Wolframs Stileigentümlichkeiten sind unverwechselbar; er wurde von den Zeitgenossen wie Gottfrid von Straßburg als wilderœre der höfischen Sprache abgelehnt, von andern wie Wirnt von Grafenberg dagegen gefeiert mit dem Vers laien munt nie baz gesprach (‘Wigalois’, V. 6346), der „sprichwörtlich geworden“ ist (Bumke 1991, 28). Kein anderer Dichter hat so stark auf die dt. Literatur und Literatursprache bis zum Ausgang des Mittelalters gewirkt wie Wolfram (vgl. die Zusammenstellung bei Schirok 1982, 65⫺133).

Die Überlieferung des ‘Parzival’ mit insgesamt 85 Handschriften und einer in 37 Exemplaren erhaltenen Inkunabel und des ‘Willehalm’ mit insgesamt 72 Handschriften übersteigt die aller anderen Werke der höfischen Klassik wie des ‘Iwein’ mit 35 Hss. und des ‘Tristan’ mit 25 Hss. bei weitem. Erst die großen Weltchroniken aus der Mitte des 13. Jhs. und der als Wolframs Werk geltende, nach 1260 verfaßte ‘Jüngere Titurel’ erreichen wieder vergleichbare Überlieferungszahlen. Von den über 800 erhaltenen dt. Handschriften und Fragmenten des 13. Jhs. entfallen rund 10 % auf die beiden großen Epen Wolframs. Der Überlieferungsschwerpunkt des ‘Parzival’ liegt mit rund 50 Hss. im 13. Jh. (Bertelsmeier-Kierst/Wolf 2000, 26 f.). Als einziges Werk der höfischen Epik erreichte er eine ‘gesamtdeutsche’, d. h. bis ins Nd. sich erstrekkende Verbreitung; die Masse der erhaltenen Hss., insbesondere der frühen, ist jedoch im Bair. zu lokalisieren. Die reiche Überlieferung des ‘Parzival’ bietet eine einzigartige Grundlage für die Untersuchung der Textgeschichte und der sich in ihr spiegelnden schreibsprachlichen Varianz im 13. Jh. Aus der 1. Hälfte des 13. Jhs. stammen 9 Hss. (Bertelsmeier-Kierst/Wolf 2000, 26 f.), von denen nur zwei Fragmente bis an die Lebenszeit Wolframs heranreichen: Erlangen, Ms. B 1, und München, Cgm 5249/ 3c, beide aus zweispaltigen Hss. mit nichtabgesetzten Versen, einem Handschriftentyp also, der seit dem 2. Viertel des 13. Jhs. für Abschriften weltlicher Epik kaum noch verwendet wird. Die für die ‘Parzival’-Überlieferung charakteristische Differenzierung in die beiden Klassen *D und *G wird bereits durch die beiden ältesten Fragmente bestätigt, denn das Erlanger Fragment bezeugt die Fassung *D, das Münchener die Fassung *G, die beide also noch zu Lebzeiten Wolframs entstanden sein dürften. Für eine literarische Sprachgeschichte des 13. Jhs. wäre auf der

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Basis der gesamtdt. Parzivalüberlieferung eine genaue Beschreibung der Überlieferungsvarianz nicht nur im Bereich der Graphie und Morphologie, sondern auch der Lexik und des Reimgebrauchs aufschlußreich. In einem ersten Schritt sollte die Überlieferung der wenigen bis um die Mitte des 13. Jhs. datierten Hss. untersucht werden, einschließlilch der beiden vollständigen Zeugen D und G; diese selbst sollten getrennt nach schreiberspezifischen Teilcorpora analysiert werden, um die Nähe oder Ferne der einzelnen Schreiber zur zentralobd. Idealform, die in ihren Skriptorien angestrebt wurde, festzustellen (vgl. Klein 1992, 39⫺50; Palmer 1991, 219 f.) und diese mit dem Profil der Schreibsprache der wenigen um 1200 geschriebenen Hss. zu vergleichen unter Einschluß der Überlieferung der geistlichen Literatur. Für die Überlieferung aus der 2. Hälfte und besonders dem letzten Viertel des 13. Jhs. wäre die Schreibsprache der Originalurkunden im Bereich der Laute und Formen zu vergleichen, um die Frage nach Zusammenhängen zwischen der relativ einheitlichen und regulierten Schreibsprache der literarischen Texte mit den Anfängen der Urkundensprache zu klären. Verglichen mit der ‘Kaiserchronik’ ist die Überlieferung der beiden ‘Parzival’-Fassungen *D und *G erstaunlich konsistent bis ins 15. Jh. Die Fassung *D, welche die Basis für Lachmanns kritische Ausgabe bildete, war nach Ausweis der erhaltenen Hss. sehr viel weniger verbreitet als die Fassung *G, in der der Text überwiegend rezipiert wurde und die daher für eine Geschichte der Literatursprache von besonderem Wert ist. Der ‘Parzival’ wird nicht bearbeitet und auch nicht in Prosa aufgelöst. Seine Wertschätzung noch im 15. Jh. wird durch den Druck von Johann Mentelin in Straßburg 1477 unterstrichen; gedruckt wird er in der für das Lat. üblich gewordenen Antiqua, der Druckschrift für die gelehrte und gebildete Welt, nicht in der für volkssprachige Bücher gewöhnlich verwendeten Fraktur.

4.

Spätmittelalter

Die höfische Epik, die die Literatursprachengeschichte im 13. Jh. dominierte, wird im 14. und 15. Jh. weiter überliefert. Die kontinuierliche Weiterüberlieferung bezeugt das von Maximilian I. in Auftrag gegebene und von seinem Kanzlisten Hans Ried 1516 beendete

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‘Ambraser Heldenbuch’ (Wien, Ser. nova 2663), das ausschließlich Werke des ausgehenden 12. und des 13. Jhs. umfaßt und ein einzigartiges Zeugnis für ihre ungebrochene Rezeption in der adeligen Oberschicht bis zum Ende des Mittelalters bildet. Wie in dieser Handschrift werden auch sonst in den Hss. des 15. Jhs. die Texte auf den für die Inhaltsseite zentralen Ebenen der Lexik und Syntax kaum verändert, nur auf den Ebenen der Graphie und der Morphologie erscheinen regionale Merkmale in zunehmend ausgeprägterer Form. Die großen höfischen Epen des 13. Jhs. bleiben also bis zum Anbruch der Reformation präsent und mit ihnen ihre Literatursprache. Nach 1300 entstehen allerdings kaum noch neue höfische Romane, es sind ⫺ verglichen mit den rund 50 im 13. Jh. entstandenen ⫺ nur noch drei (Cramer 1990, 27), von denen einzig der 1314 abgeschlossene ‘Wilhelm von Österreich’ Johanns von Würzburg noch eine reichere Überlieferung und Wirkung hatte. Neue umfangreiche epische Werke, die in unterschiedlicher Weise an die Literatursprache der höfischen Epik anknüpfen, entstehen im letzten Viertel des 13. Jhs. und um 1300 im Bereich der geistlichen Literatur, die nun neben der höfischen Epik und teilweise in enger Verbindung mit ihr (z. B. in den Weltchronikkompilationen) überliefert wird und die jetzt in der zunehmenden Masse des Geschriebenen noch während der Pergamenthandschriftenzeit die Überlieferungslage und literatursprachliche Entwicklung bestimmt. Im Unterschied zum 13. Jh. dominiert im ganzen Spätmittelalter schon rein quantitativ die geistliche Literatur, die rund 90 % der erhaltenen Überlieferung ausmacht (Cramer 1990, 7); die geistliche Unterweisungs- und Erbauungsliteratur allein umfaßt ca. Dreiviertel der gesamten Textproduktion (Ruh 1978, 505). Charakteristisch ist auch für die geistliche Epik bis in die 2. Hälfte des 14. Jhs. noch der Reimpaarvers, wie er in der höfischen Epik kultiviert und für die Bearbeitung weltlicher wie geistlicher Stoffe verwendet wurde. Auch ausschließlich geistliche Werke schaffende Autoren um 1200 wie Konrad von Fußesbrunnen und Konrad von Heimesfurt hatten bereits teil an der Ausbildung der höfischen Literatursprache und wurden in den Dichterverzeichnissen Rudolfs von Ems, die einen Abriß der Geschichte der höfischen Epik bis auf Rudolfs eigene Zeit bieten, entsprechend gewürdigt. Der Reimpaarvers und die mit ihm verbundenen syntaktisch-stilistischen For-

men und Strukturen wurden in der geistlichen Epik weiterentwickelt, jedoch in ihr auch zuerst aufgegeben, denn bereits um die Mitte des 14. Jhs. erfolgte in großem Umfang der Übergang zur Prosa, die gegen Ende des 14. Jhs. in der Erbauungsliteratur fast ausschließlich dominierte (vgl. Ruh 1978). Die Wahl der Prosaform hat verschiedene Gründe (Objartel 1980, 714 f.), sie ist u. a. mit einem Rezeptionswechsel vom Hören vorgelesener Literatur zum selbständigen Lesen schriftkundiger Laien verbunden, deren Lesefähigkeit nicht mehr an die Kenntnis des Lateins gebunden ist (vgl. von Polenz 2000, 123⫺125). Prosa wurde um die Mitte des 14. Jhs. in den großen Legendaren gebraucht, um 1400 dann auch in den umfangreichen Weltchronikkompilationen, erst im Laufe des 15. Jhs. auch für einige Werke der höfischen Versepik (u. a. Eilharts ‘Tristant’, Wolframs ‘Willehalm’, Wirnts ‘Wigalois’, Rudolfs von Ems ‘Guter Gerhart’). Originäre dichterische Werke und Neuproduktionen, an denen sich die traditionelle Literatur- und Sprachgeschichtsschreibung gewöhnlich orientiert (z. B. ‘Ackermann aus Böhmen’, um 1400), sind auch im Bereich der Prosa eher die Ausnahme im 15. Jh., das nicht nur im Hinblick auf die antike Literatur, sondern auch auf die volkssprachige Literatur des Mittelalters ganz auf Rezeption und Wiederverwertung des Überlieferten eingestellt ist und auch noch volkssprachige Werke des 11. Jhs. wie Willirams Hoheliedkommentar mit allen formalen Einzelheiten reproduziert und reaktiviert (vgl. Kuhn 1980, 81); die umfassende Aneignung des Überlieferten betrifft auch die lat. Literatur und hat eine rege Übersetzungstätigkeit zur Folge, die sich wie bei Niklas von Wyle auch in bewußt latinisierender Diktion ausprägt (Objartel 1980, 714⫺717). Die literatursprachliche Entwicklung läßt sich am besten beobachten anhand von reich überlieferten und wirkungsmächtigen Werken, wie sie im Spätmittelalter nur die geistliche Literatur bietet. Die Ansätze zu einem überregionalen, auf der Literatursprache basierenden Ausgleich und zur Aussonderung engregionaler, primärer Dialektmerkmale hat Werner Besch (1967) anhand des in über 100 Hss. des 15. Jhs. überlieferten Erbauungsbuches ‘Die 24 Alten’ des Franziskaners Otto von Passau untersucht. Zwei weitere Werke aus der geistlichen Epik seien zum Schluß noch herausgegriffen, um mögliche frühere, bereits im 14. Jh. feststellbare literatursprachliche Tendenzen anzudeuten, die sich aus einer an den

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Überlieferungsfakten orientierten Untersuchung zur Sprachgeschichte des Spätmittelalters ergeben. ‘Passional’. Das ‘Passional’ ist ein fast 110 000 Reimpaarverse umfassendes Legendar aus dem letzten Viertel des 13. Jhs. Der Autor stammte der Reimsprache nach aus den omd. Gebieten; aus seinen Selbstaussagen weiß man, daß er Priester war, doch seinen Namen verschweigt er absichtlich ebenso wie den seines Auftraggebers, der vermutlich in den Umkreis des Deutschen Ordens gehört. Außer dem ‘Passional’ hat der Dichter auch das ‘Väterbuch’ verfaßt (41 542 Reimpaarverse). Diese beiden Werke mit ihrer allein vom Umfang her im ganzen 13. Jh. unvergleichlichen Produktion eröffnen die Tradition der Deutschordensdichtung und gehören zu ihren literatursprachlichen Vorbildern. Das ‘Passional’ ist die erste große, auch dichterisch bedeutsame Legendensammlung, für die die lat. ‘Legenda aurea’ des Dominikaners Jacobus de Voragine (1228/29⫺1298) die Hauptquelle war. Das wirkungsmächtige lat. Legendar erfährt also noch zu Lebzeiten seines lat. Autors eine volkssprachliche Bearbeitung durch den Passionaldichter. Ähnlich wie die Rezeption des Artusromans in Deutschland noch zu Lebzeiten Chre´tiens de Troyes erfolgte, so erfährt rund 100 Jahre später eines der wirkungsmächtigsten Werke der lat. geistlichen Literatur unmittelbar nach seiner Entstehung eine dt. Rezeption. Diese Aneignung des ‘Passional’ im Dt. geschieht mit einem souveränen Einsatz aller literatursprachlichen Mittel, die der Dichter aus der weltlichen und geistlichen Literatur vor ihm kannte. Souveränität zeigt er in seinem freien Umgang mit der Quelle: Den auf die einzelnen Marien- und Herrenfeste verteilten Stoff des lat. Legendars hat er zusammengefaßt und in den epischen Zusammenhang eines Marienlebens gebracht, das als Buch 1 dem Buch 2 mit den Apostellegenden und Buch 3 mit den Legenden der übrigen Heiligen vorgeschaltet ist. Zu den bedeutenderen Nebenquellen gehört auch die ‘Kindheit Jesu’ Konrads von Fußesbrunnen, auf die der Dichter mit einem expliziten Quellenhinweis und der Versicherung, daß er sich an diese Quelle auch halten werde, zurückgreift. Der Rückgriff auf ein kurz vor 1200 entstandenes volkssprachiges Werk, das in den Bereich der höfischen Literatursprache gehört, dokumentiert zugleich auch das bewußte Anknüpfen an literatursprachliche Traditionen. Von dem Riesenwerk sind Buch 1 und 2, das Marien-

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leben und die Apostellegenden, wohl von Anfang an gesondert überliefert worden; es existieren noch sieben vollständige Hss. mit dem vollständigen Text oder umfangreichen Auszügen und 46 Fragmente. Die erhaltene Überlieferung konzentriert sich auf die 1. Hälfte des 14. Jhs. im omd. Raum (zur Überlieferung ausführlich Richert 1978). Das ‘Passional’ hatte in seiner gereimten Form nur eine kurze, aber sehr rege Phase der Vervielfältigung erlebt, ganz anders als etwa der ‘Parzival’, der unverändert über fast drei Jahrhunderte hinweg kontinuierlich tradiert wurde, und zwar auch dann noch, als neben dem die Literatursprache des 13. Jhs. prägenden Reimpaarvers bereits die Prosaform etabliert war. Trotz der lebhaften Verbreitung des ‘Passionals’ über eine kurze Zeitspanne ist seine Überlieferung so konsistent, daß über weite Partien so gut wie keine nennenswerten Varianten vorkommen (vgl. Richert 1978, 9 f.). Der Passionaldichter orientierte sich „an der literarischen Tradition des obd. Raums, etwa an Rudolf von Ems, dem Stricker, Konrad von Würzburg“ (ebda., 180). Regional fixierbare Elemente, die das ‘Passional’ mit andern Werken der Deutschordensliteratur teilt, weist vor allem der Wortschatz auf; dazu gehören Ableitungen mit dem Suffix -aˆt (marterat ‘Marter’, dienat ‘Dienst’, irrat ‘Irrtum’, murmelat, predigat, vinsterat, wandelat, wechselat, wunderat, zwivelat), Abstrakta auf -de (serde ‘Schmerz’, swerde, betrubede usw.) und zahlreiche Einzelwörter, die nur im Omd. belegt sind (ebda., 185⫺233; Caliebe 1985, 228⫺232). Der älteste vollständige Textzeuge, die Berliner Hs. A (Mgf 778, um 1300), ist von einem einzigen Schreiber in einer einheitlichen und konsequenten Orthographie auf omd. Grundlage geschrieben, die einen beachtlichen Normierungsgrad aufweist und sich von der sprechsprachlichen Lautebene mit ihrer Varianz weitgehend gelöst hat zugunsten eines lautabstrahierenden ökonomischen Schreibsystems (vgl. auch Caliebe 1985, 215⫺226). Dieses läßt Umlaut und Diphthonge weitgehend unbezeichnet, verzichtet gänzlich auf die in den obd. Hss. üblichen Superskripte und Akzente und kommt mit einem beschränkten Zeicheninventar aus. In der Morphologie werden bestimmte Varianten systematisch funktionalisiert wie z. B. die des Art./Pron. di/die: di steht für den Nom. Akk. Sg. Fem., die für Nom. Akk. Plur. aller Genera; Dat. und Akk. des Pers. Pron. der 2. Pers. Pl. lautet einheitlich uch.

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Die in der Hs. A faßbare autornahe Sprache eines sowohl mit der lat. wie der volkssprachigen Literatursprache bestens vertrauten Klerikers wird in der variantenarmen omd. Überlieferung eines halben Jahrhunderts weitgehend bewahrt und durch ihre Vorbildfunktion für die Deutschordensdichtung des 14. Jhs. auch literatursprachgeschichtlich wirksam. Die überlieferungsgeschichtlichen Daten, vor allem die nachweisbaren Provenienzen der Hss., und die Bücherverzeichnisse der Komtureien zeigen, daß das ‘Passional’ ‘Vorleseliteratur’ für die Ordensritter war (vgl. Richert 1978, 159⫺161), die aus der illiteraten laikalen Oberschicht vor allem Frankens, Thüringens und der Rheinlande stammten. Das ‘Passional’ war im Orden czu tische czu lesen (ebda., 160), es wurde vorgelesen für eine Hörergemeinschaft und knüpft nicht nur an die Literatursprache der höfischen Epik an, sondern auch an ihre hauptsächliche Rezeptionsform, den mündlichen Epenvortrag. Der Normierungsgrad der Schreibsprache der Passionalhss., wie sie in Hs. A und anderen md. Codizes begegnet, entspricht weitgehend dem der md. Hss. der Deutschordensstatuten, deren älteste Zeugen allerdings im westlichen Md. zu lokalisieren sind. Nach den Vorschriften des Ordens mußte in jedem Ordenshaus ein Statutencodex vorhanden sein, bei dessen Herstellung sorgfältiges Kopieren ausdrücklich gefordert wurde (Gärtner/Holtus/Kramer 1997, 196 f.). Die zahlreichen erhaltenen Statutencodizes, deren Schreibsprache bisher kaum untersucht ist, zeigen ein hohes Niveau der Ausstattung und der Schrift, der die sorgfältige sprachliche Form entspricht; diese läßt die Schreibsprache eines zentralen Skriptoriums mit Normanspruch erkennen, welche eine kleinräumigere Lokalisierung erschwert (ebda., 197⫺202). Obwohl das Verspassional nach der Mitte des 14. Jhs. durch die Prosalegendare allmählich abgelöst wurde, hatte es dennoch eine langandauernde Wirkung durch die Umformung großer Teile in Prosa, die gegen Ende des 14. Jhs. als die dem Erbauungsschrifttum gemäße Form so gut wie unumstritten war (Williams-Krapp 1986, 295). Zunächst aber gingen in der 2. Hälfte des 14. Jhs. noch Teile des Verspassionals in die umfangreichen Weltchronikkompilationen ein, die dann um 1400 in Prosa aufgelöst wurden und als Historienbibeln bis zum Aufkommen der ersten gedruckten Vollbibeln die Hauptquelle der

Laien für eine zusammenhängende Kenntnis der historischen Bibelbücher bildeten. Der neutestamentliche Teil der Historienbibeln, der besonders stark durch apokryphe und legendarische Teile aus dem Verspassional angereichert war, wurde auch noch als ‘Neue Ee’, d. h. als Neues Testament gedruckt (vgl. Gärtner 1985, 52⫺69). Ungleich wirkungsmächtiger wurde das ‘Passional’ aber durch seine Integration in das um 1400 in Nürnberg entstandene Prosalegendar ‘Der Heiligen Leben’, zu dessen Hauptquellen die beiden hagiographischen Werke des Passionaldichters gehörten. Für dieses Prosalegendar wurden nicht nur ‘Passional’ und ‘Väterbuch’, sondern auch noch andere deutschsprachige Quellen wie Hartmanns von Aue ‘Gregorius’ und Reinbots von Dürne ‘Heiliger Georg’ verwertet. Das vorzugsweise auf älteren dt. Versquellen beruhende Werk „war das mit Abstand verbreitetste und wirkungsmächtigste volkssprachige Legendar des europäischen Mittelalters“, dessen beispiellosen Erfolg knapp 100 Hss. und 33 obd. und 8 nd. Druckauflagen bis 1521 bezeugen (Brand u. a. 1996, XIII). Das ‘Passional’ blieb also auch nach der Mitte des 14. Jhs. noch ein vielbegehrter Text und wurde immer wieder angepaßt an neue Gebrauchssituationen und Benutzerbedürfnisse, die allerdings auch andere literatursprachliche Gestaltungsmittel erforderten. Für die Anpassung an neue Gebrauchszusammenhänge durch die Prosifizierung der dt. Versquellen waren tiefgreifende Textveränderungen erforderlich: „Kürzung auf die Summa facti, Abbau von individualisierenden Darstellungsmomenten, Ausklammerung einer differenzierteren Problematik und im Stilistischen eine vergleichbare Tendenz zur syntaktischen Reihung mit Nivellierung komplexer Abhängigkeitsverhältnisse“ (Mertens 1979, 287; vgl. Williams-Krapp 1986, 271⫺273. 294 f.; zu den sprachlichen Repräsentationsformen der Erzählinhalte in den Historienbibeln vgl. von Bloh 1993, 131⫺144). Philipp der Kartäuser: ‘Marienleben’. (Literatur zum folgenden Gärtner 1989, 588⫺ 598). Das ‘Marienleben’ (ed. Heinrich Rückert 1853) Philipps wurde um 1300 in der bedeutenden Kartause Seitz (Steiermark) für die Brüder des Deutschen Ordens verfaßt. Der Entstehungsort, der Name des Autors und die Empfänger sind bekannt, aber lokalisieren läßt sich der Autor aufgrund seiner Reimsprache nicht, denn seine Reime sind nicht mehr rein; er reimt z. B. chriech ‘Krieg’

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auf siech ‘krank’, mich auf unschuldich und uns (= nd. us) auf lat. Namen mit der Endung -us. Philipp stammte wohl kaum aus Österreich, wo um 1300 der reine Reim auch für die geistliche Epik noch obligatorisch war, sondern vermutlich aus dem md.-nd. Grenzgebiet. Seine um 1300 ungewöhnliche Reimtechnik hat die Wirkung des Werkes in keiner Weise beeinträchtigt, denn von keinem anderen Werk der dt. Reimpaarepik wird die erhaltene Überlieferung und nachweisbare Wirkung des ‘Marienlebens’ übertroffen, weder vom ‘Passional’ noch von Wolframs ‘Parzival’. In Prolog und Epilog geht Philipp auf die im Deutschen Orden besonders gepflegte Marienverehrung ein, die für ihn der Anlaß für die Abfassung des Werkes war. In einer Gruppe von Handschriften wird eine Partie des Prologs zu einer Art Copyright des Deutschen Ordens umgeformt, der die weitere Verbreitung des Werkes übernommen hat e (ein buch habent die tevtschen herren / daz wart in gesant von verren / dar ab wart geschriben ditze). Inzwischen sind 111 Handschriften und Fragmente der Versfassung bekannt, die aus dem gesamten dt. Sprachgebiet stammen, mit einer merklichen Ausnahme im Alem., wo konkurrierende Bearbeitungen und eine Prosaversion (seit 1418) im Umlauf waren (s. u.). 22 Hss. mit Prosafassungen des vollständigen Textes kennt man. Die Überlieferung des autornahen Verstextes im Nd. (datiertes Fragment von 1326) setzt noch zu Lebzeiten Philipps ein, der wohl 1345/46 hochangesehen in seinem Orden in der Kartause Mauerbach bei Wien starb. Ebenfalls noch in der 1. Hälfte des 14. Jhs. entstehen reimbessernde Bearbeitungen des Textes, die von besonderem Interesse für eine literarische Sprachgeschichte sind. Philipps Hauptquelle ist die lat. ‘Vita beate Marie virginis rhythmica’, die um 1230 in Süddeutschland entstand. Die weit verbreitete lat. Quelle wurde vor und nach Philipp von zwei anderen Autoren im Alem., Walther von Rheinau und Wernher dem Schweizer, in dt. Reimpaarverse gebracht, doch blieben ihre reimtechnisch einwandfreien Versionen der ‘Vita’ ohne nennenswerte Wirkung. Die beiden alem. Bearbeiter lösen sich kaum vom Text und Stil der ‘Vita’ und versuchen, ihren rhetorischen Schmuck mit den Mitteln der klassischen höfischen Dichtung wiederzugeben. Philipp macht sich dagegen ganz frei vom Stil und der Kompositionstechnik seiner Quelle; so reduziert er z. B. die elaborierten Schönheitsbeschreibungen Marias und Jesu,

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indem er viele von der lat. Schulrhetorik vorgeschriebene Details und deren Reihenfolge außer Acht läßt und die Schilderung dadurch entlastet und vereinfacht. Auch sonst kürzt und vereinfacht er, um verständlich zu sein und die Leser und Hörer betroffen zu machen. Die ‘Vita’ basiert überwiegend auf apokryphen Quellen; Philipp läßt aber fast die Hälfte des lat. Textes weg und greift statt dessen immer wieder auf die kanonischen Evangelien zurück. Die beziehungslos gereihten Kapitel der ‘Vita’ bringt er in einen geschlossenen Handlungszusammenhang, indem er sie aufeinander abstimmt und verknüpft durch redaktionelle Übergänge und Vor- und Rückblenden. Auf diese Weise entsteht im Unterschied zu den anderen Marienleben vor und nach ihm eine fortlaufende Darstellung der gesamten neutestamentlichen Geschichte, die zum ersten Mal wieder seit Otfrids Evangelienbuch und dem ‘Heliand’ den Laien den Stoff des Neuen Testaments, insbesondere der überwiegend auf kanonischem Material beruhenden Passion, als zusammenhängende Erzählung bot. Dieses ‘Marienleben’ eignete sich daher besonders für die Aufnahme in die großen Weltchronikkompilationen und wurde bereits in ihren Vorstufen, den Hss. mit einem aus Rudolfs von Ems ‘Weltchronik’, der ‘Christherre-Chronik’ und dem ‘Marienleben’ zusammengesetzten Inhalt, als Reimbibel zu einer Art Bibelersatz für die Laien. Für eine literarische Sprachgeschichte ist Philipps Werk von einzigartigem Wert, denn er benutzt wohl noch den Reimpaarvers, aber seine Reime sind nicht mehr rein. Dies hat schon früh in der modernen Literaturgeschichtsschreibung zu einer Verkennung der literarischen Qualität des Werkes geführt und zu Lebzeiten Philipps bereits zu einer erfolgreichen reimbessernden Bearbeitung, die im Südosten entstand und schon vor ihrer Fertigstellung in Teilen „veröffentlicht“ und mit dem noch unbearbeiteten Rest kombiniert wurde. Für die ästhetischen Ansprüche an die Reimtechnik scheint im Südwesten während des ganzen 14. Jhs. der reine Reim unverzichtbar gewesen zu sein. Auch in der omd. Überlieferung gibt es immer wieder Ansätze zu reimbessernden Bearbeitungen, dagegen wird in der wmd. und nd. Überlieferung der autornahe Text unverändert tradiert, sieht man einmal ab von der Umsetzung des Wortlauts auf der Ebene der Laute und Formen ins Wmd. oder Nd. Philipps auffallend sorglose Reimtechnik ist verbunden mit häufigem

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Enjambement, das aber nicht wie in der höfischen Epik und auch noch beim Passionaldichter mit Brechungen gekoppelt ist. Die Vernachlässigung von Reim und Vers und die durch das Enjambement deutliche Annäherung an die Prosa sind die literatursprachgeschichtlich bemerkenswerten Tendenzen, die hier in der geistlichen Epik faßbar werden und auf die in den einzelnen Rezeptionsgebieten des Marienlebens in unterschiedlicher Weise reagiert wird. Der Reim wird für bestimmte Partien des Werkes wie z. B. den auf einen Reimtyp durchgereimten Versen des Eingangsgebets noch als ausgesprochenes Kunstmittel benutzt, aber als stilistisches Vorbild dominiert die vom Repetitionsstil der Psalmen geprägte Form und die einfache Sprache der Evangelien. Ein weiteres charakteristisches Stilmerkmal ist die asyndetische Parataxe, die aber nicht wie in der frühmhd. geistlichen Epik ein durchgängiges Formmerkmal ist, sondern sie wird vorwiegend eingesetzt in Sätzen mit Bewegungsverben, um rasch aufeinander folgende oder gleichzeitige Handlungen darzustellen. Rhetorisch durchstilisiert sind die Marienklagen (V. 7012 ff.), Marias Beschreibung der himmlischen Freuden (V. 936 ff.) und ihre Himmelfahrt (V. 9586 ff.). Für eine Literatursprachgeschichte bildet die reiche Überlieferung des Werkes ein einzigartiges Material zur Untersuchung der regionalspezifischen Rezeption eines der erfolgreichsten Werke der spätmittelalterlichen Erbauungsliteratur. Das Marienleben wurde auch in Prosa aufgelöst (s. o.) und als neutestamentlicher Teil in die Historienbibeln, wie sie in der Werkstatt Diebold Laubers hergestellt wurden, integriert. Es bildete ferner mit einigen Passionalteilen den Grundstock für die Prosa der ‘Neuen Ee’, einer neutestamentlichen Historienbibel, die mehrere Druckauflagen erlebte (s. o.). Die Prosifizierung war wie beim ‘Passional’ Voraussetzung für die Anpassung an neue Gebrauchssituationen und Benutzerbedürfnisse. Aber auch im 15. Jh. wurde die Versfassung immer wieder abgeschrieben und gelesen. Der im 14. und 15. Jh. mehr als Wolfram und Gottfrid gelesene Text, dem sermo humilis der Bibel in den erzählenden Partien verpflichtet und in diesen Teilen ohne besondere ästhetische Ansprüche, macht gerade im Vergleich mit der höfischen Klassik das Problem der Wertung für die Literaturgeschichtsschreibung deutlich (vgl. Kuhn 1980, 97 f.; Burger 1980, 707), weniger dagegen für die

Sprachgeschichtsschreibung. Wie kaum ein anderer Text ist seine Überlieferung daher geeignet, die für eine literarische Sprachgeschichte wesentlichen Aspekte zu verdeutlichen.

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Kurt Gärtner, Trier

196. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in neuhochdeutscher Zeit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Allgemeines Das 15. und 16. Jahrhundert Barock Das 18. Jahrhundert Klassik und Romantik Das 19. Jahrhundert Das 20. Jahrhundert Literatur (in Auswahl)

1.

Allgemeines

1.1. Die Sprache der Literatur (im engeren Sinn, also der Dichtung) ist nicht zu allen Zeiten ein von anderen abhebbares Subsystem innerhalb des Diasystems der dt. Nationalsprache. Wenn auch die (schöne) Literatur sich bis in die Gegenwart hinein, und zwar nach pragmatischen (auf Produktion und Rezeption bezüglichen) Kriterien, im großen und ganzen deutlich als eigene Textklasse abzeichnet (die definitionsbedingten Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber berichtenden, philosophischen, essayistischen und rhetorischen Textsorten bleiben außer Betracht, da es hier in erster Linie auf einen unstrittigen Kernbereich ankommt), so sind doch linguistische Kriterien für eine „poetische Sprache“ nicht für alle Epochen aufzustellen. Besonderheiten der Lexik und der Syntax haben sich nicht zu einem solchen Subsystem verfestigt, und selbst der klassische Kanon der poetischen Vertextungsmuster ist nach und nach, spätestens im 20. Jh., großenteils aufgegeben worden. Das Verhältnis, in dem die Sprachformen der Dichtung zu denen anderer schriftlicher wie auch gesprochener Texte stehen, ist einer der wesentlichen Aspekte ihrer Geschichte, es mag

durch Differenz oder durch Nachahmung in der einen oder der anderen Richtung bestimmt sein. 1.2. Unter Literatursprache seien hier die rekurrent auftretenden und somit charakteristischen Muster der Sprachverwendung in einer Menge von (literarischen) Texten verstanden; diese mögen einer Epoche oder einer literarischen Gruppe oder Schule angehören, im Grenzfall kann es auch die Produktion eines Autors oder sogar nur ein einzelnes Werk sein. Die charakteristischen sprachlichen Merkmale bilden den Stil eines Autors, einer Gruppe usw. Um den Stilbegriff in einer theoretisch angemessenen Allgemeinheit zu definieren, wird er als rekurrente Auswahl aus den Möglichkeiten des Sprachsystems verstanden. Im rekurrenten Auftreten der gleichen oder ähnlichen Phänomene (auf welcher sprachlichen Ebene auch immer) manifestiert sich die Norm, das Auswahlprinzip, das die Sprachgestaltung lenkt. ⫺ Die Analyse der sprachlichen Muster der Texte ist Aufgabe linguistischer Deskription. Vollständige Analysen dieser Art liegen bisher kaum vor, vor allem nicht solche, die die verschiedenen sprachlichen Ebenen und auf diesen möglichst viele Merkmale erfassen. Allerdings ist die Beschreibung des Stils literarischer Texte auch nicht auf solche vollständigen Deskriptionen angewiesen; von ihrer Aufwendigkeit abgesehen, enthalten sie sogar einen grundsätzlichen Mangel: sie erfassen nicht die Signifikanz der Merkmale. Die Tradition sah das Stilphänomen vor allem als eine Differenzqualität: als Abweichung von den Normen anderer Texte, seien es umgangssprachliche oder nichtpoetische oder

196. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in neuhochdeutscher Zeit

auch die einer anderen literarischen Schule. Es scheint, daß im Blick auf die Literatursprache dieser ältere und engere Stilbegriff seinen Sinn nicht verloren hat. Denn in der Abhebung oder auch gerade in der Nicht-Abhebung von den sprachlichen Mustern anderer Texte konstituiert sich die jeweilige Literatursprache. Ihre linguistische Deskription wäre demnach immer kontrastiv durchzuführen, und das gleich in mehreren Dimensionen, was ihre praktische Ausführbarkeit natürlich bedeutend erschwert. ⫺ Die rekurrent auftretenden Sprachmuster eines Textes werden von einer Sprachverwendungsstrategie gelenkt, die sich ihrerseits an einer idealen Norm orientiert. Diese Norm entzieht sich der linguistischen Deskription, gleichwohl ist ihre Rekonstruktion das oberste Ziel der Darstellung einer jeweiligen Literatursprache. Die Literaturgeschichte der Neuzeit ist verhältnismäßig reich an Äußerungen von Schriftstellern und Theoretikern über die herrschenden Stilideale, und solche Zeugnisse sind, neben dem Befund an den Texten selbst, die zweite wesentliche Quelle für die Historiographie der Literatursprache. 1.3. Die Forschung ist auf dem Gebiet der Literatursprache sehr divergent und weist trotz einer kaum noch überschaubaren Fülle von Einzeluntersuchungen auch beträchtliche Lücken auf. Auf eine Periode sammelnder und ordnender positivistischer Studien folgte die der geistesgeschichtlichen Deutung stilistischer Phänomene. Untersuchungen, die die Gesichtspunkte und Deskriptionsverfahren der neueren Linguistik anwenden, sind immer noch selten; außerdem fehlt es an Versuchen, von Einzelergebnissen zu Synthesen zu gelangen. Ein weiteres Desiderat ergibt sich aus dem Umstand, daß die verschiedenen textlinguistischen Ansätze für historische Stiluntersuchungen erst sehr wenig fruchtbar gemacht worden sind. Allerdings ist es eine offene Frage, welche der Textphänomene noch zum Sprachstil zu zählen sind (im folgenden wird die Bevorzugung bzw. Benachteiligung bestimmter Literatursorten nicht berücksichtigt, das Verhältnis zwischen Prosa- und Versproduktion muß jedoch als ein wichtiger Aspekt gelten). Eine sprachgeschichtliche Darstellung sollte darauf aus sein, möglichst allgemeine, überindividuelle Züge herauszuarbeiten, wenn möglich also Stilmerkmale ganzer Epochen oder literarischer Gruppen. Angesichts der Rolle jedoch, die die Werke bestimmter

3043

Autoren in der Literaturgeschichte spielen, kommt ihnen auch sprachgeschichtlich besondere Bedeutung zu, indem sie nicht nur symptomatisch für die Normen ihrer Zeit, sondern ihrerseits auch musterbildend waren. Wie wohl in keinem anderen Zweig der Sprachgeschichtsschreibung muß somit auf diesem Gebiet Individualsprachliches zur Geltung kommen. Natürlich kann in der folgenden Übersicht nicht die gesamte literarische Produktion seit dem 15. Jh. zur Sprache kommen, Lücken und vielleicht sogar Ungerechtigkeiten in Auswahl und Bewertung müssen in Kauf genommen werden, nicht zuletzt auch aufgrund der Forschungslage. Es werden die üblich gewordenen Epochenbegriffe verwendet, ohne daß auf ihre Problematik eingegangen werden kann. Die Darstellung der einzelnen Epochen und Richtungen sucht deren Spezifisches herauszustellen, was in der Regel zugleich das den vorangegangenen gegenüber Neue ist; auch hierbei müssen wohl einige Vergröberungen toleriert werden. Wenn es vorrangig auf die Normen ankommt, die die Sprachverwendung leiten, wird man sich zuallererst und weitgehend an den metasprachlich-theoretischen, vielleicht sogar programmatischen Äußerungen der Autoren selbst orientieren. Sofern die Dichtung von poetologischer Theorie begleitet wird, ist diese ebenfalls heranzuziehen, besonders wenn sie einen stilistischen Konsens der Epoche formuliert oder in ihren Normsetzungen Anerkennung gefunden hat. Für das 17. und weitgehend auch für das 18. Jh. stehen solche Quellen zur Verfügung.

2.

Das 15. und 16. Jahrhundert

Allgemeines über die Stilmuster der deutschsprachigen Literatur der frühen Neuzeit läßt sich kaum formulieren: zu bunt ist das Bild der Epoche, zu individuell schreiben die meisten bedeutenden Autoren, und zu wenig ist noch die literarische Sprache erforscht worden. Die literarische Situation ist durch das neue Medium des Buchdrucks zu einer gänzlich neuartigen geworden. Doch hat es im engeren Bereich der Dichtung auf Generationen hin nur sehr wenige neue Textmuster hervorgebracht; die enge Verbindung von Bild und Text im ‘Narrenschiff’ von Sebastian Brant (1494) und bei seinen Nachfolgern ist hier zu nennen und die Kirchenlied-Gesangbücher für die reformierten Gemeinden seit den 20er Jahren. Der Prosaroman (mit Jörg

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Wickram als Pionier) verdankt seine Entstehung wohl kaum dem Druckmedium, eher schon die Gattung der Prosaauflösung mittelalterlicher Epen, die zum Teil zu ‘Volksbüchern’, zu Bestsellern wurden. Generell hat das neue Medium die Geltung der Prosa gefördert, die seit den 60er Jahren des 15. Jhs. auch in Deutschland, und zunächst in Übersetzungen, den Vers als Vertextungsform narrativer Dichtung abzulösen beginnt. Dieser Wandel ist durchaus nicht nur in der Popularisierung der Buchproduktion begründet, er ist vielmehr als ein echter Geschmackswandel zu verstehen: Schon im frühen 16. Jh. wählen gerade die anspruchsvollen Autoren meist die Prosa für erzählende wie für argumentative Werke. Der vierhebige Reimpaarvers ⫺ in unserer Zeit modifiziert und mit einem Ausdruck des späten 16. Jhs. als ‘Knittelvers’ bezeichnet ⫺ hat seine hohe Geltung eingebüßt; er wird zwar weiter verwendet, aber, vom Geschmack einzelner Dichter (wie Hans Sachs z. B.) abgesehen, im allgemeinen bei literarischen Produkten, die besonders eingängig sein sollen. Der Vers, dieser Vers, ist nicht mehr eigentlich die Veredlung der sprachlichen Kette; in der Lyrik war der paarig gereimte Vierheber ohnehin immer die Ausnahme gewesen. Die anspruchsvollste Literatur der Zeit ist freilich in Latein verfaßt: die der Humanisten. Und durch diese dringt auch ein Stilmuster der klassischen ciceronianischen Prosa ins Deutsche ein: die kunstvoll gebaute Periode. Bei Autoren, die um der Breitenwirkung willen einen Teil ihrer Schriften in der Volkssprache verfaßt haben, bei Ulrich von Hutten wie früher schon Sebastian Brant und Thomas Murner, läßt sich im Vergleich beobachten, welche Stilzüge dabei charakteristisch hervortreten: kürzere Sätze und Teilsätze, die Hypotaxe einfacher, leichter überschaubar (vielfach auch ohne klare logische Relationierung aneinanderreihend), Reduzierung der Abstracta zugunsten konkreter Ausdrucksweise, ein recht hoher Gebrauch von phraseologischen Wendungen und Sprichwörtern. Auch der Grobianismus ⫺ der sich bei den Autoren freilich in sehr unterschiedlichem Maße findet, manche sind völlig frei davonresultiert aus dieser Nähe zur gesprochenen Sprache des Alltags. An dieser hat sich selbst Martin Luther bei seiner Bibelübersetzung orientiert (‘Sendbrief vom Dolmetschen’, 1530). Den Möglichkeiten des Buchdrucks verdankt sein Aufkommen ein ganzes literari-

sches Genus, die Publizistik, mit ihrer Adressierung an die Öffentlichkeit und der appelativen, polemischen, argumentativen Behandlung aktueller Themen. Seit den 70er Jahren des 15. Jhs. erscheinen vor allem die Einblattdrucke (Flugblätter), an deren Ausformung Sebastian Brant entscheidenden Anteil hatte; sie wie auch die broschürenartigen Flugschriften hatten einen ersten Höhepunkt in den bewegten Jahren der Reformation. Nicht ausschließlich, aber doch überwiegend auf deutsch abgefaßt, zeigen die Flugschriften in der Regel Prosa, häufig übrigens in Dialogform, die Flugblätter dagegen, meist in der Kombination von Text und Bild, machen sich durchweg die Kraft des Knittelverses zunutze ⫺ ein wichtiger Hinweis auf die literatursoziologische Stellung dieses Verses, der eben, als ‘Gebrauchslyrik’, auch die ganz simpel verfaßten Begleittexte zu Bildern prägt und eingängig, ja durchschlagend macht. In diesem Schrifttum haben sich zum ersten Mal im Deutschen agitatorische, auf Massenbeeinflussung angelegte Sprachmuster entwickelt; seither besteht neben der Dichtung und der wissenschaftlichen Literatur als dritter Zweig einer kunstvollen ⫺ wirkungsorientierten ⫺ Sprachgestaltung die Publizistik. Es ist einigermaßen erstaunlich, daß die neue Verbreitung von Literatur durch den Druck keineswegs zu einer raschen Vereinheitlichung der Sprachform geführt hat, die gegenseitige Angleichung hat sich viele Jahrzehnte lang mehr oder weniger auf die Druckorte beschränkt (dazu s. Art. 121). Ein größerer Ausgleich in der Schriftsprache kam erst durch die enorme Verbreitung von Luthers Bibelübersetzung zustande, die als sprachliches Vorbild auch in den katholischen Süden hineinwirkte. In der zweiten Hälfte des 16. Jhs. wird es zur opinio communis, dieses Werk unter den Mustern für die Sprachkultur an erster Stelle aufzuführen ⫺ wieweit dieses Vorbild über Lexik und Morphologie hinaus sich auch auf die literarische Sprachkultur ausgewirkt hat, wäre noch an einer Reihe von Autoren zu untersuchen (vgl. Art. 123).

3.

Barock

3.1. Mit dem 17. Jh. beginnt in der Geschichte der dt. Literatursprache eine neue Entwicklung. ‘Literatursprache’ ist jetzt nicht mehr als bloß deskriptiver Begriff die Sprachform der vorliegenden literarischen Texte,

196. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in neuhochdeutscher Zeit

sondern jetzt ist sie als eine eigene sprachliche Größe anzusehen, als ein Subsystem, an dessen Ausformung und Normierung zielstrebig gearbeitet wird. Ein neues ästhetisches Bewußtsein führt dazu, daß die Sprache der Dichtung abgehoben wird von den Sprachformen nicht nur des alltäglichen Umgangs, sondern auch des Briefes, der Kanzlei, der Geschichtsschreibung, der Predigt usw., und zwar nicht allein aufgrund der Versifizierung. Ein dezidierter Kunstwille und Stilwille beherrscht seit den Anfängen des Jhs. die literarischen Sitten. Man sieht eine Aufgabe darin, Anschluß an die literarische Kultur Europas zu finden. In der neulat. Literatur, in den rom. Sprachen, besonders im Ital. und Frz., aber auch im Nl. und Engl. waren Dichtungssprachen ausgebildet worden, denen gegenüber die dt. der ausgehenden Reformationszeit als volkstümlich-ungebildet erscheinen mußte. Opitz’ ‘Buch von der Deutschen Poeterey’ (1624), das musterbildend wirkte, nennt zwar einige mhd. Dichter als Zeugen einer früheren Blüte dt. Poesie, übergeht die reichhaltige Literatur des 16. Jhs. jedoch mit Schweigen. Zeugnisse des Bemühens um eine dt. Literatursprache sind, neben der poetischen Produktion selbst, die Barockpoetiken (s. unten 3.2.) und die Sprachgesellschaften. Diese (die ‘Fruchtbringende Gesellschaft’, die ‘Deutschgesinnete Genossenschaft’, der ‘Pegnesische Blumenorden’ und der ‘Elbschwanenorden’, um nur die größeren, überregionalen zu nennen) waren nicht ausschließlich literarischen Zielen verpflichtet, widmeten sich vielmehr einer allgemeinen Förderung der dt. Sprache, doch gehörte dazu eben auch die Absicht, das Dt. in den Rang einer angesehenen Literatursprache zu erheben. Zu größeren normstiftenden Werken, etwa in der Art des Wörterbuchs der Florentiner ‘Accademia della Crusca’, die das Vorbild abgab, kam es freilich nicht, und ihr Beitrag zur Entwicklung ist im einzelnen schwer nachzuweisen. Zumindest aber, daß sie die Übersetzungstätigkeit stark anregten und damit nicht nur die Nachahmung ausländischer und antiker Literatur, sondern auch die Bildung zahlreicher Neologismen, ist hier zu erwähnen (vgl. dazu auch Art. 20). So gut wie alle dt. Schriftsteller waren Mitglied in mindestens einer dieser Gesellschaften und verpflichteten sich damit zu „Reinheit“ und Kultur der Sprache in ihrer eigenen Produktion. Wenn es als Aufgabe erkannt worden war, das Dt. in den Rang einer Literatursprache

3045

⫺ nach dem europ. Standard der Zeit ⫺ zu erheben, bzw. im Dt. eine Literatursprache auszubilden, so bedeutete das für die sprachtheoretische und sprachpflegerische Arbeit zweierlei: einerseits war die Eignung des Dt. zur Dichtungssprache überhaupt erst zu erweisen, und dann war es nach den Normen der Poetik und der antiken und humanistischen Dichtung zu einer solchen heranzubilden. Bei Dichtern und Poetikern finden sich des öfteren nicht nur Bekundungen ihrer Liebe zur Muttersprache, sondern, was bezeichnender ist, Erwägungen über ihren Rang. So stellt z. B. C. G. von Hille das Dt. gleichwertig neben die klassischen „Hauptsprachen“ Hebräisch, Griechisch und Latein. Harsdörffer (1975, I, 17 f.) begründet „der Teutschen Sprache Füglichkeit zu der gebundenen Rede“ mit zwei Argumenten: ihre Ausdrucksmöglichkeiten erlauben alles zu sagen, „was zu richtiger Vernunft notwendig ist“, und ihr Reichtum an Wörtern und Wortformen läßt ihre Verwendung in natürlich und gut klingenden Versen zu. Wie stark das Vorbild der lat. Dichtung noch um die Jahrhundertmitte ist, läßt die darauf folgende Bemerkung erkennen: „Die jenigen, so vermeinen, man müsse die teutsch Poeterey nach dem Lateinischen richten, sind einer gantz irrigen Meinung. Unsere Sprache ist eine Haubtsprache, und wird nach ihrer Eigenschaft, und nach keiner andern Lehrsätz gerichtet werden können“ (ebd.). An anderer Stelle rückt Harsdörffer das Dt. seiner onomatopoetischen Fähigkeiten wegen sogar an die erste Stelle unter den „Haubtsprachen“. Ganz ähnlich auch Schottel in seinen „Lobreden von der Teutschen Haubtsprache“; als Grammatiker betont er besonders die reichen Möglichkeiten der Wortbildung. Als Literatursprache muß auch das Dt. dem Ideal der puritas unterstellt werden, wie es die rhetorische Tradition verlangt. Für Opitz (1966, 24) bedeutet die Forderung nach Sprachreinheit einerseits, „deme welches wir Hochdeutsch nennen“ zu entsprechen und alte sowie dialektale Wortformen zu vermeiden, und andererseits, „außländische wörter“ nicht zu gebrauchen. Der Purismus, einer der zentralen Programmpunkte der Sprachgesellschaften, wird zu einer wesentlichen Voraussetzung der Ausbildung einer dt. Literatursprache. Eine zweite ist die Zurückdrängung der Mundarten aus der Dichtung (sie finden fast nur noch im komischen Genre Verwendung). Freilich ist die Norm des „Hochdeutschen“ noch keineswegs fest ausgebildet. Für

3046

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

die Dichtung war gleichlautende Aussprache wegen des Reims besonders wichtig. Unter den Sprachlandschaften wird neben dem Obersächsischen („Meißnischen“) auch das Schlesische empfohlen (wobei es um die Sprache der Gebildeten, keineswegs um den Dialekt geht); seltener werden andere Regionen genannt, im Süden allerdings, wo man die Normierungen aus den protestantischen Regionen großenteils ablehnt, spielt das „gemeine Deutsch“, eine obd. Ausgleichssprache, in dieser Diskussion eine besondere Rolle. Daneben gibt es die Auffassung, die Hochsprache müsse grundsätzlich von allen Mundarten unterschieden sein. Das sprachliche Vorbild wird auch bei Schriftstellern (Luther, Opitz) und Institutionen (Kanzleien und Höfen) gesucht (s. Josten 1976, 40 ff. u. passim). Trotz dieser Divergenzen wird das Bemühen um die Dichtungssprache eine der bedeutendsten Triebkräfte in der Entwicklung der einheitlichen dt. Hochsprache. 3.2. Während diese beiden Punkte Normierungen bezüglich der Verwendbarkeit eines Subsystems betreffen, geht es im folgenden um Muster und Normen der Anwendung von Sprachelementen, durch die sich poetische Texte mindestens graduell von nichtpoetischen unterscheiden. Beides zusammen, das Sprachmaterial und die spezifischen Stilnormen, macht die im 17. Jh. (und darüber hinaus) angestrebte Größe Literatursprache aus. Diese dritte Konstituente ihrer Ausformung ist die Tradition der Rhetorik und der antiken und humanistischen Poetik (Opitz nennt Aristoteles, Horaz, Vida und Scaliger). Diese europ. Tradition kommt zu einer nationalgeschichtlichen Blüte in der stattlichen Reihe von einigen Dutzend dt. Poetiken, die im 17. Jh. erschienen sind; Martin Opitz’ ‘Buch von der Deutschen Poeterey’ hatte sie 1624 eröffnet. Genannt seien Siegmund von Birken, August Buchner, Philipp Harsdörffer, Albrecht Christian Rotth, Andreas Tscherning und Philipp von Zesen. Der Dominanz der Poetik (die sich als Lehrfach an den Universitäten etabliert hatte) sowie der stark betonten Vorbildlichkeit der antiken und der europäisch-humanistischen Tradition entspricht der Charakter des Gelehrten und des Kunstgerechten, Handwerklichen, ja oft Artistischen in der Dichtung der Zeit. Theorie und Anweisung leiten die Produktion. Individualstile treten weniger deutlich hervor als in den anderen neueren Literaturepochen: es gibt einen weit tragenden Konsens über die

Normen, und das Schöpferische und Originale ist noch kein eigener Wert. Dichtung (Poesie) ist für die Theorie immer versifizierter Text. Es mag angesichts des barocken Romans befremden, daß der Kunstprosa in den Poetiken so gut wie keine Beachtung geschenkt wird; offenbar wurde sie in die Zuständigkeit der Rhetorik verwiesen. Von der Versifizierung abgesehen, ist der Unterschied zwischen Poesie und Prosa in diesem theoretischen Rahmen überhaupt schwer zu bestimmen (vgl. Dyck 1991, 28 ff.); Poesie gilt als die erhabenere Art der Rede. Buchner (1966, 14 f.) etwa setzt den Poeten vom Philosophen, vom Redner und vom Historiker aufgrund unterschiedlicher Kommunikationszwecke ab: Er sei darauf aus, „das Gemüth des Lesers [zu] bewegen, und in demselben eine Lust und Verwunderung ob den Sachen, davon er handelt, [zu] erwekken“; der Historiker komme dieser Absicht zwar nahe, doch sei seine und des Orators Rede „also zu sagen, vulgaris“ und habe nichts „sonderlichs“. Das Spezifische dichterischer Texte wird also einerseits in einer besonderen Intentionalität, andererseits in ästhetischen Qualitäten gesehen. Diese Verbindung ist bezeichnend für die Literaturtheorie des ganzen Jhs.: Nicht nur die Texte und Gattungen, sondern auch die sprachlichen Mittel erhalten ihre Bestimmung im Horizont einer Wirkungspoetik. Ist der pragmatische Rahmen auch nicht konsequent (d. h. bis in die einzelnen Sprechhandlungstypen hinein) durchgeführt worden, so ist doch immer das „Bewegen“ (movere) als der oberste Zweck der poetischen Mittel im Auge zu behalten. Da dies traditionsgemäß auch für die Rhetorik gilt, muß sich die Differenzierung, um die Buchner sich bemüht, schließlich doch auf ästhetische Kriterien beschränken. Die Poetiken enthalten gewöhnlich ein Kapitel über Versmaß und Reim. Die Metrik ist hier wohl nur insoweit zu berücksichtigen, als seit Opitz das Prinzip gilt, daß bei den antiken Metren im Dt. betonte Silben an Stelle der Längen stehen müssen, wodurch sich ein neues und bis in die Gegenwart gültiges Verhältnis von Versmaß und Prosodie ergeben hat. Im übrigen werden die sprachlich-stilistischen Themen gemäß dem Schema der Rhetorik in dem der elocutio gewidmeten Teil abgehandelt („Von der zuebereitung vnd ziehr der worte“ heißt er bei Opitz), wo es neben der Reinheit und Richtigkeit der Sprache (puritas) auch um das Ideal der Deutlichkeit (perspicuitas) und dazu vor allem um die se-

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mantischen und syntaktischen Figuren geht. Hier ist fast alles der Tradition entnommen. Ein Unterschied zu den Anweisungen der Rhetorik liegt nicht im Kategorialen, sondern bloß in den gewählten Beispielen (die als mustergebend allerdings entscheidend waren) und im eher Quantitativen: die schmückenden Sprachmittel werden in der Poesie dichter und intensiver, auch „kühner“ angewendet. Viele Poetiken verzichten überhaupt auf eine ausgebreitete Darlegung der Stilmittel, auf die als bekannt vorausgesetzten Rhetoriken verweisend. Das Handwerklich-Lehrhafte der barocken Dichtungspraxis tritt daneben besonders in den Wörter- und Bildersammlungen zutage, die die Poetiken ergänzen (z. B. Harsdörffers ‘Poetischen Trichter’). Die für die poetische Sprachverwendung aufgestellten Normen bieten kein einheitliches Bild, weil grundsätzlich die (schon antike) Lehre von den drei Stilen (genera elocutionis) gilt: genus subtile, genus medium und genus grande sive sublime werden den Gegenständen und den Umständen entsprechend angewandt und verteilen sich, zum Teil auch in Mischungen und Zwischenformen, auf die literarischen Gattungen. Die Angemessenheit (aptum, decorum) des Stils richtet sich vor allem nach dem sozialen Rang der Personen, von denen oder zu denen der Autor spricht. Der Unterschied liegt im Grad der Entfernung von der „natürlichen“ Sprache des Umgangs bzw. im Grad der Stilisierung nach den poetischen Mustern. Insofern gibt es den Barockstil eigentlich gar nicht. Gleichwohl hat man den Eindruck, daß es nicht nur eine moderne Auffassung ist, die die charakteristischen barocken Stilvorstellungen in Texten des erhabenen Stils am ehesten verwirklicht sieht. Was der Epoche als allgemeines Ideal der poetischen Sprache gelten mochte, erhellt recht schön aus Buchners Worten (1966, 16), die übrigens auch Schottel übernommen hat, daß nämlich der Poet ausstreicht/sich in die Höhe schwingt/die gemeine Art zu reden unter sich trit/und alles höher/kühner/verblümter und frölicher setzt/daß was er vorbringt neu/ungewohnt/mit einer sonderbaren Majestät vermischt/und mehr einem Göttlichen Ausspruch oder Orakel […] als einer MenschenStimme gleich scheine.

Bei der heutigen Gesamtwürdigung des Barockstils ist zu beachten, daß sie sich gewöhnlich an besonders ausgeprägten Exponenten der Epoche orientiert, vor allem an den Werken der späten Schlesier (Gryphius, Hof-

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mannswaldau, Lohenstein). Als allgemeinste Züge der in diesem Sinn „typischen“ barokken Dichtung können gelten: das Kunstmäßige, Artistische (und somit relativ Unpersönliche), worin man einerseits den Niederschlag von Gelehrsamkeit und Rationalismus, andererseits den des Gesellschaftlichen, ja Höfischen der barocken Kunst erkennen kann, sodann das Schmuckhafte, ja Prächtige, das mit dem Hang zum Repräsentativen in der Gesamtkultur des 17. Jhs. übereinstimmt, und drittens ein Streben nach höchstmöglicher Ausdruckssteigerung, nach Pathos, wie es die Poetiken in der Lehre vom movere theoretisch begründeten, und welches soziologisch wohl auch in den höfisch-repräsentativen Funktionen eines großen Teils dieser Dichtung seine Wurzel hat. Motive für die kunstmäßige Normierung der Dichtersprache einerseits wie für die Hochstilisierung der Sprache im genus grande andererseits sind nicht zuletzt auch in den sozialen Interessen der späthumanistischen Gelehrtenschicht, die der Träger dieser Literatur ist, im absolutistischen Staat zu suchen (vgl. Sinemus 1978, passim). 3.3. Bevor einzelne Stilmerkmale zur Sprache kommen, ist auf einen generellen und tiefgreifenden Zug der poetischen Textkonstitution im 17. Jh. hinzuweisen. Bei der Dichtung des Barock sind Textinhalt und sprachlicher Ausdruck weniger eng verklammert als das bei anderen (dichterischen) Texten der Fall ist: sie sind durch eine Kombinatorik zusammengefügt worden und können vom Rezipienten bzw. Analysator auch wieder getrennt werden. Die Paraphrasierungsübungen der Poetiken (in den verschiedenen Stilen) machen deutlich, wie ein Gedanke in unterschiedliches Sprachmaterial „eingekleidet“ werden kann. Dichtungssprache (im Sinn der Sprachverwendungsmuster) erweist sich so als ein Hinzugefügtes und also auch Ablösbares, als Ergebnis von Transformationen über ursprünglichen sprachlichen Ketten. Die bevorzugten und somit charakteristischen Stilmerkmale bzw. Stilzüge lassen sich zu folgenden Punkten zusammenfassen; in gegebenen Textsegmenten können mehrere von ihnen zusammenwirken. (I) Amplifikation: Die Verbreiterung des Ausdrucks ist ein Prinzip, das die Struktur barocker poetischer Texte durchgehend prägt. Nach Opitz (1966, 32) muß man (im hohen Stil) „ein Ding nicht nur bloß nennen, sondern mit prächtigen hohen worten

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vmbschreiben“. Poetisierung der Benennung ist somit die Ersetzung und/oder Erweiterung der direkten Bezeichnung durch möglichst dekorative, bild- und assoziationsreiche Ausdrücke. Poetische Behandlung eines Themas ist seine mehrfache Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven, ist Variation des Grundgedankens. Für dieses Vertextungsprinzip liefert die Topik (die Lehre, wie man die Argumente findet) die Anleitung. Bei der Erweiterung und Umschreibung des Ausdrucks wird das Neue gesucht, in der Virtuosität auf diesem Feld sieht man die Kunst. Solche Umschreibungen sind nicht notwendig bildliche Ausdrücke (s. II), doch sind Metaphern meistens beteiligt. Formal hebt sich die Umschreibung mit dem Genitiv (besonders mit Inversion, als „dichterischer Genitiv“) als beliebte Gruppe hervor (der Weisheit Zier, der Erde schöner Ball), daneben die Zusammensetzung (Wollustwein, Alabasterbrust), auch wird beides kombiniert (Zauber-Gift der Lust). Semantisch sind diese Bildungen nicht einheitlich; am häufigsten bestehen sie jedoch aus einer (direkten oder tropischen) Benennung des Denotats mit einer Prädikation (die auch ein Vergleich sein kann). In dieser zugefügten Prädizierung besteht die Amplifikation; das hat seine Entsprechung in den adjektivischen Attributen (epitheta), die seit Opitz’ ausdrücklicher Empfehlung (nach antikem Vorbild) fester Bestandteil der Dichtungssprache geworden sind („dichterisches“ oder „schmückendes Beiwort“). Von deren Angemessenheit, ihrem ästhetischen und intellektuellen Wert handeln die Poetiken. Beliebt sind auch hier Komposita (die geisterreichen Lippen, zucker-süße Lust, dein himmels-runder Bauch, Hofmannswaldau, ‘An Lauretten’); als „scharfsinnig“ werden Oxymora hochgelschätzt (unschuldige Schuld, barmherziger Neid, bitterer Honig, Stieler). ⫺ Opitz (1966, 26) nennt als Beispiele für Umschreibungen mittels Neubildungen Arbeittrösterin und Kummerwenderin für Nacht; Harsdörffer (1975, III, 356 f.) gibt unter diesem Stichwort einen ganzen Katalog: „Die Mutter der Träume/die sanffte/stille/übermüde/Pechschwartze/Mohrenfarbe Königin der Schatten/die Pförtnerin der Ruhe/die Sorgenwenderin. Die Fürstin der Finsterniß. Die Tunkelträge Nacht ist pechschwartz durchgebrochen/die Angstbetrübte/stock-dick-finstre/blinde Nacht […]“

(II) Bildlichkeit: „Ut pictura poesis“ (Horaz) ist ein Leitsatz der Poetiken; Bildlichkeit, in verschiedenen Ausprägungen, gilt

allgemein als wesentliches Merkmal des Barockstils. Auch dies ist ein Prinzip, das sich ebenso im einzelnen Ausdruck (als Metapher) wie in der Textkonstitution auswirkt: in breit ausgeführten Vergleichen, Allegorien, Gleichnissen, aber auch in der typisch barocken Lyrikart der Bilderreihung (Ikon). Auf eine Typologie der Erscheinungsformen der Bildlichkeit (die übrigens durchaus auch als eine Form der Amplifikation aufzufassen ist) kann hier nicht eingegangen werden. Hinzuweisen ist jedoch auf das aus Bild und Text gemischte Genre der Emblematik, eine Lieblingsgattung der Zeit, die das Denkmuster besonders deutlich macht: eine Erscheinung der sinnlichen Welt (oder aus der Mythologie) wird „ausgedeutet“, d. h. über ein tertium comparationis ( oder auch mehrere) mit einer abstrakten Idee in Vergleichung gebracht, z. B. eine Laute mit der Eintracht oder dem Glauben. Gerade bei den Vergleichspunkten liegt der Reiz des Gedankenspiels: teils wegen der Auffindung von Korrespondenzen überhaupt, dann aber auch, weil sie besondere Aspekte an dem Bedeuteten aufscheinen lassen. ⫺ Bei allen Formen der barocken Bildlichkeit ist (wie z. B. Harsdörffer 1975, I, 12 ff. deutlich macht) zu beachten, daß zu einem vorgängigen Gemeinten (nicht notwendig, aber oft eine abstrakte Idee, ein Gedanke) die anschauliche Entsprechung gesucht wird: rational durchgeführte Vergleiche liegen zugrunde, wenn sie nicht überhaupt explizit ausgeführt werden. Die Suche nach immer neuen, überraschenden Vergleichen bzw. die Enträtselung entlegener Metaphern wird schließlich als ein geistreiches Spiel betrieben. Die (ganz überwiegend substantivische) Metapher ist, neben Reim und Metrum, das bedeutendste Schmuckmittel der barocken Dichtung. Neue Metaphern waren für den Produzenten die wichtigste Möglichkeit individueller Sprachgestaltung. Metaphernhäufung führte stellenweise zu einer fast durchgängigen Tropisierung der Dichtersprache und, verbunden mit der Häufung anderer Stilfiguren, zum Schwulststil. Von den Arten, in die Windfuhr (1966, 181 ff.) die barocke Metaphorik klassifiziert hat, seien die drei folgenden hervorgehoben, bei denen die ästhetisch-kommunikativen Funktionen dieses Stilmittels deutlich werden: die „affekthaftpathetische Metaphorik“ (besonders bei Gryphius), die „dekorative Metaphorik“, die der Verschönerung der Dinge und der Steigerung des Stils dient, sowie die „scharfsinnige“, die

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diese durch entlegene Bildbereiche ergänzt (z. B. Wasser-Haus oder hölzernes Pferd für Schiff). Als bildspendende Bereiche, die im Barock allgemein beliebt sind, sind vor allem zu nennen: Unwetter, Seefahrt, Himmelserscheinungen, Edelsteine, Kostbarkeiten, Speisen und Getränke. (III) Steigerung: Der hyperbolische Stilzug des Barock ergibt sich aus der Vorliebe für Superlative, für extreme Metaphern (Schnee und Eis stehen für die Kälte der Empfindung, Flamme, Feuer und Glut für Gefühlswärme) sowie für „mehr als"-Vergleiche („Mund! der vergnügter blüht, als aller rosen schein. Mund! welchen kein rubin kan gleich und ähnlich seyn“, Hofmannswaldau). Auch ein Mittel der Steigerung ist die Häufung, in meist asyndetischer Reihung gleicher Satzteile, bei Sätzen oder Versen oft durch Parallelismus oder Anapher verstärkt („umbkamen, starben, verdarben und crepirten“, Grimmelshausen: „ ‘Tieff’ vnd Höh’! Meer! Hügel! Berge! Felß! wer kan die Pein ertragen?“, Gryphius). (IV) Antithese: Antithetische Konstruktionen begegnen bei Komposita (bittersüß) wie auch in Sätzen bzw. Versen, das Prinzip läßt sich sogar im Textaufbau nachweisen („Diß soll für diese kurtze Pein uns ewig unsre Freude seyn“, Fleming; „morden/und wieder ermordet werden/todt schlagen/und wieder zu todt geschlagen werden …“, Grimmelshausen). Lohenstein ordnet die Bilder gerne antithetisch an („In dem dein Hertze Schnee/dein Antlitz Feuer nehr’t“); Eis und Glut, Wermut und Honig, Zucker und Gift, Stein und Wachs u. dgl. mehr werden so entgegengesetzt. Die Antithese erscheint so oft, daß sie als das auffälligste Stilmerkmal des 17. Jhs. bezeichnet werden konnte; eine geistesgeschichtliche Betrachtungsart sah in ihr das Symptom weltanschaulicher Zerrissenheit, einer Gespaltenheit zwischen Diesseits und Jenseits. Demgegenüber ist zu beachten, daß es sich um ein traditionelles rhetorisches Stilmittel handelt, dessen Anwendung (wirkungs)ästhetisch hinreichend motiviert ist, indem es den Texten eine gewisse Spannung und Brillanz verleiht. (V) Bildnerisches Spiel mit dem Wortmaterial: so sei eine Gruppe von Erscheinungen zu einem Stilzug zusammengefaßt, der sich in das Gesamtbild der artistischen Wortkombinatorik, als welche das Poetische im Barock weitgehend erscheint, sehr gut einfügt. Dahin gehört schon die bereits erwähnte Neologismenfreudigkeit. Seit Opitz

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wird die Bildung „newer wörter“ sehr empfohlen. Es sind sehr viel öfter Komposita als Ableitungen; als Epitheta erscheinen häufiger Partizipien des Präteritums wie benelkt, gelegentlich Zusammensetzungen mit Substantiven wie gotterhitzt. Am deutlichsten zeigt sich der Stilzug jedoch in den beliebten Wortspielen (Concetti): Mehrdeutigkeit, Wortähnlichkeit und der Gleichklang von Eigennamen und Appellativen werden zu poetischen Gedanken verwendet. (Ein Beispiel von Harsdörffer: „mein Dach von Helffenbein/zu helffen mancher Pein erbaut“). Schließlich ist auch die besonders von Zesen und den Nürnbergern (Harsdörffer, Klaj, Birken) gepflegte Klangmalerei in diesem Zusammenhang zu sehen. Hinsichtlich der Syntax des Satzes ist die Dichtung des 17. Jhs. kaum auf einen Nenner zu bringen (die Poetiken berücksichtigen sie übrigens kaum). Für unsere heutige Stilauffassung mag die große, weitgespannte Periode, mit reicher Hypotaxe und oft mehrfach besetzten Satzgliedern, dabei von klar geordnetem Gedankengang, als besonders charakteristisch erscheinen (so Langen 1957, 986 f.), doch ist sie keineswegs vorherrschend. Sehr deutlich tritt sogar der Gegentyp in Gestalt der „lakonischen Rede“ oder „Kurzbündigkeit“ hervor: kurze einfache Sätze, fast ohne Hypotaxe (z. B. in Zesens späten Romanen). Auch bei Grimmelshausen zeigt der Satzbau kein einheitliches Bild. „Asianismus“ und „Lakonismus“ stehen als Stilprinzipien nebeneinander; im Brief und in der Fachprosa allerdings ist die Tendenz zum asianisch aufgeschwellten Satz vorherrschend.

4.

Das 18. Jahrhundert

4.1. Im geschichtlichen Überblick über die dt. Literatursprache verdient das Barock eine besondere Hervorhebung, weil sich hier zum ersten und einzigen Mal, zwar nicht mit vollkommener Normierung und in der Realisierung mit beträchtlichen Unterschieden nach Regionen, Textsorten und Autoren, aber doch tendenziell und im Konsens einer ganzen Epoche das Bild einer Sprache der Dichtung abzeichnet als die Idee einer besonderen Sprachform, die ihre eigenen Regeln und Muster hat und als solche gelehrt werden kann. Diese Idee einer Dichtersprache ist für die Folgezeit zwar nicht mehr verbindlich, gibt aber, noch lange nachwirkend, den Hintergrund ab, gegen den man sich mit je eigener

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Sprachauffassung und Produktion absetzt. Darüber hinaus hat die poetologische Reflexion des 17. Jhs. die Punkte festgesetzt, die auch weiterhin als charakteristische Merkmale der Dichtungssprache gelten, und fast das ganze folgende Jh. hindurch werden die Normen des Poetischen gerade nach diesen Topoi, wenn auch durchaus kontrovers, abgehandelt. Insofern zeichnet sich eine Kontinuität ab, die von Opitz bis Gottsched und Breitinger reicht. Ein Katalog dieser Punkte steckt also den Rahmen ab, in dem in der Neuzeit Sprache der Dichtung in den Blick kommt und bewußt ausgestaltet wird: (1) die Differenz Poesie ⫺ Prosa, (2) Metrum und Reim, (3) die Norm des Hochdeutschen gegenüber Dialektismen und Archaismen, (4) die Zulässigkeit von Fremdwörtern, (5) die Differenz verschiedener Stile, (6) die Bildlichkeit (von der die Metaphorik nur eine Ausprägung ist), (7) das Beiwort, (8) der Neologismus, (9) die Klangqualitäten von Wörtern und Ketten, (10) Stilwerte der Wörter und (11) die Möglichkeiten der Wortstellung im Vers. 4.2. Die weitere Entwicklung wird mittelbar von einigen Faktoren beeinflußt, von sprachlichen Leitbildern, die zwar außerhalb der Dichtung liegen, aber in sie hineinwirken. Gegen Ende des 17. Jhs. kommt, nach frz., ital. und span. Vorbild, das Ideal des „Weltmanns“ in Mode, die „Galanterie“, eine Verbindung von höfischen Werten und „gelehrter“ Bildung. Die Formen des Umgangs werden dadurch bestimmt, daß (nach Thomasius) „aller Zwang, affectation und unanständige Plumpheit“ verpönt sind. Für das Sprachverhalten bedeutet das eine Abwendung vom Gekünstelten, Konstruierten, Weitläufigen, Pathetischen und Schmuckbeladenen, gerade also von typisch barocken Stilzügen: zugleich deutet sich in den ungekünstelten und ungezwungenen (jedoch nicht vulgären) Verhaltensformen eine Nivellierung des Unterschieds zwischen höfisch und (bildungs)bürgerlich an. Zur galanten Lebensart gehört die Kultivierung des Gesprächs; man empfiehlt leichtverständlichen Satzbau und pointierten Ausdruck. Für die geschriebene Sprache werden diese Forderungen auf den Briefstil übertragen, wie die zahlreichen Briefsteller der Epoche ausweisen. Man findet die Maxime, daß die niedergeschriebenen Gedanken so aussehen sollten, als seien sie „ohne Bemühung“ geschrieben worden; und: „Ein galanter Mensch muß in allem seinem

thun natürlich seyn: derowegen muß er auch natürlich schreiben“ (Neumeister bei Wiedemann 1969, 34). Auf die Literatur mußte dieses Sprachverhalten mindestens bei Dialogen und Briefen (Briefroman!) einwirken. Mit dem Ideal der „Natürlichkeit“ ist ein Kontrast zu den humanistisch-gelehrten Stilidealen des Barock erreicht. Freilich ist der Bezugspunkt auch dieser Norm durchaus schichtspezifisch: es ist die gesellige, allenfalls familiäre Umgangssprache der gebildeten Stände; an Dialekte ist nicht gedacht. Die Sprache der Wissenschaft war bis zum Ausgang des 17. Jhs. in Lehre und Schrift fast ausschließlich das Latein. Leibniz hatte die Verwendung des Dt. auch in diesem Bereich gefordert (allerdings nicht selbst praktiziert), der Jurist Thomasius las und veröffentlichte seit Ende der 80er Jahre in der Muttersprache. Wolff begründete (in seinen Schriften ab 1710) die dt. Fachsprachen der Mathematik und der Philosophie, nicht nur durch die Schöpfung dt. Termini (die er mit genauen Erklärungen einführte und dann strikt im definierten Sinn verwendete), sondern auch durch seine klare, logisch fortschreitende, schmucklose Schreibart. Infolge der großen Wirkung seiner Schriften wurde er eine beträchtlichie Zeit lang musterbildend für die gehobene Prosa; Blackall (1966, 31 f.) macht ihn verantwortlich für die „hölzerne, akademische Steifheit vieler deutscher Prosa des frühen 18. Jhs., Kehrseite der Disziplinierung und Präzisierung der Ausdrucksweise, die die Epoche, neben zahlreichen Wortbildungen, bei ihm gelernt hat. Ihre weite Verbreitung ließ die literarischen Zeitschriften, besonders die „moralischen Wochenschriften“ der ersten beiden Jahrzehnte des Jhs. (Thomasius, Mattheson, Bodmer, Breitinger und Gottsched sind ihre wichtigsten Herausgeber und Autoren), zu sehr wirksamen sprachstilbildenden Faktoren werden. Blackall (1966, 36 ff.) hat gezeigt, wie in ihnen teils aufgrund von Übersetzungen aus dem Englischen, teils aufgrund ihrer Adressierung an ein nichtgelehrtes, mittelständisches und großenteils weibliches Lesepublikum, das mehr an Unterhaltung als an Belehrung interessiert war, teils aber auch in reflektierter Ausrichtung an einem Ideal von „Natürlichkeit“ und „Vernünftigkeit“ ein neuer Stil essayistischer wie auch erzählender Prosa entwickelt worden ist, der die Grundlage für den Romanstil des 18. Jhs. werden konnte. Auch hier die Abkehr vom GelehrtUmständlichen und Rhetorisch-Schmuckhaf-

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ten, also vom „verschachtelten“ Satzbau des ciceronianischen Kanzleistils wie vom Tropenreichtum, Abkehr aber auch vom Fremdwort, sei es gelehrt oder galant-modisch. Abgezweckt wird auf Allgemeinverständlichkeit und leichte Lesbarkeit, auf einen flüssigen Stil, der den Leser fesselt und sogar amüsiert. Ebenfalls schon aufgrund seiner Quantität und Verbreitung muß auch das Erbauungsschrifttum der ersten Jahrhunderthälfte mit in Betracht gezogen werden. Es ist vor allem das pietistische, das in Blüte stand und dessen sprachliche Eigenheiten von breiter Wirkung waren. Sein großes Thema, der Weg der Seele zu Gott und das Erleben von Sündenbewußtsein, Erweckung und Heil, fand reichen Ausdruck in einer Prosa, die sich wie nie zuvor dem Gefühlsleben und der Selbstbeobachtung widmete. Auch dies war eine Literatur der Nicht-Gelehrten, auch an ihr waren Frauen stark beteiligt. Hier wurde der Grund für die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten des Subjektivismus und Irrationalismus des Jhs. gelegt. Daneben steht ein Einfluß lexikalischer Art, der als Säkularisation religiösen Wortguts zu kennzeichnen ist und in der Literatur weit über das 18. Jh. hinaus, jedoch nie mehr so gehäuft wie in diesem beobachtet wird. Die Forschungen Langens haben im einzelnen nachgewiesen, in welch gewaltigem Umfang pietistische Prägungen in die Literatur- und zum Teil sogar in die allgemeine Hochsprache eingegangen sind. Dabei handelt es sich nur zum kleinsten Teil um sondersprachliche Neubildungen der Pietisten; hauptsächlich sind es Wörter biblischer oder mystischer Hekunft oder auch solche aus der allgemeinen Sprache, die durch pietistische Verwendung semantische Komponenten, mindestens aber Kontext-Assoziationen angenommen haben (wie z. B. Fülle, Stille, Grund, sich versenken); ihr späterer, weltlicher Gebrauch verband sich dann für die Autoren wie sicher auch für einen Großteil der Rezipienten konnotativ mit diesem religiösen Horizont. In der Metaphorik sind hier die Bildbereiche des Lichts, des Feuers und des Wassers besonders ausgebaut worden; wortbildungsmäßig fallen die zahlreichen Verben mit richtungsanzeigenden Präfixen auf (z. B. entgegenquellen, herzuneigen, herabströmen, hinhelfen, eingeben, hineinbilden, durchhellen), sie verleihen den Texten eine Isotopie von Bewegung und Dynamik, auch dies ein Zug, der bei weltlicher Dichtung, vor allem bei Klopstock wiederkehrt.

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4.3. Symptomatisch und richtungsweisend zugleich für den Umschwung in der Stilauffassung der Frühaufklärung ist Christian Weise, dessen hauptsächlich rhetorische Schriften schon seit Ende der 70er Jahre erscheinen. Er wendet sich nicht nur gegen den mit Schmuckformen überladenen Stil der Schlesier, er zerstört gerade das, was die Barockpoetik erstellt hatte: eine eigene Stilnorm der Dichtung (insofern sie mehr umfaßt als Metrum und Reim). In der Syntax gibt ihm die Prosa die Norm: „Welche Construction in prosa nicht gelitten wird/die sol man auch in versen darvon lassen“; zudem wird ausdrücklich das lateinische Vorbild, die ciceronianische Periode also, abgelehnt. In der Wahl des Ausdrucks hat sich der Dichter am „sermo familiaris“ zu orientieren, Metaphern und Neologismen sind mehr oder weniger verpönt. Das Stilideal ist das der „Natürlichkeit“ und „Ungezwungenheit“; Dichtung reduziert sich so auf versifizierte Prosa ⫺ und nicht einmal Kunstprosa. Dieses Stilprinzip einer bis zur Nüchternheit getriebenen Schlichtheit und Klarheit fand seine Verbreitung, unterstützt durch die Wirkung Boileaus (Art poe´tique, 1674). In der Dichtung wurde das Programm etwa von den sogenannten Hofdichtern (Canitz, Neukirch, König, Besser) und von Wernicke am Beginn des 18. Jhs. eingelöst. Gleichwohl wurde es nicht für die literarische Aufklärung schlechthin bestimmend; Gottsched polemisierte gegen Weise, weil er die Dichtersprache zu niedrig angesetzt habe. Gottscheds Rolle als Kritiker und Lehrmeister der Aufklärungsliteratur war derart, daß er auch bezüglich des Sprachstils die leitenden Normen einer ganzen literarischen Richtung teils formulierte, teils auch selbst bestimmte. Die Resonanz seiner Lehre (seit 1730 Professor in Leipzig) wie seiner Lehrwerke (Grundriß einer vernünftigen Redekunst, 11728, Versuch einer critischen Dichtkunst, 11730, Grundlegung einer deutschen Sprachkunst, 11748) war beträchtlich und erstreckte sich auch auf den süddeutschen Raum. Hinsichtlich der Sprachform verzichtete er nominell auf den Primat des Meißnischen, er orientierte sich vielmehr an einem Kanon vorbildlicher Autoren (er nennt Canitz, Besser, Neukirch, Günther u. a.), faktisch aber setzte er das Obersächsische als Hochsprache durch; auch die Preußen, Brandenburger oder Niedersachsen aus seiner Liste stammten ja aus Gebieten, die seit der Reformation durch die Schule von Luthers

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omd. Sprache gegangen sind. Eine für die Dichtung nicht unwesentliche Folge dieser Normierung war, daß mit der Verpönung von Mundartlichem in der Literatursprache eine Quelle anschaulicher und emotionaler Ausdrucksmöglichkeiten verstopft wurde, worauf besonders seine Schweizer Kritiker hingewiesen haben. Für Gottscheds stilistische Auffassungen sind Prinzipien der Aufklärung ⫺ Vernünftigkeit, Klarheit, Sachlichkeit ⫺ grundlegend, doch verkürzt man seine Ästhetik und Stilistik, wenn man ihn ⫺ was bei seinen Gegnern und bis in die heutigen Darstellungen hinein allzu oft der Fall ist ⫺ allein darauf festlegt; das Bild, das seine Schriften bieten, ist reichhaltiger. Ein rationalistischer Zug ist gewiß die Betonung des Stilideals der „Deutlichkeit“ (als ‘perspicuitas’ allerdings immer schon ein zentraler Begriff der rhetorischen Tradition); unverständliche Wörter sind ebenso zu vermeiden wie unübersichtliche Konstruktionen, die Sätze sollen deutlich abgeschlossen und nicht zu lang sein. Das tritt in der Prosalehre der ‘Redekunst’ allerdings viel stärker hervor als in der ‘Dichtkunst’; dort ist auch mehrfach vom Primat des Gedankens vor der sprachlichen Form die Rede, und man findet Maximen wie: „Die logische Richtigkeit eines Gedankens muß aller Perioden innerliche Schönheit ausmachen, die hernach durch den Ausdruck nur geputzet wird“ (1736, 270), und: „Was nicht vernünftig ist, das taugt gar nicht“ (1736, 330). Für die Prosa empfiehlt er, der Verständlichkeit wegen, als Vorbild die gebildete Umgangssprache: „Man rede und schreibe, wie man im gemeinen Leben unter wohlgesitteten Leuten spricht“ (1736, 267). In der Dichtung ist damit Gottscheds Stilideal jedoch keineswegs getroffen. Hier wirkt die barocke Tradition noch kräftig nach: Schönheit, Glanz, Erhabenheit, edle Art in Denken und Ausdruck sind ihm wesentliche Merkmale von Poetizität, und daneben wird sehr nachdrücklich Expressivität („Feuer, Heftigkeit, Lebendigkeit“) als gesteigerte Sprachform herausgestellt. Gottsched hat eine eigene Drei-StileTheorie entwickelt (1962, 355 ff.; entsprechend auch in der ‘Redekunst’: 1736, 338 ff.), die er in den (schon von Cicero und Quintilian aufgestellten) Funktionen der Dichtung, dem Belehren, Belustigen und Bewegen, fundiert sieht: Der „natürlichen oder niedrigen Schreibart“ setzt er einerseits die „sinnreiche“, auch „hohe, scharfsinnige, geistreiche, prächtige“, und andererseits die „pathetische,

affectuöse, feurige, bewegliche, hitzige Schreibart“ entgegen, jede von ihnen hat ihren Platz in der Dichtung, und es ist keineswegs so, daß er die erste, die der platten Prosa nahesteht, favorisiert. Die sprachlichen Mittel der „sinnreichen Schreibart“ sind vor allem die Tropen (die „verblümten Redensarten“), die er ausführlich verteidigt (1962, 257 ff.), die der „pathetischen“ sind die syntaktischen Figuren. Im lexikalischen Bereich verwirft Gottsched Archaismen und Fremdwörter, von Neubildungen rät er eher ab, erkennt andererseits aber den Reiz gelungener Wortschöpfungen selbst bei einiger „Kühnheit“ an. Beiwörter machen die Schönheit der poetischen Schreibart mit aus, sie sollen jedoch nicht gehäuft werden und müssen semantisch oder ornativ motiviert sein. Schließlich finden wir bei ihm eine stilistische Wortschatzdifferenzierung: bei den „üblichen“ Wörtern unterscheidet er zwischen „gemeinen“ und „ungemeinen und seltsamen“; die „ungemeinsten“ sind die dem poetischen Gebrauch angemessenen. Auch im Kernbereich der Theorie der poetischen Sprache finden sich rationalistische Elemente. Den Reiz der Metapher sieht er (wie schon Aristoteles) in dem intellektuellen Vergnügen am Entdecken von Ähnlichkeiten und Beziehungen („Scharfsinnigkeit“). Die „poetische Schreibart“ (1962, 346 ff.) ist in einer besonderen „Art zu denken“ begründet; bei dieser ist zunächst „eine gesunde Vernunft, richtige Begriffe von Dingen, und eine große Kenntnis von Künsten und Wissenschaften“ vorausgesetzt, das spezifisch Poetische liegt in einer überdurchschnittlichen „Scharfsinnigkeit“ und Einbildungskraft, so daß Eigenschaften und Beziehungen vielfältiger wahrgenommen werden als üblich und mannigfache Einfälle „aus einem solchen lebhaften Kopfe entstehen“: „Gleichnisse, verblümte Ausdrücke, Anspielungen, neue Bilder, Beschreibungen, Vergrößerungen, nachdrückliche Redensarten, Folgerungen, Schlüsse“ u. dgl. (1962, 351). Das Poetische erscheint so als ein Texterzeugungsprogramm, das ein gegebenes Thema mit einer Fülle von gedanklichen Inhalten versieht, die nicht expliziert, sondern in abwechslungsreicher, zum Teil leicht verfremdeter, verrätselter („verblümter“), und immer gefälliger, schmuckhafter Weise verbalisiert werden. Die leidenschaftliche Ausdrucksweise steht als eine Alternative daneben.

196. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in neuhochdeutscher Zeit

Hatte Gottsched stilistische Prinzipien der Aufklärung mit Grundauffassungen von der poetischen Sprache aus der humanistischen und barocken Tradition (ornatus, movere) verbunden, so setzen seine Schweizer Gegner, Bodmer und Breitinger, die Akzente anders und bereiten damit der nachaufklärerischen Dichtung den Weg. Auch hier wirkt übrigens ein ausländisches Vorbild, Miltons ‘Paradise Lost’. Die ‘Critische Dichtkunst’ Breitingers (1740) bewegt sich zwar durchaus noch im Gottschedschen Rahmen, wenn sie der Poesie die „figürliche“ und die „hertzrührende“ (pathetische) Schreibart zuweist, doch ist alles mehr auf das Großartige, Erhabene und auf das „Lebhafte“ und Eindrucksvolle der poetischen „Malerei“ gestimmt: „os magna sonaturum“ ist das, was den Poeten ausmacht. Der Schlüsselbegriff des ‘Wunderbaren’ betrifft zunächst mehr die Inhalte der Dichtung, aber auch ihre sprachlichen Mittel müssen entsprechend sein: der Poet „muß in seinem gantzen Ausdruck nur dass Ungemeine und Wunderbare suchen“. Seine Schilderung soll das Herz bewegen; „dazu ist die gemeine und gewohnte Art zu reden viel zu schwach: Sein gantzer Ausdruck muß darum gantz neu und wunderbar, d. i. viel sinnlicher, prächtiger, und nachdrücklicher seyn“ (1966, II, 403 f.). Das „Malerische“ in der Poesie wird betont, das Eindrückliche der Darstellung mittels Gleichnissen, Metaphern, lebhaft beschreibenden Beiwörtern. Die Forderung nach der syntaktischen Normalität der Prosa auch in der Dichtung wird verworfen, Wortstellungsfreiheiten sind pathetische Ausdrucksmittel. Eine wichtige stilistische Kategorie wird mit dem Begriff des ‘Machtworts’ geprägt. Es sind Ausdrücke, welche nach Breitingers Definition (1966, II, 50) einen an sich bekannten Begriff bezeichnen, jedoch „hiemit viel gedencken lassen, und ein Ding mit besonderem Nachdruck zu verstehen geben“. In ihnen liegt „die herrlichste Zierde einer Sprache“, sie machen die Rede „nachdrücklich“, sie sind ein Mittel gegen die „Mattigkeit“ der neueren Literatur. Gemeint sind Ableitungen, Komposita, lexikalisierte Metaphern und insbesondere auch idiomatische Wendungen (auf etwas gehen, den Feind bestehen, losbürgen sind einige seiner Beispiele). In die gleiche Richtung geht, daß Mundartausdrücke und Archaismen geschätzt und empfohlen werden. Bodmer preist in mehreren Abhandlungen und Ausgaben die Sprache der klassischen mhd. Dichtung und bereitet so den Boden für man-

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che Neubelebung mhd. Wortgutes in den folgenden Jahrzehnten. Um die Jahrhundertwende dominieren in Dichtung und Poetik zwei konkurrierende Stilideale: eines der Klarheit, „Natürlichkeit“ und Flüssigkeit, und eines der Ausdrucksstärke und Erhabenheit. In der Lyrik findet sich das erste etwa bei Hagedorn und den anderen Anakreontikern, das zweite bei Haller, bei Lange und Pyra und vor allem dann bei Klopstock. 4.4. Innerhalb eines Rahmens, wie er in etwa von den großen Stiltheoretikern markiert wird, findet zumal in der zweiten Hälfte des Jhs. eine reiche Entfaltung von Individualstilen statt; diese können bis auf zwei Ausnahmen hier nicht einmal umrißhaft skizziert werden. An Gruppenstilen zeichnen sich vor allem die der Anakreontiker und der Empfindsamen ab. Beide sind in erster Linie durch eine typische Themen-, Motiv- und Wortwahl bestimmt. Die Rokokodichtung geht aus einer Kultur des „Witzes“ (der nach Wolff eine Verbindung von Scharfsinnigkeit und lebhafter Einbildungskraft ist) und der Empfindung hervor, sie strebt das Gefällige, Graziöse, auch Scherzhafte an, wendet sich ohne Pathos an das Gefühl. Mit ihrem Verzicht auf alles Schwere, Breite, Konstruierte im sprachlichen Ausdruck, mit ihren kurzen Versen, dem flüssigen, parataktischen Satzbau und der Schlichtheit des Ausdrucks (Abstrakta, Neologismen und entlegene Metaphern werden vermieden) hat sie die dt. Literatursprache um einen Stil anmutiger Leichtigkeit bereichert, der freilich an Themen der Liebe und des Lebensgenusses geknüpft blieb. ⫺ Auch die Empfindsamkeit sucht ihren Ausdruck in einer „natürlichen Schreibart“, sie allerdings hauptsächlich in Textgattungen der Prosa (der Briefroman ist besonders kennzeichnend). Die Empfindung nicht nur auszusprechen, sondern den Leser nachempfinden zu lassen, dafür schien eine möglichst ungekünstelte Sprache am geeignetsten; man fand sie in der gebildeten Konversationssprache, die ja auch schon für den Stil des (persönlichen) Briefes das Muster abgegeben hatte. Freilich ist diese Prosa nicht gerade Nachahmung des gesprochenen Wortes, wie vor allem der sorgfältige Satzbau beweist, sie orientiert sich vielmehr an einem Ideal des Gesprächs unter Gebildeten, das seinerseits bereits eine Art literarischer (rhetorischer) Formung impliziert. Übrigens zeigt sich hierzu eine Parallele in der Entwicklung des

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Dramas: mit dem Aufkommen des bürgerlichen Trauerspiels und dem Fortfall der Ständeklausel war für die tragischen Helden auch nicht mehr eine hohe Sprache gefordert; dem Allgemein-Menschlichen ihrer Situation entsprach nun eine durchschnittliche (jedoch nicht gewöhnliche) Stillage ihrer Dialoge, das Eindringen der Prosa in die Tragödie ist sicher in diesem Zusammenhang zu sehen. Der charakteristische empfindsame Wortschatz ist in erster Linie themabedingt: Gefühl, Empfindung, Seele werden zu zahlreichen Kombinationen verwendet, die Gebrauchsfrequenz dieser und semantisch verwandter Wörter steigt stark an. Neben dem englischen Vorbild wirkt hier der Pietismus kräftig nach (vgl. oben 4.2.). Bei Lessing finden wir einen der ausgeprägtesten Individualstile des Jhs., von Zeitgenossen und Späteren wurde seine Sprache aufs Höchste gelobt (ohne doch eigentlich Nachahmer zu haben); in unserem Zusammenhang verdient sie besondere Beachtung, weil sie als eine hervorragende Verwirklichung der Stilideale der Aufklärung gelten muß. Es ist recht eigentlich ein Prosastil (bezeichnenderweise hat Lessing für seine Fabeln die Prosa gewählt, weil Verse die erstrebte „zierliche Kürze“ ihm nicht zu erlauben schienen), in den theoretischen Schriften charakteristischer noch als in den Dramen. Der Gedanke ist es, der hier eigentlich zählt („Wahrheit allein gibt echten Glanz“), die Verbalisierung hat ihn so klar wie möglich hervortreten zu lassen („Die größte Deutlichkeit war mir immer die größte Schönheit“). Die stilistische Form ist eine bis zur Knappheit gehende Konzentrierung der Sätze, Schmuckmittel und Füllwörter, alles, was als Beiwerk des prägnanten Ausdrucks erscheint, wird weggelassen. Die Form der logischen Schlußfolgerung ist häufig, ebenso die Ordnung und Zuspitzung des Problems in Antithesen. Lakonische Trockenheit wird vermieden nicht nur durch die Pointierung einzelner Sätze, sondern vor allem dadurch, daß der Gedanke schrittweise entwickelt wird: der Leser wird einbezogen in den Prozeß des Auffindens der Wahrheit, eine Wirkung, die durch Merkmale des Dialogs und der mündlichen Rede (Anreden, Ausrufe, Fragen, Sprechen in der ersten Person, Abschweifungen) verstärkt wird. Die Dramendialoge Lessings sind an den charakteristischen Stellen (so in ‘Emilia Galotti’) von lakonischer Prägnanz und pointierter Dielaktik; kennzeichnend ist die Verfugung durch Wiederaufnahme eines

Wortes, häufig sind epigrammatische Formulierungen. Der fünffüßig jambische Blankvers, den er im ‘Nathan’ benutzt (und der seitdem der klassische dt. Dramenvers ist), nötigt zu breiter ausladendem Satzbau; Lessing allerdings geht mit ihm nicht viel anders um als mit Prosa: Redewechsel im Vers, Ausrufe, Fragen und Enjambements unterbrechen den Versfluß, stellenweise bis zur Unkenntlichkeit. In Klopstocks Dichtung steht der Gegenpol des Aufklärungsstils da, weithin gefeiert und musterbildend, Bodmer und Breitinger konnten in ihr die geniale Einlösung ihres Programms erblicken. Es geht hier um sein episches und lyrisches Werk (veröffentlicht seit 1748), Dramen und Prosa bleiben außer Betracht. In seinen theoretischen Schriften trennt er aufs schärfste die Poesie, ganz besonders die „höhere“, von der Prosa. „Herz“ und „Genie“, nicht der „Witz“ (Gottsched!) sind die sie hervorbringenden Kräfte. Es ist auffallend, wie stark die Kategorie des Schmucks für ihn zurücktritt, die des Erhabenen ist dominant. Im Zentrum steht für ihn die Wirkung der Dichtung, seine Wirkung, die auf die Totalität des Seelischen geht: „die Seele […] ganz in allen ihren mächtigen Kräften [zu] bewegen“, ist das Ziel. Es geht dabei vor allem um die Empfindungen und das „Herz“, denn wenn dieses entflammt ist, wird „die ganze Seele weiter, alle Bilder der Einbildungskraft erwachen, alle Gedanken denken größer“ (‘Von der heiligen Poesie’, 1755). Gewiß hängt zwar in erster Linie solche Wirkung von Themen und Inhalten der Dichtung ab, aber die Sprachmittel haben durchaus ihren Anteil dabei. „Den Gedanken, die Empfindung, treffend, und mit Kraft,/Mit Wendungen der Kühnheit, zu sagen“ (Ode ‘Unsre Sprache’): das ist die Aufgabe. Theoretisch behandelt Klopstock unter diesem Gesichtspunkt (von Gattungsfragen abgesehen) die Wörter und den Satzbau. Fremdwörter werden abgelehnt („Die Sprache eines Volks bewahrt seine Begriffe, Empfindungen, Leidenschaften, dies alles oft bis zur feinsten Nebenausbildung, wie in einem Behältnis auf“, heißt es 1779 in den ‘Fragmenten’, in schon Herderscher Weise; und das Deutsche ist reich und edel in dieser Hinsicht); in der höheren Poesie sind „edle“ Wörter und solche, die „Nachdruck“ haben, solche „von ausgemachter Stärke“ zu verwenden. Es ist die Idee des Machtworts, die hier aufgegriffen wird; Klopstock zählt ausdrücklich die „mit Geschmack zusammengesetzten“ dazu (‘Von

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der Sprache der Poesie’, 1758). Für seine Dichtung sind denn auch die Komposita, darunter viele neugebildete, charakteristisch, in denen die Wortinhalte zusammengeballt werden („der dem silberhaarigen tatenumgebenen Greise,/Wie sehr er ihn liebe! das Flammenwort hinströmen will“, ‘Mein Vaterland’), Kühnheiten und Dynamisierungen wie vor allem absolut gebrauchte Komparative (ernster tieferer Geist), als Konkreta und pluralisch gebrauchte Abstrakta (doch wohnt ein Unsterblicher in den Verwesungen), transitiv gebrauchte Intransitiva (vgl. oben hinströmen), richtungsanzeigende Präfixe, die den Verbinhalt als Bewegung erscheinen lassen (die Väter hörten hinauf, die Sonnen entzitterten Gottes schaffender Hand), das Simplex statt des Kompositums (sich fernen statt sich entfernen), Verkürzung durch Einsparung von Hilfsverben (weshalb oft das Präsens anstelle des Futurs, das Imperfekt anstelle des Perfekts steht). Nicht zuletzt wirkt sich „nachdrücklich“, weil dynamisierend, der häufige Gebrauch von Partizipien, speziell des Präsens, aus, besonders charakteristisch in Zusammensetzungen und Substantivierungen (der wankendströmende Jordan, der Ewiglebende). In einigen dieser Merkmale verbindet sich mit dem „Nachdruck“ ein Stilprinzip der Kürze, das sich vielfach bei ihm nachweisen läßt (vgl. Schneider 1965, 57 ff.). ⫺ Bezüglich des Satzbaus verteidigt Klopstock vehement das Recht der Poesie auf Abweichung von den Wortstellungsregeln der Prosa. Besonders die Oden zeigen, teilweise nach antikem Vorbild, eine Gedrängtheit und Verschränkung der Sätze, die sich von der Prosa denkbar weit entfernt (ohne daß freilich die Satzbaupläne selbst zerstört werden). Der Eindruck der Hochgespanntheit, den Klopstocks lyrische Texte vermitteln, beruht neben dem Wortgebrauch, der Knappheit und der Wortstellung aber nicht zuletzt auch auf der Verstechnik: ohne die ordnende und schmückende Melodik des Reims sind die Sätze, mit zahlreichen Enjambements, in das Metrum antiker (oder diesen nachgebildeter) Odenformen gespannt. Klopstock ist der Schöpfer der freien Rhythmen; das Zusammen- und Gegenspiel von syntaktischsemantischer Satzgliederung und Sprechrhythmus wird hier, unter Verzicht auf die herkömmlichen textuell-formalen Mittel, Grundlage der poetischen Sprachsteigerung. Klopstock sah sich als Schöpfer einer neuen poetischen Sprache („Die Erhebung der Sprache,/Ihr gewählterer Schall,/Beweg-

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terer, edlerer Gang“: so bezeichnet er seine Leistung in ‘An Freund und Feind’, 1781), und ohne Zweifel hat er für die nhd. Literatursprache das Register des Erhabenen, des Hymnischen ausgebildet. Sein Einfluß war weitreichend, erstreckte sich keineswegs nur auf Zeitgenossen (Hölderlin ist wohl das größte Beispiel). Von besonderer Bedeutung war, daß sein Werk auch im katholischen Süden geschätzt und nachgeahmt wurde; er hat so durch sein Muster, noch vor den Klassikern, nicht unwesentlich zur Vereinheitlichung der nhd. Literatursprache beigetragen. 4.5. Die Generation des Sturm und Drang fand ihren literarästhetischen Wortführer in Herder (namentlich seine Fragmente ‘Über die neuere deutsche Litteratur’, 1766/67, und der Aufsatz über Ossian, 1772, sind zu nennen); seine Auffassungen (die übrigens in manchem an Hamann anknüpfen) müssen daher hier in ihren wichtigsten Punkten Platz finden. (1) Herders These von dem innigen Zusammenhang von „Gedanken und Ausdruck“ bedingt eine neue Wertschätzung der muttersprachlichen Dichtung und einen neuen Anspruch an den „Originalschriftsteller“: Dichtung im hohen Sinn kann nun nicht mehr so etwas wie ein Arrangement von Wörtern nach ästhetischen Regeln oder Mustern sein, das einen vorgängigen Gedankeninhalt einkleidet, originale Dichtung ist vielmehr echte, schöpferische Einheit von Wort und Gedanken. (2) Schon von diesem Ansatz aus muß alles Schulmäßige, Erlernte, von fremden Literaturen Übernommene abgelehnt werden. An die Stelle der Bindung an irgendeine Regelpoetik tritt die Genieästhetik. Als die Instanzen, die jetzt statt der Regeln und Vorbilder gelten, nennt Herder „die Natur“ und „das Herz“. (3) Die Poesie wird an den urtümlichen Sprachzustand herangerückt. In Herders Geschichtsmodell entspricht sie dem Jünglingsalter der Sprache (die Prosa ihrem Mannesalter), dessen Merkmale Sinnlichkeit, Reichtum an kühnen Bildern, Leidenschaftlichkeit des Ausdrucks und syntaktische Freiheit sind. Die Nähe zur „Kindheit“ der Sprache, die Herder als rauh, wild und leidenschaftlich vorstellt, ist noch spürbar; besonders ist noch vieles von dem, was an Sinnlichem der urtümlichen Sprache eignete (gemeint sind Klang, Gebärde, Tanz, Gesang), erhalten geblieben.

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(4) Die Sprache der Dichtung ist „Sprache der Empfindungen“; die Anforderungen an den Ausdruck stoßen an die Grenzen der sprachlichen Möglichkeiten („armer Dichter, […] du sollst deine ganze lebendige Seele in todte Buchstaben hinmahlen“, heißt es im 6. Fragment der 3. Slg.). Zugleich soll die Sprache der Dichtung ⫺ und damit ist eine Abgrenzung gegenüber dem bloß empfindsamen Ausdruck gegeben ⫺ „stark“ sein: „Kraft ist das Wesen der Poesie“. (5) Die Orientierung an urtümlichen Zuständen der Sprache führt zu einem schroffen Paradigmenwechsel: anstelle der Kunstdichtung gibt die „wilde“ Dichtung, geben die „Lieder des Volkes“ jetzt die Muster, speziell für die Lyrik. Hier findet sich „Natur“, „Gefühl“, „Herz“, „Stärke des Ausdrucks“. Daneben werden altdeutsche Dichtungen gepriesen, Luthers Lieder ⫺ aber auch Klopstocks Oden. (6) Einzelne Stilmerkmale, die Herder besonders hervorhebt, sind: sinnlich-melodische Züge („Wohlklang! er wird, was er war. Kein aufgezähltes Harmonienkunststück! Bewegung! Melodie des Herzens! Tanz!“, Nachschrift des Ossian-Aufsatzes), kräftige Bilder, „Machtworte“, „Idiotismen“ (d. i. die unübersetzbaren Ausdrücke einer Sprache, in denen ihre „Seele“ lebt; er empfiehlt, sie aus Mundarten und aus älteren Sprachepochen zu sammeln), „Elisionen“ (Apokopen, Synkopen, Ersparung von Artikeln und Pronomina; sie verdichten und kräftigen den Ausdruck), „Inversionen“ (Freiheiten der Wortstellung) und schließlich „Würfe“ und „Sprünge“, d. h. in der Textverkettung ein weitgehender Verzicht auf Konnektoren, Begründungen, Überleitungen u. dgl. Goethes frühe Dichtung seit der Straßburger Zeit weist diese Merkmale insgesamt auf. Das Erbe Klopstocks wirkt nach in der Bildung „kraftvoller“ Komposita, im Gebrauch von Partizipien und dynamisierenden Verbalpräfixen, in der Textform der freien Rhythmen. Neben dem Volkslied wird die Sprache des 16. Jhs. (Luther, Sachs) nachgeahmt, der Knittelvers neu belebt. (Andere Autoren gehen in der Archaisierung bis zum mittelalterlichen Sprachgut zurück, so besonders der Göttinger Hain). Der Sturm und Drang hat der Prosa einen neuen Stellenwert zugewiesen; mit wenigen Ausnahmen ist sie die Sprachform seiner Dramen. Die Ablehnung allen Regelzwangs hat ebenso dazu geführt wie eine bewußte

Annäherung an die gesprochene Sprache. Diese verbindet sich mit der Hinwendung zum Volkstümlichen: Umgangs- und Alltagssprachliches, und damit auch Mundartliches wird in die Literatursprache aufgenommen. Zu echter Mundartdichtung kommt es freilich nicht (Vossens nd. ‘Idyllen’ bleiben eine Einzelerscheinung in der Zeit), es sind einzelne Ausdrücke und Wortformen, die den Texten den Charakter des Volkstümlichen verleihen sollen. Immerhin finden sich in Wagners ‘Kindermörderin’ mundartliche Dialogteile; die Sprachvarietäten werden hier (wie dann erst viel später wieder im naturalistischen Drama) zur Charakterisierung der Personen bzw. ihrer Standeszugehörigkeit eingesetzt. Von einem einheitlichen Stil des Sturm und Drang kann man kaum sprechen. Als oberstes Ideal gilt zwar das des kräftigen, ja „wilden“ Ausdrucks, das starke Gefühl dominiert bis zur Verunmöglichung des Sprechens („Mich durchglüht’s. Was braucht’s Reden?“ läßt Klinger eine seiner Figuren sagen). Damit muß Verbalisierung nicht nur prinzipiell einen ganz anderen Wert erhalten als für jede rationalistische Auffassung, auch für den Sprachstil müssen die Konsequenzen sich deutlich abheben. Es gibt jedoch einander entgegengesetzte Tendenzen. Blackall (1959, 273 ff.) hat eine Antinomie von Unartikuliertheit und Geformtheit aufgezeigt: Knappheit, Ellipsen, Apokopen, Interjektionen, Inversionen, Wiederholungen, alltagssprachliche Derbheiten, herausgeschleuderte Satzfragmente auf der einen Seite, Klopstocksche „Machtwörter“ und verbale Dynamisierungen, kühne Bilder, rhetorisches Pathos (so vor allem beim jungen Schiller im Ausklang der Sturm-und-Drang-Ära) auf der anderen. Beides dient der Intensivierung des Ausdrucks. Nach den wenigstens in der Tendenz relativ einheitlichen Bestrebungen der Barockzeit bietet das 18. Jh. ein in der Geschichte des Deutschen bis dahin einzigartig vielgestaltiges Bild. Die Vielfalt der zum Teil antagonistischen Stilnormen und die Fülle großer und originaler dichterischer Leistungen, die als Vorbilder weiterwirkten, haben der dt. Literatursprache jenen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten beschert, den die Klassiker als Geschenk und Vorgabe für den Dichter gerühmt haben, und den die folgenden Generationen nur eher modifizierend als wirklich innovatorisch vermehren konnten.

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5.

Klassik und Romantik

5.1. Das Ideal des klassischen Sprachstils, welches für Goethes Produktion seit der italienischen Reise und etwa gleichzeitig auch für Schiller bestimmend wurde, hat keine theoretisch-lehrhafte Ausformulierung erfahren. Die ästhetischen Schriften beziehen sich eher beiläufig und gelegentlich auf Sprachliches, hinzu kommt, daß wenigstens für Goethe die Poesie an Rang hinter die bildenden Künste zurücktritt und, zumindest in einer seiner Schaffensepochen (eben im Anschluß an die italienische Zeit) Skepsis bezüglich der Leistungsfähigkeit der Sprache allgemein und der dt. zumal seine Sprachreflexion beherrscht. Es ist also von allgemeineren Kunstidealen auszugehen und ihre Auswirkung auf die Sprachgestaltung aufzusuchen. Die wesentliche Fundierung klassischer Gestaltung ist in dem Gedanken der Form, des Maßes, des zwingenden, beschränkenden Gesetzes, sowie in der Idee des Allgemeinen, des objektiv Gültigen zu erblicken, auf das hin alles Individuelle zu stilisieren ist. Beides führt zu deutlicher Abwendung von der „natürlichen“, spontanen, individuellen und ausdrucksintensiven Textgestaltung des Sturm und Drang. Auf der Ebene der Sprachnormen äußert sich dies darin, daß die Mundart nun keineswegs mehr als kraftvollste, lebendigste Sprachform geschätzt wird, Idiotismen werden in der Dichtung kaum mehr toleriert, die Entscheidung ist wieder ganz für eine hohe, einheitliche Schriftsprache gefallen. In der Fremdwörterfrage dagegen war man gemäßigt, „Reinheit der Sprache“ war kein sehr strenges Gebot; in der Dichtung, vor allem im Roman, werden Fremdwörter keineswegs strikt gemieden. Im stilistischen Bereich werden die sprachlichen Kühnheiten in Wortbildung, Wortballung, Ellipsen und Wortstellung zurückgedrängt. Die Muster des Stils werden wieder in der klassischen antiken Tradition gefunden. Die Texte werden aufs höchste durchgeformt, die poetische Ausdrucksintensität wird nicht durch Mittel der Dynamisierung und Expressivität, sondern im Sinne einer eher ruhigen und klaren, rhythmisch ausgewogenen Bildung der Sätze angestrebt. Darüber hinaus sind es zwei Tendenzen auf der Ebene der Texterzeugungsmuster, in denen sich jene klassischen Kunstideale am signifikantesten auswirken. Das eine ist die dezidierte Hinwendung zum Vers (nachdem die Prosa in fast allen Gattungen bereits dominiert hatte und in Ge-

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stalt der freien Rhythmen sogar der lyrische Vers bereits in Prosanähe gerückt war), wie sie sich am deutlichsten in der Versifizierung von ursprünglichen Prosadramen zeigt. Schiller hat in seinem Brief an Goethe vom 24. 11. 97 ⫺ mit dessen ausdrücklicher Zustimmung ⫺ den Vorzug der Versform damit begründet, daß sie den Dichter nötigt, die Textinhalte (die „Motive“) ins Poetische zu steigern, und zwar auf Grund einer Unverträglichkeit der ästhetischen Wirkung metrischer Sprachformung mit dem Banalen. „Man sollte wirklich alles, was sich über das Gemeine erheben muß, in Versen wenigstens anfänglich konzipieren, denn das Platte kommt nirgends so ans Licht, als wenn es in gebundener Schreibart ausgesprochen wird.“ Im Drama hat das Metrum zudem noch eine generalisierende Funktion; es nivelliert ⫺ im Sprachduktus ⫺ die Unterschiede zwischen den Charakteren und nötigt dadurch ⫺ wiederum inhaltlich! ⫺ etwas „Allgemeines, rein Menschliches“ durchscheinen zu lassen. Goethe berichtet aus seiner Arbeit am ‘Faust’ (an Schiller, 5. 5. 98), daß er durch die Versifizierung einiger tragischer Szenen deren „unerträgliche“ "Stärke und Natürlichkeit“ dämpft, durch die metrische Stilisierung der Sprache eine distanziertere und ruhigere Wirkung des Stoffs erreicht. Mit solcher Sublimierung und Typisierung, mit der distanziert-ästhetischen Haltung, die demnach vom Vers gefördert werden, und nicht zuletzt auch mit der Formung des Sprachmaterials selbst wird wesentlichen Forderungen der klassischen Ästhetik Rechnung getragen. Das andere ist jene Tendenz zur „Idealisierung, Veredlung“, die Schiller in seiner Bürger-Rezension (1791) vom Dichter fordert, das Bestreben, seinen Gegenstand „von gröberen Beimischungen zu befreien“, nicht die Einzelheiten auszubreiten, sondern „das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben“. Damit ist eine generelle Strategie der Textgestaltung ausgesprochen, die natürlich auch ihre stilistischen Konsequenzen hat: in der Bevorzugung von Appellativa von höherem hierarchischem Rang, einer gewissen Neigung zur Abstraktion und (speziell im Drama) in der Vorliebe für Aussagen von sentenzhafter Allgemeinheit. Auch das wieder reichlich verwendete schmückende Beiwort bezeichnet eher typische als individuelle Eigenschaften. Auch die Literatur der dt. Klassik ist durch den bevorzugten und affirmativ-emotionalen Gebrauch gewisser Schlüsselbegriffe

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und Leitwörter geprägt, die die vorherrschenden, zentralen Gedanken spiegeln und transportieren. Genannt seien Humanität, Menschheit, Bildung, das Ganze, Typus, Ideal, Schönheit, Harmonie, Anmut, ethische Begriffe wie Mäßigung, Besonnenheit, Entsagung, Ehrfurcht, Streben, Tätigkeit (so namentlich bei Goethe), Pflicht, Würde, Anstand, Freiheit, schöne Seele, Einfalt (Schiller), positiv wertende Adjektive wie edel, schön, groß, gut, erhaben, würdig, heiter, negative wie gemein und niedrig. Charakteristisch für Schillers Sprachduktus ist der Eindruck des Hochgespannten, des Pathetischen. Er beruht auf einer hochgradigen rhetorischen Durchformung, die sich über alle Textarten erstreckt. Im Besonderen sind es einerseits formale Mittel der Satzgestaltung, die diese Hochstilisierung ausmachen: Antithese, Chiasmus, Parallelismus, Anaphora, Prolepse des Subjekts durch es, Inversion, poetischer (vorangestellter) Genitiv u. a., zum anderen Bevorzugung der hohen Stilebenen und Hyperbolik in der Wortwahl, Schmuck durch Epitheta, Bilder, Vergleiche und Anspielungen auf die antike Mythologie, schließlich auch einige semantische Mittel, in denen sich jene Verallgemeinerungstendenz auswirkt: die Personifikation von Abstrakta und der Gebrauch des bestimmten Artikels im Singular, der gattungsbezeichnend oder synekdochisch fungiert (Beispiele aus ‘Der Spaziergang’: „Aus dem Gespräche verschwindet die Wahrheit“, „Freiheit ruft die Vernunft, Freiheit die wilde Begierde“, „In der Gebirge Schlucht taucht sich der Bergmann hinab“). Der selben Tendenz dient auch das schmückende Beiwort, indem es sehr häufig Typisches hervorhebt („Hoch von dem ragenden Mast wehet der festliche Kranz“), und ganz besonders der Reichtum seiner Dichtung an Sentenzen, die, aus dem Kontext gelöst, als ‘geflügelte Worte’ versatzstückhaft weiterverwendet werden konnten. Mit all dem wird jene Aufladung Schillerscher Texte mit Nachdruck und Bedeutsamkeit erreicht, die als pathetische Steigerung wirkt, ohne daß doch von den Stilfiguren der Expressivität im engeren Sinn Gebrauch gemacht wird. Goethes Sprachgestaltung im ganzen auf einen Nenner zu bringen ist unmöglich, da ihre Normen nicht nur in den Perioden seines Schaffens wechseln, sondern auch in den verschiedenen Dichtungsarten, ja sogar in einzelnen Werken. Die Bearbeitungen, die er in der Zeit der italienischien Reise an seinen

Jugendwerken vornahm, lassen in vielen grammatischen und stilistischen Korrekturen die sprachlichen Tendenzen seiner klassischen Zeit erkennen. Genannt seien die Ausmerzung verkürzter (also sprechsprachlicher) Wortformen (Apokope des e, Ellipse des Artikels, Proklise u. dgl.), die Auflösung besonders kühner, drei- und mehrgliedriger Zusammensetzungen, die Korrektur ungewöhnlicher Wortstellung, die explizitere und korrektere Formulierung von unübersichtlichen und lässigen Satzkonstruktionen. Schriftsprachlichkeit und Klarheit zeigen sich also als die leitenden Normen. Goethes klassische Dramen und Versepen weisen darüber hinaus in Wortbildung und Wortstellung, auch im Gebrauch des Partizips und des Epithetons den Einfluß griech. Sprachmuster auf, klassische Stilmittel wie Anaphora, Alliteration, Parallelismus, Antithese, Umschreibung werden zahlreich angewandt. Im Satzbau wird hochgradige Hypotaxe vermieden, eine Neigung zur Reihung und zur syndetischen Parataxe tritt hervor; das Metrum erzwingt keine größeren Abweichungen von der Wortstellung der Prosa. Insgesamt lassen sich Klarheit und Anschaulichkeit als die Stilideale seiner klassischen Periode erkennen (Maurer; vgl. Goethes Äußerungen bei Rausch 1909, S. 115 f.). Die Altersdichtung steht dann wieder unter anderen Prinzipien: ein Streben nach Knappheit und möglichst geballtem Ausdruck wirkt sich syntaktisch wie auch in zahlreichen Neubildungen aus, bei denen insbesondere die Möglichkeiten der Zusammensetzung voll ausgeschöpft werden. Stark kontrastiert damit die späte Prosa, in der der Ausdruck blasser und abstrakter, oft formelhaft wird, die Sätze wenig konzentriert gebaut sind. Durch Goethe ist ein Verständnis von Dichtung herrschend geworden, nach dem das eigentlich Poetische als ausgezeichnete Qualität eines Textes (insbesondere eines lyrischen Textes) in einer besonderen Art seiner Bildlichkeit besteht: Bildlichkeit nicht mehr im Sinn der barocken Tradition als „Schmuck“ der Rede, der etwas zum gedanklichen Inhalt Hinzukommendes ist und durch Umformung in den „eigentlichen“ Ausdruck des Gedankens zurückgeführt werden kann (zur Metaphorik hat Goethe sich eher zurückhaltend, ja abweisend verhalten), sondern vielmehr als eine textinhaltfundierende Kategorie, als etwas, das dem Text im ganzen eine eigene Sinndimension verleiht, indem die Darstellung eines Einzelnen sich öffnet für den Blick auf das Allgemeine, die

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„Idee“. „Es gibt eine Poesie ohne Tropen, die ein einziger Tropus ist“, heißt es in den ‘Maximen und Reflexionen’ (Nr. 39). Goethes Begriff für diese Art der Bildlichkeit ist das Symbol; zitiert sei seine Definition der „wahren Symbolik“, bei der „das Besondere das Allgemeine repräsentiert“, und zwar „als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen“ (ebd. Nr. 59). Weit mehr als durch den Gebrauch oder die Einschätzung einzelner Sprachmittel ist die deutsche Klassik mit dieser Textkonzeption, die das Bild ins Zentrum der Dichtung rückt, und natürlich auch durch das Vorbild der Lyrik Goethes für die literarische Sprachgestaltung der Folgezeit, weit über den Bereich epigonaler Abhängigkeit hinaus, fruchtbar geworden. 5.2. Bei den Romantikern finden wir eine theoretische Auffassung von der Sprache, die dieser höchste Bedeutsamkeit zuerkennt und dabei deutlich spekulative, ja ideologische Züge aufweist. Es ist eine Fortführung Herderscher Gedanken, wenn die innigste Verwobenheit von Sprache und Geist, Denken, Erkennen betont, die Sprache geradezu als weltbildende Potenz gesehen wird. Nicht nur für A. W. Schlegel ist daher die Sprachkunst die höchste und umfassendste aller Künste. Freilich haben sich die gegebenen Einzelsprachen durch fortschreitende Konventionialität und Rationalität von der ursprünglichen Kraft weit entfernt, sie sind jetzt nicht viel mehr als Sammlungen von „durch Übereinkunft festgesetzten Zeichen“, während die Ursprache der lebendigen Einheit des Universums entstammte und in magischer Weise mit dem Seienden verbunden war. „Ihre Aussprache war ein wunderbarer Gesang, dessen unwiderstehliche Töne tief in das Innere jeder Natur eindrangen und sie zerlegten. Jeder ihrer Namen schien das Losungswort für die Seele jedes Naturkörpers …“ schreibt Novalis in den ‘Lehrlingen zu Sais’. Der romantische Dichter versucht sich dieser verlorenen Sprache zu nähern, er ist darauf aus, jene „Zauberworte“ zu treffen, die nach Eichendorffs Wünschelrutengedicht das Lied, das „in allen Dingen schläft“, zum Gesang erwecken und so das innere Leben des Universums erschließen, seine Einheit ahnen lassen. Scheint eine solche Sprachkonzeption ihre Konsequenzen auch mehr für die Hermeneutik als die Stilistik romantischer Dichtung zu haben, so folgen doch unmittelbar auch zwei Tendenzen der Textgestaltung aus ihr. Zum einen ist es die erneute starke Absetzung der

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poetischen Sprache von der des Alltags und ganz besonders auch von der der Bildung und Wissenschaft, und zwar nicht nur auf Grund von formalen Eigenschaften im Sinne der Verskunst und der stilistischen Formung; vielmehr sind es die Ablehnung rationaler Sprachmuster (abstrakte Aussagen, logische Relationierungen u. dgl.) und die Hintansetzung des gedanklichen Zusammenhalts als des die Texteinheit stiftenden semantischen Prinzips zugunsten von Assoziationsbeziehungen und Zusammenhängen des Gefühls und der Stimmung, die nun das Spezifische poetischer Texte ausmachen. Und zum anderen verlangt die Nähe jener Ursprache zur Musik (die ihrerseits als die eigentliche Sprache der Natur gedacht wird) eine ganz besondere Beachtung der musikalischen Sprachmittel. In der Poesie soll Sprache zum Gesang, zur Musik erhöht werden. Das Klangspiel des Reims wird aufs Höchste geschätzt, und dabei verbindet sich die Freude am Tönenden mit den Reizen der Korrespondenzen, mit der Überlagerung und Diffusion der gedanklichen Inhalte durch das Tongewebe: Tieck sieht (in der Vorrede zu den ‘Minneliedern’) den Reim außer durch die Liebe zum Klang durch das Gefühl motiviert, „daß die ähnlich lautenden Worte in deutlicher oder geheimnisvoller Verwandtschaft stehn müssen, [und durch] das Bestreben, die Poesie in Musik, in etwas Bestimmt-Unbestimmtes zu verwandeln“. Auch außerhalb des Reims wird der Klang der Wörter bisweilen wichtiger als ihr Inhalt. Novalis spricht von „Gedichten, bloß wohlklingend und voll schöner Worte, aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang“; die klingenden Ketten berauschen und beschwören mit „Zauberworten“ magisch eine Unendlichkeit, die sich dem Hörer in der Ahnung erschließt. Um des Wohlklangs willen werden alte und pseudoarchaische Wortformen benutzt (wie empfunde, sange, stunde, begunde, zurucke), Vokale und Farben werden synästhetisch in Beziehung gebracht, A. W. Schlegel entwickelt eine Symbolik der Vokale (u z. B. ist dunkelblau und drückt „Trauer, melancholische Ruhe“ aus). ⫺ Für diese beiden Tendenzen ist die Lyrik naturgemäß die bevorzugte Textart. Ein anderes Programm ist umfassender: die von Fr. Schlegel unter dem Begriff der „progressiven Universalpoesie“ geforderte Vermischung der verschiedensten Text- und Stilarten. Hervorzuheben ist besonders die Einbeziehung der Lyrik in Roman und Drama. Jenes andere Schlegelsche Prinzip,

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die Ironie, die die Struktur dichterischer Texte tiefgreifend durchwirkt, ist dagegen für die romantische Produktion im ganzen keineswegs charakteristisch, deren Texte, zumal die lyrischen, im wesentlichen doch eher in der Ungebrochenheit des Gedankens und der Stimmung leben. Eher werden Witz und Wortspiel kultiviert, das geistreiche Spiel der Trennung des Zusammenhängenden und Verbindung des Scheinbar-Fremden (vgl. besonders Brentanos ‘Ponce de Leon’). Was die hervortretenden Stilistica im einzelnen betrifft, so ist romantische Literatur (von individuellen Ausprägungen abgesehen) in ihrem Stil weit eher lexikalisch als syntaktisch charakterisiert, auch das rhetorische Repertoire spielt (von der Metapher abgesehen) keine dominierende Rolle. Als auffallendster Zug ist immer schon die Vorliebe für Archaismen beachtet worden. Das allgemeine Bildungs- und patriotische Interesse der Zeit an der dt. Vergangenheit sowie der in der nationalen Bewegung wie nie zuvor sich äußernde Stolz auf die dt. Sprache stehen im Hintergrund bei diesem Geschmack; die romantische Literatur ist ebenso wie die junge Germanistik von dieser Zeitströmung beeinflußt, und sie befruchten sich gegenseitig. In der Dichtung waren es dazu jedoch auch die ästhetischen Qualitäten der altertümlichen, also seltenen und erlesenen Wortformen, die ihre Verwendung reizvoll erscheinen ließen. Es waren wohl weniger die Editionen mittelalterlicher Werke, die als Quellen der alten Sprachformen wirkten, als vielmehr einige Übersetzungen, die kurz nach 1800 erschienen und die sich so eng an die Originale anschlossen, daß sie auch untergegangene Wörter, soweit sie irgend noch verständlich waren, in nhd. Transkription übernahmen. Hinzu kam die erneute Beliebtheit der Literatur des 16. Jhs., auch Luthers Bibelübersetzung lieferte wieder sprachliche Muster. ‘Des Knaben Wunderhorn’, die von Arnim und Brentano herausgegebene (und textlich durchaus bearbeitete) Sammlung alter Lieder hat so stark gewirkt, daß sie der Lyrik des 19. Jhs. den Volksliedton beschert hat. Als Beispiel für lexikalische Übernahmen aus dem Mhd. sei Fouque´s Werk genannt mit Wörtern wie Maid, Minne, bedunken, entbrechen, erkiesen, fahn, freudentlich, guldig, herwieder, viel als steigerndes Attribut. Sprachliches Archaisieren ist dann das ganze Jahrhundert hindurch eine der Möglichkeiten literarischen Stils, die neben der rein poetischen

noch verschiedene andere Funktionen erfüllt (dazu vgl. Leitner 1978; vgl. auch Art. 130). Mundartliches Gut ist in die Sprache der Dichtung viel weniger übernommen worden, als man es angesichts der Hochschätzung des Volkstums bei den ⫺ jüngeren ⫺ Romantikern erwarten könnte. Außer in einigen Dramen Arnims wird Dialekt fast nur in Gestalt von Varianten hochsprachlicher Formen in die Literatur eingebracht, die ihr volkstümliche Färbung verleihen, und als reine Dialektdichtung sind Hebels ‘Alemannische Gedichte’ doch eher ein Ausnahmefall; die spätere Woge der Mundartdichtung ist zwar sicher durch die romantische Volkstumsauffassung angestoßen worden, kann der romantischen Literatur aber nicht mehr zugerechnet werden. Die Märchensammlung der Grimms hält sich stilistisch durch Schlichtheit und Direktheit des Ausdrucks, durch Parataxe, direkte Rede u. a. in der Nähe gesprochener Volkssprache; einige der Märchen sind in Mundart verfaßt. In der Einschätzung des Deutschen und in der damit verbundenen Fremdwortfrage unterscheiden sich ältere und jüngere Romantik beträchtlich. Erst seit den Schriften Fichtes und Arndts greift der patriotische Stolz auf die dt. Sprache Platz. Es sind die schon aus dem 17. und 18. Jhs. bekannten Argumente der Ursprünglichkeit, Unvermischtheit, Ausdrucksfülle, Bildungsdurchsichtigkeit (insbesondere bei den Ableitungen von Wurzeln mit sinnlicher Grundbedeutung) und des Reichtums an Wortbildungsmöglichkeiten, mit denen das Deutsche über die Nachbarsprachen gestellt wird, und weil seine älteren Entwicklungsstufen diese Eigenschaften in noch höherem Maße aufweisen, werden sie um so höher geschätzt und als vorbildlich gepriesen. In der Hochblüte des Purismus sind es ideologische wie ästhetische Motive gleichermaßen, die die Fremdwörter zurückdrängen und selbst die seit langem heimisch gewordenen ausmerzen lassen: es geht ebenso um die ursprüngliche Reinheit der Sprache wie gegen die Überfremdung mit anderer Denkart (Fichte). Ein Eiferer wie Jahn sucht Ersatz für das auszuscheidende Wortgut im älteren Deutsch, in Mundarten und Handwerkersprachen, bei Neubildungen greift er Vorschläge aus Campes Verdeutschungswörterbüchern auf. Die Stellung der Dichter zum Purismus war nicht einheitlich, Campes Verdeutschungen wurden nur zum kleineren Teil übernommen, in seiner konsequenten Form schien er nicht nur als Pedanterie unmöglich,

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sondern führte er auch zu einer gewissen Verarmung der Sprache. Brentano hat die puristischen Übertreibungen verspottet, während andererseits z. B. Jean Paul in späteren Auflagen seine Dichtungen einer eingehenden Sprachreinigung unterzog. In der poetischen Sprache der Romantik ist das Bild erneut zum wesentlichen Stilmittel geworden. Es ist allerdings nicht mehr so sehr die alte Schmuckauffassung, in der es seine theoretische Begründung findet, als vielmehr die Überzeugung vom symbolischen Wesen der Sprache überhaupt. Die Natur selbst ist eine „Chiffrenschrift“ (Novalis); der geheime Sinn wird sprachlich durch das bildhafte Zeichen ⫺ und nicht durch die konventionell festgelegten Begriffe ⫺ vermittelt. In ihrer höchsten Funktion ist die Metapher das Band zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen und Zeugnis der Identität aller Dinge (so A. W. Schlegel). Einerseits ist also alle Dichtung bildlich oder „symbolisch“, andererseits kann sie gar nicht genug Metaphern hervorbringen, die die verschiedenen Bereiche des Seins miteinander in Beziehung setzen. ⫺ In enger Verbindung damit ist die schon erwähnte Auffassung vom magischen „Zauberwort“ zu sehen: romantische ⫺ zumal lyrische ⫺ Texte haben ihr Zentrum in Wörtern von evokativer Kraft, Wörtern, die reich an Assoziationen sind, Stimmungen wachrufen, Zusammenhänge ahnen lassen. Anders als im 18. Jh. sind es jedoch keine „Machtwörter“, weder durch semantisches ‘Gewicht’ noch durch Kühnheit der Neubildung oder der ballenden Zusammensetzung ausgezeichnete, sondern es sind die eher einfachen Bezeichnungen der Dinge und Vorgänge der Natur und des Lebens, die eben durch deren Symbolik ihre beschwörende Kraft erhalten. Neben diesen poetischen Funktionen von Wörtern in einzelnen Texten ist in lexikologischer Hinsicht ein Komplex von Ausdrücken zu erwähnen, die besonders beliebt waren und für den Ausdruck romantischen Lebensgefühls besonders charakteristisch sind. Romantisch selbst gehört dazu und (nach Langen) Gemüt, Stimmung, Gefühl (mit vielen Komposita); Sehnsucht, Ferne, Wanderer, Reise, Heimweh, Heimat; Wunder, Zauber, Traum; inner, innerlich. Nacht und Mond sind zentrale Stimmungssymbole; für die dunkle Seite der Romantik mögen Tod und Schauer stehen; Wörter wie Ahnung, ahndungsvoll, Geheimnis, geheimnisvoll, Rätsel, rätselhaft, seltsam, absonderlich und sinnähnliche Lexeme gehören in dieses Umfeld.

6.

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Das 19. Jahrhundert

6.1. Bekannt sind Goethes wie Schillers Äußerungen, die die dt. Literatursprache gegen Ende des Jhs. wegen ihres Reichtums und ihrer Flexibilität preisen, derart, daß eine weitere Kultivierung kaum mehr möglich erscheint, daß durch die literarische Produktion ein Fundus an Wortschatz und gedanklichen Prägungen bereitgestellt sei, der dem Erben die Möglichkeiten des Ausdrucks so weit vorgibt, daß er sie kaum mehr aus Eigenem zu erweitern braucht: als „eine gebildete Sprache, die für dich dichtet und denkt“, wie es in Schillers Distichon heißt. Es bleibe dahingestellt, inwieweit dies die Leistung der Klassiker selbst war, die ja in stilistischer Hinsicht sich eher restriktiv zu der im 18. Jh. ausgebildeten Vielfalt literarischer Sprachgestaltung verhielten; sie erreichten jedoch jedenfalls die erneute Fixierung einer hoch angesetzten Sprachnorm für die Literatur (mit Varianten nach Textgattungen): relativ weit von der Alltagssprache entfernt durch gewählten Ausdruck (womit die literarische Stilschicht im Wortschatz wieder bestätigt und bestärkt worden ist), durchgeformte Syntax und den Gebrauch traditioneller Stilfiguren, ohne jedoch auf der anderen Seite ins Unübersichtliche und Schwerverständliche zu geraten, mit Distanz also auch zu den anderen Extremen des Überladenen, Verschachtelten und des Gelehrten, Fachsprachlichen. ⫺ Dieses Muster ist für einen beträchtlichen Teil der Literatur des 19. Jhs. maßgebend geblieben, keineswegs nur für die Epigonenliteratur im engeren Sinn. Von den Klassikern war es mehr Schiller als Goethe, der als stilistisches Vorbild wirkte, im Versdrama und ganz besonders in der (rhetorischen und historiographischen) Prosa. Daneben gab es den breiten Strom der romantischen und romantisierenden Dichtung. Für die Entwicklung der Literatursprache ist das weniger darstellenswert, vielmehr ist nach Innovationen Ausschau zu halten: nach Neuerungen in der Einschätzung der literarischen Textarten, in den Vertextungsprinzipien, im Verhältnis zu den verschiedenen Sprachvarietäten und im stilistischen Gebrauch der sprachlichen Mittel. 6.2. Wie breit das literatursprachliche Spektrum der Biedermeierzeit (1815⫺1848) war, hat F. Sengle (1971) eindrucksvoll gezeigt. Im historischen Überblick kann es jedoch nur darum gehen, die neuen Tendenzen möglichst

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klar hervortreten zu lassen. Ein solches Neues kam mit dem ‘Jungen Deutschland’ zur Geltung: ein neuer Typ von Literatur, für den es bis heute keine gängige Gattungsbezeichnung gibt. Gutzkow sprach vom „modernen Genre“ und meinte jene feuilletonistische Prosa, die, thematisch meist eine kritische Auseinandersetzung mit Gegenwärtigem und vorwiegend in Journalen publiziert, in der ästhetischen Wertschätzung den herkömmlichen poetischen Gattungen und namentlich der Lyrik den Rang streitig machte. Unter den Dichtern ist Heine der Kronzeuge für diese „Emanzipation der Prosa“ (Mundt), mit seinen ‘Reisebildern’ hat er selbst vielbewunderte Muster des neuen Genres geschaffen; die theoretischen Plädoyers lieferten Wienbarg (1834) und Mundt (1837). „Die Prosa ist eine Waffe jetzt, und man muß sie schärfen“: so die Parole, die Wienbarg (1964, S. 90) ausgibt, und er stellt das Neue der älteren Prosa unter dem Begriff der „Behaglichkeit“ gegenüber: „Die neueren Schriftsteller sind von dieser sicheren Höhe [der klassischen Autoren] herabgestiegen, sie machen einen Teil des Publikums aus, sie stoßen sich mit der Menge herum, sie ereifern sich, freuen sich, lieben und zürnen wie jeder andere, sie schwimmen mitten im Strom der Welt […]. Die neue Prosa ist von der einen Seite vulgärer geworden, sie verrät ihren Ursprung aus, ihre Gemeinschaft mit dem Leben, von der anderen Seite aber kühner, schärfer, neuer an Wendungen, sie verrät ihren kriegerischen Charakter, ihren Kampf mit der Wirklichkeit“ (ebd. S. 188 f.). Es sind jedoch durchaus auch ästhetische Qualitäten, die an dieser neuen Prosa geschätzt werden: „Unsere Dichter sind prosaischer geworden, unsere Prosaiker aber poetischer“, findet Wienbarg, ja die größeren Dichter Deutschlands seien gegenwärtig unter den Prosaisten zu finden (ebd. S. 87, 179); und Mundt spricht von den „Schönheitsreizen“, von dem „Piquanten, Künstlichen, Pointierten, Geistvollen, Poetischen“ der heutigen Prosa, er rühmt ihren „Reichtum in Wendungen, Sprachtönen und Harmonie der Darstellung“ (1969, S. 139, 352). Wesentliche Komponenten der Textstrategie einer solchen journalistischen und agitatorischen Literatur sind Subjektivität, also die quasi spontane Äußerung persönlicher Gefühle und Einstellungen, und Witz: wirksamste Mittel, den Leser für seine Sache einzunehmen. Stilistisch wird hier das Sprachregister des gebildeten Konversationstons eingesetzt und verfeinert (vgl. Neumaier

1974): ein gefälliges, geistreiches, witziges, ironisches Sprechen, mit einer Vorliebe für Bildungsanspielungen, Zitate und fremdsprachliche Wendungen, das Neue und Interessante, das Modische in Inhalt und Wortwahl bevorzugend, assoziativ-sprunghaft, aber doch mit Information und Reflexion gesättigt. Traditionslos neu ist dieser Stil freilich keineswegs, er baut Formen der Prosa des 18. Jhs. weiter aus; nicht zuletzt hatte das Werk Jean Pauls diese Tradition (in der erzählenden Prosa) vermittelt und weitergeführt. Zeichnet sich somit deutlich ein stilistisches Textideal ab, so kann es doch andererseits für diese literarische Schule so etwas wie eine Dichtungssprache im Sinne eines Repertoires von bevorzugten morphologischen und syntaktischen Mustern und Redefiguren sowie eines als poetisch ausgezeichneten Wortschatzes (bei gleichzeitiger Statuierung einer der Dichtung nicht würdigen niederen Sprachebene) nicht mehr geben. (Daß gerade die so eminent journalistische Produktion des Jungen Deutschland reich an Mode- und Schlagwörtern ist (vgl. Wülfing 1982), gehört in einen anderen Zusammenhang). Hier bricht denn auch die Tradition der literarischen Rhetorik, die die dt. Literatursprache gut zwei Jahrhunderte lang, wenn auch in verschiedenen Modifikationen und mit den genannten Ausnahmen im 18. Jh., im Grunde bestimmt hatte, endgültig ab, nachdem sie von der romantischen Literaturtheorie bereits entthront worden war. Zwar werden in der Zeit des Biedermeier noch einige dt. rhetorische Lehrbücher publiziert, aber es ist doch eine nur noch akdemische bzw. schulische Angelegenheit geworden. Th. Mundt (1969, S. 136 f.) erklärt die Stilfiguren der Rhetorik für völlig bedeutungslos geworden; die moderne Prosa, als die „Prosa des darstellenden Gedankens“, sei nur noch das geschmeidige Ausdrucksmittel der vielfältigen Inhalte und Anliegen der Gegenwart. „Der Inhalt“ sei „einziger Meister, Schöpfer und Alleinherrscher des Stils“, die dt. Sprache reichhaltig genug, jeder Ausdrucksanforderung in jeder Stillage zu genügen (ebd. S. 142 f.). Unter den strittigen Punkten der Stilistik verdient das Fremdwort Beachtung. Aus dem Postulat der Lebensnähe der modernen Prosa folgt bereits, daß Purismus in ihr keine Berechtigung hat: die gesellschaftlich üblichen Fremdwörter werden selbstverständlich verwendet, auch weniger übliche als stilistisches

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Mittel oder zum Ausweis übernationaler Bildung und Gesinnung. Im Verlauf des Jhs. waren es besonders die Zeitungen, durch die neue Fremdwörter verbreitet wurden, während sich die puristischen Bestrebungen in den Sprachgesellschaften konzentrierten. Was die Dichtung betrifft, so konnte sich zumindest in der Prosaliteratur das Ideal der Sprachreinheit nicht mehr durchsetzen: dafür war sie inzwischen, in allen Schulen, zu stark an der Norm der gehobenen Umgangssprache orientiert. Einige Autoren (als Beispiel sei der Reiseschriftsteller Fürst Pückler-Muskau genannt) machen überaus starken Gebrauch vom Fremdwort, das als Stilmittel zum Ausdruck von Weltläufigkeit oder zur Wiedergabe des Umgangstons der oberen Schichten dient; andere setzen es als Mittel der Personencharakterisierung ein. In der Zeit des Biedermeier beginnt die Mundartdichtung in größerem Umfang aufzuleben, die sich dann das ganze Jahrhundert hindurch fortsetzt, ohne jedoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Reuter, Raimund und Nestroy seien genannt), der hochsprachlichen Literatur an Rang und Geltung gleichzukommen. Besonders reich sind das nd., schwäb., schweiz. und öst. Dialektgebiet literarisch vertreten. In der ersten Jahrhunderthälfte war die Dialektdichtung eng mit der aufsteigenden Germanistik verbunden, nicht selten waren die Autoren selbst Philologen, und die Mundart wurde aus dem romantischen Ursprünglichkeitsglauben heraus gepflegt. Dialekt als Literatursprache forderte jedoch auch Widerspruch und Polemik heraus (Wienbarg, Keller u. a.), ihre literarische Geltung blieb schließlich eng beschränkt: in der Biedermeierzeit als eine kontrastierende Stilschicht, vorwiegend komischer Art (wie schon im 18. Jh.), im Realismus als Charakterisierung des Volkstümlichen, naturalistisch präziser als Soziolekt; reine Dialektdichtung fand gegen das Jahrhundertende eine subliterarische Domäne als Heimatdichtung. 6.3. Seit der Jahrhundertmitte steht das literarische Leben im Zeichen des Realismus, und die erzählende Prosa dominiert. Wenn sich auch bei den großen Dichtern Individualstile von beträchtlicher Eigenart herausbilden, lassen sich doch gemeinsame Tendenzen erkennen. Die Prosakunst der früheren Generationen findet keine Nachahmung, weder in der Vielfalt ihrer Stillagen noch auch in ihrer ausgeprägten Geschmeidigkeit und Artistik. Die Prosa der Realisten wird ruhi-

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ger, ausgeglichener, gleichförmiger, eine mittlere Stillage setzt sich durch, konservativ gegenüber den sprachlichen Neuerungen, die sich im Feuilleton ausbreiten, und gemäßigt gegenüber der klassischen wie der romantischen Stilisierung, die die Epigonenliteratur weiter pflegt. Im ganzen hält sie sich ⫺ freilich im Rahmen der Schriftsprache, deren Norm sich ja inzwischen gefestigt hat ⫺ in einer gewissen Nähe zur Umgangssprache, zur ‘volkstümlichen’ Sprachform, ohne jedoch ihren Charakter als Kunstprosa zu verleugnen: bei aller Annäherung an die Sprache des Gebrauchs hält sie der disziplinierte Stilwille, der sie formt, auf Abstand. Auch die Lyrik bewegt sich in einer mittleren, gedämpften Lage des poetischen Ausdrucks, Verhaltenheit und Einfachheit herrschen vor. Mundart, gesprochene Sprache, Fremdwörter, Fachwortschatz, Archaismen, Modeausdrücke werden von den Autoren unterschiedlich eingesetzt, vorzüglich als Mittel der Personencharakterisierung. Die Nüchternheit dieser Sprachgebung hat Gansberg (1966) an der Wortwahl nachgewiesen: pathetisches und niedriges Wortmaterial wird ebenso vermieden wie gebildet-geistreiches, wodurch die literarische Prosa um 1850 stark an Gespanntheit, Pathos, Enthusiasmus und Esprit verliert. Ähnlich wirken sich der unauffällige, überschaubare Satzbau und der Verzicht auf rhetorische Finesse aus. Was gewonnen wurde, ist Detailschärfe und Differenzierung im Darstellen, besonders im Emotionalen und Psychologischen. Die Kunst der Dialoggestaltung wird wesentlich verfeinert. Die Prosakunst erstrebt plastische, ‘objektive’ Wiedergabe der Wirklichkeit, in ihrem Bemühen um Nuancierung und Differenzierung nicht nur die Schilderung verbreiternd, sondern auch die Feinheiten des Andeutens entwickelnd. Freilich ist nicht krasse Abschilderung das Ziel; Gansberg spricht geradezu von einer Verklärungstendenz, die sich in der Wahl des mildernden, edlen, schönen Wortes bei häßlichen und unangenehmen Gegenständen zeigt. Die Wirklichkeitsgestaltung ist eben (nach O. Ludwigs Begriff) ein poetischer Realismus, und dazu gehört auch die Erhöhung des Dargestellten ins Sinnbildhafte: Objektivität und Symbolgestaltung zugleich als textsemantische und die Wahl der Sprachmittel lenkende Grundzüge. Der in den 80er Jahren aufkommende Naturalismus wurde als literarische Revolution propagiert. Sprachlich impliziert sein Programm (das sich vor allem auf Zola beruft)

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eine schroffe Abkehr von dem Gestaltungswillen selbst der realistischen Prosa, bei einigen seiner Vertreter bis zum Verzicht auf sprachliche Formung überhaupt. ‘Wahrheit’ der Darstellung wird in Einzelheiten der Milieuschilderung und in möglichst getreuer Wiedergabe der Umgangssprache auch der niederen sozialen Schichten zu erreichen gesucht. Im „konsequenten Naturalismus“ (‘Die Familie Selicke’ und ‘Papa Hamlet’ von Holz und Schlaf stehen exemplarisch für Drama und Erzählung) wird zum ersten Mal in der dt. Literatur eine getreue Reproduktion der Alltagssprache versucht, soweit dies ohne phonetisches Alphabet möglich ist, auch mit Andeutung von Verbalisierungsstörungen und paralingualen Signalen (Pünktchen, Gedankenstriche, Ausrufezeichen, Graphien wie „Die … L-ampe!“ oder „mbf!“). Es kommt dabei einerseits auf die möglichst exakte Wiedergabe des natürlichen Sprechens an, selbstverständlich auch im Dialekt und in verschiedenen Schattierungen großstädtischer Umgangssprache (abgestuft nach dem Soziogramm der Personen), andererseits auf die Erfassung der nicht explizit verbalisierten Ausdrucks- und Appellelemente und Kommunikationssteuerungen, im Schauspiel ergänzt durch Regieanweisungen zur Gestik und Mimik. In den Dialogpartien sind hier somit sämtliche schriftsprachlichen Normen außer Kraft gesetzt, und auch bei den hochsprachlich Redenden durchbrechen die Impulse und Störungen des ‘spontanen’ Sprechens den regelrechten Satzbau. Da aber gleichzeitig die erzählenden Partien in korrekter Schriftsprache (der Umgangssprache etwas näher als bei den Realisten) verfaßt sind, ist die veristische Reproduktion von Alltagssprache nichts weiter als eine Lizenz oder ein Prinzip innerhalb der Literatur, gefordert durch das Postulat quasi phonologischer Abbildung, so wie die Darstellung der Dinge höchste Detailtreue verlangt. (Der heute noch gängige Begriff des „Sekundenstils“, der eine Beschreibung des raumzeitlich Gegebenen Sekunde für Sekunde meint, wird übrigens der Wirklichkeitsdarstellung auch des konsequenten Naturalismus nicht gerecht). 6.4. Die im letzten Jahrzehnt des Jhs. aufkommende Antithese zum naturalistischen wie auch zum realistischen Programm (‘Impressionismus’, ‘Symbolismus’, ‘Jugendstil’) ist eine Kunst der Stimmung, des Eindrucks, der sprachlichen Schönheit und der Nuance

(die Analogien in der impressionistischen Malerei bei Hamann/Hermand 1972). Hier wird die Lyrik wieder zur bevorzugten Dichtungsgattung. Es wird Sprachmusik erzeugt, durch Metrum und Reim, durch die Kombination der Wörter und sogar auch durch Lautmalerei (Liliencron). Die Wortwahl tendiert zum Preziösen, der Assoziationsreichtum der Wörter wird ausgeschöpft, Neubildungen sind zahlreich, in Zusammensetzungen, Ableitungen, aber auch Kürzungen (Simplicia statt Präfixbildungen bei George), archaische, seltene Wörter geben den Versen Glanz, Dunkelheit, Geheimnis. Das poetische Beiwort wird erneut kultiviert, und auch die Bildlichkeit rückt wieder ins Zentrum der Textgestaltung. So wird jetzt wieder eine eigene Sprache der Dichtung aufgebaut, die in vielen Tendenzen derjenigen der älteren Epochen entspricht, ohne doch epigonale Nachahmung zu sein. Ganz ähnlich wie in romantischer Auffassung werden die Wörter aus ihrer Normierung durch den alltäglichen Gebrauch gelöst und in der poetischen Aura mit Stimmungsassoziationen, namentlich bei Rilke auch mit neuen (oft etymologisch motivierten) Inhalten angereichert. Am weitesten ging George in der Distanzierung der Sprache der Dichtung von der des Alltags durch die visuellen Signale einer eigenen Schriftart und einer besonderen Graphie (Kleinschreibung und reduzierte Zeichensetzung). Die Stilisierung der Sprache erfaßt auch die Prosa; rhythmische Durchformung wird angestrebt, bei im übrigen meist konventioneller Syntax, in der das Prinzip der Reihung vorherrscht. Im Drama sind Hofmannsthals lyrische Einakter das bewunderte Vorbild. Nicht nur wegen seiner Eigenart, sondern auch wegen der großen stilistischen Wirkung ist schließlich das Werk Friedrich Nietzsches eigens zu nennen. Artist der Prosa, hat er namentlich dem dt. Aphorismus Brillanz verliehen, durch Pointierung, geistreiche Überspitzung, Antithetik, Paradoxien, Ironie, Witz und Wortspiel. Es ist eine sehr registerreiche Prosa, für ihren Sprachgestus im ganzen ist am charakteristischsten eine Mischung aus quasi prophetischem Pathos und Spiel mit Sprache und Gedanken. Nietzsches Virtuosität der Wortbildung und Kombinatorik bringt eine Fülle überraschender Klang- und Sinnfiguren hervor, besonders charakteristisch ist das Spiel mit Wörtern und Wendungen, die parodistischen Wortentstellungen und Pendantbildungen (beleu- und belügenmundet, Tunichtgute und Tunichtböse, Ver-

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nunftbisse (zu Gewissensbisse, der christliche Monotonotheismus). Die Grundgedanken dieses rhetorischen Philosophen haben ihre Verdichtung in einer Reihe von Begriffen gefunden, die bereits in seinen eigenen Schriften schlagwortartige Prägung und Verwendung erfahren haben: intellektuelle Redlichkeit, Übermensch, Wille zur Macht, ewige Wiederkehr des Gleichen u. a. mehr, auch dies ein Merkmal seines persuasiven Sprachgestus. Die höchst stilisierte Prosa von ‘Also sprach Zarathustra’ ist rhythmisch durchgeformt („Mein Stil ist ein Tanz“) und mit Klangfiguren, Neubildungen, Metaphern und Gleichnissen reich geschmückt. Nietzsche ist außerdem ein markantes Beispiel für das Nachwirken der christlichen Sprachtradition, und zwar durchaus nicht nur in der bewußten Nachbildung von Sprachmustern der lutherischen Bibelübersetzung im ‘Zarathustra’ (vgl. Kaempfert 1971).

7.

Das 20. Jahrhundert (ein Ausblick)

Die Literatur unseres Jahrhunderts ist sprachlich so vielgestaltig, daß es fast unmöglich scheint, sie unter die Dächer einiger für gewisse Gruppen verbindliche Stilnormen zusammenzufassen. Im folgenden kann nur in Kürze auf einige Besonderheiten der sprachlichen Entwicklung hingewiesen werden, wobei wieder allein die Neuerungen hervortreten, unabhängig von Rang und Geltung der Werke. In einer Gesamtdarstellung dürfte die sprachlich konservative Dichtung keineswegs übergangen werden. Quantitativ bewegt sich der weitaus größte Teil der modernen Literatur (mit Ausnahme der Lyrik) innerhalb der seit der Goethezeit abgesteckten Grenzen der Literatursprache. Die erzählende Dichtung setzt weithin ⫺ und durchaus auch bei namhaften Autoren, wenn auch mit individuellen Ausgestaltungen ⫺ die Kunstprosa der Realisten fort. Das gilt freilich nur für die Sprachform als solche, in der Textstruktur haben durch den Wechsel der Erzählperspektive und durch Vermischung des semantischen Bezugs auf situativ gegebene Wirklichkeit und auf Nichtreales (Gedachtes, Erinnertes, andere raumzeitliche Kontinua usw.) bedeutende Veränderungen Platz gegriffen. Zwei sehr allgemeine Tendenzen lassen sich konstatieren. Die moderne Literatur ist tief geprägt durch ein hochgradiges Sprachbewußtsein, die Reflexion auf das eigene Me-

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dium ist geradezu zu einem ihrer bevorzugten Themen geworden. Angestoßen wurde sie durch jene Krise des naiven Vertrauens in die Sprache, die (nach einigen Vorläufern, unter anderen Goethe) ihren klassischen Ausdruck in Hofmannsthals ‘Brief des Lord Chandos’ (1902) gefunden hat (vgl. Saße 1977). Betrifft dieser Zug mehr die semantische Textstruktur und die Hermeneutik der Dichtung, so der zweite ihre sprachliche Realisierung: es gibt heute keine allgemeinen Normen mehr für die Sprache der Dichtung. Der Abbau vollzog sich seit der ersten Dekade des Jhs. und kann nach 1945 als abgeschlossen gelten; seither ist der Schriftsteller keinen sprachlichen Verbindlichkeiten mehr verpflichtet. Stilisierung der Prosa oder des Verses nach überkommenen Mustern ist bloß noch individuelle Eigenart, doch gehen die Lizenzen viel weiter und durchbrechen sogar die allgemeine schriftsprachliche Norm. Im Vers werden Metrum und Reim (die traditionellen Schemata) aufs Ganze gesehen eher vermieden, grammatisch korrekter Satzbau ist auch in der Prosa nicht mehr generell obligatorisch, und was den Wortschatz angeht, so ist das, was das 19. Jh. hindurch als ‘poetische’ Sprachschicht galt, um die Jahrhundertwende neu aktiviert wurde, teilweise auch ein spätes Nachleben im konservativen und völkisch-nationalen Bereich hatte, heute obsolet geworden und wird eigentlich nur noch ironisch zitierend gebraucht. Sprachmuster und Lexik aus allen Sprachverwendungsbereichen werden in literarische Texte übernommen (Mundart übrigens spielt eine deutlich geringere Rolle dabei als im vorigen Jh.). Besonders breit dringt Umgangssprache in die ‘Literatursprache’ ein, die damit freilich aufgehört hat eine eigene Größe zu sein, d. h. durch spezielle Sprachverwendungsnormen konstituiert zu sein; der Begriff besagt für die Gegenwart nichts weiter mehr als die sprachliche Gestaltung (der je einzelnen Werke) in bestimmten, eben ‘literarischen’ Textarten (Roman, Erzählung, Lyrik, Schauspiel, Essay u. dgl.). ⫺ Schließlich ist ein neuer Impuls zu nennen, der in den literarischen Sitten der früheren Jhh. durchaus keinen Platz hatte: der experimentelle (auch deformierende) Umgang mit dem Sprachmaterial. Es war der Expressionismus, der (um 1910) nicht nur sämtliche literatursprachliche Normen des 19. Jhs. überwand, sondern auch die der Grammatik selbst durchbrach: „Die Dichtung kann auf die Grammatik grundsätzlich keine Rücksicht nehmen“ (L.

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Schreyer). Die expressionistische Kunstabsicht hat K. Edschmid auf die Formel der „Vision“ gebracht, was den Ausdruck des Wesentlichen jenseits aller Darstellung des Tatsächlichen und des Psychischen meint. Höchste Intensität der Sprache, Pathos, „Schrei“ ist das Ziel des Ausdrucksbemühens. Bei großen Stilunterschieden unter den Autoren dürfen doch die folgenden Stilzüge als die charakteristischsten gelten: Verknappung, Ballung (bis zum Verzicht auf die Artikel und auf grammatisch korrekten Satzbau, J. R. Becher spricht von „alogischen Bomben“ in der „bürgerlichen Spracharchitektur“, von „anarchischen, gegenseitig explosivartig sich pressenden Verknotungen“), kühne Wortbildungen (z. B. bei Stramm: Frauenseelen schämen grelle Lache, Ungeborenes geistet, schamzerpört), Konzentration aufs Verb und dadurch Dynamik, und schließlich erneut ein Schwergewicht beim einzelnen Wort, dessen Bedeutungs- und Assoziationsreichtum voll aktiviert wird (vgl. Benn, ‘Probleme der Lyrik’). In einem seiner futuristischen Manifeste (dt. im ‘Sturm’ 1912) hatte Marinetti gefordert, die Syntax dadurch zu zerstören, daß man die Substantive so aneinanderreiht, wie sie ins Bewußtsein kommen. Damit war die Parole ausgegeben, die Regeln des Sprachsystems selbst außer Kraft zu setzen und die Dadaisten folgten ihr. Sie lösten nicht nur die syntaktischen Strukturen auf, sondern auch das lexikalische und morphematische Material selbst, ordneten die Bestandteile zu neuen Konfigurationen. Systematisch weitergeführt wurde der experimentelle Umgang mit der Sprache dann erst in der ‘Konkreten Poesie’ (Gomringer, Heißenbüttel, Mon, die Wiener Gruppe u. a.) seit Mitte der 50er Jahre. Segmentierungen der Ketten, Substitutionen und Transformationen der verschiedensten Art sind die Methoden, mit denen neue Gebilde erzeugt werden, teils semantische Komponenten mit einbeziehend und so neue Assoziationsgeflechte produzierend, teils nur noch das phonetische oder graphische Substrat benutzend: die Sprache als Material einer abstrakten Kunst. (Vgl. Kopfermann 1981.) In der modernen Lyrik sind weithin andere Vertextungsprinzipien üblich geworden als es die herkömmlichen ⫺ oder auch die allgemein-sprachlichen ⫺ sind, ihr hermetischer Charakter erfordert eigene hermeneutische Techniken (zu den im frz. Symbolismus ausgebildeten Mustern vgl. Friedrich 1972). Die Erweiterung der Möglichkeiten der erzählen-

den Prosa kann an Döblins ‘Berlin Alexanderplatz’ (1929) demonstriert werden: naturalistisch exakte Darstellung neben expressionistischer Vision, rascher Perspektivenwechsel, Erzählerkommentar neben erlebter Rede und innerem Monolog, Montage von Fragmenten aus den unterschiedlichsten Textsorten, Verwendung verschiedener Sprachebenen (der Berliner Umgangssprache auch in den erzählenden Partien), Mischung der Stillagen vom Derbkomischen bis zum Lyrischen ⫺ dies alles mit dem Ziel, die komplexe Wirklichkeit des modernen Lebens zu erfassen. Hervorzuheben sind die Versuche nach 1945, die Sprache nicht nur vom Ungeist des Nationalsozialismus, der ihr seine Gebrauchsmuster eingeprägt hatte, zu befreien, sondern überhaupt von allen der Ideologie verdächtigten Elementen zu reinigen, in Reduktion auf eine Art von Elementarsätzen, die nichts weiter als die Erfahrung und das Erfahrbare selbst ausdrücken (‘KahlschlagLiteratur’, vgl. Widmer 1966). ⫺ Die stilistische Spannweite der Kunstprosa in der Gegenwart mag sich in einer Gegenüberstellung der einfachen, klaren, disziplinierten Schriftsprache eines Böll oder Frisch mit der Prosa Arno Schmidts verdeutlichen lassen, die die syntaktische Lockerung der gesprochenen Sprache aufweist, auch graphisch sich ihr annähert, lexikalisch alle Sprachschichten einbezieht (besonders reich die Alltagssprache), mit Zitaten und Anspielungen auf die literarische Überlieferung gesättigt ist, Mehrsprachigkeit einsetzt (engl., frz.), mit spielerischen Wortverwandlungen und graphischen Zusätzen klangähnliche Wörter (meist aus der sexuellen Sphäre) assoziiert. Intensive Einbeziehung der Muster spontanen Sprechens in die erzählende Prosa weisen unter anderen die Romane Martin Walsers auf, artistischen Umgang mit ihnen die Theaterstücke und ‘Szenen’ von Botho Strauß.

8.

Literatur (in Auswahl)

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196. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in neuhochdeutscher Zeit Anderegg, Johannes, Literaturwissenschaftliche Stiltheorie. Göttingen 1977. Barner, Wilfried, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. Beißner, Friedrich, Studien zur Sprache des Sturms und Drangs. Eine stilistische Untersuchung der Klingerschen Jugenddramen. In: GRM 22, 1934, 417⫺429.

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Manfred Kaempfert, Bonn

197. Die sprachliche Leistung und Wirkung der deutschen Klassik 1. 2. 3. 4. 5. 6.

„Klassik“ als Epochenbegriff Sprachnormierende Bestrebungen vor der Weimarer Klassik Die sprachliche Leistung der Weimarer Klassik Die sprachliche Wirkung der Weimarer Klassik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Resümee Literatur (in Auswahl)

Im Bewusstsein des gebildeten Bürgertums wirkt die Sprache Goethes und Schillers als „klassisches Deutsch“ und damit als „gutes Deutsch“ bis in unsere Tage weiter (so setzt das „Wörterbuch der deutschen Gegenwarts-

sprache“ die Sprache der Gegenwart mit der Klassik an, Klappenbach/Steinitz 1974 Vorwort 04). Dies zeigt beispielhaft der Sprachgebrauch deutscher und österreichischer jüdischer Emigranten nach Israel, die die Sprache des Bildungsbürgertums zu Beginn des 20. Jhs. ⫺ und zwar fast ausschließlich als gesprochene Sprache ⫺ gleichsam „konserviert“ haben und selbst gern als „Weimarer Deutsch“ bezeichnen (Betten 2000). „Klassisches Deutsch“ muss demnach vor allem drei Bedingungen erfüllen: 1. Es ist dialektfrei. 2. Es ist gekennzeichnet durch komplexe Satzstrukturen (Hypotaxen mit Einschüben, „Schachtelsätze“, aber auch umfangreiche parataktische Satzreihen), die auch im mündlichen Gebrauch

197. Die sprachliche Leistung und Wirkung der deutschen Klassik 3. möglichst grammatisch korrekt durch- und zu Ende geführt werden.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist nach den objektivierbaren sprachlichen Leistungen der deutschen Klassik und ihrem Weiterwirken in der Sprachgeschichte zu sprechen.

1.

„Klassik“ als Epochenbegriff

Der Begriff der Klassik wird auf unterschiedliche Bereiche der Kunst (Malerei, bildende Kunst, Architektur, Literatur, Musik u. a. m.) oder sogar Wissenschaft angewandt. Man versteht darunter Personen und/oder ihre Werke, die 1. entweder als musterhaft (d. h. nachahmenswert) empfunden werden, die sich 2. an historischen (v. a. antiken) Vorbildern orientieren und deren ästhetische und künstlerische Prinzipien, oder was man darunter zu einem bestimmten Zeitpunkt versteht, aufgreifen (manchmal auch als „Klassizismus“ bezeichnet, Schultz 1983, 59) oder die 3. als Vertreter eines besonders harmonischen und wohlproportionierten Kunstverständnisses gelten; manchmal werden auch mehrere dieser Kriterien kombiniert. Die Frage, ob ein „Klassiker“ sich und seine Werke selbst auch als „klassisch“ einstuft oder diese Wirkung sogar intendiert, ist zwar aus Gründen der Kunstschöpfung und der Ästhetik berechtigt, muss aber von seiner Einschätzung durch andere, d. h. seiner Wirkungsgeschichte, getrennt werden. Was in der Kunst als „Klassik“ bezeichnet wird, unterliegt somit subjektiven und normierenden Auswahlprozessen. Auch die Zusammenhänge, die zwischen „Klassik"-Epochen unterschiedlicher Provenienz hergestellt werden wie zwischen der Weimarer Klassik in der Literatur und der etwa zeitgleichen Wiener Klassik in der Musik, beruhen eher auf willkürlicher Klassenbildung oder einem nicht näher definierbaren Idealbegriff als auf objektiven Stilmerkmalen. Die klassische Epoche in der deutschen Literatur ist im Vergleich zu andersprachigen europäischen Literaturen relativ spät angesetzt. Der Epochenbegriff „Weimarer Klassik“ bezeichnet genau genommen jene Werke, die Johann Wolfgang (von) Goethe (1749⫺ 1832) und Friedrich (von) Schiller (1759⫺ 1805) während ihrer geistigen Annäherung und ihres gemeinsamen Aufenthalts in Weimar unter gegenseitigem Gedankenaustausch geschaffen haben. Im engeren Sinn ist diese

3071

Zeit daher einzugrenzen auf die Jahre zwischen 1794, dem Beginn der Freundschaft, und Schillers Tod 1805. Diese Zeitspanne wird zudem fast genau von zwei markanten politischen Ereignissen umrahmt, der Französischen Revolution (1789⫺92), die Goethe und Schiller gleichermaßen, wenn auch z. T. aus unterschiedlichen Gründen, verabscheut haben, und der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt (1806), die den „Frieden von Weimar“ durch den Zusammenbruch Preußens endgültig vernichtete und die auch von den Zeitgenossen als entscheidender Einschnitt empfunden wurde. Im weiteren Sinn können aber auch schon die Werke Goethes, die während und nach seiner ersten Italienischen Reise (1786⫺1788) entstanden, zu dieser Epoche gezählt werden, und zwar vor allem wegen Goethes Zuwendung zur griechischen Antike. Schiller hielt sich seit 1787 in Weimar auf, zu ersten Kontakten mit Goethe, die aber noch zu keiner näheren Bekanntschaft führten, kam es nach dessen Italienreise, also 1788. Als Vorbereiter der Weimarer Klassik, aber ihr nicht zugehörig, wird das Wirken von Christoph Martin Wieland (ab 1772 in Weimar), vor allem seine stil- und meinungsbildende Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“ und seine spätaufklärerischen Ansichten, mit denen er Goethe stark beeinflusste, und Johann Joachim Winckelmann (1717⫺1768), dessen Ansichten Goethe erst bei seiner ersten Italienischen Reise bewusst rezipierte, gesehen. Als Nachwirken kann die Zeit bis 1815, dem Wiener Kongress, von dem auch das Herzogtum SachsenWeimar politisch betroffen war und den bereits die Zeitgenossen als Zeitenwende empfanden, verstanden werden. Als Epochenbegriff ist „Weimarer Klassik“ insofern problematisch, als darunter im eigentlichen Sinn nur die Werke Goethes und Schillers verstanden werden, nicht aber die gleichzeitig entstandenen Arbeiten von Wieland, Hölderlin, Jean Paul oder anderen literarischen Einzelgängern. „Deutsche Klassik“ ist als Begriff undeutlich, mehrdeutig und somit wenig praktikabel, im weitesten Sinn wird darunter die Lebensspanne Johann Wolfgang Goethes umfasst, die aber höchst widersprüchliche Stile umfasst und daher wenig brauchbar erscheint, ebensowenig wie der oft gebrauchte Begriff „Goethezeit“. Im Folgenden wird daher unter „Klassik“ ausschließlich die „Weimarer Klassik“ verstanden. Als Hauptwerke der Weimarer Klassik gelten Goethes „Römische Elegien“ (1795), seine „Iphigenie

3072

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

auf Tauris“, und zwar die auf der Italienischen Reise von 1786⫺88 vollendete Versfassung (1787 gedruckt, 1802 uraufgeführt), das Epos „Hermann und Dorothea“ (1794), die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ (1795) „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96), die „Natürliche Tochter“ (1804) und seine symbolische Lyrik jener Zeit. Schiller leitet die „klassische“ Epoche mit den programmatischen Aufsätzen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795) und „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1796/97) ein, weiters gehören ihr seine großen Dramen, die Wallenstein-Trilogie (1798/99 uraufgeführt), „Maria Stuart“ (1801), „Die Jungfrau von Orleans“ (1802), „Die Braut von Messina“ (1803) und „Wilhelm Tell“ (1804), sowie seine Gedankenlyrik an. 1796 arbeiteten beide an den „Xenien“, 1797 ging als das „Balladenjahr“ in die Literaturgeschichte ein. Die von Goethe und Schiller gemeinsam erarbeiteten Zeitschriften „Die Horen“ (1795⫺97) und „Die Propyläen“ (1798⫺1800) prägten ebenfalls das Bild der Epoche (Borchmeyer 1998). Einbeziehen oder zumindest berücksichtigen sollte man weiters noch die vorklassischen Werke „Torquato Tasso“ (vollendet 1789, gedruckt 1790) von Goethe und Schillers „Don Karlos“ (1787). Gattungsgeschichtlich umfasst das Schaffen der Weimar Klassik also nahezu alle poetischen Textsorten.

Ideengeschichtlich wird der Abschnitt getragen von einem vierfachen Weltbild: 1. Der Forderung nach Humanität (initiierend in Goethes „Iphigenie“, programmatisch im Gedicht „Das Göttliche“: Edel sei der Mensch / Hilfreich und gut), 2. dem Gefühl des Weltbürgertums (als bewusstem Gegensatz zu den Nationalismen der Napoleonischen Kriege), 3. dem Streben nach Harmonie in Form und Gehalt (für das Winckelmanns Griechenbild mit seiner „edlen Einfalt und stillen Größe“ Pate stand) und 4. dem Wunsch nach Persönlichkeitsbildung (im Gegensatz zum Geniebegriff des Sturm und Drang). Vorrangiges Ziel war die Schöpfung von Typischem, von Urbildern als den höchsten Erscheinungsformen in der Welt. Sittliche Ordnung, Größe und Klarheit, Ruhe und Ebenmaß, also Humanität im weitesten Sinn, spiegeln sich in Inhalt, Form und Sprache im literarischen Kunstwerk wider. Als Vorbild fungiert die griechische Antike, das „Aufblicken zu antiken Vorbildern in Kunst und Literatur“ (Schultz 1983, 59).

2.

Sprachnormierende Bestrebungen vor der Weimarer Klassik

2.1. Grammatiken und Wörterbücher Mangels eines eindeutigen politischen Zentrums, das wie in anderen europäischen Ländern als Vorbild bei der Ausbildung einer

normierten Schriftsprache wirken konnte (Berlin und Wien schieden für Jahrhunderte, jeweils aus anderen Gründen, aus), bemühten sich die seit dem 17. Jahrhundert ihrem Einfluss und ihren Zielen nach unterschiedlilch zu beurteilenden Sprachgesellschaften sowie starke Einzelpersönlichkeiten um die Vereinheitlichung der deutschen Sprache in Schreibweise und Aussprache. Ihre Autorität gründet sich allein auf den normativen Anspruch und nicht etwa auf eine intensive Beobachtung des Sprachgebrauchs. Eine wichtige Rolle nimmt Justus Georg Schottel (1612⫺1676) ein („Teutsche Sprachkunst“, 1641 „AusfÈrliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache“, (1663), da er mit seinen umfangreichen Wortlisten den Sprachinteressierten ein Mittel zur Normierung in die Hand gibt, auch wenn seine Schreibungen wegen vielfach falscher Wortetymologien heute als willkürlich erscheinen müssen. Kaspar Stieler (1632⫺1690) übernimmt seinen Grundsatz der Stammwörter, um die Ableitungen und Zusammensetzungen geordnet werden, in seinem monströsen Wörterbuch „Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs“ (1691). Ihm ist die „Kurze Lehrschrift von der Hochteutschen Sprachkunst“ als Anhang beigegeben. Als Vorbild erscheint ihm damit das Obersächsische (mit Dresden, Wittenberg, Leipzig und Halle), jedoch nicht die Mundarten, sondern eine übergreifende Sprachform, eben die „Hauptsprache“. Aus der Fülle der Normierungsversuche von Schreibung und auch Grammatik ist dann Johann Christoph Gottsched (1700⫺1766), seit 1724 in Leipzig ansässig, hervorzuheben, der die Literatursprache zum nachahmenswerten Vorbild erklärt: In seinem Werk „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und itzigen Jahrhunderts abgefasset“ (1748, 6 Auflagen bis 1776) sowie in seinen anderen, zahlreichen und einflussreichen Arbeiten (u. a. „Grundriß zu einer Vernunfftmäßigen Redekunst“, 1729, und „Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen“, 1730, 4. Aufl. 1751) ⫺ sie werden z. B. auch im fernen Österreich vom Kaiserhaus zur Norm erklärt ⫺ fordert er, nicht eine bestehende Sprache zum Vorbild zu erheben, sondern eine „Kunstsprache“ als übergreifende Norm neu zu schaffen. Als nachahmenswert erklärt er dabei die gesprochene Sprache der „Vornehmen und Hofleute“ in der Hauptstadt eines Landes, also weder die ländliche Mundart noch die Sprachform des städtischen „Pöbels“. Allerdings kann eine gesproche Sprache keine Norm sein, sodass man die Werke der „besten Schriftsteller“ „zu Hülfe nehmen“ muss. Damit lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Literatursprache, nachahmenswert ist für ihn vor allem der Schlesier Martin Opitz, aber auch Paul Fleming, Christian Fürchtegott Gellert, Paul Gerhardt u. a., aber insbesondere die „Hofpoeten“ des 18. Jahrhunderts.

197. Die sprachliche Leistung und Wirkung der deutschen Klassik

Gottsched nimmt aber auf die spätere Sprache der Klassik noch aus einem anderen Grund Einfluss: Er predigt die Ideale der Aufklärung und tritt für eine natürliche Sprache ein, die vor allem klar und eindeutig sein sollte. Das heißt: Keinen komplizierten Satzbau, keine „Provinzialwörter“, keine „fremden“, „zu alten“ oder „neugemachten“ Wörter, keine „malerische Bildlichkeit“, also keine Metaphern (Eggers 1986, 297 f.). Mit seiner allzu strengen Nüchternheit geriet Gottsched aber in Konflikt mit den Schweizern Johann Jakob Bodmer (1698⫺1783) und Johann Jakob Breitinger (1701⫺1776, „Critische Dichtkunst“, 2 Bände, 1740), die das Phantasiereiche, Irrationale in der Kunst und damit in der Sprache verteidigten und damit einen gewissen Einfluss auf die sprachliche Gestaltung bei Friedrich Gottlieb Klopstock (1724⫺1803) und Christoph Martin Wieland (1733⫺1803) ausübten. Der neben Gottsched bedeutendste Sprachnormierer des 18. Jahrhunderts ist Johann Christoph Adelung (1732⫺1806), der die Forderungen Gottscheds, vornehmlich das von ihm zur Norm erklärte „Meißnische“ bzw. „Obersächsische“ als Literatursprache, aufgreift und mit seinem Werk, vor allem dem „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart“ (5 Bände 1774⫺86, 2. Aufl. 1793⫺1801), weiter verbreitet und so in die Literatursprache hineinwirkt. Denn die bedeutendsten Schriftsteller orientieren sich an seinen Regeln: Goethe (der seine erste Gesamtausgabe 1787⫺91 bei Göschen nach Adelungs „Vollständiger Anweisung zur Deutschen Orthographie“ korrigieren lässt), Schiller, Wieland, aber auch E. T. A. Hoffmann, Heine, Tieck u. a. Adelung wirkt auch normierend auf die Grammatik, indem er 1781 eine „Deutsche Sprachlehre zum Gebrauch der Schulen in den Königlich Preußischen Landen“ (fünf weitere Auflagen bis 1781), 1782 sein „Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache; Zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen“ und 1788 eine „Vollständige Anweisung zur deutschen Orthographie“ herausbringt. 1793⫺1802 folgte ein Auszug aus dem großen Wörterbuch. Auch er sieht die Sprachnorm am besten realisiert von den oberen Klassen Obersachsens; aus ihrem Sprachgebrauch leitet er die Regeln für das Normenwerk ab. Auf dem von Adelung beschrittenen Weg brachte dann Joachim Heinrich Campe

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(1746⫺1818) sein „Wörterbuch der deutschen Sprache“ (5 Bände, 1807⫺11) heraus, das vor allem eine starke Vermehrung der Stichwörter mit sich bringt. Nachdem vor geraumer Zeit schon Latein als erklärende Metasprache durch das Deutsche abgelöst worden ist, setzt sich nun das alphabetische Prinzip gegenüber der Anordnung nach Stammwörtern durch: Das moderne Wörterbuch ist geboren, die Grundlage für das Epoche machende Wörterbuch der Brüder Grimm gelegt. Es fällt auf, dass unter den Grammatikern und Sprachlehrern der Anteil von Mittel- und vor allem Norddeutschen sehr hoch und jener von Süddeutschen sehr gering ist. Dies hängt auch mit der besonderen Sprachsituation zusammen, indem die Norddeutschen immer mehr gezwungen waren, die hochdeutsche Sprache quasi als Fremdsprache zu erlernen, und so die Regel „Sprich, wie du schreibst“ etablierten gegenüber dem phonologischen Prinzip „Schreib, wie du sprichst“, wie sie etwa noch Schottelius verfochten hatte. Das phonologische Prinzip wird dann endgültig von Adelung durchgesetzt. Der Weg geht also von der Forderung nach einer als möglichst hoch stehend oder „rein“ angesehenen mündlichen Realisation (und als solche wird sehr oft die Sprachform der Oberschichten in Obersachsen, vor allem das Obersächsische und z. T. das Thüringische ⫺ allerdings ohne das Schlesische ⫺, angesehen, auch wenn die Grammatiker darunter jeweils etwas anderes verstehen und oft noch Literatursprache und mündliche Sprache verwechseln) zur Aufstellung einer (oft als willkürlich empfundenen) schriftsprachlichen Norm, die dann präskriptiv auf Schreibung und Aussprache einwirken soll. Eine allgemein wirkende und auch weiträumig als solche akzeptierte Norm liegt erst mit dem Wörterbuch von Adelung (also seit 1786) vor. 2.2. Die Rolle der Schriftsteller Zu Beginn der Weimarer Klassik war man also von einer einheitlichen Sprachform, sowohl im mündlichen als auch im schriftlichen Bereich, noch weit entfernt. Überdies bringt das 17. Jahrhundert, besonders seine zweite Hälfte, eine in der deutschen Sprachgeschichte neue Situation: Zum ersten Mal üben Schriftsteller, also Einzelpersonen, mit ihren dichterischen Werken Einfluss auf die Entwicklung der Sprache aus. Dies ist zwar vereinzelt schon vorgekommen, vor allem wenn man an Martin Luther denkt, aber hier ging die Vorbildwirkung natürlich in erster

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Linie vom religiösen Reformer Luther und nicht vom Schriftsteller Luther aus. Der Einfluss konnte sich nun aus zwei Gründen entfalten: Zum einen zielten die Bestrebungen der Sprachnormierer auf eine schriftliche Sprachform ab, zum anderen kamen mit Gottscheds Vorschriften zum ersten Mal zeitgenössische Dichter als nachahmenswerte Vorbilder überhaupt erst in Frage. Auf die unbestreitbare Tatsache, inwieweit sich die Schriftsteller des zu Ende gehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ihren Markt und damit eine überregionale Sprachnorm selbst schufen (Eibl 1985, 109), kann hier nicht näher eingegangen werden. Vielerlei ist dabei zu berücksichtigen: Die politischen Verhältnisse der deutschen Kleinstaaten, die herrschenden Kommunikationsformen des Französischen für den Adel und des Lateins für die Gelehrten, die erst überwunden werden mussten, der Marktwert der deutschsprachigen Literatur, die soziale Stellung der Schreibenden (etwa des „Großverdieners“ Goethe im Gegensatz zum stets unter finanziellen Nöten leidenden Schiller) u. v. a. m. Friedrich Gottlieb Klopstock gebührt der Ruhm, sich seine eigene Dichtersprache geschaffen zu haben, zu einem Zeitpunkt, als die Diskussionen über eine Sprachnorm höchst intensiv geführt wurden. Mit seinem Hauptwerk, dem Epos „Der Messias“ (1748⫺73), begeisterte er gleichermaßen Protestanten wie Katholiken. Klopstock kann und will seine pietistische Herkunft nicht verleugnen, und das bringt ihn in scharfen Gegensatz zum aufklärerischen Rationalismus Gottscheds. Er eröffnet der Dichtersprache seiner Zeit neue Möglichkeiten, macht den klassischen Hexameter in der deutschen Literatursprache heimisch, arbeitet mit freien Rhythmen und sieht die Dichtersprache als Abweichung von der „kalten Prosa“ (gemeint ist der Unterschied zwischen Vers und Prosa) ⫺ Gottsched hingegen sieht keinen Unterschied in der Sprache der Prosa und der Dichtung. Berühmt und von seinen Zeitgenossen z. T. mit Verwundern aufgenommen sind Klopstocks Wortschöpfungen, sowohl von der Wortbildung (Thale als Akk. pl., du Toderweckter) als auch der (z. T. semantischen) Umformung her (Mal statt Denkmal) sowie seine persönlichen Neologismen. Als Vorbild erscheinen Klopstock das Französische, das zu seiner Zeit, bedingt durch den politischen Zentralismus, einen viel höheren Einheitlichkeitsgrad aufwies, und die nüchtern-sachliche Prosa der englischen Zeit-

schriften (in der Tat erschienen die ersten drei Gesänge des „Messias“ im letzten Jahrgang der nach englischem Vorbild angelegten „Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes“, in Leipzig hergestellt, aber mit Verlagsort Bremen, daher kurz „Bremer Beiträge“, 1745⫺48). Was Klopstocks syntaktische Gestaltung betrifft, muss man zwischen seiner „kalten Prosa“ und der Lyrik unterscheiden. In ersterer erweist er sich als Meister des knappen, klaren Stils; bei der lyrischen Arbeit betont er die Umgestaltung der „Wortfügung“ gegenüber nichtpoetischer Produktion (Eggers 301 ff., 326 ff.). In diesem Zusammenhang muss auch die antigottschedische Position von Johann Georg Hamann (1730⫺1788) genannt werden. In seinem Aufsatz „Vermischte Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache“ von 1760 (1762 in „Kreuzzüge des Philosophen“) etwa versucht er, das Deutsche als „von Natur nach“ für die Inversion prädestiniert zu sehen. Für ihn ist das Deutsche letzten Endes eine „Affektsprache“, die sich logischen Forderungen entzieht: „Die Reinigkeit einer Sprache entzieht sich ihrem Reichthum; eine gar zu gefesselte Richtigkeit, ihrer Stärke und Mannheit“ (Mattausch 1965, 133). Gotthold Ephraim Lessing (1729⫺1781) unterzieht vor allem die Prosa seiner Zeit grundlegenden Wandlungen. Seine Art zu schreiben wird persönlicher. Auch er ist vom kurzen, prägnanten Satz der Engländer beeinflusst (wie ja auch seine literarische Produktion unter dem Einfluss Englands steht). Seine Sprache wird von den nachfolgenden Generationen, aber auch schon von den Zeitgenossen als „klar“ und besonders vorbildlich angesehen (Lerchner 1980). Christoph Martin Wieland ist einer der wenigen bedeutenden Schriftsteller jener Zeit, die aus dem Oberdeutschen stammen. Seit 1769 Professor für Philosophie an der Universität Erfurt, wurde er 1772 als Prinzenerzieher nach Weimar berufen und kam dort auch mit Goethe und Schiller in Kontakt. Im Gegensatz zu Lessing bevorzugt er lange und verschachtelte Sätze. Auch in der Wortwahl ist der französische Einfluss spürbar, bis hin zum Frivolen in der Darstellung. Seine epische Breite macht ihn zum geistreichen „Plauderer“, der zwar keinen unmittelbaren Einfluss auf die Literatursprache seiner Zeit ausübt, aber von den gebildeten Kreis vor allem Oberdeutschlands viel gelesen wurde:

197. Die sprachliche Leistung und Wirkung der deutschen Klassik

… das südliche Deutschland, besonders Wien, sind ihm ihre poetische und prosaische Kultur schuldig, urteilt Goethe (Eggers 1986, 331). Sein sprachliches Feilen zeigt sich u. a. darin, dass er den „Oberon“, der direkte Verbindungen zu Goethe und Schiller und sogar zum Wiener Volkstheater (bis hin zur „Zauberflöte“) herstellt, vor dem Druck sieben Mal umarbeitet. Johann Gottfried Herders (1744⫺1803) Bedeutung liegt vor allem darin, die jüngere Generation (um 1770) maßgeblich beeinflusst zu haben. Gegen das Diktat der Vernunft setzt er das „Originalgenie“, als absolute Vorbilder erschienen ihm Homer, Shakespeare und die gefälschte Lyrik des imaginären Ossian. Herder war auch der erste, der es wagte, gegen die herrschende These vom göttlichen Ursprung der menschlichen Sprache aufzutreten. Damit wurde aber auch die Sprache in die Verfügungsgewalt des Menschen gegeben, was die „Originalgenies“ des Sturm und Drang weidlich auszunützen wussten. Herder fordert die Verwendung von „Machtwörtern“, von kräftigen Mundartwörtern (Idiotismen), die vor allem aus dem „Schwäbischen“ (d. h. dem Mittelhochdeutschen) stammen sollten, von den Meistersingern, von Luther, aber auch von Martin Opitz, Friedrich von Logau und schließlich Klopstock. Im Satzbau verfocht er die Abkehr von starren rationalistischen Formen und die freie Gestaltung der Wort- (d. h. Satzglied-) und Satzfolge. In seinen eigenen Schriften strebt er ⫺ wohl als Folge seiner Tätigkeit als Prediger ⫺ den Wohlklang beim Lesen an und ist damit Wieland vergleichbar. Hier kann nicht auf die Sprache des jungen Goethe und jungen Schiller in ihren Werken des Sturm und Drang eingegangen werden. Nur so viel: Anknüpfend an die literarischen, ästhetischen und sprachlichen Vorstellungen Herders gefällt sich die junge Generation im Gebrauch und der Schöpfung „kraftgenialischer“ Ausdrücke und einer der mündlichen Sprechweise angenäherten Sprache mit ihren mundartlichen Elementen, Ellipsen, Elisionen, Anakoluthen und Aposiopesen. Als die Klassik einsetzt ⫺ unabhängig davon, ob man diese Epoche jetzt mit 1785 oder 1794 beginnen lassen will ⫺ ist das einzig Verbindende der Sprache in den literarischen Werken ihre Uneinheitlichkeit: individuelle Gestaltung in Schreibung, Wortschatz und Syntax ist das Vorherrschende. An diesem Punkt setzte die sprachliche Umformung der „Klassiker“ ein.

3.

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Die sprachliche Leistung der Weimarer Klassik

Die „Sprache der deutschen Klassik“ ist keineswegs eine einheitliche Sprachform oder gar Sprachepoche. Es verbietet sich daher in diesem Zusammenhang, von der „Semiotik des Epochenstils“ oder auch nur von Autorenstilen zu sprechen (vgl. dazu Fix/Wellmann 1992, Vorwort). In diesem Sinn können auch nur sprachliche Merkmale der Werke aus der klassischen Epoche kumulativ notiert und beschrieben werden. Goethe und Schiller waren keine Grammatiker und verstanden sich auch nicht als solche. Sie haben nie (wie Herder) in die herrschende Diskussion über den Ursprung der Sprache eingegriffen. Aber ihr Leben lang ringen sie mit dem Material des Dichters, der Sprache, ihre Einstellungen und (oft pessimistischen) Äußerungen dazu sind hinreichend bekannt (Eggers 1986, 340 ff.; Straßner 1995, 163 ff.; s. auch Mattausch 1998, dort wesentliche Literatur). Ihre Bemühungen um die deutsche Sprache sind daher immer mit der Funktion von Sprache in den literarischen Werken verbunden und dieser untergeordnet. So wirkt sich der Inhalt der literarischen Kunstwerke auf die Gestaltung der Sprache aus: Indem sich Goethe und Schiller in ihrer „klassischen“ Epoche humanistischen Idealen (Weltbürgertum, Harmoniestreben, Persönlichkeitsbildung, Nachahmung der Antike etc.) verpflichtet fühlen, wollen sie die sprachliche Gestaltung diesem Ideal anpassen. Dies vollzieht sich im Einzelnen auf folgenden Ebenen: 3.1. Aussprache Die Festlegung einer Aussprachenorm erfolgte bekanntlich erst am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts; die Zeitgenossen der Weimarer Klassik sind daher von einer Regelung noch weit entfernt. Natürlich war das Problem bekannt, und für Goethe stellte es sich besonders eindringlich, als ihm die Leitung des Weimarer Hoftheaters überantwortet wurde. So spricht er sich denn auch in seinen „Regeln für Schauspieler“ für die strikte Vermeidung von „Provinzialismus“ (§ 1⫺2), d. h. von dialektgebundenem Wortgut, und das „Verschlucken“ von Buchstaben (also Lauten) und Silben, besonders auslautendes -em und -en (§ 4⫺7), aus. Wenn er des Weiteren auf der genauen Unterscheidung von p und b und t und d (§ 8) besteht, spielt er damit ein dialektales Aussprachemerkmal des Obersächsischen an, das offenbar auf der Bühne häufig anzutreffen war.

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Im § 14 heißt es: Der Anfänger soll sehr langsam, die Silben und besonders die Endsilben stark und deutlich aussprechen. Damit begründete Goethe den „Weimarer Sprechstil“, der allerdings erst nach seinem Tode zu seiner vollen Ausprägung und auch zu seinen Auswüchsen, d. h. der vielgescholtenen „Silbenstecherei“ und seiner ausgeprägten Skandierung bis zum Sprechgesang hin, gelangte. Es darf auch nicht übersehen werden, dass bereits Gottsched Ähnliches gefordert hatte, nämlich 1. keine mittel- bzw. oberdeutsche Qualität der Grundvokale und Diphthonge und 2. die Bewahrung der Opposition stimmhaft/stimmlos bei den Verschluss- und Reibelauten entsprechend der Verteilung bei den Graphemen: d-t, b-p, w-f(v), g-k, sß/ss. Damit wird aber das niederdeutsche Vorbild festgeschrieben, das auch Goethe in der Aussprache anerkannte (Kurka 1980, 6). Im Gegensatz zu Schiller berücksichtigte Goethe immer auch das gesprochene Wort, d. h. die Wirkung, die der mündliche Vortrag seiner Werke hervorrief, und er beschäftigte sich intensiv damit: Poesie ist nicht fürs Auge gemacht (Italienische Reise, 22. 1. 1778). Nach Aussagen von Zeitzeugen soll er auch ein ausgesprochenes Talent zum Volksredner gehabt haben (Weithase 1961, 371 f.).

Damit wird aber auch das Ideal der Weimarer Klassiker in Bezug auf die Aussprache deutlich: Mundartliches oder was dafür gehalten wurde, ist zu vermeiden (Schmidt 2000, 159). Reimten sie selbst noch Augenblicke ⫺ zurücke, Bügel ⫺ Riegel, neige ⫺ Schmerzensreiche, Zweifel ⫺ Teufel, Tag ⫺ darnach (Goethe) und Höhn ⫺ gehen, untertänig ⫺ König, vereint ⫺ Freund, Söhne ⫺ Szene, Miene ⫺ Bühne (Schiller), so werden solche dialektalen Lautungen nun streng gemieden, vor allem Spirantisierung von Plosiven (g), Entrundung, die Vernachlässigung der Stimmhaftigkeit, e-Synkope und -Apokope.

3.2. Morphologie An Goethes Änderungen im Wortschatz lassen sich besonders auffällig seine Wandlung vom Sturm und Drang zur Klassik ablesen (Langen 1966, 1161 ff.). Kennzeichnend etwa sind die Änderungen, die er in seinen Jugendwerken im Zuge der Bearbeitung für die erste Gesamtausgabe bei Göschen (1787⫺1791) vornahm: Individuelle Ausdrücke der Jugendzeit, meist geprägt durch seinen heimatlichen Dialekt, werden unter Benützung des adelungschen Wörterbuches einer überregionalen Norm angepasst: jetzt statt izt, vergoldet statt vergüldet, quellet statt quillet, ze, trauernd statt traurend usf. Die Apokope des e wird, dem ostmitteldeutschen Standard folgend, beseitigt: Herze statt Herz, das Böse statt das Bös, Hoffnungsfülle statt Hoffnungsfüll; ebenso die Syn-

kope: in ihren Schoß statt in ihr’n Schoß, schmachtetest statt schmachtetst. Die abgekürzten Formen müssen den vollen weichen: hinauf statt nauf, vor den Kopf statt vorn Kopf, in den Stall statt in Stall, wie Unkraut statt wies Unkraut. Außerdem werden der starke Gebrauch von Asyndese uns Polysyndese gemildert, übertrieben gehäufte Negationen beseitigt (Maurer 1964, 125). Dreigliedrige, offenbar als „kühn“ empfundene Neologismen werden gekürzt: Nebeldüfte statt Wolkennebeldüfte, Blütenträume statt Knabenmorgenblütenträume; „fehlende Artikel“ werden eingefügt: im Mutterleib statt in Mutterleib, zum Griffel statt In Griffel, elidierte Flexionsendungen ergänzt: langes Gras statt lang Gras („Wilhelm Meisters Lehrjahre“).

Diese Eingriffe gehen bis in die Morphologie, indem Flexionsendungen oder Präfixe eliminiert werden, wohl um den sprachlichen Eindruck zu verstärken: die Lebensmüde ‘Lebensmüdigkeit’, mittelweltisch ‘mitten in der Welt’, wöhnlich ‘gewöhnlich’, Kömmling ‘Ankömmling’, decken ‘bedecken’, langen ‘verlangen’, finden ‘befinden’, neiden ‘beneiden’, reichen ‘erreichen’, schüttern ‘erschüttern’ (Goethe), Wetterleucht (Schiller) u. a. m. Diese Tendenz scheint Goethe von Klopstock (schon bei ihm findet sich decken in dieser Verwendungsweise neben andern Ausdrücken ähnlicher Bildungsweise) übernommen zu haben (Kainz 1974, 268 f.).

Besonders bevorzugt werden von Goethe die Präfixe er-, ent-, un- und ur-: erflehen, erwühlen, eratmen, erjagen, erdrechseln, erschranzen, erwarmen, erschlafen, ernötigen, erspulen, erschleppen; entflammen, entnerven, entsündigen, enteilen, entschmeicheln; Unform, Unfreunde, Ungestalt, Ungeschöpf, unholdig, Unmusik; Urfarbe, Urfarbenkreis, Urfelsen, Urgang, Urstein, Urglieder, Urmetall, Urbarde, Urbild, Urding, Urgefühl, Urgegend u. a. m. (Kainz 1974, 280 f.). Diese Bildungen bzw. ihre Vorliebe dafür zeitigten in der sprachlichen Entwicklung der Nachklassik aber keinen Widerhall.

Seit dem Erscheinen der Homer-Übersetzung von Johann Heinrich Voß (1781) ist auch eine eklatante Zunahme an Partizipialbildungen sowohl bei Goethe als auch bei Schiller zu konstatieren: fernabdonnernd, tieferschütternd („Iphigenie“), allbezwingend, schönheitliebend („Faust“), die himmelumwandelnde Sonne, die hochwallenden Gassen („Braut von Messina“). Das Adjektiv wird nun auch gerne nachgestellt: die Tränen, die unendlichen; des Glücks, des langerflehten („Iphigenie“), kein unbestimmtes Bild („Tasso“). (Bach 1970, 383).

3.3. Syntax Satzbau und Satzgliedstellung bei den Klassikern Goethe und Schiller harren noch immer einer gründlichen Erforschung. Es können

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daher hier nicht mehr als Tendenzen sichtbar gemacht werden. Mit den folgenden Beobachtungen stehen die Klassiker in bewusstem Widerspruch zum schriftsprachlichen Usus ihrer Zeit (vgl. Olbrich 1891). Im Mittelhochdeutschen war die Nachstellung des Adjektivs nach dem Substantiv möglich und üblich. Diese Varianz geht im Frühneuhochdeutschen verloren, Opitz spricht sich im „Buch von der deutschen Poeterey“ (1624) entschiedenen dagegen aus, und seit Gottsched ist sie endgültig verpönt. Jeglich Nachstellung dieser Art muss seit diesem Zeitpunkt als antiquiert oder zumindest poetisch archaisierend wirken. Es wundert daher nicht, wenn Goethe sie in dieser Funktion einsetzt: Hermes der leichte („Römische Elegien“), des Glücks des lang ersehnten („Iphigenie“ 3, 1), sehr gut nimmt das Kütschchen sich aus, das neue („Hermann und Dorothea“ 1, 17). Diese Bildungen sind direkt beeinflusst von der Homer-Übersetzung von Voß: stets vom Schilde beschwert dem beweglichen. Dasselbe gilt auch für das nachgestellte Partizip II: laßt mich ins Glück, das neu mir gegönnte, mich finden („Hermann und Dorothea“ 9, 232). Die Nachstellung kann sogar zu einer Wortgruppe ausgebaut werden: Machtfeuer glühen rote Flammen spendende („Faust“ 7022). Auch mit Voranstellung des attributiven Genetivs kann bewusst antikisierende Wirkung erreicht werden: Und das glückliche Fest … / Auch mir künftig erscheinen der häuslichen Freuden ein Jahrstag („Hermann und Dorothea“ 1, 204). An der Versbearbeitung der Prosa-Iphigenie kann deutlich abgelesen werden, wie Goethe diesen klassizistischen Effekt anstrebt, noch verstärkt durch die Abtrennung des Artikels, es findet sich aber auch in anderen Werken: O leite meinen Gang, Natur, den Fremdlings Reisetritt („Der Wanderer“). Es kann genau verfolgt werden, wie J. H. Voß diese Spaltungen, zum Teil genau der griechischen Wortstellung nachbildend, zur Spitze treibt, ihm folgt Goethe wieder in seinen antikisierenden Dichtungen: geschwinde die Spuren / Tilget des schmerzlichen Übels („Hermann und Dorothea“ 1, 94), wenn er auch nicht die Kühnheit von Voß erreicht. Die Apposition wird z. T. weit vom Bezugswort abgetrennt: denn ihn läßt die Luft zu leben nicht den Jüngling untergehn („Hermann und Dorothea“ X, 380), Phöbus rufet, der Gott Formen und Farben hervor („Römische Elegien“ I, 242.154), Der mir des Vaters

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Art geschildert, des trefflichen Bürgers („Hermann und Dorothea“ 9, 94). Vor allem der abgetrennte Genetiv folgt der Antike, vornehmlich den Übersetzungen von Voß (1781): Die uns der Menschen Geschick enthüllen und ihre Gesinnung („Hermann und Dorothea“ 1, 82), Siehst du des Tischlers da drüben für heute geschlossene Werkstatt („Hermann und Dorothea“ 9, 32). Änderungen in der Satzgliedfolge lassen sich häufig beobachten: Und die Sorge, die mehr als selbst mir das Übel verhasst ist („Hermann und Dorothea“ 1, 159), War Gedräng und Getümmel noch groß der Wandrer und Wagen („Hermann und Dorothea“ 1, 109), dort kommen schon einige wieder („Hermann und Dorothea“ 1, 38), Morgen fangen wir an zu schneiden die reichliche Ernte („Hermann und Dorothea“ 1, 50), Auch ein Mädchen dir denkst in diesen traurigen Zeiten („Hermann und Dorothea“ 2, 156), Und es brannten die Straßen bis zu dem Markt, und das Haus war / Meines Vaters hierneben verzehrt und dieses zugleich mit („Hermann und Dorothea“ 2, 120 f.). Vor allem kommt dies auch im Nebensatz vor: denn solches Los dem Menschen wie den Tieren ward („Pandora“). Nach antikem Vorbild stellt Goethe auch attributive Bestimmungen in den folgenden Relativsatz: das Echo vielfach zurückkam, / Das von den Türmen der Stadt ein sehr geschwätziges, herklang („Hermann und Dorothea“ 4, 41); … fuhr durch die Schiffe, / Die in dem großen Kanal viele befrachtete stehn („Venezianische Epigramma“). Das Streben nach „Klarheit“ bedeutet aber auch Abbau von unübersichtlichen Schachtelsätzen und eine latente Neigung zu Parataxen, die auch an der häufigen Verwendung der „wertneutralen“ Copula und zum Ausdruck kommt: Also sprach sie und war die breiten Stufen hinunter / Mit dem Begleiter gelangt, und auf das Mäuerchen setzten / Beide sich nieder des Quells. Sie beugte sich über, zu schöpfen, / Und er faßte den anderen Krug und beugte sich über. / Und sie sahen gespiegelt ihr Bild in der Bläue des Himmels / Schwanken und nickten sich zu und grüßten sich freundlich im Spiegel, / Laß’ mich trinken, sagte darauf der heitere Jüngling: / Und sie reicht’ ihm den Krug („Hermann und Dorothea“ 7, 37 ff.) (Langen 1966, 1159). 3.4. Wortschatz und Wortsemantik Eine besondere Leistung wird der Klassik in den meisten Darstellungen auf dem Gebiet der Wortbildungen und -neuschöpfungen zu-

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gesprochen; dies mag damit zusammenhängen, dass die Entwicklungen auf diesem Gebiet besonders augenfällig werden. Besonders charakteristisch für die Klassik wird die Tendenz zum schmückenden Beiwort, die so stark ist, dass sie schon den Zeitgenossen auffällt und von ihnen kritisiert bzw. parodiert wird. Der Goethefeind Börne notiert 1830: „Goethes Lieblingswörter sind: heiter, artig, wunderlich. Er fürchtet sogar sich zu wundern; was ihn in Erstaunen setzt, ist wunderlich …“ Als Hölderlin 1797 sein Gedicht „Der Wanderer“ Schiller für die „Horen“ vorlegt, stößt sich Goethe an der Wendung „der quellende Wald“ (in einem Brief an Schiller vom 28. Juni 1797), im Druck ist die Stelle dann in „der schattende Wald“ geändert (Langen 1966, 1160 ff.).

Neben der Schaffung von Neologismen verhelfen die Klassiker auch fremden Neuprägungen zum „Sieg“, etwa Kennerblick, Mondhof, menschenfresserisch, Langeweile, Siebenmeilenstiefel (Lehnübersetzung von französ. bottes de sept lieues durch Jean Paul, Kainz 1974, 274), Glitzertand, Lächelmund, Flatterhaare („Faust“). Schöpferisch tätig waren Goethe und Schiller auch auf dem Gebiet der Verben, berühmt (bzw. berüchtigt) sind die faktitiven Kurzverben Goethes: häßlichen ‘häßlich machen’, liedern ‘Lieder dichten’, echoen, grillen ‘Launen haben’, Hügel buschen sich zur Schattenruh; ich denke nicht den Tod („Iphigenie“). Neben den Neuschöpfungen ist der Wortgebrauch Goethes dadurch gekennzeichnet, dass er gebräuchliche Ausdrücke in zwar bekannten, aber eher ungewöhnlichen Sonderbedeutungen verwendet (Kainz 1974, 263 f.), etwa: abneigen ‘abbringen, ablenken’, aneignen ‘anpassen’, ausgespart ‘seltsam’, Bedingung ‘bedingendes Hindernis, Schranke’, beherzigen ‘eingehend betrachten’, durchaus ‘völlig gänzlich’, erhalten ‘festhalten’, ewig ‘unendlich auch im Raum (nicht nur in der Zeit)’, höchst ‘unsterblich’, rein, reinlich ‘frei von Flecken der Stofflichkeit’, schmächtig ‘von schmachtender Gesinnung’, tüchtig ‘fest und solide im Gegenwärtigen und den Pflichten des Lebens wurzelnd’ (eines der Lieblingswörter Goethes), sonst ‘früher’ u. dgl. mehr.

Aus diesen und ähnlichen „Bedeutungsverschiebungen“ rühren die Missverständnisse, die die Lektüre bei heutigen Lesern hervorrufen mögen. Vor und für sind noch nicht auseinander gehalten (das hat viel vor sich), widerlich ist „schwächer“ als heute und meint

noch nicht die abstoßende Wirkung, sondern eher ‘unfreundlich, missvergnügt’, wirksam ‘eifrig, tätig’ (wirksames Genie bei Schiller), grün ist nicht (nur) Farbbezeichnung, sondern ‘frisch, jung’, daher der vermeintliche gegenwärtige Widerspruch im bekannten Faust-Zitat Grau, teurer Freund, ist alle Theorie / Und grün des Lebens goldner Baum. Diese Fakten sind relativ genau erfasst (Langen 1966, Kainz 1974). In diesem Sinn muss man bestimmte Lieblingswörter Goethes, die sich als Leitbegriffe klassischer Vorstellungen herauskristallisieren, in ihrer ursprünglich gemeinten Verwendungsweise verstehen: Heiterkeit meint nicht den Anlass zu billigem Vergnügen, sondern eine harmonische Stimmung der ausgeglichenen Gemütsruhe, deshalb kann Goethe also 1819 schreiben, dass die Geburt des Prinzen allgemeine Heiterkeit verbreitet habe. Neologismen und Neuprägungen nehmen vor allem im Werk Goethes ein solches Maß an, dass spezielle Gebrauchswörterbücher notwendig und wünschenswert sind. Neben dem großen Goethe-Wörterbuch, das seit 1978 erscheint, wird derzeit an der Universität Jena ein Schiller-Gesamtwörterbuch erarbeitet (Goethe-Wörterbuch, dazu Mattausch 1982; Müller 1999; Schiller-Wörterbuch). Gerne tat sich Goethe bei der Neubelebung von Archaismen hervor, auch wenn er in den meisten Fällen damit keinen dauerhaften Erfolg hatte: Glast ‘Glanz’, wesen ‘sein’, gebaren, morgenrot, wenig in der altertümlichen Bedeutung ‘beklagenswert, unglücklich’. In diesem Zusammenhang ist auch die Verwendung von Mundartwörtern zu sehen, die zwar der Abneigung der Klassik gegen „Provinzialismus“ zuwiderläuft, aber insoferne anders zu beurteilen ist, als ihre regioniale Gültigkeit von Goethe durchbrochen und auf die allgemeine Schriftsprache ausgedehnt wird: aufdröseln (aus dem Ostmitteldeutschen), kauzen ‘kauern’ (aus dem Thüringisch-Obersächsischen), dämisch, hüben (Parallelbildung zu drüben, aus dem Oberdeutschen). Trotz aller „Reinheit“ und „Klarheit“ in der Sprache scheuen sich weder Goethe noch Schiller, Fremdwörter (vornehmlich aus dem Französischen) zu gebrauchen; der Purismus des späten 19. Jahrhunderts ist ihnen also fremd. Belegt sind Ragout, pragmatisch, apart, ennuyieren, transpirieren, reüssieren, Billet, Gage, revidieren, inkommodieren, Imaginiation, Intuition, Subsidien, Deputat, Anti-

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zipation, sponsieren, paralysieren, hermaphroditisch, Signatur u. v. a. m. (Kainz 1974, 290). Ein besonderes Kapitel sind die sprachlichen Nachahmungen der Antike, die Goethe unter dem Einfluss der Homer-Übersetzungen von Johann Heinrich Voß (1751⫺1826) forciert: Rosenfinger der Eos, wellenbespült, männertötende Schlacht, der Erderschütterer Poseidon, der ferntreffende Phöbus, erdgeborene Menschen u. a. m. Noch im Helena-Akt des „Faust II“ werden diese mit einem Adjektiv kombinierten Partizipia besonders bevorzugt: schrittefördernd, armausbreitend, wutaufgeregt, schwarmumkämpft, fruchtbegabt, krieggezeugt, goldgehörnt, raschgeschäftiges Eigentum, feuerumleuchtet, letheschenkend, schilfumkränzt usw. Dies betrifft auch charakteristische Richtungsangaben wie hinauf-, hinanwiegen, umflügeln, entgegenglühen, -beben, -schäumen (Kainz 1974, 272) und mag auch damit zusammenhängen, dass die klassische griechische Rhetorik eine besondere Vorliebe für Neubildungen zeigte (Fuhrmann 1995, 125).

An charakterisierenden Beiwörtern erscheint überproportional häufig heilig und hoch (ebenfalls im Helena-Akt): heiliger Eurotas, heilige Quelle, heilige Pflicht; hohe Götter, hohe Kraft, hohe Sonne. Legion sind die Komposita mit hoch-: Hochmodern, -herrschaftlich, -interessant, -anständig, -ansehnlich, -elegant, -prima (Goethe), hochverständig (Schiller). Die Wortsemantik wird einer durchgreifenden Wandlung unterzogen, die im Sinne der antiken Ideale steht. Statt jener Begriffe, die dem Streben nach Humanität, Persönlichkeitsbildung und Harmonie semantisch entgegenstehen (wie Dumpfheit, Verworrenheit, Dämmerung, Einschränkung aus dem Sturm und Drang), werden nun Ausdrücke wie edel, schön, groß, gut, würdig, tüchtig, anständig, heiter bevorzugt. Zentral sind Bildung und bilden: heraufbilden, harmonische Ausbildung. Für die Charakterbildung sind aber die Einschränkung und der Irrtum ebenso notwendig wie fruchtbar, wie denn Goethe und Schiller ⫺ nach eigenem Urteil ⫺ am eigenen Leib in der „Beschränkung“ durch das geregelte Silbenmaß eine Bereicherung erfahren haben. Schillers Lieblingswörter in diesem Zusammenhang sind ethisch, sittlich und moralisch, wobei letzterem eher die Bedeutung ‘physisch’ im Gegensatz zu physikalisch zukommt (Kainz 1974, 294). Klarheit ist das oberste Ziel der Klassik, für Goethe sogar ein Lieblingswort. Zusätzlich zu den schon (von Börne in negativem

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Zusammenhang) genannten heiter, artig, wunderlich tritt eine Reihe ähnlicher Ausdrücke wie trefflich, würdig, redlich, schätzbar, geschätzt, löblich, erfreulich, etwa in den (halb)festen Formeln redliches Bemühen, löbliches (redliches, unbedingtes) Streben u. a. m. (Langen 1966, 1161 ff.). Durch die Beschränkung kommt das Individuum zur Mäßigung, Besonnenheit, Entsagung, Ehrfurcht. Weitere semantisch eindeutig besetzte Termini in diesem Zusammenhang sind streben, stetig, Stetigkeit, Mühe, tätig, Tätigkeit, fördern, Förderung, steigern, Steigerung, anschauen, anschauend, Anschauung. Die Suche nach aussagekräftigen Neologismen (die nicht selten durch die ungewohnte und neue Kombination von Wortklassen entstehen) zum Zwecke origineller sprachlicher Bilder ist besonders auffällig: tagverschlossen, flügeloffen, sterngegönnt, wellenatmend, neugiergesellig, selbstverirrt, einsgeworden, raschgeschäftig; krummeng; junghold, vielverworren; Werdelust, Lächelmund; Lagequell, Wallestrom, Wimmelschar (Goethe). Besonders Schiller zeigt eine Vorliebe für seltene und ungewöhnliche Wörter wie Blumenschwelle, Ambradüfte, Taumelkelch, Gaukelbund, machtumpanzert, Viehmaskierung, Silberton, Zitternadel usf. Einen herausragenden Stellenwert in Goethes eigener Beurteilung nimmt sein naturwissenschaftlicher Fachwortschatz ein: Typus, Urphänomen, Systole und Diastole, Polarität, Perfektibilität, Wahlverwandtschaft sind besonders wichtig; obwohl seit 1779 als Bildungen im deutschen Wortschatz vorhanden, werden sie durch Goethe allgemein üblich (Langen 1966, 1162). Morphologie scheint eine Prägung Goethes zu sein. Höchst bedeutend sind die Vokabeln seiend, lebendig, organisch. Auch das neue medizinische Wort impfen (statt inokulieren) setzt sich, nicht zuletzt dank Goethes Unterstützung, allmählich durch. Obwohl Schillers Personalstil nicht dekkungsgleich mit jenem Goethes ist, ergeben sich durch die geistige Annäherung an das klassische Ideal auch Übereinstimmungen in der Ausdrucksweise. Mit seinen philosophischen, ästhetischen und historischen Schriften schaltet sich Schiller in die Diskussion um die Frage ein, ob das Deutsche überhaupt eine Wissenschaftssprache sein könne. Bereits Gottfried Wilhelm Leibniz (1646⫺1716) hatte diese Problematik angeschnitten mit dem Ziel, die Vorherrschaft des Lateins und

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

des Französischen durch die Aufwertung des Deutschen zu beenden. Friedrich Schiller strebt in seinen philosophischen Schriften Allgemeinverständlichkeit an, Wörter mit allgemeiner Bedeutung werden von ihm in philosophischer Verwendungsweise umgeprägt: Grazie, schöne Seele, Anmut, Würde, naiv, Anstand, edel, Einfalt, erhaben, Idee, ideal, Größe, pathetisch, rührend, sittlich, moralisch und vor allem Freiheit. Insbesondere die Prägungen Gedankenfreiheit (aus dem „Don Karlos“) und die spätere Parallelbildung Gewissensfreiheit sind in den allgemeinen Wortschatz übergegangen. Das pejorative Fürstendiener ist eine ureigene Prägung Schillers (ebenfalls aus dem „Don Karlos“); ironischerweise wurde es dann später auf den Hofbeamten Goethe angewandt. Seine diesbezüglichen Anschauungen legt Schiller in dem berühmten Essay „Über naive und sentimentalische Dichtung“ nieder, in dem er die Antithese plastisch vs. musikalisch festlegt. Schiller selbst war sich seiner idealisierenden Tendenzen (auch in der Sprache) bewusst, zumal er sich in einem Brief an Goethe vom 24. August 1798 bemüssigt fühlt, sie zu rechtfertigen: Der Dichter solle auf eine öffentliche und ehrliche Art von der Wirklihckeit sich entfernen und daran erinnern […] daß er’s tut. Eine knappere Sprechweise würde viel zu sehr realistisch hart und in heftigen Situationen unausstehlich werden. Da sich die Sprache der Dichtung von der Alltagssprache abheben soll, verfällt Schiller in seinen Dichtungen bewusst in einen von der gesprochenen Sprache eklatant abweichenden Stil, der schon von seinen Zeitgenossen als „pathetisch“ bezeichnet und z. T. heftig abgelehnt wird, z. B. von seinem Intimfeind Otto Ludwig. Diese Wirkung erreicht die schillersche Sprache vor allem durch die in überreichlichem Maß gebrauchten „schmückenden Beiwörter“ wie in unendliche Gabe, köstliche Habe, ordnender Sinn, reinlich geglätteter Schrein, schimmernde Wolle, schneeigter Lein, weitschauender Giebel, die in dieser Verwendungsweise nicht nur neu, sondern auch ungewöhnlich sind und die etwa im Wallenstein-Prolog in folgenden hochklassischen Bildungen gipfeln: heiterer Tempel der Kunst, harmonisch hoher Geist, edle Säulenordnung, edler Meister, heitere Hüter der Kunst, Würde des Raumes u. a. m. Besonders deutlich zeigt sich diese Tendenz in der „Braut von Messina“, die ja bewusst dem antiken Drama nachgebildet ist und von Schiller sogar als Wiederbelebung des antiken Dramas geplant war: Die Passagen des Chors weisen eine deutlich höhere Zahl solcher schmückender Beiwörter auf als der übrige Text.

Nicht unterschätzen darf man den sprachlichen Einfluss von Schillers historischen Schriften, die zu seiner Zeit von den „Gebildeten“ stark rezipiert wurden: Seine „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ etwa wurde zuerst im „Historischen Taschenkalender für Damen“ veröffentlicht. Zu den schillerschen Prägungen, die in den allgemeinen Wortschatz aufgenommen worden sind, zählen: Staatenbund, Staatsvorteil, Staatsinteresse, Staatensystem, politische Entwürfe, Machtgleichheit, Machtverhältnisse, Wahlfreiheit, Beistandsversprechen, Selbstverteidigung, Selbsthilfe, Kaiserwürde, Reichssystem, Nationalcharakter u. a. m. (Langen 1966, 1166 ff.). In diesem Zusammenhang sind auch eine Reihe von Wörtern aus dem wissenschaftlich-akademischen Bereich zu sehen, die entweder von Schiller selbst geprägt oder in ihrer Verbreitung von ihm gefördert wurden: Studienplan, Brotgelehrter, Amtsgehilfe, Ideengebäude, Naturgesetz, scharfsichtig, abhärten, Erfindungsgeist, Riesenwerk, (Kainz 1974, 296 f.). Man hat auch beobachtet, dass Schiller, gerade in seinem philosophischen Wortschatz, bereits zu seiner Zeit veraltete Wörter, etwa die Verben einverstehen ‘übereinkommen’, ausreichen ‘begreifen’, ermessen ‘ausmessen’ u. a. m., verwendet (Lühr 1999).

Kennzeichnend für die Klassik ist weiters die Vermeidung von sprachgeographisch geprägtem Wortmaterial; dieses wird nur ausnahmsweise zugelassen, und zwar ausschließlilch in dramaturgischer Funktion, etwa im „Wilhelm Tell“ Lawine, Gletscher, Alp, Föhn, Firn, Ehni ‘Großvater’ u. a. m. (Langen 1966, 1152; Moser 1969, 172). 3.5. Phraseologie Goethe scheut sich nicht, alltägliche Wendung auch in seinen klassischen Dichtungen zu verwenden: Du fällst ganz aus der Rolle; mir nichts, dir nichts; sich nicht lumpen lassen (Kainz 1974, 274). Schillers Vorliebe für moralisierende Tendenzen ließ ⫺ besonders sein dramatisches Werk ⫺ zur unerschöpflichen Zitatenquelle des Bildungsbürgertums werden: Die Axt im Hause erspart den Zimmermann; Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt; Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens, Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort; Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst; Ich sei, gewährt mir die Bitte / in eurem Bunde der Dritte; der langen Rede kurzer Sinn u. v. a. m.

Wenn Goethe die Sprache der nachkommenden Generationen mehr durch Wortneubildungen und -umprägungen gestaltet hat, dann trug Schiller bedeutend stärker bei auf dem Gebiet der (moralisierenden) Sentenzen,

197. Die sprachliche Leistung und Wirkung der deutschen Klassik

die zu „geflügelten Worten“ (ursprünglich eine voßsche Homer-Prägung, dann von Büchmann auf seine Zitatensammlung angewandt) und zum „Aushängeschild“ des gebildeten Bürgertums geworden sind. Ein markantes Beispiel etwa findet sich am Neuen Rathaus in Leipzig (das sich die selbstbewussten Leipziger Bürger 1899⫺1905 erbauten): Der Eingang wird links und rechts von zwei in Stein gehauenen Schiller-Zitaten aus dem „Wilhelm Tell“ (Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern; Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen) ⫺ und keinem von Goethe ⫺ geschmückt. Beispiele zuhauf können in jeder Zitatensammlung gefunden werden; mindestens ebenso bedeutend sind die (kürzeren) Wendungen tintenklecksendes Säculum; der langen Rede kurzer Sinn; Bretter, die die Welt bedeuten, der ruhende Pol u. v. a. m. (Kainz 1974, 304 ff., Schmidt 2000, 137). Bezeichnenderweise entstammt ein großer Teil dieser Fügung den Dramen oder Gedichten der klassischen Epoche; besonders der „Wilhelm Tell“ wurde regelrecht „ausgebeutet“. Natürlilch hat auch Goethe zu diesem Zitatenschatz beigetragen: des Pudels Kern, am farbigen Abglanz haben wir das Leben; Name ist Schall und Rauch; wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen etc. Der außerordentliche Erfolg dieser Sentenzen liegt sicher auch darin begründet, dass ihre Verwendung den (tatsächlichen oder vorgetäuschten) Bildungsstand des Benutzers demonstrieren soll (als „Prestige und Minimalkonsens schaffende sprachrituelle Mittel“, von Polenz 1994, 337). Letztlich dient dieses Sprachmaterial, da seine Kenntnis in der Kommunikationssitaution stillschweigend vorausgesetzt werden kann, auch als Basis für ironische oder parodistische Verfremdungen („Der brave Mann denkt an sich selbst zuerst“) und bietet damit neue sprachschöpferische Möglichkeiten.

4.

Die sprachliche Wirkung der Weimarer Klassik bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts

„Der bedeutendste und repräsentativste Vertreter des klassischen Sprachwollens ist Goethe“ (Kainz 1974, 262). Diese bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vertretene Meinung ist allerorten zu finden, obwohl es (fast) keine Einzeluntersuchungen über die sprachliche Nachwirkung der Klassiker im

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19. Jahrhundert gibt. Noch in unserer unmittelbaren Gegenwart wird ⫺ selbst im wissenschaftlichen Bereich ⫺ von der „Verhunzung der Sprache Goethes“ durch die Aufnahme englischer Fremdwörter gesprochen (Bach 1970, 420). Der (aktiven) Produktion, wie sie in Kapitel 3 erörtert wurde, soll im Folgenden die (passive) Rezeption auf allen Ebenen, d. h. im Gesamtbild gegenübergestellt werden. Bei der Wirkungsgeschichte der Weimarer Klassik, von der hier natürlich nur die sprachliche Komponente verfolgt werden kann (zum Selbstverständnis des Bürgertums im 19. Jahrhundert etwa vgl. Linke 1991), sind vor allem drei Entwicklungsschienen zu unterscheiden: 1. der Einfluss, den die Werke Goethes und Schillers auf ihre dichtenden Zeitgenossen ausgeübt haben (also auf die „Literatursprache“ im eigentlichen Sinn als die Sprachform literarischbelletristischer Werke), 2. die Vorbildwirkung der Klassiker im muttersprachlichen Unterricht an den Schulen und 3. ihre Wirkung über die normativen Grammatiken, in denen sie als Muster hingestellt werden.

Bei allem ist die Wertschätzung für Goethe und Schiller im 19. Jahrhundert zu berücksichtigen: Während Goethe bis in die zweite Jahrhunderthälfte zwischen Ablehnung und Nichtbeachtung (etwa bei der Wiederkehr seines 100. Geburtstages 1849) schwankte, erlebte Schiller um die Jahrhundertmitte bis zur Reichsgründung ungeahnte Höhenflüge. Dies mag auch und vor allem mit der Tatsache zusammenhängen, dass sich viele seiner sentenzartigen Aussprüche (vgl. dazu 4.6.) zur Anfachung der nationalen Begeisterung einsetzen ließen (Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an, / Das halte fest mit deinem ganzen Herzen „Wilhelm Tell“). Als diese Dienste nach der Reichsgründung nicht mehr vorrangig gebraucht wurden, fing Schillers Stern an zu sinken, und im Gegenzug stieg jener Goethes (Leppmann 1994, 98). Ad 1. Nach der anfänglichen Begeisterung der Romantiker für Goethe und Schiller flaute das allgemeine Interesse an ihren Werken zusehends ab. Insbesondere die Hinwendung zur Antike und die damit verbundenen inhaltlichen, formalen und sprachlichen Gestaltungskriterien der „Weimarer“ konnten von den Zeitgenossen nicht mitvollzogen werden. So wundert es nicht, dass die Wirkung der Werke aus der klassischen Epoche zunächst gering war, was sich augenscheinlich auch in den Auflagenhöhen widerspiegelt

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

(Engelsing 1973, Hiller 1966). Die erste Gesamtausgabe der goetheschen Werke (Göschen) war mit 4000 Exemplaren zwar relativ hoch, verkaufte sich aber nur schleppend; die Einzelausgaben von „Iphigenie“, „Tasso“ und „Faust“ (mit jeweils 1000 Exemplaren) fanden in den ersten Jahren nach ihrem Erscheinen nur etwa 300 bis 400 Käufer. Obwohl Schiller mit seinen „Räubern“ großes Aufsehen erregt hatte und sein „Don Karlos“ weithin Beachtung fand, wurden nur einzelne seiner Stücke wiederholt aufgelegt; der größte verlegerische Erfolg war seinem Romanfragment „Der Geisterseher“, das aber dem Unterhaltungsschrifttum der Zeit angenähert war, beschieden. Um angemessene Vergleiche anstellen zu können, muss man bedenken, dass um 1780 Auflagenhöhen von 600 Stück schon als beträchtlich galten und dass selbst viel gelesene Autoren wie Jean Paul selten mehr als 3000 Exemplare absetzen konnten (Kunze 1959). Erst die nationale Begeisterung des 19. Jahrhunderts für die Weimarer Klassiker, insbesondere für Schiller, änderte allmählich dieses Bild: Von der 18-bändigen Taschenausgabe schillerscher Werke von 1822⫺24 wurden innerhalb kurzer Zeit 50 000 Exemplare verkauft, von der Taschenausgabe von 1837⫺38 gar 100 000 Stück. Diese Tendenz wurde verstärkt durch die „wohlfeilen“ Einzelausgaben der „Klassiker“, die verschiedene Verlage veranstalteten (Meyer und vor allem Cotta mit seinem „Klassiker-Monopol“), bis Philipp Reclam 1867 mit seiner Universalbibliothek (als Folge der Aufhebung der Urheberschutzfristen), in der als erster Band bezeichnenderweise Goethes „Faust“ herauskam, einen neuen Höhepunkt der Klassikerlektüre und rezeption einleitete (Mattausch 1980, 134 f.). Zuvor aber mussten die Weimarer Dichterfürsten wenig Erfreuliches über sich ergehen lassen. Bereits Ludwig Börne (1786⫺1837), der bekannte Goethefeind, bezeichnete dessen Stil als „marmorkalt und marmorglatt“, und die Jungdeutschen gebärdeten sich dann zusehends als scharfe Kritiker der Weimarer Klassik. Heinrich Laube (1806⫺1884) und Ludolf Wienbarg (1802⫺1872) wandten sich scharf gegen sie, vor allem Wienbarg: „Schiller überbietet sich in einer glänzenden, aber nur zu oft undeutschen und hohlklingenden Paradesprache, und Goethe, der weit entfernt von diesem Fehler ist, hat in seinen Prosaromanen eine solche Menge glatter, höfischer Wendungen bei der Hand, daß man oft nicht weiß, wie man mit ihm dran ist“ (Mattausch

1980, 150 f.). Anerkannt wurde allenfalls noch die Sprache der frühen Werke (d. h. des Sturm und Drang). Daneben verläuft selbstverständlich auch noch die Entwicklungslinie der KlassikerEpigonen des 19. Jahrhunderts. Als einer der bekanntesten Autoren in der Klassiker-Nachfolge sei Franz Grillparzer genannt, sein Erstlingsdrama „Blanka von Castilien“ (vollendet 1809) ist fast Szene für Szene dem „Don Karlos“ nachgebildet. Aber auch Grillparzer geht in seiner Entwicklung einen ähnlichen Weg wie die Klassiker ⫺ besonders seinem verehrten Vorbild Goethe, dem er 1826 einen demutsvollen Besuch in Weimar abstattete (er berichtet darüber in seiner Selbstbiographie), fühlt er sich wesensverwandt: Sein Schicksals- und Schauerdrama „Die Ahnfrau“ (vollendet 1816) zeigt shakespearesche Kraftgenialität, auch spielt eine Räuberbande eine wesentliche Rolle im Handlungsverlauf. Gleichsam um seine Kritiker zu überzeugen, dass er auch anders schreiben könne, wendet sich Grillparzer dem „klassischen“ Drama zu und liefert mit „Sappho“ ein dem „Tasso“ wesensverwandtes Künstlerdrama, das formal und sprachlich überdeutlich in der „Iphigenie“-Nachfolge steht: „Schmückende Beiworte“ rinnend Eis, lebenleere Brust, auf leichtgefügtem Kahn (1, 5); Abgetrennte Wortteile, Satzglieder oder Appositionen: Warum so stumm noch immer und so schüchtern? (1, 5), Ich wollt’ ihn stellen auf der Menschheit Gipfel, / Erheben hoch vor allen, die da sind (4, 2), Wir heißen um ihn lenken, doch er will nicht (5, 2), Du standst vor mir, ein unbegreiflich Bild (5, 3) bis hin zur Auslassung: Nennst du das Kleinod blind, weil es dein Auge? (5, 4); vorangestellter Genetiv: Die Wange rötet sich / Von Zornes heißen Gluten überflammt (5, 3), Geschmückt mit dieses Lebens schönsten Blüten (1, 5), Gab des Gerüchtes Mund euch schon die Kunde (2, 1). Als letzter Beweis der Ähnlichkeit können Wortneu- und -umprägungen (entmenscht 5, 3), klassizistische Leitwörter (Wie man das Gute liebet und das Schöne 5, 3), Synkopen wie in „Hermann und Dorothea“ (Reis’genossen 5, 6), Änderungen in der Verbvalenz (Und gähnte hier die Erde vor mir auf 5, 4) gelten oder Wortprägungen (kein leer-bedeutungsloser Schall 1, 5), die exakt ähnlichen in der „Iphigenie“ nachgebildet sind (unbändig-heil’ge Wut, enggebunden). Auch Wortprägungen in schillerscher Manier lassen sich bei Grillparzer finden: Scheinknabe, Sicherstand, Talgebirg, Tatgepränge, Windgestüm, wolkenthronend (Kainz 1974, 289).

Der Stilwille und der sprachliche Einfluss der Klassik werden deutlich greifbar, wenn man drei markante Werke mit „antik-klassischer“

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Thematik in dieser Hinsicht nebeneinander stellt: Gottscheds „Sterbender Cato“ (aufgeführt 1731), Goethes „Iphigenie“ (1787) und Grillparzers „Sappho“ (1818). Während zwischen den ersten beiden überhaupt keine Übereinstimmungen festzustellen sind (abgesehen von dem in diesem Zusammenhang äußerlichen Merkmal des konstruiert antiken Ambientes), wird der Einfluss der Klassik auf Grillparzers „Sappho“ und seine anderen klassizistischen Dramen (auch wenn die „Iphigenie“ nicht unbedingt der ausdrücklichen Weimarer Epoche zuzurechnen ist) überdeutlich, und es wundert daher auch nicht, dass sich Goethe gegenüber Grillparzer bei dessen Besuch in Weimar über die „Sappho“ freundlich und zustimmend äußerte. Diese Linie der Klassiker-Epigonen auf dem Gebiet des Dramas wäre noch weiter zu verfolgen. Bevor man allerdings in detailreichen Studien die sprachlichen Bezüge zwischen Goethe und Schiller und jenen Schriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts, die ihnen nachfolgen oder sich zwangsläufig mit ihnen auseinander setzen müssen (Grillparzer, Lenau, Stifter, Raabe, Hebbel, Rilke, Thomas Mann u. v. a.) herausarbeitet, ist die noch immer unbeantwortete Frage zu stellen, inwieweit die Sprache literarischer Werke, und seien sie auch noch so beliebt und angesehen, auf die Entwicklung der deutschen Sprache eingewirkt hat. Ad 2. In anderer Beziehung hat die Klassik gleichsam selbst auf zweifache Weise für ihren Einfluss gesorgt: Zum einen durch ihre literarische Produktion, zum anderen durch das Wirken Wilhelm von Humboldts (1767⫺ 1835) bei der Schaffung des humanistischen Gymnasiums, dem Ort, wo die Antike und damit auch die literarischen Klassiker in die Ausbildung von Generationen integriert wurden (Eggers 1986, 357 f., Mattausch 1980, 160 f.). Humboldt konzipierte im Rahmen des Neuhumanismus als Leiter des Kulturund Unterrichtswesens im preußischen Innenministerium praktisch das gesamte Bildungswesen: 1809 wurde er zum Geheimen Staatsrat und Direktor der Sektion des Kultus und Unterrichts im preußischen Staat ernannt ⫺ der Sache nach zum ersten Kultusminister Preußens, ein Amt, das er zwar nur 16 Monate innehatte, in dem er aber die Weichen für die weitere Entwicklung des gesamten 19. Jahrhunderts stellte (Blankertz 1982, 116 ff.), vor allem für die Berliner Universität und das Humanistische Gymnasium. Auch die Volksschulen erfahren eine bedeutende

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Besserstellung mit nun hauptamtlichen und ausgebildeten Lehrkräften; um 1816 werden davon fast 60 % der deutschsprachigen Schulpflichtigen erfasst (Wolff 1999, 167). Bis tief in das 20. Jahrhundert hinein ist das humanistische Gymnasium der konservierende (und konservative) Hort der bürgerlichen Bildungsideale geblieben, in deren Mittelpunkt die Heranziehung zur Humanität, das heißt der größtmöglichen menschlichen Vervollkommnung stehen sollte. Ganz nach dem Vorbild der Klassiker und der von ihnen verehrten Antike (oder dem, was man darunter verstand) sollte der junge Mensch (wohlgemerkt der junge männliche Mensch) zur Beherrschung der eigenen Leidenschaften, zur Hilfsbereitschaft gegenüber den Mitmenschen, also zur Ausbildung eines „edlen Charakters“ angeleitet werden. Dies glaubte man über das Studium der alten Kulturen, ihrer Menschen und ihrer Sprachen (d. h. Latein und Griechisch) zu erreichen. Und schließlich darf nicht vergessen werden, dass der Besuch der Universität (von denen einige, die bis heute nichts an ihrer Bedeutung eingebüßt haben, in diesen Jahren gegründet wurden: Berlin 1810, Breslau 1811, Bonn 1818) bis zum Ende des 19. Jahrhunderts an die erfolgreiche Absolvierung des Gymnasiums gebunden war und diese humanistischen Ideale also dort fortgesetzt wurden. Erste Bestrebungen zur Verwirklichung dieses Ideals vom „edlen (jungen) Menschen“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren getragen von der Überzeugung, dass die Lektüre deutscher Übersetzungen lateinischer und griechischer Klassik für die Beherrschung der Muttersprache nicht ausreichend wären, sondern dass dafür die „besten Werke der Nationschriftsteller“ ausführlich herangezogen und gelesen werden müssten. 1808 wird in Bayern erstmals ein Lektürekanon ausgegeben, der den Literaturlehrstoff systematisch von Klopstock bis Goethe aufgliedert; infolge methodischer Mängel und sich daraus ergebender Misserfolge wird dieses Programm jedoch 1824 wieder aufgegeben. In Preußen wird 1812 eine Abiturinstruktion erlassen, die neben gutem schriftlichen Ausdruck und mündlichem Vortrag auch die Kenntnis der Hauptepochen in der Geschichte der deutschen Sprache und Literatur mit den „vorzüglichen Schriftstellern der Nation“ verlangt. Solcherart wird die Bekanntschaft mit den Klassikern amtlich für die Schule vorgeschrieben.

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Eine Reihe von Schulmännern des 19. Jahrhunderts unternahm den Versuch, die deutsche Gegenwartssprache ihren Schülern bei- und nahe zu bringen: z. B. der Nassauer Josef Kehrein, der in Wien wirkende Niederhesse Theodor Vernaleken, später Oskar Erdmann, Hermann Wunderlich, der ebenfalls zeitweise als Schulmann wirkende spätere Universitätsprofessor Wilhelm Wilmanns sowie der Strassburger Gymnasialprofessor John Ries. Theodor Vernaleken kommt als Schulmann aus der Praxis. In seiner „Deutschen Syntax“ von 1861⫺63 nennt er für den „neuhochdeutschen Zeitraum“ vier Gewährsmänner: Luther, Lessing, Goethe und Jacob Grimm; Schiller kommt erst in zweiter Reihe. Einen ersten Höhepunkt stellt Rudolf Hildebrands Buch „Vom deutschen Sprachunterricht in der Schule und von deutscher Erziehung und Bildung überhaupt“ (1867) dar, das bis 1930 19 Auflagen erlebte. Es verfolgt die Richtung des muttersprachlichen Deutschunterrichts für die Jugend. Höchst erfolgreich in seiner Nachfolge war „Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien“ des Merseburger Schulmannes Robert Heinrich Hiecke, dem es ein ehrliches Anliegen ist, den Unterricht zum größtmöglichen Nutzen für die Schüler zu gestalten. Im Vordergrund steht dabei die schon angesprochene humanistische Menschenbildung: „Die pragmatische Darstellung besteht in der Enthüllung der Motive der Begebenheiten; diese Motive sind theils innere, theils äußere. Jene wieder sind theils Triebe und Leidenschaften des natürlichen Menschen, theils eine höhere Begeisterung für sittliche Ideen (nationale Unabhängigkeit, religiöse Freiheit, Culturfortschritt u. s. f.). Und für irgend eins dieser Motive sollten reifere Schüler unempfänglich sein? Thun wir doch unsrer Jugend nicht solch Unrecht! Wer dürfte ein Drama, wie Wallenstein, wie Tell, wie Maria Stuart, wie Götz, wie Egmont, mit ihr lesen, wenn er an ihrer Fähigkeit, sich in die wichtigsten innern Motive hinein zu versetzen, zweifeln müßte?“ (Hiecke 1842, 43 f.) Als probates Vehikel dafür erscheint ihm die Vermittlung der antik-klassischen Autoren, aus deren Sprache auch für den Gebrauch der Muttersprache Nutzen gezogen werden kann, sowie vor allem die Klassiker Goethe und Schiller, aber namentlich auch Klopstock, Lessing (mit seiner „durchdringenden Klarheit“) und Uhland; abgelehnt werden ausdrücklich Jean Paul (sogar als schädlich eingestuft) und die Romantiker. Darin folgt Hiecke dem literarästhetischen Maßstab seiner Zeit, der kurz zuvor von Georg Gottfried Gervinus in seiner fünfbändigen „Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen“ (1835⫺42) festgeschrieben worden war: Gervinus sieht Goethe als Höhepunkt und Abschluss der literarischen Entwicklung, demgegenüber die „Zerrissenheit“ der Romantik nur einen Abstieg bedeuten kann; eine Ansicht, die dann auch von Wilhelm Scherer in seiner immens einflussreichen Literaturgeschichte von 1883 fortgeschrieben und die erst zu Beginn der 20. Jahrhunderts durch die Aufwertung der Romantik allmählich aufgegeben wird.

Da Hiecke seine Anforderungen nicht nur in der Theorie formuliert, sondern auch mit methodischdidaktischen Hinweisen (bis hin zu aufgearbeiteten Beispielen für den Unterricht) verbindet, erreichte sein Buch und die gesamt pädagogisch-didaktische Richtung höchsten Einfluss in der Unterrichtspraxis, und seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird dieser Aspekt der muttersprachlichen Ausbildung in den staatlichen Schulverordnungen in Österreich (1849), Bayern (1954) und bald darauf auch in Preußen und nahezu allen 38 Staaten des Deutschen Bundes eingeführt (Eggers 1986, 358).

Ad 3. „Das Wirken der Dichter und Schriftsteller [v. a. der Klassiker, P. E.] trug entscheidend dazu bei, daß mit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Herausbildung und relative Festigung der überregionalen und polyfunktionalen nhd. Schriftsprache zu konstatieren ist …“ (Schmidt 2000, 137). Der Einfluss der Weimarer Klassik auf die gesprochene und geschriebene Sprache des 19. und 20. Jahrhunderts wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt (Mattausch 1980). Pauschalurteilen, die der Sprache der Klassik einen direkten Einfluss auf die Standardsprache des 19. Jahrhunderts zuschreiben (wie jenes oben genannte, zudem Moser 1969, 165; Eggers 1986, 426), ohne diesen allerdings anhand konkreter Untersuchungen im einzelnen nachweisen zu können, steht die Leugnung jeglicher Verbindungen (Frühwald 1980, 732) oder zumindest deren Abschwächung (Netz 1980, 69) entgegen (eine Übersicht über die Berücksichtigung der Klassiker in neueren Sprachgeschichten bietet Reichmann 1998). Grundlegend erscheint, dass zunächst zu trennen ist zwischen der (mündlichen) Umgangssprache und der (schriftlichen) Standardsprache des 19. Jahrhunderts. Wir können dies durchaus auf unsere unmittelbare Gegenwart übertragen: Wohl niemand, der einen Roman von Thomas Mann liest, wird dessen Sprache in der alltäglichen Unterhaltung imitieren: „Die klassische Literatursprache ist in der Tat eine der Ausdrucksmöglichkeiten des geschriebenen Deutsch. Doch die gewöhnliche Alltagsprosa in Lehrbüchern und anspruchsvollen Zeitschriften ist stilistisch anders ausgerichtet“ (Keller 1986, 509). Und davon wieder ist die gesprochene Umgangssprache zu trennen. Das Vordringen der Olympier in die Normgrammatik kann sukzessive beobachtet werden. Einen markanten Schritt unternahm Karl Ferdinand Becker (1775⫺1849), der Schöpfer unserer normativen Schulgram-

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matik. In seiner „Ausführlichen deutschen Grammatik“, die in drei Teilen von 1836 bis 1839 herauskam, zeigt der Autor die zeitgebundene seltsame Vorliebe für Autoritäten: Neben dem Gotischen, Otfried, dem „Nibelungenlied“ und dem „Parzival“ wird Luther ausführlich zitiert (meist als veraltet), aus der Neuzeit fast ausschließlich Sentenzen und Sätze von Schiller, vieles unbezeichnet, aber wiederholt aus „Maria Stuart“ und „Don Karlos“. Dies gilt für die ersten beiden Abteilungen. In der dritten macht er im Beispielmaterial plötzlich den Sprung zu Schiller und Goethe, verweilt bei beiden sehr ausführlich, hinzu kommen Belege von Herder, Wieland und eigenartigerweise Schleiermacher. Die Ursache dafür ist in der Behandlung der „Orthographie“ zu sehen, die natürlich aktueller (wenn auch nicht unmittelbar zeitgenössischer) Anschauungsbeispiele bedarf. Dennoch zeigt sich daran symptomatisch der Rang, den die „Klassiker“ im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts erreichten. Voll zur Entfaltung kommt dies um die Jahrhundertmitte, als die Weimarer auch in der Sprachwissenschaft zum nachzueifernden Vorbild erklärt werden: „Hin und wieder wird man der belege zu viel angebracht meinen, namentlich aus Luther und Göthe, doch jenes einflusz auf die sprache, Göthes macht über sie müssen reich und anschaulich vorgeführt werden …“ (Grimm/Grimm 1854, XXXVII). Jacob Grimm ist es schließlich auch, der die Sprachbeherrschung der Weimarer Klassiker endgültig für die künftigen Generationen zum Vorbild erklärt: „Eben darin, dasz Schiller in etwas engerem kreise der sprache sich bewegt, liegt doch sein stärkerer einflusz auf das volk mitbegründet, denn seine rede weisz alles, was er sagen will zierlich ja prachtvoll auszudrücken und wird genau verstanden. von Göthe bekommt man auch einige freilich echte, grunddeutsche, aber vorher unvernommene wörter, die der menge noch nicht geläufig waren, zu hören, was seinem stil etwas vornehmes verleihen kann und dennoch hat er einigemal ohne noth und hart geklagt über die sprache gerade an Stellen, wo er sie am glücklichsten handhabt. Schiller hielt in ihr völlig und glänzend haus, er wuszte lauteren saft aus ihr zu ziehen“ (Grimm 1864, 391).

Eine weitere Ebene, auf der die Werke der Weimarer Klassiker auf die schriftliche Standardsprache einwirken, sind die normativen Grammatiken, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend erscheinen und die sich, im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen Werken, nicht als muttersprachliche

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Unterrichtsmittel für Gymnasiasten verstehen, sondern sich an die gebildete Öffentlichkeit, d. h. das (Bildungs-)Bürgertum wenden. (Nicht gemeint sind damit die ausdrücklich historischen Grammatiken, beginnend bei den Grundlagenwerken von Franz Bopp und Jacob Grimm bis hin zur großen Deutschen Grammatik von Wilhelm Wilmanns, die zu ihrer Zeit tonangebend war.) Als im selben Sinn normativ verstehen sich sprachpflegerische Arbeiten, die meinen, dem Laien den „richtigen“ und „schönen“ Gebrauch der deutschen Sprache nahe bringen zu müssen: Beginnend bei Daniel Sanders’ „Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache“ (1870) über August Lehmanns „Sprachliche Sünden“ (1877), K. R. Kellers „Deutschen Antibarbarus“ (1878) und Karl Gustaf Andresens „Sprachgebrauch und Sprachrichtigkeit“ (1880), Gustav Wustmanns berühmt-berüchtigten „Sprachdummheiten“ (Erstauflage 1891, danach in mehreren Neuauflagen und Bearbeitungen herausgekommen; allerdings ohne irgendeinen Bezug zur Weimarer Klassik) reicht den Bogen bis zu (Alfred) Theodor Matthias’ „Sprachleben und Sprachschäden“ (1892). Auch in Theodor Vernalekens „Sprachrichtigkeiten“ von 1900, einem Werk das ganz in der Nachfolge Wustmanns steht, spielen Goethe und Schiller überhaupt keine Rolle. Verfasst werden diese Werke vornehmlich von Menschen, die sich von Berufs wegen mit der deutschen Sprache beschäftigen, entweder von Universitätsprofessoren wie Wilhelm Wilmanns und Ludwig Sütterlin oder von Vertretern aus nahen Berufen, wie sie der Leipziger Archivdirektor Gustav Wustmann verkörpert.

Höchst einflussreich waren die „Grundzüge der deutschen Syntax“ von Oskar Erdmann aus dem Jahr 1886, obwohl sie ein Torso geblieben sind. Der Verfasser will eine Übersicht über die Möglichkeiten der syntaktischen Gestaltungen geben, die allerdings nicht auf Beobachtungen der gesprochenen Sprache oder der Umgangs-/Alltagssprache beruhen, sondern die aus den schriftlichen Werken verschiedener Epochen extrapoliert und als präskriptive Grammatikregeln zusammengefasst werden. Der Bogen wird dabei vom Gotischen über das Mittelhochdeutsch, über Lessing und die Klassiker und sogar die Romantiker (z. B. Brentano), die noch von Hiecke ein halbes Jahrhundert zuvor vehement abgelehnt worden waren, bis in die unmittelbare Gegenwart (Friedrich Rückert, 1788⫺1866) geschlagen; die Beispiele werden ohne Unterscheidung der Entstehungszeit aneinander gereiht. Gewichtiger Raum wird selbstverständlich Goethe und Schiller eingeräumt. Interessant ist das Ver-

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

halten des Autors bei georteten (echten oder vermeintlichen) Normverstößen, etwa Ellipsen wie Staunest, Wanderer? oder Füllest wieder Busch und Tal bei Goethe oder Hungerte mich sehr bei Schiller; diese werden als peresönlicher, kraftvoller Stil interpretiert im Sinne eines „wirkungsvollen“ Ausdrucks oder Annäherung an die saloppe mündliche Umgangssprache ⫺ durch Berufung auf „künstlerische Freiheit“ wird dies zwar nicht ausdrücklich getadelt, aber auch nicht zur Norm erhoben, also bestenfalls toleriert. Erdmann ist für ganze Generationen ähnlicher Sprachnormierer stil- und meinungsbildend geworden. Bereits sehr früh beruft sich Hermann Wunderlich auf ihn; seine Bücher „Der deutsche Satzbau“ von 1892 und „Unsere Umgangsprache in der Eigenart ihrer Satzfügung“ von 1894 sind ihrerseits höchst einflussreich geworden. Auch in ihnen wird Goethe und Schiller höchste Priorität eingeräumt, mehr noch als bei Erdmann. Ein Blick auf die zitierten Werke macht allerdings wundern: „Don Karlos“, „Wallenstein“, „Wilhelm Tell“, „Egmont“. Im Vordergrund steht also wiederum die schriftliche Sprache in ihrer literatursprachlichen Ausprägung der Weimarer Klassik: „… darum erreicht sein [Schillers] Jambus dort [im „Wallenstein“] auch eine Knappheit und Lebendigkeit, die die Fesseln der gesprochenen Sprache fast abstreift“ (Wunderlich 1894, 66). Dabei setzt Wunderlich die Dramensprache, vor allem der nicht-klassischen Dichtung wie jener des Sturm und Drang, mit der gesprochenen Sprache jener Zeit gleich. Ein Hauptproblem sind dem Verfasser dabei u. a. wieder die Auslassungen von Satzgliedern. Ausdrückliche Verweise auf Erdmann gibt in großer Zahl Ludwig Sütterlin in seiner „Deutschen Sprache der Gegenwart“ (4. Aufl. Leipzig 1918). In ihr wird besonders der Gegensatz zwischen „Schriftsprache“ und „Mundarten“ herausgestrichen, letzteren wird in Anmerkungen als Kommentar zur schriftsprachlichen Norm ausführlicher Raum gewidmet. Die herangezogenen Quellen reichen wieder vom Alt- und Mittelhochdeutschen (Notker, „Nibelungenlied“, „Parzival“ u. a. m.) über Klopstock und Lessing bis zu ausgewählten Werken Goethes und Schillers, vor allem aus der Klassik und Nachklassik („Iphigenie“, „Hermann und Dorothea“, „Italienische Reise“, „Dichtung und Wahrheit“; „Abfall der Niederlande“, „Braut von Messina“, „Maria Stuart“, „Wallenstein“) oder deren Vorläufer („Egmont“, „Don Kar-

los“, „Kabale und Liebe“), aber jedenfalls unter Auslassung des Sturm und Drang. Die Sprache der Klassiker wird wieder als Vorbild angesprochen (etwa die Form schimpfieren bei Schiller, Sütterlin 1918, 170), wo Abweichung von der erklärten Norm festgestellt wird (etwa Schillers börste statt „barst“, Sütterlin 1918, 237), wird dies, wie schon von Wunderlich und Erdmann, als „individuell“, „wirkungsvoll“ oder „ausdrucksstark“ hingestellt. Andresen etwa gesteht Goethe zu, auch Fehler gemacht zu haben, etwa bei der Verwendung starker Präteritalformen (stak statt „steckte“, kief statt „kaufte“, frug statt „fragte“) und in der Orthographie: „Göthe und Schiller und die übrigen Schriftsteller hatten Anderes zu tun, als sich anhaltend um die Schreibung zu kümmern; …“ (Andresen 1881, 7). In dieselbe Richtung geht schließlich die Darstellung des deutschen Satzbaus von Hermann Wunderlich in der Bearbeitung von Hans Reis (Stuttgart, Berlin 1924/25). An Quellen werden nun auch „neuere Autoren“ wie Grillparzer und Laube verwendet, ebenso zeitgenössische Parlamentsreden. Wie in den Vorgängerwerken werden auch hier alte und neue Autoren bedenkenlos nebeneinander gestellt, etwa Spervogel und Schiller (Wunderlich/Reis 1925, 259). Goethe und Schiller fungieren natürlich als Vorbild. Es werden aber auch Abweichungen der Klassiker von der erklärten Norm angegeben, diese sind aber immer wohlbegründet (etwa dadurch, dass Mundartausdrücke wieder „kraftvoller“ sind) ⫺ die Klassiker irren niemals! Als besonders markantes Beispiel für den Umgang mit den Klassikern kann Ludwig Sütterlins bereits erwähnte „Die Deutsche Sprache der Gegenwart“ gelten. Erschienen zum ersten Mal im Jahr 1900, bis 1923 fünfmal wieder aufgelegt (die vierte Auflage von 1918 ist durch einen modernen Nachdruck bequem zugänglich), stellte es für seine Zeit selbst einen „Klassiker“ dar, der für die Zeitgenossen zum Maßstab wurde. Im Vorwort schreibt der Autor: „Im Vordergrund der Erörterung sollte die heutige Sprache stehen. Doch habe ich bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückgegriffen und vor allem unsere großen Schriftsteller vom Ausgang des 18. Jahrhunderts berücksichtigt, nicht nur weil sie geschichtlich sehr viel bedeuten, sondern auch weil ihre Sprache alle Arten der sprachlichen Darstellung noch heute mächtig beeinflußt.“ (Sütterlin 1918, VII f.)

197. Die sprachliche Leistung und Wirkung der deutschen Klassik

In diesem Werk werden, wie in den anderen Grammatiken dieser Art auch, Zitate aus den verschiedensten Quellen und Zeitstufen herangezogen, besonders häufig Conrad Ferdinand Meyer, aber dann auch Luther, Lessing, Klopstock, Wieland, Schleiermacher, Rückert, Bürger, Freytag, Rosegger, Anzengruber, „Iwein“, „Parzival“, „Erec“, Jacob Grimm, Bismarck und Moltke, um nur einige zu nennen. Goethe wird insgesamt 171-mal zitiert, Schiller 175-mal, wobei die Nennungen aus folgenden Werken stammen: Goethe (171): Ohne genaue Quellenangabe 46, Faust 18, Egmont 15, Götz von Berlichingen 12, Hermann und Dorothea 9, Iphigenie auf Tauris 9, Torquato Tasso 4, Wahlverwandtschaften 3, Dichtung und Wahrheit 2, Clavigo 1, Erlkönig 1, Briefwechsel 1, Heideröslein 1, Italienische Reise 1, Laune des Verliebten 1, Wilhelm Meisters Lehrjahre 1, Zauberlehrling 1. Schiller (175): Ohne genaue Quellenangabe 28, Wilhelm Tell 24, Jungfrau von Orleans 22, Maria Stuart 17, Wallensteins Tod 17, Piccolomini 16, Don Karlos 14, Die Räuber 7, Spaziergang 5, Glocke 3, Kabale und Liebe 3, Das Siegesfest 3, Abfall der Niederlande 2, Die Braut von Messina 2, Die Bürgschaft 2, Demetrius 2, Briefwechsel 2, Wallensteins Lager 2, Geschichte des 30jährigen Krieges 1, Graf von Habsburg 1, Kraniche des Ibykus 1, An Goethe 1.

Es fällt auf, das die Werke aus der klassischen Epoche gar nicht überwiegen. Es kommt auch nur eine einzige Sentenz vor (Es irrt der Mensch, solang er strebt). Wichtiger aber erscheint ⫺ und das ist typisch für alle grammatischen Darstellungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ⫺, dass die „Klassiker“ vor allem in der Satzlehre angerufen werden. Bei Sütterlin sind die Belege von Goethe und Schiller auf folgende Kapitel verteilt: Einleitung: Begriff und Wesen der Sprache 3, Erster Teil: Lautlehre 0, Zweiter Teil: Wortlehre 39 (davon in der Wortbildung 8 und in der Flexion 31), Dritter Teil: Satzlehre 304. 87,9 Prozent der Nennungen erfolgen also in der Syntax. Auch in der Wortgeschichte des 19. Jahrhunderts spielen die Weimarer Klassiker nur eine marginale Rolle. Außer als anrufbare Heiligenbilder kommt ihnen keine konkrete Funktion zu. So meint Friedrich Kluge, der selbst eine tragende Rolle in der Geschichte des „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins“ spielte: „Schillers und Goethes Meisterwerke zeigen keine Spuren der widerlichen Seuche [d. h. des Vordringens englischer Wörter in die deutsche Sprache], die in der Zeit des

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30jährigen Krieges begonnen hat … Aus der ewigen Jugendfrische ihrer Werke muß und wird unsere Sprache ihre Gesundheit immer von neuem schöpfen, und die Quelle, in der unsere Klassiker sprachliche ihre Kraft und Nahrung gefunden, versiegt auch in der Zukunft nicht.“ (Kluge 1914, 142 f.)

5.

Resümee

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Sprache der Weimarer Klassik auf die Sprachnorm des 19. Jahrhunderts einen geringeren Einfluss ausübt als bisher allgemein angenommen. Es sind hier mehrere Schranken zu überwinden, nicht nur diastratische, sondern vor allem auch der Gegensatz zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Ebenso wenig hat sich die Sprache Goethes und Schillers unmittelbar auf die Umgangssprache ausgewirkt. Wenn ein Einfluss zu konstatieren ist, dann über den präskriptivnormativen Zweig der Grammatiklehre. Zwar ist damit zu rechnen, dass sich eine indirekte Entwicklungslinie auch über die Unterhaltungs- und Trivialliteratur, die sich direkt an Goethe und Schiller anlehnten, etablierte und dann weiter auf die breiten Lesermassen wirkten (Mattausch 1980, 155), aber es ist eben fraglich, inwieweit sich die gesprochene Umgangssprache an gedruckter Bellestristik, auch wenn sie Bestsellerstatus erreichte, orientierte. Eine eigene Entwicklungslinie, die außerhalb ihres eigentlichen Wirkungsbereiches keine Spuren hinterlässt, ist die Kunstform des Dramas und der Lyrik in der KlassikNachfolge. Die Schulgrammatiken, aber auch die „wissenschaftlichen“ Gegenwartsgrammatiken hingegen bieten keineswegs eine Sprachlehre, die aus den Werken Goethes und Schillers extrahiert wurde. Die standardsprachliche schriftliche Norm des 19. Jahrhunderts ist vielmehr das Kunstprodukt einzelner Grammatiker, die ihre Lehre vor allem aus zwei Quellen schöpfen: anerkannten Grammatikern vor ihnen und dem eigenen „Sprachgefühl“ für das, was sie selbst für richtig erachten. Die Umgangssprache spielt in allen diesen Werken, selbst wenn sie sich auf die „deutsche Sprache der Gegenwart“ beziehen, so gut wie keine Rolle (Wells 1990, 390 f.); der erklärte Gegner ist die Sprachverwendung in der Presse, die manchmal (etwa in Wustmanns Epoche machenden „Sprachdummheiten“) mit massiven antisemitischen

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Anwürfen verbunden wird. Den Klassikern kommt in diesen Darstellungen nur die Bedeutung von anrufbaren Zeugen zu, ihre Werke fungieren lediglich als Fundus an Zitaten, denen zwei entgegengesetzte Funktionen zukommen: entweder als Bestätigung der eigenen Meinungen oder aber als entschuldbare und immer begründbare Abweichungen von der erklärten Norm. Die Klassiker werden somit gleichsam zu Janusköpfen der Norm. Und was die Norm darstellt, bestimmen die jeweiligen Autoren selbst; auch die Auswahl der Klassiker-Zitate in den Grammatiken ist demnach nicht einheitlich. Denn das ist das verbindende Kennzeichen aller normativen Grammatiken: Fehler machen immer nur die anderen. Ein außerordentlicher Fehler in der bürgerlichen Sprachkultur etwa ist die Verwendung von Dialekt im mündlichen und schriftlichen Verkehr (Linke 1996), darin folgen die Grammatiker dem Beispiel der Weimarer. Der Beginn des 20. Jahrhunderts bringt in dieser Entwicklung eine Reihe von gesellschaftlichen und sozialen Änderungen mit sich (Erster Weltkrieg, Ende des gründerzeitlichen Bildungsbürgertums, Umstrukturierung des öffentlichen Schulsystems etc.), die sich auch auf die Sprache auswirken. Es erscheint daher sinnvoll, hier eine (wenn auch nicht scharfe) Grenze zu ziehen, auch wenn als absolutes Ende dieser Einflüsse die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg zu sehen ist. Die sprachliche Leistung der deutschen Klassik muss in ihren allgemeinen Zügen als uneinheitlich beschrieben werden (vgl. auch den Beitrag „Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhunderts in diesem Band). Ihre Vorbildungwirkung ist auf drei unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln: 1. Starke Einflüsse sind in der Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem jener Dichter, die sich als Nachfolge der Klassik verstanden, zu finden. Diese Varietät hat jedoch keine Einflüsse auf die geschriebene und gesprochene Alltagssprache genommen, sodass hier von keinem sprachgeschichtlichen, sondern von einem stilgeschichtlichen Diskurs auszugehen ist (Gotthard Lerchner). 2. Instituionalisiert wird die Vorbildungwirkung im Schulwesen, vor allem im humanistischen Gymnasium. Hier werden die Grundlagen gelegt für die Wertschätzung der Klassiker durch das deutsche Bildungsbürgertum bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Sprachgestaltungen Goethes und Schillers wirken sich indirekt auf den

Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts aus, indem sie von den normativen Grammatikern aufgegriffen und zum Vorbild erklärt werden, dem von allen Angehörigen der Sprachgemeinschaft nachzueifern ist. Die Grammatiker greifen aber selektiv heraus, was als schriftsprachliche Norm anzusehen ist, sodass der Sprachgebrauch in den „klassischen“ Werken Goethes und Schillers nicht 1 : 1 als standardsprachliche Norm umgesetzt wird. Den größten Einfluss auf die geschriebene und auch gesprochene Sprache haben die Weimarer Klassiker (neben einzelnen, von ihnen geschaffenen und umgeprägten Wortformen wie Gedankenfreiheit und Fürstendiener) wohl mit ihren zu Sprichwörtern gewordenen Sentenzen ausgeübt. 3. Keine Wirkungen sind in der Sprache der Wissenschaft, Technik und vor allem der Tagespresse zu sehen.

Vor allem im Bewusstsein des Bildungsbürgertums, in dessen Bücherschränken die Goethe- und Schillerausgaben mit Goldprägungen ihren festen Platz hatten ⫺ dass sie auch gelesen wurden, ist eher zu bezweifeln ⫺, hat sich der Begriff „klassisches Deutsch“ als Synonym für „gutes Deutsch“ festgesetzt (s. Einleitung). Eine genaue Untersuchung und Darstellung aller dieser Einflüsse stellt aber derzeit noch ein Desiderat der Forschung dar.

6.

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3092

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

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Peter Ernst, Wien

198. Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Vorbemerkung Ästhetik und Experiment Innovative Experimente Konstellative Experimente Kommunikative Experimente Tendenzen Literatur (in Auswahl)

1.

Vorbemerkung

Das literarische Experiment entzieht sich einer genaueren ästhetischen und historischen Bestimmung. Die Beschreibung sprachgeschichtlicher Tendenzen des literarischen Experiments in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts hat daher an recht verschiedenartigen Erscheinungen anzusetzen, die vornehmlich aus einem systematischen Blickwinkel miteinander in Verbindung zu bringen sind. Im folgenden werden zunächst solche systematischen Vorüberlegungen angestellt, um im Anschluß hieran die Geschichte verschiedener Ausprägungen literarischer Experimente im Deutschen in starker Verallgemeinerung nachzuzeichnen.

2.

Ästhetik und Experiment

Das Experiment (von lat. experimentia ‘Erfahrung’, experimentum ‘Versuch’) stellt ein Verfahren zur Erkenntnis-, genauer: zur Erfahrungsgewinnung dar, das in der wiederholbaren Beobachtung von Vorkommnissen im Rahmen von Versuchen unter festgelegten und veränderbaren Bedingungen erfolgt. Dieses Verfahren „gesuchter Erfahrung“ (experientia quaesita; Bacon 1623), bei dem (wie etwa in der klassischen Physik) zuvor aufge-

stellte Hypothesen überprüft werden, beherrscht die naturwissenschaftlichen Fächer von der Renaissance bis in die Gegenwart; in den geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern gewinnt es spätestens seit der Aufklärung zunehmend an Bedeutung. Im 20. Jh. erfährt das experimentelle Verfahren eine zusätzliche Ausprägung, indem hier (wie etwa in der Quantenphysik) auch eine Erfahrungsgewinnung aus Versuchen ohne Aufstellung von Hypothesen angestrebt wird (vgl. etwa Frey 1972). Als ein literarisches Verfahren wird das Experiment seit Beginn des 19. Jhs. aufgefaßt, wobei sowohl natur- als auch geistesund gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen als Vorbilder dienen. Im Ganzen zeichnen sich hierbei vor allem drei verschiedenartige Ausprägungen ab (vgl. Allemann 1963; Jauß 1989; Roelcke 2000 b; Schmidt 1978; Schwerte 1968): (1) das literarische Experiment als Verfahren, neue Erfahrungen bei der Produktion und Rezeption von literarischen Werken zu sammeln, wobei vor allem die Entdeckung neuer Gestaltungsformen, die sich gegenüber der literarischen Konvention abheben, im Vordergrund steht (innovatives Experiment). (2) das literarische Experiment als Verfahren, gesellschaftliche und individuelle Konstellationen im Modell durchzuspielen, wobei die Gewinnung soziologischer oder psychologischer Erkenntnisse unter Abstrahierung gesellschaftlicher und individueller Faktoren angestrebt wird (konstellatives Experiment). (3) das literarische Experiment als Verfahren zur Gewinnung literarischer oder besser: sprachlicher und kommunikativer Erfahrungen, wobei bestimmte Annahmen über literarische Sprache und Kommunikation vorausgehen (kommunikatives Experiment).

198. Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert

Um diese verschiedenartigen Ausprägungen literarischer Experimente und deren Bedeutung im Rahmen der Geschichte deutscher Dichtungssprache beurteilen zu können, ist es sinnvoll, zunächst einen kurzen Blick auf verschiedenartige Konzeptionen sprachlicher Ästhetik zu werfen: Autonomie, Ikonizität, Fiktionalität, Konnotation, Rekurrenz, Konvergenz und Deviation (vgl. Roelcke 1994, 27⫺34; zu den verschiedenartigen Konzeptionen sprachlicher Ästhetik vgl. darüber hinaus: Fabb 1997; Hardt 1976; Kloepfer 1975; Nöth 2000, 425⫺466 Oomen 1973; SchmitzEmans 1997; Zima 1991). Unter diesen und weiteren Konzeptionen kommt derjenigen der Autonomie literarischer Texte eine besondere Bedeutung zu, da die übrigen Konzeptionen entweder als funktionale Ausprägungen oder als formale Verfahren von Autonomie aufzufassen sind; vgl. Abb. 198.1. Autonomie funktionale Ausprägungen: 쐌 Ikonizität 쐌 Fiktionalität 쐌 Konnotation

formale Verfahren: 쐌 Rekurrenz 쐌 Konvergenz 쐌 Deviation

Abb. 198.1: Funktionale Ausprägungen ästhetischer Autonomie und formale Autonomisierungsverfahren.

Der Autonomiethese nach besteht die Ästhetizität literarischer Texte in deren Selbstbezüglichkeit oder Autoreflexivität, also in deren Funktion, den Rezipienten auf sich selbst als sprachliche Äußerungen mit eigener Gestalt und eigenem Gehalt zu verweisen. Dichtungswerke zeichnen sich hiernach also unter anderem dadurch aus, daß sie sich selbst zum Gegenstand der Kommunikation machen. Andere sprachliche Funktionen wie etwa die Symptom-, Appell- oder Symbolfunktion werden hierdurch keineswegs ausgeschlossen, sondern erfahren im Rahmen der Autoreflexivität eine jeweils eigene Gewichtung. Zu den bekanntesten Verfechtern der Autonomiethese im 20. Jahrhundert gehört der Prager Strukturalist Roman Jakobson, dem zufolge die „poetische Funktion der Sprache“ in der „Einstellung auf die Botschaft als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen“ besteht (Jakobson 1960/79, 92); die poetische Funktion von Sprache bezieht sich dabei auf die kommunikative Mit-

3093

teilung und steht neben anderen sprachlichen Funktionen wie der emotiven Funktion (bezogen auf den sog. „Sender“ bzw. Produzenten), der konativen Funktion (bezogen auf den sog. „Empfänger“ bzw. Rezipienten), der referentiellen Funktion (auf den Kontext bezogen), der phatischen Funktion (auf den Kontakt zwischen Produzent und Rezipient bezogen) sowie der metasprachlichen Funktion (bezogen auf den sog. „Kode“ oder das Zeichensystem). Weitere Vertreter der Autonomiethese sind vor allem in den Bereichen Semiotik und Kommunikationswissenschaft anzutreffen. Die Ikonizitätsthese literarischer Ästhetik zielt auf das Verhältnis zwischen literarischem Gehalt und literarischer Gestalt: Die Ästhetizität eines sprachlichen Kunstwerks besteht hier in einer möglichst stark ausgeprägten Ähnlichkeit oder Isomorphie zwischen den sprachlichen Erscheinungen auf der Laut-, Wort-, Satz- oder Textebene einerseits sowie den Gegenständen und Sachverhalten, auf die hiermit referiert wird, andererseits. In einer eher simplen Variante handelt es sich dabei dann um eine mehr oder weniger geschickte Imitation der außersprachlichen Wirklichkeit, während im Rahmen einer etwas raffinierteren Version solche literarischen Gegenstände und Sachverhalte durch den Rezipienten selbst erst konstituiert werden. Die Ikonizitätsthese zeigt eine lange geistesgeschichtliche Tradition von der klassischen Antike (oder früher) bis hin zur modernen Semiotik, wie sie unter anderem etwa von Charles William Morris vertreten wird (vgl. Morris 1971). Sie steht auf den ersten Blick in direktem Widerspruch zu der Autonomiethese, da die Ästhetizität literarischer Werke im Rahmen der Ikonizitätsthese mit dem Bezug von deren Gestaltung auf Gegenstände und Sachverhalte, im Rahmen der Autonomiethese hingegen mit dem Bezug der Gestaltung auf sich selbst in Verbindung gebracht wird. Bei näherem Besehen löst sich dieser Widerspruch jedoch auf, indem Autonomie als Isomorphie mit sich selbst zum Idealfall literarischer Ikonizität gemacht werden kann; hiernach darf also die Ikonizitätsthese als funktionale Ausprägung der Autonomiethese gelten. Der Fiktionalitätsthese zufolge besteht literarische Ästhetizität in der Unbestimmtheit der Gegenstände und Sachverhalte, auf die mit dem literarischen Werk Bezug genommen wird. Diese Unbestimmtheit wiederum mag verschiedenen Varianten dieser These nach

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

etwa in der mangelnden Überprüfbarkeit der betreffenden Gegenstände und Sachverhalte selbst bestehen (Unmöglichnkeit der Zuordnung eines Wahrheitswertes), oder sie zeigt sich in der Freiheit des literarischen Werkes hinsichtlich seiner Zuordnung zu bestimmten Gegenständen und Sachverhalten (Polyinterpretabilität): Hiernach ist ein „Kunstwerk, eine in ihrer Perfektion eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne daß seine irreproduzible Einmaligkeit davon angetastet würde.“ (Eco 1973, 30). Gerade durch diese Unbestimmtheit der literarischen Gegenstände und Sachverhalte wird der Rezipient bei der Interpretation wiederum auf die Gestaltung des betreffenden Werks selbst zurückverwiesen, so daß neben der Ikonizitätsthese auch die Fiktionalitätsthese als funktionale Ausprägung der Autonomiethese zu gelten hat. Vergleichbares gilt für die Konnotationsthese. Dieser These nach besteht die Ästhetizität eines literarischen Textes in einer übergeordneten Funktion, die dieser Text über seine unmittelbaren kommunikativen Funktionen wie Symptom, Appell oder Darstellung hinaus erfüllt. Zu den bekanntesten Verfechtern der Konnotationsthese gehört etwa Roland Barthes, der Ästhetizität in der folgenden Formel zu fassen versucht (vgl. bereits Barthes 1964): ((aRb) Rb⬘). Hierbei steht a für den (sprachlichen) Ausdruck oder die Textgestalt, b für die unmittelbare Bedeutung bzw. Funktion oder den unmittelbaren Textgehalt, b⬘ für die mittelbare, literarische Funktion oder die literarische Konnotation sowie schließlich R für eine Relation bzw. Zuordnung. Die literarische Konnotation ist dieser Formel nach allein mittelbar durch eine Betrachtung von Textgestalt und Textgehalt des literarischen Werks auf der unmittelbaren Ebene zu erschließen und erweist sich so angesichts des literarischen Selbstbezugs ebenfalls als eine funktionale Ausprägung der Autonomiethese. Die Rekurrenzthese literarischer Ästhetizität zielt auf eine bestimmte Verfahrensweise der Gestaltung dichterischer Texte. Diese Verfahrensweise besteht in der Wiederholung lautlicher, lexikalischer, syntaktischer und textueller Erscheinungen innerhalb eines literarischen Werks; zu denken ist hierbei etwa an Alliterationen und Reime, bestimmte Satzmuster oder den Gebrauch bedeutungsverwandter Wörter oder Phrasen. Die Rekur-

renzthese wird unter anderem wiederum von Roman Jakobson vertreten, so etwa in der bekannten Formulierung: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ (Jakobson 1960, 94). Die Rekurrenzthese beschreibt also ein formales Verfahren, mit dem die Selbstbezüglichkeit oder Autoreflexivität eines literarischen Werkes vom Produzenten für den Rezipienten hergestellt oder zumindest verdeutlicht werden kann, und stellt somit keine funktionale Ausprägung der Autonomiethese selbst dar, so wie dies etwa bei der Ikonizitäts-, der Fiktionalitäts- und der Konnotationsthese der Fall ist. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Konvergenzthese, die an der Isomorphie zwischen Form und Funktion von verschiedenen sprachlichen Einheiten eines literarischen Textes ansetzt und etwa in der sog. „Homologisierungsformel“ A:B: :A⬘:B⬘ von AlgirdasJulien Greimas ihren Niederschlag findet. A und B bzw. A⬘ und B⬘ symbolisieren hierbei jeweils zwei Zeichen, die in einer bestimmten Relation zueinander stehen (also A:B und A⬘:B⬘) und sich darüber hinaus untereinander auch in einer weiteren Relation befinden (also A:A⬘ und B:B⬘), so daß sie eine isomorphe Struktur (also A:B: :A⬘:B⬘) bilden. Eine solche konvergente Struktur läge beispielsweise bei einem Paar bedeutungsverwandter und dabei reimender Wörter vor. Sie richtet die Aufmerksamkeit des Rezipienten ebenfalls auf die Gestaltung des literarischen Werkes selbst und kann daher als eine Methode zur Generierung komplexer Rekurrenz durch Kombinationen einfacher Rekurrenz auch als ein erweitertes formales Verfahren literarischer Autonomie gewertet werden. Die Deviationsthese schließlich bezieht sich ebenfalls auf ein solches formales Verfahren literarischer Autonomie. Dieses Verfahren besteht hier jeweils in der Abweichung von sprachlichen Konventionen innerhalb des literarischen Textes mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Gestaltung des Werkes selbst zu lenken. Diese Abweichung mag dabei nach Roelcke (1994, 46 f.) zum einen die dem Raum und der Zeit jeweils entsprechende Mundart oder Bildungs- bzw. Standardsprache und somit eine Konvention des (zumindest nicht primär) poetischen Sprachgebrauches betreffen und zum Beispiel in der Verwendung von Neologismen, Archaismen oder Tropen sowie in der Rhythmisierung oder Versifizierung des

198. Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert

Textes bestehen. Zum anderen kann die literarische Abweichung die literarische Sprache selbst betreffen, wobei wiederum zwei Möglichkeiten denkbar sind: Erstens die Deviation durch Annäherung an den nicht poetischen Sprachgebrauch räumlich und zeitlich jeweils entsprechender Mundarten, Fachsprachen oder der allgemeinen Bildungs- bzw. Standardsprache (Realismusprinzip); und zweitens die Deviation durch die Schaffung neuartiger sprachlicher Merkmale, wie sie weder aus dem entsprechenden poetischen noch aus dem nichtpoetischen Sprachgebrauch bekannt sind (Innovationsprinzip); vgl. hierzu Abb. 198.2. literatursprachliche Deviation Deviation gegenüber nichtpoetischem Sprachgebrauch

Deviation gegenüber poetischem Sprachgebrauch Deviation durch Annäherung an nichtpoetischen Sprachgebrauch (Realismusprinzip)

Deviation durch neuartigen Sprachgebrauch (Innovationsprinzip)

Abb. 198.2: Typen literatursprachlicher Deviation

Vor dem Hintergrund dieser und weiterer Ästhetizitätskonzeptionen lassen sich nun die drei genannten Ausprägungen des literarischen Experiments in systematischer Hinsicht näher charakterisieren. Die erste dieser Ausprägungen zielt auf die Deviation. Das innovative Experiment stellt hier einen Versuch dar, sich durch den gezielten Einsatz bestimmter sprachlicher und kommunikativer Mittel gegenüber dem konventionalisierten Sprachgebrauch im poetischen oder nichtpoetischen Bereich abzugrenzen, um so eine eigene literarische Gestaltungsweise zu konstituieren. Im Hinblick auf die Deviation gegenüber dem nichtpoetischen Sprachgebrauch sind hier prinzipiell sämtliche formale Autonomisierungsverfahren und sämtliche funktionale Ausprägungen ästhetischer Autonomie möglich. Hinsichtlich der Deviation gegenüber poetischem Sprachgebrauch ist dabei an Veränderungen der formalen Autonomisierungsverfahren und an Verschiebungen zwischen den funktionalen Ausprägungen ästhetischer Autonomie zu denken; die Deviation gegenüber poetischem Sprachgebrauch durch Annäherung an nicht-

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poetischen Sprachgebrauch ist innerhalb von literarischen Texten ebenfalls als ein spezifisches Verfahren mit besonderer funktionaler Ausprägung zu erachten. Das innovative literarische Experiment dient also der Abgrenzung gegenüber vorangegangenen Traditionen oder Epochen und trägt dabei unter Umständen wiederum zu der Einführung von Eigenheiten der nachfolgenden literarischen Epochen, mit denen sich diese gegenüber den vorangegangenen Epochen abgrenzen und eine eigene Tradition bilden, bei. Im Rahmen dieser konzeptionellen Ausprägung literarischer Experimente bleibt somit zu klären, ob allein stark innovative Anfangswerke (epochengründende Texte) oder auch bereits mehr oder weniger tradierte Werke (epochemachende Texte) als literarische Experimente aufzufassen sind; in der Regel wird die erste der beiden Alternativen bevorzugt. Die zweite Ausprägung literarischer Experimente ist weniger an den literarischen Gestaltungsmöglichkeiten selbst festzumachen, sondern zielt vielmehr auf den literarischen Gehalt ab. Das Bestreben konstellativer Experimente, im Rahmen von gesellschaftlichen und individuellen Modellversuchen soziologische oder psychologische Erkenntnisse zu gewinnen, setzt an den Gegenständen und Sachverhalten, die in dem betreffenden Dichtungswerk behandelt werden, selbst an. Die literarischen Gestaltungsmöglichkeiten mit ihren verschiedenen Autonomisierungsverfahren treten hierbei zunächst einmal in den Hintergrund, während der Fiktionalität als funktionaler Ausprägung ästhetischer Autonomie eine gewichtige Rolle zukommt. Die formalen ästhetischen Gestaltungsverfahren gewinnen erst dann an Bedeutung, wenn konstellative Experimente nicht naturalistisch ambitioniert sind, sondern sich als poetische Werke mit Deviation von anderen, poetischen oder nichtpoetischen Texten verstehen und dabei kommunikativer Autonomie unterliegen. Konstellative Experimente finden sich ebenfalls in zahlreichen literarischen Epochen; epochemachend erscheinen sie im deutschsprachigen Raum vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jhs. Die dritte konzeptionelle Ausprägung des literarischen Experiments zielt weder auf literarische Deviation noch auf soziale oder individuelle Konstellation. Das kommunikative Experiment zielt vielmehr auf die Vorstellung einzelner funktionaler Ausprägungen wie Ikonizität, Fiktionalität oder Konnotation

3096

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

und formaler Verfahren wie Rekurrenz oder Konvergenz; es steht dabei der Versuch im Vordergrund, diese Ausprägungen und Verfahren als solche im Hinblick auf die Produktion und Rezeption literarischer Werke hin zu testen. Der methodische Ansatz besteht hier darin, daß sprachliche und kommunikative Gegebenheiten literarischer Texte nicht metasprachlich (im Rahmen von linguistisch fundierten Poetiken) erörtert und somit erkennbar, sondern mit ihnen selbst objektsprachlich vorgeführt und somit erfahrbar gemacht werden; in diesem Falle wäre von einer Metaautonomie kommunikativ experimentierender Texte zu sprechen. Versuche dieser Art finden sich im Verlauf der Literaturgeschichte immer wieder und können somit nur schwer mit einzelnen Epochen in Verbindung gebracht werden. Erst etwa mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts wird dem kommunikativen literarischen Experiment als einem metaautonomen Versuch eine derart große kulturgeschichtliche Bedeutung zugemessen, das es als epochemachendes Merkmal der sog. „Moderne“ angesehen wird, selbst wenn diese Epoche darüber hinaus auch zahlreiche weitere literarische Verfahren umfaßt und sich somit kaum sinnvoll unter einem einzelnen Merkmal fassen läßt. Der systematische Zusammenhang dieser drei konzeptionellen Ausprägungen literarischer Experimente läßt sich nun durch deren Inklusion und Exklusion verdeutlichen: Während konstellative und kommunikative Experimente einander mehr oder weniger ausschließen, so sind sie beide neben anderen durchaus auch als Spielarten innovativer Experimente möglich; vgl. hierzu Abb. 198.3. Die Fachbezeichnung literarisches Experiment wird indessen nicht allein zur Bezeichnung dieser und anderer konzeptioneller Ausprägungen dichterischer Versuche herangezogen. Vor allem innerhalb der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung findet sie eine

innovative Experimente

konstellative Experimente

Abb. 198.3: Inklusion und Exklusion innovativer, konstellativer und kommunikativer Experimente.

weitere Verwendungsweise. Diese besteht in der Bezeichnung von Epochen, Abschnitten oder Richtungen der deutschen Literaturgeschichte, die einen wie auch immer besonders ausgeprägten experimentellen Charakter zeigen; vgl. Abb. 198.4. Im Hinblick auf innovative Experimente zählt hierzu vor allem die Romantik zum Beginn und bisweilen auch der Symbolismus zum Ende des 19. Jhs.; weitere Epochen werden bezüglich ihrer Deviation nicht als experimentell erachtet, so daß sie hier nicht weiter betrachtet werden. Konstellative Experimente werden innerhalb der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung vor allem aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jhs. vor allem mit dem Realismus und dem Naturalismus sowie mit der Dekadenz und der epischen Literatur in Verbindung gebracht. Als Richtungen kommunikativer literarischer Experimente zählen aus der ersten Hälfte des 20. Jhs. vornehmlich der Expressionismus und der Dadaismus, aus der zweiten Hälfte vor allem die konkrete Poesie, daneben aber auch einige weitere literarische Richtungen.

3.

Innovative Experimente

Im Laufe des 18. Jahrhunderts bildet sich im deutschsprachigen Raum eine allgemeine Literatursprache heraus (vgl. etwa Blackall

kommunikative Experimente

Expressionismus, Dadaismus

konkrete Poesie, Sprechstücke

Realismus, Naturalismus

Dekadenz, epische Literatur

[Dokumentarliteratur] [absurdes Theater]

Romantik

Symbolismus

[vgl. oben]

[vgl. oben]

1800

1850

1900

1950

konstellative Experimente innovative Experimente

kommunikative Experimente

Abb. 198.4: Konzeptuelle Ausprägungen literarischer Experimente sowie ausgewählte experimentelle literarische Epochen und Abschnitte aus Sicht der deutschen Literaturgeschichte.

198. Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert

1966; von Polenz 1994), die sowohl den allgemeinen Sprachgebrauch als auch denjenigen in Wissenschaft, Technik und Institutionen wie denjenigen in der Dichtung umfaßt. Als Gipfel dieser Entwicklung gilt in der Regel die Dichtungssprache der deutschen Klassik, als deren Charakteristika vor allem Klarheit und Anschaulichkeit angesehen werden. Diese Charakteristika zeigen sich sprachlich etwa in einer straffen Textgestaltung, einer recht ausgewogenen Satzbildung, einer starken Hinwendung zum Vers sowie in einer Tendenz zur Idealisierung und Veredelung durch syntaktische wie lexikalische Mittel. Da mit den entsprechenden Dichtungswerken als ganzen auf eine allgemeine Sicht der Welt hingedeutet werden soll, kommt innerhalb der klassischen Ästhetik der Konnotationsthese als funktionaler Ausprägung dichterischer Autonomie eine starke Bedeutung zu. Als deren formale Verfahren finden sich insbesondere Rekurrenz und Konvergenz; Deviation gegenüber dem nichtpoetischen Sprachgebrauch ist unter den sprachgeschichtlichen Gegebenheiten, also der literatursprachlichen Vorbildfunktion der Dichtungssprache eher gering ausgeprägt und betrifft dann vornehmlich den fachsprachlichen Bereich. Die Wirkung der Sprache Goethes und Schillers auf die weitere Entwicklung der deutschen Literatursprache im 19. Jahrhundert ist uneinheitlich: Sie behält, wenn auch nicht alleine, ihre Vorbildfunktion im standard-, vor allem aber im bildungssprachlichen Bereich bis in das 20. Jahrhundert hinein bei, institutionalisiert unter anderem auch durch das humanistische Gymnasialwesen. Im fachsprachlichen Bereich der Literatursprache, sei es in Wissenschaft, Technik oder Institutionen, zeigt die Sprache der klassischen Dichtung keine Vorbildfunktion, während diese ihrerseits Rückwirkungen auf den standardsprachlichen Bereich zeitigen. Die weitere Entwicklung der deutschen Dichtungssprache selbst ist zum einen durch einen Verlust der Vorbildfunktion auf die Bereiche der Standard- und der Bildungssprache geprägt; zum anderen ist sie durch Deviation gegenüber der klassischen Dichtungssprache wie der Standard- oder Bildungssprache gekennzeichnet. Hiernach wäre nun die gesamte Geschichte der deutschen Literatur im 19. und 20. Jh. als eine Geschichte innovativer literarischer Experimente zu beschreiben, wobei jeweils epochegründende und epochemachende Werke vorzustellen sind. Eine sol-

3097

che Vorgehensweise widerspricht jedoch wie bereits angedeutet der literaturgeschichtlichen Verwendung des Ausdrucks literarisches Experiment, der hier weniger systematisch für innovative literarische Verfahrensweisen als solche, sondern vielmehr zur Charakterisierung literaturgeschichtlicher Abschnitte mit experimentellem Charakter dient. Unter diesen Abschnitten wird nun im 19. Jh. vor allem derjenige der Romantik und weniger (obwohl selbst durchaus innovativ und deviativ) diejenigen des Biedermeier, des Jungen Deutschland oder der Vormärz-Literaten mit innovativen literarischen Experimenten in Verbindung gebracht und steht daher auch am Beginn der folgenden historischen Übersicht. Die Sprachkonzeption der Romantik ist unter anderem durch zwei Gesichtspunkte geprägt (vgl. Bär 1999; Gardt 1998): Der erste besteht in dem Postulat einer engen Verbindung von Sprache, Denken und Wirklichkeit. Diesem Postulat nach folgen sprachliche Äußerungen zum einen nicht allein dem Denken und Fühlen des Menschen und bringen diese mehr oder weniger erfolgreich zum Ausdruck, sondern die ihre Art und Weise bestimmt umgekehrt auch das menschliche Denken und Fühlen mit; die Sprache wird dabei mit Wilhelm von Humboldt (1830/35) nicht als systematisches oder textuelles Ergebnis (ergon), sondern als textuelles Ereignis mit systematischem Einfluß (energeia) betrachtet. Zum anderen wird sprachlichen Äußerungen hiernach zudem auch eine wirklichkeitsstiftende (universalpoetische) Funktion zugewiesen. Dieses Postulat steht in einem gewissen Gegensatz zur Sprachkonzeption der deutschen Klassik, der zufolge zum einen Sprache und Denken einander zwar ebenfalls wechselseitig durchdringen, letztlich aber die sprachlichen Äußerungen doch den menschlichen Gedanken folgen, und zum anderen den sprachlichen Äußerungen weniger eine wirklichkeitsstiftende als eine durch Stilisierung und Abstraktion wirklichkeitsverdeutlichende Funktion zuerkannt wird. Gerade diese Emanzipation von Sprache und Denken gegenüber der Wirklichkeit bestimmt die sprachliche Reflexion und Ästhetik der deutschen wie europäischen Literatur in den kommenden Jahrhunderten. Die Sprachkonzeption der Romantik zeigt nun einen nicht eben geringen Einfluß auf deren Dichtungskonzeption (vgl. zum Beispiel Behler 1988; 1992; Hoffmeister 1978; Kainz 1974). Während innerhalb der deutschen

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Klassik der Konnotationsthese im Zuge eines Hinweises auf eine allgemeine Sicht der Welt eine überragende Bedeutung zukommt, ist dies im Falle der Romantik bei der Fiktionalitäts- und der Ikonizitätsthese der Fall. Die fiktionale Unbestimmtheit der literarischen Gegenstände und Sachverhalte entspricht dabei der gleichberechtigten Durchdringung sprachlicher Äußerungen und menschlichen Denkens im Rahmen textueller Ereignisse, während deren ikonische Entsprechung die Vorstellung einer ursprünglich universalpoetischen Sprache widerspiegelt. Wie in der klassischen Literatur sind auch innerhalb der romantischen Literatur unter anderem Rekurrenz und Konvergenz als formale Verfahren dichterischer Autonomie zu beobachten. Die angedeuteten Unterschiede der Sprachund Dichtungskonzeption der Romantik gegenüber derjenigen der Klassik machen sich trotz solcher formaler Entsprechungen auch in deviativen Bemühungen im Rahmen der Gestaltung dichterischer Werke bemerkbar. Hierbei spielen vornehmlich lautliche und lexikalische, daneben aber auch syntaktische und stilistische Erscheinungen eine Rolle. Im lautlichen Bereich ist vor allem an Klangspiele mit Reimen oder Vokalen zu denken, mit denen die angenommene sprachliche Repräsentation der Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht werden soll; dabei ist jedoch die Verwendung von Reimen mehr noch als diejenige von Lautmalereien ebenfalls als ein Merkmal der klassischen Literatursprache aufzufassen, wobei diese hier weniger der Mystifizierung als der Idealisierung dient. Aus dem lexikalischen Bereich ist hier vor allem auf die hohe Beliebtheit von Archaismen (etwa bei Friedrich de la Motte Fouque´) im Zuge einer Nach- und Neuempfindung der ursprünglichen Universalsprache hinzuweisen, die nicht allein mittelalterliche Stämme, sondern aufgrund ihres Vokalreichtums auch mittelalterliche Formen und Pseudobildungen umfaßt. In enger Verbindung mit diesen archaisierenden Bestrebungen stehen des weiteren solche der mundartlichen Annäherung, die sich weniger in echten Dialektausdrücken als vielmehr in der Nachahmung eines volkstümlichen Stils mit parataktischen Fügungen und weiteren sprechsprachlichen Merkmalen äußert (zum Beispiel bei Achim von Arnim, Clemens von Brentano oder Jacob und Wilhelm Grimm). Hinzu tritt hier die große theoretische und praktische Bedeutung von Metaphern (etwa bei August Wilhelm Schle-

gel oder bei E. T. A. Hoffmann), mit denen auf den ganzheitlichen Zusammenhang der Wirklichkeit selbst hinzuweisen versucht wird und gleichzeitig eine semantische Vertiefung literarischer Werke herbeigeführt wird (Friedrich Hölderlin, Joseph von Eichendorff). Neben der Orientierung an älteren Wörtern und Formen, sprechsprachlichen Fügungen sowie reichen Bildern bringt die Dichtung der Romantik im Zuge der „progressiven Universalpoesie“ (Friedrich Schlegel) bisweilen auch Kombinationen verschiedenartiger Stile und ausgesprochen phantasievolle Formgebungen hervor, die gleichfalls durch den Anspruch auf Bewußtmachung der universellen Einheit der Wirklichkeit zu erklären sind. Das assoziative romantische Streben nach lautlicher, lexikalischer, syntaktischer und stilistischer Archaisierung, Vereinfachung und Verbildlichung weicht von dem rationalen klassischen Streben nach Idealisierung und Veredelung durch lexikalische und syntaktische Überhöhung und Verallgemeinerung signifikant ab, so daß hier eine dichtungssprachliche Deviation gegenüber Dichtungssprache zutage tritt, die zwar nicht sämtliche, doch aber zahlreiche sprachliche Gestaltungsmittel umfaßt. Des weiteren zeigen die Dichtungswerke der Romantik eine Deviation gegenüber rationalistisch geprägten, auf hierarchische Abstraktion und logische Konstruktion hin angelegten fachsprachlichen Äußerungen, indem hier emotionale und assoziative Beziehungen in den Vordergrund gerückt werden. Die dichtungssprachliche Deviation der Romantik gegenüber der Klassik äußert sich nicht immer in einer gezielten theoretischen Ableitung und praktischen Umsetzung neuer Gestaltungsmöglichkeiten, sondern erweist sich vielmehr selbst als eine Suche, bei der verschiedene solcher Möglichkeiten ausprobiert werden, um sie dem assoziativen Streben nach Darstellung eines allgemeinen Wirklichkeitszusammenhangs nutzbar zu machen. Diese Versuche können somit auch über ihre dichtungssprachliche Deviation hinaus als literarische Experimente aufgefaßt werden, die jedoch im Unterschied zu den kommunikativen Experimenten des 20. Jhs. nicht in der Bewußtmachung kommunikativer oder sprachlicher Verhältnisse als solcher, sondern in deren Austestung bestehen; hier ist dann von innovativ-induktiven im Gegensatz zu innovativ-deduktiven literarischen

198. Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert

Experimenten zu sprechen. Gerade dieses Moment der induktiven Innovation der Dichtungssprache wird auch von den Romantikern selbst mit dem Vorbild naturwissenschaftlicher Experimente in Verbindung gebracht. Zu denken ist hier an programmatische Formulierungen wie „experimentierende Fragmente“ (Friedrich Schlegel) oder „Experimentphysik des Geistes“ (Novalis). Der Symbolismus (etwa der Lyriker Stefan George und Detlev von Liliencron, aber auch Rainer Maria Rilkes; vgl. etwa Hoffmann 1987) gegen Ende des 19. Jhs. ist als Gegenbewegung zur realistischen und insbesondere naturalistischen Bewegung (vgl. Abschn. 4) anzusehen. Ohne einen der Romantik etwa vergleichbaren Anspruch auf Bewußtmachung einer universellen Einheit der Wirklichkeit zu erheben, zielt der literarische Symbolismus auf die Vermittlung von Schönheit, wobei Emotionsstärke und Facettenreichtum angestrebt werden. Dieses Bestreben hat eine hohe Stilisierung der betreffenden Dichtungswerke zur Folge, die es durchaus rechtfertigt, sie zur innovativen experimentellen Literatur zu rechnen. Die symbolistische Stilisierung selbst äußert sich im lautlichen Bereich in Metrum oder Lautmalerei, im schriftlichen Bereich durch Abwandlungen in Orthographie und Interpunktion, im lexikalischen Bereich in starker Konnotativität und Assoziativität sowie in hoher Ausschöpfung der Wortbildungsmöglichkeiten sowie im syntaktischen und textuellen Bereich in gezielter Rhythmisierung. ⫺ Diese innovativen experimentellen Stilmerkmale gelten, wenn auch in wechselnder Gewichtung, ebenfalls für das Werk Friedrich Nietzsches, dessen „Experimental-Philosophie“, nach der das sprachliche Kunstwerk als literarisches Experiment einer Verknüpfung von Kunst und Wirklichkeit zu gelten hat, mitunter in die literaturgeschichtliche Betrachtung literarischer Experimente einbezogen wird. Die weitere Literaturgeschichte des Deutschen zeigt zahlreiche andere Innovationen, die aus systematischer Sicht im einzelnen ebenfalls als experimentell aufgefaßt werden können. Der experimentelle Charakter dieser Werke geht jedoch über die schlichte Innovation oder Deviation selbst hinaus, indem sie in der Regel im Rahmen konstellativer oder kommunikativer Experimente auftreten. Die folgenden Abschnitte sind solchen innovativen konstellativen und kommunikativen Experimenten der deutschen Literaturgeschichte gewidmet.

4.

3099

Konstellative Experimente

Konstellative Experimente, mit denen im Rahmen von gesellschaftlichen oder individuellen Modellstudien soziologische oder psychologische Erkenntnisse gewonnen werden, finden sich im deutschsprachigen Raum vorwiegend in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jhs. Aus dem 19. Jh. sind hierbei insbesondere Realismus und Naturalismus, aus dem 20. Jh. etwa Dekadenz, Neoromantik, Neue Sachlichkeit oder die epische Literatur zu nennen. Die konstellativen Experimente des Realismus und Naturalismus finden ihrerseits Vorläufer im „roman expe´rimental“ (Emile Zola), der sich als Versuch versteht, Psychologie und Soziologie seiner Figuren modellhaft vorzuführen und somit erkennbar zu machen. Als Vorbilder Zolas dürfen wiederum die Milieutheorie (Hippolyte Taine) sowie die „physique sociale“ (Auguste Comte) gelten, denen zufolge ein Experiment als eine „observation provoque´e“ zu betrachten ist. Der deutschsprachige Realismus (vertreten zum Beispiel durch die Werke Theodor Fontanes, Theodor Storms, Friedrich Hebbels, Gottfried Kellers und anderer Autoren aus der zweiten Hälfte des 19. Jhs.; vgl. beispielsweise Kohl 1977) zielt auf eine möglichst getreue Nachbildung der menschlichen Wirklichkeit ab und versteht sich somit ausdrücklich als Gegenbewegung zu der rational-idealisierenden Literatur der Klassik und der assoziativ-universalistischen Literatur der Romantik. Im Zuge dieser Wirklichkeitsnachbildung werden die sozialen und individuellen Bedingungen, unter denen Menschen leben und handeln, herausgearbeitet und das menschliche Handeln, das unter diesen Bedingungen steht, selbst vorgeführt. Solch konstellative Experimente haben nun Auswirkungen auf die sprachliche Gestaltung realistischer Dichtungswerke, wobei Prosa und Theater als die Hauptgattungen anzusetzen sind: Die Sprache des Realismus ist dabei zum einen durch das Bemühen um eine möglichst neutrale Stilfärbung und das Streben nach Nähe zur Umgangssprache gekennzeichnet, was sich unter anderem in dem weitgehenden Verzicht auf Klang- und Schriftbilder, der Verwendung eines konnotativ neutralen Wortschatzes, der Bevorzugung eines einfachen Satzbaus oder in der Vermeidung rhetorischer Figuren äußert. Der Sprachgebrauch innerhalb realistischer Texte konstellativer Experimente setzt sich zwar so-

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

mit gegenüber der sprachlichen Stilisierung klassischer und romantischer Werke ab, behält jedoch seinen dichtungssprachlichen Anspruch bei, welcher sich aus dem Streben nach subjektiver Selektion und deemotionalisierter Modellierung des Dargestellten ableitet. In dieser Hinsicht steht die realistische Konzeption sprachlicher Ästhetik einerseits der Fiktionalitätsthese fern und entspricht andererseits eher der Konnotationsthese als der Ikonizitätsthese. Neben neutraler Stilfärbung und umgangssprachlicher Nähe treten in realistischen Texten aber durchaus auch archaisierende, mundartliche, fachsprachliche und fremdsprachliche Elemente auf: Sie dienen hierbei jedoch allein der Figurencharakterisierung, die der getreuen Nachbildung menschlicher Wirklichkeit entsprechend zu gestalten ist. Auf dieses realistische Streben getreuer Wirklichkeitsnachbildung ist schließlich auch die Weiterentwicklung der literarischen Gesprächsführung am Ende des 19. Jhs. zurückzuführen. Im Gegensatz zu den experimentellen Bemühungen des Realismus lassen diejenigen des Naturalismus seit den achtziger Jahren des 19. Jhs. (vertreten etwa durch Gerhart Hauptmann; vgl. zum Beispiel Mahal 1975; Möbius 1982) keine Selektion und Modellierung des Dargestellten mehr zu. Das Bestreben liegt nicht mehr in einer möglichst getreuen Wirklichkeitsnachbildung, sondern vielmehr in der möglichst genauen Wirklichkeitsabbildung, die letztenendes ebenfalls der Vorführung menschlichen Handelns und dessen Bedingungen dient. Somit spielt in der naturalistischen Konzeption sprachlicher Ästhetik die Ikonizitätsthese eine noch weitaus bedeutendere Rolle, als dies bei der Konzeption des Realismus der Fall ist. Die naturalistisch gesteigerte Konzeption konstellativer literarischer Experimente wirkt sich vor allem auf die Charakterisierung der Figuren aus, indem nun eine naturgetreue Abbildung der gesprochenen Alltagssprache, insbesondere auch niedriger gesellschaftlicher Gruppen angestrebt wird, wobei neben der Prosa insbesondere das Theater als Medium dient. Die sprachlichen Merkmale der naturalistischen Figurencharakterisierung bestehen zum einen in der möglichst differenzierten Wiedergabe lautlicher Erscheinungen, die insbesondere im schriftsprachlichen Bereich dramatischer Texte bisweilen an die Grenzen der Darstellungsmöglichkeiten gerät und somit den Charakter induktiv-innovativer Experimente zeigt. Zum anderen erlangen präzise Darstel-

lungen der para- und nonverbalen Kommunikation im Rahmen naturalistischer Figurencharakterisierungen weiter an Bedeutung und erlangen somit in der Regel einen entsprechend großen Umfang in Form von Schilderungen oder Regieanweisungen. Die übrigen literarischen Textteile zeigen hingegen die aus dem Realismus bekannten Züge neutraler Stilfärbung und umgangssprachlicher Nähe. Als experimentelle Besonderheit des literarischen Naturalismus ist hier schließlich der sog. „Sekundenstil“ zu nennen, der eine echtzeitliche Parallelisierung dargestellter Vorgänge und Handlungen einerseits und deren Rezeption andererseits anstrebt. Konstellative literarische Experimente finden trotz der kommunikativen Experimente, die seit der Sprachskepsis um die Jahrhundertwende immer weiter Raum greifen, auch im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung. Dabei spielen im Gegensatz zu Realismus und Naturalismus neben sozialen und psychischen auch kulturgeschichtliche Faktoren eine Rolle. Diese werden oftmals exemplarisch für allgemeinere Zustände vorgeführt, so daß hier der Konnotation neben der Ikonizität eine hohe Bedeutung zukommt. Zu den bedeutenderen literarischen Richtungen, die sich konstellativen Experimenten unter in weiterem Sinne kulturgeschichtlichen Aspekten verschreiben, gehört unter anderem die Dekadenzliteratur der Jahrhundertwende (im deutschen Sprachraum vertreten etwa durch Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Rainer Maria Rilke; vgl. etwa Kafitz 1987; Rasch 1986). Im Zuge der verdeutlichenden Darstellung sozialen und kulturellen Werteverfalls erreicht die sprachliche Gestaltung dekadenter literarischer Werke, deren Anknüpfungspunkte sowohl in der realistischen als auch in der klassischen Literatur zu suchen sind und somit eine nicht geringe literatursprachliche Traditionsbinidung zeigen, eine starke psychologisierende Verfeinerung. Diese psychologische Verfeinerung des literarischen Interesses findet dann in der Literatur der Neoromantik (insbesondere bei Stefan Zweig und Hermann Hesse) oder der Neuen Sachlichkeit (Robert Musil, Hermann Broch oder auch Ödön von Horva´th) eine Steigerung, bei der zum Teil bereits Erkenntnisse der Psychoanalyse Berücksichtigung finden. Die sprachliche Ausgestaltung neoromantischer oder neusachlicher Werke ist dabei oft von anderen literarischen Zielsetzungen abhängig, so daß der Zusammenhang zwischen konstellativen

198. Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert

literarischen Experimenten und einer entsprechenden sprachlichen Ausgestaltung mehr oder weniger aufgehoben zu sein scheint. Ein gemeinsames wichtiges Merkmal einiger Texte der Dekadenz wie auch der Neuen Sachlichkeit (etwa bei Thomas Mann und Robert Musil) bildet indessen die ironische Zitierung von Gestaltungsverfahren klassischer Literatur, die auf diese Weise kulturhistorisch problematisiert werden. Gerade hier zeigen sich durch Vorführung und Bewußtmachung dieser Formen im übrigen auch Anzeichen kommunikativer Experimente, auch wenn diese dabei im Sinne literarischer Ikonizität im Hinblick auf kulturgeschichtliche Darstellung motiviert sind. Das epische Theater Bert Brechts gegen Ende der zwanziger Jahre des 20. Jhs. zeigt ebenfalls eine starke Prägung durch konstellative Experimente. Im Gegensatz zu den konstellativen Experimenten des Realismus und Naturalismus sowie des beginnenden 20. Jhs. sind diejenigen des epischen Theaters nicht auf deren Vorführung hin ausgelegt, sondern beziehen den Rezipienten ausdrücklich mit ein. In bewußter Abkehr vom aristotelischen Drama des bürgerlichen Theaters hebt Brecht aus ideologischer und didaktischer Motivation heraus die Trennung zwischen Bühne und Zuschauer auf und fordert von diesem nicht allein die Betrachtung, sondern darüber hinaus auch die Beurteilung des Geschehens. Somit zeigt sich auch bei Brecht die für konstellative literarische Experimente geradezu typische Verbindung von ästhetischer Konnotation und Ikonizität. Auf diese Weise wird die Rezeption des Dramas mit in dessen konstellatives literarisches Experiment einbezogen. Diese kommunikative Methode des epischen Theaters bei Brecht hat nun starke Auswirkungen auf die sprachliche Gestaltung seiner Dramen. Zu den wichtigsten Erscheinungen der sog. offenen Form des Theaters gehört dabei die Technik der Montage, bei der mehr oder weniger lose miteinander verknüpfte Einzelszenen und keine durchkonstruierte Handlung auf die Bühne gebracht werden; Stücke dieser Art zeichnen sich damit also gegenüber traditionellen Werken durch eine geringere Textkohärenz aus. Als weitere sprachliche Charakteristika des epischen Theater sind Verfremdungseffekte anzusehen, die von der Wort- über die Satzbis zur Textebene konventionalisierte sprachliche Erscheinungen durch Variation oder Selektion dem Rezipienten bewußt machen sollen. Die Funktion, das Geschehen auf der

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Bühne vom Gegenstand der Betrachtung zum Gegenstand der Beurteilung zu machen, haben schließlich auch kommentierende Textteile wie Ansagen, Lieder (Songs), Plakate oder Projektionen. All diese Techniken, die schon vor Brechts Theater, zum Teil bereits aus der Antike bekannt waren, lassen ebenfalls bereits Züge kommunikativer Experimente erkennen, in denen die sprachliche Gestaltung dramatischer Werke selbst zum Gegenstand wird; doch wie auch im Falle der ironischen Zitierung der Dekadenz und der Neuen Sachlichkeit dient diese Thematisierung der Unterstützung des konstellativen Experiments. Konstellative literarische Experimente sind auch in der 2. Hälfte des 20. Jhs. zu finden. Aus der deutschsprachigen Literatur sind hier zum Beispiel das absurde Theater (etwa bei Günter Grass oder Peter Handke) mit seiner Technik der Dialogreduzierung, die Dokumentarliteratur (etwa bei Heinar Kipphardt oder Peter Weiss) mit ihrer Technik der Textmontage oder auch Werke einzelner Schriftsteller wie etwa Elias Canetti oder Friedrich Dürrenmatt zu nennen. Diese wenigen Beispiele zeigen bereits, daß sich das konstellative Experiment in der deutschsprachigen Literatur seit der Mitte des 20. Jhs. in zahlreichen literatischen Richtungen und bei zahlreichen Schriftstellern wiederfindet und somit als mehr oder weniger tradierte literarische Vorgehensweise hohe Anerkennung und weite Verbreitung gefunden hat. Die sprachlichen Charakteristika dieser Werke sind hierbei jedoch zunehmend von anderen literarischen Ambitionen ihrer Verfasser abhängig und können somit kaum mehr als Spezifika konstellativer Experimente beschrieben werden.

5.

Kommunikative Experimente

Die sprachliche Gestaltung konstellativer literarischer Experimente aus der ersten Hälfte des 20. Jhs. ist gegenüber derjenigen der Literatur des ausgehenden 18. und des 19. Jhs. nur bedingt als deviativ zu betrachten: Die Tendenz zur Stilisierung im Sinne von literatursprachlicher Verfeinerung und umgangssprachlichem Abstand bewegt sich in aller Regel in dem Gestaltungsrahmen, der von der deutschen Klassik bereits vorgegeben wurde, und kann somit als unmittelbar deviativ oder innovativ (im Hinblick auf die Gestaltung vorangehender konstellativer Expe-

3102

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

rimente) sowie als mittelbar konservativ oder gar traditionell (im Hinblick auf die Gestaltung der weiter zurückreichenden Literatur) charakterisiert werden. Die großen literatursprachlichen Innovationen des 20. Jhs., die letztenendes in einer grundsätzlichen Aufhebung sämtlicher literarischer Normbeschränkungen bei freier Wahl sprachlicher Gestaltungsmöglichkeiten bestehen, sind also mit anderen literarischen Richtungen in Verbindung zu bringen. Der Ursprung zur Herausbildung dieser innovativen literarischen Richtungen ist, wenn nicht allein, so doch insbesondere auch in der sog. „Sprachskepsis“ (Arno Holz, Hans Vaihinger, Fritz Mauthner) zu Beginn des Jahrhunderts zu suchen. Diese Sprachskepsis, die ihren bekanntesten Ausdruck in dem sog. „Chandos-Brief“ (Hugo von Hofmannsthal; vgl. etwa Saße 1977) findet, besteht in einem tief empfundenen Bruch zwischen der Sprache und ihrem Benutzer, welcher zu einer weit reichenden Hinterfragung allgemein- und literatursprachlicher Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten führt. Überspitzt formuliert: Während im 18. Jh. eine enge Verbindung zwischen dem Subjekt (Begriffen und Urteilen), dem Objekt (Gegenständen und Sachverhalten) und der Sprache (Wörtern und Sätzen) vorausgesetzt wurde, stellt die philosophische und ästhetische Sprachreflexion zu Beginn des 19. Jhs. zunächst die zuvor noch selbstverständliche Verbindung zwischen Sprache und Objekt und zu Beginn des 20. Jahrhunderts dann auch diejenige zwischen Sprache und Subjekt infrage. Der Bruch zwischen Sprache und Subjekt führt dann dazu, daß Sprache nunmehr als das Medium literarischer Werke nicht allein als Gegenstand philosophischer und ästhetischer Reflexion dient, sondern darüber hinaus auch zum Gegenstand der Dichtung selbst wird. Hierbei werden sprachliche und kommunikative Gegebenheiten jedoch nicht metasprachlich erörtert und somit erkennbar gemacht, sondern objektsprachlich vorgeführt und somit erfahrbar gemacht. Vor diesem Hintergrund kann die Sprachkrise und die mit ihr verbundene Trennung von Sprache und Subjekt als Ausgangspunkt kommunikativer literarischer Experimente im 20. Jh. angesehen werden. Als literarische Richtungen, die für solche kommunikativen Experimente stehen, seien im folgenden der Expressionismus und der Dadaismus aus der ersten sowie die konkrete Poesie und einige

weitere literarische Richtungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jhs. aufgegriffen. Die Werke des Expressionismus (wie zum Beispiel von Gottfried Benn, Georg Trakl oder Franz Werfel; vgl. zum Beispiel Anz/ Stark 1982; Paulsen 1983) streben in der Regel die Vermittlung einer möglichst hohen Intensität von Wirklichkeit an, indem sie ein (wie auch immer) tieferes Wesen dieser Wirklichkeit, das in der alltäglichen Kommunikation nicht spürbar wird, sprachlich erfahrbar zu machen versuchen. Hierbei liegt also ein konnotationsästhetischer Ansatz vor, der bisweilen in die Nähe eines fiktionalen Ansatzes gerät. Dieser Versuch setzt an der experimentellen Umgestaltung (Variation), wenn nicht gar Zerstörung (Destruktion) der sprachlichen Ausdrucksmittel an, um so durch deren Vorführung und Bewußtmachung die Überwindung der Alltagserfahrung selbst zu ermöglichen. Wesentliche Kennzeichen der expressionistischen Textgestaltung, die die Wirkung von Visionen, Schreien oder Bomben entfalten sollen und vor allem im Bereich der Lyrik zutage treten, sind unter anderem: Große metrische und rhythmische Freiheit; die Bevorzugung von Verben; ausgeprägte Bildungen und Häufungen nennlexikalischer Einheiten bei gewagten syntagmatischen Kombinationen und hoher semantischer Motivation; das Fehlen von Partikeln und Artikeln; sowie schließlich die Vereinfachung, Verkürzung, wenn nicht gar Verzerrung syntaktischer Konstruktionen. Als übergeordnetes Merkmal der expressionistischen Sprachverwendung, die somit auf Intensität und Dynamik abzielt, mag dabei die bewußte Durchbrechung sprachlicher Normen und Regeln sowohl unter semantischen als auch unter grammatischen Gesichtspunkten gelten. Diese Durchbrechung sprachlicher Normen und Regeln erfährt im Dadaismus (etwa bei Kurt Schwitters, Hans Arp), der sich selbst als Gegenbewegung zum Expressionismus versteht, eine erhebliche Steigerung. Denn sie umfaßt hier nicht allein die syntaktische Ebene der Wortkombination und Satzkonstruktion, sondern auch die lexikalische Ebene: Wörter und Morpheme werden selbst zum Gegenstand sprachlichen Experimentierens, indem sie in ihre lautlichen oder schriftlichen Bestandteile zerlegt (segmentiert) und diese jeweils wiederum einer neuen Verbindung zugeführt (kombiniert) werden (Technik der Collage). Auf diese Weise wird der Gebrauch sprachlicher Ausdrücke keiner verfremdenden Neumotivierung (wie im Falle

198. Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert

expressionistischer Intensivierung) unterzogen, sondern im Sinne einer gezielten Demotivierung bewußt ad absurdum geführt. Die Funktion solcher kommunikativen Experimente, wie sie vom Dadaismus durchgeführt werden, geht indessen ebenfalls über die metakommunikative Bewußtmachung allein hinaus, indem hier zwar kein tieferes Wesen der Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht wird, sondern darüber hinaus eine Hinterfragung, wenn nicht Zerschlagung tradierter kultureller und sozialer Normen auch außerhalb der Sprachverwendung angestrebt wird. Das Streben nach Anarchie und Assoziativität, das mit dadaistischen Werken in der Regel verbunden ist, darf somit nicht hinter deren vermeintlicher Naivität übersehen werden. Die konkrete Poesie (beispielsweise von Franz Mon, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker oder Ludwig Harig; vgl. zum Beispiel Garbe 1987; Haas 1990) kann mit als die bekannteste Richtung kommunikativer Experimente im deutschen Sprachraum seit der Mitte des 20. Jhs. gelten. Sprache wird hier zum Gegenstand abstrakter Kunst (daher auch die extensional nicht ganz deckungsgleiche Charakterisierung als abstrakte Dichtung). Sprachliche Einheiten verschiedener Ebenen werden auch im Rahmen der konkreten Poesie miteinander kombiniert. Sie folgt dabei sprachunüblichen Segmentierungen, Substitutionen und Transformationen, so daß neuartige Gebilde entstehen. Mit diesen Gebilden wird nun durchaus eine metakommunikative Funktion verbunden, die jedoch im Gegensatz etwa zu derjenigen dadaistischer Werke keine Normenzerschlagung anstrebt. Die konkrete Poesie der fünfziger und sechziger Jahre versucht demgegenüber eine Annäherung an Musik und Malerei (sog. visuelle Poesie), indem der hohe Abstraktionsgrad ihrer Werke den lautlichen bzw. graphischen Charakter der entsprechenden sprachlichen Einheiten in den Vordergrund rücken läßt (abstrakte Konnotation; vgl. auch Abb. 198.5). Da solche extremen Abstraktionsversuche in verhältnismäßig kurzer Zeit als abgenutzt galten, verbleiben jüngere Ansätze der konkreten Poesie seit den siebziger Jahren wieder innerhalb sprachlicher Äußerungen als solcher, wobei diese wiederum mit dem Ziel einer Bewußtmachung sprachlicher Gegebenheiten verfremdet werden. Die Gestaltungsverfahren hierbei sind lautliche und graphische Veränderungen, syntaktische Neu- und Überstrukturierungen sowie Abhandlungen

3103

auf der Textebene im Hinblick auf Makrostruktur oder Gattungstypika. Diese Ansätze sind durch eine bemerkenswerte Verbindung zitierenden und innovativen Sprachgebrauchs geprägt. Einige Texte der konkreten Poesie können durchaus auch als Parodien verstanden werden, doch gilt hier die Parodie letztlich ebenfalls der Entselbstverständlichung sprachlicher Kommunikation.

a) Ein Gleiches Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, bald ruhest du auch. (Johann Wolfgang von Goethe) b) schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen

schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen (Eugen Gomringer)

Abb. 198.5: Lyrische Textbeispiele: a) Klassik b) Konkrete Poesie.

Die deutschsprachige Literatur hat seit der Mitte des 20. Jhs. eine ganze Reihe an literarischen Spielarten hervorgebracht, die in der Tradition kommunikativer Experimente des Dadaismus oder der konkreten Poesie stehen. Die sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Segmentation und Kombination von Einheiten der Laut-, Schrift-, Wort-, Satz- oder Textebene, die bereits spätestens in den fünfziger und sechziger Jahren ausgereizt wurden, treten hierbei immer wieder zutage. Eine bemerkenswerte Spielart dieser literarischen Experimente bildet die sog. Computerlyrik. Hier werden lyrische Texte durch elektronische Datenverarbeitung generiert (sog. automatische Texte), indem ausgewählte lexikalische Einheiten dem Zufallsprinzip folgend nach syntaktischen und metrischen Regeln ohne Rücksicht auf semantische Beziehungen sortiert werden. Die Sinnferne solcher Texte ist Methode, soll mit ihnen doch letztenendes die Unmöglichkeit des menschlichen Weltverständnisses durch Sprache zum Ausdruck gebracht werden, das allenfalls zufällige Assoziationen zuläßt.

3104

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Abb. 198.6: Gattungsmodell dramatischer Kommunikation (nach Roelcke 1994, 54).

Die kommunikativen Experimente des Expressionismus, des Dadaismus oder der konkreten Poesie betreffen in der Regel sprachliche Einheiten oder Verfahren innerhalb des

literarischen Textganzen. Die kommunikative Konstellation, bei der ein solcher experimenteller Text als mehr oder weniger geschlossene Einheit von einem oder mehreren Perso-

198. Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert

3105

Abb. 198.7: Autorenmodell dramatischer Kommunikation nach Peter Handke: „Publikumsbeschimpfung“ (nach Roelcke 1994, 249).

3106

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

nen produziert und von einer oder mehreren Personen rezipiert wird, bleibt hiervon in der Regel unberührt. Doch zeigen sich vor allem in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jhs. auch literarische Experimente, welche diese kommunikative Konstellation selbst zum Gegenstand haben. Solche Experimente sind insbesondere in der Dramenliteratur zu finden, da hier besonders komplexe kommunikative Verhältnisse herrschen (vgl. Abb. 198.6). Einen ersten Ansatz solcher literarischer Versuche bildet wiederum das epische Theater Brechts, bei dem die Ebene der Figuren durch kommentierende Textabschnitte bewußt zum Rezipienten hin aufgebrochen wird, um diesen weg von der Betrachtung hin zu der Beurteilung des Werkes zu führen. Dabei steht jedoch noch das konstellative gegenüber dem kommunikativen Experiment im Vordergrund. Anders verhält es sich dann bei den früheren Dramen Peter Handkes, den wohl bekanntesten literarischen Experimenten, bei denen weniger die sprachlichen Besonderheiten, sondern vielmehr die spezifische kommunikative Konstellation des Theaters beim Rezipienten ins Bewußtsein gerufen werden soll. Diese Wirkung wird innerhalb solcher Kommunikationsstücke ebenfalls durch eine spezifische Gestaltung der Dramentexte erreicht (vgl. Abb. 198.7): Durch das Aufsagen metatheaterkommunikativer bzw. mehr oder weniger sinnentleerter Sätze wird die Kommunikation der Bühnenfiguren ad absurdum geführt und die so defunktionalisierte Konstellation der Theaterkommunikation selbst zum Gegenstand der Rezeption gemacht.

6.

Tendenzen

Da die Experimente innerhalb der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jhs. ausgesprochen vielseitig sind und dabei keine eigene Traditionslinie bilden, ist hier die Feststellung sprachgeschichtlicher Tendenzen, wenn überhaupt, dann nur unter großen theoretischen wie historischen Vorbehalten möglich. Als denkbare Gesichtspunkte erscheinen dabei die Folge der experimentellen Ausprägungen der einzelnen literaturgeschichtlichen Abschnitte und Richtungen, die von diesen Abschnitten und Richtungen jeweils vertretene Ausprägung ästhetischer Autonomie, deren Deviation gegenüber verschiedenen sprachlichen Varietäten sowie die Charakteristika ihres Sprachgebrauchs im

einzelnen. Diese sollen im folgenden zusammenfassend betrachtet werden (vgl. Abb. 198.8). Innovative literarische Experimente, die die gesamte deutsche Literaturgeschichte im 19. und 20. Jh. durchziehen und von der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung explizit mit der Romantik und dem Symbolismus in Verbindung gebracht werden, zeichnen sich wie die konstellativen Experimente des Realismus und Naturalismus sowie der Dekadenz oder der epischen Literatur durch eine Problematisierung der literarischen Sprache aus, bei der diese als ästhetisches Ausdrucksmittel weiterentwickelt und gegenüber der Allgemeinsprache und der jeweils konventionalisierten Dichtungssprache mehr oder weniger abgegrenzt wird. Im Rahmen kommunikativer literarischer Experimente, wie sie etwa im Rahmen des Expressionismus und des Dadaismus sowie der konkreten Poesie oder der Sprechstücke betrieben werden, wird die Sprache der Dichtung nun selbst zum Gegenstand der Literatur, auch wenn hieran jeweils weitere literarische Zielsetzungen geknüpft werden. Vor diesem Hintergrund darf mit der metasprachlichen Orientierung kommunikativer Experimente gegenüber der objektsprachlichen Orientierung (älterer) innovativer und konstellativer Experimente eine erste sprachgeschichtliche Tendenz des literarischen Experiments postuliert werden. Die verschiedenartigen funktionalen Ausprägungen ästhetischer Autonomie verteilen sich recht gleichmäßig über die unterschiedlichen Ausprägungen literarischer Experimente: Im Bereich (älterer) innovativer Experimente finden sich Ikonizität (Romantik) und Fiktionalität (Romantik und Symbolismus). Konstellative Experimente sind von Ikonizität (Realismus, Naturalismus, Dekadenz und epische Literatur) und Konnotation (Realismus, Dekadenz und epische Literatur) geprägt. Und bei kommunikativen Experimenten herrscht metakommunikative Ikonizität (Dadaismus, konkrete Poesie und Sprechstücke) vor; daneben finden sich aber auch Fiktionalität (Expressionismus) und Konnotation (Expressionismus und konkrete Poesie). Somit erweist sich die Ikonizität sowohl aus systematischer als auch aus historischer Sicht als eine recht beliebte funktionale Ausprägung ästhetischer Autonomie literarischer Experimente. Fiktionalität zeigt sich hingegen seltener und zwar innerhalb (älterer) innovativer und (älterer) kommunikativer Ex-

Fiktionalität, Ikonizität Fiktionalität Konnotation, Ikonizität

Romantik innovative (1. Hälfte 19. Jh.) Experimente

Symbolismus innovative (2. Hälfte 19. Jh.) Experimente

Realismus (2. Hälfte 19. Jh.

Konnotation, Ikonizität Konnotation, Ikonizität Konnotation, Fiktionalität (Ikonozität)

(Ikonizität, Konnotation) (Ikonizität)

Dekadenz konstellative (1. Hälfte 20. Jh.) Experimente

epische Literatur konstellative (1. Hälfte 20. Jh.) Experimente

Expressionismus kommunika(1. Hälfte 20. Jh.) tive Experimente

Dadaismus kommunika(1. Hälfte 20. Jh.) tive Experimente

konkrete Poesie kommunika(2. Hälfte 20. Jh.) tive Experimente

Sprechstücke kommunika(2. Hälfte 20. Jh.) tive Experimente

Dichtungssprache und konventionalisiertes Theater

Dichtungs- und Allgemeinsprache

Dichtungssprache des Expressionismus

Dichtungssprache des Naturalismus und des Symbolismus

„Bürgerliche Dichtungssprache“ des 19. und 20. Jh.s

Dichtungssprache des Realismus, Allgemeinsprache

Dichtungssprache von Klassik, Romantik und Realismus

Dichtungssprachen der Klassik und Romantik

Dichtungssprache des Realismus; Allgemeinsprache

Klassisch Dichtungs- und rationalistische Fachsprache

Deviation gegenüber sprachlichen Varietäten

Durchbrechung der literarischen Kommunikationsebenen des Theater; Hersagen metatheaterkommunikativer oder sinnentleerter Sätze

Abstrahierender Gebrauch sprachlicher Einheiten bei Annäherung an Musik und Malerei; Variation und Destruktion sprachlicher Einheiten sämtlicher Ebenen; Parodie

Collage: Segmentation und Kombination sprachlicher Einheiten sämtlicher Ebenen

Variation und Destruktion; Bevorzugung von Verben; nennlexikalische Häufungen; syntaktische Vereinfachung und Verzerrung; metrische und rhythmische Freiheit

Durchbrechung der literarischen Kommunikationsebenen; Textmontage; Verfremdungseffekte auf sämtlichen sprachlichen Beschreibungsebenen; kommentierende Textteile

Stilistische Verfeinerung; psychologisierende Figurendarstellung; ironische Zitierung

Umfangreiche stilneutrale Schilderungen und Regieanweisungen; differenzierte Wiedergabe sprachlicher Variation sowie para- und nonverbaler Kommunikation; Sekundenstil

Neutraler Stil mit konnotationsarmer Lexik und einfacher Syntax; kaum rhetor. Figuren (Autorebene); Archaismen und Regionalismen; verfeinerte Dialogführung (Figurenebene)

Klangspiele und Metrik; Abwandlung von Orthographie und Interpunktion; hohe lexikalische Konnotativität und Assoziativität; syntaktische Rhythmisierung

Klangspiele und Metrik; lexikalische und grammatische Archaismen und Regionalismen; sprechsprachliche Merkmale; ausgeprägte Metaphorik und semantische Vertiefung

Charakteristika des Sprachgebrauchs

Abb. 198.8: Experimentelle Abschnitte und Richtungen der deutschen Literaturgeschichte und deren Merkmale (Übersicht).

Ikonizität

Naturalismus konstellative (2. Hälfte 19. Jh.) Experimente

konstellative Experimente

Anatomieausprägung

Experimentelle Ausprägung

198. Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert

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3108

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

perimente. Konnotation schließlich herrscht in den konstellativen und kommunikativen literarischen Experimenten seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. vor. Die Deviation der diversen Abschnitte und Richtungen literarischen Experimente gegenüber anderen sprachlichen Varietäten des Deutschen betrifft jeweils unmittelbar vorangegangene oder gleichzeitige Abschnitte oder Richtungen. Bei den (älteren) innovativen und (älteren) konstellativen Experimenten des 19. Jhs. erscheint dabei die klassische Dichtungssprache als lang überdauernde Leitvarietät literatursprachlicher Abgrenzung. So betrifft die Deviation der Romantik klassische Dichtungssprache sowie darüber hinaus die rationalistisch geprägte Fachsprache, während diejenigen des Realismus und Naturalismus neben der klassischen Literatursprache die Sprache der Romantik betreffen; von der Sprache des Realismus setzen sich wiederum Naturalismus und Symbolismus ab. Die jüngeren konstellativen Experimente sowie die kommunikativen Experimente zeigen neben der Deviation gegenüber zeitnahen literarischen Abschnitten oder Richtungen oftmals eine Tendenz zur Deviation gegenüber Sprache im allgemeinen und Dichtungssprache im besonderen: Die Dekadenz gegenüber Allgemeinsprache und Dichtungssprache der Realismus, die epische Literatur gegenüber der „bürgerlichen Dichtungssprache“, der Expressionismus gegenüber der Dichtungssprache von Naturalismus und Symbolismus, der Dadaismus wiederum gegenüber der expressionistischen Dichtungssprache sowie die konkrete Poesie und die Sprechstücke gegenüber Allgemeinsprache wie Dichtungssprache und deren kommunikative Konventionen. Die sprachliche Deviation gegenüber zeitnahen Abschnitten oder Richtungen erscheint hiernach als Konstante des literarischen Experiments, während sich die übergeordnete Leitvarietät literatursprachlicher Abgrenzung von der klassischen Literatursprache zur Allgemeinsprache hin verschiebt, wobei konstellativen Experimenten eine besondere Bedeutung zukommt. Die einzelnen sprachlichen Charakteristika der verschiedenen experimentellen Abschnitte und Richtungen deutscher Dichtungssprache lassen sich nur schwer unter einer gemeinsamen Tendenz fassen, selbst wenn vergleichbare Erscheinungen, wenn auch mitunter bisweilen mit recht unterschiedlicher Gewichtung und Motivation, wiederholt zu beobachten sind, darunter auch die folgenden:

Klangspiele und Metrik (innovativ etwa im Realismus und Symbolismus; kommunikativ zum Beispiel in Expressionismus, konkreter Poesie und Sprechstücken); syntaktische und textuelle Rhythmisierung (innovativ etwa im Symbolismus, kommunikativ etwa in der konkreten Poesie oder in den Sprechstücken); semantische Vertiefung durch Metaphorik und Konnotativität (innovativ zum Beispiel in der Romantik und im Symbolismus; kommunikativ etwa im Expressionismus); lexikalische und grammatische Archaismen und Regionalismen (innovativ etwa in der Romantik; konstellativ vor allem in Realismus und Naturalismus); sprechsprachliche Merkmale (innovativ beispielsweise in der Romantik; konstellativ etwa in Realismus und Naturalismus); neutrale und sachliche Stilelemente (vor allem konstellativ in Realismus und Naturalismus sowie epischer Literatur); ironische Zitierung und Parodie (konstellativ etwa in der Dekadenz und kommunikativ etwa in der konkreten Poesie); Durchbrechung literarischer Kommunikationsebenen (vor allem konstellativ in der epischen Literatur oder kommunikativ in den Sprechstücken); Variation und Verfremdung sprachlicher Einheiten auf verschiedenen Ebenen (innovativ etwa im Symbolismus; konstellativ insbesondere in der epischen Literatur; kommunikativ im Expressionismus, im Dadaismus oder in der konkreten Poesie); Segmentation und Kombination sprachlicher Einheiten verschiedener Ebenen (konstellativ etwa in der epischen Literatur; kommunikativ im Expressionismus, im Dadaismus oder in der konkreten Poesie).

Nach Durchsicht all dieser sprachlichen Charakteristika drängt sich indessen doch die Feststellung einer übergreifenden Tendenz auf: Diese Tendenz besteht in der zunehmenden Destruktion sprachlicher Einheiten und kommunikativer Bedingungen, die gegen Ende des 19. Jhs. ihren Anfang nimmt und sich bis zum Ende des 20. Jhs. fortsetzt und dabei steigert. Diese Steigerung hat indessen ihren Höhepunkt in den sechziger Jahren erreicht, so daß nunmehr sämtliche literarischen Experimente, seien sie allein innovativ oder darüber hinaus auch konstellativ oder kommunikativ, nunmehr mit formal und funktional mehr oder weniger intakten sprachlichen Einheiten zu verfahren haben. Die jüngste Tendenz literatursprachlicher Experimente betrifft dabei die Variation von Textstrukturen im Rahmen der technischen Möglichkeiten der sog. Neuen Medien.

7.

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199. Das Sprachproblem der Exilliteratur 1. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahre 1933 brachte den Versuch einer totalen Neuorientierung des kulturellen Lebens in Deutschland durch staatliche Maßnahmen der Regulierung, Zensur, Ausschließung, ja physischen Bedrohung, sowie Förderung erwünschter Kultur. Entgegen den Wünschen der Machthaber entstand keine große und volkstümliche nationalsozialistische Literatur, so daß ein erhebliches Spektrum „nichtfaschistischer“ Literatur toleriert werden mußte. Doch die nationalsozialistische Kulturpolitik bewirkte den Exodus eines erheblichen Teils der bis dahin bekannten deutschsprachigen Autoren. Politisch aktive Autoren mußten sofort flüchten, andere folgten später, als das Regime keine Veröffentlichungsmöglichkeiten mehr gestattete. Alle jüdischen Autoren waren ausgeschlossen. Der Flucht aus Deutschland ab 1933 folgte die Flucht aus Österreich 1938 und der Tschechoslowakei 1938/39. Die Niederlage Frankreichs 1940 verjagte die Autoren nach Übersee, meistens in die USA. Es etablierte sich also ab 1933 eine deutschsprachige Literatur im Ausland, zu der die bekanntesten Autoren der Zeit gehörten (Thomas Mann, Brecht, Musil, Broch, Werfel, Seghers, Zweig, Döblin u. a.), und die

sich als die eigentliche dt. Literatur verstand, dabei neben der Wahrung und Erneuerung der kulturellen Traditions Deutschlands als ihre Aufgabe den Kampf für den Sieg über den Nationalsozialismus ansah. Es war eine Literatur, geboren aus dem Willen zum Überleben und der Verpflichtung des Kampfes. 2. Das deutschsprachige Exil begann mit der Hoffnung einer baldigen Rückkehr. Allmählich, besonders nach 1945, wuchs die Erkenntnis, daß es keine eigentliche Rückkehr aus dem Exil gab. Parallel dazu wuchs die Entfremdung von der Heimat und ihrer Sprache. Das Exil selbst war nach dem Ausdruck Lion Feuchtwangers „zerklüfteter als jede(s) andere“ (Feuchtwanger, Exil, 121). Es enthielt alle politischen Richtungen, drei oder vier verschiedene Generationen, Autoren aller möglichen Gattungen, mit der Herkunft aus verschiedenen Regionen und Dialekten, bestimmt durch einen unterschiedlichen Epochen- und Personalstil. Wenn sich bereits keine wirkliche Einheit in der Zeit vor dem Exil feststellen läßt, so ist es noch schwieriger, echte „Exilqualitäten“ zu bestimmen, zumal solche, die für dieses Exil und nicht jedes literarische Exil typisch sind. Daher ist, so oft auch die Forderung danach erhoben worden

199. Das Sprachproblem der Exilliteratur

ist (Wegner, Durzak, Stephan u. a.), verständlich, daß die Forschung bisher keine fundierte Bestimmung einer „Sprache des Exils“ leisten konnte, wobei intensive Bemühungen in dieser Richtung nach wie vor ein Desideratum sind. 2.1. Der Nationalsozialismus unterwarf das öffentliche Leben in Deutschland sofort einer rigorosen Sprachregelung unter dem Schlagwort „Propaganda“. Das Exil, das sich plötzlich und unvorbereitet „draußen“ befand, versuchte sehr bald, sich zu definieren (Kesten, Döblin, Klaus Mann, Wendepunkt). In seinem Kampf, sich als das andere, das wahre Deutschland zu etablieren, betonte es vor allem seine Verteidigung der Wahrheit und die Pflege des Wortes. Der Nationalsozialismus wurde mit Lüge gleichgesetzt, und die Sprache der in Deutschland verbliebenen Autoren wurde moralisch in Frage gestellt. Johannes R. Becher schreibt 1938 an Heinrich Mann von der „faschistischen Sprachverarmung und Sprachverlotterung“ (Durzak 1973, 363). Franz Werfel dichtet: „Das deutsche Wort verdorrt, versteint“ („Der größte Deutsche aller Zeiten“, Jentzsch 22). Die Verständigung mit Menschen in Deutschland wird schwierig: „Seltener pflegen sie von Haus zu schreiben,/ immer mehr scheint uns ihr Wort entstellt,/ bis sie uns so unverständlich bleiben,/ wie Geschöpfe einer andern Welt“ (Max Herrmann-Neiße, Überwunden, Jentzsch 112). Günther Anders empfindet nach 1945, daß die Sprache des „Heimkehrers“ in den „Ohren der Heutigen“ wahrscheinlich „altfränkisch“ wirkt (Anders 106). Er sieht voraus, daß seine Sprache ein Endzustand ist, und daß die Nachkommen sprachlich zersprengt sind, in welcher Weise auch immer: „Übermorgen werden/ mit Wörterbüchern/ unsere Enkel über unseren Worten sitzen./ Fluchend, daß eigensinnig/ jeder von uns seine eigene Sprache sprach./ Schon heute erfaßt mich, wenn ich ihrer gedenke,/ Heimweh nach den Bergen und Tälern der Wortlandschaft“ (Anders 391).

2.2. Die Entfremdung und Veränderung wird jedoch nicht nur dem Nationalsozialismus und seinen Folgen zugeschrieben. Das überwältigende Erlebnis des Exils ist nicht das Heimweh, sondern der Mangel an Resonanz. Leonhard Frank fand die Formel, er spiele auf einer Geige aus Stein. Oft benutzt wird das Wort von Ernst Weiss, die Sprache des Exils sei wie im „Eiskasten“ konserviert. Mit der Länge des Exils mehren sich die Bemer-

3111 kungen, daß die Sprache der Umgebung, Englisch z. B., ins Bewußtsein dringt, und daß Deutsch eine „geheime“ Sprache wird (Canetti, Gewissen der Worte 159) oder sogar, wie es Thomas Mann offenbar ausdrückte, eine „sakrale“ Sprache (Heinrich Mann, Zeitalter 220). Brecht notierte die Beobachtung, daß Dialektwörter als Äquivalent englischer Wörter manchmal schneller ins Bewußtsein kämen als hochdeutsche (Arbeitsjournal 704). Auf alle Fälle bestätigt sich die Feststellung Lion Feuchtwangers in „Arbeitsprobleme des Schriftstellers im Exil“, daß auch Autoren, die nie einen Sprachwechsel ins Auge gefaßt hatten, mit dem Bewußtsein einer anderen Sprache lebten, also mit einem doppelten Sprachkontrast: dem mit der Sprache Deutschlands und der der Umgebung. Feuchtwanger glaubt, daß dieses Bewußtsein seine Sprache „schärft“, d. h. präzisiert. 2.2.1. Die große Mehrzahl der Exilschriftsteller spricht sich gegen Sprachwechsel aus. Der Schriftsteller verfüge nicht über die Sprache, sondern die Sprache verfüge über ihn. „Ein Schriftsteller kann nicht seine Sprache wechseln wie ein Hemd.“ (Weiskopf 377). Sprache bleibt „das einzige Stück Zuhause“ (Anders 91). Das Beharren bei der dt. Sprache verbürgt nicht nur Identität, sondern bewahrt wenigstens im Schreiben vor dem „Stammeldasein“ (Anders 89 ff.) des Alltags. Die immer wieder geäußerte Überzeugung bleibt, daß ein Sprachwechsel einen entscheidenden Qualitätsverlust der Produktion mit sich bringt. Während Angehörige anderer Berufe nicht auf die Sprache als Arbeitsmittel und Medium angewiesen sind und sich ohne so große Probleme pragmatisch umstellen können, während besonders jüdische Emigranten sich ins neue Land integrieren wollen und manchmal bewußt die dt. Sprache verlassen, in den USA etwa die von Ernst Bloch gerügten „Schnellamerikaner“ werden, müssen Schriftsteller fürchten, daß mit der Sprache auch ihre Kreativität, ihre Existenz als Schriftsteller aufhört. 2.2.2. Es gibt jedoch eine erhebliche Zahl von Fällen eines erzwungenen oder weitgehend freiwilligen Sprachwechsels. Hier ist eine Stufenleiter des Gebrauchs der neuen Sprache zu beobachten, die von Vorträgen, publizistischen Texten über Essays und Sachbüchern zu Erzählungen und Romanen und selten zur Lyrik reicht. Sprachwechsel ist pri-

3112

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

mär eine Frage des Lebensalters, in zweiter Hinsicht eine der Einstellung zum Asylland und zur Sprache. Während Ernst Erich Noth und Hilde Spiel den Sprachwechsel als weitgehend unproblematisch beschreiben wollen, während Stefan Heym sich primär als amerikanischen Schriftsteller ansieht, wußte Robert Neumann, daß er „in einer Sprache, die Nichtengländer für Englisch halten,“ schrieb. Klaus Mann wies im Februar 1949 in einer Antwort an die „Welt am Sonntag“ auf seine Schwierigkeiten hin: „Je tiefer ich ins Englisch-Amerikanische eindringe, desto quälender empfinde ich die eigene Unzulänglichkeit“ (Klaus Mann, Briefe und Antworten II, 296). Das Idealbild des zweisprachigen Adelbert von Chamisso, das Hans Natonek in einem Exilroman zu errichten versuchte, blieb Illusion. Einen Joseph Conrad hat das deutschsprachige Exil nicht hervorgebracht. 2.2.3. Als ein besonders geglückter Fall wird Heinrich Manns französisches Exil dargestellt, da er frz. Zeitungsartikel schrieb und auch Französisch in sein Romanwerk über Henri IV integrierte. Genauere Analyse (Banuls) kann jedoch feststellen, daß aus der Kenntnis der Umgangssprache und der Literatur noch kein schriftstellerisches Sprachgefühl erwächst. Näher dem Ideal der Zweisprachigkeit ist wohl das späte Werk von Rene´ Schickele. In den letzten Romanen Heinrich Manns findet sich Sprachmischung, vor allem im Dialog. Thomas Mann hat diese Texte mit dem Wort „Greisen-Avantgardismus“ charakterisiert und für ihren Stil die Formel gefunden: „Über den Sprachen ist die Sprache“ (Thomas Mann, Briefe 1948⫺1955, 92). In diesem Fall zeugt die Sprachmischung viel mehr von Heinrich Manns fast totaler Isolation als von Einflüssen einer fremdsprachigen Umgebung. 2.2.4. Alle Exilautoren klagen darüber, daß ihre dt. Texte nur in Übersetzungen an die Öffentlichkeit kommen, und sie darin wie in einen trüben Spiegel blicken. Für Feuchtwanger war durch die Übersetzung der „Duft“, das „Leben“ des Textes verschwunden. F. C. Weiskopf formulierte: „So wurde gleichsam mit verstellter Stimme in den Wald hineingerufen, und zurück schallte dann ein Echo, aus dem man nicht immer klug werden konnte“ (Weiskopf 484). Andererseits ist gerade Feuchtwanger vorgeworfen worden, er habe seine Texte auf Übersetzbarkeit hin geschrie-

ben und dadurch wesentlich an sprachlichem Niveau eingebüßt (Hans Mayer). 2.2.5. Es liegt nahe, in Texten des Exils nach Spuren der Sprachen der Asylländer zu suchen und Mischsprachen zu vermuten, wie das zumal in England offenbar im Alltag geläufige „Emigranto“ (Sinsheimer). Das bedeutet die Verwendung fremder Vokabeln für Gegenstände und Vorkommnisse des täglichen Lebens sowie Anglizismen oder Gallizismen usw. in der Idiomatik, also in Redewendungen und Bildersprache, vielleicht sogar in der Syntax. Bisherige Untersuchungen haben vor allem ergeben, wie wenige solcher identifizierbaren Entlehnungen es gibt, und wie sorgsam, fast ängstlich Exilschriftsteller die „Reinheit“ der dt. Sprache bewahren wollten. Der weitgehend negative Befund mag auch ein Hinweis darauf sein, daß die Autoren recht isoliert von ihrer Umwelt geblieben sind. 2.2.6. Die dt. Kritiker der Jahre nach 1945 versuchten ihr Befremden gegenüber Texten des Exils gern an sprachlichen Einzelheiten festzumachen, um solche Texte als fremdartig, wenn nicht gar „undeutsch“ zu charakterisieren. Sie nahmen dabei gern „Fremdwörter“ zum Ziel, wozu Thomas Mann 1950 kommentierte: „Fremdwörter und lange Sätze reichen nicht aus zur Erklärung der heftigen Abneigung, die meine Existenz bei einem bestimmten deutschen Typus erregt“ (Briefe 1948⫺1955, 129). Auch Theodor W. Adorno bemerkte: „Schließlich geht es vielfach um die Abwehr von Gedanken, die den Wörtern zugeschoben werden“ (Wörter aus der Fremde, 216). Daß es jedoch etwas wie einen „Sprachton“ des Exils gegenüber nationalsozialistischen Texten und ebenfalls „nichtfaschistischen“ Werken gab, der zusammen mit der kritischen Haltung des Exils gegenüber Deutschland (statt „Einfühlung“) die Befremdung bewirkte, ist spürbar, müßte jedoch noch konkret verifiziert werden. 2.3. Eine eigentümliche Scheu behielt das Exil vor der satirisch-parodistischen Benutzung, ja vor der Analyse der Sprache der Nazis. Und das, obwohl z. B. Ernst Bloch feststellte: „Unser Kampf krankt an dem Unvermögen, das Nazi-Verbrechen zu kennzeichnen, ihm sprachlich nahe- und nachzukommen“ (Der Nazi und das Unsägliche, Loewy 693). Bert Brecht regte ein „schlagwörterbuch des faschismus“ (Arbeitsjournal 54) an.

199. Das Sprachproblem der Exilliteratur

Ludwig Marcuse wußte: „Es gibt Schlagworte und Schlag-Worte“ (Aus den Papieren 289). Ein „Wörterbuch des Unmenschen“ wurde jedoch von der inneren Emigration versucht. 3. Jenseits des Selbstverständnisses und der Polemik lassen sich eine Reihe vorläufiger Feststellungen treffen. Da es besonders viele Selbstaussagen des Exils gibt, hat es die Forschung nicht leicht gehabt, ein distanzierteres und unabhängiges Bild zu entwickeln, zumal die Exilforschung insgesamt am Problem der Apologie gegenüber Anklagen klebt. Es ist zu betonen, daß eine isolierte Betrachtung nicht möglich ist. Erst der Kontext der Gesamtepoche ermöglicht die Einordnung und Bewertung einzelner Beobachtungen. Dabei ist es wesentlich, den Gesichtspunkt der Exilsituation heuristisch mit in sprachliche Analysen einzubeziehen. Daß das bisher nicht ausreichend geschehen ist, zeigt gerade die Literatur zu vielbesprochenen Autoren wie Thomas Mann. Dabei ist zu beachten, daß die Exilsituation bestehende Tendenzen verstärkt, nicht unbedingt neue Tendenzen schafft, jedoch sich in gegenläufiger und manchmal widersprüchlicher Weise auswirken kann. 3.1. Das Exil und seine Kritiker beobachten eine konservative Tendenz, Bewahrung, Konservierung statt Neuerung und Experiment. Gegenüber dem mitgebrachten „Vorrat“ an Sprache, der sich nicht mehr aus der Umwelt erneuern kann, versuchen manche Autoren jedoch aus der „Sprachnot“ auszubrechen und Erweiterung und Erneuerung zu finden. Besonders auffällig ist die Ausdruckserweiterung in Der Tod des Vergil von Hermann Broch, bei dem von „Ausdrucksdehnung der Sprache“ (Strelka 23) oder aber einem „Wucherungsprozeß“ (Durzak, Laokoons Söhne 61) gesprochen wird. Thomas Mann sprach von „Sprachpossen“ in Der Heilige und fürchtete, man werde ihm in Deutschland „Sprachverhunzung“ ankreiden (Briefe 1948⫺ 55, 208). Ein weitgehend unerforschtes Gebiet sind die Muster oder Einflüsse solcher sprachlichen Verstöße. Hinweise zeigen dt. Vorbilder, nicht zuletzt Luthers Bibel (Brecht!). Bei historischen Romanen und Theaterstücken konnten sich die Autoren auch an den Quellen „aufladen“, was sich etwa bei Döblin verfolgen läßt. 3.2. Während die Tendenz zur „Verständlichkeit“, zu dem, was einen literarisch wenig versierten Leser ansprechen kann, aus man-

3113 cherlei praktischen und politischen Gründen dominiert, bringt die Isolation des Exils manche Autoren zum Weitertreiben oder Übertreiben individueller Eigenheiten. Dem Exil fehlt neben der Resonanz des Publikums, neben dem Eintauchen in die sprachliche Umgebung auch die Kontrolle durch eine kompetente Kritik. Das Zu-sich-selbst-sprechen, zumal in der Lyrik, bringt nicht selten besondere Idiome hervor. 3.3. Parallel dazu ist die gegensätzliche Tendenz zu einem von Regionalismen freien Hochdeutsch gegenüber dem Bemühen, sprachlich authentisch, idiomatisch und damit oft „lokal“ zu bleiben. Dialektwörter oder lokale Ausdrücke können dabei wie Fremdkörper wirken. Manchmal, aber nicht häufig, ergeben sich Probleme der Stilebene. Natürlich treten diese Probleme bei realistischen, der Umgangssprache folgenden Autoren anders auf als bei zur Stilisierung neigenden. 3.4. Insgesamt wird deutlich, daß die dt. Sprache des Exils nicht auf eine nichtliterarische Umgangssprache gestützt ist, sondern sich selbst produziert. Daher ergibt sich eine gewisse Strenge und Kohärenz, die einer Umgangssprache fehlt. Man kann von der „Geschlossenheit“ der Sprache sprechen. Es wäre beispielsweise unmöglich, Texte überzeugend mit Fetzen von Reklamen, Slogans oder Schlagertexten anzureichern, es sind Texte ohne modisches Vokabular. Ein schlagendes Beispiel ist Döblins Berlin Alexanderplatz, verglichen mit der Exil-Tetralogie November 1918, die den kundigen und sprachlich versierten Berliner verrät, aber offensichtlich aus dem „Sprachstrom“ des früheren Werkes herausgerissen ist. 3.5. Ganz abgesehen vom Standpunkt und der Individualität der Autoren zeigt sich eine größere Durchsichtigkeit oder Reflexivität der Texte. Hinter den meisten Texten des Exils steckt Selbstprüfung, Verantwortlichkeit. Entsprechend ist die Sprache von Bewußtseinprozessen zu finden, mehr geistige Analyse als farbige Beschreibung. Es dürfte sich ergeben, daß der Wortschatz vom Konkreten zum Abstrakten hin tendiert, vom Speziellen zum Allgemeinen, und daß die Syntax der Reflektion dominiert. 3.6. Das Exil war ein Prozeß, von dem die verschiedenen Generationen verschieden betroffen wurden. Junge Autoren waren anders

3114

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

und viel nachhaltiger von der neuen Erfahrung geprägt. Hans Habe stellt fest: „Als ich zu schreiben begann, ging mir die Sprachheimat verloren“ (Erfahrungen 66). Die stärkste Wirkung auf die Sprache ist bei den Autoren festzustellen, die nach 1945 ihre Sprache gefunden haben und Deutsch, die Sprache der Kindheit, auch als die ihrer Vernichter empfinden mußten, wie Peter Weiss, Paul Celan, bis zum gewissen Grade Nelly Sachs. 3.7. Das Exil schwankte zwischen einer gewaltigen Überschätzung der Wirkung des Wortes und der Verzweiflung an seiner völligen Wirkungslosigkeit. Die Erfahrung der Wirkungslosigkeit schlug zuweilen um in Sprachskepsis und Zweifel an der Berechtigung von Literatur überhaupt. Heinrich Manns Formel „Geist und Macht“ konnte als Gegensatz, aber so verstanden werden, daß Geist bereits Macht ist, am schärfsten bei kommunistischen Autoren, die das Wort als Waffe ansahen. Heinrich Mann vertraute auf die gesellschaftliche Wirkung der Literatur, Lion Feuchtwanger sah sie als einen langsamen, oft unmerklichen Prozeß. Der hohe Anteil jüdischer Autoren, auch wenn es sich überwiegend um säkularisierte, jedenfalls nicht-orthodoxe Juden handelte, verstärkt das Vertrauen in das Wort, den Geist, die Selbstschätzung des Sprachkünstlers. Gerade bei der erzwungenen wachsenden Entfernung von der dt. Heimat wird Deutsch hier die durch Goethe, Lessing und Heine verbürgte heile Sprache des Humanen. Wie Kreativität im allgemeinen, so wird das Schreiben auch bei „Nicht-Autoren“ in vielen Situationen zum Schutzwall, zum Mittel der Bewahrung vor der Vernichtung. Brechts Gedicht Besuch bei den verbannten Dichtern gipfelt in dem Ausspruch Dantes: „Ihnen wurden nicht nur die Körper, auch die Werke ernichtet“ (Gedichte IV, 56). Die Angst um das „verlorene Manuskript“, um das ungeborene Werk sogar, steht parallel zur physischen Vernichtung. Hier wird Deutsch zu einer Sprache, von deren Mitteilungscharakter im Alltag möglichst abgesehen wird, besonders in Texten, die in dt. Konzentrationslagern entstanden sind (Schlösser). Gedichte im Lager, wie auch im Exil, oder auf der Flucht, nehmen leicht den Charakter von Gebeten an, wenn sie nicht Elegien oder Requiem sind. Anrufe sind typisch, die ein unsichtbares Du erreichen möchten. Max Herrmann-Neiße bietet ein besonders instruktives Beispiel für das Schreiben um seiner selbst willen.

4. Über die Rezeption der Exilliteratur, und damit die Wirkung ihrer Sprache, liegen kaum fundierte Untersuchungen vor. Die vom nationalsozialistischen Deutschland befürchtete Beeinflussung der dt. Bevölkerung (Tutas) fand praktisch nicht statt, schon weil so wenige Schriften nach Deutschland geschmuggelt werden konnten. Die dt. Leser nach 1945 waren kritisch gegenüber der Darstellung Nazi-Deutschlands durch das Exil, auch sprachlich. Carl Zuckmayers Des Teufels General kann darin als Ausnahme gelten. Ihm wurde bescheinigt: „Du bist nie fort gewesen!“ Doch er selbst stellte fest, daß eine Heimkehr unmöglich sei. Die produktive Rezeption der Exilautoren durch Nachkriegsliteratur bezog sich meistens auf die Werke vor 1933, wie bei der Rezeption Döblins durch Günther Grass. Die große Ausnahme bildet Bert Brecht, dessen Theater, Prosa und Lyrik des Exils zeitweilig die junge Generation in Deutschland formte. 4.1. Ein besonderer, auch noch weiterer Analyse bedürftiger Punkt ist die Rezeption Heinrich Heines. Das Exil hat sich nicht nur in Essays, Büchern und Anthologien mit Heine befaßt, sondern deutlich in der Lyrik an den „Heine-Ton“ angeknüpft, der den Schmerz und das Heimweh in eine witzige Sprache aufhebt, ein Gegengift gegen das schleichende Selbstmitleid des Exils. Beispiele finden sich von Mascha Kaleko, Walter Mehring, Hermann Kesten bis zu Ludwig Marcuse. Es ist noch genauer zu verfolgen, wie dieser Ton, der sich in der Weimarer Zeit mit dem Kabarett und mit dem Feuilleton verband, bei Tucholsky beispielsweise, und nach 1945 gleich wieder aufmunternd „ankam“, sich mit der Rezeption Heines und des Exils im Nachkriegsdeutschland verbindet. 4.2. Allgemein festgestellt aber schwer zu definieren ist der Vorwurf der „Provinzialität“, den das Exil gegen das literarische Leben im Nachkriegsdeutschland erhoben hat. Besonders schwer zu bestimmen wären sprachliche Merkmale solcher Provinzialität, der gegenüber eine weltläufige, den wesentlichen kulturellen Entwicklungen offene Urbanität des Exils behauptet wird, die positive Charakterisierung der von den Nazis verfemten „Asphaltliteratur“. Was das speziell bedeuten würde, könnte nur durch eine komparatistische Analyse wirklich geklärt werden. 5. Das Exil ist eine starke Belastungsprobe, oft ein Trauma, es wird immer wieder als

199. Das Sprachproblem der Exilliteratur

„Krankheit“ bezeichnet. Es macht nach Lion Feuchtwanger die Starken stärker und die Schwachen schwächer. Jedenfalls sehen die Autoren es oft als „Beschädigung“. Es ist eigentlich noch nicht möglich, wenn es überhaupt möglich ist, Bewertungen auszusprechen, ob das Exil eine „Verarmung“ oder „Bereicherung“ war. Solche Etiketten in bezug auf sprachliche Gestaltung sind bis jetzt sehr zweifelhaft und im wesentlichen ungesichert. 6. Es ist ein Fehlschluß und eine Behinderung der Forschung gewesen, das Exil auf die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft 1933⫺1945 festzulegen. Das Exil war 1945 auf keinen Fall zu Ende. Die ins Exil getriebenen und im Exil aufgewachsenen Autoren zeigen in ihrem Gesamtwerk Folgen und Merkmale des Exils. Werke der Nachkriegszeit sind vielleicht typischere „Exiltexte“ als die Werke der ersten Exiljahre, in denen die Kontinuität aus der Zeit vor 1933 noch erkennbar ist. 7. Insgesamt ist die Forschung zum Sprachproblem des Exils steckengeblieben, weil sie zu viel zu schnell erreichen wollte und mehr ins Auge fallende Ergebnisse erwartete. Eine geduldige Registrierung von Merkmalen und umsichtige Vergleichung kann schrittweise diesen Mangel ausgleichen, um von auffallenden Punkten zu wesentlichen Problemen fortzuschreiten. Erst dann wird es möglich sein, über Selbstaussagen und allgemeine Eindrücke hinauszukommen.

8.

Literatur (in Auswahl)

Adorno, Theodor W., Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften II. Frankfurt 1974. Darin: Wörter aus der Fremde, 216⫺232, und: Über den Gebrauch von Fremdwörtern, 640⫺646. An den Wind geschrieben. Lyrik der Freiheit 1933⫺ 1945. Hrsg. v. Manfred Schlösser. Darmstadt 1961.

3115 Ders., Gedichte 1934⫺1941. Gedichte IV: Frankfurt 1961. Canetti, Elias, Das Gewissen der Worte. Essays. München 1975. Döblin, Alfred, Aufsätze zur Literatur. Olten/Freiburg 1963. Darin: Die deutsche Literatur (im Ausland seit 1933). Ein Dialog zwischen Politik und Kunst, 187⫺210. Durzak, Manfred, Laokoons Söhne. Zur Sprachproblematik im Exil. In: Akzente 21, 1974, 53⫺63. Ders. (Hrsg.), Die deutsche Exilliteratur 1933⫺ 1945. Stuttgart 1973. Ders., ‘Der Worte Wunden’. Sprachnot und Sprachkrise im Exilgedicht. In: Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. Hrsg. v. Jörg Thunecke. Amsterdam 1998, 15⫺24. Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933⫺1945. Hrsg. v. Ernst Loewy [et al.]. Frankfurt 1981. Exilliteratur 1933⫺1945. Hrsg. v. Wulf Köpke/Michael Winkler. Darmstadt 1989. (WdF 647). Feuchtwanger, Lion, Exil. Roman. Frankfurt 1979. Ders. Arbeitsprobleme des Schriftstellers im Exil. Oder: Der Schriftsteller im Exil. In: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt 1984, 533⫺538. [Voriger Titel des Buches: Centum Opuscula]. Fischer, Wolfgang Georg, Zur Sprache des Emigranten. Literatur und Kritik, H. 128, 1978, 475⫺ 480. Frank, Leonhard, Links wo das Herz ist. München 1967. Frisch, Shelley, The Americanization of Klaus Mann. In: Kulturelle Wechselbeziehungen 1986, 72⫺138. Habe, Hans, Erfahrungen. Olten/Freiburg 1973. Herrmann-Neiße, Max, Lied der Einsamkeit. Gedichte 1914⫺1941. München 1961. Herzfelde, Wieland, Die deutsche Literatur im Exil. In: Zur Sache. Geschrieben und gesprochen zwischen 18 und 80. Berlin 1976. 189⫺213.

Anders, Günther, Tagebücher und Gedichte. München 1985.

Hirsch, Hellmut, Aspekte der Zweisprachigkeit als Exilantenproblem. Eine biographische Fallstudie. In: Kulturelle Wechselbeziehungen 1986, 384⫺394.

Banuls, Andre´, Vom süßen Exil zur Arche Noah. Das Beispiel Heinrich Mann. In: Durzak (Hrsg.), 1973, 199⫺219.

Ich sah das Dunkel schon von ferne kommen. Erniedrigung und Vertreibung in poetischen Zeugnissen. Hrsg. v. Bernd Jentzsch. München 1979.

Bloch, Ernst, Vom Hazard zur Katastrophe. Politische Aufsätze aus den Jahren 1934⫺1939. Frankfurt 1972.

In der Sprache ein Halt. Teil XII. In: Lyrik des Exils. Hrsg. v. Wolfgang Emmerich/Susanne Heil. Stuttgart 1985, 245⫺255.

Brecht, Bert, Arbeitsjournal. Hrsg. v. Werner Hecht. Frankfurt 1973.

Kesten, Hermann, Der Geist der Unruhe. Literarische Streifzüge. Köln/Berlin 1959. Darin: Fünf

3116

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Jahre nach unserer Abreise […], 52⫺61, und: Literatur im Exil, 222⫺237. Klemperer, Victor, LTI. Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947. Köpke, Wulf, Die Wirkung des Exils auf Sprache und Stil. Ein Vorschlag zur Forschung. In: Exilforschung 3, 1985, 225⫺237.

Scheck, Ulrich, ‘Desperatio Emigratica’: Zur Problematik von Sprachwechsel und interkultureller Wahrnehmung bei Robert Neumann. In: Kulturelle Wechselbeziehungen 1986, 72⫺89. Sinsheimer, Hermann, „Emigranto“. In: Deutsche Rundschau 71, H. 4, 1948, 34⫺37.

Kulturelle Wechselbeziehungen im Exil. Hrsg. v. Helmut Pfanner. Bonn 1986.

Spiel, Hilde, Kleine Schritte. Berichte und Geschichten. München 1976. Darin: Psychologie des Exils, 27⫺47; und: Das vertauschte Werkzeug, 48⫺52.

Macht und Ohnmacht des Wortes. In: Exil 2. Hrsg. v. Ernst Loewy [et al.] 1981, 686⫺699.

Dies., Die hellen und die finsteren Zeiten. Erinnerungen 1911⫺1946. München 1989.

Maimann, Helene, Sprachlosigkeit. Ein zentrales Phänomen der Exilerfahrung. Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933⫺1945. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald/ Wolfgang Schieder, Hamburg 1981, 31⫺38.

Spies, Bernhard, Exilliteratur ⫺ ein abgeschlossenes Kapitel? Überlegungen zu Stand und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Exilforschung. In: Jahrbuch Exilforschung 14, 1996, 11⫺30.

Mann, Heinrich, Ein Zeitalter wird besichtigt. Düsseldorf 1974. Mann, Klaus, Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. München 1969. Ders., Briefe und Antworten. 2 Bde. Hrsg. v. Martin Gregor-Dellin. München 1975. Mann, Thomas, Briefe 1948⫺1955 und Nachlese. Hrsg. v. Erika Mann. Frankfurt 1965. Ders., An die gesittete Welt. Politische Schriften und Reden im Exil. Gesammelte Werke. Frankfurter Ausgabe. Frankfurt 1980.

Stern, Guy, Literatur im Exil. Gesammelte Aufsätze 1959⫺1989. München 1989. Stephan, Alexander, Die deutsche Exilliteratur 1933⫺1945. München 1979. Sternberger, Dolf/W. E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Hamburg 1945. Strelka, Joseph P., Exilliteratur. Grundprobleme der Theorie. Aspekte der Geschichte und Kritik. Bern/Frankfurt/New York 1983. Trapp, Frithjof, Deutsche Literatur im Exil. Bern/ Frankfurt/New York 1983. (GeLe 42).

Marcuse, Ludwig, Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie. München 1960.

Tutas, Herbert E., Nationalsozialismus und Exil. Die Politik des Dritten Reiches gegenüber der deutschen politischen Emigration. München 1975.

Ders., Aus den Papieren eines bejahrten Philosophiestudenten. München 1964.

Wegner, Matthias, Exil und Literatur. Deutsche Schriftsteller im Ausland 1933⫺1945. Frankfurt/ Bonn 1968.

Mayer, Hans, „Lion Feuchtwanger oder Die Folgen des Exils“. In: Neue Rundschau 1/1965, 120⫺ 129. Noth, Ernst Erich, Erinnerungen eines Deutschen. Hamburg/Düsseldorf 1971. Paepcke, Lotte, Sprache und Emigration. Frankfurter Hefte 18, 1963, 185⫺192. Riedel, Walter, Exil in Kanada ⫺ Sprache und Identität. In: Kulturelle Wechselbeziehungen 1986, 49⫺61.

Weiskopf, Franz Carl, Über Literatur und Sprache. Gesammelte Werke VIII. Berlin 1960. Darin: Sprache im Exil, 483⫺493. Wolffheim, Elsbeth, ‘Polyglotte Elemente in Heinrich Manns späten Romanen einer ‘absterbenden Gesellschaft’ (‘Der Atem’, ‘Empfang bei der Welt’). In: Kulturelle Wechselbeziehungen 1986, 127⫺138.

Wulf Köpke, Boston

200. Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945

3117

200. Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945 1. 2. 3.

8.

Vorbemerkungen „1945 oder die ‘Neue Sprache’ “? Restauration und neue Lust am Normenverstoß: die 50er Jahre Experimente, Sprachkritik, Elfenbeinturm und Agitprop: die 60er Jahre Kritischer Realismus, neue Innerlichkeit und neue Unübersichtlichkeit: die 70er Jahre Zitate, Positionen, Konstellationen: die „postmodernen“ 80er Jahre Stilloser Übergang? Anmerkungen zur Zeit nach der „Wende“ Literatur (in Auswahl)

1.2. Anders der Autor und Literaturtheoretiker Heißenbüttel (1980) im Lexikonartikel „Deutsche Literatursprache der Gegenwart“. Er erörtert zunächst, ob sich vom „systematischen Standpunkt aus“ eine Grundeinteilung nach „Modifikationen traditioneller Literatursprache“ und „Versuche[n], im Medium Sprache selbst literarisch zu operieren“, vornehmen ließe (ebd., 752). Da diese beiden sprachimmanenten literarischen Verfahrensweisen jedoch schon im ersten Drittel des 20. Jhs. gewisse Parallelen hatten, ergebe sich die Schlußfolgerung, daß der historische Umkreis miteinbezogen werden müsse.

1.

Vorbemerkungen

Einen „Neuansatz“ nach 1945 will Heißenbüttel nur auf den politischen Einschnitt bezogen wissen, während literatursprachlich eher „die Aufhebung einer staatlich reglementierten Restauration“ und die „Wiedervereinigung der Literatur, die in der Emigration überlebt hatte, mit der in Deutschland überlebenden“ zu verzeichnen sei. Die „erste Welle der Nachkriegsliteratur“, die unter dem „Schlagwort von der Kahlschlagliteratur“ (ebd., 753; s. u. 2.) oft als Neuanfang bezeichnet wurde, erweise sich nur als Modifikation traditioneller Literatursprache. Auch die Mehrzahl der existentialistisch und politisch motivierten Literatur der 50er Jahre, die sich in Variationen bis in die 70er Jahre fortsetze, sieht Heißenbüttel im Rahmen des Tradierten. Das eigentlich Neue, das diese „(fiktive) Stunde Null“ mit dem „Anspruch, daß alles möglich sei“, allerdings voraussetzte, komme ab Mitte der 50er Jahre mit den ersten Vertretern der Konkreten Poesie zum Durchbruch: experimentelle Literatur, „die sich ohne vorgefaßte Regelungen der literarischen Erschließung der Sprache selbst zuwendet“ (ebd., 754 f.).

4. 5. 6. 7.

1.1. Die wenigen sprachwissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit der Entwicklung der deutschen Literatursprache nach 1945 systematisch beschäftigen, gehen von recht unterschiedlichen Voraussetzungen aus. Für Steger (1987, 126 f.) ist die Literatursprache zwar durch „viele Eigenheiten, in graphischer, syntaktischer und besonders semantischer Hinsicht sowie in der ganz eigenen Pragmatik der literarischen Texte, Gattungen und Stile“ deutlich von anderen Sprachbereichen abgegrenzt. Dennoch setzt er ihre Periodisierung in Parallele zum allgemeinen Sprachwandel nach 1945 in der alltäglichen Lebenspraxis, den sozialen Institutionen und in Technik und Wissenschaften (s. Steger 1989). Die folgenden Zitate seiner (Kapitel-)Überschriften beziehen sich zuerst auf den allgemeinen Wandel (1989), dann speziell auf die Literatursprache (1987): ⫺ „Das Jahr 1945 als ‘Epochenjahr’“ (1989, 3) / „Literatursprache 1945⫺1947/49: Auf der Suche nach einer ‘wahren Sprache’“ (1987, 127) ⫺ 1947/50 bis 1960/65: „Wirtschaftswunder und Sprachausgleich“ (1989, 7) / „Rückkehr des Überzeitlichen und Klassische Restauration“ (1987, 132) ⫺ 1960/65 bis 1972/74 (später 75): „Vom Pluralismus zur Sprache der Entzweiung“ (1989, 11) / „Zeit der Prosa ⫺ ‘Tod der Literatur’“ (1987, 140) ⫺ 1972/74 (später 75) bis 1980/82 (später 81): „Sozialromantik im Jahrzehnt der Realpolitik“ (1989, 18) / „Nostalgie und ‘Neue Innerlichkeit’ “ (1987, 147) ⫺ 80er Jahre: „Ein kommunikationsgeschichtlicher Einschnitt?“ (1989, 22) / „Eine neue Epoche artifizieller Literatursprache?“ (1987, 153).

Als Heißenbüttel dies schrieb, war der Höhepunkt der Konkreten Poesie und auch der Weiterentwicklungen des ihr zugrunde liegenden Literaturverständnisses (z. B. mit Collage- und Montagetechniken) jedoch schon überschritten. Man kann sie daher ⫺ wie Steger ⫺ als eine Richtung unter anderen betrachten, die bereits wieder historisch ist. Manches spricht jedoch ⫺ soz. in Modifikation von Heißenbüttels radikalerer Konzeption ⫺ dafür, sie im Zusammenhang mit anderen experimentellen Abschnitten der dt. Literaturgeschichte im 20. Jh. (vgl. Roelcke Art. 201 sowie u. 6.4. zur Lyrik der 90er Jahre) als ein kontinuierliches Kennzeichen der Moderne zu betrachten: „Das heißt, Sprache wird nicht lediglich in der vermit-

3118

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

telnden Funktion für Ausdruck, welcher Art auch immer, genommen; Sprache wird in ihren Eigenschaften selbst auf ihre Literaturfähigkeit hin befragt“ (Heißenbüttel 1980, 755). Eine zweite Konstante der Literatursprache der Gegenwart, die seit dem 19. Jh. und häufig im Wechsel mit experimentellen Phasen zu beobachten ist, ist das Kommen und Gehen realistischer Schreibweisen. Walser (1965, 84 f.) hat ihre ständige Wiederkehr („Jetzt also der Realismus X“) als immer wieder notwendigen Schritt „zur Überwindung ideenhafter, idealistischer, ideologischer Betrachtungsweisen“ gerechtfertigt. Die „wirkliche Wirklichkeit“ einzuholen und kritisch zu durchschauen, erweist sich als Movens immer neuer Annäherungen an die Sprachbzw. „Sprechwirklichkeit“; sobald die neuen Mittel dem literarischen Sprachinventar einverleibt sind, ist die nächste Realismusbewegung schon programmiert (vgl. Betten 1985, 394 ff.). 1.3. Im folgenden wird wegen der Vielfalt der zu beobachtenden Phänomene und ihrer Interpretationsmöglichkeiten und der noch ganz offenen weiteren Entwicklung kein Typologisierungsversuch unternommen, sondern ein eher chronologischer Überblick über die wichtigsten Erscheinungsformen der Literatursprache nach 1945 gewählt. Kriterium für die Auswahl von Werken, Autoren und bestimmten Richtungen sind herausragende oder besonders charakteristische sprachliche Gestaltungen, besonders aber Innovation und Sprachreflexion (von der Sprachskepsis bis zum Sprachexperiment, auf allen Ebenen, von der grammatischen bis zur Text- und Erzählstruktur). Ähnlich wie bei Steger (1987) rücken daher in den einzelnen Kapiteln die Gattungen in den Vordergrund, an denen sich das Neue zuerst oder exemplarisch manifestiert hat. Die Literaturen der dt.sprachigen Länder werden nicht a priori getrennt behandelt, wie in vielen neueren Literaturgeschichten als Reaktion auf die lange unreflektiert praktizierte bundesdt. Vereinnahmung. Es wird aber versucht, spezifische Innovations- oder Verzögerungsphasen und unterschiedliche Tendenzen und Charakteristika der einzelnen nationalsprachlichen Ausprägungen der dt. Literatursprache zu berücksichtigen. Besonders engagiert wird die Diskussion um eine angemessene Gliederung der österreichischen Literaturgeschichte nach 1945 geführt (so schon Weiss 1981). Mit der Forderung nach Berücksichtigung

des Verhältnisses von „Text und Kontext“ (vgl. Zeyringer 1996) bzw. von „politische[m] Hintergrund für den literarischen Vordergrund“ wählt Schmidt-Dengler (1995, 16 ff.) als Grenzmarken 1945, 1948, 1955/56, 1966 und nach dem Umorientierungsdatum 1968, wohl mangels größeren Abstands, 1970⫺1980 und 1980⫺1990. Es geht v. a. darum, daß die „politischen, sozialen, mentalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen“ der österr. Autoren andere sind als die der deutschen und sie daher „nicht in das Periodisierungsschema passen, das die deutsche Literaturgeschichtsschreibung bereithält“ (ebd., 14 f.). Der implizite Vorwurf betrifft noch jüngste Publikationen (vgl. Zeyringer 1996, 439 gegen die Literaturgeschichte von Barner u. a. 1994), aber auch Steger (1987): Dieser nennt im Titel explizit (nur) die Literatursprache in der BRD, subsumiert darunter aber ganz selbstverständlich österr. und Schweizer Autoren; eine Abgrenzung wird nur hinsichtlich der wesentlich anders verlaufenden Entwicklung in der DDR gemacht, die nicht mitberücksichtigt ist. Einen Versuch der „interne[n] Differenzierung“ der DDR-Literatur, die nach über 40 Jahren nicht mehr als „scheinbar homogene[r] Block“ behandelt werden könne, unternahm aus westdt. Sicht noch Emmerich (1988, 193) mit den Eckdaten 1948, 1963/65, 1976. Barner u. a. (1994) jedoch gaben schon vor der dt. Wiedervereinigung trotz aller „ ‘System’-Verschiedenheit der DDR“ einer „sorgsam kontrastierende[n] Synopse“, die nach Jahrzehnten vorgeht, den Vorzug, um im „zeitnahen Vergleich“ „mit aller Behutsamkeit“ ähnliche Entwicklungstendenzen sichtbar zu machen und „übergreifende Orientierungslinien zu ziehen“ (S. XVIII ⫺ die österr. Kritik an diesem alle dt.sprachigen Literaturen gleichmachenden Ansatz wurde o. schon zitiert). Zu Besonderheiten der dt.sprachigen Schweiz vgl. Schafroth (1988, bes. 260 f.): Außer der anderen Ausgangssituation in der Nachkriegszeit wird besonders hervorgehoben, daß 1968 „für die Entwicklung der Schweizer Literatur kein Stichwort“ ist, so daß „auch in revolutionären Zeiten“ das literarische Werk „aus den Turbulenzen herausgehalten“ und damit auch „vor der ideologischen Erstarrung“ geschützt wurde, die die bundesdt. Literatur schon bald danach bedrohte. Wurde hier gelassen Kontinuität gewahrt, so sei in der äußerst vielfältigen Literatursituation der 70er und 80er Jahre nichts mehr auszumachen, „woraus sich sinnvollerweise ein Gesamtaspekt (ein schweizerischer womöglich)“ ableiten ließe.

1.4. Was Korte (1989, X) nur für die Geschichte der Lyrik konstatiert, kann verallgemeinert werden: daß es nämlich „den einen roten Faden […] nach 1945 nicht gibt, sondern sie ein Kaleidoskop widersprüchlicher, abgebrochener, ja divergenter Geschichten ist: voller historischer ‘Unordnung’ “. Allerdings ist im Laufe der die literarische Pro-

200. Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945

duktion begleitenden theoretischen Diskussion immer mehr bewußt geworden, daß es nach 1945, und speziell in der dt.sprachigen Literatur, kein l’art pour l’art mehr geben kann, sondern stets mitreflektiert wird, was Kunst nach dem Holocaust noch darf und kann. Autoren und Kritik haben sich implizit und explizit diesem Maßstab zu stellen; dadurch ist „das Anspruchsniveau für poetische Schreibweise extrem heraufgesetzt“ (Lorenz 1988, 39). Weil sich Literatur weniger durch ihre Themen als durch deren sprachliche Gestaltung von anderen Kommunikationsformen unterscheidet, ist dieses Bewertungskriterium auch und gerade einer Darstellung von Kontinuität und Wandel der Literatursprache eingeschrieben. Die Diskussion um die Bewertung des Jahres 1945 als Zäsur kann dies exemplarisch verdeutlichen, aber auch die „Brüche“ und „Umbrüche“ der Folge stehen (mit) unter diesem Vorzeichen.

2.

„1945 oder die ‘Neue Sprache’“?

„Daß sich 1945 keine ‘Stunde Null’ ereignete, ist im letzten Jahrzehnt […] zu einem Allgemeinplatz geworden“, schrieb Schäfer (1988, 27; vgl. u. v. a. Vormweg 1981, Scheichl 1986 sowie o. 1.2. zu Heißenbüttel). Detailliert hat schon Widmer (1966) in seinen „Studien zur Prosa der ‘Jungen Generation’ “, denen er den Haupttitel „1945 oder die ‘Neue Sprache’ “ gab, nachgewiesen, daß die in der ersten Nachkriegszeit geprägten Formeln von ‘Kahlschlag’ (im Rückblick 1949 erstmals verwendet von Wolfgang Weyrauch), ‘tabula rasa’, ‘Stunde Null’ und absolutem Neubeginn zwar das Bewußtsein der Zeitgenossen von einer wichtigen Zäsur wiedergeben und für Institutionensprache und auch Alltagskommunikation teilweise zutreffen mögen (vgl. Steger 1989, 5 ff.), sich aber gerade in der Literatur rasch als „trügerische[.] Illusion“ (Korte 1989, 2) erwiesen. 2.1. Angesichts des physischen und ideologischen Elends forderten besonders die jungen Autoren eine radikale „Erneuerung des literarischen Sprechens“ (Steger 1987, 127) oder aber ein, zumindest vorübergehendes, Schweigen. Der Umgang mit der vom Nationalsozialismus verseuchten „kranken“, „verlumpten“, „vergifteten“ Sprache wurde zum zentralen Problem. Der jüdische Romanist Viktor Klemperer, der sich in seinem Tagebuch konsequente Chronistenpflicht

3119

über den Alltag im ‘Dritten Reich’ auferlegt hatte, nach seinem knappen Überleben aber zunächst nur die Sprachbeobachtungen über die Lingua Tertii Imperii (LTI) veröffentlichte, schreibt über die letzten Tage vor der Befreiung: „Ich fand unter den Bauern von Unterbernbach große moralische Unterschiede […] Aber im Gebrauch der LTI war es durchweg dasselbe: sie schimpften auf den Nazismus und taten es in seinen Redeformen“ (1996, 357 f.). Elisabeth Langgässer (1947) über die Sprache während der NS-Zeit: „Die Sprache verlumpte und verlodderte, sie wurde blutrünstig und ganovenhaft, unecht wie eine Münze, der man schlechtes Metall untermischt hat, und schließlich für die Zwecke des Dichters auf weite Strecken hin unbrauchbar und nicht mehr verwendungsfähig. Worte wie ‘Blut’, ‘Boden’, ‘Scholle’, ‘Heimat’, ‘Held’ und andere […] nahm der Dichter im Dahingehen von der Erde auf […] und ließ sie angeekelt wieder zurückfallen. Sie waren mißbraucht, geschändet, entleert und entehrt.“ Und über die Situation nach 1945: „Noch glaubt man vielerorts, eine Sprache und Ausdrucksweise ungeprüft übernehmen zu können, die einmal in den Händen von entsetzlichen Verbrechern […] der Vernichtung und dem Untergang unseres Kontinents gedient haben, […] und ahnt nicht die unermeßliche Gefahr, die das falsch gebrauchte Wort, die unentgiftete […] Sprache in sich birgt. Man glaube doch nicht, daß man neuen Wein in alte Schläuche füllen kann ⫺ weder in die von 1933 noch die von 1923!“ (zit. nach Müller 1990, 38 f.).

2.2. Für die jeweilige Reaktion war entscheidend, welche Alternativen den einzelnen Gruppen zur Verfügung standen. Ein echter Neubeginn war nur theoretisch am ehesten von den Jungen zu erwarten, hatten doch auch diese die NS-Zeit ganz unterschiedlich er- und überlebt: als Schüler/innen im Elternhaus (und erst später in der Abrechnung mit der älteren Generation „unbeheimatet“ werdend, Bsp. Ingeborg Bachmann), als Gefährdete, Verfolgte oder Versteckte (Bsp. Ilse Aichinger), als Kriegsheimkehrer (Bsp. Wolfgang Borchert). „Warum schweigt die junge Generation?“, fragte im 2. Heft der Zs. Der Ruf vom 1. 9. 1946 Hans Werner Richter; war sie „eine wahrhaft ‘verlorene’ Generation“ und erst zu denazifizieren? (vgl. Vormweg 1981, 19 f.). Als erste äußerten sich jedenfalls diejenigen, die schon vor dem Nationalsozialismus geschrieben hatten, doch standen sich die Emigranten, die ins Exil gegangen waren, und die im Land gebliebenen Vertreter der sog. „Inneren Emigration“ (zu denen E. Langgässer zu rechnen ist) großenteils verständnislos und rasch auch polemisch gegen-

3120

XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

über. (Vgl. zu den Kontroversen um Thomas Mann 1945⫺47 sowie ähnlichen Auseinandersetzungen in Österreich Weninger 1998, Schreckenberger 1998). Doch die Stunde war für den Großteil der im Exil entstandenen Literatur, zumindest im Westen Deutschlands, noch längst nicht gekommen, es fehlte an den äußeren und inneren Bedingungen für ihre Rezeption. Andererseits hatten die im Land Gebliebenen eher „leere Schubladen“ aufzuweisen, in Einzelfällen war ihr Werk im Krieg zerstört worden (Nossack). Trotz aller Differenzen knüpften die Älteren poetologisch meist an ihre früheren Positionen an bzw. schrieben einfach weiter wie vorher. Metaphorisches Vokabular und traditionelle Formen (z. B. in der Lyrik Sonett, Ode etc.) wurden auch für Themen gewählt, die sich Krieg, Zerstörung, Tod und (Juden-)Mord zu stellen versuchten. Einige Beispiele aus Nachkriegsgedichten, die an anderer Stelle ausführlicher besprochen sind, von Bergengruen, Hermlin (vgl. Steger 1987, 128 ff.), Weigel und Horwitz (vgl. Schmidt-Dengler 1995, 28, 37; mit mehr Material Korte 1989, 17 ff.): Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer, ein Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuhn. Ihr riefet den Schergen, ihr winktet dem Späher und meintet noch Gott einen Dienst zu tun. (Werner Bergengruen, Die letzte Epiphanie, 1945, 2. Strophe) Mit Fahnen, die der Wind der Zukunft spliß. Geknebelt mit Gesängen gingen sie Dahin. Jetzt schmilzt ihr Fleisch vom Rattenbiß. Sechs Fuß tief in des Wartens Euphorie, Wenn sich die Regensäulen auf sie lehnen. Der Schwalbensturz allein vergißt sie nie, Die langsam treiben unter den Moränen. (Stefan Hermlin, Terzinen, 1946/47, Schlußstrophen) Im Meer von Blut und Dreck treibt unser Kahn, das langsam sinkt; wo Boden sichtbar wird, ist er wie einst, durchpflügt vom alten Wahn: kleinere Übel, rehabilitiert. (Hans Weigel, An Karl Kraus, 1945/46; 2. Strophe) Im Revier beim Stacheldraht gabs ein kleines Stückchen Wiese fern von Mord und Übeltat, wie ein Rest vom Paradiese. (Walter Horwitz, Im KZ Mauthausen, 1945/46, 1. Strophe)

2.3. Den Jüngeren war dieser Anschluß an überkommene Sprachhaltungen nicht mög-

lich. War Mißtrauen allem gegenüber ihre Grundhaltung (exemplarisch ausgedrückt in Ilse Aichingers Aufruf zum Mißtrauen im berühmten 7. Heft der Zs. Plan vom Juli 1946, das „ausschließlich von jungen Menschen geschrieben“ war), so galt dieses Mißtrauen v. a. der Sprache, und ganz besonders einer „schönen“, d. h. nach ihren Erfahrungen zwangsläufig verlogenen Sprache. (Signifikant ist Borcherts Absage an die Sprache des vorher bewunderten Rilke, vgl. Widmer 1966, 11 f., 91 ff.). Sie suchten nicht nach einer neuen Ästhetik, sondern nach einer „wahren“ Sprache (vgl. Widmer 1966, 9 ff. mit Zitaten von Aichinger, Andersch, Borchert, Schnurre u. a.). Die Distanz zur älteren Generation war in Deutschland zunächst größer als in Österreich. Hier fungierten zurückgekehrte Emigranten wie Hermann Hakel und Hans Weigel sowie Otto Basil, seit 1945 Herausgeber der Zs. Plan, für kurze Zeit als Mentoren der jungen Nachkriegsautoren, ermöglichten ihnen den Zugang zu „einer kritischen Tradition der Moderne“ und ermutigten sie zu eigenen Publikationen (zur Förderung von Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Paul Celan u. a. Stoll 1998, 379 ff.), obgleich ihr eigenes künstlerisches Schaffen eher restaurativ war. Borchert hingegen sagte in seinem Manifest (1947) der Grammatik [d. h. wohl hier: der herkömmlichen literarischen Sprachgestaltung] ab, die Dichter hätten zu verstummen: „Alles, was wir tun können, ist: Addieren, die Summe versammeln, aufzählen, notieren …“ (s. Widmer 1966, 13; zu den Gegenpositionen von Hans Weigel sowie dem ebenfalls im Plan (2, 1947) veröffentlichten, für Österreich bald wegweisenden Kunstkonzept von Heimito von Doderer im Vergleich zu Borchert vgl. Schmidt-Dengler 1995, 27 ff.). Der von Borchert u. a. postulierte nüchterne lapidare Alltagsstil erweist sich tatsächlich als wichtigste Manifestation der ‘neuen Sprache’, obgleich auch die Orientierung an der Umgangssprache ihre literarischen Vorläufer hatte. Dies betrifft v. a. die Verwendung verbloser Sätze (schon beliebt im Expressionismus und in früheren realistischen Stilrichtungen), den Einbau von Anakoluthen, die Bevorzugung der Parataxe, und ⫺ als besondere Stilmanier Borcherts ⫺ die sukzessive Präzisierung durch Nachtragsstil wie im Mündlichen (vgl. Widmer 1966, 133 ff. in Anlehnung an erste Baseler Forschungen zur gesprochenen Sprache von H. Zimmermann). Als konsequente Realisierung des La-

200. Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945

pidarstils gilt vielen Günther Eichs Gedicht Inventur (ersch. 1948, vgl. Vormweg 1981, 23 und Steger 1987, 130 f.). Es wurde als Prototyp der ‘Kahlschlagliteratur’ und der gelungenen kritischen ‘Trümmerlyrik’ aus ‘Landser-Optik’ verstanden, doch Korte (1989, 13 f.) verweist auch auf die Mythenbildung seiner Rezeptionsgeschichte und die Verkennung der ironischen Perspektive, die mit dem ‘Kahlschlag-Pathos’ bereits spiele: Neben die Bestandsaufnahme der banalen Gegenstände, deren sich das lyrische Ich als Besitz versichert („Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel, / hier mein Rasierzeug / im Beutel aus Leinen.“), werde karikierend „das literarische Klischee vom nächtlichen Verseschmied“ gesetzt („Die Bleistiftmine / lieb ich am meisten: / Tags schreibt sie mir Verse, / die nachts ich erdacht.“); Eich schütze damit seine Gedichte „vor einem falschen, trügerischen Pathos des Neuanfangs“. (Mit weiteren Beispielen dieser Art ‘Trümmerlyrik’ vgl. ebd., 9 ff. zu Hans Bender, Walter Höllerer u. a.). 2.4. Widmer hat jedoch auch bei den Protagonisten der ‘neuen Sprache’ viele Stilbrüche, d. h. zahlreiche Beispiele einer pathetischen, bilderreichen, von popularisierten expressionistischen und neoromantischen Einflüssen geschwängerten Sprache speziell im Bereich von Wortschatz und Metapher nachgewiesen. Zahllos sind allein Belege aus Borchert a` la schwarzgrünatmend, bleichbäuchig, abgrundverstrickt, kanonendurchzittert, nachtübervoll, schaummäulig, Abendhaar, Blechschrei, Mädchenverlassenheiten (Widmer 1966, 113⫺116). Trotz des Distanzierungsversuchs ist v. a. Rilkes Vorbild bei ihm und anderen außer im Vokabular auch mit Alliteration, Binnenreim, vokalischem Gleichklang auf Schritt und Tritt gegenwärtig (vgl. ebd., 125 ff.). Und auch vor unbewußten „nationalsozialistischen Relikten“ waren die jungen Autoren nicht gefeit, wie Widmer (1966, 29 ff.) an der 1946/47 in München erscheinenden Zs. Der Ruf zeigt. Obgleich Hans Werner Richter noch 1962 im Rückblick den Autoren attestierte: „Ihre Sprache war nüchtern, ihre Aussage klar und kompromißlos“, weist Widmer speziell bei den Herausgebern, Richter und Andersch, u. a. minutiös nach, daß die nebulöse, schwammige Schlagwort-Sprache des ‘Dritten Reichs’ nicht nur allgemein stilistisch nachwirkt, sondern v. a. der Wortschatz noch stark vom Nationalsozialismus beeinflußt ist. Am wenigsten gilt dies für Neubildungen und „ideologisch strapazierte Wörter“ wie völ-

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kisch, Blutsgemeinschaft, die sofort verschwinden; eine „zweite Schicht“ inhaltlich umgewerteter Wörter, die „weniger deutlich auszumachen“ ist, wie auslöschen, entartet, fanatisch, Haß, zusammenschweißen, wird dagegen im Ruf weiterhin verwendet, ebenso wie jene „Wörter, die erst im Nationalsozialismus populär geworden sind“ und dauernd gebraucht wurden, was ihr einziges Erkennungsmerkmal ist: Bewegung, Erlebnis, Kampf, Haltung, etc. (s. zus.fassend ebd., 68 f.). Andererseits stehen die Autoren vielen Wörtern doch mißtrauisch und kritisch gegenüber: „Mut und Stolz haben ihren positiven Klang verloren“, das „Setzen gewisser Vokabeln ⫺ allen voran Held und heldisch ⫺ genügt, um einen Satz abzuwerten“, ebenso religiöse Begriffe, die im pseudoreligiösen Stil der Nazis (z. B. Goebbels’) gern gebraucht wurden (heiliger Kampf, etc.) (ebd., 70, 73). Widmer geht hier in vielem den Begriffs-Untersuchungen von Stötzel (1995 a, 1995 b) und SchmitzBerning (1998) voran, benutzt aber schon Bernings erste Fassung sowie das Wörterbuch des Unmenschen von Sternberger/Storz/Süskind (in der Fassung von 1962). Daß jedoch z. T. unterschiedliche Faschismustheorien, „die die sprachlichen Beobachtungen regulieren“, „konsequenterweise auch zu unterschiedlichen Ergebnissen über das führen, was sprachlich eigentümlich faschistisch und was in der Nachkriegszeit Nachwirkung des Faschismus ist“, hat Dieckmann (1983) hervorgehoben (Zitat ebd., 93). Zum Problem der Analyse der Sprache des Faschismus s. auch Ehlich (1998).

2.5. Trotz der Schwächen der frühen Texte und des raschen Verschwindens dieses neuen Verismus blieb die Intention, die Sprache zu befragen, in der weiteren Entwicklung virulent und erzeugte immer wieder literarische Spannungen (vgl. Vormweg 1981, 24 f.). Um 1950, und schon früher in Österreich, änderte sich diese radikale, in ihrer Ausdrucksfähigkeit zwar noch unsichere, aber für Neues offene Situation. Besonders in Österreich bestimmte eine Phase der Restauration von 1948 bis 1955/56 (s. SchmidtDengler 1995, 50 ff.) das politische und kulturelle Leben, in der zugunsten eines allgemeinen gesellschaftlichen Konsenses nicht nur Politiker der austrofaschistischen Ära, sondern auch „NS-Literaten als angebliche Widerstandskämpfer“ rehabilitiert wurden (vgl. Müller 1990, 57) und sich der Gunst eines konventionellen antimodernen Lesepublikums ebenso wie der Herausgeber der Schullesebücher erfreuten (vgl. ebd., 57, 16 und passim mit Namen wie Bruno Brehm, Josef

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Weinheber, Karl Heinrich Waggerl, Richard Billinger, Mirko Jelusich, Max Mell u. v. a.). Aber auch auf der ‘oberen’ Literaturebene dominierten klassisch-moderne Stilmuster: Heimito von Doderer, der schon vor und während der NS-Zeit geschrieben hatte, galt seit Erscheinen seines Romans Die Strudlhofstiege (1951) als Repräsentant der österr. Literatur schlechthin (vgl. Schmidt-Dengler 1995, 70 ff.); sowohl seine bisweilen manierierte „Imitation österreichischen Kanzleistils“ wie auch „sein wienerisch-salopper Ton“ (M. Schmidt in Fischer 1997, 509 f.) können als individuelle Variation österr. Stiltraditionen gesehen werden. (Aufschlußreich sind auch die Namen der Staatspreisträger, s. Scheichl 1986, 44; allerdings sind auch viele der westdt. Literaturpreise und -preisträger nach 1945 „Wegweiser in die Restauration“, s. Kröll 1982). 2.6. In derselben Zeit debütieren in Österreich jedoch außer Ilse Aichinger weitere Vertreter der jungen Generation, die die literarische Diskussion bis heute beeinflussen: Ingeborg Bachmann und, nur kurz 1947/48 in Wien, aber als dt.schreibender Czernowitzer Jude mit Traditionsbezügen zu Österreich, Paul Celan. Es sind zunächst nicht unbedingt ganz neue Schreibweisen, die sie auszeichnen, eher ihre Sprachqualität, ihr geschärftes Sprachbewußtsein und ihre nachdrücklichen Hinweise „auf die Bedeutung der Erinnerung für das Schreiben in einer so belasteten Sprache wie dem Deutschen“ (Stoll 1998, 380; Braese 1998 a, 8 zählt Bachmann zu den wenigen „großen ‘frühen’ erinnerungspoetologischen Unternehmungen“). Celans 1944/45 entstandenes Gedicht Todesfuge, das eine faszinierende sprachliche, bildliche, rhythmisch-musikalische Eindringlichkeit und kompositorische Stimmigkeit besitzt, wurde für Jahrzehnte das meist zitierte und prekärerweise gerühmte Gedicht über den Holocaust (vgl. Emmerich 1999, 49 ff., 94 f.; Korte 1989, 53 spricht vom Verfall zum „Wiedergutmachungsgedicht“). Celan geriet damit in die heftige Kontroverse, ob eine Verbindung von unmenschlichem Gehalt mit schöner Form statthaft sei. Adorno hatte seine Feststellung, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, 1949 als Kritik an einer Lyrik formuliert, die sich „verklärend und wirklichkeitsfern“ den aktuellen Problemen entzog, ohne daß „die Todeserfahrung der faschistischen Vernichtungslager“ und das Kriegsgrauen „als poe-

tologischer Schock“ in sie eingegangen wären (vgl. Schnell 1993, 248 f.; zur Fortdauer dieser Haltung in den 50er Jahren s. u. 3.1.). Allerdings hat Adorno sein Verdikt gerade wegen Celan teilweise zurückgenommen (vgl. Zuckermann 1998). Die eigentliche Wirkungsgeschichte dieser jungen Autor/inn/en beginnt jedoch erst in den 50er Jahren, und nicht in Österreich, sondern in der Bundesrepublik, nach ihrem Auftreten 1952 vor der Gruppe 47, die von Richter und Andersch nach dem Verbot ihrer Zs. Der Ruf als literarische Vereinigung gegründet worden war und bis 1967 Literatur und literarische Karrieren in Deutschland maßgeblich bestimmte. (Zu heutigen Abrechnungen mit ihren Mythen, einschließlich der Gründungslegende von ‘Stunde Null’ und ‘Trümmerliteratur’, s. Braese 1999). Bachmann und Celan haben sich für ihr zentrales Thema zunächst einer „schönen“ Sprache bedient, in der Tradition der europäischen Moderne, als deren Vollender v. a. Celan manchen galt. Ihre weitere Entwicklung erst zeigte, wie ihnen die Sprache dabei immer mehr zum Problem wurde und das Verstummen ⫺ das 1945 von manchen so wortreich gefordert worden war ⫺ und am Ende der (Frei-)Tod als letzte Konsequenz blieben (vgl. Höller 1999, bes. 134 ff., 161; Emmerich 1999, 95 ff.). 2.7. Nicht erwähnt wurde bislang das Medium Theater. Wie auch bei der Prosa dominierte zunächst der Nachholbedarf an ausländischen modernen Autoren; es gab einen wahren Theaterrausch, v. a. das Theater wurde zur Plattform für neue Ideen (ausführlich Bohn 1993, Folge 1). Zürich war während des Krieges zum Hort der dt.sprachigen Moderne geworden und blieb es noch lange nachdem auch die anderen Bühnen wieder Bedeutung erhielten. (1946 wurde in Zürich Zuckmayers Des Teufels General uraufgeführt, erlebte seinen Siegeszug dann aber drei Jahre später ⫺ mit verändertem Schluß ⫺ in Deutschland). 2.8. Während nur wenige der Exilautoren in den Westen Deutschlands zurückkehrten, gingen viele, einer sozialistischen Utopie folgend, in den sowjetisch besetzten Osten, in der Hoffnung, dort an politische und literarische Traditionen der Weimarer Zeit anknüpfen zu können: Bertolt Brecht, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Anna Seghers u. v. a. (s. Schnell 1993, 75). Sie werden hier nur kurz

200. Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945

erwähnt, da ihre literarischen Arbeiten z. T. schon vor 1945 entstanden sind bzw. nach 1945 in stilistischer Kontinuität weitergeführt wurden. Die Perspektive war humanistischsozialistisch; die Darstellungsformen waren zunächst noch „keineswegs homogen“, wurden aber zunehmend von der Forderung des „sozialistischen Realismus“ eingeebnet (vgl. Barner u. a. 1994, 136 f.). Barner u. a. skizzieren die Entwicklung in der SBZ/DDR so: „Das Zurückdrängen von Ansätzen zu einer eigenständigen Formensprache und der zum Teil willentliche Verzicht auf weiteres Experimentieren zugunsten gesellschaftlicher ‘Brauchbarkeit’ bewirkten ein Steckenbleiben im Konventionellen. Damit kam es Anfang der fünfziger Jahre nicht zu einer Entfaltung künstlerischer Individualitäten, sondern zu ihrer Nivellierung. Wirklich Neues wurde kaum erprobt ⫺ im Gegensatz zu Majakowski etwa, auf den man sich so gern berief“ (ebd., 310).

2.9. Auch andere Werke, v. a. der Erzählprosa, die für die Leser im Westen wichtig wurden und bleibende Beiträge zur dt. Literaturgeschichte darstellen, werden hier nicht behandelt, so Thomas Manns Doktor Faustus (1943⫺47 in den USA entstanden, 1947 in der Schweiz gedruckt), Hermann Brochs Der Tod des Vergil (1937 noch in Österreich begonnen, 1945 in den USA erschienen), Alfred Döblins November 1918 (1937 im Exil begonnen, 1943 beendet, aber erst zwischen 1939 und 1950 bzw. 1978 nur teilweise zum Druck gebracht). Weitere Romane von Langgässer, Kasack, Nossack, Bergengruen, Wiechert, Schneider, Seidel, Le Fort, Schaper, Andersch, Hausmann, Kogon etc. sind bei Barner u. a. (1994, 35 ff.) unter „Beschreiben und Transzendieren“, „Tatsachen und Erinnerungsprosa“, „Bleibendes als Lebenshilfe“ und „Metaphysische Zeitdiagnosen“ besprochen: Besonders die letzte Gruppe spiegelt oft die christliche Haltung der Zeit, die aus dem religiösen Grundgedanken ‘wir sind alle schuldig vor Gott’ ein unterschiedsloses Schuldigsein eingesteht (vgl. Kämper 1998, 316), aber mit ihrem „Hinweis aufs Transzendente und Überzeitliche“ die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte und der persönlichen Schuldfrage „oft weniger begründen als ersparen“ hilft (Barner u. a. 1994, 42). Für die Wiederauffüllung des oft konstatierten ‘geistigen Vakuums’ und für die Anknüpfung an die Vielfalt des sprachlich-stilistisch im 20. Jh. vor der NS-Zeit schon Erreichten sind diese Autor/inn/en unverzichtbar, aber stilgeschichtlich gehören sie eben doch mehr in die

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1. Hälfte, wenn nicht das 1. Viertel des 20. Jhs. (Genauer zur Sprachproblematik der Exilliteratur: Köpke, Art. 199). Den jungen Autoren war die Bewältigung der Großformen von Roman und Drama noch kaum möglich. Aichingers Roman Die größere Hoffnung (1948), vom Remigranten Hans Weigel gefördert, und Borcherts Hörspiel Draußen vor der Tür, 1947 in Hamburg durch Ermutigung und unter Leitung der Remigrantin Ida Ehre für die Bühne inszeniert (Borcherts Tod wurde unmittelbar vor der Uraufführung bekannt), gehören zu den Ausnahmen. Ihre Sprache ist, wie oben beschrieben, noch im Versuchsstadium. Borcherts Stück hatte großen Erfolg, weil sich die Generation der Kriegsheimkehrer damit identifizieren konnte, es gab ihrer Sprachlosigkeit Ausdruck und neue Impulse (vgl. Schnell 1993, 105 f. mit Zeitzeugenkommentaren); die heutige Rezeption betont hingegen mehr die damalige Unfähigkeit der Trennung zwischen Tätern und Opfern („Landser-Ideologie“, vgl. Braese 1998 b, 64).

3.

Restauration und neue Lust am Normenverstoß: die 50er Jahre

„In den fünfziger Jahren zeigte sich eine große Anzahl jüngerer Schriftsteller, die nach dem Krieg zu schreiben begonnen hatten, zunehmend konkurrenzfähig, auch im Vergleich mit dem internationalen literarischen Angebot“ (Vormweg 1981, 25). Walter Jens schildert das 1961 so: „Nach 1950 erst entfaltete sich eine Poesie, deren Sprache deutsch und deren Erbe europäisch war: die in tausend Schulen erzogenen Kinder, Gideund Lorca-Enkel, Brecht- und Pavese-Erben, die Schüler Majakowskis und Kafkas betraten die Bühne, fanden ihre eigene Sprache, eigene Themen und Topen und verwandelten ein Erbe, das sie ⫺ den Kaiserzeit-Griechen vergleichbar ⫺ oft genug von den ausgewanderten Söhnen ihrer Großväter, als Fremde, kennenlernten“ (zit. nach Vormweg 1981, 25).

V.a. das Ende dieses Zitats ist charakteristisch für den mit würdevollen Bildungstönen überhöhten Umgang mit der jüngsten Geschichte in den 50er Jahren.

3.1. Lyrik Das Genre, das nicht nur beim breiten Publikum, sondern auch bei der Verleihung der Literaturpreise der 50er Jahre am erfolgreich-

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

sten war, ist das Naturgedicht. Korte (1989, 30 f.) nennt dies „ein Indiz für das öffentliche Wirken einer Gattung, die einem größeren Lesepublikum nach dem Krieg viele Möglichkeiten zu ästimierender Traditionspflege, erbaulicher Lektüre und moderater Reflexion geboten hat. Vor solchem Hintergrund war die Verleihung des Büchner-Preises im Jahr 1951 an Gottfried Benn in der Tat […] der Beginn einer Entwicklung, in der ‘eine restaurative, feinsinnig skeptizistisch unterkellerte Moderne […] zur Signatur erfolgreicher politischer Restauration’ werden konnte“ (mit einem Zitat aus Kröll 1982, 153).

3.1.1. Besonders F. G. Jüngers und Hagelstanges Gedichte nennt Korte Paradigmen einer „Tendenz zu wahrhaft ‘barbarischer’ Ignoranz der Vergangenheit“; eine „Weiheatmosphäre, eine Aura feierlichen Sprechens“ (bevorzugt in der strengen Sonett-Form) versage sich Zivilisation und Geschichte um den Preis der Verdrängung (ebd., 31 f.). Wilhelm Lehmann, mehrfacher Preisträger und Schulebildend, nennt das Gedicht „als schönste Anwendung der Sprache“ zugleich „das beste Desinfektionsmittel gegen ihre Verunreinigung durch die Abwässer unserer Zivilisation“ (ebd., 34). Eine größere Zahl dieser „Naturlyriker“ war schon vor 1945 mit ähnlichen Tönen präsent, was auch den „Spielraum, den ein unpolitischer Neoklassizismus“ sogar während der NS-Zeit bot (Barner u. a. 1994, 205), belegt und für das Andauern dieses unpolitischen Ästhetizismus in den Nachkriegsjahren mitverantwortlich sein mag. 3.1.2. Günther Eichs zahlreiche Gedichtzyklen dieser Jahre gelten jedoch als Beweis, daß es auch anders ging: Er sprenge „traditionelle Sinnkonzepte naturmagischer Schulen auf“, gebe „den Blick frei auf die ‘Gegenwart’“ (Korte 1989, 41), sein Erfolg beruhe v. a. „auf der Verbindung von ‘modernem’ Tonfall und naturlyrischer Programmatik“ (Barner u. a. 1994, 206). 1950 erhielt er als erster den Preis der Gruppe 47. Zu den damit ausgezeichneten Gedichten gehörte Fränkisch-tibetischer Kirschgarten, das vielfach in Vergleich zu Eichs Gedicht Inventur im gerade erst (1949) proklamierten Kahlschlagstil gesetzt wird (vgl. o. 2.): Herrschten dort Alltagsvokabular für Alltagsgegenstände und attributlose Aufzählung in Kurzsatz-Reihungen vor, so werden die Gegenstände nun „so ästhetisiert, daß sie geheimnisvoll und exotisch herausgehoben erscheinen“. Die 16 Verse (noch zu 4

Strophen arrangiert) bilden einen „Satz“ aus syntaktisch und semantisch komplizierten Verschränkungen elliptischer Setzungen (vgl. Steger 1987, 132 f.). ‘Sprachmagie’ anstelle der eben erst begonnenen „Konfrontation mit der Wirklichkeit“ konstatiert Vormweg (1981, 24). Auch bei Karl Krolow, von dem in den 50er Jahren fast jährlich ein Gedichtband erschien, gibt es Ansätze, das Naturgedicht als Zeitgedicht anzulegen und mit Chiffren aus der Naturlyrik „eine politische Landschaft zu konturieren“ (Korte 1989, 43; zur Anpassungsfähigkeit Krolows an seine jeweiligen Vorbilder in der Kriegs- und Nachkriegszeit s. Schäfer 1981, 167 f.). Formal dominieren weiter die bewährten klassischen Formen, sie kommen „dem Bedürfnis nach sinndeutender, gebundener Rede entgegen“ (Barner u. a. 1994, 206). Eine zukunftweisende Verbindung von Naturchiffre und politischer Lesart, mit stark verknappten präzisen Bildern, ohne falsche Melancholie, gelingt Brecht in den Buckower Elegien (1953), die am Ende seiner lyrischen Produktion stehen, aber für das Publikum noch zu früh kommen: wirksam werden sie erst in den 60er Jahren. Dann wird an Gedichten wie Tannen (titelgleich mit einem Gedicht des damals mehr goutierten Oskar Loerke, vgl. Riha 1971, 176 f.) die „Taktik lakonischen Andeutens und Aussparens“ als „Amalgam kritischer Erkenntnis und intellektueller (Selbst-)Reflexion“ gerühmt werden (Korte 1989, 44): In der Frühe Sind die Tannen kupfern. So sah ich sie Vor einem halben Jahrhundert Vor zwei Weltkriegen Mit jungen Augen.

3.1.3. Ins Zentrum der zeitgenössischen Aufmerksamkeit gerät zunächst ein anderer Autor: Gottfried Benn (1886⫺1956). Schon als expressionistischer Dichter vor 1933 berühmt, fand er wegen seines anfänglichen Eintretens für den Nationalsozialismus zunächst wenig Beachtung, als er nach 12-jähriger Pause wieder zu publizieren begann. Seit den späten 40er Jahren änderte sich dies jedoch schlagartig. Der 1948 in Zürich erschienene Zyklus Statische Gedichte war zwischen 1937 und 1947 geschrieben. Das Titelgedicht von 1948 ist aufschlußreich für Benns Selbstpositionierung:

200. Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945 Entwicklungsfremdheit ist die Tiefe des Weisen, Kinder und Kindeskinder beunruhigen ihn nicht, dringen nicht in ihn ein. Richtungen vertreten, Handeln, Zu- und Abreisen ist das Zeichen einer Welt, die nicht klar sieht. Vor meinem Fenster ⫺ sagt der Weise ⫺ liegt ein Tal, darin sammeln sich die Schatten, zwei Pappeln säumen einen Weg, du weißt ⫺ wohin. Perspektivismus ist ein anderes Wort für seine Statik: Linien anlegen, sie weiterführen nach Rankengesetz ⫺ Ranken sprühen ⫺, auch Schwärme, Krähen, auswerfen in Winterrot von Frühhimmeln, dann sinken lassen ⫺ du weißt ⫺ für wen.

Steger (1987, 136) hebt als besondere Charakteristika des Sprachstils von Benn hervor, daß er durch Nominalstil, Verneinung, Aussparung von Handlungsverben und seine Metaphern und Bilder „die inhaltlich thematisierte Reduktion von Geschichtlichkeit und Entwicklung auch sprachlich als ‘Sprachstatik’ sichtbar macht“. Mit der Absage an das ‘Richtungen vertreten’ als Zeichen „einer Welt, / die nicht klar sieht“, sowie dem Ausdruck des Dualismus von Kunst und Leben, Kunst als Einsamkeit und der Umspielung des Todesgedankens in vielen seiner Gedichte traf Benn genau das vom Existenzialismus beeinflußte Lebensgefühl der jungen Generation (vgl. Schnell 1993, 249 ff., Barner u. a. 1994, 216). Sein Marburger Vortrag Probleme der Lyrik von 1951, in dem er der Ausdrucksdichtung absagte, wurde zur ars poetica der jungen Lyriker (so Bender 1955 in der berühmten Anthologie „Mein Gedicht ist mein Messer“; vgl. Korte 1989, 62). Benn plädiert darin für „das absolute Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten“ (zit. nach Barner u. a. 1994, 215). Dabei beruft er sich auf die Tradition der „neuen Lyrik“, die (lange zuvor) in Frankreich mit Mallarme´ und Vale´ry begann. Benn hat ⫺ nach Weinrich (1968, 37 f.) ⫺ diese Anregungen „mit besonderer Konse-

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quenz aufgegriffen“ und „in die Zonen wacher Bewußtheit und wissenschaftlicher Methodik überführt“. Sein Verfahren sei „nicht mehr als irrationale Sprachmagie zu verstehen“, vielmehr beschreibe er „Wirkungsweisen der Wörter“; sein Gedicht sei „ein Laboratorium für Worte“. Dieses Bekenntnis zur ‘reinen Form’ ersparte ihm (wie auch manchen seiner Anhänger) eine explizite Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit. Die durch ihn angeregte linguistische Reflexion ist allerdings in ihrer Wirkung kaum zu überschätzen. (Schnell 1993, 249 zitiert aus der Diss. von Dieter Wellershoff über Benn von 1958: „Es gibt wohl kaum einen jungen deutschen Lyriker, der, so eigenartig und unverwechselbar seine Sprache sein mag, nicht von Benn beeinflußt worden ist“). Geschätzt wurden die Vielfältigkeit seiner Gedichte „in Ton und Machart“, die gelegentlichen „experimentelle[n] Gesten“ und ⫺ dauerhafter als seine pathetischen Gedichte ⫺ die als „salopp mit der Slangmasche, die ich so liebe“ (Benn) hingeschriebenen Verse, ferner die Kühnheit der Reime und das „ganz und gar ungewöhnliche[.] Sprachmaterial“ (Barner u. a. 1994, 216 f.; s. auch Meister 1983). 3.1.4. Unter das Stichwort ‘magische Poetik’ und, häufiger noch, ‘hermetische Lyrik’ wurden gelegentlich auch die Gedichte Paul Celans gefaßt, die von 1948 an (s. o. 2.6.) bis zu seinem Freitod in Paris 1970 erschienen. Poesia ermetica war um 1930 zunächst in Italien für die Lyrik Ungarettis verwendet worden, der seinerseits Anregungen des frz. Symbolismus aufgegriffen hatte. Zur hermetischen Lyrik ⫺ für manche Chiffre der modernen Dichtung schlechthin ⫺ zählte man hauptsächlich Celan, aber auch ⫺ zumindest tendenziell ⫺ Nelly Sachs, Rose Ausländer, Ernst Meister, Johannes Poethen, Marie Luise Kaschnitz und Ingeborg Bachmann. „Nach 1945 setzt das hermetische Gedicht nicht einfach Traditionen fort, sondern beginnt Erfahrungen faschistischer Herrschaftsformen mitzureflektieren, wie es im Kontext anderer, zur gleichen Zeit entstandener Lyrik höchst ungewöhnlich ist. Gerade die hermetische Tendenz erhält ihre aktuelle Begründung aus dem Konnex von Sprache und Herrschaft, sprachlich sich manifestierender Gewalt und politischer Barbarei. Das Experimentieren im hermetischen Gedicht erfährt so eine Brisanz, die über eine bloß restituierte AvantgardeNachfolge hinausführt. […] Hermetische Lyrik ist Einspruch gegen den instrumentellen Gebrauch der Sprache, daher keineswegs eine Variante ästhetizistischer, ins eigene Experiment versunkener Dich-

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tung. Sie konkretisiert ihren Einspruch nicht in Motiv- und Themenkreisen, sondern im artistischen Arbeitsprozeß an der Sprache selbst. […] Die referentielle Bedeutung des poetischen Wortes wird stark reduziert […]. Von der irritierenden Klangfigur bis zur syntaktischen Auflösung von Versen, von sprachlichen Lakonismen bis zur absoluten, ihren Bildinhalt transzendierenden Metapher reicht das Repertoire hermetischer Lyrik, wenn sie ihren Widerstand gegen Epigonentum und Sprachmißbrauch ästhetisch formiert“ (Korte 1989, 47 f.).

Der häufigen Behauptung, Celans Gedichte hätten nur eine „minimale Verbreitung“ gefunden, da ihre Hermetik das „Einverständnis mit dem Leser aufgekündigt“ hätte, wurde zurecht widersprochen (Schäfer 1981, 172). Die zunehmende sprachliche Verknappung und die „der Eindeutigkeit sich verweigernde[.] Metaphorik“, die „eine hermetisch in sich geschlossene Sphäre der Mehrdeutigkeit“ erzeugen, dürfte auch Reaktion auf die Vereinnahmung seines Gedichts Todesfuge gewesen sein (s. Schnell 1993, 258). So erklärte Celan selbst, seiner Sprache gehe es, „bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision. Sie verklärt nichts, sie ‘poetisiert’ nicht, sie nennt und setzt, sie versucht, den Bereich des Gegebenen und des Möglichen auszumessen“ (Bremer Rede 1958). In Celans Werk werden heute meist drei Phasen unterschieden, Weinrich (1968, 39) hatte „den seltsamen Eindruck“, daß er darin „ein Jahrhundert europäischer Lyrik“ resümiere. Er hat zwar schon zu Beginn, als formale Konsequenz aus seinen Themen, Reim und Regelmäßigkeit der Zeilen aufgegeben, doch dominierten in den frühen Gedichten noch daktylische und trochäische Langverse („Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken“). Im Band Sprachgitter (1959) und den späteren Gedichten sind die Verse dann oft lakonisch kurz. Semantische Reflexionen werden zu Formen (lebens)geschichtlichen Eingedenkens (vgl. die Schlußverse aus Sommerbericht: „Wieder Begegnungen mit / vereinzelten Worten wie: / Steinschlag, Hartgräser, Zeit“). Celan hatte in der Bremer Rede (1958) betont, daß das Gedicht nicht zeitlos sei: es gehe durch die Zeit hindurch, „nicht über sie hinweg“. In seinem Fall komme es von der Wirklichkeit seiner Kindheit und Jugend [in der Bukowina] her, sei durch „tausend Finsternisse“, Geschehen, für das es keine Worte gibt [Lager, Ermordung seiner

Eltern], hindurchgegangen und „angereichert“ von all dem wieder zutage getreten, um „wirklichkeitswund“ eine neue Wirklichkeit zu entwerfen (Celan 1983, 186). Die späteren Gedichte schienen manchen Interpreten weniger welthaltig zu sein, da persönliche Informationen zunehmend verschlüsselt werden (vgl. Steger 1987, 133 f. zu Schibboleth). Fragwürdig, aber typisch für die zeitgenössische Rezeption, sind Deutungen wie die Weinrichs (1968, 39), der behauptete, die Gedichte „können nicht welthaltig sein, weil sie worthaltig sein wollen. Das eben meint der Titel ‘Sprachgitter’ “, der Autor verfange sich „im Netz, im Gitter, im Käfig der Worte. Worte aber sind machtlos. […] Paul Celan erfährt die Ohnmacht der Worte. Was Celan findet, sind Worthaufen, Wortsand, Wortaufschüttungen“. Derartige Aussagen löschen Celans Poetik des Eingedenkens und der künstlerischen Verfremdung durch Abstandnehmen aus, werden der Befragung der Wörter, die sich in Celans ‘Sprachgitter’ verfangen haben, nicht gerecht (H. Höller).

Emmerich (1999) stellt in der Einleitung seines Celan-Buchs „… seiner Daten eingedenk“ dar, wie sehr Celan durch solche Mißverständnisse irritiert war („jedes Wort ist mit direktem Wirklichkeitsbezug geschrieben“, Celan 1968, zit. ebd., 11): „Bei kaum einem anderen Autor, gleich welcher Epoche oder Sprache, sind Erlebtes und Geschriebenes so miteinander verhakt wie bei diesem“, doch sei das Erlebte wiederum nie nur privat, sondern immer vor dem Horizont der Shoah zu lesen. Gleichzeitig werde „dieses Erlebte in einen rätselhaften, nur ‘entfernt’ verständlichen Text umgeschrieben“ (ebd., 8, 16). Unbestritten ist jedoch, daß Celan die „Schwierigkeiten der Wortwahl“, den „wacheren Sinn für die Ellipse“ als Zeichen einer starken „Neigung“ des heutigen Gedichts „zum Verstummen“ gesehen hat (so in seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises 1960 Meridian (Celan 1986, 197) ⫺ nach Korte 1989, 91 eines der wenigen poetologischen Manifeste von Rang nach 1945). Daß Deutsch zwar die Sprache von Celans Mutter war und trotz aller psychischen Belastungen seine Dichtersprache blieb, er aber ⫺ von Jugend an vielsprachig ⫺ nach dem Krieg nicht im dt.sprachigen Raum lebte, mag die zunehmende Sprachbefragung und Abstraktion seit den 50er Jahren befördert haben. Trotz aller Individualität des Celanschen Werks manifestiert sich hierin auch eine exemplarische Entwicklung der dt. Literatursprache.

200. Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945

3.1.5. Ob der Beitrag von Ingeborg Bachmanns Lyrik zur dt. Literatursprache auf dem Hintergrund der bisherigen Entwicklungsskizze als besonders innovativ einzustufen ist, bleibt zweifelhaft. Dennoch ist ihr großer Erfolg als Lyrikerin in den 50er Jahren (die in ihrem Werk das „lyrische Jahrzehnt“ darstellen werden, vgl. Höller 1999, 81), markiert durch die Gedichtbände Die gestundete Zeit (1953 ⫺ Preis der Gruppe 47 im gleichen Jahr) und Anrufung des Großen Bären (1956) sowie ihre Frankfurter PoetikVorlesungen 1959/60, ohne Zweifel nicht nur einer vorübergehenden Beeindruckung zu verdanken. Obgleich von nun an bis zu ihrem Tod 1973 ein Medienstar der Literaturszene, kommt es zwischen Leben, Werk und Rezeption zu seltsamen Gegenläufigkeiten: Die zeitgenössische Kritik möchte sie auf die gerühmte frühe Lyrik festlegen. Ihr Debüt entspricht dem Zeitgeschmack der poetischen Moderne mit Traditionsbezug perfekt: Höchst souveräner Umgang „mit dem freien Vers, mit rhetorischen Fügungen“, „mythische Anleihen“, Eintauchen „in eine undeutlich ungleichzeitige Bilderwelt“ (z. T. Rekurs auf altbekannte Topoi), „um sich dann metaphorische Verwandlungen von gewisser Kühnheit zu leisten (‘die Wimper von weißer Gischt’, das ‘Brot des Traumes’ brechen […])“: Zitate aus Barner u. a. (1994, 242), die darauf hinweisen, daß diese Lyrik Bachmanns der von Wilhelm Lehmann viel näher ist, als es die Forschungsliteratur wahrhaben möchte. Oder anders ausgedrückt (nach Schnell 1993, 262): „deren Bilder gebrochen wirkten, ohne deshalb auf sprachliche Schönheit verzichten zu müssen, deren Mittel Erneuerung leisteten, ohne zu provozieren. Ingeborg Bachmann, so schien es in den 50er Jahren, konnte man genießen, im Glauben, auf der Höhe der Zeit zu sein, aber ohne Gefährdungen“ (vgl. auch Riha 1971, 163 ff.). Korte (1989, 56 f.) analysiert die Eingangsstrophe des Titelgedichts Die gestundete Zeit als „Beispiel für jene bei Literaturkritik und Leserschaft gleichermaßen beliebte Ästhetik des Unbehagens“: Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Bald mußt auch du den Schuh schnüren und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. Denn die Eingeweide der Fische sind kalt geworden im Wind. […]

Die Katastrophenahnung werde in schillernden Bilderketten variiert und damit im Vagen

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belassen. Auch der Gestus der Sprachskepsis werde im ersten Gedichtband allenfalls anvisiert. Im zweiten Band finden Themen der Angst, des Todes schon kompromißloser Ausdruck, was die Kritik aber nicht wahrhaben wollte. Daß der promovierten Sprachphilosophin ihre eigenen sprachästhetischen Meisterleistungen im Ausdruck des Leidens an der Welt nicht mehr geheuer waren und sie sich andere Zugänge zur Kritik von Gegenwarts- und Vergangenheitsbehandlung durch Sprache suchte, wurde in seinen vollen Dimensionen erst von der jüngeren Forschung herausgearbeitet und erschloß sich erst schrittweise. Das Gedicht Delikatessen von 1968 kann man als „Absage an die als lyrisches Kunstgewerbe begriffene[n] Preziosität“ der 50er Jahre sehen (so Barner u. a. 1994, 243), oder vielleicht noch eher an die Erwartungshaltung der Rezipienten, die sie nicht mehr bedienen will: „Soll ich / eine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte?“ Wie sehr sie den Abbruch eines erfolgreichen zugunsten eines sich ins Ungesicherte/Neue vorwagenden Schreibens zur Methode machte, zeigt ihre Antwort auf eine Interviewfrage (1963), ob ihr ihre Lyrik, ihre Hörspiele oder ihre Prosa wichtiger seien: „Die sind mir alle eins, Angriffe und Expeditionen in die eine Richtung, von verschiedenen Seiten aus, mit verschiedenen Mitteln. Notwendig ist mir nur, daß ich in einem für mich richtigen Augenblick Schreiben abbreche und Schreiben woanders aufnehme“ (zit. nach Höller 1999, 107). Die Frankfurter Vorlesungen beweisen ferner, wie bewußt sie diesen Weg auch um den Preis des Nicht-mehr-(bzw. Noch-nicht-)Verstanden-Werdens ging. Sie entwarf eine „Sprach-Utopie, die eine Ethik des Schreibens impliziert und Kunst und Moral nicht voneinander trennt ⫺ Keine neue Welt ohne neue Sprache“ (ebd.; vgl. u. 5.1.1.2.). 3.1.6. Zu einem Befreiungsschlag vom restaurativen Kulturbetrieb mit anderem Resultat hatten zu Beginn der 50er Jahre verschiedene Künstler in Österreich und der Schweiz und kurz darauf auch in Westdeutschland ausgeholt: Seit 1951 formierte sich die ‘Wiener Gruppe’ (mit Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener u. a.), Andreas Okopenko gab eine hektographierte Zs. ihrer Publikationen heraus, 1953 erschien eine acht-punkte-proklamation des poetischen actes, 1956 entstanden in Gemeinschaftsarbeit verschiedene Montagen aus beliebigem

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Sprachmaterial, 1958 wurde Artmanns Dialektgedichte mit ana schwoazzn dinten berühmt und 1959 von der Gruppe mit hosn rosn baa fortgesetzt (letztere aber trotz Doderers Förderung vernichtend rezensiert). Die Gruppe „hatte von der Sprache her einen Anarchismus entwickelt, der nicht nur über sprachliche, sondern auch über gesellschaftlich-moralische Konventionen hinwegschreitet“ (Schmidt-Dengler 1995, 138). Das Experimentieren mit verschiedenen Sprachelementen und Textformen wurde in den 50er Jahren ausdrücklich im Widerspruch gegen eine „Stimmungsdichtung“ im Stile Benns praktiziert: so von dem Schweizer Gomringer, der 1953 seine konstellationen veröffentlichte und von dem (im Dt.) zum ersten Mal der Name ‘Konkrete Poesie’ verwendet wurde. Später wurden damit die verschiedenen experimentellen Richtungen zusammengefaßt, die in den 60er Jahren ihren Höhepunkt erlebten (vgl. o. 1.2. zu Heißenbüttel). Die Bezeichnung ist analog zur Konkreten Malerei und Konkreten Musik gebildet; Gomringer definierte sie 1960 so: „konkret dichten heißt […] bewußt mit sprachlichem material dichten“. Das heißt, „das literarische Werk soll nicht durch ein Abstraktionsverfahren aus der wahrnehmbaren Welt herauspräpariert werden, sondern seine Existenz rein in der Sprache haben. Konkrete Poesie heißt demnach nichts anderes als linguistische Poesie“ (Weinrich 1968, 42). Der Gedichttitel konstellationen ist von Mallarme´ übernommen und soll das Verfahren kennzeichnen, die „Wörter und Zeichen im Text nicht nach den Regeln der konventionellen Grammatik, sondern nach ausschließlich poetischen Abfolgeregeln“ anzuordnen (ebd., 43). Bei den dt. Autoren finden sich ähnlich charakteristische Titel wie Kombinationen, Topographien (Heißenbüttel 1954, 1956), artikulationen (Mon 1959). Europäische Vorläufer dieser Richtung waren Gertrude Stein, Marinetti, die Dadaisten (vgl. Kaempfert, Art. 196, Abschn. 7; ausführlich Roelcke, Art. 198). Weinrich (1968, 43) sieht das Neue der poetischen Technik der 50er Jahre darin, „daß die Destruktion der Syntax nicht mehr vorwiegend negativ, als bloße Negation einer Konvention, gesehen wird, sondern selber positiv als künstlerische Ausdrucksform ergriffen wird“. Spezielle Nähe zur linguistischen Sprachtheorie (mit besonderem Bezug auf Wittgenstein) haben die dt. Autoren, voran Mon und Heißenbüttel und der Kreis um den Semiotiker Bense. Gedichttitel bei Heißenbüttel lau-

ten z. B. Einfache Sätze, Reihen, Politische Grammatik, Einfache grammatische Meditationen. Korte (1989, 76) betont die „durchaus rationalistische, ja positivistische Seite“ dieses Verständnisses von Experiment, das „auf Strukturen und Isomorphien gerichtet war und Tabellen und Zahlenkombinatorik sich zunutze machte“. Gespielt und experimentiert wird nach allen linguistischen Möglichkeiten. Nicht nur die Syntax wird „zertrümmert“, auch das Wort wird in alle Bestandteile (auf Morphem-, Phonem-, Graphemebene) zerlegt, Einzelelemente elidiert, substituiert, permutiert, neu kombiniert und auf semantische Konsequenzen und neue Assoziationen abgeklopft. Die Vielfalt der Richtungen ist groß, sogar akustische und visuelle Experimentierformen werden mit einbezogen (vgl. Roelcke, Art. 198, zu Gomringers berühmtem „Gedicht“ schweigen, Abb. 198.5). Bei Bense und Heißenbüttel ist der Hang zur wissenschaftlich-kybernetischen, ja maschinell-mathematischen Modellierung des kreativen Moments bestimmend. Die Wiener Gruppe setzte die phonetischen und graphischen Möglichkeiten des Dialekts ein, um „durch neue gegenüberstellungen der worte eine verfremdung und damit eine neuwertung derselben zu erzielen“ (Rühm, zit. nach Schnell 1993, 268); nicht nur für die österr. Literatur waren diese Ansätze bis in die Gegenwart folgenreich. Anderen, wie etwa manchen Sprach-Spielen Gomringers, wird heute manchmal Nähe zu einem „modernistischtechnokratischen Code“, den die Werbung rasch für sich entdeckt hatte, vorgehalten (Schnell 1993, 266; vgl. Eykman 1985, 36 f.). Dies geschieht im Rückblick, z. T. aus der Perspektive der 68er Generation, die einen Großteil dieser Dichtung als l’art pour l’art verwarf. (Schnell läßt sich nicht ganz überzeugen von Gomringers defensiver Behauptung 1972: „Daß die Konkrete Poesie in ihren literarischen Verfahrensweisen ‘sprach- und gesellschaftskritisch ist, kann nur demjenigen entgehen, der zwar alles verändern möchte, im übrigen aber sprache sprache sein läßt’ “; ebd.). 3.1.7. Die kritisch-analytische Funktion dieser Art experimentellen Schreibens ist hingegen im Fall Ernst Jandls im Rückblick auf das Gesamtwerk eher verstärkt hervorgetreten. Jandl, der sich zunächst von der Wiener Gruppe, dann aber auch von den Stuttgarter Vertretern der Konkreten Poesie anregen ließ, blieb langfristig der konsequenteste Ver-

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treter dieser Art von Sprachexperimenten. Allerdings erprobte er die unterschiedlichsten Verfahren in den Gattungen Lyrik, Hörspiel und Drama, später auch wieder einschließlich traditioneller Techniken. Neumann (1982, 25⫺27) nennt sein Werk daher ein Kompendium dessen, „was in heutiger Poesie überhaupt möglich ist“: Jandl sei es paradoxerweise gelungen, mittels des Experiments, „dessen wesentliche Voraussetzung gerade die Verwechselbarkeit des experimentierenden Subjekts ist“, ein unverwechselbarer Dichter zu werden. Den wichtigsten poetologischen Text seines Werkes stellen die Frankfurter Poetik-Vorlesungen Vom Öffnen und Schließen des Mundes (1984/85) dar, die mit einem Gedicht von 1979 beginnen: „um ein gedicht zu machen / habe ich nichts // eine ganze sprache / ein ganzes leben / ein ganzes denken / ein ganzes erinnern // um ein gedicht zu machen / habe ich nichts //“. Zu dem Zeitpunkt war Jandl auf der Höhe seines Ruhms, längst Schulbuchautor; die Vorlesungen wurden begeistert aufgenommen. Als er jedoch seine ersten „Sprechgedichte“ schrieb ⫺ zunächst von Rühm 1952 inspiriert (und wie dieser von Hugo Ball, Kurt Schwitters, Gertrude Stein) ⫺, die er in der ersten Vorlesung erläutert, fand er jahrelang kaum Resonanz in Österreich, bis er schließlich durch Vermittlung dt. Kollegen 1966 seinen Gedichtband Laut und Luise publizieren konnte und kurz darauf seine erste Sprechplatte, die zum Erfolg wesentlich mit beitrug. In dieser und noch in späteren Sammlungen finden sich Gedichte, die bis 1956 bzw. 1952 zurückgehen und Jandls materialorientiert-experimentelle Phase dokumentieren, in der er auf allen Sprachebenen experimentiert (vgl. systematisch Ernst 1994). Bei schtzngrmm evozieren Phonemauslassungen den Eindruck eines Maschinengewehrfeuers; das Gedicht lichtung entpuppt sich durch Phonemvertauschung als oberflächlich spielerische, aber dadurch umso wirksamere politische Anzüglichkeit: „manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht / velwechsern. / werch ein illtum!“. fortschreitende räude unterwirft die Anfangsworte des Johannes-Evangeliums „einer technischen Verfremdungsprozedur“: Es beginnt mit Voranstellung eines vor die vokalisch anlautenden Wörter: „him hanfang war das wort hund das wort war bei / gott […] / […] hund hat hunter huns gewohnt“, darauf folgen Zusätze und Substitutionen der Konsonanten mit und (blei flott), dann mit (schat schlunter schluns scheschlohnt), Ende: „schllls⫺c⫺h /

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flottsch“. Alles wird hier „als bereits kaputtgegangen vorausgesetzt und von Jandls Sprachmaschine durchgehackt und ausgespuckt […], ein Text von subjektlosem Wahnsinn, voller Methode. Was ist unserer Kultur, unserem Glauben widerfahren, daß solche Texte möglich wurden: ‘fortschreitende räude’. […] Der von Heissenbüttel geforderte ‘radikale sprachliche Bezug’ vernichtet hier schließlich die Sprache selbst, und indem sie zunichte geht, ist zugleich ein großer Gedanke erloschen“ (Neumann 1982, 32 f.).

Als „artifizielle, bewußt angesetzte Experimente mit aktuellen Zuständen unserer Sprache, Ausforschung des Unerträglichen im Banalen“, charakterisiert Franz Mon (1982, 33) Jandls Texte, die auch in späteren Jahren immer wieder und immer nachdrücklicher den „Wahnsinn“ und die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Krieges thematisieren und solch sprachlichen Exerzitien unterziehen (z. B. das Gedicht wien: heldenplatz (1962), das zusammen mit Friederike Mayröcker verfaßte Hörspiel Fünf Mann Menschen (1970) oder das Bühnenstück die humanisten (1976). (Vgl. u. 5.3.4.; ausführlich zu Jandl und zur Konkreten Dichtung SchmitzEmans 1997). 3.1.8. Verschiedene der in den 50er Jahren entworfenen poetischen Konzepte erfahren in den 60er (und 70er) Jahren Fortsetzung, Höhepunkt und eigentliche Publikumswirksamkeit; da ihr innovativer Charakter in den 50er Jahren herausgestellt werden sollte, werden sie dort nur noch kurz erwähnt werden. Nach Homann (1999), die drei Gedichte Celans exemplarisch für ihre „Theorie der modernen Lyrik“ analysiert (Todesfuge für die frühe und Sprachgitter und Anabasis für die mittlere Schaffenszeit, ebd., 523 ff.), deckt Lyrik „den Bedarf der Gesellschaft an permanenter Generierung von Innovation avantgardistisch“ (ebd., 733): Die Gesellschaft bilde Freiräume zur Erprobung von Innovationen aus, „die auf Wechsel der Verfassung der Gesellschaft zielen“, die sie „allein Literatur und Kunst“ zubillige ⫺ „und darunter speziell der Lyrik“; Lyrik werde somit (heuristisch begriffen) zum „Paradigma der Moderne“, verstanden als Angebot, „mit den Bedingungen konstitutioneller Prozesse zu experimentieren“ (ebd., 740 f.). ⫺ Unter diesem Gesichtspunkt ist festzuhalten, daß die bezüglich der Rezeptionsgewohnheiten überwiegend konventionellen 50er Jahre doch gerade auf dem Gebiet der Lyrik eine Zeit avantgardistischer Experimente sind, die, zunächst von der Öffentlich-

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keit weitgehend weder beachtet noch attakkiert, die poetischen und gesellschaftlichen Weichen für die Folgejahre stellen. „Krise ohne Wandel“ bzw. „Zäsur ohne Folgen“ (Titelzitate von Hüppauf 1981 und Müller 1990) charakterisieren daher zwar weite Bereiche der mainstream-Kultur bis weit in die 50er Jahre, doch Wandel und Langzeit-Folgen bahnen sich an. 3.2. Hörspiel und Drama Unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen Innovation werden die anderen literarischen Gattungen in den 50er Jahren oft kurz abgetan; die neuen Konzepte kommen noch überwiegend über die Rezeption der ausländischen (zeitgenössischen und weiter zurückliegenden) Avantgarde. 3.2.1. Das Hörspiel wird in diesen Jahren von vielen namhaften Autoren erprobt. Ansätze zur Innovation finden sich ebenso wie brillante Variationen eher „traditioneller“ Formen ⫺ hiermit in gewissem Sinne der Lyrik vergleichbar, sind es doch auch nicht zufällig großenteils dieselben Autoren: Gegen Vorwürfe der 60er Jahre, das Hörspiel der 50er Jahre habe überwiegend noch „eine enge Bindung an traditionelles Literatur- und Theaterverständnis“ und ein „oft noch ungebrochenes Verhältnis zu der heilen Welt der Sprache“ (Schöning, zit. bei Barner u. a. 1994, 244), werden die Hörspiele von Eich, Bachmann, Hildesheimer, Aichinger u. v. a. heute „durchaus als sprachkritisch“ gewürdigt (ebd., 245; 247 ff. mit exemplarischer Besprechung der Hörspiele Günter Eichs „als Meisterwerke der Gattung“): Lapidar verknappte Dialoge in den vom Existentialismus geprägten Stücken Eichs oder den Parabeln von Frisch, Dürrenmatt, Andersch, die Darstellung des Mißlingens „von Liebes- und Kommunikationsversuchen“ bei Bachmann, „komödiantisch-pointierte bis absurd-heitere Konversationsvirtuosität“ bei Hildesheimer für die zentrale Thematik, daß die Existenz des Menschen gefährdet, verstört, beängstigend ist“, sicherten vielen dieser Werke bleibenden Erfolg (ebd., 258 f.). Allerdings wurden die technischen Möglichkeiten des Mediums Rundfunk voll erst von jenen Autoren genutzt, die sich „poetologisch an der experimentellen Arbeit mit Sprachmaterial“ orientierten, wie Heißenbüttel, Mon, Harig, Rühm, Jandl, Mayröcker u. a. (Schnell 1993, 273).

Diese leiteten zu Beginn der 60er Jahre eine Entwicklung ein, „die das Unbehagen an der traditionellen Formensprache des Genres umsetzte in eine äußerste Konzentration auf die akustischen Möglichkeiten des Mediums […]. Dieses ‘Neue Hörspiel’ […] experimentierte mit Stereophonie, aufwendigen Schnitt-, Misch- und Montageformen“ und überschritt „traditionelle Grenzziehungen ⫺ zwischen Musik und Poesie, Wort und Ton, Sprache und Geräusch“. Doch wurde später wiederum gefordert, daß „der Blick auf Entwicklungen der äußeren, gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht verlorengeht, sondern formschaffend und verändernd in die eigenständige Wirklichkeit des Hörspiels Eingang findet: durch Veränderung von Wahrnehmungsweisen, Zerstörung von Sinnzusammenhängen, Neukonstituierung ästhetischer Realität, durch ‘konstitutive Montage’ (Ernst Bloch)“ (ebd., 272, 274). ⫺ Hier zeigen sich deutlich Parallelen zur Diskussion über die Konkrete Poesie aus der Sicht der späten 60er und 70er Jahre.

3.2.2. Auch das Drama steht, ähnlich dem Hörspiel, unter dem Spannungsbogen vom „Existentialismus zum absurden Theater“, doch kann von seiner Erneuerung, „von einer innovativen dramaturgischen Wirkung auf die Bühnen“ ⫺ anders als gleichzeitig in Frankreich ⫺ keine Rede sein (Schnell 1993, 275, 278). Allerdings sind dt.sprachige Dramatiker nicht absent, mindestens drei von ihnen schreiben Welttheater: Bertolt Brecht (1948 in die DDR gegangen) und die Schweizer Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Aber Brechts Theaterarbeit und Ruhm gehen schon auf die 20er und 30er Jahre zurück, ebenso seine Dramentheorie, auch wenn in den 50er Jahren keine Dramentheorie existiert, „die über die seine hinausgewiesen hätte“, und deren nun einsetzende „zweite, politische Rezeption“ über anderthalb Jahrzehnte von größter Bedeutung sein wird (Schnell 1993, 276 f.). Frisch und Dürrenmatt haben viel von Brechts Epischem Theater gelernt, entwickelten sich jedoch eigenständig ⫺ ebenso produktiv wie erfolgreich (Barner u. a. 1994, 260: „Parabeltheater aus der Schweizer Loge“). V. a. Dürrenmatts Erfolgsstücke gehören zur Hälfte in die 50er Jahre (und auch danach ändern sich Dramaturgie und Sprache kaum). An ihnen läßt sich Exemplarisches für die Dialoggestaltung zeigen, die seine Stücke unverwechselbar charakterisiert, aber ähnlich bei vielen Zeitgenossen (auch in Dialogen epischer Werke) zu finden ist. Ihr häufig knapper, schnoddrig bis zackig wirkender Stil wurde damals als besonders „alltagssprachlich“ (miß)verstanden (und gern in Lehrwerken als Beispiel für gespro-

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chenes Deutsch zitiert). Der charakteristische Jargon entsteht aus einer Verbindung von lexikalisch als „salopp“ bis „vulgär“ einzustufenden Versatzstücken mit einer stark elliptischen Syntax, wird jedoch kaum regionaloder sozialspezifisch variiert. In ihrer sprachlichen Homogenität wirken die stilistischen Mittel stereotyp, die „Machart“ ist quer durch alle Stücke dieselbe. In Ein Engel kommt nach Babylon (1954) unterhalten sich König Nebukadnezar und sein Erzminister: „Wurde er gebüßt? / Vergeblich. / Ausgepeitscht? / Unbarmherzig. / Gefoltert?“, und in derselben Manier im letzten Stück Die Frist (1977) Exzellenz [General Franco] und die Herzogin von Valdopolo: „Die Miliz ⫺ / Entwaffnet. / Die Marine ⫺ / Unter meinem Kommando“.

Doch selbst wenn beim Autor (als Schweizer Dialektsprecher) gewisse Mißverständnisse über hochsprachliche Konversation vorgelegen haben sollten, steht dahinter Methode: In seinen Theater-Schriften und Reden hat Dürrenmatt die (zunehmende) „Verknappung“ seiner Dialogsprache als bewußtes Kunstmittel beschrieben, da der Mensch auf der Bühne notwendig ein stilisierter sei. Dürrenmatts Figuren sind im Text typisiert angelegt, und die schablonenhafte, wiederholbare Sprechweise trägt zu ihrer (programmatischen) Ent-Individualisierung bei (vgl. Betten 1980). Dürrenmatt erwartete allerdings, daß der Schauspieler die Figur wieder „realisiere“ (vgl. Roelcke 1994, 97 f.). ⫺ Vorläufer für diese Art der Dialoggestaltung finden sich im Drama der „offenen Form“ seit Büchner und speziell im Expressionismus (vgl. Betten 1985, 172 ff. unter Hinweis auf W. Sokels Charakterisierung der „Sprachzertrümmerung“), aber natürlich auch in Brechts Verfremdungstheorie. Schenker (1969) hat an der Sprache Max Frischs gezeigt, daß diese Verfremdung elementar schon von der dt.schweizer Sprachsituation herrührt, durch die Transposition der Dialoge ins Hochdt.; das Hochdt. ist in diesem Fall eine ganz von Dichtern vorgeformte Sprache. Der Destillationsprozeß, den Literatur immer darstellt, ereignet sich hier bereits bei der Umsetzung/Codierung/Verschlüsselung von mundartlicher Grunderfahrung in Literatur(sprache). Schenker zeigt an Andorra (1961), daß Frisch „eine Art nicht existierende Umgangssprache“ erfunden habe, ähnlich wie Brecht in Mutter Courage (entst. 1939) sein Augsburgisch (in ähnlichen Kurzformen) als Sprache des Dreißigjährigen Kriegs ausgebe und in Puntila (entst. 1940) für die Finnen sogar eine eigene dt. Ortssprache erfand (ebd., 31 f.). ⫺ Obgleich auch oft stark elliptisch, wirken die Dialoge in Frischs Prosa, z. B. Stiller (1954), weniger stilisiert, was allerdings für Figurenrede im epischen Kontext allgemein gilt (s. Betten 1985b; 1994, 535 ff.).

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3.3. Prosa 3.3.1. Sprachliche Reduktion und „Benutzung der überregionalen Standardsprache in Grammatik und Lexikon auch dort, wo Autoren […] ‘realistisch’ sind und sich mit dem ‘einfachen Alltag’ der ‘einfachen Leute’ beschäftigen“, sind allgemein Kennzeichen der 50er Jahre, auch in der Prosasprache von Autoren wie Heinrich Böll (der 1951 als zweiter Autor den Preis der Gruppe 47 erhielt) und Alfred Andersch. Steger sieht in der unrealistischen Verwendung der Einheitssprache „auch hier die Abgehobenheit von der tatsächlichen Alltagssituation“ (Steger 1987, 133). Ob die Tendenz zur Reduktion als existentialistisches „Zurückgehen auf Grundpositionen, auf Restbestände, … Bestandsaufnahme, Registratur, Rückorientierung“ (so Steger als Zitat von Heißenbüttel) zurückzuführen ist bzw. den Rückgriff auf die Alltagssprache in der unmittelbaren Nachkriegszeit fortsetzt (vgl. o. 2.3. zu Widmer 1966, dessen zahlreiche Beispiele aus der Prosa von Schnurre u. a. ähnliche Stilzüge aufweisen) oder unter dem Einfluß Brechtscher Verfremdungstechnik oder früherer Avantgarde-Richtungen zustandekommen, spielt für die Präferenz dieses Stiles als Zeitphänomen nur eine sekundäre Rolle. 3.3.2. Das Jahr 1952 wird zu einer ersten wirklich als Wende empfundenen Zäsur in der Geschichte der Prosaliteratur durch die Konzentration von „Erzählungen, mit denen Muster einer parabolischen, phantastischen, sprachexperimentellen Kleinform geschaffen wurden“, von Ilse Aichinger, Friedrich Dürrenmatt, Wolfgang Hildesheimer und Peter Weiss (die beiden letzten Emigranten; vgl. näher Barner u. a. 1994, 176 ff.). In den Folgejahren erschien wichtige und erfolgreiche Prosa von Böll, Frisch, Grass, Walser, S. Lenz, Andersch, Nossack u. a., die sich der „Vergangenheitsbewältigung und Gegenwartskritik“ stellte: Der westdt. Roman konstituierte sich in der für dieses Jahrzehnt typischen „Spannung zwischen Traditionalismus und Modernität, innerhalb derer die jüngeren deutschen Schriftsteller den Versuch einer literarischen Positionsbestimmung unternahmen“, überwiegend jedoch „einer sozialkritisch-realistischen Erzähltradition verpflichtet“ waren (Schnell 1993, 284). 3.3.3. Ausnahmen davon bildeten u. a. die drei 1951/53/54 erschienenen, eine Trilogie bildenden Nachkriegsromane von Wolfgang

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Koeppen (auch er war 1934 ins Exil gegangen), die nicht nur thematisch wegen ihrer scharfsichtigen Zeitkritik, sondern auch wegen ihrer Erzähltechnik (in der Tradition von Joyce, Dos Passos, Döblin) avantgardistisch waren. Dies gilt besonders für den ersten, Tauben im Gras, wo ohne einen vermittelnden Erzähler das Panorama eines Tages aus der Perspektive von fast 30 Figuren „in einer Art filmischer Montagetechnik“ entworfen wird (satzstilistisch auch häufig der „knappen“ Syntax verpflichtet). Im Gegensatz zu Böll u. a. galt Koeppen stets als „schwieriger Autor“. (Zitate Schnell 1993, 285⫺287; zur Modernität, aber oft auch ästhetischen Fragwürdigkeit von Koeppens Stil s. Altenhofer 1983). Noch schwerer taten sich Kritik und Publikum mit Arno Schmidt, der 1949 mit dem Erzählband Leviathan erstmals hervortrat und in den folgenden 30 Jahren in Abgewandtheit vom Literaturbetrieb ein umfangreiches Werk schuf, das von Anfang an gegen alle Traditionen gerichtet war, ob es die Traditionen der Gesellschaft, des Romanerzählens oder der Grammatik waren: „Er ‘verhöhnte alles, was dem Bundesbürger heilig und teuer war, inklusive dem Christentum und der Syntax, der Ordnung der Systeme und der Satzzeichen’ […]. Er gebrauchte dialektale, umgangssprachliche und fachsprachliche Elemente, ‘fehlerhafte’ Syntax, ‘unangemessene’ Stilistik“ (Steger 1987, 139 mit Zitat von Endres), gespickt mit „inflationären Zitaten, gelehrten Anspielungen, Vulgarismen, Blasphemien, Obszönitäten und kombinatorischen Sprachspielen“ (Barner u. a. 1994, 185; vgl. Henne 1993 zur Chronisten- und Zeitkritik-Funktion dieser heterogenen Stilmittel). In Brand’s Haide (1952) verwendete Schmidt erstmals seine verfremdende „Rastertechnik“ in Buchform: Sequenzen „teils registrierender, teils narrativer, teils dialogischer Abschnitte mit jeweils optischer Herausrückung des ersten Satzabschnitts durch Kursivschrift“: „21. 3. 1946: auf britischem Klopapier. Glasgelb lag der gesprungene Mond, es stieß mich auf, unten im violen Dunst (später immer noch). ‘Kaninchen’, sagte ich; ‘ganz einfach: wie die Kaninchen!’. Und sah ihnen nach, ein halbes Dutzend, schultaschenpendelnd durch die kalte Luft, mit Stöckelbeinen. […]“

Barner u. a. (1994, 184), die diesen Textanfang zitieren, vergleichen ihn mit Koeppens „Mosaikverfahren“, von dem sich „diese

Sprachform bereits durch die strikte Ich-Zentrierung und zugleich durch die Negierung jeder epischen Kleinteiligkeit“ unterscheide. Nicht „Mimesis äußerer Ereignisse“ solle sich ereignen, „sondern ‘konforme Abbildung von Gehirnvorgängen’ “. 1960, unmittelbar nach dem Durchbruch von Grass’ Blechtrommel, erschien Schmidts (auf Ablehnung stoßender) Roman KAFF auch Mare Crisium. Barner u. a. stellen die beiden einander gegenüber als „zwei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze des Erzählens“ in geradezu musterhafter Ausprägung: Grass die „Möglichkeiten des traditionellen Romans nochmals voll“ ausschöpfend, doch durchaus mit der Gefährdung, „mitunter ins Epigonale abzurutschen“, und demgegenüber Schmidts „experimentelle und innovative Linie, die freilich auch die Grenze zum Abstrus-Hermetischen überschreiten kann“ (ebd., 390; mit einem Vgl. von Grass und Schmidt 1972 s. Mayer 1989, 142 ff.). Doch damit beginnt ein neuer Abschnitt.

4.

Experimente, Sprachkritik, Elfenbeinturm und Agitprop: die 60er Jahre

4.1. Der Roman Das Jahr 1959, in dem schon rein quantitativ eine Vielzahl dt.sprachiger Romane erschien, wurde durch drei Höhepunkte der Romanliteratur zum „Schlüsseljahr“ für einen neuen literarischen Entwicklungssprung (vgl. Barner u. a. 1994, 368), das „Klassenziel der Weltkultur“, d. h. „wenigstens ästhetisch auf der Höhe der Zeit zu sein“, war erreicht (Schnell 1993, 298 mit ironischem Zitat von Enzensberger). 4.1.1. Heinrich Böll entfaltet in Billard um halbzehn erzählerische Meisterschaft, auch wenn dieser Roman später „als Exempel der Mainstream-Literatur“ bezeichnet und Böll oft (trotz des Nobelpreises 1972) nachgesagt wurde, „nur über ein bescheidenes künstlerisches Darstellungsrepertoire zu verfügen und nicht durch ästhetische Meisterschaft, sondern durch moralische Ehrlichkeit vorbildlich zu sein“ (Barner u. a. 1994, 374). 4.1.2. Günter Grass, der in den 50er Jahren als Lyriker und Dramatiker galt, fand mit seinem ersten Roman Die Blechtrommel international die größte Beachtung, die Literatur aus der Bundesrepublik bis dato zuteil geworden

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war. Unter vielen Gründen für den Erfolg sind die Erzählperspektive und die „geradezu barocke Sprachkraft“ (Schnell 1993, 301) wohl am häufigsten abgehandelt worden ⫺ auch wenn vielleicht mehr als die literarischen Qualitäten das „kulturpolitische[.] Ärgernis“ ausschlaggebend war (Barner u. a. 1994, 379). In eher traditioneller auktorialer Monoperspektive, die jedoch durch den ersten Satz „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt“ zum Freibrief für Parodien aller Art (einschließlich der eigenen Erzählweise) gerät, zieht ein Bilderbogen von Kleinbürgerlichkeit vorbei, der „die politischen, sozialen und moralischen Rituale der Erwachsenenwelt während der Nazizeit und der frühen Nachkriegsjahre aus der verfremdenden Froschperspektive“ des zwergwüchsigen Oskar „mitleidlos demaskiert“ (ebd., 382). Grass’ origineller Bilder- und Sprachschatz wirkte seinerzeit unerhört deftig bis obszön (s. Zimmermann 1983, 324 f.). Die Ausnützung aller Stilebenen ⫺ Dialekte, Umgangssprachen, Jargons gesprochener Sprache, Fach- und Sondersprachen ⫺ (in aktualisierter Form gegenüber den Vorläufern in den 20er Jahren) wird literaturfähig; im Gegensatz zum „überzeitlichen/ahistorischen/ anthropologischen Sprechen der 50er Jahre“ wird der Gegenwartsbezug der Themen durch ihre Verankerung in der „Sprachrealität“ glaubwürdig zum Ausdruck gebracht (vgl. Steger 1987, 140 f.; Grosse 1972 hat allerdings u. a. anhand der Figurenrede der Blechtrommel gezeigt, daß es sich dabei immer um gezielt genutzte „Versatzstücke“ aus der spontan gesprochenen Sprache handelt). 4.1.3. In Komposition und Sprachbehandlung ungewöhnlicher, experimenteller, wurde Uwe Johnsons Debüt mit Mutmaßungen über Jakob demgemäß als bedeutend, aber schwierig eingestuft. Dem 1959 von der DDR in den Westen gegangenen Autor gelingt es, für die „Unsicherheit und verwirrende Vieldeutigkeit der Teilungssituation und ihre Auswirkungen im menschlichen Bereich ein faszinierendes sprachliches Äquivalent zu finden“ (C. Wiedemann in Kunisch 1969, 325). Er zieht damit zugleich entschiedene Konsequenzen aus der wachsenden Schwierigkeit mit dem Erzählen in der Neuzeit: Durch einen kaleidoskopartigen raschen Wechsel zwischen berichtenden, dialogischen und monologischen Abschnitten ist er bemüht, „den durch Standpunkte, Meinungen, Denkklischees, Vorurteile, Ideologien oder andere Zwangsmecha-

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nismen verdeckten Wirklichkeitshorizont nach Kräften freizulegen und in genauer sprachlicher Realisation für den Lesenden einsichtig zu machen“ (Buck 1974, 88, im Anschluß an Baumgarts Frankfurter Vorlesungen Aussichten des Romans 1968). Für die erzählte Welt, in Normaldruck wiedergegeben, wird überwiegend korrekte Standardsprache verwendet, für die besprochene Welt (d. h. v. a. für die inneren Monologe der Außenseiter-Figuren) jedoch ein Montagestil in Kursivdruck, der die mangelnde Übersicht der Sprecher ausdrücken soll. Sprecher- und Erzähltexte vermischen sich ständig, so daß der Duktus der gesprochenen Sprache vorherrscht, wobei die Sprecher durch Abstufungen von Mundart bis Behördenjargon, Fachsimpelei etc. auch individuell charakterisiert werden. Die Interpunktion ist frei, zur Unterstützung bestimmter Stilzüge gestaltet: Wortketten ohne Kommatrennung, die z. B. die Unabgeschlossenheit der Reihe und damit Unschärfe und Subjektivität andeuten, stehen interpunktierten, die Teilkomponenten hervorheben, gegenüber. Gekoppelt damit wird die semantische Möglichkeit, mehrdimensionale Aussagen zu machen: die Umwertung der Wortbedeutungen und neue semantische Verknüpfungen fungieren als Ausdruck der Wahrheitssuche. Schließlich der „Rückfall in die Parataxe“ (Kolb 1970), d. h. Nebeneinanderordnung der Redeteile als beherrschende Kompositionsweise, was oft als Verstoß gegen die Normen der klassischen Syntax wirkt (vgl. die linguistische Analyse von Steger 1967; ferner Eggers 1976, 113 ff.). Auch die weiteren Romane Johnsons experimentieren mit der Erzählperspektive (s. den Titel Das dritte Buch über Achim, 1961): In die synchronen Schichten von Schriftlichem und Mündlichem sind mehrere diachronische eingelagert, das Berichtete hat schon mehrere Zitatstationen durchlaufen und wird in verschiedenen Versionen immer weiter geschichtet; all diese Schichten sind auch auf der sprachlichen Ebene repräsentiert (vgl. Grawe 1974, 63 ff.). 4.1.4. Nicht nur die weiteren Arbeiten dieser drei Autoren, sondern die meisten Romane der 60er Jahre von Andersch, Walser u. a. m. setzen das hier Erreichte voraus, ein Zurück ist nicht mehr möglich. Nennenswerte weitere „Experimente mit der Romanform“ kommen von Hildesheimer, Heißenbüttel (der, analog zu seiner Lyrik, Zitat, Kombinationen, Montage praktiziert), und gegen Ende des Jahr-

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zehnts speziell in der BRD von Autoren, die im Rahmen der Politisierung und gleichzeitigen Problematisierung der (bürgerlichen) Literatur neue Darstellungsformen suchen, z. B. Chotjewitz’ Versuche eines „kollektiven Romans“, aber auch Oswald Wieners „Angriff auf das vergegenständlichte Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit“ in Die Verbesserung von Mitteleuropa (1969), dessen „Wegweiser-Funktion für viele danach entstandene romanexperimentelle Erzählansätze“ schon Handke in einer Rezension 1969 hervorhob und der in seiner Konzeption des Romans als „totale Zeichensprache“ den postmodernen Roman der 80er Jahr vorwegnimmt (s. Barner u. a. 1994, 428⫺434). Doch ebenso unterschiedlich wie die Reaktionen der Schriftsteller auf die politische Lage im eigenen Land und in der Welt sind (Vietnamkrieg, Bau der Berliner Mauer, erste wirtschaftliche Rezession, Große Koalition in der BRD, Autoritätsverlust des „Establishments“, Studentenrevolution, Kulturkrise), so verschieden sind auch ihre literarischen Antworten. Das Nebeneinander vielfältiger poetischer Formen in den einzelnen Gattungen erreicht eine neue Spannbreite. 4.1.5. In Österreich kommt es zu einer literarischen Entwicklung, die ihm den „Status von Modernität“ einbringt (Schmidt-Dengler 1995, 204). Dazu beigetragen haben nicht nur die Wiener Gruppe und Jandls Lyrik (s. o. 3.1.6./7.), die Gründung des Forums Stadtpark in Graz und der Zs. manuskripte für Avantgardetexte, sondern auch Prosa wie die Kurzgeschichten Bachmanns, das Auftreten Peter Handkes in Princeton 1967 mit seiner Kritik an der „Beschreibungsimpotenz“ der Mitglieder der Gruppe 47, sein Roman Hornissen im gleichen Jahr, wodurch er schlagartig bekannt wird, sowie die seit 1963 fast alljährlich erscheinenden Prosaarbeiten Thomas Bernhards. Mit seinem Roman Frost (1963) kam „eine andere Tonlage in die Literatur“, das „Werk irritiert die Erwartungshaltung“: der „Leser sieht sich um die Geschichte, die er erwartet, betrogen“, der Autor baut „jene Simulation, mit der wir ‘realistisch’ zu erzählen meinen“, noch kritischer und besser ab „als jene Texte, die Sprache eben nur als Sprache vorführen, radikaler, eindeutiger“ (SchmidtDengler 1995, 173⫺179). Die viele Leser verwirrenden charakteristischen Sprachmittel Bernhards sind superlativische Übertreibungen, Wiederholungen in bislang kaum literaturfähigem Ausmaß, in sich kreisende end-

lose Monologe mit seitenlangen, hypotaktisch verschachtelten Sätzen im Wechsel mit elliptisch-fragmentarischen Konstruktionen und ein Nominalstil mit auffälligen, stufenweise aus dem Kontext entwickelten Ad-hocKomposita (vgl. Betten 1998 und 1987). Zuckmayer, Handke und Bachmann haben die Faszination beschrieben, mit der sie die monologische Suada des Fürsten Saurau aus der Verstörung (1967) gelesen haben, Bachmann (1978, 363) mit dem Kommentar: „In all den Jahren hat man sich gefragt, wie wird es wohl aussehen, das Neue. Hier ist es, das Neue.“ Trotz der Konstanz der typischen Stilmittel quer durch das Gesamtwerk gibt es werk-, gattungs- und entwicklungsspezifische Techniken: so in den Frühwerken z. T. fragmentarische Syntax zur Darstellung der Zersetzung des analytischen Denkens der Figuren; Ende der 60er Jahre, z. Z. des Höhepunkts der sprachexperimentellen Literatur, Zunahme der grammatischen Experimente, z. B. durch virtuosen Dauereinsatz des Konjunktivs in den weitgehend aus (oft mehrfach gestaffelten) direkten und indirekten Reden bestehenden Texten. Typisch für Bernhard ist seine „mimetische“, bei jedem Werk aus dem Thema heraus entwickelte Sprachbehandlung, d. h. die Themen ⫺ Krankheit, Zerfall, menschliche Obsessionen, psychische Mechanismen und zunehmend der Nationalsozialismus und sein Nachwirken ⫺ entwickeln sich, ohne nennenswerte Handlungselemente, fast ausschließlich aus der Sprachflut von Reden und Gedanken der Figuren. Damit aber steht Bernhard ⫺ wie andere österr. Autoren ⫺ „in der Tradition der philosophischen und literarischen Sprachthematisierung in Österreich, der Untersuchung der Sprache als ‘Lebensform’, wie es bei Wittgenstein heißt“ (Höller 1993, 75). 4.1.6. In der DDR wird das regressive Literaturkonzept des verordneten sozialkritischen Realismus der 50er und 60er Jahre von einigen Autor/inn/en überwunden: Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. (1968) markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der DDR-Literatur, und auch Jurek Beckers Debüt-Roman Jakob der Lügner (1968) bildet „in thematischer wie in ästhetischer Hinsicht“ eine Ausnahme (Schnell 1993, 186). Beide stellen sich der Zeitgeschichte (DDR-Gegenwart und Judenmord) in neuen Reflexions- und Erzähltechniken; das schlägt sich auch in der Sprache nieder, ist aber schwieriger nachzuweisen. Zu Wolf

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hat Luukkainen (1997) eine detaillierte stilsemiotische Analyse des Zusammenhangs zwischen weltanschaulicher und sprachlicher Entwicklung, vom „idealistischen Ton“ des Erstlingswerks zu einer komplizierteren Sprache (v. a. Syntax) mit zunehmender Differenzierung ihres Weltbildes im sozialistischen System (bis später zur Verunsicherung nach der „Wende“) vorgelegt. 4.2. Der Einschnitt „1968“ In der BRD markiert das Jahr 1968 die Proklamierung des „Tod[es] der Literatur“ (durch Enzensberger u. a.). Vorangegangen war eine Politisierung der Literatur; didaktische Züge steigern sich zu „agitatorisch-aktionistischen“, die „voll auf die Sprachgebung“ durchschlagen. „Ziel und Folge“ ist „die Umfunktionierung von literarischer Kommunikation in politische Handlungsanweisung: Literatur als eine ‘Abart von Journalismus’ “ (Steger 1987, 145). Steger bezeichnet die ausgehenden 60er Jahre daher speziell kommunikationsgeschichtlich als einen besonders interessanten Zeitpunkt des 20. Jhs., „wie ihn nur die 20er und die beginnenden 30er Jahre darstellen“ (ebd., 147): „Der Wandel der Kommunikation stellt sich so besonders auch als Gattungswandel dar. Wir sehen das (Wieder-)Hervortreten von Texttypen/Gattungen, die in der Literatur der 50er Jahre keine Rolle gespielt hatten, wohl aber teilweise in den 20er und 30er Jahren. Das ‘lange Gedicht’, der ‘ProtestSong’, das ‘epigrammatische Lehrgedicht’, die ‘Industriereportage’, das ‘Protokoll’ (Bottroper Protokolle 1968) und andere ursprünglich journalistische und institutionelle Textformen sind als Beispiele zu nennen“ (ebd., 146).

Besonders charakteristisch für diese Entwicklung war das Wiederaufkommen der sog. Arbeiterliteratur, die seit dem 19. Jh. schon verschiedene Phasen und Richtungen erlebt hatte (1961 Gründung der Dortmunder Gruppe 61, bewußt als Gegenstück zur Gruppe 47; Ablösung durch den Werkkreis 70). Verschiedene dieser Autoren blieben bekannt (von der Grün, Herburger, Forte, Zahl, Mechtel, Wallraff, Delin, Runge), doch stellte sich sofort die Frage, ob dies Literatur von Arbeitern oder Literatur für Arbeiter sei. Das grundlegende ästhetische Problem war, daß entweder (in durchaus „bürgerlichem“ Literaturverständnis) einem manchmal naiven Realismuskonzept gefolgt wurde, oder aber in Form von Protokollen oder Reportagen absolut „unliterarische“ (z. T. mündliche)

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Textsorten aus der Alltags- und Arbeitswelt an die Stelle von Literatur traten. Symptomatisch ist das hymnische Vorwort Martin Walsers zu Erika Runges Bottroper Protokollen (1968) mit den Behauptungen: „Alle Literatur ist bürgerlich […] Arbeiter kommen in ihr vor wie Gänseblümchen, Ägypter, Sonnenstaub […]. Mehr nicht. Hier, in diesem Buch, kommen sie zu Wort.“ ⫺ Besonders erfolgreich, da stets politisch brisant und von aufsehenerregenden Aktionen begleitet, blieben bis in die 80er Jahre Günter Wallraffs Reportagen.

4.3. Das Drama 4.3.1. Schwierig, da a priori nicht frei von ästhetischem Anspruch, ist die Beurteilung des Dokumentarischen Theaters. Gefördert durch den 1962 aus dem Exil nach Berlin zurückgekehrten Erwin Piscator, der schon in den 20er Jahren Dokumentarisches Theater erprobt hatte, entstanden in der BRD von 1961 bis 1968 „Erfolgreiche Experimente: Zeitstücke mit neuen dramaturgischen Methoden“ (so der Titel von Buddecke/Fuhrmann 1981, 89), die der „Parabeldramaturgie“ ⫺ wie sie zur gleichen Zeit etwa von Dürrenmatt und Frisch gepflegt wurde ⫺ mißtrauten und entweder aus dokumentarischem Material montiert waren „oder sich bei der Konstruktion von Spielhandlungen weitgehend auf überprüfbare historische Fakten stützten“ (ebd., 91). Die Medien-Reportagen über die Prozesse gegen die NS-Verbrecher bestärkten viele Dramatiker darin, sich auch auf dem Theater nur der „Tatsachenbeweise“ zu bedienen. Rolf Hochhuths Stellvertreter (1963 unter Regie von Piscator), Heiner Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964) und Peter Weiss’ Auschwitz-Oratorium Die Ermittlung (1965) hatten große Wirkung, erregten aber auch kontroverse Diskussionen: Das Zurückgreifen auf authentisches Material verbürgt ja noch keineswegs Authentizität, denn der Künstler, der das Material arrangiert, wirkt somit als auswählende, kritische und auch deutende Instanz. So sind diese Stücke vom Inhalt her wichtig, aufsehenerregend, und in der szenischen Komposition oft raffiniert, auch innovativ, doch sprachlich wird auf jegliche ästhetische Differenzqualität zu nichtliterarischen Texten verzichtet, was von Kritikern (zumindest vor 1968) als künstlerische Selbstaufhebung empfunden wurde. (Vgl. dazu die Erörterung von Weiss’ Notizen zum dokumentarischen Theater bei Schnell 1993, 340 ff.). Bei den genannten u. a. Autoren radikalisiert sich

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

die Politisierung in den Folgejahren, so daß agitatorische Absicht und Bühnenform z. T. in Widerspruch geraten. 4.3.2. Die Politisierung von Gesellschaft und Literatur in der zweiten Hälfte der 60er Jahre inspiriert noch weitere Formen des Dramas, das als letzte der großen Gattungen nun wieder internationalen Rang gewinnt. Das sog. Neue oder Kritische Volksstück, das in den 70er Jahren an den Bühnen dominieren wird, geht sprachlich ganz andere Wege, die allerdings auch eine lange Vorgeschichte haben. Martin Sperr (Jagdszenen in Niederbayern, 1966), Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz entwickeln z. T. Brechts Programm von Volkstümlichkeit und Realismus (1938) weiter, worin er für die „Darstellung der Wahrheit, des wirklichen sozialen Getriebes“ einen Stil der Darstellung fordert, der „zugleich artistisch und natürlich ist“ und sich des „naiven Gestus der Volkssprache“ bedient. Allerdings waren sie konkret weniger angeregt von Brechts eigenen Volksstücken als von den Stücken der Brecht-Freundin Marie Luise Fleißer aus den 20er Jahren, die sie wiederentdeckten und aufführten (Pioniere in Ingolstadt, 2. Fassung uraufgeführt von Brecht in Berlin 1929, wieder inszeniert von Fassbinder 1968). Kroetz (1973, 383) über dieses Stück: Fleißer habe als erste die „Möglichkeit des Sprechens“ der „Masse der Unterprivilegierten“ verfolgt. „Die Figuren ihrer Stücke sprechen eine Sprache, die sie nicht sprechen können, und […] sie sind so weit beschädigt, daß sie die Sprache, die sie sprechen könnten, nicht mehr sprechen wollen, weil sie eben teilhaben wollen am ‘Fortschritt’ ⫺ und sei es nur, indem sie blöde Floskeln unverstanden nachplappern.“ (Detaillierter Betten 1985, 200 ff.).

4.3.2.1. Kroetz akzentuiert hier besonders, was für seine eigene dramatische Konzeption ausschlaggebend war (beginnend mit Wildwechsel 1968 und einem guten Dutzend weiterer Stücke allein bis 1972). Nie zuvor waren Figuren auf der Bühne so wortkarg bzw. schweigsam wie bei Kroetz. Häufige Pausen (übernommen von der Technik Ödön von Horva´ths, der ebenfalls ein wichtiges Vorbild des Neuen Volksstücks war) charakterisieren Schaltstellen, an denen die Figuren (und die Zuschauer/Leser) versuchen, Schlüsse aus den kümmerlichen, nicht funktionierenden Dialogresten zu ziehen. Während Horva´ths Kleinbürger sich durchaus beredt eines aus den vorgeformten Floskeln, Zitaten, Allge-

meinplätzen zurechtgezimmerten „Bildungsjargons“ bedienen, der die „Uneigentlichkeit“ ihres Sprechens und ihrer Welterfahrung und damit die Gründe für ihr Scheitern anzeigt, hat Kroetz v. a. in seiner ersten Phase seine gesellschaftlichen Randfiguren bewußt (wie Fleißer) „sprach- und perspektivelos“ bleiben lassen: „Ich wollte eine Theaterkonvention durchbrechen, die unrealistisch ist: Geschwätzigkeit. Das ausgeprägteste Verhalten meiner Figuren liegt im Schweigen; denn ihre Sprache funktioniert nicht“ (Kroetz 1970, vgl. Betten 1985, 226 f.). Allerdings haben schon Burger/v. Matt (1974) in einer exemplarischen Analyse des Erfolgsstücks Oberösterreich (1972) gezeigt, daß der „spontane lese-/höreindruck“, es handle sich „um eine generelle reduktion aller sprachlichen elemente“, trügt: Vielmehr würden einzelne „elemente einer empirisch zu belegenden sprechweise“ gezielt ausgewählt und daraus „ein neuer, fiktiver code“ angefertigt, dessen zwingender Eindruck von Wahrscheinlichkeit nicht zu widerlegen sei, der jedoch „auf eine höchst artifizielle weise unrealistisch“ ist (ebd., 288 f.; genauer Betten 1985, 228). Bsp. aus Oberösterreich: Heinz, der gerade von etwas mehr Wohlstand geträumt hatte, ist unglücklich, daß seine Frau Anni ein Kind erwartet: ANNI HEINZ ANNI HEINZ

An was denkst? An unsere Situation muß man denkn. Was du immer denkst. Nix. Pause. ANNI Wie der Mensch sich verändert. HEINZ Wer? ANNI Du. HEINZ Weil ich mich ned hinausseh.

Dialekt soll hier bewußt nur in der Grammatik anklingen, und die dazu gezielt ausgewählten Mittel veranschaulichen (z. B. durch Rückgriff auf Stereotype und Pseudobegründungen), daß den Menschen keine Sprache zur Verfügung steht, mit der sie ihre Probleme lösen könnten, so daß am Ende oft nur Gewaltlösungen bleiben. So wird eine kunstlose, lapidare, „primitive“ Sprache kunstvoll montiert und, in Verbindung mit einer höchst effektvollen Szenendramaturgie, zum Kunstwerk stilisiert. ⫺ Allerdings ist auch darauf hingewiesen worden, daß besonders Kroetz ⫺ zur Zeit der soziolinguistischen Diskussion um restringierten Code und Sprachbarrieren und der politischen Bemühungen, die „Bildungsreserven“ aus den „unteren“ Schichten zu aktivieren ⫺ ein erstaunliches Vertrauen

200. Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945

in die Möglichkeiten einer „elaborierten“ Sprache zur Lösung zentraler Lebensprobleme durch Kommunikation gesetzt hat. 4.3.2.2. Bei den ebenfalls äußerst erfolgreichen „Volksstücken“ des Österreichers Wolfgang Bauer aus dem Bohe`memilieu (beginnend mit Party for Six, 1967) ist nicht „Sprachnot“ das zentrale Problem, sondern eher ⫺ und damit ganz in der Tradition des 20. Jhs. ⫺ die Unfähigkeit zu wirklicher Kommunikation trotz der Beredsamkeit der (meist verkrachten) Schriftsteller- und Künstlerfiguren. Die Personen sind auf der Suche nach „Lockerheit“, die sie durch sehr alltagssprachlich klingende, elliptische Dialoge realisieren, die in typisch österr. Variation lustvoll zwischen Standardsprache und Dialekt hin und her gleiten. Sie überspielen damit ihre existentiellen Probleme so lange, bis sich diese in Gewalt (Mord, Selbstmord) entladen. Bsp. aus Magic Afternoon (1968): Joe, der am Ende dieses Nachmittags von nervöser Langeweile, soz. im „Spiel“ seine Freundin ersticht, über seine Schreibprobleme: „Na, wenn man was machen würde, dann ganz was lockeres … So, wie wir jetzt reden … sowas vielleicht, das ist angenehm … aber sonst …“

Die Machart dieses mit vielen Mitteln aus der Sprechsprache versehenen Codes ⫺ der aber gezielt der Schaffung der besonderen Atmosphäre dieser Stücke dient (vgl. Betten 1985, 81 ff.) ⫺ setzt nicht nur Horva´th und die früheren „Volksstück“-Konzepte voraus, sondern v. a. die experimentelle Dialektbehandlung der Wiener und der Grazer Gruppe (s. o. 3.1.6.), der Bauer und die jüngere Generation der österr. Avantgarde angehören. 4.3.2.3. Von H. C. Artmann gibt es zwischen 1954 und 1966 rund 30, meist kürzere Theaterstücke, in denen er „neben der modernen Hochsprache, dem Wiener Dialekt und der Wiener Umgangssprache auch die verschiedensten historischen Stile und Sprechweisen […] mit spielerischer Souveränität handhabt“ (Buddecke/Fuhrmann 1981, 189). Zusammen mit den Realismus-Debatten der späten 60er Jahre beeinflußte diese Sprachbehandlung viele weitere Autoren, unter denen im Genre des sozialkritischen Volksstücks Peter Turrini (beginnend mit der Dialektfassung von rozznjogd, 1967) herausragt. (Zu seinem Sprachprogramm von 1971: „Zu ENDE mit den Worten der schönen Kunst, […] der Werbung, […] der Ideologien, […] der Liebe […]“

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vgl. Betten 1985, 307). Auch Turrini wünscht für seine Stücke ⫺ wie fast alle dieser neuen Volksstückautoren ⫺ nur eine dialektale Grundfärbung („mit Anklängen ans Kärntnerische“), u. a. damit die Stücke nicht als Regionalsatiren mißverstanden werden, wie es anfangs mit Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern geschah. Manche der zahlreichen weiteren Volksstückautoren der 70er Jahre (vgl. Betten 1985, 291 ff.), z. B. Urs Widmer oder Fitzgerald Kusz, verlangten daher für ihre Stücke eine Übertragung in die jeweilige Mundart des Aufführungsortes (oder fügten wie Turrini eine hochdt. Fassung bei). Dialekt sollte nicht denunzieren, sondern in einem dem Autor genau bekannten Milieu situieren ⫺ im Kontrast zum überall und nirgends lokalisierbaren Ideendrama. Dialekt hat hier also keine mimetische Funktion, sondern ist Signal für den sozialkritischen Analysebefund. 4.3.3. Ganz anders wiederum ist die Sprachbehandlung des Grazer Gruppenmitglieds Peter Handke. Sein „Sprechstück“ Publikumsbeschimpfung (1965) hat keine Handlung, sondern „zitiert, rhythmisch durchstrukturiert und montiert, die Worte, Sprachhülsen, Kalauer und Phrasen des (Theater-) Alltags“ (Schnell 1993, 332). Diese Art der Transparentmachung von Sprachklischees wird im Theaterstück Kaspar (1968) weitergeführt; es demonstriert, „wie ein Mensch aus der Sprache ‘aufgebaut’ werden“, d. h. vollständig manipuliert werden kann (s. SchmidtDengler 1995, 257). Die „Worte der Sprechstücke zeigen nicht auf die Welt als etwas außerhalb Liegendes, sondern auf die Welt in den Worten selber“ (Handke, zit. bei Schnell ebd.). Dies ist sowohl in Absetzung von Brecht wie auch vom Volks- und Dokumentartheater der 60er Jahre gesagt. Den österr. Neuansätzen ist folgendes gemeinsam: Sie füllen vorgegebene Muster (Drama ebenso wie Roman oder Lyrik) durch eine neue Sprache und lösen gerade dadurch die Rezipienten-Erwartung nicht ein; sie verzichten auf den Anspruch, „durch Kunst eine Wirklichkeit schaffen zu wollen, die der Wirklichkeit strukturgleich wäre“ („Natürlichkeit versus Künstlichkeit“); sie thematisieren die Sprache, die „Sprache zeigt auf sich selbst“; sie nehmen „Positionen der Negativität“ ein (nach Schmidt-Dengler 1995, 237). ⫺ In diesem Zusammenhang ist zumindest darauf hinzuweisen, daß auch bei großen Autoren, die in den 50er Jahren debü-

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

tierten, wie Celan, Bachmann und den Vertretern der Konkreten Poesie, die Konzentration auf die Sprache an sich weiter radikalisiert wird (zu Celan vgl. u. v. a. Birus 1991, Emmerich 1999).

5.

Kritischer Realismus, neue Innerlichkeit und neue Unübersichtlichkeit: die 70er Jahre

Die „Literatur nach dem Tod der Literatur“ (Schmidt-Dengler 1995, 211) wird oft negativ als „Tendenzwende und Stagnation“ (Barner u. a. 1994, 581) oder aber als „Neue Subjektivität“ (u. a. Schnell 1993, 392) zusammengefaßt. Wieder könnte eine Enzensberger-Parole von 1971 als Leitwort dienen: „Warum gebt ihr nicht zu / was mit euch los ist / und was euch gefällt?“ „In den nächsten Jahren gab darauf ein Chor die Antwort: in IchForm und besonders beachtet in der Lyrik. Schlafen, Luft holen und dichten beanspruchen und erhalten ihr Recht zurück“, kontern Mattenklott/Pickerodt (1985, 7). Sie widersprechen jedoch der verbreiteten These, daß die häufig konstatierte „Entpolitisierung“ aus Resignation zur „Einkehr in einen politikfernen Subjektivismus“ geführt habe: Wenn „die Politisierung selbst der Kunst zeitweise ihren guten Sinn darin finden konnte, den allzu selbstgefälligen Umgang vieler Künstler mit der Fiktionalität der Kunst, ihrem monologischen Wesen, ihrer mittelbar chiffrierenden Sprechweise zu stören“, so konnte „daraus aber unmöglich eine Um- und Neulegitimierung aller künftigen ästhetischen Entwicklung von Gnaden der Politik folgen“: Politisierung sei „kein Maßstab für künstlerischen Fortschritt, was immer das sei“ (ebd., 6 f.).

Die „Tendenzwende“ wird literarisch oft auf 1973/74 datiert, und zwar für alle dt.sprachigen Literaturen, obgleich sich hier recht unterschiedliche Entwicklungsprozesse der einzelnen Länder bündeln. Dennoch ist es wohl zutreffend, daß sich in diesem Jahrzehnt vieles in den dt.sprachigen Literaturen parallel entwickelt, neue Annäherungen stattfinden. Dies gilt sowohl für die BRD und Österreich (obwohl gerade die sehr reiche Literatur dieser Jahre Kriterien für die „Feststellung einer österreichischen ‘Besonderheitsidentität’“ lieferte, s. Schmidt-Dengler 1995, 219), als auch für die Entwicklungen in der DDR vor und besonders nach dem Exodus vieler ihrer bedeutenden Autor/inn/en in den Westen nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 (ausführlich Barner u. a. 1994, 691 ff.). Überall ist es die Zeit des Generationenwechsels,

die Vertreter der Vorkriegsgeneration treten weitgehend ab; andererseits kommen einige bedeutende Emigranten erst jetzt, v. a. im Zuge des neuen Interesses an (Auto-)Biographischem, richtig zu Wort und Gehör. Und trotz der neuen Orientierungen des mainstream gibt es in der Avantgarde starke Verklammerungen mit der zweiten Hälfte der 60er Jahre: das gilt für die Themen („Formen der Privatheit, alternative[.] Existenzweisen, auch Innerlichkeit“, Schnell 1993, 393) ebenso wie für ästhetische Neuansätze (ob Handkes Sprachexperimente oder der Neue Realismus), die nun bestimmend werden, während unzeitgemäße Schreibweisen zu Beginn der 70er Jahre (wie Bachmanns Roman Malina, 1971) erst in den 80er Jahren Anerkennung und Wirkung erfahren werden. Hauptcharakteristikum dieses Jahrzehnts ist eine produktive Vielfalt. „Was Historiker der Bundesrepublik kurzsichtig als die spezifische Neuprägung eines politik-feindlichen Subjektivismus zu erkennen meinen, dürfte weit mehr der im wesentlichen erfolgreich verlaufende Versuch sein, der Kunst den gesamten Bereich menschlicher Selbsterschließung wieder zurückzugewinnen, der während des ‘Nationalsozialismus’ und ⫺ aus wahrlich anderen Gründen ⫺ danach ästhetisch tabu war. […] Neben den Kindheits- und Todesforschern, Entdeckern und Theoretikern der Wahnwelten und Neurosen, Expeditionsstrategen in eigene oder ferne Randkulturen sind die literarischen Kollegen der Tradition viel weniger wirksam als die Barbaren: die Alltagsästhetiker und Selberschreiber, die Formverächter und dilettierenden Selbsthelfer. Sie klagen ein, was jetzt literaturfähig werden soll, die Arbeitswelt und das Frauenleben, Knast und Kinderwelt, regionale Dialekte und sexuelle Devianzen“ (Mattenklott/ Pickerodt 1985, 8 f.).

Nur auf die Literatursprache im engeren Sinn, d. h. den Code, die Grammatik, die stilistische Variation bezogen, ließe sich argumentieren, daß ein Teil dieser Texte hier nicht diskutiert werden muß und daß zu den schon erprobten Möglichkeiten zwischen traditionellem und experimentellem/avantgardistischem Schreiben nicht viel grundsätzlich Neues hinzukommt. Doch sind gerade in diesem Jahrzehnt die Fragen, wie es mit der Sprache und den traditionellen Formen weitergehen kann, so zentral und die Antworten so vielfältig, daß sie hier mindestens skizziert werden müssen. 5.1. Prosa 5.1.1. In Österreich hatte sich die „Revolution“ weniger im politischen als im ästhetischen, innerliterarischen Bereich abgespielt,

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statt „Veränderung der Literatur und Veränderung des Literaturbegriffs von außen erfolgte eine Veränderung der Literatur von innen“ (Schmidt-Dengler 1995, 219). Außer der schon seit den 50er Jahren zu beobachtenden Konzentration auf die Sprache bei konsequent experimentellen Autoren wie Artmann und besonders Mayröcker und Jandl, die, von der Lyrik ausgehend, die dort entwickelten Techniken auch in anderen Genres erprobten, war v. a. Handke mit seinen Experimenten in der dramatischen und epischen Form an Grenzen vorgestoßen, die keine Rückkehr zu traditionellen Formen zuzulassen schienen. 5.1.1.1. In seinem Roman Der Hausierer (1967) hatte Handke „gründlich mit dem Erzählen Schluß gemacht“; Sätze wie „Wenn es geschneit hätte, hat es jetzt aufgehört zu schneien“ demonstrieren, „daß nicht erzählt worden ist“ (Schmidt-Dengler 1995, 230 f.). Doch besonders seine zahlreichen Prosaarbeiten der 70er Jahre festigen seine literarische Bedeutung und lassen ihn zur „TrendFigur“ avancieren, beginnend mit dem zum geflügelten Wort gewordenen Titel Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970) sowie Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) und Wunschloses Unglück (1972). Schmidt-Dengler erörtert anhand dieser Texte, wie das Erzählen nach dem Ende des Erzählens (bei Handke) aussieht: Jetzt wird nicht das Modell eines Kriminalromans vorgeführt und zersetzt (wie im Hausierer), sondern „die Story des Kriminalromans ohne dessen Struktur“, doch ohne Kontinuum, ohne „Zusammenhang“, nur in Wahrnehmungsdetails der schizophren werdenden Hauptfigur (Tormann). Handke zersetzt die Geschichten, um zu zeigen, daß der Mensch keine planmäßig abrollende Geschichte habe“. Auch die Erzählung über seine Mutter (Wunschloses Unglück) führt v. a. vor, „wie diese Geschichte doch wiederum keine Geschichte ist, die sich für die Erzählung eignet“. Die Bedeutung dieses zu Beginn einer Flut von (Auto-)Biographien stehenden Textes „liegt nicht in der Lösung des Problems, ‘wie schreibe ich eine Frauenbiographie?’, sondern darin, daß es die Schwierigkeiten, die Aporien des Schreibens aufzeigt“ (ebd., 258⫺265). Handke selbst über sein Verfahren: „Ich vergleiche also den allgemeinen Formelvorrat für die Biographie eines Frauenlebens satzweise mit dem besonderen Leben meiner Mutter; aus den

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Übereinstimmungen und Widersprüchlichkeiten ergibt sich dann die eigentliche Schreibtätigkeit.“

Nach Schmidt-Dengler geht es dabei im Einklang mit Wittgenstein darum, „den Gebrauch der Sprache zu kontrollieren, in möglichst großem Einklang mit dem Gebrauch in der Umgangssprache“ (ebd., 264). 5.1.1.2. Auch Ingeborg Bachmann nimmt trotz „Skepsis an der Mitteilungsfunktion der Sprache“ an, „daß in der Sprache der Literatur noch etwas zu sagen ist, was in der Sprache der Wissenschaft nicht möglich ist“; sie bewahrt sie daher, „so wie sie ist“, „obwohl sie weiß, daß wir mit unserer Sprache verspielt haben“ (Schmidt-Dengler 1995, 242, 265). Dies gilt v. a. für den Roman Malina, den Bachmann 1971 nach langem Schweigen veröffentlichte, und der zunächst viele befremdete: weniger wegen der Thematik, der Vernichtung eines weiblichen Ich durch „das Männliche“ (wobei die eine Figur, der beherrschende Vater, die Verstrickung in den Faschismus verkörpert, während gleichzeitig die ganze Gesellschaft als „der allergrößte Mordschauplatz“ (Bachmann) gesehen wird), sondern durch die dafür gewählte poetische Form. Auf einen weitgehenden „Verzicht auf Chronologie und Kontinuität, auf Handlungssukzession und Handlungslogik“ und „die Subjektivierung durch eine Perspektive“, nämlich „die einer erinnernden Trauerarbeit“ (Schnell 1993, 418), sind moderne Leser/innen durchaus vorbereitet. Verwirrt hat aber wohl die Art, wie die Autorin gegen den „Fortbestand von Denkmustern und Gewaltverhältnissen, die im Faschismus sichtbar geworden waren“, anschreibt, indem sie sich „auf die unmögliche Perspektive einer weiblichen Erzählposition, auf das in der Flut der Redensarten, Nachrichten und Diskussionen Ausgeschlossene, das in der Sprache Verschwiegene“ konzentriert (Venske/Weigel 1992, 246). Das Leitmotiv der Ich-Erzählerin lautet: „Ich will nicht erzählen, es stört mich alles in meiner Erinnerung“ (Prolog). „Mit ihrer ‘von seiner klaren Geschichte’ abgesonderten und abgegrenzten ‘unvermeidlichen dunklen Geschichte, die seine begleitet, ergänzen will’ [Bachmann], stößt die namenlose, weibliche Stimme in Malina auf die sie tötenden Strukturen der etablierten Redeweisen und Erzählformen ⫺ und die Autorin zugleich auf die Unverträglichkeiten von Genretraditionen und weiblicher Erinnerung“ (ebd., 257).

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Venske/Weigel weisen darauf hin, daß außer Bachmann auch Autorinnen wie Marlen Haushofer, Unica Zürn u. a. bereits „Schreibweisen ausgebildet“ haben, „die geeignet sind, Erkenntnisse über die kulturelle Konstruktion der Geschlechterverhältnisse, über die Orte und Bedeutungen von ‘Weiblichkeit’ und ‘Männlichkeit’ in der Geschichte, Sprache und Sexualität, vor allem aber über die ‘Todesarten’ des Weiblichen in einer Geschichte des Fortschritts, sichtbar zu machen“ ⫺ Schreibweisen, an die erst die Autorinnen der 80er Jahre anschließen und die bereits „in literarischer Gestalt und poetischer Sprache“ vorbilden, was die Theoretikerinnen Kristeva, Irigaray, Cixous fordern, die die nächste Autorinnen-Generation entscheidend beeinflussen (ebd., 248⫺252).

Die Mehrzahl der seit 1972 sich häufenden (Auto-)Biographien und der ab 1975 durch die Neue Frauenbewegung stimulierten Texte von Frauen (über Frauen für Frauen) hat den anspruchsvollen sprachlichen Reflexionsgrad dieser Vorläufer/innen nicht erreicht ⫺ und wenn, dann in jeweils anderer Weise. 5.1.2. Von den autobiographischen Publikationen der schon renommierten Schriftsteller, wie Frisch, Rühmkorf, Zwerenz, Plessen, Lind, Hildesheimer, dem von Handke „geförderten“ Hermann Lenz u. a., seien aus sprachlichen Gründen besonders Koeppens Jugend (1976), die fünf autobiographischen Jugenderinnerungen Bernhards (1975⫺82, beginnend mit Die Ursache und Der Keller) und Canettis Werke (1977, 1980, 1985) hervorgehoben. 5.1.2.1. Thomas Bernhards Autobiographie wird in seinem Gesamtwerk als „Ich-Gewinnung“ und „Macht der Sprache“ charakterisiert (so die Kapitelüberschriften von Mittermayer 1995, 84 ff.). Die ersten vier Bände entwerfen „ein großangelegtes Szenario der Selbstdurchsetzung eines Ichs gegen die Umwelt“, jeweils in einem „absatzlos vorgetragenen Sprachstrom“, dessen Stilprinzipien mit der vorangehenden Prosa (s. o. 4.1.5.) weitgehend übereinstimmen. „Bemerkenswert ist vor allem die auffällige Bezugnahme auf Sprache ⫺ als Mittel der Machtausübung, aber auch als Medium der Selbstgewinnung“: der Ich-Erzähler ist „dem Monolog einer Sprachinstanz ausgesetzt, aus dessen Worten sich seine eigene Rede (und damit zugleich der literarische Text) zusammensetzt“, der Autor inszeniert damit auch seine eigene Sprachgewinnung (ebd., 84, 90, 93). Der entscheidende Unterschied zur „großen Flut an Autobiographien“ besteht darin, daß Bern-

hard „den Bericht völlig in den Bereich seiner Sprache hereingezogen“ hat (Schmidt-Dengler 1995, 306). 5.1.2.2. In dieser Hinsicht bestehen gewisse Parallelen zur ⫺ sprachlich ansonsten ganz anders gestalteten ⫺ Autobiographie von Elias Canetti, Nobelpreisträger 1981. Erst nach seinen Kinderjahren in der sephardischjüdischen Familie in Bulgarien hatte Canetti von seiner Mutter Deutsch gelernt, in Wien, Zürich und Frankfurt sowie später im Exil in London und wieder in Zürich gelebt. Sein 1935 erschienener Roman Die Blendung erregte erst bei der Neuaufl. 1963 Aufsehen. Wie bei Bernhard spielt das Ich des Autors erstmals im 1. Band seiner Autobiographie eine Rolle, nun aber ganz zentral. Wie Bernhard und Handke (und die Autobiographie eines anderen Emigranten, Mane`s Sperber, 1974⫺77) ist sich Canetti der Problematik der Erinnerungsarbeit bewußt, denn die Erinnerung an die Kindheit ist ihm nicht in dt. Sprache lebendig, sie „muß durch den Sprachfilter gebracht werden, sie muß Sprache werden […]. Und so ist das Buch in seiner Gesamtheit abgestellt auf die Spracherfahrung; es ist die Geschichte einer Sprachwerdung“, die „personale Identität“ ersteht vor dem Leser „als eine Sprachidentität“ (Schmidt-Dengler 1995, 322⫺324). Der Titel des 1. Bandes Die gerettete Zunge (1977) verweist auf die Rettung der Sprache. 5.1.3. Ein Großteil der neuen Frauenliteratur hat ebenfalls stark autobiographischen Charakter. Doch wird nicht etwa bei Bachmann angeknüpft, sondern ganz von vorn, ganz „unliterarisch“ begonnen. 5.1.3.1. Der Erfolg von Karin Strucks Debüt Klassenliebe (1973) beruht nicht auf der literarischen Ausdruckskraft des aus Tagebuchaufzeichnungen und Briefen in schlichtem, parataktischem Stil montierten Buches, sondern auf dem aggressiven Nachdruck, mit dem Frauen „plötzlich literarisch von sich reden, und zwar in eigener Sache“, indem sie „ihr Ich mit nie zuvor gekannter Unverblümtheit dem Publikum“ entgegenschleudern (Möhrmann 1981, 342). Auch „Unbehagen an der ‘herr’schenden Sprache“ klingt an, die Ich-Erzählerin „sieht sich von Metaphern umstellt“, die nicht ihre eigenen sind: „Ehebruch? Seiten-Sprung? Gangsterwelt. Nicht meiner“ (ebd., 344).

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5.1.3.2. Programmatisch wird diese Art der Sprachkritik in Verena Stefans Prosatext Häutungen (1975), der sofort zum Kultbuch der Neuen Frauenbewegung wurde. Der Untertitel „Autobiographische Aufzeichnungen Gedichte Träume Analysen“ zeigt zunächst an, daß bestehende Gattungszuordnungen gesprengt werden sollen. Beim Versuch, „in rückhaltloser Offenheit“ über die eigenen Bedürfnisse nachzudenken“, zieht die Autorin v. a. „gegen das gesellschaftlich organisierte Verschweigen der femininen Sexualität zu Felde“ (ebd., 345). Die zur Verfügung stehende dt. Sprache zeigt sich jedoch als ungeeignet, darüber „einen humanen Dialog zu führen“ (Steger 1987, 153): „Beim schreiben dieses buches […] bin ich wort um wort und begriff um begriff an der vorhandenen sprache angeeckt. / Sicher habe ich das zunächst so krass empfunden, weil ich über sexualität schreibe. Alle gängigen ausdrücke ⫺ gesprochene wie geschriebene ⫺ die den koitus betreffen, sind brutal und frauenverachtend (bohren, reinjagen, stechen, verreissen, einen schlag hacken, mit dem dorn pieken usw.)“, schreibt Stefan in ihren Vorbemerkungen. Ihre Konsequenz: „Wenn ich über heterosexualität schreibe, benutze ich die klinischen ausdrücke. sie sind neutraler, weniger beleidigend, verfremdender.“

Steger kommentiert diese (in der Frauenliteratur nun zentral werdenden) Klagen über die Schwierigkeiten, eine „neue“, den weiblichen Erfahrungen angemessene Sprache zu (er)finden: „Es rächt sich, daß die Entwicklung angemessener Sprachzeichen in der deutschen Standardsprache und ihre Anerkennung durch die Gesellschaft ⫺ wohl besonders unter dem Einfluß von ‘idealistischen’ geistes- und literaturgeschichtlichen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts ⫺ vernachlässigt wurden.“ In der folgenden theoretischen Auseinandersetzung feministischer Wissenschaftlerinnen mit den Fragen „Gibt es eine weibliche Ästhetik?“ (Bovenschen 1976), „Schreiben Frauen anders?“ (Gürtler 1983) etc. wird an diesem Zugang jedoch auch, z. T. massiv, Kritik geübt, da die Sprache der meisten Autorinnen de facto den literarischen Konventionen doch stärker verhaftet blieb, als es dem Anspruch auf eine neue Wahrnehmungsweise zuträglich war: Speziell Verena Stefan wurde kritisiert, daß die von ihr bevorzugt gewählten Naturmetaphern kitschig, schwülstig seien. Zu Vergleichen wie denen des Körpers mit einem reichen Acker, den Brüsten als „warme, sonnengefüllte kürbisse“ bemerkt

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Möhrmann (1981, 348): „sattsam bekannt als triviales Repertoire billiger Pornoautoren, Blumen, Obst und Gemüse, die ganzen Malergenerationen schon dazu verholfen haben, Frauen ‘natürlich’ darzustellen.“ Bemängelt wurde ferner das Fehlen eines komplexen Zusammenhangs zwischen Sprache und Bewußtsein. 5.1.4. Unter ‘Neue Subjektivität’ fällt auch viel Prosa aus der Richtung der „literarischen Revolte“, die stilistisch dem sozialkritischen Realismus seit Ende der 60er Jahre verpflichtet ist. Über „schlichte Identifikationsangebote“ ragen literarisch die Arbeiten hinaus, die mit ästhetisch interessanten Mitteln wie „Collagen, Montage, innerer Monolog, Verfremdung“ arbeiten und somit „neue, eigenständige“ Wirklichkeiten entwerfen (s. Schnell 1993, 422). 5.1.4.1. Ein Beispiel wäre Peter Schneiders Erfolgsbuch Lenz (1973). Handkes Kritik („nur modische[.] Satzposen“) bezeichnen Barner u. a. (1994, 606) als Verkennung der „Qualitäten dieser unprätentiösen, spröden Prosa“, „der es ohne ästhetische Kraftanstrengungen gelingt, Beschreibungsdetails poetisch aufzuladen und sinnlich transparent zu machen.“ ⫺ Von Literaten mehr geschätzt wurde der zum „Kultbuch der Linken“ avancierende Roman-Essay Bernward Vespers, Die Reise (1977). Unter den „Vaterbüchern“, die mit dem faschistischen Elternhaus aus der Perspektive der Kinder als Opfer autoritärer Unterdrückung abrechnen, ist er biographisch wegen der besonderen Vater-SohnKonstellation interessant; literarisch erprobt er als Reise in die Drogenwelt, die politische wie ästhetische Befreiung bringen soll, neue Wege: „Es ist sinnlos, die Wahrheit in einen Kampf mit Stil, Metapher usw. eintreten zu lassen. Es sei denn, man hörte auf, nachzuforschen und finge an, sich einer Ästhetik zu unterwerfen, wie sie tausende von literarischen Produkten bestimmt.“ (Vesper, ausführlich besprochen von Schnell 1993, 425 ff.).

5.1.4.2. Außenseiter, und doch charakteristisch für die 70er Jahre ist ferner Hubert Fichte, der mit Romanen und einer Autobiographie ebenso wie mit sprachlich deftigen Interviews aus dem Palais d’Amour (1972) und dem homosexuellen Ledermann Hans-Eppendorfer (1976) alle bürgerlichen Tabus (ebenfalls einschließlich Drogen als Befreiungsmittel) zu brechen sucht. Seine „Erzählsprache,

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die alle Schichten des Jargons und Slangs assimiliert“, und seine „prägnanten Momentaufnahmen“ von „einer poetischen Eruptivkraft der Einzelszenen und Details“ werden von Barner u. a. (1994, 423 f.) sogar in literarische Nähe zu Döblins Berlin Alexanderplatz gerückt. 5.1.4.3. Die „Erzähler-Repräsentanten der Schweiz“ (Jaeggi, Loetscher, Widmer, Muschg, Späth) operieren auf je individuelle Weise mit den nämlichen modernen Techniken. Besonders Hermann Burgers Erzählungen und Romanen dieser Phase (einschließlich der 80er Jahre, bis zu seinem Freitod) wird eine fast einschüchternde, „geradezu barock“ ausufernde Fabulierkraft und Sprachphantasie bis zur „manischen Übersteigerung“ attestiert (ebd., 641, 648 f.). 5.1.4.4. Auch in der DDR sind Experimente mit Erzähltechniken der literarischen Moderne und immer engere Bezüge zur Literatur im Westen in Thematik und Stil nicht mehr aufzuhalten. So schreiben beispielsweise die schon lange vorher als Lyriker in Erscheinung getretenen, in diesem Jahrzehnt von Ost nach West wechselnden Autoren Kunert, Kunze oder Schädlich Prosa in reflektierter, variantenreicher Sprache. Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster (1976) und ihre weiteren Arbeiten sind als Auseinandersetzung eines politischen Individuums mit den Widersprüchen der sozialistischen Gegenwart wie der faschistischen Vergangenheit ebenso bedeutsame, zeittypische „Leitwerke“ wie als autobiographische Frauenliteratur. Ähnlich wie bei Bachmann geht es nicht um die individuelle Geschichte, sondern um das „Genremuster“ Autobiographie, „um die Strukturen von Erfahrungen“, was Wolf durch die Schichtung mehrerer Zeitebenen und Erzählperspektiven angeht (Venske/Weigel 1992, 256 f.; mit einem Vgl. der Techniken Wolfs und Bernhards s. Pickerodt 1985). ⫺ Wie im Westen folgten auch in der DDR eine Reihe weiterer interessanter Auseinandersetzungen mit „Innenwelten“ des Subjekts und den dazu nötigen Erzählverfahren und einer adäquaten Sprache; sie markieren das Ende des realistischen Erzählens (z. B. Montagetechniken und spielerische Varianten der „phantastischen“ Gegenwartsliteratur bei Irmtraud Morgner, s. Barner u. a. 1994, 736 ff.). Gegen Ende der 70er Jahre wird eine „Wendung zum unpathetisch-unauffälligen Alltäglichen“ konstatiert, die die „Banalität des Alltags“

abbildet und gelegentlich an „Wolfgang Borcherts schmucklose Prosa“ erinnert (ebd., 741 f.) ⫺ thematisiert in Elke Erbs EssayTitel Kürze als ‘Forderung des Tages’ (1978). 5.2. Lyrik Angesichts der strukturellen und stilistischen Vielfalt der Prosa bleibt es Ansichtssache, ob das „neue[.] Interesse an der Lyrik“ in den 70er Jahren als literatursprachlich ebenso relevant einzustufen ist (vgl. Schäfer 1981, 191 ff. u. Anm. 139). 5.2.1. Schon Höllerer hatte sich 1965 in seinen „Thesen zum langen Gedicht“ gegen „die fortdauernde Dominanz der hermetischen Lyrik mit ihrer zunehmenden Esoterik“, aber auch „gegen eine Konfektionierung des lyrischen Lakonismus“ bei Eich, Grass, Enzensberger gewandt und einen „neuen Realismus“ gefordert (s. Schnell 1993, 431). Wie in den anderen Gattungen vollzieht sich auch hier in der Folge eine „Rückkehr des Ich“ ⫺ meist in „einer ‘offenen’ lyrischen Form, einer aufgebrochenen Syntax“ ⫺, eine Tendenz zur „Mitteilung statt Metapher“, die den Leser zum Mit-Reden/Lesen auffordert (ebd., 432 f.). Das Formprinzip der ‘Neuen Lyrik’ von Herburger, Born, Wondraschek, Delius, Karsunke u. a. wurde von Theobaldy als das der „unartifiziellen Formulierung“ charakterisiert; er gab auch die Devise aus: „In der Lyrik ist alles erlaubt, was ihre Sprache lebendig erhält“. Schnell (1993, 437) sieht hierin aber auch das „poetologische Problem“ dieser Alltagslyrik, die oft der Banalität nicht entkam oder durch „neuromantisches Sprechen in einer nicht ganz echten Einfachheit“ auch gefühlige bis sentimentale Züge annahm (s. Steger 1987, 147 ff. mit Beispielen). ⫺ Als Ende der vorangehenden Epoche wurde von vielen der Tod Celans 1970 empfunden. Als repräsentativ für die Wende werden häufig die (von Höllerer geforderten) „langen Gedichte“ Rolf Dieter Brinkmanns nach 1970 zitiert. Präzise Alltagsbeobachtungen in epischen Langzeilen sind hier in einer Mischung aus Alltagsprosa und Reminiszenzen an frühere lyrische Techniken (in Syntax und Rhythmus) programmatisch gemischt. Als Beispiel das Ende von Schlaf, Margritte (1975): „[…] Über dem / Backofen hängen meine Socken zum Trocknen, im Dunkel schmale // Formen, bewegtes Grün, leichte Wörter, als ich ging. Kinder winken / Auf Wiedersehen, wo ist das? Ein Hotelzimmer, wo ich schlafe, bis morgen.“

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Die Diskussion um die lyrische Neuorientierung spiegeln der Titel und die Antworten des Sammelbandes „Was alles hat Platz in einem Gedicht?“ (hg. v. Bender/Krüger 1977). 5.2.2. In der DDR wurden die westdt. Spielarten der ‘Neuen Subjektivität’ und ‘Neuen Innerlichkeit’ zunächst kaum rezipiert. Aber auch dort trat das Weltanschauungsgedicht in den Hintergrund, „Zeitgenossenschaft (statt Parteilichkeit), Subjektivität und Unmittelbarkeit“ waren gefragt. Ein neuer Sensualismus, „der auf Aneignung des sinnlich Erfahrenen abzielte“, brachte zahlreiche „Eß-, Koch-, Liebes- und Reisegedichte“ (z. B. von Sarah und Rainer Kirsch) hervor, deren Fotorealismus Parallelen zu Born oder Brinkmann aufweist (Barner u. a. 1994, 756 f.). Die „trauernde, pessimistische und vielfach verschlossene Lyrik“ von Außenseitern wie Huchel oder Bobrowski „sollte erst wirklich entdeckt werden, als sich der gesellschaftliche Optimismus verflüchtigte“ (ebd., 753). 5.3. Das Drama „Vielfalt der Impulse“ kennzeichnet auch das Drama, und auch hier reicht die Spannbreite von der „politischen Dramatik der APOJahre zum Neuen Realismus und zur Neuen Subjektivität“ (s. Buddecke/Fuhrmann 1981, 117 ff.). Die meist in die 60er Jahre zurückgehenden Neuansätze (die von manchen daher für das bedeutsamere Theaterjahrzehnt gehalten werden, vgl. Hensel 1981, 343) kommen zur Entfaltung. Die dominierenden Namen sind Franz Xaver Kroetz, Botho Strauß und Heiner Müller. Jeder von ihnen steht für eine andere Richtung und beeinflußte jüngere Dramatiker. 5.3.1. Kroetz, seit dem Erfolg von Oberösterreich (1972, s. o. 4.3.2.1.) populär und international beachtet, wendet sich von den Randfiguren der Gesellschaft zum kleinbürgerlichen Familiendrama. In der „präzisen Beobachtung und Schilderung menschlicher Verhaltensweisen“ wird ihm nuancierte und subtile „Kunst der Dialogführung und des Szenenbaus“ attestiert (Betten 1985, 223 mit Zitaten aus der FAZ zu Mensch Meier, 1978, und Der stramme Max, 1980). ⫺ Das kritisch-realistische Volksstück beherrscht in verschiedensten, aus der Alltagssprache herausstilisierten Sprechweisen, die die (Kommunikations-)Probleme der dargestellten Milieus transparent zu machen suchen, das Theater (vgl. Betten 1985, 290⫺342).

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5.3.2. Mimetische Nachbildung von Sprachmilieus ist auch die besondere Kunst von Botho Strauß, der 1969 als Dramaturg und Kritiker die „Tendenzwende“ im Theater (am Bsp. von Bauer und Bond) schon als „neue Sensibilität“ bezeichnet hatte. Durch seine eigenen Stücke ab 1972 wurde er selbst zum prominentesten Vertreter dieser Richtung. Anders als im Volksstück findet sich in jedem seiner Stücke eine breite Palette von Jargons aus allen Schichten (v. a. aber der Mittelklasse) bzw. zeitgenössischen Milieus der BRD, die der Sprachwirklichkeit mit äußerster Einfühlung und einem hohen Grad an metasprachlicher Reflexivität abgewonnen sind und manchmal parodistisch, aber überwiegend kritisch, aus einer Haltung von Leiden bis Ekel, vorgeführt werden. Heutiges Deutsch wird vom Autor (und auch vielen seiner sprachsensiblen Figuren) als zerfallen in eine Vielzahl von „Deutschs“ erfahren, von denen keines die Sprache mehr vollwertig und befriedigend repräsentiert. Besonders reich ist die Palette an „Deutschs“ und die Nachbildung von Konversationsstilen verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen der BRD der 70er Jahre im Erfolgsstück Groß und klein (1978). Alle Arten von Phraseologismen wie auch die stilistisch-syntaktischen Nuancen der heutigen Sprechsprache werden von keinem anderen Autor so genau erfaßt und so decouvrierend eingesetzt. Allerdings ist die Dramensprache von Strauß mit dieser „sprachrealistischen“ Ebene keineswegs ganz erfaßt, denn v. a. bei seinen tiefer angelegten Hauptfiguren wechseln diese z. T. verzweifelt leerlaufenden Plaudertöne ganz unvermittelt mit Partien in mythisch-mystischer oder schwärmerisch-„verrückter“ Sprache, an Stellen, die die Abgründe, die Hysterie, die Wahnsinns-Entrückungen seiner einsamen, an der Unmöglichkeit echter Kommunikation verzweifelnden Personen aufdecken (s. Betten 1985, 352 und 1995 mit weiteren Literaturangaben). 5.3.3. Ganz anders wiederum stellt sich die Annäherung an einen gewissen „Sprachrealismus“ bei Thomas Bernhard dar. 1970 beginnt mit Ein Fest für Boris die nun bis zur Uraufführung von Heldenplatz (1988) kurz vor Bernhards Tod nicht abreißende Reihe seiner erfolgreichen, aber die Kritik ⫺ wie sein ganzes Œuvre ⫺ in Begeisterung oder kategorische Ablehnung polarisierenden Theaterstücke. An ihnen wird der „monothematische[.] Charakter“ seines Werks, das

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„das fascinosum und tremendum des Todes und des Nichts hartnäckig in den Mittelpunkt stellt“, besonders deutlich. Strukturell korrespondieren damit ⫺ ähnlich der Prosa ⫺ „monologische, monomanische und monotone Züge“, die sich gerade in der Dramatik „als Zerstörung des konventionellen Begriffs und der herkömmlichen Rezeption von Theater“ besonders deutlich zeigen. Sprachlich spiegelt sich diese „antiklassisch-manieristische Tendenz“ in der „Repetition und Variation von leitmotivisch eingesetzten Topoi“ (Buddecke/Fuhrmann 1981, 220 f.). Aus der Vorherrschaft des Monologischen, gekoppelt mit der monomanischen „Besessenheit, mit der sich die Figuren auf quälende Themen und Tätigkeiten sowie auf ablenkende Tricks und Ticks bis zum Automatismus fixiert haben“, resultiert notwendig die „absichtsvolle Monotonie der Textur“, die durch mechanisch-zwanghafte „Wiederholung und Abwandlung stereotyper Wendungen und stehender Formeln, erstarrter Rituale und gebetsmühlenartiger Litaneien“ erreicht wird (ebd.). Bernhard verwendet auch hier überwiegend „generatorenhaft kreisende, großräumige Satzgebilde“, die jedoch auch wieder zergliedert, anatomisiert werden können; diese kompositionelle Fragmentarik, Brüchigkeit verweist auf die „Zerrüttung der Bernhardschen Personen“ und „ein zerrüttetes Weltganzes“ (s. Betten 1985, 378⫺385 mit Zitaten von Maier, Höller, Jooß). In Versschreibung ohne Interpunktion steht die Gliederung dieser Redeströme dem Interpreten offen, doch im „Grunde handelt es sich um das absurde, jedoch im Kontext der Absurdität wiederum stimmige Formphänomen einer unregelmäßig segmentierten Prosa, die lediglich durch eine verfremdende Druckanordnung den Anschein genuiner Verssprache erweckt“ (Buddecke/Fuhrmann 1981, 221). So schwankt der Sprachstil zwischen Natürlichkeit, dem spontanen Sprechen vergleichbaren assoziativen Sprüngen und Wiederholungsorgien, und einer Künstlichkeit, die diese Techniken streng nach musikalischen, ja mathematischen Gesetzen kalkuliert (so vom Autor selbst nahegelegt). Ein Beispiel aus Der Präsident (1975): „Sandwiches Frau Frölich / Sandwiches / nach und nach / hat er ihm einmal / [Regieanweisung] / die zwölf Sandwiches / die kostbarsten Sandwiches / die ich jemals gemacht habe / ihm in den Mund gesteckt / ihm / (schaut in den leeren Hundekorb) / ihm / nach und nach / ganz musikalisch Frau Frölich / ganz nach dem musikalischen Gesetz / daß ich

gestaunt habe“. (Vgl. dazu Betten 1985, 380; ausführlich zu Bernhards dramatischer Sprache Klug 1991).

5.3.4. Ohne sich durch die (geringe) Zahl und den geringen Umfang seiner Stücke nachdrücklich als Theaterautor zu etablieren, ist Ernst Jandl nach den Hörspielen und dem kurzen Stück szenen aus dem wirklichen leben der 60er Jahre, in denen er virtuos die Techniken seiner Art der Konkreten Poesie weiter durchspielte (s. o. 3.1.7.), mit die humanisten (1976) und Aus der Fremde (1979) sprachlich und strukturell einen ganz eigenen Weg gegangen. Auch diese Stücke weisen in der Sprachbehandlung Parallelen zu seiner gleichzeitigen lyrischen Produktion auf. Die „Sprechoper“ Aus der Fremde hatte überraschend enthusiastischen Erfolg ⫺ vielleicht nicht zuletzt wegen ihrer den 70er Jahren entgegenkommenden Thematik, nämlich der Verwandlung von Autobiographie in Poesie als Tragikomödie eines Schriftstelleralltags und einer besonderen Beziehung (zu Friederike Mayröcker). Deren Rituale zwischen Ironisierung des Skurrilen und Hommage an die Freundin werden in einer einmalig dafür geschaffenen, der „direkten Rede“ auf der Bühne sprachlich quergesetzten Form inszeniert: Die Personen sprechen nur in indirekter Rede in der 3. Person und im Konjunktiv, aufgeschrieben in reimlosen Dreierversen ohne Interpunktion. Und auch über diese Technik berichtet „er“ der anerkennenden Freundin im Stück, 4. Szene (so wie Jandl alle seine poetologischen Verfahren selbst aufs präziseste kommentiert hat): 94 wobei konjunktiv ebenso wie dritte person ein gleiches erreichten 95 nämlich objektivierung relativierung und zerbrechen der illusion

Wenn hier in Jandls ureigener „poetischen Semantik“ ein „erschüttertes Wirklichkeitsverhältnis, irritierte Gewißheiten, Abgründe einer Existenz“ (Schnell 1993, 381) mitgeteilt werden, wie sie für sein Spätwerk charakteristisch sind, so kommt dem z. Z. einer kulturpolitischen Krise in Österreich geschriebenen „konversationsstück“ die humanisten auch eine weit über das Tagespolitische hinausreichende Bedeutung zu: es demonstriert, wie ein rückwärtsgewandter Humanismus zum Wegbereiter eines neuen Faschismus werden

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kann. Zwei Geistesgrößen aus Kunst und Wissenschaft bedienen sich einer Sprache, die durch Infinitivgebrauch und weitere systematische grammatisch-syntaktische Regelverstöße nach Angaben des Autors selbst an Kindersprache oder „Gastarbeiterdeutsch“ erinnert („ich sein ein nobel preisen universitäten professor kapazität von den deutschen geschichten“). Jandl nennt diese auch in Gedichten praktizierte Sprache „heruntergekommene Sprache“, deren poetologisches Prinzip er so beschreibt: „schreiben und reden in einen heruntergekommenen sprachen sein ein demonstrieren, sein ein es zeigen, wie weit es gekommen sein […]. es nicht mehr geben einen beschönigen nichts mehr verstellungen“ (vgl. dazu Schnell 1993, 380). Das „Humanisten“-Urteil über moderne Literatur lautet dann so: m1 deutschen sprach sein ein kulturensprach sein ein alt alt kulturensprach m2 deutschen literaturen sein ein kulturenliteraturen ein ganz groß kulturenliteraturen m1 modenliteraturen nicht sein kulturenliteraturen modenliteraturen sein kulturenschanden

Im Gegensatz zur naturalistischen Decouvrierung einer persönlichen Haltung oder Disposition durch Sprache, die milieugerecht stilisiert wird (wie etwa bei Kroetz), wird hier (niedrige) Gesinnung durch unnaturalistische, artifiziell depravierte Sprache decouvriert, in deren Verformungen durch eine Fülle von Assoziationsmöglichkeiten höchst kunstvoll weitere Bedeutungen eingearbeitet sind (so in der Fortsetzung der zitierten Stelle: „ich jetzt nazen putzen / […] rot sehn“). Interessant wäre es, diesen Text in Bezug zu Wolfgang Hildesheimers „Absage an den literarischen ‘Humanismus’ überhaupt“ zu setzen, der durch seinen Vortrag The End of Fiction (1975) eingeleitet wurde. Hildesheimer kritisiert die mittelmäßige und anachronistische „Wehleids“-Literatur der 70er Jahre und zieht die persönliche Konsequenz aus dem „für ihn unlösbaren Zusammenhang von Geschichtswahrnehmung und poetischer Wahrhaftigkeit“, mit dem Schreiben Mitte der 80er Jahre aufzuhören (s. Schnell 1993, 501; ausführlich Briegleb 1992b, vgl. u. 6.1.1.).

5.3.5. Der DDR-Dramatiker Heiner Müller entfernt sich in den 70er Jahren immer weiter vom episch-didaktischen Theater des ‘klassischen’ Brecht (darin liegen Parallelen zu Handke), ohne seine marxistische Position aufzugeben. Besonders die drei Stücke von

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1976/77, Germania Tod in Berlin, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei und Hamletmaschine „markieren den endgültigen Bruch“ mit dem Realismus: Annäherungen an absurdes und surrealistisches Theater werden erkennbar (vgl. Buddecke/Fuhrmann 1981, 313). Die Stücke besitzen „weder eine durchgehende Fabel noch einen einheitlichen Stil. Ihr artistisches Bauprinzip ist ⫺ neben der Montage von Zitaten ⫺ die harte Gegenüberstellung einander kontrastierender Elemente und Bilder.“ Als „totales Theater“ bieten sie alle „nur denkbaren sprachlichen und außersprachlichen Mittel der Bühne“ auf. Im Leben Gundlings ist die „Form der unverbundenen Reihung scharf gestochener und grausam pointierter Szenen“ gewählt. Der gedrängte Text von Hamletmaschine montiert „nicht nur Vers und Prosa, sondern auch Deutsch und Englisch und insgesamt Sprache, Pantomime und Ballet“ disparat nebeneinander; er ist „beherrscht von grausamen und obszönen Bildern, reich an Zitaten und Selbstzitaten sowie vorwiegend monologisch und bewußt hermetisch-fragmentarisch gehalten.“ ⫺ Inhaltlich geht damit eine „zunehmende Verdüsterung“ im Werk Müllers einher: Der sozialistische Realismus hat seine Utopie verloren, es bleibt nur „anklagende Trauer“ über „Entfremdung und Selbstentfremdung, Entmenschlichung und Vernichtung“ (ebd., 310⫺313).

Müller vertritt damit „die avancierteste Position einer experimentellen Dramatik in der DDR“ (ebd., 314) und wird „zum beliebtesten Avantgarde-Dramatiker westlicher Bühnen und ihrer intellektuellen Zirkel“; seine Versuche „einer anderen Bühnen-Sprache“ wissen „zunehmend nur noch Eingeweihte zu entziffern“ (Barner u. a. 1994, 769, 771). Für alle der hier exemplarisch behandelten Dramatiker gilt, über die Verschiedenheiten hinweg, mit der sie ihre zentralen Themen sprachlich transparent gemacht haben, daß sie von der „Destruktion der eigenen Gattung“ leben: der Zusatz „oft in bedenklicher Weise“ (ebd., 682) ist wohl zu ändern zu „in bedenkenswertester Weise“ und „mit größtem Bedacht“.

6.

Zitate, Positionen, Konstellationen: die „postmodernen“ 80er Jahre

Spiel und Destruktion (bzw. eher Dekonstruktion) bleiben auch Stichworte für die 80er Jahre ⫺ nicht nur, weil viele wichtige Autoren der 70er (und 60er) Jahre weiterschreiben und ihren persönlichen Stil, mehr oder weniger beeinflußt von allgemeinen Zeiterscheinungen, weiterentwickeln. Der

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Blick in literaturgeschichtliche Übersichten vermittelt, weit mehr als bei den davor liegenden Jahrzehnten, einen recht unterschiedlichen Gesamteindruck, auch wenn dieselben Namen fallen. Die ersten Rückblicke betonen, daß „die Rede von der ‘Literatur der 80er Jahre’ “ leichtfertig sei (Winkels 1988, 11) und nichts unangemessener wäre, „als sich auf die Suche nach einem ‘gemeinsamen Nenner’ “ zu begeben (Lützeler 1991, 14). Seit dem unerwarteten Ausgang des Jahrzehnts hingegen werden diese Jahre eher als Ende einer Epoche und/oder Vorbereitung der politischen Wende wahrgenommen, deren Auswirkungen auf die Literatur ⫺ ihre Themen, ihre Ästhetik, ihre Sprache ⫺ noch lange nicht abzusehen sind (vgl. Kreuzer 1991 b, 241 ff. in seinem Nachwort zur 2. Aufl. „Zur Situation drei Jahre später (1991)“). Scherer (1995, 183) diskutiert im Zusammenhang mit den bislang im Vordergrund stehenden Zäsuren 1945 und 1968 (bes. betont von Briegleb/Weigel 1992) bereits „anders akzentuierte bzw. großräumiger angesetzte Positionen“, „die im Jahr 1989 eine Entwicklung abgeschlossen sehen, die 1914 oder gar noch früher begann“.

Dennoch konstatiert Kreuzer (1991b, 242), daß die zuvor beschriebenen Tendenzen auch nach der Wende noch andauern und daß der Begriff der „Postmoderne“, mit dem dieses Jahrzehnt am häufigsten charakterisiert wurde, „weitere akademische Dignität“ erhalten habe. In den meisten westdt. Darstellungen sind Autor/inn/en und Schreibweisen, die sich als postmodern interpretieren lassen, in den Vordergrund gerückt; in der österr. und schweizerischen Literatur hingegen lassen sich derartige Züge den von den 60er Jahren weiterwirkenden Kontinuitäten und Brüchen eher beiordnen. 6.1. Erinnerungsliteratur vs. AvantgardeDebatte 6.1.1. Ganz anders akzentuiert Briegleb die entscheidenden Ereignisse dieses Jahrzehnts. Da er Literatur konsequent auf ihr „Verhältnis zur deutschen Geschichte, speziell zu der des Nationalsozialismus, hin befragt“ (Briegleb/Weigel 1992, 15), rückt er die Debatte um Hildesheimers Absage an das Weiterschreiben im Realismus (auch von Handke und Struck in den 70er Jahren) in den Vordergrund, da mit seinen Mitteln kein „adäquates Äquivalent der Realität“ mehr zu finden sei (Briegleb 1992b, 344).

Das Unverständnis für Hildesheimers Verstummen seit 1984 (s. o. 5.3.4.) diskreditiert in seinen Augen führende Literaten und Kritiker: „Ist es öffentlich nicht besprechbar, wie ein Einzelner seine eigenste Geschichte zu erkennen gibt? Wie er von der Leere nach Auschwitz, an die er sein Erzähl-Ich verloren hat, und von den ‘nachgeschichtlich’ aufblitzenden Gründen, die erzählende Literatur zu beenden, eingeholt worden ist?“ (ebd., 353).

Die nun proklamierte „Ästhetik des Weiterschreibens“, die Handkes Der Chinese des Schmerzes (1983) und Botho Strauß’ Der junge Mann (1984) als Beweis wertete, daß die Literatur „darum noch nicht am Ende“ sei, wird von Briegleb daher negativ beurteilt (ebd., 356 f.), das Weiterschreiben der Altmeister Böll, Grass, Walser etc. nur am Rande erwähnt, und die neue Postmoderne-Generation („Schreiben in der Leere“) u. a. gerügt, mit welcher Unbefangenheit sie „Vernichtung“ metaphorisiert (ebd., 368) und wie epigonal und trivial das „Weiterschreiben“ bei mittleren Talenten ausfällt. Dem Beitrag der „Idyllentexte (Beispiele Ludwig Harig oder Hermann Lenz) zur Harmonisierung des Erzählens“ im „Ordnungsklima der Vergeßlichkeit“ stellt er eine „belastete, ‘schwere’ Literatur“, „Erinnerungsliteratur“, gegenüber: ein „Erzählen im ‘unendlichen Spannungsfeld’ personaler Wahrnehmung“ (ebd., 380). Diese „Neue[n] Schreibweisen des Erinnerns“ beginnen mit den „großen Gedächtnisprojekte[n]“ von Uwe Johnson (Jahrestage) und Peter Weiss (Ästhetik des Widerstands) u. a. m. Anfang der 80er Jahre; sie führen „in die absolute Prosa“, speziell bei Weiss und Anne Duden (Übergang, 1983, Das Judasschaf, 1985): Schreiben werde bei Duden ausgelöst, „als die Zunge gelähmt war“, das „individuierte Wissen der Shoah konstituiert ihre Texte“. Bei Duden sei „die Gleichstellung von Prosa und Bild ästhetisch verifiziert, vergleichbar und austauschbar allein noch mit Musik, und mit Lyrik, der einzigen Gattung, die als konventionelle noch ein Kunst-Kontinuum vorfindet, das der Formschwelle nach Auschwitz gewachsen war“ (Briegleb 1992a, 133⫺149; auf Ähnlichkeiten mit Ingeborg Bachmanns Schreiben wird hingewiesen; zur Fortsetzung von Brieglebs Ansatz vgl. Braese 1998c). 6.1.2. Die Debatte um die durch Hildesheimer ausgelösten Fragen nach Form und Sinn des Schreibens „im Horizont des Katastrophismus“ (zusammen zu sehen mit der „europäischen Realismus-Krise“ seit dem 19. Jh.

200. Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945

und exemplarisch diskutiert von Walter Benjamin, der neuen frz. Schule oder George Steiner, s. Briegleb 1992b, 369) wurde in dem von Briegleb geforderten Sinne vom dt. „Literaturbetrieb“ nicht geführt. Umso intensiver (in Brieglebs Verständnis jedoch oberflächlich) rückt die Frage nach dem Wie des Schreibens am Ende (?) der Moderne bzw. das „Projekt der Moderne“ ⫺ für die einen schon überholt, für die anderen erst zu vollenden ⫺ und damit verbunden die Rolle der Avantgarde ins Zentrum des Interesses (s. Kreuzer 1991a, 20 ff.). Zweifel an der Vorgabe, daß „die literarische Produktion sich immer noch in den historischen Entwicklungsschritten einer ästhetischen Progression“, d. h. in ständigen „Innovationsschüben“ vollziehe (Barner u. a. 1994, 815), waren schon seit längerem laut geworden. Enzensberger hatte bereits 1962 auf die unweigerlichen „Aporien der Avantgarde“ hingewiesen, und Bürger warf in seiner Schrift „Theorie der Avantgarde“ (1974) der Neoavantgarde vor, durch Institutionalisierung der Avantgarde als Kunst „die genuin avantgardistischen Intentionen“ zu negieren (ebd., 80). Der mit dem Avantgarde-Begriff verbundene Innovationszwang wurde nun auch in Bezug zur Vermarktung durch die stets nach Neuem suchende Kulturindustrie gesetzt und daher als schädlich für die Autonomie der Kunst erklärt (vgl. Schmidt-Dengler 1995, 381, Clausen/Singelmann 1992, 458 ff.). 6.1.3. Eine Antwort auf diesen Befund sind die unter ‘Postmoderne’ diskutierten Strategien, verstanden als ‘Paradigmenwechsel’, der das Avantgardekonzept durch ein „zeitgemäßeres“ ersetzt (Clausen/Singelmann 1992, 463). Wesentlich ist die v. a. von den frz. Poststrukturalisten formulierte Erfahrung, daß in der „zeitgenössischen Informationsgesellschaft im Zeichen einer umfassenden Medienüberflutung“ die „Zeit der großen Sinn-Entwürfe, der ‘großen Erzählungen’, die sich mythisch oder religiös legitimieren konnten, an ein Ende gekommen“ sei (Barner u. a. 1994, 816 f. mit Bezug auf Lyotard). Konsequenzen für die postmoderne Literatur sind u. a.: „Verlust der Historizität“, die „wirkliche“ Geschichte „löst sich als Fiktion auf“, es gibt „nur eine Geschichte unserer Vorstellungen, Bilder, Erzählungen und Stereotypen von der Vergangenheit, die gleichberechtigt nebeneinandertreten“; „Liquidation der Sinndimension“, „Liquidation der Vorstellung eines schöpferischen Ichs“; „Fragmentierung und Diskontinuität werden zu neuen Kenn-

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zeichen des Kunstwerks“ [dies gilt allerdings gerade auch als Hauptkennzeichen des Literaturbegriffs der Avantgarde, vgl. Clausen/Singelmann 1992, 466]; „Kunst gibt den Anspruch ihrer Exklusivität auf und öffnet sich allen Phänomenen menschlicher Kreativität, auch zum Alltäglichen und Trivialen hin. Kunst erweist sich darüber hinaus im postmodernen Kode als Kunst der Imitate. Es wird nicht nur zitiert […], sondern die ganze Kunstproduktion vollzieht sich im Gestus des Imitats, dessen vorherrschende Spielart in der Literatur das Pastiche ist“ (Barner u. a. 1994, 817 f.).

Auch von „Paradigma-Erschöpfung“ ist die Rede (so der Historiker Christian Meier 1990) ⫺ die daraus resultierende Multiperspektivität und Pluralität wird zum fröhlichen Motto „anything goes“. Heiner Müller formuliert es so: „Mit dem Tod der Reflexion als konstituierender Macht sind alle anderen Sprachen wieder freigesetzt“ (Schnell 1993, 444, 446). Die jungen Autoren sprechen von einer „panoramatischen Diversifizierung der Perspektiven“ (Modick), einer „Vielzahl neuer Sprachen“ (Ortheil) und der Bedeutung der Intertextualität (vgl. Barner u. a. 1994, 815 f.). Nicht wenige dieser neuen Generation haben über den Poststrukturalismus oder in Geschichte oder Philosophie promoviert, sind v. a. mit der Zeichentheorie bestens vertraut. Ortheil, Prototyp des postmodernen theoretischen und literarischen Autors, vertritt nicht nur die Ansicht, daß die Literatur der 80er Jahre „ohne die sie begleitenden, sich mit den Jahren immer mehr ausformenden Großerfahrungen von Post-Histoire, Postmoderne und Poststrukturalismus nicht zu denken“ sei, sondern auch, daß diese „neue philosophische Begrifflichkeit“ half, „die Mitte der siebziger Jahre ganz offenkundig gewordene Krise der Literatur zu überwinden.“ Die 80er Jahre seien „in diesem Sinne auch ein Jahrzehnt der immensen Nachholarbeit theoretischer Anstrengungen“ (1991, 49). Entsprechend häuft sich auch die Zahl der poetischen Arbeiten, die zugleich Poetik-Diskurse „über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten gegenwärtigen Erzählens“ sind, z. B. Sten Nadolnys dritter Roman Selim oder Die Gabe der Rede (1990; vgl. Barner u. a. 1994, 831).

Sprachkritik wird in der Rezeption von Lacan, Derrida, Foucault, Deleuze, Kristeva etc. „als Diskursdiskussion wahrgenommen, als Verlagerung hin zu semiotischen Kämpfen“ ⫺ und dies auch in der DDR (ebd., 912). Die Vorbildfunktion „der internationalen Postmoderne (von Thomas Pynchon und Julio Cortazar über Roland Barthes bis Italo Calvino und Umberto Eco)“ wird hervorgehoben (Lützeler 1991, 15).

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XVIII. Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen

Den Kritkern, die der Literatur dieses Jahrzehnts „Stillstand, Langeweile, Uniformität, Erfahrungsleere, Talentschwäche […], fehlende Imagination“ vorwerfen, halten die Verteidiger Vielstimmigkeit, „Erzählproblematisierung und das hohe Maß an Selbstreflexion“ entgegen: Die Literatur der 80er Jahre „bestehe vor allem aus Texten philologischer und buchbesessener Bastler, und an Sprachbewußtsein und Reflexivität sei sie derjenigen früherer Dekaden überlegen“ (ebd., 11 f. mit Argumenten von Hage und Winkels). Winkels (1988) betont, daß die neuen Texte nach der Schrift fragen und darauf beharren,

der ganzen Palette historischer Stile gepflegt (Pastiche, Paradebeispiel: Süskinds Roman Das Parfum). „Stilfiguren, die einem Rhetorikhandbuch als Musterbeispiele dienen könnten“, sind ein konstitutives Merkmal der Prosa; sie verweisen auf die „bewußte Konstruiertheit“ der Figuren und die Künstlichkeit der Darstellungsweise (Schmidt-Dengler 1995, 459 im Anschluß an Jelineks Roman Die Klavierspielerin). Die persönlichen Schreibweisen der Autoren reichen ⫺ sofern sie nicht bewußt collagenartig mit vorgeformtem Material arbeiten ⫺ von „sehr elegant“ bis „glatt“ einerseits und „neue Schlichtheit“ andererseits.

„den Ort ausfindig zu machen, wo die Schrift auf das Reale trifft, wo es weh tut, wo Spuren entstehen ⫺ Tätowierungen, Inskriptionen, Wunden ⫺ oder vergehen ⫺ Metamorphosen, Panzerungen, Maschinen. Deshalb, und nur deshalb, geht es hier auch um Körper […], um Verletzungen, Kratzer und Schnitte […], um EINSCHNITTE eben. […] Der Körper selbst wird zum Medium, an dem sich der Opferzusammenhang der Geschichte und der Gesellschaft offenbart.“ Der Körper wird „zum Austragungsort, zur Schreibfläche des zivilisatorischen Zeichenprozesses selbst […]. Er ist entweder von der Sprache zerrissen und zerfurcht (Anne Duden), monadenhaft geschlossen und verkapselt (Elfriede Jelinek), maschinisiert und autark (Jochen Beyse) oder imaginärer Effekt symbolischer Operationen (Bodo Kirchhoff). […] Die Erzählungen und Romane zerstören das, was in ihnen suggestive Ganzheit, Gestalt und gleichsam körperhafte Geschlossenheit auszubilden verspricht“ (ebd., 14 f.). Die Chiffre des Körpers wird dabei ganz im Sinne des frz. Poststrukturalismus verwendet: „Um nichts geht es weniger als um die eigene Haut. Es geht um die literarische Schrift, den Text. ‘Text ist der Körper des Körpers’ “ (ebd., 21, mit Zitat von Hart-Nibbrig). Ein Essay des Autors Bodo Kirchhoff von 1980, „der sich auch als poetologischer Schlüsseltext für seine gesamte Prosa lesen läßt“, heißt dementsprechend Körper und Schrift (ebd., 99).

6.2. Prosa Aus dem bislang Gesagten/Zitierten ergibt sich, daß auch in diesem Jahrzehnt die Erzählprosa ein besonders wichtiges Exerzierfeld des neuen Schreibens ist. Im folgenden werden einige wenige Werke den genannten Trends zugeordnet.

Mit dieser Dominanz semiotischer Textproduktions- und -rezeptionsverfahren kommt es zu einer neuartigen Annäherung der Zeichenwissenschaften, hier Literatur und Linguistik, zu deren theoretischem Rüstwerk und Fachvokabular die moderne Linguistik viel beisteuert. Doch diese Begegnung findet auf der Ebene der Textstruktur statt, und die (Literatur-)Sprache im engeren Sinn ist davon nur mittelbar tangiert. Außer der schon erwähnten Neigung zur Montage, v. a. von Zitaten, die zum Spiel mit historsicher Bildung gehören (der Dichter darf wieder poeta doctus sein), wird die perfekte Nachahmung

6.2.1. Patrick Süskinds Roman Das Parfum (1985), jahrelang auf den Bestsellerlisten, einer der erfolgreichsten dt.sprachigen Romane des Jahrhunderts, vereinigt eine Reihe der „postmodernen“ Charakteristika aufs geschickteste: vielfältige Stilimitation im Sinne des Pastiches („vom Kleistschen Stil-Imitat der Erzähleröffnung“, über den „Stil-Gestus der Blechtrommel“ bis zur „mythischen Dionysos-Folie des inszenierten kannibalistischen Todes“ der im Zentrum stehenden Monsterfigur), Vielfachkodierung nicht nur als „historischer Roman, Kriminal- oder Schauerroman, sondern auch Variation romantischer oder symbolischer Kunstapotheosen und […] auch ein Kommentar zum politischen Totalitarismus“ (Barner u. a. 1994, 820), nach Meinung von Ryan (1991, 93) mit subtileren Mitteln arbeitend und daher „schwieriger in den Griff zu bekommen“ als der Roman-Welterfolg Der Name der Rose des Semiotikers Umberto Eco: Die „auf einem schmalen Grat zwischen Ironie und Melancholie“ angesiedelte Ästhetik Süskinds werde „vermittelt durch subtile Reflexionen über das Verhältnis von Erinnerung, Sprache und Wirklichkeit“ (Schnell 1993, 449). ⫺ Dieses Verhältnis ist ein „Topos ‘postmoderner’ literarischer Stil- und Tonlagen“; es wird z. B. auch von Bodo Morshäuser in der Erzählung Berliner Simulation (1983) zum Thema gemacht ⫺ oder in Bodo Kirchhoffs Erzählband Dame und Schwein (1985), dem

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als Motto „Sprache, was sonst“ vorangestellt ist, da „die Wirklichkeit der Sprache“ hier als die „eigentliche“ Wirklichkeit vorgeführt wird (ebd.). 6.2.2. Christoph Ransmayrs drittes Werk Die letzte Welt (1988) ist ebenfalls ein postmodernes Erfolgsbuch. Auf den Spuren des verbannten Ovid werden Geschichte und Mythos, Historie und Gegenwart raffiniert ineinander verwoben in einer Sprache, die einerseits „im Referenz-Spiel mit Ovids poetischen Vorlagen“ einen „antikisierende[n] Gestus“ annimmt (Barner u. a. 1994, 821), andererseits auch „moderne Technik“ und modernen „Jargon aus den Medien“ ganz selbstverständlich einsetzt (s. ausführlich SchmidtDengler 1995, 520 ff.). 6.2.3. Elfriede Jelinek, schon durch Die Liebhaberinnen (1975) mit Prosa hervorgetreten, wird in den 80er Jahren die bekannteste und kompromißloseste österr. Autorin. Die Klavierspielerin (1983) wurde oben schon als Muster für konstitutive Stilfiguren der Postmoderne genannt: die distanzierte, nirgends zur Identifikation einladende Sprache, einer „Ästhetik des Häßlichen“ verpflichtet, läßt die Figuren bewußt Kunstprodukte bleiben (s. Schmidt-Dengler 1995, 447, 456). Nicht nur die Figuren bleiben ohne eigene Sprache, zusammengesetzt aus klischeehaften Sprachmustern („militärischer und Gossenjargon, ästhetischer und ökonomischer Diskurs, Smalltalk-Klischees und Dialekt“) ⫺ auch die Erzählsprache „geht auf in der Vielheit gesprochener Sprachen und doch gleichsam durch sie hindurch“ (Winkels 1988, 67, mit Zitat von Voss). So entsteht ein Text, der „das den sozialen Beziehungen inhärente, aber nicht mehr kommunizierbare und deshalb zum ‘Bösen schlechthin’ abgespaltene Gewaltpotential an die Oberfläche“ zerrt (ebd., 74). Noch (bewußt) „abstoßender“ sind diese Schreibtechniken in Jelineks Roman Lust (1989) weiterentwickelt, der meist im Zusammenhang der neuen Frauenliteratur der 80er Jahre besprochen wird. Barner u. a. (1994, 614) attestieren der „auf die Ekel-Aspekte menschlicher Quäl-Rituale“ fixierten Autorin eine „Art chirurgischer Seziergenauigkeit“, mit der sie „Krankheitsherde im menschlichen Verhalten“ aufdecke „und kritisch auf die gesellschaftlichen Konditionierungen, die dahinter stehen“, verweise. Schnell (1993, 455 ff.) vergleicht Lust mit Christa Wolfs Erzählung Kassandra (1983). Beide Werke prä-

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sentieren „Männer-Bilder“ (wie im „Spiegelkabinett“ bzw. „Hohlspiegel“ ⫺ hierin dem durch Lacan ins postmoderne Interesse gerückten Spiegelmotiv verpflichtet); sie gelten als Paradebeispiele, wie sehr sich die Frauenliteratur der 70er Jahre durch „Elaborierung ihrer ästhetischen Mittel strukturell geöffnet“ hat (ebd., 460). 6.2.4. Auch bei den drei dominanten Autoren der 80er Jahre, Bernhard, Handke, Strauß, lassen sich, wenn man will, „postmoderne“ Charakteristika finden ⫺ sofern sie diese nicht mit vorbereitet haben. Kälte (1981) und Auslöschung (1986) sind Bernhards Themen von Anfang an gewesen, werden aber nun zeittypisch. Für Bernhard stehen sie allerdings jetzt ganz im Kontext der Abrechnung mit dem Nachwirken nationalsozialistischen Gedankenguts, während sich die „Postmodernen“ zu (zeit)geschichtsfernen Polarexpeditionen aufmachen. 6.2.5. Botho Strauß’ Roman Rumor (1980) und die essayistische Mischprosa von Paare, Passanten (1981) sind hinsichtlich ihres sprachreflexiven und sprachkritischen Ansatzes seinen Bühnenstücken vergleichbar. Die dort früh zu beobachtende Sprachmischung „zwischen trivial und hyperrealistisch und mythologisch“, sein Hang zum Mystisch-Mythischen und Allegorischen, der ursprünglich eher bespöttelt wurde, wird nun im Rahmen der Postmoderne-Diskussion meist positiv hervorgehoben; dazu paßt auch, Strauß als „Eklektiker“ zu sehen, der „von der Philosophie bis zum Comic Strip“ gehe und das noch mische (vgl. Betten 1995, 44 f. mit Zitaten von Luc Bondy). Die Aktualität, mit der Strauß wie kein zweiter heutige Großstadtjargons erfaßt, ist Zeichen einer hochsensiblen Wahrnehmungsfähigkeit; diese werden durch seine (nun als typisch postmodern empfundene) Zitat- und Montagetechnik analytisch eingesetzt, um alles Reden als Gerede und die Unfähigkeit des nur in (unterschiedlichsten) Sprachklischees monologisierenden Individuums zu wahrer Kommunikation zu entlarven. Obgleich die Gefahren der „Informationsüberflutung im Medienzeitalter“ auch bei den Reflexionen „über die Schwierigkeit des Erzählens“ im Roman Der junge Mann (1984) im Zentrum stehen, löste dieser heftige Kontroversen aus durch die Art, wie der Autor hier „statt Geschichte […] den geschichteten Augenblick“ (Strauß) zu erfassen sucht durch „ein episches Patch-

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work, das schockhafte Traumverwandlungen, ins Irrationale sich öffnende Peripetien, mythische Schreckbilder, Märchen, Träume, Zukunftsbilder und Gesprächssequenzen ineinander übergehen läßt“ (Barner u. a. 1994, 827 f.). Kaum vom postmodernen Zeitgeist eingeholt, verärgerte der Autor die neuen Mitläufer durch eine gewandelte Poetik, die auf „Schönheit, Hoheit, Erhabenheit“ setzt (Schnell, 1993, 499), deren Sprache jedoch vielen schwulstig und vernebelt erscheint. „De´ja`-vus für den Leser“ will er nicht mehr schreiben (Strauß 1986); künftig wird er die Realität kybernetisch, in den „Netzwerken, Systemen“ suchen (vgl. Ritzer 1997, 142 f.): Der „neue Gnostiker“ „bedarf nicht der Weltflucht. Den Schlag des Sinns empfängt er in der Lichtung des Allgemeinen. Sein Nunc stans entspringt dem dichtesten Alltagsallerlei. Die gliltzernde […] Utopie erscheint ihm keineswegs anregender […] als die komplexen Zusammenwirkungen und Unvereinbarkeiten des Jetzt“ (Strauß, Niemand anderes, 1987, zit. ebd., 144). ⫺ Durch den „Spiegel“-Essay Anschwellender Bocksgesang (1989), eine „Abrechnung mit der Medientelekratie der Spät-68er“, gewertet als „Restauration von ‘Kirche, Tradition und Autorität’“, mit seinem „von Sezession und Meistertum geprägte[n] Kunstbegriff“ und der „Prognostizierung einer kultursprengenden ‘Tragödie’ “ (ebd., 127) provozierte Strauß schließlich lang anhaltende polemische Diskussionen, gerade weil an seinen Thesen ein intellektueller Wendepunkt sichtbar wurde.

6.2.6. Wie schon des öfteren zuvor, gibt es gewisse Parallelen zwischen Strauß’ und Handkes Entwicklung. Seit Beginn der 80er Jahre (Kindergeschichte, 1980) sucht Handke eine neue, gegen die bestehende Wirklichkeit gerichtete Poetik: „[…] und dabei durften einem zuweilen auch jene Wörter über die Lippen kommen, welche man bisher, im Kino, als Pathos überhört und in den alten Schriften als ungebräuchlich überlesen hatte, und die sich jetzt als die wirklichsten der Welt zeigten. Wer waren die Ahnungslosen, die sich herausnahmen, zu behaupten, daß die großen Wörter ‘geschichtlich’ seien und mit der Zeit ihren Sinn verlören?“ (Handke, zit. nach Schnell 1993, 526).

Der „hohe Ton, ein gewisses Pathos in Satzbau und Wortwahl, in Bildern und deren Auslegung“ (ebd., 525) verstärken sich in Handkes weiteren Arbeiten, als deren anspruchsvollstes Beispiel der Roman Die Wiederholung (1986) gilt. Seine „Widerständigkeit gegen den vermeintlichen Fortschritt, den die avantgardistischen Bewegungen für sich beanspruchen“,

prallte an den Kritikern nicht ab. Sie warfen seiner Sprache, die er „bewußt auch als ‘Verkündigung’ erfassen will“, die „Pose des Restaurateurs“ vor (Schmidt-Dengler 1995, 492, 504); sein „Hang zur ‘Innerlichkeit’ und zur ‘Positivität’ “ werden oft als „Regression“ verurteilt (Schnell 1993, 526). Doch allmählich mehren sich die Stimmen, dem „Bemühen um Klassisches“ nicht „im vornherein die Legitimität abzusprechen“ (SchmidtDengler 1995, 496) und Handkes „Wahrnehmungs- und Schreibweise“ in ihrem „Rückgang auf Elementares, Einfaches, Erstes, von dem aus sich aufs neue unverstellte Wahrnehmungen entwickeln lassen“, einer „ernsthaften Prüfung zu unterziehen“ (Schnell 1993, 526). 6.2.7. Daß es neben den hier betrachteten sehr viel diskutierten Werken eine Vielzahl anderer gibt (z. B. in der Frauenliteratur oder in den „Dorf“- und „Heimat“-Romanen der Österreicher Roth, Wolfgruber, Winkler, Haslinger, in denen ebenfalls zeittypische neue Wege des Erzählens abseits der sog. experimentellen Schreibtechniken erprobt wurden), kann hier nicht weiter verfolgt werden. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der Literatursprache wird sich erst mit etwas mehr Abstand klären. 6.3. Drama Das Theater der 80er Jahre ist ebenfalls vielseitig und lebendig, doch lassen sich die sprachlichen Tendenzen weitgehend aus dem bisher Gesagten ableiten. Nicht zuletzt resultiert dies daraus, daß bei auffällig vielen Autoren episches und dramatisches Schaffen parallel laufen (Strauß, Bernhard, Jelinek, Süskind, Kirchhoff etc.). 6.3.1. Besonders starke Impulse gehen von der Schreibweise und Dramaturgie Thomas Bernhards aus, der in diesen Jahren seine unverwechselbare Dia- bzw. Monologtechnik weiter kunstvoll variiert (u. a. in Der Schein trügt, 1983; Der Theatermacher, 1984; Ritter, Dene, Voss, 1984; Einfach kompliziert, 1986; Heldenplatz, 1988). Die monologische Suada wird z. B. Muster von Rainald Goetz’ Trilogie Krieg (Stück des Jahres 1987/88), dessen interpunktionslose Versschreibung der Bernhards sehr ähnlich sieht: „Ich / Wieder / Aber warum / Frage warum Wort / Antwort strenge Ordnung / Frage warum strenge Wortordnung […] / Antwort Haß“. Auch „Haß“ ist ein häufiges Leitmotiv Bernhards; dennoch wird

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beim Vergleich deutlich, daß bei Goetz eher experimentelle lyrische Sprachmodelle Pate stehen (vgl. Betten 1991a, 171 f.). ⫺ Ganz anders wiederum präsentiert sich das Monologstück Gust von Herbert Achternbusch (Stück des Jahres 1984/85): Hier spricht ein alter Bauer mit dem Rededrang der Bernhardschen Figuren, doch in einer dialektalen Sprache von hoher sprechsprachlicher Authentizität: wie Kroetz sucht Achternbusch eine neue Form des Volkstheaters (das auch in den 80er Jahren noch boomt), doch in einer im Vergleich zu Kroetz’ extrem verknappter Sprache eher ausladend „realistischen“ Konversationssprache; diese wird zu einer ganz unglaublichen Situation in Kontrast gesetzt, so daß es zu einer Verbindung von sprachrealistischem und absurdem Theater kommt (s. Betten 1991a, 172 f. und 1991b). 6.3.2. In Jelineks Dramen (z. B. Burgtheater, Stück des Jahres 1985/86) wird Dialekt dagegen collageartig neben andere Sprachebenen montiert, die Realisierung als „Kunstsprache“ ausdrücklich gefordert. Die Sprachcollage wird im Drama der 80er Jahre zum zentralen Ausdrucksmittel von Sprach- und Gesellschaftskritik, auch wenn die Ergebnisse bei jedem Autor andere sind. So entsteht eine Vielzahl zwar nicht figuren-, aber doch autorspezifischer Dialogsprachen. Die Kontraste können in einer Rede derselben Figur auftreten (wie schon in den 70er Jahren bei Botho Strauß) oder zwischen den einzelnen Personen angelegt sein, aber auch in verschiedenen Teilen einer Szene oder zwischen den verschiedenen Szenen eines Stükkes vorkommen. Sprachvielfalt, Sprachkontrast, Sprachbruch oder aber Sprachrealität versus Sprachpoesie gehören zu den bevorzugten Darstellungsmitteln, ob bei Thomas Brasch (Mercedes, 1984, Frauen-Krieg-Lustspiel, 1988), Harald Mueller (Totenfloß, 2. F. 1986), Heiner Müller (von manchen weiterhin als der bedeutendste dt.sprachige Dramatiker angesehen) oder anderen (genauer Betten 1991a). 6.3.3. Politisch und dramaturgisch herausfordernd sind ferner die Stücke des ungarischen Juden George Tabori (z. B. Mein Kampf, 1987), der Themen der Nazi-Verfolgung mit absurden Regieeinfällen kombiniert. Die Sprache selbst jedoch ist am wenigsten ungewöhnlich (und sie ist übersetzt, obgleich Tabori inzwischen fast als „deutscher“

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Dramatiker gilt). ⫺ Auffällig ist ferner, daß Frauen in der bisher von ihnen vernachlässigten dramatischen Gattung erfolgreich werden, z. B. Friederike Roth mit Ritt auf die Wartburg (1981, Stück des Jahres 1983; parallel auch Hörspiele), in Österreich neben Jelinek seit Ende der 80er Jahre Marlene Streeruwitz „mit rabiat Politisches und Persönliches, Gesellschaftsspezifisches und Geschichtskritisches verknüpfenden Brutalszenen aus der Alten und der Neuen Welt“ (Schnell 1993, 491). 6.4. Lyrik Vielfalt kennzeichnet auch die Lyrik. Und auch hier gibt es viele neue Stimmen, darunter eine „neue Frauenlyrik“ (voran die aus der DDR übersiedelte Sarah Kirsch sowie Ulla Hahn, Ursula Krechel u. a.), Anthologien sog. „Ausländerliteratur“ in dt. Sprache (v. a. von Italienern und Türken ⫺ nicht nur auf dem lyrischen Sektor) und immer mehr Beiträge einer bis dato ignorierten „fünften deutschen Literatur“ der Rumäniendeutschen, die erstmals eine größere Leseöffentlichkeit erreicht (vgl. Barner u. a. 1994, 843 ff.). Die Spannbreite reicht von der Fortsetzung der Alltagslyrik aus den 70er Jahren in Alltagssprache (einschließlich aller Formen von Dialekten und Jargons) über postmoderne Wort- und Schreibspiele bis zu einer für dieses Jahrzehnt typischen neuen „Rhetorisierung der Poesie“ (ebd., 849). 6.4.1. Die „Rückkehr zu einer artifiziell gehandhabten und stilisierten Standardsprache“ (Steger 1987, 154) führt zum einen zum virtuosen „Umgang mit erprobten lyrischen Formtraditionen und Schönheit im Ausdruck“, wie in der Erfolgslyrik Ulla Hahns (als Bsp. die 1. Strophe ihres Gedichts Ars poetica: „Danke ich brauch keine neuen / Formen ich steh auf / festen Versesfüßen und alten / Normen Reimen zu Hauf“). Aber auch poetische Innovationen, „die verändernd auf ihr Medium, die Sprache“ einwirken, wie bei Oskar Pastior, der „in Wahrnehmungen und Gestus den konventionellen Kommunikations- und Informationsgehalt der Sprache unterläuft“, indem er „auf dem ästhetischen Eigenwert von Klang und Rhythmus“ besteht (Schnell 1993, 467, 469). Vieles an Pastiors Experimenten (die die Nähe zum Nonsens nicht scheuen) läßt sich ebenso mit Dada wie mit Traditionen der Wiener Gruppe (Artmann u. a.) in Verbindung setzen; seine Buch-

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staben- und Lautspielereien werden (wie bei Jandl) bei seinem persönlichen Vortrag zum Hörgenuß. Wörtlichkeit (als „Bestehen auf dem Wort“), Intertextualität, Polymythie sind Stichwörter für einen Teil dieser Lyrik mit speziell postmodernem touch (Barner u. a. 1994, 848 ff.). 6.4.2. Als besonderes Kennzeichen dieser Jahre gilt die Bevorzugung der Elegie; sie könnte als Abwandlung des ‘langen Gedichts’ der 70er Jahre gesehen werden, verbunden mit den neuen Vorlieben für Mythos und Form (ebd., 854 ff. mit Beispielen von Krüger, Krechel, Grünbein, Jurek Becker, Handke, Strauß, Enzensberger u. a.). ⫺ Unter „Langform“ fallend, aber doch ganz eigen, sind die Gedichte Friederike Mayrökkers, die seit den 50er Jahren kontinuierlich publiziert, aber gerade in diesem Jahrzehnt besonders fruchtbar ist. Wie auch in ihrer Prosa (vgl. Schmidt-Dengler 1991 und 1995, 507 ff.) entsteht hier in sinnlicher, bildhafter Dichte und in einem einzigen Sprachfluß ein Miteinander von Sinneseindrücken, Gefühlen, (Zitat-)Erinnerungen, das „polysemantisch erregt“ (Mayröcker, zit. ebd., 518). Daß sie bei aller Unverwechselbarkeit, die gerade ihr immer wieder bescheinigt wird, auch ganz Zeittypisches in „zeitgemäßer“ Form äußert, macht wohl die Faszination für ihre „Lesergemeinde“ aus. Ein Bsp. aus der Prosa Magische Blätter (1985): „eine Literatur der Zersplitterung […] schreiben, nämlich ein sich in alle Geschöpfe zersplittern, versprengen, verschütten, verteilen, zerstäuben; das oberste Ziel nie aus den Augen verlieren: einer poetischen Wahrheit gerecht zu werden […]“.

6.4.3. Barner u. a. (1994, 898) haben genau diesen Gedanken als Motto für ihre Darstellung der DDR-Lyrik der 80er Jahre gewählt: „Zersplitterung des ästhetischen Kanons“. ⫺ Bleiben wird gerade aus diesem Jahrzehnt vielleicht eine beachtliche Zahl von Gedichten, die an den extremen Entwicklungen allenfalls peripher Anteil haben: In freier Verfügung über klassisches Formengut und in einem nicht feierlichen, aber doch poetischen Alltagston notieren sie verhalten die Trauer des Individuums und die Angst vor großen Katastrophen, in Sprechweisen, die von einem kundigen Lesepublikum goutiert werden. Es ist wohl kein Zufall, daß die weniger spektakulären, aber berührenden Töne besonders von Autor/inn/en kommen, die das

Land von Ost nach West gewechselt haben und ihre Welt-Erfahrung ganz individuell in Sprache umzusetzen versuchen (S. und R. Kirsch, Kunze, Kunert, Herburger u. v. a. ⫺ „populärer“ und provokativer aber auch Biermann, der so manchem von ihnen zum Schicksal geworden war). Als Bsp. Günter Kunert (aus: Abtötungsverfahren, 1980), mit einer an japanische Haikus erinnernden sprachlichen Reduktionskunst und kalkulierten Schlichtheit: Aus blinden Augen fällt Finsternis bevor die Hand ins Leere greift.

7.

Stilloser Übergang? Anmerkungen zur Zeit nach der „Wende“

Ist schon die Beurteilung der 80er Jahre noch relativ offen, so läßt sich wegen zu großer Nähe erst recht kein klares Bild von den 90ern geben. Hier sei nur auf wenige Versuche verwiesen (erste Überblicke wie Wehdeking 2000 konnten nicht mehr eingearbeitet werden). Wie an anderen geschichtlichen Wenden werden deren Auswirkungen auf Verhaltensweisen und Stile erst später erkennbar werden. Die Neugierde des Feuilletons war zunächst auf die thematische Verarbeitung der historischen Ereignisse und der neuen Situation nach der Wiedervereinigung gerichtet. „Döblin, dringend gesucht!“ betitelt Steinert (1995) die Erwartung auf große Romane über das wiedervereinigte Berlin. Einige (postmodern?) ironische, z. T. genau erzählte, z. T. symbolische Antworten liegen inzwischen vor. Wie bei jedem neuen Jahrzehnt wurden zunächst „Talentschwäche“ und eine Literaturkrise konstatiert (s. Döring 1995, VIII f.), doch im Rückblick wird manchen Versuchen der „literarischen Gestaltung des Neuen“ bereits ein eindrucksvolles Niveau zugebilligt und die Vielstimmigkeit hervorgehoben (s. Krauss 1999, 44 f.). 7.1. Erb (1998, 7 f.) bezeichnet die junge Generation als „ArtistInnen“, die „wenig Interesse an den […] theoretischen Bemühungen um den Stellenwert der Literaturproduktion im Zusammenhang mit kapitalistischen Vermarktungsstrategien“ zeigen und sich weder unter dem Zwang sehen, die Auseinandersetzung mit dem Nationialsozialismus, noch „die Geschichte der Studentenbewegung oder gar den ‘Deutschen Herbst’ aufzuarbeiten

200. Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945

[…] ⫺ all’ dies ist für sie allenfalls Material, frei verfüg- und überschreibbar“; „Kontingenz, Dissoziation, Pluralität“ seien die Begriffe, die „die derzeitige gesellschaftliche und literarische Situation theoretisch zu beschreiben suchen“. So sind zentrale Themen und Darstellungsweisen schon aus den 80er Jahren bekannt: Der Körper hat jetzt erst richtig „Konjunktur“: „Eine ganze Schar von Autoren ist […] damit beschäftigt, das Geheimnis des Lebens mit pathologischem Eifer zu erforschen und anatomische Texte mit dem Skalpell zuzuschneiden“; Magenau (1998, 107) spricht ironisch von einer „Literatur der neuesten ‘Neuen Innerlichkeit’ “. Nicht zufällig rückt Gottfried Benn wieder ins Blickfeld. Durs Grünbein setzt seine biologisch-physiologischen Interessen (ein Gedichtbd. von 1991 heißt Schädelbasislektion) sogar in die Tradition Goethes ⫺ auch wenn ihm der österr. Autor Czernin 1995 vorwarf, der modernistische Gestus des wissenschaftlichen Jargons kompensiere lediglich, was seine Gedichte „in ihrer traditionellen Machart formal nicht zu leisten vermöchten und was ihnen deshalb äußerlich bliebe“ (ebd., 112). Heiner Müller sprach in seiner Laudatio auf den Büchnerpreisträger Grünbein 1995 von ihm und seinen Generationsgenossen sarkastisch als von den „Untoten des Kalten Krieges“, Grünbein konterte: „Die Schaubühne als moralische Anstalt ist geschlossen, eröffnet ist das Theater der Anatomie“ ⫺ und weil ihn dies „so zeitgemäß macht“, wurde er als „erste genuine Stimme der neuen Republik“ bezeichnet (ebd., 114 f. mit Zitat von Schirrmacher, FAZ, 9. 5. 1995). 7.2. Bogdal (1998, 10) glaubt, „daß ohne die deutsche Vereinigung nahezu die gleichen Texte geschrieben worden wären“; er skizziert die literarischen 90er Jahre in wesentlichen Punkten als Fortsetzung der 80er Jahre. Wie in der heutigen Sozialwissenschaft sieht er den „Schlüssel für unsere Gegenwartsliteratur nicht in den Ereignissen um 1989, sondern in den siebziger Jahren“ (ebd., 15); die hiermit verbundene Hervorhebung der Heterogenität heutiger (auch literarischer) Szenen/ Milieus wird von den meisten Beobachtern geteilt. Den „literarischen Raum der Gegenwart“ vergleicht Bogdal mit einem „funktional ausgerichteten System, das durch fünf Kanäle die verschiedenen Milieus mit den erwünschten ästhetischen Sinnangeboten“ beliefere: 1. gesellschaftskritische

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Literatur, 2. ‘Versorgung’ mit modischen Konfliktthemen, 3. Lebensstil-Literatur (von Schwanitz’ Universitätsroman Der Campus, 1995, bis zu Handkes Versuch über den geglückten Tag, 1991), 4. Befriedigung okkasioneller kultureller Bedürfnisse („hedonistisches Syndrom“), 5. Gewaltinszenierung.

Im oft beschworenen Sinne der Postmoderne ist die Grenze zwischen „gehobener“ und trivialer Literatur fließend. Dafür spricht u. U. nicht nur das modische soziokulturelle Interesse an der Lebenswelt (vgl. Braun 1991), sondern auch der Umstand, daß schon in den 80er Jahren die Grenzziehung zwischen der Produktion für „anerkannte“ Genres und Medien oft auch von den Autoren ignoriert wurde. (So produzierten viele „Szene-Journalisten“ auch Literatur und anerkannte Autoren wie Süskind oder Jurek Becker Drehbücher für TV-Serien; vgl. Kreuzer 1991a, 19). Schütz (1998) nennt sie „Journailliteraten. Autoren zwischen Journalismus und Belletristik“. Das Thema „Der Autor in der Medienindustrie“ (s. Uecker 1998) stellt sich jedenfalls erneut verschärft und wird von den Kindern des Medienzeitalters offenbar weniger bedrohlich gesehen als in den 60er und 70er Jahren. Koopmann (1997, 21 ff.) bleibt dagegen auf den „traditionellen“ Literatursektor konzentriert, wenn er als „Prototypen“ innerhalb der postmodernen Vielfalt (das Weiterleben) folgende(r) Tendenzen beschreibt: 1. Das phantastische Erzählen von z. T. „hohem intellektuellem Anspruch“ (so Ransmayrs Roman Morbus Kitahara, 1995; Köpfs Novelle Borges gibt es nicht, 1991; die Romane von Hermann Burger). 2. Biographisches Interesse (z. B. Walser, Verteidigung der Kindheit, 1991; Härtling, Schumanns Schatten, 1996). 3. Der Zeitroman (z. B. Ortheil, Agenten, 1989). 4. Beziehungsromane (z. B. Hofmann, Das Glück, 1992; Wohmann, Ehegeschichten, 1992; Grass, Unkenrufe, 1992, u. v. a.). 5. Vätergeschichten (z. B. Ortheil, Abschied von den Kriegsteilnehmern, 1992; J. Becker, Amanda herzlos, 1992). 6. Die politische Wirklilchkeit (hier nur Bsp. zur Auseinandersetzung mit der DDR seit 1989, wie Hein, Der Tangospieler, 1989).

Auch Koopmann konstatiert das Fehlen politischer und sozialer Themen und die Durchlässigkeit der alten „Trennung von Fiction und Non-fiction“. Vom Ende des Realismus der 60er und 70er Jahre und von der Forderung der „Rückkehr zum Realismus“ (so Maxim Biller 1991) ist die Rede und von „neuen Stilversuchen“ (bei Herta Müller, Rainald

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Goetz, Gerhard Köpf, Durs Grünbein) (ebd., 29 f.). ⫺ Doch die Sprachbetrachtungen bleiben alle merkwürdig dünn und allgemein. Vorläufig scheint nur das stilistisch erkennbar zu sein, was schon in den 80er Jahren identifiziert wurde. 7.3. Selbstverständlich ist für die meisten jungen Autor/inn/en der Einsatz der Elektronik, z. B. für Graphemspiele im Gedicht, Transformationen und Substitutionen per Computer: „Das Gedicht in der Ära unserer anhebenden Cyberculture spricht kühl zu uns, es spricht von den allgegenwärtigen Telegeräten und den Körper-Phantomen“, das „poetische Grundvokabular aus den Hochzeiten deutscher Lyrik ist durch eine nüchterne Terminologie ersetzt“, konstatiert Grimm (1995, 288 f.) in seiner Eloge auf die „Lesbarkeit der jüngsten Lyrik“. Sein Lob von Kling, Grünbein, Zieger u. a. geht davon aus, daß dieser Lyrik „ohne Aufmerksamkeit für die Neuerungen im Apparatebau nicht mehr beizukommen“ ist: „Im neusachlichen Ton umkreisen die Gedichte das Schlüsselerlebnis der Epoche, die Simulation von Erfahrung in einem Netzwerk“ (ebd., 310). Dieter M. Gräf (1994) drückt dies z. B. so aus: „AUSFLUG // ‘die Bewegung hat sich in die Geräte ver/ lagert …’ “ (s. Döring 1995, 289). ⫺ Korte (1999, 21) setzt zwar hinter den Titel seiner exemplarischen Analysen der Lyrik der 90er Jahre Ein neues Jahrzehnt des Gedichts? ein Fragezeichen; im Ensemble der heterogenen „Lyrik-‘Milieus’ “ mit ihren unterschiedlichen „Schreibweisen und Poetiken“ erscheinen ihm jedoch die Ansätze „einer neuen Gedichtpoetik, in der Sprachreflexion und Sprachkritik sowie die Auseinandersetzung mit aktuellen Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsmodellen einen wichtigen Raum einnehmen“, als bemerkenswerte Zurückmeldung der experimentellen Literatur. Andere Blicke auf die Literatur dieser Jahre, z. B. von Österreich aus (s. Zeyringer 1999), kündigen an, daß auf dem „SprachKörper-Terrain“ und dem „Wort-Welt-Terrain“ (ebd., 399) auch in anderen Gattungen noch vieles zu beschreiben bleibt. 7.4. Günter Grass hat in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung Schreiben nach Auschwitz (1990) gegen die „historische Zäsur von 1989 als dem Ende der Nachkriegszeit“ nochmals ⫺ wie vor ihm Bachmann und Böll ⫺ die „absolute Zäsur von Auschwitz“ als „Stunde Null der Zeitgeschichte“ und „Prüfstein der

deutschen Frage“ gesetzt (Lützeler 1994b, 14). In diesem Zusammenhang sei hier zum Abschluß auf das Erscheinen einer neuen dt.sprachigen Literatur von jüdischen Autor/ inn/en der 2. und 3. Generation seit den 80er Jahren hingewiesen. Obgleich „die Shoa selbstverständlich das zentrale Ereignis ihrer Geschichte“ bleibt (Steinecke 2000, 190 f.), wird dies bei den nachgeborenen Generationen v. a. zum Bezugspunkt für ihre Fragen zur jüdischen Identität. Die „Vielfalt der Auffassungen und Haltungen“ spiegelt sich in Unterschieden „der Schreibweisen und -strategien, des Verhältnisses zur Tradition und Innovation, des Umgangs mit Sprache“ (ebd., 193). Auch in ihren Texten spielen die Folgen der Wende eine wichtige Rolle, dies allerdings ⫺ gemäß dem postmodernen Literaturbegriff ⫺ „primär in journalistischer und kritischer Form“, „schriftstellerisch oft brillant“ (ebd., 199), während die Erzählprosa eher die Folgen des Lebens im Land der Täter und den Umgang mit der unmittelbar betroffenen Elterngeneration für das eigene Selbstverständnis reflektiert (z. B. bei Rafael Seligmann, Barbara Honigmann in Deutschland, Robert Schindel, Doron Rabinovici in Österreich). An einem Vergleich der Lyrik von Durs Grünbein und den jüdischen Autoren Matthias Hermann und Robert Schindel zeigt Nolden (1998) postmoderne Gemeinsamkeiten von Themen und Stil, aber auch den entscheidenden Unterschied zwischen der „Gereiztheit und zerebrale[n] Überempfindlichkeit“ eines Grünbein als „Ausdruck allgemeiner fin-de-sie`cle Stimmung“ und der den jüdischen Autoren gleichsam genealogisch eingeschriebenen, „ererbten Erinnerung“ (Hermann), die „den kursierenden Begriff der ‘kollektiven Erinnerung’ modifiziert“ (ebd., 267 f.). ⫺ Es bleibt dem neuen Jahrtausend vorbehalten, im Dialog zwischen den literarischen Stimmen der Nachgeborenen „die neue Sprache“ zu finden.

8.

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Anne Betten, Salzburg

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte 201. Terminologie und Gegenstand der Sprachkontaktforschung 1. 2. 3. 4.

Einführung Die Ebene des Sprachsystems Die Ebene der Sprachverwendung Literatur (in Auswahl)

1.

Einführung

1.1. Bestimmung des Gegenstandsbereichs Kulturelle, wirtschaftliche und politische Kontakte zwischen den Völkern und Bevölkerungsgruppen führen zu Sprachkontakten. Sprachkontakte entstehen durch direkte oder indirekte soziale Interaktion der einzelnen Sprachträger. Sie können nicht nur verändernde Folgen für den Idiolekt eines Individuums haben, sondern auch für das Sprachsystem einer Sprachgemeinschaft: der Kontakt ermöglicht den Einfluß einer Sprache auf die andere; es entstehen linguistische und situationale Interferenzen (s. u. 2.2.). Theoretisch gibt es keine Teilsysteme der Sprache, die gegen Interferenzen unempfindlich wären, in der Praxis zeigt sich die Lexik als der Bereich, bei dem sie am häufigsten vorkommen. Gegenstand der Sprachkontaktforschung sind daher alle Ebenen des Sprachsystems und der Sprachverwendung, auf denen Veränderungen entstehen, wenn zwei oder mehrere Sprachen (Dialekte, Soziolekte) in Kontakt treten. Der Terminus Sprachkontakt umfaßt aber sowohl den Prozeß der Sprachberührung als auch das Resultat der Einflüsse einer Sprache auf eine andere, vor allem durch verschiedene Arten des Lehnguts. Der Untersuchungsbereich ist dadurch noch nicht erschöpft. Auch die neurologischen, psychologischen, soziologischen, kulturellen, politischen und geographischen Bedingungen des Sprechkontakts gehören hierher, wenn man nicht nur feststellen will, was beim Kontakt vorliegt, sondern auch, wie und warum welche Kontaktphänomene ent-

standen sind oder entstehen können. Außer der sprachenbezogenen Probleme sind auch die individuum- und gruppenbezogenen Fragestellungen zu berücksichtigen. Sprachkontaktforschung bildet zusammen mit Mehrsprachigkeitsforschung den Kernbereich der Kontaktlinguistik; der Terminus Kontaktlinguistik geht auf Oksaar (1976b, 232) zurück. Sprachkontaktforschung verläuft heute interdisziplinär auf der Linie, die schon vor hundert Jahren durch die Bestimmung der Beeinflussung vorgezeichnet war: „Eine Sprache beeinflußt eine andere auf oberflächliche Weise, auf mechanische, auf geistige Weise, indem sie an dieselbe von ihrer Aussprache, von ihrem Wortschatz, von ihrer inneren Form abgibt“ (Schuchardt 1883, 117). Fast ebenso alt ist die Differenzierung: „Wir müssen zwei Hauptarten der Beeinflussung durch ein fremdes Idiom unterscheiden. Erstens kann fremdes Material aufgenommen werden. Zweitens kann, ohne daß anders als einheimisches Material verwendet wird, doch die Zusammenfügung desselben und seine Anpassung an den Vorstellungsinhalt nach fremdem Muster gemacht werden; die Beeinflussung erstreckt sich dann nur auf das, was Humboldt und Steinthal innere Sprachform genannt haben“ (Paul 1886, 339).

Diese Standpunkte sind seitdem differenziert und systematisiert worden, jedoch mit erheblicher terminologischer Uneinigkeit (s. ä. u. 2.). Bei allen Kategorisierungen darf nicht vergessen werden, daß Sprachkontakt als ein Komplex von eng verflochtenen linguistischen und außerlinguistischen Phänomenen anzusehen ist (Haugen 1956, 39; Ivir/Kalogjera 1991, Salnikow 1995). Der Ausgangspunkt und das Medium der Kontakte sind stets Mehrsprachige, d. h. Individuen, die außer ihrer Muttersprache auch Kenntnisse in eine oder mehreren Sprachen (Dialekten, Soziolekten) haben. Voraussetzung für die

201. Terminologie und Gegenstand der Sprachkontaktforschung

Verbreitung der Entlehnungen und die Entstehung einer Mischsprache als Resultat der Kontakte ist die mehrsprachige Gruppe.

2.

Die Ebene des Sprachsystems

2.1. Sprachmischung und Mischsprache Vom Sprachsystem aus gesehen führen Sprachkontakte außer Interferenzen weiter zu Entlehnung, Sprachmischung, Mischsprache, Substrat, Superstrat, Adstrat, Sprachwechsel, Hybridsprache, um nur einige Erscheinungen zu nennen (Überblicke bei Vildomec 1963, 116 ff., Kontzi 1989, 9ff.). Man wendet sich gegen die Termini mit Misch-, Mischung, mischen wegen ihrer mißweisenden Konnotationen. Eine Mischung von Sprachen impliziere, daß eine neue Sprache aus den früher existierenden Sprachen entsteht, es werden jedoch Elemente, die zu einem Sprachsystem gehören in ein anderes transferiert (Haugen 1953, 362). In der europäischen Sprachwissenschaft wird der Terminus Sprachmischung häufiger verwendet als anderswo, wenn auch nicht einheitlich. Sprachmischung kommt vor, „wenn bei einer einseitigen oder gegenseitigen Beeinflussung zweier Sprachen neben dem Wortschatz auch das Lautsystem, das morphologische System und die Syntax der einen oder der anderen Sprache betroffen werden“ (Schönfelder 1956, 9). Wird nur der Wortschatz allein betroffen, hat man es mit Entlehnung zu tun; Entlehnung wird aber auch vielfach mit Interferenz im Sinne von Weinreich gleichgesetzt (Schönfelder 1956, 9; Tesch 1978, 31 ff., 49 ff.; Schottmann 1977, 16 f.; Thomason/Kaufman 1988). Der Unterschied zwischen Sprachmischung und Mischsprache ist graduell, letztere bezieht sich auf einen höheren Grad des fremden Einflusses und ist mehr resultat- als prozeßbezogen. Das Mischsprachenproblem hat heute seine Aktualität keineswegs verloren, nicht nur wegen des wachsenden Interesses für moderne Pidginisierungs- und Kreolisierungsprozesse. Man will u. a. klären, ob Sprachen, die sehr gemischt sind und gewöhnlich als germanisch bezeichnet werden, nicht auch zwei Sprachfamilien zugerechnet werden könnten (Kloss 1978, 334 f.). Man will aber auch alte Theorien von der Urheimat und Ursprache der Finno-Ugrier durch neue ersetzen, bei deren interdisziplinären Grundlagen neben genetischen und archeologischen Erkenntnissen auch Sprachkontaktphänomene eine wichtige Rolle spielen (Künnap 1996).

3161

2.1.1. Pidginisierung und Kreolisierung In der heutigen Sprachkontaktforschung ist der besonderen linguistischen Entwicklung, die zu Pidgin- und Kreolsprachen führt, wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden, da sie die Prinzipien der Sprachmischung und des Sprachwandels beleuchten. Pidgins sind Behelfssprachen, die überall entstehen können, wenn durch Kolonisation, Handelsbeziehung, Arbeitssituationen Angehörige verschiedener Sprachgemeinschaften in Kontakt kommen. Charakteristisch für die Pidginsprachen sind stark reduzierte grammatische Strukturen, ein begrenzter Wortschatz und die Tatsache, daß sie keine Muttersprachen sind (Hall 1966; Decamp 1971; Thomason/ Kaufman 1988; Bartens 1996). Werden sie zu Muttersprachen einer Bevölkerung, hat man es mit einer Kreolsprache zu tun (Mühlhäusler 1986; Romaine 1988). Es herrscht allerdings keine Einigkeit darüber, wie eine Pidginsprache entsteht und welche Sprachkontaktresultate dazu gehören. Gehören Situationen dazu, in denen der Tourist mit dem fremden Händler sprechen muß, der Arbeitgeber mit dem ausländischen Arbeitnehmer, so ist es verständlich, daß man von Gastarbeiter- und Immigrantenpidgins redet (Clyne 1975, 55 f.). Andere sprechen sich gegen die Erweiterung des Geltungsbereichs des Begriffes aus, der ursprünglich nur auf die von Einheimischen in untergeordneten Stellungen gesprochenen „Sklaven- und Dienersprachen“ bezogen wurde (Whinnom 1971). Die Pidginisierung demonstriert die Rolle der sozialen Faktoren bei der Gestaltung, Verwendung und Übermittlung von Sprache und die kommunikative Reichweite reduzierter Formen. Eine interessante Variante ist Russenorsk, verwendet in Nord-Norwegen von russischen Kaufleuten und norwegischen Fischern über 100 Jahre bis zur Russischen Revolution 1918. Im Gegensatz zum englischoder französischbasierten Pidgin, wo diese Sprachen das Ausdrucksmittel der dominierenden Schicht sind, gab es beim Russenorsk keine sozialen Unterschiede (Broch/Jahr 1981). ⫺ Für die Geschichte der dt. Sprache ist Pidginisierung auch im weiteren Sinne kein Thema gewesen. Die dt. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Lütge 1960) läßt aber schon für die Karolingerzeit mit ihren regen Handelsbeziehungen und Kulturkontakten Hypothesen über derartige soziale Varianten zu. Aus der neueren Geschichte kann z. B. das „Halbdeutsch“ (Stammler) der Esten und Letten erwähnt werden, dessen eigentümliche

3162

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

Lautgebung, Wortbildung und Syntax laut Stammler (1922, 160) es mit dem Missingsch des Niederdeutschen oder dem Jiddischen vergleichbar machen. Hierher gehört auch das Kuchelböhmisch, oder Kucheldeutsch, ein „tschecho-deutscher Jahrgon“, auf den Schuchardt (1884) hinweist. 2.2. Zur Interferenz- und Lehngutsterminologie Seit den 50er Jahren hat sich eine rege Diskussion auf dem Gebiete der Systematisierung der Interferenz- und Lehnerscheinungen entwickelt. Im Zentrum steht die Erfassung des lexikalischen Lehnguts, die methodologischen und theoretischen Erörterungen konzentrieren sich auf die Lexemebene. Arbeiten über Syntax und Wortbildung sind spärlich. Die Termini Interferenz und Transferenz werden seit Weinreich (1953) und Haugen (1956) nicht einheitlich verwendet, da sie sowohl den Prozess als auch das Resultat umfassen. Die üblichste, aber auch allgemeinste Definition der Interferenz lautet: „Abweichungen von den Normen der einen wie der anderen Sprache, die in der Rede von Zweisprachigen als Ergebnis ihrer Vertrautheit mit mehr als einer Sprache, d. h. als Ergebnis des Sprachkontakts vorkommen“ (Weinreich 1977 [1953], 15). Sie bedarf einer Differenzierung. Als Transferenz gilt für Weinreich die Übernahme der nicht zugehörigen Elemente aus einer anderen Sprache; diese werden als Manifestation der sprachlichen Interferenz angesehen. Da unter ‘Interferenz’ als Oberbegriff sämtliche zwischensprachliche Beeinflussungsmöglichkeiten zusammengefaßt werden, auch die „Umordnung der Strukturschemata“ (Weinreich 1977 (1953), 15) in der beeinflussten Sprache, ist es prinzipiell wichtig, zwischen Interferenzen in der Langue und Interferenzen in der Parole zu unterscheiden. Im ersten Fall sind sie schon Teil einer Norm, im zweiten sind sie aber Teile eines bestimmten Diskurses als Realisierung der verbalen interaktionalen Kompetenz eines Sprechers, die durch seine Kenntnisse einer anderen Sprache bedingt sind (Oksaar 1972 b, 127). In einer anderen Kategorisierung der Sprachkontaktphänomene wird zwischen Codeswitching, Interferenz und Integration unterschieden (Haugen 1956, 40). Codeswitching weist auf das Hinüberwechseln des Sprechers von einer Sprache zu einer anderen hin und kann alles umfassen: vom unassimilierten Wort bis zum vollständigen Satz. In-

terferenz ist dann die Überlappung von zwei Normen, Integration die vollständige Übernahme des Interferenzprodukts in die Sprache des Sprechers. Zur terminologischen Vielfalt auf diesem Gebiet s. Tesch (1978, 31 ff.); in der Sache gegenüber den hier gegebenen Definitionen ist aber heute kein wesentlicher Fortschritt festzustellen (Schottmann 1977; Appel/Muyskens 1987; Thomason/Kaufman 1988; Iwasaki 1990). Daher kann für prinzipielle und methodische Fragestellungen folgendes zugrunde gelegt werden: ‘Interferenz’ wird als Oberbegriff angesehen für die Beeinflussung einer Sprache (eines Dialekts oder Soziolekts) durch andere in Sprachkontaktsituationen auf allen sprachlichen Ebenen. Sie kann die Phonetik, Phonemik betreffen ebenso wie die Morphologie, Syntax und Semantik, Wortbildung und Lexematik. Wir unterscheiden zwischen linguistischen und situationalen Interferenzen. Linguistische Interferenzen sind Abweichungen von den phonetischen und phonemischen, lexikalischen, syntaktischen und semantischen Konventionen einer Sprache, eines Dialekts oder Soziolekts durch den Einfluß eines anderen (Oksaar 1971, 367). Situationale Interferenzen sind Abweichungen von den pragmatischen Konventionen der Situation, in welchen die kommunikativen Akte stattfinden und zwar durch den Einfluss der Verhaltensweisen anderer Gruppen in entsprechenden Situationen (Oksaar 1976 b, 106). Da Interferenzen stets durch die Sprachverwendung entstehen, diese aber in soziokulturellen Situationen verankert sind, nimmt es Wunder, daß die Sprachkontaktforschung diesen wichtigen Aspekt übersehen hat. Situationale Interferenzen sind gewöhnlich von der Realisierung von Kulturemen abhängig, d. h. von soziokulturellen Verhaltensweisen einem Mitmenschen gegenüber (Oksaar 1979, 1988). Dies geschicht durch verbale, parasprachliche, nonverbale und extraverbale Behavioreme. Es gibt kulturbedingte Unterschiede in der Art wie man sich grüsst, sich anredet, nach etwas fragt, seine Emotionen ausdrückt usw. Bei schwedisch-deutschen Zweisprachigen entstehen situationale Interferenzen z. B. in der Realisierung des Kulturems Anrede, wenn das dt. Du nach den Verwendungsnormen des schw. Du in Situationen gebraucht wird, in denen das dt. Sie die Norm ist. In der direkten Interaktion können auch parasprachliche, nonverbale und extraverbale Verhaltensweisen transferiert werden. Der deutschsprechende Grieche, Türke oder Bul-

3163

201. Terminologie und Gegenstand der Sprachkontaktforschung Wortebene Lehnprägung

Lehnwort Fremdwort

Lehnbildung

assimiliertes Lehnwort

Lehnformung Lehnübersetzung

Lehnbedeutung Lehnschöpfung

Lehnübertragung

Abb. 201.1: Lehnguttypologie (nach Betz 1959, 128).

gare, der eine verneinende Aussage durch ein Kopfnicken ausdrückt, hat ein nonverbales Behaviorem aus seiner Kultur transferiert. Die heute allgemein gebräuchlichen unterschiedlichen Lehngutsterminologien gehen auf die von Betz (1949) und (1959) erarbeiteten Grundlagen zurück, in denen frühere, europäische Ansätze differenziert worden sind, die zwischen „äusserem“ (formbezogenem) und „innerem“ (inhaltsbezogenem) Lehngut unterscheiden. 2.2.1. Typologie der Interferenzen Nach dem die Ausdrucks- und Inhaltsseite trennendes Prinzip wird zwischen Lehnwort (Lw) und Lehnprägung (Lp) unterschieden. Im Gegensatz zu Lehnwort, das die Kategorie des „äusseren“ Lehnguts repräsentiert, sind Lehnprägungen alle „Einflüsse einer Sprache auf eine andere, die sich nicht auf das Lautliche, das Wortmaterial an sich, sondern auf Bildung und Bedeutung, auf Form und Inhalt des Wortmaterials erstrecken“ (Betz 1949, 27). Zur Lehnprägung gehören im Wortschatzbereich zwei Gruppen: Lehnbildung (Lb) und Lehnbedeutung (Lbed). Lehnbildung gliedert sich in Lehnformung (Lf) und Lehnschöpfung (Lsch). Lehnformung bezieht sich auf die formale Anlehnung an das Vorbild, Lehnschöpfung ist eine formal unabhängige Neubildung. Lehnformung gliedert sich ihrerseits in Lehnübersetzung (Lüs), die eine genaue Glied-für-Glied-Übersetzung eines fremden Vorbildes ist, und Lehnübertragung (Lt), die als eine freiere Teilübertragung zu verstehen ist (siehe Abb. 201.1). Aus diesem Schema ergibt sich eine fundamentale Dreiteilung: ein fremdes Wort wird übernommen (Lw), das fremde Wort dient als Vorbild zur Neubildung mit dem Material der eigenen Sprache (Lb), die Bedeutung des fremden Wortes wird für ein Wort der eigenen Sprache übernommen (Lbed). Beim Lehnwort ist zu beachten, ob es, je nach laut-

licher und grammatischer Angleichung ein Fremdwort oder schon ein assimiliertes Lehnwort ist. Beispiele: Lw: ahd. phistrı¯na < lat. pistrı¯na „Bäckerei“; ahd. pforta < lat. porta „Pforte“; ahd; scrı¯ban < lat. scrı¯bere „schreiben“; ahd. kursinna < aslaw. kurzno „Pelz“; mhd. turnei < afrz. tornei „Turnier“; mhd. krıˆeren, krojieren < afrz. crier „schreien, bes. den Schlachtruf“; mhd. apoteke < gr. lat. apotheca. ⫺ Lbed: ahd. sceffant für creator; ahd. sunt(ea) für peccatum; die wichtigsten christlichen Grundwörter gehören hierher, in der ahd. Benediktinerregel u. a. keist, gnada, hella, himil, samanunga, kilauba (Betz 1949, 85); nhd. realisieren „sich vorstellen, bemerken“ für engl. realize. ⫺ Lsch: ahd. namahafti für appellatio; ahd. ursuahhida für examen; nhd. Umwelt für milieu; nhd. Kraftwagen für Automobil. ⫺ Lüs: ahd. drinissa für trinitas; ahd, sanga¯ri für cantor; nhd. Umweltschutz für environmental protection; nhd. Wochenende für weekend. ⫺ Lt: ahd. salmsang für psalterium; ahd. morganlob für matutina; nhd. Wolkenkratzer für skyscraper (keine Lüs wie in verschiedenen Quellen angegeben).

Es ist häufig schwer, eine scharfe Grenze zwischen Lüs und Lbed zu ziehen, besonders für weit zurückliegende Zeiten. Ahd. pigiht nach confessio gilt als Lüs, Belege sprechen jedoch dafür, daß es ein älteres, in der juristischen Sphäre verwendetes Wort gewesen ist, das „eine Lehnbedeutung nach confessio angenommen hat“ (Betz 1949, 48). ⫺ Zum Lehngut gehören auch Lehnsyntax (Ls) und Lehnwendung (Lw). Lehnsyntax liegt vor, wenn z. B. der Genitiv das ist meines Amtes nach hoc mei officii est verwendet wird, Lehnwendung ist „die Nachbildung einer fremdsprachlichen Redensart: den Hof machen nach faire la coir“ (Betz 1947, 27 f.). Zahlreiche spätere Beiträge im Bereich der Lehngutforschung wie Weinreich (1953), Haugen (1956), Gneuss (1955), Deroy (1956), Ganz (1957), Carstensen (1965), Martins (1970), Lüllwitz (1972) greifen trotz kritischer Einwände und gelegentlicher Modifikationen

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XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

auf Betzens Terminologie zurück; zur Weiterentwicklung und Kritik der Betzschen Typologie s. Tesch (1978, 112 ff.), Duckworth (1977, 36 ff.), Schottmann (1977, 13 ff.). Sie eignet sich jedoch nur für die schriftlichen Quellen, für Interferenzen in gesprochener Sprache müssen andere Systematisierungen vorgenommen werden, da der Bereich der Phonetik, sowie paralinguistische und nonverbale kommunikative Einheiten berücksichtigt werden müssen. Einige Beispiele mögen beleuchten, wie sich im Laufe der dt. Sprachgeschichte gewisse Interferenzerscheinungen wie Lehnwörter, Lehnbildungen, Lehnsuffixe in der Sprachstruktur auswirken. Griech., lat., ir. und ags. Lehngut kennzeichnet fremde Einwirkungen im Deutsch des Frühmittelalters (Belege bei Bach, 1961, 114 ff.; Moser 1969, 116 ff.). Der Einfluß der lat. Graphematik setzte im 6./7. Jh. ein (Sonderegger 1979, 16 f.). War das Ahd. vorwiegend durch das lat. Lehngut beeinflußt worden, traten im Mhd. auch Interferenzphänomene hervor, die vorwiegend auf westlichen Einfluß zurückzuführen sind. Diese lassen sich in der nach frz. Vorbild verfaßten Literatur verfolgen, beruhen aber auch auf dem regen persönlichen Verkehr des Adels, der Gelehrten und der Kaufleute mit Franzosen. Der persönliche Kontakt wurde auch durch die Kreuzzüge gefördert (Oksaar 1965, 395; Kramer/Winckelmann 1990). Afrz. corteis kam zuerst um 1200 als Fw/Lw kurtois, kurteis vor. Hövesch als Lüs ist zuerst im Mfrk. um 1150 zu belegen; afrz. vilenie erscheint zuerst als Lw/Lw vilaˆnieˆ, dann als Lüs in der Form dorperıˆe, dörperheit „bäurisches, unfeines Wesen“; Lw und Lüs konkurrierten im semantischen System miteinander. Eine Lüs konnte ihrerseits Veränderungen der Inhaltsstruktur bei den schon geläufigen Wörtern hervorrufen. So kam in der 2. Hälfte des 12. Jhs. die Lüs von afrz. chevalier über das mnl. riddere als ritter ins Mhd. Der Inhalt des neuen Wortes wurde nun auch mit der einheimischen Form rıˆter, ahd. rıˆtaˆri „Reiter, Kämpfer zu Pferde“ verknüpft, auch rıˆter wird als Standesbezeichnung verwendet. ⫺ Dorpære, dörper „Dorfbewohner, ungebildeter, roher Mensch“ kam um 1170 alsa Lüs zu afrz. vilain mit der „flämenden Mode“ ins Mhd. Es konkurrierte mit dem Lw vilan, vgl. die Synonymenpaare dörperheit ⫺ vilaˆnıˆe; hövesch ⫺ kurteis, die sich vor allem in ihrem stilistischen Wert unterscheiden. Durch dörper kam eine neue Sehweise auf, die mehr als nur sozial bedingt war; es bezeichnet auch den Mangel an höfischer Bildung.

Es gilt nicht nur die Existenz einer entlehnten Einheit festzustellen, sondern auch ihre Ver-

breitung zu erklären. Die Verbreitung eines Lehnsuffixes kann durch die Entwicklung der eigenen morphologischen Struktur begünstigt werden. Durch die Abschwächung des Endsilbenvokals fielen ahd. gebo „Geber“ und geba „Gabe“, ebenso wie geba „Geberin“ in der Form mhd. gebe zusammen. Immer häufiger findet man aber schon in der ahd. Periode an Stelle der mask. Nomina agentis auf ahd. -o < germ. (j)an Suffix wie in trinko, die Bildungen mit ahd. -aˆri < lat. a¯rius: ahd. trinkaˆri, mhd. trinkære „Trinker“. Das Lehnsuffix füllte hier die Funktion, die störende Homonymie zu verhindern. Die ältere Bildungsweise ist erhalten in Fällen, bei denen keine Homonymie eintrat: mhd. bote, goltgebe, muntschenke. Die Abschwächung zu -e betraf aber auch ahd. -ari, das mit den entsprechenden fem.-ar(r)a -ar(r)e zusammenfiel. Dies begünstigte die Verbreitung des kombinatorischen Suffixes -arin, -erin(ne), das schon im Ahd. für Fem. auftritt: ahd. weberin(na) neben webarra (Oksaar 1965, 400 f.). Historische Sprachkontaktphänomene lassen sich anschaulich in einem thematisch umgrenzten Bereich wie z. B. der Sondersprachen beobachten. Betrachtet man den Wortschatz der Mystik im 13. Jh., so sieht man, daß gerade das semantische System des Mhd. durch die sprachschöpferische Tätigkeit der Mystiker bereichert wurde. Durch Wortneuschöpfungen und inhaltliche Veränderung schon vorhandener Wörter wurden Möglichkeiten geschaffen, neue abstrakte Tatbestände in Worte zu fassen, wie z. B. die Schilderungen der Seelenerlebnisse im Ringen um die Gottverbundenheit. Die heute so geläufigen Wörter wie begreifen, Eigenschaft, Einfluß, Zufall, einleuchten, eigentlich, gelassen, Eindruck gehören zu den neuen Wortprägungen der Mystiker. Die dem Dominikaner Meister Eckhart zugeschriebenen Umdeutungen von abgrunt, bekantnisse, edelheit, einicheit, die alle eine Einengung und Umwandlung ihres mhd. Inhalts erfahren, sind grundlegend für die dt. Scholastik und spätere philosophische Fachsprache. Lehnschöpfungen nach lat. Vorbild sind zahlreich; für unio mystica gebraucht Meister Eckhart berüerunge, durchvluz, einicheit, eine, gebiert, glıˆchheit, indruc, ˆınvluz, ˆınwertwürkunge, verwandelunge. Auch die lat. Suffixe -tas, -tio entsprechen häufig den Bildungen auf -heit, -keit und -ung, die Wörter brauchen sich aber, wie bei Meister Eckhart, inhaltlich nicht mit der Vor-

201. Terminologie und Gegenstand der Sprachkontaktforschung

lage zu decken, z. B. unitas ⫺ einicheit, modestas ⫺ edelkeit; unio ⫺ einunge, deren er einen ganz spezifischen Inhalt gibt (Quint 1928; Nix 1963; Oksaar 1965, 393 ff., 424 f.). Bei dem mehrsprachigen Eckhart muß mit dem Einfluß des mystischen Ideengutes, soweit er sie durch das Latein kennenlernte, auf seine deutschen Wortbildungen gerechnet werden. Wie einheimische sprachliche und fremde kulturellsprachliche Einflüsse ineinandergreifen und auf die morphosemantische Struktur der Sprache einwirken können, beleuchtet folgendes Beispiel. Bei Meister Eckhart finden sich zahlreiche Wortbildungen mit den negierenden Präfixen un- und abe-: ungebornheit, unglicheit, unredelich. Ferner fällt auf, daß in der Mystik häufig Ausdrücke mit negierenden Komponenten verwendet werden: mhd. unuzsprechenliche gotheit, wortelos, niht wizzen. Die Erklärung findet sich in der neuplatonischen apophatischen Theologie, die auf Dionysius Areopagita zurückgeht. Im Gegensatz zur kataphatischen Theologie, die alle Vollkommenheit von Gott aussagt, negiert sie alle Eigenschaften Gottes, „um nicht die Reinheit und Erhabenheit des Göttlichen durch eine natürliche Aussageweise zu trüben“ (Nix 1963, 58, 60). Es ist also nur möglich zu bestimmen, was Gott nicht ist, denn das Göttliche ist das „Ineffabile“, das Unaussprechliche. Schon in der mystischen Sprache Mechthilds von Magdeburg sind die Darstellungsformen der negativen Theologie zu finden; Meister Eckhart hat davon ebenso Anregungen erhalten wie von Dionysius, auf den die Präfixe un- und abezurückgehen (Bach 1961, 155 ff.; Lüers 1926, 58 ff.; Moser 1969, 132 f.; Oksaar 1965, 401). Die sprachschöpferische Kraft der Mystiker und ihre Stilform hat nicht nur fremdsprachliche, sondern auch „fremdideeliche“ Vorbilder. Mit den heutigen Lehnguttypologien können sie nicht erfasst werden. Historisch-pragmatische Forschungen der kulturdeterminierten Gattungen in Sprach- und Kulturkontaktsituationen müssten weiterentwickelt werden. Das Problem liegt u. a. darin, daß Sprachkontakt und Kulturkontakt nicht immer zusammenfallen. 2.3. Fremdwort und Lehnwort Es gibt heute keine Systematisierung der Phänomene der lexikalischen Interferenz, die nicht punktuell weiter differenziert werden könnte. Man darf auch die Tatsache nicht übersehen, daß sowohl das System von Betz als auch die Systeme von Weinreich (1953),

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und Haugen (1950), die anhand bestimmter Sprachen entwickelt worden sind, keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Ein Vergleich der drei Systeme (Abb. 201.2) zeigt, daß die Ansätze, trotz unerschiedlicher Bezugsrahmen beträchtliche Ähnlichkeiten aufweisen. Entsprechungen in den Modellen sind durch Ziffern gekennzeichnet. ⫺ Auch in der Fremdwort-Lehnwort-Frage ist die Diskussion noch nicht abgeschlossen, da es sehr schwierig ist, verschiedene Grade der linguistischen Integration festzustellen. Der Grad der phonologischen, morphologischen oder graphemischen Integration gilt als Grundlage für die Entscheidung zwischen foreign words und loanwords in englischsprachigen Arbeiten und fremden Wörtern, Fremdwörtern, und Lehnwörtern in deutschsprachigen (Richter 1919, 7), in denen auch nur mit den zwei letzteren Termini operiert wird. Seit mehr als siebzig Jahren hat man mit wechselnder Intensität diese Kategorisierungen erörtert, wobei unterschiedliche Verwendung derselben Termini festzustellen ist. So wird u. a. einerseits das fremde Wort als Oberbegriff angesehen, der auch Lehnwörter umfaßt (Magenau 1962, 100), andererseits steht ‘Lehnwort’ als Oberbegriff, worunter ‘Fremdwort’ und ‘assimiliertes Fremdwort’ gruppiert werden (Betz 1959, 128). Bei den Kategorisierungen (auch Zitatwort kommt statt fremdes Wort vor) werden verschiedene Kriterien durcheinandergebracht, z. B. Sprachgefühl, Aussprache/ Schreibweise und Sprachgebrauch; daher ist es verständlich, daß Vorschläge gemacht werden, die Unterscheidung zwischen Fremdwort und Lehnwort gänzlich aufzugeben (Gneuss 1955, 19; Schönfelder 1956, 57). Duden. Die Grammatik (1995, 584) spricht von „fragwürdigem Erfolg“ derartiger Unterscheidung, vgl. aber Tellin (1987). Nicht nur psycho- und soziolinguistisch ergeben sich Schwierigkeiten der Zuordnung ⫺ wer empfindet etwas als „ausländisches Sprachgut“? Wann und in welchen Situationen? ⫺, sondern auch rein sprachlich. Wie sind die Hybridkomposita (hybrid compounds bei Weinreich 1953, 52, loanblends bei Haugen 1950, 218 f.) zu klassifizieren? Es sind Zusammensetzungen, bei denen gewisse Elemente des Vorbildes übernommen, gewisse andere aber durch Substitutionen wiedergegeben werden (Abb. 201.2, 9). Man kann sie zu Lehnwörtern oder Lehnbildungen zählen (Haugen 1950, 218 f.). ⫺ Im Bereich der Sprachgeschichte wird die Schwierigkeit der Klassifizierung durch den Umstand erhöht, daß das Material immer in

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XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte Betz Lehngut Lehnprägung Lehnbildung Lehnformung Lehnübersetzung (1) Lehnübertragung (2) Lehnschöpfung (10) Lehnbedeutung (3) (4) Lehnwort (5) (6) Weinreich Lexical Interference Simple Words Transfer (5) (6) New Function Homonymy (3) Polysemy (4) New Expression (8) Compound Words and Phrases Transfer (7) New Function Loan Translation (1) Loan Rendition (2) Loan Creation (10) Hybrid Compounds (9)

Haugen Linguistic Innovations Borrowed Loanshift Creation Exact (1) Approximative (2) Extension Homonymous (3) Synonymous (4) Loanwords Assimilated (5) Unassimilated (6) Native Induced (10) Spontaneous

Abb. 201.2: Übersicht über lexikalische Lehnterminologien (Oksaar 1972 a, 494).

einer diachronischen Perspektive vorliegt und die Interferenzerscheinungen meistens schon mehr oder weniger von der Sprache aufgenommen worden sind. So kann es auch zu mehrmaliger Übernahme desselben Wortes kommen, wie z. B. Steckenpferd und Hobby (Carstensen 1965, 89). Die Problematik wird nicht gelöst, wenn man auf die Fremdwort ⫺ Lehnwort ⫺ Terminologie verzichtet und, wie Clyne (1975, 16 f.), Transferenz verwendet: dies käme den Modellen gleich, die für den ganzen Komplex Lehnwort verwenden. Die bisherigen Erörterungen der Sprachkontaktphänomene haben gezeigt: die soziokulturelle Situation der Sprachträger, die psychosoziolinguistische Perspektive der Interferenzprozesse, die semantischen und pragmatischen Aspekte der Sprachverwendung müssen mehr als bisher berücksichtigt werden. Den Konnotationen der Wörter und Ausdrücke muß besondere Aufmerksamkeit zuteil werden, da sie eine interferenzauslösende Wirkung haben können. Allerdings hängt der Interferenztypus von den strukturellen Möglichkeiten der Sprachen ab. Lehnübersetzungen setzen bei beiden Sprachen die gleiche Art von Motivation voraus (Oksaar 1972 b, 132). In der Literatur werden derar-

tige Interferenzen häufig als Stilmittel verwendet, sie werden u. a. wegen des Lokalkolorits gebraucht. Ihre Funktion ist es, das richtige Symbolmilieu zu erzeugen (Oksaar 1971). Dieser Faktor ist bei Interpretationen nicht immer berücksichtigt worden. Über den Leich III Tannhäusers (um 1250) ist gerätselt worden, ob er eine Parodie der überkünstelten Hofsprache sei (de Boor 1964, 373), oder eher eine „Neigung zum Künstlichen, Gesteigerten“ zeige (Kunisch 1959, 229). Es handelt sich um die Funktion der Wörter französischen Ursprungs: „Mit tschoie statt Freude wandelt der Dichter durch eine Landschaft, in der ein fores steht statt eines Waldes, ein riviere fließt statt eines Baches, und in der er unter dem tschantieren der Vögel, dem toubieren der Nachtigall mit der schönen creatiure parliert, die sein cor erobert hat“ (de Boor 1964, 373). Es kann jedoch nicht übersehen werden, daß durch diese Wörter zuerst Lokalkolorit geschaffen worden ist. Die Ebene der Sprachverwendung muß in den Interpretationsprozeß einbezogen werden, wenn auch die Funktion der Sprachmischung, sei es in der Lyrik Oswalds von Wolkenstein, in der sog. Makkaronischen Dichtung, oder in Luthers Tischreden festgestellt werden soll.

201. Terminologie und Gegenstand der Sprachkontaktforschung

3.

Die Ebene der Sprachverwendung

3.1. Linguistische und soziale Variation Die Sprachkontaktforschung muß sich, wie festgestellt, mit den soziopsycholinguistischen Bedingungen der Sprachverwendung beschäftigen. Da Interferenz und der Idiolekt eines Individuums zusammengehören, muß man, wenn Einzelfälle beschrieben werden, genau unterscheiden zwischen der mehr abstrakten Ebene der Phoneme und Morpheme und der konkreteren Ebene der Phone und Morphe. Die normalisierte Schreibung der mhd. Texte ist dafür ein großes Hindernis. ⫺ Genaue Untersuchungen der Sprachverwendung und des Sprachgefühls des Individuums sind Voraussetzungen zur Beantwortung der noch nicht geklärten Frage: Wann wird aus der Interferenz in der Parole die Interferenz in der Langue, d. h. eine Entlehnung? Auch wenn das Sprachgefühl ein subjektiver Begriff ist, können Gruppen festgestellt werden, deren Mitglieder in ähnlicher Weise reagieren. Psycholinguistisch wichtig ist die Tatsache, daß es immer Leute gibt, die gegen eine Entlehnung sind und die fremden Komponenten abweisen. Das ist ein Zeichen dafür, daß der Prozeß bei ihnen noch nicht abgeschlossen ist, während keine Reaktion dagegen als Indiz gelten kann, daß man ein Wort oder einen Ausdruck schon in die eigene Sprache übernommen hat. Da Heterogenität des Untersuchungsgegenstandes fordert, daß man nicht nur Idiolekte und Soziolekte berücksichtigt, sondern auch alle Gruppen nach zwei Kategorien betrachtet: 1) der sozialen Dimension der linguistischen Variation und 2) der sozialen Variation der linguistischen Dimension. Die zweite Kategorie beleuchtet die verschiedenen vorwiegend konnotativ bedingten Unterschiede bei der Interpretation derselben Form, u. a. je nach Alters-, Geschlechts- und Bildungsunterschied, aber auch nach dem Grad der Sprachbeherrschung. Derartige Mikrountersuchungen können nicht nur erklären helfen, warum sich bei einem Wort wie Mannequin die Lehnschöpfung Vorführdame nicht durchsetzen kann, sondern auch, warum Teenager überhaupt keine Verdeutschung und auch keine wesentliche Ausspracheveränderung bekommen hat, während in anderen Sprachen, wie z. B. im Schwedischen eine Lehnübersetzung die einzige Bezeichnung ist: tona˚ring (ton ⫺ teen; a˚ring ⫺ ager). ⫺ Für die Sprachgeschichte wird durch die Individuum- und Situations-

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bezogenheit der Weg zur notwendigen Sprachverwendungsgeschichte geöffnet. Mit diesen Ansätzen läßt sich z. B. eine historisch relevantere Erklärung zum Phänomen der lat. Interferenzen in Luthers Tischreden geben als die gewöhnliche pauschale Feststellung, so sei die gelehrte Umgangssprache der Zeit gewesen. Denn diese läßt Widersprüche zu Luthers Forderung nach „der gemeinen deutschen Sprache“ auftreten und zu der in seinen Briefen geäusserten Kritik darüber, daß man in den hohen Schulen und Klöstern „nicht allein das Evangelion verlernt, sondern auch lateinische und deutsche sprache verderbet hat, das die elenden leut … wieder deutsch noch lateinisch recht reden oder schreyben können“ (WA XV, 38). Untersucht man nicht nur deskriptiv die sprachlichen Phänomene in den Tischreden, sondern bezieht außerdem auch die soziale Dimension der linguistischen Variation und die psychosozialen Faktoren des Diskurses in die Analyse ein, so läßt sich der Widerspruch beheben, indem man eigene situationsbedingte Normen für die Interferenzen und Sprachmischung annehmen kann. Interessante Ähnlichkeiten des Textes mit situationsbedingten Interferenzen vor hundert Jahren (Schuchardt 1884) und heute in verschiedenen Erdteilen bei Immigranten (Oksaar 1976 b) verstärken diese Annahme. Bei Berücksichtigung des Prinzips der Nichtübertragbarkeit der Resultate läßt sich die hypothetische Feststellung machen: Eine Reihe von soziopsychologischen Bedingungen, die heute das sprachliche Verhalten der Mehrsprachigen steuern, können auch in zurückliegenden Zeiten wirksam gewesen sein. Umso mehr, als sie zu den „Bedingungen und Triebkräften“ gehören, die zur „Umgestaltung der Sprache“ führen (Havers 1931, 144 ff.), nämlich das Streben nach Anschaulichkeit, nach emotionaler Entladung, nach Kraftersparnis, nach Schönheit des Ausdrucks, Ordnungstendenzen und sozialem Triebkreis. Von den außersprachlichen Bedingungen spielt die Gruppendynamik bei der Entstehung der Interferenzen eine entscheidende Rolle. Oksaar (1976 a) erörtert die Gründe der Interferenz und weist auf die Korrelationen zwischen dem Interferenztypus und der Beziehung zwischen den Partnern im kommunikativen Akt hin. Anhand modernen Materials über das sprachliche Verhalten der Zweisprachigen lassen sich zwei Interaktionsmodelle isolieren, das normative Modell, und das rationale Modell. Beide Modelle haben Varianten und

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XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

sind als dynamisch anzusehen (Oksaar 1976b, 101 ff.). Im normativen Modell ist der Sprecher bemüht, die Regeln der Sprachen in verschiedenen kommunikativen Akten zu befolgen; die Rolle des Partners und des Themas ist nicht zentral. Linguistisch dominieren Lehnübersetzungen, Lehnübertragungen und unintegrierte morphosemantische Transfers. Dieses Modell wird gewöhnlich mit weniger Bekannten und Fremden verwendet. Im rationalen Modell ist der Sprecher bemüht, sich inhaltlich so exakt wie möglich auszudrücken. Er wählt die sprachlichen Einheiten und Strukturen entsprechend der Situation, dem Partner und dem Thema, ohne die normativen Regeln der Sprachen strikt zu befolgen. Das Modell ist gekennzeichnet 1) durch lexikalische Interferenzen in der Form von vorwiegend integrierten morphosemantischen Transfers, unintegrierte Transfers sind seltener, 2) durch Kodeumschaltungen, die innerhalb eines Satzgefüges und in Textabschnitten häufig vorkommen. Dieses Modell wird gewöhnlich zwischen Freunden und guten Bekannten realisiert. Zur Untersuchung mit diesen Modellen s. neuerdings Inghult (1997). ⫺ Luthers sprachliches Verhalten und die psychosozialen Faktoren der Tischredensituation entsprechen weitgehend, bis auf integrierte morphosemantische Transfers den im rationalen Modell angegebenen Komponenten. Auch wenn die überlieferten Mischstrukturen quantitativ nicht ohne weiteres als authentische Luthersprache angesehen werden können, so ist doch anzunehmen, daß die Mischung in den Tischreden allgemein realistisch ist. Zur Komponente Exaktheit des Ausdrucks wirkten u. a. Wörter aus der theologischen und juristischen Fachsprache als Grund der Mischung mit. Die besondere soziokulturelle Situation bei den Mahlzeiten ⫺ Luthers Tischgenossen waren Theologen, bei ihm wohnende Studenten, er hatte eine doppelte Rolle als Dozent und Hausherr ⫺ ist jedoch maßgebend und muß bei der Analyse der Gesprächsthemen und des Gesprächsstils berücksichtigt werden. Gewiß hätte Luther auch sprachlich gesehen das normative Modell verwenden können, umso mehr als bekannt ist: „Luther sucht die Volksnähe und vermeidet Fremdes“ (Moser 1969, 157), vgl. seine dt. Predigten. Seine sozialen Beziehungen zu den Hörern erklären aber das Verhalten nach dem rationalen Modell und dieses als situationsbedingte Norm. Natürlich muß mit der Dynamik der Modelle gerechnet werden, wichtig ist ihre Aussagekraft über die so-

zialen Beziehungen im kommunikativen Akt: das normative Modell signalisiert mehr Distanz, Prestige und Formalität, das rationale Modell mehr Nähe und Vertrautheit. ⫺ Die beiden Modelle ermöglichen neue Fragesteuerungen: Welche Beziehungen herrschen in der Zeit X zwischen dem Sender A und dem Empfänger B, wenn er gewohnheitsgemäß Interferenzen vom Typus Y verwendet? Welche Textsorte bevorzugt Interferenzen Y, welche Interferenzen Z? Wann kann von der Verwendung der Interferenzen auf die Intention des Senders geschlossen werden: Ironie, Erklärung, Lokalkolorit u. a.? ⫺ Vom Standpunkt des Sprachsystems aus kann durch die Modelle folgende Entwicklung erklärt werden: durch das normative Modell werden Lehnprägungen verbreitet, das rationale Modell ist die Quelle der Fremd- und Lehnwörter. Durch individuumzentrierte Mikrountersuchungen ist es nicht nur möglich festzustellen, in welcher Rolle ein Individuum in Sprachkontaktsituationen seine Sprachgewohnheiten ändert, sondern auch die Entstehungsgründe der Interferenzen und des Codeswitching, der Verwendungsmotivation, Situationsbezogenheit und Wirkung festzustellen. Die Fragen des Codeswitching (Kodeumschaltung) ⫺ der Terminus geht auf Weinreich (1953), vgl. Haugen (1956), zurück ⫺ sind nicht neu. Schon Schuchardt (1884, 9, 85) hat auf das Phänomen, dass Sprecher mitten im Satz von einer Sprache in eine andere überwechseln können, hingewiesen. Von dem lebhaften Interesse diesem Phänomen gegenüber zeugen u. a. das SSF Network on Codeswitching und seine Symposien 1990 und 1991, vgl. auch Poplack (1980); Heller (1988); Jacobson (1990); Myers-Scotton (1992); Milroy/Muysken (1995). Allerdings scheint diese neuere Entwicklung hinter den Resultaten aus den 70er Jahren in diesem Bereich zurückzustehen, sowohl was die Kategorisierung betrifft als auch die Frage der textinternen und textexternen Gründe. Ausser kulturellen Beziehungen sind es die Sprachökonomie und die semantisch kommunikative Exaktheit der sprachlichen Einheiten und ihre konnotativen Wirkung (Oksaar 1976 a). Nach der Rolle des Sprechers und stilistischer Faktoren unterscheidet Gumperz (1966, 27) zwischen transaktionalen und persönlichem Codeswitching. Beide Kategorien schliessen einander jedoch nicht aus. Besser auseinanderhalten lassen sich situationelles (externes)

201. Terminologie und Gegenstand der Sprachkontaktforschung

und kontextuelles (internes) Codeswitching (Oksaar 1969, 149; 1974; Hatch 1976). Der erste Fall wird bewirkt durch eine Änderung in der Beziehung zwischen drei Konstituenten des kommunikativen Aktes: Gesprächspartner, Thema, Situation. Im zweiten Fall ist das sprachliche Repertoire des Senders ausschlaggebend und die Faktoren sind Wortnot, emotive Aspekte und Einstellung zu Sprachen sowie Konnotationen der sprachlichen Mittel. 3.2. Sprachverwendung und Mehrsprachigkeit Es herrscht keine Einigkeit darüber, welche Normen oder Relationen die Mehrsprachigkeit bestimmen; zur neurobiologischen Perspektive s. Paradis (1990). In der Sprachkontaktforschung ist es angebracht Mehrsprachigkeit vom funktionalen Standpunkt aus zu definieren. Als mehrsprachig wird derjenige angesehen, der ohne weiteres von einer Sprache zur anderen umschalten kann, wenn die Situation es fordert (Oksaar 1976 a, 235). Das Verhältnis der Sprachen kann dabei durchaus verschieden sein: Mehrsprachigkeit bedeutet qualitativ und quantitativ keineswegs eine gleiche Beherrschung mehr als einer Sprache (diese wäre gar nicht meßbar, da man ja immer mehr versteht als selbst produziert). Was die mehrsprachige Gruppe betrifft, so ist für die Sprachgeschichte nicht nur geographische, sondern auch soziale und stilistische Mehrsprachigkeit wichtig. Soziale Mehrsprachigkeit bezieht sich auf Situationen, in denen die Verwendung zweier Sprachen oder einer Sprache und eines Dialekts bestimmt sind durch die sozialen Sphären einer Gesellschaft oder eines bestimmten Gebietes, wie in Flämisch Belgien. Stilistische Mehrsprachigkeit tritt dann hervor, wenn wir es mit zwei Formen derselben Sprache zu tun haben, jede davon mit ihrer eigenen Verwendungssphäre. Als Beispiel wird das Neugriechische gegeben und das Verhältnis der Sprachensituation als Diglossie bezeichnet (zuerst von Grootaers 1948, 295; später von Ferguson 1959, 336 ff. und, den Begriff erweiternd, Gumperz 1962 und Fishman 1967). 3.3. Ausblick Die Sprachkontaktforschung erweist sich als wichtiger Integrator zwischen Sprach- und Kulturgeschichte, Sprach- und Literaturgeschichte und einer Resultat- und Prozeßgeschichte. Obwohl die Schwierigkeiten der beim Individuum, seinem ökologischen Mi-

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lieu und der Situation ansetzenden Mikroforschung einzusehen sind, ist sie notwendig, wenn für die Sprachwissenschaft nicht nur Ergebnisgeschichte, sondern auch Prozeßgeschichte relevant ist. Der pragmatikorientieren Sprachgeschichte eröffnet die Sprachkontaktforschung neue individuum- und soziokulturell orientierte Gegenstandsbereiche.

4.

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202. Lateinisch/Deutsch 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Historische und bildungsgeschichtliche Voraussetzungen Schrift und Sprache Lexikon und Wortbildung Syntax Registerwechsel zwischen Latein und Volkssprache Übersetzen Deutsch und Latein: Medienpräsenz Eurolatein Literatur (in Auswahl)

1.

Historische und bildungsgeschichtliche Voraussetzungen

Die Herausbildung der westeuropäischen Volkssprachen und ihre Geschichte steht bis weit in die Neuzeit hinein in engem Zusammenhang mit dem Lateinischen. Dabei sind Voraussetzungen, Erscheinungsweisen und Folgen unterschiedlich in der germanischen und der romanischen Sprachengruppe. Tatsa-

3172

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

che ist, daß bei allen Volkssprachen Westeuropas der engste und zeitlich längste Sprachkontakt zum Lateinischen bestanden hat. Und es ist dies bis in die frühe Neuzeit hinein ein Kontakt zwischen „lebenden“, d. h. in aktiver schriftlicher wie mündlicher Kommunikation sich fortentwickelnden und gegenseitig beeinflussenden Idiomen gewesen. Für die germ. Sprachen und das Deutsche lassen sich dabei die folgenden Stadien ausmachen: die römische Kolonisation nördlich der Alpen, die früh- und hochmittelalterliche Missionstätigkeit der Kirche und ihre das gesamte Mittelalter bestimmende Kulturprägung, die Neudefinition des Verhältnisses von Latein und Volkssprache im Renaissancehumanismus, schließlich die Ausbildung sprachlicher Reservate des Lateinischen in Verwaltung, Schule und Wissenschaft bis zum 18./ 19. Jh. Die Ausläufer des prägenden Einflusses des Lat. sind bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts erkennbar etwa in lat. (wie bis gegen 1920 griech.) Abiturreden an humanistischen Gymnasien oder etwa in den Praefationes der Editionen der Klassiker der griechischen und römischen Antike (Bibliotheca Teubneriana, Oxford Classical Texts). Unmittelbaren Gegenwartsbezug schließlich hat das innerhalb der Sprachwissenschaft gegenwärtig unter dem Stichwort „Eurolatein“ ausgebaute Forschungsfeld. Es gilt dem sprachprägenden und noch virulenten Anteil des Lateinischen (und Griechischen) in den interkulturellen Zusammenhängen der europ. Sprachengemeinschaft. Auf dem Feld der gegenwärtigen Umgangssprache läßt sich beobachten, daß etwa in rezenten Präfixbildungen wie Ex-Gatte oder super-geil die Historizität und Herkunft des lat. Substrats in der Regel nicht mehr wahrgenommen wird. Gleiches trifft etwa auch für Produktbezeichnungen wie Nivea, Unkraut-Ex, Schnecken-Ex, Daumexol (gegen Daumenlutschen) zu, deren „Botschaft“ ohne Kenntnis des Lat. faßbar ist (Hoppe 1999). Der Sprachkontakt zwischen Lat. und Dt. ist, historisch gesehen, weitgehend institutionell gebunden. Die Kirche und, unter ihrer Obhut stehend, die Schule, vom 15. Jh. an verstärkt auch die Universität haben maßgeblichen Anteil daran. Der Zugang zu den elementaren Kulturtechniken des Lesens und Schreibens ist bis ins beginnende 15. Jh. ausschließlich über die Lateinschulen der Klöster, Domstifte, die Pfarrschulen, vom 13. Jh.

an auch über die Lateinschulen der städtischen Kommunen möglich gewesen. Wer im Mittelalter schreiben und lesen konnte, hatte dies anhand der lat. Sprache gelernt (Henkel 1988, 13⫺17; 177⫺183; Wendehorst; Studien zum städtischen Bildungswesen; Schule und Schüler). Innerhalb der mündlichen Kommunikation ist an Schulen wie Universitäten trotz weitreichender Verbote, die Volkssprache zu benutzen, durchaus von bilingualen Reservaten auszugehen (Henkel 1988; Schiewe, 197⫺ 276). Ebenso wichtig wie die primäre Sprachbeherrschung des Lesens und Schreibens sind innerhalb dieses Vermittlungssystems die mittransportierten und über die Beschäftigung mit dem Lat. in die Volkssprachen gelangten Bildungsinhalte gewesen. Das gilt für die bis in die Barockzeit kanonisch gültigen Regelsysteme sprachlicher Gestaltung und Gliederung, vor allem in Stilistik und Rhetorik und eine große Anzahl von Textsorten/Gattungen (u. a. Predigt, Brief, Exempel, Chronik, Traktat). Sprachliche Sozialisation ist bis gegen 1400 ausschließlich, bis ins ausgehende 19. Jh. weitestgehend von der intensiven Beschäftigung mit dem Lat. geprägt. Die in der Schule vermittelte Auffassung von Grammatik und Sprachsystem, Stilistik und Ausdruck, sprachlicher Ästhetik und literarischer Formenwelt ist bis zu diesem Zeitpunkt maßgeblich am Modell des Lat. entwickelt und eingeübt worden, dessen Anteil an der Stundentafel bis gegen 1900 den des Deutschunterrichts weit übersteigt. Die sog. „teutschen“ Schulen, die Wissen und praktische Fertigkeiten ohne voraufgehende und begleitende Schulung im Lat. vermittelten, sind erst vom 15. Jahrhundert an nachweisbar. Erst das 16. Jh. hat sich, insbesondere unter dem Einfluß der Reformation, gezielt der Unterrichtung der Muttersprache angenommen (Puff). Der Primat lat. Schulbildung, durch die Einführung der Realgymnasien im 19. Jh. eingeschränkt, ist jedoch erst in der ersten Hälfte des 20. Jh. aufgegeben worden. Im Bereich der Wissenschaftssprache und damit zusammenhängend im Sprachgebrauch an den Universitäten beginnt eine stärkere Einbeziehung des Dt. bereits im 16. Jh. (Drozd/Seibicke). Die dt. Vorlesungen des Juristen Thomasius, 1687 in Leipzig zum ersten Mal angeboten, sind lediglich Teil eines umfassenden und bereits zu Beginn des 16. Jhs. einsetzenden Prozesses, in dem das Wirken des Paracelsus in Basel eine

202. Lateinisch/Deutsch

besondere Rolle spielt (Pörksen 1983; 1994, 37⫺84 und Art. 13). Bis ins 18. Jh. bleibt aber das Lat. die international gebräuchliche Verkehrs- und Publikationssprache vor allem der Naturwissenschaften, der Medizin und der Philosophie (Daems; Pörksen 1986). Der Mathematiker Gauß wehrte sich noch im 19. Jh. gegen andere Wissenschaftssprachen, weil sie das Erlernen von mindestens zwei bis drei Fremdsprachen notwendig machten (Pörksen 1994, 22).

2.

Schrift und Sprache

Wie alle westeurop. Sprachen übernahm auch das Dt. den Schriftgebrauch an sich wie auch das Inventar der Schriftzeichen aus dem Lat. (Vogt-Spira). Die im germ. Raum vorwiegend epigraphisch gebrauchten Runen (s. Düwel 1998) wurden nur vereinzelt in die ans Pergament sich bindende Verschriftlichungspraxis des Dt. (vergleichbar dem Altenglischen) übernommen, so u. a. die Sternrune für (Schwab) oder die Dornrune Ì für die stimmlose dentale Spirans. Die Schwierigkeiten, mit dem lat. Zeichensystem eine phonetisch angemessene Verschriftlichung des Dt. zu leisten, die im Vorgang des Lesens wiedererkannt werden konnte, sind schon früh formuliert worden. Otfrid von Weißenburg klagt darüber in dem lat. Widmungsschreiben seines Evangelienbuchs (um 865/70), gerichtet an Erzbischof Liutbert von Mainz: Gegenüber dem Lat. besitze das Dt. eine linguae barbaries, die den Zügel eines grammatischen Regelwerks nicht kenne und größte Schwierigkeiten bei der Wiedergabe von dt. Lauten durch lat. Zeichen bereite (Mattheier). Auch wo nicht über die Schwierigkeiten der Verschriftlichung deutscher Wörter mittels lat. Zeichen geklagt wird, sind sie im überlieferten Material offenkundig. Frühe Ansätze zu einer Normierung des Dt. (Fulda, St. Gallen) bleiben zeitlich und regional begrenzt. Das frühe Dt. bleibt nicht nur in der Lautung, sondern auch in den Strategien der Verschriftlichung die Summe regionalspezifischer Schreibsprachen. Die sog. mhd. Dichtersprache der höfischen Literatur um 1200 kann lediglich als philologisches Konstrukt des 19. Jhs. angesehen werden (Wolf 1989). Erst im Zusammenhang mit dem Medienwechsel von der Handschrift zum gedruckten Buch, dann vor allem gefördert durch die überregionale Wirkung der Konfessionalisierung im 16. Jh. bilden sich Ansätze

3173 überregionaler Schriftnormen heraus (s. Art. 17). In der praktischen Verwendung von Schrift bleibt das ganze Mittelalter hindurch paläographisch erkennbar, daß die Schrift für lat. Texte die in der Regel besser trainierte ist und ein höheres kalligraphisches Niveau besitzt als die des gleichen Schreibers bei einem dt. Text (markant: Williram von Ebersberg, Hohelied-Bearbeitung, München Cgm 10, 11. Jh.; s. auch Bischoff, 67⫺70; Schneider 1987, 5⫺7, 15, 19 f.). Im Frühdruck erscheint um die Mitte der 1480er Jahre dann eine sprachbezogene Trennung der Schriftarten: Bastarda bzw. Fraktur für Deutsches, Rotunda und ⫺ ab etwa 1510/ 20 ⫺ Antiqua für Lateinisches (und Romanisches). Diese Regelung bleibt bis ins 20. Jh. weitgehend gültig, eigentlich bis zum Verbot der Fraktur im Nationalsozialismus durch einen Führererlaß von 1941 (Rüst). Neben der Alphabetschrift wurde auch das in der lat. Schrift übliche System von Abbreviaturen in die Schreibpraxis deutschsprachiger Texte übernommen, wenngleich in eingeschränktem Umfang. Die Ligatur & (lat. et) wird sowohl für mhd. und(e) verwendet als auch integriert in den Wortzusammenhang, etwa geb& (gebet). Ebenso hochgestelltes Häkchen für -er/-r etwa in: all’ (aller); v’se’t (versert) und weitere Abbreviaturen (Schneider 1999, 84⫺89). Auch das Zeicheninventar der Interpunktion und ihre Anwendungsmodalitäten übernahm die dt. Schreibpraxis des Mittelalters von lat. Vorbildern (Palmer 1991; Schneider 1999, 89⫺91). Neben der durch das Lat. erfolgenden Prägung von Schrift und Schriftgebrauch des Dt. ist auch komplementär eine partielle Beeinflussung des Lat. durch die Volkssprachen zu beobachten. Bereits in der Antike läßt sich eine jeweils regionalspezifische Prägung des Lat. feststellen, die sich im Mittelalter verstärkt (Stotz). Das trifft auch auf den dt. Sprachraum zu, wo regionalsprachliche Merkmale in der Verschriftung lat. Texte begegnen (Schnell, 1982; Frenz/Schnell 1983). In bair. Handschriften erscheint oftmals anlautendes b als w (waptizare, wursa, wreuis für baptizare, bursa, breuis), anlautendes p als b (boeta für poeta etc.); in schwäb. Handschriften au für aˆ (aula für ala ‘Flügel’ etc.); in lat. Handschriften aus dem nd. Raum läßt sich u. a. der für diese Schreiblandschaft typische Ausfall von intervokalischem g beobachten (pier, dilientia für piger, diligentia; Henkel 1983).

3174

3.

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

Lexikon und Wortbildung

Der bis in die Neuzeit reichende intensive Sprachkontakt des Dt. zum Lat. hat sich im Wortschatz wie auch in der Handhabung von Wortbildungstypen niedergeschlagen. Die Entlehnungen lassen sich in den meisten Fällen bestimmten Phasen zuordnen: so ist Keller (cellarium) zu einem Zeitpunkt entlehnt, als die k-Aussprache auch vor palatalem Vokal üblich war, also bis etwa zum Ausgang des 1./Anfang des 2. Jhs. n. Chr. Zelle (cella) ist hingegen später anzusetzen. Auf eine Übernahme vor der ahd. Lautverschiebung weist Pfalz, ahd. phalinza (palatium), eine spätere Entlehnung stellt mhd. palas dar, das mit dem Wortschatz der höfischen Kultur über frz. Einfluß ins Dt. gelangt ist. Die Entlehnungen aus dem Lat. lassen sich zudem bestimmten kulturellen Gebrauchszusammenhängen und unterschiedlichen Motivationen zuordnen. Sie sind unter provinzialrömischem Einfluß vornehmlich auf Verwaltung, Landbau, Hausbau und Wohnkultur bezogen, im frühen Mittelalter auf die Missions- und Bildungstätigkeit der Kirche, im Spätmittelalter u. a. auf die theologisch-philosophische Begrifflichkeit der Scholastik, von der frühen Neuzeit an im wesentlichen auf Schule, Universität und Wissenschaft. 3.1. Entlehnungen im römischgermanischen Kontakt Die hierher gehörenden rund 600 Entlehnungen entstammen zu großen Teilen der spätrömischen Sprache sowie dem Vulgärlatein und sind im Rahmen des Kulturtransfers etwa vom 1.⫺5. Jh. überwiegend aus der GalloRomania in die west-, z. T. auch nordgerm. Dialekte aufgenommen worden. Dabei läßt sich der Einfluß über die Kulturkontakte im Maas-Rhein-Gebiet von dem im OberrheinDonau-Gebiet weitgehend unterscheiden. Die Einbeziehung der Entlehnungen in die zweite Lautverschiebung ist Indiz für die Übernahme vor dem 5./6. Jh. Folgende Sachgruppen treten besonders hervor (Betz 1949; 1974): Herrschaft, Verwaltung, Handel: Kaiser (caesar; dieses älteste Lehnwort bewahrt noch die klassischrömische Aussprache des k als stimmlosem Guttural und des ae als Diphthong), Zöllner (tolonarius), Kerker (carcer), Pacht (pactum), Münze (moneta), Straße ([via] strata), Markt (mercatum), Karren (carrus), Esel (asellus), Meile (milia [passuum], Pfund (pondus, pondo). Garten-, Obst- und Weinbau: Frucht (fructus), Birne (pirus), Kürbis ([cu]curbita) Pfirsich (persi-

cum), Minze (menta), Pfeffer (piper), Kohl (caulis), pflanzen (plantare), Gehölzveredelung: impfen (imputare), pfropfen (propagare). ⫺ Wein (vinum), Winzer (vinitor), Kelter (calcatorium), Most ([vinum] mustum ‘schäumender, junger Wein’), Kelch (Akk.: calicem), Essig (acetum), Trichter (tra[ie]ctorium). Hausbau und Wohnkultur: Ziegel (tegula), Kalk (calx), Mauer (murus), Keller (cellarium), Kammer (camera), Dach (tectum), Küche (cocina, coquina), Kessel (catinus), Schüssel (scutella), Pfanne (patina), Becher (bicarium), Spiegel (speculum).

Im Zusammenhang mit diesen frühen Entlehnungen ist auch bereits gemeingermanisch das Suffix -arius für denominale Nomina agentis übernommen worden: monetarius J ahd. munizzaˆri, mhd. münzaere, nhd. Münzer ‘Münzpräger’. Bereits im frühmittelalterlichen Deutsch wird das Suffix, bald auch sekundär umgelautet, intensiv für Neubildungen genutzt. Es verdrängt bereits in althochdeutscher Zeit die ererbten Suffixe für nomina agentis, nämlich -o (kebo ‘Geber’) und -il (tregel ‘Träger’); letztgenanntes kann sich nur noch bei der Bezeichnung von Amtsoder Dienstpersonen halten: Büttel, Weibel, Wärtel. 3.2. Kirchlicher Einfluß im frühen Mittelalter In eine andere Richtung gehen die Veränderungen des Wortschatzes im Rahmen der Kultur- und Missionstätigkeit der Kirche. Die Bereitstellung eines kirchlichen Sachwortschatzes zeigen die frühen z. T. lautverschobenen Entlehnungen wie Mönch (monachus), Pfarre (parochia), Pfründe (praebenda), Kloster (claustrum) Münster (monasterium). Der Bildungsarbeit der Kirchen und Klöster zuzuordnen sind etwa Schule (scola), Schüler (scolaris), Tafel (tabula), Schrift (scriptura), Tinte (tinctura). Als wesentlich schwieriger erwies sich die Etablierung der lateinischsprachigen theologischen Terminologie in der Volkssprache. So sind etwa für misericordia ‘Barmherzigkeit’ im 9./10. Jh. zahlreiche ahd. Entsprechungen belegt: miltida, miltnissa, miltherzi, ginaˆda, eˆragrehtıˆ (etwa: ‘ehrbare Rechtlichkeit’); dazu kommen als Versuche, die die lat. Wortbildung (miser ‘arm’, cor ‘Herz’) aufnehmen: armherzıˆn, irbarmherzıˆ, irbarmherzeda, irbarmida, gabarmida., barmherzi (Verbalabstraktum zu irbarmen). Sie belegen die Versuche, einem für die Vermittlung des christlichen Glaubens zentralen Begriff Äquivalente in der Volkssprache zu schaffen, von denen sich Erbarmen und Barmherzig(keit) haben durchsetzen können.

3175

202. Lateinisch/Deutsch

3.3. Begrifflichkeit der Scholastik Scholastische Literatur in dt. Sprache ist nahezu ausschließlich Übersetzungsliteratur. Der Anteil an Lehn- und Fremdwörtern ist dabei relativ gering. Zu ihnen gehören u. a. conscienzie, gracie, substanzie, subtil, person, personlich, personlicheit, difiniren, difinirunge, trinitat (Ruh, 81 f.). Wesentlich umfangreicher ist die Gruppe der Lehnprägungen und -bildungen, in denen praefigierte oder suffigierte lat. Wortbildungsmuster nachvollzogen werden, etwa gegenwerfunge nach obiectio ‘Einwand’. Dabei ordnen sich bestimmte Suffixbildungen einander zu, so im Bereich der Substantive lat. -(t)io zu mhd. -ung(e); lat. -tas zu mhd. -heit/-keit; bei den Adjektiven lat. -lis zu mhd. -lich. So z. B. absentatio ⫺ abewesunge; adjectio ⫺ zuowerfunge; correlatio ⫺ glichwidertragunge; adversitas ⫺ gegenkeit; deiformitas ⫺ gotformikeit; connaturalis ⫺ glichnaturlich; naturalis ⫺ naturlich (Gindele). Im dt. Wortschatz bilden auch in der Folgezeit die Entlehnungen aus dem Lat. das wesentliche Reservoir sprachlicher Kompetenzerweiterung. Für 1480 sind, gezählt nach Erstbelegen, noch 81 % der Lehnwörter im Dt. aus dem Lateinischen bezogen. Nach kurzfristigem Absinken bis gegen 1520 steigt ihr Anteil im Zusammenhang der konfessionellen Auseinandersetzungen bis 1570 auf 80 % und sinkt erst nach 1600 auf unter 50 % (von Polenz 1991b, 220⫺222). Entlehnungen aus dem Lat. (wie auch aus dem Griech.) lassen sich in der Neuzeit vor allem in den Spezialwortschätzen der Wissenschaften, besonders der Naturwissenschaften, der Medizin und der Technik verfolgen (Pörksen 1983; 1994). Die Bezeichnungen innerhalb der Institution Universität zeigen das ebenso: Rektor, Dekan, Professor, Doktor, Fakultät, Aula, Auditorium, Collegium; dazu ⫺ mit einem aus dem Französischen entlehnten Suffix: immatrikulieren, studieren, promovieren, habilitieren etc. 3.4. Entlehnungen aus dem Deutschen ins Lateinische Komplementär zu den zahlreichen Entlehnungen aus dem Lateinischen steht das Phänomen, daß das Lat. seit dem frühen Mittelalter in allen Regionen seiner europ. Verbreitung Lehnwörter aus den jeweiligen Volkssprachen aufgenommen hat. Dieser Vorgang ist Kennzeichen für die breite kommunikative Kompetenz des mittelalterlichen Lat., das

sich in beständigem und aktualisierendem Wandel befand und die Entlehnung zur Erweiterung seines Wortschatzes handhabte wie jede „lebendige“ Sprache. Die in der Folge aus mangelnder Sprachbeherrschung des Lat. erwachsenden volkssprachig-lateinischen Mischidiome des sog. Küchenlateins sind am Ausgang des Mittelalters vielfacher Gegenstand der Humanistensatire (Dunkelmännerbriefe) und Angriffsziel des Sprachpurismus des 16. Jahrhunderts gewesen (Rössing-Hager 1992, Burke). Erst die von den Humanisten betriebene Ausrichtung des Lat. an der klassischen Norm der Antike, vornehmlich Ciceros, hat die Anpassungsfähigkeit der Sprache und ihre kommunikative Aktualität so weit reduziert, daß sie seit langem zur „toten“ Sprache geworden ist. Aus dem Dt. werden schon im frühen Mittelalter ins Lat. entlehnt Wörter wie berfredus ‘Wachturm’; halsberga ‘Halsberge’'; huba ‘Hufe’ (Flächenmaß); leudes ‘Kronvasallen’; marca ‘Grenzland’; mallus/-um ‘Gerichtsstätte’; mannire ‘vor Gericht laden’; sala ‘Behausung, Saal’; sparro ‘Wurfspieß’; rasta ‘Meile’; treuga ‘Landfriede’; im Fortgang des Mittelalters dann z. B.: borchgravius, /-ia ‘Burggraf/-gräfin’, scario ‘Scherge, Hauptmann’; scara ‘Schar’, scultetus ‘Schultheiß’, buttus ‘Scholle, Butt’; hos(s)a ‘Hose, Beinkleid’; scuta ‘Schute’; stallum ‘Chorstuhl; Amt’. In der Regel wird dem volkssprachigen Wort das Morphem der entsprechenden Genus-Klasse affigiert, meist aus der a- bzw. oDeklination. Entlehnungen wie die genannten sicherten dem Lat. des Mittelalters als lebender, gesprochener Sprache seine beständig erweiterbare Bezeichnungskompetenz.

4.

Syntax

Sprachliche Kontaktphänomene sind am ehesten und umfangreichsten im Bereich des Lexikons zu beobachten; doch es gibt einige syntaktische Phänomene, die in diesem Zusammenhang angesprochen werden sollen. Die germ. Volkssprachen entwickeln eine vermutungsweise eigenständige, vom Lat. weitgehend verschiedene Syntax. Für die Frühzeit des Dt. (wie auch für das Altenglische [Scheler]) ist jedoch mehrfach eine vom Lat. geprägte „Lehnsyntax“ angenommen worden, sichtbar etwa am Verfahren, wie Syntagmen eines Ablativus absolutus (Abl. abs.) und Accusativus cum infinitivo (Aci) im Deutschen adaptiert, wie bestimmte Phäno-

3176

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

mene verbaler Valenz an das Lat. angeglichen werden (Lippert 1974; Schulze 1975; Greule 1999 und Art. 79). Für eine lehnsyntaktische Konstruktion gilt: sie „ist auf die Übersetzungsliteratur beschränkt und dient ausschließlich zur Wiedergabe ihres fremden Vorbilds.“ (Scheler, 36). Von den germ. Sprachen adaptieren bereits das Altnordische und zuvor das Gotische den Aci, das Got. auch ⫺ nach dem Vorbild des Griech. ⫺ den Genitivus absolutus. In den ahd. Interlinearversionen (Henkel 1994) sowie bei Notker und im ahd. Tatian sind das geläufige Erscheinungen. Sie erscheinen hier aber regelmäßig in synoptischer Kopräsenz von lat. und dt. Text und können aus der funktionalen Zuordnung beider Sprachen erklärt werden. Denn nicht „Übersetzen“ ist hier das Ziel, sondern Hilfestellung zum Verständnis des jeweiligen lat. Textes durch seinen erklärenden und deshalb so präzisen Nachvollzug im Medium der Volkssprache. Lehnsyntax dürfte nur dort angesetzt werden, wo die genannten Syntagmen außerhalb des direkten dt.-lat. Sprachkontakts erscheinen. In den im Dt. üblichen Akkusativ-Konstruktionen z. B. nach hören, sehen, heißen, lassen vom Typ ‘ich höre ihn kommen’ dürfte der Infinitiv als zweites Objekt anzusehen sein, nicht als Übernahme des Aci. Im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Dt. kommt der Aci vor, allerdings nur dort, wo er eine bewußt enge Bindung an das Lat. und dessen normative Geltung dokumentieren soll, etwa bei Johann von Neumarkt († 1380): bekennen dich got zu vater haben (Soliloquien, ed. Sattler, 84) für confitentes te patrem habere Deum oder bei Niklas von Wyle († 1479) Jch mag nimmer gelouben Helenam hüpscher gewesen sin (Translatzen, ed. Keller, 23,30 f.) für Non Helenam pulchriorem fuisse crediderim. Daß sich etwa der Aci im Dt. bis ins 18. Jh. hinein nachweisen läßt (Gryphius, Opitz, Lessing; Belege bei Behaghel § 724⫺ 726), kann aber nicht heißen, daß er zum integralen Bestandteil dt. Syntax geworden wäre. Vielmehr ist zu berücksichtigen, daß die genannten Autoren selbst, zumal Opitz, lat. geschrieben haben und die Verwendung ihrer Texte auf ein Lesepublikum ausgerichtet ist, dessen sprachliche Ausbildung maßgeblich vom Muster des Lat. geprägt ist und das sprachlich-stilistische Interferenzen wie den Aci kennt und schätzt. Der „deutsche“ Aci scheint eher ein Phänomen der lat. beein-

flußten Stilistik zu sein als eines der Grammatik des Dt. Die für das Lat. typischen vielfältigen Verwendungsweisen des Ablativs werden im Dt. offenbar nur selten adaptiert. Der Abl. abs. erscheint im frühen Mittelalter vereinzelt und nur im abbildenden Nachvollzug der lat. Konstruktion als doppelter Dativ: Inphanganemo antuuvrte (responso accepto; Tatian 40, 20); gote helphante (nach: Deo adiuvante; Otfrid, ed. Erdmann, 5, 25, 7; s. Behaghel § 798 f.; Lippert, 145⫺187), mehrfach auch in Interlinearversionen, etwa der Murbacher Hymnen und der St. Galler Benediktinerregel (Henkel 1994). Selten ist gleichfalls der präpositionslose Ablativus temporis, wiedergegeben durch einen doppelten Dativ: dominico die ⫺ truhtinlichemo tage (‘am Tag des Herrn’; St. Galler Benediktinerregel, ed. Masser, 58, 1) oder der gleichfalls präpositionslose Instrumentalis: scal mih … suertu hauwan (‘er wird mich mit seinem Schwert schlagen’, Hildebrandslied 53; weitere Belege bei Behaghel § 465 II.1). In diesen Zusammenhang gehören auch Erscheinungen der Verbvalenz, die sich nur durch den direkten Einfluß des lat. Modells erklären lassen und außerhalb des unmittelbaren Übersetzungszusammenhangs nicht auftreten. Hier könnte man annehmen, daß deutschsprachige Fügungen, die offensichtlich nur im direkten Sprachkontakt mit dem Lat. auftreten, das lateinische Syntagma im Medium der Volkssprache lediglich formal erschließen, nicht aber als übersetzende Überführung in eine idiomatische Fügung des deutschen Sprachbaus anzusehen sind. Von Lehnsyntax sollte hier wie bei den oben genannten Erscheinungen des Aci und Abl. abs. nur dort gesprochen werden, wo sich Syntagmen wie die genannten in einer vom Lat. unbeeinflußten Umgebung etablieren. Nach den bisherigen Beobachtungen können sie lediglich als Ausnahmeerscheinungen im Rahmen der parole gelten, sie sind nicht Bestandteil der langue geworden.

5.

Registerwechsel zwischen Latein und Volkssprache

Der spontane und problemlose Wechsel des sprachlichen Registers zwischen Lat. und Dt. ist zentrales Merkmal mittelalterlicher Bilingualität. Speziell für das 15. Jahrhundert ist hinsichtlich des Verhältnisses von Lat. und Volkssprache „die Selbstverständlichkeit ih-

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202. Lateinisch/Deutsch

rer Koexistenz, die Leichtigkeit des Wechsels zwischen beiden Ausdrucksinstrumenten“ festgestellt worden (Grubmüller 1986, 45). Daneben lassen sich Registerwechsel zwischen Lat. und Dt. wie auch zwischen Dt. und Lat. nahezu regelhaft beobachten. Sie sind für das 16. Jh. gut untersucht im Fall von Luthers Tischreden (Stolt) und der Schriften des Paracelsus (Pörksen). Sie lassen sich aber schon wesentlich früher beobachten. Bereits die frühen Aufzeichnungen der fränkischen Stammesrechte (‘Pactus legis Salicae’, 6. Jh.; ‘Lex Salica’ 8. Jh.) weisen zahlreiche frk. Wörter und Redeteile auf, die in den lat. Kontext gestellt werden und volkssprachige Termini einer Verhandlungssprache vor Gericht bieten. Diese ‘Malbergischen Glossen’ gelten als Reste früher rechtssprachlicher Mündlichkeit, die im „Rahmenwerk“ lat. Aufzeichnung der Stammesrechte erhalten geblieben sind (Schmidt-Wiegand, 1979; 1983; dies., VL V, 1193⫺1198). Vergleichbares trifft auf die Inserate volkssprachiger Wörter innerhalb zahlreicher weiterer Rechtstexte wie auch der Urkunden (Tiefenbach) des frühen Mittelalters zu (SchmidtWiegand 1973 sowie Art. 5 und 6; von Olberg; de Sousa Costa 1993). Andererseits bleiben auch innerhalb dt. Texte oftmals lat. Wörter, meist wegen bewährter terminologischer Prägnanz, stehen. So bleiben etwa in Willirams von Ebersberg dt. Hohelied-Paraphrase (um 160/70) vielfach die Bestandteile der theologischen Begrifflichkeit innerhalb des dt. Satzes lat. erhalten: Dı´u suˆoze dıˆnero gratie ist be´zzera. da´nne dı´u sca´rfe de´ro legis. (ed. Bartelmez, 1). Gleiches läßt sich vielfach in den Schriften Notkers III. von St. Gallen beobachten. Auch ein Wechsel des sprachlichen Registers in Zusammenhang mit einem Medienwechsel läßt sich beobachten. Mehrfach sind im Mittelalter Dichtungen bzw. literarische Sujets, die in mündlich-volkssprachlicher Tradierung verbreitet waren, beim Übergang in die Schriftlichkeit lat. aufgezeichnet worden: so z. B. Ratperts Galluslied, der Waltharius oder der Schwank vom Schneekind, der Modus Liebinc (Haubrichs, 85 f.; 167⫺169; 401⫺404). Umgekehrt ist die Predigt in der Volkssprache, wie sie schon die karolingischen Kapitularien fordern, vielfach nur in lat. Aufzeichnung erhalten; deutschsprachig aufgezeichnete Predigten erscheinen in nennenswertem Umfang erst im 13. Jh. Innerhalb der klerikalen Praxis läßt sich im gesam-

ten Mittelalter beobachten, daß deutschsprachige Predigten nach lateinischen Konzepten gehalten wurden. Erst um 1500 gewinnt die dt. Sprache eine eigenständige Formulierungskompetenz in allen Bereichen der Schriftkultur. Dennoch bleibt das Lat. auf vielen Feldern des Gebrauchs weiterhin präsent, z. T. sogar dominant. Die dt. Dichtung des 16. Jhs. bedient sich in zahlreichen ihrer besten Produkte der lat. Sprache; noch Opitz verfaßt einen Teil seiner theoretischen Schriften (u. a. den Aristarchus) und Dichtungen in lat. Sprache. Nahezu alle Wissenschaftsdisziplinen wahren ihre sprachliche Präzision und Internationalität dadurch, daß sie weiterhin, bis ins 18. Jh. und teilweise darüber hinaus, das Lat. benutzen. Kernfach des schulischen Unterrichts schließlich bleibt bis ins 19. Jh. die lat. Sprache in ihrer von den Humanisten purifizierten Form.

6.

Übersetzen

Die Vermittlung zwischen zwei Sprachen, insbesondere zwischen Lat. und Volkssprache, gehört zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten des dt. Mittelalters. In der Regel fehlt eine eigene theoretische und methodologische Diskursebene zur Übersetzung, doch werden im jeweiligen Werkzusammenhang Fragen des Verhältnisses von Ausgangs- und Zielsprache, der Vermittlungsstrategie, des jeweiligen Wahrheitsgehalts sowie die Bedingtheit des Übersetzungsverfahrens durch die Ausrichtung auf Publikum und Textgebrauch zur Sprache kommen. Quellenmäßig faßbar sind Übersetzungen dort, wo sie sich in Schriftzeugnissen erhalten haben. Übersetzen im Bereich der Mündlichkeit ist als Faktum präsent und gut bezeugt (Predigt, Unterweisung, Handel, Diplomatie), entzieht sich aber weitgehend dem forschenden Zugriff. Unterschiedlich sind die mittelalterlichen Bezeichnungen für das Übersetzen: in idioma maternum transferre/traducere, interpretari oder teutonizare sowie diuten, tiutschen, bedeutschen, transferiren, an/ze dudesch wenden/ keren etc. In keinem Fall ist damit begriffliche Eindeutigkeit erreicht oder auch nur angezielt. Die Instanz des getriuwen dolmetsch (nach Horaz, Ars poetica, v. 133 f.: fidus interpres) wird zwar immer wieder aufgerufen, ebenso die in Opposition stehenden Zielkategorien des Übersetzens: wort uz wort (wortwörtlich) bzw. sin uz sin (sinngemäß), doch

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XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

sind damit keine strikt eingehaltenen Programme verbunden. Übersetzungen aus dem Lat. ins Dt. sind im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in nahezu allen Bereichen der Schriftlichkeit vertreten, oftmals sind Lat. und Volkssprache koexistent im gleichen Text, auf der gleichen Buchseite, auch in synoptischer Anordnung (Palmer 1983; 1984). In mehreren Gattungsfeldern bilden Übersetzungen weitgehend oder ausschließlich den Textbestand, z. B.: Antike- und Humanismusrezeption (Worstbrock 1970; 1976), Legende (Feistner), Fabel (Grubmüller 1977), Fachliteratur (Schnell 1996). Komplementär dazu sind im Mittelalter und in der frühen Neuzeit auch zahlreiche Fälle belegt, in denen deutschsprachige Sujets ins Lateinische übertragen wurden und damit andere Interessentenschichten erreichen konnten. Beispiele sind etwa der Herzog Ernst, der Gregorius Hartmanns von Aue, Freidank, die anonyme Kaiserchronik oder die Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen (Kunze). Vom 14. Jh. an sind lat. Bearbeitungen dt. Texte selbstverständlich, oftmals autorisiert oder vom gleichen Verfasser, so im Schrifttum der dt. Mystik, in der Chronistik (Andreas von Regensburg, Dietrich Engelhus, Sigismund Meisterlin u. a. m., s. Sprandel). Im ausgehenden 15./16. Jh. sind es publikumswirksame dt. Texte, die teilweise ihre europaweite Wirkung erst erlangen, nachdem sie ins Lat. übersetzt sind: Sebastian Brants Narrenschiff (1494) in der Übersetzung durch Jacob Locher (1497), Reynke de Vos (1498), übersetzt von Hartmann Schopper (1567, 1588) oder der Eulenspiegel (um 1510), übersetzt von Johannes Nemius (1558, 1563) und von Aegidius Periander (1567). Vgl. im übrigen zum Verhältnis von Latein und Volkssprache im Bereich des Übersetzens Art. 14.

7.

Deutsch und Latein: Medienpräsenz

Deutschsprachiges erscheint früh in Namen, als Einzelwort oder Wortgruppe inseriert in lat. Texte oder auch als Glosse, die lat. Wörtern als interlinear, marginal oder (selten) kontextuell innerhalb der Schriftzeile zugeordnet ist. Vom 9. Jh. an bildet das Dt. auch „Texte“ aus. Dabei ist die Existenzform der Volkssprache auf dem Pergament gegenüber der überwiegenden lat. Schriftlichkeit durchgängig „marginal“ im Buchstabensinn: Texte

in dt. Sprache sind im frühen Mittelalter, abgesehen von wenigen Ausnahmen (s. u.), von ganz geringem Umfang (Hildebrandslied 68 vv.; Ludwigslied 59 vv.; Muspilli 103 vv.). Eingetragen sind sie auf Blatträndern, Vorsatzblättern, z. T. sind sie auch notiert als Federproben (etwa die St. Galler Spottverse). Auch die Niederschrift des bedeutendsten Textes der Frühzeit, des Hildebrandslieds (um 830), erfolgte auf dem Vor- und dem Nachsatzblatt einer lat. Handschrift. Die solche Aufzeichnungen umgebende lat. Schriftlichkeit hingegen ist von den Zeitgenossen in der Regel als deutlich höherrangig eingestuft worden, kenntlich sowohl am kalligraphischen Niveau wie auch an der Mise en page (Schrifttafeln 1966). Lediglich drei Werke des 9. Jhs. erreichen den Status eines eigenen Buchs: Heliand, Tatian und Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch. Im 10. Jh. folgt das auf St. Gallen beschränkte Werk Notkers III., im 11. Jh. Willirams von Ebersberg Hohelied-Kompilation, die beide sowohl lat. wie dt. Elemente enthalten. Erst das 12. Jh. läßt eigenständige, auf deutschsprachige Texte ausgerichtete Sammlungskonzepte und Überlieferungsformen erkennen. Im 13. Jh. läßt sich erstmals ein Skriptorium nachweisen, das auf deutschsprachige Werke erzählender Literatur spezialisiert gewesen ist (Schneider 1987, 133⫺ 142). Zwar wächst innerhalb der „LiteraturExplosion“ (Kuhn 1980, 78) des Spätmittelalters, die die lat. wie die dt. Literatur gleichermaßen betrifft, die Zahl der deutschsprachigen Handschriften bis gegen 1500 enorm an, doch erreicht sie bis zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als 10⫺15 % der lateinischen Buchproduktion. Der ab 1450 einsetzende Buchdruck mit seiner schon von den Zeitgenossen als umwälzend verstandenen neuen Informations- und Kommunikationstechnologie (Giesecke 1998) bringt hinsichtlich der quantitativen Verteilung von Latein und Deutsch zunächst keine Veränderung. Ein Sonderfall wie Augsburg (Künast) mit seiner im 15. Jh. ungewöhnlich hohen Quote deutschsprachiger Drucke belehrender und unterhaltender Literatur bestätigt das nur. Einen nur kurzfristigen Anstieg deutschsprachiger Druckprodukte bringt die Reformation (Giesecke 1998, 508 f.), doch erst im 18. Jh. ist ein Wendepunkt erreicht. „Die Buchproduktion zwischen 1740 und 1800 war mit einem Rückgang der lateinischen Titel von 38 % auf 4 % verbunden“ (von Polenz 1991a, 8). Für den lateinischsprachigen

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202. Lateinisch/Deutsch

Anteil an der dt. Buchproduktion sind folgende Annäherungswerte aufgestellt worden: 90 % (1518), 70 % (1570), 50 % (1680), 28 % (1740), 14 % (1770) (von Polenz 1991b, 223). Die Medienpräsenz des Lat. in Büchern und Druckschriften ist von da an auf Spezialbzw. Randbereiche verwiesen.

8.

Eurolatein

Der Begriff umfaßt „Elemente, Prägungen und Regeln des Lateins, die von den europ. Sprachen aufgenommen und weiterentwikkelt wurden.“ (Munske 1996, 82). Einbezogen wird dabei auch das Griech., das, etwa im Bereich der Wortbildung, vielfach nicht mehr bewußt von lat. Elementen getrennt wird. Es geht dabei um Wörter wie Campus, Intention etc., um Phraseologismen wie ultima ratio, per definitionem, in nuce etc.; z. T. in hybriden Fügungen unter Einbeziehung des Dt.: Flugverbindung via Paris, pro Minute, vor Christi Geburt usw. (zur Einteilung Munske 1996, 94 ff.; zum Material: Hemme). Vorgänge solcher Entlehnung aus den europ. Nachbarsprachen lassen sich seit dem 19. Jh. beobachten. Im politischen Vokabular wären etwa zu nennen Demonstration, Fraktion, Koalition, Opposition, Minorität, Republik, die teils aus Frankreich, teils aus England bezogen sind. Das Phänomen umgreift bereits im 19. Jh. weite Bereiche der Sprache. Markante Morpheme, die den lateinisch-französisch-englischen Zusammenhang der Wortbildung erkennen lassen, sind etwa -anz/-enz, -tät/-izität, -ion, -ant/-ent, -ös, -al/-el. Von internationaler Geltung sind die auf lat.-griech. Substrat gegründeten Fachsprachen, die eine Verständigung unabhängig von der jeweiligen Nationalsprache hinaus leisten. Über die Entwicklung der Fachsprachen hinausgehend, weist der Wortschatz der Gegenwartssprache zahlreiche Fälle bedeutungskongruenter (oder für bedeutungskongruent gehaltener: false friends; s. Meißner) Bi- bzw. Multilingualismen auf, die sich als Internationalismen oder Interlexeme bezeichnen lassen (zum Begriff s. Volmert; zu ‘Europäismus’ vs. ‘Internationalismus’ Bergmann 1995; Internationalismen 1990; Reichmann 2001, 54; 60). Demokratie, Sport, Atom, Garage sind Beispiele dafür. Im Rahmen der Wortbildung wären u. a. Präfixe und Suffixe zu nennen, z. B.: dis-, inter-, per-, trans-; bei abgeleiteten Verben: -ieren; bei den Suffixen etwa -mentum, -tor (Ehlich 1989). Auch weite

Bereiche vorwiegend mündlich verbleibender Felder etwa der Jugend- und Szenesprache machen ausgiebig und kreativ Gebrauch von den im Eurolatein angebotenen Sprachmustern. Im Zuge solcher internationaler Sprachverflechtung ist die Wortbildung der Gegenwartssprache stark von lat. Substraten geprägt, ohne daß diese Bindung im aktuellen Bewußtsein verankert sein müßte. Präfixbildungen mit super-, ultra-, maxi-/maximal-, ex-, extra- oder auch mit dem ursprünglich griech. mega- oder hyper- können Teil eines je zeittypischen Lexikons werden, können vielfach aber auch spontan bzw. situationsoder gruppengebunden (Jugendsprache) generiert werden, ohne eine längerfristige lexikalische Repräsentanz auszubilden: Minirock; super-cool; Ex-Kanzler, Extra-wurst etc. (siehe auch Ruf 1985; Hoppe 1999); dazu mit hinsichtlich der Herkunft nicht mehr unterschiedenem griech. Präfix etwa: hyper-modern, mega-cool. Problematisch hinsichtlich der zugrundeliegenden Motivation ist die Kategorisierung solcher Erscheinungen als Lehnwortbildungen (Hoppe), da ihre Generierung weitgehend unabhängig von der lat. Wortbildung und deren Mustern, nämlich autogenetisch, verläuft. Ein markantes Beispiel zum Schluß: Das „Wort des Jahres 1999“, Millennium, hat seit langem zum Wortschatz des Gebildeten gehört. Seine derzeit breite Verwendung beruht aber keineswegs auf der Reaktivierung des deutschen Fremdworts, sondern ist, wie die häufige Aussprache mit gedehntem /e:/ erweist, der oft die Schreibung ‘Millenium’ folgt, eindeutig Import aus dem anglo-amerikanischen Raum im Rahmen der Kommerzialisieriung des (vermeintlichen) Jahrtausendwechsels.

9.

Literatur (in Auswahl)

Admoni, Wladimir, Die Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache im Bereich des neuhochdeutschen Satzgefüges (1470⫺1730). Ein Beitrag zur Geschichte des Gestaltungssystems der deutschen Sprache. Berlin 1980. (B. Gesch. Nhd. 56/4). Admoni, Wladimir, Historische Syntax des Deutschen. Tübingen 1990. Behaghel, Otto, Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung. Bd. 1⫺2. Heidelberg 1923/1924. Bergmann, Rolf, ‘Europäismus’ und ‘Internationalismus’. Zur lexikologischen Terminologie. In: Sprachw. 20, 1995, 239⫺277.

3180

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

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3182

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Nikolaus Henkel, Hamburg

203. Griechisch/Deutsch

3183

203. Griechisch/Deutsch 1. 2.

4.

Zur Forschungssituation Griechische Elemente im gegenwärtigen Deutsch Der Einfluß des Griechischen im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte Literatur (in Auswahl)

1.

Zur Forschungssituation

3.

Obwohl der Anteil der auf griech. Grundlage gebildeten Wortentlehnungen an der dt. Lexik sehr groß ist ⫺ zusammen mit dem der Entlehnungen lat. Ursprungs beträgt er etwa 78 % (Link 1983, 65) ⫺, fehlt nach wie vor eine grundlegende Untersuchung, die den Einfluß des Griech. auf das Dt. sowohl anhand einer synchronen als auch einer diachronen Analyse darstellt. Einer der Gründe für diese Forschungslücke dürfte darin zu sehen sein, daß die ältere dt. Sprachgeschichtsschreibung sich stets vorrangig für das Weiterleben des germ. Erbes im dt. Sprachsystem interessierte, und deshalb Interferenzerscheinungen eher eine periphere Bedeutung beimaß. Die Sammlung und sprachhistorische Einordnung von Fremdund Lehnwörtern, die es natürlich immer gegeben hat ⫺ vor allem im Bereich der Lexikographie ⫺, bietet überdies im Falle des Griech. besondere Schwierigkeiten, da das griech. Lehngut im Dt. überwiegend durch andere Sprachen ⫺ hauptsächlich Lat. und Frz. ⫺ vermittelt wurde; dementsprechend beschränken sich die in der Bibliographie (4.) aufgeführten Verzeichnisse griech. Wortentlehnungen im Dt. (vgl. bes. Dornseiff 1950 und Richter/Hornbostel 1981) auf Angaben zu Bedeutung und Etymologie und können deshalb nur der ersten Orientierung dienen. Schließlich dürfte die Tatsache, daß die mittelalterliche und neuzeitliche Antikerezeption, soweit sie die sprachlichen Einflüsse des Griech. und Lat. betrifft, von der traditionellen Altertumswissenschaft kaum beachtet wird, dafür verantwortlich zu machen sein, daß es bisher noch fast gar nicht zu einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen klassischen Philologen und germanistischen Linguisten gekommen ist, ohne die aber eine Erforschung der dt. Gräzismen nur schwer möglich ist.

Da wir es mit einem Forschungsbereich zu tun haben, dem es größtenteils sogar an Arbeiten im Vorfeld der wissenschaftlichen Auswertung mangelt, kann die vorliegende Übersicht nicht viel mehr bieten als eine Bestandsaufnahme der Resultate, die vornehmlich von Einzeluntersuchungen zum Sprachenkontakt Griech./Dt. erbracht wurden. Während näm-

lich die bisher erschienenen Gesamtdarstellungen zu diesem Thema (Stürmer 1932, Dornseiff 1950, 3⫺16; 143⫺146, Rosenfeld 1980, Lendle 1986) im Grunde nur einführende Hinweise geben, liefert immerhin eine Reihe von Arbeiten zu Teilgebieten einige verwertbare Ergebnisse oder wenigstens Perspektiven. Dabei ist es freilich bezeichnend für die desolate Forschungssituation, daß die zahlenmäßig stärkste Gruppe von Untersuchungen zu einem bestimmten Thema sich einem Problem von vergleichsweise geringer Bedeutung widmet: der Frage nach dem Anteil des Got. an der Vermittlung griech. Lehnwörter. Im Bereich des frühmittelalterlichen Lehnwortschatzes des Dt. verdienten es eher die Lehnprägungen, einmal gründlich daraufhin befragt zu werden, welche Rolle das Griech. bei diesen verborgenen Transferenzen gespielt hat; im Rahmen der von W. Betz initiierten Forschung zum abendländischen Sprachenausgleich hat H. Gindele (1977) hier erste Anregungen gegeben, und W. Berschins Korrekturen am herkömmlichen Bild von der völligen Unkenntnis des Griech. im westeurop. Mittelalter (1988) können dazu wichtiges Material beisteuern. Zur Erforschung des sichtbaren Lehnguts fehlt es ⫺ die geringe Zahl der vorhandenen einschlägigen Arbeiten (Möller 1915, Weimann 1963, Eckel 1978, Wolf 1983/84 usw.) zeigt das deutlich ⫺ noch viel zu sehr an zuverlässigen lexikalischen Untersuchungen anhand von Texten sowohl des Mittelalters als auch der Renaissance; speziell die Epoche der Wiederentdeckung der griech. Sprache und Literatur hat man im Hinblick auf die Rolle des Nlat. bei der Vermittlung von Gräzismen an das Dt. noch gar nicht richtig erforscht. Ebenso ist die neuere dt. Literatur nur selten daraufhin untersucht worden, in welchem Maße in Zeiten besonders intensiver Auseinandersetzung mit dem Griechentum ⫺ also vor allem in „Neuhumanismus“ und „Drittem Humanismus“ ⫺ die Sprache der klassischen griech. Autoren auf die Sprache der dt. Dichtung gewirkt hat. ⫺ Während es zu einer umfassenden diachronen Betrachtung des griech. Einflusses auf das Dt. einige einschlägige Vorarbeiten gibt, hat auf dem Felde der systematisch-synchronen Untersuchung, die die Auswirkungen des griech.-dt. Sprachenkontaktes auf das gegenwärtige Dt. zum Gegenstand hat, die Arbeit erst in jüngster Zeit begonnen. Das wurde

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XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

zum einen durch die seit 1982 laufenden Bemühungen einer Mannheimer Arbeitsgruppe um die Erstellung eines Lexikons der dt. Lehnwortbildung (Hoppe u. a. 1987), zum anderen durch das neue Interesse germanistischer, anglistischer, romanistischer und slavistischer Linguisten am interdisziplinären Gespräch über Euroklassizismen im Rahmen der Internationalismenforschung (Kirkness/ Munske 1996) ermöglicht.

2.

Griechische Elemente im gegenwärtigen Deutsch

Der Einfluß des Griech. auf das Dt. war von jeher auf den Bereich der Lexik zentriert; eine Übersicht über den Anteil ursprünglich griech. Wörter am dt. Lehnwortschatz gibt die anschließende diachrone Darstellung (3.). ⫺ Seit seiner Wiederentdeckung in der Renaissance wird das Griech. an dt. Schulen nach den von Erasmus von Rotterdam aufgestellten Regeln (Drerup 1930⫺1932) ausgesprochen, die auf der herkömmlichen lat. Transkription beruhen. Dieser Tradition verdankt das Dt. eine Reihe von Graphemen, die, nur bei ursprünglich griech. Wörtern und Wortelementen angewandt, dort für Phoneme stehen, für die das Dt. sich sonst anderer Grapheme bedient: ph neben f und v, th neben t, tt, dt sowie d im Auslaut, rh und rrh neben r und rr, y neben ü und üh; eine Ausnahme bildet das auch im heimischen dt. Graphemsystem vorhandene ch, dessen Lautwert teils dem des k (Charakter), teils dem des palatalen bzw. velaren ch (Entelechie bzw. rachitis) entspricht. Graphematisch in das dt. Schreibsystem integriert wurden bisher nur häufig gebrauchte Lexeme wie Telefon, Fotografie, Grafik und fantastisch, aber die bei den Wiener Verhandlungen über eine Neuregelung der dt. Orthographie (22.⫺24. 11. 1994) beschlossenen Reformen sehen auch für die übrigen Alltagswörter eine Angleichung in der Schreibung vor: z. B. Asfalt, Delfin, Strofe (aber weiterhin Metapher, Sphäre) bzw. Apoteke, Astma bzw. Reuma, Hämorriden. ⫺ Die griech. Wortbetonungsregeln konnten bei der Eindeutschung griech. Lexeme schon deshalb nicht transferiert werden, weil diese fast nur über Drittsprachen in das Dt. gelangten. Neuere Untersuchungen zum dt. Fremdwortakzent haben ohnehin ergeben, daß die Betonung eines Fremdwortes sich nicht ⫺ wie man früher allgemein an-

nahm ⫺ im großen und ganzen nach den Akzentregeln der Quellsprache richtet, sondern sprachinternen Regeln folgt (Munske 1982, 248 ff.). Daß die ursprüngliche Betonung jedoch bei der Ausbildung solcher Regeln (auf die hier nicht näher eingegangen werden soll) zumindest nicht unbeteiligt gewesen sein dürfte, legt gerade die unterschiedliche Betonung griech. Wortentlehnungen nahe: Das Nebeneinander von Betonungen wie ⬘Logik, ⬘Technik, Gram⬘matik auf der einen und Kri⬘tik, Mu⬘sik, Poli⬘tik auf der anderen Seite eröffnet die Möglichkeit, daß z. B. im Falle der Endbetonung das frz. Vorbild nachwirkt (J. Werner 1966). Auf jeden Fall folgt der Wortakzent griech. Eigennamen im Dt. teils der frz. Endbetonung, teils dem lat. Paenultimagesetz (vgl. 3.3.1.). ⫺ Einen speziellen Einfluß übt das Griech. noch heute im morphologischen Bereich aus. Bei der Prägung neuer Begriffe und Fachtermini greift die internationale Bildungs- und Wissenschaftssprache außer auf lat. besonders gern auf griech. Wortstämme und Wortbildungsmittel zurück. Kombineme wie die Konfixe aero-, neobzw. -thek, -kratie bzw. -log-, -therm(o)- und die Affixe ant(i)-, para- bzw. -ismus, -itis (Hoppe u. a. 1987, Fleischer/Barz 1992) sind ständig produktiv, wobei z. B. die Prägungen mit neo- und -ismus im politischen Sprachgebrauch sogar zur Mode werden konnten (Welskopf 1981, 313 ff.). Nicht selten ist ein auf das Griech. zurückgehendes Kombinem erster oder zweiter Teil einer Mischbildung; bei einem solchen Hybriden kann das andere Kombinem aus dem Lat. (z. B. Automobil bzw. Privatklinik), Dt. (z. B. Bioladen bzw. Ostpolitik) oder einer anderen modernen Sprache (z. B. Bürokratie) stammen. Wird eine im engl. oder frz. Sprachraum mit Hilfe griech. Morpheme entstandene Neuprägung ins Dt. entlehnt, dann vollzieht sich automatisch eine Angleichung an bereits im Dt. vorhandene analoge Bildungen; z. B. wird -ic(s) bzw. -ique zu -ik oder -genic bzw. -ge`ne zu -gen, und dieser Vorgang erschwert die diachrone Bestimmung der Quellsprache. Griech. Neutra auf -ma, die im Dt. zunächst ihren Plural auf -mata bewahrten (z. B. Themata, Kommata, Schemata), bilden heute in der Regel dt. Pluralendungen (Themen, Schemen/Schemas, Kommas; vgl. dagegen Klimate < Klimata. Hübner 1988), während bei den Neutra auf -on der ursprüngliche Plural auf -a sich häufiger findet (Lexika neben seltenerem Lexiken).

203. Griechisch/Deutsch

3.

Der Einfluß des Griechischen im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte

Das griech. Lehngut im Dt. stammt nahezu ausschließlich aus dem Agriech. Immerhin strahlte die byzantinische Kultur durch Vermittlung der mit ihr z. T. in engem Kontakt stehenden westlichen Mittelmeerstaaten soweit auch auf den dt. Sprachraum aus, daß im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eine Reihe von ursprünglich mgriech. Wörtern ins Dt. gelangte, die größtenteils noch jetzt gebräuchlich sind (vgl. 3.1.2.). Entlehnungen aus dem Ngriech. sind dagegen nicht zu verzeichnen, was u. a. damit zusammenhängen dürfte, daß der westeurop. Philhellenismus, mit dessen tatkräftiger Unterstützung der neue griech. Staat Anfang des 19. Jhs. gegründet wurde, stets auf das klassische Hellas blickte, Sprache und Kultur des modernen Griechenland aber mehr oder weniger ignorierte; lediglich Zitatwörter haben sich infolge des Tourismus der letzten Jahrzehnte und der Ausbreitung der griech. Gastronomie in Westeuropa eingebürgert, z. B. Sirtaki, Ouzo, Retsina. Für heutige Griechen wiederum sind zahlreiche aus dem Griech. ins Dt. entlehnte Lexeme totale oder partielle „falsche Freunde“, da bei bzw. nach der Entlehnung manchmal eine Bedeutungsveränderung, -erweiterung oder -verengung erfolgte (vgl. z. B. Apotheke mit aœpoqh¬kh [„Lagerraum“], komisch mit kvmiko¬w [nicht „seltsam“], Chor mit xoro¬w [auch „Tanz“]) oder im Griech. das semantische Feld in der Neuzeit größer wurde (vgl. z. B. Arterie mit aœrthri¬a [auch „Verkehrsader“]; Alexiadis 1993, Holzberg 1996). 3.1. Mittelalter 3.1.1. Sieht man einmal ab von dem Wort Hanf, das auf einer frühen Sprachstufe des Germ. aus griech. ka¬nnabiw entlehnt wurde und in Sprachgeschichten gern zur zeitlichen Bestimmung der ersten Lautverschiebung herangezogen wird, dann dürfte die älteste Schicht ursprünglich griech. Wörter im Dt. aus der Zeit vor der Völkerwanderung stammen, als die Germanen in direktem Kontakt mit der römischen Zivilisation zahlreiche Wörter entlehnten, die ihrerseits zu einem nicht geringen Teil ⫺ besonders im Bereich der Wohn- und Gartenkultur ⫺ von den Römern aus dem Griech. entlehnt worden waren: z. B. Kamin, Tisch, Pfanne, Kirsche, Pflaume, Kümmel. Als die Sprache des Neuen

3185 Testamentes hatte das Griech. auch an der christlichen Terminologie des Lat. einen wesentlichen Anteil und beeinflußte dadurch wiederum indirekt die nahezu ausschließlich auf lat. Entlehnungen fußende Christianisierung des dt. Wortschatzes. Ältere Forschung (Kluge 1909, Aufderhaar 1933) nahm an, daß innerhalb der verschiedenen frühmittelalterlichen Missionsbewegungen, die den Bewohnern des heutigen Deutschland zusammen mit der neuen Religion auch die christlichantike Begriffswelt vermittelten, bereits im 5. Jh. gotische Arianer im bayerischen Donauraum wirkten, und führte mehrere ursprünglich griech. Wörter des Ahd. auf diese Missionstätigkeit zurück. Ob allerdings Kirche, Pfaffe, Bischof, Engel, Teufel und Pfingsten tatsächlich durch got. Vermittlung ins Dt. gelangt sind, wird, da eine solche gotisch-arianische Mission sich historisch nicht nachweisen läßt, heute mit Recht bezweifelt (Reiffenstein 1959, Knobloch 1960, Weisweiler/Betz 1974, Stutz 1980), zumal die einhellig als griech. Lehnwörter angesehenen bair. Wochentagsnamen Ertag (< ÔArevw h«me¬ra „Tag des Ares“) für „Dienstag“, Pfinztag (< pe¬mpth h«me¬ra „5. Tag“) für „Donnerstag“, Samstag (sa¬mbaton < sa¬bbaton) und vielleicht ahd.-bair. Pherintac (< paraskeyh¬ „Vorbereitung auf den Sabbat“) für „Freitag“ auch durch got. Kaufleute importiert worden sein könnten. Der Einfluß, den das Griech. über das Lat. und Got. auf das Ahd. ausübte, führte jedoch nicht nur zu Wortentlehnungen wie kirihha, biscof, abbat („Abt“), munih („Mönch“) oder alamuosa („Almosen“), sondern regte in weit höherem Maße Wortschöpfungen nach fremdsprachlichem Vorbild oder Bedeutungsveränderungen heimischer Wörter an: Lehnübersetzungen wie giwizzani (< conscientia < synei¬dhsiw „Gewissen“) oder bicherida (< conversio < eœpistrofh¬ „Bekehrung“) und Lehnbedeutungen wie geist (< spiritus < pney˜ ma) oder ginada (< gratia < xa¬riw „Gnade“) sind Zeugen einer europ. Kultur- und Sprachentwicklung, die vom griech. Sprachraum ihren Ausgang nahm. Da der Anteil des Griech. an diesem verborgenen Lehngut des Ahd. noch wenig erforscht ist (vgl. Gindele 1977) und da wir jetzt wissen, daß zumindest die Gelehrten des frühen Mittelalters noch über griech.-lat. und lat.griech. Glossare verfügten (Frakes 1987, Berschin 1988), kann vorerst nicht ausgeschlossen werden, daß neben den unmittelbaren lat. Wortbildungsmustern auch deren griech.

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XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

Vorbilder bei einzelnen ahd. Lehnprägungen eine gewisse Rolle spielten; Neubildungen wie ahd. chuatchunida für lat. evangelium oder ahd. samanunga für lat. coenobium und ecclesia sind, wie man längst bemerkt hat (Weisweiler/Betz 1974), ohne die Kenntnis der Bedeutungen von griech. eyœagge¬lion, koino¬bion und eœkklhsi¬a jedenfalls schwer denkbar. 3.1.2. Im Hochmittelalter dringen über das Mlat. und das Afrz., dem die höfische Sprache eine Fülle von Entlehnungen verdankt, vereinzelte Wörter aus dem Mgriech. ins Mhd. ein. Diese indirekt entlehnten Byzantinismen entstammen den beiden Bereichen, die hauptsächlich den Kontakt zwischen dem westlichen Abendland und dem oströmischen Kaiserreich herstellten, dem Handel und den Kreuzzügen: Die bereits in Texten des 12./13. Jhs. belegten und z. T. bis heute erhaltenen Lehnwörter mhd. wambeis „Wams“ (mgriech. ba¬mbaj „Baumwolle“ > mlat. bambax, altostfrz. wambais), samıˆt „Samt“ (mgriech. e«ja¬miton „sechsfädiges Gewebe“ > mlat. examitum, afrz. samit), zindaˆl „Zindel“ (mgriech. sende¬w „feiner Seidenstoff; Brokat“ > mlat. cendatum, afrz. cendat und cendal), triblaˆt (mgriech.tribla¬ttiow „stark purpurfarbig, von einem Gewebe, das dreimal in Purpur gefärbt ist“ > mlat. triblattus), kaˆteblatıˆn (mgriech. katabla¬ttion „stark purpurfarbenes Tuch“ > mlat. catablatti(n)us afrz. catablati), trientasme/drıˆanthasme (mgriech. triakonta¬shmow/*trianta¬shmow „mit dreißig Streifen oder Ornamenten, von kostbaren Stoffen“ > mlat. triacontasimum) und sarantasme/saranthasmeˆ (mgriech. *saranta¬shmow „mit vierzig Streifen oder Ornamenten, von kostbaren Stoffen“ > mlat. sarantasimum) bezeugen z. B. die hohe Bedeutung des byzantinischen Textilimports, während mhd. turkopel (mgriech. toyrko¬pvlow/toyrko¬poylow „türkischchristlicher Soldat in byzantinischem Dienst“ > mlat. turcopulus, afrz. turcople), tarkıˆs (mgriech. tarka¬sion „Köcher“ > mlat. tarcasium, afrz. tarcais), pheteraere (mgriech. petrari¬a „Steinschleudermaschine“ > mlat. petraria, ahd. peterari/pheterari) und mange (mgriech. ma¬gganon „Steinschleudermaschine“ > mlat. manga) an die kriegerischen Auseinandersetzungen im östlichen Mittelmeerraum erinnern (vgl. Schultz 1889, I, 339 ff., II, 198; 388; 399 ff.; Vorderstemann 1974, 186; 222; 274; 333; 362; H. u. R. Kahane 1970⫺1976, 383 ff. Nr. 64; 67; 70; 72⫺75; 138; 141; 143 f.).

Demgegenüber erreicht eine Reihe von Begriffen aus der Seefahrt, die von anderen Sprachen schon im Mittelalter entlehnt werden, den dt. Sprachraum erst im 16./17. Jh.: z. B. Galeere < mgriech. gale¬a, Gondel < kondoy¬ra, Havarie < barei˜a symbolh¬, Pilot

< *phdv¬thw (Kahane 411 ff. Nr. 157 f.; 161; 192). 3.1.3. Die Auseinandersetzung der Scholastik des 12./13. Jhs. mit griech. Literatur ⫺ vor allem Aristoteles ⫺ beeinflußt das Lat. dieser Epoche und wirkt somit indirekt auch auf die volkssprachliche Rezeption der theologischen und wissenschaftlichen Literatur im Spätmittelalter; dabei erinnert die Abhängigkeit der in der dt. Mystik und in mhd. Scholastikerübersetzungen besonders häufigen Bildungen von Abstraktsubstantiven auf -heit/-keit und -ung von entsprechenden lat. Bildungen auf -tas und -tio und ihren griech. Vorbildern auf -o¬thw und -siw an die Lehnprägungen des Ahd. (Gindele 1976 und 1977, Schuler 1982). Da die lat. Fachsprache der sieben artes liberales, der Grundlage des mittelalterlichen Wissenschaftssystems, traditionell mit griech. Lehnwörtern stark durchsetzt war, drangen im Spätmittelalter im Zuge der Sozialisierung der Bildung über das Lat. die ersten ursprünglich griech. Fachtermini auch ins Dt. ein (vgl. die Listen bei Möller 1915, 205 ff.); bereits in diese Zeit also fallen die Anfänge der von griech. Lehngut wesentlich geprägten dt. Bildungs- und Wissenschaftssprache. 3.2. Renaissance Mitte des 15. Jhs. beginnt die von Italien ausgehende führende geistige Bewegung der Renaissance, der Humanismus, auch in Deutschland Fuß zu fassen. Seit Francesco Petrarca (1304⫺1374) hatte diese Bewegung im Rückgriff auf die Literatur antiker Autoren und das darin enthaltene Menschenideal ein Bildungsprogramm entwickelt, das die „studia humanitatis“ Grammatik, Rhetorik, Dichtung, Geschichtsschreibung und Moralphilosophie umfaßte und das Maßstäbe setzte für menschliches Verhalten in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. In betontem Gegensatz zu mittelalterlichem Denken, das die Antike niemals als besondere historische Dimension empfunden, sondern wie die eigene Zeit in den Ablauf der christlichen Heilsgeschichte eingeordnet hatte, waren die Humanisten bestrebt, die Persönlichkeit eines antiken Autors in ihrer einmaligen historischen Realität zu erfassen und den Text seiner Werke als authentischen Zeugen seines Wirkens möglichst originalgetreu wiederherzustellen und zugänglich zu machen. Die zu diesem Zweck im 14. Jh. einsetzende Jagd nach im Laufe des Mittelalters vergessenen

203. Griechisch/Deutsch

und verschollenen Handschriften kam zunächst allein der lat. Literatur zugute, führte aber bald auch zur Wiederentdeckung der im westlichen Abendland seit fast einem Jahrtausend kaum bekannten griech. Sprache und Literatur (Holzberg 1981, Graecogermania 1989). Ihre Rezeption begann in Deutschland Ende des 15./Anfang des 16. Jhs. zunächst mit lat. Übersetzungen griech. Autoren, die von den ersten Kennern der Sprache ⫺ Rudolf Agricola, Johannes Regiomontanus, Johannes Reuchlin, Erasmus von Rotterdam, Willibald Pirckheimer, Philipp Melanchthon u. a. ⫺ angefertigt und größtenteils durch den Druck in mehreren Auflagen verbreitet wurden. Seit 1515 wurden dann, in der Folgezeit besonders durch die Reformation begünstigt, an den dt. Universitäten die ersten Lehrstühle für Griech. eingerichtet, und in dem namentlich durch Melanchthon geförderten neuen Schultyp „humanistisches Gymnasium“ (älteste Gründung: Nürnberg 1526) gehörte Griech. zu den Kernfächern. Da sowohl durch das gedruckte Buch als auch an Schulen und Universitäten Griech. in lat. Sprache vermittelt wurde, erreichte der nunmehr einsetzende breite Strom der aus der neuen Sprache entlehnten Wörter oft erst nur die von Humanisten verfaßten nlat. Texte, so daß die überwiegend mit lat. Endungen versehenen griech. Wörter anfangs nur zögernd ins Dt. eindrangen und vielfach erst im 17./18. Jh. darin heimisch wurden (Rosenfeld 1974, 427 f.). Die sorgfältige Wiederherstellung und Pflege der als historische Zeugen angesehenen Texte begünstigte eine Revision des bisher den alten Sprachen entnommenen Lehnguts. Im griech. Bereich führte dies dazu, daß sich jetzt z. B. Apostel gegenüber (zwelf)bote, Prophet gegenüber weyssage, Tyrann gegenüber wütrich u. ä. endgültig durchsetzte und man nur noch Psalm statt des lautlich vereinfachten salm schrieb (Tschirch 1989, 140 ff.); gleichzeitig wurden die bisher inkonsequent oder gar nicht angewandten spezifischen Grapheme ph, th, rh, rrh und y bei griech. Lehnwörtern mehr und mehr zur orthographischen Norm erhoben (vgl. 2.). Die bekannte Eigenheit der Humanisten, auch in der Personennamengebung ihre enge Verbundenheit mit der Antike zu demonstrieren, brachte neben einer Fülle von latinisierten auch nicht wenige gräzisierte Familiennamen hervor: z. B. Melanchthon, Oecolampadius, Obsopoeus, Chytraeus und mehrere Bildungen auf -ander (z. B. Neander, Osiander, Philander). Über die Fächer, mit

3187 denen die Humanisten sich besonders intensiv beschäftigten und die sie teilweise an Universitäten und Schulen lehrten ⫺ Grammatik, Rhetorik, Dichtung, Geschichtsschreibung und Moralphilosophie ⫺ gelangte bereits im 15./16. Jh. viel griech. Lehngut ins Dt. Zwei Bereiche seien hervorgehoben: (1) In ihre Reden, Briefe und moralphilosophischen Abhandlungen streuten die Humanisten mit Vorliebe antike Zitate, Sprichwörter, Anspielungen und Exempla ein, die, in den folgenden Jahrhunderten nicht zuletzt aufgrund einer vergleichbaren Praxis im Gymnasialunterricht ständig vermehrt, bereits im 19. Jh. ein umfangreiches Arsenal an Geflügelten Worten ⫺ so lautet der an eine homerische Wendung anklingende Titel der erstmals 1864 erschienenen berühmten Sammlung Georg Büchmanns ⫺ darstellten. Von den dabei sehr häufigen Anspielungen auf die griech. Mythologie, die z. T. heute noch weit verbreitet sind, erscheinen z. B. Stentorstimme und Tantalusqualen im 16. Jh. ⫺ soweit man das bis jetzt übersehen kann ⫺ nur in lat. Texten, während es für Schwanengesang und Zankapfel aus dieser Zeit schon dt. Belege gibt (Rosenfeld 1974, 458 f.). (2) Durch die humanistische Nachahmung antiker Vorbilder wurden in der Renaissance die Dichtungsgattungen Epos, Lyrik und Drama wiederbelebt und mit ihnen die überwiegend griech. Gattungsterminologie, die größtenteils schon im 16. Jh. Eingang ins Dt. fand (Rosenfeld 454 ff.).

Die in der Renaissance entstandenen Schriften zur Theologie, Philosophie, Politologie, Medizin, Naturwissenschaft, Mathematik, Kosmographie, Astronomie, Kunst- und Musikwissenschaft wird man zwar kaum zur humanistischen Literatur im engeren Sinne zählen, aber ihre starke Beeinflussung durch die Ideen der neuen Bildungsbewegung ist ebenso unverkennbar wie die Fülle von Erkenntnissen, die diese Wissenschaften der Wiederentdeckung gerade der griech. Fachliteratur verdanken: Der direkte Zugang zu den bisher nahezu unbekannten Autoren führte seit dem 16. Jh. ⫺ in ganz besonderem Maße im Bereich der Philosophie und Medizin ⫺ zur Aufnahme zahlreicher griech. Lehnwörter (Rosenfeld 1974, 501 ff., Pörksen 1986), zu denen sich in dieser Zeit schon die ersten Neuprägungen mit Hilfe griech. Wortstämme und Wortbildungsmittel gesellen. So haben z. B. Untersuchungen zur Sprache des Arztes und Naturwissenschaftlers Paracelsus (1493⫺ 1541) ergeben, daß der Gelehrte nicht nur zusammen mit vielen Latinismen eine Reihe von Gräzismen wie apokryph, charakteristisch, empirisch, mechanisch, physiognomisch ins Dt. eingeführt, sondern auch auf griech.

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XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

Grundlage u. a. Gnom (< *gh-no¬mow) neu geprägt und xa¬ow die neue Bedeutung gegeben hat, aus der der Brüsseler Alchimist J. B. v. Helmont Mitte des 17. Jhs. das Wort Gas formte (Weimann 1963, Pörksen 1994). Zahlreiche griech. Lehnwörter und am Griech. orientierte Neuprägungen finden sich seit dem 16. Jh. auch in der vor allem vom Lat. beeinflußten akademischen Fachsprache und den eng damit verbundenen Sondersprachen der Studenten und Gymnasiasten (Henne/ Objartel 1984). Zwar ist vom Kneipen- und Pennälerjargon früherer Jahrhunderte das meiste inzwischen untergegangen, aber von den einst häufigen studentischen Adverbialbildungen auf -ikv˜ w (Kluge 1895, 47⫺50 bzw. 147⫺150) ist burschikos bis heute lebendig geblieben. 3.3. Neuzeit 3.3.1. Im 17./18. Jh. nahm gleichzeitig mit dem allmählichen Zurücktreten des Lat. als Literatur- und Gelehrtensprache die Zahl der über das Lat. ins Dt. entlehnten ursprünglich griech. Wörter ab. Diese wurden seit Beginn des 17. Jhs. immer häufiger durch das Frz. vermittelt, das zum zweiten Mal in der dt. Sprachgeschichte für längere Zeit einen großen Einfluß ausübte. Die aus dem Frz. übernommenen griech. Lehnwörter wurden zwar meist der dt. Orthographie angepaßt, wobei z. T. die Schreibweise regräzisiert wurde (z. B. Katastrophe < catastrophe < katastrofh¬, Phantom < fantoˆme < fa¬ntasma), behielten aber meist den frz. Wortakzent (vgl. 2.). So erinnert z. B. die Betonung von Eigennamen wie Ho⬘mer, Hero⬘dot, Theo⬘krit noch heute an das frz. Vorbild (demgegenüber ist z. B. A⬘poll, A⬘chill, wie es in der Goethezeit überwiegend heißt, kaum noch, Dio⬘nys, Ö⬘dip überhaupt nicht mehr gebräuchlich), während die Mehrzahl der griech. Eigennamen nach wie vor lat. betont wird: Ari⬘stoteles, Mene⬘laos, ⬘Perikles statt ursprünglich ÅAristote¬lhw, Mene¬laow, Periklh˜ w. War ein griech. Lexem bereits über das Lat. entlehnt worden, dann bewirkte die erneute Entlehnung über das Frz. zuweilen einen Bedeutungswandel: z. B. gelangt griech. xarakth¬r über mlat. character zunächst nur in der Bedeutung „Schriftzeichen, bes. Zauberzeichen“ ins Dt., nimmt aber um 1700 von frz. caracte`re auch die Bedeutungen „amtliche Eigenschaft, Rang“ und „Gesamtheit der moralischen Eigenschaften des Menschen, Sinnesart“ an (Schulz/Basler I, 109).

Da seit dem 19. Jh. der Sprachenkontakt des Dt. mit dem Engl. in einer mit dem frz. Einfluß des 17./18. Jhs. vergleichbaren Weise zu einer ständig steigenden Zahl von engl. Ent-

lehnungen führte, wurde auch das Engl. zum Vermittler von griech. Lehngut. Heute ist vor allem die internationale Bildungs- und Wissenschaftssprache ständige Quelle von Neuprägungen mit Hilfe ursprünglich griech. Kombineme (vgl. 2.). In jüngerer Zeit gelangten diese zusätzlich zu den im dt. Sprachraum entstandenen gräkoiden Bildungen nicht nur über die beiden großen westeuropäischen Sprachen ins Dt., sondern z. B. auch über das Russ. (z. B. Politökonomie, Agronom, Kosmonaut gegenüber aus amerikanischem Engl. entlehntem Astronaut; vgl. v. Polenz 1978, 176 f.). 3.3.2. Nicht nur griech. Wörter wurden seit dem 16. Jh. über Vermittlersprachen ins Dt. entlehnt, sondern auch griech. Texte wurden lange Zeit überwiegend auf der Grundlage von lat. (gelegentlich auch frz. und engl.) Übersetzungen verdeutscht. So sind z. B. von den 26 griech. Autoren bzw. anonym oder pseudonym überlieferten griech. Werken, die die Bibliographie der dt. Übersetzungen antiker Autoren für den Zeitraum zwischen 1450 und 1550 verzeichnet (Worstbrock 1976), nur vier (Demosthenes, Isokrates, Lukian, Plutarch) ⫺ und deren Werke nur zu einem verschwindend geringen Teil ⫺ direkt aus dem Griech. ins Dt. übersetzt. In den ersten Jahrhunderten nach der Wiederentdeckung der griech. Literatur konnte sich also ein des Griech. unkundiger dt. Leser nur ein sehr unvollkommenes Bild von der Sprache der griech. Dichtung machen, denn besonders in den lat. Übersetzungen sind aus Rücksicht auf den klassischen lat. Stil bestimmte Eigenheiten des griech. Stils ⫺ z. B. in den HomerÜbersetzungen die für die epische Sprache typischen zweigliedrigen Epitheta ⫺ in der Regel vermieden (Holzberg 1981, 112 ff.). Um so größer war die Wirkung, die die erste originalgetreue, nahezu kongeniale Verdeutschung der Odyssee durch Johann Heinrich Voß (1781) auf die Sprache der dt. Klassik ausübte (Häntzschel 1977). Immer wieder wird in dieser Zeit ⫺ u. a. von Friedrich Klopstock und Karl Philipp Moritz ⫺ die nahe Verwandtschaft des Griech. mit dem Dt. hervorgehoben, die sich vor allem in der den rom. Sprachen fehlenden Fähigkeit, durch Zusammensetzung neue Wörter zu bilden, zeige, und so wagte Voß bei seiner Wiedergabe der homerischen Beiwörter neuartige Wortkompositionen, die durch ihre Gelungenheit vielfach zur Nachahmung anregten. Hatte er z. B. aœndrofo¬now mit männermordend, e«kathbo¬low mit fernhintreffend oder i«ppo¬botow

3189

203. Griechisch/Deutsch mit rossenährend übersetzt, so bildete Goethe nun (u. a. in „Hermann und Dorothea“, „Achilleis“, „Pandora“ und „Faust II“) gartenumgeben, erdverwüstend, schrittbefördernd, angstumschlungen, schwarmumkämpft u. ä. (Kainz 1974, 271 f.), wobei er ⫺ gleichfalls nach homerischem Vorbild ⫺ zuweilen das attributive Adjektiv mit wiederholtem Artikel hinter das Substantiv stellte: z. B. des Glücks, des langerflehten (Bach 1970, 383). Ebenso finden sich bei Schiller wörtlich übernommene Homerismen oder eigene Wortschöpfungen wie menschenerhaltender Gott oder länderverknüpfende Straße (Kainz 1974, 298 f.). Gräzisierende Prägungen dieser Art sind charakteristisch für die klassische Dichtersprache und die ihrer Epigonen und lassen sich sogar noch in den Dramen Grillparzers nachweisen: z. B. hochaufleuchtend, wahnsinnglühend, schwurvergessen (Kainz 1974, 303 f.). In vergleichbarer Weise regen im 19. Jh. die komischen Wortungetüme des Aristophanes, dessen längstes Dekompositum 77 Silben umfaßt („Ekklesiazusen“ 1169), zur Nachahmung in satirischen Dichtungen an: August von Platen, der sich selbst als „Aristophaniden“ bezeichnete, bildete z. B. Depeschenmordbrandehebruchstirolerin, Freischützcascadenfeuerwerksmaschinerie, Johann Nestroy u. a. Kannmirnixg’schehng’fühl, Mantelnachdemwinddrehung und Sonnundfeiertagsgeburtstagsnamenstagsundhochzeitsfrack (vgl. die Liste bei Hirsch 1910).

3.3.3. Nach der Wiederentdeckung der griech. Sprache und Literatur durch den Humanismus in der Renaissance und der klassizistischen Rezeption der griech. Welt in der Goethezeit erlebte die dt. Geistesgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jhs. eine dritte, wesentlich von Friedrich Nietzsche beeinflußte Epoche intensiver Auseinandersetzung mit Alt-Hellas: das vom Historismus geprägte Ringen um ein unverfälschtes, unklassizistisches, nicht durch Wunschvorstellungen von „edler Einfalt und stiller Größe“ entstelltes Griechenlandbild. Wie erfolgreich auch immer die zu Anfang dieses Jhs. auf ihrem Höhepunkt befindliche dt. Altertumswissenschaft in diesem Ringen war ⫺ ihr Bemühen um ein historisch genaues Griechenlandbild schlug sich jedenfalls auch im Sprachlichen nieder: in der betonten Entlatinisierung von griech. Fremdwörtern und vor allem von griech. Eigennamen; man schrieb jetzt und schreibt noch heute gerne ⫺ im Gegensatz zum engl., frz. und ital. Sprachgebrauch ⫺ z. B. Aischylos statt Äschylus, Kirke statt Circe, Boiotien statt Böotien. Ebenso wurden besonders „griech.“ klingende Begriffe wie Mythos, Logos, Pathos, Eros und Kosmos, die jeweils geradezu stellvertretend für eine geistige Richtung des Grie-

chentums stehen, zu Schlagworten (Dornseiff 1950, 145 f.) und sind es bis heute weit über das engere Fach hinaus geblieben.

4.

Literatur (in Auswahl)

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3190

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

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3192

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

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Niklas Holzberg, München

204. Französisch und Provencalisch/Deutsch 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Einleitung Die Sprachkontakträume Das Kulturadstrat Ebenen des Einflusses auf das Deutsche Domänen des Einflusses Literatur (in Auswahl)

1.

Einleitung

Als Ort des Sprachkontaktes wurde das Individuum definiert (Weinreich 1953, 1); diese psycholinguistische Definition wird von Bechert/Wildgen (1991, 1) in soziolinguistischer Perspektive reformuliert als Sprachgebrauch innerhalb einer Gruppe. „Zwei oder mehr Sprachen stehen in Kontakt miteinander, wenn sie in derselben Gruppe gebraucht werden.“ Diese Definition wird hier zugrunde gelegt. Wir unterscheiden zwischen: (a) direktem geographischen, räumlichen Sprachkontakt (Sprachgeographie, Areallinguistik), (b) Kontakt durch Migration und (c) kulturellem Sprachkontakt, also Übernahmen in geistesund kulturgeschichtlicher Hinsicht; in letzterem Fall spielen die räumlichen Kontaktzonen eine geringe oder gar keine Rolle. In den Achtziger sowie verstärkt in den Neunziger Jahren des 20. Jh. sind Forschungen zum Französischen in Deutschland entstanden, die eine beginnende Interdisziplinarität der Philologien und anderer Disziplinen erkennen läßt. Die Grenze zwischen dem rom. und dem germ. Sprachgebiet hat sich in der Merowingerzeit herausgebildet und ist seit dem 8. Jahrhundert stabil, was nicht heißt, daß es nicht auch danach noch rom. Sprachinseln im germ. Gebiet gegeben hat (vgl. Haubrichs/ Pfister 1998). Die beiden Sprachräume grenzen also seit ältester Zeit aneinander und haben sich gerade in Auseinandersetzung miteinander entwickelt. Aufgrund der geographischen Lage ergaben sich zunächst Grenzkontakte, die dadurch ⫺ vor allem im Zuge

der Herausbildung der Nationalstaaten ⫺ vielschichtiger wurden, daß die Sprachgrenze und die Staatsgrenzen nicht übereinstimmten. Darüber hinaus war das Französische (im Mittelalter auch das Okzitanische) lange Zeit und in einigen Gebieten bis heute ein wichtiges Kulturadstrat, aus dem viele Einflüsse bis heute erhalten sind. Und schließlich ergibt sich im Laufe der Geschichte noch ein weiterer Kontakttyp durch die Ansiedlung von französisch- und okzitanisch- bzw. provenzalischsprachigen Religionsflüchtlingen in verschiedenen Bereichen des deutschen Sprachgebiets. Diese drei unterschiedlichen Arten von Sprachkontakt haben die beteiligten Sprachen unterschiedlich tief verändert. Beim intensiven Grenzkontakt wie im Elsaß (a), in dem eine diglossische Situation vorherrscht, sind alle Ebenen der Sprache betroffen, im zweiten Falle (b) schließlich endet das Nebeneinander der beiden Sprachen mit der allmählichen Assimilation der Einwanderergruppen und der Aufgabe der eingeführten Sprache. Der kulturelle Ferneinfluß (c) erreicht im Unterschied zu (a) nur wenige soziale Schichten und ausgewählte Ebenen der Sprache (hier vor allem das Lexikon.

2.

Die Sprachkontakträume

Der zunächst germanisch-romanische Sprachkontakt wurde vor allem für das Moselromanische, Hochwaldromanische (nördliches Saarland) und Schwarzwaldromanische untersucht (ein Überblick hierzu bei Kramer 1992, 24⫺43). Relikte dieser rom. Sprachinseln sind vor allem in den Ortsnamen und anderen Toponymien nachgewiesen worden. Eine erste Studie wurde Anfang der 50er Jahre von Wolfgang Jungandreas durchgeführt, der auf der Suche nach keltischen Relikten das Moselromanische entdeckte. Die

204. Französisch und Provencalisch/Deutsch

erste richtige Resonanz fand allerdings erst in den 70er Jahren statt. Dazu Pfister 1990, Kleiber 1983, Kleiber/Pfister 1992, Halfer 1985. 2.1. Elsaß-Lothringen 2.1.1. Geschichte, Sprachpolitik Das Elsaß wurde im 17. Jh. von Frankreich annektiert, aber unter dem Ancien Re´gime nicht sprachpolitisch unter Druck gesetzt. Auch in der Französischen Revolution begann die sprachpolitische Einflußnahme zunächst gemäßigt, und es wurde zwischen republikanischer Gesinnung und Sprachgebrauch getrennt. Bereits 1790 plädierte A. Ulrich gegen die revolutionäre Sprachpolitik der Vereinheitlichung für Zweisprachigkeit in der Justiz und gegen eine Tyrannei des Franzöischen (siehe Hartweg 1988, 201). Die Richter sollten die Sprache des Volkes sprechen, ist die revolutionäre Argumentation. Erst 1793⫺1794 beginnt sich die terreur auch in der Sprachpolitik des Elsaß durchzusetzen. Drastische Maßnahmen zur Bestrafung des Gebrauchs des Deutschen, bis hin zur Deportation der Elsässer nach Innerfrankreich werden vorgeschlagen. Ein Herr Lacoste ist sogar dafür, ein Viertel der Bevölkerung zu guillotinieren, um das Französische durchzusetzen (a. a. O., 205). Trotz all dieser Drohgebärden wird nach den Befreiungskriegen 1814 festgestellt, daß das Elsaß weiterhin überwiegend deutsch spricht (so J. Grimm 1814, zit. nach Hartweg 1988, 206). Auf dt. Seite wurde dann durch Fichte die revolutionäre Forderung „Eine Nation ⫺ eine Sprache“ umgedreht in „eine Sprache ⫺ eine Nation“, um wiederum Ansprüche auf das Elsaß geltend zu machen. Nach dem Krieg von 1870/71 gehört das Elsaß zum Deutschen Reich. Nach dem ersten Weltkrieg fällt es an Frankreich zurück und wird nur noch in der kurzen Zeit des „tausendjährigen Reiches“ (1940⫺1945) von den Deutschen okkupiert. Die dt. Besatzung versuchte, mit strengen Strafen das Französische zu unterbinden (hierzu Bopp 1945, Verdoodt 1968). Seit 1945 kann man den langsamen, aber steten Rückgang des Deutschen, das zu einer rein schriftlichen Varietät geworden ist, und der Mundart feststellen, die dem Prestige der frz. Sprache als Sprache des sozialen Aufstiegs nicht gewachsen ist. Weitere Angaben zur Soziolinguistik des Elsaß s. u. und Harnisch 1996. 2.1.2. Wirkungen des Sprachkontaktes: Codeswitching und Codemixing Das Elsaß gehört zum fränkisch-alemannischen Dialektgebiet, dessen Verbreitung und

3193 Varietäten von Beyer, Matzen und BothorelWitz von 1969⫺1984 in einem Sprachatlas festgehalten wurden. Neben der dialektologischen Perspektive fließen jedoch immer stärker soziolinguistische Fragestellungen in die Dialektologie ein. So haben Denis/Veltman (1989) vor allem die Domänen und Frequenz des Gebrauchs innerhalb der verschiedenen Generationen untersucht. Eine Besonderheit des Elsaß besteht nun nicht nur in seiner wechselhaften Geschichte im Verlaufe von drei Kriegen, sondern auch in der Tatsache, daß es ein Grenzgebiet zwischen zwei Ländern mit drei Sprachen bzw. vier Varietäten ist: Französisch, Deutsch, der elsässische Dialekt und das franc¸ais re´gional (Wolf 1983). Bothorel-Witz (1997) weist darauf hin, daß der Begriff alsacien (Elsässisch) einen stark identifikatorischen Wert hat (une valeur nettement identitaire, a. a. O., 130), und es auffällig sei, daß er bis heute in der frz. Administration vermieden werde. Die elsässische Varietät des Französischen weist typische Interferenzen mit dem Deutschen auf. So wird häufig ein falsches, am Deutschen ausgerichtetes Genus benutzt: l’air est fraıˆche, statt frais, Sätze nach der deutschen Syntax konstruiert: il est hier parti, statt: il est parti hier. Tabouret-Keller (1985) spricht hier von einer elsässisch-französischen Mischsprache. Diese übernimmt langsam die Funktion des Dialektes und macht es möglich, „sowohl der Zugehörigkeit zur französischen Nation als auch der Abgrenzung von der deutschen Sprachgemeinschaft Ausdruck zu verleihen, ohne die regionale Eigenart und die regionale Varietät aufzugeben“ (Stroh 1993, 180). Soziolinguistische Erhebungen und Einzeluntersuchungen zum Codeswitching zwischen Dialekt und Französisch innerhalb von Familien oder bei einzelnen Informanten wurden vor allem seit den 80er Jahren durchgeführt (Ladin 1982, Gardner-Chloros 1985 u. a.). Wie bei den meisten Regionalsprachen und Dialekten kann auch für das Elsässische festgehalten werden, daß neben dem Rückgang in allen prestigereichen kulturellen und professionellen Bereichen, sich eine Erhaltung der Varietät in der Familie, und zwar zwischen Großeltern und Enkeln aufzeigen läßt, während unter den Jugendlichen selbst ein steter Rückgang festzustellen ist. Es läßt sich außerdem ein Gefälle von Nord nach Süd festmachen: in Lothringen sprechen nach Denis/Veltman 1989 noch bis zu 50 % der Jugendlichen den Dialekt mit dem Vater, mit Gleichaltrigen sind es nur

3194

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

15 %; südlich von Straßburg geht der Gebrauch des Elsässischen erheblich weiter zurück: mit dem Vater sprechen 17⫺19 % elsässisch, mit Gleichaltrigen unter 15 %. Huck (1995) plädiert daher für einen Dialektunterricht in der Grundschule, der von sich aus eine Grundlage für die Erlernung der Dachsprache schaffe. Das Office Re´gional du bilinguisme setzt sich seit einigen Jahren für zweisprachigen Unterricht auf deutsch und französisch ein, um somit auch dem Dialekt eine Überlebenschance zu sichern. Die zentralen Begriffe für die Beschreibung dieser Mischsprache sind Codeswitching, Interferenzen und Codemixing. Durch das Codeswitching zeigt der Sprecher, daß er eine „bonne e´ducation franc¸aise“ genossen hat und gleichzeitig, daß er ein guter Elsässer ist. Im Codemixing führt der frz. Einfluß auf das Elsässische zu Neuschöpfungen: groseille > Grotzel Flammarion (1986, 121) und Übernahme von frz. Konstruktionen: Unser Junge hadd 25 (il a 25 ans) (Stroh 1993, 38). Am häufigsten erscheinen jedoch Phänomene des Codeswitchings: Oh, pendant les vacances isch jo`o` niemo`nd do`o`! (a. a. O., 39). Typische Interferenzen werden bei Bechert/Wildgen (1991, 5⫺6) zusammengestellt: a) Von einer Sprache in die andere fallen: das ist von le village d’a` coˆte´, ferme ta klappe; b) Ganz- und Teilwiederholungen: ich geh heim a` la maison, je suis tout trempe´ naß; c) eine Sprache nach dem Muster einer anderen gebrauchen: c¸a donne de la soupe = es gibt Suppe. Hartweg beklagt, daß „Heteronymieschwund, eine Flut f[ranz.] Entlehnungen ohne phonemisch-phonetische Integration, eine starke lexikalische Erosion“ auf einen „Sprachersetzungsprozeß hinweisen“ (2000, 249). 2.2. Belgien und Luxemburg Die deutschsprachigen Gebiete Belgiens stellen kein zusammenhängendes Sprachgebiet dar. Die Dialekt- und Sprachgrenzen verlaufen in Belgien von Norden nach Süden und entsprechen nicht den Staatsgrenzen. Es werden flämische, brabantische und limburgische Dialekte unterschieden (vgl. Kramer 1984, 113⫺121). Dialekt und Hochsprache stehen sich wie in vielen Kontaktgebieten zusätzlich zur anderen Nationalsprache gegenüber, wobei hier der Dialekt die vorherrschende Varietät ist, die Hochsprache (Deutsch) entweder dem schriftsprachlichen Bereich, oder der Distanzsprache (Radio, Fernsehen) vorbehalten ist. In Teilen Neubelgiens mit Eupen als Verwaltungszentrum und entlang der Ostgrenze

ist Deutsch offizielle Amtssprache (vgl. Hinderdael/Nelde 1996, 479⫺495). Die Autoren verweisen darauf, daß die statistischen Angaben zur Anzahl der deutschsprachigen Bevölkerung unzuverlässig sind, man aber von 100 000⫺110 000 Personen ausgeht. Die Situation der Mehrsprachigkeit in Belgien kann als Diglossie-Situation bezeichnet werden, in der die Sprachverwendung streng nach Domänen wechselt. Es handelt sich um „Bereichs- oder Teilkodes“, die je nach Gesprächsteilnehmer, Nähegrad (Informalität), Gesprächsfunktionen und anderen Kontextfaktoren eingesetzt werden (a. a. O., 486). Insgesamt kann durch das höhere Prestige des Französischen von einer Tendenz zum Sprachwechsel zuungunsten des Deutschen gesprochen werden. Auch hier zeigen sich im Gebrauch des Deutschen ⫺ vor allem in den nicht an Deutschland grenzenden Gebieten ⫺ starke Interferenzerscheinungen mit dem Französischen. Im morphosyntaktischen Bereich kommt falscher Präpositionsgebrauch vor (z. B. telephonieren an, frz. te´lephoner a` …); im semantisch-stilistischen Bereich kommen gehäuft umgangssprachliche Wendungen vor (Kakao löst sich auf, ohne zu klumpern) und es häufen sich mehr als im Standarddeutschen die französisch geprägten Fremdlexeme (Dactylo, Cre`merie) oder die direkte Übernahme aus dem Französischen fällt auf: Klaviere in Gelegenheiten (frz.: occasion (vgl. a. a. O., 487). Durch den Autonomiestatus hat zumindest Neubelgien-Eupen und St. Vith Schulhoheit erhalten, so daß in einigen Gemeinden Deutsch in der Primarstufe Unterrichtssprache ist bzw. auf der Sekundarstufe als erste Fremdsprache gewählt werden kann. Allerdings konkurriert Deutsch mit Englisch und Niederländisch als zweite Fremdsprache. Für Altbelgien-Süd stellt sich die Sprachwahl so dar, daß Deutsch als zweite Fremdsprache noch hinter das Niederländische fällt: 65 % wählen Englisch, 19,5 % Niederländisch und nur 15 % Deutsch (a. a. O., 489). Durch den Status einer autonomen Region nach der Dezentralisierungspolitik Belgiens können sich durchaus Chancen für das Überleben des Deutschen ergeben. Für die Situation in Luxemburg muß es hier genügen, auf die entsprechende Literatur zu verweisen; Kramer 1984, Fröhlich 1989, Fröhlich 1996. 2.3. Die Westschweiz Seit 1815, nach dem Sturz Napoleons, existiert die Schweiz in ihrer heutigen Gestalt. Kolde/Näf (1996) führen aus, daß heute in

204. Französisch und Provencalisch/Deutsch

der Schweiz der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung bei 72,1 % liegt (Kolde/Näf 1996, 387). Entgegen den gängigen Mißverständnissen von der Mehrsprachigkeit der Schweiz, herrscht durch das „Territorialprinzip“ weitgehend Einsprachigkeit (auf individueller Ebene) in den einzelnen Regionen (a. a. O., 394). Von den 26 Kantonen der Schweiz sind 22 einsprachig (a. a. O., 396). Durch das Territorialprinzip müssen alle Dokumente in die jeweilige dominierende Regionalsprache übersetzt werden; das hat neben der Stabilisierung der individuellen Einsprachigkeit auch dazu geführt, daß schlechtes, vor allem durch das Deutsche beeinflußtes Französisch abwertend als „franc¸ais fe´de´ral“ bezeichnet wird (a. a. O., 394). In den hier interessierenden deutsch-französischen Kontaktzonen, die als zweisprachig gelten (Valais/ Wallis, Fribourg/Freiburg und Bern), beträgt der Anteil der Deutschsprachigen 6 %, während der Anteil der frankophonen Westschweizer in der Deutschschweiz nur bei 1 % liegt. Die deutschsprachigen Schweizer assimilieren sich sehr rasch an das Französische der Westschweiz, während ⫺ so Kolde/Näf ⫺ in umgekehrter Richtung die Anpassung an das Deutsche durch die Westschweizer aufgrund der dort herrschenden „medialen Diglossie“ sehr erschwert wird (a. a. O., 389). D. h., das Hochdeutsche ist ausschließlich auf das Medium Schrift beschränkt, während in der gesprochenen Alltagssprache schweizerdeutsche Dialekte vorherrschen (vgl. auch Elsaß). Für die frankophonen Westschweizer wird der Gebrauch der Mundart allerdings als Kommunikationsverweigerung wahrgenommen, da sie ihn nicht verstehen; das Hochdeutsche hat im Vergleich zum Schweizerdeutschen nicht zuletzt durch die „Mundartwelle“ und Regionalbewegungen der späten 60er und frühen 70er Jahre an Attraktivität für die junge Generation verloren. Kolde/Näf weisen darauf hin, daß bildungspolitisch gesehen diese Entwicklung einer möglichen Abkoppelung vom dt. Kulturraum problematisch werden könnte (a. a. O., 393). Auf der frz. Seite ist mit der Sprachpolitik der Französischen Revolution und ihrer Forderung nach einer Nationalsprache, bei gleichzeitiger Abwertung der Dialekte zu patois diese Spannung aufgehoben worden. In den deutschsprachigen Gebieten hingegen wird der Dialekt positiv gewertet als soziale und natürliche Nähesprache. Durch Migrationsbewegungen und auch Ansiedlungen von deutsch-schweizer Firmen haben sich einzelne Verschiebungen

3195 in der Sprachgrenze ergeben, die von beiden Seiten jeweils als Romanisierungs- bzw. Germanisierungsgefahr gesehen werden. So hat sich vereinzelt die Paradoxie ergeben, daß in einem offiziell frankophonen Gebiet die deutschsprachige Minderheit plötzlich einen Anteil von 78 % hat (so in der Gemeinde Meyriez; a. a. O., 389). Kolde und Näf führen den schweizer „Sprachenfrieden“ vor allem darauf zurück, daß die schweizer Identität auf drei niemals in Frage gestellten Elementen aufbaut, die nicht sprachlich geprägt sind: eine lokale Identität (Gemeinde), eine kantonale und eine nationale (a. a. O., 392). Konfessionelle und kulturhistorische Gemeinsamkeiten gehen also über die sprachlichen Grenzen hinaus. Kolde/Näf sprechen davon, daß die Schweizer das Problem der Mehrsprachigkeit nicht gelöst, sondern einfach vermieden hätten, es zu stellen. Es herrscht ein Nebeneinander statt eines Miteinander vor. Lüdi/Py haben sich allerdings schon früh gegen die Auffassung der „Mehrsprachigkeit als Problem“ gewandt und für eine Mehrsprachenlinguistik plädiert (1984, VII⫺VIII). Während Kolde/Näf auch von einer „Last der Mehrsprachigkeit“ sprechen, die vor allem die Minderheiten „zu tragen haben“ (Kolde/Näf 1996, 388), stellt für Lüdi die Mehrsprachigkeit eher den Normalfall dar. Das „Schweizer Modell“, nach dem jeder seine Sprache spricht und damit rechnen kann, verstanden zu werden, setzt „approximative“ Mehrsprachigkeit voraus (Lüdi/Py 1985, 5); da diese aber durch das Prinzip der Garantie der Einsprachigkeit wiederum nicht voraussetzbar ist, wenden sich z. B. die Abgeordneten im Freiburger oder Walliser Parlament auf Französisch an die Anwesenden, wenn sie verstanden werden wollen (Kolde/ Näf 1996, 401). 2.4. Val d’Aosta/Aostatal Im Aostatal, in den westlichen Gebieten Norditaliens zur Grenze nach Frankreich und der Schweiz finden sich deutschsprachige Gemeinden. Es handelt sich um seit dem 12. und 13. Jh. belegte dt. Sprachinseln an den südlichsten Punkten des „höchstalemannischen Dialektraums“ (Zürrer 1996, 289). Diese Sprachinseln haben vor allem gegen Ende des 19. Jh. den Kontakt und Austausch mit dem Dt. verloren und stellen „dachlose“ Mundarten dar (a. a. O., 297). Die besondere Situation dieser deutschsprachigen Minderheit ist die Einbettung in eine andere Minderheit: dem Französischen innerhalb Italiens.

3196

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

Allerdings hat das Aostatal schon seit 1948 als sprachlich-kulturelle Minderheit einen Autonomiestatus und die Zweisprachigkeit wird gefördert, jedoch nur in Bezug auf die „Dachsprachen“ Französisch und Italienisch. So findet das Dt. vor allem Anwendung in informellen Situationen und ist abhängig von den Gesprächspartnern, deren sprachlichem Repertoire und ihrer Alterszugehörigkeit (Zürrer 1996, 303). Die Ortstafeln in Issime sind allerdings zweisprachig (deutsch/französisch) und auch in der Verwaltung wird das Deutsche (im Briefkopf) berücksichtigt (ebda.). Französisch ist wie das Italienische Unterrichtssprache in Gressoney wie Issime, wobei es in Gressoney nicht im Privatbereich (Familie) verankert ist, was auch für die frankoprovenzalischen Dialekte gilt, die nur in Issime gesprochen werden. Seit Ende des zweiten Weltkrieges wurde nach und nach das Dt. in der Schule als fakultative Fremdsprache wieder eingeführt, während Ende der 80er Jahre auch eine obligatorische Stunde Unterricht im Dialekt hinzukam. In den Massenmedien und im sozialen Umfeld dominiert jedoch das Italienische. Diese Sprachinseln, die vor allem in den Gemeinden Gressoney (La Trinite´, Saint-Jean) und Issime untersucht wurden, befinden sich seit dem Ende des 19. Jh. im immer stärker werdenden Kontakt und Austausch mit dem Italienischen/Piemontesischen (Gressoney) bzw. Französischen und Frankoprovenzalischen (Issime). Der Anteil der deutschsprechenden Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung (Dialekt) belief sich in den 80er Jahren des 20. Jh. auf 1,2 % der Wohnbevölkerung (114 803) des Aostatals. In beiden Gemeinden ist der Rückgang des Anteils der dialektsprechenden Bevölkerung rückläufig und tendiert gegen 50 %. Ramat Giacalone hatte 1976/77 eine Fragebogenaktion zum Gebrauch des Dialektes durchgeführt und die typische Generationenverteilung festgestellt: bei über 70 % der älteren Generation ist der Dialekt stark vertreten, in der mittleren bei über 40 % und bei den Jungen nur noch bei etwa 37 % (Ramat Giacalone 1979). In der jüngsten Generation haben sich diese Zahlen weiter dramatisch auf 11,1 % reduziert (für 1985 nach Zürrer 1996, 304). Seit den Bemühungen um eine Bewußtseins- und Identitätsbildung durch die ethnolinguistische Diskussion ist das „waliserische Bewußtsein“ auch dem Dialektgebrauch förderlich (Publikationen in Dialekt, vgl. Zürrer 1996, 296, 306). 1993 wurde durch die Garantie der sprachlichen und kulturellen Eigenart sprachpolitisch ein

Fortschritt erzielt und Deutschunterricht garantiert. Für das Überleben des Dialektes, d. h. seine Übernahme in der jüngsten Generation, stellt sich das Problem, daß er für die neuen Entwicklungen in der modernen Technik und Alltagswelt durch sein „Inseldasein“ nicht mehr ausreicht. Außerdem, so betont Zürrer, werden durch den Dialektgebrauch über 60 % der dritten Generation vom Gespräch ausgeschlossen.

3.

Das Kulturadstrat

Wichtige Epochen der Einwirkung des Frz. auf das Dt. sind: Das Mittelalter, der Barock, sowie der Übergang vom 18. zum 19. Jh. (Aufklärung, französische Revolution und die sogenannte „Franzosenzeit“). Ab Mitte des 19. Jh. gewinnt dann das Engl. einen immer stärker werdenden Einfluß. Eine kurze Periode des intensiven Sprachkontaktes stellt die Zeit der Aufnahme der Religionsflüchtlinge (Hugenotten, Waldenser) zwischen 1685 und 1700 dar (s. 3.3.); nachhaltigen Einfluß hatte ihre Anwesenheit allerdings nur regional, da sich die Flüchtlinge ⫺ wie eingangs erwähnt ⫺ assimilierten und ihre Muttersprache nach und nach aufgaben. 3.1. Das Mittelalter Frankreich ist das Kulturzentrum des europäischen Hochmittelalters. Das Mittelalter war somit für die frz.-dt. Sprachbeziehungen eine der nachhaltigsten Epochen, in denen nicht nur thematisch und textbezogen frz. Vorbilder übernommen wurden (der höfische Roman, die Troubadourlyrik als Modell für den Minnesang, das Ritterwesen), sondern auch in der Sprache selbst wurden noch bis heute produktive Wortbildungsverfahren übernommen wie durch die Suffixe -ieren und -ei (vgl. Kramer 1992, 45⫺55). Das Mhd. schöpft nun aus dem Afrz. Für das Afrz. wird der Zeitraum 842⫺1300 angenommen und für das Mhd. der entsprechende Zeitraum von 1150⫺1300. Das Mfrz. wird dagegen später, von 1300 bis 1500, datiert. Schon in der zweiten Hälfte des 11. Jh. findet man die ersten frz. Wörter, die ins Dt. übernommen wurden. Aber erst mit der Übersetzung des Rolandliedes und Alexanderliedes (1130) beginnt ein intensiverer Kulturkontakt (Kramer 1992, 49). Nun wurde es in Deutschland üblich, frz. Sprachlehrer in der Erziehung der Kinder der oberen Schichten einzusetzen. Aus dieser frühen Zeit stammt die Übernahme des Verbalsuffixes -ieren und das Nominalsuffix -ie (-ei).

204. Französisch und Provencalisch/Deutsch

Allerdings geht dieser Einfluß im 14. Jh. wieder zurück, und viele Übernahmen verschwinden auch wieder (a. a. O., 51). Im 15. Jh. dominierte dann die Übernahme von Italianismen. Das 13. Jh. stellt also den Höhepunkt in dieser Entwicklung dar, während das 14. und 15. Jh. einen Rückgang brachten. Vor allem der Einfluß auf die literarischen Gattungen wie die Trobadourlyrik und der höfische Roman sind für das kulturelle Leben dominierend. Hier wird nicht nur von Einfluß auf der rein sprachlichen Ebene, sondern von Intertextualität hinsichtlich der Inhalte und Themen ausgegangen. 3.2. Französisch als Universalsprache des 17. und 18. Jahrhunderts Nach dem starken Einfluß der italienisch geprägten Renaissance wird Französisch erst im 17. Jh. wieder zum kulturellen Vorbild in Europa. Der Prozeß massiver Ausrichtung auf das frz. Vorbild mit zahlreichen Übernahmen beginnt im 17. Jh. mit der Etablierung des Absolutismus und der Vorbildrolle des Hofes von Ludwig XIV. Es entsteht die sogenannte „Alamode-Sprache“ (Helfrich 1990), die Ausdruck für die Nachahmung der höfischen Sprache Versailles ist. In den zahlreichen Anstands- und Konversationsbüchern tauchen besonders viele Gallizismen auf, z. B. zu einem Compliment obligieren, vgl. Beetz 1990. Die sogenannte Alamode-Sprache übernimmt aus Frankreich vor allem das, was dort der Etikette, den Höflichkeitsnormen (politesse) und dem in Frankreich selbst als pre´ciosite´, pruderie oder auch pe´danterie entstammenden Bereich entspricht (Brunot Bd. IV-1, V.). D. h. der Begriff impliziert neben dem Ausdruck für eine weit verbreitete Mode innerhalb der adligen wie nun auch bürgerlichen Schicht eine kritische Reaktion auf einen als übertrieben und unnatürlich empfundenen Sprachgebrauch. Ein cavalier ist, welcher ein gut courage hat, maintenirt sein e´tat und re´putation und gibt einen politen courtisane ab. (Brunot V, 363). Die Übernahmen in den lexikalischen Bereichen, betrafen vor allem die Anredeformen (Monsieur, Madame), die Verwandtschaftsbezeichnungen (oncle = Onkel, tante = Tante, die Oheim und Muhme bis heute ersetzt haben), Kleidung und natürlich die Etikette (Toilette, Kompliment, amüsieren). Es gilt zu beachten, daß die Häufigkeit der Französismen hier von den Textsorten bzw. Themen abhängig ist (vgl. Kramer 1992, 68). In bestimmte Alltagsbereiche dringt das Frz. nicht ein, während es in

3197 den Bereichen Mode, Galanterie, Etikette und Militär dominiert. Aber auch auf philosophischem und wissenschaftlichem Gebiet entwickelt sich nun das Frz. zu einer Zweitsprache neben dem Latein, und Leibniz schrieb die Mehrzahl seiner Texte auf Französisch. Französisch wird zur Sprache der Diplomatie, des Handels und der Konversationskultur in den entstehenden Salons. 3.3. Die Religionsflüchtlinge Die unter Heinrich dem IV. im Edikt von Nantes (1598) zugestandene Religionsfreiheit für die Protestanten (Hugenotten und Waldenser) wird im 17. Jh. durch Ludwig den XIV. im Edikt von Fontainebleau 1685 aufgehoben. Auf diesen Auslöser für eine Massenflucht von bis zu 500 000 Franzosen folgte unmittelbar das Edikt von Potsdam, in dem der Große Kurfürst von Brandenburg, FriedrichWilhelm von Hohenzollern, den Flüchtlingen nicht nur Asyl gewährte, sondern sie auch mit Privilegien (z. B. Steuerfreiheit über 10 Jahre) ausstattete. Die Siedlungsgebiete waren vor allem Brandenburg, Hessen und BadenWürttemberg. Die Etymologie des Ausdrucks Hugenotte (Huguenot) ist zwar immer noch nicht abgesichert, es setzt sich aber die Annahme durch, daß sie von Eidgenosse abgeleitet werden kann: eitgenoˆz > eiguenots (vgl. Kramer 1992, 71 Fn. 4). Erste Waldensergemeinden wurden in Deutschland schon im 13. Jh. gegründet. (Eschmann 1988). Die Waldenser entspringen einer Armenkirche, die unter Petrus Waldes Ende des 12. Jh. gegründet wurde. Sie steht dem Katharismus nahe und ist in Südfrankreich teilweise mit ihm verschmolzen. Nach dem Untergang der Katharer im 14. Jh. erhielt sich nur der waldensische Zweig in Italien und den Südwestalpen. Wie die Hugenotten, so traf auch die Waldenser die Aufhebung des Edikt von Nantes und zwang sie zur Flucht. Diese Glaubensflüchtlinge gelangten nach dem Exodus von 1685 massenhaft in die Schweiz, die Niederlande, nach England und nach Deutschland (Kramer 1992, 76). Zu den bekannteren Waldensersiedlungen zählen Serres, Pinache, Perouse, Groß- und Klein-Villars, Neuhengstett, Palmbach, Untermutschelbach, Schönenberg und Nordhausen, die unter Herzog Friedrich August von Württemberg zwischen 1699 und 1701 gegründet wurden (dazu Hirsch 1962). Einige Waldensersiedlungen finden sich auch im Norden, in der Nähe der Hugenottensiedlungen um Kassel (Glaubenstreu, Gottesfurcht). Im Unter-

3198

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

schied zur Sprache der Hugenotten, die überwiegend aus nördlichen Dialekten (Champagnisch, Pikardisch) und dem Hochfranzösischen bestand, sprachen die Waldenser vor allem Provenzalisch. Die Hugenottensiedlungen waren dagegen vor allem in Nordhessen und Brandenburg geschaffen worden. Die Entwicklung des Hugenottenfranzösisch in den einzelnen Gemeinden ist für Berlin und Brandenburg vor allem von Hartweg (1988), Bergerfurth (1993) und für die Siedlung Friedrichsdorf/Taunus detailliert von Lichtenthal-Mille´quant untersucht und beschrieben worden. Durch die besondere Situation der neu geschaffenen Sprachinseln ergab sich ein langsamer Prozeß der Assimilation und Aufgabe der frz. Sprache. Die vom Binnenfranzösisch isolierte Sprache der Re´fugie´s nahm bald dt. Wörter auf: Bourguemaıˆtre, risdalle = Reichstaler (Hartweg 1988, 173). Dieser Prozeß führte zur Stagnation und der Beibehaltung bald archaischer, veralteter Formen. Im 19. Jh. ist die frz. Sprache der Hugenotten überwiegend zu einer reinen Gottesdienstsprache geworden, die dann bald ganz aufgegeben wurde. Hartweg (1988, 179). In wenigen Enklaven, wie Friedrichsdorf im Taunus, Mariendorf bei Hofgeismar oder in Louisendorf bei Frankenberg wurde noch bis weit ins 20. Jh. hinein von einzelnen Personen Französisch (dialektal gefärbt) gesprochen. Die genaueste sprachwissenschaftliche Beschreibung der letzten Hugenottensiedlung Friedrichsdorf findet sich bei Mille´quant (1969) und Lichtenthal-Mille´quant (1993). Sehr wichtig für den Erhalt der Sprache war die Zuweisung eines „Amtmannes oder Schultheißes in ihrer gewöhnlichen Sprache“ (Lichtenthal-Mille´quant 1993, 70) sowie eigene Notare und Gerichtsschreiber. Für die sprachlichen Erscheinungen des Codemixing und codeswitching seien einige Beispiele herausgegriffen: le chien, on l’apschafera oder (ebenfalls auf einen Hund bezogen): il vient fresser mes Zwieback (a. a. O., 80). Ein Zeichen der besonders starken Wirkung des Deutschen (Dialektes) auf die Sprache der Hugenotten trotz des starken Einflusses der Alamode-Sprache, ist der dialektal gefärbte Ausdruck la Nebegass anstelle von dem wohl eher städtischen, im Deutschen üblichen trottoir. 3.4. Die französische Revolution und die „Franzosenzeit“ Das 18. Jh. (l’e`re franc¸aise) brachte weniger direkte Übernahmen in der dt. Sprache wie

das 17. Jh., sondern beeinflußte das dt. Geistesleben ganz allgemein. Das 18. Jh. war das der Aufklärung und der Enzyklope´die. Auch wenn sich in Deutschland viele Stimmen gegen den frz. Materialismus und Sensualismus wandten, so war doch in der philosophischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung die frz. Geisteshaltung präsent und führend. Einerseits prägte der Einfluß der frz. Philosophie die Beschäftigung mit universalgrammatischen und zeichentheoretischen Fragestellungen auch in den dt. Ländern, andererseits wurden sehr viele technische Erfindungen und administrative Erneuerungen übernommen (s. Schlieben-Lange/Dräxler 1997). Schon Friedrich der Große lud Voltaire an seinen Hof nach Potsdam, von dem dieser sagen konnte, daß er französisch sei. Die Preisfragen der Preußischen Akademie wurden ab 1744 auf französisch gestellt. Die Preisfrage von 1783 nach der Universalität der frz. Sprache ist sicherlich der stärkste Ausdruck für die Einschätzung des Frz. als idealer, weil logischer und besonders klarer Sprache. In den Eliten und gebildeten bürgerlichen Kreisen gehörte das Frz. zur allgemeinen Bildung; in den niederen Schichten dagegen reichte die Fähigkeit, frz. zu sprechen, sicherlich nicht über ein paar Grußformeln hinaus. Eine besondere Sprachkontaktsituation stellte sich in dieser Epoche an der Wende zum 19. Jh. durch die Französische Revolution und ihre Kriege (Besetzung der linksrheinischen Gebiete) dar. Durch diese Kriege gerieten folgende Gebiete unter französische Herrschaft: Mainz, Köln, Aachen, Bonn und Koblenz. Diese sogenannte Franzosenzeit betraf die zwanzig Jahre von 1794⫺1814. Der sprachliche Einfluß auf das Dt. war hier allerdings von sehr geringem Ausmaß, zumal die frz. Verwaltung sich in der Durchsetzung der frz. Sprache zunächst eher zurückhielt. So wurden nur Ortsnamen, Plätze und die Vornamen ins Frz. übertragen. Erst ab 1798 mußten alle Verwaltungsangelegenheiten ausschließlich auf Frz. verfaßt werden. Man kann davon ausgehen, daß das Frz. auf den Bereich des Schriftlichen reduziert war und in der Alltagssprache, also im Bereich des Mündlichen, weiterhin das Dt. dominierte; Kramer spricht von „französischem Firniß“ (1992, 105). Auch Mattheier (1997) widerspricht der These, daß das Dt. durch das Frz. bedroht gewesen sei. Die Besetzung der linksrheinischen Gebiete hatte zwar Köln, Koblenz und Mainz „französiert“, aber z. B. in Köln weniger Französismen gebracht, als

204. Französisch und Provencalisch/Deutsch

vielleicht angenommen werden könnte. Eine genauere Durchsicht der lexikalischen Übernahmen zeigt, daß die meisten Lehnwörter schon zu den Hochzeiten der Frankophilie (Spätmittelalter 1200⫺1500, Frühe Neuzeit, 17. und 18. Jh.) nachweisbar sind. Der Franzosenzeit zuzurechnen sind aber folgende Übernahmen in den Kölner Dialekt: Allöre, borneet, Flakung, Trottewar (allures, borne´, flacon, trottoir) (Kramer 1992, 165; Dahmen/ Kramer 1993). Entscheidend sind auch hier die thematischen Bereiche Mode, Küche, Architektur und Militär. Radtke und Schlindwein haben für die kurze Zeit der Mainzer Republik (1792⫺1793) festgestellt, daß die französischsprachigen Textsorten vor allem der Alltagssprache entstammen: Privatbriefe, Geschäftsbriefe und Militärpost sowie den frz. Fassungen von Werbeanzeigen. Darüber hinaus gab es zweisprachige Teile in Zeitungen dieser Zeit. Es kam in Mainz wie auch in Worms und Speyer zur Gründung von Revolutions„vereinen“ wie der „jakobinischen Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“. Die Auswirkungen der frz. Besetzung betrifft vor allem die Personen- und Ortsnamen im Rheinland (Kramer 1993, 222⫺236). So erhielten alle dt. Vornamen ihre frz. Form, allerdings wurde bei den Nachnamen eher zurückhaltend vorgegangen (a. a. O., 224⫺225). Auch die unwichtigeren kleinen Städte behielten ihre dt. Namen. Es handelte sich also keinesfalls um eine forcierte Französisierung, wie sie etwa das Elsaß erlebt hatte. 3.5. Der Rückschlag: die „Entwelschung“ Schon im 17. Jh. treten Puristen und Sprachreiniger auf ⫺ allerdings noch nicht so stark wie in Frankreich selbst ⫺, die versuchen, nicht nur frz., sondern auch lat. und griech. Termini ins Dt. zu übertragen. Die dann aufkommende Bewegung des Sturm und Drang sowie der Romantik stellen eine Rückbesinnung auf eigene, nationale Traditionen und Qualitäten dar. Die Frage der Sprachreinheit ⫺ im Zuge der Emanzipation der Nationalsprachen vom Latein ⫺ ist in den rom. Ländern dagegen viel früher gestellt und behandelt worden; vor allem im 17. Jh. in Deutschland wird die Frage nach der „Reinheit“ 1792 (auf französisch!) von der Berliner Akademie der Wissenschaften gestellt; Joachim Heinrich Campes Abhandlung gewann den Preis, der viele Eindeutschungen und Übersetzungen in seinem Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrun-

3199 genen fremden Ausdrücke (1801) vorschlug, von denen sich viele durchsetzten. So haben sich Ausdrücke wie Freistaat für Republik, Brüderlichkeit für fraternite´, Tageblatt für journal u. v. a. m. durchgesetzt (vgl. Kramer 1992, 118⫺119). Im 19. Jh. beginnt der „nationalistisch inspirierte antifranzösische Purismus“ (Kramer 1992, 120), der gleichzeitig intellektuellenfeindlich auftritt und Jagd auf Fremdwörter überhaupt macht. Eine regelrecht antifranzösische Haltung dominiert schließlich in der wilhelminischen Zeit und vor allem bis kurz vor dem 1. Weltkrieg. Gegen diesen ausartenden Purismus setzten sich dann Elise Richter und Leo Spitzer zur Wehr (a. a. O., 127). Es mag verblüffen, daß gerade der Nationalsozialismus den Purismus bekämpfte und weitere Eindeutschungen unterband. Allerdings paßt dieses Vorgehen wiederum zum nationenübergreifenden Machtanspruch ⫺ es waren auch die Nationalsozialisten, die die dt. Schrift (Fraktur) verboten haben, um sich international durchzusetzen. 3.6. Das 19. und 20. Jahrhundert: der Sprachunterricht Im Mittelalter wurden zwar schon die Kinder der Adligen von „Sprachmeistern“ in Frz. unterrichtet, ein erstes Lehrbuch des Frz. erschien aber erst in England 1521. Als erstes dt. Lehrwerk gibt Spillner (1997) ein Werk von Claude Luyton an, das etwa zwischen 1548⫺1551 in Köln erschien. Das bekanntere Lehrwerk stammt von Ge´rard du Vivier: Grammaire Franc¸oise/Französische Grammatica (1566). Hier handelt es sich mittlerweile um Unterricht für den praktischen Gebrauch des Kaufmanns (vgl. Greive 1993). Im 17. Jh. ist die quantitative Zunahme des Französischunterrichts beeindruckend (laut Kramer erhält Marburg 1605 den ersten Lehrstuhl für Französisch und Italienisch (Kramer 1992, 134⫺136). Frz. wird als wahlfreier Unterricht in den höheren Schulen eingerichtet, ein Prozeß, der sich im 18. Jh. noch verstärkt. Nach der Niederlage Frankreichs 1814 wurde allerdings der Französischunterricht in den meisten Gymnasien wieder ausgeschlossen und im Rheinland gänzlich untersagt. Diese Entwicklung kehrte sich ab 1825 wieder um, und Mitte des 19. Jh. war Frz. an allen Gymnasien wieder Wahlfach oder Pflichtfach. Allerdings nahm in allen Schultypen das Lat. immer noch den ersten Rang ein; die Zurückdrängung zugunsten des Engl. erfolgte durch die Nationalsozialisten. In den Universitäten existierten

3200

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

lange Zeit Doppelprofessuren Romanistik/ Anglistik, die dem Bedürfnis entsprachen, Lehrer für die Schule auszubilden, paradoxerweise, da die Universität sich seit dem 19. Jh. von der Praxis des Fremdsprachenunterrichtes entfernt hatte (Kramer 1992, 142⫺ 143). Die aktuelle Situation des Frz. in Kindergarten, Schule und Universität befindet sich im Umbruch: Das Frz. hat sich außerhalb der Gymnasien und den Europaschulen auch vereinzelt in den Grenzgebieten etabliert. Es existieren bilinguale Kindergärten und Frz. in der Grundschule, vor allem in Freiburg und dem Saarland. Seit 1993 existiert in Freiburg ein dt.-frz. Kindergarten und eine dt.-frz. Grundschule, in der 2/3 des Unterrichtes auf Frz. stattfinden. Das dt.-frz. Gymnasium mit 720 Schülern ist 1972 gegründet worden. Erst in jüngerer Zeit werden auch an anderen Orten vermehrt Fremdsprachen schon in den Grundschulunterricht einbezogen: so hat die Universität KoblenzLandau zum WS 98/99 einen Fern-Studiengang zur Zusatzausbildung Frz. und Engl. in der Grundschule angeboten. In der Romanistik der Universitäten stellt das Frz. die Sprache dar, die im Vergleich zu Spanisch und Italienisch am häufigsten studiert wird. Trotzdem hat die Konkurrenz zum Engl. und dann zum Span. zu einem Rückgang des Interesses am Frz. in jüngster Zeit geführt. Die Präsenz des Frz. in Schule, Medien und Alltag ist im Vergleich zur Omnipräsenz des Engl. mittlerweile zweitrangig.

4.

Ebenen des Einflusses auf das Deutsche

4.1. Phonetik/Phonologie Der direkt aus dem Frz. übernommene Laut ist der stimmhafte Frikativ [3] wie in Journalist. Die phonologische Integration führt hier häufig zu einem Verlust der Stimmhaftigkeit, z. B. Blamaasch oder bei den Nasalen zu einer Umwandlung in einen Engelaut: Schangse für chance. Auf der graphematischen Ebene hat sich eine Integration vor allem für c > k, u > ü, eu > ö ergeben bzw. auch für ch > sch, vgl. chic > schick (vgl. Thiele 1993). 4.2. Morphologie und Wortbildung Immer noch produktiv sind die seit dem Mittelalter übernommenen Suffixe -ieren, und ei. Die morphologische Integration vollzieht sich in der Anpassung des Genus an die dt. Regeln (-e = weiblich). Bei diesen Bildungen

ist die feminine Endung der eigentlich maskulinen frz. Form auffällig: die Garage usw. Außerdem werden maskuline Substantive zu Neutra (das Kompliment) und einige Wortbildungsmechanismen übernommen: so tauchen vereinzelt Suffixe ohne Status von Wortbildungsmorphemen auf, wie in Harlekinade, Domäne, Staffage, Akkuratesse, Exporteur) (Thiele 1993, 12). Ursprünglich aus dem Lat. stammende Suffixe werden eingedeutscht: ⫺ able > -abel, -ible > -ibel. Thiele spricht auch von „pseudofranzösischer Derivation“, wie in Belletristik, quittieren, Zivilist. Aufgrund der Undurchsichtigkeit des Lehnwortes kommt es häufig zur Bildung von Pleonasmen: z. B. Schutzpatron. 4.3. Lexikon und Semantik Auf die Übernahme einzelner Lexeme wird in 6. eingegangen. Die vollständige lexematischsemantische Integration führt bei Übereinstimmung der Bedeutung zur Aufgabe des einheimischen Ausdrucks, um Dubletten zu vermeiden (Thiele 1993, 13). Redundanz wird dabei durch Bedeutungsverschiebungen und -nuancen vermieden. Bei einer Übernahme von einer neuen Sache und ihrer Bezeichnung wird das Wort jedoch unverändert übernommen: Bonbon, Champagner, Kantine etc. In den anderen Fällen entsteht Bedeutungserweiterung: adressieren = frz.: richten an, im Dt. auch mit Adresse versehen; oder Bedeutungsverengung: Champignon, frz. Pilze, dt.: Pilzsorte sowie stilistische Markiertheit ordinär vs. frz. ordinaire = gewöhnlich.

5.

Domänen des Einflusses

Wie mehrfach erwähnt sind die lexikalischen Übernahmen auf spezifische Bereiche bezogen. Militär, Diplomatie, Mode, Galanterie, Liebe, Philosophie, Wissenschaft, Technik und Küche/Gastronomie stellen die Domänen dar, in denen das Frz. besonders stark prägend war. Allerdings hat sich vor allem im Bereich der Technik, Mode und im Militär in jüngster Zeit das Englische stärker bemerkbar gemacht: Computer, Jeans, T-Shirt, Starfighter etc. Sicherlich ist im Bereich der Küche, des Kulinarischen (Wein, Delikatessen), wenn es um gehobene Ansprüche geht, immer noch das Frz. erste Übernahmequelle, auch wenn die Fast-Food-Generation und Jugendkultur hier für starke Einbrüche verantwortlich ist. Neben den direkten lexikalischen Übernahmen in Küche und Weinkul-

204. Französisch und Provencalisch/Deutsch

tur: Souffle´, gratiniert, dekantieren, Bouquet, tauchen gerade in den letzten zwei Jahrzehnten verstärkt Lehnübersetzungen auf, die auffällig von den dt. morphosyntaktischen Formen abweichen: Mousse von Lachs an Bohnen, statt Lachsschaum mit Bohnen. Es kann auch vorkommen, daß ältere, regionale Ausdrücke, die teilweise wieder in Mode kommen, mit dem mittlerweile vertrauteren französischen Äquivalent erklärt werden: Schmand (cre`me fraıˆche)

6.

Literatur (in Auswahl)

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3202

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

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Isabel Zollna, Marburg

3203

205. Italienisch und Rätoromanisch/Deutsch

205. Italienisch und Rätoromanisch/Deutsch 1. 2. 3. 4.

Kontaktzonen Interferenzerscheinungen im Bereich Phonetik und Morphosyntax Transferenzen im lexikalischen Bereich Literatur (in Auswahl)

1.

Kontaktzonen

Bei der Beurteilung des ital., rätorom., zentralladinischen und friulanischen Superstratund Adstrateinflusses im Deutschen sind Erscheinungen zu unterscheiden, die das gesamte dt. Sprachgebiet oder jedenfalls die Hochsprache betreffen, und solche, die eine nur regionale Verbreitung aufweisen und nur in den südlichen Interferenzbereichen des dt. Sprachgebietes auftreten. Am intensivsten sind Interferenzen in jenen Zonen, die als bilinguale Kontakträume anzusprechen sind oder während Jahrhunderten zweisprachig gewesen sind. Es sind dies jene Gebiete, die zwischen Frühmittelalter und heute entweder der rom. Sprache verloren gingen (1.1.⫺1.3.) oder als germ. Vorposten im Laufe der Zeit romanisiert wurden (1.4., 1.5.). 1.1. Zentralschweiz und Teile der Ostschweiz Grundsätzlich behält die von Jud 1913 bzw. 1945/46 publizierte Karte der rom. Reliktgebiete in der Schweiz ihre Gültigkeit, wenn sie auch eine noch nicht bestehende durchgängige Sprachgrenze um 800 suggeriert. Sie zeigt die in der Zentral- und Ostschweiz seit der Römerzeit erlittenen territorialen Verluste der rom. Sprache. Die frühmittelalterliche Germanisierung erfolgte in diesem Raum durch vorstoßende Alemannen, mit Ausnahme von Samnaun in Graubünden, das im 19. Jh. zum benachbarten nordtirolischen Dialekt übergegangen ist (Gröger 1924). 1.2. Deutschsprachige Gebiete Graubündens, Vorarlberg und Liechtenstein Die auf frk. Gaueinteilung zurückgehende Grenze am Hirschensprung im St. Galler Rheintal bildete während Jahrhunderten eine starke Schranke zwischen dem nördlichen alem. Siedlungsraum und einer südlich anschließenden alem.-rom. Durchdringungszone, bei der das alem. Element seit dem Hochmittelalter ein deutliches Übergewicht

bekam (Stricker 1991; Hilty 2001, 126). Die Überschichtung rom. Sprachräume durch das Alem. und das schrittweise Zurückweichen des Rom. kann z. B. anhand der räumlichen Staffelung von rom. Lehnwörtern näher bestimmt werden. Aufschlußreich ist die bei den Alemannen gebräuchliche ethnolinguistische Bezeichnung der Romanen als Walen; zu den Walen-Namen: Stricker 1978, 13; Sonderegger 1979, 240; Wiesinger 1990, 306⫺316. 1.3. Südgebiete von Bayern, Süd- und Osttirol, Salzkammergut, Steiermark Das Vordringen der Germanen seit dem Ende des 5. Jhs. südlich der Donau, der Einbruch der Bajuvaren in Tirol (6. Jh.) und in Südtirol (7. Jh.) schuf einen Germanisierungskeil im Bereich des Etsch- und Eisacktales, der seit dem Frühmittelalter den rom. Zentral- und Ostalpenraum spaltete und zur politischen, kirchlichen und sprachlichen Sonderentwicklung der beiden rom. Randgebiete (Graubünden, Friaul) beitrug. Das Zusammenwirken von religiösen Faktoren (Gegenreformation), wirtschaftlichen Gegebenheiten (Handel über den Reschenpaß), politischen Bestrebungen (Grafschaft Tirol) bei der Germanisierung eines Tales kann z. B. im Vintschgau beobachtet werden, das im 16./17. Jh. der Romanität verlorenging. Von besonderem Interesse sind jene Gebiete, die erst seit dem Hochmittelalter rückromanisiert wurden. Es sind dies die Gebiete der Walser in Oberitalien und im Tessin (1.4.) sowie die bair. Sprachkolonien im Trentino und im Friaul. 1.4. Die Walser in Oberitalien und im Tessin Hierzu zählen die ersten Außengründungen der Walser in Oberitalien und im Tessin, die heute vom Aussterben bedroht sind (Alagna, Formazza, Macugnaga, Rimella, Bosco Gurin), sowie Dörfer, deren Walser Mundart aufgegeben ist und nur noch im lokalen Gergo reliktweise weiterlebt (Ornavasso, Rimella). 1.5. Bairische Sprachkolonien im Trentino und im Friaul Die Entfaltung der bair. Sprache und Kultur erreichte in der Umgebung von Trient und Verona im Hochmittelalter (13./14. Jh.) ihren Höhepunkt. Neben einem kompakten bair. Siedlungsgebiet südlich der Alpen (Südtirol)

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XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

gab es eine Anzahl von germ. Streugebieten, die zwischen dem 12. und 14. Jh. gegründet wurden und als vereinzelte Vorposten bis heute ihren bair. Dialekt beibehalten haben (Roana/Rowa´n und Rotzo/Rotz in den Sieben Gemeinden sowie Giazza/Glätzen/Ljetzan in den Dreizehn Gemeinden); vgl. Battisti 1922, Stolz 1934, Kranzmayer 1958, Hornung 1977. Für Sprachgeschichte und Dialektologie sind jene Sprachinseln von Bedeutung, die, seit dem Hochmittelalter vom bair. Hinterland abgeschlossen, Aufschlüsse geben über den Lautstand der mittelalterlichen Sprache, z. B. Lusern (Luserna), Fersina-Tal (Valle dei Mo´cheni) und die vom Pustertal aus angelegten Kolonien von Pladen (Sappada) und Zahre (Sauris); vgl. Gamillscheg 1912, Hornung 1967. Diese Sprachkolonien fallen auf durch ihre Altertümlichkeit und durch eigenwillige Neuerungen, die sich durch zahlreiche Interferenzen in dieser rom. Nachbarschaft ergeben. Die meisten dieser bair. Sprachoasen im Trentino sind in den letzten Jahrhunderten romanisiert worden: Valle di Pine` um 1700 (Pellegrini 1978, 375), Lafraun (Lavarone) um 1900.

2.

Interferenzerscheinungen

Interferenz wird für gegenseitige Beeinflussung benachbarter Sprachen verwendet: Transferenz bei einseitiger Beeinflussung. Während zwischen den beiden Hochsprachen (Deutsch, Italienisch) keine Interferenzerscheinungen im Bereich Phonetik (2.1.) oder Morpho-Syntax (2.2.) feststellbar sind, können für die oben erwähnten Kontaktzonen vereinzelte Interferenzbeispiele gegeben werden. 2.1. Phonetik und Prosodie Schmid (1956) hat gezeigt, daß die Lautentwicklungen sp > sˇp, st > sˇt und sk > sˇk in rom. und dt. Mundarten vorkommen, die im Bereich der Sprachgrenze liegen: Berner Jura, Lombardei, Graubünden, Süddeutschland (Schwäb.-Alem.), Tirol, West- (Ober-) Kärnten, vgl. z. B. die Verbreitungskarte Schwester bei König 1978, 150 (alem. schwöschter/ schwäb. schweschter). Überzeugende Argumente sprechen dafür, daß die Verschiebung von s > sˇ vor Konsonant von Oberitalien her ins Sdt. eingedrungen ist, vgl. alpinlombardisch sˇte´la ‘Stern’, sˇpı´ga ‘Ähre’, sˇkuu¨´r ‘dunkel’. Da sˇp/sˇt/sˇk auch in den galloital. Sprachkolonien vorkommen, die zwischen dem 11. und

13. Jh. vom westlichen Oberitalien aus in Sizilien und Süditalien gegründet wurden, vermutet Schmid 1951/52, daß diese Lauterscheinungen vor 1000⫺1200 in Oberitalien und in der Rätoromania bestanden. Die Ausbreitung dieses Sprachwandels erfolgte primär in der Zone des unmittelbaren dt.-rom. Sprachkontaktes (Tirol, Vorarlberg, Ostschweiz). Auch bei der Lautentwicklung u > ü verlaufen die entsprechenden Isoglossen mit bewahrtem u oder verschobenem ü über die Sprachgrenze hinweg. Auffallend ist die überraschend ähnliche Verbreitung des ON. Frutt und des Verbreitungsgebietes des bergschweizerdt. Wandels von u´ > ü. Bei Frutt handelt es sich um ein gall. Reliktwort, bei uˆ > ü möglicherweise um eine südalpine (lombardische) Sub- oder Adstratwirkung, die aber verschiedene Inkohärenzen, regionale Unterschiede und sekundäre Verwischungen aufweist. Noch wenig untersucht sind melodische Phänomene wie Akzent, Intonation, Sprechtempo und Tonhöhengliederung in Interferenzräumen. Hotzenköcherle 1984, 143 betrachtet in seiner Genese der churerrheintalischen Sprachlandschaft „die weitgehende Verdrängung der stakkatohaften Silbenstruktur [[ durch die gleitende Struktur ⫺[ infolge der Dehnung in offener Silbe“ als rätoromanische Substratwirkung. Zur Bedeutung des Tonhöhenverlaufs in Übergangsgebieten, z. B. im Bergell, vgl. auch Rinaldi 1985, 23 ff. Die Dehnung bei Einsilbern (z. B. gra¯s, sı¯b ‘Sieb’) erklärt Gabriel (1969, 120) im Schanfigg, im nördlichen Liechtenstein und im Walensee-Seeztal auf gleiche Art. An der Dehnung bei Zweisilbern in freier Silbe sind die Walser nicht beteiligt. Da in den Walser Außenkolonien im Piemont diese Dehnung aber auftritt (Alagna goo˛¯´du ‘Gaden’, sˇnoo˛¯´bel ‘Schnabel’), liegt auch für diesen Interferenzraum die Annahme oberital. Transferenzeinflüsse nahe (Gabriel 1969, 121). 2.2. Morphosyntax Als Charakteristikum des Rätorom. gilt die Verwendung von venire nicht nur für die Futurbildung vegn ad ir (Ebneter 1973), sondern auch verbunden mit Adj. in der Bedeutung von ‘werden’ (FIERI), vgl. Brigels (Surselva) sˇα vee´ø n¯αn boo˛´ t maaß´ rsˇαs ‘sie werden bald faul’. Diese Verbalperiphrase hat sich in der Sprache der seit Jahrhunderten germanisierten Deutschbündner erhalten: du chusˇt ganz wı¯sser ‘du wirst ganz weiß (auf dem Wagen

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205. Italienisch und Rätoromanisch/Deutsch

mit Kalksäcken)’ (Szadrowsky 1930, 121); Bonaduz (erst in den letzten 100 Jahren germanisiert): le˛g dı¯ warm a¯, sunsˇ khunsˇt krank ‘zieh dich warm an, sonst wirst du krank’ (Cavigelli 1969, 469); Walserkolonie Rimella: parggä isˇ chummu` d’Bjoochu greesser ‘weil die Buche größer geworden ist’ (Fazzini 1978, 40). Zinsli (1968, 144) erklärt auch die Übereinstimmung der Endung des prädikativen Adj. mit dem Subst. als indirekten rom. Transferenzeinfluß, der diese bereits im Ahd. vorhandene Fügemöglichkeit gestützt hätte; Walserdt. ds Gras chunt riipfs ‘das Gras wird reif’ oder Avers d’Chalber sind immer noch tü¯ri ‘die Kälber sind immer noch teuer’ (Szadrowsky 1936, 451; Moulton 1941, 46). Die Bildung des Vorgangspassivs mit kommen ist auch im Südbair. (Sprachinseln und Sprachgrenzräume, z. B. Salurn, Altrei) bekannt und wird von Wiesinger 1989, 262 ff. als Erscheinung des dt.-rom. Sprachkontakts erklärt. Die Artikelverwendung vor Possessivadjektiv im Fersina-Tal ist oberitalienischer Transferenzeinfluß in dieser bairischen Sprachkolonie: der maeˆ huet ‘mein Hut’, s daeˆ haosˇ ‘dein Haus’, de indzer kia ‘unsere Kühe’ (Zamboni 1979, 89). Im toponomastischen Bereich ist in diesem Zusammenhang auf die ON. auf -s, -z, -sch hinzuweisen (Näfels, Flums, Klosters) als Reflexe rom. Flexion im rom. Reliktgebiet der deutschen Schweiz (Sonderegger 1979, 238; Schmid 1951/52, 21⫺81; Weibel 1995, 68 f.). Rektionsfehler gehen oft auf Transferenzen zurück und sind nur aus Kontaktzonen bekannt, z. B. Bonaduz αn der tat denk ˛i no˛ o˛vt ‘an den Großvater denke ich noch oft’ (it. pensare a q., Cavigelli 1969, 498) oder Pladen i dounkx di muitr ‘ich danke der Mutter’ (it. ringraziare q., Hornung 1967, 68). Unter rom. Einfluß ist bei bündnerdt. Bewegungsverben der Ausdruck der Bewegungsrichtung auf einen Ort hin (Akk.) und des Verbleibens an diesem Ort (Dat.) neutralisiert, vgl. Rimella der wurum gäid under du sˇtäi ‘die Schlange geht unter den Stein’ (Keller 1981, 106), nu iser under du sˇtai ‘jetzt ist er unter dem Stein’ (ib.) oder Bonaduz mi˛er mahαn üseri˛ ho˛htsi˛tsrays ˛im u˛nderland ‘wir machen unsere Hochzeitsreise ins Unterland’ (Cavigelli 1969, 502), mi˛er blı¯bαn tsway bi˛s drey tee¯˛ g ˛ins u˛nderland ‘wir bleiben zwei bis drei Tage im Unterland’ (ib.) In Bonaduz hat sich eine sekundäre Opposition herausgebildet: dem Dat. der Bewegung (i˛m u˛nderland) steht der Nom. der Ruhe (i˛ns u˛nderland) gegenüber (Cavigelli 1969, 501). Einflüsse auf

die Stellung der Satzglieder sind nur aus Walser- oder germanisierten Bündnermundarten bekannt: Rimella d pum isˇ nox gsˇid underrifte ‘der Apfel ist noch unreif gewesen’ (Bauen 1978, 87; Keller 1981, 272 Anmerkung 16) oder in Bonaduz bei den ältesten Gewährspersonen i tet vro¯gα jemand wu˛ wayss ‘ich würde jemand fragen, der (es) weiß’, [surselv. eu dumandass zatgi ca savess] (Cavigelli 1969, 505).

3.

Transferenzen im lexikalischen Bereich

Für die Kontaktgebiete 1.1.⫺1.3., die eine unterschiedlich stark ausgeprägte rom. Substratschicht aufweisen, ist grundsätzlich eine Trennung vorzunehmen zwischen Reliktwörtern (3.1.) und Lehnwörtern (3.2.). 3.1. Romanische Reliktwörter Diese Relikte in der Raetoromania submersa existieren im Bereich der Toponomastik und im Appellativwortschatz, vgl. für den schweizerischen Alpen- und Voralpenraum Jud 1946 und für das West- und Südtirol Kühebacher 1967, der einen starken Prozentsatz von Romanismen westlich der Linie Telfs-Meran nachweist. 3.1.1. Romanische Reliktwörter im Bündnerdt. und im Vorarlberg Rätorom. Reliktwörter kommen innerhalb der durch die Walser von Westen her und durch den ostalem. Stoß rheinaufwärts verdeutschten Zonen der alten Raetia Prima und der Diozöse Chur vor. Die Liste der von Jud behandelten Reliktwörter ist zu ergänzen durch Gysling 1942, 112 ff.; Trüb 1951, 227⫺ 236; Zinsli 1968, 142 f.; Weibel 1976. Typisches Beispiel ist Graubünden (Davos, Tschappina) fanı´l ‘Raum für Heu oder Streu, im besonderen Anbau an Stall und Tenne’ (< FENILE, Jud 1946, 86), hinteres Prätigau (Valzeina) pfanille, Chur phanülle, Malix pfanilla, St. Galler Oberland pfnilla, St. Gallen (Sax) pfnill, St. Gallen (Sargans, Werdenberg, Wartau) pfnille, St. Gallen (Vättis) fanille. ⫺ Fanı´l(α) m. (f.) ‘ebenerdig zum Stall gelegener Heuraum’ ist auch im Montafon (Silbertal) und teilweise im Walgau belegt (Mätzler 1968, 42), pfillα, pfnillα f. im Walgau und Großwalsertal ib. Das rom. Wortgut im Vorarlberg (ca. 80 Appellativa) hat Mätzler übersichtlich zusammengestellt. Für die Relikt-

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wörter im Arlbergraum ist Gabriel 1972 einzusehen (13 Karten) und die Karte VI des Vorarlberger Sprachatlas (Gabriel 1972, 224). 3.1.2. Romanische Reliktwörter in Tirol und Arlberggebiet In spät germanisierten Tälern (z. B. Vintschgau) hat sich das Rom. in einzelnen fachsprachlichen Termini bis heute erhalten, vgl. die Bezeichnungen der Bewässerungswirtschaft: pinkerα ‘Hauptkanal für die Feldbewässerung’ (< *PUNCTARIA, Kühebacher 1967, 211), ondauxe ‘Abzugsgraben’ (< AQUAE DUCTU, ib.), rı´tsˇe ‘(gedeckter) Kanal’ (< ARRUGIA, Schatz 1956, 498), ´ılts ‘Hauptkanal’ (< ELICE, Schneider 1963, 116 belegt für die Malser Gegend und Schlanders). Nützliche Übersichten der rom. Lehnwörter in den Mundarten Tirols und des Arlberggebiets stammen von Schneider (1963), Aschenbrenner (1986) und Klausmann/Krefeld (1986). 3.1.3. Relikte, welche die Raetia Prima und die Raetia Secunda umfassen Typisch alttirolisches Reliktwort ist wo¯l ‘Bewässerungsgraben’. Nach Aufnahmen von Schweizer kommt dieser Worttypus vor im Oberinntal bis Innsbruck mit Stanzer- und Paznauntal, Zill- und Wipptal sowie im ganzen Etsch- und Eisacktal (Schneider 1963, 113). Als Fortsetzung von engadinisch aual und surselv. ual weist sich AQUALE ‘Bach, Bewässerungsgraben’ als Reliktwort der Raetia Prima und der Raetia Secunda aus, das sich vielleicht dank der Ausstrahlungskraft von Zentren wie Innsbruck, Brixen, Bozen weiter ausgedehnt hat (Schorta 1967, 227), aber nicht wie Schneider (1963, 113) annahm, als bündnerrom. Wanderwort bezeichnet werden kann. Ein ähnliches Verbreitungsgebiet weist rätorom. rumagliar ‘wiederkäuen’ auf, westtirolisch grama´ile (Obervintschgau und Oberinntal bis Telfs, einschließlich Lechtal und Ehrwald), im Ötztal trama´iln, rama´iln, im südlichen Vorarlberg garmee˛´ ile (< lat. RUMARE, Schneider 1963, 114 und Karte 16). 3.2. Romanisches Lehngut Interferenzen zwischen Romanen und Germanen sind besonders deutlich im Bereich des Wortschatzes faßbar. Für die Darstellung des lexikalischen Lehngutes sind verschiedene Integrationsebenen zu berücksichtigen; ebenfalls ist eine Unterscheidung zwischen deutscher Hochsprache und Sprachen der

südgerm. Kontaktgebiete vorzunehmen. Folgende Integrationsebenen werden unterschieden: graphisch-phonetische (1.), morphologische (2.), semantische (3.), lexematische (4.), Gebrauchsebene (5.). 3.2.1. Graphisch-phonetische Ebene 3.2.1.1. Lautliche Adaptation: Zahlreiche Romanismen sind ohne lautliche Veränderungen aus dem It. ins Dt. übernommen worden; ihre äußere Form entspricht nicht der germ. Graphemstruktur: Pergola, Tombola, Villa, Casino, Saldo, Giro, franco, netto, Agio etc. Der Grad dieser lautlichen Anpassung führt zu räumlichen Unterschieden innerhalb des dt. Sprachbereichs: öst. Kassa, Banda, Watta stehen den in Deutschland geltenden Kasse, Bande, Watte gegenüber. Der Grad der phonetischen Integration kann auch chronologische Hinweise ergeben: im Dt. tritt z. B. zuerst die Form Opera auf (17. Jh.); erst im folgenden Jh. setzte sich Oper durch (Öhmann 1951 a, 17). Dank der beachtlichen Zahl von regional begrenzten Lehnwörtern kann man für das Alem. und Bair.-Öst. phonetische Konstanten erkennen, die vereinzelt schon in mhd. Lehnwörtern auftreten. Für die älteren Sprachstufen ergeben vor allem toponomastische Untersuchungen aus diesen Kontaktzonen (z. B. St. Galler Rheintal, Vorarlberg) Ansätze zu einer Lautlehre der germ. Lehnwörter. Verwechslung von stimmlosen und stimmhaften Konsonanten im Anlaut: ital. pergola >mhd. bergel; ital. gazzaro > mhd. Ketzer. Schweiz: ital. cocomero > schweizerdt. gogumeren ‘Gurke’ (Berner-Hürbin 1974, 141), ital. poppa > mhd. buppen ‘Heck’ (Idiotikon 4, 1426), buben (Gysling 1959, 77); ital. pantoffola > schweizerdt. bantoffelen (BernerHürbin 1974, 96). Tirol: oberital. bagatto > tirol. paga´t (Schneider 1963, 147). Der stimmhafte rom. Frikativlaut /v/ wird im Anlaut und im Inlaut seit spmhd. Zeit als stimmlose Frikative eingedeutscht. Regionallat. *BACCETA ‘Gefäß’ (< vorrom. *bak-, LEI 4, 145⫺148) ist vom Mhd. in der Form *pazıˆde übernommen worden und über die abair. Diphthongierung ˆı > ei zu tir. pazeid ‘Weinmaß’ geworden. Diese tir. Form wurde vom Zentrallad. zurückentlehnt: Gröden patsee´ø yda ‘Eimer’ (LEI 4, 147, 11). Nicht diphthongiertes pazzida ist im Interferenzraum Bündnerromanisch-Alpinlombardisch erhalten: Poschiavo pazzida, das hinsichtlich Vokalismus mit engad. bazida (DRG 2, 275 < aalem. bazı¯da) in Verbindung steht (Pfister 1986 a, 174).

205. Italienisch und Rätoromanisch/Deutsch

Schweiz: ital. vela > mhd. fela (Gysling 1959, 77); ital. breviario > mhd. briefer ib. Tirol: ital. volta > folt ‘Vorkeller’ (Schneider 1963, 163), ital. vernaccia > ferna´tsˇ ‘Weinsorte’ ib., aoberital. *lave´tsˇ > lafeitsˇ, fötsˇ ‘Kessel’ ib. Diese Lautsubstitution kann auch durch topon. Belege gestützt werden, z. B. Vorarlberg (Brandnertal) Alpaferda (1665, Alpaferden > *alp averta > ALPE APERTA, Hilty 1967, 219). Ital. sk- ist im Deutschen (Bündnerdt. ausgenommen) ungebräuchlich und wird durch st- ersetzt: ital. scorzonera ‘Schwarzwurzel’ > schweizerdt. storzene`ren (Idiotikon 10, 15), schwäb. skorzenere (Fischer/Pfleiderer 5, 1427), bair. storzenär (Schmeller 2, 786). Schweiz: ital. moscatello ‘Weinart’ > mhd. mustatell (Gysling 1959, 78), mostadeller ib.; die ON Scarpanto und Pescara wurden in der Schweiz als spmhd. Starpona und Bigstheren übernommen (Berner-Hürbin 1974, 125). Anhand der lautlichen Adaptation erhalten wir Hinweise auf die Chronologie und die Herkunft der rom. Lehnwörter. 3.2.1.2. Chronologische Hinweise: Für den alem.-rätorom. Interferenzbereich hat Sonderegger (1979, 232) anhand von lautlichen Kriterien vorwiegend mit topon. Material eine methodisch wegweisende Lautchronologie aufgestellt, die auch für andere Interferenzbereiche (z. B. Südtirol) erarbeitet werden sollte. Germ. Anfangsbetonung: Anhand des Zerfalls der Nachtonsilben kann man wahrscheinlich auf germ. Erstbetonung schließen, die wiederum eine frühe Entlehnung nahelegt: mhd. staczen ‘Kramladen’, das im avenez. Sprachbuch aus dem Jahre 1424 mit stazo´n übersetzt wird (Pausch 1972, 309). Schweiz: ital. anguista´ra > mhd. a´ngster, ital. brigantı´na > mhd. brı´genden (Gysling 1959, 77), ital. fazzuo´lo > mhd. fa´tzel ib., ital. pellegrino > mhd. bı´lgram ib., ital. zettova´rio > mhd. zı´twen ib. Tirol: trient. sole´vi > su´lfern Pl. ‘Seitenbalken der Kelter’ (< SUBLEVARE, Schatz 1956, 620), trient. meze´na > metzein ‘Speckseite’ (< *MEDIE¯NA, Schneider 1963, 54), metzen ib. Mhd. Diphthongierung ˆı > ei: Der dt. Diphthong ei ist durch die mhd. Diphthongierung aus ursprünglich langem ˆı entstanden. Von diesem Lautwandel wurden auch Lehnwörter mit ital. ˆı erfaßt: Tirol Lagrein ‘Wein aus der Val Lagarina’. Diese Weinsorte ist erst in nhd. Zeit bezeugt (Tumler 1924, 16);

3207 der Diphthong ei spricht aber für eine Entlehnung aus dem Trentino vor der Mitte des 13. Jh.; it. massarı`a > tirol. masserey ‘Hausrat’. Mhd. Diphthongierung von uˆ > ou/au: Roman. o´ wurde durch Lautsubstitution dem mhd. uˆ > ou/au gleichgestellt: ital. roncone > tirol. ronka´u¯n ‘Hippe mit geradliniger Messerschneide’ (Schneider 1963, 121). Bei südtirol. lauer m. ‘kleiner Trichter als Küchengerät’ handelt es sich vermutlich nicht um ein Lehnwort aus oberital. lora (Öhmann 1942 b, 33) oder aus trent. lora (Schneider 1963, 125), sondern vielmehr um ein romanisches Reliktwort (siehe 3.1.), das auch in der im 13. Jh. vom Pustertal aus kolonisierten bair. Sprachkolonie Pladen im Friaul vorkommt: laure ‘Trichter zum Straubenbacken’ (Hornung 1964, 158). Verdumpfung des rom. a > bair./nalem. o: Nach Öhmann (1942b, 48) ist im Bair. der Wandel a¯ > o¯ im 12. Jh. eingetreten, im Nalem. im 13. Jh.: aˇ ist im Abair. und Mbair. in o˛ übergegangen und wurde auch im Nalem. um die Wende des 13./14. Jhs. verdumpft: ital. schiava > tirol. g’schlofene ‘Rebsorte’, ital. ducato > tirol. (Imst) tukoo˛¯´te (Schatz 1897, 90), trent. paniga´l > Bozener Unterland penegoo¯´l ‘Maisstroh’ (Schneider 1963, 123), ital. spaghetto > tirol. sˇpo˘ get ‘Bindfaden’ (ib. 193), lomb. (Cavergno) lavaza > tirol. loo˛¯´wesee f. ‘Sauerampfer, Huflattich’ ib. 179. 3.2.1.3. Mundartliche Herkunft der Lehnwörter: Für einen Teil der mhd. Lehnwörter und vor allem für lexikalisches Lehngut aus den südlichen Kontaktgebieten lassen sich anhand lautlicher Merkmale die Herkunftsräume feststellen. Sonorisierung: Sonorisierte Formen schließen meistens eine Entlehnung aus dem Standardital. aus und weisen auf nordital. Herkunft hin. -t- > -d-: Intervokalisches -t- ist in ganz Oberitalien zu -d- sonorisiert worden, vgl. avenez. noder m. ‘Notar’ (1297, Stussi 1965), abergam. ⬃ (1429, Migliorini/Folena 1953, 34). Mhd. seidel ‘Flüssigkeitsmaß’ (seit dem 14. Jh., Öhmann 1941, 33) stammt aus dem lomb.-trent. Raum, vgl. westlomb. (Como) sedeˆl m. ‘kleiner Eimer’ Monti, ostlomb. (Bergamo) sede`l ‘Eimer’ Tiraboschi, Brescia ⬃ Melchiori. -k- > -g-: Mhd. grego m. ‘Nordostwind’ (15. Jh., Öhmann 1940, 154), stammt wahrscheinlich aus venez. grego ‘Nordostwind’ (< GRAECU, Boerio).

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XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

-p- > -v-: Mhd. laffetsch ‘großer Kessel zum Kochen und Waschen’ (Schlandersberg 1401, Öhmann 1941, 111), lafetsch (Garnstein 1417, ib.) lavetsch (1430, ib.) stammen aus Oberitalien, vgl. alomb. lavec¸o (Salvioni 1892, 410), venez. lavezo Boerio. Ötztal vella ‘Zwiebel’ setzt ein frmhd. *tschevölle/*zevölle voraus und kommt sonst nur in Tiroler Außenmundarten vor: Sieben Gemeinden tsˇavö´lla (Kranzmayer 1958, 185), Dreizehn Gemeinden tsˇivö´øløle; Kranzmayer schreibt: „Es wurde aus einem altlad. tsˇevo´la entlehnt.“ Dies ist fragwürdig, da es sich ebenso gut um ein Wanderwort aus dem Veneto oder aus der Lombardei handeln kann, vgl. Veneto cevolla ‘Zwiebel’ (14. Jh., Baldelli 1961, 160), avenez. zevolle Pl. (Ende 15. Jh., Faccioli 1966, I, 70), apadov. ⬃ (Ende 14. Jh., Folena 1962), alomb. cevola (15. Jh., Holme´r 1966). Palatalisierung von KIı > oberital. tsi/tsˇi: Diese in ital. Lehnwörtern relativ häufig belegte Lauterscheinung erlaubt (wie bei den Sonorisierungsbeispielen) den Schluß, daß es sich um oberital. und nicht um schriftital. Wörter handelt. Oberital. Herkunft sind: mhd. koratzen ‘mit Metallplättchen benähtes Wams, Panzer’ (Tirol, Öhmann 1942 b, 27), koratzin Pl. (ib.; Steiermark 15./16. Jh., ib.) < oberital. corazza: ebenso mhd. bonatze ‘Windstille’ (1519, Idiotikon 4, 1317) < venez. *bonatza. Formen mit -tsch entsprechen dagegen der älteren Sprachstufe, die heute z. B. im Rätorom., Zentralladinischen und Friulanischen erhalten ist (Kramer 1977), vgl. mhd. lavetsch ‘großer Kessel zum Kochen’ (15. Jh., Öhmann 1941, 110; Plangg 1987, 87), mhd. kadenätsch ‘Pflugkette’ ib., (degken von) pällätsch ‘mit kleingehacktem Stroh (gefüllte Decke)’ (Turm in Mals 1479, Öhmann 1941, 105). Venezianismen sind z. B. mhd. luio ‘Juli’ (1464⫺1475, Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg von Endres Tucher, Öhmann, AASF, B 50.5, 503). Die Entwicklung von -gl- > Y ß (ital. luglio > avenez. luio) umfaßt zwar weite Teile Oberitaliens; kombiniert mit der Erhaltung von -o erweist sich aber mhd. luio als sicherer Venezianismus, vgl. avenez. messe de luio (1310, Pfister 1983, 225), avicent. luio (1371⫺1527, ib.). Aus Venedig stammt ebenfalls mhd. paron ‘Kapitän, Schiffseigentümer’ (1487, Grünemberg, Öhmann 1940, 150), baron (1440, Girnand v. Schwalbach, ib.). Obschon die Lautentwicklung -TR- > -r- in einem größeren

oberital. Raum möglich ist (Piemont, Veneto), besteht anhand der geographischen Lagerung der Belege kein Zweifel darüber, daß es sich bei diesem Seefahrtsausdruck um einen Venezianismus handelt. Die Verbreitung (auch unter Einbezug der modernen Dialektbelege) weist auf den Herrschaftsund Einflußbereich der Seerepublik Venedig im Spätmittelalter hin, vgl. avenez. paroni Pl. ‘Schiffseigentümer’ (1311, Pfister 1983, 255), Veneto paron ‘Schiffskapitän’ (1321, ib. 255), Mittellatein der dalmatischen Küste paronus ‘Schiffseigentümer’ (1365, ib. 255). Ein interessantes Beispiel für die unterschiedliche Herkunft ital. Lehnwörter sind die mhd. Bezeichnungen für die Handelsniederlassung: Fondaco, Fondego/Fontego, Fontigo. Die Formen mit -nd- (entsprechend arab. funduq) sind vermutlich zur Zeit der Kreuzzüge über die Seestädte Pisa und Genua in die Toskana und nach Ligurien gelangt: altpisanisch fondaco (1321, Pfister 1983), mittellat. ⬃ (Pisa 1150, ib. 256) mit der nicht sonorisierten Endung -aco. Die sonorisierte Entsprechung ist genuesisch, vgl. fondego ‘Ort, wo man den Wein im Detail verkauft’ ib. Die Formen mit sekundärmotiviertem -nt- (< fonte) sind eindeutig venezianisch, wie sich auch aus dem mhd. Kontext ergibt’: „namen unss dy Venediger kaufleut … auff in dem großen Fontigo“ (Wis 1965). Wiederum entspricht die geographische Lagerung der entsprechenden Belege dem Herrschaftsbereich der Republik Venedig im Spätmittelalter: avenez. fontego ‘Handelsniederlassung’ (14. Jh., Pfister 1983, 26), fontigo (Aleppo 1207, ib.), fontego di Todeschi (1300 ca., ib.), avicent. fontego (1412, ib.). Aus dem Trentino stammt südtirol. (Bozen) konzal m. ‘Bottich zum Tragen der Jauche; Flüssigkeitsmaß’ (Schatz 1955, 245, 349), Ritten ggonsal f. ‘Rückentraggefäß für Trauben’ ib. Alanne vermutet anhand phonetischer Kriterien, daß dieses Wort der lokalen Weinterminologie in spmhd. Zeit entlehnt wurde. Battisti (1922, 176) belegt gonza`l ‘Bottich’ für Meran, Kleiber/Pfister 1991 konzal f. für Salurn. Die angrenzenden Entsprechungen lauten für Nonsberg konza´l f. ‘Traggerät um Wein zu transportieren’, zentrallad. (Moena) ⬃ ‘Holzgefäß’. Öhmann (1941, 2) hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß eine Trennung zwischen Entlehnungen aus dem Rätorom. und den oberital. Mundarten sehr oft unmöglich ist. Sichere Beispiele für eine Entlehnung aus dem Rätorom. sind selten, vgl. z. B.

205. Italienisch und Rätoromanisch/Deutsch

bair., schwäb., tirol., vorarlberg. mare˛nte ‘Vesperbrot’ (< ital. merenda, Hotzenköcherle 1961, 225 und Abbildung 27). Verschiedene als „bündnerisch“ empfundene Wörter gehen wie Marend (Idiotikon 4, 354) über die Bündnergrenze hinaus, vgl. robe (Idiotikon 6, 69), Sch(g)arnutz (Idiotikon 8, 1301). 3.2.2. Morphologische Ebene Der Grad der morphologischen Integration eines Lehnwortes zeigt sich auch in der Genuswahl. Die Unsicherheit im Genusgebrauch führt zu einem Schwanken und teilweise zu einem Genuswechsel, z. B. it. bagatella > tirol. paggete´ll m. ‘Bagatelle, Kleinigkeit’ (Schatz 1955, 41), Lusern wagetell f. (ib. 1956, 682). Ein Genuswechsel kann auf einen stärkeren Integrationsgrad hinweisen, wenn z. B. eine analogische Einreihung des Lehnwortes erfolgt, bedingt durch einen formalen Anklang an schon im Dt. vorhandene Wörter oder Wortbildungselemente. Ital. salata ‘Salat’ wird z. B. an den maskulinen Typus auf -aˆt angeglichen: z. B. mhd. salaˆt m. (Öhmann 1942, 39). Eine reduzierte Genusdifferenzierung unter Ausschluß des dt. Neutrums führte in der bair. Sprachinsel Pladen zu Auge m. (bedingt durch friul. vo´li m.). Ähnliche Erscheinungen sind aus Bonaduz bekannt: der be˛yspı¯l ‘das Beispiel’ (< rätorom. igl exempel m., Cavigelli 1969, 484), der broo˛´ t ‘das Brot’ (< rätorom. peun m., ib.), der geld ‘das Geld’ (< rätorom. daner m., ib.). Romanische Suffixe sind im Dt. nicht produktiv, im Gegensatz zu frz. -ie (> mhd. -ıˆe > dt. -ei; Lauferei, Schweinerei) oder zur Verbalendung frz. -ir (> mhd. -ieren; stolzieren, hoffieren). Als vereinzelte Ausnahme kann man das Lehnmorphem -etsch < lat. -aceu im Oberwallis anfügen, das freilich in den Kontaktbereich Frankoprovenzalisch-Alemannisch gehört, aber als walserdeutsch-romanische Interferenz zu betrachten ist (Kleiber 1992). Dagegen lassen sich im Bereich der Suffixbildungen Transferenzeinflüsse der germ. Mundarten auf das Rätorom. nachweisen. Decurtins (1973, 151) erwähnt die Übertragung des alem. Verkleinerungssuffixes -le auf rom. Namen: Paragrässle, Parfritle, Partenzle.

Schweizerdt. suber ‘sauber’ oder putze ‘reinigen’ werden in Anlehnung an die Verbalendung -agiar (z. B. festagiar ‘ein Fest feiern’) zu rätorom. subragiar ‘reinigen’, puzagiar ‘id.’. Ähnlich ist in Ornavasso (Walsermundart ca. 1860 ausgestorben) die analogische Übertragung des Walliser Diminutivsuffixes -elti (mantelti, schachtelti) auf eindringende

3209 rom. Wörter zu interpretieren: lomb. topia ‘Weinlaube, Pergola’ besteht als to´pelti weiter und verrät nur noch im Suffix seine Walserherkunft. Das Suffix -elti (-etli) selbst geht nach Szadrowsky 1929 letztlich auf die Vermischung von alem. -li mit rom. -etto zurück im Schweizerdt. des 15./16. Jh. wird an das Diminutivsuffix -etti Pl. von ital. fazzoletti ‘Taschentücher’ das Diminutivsuffix -lin angehängt: mhd. fatzalettlin (Berner-Hürbin 1974, 68). Die autochtone Komposition Verb ⫹ Adv. (oder Präp.) ist zwar auch im Oberital. bekannt, erlangt aber im Rätorom. eine lawinenartige Ausbreitung, die sich nur durch germ. (schweizerdt.) Adstrateinfluß erklären läßt, vgl. rätorom. screiver sei < schweizerdt. ufschribe ‘aufschreiben’, rätorom. survegnir < schweizerdt. überchoo ‘bekommen’ (Gsell 1982, 71⫺85; Blasco Ferrer 1985). 3.2.3. Semantische Ebene Bedeutung und Bedeutungsumfang können sich bei Lehnwörtern innerhalb des Dt. weiterentwickeln, z. B. dt. Villa ‘Landhaus, Einzelwohnhaus’, das im Ital. vor allem ‘Landsitz’ bedeutete; dt. Casino (< ital. casino ‘kleines Haus’) wurde im Dt. als Bezeichnung für ital. Klubhäuser bekannt (Öhmann 1951, 23). Auffallend sind Bedeutungsverengungen oder Bedeutungsabwertungen in südlichen Kontaktgebieten: ital. grattare ‘kratzen’ > Vintschgau gra˘ tn ‘kratzen wie Hühner’ (Schneider 1963, 56), ital. portare ‘tragen’ > Welschnofen po˛rtnean ‘schwer schleppen’ (Schneider 1963, 56), ital. contare ‘erzählen’ > osttirol. (Defreggen) kuntern ‘spaßhaftes Zeug treiben’ ib., ital. galante ‘vornehm’ > tirol. (Ötztal, Laurein) gala´nt dikx ‘sehr dick’ (ib. 65). In diesen Zusammenhang gehören auch die sog. Lehnübersetzungen, die im Dt. relativ selten sind, vgl. in der Bankterminologie ital. lettera di cambio (anfangs 14. Jh., Edler) > mhd. wechselbrief (Köln 1393, Öhmann 1956, 117) > mhd. wechsel (1488, Fuggersche Tiroler Raitbücher, ib.), ital. avere > dt. Haben (Peter 1961), ital. cavolfiore > dt. Blumenkohl oder in neuerer Zeit ital. duce ‘Beiname des faschistischen Partei- und Regierungschefs Benito Mussolini’ > dt. Führer. Zahlreicher sind mhd. und nhd. Belege aus den südlichen Interferenzzonen (Schweiz, Tirol, Steiermark). Schweiz: mhd. abgeschucht ‘barfuß’ (Gysling 1959, 80; Lexer vgl. entschuochen < ital. scalzo); mhd. (die Hauptleute sind gwaltig

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XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

‘befugt’ (Abschied 1522, Gysling 1959, 80 < ital. potenti); hüpschweiber ‘vornehme Damen’ (Gysling 1959, 80 < ital. gentildonne): Tessin Tagmann ‘Taglöhner am Gemeindewerk’ (1739, ib. < ital. giornaliere). Auch in der Toponomastik sind Übersetzungspaare, die oft ältere rom. Namen enthalten, von Interesse, z. B. die Flurnamenpaare aus Grabs Sichel[chamm] : Alggla < FALCULA oder Warmtobel : Figgol[treia] < VALLIS CALIDA (Stricker 1986, 82 N 118).

Südtirol: mhd. geuoglirt ‘mit Vögeln ornamentiert’ (Trient 1474, Öhmann 1970, 36 < ital. uccellato ‘Leinentuch mit Vogelzeichnungen’). Unter Einfluß von it. sentire wird in der Sprachkolonie von Lusern dt. hoenrn auch in Bedeutungen des Geschmacks- und Geruchssinnes verwendet (Tyroller 1990, 69 f.).

Steiermark: blutsugel ‘Blutegel’ (Öhmann 1943, 17 < ital. sanguisuga). Gelegentlich sind Transferenzeinflüsse schwierig feststellbar. Für das Rotwerden der Trauben im Spätsommer fand Huber (1963, 200) in Ornavasso den Verbalausdruck i fa il moo˛´ lαr ‘sie machen den Maler’, nur verständlich als Lehnübersetzung beim Vergleich mit gleichbedeutendem fa il pinciröö (< *PINCTOREOLU ‘Maler’). Ähnlich gelagert ist die Interpretation von Ornavasso ladji ‘Brett; Mütze’. Auszugehen ist von walserdt. bre´t ‘Brett’, homonym mit lomb. (ossolano) bret ‘Mütze’ (< ital. berretto); über diese Zwischenstufe wurde die Doppelbedeutung von bre´t ‘Brett, Mütze’ auch auf das Walserwort ladji ‘Latte, Brett’ übertragen. Aufschlußreich für die wegen der Anderssprachigkeit doch beschränkten zwischenmenschlichen Beziehungen in sprachlichen Außenposten ist die Feststellung von Hornung 1967, daß sich das rom. Wortgut, das die bair. Sprachkolonie Pladen gegenüber dem tirol. Mutterland für sich allein besitzt, häufig auf schlechte, wertlose Dinge bezieht, die vollwertigen Entsprechungen aber stets deutsch benannt werden: Pladen sˇkaloo˛´ uttra ‘schlechte Suppe’, sˇintl ‘schlechter Wein’, sˇkoo˛´ ita ‘magerer, minderwertiger Käse’, sˇkalo˛´ uf ‘schlechter Hut’. Ebenso sind rom. Reliktwörter im Schanfigg, die von den Walsern übernommen wurden, semantisch negativ konnotiert: kxawa´l ‘schlechtes Pferd’, wa´kke ‘Spottname für eine kurze, dicke Kuh’ (Stricker 1986, 81).

3.2.4. Lexematische Ebene Wortzusammensetzungen: Die Integration des fremdsprachlichen Lexems kann zur Verbindung von germ. Wortgut mit Lehnwörtern führen. Zusammensetzungen mit entlehntem Bestimmungswort dienen zur genaueren Charakterisierung des Grundwortes. Schweiz: mhd. galeazenschiff (Berner-Hürbin 1974, 62), Bonaduz gαli˛n¯αsˇtangα f. ‘Hennenstange’ (Cavigelli 1969, 565). Tirol: mhd. seydelkanndel ‘Gefäss’ (Schloß Sigmundburg 1462, Öhmann 1942 b, 31 < SITELLA), mhd. nodersbrief (Maretsch bei Bozen 1495, ib. 28 < NOTARIU), tirol. margrantepfl. ‘Granatapfel’ (Schneider 1963, 69). Beispiele mit rom. Grundwort sind nur aus exponierten Randmundarten bekannt: Ornavasso urdropu ‘Tuch, das bei Regen um den Kopf geschlungen wird’ (< dt. Haar ⫹ ital. drappo). ⫺ Bonaduz sˇtalpo´rtα ‘Stalltüre’ (Cavigelli 1969, 564). ⫺ Samnaun (im 19. Jh. germanisiert) Dachko`na ‘Dachrinne’ (DRG 4, 82), zusammengesetzt mit dem rom. Reliktwort CANALIS, z. B. Ötztal ko´une ‘Dachrinne’ (Schatz 1956, 323). ⫺ Pladen tisˇfatsˇole´t ‘Serviette’ (Hornung 1967, 57 < friul. fazzalet ‘Tuch’). ⫺ In tirol. kxamı¯nsˇpats ‘Kaminfeger’ < ital. spazzacamino erfolgte eine Umformung der Komposition nach dt. Muster (Bestimmungswort ⫹ Grundwort), in Anlehnung an dt. Kaminfeger. Die etymologisch unmotivierte Bedeutung der Entlehnung muß gelegentlich durch das dt. Grundwort gestützt werden, so daß Mischentlehnungen entstehen, die nur durch das dt. Grundwort verständlich werden: Ornavasso ri´αlbe´t ‘Bachbett’ (oberital. riale ‘Bach’ ⫹ dt. Bett, Huber 1963). ⫺ Schweizerdt., obd., tirol. pergamo´tpir(e) ‘Birnenart’ (Schneider 1963, 135 < ital. bergamotta). ⫺ Vintschgau wı¯ra˛bond ‘Angebinde zum Namenstag’ (Schatz 1897, 708 < oberital. vera ‘Ring’). Tirol, öst. pana¯dljsup ‘Brotsuppe’ (oberital. panada, Schneider 1963, 134). Bei den seltenen Verbentlehnungen findet man in der Hochsprache nur Bildungen auf -ieren, z. B. spazieren (siehe 3.2.6.). Andere Infinitivendungen sind einzig aus den direkten südlichen Kontaktzonen bekannt und stammen aus der Arbeitswelt der Bauern. Schweiz: Graubünden sˇpı¯gljn ‘nachlesen (Trauben, Obst, Getreide)’ (Schneider 1963, 192 < ital. spigolare ‘Ähren lesen’), St. Gallen si sˇtee´˛ ntu ‘sich abmühen’ (ib. 194 < ital. stentare ‘id’). Tirol: Welschnofen poo˛´ rtnen ‘schwer schleppen’ (Schneider 1963, 56 < ital. portare ‘tra-

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gen’), Vintschgau, Oberinntal si sˇtrakljn ‘sich abmühen, anstrengen’ (ib. 194 < ital. straccare). 3.2.5. Gebrauchsebene Unterscheidet man auch eine Gebrauchsebene, die sich mit Fragen von Sprachgebrauch und Norm beschäftigt, so ist zu unterscheiden zwischen Augenblicksentlehnungen (okkasionelle Bildungen) und der endgültigen Aufnahme eines Wortes in den Wortschatz. Mhd. scherock ‘Schirokko’ steht im 15. Jh. vereinzelt in einem Gedicht von Oswald von Wolkenstein, in dem er bewußt eine ganze Reihe ital. Seefahrtsausdrücke verwendet (Öhmann 1940, 156). Dt. Schirokko wurde aber erst zu Beginn des 19. Jh. definitiv entlehnt. Ebenso ist venez. laguna eine okkasionelle Entlehnung im Jahre 1557 in der dt. Übersetzung des Libro de la Repubblica de Vinitiani von D. Giannotti (Vidos 1958, 510); die endgültige Aufnahme erfolgte Ende des 18. Jhs. (1784, Kluge 1975, 419). Für die Aufnahme eines Lehnwortes im Wortschatz einer Sprache sind mehrere Faktoren ausschlaggebend, die geographischer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller oder religiöser Art sein können. Enge politische Beziehungen verbanden Italien mit Deutschland seit Otto I., gehörte doch Italien zum Römischen Reich deutscher Nation. Kirchliche Bindungen waren durch die Hegemoniestellung Roms bestimmt; seit dem Frühmittelalter kam auch eine große Zahl von Pilgern auf ihren Fahrten nach Rom oder ins Heilige Land mit Italienern oder mit venezianischen Seeleuten in Kontakt. Von überragender Bedeutung waren die Alpenpässe Brenner, Septimer oder Gotthard (seit dem 13. Jh.), sie ermöglichten einen regen Handelsverkehr zwischen Venedig, Mailand, Genua im Süden und Nürnberg, Augsburg, Ulm und Köln nördlich der Alpen. Venedig hatte sich seit der Zeit der Kreuzzüge dank seiner Monopolstellung im Levantehandel eine kommerzielle Vormachtstellung geschaffen, die bis Ende des 15. Jhs. dauerte, als der Seeweg nach Indien und die Entdeckung Amerikas Lissabon an die erste Stelle treten ließen. Handelsbeziehungen und Pilgerkontakte trugen dazu bei, daß die Entlehnungen der mittelalterlichen Zeit vor allem Handels- und Seefahrtsausdrücke betreffen. Handelsprodukte: mhd. Sandelholz ‘aromatisches Holz’ (seit 1477, Vidos 1958, 511 < ital. sandalo), Zibet (seit 1477, ib. < ital. zibetto ‘aromatische Substanz’), Cibebe ‘Art

3211 Rosinen’ (seit Ende des 15. Jhs., ib. < ital. zibibbo ‘Rosine’), Citron (seit Ende 15. Jh., ib. < ital. citrone ‘Zitrone’), Tapete (seit 1508, ib. < ital. tappeto ‘Teppich’). Unter den verschiedenen Handelswaren, die bereits in mhd. Zeit als Lehnwörter bezeugt sind, können noch zusätzlich erwähnt werden: mhd. arantz ‘Apfelsine’ (Öhmann 1942, 21 < ital. arancia), kanee߈ l ‘Zimt’ (< ital. cannella), cremesin ‘Karmesin’ (< ital. cremisino, carmesino), dt. carmesin ‘id.’, kube´be ‘pfefferartiges Gewürz’ (< ital. cubebe), dt. Dattel (< ital. dattilo), dt. Lavendel (< ital. lavendola), meloˆne (Öhmann 1941, 25 < ital. mellone), mhd. rıˆs ‘Reis’ (< ital. riso), dt. Zucker (< ital. zucchero). Die bereits im 17. Jh. fest eingebürgerten Ausdrücke des Bankwesens sind vermutlich von der Lombardei (Mailand) ausgestrahlt: Credit, Debet, Diskont, Giro, Skonto, pari, franco. Dt. Risiko trat im 16. Jh. als Terminus der Kaufmannssprache auf (Öhmann 1951a, 19 < ital. risico ‘Gefahr’), Konto begegnet bereits um die Wende des 15./16. Jhs. (ib. < ital. conto ‘Rechnung’). Ausdrücke der Seefahrt: mhd. bonatze ‘Windstille’ (< ital. bonaccia), mhd. bregantin ‘Schiff’ (seit 1473, Vidos 1959, 510), mhd. kalm ‘Windstille’ (< ital. calma), mhd. capitan ‘Schiffsbefehlshaber’ (< ital. capitano), mhd. kompass ‘Seekompass’ (< ital. compasso), mhd. galiot ‘Seeräuber, Schiffer’ (< venez, galeotto, galioto), mhd. golf(e) (< ital. golfo), mhd. chulf ‘id.’, mhd. patron ‘Kapitän, Schiffer’ (< ital. padrone), mhd. paron ‘id.’, mhd. pillot ‘Steuermann’ (< ital. piloto, pilota). Obschon Italien während des ganzen Mittelalters eine kulturelle Faszination auf seine nördlichen Nachbarn ausübte, war es doch weniger aktiv an den Kulturformen wie Epik, höfischer Roman, Minnelyrik beteiligt als Frankreich; mhd. Dichter verwendeten selten ital. Lehnwortgut, das sie als nicht literaturfähig im höfischen Sinne empfanden. Erst in der Zeit der Hochrenaissance entwickelte Italien eine Strahlungskraft, die im Bereich der Skulptur, der Baukunst und der Musik ganz Europa umfaßte. Ital. Musiker wirkten z. B. an den Höfen von Wien, München, Dresden und in den reichen Handelsstädten Augsburg, Nürnberg und Ulm (Wis 1955, 51). Musikterminologie: Als Beispiele hierfür erwähne ich Bezeichnungen für Musikinstrumente und Angaben für die Stimmhöhe. Instrumente: dt. Pantlione ‘ein klavierartiges mit Klöppeln gespieltes Tonwerkzeug’ (17. Jh., Alanne 1970, 49 < ital. pantaleone),

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dt. Pombart ‘Blasinstrument’ (17. Jh., ib. 41 < ital. bombarda), dt. Bratsche (< ital. viola da braccio), dt. Clarine ‘hohe ventillose Trompete’ (17. Jh., ib. < ital. clarino), dt. Cornet ‘kleine Trompete’ (ib. 49 < ital. cornetta), dt. Dulcian ‘Blasinstrument’ (ib. < ital. dulciana ‘Orgelstimme, Fagott’), dt. Fagotto (17. Jh., ib. 41 < ital. fagotto), mhd. ribeben ‘Musikinstrument’ (1424, Pausch 1972, 139 < venez. ribeba), dt. Violoncell ‘kleine Baßgeige’ (18. Jh., Öhmann 1951a, 21 < ital. violoncello), dt. Violoncello ib. Tonhöhen: mhd. falsete ‘höhere erzwungene Stimmlage’ (13. Jh., Öhmann 1942 b, 36 < ital. falsetto), mhd. tenoˆr (Vorarlberg, Öhmann 1956, 116 < ital. tenore), tenuˆr ib., nhd. Alt ‘tiefe Frauenstimme’ (ca. 1600, Öhmann 1951 a, 17 < ital. alto), dt. Bass ‘tiefste Stimme’ (< ital. basso), Bariton ‘Singstimme zwischen Tenor und Baß’ (17. Jh., ib.). Die kulturellen und künstlerischen Kontakte mit Italien erreichten zur Zeit der Renaissance ihren Höhepunkt und bestanden auch noch während der Zeit des Frühbarocks bis zum Dreißigjährigen Krieg weiter. Aufschlußreich sind z. B. die Untersuchungen von Alanne für den dt. Barock. Er hat für die Lyrik des Frühbarocks sogar ein Übergewicht der Entlehnungen aus Italien gegenüber denjenigen aus Frankreich festgestellt (vgl. Alanne 1965, 85). Die steigende Bedeutung ital. Entlehnungen zur Zeit der Renaissance äußert sich neben der Zahl auch in den Wortklassen. Im Gegensatz zu den Entlehnungen aus dem Frz. wurden im Mhd. keine Suffixe aus dem Ital. übernommen. Die überwiegende Mehrzahl dt. Entlehnungen aus dem Ital. sind Substantiva, Benennungen konkreter Gegenstände. Verbale Entlehnungen sind sehr selten (im Mhd. nur garbelieren, spazieren, spıˆgeln, retzlen, passären, orzen, Öhmann 1942 b, 38), erlangen aber im 16. und 17. Jh. eine größere Bedeutung: nhd. allogieren ‘beherbergen’ (um 1600, Alanne 1965, 90 < ital. alloggiare), bandiren ‘verbannen, ächten’ (ib. < ital. bandire), manteniren ‘aufrechterhalten’ (ib. < ital. mantenere), manciniren ‘fehlen’ (ib. < ital. mancare), pasquilliren ‘sich mit einer Schmähschrift befassen’ (Alanne 1970, 44 < ital. pasquillo), perdonniren (ib. < ital. perdonare). 3.2.6. Geographische Verteilung des ital. Lehngutes Verglichen mit dem Gallorom. ist der ital.rätorom. Einfluß insgesamt geringer anzusetzen. Die Verteilung des ital. Lehngutes inner-

halb des dt. Sprachraumes ist unterschiedlich. Bestimmte Kulturzentren, wie z. B. Wien (Knapp 1953) oder München, in deren Hofkreisen die ital. Kultur (Oper, Theater) zeitweise eine hervorragende Rolle einnahm, weisen eine höhere Zahl von Italianismen auf als andere städtische Zentren des dt. Sprachbereichs. Gewisse Spuren haben auch die zur Zeit der Monarchie in Wien tätigen Arbeiter (z. B. Maurer und Scherenschleifer) hinterlassen. Seit der Mitte des 18. Jhs. wird z. B. in Wien Katzelmacher ‘Scheltwort für den Italiener’ (< ital. cazzo ‘Penis’) verwendet. Italianismen sind zeitgebundene Modewörter, die rasch der Vergangenheit angehören. Wienerisch basda (< ital. basta) ist z. B. in der jüngeren Generation kaum mehr üblich (Hornung 1964, 157). Ähnliche Feststellungen gelten für die Wortlisten von Gartner 1902 (für Wien) oder von Heigel 1887 (für München). Typisch öst. Italianismen sind nach Rizzo 1962: Kassa, Faktura, Trafik ‘Verkaufsstelle’, Postkolli, Stampiglie ‘Stempel’, Marille ‘Aprikose’, Fisole ‘Bohne’, Karfiol ‘Blumenkohl’, Kanditen ‘Zuckerwaren’, Ribisel ‘Johannisbeere’, Kontrollor, sekkieren ‘quälen’, gustieren ‘kosten’. Da nach Ende des ersten Weltkrieges Südtirol an Italien kam, ist es verständlich, daß die dt. Schriftsprache in diesem Raum stärker als in Österreich von ital. Bestandteilen durchsetzt ist, wenn auch von Italien formell zugesichert wurde, daß das kulturelle Eigenleben der Deutschtiroler gewahrt bleiben solle. Bei der Berücksichtigung sprachgeographischer Kriterien müßte in den einzelnen Kontaktgebieten für jedes Lehnwort das Verbreitungsgebiet angegeben werden. Für Tirol hat Schneider (1963, 588⫺647) ein derartiges „Entlehnungswörterbuch“ zusammengestellt, wobei er die geographische Verbreitung nur summarisch aufführt. Regional tirolerisch sind z. B. die Ausdrücke der Weinkultur (Öhmann 1941, 15⫺34; ib. 1943, 9): aquaroˆl ‘schlechter, wässriger Wein’ (Schöpf 1968, 373 < ital. acquaruolo), prail ‘Preßbaum’ (Schöpf 1968, 515 < ital. prelo), vernatsch ‘Traubenart’ (Schöpf 1968, 132 s. v. fernatsch, 788 s. v. verna`tsch < ital. vernaccia). Das methodische Vorgehen zur Feststellung der Verbreitungsgebiete einzelner ital. Lehnwörter illustriert Öhmann (1943, 2) anhand der beiden regionalen Italianismen binätsch ‘Spinat’ (< ital. spinaci) und kaparre ‘Draufgeld, Haftgeld’ (< ital. caparra), vgl.

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schweizerdt. binätsch (Idiotikon 3, 1308; ib. 4, 1308), schwäb. binetsch (Fischer 1, 1123), bair. ⬃ (Schmeller 1, 245). Schweizerdt. kaparre (Idiotikon 3, 382), schwäb. ⬃ (Fischer, 4, 200), kärnt. ka`paˆre (Lexer 154), tirol. kapaˆri (Schöpf 301). Spmhd. Italianismen, die vorwiegend im Schweizerdt. vorkommen, hat Gysling 1959, 81 zusammengestellt, z. B. aus dem Bereich des Verwaltungswesens: mhd. barch ‘Pfarrbezirk’ (Idiotikon 4, 1535 < ital. parrochia), deganie ‘Verwaltungsbezirk’ (1418, Abschiede < ital. decania), tratta Ausfuhrzoll der Kaufleute’ (1550, < ital. tratta), gabellirer ‘Steuereinzieher’ (1512, < gabelliere). 3.2.7. Entlehnungswege Normalerweise erfolgte die lexikalische Entlehnung über die bilingualen Grenzzonen (Südtirol, Graubünden). Höchstens bei Kulturlehnwörtern besteht auch die Möglichkeit eines Entlehnungsweges über Frankreich. Oberital. mascara`da ‘maskierte Gesellschaft’ gelangte im 16. Jh. über frz. mascarade (seit 1554, FEW 6/I, 437) ins Deutsche (dt. Maskerade, um 1660, Schulz 1942). Aus oberit. pomada ‘parfümierte Salbe aus Gewürzen und Äpfeln’ (16. Jh.) wurde Ende des 16. Jhs. frz. pommade entlehnt (seit 1598, FEW 9, 157 a) und mit der Ausbreitung der frz. Kultur im 17. Jh. in Deutschland bekannt (dt. Pomade). In Ausnahmefällen ist auch eine mnl. Vermittlung wahrscheinlich. Spmhdt. kaneel ‘Zimt’ mit e¯ aus ital. cannello ‘Röhrchen von Zimtrinde’ wurde durch den nl. Gewürzhandel nach Deutschland vermittelt; bair. kanell ist direkt aus dem Ital. übernommen (Öhmann 1942 b, 52). Ähnliche Überlegungen gelten für mhd. galeide ‘Galeere’, dessen eingeschobenes -d- nach Öhmann (1940, 146) ebenfalls auf mnl. Vermittlung und auf die ital. und nl. Seefahrt hinweisen. 3.2.8. Das Italienische als Vermittler drittsprachiger Transferenzen Im Hochmittelalter war Sizilien unter den Normannen und Hohenstaufen ein bedeutendes Einflußzentrum islamischer Kultur, eine Brücke für orientalische Handels- und Verkehrsausdrücke, die von hier aus über das Ital. ins Dt. gelangen konnten. Typisch z. B. siz. zu´ccaru > ital. zucchero > ahd. zuker, zuccer > dt. Zucker, ein Handelsprodukt, das von Arabern aus Ägypten nach Sizilien gebracht wurde. Sizilien war schon vor der Herrschaft von Friedrich II. für den Zucker-

transport bekannt (Schaube 1906, 473, 516). Neben dieser siz. Interferenzzone hat Steiger (1949) vor allem auch auf die Wichtigkeit der Kreuzzugsstraßen hingewiesen. Vereinzelte Arabismen der Handelsterminologie (Früchte, Pflanzen, Spezereien, Drogen, Stoffe, Seidenarten, Kleidungsstücke, Glas-, Silber- und Goldwaren) sind zu jener Zeit über Venedig und Genua nach Italien und über die Alpenpässe nach Deutschland gelangt. Im Mhd. sind z. B. für den Dolmetscher die Bezeichnungen Trozelman, Drutzelman bekannt. Die entsprechenden mlat. und ital. Erstbelege sind in der Kreuzzugszeit aus Genua und Venedig bezeugt und stammen aus arab. targˇuma¯n ‘Dolmetscher’: mlat. torcimanus (Ligurien 1235, Pellegrini 1978), turcimannus (Venedig 1217?, Cortelazzo 1970, 77), avenez. truzimani (1396, Frey).

4.

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Max Pfister, Saarbrücken

206. Ungarisch/Deutsch 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Einleitung Geschichte der Deutschen in Ungarn Dt. Schrifttum in Ungarn Sprache und Dialekte Soziologische Schichtung und Volkskunde der Ungarndeutschen in ihrer Geschichte Äußere Geschichte der Sprachkontakte Innere Geschichte der Sprachkontakte Weitere Aufgaben Literatur (in Auswahl)

1.

Einleitung

Während der tausendjährigen Geschichte Ungarns betrafen die dt.-ung. Beziehungen von Zeit zu Zeit vorrangig immer unterschiedli-

che Bevölkerungs- und soziologische Schichten und ⫺ zum Teil dadurch ⫺ verschiedene sprachliche Bereiche. Die dt.-ung. Kontakte untersuchen wir im historischen Ungarn innerhalb der jeweiligen Staatsgrenzen, also auch der „im Jahre 1920 von Ungarn abgetrennten Gebiete (Slowakei, Siebenbürgen, Banat, Batschka, Kroatien, Burgenland).“ (Mollay 1986, 112) „Diese Gebiete bildeten mit dem Gebiete des heutigen Ungarn nicht nur in historischer, wissenschaftlicher, kultureller, sondern auch in kommunikativer Hinsicht eine Einheit, …“ (a. a. O., vgl. noch Belle´r 1986 sowie Die Ungarndeutschen S. 8 ff.). Als letzte allgemeine Darstellungen der Problematik in größerem Rahmen vgl. Die Donauschwaben.

3219

206. Ungarisch/Deutsch

2.

Geschichte der Deutschen in Ungarn

Die Ansiedlung der Dt. in Ungarn verlief in mehreren Etappen, die Hutterer (1975) in zwei Phasen, nämlich vortürkisch und nachtürkisch einteilt: I. Phase (vgl. Hutterer 1975, 11 ff.): Die ersten Dt. ⫺ Geistliche, Adelige und ihr Gefolge ⫺ kamen in den Jahren nach 996 in der Gefolgschaft von Gisela, der bayrischen Herzogstochter, Schwester des Kaisers Heinrich II., nach Ungarn, als Stefan (Fürst 997⫺; König 1001⫺1038) sie heiratete. Seit dem 12. Jh. (König Geisa II.) siedelten sich Kaufleute, Handwerker und Bauern aus bair.(-österr.), alem., mfrk., nfrk., nsächs. Mundartgebiet, an und zwar in Westungarn (heute: z. T. Burgenland), Nordungarn und innerhalb dessen in der Zips (heute: Slowakei) sowie Siebenbürgen (heute: Rumänien) und Binnenungarn. Die dt. Ansiedler wurden nach ihrer Herkunft bezeichnet, „indem neben den ‘Flamen’ (Flandrenses) die Baiern bzw. die Süddeutschen schlechthin als ‘Deutsche’ (Teutonici), die Mitteldeutschen aber als ‘Sachsen’ (Saxones) bezeichnet wurden“ (Hutterer 1975, 12 f.). Die Siebenbürger Sachsen erhielten im 13. Jh. von Andreas II. weitere Rechte. Am Anfang dieses Jh. wurden dt. Bürger in Ofen und Pest, nach dem Tatareneinfall (1241⫺42) während der Regierungszeit von König Be´la IV. in Stuhlweißenburg/Sze´kesfehe´rva´r, Gran/Esztergom, Preßburg/Bratislava, Raab/Gyo˝r, Tyrnau/Nagyszombat u. a. angesiedelt und um diese Zeit bekam das von Dt. bewohnte Ödenburg/Sopron die Handelsrechte. Bis zum 13. Jh. wurden die ober- und mittelung. Bergstädte durch dt. Ansiedler gegründet. Anfang des 14. Jahrhunderts wurden von Karl Robert die früheren Rechte des sog. Zipser Bundes weiter gestärkt. Im 16. Jh. (nach 1526) wurde das mittlere Gebiet Ungarns für anderthalb Jh.e von den Türken besetzt. Eine kontinuierliche Fortsetzung der geschichtlichen Darstellung der Ungarndeutschen ist also nur in Siebenbürgen, Oberungarn und im Westen Ungarns möglich, da z. B. das Schrifttum im türkisch besetzten Ungarn so gut wie gänzlich verlorenging. Eine weitere Aufgabe der Forschung wäre u. a. mit Hilfe von ⫺ meist in anderen Gegenden ⫺ erhalten gebliebenen Dokumenten die Geschichte der Dt. im Ungarn der Türkenherrschaft zu erforschen.

11._ 12. Jh. 13. Jh.

11_13 Jh. 13. Jh.

13. Jh. 13. Jh. 12.Jh.

12. Jh.

Abb. 206.1: Ansiedlung der dt. Kolonisten in der I. Phase (11. bis 13. Jh.)

II. Phase (vgl. Hutterer 1975, 15 f.): Nach der Befreiung Ungarns von der türkischen Herrschaft spricht man von dem sogenannten ‘großen Schwabenzug’ (vgl. Belle´r 1986, 63 ff.), der in drei Etappen stattfand. Sie werden nach den Königen bezeichnet: Während der Karolinischen Kolonisation (Karl VI., als ung. König: Karl III. 1689⫺1740) kamen dt. Kolonisten nach Transdanubien, ins Ungarische Unterland (Saboltsch, Sathmar, Tiefebene, ins Nördliche Mittelgebirge, in die Batschka und ins Banat. Zur Zeit der Theresianischen Kolonisation (1740⫺1780) ließen sich die dt. Kolonisten, die aus Elsaß-Lothringen, Baden, Luxemburg und der Pfalz stammen, im alten Grenzland im Süden (Banat) und Osten (Siebenbürgen) nieder. Während der Josephinischen Kolonisation (Joseph II. 1780⫺1790) kamen die ‘hospites’ (= Gäste, so wurden die dt. Kolonisten bezeichnet) aus der Pfalz, dem Saargebiet, der Gegend um Frankfurt und Mainz, aus Hessen und Württemberg in die Batschka und ins Banat, in die Gegenden um Pest, Gran/Esztergom, in die Tolnau, Schomodei u. a.

Die im 19. Jh. entstandenen dt. Bauernsiedlungen sind sekundäre und tertiäre Kolonien von früheren ungarländischen dt. Siedlungen (s. Hutterer 1960, 103). Als III. Phase der Geschichte der Dt. in Ungarn kann die Zeit nach dem Frieden von Trianon betrachtet werden, als Gebiete Ungarns mit dt. Bevölkerung abgetrennt wurden, so das Oberland (heute: Slowakei), Siebenbürgen (heute: Rumänien), das Banat (heute: Rumänien und Jugoslawien) und die Batschka (heute: Jugoslawien). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein Großteil der Ungarndeutschen von ihrem Wohnsitz und ihrer Heimat vertrieben und die Zurückgebliebenen durften oder wagten oft ihre Muttersprache nicht (zu) sprechen. Das hatte zur

3220

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

1

1

3 3 1 3 3

31

1

2 3 2 1

Abb. 206.2: Ansiedlung der dt. Kolonisten nach 1689. Zeichenerklärung: 1: Karolinische, 2: Theresianische, 3: Josephinische Kolonisation

Folge, daß es zu einem starken Sprachverlust unter den Ungarndeutschen kam. Darstellungen schwerer Schicksale durften erst nach der politischen Wende im Jahre 1989 erscheinen (vgl. u. a. Deutscher Kalender 1990), ungerechte Rechtsprechungen sowie grausame Rechtsbestimmungen der kollektiven Bestrafung sind erst in den darauffolgenden Jahren bekannt geworden (vgl. u. a. Deutscher Kalender 1991). Während die Zahl der ungarndeutschen Bevölkerung im Ungarn vor dem Frieden von Trianon um das Jahr 1900 etwa 2 Millionen betrug (vgl. Glatz, 1988, 74 ff.), zählt sie heute nur mehr etwa 220 000 (vgl. Tilkovszky 1991, 186). Mit der Geschichte der Dt. in Ungarn befassen sich Belle´r (1986) bis 1919 und Tilkovszky (1991) von 1919 bis 1989. Beide Werke liefern eine ausführliche Bibliographie zur Geschichte der angrenzenden Wissenschaften. Mit der Phase nach der Befreiung von den Türken bis hin zu den Aussiedlungen im 20. Jahrhundert beschäftigte sich die Historikertagung im Jahre 1987, deren Beiträge unter dem Titel „300 Jahre Zusammenleben“ in zwei Bänden erschienen sind. Die Aussiedlungen nach dem 2. Weltkrieg verminderten die Zahl der deutschsprachigen Bevölkerung in Ungarn sehr stark (Balogh 1988 und Tilkovszky 1991, 181 ff.), der Prozeß des Sprachverlustes bei den Zurückgebliebenen hat in der zweiten Hälfte der 40er Jahre begonnen. „Obwohl in den Jahren nach 1956 und besonders zu Beginn der sechziger Jahre die Konsolidierung der Lage der Nationalitäten gewisse Fortschritte machte, erholte sich das Deutschtum nicht von dem erlittenen Schicksalsschlag. Die veränderten Lebens-

umstände beschleunigten seine Assimilation.“ (Tilkovszky 1991, 184 f.). Der Band „Die Donauschwaben“ (veröffentlicht als ‘Ausstellungskatalog’) überblickt den ganzen südosteuropäischen Raum, indem die Geschichte des Deutschtums im Lichte der Kultur, Politik, Wirtschaft, Ethnographie, Religion, Literatur, Baukunst und bildenden Kunst dargestellt wird. Im heutigen Ungarn gibt es zwei Gegenden (Westungarn an der österreichischen Grenze und die Schwäbische Türkei, d. h. die Komitate Branau und Tolnau) mit relativ zusammenhängenden dt. Siedlungen, die weiteren Orte sind Streusiedlungen s. Abb. 3).

XX XX

XX X X X XX

XX X

X

X

X

Abb. 206.3: Dt. Siedlungen im Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg

3.

Dt. Schrifttum in Ungarn

3.1. Urkunden Das ungarländische Schrifttum war von den Anfängen bis zur ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ausschließlich lat. Die ersten deutschsprachigen Urkunden erscheinen im Westen Ungarns (Preßburg: 1319, Ödenburg: 1352, Klostermarienberg: 1355) und sie sind im Osten des Landes erst nach 100 Jahren aufzufinden. In der ung. Geschichtswissenschaft werden im weiteren Sinne alle Schriftdenkmäler, die bis zum 20. August 1526 (die Schlacht bei Moha´cs) verfaßt wurden, im engeren Sinne nur die königlichen Dekrete und die Verwaltungsdokumente als Urkunden bezeichnet. Die später in immer größerer Zahl erscheinenden deutschsprachigen Urkunden sind in unterschiedlichen Urkundenregistern aufgelistet und inhaltlich beschrieben. Die Register von Eleme´r Ma´lyusz (1951 und 1958) und ⫺ später ⫺ von Istva´n Borsa (Ma´lyusz/Borsa 1993⫺1994⫺1997) beschreiben die Urkunden der Regierungszeit Siegmunds (in ungarischer Sprache). Aus der Zusam-

3221

206. Ungarisch/Deutsch

menstellung stellt es sich aber nicht heraus, in welcher Sprache die Urkunde verfaßt wurde, sondern nur, wenn die Urkunde z. T. oder gänzlich zitiert wird. Das Register von Ge´za E´rszegi (1979) erfaßt Urkunden, die in unterschiedlichen Sprachen, so in Lat., Dt., Ital. etc. verfaßt wurden, und beschreibt ihren Inhalt in lat. Sprache. Manche Sammlungen erfassen Urkunden einzelner Städte. Eine der ausführlichsten Arbeiten ist das Register von Jeno˝ Ha´zi zur Stadt Ödenburg/Sopron (1921⫺1943), die die größte dt. Schriftlichkeit unter den heutigen ungarischen Städten hat. Ziemlich gut bearbeitet ist auch das Material in Bartfeld/ Ba´rtfa und Eperies (vgl. Iva´nyi 1909, 1910 und 1931). Die wichtigsten Archive mit beträchtlichem dt. Material im heutigen Ungarn sind das Landesarchiv Budapest, das Hauptstädtische Archiv Budapest, ferner die Archive Ödenburg/Sopron, Güns/ Ko˝szeg, Gran/Esztergom u. a. (zu den Archiven vgl. www.mek.iif.hu). Im Landesarchiv Budapest werden die Urkunden, Dekrete, Briefe etc. vor 1526, die Ungarn betreffen, systematisch gesammelt, elektronisch erfaßt und der Forschung im Internet in Form von Regesten zur Verfügung gestellt (www.iif.hu/bd/dipl).

3.2. Rechtsbücher Nach dem Vorbild des Magdeburger Rechtes wurde in Sillein/Zsolna das bis dahin nur mündlich existierende Recht 1378, in Ofen/ Buda 1435⫺1450 in dt. Sprache schriftlich kodifiziert (Piirainen 1972, Mollay 1959). Weitere Rechtsbücher entstehen in dt. Sprache wie Das Schemnitzer Stadtrecht (vgl. Piirainen 1986), Die Zipser Willkür, Das Preßburger Stadtrecht, Das Hermannstädter Recht, Das Stadtbuch von Schmöllnitz (vgl. u. a. Ga´rdonyi 1976, Weinelt 1940 zum Stadtbuch von Zipser Neudorf.) Seit der Reformation erscheinen die Stadtbücher auch als Druckwerke (1530: Hermannstadt/Sibiu, 1534: Kronstadt/ Brasov, 1539: Sa´rva´r).

3.3. Schöngeistige Literatur Den ersten dt. Literaten, Liebhart Eggenfelder (1387⫺1457), kennen wir aus Westungarn (Ödenburg/Sopron, Preßburg/Bratislava), den ersten Dichter, Hans Wiener aus Ödenburg (1595⫺96) (vgl. Puka´nszky 1931, 70 ff.; Mollay 1971). Die schöngeistige deutschsprachige Literatur im Ungarn der zurückliegenden Jahrhunderte ist bisher noch relativ wenig erforscht. Ein kurzer Überblick, in dem sie von den Anfängen bis zur Gegenwart in zwei Epochen mit der Grenze um 1918 eingeteilt wird, findet sich im Band Die Donauschwaben

(S. 289 ff.) zusammen mit einer Auswahlbibliographie. Mit der Gegenwartsliteratur der Ungarndeutschen beschäftigten sich Szabo´ und Schuth (1991). 3.4. Sonstiges Schrifttum Dt. Schriftlichkeit existiert in Ungarn ⫺ wie bereits gesehen ⫺ seit Anfang der frnhd. Zeit, d. h. seit etwa Mitte des 14. Jahrhunderts. Im Laufe der Zeit erschienen ⫺ außer den oben Erwähnten ⫺ unterschiedliche Textsorten wie Memoiren, Buchführungen von Geschäftsleuten sowie in der Verwaltung, Aufzeichnungen unterschiedlichen Charakters u. a. (vgl. Mollay 1971, 1993, 1994 u. a.).

4.

Sprache und Dialekte

Die Kolonisten der 1. Phase stammen aus md., nd., weniger aus obd. Dialektgebieten (vgl. oben Punkt 2). Die meisten Kolonisten der 2. Phase kamen aus obd., weniger aus md. Dialektgebieten. Im Volkmund heißt ihr Dialekt ‘Schwobisch’, obwohl heute nur ein Bruchteil der Ungarndeutschen (im heutigen Ungarn etwa 2 %) wirklich schwäbisch spricht. Viele nachtürkische Kolonisten, die aus schwäbischen Dialektgebieten gekommen sind, ließen sich vor allem in Mittelungarn nieder. Ein Großteil von ihnen wurde im 18. Jh. von der Pest dezimiert (vgl. Hutterer 1975, 27 ff.), „und sie waren es, die entlang der Donau nach Süden ⫺ über die Dobrudscha und die Ukraine bis an die Wolga, in die Krim und nach Transkaukasien ⫺ weiterzogen.“ (Hutterer 1975, 27), aber ihr Name blieb als pars pro toto für alle in Ungarn lebenden Dt. erhalten. Zu Sprache und Dialekt verschiedener ungarndeutscher Siedlungen liegen zahlreiche Monographien vor (vgl. u. a. Tafferner 1941, Schweighofer 1991, Lengyel 1970, Mirk 1997), andere betreffen einzelne sprachliche Bereiche (vgl. Eszterle 1929, Schwarz 1914 u. a.). Auch größere Arbeiten mit Überblickscharakter lassen das Bild in einem größeren Zusammenhang der Dialektologie erscheinen (vgl. Manherz 1977). In diese Richtung gehören modernere Beschreibungen im Bereich der Sprachinselforschung (z. B. Hutterer 1961, 1963, u. a.). Zur historischen Dialektologie des Dt. in Ungarn liegen bis jetzt wenig Darstellungen vor: Die bisher ausführlichste Darstellung der ungarndeutschen Dialekte in ihrer historischen Beschreibung stammt von C. J. Hutterer (1975), der die ungarndeutschen Mundarten als Siedlungsmundarten ⫺ oder anders ausgedrückt: Mischmundarten ⫺ bezeichnet, denn sie sind das Ergebnis einer jahr-

3222

XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte

hundertelangen Entwicklung, zu dem sie in drei Ausgleichsstufen gekommen sind (vgl. 19 f.).

Durch die Aussiedlungen vieler Ungarndeutscher und Ansiedlungen von Ungarn aus den benachbarten Ländern (in erster Linie aus der Tschechoslowakei) in ungarndeutsche Siedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Schwinden der Mundart in den meisten ungarndeutschen Ortschaften zu beobachten (vgl. Mirk 1997, 230 ff.), wobei zu betonen ist, daß seit zwei bis drei Jahrzehnten, besonders aber in den 90er Jahren häufig die Hochsprache an die Stelle der Mundart tritt, sie verhilft den Ungarndeutschen u. a. auch zur Wahrung ihrer Kultur und Identität.

5.

Soziologische Schichtung und Volkskunde der Ungarndeutschen in ihrer Geschichte

5.1. Die Anfänge Die ersten Dt., die im 11. Jh. in der Gefolgschaft der Königin Gisela nach Ungarn kamen, waren hohe Geistliche, Adelige, Beamte, die durch ihren Einfluß dafür sorgen konnten, daß ihre Kultur sich in Ungarn bald verbreitete. 5.2. Handwerker, Bergleute, Bauern In den darauffolgenden Jahrhunderten folgten Handwerker, Bergleute, die neue Arbeitsbereiche gründeten oder schon existierende zur Blüte entwickelten. Durch intensive Ausbeutung von Erz, Eisen u. a. in den oberungarischen Gegenden entstanden im 13.⫺ 14. Jh. die dt. Bergstädte (vgl. Hutterer 1975, 12 f.). Neben der Rechtssprache erscheint die Bergmannssprache als eine der frühesten Fachsprachen. (Ga´rdonyi 1958, 1959, vgl. auch 6.2.). Während die Erforschung der Fachsprachen bereits vor einigen Jahrzehnten begonnen wurde (Ga´rdonyi 1958, 1959 u. a.), bereitet die Untersuchung der Sprache der Bauern der früheren Zeit große Schwierigkeiten, weil sie im schriftlichen Medium so gut wie gar nicht überliefert ist. Allgemeine Feststellungen zur Entstehung der Siedlungsmundarten machte Hutterer 1975 (vgl. auch Punkt 4.). 5.3. Bürgertum In den ungarländischen Städten sind mit der Zeit immer mehr Dt. vertreten, so sind die Bürger in Ödenburg/Sopron, Güns/Ko˝szeg, Ofen/Buda, in den oberungarischen Bergstädten wie Schemnitz, Schmöllnitz, Sillein,

Bartfeld u. a., später in den siebenbürgischen Städten Hermannstadt, Klausenburg, Temeswar etc. zu überwiegendem Teil dt. und in diesen genannten Städten wird die Kanzlei nunmehr dt. geführt (vgl. u. a. Ga´rdonyi 1964). Das Ofner Stadtrecht legt z. B. fest, daß bei der Wahl des Stadtrichters zu beachten ist, „das derr selbig richterr von deutscherr art sey von allem seinem geschlächt“. (Mollay 1959, 67). Das gleiche gilt auch für den Stadtschreiber und den Geldrichter (a. a. O., 69). Im Ofner Rat sollten die Dt. zehn und die Ungarn zwei Vertreter haben (a. a. O., 69). 5.4. Zwei- und Dreisprachigkeit Nach der Befreiung Ofens bzw. der Vertreibung der Türken wur