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German Pages 1064 Year 1998
Sprachgeschichte HSK 2.1
2. Auflage
Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Handbooks of Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer
Herausgegeben von / Edited by / Edités par Hugo Steger Herbert Ernst Wiegand
Band 2.1 2. Auflage
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
Sprachgeschichte Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage
Herausgegeben von Werner Besch · Anne Betten Oskar Reichmann · Stefan Sonderegger
1. Teilband
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft / mitbegr. von Gerold Ungeheuer. Hrsg. von Hugo Steger; Herbert Ernst Wiegand. — Berlin; New York: de Gruyter Früher hrsg. von Gerold Ungeheuer und Herbert Ernst Wiegand Teilw. mit Parallelt.: Handbook of linguistics and communication science. — Teilw. mit Nebent.: HSK Bd. 2. Sprachgeschichte Teilbd. 1.—2., vollst. neu bearb. und erw. Aufl. — 1998 Sprachgeschichte: ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung / hrsg. von Werner Besch ... — Berlin; New York: de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; Bd. 2) Literaturangaben Teilbd. 1.—2., vollst. neu bearb. und erw. Aufl. — 1998 ISBN 3-11-011257-4
© Copyright 1998 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
V
Inhalt Erster Teilband
Verzeichnis der Siglen für wissenschaftliche Z eitschriften, Reihen und Sammelwerke XVI Verzeichnis textlicher Abkürzungen .................................................................................. XXI Geleitwort / Foreword / Avant-propos ............................................................................... XXV Vorwort zur 2., vollständig neu bearbeiteten und erweiterten Auflage ............................. XXIX Vorwort zur ersten Auflage ............................................................................................... XLI
I.
Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
1. 2. 3.
Oskar Reichmann, Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung ............................ Peter von Polenz, Deutsche Sprache und Gesellschaft in historischer Sicht .......... Joachim Schildt, Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte von Institutionen .......................................................................................................................... Walter Blank, Deutsche Sprachgeschichte und Kirchengeschichte ........................ Ruth Schmidt-Wiegand, Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte bis zum Ende des Mittelalters ................................................................................. Ruth Schmidt-Wiegand, Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte seit dem Ausgang des Mittelalters .......................................................................... Armin Burkhardt, Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte ............. Jürgen Bolten, Deutsche Sprachgeschichte und Wirtschaftsgeschichte ................. Klaus-Peter Wegera, Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte des Alltags .......................................................................................................................... Heinrich Cox/Matthias Z ender (†), Sprachgeschichte, Kulturraumforschung und Volkskunde ...................................................................................................... Karlheinz Jacob, Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der Technik ........... Harald Burger, Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der Philosophie ........ Uwe Pörksen, Deutsche Sprachgeschichte und die Entwicklung der Naturwissenschaften. — Aspekte einer Geschichte der Naturwissenschaftssprache und ihrer Wechselbeziehung zur Gemeinsprache ................................................... Werner Koller, Übersetzungen ins Deutsche und ihre Bedeutung für die deutsche Sprachgeschichte ..................................................................................... Stefan Sonderegger, Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen in Grundzügen ............................................................................................................ Hugo Steger, Sprachgeschichte als Geschichte der Textsorten, Kommunikationsbereiche und Semantiktypen ........................................................................... Klaus Grubmüller, Sprache und ihre Verschriftlichung in der Geschichte des Deutschen ............................................................................................................... Klaus Grubmüller, Gegebenheiten deutschsprachiger Textüberlieferung bis zum Ausgang des Mittelalters ................................................................................
4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.
1 41 55 63 72 87 98 123 139 160 173 181 193 210 229 284 300 310
VI
Inhalt
19.
Wolfgang Schmitz, Gegebenheiten deutschsprachiger Textüberlieferung vom Ausgang des Mittelalters bis zum 17. Jahrhundert .........................................
II.
Sprachgeschichte in gesellschaftlichem Verständnis .....................
20. 21.
Andreas Gardt, Die Sprachgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts ................ Ulrike Haß-Z umkehr, Die gesellschaftlichen Interessen an der Sprachgeschichtsforschung im 19. und 20. Jahrhundert ........................................................ Georg Stötzel/Klaus-Hinrich Roth, Das Bild der Sprachgeschichte in deutschen Sprachlehrbüchern ........................................................................................ Jochen A. Bär, Die Rolle der Sprachgeschichte in Lexika und sonstigen Werken der Verbreitung kollektiven Wissens ............................................................... Klaus-Hinrich Roth, Positionen der Sprachpflege in historischer Sicht ................. Klaus Gloy, Sprachnormierung und Sprachkritik in ihrer gesellschaftlichen Verflechtung ........................................................................................................... Alan Kirkness, Das Phänomen des Purismus in der Geschichte des Deutschen .......................................................................................................................
22. 23. 24. 25. 26.
320
332 349 359 370 383 396 407
III. Wissenschaftshistorische Stufen sprachgeschichtlicher Forschung entlang der Zeitlinie ..................................................... 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33.
Stefan Sonderegger, Ansätze zu einer deutschen Sprachgeschichtsschreibung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ................................................................ Stefan Sonderegger, Sprachgeschichtsforschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ...................................................................................................... Wolfgang Putschke, Die Arbeiten der Junggrammatiker und ihr Beitrag zur Sprachgeschichtsforschung ..................................................................................... Reiner Hildebrandt, Der Beitrag der Sprachgeographie zur Sprachgeschichtsforschung .................................................................................................... Richard Schrodt, Sprachgeschichte in der Sicht strukturalistischer Schulen .......... Willi Mayerthaler, Sprachgeschichte in der Sicht der Generativen Transformationsgrammatik .................................................................................................. Dieter Cherubim, Sprachgeschichte im Z eichen der linguistischen Pragmatik .......................................................................................................................
417 443 474 495 520 529 538
IV. Geschichte und Prinzipien der Sprachgeschichtsforschung nach Beschreibungsebenen .................................................................... 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41.
Manfred Kohrt, Historische Graphematik und Phonologie .................................... Otmar Werner (†), Historische Morphologie ......................................................... Hans-Joachim Solms, Historische Wortbildung ..................................................... Oskar Reichmann/Dieter Wolf, Historische Lexikologie ....................................... Herbert Ernst Wiegand, Historische Lexikographie ............................................... Kurt Gärtner/Peter Kühn, Indices und Konkordanzen zu historischen Texten des Deutschen: Bestandsaufnahme, Typen, Herstellungsprobleme, Benutzungsmöglichkeiten ................................................................................................ Harald Burger/Angelika Linke, Historische Phraseologie ...................................... Franz Hundsnurscher, Historische Syntax ..............................................................
552 572 596 610 643 715 743 755
Inhalt
VII
43.
Alfred Bammesberger, Geschichte der etymologischen Forschung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ................................................................................... Birgit Stolt, Historische Textologie ........................................................................
V.
Methodologische und theoretische Problemfelder
44. 45.
Thorsten Roelcke, Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte ................ Ludwig Jäger, Das Verhältnis von Synchronie und Diachronie in der Sprachgeschichtsforschung ................................................................................................ Klaus J. Mattheier, Allgemeine Aspekte einer Theorie des Sprachwandels .......... Walter Haas, Ansätze zu einer Theorie des Sprachwandels auf lautlicher Ebene ...................................................................................................................... Elisabeth Leiss, Ansätze zu einer Theorie des Sprachwandels auf morphologischer und syntaktischer Ebene ............................................................................. Gerd Fritz, Ansätze zu einer Theorie des Sprachwandels auf lexikalischer Ebene ...................................................................................................................... Walter Hoffmann, Probleme der Korpusbildung in der Sprachgeschichtsschreibung und Dokumentation vorhandener Korpora ........................................... Wolfgang Kleiber, Möglichkeiten historischer Sprachgeographie I: Der hochdeutsche Raum ................................................................................................ Jan Goossens, Möglichkeiten historischer Sprachgeographie II: Der niederdeutsche und niederfränkische Raum ..................................................................... Werner Schröder, Editionsprinzipien für deutsche Texte des Früh- und Hochmittelalters .............................................................................................................. Thomas Bein, Editionsprinzipien für deutsche Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit ........................................................................................... Rolf Tarot, Editionsprinzipien für deutsche Texte der Neuzeit I: literarische Texte ....................................................................................................................... Winfried Woesler, Editionsprinzipien für deutsche Texte der Neuzeit II: nichtliterarische Texte ............................................................................................. Ulrich Krewitt, Probleme des Verstehens altdeutscher Texte und die Möglichkeiten ihrer Übersetzung ins Neuhochdeutsche ................................................
42.
46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57.
775 786
798 816 824 836 850 860 875 889 900 914 923 931 941 948
VI. Die genealogische und typologische Einordnung des Deutschen 58. 59. 60. 61. 62.
Elmar Seebold, Indogermanisch — Germanisch — Deutsch: Genealogische Einordnung und Vorgeschichte des Deutschen ....................................................... 963 Wolfgang Binnig, Der Quellenwert des Gotischen für die sprachgeschichtliche Beschreibung der älteren Sprachstufen des Deutschen .................................... 973 Heinrich Beck, Die germanischen Sprachen der Völkerwanderungszeit ............... 979 Karl-Horst Schmidt, Versuch einer geschichtlichen Sprachtypologie des Deutschen ............................................................................................................... 993 Thorsten Roelcke, Typologische Unterschiede in den Varietäten des Deutschen ....................................................................................................................... 1000
VIII
Inhalt
Zweiter Teilband (Übersicht über den vorgesehenen Inhalt) VII. Aspekte einer europäischen Sprachgeschichte 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70.
Christian Schmitt, Sprach- und Nationenbildung in Spätantike und frühem Mittelalter Stefan Sonderegger, Sprachgeschichtliche Aspekte der europäischen Christianisierung Christian Schmitt, Latein und westeuropäische Sprachen Klaus J. Mattheier, Die Herausbildung neuzeitlicher Schriftsprachen Richard Baum, Französisch als dominante Sprache Europas Manfred Görlach, Englisch als neuer Typ von Weltsprache und europäische Nationalsprachen Baldur Panzer, Gemeinsamkeiten und Differenzen im Wortschatz europäischer Sprachen John Ole Askedal, Gemeinsamkeiten in der grammatischen Struktur europäischer Sprachen
VIII. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen I: Das Althochdeutsche 71. 72. 73. 74. 75. 76. 77. 78.
Dieter Geuenich, Soziokulturelle Voraussetzungen, Sprachraum und Diagliederung des Althochdeutschen Franz Simmler, Phonetik und Phonologie, Graphemik und Graphetik des Althochdeutschen Stefan Sonderegger, Morphologie des Althochdeutschen Jochen Splett, Lexikologie und Lexikographie des Althochdeutschen Albrecht Greule, Syntax des Althochdeutschen Jochen Splett, Wortbildung des Althochdeutschen Alexander Schwarz, Die Textsorten des Althochdeutschen Stefan Sonderegger, Reflexe gesprochener Sprache im Althochdeutschen
IX. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen II: Das Altniederdeutsche (Altsächsische) 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85.
Thomas Klein, Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Altniederdeutschen (Altsächsischen) Thomas Klein, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Altniederdeutschen (Altsächsischen) Heinrich Tiefenbach, Morphologie des Altniederdeutschen (Altsächsischen) Willy Sanders, Lexikologie und Lexikographie des Altniederdeutschen (Altsächsischen) Irmengard Rauch, Syntax des Altniederdeutschen (Altsächsischen) Jürgen Meier/Dieter Möhn, Wortbildung des Altniederdeutschen (Altsächsischen) Willy Sanders, Die Textsorten des Altniederdeutschen (Altsächsischen)
Inhalt
86. 87.
IX
Ulrich Scheuermann, Die Diagliederung des Altniederdeutschen (Altsächsischen) Willy Sanders, Reflexe gesprochener Sprache im Altniederdeutschen (Altsächsischen)
X.
Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen III: Das Mittelhochdeutsche
88.
Ursula Rautenberg, Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Mittelhochdeutschen Klaus-Peter Wegera, Grundlagenprobleme einer mittelhochdeutschen Grammatik Franz Simmler, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Mittelhochdeutschen Siegfried Grosse, Morphologie des Mittelhochdeutschen Klaus Grubmüller, Lexikologie und Lexikographie des Mittelhochdeutschen Norbert Richard Wolf, Syntax des Mittelhochdeutschen Herta Zutt, Wortbildung des Mittelhochdeutschen Hannes J. Kästner/Bernd Schirok, Die Textsorten des Mittelhochdeutschen Norbert Richard Wolf, Die Diagliederung des Mittelhochdeutschen Siegfried Grosse, Reflexe gesprochener Sprache im Mittelhochdeutschen Ulrike Kiefer, Das Jiddische in Beziehung zum Mittelhochdeutschen
89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98.
XI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen IV: Das Mittelniederdeutsche 99. 100. 101. 102. 103. 104. 105. 106. 107. 108. 109.
Robert Peters, Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Mittelniederdeutschen Hermann Niebaum, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Mittelniederdeutschen John Evert Härd, Morphologie des Mittelniederdeutschen Ingrid Schröder/Dieter Möhn, Lexikologie und Lexikographie des Mittelniederdeutschen John Evert Härd, Syntax des Mittelniederdeutschen Hermann Niebaum, Wortbildung des Mittelniederdeutschen Jürgen Meier/Dieter Möhn, Die Textsorten des Mittelniederdeutschen Robert Peters, Die Diagliederung des Mittelniederdeutschen Karl Bischoff (†)/Robert Peters, Reflexe gesprochener Sprache im Mittelniederdeutschen Robert Peters, Die Rolle der Hanse und Lübecks in der mittelniederdeutschen Sprachgeschichte Timothy Sodmann, Die Verdrängung des Mittelniederdeutschen als Schreibund Druckersprache Norddeutschlands
X
Inhalt
XII. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen V: Das Frühneuhochdeutsche Hans-Joachim Solms, Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum des Frühneuhochdeutschen 111. Norbert Richard Wolf, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Frühneuhochdeutschen 112. Klaus-Peter Wegera/Hans-Joachim Solms, Morphologie des Frühneuhochdeutschen 113. Dieter Wolf, Lexikologie und Lexikographie des Frühneuhochdeutschen 114. Johannes Erben, Syntax des Frühneuhochdeutschen 115. Klaus-Peter Wegera/Heinz-Peter Prell, Wortbildung des Frühneuhochdeutschen 116. Hannes J. Kästner/Eva Schütz/Johannes Schwitalla, Die Textsorten des Frühneuhochdeutschen 117. Oskar Reichmann, Die Diagliederung des Frühneuhochdeutschen 118. Anne Betten, Z um Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache im Frühneuhochdeutschen 119. Rudolf Benzinger, Die Kanzleisprachen 120. Joachim Knape, Das Deutsch der Humanisten 121. Frédéric Hartweg, Die Rolle des Buchdrucks für die frühneuhochdeutsche Sprachgeschichte 122. Norbert Richard Wolf, Handschrift und Druck 123. Werner Besch, Die Rolle Luthers für die deutsche Sprachgeschichte 110.
XIII. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen VI: Das Neuhochdeutsche in seiner Entwicklung vom 17. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 124. Natalija Semenjuk, Soziokulturelle Voraussetzungen des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 125. Burckhard Garbe, Phonetik und Phonologie, Graphetik und Graphemik des Neuhochdeutschen seit dem 17. Jahrhundert 126. Werner Heinrich Veith, Bestrebungen der Orthographiereform im 18., 19. und 20. Jahrhundert 127. Max Mangold, Entstehung und Problematik der deutschen Hochlautung 128. Klaus-Peter Wegera, Morphologie des Neuhochdeutschen seit dem 17. Jahrhundert 129. Oskar Reichmann, Die Lexik der deutschen Hochsprache bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 130. Siegfried Grosse, Die Wiederbelebung mittelhochdeutschen Wortgutes im Neuhochdeutschen 131. Vilmos Ágel, Syntax des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 132. Claudine Moulin-Fankhänel, Deutsche Grammatikschreibung im 17. und 18. Jahrhundert 133. Eva-Maria Heinle, Wortbildung des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
Inhalt
134. Heinz Endermann, Die Textsorten des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 135. Peter Wiesinger, Die Diagliederung des Neuhochdeutschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 136. Klaus J. Mattheier, Die Durchsetzung der deutschen Hochsprache im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: sprachpolitische, -soziologische und -geographische Aspekte 137. Heinrich Löffler, Gesprochenes und geschriebenes Deutsch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 138. Utz Maas, Sprache in der Zeit des Nationalsozialismus
XIV. Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 139. Lothar Hoffmann, Die Rolle der Fachsprachen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 140. Gerd Schank/Johannes Schwitalla, Ansätze neuer Gruppen- und Sondersprachen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 141. Michael G. Clyne, Varianten des Deutschen in den Staaten mit vorwiegend deutschsprachiger Bevölkerung 142. Hartmut Schmidt, Entwicklung und Formen des offiziellen Sprachgebrauchs der ehemaligen DDR 143. Heinrich Löffler, Die Rolle der Dialekte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 144. Rainer Wimmer, Sprachkritik in der wissenschaftlichen Diskussion des 20. Jahrhunderts 145. Rainer Wimmer, Sprachkritik in der Öffentlichkeit seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 146. Gisela Schoenthal, Impulse der feministischen Linguistik für Sprachgebrauch und Sprachsystem 147. Regina Hessky, Entwicklungen der Phraseologie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 148. Arend Mihm, Die Rolle der Umgangssprachen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 149. Erich Straßner, Neue Formen des Verhältnisses von Sprache und Visualität seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 150. Ruth Römer, Entwicklungstendenzen der Werbesprache seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 151. Norbert Nail, Z eitungssprache und Massenpresse in der jüngeren Geschichte des Deutschen 152. Wolfgang Brandt, Sprache in Hörfunk und Fernsehen 153. Ulrich Schmitz, Auswirkungen elektronischer Medien und neuer Kommunikationstechniken auf das Sprachverhalten von Individuum und Gesellschaft 154. Joachim Born/Wilfried Schütte, Die Stellung des Deutschen in den europäischen Institutionen 155. Ulrich Ammon, Geltungsverlust und Geltungsgewinn der deutschen Sprache seit der Mitte des 20. Jahrhunderts
XI
XII
Inhalt
XV. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung im Gesamtüberblick I: Pragmatische und soziologische Aspekte 156. Ingo Reiffenstein, Bezeichnungen der deutschen Gesamtsprache 157. Ingo Reiffenstein, Metasprachliche Äußerungen über das Deutsche und seine Subsysteme bis 1800 in historischer Sicht 158. Werner Wegstein, Die sprachgeographische Gliederung des Deutschen in historischer Sicht 159. Werner Besch, Entstehung und Ausformung der neuhochdeutschen Schriftsprache/Standardsprache 160. Dieter Möhn, Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte I: Hamburg 161. Joachim Schildt, Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte II: Berlin 162. Walter Hoffmann/Klaus J. Mattheier, Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte III: Köln 163. Gaston Van der Elst, Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte IV: Nürnberg 164. Peter Wiesinger, Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte V: Wien 165. Wilfried Seibicke, Fachsprachen in historischer Entwicklung 166. Dieter Möhn, Sondersprachen in historischer Entwicklung 167. Utz Maas, Alphabetisierung. Ein bildungs- und sozialgeschichtlicher Abriß
Dritter Teilband (Übersicht über den vorgesehenen Inhalt) XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung im Gesamtüberblick II: Sprachsystematische Aspekte 168. 169. 170. 171. 172. 173. 174. 175.
Peter Wiesinger, Lautsystementwicklungen des Deutschen im Bereich von Diphthongierungen, Monophthongierungen, Dehnungen, Kürzungen Heinrich Löffler, Hyperkorrekturen als ein Schlüssel der Sprachgeschichtsforschung Gotthard Lerchner, Konsonantische Lautsystementwicklungen in der Geschichte des Deutschen Dieter Nerius, Graphematische Entwicklungstendenzen in der Geschichte des Deutschen Franz Simmler, Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen Karin Donhauser, Der Numerus- und Kasusausdruck in der Geschichte des Deutschen Richard Schrodt/Karin Donhauser, Herausbildung und Veränderungen des Tempus- und Modussystems in der Geschichte des Deutschen Johannes Erben, Hauptaspekte der Entwicklung der Wortbildung in der Geschichte des Deutschen
Inhalt
176. 177. 178. 179. 180.
XIII
Oskar Reichmann, Hauptaspekte des Ausbaus und Umbaus des Wortschatzes in der Geschichte des Deutschen Wolfgang Mieder, Grundzüge einer Geschichte des Sprichwortes und der Redensart John Evert Härd, Hauptaspekte der syntaktischen Entwicklung in der Geschichte des Deutschen Birgit Stolt, Rhetorikkonzeptionen in der Geschichte der deutschen Sprache Werner Besch, Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel
XVII. Regionalsprachgeschichte 181. 182. 183. 184. 185. 186. 187. 188. 189. 190. 191. 192. 193. 194. 195. 196.
Heinz Eickmanns, Aspekte einer niederrheinischen Sprachgeschichte Robert Peters, Aspekte einer Sprachgeschichte des Westfälischen Robert Peters, Aspekte einer Sprachgeschichte des Sassischen Ulrich Scheuermann, Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostfälischen Joachim Gessinger, Aspekte einer Sprachgeschichte des Brandenburgischen Irmtraud Rösler, Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostniederdeutschen Klaus J. Mattheier, Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte Hans Ramge, Aspekte einer Sprachgeschichte des Hessischen Gotthard Lerchner, Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen Helmut Weinacht, Aspekte einer fränkischen Sprachgeschichte Frédéric Hartweg, Die Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, deutscher und französischer Standardsprache im Elsaß seit dem 16. Jahrhundert Konrad Kunze, Aspekte einer Sprachgeschichte des Oberrheingebietes bis zum 16. Jahrhundert Stefan Sonderegger, Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz Ingo Reiffenstein, Aspekte einer Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Ausgang des Mittelalters Ingo Reiffenstein, Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit Peter Wiesinger, Aspekte einer Sprachgeschichte des Deutschen in Österreich seit der beginnenden Neuzeit
XVIII.Grundlagen einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen 197. 198. 199. 200. 201. 202. 203. 204.
Anne Betten, Deutsche Sprachgeschichte und Literaturgeschichte Kurt Gärtner, Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des deutschen Mittelalters Manfred Kaempfert, Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte in neuhochdeutscher Zeit Walter Weiss, Die sprachliche Leistung und Wirkung der deutschen Klassik Thorsten Roelcke, Sprachgeschichtliche Tendenzen des literarischen Experiments im 19. und 20. Jahrhundert Wulf Köpke, Das Sprachproblem der Exilliteratur Anne Betten, Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945 Luise Pusch, Ansätze zu einer Geschichte weiblicher Schreibstile
XIV
Inhalt
XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte 205. 206. 207. 208. 209. 210. 211. 212. 213. 214. 215. 216. 217.
Els Oksaar, Terminologie und Gegenstand der Sprachkontaktforschung Nikolaus Henkel, Lateinisch/Deutsch Niklas Holzberg, Griechisch/Deutsch Brigitte Schlieben-Lange, Französisch und Frankoprovenzalisch/Deutsch Max Pfister, Italienisch und Rätoromanisch/Deutsch Karl Mollay (†)/Peter Bassola, Ungarisch/Deutsch Günter Bellmann, Slavisch/Deutsch Ulrike Kiefer, Jiddisch/Deutsch Robert Hinderling, Baltisch/Deutsch Hans-Peter Naumann, Skandinavisch/Deutsch Gilbert de Smet, Niederländisch/Deutsch Nils Århammar, Friesisch/Deutsch Wolfgang Viereck, Britisches und amerikanisches Englisch/Deutsch
XX. Das Deutsche im Sprachenkontakt II: Aspekte der Sprachgrenzbildung des Deutschen 218. 219. 220. 221. 222. 223. 224. 225.
Wolfgang Haubrichs, Geschichte der deutsch-romanischen Sprachgrenze im Westen Stefan Sonderegger, Geschichte der deutsch-romanischen Sprachgrenze im Süden Hermann Scheuringer, Geschichte der deutsch-ungarischen und deutsch-slavischen Sprachgrenze im Südosten Ernst Eichler, Geschichte der deutsch-slavischen Sprachgrenze im Osten und Nordosten Vibeke Winge, Geschichte der deutsch-skandinavischen Sprachgrenze Ludger Kremer, Geschichte der deutsch-friesischen und deutsch-niederländischen Sprachgrenze Günter Lipold, Geschichte deutscher Sprachinseln in Ost- und Südosteuropa Jürgen Eichhoff, Geschichte deutscher Sprach- und Siedlungsgebiete in Nordamerika
XXI. Deutsche Namengeschichte im Überblick 226. 227. 228. 229. 230. 231.
Stefan Sonderegger, Namengeschichte als Bestandteil der deutschen Sprachgeschichte Stefan Sonderegger, Terminologie, Gegenstand und interdisziplinärer Bezug der Namengeschichte Albrecht Greule, Schichten vordeutscher Namen im deutschen Sprachgebiet Friedhelm Debus/Heinz-Günter Schmitz, Überblick über Geschichte und Typen der deutschen Orts- und Landschaftsnamen Wolfgang Kleiber, Die Flurnamen. Voraussetzungen, Methoden und Ergebnisse sprach- und kulturhistorischer Auswertung Albrecht Greule, Überblick über Geschichte und Typen der deutschen Gewässernamen
Inhalt
232.
XV
Wilfried Seibicke, Überblick über Geschichte und Typen der deutschen Personennamen
XXII. Register 233. 234.
Anja Lobenstein-Reichmann, Sachregister Anja Lobenstein-Reichmann/Silke Bär, Verfasserregister
XVI
Verzeichnis der Siglen für wissenschaftliche Zeitschriften, Reihen und Sammelwerke
AAkGött AASF ABäG ABayA ABgesch ABnG AdA AfK AGB AGSZ Ahd. St. Gallen Ak. Wiss. DDR. ZS. ALASH AmL APreußA ASNS ASSL ASTH AT ATB Aufriß AUS AWMainz AzF BAS BBG BdPh B-EBS BGermNat B. Gesch. Nhd. BLM BLV BNF BNL BSGLN CILT Clex. DaF DD DDG DGF DLE ds DSA
Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Klasse Suomalaisen Tiedeakatemian Toimituksia. Annales Academiae Scientiarum Fennicae. Series B Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-Hist. Klasse Archiv für Begriffsgeschichte Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur Archiv für Kulturgeschichte Archiv für Geschichte des Buchwesens Abhandlungen, hrsg. von der Gesellschaft für deutsche Sprache in Zürich Das Althochdeutsche von St. Gallen Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Acta Linguistica Academiae Scientiarum Hungaricae Arbeiten zur mittleren deutschen Literatur Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science Athenäum Taschenbücher Sprachwissenschaft Altdeutsche Textbibliothek Deutsche Philologie im Aufriß. 2. Auflage Acta Universitatis Stockholmiensis Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse Arbeiten zur Frühmittelalterforschung Bibliothek der Allgemeinen Sprachwissenschaft Budapester Beiträge zur Germanistik Beiträge zur deutschen Philologie Bochum-Essener Beiträge zur Sprachwandelforschung Bibliothek des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg zur deutschen Kunst- und Kulturgeschichte Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen Bibliographien zur deutschen Literatur des Mittelalters Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart Beiträge zur Namenforschung Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit Bouwstoffen en Studien voor de Geschiedenis en de Lexikografie van het Nederlands Current Issues in Linguistic Theory Cahiers de Lexicologie. Revue internationale de lexicologie générale et appliquée Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift zur Theorie und Praxis des Deutschunterrichts für Ausländer Diskussion Deutsch. Zeitschrift für Deutschlehrer aller Schulformen in Ausbildung und Praxis Deutsche Dialektgeographie Dokumentation Germanistischer Forschung Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen deutsche sprache. Zeitschrift für Theorie, Analyse und Dokumentation Deutscher Sprachatlas. Marburg 1927—1956
Verzeichnis der Siglen
DSF Dt. Ak. Wiss. Berlin, IDSL DTM DU DVLG DWA DWB DWEB EB Euph. FAT FAZ FF FIdS FMA FoL FSt GA GASK GdK GdL GeLe GG GGA GL GRM Grundr. GS GSR HBV HCTD Hesperia HGF HJb HSK HSS HW HZ IBAL IBK IBS IdB IdL IF IJB IJL IVaS JgF JIdS JIG JL SMa. JL SMi. JL SPr.
Deutsch-slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für Deutsche Sprache und Literatur Deutsche Texte des Mittelalters Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Deutscher Wortatlas Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen Eichstätter Beiträge. Schriftenreihe der Katholischen Universität Eichstätt Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte Fischer Athenäum Taschenbücher Frankfurter Allgemeine Zeitung Forum für Fachsprachenforschung Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung Folia Linguistica. Acta Societatis Linguisticae Europeae Frühmittelalterliche Studien Germanistische Abhandlungen Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte Grundlagen der Kommunikation Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Germanistische Lehrbuchsammlung Grundlagen der Germanistik Göttingische Gelehrte Anzeigen Germanistische Linguistik. Berichte aus dem Forschungsinstitut für deutsche Sprache, Deutscher Sprachatlas Germanisch-Romanische Monatsschrift Grundriß der Germanischen Philologie Germanische Studien Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte Hessische Blätter für Volkskunde Handelingen van de Koninklijke Commissie voor Toponymie en Dialectologie Hesperia. Schriften zur germanischen Philologie Hermaea. Germanistische Forschungen Historisches Jahrbuch Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Historischer Südwestdeutscher Sprachatlas Historische Wortforschung. Untersuchungen zur Sprach- und Kulturgeschichte des Deutschen in seinen europäischen Bezügen Historische Zeitschrift Internationale Bibliothek für Allgemeine Sprachwissenschaft Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft Indices zur deutschen Barockliteratur Indices zur deutschen Literatur Indogermanische Forschungen. Zeitschrift für Indogermanistik und allgemeine Sprachwissenschaft Indogermanisches Jahrbuch International Journal of Lexicography Indices verborum zum altdeutschen Schrifttum Jenaer germanistische Forschungen Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache Jahrbuch für Internationale Germanistik Janua Linguarum, Series Maior Janua Linguarum, Series Minor Janua Linguarum, Series Practica
XVII
XVIII
KBGL KdPM KgSt KSL KTVÜ KVndSpr. KZSS LA LB LBij LGL LiLi LR LRL LSM LStA LuD MBG MBVM MdF. MdSt. MDGV Med. Aev. MGB MGH MIÖG ML MLK MLQ MLR MM-S MSH MSpr. MTU Mutterspr. MzS NdD NdJb. NdM NdSt. NdW Nk. NLS NphM NS Onoma PBB (H) PBB (T) PGRK Poetica PSQ QFSK rde RdL
Verzeichnis der Siglen
Kopenhagener Beiträge zur Germanistischen Linguistik Kleinere deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters Kölner germanistische Studien Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Linguistische Arbeiten Linguistische Berichte. Forschung, Information, Diskussion Leuvense Bijdragen, Tjdschrift voor Germaanse Filologie Lexikon der germanistischen Linguistik Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Linguistische Reihe Lexikon der Romanistischen Linguistik Lexicographica, Series Maior Linguistische Studien A. Arbeitsberichte Linguistik und Didaktik Marburger Beiträge zur Germanistik Materialien zur Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters Mitteldeutsche Forschungen Mitteldeutsche Studien Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes Medium Aevum. Philologische Studien Münchner Germanistische Beiträge Monumenta Germaniae Historica Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung Modern Languages. Journal of the Modern Language Association Monographien zur Linguistik und Kommunikationswissenschaft Modern Language Quarterly Modern Language Review Münstersche Mittelalter-Schriften Mémoires de la Société Néo-Philologique de Helsingfors Moderna Språk Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache Monographien zur Sprachwissenschaft Niederdeutsche Denkmäler Niederdeutsches Jahrbuch. Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung Niederdeutsche Mitteilungen Niederdeutsche Studien Niederdeutsches Wort. Kleine Beiträge zur niederdeutschen Mundart und Namenkunde Naamkunde North-Holland Linguistic Series Neuphilologische Mitteilungen. Bulletin de la Société Néophilologique de Helsinki Die neueren Sprachen. Zeitschrift für Forschung, Unterricht und Kontaktstudium auf dem Fachgebiet der modernen Fremdsprache Onoma. Bulletin d’information et de bibliographie des sciences onomastiques Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Halle/S.) Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft Philologische Studien und Quellen Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker rowohlts deutsche enzyklopädie Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte
Verzeichnis der Siglen
RF RGL RheinBH RL RVj. Sächs. Ak. Wiss. Leipzig SaGö SAV SbAWiss Wien SbBayA SbHeidelbA SbÖstA SbWiss.GF SG SGF SGGand. Skandinavistik SKGG SLG SM SN SPÖ Sprachw. Spr. d. Geg. SQwestGesch ST StAhd. StFrnhd. StGr STSL STW STZ SU Augsb. SuG SuGesch SuL TCLC TCLP Teuth. THF TLL TLP TLSM TMN TNTL TT TTG VIRM VjWS VKLBayA VL VMA VRom
Romanische Forschungen Reihe Germanistische Linguistik Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte Rheinische Vierteljahresblätter. Mitteilungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande an der Universität Bonn Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse Sammlung Göschen Sammlung Akademie Verlag Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil.-hist. Klasse Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Universität Frankfurt Studium Generale Stockholmer Germanistische Forschungen Studia Germanica Gandensia Skandinavistik. Zeitschrift für Sprache, Literatur und Kultur der nordischen Länder Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse Studia Linguistica Germanica Sammlung Metzler Studia Neophilologica. A Journal of Germanic and Romanic Philology Sprache Politik Öffentlichkeit Sprachwissenschaft Sprache der Gegenwart. Schriften des Instituts für deutsche Sprache Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte Suhrkamp taschenbuch Studien zum Althochdeutschen Studien zum Frühneuhochdeutschen Studia Grammatica Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Sprache im technischen Zeitalter Schriften der philosophischen Fachbereiche der Universität Augsburg Sprache und Gesellschaft Sprache und Geschichte Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht Travaux du Cercle Linguistique de Copenhague Travaux du Cercle Linguistique de Prague Teuthonista Trierer Historische Forschungen Travaux de Linguistique et de Litterature Travaux Linguistiques de Prague Trends in Linguistics. Studies and Monographs Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde Taal en Tongval Texte und Textgeschichte. Würzburger Forschungen Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit Vierteljahresschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Veröffentlichungen der Kommission für Deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Verslagen en Mededelingen van de Koninklijke Academie voor Nederlandse Taal- en Letterkunde [früher: van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Taal- en Letterkunde] Vox Romana
XIX
XX
WB WBdPh WdF WNF WuS WW WZUB WZUG WZUJ WZUL WZUR ZbayrLa ZD ZdA ZdB ZDk. ZDL ZdMaa. ZdPh. ZdS ZdU ZdWf. ZfRG ZfS ZfSI. ZfVk. ZGL ZhdMaa. ZMF ZNf. ZONf. ZPSK ZrPh. ZsPh. ZSRG Zvgl. Sprachf.
Verzeichnis der Siglen
Weimarer Beiträge Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie Wege der Forschung Wortbildung des Nürnberger Frühneuhochdeutsch Wörter und Sachen Wirkendes Wort. Deutsche Sprache in Forschung und Lehre Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock Zeitschrift für bayrische Landesgeschichte Zielsprache Deutsch. Zeitschrift für Unterrichtsmethodik und angewandte Sprachwissenschaft Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Bildung Zeitschrift für Deutschkunde Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik Zeitschrift für deutsche Mundarten Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für deutsche Sprache Zeitschrift für den deutschen Unterricht Zeitschrift für deutsche Wortforschung Zeitschrift für Rechtsgeschichte Zeitschrift für Sprachwissenschaft Zeitschrift für Slawistik Zeitschrift für Volkskunde Zeitschrift für Germanistische Linguistik Zeitschrift für hochdeutsche Mundarten Zeitschrift für Mundartforschung Zeitschrift für Namenforschung Zeitschrift für Ortsnamenforschung Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung Zeitschrift für romanische Philologie Zeitschrift für slavische Philologie Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiet der indogermanischen Sprachen
XXI
Verzeichnis textlicher Abkürzungen aalem. abair. adän. Adj. adj. adt. Adv. adv. aengl. aeurop. afrk. afrz. afries. agerm. agriech. ags. ahd. aisl. Akk. aksl. Akt. alem. altung. and. anfrk. anl. anord. Aor. apoln. aprov. arab. Art. aruss. asächs. asorb. atschech. Attr. attr. avenez.
altalemannisch altbairisch altdänisch Adjektiv adjektivisch altdeutsch Adverb adverbial altenglisch alteuropäisch altfränkisch altfranzösisch altfriesisch altgermanisch altgriechisch angelsächsisch althochdeutsch altisländisch Akkusativ altkirchenslawisch Aktiv alemannisch altungarisch altniederdeutsch altniederfränkisch altniederländisch altnordisch Aorist altpolnisch altprovenzalisch arabisch Artikel altrussisch altsächsisch altsorbisch alttschechisch Attribut attributiv altvenezianisch
bair. bair.-öst. balt. berl. böhm. brandenb. burg.
bairisch bairisch-österreichisch baltisch berlinisch böhmisch brandenburgisch burgundisch
dän. Dat. Dekl. Dem. Dim. dt.
dänisch Dativ Deklination Demonstrativum Diminutivum deutsch
els. EN. engl. erzgeb. estn. europ.
elsässisch Eigenname englisch erzgebirgisch estnisch europäisch
f. fahd. finn. fläm. FlN. FN. frankoprov. fries. frk. frmhd. frnhd. frz. Fut.
feminin frühalthochdeutsch finnisch flämisch Flurname Familienname frankoprovenzalisch friesisch fränkisch frühmittelhochdeutsch frühneuhochdeutsch französisch Futur
gäl. gall. gallorom. Gen. germ. got. griech.
gälisch gallisch galloromanisch Genitiv germanisch gotisch griechisch
halem. hd. hebr. hess. holl. holst. hpreuß. Hs.
hochalemannisch hochdeutsch hebräisch hessisch holländisch holsteinisch hochpreußisch Handschrift
idg. ieur. Imp. Ind. Inf. Instr. Interj. intrans. ir. isl. it. ital.
indogermanisch indoeuropäisch Imperativ Indikativ Infinitiv Instrumentalis Interjektion intransitiv irisch isländisch italisch italienisch
jidd.
jiddisch
Verzeichnis textlicher Abkürzungen
XXII
kan. Kaus. kelt. Kj. klass. Komp. Konj. Konjug. Kons. krimgot. kroat. kslaw. Kt.
kanadisch Kausativ keltisch Konjunktiv klassisch Komparativ Konjunktion Konjugation Konsonant krimgotisch kroatisch kirchenslawisch Karte
langob. Lat./lat. lett. lit. liv. lomb. lothr. lux.
langobardisch Latein/lateinisch lettisch litauisch livländisch lombardisch lothringisch luxemburgisch
m. magy. mähr. märk. Mask. mbair. md. mengl. meckl. mfries. mfrk. mfrz. mgriech. mhd. mlat. mnd. mnl. mrhein. mslfrk.
maskulin magyarisch mährisch märkisch Maskulinum mittelbairisch mitteldeutsch mittelenglisch mecklenburgisch mittelfriesisch mittelfränkisch mittelfranzösisch mittelgriechisch mittelhochdeutsch mittellateinisch mittelniederdeutsch mittelniederländisch mittelrheinisch moselfränkisch
n. nalem. nass. nd. nengl. nfries. nfrk. nfrz. ngriech. nhd. nl. nmärk. nnd. nnl. nnord. nnsächs. nobd. nodt. Nom.
Neutrum niederalemannisch nassauisch niederdeutsch neuenglisch neufriesisch niederfränkisch neufranzösisch neugriechisch neuhochdeutsch niederländisch nordmärkisch neuniederdeutsch neuniederländisch neunordisch nordniedersächsisch nordoberdeutsch nordostdeutsch Nominativ
norw. npr. nrddt. nrhein. nsächs. nschwed. nsorb. Num. obd.
norwegisch niederpreußisch norddeutsch niederrheinisch niedersächsisch neuschwedisch niedersorbisch Numerus oberdeutsch
obfr. Obj. obl. obsorb. odt. ofäl. ofrk. ogerm. ohalem. omd. ON. ond. oobd. opom. orhein. osächs. oslaw. osorb. öst.
oberfränkisch Objekt obliquus obersorbisch ostdeutsch ostfälisch ostfränkisch ostgermanisch osthochalemannisch ostmitteldeutsch Ortsname ostniederdeutsch ostoberdeutsch ostpommersch oberrheinisch obersächsisch ostslawisch ostsorbisch österreichisch
Part. part. Pass. Perf. pfälz. Pl. Plquperf. polab. poln. pom. pomoran. Pos. port. Präp. Präs. Prät. Prät.-Präs. Pron. prov.
Partizip partizipal Passiv Perfekt pfälzisch Plural Plusquamperfekt polabisch polnisch pommersch pomoranisch Positiv portugiesisch Präposition Präsens Präterium Präterito-Präsens Pronomen provenzalisch
rät. rätorom. refl. rib. rom. rotw. rhfrk. russ.
rätisch rätoromanisch reflexiv ribuarisch romanisch rotwelsch rheinfränkisch russisch
saarl. sächs. sbair.
saarländisch sächsisch südbairisch
Verzeichnis textlicher Abkürzungen
schott. schw. schwäb. schwed. schweiz. sdt. serb. serbokroat. sfrk. Sg. skand. slaw. slow. smk. sodt. sofrk. sorb. span. splat. spmhd. srhfrk. sslaw. st. St. Subj. Subst. Sup. swdt.
schottisch schwach flektierend schwäbisch schwedisch schweizerdeutsch süddeutsch serbisch serbokroatisch südfränkisch Singular skandinavisch slawisch slowenisch südmärkisch südostdeutsch südostfränkisch sorbisch spanisch spätlateinisch spätmittelhochdeutsch südrheinfränkisch südslawisch stark reflektierend Stamm Subjekt Substantiv Superlativ südwestdeutsch
XXIII
trans. thür. tir. tschech.
transitiv thüringisch tirolisch tschechisch
ugr. ukrain. ung. urgerm. uridg. urslaw. urverw.
ugrisch ukrainisch ungarisch urgermanisch urindogermanisch urslawisch urverwandt
venez. vorahd. vpom. vulglat.
venezianisch voralthochdeutsch vorpommersch vulgärlateinisch
wdt. wend. westf. wgerm. whalem. wslaw. wmd. wnd. wobd. Wz.
westdeutsch wendisch westfälisch westgermanisch westhochalemannisch westslawisch westmitteldeutsch westniederdeutsch westoberdeutsch Wurzel
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Geleitwort Die Forschung, die akademische Lehre und die aus beiden resultierende Fachkritik haben die Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft — auch wenn es Einwände für einzelne B ände im Detail gegeben hat — ganz überwiegend positiv aufgenommen. Dies ermöglicht es und hat uns ermutigt, gemeinsam mit dem Verlag, der die HSK-Reihe ohne jede öffentlichen Mittel verlegt, und in Zusammenarbeit mit den alten und mit neuen Herausgebern der einzelnen B ände, eine neue Handbuchgeneration zu planen, die aus weiterführenden Neubearbeitungen und Neukonzeptionen bestehen wird und in der auch die neuen technischen Medien — wenn es wirklich nützlich und nicht nur modernistisch ist — zur Verbesserung der Benutzungsmöglichkeiten eingesetzt werden. Mit dem nun dreibändigen Handbuch Sprachgeschichte, das auch seinen Untertitel Ein Handbuch zur deutschen Sprachgeschichte und ihrer Erforschung beibehalten hat und eine weiterführende Neubearbeitung darstellt, beginnt die Publikation von Handbüchern der zweiten Generation. Neubearbeitungen von HSK-B änden erscheinen nach einem Zeitraum, der in der Regel mindestens 15 Jahre beträgt und bei mehrbändigen Handbüchern von der Erstedition des 1. Teilbandes der 1. Auflage bis zum Erscheinen des letzten Teilbandes der 2. Auflage reicht. Neubearbeitungen dienen dazu, die oft rasche Weiterentwicklung der Forschung in den Problemstellungen, in der Methodik und Theoriebildung sowie gegebenenfalls Erweiterungen oder Umstrukturierungen der empirischen Gegenstandsbereiche angemessen zu berücksichtigen und bibliographisch zu dokumentieren. Auch für einzelne B ände, die in den Jahren erschienen sind, als zwei Weltsysteme in relativ großer Abgeschlossenheit voneinander herrschten und in der Welt konkurrierten und wo manche Arbeitsergebnisse, Daten u. a. m. nicht oder nur mit Verzögerung und lückenhaft (z. B . über Emigranten) zugänglich wurden (wie z. B . bei HSK 5.1—5.3: Wörterbücher), wächst mit der Planung und Durchführung von Neuauflagen eine wichtige Aufgabe heran, die nur in Zusammenarbeit mit den nachwachsenden Forschergenerationen in Angriff genommen werden kann. Wo Problemstellungen und Datengrundlagen sowie theoretische und methodische Zugänge im letzten Jahrzehnt so grundlegend verändert und erheblich erweitert wurden, wie z. B . in der Computerlinguistik und Sprachtechnologie oder in der Dialektologie, wo eine neue Generation von Sprachatlanten entsteht und das Teilgebiet sich in eine umfassende Linguistik sprachlicher Varietäten integriert, sind weitergehende Neukonzeptionen vorgesehen, damit sich die Handbücher zur Darstellung der neuen Forschung eignen. Mit den Realisierungen der beiden Typen weiterführende Neubearbeitung und Neukonzeption kann die Grundkonzeption der gesamten HSK-Reihe noch schärfer hervortreten, die darin besteht, Sprach- und Kommunikationswissenschaft auch in ihren nationalsprachlichen Ausprägungen als einen gemeinsamen Problembereich zu begreifen (vgl. HSK 1.1, Geleitwort, S. VIII). Die Kommunikation der Menschen untereinander, wie das Problem der Kommunikation in der Natur überhaupt, wird als Frage der Disposition zur Sprache und zur Kommunikation weiter nach vorne gerückt. Sach-, Raum- und Materialbegrenzungen, Methoden und Theorien können so deutlicher nachgeordnet erscheinen. Das alles läßt dem erwünschten Methodenund Theorienpluralismus mehr Raum, die Auswahl, Zusammenordnung, Abgrenzung und Klassifizierung der „Sachgebiete“ wird freier, und die Suche nach der „einen Wahrheit“ verliert ihre Dringlichkeit.
XXVI
Geleitwort / Foreword / Avant-propos
Eine deutliche Schärfung ihrer Konturen hat die auf ca. 35 B ände geplante HSK-Reihe schon im Laufe des Erscheinens der ersten 14 B ände (mit bisher 25 Teilbänden) erfahren; sie betrifft die „Internationalität“ der einzelnen B ände. Dabei war zu berücksichtigen, daß weder der Stand der B earbeitung bestimmter linguistischer und kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen zu allen Themen gleich weit gefördert, noch überall ein vergleichbar starkes und detailliertes Interesse dafür vorhanden ist. So tritt in der HSK-Reihe im B ereich von Sprachgeschichte und Sprachstruktur über das Deutsche hinaus eine gewisse Eurozentrierung auf die skandinavischen, slavischen und romanischen Sprachen hervor, während bei systematischen Themen für die Darstellung und für die B earbeitungstiefe nur die Aktualität, Explizitheit und vor allem die Qualität der vorliegenden Forschung eine Rolle spielen können. Heinz Wenzel war bei der Gründung der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft maßgeblich beteiligt; es war ihm leider nicht vergönnt, das Erscheinen dieses B andes mitzuerleben. Er ist am 3. 4. 1998 gestorben. Wir gedenken seiner in achtungsvoller Trauer. im April 1998
Hugo Steger Herbert Ernst Wiegand
Foreword In spite of some criticism of details, the series Handbooks on L inguistics and the Communication Sciences (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, HSK) has been received with a predominantly positive echo by researchers, academic teachers, and participants in the general evaluative discourse. This gives us the chance and the courage to envisage a new generation of handbooks consisting of improved re-editions and of newly conceived volumes. We will use the modern media for them if this enhances their usability and does not merely add a fashionable touch. We are doing this together with the publisher, who has produced and produces the HSK-series without any public financial support, and with the old and new editors of the individual volumes. The handbooks of the second generation make their appearance with the three-volume work L anguage History (Sprachgeschichte), which has retained its subtitle A handbook of German language history and its investigation (Ein Handbuch zur deutschen Sprachgeschichte und ihrer Erforschung) and which is an improved re-edition. As a rule, such new editions of HSK-volumes will appear only after at least fifteen years of publication and, in the case of multi-volume-works, not before the publication of the second printing of the last volume. They have the purpose of including adequately the often rapid development of research into questions, methods, and theories, and, where pertinent, the new demarcations of empirical domains. Moreover, they have the purpose of documenting all this bibliographically. Some of the handbooks appeared at a time when two political systems excluded each other and competed in the world and when the results of research, data, etc. were either not available at all or could be provided only with delays and incompletely, e. g. via emigrants, as was the case with HSK 5.1—5.3 on Dictionaries. In this respect, an important task arises for the planning and production of new editions which can only be fulfilled in collaboration with the coming generation of young researchers.
Geleitwort / Foreword / Avant-propos
XXVII
Almost totally new conceptions will be elaborated where problems and fundamental data and also theoretical and methodical approaches have been essentially changed and enlarged during the last decade, as is the case in computer linguistics and linguistic technology or, for example, in dialectology, where a new generation of speech atlases is being developed and the whole discipline is on the point of being integrated into a new comprehensive 'linguistics of varieties'. This will make the handbook suitable for presenting wide areas of recent research. The improved re-editions and the newly conceived volumes can lend the general concept of the HSK-series a still more distinct profile. This concept aims at making the network of problems belonging to linguistics and the communication sciences appear as belonging to one academic field. (See Introduction to HSK 1.1, p. VIII.) Communication between human beings, like the basic problem of communication in nature, will be foregrounded as a question of the predisposition towards language and communication. This gives us a chance to place the limitations of substance and material, of methods and theories in the background. In so doing we gain more space for the highly welcome variety of methods and theories. The selection, arrangement, demarcation, and classification of disciplinary domains become freer and the search for 'an eternal truth' loses its immediacy. The HSK-series, planned for about thirty-five volumes, already gained a more distinct profile during the years when the first fourteen titles (with up to at present twenty-five volumes) appeared. This pertains to the international character of the individual volumes. The editors had to consider that the degree of elaboration of problems in linguistics and in the communication sciences was neither the same in all countries nor had the individual topics created a similar interest everywhere. In the areas of language history and language structure this leads to a Eurocentric interest in the Scandinavian, Slavonic, and Romance languages (besides German), whereas other topics can only be treated by description and in-depth analyses as far as topicality, explicitness, and, above all, the quality of research are concerned. Heinz Wenzel had an important share in the foundation of the series Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. He did not live to see the appearance of this volume. He died on April 3, 1998. We remember him with respect and sorrow. April 1998
Hugo Steger Herbert Ernst Wiegand
Avant-propos La collection Manuels de linguistique et des sciences de communication (MLSC) a rencontré en dépit de quelques objections un accueil éminemment positif auprès des spécialistes de la recherche et de l'enseignement universitaire. Ceci nous autorise et nous encourage à programmer une nouvelle génération de manuels qui se composera tant d'éditions refondues et mises à jour que de conceptions nouvelles et dans lesquels, pour améliorer les possibilités d'utilisation, on recourra aux nouvelles techniques multimédias chaque fois que leur utilité est incontestable. Nous le faisons avec le concours des éditeurs — anciens et nouveaux — des divers tomes et en coopération avec la maison W. de Gruyter qui publie les volumes sans aucune subvention. La seconde génération commence par la parution de trois volumes refondus et mis à jour du manuel Sprachgeschichte (Histoire de la language) qui garde son sous-titre Manuel de l'histoire de la langue allemande et de son étude. Les refontes des manuels MLSC paraissent au plus tôt au bout de 15 ans. Pour les manuels à plusieurs volumes cette règle s'applique à l'écart entre le premier volume de la première édition et le dernier volume de la seconde édition. Les
XXVIII
Geleitwort / Foreword / Avant-propos
refontes ont pour but de prendre en compte de façon adéquate l'évolution souvent rapide des problématiques, des méthodes et des théories, de même que l'élargissement éventuelle ou la restructuration des domaines de recherches empiriques, sans oublier la mise à jour des bibliographies. Ceci est particulièrement vrai pour certains volumes (tels que les vol. 5.1—5.3 Dictionnaires), parus à une époque où — le monde étant divisé en deux systèmes idéologiques rivaux et imperméables l'un à l'autre — bien des résultats de recherche et autres données n'étaient accessibles qu'avec retard ou de façon lacunaire (par ex. par le truchement d'émigrés), ce qui fait de la réalisation des éditions refondues une tâche importante qui ne peut être menée à bien qu'avec le concours de nouvelles génération de chercheurs. Là où les données et les problématiques ainsi que les approches théoriques et méthodiques ont connu au cours de la dernière décienne une transformation radicale et un élargissement considérable — comme par ex. dans le domaine de la linguistique informatique et de la technologie des langues ou encore dans celui de la dialectologie qui voit naître une nouvelle génération d'atlas linguistiques et voit sa discipline s'intégrer dans une linguistique des variétés de langues — dans tous ces domaines, les manuels pour se prêter à la description de nouveaux paysages de recherche feront l'objet de conceptions nouvelles. En réalisant d'une part des éditions refondues et mises à jour et d'autre part conceptions nouvelles, on peut accentuer l'intention fondamentale de la collection MLSC qui est de montrer la linguistique et les sciences de communication comme appartenant à un domaine commun. (cf. MLSC 1.1, Geleitwort, p. VIII.) La communication entre les hommes ainsi que tout problème de communication dans la nature sont mis en relief en tant qu'aptitude à parler et à communiquer. De cette façon les contraintes objectives et matérielles ainsi que les méthodes et les théories révèlent plus clairement leur rôle subsidiaire. Le pluralisme des méthodes et des théories est favorisé; la sélection, l'organisation, la délimitation et la classification des diverses matières est facilitée et la recherche d'une quelcone «vérité» perd de son importance. Au cours de la parution des 14 premiers volumes (25 tomes), la collection MLSC qui doit comprendre environ 35 volumes a bénéficié d'une amélioration incontestable au niveau de l'internationalé. Or, non seulement la recherche concernant certaines questions de linguistique et des sciences de communication ne connaît pas un développement comparable dans tous les pays, mais encore la curiosité scientifique varie fondamentalement selon le lieu et le thème. Dans le domaine de l'histoire et de la structure des langues on constate ainsi une certaine concentration sur l'allemand d'une part et d'autre part sur les langues européennes que sont les langues scandinaves, slaves et romanes, alors que pour les sujets systématiques seules comptent en matière de description l'actualité, l'analycité et surtout la qualité des résultats de recherche. Heinz Wenzel a contributé considérablement à la fondation de la collection MLSC. Il ne lui a malheureusement pas été donné d’assister à la parution de ce volume. Il est décédé le 3 avril 1998. Nous adressons à sa mémoire le profond témoignage de notre vive reconnaissance. Avril 1998
Hugo Steger Herbert Ernst Wiegand
XXIX
Vorwort zur 2., vollständig neu bearbeiteten und erweiterten Auflage 1. Der Ausgangspunkt 2. Leitlinien der Konzeption 3. Leitlinien der Gliederung 4. Einzelerläuterungen zur Gliederung 5. Zur Geschichte der zweiten Auflage und Danksagungen
1. Der Ausgangspunkt Die erste Auflage des Handbuches Sprachgeschichte hat in erstaunlich kurzer Zeit ihren Weg sowohl in die wissenschaftlichen und die großen öffentlichen Bibliotheken wie in die Arbeitszimmer der Sprachhistoriker und anderer an Sprachgeschichte und Sprachgeschichtsschreibung Interessierter gefunden. Das Handbuch ist damit bereits wenige Jahre nach seinem Erscheinen zum anerkannten Hilfsmittel akademischer Lehre und akademischen Lernens geworden; in beachtlichem Ausmaß hat es forschungsleitende Anstöße gegeben wie interdisziplinäre Beachtung — etwa in der Romanistik, Anglistik und Indogermanistik — gefunden. Diese Einschätzung vermitteln auch die zahlreichen, zum Teil im Umfang von Zeitschriftenartikeln erschienenen Rezensionen. Sofern Kritik geäußert wird, bezieht sich diese auf Einzelartikel oder bestimmte Einzelteile der Konzeption, nicht aber auf deren Gesamtanlage. Dem Verlag und den Herausgebern (so hier, teilweise auch im folgenden zusammenfassend für: die Herausgeberin und die Herausgeber) sind folgende, in Umfang und Inhalt über bloße Anzeigen hinausgehende Rezensionen bekannt geworden: Dallapiazza, Michael, Bestandsaufnahme der deutschen Sprache. In: DAAD Letter 1, 1986. Sowinski, Bernhard in: G ermanistik 26, 1985/1, 42—43 [für Halbband 1] und 27, 1986/3, 502 [für Halbband 2]. Kyes, Robert L. in: Michigan Germanic Studies 12/1, 1986, 71—73. Baldinger, Kurt in: Zeitschrift für romanische Philologie 103 (H. 5/6), 1987, 511—518. Bauer, Erika in: Leuvense Bijdragen 76, 1987, 525—531. Ebert, Robert Peter in: Beiträge zur G eschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 109, 1987, 274—288. G örlach, Manfred in: Word 36, 1985, 266—269 [für Halbband 1] und 38, 1987, 209—216 [für Halbband 2]. Hundsnurscher, Franz in: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 98/4, 1987, 144—171. Janota, Johannes in: Literature, Music, Fine Arts 20 (Nr. 2), 1987, 101—102. Keller, R. E. in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 106/1, 1987, 146—154. Olt, Reinhard, Vom Indogermanischen zur Mediensprache. Ein Handbuch zur G eschichte des Deutschen in zwei Bänden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 181/1987, 8. August, S. 6. Wolff, Gerhart in: Wirkendes Wort 37, 1987, 176—179. Lee, Dok-Ho, Was ist Sprachgeschichte? [Übersetzt aus dem Koreanischen]. In: Germanistik [koreanisch] 1994, 1—42. Olt, Reinhard in: Muttersprache 1988/2, 164—166. Seebold, Elmar in: Indogermanische Forschungen 93, 1988, 274—280.
XXX
Vorwort zur zweiten Auflage
Fleischer, Wolfgang in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 42, 1989, 260—264. Penzl, Herbert in: Language 65/3, 1989, 637—641. Voorwinden, Norbert in: Modern Language Review 82/4, 1987, 1012—1015. Brandt, Gisela in: Zeitschrift für Germanistik 6, 1990, 730—733. Heringer, Hans Jürgen in: Sprache und Literatur 66, 1990, 110—111.
2. Leitlinien der Konzeption Die Herausgeber haben anerkennende und kritische Aussagen der Rezensionen und sonstiger Bezugnahmen auf das Handbuch systematisch gesammelt und gewichtet. Sie haben sich außerdem bemüht, die seit der Mitte der achtziger Jahre erschienene Literatur zur Sprachgeschichte des Deutschen sowie zur Theorie und Methode der Sprachgeschichtsschreibung generell zu registrieren; dabei wurde auch der geschichtlichen Erforschung der Nachbarsprachen konstante Aufmerksamkeit gewidmet. Einige der in der ersten Auflage des Handbuches zwar angelegte, aber noch nicht hinreichend entfaltete Ideen konnten auf diese Weise stärker gewichtet und eine Reihe neuer Ideen entwickelt werden. Aus all dem ergibt sich folgendes Verhältnis der zweiten zur ersten Auflage: (1) Die Aufgabe des Handbuches (wie wir sie sehen), seine allgemeine sprachtheoretische und methodische Ausrichtung, die G rundlinien seiner Inhaltsgliederung und der Kapitelfolge, damit eine hohe Anzahl seiner Artikel(titel) blieben erhalten. Das Vorwort zur ersten Auflage wird, damit die angedeuteten programmatischen Aussagen nicht wiederholt werden müssen, hier in voller Länge (in Petitsatz) wieder abgedruckt. Stichwortartig seien zusätzlich die Schwerpunkte zusammengestellt, auf die es uns in besonderer Weise ankam und weiterhin, zum Teil verstärkt, ankommt: ausgewogene Beschreibung aller hierarchischen Systemebenen der Sprache von der Phonemik/G raphemik aufwärts über die Flexions- und Wortbildungsmorphologie, die Lexik und Syntax bis hin zur Textgeschichte; vergleichbar ausführliche Berücksichtigung der Systemgeschichte des Deutschen wie der G eschichte aller seiner räumlichen, zeitlichen, sozialen, fachlichen und sonstigen gruppenbestimmten Varietäten sowie der gesprochenen und der geschriebenen Sprache; konsequente Beachtung des Zusammenhangs von Sprachgeschichte und kulturellem Funktionszusammenhang der Sprache und des Sprechens; Herausstellung des Wechselverhältnisses von Sprachgeschichte und Kulturgeschichte sowie von Sprachgeschichts- und Kulturgeschichtsschreibung; Betonung der Bezüge zwischen Sprach- und Literaturgeschichte wie der darauf bezogenen Wissenschaften; Heraushebung der Europäizität des Deutschen. (2) Aus diesen Zielsetzungen ergaben sich einige eingreifende Veränderungen auf der Makroebene, also in der Kapitelgliederung; diese können Kapitelzusammenfassungen, Kapitelspaltungen und Hinzufügungen neuer Kapitel sein. So wurde (als Kapitelzusammenfassung) die historische Betrachtung des alten Kapitels IV (Wissenschaftshistorische Stufen sprachgeschichtlicher Forschung II: Geschichte der Sprachgeschichtsforschung nach Beschreibungsebenen) mit der systematischen des Kapitels V (Bausteine einer Prinzipienlehre und M ethodik der Beschreibung historischer Sprachstufen nach Beschreibungsebenen) zu nunmehr IV. Geschichte und Prinzipien der Sprachgeschichtsforschung nach Beschreibungsebenen verbunden. Umgekehrt erfuhren drei Kapitel eine Spaltung: — XIV. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen VI: Das Neuhochdeutsche in seiner Entwicklung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert wurde auf die Zeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts beschränkt (als neues Kap. XIII); hinzukam demzufolge: XIV. Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache seit der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Vorwort zur zweiten Auflage
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— XV. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung im Gesamtüberblick wurde zu nunmehr XV. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung im Gesamtüberblick I: Pragmatische und soziologische Aspekte und XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung im Gesamtüberblick II: Sprachsystematische Aspekte. — VII. Das Deutsche im Sprachkontakt wurde zu (nunmehr) XIX. Das Deutsche im Sprachenkontakt I: Systematische und soziologische Aspekte und XX. Das Deutsche im Sprachenkontakt II: Aspekte der Sprachgrenzbildung des Deutschen. Neu hinzugefügt wurden die Kapitel VII. Aspekte einer europäischen Sprachgeschichte und XVIII. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen. Die Einzelerläuterungen zur G liederung (s. u. Abschn. 4) geben über die Veränderungen und deren Begründung weitere Auskunft. (3) Auf der Mikroebene (= Artikelebene), und zwar innerhalb nahezu aller Kapitel, erfolgten Modifikationen alter Titelformulierungen, Erweiterungen, Kürzungen und in vielen Fällen Hinzufügungen neuer Artikel; in einer Reihe von Fällen wurden Umstellungen in neue Kapitelzusammenhänge vorgenommen. Alle Artikel, auch die im Titel unveränderten, wurden einer Neuredaktion unterzogen; die Neufassung schwankt zwischen geringfügigen Nachträgen und der Formulierung eines vollständig neuen Textes. Dies letztere ist nahezu immer dann der Fall, wenn die Autorschaft gewechselt hat. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Verzeichnung neuer Forschungsliteratur gewidmet; eine maßvolle Vermehrung von Skizzen, Tabellen und Abbildungen dient der Erhöhung des Dokumentations- und Veranschaulichungswertes des Handbuches. Das Handbuch behält damit die Aufgabe, — die wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Sprachgeschichtsforschung des Deutschen zusammenfassend darzustellen, — diese Ergebisse in ihrer jeweiligen sozialhistorischen, wissenschaftsgeschichtlichen, sprachtheoretischen und methodischen Bindung zu erhellen, — aus der Übersicht über die Forschungsergebnisse und aus der Kenntnis ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Bindung auf Ergebnis-, Theorie- und Methodenlücken hinzuweisen und damit neue wissenschaftliche Perspektiven anzudeuten, — die Grundzüge einer heutigen Ansprüchen genügenden Prinzipienlehre und Methodik der Sprachgeschichtsforschung zu erarbeiten und in ihrer Problematik sowie Leistungsfähigkeit zu diskutieren, — im Zusammenhang damit den Gegenstand der Sprachgeschichtsforschung so zu begründen, daß Sprechen und Schreiben einerseits in ihrer sozialen, arealen, situativen, literarischen und allgemein kulturgeschichtlichen Heterogenität und andererseits in ihrer Systemhaftigkeit erkannt werden, — dies alles so zu tun, daß einer Vielzahl von Leserinnen und Lesern bei der Lektüre der drei Teilbände die Überzeugung vermittelt wird: tua res agitur, es ist Deine Geschichte, Deine Gegenwart, Deine Zukunft, letztlich Deine kulturelle Identität, die hier behandelt wird. Mit diesen Zielen wendet sich das Handbuch auch in seiner zweiten Auflage zunächst an alle diejenigen, die sich in Forschung und Lehre mit der Geschichte der Einzelsprache Deutsch und seiner Erforschung befassen. Einzelne Kapitel des Handbuches, insbesondere die auf die gesellschaftliche Verflechtung der Sprachgeschichte sowie auf die Theorie und Methode der Sprachgeschichtsforschung bezogenen Handbuchteile, haben einen systematischen Aussagewert für die Erforschung anderer, unter vergleichbaren Aspekten behandelbarer Einzelsprachen zumindest des europäischen Raumes. Sofern das Handbuch am Beispiel des Deutschen allgemeine Gesichtspunkte der Geschichte einer Sprache behandelt, sind die Vertreter der Allgemeinen Sprachwissenschaft angesprochen. Außer den in sprachwissenschaftlicher Forschung und Lehre Tätigen zählen aber auch alle anderen an der deutschen Kulturgeschichte (im weitesten Sinne) Interessierten zum Adressatenkreis des Handbuches. Für sie ist Sprachgeschichte relevante Nachbardisziplin; sie ist G rundwissenschaft, insofern sie Möglichkeiten und G renzen des Textverstehens bestimmt
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und damit historische, darunter z. B. literatur-, rechts-, begriffs-, ideen-, geistes-, sozial-, theologiegeschichtliche Forschung wissenschaftlich fundiert; sie ist Hilfsdisziplin, sofern sie — wie die Namenkunde — besondere Quellenmaterialien erschließt und auswertet oder — wie die Editionsphilologie — wissenschaftlich aufbereitete Quellentexte anbietet. Die theoretische Basisausrichtung auch der zweiten Auflage liefert die seit dem 19. Jahrhundert in wechselnden zeitgeschichtlichen Varianten vertretene kulturhistorisch orientierte Sprachforschung. Das ist diejenige Konzeption, die den Sprachgebrauch prinzipiell in Wechselbeziehung zu dem kulturellen, sowohl materiellen wie geistigen, Umfeld sieht, aus dem heraus sprachliche Äußerungen ihren Sinn erhalten und zu dessen Konstituierung und G eschichte sie ihrerseits beitragen. Es ist damit gleichzeitig diejenige Konzeption, die den Brükkenschlag zu den Erkenntnisanliegen anderer historischer Disziplinen am ehesten zu vollziehen in der Lage ist und Sprachgeschichtsforschung als Teil einer umfassenden Traditionsforschung begründet; sie leistet infolge dieser Ausrichtung einen Beitrag zu den von Schule und Kulturinstanzen seit dem vorigen Jahrhundert getragenen Bemühungen, die jeweilige zeitgenössische Konstellation der G esellschaft als Ergebnis von G eschichte zu begreifen. Indem die kulturhistorisch orientierte Sprachforschung die Heterogenität des sprachlichen Handelns als wichtigen G egenstand sieht, erhält der textliche Überlieferungsbestand eine herausragende Rolle für die damit empirisch begründete Methodik. Alle Konstruktionen historischer Systeme (durch welche geschichtswissenschaftlichen Einzeldisziplinen auch immer) gehen von der Überlieferung aus oder werden, wo sich deduktive Bauteile als notwendig erweisen, fortwährend auf diese zurückbezogen. Sie haben die Funktion, die zugrundegelegte empirische Basis auf eine jeweils bestimmte Weise überschaubar zu machen und spiegeln Sprachgeschichtsschreibung damit als eine interpretative Disziplin. Dieses Konzept hat Auswirkungen auf die im Handbuch erstrebte und weitgehend realisierte Fachsprache, darunter die Fachterminologie. Wenn Sprachgeschichte ein integraler Bestandteil von G eschichte überhaupt und Beschäftigung mit Sprachgeschichte der Ausdruck des Interesses geschichtsbewußter Menschen an der Tradition ist, dann überschreiten Sprachgeschichte und Sprachgeschichtsforschung den engen Rahmen, der einem einzelnen Fach hinsichtlich seines G egenstandes wie seiner Rezipientengruppen üblicherweise gesetzt ist; sie suchen vielmehr bewußt den weiteren Horizont des öffentlichen, auch des politischen Interesses. Fachsprache muß dann eine zur Normalsprache hin offene Variante der allgemeinen Bildungssprache und damit jedem einschlägig Interessierten verständlich sein.
3. Leitlinien der Gliederung Die inhaltliche Grundgliederung der zweiten Auflage ist — entsprechend derjenigen der ersten Auflage — dadurch gekennzeichnet, daß in einem ersten Kapitelblock (I—III/IV) die generelle Verflechtung der Sprachgeschichte mit der Kulturgeschichte (so Kap. I) und der Sprachgeschichtsforschung mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Kulturbegriff (Kap. II) sowie den jeweils zeitgenössischen Erkenntnisanliegen der Sprachgeschichtsforschung (Kap. III/IV) zum Ausdruck kommt. Dem schließt sich ein zweiter Block (Kap. IV und V) mit dem Ziel an, G rundzüge einer Prinzipienlehre der Sprachgeschichtsforschung zu entwickeln und im Zusammenhang damit zentrale theoretische und methodologische Problemfelder zu diskutieren. Die Kapitel VI bis XXI sind insgesamt der Beschreibung des Faktenmaterials gewidmet, das die germanistische Sprachgeschichtsforschung seit dem 19. Jahrhundert erarbeitet hat. Den zentralen Teil dieses Blockes bilden die Kapitel VIII bis XIV, die das eigentliche materiale Corpus der deutschen Sprachgeschichte, nämlich die historischen Sprachstufen des Deutschen vom Althochdeutschen bzw. Altniederdeutschen (Altsächsischen) an bis zum Neuhochdeutschen der G egenwart, abhandeln. Diesem Block sind zwei die linguistische Einordnung und kulturgeschichtliche Einbettung des Deutschen betreffende Kapitel vorgeschaltet. Das erste
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von ihnen verfolgt den Zweck, seine grundlegende systematische, d. h. hier: genealogische und typologische Einordnung (Kap. VI) zu beschreiben, das zweite stellt das Deutsche entlang der Zeitlinie in den Zusammenhang mit der G eschichte der Bildungs- und der Nachbarsprachen, so daß sich relevante Aspekte einer europäischen Sprachgeschichte (Kap. VII) ergeben. Dem auf die Sprachstufen bezogenen Block folgen zwei Kapitel (XV und XVI), deren Gegenstand nur epochenübergreifend zu behandeln ist, und zwar ein erstes, das auf pragmatische (Kap. XV) und ein zweites, das auf sprachsystematische Aspekte (Kap. XVI) zentriert ist. — Die Kapitel XVII bis XXI haben sehr unterschiedliche, bisher zum Teil in Spezialdisziplinen der Sprachgeschichtsforschung behandelte G egenstände, nämlich die Regionalsprachgeschichte anhand ausgewählter Beispiele (Kap. XVII), die Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen (Kap. XVIII), das Deutsche im Sprachenkontakt, und zwar sowohl unter systematischen und soziologischen (Kap. XIX) wie unter arealen, vor allem auf die Sprachgrenzbildung bezüglichen Aspekten (Kap. XX), schließlich die Namengeschichte (Kap. XXI). Alle Kapitel haben, soweit die Unterschiedlichkeit der G egenstände dies zuläßt, gewisse Parallelen in ihrer internen Gliederung. So behandeln die auf die historischen Sprachstufen des Deutschen bezogenen Kapitel (VIII bis XIII), analog dazu auch das auf die epochenübergreifenden sprachsystematischen Aspekte bezogene Kapitel (XVI), das Sprachsystem jeweils nach seinen hierarchischen Rängen, und zwar aszendent von der Phonologie/G raphematik über die Flexionsmorphologie, Lexik, Syntax, Wortbildung bis hin zu den Texten. Für die einzelnen Sprachstufen verbinden sich damit Einzelartikel über die soziokulturellen Voraussetzungen und den Sprachraum, über die Reflexe gesprochener Sprache, über die Diagliederung. Entwicklungen, die für eine einzelne Sprachstufe spezifisch sind, werden jeweils gegen Ende des Kapitels in eigenen Artikeln dargestellt. Es hängt mit dem sprachhistorischen Kenntnisstand zusammen, daß die Anzahl dieser Artikel mit dem Fortschreiten der Zeit zunimmt und im Kapitel über das Neuhochdeutsche seit der Mitte des 20. Jahrhunderts (XIV) die G liederung nach Rangebenen schließlich ganz ersetzt. — Weitere kapitelinterne Strukturierungsgesichtspunkte liefern die Zeitgliederung (in besonderer Weise für die Kapitel III, VII, XVIII) sowie die Raumgliederung des Deutschen (Kap. XVII) bzw. die räumliche Lage seiner Nachbarsprachen (Kap. XIX, XX).
4. Einzelerläuterungen zur Gliederung Kapitel I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte hat die Verflechtung von Sprach- und Kulturgeschichte als G egenstand. In einem einleitenden G rundsatzartikel werden G eschichts- und Sprachgeschichtsauffassungen sowie ihre Umsetzung in praktische Forschung beschrieben und diskutiert sowie die möglichen Sichtweisen des Verhältnisses von Sprache und Kultur vorgestellt. Die folgenden Artikel schließen sich dem mit der Zielsetzung an, verschiedene Einzelaspekte der Verflechtung am Beispiel einiger für die Sprachentwicklung besonders relevanter Kulturbereiche zu erörtern. Diese sind: G esellschaft generell, Institutionen, Kirche, Recht, Politik, Wirtschaft, Alltag, Volkskultur, Technik, Philosophie, Naturwissenschaften. Die Artikel 14 bis 19 nehmen auf G egebenheiten Bezug, die die Text- und Überlieferungsgeschichte des Deutschen als gemeinsamen Nenner haben. Kap. I dokumentiert mit diesen Inhalten wie auch mit seiner Stellung am Anfang des gesamten Handbuches das G ewicht, das die Herausgeber der Einbettung der Sprachgeschichte in die Kulturgeschichte sowie umgekehrt der Sprachabhängigkeit und sprachlichen Erscheinungsform vieler Kulturbereiche zumessen. Die Neuaufnahme von Artikeln zur Rolle des Alltags, der Institutionen und der Technik gegenüber der ersten Auflage unterstreicht das Bestreben. Die Thematisierung des gesellschaftlichen Verständnisses der Sprachgeschichte in einem eigenen, gegenüber der ersten Auflage ebenfalls etwas erweiterten Kapitel (II) zielt auf die
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Herausarbeitung der Tatsache, daß Sprachgeschichte im Laufe der Kulturgeschichte höchstens nach dem Selbstverständnis einiger Wissenschaftler und nur sehr zeitweilig als zweckfreie Wissenschaft betrieben wurde, daß sie vielmehr seit jeher Erkenntnisinteressen vertrat, die — wie z. B. die postulierte grammatische und lexikalische Reinheit des Deutschen, seine Rückverlängerung in eine möglichst lange Vorgeschichte, seine Bindung an ein Volk — in Parallele zu verwandten gesellschafts- und bildungspolitischen Zielen der jeweiligen Zeit standen. Die Einzelartikel des Kapitels, darunter die beiden neu aufgenommenen (Art. 20 und 23), beschreiben diese Interessengeschichte entlang der Zeitlinie sowie hinsichtlich besonders brisanter Einzelaspekte. Die Wissenschaftsgeschichte der Historiolinguistik als G egenstand von Kapitel III ist schon deshalb von besonderem Interesse, weil Sprachgeschichtsschreibung immer wissenschaftshistorisch bedingter Entwurf ist und ihre Ergebnisse trotz der für sie in der Regel beanspruchten Faktizität als zeitgebunden anzusehen sind. Als ebenso wesentlich erachtet es das Herausgeberteam, daß die Sprachgeschichtsforschung in ihrer fast 200 Jahre (und rund drei Jahrhunderte Vorgeschichte dazu) umfassenden Entwicklung als eigener (im heutigen Sinne) wissenschaftlicher Disziplin einen derartigen Katalog an theoretischen Annahmen, an Fragestellungen, an Methoden und Ergebnissen, überhaupt an Erfahrungs- und Kenntnisreichtum (in welchem Sinne auch immer) erarbeitet hat, daß deren Ausblendung notwendigerweise zu Einseitigkeiten und Verkürzungen in den Fragestellungen führen müßte; schließlich ist ja auch heutige geisteswissenschaftliche Forschung zeitgenössischer Entwurf und insofern der Sprachgeschichtsschreibung früherer Epochen (etwa des 19. Jahrhunderts) systematisch ähnlich, jedenfalls nicht von vorneherein überlegen. Die Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte bietet mithin eine gewisse Gewähr dafür, daß man bei moderner Theorie- und Methodenentwicklung der kritischen Reflexion des eigenen Standpunktes einen hohen Stellenwert einräumt, um auch nicht hinter den Stand des Erreichten zurückzufallen (so viel Fortschrittsglaube muß erlaubt sein). — Die Einzelartikel des Kapitels behandeln entlang der Zeitlinie die bedeutendsten wissenschaftshistorischen Epochen bzw. Forschungsparadigmen; nacheinander sind dies die Zeit vom Humanismus bis zur Aufklärung (Art. 27), die von der Romantik geprägte erste Hälfte des 19. Jahrhunderts (Art. 28), die Zeit der Junggrammatiker (Art. 29), die Sprachgeographie (Art. 30), der Strukturalismus (Art. 31) und Generativismus (Art. 32) und in jüngster Zeit pragmatische Ansätze (Art. 33). Kapitel IV. Geschichte und Prinzipien der Sprachgeschichtsforschung nach Beschreibungsebenen entwirft eine moderne Prinzipienlehre und Methodik der Sprachgeschichtsschreibung, und zwar erstens als selbst historischen, damit vorläufigen Endpunkt einer langen theoretischen und forschungspraktischen Entwicklung und zweitens als systematische Zusammenfassung heute diskutierter einzelphilologischer und allgemein linguistischer sprachtheoretischer und methodischer Anliegen. Die einzelnen Artikel des Kapitels bestehen demzufolge aus jeweils zwei ineinandergreifenden Teilen; in ihrem ersten werden pro Beschreibungsebene (G raphematik/Phonologie, Morphologie, Wortbildung, Lexikologie, Syntax, Textologie) die zentralen Theoreme und Methoden der Sprachgeschichtsschreibung (im wesentlichen seit dem 19. Jahrhundert), darunter die Sprachauffassung, die G egenstandsbestimmung, die Ergebnistypen und die Art ihrer Präsentation, genannt und als zeitgebunden beschrieben. Mit diesem ersten Teil ergänzen die Artikel des Kapitels IV die auf wissenschaftshistorische Stufen bezogenen Darstellungen des Kapitels III unter den spezifischen Aspekten der jeweiligen Systemebene. Der zweite Teil der Artikel entwickelt darauf aufbauend unter Beachtung historischer Kontinuitäten und gleichzeitig unter Aufweisung von Brüchen die G rundzüge einer sich der Unverbindlichkeit rein historischer Registration entziehenden, modernen wissenschaftlichen Ansprüchen wie auch Erkenntnisinteressen genügenden Prinzipienlehre und Methodik der Sprachgeschichtsschreibung. Dieser Teil impliziert insofern ein wissenschaftliches Bekenntnis, als pro Beschreibungsebene z. B. zu formulieren ist, wie G eschichtlichkeit, Sprache, Sprachwandel usw. verstanden werden sollen, wie eine auf einem ausformulierten G eschichts- und Sprachverständnis beruhende Methodik operieren kann, wie das Verhältnis von
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Heterogenität und Systematik des Quellenbefundes zu gewichten ist, wie die Ergebnisse fachstilistisch gegenüber einer historisch interessierten Öffentlichkeit oder gegenüber einem engen Fachpublikum präsentiert werden sollen, von welcher Art sie sein müssen, um von Nachbardisziplinen wie z. B. der Literaturwissenschaft, Theologie, Rechtsgeschichte usw. rezipiert zu werden. — Eingelagert in das Kapitel sind einige Artikel über Gegenstände, denen wie der historischen Lexikographie (Art. 38), den Indizes und Konkordanzen (Art. 39) ein besonderes praktisches Gewicht zukommt oder denen wie der etymologischen Forschung (Art. 42) ein besonderes theoretisches Interesse entgegengegebracht werden dürfte. Einige den Rahmen des Kapitels IV sprengende, besonders gewichtige methodische und theoretische Problemfelder werden in Kapitel V gesondert behandelt. Dazu zählen die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte (Art. 44), das Verhältnis von Synchronie und Diachronie (Art. 45), der Sprachwandel (Art. 46 bis 49), die Corpusbildung (Art. 50), die historische Sprachgeographie (Art. 51; 52), die Textedition (Art. 53 bis 56) und schließlich das Verstehen altdeutscher Texte (Art. 57). Kapitel VI. Die Darstellung der genealogischen und typologischen Einordnung des Deutschen ergänzt das aus drei Artikeln bestehende Kapitel der ersten Auflage um zwei weitere Artikel, und zwar zu den germanischen Sprachen der Völkerwanderungszeit (Art. 60) und zu den typologischen Unterschieden in den Varietäten des Deutschen (Art. 62). Mit dem erstgenannten Artikel erfährt die Vorgeschichte des Deutschen, mit dem zweiten seine typologische Betrachtung eine gegenüber der ersten Auflage erheblich stärkere Gewichtung. Dies gilt in gleicher Weise für das gesamte, neu eingefügte und besondere Anforderungen stellende Kapitel VII. Aspekte einer europäischen Sprachgeschichte. Ausgehend von der Prämisse, daß sich die G eschichte einer Einzelsprache innerhalb der kulturgeographischen Einheit Europa immer nur in wechselseitiger Beeinflussung, teils in Abgrenzung, größeren Teils in oft nicht erkannter Analogie mit derjenigen anderer Einzelsprachen vollziehen kann, werden einige der großen historischen Weichenstellungen der europäischen Kulturgeschichte auf den Erklärungswert befragt, den sie für die erstaunlichen ausdrucks- und inhaltsseitigen G emeinsamkeiten des Deutschen mit anderen europäischen Sprachen auf allen Rängen von der Graphie und Phonologie bis hin zu den Textsorten haben können. Zu den gemeinten Weichenstellungen zählen die Sprach- und Nationenbildung in Spätantike und frühem M ittelalter (Art. 63), die Christianisierung Europas (Art. 64), das Phänomen Latinität und westeuropäische Volkssprachen (Art. 65) sowie der gesamteuropäische Prozeß der Herausbildung von Schriftsprachen (Art. 66). Diesem Artikelblock schließt sich eine G eschichte der Sprachdominanzen und ihrer Auswirkungen auf die Lehnverflechtung des Deutschen an, und zwar nach der Zeitlinie (Art. 67; 68). Zwei weitere Artikel sind den G emeinsamkeiten und Differenzen im Wortschatz (Art. 69) bzw. in der grammatischen Struktur europäischer Sprachen gewidmet (Art. 70). — Die ersten Artikel dieses Kapitels führen zusätzlich zu denjenigen des Kapitels VI zu besonderer Beachtung der Vorgeschichte des Deutschen. — Die erwähnten besonderen Anforderungen des Kapitels ergeben sich daraus, daß die sprach- und kulturnationalen Isolierungen, denen die einzelnen philologischen und historischen Disziplinen im Laufe ihrer jeweiligen Eigenentwicklungen unterlagen, zu überwinden waren. Die Kapitel VIII bis XIII, die die historischen Sprachstufen des Deutschen zum Gegenstand haben, bleiben in ihrer Anordnung und ihrer internen G liederung nach Beschreibungsebenen gegenüber der ersten Auflage unverändert. Auch die Anzahl und Formulierung der zusätzlichen, nicht auf die Beschreibungsebenen bezogenen Artikel zu den einzelnen Sprachstufen erfahren nur geringfügige Änderungen. Einige Umschichtungen ergaben sich daraus, daß alle das Verhältnis von Sprach- und Literaturgeschichte betreffenden Artikel in der Neuauflage in Kapitel XVIII. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen zusammengestellt sind. Der Inhalt der dem Mittelniederdeutschen und Frühneuhochdeutschen in der ersten Auflage gewidmeten Artikel über die Siedlungsbewegung und Sprachentwicklung im ostniederdeutschen bzw. im ostmitteldeutschen Raum (alte Art. 115 und 128) geht in der neuen Auf-
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lage in den entsprechenden sprachraumbezüglichen Artikeln des neuen Kapitels XVII. Regionalsprachgeschichte auf. Angesichts der Tatsache, daß die Artikel des Kapitels zum Neuhochdeutschen in der ersten Auflage des Handbuches die gesamte Zeitspanne vom 17. bis zum 20. Jahrhundert zu behandeln hatten, fehlte diesen durchgehend der Raum für ein ausführliches Eingehen auf die sprachhistorische Situation und die sprachlichen Entwicklungen nach der Mitte unseres Jahrhunderts. Der dadurch bedingte Verzicht auf eine besondere Beschreibungsintensität für die G egenwartssprache wurde zwar durch einen umfänglichen zusammenfassenden Artikel (in der alten Auflage Nr. 151) mit dem Titel Die Entwicklung der deutschen Sprache seit 1945 und einige diesem vorgelagerte Artikel zu Spezialthemen aufgefangen; es kann aber kein Zweifel darüber bestehen, daß die erste Auflage dem Interesse, das außer den Lehrenden und Lernenden der deutschsprachigen Länder auch die Auslandsgermanistik und die an Sprache interessierte Öffentlichkeit an der jüngsten Sprachgeschichte des Deutschen hat, nicht hinreichend entgegengekommen ist. Das neue Kapitel XIV. Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache seit der M itte des 20. Jahrhunderts spiegelt mit 17 Artikeln das G ewicht, das der jüngsten Entwicklungsphase des Deutschen in der zweiten Handbuchauflage gewidmet wird. — Das Kapitel unterscheidet sich von den vorangehenden sprachstufenbezogenen Kapiteln dadurch, daß die G liederung nach Hierarchieebenen durch eine G liederung nach G egenstandsbereichen ersetzt ist. Thematisiert werden (in teilweise mehreren Artikeln) vor allem die Existenzweisen des Deutschen, sein G ebrauch in mehreren Staaten, seine Stellung innerhalb Europas, die Sprachkritik, die feministische Linguistik, Sprache in den Medien. Die Teilung des alten Kapitels XV. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung im Gesamtüberblick in ein erstes, pragmatische und soziologische Aspekte behandelndes (Nr. XV) und ein zweites, auf systematische Aspekte bezogenes (Nr. XVI) Kapitel erwies sich aus zwei G ründen als notwendig: Erstens sollte den epochenübergreifenden G esichtspunkten ein stärkeres G ewicht verliehen werden; zweitens sollten die im weitesten Sinne pragmatischen G esichtspunkte der Sprachgeschichtsschreibung stringenter von denjenigen geschieden werden, die auf die Geschichte des Sprachsystems zielen. Innerhalb des Kapitels XV wird dem G egenstand „Stadtsprachgeschichte“ mit fünf Artikeln (Art. 160 bis 164; gegenüber nur einem in der ersten Auflage) ein besonderes Gewicht zugemessen. Anhand der Sprachgeschichte der Städte Hamburg, Berlin, Köln, Nürnberg und Wien wird die historische (diachrone) Stadtsprachenforschung als eines der bedeutendsten neueren Arbeitsgebiete der Sprachgeschichtsforschung ausdrücklich herausgestellt. Die Aufmerksamkeit gebührt dabei der Methodik der Erschließung, einer ausgewogenen Zusammenstellung und der Auswertung der Quellen, ferner der Systematisierung der Fragestellungen und der Reflexion der erzielten Ergebnisse. Bei zusammenfassender Betrachtung des Ertrages der fünf Artikel ergeben sich Bausteine einer Methodologie und Prinzipienlehre der historischen Stadtsprachenforschung. — In der Sprachgeschichtsschreibung neu ist der Artikel über Alphabetisierung (Art. 168). Kapitel XVI knüpft an das im Vorwort zur ersten Auflage (dort S. XI) formulierte Desiderat an, analog zu einigen Artikeln der Kapitel X bis XII des Handbuchs Dialektologie wichtige systematische Aspekte der Sprachentwicklung, und zwar nach ihren Beschreibungsebenen, zu behandeln. In der (hier vorgelegten) zweiten Auflage ist das Desiderat weitgehend realisiert. Dies geschieht in einer Artikelfolge, die nacheinander Lautsystementwicklungen, graphematische, flexions- und wortbildungsmorphologische, lexikalische, phraseologische und sprichwortbezügliche sowie syntaktische Entwicklungen in ihren G rundzügen darstellt. Drei stark textlinguistisch orientierte Artikel ergänzen das Programm und dokumentieren auch von dieser Stelle aus das G ewicht, das die Herausgeber der Verbindung von Sprachsystemgeschichte und Textgeschichte (darunter Literaturgeschichte) zumessen. Obwohl Kapitel XVII. Regionalsprachgeschichte einige Artikel der ersten Auflage (nämlich 115; 128; 161—164) fortführt, stellt es eine wesentliche Neuerung der zweiten Auflage dar. Es ist als eine heutigen Fragestellungen und Beschreibungsmöglichkeiten gerecht werdende
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Fortsetzung der berühmten rheinischen, ostmitteldeutschen, nassauischen, oberrheinischen usw. Sprachgeschichten konzipiert und hat die Geschichte der dialektalen Varianten, der in der jeweils behandelten Landschaft verwendeten Schreib- und Druckersprachen, die historische Konstanz und den Wechsel der kulturräumlichen Beeinflussungen, denen die Landschaft unterlag, umgekehrt die vom Einzelraum ausgehenden sprachlichen und literarischen Strahlungen, schließlich und vor allem den jeweiligen landschaftlichen Beitrag zur Entwicklung oder Übernahme hoch- und literatursprachlicher Varianten des Deutschen zu beschreiben. Dabei wird — so weit die Quellen dies erlauben — den gesprochenen Formen der Sprache gleiche Aufmerksamkeit wie den geschriebenen gewidmet. Das Kapitel ist seinem Anspruch nach mit dem Artikelblock zu vergleichen, der innerhalb des Kapitels XV der diachronen Stadtsprachenforschung zugeschrieben wurde: Bei zusammenfassender Betrachtung und Auswertung der Ergebnisse des Kapitels lassen sich Grundzüge einer Prinzipienlehre und Methodik für Regionalsprachgeschichten ableiten. Die in der ersten Auflage an unterschiedlichen Stellen eingeordneten Artikel zur Literatursprache (alte Nr. 3; 104; 156; 159; 170) gehen in der neuen Auflage in Kapitel XVII. Grundlinien einer literarischen Sprachgeschichte des Deutschen auf. Dieses hat u. a. den folgenden G egenstand: das epochenspezifische Verhältnis zwischen Literatursprache und der Sprache nichtliterarischer Texte; diejenigen sprachlichen Formen, an die Literarizität pro Epoche gebunden wird; die soziale und regionale Gültigkeit literarischer Varietäten. Das Deutsche im Sprachkontakt (so formuliert in der ersten Auflage) erscheint nunmehr als Das Deutsche im Sprachenkontakt in zwei Kapiteln mit den Untertiteln Systematische und soziologische Aspekte (XIX) und Aspekte der Sprachgrenzbildung des Deutschen (XX). Die Trennung ergab sich erstens aus dem Anliegen, die Vielfalt der G esichtspunkte der einzelnen Artikel der ersten Auflage auf die systematischen (d. h. phonemischen/graphemischen, morphologischen, lexikalischen und syntaktischen) sowie die soziologischen zu beschränken und dadurch — zweitens — der Sprachgrenzbildung einen eigenen umfänglichen Darstellungsraum zu geben. G egenstand des Kapitels XX ist also die G renze des Deutschen zu seinen Nachbarsprachen für die gesamte Zeitspanne vom Voralthochdeutschen und Voraltniederdeutschen bis hin zu den großräumigen Veränderungen der jüngeren Vergangenheit. So weit es möglich war, werden die G renzen und ihre Verschiebungen kartographisch veranschaulicht. Die Ausführung dieses Programms unterlag Schwierigkeiten ganz besonderen Ausmaßes: Die historischen Verhältnisse im Süden und Südwesten, schon in sich äußerst different, sind vollständig anderer Art als im gesamten Osten; diese wiederum unterscheiden sich grundsätzlich von denjenigen des Nordens; im Nordwesten verkompliziert sich das Bild noch durch die Frage, was eigentlich Deutsch und was Niederländisch ist bzw. was als solches angesehen wird. Entsprechend unterschiedlich sind die methodischen Möglichkeiten der Programmausführung; die Erkenntnismittel der Siedlungs-, Territorial-, Kirchen-, Rechts-, Wirtschafts-, Verfassungsgeschichte wie der politischen Geschichte generell waren ebenso anzuwenden wie diejenigen der historischen Namenkunde, der Sprachgeographie und der auf sprachbezogene Identifizierungen ausgerichteten Sprachbewußtseinsgeschichte. Den Abschluß des Handbuches bildet die Deutsche Namengeschichte im Überblick (Kap. XXI). Sie deckt sich in der Anzahl der Artikel und der Formulierung ihrer Titel mit dem entsprechenden Kapitel der ersten Auflage. — Ein detailliertes Sachregister und ein Namenregister schließen das Handbuch ab.
5. Zur Geschichte der zweiten Auflage und Danksagungen Nachdem sich die Notwendigkeit einer Neuauflage des Handbuches bereits in den späten achtziger Jahren abzeichnete, konnten die Herausgeber langfristig planen. Sie taten dies zunächst im alten Herausgeberkreis, seit Beginn der neunziger Jahre zusammen mit Anne Betten als
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Mitherausgeberin und in enger inhaltlicher Zusammenarbeit mit den Reihenherausgebern Hugo Steger und Herbert Ernst Wiegand sowie im Zusammenspiel mit dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere mit Frau Dr. Brigitte Schöning. Die Herausgeberin und die Herausgeber verstehen die zweite Auflage trotz der in Abs. 2 beschriebenen Konstanzen in Inhalt und Anlage als ein neues Werk. Damit stellte sich zwangsläufig die Frage nach der Autorschaft der einzelnen Artikel. Zu beachten, zu bedenken, gegeneinander abzuwägen und zu gewichten waren G egebenheiten gänzlich unterschiedlicher Art: die Autorschaft in der ersten Auflage, die Wiedervereinigung Deutschlands mit der dadurch ermöglichten G ewinnung der linguistischen Kompetenz der Wissenschaftler eines ganzen (ehemaligen) Staates, die mit dem Fortschreiten der Forschung verbundenen Erwartungen der jüngeren Forschungsgeneration, schließlich auch der Tod oder die schwere Krankheit einer Anzahl von Autorinnen und Autoren der ersten Auflage. Die Herausgeberin und die Herausgeber haben gemeint, die Frage nach der Autorschaft vorwiegend im Hinblick auf die Bedürfnisse der neuen Auflage behandeln zu sollen. Sie danken an dieser Stelle allen Beteiligten für ihre Kooperationsbereitschaft. Die Autorinnen und Autoren haben sich nicht nur zur Übernahme eines oder mehrerer Artikel bereit erklärt und ihre Zusage eingehalten; sie haben sich auch einer G emeinschaftsaufgabe gestellt, haben ihre persönlichen Schwerpunkte in die Konzeption des Handbuches integriert, haben mit den Herausgebern diskutiert und vorgeschlagene Änderungen ihrer Artikel akzeptiert oder mit G ründen abgelehnt. Daß das Handbuch bei der Fülle der Beiträge und der Unterschiedlichkeit der Inhalte doch eine weitgehende G eschlossenheit im Hinblick auf seine Theoriegrundlage, seine Terminologie wie seine Fachsprache allgemein aufweist, ist zum großen Teil das Verdienst der Autoren. — Denjenigen Kolleginnen und Kollegen, die durch Vertragsrücktritt einiger Autoren frei gewordene Artikel übernommen haben, stand oft eine außerordentlich kurze Bearbeitungszeit zur Verfügung; ihnen sei besonders herzlich gedankt. Die Hoffnung der Herausgeber, die zweite Auflage des Handbuches zügiger realisieren zu können als die erste, hat getrogen. Der G rund hierfür liegt sicher zum Teil in der Umfangserweiterung. Es kann aber auch nicht verschwiegen werden, daß die Zeitspanne zwischen Vertragsabschluß und Abgabe der Artikel in vielen Fällen länger wurde. Die Herausgeber bringen dies (auch) in Zusammenhang mit der unbezweifelbaren Tatsache, daß die Belastungen der Hochschullehrer in den Massenfächern sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend gesteigert haben. Sie haben zu einer schleichenden Verdrängung der Forschung aus der konstitutionell durch die Verbindung von Forschung und Lehre gekennzeichneten mitteleuropäischen Universität geführt. Daß diese Hälftung der Infrastruktur schon in wenigen Jahren dazu führen wird, daß Vorhaben wie das Handbuch Sprachgeschichte nicht mehr an den Universitäten realisiert werden können und daß gleichzeitig ein Niedergang der Lehre und damit der wissenschaftlichen Ausbildung der Nachwuchsgenerationen eintreten wird, muß auch hier zu sagen erlaubt sein. Es mag u. a. hiermit zusammenhängen, daß in der zweiten Auflage wesentlich mehr Artikel nicht realisiert werden konnten als in der ersten. Diese waren: Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der M athematik (für Kap. I), Terminologiebildung in der Sprachgeschichtsforschung (für III), Die Geschichte der M etaphorik seit dem 17. Jahrhundert (für XIII), Fachund bildungssprachliche Jargons seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, Norm und Lizenz in der deutschen Standardsprache seit der M itte des 20. Jahrhunderts, Die deutsche Sprache an der Schwelle zum dritten Jahrtausend (jeweils für XIV), Aspekte einer Sprachgeschichte des Schwäbischen (für XVII); möglicherweise kommen weitere hinzu. Die Herausgeber der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Hugo Steger und Herbert Ernst Wiegand, haben die Planung und Vorbereitung der zweiten Auflage von Sprachgeschichte mit Interesse, Engagement und positiver Kritik bis hin zu vielen Einzelratschlägen begleitet. Ihnen sei an dieser Stelle unser herzlichster Dank ausgesprochen.
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Die Einrichtung der Manuskripte für den Druck und die Anlage des Sachregisters erfolgten am Lehrstuhl für G ermanistische Sprachwissenschaft an der Universität Heidelberg durch Anja Lobenstein-Reichmann und Oskar Reichmann; zusätzliche Hilfe, speziell bei der Erstellung des Namenregisters, leistete Silke Bär; ihr und Frau Lobenstein-Reichmann sei sehr herzlich gedankt. Die Kommunikation mit den Autorinnen und Autoren oblag Oskar Reichmann am Heidelberger Lehrstuhl; Frau Ursula Quoos sorgte über Jahre hinweg mit gleichbleibender Zuverlässigkeit für die Ausführung der umfangreichen Korrespondenz. Die Herausgabe eines in der zweiten Auflage dreibändigen Handbuches zur G eschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung stellt in Zeiten knapp werdender Bibliotheksetats ein verlegerisches Risiko hohen Ausmaßes dar. Die Herausgeberin und die Herausgeber danken dem Verlag für die Übernahme dieses Risikos. Die Zusammenarbeit mit Frau Dr. Brigitte Schöning und ihren Mitarbeiterinnen, vor allem Frau Susanne Rade, Frau Heike Plank und Frau Angelika Hermann, gestaltete sich reibungslos. Ihnen sei dafür herzlicher Dank gesagt. Werner Besch (Bonn) 1. Mai 1998
Anne Betten (Salzburg)
Oskar Reichmann (Heidelberg)
Stefan Sonderegger (Zürich)
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Vorwort zur ersten Auflage 1. Die Konzeption des Handbuches: inhaltliche Leitlinien und Gewichtungen Gegenstand der Reihe Handbü cher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft sind nach dem Geleitwort von Gerold Ungeheuer und Herbert Ernst Wiegand „schlicht und unreflektiert [...] Menschen, die miteinander kommunizieren“ (Band 1, Halbband 1, S. VIII). Spezifiziert man diese Gegenstandsbestimmung fü r das Handbuch Sprachgeschichte, so ergeben sich zwei Eingrenzungen: Gegenstand des Handbuchs sind erstens nur die Menschen, die im Laufe der Geschichte miteinander kommuniziert haben, und sie sind es zweitens nur insofern und insoweit, als sie dies nach ihrem eigenen und nach unserem heutigen Urteil ü ber Sprachzugehörigkeit auf deutsch getan haben. Mit der Formulierung, daß es Menschen sind, die den Gegenstand des Handbuches bilden, stellen sich die Herausgeber bewußt in die wissenschaftsgeschichtliche und -theoretische Tradition der seit dem 19. Jahrhundert in wechselnden zeitgeschichtlichen Varianten vertretenen kulturhistorisch orientierten Sprachforschung. Es ist die Tradition, die insgesamt fü r die Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen dominant gewesen ist, die aber dennoch immer in einem weitgehenden Gegensatz zu systemorientierten Wissenschaftsauffassungen stand, insbesondere zur Zeit der Junggrammatiker und in den von der langue-Linguistik geprägten sechziger und siebziger Jahren unseres Jahrhunderts. Die wesentlichen Aussagen dieser Konzeption lauten in heutiger theoretischer Fassung: Sprachen werden von Menschen gesprochen; Sprechen ist Handeln; dies geschieht erstens prinzipiell in kommunikativen Situationen gegenü ber Mitmenschen; es geschieht zweitens unter kommunikationsbedingter Bezugnahme auf eine (vorhandene oder vorausgesetzte oder in der Kommunikation fiktional aufgebaute) Wirklichkeit; und es geschieht drittens nach geschichtlich erlernten, sozial gü ltigen, aber dennoch (oder gerade deshalb) variablen und veränderbaren Regeln. Mit diesen knappen Sätzen ist implizit auf die internen Differenzierungen der Sprache ebenso hingewiesen wie auf ihre Begrü ndung und ihre Rolle im Gesamt von Handlungen, Handlungsbedingungen und Handlungsergebnissen geschichtlich tätiger Individuen und Individuengruppen, nochmals konkreter: in Staat und Politik, in Recht und Wirtschaft, in Kirche, Literatur, Philosophie und Bildung, in Ordnungen des Alltags und in der Organisation der Arbeit. Die Bemü hungen um Einsicht in diese Zusammenhänge haben sich in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten erheblich verstärkt und verstärken sich noch fortlaufend. Die Rezeption und Adaptierung der Spätphilosophie Wittgensteins, der Sprechakttheorie der Englischen Schule, von Richtungen des amerikanischen Pragmatismus in den mitteleuropäischen Ländern sind ebenso (zwar divergente, aber dennoch unbestreitbare) Anzeichen dafü r wie die Beschäftigung mit dem historischen Materialismus und die Diskussion seiner ostmittel- und osteuropäischen Praxisvarianten, wie das Aufkommen einer kommunikativen Dialektologie, die Entwicklung von Ansätzen einer Soziolinguistik, die plötzliche Relevanz des Kommunikationsund Handlungsgedankens in der Literaturwissenschaft und schließlich die neue Rolle des Dialoges in allen Disziplinen der Philosophie. Indem sich die Herausgeber in die Tradition der Bemü hungen um größere Einsicht in die Funktionszusammenhänge von Sprechen und von Sprache stellen, ist eine Beschränkung des Gegenstandes dieses Handbuches auf ein zumindest in der methodischen Isolierung letztlich als ungeschichtlich konzipiertes homogenes System von Zeichen und Regeln ausgeschlossen.
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Im Gegenteil, Sprechen und Sprache sind in all ihren mü ndlichen und schriftlichen Ausprägungen, in ihrer räumlichen, sozialen, gruppenspezifischen und situativen wie selbstverständlich in ihrer geschichtlichen Dimension, in ihren individuellen und sozialen Variationsmöglichkeiten, in ihrer Bedingtheit durch die Kultursysteme und als Bedingung fü r diese zu beschreiben. Dies sollte fü r alle hierarchischen Ebenen der Sprache vom Phonem/Graphem bis zum Text hin erfolgen. Diesem Zweck dienen zwei Kapitel und innerhalb der Kapitel VII bis XV einige Artikelgruppen in ganz besonderer, ü ber die allgemeine Ausrichtung des Handbuches hinausgehender Weise. Kapitel I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte behandelt die Verflechtung der beiden schon im Titel angesprochenen Bereiche in den Artikeln 1 und 2 in einem generellen geschichtstheoretischen Sinne, danach speziell im Hinblick u. a. auf die sprachhistorisch wichtigsten Kulturbereiche Literatur, politische Geschichte, Gesellschaftsgeschichte, Kirchengeschichte, Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Geschichte der Naturwissenschaften, Philosophiegeschichte, Geschichte der Rezeption fremdsprachigen Schrifttums, Schreib- und Schriftgeschichte. Damit wird sowohl das Faktum wie die Forderung dokumentiert, Sprachgeschichtsforschung trotz eines spezifischen Gegenstandes und trotz eigener Theorien und Methoden dennoch in ein offenes Übergangsfeld zu anderen Disziplinen der Traditionsforschung zu stellen. Zu diesen zählt ausdrü cklich auch die Textsortengeschichte, speziell die Literaturgeschichte und als deren Teilbereich die Geschichte der Rezeption fremdsprachiger Texte, darunter der Bibel. Die deutsch sprechenden geschichtlichen Individuen und die sich des Deutschen bedienenden Gruppen stehen in einer ununterbrochenen Folge dichtester kommunikativer Wechelbezü ge mit den Sprechern anderer Sprachen vor allem auf der Ebene von Texten im Kulturbereich Literatur. Die faktische Trennung von Sprach- und Literaturwissenschaft, wie sie seit den sechziger Jahren an vielen mitteleuropäischen Universitäten zur Regel geworden ist, hat zumindest unter dem genannten Aspekt vom Gegenstand her keine Begrü ndung. — Dies gilt modifiziert auch fü r die Lösung der Linguistik aus dem Kontext der anderen geschichtswissenschaftlichen Disziplinen. Die Verflechtung von Sprach- und Kulturgeschichte ist weiterhin ein zentraler Gegenstand des Kapitels VII. Das Deutsche im Sprachkontakt. Im Lichte der Aussage, daß miteinander kommunizierende Menschen den Gegenstand des Handbuches bilden, geht es der Zielsetzung nach um eine Beschreibung des Kontaktes aller auf deutsch Kommunizierenden mit Benutzern aller Nachbarsprachen sowie um die rezeptive und produktive Aufarbeitung und zweckgebundene Adaptation erhaltener Äußerungen in den antiken Sprachen Griechisch und Lateinisch. Es sind Kontakte, die niemals ausschließlich auf schriftlicher Ebene und nur zwischen den kulturbestimmenden Gruppen mehrerer Sprachgesellschaften bestanden, sofern die sich auch in geographischen Grenzräumen und dann in mundartlicher Form, durch berufliche Kontakte in fachsprachlicher Form, ü berhaupt in den mannigfaltigen Ausprägungen geschichtlicher Beziehungen bis in die Subbereiche des Alltags hinein vollzogen. Aus diesem Grunde werden auch ihre jeweils geschichtsspezifischen Ausgangspunkte, ihre Ausbreitung im Raum und in der Sozialstruktur sowie ihre (vorläufigen) Zielpunkte beschrieben. Die strukturorientierten Darstellungsteile der Kontaktartikel sind unter diesem Aspekt als beschreibungsbedingte Fixierungen von geschichtlichen Kontakten kommunizierender Menschen zu lesen. Die Artikelgruppen, die innerhalb der Kapitel VII bis XV die Verflechtung von Sprach- und Kulturgeschichte in besonderer Weise thematisieren, sind die folgenden: Am Anfang jedes der auf die Sprachstufen Althochdeutsch, Altniederdeutsch (Altsächsisch), Mittelhochdeutsch, Mittelniederdeutsch, Frü hneuhochdeutsch und Neuhochdeutsch bezogenen Kapitel steht ein Artikel Soziokulturelle Voraussetzungen und Sprachraum der betreffenden Sprachstufe (beim Neuhochdeutschen allerdings ohne die Komponente Sprachraum). Er hat die Aufgabe, die jeweils epochenspezifischen Zusammenhänge von Sprache und Sprechen mit allen pro Epoche sprachgeschichtsrelevanten Kulturbereichen offenzulegen und damit eine querschnittartige Spezifizierung, Ergänzung und Zusammenschau desjenigen zu
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liefern, was in Kapitel I im Längsschnitt dargelegt und auf einzelne Kulturbereiche bezogen ist. Da Sprachgesellschaften keine homogenen Gruppen sind, erfolgt auch das sprachliche Handeln ihrer Mitglieder nicht nach einem homogenen, sich selbst immer wieder in gleicher Weise reproduzierenden System, sondern vollzieht sich in einem zum Teil äußerst heterogenen Gesamt von wechselseitig aufeinander bezogenen Varietäten. Der Herausarbeitung dieses Aspekts dienen die in den Kapiteln VII bis XV jeweils angesetzten Artikel (im Falle des Althochdeutschen: der Artikelteil) ü ber die Diagliederung der Sprachstufe. Insbesondere werden die dialektale Gliederung der Sprache als Ausdruck von geschichtlichen Raumgliederungen, die historiolektalen Schichtungen als Ausdruck sowohl der Gleichzeitigkeit des Geschichtlichen wie seines Wandels, ihre sozialschichtigen und gruppentypischen Gliederungen in Fachsprachen und Soziolekte als Ausdruck vertikaler und horizontaler Gesellschaftsschichtungen und Gruppenbildungen herausgearbeitet. Die Ergebnisse der unterschiedlichen situativen Bedingungen von Kommunikation, einerseits das Nebeneinander von geschriebener und gesprochener Sprache und quer zu dieser Dichotomie die pro Sprachstufe unterschiedlich fein ausdifferenzierte Gesamtheit von Textsorten, sind unter dem ersten Gliederungsaspekt nur noch fü r die geschriebene Sprache als den vom Umfang her viel schmaleren Teil beschreibbar. Gesprochene Sprache ist trotz ihrer primären kommunikationsgeschichtlichen Rolle fü r die älteren Sprachstufen des Deutschen allenfalls in Reflexen erhalten, die zufällig den Weg auf das Pergament oder Papier gefunden haben, und dementsprechend nur noch von diesen Reflexen her zu erschließen. Dies ist Aufgabe der Artikelgruppe Reflexe gesprochener Sprache in der jeweiligen Sprachstufe. Die Textsortengliederung wird in der Artikelgruppe Die Textsorten der einzelnen Sprachstufen beschrieben. Sie hat die zweite Aufgabe, Sprachgeschichte als Kommunikationsgeschichte, die sich immer in Texten vollzieht, begrü nden zu helfen und dadurch auch aus den Einzelkapiteln heraus immer wieder eine Brü cke zu anderen, insbesondere den literaturwissenschaftlichen Teildisziplinen der Traditionsforschung zu schlagen. Sprachgeschichtsschreibung ist keine ausschließlich sachbezogene erkennende Tätigkeit, sondern selbst eine Form sprachlichen Handelns. Sie ist deshalb immer und notwendigerweise intentionale kulturpädagogische Tätigkeit und als solche integraler Bestandteil gesellschaftlicher Bildungsarbeit. Kapitel II. Sprachgeschichte in gesellschaftlichem Verstä ndnis arbeitet heraus, inwieweit sich die Methoden der Sprachgeschichtsforschung, ihre Erkenntnisinteressen, Ergebnisformulierungen und vor allem die der Sprache unterstellten Eigenschaften oder theoretischen Grundannahmen von Sprache im Einklang oder im Kontrast befinden mit den allgemeinen bewußtseinsbildenden und mit den besonderen auf die Sprache als kulturelles und/oder nationales Identifikationsmittel bezogenen Inhaltsanliegen der Gesellschaft oder einzelner ihrer Gruppierungen. Sprachgeschichtsschreibung unterliegt als Teilbereich gesellschaftlicher Bildungsarbeit immer auch selbst der Geschichte. Ihr Gegenstand ‚Geschichte von Menschen, insofern sie deutsch gesprochen haben oder nach geschichtlichen Voraussetzungen deutsch sprechen‘ ist niemals nur als ontische Gegebenheit beschreibbar, deren Eigenschaften bei hinreichend ausgefeilter Methodik und genü gender wissenschaftlicher Anstrengung gleichsam von der Sache abgelesen werden können, sondern ihr Gegenstand ist immer auch allgemein gesellschaftlich und speziell wissenschaftsgeschichtlich bedingter Entwurf und damit selbst ein Stü ck Geistesgeschichte. Dies wird in zwei Kapiteln unter der zusammenfassenden Überschrift Wissenschaftshistorische Stufen sprachgeschichtlicher Forschung beschrieben, und zwar zunächst (in Kapitel III) entlang der Zeitlinie vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, danach (in Kapitel IV) unter einem hinzukommenden systematischen Aspekt nach den einzelnen Beschreibungsebenen Phonemik/Graphemik, Morphologie, Lexik, Syntax und Textwissenschaft. Die Kapitel III und IV haben außer dem wissenschaftsgeschichtlichen einen zweiten Zweck. Sie wollen den Reichtum einer nahezu 200 Jahre alten Wissenschaft nicht nur an Ergebnissen, sondern auch an Fragestellungen und an Methoden, ü berhaupt an wissenschaftli-
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cher Erfahrung so herausheben, daß er als ein immer wieder anregender Fundus auch gegenwärtiger sprachgeschichtstheoretischer Diskussion begriffen und berü cksichtigt wird. Gegenwärtige Sprachgeschichtsforschung wird dadurch nicht nur selbst als historischer Ort verstanden, sondern auf solche Weise auch davor bewahrt, hinter Einsichtsstände zurü ckzufallen, die auf einer frü heren Stufe schon einmal erreicht waren, denen aber fortwährend das Absinken in die Vergessenheit droht. Als Gegebenheit, die selbst der Historizität unterliegt, hat Sprachgeschichtsforschung eine Zukunft. Fü r diese ist die heutige Sprachgeschichtsforschung als Teilbereich gesellschaftlicher Bildungsarbeit ebenso verantwortlich, wie die Aufarbeitung der Tradition fü r die Gegenwart ihrer Verantwortung unterliegt. Die Kapitel V. Bausteine einer Prinzipienlehre und Methodik der Beschreibung historischer Sprachstufen nach Beschreibungsebenen und VI. Methodologische und theoretische Problemfelder haben den Zweck, dasjenige, was in den Kapiteln III und IV an theoretischen Aussagen und an Methoden mehr registriert als bewertet wird, zu sichten, zu diskutieren und zu gewichten, aus dem wissenschaftsgeschichtlichen Erfahrungsfundus das herauszuheben, was direkt oder nach Adaptierung an heutige theoretische Schwerpunktsetzungen zu einem Baustein gegenwärtiger und zukü nftiger Sprachgeschichtstheorie werden kann. Die Artikel der Kapitel V und VI bringen also im Unterschied zu den Kapiteln III und IV wesentlich Forderungen, Handlungsanweisungen, Richtlinien fü r zukü nftige Forschungspraxis, auf jeden Fall auch persönliche, damit aspektuell angreifbare Stellungnahmen, eben „Bausteine“, nicht eine geschlossene theoretische und methodische Konzeption. — Die einzelnen Artikel sind so angelegt, daß wieder alle hierarchischen Ebenen der Sprache vom Phonem/Graphem bis zum Text hin Berü cksichtigung finden, daß dem Text als der Vorkommensform von Sprache schlechthin wieder eine besondere Rolle zuerkannt wird und daß ferner die Variabilität und damit die Veränderlichkeit von Sprache und Sprechen eine angemessene Gewichtung erfährt. Die Kapitel VII bis XVI beschreiben die Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung sowohl im Hinblick auf bestimmte zusammenhängende Sachbereiche, nämlich den Sprachkontakt (Kapitel VII), die genealogische und typologische Einordnung des Deutschen (Kapitel VIII) und die Geschichte der wichtigsten Namentypen (Kapitel XVI), wie vor allem im Hinblick auf die einzelnen historischen Sprachstufen des Deutschen, nacheinander das Althochdeutsche und Altniederdeutsche (Altsä chsische), das Mittelhochdeutsche und Mittelniederdeutsche, das Frühneuhochdeutsche und das Neuhochdeutsche. Die bis auf die neuniederdeutsche Sprachstufe systematische Berü cksichtigung der nördlichen Hälfte des deutschen Sprachraumes ergibt sich aus der oben angefü hrten Entscheidung, den Gegenstand in all seinen Differenzierungen, darunter den räumlichen, die zum großen Teil (und zwar gerade fü r das Niederdeutsche) auch soziale sind, zu erfassen. — Das dominante Gliederungsprinzip fü r die sprachstufenbezogenen Kapitel IX bis XIV ist die hierarchische Rangordnung des Sprachsystems. Die Kapitel VII bis XVI sind indes nicht nur Ergebnisbeschreibung. Sie stehen vielmehr zugleich unter den Forderungen der Kapitel I bis V, die Ergebnisse in die jeweiligen kulturgeschichtlichen Zusammenhänge der Epoche zu stellen, sie als Resultate pro Epoche jeweils besonderer methodischer Voraussetzungen, als Antworten auf je besondere wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen und damit indirekt als zeitgeschichtlich geprägte Niederschläge wie prägende Voraussetzungen geschichtsspezifischer gesellschaftlicher Interessen zu erörtern. — Eine fü r die zukü nftige Sprachgeschichtsforschung besonders wichtige Aufgabe der Kapitel VII bis XVI ist der Aufweis von Forschungslücken. Den Abschluß des Handbuches bilden zwei Register: Das Sachregister erschließt die wesentlichen Inhalte des Handbuches nach knapp formulierten Stichworten; das Verfasserregister belegt die Erwähnungen aller zitierten oder sonst diskutierten Sprachhistoriker, bietet insofern auch einen bequemen Zugang zur gesamten behandelten oder erwähnten sprachgeschichtlichen Literatur.
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2. Die Konzeption des Handbuches: Diskussion Das Handbuch Sprachgeschichte erstrebt nach der vorgetragenen Konzeption zwar nicht eine enzyklopädische Magazinierung sprachhistorischen Wissens, in Parallele zum Handbuch Dialektologie aber doch eine angemessene Vollständigkeit erstens im Hinblick auf den zu beschreibenden Gegenstand und zweitens im Hinblick auf die Forschungssituation. Die Herausgeber sehen den gewü nschten Vollständigkeitsgrad in der Beschreibung des Gegenstandes insbesondere dadurch erreicht, daß das Niederdeutsche systematische Berü cksichtigung fand, daß die Geschichte der deutschen Sprache seit dem 17. Jahrhundert in einem eigenen umfänglichen Kapitel (XIV) dargestellt wurde und außerdem die am ausfü hrlichsten behandelte Epoche des Kapitels XV. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung im Gesamtüberblick bildet. Auch die Vorgeschichte des Deutschen ist in einem eigenen Kapitel (VIII) in angemessener Weise vertreten, nämlich nicht nur unter dem bekannten genealogischen, sondern auch unter dem in der gesamten Sprachwissenschaft des Deutschen sonst kaum beachteten (geschichtlich-) typologischen sowie unter einem methodologischen Aspekt. Im Hinblick auf das Sprachsystem werden außer den hierarchischen Sprachebenen Phonemik/Graphemik, Morphemik, Lexik und Syntax auch die Textsorten des Deutschen in ihrer Entwicklung vom Althochdeutschen bis zur Gegenwart durchgehend behandelt. Es erfolgt auch keine Beschränkung auf die schriftlichen Niederschläge deutscher Sprachgeschichte; im Gegenteil, soweit es die Überlieferungssituation zuläßt, wird aus schreibsprachlichen Reflexen gesprochener Sprache auf die Geschichte der Sprechsprache geschlossen. An Varietäten werden behandelt: Dialekte, Kanzleisprachen, Fachsprachen, Sondersprachen, Literatursprachen, Urkunden-, Geschäfts- und Verkehrssprachen (man vgl. vor allem Kapitel XV). Auch im Hinblick auf die Forschungssituation sehen die Herausgeber den erstrebten Grad der Vollständigkeit erreicht. Die zentrale methodische und sprachgeschichtstheoretische Grundlage des Handbuchs bildet nach dem oben bereits Gesagten die traditionelle kulturgeschichtlich orientierte Sprachforschung mit ihren mannigfachen Teildisziplinen, wie der Sprachgeographie, der Volkskunde, der Namenkunde, der gesamten Sprachkontaktforschung. Selbstverständlich wird diese Forschungstradition in einer von gegenwärtigen wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen her, insbesondere von der Sprachpragmatik und -soziologie her durchdrungenen Weise vertreten. Eine solche Setzung von Gewichten schließt die Behandlung anderer methodischer und theoretischer Konzepte nicht aus: Richtungen des Strukturalismus (vgl. besonders die Artikel 25, 38, 90) sind in der Theorie und als praktische Beschreibungsgrundlage ebenso vertreten wie die Funktionalgrammatik (Artikel 26), die geschichtsbezogene Hermeneutik (Artikel 57) oder die Generative Transformationsgrammatik (Artikel 58). Es ist keine Übertreibung des Strebens nach angemessener Vollständigkeit, wenn einige Gegenstandsbereiche an verschiedenen Stellen unter jeweils anderen Aspekten, hier und da in sich wiederholender Weise angesprochen werden. Es gibt unleugbar historische Fakten, aber einen ü ber die wissenschaftlichen Epochen hinaus konstanten und ablesbar gegliederten Gegenstand der Sprachgeschichtsforschung gibt es nicht. Es gibt damit auch nicht ein einziges allein adäquates Aufbauprinzip des Handbuches. Vielmehr existiert der Gegenstand der Sprachgeschichte zwar nicht nur, aber immer auch als Ergebnis theoretischer Setzungen und Gewichtungen, er konstituiert sich partiell erst im Forschungsprozeß zu einer Form, die den Status faktischer Vorgegebenheit suggerieren mag, ihn aber sicher nicht hat. Sie kann ihn nämlich deshalb nicht haben, weil bei wechselnden theoretischen Setzungen und Gewichtungen immer auch der Gegenstand zumindest in Façetten variiert. Es ist dementsprechend nur adäquat, wenn bestimmte Fakten an verschiedenen Stellen des Handbuches behandelt und in jeweils aspektgebundener Weise zu einer immer wieder nuancierten Gegenstandsform gebü ndelt werden. Selbstverständlich wollen die Herausgeber Lü cken des Handbuches nicht leugnen, schon deshalb nicht, weil sie oft mit Notwendigkeit aus den gewählten Aufbauprinzipien resultieren.
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Fü r die Herausgeber stand von vornherein nicht in Frage, daß der große Block der Ergebnisse einer nahezu zweihundertjährigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen Sprache eine breite Aufarbeitung zu erfahren habe und daß dies nach der Zeitlinie erfolgen mü sse, nach der Geschichte nun einmal abläuft. Die Herausgeber waren auch zu jeder Zeit genau ü ber die trotz vergleichbarer Sachgrundlage andere Entscheidung der Herausgeber des Handbuches Dialektologie orientiert; dies ergab sich schon aus den personellen Überschneidungen der beiden Herausgeberteams und der räumlichen Nähe eines der Herausgeber des vorliegenden Bandes mit einem der Reihenherausgeber, nämlich Herbert Ernst Wiegand, in Heidelberg. Gemeint ist die Entscheidung, die Ergebnisse dialektologischer Forschungen nicht primär nach der Raumlagerung der Dialekte aufzufü hren und damit gleichsam eine Folge von geschlossenen Darstellungen der einzelnen Dialekte zu bieten, sondern sie nach einzeldialektü bergreifenden Gesichtspunkten zusammenzustellen. Wie die eine oder die andere Entscheidung auch begrü ndet sein mag (zur Begrü ndung der Herausgeber des Handbuches Dialektologie vgl. man deren Vorwort, S. XIV), es kommt in jedem Falle zu Verstößen gegen die Einheit des Gegenstandes und damit verbunden zur Entstehung von Lü cken. Wenn die Darstellung der Phonologie/Graphemik, der Morphematik, Lexik usw. primär nach den historischen Zeitstufen erfolgt, dann ist nicht zu vermeiden, daß eine an einem bestimmten geschichtlichen Punkt abgebrochene Beschreibung an einem anderen Punkt unter anderem Aspekt nur noch angedeutet oder möglicherweise infolge geringerer Gewichtung auch ü berhaupt nicht mehr aufgegriffen wird. Hier ist der kritische Leser gefordert; er möge die aspektuell unterschiedlichen Aussagen des Handbuches zu einem bestimmten Gegenstandsbereich als Ausdruck der Vielfalt von Gesichtspunkten, von unterschiedlichen Möglichkeiten der Fragestellung und der Methode, von wechselnden Gewichtungen usw. betrachten und sie ü ber das Sachregister zu dem fü r ihn relevanten Zweck verbinden; und er möge den Abbruch der Darstellung einer bestimmten Entwicklungslinie, so begrü ndet er im Argumentationszusammenhang des jeweiligen Artikelautors auch sein mag, als Hinweis auf eine Fortsetzungsmöglichkeit, damit als mögliche Forschungsaufgabe erkennen. — Die Herausgeber haben sich im Zusammenhang ihrer Bemü hungen um angemessene Vollständigkeit bemü ht, die bei einem mit der Hälfte seines Umfangs epochenbezogenen Werk, das zudem in Gemeinschaftsarbeit von 138 Mitarbeitern erstellt wird, drohenden Lü cken in der Darstellung epochenü bergreifender Entwicklungen dadurch aufzufangen, daß eigene Übersichtskapitel, nämlich I, VII, XIV, XV und XVI, eingeplant wurden. Sie hoffen, daß das Verhältnis von epochenbezogener und epochenü bergreifender Beschreibung ausgewogen ist und daß Lü cken jedenfalls zum Teil als vorgehensbedingt erkannt werden. Diese letzte Aussage erkennt implizit an, daß auch Lü cken begegnen, die nicht durch die Handbuchanlage bedingt sind. Es fehlt zum Beispiel ein Kapitel Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung zu den historischen Sprachstufen VII: Das Neuniederdeutsche in seiner Entwicklung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Der Grund hierfü r liegt darin, daß dies Aufgabe und tatsächlicher Gegenstand des von Dieter Möhn und Gerhard Cordes herausgegebenen Handbuches zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Berlin 1983. ist, partiell auch des Bandes Niederdeutsch. Sprache und Literatur. Eine Einführung. Hrsg. v. Jan Goossens. Bd. 1: Sprache. Neumünster 1973. Artikel 161. Die Überlagerung des Niederdeutschen durch das Hochdeutsche behandelt die Geschichte des Neuniederdeutschen zudem unter einem seiner kennzeichnendsten Aspekte. — Auch sonst wären, wenn auch kaum zusätzliche Kapitel, so doch einige zusätzliche Artikel möglich gewesen, vor allem nämlich die historischen Parallelartikel zu den sprachgeographisch orientierten Artikeln der Kapitel X bis XII Ergebnisse dialektologischer Beschreibungen des Handbuches Dialektologie, also Artikel des Typs Geschichte des Umlauts im Deutschen oder Vokalisierungen in der Geschichte des Deutschen oder Der Ausdruck der Modalitä t in der Geschichte des Deutschen oder auch neue Artikel wie Hyperkorrekturen als Ausdruck von Sprachwertsystemen in der Geschichte des Deutschen. Daß sie fehlen, hat jeweils besondere Grü nde; im einzelnen hätten sie zu u. E. nicht
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vertretbaren Wiederholungen, zu nicht mehr angemessenen Ausdifferenzierungen des Gegenstandes, zu bloßen Wiedergaben von anderswo Publiziertem, aber zum großen Teil auch zu einer bloßen Aufreihung von Foschungsdesiderata gefü hrt. Dies letzte sei aber auch als Hinweis fü r die Planung zukü nftiger Sprachgeschichtsforschung (auch auf der Ebene von Dissertationen) verstanden: Es fehlen weitgehend Untersuchungen zur geschichtlichen Entwicklung folgender im Handbuch Dialektologie unter geographischem Aspekt thematisierten Gebiete: Rundungen/Entrundungen, Palatalisierungen/Entpalatisierungen, Velarisierungen/Entvelarisierungen, Hebungen/Senkungen, Vokalisierungen, Kontraktionen, Assimilationen/Dissimilationen, Formenneutralisationen, Tempus- und Modusausdruck, Ausdruck der Komparation, Kasussysteme, darü ber hinaus z. B. zur Hyperkorrektur, zum Wechselverhältnis von Sprechen und Schreiben, zu den Sprachwertsystemen im Deutschen, zu einer Reihe syntaktischer Phänomene, zu den geschichtlich wechselnden Formen der Textkohärenz und ü berhaupt der Textkonstituierung. Diese Liste von Phänomenen wäre nicht nur fü r die Hochsprache, sondern für das Gesamt der Varietäten des Deutschen zu behandeln. Das Handbuch enthält innerhalb jedes Artikels eine Position n. Literatur (in Auswahl). Der in Klammern stehende Ausdruck deutet an, daß nicht eine Dokumentation der Literatur erstrebt wird, die bibliographischen Ansprü chen genü gen wü rde. Positiv ausgedrü ckt: die Auswahlverzeichnisse geben dem einschlägig Interessierten ein Spektrum an Sekundärliteratur, das die Wissenschaftsgeschichte in Grundzü gen erschließen läßt, das die neuere Literatur mit besonderer Dichte auffü hrt und das gerade durch letzteres weitere bibliographische Recherchen möglich macht. Selbstverständlich besteht eine erhebliche Schwankungsbreite in der Ausführlichkeit der jeweiligen Auswahlverzeichnisse. Das Handbuch hebt sich mit dem erreichten Grad an Vollständigkeit insofern von den bisherigen Sprachgeschichten ab, als diese sich, von Ausnahmen abgesehen, stark auf die Beschreibung der älteren Sprachstufen des hochdeutschen Raumes, der sozial ausgezeichneten Varietäten oder auch auf vorwiegende Entwicklungsaspekte beschränken, dominant ergebnisbezogen sind und nur relativ schmale Literaturteile haben. Das Handbuch Sprachgeschichte ist demgegenü ber sowohl umfassend faktenbezogen wie explizit forschungsbezogen, es verbindet die Darstellung der Ergebnisse mit der Diskussion der geschichtlichen Bedingungen der Sprachgeschichtsschreibung selbst. Dies ist der Grund fü r die Zweigliedrigkeit des Untertitels: Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung.
3. Die Adressaten des Handbuchs Die Herausgeber hoffen, durch die Schwerpunktsetzungen der Konzeption, insbesondere durch das Neben- und Ineinander von Ergebnisdarbietung und Diskussion der Forschung sowie dadurch, daß Sprachgeschichte als Teil von Geschichte ü berhaupt begriffen wird, mehrere Gruppen von Adressaten ansprechen zu können. Zunächst sind selbstverständlich all diejenigen angesprochen, die sich in Forschung und Lehre mit der Geschichte des Deutschen, darunter auch mit den geschichtlichen Grundlagen aller Varietäten des gegenwärtigen Deutschen befassen. Die auf die Theorie und Methodik der Sprachgeschichtsforschung bezogenen Handbuchteile haben, soweit nicht spezifische Gegebenheiten deutscher Sprachgeschichte betroffen sind, einen systematischen Aussagewert fü r die Erforschung der anderen unter vergleichbaren Aspekten behandelbaren Sprachen des europäischen Raumes. Sofern das Handbuch am Beispiel des Deutschen allgemeine Façetten der Geschichte einer Sprache wie z. B. den Sprachwandel behandelt oder diskutiert, sind die Vertreter der Allgemeinen Sprachwissenschaft angesprochen. Außer den in sprachwissenschaftlicher Forschung und Lehre Tätigen zählen aber auch alle mit der deutschen Kulturgeschichte im weitesten Sinne Befaßten zum Adressatenkreis des Handbuches: Literatur-, Ideen- und Geisteshistoriker; Staaten-, Territorial-, Wirtschafts- und
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Sozialhistoriker; Rechts-, Verfassungs- und Kirchengeschichtler; Theologen und Volkskundler. Fü r sie alle ist Sprachgeschichtsforschung, falls sie ihren Gegenstand nicht aus seinen kulturgeschichtlichen Funktionszusammenhängen isoliert und autonomisiert, sondern als Geschichte kommunizierender Menschen auffaßt, relevante Nachbardisziplin. Sie ist Grundwissenschaft, sofern sie Möglichkeiten und Grenzen des Textverstehens und damit geschichtlicher Betrachtung ü berhaupt eruiert; Hilfsdisziplin, sofern sie (wie z. B. die Namensgeschichte) besondere Quellenmaterialien bereitstellt oder (wie z. B. die Editionsphilologie) Gesichtspunkte und Methoden zur wissenschaftlichen Aufbereitung von Texten bietet. Der immer wieder ausdrü cklich formulierte Wunsch der Herausgeber, außer den Sprachwissenschaften auch die Vertreter anderer historischer Disziplinen anzusprechen, blieb nicht ohne Auswirkungen auf die im Handbuch vorwiegend verwendete Fachsprache, darunter das Maß an Fachterminologie. Wenn Sprachgeschichte ein integraler Teil von Geschichte ü berhaupt ist, und wenn Sprachgeschichtsforschung der wissenschaftliche Ausdruck des allgemeinen Interesses geschichtsbewußter Menschen an der Tradition ist, in der sie stehen, dann finden alle sachnotwendigen Differenzierungen wissenschaftlicher Fachsprache in ihrer Faktenadäquatheit nur einen vorläufigen Zweck. Letzter Zweck, auf den die Faktenadäquatheit auszurichten ist, muß die Einbettung fachlichen Schreibens in eine sprachlich intentionale, und zwar die wissenschaftliche Handlungsform sein. Deren Aufgabe ist erst dann erfü llt, wenn sie ihre Ergebnisse so vorzutragen weiß, daß sie auch außerfachlich verstanden und rezipiert werden, und wenn sie dadurch selbst einen Beitrag zur Sicherung der Tradition liefert. Geschichtswissenschaftliche, darunter sprachgeschichtliche Fachsprache hat als Grundlage die allgemeinen bildungssprachlichen Varianten der Normalsprache. Fü r die dominante theoretische Grundlage des Handbuches gilt Entsprechendes. Theorie darf speziell in den die Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung beschreibenden Kapiteln nicht die Ergebnisdarstellung ü berwuchern, und sie darf sich generell nicht vom Gegenstand lösen, zu dessen Beschreibung und Problematisierung sie konzipiert wurde. Wü rde sie diesen Versuchungen erliegen, hätte sie außer auf engstem Fachgebiet keine Adressaten mehr. — Diese Sätze sind natü rlich nicht einmal ansatzweise als Ausdruck von Skepsis gegenü ber der Theoriebildung zu verstehen.
4. Zur Geschichte des Handbuches und Dank an alle Beteiligten Das Handbuch Sprachgeschichte wurde von den Herausgebern im Jahre 1977 im wesentlichen in der Form konzipiert, in der es jetzt mit seinem ersten Halbband und im Jahre 1985 mit dem zweiten Halbband vorgelegt wird. Die Grundlage der Konzeption bildeten neben den Vorgaben der Reihe, die aber ohnehin im Wunschkreis der Herausgeber lagen, die oben dargelegten wissenschaftlichen Vorstellungen, die die Herausgeber von einer ihrer Aufgabe erfü llenden Sprachgeschichte haben. Zur Vermeidung von Einseitigkeiten, ferner aus dem Bestreben, in positiver oder negativer Weise an die bisherige Sprachgeschichtsschreibung anzuknü pfen, schließlich um eine möglichst breite Streuung der Themen zu erreichen, wurden die wichtigsten Geschichten der deutschen Sprache systematisch eingesehen und berü cksichtigt. Es waren die Werke von Erhard Agricola/Wolfgang Fleischer/Helmut Protze (Kleine Enzyklopä die. Die deutsche Sprache), Adolf Bach, Otto Behaghel, Jan van Dam, Hans Eggers, Jakob Grimm, Mirra M. Guchmann, Hermann Hirt, Rudolf E. Keller, Hugo Moser, O. I. Moskalskaja, Peter von Polenz, Wilhelm Scherer, Joachim Schildt, Wilhelm Schmidt (und Kollektiv), Ludwig Erich Schmitt (Hrsg., Kurzer Grundriß), Wolfgang Stammler (Hrsg., Aufriß), Fritz Tschirch sowie natü rlich die 1977 erst als Manuskript vorliegende Sprachgeschichte Stefan Sondereggers. Zusätzlich wurden die epochenbezü glichen Darstellungen und die epochenübergreifenden Darstellungen der Laut-, Wort- und Syntaxgeschichte zu Rate gezogen. Die Konzeption wurde der sprachgeschichtlich interessierten Öffentlichkeit im Jahre 1978 durch Publikation in folgenden beiden Organen bekannt gemacht: Jahrbuch für Internationale
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Germanistik 10, 1978, 140—150 sowie in Germanistische Linguistik 2—5, 1978, 425—443. Die Publikation in diesem letzteren Organ erfolgte mit der „Bitte um fachliche Kritik“; zwar könne die Konzeption in ihrer Gesamtheit nicht mehr geändert werden, „Hinweise auf materiale, theoretische und methodische Lü cken könn(t)en aber in zusätzlichen Artikeln durchaus noch Berücksichtigung finden“. Die Zuschriften, die die Herausgeber auf diesen Aufruf erhielten, betrafen in keinem Falle die Substanz der Konzeption, sondern eher Einzelpunkte, darunter die Formulierung einiger Artikeltitel, hier und da die Artikelreihenfolge und vor allem zusätzliche Artikelwü nsche. Die Änderungen brauchen nicht im einzelnen dokumentiert zu werden; sie ergeben sich aus dem Vergleich des jetzigen Inhaltsverzeichnisses mit dem Teil Gliederung der 1978 publizierten Konzeption. Lediglich die neu eingefügten Artikel sind zu nennen: 12. Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen in Grundzügen, 26. Sprachgeschichte in der Sicht der funktionalen Grammatik, 42. Indices und Konkordanzen zu historischen Texten des Deutschen: Bestandsaufnahme, Typen, Herstellungsprobleme, Benutzungsmöglichkeiten, 61. Etymologie, 62. Der Historische Südwestdeutsche Sprachatlas in sprachhistorischer Perspektive, 76. Der Quellenwert des Gotischen für die sprachgeschichtliche Beschreibung der ä lteren Sprachstufen des Deutschen, 104. Rhetorik und Stil des Mittelhochdeutschen, 115. Siedlungsbewegung und Sprachentwicklung im ostniederdeutschen Raum, 116. Die Rolle der Hanse und Lübecks für die mittelniederdeutsche Sprachgeschichte, 117. Die Kanzleisprache und die Rolle des Buchdrucks für die mittelniederdeutsche Sprachgeschichte, 118. Der Rückgang des Mittelniederdeutschen als Schreib- und Druckersprache, 140. Die Bedeutung der ä lteren deutschen Lexikographen für das Neuhochdeutsche, 141. Die Belebung mittelhochdeutschen Wortgutes im Neuhochdeutschen, 151. Die Entwicklung der deutschen Sprache seit 1945, 152. Die sprachdeutsche Einwanderung in Nachbarstaaten: Westeuropa. Die Aufnahme dieser 15 neuen Artikel, Umformulierungen einzelner Artikel- und Kapiteltitel, einige Umstellungen in der Reihenfolge der Artikel sind das Ergebnis vieler brieflicher Hinweise sowie vieler Gespräche und Diskussionen mit Vertretern des Faches. Die Herausgeber nehmen hier gerne die Gelegenheit wahr, allen Kollegen, die Vorschläge zur Verbesserung der Konzeption unterbreitet haben, noch einmal herzlichen Dank zu sagen. Wenn es erlaubt ist, einige Beiträge als besonders bereichernd herauszuheben, so sind folgende Namen zu nennen: Dieter Cherubim, Jan Goossens, Siegfried Grosse, Walter Hoffmann, Helmut Lü dtke, Klaus J. Mattheier, Willy Sanders, Klaus Peter Wegera, Herbert Ernst Wiegand, Dieter Wolf. Den Kollegen Goossens, Grosse und Sanders gebü hrt ü ber ihre inhaltlichen Verbesserungsvorschläge hinaus noch einmal besonderen Dank: Sie haben die Autoren fü r die Behandlung der geschichtlichen Sprachstufen Altniederdeutsch (Altsächsisch) (W. Sanders), Mittelhochdeutsch (S. Grosse), Mittelniederdeutsch (J. Goossens) gewonnen und die Artikel im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten koordiniert. Besonders fruchtbar war die Diskussion der Bandherausgeber mit dem Reihenherausgeber Herbert Ernst Wiegand. Sie betraf Organisatorisches, darunter die Gewinnung von Mitarbeitern, ebenso wie die Technik der Handbucheinrichtung. Sie betraf vor allem aber die Inhalte und die innere Stimmigkeit der Handbuchkonzeption, die Herrn Wiegand ein stetiges und vor allem in Heidelberg immer wieder diskutiertes Anliegen waren. Ihm sei deshalb mit besonderer Herzlichkeit gedankt! Der Dank der Herausgeber sei auch an dieser Stelle noch einmal den 138 Autoren ausgesprochen. Sie haben sich nicht nur zur Übernahme eines oder mehrerer Artikel bereit erklärt und ihre Zusage eingehalten; sie haben sich auch einer Gemeinschaftsaufgabe gestellt, haben ihre persönlichen Schwerpunkte in die Konzeption des Handbuches integriert, haben mit den Herausgebern diskutiert und vorgeschlagene Änderungen ihrer Artikel großenteils akzeptiert. Daß das Handbuch bei aller inhaltlichen, methodischen, theoretischen und fachsprachlichen Vielfalt doch eine weitgehende Geschlossenheit im Hinblick auf seine Theoriegrundlage,
Vorwort zur ersten Auflage
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seine Terminologie wie seine Fachsprache allgemein aufweist, ist zum großen Teil das Verdienst der Autoren. Den Autoren, die die nächträglich eingefü gten Artikel ü bernommen haben oder die zur Übernahme von Artikeln bereit waren, die von anderen Autoren zurü ckgegeben wurden, stand eine teilweise recht kurze Bearbeitungszeit zur Verfü gung. Ihnen sei noch einmal besonders herzlich gedankt. Die Einrichtung der Manuskripte fü r den Druck erfolgte in Bonn und Heidelberg durch W. Besch, K. P. Wegera und O. Reichmann unter Mithilfe der wissenschaftlichen Hilfskräfte Doris Jansen (Bonn), Petra Scholz-Lopianecki und Ingrid Rubik (beide Heidelberg). Zusätzliche Hilfe leisteten Michaela Kolb und Hans Jü rgen Stock (Heidelberg). Die Organisation des Handbuches oblag dem Lehrstuhl fü r Germanistische Sprachwissenschaft mit besonderer Berü cksichtigung der Sprachgeschichte an der Universität Heidelberg. Die Sekretärin des Lehrund Forschungsbereiches Sprachwissenschaft, Frau Gisela Schmidt, brachte ihre am Handbuch Dialektologie wie an der zweiten Auflage des Lexikons der Germanistischen Linguistik erworbene Erfahrung in die Organisation des Handbuches ein; ihre Sorgfalt, Ausdauer und organisatorische Geschicklichkeit verdienen besonders hervorgehoben zu werden. — Fü r den Großteil der Kartenzeichnungen war der ehemalige wissenschaftliche Zeichner des Forschungsinstituts fü r deutsche Sprache Deutscher Sprachatlas in Marburg, Herr Helmut Scholz, verantwortlich. Seine Zuverlässigkeit war auch bei der Herstellung dieses Handbuches eine stete Hilfe. An Institutionen, die ihre Einrichtungen fü r die Organisation des Handbuches zur Verfü gung stellten, seien die Germanistischen Seminare der Universitäten Bonn, Heidelberg und Zürich genannt. Dem Verlag de Gruyter gebü hrt Dank fü r die Bereitschaft zu dem Risiko, das mit der Publikation eines so umfänglichen Werkes verbunden ist. Die Herausgeber danken insbesondere Herrn H. Wenzel, daß er das Werden des Handbuchs sowohl als Wissenschaftler mit Interesse begleitet wie fü r notwendige Änderungen der ursprü nglichen Planung stets verlegerisches Verständnis gezeigt hat. Im August 1984 Werner Besch (Bonn)
Oskar Reichmann (Heidelberg)
Stefan Sonderegger (Zürich)
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I.
Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
1.
Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
1.
Problemaufriß, Corpus, Fragestellungen Die erzählte Zeit Der erzählte Raum Das erzählte sozialsprachliche Spektrum Das erzählte sozialsituative Spektrum Das erzählte Sprachmedium Die Rolle von Einzelpersonen, Einzeltexten und einzelnen Textgruppen Systemorientierte versus soziopragmatisch orientierte Sprachgeschichtsschreibung Die beschriebenen hierarchischen Ränge der Sprache Die Gewichtung von Ausdrucks- und Inhaltsgeschichte Die Gewichtung der Geschichte der Objektsprache und der Geschichte des Sprachbewußtseins Das Verhältnis von Zweckfreiheit und Zweckorientierung Deutsche versus europäische Orientierung Literatur (in Auswahl)
Problemaufriß, Corpus, Fragestellungen
1.1. Die Themenformulierung des vorliegenden Artikels beruht auf mindestens folgenden Annahmen: a. Es gibt Sprachgeschichte (Objektebene); sie wird als eine objektsprachliche Gegebenheit in dem Sinne verstanden, daß ein System von Verständigungsmitteln (wie z. B. das Deutsche) seiner rationalen Seinsweise nach (Coseriu 1974, 94) dem Wandel in der Zeit unterliegt. Sprachgeschichte als derart vorgestellter realer Ablauf von Veränderungen ist z. B. definierbar als „Prozeß der Ausbildung, Verfestigung, Ausbreitung, Entfaltung, allenfalls Rückbildung einer Sprache von den vorgeschichtlichen Anfängen [...] bis zur Gegenwart und absehbaren Zukunft“ (Sonderegger 1988, 381). b. Es gibt die Idee von Sprachgeschichte (erste Metaebene). Sie beruht in ihren einfachsten Formen darauf, daß ein Individuum aus der Fülle der ablaufenden, meist dem Vergessen anheimfallenden und damit geschichtslosen Sprechereignisse besimmte, ihm wichtig erscheinende ausgliedert, sie anderen der Vergewisserung, der
Gewinnung von Aufmerksamkeit, der Identifizierung halber oder aus weiteren Gründen erzählt, sie sich damit immer in bestimmter Prägung einerseits selbst vergegenwärtigt und andererseits als gesellschaftliche, beliebig wiederholbare Erinnerungsbilder konstituiert. Solche Erinnerungsbilder haben nach dem Gesagten eine Reihe unaufhebbarer Eigenschaften: Erstens kommt ihnen mit dem Bezug auf das stattgehabte Faktum ‘Sprechereignis’ ein Wahrheitsgehalt zu; zweitens sind sie aufgrund ihres Auswahlcharakters wie wegen ihrer Konstitution mittels Erzählungen notwendigerweise Interpretationsgegebenheiten. Diese dienen der Sinngebung der individuellen Existenz von der Vergangenheit her, in der jeweiligen Gegenwart und in Richtung auf die Zukunft (Luckmann 1983; Assmann 1992; Harth 1996 und 1996 a; Hüllen 1996 ). In entwickelteren Formen ist die Idee von Sprachgeschichte das in seinen Grundlinien von Trägern sprachbezogenen Wissens (Sprachphilosophen, -wissenschaftlern, -ideologen) aus jeweils besonderen zeitgeschichtlichen Konstellationen heraus entworfene, sinnstiftende, von Rezipienten übernehmbare, gesellschaftlich funktionalisierte Bild von der Herkunft, der Gegenwart und der Zukunft einer Sprache. Ideen dieser entwickelteren Art, etwa die These vom Uraltertum des Deutschen, können historisch außerordentlich konstant sein, jedenfalls über Jahrhunderte tradiert werden. Der Staat, die Gesellschaft und einzelne gesellschaftliche Institutionen können für die Produktion solcher Ideen eine umfängliche Forschungsorganisation aufbauen und einen tendenziell lückenlosen Distributionsapparat bereitstellen. c. Es gibt die Verwirklichung von Sprachgeschichte (ebenfalls erste Metaebene); sie wird von der genannten Forschungsorganisation und ihrem Distributionsapparat getragen und besteht in der auf systematischem Studium der schriftlichen Überlieferung basierenden, sich in sog. Sprachgeschichten niederschlagenden forschungspraktischen Feststellung objektsprachlicher Veränderungen (im Sinne von a), in ihrer Darstellung, Interpretation, Gewichtung und Ordnung nach den Vorgaben einer Idee von
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Sprachgeschichte (im Sinne von b) sowie in ihrer Weitergabe an Rezipientengruppen. 1.2. Obwohl Sprachgeschichte, ihre Idee und ihre Verwirklichung auf die genannte Weise unterscheidbar sind, stehen sie diachron wie synchron in so unterschiedlichen Voraussetzungsund Mischungsverhältnissen, daß ihre Identifizierung oft Schwierigkeiten bereitet. Licht in diese Verhältnisse zu bringen, hat eine die erste Metaebene zum Gegenstand machende zweite Metaebene, also eine auf einzelne Sprachgeschichtstheorien bezogene Metatheorie, zur Voraussetzung. Nach dem heutigen Diskussionsstand kommen als solche der metaphysische Realismus und der Konstruktivismus in Betracht. Unter ersterem soll hier die Auffassung verstanden werden, daß Erkenntnis ein Finden, Entdecken und darauf folgend ein möglichst exaktes Darstellen, Beschreiben, Wiedergeben, Nachzeichnen von etwas vor jeder Erkenntnisoperation und unabhängig von ihr auf irgendeine Weise Vorhandenem, meist von etwas als objektiv Vorausgesetztem, ist. Der Konstruktivismus versteht menschliches Handeln und mit ihm wissenschaftliche Erkenntnis demgegenüber als soziomorphen, ausschließlich in sprachlicher Gestalt existenten Entwurf fiktiver Welten mit gesellschaftlicher Funktion als Existenzmöglichkeit. — Mit dem Vorgetragenen ist zugleich gesagt, daß vorliegender Artikel von der zweiten Metaebene aus argumentiert; dies geschieht im Sinne des Konstruktivismus. Das angesprochene Voraussetzungs- und Mischungsverhältnis von Sprachgeschichte, ihrer Idee und ihrer Verwirklichung ergibt sich unter realistischem Aspekt z. B. daraus, daß objektsprachliche Fakten nicht einfach von einem Gegenstand ablesbar sind, sondern um wahrgenommen, bewertet und gewichtet werden zu können, einer Idee von Sprachgeschichte sowie der dauernden Prüfung, Ergänzung, Modifikation ihrer Formulierung durch die Forschungspraxis bedürfen. Die Idee von Sprachgeschichte hat ihrerseits nur dann eine Aussicht, von Rezipienten akzeptiert zu werden, wenn es ihren Erfindern bzw. Trägern gelingt, sie als geistige Repräsentation einer vor dieser liegenden, vernünftigerweise nicht bestreitbaren ontologischen Realität vorzustellen, was wiederum praktische Forschung voraussetzt. — In konstruktivistischer Terminologie bilden Fakten, Idee und Verwirklichung von Sprachgeschichte ohnehin eine höchstens analytisch auflösbare Einheit: Fakten sind von ihrem Status her in Sprache gestaltete Konstrukte, Ideen, Bilder, Fiktionen, Entwürfe, nicht mehr vom Forschenden bloß affizierte, sondern effizierte Größen, nicht vorsprachliche und vorkognitive Grundlagen einer irgendwie verstande-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
nen Repräsentation von Vorgegebenem, sondern Größen, die ihre Existenz ausschließlich der Sprachgeschichtsschreibung als einem Konstruktionsakt verdanken. Wenn sie nicht nur in realistischer, sondern auch in konstruktivistischer Fachstilistik dennoch als ontologische Gegebenheiten suggeriert werden, so spiegelt dies nur ihre Hineinprojizierung in einen Status, der ihnen nicht von Hause aus, sondern deshalb zukommt, weil eine als Konstrukt vorgestellte oder entlarvte Gegebenheit von einer im Sinne des Realismus denkenden gebildeten Öffentlichkeit, insbesondere im Bildungswesen, zwar als interessant beurteilt, aber nicht als faktisch gesichert und deshalb nicht als handlungsrelevant akzeptiert wird. 1.3. Sprachgeschichte des Dt. (im Sinne von Annahme a unter 1.1) existiert seit derjenigen Umbruchsphase innerhalb der Karolingerzeit, seit die Sprecher sog. Stammessprachen die von ihnen gebrauchten Verständigungsmittel auf einer obersten Normebene (vgl. Heger 1982, 434 f.) erstmalig nicht mehr als z. B. fränkisch, alemannisch, bairisch, sondern als deu tsch klassifizierten (vgl. Aspekte der Nationenbildu ng 1978, darin vor allem Sonderegger sowie Rexroth). — Die Idee von dt. Sprachgeschichte (im Sinne von 1.1. b) existiert als ein auf Quellen beruhendes Bild seit der Zeit des Humanismus (dazu Genaueres bei Sonderegger 1979, 2 ff.). — Dies ist gleichzeitig der frühest mögliche Zeitpunkt, von dem an von Verwirklichu ng von Sprachgeschichte gesprochen werden kann. 1.4. Vorliegender Artikel beruht auf einem offenen, aus dem Literaturverzeichnis hervorgehenden Corpus von Texten der ersten Metaebene. Dieses Corpus enthält unter inhaltlichen Gesichtspunkten zwei Teile, und zwar a) auf das Dt. als Objektsprache bezogene Texte, wie z. B. Sprachgeschichten vom Typ Egenolff 1720, Hirt 1925, Bach 1970, von Polenz 1991, 1994 b) Texte, die das Sprachbewußtsein von Sprechern des Dt. belegen, darunter vor allem sprachreflexive Texte vom Typ Schottelius 16 6 3, Adelung 1781; 1785. Beide Corpusteile weisen vier pragmatische Dimensionen auf: Zeit, Raum, Sozialität (Schicht und Gruppe), Textsorte. 1.4.1. Die objektsprachbezogenen Texte des Corpus haben — zwar nicht hinsichtlich jeder einzelnen Corpuseinheit, wohl aber aufs ganze gesehen — die gesamte dt. Sprachgeschichte zum Gegenstand. Das ist als erzählte Zeit die Spanne von der karolingischen Organisation Mitteleuropas bis zur Gegenwart, als erzählter Raum das
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
Gesamtgebiet des Dt., als erzähltes sozialsprachliches Spektrum dessen gesamte schichten- und gruppensoziologische Varianz und als erzähltes sozialsituatives Spektrum die Gesamtheit deutschsprachiger Textsorten. — Besonderer Wert wurde darauf gelegt, daß das Corpus nicht nur aus Texten besteht, in denen Deutschsprachige für Deutschsprachige oder gar Deutsche für Deutsche über einen als ‘deutsch’ betrachteten Gegenstand schreiben, sondern daß es auch auslandsgermanistische Texte sowie Texte aus unterschiedlichen Weltanschauungen enthält. Schließlich wurde darauf geachtet, daß die Sprachgeschichten (Analoges gilt für Corpusteil b) unter Aspekten ihrer Textsortenzugehörigkeit so breit wie möglich gestreut sind. 1.4.2. Die bewußtseinsbezogenen Texte (Corpusteil b) sollen die relevanten Ideen repräsentieren, nach denen Sprachgeschichte konzipiert wurde. Texte dieser Art existieren unter temporalem Aspekt seit der 2. Hälfte des 15. Jhs., unter arealem Aspekt in all denjenigen Kulturräumen des geschlossenen wie des inseldeutschen Sprachgebietes, in denen ein Bewußtsein von dt. Sprachgeschichte entwickelt und gepflegt wurde, und unter sprachsoziologischen Aspekten in verschiedenen Gruppen und Schichten von Deutschsprachigen. 1.6. Die Interpretation des Corpus erfolgt unter folgenden Gesichtspunkten: a. erzählte Zeit: Welche Epoche des Dt. erfährt in den Corpustexten die quantitativ und qualitativ intensivste, welcher eine weniger intensive Behandlung? b. erzählter Raum: Welcher Einzelraum innerhalb des dt. Sprachgebietes erfährt die intensivste Behandlung? c. erzähltes sozialsprachliches Spektrum: Welche schichten- oder gruppensoziologische Ausprägung des Dt. erfährt die intensivste Behandlung? d. erzähltes sozialsituatives Spektrum: Welche Textsorten in der Geschichte des Dt. erfahren die intensivste Behandlung? e. erzähltes Sprachmedium: Richtet sich das Interesse der Autoren der Corpustexte eher auf die Geschichte des geschriebenen oder des gesprochenen Deutsch? f. Rolle von Einzelpersonen, Einzeltexten und einzelnen Textgruppen: Welches Gewicht hat der Einzeltext oder der einzelne Textautor (z. B. Luther, Goethe) für die Autoren der Corpustexte? g. sprachsystematische — soziopragmatische Orientierung: Ist der zentrale Gegenstand der Corpustexte die Geschichte des Sprachsystems oder die Geschichte des soziopragmatischen Funktionszusammenhangs von Sprache und Sprechen? h. beschriebene hierarchische Ebene: Richtet sich das Interesse der Autoren der Corpustexte vorwiegend auf die Geschichte der Distingemik, der Morphologie, der Lexik, der Syntax, der Textsorten des Deutschen?
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i. Ausdrucksseite — Inhaltsseite: Richtet sich das Interesse der Autoren der Corpustexte vorwiegend auf die Ausdrucksseite oder vorwiegend auf die Inhaltsseite der Sprache? j. Objektsprache — Sprachreflexion: Richtet sich das Interesse der Autoren der Corpustexte eher auf die Geschichte der Objektsprache oder eher auf die Geschichte des Sprachbewußtseins einschließlich der Sprachreflexion? Wie wird die Verbindung von Geschichte der Objektsprache und Sprachbewußtseinsgeschichte gesehen? k. Zweckfreiheit — Interessenorientierung: Besteht das vorwiegende Interesse der Autoren der Corpustexte in der zweckfreien Beschreibung von Fakten oder im zweckorientierten Entwurf von Geschichtsbildern? Falls letzteres dominiert, welches sind die jeweils geschichtstypischen Interessen? Welche kulturpädagogischen Ziele werden verfolgt? Wie beeinflussen Interessen die Faktendarbietung? l. deutsche — europäische Orientierung: Sind Sprachgeschichtsideologie und Sprachgeschichtsschreibung des Dt. eher auf die nationale Besonderheit oder eher auf die kulturelle Einbettung in die Geschichte anderer europ. Sprachen ausgerichtet? m. Textsorten der Sprachgeschichtsideologie und Sprachgeschichtsschreibung: Welche sprachgeschichtsbezüglichen Textsorten gibt es? Welches sind ihre fachtextlichen (lexikalischen, tropischen, syntaktisch-stilistischen) Kennzeichen? Gibt es Beziehungen zwischen Sprachgeschichtsideologie / Sprachgeschichtsschreibung einerseits und üblicherweise gebrauchten Textsorten andererseits? Welcher Art sind diese Beziehungen? n. Inlandsgermanistik — Auslandsgermanistik: Unterscheidet sich die Sprachgeschichtsforschung innerhalb des geschlossenen dt. Sprachgebietes (Deutschland, Schweiz, Österreich) von derjenigen außerhalb dieses Gebietes (z. B. Niederlande, Großbritannien, Rußland)? o. Zustandsorientierung — Entwicklungsorientierung: Inwieweit ist die Sprachgeschichtsforschung synchron auf die Beschreibung historischer Sprachzustände oder diachron auf die Beschreibung von Entwicklungen orientiert? p. Rückwärtsorientierung — Vorwärtsorientierung: Begreift die Sprachgeschichtsschreibung ihren Gegenstand retrospektiv als Rekonstruktion eines vergangenen oder prospektiv als Konstruktion eines zukünftigen Zustandes? Wie verbinden sich Retrospektion bzw. Prospektion mit den Ideologien von Verfall und Fortschritt? q. anthropologische Konstanten — Geschichtlichkeit: Inwieweit erscheinen Fakten, Ideen und Verwirklichungsformen der Sprachgeschichte als zufällige einzelsprachliche Beispiele für anthropologische Konstanten oder als radikal der Geschichtlichkeit unterworfene Gegebenheiten? r. beschriebene Sprachfunktionen (im Sinne Bühlers 1934, 16 f.): Wird Sprachgeschichte als Geschichte
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der Darstellungs-, der Erkenntnis-, der Kommunikations- oder der Symptomfunktion verstanden?
In vorliegendem Rahmen können aus Umfangsgründen nur die unter a bis 1 genannten Gesichtspunkte behandelt werden.
2.
Die erzählte Zeit
2.1. Die Zeit, für die eine als Identität unbestrittene Einheit Deutsch angesetzt oder behauptet wird, ist für die Sprachideologie und Sprachgeschichtsschreibung des späteren 19. und des 20. Jhs. die Spanne zwischen der beginnenden Karolingerzeit und der jeweiligen Gegenwart des Historikers. Die moderne wissenschaftliche Bezeichnung für die Sprachepoche seit etwa 750 lautet Althochdeu tsch. Die Zeit davor wird mit Ausdrücken wie germanisch, stammessprachlich, vor(althoch)deu tsch belegt und in Kapitelüberschriften von Sprachgeschichten gerne als Vorgeschichte des Deu tschen behandelt. Dabei ist zu beachten, daß dieser Ausdruck, obwohl er polysem ist, nämlich erstens den Zeitabschnitt vor der Überlieferung einer existierenden geschichtlichen Einheit und zweitens das einer Einheit (als andersartig) Vorausgehende meint (nach Duden 8, 3791), nirgendwo monosemiert wird. Die Schärfe des Umbruchs findet sich denn auch eher beiläufig thematisiert; vor allem terminologische Widersprüche weisen auf Unentschiedenheit in der Abgrenzung: Bei Schmidt (1993, 31) beginnt das Ahd. um 500; im selben Werk (S. 172) wird die Phase von 500 bis 750 aber auch als vordeu tsch (das ist nach üblichem Sprachgebrauch: ‘zeitlich vor dem Dt. liegend’) bezeichnet. Wells spricht einerseits von vor- bzw. prähistorischem Deu tsch (das ist Deutsch, wenn auch vor der Überlieferung liegend), andererseits von VorAlthochdeu tsch (das ist: ‘vor dem Ahd. liegend’, also noch nicht deutsch; 1990, 28; 30). Kritischer diskutiert Sanders (1982, 94 f.) die analoge Problematik für das Asächs., indem er — selbst voraltniederdeu tsch gebrauchend — die in der Wissenschaft üblichen Termini voraltsächsisch und frühaltsächsisch gegeneinander abwägt, ohne allerdings ein Ergebnis zu formulieren. Sehr deutlich dagegen sprechen Weisweiler/Betz (1974, 56 ) von „zwei wesensverschiedene[n] Sprachabschnitte[n]“, deren erster als „germanisches Altertum“ und deren zweiter als „deutsches Mittelalter“ gekennzeichnet wird. Auch Eggers (196 3, 40) zwingt zum Aufhorchen, wenn er Karl den Großen explizite „noch nicht“ als Deutschen, sondern als Franken klassifiziert. 2.2. Es entspricht der verbreiteten Unterbetonung des Umbruchs von vordeutsch zu deutsch,
daß das Dt. in der Mehrzahl der im Corpus vertretenen jüngeren Werke um mehrere Jahrhunderte nach rückwärts, maximal bis in die Zeit um 500 n. Chr., verlängert wird (z. B. KEDS 196 9, 1, 107; 1983, 525; Sonderegger 1979, 181; Schmidt 1993, 6 2 ff.; Schildt 1976 , 52; Stedje 1989, 6 3; Wells 1990, 37). Dabei fungieren unter geschichtlichem Aspekt die Taufe Chlodwigs (im Jahre 496 ) und die Gründung des Merowingerreiches als Merkdaten; unter linguistischem Aspekt wird der Zweiten Lautverschiebung die Rolle der Ausgliederung des Ahd. aus dem umfassenderen Südgerm. zugeschrieben (z. B. Behaghel 1982, 15; Bach 1970, 101; Sonderegger 1980, 56 9 und öfter; Wells 1990, 37; Vekeman/ Ecke 1992, 30 f.; Schmidt 1993, 6 8). Die Kennzeichnung dieses konsonantengeschichtlichen Ereignisses mittels des Attributes (alt)hochdeu tsch auch bei denjenigen Sprachhistorikern, die den Beginn des Dt. im 8. Jahrhundert ansetzen, bestätigt diese Rolle. 2.3. Unabhängig davon aber, ob man das Dt. um 500 oder in der Mitte des 8. Jhs. beginnen läßt, es besteht in beiden Fällen die offensichtliche Tendenz, seine Geschichte zum Vordeutschen hin, „in die Stammesgeschichte der Germanen“ (Sonderegger 1988, 399), zurückzuverlängern. 2.3.1. Dies ist linguistisch wie folgt zu beurteilen: Genetisch als zusammengehörig erkennbare Verständigungsmittel werden dadurch zu Sprachen und grenzen sich damit nach unten vom Dialekt und nach oben von der Sprachgruppe ab, daß ihre Sprecher ein „ranghöchstes Diasystem mit Norm“ (Heger 1982, 434), das ist eine oberste Ebene des Bezugs von Richtig-, Falsch-, Schön- und anderen metasprachlichen Urteilen, anerkennen. Sprachen (insbesondere nahe verwandte Sprachen) sind demnach nicht objektivistisch durch Kriterien wie die Konstruierbarkeit eines Diasystems, durch einen linguistisch festlegbaren Grad der genetischen Übereinstimmung von Systemteilen oder durch wechselseitige Verständlichkeit von Sprechern definierbar, sondern — wenn auch nicht ausschließlich, so doch entscheidend — durch Klassifikationen, die von Sprechern vollzogen werden. Dabei können systemlinguistisch geringfügige Differenzen als sehr hoch und systemlinguistisch bedeutendere Differenzen als unwesentlich beurteilt werden. Die Zweite Lautverschiebung, Monophthongierungen und Diphthongierungen aller Art, auch morphologische, lexikalische und syntaktische Entwicklungen, wie sie sich in der Merowingerund Karolingerzeit vollzogen, haben unter dem hier diskutierten soziolinguistischen Aspekt der Konstitution einer Sprache denselben systematischen Status wie jede heutige Variation dialekta-
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ler oder soziolektaler Art; sie sind so lange bedeutungslos, wie sie nicht zum Markierungsmittel für Verschiebungen der obersten Normebene werden. Die Sprache Deutsch ist nach dieser Argumentation also nicht aufgrund systemimmanenter Entwicklungen des Typs ‘Lautverschiebung’ vom Vordeutschen abzusetzen, es gibt sie vielmehr genau seit der Zeit, seit die Sprecher sog. Stammessprachen ihre Einstellung auf eine neue (vom Fränkischen ausgehende) Norm mit einer neuen Bezeichnung des Typs theodiscus, und zwar in der Bedeutung ‘deutsch’, belegten. Dieser Vorgang ist frühestens für das 9. Jahrhundert nachweisbar. Die Bezeichnung von Entwicklungen wie der Lautverschiebung oder der Monophthongierung als (althoch)deu tsch steht ebenso im Gegensatz zu dieser Überlegung wie die übliche Bezeichnung der Geschichtsphase zwischen 500 und dem 9. Jahrhundert mittels dieses Adjektivs. 2.3.2. Eine analoge „Rückprojizierung der modernen Sprachzustände in die Vergangenheit“ (Sanders 1982, 22) begegnet auch für das Nd. (und das Nl.), nur daß die Projektionszeit hier die Epoche der Karolinger, Ottonen und Salier betrifft, also um einige Jahrhunderte nach hinten verschoben ist. Ausdrücke wie altniederdeutsch statt altsächsisch (für das Nl. altniederländisch statt altniederfränkisch / küsteningwäonisch; dazu van Loey 1970, 253; Goossens 1976 ; Vekeman/Ecke 1992, 28; 49) sind der terminologische Niederschlag dieser Bemühungen. Die Kapitelüberschrift Das Altniederdeu tsche (Altsächsische) in vorliegendem Handbuch spiegelt die diesbezüglich bestehende Unsicherheit ebenso wie das im Ku rzen Gru ndriß der germanischen Philologie begegnende Nebeneinander der Überschriften Altsächsisch und Mittelniederdeutsch (von Krogmann) einerseits und Altniederländisch und Mittelniederländisch (van Loey) andererseits (vgl. auch Goossens 1973). 2.4. In der Sprachgeschichtsideologie des 15. bis 18. Jhs. liegt die untere Grenze des Dt. in einer nicht mit absoluten Zahlen angebbaren Vorzeit. Zwar betreffen die Ansätze praktischer Forschung schon durch die Betonung der sprachgeschichtlichen Rolle Karls des Großen auch für diese Jahrhunderte vorwiegend die im heutigen Sinne dt. Zeit. Verschiedene ideologische und forschungspraktische Tendenzen lassen aber erkennen, daß das Dt. in einer über die frk. Stammeszeit hinausgehenden, möglichst langen nach rückwärts offenen Tradition gesehen wird. 2.4.1. Die dieses Bild bestätigenden linguistischen Argumentationsfelder liefern vor allem die Etymologie und die Namenkunde; die Intention seiner Urheber wie seine Rezeption bestand
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im Entwurf und im Verständnis des Dt. als einer durch Alter ausgezeichneten, in ihrem eigentlichen Wesen unwandelbaren, mit besonderen Gütekennzeichen (Reichtum, Reinheit, Grundrichtigkeit, sachbezogene Eigentlichkeit) ausgestatteten und daher anderen, vor allem den rom. Sprachen überlegenen, religiös und natürlich fundierten Entität mit einem von der zufällig zeitgebundenen Verfassung unabhängigen ontologischen Status. Die Identifizierung mit dieser Entität ist dann eine zugleich religiöse wie patriotische wie sozialrevolutionäre wie moralische Forderung: Sprachgeschichte steht im Dienst der Konstituierung bzw. Stärkung einer letztlich sprachnationalen Großgruppe (RössingHager 1985; Gardt 1994; Art. 27 in diesem Band). 2.4.2. Zur Veranschaulichung des Vorgetragenen sei hier auf zwei Beispiele verwiesen. Zwischen 1498 und 1510 erklärt der Oberrheinische Revolutionär: „Dorus kan alman warlich verston, das Adam ist ein tuscher man gewesen. Dorvmb heissen wier Tuschen in ollen sprochen Almans, wan for der zerstorung was Tusch alman sproch“ (Franke 196 7, 221). In der Au sführliche[n] Arbeit Von der Teu tschen Hau btSprache von J. G. Schottelius (16 6 3) heißt es: „keine jetz Weltkündige und Landübliche Sprache in Europa [wird] älter seyn / als [...] die alte Teutsche“; sie hat die „allerältesten Wörter und die eigentlichsten Bedeutungen der Dinge“, dies schon deshalb, weil anläßlich des Turmbaus von Babel die von Adam gesprochene und von Askenas als „alte Celtische oder Teutsche Sprache“ nach Europa gebrachte Erzsprache nur verwirrt wurde. Wie stark das Dt. des 17. Jahrhunderts auch variieren mag, es ist „nach dem Grunde geblieben“, letztlich „einerley“, „eine einige Teutsche Sprache“, „eben die Sprache“, die die alten Gütekennzeichen (vor allem die Wortbildungsfähigkeiten, auch die alten Bedeutungen) gegen alle Veränderungen „am Ausspruche und schreibung [...] am wesentlichen Tohne“, „nach den wesentlichen Sprachstücken“ nicht „aufgehoben“ hat, sondern „helt und verwahret“ (16 6 3, Zitate: S. 30—42). — Weitere Hinweise zur Geschichte der Verlängerung des Dt. in die Vorzeit in Art. 27 und 28.
2.5. Auch im 19. Jh. (in Fortsetzung seiner Ideen verbreitet im 20. Jh.) herrschen trotz des neuen Paradigmas von Sprachgeschichte objektivistische Konstanzvorstellungen, die über das Ahd. hinausreichen. So schreibt J. Grimm (mit dem Blick nach rückwärts): „Man gibt vor, Karl der große habe zuerst das weltgeschichtliche bewußtsein der deutschen völker geschaffen. es wäre aller natur entgegen, dass sie bis dahin gewartet haben sollten, um zu erkennen, wie sie durch gemeinsame sprache, sitte und kraft untereinander zusammenhingen“ (1848, 793). Wilmanns (1897—1909)
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gibt seiner Deu tschen Grammatik auf diesem Hintergrund den Untertitel Gotisch, Alt-, Mittel- u nd Neu hochdeu tsch. Noch 1925 schreibt H. Hirt in ähnlichem Sinne: „Wenn wir auch nicht genau wissen, wann das Deutsche im besondern eigentlich beginnt, so können wir doch im allgemeinen sagen, wir müssen es von der Zeit an rechnen, in der das ursprüngliche keltische Deutschland von Germanen äußerlich und sprachlich erobert worden ist“ (S. 85); er zielt damit auf die Zeit vor und um Christi Geburt. — Die Verbreitung der Konstanzvorstellung zeigt sich darin, daß sie zum Gemeingut populärwissenschaftlich-nationaler Sprachgeschichtsvorstellungen geworden ist (Weise 1896 , 37). Der Kern dieser Aussage findet sich noch in der Deutschen Wortgeschichte (Stroh 1974, 4): „Noch ist der Gedanke der ‘Deutschen Hauptsprache’ (Schottel), Fichtes Begriff der Ursprache, d. h. der unabgeleiteten, vom Urvolk her ununterbrochen entfalteten Sprache nicht ausgeschöpft. Kraft dieses Zusammenhanges aber verbindet uns diese Sprache mit den Ursprüngen unseres geschichtlichen Seins, und sie besitzt die Kraft, auch Jahrtausende vor unseren frühesten Geschichtsschreibern und vor den Anfängen unseres Schrifttums in merowingischer Zeit zu erhellen“.
2.6. Geht man davon aus, daß die übliche Periodisierung des Dt. zu Zeitabschnitten von rund 300 Jahren führt und daß jedem dieser Abschnitte eine eigene Bedeutung in der dt. Sprachgeschichte zukommt, dann wären Gesamtdarstellungen der Geschichte des Dt. oder zeitübergreifende Behandlungen sprachhistorischer Einzelthemen ausgewogen, wenn jedem Zeitabschnitt eine ungefähr gleich lange Beschreibungsstrecke gewidmet würde. Diese Verteilung wird in der Sprachgeschichtsschreibung des 17. und 18. Jhs. aus unterschiedlichen kulturhistorischen Gründen weder angestrebt noch erreicht (vgl. Schottelius 1663; Egenolff 1735). Im 19. Jh. herrscht mit dem historisch-genetischen Paradigma eine starke Gewichtung der älteren dt. und germ. Sprachstufen (Grimm 1848; Scherer 186 8). Das 20. Jh. hat dagegen — vor allem in den Gesamtdarstellungen — eine weitgehende Ausgewogenheit erreicht. Im einzelnen begegnende Ausnahmen vom Regelbild können sachlich z. B. in der Überlieferungssituation begründet liegen (etwa für Weithase 196 1), forschungspraktischer Natur sein oder Schwerpunktsetzungen einzelner Wissenschaftler entspringen; sie lassen sich aber nicht mehr zu Aussagen des Typs nutzen, daß etwa die älteren Sprachstufen des Dt. eine tendenziell stärkere Gewichtung erführen als die jüngeren oder daß umgekehrt eine allgemein akzeptierte Neugewichtung der Neuzeit erfolgt sei. Auffallend ist aber auch im 20. Jh. bis in die Gegenwart hinein die in innerer Affinität zur Rückprojizierung moderner Sprachzustände in die Vergangenheit stehende breite Berücksichtigung der idg./germ./wgerm. Grundlagen des Dt.; sie schlägt sich in aller Regel in eigenen Kapiteln
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
nieder und kann Umfänge erreichen, die denjenigen für das Ahd. (usw.) entsprechen (vgl. unter diesem Aspekt: Hirt 1925; Moser 1957; Bach 1970; Deutsche Wortgeschichte 1974; KEDS 1983; Moskalskaja 1985; Keller 1986 ; Schmidt 1993). Sie dient, auch wenn die Vorstufen nicht als deu tsch bezeichnet werden, der Vermittlung ungebrochener historischer Konstanz des Dt. im Sinne des unter 2.2. bis 2.5. Gesagten.
3.
Der erzählte Raum
3.1. Der für das Dt. angesetzte Raum hat als unbestrittenen Kern das Gebiet des Hd. im dialektgeographischen Sinne; zur Heraushebung der sprachraumbildenden Funktion des Hd. tritt für dieses vereinzelt der Terminus Binnendeutsch als Fortsetzung eines älteren Binnengermanisch (dies im Gegensatz zu Nordseegermanisch) auf (Sonderegger 1979, 117; 118; 127; Sanders 1982, 121). 3.2. Das Hd. existierte in historisch unterschiedlichen Grenzen. Diese waren im Westen und Süden teils bis in frmhd. Zeit hinein in einer gewissen Bewegung, danach relativ fest. Im Osten befanden sie sich vor allem in Verbindung mit der Ostkolonisation und der geschichtlichen Rolle der Donaumonarchie über Jahrhunderte hinweg, nach dem Zweiten Weltkrieg kurzfristig (aber das sprachräumliche Bild Europas verändernd) in großräumigem Fluß. Ihre Beschreibung ist konzeptuell insofern unproblematisch, als der Begriff ‘Deutsch’ relativ zu Französisch, Italienisch, Ungarisch (usw.) nach dem in Europa gültigen Verständnis von Sprache, taal, langu e, langu age nicht sinnvoll diskutiert werden kann. — Prinzipiell schwieriger, da zusätzlich mit dem Problem der Definition von ‘Deutsch’ verbunden, gestaltet sich die Behandlung des als dt. beanspruchten Sprachraums für das Nd. und den Nordwestbereich des Kontinentalwestgermanischen, also für das Niederfränkische bzw. Niederländische. — Unproblematisch unter diesem Aspekt ist die (nieder)deutsch-dänische Sprachgrenzzone. 3.3. In der sprachgeschichtlichen Literatur werden folgende Räume bzw. sprachlichen Grenzgebiete unter dem Aspekt ihrer Zugehörigkeit zum Dt. beiläufig erwähnt bis engagiert diskutiert: (1) Das gesamte nd., (2) fries., (3) nl. bzw. nfrk., (4) snfrk. Gebiet, (5) das Luxemburgische, (6 ) das rom. Rheinland, (7) die wfrk. Galloromania, (8) Lothringen und das Elsaß, (9) Teile des heutigen Schweizerdeutschen, (10) das lgb. Gebiet, (11) rom. Relikte im vorahd. und ahd. Bair.-Österr. (dazu Reiffenstein 1996 ), (12) die von der mittelalterlichen Kolonisation erfaßten Räume in den Alpen sowie (13) in Südost-, Mittel- und
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
Ostmitteleuropa, (14) die dt. Sprachinseln innerhalb des Ungarischen, des Rumänischen und der slav. Gebiete, (15) die slav. Sprachinseln innerhalb des Dt., (16 ) Südschleswig.
In vorliegendem Zusammenhang soll ausschließlich die Behandlung des Status des Nd. und Nl. etwas ausführlicher besprochen werden. 3.4. Der Status des Nd. als eigener Sprache oder als Varietät des Dt. wird für seine Gesamtgeschichte wie für seine einzelnen Epochen unterschiedlich bestimmt. So ist das Asächs. für Eggers (196 3, 53) und Sonderegger (1974, 13; 38) eine eigene, systematisch neben dem Ahd. stehende germ. Sprache. Für Goossens (1973, 19) besitzt das Asächs./Mnd. diese Qualität bis ins 17. Jh., danach nicht mehr: Das Nnd. sei östlich der heutigen dt.-nl. Staatsgrenze Dialektraum des Hd., das westlich bis zur Ijssel anschließende Gebiet trotz seiner bis dahin gültigen Zugehörigkeit zum Niederdeutschen Dialektgebiet des Niederländischen. Keller (1986 , 143) dagegen klassifiziert das And. seit Überlieferungsbeginn als „Dialekt des Deutschen“ (ähnlich Bach 1970, 112), ohne zu bemerken, daß diese Aussage durch andere Formulierungen seiner eigenen Monographie wieder angetastet wird, so diejenige, daß die Lautverschiebung „das Hochdeutsche von den anderen germ. Sprachen“ trennt (172). Moskalskaja (1985, 6 0) setzt die Dialektalisierung des Asächs. seit dem 9. Jh. an, demzufolge kann das Mnd. gegen die allgemein übliche Terminologie als Territorialdialekt des Mhd. klassifiziert werden (S. 156 ; ähnlich schon für das Asächs. KEDS 196 9, 112); Sanders spricht zwar nicht von Dialektalisierung, wohl aber von „allmählicher ‘Eindeutschung’ der [...] Sachsensprache seit fränkisch-karolingischen Tagen“ (1982, 13; ähnlich 34; 117). Von Polenz urteilt (1991, 279), „daß das Mittelniederdeutsche seit dem 13. Jh. zu einer vollgültigen Schriftsprache entwickelt worden“ sei; noch um 1500 habe es „eine Chance für die Entwicklung zweier deutscher Schriftsprachen“, die er stilistisch variierend auch als „deutsche Nationalsprachen“ bezeichnet, gegeben (ebd. 16 8). Die terminologische Zwickmühle ist offensichtlich: Ein und dieselbe Sprache, etwa das Deutsche oder das Französische, kann nicht in zwei ebenfalls als ‘Sprache’ definierte Einheiten untergliedert werden, ohne daß der Inhalt von Sprache verändert würde. 3.4.1. Es mögen Probleme dieser Art gewesen sein, die viele Autoren zu einem Verzicht auf klare definitorische Entscheidungen bewogen haben. Implizite Bestimmungen dagegen sind aber auch bei Verzicht auf Definitionen nicht umgehbar, schon weil z. B. die im Norden des
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heutigen dt. Sprachgebiets im Mittelalter gebrauchten Verständigungsmittel oder der Wechsel dieser Mittel seit dem 16 . Jahrhundert in irgendeiner Weise durch motivierte Wortbildungen bezeichnet werden müssen. In diesen Fällen hat sich der Sprachhistoriker zu verhalten, und es ist von Bedeutung, ob er etwa Altniederdeutsch oder Altsächsisch (vgl. 2.3.2) gebraucht, ob er von Sprach- oder Varietätenwechsel, von Sprach- oder Varietätenersatz, Sprach- oder Varietätengrenze, überhaupt von Dialekt, regionaler Variante, Sprache, Schriftsprache, Mu ttersprache, Nationalsprache spricht. 3.4.2. Zu verhalten hat er sich vor allem dann, wenn er Karten oder Tabellen bringt. Folgende Möglichkeiten werden genutzt: — voller, d. h. kartographisch oder tabellarisch in keiner Weise abgestufter Einbezug des wie auch immer bezeichneten nd. Gebietes in den Sprachraum des Dt. (so Keller 1986, 144 für die Zeit Karls des Großen; Schmidt 1993, 67; 70—71 für das 10./11. Jh.; 92 für das Hochmittelalter; KEDS 1983, 411 und Moskalskaja 1985, 19 für das heutige Deutsch) — Einbezug des Nd. des 16. Jhs. in die „deutsche Sprachgrenze“ bei gleichzeitiger Anbringung einer schwach gezogenen Linie innerhalb des Dt. mit dem Titel „nd./hochdt. Sprachgrenze“ (Keller 1986, 354) — Ansatz eines eigenen Sprachraums für das Nd. bzw. eine seiner historischen Varianten und damit Gegenüberstellung sowohl zum Dt. wie zum Anfrk. (Goossens 1973, Karte 1, für das 9. Jh.).
3.4.3. Nicht ohne Relevanz hinsichtlich des Sprachstatus des Nd. sind einige pragmatische Gegebenheiten seiner Behandlung in der wissenschaftlichen Kultur der deutschsprachigen Länder. Eigene (wenn auch wenige) Lehrstühle für Niederdeutsch, eigene Zeitschriften und Tagungen, eigene Handbücher (Cordes/Möhn 1983) oder Gesamtdarstellungen (Goossens 1973) unterstellen etwas im Vergleich zu Obd., Md. oder Bair. Besonderes; sie suggerieren damit eher Sprach- als Dialektstatus. 3.4.4. Überblickt man die vorgetragenen Argumente und Fakten in ihrer Gesamtheit, so ergibt sich das Bild, daß das Nd. von einem bestimmten Zeitpunkt an, sinnvollerweise seit der Eigenklassifikation ihrer Sprecher als deu tsch im 12. Jh. (so der Vorschlag des Autors dieses Artikels), spätestens seit seiner sog. Überlagerung im 16. Jh., den Status eines Dialektes des Dt. hat und damit voll zu dessen Sprachraum gehört. Über die Zeit davor herrscht Meinungsverschiedenheit: einerseits Ansatz des Nd. als eigene, wenn auch dem Hd. eng verwandte Sprache (so wieder der hier vertretene Vorschlag), andererseits Be-
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trachtung als frühzeitig und auf allen Ebenen des Sprachsystems strukturell stark beeinflußte und soziologisch überdachte Varietät des Hd. In diesem letzteren Falle ergäbe sich für das Dt. ein Sprachraum, der das nd. Gebiet von Anfang an einschließt. Das Konzept eines Hd. und Nd. umfassenden Urdeutsch läßt sich damit zwar nicht von dessen genetisch-linguistischer Begründung, wohl aber vom implizierten Raumbegriff her vereinbaren. Es ergäbe sich das Bild einer räumlichen Konstanz, die den Großteil Mitteleuropas betrifft. Das in Abschn. 2.2. bis 2.5. konstatierte Bestreben nach geschichtlicher Konstanz erhielte ein sprachräumliches Analogon. 3.5. Das (Alt)niederfränkische bzw. Niederländische wird hinsichtlich seines Sprachstatus und damit seiner Raumzugehörigkeit ebenfalls unterschiedlich behandelt (vgl. dazu generell Goossens 1973; 1976 ). Die Kriterien, aus denen sich Zuordnungsurteile herleiten, erfahren dabei oft überhaupt keine, teils nur eine beiläufige Diskussion; jedenfalls werden sie in aller Regel nicht mit der methodischen Sorgfalt und intellektuellen Redlichkeit angewandt, die die Brisanz des Themas verlangt; eine sprachtheoretisch reflektierte Diskussion von dt. Seite ist durchgängig unterblieben. In vielen Fällen kommen Nachlässigkeiten und offene Widersprüche in den einzelnen Darstellungsteilen und Darstellungstypen (etwa Karten vs. zugehöriger Text) hinzu. Die hauptsächlichen Aussagen lauten in idealtypischer Form: (1) Das Nl. einschließlich seiner stammessprachlichen Vorstufe ist von Anfang an eine zwar mit dem Dt. eng verwandte, aber dennoch eigene Sprache. Dieses Urteil gilt — und hier liegen quantitative Unterschiede zur Beurteilung des Nd. — relativ allgemein (z. B. Eggers 196 3, 23; Sonderegger 1974, passim; Sanders 1982, passim; Stedje 1989, 59, anders 80); der sprachliche Niederschlag dieses Urteils ist die terminologische Reihe Alt-, Mittel-, Neuniederländisch. (2) Das Nfrk./Nl. ist bis zu einem bestimmten Zeitpunkt Variante des Frk. bzw. Dt., seit diesem Zeitpunkt eine eigene Sprache mit anerkannter Leitvarietät und von ihr überdachten dialektalen und sonstigen Varianten. Die Entwicklung ist also umgekehrt zu derjenigen des spätestens seit dem 16 . Jh. dialektalisierten Nd. verlaufen; die adäquate Reihe zur Bezeichnung der Sprachstufen lautet Altniederfränkisch, Mittel-, Neu niederländisch. Der Zeitpunkt ad quem der Umorientierung von (A)nfrk. zu Nl. kann verschieden festgelegt sein. Bei einem sehr frühen Ansatz ergibt sich eine Annäherung an das soeben unter (1) genannte Urteil; in der Regel wird die Blütephase des Mnl. im 13./14. Jh. als Beweis der vollzogenen Nederlandisierung angenommen; seit dem 16 . Jh. gilt diese in diesbezüglich direkten Äußerungen als Faktum (Details bei Goossens 1973; 1976 ; Bach 1970, 102; 212; 272; KEDS 196 9, 108; 112; 286; von Polenz 1991, 82).
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
3.5.1. Es gehört zur Verwirklichu ng von Sprachgeschichte, daß die beiden genannten, als idealtypisch bezeichneten Urteile in der Praxis nicht immer stringent durchgehalten werden, sondern auffallend häufig mit einer ganzen Anzahl von Unzulänglichkeiten behaftet erscheinen; diese können das jeweils vertretene Bild ansatzweise modifizieren, in Frage stellen oder gar aufheben. Einige der Unzulänglichkeiten sollen kurz genannt und veranschaulicht werden. 3.5.2. Verbreitet ist eine übertrieben auf die eigene Nationalsprache ausgerichtete Darstellungsperspektive. Sie wird z. B. dann greifbar, wenn der Sprachstatus des Nl. zwar anerkannt wird, gleichzeitig aber offene oder versteckte Äußerungen des Bedauerns erfolgen, etwa der Art, daß „die mhd. Gemeinsprache“ im nl. Gebiet ohne Bedeutung geblieben sei (Bach 1970, 212), daß die Luthersprache nicht „Herr“ über das Nl. geworden sei, dessen Raum sich damit als „Restgebiet“ erweise (ebd. 272). — Der Korrektheit halber sei erwähnt, daß die in vorliegendem Artikel verwendete Redeweise (z. B. der Ausdruck Eigenständigkeit des Nl.; s. u.) ebenfalls perspektivisch ist, und zwar genau in dem Maße, in dem man die mögliche Charakterisierung des Dt. als eigenständig gegenüber dem Nl. als ungewöhnlich empfindet. 3.5.3. Bei den Karten und Tabellen, die immer zu Vereinfachungen zwingen, begegnen folgende Bilder: — volle Eigenständigkeit des nl. Sprachgebietes innerhalb der Grenzen der Geltung der heutigen nl. Hochsprache (Wolf 1981, 41; Niebaum 1980, 460; Sanders 1982, Karte 3) — unterschiedlich konsequente Verringerung der Beschriftungsdichte für den nl. Raum bis hin zum Verzicht auf Beschriftung, damit Vermittlung des Eindrucks von relativer bis vollständiger Eigenständigkeit (KEDS 1969, 217 ff.; Schmidt 1993, 150; Moskalskaja 1985, 203) — Ansatz eines nfrk./nl. Sprachraums innerhalb des Dt. (oder speziell des Nd.) bei gleichzeitiger Kennzeichnung dieses Raums als Besonderheit, so z. B. durch eine Differenzierung der Kartenüberschrift („Deutscher und [kleingedruckt:] niederländischer Sprachraum“ bei Moser 1972, Karte im Anhang), durch Eintragung der Sprachbezeichnung Mittelniederländisch (Paul, Mhd. Gr. 1989, 7), durch abgestufte Linien und/oder Schraffuren und/oder Legendentexte des Typs „holländische (sic!) Sprachgrenze“ (Keller 1986, 236 für das hohe und spätere Mittelalter; Hutterer 1987, 325 für das 15. und 16. Jh.; Stedje 1989, 90 für die Zeit des Mhd.), tabellarisch durch Angabe besonderer Zwischenstufen (Stedje 1989, 52) — aspektuelle (z. B. Lautverschiebung) kartographische Einbeziehung des nl. Sprachraums in den deutschen (Schildt 1976, 237 f.; KEDS 1969, 582 f.)
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
— volle kartographische oder tabellarische Eingliederung historischer oder geographischer Varietäten des Nl. bzw. Nfrk. in das dt. Sprachgebiet, so z. B. des Anfrk. (Schildt 1991, 60; Schmidt 1993, 67) und des früh- bis hochmittelalterlichen Nl. (Moser 1957, 843; 847; 850; übernommen in KEDS 1969, 148 f.; vgl. ebd. 227) in das Dt. schlechthin, des hochmittelalterlichen Mnl. in das Gebiet der dt. Schriftdialekte (KEDS 1969, 152; Keller 1986, 252 bei gleichzeitiger Nichterwähnung des Mnl. im Begleittext; Moskalskaja 1985, 156; Schmidt 1993, 92), der nl. Druckersprachen der Zeit um 1500 in den Raum der dt. Druckersprachen (Moser 1957, 854), des hoch- und spätmittelalterlichen Mnl. oder der heutigen nl. Mundarten wie des Nl. überhaupt in den dt. oder speziell den nd. Mundartraum (Schottelius 1663, 154; Schildt 1976, 241; 1991, 89; 151; Bach 1970, 102; Wolf 1981, 173/4; KEDS 1983, 411; Wells 1990, 381).
3.5.4. Diese Übersicht macht deutlich, daß die in Sprachgeschichten des Dt. erschienenen Karten wiederholt ein Bild bieten, das zu den jeweils zugehörigen Texten insofern in Widerspruch steht, als die Raumzugehörigkeit des Nl. zum Dt. in einem umfassenderen Sinn suggeriert wird, als die Texte dies aussagen. Die Tatsache, daß auch Vertreter der westlichen wie der östlichen Auslandsgermanistik sowie weite Teile der Sprachgeschichtsforschung der DDR sich diese Unzulänglichkeit vorhalten lassen müssen, läßt auf bloße Nachlässigkeit schließen. Trotzdem verwundert es, daß in Lehrbüchern wie der KEDS noch 1983 (S. 411) Karten erscheinen konnten, die das Nl. mit Amsterdam und Brüssel unter dem Titel „Die deutschen Mundarten, um 196 5“ als niederfränkisch bezeichnen und es in gleicher Weise wie das Westund Ostfälische mit Münster und Hannover dem Nd. zuordnen oder daß Wells (1990, 381) die „Grenze des deutschen Sprachgebiets“ westlich von Dünkirchen auf die Nordsee stoßen läßt. In anderen Fällen wird man unterschwellige Vorstellungen vom eigentlich dt. Charakter des Nl. nicht ausschließen können. 3.6. Die Sprachgeschichten enthalten im allgemeinen keine Angaben darüber, daß bestimmte Gebiete innerhalb des — wie auch immer umrissenen — dt. Sprachraums eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Dies läßt sich als Anspruch interpretieren, daß jeweils der Gesamtraum Gegenstand der Beschreibung ist. In der Praxis wird dieser Anspruch aus einer Reihe von Gründen nur partiell realisiert. Diese Gründe sind sowohl institutioneller als auch sprach- bzw. sprachgeschichtsideologischer Art. Sie laufen darauf hinaus, daß vor allem das Nd. eine im Ver-
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gleich zum Hd. reduzierte Behandlung erfährt (was allerdings durch die Existenz von Lehrstühlen zur Niederdeutschen Philologie partiell kompensiert wird). Dies heißt umgekehrt, daß dem Sprachraum des Hd. in den Sprachgeschichten des Dt. die eigentliche Aufmerksamkeit zukommt. Innerhalb des Hd. herrscht eine typische thematische Progression: Ausgehend vom Ahd. werden das Mhd., das Frnhd., die Zeit von Barock und Aufklärung und schließlich das 19. und 20. Jh. behandelt. Dies heißt unter dem Aspekt der Raumgewichtung, daß nacheinander dem Fränkischen und Alemannischen (für die and. Zeit), dem Obd., speziell dem Wobd. (für die mhd. Zeit), dem oobd./böhmisch/omd. Raum (für die frnhd. Zeit), dem Meißnischen (für das 17. und 18. Jh.) und dem in der Hochsprache inzwischen hd. gewordenen Norddeutschen (für das 19. und 20. Jh.) die Priorität in der Beschreibung zukommt. Es ist in Grundzügen das von Müllenhoff (186 3) gezeichnete Bild der Hochspracheentwicklung, das hier bis auf den heutigen Tag durchschlägt. 3.7. Die Beschreibung der einzelnen Räume erfolgt mit relativer Ausführlichkeit. Dies entspricht dem Faktum, daß das Dt. selbst mit seinen höherschichtigen (sog. karolingische Hofsprache, mhd. Dichtersprache, Gemeines Deutsch, Hansesprache, nhd. Schriftsprache), erst recht mit seinen mittel- und unterschichtigen Varianten mindestens bis ins 17. Jh., in einem strengeren Sinne bis zur Gegenwart hin durch starke räumliche Differenzierungen gekennzeichnet ist. Sprachräumliche Gegliedertheit zählt geradezu zu seinen Konstituentia. Die diesem Faktum gegenüber eingenommene Haltung ist durch zwei einander entgegengerichtete sprachgeschichtliche Annahmen bestimmt. Einerseits werden Mundarträume in Zusammenhang mit der teleologischen Sicht von Sprachgeschichte (Abs. 12.4.) als Gegebenheiten betrachtet, die tendenziell der Auflösung oder dem Ersatz durch überregionale Sprachvarianten ausgesetzt sind; andererseits erfahren sie Aufwertungen verschiedenster Art. So verläuft „die natürliche Entwicklung unserer Sprache“ nach Hirt (1925, 110) „in den Mundarten“, eine Auffassung, die zu deutlicher Verlegenheit hinsichtlich der sprachgeschichtlichen Rolle der Schrift führt. Bei Bach (1970, 118) werden Mundartgebiete in scharfer Pointierung als eigengeprägte, Kultur erst ermöglichende Lebens- und Volkstumsräume, als Kulturräume von hohem historischem Alter (Aubin / Frings / Müller 1926 ), als Gebiete mit subnationaler oder nationaler Identifikationsfunktion verstanden, mit alledem ideologisch konserviert. In der Praxis der Sprachgeschichtsschreibung schlagen sich beide Haltun-
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gen in umfänglichen, die Zeitlinie des Erzählfadens unterbrechenden oder ergänzenden raumbezogenen Darstellungsstrecken nieder (in Sammelbänden in eigenen Artikeln, in Monographien in Kapiteln, Unterkapiteln, Paragraphen, Absätzen); besonders betroffen ist die Zeit vom Ahd. bis zum 17. Jh. Typische Überschriften lauten: — die Hochdeutschen; die Niederdeutschen; deutsche Dialekte (Grimm 1848) — Wortgeschichte und Wortgeographie der Mundarten (Schwarz 6 19 7) — Mundart, Schriftdialekt [...]; Thüringisch; Nürnberg; Bairisch (usw.; Eggers 6 19 9) — regionale Varianten; die Schreibsprache und die u M ndarten (Keller 6 198 ) — die landschaftlichen Literatursprachen; die Verbreitu ng der Sprache Lu thers [...]; die Au sbreitu ng der omd. Varianten [...] (Moskalskaja 1985) — Stämme und Landschaften in deutscher Wortgeographie (Deutsche Wortgeschichte 2, 1974) — Unterschiede der Landschaftssprachen (Paul 1989) — dialektal begründete [...] Varianz (Reichmann/Wegera 1993).
Entsprechendes gilt für die Geschichte des Nd. (im Rahmen der nd. Philologie); vgl. etwa: Das Niederdeu tsche in seiner dialektalen Differenzieru ng: Mu ndartliche Binnengliederu ng (Sanders 1982) und den Buchteil Die niederdeu tschen Mundarten bei Goossens (Hrsg.) 1973.
4.
Das erzählte sozialsprachliche Spektrum
4.1. Mit dem Ausdruck sozialsprachliches Spektru m wird auf die Tatsache Bezug genommen, daß das Dt. als historische Einzelsprache eine strukturiert-heterogene Gesamtheit außer von zeitlichen (dazu 2.) und räumlichen (dazu 3.) auch von sozialschichtigen und gruppengebundenen Varietäten ist. Deren Verhältnis wird seit Moser (1957, 847 ff.) gerne mittels des Bildes der Pyramide veranschaulicht: An der Basis steht — je nach Zeit unterschiedlich — mit Bauern, Handwerkern, Arbeitern die überwiegende Mehrheit der Sprachteilhaber; ihre Spitze repräsentiert die in den älteren und mittleren Sprachstufen äußerst schmale, sich zur Neuzeit hin aber zunehmend verbreiternde Schicht derjenigen, die in Wort und Schrift eine Art Buch-, Hoch-, Literatur-, Kultur-, Bildungssprache beherrschen. Der Mittelteil der Pyramide steht für in sich mannigfach geschichtete Sprachebenen des städtisch-bürgerlichen und des gebildeten Teils der Sprachbevölkerung. Auf jeder der idealtypisch unterschiedenen drei Ebenen hat man sich
für alle Zeiten äußerst unterschiedliche Gruppen, vor allem Berufsgruppen, vorzustellen. 4.2. Eine unhintergehbare methodische Voraussetzung jeder Sprachgeschichtsschreibung ist die Existenz hinreichend breiter Überlieferung. Demzufolge führen mehrere, auch thematisch eingeschränkte Sprachgeschichten und sprachstufenbezogene Darstellungen, vor jeder weiteren Erörterung in jeweils epochenbezüglichen Abschnitten „das Problem der Überlieferung“ (Sonderegger 1974 für das Ahd.), „die überlieferten Varietäten“ (Wolf 1981 für das Ahd. und Mhd.), „die schriftliche Überlieferung“ (Keller 1986 für das Ahd. und Mhd.), „das Schrifttum“ (Admoni 1990; 8mal) vor. Die sich dabei zeigende Aporie besteht darin, daß die Soziolekte der breitesten, nämlich der untersten Sprecherschichten sowie alle genuin durch Mündlichkeit gekennzeichneten Gruppensprachen überhaupt nicht bis nur ansatzweise (für die ältesten Sprachstufen) oder (danach bis ins 20. Jh. hinein) relativ schwach belegt sind. Eine ausgewogene Berücksichtigung aller sozialsprachlichen Varietäten erschwerend kommt hinzu, daß vorhandene unter- und mittelschichtige Texte aus der Zeit seit dem späten Mittelalter im Vergleich zu höherschichtigen Texten seltener und oft in wissenschaftlich nicht verwertbarer, da auf die nhd. Schriftsprache hin normalisierter Form ediert sind. Diese letzteren beiden Fakten hängen damit zusammen, daß erstens die Sprachhistoriker seit dem 16 ./17. Jh. den bildungstragenden Schichten angehören und insofern diejenigen Sprachebenen und Gruppensprachen interessierter, sorgfältiger und feinfühliger dokumentieren, deren Sprecher sie selber sind, und daß sie zweitens in aller Regel eine teleologische Perspektive auf eine sowohl Kultur- wie Einheitssprache hin vertreten (vgl. Abs. 12.5.; 12.6 .). Dabei werden alle durch stärkere Variation im Laut-, Formen- und Wortbereich gekennzeichneten, also alle unterschichtigen sozialdialektalen und alle gruppensprachlichen, darunter fachlichen und gewerblichen Existenzformen des sozialsprachlichen Spektrums tendenziell vernachlässigt. Mit dem objektiven Problem der Überlieferung verbinden sich also sozial bestimmte Gewichtungen und geschichtsperspektivische Üblichkeiten. 4.3. Daraus folgt, daß der Mainstream der Sprachgeschichtsschreibung zunächst einmal nur die Entwicklung der überlieferten Varietäten des Dt. betreffen kann. Das heißt infolge der sozialschichtigen und sozialsituativen Filterfunktion der Schrift: Sprachgeschichte ist vorwiegend Geschichte der höherschichtigen und genuin schreibsprachlichen Varietäten, also der
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
Texte mit sakralsprachlicher, religiöser, literarischer, rechtlicher, wissenschaftlicher, pädagogischer, verwaltungssprachlicher oder einer sonstigen qualitativ ausgezeichneten gesellschaftlichen Funktion. Umgekehrt ausgedrückt: Das gesamte Spektrum unterschichtiger sowie genuin sprechsprachlicher Varietäten ist unwiederbringlich verloren, es sei denn, daß dem durch besondere methodische Maßnahmen in Grenzen entgegengewirkt werden kann. 4.4. Diesen Aussagen entspricht der Themenkanon der Sprachgeschichten; er betrifft vorwiegend Gegenstände in Formulierungen, die schon ausdrucksseitig die soziale Höhenlage erkennen lassen: klösterliche Bildungssprachen; die Rechtssprache; die Schreibsprachen, darunter die Kanzleisprachen; die Literatursprachen, u. a. die Höfik; besondere Stillagen; die Mystik; die Scholastik; die Erbauungsliteratur; den Buchdruck; das Humanistendeutsch; die Renaissance; die Reformation; die Fachsprachen; die Sprachgesellschaften; die Barockzeit; die Aufklärung; die Klassik; die Romantik; die Geschichte der Orthographie, des Wortschatzes, der Wortbildung, der Syntax; die Textgeschichte; die Sprachlehngeschichte des Deutschen. Bezeichnende Überschriften(teile) und Überschriftenfolgen lauten: — die Ritterzeit; [...]; Humanismus, Lutherbibel [...]; Aufklärung und Klassik; die Zeit der Romantik (Schwarz 1963) — die höfische Blütezeit; [...]; humanistische Strömungen; Luther und die neuhochdeutsche Schriftsprache; Barock; [...]; Klassik u nd Romantik (Deutsche Wortgeschichte 1974) — die staufische Blüte; [...]; die klassische Literatursprache u nd das heu tige Deu tsch (Keller 1986 ).
4.5. Einige Darstellungen sind durch eine über das überlieferungsbedingte Maß hinausgehende sprachideologische Verstärkung ihrer sozialen Hochlastigkeit gekennzeichnet; so erklärt z. B. Bach (1970, 23; 26 ), daß sprachliche Neuerungen und Strahlungen, nachdem sie von einem Individuum ausgegangen sind, „in der Regel zuerst die politisch, sozial, kulturell und wirtschaftlich führenden Kreise“ erfassen, von dort aus dann als „gesunkenes Kulturgut“ (mit der Vorstellung eines Sickerprozesses: Maas 1995, 359) die „breiten Massen“ erreichen. Diese Darstellungen können sich dann streckenweise wie eine Geschichte der Literatursprache lesen (z. B. Eggers); Langens Deu tsche Sprachgeschichte läßt schon in der Gliederungsübersicht (1957, 931) keinen der bedeutenden Dichter und Schriftsteller zwischen Lessing und H. Hesse aus. In Straßners Monographie Deutsche
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Sprachku ltu r wird der Weg von der Barbarensprache zu r Weltsprache (Untertitel) explizite zum Programm erhoben; es geht ihm um die Nachzeichnung des „Streben[s] der Deutschen vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, ihre Sprache zu kultivieren, [um] ihr Ringen um Sprachrichtigkeit, Sprachreinheit und Sprachschönheit“ (1995, VIII; vgl. auch Monographien vom Typ Blackall 1966). 4.6. Die Gruppen und Schichten, die in der Sprachgeschichtsforschung als Träger des aufgewiesenen Themenkanons erscheinen, sind für das Mittelalter die Geistlichen, seit dem 12. Jh. zunehmend derjenige Teil des Adels und des sich entwickelnden Stadtbürgertums, der über die praxisrelevanten Lese- und Schreibfähigkeiten hinausgehende kulturelle, darunter gelehrte und vor allem literarische Interessen entwickelt (Hirt 1925, 128 ff.; Schirokauer 1957, 876 f.). Als deren soziologische Orte gelten Städte, Universitäten und Höfe. Für die Zeit seit dem 16 . Jh. (bis mindestens zum Ende des 19. Jhs.) erhält das sog. Bildungsbürgertum die Funktion der soziologischen Orientierungsschicht der Sprachentwicklung. Es besteht aus denjenigen sozialen Gruppierungen, die (zunächst) im Dienste des fürstlichen Obrigkeitsstaates als Beamte oder Kulturschaffende in Residenzstädten und sonstigen Verwaltungszentren, an den Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen wie Universitäten, Akademien und Gymnasien, auch an den Bühnen, ferner in allen Bereichen, die der kulturellen Repräsentation und Legitimation des Staates dienen, schließlich im Rechtswesen und in den Kirchen (vor allem den protestantischen) und deren Bildungseinrichtungen tätig sind. Auch für die Zeit nach dem (gestaffelten) Ende des Obrigkeitsstaates bleiben die Träger staatlicher und kultureller Instanzen bzw. ihnen soziologisch nahe stehende „freie“ Gruppen im Mittelpunkt der Betrachtung. Wie eng oder weit das Bildungsbürgertum oder seine funktionalen Vorläufer pro Epoche im einzelnen auch bemessen werden mag, es wird als soziologische Größe behandelt, dessen sprachkultureller und -geschichtlicher Einfluß nicht an seiner zahlenmäßigen Stärke relationiert wird. Eggers (196 3, 16 ) formuliert — ausgehend vom Ahd. — diesen Tatbestand der Sprachgeschichtsschreibung zu einem Gesetz der Sprachgeschichte als einer Objektgegebenheit um: „In allen höherschichtigen politischen Gemeinschaften [...] wird sich immer wieder eine sprachliche Schichtung ergeben“, in der „die alltägliche Sprache des einfachen Mannes [später: „der großen, geführten Menge“] [...] dem lebensnahen Heute, die gehobene Sprache der Führungssschicht [später: der „Führenden“ mit „feinerer geistiger Struk-
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tur“] dagegen [...] der Bewahrung von Erkenntnissen der Vergangenheit, der Bewältigung der großen Fragen der Gegenwart und der vorausplanenden Aussicht auf die Zukunft [dient]“. Dazu paßt, daß das Gewerbebürgertum eine auffallend beiläufige, da durch die bildungsbürgerliche Identitätsgeschichte der Sprachhistoriker bedingte Behandlung erfährt. Dies gilt auch für die Sprachgeschichtsschreibung der DDR und der östlichen Auslandsgermanistik: Das herrschende Konzept der Nationalsprache (Guchmann 196 4; 196 9) erscheint in seiner Verwirklichung eher als hochschichtige ‘nationale Literatursprache’ wie als ‘Gesamtheit aller Varietäten des Dt.’ 4.7. Der Ausrichtung der Sprachgeschichtsschreibung auf die höherschichtigen Varietäten stehen in jüngerer Zeit Bestrebungen gegenüber, die durch die Überlieferung gebotenen Möglichkeiten der Erschließung mittel- bis unterschichtiger Soziolekte sowie genuin durch Mündlichkeit gekennzeichneter Gruppensprachen mit besonderer Intensität zu nutzen. Damit werden Themen folgender Art angesprochen: Volkssprache, Umgangssprache, grundschichtige dialektale Variation, dialektale und berufliche Lexik, grundschichtige Entlehnungen, Lese- und Schreibfähigkeit unterer Sozialschichten. Direkt zum Programm erhoben und methodisch sowie hinsichtlich der Fragestellungen detailliert diskutiert, auch mit beachtlichen Ergebnissen belegt wurde das Programm von den Trägern des Historischen Südwestdeu tschen Sprachatlasses (vgl. Art. 6 2 in diesem Handbuch; 1. Aufl.). Trotz relevanter Detailaussagen aber hält die Verwirklichung oft nicht, was die Idee verspricht: Es kann immer nur um einzelne Beispiele gehen; kleinste Überlieferungsstücke werden mit höchst möglicher und insofern verzerrender Ausführlichkeit behandelt (die Kasseler Gespräche und das Pariser Gesprächsbüchlein sind beliebte Beispiele) und gerne überinterpretiert; es fehlt die der Geschichtsschreibung höherer Varianten inhärente sprach- bzw. kulturpädagogische Absicht, vielleicht auch eine diesbezügliche Nutzungsmöglichkeit.
5.
Das erzählte sozialsituative Spektrum
5.1. Bei der Beantwortung der Frage nach der Berücksichtigung der Textsorten in der Sprachgeschichtsschreibung des Dt. gilt sinngemäß das in 4.2. und 4.3. zur Überlieferung Gesagte: Sprachgeschichte kann primär nur aus Textsorten erarbeitet werden, die in hinreichender Dichte überliefert sind; das sind erstens diejenigen, die oberhalb des sozialen Filters der Schriftlichkeit liegen und damit die Hochlastigkeit der
Sprachgeschichtsschreibung bedingen; es sind zweitens diejenigen, die — partiell unabhängig von der sozialen Höhenlage — genuin schreibsprachlichen Situationen entspringen. Dementsprechend sollen in vorliegendem Abschnitt die textsortenbezüglichen Aspekte des in 4. unter sprachsoziologischen Gesichtspunkten Vorgetragenen herausgestellt werden. 5.2. Die im folgenden genannten Textsorten(gruppen) bilden die Grundlage der Sprachgeschichtsschreibung des Dt.: — literarische Texte, epochenübergreifend u. a. vertreten durch Bibeldichtung, Übersetzungen, epochengebunden z. B. durch Stabreimdichtung, Geistlichendichtung, Heldendichtung, Artusepik, Minnedichtung, [...], spätmittelalterliche Prosa, Schrifttum des Humanismus, Dichtung des Barock, der Aufklärung, der Klassik, der Romantik — rechts- und verwaltungsrelevante Texte: mittelalterliche Rechtsbücher, Geschäfts- und Kanzleitexte aller Art (Urkunden, Rödel, Urbare), institutionsgebundene Texte — fach-, berufs- und wissenschaftssprachliche Texte: Artesliteratur des Mittelalters, Texte der Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft, Medizin, Pharmazie — sprachbezogene (sprachbeschreibende, sprachpflegerische, sprachreflexive) Texte: Orthographielehren, Grammatiken, Rhetoriken, Poetiken, Wörterbücher mit jeweils zugehörigen Diskussionen — politische, darunter agitative Texte: Flugschriften der Reformationszeit, Propagandatexte — religiös motivierte Texte: kirchliche Gebrauchsliteratur (darunter deutschsprachige Bibeln), Erbauungsliteratur, Schrifttum der Mystik, Scholastik, des Pietismus, das Kirchenlied, die Predigt — alltagsbezügliche Texte: Zeitungstexte — bildungs- und wissensvermittelnde Texte: didaktische Texte aller Gattungen, Fibeln, Lehrtexte des Schulwesens, Hausväterliteratur.
5.3. Innerhalb dieser Textsortengruppen erfahren literarische Texte in den älteren, aber auch in neueren, konservativen Richtungen der Sprachgeschichtsschreibung für die gesamte Zeitspanne dt. Sprachgeschichte die mit Abstand höchste Gewichtung. Typisch in diesem Zusammenhang ist folgende Argumentationslinie: Das durch „ausgezeichnete“, stilistisch differenzierte Texte vertretene „Mittelhochdeutsche ist vor allem durch das Aufkommen der ritterlich-höfischen, courtoisen Literatur gekennzeichnet, der Lyrik (des Minnesangs) und der Versromane“. Im älteren Frnhd. kommt es zu „einer radikalen Veränderung des Schrifttums“, indem die für das Mhd. angenommene „dichterische Einheitssprache [zugrundegeht]“; am Horizont aber steht bereits „eine neue Literaturströmung“, die „die deutsche Schriftsprache ausdrucksfähig und kunstreicher zu machen“ sucht. Das 18. Jh. erscheint dann
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
schließlich als „die Epoche, in der das deutsche Schrifttum seine Reife erlangt und die die Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache auf allen Gebieten des Denkens und Schaffens ungewöhnlich steigert“, damit die „Formulierung der feinsten Nuancen des Gedankens und des Gefühls“ in einem „hochdifferenzierten System von Wörtern und syntaktischen Formen“ möglich macht. Die ersten Jahrzehnte des 19. Jhs. „sind eine direkte Fortsetzung des Standes des deutschen geistlichen [sic!] Lebens“ des Endes des 18. Jhs.; demgegenüber erscheinen „das amtlich oder zumindest öffentlich gesteuerte Wort“ des 20. Jhs., die „Spezialisierung der fachsprachlichen Texte und der Journalistik“ [usw.] als Strömungen, in deren Gefolge die „Wortformen und die syntaktischen Formen der deutschen Sprache nicht nur umgestaltet, sondern auch verunstaltet“ werden (Admoni 1990, 80; 123; 202; 217; 243; ähnliche Urteile auch über neuere literarische Strömungen bei Bach 1970, 452 ff.: ekstatisches Gestammel, Vergewaltigu ng, Verhu nzu ng, Verwahrlosu ng und Verwilderu ng des Dt. bis zur Lächerlichkeit hin).
Trotz Skizzen der von Admoni gezeichneten Art und trotz des generellen Gewichtes literarischer Textsorten für die Sprachgeschichtsschreibung gibt es keine „übergreifende literarische Sprachgeschichte des Deutschen“, d. h. keine Sprachgeschichte, die die Fülle aller Einzelerkenntnisse in einen Rahmen von historischen Voraussetzungen, theoretischen Annahmen über Literatursprache, methodischen Möglichkeiten der Beschreibung und kulturpädagogischen Zielsetzungen stellt und zu einem Gesamtgebäude verbindet. Ein Konzept dazu liefert Sonderegger 1990. Spitzt man Argumentationen oder typische Einzelfakten der vorgeführten Art zu, dann ergibt sich ein Bild von Sprachgeschichte, das von einer (angenommenen oder tatsächlichen) literarischen Blütezeit zur anderen springt: von karolingischer zu klassisch mhd. Literatur, von da zu Humanismus, Barock, Klassik, Romantik. Zwischen den Blütezeiten herrscht Niedergang, so auch für die Zeit seit dem letzten Drittel des 19. Jhs. und damit für die Gegenwart. 5.4. Das Gewicht der literarischen Tradition macht die anderen genannten Textsorten zu Lieferanten epochenbezogener Ergänzungen, Differenzierungen, Illustrationen, inhaltlicher Ausweitungen usw. Diese anderen Textsorten stehen damit zu den literarischen nicht in einem Gegensatz; sie bilden mit diesen zusammen vielmehr einen Textblock, der trotz gewisser innerer Abstufungen insgesamt durch seine soziale Höhenlage, durch das Phänomen der Ästhetizität, durch sein Bildungsprestige, auch durch seine gesamteuropäischen Bezüge und (dazu teilweise im Widerspruch) durch sein nationales Markierungs-
13
potential sowohl übernational-bildungsbürgerliche wie sprach- und kulturnationale Identitäten zu stiften oder zu verstärken in der Lage ist. An dieser Stelle erweist sich die innere Affinität, die zwischen den in 4.5. f. beschriebenen, Sprachgeschichte effizierenden sozialen Schichten und den Sprachgeschichte nach dieser Konstruktion effizierenden Textsorten besteht. Das damit verbundene Sprachgeschichtstheorem lautet in der Formulierung von H. Hirt (1925, 112): „Literarische Entwicklung bedeutet Entwicklung der Sprache“, d. h. Sprachgeschichte (als objektsprachliche Gegebenheit) wird von Dichtern, Schriftstellern und anderen Schöpfern hoher Kultur hervorgebracht (effiziert), Sprachgeschichte (als Idee und als wissenschaftliche Praxis) ist die Leistung der mit den Kulturschöpfenden in enger soziologischer Bindung zu sehenden Bildungsschichten. 5.5. In jüngeren Sprachgeschichten wie in einer hohen Anzahl programmatischer Einzeläußerungen (zuletzt etwa Maas 1995) wird (wiederum parallel zu dem in 4.7. unter soziologischem Aspekt Gesagten) teilweise ein Gegenbild, und zwar überlieferungsbedingt meist für die Neuzeit, vertreten. Sofern es die Orientierung der Sprachgeschichtsschreibung an literarischen und literaturnahen Texten nicht e contrario bestätigt, werden prinzipiell andere Textsorten als Quellenbasis sprachhistorischer Arbeit angesetzt. Der Bereich des unter diesem Aspekt Möglichen soll hier in Anlehnung an obige Textsortenliste kurz vorgeführt werden. Danach ist der gesamte Bereich rechts- und verwaltungssprachlicher, geschäftlicher, institutionsgebundener, alltagsbestimmender, fachlicher, beruflicher, wissenschaftlicher, religiöser, schul- und bildungsbezogener Texte in den Mittelpunkt sprachhistorischer Quellencorpora zu stellen. Konkret heißt dies, daß z. B. die großen Quellensammlungen aller historischen Wissenschaften, insbesondere der Geschichtswissenschaft, innerhalb dieser diejenigen territorial-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Provenienz, eine Berücksichtigung finden müßten, die der Rolle dieser Texte in der Biographie wie im Alltagsleben zunehmend vieler Sprachteilhaber entspricht. Die Selbstverständlichkeit, daß Sprachhistoriker ihre Corpora in den Literaturregalen der germanistischen Seminare zusammenstellen, hätte einer Orientierung auf Überlieferungsbereiche zu weichen, die die von der Germanistik belegten quantitativ bei weitem überragen und vollständig andere Sinnwelten betreffen. Dabei wäre streng darauf zu achten, daß mit dem Corpus auch die literaturbezogene Perspektive der Sprachgeschichtsforschung, die Betrachtung z. B. von Rechtsbüchern, Überset-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
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zungen, Fachtexten als Dokumenten vorhandener, verfallender oder sich herausbildender hoher ästhetischer Kultur, das ganze Suchen und Entdecken der eigenen Kultur- und Ästhetikideale in geschichtlichen Vorläufern durch andere, teilweise noch zu entwickelnde Perspektiven ersetzt wird. Im Ergebnis könnte eine Sprachgeschichte zustande kommen, in der z. B. der Ausbau der nhd. Schriftsprache nicht mit Themen- und Textsortenreihen wie Schriftsprache u nd Mu ndart, Dichtersprache, Lyrik, Drama, Prosa, religiöses Schrifttu m, Zersetzu ng des Barock u nd Frühau fkläru ng (so Langen 1957), sondern mit Reihen folgender Art beschrieben wird: Modernisieru ng der Fach- u nd Wissenschaftssprachen, Ansätze zu öffentlicher Sprache, Zeitu ngsstil, Hau sväterliteratu r, Reform der Rechtssprache, politische Propaganda u nd Agitation (so von Polenz 1994). Nhd. Schriftsprache wäre historisch und systematisch dann nicht so sehr „Literatursprache“ als im gewerbebürgerlichen Sprachverkehr entstandene, variable, nach ihrer kommunikativen Eignung zu beurteilende „Standardsprache“. Das zugrundeliegende Geschichtstheorem lautet: Hervorbringer von Sprachgeschichte sind breitere (mittlere) Sozialschichten mit alltagsüblichen, berufsbezogenen (usw.) Texten.
6.
Das erzählte Sprachmedium
6.1. Sprachgeschichte kann, analog zu dem in 4. und 5. Gesagten, bis zur Entwicklung von Techniken der Tonaufzeichnung primär nur Geschichte geschriebener Sprache sein. Dementsprechend wird in diesem Handbuch den Kapiteln zu den historischen Sprachstufen des Dt. jeweils nur ein einziger, bezeichnenderweise Reflexe gesprochener Sprache genannter Artikel gewidmet. Dieser Bezug auf geschriebene Sprache kann in seiner Bedeutung sowohl verstärkt wie relativiert werden. Eine Verstärkung von seiten des Gegenstandes liegt dann vor, wenn historische Autoritäten (z. B. Kirche, Rechtsinstanzen) im fixierten Text die höchste Gewähr für die Sicherung von Offenbarungen, Normen sehen oder wenn Sprachtheoretiker (z. B. des Barock und der Aufklärung) in geschriebenen Texten die höchste Realisierung von Sprache sehen; ideologischen Status hat eine Verstärkung dann, wenn der Sprachhistoriker der Auffassung ist, daß Schriftlichkeit die eigentliche bzw. (gegenüber der Mündlichkeit) stärkere Triebkraft von Sprachentwicklung ist. — Relativiert wird geschriebene Sprache als primärer Gegenstand der Sprachgeschichtsschreibung unter mindestens folgenden Aspekten: Erstens gibt es sprachrefle-
xive Texte (insbesondere in der rhetorischen Tradition), die das Sprechen zum Gegenstand haben. Zweitens können mündlich vorgetragene Texte vorher schriftsprachlich konzipiert und nachher schriftlich festgelegt werden. In welchem Maße die jeweilige Fixierung die Merkmale gesprochener Sprache aufhebt, ist dabei so lange ohne Belang, wie man den Fixierungsakt nicht als vollständige Tilgung gesprochensprachlicher Merkmale auffaßt. Drittens lassen vor allem Gebrauchstexte, auch diejenigen mit genuin schriftlicher Existenzform (z. B. alle dokumentierenden Texte, etwa die Vorakte des Klosters St. Gallen; dazu Sonderegger in diesem Handbuch 1985, 1893) resthaft die Sprechsprache ihrer Schreiber erkennen (vgl. zum Problemkomplex generell: Feldbusch 1985). 6.2. Die dt. Sprachgeschichtsschreibung tendiert in ihrer Gesamtheit zu einer über die Vorgaben der Überlieferung hinausgehenden Verstärkung des Bezugs auf geschriebene Sprache. Sie übernimmt unter diesem Aspekt Züge einer spätestens seit dem Rationalismus ungebrochenen bewußtseinsgeschichtlichen Tradition und einer davon schon immer abhängigen Beschreibungspraxis mit folgenden Kennzeichen: — Betrachtung der Mündlichkeit als „Bereich des Zwanglosen“ oder gar ihrer Bewertung „als Defekt“ (Schlieben-Lange 1983, 85) — Nichterkennen und Nichtausschöpfung der Möglichkeiten gesprochener Sprache (z. B. in der Sprachpädagogik: Rolle gesprochener Sprache bei der tastend antizipierenden, modifizierenden usw. Gedankenformulierung) — abwertende Verweisung umfänglicher Teile der quantitativ äußerst umfassenden dialektal-sprechsprachlichen Lexik sowie der dialektalen Syntax in die soziale Grundschicht — Verbannung des informellen Sprechens aus den Hallen der Sprachkultur in den Alltag, dazu gehörig: Niedergang der Rhetorik bzw. deren Abdrängung in Randbereiche — Verhinderung politischer, darunter parlamentarischer Beredsamkeit.
6.3. Diese Haltung hat Auswirkungen auf die Realisierung von Sprachgeschichte: Schon die Editionsgegenstände der Germanistik und aller anderen traditionssichernden Disziplinen sind eher genuin schreibsprachliche als der Sprechsprache nahestehende Texte. Damit übereinstimmend nehmen die Quellencorpora der größeren sprachhistorischen Forschungsvorhaben zwar immer auch eine gewisse Anzahl sprechsprachenaher Texte auf, haben aber eine überwiegend schreibsprachliche Ausrichtung. Die Möglichkeiten der Bildung sprechsprachenaher Corpora, die z. B. die mündlich vorgetragenen
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
Texte des Mhd., Schwänke, Flugschriften, gelehrte und volkssprachliche Predigten, Verhörprotokolle, die Akten von Gesetzgebungsorganen, mündliche Rechtstraditionen, Traditionen der politischen Rede usw. bieten, werden bei einer ausgebauten Disziplin wie der Sprachgeschichtsschreibung des Dt. zwar immer in vielen und teilweise bedeutenden Einzelfällen (z. B. Weithase 196 1; Kettmann/Schildt 1978; Braungart 1988), nicht aber systematisch genutzt. 6.4. Die systemlinguistische Beschreibung der Grammatik und Lexik historischer Sprachstufen und ihrer Entwicklung, also all dasjenige, was die einzelnen Textsorten der Historiolinguistik materialiter als harten Kern ihrer Darstellung gestalten, ist demzufolge Beschreibung der Entwicklung geschriebener Sprache; Entsprechendes gilt für die sprachgeographisch, sprachsoziologisch und pragmatisch ausgerichteten Kapitel. In den allermeisten Arbeiten wird die mediale Dichotomie ‘geschrieben/gesprochen’ selbst bei Themen, die deren Behandlung nahelegen würden, nicht oder nur beiläufig erwähnt. 6.5. Dies äußert sich in einer Vielzahl von Details, von denen hier einige — sehr unterschiedliche, alle die Neuzeit betreffende — aufgeführt werden sollen. Die seit dem 17. Jh. bestehende Tradition des Varietätenpurismus, die darauf abzielt, die eigene Systematik insbesondere grundschichtiger Dialekte und sprechsprachlicher Register als Irregularitäten zu verurteilen, wird in Übernahme schriftspracheorientierter Richtigkeitsvorstellungen der Puristen als Selbstverständlichkeit behandelt und demzufolge nur kurz erwähnt oder positiv bewertet. — Die neuere Geschichte der dt. Orthographie, die im Gegensatz zur mhd. und frnhd. Schreibung stark durch die Kriterien der semantischen Distinktion, der besonderen Kennzeichnung des Substantivs als grammatischer Größe, der Tradition historischer Graphien sowie der Morphemkonstanz und der etymologischen Richtigkeit gekennzeichnet ist, wird wegen Schriftbefangenheit kaum als schriftsprachegeleitet erkannt; dadurch bedingt erfährt sie eine generell affirmative Nachzeichnung als zwar im einzelnen widersprüchliche, aber in sich dennoch logische Entwicklung der Kombination von Prinzipien zum Zwecke der Repräsentation des Distinktions- (semantisches und grammatisches Prinzip), Identifikations- (morphologisches Prinzip) und Dokumentationspotentials (historisches Prinzip) der Schrift. Die Überlagerung der phonologischen Grundlage des dt. Schreibsystems durch schreibsprachliche Prinzipien gerät dabei an die Peripherie der Darstellung. Erst recht bleibt die Notwendigkeit der Kennzeichnung sprechsprachlicher Gegebenheiten wie z. B. von Pausen oder Akzentverhältnissen oder die Möglichkeit der Bindung der Schreibung an die Aussprache
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(statt umgekehrt der Aussprache an die grammatisch und etymologisch richtige Schreibung) bis in die heutige Orthographiediskussion unerkannt. Dementsprechend werden spätestens seit V. Ickelsamer die an die Geschichte der richtigen Schreibung gebundenen Bemühungen um die Orthoepie durchgehend mit affirmativem Unterton beschrieben; vor allem die Übernahme der Schreibopposition von b/p, d/t, g/k in das werdende Hochdeutsche (im sprachsoziologischen Sinne), die gegen die Sprechverhältnisse im größten Teil des md. und obd. Raumes erfolgt, erfährt eine Interpretation als Sicherung der Leistungsfähigkeit des Phonemsystems (zum Zusammenhang vgl. Reichmann/Wegera 1993, 153). Entsprechendes gilt für die Sicht der Geschichte der (logisch-grammatisch ausgerichteten) Interpunktion.
6.6. Folgende leicht ergänzbare Stichwortliste soll andeuten, welche Themen eine auf die Geschichte der Sprechsprache bezogene Historiolinguistik ausführlicher behandeln könnte: — Beschreibung der Geschichte der Graphie, der Flexion und Wortbildung, der Syntax und des Wortschatzes aus gesprochensprachlicher Perspektive — Geschichte der Interpunktion aus gesprochensprachlicher Perspektive — Versuch einer Bestimmung der pro Epoche als sprechsprachlich angesehenen Ausdrucksmittel (im Unterschied zu schreibsprachlichen), und zwar für alle Ebenen des Sprachsystems von der Lautung bis hin zu transphrastischen Einheiten bei besonderer Berücksichtigung der Mittel der Rhetorik — Geschichte dieser Ausdrucksmittel vom Ahd. bis zur Gegenwart, auch in ihrem medialen Wechsel — Geschichte der Interferenz sprechsprachlicher Ausdrucksmittel in schreibsprachliche Texte, vor allem des Verhältnisses von vorausgesetzter (sprechsprachtypischer) zu explizite vermittelter (schreibsprachtypischer) Information (Bekanntes vs. Neues, nicht ausgedrückte vs. ausgedrückte Gedankenverknüpfung) — Geschichte der Interferenz schreibsprachlicher Ausdrucksmittel in Sprechtexte, vor allem im Vorlesebereich und in der Predigt — diese Interferenz bestimmend: Rolle meditativer oder schriftlicher sowie muttersprachlicher oder fremdsprachiger Vorbereitung der Rede — Geschichte der Einschätzung des Verhältnisses von gesprochener zu geschriebener Sprache, differenziert nach Sinnwelten und nach Bildungsinstanzen (Schule, Universität, Kirchen, Gericht, Verwaltung) — Geschichte des Nachhinkens der Vereinheitlichung gesprochener Sprache gegenüber geschriebener — Geschichte der normalsprachlichen, rechtsrelevanten, religiösen, literarischen Vorlesepraxis — empirische Untersuchung der Rolle der Bühnensprache für die dt. Sprachgeschichte.
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
16
7.
Die Rolle von Einzelpersonen, Einzeltexten und einzelnen Textgruppen
7.1. Die Stützung der Sprachgeschichtsschreibung des Dt. vorwiegend auf mittel- bis hochschichtige, literarische, schreibsprachliche Quellen korrespondiert mit einer besonderen Autoren/Zeit 9.—11. Jh.
11. Jh. 12.—13. Jh.
Eggers ’63 ff. ges. ahd. Überlief. Übss. dichtungssprachl. Texte geistl. Gedichte weltl. Epik vorhöf. Dicht. höf. Dicht. spät-/nachhöf. Dicht.
Hrabanus Maurus
Williram Mechth. v. Magdeburg
14. Jh.
Mystik Scholastik
David v. Augsburg Berth. v. Regensburg Meister Eckart
15. Jh.
Kunstprosa
Joh. v. Tepl
lit. Texte humanist. Texte geschäftssprachl. Texte sprachrefl. Texte gelehrte Texte dichtungssprachl. Texte pietist. Texte Texte der Aufklärung und Empfindsamkeit Klassik
Niklas v. Wyle Heinr. v. Steinhöwel Albr. v. Eyb. M. Luther
16. Jh. 17. Jh.
18. Jh.
19. Jh.
Texte der Romantik Texte des jungen Deutschl. (u. a.)
Berücksichtigung einzelner Persönlichkeiten und von ihnen geschaffener herausgehobener Einzeltexte bzw. Textgruppen. Die folgende Abbildung listet die in neueren Darstellungen der dt. Sprachgeschichte in Überschriften genannten oder auf sonstige Weise relativ zu anderen besonders ausführlich behandelten Personen und Texte nach der Zeitlinie geordnet auf.
Schwarz ’63 Glossen
Bach ’70 ges. ahd./ asächs. Überlief.
höfische Texte
ritter- und dichtungssprachl. Texte
Urkunden Rechtstexte
humanist. Texte
Genies Goethe Schiller
sondersprachl. Texte
wenig führende Persönlichkeiten (zwischen 14.—16. Jh.)
Geschäftstexte
M. Luther pietist. Texte
Lessing Wieland Klopstock Herder
Heinr. v. Veldeke bis Konrad
Texte des Rationalismus und der Klassik
gramm. Texte sprachrefl. Texte kunstsprachl. Texte
klass. Texte
lit. Texte der Romantik neuklass. Texte
Opitz Schottel
Gottsched Lessing
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
Dt. Wortgesch. Glossen/Leges
Geistlichen-/ Helden-/ Artus-/ Tristan-/ Gralsdichtung
’74 Heliand Otfrid Notker große mal. Dichter, bis Neith.
Didaktik
Mystik Scholastik
Bibelübs. Sprichwortsamml.
M. Luther
Dichtung pietist., rational., fachl. Texte
Böhme Opitz Schottel Harsdörffer v. Zesen Zinzendorf Gottsched Moritz Klopstock Herder Goethe Schiller Campe H. v. Kleist A. W. Schlegel Grillparzer
Klassik
Lit. Texte der Romantik fachl. Texte (bis 20. Jh.)
Moskalskaya ges. ahd. Überlief. Übss.
’85 Keller ’86 ges. ahd. Überlief.
Admoni ’90 Übss.
Höfik Versepik Lyrik hist. Prosa bürgerl. Literatur Rechts-/ Geschäftsprosa
literaturspr. Texte
poet. Texte der Höfik
humanist. Texte reg. lit. Texte gelehrte Prosa Geschäftstexte städt. Lit. pol. Lit.
Übss.
Otfrid
Notker geistl. Dichtung
Urkunden
Meister Eckart Tauler Seuse
humanist. Texte Meistergesang
Sturm u. Drang
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poet. Texte
Geschäftstexte
M. Luther
M. Luther
Pressetexte sprachrefl. Texte poet. Texte
Flugschriften Bibelübs. fachl. Texte Grammatiken poet. Texte
M. Luther
Gottsched
klassische Lit.
klassische Lit.
Campe Texte des Realismus Expressionismus
Heinr. v. Kleist Th. Mann
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
18
Wells ’90 Glossen Hildebrandslied
von Polenz ’91
Straßner ’95 Otfrid
Notker/Williram Heinrich v. Veldeke große mal. Dichter, auch Ebernand Berth. v. Regensburg Konrad v. Würzburg H. v. Trimberg
poetische Texte
Urkunden Rechtsbücher
Scholastik
kanzleisprachl. Texte
Meister Eckart Tauler Joh. v. Tepl Niclas v. Wyle H. v. Steinhöwel A. v. Eyb
humanist. Texte
Flugschriften Grammatiken
M. Luther
Ph. v. Zesen
Flugschriften Bibelübs. publiz. Texte fachl. Texte Medientexte bildungssprachl./ sprachrefl./ grammat./poet. Texte
Klopstock
Adelung
fachliche Texte
belletr./ fachl./ wiss./ bildungssprachl. Texte
M. Luther
Ratke Opitz
gramm./ fachl./lit./ did. Texte
Opitz Schottel Leibniz
Chr. Wolff Gottsched Lessing Herder Goethe Schiller Adelung Campe
gramm./ fachl./ lit./did. Texte
Gottsched Lessing
Herder Goethe Schiller
lit./ ling./ fachl./ did./ ideol. Texte
A. W. u. F. Schlegel J. u. W. Grimm Börne Mundt Mauthner
Abb. 1.1: Einzelpersonen, Einzeltexte und Textgruppen als relevante Gegenstände neuerer Sprach- geschichten
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
7.2. Einige Aussagen der Abb. bedürfen einer besonderen Nennung und der andeutungsweisen Behandlung. (1) Es gibt offensichtlich einen Inlands- und Auslandsgermanistik sowie westliche und östliche Germanistik einenden gemeinsamen geschichtsrelevanten Autorenund Textbestand; man könnte ihn unter Wahrung einer gewissen Vorsicht als ku ltu rnationalen Kanon bezeichnen. (2) Innerhalb dieses Kanons scheint die Rolle der großen Persönlichkeiten im Vergleich zur Rolle von Texten besonders unangefochten zu sein. Dies hat bereits barocke und aufklärerische Vorbilder: Schottelius (16 6 3) benennt immerhin 3 seiner 5 Epochen (Denkzeiten) nach Personen (Karl dem Großen, Rudolf von Habsburg, Martin Luther), bei Bodmer (1784) heißen die ersten 3 der von ihm angesetzten 5 Hauptepochen der Sprachgeschichte der karolingische, der hohenstau fische und der habsbu rgische Zeitpu nkt. — Der Einzeltext erfährt für das Ahd., Mhd. und Frnhd. (bis zu Luthers Bibelübersetzung) eine deutlich höhere Aufmerksamkeit als für das Nhd. (3) Die Übersicht bestätigt, ergänzt und veranschaulicht die in 4 bis 6 gemachten Aussagen in allen Einzelheiten.
7.3. Die Gewichtung von Einzelpersonen und von ihnen verfaßter Texte impliziert noch keine Aussage über die geschichtsphilosophische Konzeption von ‘Individuum’ oder ‘Persönlichkeit’. Eine Affinität zum idealistischen Persönlichkeitsbegriff des 19. Jhs. ist dennoch zu erwarten. Eine Persönlichkeit ist danach eine trotz gewisser soziokultureller Einbindungen letztlich unabhängige, freie, autonome, zu selbständigen Entscheidungen fähige, diese Fähigkeit zu schöpferischer Tätigkeit nutzende und damit geschichtsbestimmende Größe (vgl. die Art. Individu u m und Persönlichkeit im Historischen Wörterbu ch der Philosophie). Die prototypische Form dieses Konzepts schlägt im Detail und im allgemeinen durch; sie liegt z. B. Termini wie personales u A toritätsprinzip (Josten 197 6 , 103 ff.) zugrunde; sie ist in Überschriften des Typs Dichter machen Sprachgeschichte (Eggers 1986 , 325) realisiert; sie steht hinter Aussagen wie derjenigen Bachs (1970, 217), daß „die Ausbildung einer mhd. Dichtersprache [...] in hohem Maße an die Wirksamkeit und die Eigenart starker führender Persönlichkeiten gebunden“ sei, wie sich „Persönlichkeiten von individueller sprachl. Schöpferkraft [...] als Führergestalten auf dem Gebiete der Sprache“ (S. 16 6 ; vgl. auch die weitreichenden programmatischen Äußerungen ebd., S. 23) bei Bach überhaupt als roter Faden durch das ganze Buch ziehen. Speziell in der Wortgeschichte wird Chr. Wolff geradezu regelhaft bescheinigt, daß er „die deutsche philosophische Terminologie zum guten Teil erst neu
19
geschaffen“ habe (so Langen 1974, 50). — Eine Extremform dieser Auffassung von der Wirkungsmacht des Individuums liegt dann vor, wenn die Darstellung einer über anderthalb Jahrtausende verlaufenden historischen Linie Textteile enthält, die in Stil und Erzählhaltung der Biographie nahekommen. — Die Existenz einer von Vorstellungen dieser Art geleiteten Interpretation von Sprachgeschichte könnte am Beispiel Martin Luthers als des laut obiger Übersicht am meisten diskutierten Gestalters dt. Sprachgeschichte veranschaulicht werden (vgl. Wolf 1996).
8.
Systemorientierte versus soziopragmatisch orientierte Sprachgeschichtsschreibung
8.1. Der Ausdruck systemorientiert soll hier als fachtextliches Kürzel zur Charakterisierung derjenigen Information verstanden werden, die sich auf das System des Dt., erstens also auf sein Inventar und zweitens auf die zwischen den Inventareinheiten bestehenden Relationen bezieht. Soziopragmatisch steht als Kürzel für den im weitesten Sinne sozialen und pragmatischen Funktionszusammenhang von Sprache. 8.2. Der genaue Gegenstand systemorientierter Darstellungen können das System der Sprache als ganzer, einzelne Systemränge (wie die Graphie, die Phonologie, die Syntax), Einzeleinheiten des Inventars (wie das ahd. /a/ oder das Wort leit im Mhd.) oder entsprechende Gegebenheiten einer Varietät einer Sprache sein (Genaueres unter 9.4.). — Systemorientierte Information erfolgt in der Regel durch verbale Mittel, bei phonologischen, graphematischen und flexionsmorphologischen Entwicklungen wird sie gerne durch veranschaulichende Übersichtsschemata ergänzt. 8.2.1. Der Systemgedanke erscheint zeit- und verfasserabhängig in unterschiedlicher Strenge. In den junggrammatischen Arbeiten und bei ihren Vorläufern kann explizite von System die Rede sein (so bei Scherer 186 8, 51). Hirt (1925, 85) spricht vager von der ganzen Art des Sprechens im Dt., von der übereinstimmenden gleichen Gru ndlage von Sprachen, Behaghel immer wieder von einer Neigu ng schlechthin (also ohne Angabe eines Trägers; 1928, 45; 47; 57) oder von der Neigu ng der Sprache (ebd. 15; 47), ferner von ihrer Beschaffenheit, Eigentümlichkeit, Gestalt, vom Zu stand der Rede, von einem (wiederum trägerlosen) Bedürfnis nach Regelu ng und stützt diese Redeweise durch ein ganzes Feld zugehöriger Adjektive wie eigenartig, eigentümlich (ebd. 16 ; 22; 26 ; 50; 84; 88). Nach Weise gibt es ein Wesen der Mu ttersprache und
20
des Nhd. (1896, Titel; V; 38), nach Keller ein Wesen der Sprache schlechthin und ein Wesen des Indoeu ropäischen, ferner ein System und einen Code (1986 , 7; 9; 22). Admoni (1990, 4) kennt ein starken Triebkräften unterliegendes grammatisches Gestaltu ngssystem, ein System mit inneren Entwicklu ngstendenzen, mit einer Entwicklu ngsrichtu ng, die durch reale, u nmittelbar in der Sprache wirkende Gegebenheiten vorgeprägt ist, einen Systemzwang, der bereits von den Junggrammatikern entdeckt worden sei. 8.3. Im Zentrum soziopragmatischer Mitteilungen sprachhistorischer Darstellungen stehen folgende Gegenstände: — der individuelle Sprachgebrauch führender Persönlichkeiten bei starker Betonung der Individualität und Intentionalität des behandelten Autors (Bach 1970; Straßner 1995) — das Verhältnis der Varietäten, darunter für die Gesamtzeit insbesondere das Verhältnis von Schriftsprache und Mundarten (als gesprochenen Sprachvarietäten) oder von Hochsprache und regionalen Varianten (als schichtigen Varietäten; vgl. Socin 1888; Henzen 1954), für die Spanne vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart das Verhältnis von Gemeinsprache und Fach-, Wissenschafts- und sonstigen Gruppensprachen (Bach 1970; Moser 1972; Keller 1986; von Polenz 1991; 1994; Straßner 1995) — innerhalb des Verhältnisses von Schriftsprache und Mundarten die Herausbildung der als nhd. Schriftsprache, Nationalsprache, Literatu rsprache, Hochsprache o. ä. bezeichneten Leitvarietät — Überlieferungsgegebenheiten (Keller 1986; Admoni 1990) — der kulturhistorische Rahmen sprachgeschichtlicher Entwicklungen entsprechend dem Dogma der Einheit von Sprach- und Kulturgeschichte; dabei Gewichtung von Einzelbereichen: Philosophie, Theologie, Recht, Schulwesen, Geschichte mit Sprache befaßter Institutionen, Bildungsgeschichte, Sprachideologie und Sprachpolitik (Eggers 1963 f.; Deutsche Wortgeschichte 1974; Schildt 1976; Admoni 1990; von Polenz 1991; 1994) — der technikgeschichtliche Rahmen sprachgeschichtlicher Entwicklungen mit besonderer Betonung der Erfindung und Entwicklung der Buchdruckerkunst (programmatisch: Giesecke 1992) und relativ globalen Aussagen über die Technikgeschichte der Neuzeit — der kommunikationsgeschichtliche Rahmen sprachgeschichtlicher Entwicklungen, darunter Fakten der Mediengeschichte (von Polenz 1991; 1994; Schmidt 1993) — der sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Rahmen sprachgeschichtlicher Entwicklungen, darunter die Herrschaftsorganisation (Eggers 1963 f.; Schildt 1976; Moskalskaja 1985; von Polenz 1991; 1994)
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
— die geschichtlichen Bedingungen des Sprachenund Varietätenkontaktes — Fakten der Siedlungsgeschichte speziell für die Zeit und den Raum der sog. Ostkolonisation und damit verbunden Beschreibungen des Sprachraums (Behaghel 1928; Keller 1986) — Quantitatives, z. B. zur Bevölkerungsentwicklung (Wells 1990).
8.3.1. Obwohl die einzelnen Bereiche soziopragmatischer Information bei den einzelnen Autoren in unterschiedlicher Weise gewichtet werden, vermittelt die Zusammenstellung doch den Eindruck, daß im Grunde jede Sprachgeschichte, die über die Beschreibung der Systementwicklung hinausgeht, gegenüber jeder Art systemexterner Mitteilung offen ist, also jeweils dasjenige in die Darstellung einbezieht, was dem eigenen Interesse und dem eigenen Kenntnisstand am ehesten entspricht. Man bietet von dem Interessanten und dem Gewußten dann genau so viel, wie der zur Verfügung stehende Raum erlaubt und wie sich sprachtheoretisch und kulturpädagogisch sowie ideologisch irgendwie mit systembezogener Information verbinden läßt. Auf diese Weise entstehen immer wieder Absätze und Kapitel bis ganze Buchhälften (z. B. Schmidt 1993), die ohne Überschrift kaum als Teile einer Sprachgeschichte erkennbar wären, und sich wie eine persönliche Vorlieben spiegelnde Kulturgeschichte des mitteleuropäischen Raumes lesen. 8.4. Die Gewichtung von systembezogener und soziopragmatischer Orientierung innerhalb der Sprachgeschichtsschreibung des Dt. und die Geschichte dieser Gewichtung können hier nur angerissen werden. Die großen historischen Grammatiken des Dt. (vgl. Eichinger 1984) und in ihrer Tradition stehende Werke (Behaghel 1923— 1932) haben eine systemgeschichtliche Ausrichtung; Behaghel lehnt es in den Vorworten seiner Bände (2, V f.; 3, VI; 4, VII f.) trotz einiger verbindlicher Floskeln mehrfach „aufs entschiedenste“ ab, sprachliche Veränderungen unter geistesgeschichtlichen Aspekten zu betrachten. Von der Mehrzahl der Gesamtdarstellungen seit der Jahrhundertmitte ist dagegen zu sagen, daß sie über die nationalen und ideologischen Grenzen hinweg der Soziopragmatik einen Raum zuweisen, der demjenigen zur Systementwicklung nahe- oder gleichkommt (Schildt 1976 ; Keller 1986 ; Wells 1990; Schmidt 1993; mit starker Systemkomponente: Sonderegger 1979; insgesamt eher systemorientiert: Moskalskaja 1985). Diese Ausgewogenheit kann in den Vorworten explizite zum Programm erhoben sein (z. B. bei Keller 1986 , 9; Wells 1990, 1). In einer Reihe von Sprachgeschichten hat die Soziopragmatik aller-
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
dings deutlich Orientierungsfunktion; man vgl. einleitende Sätze wie: „Sprache existiert konkret im gesellschaftlichen Umgang zwischen Menschen“ (von Polenz 1991, 9); „Sprache und sprachliche Kommunikation sind als gesellschaftliche Erscheinungen nur im Zusammenhang mit außersprachlichen Phänomenen, vor allem mit Geschichte, Politik, Ökonomie, Kultur, Recht, Religion, genau zu erfassen und zu beschreiben“ (Schmidt 1993, 14); damit sind „neue Schwerpunktbildungen“ verbunden: „Sprachwandeltheorie, Soziolinguistik, Sprachpragmatik, Sprachkritik, Sprach(en)politik, Bilinguismus, Diglossie, Lehn-Wortbildung, Textsorten, Wissenschafts- und Fachsprachen, politische Begriffsgeschichte, Sprache der Massenmedien, Gruppenjargons, Minderheitensprachprobleme“ (von Polenz 1991, 3).
9.
Die beschriebenen hierarchischen Ränge der Sprache
9.1. Als hierarchische Ränge der Sprache sollen hier die Phonologie, die Graphematik, die Flexions- und Wortbildungsmorphologie, die Lexik, die Syntax und das Textsortensystem bezeichnet werden. In der Darstellung erwähnt wird außerdem die Prosodie. 9.2. Von diesen Rängen bleibt das Textsortensystem in den Sprachgeschichten des Dt. generell unberücksichtigt. Es gibt bis auf den heutigen Tag keine Monographie, die ähnlich denjenigen zur Laut-, Formen-, Wortbildungs-, Wort- oder Syntaxgeschichte die Entwicklung der in dt. Sprache geschriebenen Textsorten zusammenhängend darstellen würde. — Die Prosodie erfährt als eine in ihrem Kern sprechsprachliche und daher methodisch schwer erschließbare Gegebenheit ebenfalls nur eine relativ periphere und zufällige Berücksichtigung. Immerhin aber werden die idg. und germ. Akzentverhältnisse (Scherer 186 8; Wilmanns 1897, 390—425; Paul 1916 , 18 f.; Hirt 1925, 48 ff.), die Stabreim- und Alliterationstechnik (ausführlich bei Sonderegger 1979, 292— 297), der Endreim im Ahd., die Versformen im Mhd., die Rhythmik in humanistischen und sakralsprachlichen Texten des Frnhd., auch die Mehrfachformel in dieser Epoche, mit der Behandlung der Sprechpausenzeichen schließlich die Sprechpausen immer wieder einmal erwähnt. 9.3. Den eigentlichen Gegenstand der systemorientierten Teile der Sprachgeschichte des Dt. bilden die oben genannten Ränge der Sprache in ihrer Gesamtheit. Selbstverständlich gibt es zeitund theoriebedingte Unterschiede; so fehlt etwa in den Sprachgeschichten von Grimm (1848) und Scherer (186 8) sowie bei Wilmanns (1897—
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1909) die Behandlung der Syntax, bei Scherer außerdem diejenige des Wortschatzes; eine reduzierte Berücksichtigung oder Übergehung erfährt trotz ihrer ideologischen Aufwertung durch die Schottelius-Tradition und trotz ihrer starken Rolle bei Grimm (1926 ) und Wilmanns (1899) auch die Wortbildung, bezeichnenderweise selbst in den einzelnen Bänden der Sammlung ku rzer Grammatiken germanischer Dialekte; bei Paul bildet sie den letzten und kürzesten Teil seines fünfbändigen Werkes (1920). Auch persönlich bedingte Gewichtungen kommen vor. So widmen Bach und Eggers der Geschichte der Lexik deutlich größere Aufmerksamkeit als derjenigen des Laut- und Formensystems und der Wortbildung; auffällig bei von Polenz ist die periphere Behandlung des Wortschatzes, speziell des Erbwortschatzes. Im allgemeinen aber haben die Sprachgeschichten des Dt. eigene laut-, graphie-, flexions-, (teilweise) wortbildungsbezogene sowie lexik- und syntaxbezogene Teile. 9.4. Die kanonartig beschriebenen Inhalte bzw. Entwicklungen auf den einzelnen Rängen sind die folgenden: Phonologie u nd Graphematik: Vokal- und Konsonantensystem vom Idg. bis zum Nhd./Nnd., beim Vokalsystem Trennung nach Haupt- und Nebentonsilben; für die vorahd. und ahd. Zeit Betonung der Geschichte des Schriftsystems, darunter der Runen, für die mittleren Jahrhunderte auch Darstellung regionaler Entwicklungen, für die neuere Zeit Betonung der Geschichte der Orthographie, davon trotz Herausstellung der Siebsschen Ausspracheregelung quantitativ und qualitativ abfallend Geschichte der Orthoepie, speziell der Rolle der gemäßigten Hochlautung; germ. und ahd. Lautverschiebung; Vernersches Gesetz; grammatischer Wechsel; Ablaut; Brechung; Umlaut; Abschwächung der Endsilbenvokale im Ahd.; Monphthongierungen; Diphthongierungen; Dehnungen; Kürzungen; Hebungen; Senkungen; Rundungen; Entrundungen; Auslautverhärtung; Entwicklung der s-Laute; Entstehung des Velarnasals; Einwirkungen der Schreibung auf die Lautung seit frnhd. Zeit (langes ä; Aufrechterhaltung schreibsprachlicher Oppositionen: stimmhaft/stimmlos verbunden mit Lenis/Fortis); Apokope und Folgen; eher periphere Berücksichtigung des Abbaus der Geminaten in ahd./mhd. Zeit, der binnendeutschen Konsonantenschwächung, der Reflexe der Primärberührung, sprechsprachlich bedingter Aussprachevarianz (Assimilation, Dissimilation, Schwünde, Zusätze, r-Vokalisierung, Hyperkorrekturen). Flexion: Grundlagen der Flexion der Nomina und Verben in idg. und germ. Zeit; Grundzüge der Entwicklung bis zum Nhd./Nnd. hin; speziell Geschichte des Ablautsystems; Geschichte der besonderen Verben (athematische, Präteritopräsentia u. a.); periphrastische Formen des Verbs und Auswirkungen auf die Tempus-, Modus-, Genus-, Aspektsemantik (speziell für das Frnhd.; dazu ausführlich Wells 1990, 245—270); Verhältnis von synthetischem zu analytischem Sprachbau;
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sog. Tempus- und Numerusprofilierung; Ausdruck der Negation. Wortbildu ng: Rolle der Ableitung und Zusammensetzung seit ahd. Zeit; Tendenz zur Verdeutlichung der Wortbildungsmittel; Getrennt- und Zusammenschreibung bei den Komposita; Suffixhäufung; Tendenz zu Mehrfachkomposita; Rolle der Lehnelemente seit dem 16 . Jh.; Verhältnis von Polysemierung und Polysemiereduktion von Wortbildungsmustern; sprachgeschichtlicher Differenzierungsgedanke. Lexik: Grundwortschatz des Idg., des Germ. und der germ. Stammesdialekte (teilweise geordnet nach Sachgruppen); Entlehnungen in Römerzeit, Spätantike, im Ahd. und klassischen sowie späteren Mhd./Mnd., im Frnhd., in Barock und Aufklärung, seit 1945; systeminterne Inter- und Transferenzen (z. B. Verfachlichungen, Verhochsprachlichungen, Literarisierungen, Dialektalisierungen); Geschichte sog. Kenn- und Leitwörter aller Fächer der Traditionsforschung (darunter besonders derjenigen von literatur-, rechts-, sozial-, theologiegeschichtlichem Interesse), teilweise Darstellung dieser Wörter in lexikonartigen Werken; Geschichte der Orts-, Gewässer-, Personennamen; Verbindung von eher ausdrucksseitigem Bereicherungs- und inhaltsseitigem Differenzierungsgedanken bei gleichzeitiger Relativierung der Polysemiereduktion und des Wortschwundes; insgesamt quantitativ-inventarbezogenes Interesse, insofern Vernachlässigung der strukturellen Organisation des Wortschatzes und nahezu völlige Außerachtlassung der Geschichte seiner morphologischen Durchsichtigkeit. Syntax: Satzgliedstellung seit idg. Zeit; Verbstellung, speziell Endstellung des Verbs; Entstehung und Geschichte des Artikels; Verhältnis von Kasus und präpositionalem Ausdruck; Satzklammer; Verhältnis von zentrifugaler und zentripetaler Satzglied- und Wortfolge; Unterscheidung von Haupt- und Nebensatz; Komplexität der Satzglieder (speziell erweitertes Adjektivattribut) und des Satzes; Verhältnis von Parataxe und Hypotaxe; Differenzierungs- und Logisierungsgedanke vor allem bei der Beschreibung des Konjunktionensystems.
10. Die Gewichtung von Ausdrucksgeschichte und Inhaltsgeschichte 10.1. Die Unterscheidung von Ausdrucks- und Inhaltsseite setzt einen bilateralen Zeichenbegriff voraus. Dieser ist dann gegeben, wenn man die Bedeutungen (genau so wie z. B. das Lautbild eines Wortes) als Bestandteil der Sprache auffaßt, d. h. ihre Existenz an eine Einzelsprache bzw. an eine ihrer Varietäten oder an einen notwendigerweise einzelsprachlich verfaßten Text bindet. Sieht man die Semantik einer Sprache dagegen darin, daß Sprachbenutzer mit Hilfe der dieser Sprache eigenen Darstellungsmittel auf Gegebenheiten der Realität oder auf sprachunabhängig im Kopf von Sprechern vorhandene Inhalte, die man dann besser Begriffe oder Vorstel-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
lu ngen statt Bedeu tu ngen nennt, Bezug zu nehmen vermögen, so liegt ein monolaterales Zeichenmodell vor. Die Fragestellung dieses Abschnitts erhält dann eine veränderte Fassung, nämlich: In welcher jeweils geschichtstypischen Weise hat man mittels des Dt. die in dauerndem Wandel begriffene Welt und vor allem ihre sich dauernd verändernde Sicht, (Er)kenntnis, Beurteilung durch die Sprecher systematisch ausgedrückt? Nimmt man diese Formulierung ernst, so mögen Welt und Weltbeurteilung (usw.) zwar ein Bezugsbereich von Sprache sein, sie sind aber kein Teil von ihr; der in obiger Überschrift benannte Gegensatz höbe sich auf, könnte allenfalls noch e contrario berücksichtigt werden. 10.2. Da die Sprachgeschichten auf Ausdruck und Inhalt nicht explizite eingehen, sind fachstilistische Formulierungskonventionen auf ihre diesbezügliche Aussagehaltigkeit zu untersuchen. Folgende beiden Redeweisen finden weiteste Anwendung: (1) die realistische Redeweise; sie beruht auf der Auffassung von Sprache als Abbildinstrument. Es gibt demnach, meistens thematisch vorausgesetzt, alle möglichen Welten, darunter die natürliche und soziale. Zu ersterer gehören z. B. alle Konkreta, aber auch abstrakte Gegebenheiten wie die Ausdehnung in Raum und Zeit; innerhalb der letzteren finden sich Bezugsgegenstände wie seelisches Geschehen, Lehr- und Glaubensinhalte, Weltbilder, geistige Gegenstände, Verflechtu ngen und Entwicklu ngen, übliche Erfahru ngen, Vorstellu ngen, Gefühle, Leidenschaften, Tätigkeiten aller Art und immer wieder Begriffe sowie Beziehungen zwischen all dem. Die Reihe der Beispiele kann beliebig fortgesetzt werden. — Der Formulierungstyp sei an einigen Zitaten vorgeführt: Es gibt „Adjektive, die eine Ausdehnung im Raume und in der Zeit bezeichnen“; „das Genitivobjekt [bezeichnet] ein loseres Abhängigkeitsverhältnis zur Verbalhandlung“ als das Akkusativobjekt (Dal 196 6 , 11; 17). — „Die deutsche Sprache [...] schafft sich [...] die Mittel, verfeinertes seelisches Geschehen in Worte zu fassen“ (Moser 1972, 25). — „Verben können nach der Art der ‘Tätigkeit’, die sie beschreiben, in Gruppen eingeteilt werden — zum Beispiel danach, ob diese Tätigkeit sich wiederholt (iterativ), ob sie vollständig durchgeführt ist (perfektiv), ob sie beginnt (ingressiv oder inchoativ), auf den Augenblick beschränkt (punktuell) ist oder sich über einen Zeitraum hinaus ausdehnt (durativ)“ (Wells 1990, 253; in Teilen dieser Formulierung läßt sich eine Öffnung zu (2) erkennen).
Als Kennzeichen des Fachstils springen ins Auge: Das logische Subjekt bilden sprachliche Bezugsgegenstände (s. o.: Adjektiv, Objekt, Verben); textstilistisch findet sich dies in Aktivsätzen durch die Subjektposition der entsprechenden Ausdrücke, in Passivsätzen durch die funk-
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tional äquivalente Präpositionalfügung, ansonsten oft durch den genitivus subjectivus (Muster: Leistu ng des Präsens) realisiert; mit Verben wie angeben, anzeigen, au sdrücken (sehr häufig), beschreiben, bezeichnen, markieren, sagen oder mit zugehörigen Funktionsverbgefügen (z. B. zu m Au sdru ck bringen) und Substantivierungen (der Au sdru ck von etwas) wird die Leistung des logischen Subjekts prädiziert; im logischen Objekt, textstilistisch realisiert durch das Akkusativobjekt bzw. in Passivsätzen durch das grammatische Subjekt, ansonsten durch den genitivus objectivus oder auch durch Formulierungen mit Satzgliedschub (Beispiele: das Weltbild drückt sich in der Sprache au s; geistige Verflechtu ngen spiegeln sich in Einwirku ngen au f die Dichtersprache: Moser 1972), steht eine affizierte (äußere), auch sprach- und textunabhängig vorhandene Gegebenheit, und zwar all dasjenige, was oben mit der Reihe Au sdehnu ng, seelisches Geschehen usw. beispielhaft vorgeführt ist. Der Prototyp realistischer Redeweise lautet demnach: Ein Au sdru ck bezeichnet einen Gegenstand einer irgendwie verstandenen Realität. (2) die konstru ktivistische (oft: idealistische) Redeweise; sie setzt die inhaltskonstituierende Leistung von bzw. mittels Sprache voraus. — Fachstilistisch fällt gegenüber der realistischen Redeweise auf, daß das affizierte (äußere) Objekt oft durch das sog. innere Objekt des Inhalts (Grundzüge 337) ersetzt ist; Unterscheidungskriterium zwischen beiden Objekttypen ist, ob der jeweilige Bezugsgegenstand „durch das im Verb ausgedrückte [...] Verhalten verändert“ wird oder nicht. Dies ist in Sätzen wie den folgenden der Fall: das Partizip Perfekt betont das Abgeschlossene der Handlu ng oder (mit Ellipse des Objekts): ein Präfix kann perfektivieren. Teilweise begegnen sogar zweifelsfrei effizierte Objekte: Die Kategorie Tempu s stellt eine Beziehu ng her zwischen [...]; Sprache „schafft intellektuelle Symbole“ und das „für uns gegebene Sein ist nicht unabhängig von Art und Gliederung der sprachlichen Symbolgefüge“ (Trier 1973, 41). Statt der Objekte selber kann ein funktional äquivalenter Genitivausdruck oder ein Kompositum stehen: Markieru ng des Aspekts, Nu meru s- oder Tempu sprofilieru ng; mit Ellipse des Genitivausdrucks: Wortersatz zu r Verallgemeineru ng oder Veru nkläru ng, Moralisieru ng, Rationalisieru ng, Verbürgerlichu ng (Beispiele aus: Deutsche Wortgeschichte 1, 1974, 26 6 ; Wells 1990, 253—259; von Polenz 1991, 419). Der Prototyp konstruktivistischer Redeweise lautet: Ein Ausdruck effiziert einen Inhalt. 10.3. In der Sprachgeschichtsschreibung des Dt. dominiert die realistische Redeweise quantitativ
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und qualitativ. Sie findet sich außer im Bereich der Distingemik, wo ohnehin keine Inhaltsseite angenommen werden kann, auch für die Flexions- und Wortbildungsmorphologie, die Lexik und die Syntax. Dies heißt in einem strengen Sinne, daß eine einzelsprachintern-semantische Geschichte dieser Ränge der Sprache ein untergeordnetes Anliegen ist. Es gibt keine ausgeführte Geschichte der Veränderungen des verbalen (Stichworte: Tempusprofilierung, Fassung von Modalität, Aspektualität) oder nominalen (Stichworte: Numerusprofilierung, Kasusreduktion, analytische Kasusbildung) Flexionssystems, die sich primär als Bedeutungsgeschichte verstehen würde. Es gibt auch keine eigentliche Bedeutungsgeschichte des Wortschatzes, also z. B. keine über das formale Verständnis von Tropisierungen hinausgehende Geschichte der Polysemierungen, Metaphorisierungen, Metonymisierungen, Lexikalisierungen, Phrasematisierungen, auch keine Geschichte der Entwicklung morphologischer Durchsichtigkeit lexikalischer Einheiten. (Eine der Voraussetzungen für das damit angedeutete Programm wäre die Erschließung versteckter lexikographischer Information: Goebel/Lemberg/Reichmann 1995). Schließlich ist eine Syntaxgeschichte, die Ausdrucks- und Inhaltsseite so solidarisch verbindet, wie dies der bilaterale Zeichenbegriff vorgibt, ein absolutes Desiderat. Zusammengefaßt: Wo inhaltlich fein differenziert wird, betrifft diese Differenzierung in der Regel nicht die sprachinterne Gegebenheit ‘Bedeutung’, sondern irgend etwas in der Welt Vorhandenes oder irgend etwas als nicht sprachlich verfaßt Angesehenes im Kopf von Menschen schlechthin (also nicht von Sprechern einer Einzelsprache). Auf dieser Konzeption kann man keine Geschichte der Inhaltsseite der Sprache aufbauen, sondern nur eine Geschichte des Wort- oder Platztau schs bzw. -wechsels, des Ersatzes oder Kämmerchenwechsels von Ausdruckseinheiten (ein Teil dieser Ausdrücke bei Tschirch 196 9, 6 1; 120 f.) für konstant gebliebene Inhalte oder eine Geschichte der zunehmend differenzierten Erkenntnis, deren Ergebnisse zu bezeichnen sind. 10.4. Mit dem allem ist zugleich gesagt, daß die oben unter Punkt (2) genannte konstruktivistische Redeweise für die Sprachgeschichtsschreibung des Dt. nicht bestimmend ist. Konstruktivistisch klingende Äußerungen können, vor allem in ihrer älteren, für deutschsprachige Autoren verbreiteten idealistischen Fassung, an programmatischer Stelle, oft in den Einleitungen und Schlußworten von Sprachgeschichten, wie auch verbreitet im Text selber stehen, sie erfolgen dennoch in aller Regel beiläufig; sie kranken
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mehrfach schon an einer nicht adäquaten Übersetzung der lat. Vorlage, an allzu platter Interpretation ihrer sprachphilosophischen Autoritäten (z. B. Wilhelm von Humboldts), an hohlem Fachjargon, an innerer Widersprüchlichkeit infolge weitestgehenden Unverständnisses der sprachphilosophischen Problematik von abbildender und inhaltskonstitutiver Leistung der Sprache, schließlich an der Beschränkung auf wenige Beispiele und deren überdehnter Interpretation; man vgl. hierzu etwa die These einer „Veränderung der Raumvorstellung“ in dem Sinne, daß „die Zweidimensionalität flächenhafter Fixierung aller Vorgänge im Mittelalter [...] sich zu Beginn der Neuzeit zur Dreidimensionalität in die Tiefe des Raums hinein geweitet“ hat (Tschirch 196 9, 122). Ein Beispiel für das Gesagte bildet aber auch die bekannt gewordene These der Vereindeutigung, Moralisierung, Rationalisierung, Verbürgerlichung, Abstraktion und des Realismus als Kennzeichen der spätmittelalterlichen Wortschatzentwicklung (Kunisch 1974, 266). Unabhängig von der vorgetragenen Kritik gibt es einzelne für die Sprachgeschichtsschreibung relevant gewordene Richtungen der Traditionsforschung und der Linguistik, die eine Geschichte des Sprachinhalts, insbesondere auf lexikalischer Ebene, begründen könnten. Gemeint ist diejenige de Saussure-Rezeption, die mit dem bilateralen Zeichenbegriff ein System sprachimmanenter Inhaltswerte postuliert (vgl. Haßler 1991), die Arbeiten im Gefolge der Wortfeldtheorie Triers (in Auswahl verzeichnet in 1973, 211—216 ) und der Sprachinhaltsforschung Weisgerbers (z. B. 1964, 439—443), die sog. Begriffsgeschichte und alle von ihr beeinflußten Arbeiten (vgl. Kosellek 1978; Jäger 1988). Auch Darstellungen, die keiner dieser Richtungen explizite verpflichtet sind, können im einzelnen interessante Aussagen enthalten (z. B. Deutsche Wortgeschichte 1974; Tschirch 1969).
11. Die Gewichtung der Geschichte der Objektsprache und der Geschichte des Sprachbewußtseins 11.1. Unter ‘Geschichte der Objektsprache’ soll hier im Sinne von Abs. 1.1. a die Entwicklung der Sprache als eines Systems von Verständigungsmitteln (einschließlich aller seiner Funktionszusammenhänge) verstanden werden. Mit ‘Geschichte des Sprachbewußtseins’ ist die Entwicklung sowohl aller voluntativen und sonstigen im weitesten Sinne irrationalen (z. B. religiös oder politisch motivierten) wie diejenige aller rationalen, im folgenden auch als sprachreflexiv bezeichneten Attituden gemeint, die sich auf
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Sprache in allen Bedeutungen des Wortes beziehen. 11.2. Mindestens folgende Bezugsbereiche des Sprachbewußtseins kommen in Betracht: a. die einzelne sprachliche Äußerung, sofern sie z. B. einer sprachpädagogischen, ästhetischen, kommunikationsorientierten Betrachtung unterliegt b. der Idiolekt c. das System einer Sprachvarietät oder einer Sprache d. die soziopragmatischen Funktionszusammenhänge, innerhalb deren eine Sprache oder eine Varietät üblicherweise verwendet wird e. die Kontakte, in denen Sprecher einer Sprache oder einer Varietät stehen, sofern diese Kontakte Auswirkungen auf das System haben f. die menschliche Sprachfähigkeit schlechthin.
In dieser Zusammenstellung können die Bezugsbereiche a bis e nach der Dichotomie ‘die eigene/ die fremde Person betreffend’ weiter untergliedert werden. Bei dem als Sprache bezeichneten Bereich ist eine Opposition ‘volkssprachlich/ nicht volkssprachlich’ und eine weitere, diese überlagernde Opposition ‘Bildungssprache/(benachbarte) Einzelsprache’ zu beachten (Sonderegger 1979, 1). 11.3. Die Sprachgeschichten des Dt. weisen in ihrer Mehrzahl zwei Erzählstränge auf. Der erste — ohnehin unbestrittene und hier deshalb nicht näher charakterisierte — betrifft die Geschichte der Objektsprache, der zweite diejenige des Sprachbewußtseins. Dieser hat in grober Skizzierung folgenden Verlauf: In der sog. ahd. Zeit existieren ein volkssprachliches (also gegen das Lat. gerichtetes) und ein stammessprachliches Identitätsbewußtsein nebeneinander. Seit dem 9. Jh. bildet sich ein deutsches Sprachbewußtsein heraus, und zwar im Gegensatz sowohl zu ‘bildungs-’ wie zu ‘nachbarsprachlich’. Dieses Bewußtsein ist so unbestritten, daß seine Bezeichnung, eben Deu tsch, bis auf den heutigen Tag konstant geblieben ist. — In mhd./mnd. Zeit gibt es eine Anzahl vorwiegend varietäten-, insbesondere dialektbezogener Äußerungen (Zusammenstellung zuletzt bei Straßner 1995), die ausnahmslos auf der Basis eines gesicherten Wissens um die Substanz von ‘Deutsch’ vorgetragen werden, auch wenn dieses einen jeweils zeittypischen Stellenwert im Zusammenhang mit Bildungs-, Volks-, Nachbarsprache und Sprache schlechthin haben mag. — Humanismus und Reformation, diesen folgend Grammatikschreibung, Lexikographie, Orthographie, überhaupt Sprachtheorie führen seit der 2. Hälfte des 15. Jhs. zu immer wieder
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neuen Herausstellungen des Dt. als Nationalsprache oder als einer durch historisches Alter und strukturelle Gütequalitäten (vgl. Abs. 2.4.1.) ausgezeichneten, deshalb vor dem Verfall zu schützenden Wesenheit. — Im 18. Jh. wird das Dt., und zwar jetzt nicht mehr im Unterschied zu anderen Sprachen, sondern genau so wie diese, einer von der rationalistischen Philosophie geprägten, alle Ebenen des Sprachsystems umfassenden kritischen Reinigung unterzogen und nach Auffassung der Zeit damit in „logico-ontologische Äquivalenz“ (Schmidt 1982, 21), d. h. in Übereinstimmung sowohl mit den universalistischen Gesetzen menschlichen Denkens wie mit der Struktur der Realität gebracht (Reichmann 1995; 1996 ). Schule, Kirche und staatliche Kulturinstanzen wirken bei der Propagierung und Umsetzung dieser Ideologie in alle Praxisbereiche mit. Die Geschichte des Sprachbewußtseins verbindet sich objektiv und in der Nachzeichnung durch den Historiker mit der Sprachpflege. — Das 19. Jh. bringt mit der Entdeckung des Idg. eine vollständig anders ausgerichtete, aber dennoch auf eine weitere Steigerung des Ansehens des Dt. hinauslaufende Prägung des Sprachbewußtseins. Auch sprachidealistische Auffassungen des 20. Jhs. tragen der Lehre nach zum Bewußtsein der Besonderheit jeder Einzelsprache, de facto aber insbesondere des Dt., bei. Im einzelnen kann die mit dieser Skizze angedeutete Erzähllinie mit einer Mischung von extremer sprachtheoretischer Unbedarftheit und (perspektivisch gesprochen) vaterländischer Gesinnung, aber auch mit höchstem sprachphilosophischem Problembewußtsein vorgetragen werden; in beiden Fällen können die Gewichtungen auf jedem der oben (11.1. a—f) genannten Bezugsbereiche liegen. 11.4. Quantitativ nimmt die Geschichte der Objektsprache vor allem für die altdt. Epochen (bis rund 1500) sowie für das 19. und 20. Jh. den größeren Raum ein. Dem entspricht die Tatsache, daß es bei weitem mehr Objektsprachgeschichten als Geschichten des Sprachbewußtseins gibt; in den beiden letzten Jahrzehnten scheint sich hier allerdings eine Wende anzubahnen. Sowohl in der Auslandsgermanistik und -linguistik wie in derjenigen der DDR und der Bundesrepublik existier(t)en langfristige Projekte und individuelle Arbeitsvorhaben, deren Gegenstand die Wissenschaftsgeschichte und damit zusammenhängend die Geschichte des Sprachbewußtseins war bzw. ist. Diese Projekte können hier nicht dokumentiert werden; sie sind über folgende Literaturhinweise zu erschließen: Sebeok 1975; Bahner/Neumann 1985; Schmitter 1987; Klein 1992; Bio-bibliographisches Handbuch 1992 ff.; Gardt 1994; Dutz/Niederehe und demnächst das
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Handbuch Wissenschaftsgeschichte; die Reihen Lingu a et Traditio; Historiographia Lingu istica; Geschichte der Sprachtheorie; Beiträge zu r Geschichte der Sprachwissenschaft. 11.5. Wichtiger als das quantitative Verhältnis von Geschichte der Objektsprache und Geschichte des Sprachbewußtseins ist die innere Beziehung, die zwischen beiden Erzählsträngen besteht. Sie soll zunächst an einem Beispiel vorgeführt, danach kurz problematisiert werden. 11.5.1. In der Deu tschen Wortgeschichte beginnen W. Flemming und U. Stadler ihren Beitrag zur Barockzeit mit einem Kapitel Spracheinschätzung (Bd. 2, 1974, 3 f.). Es enthält zunächst einen Hinweis auf die Bedeutung, die man der Sprache zumißt, einige Belege dazu und anschließend eine kurze narrative Einlage über die Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft. Die dann folgenden Erzählthemen betreffen Philipp von Zesen, Georg Harsdörffer, Johann Klaj, Georg Neumark, Philander von Sittewaldt bzw. deren Arbeit, Verdienst, Auffassung sowie die ihrem Status nach bewußtseinsgeschichtlichen Gründe, die dem Dt. seine hohe Bedeutung gegeben haben. Die gemachten Aussagen stehen überwiegend im historischen Präsens; die Erzählhaltung der Autoren hat einen engagierten, und zwar affirmativen, identifizierenden Tenor. In die auf das Sprachbewußtsein bezogene Erzählung sind objektsprachlich adressierte Aussagen eingeflochten. 11.5.2. Vom behandelten Beispiel aus läßt sich generalisieren und materialiter ergänzen: Die dt. Sprachgeschichte der Reformationszeit, verstärkt des Barock und der Aufklärung, wird mit sehr umfänglichen Teilen als Sprachbewußtseinsgeschichte, innerhalb dieser als Geschichte von Sprachkonzeptionen realisiert. Es gibt in den allermeisten Darstellungen breit angelegte, Leben und Wirken von Sprachtheoretikern beschreibende, dabei tendenziell zu biographischer Redeweise offene sowie umfängliche ideengeschichtlich orientierte Werkteile (z. B. bei Keller 1986 ; Wells 1990; Schmidt 1993; von Polenz 1994; vor allem Straßner 1995); auch die in den ehemals sozialistischen Ländern entstandenen Sprachgeschichten zeigen diese Tendenz, allerdings schwächer (Schildt 1976 und KEDS 1983 weniger als KEDS 196 9 und Moskalskaja 1985). Die immer wieder behandelten Persönlichkeiten sind Luther, Opitz, Schottelius, von Zesen, Harsdörffer, Stieler, Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer, Breitinger, Wieland, Adelung, Campe; die erläuterten Ideen sind die erstrebenswerte Stellung des Dt. gegenüber der Bildungssprache Latein und der Bildungs- und Nachbarsprache
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Französisch, die Einheitlichkeit, analogistische Durchgestaltung, Deutlichkeit, Reinheit und der Reichtum des Deutschen, auch die herausgehobene Rolle des Hochdeutschen als literarisch begründeter Leitvarietät sowie die ideale Fachsprache. — Die gemeinten Werkteile stehen unter der stillschweigenden Annahme eines im einzelnen unterschiedlich gesehenen Wechselverhältnisses von Geschichte der Objektsprache und Geschichte des Sprachbewußtseins. Dabei erscheint der von ersterer auf letztere verlaufende Einfluß nirgendwo als wirkliches Anliegen; der Einfluß vom Bewußtsein auf die sprachgeschichtliche Realität dagegen gehört zu den gängigen, oft schon in den Vorworten und Einleitungen formulierten, überdies unterschwellig affirmativ bewerteten Überzeugungen. Diese stehen in deutlicher innerer Affinität zur Orientierung der Sprachgeschichtsschreibung auf hochschichtige, bildungssprachliche Texte der großen kulturnationalen Persönlichkeiten. — Der gemeinte Einfluß hat trotz all seiner unmittelbaren Plausibilität methodisch gesehen höchstens den Status einer Hypothese (Konopka 1996, 230 f.).
12. Das Verhältnis von Zweckfreiheit und Zweckorientierung 12.1. Zweckfreiheit, verstanden als Unabhängigkeit wissenschaftlichen Forschens und seiner Ergebnisse von nicht wissenschaftsimmanenten Werturteilen (wie immer man diese auch bestimmen mag) und von unmittelbarer gesellschaftlicher Nutzanwendung, unterliegt im dt. Kulturraum einer mindestens doppelten Tradition der Bewertung. — Die erste, in Einzelfacetten verstärkt seit dem Humanismus existierend und das Berufsbild des Historikers bis auf den heutigen Tag bestimmend, vertritt ein Bild, nach dem Wissenschaft dort ihre höchste, da den Menschen seiner Alltagszwänge enthebende, ihn geistig von aller Sachfremdheit freisetzende Vollendung findet, wo sie ausgehend von einer gesicherten Quellengrundlage, unter Anwendung gleichsam ‘geschichtsfreier’ rational-kritischer Methoden auf einen Typ von Erkenntnis zielt, der ausschließlich der sog. Sache, den Tatsachen, mit ihnen einem objektiv-realistischen Wahrheitsbegriff (Faber 1974, 196 ; Vierhaus 1974, 17; Koselleck 1975, 636 ff.) verpflichtet ist. — Nach einer zweiten Bewertungstradition wird der Bezug auf bezeichnenderweise gerne mittels bloß oder nackt attribuierte Fakten zwar als ebenso notwendig „für die Gesundheit eines Einzelnen, eines Volkes und einer Cultur“ (Nietzsche 1874) betrachtet wie eine monumentalisierende und kritische Geschichtsschreibung; sie wird gleichzeitig aber als verschroben-irrelevant behandelt (vgl. Munske
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
1995, 410) und tendenziell der Lächerlichkeit preisgegeben. — Darstellungen dieser Art drängen zu einem anderen Paradigma, nämlich demjenigen der Zweckorientierung. 12.2. Dieses, ebenfalls bereits seit dem 16 . Jh. existierend, steht dem realistischen Abbildmodell logisch diametral gegenüber: Historische Erkenntnis kann nicht in der Abbildung von Fakten bestehen, da sie erstens den Strukturprinzipien des menschlichen Geistes unterworfen ist und zweitens immer den ‘Vor-Urteilen’ (Faber 1974, 172 u. ö.) als den einzelkulturspezifischen Bedingungen der jeweiligen wissenschaftsgeschichtlichen Epoche, damit deren Zwecksetzungen unterliegt. Welcher Provenienz diese auch sein mögen, sie laufen alle darauf hinaus, das Schreiben von Geschichte als Ordnungs-, Rechts-, Sinnstiftung, damit als Schaffung einer irgendwie, z. B. politisch, kulturell, moralisch oder handlungspraktisch verpflichtenden Welt zu verstehen, die durch Pädagogik möglichst breit zu vermitteln ist (zu Details: Koselleck 1975). Dabei wird der Anspruch auf Methodizität bei der Gewinnung des Konstruktes und auf dessen Wahrheit selbstverständlich nicht aufgegeben. Wahrheit ist ein in jeder geschichtswissenschaftlichen Untersuchung ausgesprochener oder vorausgesetzter Anspruch; das der Abbildtheorie verpflichtete Paradigma geschichtlicher Erkenntnis interferiert damit voll in das konstruktivistische und verleiht dessen Vertretern ein schlechtes methodisches und theoretisches Gewissen, stellt sie bei jedem Anflug von Konstruktivismus in Rechtfertigungszwänge. Dies spiegelt sich in den Sprachgeschichten des Dt. in direkter Weise. 12.3. Ihr allgemein erklärtes Ziel ist die Beschreibung des Sprachwandels als einer objektartigen Gegebenheit im Sinne von Abs. 1.1. a dieses Artikels. Die Vorworte und Einführungen bringen dies explizite zum Ausdruck, die Fachstilistik der Texte läßt Verstecktes erkennen. 12.3.1. Die Vorwortformulierungen haben folgende Aussagetendenz: Es gibt die Tatsachen, Fakten, den Gegenstand, Stoff, das Material, zusammengefaßt: die Realien von Sprachgeschichtsschreibung; e contrario und verstärkend kann hinzugefügt werden, daß man keinem vorschwebenden Wu nschideal nachjagt, sondern tatsächlich vorhandene, in Systemzwang zueinander stehende Triebkräfte, Entwicklu ngstendenzen des Gestaltu ngssystems Sprache als vor jeder wissenschaftlichen Beschäftigung Existierendes beschreiben, darstellen, abbilden will. Mit Ausdrücken der zitierten Art wird der Skopus des als real Vorausgesetzten angerissen; er umfaßt außerordentlich Verschiedenes.
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
12.3.2. Der Ansatz von Erzählgegenständen mit Realstatus verbindet sich mit einer Häufung allgemeiner Charakterisierungen, mit Aussagen, die zeit- und raumübergreifende Gültigkeit unterstellen. Sie stehen im Gegensatz zu den oft narrativen Teilen des eigentlichen Buchtextes im formalen Präsens (statt im Präteritum) und verwenden mit Vorliebe das Verbum sein oder andere zustandsbezeichnende Ausdrücke. Das Muster gestaltet sich wie folgt: Sprache gehört zu [...]; sie ist nicht etwa [...], sondern sie erwächst aus [...]. Sie ist daher [Berufung auf Aristoteles mit Aussage], ihre Geschichte ist [...]. Wie und wann Sprache entstanden ist, [...]. Tiersprachen sind von der menschlichen Sprache verschieden. [...]. Unzweifelhaft kann Sprache [...]. Es gibt [...] keinen Bruch (Hirt 1925, 1). Oder: Sprache existiert konkret im gesellschaftlichen Umgang [...]. Dies wird deu tlich bei [...]. Als Zeichensystem ist Sprache [...]. Sprache ist nicht nu r veränderlich, sondern au ch veränderbar [...]. Sprache funktioniert als [...] (so von Polenz 1991, 9 f.).
12.3.3. Die in Formulierungen dieser Art gemachten Aussagen haben erstens die Funktion der Setzung eines großen, wichtigen, jedermann betreffenden Gegenstandes im Sinne der Rhetorik (Stichwort: magnitu do reru m); sie schaffen zweitens die Grundlage für das Verständnis später erzählter Details und liefern zum dritten geschlossene ideologische Bilder. 12.4. Die Geschichte solcher Bilder von Sprache ist Gegenstand der Kap. II bis IV dieses Handbuchs und braucht hier deshalb nicht nachgezeichnet zu werden. Zwei Aussagenkomplexe sollen aber als besonders relevant herausgestellt und exemplarisch unter dem Aspekt von Zweckfreiheit vs. Zweckorientierung behandelt werden, und zwar das Entwicklu ngs- und das Einheitsmodell. Beiden gemeinsam ist die finalistische Auffassung, daß Sprachgeschichte überhaupt und Geschichte einer Einzelsprache wie des Dt. im besonderen eine von einfacheren Anfängen über kompliziertere Zwischenstufen auf ein Ideal hin verlaufende Richtung habe. 12.5. Das Entwicklungsmodell setzt sich aus folgenden Einzelaussagen zusammen (nach Reichmann 1988; 1990 b; 1995; 1996): (1)Der Mensch befindet sich in einem fortwährenden Prozeß der kulturellen Höherentwicklung, darunter der Vermehrung seines Wissens und der Differenzierung seines Fühlens und Wollens. (2)Die kulturelle Höherentwicklung führt zu einem direkt proportionalen Ausbau der Sprache als desjenigen Systems, mittels dessen Erkenntnisse fixiert und kommunikabel gemacht werden. (3) Der Ausbau der Sprache hat erstens eine quantitative Komponente. Sie zeigt sich in einer zunehmenden, als Erweiterung oder Bereicherung bezeichneten Vermehrung insbesondere lexikalischer Einheiten. Die Erhö-
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hung des Wortschatzumfangs von knapp 40 000 überlieferten Einheiten des Ahd. auf rund 80 000 im Mhd. und gegen 150 000 im Frnhd. und angeblich nochmals höhere Werte im Nhd. wird trotz starker Abhängigkeit dieser Zahlen von der Überlieferungssituation und trotz der schwerwiegenden theoretischen Problematik solcher Zählungen wiederholt als Beweis für die Bereicherungsthese gewertet. Die Zu wachsrate ist konstant höher als die Abgangsrate (Sonderegger 1979, 237). (4) Der Ausbau der Sprache hat zweitens und vor allem aber eine qualitative Komponente. Diese erkennt man in der Reduktion unfunktionaler Varianten auf orthographischer, morphologischer, lexikalischer und syntaktischer Ebene, speziell in der Systematisierung und Logisierung des Flexionssystems (vgl. z. B. die Tempus- und Numerusprofilierung), in der Differenzierung des Wortbildungssystems (z. B. Übernahme und Funktionalisierung von Fremdsuffixen, Neuentstehung von Suffixoiden, Univerbierung, Tendenz zum Mehrfachkompositum) und der Syntax (bis hin zur Abschaffung der doppelten Verneinung und zu lexikalischen Auswirkungen wie der angenommenen Bedeutungsreduktion der Präpositionen und Konjunktionen), in den Spezialisierungen, Synonymendifferenzierungen usw. des Wortschatzes. (5)Soziopragmatisch werden alle diese Entwicklungen an große Einzelpersönlichkeiten, an die bildungstragenden Schichten und Textsorten, an bildungsvermittelnde Instanzen und bildungsbestimmte Sozialsituationen gebunden.
12.5.1. Die vorgetragenen Aussagen lassen sich an einer Vielzahl von Beispielen aus nahezu jeder Sprachgeschichte des Dt. seit der Aufklärungszeit belegen (vgl. Reichmann 1988, 16 1 f.; 1990). In einer Reihe von Fällen werden sie zwar am Schluß der jeweiligen Arbeit als Ergebnis unvoreingenommener Quellenanalyse formuliert, können aber dennoch ihren Charakter als geschichtstheoretisches Apriori nicht verleugnen. Einige typische (zuerst kürzere, danach längere) Einzelformulierungen seien hier zur exemplarischen Veranschaulichung vorgeführt: — „ist seit dem Ende des Mittelalters den europäischen Sprachen eine beispiellose Vermehrung des Wortschatzes zuteil geworden und zugleich eine grammatische Stählung und Zucht, [...]“ (Vossler 1926, 226). — „Dem Bedürfnis nach strengerer grammatischer und logischer Regelung entspricht es, wenn [...]“ (Behaghel 1928, 50). — Die „Bedeutungsverengung liegt im Zuge der allgemeinen Entwicklung sämtlicher Kultursprachen auf zunehmende Verschärfung [...]“ (Tschirch 1969, 119). — Die Entwicklung „gipfelt in [...]; man darf mit Recht von einer Tendenz zur Sprachbereicherung sprechen“ (Admoni 1990, 266). — „Ein Höhepunkt der Sprachkultivierungsbewegung [...] war der Prosastil Lessings [...]. Die Stilmittel [...] sind meist Mittel für folgerichtige
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explizite Argumentationsschritte“ (von Polenz 1994, 318 f.).
An ausführlicheren Zitaten seien die folgenden vorgetragen: „Die Vollkommenheit einer Sprache hängt [...] ganz von dem Reichthum und der Deutlichkeit der Begriffe, und von dem Geschmack derer ab, welche sie schreiben. [...]. Wer mit dem Schatze deutlicher Erkenntniß den feinsten und besten Geschmack bildet, wird sich in seiner Sprache allemahl am besten und richtigsten ausdrucken. [...] bloß dem Grade der Kultur im Ganzen [...] hat auch die Deutsche Sprache ihre Ausbildung von dem sechsten Jahrhunderte an zuzuschreiben“ (Adelung 1781, *3 f.). „Integraler Bestandteil der sprachlichen Vorgänge [...] ist eine Steigerung der Leistungsfähigkeit des Sprachsystems im Kommunikationsprozeß. Sie ist durch eine Reihe dialektischer Widersprüche gekennzeichnet, insbesondere durch den Hauptwiderspruch zwischen dem Abbau formaler Vielfalt zugunsten einer Systematisierung der Paradigmen, verbunden mit der Tendenz zur Monosemierung und Eindeutigkeit der Markiertheit einerseits, der Ausbildung neuer sprachlicher Ausdrucksformen andererseits“ (Schildt 1987, 442).
12.5.2. Im einzelnen erfolgt die Vermittlung von Aussagen dieses Typs als Fakten unter Verwendung von Vorsichtsklauseln. Dies zeigt sich zunächst in einführenden Ausdrucksweisen der Art, daß eine bestimmten Gesichtspu nkten unterliegende „Zusammenschau der Tatsachen“ mit dem Ziel angestrebt werde, „das Bild eines zusammenhängenden geistigen Geschehens zu vermitteln“ (Bach 1970, Vorwort). Auch von der klaren Herau sarbeitu ng von Tendenzen, der Deutung sprachgeschichtlicher Zusammenhänge kann die Rede sein (Admoni 1990, 3 f.). Von Polenz spricht von einer neuen Fu ndieru ng und neuen Schwerp u nktsetz u ngen (1991, 3); es folgt (S. 12 f.) eine Aufzählung von Haltu ngen zur Sprache und die Anerkennung von „Erkenntnisinteressen in der Sprachgeschichtsforschung“ (wie in diesem Handbuch, 1. Aufl. Art. 17; 2. Aufl. Art. 20 ff.). Danach wird ein Programm entworfen, nach dem „die historische Sprachforschung diejenigen Bereiche auszuwählen [habe], die sich für die Entwicklung einer Sprache [...] als wesentlich erweisen. Dieses Auswählen und Erklären ist unvermeidlich verbunden mit dem Wagnis des Bewertens, Hervorhebens, Gewichtens und des Behauptens oder Wahrscheinlichmachens kausaler Zusammenhänge [...]“ (S. 18). 12.5.3. Bei der Betrachtung der Fachstilistik dieses Aussagetyps springt die Häufung von Abstracta ins Auge; löst man sie zu verbalen Ausdrücken auf, so ergeben sich drei Muster:
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
(1) j. schaut etw. zusammen/wählt etw. aus/erklärt etw. (2) j. fundiert/bewertet/gewichtet/deutet etw., hebt etw. hervor, macht etw. wahrscheinlich. (3) j. bildet etw.
Im ersteren Falle wird eine sprachlich als affiziertes Objekt gefaßte Gegebenheit von der Handlung des Sprachhistorikers betroffen, ohne daß sie sich verändert; im zweiten Falle ist sie — sprachlich als inneres Objekt — zwar ebenfalls vor der Handlung des Historikers existent, hat nach dieser Handlung aber eine andere Gestalt; im dritten Fall erscheint sie sprachlich als effiziertes Objekt, verdankt ihre Existenz damit ausschließlich dem Historiker. Die erste Redeweise entspricht dem realistischen Abbildmodell, die beiden anderen stimmen eher zu einem Modell, nach dem Sprachgeschichtsschreibung soziomorphe Bilder zu bestimmten Zwecken erzeugt (wie Bach ja ausdrücklich formuliert; vgl. auch Abs. 10.2.). 12.5.4. Damit stellt sich die Frage, wie bewußt die unter Punkt (2) und (3) aufgeführten Äußerungsweisen gemeint sind. Die auf der Überprüfung des gesamten Corpus beruhende Antwort lautet: Es handelt sich in aller Regel um Erklärungen, die für die jeweilige eigentliche Darstellung der Sprachgeschichte irrelevant bleiben. Nach seinem Selbstverständnis konstru iert A. Bach also keineswegs das „Bild eines zusammenhängenden geistigen Geschehens“; er beschreibt vielmehr (angebliche) Fakten, und zu diesen Fakten gehört (wiederum nach Bachs Selbstverständnis) ein Geschehen mit den unterstellten Realeigenschaften ‘zusammenhängend’ und ‘geistig’. Aus kritischer Perspektive ausgedrückt: Zwischen dem abbildlich-realistischen Selbstverständnis des Sprachhistorikers und seinem tatsächlichen konstruierenden Tun besteht eine deutliche, wenn auch entweder überhaupt nicht bewußte oder in ihrem Ausmaß nicht erkannte Kluft. 12.5.5. Die vorangehenden Ausführungen stehen (und zwar noch stärker als die unter 12.6 . folgenden) unter einer offensichtlichen Aporie. Einerseits wurden die Inhalte der Sprachgeschichten zu einem weit größeren Teil, als der Historiker suggeriert, als Konstruktionen entlarvt. Daraus würde logischerweise folgen, daß der Historiker die Zwecksetzung, die Zeitgebundenheit usw. seines Tuns radikaler und damit ehrlicher offenlegt, möglicherweise sein Weltbild in Frage stellt. Andererseits hat das Entwicklungsmodell folgende Vorteile: (1)Es stellt den Historiker wegen des Grades der Akzeptiertheit des Modells von seinen Voraussetzungen und damit für praktische Forschung frei. (2) Es verfügt mit den Fakten über eine letzthin gültige Berufungsinstanz, die dem Bedürfnis nach Erkenntnissicherheit Genüge tut.
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
(3) Es weist mit dem Konzept der Zusammenschau, des Gewichtens, Bewertens usw. ohne Aufgabe der Faktengrundlage eine innere Flexibilität auf, die Sinnkonstruktion in einem gewissen Grade zuläßt. (4) Es unterwirft mit dem Konzept der Gerichtetheit des sprachgeschichtlichen Prozesses auf immer höherwertige Entwicklungsstufen hin jeden Rezipienten einem kulturpädagogischen Fortschrittsglauben, einem Vervollkommnungsideal, dem sich niemand ohne Argumente entziehen kann. Dieser Fortschrittsglaube ist seiner Provenienz nach aufklärerisch; das heißt hier: er tritt — obwohl selbst genuin geschichtlich — mit dem universalistischen Anspruch auf, daß Sprecher jeder Einzelsprache und Sprecher aller ihrer Soziolekte und Dialekte mit der Möglichkeit auch die Pflicht haben, den jeweils höchsten erreichten, von den Gebildeten zu bestimmenden Sprachgebrauch zu ihrem eigenen zu machen (vgl. auch Schlieben-Lange 1983, 481 mit Beispielen, Quellen und Literatur).
12.5.6. Beim Ersatz des Tatsachenberichts durch ein konstruktivistisches Gegenbild wird man spiegelbildlich zu dem unter (1) bis (4) Gesagten auf folgende Fragen zu antworten haben: (1) Wie kann man die eigene Theorie so einfach vorstellen, daß sie akzeptiert und der Sprachhistoriker von einer dauernden Diskussion seiner Voraussetzungen freigesetzt wird? (2) Was ist die letzthin gültige, Willkür verhindernde (Hüllen 1989, 7) Berufungsinstanz? (3) In welchem Umfang und auf welche Weise werden unbestreitbare Fakten berücksichtigt? (4) Woher nimmt man die kulturpädagogische Leitidee, ohne die keine geisteswissenschaftliche Tätigkeit auf Dauer von der Gesellschaft getragen würde?
12.6. Das Einheitsmodell setzt sich aus folgenden Einzelannahmen zusammen: (1) Sprachgeschichte entwickelt sich von anfänglich größerer regionaler, sozialer, situativer Heterogenität zu zunehmend stärkerer Homogenität; insofern ist Sprachgeschichte zu einem erheblichen Teil identisch mit der Entwicklung einer (wie es oft heißt) „über den Mundarten stehenden“ Gemein-, Ausgleichs-, Schriftsprache (Paul 1916, 115). (2) Unter strukturellem Aspekt liegt Einheitlichkeit dann vor, wenn das Inventar einer Sprache keine unfunktionalen Mehrfachbesetzungen und das Regelsystem möglichst wenige Ausnahmen aufweist. (3) Unter sprachsoziologischem Aspekt sieht man die ideale Ausprägung von Einheitlichkeit in literarischen, wissenschaftlichen, überhaupt bildungssprachlichen Texten der soziologisch führenden Schichten oder führender Einzelpersönlichkeiten. (4) Eine einheitliche Sprache hat eine größere darstellungsfunktionale Leistungsfähigkeit als eine nicht einheitliche; sie sichert ihren Sprechern damit automatisch eine größere wechselseitige Verständlichkeit. Die mit dem Entwicklungsmodell verbundene Fortschrittsideologie gilt also auch für das Einheitsmodell. (5) Eine einheitliche Sprache eignet sich über ihre literarischen und sonstigen bildungssprachlichen Varian-
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ten in besonderer Weise zur symptomfunktionalen Identifizierung ihrer Sprecher. Sie wird damit zum einigenden Band, zum wirkungsvollsten, da als objektiv vermittelbaren Garanten der Konstitution nationaler Großgruppen bzw., nachdem diese existieren, ihrer Erhaltung und Verstärkung (Reichmann 1978).
12.6.1. In der Realisierung erscheint das Einheitsmodell einerseits als logische Fortsetzung des Entwicklungsmodells; die soeben unter den Punkten (1) bis (4) beschriebenen Thesen lassen sich problemlos als Ergebnis einer zielgerichteten Entwicklung begreifen. Mit der in (5) angesprochenen Interpretation einer einheitlichen Sprache als nationales Identifizierungsinstrument kommt allerdings ein zusätzlicher Gedanke ins Spiel. Dieser soll wiederum mit einigen Zitaten belegt werden: „haben wir nunmehr [im 12. Jh.] ein außergewöhnlich reiches, aber hauptsächlich dichterisches Schrifttum. Und dies hat sicher mit dazu beigetragen, unsre Volkseinheit zu fördern“, ohne daß damit bereits ein „allgemeiner, gleichmäßig vollkommener Zustand auf allen Gebieten erreicht worden“ wäre. „[...] erst die Blütezeit unserer klassischen Literatur schafft eine volle Einheit der Sprache“ (Hirt 1925, 111 f.). Später (S. 182): „Zweifellos wird aber dadurch [den Ersten Weltkrieg] unsre innere Einheit gefördert werden. Denn die gleiche Sprache ist und bleibt das stärkste Bindemittel der Völker“. „Die Wahrnehmung der volksmäßigen Zu sammengehörigkeit am Gegenbild anderssprachiger Nachbarn hatte seit dem Ende des 10. Jhs. zu zaghafter Ausbildung des Volks- und Sprachbegriffs deu tsch geführt [...]; damit war ein erster schmaler Einbruch in die bisherige Alleinherrschaft des Stammesbewußtseins und der Mundarten gelungen [...]. Wenn auch diese beiden Größen das geistige Bewußtsein [...] noch für Jahrhunderte bestimmen, so wächst doch die Kraft der sie umund übergreifenden Vorstellung von einer für alle Deutschsprechenden gültigen Volks- und Sprachgemeinschaft langsam und stetig“ (Tschirch 196 9, 88). „Die verwirrenden millionenfachen Einzelvorgänge, auf die eine dt. Sprachgeschichte ihre Aufmerksamkeit zu richten hätte, werden durch die § 1, 2 geltend gemachten Gesichtspunkte [darunter: die „Gesamtheit der Genossen“ einer Verkehrsgemeinschaft; der „Geist des Sprachvolks in seiner Gesamtheit“] in übersehbaren Gruppen zus.gefaßt, die dem Chaotischen des sprachl. Einzelgeschehens sein entmutigendes Übermaß nehmen“ (Bach 1970, 24 f.). Ebd. 259: „Die Gestalt Luthers steht mitten in der auf die Gewinnung einer dt. Gemeinsprache gerichteten Bewegung, die wir soeben [...] verfolgt haben. Alle in ihrem Verlauf beobachteten Mächte vereinigen sich mit der ungeheuren Sprachgewalt des Reformators [...] und helfen so den gewaltigen Fortschritt auf eine Einheit hin zu gewinnen, die [...]“.
12.6.2. Die Geschichte des Dt. ist nach diesen Zitaten auf das Ziel Einheit angelegt; sie verläuft geradlinig oder gegen Widerstände auf dieses
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Ziel hin und erscheint mit seiner Erreichung als vollendet (s. o. Hirt: vollkommen), folglich als zu sichernde Errungenschaft (Bach 1970, 542 ff.). Immer wieder begegnende adverbiale Ausdrücke, die dieses Denken belegen, sind noch nicht, später, bereits, erst. 12.6.3. Die unterstellte Entwicklung wird nach Ausweis der fortwährenden stilistischen Parallelisierung von Sprache und Volk (auch in obigen Belegen) mit der Konstitution einer Sprach-, Kultur- und dem breit vertretenen Anspruch nach auch einer Staatsnation in eins gesetzt. Die Sprachgeschichtsschreibung ist zwar nicht mehr in der direkten Weise „durch und durch politisch“, wie J. Grimm dies 1848 (S. IV) formuliert, sie steht aber in einem historisch langfristigen und tief verankerten Interessenverbund mit denjenigen Schichten und Gruppen der Sprecher des Dt., die in der Bildung bzw. der Stärkung der Nation ihr vornehmstes politisches Interesse sehen. Insofern ist das Einheitsmodell der Sprachgeschichtsschreibung nur der Sonderfall der generellen Tatsache, daß „die Herstellung, Rechtfertigung, Erhaltung und Weiterentwicklung der nationalen Einheit“ die „Hauptaufgabe“ der jeweiligen Geschichtswissenschaft ist. „In allen Ländern ist diese eine so enge Verbindung mit der Nationalbewegung eingegangen, daß sie zur nationalen und politischen Wissenschaft par excellence wurde“ (Vierhaus 1974, 18). Von „Identitätsneutralität“ (im Sinne Assmanns 1992, 43) mag zwar als akademischer Idee, möglicherweise mit einem gewissen Umsetzungsanspruch, kaum aber als kultureller Praxis die Rede sein. Die Geschäftsgrundlage lautet vielmehr wie folgt: Die Gesellschaft erwartet von der Sprachgeschichte Unterstützung im nationalen Identifizierungsprozeß; sie fördert bzw. duldet ideologisch dem Ideal der Freiheit von Forschung und Lehre verpflichtete wissenschaftliche Einrichtungen und sichert diese Freiheit durch eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit, darunter durch den Anstellungsmodus der in ihnen arbeitenden Forscher. Dies geschieht genau so lange, wie die Forschungsergebnisse durch die ihnen zugeschriebene Objektivität gesellschaftliche Interessen zu legitimieren vermögen. Analog liegen die Erwartungen für den Schulbereich. Die Sprachgeschichtsschreibung erfüllt als Gegenleistung die an sie gestellten Erwartungen in allen Staaten mit deutschsprachiger Bevölkerungsmehrheit loyal bis aktiv (vgl. für die Geschichtsforschung unter diesem und anderen Aspekten die Dokumentation von Hardtwig 1990). 12.6.4. Im einzelnen bedarf dieses holzschnittartige Bild der Differenzierung. Diese hätte erstens nach relevanten geschichtsphilosophischen Ein-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
stellungen (Paul 1916 , 115 ff. in Ton und Inhalt anders als z. B. Hirt 1925), zweitens nach der Zeitlinie (also für die Epochen spätestens seit der Romantik), drittens nach der räumlichen und staatlichen Gliederung des dt. Sprachgebietes zu erfolgen.
13. Deutsche versus europäische Orientierung In der Sprachgeschichtsschreibung des Dt. sind unter dem Gesichtspunkt seines Verhältnisses zu anderen Sprachen zwei Denkmodelle zu unterscheiden. Das erste könnte man als das deutsche, idiographische, nationale, einzelsprachbezogene, das zweite als das eu ropäische oder kontaktbezogene bezeichnen. Die zur Kennzeichnung jedes der beiden Modelle verwendeten Attribute sind dabei nur partiell synonym; im folgenden wird je nach Argumentationszusammenhang einmal dieser, einmal jener Ausdruck gebraucht. Nach dem einzelsprachbezogenen Modell ist Sprachgeschichte die Entwicklung eines Systems von Verständigungsmitteln, das unter strukturellem Aspekt in jedem seiner angenommenen Ursprungs- und Entwicklungspunkte durch ein nur diesem System eigenes Inventar von Einheiten und Regeln und durch ebenfalls nur diesem System zukommende Gütequalitäten unterschiedlichster Art gekennzeichnet ist. Unter sprachsoziologischem Aspekt wird der Gedanke der Systemspezifik durch denjenigen eines von Sprachträgern vollzogenen, spezifischen Systemgebrauchs und Systembewußtseins ergänzt oder ersetzt. — Das in 12.6. beschriebene Einheitsmodell steht in innerer Affinität zu dem einzelsprachbezogenen Konzept von Sprachgeschichte. Nach dem Kontaktmodell wird Sprachgeschichte als Entwicklung begriffen, nach der sowohl die Einheiten wie die Regeln eines Systems zu jedem denkbaren Zeitpunkt Resultate des Kontaktes von Sprachbenutzern mit den Benutzern ähnlicher bis weitestgehend unterschiedlicher Verständigungsmittel sind. 13.1. Das deutsche Modell Die Verwirklichung der Idee einer einzelsprachbezogenen Sprachgeschichte hat Auswirkungen auf die Sicht der Systemgeschichte (13.1.1.) wie der Gebrauchsgeschichte (13.1.2.). 13.1.1. Als relevanteste Auswirkungen auf die Sicht der Systemgeschichte kommen die folgenden in Betracht: (1) Die dt. Sprache erfährt in Verbindung mit ihrer Beschreibung eine durchgehend positive Bewertung. Bevor man also überhaupt eine
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
sprachhistorische Aussage macht, wird die Güte des Gegenstandes festgelegt. Die Mittel, die dies zum Ausdruck bringen, sind vor allem lexikalischer Art. Historisch relativ konstant findet sich ein Wortfeld mit Anlage, Art, Eigenart, Eigentümlichkeit, Eigenständigkeit, Eigenwüchsigkeit, Geist, Wesen, Natu r;auf Einzelqualitäten zielende, teilweise terminologisierte Ausdrücke sind u. a. Alter, Deutlichkeit, Grundrichtigkeit, Reicht m, Reinheit. (2) Sprachgeschichtliche Einzelentwicklungen systemimmanenter Art, darunter Lautwandelerscheinungen, werden insbesondere im 19. und beginnenden 20. Jh. einer ebenfalls positiven Bewertung unterzogen. So erklärt J. Grimm, daß „unser ablaut [...] dadurch ganz etwas anderes [wird], dass sich aus ihm ein wunderbares, die flexion aller starken verbalwurzeln beherrschendes, und von da aus in alle theile der sprache strömendes gesetz entfaltete“ (1848, 293). Zur Lautverschiebung heißt es: „Dem instinct, mit welchem ihn [den durchbruch des alten lautdammes] der sprachgeist vollführte, kann man bewunderung nicht versagen. [...] in gewissem betracht erscheint mir das lautverschieben als eine barbarei und verwilderung, der sich andere ruhigere völker enthielten, die aber mit dem gewaltigen das mittelalter eröffnenden vorschritt und freiheitsdrang der Deutschen zusammenhängt [...]. bis in die innersten laute ihrer sprache strebten sie vorwärts“ (S. 417). (3) Im Gegensatz zu den in (1) und (2) genannten „deutschen“ Erscheinungen werden Entlehnungen teilweise zwar ebenfalls positiv, in ihrer Gesamtheit aber deutlich negativ, nämlich als Störungen idiographischer Systeme, bewertet und nur in dem Maße zugelassen, in dem vermeintliche Systemdefizite, vor allem die sog. Wortschatzlücken, bestehen oder in dem von einem fremden Sprachraum ausgehende sachoder kulturgeschichtliche Neuerungen übernommen und sprachlich in irgendeiner Weise gefaßt werden müssen. (4) Die negative Bewertung des Fremdeinflusses erfährt innerhalb der idealistischen Tradition der dt. Sprachwissenschaft durch folgenden Grundgedanken eine Verstärkung: Die Einzelsprache sei nicht nur ein System von Verständigungsmitteln mit symptomfunktionaler Identifizierungspotenz im Sinne der vorgetragenen Punkte (1) und (2), sondern gleichzeitig ein jeweils spezifisches System der Weltgliederung, das jedem Sprachteilhaber im Spracherwerb vermittelt werde und damit sein Weltbild mitbestimme. Das Fremdwort erscheint vor diesem Hintergrund als Einbruch in die Spezifik des Weltbildes; es stört die kognitive Identität der Angehörigen einer Sprachnation und ist damit gefährlicher als eine als bloße Übernahme von
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Ausdrucksseiten begriffene Entlehnung. (5) Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Relativierung nicht zu verhindernder fremdsprachiger Systemteile. Dies kann auf verschiedene Weise erfolgen: — nur beiläufige Erwähnung (z. B. Schildt 1976; KEDS 1983; Moskalskaja 1985; Schmidt 1993) — Betonung der Kurzfristigkeit vieler Entlehnungen nach folgendem Darstellungsstereotyp: „[...] sind bei weitem nicht alle frühdeutschen Lehnbildungen lebendig geblieben. Ein großer Teil ist noch in frühdeutscher Zeit wieder verschwunden“ (Moser 1957, 733; ähnlich 794) — ausdrückliche Kennzeichnung als Randerscheinung, und zwar sowohl hinsichtlich seines Umfangs wie hinsichtlich seiner Auswirkungen auf das Sprachsystem (Beispiele bei Hirt 1925, 183; Bach 1970, 40; 69; 126; 312; 420).
13.1.2. Die Auswirkungen des einzelsprachbezogenen Modells auf die Sicht der Gebrauchsgeschichte sind denjenigen auf die Sicht der Systemgeschichte analog. Sie sollen hier deshalb nur unter Beschränkung auf einen zentralen Punkt, nämlich die Domänenverteilung zwischen Deutsch und anderen Sprachen, behandelt werden. Wichtigste Bezugsverhältnisse sind dabei — die Kontakte zwischen Vordeutsch und Germanisch in den Jahrhunderten um und nach Christi Geburt — das Nebeneinander von Latein und Deutsch seit der Merowingerzeit bis mindestens ins 17. Jh. — die Rolle des Französischen in mhd./mnd. Zeit sowie im 17./18. Jh. — die Rolle des Englischen seit dem 19. Jh.
Die Beschreibung dieser Kontakte erfolgt teilweise neutral, in der Regel aber mit negativer Einstellung, oft mit dem Unterton eifernden Wachens über die Sicherung bzw. Gewinnung eines dem Dt. von Natur aus zustehenden Platzes innerhalb des Sprachenspektrums Europas. 13.1.2.1. Diese Grundhaltung gestaltet sich in der Verwirklichung nach folgenden inhaltlichen Argumentationslinien: — quantitative Dokumentation des Verhältnisses von deutschen zu anderssprachigen Texten; Muster: „Das Latein [...] behauptete sich [...] zunächst zäh. Erst im Jahre 1681 [...] übersteigt die Zahl der in dt. Sprache gedruckten Bücher die in lat. um ein Geringes, seit 1692 dauernd“ (Tschirch 1969, 244). — Herausarbeitung genereller, höchstens kurzfristig unterbrochener geradliniger Entwicklungen, an deren Anfang jeweils die schreib- oder bildungssprachliche Dominanz einer Fremdsprache über das Dt. und an deren Ende der ausschließliche Gebrauch des Dt. in allen Textsorten (Omnivalenz)
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steht; Muster: „Das Deutsche erweitert seine soziologische Geltung in gewaltigem Maße“ (Moser 1957, 792). — Belegung einer derartigen Entwicklungslinie für einige besonders aufmerksam beachtete Einzelbereiche, darunter für die kirchliche Gebrauchsliteratur, für die deutschsprachige Urkunde und andere Geschäftstexte im Mittelalter, für die Produkte des Buchdrucks seit der Mitte des 15. Jhs., für einzelne Fächer wie die Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft in der älteren Neuzeit (Muster oben unter dem ersten Spiegelstrich).
Sprachlich wird all dies durch eine allgemein übliche Konstellation von Adverbien gestützt: noch; zu nächst [...]; noch lange, bis/ehe [...]; am längsten; schon; erst; schließlich. 13.1.2.2. Auf diese Weise entsteht das Bild einer letztlich auf der ontologischen Realität der Einzelsprachen beruhenden geschichtlichen Logik, das grundsätzliche Weichenstellungen (je nach Sicht: die Möglichkeiten oder die Gefahren) der Geschichte des Dt. nicht einmal als Denkmöglichkeit offenhält. Zu den systematisch verdeckten potentiellen Zuständen gehören z. B. (1) eine Situation, in der das Dt. aufgrund der größeren geographischen Reichweite, der längeren, bis in die Antike reichenden literarischen und bildungssprachlichen Tradition, der besonderen sprachpolitischen Stellung einer anderen Sprache (am ehesten des Lateins, im 17./18. Jh. des Französischen) überhaupt nicht mehr oder nur noch relikthaft gebraucht wird und dann wie z. B. viele kelt. Sprachen der ersten Jahrtausendhälfte unserer Zeitrechnung oder in der Neuzeit das Irische untergeht. Gegenüber dem heutigen Engl. dagegen wird eine solche Entwicklungsmöglichkeit verbreitet antizipiert. (2) ein Zustand, in dem zwischen der Nationalsprache und einer europ. oder mondialen Sprachenklammer (z. B. Lat., Frz., Engl.; in Osteuropa: Russ.) eine längerfristig eingespielte Domänenverteilung, etwa ‘geschrieben Lat. oder Engl./gesprochen Dt.’ oder ‘fachsprachlich geschrieben wie gesprochen z. B. Engl./gemeinsprachlich Dt.’ besteht. 13.1.3. Das „deutsche“ Modell der Sprachgeschichtsschreibung weist abgesehen davon, daß es in Konflikt mit einer ganzen Anzahl zweifelsfreier Fakten steht, die nach dem europ. Modell besser beschrieben werden können, eine schwerwiegende Inkonsequenz auf: Es müßte bei konsequenter Anwendung ausnahmslos jede Beeinflussung des Dt. durch andere Sprachen als Störung seines Eigencharakters verstehen und dann gerade diejenigen Einflüsse ablehnen, die — nicht nur das Inventar, sondern das Sprachsystem,
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
— und nicht nur die Ausdrucksseite, sondern die Inhaltsseite betreffen. Unter diesem Aspekt würden die Sternstunden der europ. Geschichte des Germ./ Dt., darunter der gesamte Komplex der lat. Beeinflussung des Germ. in den Jahrhunderten um und nach Christi Geburt und in der Merowingerzeit, das ganze Kontaktfeld von „Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache“ in ahd. Zeit, die langfristigen lexikalischen, darunter semantischen, wortbildungsmorphologischen und syntaktischen Einflüsse des antiken und mittelalterlichen Lateins auf das Dt., auch die Rolle des Frz. in der Blütezeit des Rittertums, in ähnlicher Weise einer negativen Bewertung unterzogen werden, wie dies z. B. für den frz. Einfluß des 17./18. Jhs. üblicherweise getan wird. Letztlich stände die Beschreibung des Dt. als einer europ. Sprache auf dem Spiel. 13.1.3.1. Diese Konsequenz läßt sich aus dem Wertwortschatz der Sprachgeschichten, aus den vorkommenden Wiederholungen, aus unausgesprochenen Prämissen ebenso wie aus offen auktorialen Urteilen für eine ganze Reihe von Darstellungen nachweisen: So erklärt A. Bach nach der allgemeinen Feststellung, daß „die genealogische Sprachverwandtschaft [...] durch die kulturelle durchkreuzt“ werde (1970, 39), dies brauche „keine Minderung der Kraft einer Sprache zu bedeuten“, wie bereits Goethe gewußt habe. Weder die genannte Erklärung noch der Bezug auf eine Autorität wären notwendig gewesen, wenn die assoziative Verbindung von Fremdeinfluß und Störung der Spezifik (bei Bach: „die dauernde Spannung zwischen eigenständiger Entwicklung und Beeinflussung von seiten anderer Sprachen“) nicht als argumentative Konstante unterstellt worden wäre. Auch die Verwendung von Verben wie antasten in Verbindung mit der Diskussion lat. Einflusses auf das Dt. oder die wiederholte ausdrückliche Feststellung, daß von einer Romanisieru ng des Dt. durch das Gallorom. und spätere Frz. nicht die Rede sein könne, weisen in diese Richtung; erst recht zeigt sich die latente Betroffenheit des Sprachhistorikers vor systemrelevantem Fremdeinfluß in positiv gemeinten Setzungen, so etwa im Ansatz eines „Germ[anischen] als geistige[r] Gestaltung“ oder in der Annahme eines sprachgestaltend wirkenden Krieger- oder Reckengeistes gegenüber dem Anhau ch des Hellenismu s oder gegenüber der Christianisierung (Bach 1970, 10; 69). 13.1.3.2. Obwohl Haltungen der gekennzeichneten Art eine gewisse Verbreitung haben, werden die ihnen immanenten argumentativen Möglichkeiten im allgemeinen auch von den Vertretern des deutschen Modells nicht zu einem logisch
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
konsequenten Urteil (also: Systembeeinflussung schlimmer als Inventarübernahmen; inhaltsseitige Übernahmen schlimmer als ausdrucksseitige) genutzt. Auch wenn man davon ausgeht, daß hier nur eine Chance verpaßt wurde, weil die linguistischen Erkenntnismöglichkeiten, die die jeweilige Zeit parat hielt, nicht immer hinreichend beherrscht wurden, so ist das Gesamtbild aufgrund folgender Unterscheidungen doch differenzierter; die Urteile lauten: — Die ältere Entlehnung ist das geringere Übel als die jüngere. — Die Entlehnung aus den unbestrittenen Bildungssprachen Latein und Griechisch ist das geringere Übel als diejenige aus Nachbarsprachen. — Die Entlehnung aus südlichen, westlichen und nördlichen Nachbarsprachen ist, obwohl ein Übel, dennoch erträglicher als diejenige aus den östlichen. — Die Entlehnung aus kleineren Sprachen ist gegenüber derjenigen aus größeren (durch politische Hegemonien gestützten) Sprachen das geringere Übel. — Die Entlehnung in fachliche Varietäten ist mit teilweise anderen Maßstäben zu messen als diejenige in die Gemeinsprache. — Für Entlehnungen aus einigen Nachbarsprachen (vor allem dem Niederländischen, dem Friesischen und dem Ungarischen) und aus weiter entfernt liegenden Sprachen (z. B. Arabisch, Neue Welt) gelten aus Gründen besonderer genetischer Verwandtschaft (Nl., Fries.) oder des Interesses am vermeintlich Exotischen besondere Beurteilungsmaßstäbe.
13.1.3.3. Die Möglichkeit, diese Unterscheidungen miteinander zu kombinieren, läßt für die einzelne Lehnübernahme eine Bewertungsskala von ‘positiv’ bis ‘strikt negativ’, dazwischen jeden beliebigen Grad der Abwägung zu. Die größte Chance auf positive Bewertung haben alteurop. Beziehungen des Germ. mit dem Kelt. sowie vordt. und ahd. Entlehnungen aus dem Lat., die geringste solche aus dem Frz. des 17. Jhs. oder aus dem Poln., Russ. der Gegenwart. — Dies soll anhand einiger typischer Kennzeichnungen stichwortartig belegt werden: Besondere Innigkeit der Beziehungen zwischen Keltisch und Germanisch (Bach 1970, 50), Einwirku ng der lat. Sprache auf das Wgerm. der 1. Jahrtausendhälfte (ebd. 6 9), bedeu tende Schicht vorahd. Entlehnungen (Moskalskaja 1985, 75), Intensität lat.-dt. Sprach- und Kulturberührung in ahd. Zeit (Eggers 196 3, 97; 110), „Einordnung des dt. Lebensraumes in den Kulturkreis der röm. Kirche“ in ahd. Zeit mit entsprechend tiefer Auswirkung auf die Sprache (Bach 1970, 145), Bereicheru ng des Ahd. durch Übernahme aus dem Lat., aber doch schon Provozieru ng von Suffixen durch lat. Vorbild (Eggers 196 3, 87; 91), Einwirku ngen des Prov. und Frz. im 12. Jh. bzw. Abhängigkeit des Dt. vom Frz.
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im Hochmittelalter (Moser 1957, 772 f.; Bach 1970, 191), Schwall frz. Wörter aber bereits in dieser Zeit (Bach 1970, 223), verhängnisvoller Einfluß des Lat. und Überfremdu ng im 15./16 . Jh., Schu ld an Fremdwörtern bei den Humanisten (Schwarz 196 7, 79), Schu ld der Bildungsverhältnisse an lat. Fremdwörtern (Hirt 1925, 185), Schu ld des Handels sowie von Truppen u nd Abenteu rern an Entlehnungen aus dem Ital. (279; 309) bei Anerkennung der hervorragenden Bedeu tu ng dieser Sprache für die Fachsprache der Musik (310), Au sbau der Fachwortschätze auch durch Fremdwörter im 17. Jh. (Schildt 1976 , 142), Beisteuerung von Fachbezeichnu ngen du rch die eu rop. Hau ptsprachen (Wells 1990, 291), Fremdwortproblem, modischer Fremdwörterku lt, Fremdländerei im 17. Jh. (Schwarz 196 7, 94; 140; Langen 1957, 931 f.), Überflu tu ng, Überfremdu ng, Überschwemmu ng durch das Frz. mit Gefahr der Verwelschu ng oder Erstickung des Dt. (Langen 1957, 937; Schwarz 196 7, 140; Tschirch 196 9, 244 f.; 248; Bach 1970, 313; 325; Schildt 1976 , 142), Bereicheru ng durch die Neue Welt (Schwarz 1967, 142).
13.1.3.4. Die Kehrseite der Reserve des deutschen Modells gegen Entlehnungen in die eigene Sprache und damit ebenfalls ein Ausdruck seiner inneren Inkonsequenz ist die positive Behandlung der vom Dt. ausgehenden Beeinflussung der Nachbarsprachen: Schon das Germ. ist nicht nur Zielraum von Strahlkräften aus dem Westen und Süden (Bach 1970, 6 89), sondern besitzt selbst sprachliche und kulturelle Expansionskraft (Eggers 196 3, 99), ist Ausgangspunkt kräftiger Au sstrahlu ng (Moser 1957, 729), „Kraftzentrum [...], das kulturelle und damit sprachliche Strahlungen auszusenden vermag“ (Bach 1970, 75). Von diesen werden diejenigen auf die Unterschicht des späten Römerreiches, auf das Ostseefinnische, das Altslavische und Altbaltische sowie auf die mittelalterlichen wslav. Gebiete (hier als Eindeu tschu ng: Bach 1970, 170) besonders hervorgehoben. Für die anschließende dt. Sprachgeschichte wird ein mit entsprechenden Metaphern arbeitendes Bild gezeichnet, das das tatsächlich vorhandene kulturelle Gefälle von Westen nach Osten und von Süden nach Norden zur Leitlinie der Argumentation macht. 13.2. Das europäische Modell Das europ. Modell hat in der Sprachgeschichtsschreibung des Dt. wie in der germanistischen Linguistik überhaupt eine deutlich geringere Anwendung erfahren als das einzelsprachbezogene Modell. Zwar finden sich in vielen Sprachgeschichten Darstellungsteile, in denen die äußere Kontaktgeschichte des dt. Wortschatzes ausführlich, teilweise in eigenen Abschnitten (z. B. bei Keller 1986 ; Wells 1990, hier etwa S. 284 ff.), außerdem unter Vermeidung negativer oder gar unter Vollzug positiver Wertungen behandelt
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wird; die objektbezogene Vorstellung aber, das gesamte sprachliche Inventar (und zwar einschließlich seiner Inhaltsseite) wie das System als ganzes grundsätzlich unter Gesichtspunkte des Sprachenkontaktes zu stellen, fehlt bis auf Ausnahmen weitestgehend. Dementsprechend fehlt auch ein sprachtheoretisches und methodisches Konzept, mit Hilfe welcher vorgängiger Annahmen über Sprache und mit Hilfe welcher konkreter Arbeitsschritte welche Entwicklungen der Sprachstruktur, des Sprachgebrauchs und des Sprachbewußtseins besser durch eine europäisch orientierte als durch eine einzelsprachbezogene Sprachgeschichtsforschung beschrieben werden können. 13.2.1. Zu den erwähnten Ausnahmen zählt im engeren germanistischen Bereich die lexikologische Lehnforschung, wie sie von W. Betz begründet und von ihm und seinen Schülern an einer Fülle von Beispielen vorgeführt worden ist (vgl. zusammenfassend Betz 1974). Unter den Sprachgeschichten bietet diejenige von Peter von Polenz die konsequenteste Orientierung auf die europ. Kontakte des Dt. Innerhalb der Geschichtswissenschaft ist die von ihren Vertretern als Begriffsgeschichte bezeichnete Bedeutungsgeschichte zu nennen (vgl. Koselleck 1978). — Vorliegendes Handbuch unternimmt in den Kapiteln VI (Die genealogische u nd typologische Einordnu ng des Deu tschen) und VII (Aspekte einer eu ropäischen Sprachgeschichte) den Versuch, den Gegenstand ‘Deutsche Sprachgeschichte’ als einen europäischen zu konstituieren und die Gewinnung von Gesichtspunkten zur Behandlung des Gegenstandes als eine die nationalen Philologien übergreifende Aufgabe vorzustellen. 13.2.2. Im folgenden soll eine kurze Theorieskizze einer europäisch orientierten Sprachgeschichte des Dt. entworfen und anhand lexikalischer Beispiele etwas ausdifferenziert und veranschaulicht werden. 13.2.2.1. Ausgangspunkt der Skizze ist der Ansatz einer für alle (auch die nichtidg.) Sprachvölker dieses Raumes gültigen kulturgeschichtlichen Einheit ‘Europa’. Den Gemeinsamkeiten der Kulturgeschichte dieses Raumes entsprechen (nach der Arbeitshypothese) Gemeinsamkeiten der Sprachgeschichte. Zur näheren Prüfung hinsichtlich ihrer europ. Zusammenhänge kommen struktur-, gebrauchs- und bewußtseinsgeschichtliche Entwicklungen in Betracht. Für die Strukturgeschichte könnten dies sein (in Anlehnung an Munske und Schmitt, jeweils 1995): Lautentwicklungen aller Art, inhaltliche Angleichungen einzelsprachlicher Wortschätze, die Entwicklung
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
der Artikelsysteme, der Ausbau der Satz- und Satzgliedkomplexität, des Konjunktionalsystems, der Wortbildung, der Textstrukturen. — Einzelsprachenübergreifende gebrauchssprachliche Entwicklungen wären das Verhältnis zwischen Lat. bzw. Griech., später Frz., neuerdings Engl. zu den Volks- bzw. Nationalsprachen, die Entwicklung unizentrischer Hochsprachen aus einem plurizentrischen Feld geographischer und sozialer Schreibvarianten, die orthographische Vereinheitlichung, der Purismus, die Geschichte des Verhältnisses der Varietäten (insbesondere von Hochsprache, Mundarten und Fachsprachen), die besondere Rolle der geschriebenen Sprache, der Literatur, der Spracherziehung durch die Bildungsinstanzen. — Im Bereich der Geschichte des Sprachbewußtseins sind all diejenigen Reflexionen auf ihren europ. Hintergrund zu prüfen, die Sprachen unter theologischen (dazu z. B. Klein 1992; Ebbesen 1995), erkenntniskritischen (z. B. Sprache als Erkenntnismittel sui generis oder bloßes Kodierungsinstrument), fachlich-darstellungsfunktionalen, nationenkonstitutiven, sozialdistinktiven usw. Aspekten betrachten und die damit Einfluß auf die Sprachgebrauchs- sowie möglicherweise auf die Strukturgeschichte nehmen. — Bei der Begründung der Europäisierung erhalten bisher vernachlässigte Gesichtspunkte ein besonderes Gewicht, mindestens — die Sprachklammern (Lat., Griech.), Prestigesprachen (Frz. im 17. und 18. Jh.), linguae francae (z. B. Dt. im Ostseeraum und im früheren Ost- und Ostmitteleuropa), die Weltsprache Englisch — europ. Texttraditionen mit der Folge intensiver Zusammenarbeit von Sprachhistorikern mit den Vertretern anderer traditionssichernder Disziplinen (Theologen, Historikern, Philosophen, Rechtsgeschichtlern, Literaturwissenschaftlern, Fachhistorikern aller Einzelwissenschaften) — die europ. Bildungssoziologie — die Lesefähigkeit; Lese-, Schulbuch-, Fachtexttraditionen — die innereurop. Übersetzungstätigkeit.
13.2.3. Speziell im lexikalischen Bereich haben die Internationalismen seit jeher (auch im Zusammenhang mit dem Purismus) eine erhöhte Beachtung erfahren (zuletzt in Eurolatein 196 6 ). Geringer gewichtet wurden die Europhraseologismen und trotz der bahnbrechenden Leistung von W. Betz die Lehnformung (= Lehnübersetzung und Lehnübertragung) und die Bedeutungsentlehnung. Die geringe Gewichtung verstärkend kommt hinzu, daß die auf die letztgenannten beiden Erscheinungen gerichteten Bemühungen mit einer isolationistischen Grundhaltung betrieben wurden: Sie waren auf den Nachweis immer noch einer weiteren Einzelent-
1. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung
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lehnung aus einer möglichst genau anzugebenden Vorlage konzentriert. Die Wortbildungs- und Sprachinhaltssysteme der einzelnen Sprachen, die gleichgerichtete Polysemierungen (z. B. Metaphorisierungen, Spezialisierungen) auch ohne direkte Vorlage zulassen, blieben dabei im Hintergrund.
gesamt aber sehr weitgehend entsprechen. Einen ähnlichen Befund liefert die vergleichende Betrachtung vieler anderer Ausdrücke. Daraus sind folgende Beobachtungen, Interpretationen und Folgerungen von besonderem Belang: (1) Die ein semasiologisches Feld konstituierenden assoziativen Beziehungen, darunter Metaphern, Metonymien, fachliche Spezialisierungen, sind keine einzelsprachliche, sondern eine zu großen Teilen europ. Erscheinung. Es gibt also so etwas wie eine nur aus den Gemeinsamkeiten der Kulturgeschichte verstehbare europ. Assoziations- oder Bildgemeinschaft. (Unpublizierte und methodisch sicherlich vorläufige) Kontrolluntersuchungen an nicht europ. Sprachen haben bestätigt, daß der Grad der inhaltlichen Gemeinsamkeiten, insbesondere derjenigen, die auf Metaphorisierung beruhen, mit dem Grad der kulturellen Distanz sinkt. (2) Die genetischen Differenzen zwischen den europ. Sprachen, also z. B. zwischen denjenigen der germ., rom. und slav. Sprachgruppe oder den Sprachen dieser Gruppen und dem Ung., sind unter semantischem Gesichtspunkt irrelevant. (3) Die etymologischen Zusammenhänge zwischen den Heteronymen einer genetischen Sprachgruppe, z. B. von dt. Hau s, nl. hu is, engl. hou se, sind ebenfalls semantikirrelevant.
13.2.4. Die Kluft zwischen dem objektsprachlichen Ausmaß inhaltsseitiger lexikalischer Gemeinsamkeiten und ihrer wissenschaftlichen Beachtung ist besonders ausgeprägt. Deshalb soll der lexikalisch-semantische Europäismus, d. h. die hochgradige Übereinstimmung der semasiologischen Felder ausdrucksseitig unterschiedlicher Wörter europ. Sprachen, hier kurz belegt werden (im Sinne von Reichmann 1991 und 1993). Als Beispiel fungiert das dt. Wort Hau s. Dieses hat nach Duden 1993 die aus der linken Spalte von Abb. 1.2. ersichtlichen Bedeutungen. Die engl., nl., frz., ital., port., ung., schwed., tschech. und russ. Heteronyme von Hau s weisen jeweils semasiologische Felder auf, die denjenigen des dt. Ausdrucks in unterschiedlichem Grade, ins-
→ Wort/Sprache Signifikate ↓ 1.‚Gebäude zum Wohnen‘ 2.‚Gebäude für andere Zwecke‘ 3.‚Wohnung, Heim‘ 4.‚Gesamtheit der Hausbewohner‘ 5.‚Personen eines Gebäudes, Parlament, Publ., Firma‘ 6. ‚Familie‘ 7.‚Haushalt, Wirtschaft‘ 8.‚Dynastie‘ 9.‚Schneckengehäuse‘ 10.‚von Personen‘ 11.‚Tierkreiszeichen‘ 12.‚Abschnitt [...]‘
dt.
engl.
nl.
franz.
Haus
house
huis
maison
×
×
×
×
×
×
×
×
×
× ×
(×) ×
× ×
×
×
× × × × × × ×
× × × × (×) ×
ital.
port. ung. schwed. tschech. russ. ház
hus
dům
dom
×
×
×
×
×
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×
×
×
×
× ×
× ×
× ×
× ×
× ×
× ×
× ×
×
(×)
×
×
×
×
(×)
(×)
× (×) × (×)
× × ×
× × ×
× × ×
× × ×
× ×
× [...]
× × × [...]
× × × × × × × [...]
× [...]
× [...]
casa casa
Abb. 1.2: Das Bedeutungsspektrum einiger europäischer Entsprechungen von dt. HausLegende: × = als gleich beurteilte Einzelbedeutung; (×) = als ähnlich beurteilte Einzelbe- deutung; [...] weitere, hier nicht verzeichnete Einzelbedeutungen der Haus-Wörter (aus: Reichmann 1991)
×
× ×
36
(4) Verfachlichungen von Wortbedeutungen (vgl. die Bedeutungspositionen 11 und 12 in der Abb.) vollziehen sich in einem europ. Rahmen.
Gemeinsamkeiten der vorgeführten Art sind von kaum zu überschätzender Bedeutung für die kulturelle Praxis, darunter für die Textübersetzung, für die Festlegung des Kanons von Schulsprachen und schulischen Bildungsgegenständen, für die innere Angleichung von Fachwortschätzen, für die Textübersetzung und die Übersetzungswissenschaft. 13.2.5. Die Sprachgeschichtsschreibung des Dt. (und anderer Sprachen) steht vor der Entscheidung, welcher Idee sie folgen, d. h. wie sie sich sprach- und geschichtsideologisch begreifen, gesellschaftlich rechtfertigen und dadurch bei der Kulturbildung mitwirken soll. Zwei Ideen (sowie Kompromisse zwischen beiden) stehen als Möglichkeiten zur Debatte: — eine letztlich nationale Ausrichtung entsprechend der Auffassung, daß Sprachgeschichte der „Verkettung von Sprache und Nation“ trotz vielfältiger möglicher Einwände gegen diese These niemals „völlig entraten könnte“ (Sonderegger 1988, 398). Dabei würden das Sprachsystem der jeweils betrachteten Einzelsprache (einschließlich ihres Inventars) wie die immer einmaligen systemexternen Gegebenheiten ihrer Geschichte den eigentlichen Mittelpunkt der Behandlung bilden; Sprachkontakte würden unter Gesichtspunkten wie ‘Angleichung’, ‘Adaptation’, ‘Eindeutschung’ (jeweils des Fremden), ‘Bereicherung’, ‘Verteidigung von Domänen’ als Besonderheiten einbezogen werden können. — eine Ausrichtung, die die Geschichte der Einzelsprache unter systembezogenen wie unter systemexternen Aspekten als integralen Teil einer Ganzheit ‘europ. Sprachgeschichte’ versteht; man könnte sie als „entnationalisierte Sprachgeschichtsschreibung“ (Sonderegger 1988, 399) bezeichnen; ihr vorwiegender Gegenstand wären die Gemeinsamkeiten des Inventars und des Systems aller europ. Sprachen sowie die Analogien ihrer Geschichte, also z. B. die Christianisierung des Wortschatzes oder die frühneuzeitlichen Standardisierungen; sprachliche Nationalismen (hier als Gegensatz zu Europäismen verstanden) würden als Besonderheiten einbezogen werden können. — eine Ausrichtung, die mit unterschiedlichen Gewichtungen im einzelnen zwischen der sprachnational orientierten und der entnationalisierten Sprachgeschichtsschreibung vermittelt.
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
Die Entscheidung der Ideologiefrage ist die Voraussetzung für die Lösung der schwerwiegenden Sach-, Methoden- und Theorieprobleme, die sich einer Europäisierung der Sprachgeschichte stellen. Dabei ist hinsichtlich des Dt. wie einer Vielzahl anderer Sprachen vorauszusehen, daß die Auflösung der jahrhundertelang bestehenden Symbiose von einerseits nationalem Gedanken und andererseits Sprachgeschichtsschreibung und Sprachpädagogik diese beiden Bereiche kultureller Tätigkeit ihrer ideologischen Grundlage berauben würde. Da kulturelle Tätigkeit ohne Ideologie aber nicht existiert, bedeutet dies entweder den Abbau institutionalisierter Bemühungen um Sprachgeschichte an Schulen und Universitäten oder eine fundamental neue Orientierung an einer obersten Idee. Eine solche Orientierung ist mit der Findung interessanter Themen wie dem Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, dem Verhältnis von Sprache und Herrschaft, mit dem Angehen gesamteuropäischer kommunikativer Probleme (darunter der anzustrebenden Rolle von Fachsprachen) oder mit dem Wiederaufgriff von Ideologemen wie denjenigen des Entwicklungsmodells (vgl. 12.5.) nicht geleistet; letzteres etwa erlaubt Sinngebung, nicht aber Identifizierungen. Die gemeinte Orientierung stellt vielmehr eine noch kaum diskutierte, teilweise nicht einmal erkannte Aufgabe von letzter Grundsätzlichkeit und mit einer Fülle kulturpolitischer Konsequenzen dar. Sich angesichts dieser Aufgabe nicht zu verhalten, wäre der Verzicht auf Sprachgeschichte als Leitwissenschaft.
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2. Deutsche Sprache und Gesellschaft in historischer Sicht
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Oskar Reichmann, Heidelberg
Deutsche Sprache und Gesellschaft in historischer Sicht Polysemie von -gesellschaft-/-sozi(al)Sozialgeschichte Sprachgeschichtsschreibung: Einseitigkeiten und Desiderate Theoretisches Neuere Forschungsarbeiten Literatur (in Auswahl)
Polysemie von -gesellschaft-/-sozi(al)-
1.1. Das Stichwort Gesellschaft muß, mit seiner Lehnvariante -sozi(al)-, begrifflich differenziert werden nach mindestens folgenden hier relevanten referenziellen Bedeutungen (vgl. Grimm 1854—196 3, Bd. 5, 4050 ff.; Deutsches Fremdwörterbuch 1913—88, Bd. 4, 287 ff.; Geschichtliche Grundbegriffe 1972—92, Bd. 2, 719 ff., 801 ff.; Bd. 5, 997 ff.): ‘die gesamte Menschheit bzw. überstaatliche Gruppensysteme betreffend’ (ciceronianisch-aufklärerischer anthropologisch-soziologischer Begriff), z. B. in: menschliche/bürgerliche Gesellschaft, gesellschaftlicher Nu tzen, soziales Lebewesen, Sozialverhalten, [...]. ‘die Gesamtheit der zu einem staatlichen Gebilde gehörigen oder auf ihn bezogenen Gruppen und Institutionen betreffend’ (politischer Begriff seit der Französischen Revolution), z. B. in: gesellschaftliche Verantwortu ng, soziale Marktwirtschaft, sozial verträglich, Sozialprodukt/-partner, (re)sozialisieren, [...]. ‘eine herrschende, privilegierte, begüterte, einflußreiche Oberschicht betreffend’ (altständisch-spätfeudal-großbürgerlicher Begriff), z. B. in: zu r Gesellschaft gehören, gesellschaftliche Gewandtheit, gesellschaftsfähig, Gesellschaftsroman, Sozialprestige, [...].
‘den beherrschten, nichtprivilegierten, ärmeren, einflußlosen Teil einer Gesamtgesellschaft (nach 1.3.) betreffend’ (sozialpolitischer Begriff seit Industrialisierung und Arbeiterbewegung), z. B. in: sozial(e/es) Frage/Härten/Netz, Sozialpolitik, -hilfe, [...]. ‘einen freiwilligen, kooperativen, exklusiven Zusammenschluß von spezifisch qualifizierten Personen betreffend’ (korporativer Begriff seit Späthumanismus und Aufklärung), z. B. in: eine Gesellschaft gründen, geschlossene Gesellschaft, Reisegesellschaft, Sozietät, Sozius, assoziieren, [...]. ‘das unorganisierte, private Zusammenleben von Menschen betreffend’ (z. T. auch mit Geselligkeit bezeichnet), z. B. in: jemandem Gesellschaft leisten, Gesellschaftsspiel/-müdigkeit; Sozialtherapie, [...].
2.
Sozialgeschichte
2.1. Sprachgeschichte hat — ähnlich wie Literatur-, Kunst- oder Musikgeschichte — ihre Aufgaben in einem weiteren, sozialhistorischen Rahmen. Sie ist sogar ein zentraler Bestandteil von Sozialgeschichte, vergleichbar der Rechtsgeschichte oder Mediengeschichte, da Sprache für Aufbau, Erhaltung und Veränderung von Gesellschaftsstrukturen und gesellschaftliche Tätigkeiten konstitutiv ist. Dies gilt besonders für Epochen, in denen diese immer weniger von religiösen Ritualen, Erbfolgen oder Kriegführung, dafür mehr von sprachlicher Kommunikation determiniert werden, z. B. durch marktorientierte Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Volksbildung, Öffentlichkeit, also in höherem Maße für die Neuzeit als für Frühzeit und Mittelalter. —
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Zum Mittelalter s. Bumke 1986; Höfische Literatur [...] 1986 ; Schieb 1980; Wenzel 1995; vgl. auch die Art. 71; 79; 88; 99; 110; 124. 2.2. Nach Kocka (1989, 2 f.) ist zu unterscheiden zwischen Sozialgeschichte als umfassender sozialhistorischer Betrachtungsweise der allgemeinen Geschichte, als „Gesellschaftsgeschichte“ einerseits, in der man die Geschichte einer traditionell etablierten Großgruppe im Sinne von 1.3. (z. B. Nation) über die frühere, einseitig auf Eliten und große Staatsereignisse beschränkte Perspektive hinaus sozialgeschichtlich differenzierter, synthesehaft neu darstellt und erklärt (z. B. Bosl 1972; Wehler 1987/95; Bruckmüller 1985), und Sozialgeschichte als Sektorwissenschaft andererseits, in der man sich mit historischen Strukturen und Prozessen bestimmter sozialer Teilgruppen und Institutionen beschäftigt, entsprechend den Spezialisierungen der Soziologie. Sektoriale Sozialgeschichte wird öfters auch wissenschaftskritisch und sozialpolitisch engagiert als Desideraten-Programm im Sinne von 1.5. verstanden, für Forschungsgegenstände, die bei der traditionellen Konzentrierung oder Beschränkung der Geschichtswissenschaft auf politische Staatsgeschichte und Geschichte der jeweils Mächtigen und Etablierten (s. 1.3.; 1.4.) vernachlässigt worden sind, z. B. die Geschichte der Bauern, der Industriearbeiter, der Frauen, der Alphabetisierung in der Bevölkerung, usw.
2.3. Abgesehen von Mediävistik, Lokal- und Regionalgeschichte, wo sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Aspekte immer eine wichtige Rolle spielten, wurde das Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Deutschland im ausgehenden 19. Jh. begründet, in Österreich in den 20er Jahren, z. T. gegen die etablierten Universitätshistoriker (Kocka 1989, 9 ff.; Ehmer/Müller 1989, 111). Umfassende Darstellungen dieser Art sind Bosl 1973/
85; Engelsing 1976; Kellenbenz 1976; Lütge 1966; Treue 1986 ; 1989. Nach dem Ende nationalistischer und ‘völkischer’ Behinderungen bzw. Pervertierungen wurde die Neuorientierung der Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich von westeuropäischen und US-amerikanischen Ansätzen aus Soziologie, Sozialpsychologie, Anthropologie, Ethnologie angeregt, teilweise auch mit Anknüpfung an das universalhistorische Denken Max Webers oder Karl Lamprechts oder an die alltagsgeschichtlichen Forschungen der Austromarxisten. Anstöße und Schulenbildung gingen besonders aus von Otto Brunner, Theodor Schieder, Hans Rosenberg, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka, Gerhard A. Ritter, Michael Mitterauer. (Lit. s. bei Ritter 1989, 37 ff.; Ehmer/Müller 1989, 113 ff.; zur ehem. DDR s. Handke 1989).
Neue und aktualisierte Themen dieser (teils „kri-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
tische Sozialgeschichte“ genannten) Historikerbewegung sind: Modernisierung, Säkularisierung, Urbanisierung, Industrialisierung, Mobilität, soziale Bewegungen, Vereinswesen, politisch-soziale Begriffsgeschichte, Mentalitätsgeschichte, usw. Diese integrative Belebung der Sozialgeschichte und ihre Anwendung auf die politische Geschichte forcierte nach dem Ende der restaurativen Nachkriegsphase auch die engagierte Zeitgeschichte vor allem in der kontroversen Diskussion über den zu Wilhelminismus und Hitlerismus hinführenden „Sonderweg“ Deutschlands im Rahmen der europäischen Geschichte, wobei auch sozialgeschichtliche Themen wie Junkertum, Bürgertum, Beamtentum, Juristen, Professoren, jüdische Deutsche, Antisemitismus eine Rolle spielen (Ritter 1989, 52 ff.). Ein von der 196 8er Studentenbewegung angeregtes Prinzip kam hinzu: Das ‘Hinterfragen’ traditionell unreflektierter politischer, gesellschaftlicher und kultureller Macht- und Einflußpositionen nach sozialökonomischen und ideologischen Motiven und Interessen. 2.4. Sozialgeschichte als ‘Sektorwissenschaft’ emanzipierte sich von der traditionellen Bindung an Wirtschaftsgeschichte, Nationalökonomie und Politikwissenschaft und begab sich in die — meist nicht mehr empirisch-quantifizierend, sondern nur noch in exemplarischen und/oder narrativen Fallstudien erforschbaren — mikrosozialen Niederungen der Alltagsgeschichte im Sinne von 1.5.—1.7. (Alltagsgeschichte [...] 1989; Geschichte im [...] 1982; Geschichte von [...] 1984, Kuczynski 1981; Mirow 1990; Glaser 1994; vgl. auch Art. 9): Aus der Perspektive der von Politik und Wirtschaft ‘Betroffenen’ (im Sinne von 1.5.) versucht man dabei mit bisher wenig genutzten Quellengattungen (Memoiren, Tagebüchern, Briefen, Bittschriften, Gerichtsund Visitationsprotokollen, Befragungen von Veteranen usw.) etwas über historische soziale Zustände in Familien, Wohnungen, Betrieben, Vereinen, bürokratischen Institutionen, im Kleingewerbe, über das Leben von Dienstboten, Bauern, ländlichen Händlern, Angestellten, Frauen, Kleinbürgern, Bildungsbürgern, über Ernährung, Krankheiten, Kleidung, Freizeit, Feste usw. herauszubekommen, vor allem auch subjektive Erfahrungen und Denkweisen „von unten und von innen“ im Sinne der „oral history“ der Soziologen (Lit. s. bei Ritter 1989, 58 ff.; Ehmer/-Müller 1989, 134 ff.).
Diese Richtung ist politisch-pädagogisch, zivilisations- und wissenschaftskritisch motiviert von der Hochschulreform, Schulreform und Studentenbewegung um 1970; sie hat interessante neue Details zutagegefördert und unkonventionelle Fragestellungen und Erklärungsweisen in die Diskussion gebracht, ist aber methodologisch umstritten (Ritter 1989, 61 ff.): Es besteht die Ge-
2. Deutsche Sprache und Gesellschaft in historischer Sicht
fahr, daß Historiker in die „Rolle von Enthüllern und Anklägern“ geraten, voreilig ohne genügend Theoriebildung und ohne Repräsentativität der Quellen verallgemeinern oder „die Bedeutung von Sachzwängen, von ideellen und machtpolitischen Erwägungen“ bei der gesamtgesellschaftlichen Synthese unterschätzen. Gegen die Gefahr der Einseitigkeit, Zusammenhanglosigkeit und ‘sozialromantischen’ Trivialisierung hat Wehler (1987, 1. Bd., 7) im Anschluß an Max Weber für die „Gesellschaftsgeschichte“ die Unterscheidung von „drei gleichberechtigten, kontinuierlich durchlaufenden Dimensionen“ von ‘Gesellschaft’ (im Sinne von 1.3.) gesetzt: „Herrschaft, Wirtschaft und Kultur“, was etwa der Habermasschen Konstituierung von Gesellschaft durch „Arbeit, Herrschaft und Sprache“ entspreche; alle drei Bereiche gelten und wirken „autonom“, ohne auseinander ableitbar zu sein, obwohl bei der Analyse der historischen Wirklichkeit „alles auf die Mischungs- und Interdependenzverhältnisse ankommt“ (Wehler, a. a. O.). — Die zeit- und alltagsgeschichtlichen Richtungen sind auch in der Sprachgeschichtsforschung fruchtbar geworden.
3.
Sprachgeschichtsschreibung: Einseitigkeiten und Desiderate
3.1. Sozialhistorische Aspekte verschiedener Art gab es in der traditionellen Sprachgeschichtsschreibung seit Adelung (Döring 1984; Mattheier 1990; vgl. auch die Art. 30, 31). Den politischen Anforderungen der deutschen Nationalbewegung an die Geisteswissenschaftler entsprechend interessierten sich die Germanisten des 19. Jh. mehr historistisch für die ‘Urtümlichkeit’ und lebendige Vielfalt der deutschen Sprache seit ältesten Zeiten, als Widerspiegelung nationaler Identität oder eines ‘Volksgeistes’, eine Verengung von Sozialgeschichte auf das nationale bzw. ‘völkische’ Gemeinschafts- und Gesamtkulturideal (vgl. Forum, in: Das 19. Jh. [...] 1991, 282 ff.; vgl. auch Art. 21). Seit Ende des 19. Jh. suchte man im sprachhistorischen Material gern Zeugnisse für historisch bereits nachweisbare außersprachliche Sachverhalte wie Wanderungen, Kirchenorganisation, Territorien, Siedlung, Verkehr wiederzufinden bzw. zu vertiefen (vgl. Art. 33). Der Sozialgeschichte schon näher kam das Bemühen, den je epochenspezifischen ‘Beitrag’ bestimmter Bevölkerungsschichten zur Entwicklung der deutschen Schrift-/National-/Hochsprache herauszuarbeiten (zur Kritik an „pseudosoziologischer Elitetheorie“ s. Mattheier 1990, 304). 3.2. Symptomatisch für die Unzufriedenheit mit der Sozialgeschichtsferne traditioneller Sprach-
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geschichtsschreibung war seit den 80er Jahren die Kritik an den Hypostasierungen und Animismen im gewohnten pragmatikfernen Formulieru ngsstil (v. Polenz 1980; Wimmer 1983; Stötzel 1983): Mit der bildungssprachlichen Stilfigur des deagentivierenden Subjektschubs bei metonymisch verwendeten Handlungsverben wird gern so formuliert, daß z. B. Sprachen Wörter aus einer anderen Sprache entlehnen, daß Wörter aus einer in eine andere wandern/eindringen, oder daß eine Sprache sie einer anderen spendet/ au fdrängt usw. Sozialgeschichtlich plausibler wäre es, diese Ergebnisse kollektiver Wortwahlprozesse als bestimmte Handlungen/Verhaltensweisen von Individuen, Gruppen oder Institutionen zu beschreiben. Das gleiche gilt für ebenso beliebte hypostasierende Raummetaphern aus Naturwissenschaft oder Militärwesen wie Einflu ß, Strahlu ng, Strömu ng, Wellen, Einsickern, Überlageru ng, Überflu ut ng, Zersplitteru ng, Au fspaltung, Siegeszug, Vormarsch, Eroberung, Rückzug, usw. — Moderner erscheinende Metaphern wie wirkende Kraft der Sprache oder u nsichtbare Hand sind nicht weniger wissenschaftssprachliche Verschleierungen des Sozialverhaltens der Sprechenden.
3.3. Seit den wieder geschichtsfreudigen 80er Jahren wird viel grundsätzliche Kritik an sozialgeschichtlichen Unterlassungen, Vorurteilen und falschen Begriffen der üblichen Sprachgeschichtsschreibung und -forschung geübt (Cherubim 1980; Cherubim/Objartel 1981; Gessinger 1982; Knoop 1987, 1988 ab, 1992, 1995; Maas 1987, 1989; Mattheier 1988 a, 1990, 1995; Podiumsdiskussion, in: Sprachgeschichte des Nhd. [...] 1995, 455—46 0; Thesen, in: Ansätze [...] 1980, 129 ff.; vgl. Art. 33): Die vorwiegend teleologische Perspektive, mit der Sprachentwicklung in zu weiten Epochengliederungen (wie ‘Nhd.’) vor allem auf das hochkulturelle Ziel der Einheits-/Standard-/Nationalsprache hin, bzw. von ihm her rückwärts, dargestellt wird (mit noch, schon, endlich usw.), habe den Blick für die oft ganz anderen soziokommunikativen Verhältnisse in historischen Zeiten verstellt und zu anachronistischen Rückprojektionen moderner Sprachzustände auf frühere verleitet: Vom Standpunkt einer kodifizierten Sprachnorm her werde die alte große Variabilität (z. B. in ‘Dialekt’, Volksliteratur, Populärfachsprachen) als regellos, rückständig, zersplittert, wildwachsend, grob, vu lgär und ohne Nachweis als Hindernis für überregionale und intersozietäre Verständigung beurteilt (Knoop, a. a. O.). Von der Dominanz schriftlicher Sprache im öffentlichen Leben seit dem 19. Jh. her werde die Bedeutung von oraler und semioraler Sprache, von Multimedialität und funktionalem Halbalphabetismus in der Frühen Neuzeit unterschätzt (Knoop, Maas, a. a. O.). Vom industriezeitlichen Stadt/
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Land-Gegensatz her werde der Anteil der Städte an der Schriftsprachentwicklung zu ausschließlich gesehen und die ländliche Bevölkerung der Frühen Neuzeit sozialkommunikativ falsch eingeschätzt: als ‘illiterat’, nicht geschäftsfähig, rein agrarisch, nur lokal orientiert, immobil usw., was durch neuere historische Forschungen widerlegt sei (Knoop 1992; Maas 1995; Gessinger 1995). Vom rationalistischen Sprachverständnis der Wissenschaften und des Bildungsbürgertums her werde Sprachentwicklung zu einseitig nach der Darstellungsfunktion von Sprache untersucht, zu wenig nach Appell- und sozialer Symptom-/Identifikationsfunktion (Reichmann 1990, 154). Vom Interesse für Nachweise des Alters heutiger Sprache her werde in historischen Zeiten jeweils meist nur das Neue, Zukunftsträchtige beschrieben, zu wenig der ‘absterbende’ Bestand ganz anderer Art von Sprache. Durch die bildungsbürgerliche Fixierung auf homogene Sprache, mit makrosozialen Zielbegriffen wie Nation, Sprachgemeinschaft, die deu tsche Sprache, gu tes Deu tsch, würden natürliche soziale und funktionale Heterogenität, Sprache des Alltags, der Subkulturen, Sprachnormenkonflikte gern diskriminiert oder ignoriert (Gessinger 1982; Dieckmann 1973; Knoop 1987). Wie in der Sprachnormenfrage werden auch in der Sprachgeschichtsschreibung regionale und nationale Varietäten des Deutschen (Österreich, Schweiz usw.) zu wenig berücksichtigt, nur als Besonderheiten, Abweichu ngen, Au striazismen usw. behandelt (Clyne 1984, 1995; v. Polenz 1990; Ammon 1995; vgl. Art. 141). Dieckmann (1973) moniert die oft zu direkte Korrelierung von historischen Sprach- und Gesellschaftsverhältnissen, z. B. in frühen marxistischen und westlich-linken Darstellungen (dagegen Große/Neubert 1974; Große 1994), die mangelnde Unterscheidung zwischen Gebrauchsnorm, Zielnorm und kodifizierter Norm (Art. 27), also zwischen Sprachsystemwandel und Sprachnormenwandel. Mattheier (1990) beklagt die lange Zeit übliche Verengung sozialgeschichtlicher Aspekte auf Wort- und Namengeschichte, Busse (1987, 303 f.) die Fundierung historischer Semantik auf abbild- und widerspiegelungstheoretischen, nominalistischen und essentialistischen Bedeutungskonzepten, die Wörter aus konkreten sozialkommunikativen Handlungszusammenhängen herauslösen. 3.4. Der Kritik entsprechend, wurden in programmatischen Diskussionen und Beiträgen Forderungen und Vorschläge für eine sozialgeschichtliche und -pragmatische Vertiefung künf-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
tiger Sprachgeschichtsforschung zusammengestellt, in bezug auf neue Themenbereiche und Arbeitsweisen bzw. eine Verstärkung bisheriger Ansätze (Cherubim 1980; Cherubim/Objartel 1981; Dieckmann 1973; Gessinger 1982; Hartig 1983; Knoop 1992, 1995; Lerchner 1988, 1992; Maas 1987, 1989; Mattheier 1990, 1995; Podiumsdiskussion, in: Sprachgeschichte des Nhd. [...] 1995, 455 ff.; Schenker 1977; Steger 1988; Thesen, in: Ansätze [...] 1980, 129 ff.; vgl. Art. 33): Erkenntnisinteressen der Forschung sollten offengelegt, die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Historikern, Soziologen, Ethnologen usw. in Gang gebracht werden, vor allem auch mit Sprachhistorikern für andere Nationalsprachen, um Gemeinsamkeiten, Parallelen oder Divergenzen europäischer Sprachgeschichte zu erkennen (vgl. Kap. VII.). Als notwendige Vermittlungsbereiche zwischen Sozial- und Sprachgeschichte sollten Bildungsgeschichte, Mediengeschichte und die Geschichte der Kommunikationsformen und Textsorten als zentrale propädeutische Bereiche in die Sprachgeschichte einbezogen werden. Die Erfahrungen der kulturanalytischen (Voßler, Spitzer) und soziolinguistisch-ethnographischen Forschung (Gumperz, Hymes, Weinreich, Herzog, Labov) sollten genutzt werden. Das historische Verhältnis zwischen Deutsch und Nachbar- bzw. Minderheitensprachen ist, über Lehneinflüsse, Siedlungs- und Sprachgrenzentwicklung hinaus, soziolinguistisch und sprachenpolitisch auch aus der Perspektive der von Sprachherrschaft Betroffenen zu beschreiben, ebenso das historische Verhältnis zwischen Latein und Deutsch, Hochdeutsch und Niederdeutsch. Gegen die nur teleologisch und homogenitätsorientiert auswählende Einseitigkeit der Schriftsprachgeschichte wird Darstellung in kleineren Epochenabschnitten empfohlen, mit Einbezug gegenläufiger und regionaler Tendenzen und unterschichtlicher Varietäten im Sinne von 1.5.—1.7.: zur Sprache der Arbeiter, Bauern, Handwerker, Soldaten, Fernhändler, der Frauen, der Jugend, der jüdischen Deutschen, Immigranten und Fremden, usw., einschließlich Funktions- und Bewertungswandel von ‘Dialekt’, ‘Umgangssprache’, ‘Jargon’, ‘Fachsprache’ usw. Rudolf Große (1994) hält, im Sinne von 1.6 . und 1.7., die Erforschung von Sprache in mikrosozialen Gruppen für wichtig: Familie, Nachbarschaft, Schule, Spielgruppe, Arbeitsgruppe, religiöse Gemeinschaft, Gemeinde, heute vor allem Stadtteil, Militärdienst, Verein, Generation; der Einzelne stehe nur über diese „filternden“ Zwischenstufen der (vielfältig strukturierten) Großgesellschaft und deren Normen gegenüber. Statt den üblichen Einheitskategorien (‘Sprache’, ‘Va-
2. Deutsche Sprache und Gesellschaft in historischer Sicht
rietät’, ‘Standard’) sollte lieber alltäglichen Sprachkonflikten nachgespürt werden (Knoop, Gessinger, a. a. O.): Normenkonkurrenz, Normenverweigerung, Entoralisierung, Ausgrenzung von ‘anderer Sprache’, ‘Sprache der anderen’ und den dazugehörigen behinderten oder gelungenen Integrationsprozessen, vor allem in Institutionen und sozialen Konkurrenz- und Aggressionssituationen. Sprachbewußtseinsgeschichte sollte nicht auf die professionelle Entwicklung der Germanistik und Sprachphilosophie und ihrer Vorläufer seit dem Humanismus beschränkt sein, sie sei, mit Veränderungen sozialkommunikativer Maximen, Bewertungssysteme und Mentalitäten, auch als Sprachideologiegeschichte und Alltagswissen der Sprechenden, vor allem der sozial Einflußreichen, sozialgeschichtlich relevant (Mattheier, a. a. O.), wobei auch Sprachkritik als lebendige Funktion bestimmter Sprechergruppen seit der Humanistenzeit, einschließlich unterdrückter bzw. ignorierter Richtungen, einzubeziehen ist (vgl. Art. 24; 26 ; 144; 145). Auch traditionelle hochkulturelle Themenbereiche im Sinne von 1.3., 1.4. sollten durch sozialgeschichtlich orientierte Neuentdeckung, Modifizierung oder Reformulierung aufgearbeitet werden: Schriftsprachentwicklung, Normendurchsetzung und -geltung, Wissenschaftssprache, Bildungswortschatz, Entlehnungen, Oberschichtvarietäten usw. In Bezug auf vordringliche Sprachbereiche steht die Forderung nach Sprachgeschichte als Textsortengeschichte im Mittelpunkt (vgl. Art. 17): vor allem Textsorten als Bezugs- oder Diskurswelten (bes. Steger, Lerchner, a. a. O.), dialogische und stark appellative Textsorten (z. B. Anzeigen), auch untergegangene Textsorten, z. B. politische Dialoge von der Reformationsund ‘Bauernkriegs’-Zeit bis zur Französischen Revolution als Vorläufer des Kabaretts. Die von vielen erhobene Forderung nach soziopragmatischer Modernisierung der politisch-historischen Semantik ist über die von Historikern entwikkelte politisch-soziale Begriffsgeschichte (Geschichtliche Grundbegriffe [...] 1972—92; Historische Semantik [...] 1979; Koselleck 1979; v. Polenz 1994, 386 ff.) hinaus erweitert worden unter den Programmbegriffen Mentalitätsgeschichte, Disk u rssemantik, Disk u rsgeschichte (Begriffsgeschichte [...] 1994; Busse 1987; Diachrone Semantik [...] 1991; Hermanns 1995): Aufgrund von Anregungen aus Sozialphilosophie, -psychologie und Wissenssoziologie soll die kollektive Konstituierung von Sinn und gesellschaftlichem Wirklichkeitsbewußtsein durch sprachliches Handeln, die Entstehung und Entwicklung von Gewohnheiten und Dispositionen
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des Denkens, Fühlens, Wollens und Sollens sozialer Gruppen anhand von hermeneutisch ausgewählten Texten in intertextuellen und sozialen Zusammenhängen untersucht werden. Damit kann wieder an Wilhelm v. Humboldts Sprachtheorie angeknüpft werden, allerdings nach Überwindung der Weisgerberschen Einengung des Sprachrelativismus und -determinismus auf einen vagen kulturnationalen ‘Sprachgemeinschafts’-Begriff. Im Bereich der Au sdru cksformen werden in den obengenannten programmatischen Äußerungen die systematische Sammlung und Erforschung soziopragmatisch besonders aufschlußreicher Sprachmittel gewünscht: Dialogstrukturen, Gesprächswörter, Sprachhandlungsmuster, Sprechaktsequenzen, Argumentationsausdrücke, stereotype Metaphern, Vergleiche und Redewendungen, Modalpartikeln, Anrede- und Grußformeln usw. Als dafür noch nicht genügend aufgespürte und erschlossene Qu ellen der ‘oral history’ wird auf Briefe, Chroniken, Tagebücher, Hausbücher, Anschreibebücher, Gerichtsprotokolle, innerbetriebliche Anordnungen, Briefsteller, rhetorische Ratgeber, Selbstbiographien, Reisebeschreibungen, Volkslieder, Märchen, Sprüche, Schwänke, Kolportageliteratur, vor allem aus Privatarchiven und Einzelfunden, hingewiesen.
4.
Theoretisches
4.1. Es gibt Theorien des Sprachwandels (Sprachwandel, Reader [...] 1975; Art. 49—53), aber keine Theorie der Sprachgeschichte, da Geschichte nichts Rationales, Systematisches, Gesetzmäßiges ist. Zwar können und sollten Prinzipien der (immer universalistischen) Theorien des Sprachwandels und ihre Anwendungen auf bestimmte langfristige Entwicklungen in die sprachgeschichtliche Darstellung des Deutschen einbezogen werden, vor allem für die aus gesellschaftlichem Handeln und Verhalten nur in Einzelheiten (z. B. Variantenpräferenz) erklärbaren systemlinguistischen Entwicklungen der Phonemik, Morphemik, Syntax, Wortbildung. Objekt der Sprachgeschichtsforschung/-schreibung ist jedoch nicht der Sprachwandel (als Wandel der Inventarmöglichkeiten des Sprachsystems), sondern die Entwicklung der Sprachkompetenzen und Sprachpraxen der Sprechenden: “For both the individual and the community, a language in some sense is what those who have it can do with it — what they have made of it, and do make of it” (Hymes 196 7, 6 35), auch: was sie mit ihr nicht tun können/dürfen/sollen; anders ausgedrückt:
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Objekt der Sprachgeschichte ist „die Organisation der Verständigung und des Verstehens im Verlaufe der Geschichte des Sprechens und Schreibens“ (Knoop 1995, 24). Veränderlichkeit von Sprache an sich ist nach Knoop (a. a. O., mit Berufung auf Coseriu, R. Keller, L. Jäger) noch kein historisches Phänomen, da sie zum Sprechen als jedesmaligem Neuvollzug essentiell dazugehört und „das historische Objekt nicht aus der Addition oder einfachen Aneinanderreihung von Ereignissen, sondern — wie dies Theodor Schieder erläutert — aus der Integration in ein Ganzes entsteht“. Sprachwandeltheoretische Kategorien wie Analogie, Homogenität, Ökonomie, Ausgewogenheit des Systems, labiles Gleichgewicht, Konvergenz, Divergenz, usw. sind sprachintern und lassen sich mit der sprachexternen (z. B. sozialgeschichtlichen) Entwicklung kaum direkt in Zusammenhang bringen. Von daher erklärt sich die berechtigte Abstinenz szientistischer, organologischer, strukturaler, biologistischer Richtungen der Sprachwissenschaft von Schleicher bis zu den linguistischen Avantgardisten unseres technokratischen Zeitalters (vgl. Cherubim/Objartel 1981; Dieckmann 1973, 141 ff.; Mattheier 1990, 294 ff.; Sprachwandel, Reader [...] 1975; N. R. Wolf 1990; vgl. auch Art. 30; 33).
So wie man auch für die Sozialgeschichte keine Gesetzmäßigkeiten aufstellen oder solche in ihr wiedererkennen kann, beispielsweise über die geschichtlichen Folgen des religiösen oder politisch-ideologischen Handelns einflußreicher Individuen und Gruppen, so muß nach evolutionären Sprachwandeltheorien wie der von Rudi Keller (1990) zwischen Natur und Kultur ein Bereich von „Phänomenen der dritten Art“ angenommen werden, bei denen Sprachwandel durch von menschlichem Handeln (und Kollektivverhalten) ausgelöste, aber nichtintendierte „invisible-hand“-Prozesse erfolge: Manche Sprachsystemveränderungen der neueren Zeit widersprechen geradezu sprachwandeltheoretischen Prinzipien wie Ökonomie, Ausgewogenheit, Verständlichkeit, z. B. die sprachkritisch notorischen weiten Satzklammern und puristischen Kombinationsbeschränkungen in der Lehnwortbildung des Dt. (weitere Beispiele bei v. Polenz 1991, 71 ff.), da sozialgeschichtlich erklärbare akademisch-schreibsprachliche Sprachideologie- und -stiltendenzen der natürlichen Systementwicklung entgegengewirkt haben (v. Polenz 1995). Viele erst in der etablierten dt. Schriftsprache hochbewertete bzw. allgemein übliche Sprachmittel sind bereits Jahrzehnte oder Jahrhunderte früher als Varianten in bestimmten Quellen oder Textsorten nachzuweisen, waren also längst Teile des dt. Sprachsystems, ehe sie sprachgeschichtlich relevant (z. B. sprachkritisch auffällig) wurden. Wo genau ist die Grenze zwischen Innovation und Sprachwandel? So
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
wäre eine Gleichsetzung von Sprachsystementwicklung mit Sprachgeschichte irreführend; man sieht, „wie gleichgültig Sprachwandel gegenüber den historischen Abläufen ist“ (Knoop 1995, 22). Sprachgeschichte ist in erster Linie Sprachgebrauchs- und Sprachbewußtseinsgeschichte; “the competencies of users of language, and thus their language itself, may change, even though the differences may not appear in the structure of the language within the limits of the usual description” (Hymes 196 7, 6 37). Deshalb sind auch keine sprachgeschichtlichen Prognosen möglich; nur allgemeine Entwicklungstendenzen sind zu vermuten, von denen man nicht genau sagen kann, wann und in welchen Situationen, Textsorten, Gruppen usw. sie sich stärker durchsetzen oder wieder verlieren. 4.2. Aus Sprachwandeltheorie und Soziolinguistik (z. B. Weinreich/Labov/Herzog 196 8) hat sich jedoch die Lehre von den Varianten als sprachgeschichtlich relevant erwiesen (Klein 1974; Oksaar 1977). Sprachwandel, als Variantenselektion innerhalb des stets inhomogenen, im labilen Gleichgewicht befindlichen Sprachsystems, ist teils biologisch-psychologisch bedingt (z. B. artikulatorische/perzeptive Variation), teils innersprachlich-systematisch (Analogie, Systemökonomie, Koartikulation usw.), großenteils aber soziokulturell, da das aus gesellschaftlicher Erfahrung entstehende Sprachwissen der Sprechenden auch soziopragmatisch bedingte Verwendungs- und Bewertungsnormen enthält und der Kommunikationsbedarf einer Sprachbevölkerung aufgrund „verfremdeter“ Kommunikationsbedingungen mit Auswirkungen „bestehender Machtverhältnisse“ anstelle des „kooperativen Aushandelns“ belastet ist (Mattheier 1988 a, 1436 f.). Es gibt mindestens folgende soziolinguistisch und/oder sozialgeschichtlich erklärbare Variantentypen bzw. Quellen der Variation (nach Mattheier 1988 a, 1439 ff.; 1995, 10 ff.): — Anpassung von Sprachhandlungsmustern an neue Sprachhandlungssituationen und -intentionen, auch durch Redefinierung von Mustern (z. B. in Metaphern, Konnotationen), — Bewertungsdifferenzen bei der Interferenz von Elementen oder Bedeutungen aus anderen Sprachen (Entlehnung, Mischsprache, Pidginisierung) oder aus Varietäten der eigenen Sprache (innere Mehrsprachigkeit), — intentionale Sprachveränderung durch Sprachplanung, Sprachpolitik, Sprachkultivierung, Sprachnormendurchsetzung, Terminologisierung usw.
Die „soziokommunikative Steuerung des Sprachwandels“ wirkt sich (nach Mattheier 1988 a, 1445 ff.) in den europäischen Sprachen
2. Deutsche Sprache und Gesellschaft in historischer Sicht
vor allem im Zusammenhang mit dem in der Sozialgeschichte seit dem Spätmittelalter zu beobachtenden Modernisierungsprozeß (Verstädterung, Industrialisierung, Monetarisierung, Verschriftlichung, Alphabetisierung) als „weitgehende Umstrukturierung des gesellschaftlichen Kommunikationsbedarfs“ aus, mit Ausbildung von überregionalen, vereinheitlichten und rationalisierten Schrift-/National-/Standardsprachen, aber auch sozialen und situativen Differenzierungen und Normenkonflikten. 4.3. Die Hinwendung von Homogenität zu Heterogenität in der Sprachgeschichtsforschung heute ist mit dem terminologischen Problem der allzu pauschalen, undefinierten oder immer wieder anders verwendeten üblichen Bezeichnungen von Varietäten der dt. Sprache verbunden: Dialekt/Mu ndart, Umgangssprache, Alltagssprache, Jargon usw. (vgl Bichel 1973; Nabrings 1981; s. auch Art. 6 2; 86 ; 96 ; 106 ; 117; 135; 148). Aufgrund von Anregungen aus der Soziologie und Sozialphilosophie hat dazu Hugo Steger (zusammenfassend 1988) ein Modell entworfen: Eine wohldefinierte, konsistente Terminologie muß, strenggenommen, jeweils Bezeichnungen nach drei Dimensionen enthalten, die alle drei für den Bereich ‘Sprache und Gesellschaft’ konstitutiv sind: 1. Historischer Zeitpunkt/Zeitraum. 2. Soziale Reichweite: sozial-räumlich (lokal, regional, überregional, staatsnational) bzw. sozietär (soziale Gruppe, funktionale Gruppe, gesamte Sprachbevölkerung). 3. Funktional-zweckhafte Leistung: Alltagssemantik, institutionelle/technische/wissenschaftliche/literarische/religiöse/ideologische Semantiken. Mit einem wesentlich komplexeren Varietätenmodell, sozusagen achtdimensional, arbeitet Löffler 1994, 86 ff.: „Idiolekte, Situolekte, Mediolekte, Funktiolekte, Dialekte, Soziolekte, Sexlekte, Alterssprachen“. Es ist auf jeden Fall deutlich geworden und allgemein akzeptiert, daß das Thema ‘Sprache und Gesellschaft’ weder in der Gegenwart noch in historischen Zeiten auf die Beziehung von Sprachvarianten zu sozialen Gruppen oder Schichten beschränkt werden darf. — In die gleiche Richtung ging die in der Romanistik übliche Coseriusche Dreidimensionalität: diastratisch, diaphasisch, diatopisch.
4.4. Unter Alltagssprache sollte nach Steger (1982, 1988, 1991; vgl. auch Art. 9) nicht eine vom hochkulturellen Bildungsstandpunkt her minderbewertete Sprachvarietät verstanden werden, sondern die für alle Mitglieder einer Sprachbevölkerung verbindliche, durch primäre Sozialisation unbewußt und ungezielt erlernte lebenspraktische Vielzwecksprache, „von der alle höherentwickelte kulturelle Kommunikation ihren Ausgang genommen hat“ (Steger 1991, 56 f.).
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Sie regelt verhaltenssichernd, aufgrund sozialer Kontrolle in Gruppen, nicht durch Normierung, das spontane, direkte, kooperative sprachliche Reagieren auf natürliche und soziale Umwelt, um einen möglichst breiten unreflektierten Konsens mit typisierenden Interpretationen aufrechtzuerhalten. Domänen der Alltagssprache sind vor allem Grundbegriffe in Bereichen wie Körper, Essen, Wohnen, Fortbewegung, Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Geselligkeit, mit möglichst stabilen, kollektiv geteilten Werturteilen wie ‘wahr’, ‘richtig’, ‘gerecht’, ‘nützlich’ usw. Die Begriffe der Alltagssemantik sind unscharf, ganzheitlichkomplex, vielfach emotional konnotiert (aber gerade deshalb gesellschaftlich wirksamer), in hohem Maße text- und situationsabhängig, relativ gering an Zahl im Begriffsinventar eines Sachbereichs.
Die Alltagssprachsemantik ist nach Steger (1982, 1989, 1991) von jeher sozialkommunikativer Ersatz für den phylogenetischen Instinktverlust. Sie werde aber in der Neuzeit immer unabhängiger von konkreten Alltagserfahrungen in Kleingruppen, muß also ersetzt werden durch spezielle Alltagsbegriffe und Alltagstheorien, die immer weniger aus Religion und Poesie, immer mehr aus Wissenschaften, Technik und Institutionen kommen, seit der Französischen Revolution aus politischen Ideologien, die ihrerseits fragmentarische und oft verzerrende Übertragungen von grundsätzlich andersartigen Begriffen der Wissenschafts- und Institutionensprache in die Alltagssemantik darstellen. Dadurch gerate die eigentlich auf soziale Direktheit angewiesene Alltagssprache in Konflikt mit den (durch popularisierende Vereinfachung pervertierten) Sprachstilwerten der Wissenschafts- und Institutionensprache (z. B. ‘Würde’, ‘Effizienz’, ‘Rechtssicherheit’, ‘Deutlichkeit’, ‘Kürze’), die aber in der politischen und Massenmedienpraxis weithin durch Prinzipien wie ‘Legitimation’, ‘Macht’, ‘Unterdrückung’, ‘Unterhaltungswert’ ersetzt werden. Dabei vertrage sich die relativ langsame, „gleitende“ und institutioneller Normierung schwer zugängliche Entwicklungsweise der soziablen Alltagssprache schlecht mit den nicht an alltägliche Erfahrungen gebundenen, oft revolutionären oder utopischen Entwicklungsschritten von Institutionen- und Ideologiesprache, was (mit vagen politischen Schlüsselbegriffen wie Ehre, Ordnu ng, Fortschritt, Freiheit, Volk, arisch) verheerende Folgen haben kann. 4.5. Die primär diskurssemantisch bestimmten funktional-zweckhaften Leistungen von Alltagssprache, Institutionen-/Technik-/Wissenschafts-, Literatur-/Glaubens-/Ideologiesprache stehen nun (nach Steger 1988) im notwendigen Zusammenhang mit den anderen beiden Dimensionen von Sprache (s. 4.3.) und können erst dann als
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Erschein u ngsformen (Existenzformen) einer Sprache (Art. 155) differenzierend konkretisiert werden. Für einen bestimmten Zeitpunkt/-raum der Sprachgeschichte (1. Dimension) ist z. B. Alltagssprache (3. Dimension) zu differenzieren nach sozial-räumlicher und sozietärer Reichweite (2. Dimension). So gibt es heute beispielsweise eine lokale, regionale oder überregionale Alltagssprache, deren Alltagssemantik (und lautlich-grammatikalische Ausdrucksform) sich auch nach Sozialisationsunterschieden (Familie, Jugend-, Fan-, Berufsgruppen usw.) differenziert, im Extremfall, bei dialektlos Aufgewachsenen der höheren Bildungsschicht sogar sterile Standardsprache in der Funktion von Alltagssprache (z. B. karikiert durch Loriot), ohne mit einer Wissenschaftsoder Institutionensprache identisch zu sein. Andererseits gibt es Institutionssprache mit regionaler Reichweite, besonders in Süddeutschland und Österreich, sogar mündliche dialektale Wissenschaftssprache bei Deutschschweizern. Den nach diesen 3 Dimensionen zu kennzeichnenden Erscheinungsformen sind dann (nach Steger 1988, 315 ff.) für bestimmte Situationstypen/Redekonstellationen spezifische Situationsrepertoires oder Textsortenstile zuzuordnen, und erst hierbei (nicht schon bei den Dimensionen) sei der Unterschied zwischen Sprechund Schreibsprache zu berücksichtigen. Sprech- und Schreibsprache sind (nach Steger 1987) weder eigene Varietäten noch Erscheinungsformen einer Sprache, sondern jeweils innerhalb bestimmter Erscheinungsformen vorkommende ‘Stile’, nicht mit eigenem sprachstrukturellem Zeicheninventar, sondern mit medien-/situations- und textsortenspezifischen Abwahlen der Sprachmittel aus dem Gesamtinventar der betreffenden Erscheinungsform, mit unterschiedlichen Häufigkeiten und unterschiedlichen Kombinationen. Beim Unterschied gesprochen vs. geschrieben gibt es als Sprachbewertungen nicht ‘richtig/falsch’, sondern nur ‘angemessen/unangemessen’.
Da die Entwicklung und Kultivierung von Schreibsprache viel mit Öffentlichkeit, mit Repräsentation makrosozialer Gruppenzugehörigkeit, Bildung und Macht, mit Konservativität und Archaisierung von Sprachnormen zu tun hat, ist der Wandel des Verhältnisses zwischen Oralität/Semioralität und Literalität vor allem von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart für eine Sozalgeschichte der dt. Sprache wichtig (s. Art. 18, 122, 142). 4.6. Die Gesamtheit aller Erscheinungsformen einer Einzelsprache kann nur in sehr abstrakter Weise als Gesamtsprache zusammengefaßt werden, die jedoch in der Sprachbevölkerung weder
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
aktiv noch passiv von jemandem vollständig beherrscht werden kann. Als letzte mögliche Klammer für eine Gesamtsprache als Einzelsprache soll die Sprachloyalität gelten (Steger 1988, 315). In Extremfällen starker Diglossie besteht die Loyalität nur im Recht und Erfolg einer gebildeten Oberschicht, für die übrige Sprachbevölkerung ihres Einflußbereichs eine nicht sehr autochthone Schriftsprache als eigene durchzusetzen, z. B. in der Frühen Neuzeit in der deutschsprachigen Schweiz und in Norddeutschland. Dieses Prinzip der sprachkulturellen Fremdorientierung nennt Utz Maas (1985) „Heterozentrieru ng“. Nach der mehr autozentrierten deutschsprachigen, gegen das Latein gerichteten Schriftlichkeit vom Spätmittelalter bis zur frühen Reformationszeit (vgl. v. Polenz 1991, 122 ff., 16 6 ff., 245 ff.) setzte sich Heterozentrierung, besonders im Norden, extrem bis zur weitgehenden Dialektverdrängung wieder durch. Diese „Außendiglossie“ (Bellmann 1983, 110) wurde verstärkt durch die ebenfalls heterozentrische Rolle von Latein und Französisch als Kultur-, Institutionen- und Herrschaftssprachen bis ins 18. Jh., die eine stark akademisch-schreibsprachliche dt. Sprachkultivierung zur Folge hatte (vgl. v. Polenz 1983 a). Nach dem Höhepunkt der Entwicklung und Durchsetzung dieses bildungsbürgerlichen Deutsch ist nun, im Zusammenhang mit der Hochindustrialisierung, Verstädterung und Demotisierung des Schreibens und Lesens, im 20. Jh. eine Gegenbewegung in Gang gekommen, die Günter Bellmann (1983, 109 ff.) als „Entdiglossieru ng“ bezeichnet. Durch Ausbreitung der schriftsprachnahen Standardsprechsprache in die mindestens passive Sprachkompetenz der gesamten Sprachbevölkerung und den gleichzeitigen allmählichen (regional unterschiedlichen) Rückgang des Dialektsprechens in der Öffentlichkeit wird seit dem späten 19. Jh. auch das Spannungsverhältnis zwischen lokaler/ regionaler und überregionaler/kulturnationaler Sprache abgebaut, also auch die Notwendigkeit des scharfen code-switching, das für stabile Diglossie typisch ist. Statt Diglossie entwickelte sich im größten Teil des dt. Sprachgebiets, im Norden stärker als im Süden, eine sehr offene, variable mittlere Sprachschicht ohne strengen Systemcharakter: Die Umgangssprache (Steger 1984), der „neue Substandard“ (Bellmann 1983); vgl. Bichel 1973; Kettmann 1980, 1981. An die Stelle der nach sozialräumlichen und sozietären Bindungen „segmental gegliederten Gesellschaft mit mehr oder weniger autarken Segmenten, in der sich alle sozialen Tätigkeiten stark wiederholen“, tritt mehr und mehr die funktional gegliederte moderne Gesellschaft als „Umgangssprachengesellschaft“, in der
2. Deutsche Sprache und Gesellschaft in historischer Sicht
überregionale, intersozietäre und öffentliche Kommunikation immer wichtiger wird (Steger 1984, 272). Die Folgen der Teilnahme immer breiterer Bevölkerungsschichten an der öffentlichen Kommunikation, durch Rundfunk und Fernsehen auch bis in die Primärsozialisation hinein, erscheinen in konservativ-elitärer Sicht als ‘Sprachverfall’, in soziolinguistischer als Normenskepsis, Normenverweigerung oder mehr Normentoleranz nach dem Rückgang des bildungsbürgerlichen Hochkulturanspruchs. Erste Signale dafür waren Ende des 19. Jh. sprachkritische Aktivitäten und die ‘Sprachkrise’ der Literaten um 1900 (Cherubim 1983 a; v. Polenz 1983 b).
4.7. Im Zusammenhang damit ist auch der Funktionswandel der Dialekte zu sehen (Mattheier 1980, 161 ff.): Bis zur Frühen Neuzeit war Dialektsprechen nicht sozial oder situativ, sondern primär regional markiert; selbst der Adel sprach (bis ins 19. Jh.) Dialekt. Die kulturpatriotische und aufklärerische Sprachkultivierung des 17./ 18. Jh. (v. Polenz 1994, Kap. 5.5.—5.7.; Art. 21) brachte mit der Abwertung des Regionalen für das Dialektsprechen die Bewertung ‘ungebildet’ hinzu. Doch nur wenige Gebildete, z. B. Norddeutsche wie Gottsched und Adelung, beherrschten dialektfreies, überregionales Sprechen nach der Schrift. Im 19. Jh. verlieren (nach Mattheier, a. a. O.) die Faktoren Regionalität und Gebildetheit durch Verstädterung und industrielle Mobilität zunehmend an Bedeutung; dafür werden die Faktoren Öffentlichkeit und Formalität im zentralistischen, norddeutsch dominierten deutschen Nationalstaat ebenso wie in Österreich wichtiger, so daß Regionalität mehr und mehr von großräumigen regionalen Umgangssprachen in Stadteinflußgebieten angezeigt werde, weniger von Dialekt. In der Nachkriegszeit ab 1945, eingeleitet durch auditive Massenmedien und Autoverkehr, tritt nach Mattheier (a. a. O.) ein neuer Funktionswandel des Dialekts ein: Infolge der Urbanisierung ländlicher Regionen wird er vorwiegend situativ determiniert als Privatsprache im vertrauten Kreis und zu geselligen Zwecken. Zu diesem Funktionswandel gehört auch die sog. Mundartwelle/Dialektrenaissance seit den 70er Jahren: Sie ist im wesentlichen auf bestimmte Situationstypen und Textsorten beschränkt: Literatur, Film, bestimmte Fernsehsendungen, Werbung, Pop-Musik, politische Protesttexte, also in emotionalen Domänen, die bisher der literarisch etablierten Standardsprache vorbehalten waren. Infolge zu starker Konventionalisierung emotionaler Ausdrucksmittel der Standardsprache, durch Dialektverlust bei besonders mobilen Bevölkerungsteilen schon im Elternhaus und durch die neue Emotionalität in der zweiten Welle der antiautoritären, basisdemokratischen 196 8er-Bewegung wurde Dialektsprechen im Rahmen des neuen Regionalismus wieder attraktiv im Sinne eines ungehemmten emotionalen Sprachregisters, als soziable Sprache im Sinne von 1.7.
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(vgl. Mattheier 1980; Art. 149).
5.
Neuere Forschungsarbeiten
5.1. Die kritischen und programmatischen Äußerungen (s. oben 3.3., 3.4.!) sind zu relativieren durch die folgende stichwortartige Übersicht über erfreulich vielfältige Ansätze zu sozialgeschichtsorientierter Sprachgeschichtsforschung für das Deutsche in den letzten 2 bis 3 Jahrzehnten. Diese Arbeiten im einzelnen mit Titelangaben anzuführen, fehlt hier leider der Raum. Die meisten und wichtigsten werden in den einschlägigen Artikeln dieses thematisch sehr weitgehend aufgegliederten Handbuchs zitiert, in dem sozialgeschichtlich/soziopragmatisch relevante Artikelthemen eine breite Berücksichtigung finden. Vieles davon aus dem Zeitraum 15.—18. Jh. ist auch in den entsprechenden Kapiteln (mit thematisch geordneten Literaturhinweisen am Kapitelende) in v. Polenz 1991 und 1994 zu finden, manches auch in Löffler 1994 und Clyne 1984/95. Geschichte der Komm u nikationsformen und Medien: Schreib- und Leseexpansion und städtische Schriftlichkeit im Spätmittelalter — Orale und semiorale/öffentliche Kommunikationsformen vom 16 . bis 19. Jh. — Ländliche Schriftlichkeit in der Frühen Neuzeit — Hofberedsamkeit im 17./ 18. Jh. — Politische Wirkung und populäre Bildungsfunktion der frühen Zeitungen im 17. und 18. Jh. — Volksaufklärung, Lesegesellschaften, Jugendliteratur seit der Spätaufklärung — Leserevolution um 1770 — Institutionelle Verschriftlichung des öffentlichen Lebens seit der Reformphase um 1800 — Textsortendifferenzierung, Politisierung und Kommerzialisierung der Zeitung im 19. Jh. — Bürgerliche Konversation und Sprachrituale im 19. Jh. — Sekundäre Oralität durch moderne Hör/Seh-Medien in der 2. Hälfte des 20. Jh. mit Wirkung auf Rückgang und Funktionswandel von Schriftlichkeit. Bild u ngsgeschichte: Laienbildung im Spätmittelalter — postelementare private Bildung Gewerbetreibender in Stadt und Land in der Frühen Neuzeit — Alphabetisierung der Bevölkerung vom 16 . bis 19. Jh. — Sozialdisziplinierung und -distanzierung durch ständisch unterschiedliche Schulordnungen in der Frühen Neuzeit — Behinderung der Frauenbildung; Ausnahmefälle gebildeter Frauen im 17. bis 19. Jh. — Sprachideologische Bildungsarbeit in Sozietäten und Vereinen vom 17. bis 19. Jh. — Ideologiegeschichte von Germanistik und Deutschunterricht im 19./20. Jh. — Repräsentativ-monologische Schultextsorten im 19. Jh. — Ideologisierung des Schönschreibens und der altdt. Schriftarten bis 1941 — Arbeiterbildung in Vereinen und Sozialdemokratie im 19. Jh. — Funktionaler Analphabetismus im 19./20. Jh. Sprachk u ltivier u ng und -standardisier u ng: Bedeutung der Schreib- und Lesemeister im 16 . Jh. — Leselautungstendenz seit dem Frnhd. — Sprachliche Vorbilder und Prinzipien vom 16 . bis 18. Jh. — Überregio-
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naler Ausgleich zwischen den Schreiblandschaften vom 16 . bis 18. Jh. — Sprachpolitische Hintergründe bei der Verdrängung der nd. Schriftsprache — Gelehrte Prinzipien und sozialgeschichtliche Hintergründe der Tätigkeit von Sprachgesellschaften, Grammatikern und Lexikographen vom Späthumanismus bis zur Spätaufklärung — Widersprüchlichkeit zwischen schreib- und sprechsprachlicher Wirklichkeit beim Prestigegewinn und -verfall des Meißnischen Deu tsch — Bedeutung der süddeutschen ‘Reichssprache’, der Jesuiten und der ‘katholischen Aufklärung’ — Persönliche und institutionelle Aspekte bei der Anpassung der Schweiz, Süddeutschlands und Österreichs an die Gottschedschen Sprachnormen — Sozialgeschichtliche, professionelle und mediengeschichtliche Hintergründe bei der Orthographie- und Lautnormung im 19./20. Jh. — Geschichte der Sprachkritik von der Spätaufklärung bis zum Feminismus. Varietäten, Varianten, Existenzformen des Dt.: Spuren gesprochener Sprache seit dem Ahd. — Sprachsoziologische Determinanten von Satzbauvarianten seit dem Spätmittelalter — Stadtsprachenverhältnisse vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart — Entwicklung des älteren westlichen Jüdischdeutsch abseits von der bildungsbürgerlichen dt. Sprachkultivierung — Innere Mehrsprachigkeit im 17./18. Jh. — Beschränkte dt. Schreibsprachkompetenz in der französisch sprechenden höfischen Oberschicht im 17./18. Jh. — Dialektdiskriminierung, -verdrängung, -literarisierung im 17. bis 19. Jh. — Bildungsbürgerliche private Schriftlichkeit im 18./19. Jh. — Schriftlichkeit und Umgangssprache in industriestädtischen Unterschichten im 19. Jh. — Arbeitersprache — Sprachgebrauch in Studentenverbindungen, Wandervogelbewegung im 18. bzw. 19. Jh., Jugendsprache heute — Ältere/jüngere Soldatensprache, Offiziersjargon — ‘Mundartrenaissance’ in den Medien heute — Männersprache/Frauensprache, sprachliche Diskriminierung von Frauen — Staatsnationale Varianten/Varietäten heute: Schweizerdeutsch, Österreichisches Deutsch, Elsässisch; Letzebuergesch als neue Nationalsprache. Fach-/Wissenschaftssprache: Bergmannssprache seit dem Spätmittelalter — Übergang von empraktischen, gruppengebundenen älteren Fachsprachen zu wissenschaftlich orientierten Fachsprachen im 18./ 19. Jh. — Entstehung schwerverständlicher geisteswissenschaftlicher Fachsprache und pseudowissenschaftlichen Jargons im 19./20. Jh. — Sprachgebrauch in neuen Arbeitsmedien Ende des 20. Jh. Sprache in Institu tionen: Entwicklung einer allgemeinverständlichen dt. Gesetzessprache Ende des 18. Jh. — Sprachgebrauch vor Gericht, in Behörden, in Betrieben im 19./20. Jh. Sprache in der Öffentlichkeit: Sprache der Flugschriftenliteratur in der Reformations-/‘Bauernkriegs’Zeit — Frühe Zeitungssprache und Kritik daran im 17./ 18. Jh. — Politisch-soziale Begriffsgeschichte seit der Aufklärung — Propaganda- und Agitationssprache zur Zeit der Französischen Revolution, der Napoleonkriege, der Revolution 1848/49 — Sprachgebrauch der frühen Arbeiterbewegung — Parlamentarisches Sprachhandeln 1848/49, nach 1945 — Nationalistischer und antisemitischer Sprachgebrauch im 19. Jh. — Sprache
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
im Nationalsozialismus — Sprache in der DDR — Sprache in und nach der Neuvereinigung Deutschlands — Sprache in der Europapolitik, Aufrüstungspolitik, in der ‘Bewältigung der Vergangenheit’, Ökopolitik usw. — Begriffe-Besetzen, semantische Kämpfe, politische Bedeutungs-/Bezeichnungskonkurrenz nach 1945. Literarische Sprache: Ständische und kulturpolitische Hintergründe der literarischen Entwicklung vom Späthumanismus bis zur Klassik — Dialogische Formen in Literatur, Zeitschriften, Briefschreiben zur Einübung in eine private bürgerliche Öffentlichkeit — Entwicklung des autonomen Sozialsystems Literatur und der ‘freien’ literarischen Intelligenz von der Genie-Zeit bis zur sprachverfremdenden Moderne. — Sozialgeschichtliche Erklärung der Trivial-/Konsumliteratursprache seit dem Ende des 18. Jh. Sprachenkontakte: Sprachenpolitische und sprachsoziologische Aspekte des Verhältnisses Latein/ Deutsch vom Mittelalter bis ins 18. Jh. — Sprachunterdrückung, Zwangsbilinguismus und sprachnationaler Widerstand bei deutschbeherrschten slawischen Sprachbevölkerungen von Holstein bis Slovenien seit dem Spätmittelalter. — Soziolinguistische Vielschichtigkeit slawischer Lehnwörter im Dt. — Soziopragmatische Vielfalt der Lehnbeziehungen zwischen älterem westlichem Jüdischdeutsch, Rotwelsch, Feldsprache und Deutsch. — Französisch als antikaiserliche absolutistische Herrschafts-, aber auch Modernisierungssprache im 17./18. Jh., soziokulturelle Differenzierung der Sachgebiete von Entlehnungen — Entwicklung des dt. Sprachpurismus vom Kulturpatriotismus über die Spätaufklärung zum Nationalchauvinismus und Nationalsozialismus — Ständische Professionalisierung in der dt. Lehnwortbildung und -flexion seit dem Späthumanismus — Sozialgeschichtliche Aspekte des Sprachenlernens im 18./19. Jh. — Soziopragmatische Aspekte des englisch/ amerikanischen Spracheinflusses vom 18. bis 20. Jh. — Sprachenpolitische Entwicklung an der deutsch-romanischen, deutsch-niederländischen und deutsch-dänischen Sprachgrenze — Probleme innerdeutscher Minderheitensprachen durch Arbeitsimmigration im 19./20. Jh. — Inter-/übernationale Stellung der deutschen Sprache. Soziopragmatische relevante Sprachmittel: Modalpartikeln, Gesprächswörter, Sprachhandlungsausdrücke vom 16 . bis 19. Jh. — Historische Anrede- und Höflichkeitsformen, Wandel in der Gegenwartssprache — Politisch-soziale Begriffswörter — Werbedeutsch — usw.
6.
Literatur (in Auswahl)
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2. Deutsche Sprache und Gesellschaft in historischer Sicht
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I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
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Peter von Polenz, Trier
3. Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte von Institutionen
3. 1. 2. 3. 4. 5.
Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte von Institutionen Klöster im frühen Mittelalter und die deutsche Sprache Kanzleien im hohen und späten Mittelalter und die deutsche Sprache Sprachgesellschaften im 17. Jh. und die deutsche Sprache Der Allgemeine Deutsche Sprachverein im 19./20. Jh. und die deutsche Sprache Literatur (in Auswahl)
Im Laufe der Geschichte der dt. Sprache — von den Anfängen bis in die Gegenwart — haben Faktoren unterschiedlicher Art auf ihre Entwicklung eingewirkt. In diesem Zusammenhang soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit Institutionen die Herausbildung und Entwicklung des Deutschen beeinflußt haben. Dabei werden unter Institutionen sowohl von Staat und Kirche einerseits, von anderen gesellschaftlichen Kräften andererseits geschaffene Einrichtungen verstanden, deren Wirken dem Wohl des einzelnen wie der Gemeinschaft dient. Aus dem Kreis möglicher Institutionen, die in der Sprachgeschichte wirksam wurden und die Entwicklung des Deutschen — neben anderen — mitbestimmt haben, sollen beispielhaft ausgewählt werden (1) die Klöster im frühen Mittelalter, (2) die Kanzleien im hohen und späten Mittelalter, (3) die Sprachgesellschaften im 17. Jh. und (4) der Allgemeine Deutsche Sprachverein im 19./20. Jh. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die Einflußnahme auf die Sprachentwicklung durch die jeweiligen Einrichtungen mit unterschiedlicher Zielstellung erfolgte und auch verschieden war.
1.
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Klöster im frühen Mittelalter und die deutsche Sprache
Die entscheidenden Schritte auf dem Wege von germ. Stammessprachen der Alemannen, Bayern, Franken, Thüringer zu frühdeutschen Schreibdialekten werden im 8./9. Jh. u. Z. in Klöstern gemacht, die im Zuge der Christianisierung der Germanen gegründet wurden. Diese Klostergründungen, die sich im Rahmen von christlicher Mission und frk. Reichsgeschichte vollziehen, sind gleichzeitig Hauptorte and. Überlieferung. Im frahd. Raum lassen sich folgende Bewegungen in der Mission feststellen: — ir. Mission (seit 600 mit Kolumban in der nördlichen Schweiz und im Bodenseegebiet, Gall(us) seit 612 in St. Gallen, Kilian in Würzburg, Korbinian in Freising). — ags. Mission (seit 700 mit Bonifatius im Raum Mainz, Fulda, Würzburg).
— wgot.-frk. Mission (im 8. Jh. mit Pirmin auf der Reichenau und in Murbach sowie des frk. Wanderbischofs Emmeram in Regensburg).
Auch für das Asächs., den nördlichen Nachbarn des Ahd. im Nordwesten des heutigen dt. Sprachgebietes, lassen sich für das 8.—12. Jh. Schreiborte bestimmen, deren Schwerpunkt zunächst im Ruhr- und Weserraum liegt, später auch ostwärts an der mittleren Elbe. Einige wichtige Kloster- und Domschulen als Bildungszentren des frühen Mittelalters, in denen des Lateins kundige Mönche um die Schaffung volkssprachlicher Schreibdialekte ringen, seien genannt: St. Gallen (6 14), Salzburg (um 700), Reichenau (724), Freising (739), Fulda (744), Lorsch (764). Ziel der Arbeit an der Sprache ist die Schaffung von Schrifttum christlichen Inhalts in der Volkssprache, mit deren Hilfe die in einer bäuerlichen Kultur lebenden Germanen christianisiert werden können. Dazu gehört vor allem christliches Gebrauchsschrifttum (Gebete, Taufformeln, das Glaubensbekenntnis), aber auch die Übersetzung von Teilen der Bibel. Sonderegger (1979, 147) charakterisiert das Ergebnis dieser Bemühungen folgendermaßen: „Mit dem Eintreten eines geschriebenen Deutsch in die handschriftliche Überlieferung seit dem 8. Jahrhundert ist bereits ein sprachgeschichtlicher Verwandlungsprozeß eingeleitet, welcher die bäuerlich bestimmten südgermanischen Stammesdialekte des Binnenlandes über das Medium der lateinischen Bildungstraditionen zur neuen Kultursprache der althochdeutschen Schreibsprachen führt.“
Die Arbeit an den Schreibsprachen beginnt mit der Adaptierung des lat. Alphabets. Die Mönche ringen um eine Graphieregelung — unter Beschränkung auf die 24 Zeichen des lat. Alphabets — für eine bis dahin nicht schriftlich aufgezeichnete Volkssprache. Die Ergebnisse dieses Prozesses sind, wie die Anfangszeilen aus 3 Fassungen des „Vaterunser“ deutlich machen, von Scriptorium zu Scriptorium verschieden. St. Galler Paternoster, Ende 8. Jh., alem.: Fater u nseer, thû pist in himile, u nihi namu n dînan, qhu eme rîhhi dîn, u u erde u u illo diin, sô in himile sôsa in erdu. Altbairisches Paternoster, Anfang 9. Jh., bair.: Fater u nsêr, dû pist in himilu n, kau u ihet sî namo dîn, piqhu eme rîhhi dîn u u esa dîn u illo, sama sô in himile est, sama in erdu. Paternoster aus dem „Weißenburger Katechismus“, Anfang 9. Jh., rhfrk.: Fater u nsêr, thu in himilom bist, giu hît si namo thîn, qu aeme rîchi thîn, u u erdhe u u illeo thin, sama sô in himile endi in erthu.
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In jedem Kloster entwickeln sich im frühen Mittelalter eigene Schreibtraditionen. Oft stammen die Mönche jedoch nicht aus der Gegend, in der das Kloster liegt, sondern aus weiter Ferne und bringen dann ihre Schreibgewohnheiten mit. Wenn Handschriften aus anderen Klöstern ausgeborgt und abgeschrieben werden, entstehen oft Mischungen zwischen der eigenen Schreibweise und der der Vorlage. Arbeiten am Wortschatz vollziehen sich in der Glossenarbeit, über die Wort-für-Wort-Übersetzungen aus dem Lat. in die von der jeweiligen Kleriker- oder Mönchsgemeinschaft gesprochene Mundart, die keineswegs immer dem in der näheren Umgebung des Schreibortes gesprochenen Dialekt entspricht. An der Spitze dt. Schrifttums steht der „Abrogans“, ein splat., alphabetisch geordnetes Wörterbuch, so genannt nach seinem ersten lat. Stichwort. Es ist ein rein lat. Werk, eine Synonymensammlung, die zu jedem Stichwort eine Reihe bedeutungsgleicher Wörter stellt. Die Übertragung des „Abrogans“ erfolgt in der Domschule zu Freising unter Leitung des Bischofs Arbeo (764—83). Im folgenden soll ein kleiner Ausschnitt aus dem dt. „Abrogans“ diese Arbeit am Wortschatz illustrieren. Abrogansaotmot (‘demütig’) humilis samftmoat(‘sanftmütig’) faterlih (‘väterlich’) Abba (‘Vater’) fater pater Abnuere pauhnen (‘zeichnen’) renuere pipauhnen(‘bezeichnen’) Ein ähnliches Herangehen an den Wortschatz liegt in den Interlinearversionen vor, bei denen jedem einzelnen lat. Wort innerhalb eines fortlaufenden Textes seine dt. Entsprechung übergeschrieben wird. Hier liegt dann auch die Vorschule für die Übersetzung ganzer zusammenhängender Texte und damit für einen großen Teil der Literatur in der karolingischen Zeit. „Diese lebhafte Glossenarbeit hat ihre Früchte getragen. Sie wurde die große Schule der deutschen Sprache zur Aneignung der neuen Bildungsschätze und zur Bewältigung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten“ (de Boor 1962, 31). Vor welchen Schwierigkeiten die Mönche und Kleriker bei der Übersetzung lat. Wortgutes stehen, zeigt z. B. die Wiedergabe von lat. resurrectio ‘Auferstehung’. Eggers (196 3, 249) kann 12 verschiedene Versuche nachweisen, das lat. Wort in der Volkssprache angemessen wiederzugeben, nämlich: u rrist, u rrestî, u rstant, u rstôdalî, u rstendi, u rstendî, u rstendida, u rstendidi, irstandinî, arstantnessî, erstantnunga, ûferstênde. Im Ringen um den angemessenen Ausdruck geht man verschiedene Wege. Dafür seien je-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
weils einige Beispiele angeführt. Einige der erforderlichen Bezeichnungen werden direkt aus dem Lat. entlehnt und dem Charakter der Volkssprache mehr oder weniger angepaßt. Dazu gehören u. a. ahd/lat. cella ‘Zelle’, ahd. klostar (über vulglat. clostru m aus lat. claustrum), münster (< lat. monasterium), mönch (über vulglat. monicus aus lat. monachus), probost ‘Propst’ (auf vulglat. propositu s zurückgehend), cu stor ‘Küster’ (über vulglat. cu stor auf lat. cu stos zurückgehend). Auf direkter Entlehnung beruhen auch ahd. scu ola ‘Schule’ (über vulglat. scola aus lat. schola) und scriban ‘schreiben’ (< lat. scribere). Entlehnt wird auch das in der Wortbildung besonders produktive Suffix -âri (< lat. -arius), mit dessen Hilfe Nomina agentis gebildet werden. Von Anfang an findet es sich bei Lehnwörtern wie mulinâri (< lat. molinarius), ‘Müller’, zolonâri (< lat. tolonarius), ‘Zöllner’; aber bald werden auch Erbwörter der Volkssprache mit diesem Suffix versehen, z. B. lerâri ‘Lehrer’, helfâri ‘Helfer’, su onâri ‘Richter’. Oft finden sich auch — was von der Produktivität des Suffixes zeugt — Erbwörter mit dem der Volkssprache eigenen und dem entlehnten Suffix nebeneinander, z. B. gebo — gebâri ‘Geber’, scepfo — scepfâri ‘Schöpfer’, becko — beckàri ‘Bäcker’.
Bei der Bewältigung der neuen christlichen Glaubensinhalte geht man jedoch auch andere Wege. Man versucht die genaue Nachahmung eines fremden Wortes mit den Mitteln der eigenen Sprache. Da die Geistlichen das Lat. beherrschen, fällt es ihnen meist nicht schwer, den Bau kirchensprachlicher Ausdrücke zu durchschauen. So wird z. B. lat. ex-surgere als ûf-stân/ ûf erstân, com-mun-io als gi-mein-ida, domus dei als gotes hu s übersetzt, com-pater ‘Pate’ als gifater-o. Den größeren Teil christlicher Begriffe für die abstrakten Glaubensvorstellungen der neuen Lehre stellen jedoch Lehnbedeutungen dar. Der Missionar sucht nach dem Ausdruck in der Volkssprache, der am ehesten einer bestimmten Glaubensaussage entspricht. Ahd. suntea ‘Sünde’ bedeutet ursprünglich ein Verhalten, dessen man sich wegen eines Verstoßes gegen Sitte und Rechtsordnung zu schämen hat. Die Mission bezieht es auf die Übertretung der göttlichen Satzungen. Umgedeutet werden auch ahd. bijicht, zunächst die feierliche Aussage vor Gericht mit ihrer Verpflichtung zur Wahrheit, dann Beichte im christlichen Sinne, oder ahd. buozza, ursprünglich die Vergütung, den Ersatz für den angerichteten Schaden bezeichnend, dann im Sinne der christlichen Beichte verwendet. Ahd. dru htin, zunächst der Gefolgschaftsherr, bietet die Voraussetzungen, um zur Bezeichnung des christlichen Herren, Christus, z. B. im asächs. „Heliand“, herangezogen zu werden. An der Gestaltung des werdenden Deutsch zu einer Kultursprache, mit deren Hilfe auch kom-
3. Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte von Institutionen
plizierte Gedankengänge ausgedrückt werden können, sind einige Kleriker und Mönche in besonderem Maße beteiligt. Aus ihrem Kreis — stellvertretend für andere — sei vor allem Notker III von St. Gallen (um 950—1022) hervorgehoben. Er gehört zu denen, die im kirchlich-klösterlichen Bereich an der Ausbildung einer dt. Sprache der Wissenschaft maßgeblich beteiligt sind. Notkers Übersetzung der „Consolationes philosophiae“ des Boethius stellt das erste philosophische Werk in der Volkssprache dar. Er bietet keine einfache Übersetzung mehr, sondern fügt fortlaufend auch inhaltliche Erklärungen zu den übersetzten Stellen bei, die er oft aus Kommentaren schöpft. Übersetzung und Erklärung werden zu einer Einheit verschmolzen. Dadurch, daß er einige lat. Fachausdrücke, die offenbar schon geläufig sind, unübersetzt läßt, entsteht eine Art Mischprosa und damit ein Stil, der auch weiterhin beim Übergang vom frühen zum hohen Mittelalter gepflegt wird.
2.
Kanzleien im hohen und späten Mittelalter und die deutsche Sprache
Im 14. bis 16 . Jh., der frühbürgerlichen Zeit, gehören zu den Einrichtungen, die wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung der dt. Sprache, speziell in ihrer geschriebenen Form, haben, fürstliche und städtische Kanzleien. War das Schreibwesen in den Klöstern, Universitäten, Kanzleien, an Fürstenhöfen und in Städten noch vorwiegend ein Privileg von Geistlichen, werden in den Kanzleien seit der Mitte des 14. Jhs. vereinzelt auch nichtklerikale Schreiber eingestellt. Im 15. Jh. sind solche Lohnschreiber schon in der Mehrheit; es existieren auch Schreibergruppen unter einem pronotariu s. Durch die Einführung des Amtes eines Stadtschreibers im Laufe des 14. Jhs. wird der Gebrauch des Deutschen in Alltagstexten erheblich gefördert. Städtische Schreiber, die in der Regel entsprechend ihren Aufgaben gebildet sind, vor allem juristisch, haben als Notare, Protokollanten, Zeugen, Berater des Magistrats nicht nur Amtliches und Rechtliches zu formulieren und zu Papier zu bringen; sie sind als homines litterati darüber hinaus für vielfältige Aufgaben tätig, als Chronisten, Briefsteller, Übersetzer, Schreiblehrer. Auswirkungen der Tätigkeit von Kanzleien auf die Sprachentwicklung zeigen sich in vielfacher Hinsicht: Teils liegt eine bewußt vorangetriebene und gezielte Einflußnahme vor, teils beruht die Wirksamkeit von Kanzleien in sprachlichen Fragen auf dem Vorbildcharakter, der ihren sprachlichen Erzeugnissen zugeschrieben wird. Zu den bemerkenswertesten Leistungen, die von
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Kanzleien in den genannten Jahrhunderten ausgehen, gehört u. a. die Ablösung des Lat. in verschiedenen Bereichen durch die Volkssprache, das Deutsche. Seine Verwendung in Urkunden und Urbaren neben dem Lat. und dann schließlich statt des Lat. beginnt in alem. Südwesten, im Oberrheingebiet Mitte des 13. bis zur Mitte des 14. Jhs. Der Übergang zur Volkssprache in ihrer hd. Prägung, der nicht nur von der mangelnden Lateinbildung neuer Schreiber- und Leserschichten verursacht ist, sondern auch bedingt ist von der Ausweitung auf neuartige städtische Kommunikationssituationen und Textsorten, setzt eine intensive Arbeit am Deutschen voraus, das für diese neue Aufgabe entsprechend geformt werden muß. Das gilt im übrigen in gleicher Weise für den Übergang vom Lat. zum Mnd. in den fürstlichen Kanzleien Norddeutschlands. — Arbeit mit der Sprache und damit Einflußnahme liegt auch vor, wenn Kanzleien vom Gebrauch des Niederdeutschen zum Hochdeutschen übergehen. In den Kanzleien nrddt. Fürsten ist dieser Übergang verbunden mit der Berufung studierter Kanzleivorsteher und Schreibkräfte aus dem Süden, die in Leipzig oder Wittenberg die Universität besucht haben oder vorher bereits an Kanzleien des hd. Gebietes tätig gewesen sind. In Norddeutschland folgen in diesem Prozeß die Kanzleien der Städte erst mit beträchtlichem Abstand und zunächst in der Weise, daß nur im auswärtigen Schriftverkehr an Empfänger im hd. Gebiet, an Landesherren oder Reichsinstitutionen, wie z. B. das Reichskammergericht, danach an andere nrddt. Städte hochdeutsch geschrieben wird. In Berlin z. B. stellt der Stadtschreiber J. Nether, seit 1504 im Amt, im ersten Jahrzehnt des 16 . Jhs. die Stadtkanzlei auf den schriftlichen Gebrauch des Hochdeutschen um. Im mündlichen Verkehr dominiert damals immer noch das Niederdeutsche; aber diese Entscheidung für das Hochdeutsche, die nicht nur seine Kenntnis beim Stadtschreiber und dessen Mitarbeitern voraussetzt, sondern auch Formung und Gestaltung dieser Sprachform verlangt, stellt einen wichtigen Orientierungspunkt für die weitere Sprachentwicklung Berlins und seiner Umgebung dar. Die Vorbildwirkung von Kanzleischrifttum, von Gesetzen, Verordnungen, Urkunden usw., ist dann besonders groß, wenn die jeweilige Kanzlei im Auftrage eines Landesfürsten, Kurfürsten oder gar des Kaisers handelt. Das gilt natürlich auch für die dabei verwendeten Schreib- und Stilmuster, selbst für die Orthographie. In diesem Zusammenhang seien die kurfürstliche Kanzlei der Wettiner in Wittenberg und die kaiserliche Kanzlei in Wien unter Kaiser Maximi-
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lian (1493—1519) besonders hervorgehoben, unter dessen Kanzler Niclas Ziegler viel zur systematischen Vereinfachung der graphematischen Varianten, z. B. bei der Monophthongierung, und von Konsonantenhäufungen wie ff, cz, dt getan wird. Städtische wie fürstliche Kanzleien tragen auch — ohne daß es zu ihren Absichten gehört — zur Ausbildung der nhd. Standardsprache bei. Am Beginn ihrer Herausbildung stehen mehrere landschaftliche Schreibsprachen; unter ihnen spielen die des omd. Raums mit der kurfürstlichen Kanzlei in Wittenberg und die des oobd. Gebietes mit der kaiserlichen Kanzlei in Wien sowie weiteren kaiserlichen Institutionen in Regensburg und Nürnberg eine besondere Rolle. Die Bedeutung der Prager Kanzlei Karls IV, in der man mehrere Jahrzehnte nach den Forschungen von A. Bernt und K. Burdach Keime für die sich ausbildende dt. Standardsprache sieht, wird dabei überschätzt; ihr wird eine Bedeutung beigemessen, die ihr real nicht zukommt. — Die Standardsprache entwickelt sich in einem komplizierten, mehrere Jahrhunderte dauernden Prozeß der Sammlung, Auswahl und des Ausgleichs zwischen den verschiedenen Schreibdialekten. Kanzleien fördern Auswahl und Ausgleich durch das von ihnen ausgehende Schrifttum, und zwar sowohl innerhalb des einzelnen Territoriums, in dem eine Kanzlei Geltung besitzt, als auch über deren Grenzen hinaus. Im Kanzleischrifttum verzichtet man auf die Verwendung lokaler Besonderheiten und nimmt bei einem Adressaten, der außerhalb der eigenen Grenzen sitzt, auf dessen sprachliche Gepflogenheiten Rücksicht, d. h. die Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs wird vorangetrieben. Die Vorbildwirkung des entsprechenden Schrifttums verstärkt den Effekt, die Sprachform wird nachgeahmt.
3.
Sprachgesellschaften im 17. Jh. und die deutsche Sprache
Im 17. Jh., einer Zeit, der vor allem der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen das Gepräge geben, werden in Deutschland — nach ital. Vorbild und sicher unter dem Einfluß der Niederlande — Sozietäten gegründet, heute Sprachgesellschaften genannt, deren Zielstellungen sich aus der politischen und sozialen Misere der Zeit ergeben. In diesen Sozietäten werden übergreifende Konzepte zur moralischen und kulturellen Erneuerung Deutschlands entwickelt; einen Schwerpunkt darin stellen sprach- und literaturreformerische Überlegungen dar, die jedoch kein Selbstzweck sind, sondern eines der Werkzeuge zur Durchsetzung dieser übergreifenden Zielstellungen. Bevor auf die Aktivitäten der Sprachgesellschaften — Institutionen im Sinne der Thematik —
im Hinblick auf die dt. Sprache und die Entwicklung unter den Bedingungen des 17. Jhs. eingegangen wird, seien die wichtigsten von ihnen hier kurz genannt und ihre Intentionen, die sich allerdings nur geringfügig unterscheiden, kurz charakterisiert. Zu den bedeutendsten gehört die „Fruchtbringende Gesellschaft“, später auch „Palmenorden“ genannt; begründet wird sie 16 17 in Weimar von Fürst Ludwig von Anhalt aufgrund einer Anregung von Caspar von Teutleben. Sitze und Tagungsorte der Gesellschaft, die bis 16 80 besteht, sind Weimar, Köthen und Halle. Unter den 890 nachgewiesenen Mitgliedern sind die sprachund literaturgeschichtlich wichtigsten der Begründer Fürst Ludwig, Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg, A. Gryphius, Chr. Gueintz, G. Ph. Harsdörffer, F. von Logau, J. M. Moscherosch, M. Opitz, J. Rist, J. G. Schottel, C. D. Stieler und Ph. von Zesen. Aus den Satzungen, die einen ersten allgemeinen und einen zweiten, spezielleren Teil enthalten, werden die Ziele deutlich. Zuerst wird gefordert, jeder Gesellschafter solle „erbar/weiß/tugendhaft/höflich/ nutzlich und ergetzlich/gesell- und mässig sich überall bezeigen / rühm und ehrlich handeln / bey Zusammenkunften sich gütig/frölich und vertreulich/in Worten/Geberden und Werken treulichst erweisen und gleichwie bey angestellten Zusammenkunften keiner dem andern ein widriges Wort vor übel aufzunemen hochlich verboten. Also solle man auch dagegen aller ungeziemenden Reden und groben Schertzens sich zu enthalten/festiglich verbunden sein.“ Des weiteren und vor allem solle den Gesellschaftern „obliegen / unsere hochgeehrte Muttersprache / in ihrem gründlichen Wesen / und rechten Verstande / ohn Einmischung fremder ausländischer Flikkwörter / sowohl in Reden / Schreiben als Gedichten / aufs allerzier- und deutlichste zu erhalten und auszuüben.“ — Weitere Gründungen sind als Ergebnis des Impulses zu sehen, den die „Fruchtbringende Gesellschaft“ gegeben hat. Sie haben aber durchaus ihre eigene Individualität, verfolgen ihre Ziele auf ähnlichen, aber nicht ganz gleichen Wegen. Die „Deutschgesinnte Genossenschaft“ wird 16 42/43 in Hamburg von Ph. von Zesen begründet und besteht bis 1708. Unter den 207 Mitgliedern befinden sich G. Ph. Harsdörffer, J. Rempler von Löwenhalt, J. M. Moscherosch. Die Mitglieder sind zum größten Teil bürgerlicher Herkunft; ziemlich groß ist der Anteil Geistlicher. Entsprechend stehen im Zentrum nicht so sehr ethisch-patriotische Ideale, sondern die christlichen Haupttugenden. Zesen bemüht sich sowohl um die Regelung orthographischer Fragen als auch um die Reinigung der dt. Sprache von Wortschatzelementen fremder Herkunft. — Stärker literarisch ausgerichtet ist der „Pegnesische Blumenorden“, der 16 44 von J. Klaj und G. Ph. Harsdörffer, seinem ersten Oberhaupt, gegründet wird. Zu den bekannteren Mitgliedern gehören J. Rist und J. G. Schottel; auch Frauen befinden sich darunter. Im Vordergrund des theoretischen Interesses stehen metrische und rhetorische Fragen, die mit der dichterischen Praxis der Gesellschaft zusammenhän-
3. Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte von Institutionen
gen. — 16 58 wird in Wedel bei Hamburg der „Elbschwanorden“ von dem dortigen Pastor J. Rist ins Leben gerufen. In Konkurrenz mit der dortigen „Deutschgesinnten Genossenschaft“ stehend besteht er bis zu Rists Tod 16 6 7. Die Mitglieder sind vorwiegend bürgerlicher Herkunft, 36 von 45 insgesamt sind gekrönte Poeten. — Erwähnt sei noch die „Aufrichtige Tannengesellschaft“, 16 33 gegründet in Straßburg von J. Rompier von Löwenhalt, der engere Beziehungen zu Zesen hat. Zu den Mitgliedern, deren Zahl bewußt klein gehalten wird, zählen J. M. Moscherosch und G. R. Weckherlin.
Die Sprachgesellschaften, die von den besonderen dt. Verhältnissen der frühen absolutistischbildungsbürgerlichen Epoche geprägt sind, gehören hinsichtlich ihrer Vorbilder in einen westund südeurop. Zusammenhang des Späthumanismus. Bei der „Fruchtbringenden Gesellschaft“, deren Vorbild die 1582 gegründete „Accademia della Crusca“ ist, läßt sich ital. Einfluß direkt nachweisen. Bei der „Deutschgesinnten Genossenschaft“ ist dagegen nl. Vorbild wahrscheinlich. — Über die Bedeutung der Sprachgesellschaften im ganzen ist man sich in der Forschung keineswegs einig. Das gilt im besonderen für literaturhistorische Fragen. Es ist jedoch sicher, daß sie im literarischen Leben des 17. Jhs. eine bedeutende Rolle spielen. Sie „waren die sichtbaren Zentren dieses Lebens, sie förderten die literar. Produktion und bestimmten in weitem Ausmaß die Themen und die Richtung der Diskussion, sie waren auch dank ihres Ansehens ein wichtiger literatursoziologischer Faktor“ (Moser 1979, 130). — Die Leistungen der Sprachgesellschaften für die Sprache, „die edele hochdeutsche Sprache“ oder „ädele Deutsche Helden- und Muttersprache“, die „erhalten, vermehrt“, deren „Fortpflanzung befördert“ werden soll, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen. (1) Übersetzung: Große praktische Wirkungen im Rahmen der Bemühungen, die dt. Sprache literaturfähig zu machen, hat die Übersetzungstätigkeit, die meist auch programmatisch als Vorbereitung für eigene literarische Werke gefordert wird. Verschiedene Mitglieder von Sprachgesellschaften sind als Übersetzer bekannt. „Zweck dieser Sprachübungen war vor allem das Experiment der Nachahmung bestimmter (ausländischer) Stilformen. Übersetzungen aus modernen Fremdsprachen, vor allem Französisch, überwogen solche aus dem Lateinischen und Griechischen“ (v. Polenz 1994, 119). (2) Orthographie: In den einzelnen Sprachgesellschaften bemüht man sich um die Regelung orthographischer Probleme. Als offizielles Produkt der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ kann die „Deutsche Rechtschreibung“ von Chr.
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Gueintz (16 45) betrachtet werden; sie ist von Fürst Ludwig in Auftrag gegeben worden. — Auch Ph. von Zesen beschäftigt sich mit orthographischen Fragen. Bei dem Versuch, die Orthographie umzugestalten, berücksichtigt er zu wenig bestehende Gewohnheiten, unterschätzt damit die soziale Wirklichkeit der Sprache und überschätzt die Einwirkungsmöglichkeiten einzelner auf diese Realität. Für die Entwicklung der Orthographie insgesamt bleiben seine Bemühungen folgenlos. (3) Wortschatz: Mitglieder von Sprachgesellschaften ringen um die Vermeidung, Ersetzung und Verdeutschung fremdsprachlicher Wörter, ein Phänomen, das häufig unter dem Stichwort des „Fremdwortpurismus“ zusammengefaßt wird. Für die Forderung nach der Vermeidung von Fremdwörtern im hohen poetischen Stil mag auch folgender Satz aus dem „Buch von der Deutschen Poeterey“ (16 24) von M. Opitz stehen: „So stehet es auch zum hefftigsten unsauber / wenn allerley Lateinische / Frantzösische / Spanische und Welsche Wörter in den text unserer rede geflickt werden.“ Für die Arbeit mit dem Wortschatz sollen exemplarisch Verdeutschungsversuche von Ph. von Zesen herangezogen werden. Viele seiner Vorschläge für Übersetzungen, die auch nl. Vorbilder haben, können sich durchsetzen, weil sie systemgerecht sind, meist gleichberechtigt neben dem Fremdwort, das erhalten bleibt: Abstand — Distanz Anschrift — Adresse Gesichtskreis — Horizont Grundstein — Fundament Leidenschaft — Passion Rechtschreibung — Orthographie Trauerspiel — Tragödie Verfasser — Autor. Daneben existiert eine Reihe von Übersetzungsvorschlägen, die von der Sprachgemeinschaft offenbar als nicht normgerecht empfunden und daher nicht akzeptiert werden, z. B. Anatom — Entgliederer Botaniker — Krautbeschreiber Juwelier — Edelgesteinkrämer Natur — Zeugemutter Dazu gehören auch bereits von Zeitgenossen belächelte Vorschläge wie Ju ngfernzwinger für Nonnenkloster, Tageleu chter für Fenster, Weiberbu rg für Harem. Zesen, ein großer Wortschöpfer, überzieht gelegentlich und neigt zur Radikalisierung. Trotzdem muß ihm „das Verdienst zugeschrieben werden, ein sprachkritisches Bewußtsein in Deutschland provoziert zu haben, das mit langfristiger Wirkung bis zum 20. Jh. nicht nur als blindwütiger Fremdwortpurismus angewandt worden ist“ (v. Polenz 1994, 122).
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4.
Der Allgemeine Deutsche Sprachverein im 19./20. Jh. und die deutsche Sprache
Zu den Einrichtungen, die im ausgehenden 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jhs. erheblichen Einfluß auf die Entwicklung der dt. Sprache haben, gehört der von H. Riegel am 10. 9. 1885 in Dresden gegründete „Allgemeine Deutsche Sprachverein“, seit 1923 nur noch „Deutscher Sprachverein“. Ziel der Arbeit des Vereins, in dem bis zu seiner Auflösung 1940 so bekannte Sprachpfleger wie der Braunschweiger Museumsdirektor H. Riegel, sein Begründer, der Dresdener Gymnasialprofessor H. Dunger und der preußische Oberbaurat O. Sarrazin wirken, besteht darin, die dt. Sprache von „unnöthigen fremden Bestandtheilen“ zu reinigen, „die Erhaltung und Wiederherstellung des echten Geistes und eigenthümlichen Wesens der deutschen Sprache zu pflegen — und auf diese Weise das allgemeine nationale Bewußtsein im deutschen Volke zu kräftigen“ (§ 1 der Satzung). Der Verein, der sich aus einer großen Anzahl von lokalen Zweigvereinen zusammensetzt, vereinigt in sich Sympathisanten aus allen Gegenden und sozialen Schichten, vor allem Lehrer und Beamte, meist aus der Verwaltung; er hat 1891 bereits 11 000 und 1919 etwa 39 000 Mitglieder. Die von ihm herausgegebene „Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins“ (seit 1923 „Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins“), die vor allem ein Diskussionsforum für Vorschläge zur Ersetzung bzw. Verdeutschung von Fremdwörtern darstellt, wird 1925 (Jg. 40) in „Muttersprache — Zeitschrift des Deutschen Sprachvereins“ umbenannt. Zur Unterstützung seiner Arbeit werden besondere Hilfsmittel, Verdeutschungsbücher, herausgegeben, die entsprechende Vorschläge für einzelne Sachbereiche, z. B. den Handel, die Heilkunde oder das Versicherungswesen enthalten. Es gelingt dem Sprachverein, trotz teils heftiger Opposition aus Kreisen von Schriftstellern und Gelehrten durch seine Veröffentlichungen, Rundschreiben, Eingaben an Behörden und Ministerien, öffentliche Versammlungen, Preisausschreiben, Pressemitteilungen breite Unterstützung zu finden. Er wird oft, vor allem von Behörden, in beratender Funktion herangezogen. In folgenden drei sprachlichen Bereichen bemüht sich der Sprachverein, der die Muttersprache und ihren Gebrauch verbessern will, um Einflußnahme auf die Entwicklung des Deutschen. (1) Rechtschreibu ng: Zu Beginn der zwanziger Jahre wird eine Reform der dt. Rechtschreibung
für nötig gehalten, da die Belastungen im Unterricht der Schulen durch die bestehenden Normen für die Schüler als zu hoch angesehen werden. Im Jahr 1920 veröffentlicht A. Schmits in der vereinseigenen Zeitschrift einen Artikel mit dem Thema „Was muß eine neue Rechtschreibung leisten?“ Als Grundsatz, von dem eine Reform sich leiten lassen müsse, schlägt Schmits vor: „Zu erstreben ist eine möglichst einfache, möglichst lauttreue, vor Mißständen möglichst geschützte Schreibung, die leicht zu lernen und leicht zu behalten ist“ (Schmits 1920, 6 8). Er empfiehlt z. B. Vereinfachungen bei Dehnungen, setzt sich für die Beseitigung von g und h in Fremdwörtern ein, ebenso für die Ersetzung von v durch f sowie von ph durch f in Fremdwörtern. Die Abschaffung der Großschreibung gehört jedoch nicht zu seinen Forderungen. — Der Vorstand des Sprachvereins weist die Vorschläge von Schmits zurück. O. Sarrazin verweist auf einen Beschluß aus dem Jahre 1920, nach dem der Gesamtvorstand die Zeit nicht für geeignet hält, eine an sich wünschenswerte Vereinfachung der dt. Rechtschreibung durchzuführen, und unterbreitet den Vorschlag, das Vorhaben auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen. Gleichzeitig werden wirtschaftliche Gründe angeführt, die gegen eine Rechtschreibreform sprechen. (2) Sprachstil: Die Sprachberatung entwickelt sich im Laufe der Zeit als Ergebnis nachweisbarer praktischer Erfolge zu einem wichtigen Betätigungsfeld von Vertretern des Sprachvereins. Vor allem nach der wirkungsvollen Mitarbeit an der sprachlichen Bearbeitung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) machen Reichs- und Länderbehörden davon Gebrauch, Rat in Fragen sprachlicher Gestaltung von offiziellen Texten einzuholen. Vor allem Formulierungen in Gesetzen und Verordnungen werden stilistisch bearbeitet, der syntaktische Aufbau wird durchsichtiger und einfacher gestaltet durch Auflösung von Schachtelsätzen, durch Satzumstellungen, Kürzungen. Folgender Ausschnitt aus einer Verordnung zeigt den Textentwurf (oben) und seine Bearbeitung (unten) durch den Sprachverein: „Vorschriften der Ausführungsbehörden über das Verhalten, das die Versicherten zur Verhütung von Unfällen zu beobachten haben, sind, sofern sie Strafbestimmungen enthalten sollen, vor dem Erlasse mindestens 3 Vertretern der Arbeiter zur Beratung und gutachtlichen Äußerung vorzulegen.“ „Will die Ausführungsbehörde, um Unfälle zu verhüten, Vorschriften mit Strafbestimmungen gegen Versicherte erlassen, so sind mindestens 3 Vertreter zur Beratung und zum Gutachten zuzuziehen.“
3. Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte von Institutionen
Schwerfällige Ausdrucksweisen werden beseitigt, entbehrliche Fremdwörter aus den Texten entfernt oder durch Verdeutschungen ersetzt. 1899 überreicht z. B. der Staatssekretär des Reichsschatzamtes dem Vorsitzenden des Sprachvereins den Entwurf zu einem Zolltarifgesetz mit der Bitte, diesen auf seine Sprache zu prüfen und mit Verbesserungsvorschlägen zu versehen. In der so verbesserten Fassung werden u. a. folgende Fremdwörter verdeutscht: Alkohol, Spiritu s (Weingeist); ätherische Öle (flüchtige Öle); denatu riert (u ngenießbar gemacht); Effekten, Materialien, Utensilien (Sachen, Gegenstände); Fabrikate, Prod u kte (Erze u gnisse); hermetisch verschlossen (lu ftdicht verschlossen); imprägniert (getränkt); kondensierte Milch (eingedickte Milch); Medizin (Heilmittel); Ozokerit (Erdwachs); Petrole u m (Erdöl); raffiniert (gereinigt); Zellulose (Zellstoff).
(3) Wortschatz: Haupttätigkeitsfeld des Sprachvereins ist der Wortschatz, genauer: die Reinigung der Muttersprache von fremden Bestandteilen (Fremdwortpurismus). In der praktischen Arbeit bedeutet das die Vermeidung von Fremdwörtern oder ihre Ersetzung durch gute Verdeutschungen. Man sagt zwar nicht allen Fremdwörtern grundsätzlich den Kampf an, sondern nur den entbehrlichen; allerdings gelingt es, solange der Sprachverein existiert, nicht, von allen akzeptierte Kriterien für Entbehrlichkeit und Nichtentbehrlichkeit zu entwickeln. O. Sarrazin, der selbst zahlreiche gute Verdeutschungen beisteuert, gibt 1918 zu bedenken, daß nicht alle Fremdwörter zu verwerfen seien. Für ihn sind viele von ihnen wertvolle Zeugnisse kulturgeschichtlicher Entwicklungen, die die Muttersprache bereichert haben und daher erhaltenswert sind. Von Vertretern des Sprachvereins werden zu einer Reihe von Sachbereichen Verdeutschungsbücher veröffentlicht. Die bekanntesten Verdeutschungshilfen (die Jahreszahl nennt das Jahr der ersten Auflage) sind: 1. Die Speisekarte (1888) 2. Unsere Umgangssprache (1890) 3. Die Heilkunde (1891) 4. Die Amtssprache (1892) 5. Tonkunst, Bühnenwesen, Tanz (1899) 6. Sport und Spiel (1903) 7. Das Versicherungswesen (1916) 8. Das deutsche Buchgewerbe (1919). Diese Bücher enthalten das, was nach Auffassung des Bearbeiters verdeutscht werden kann; es sind keine vollständigen Wörterbücher des jeweiligen Sachgebietes. Den einzelnen Verdeutschungsbüchern sind unterschiedliche Erfolge beschieden. Sehr gefragt ist das unter Leitung von K. Bruns erarbeitete Büchlein „Die Amtssprache“, von dem 13 Auflagen erscheinen. Hier
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werden auch die sprachlichen Besonderheiten Österreichs und der Schweiz berücksichtigt, so daß es über die Grenzen Deutschlands verwendbar ist. Staatliche und kommunale Dienststellen ziehen dieses Werk nicht nur zu Rate, sondern empfehlen es amtlich zur Anwendung, lassen sogar Auszüge für den Dienstgebrauch herstellen. „Die Amtssprache“ enthält eine Sammlung von Verdeutschungen für Fachwörter aus dem Gerichtswesen, der Gemeinde- und Polizeiverwaltung, der Diplomatie, der Heeresverwaltung. Auch die technische Verwaltung bei der Post, im Eisenbahnwesen, im Bauwesen wird einbezogen. Hier ist allerdings kaum noch Spielraum für Verdeutschungen, nachdem bereits 1874 der Generalpostmeister H. von Stephan nicht weniger als 700 fremdsprachliche Ausdrücke der Postordnung und der Postdienstanweisung durch Erlaß hat verdeutschen lassen und entsprechende Verdeutschungen auch bei der Eisenbahn und im Bauwesen auf Veranlassung und durch aktive Mithilfe des preußischen Oberbaurates O. Sarrazin, des späteren Vereinsvorsitzenden, vorgenommen worden sind. — Bei der Arbeit am Wortschatz nach Sachgruppen werden häufig Fachleute in die Arbeit einbezogen. Vom Dresdener Zweigverein werden z. B. unter Leitung von H. Dunger für die erste Auflage der „Speisekarte“ (1888) zunächst etwa 300 Verdeutschungen vorgeschlagen, die mit Hilfe des Dresdener Gastwirtevereins erarbeitet werden. Die Wege zur Durchsetzung von Verdeutschungsvorschlägen und die Aussicht auf deren Akzeptanz sind unterschiedlich. O. Steuernagel (1926 , 6 0), der die Einwirkungen des Sprachvereins auf die dt. Sprache untersucht hat, charakterisiert das folgendermaßen: „Die Einwirkungen des Spr.-V. lassen sich in erster Linie bei den Behörden in der amtlichen Sprache nachweisen; von hier aus haben sich dann die Neuerungen in der Gemeinsprache durchgesetzt. Überall da, wo es dem Spr.-V. gelang, eine größere Gruppe von Menschen, sei es eine Behörde oder eine Körperschaft, die sich — wie z. B. ein Sportverband — freiwillig zusammengefunden hatte, für seine Bestrebungen zu gewinnen, war ihm auch der Erfolg sicher. Führt irgendeine Behörde eine deutsche Bezeichnung für ein Fremdwort ein, so wird die Neuerung wohl eine Zeitlang heftig angefeindet, bis man sich daran gewöhnt hat und kein Mensch mehr etwas dabei findet. Das Neue setzt sich unbedingt durch, weil das Alte aus allen amtlichen Bekanntmachungen, Schriftstücken usw. verschwunden ist. Wollen jedoch wenige einzelne irgendeine fremde Bezeichnung verdeutschen, die der Umgangssprache angehört, so stoßen sie sicher auf unüberwindliche Schwierigkeiten; denn in der Regel ist der Widerstand größer als der Wille und die Kraft, dem Neuen zum Siege zu verhelfen.“
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
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5.
Literatur (in Auswahl)
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Joachim Schildt, Mannheim
4. Deutsche Sprachgeschichte und Kirchengeschichte
4. 1. 2. 3. 4.
1.
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Deutsche Sprachgeschichte und Kirchengeschichte Sprache und Religion —Grundproblematik Historische Skizze: Kirchen-Einflüsse auf die deutsche Sprachentwicklung Zusammenfassender Überblick Literatur (in Auswahl)
Sprache und Religion — Grundproblematik
1.1. Religiöses Sprechen beschäftigt sich mit Gott. Dieser aber ist, wie alles Metaphysische, nicht konkret faßbar. Sprache als direkte Aussagequalität erweist sich daher in transzendenten Bereichen als unzulänglich. Das Problem religiösen Sprechens besteht darin, wie die logische Sprachebene auf eine Sprache des Pneumas hin überschritten werden kann. Möglichkeiten solchen durchlässigen Sprechens liegen a) im inhaltlich-semantischen Bereich des Worts: Metaphorik, Symbolik, Bedeutungsänderungen; b) im Bereich der Satzstruktur: die Tiefenstruktur eines Satzes geht intentional oft über dessen formal-grammatische Logik hinaus (z. B. in der Allegorie). Das Sprachmittel der Plurivalenz ist somit notwendiges Medium, um die zentralen spirituell-religiösen Bereiche überhaupt ansprechen zu können. Schwerpunktmäßig handelt es sich hierbei um einen Rede-Typus, in dem auch das Schweigen eine wichtige Stelle einnimmt (v. Balthasar 1960, 135). 1.2. In Spannung dazu basiert der christliche Glaube auch auf der Überzeugung, daß Gott ein Sprechender, daß er Logos ist. Dessen Selbstoffenbarung geschah in den Büchern der Bibel historisch-konkret. In diesem Sinn ist Christentum durch das heilige Buch im besonderen eine Sprachreligion (Heeroma 196 5, 8; 14). Heilige Sprachen und Offenbarungsinhalte müssen daher in andere Sprachen übersetzt werden. Insofern handelt es sich hier um einen Text-Typus, der den Gesetzen des Logos der jeweiligen konkreten Sprache unterliegt. 1.3. Das Problem christlich-religiösen Sprechens beruht darin, die Verbindung zwischen Logos und Pneuma sprachlich zu leisten. Im logischen Aussagebereich ist gefordert, die historische Offenbarung in ihre situative und aktuelle Referenz des Heute zu überführen. Der „nichtaussageartige Bereich“ (Grabner-Haider 1975, 21) verweist auf seelische Erfahrungen, die relativ konstant erscheinen. Die Untersuchung von Einwirkungen kirchlicher Vorgänge auf die dt. Sprachentwicklung wird daher einmal ihren Blick auf jene verstandesmäßigen Übersetzungs-
und Anpassungsprozesse richten, die dauernden historischen Veränderungen unterliegen. Andererseits gilt es, die sprachliche Erschließung der nicht-kognitiven, pneumatischen Ebene zu betrachten, weil hier die Sprache selbst an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit geführt wird.
2.
Historische Skizze: Kirchen-Einflüsse auf die deutsche Sprachentwicklung
2.1. Bereiche religiösen Sprechens (religiöse Textsorten — diachron) Die mündliche und die schriftliche Glaubenssprache gehen im Deutschen von Anfang an parallel, auch wenn die Übersetzungsproblematik in der Sprachgeschichte überlieferungsbedingt dominiert. Deshalb ist darauf zu achten, daß die funktional mündlichen Elemente (vgl. 1.1.) in ihrem pneumatischen Gehalt erfaßt und nicht nur textgeschichtlich mißverstanden werden. 2.1.1. Verkündigung und Katechese stehen im Zentrum volkssprachlicher missionarischer Bemühungen. Im Blick auf die Adressaten handelt es sich zeitlich hierbei um Perioden, die sich durch eine primäre oder eine sekundär notwendige Indoktrination auszeichnen: so in der Erstmission in Deutschland vom 7. Jh. ab, dann in der Reformationsperiode (16 . Jh.), insgesamt in Zeiten starker mündlicher Ansprache an breite Volksschichten (ahd.-mhd. Periode, Barock). Die ersten dt. Predigten begegnen vom 10. Jh. ab, umfangreich seit dem 13. Jh. Inhaltlich gruppieren sie sich um die Themen: Bekehrung, Buße, künftiges Gericht (Cruel 196 6 , 104). Später finden sich vor allem die beiden Großgruppen textualer und thematischer Predigten mit den Neuerungen: systematische Textdeutung und spirituelle Themenzyklen. — Entsprechend der intendierten Änderung von Verhaltensnormen spielen darin zunächst germ. Rechtsbegriffe eine Rolle, deren Verständnis christlich modifiziert wurde — Lehnbedeutung (z. B. Schu ld, Bu ße, Sünde — Weisweiler 1930, 168 ff.). Parallel dazu läuft die sprachliche Neukonstitution eines christlichen Gottesbildes im Spannungsfeld zwischen germ. und christlich-lat. Vorstellungen (Gott: Neutrum oder Maskulinum? dominus = tru htin? Christu s = heilant? ‘heilago geist’ oder ‘wîh âtu m’? — vgl. Moser 196 4, 23 ff.). Die Stärke der Predigt liegt im unmittelbaren Eingehen auf den aktuellen Hörerbezug. Sprachlich wird dies durch die Übernahme des direkten umgangssprachlichen Stils wie durch die Prägung plastischer Bilder (vgl. Luther) deutlich. Historisch konservieren daher überlieferte Predigten
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zahlreiches primäres Wortmaterial oder sonst unbekannte Situationsanalysen der Zeit (vgl. Berthold von Regensburg, Geiler von Kaisersberg, Abraham a Santa Clara). — Die katechetischen Bemühungen in ahd. Gebetsübersetzungen (Vaterunser, Credo) oder liturgischen Texten (Beichte, Katechismus, Taufgelöbnis) spiegeln das Übersetzungsproblem aus dem Lat. insofern akzentuiert wider, als im kirchlich-organisatorischen Bereich mit der neuen Sache auch eine Fülle von Lehnwörtern begegnet (z. B. Kirche, Messe, opfern, Priester), die inhaltlich zugleich mit einer Absage an Gewohntes verbunden ist (z. B.: ophorôn statt blu ozan/geltan, priester statt êwart). Volks-Predigt und Volks-Katechese werden von Anfang an vermutlicherweise dt. gehalten (Cruel 196 6 , 217), auch wenn die erhaltenen Predigten des Mittelalters nicht unmittelbare Niederschläge jener mündlichen Ansprachen, sondern eher „Lesepredigten“ (Steer 1987, 319) sind. 2.1.2. Im Verlauf der dt. Sprachgeschichte markiert die Bibel drei zentrale Phasen des Wechselverhältnisses von Religion und Sprache, das an folgenden Stellen skizziert sei: (1) die ahd./ frmhd. Bibelübersetzungen, (2) die Lutherbibel, (3) die ökumenische Einheitsübersetzung vom Jahr 1978. Vgl. hierzu ausführlich Art. 16 . (1) Der Stellenwert der ‘heiligen Schrift’, überliefert in einer sakralen Sprache (Lat.), war zur Zeit der Missionierung derart, daß jedes Wort der Bibel als heilig galt und durch lange Tradition legitimiert war. Folglich kam es darauf an, die Bibel möglichst wortgetreu ins Dt. zu übertragen. Durch exakte Erfassung des Wort-Logos glaubte man, den Sinn des Ganzen am besten zu treffen. Dieses Denken führte formal zur Interlinearversion, d. h. einer zwischen den Zeilen stehenden Wort-für-Wort-Übertragung von lat. Texten ins Ahd.; beim Wortschatz brachte es die Glied-für-Glied-Übersetzung von lat. Wörtern mit dt. Sprachmaterial, die Lehnbildungen hervor (z. B. misericordia — armherzî). — Aufgrund dieses Denkens verläuft die Verchristlichung germ. Vorstellungen fast ausschließlich über die Wortebene. Am gebräuchlichsten ist dabei der Vorgang, daß heimische Wörter mit neuen religiösen Inhalten gefüllt werden (z. B. fides — gilouba, religio — êwa, salus — sâlida). Diese Lehnbedeutungen machen mehr als die Hälfte des adt. religiösen Wortschatzes aus (Betz 1974, 142 ff.; Moser 196 4, 14). Deshalb weist selbst die heutige religiöse Sprache zahlreiche ursprünglich profane heimische Wörter auf, die teilweise noch aus vorchristlicher Zeit stammen (Lindqvist 1937, 21 ff.). Ergänzend ist anzumerken, daß
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
schon in diesen frühen monastischen Übersetzungsbemühungen zahlreiche Abstraktsuffixe eingeführt werden (-i, -ida, -nissa, -u nga, -heit, -od, -tu om, -scaft), daß sich deren systematische Anwendung jedoch erst in der dt. Mystik zeigt. (2) Den Anstoß zu Luthers Neuübersetzung der Bibel zu Beginn des 16. Jhs. gab seine veränderte theologische Auffassung gegenüber verschiedenen traditionell-kirchlichen Lehren. Für sein Textverständnis war dabei entscheidend, daß der Gesamtsinn (Abschnitt, Satz) vor der punktuellen Sinndeutung (Wort) den Vorzug erhielt, das Pneuma also über die sklavische Einhaltung des Logos gestellt wurde (Tschirch 196 6 , 48 ff.). Deutlichstes Zeichen dafür ist der ‘sola fide’-Streit, in dem Luther die Einfügung des Wortes ‘sola’ gegen den buchstäblichen Text (Röm. 3, 28) als sinnotwendige Verdeutlichung rechtfertigt. Diese grundsätzliche Stellungnahme für das Pneuma einer Sprache bewirkt letztlich einen neuen Sprach- und Übersetzungsstil. Für Luther heißt das konkret: Rückgriff hinter die Vulgata auf den hebr.-griech. Urtext um der größeren Sinngenauigkeit willen; Einfügung von Sprachpartikeln zur Sinnverdeutlichung; Bedeutungsänderung von zentralen religiösen Begriffen durch ein vom traditionellen abweichendes Verständnis (z. B. ‘Glaube’, ‘Buße’, ‘Gnade’, ‘Sünde’); Ersatz veralteter dt. Wörter durch Anpassung an den zeitgenössischen Sprachgebrauch. Zweck gerade der letzten Maßnahme ist Luthers erklärte Absicht, in verständlichem Dt. für „die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt“ (WA 30, 2, 6 37) zu schreiben. Deshalb bezieht er die Alltagssprache in seinen Wortgebrauch mit ein (vgl. Wolf 1980, 47) und deshalb stärkt er die Bildhaftigkeit der Sprache (z. B. ‘anfahren’ für: ‘heftig ansprechen’). Seine zahlreichen Neuprägungen (Erben 1974, 527 ff.; 572 ff.) sind selten echte Neuschöpfungen, sondern vielmehr religiös veränderte Verwendungsweisen bisher profaner Ausdrücke (z. B. Abendmahl, Gottesfu rcht) oder säkular gebrauchte Bilder mit biblischem Hintergrund (Linsengericht, Lückenbüßer). Insofern ist Luther weniger Sprachschöpfer als Sprachgestalter. Der Einfluß seiner Bibelübersetzung liegt darin, daß er ein neues Ganzes geschaffen hat, das Sinneinheiten für den Verständnishorizont einer breiten Öffentlichkeit angemessen überträgt. Dazu gehört neben der eingängigen Bildhaftigkeit und dem Gebrauch der Alltagssprache nicht zuletzt eine Sprachform, die über Grob-Mundartliches hinausführt und so einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung der nhd. Schriftsprache hat. Durch die ungeheure Verbreitung dieses Buchs — jede zweieinhalbte Hausgemeinschaft besaß um
4. Deutsche Sprachgeschichte und Kirchengeschichte
1550 einen (Teil-)Druck von Luthers Bibelübersetzung (Tschirch 196 6 , 5) — und durch die Anlehnung späterer, auch katholischer Übersetzer, daran wurde die Lutherbibel für drei Jahrhunderte zum „Lehrbuch der deutschen Sprache schlechthin“ (Schmitt 1944, 120). (3) Prägen die ahd. Bibelübersetzungen vor allem die Semantik und den Wortschatz des Dt. mit, so wird am Beispiel der revidierten sog. Einheitsübersetzung von 1978 vor allem die Autonomie der Sprache gegenüber der Religion deutlich. Die neuzeitliche Sprachentwicklung seit dem 19. Jh. geht an der Kirchensprache, die von Formelhaftigkeit, Kanonisierung und historischen Bedeutungsfixierungen weithin geprägt ist, vorbei. Entscheidend ist die rituelle Verwendung von Bibeltexten im Kult daran beteiligt. Aufgabe einer neuen Übersetzung mußte somit sein, religiöse Inhalte in einer säkularisierten Sprache auszudrücken, und zwar in wissenschaftlich gesicherter, aber auch einem Nichtgläubigen gut verständlichen Form. Signifikant ist die Bedeutung dieser Übersetzung im ökumenischen Bereich: erstmals seit Luther ist es in dieser Übersetzung gelungen, auf der Basis einer säkularisierten Sprache semantische Textdifferenzen der Konfessionen zu überbrücken — durch erneuten Rückgang auf den Sinn des Urtextes und durch gemeinsame Übertragung der historischen auf die aktuelle Referenzebene (Plöger/ Knoch 1979, 19). Auch eine Bibelübersetzung lebt heute weitgehend im Sprachbereich der Pragmatik und begreift sich primär als hermeneutisches Problem: Eine Übersetzung — gut für wen? (Wandruszka 1978, 12 ff.). Die zu berücksichtigenden Varianten dabei sind: historische Zeitdifferenz, soziale und sprachliche Höhenlage, Funktion und Verwendung (Verkündigung, Schule, Liturgie, Gesang) sowie die verschiedenen literarischen biblischen Gattungen (Erzählung, Normatives, Weisheitsliteratur, Hymnik). Als Folgerung daraus zeigt sich: Die gegenwärtige säkulare dt. Sprache hat offenbar auch die Gehalte der christlichen Religion in sich integriert. Bibelsprache ist daher heute nicht (mehr) nur göttlich, sondern wesentlich menschlich. Heeroma stellt daher zu Recht fest: „Die Sprache hat ihre eigene Religion“ (Heeroma 1965, 25). 2.1.3. Im christlichen Kult stellt sich das Sprachproblem als ein zweifaches dar: einmal die grundsätzliche Frage, ob es eine eigene Kultsprache gibt, und wenn ja, wie diese aussieht. Konkret ist dabei die Spannung zwischen Verständlichkeit und Mysterium angesprochen. Zum anderen geht es um die Alternative universale und „heilige“ Sprache Lat. oder Volkssprache. Beginnen wir mit letzterem.
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2.1.3.1. Die entscheidenden Weichen für den Gebrauch des Dt. in kultischen Handlungen wurden durch die Kapitularien Karls des Großen, insbesondere durch die Admonitio generalis vom Jahre 789, gestellt. Vor dem Hintergrund des Lat. wird darin als Minimum der volkssprachlichen Missionierungsarbeit festgeschrieben: Verkündigung des Evangeliums und der Predigt auf dt., Bekanntmachung der Heiligenfeste, Gebrauch des Apostolischen Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers auf dt., ebenso dt. Beichtformulare und Taufgelöbnisse (Ehrismann 1959, I, 291 ff.). Die Messe selbst bleibt lat. Das gilt in dieser Form praktisch unverändert bis ins späte Mittelalter. Weitergehende Reformversuche werden von der Kirche ins Sektierertum abgedrängt (bes. die Waldenser). Wie aus den überlieferten ahd. Zeugnissen bekannt ist, ist dieser Minimalkatalog geringfügig zu erweitern durch verschiedene Weihungen und Segnungen (Ehrismann 1959, I, 104 ff.), durch die Nachlaßformel beim allgemeinen Sündenbekenntnis und in der Messe durch das Gedächtnis der Lebenden und Toten (Cruel 1966, 223 ff.). — Die Sprachbedeutung dieser Stücke liegt darin, daß durch deren regelmäßigen Gebrauch im Kult (Sonntagsmesse) oder Ritus (Sakramente und Segnungen) sich eine Art unveränderbare Formel herausgebildet hat, die sich gedächtnismäßig stark einprägt. Da es sich darunter beim Credo und beim Vaterunser um zentrale Glaubensstücke handelt, erhalten die so benutzten dt. Wörter typische Prägekraft im christlichen Sinn mit stark memorierender Wirkung. Die sich auf diese Weise herausbildende Formelhaftigkeit und Traditionsgebundenheit gilt bis heute als eines der Kriterien kultischen Sprechens (Moser 196 4, 45). In der Übergangszeit vom Heidentum zum Christentum (und vielfach noch später) kann die Formelhaftigkeit von rituellen Gebeten oder Segnungen auch den Charakter des Magisch-Beschwörenden tragen. — Der totale Neueinbruch der Volkssprache in den lat. christlichen Kult erfolgt mit der Reformation, wo Schriftlesung, Feier des Abendmahles, Gebete und Lieder ausschließlich dt. abgehalten werden. Wesentliche Einflüsse für die erwähnte Wirkung von Luthers Bibelübersetzung (2.1.2.) sind in deren ausgedehntem kultischen Gebrauch zu sehen, wodurch sich eine wörtlich gleichbleibende Textvermittlung allmählich in ganzen Formel-Sätzen einprägen konnte (z. B. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über — Mt. 12, 34). Die katholische Kirche mochte sich, trotz der Trennung der Altkatholiken um 1871 und deren Zuwendung zum Dt. als Liturgiesprache, bis zum II. Vatikanischen Konzil (196 2—196 5) nicht zur grundsätzlichen Öff-
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nung der Meßfeier für die Volkssprache entschließen. Erst jetzt erfolgt die Ausweitung des lat. Ritus auch auf den Gebrauch der Volkssprache, allerdings nur bei nach wie vor gültiger Präferenz des Lat. als Kultsprache (II. Vatikanisches Konzil, Liturgie-Konstitution §§ 36 , 54). Die darauf basierende, vom Rat der Ritenkongregation 196 9 erstellte „Instruktion über die Übersetzung liturgischer Texte [...] in die Volkssprache“ (Plöger/Knoch 1979, 128 ff.) ist wohl die ausführlichste und detaillierteste Übersetzungsanweisung moderner Philologie mit klarer Benennung und Wertung der Kriterien. Sie greift die seit Luther gesammelten Erfahrungen auf und verbindet sie mit dem modernen Wissenschaftsund Funktionsanspruch von Texten. So sind u. a. folgende Kernfragen darin behandelt: Sprache als personale Begegnung, als Mysterium, Erfassung des Sinns von Texten, was ist mitzuteilen?, Adressaten, Art und Weise der Vermittlung. — Theoretisch ist hier die Chance einer zeitgemäßen Verkündigung voll erfaßt und ausgewogen in Grundsätze umgesetzt. Unverkennbar dabei ist die gegenüber früher veränderte Blickrichtung kultischen Sprechens auf den konkreten Menschen hin. 2.1.3.2. Die zentrale Frage, ob es eine eigene Kultsprache gibt, wurde unter Hinweis auf deren Formelhaftigkeit, Unveränderbarkeit und deren traditionsgebundene Fixierung der Wortbedeutung (vgl. 2.1.3.1.) teilweise schon positiv beantwortet. Hinzu kommt ein Weiteres. Die Feierlichkeit des gemeinsamen Tuns erwartet auch eine aus dem Alltäglichen herausgehobene, gemeinsame Sprache. Liturgisches Beten beispielsweise ist von einem anderen Sprachstil getragen als das private Gebet. Vulgärsprachliches wie nur Regionalsprachliches werden vermieden, ebenso der Individualstil des Sprechers. Darüber hinaus aber ist bedeutungsvoll, daß im Kult die funktionsgebundenen Textsorten deutlich in mindestens zwei Gruppen unterschieden werden (Kahlefeld 1978, 71 ff.): einmal solche Formen, die — wie das gemeinsame Lobgebet, Akklamation, Hymnen oder Lieder — aus dem Prosaduktus heraustreten und die rhythmisch gebundene Sprache wählen. Der ‘Sitz im Leben’ solchen Sprechens oder Singens ist offenkundig der Gottesdienst der Gemeinde. Diesbezügliche Sprachprägungen des Dt. sind im geistlichen Lied schon früh deutlich, da hier eine eigene Metaphorik von Ehrfurcht, Dank und Preis gegenüber Gott oder seinen Heiligen zum Ausdruck kommt, die seit dem 12. Jh. auch auf weltliche Dichtung übertragen wird (z. B. im Minnesang — Kesting 1965, passim). — Die zweite Textgruppe — in Prosa — umfaßt Erzählungen und lehrhafte Ausführungen, die als Adressaten nicht Gott ha-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
ben, wie die erste Textgruppe, sondern die Gemeinde (Lesung der Bibel, Predigt). — Für beide Fälle gilt, daß die Vertonung solcher Texte emotional noch stärker beeindruckt und sprachlich deutlich konservierende Tendenzen in sich birgt (vgl. die evangelischen Choräle oder die Oratorien von J. S. Bach). — Doch ist die systematischvergleichende Erfassung der Pragmatik religiösen Sprechens in unterschiedlichen Texttypen als Problem erst ansatzweise erkannt (Steger 1984, 119). 2.1.4. Die Sprache der religiösen Erfahrung und der Mystik erschließt zentral den Bereich der Innerlichkeit. Hier liegt im Dt. wohl die bedeutsamste Sprachprägung durch die Religion vor. 2.1.4.1. Systematisch: Im Erleben, besonders in den Gemütswerten und den Affekten, erfährt sich der Mensch grundsätzlich unmittelbar und absolut. Die Aufmerksamkeit richtet sich hier mehr auf Vorgänge der Innenwelt als auf das Äußere, im religiösen Bereich mehr auf Gott und die eigene Beziehung zu ihm als auf die Einhaltung einer bestimmten Glaubenslehre. Vorrangig vor jeder sprachlichen Äußerung ist die eigene gemachte Erfahrung; es sind nicht bestimmte Denkkategorien. Erfahrung gilt als Maßstab und Korrektiv für jeden Versuch einer Beschreibung des Unsagbaren. Die Logik der Sprache versagt vor dem Absoluten, vor Gott, vor dem Gefühl für Realitäten, die nicht mit dem Verstand zu erfassen sind. Deshalb zwingt die Unzulänglichkeit des begrifflichen Denkens den Mystiker, mit nichtbegrifflichen sprachlichen Stilmitteln eine Annäherung an das Unsagbare zu versuchen. Er treibt die Sprache bis zum Äußersten ihrer Möglichkeiten, um ihr System zu transzendieren (Haas 1979, 29). — Drei Sprachmodi signalisieren die grundsätzliche Einschränkung gegenüber metaphysischen Aussagen wie auch gegenüber solchen des Emotionalbereichs: (a) die Versicherung, daß das Ausgesagte dem Eigentlichen nicht voll entspricht, (b) die Aussage beschreibt nur die Bedingungen der Möglichkeit, unter denen sich bestimmte Erfahrungen einstellen können,(c) man versucht, die Sprache als Medium selbst durchsichtig zu machen. Als Mittel hierzu werden vor allem von den dt. Mystikern des 14. Jhs. folgende entwickelt: (1) Wortbildu ng: (1 a) Abstraktbildungen auf -heit, -keit, -u ng (den lat. -tas und -tio-Suffixen entsprechend), neu und umfassend angewendet: als Denominativa/Deverbativa (înbildu nge, einu nge, einheit), Pronominalbildungen (sînesheit, selbesheit), Partizipialbildungen (abgescheidenheit, gewordenheit); (1 b) Substantivierung von Infinitiven (daz însehen, daz geschehen); (1 c) Anwendung von Negationspräfixen
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oder -suffixen: ab-, ent-, u n-, -lôs (u nbegrîfelich, abescheiden, entvremeden, bildelôs); (1 d) Überbietung und Steigerung: Präfix über- (übersprechelich, überweselich). (2) Stilmittel: (2 a) Reihung und Variation; (2 b) Steigerung und Hyperbel; (2 c) Antithese und Paradoxie; (2 d) Metaphorik.
All diese Sprachmittel laufen im wesentlichen auf folgende Ausdrucksfunktionen hinaus: (1) Zentrales Anliegen religiös-mystischen Sprechens ist die Vergeistigung. Dem dient die Abstraktion (das Weggehen vom konkreten Einzelnen) wie auch die Bildlichkeit, d. h. dem Zwang zur Übertragung des Gesagten als einem nur vordergründig Uneigentlichen. Gerade die Metaphorik vermittelt eine wichtige Ausdrucksmöglichkeit: mit ihrer Symbolik erschließt sich eine Ganzheit, die sprachlogisch nur partiell erfaßt werden kann. (2) Mystisches wie emotionales Sprechen sind von einer eigenen Intensität, Rhythmik und Dynamik geprägt, die Zeichen einer Bewegung sind: mit dem Zurücknehmen oder Verneinen des Gesagten und der mehrfachen Neusetzung bzw. dessen Steigerung wird das Vorläufige, Uneigentliche dieses Sprechens betont. Antithese und Paradoxie zwingen das Denken in Widersprüche, die — weil unvereinbar — in der Denkbewegung von und zu Extremen das sprachliche Kausalgefüge bewußt sprengen (Zapf 196 6 , 388 ff.). Diese Dynamik deuten auch die zahlreichen lokalen Richtungspräfixe (au s-, ein-, tief-, über-) an. (3) Durch das substantivische Umschreiben dieser Dimension führt die Erfahrung in den Gegenpunkt jener Bewegung: in das Bleibende, die Ruhe, in die Seins-Mystik. Alle Veränderlichkeit ist hier abgefallen, man steht im Wesen und im Wesentlichen (= mystische Wortbildungen). — Zusammenfassend erschließt die mystische Sprachbemühung für das Dt. somit folgende Möglichkeiten: (a) durch den Abstraktionsprozeß schafft sie für sämtliche spätere Philosophien erst das Wortmaterial und die Ausdrucksmöglichkeiten, um metaphysische wie anthropologische Grundfragen erörtern zu können; (b) das Unaussagbare, das sich in der Begegnung zwischen Gott und Mensch, aber auch zwischen den Menschen, ereignet, wird hier sprachlich so weit an eine Grenze geführt, daß dahinter jenes Andere geahnt werden kann. Poesie wie Humanwissenschaften haben die von der Mystik bereitgestellten Stilmittel aufgegriffen, um Gefühle oder transzendente Erfahrungen auszudrücken. 2.1.4.2. Historisch: Die Sprachbewältigung der Innenwelt verläuft historisch in Schüben. Während die ahd./frmhd. Zeit damit beschäftigt war,
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Gott, Jenseits und moralische Qualitäten zunächst einmal als ‘Dinge’ zu benennen, zeigt sich mit der Hoheliedauslegung des 12. Jhs. im St. Trudperter Hohenlied erstmals der subjektivmystische Horizont (Ohly 1954/55; 184 f.). Denken, Fühlen und Wollen streben zur Einheit mit Gott. Der Drang, jene Einheitserfahrungen mitzuteilen, bedingt das Ringen mit der dt. Sprache. Erste Ergebnisse: Es erscheinen im Text keine lat. Ausdrücke mehr; die dt. Formulierungen aber schöpfen nicht neu, sondern erweitern und vertiefen vorhandene Begriffe (z. B. Geist, Minne). Neu dagegen ist die affektive Sprache dieser „Brautmystik“ (Intensität, Metaphorik); neu ist auch der Versuch, Erleben als sprachimmanente Bewegung auszudrücken (Wodtke 1952, 177 ff.). — Der nächste Anstoß geschieht in der dt. Mystik vom Ende des 13. Jhs. ab (vgl. 2.1.4.1.). Was damals an Neuformungen Eingang ins Dt. gefunden hat, ist in seinen Auswirkungen kaum abzuschätzen. Vertiefung nach innen, Differenzierung des gesamten intellektuellen (dazu unten 2.1.5.) und emotionalen Sprachfelds verbunden mit einem breiten Ausbau der einschlägigen Wortfamilien (Moser 196 4, 34 ff.) erlauben erst von da ab eine mit dem Lat. vergleichbare dt. Ausdrucksgestaltung. — Nach einem weiteren Zeitsprung finden wir vor allem bei dem weit ausstrahlenden Jacob Böhme (gestorben 16 24) mystische Elemente, dort jedoch vermischt mit Sprachgut der Alchemie, der Lutherbibel und von Valentin Weigel. Ohne Böhmes Naturmystik und ohne seine „dynamischen Begriffe“ (Grunsky 1956 , 101 ff.) (d. h. die Verwendung von Synonymen und Wendungen der Ungleichheit, um ihren transzendenten Bezugspunkt anzuzielen) wären die Philosophie der Romantik, der radikale Pietismus und nicht zuletzt das Denken Hegels schwer vorstellbar. Die Böhme bedrängende religiöse Einheitsschau ist säkularisiert übergegangen in die Denk- und Sprachbewegung der ‘coincidentia oppositorum’ — bis hin zu Teilhard de Chardin. — Während die Barocksprache vor allem die geistliche Metaphorik pflegt und ausweitet, findet sich im Pietismus (ab 16 70) die letzte kirchengeschichtliche Bewegung, die einen deutlichen Einfluß auf die Sprache erkennen läßt. Im Mittelpunkt der Erfahrung steht das aktuelle Geschehen zwischen Gott und Seele, sprachlich ausgedrückt vor allem durch die Dominanz von Verben und durch zahlreiche (zum Teil aus der Mystik übernommene) verbale Präfixbindungen (ent-, er-, hin-, zu -, an-, herab-, hin-, du rch-), die die Bewegung des Menschen zu Gott und umgekehrt andeuten wollen. Daneben spielen, wie in der Mystik, Abstraktbildungen eine große Rolle (Langen 1954, 381 ff.). — Mit der seit dem 18. Jh. zunehmenden
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Säkularisierung ist ein Zurückdrängen der ursprünglich transzendenten Perspektive der Innerlichkeit auf eine immanente Dimension deutlich. Als ‘heilige’ Bereiche gelten jetzt Freundschaft, Liebe, Natur und Kunst, die jedoch mit denselben pietistischen Sprachmitteln beschrieben werden (Langen 1983). Bemerkenswerterweise gehen dadurch aber nicht nur bestimmte Sprachelemente verloren, sondern auch die zugehörige Erfahrung selbst, die in den Meditationsbewegungen des späten 20. Jhs. zunächst meist nonverbal wiedererworben werden will. 2.1.5. Die Wissenschaftssprache der Theologie ist bis in die frühe Neuzeit die Wissenschaftssprache schlechthin, nicht zu unterscheiden von Philosophie, Recht oder anderen Disziplinen. Im übrigen dominiert hier das Lat. noch bis ins 18. Jh. Dennoch markieren zwei Perioden bemerkenswerte Neuansätze: (1) das Ahd. um 1000 mit Notker dem Deutschen; (2) die dt. Scholastik besonders des 13./14. Jhs. (1) Notker war Lehrer an der Klosterschule von St. Gallen und übersetzte für den Unterricht Werke des Boethius, Martianus Capella, Aristoteles und den Psalter. Seine Aufmerksamkeit richtete sich vordergründig zunächst auf eine Systematisierung der alem. Sprache: Die Orthographie erscheint bei ihm geregelt, phonetische Unterschiede werden sorgfältig verdeutlicht (etwa in dem nach ihm benannten Notkerschen Anlautgesetz), zur Regelung der Tonverhältnisse führt er ein Akzentsystem ein, ebenso versucht er, die Interpunktion normierend anzugehen. Inhaltlich konzentrieren sich seine Übersetzungen wie Erläuterungen auf Werke der Septem artes, weil sie als Vorschule für die Theologie verstanden werden. Dies drückt sich vor allem in Notkers lat.-dt. Mischprosa aus, die die zentralen lat. Begriffe stehen läßt, den Kontext und Kommentar dazu aber dt. gibt. Auf diese Weise führt Notker die Volkssprache bis an die lat.-gelehrte Begriffssprache heran (Sonderegger 1987). (2) Der zweite Schritt der Begriffs-Verdeutschungen und der Übertragung ganzer spekulativer Gedankengänge erfolgt systematisch, auf den ahd. Isidor zurückgreifend, in der dt. Scholastik. Die Theologen der neugegründeten Bettelorden zielen mit ihrer Predigt auf die Bekämpfung ketzerischer Ideen im Volk (besonders der Katharer und Waldenser), was eine Übertragung scholastischer Theologie ins Dt. voraussetzt; andererseits versuchen sie, die wie eine Welle sich ausbreitenden mystischen Erfahrungen mit Hilfe ihrer ins Dt. übertragenen scholastischen Terminologie zu erfassen, zu erläutern und einzuordnen (Schmoldt 1954, 13). Deshalb beeinflussen sich hier die sprachlich-mystische Entgrenzung
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(der dynamische Aspekt) und der scholastischontologische Ansatz (als Seins-Mystik) gegenseitig (Quint 196 4, 121 ff.). Zumindest ist auffallend, wie häufig im 14. Jh. auf einmal Übersetzungen theologischer Traktate begegnen (vgl. Ruh 1956 , 34 ff.; Stammler 1954, 146 0 ff.). Was die Mystik für die dt. Sprache der Innerlichkeit leistet, schafft die dt. Scholastik für die sprachliche Differenzierung von Begriffen und Gedankengängen. Zentralbegriffe der Philosophie (Sein, Wesen, Geist, Gegenstand, Gru nd, Ursache) werden hier geprägt oder zumindest definiert. Die Leistung dieser Periode für die Wissenschaftssprache besteht allgemein in der Bereitstellung sprachlicher Möglichkeiten zur Abstraktion, konkret in der Schaffung einer allgemeingültigen philosophischen Terminologie, die bis heute wirksam ist (Steer 1987 b, 339 ff.). — Seit der Aufklärung scheint die Theologie eher die Terminologie anderer Wissenschaften in sich zu integrieren (historisch-kritische Forschung, empirische Sozialwissenschaft, Psychologie). Doch fehlen für diesen Bereich noch weitgehend entsprechende Sprachuntersuchungen. 2.1.6. Weltlichen Gebrauch religiöser Ausdrücke (wie Teu fel, Engel, heilig) gibt es schon seit jeher. Säkularisierung aber setzt (1) das Vorhandensein eines religiösen Verstehenshorizonts voraus, (2) das Vorhandensein eines autonomen weltlichen Wirklichkeitsbereichs (Ruh 1980, 335 ff.). Deshalb spricht man von Säkularisierung im eigentlichen Sinn (auch im Sprachbereich) erst vom 18. Jh. ab, als sich der profane Gebrauch religiöser Ausdrücke in auffallender Weise mehrte. Entscheidend ist dabei, daß die profane Wortbedeutung nicht nur neben, sondern an die Stelle der transzendenten Bedeutung tritt. Weiteres Kriterium ist, daß das religiöse Sprachgut allgemein, nicht nur der okkasionelle Gebrauch davon erfaßt wird. Der Abbau des religiösen Hintergrundes fällt mit der Aufklärung zusammen, deren rational-empirische Perspektive sich bis zur Gegenwart fortsetzt (Langen 1974, 55 ff.; 1983, 98). — Sprachliche Säkularisierung im engeren Sinn betrifft vor allem den Wortschatz. Hier sind es äußere Vorgänge kirchlicher Handlungen oder der Institution, die den Wortsinn verallgemeinern (Opfer, Messe, Fest, Marter, Sünde, Beichte, nüchtern, Reu e). Daneben ergreift die verallgemeinerte Bedeutung auch Vorstellungen des Innenbereichs (Geist, Seele, Glau be, anbeten, Heiligkeit, Bekehru ng). Eine noch deutlichere Herauslösung aus dem ursprünglichen Kontext zeigen zentrale Glaubensbegriffe, die lediglich noch zur Steigerung in Wortzusammensetzungen dienen: gottverlassen, gottserbärmlich, Teu felskerl, Höllentempo, Höl-
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lenlärm (Moser 196 4, 57). — Neben dem Wortschatz begegnet Säkularisierung aber genau so im literarisch-sprachlichen Bereich, wo die Übertragung teilweise verdeckter geschieht: (a) in der Säkularisierung religiöser Stoffe, Themen, Motive oder Situationen (z. B. der reuig heimkehrende Sohn, das Leidensmotiv), (b) in der Übernahme religiöser Zitate (aus der Bibel, liturgischen oder anderen kirchlichen Texten),(c) in der Übertragung religiöser Gattungen (Legende, Vita). — Ähnlich wie beim umgekehrten Prozeß der Eindeutschung aus dem Germ. ist aber nie eindeutig zu entscheiden, welche religiösen Konnotationen trotz des allgemein weltlichen Gebrauchs sich mit solchen Begriffen konkret verbinden. Denn die Sprachgemeinschaft wirkt hier nicht nur diachron, sondern auch synchron mit der lebenden Sondersprache der Gläubigen, die die traditionell-religiösen Begriffsinhalte für sich immer wieder zu aktualisieren suchen. 2.2. Kirchliche Strukturen und ihr Einfluß auf die Sprache Aus dem Bezugsfeld kirchlicher Öffentlichkeitsstrukturen sollen hier nur wenige Aspekte angesprochen werden, die für die Sprachpolitik nachhaltige Wirkung zeigen. 2.2.1. Das Frühstadium der Eindeutschung fällt mit der Missionierung (um 400—800) zusammen. Anstöße dazu gehen einerseits vom Nordwesten, vom ir. (seit 600) bzw. ags. Mönchtum (seit 700) aus, deren Mission über den Main an den Bodensee bis Freising und Salzburg führt. Andererseits drängt seit dem 5. Jh. von der Donau her das gotisch-arianische Christentum an den Rhein, von wo es — über den lat. Kulturbereich im Westen — bis an den Niederrhein und die Nordsee vordringt. Das Ringen des jeweils zugehörigen Wortschatzes um Durchsetzung zeugt von der Spannung dieses Vorgangs (z. B. ‘ther wîho âtu m’ des Südens gegen ‘ther heilago geist’ des Nordens). Vielfach vermittelnd und zuletzt dominierend steht die westgot. Mission (8. Jh.) dazwischen (z. B. (priest(er) gegen das nordische êwart bzw. gegen das got. pfaffo) (zur genaueren Differenzierung: Sonderegger 1979, 142 ff., 153; Frings 1949, 9 f.). Getragen von der Politik Karls des Großen wird Fulda zum geistigen Zentrum sowohl für die Missionierung der Sachsen, wie für die straffe Kulturorganisation durch die Klöster. In ihnen vereinigen sich politische und kirchliche Missionierung in Predigt, Schule und Schrifttum. Die Eindeutschung von lat. Kultur, Wissenschaft und christlichem Glauben ist die Leistung der Klostergelehrsamkeit des 8. und 9. Jhs., die mit Hilfe einer Großzahl von neugeschaffenen Lehnwörtern überhaupt erst die Re-
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zeption der lat.-frk. Kultur ermöglicht hat. Innerhalb dieses Rahmens tragen besonders die Übersetzungen der Bibel wie die Realbezeichnungen der kirchlichen Institutionen (Kirche, Messe, Opfer, Buße, Priester) zur Sprachformung des Deutschen bei. 2.2.2. Die Begründung eines Normensystems gehört zur Daueraufgabe einer Kirche. Daher verwundert es nicht, daß normative Formeln schon zum frühesten Dt. gehören (vgl. die ahd. Sündenbekenntnisse). Darüber hinaus jedoch geht es weniger um Einhaltung äußerer Vorschriften, als um deren ethisch-metaphysische Begründung. Auf diese Weise begegnen christliche Zentralbegriffe (Glaube, Hoffnung, Wahrheit, Sünde, Seligkeit, gut/böse, Demut, Stolz ...) schon im Ahd., ohne daß deren Begriffsinhalte jemals zeitlos gültig definiert werden könnten. Sie gehören zum Dauerproblem einer Sprache. Die Schwierigkeit der Bezeichnungen liegt darin, daß Wertungen und Ethik nicht direkt darstellbar sind. Deshalb entwickelt die Kirche ein Bezugssystem, nach welchem klare Innen-Außen-Relationen ablesbar sind: ‘Schönheit/Häßlichkeit’ etwa bekommt durch Analogie zum theologischen Schöpfungsgedanken die Wertung ‘gut/böse’. Ähnliches gilt für ‘Licht/ Finsternis’. Besonders das Hochmittelalter entfaltet so für alle Dinge des geschaffenen Kosmos eine Symbolbedeutung, die — wegen der semantischen Plurivalenz heute nur mit Mühe zu erschließen — oft größeres Gewicht besitzt als die Vordergrundbedeutung. So finden sich vom 14. Jh. ab umfangreiche Wörterbücher, die jene semantische Verweisstruktur lemmatisieren, entweder rein begrifflich (z. B. Mikro-/Makrokosmos), oder bildhaft (Spiegelmotiv für Gott/Welt, das Ganze/der Einzelne, äußerlich/innerseelisch); oder man entfaltet diese semantische Doppelstruktur in der Allegorie auch verbal (Ohly 1977, 22 ff.). Es erscheint paradox, daß ausgerechnet die innere Begründung eindeutiger Normen zur Auflösung der sprachlichen Eindeutigkeit führt. Die Entwicklung spiritueller Korrespondenzmodelle ist eine Leistung theologischmittelalterlichen Denkens, das als sprachliche Tiefendimension ins Dt. eingegangen ist. Die Verweisfunktion als solche bleibt durch die Säkularisierung unberührt, wenn auch die Bezugshorizonte sich ändern und je anders begründet werden. 2.2.3. Die pastorale Organisation der Kirche berührt unsere Fragestellung insofern, als einige Orden durch ihre gezielte seelsorgerische Tätigkeit lange Zeit die Sprachgebung beeinflußt haben. Von Beginn an bis ins 12. Jh. übernehmen die Benediktiner praktisch die gesamte Bil-
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dungsarbeit (vgl. 2.2.1.). Glaubensprägung, Sprach- und Schulbildung wie kirchenpolitische Organisation liegen in Deutschland in der Hand dieses Ordens. Der agrarischen und feudalen Gesellschaftsstruktur entspricht das Großkloster auf dem Lande, das als eigene, voll funktionsfähige Civitas strukturiert ist. — Die Neugründung der Bettelorden (1210: Franziskaner; 1216 : Dominikaner) signalisiert die veränderte geistige Landschaft: Stadt, Bürger und Kaufleute treten hervor, der Ruf nach religiöser Reform erfaßt plötzlich die Volksmassen (Armutsbewegung, Ketzerbewegung), und die verbreitete Forderung von Frauen nach religiöser Führung sprengt die traditionellen kirchlichen Institutionen (Grundmann 196 1, 202 ff.). Die genannten Bereiche werden daher zum speziellen Arbeitsfeld der neugegründeten Orden. In der Praxis bedeutet das: weitgehende Übernahme der städtischen Ortspastoration mit (dt.) Predigt und Sakramentenspendung; Mobilität der Volksprediger mit häufigem Ortswechsel (Ketzerbekämpfung, ab 1232 Inquisition durch die Dominikaner); qualifizierte Ausbildung der Brüder durch Hochschulstudien (Auswirkung: dt. Scholastik); Übernahme der ‘Cura monialium’, bes. durch die Dominikaner, sowie spirituelle Betreuung der neugegründeten weiblichen Ordenszweige der ‘Clarissen’ bzw. der Dominikanerinnen (Auswirkung: dt. Mystik). Übergreifendes Ziel aller Bemühungen: Die ausufernde Laienfrömmigkeit wie eine subjektiv-spiritualistische Theologie sollten in den kirchlich-dogmatischen Rahmen zurückgeführt werden. Doch ließ sich nicht vermeiden, daß die Verbindung des Affektiven mit dem Spirituellen in der Volksfrömmigkeit sich der erstrebten dogmatischen Kontrolle entzog und selbständig fortwirkte, was z. B. zur Gründung der Devotio moderna (14./15. Jh.) führte, die ihrerseits den jungen Ignatius von Loyola (1491—1556 ) beeinflußt hat (Frank 1975, 130). Die machtvolle Ausstrahlung der Bettelorden wird erst mit der Reformation eingedämmt. — Für den neugegründeten Jesuitenorden (im Jahr 1534) stellt sich in Deutschland die spezielle Aufgabe der Gegenreformation. Der Weg des Ordens zu diesem Ziel führt einmal über die ausgesprochene Konzentration auf Lehr- und Erziehungsaufgaben, zum andern über den Weg einer möglichst breitenwirksamen Meinungsbeeinflussung. Dem dienen die neue Form der ‘Volksmission’ in Pfarreien sowie die intensive Kleinform der sog. ‘Exerzitien’. Da im 16 . Jh. die Sprache der Lutherbibel solchen Erfolg hatte, versuchten die Jesuiten (gemeinsam mit den Franziskanern) sich — meist anonym — in der gezielten Textierung von Volksliedern. Der Erfolg auch dieser Massenbeeinflussung durch Sprache
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
ist bis in die 2. Hälfte des 18. Jhs. kaum geringer als der der evangelischen Gesänge, wenn auch in ihrer Herkunft weniger bekannt (Moser 1981). — Im 18./19. Jh. ist zumindest auf die bemerkenswerte Rolle der evangelischen Pfarrhäuser hinzuweisen, wo die literarische Ausstrahlung der Pfarrer und ihrer Söhne neben den großen denkerischen Werken nicht zuletzt über den Trivialroman vor sich ging (Siegert 1978, 578 f.). 2.2.4. Unter dem Aspekt von Lehramt und Hierarchie soll nur noch ein — bisher nicht genannter — sprachwirksamer Gesichtspunkt erwähnt werden: die kirchenpolitische Publizistik und Polemik. In der dt. Sprache schlagen sich Kontroversen zunächst nur indirekt, in der geistlichen Poesie, nieder, bis mit Walthers politischer Dichtung Kirchenpolitik unverhüllt auch in der Volkssprache angegriffen wird. Die Modelle des Streitgedichts, des Pamphlets, der Parodie und vor allem des Flugblatts (Einblattdruck) entwickeln dann literarische Formen, die sprachlich zupacken, verständlich und pointiert formulieren — so in den Kontroversen um Kaiser Friedrich II., in der Endzeit-Propagierung (regelmäßig seit Beginn des 13. Jhs.), satirischer Kirchenkritik und besonders den Flugblättern der Reformationszeit. — Es ist schwer zu entscheiden, wer darin jeweils Sprachschöpfer war. Doch entzündet sich die Polemik meist an kirchenpolitischen Fragen, in denen sich das seit dem 13. Jh. neue Laienbewußtsein abgrenzt.
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Zusammenfassender Überblick
„Die heutige deutsche Hochsprache (ist) [...] in ihren Grundzügen mehr durch religiöse als durch politische Ereignisse und Entwicklungen geprägt worden“ (Moser 196 4, 51). Denn in den entscheidenden Phasen verbinden sich immer Sprachformung und religiöses Anliegen: so zu Beginn die Eindeutschung mit der Missionierung und der Lektüre der Bibel; danach die Verinnerlichung und die Differenzierung von Gefühlen mit affektiver Mystik und dt. Scholastik; und noch einmal entscheidend der mächtige Impuls zur einheitlichen Hochsprache durch Luthers Bibelübersetzung. Versucht man, die Wirkungen der Religion auf die dt. Sprache aufzuschlüsseln, so ergibt sich: (1) Quantitativ: Ein erheblicher Anteil des Wortschatzes sind christliche Neuprägungen, sie bereichern noch heute den Gesamtwortschatz. (2) Qualitativ: durch die Breite des religiösen Lebens, das bis zur Aufklärung in der Öffentlichkeit absolut dominiert, werden zahlreiche profane Wörter religiös beladen und damit in ihrer
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Bedeutung verändert (vgl. die fremdsprachigen oder germ. Lehnwörter; Liturgie und Bibelsprache). Daneben wirken die qualitativen Bereicherungen besonders umfassend: die gesamte Symbolsprache, die Sprache der seelischen Vertiefung und Verinnerlichung, aber auch der rationalen Differenzierung. — Seit der Aufklärung geht der Einfluß der Religion auf die dt. Sprache mehr und mehr zurück, wobei der Prozeß der Säkularisierung je verschieden ist. Bleibende Bedeutung hat die Sprache der Religion heute noch für metaphysische Aussagen, für den religiösen Kult, aber — wenn auch unbewußt — auch für die Erfahrung von „Fremdheit [...] auf der Ebene der geschichtlichen Realität“ sowie schließlich für verschiedene „Argumentations- und Beweisstile [...], insbesondere von Typologie, vom ‘Jargon der Autorität’ und kritischen Diskurs“ (Steger 1984, 120).
4.
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1.
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Walter Blank, Freiburg i. Br.
Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte bis zum Ende des Mittelalters Der Name der Germanisten Recht und Sprache Die Erforschung der deutschen Rechtssprache Die Geschichte der deutschen Rechtssprache und ihre Periodisierung Die Sprache des Rechts im Germanischen Rechtssprache im frühen Mittelalter (750—1170) Die Rechtssprache im hohen Mittelalter (1170— 1250) Rechtssprache im späten Mittelalter (1250—1500) Literatur (in Auswahl)
Der Name der Germanisten
In der Zeit ihrer Begründung als selbständige Wissenschaftszweige hatten die Vertreter von dt. Sprachgeschichte (SG) und dt. Rechtsgeschichte (RG) einen gemeinsamen Namen: den Namen der Germanisten. Im 19. Jh. verstand man darunter alle Historiker, Philologen und Juristen, die das besondere germ.-dt. Kulturelement in der Geschichte zum Gegenstand von Lehre und Forschung machten. In diesem Sinne versammelten
sich Gelehrte wie E. M. Arndt, G. Beseler, F. Chr. Dahlmann, G. G. Gervinus, Jacob und Wilhelm Grimm, G. H. Pertz, L. v. Ranke, L. Uhland und W. T. Wilda u. a. m. zur ersten dt. Germanistenversammlung (24.—26 . 9. 1846 in Frankfurt a. M.), die wie die zweite Versammlung dieser Art (27.—30. 9. 1847 in Lübeck) unter dem Vorsitz von Jacob Grimm tagte. Seitdem wurde der Name der Germanisten, der sich bei den Juristen bis in das 18. Jh. zurückverfolgen läßt, in allen dort vertretenen Fächern gebräuchlich. Für die dt. SG wie für die dt. RG ist er lange Zeit üblich gewesen. Dies liegt an den Gegenständen dieser Disziplinen, Recht und Sprache, die mit ihren Wurzeln bis in das germ. Altertum zurückreichen, wie auch an dem besonderen Verhältnis, das zwischen beiden seit jeher besteht.
2.
Recht und Sprache
Recht ist immer an das Medium Sprache gebunden. Selbst wenn man davon ausgeht, daß es auch andere Möglichkeiten gibt, Recht zum Ausdruck zu bringen, z. B. Gebärden und Symbole,
5. Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichtebis zum Ende des Mittelalters
so bleibt doch die Sprache zu allen Zeiten das wichtigste Ausdrucksmittel. Recht und Sprache haben von hier aus seit frühester Zeit mannigfache Berührungspunkte. In der schriftlosen oder vorliterarischen Epoche lebte das Recht allein in der mündlichen Überlieferung, wobei das Wort eine führende Funktion hatte. Dies änderte sich auch nicht, als die Rechtskultur Teil einer Schriftkultur geworden ist, die im MA ganz allgemein die Sprechkultur auf den verschiedenen Ebenen des kulturellen Lebens ablöste. Auch dann war es noch immer das gesprochene Wort oder die mündliche Rede, die Recht in erster Linie zum Ausdruck brachte. Dies belegt z. B. die Formel Recht u nd Rede, die sich mit volkssprachigen und lat. Varianten während des ganzen MA bis in die Neuzeit hinein gehalten hat. Im Prozeß hatte das Wort mehr als nur deklamatorische Bedeutung (Bader 1973). Seine Bindung in bestimmten Wendungen, z. B. Paarformeln mit Stab- und Endreim, weisen z. T. auf die archaischen Stufen des Rechts zurück, wo die Formel den Rechtssuchenden zu schützen vermochte, indem sie zugleich den Rechtsfindenden band. Es kam darauf an, das richtige Wort oder die gebräuchliche Formel zu verwenden, um denkbaren Rechtsnachteilen vorzubeugen. Der magisch bestimmte Zug archaischen Rechts wird im Wortzauber deutlich. Hauptanwendungsgebiet ist der Eid, mit dem sich der Schwörende mit seiner Person wie mit seinen Eidhelfern für die Verwirklichung des Rechts einsetzt. Dieser archaische Zug hat auch im mittelalterlichen Recht nachgewirkt, doch steht ihm gleichzeitig eine wachsende Rationalisierung der Rechtssprache (RS), besonders ihres Wortschatzes, gegenüber. Dieser Wortschatz ist zwar von einer fachsprachlichen Terminologie im linguistischen Sinne weit entfernt, doch lassen sich Tendenzen der Vereinheitlichung wie eine überregionale Geltung bestimmter Bezeichnungen, eine wachsende Differenzierung der Begriffe, eine steigende Fähigkeit zur Abstraktion feststellen, die auf die sehr viel jüngere juristische Fachsprache hinführen.
3.
Die Erforschung der deutschen Rechtssprache
Seit J. G. Herder ist das Verhältnis von Recht und Sprache Gegenstand philosophischer Betrachtung gewesen. Nach Herder offenbart sich der Geist eines Volkes vor allem im Wesen seiner Sprache. Im Verbund mit anderen Feldern geistigen Lebens wie Poesie, Religion, Sitte und Recht beweist Sprache ihre sinnstiftende Kraft für die Kultur aller Völker und Zeiten immer wieder
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aufs Neue. F. C. von Savigny setzte Gedanken wie diese für die Rechtswissenschaft um, indem er die Bedeutung der Sprache als des wichtigsten Mediums des Rechts in Wort und Schrift hervorhob. Da aber Recht und Sprache nicht willkürlich gesetzt sind, sondern sich organisch entwikkelt haben, sind sie historisch zu untersuchen und zu beschreiben. In seinen Marburger Vorlesungen zur juristischen Methodenlehre (1802, 1803), die Jacob und Wilhelm Grimm gehört und aufgezeichnet haben, hat Savigny die historischphilologische Methode als eine der vier Methoden des Juristen gewürdigt. Er wurde besonders mit seinen Schriften zum römischen Recht im Mittelalter zum Begründer der historischen Rechtsschule, zu der man auch K. Eichhorn, L. von Ranke und J. Grimm rechnet. Seitdem war Jurisprudenz nicht mehr ohne RG und diese nicht mehr ohne Philologie und SG denkbar. Jacob Grimm übertrug die Gedanken seines juristischen Lehrers auf die Sprachwissenschaft, z. B. auf die ‘Deutsche Grammatik’ (1819), deren erster Band Savigny gewidmet ist. Ausgehend vom gemeinsamen Ursprung von Recht und Sprache, hatte er bereits in seiner Schrift ‘Von der Poesie im Recht’ (1815) die Analogien zwischen beiden aufgezeigt, ehe er in den ‘Deutschen Rechtsalterthümern’ (RA 1828) die philologisch-historische Betrachtung auf das „sinnliche Element“ bzw. die „Grammatik des Rechts“ (Wörter, Formeln, Gebärden und Symbole) ausweitete. Seine RA sind zwar kein Lexikon im heute üblichen Sinne, indessen die erste historisch angelegte Sammlung des Rechtswortschatzes, die sich dadurch von älteren Werken wie z. B. B. Ch. G. Haltaus ‘Glossarium Germanicum medii aevi’ (1758) grundlegend unterscheidet. Die von J. Grimm mitgetragene romantische Auffassung vom gemeinsamen Ursprung aller Kultur aus dem Volksgeist hat sich auf Dauer nicht aufrecht erhalten lassen. Sie ist einer sehr viel nüchterneren Betrachtung gewichen, seit man Ende des 19. Jh. im Zusammenhang mit der Begründung des ‘Deutschen Rechtswörterbuchs’ (DRWB, 1894) den Wortschatz der älteren dt. RS lexikalisch genau zu erfassen bestrebt ist. Dabei wurde der Blick zwangsläufig von den Ursprüngen weg auf den zeitbedingten Kontext der Überlieferung und damit auf den Befund in seiner Differenziertheit gelenkt. Der Akzentwechsel läßt sich an den jüngeren Studien zum Rechtswortschatz und hier besonders an der Auseinandersetzung um die Paar- oder Zwillingsformeln, Stilmittel aller germ. und rom. Erscheinungsformen von RS, ablesen. So hat z. B. St. Sonderegger (196 2) gezeigt, daß sich die Sprache des Rechts im Germ. von der Sprache
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der Dichtung grundlegend unterscheidet: Es fehlt der RS das poetische Stilmittel der Variation, indem die Glieder einer „tautologischen“ Paarformel nicht allein eine bestimmte Aussage abwandeln, sondern gemeinsam auf einen begrifflichen Inhalt gerichtet sind. Die Paarformel als eine Frühform der Definition ist ein Merkmal der RS, die man auch als eine der ältesten „Fachsprachen“ des germ. Kulturkreises bezeichnet hat. Durch ihre Funktionalität unterscheidet sie sich ganz wesentlich von der Sprache der Dichtung. Seit Jacob Grimm ist die Erforschung der dt. RS auf die Zusammenarbeit von Juristen und Philologen angewiesen gewesen. Dies wird an zwei Wörter- bzw. Handbuchunternehmen deutlich, die mit ihren Wurzeln an die RA bzw. das ‘Deutsche Wörterbuch’ der Brüder Grimm (DWB 1841—1957) anknüpfen. Es sind dies das ‘Deutsche Rechtswörterbuch’ oder ‘Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache’ (DRWB 1917 ff.) und das ‘Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte’ (HRG 1917 ff.). An beiden Unternehmungen sind Philologen und Rechtshistoriker beteiligt. Das wie das DWB diachron angelegte DRWB sollte ursprünglich den Rechtswortschatz von „Ulfilas bis Goethe“, also von den Denkmälern got. Sprache bis zu den großen Rechtskodifikationen des 18. Jh., erfassen. Im Sinne Jacob Grimms wurde hier deu tsch auf die ganze Germania bezogen. Doch waren aus rein pragmatischen Gründen bald Einschränkungen notwendig. Heute erfaßt das DRWB das Hd. mit Einschluß des Nd. und Nl. sowie des Langob., während die ags., fries., anord. und skand. Rechtsquellen (RQ) nur zum Vergleich mitherangezogen werden. Der Bezug auf die ganze Germania, der auch von Sprachhistorikern (Sonderegger 196 5, Munske 196 8) vertreten wird, ist im Blick auf eine vergleichende RG in einem gesamteuropäischen Rahmen erneut aktuell. Die Hrsgg. des HRG haben ihn nicht aufgegeben, finden sich im HRG doch zahlreiche Artikel zur nord. oder skand. RG. Doch sind die Akzente gegenüber J. Grimm und K. v. Amira anders gesetzt. Das besondere Interesse gilt jetzt der „ganzen Rechtsgeschichte“, die sich in Deutschland entfaltet hat, — mithin auch der Romanisierung von Recht und Sprache durch die Rezeption des gelehrten römischen und kanonischen Rechts. Diese Öffnung gegenüber sog. „Fremdeinflüssen“ resultierte aus der Auffassung von RG als Teil der Kulturgeschichte, die nicht allein A. Erler und seine Schule, sondern auch G. Köbler mit seinen Arbeiten zur Frührezeption (196 9 u. ö.) und F. Elsener (196 4) in bezug auf RS und Rechtssprichwort vertreten haben.
4.
Die Geschichte der deutschen Rechtssprache und ihre Periodisierung
Während das Verhältnis von Recht und Sprache
bei Rechtshistorikern und Philologen als Forschungsgegenstand laufend an Bedeutung gewinnt, ist die Geschichte der dt. RS im ganzen wie in einzelnen ihrer Perioden noch immer ein Desiderat der Forschung. Auf rechtshistorischer Seite ist man über die Ansätze E. v. Künßbergs (1930), W. Merks (1933) und O. Gönnenweins (1950) nicht wesentlich hinausgekommen, wie auch H. Hattenhauer (1987) in seinen Ausführungen zur Geschichte der dt. Rechts- und Gesetzessprache festgestellt hat. Auf sprachhistorischer Seite, wo vor allem der Rechtswortschatz als Teil der historischen Lexik des Dt. behandelt worden ist, hat man in neueren Arbeiten zwar die Bedeutung der dt. RS als einer der ältesten Fachsprachen betont, ohne jedoch ihrer Entfaltung in den Epochen der dt. SG nachzugehen. Der Grund liegt an der Komplexität des Gegenstandes, der Kompetenz auf beiden Seiten bzw. eine wechselseitige Ergänzung von SG und RG verlangt. Hinzu kommt, daß Grundlage jeder historischen Darstellung schriftliche RQ sind, die in Lat. oder in einer Volkssprache, d. h. in Ahd., Asächs., Afries., Mhd., Mnd., Frnhd. u. a. abgefaßt sind. Sofern es sich um direkte RQ handelt (Gesetze, Erlasse, Rechtsbücher u. a. m.), liegen diese z. T. in kritischen Ausgaben der ‘Monumenta Germaniae Historica’ (MGH) bzw. in den besonderen Reihen der Leges, Concilia, Constitutiones et acta publica, Fontes iuris Germanici antiqui, Diplomata etc. vor. Indirekte RQ, wie Akten und Urkunden, haben meist ihre eigenen, regional bestimmten Publikationsorgane (Urkundenbücher). Unverzichtbar für die Erforschung der Geschichte der dt. RS im MA sind die sog. Rechtserkenntnisquellen (Bußbücher, Beichtspiegel, Ordensregeln, Traktate, u. a. m.), unter ihnen an erster Stelle die Dichtung, die lange vor der Zeit normativer RQ Rechtswörter und -begriffe in der Volkssprache enthält. Besonders für die ahd. und mhd. Zeit ist auf diese Möglichkeit der Ergänzung nicht zu verzichten. Eine umfassende Quellenkunde der RG, die für Rechtshistoriker und Philologen gleicherweise informativ wäre, fehlt z. Zt. noch. Der Beitrag ‘Recht’, den K. v. Amira (1890) H. Pauls Grundriß der Germanischen Philologie’ beigesteuert hat und der heute in stark erweiterter vierter Auflage von K. A. Eckhardt vorliegt (Bd. 1 u. 2, 4196 0 u. 1967) kommt den gemeinsamen Interessen noch immer am nächsten. Ausgehend von der schriftlichen Überlieferung des Rechts, die im MA überwiegend lat. war, haben v. Künßberg und ihm folgend O. Gönnenwein vier Perioden der dt. RS unterschieden: 1. die Zeit der Völkerwanderung bis zum 13. Jh. Hier sind die RQ (Stammesrechte, Kapitularien, Urkun-
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den, Formeln) lat. abgefaßt, während die Volkssprache auf den mündlichen Rechtsverkehr beschränkt bleibt; 2. die Zeit vom 13. Jh. bis zur Rezeption des römischen Rechts, die Blütezeit der dt. RS, in der die Rechts- und Gesetzessprache wie die Sprache der Urkunden vom Lat. zum Dt. übergegangen ist, freilich nicht im Sinne einer einheitlichen dt. RS, sondern in Form verschiedener, landschaftlich gebundener Verkehrs- oder Geschäftssprachen, die aber schon früh in Austausch miteinander getreten sind; 3. die Zeit erneuten Eindringens der lat. Sprache in die dt. RS durch die Rezeption des römischen Rechts wie die Zurückdrängung des Dt. bzw. die Erweiterung des Rechtswortschatzes durch Fremd- und Übersetzungswörter; 4. die Zeit der großen Rechtskodifikationen vom Ende des 18. Jhs. bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch (1900).
Diese Periodisierung, bei der die Schriftform des Rechts und dabei das Verhältnis von Lat. und Dt. den Ausschlag gibt, ist unter sprachhistorischem Aspekt problematisch. Sie läßt außer Acht, daß neben den schriftlichen RQ stets auch die Mündlichkeit des Rechts einhergegangen ist, die an der Geschichte der dt. Sprache in vollem Umfang teilgenommen hat. Deshalb sollte man besonders für das MA stärker differenzieren und von den üblichen Perioden der dt. SG ausgehen, denen die Periode des Germ. voranzustellen ist. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an der Darstellung H. Mosers ‘Deutsche Sprachgeschichte der älteren Zeit’, die zusammen mit K. S. Baders Beitrag ‘Deutsches Recht’ in dem von W. Stammler hrsg. ‘Aufriß der deutschen Philologie’ (2196 7) erschienen ist. Mosers Periodisierung, die sich auf alle Varietäten der dt. Sprache erstreckt, indem sie auch die Berufssprachen und hier besonders die RS laufend berücksichtigt, läßt den notwendigen Wechselbezug von SG und RG auch im Blick auf die gegenwärtige Forschungssituation ebenso deutlich werden, wie die Abhandlung Baders, der das Verhältnis von Recht und Sprache zur Grundlage seiner Überlegungen gemacht hat.
5.
Die Sprache des Rechts im Germanischen
Der Rechtshistoriker versteht unter dem Begriff ‘Germanisches Recht’ einerseits die Vorgeschichte des dt. Rechts im Germ., andererseits die Besonderheiten des Rechts, die allen oder mehreren germ. Völkern gemeinsam sind. Ebenso kann man unter der germ. RS die Vorstufe der Geschichte der dt. RS sehen (1. Jh. v. Chr.—2. H. 8. Jh. n. Chr.) oder den Rechtswortschatz, der
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allen oder mehreren germ. Sprachen gemeinsam ist. Dieser gemeinsame Rechtswortschatz betrifft Wörter wie Acht und Bann, Erbe, Friede, Mu nt ‘Schu tz’, Schu ld und Sühne, wobei entscheidend ist, daß wie bei Bu ße ‘Besserung, Wiedergutmachung’ bzw. ‘Zahlung als Wiedergutmachung’ oder Mord ‘Tötung’ bzw. ‘schändliche oder verheimlichte Tötung’ neben der allgemeinsprachlichen Bedeutung eine spezifisch rechtssprachliche bereits im Germ. vorhanden gewesen ist. Diese Rechtswörter konnten durch Metonymie auf besondere oder neue Rechtsverhältnisse übertragen werden, so daß sich der Bedeutungsumfang eines Rechtswortes durch Polysemie laufend erweitern konnte. Als Beispiel sei Bann ‘Gebot unter Strafandrohung genannt’, das im Verlauf des MA die Bedeutungen ‘Verbot’, ‘Gerichtsbarkeit’, ‘Hochgericht’, ‘Aufgebot’ und ‘Heerbann’, vor allem aber ‘Kirchenbann’ hinzugewonnen hat. Aussagen über diese älteste Erbwortschicht lassen sich aufgrund eines Vergleichs der verschiedenen germ. Sprachen machen, wobei auffällt, daß Wörter wie Amt, Eid und Reich offenbar sehr früh aus dem Kelt. in das Germ. entlehnt worden sind. Auf einen frühen Austausch in vorliterarischer Zeit (1. Jh. n. Chr.) sind auch die germ. Lehnwörter in den finno-ugr. und balt.-slaw. Sprachen zurückzuführen, wie finn. sakko ‘Pflicht, Geldbuße’ < germ. sakō ‘Rechtsstreit’ oder finn.-estn. ku ningas ‘König, Herr’ < germ. ku ningaz. Dem Anord. kommt im Zusammenhang des Sprachvergleichs heute keine führende Rolle zu, nachdem sich gezeigt hat, daß sich die Rechtsterminologie der nord. Sprachen erst relativ spät herausgebildet hat und häufig auf einer jüngeren Sonderentwicklung des Nordens beruht (v. See 196 4, Jacoby 1986 ). Eine Ausnahme machen hier die Runenreihen und Runennamen (Fuþark), die das Wortfeld des Besitzes mit fehu und ōþal betreffen, bzw. auch den Bereich der Familie mit hagu stalda ‘Hagestolz’, lið N. ‘Gefolge, Mannschaft’ der urnord. Runeninschriften. Auf festerem Boden bewegt man sich im Got.: Zwar ist der bei Jordanes (c.X) bezeugte Text der ageineis F. Pl. ‘Gesetze’, leges conscriptas, nicht überliefert; doch enthält die got. Bibelübersetzung Bisch. Wulfilas (4. Jh. n. Chr.) mit got. stau a F. ‘Gericht’ und stau a M. ‘Richter’, andastau a M. ‘Gegner vor Gericht’ u. a. m. eine Reihe von Rechtswörtern, die z. T. auch in jüngeren Sprachstufen germ. Dialekte ihre Entsprechungen haben. Bruchstücke einer ostgot. Urkundensprache aus dem 6 . Jh. sind aus Ravenna bekannt, die auch die Bezeichnung frabauhtboka F. ‘Verkaufsurkunde’ bewahrt hat. — Aus dem 6 . Jh. stammen die Aufzeichnungen ags. Gesetze in der Volkssprache, die sog. dómas straf- und familienrechtlichen Inhalts, zu denen im 7. Jh.
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auch kirchenrechtliche Satzungen kommen. Diese zusammenhängenden Texte in der Volkssprache lassen eine stilistische Entwicklung erkennen, die von der einfachen, zweigliedrigen imperativischen Satzform der Bußkataloge zu mit Motivationen, Zitaten und Sprichwörtern angereicherten Satzgefügen der jüngeren Königsgesetze führte. Damit verbunden war eine Wendung von konkreten zu abstrakten Tatbestandsformulierungen. Diese volkssprachige Überlieferung der ags. Gesetze ist im Kreis der westgerm. Rechtsaufzeichnungen etwas Einzigartiges. Denn die auf dem Kontinent siedelnden Stämme der Germanen gebrauchten zur Aufzeichnung von Recht und Gesetz wie zur Ausstellung von Urkunden die lat. Sprache. Je nachdem ob an der Aufzeichnung wie bei den Westgoten gelehrte Juristen beteiligt gewesen sind, oder wie bei den Franken, Alemannen und Bayern Rechtskundige des eigenen Stammes, ist die Sprache der sog. Leges barbarorum oder Germanenrechte rhetorisch geprägt oder durch die Nähe zur Volks- oder Stammessprache mit Vulgarismen durchsetzt. Dazu gehören die sog. volkssprachigen Wörter, die sich aus einer Stammessprache herleiten, durch ihre Flexion aber dem lat. Text integriert sind. Es sind Zeugnisse einer Mündlichkeit vor Gericht, für die auch die wörtlichen Zitate direkter Rede in den lat. Texten der Leges zeugen, ebenso wie die im Pactus Legis Salicae (6 . Jh.) enthaltenen Malbergischen Glossen, Reste einer RS, die auf dem Malberg, im mallum oder ding, gesprochen worden ist (Schmidt-Wiegand 1989, 1991). — Inwieweit die afries. Rechtstexte, die in der Volkssprache abgefaßt sind, aber einer jüngeren Überlieferungsschicht angehören (13. Jh.) für den mündlichen Vortrag im Ding der Frühzeit aufschlußreich sind (Baesecke 1950), bleibt im einzelnen zu prüfen. Vom Wortschatz des Afries. aus ergeben sich jedenfalls für bestimmte Wortfelder wie das der Missetaten bemerkenswerte Parallelen zu den mnd. wie mhd. Bezeichnungsfeldern (Munske 1973), die im Zusammenhang einer RS der Germania zu sehen sind. Eine Sonderstellung nimmt das langob. Recht ein, das als königliches Satzungsrecht, beginnend mit dem Edictum Rothari (a. 6 43), auch das Gewohnheitsrecht regelt und entsprechend viele volkssprachige Wörter überliefert (van der Rhee 1970). Das gilt auch für die Gesetzgebung der Nachfolger und die Urkunden aus dem Langobardenreich. Die in ihnen enthaltenen Wörter germ. Herkunft sind nicht allein für die späteren Dialekte des Ital. aufschlußreich, sondern sie sind durch ihre lexikalische Nähe zum Asächs. und Ahd. auch für den Übergang vom Germ. zum Frühdt. von exemplarischer Bedeutung.
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6.
Rechtssprache im frühen Mittelalter (750—1170)
Der Zusammenhang mit der Germania wird im frühmittelalterlichen Dt., in der Überlieferung vom ‘Abrogans’ bis zur Schwäb. Trauformel (Mitte 12. Jh.), am gemeinsamen Erbwortschatz deutlich, der sich auf die Rechtskultur der Stämme (Sachsen, Franken, Alemannen, Baiern) bezieht. So gehört ahd. ban ‘Gebot unter Strafandrohung, Verbot’ mit dem Verb bannen zu einer Wortfamilie, die — wie auch ags. ban ‘Acht, Aufgebot’ und anord. ban ‘Verbot’ zeigen — bereits im Germ. Rechtswortcharakter hatte. Die Übernahme des Wortes in das Afrz. als ban ‘öffentliche Verkündigung’ und arban ‘Heerbann’ bestätigen diesen Sachverhalt. Ahd. und Asächs., die das Frühdt. ausmachen, liegen hier semantisch oft nahe beieinander. So bei ahd. fridu , asächs. frithu, ursprünglich ‘Freundschaft’, dann ‘Schonung’ und ‘Friede’ im Sinn der Waffenruhe; ahd. scu ld ‘Verpflichtung zu einer Leistung’ bzw. ‘zur Zahlung einer Geldbuße’, schließlich ‘Verpflichtung zu Buße oder Sühne’. Ahd. su ona ‘Urteil, Gericht, Versöhnung’ mit asächs. sōnian ‘sühnen’ ist auf die sog. westgerm. Sprachen beschränkt. Zu diesem Rechtswortschatz gehören ahd. āhta ‘Verfolgung, Friedlosigkeit’ mit ahd. āhten und asächs. āhtian ‘verfolgen’; ahd. diob, asächs. theof ‘Dieb’, ahd. ding, asächs. thing ‘Vollversammlung, Gerichtsversammlung’, ahd. rou p, asächs. rōf ‘(Sieges-)Beute’, dann ‘Rüstung, Kleid’, ahd. sahha, asächs. saka ‘Verfolgung, Streitsache’.
Auch die Komposition als Wortbildungsmittel ist dieser Frühstufe in bezug auf den Rechtswortschatz bekannt, wie das weitverbreitete morgengeba ‘Morgengabe’ und hantmallu s ‘Stammgut’, das hantgemal der mhd. Zeit, beweisen; auch arbeo lōsa zu ahd. erbi, asächs. erbi ‘Erbe’ im Hildebrandslied wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. Dieser traditionelle Rechtswortschatz hat in der Zeit des Frühdt., bedingt durch die Begegnung mit dem Christentum und seinen Bildungswerten, besonders der lat. Schriftkultur, durch die Hinzugewinnung neuer Bedeutungen und Bezeichnungen eine wesentliche Erweiterung erfahren. Hierfür ist Bu ße, ahd. buoza, asächs. bōta, das als ablautende Bildung zu baz zunächst die im Wortzauber wurzelnde Bedeutung ‘Besserung’ besaß, ehe sich daraus in frühdt. Zeit die Bedeutung ‘strafrechtlicher Genugtuung’ im weltlichen wie kirchlichen Bereich entwickelte (Weisweiler 1930). Begriffsgeschichtliche Prozesse wie diese werden in den volkssprachigen Wörtern der Leges und Kapitularien, in den ahd. und asächs. Glossen, in den großen Bibelepen wie dem asächs. Heliand und der ahd. Evangeliendichtung Otfrids von Weißenburg, in den kleineren Denkmälern wie dem Hildebrandslied, in den
5. Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichtebis zum Ende des Mittelalters
Schriften Notkers III. von St. Gallen greifbar. Neben diesem Schrifttum stehen einige wenige Rechtsdenkmäler in der Volkssprache wie das Bruchstück einer ahd. Übersetzung der Lex Salica und ein Kapitel aus einem Trierer Capitulare, die Hammelburger und die Würzburger Markbeschreibungen, die asächs. Heberollen aus Essen, Freckenhorst und Werden; vor allem aber eine Reihe von Eidesformeln wie die Straßburger Eide, ein Herrscher- und ein Heereseid, der ahd. Priestereid und der Erfurter Judeneid. Hier handelt es sich um RQ, die für die Mündlichkeit von Versammlung und Gericht bestimmt waren und nur zufällig den Weg auf das Pergament gefunden haben. Diese „mündlichen Rechtstexte“ machen deutlich, daß sich die Erneuerung der traditionellen RS in frühdt. Zeit im Spannungsfeld zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit abspielte (Schmidt-Wiegand 1993), dies aber hieß zugleich zwischen der Volks- oder Stammessprache und der Bildungssprache Latein. Dafür ist auch die Geschichte des Wortes deu tsch bezeichnend, das die RS mitbetrifft. Im Kreis der Philologen und Sprachwissenschaftler ist man sich heute weitgehend darin einig, daß von einer vordt. Bildung þiu disk ‘germanisch’ bzw. ‘volkssprachlich’ auszugehen ist (Klein 1994), wobei das Alter und die Herkunft (gemeingerm. oder westgerm.) weiterhin ungewiß bleiben. Seit den frühesten Belegen für die latinisierte Form theodiscu s steht indessen fest, daß es sich hier noch um einen Oberbegriff handelt, unter dem sprachverwandte germ. Dialekte zusammengefaßt werden konnten, sei es in bezug auf Kontakte untereinander oder mit nichtgerm. Völkern (Romanen, Slawen). Stärkste Antriebe für die Verwendung der lingu a theotisca, der lingu a vu lgaris oder ‘Volkssprache’, gingen von Karl dem Großen aus, der mit seiner Admonito generalis von 789 zum Anreger für das ahd. und asächs. katechetische wie theologische Schrifttum in der Volkssprache geworden ist (Betz 196 5). Zu ihrer Durchsetzung in seinem Reich brauchte man einen Oberbegriff für die verschiedenen Stammessprachen, der der Bezeichnung lingu a Romana wie dem Begriff der lingu a vu lgaris entsprach: lingu a theodisca. Dieser Begriff war auch auf die RS zu beziehen, wie der Prozeß gegen Herzog Tassilo auf dem Reichstag zu Ingelheim 788 beweist, dem man Heeresverrat bzw. Fahnenflucht vorwarf: qu od lingu a theodisca harisliz dicitu r. Im Capitulare Italicum von 801 hat sich dann Karl mit dieser Form der Volkssprache identifiziert: qu od nos theodisca lingu a dicimu s herisliz (Betz 1965).
In seiner Vita Karoli Magni (c. 29) berichtet Einhard, daß die Franken zwei Rechte besaßen (Lex Salica und Lex Ribvaria), die in einigen Punkten erheblich voneinander abwichen. Nach der Kaiserkrönung im Jahre 800 soll Karl der Große ihre Überarbeitung mit dem Ziel der An-
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gleichung angeordnet haben; doch sei nur wenig dabei herausgekommen. Wahrscheinlich ist aber doch die sprachlich geglättete Fassung der Lex Salica emendata, bei der die Malbergischen Glossen ausgeschieden sind, die volkssprachigen Wörter aber erhalten blieben, eine Frucht dieser Bemühungen. Auf dem Reichstag zu Aachen 802/3 hat Karl der Große dann auch angeordnet, daß die Richter nach geschriebenem Recht urteilen sollten, und daß die Leges der Stämme, bei denen dies noch nicht geschehen war, aufgezeichnet werden sollten. Dies fiel u. a. in den Aufgabenbereich der missi ‘Königsboten’, die sich dabei auf die Aussagen von Rechtskundigen stützten. Bereits im Prolog der Lex Salica werden diese Gewährleute genannt, im sog. Bayrischen Prolog sogar namentlich. Im Muspilli (V. 37) sind es die weroltrechtwīson, auf die sich der Dichter beruft. Auf die Bemühungen Karls des Großen um die Aufzeichnung des Rechts sind nicht allein die kleineren Stammesrechte (Lex Francorum Chamavorum, Lex Frisionum, Lex Thuringorum, Lex Saxonum) zurückzuführen, sondern auch die ostfrk. Übersetzung der Lex Salica (Mainz ?), die zwar nur bruchstückhaft erhalten ist, zweifellos aber einmal ganz vorgelegen hat. Als eine stilistisch gelungene Übersetzung der Lex emendata ist sie das wohl bedeutendste Denkmal der ahd. RS, zumal es sich im südgerm. Bereich um den einzigen volkssprachlichen Text einer frühdt. Lex handelt. Der Wechsel der Bezeichnungen, etwa von mallu s nach ding, manire nach bannire oder der Ersatz veralteter Bezeichnungen wie chrenecru da durch eine Umschreibung wie der scazloos man anðran arslahit lassen den Umbau der RS erkennen, der sich auf dem Feld ihrer Bezeichnungen in karolingischer Zeit gegenüber der merowingischen Überlieferung vollzogen hat. Die Einrichtung der Hs. (Interpunktion) läßt darauf schließen (Sonderegger 196 4), daß dieser Text zum Vortrag bestimmt gewesen ist. Dies gilt für das sog. ‘Trierer Capitulare’ nicht in gleicher Weise. Hier handelt es sich um die Übersetzung eines Kapitels aus den Capitula legibus addenda Ludwigs des Frommen von 818, das die Verfügungsgewalt über Vermögen im Blick auf denkbare Schenkungen und Zuwendungen an die Kirche betraf, die der Zustimmung der Erben nicht bedurften. Die Übersetzung folgt der Vorlage in bezug auf die Syntax genau, so daß die inhaltlich wichtige Bestimmung zur Erklärung in der Kanzelrede oder Predigt einer freien Umsetzung in die Volkssprache bedurfte. Beide Denkmäler, die ahd. Lex Salica und das Trierer Capitulare, sind aufschlußreiche Beispiele für das sog. Übersetzungsproblem, das Rechtshistoriker (Heck, Köbler), Historiker
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(Lintzel, Beumann, Schlesinger), Mittellateiner (Stach) und Philologen (Betz, v. Olberg u. a.) wiederholt beschäftigt hat. Ausgangspunkt bildete die Frage, wie die volkssprachigen Rechtssätze zur schriftlichen Fixierung in das Lat. übertragen und für die Anwendung im Gericht in die Volkssprache zurückübersetzt worden sind. Was geschah, wenn dem Lat. wie dem Dt. die notwendigen Äquivalente zur Wiedergabe der rechtlichen Begrifflichkeit fehlten? Heck (1931), der diese Fragen stellte, unterschied zwischen der „Grundübersetzung“ und der „Rückübersetzung“; Lintzel bestritt ihre Existenz, weil die Belege zu fehlen schienen. Die lat. Lex Salica emendata mit ihren volkssprachigen Wörtern und ihre and. Übersetzung mit den Reflexen gesprochener Sprache lassen indessen Rückschlüsse auf das Verhältnis von „Grundübersetzung“ und „Rückübersetzung“ zu. Voll durchgesetzt hat sich die Forderung Hecks, daß bei den lat. überlieferten Rechtswörtern deren Entsprechungen in der Volkssprache stets mitzubedenken sind, wie umgekehrt auch bei den volkssprachigen Begriffen ihre Gegenstücke im Lat. Diese Forderung ist heute für den Interpreten eine Selbstverständlichkeit geworden. Die von dem Rechtshistoriker G. Köbler herausgegebenen Übersetzungsgleichungen und Wörterbücher wollen dieser Forderung für die ganze Breite der and. und asächs. bzw. germ. Überlieferung Rechnung tragen. Sie führen den Benutzer auf die Übersetzungsproblematik hin, die im übrigen in unterschiedlicher Weise vom Kontext der Denkmäler abhängig ist. An der kirchenrechtlich relevanten Bestimmung des Trierer Capitulare mit sala und salu nga für lat. traditio wird deutlich, daß für die Wiedergabe abstrakter Begriffe in der Volkssprache besondere Schwierigkeiten bestanden, die indessen mit Hilfe von Ableitungen und gestützt durch eine Wortfamilie wie hier um sellen ‘übergeben’, zu bewältigen waren. Wortbildungsmuster aus dem Lat. wie z. B. Präfixbildungen mit co(n)- in geanervo für cohaeres übten hier zweifellos ihre Wirkung aus. Es zeugt für die feste Gefügtheit der RS im Frühdt., wenn nach Ausweis der ältesten Schriftquellen der Einfluß des Lat. auf den Rechtswortschatz nur gering gewesen ist. In der and. Benediktinerregel fehlen Lehnwörter völlig, und die Anzahl der Lehnbildungen ist gering (Betz 196 5). Rechtswörter wie rechari und wizzi haben noch keine Lehnbedeutungen angenommen. Im ‘Abrogans’, einem lat.-lat. Synonymenwörterbuch mit dt. Übersetzungen, sind Grundbegriffe des Rechts wie ‘Gesetz’, ‘Richter’ und ‘Urteilsspruch’ durch einheimische Wörter wie ewa und reht, soono und u rteilo, sona, toam und pipot wiedergegeben. Wenige Lehnwörter wie castigon und pīnon beziehen sich auf (kirchliche)
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
Strafen; ebenfalls aus dem Kirchenrecht übernommene Amtsbezeichnungen wie advocatus und qu aestor werden durch Lehnbildungen wie zoa caladot und sohhari wiedergegeben. Signifikant für den Anteil, den Lehnwort, Lehnbildung und Lehnbedeutung an der frühdt. RS hatten, sind die Herrscher- und Amtsbezeichnungen. Altes kuning/kunig zu ku nni ‘Geschlecht’ steht in den ahd. Denkmälern vom Abrogans an regelmäßig für rex; erst bei Notker treten als volkssprachige Entsprechungen daneben auch herro als eine Lehnbildung < hēriro zu lat. senior und richtari als eine jüngere Wortbildung mit dem Lehnsuffix-ari < lat. ariu s. Als Bezeichnung für den ‘König’ und ‘Herrn’ ist im Ahd. und Asächs. häufig tru htīn/dru htīn zu ahd. tru ht, asächs. dru ht ‘Gefolgschaft’, ursprünglich ‘Gefolgsherr’, belegt, das als Entsprechung zu lat. dominu s auch auf Christus und Gott übertragen werden konnte und dadurch eine Lehnbedeutung erhielt. Andere Bezeichnungen für den Herrscher waren ahd. fu risto zu lat. princeps und herizogo, Lehnbildung zu lat. du x bzw. griech. strategós oder stratelátes ‘Heerführer’ und schließlich hērro < hēriro zu hēr ‘alt, ehrwürdig’, das in Anlehnung an lat. senior gebildet ist und sich gegenüber tru htīn durchsetzen sollte. Wie tru htīn so wurde auch älteres frô ‘Herr’ < frawa in frôno ‘zum Herrn gehörig’ durch die jüngeren Lehnbildungen verdrängt. Zu den wenigen Lehnwörtern aus dem Lat. gehört fogat ‘Richter, Rechtsvertreter’, das über mhd. voget zu nhd. Vogt geführt hat.
Für die Begriffsgeschichte der RS im Frühmittelalter wichtiger als die Übernahme von Lehnwörtern und die Schaffung von Lehnbildungen sind offenbar die Lehnbedeutungen gewesen, die ihr aus dem Lat. zugewachsen sind. So hat das ahd. giwona/giwonaheit ‘Gewohnheit, Brauch, Ordnung’ vom Tatian bis auf Notker sämtliche Bedeutungsnuancen von lat consu etu do zusätzlich in sich aufgenommen. Entsprechendes gilt für zentrale Begriffe wie ‘Recht’ und ‘Freiheit’. Für ‘Recht’ gab es im Ahd. eine Reihe von Bezeichnungen wie ēwa, reht, tu om, gewalt, wonaheit, die verschiedene Aspekte des Rechtlichen abdeckten und von hieraus unterschiedliche Bedeutungen wie z. B. ‘Recht, Gesetz, Altes und Neues Testament’ bei ēwa auf sich vereinigten. Von ihnen setzte sich reht N. < reht Adj. ‘gerade, richtig, rechtens’ als Oberbegriff durch, das sich zunächst auf die subjektiven Rechte und Pflichten des Einzelnen bezog, ehe es im Gefolge von mlat. iu s auch zu einer Bezeichnung für das objektive oder normative Recht (lex) werden konnte und ēwa in dieser Funktion verdrängte. Der Begriff frīheit, erstmals bei Notker belegt, setzte sich in vergleichbarer Weise als Entsprechung zu libertas durch, das im Abrogans und in der Benediktinerregel noch durch frīhalsi wiedergegeben wird, also durch eine Bezeichnung, die mit frīhals ‘Freigelassener’ noch an die konkrete Situation der deliberatio anknüpft. Ahd. ding ‘Gerichtsversammlung, Gerichtstag’, aber auch ‘Streitsache, Sachverhalt’ wird unter dem Einfluß von lat. cau sa (ahd. kōsa) seiner ursprüng-
5. Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichtebis zum Ende des Mittelalters
lichen Bedeutung entleert und für ‘Ding, Sache’ in einem allgemeinen Verständnis gebraucht, während verteidigen zu tagadinc ‘Gericht’ seinen Rechtssinn bis auf den heutigen Tag bewahrt hat. Ahd. ru ogen begegnet als Entsprechung zu lat. accu sare im Tatian und bei Otfrid für ‘anklagen, beschuldigen’ mit ruogstab ‘Anklage’ und Bezug auf die gestabte Rede vor Gericht bzw. auch den Eid, der auf den Gerichtsstab abzulegen war. Dieser Eid als Antwort des Angeklagten auf die Rüge wird von Notker als eidstab ‘Eidesleistung, Rechenschaft’ bezeichnet. Für die Erhaltung, Vermehrung und Durchsetzung eines Rechtswortes hatte offensichtlich die Wortfamilie (Splett 1985) entscheidende Bedeutung. Beispiele sind etwa swerren ‘eidlich versprechen’ mit bisworani ‘Beschwörung’, eidswurt ‘falsches, leichtfertiges Schwören’, meinswerio ‘Eidbrüchiger’; mahal ‘Gerichtsstätte’ mit mahlôn ‘anklagen’, mahalen ‘zur Braut (oder Frau) nehmen’, mali ‘Vermählung, Verlobung’, gemāla ‘Gemahlin’; suonen ‘entscheiden, richten, beurteilen, sühnen’ mit bi-, gisu onen ‘versöhnen’ und su onatag ‘Tag des Jüngsten Gerichts’. Es handelt sich in allen diesen Fällen um tragfähige Wortfamilien, die durch Zusammensetzungen und Ableitungen den traditionell konservativen Wortschatz der RS flexibel und anpassungsfähig zeitbedingten Innovationen gegenüber gehalten haben. Die Entsprechungen zu lat. iu diciu m, iu dicare und iu dex, zu denen auch and. su ona und su onen gehören, bestätigen dies. Denn in der 2. H. d. 8. Jhs. sind diese Entsprechungen zu lat. iu diciu m und iu dicare gegenüber älterem tu om/tu omen, die noch in die vordt. Zt. zurückreichen, im bair.-alem. Raum die führenden Bezeichnungen, während sich tu om/-tu omen bzw. dōm/ dōmen im 8. Jh. nur im Frk. und Asächs. voll zu behaupten vermochten, bevor vom Mittelrhein, aus dem austrasischen Kerngebiet zwischen Köln, Brüssel und Metz heraus, sich seit dem 9. Jh. die frk. Neubildungen u rteili und irteilen auf Kosten der älteren Bildungen su ona/su onen durchzusetzen vermochten. Diese Entwicklung ist von den ahd. Glossen wie den übrigen and. Sprachdenkmälern aus in ihren Einzelschritten zu rekonstruieren gewesen (Freudenthal 1949). Entsprechendes gilt für die Wortfamilie von frk. urkundi ‘Zeugnis’ im Blick auf lat. testis, testimoniu m, testare und seine Entsprechungen. Auch diese Erneuerung des Rechtswortschatzes erfolgte aus dem Gebiet heraus, von dem mit der frk. Gerichtsverfassung auch die Institution der scabini ‘Schöffen’ ausgegangen ist.
Zu den Innovationen der frühdt. Zeit auf dem Gebiet der RS gehören schließlich die ersten Anfänge einer Urkundensprache in der lingu a theodisca oder Volkssprache. Die Hammelburger Markbeschreibung im Zusammenhang mit der Übereignung von Gütern aus dem Besitz Karls des Großen an das Kloster Fulda im Jahre 777 hält offenbar protokollartig das Ergebnis eines Grenzumgangs fest: Nur die PN, ON und FlN wie Lagebezeichnungen sind hier volkssprachig. Von den beiden Würzburger Markbeschreibun-
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gen aus dem Jahre 779, die nur in Kopien aus der Zeit um 1100 überliefert sind, ist die eine zwar noch lat. im Stil karolingischer Urkunden abgefaßt, doch sind Namen, Präpositionen, Artikel und Adjektive aus der Volkssprache übernommen. Die zweite Würzburger Markbeschreibung ist überhaupt in der Volkssprache abgefaßt. Mit satzeinleitenden Formeln wie diz sageta wird auf die besondere Sprechsituation Bezug genommen. Auffallend viele Kurznamen sind als Reflexe gesprochener Sprache anzusehen. Trotz des Konservatismus, der die RS im Frühdt. auszeichnet, ist sie mehr als nur eine Fortsetzung des vordt. Zustandes: Sie war der zunehmenden Verschriftlichung des Lebens und damit dem Lat. der Zeit gegenüber offen. Die Bedeutung Karls des Großen ist dabei nicht zu übersehen. Die Flut der Leges-Handschriften vom 8.—10. Jh. beweist, daß er auf dem Aachener Reichstag 802/3 nicht umsonst gefordert hat, daß die Richter nach geschriebenem Recht (per scriptum) urteilen sollten. Die Vermehrung der RQ hat sich auch auf den Rechtswortschatz ausgewirkt: Neue Rechtswörter durch Kompositionen und Ableitung, die semantische Erweiterung der Lexeme und dadurch Polysemie, der Aufbau von Wortfamilien, die schrittweise Einbeziehung der Volkssprache in die Urkundensprache, dies waren Innovationen, die Nachwirkungen für die Entwicklung der dt. RS hatten. Problematisch ist dabei die räumliche wie zeitliche Abgrenzung der frühdt. Epoche. Von den RQ aus umfaßt sie die Zeit von der ältesten überlieferten Hs. der Lex Salica (nach 750) bis zur Schwäbischen Trauformel (Mitte 12. Jh.). Wie die angeführten Beispiele gezeigt haben, liegt ein Höhepunkt bei Notker Labeo, dessen Rhetorik bereits Hinweise für rechtes Verhalten in einem Rechtsstreit enthält. Die kleineren RQ wie die ‘Schwäbische Trauformel’ (12. Jh.) und das Bruchstück eines Gottesurteilsverfahren lassen Rückschlüsse auf die Mündlichkeit vor Gericht zu. Spätahd. Glossare wie das Summarium Heinrici mit seiner Textentwicklung sind auch für die RS des 11./12. Jh. aufschlußreich (Hildebrandt 1995). Schwierig ist die Abgrenzung des Ahd. und Asächs. durch die vorhandenen Mischtexte wie Hildebrandslied, De Heinrico, Muspilli u. a., die Elemente des einen wie anderen Dialekts enthalten können (Klein 1977). Im Sinn von Rechtshistorikern (Köbler) wie Philologen (Munske) ist heute die Einbeziehung des Anfrk. wie Afries. in die Geschichte der dt. RS. wünschenswert.
7.
Die Rechtssprache im hohen Mittelalter (1170—1250)
Am Anfang der volkssprachigen RQ steht hier der Erfurter Judeneid (Ende 12. Jh.), der erste
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deutschsprachige Eid dieser Art, mit dem das ‘Corpus der altdeutschen Originalurkunden’ beginnt. Die Periode der Stauferzeit hat nicht nur die mhd. Dichtersprache höfischer Prägung hervorgebracht, sondern mit dem Lucidarius (um 1190) und anderen Werken der Fachliteratur auch eine wissenschaftliche Prosa, die sich für umfangreichere Texte der Rechtsliteratur als tragfähig erweisen sollte. Neben dem Mainzer Reichslandfrieden (MRLF) d. J. 1235, dem ersten Reichsgesetz, für das auch eine dt. Fassung überliefert ist, sind hier das ‘Mühlhauser Reichsrechtsbuch’ und der ‘Sachsenspiegel’ (Ssp) zu nennen, die fast gleichzeitig (1224/25) entstanden sind. Für die rechtlichen Verhältnisse vor der Zeit dieser Aufzeichnungen ist der ‘Reinhart Fuchs’ des Elsässers Heinrich aus der Zeit um 1190 aufschlußreich, der mit der Schilderung des Hof- und Gerichtstages wie dem Verfahren gegen den Fuchs auch die für den Prozeß übliche Rechtsterminologie mit ihrer besonderen funktionalen Bedeutung festgehalten hat (Widmaier 1993). In der Reimvorrede des ‘Sachsenspiegels’ (V. 274) führt der Verfasser, der sächsische Edelfreie und Ministeriale Eike von Repgow, aus, daß es zunächst eine lat. Fassung gegeben habe, ehe er sich auf Bitten seines Herrn, des Grafen Hoyer von Falkenstein, daran gemacht hat, diese in das Dt. zu übertragen. Inwiefern diese Angabe ernst zu nehmen ist oder doch mit einem Topos gerechnet werden muß, ist noch nicht restlos geklärt. Für das Vorhandensein einer lat. „Urfassung“ sprechen gewisse inhaltliche Parallelen des Ssp mit dem Landrecht (Ldr) des Görlitzer Rechtsbuches wie auch mit dem ‘Auctor vetus de beneficiis’, einer lat. Fassung des Lehnrechts (Lnr) in Reimprosa. Die Form der Prosa des Ssp, die erstmals den Charakter einer Fachsprache hat, dabei aber auch mit Elementen der Mündlichkeit durchsetzt ist, läßt eher an einen Topos denken, der der Legitimation des eigenen, volkssprachigen Textes dienen sollte. Bei der Herkunft Eikes aus einem Geschlecht, das östlich von Dessau (Reppichau bei Aken) ansässig gewesen ist, aber auch in Halle und Magdeburg Besitz hatte, wird man davon ausgehen können, daß er Elbostfälisch, also Nd., gesprochen hat. Seine Schreibe — die Niederschrift des Ssp erfolgte wahrscheinlich im Stift Quedlinburg — war indessen vom Md., also vom hd. Schreibgebrauch, beeinflußt. So handelt es sich bei dem ältesten überlieferten Text, einer Quedlinburger Hs. des 13. Jhs. (jetzt Halle, Oppitz Nr. 6 57) bereits um einen md. Text (ostmd. Schreiber) mit mnd. Reliktwörtern, die Rückschlüsse auf eine mnd. Vorlage zulassen. Für die mnd. Tradition ist die 1369 wohl in Magdeburg zusammengestellte Berliner
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
Hs. (Oppitz Nr. 110) repräsentativ. Doch ist der starke Anteil, den die md. Hss. an der Verbreitung des Ssp von vornherein gehabt haben, nicht zu übersehen. So sind von den 4 erhaltenen Bilderhss. (Ende 13.—Mitte 14. Jh.) drei md. und nur noch eine, die Oldenburger, niederdeutsch. Im Ssp wird das angewandte Gewohnheitsrecht, abgezogen vom konkreten Einzelfall, dargestellt. Das Buch besaß von hier aus ‘Modellcharakter’. Durch seine allgemeine und weiträumige Rezeption wurde aus der „Privatarbeit“, um die es sich ursprünglich handelte, eine normative RQ mit Verbindlichkeit. Insofern handelt es sich um ein Werk „juristischer“ Fachliteratur, um ein Fach- oder Sachbuch. Dieser „Fachbuchcharakter“ wird durch die Form der Schriftlichkeit, die Auseinandersetzungen mit falscher Lehre, die Fixierung von Kernsätzen mündlicher Rede, Sprichwörtern und Phraseologismen, vor allem aber durch den Fachwortcharakter bestimmt, der ganz anders als in den früheren Epochen den Charakter eines Fachwortschatzes hat. Dazu gehören Univerbierung durch zusätzliche Kompositionen wie Monosemierungen durch neue Ableitungen, also eine Differenzierung und Spezialisierung des vorhandenen Rechtswortschatzes durch Wortbildung, die vor allem den Abstrakta zugute kam. Entlehnungen aus dem Lat. und Frz. spielten zunächst eine geringe Rolle, sieht man von den Kulturlehnwörtern des Rittertums mit mnd. ridder, harnasch, tornei, tosteren ab, von denen einige wie kamp aber bereits älteren Lehnwortschichten angehören. Dies gilt auch für ein Rechtswort im engeren Sinne wie mnd. voget mit der jüngeren Bildung vogedie. Das Wortbildungsmittel der Komposition wird zusätzlich genutzt und führt zum Aufbau starker Wortfamilien wie bei ding ‘Gericht, Gerichtstermin’ mit dingen ‘Gericht halten’, dingplichte ‘Gerichtspflichtiger’, dingstat, dingtale ‘Gerichtstermin’, dingslete ‘Störung des Gerichts’, gôding ‘Zehntgericht’, degeding ‘Gerichtstag’ u. a. m. Es wuchern die Zusammensetzung mit Präpositionen und Adverbien, mit denen eine Präzisierung der rechtlichen Bedeutung erreicht wird wie bei af(ge)winnen ‘im Rechtsstreit abgewinnen, absprechen’, an(e)vān, -vangen ‘durch Anfassen zurückfordern’ usw. Besonders häufig sind Zusammensetzungen und Ableitungen -schap in egenschap ‘Knechtschaft, Unfreiheit’, manscap ‘Lehnseid’, vormu ntscap, während die Bildungen mit -heit wie bei wonheit, warheit, vrheit noch verhältnismäßig selten sind und der Erklärung bedürfen. Wie in der RS allgemein, stellen die Ableitungen mit Suffix -u nge, -īnge wie bei ladinge/ladu nge eine besonders große Gruppe der Abstrakta.
Der Umfang des Textes läßt erstmals Aussagen über die Struktur der RS zu: Über die Verwendung von Imp. und Kj., das Verhältnis von Präs. und Prät., den Anteil der Modalverben,
5. Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichtebis zum Ende des Mittelalters
über Relativ- und Konditional-, Anordnungsund Bedingungssätze, direkte Rede, Merksätze und Paarformeln, Sprache und Stil des Rechtstextes insgesamt und damit über Punkte, die den Rechtshistoriker wie den Philologen angehen. Mit dem Ssp wurde eine Gattung der Rechtsliteratur begründet, welche die Epoche des hohen wie späten MA ganz wesentlich bestimmen sollte: die RQ-Gattung der Rechtsbücher (Rbb), so daß man die Zeit von 1200 bis 1500 geradezu als „Rechtsbücherzeit“ bezeichnet hat. Unter Rbb versteht man heute außer den vom Ssp abhängigen RQ wie Deutschenspiegel (Dsp), Schwabenspiegel (Schwsp), Kleines Kaiserrecht, Magdeburger Weichbildrecht u. a. m. Aufzeichnungen des angewandten Rechts, die zwischen 1200 und 1500 in dt. Sprache niedergeschrieben worden sind, und zwar zunächst in Bindung an einen bestimmten Ort wie Hamburg oder Berlin, bzw. an eine Region wie das Land Sachsen (Ssp), oder bereits mit einem überregionalen Bezug auf die Deutschen (Dsp) bzw. auch mit einem universalen Anspruch im Blick auf Kaiser und Reich (Schwsp). In den zeitgenössischen Quellen werden diese Texte meist spiegel (Ssp), lant- u nd lehenrechtbu och (Schwsp.) oder kayserrecht bzw. kaiserliche reht (Schwabenspiegel, Kleines Kaiserrecht) genannt oder auch einfach nur als rechtbu k (Berliner Stadtrecht) bezeichnet. Mit den Stadtrechten zusammengenommen handelt es sich also um eine höchst heterogene Quellengruppe, bei der die Rbb im engeren Sinne mit der Fülle ihrer Handschriften, Klassen und Fassungen die Herausgeber vor editorische Probleme stellen, die nur von Rechtshistorikern und Philologen gemeinsam angegangen und gelöst werden können. Der MRLF zeigt, daß man sich bei den lat./dt. Parallelfassungen von der Vorstellung einer vorlagengetreuen Wort-für-Wort-Übersetzung freimachen muß. Es handelt sich hier um mehr oder weniger sinngemäße Übertragungen, bedingt durch die unterschiedliche Funktion der beiden Fassungen: die dt. Fassung war für die Verkündung und damit für die Verbreitung des Gesetzes in weiten Kreisen der Bevölkerung bestimmt. Sie weicht in bezug auf Aufbau, Sprache und Stil, die Verwendung von Paarformeln, den Satzbau u. a. m. ganz erheblich von der lat. Fassung ab, ganz abgesehen von den Reflexen gesprochener Sprache, die in dem Dokument reichlich enthalten sind. Ähnlich hat der zunächst lat. abgefaßte Österreichische Landfrieden von 1276 nachträglich eine dt. Fassung erhalten. Die auf ihn folgende Landfriedensgesetzgebung von 1281 ist überhaupt dt. abgefaßt, ebenso wie ein Landfrieden aus Bayern des gleichen Jahres.
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Man wird also die Landfriedensbewegung als eine „Schiene“ bezeichnen können (Johanek), auf der nicht nur das „Rechtsschrifttum“ ganz allgemein entscheidend vorangekommen ist, sondern durch die auch die volkssprachigen Formen der Rechtsliteratur wesentlich gefördert worden sind: So läßt sich auch in den ältesten Rbb wie dem Ssp der Einfluß der lat. Landfrieden nachweisen. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache zu sehen, daß in der hochmittelalterlichen Periode die dt.sprachige Urkunde laufend an Bedeutung gewann. Die dt. Fassung des MLRF hat für den Übergang von der lat. zur dt. Urkundensprache eine Schlüsselstellung. Dabei kann man nicht sagen, daß das Aufkommen der dt.sprachigen Urkunden durch die Reichskanzlei in Gang gekommen wäre: Hier hatten Territorien wie Luxemburg, Bayern und Österreich und Städte wie Mainz, Prag, Nürnberg und Wien Vorrang. Voraussetzung war die Institutionalisierung der Kanzleien als Zentren von Regierung und Verwaltung und damit die Begründung einer Geschäftssprache mit einem bestimmten, auch territorial bedingten Schreibstil, der freilich erst im 14./15. Jh. voll zur Entfaltung kommen sollte. Von Historikern, Philologen und Rechtshistorikern ist das Aufkommen der dt. Urkundensprache im 13. Jh. auf verschiedene Ursachen zurückgeführt worden, die meist im sozio-kulturellen Umfeld liegen, wie der steigende Einfluß von Ministerialität und niederem Adel, die wachsende Beteiligung von Laien am Beurkundungswesen, die Entstehung städtischer Kanzleien. Monokausal ist der Vorgang sicherlich nicht zu erklären. Zweifellos liegen die Motive für die Übernahme der Volkssprache aber auch in der rechtshistorischen Entwicklung an und für sich. Als durch die fortschreitende Verschriftlichung des Rechts an die Stelle der Beweisurkunde (notitia) die beglaubigte dispositive Urkunde trat, mit der gleichsam neues Recht gesetzt wurde, ergab sich der Übergang zur dt. Urkunde bereits aus der Notwendigkeit ihrer Verlesung, die nur dann Sinn hatte, wenn sie in der Volkssprache erfolgte. Die in der Publicatio häufig enthaltene Formel Allen den die disen brief sehent oder hoerent lesen, den ku nd ich u. ä. läßt auf den Vorgang ganz allgemein schließen.
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Rechtssprache im späten Mittelalter (1250—1500)
Für das späte MA ist die explosionsartige Vermehrung der Rechtstexte bezeichnend, die im Zusammenhang mit der Verschriftlichung des Rechtslebens in einem gesamteuropäischen
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Rahmen zu sehen ist. Auf der Grundlage des Ssp entstanden so um 1275 der Deutschen- und der Schwabenspiegel (Dsp, Schwsp). Hatte bereits der Ssp durch die Berücksichtigung des Lnr und die reichsrechtlichen Bestimmungen zu Wahl und Weihe des Kaisers den Charakter partieller Überregionalität, so verstärkte sich dieser Zug bei den jüngeren Rbb durch die Aufnahme römisch-rechtlicher Bestimmungen wie die Übernahme der Selbstbezeichnung „Kaiserrecht“ für den Schwsp und später für das sog. „Kleine Kaiserrecht“ (zwischen 1330 und 1342). Vulgate Fassungen des Ssp mit teilweise umfangreichen Ergänzungen zum ursprünglichen Text wie bei der vor 1270 in Magdeburg entstandenen vierten dt. Fassung, sind bereits Zeugnis für die sog. Frührezeption, die im 13. Jh. einsetzte und offensichtlich zur Vermehrung der Texte von Ldr und Lnr im 14./15. Jh. entscheidend beigetragen hat. Das Übergewicht, das dabei die Städte als Auftraggeber, Besitzer und Benutzer von Rechtshss. hatten (Hüpper 1991), ist an einer Anzahl von Gebrauchshss. wie prächtig ausgestatteten Codices aus städtischem Besitz (Braunschweig, Lüneburg, Hamburg, Dresden u. a. m.) abzulesen. Doch nicht allein auf Rbb im engeren wie weiteren Sinne (Stadtrechte, Stadtbücher) erstreckte sich die Vermehrung der Texte, sondern auch auf andere überkommene wie neue Gattungen wie z. B. Urkunden, Achtbücher, Willküren, Weistümer, Schöffensprüche, Urbare, Gerichtsprotokolle u. a. m. So trat neben die Privilegien der Stadtherren das Willkürrecht, das sich die Stadtgemeinden (Lübeck bereits 116 3, Aachen 1273, Nordhausen 1290, Hamburg 1292 u. a. m.) nach eigener Wahl (ku re, kore) selbst schufen. Die „statuarische Willkür“ enthielt Rechtsnormen für besondere Aufgaben und Probleme des städtischen Lebens, die aber zunächst das gleichzeitig geltende Ldr nicht berührten. Auch die Satzungen und Sonderrechte von Zünften und Vereinen galten als Willkür. — Im ländlichen Bereich entsprachen der Willkür in gewisser Weise die Weistümer, die zwar auf Weisu ng rechtskundiger Männer beruhten, deren Aufzeichnung aber meist auf Veranlassung der Herrschaft in deren Kanzleien erfolgte. Sie regelten das Verhältnis der Grundherrschaft zu den Hintersassen wie der Grundholden untereinander. Merkmale waren die Zugehörigkeit zum bäuerlichen Bereich, der gewohnheitsrechtliche Charakter, die lokale Bindung (Mundart), die periodische Verkündung (Werkmüller 1986 ). Ihre Aufzeichnung in der herrschaftlichen Kanzlei hatte eine Angleichung des lokalen Sprachgebrauchs an den Usus der jeweiligen Schreiblandschaft zur Folge
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
(Schmidt-Wiegand 1986). — Ebenfalls auf Initiative der Grundherrschaft gingen die Urbare zurück, die auf Weisung vereidigter Grundholden beruhten und mit der Beschreibung des herrschaftlichen Besitzes eine Fixierung der Leistungen verbanden, die auf den Liegenschaften ruhten. Seit dem 13. Jh. im dt. SW häufig vorhanden, ging man bei dieser Quellengruppe Mitte des 14. Jh. von der lat. zur dt. Sprache über (Kleiber 1986 ). Von dieser Quellenlage aus ergibt sich für Rechtshistoriker und Philologen bzw. Sprachhistoriker ein gemeinsames Arbeitsfeld: die Rechtssprachgeographie. Bereits 1926 hatte Eberhard Frhr. von Künßberg vom Archiv des DRWB in Heidelberg aus dazu den Grund gelegt: Seine ‘Rechtssprachgeographie’, angeregt durch die Arbeiten am DSA, enthält eine historische Mundartkarte (Flecken), eine der ersten Bedeutungskarten (Bestand), Karten sog. „synonymen Gruppen“ wie der Pranger-Gru ppe (mit Pranger, Kāk, Schreiat, Stau pe, Halseisen), der Leitkau f-Gru ppe (mit Leitkau f, Weinkau f, Gottespfennig, Gottesheller), der Vormund-Gruppe (mit Vormu nd, Gerhab, Momber, Vogt, Träger, Pfleger), sowie eine Rechtsbrauchkarte (Steintragen). Künßberg wurde von seinem rechtshistorischen Kollegen Karl Frölich (1934) unterstützt und hat selbst andere Wortgruppen wie Zu nft und Gilde (1935), Du nschlag und Beulschlag (1937) sowie Hanse (1941) rechtssprachgeographisch bearbeitet. Seine Methode der Deckblätter über einer Grundkarte wurde durch den DWA überholt; der Gegenstand oder die Thematik blieb für die SG indessen interessant, handelt es sich doch um einen Sonderfall historischer Wortgeographie, der die Erhebungen zum DWA durch seine historische Dimension wie bei Pflugwende zu ergänzen vermag. Als nach längerer Unterbrechung der Gegenstand von den Philologen wieder aufgenommen wurde, geschah dies zunächst ohne die Beigabe von Wortkarten und mit Beschränkung auf eine bestimmte Quellengruppe oder ein bestimmtes Sachgebiet. So von Hyldgaard-Jensen (196 4) für Sprachgebrauch der Stadtrechte bis 1350 und von Munske (1973) für das Wortfeld der Missetaten. SchmidtWiegand (1978) unterscheidet sich von diesen Arbeiten durch die Beigabe von Wortkarten und die Erweiterung auf Gegenstände der Volkskultur wie den Strohwisch (Rechtsbrauchkarte) bei gleichzeitiger Hinzuziehung der volkskundlichen Karten des ADV. Der SSA von Kleiber, Kunze und Löffler enthält von der Grundlage der Urbare aus Wortkarten für Brühl, Breite, Ju chart, Morgen u. a. und damit für ein Vokabular der Agrarbeschreibung, das auch für den Rechtshistoriker aufschlußreich ist.
5. Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichtebis zum Ende des Mittelalters
Die Verbindung verschiedener RQ-Gattungen unter sprachgeographischem Aspekt, z. B. der Rbb und Weistümer, läßt Ausgleichsvorgänge transparent werden, die zur Entstehung der nhd. Schriftsprache beigetragen haben. Die Rbb, die für die ritterliche und bäuerliche Bevölkerung, für Hoch- und Niedergericht, Lehns- und Gaugericht bestimmt waren, zeichneten sich auch sprachlich durch Überregionalität aus, während sich die Weistümer lokal auf die Bauernschaft und das Dorf bezogen und erst durch ihre Aufzeichnung in der herrschaftlichen Kanzlei Anschluß an die Schreibregion, in der sie lagen, fanden. So wurden durch die Rbb zentrale Rechtsbegriffe wie echt, billig und Gerücht aus dem Nd. in das Md. und weiter in das Hd. vorangetragen und vermochten sich bis in die nhd. Schriftsprache zu halten. Musterbeispiel für den damit verbundenen Sprachausgleich ist Vormu nd, das sich mit dem Ssp nach W und S auf Kosten mundartlicher Bezeichnungen wie Mombert, Fürsprech und Gerhab ausbreiten konnte. An den Weistümern läßt sich die schrittweise Akzeptierung von Bezeichnungen aus der schreibsprachlichen Schicht mit ihren sachlichen oder rechtlichen Voraussetzungen festmachen. So setzte sich Steu er gegenüber Bede durch, als Naturalabgaben und Dienst für den Grundherrn durch eine Geldsumme abgelöst werden konnten und der Kreis der Abgabepflichtigen von den Hintersassen auf zugezogene Freie erweitert wurde. Auch der umgekehrte Vorgang, die Aufnahme von primär mundartlichen Bezeichnungen in die Schriftsprache, läßt sich an den Weistümern zeigen; Anwende für das Ackerstück, das vom Nachbarn zum Wenden des Pfluges betreten werden durfte, breitete sich mit Anwendeacker und Anwenderecht vom Oberrhein bis nach Westfalen aus und verdrängte hier ältere, bodenständige Wörter wie Dwersland und Vorhovede. Lidlohn, das den Anspruch von Arbeitnehmern auf Lohn, Kost und andere Bezüge aus Dienstoder Arbeitsverhältnissen betrifft, wird auf dem gleichen Weg über das Ostmd. zu einem Begriff der Amts- und Verwaltungssprache wie des modernen Arbeitsrechtes, als die Bezeichnung auf andere Berufsgruppen wie das Gesinde, auf Handwerker und Arzt, den Bergmann usw. übertragen worden ist. Aus den Beispielen ergibt sich: Entscheidend für das Durchsetzungsvermögen bestimmter Rechtswörter war ihre Überregionalität, abzulesen an den Rbb. Für ihre Akzeptierung vor Ort, die dem Vorgang der Verbreitung erst Dauer verlieh, sind die Weistümer aufschlußreich: Sie zeigen, daß Flexibilität in bezug auf Anwendung und Gebrauch für ihre Aufnahme und Erhaltung entscheidend gewesen
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sind. Sie mußten wie Lidlohn auf zusätzliche Personengruppen anwendbar sein oder wie Steu er auf neue Rechtsverhältnisse, wie sie mit der Ablösung der Naturalwirtschaft durch geldwirtschaftliche Formen des Lebens heraufkamen. Sie mußten wie Anwende auf Innovationen der materiellen Kultur wie den Anwendacker reagieren können. Rbb und Weistümer ergänzen sich also in bezug auf ihren Erkenntniswert für die SG. Eine Auswertung aller RQ, gerade auch der Weistümer, unter sprachgeographischem Aspekt erscheint im Blick auf den sog. Sprachausgleich wünschenswert (Schmidt-Wiegand 1995). Zu den Reichsgesetzen, denen wie dem MRLF eine weitreichende Bedeutung zukam, gehörte die Goldene Bulle d. J. 1356, mit der die Modalitäten der Königswahl, besonders das alleinige Wahlrecht der sieben Kurfürsten, für Jahrhunderte festgeschrieben worden ist. Das Gesetz wurde am 25.12. in einer feierlichen Versammlung in Metz bekannt gegeben und gleichzeitig durch sieben Ausfertigungen des Originals die Möglichkeit zur Abschrift eröffnet. Bald sollte auch eine dt. Übersetzung des lat. Textes folgen. Außer dem Privileg des Kaisers enthält dieses Gesetz eine Kodifikation des geltenden Gewohnheitsrechtes und im 31. Kapitel Ausführungen über die Erziehung der Kurfürstensöhne, die für die sprachliche Situation im Reich aufschlußreich sind: Die Söhne der Kurfürsten sollten vom 7. Lebensjahr an in der lat., ital. und slaw. Sprache (gemeint ist die böhm.) unterrichtet werden und im 14. Lebensjahr darin ausgebildet sein. „Dies wird für unentbehrlich gehalten, weil diese Sprachen im Heiligen Römischen Reich benützt und benötigt werden und weil man in ihnen die schwierigsten Reichsgeschäfte erörtert“. Es ist dies der wohl älteste, auf die dt. Sprache bezüglichen Rechtstext (Hattenhauer 1987), der zugleich der Vielsprachigkeit im Reiche Rechnung trägt. An seiner Abfassung dürften sowohl der Reichskanzler, der Erzbischof von Mainz, Balduin von Trier, als auch der Hofkanzler Karls IV., Johannes von Neumarkt, beteiligt gewesen sein. Die Reichskanzlei Karls IV. (ähnlich wie unter den Habsburgern Friedrich III. und Maximilian I.) war jetzt auch Vorbild für das Kanzleiwesen der Territorien und Städte. Es kamen damit eine Reihe von Schreib- und Geschäftssprachen mit ihren regionalen Bedingtheiten wie mit ihren überregionalen Bezügen auf, die auch den Rechtswortschatz und den Stil von Rechtsdokumenten betrafen. Bei den dt.sprachigen Urkunden stellte das Formular der lat. Diplome, das zunächst noch beibehalten wurde, mit Protokoll
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(Intitulatio, Inscriptio), Narratio, Dispositio, Poenformel und Eschatokoll eine gewisse Einheitlichkeit her. Im Laufe der Zeit beschränkte man sich besonders bei den Privaturkunden auf die Nennung des Absenders bzw. Ausstellers, auf Anrede- und Grußformel und Zeugennennung. Der Kanzleistil zeichnete sich im übrigen durch wachsende Vorliebe für die Hypotaxe und rhetorische Schmuckformen aus, die dabei ihre alte funktionale Bedeutung durchaus behalten konnten. So waren Zweier- und Dreierformeln (Paarformeln und Wortreihen) zunächst rhetorische Stilmittel, die aber gleichzeitig dem herkömmlichen Bedürfnis nach Konkretisierung von Oberbegriffen und Allgemeinvorstellungen, nach Differenzierung und Eindeutigkeit noch immer entsprachen. Der Kanzleistil beeinflußte die Literatur und Dichtung des 15. Jhs. besonders da, wo es um die Schaffung einer Kunstprosa ging. Die Wirkung der Prager Reichskanzlei Karls IV. ist über den Kreis der Frühhumanisten (Johannes von Neumarkt) und die neulat. Kunstprosa an dem Streitgespräch zwischen dem ‘Ackermann und dem Tod’ des Johannes von Tepl nachzuweisen. Dieser (um 1350 geb.) hatte in Prag die artes studiert, bevor er als notarius civitatis und rector scholaru m in Saaz wirkte. Seit 1386 wird er auch als notariu s pu blicu s au ctoritate imperiali bezeichnet; 1411 ist er als Notar in der Prager Neustadt ansässig, wo er vier Formelbücher und einen Band des Stadtbuches angelegt hat. Sein Hauptwerk, der ‘ackermann’, das ein theologisch-ethisches Problem behandelt, folgt in Aufbau und Sprachstil, also im Formalen, dem genu s ju dicale, der Gerichtsrede, mit ihren traditionellen Teilen exordiu m, narratio, confirmatio, confu tatio und conclu sio. Lebensweg und -werk des Johannes von Tepl ist bezeichnend für den jungen Berufsstand der Schreiber und Notare, besonders der Stadt- und Ratsschreiber, die sowohl für die Vermehrung der Rechtstexte im Spätmittelalter wie für die Verbreitung humanistischer Bildung Entscheidendes geleistet haben. Dies gilt auch für den Geistlichen und Ratsschreiber Johannes Rothe in Eisenach (geb. um 136 0), der außer legendären, didaktischen und chronikalischen Schriften drei Ratsgedichte (ein Fürsten- und zwei Stadtratsgedichte) verfaßt und das Eisenacher Rechtsbuch nach älteren Stadtrechtsquellen wie dem Schwsp, dem Meißner Rb u. a. m. redigiert, systematisiert und aufgezeichnet hat: Eine geschickte Kompilation, in die auch die Glosse zum Ssp eingegangen ist. Der Ssp hatte erstmals um 1350 eine besondere Glosse erhalten, die dem märkischen Hofrichter Johann von Buch zugeschrieben wird. Sie sollte eine Harmonisierung des sächs. Rechts mit dem römischen und kanonischen Recht herbeiführen und erfreute sich in der Folgezeit großer Beliebt-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
heit, wie an ihren Fortsetzern (Petrus von Posena, Dietrich und Tamo von Bocksdorf, Brand von Tzerstede und Nikolaus Wurm), aber auch an ihrer Rezeption in das Stadtrecht (Berlin, Cleve u. a.) deutlich wird. Bedingt durch die fortschreitende Verschriftlichung des Prozeßwesens, entstand eine besondere Literatur zum Rechtsgang, von der hier nur der ebenfalls von Johann von Buch 1335 verfaßte ‘Richtsteig Landrechts’ genannt sei. Auch diese Literatur ist Ausdruck der Frührezeption, die mit der Einrichtung des Reichskammergerichts im Jahre 1495 ihren Abschluß fand. Welche Wirkung dieser Prozeß auf die SG, besonders die Tendenzen zu Sprachausgleich und Vereinheitlichung der dt. RS gehabt hat, bleibt von Seiten der SG wie der RG zu untersuchen.
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Literatur (in Auswahl)
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Ruth Schmidt-Wiegand, Münster
Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte seit dem Ausgang des Mittelalters Die Rezeption und die Fachsprache der Juristen Sprachpflege und forensische Rhetorik Von den Kunstwörtern zu einer Wissenschaftssprache Der Weg zum Allgemeinen Landrecht Die Kodifikation im Widerstreit Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte im 20. Jahrhundert Literatur (in Auswahl)
1.
Die Rezeption und die Fachsprache der Juristen
Unter „Rezeption“ im Vollsinn des Wortes versteht der Rechtshistoriker die Übernahme des Corpu s iu ris civilis nach Deutschland seit der Mitte des 15. Jahrhunderts. Bei dieser Übernahme der Rechtssammlung des oströmischen
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Kaisers Justinian (527—56 6 n. Chr.) handelte es sich um mehr als eine nur stofflich-inhaltliche Rezeption. Sie war verbunden mit der Übernahme der Dogmatik und Methode der Glossatoren und Kommentatoren, die sich vor allem in Italien und Frankreich seit der Wiederentdekkung der Rechtssammlung im 12. Jh. mit dieser Quelle befaßt hatten; Digesten, Institutionen, Novellen, Übersetzungen gingen mit der Übernahme des Corpu s iu ris civilies einher. Die Rezeption bewirkte von hier aus die Verwissenschaftlichung des Rechtslebens, und dies in einem gesamteuropäischen, nicht auf Deutschland beschränkten Rahmen. Sie gilt heute als ein „gemeineuropäisches Phänomen der beginnenden Neuzeit“ (Kiefner). Rezipiert wird also die spätmittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Rechtswissenschaft eines iu s commu ne, wie sie seit Ende des 13. Jhs. an italienischen und französischen Universitäten gelehrt wurde und in zahlreichen Kommentaren ihren Niederschlag gefunden hat. Diese national nicht gebundene Wissenschaft beruhte auf den Erträgnissen der Glossatoren, von denen hier nur Accursius (gest. nach 126 0) mit der Glossa ordinaria genannt sei. Unter den Motiven, die zur Rezeption geführt haben, ist die Entstehung des Berufsstandes der Juristen wahrscheinlich eines der wichtigsten. Durch das Studium an den Juristenfakultäten in Italien und Frankreich, seit dem 15. Jh. auch in Deutschland, war die Zahl profaner Juristen beträchtlich gestiegen. Sie fanden zunächst in der städtischen oder territorialen Verwaltung, als Rat oder Syndicus, im diplomatischen Dienst u. a. m. Verwendung; schließlich auch als gelehrte Richter oder rechtskundige Anwälte (advocatu s und procurator) ein Betätigungsfeld. Hier liegt der eigentliche Anstoß zur Rezeption, die zu einer Reformation des gesamten Gerichtswesens führte, — im Reich, in den Territorien und in den Städten, wo sie aber mit unterschiedlicher Intensität vorangetrieben worden ist. In der Reichskammergerichtsordnung vom Jahre 1495 wurde festgelegt, daß die Richterbank zur Hälfte mit Doktoren zu besetzen war, d. h. von „Berufsrichtern“, wenn auch nicht ausschließlich. Die Schöffen als Laien wurden z. T. durch gelehrte Richter abgelöst, eine wahrscheinlich von den Prozeßparteien ausgehende Initiative. Diese Ersetzung des Rechtsgangs in der Hand von Laien durch ein Verfahren von fachlich ausgebildeten Richtern brachte den Übergang vom rational nicht voll nachzuvollziehenden Schöffenspruch, der auf sozialer Autorität beruhte, zum überprüfbaren Urteil auf gesicherter materialrechtlicher Grundlage und gewonnen in einem geordneten
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
Verfahren. Zugleich wurde der vom kanonischen Recht geprägte Zivilprozeß übernommen. Seine Bedeutung auf prozeßrechtlichem Gebiet spiegeln die verschiedenen Reichskammergerichtsordnungen von 1495, 1521 und 1555 wider, die auf die territorialen Prozeßordnungen Einfluß gehabt haben. Der damit begründete gemeine Prozeß als ein dem iu s commu ne adäquates Verfahren zeichnete sich durch Schriftlichkeit und Begrenzung des Verfahrensstoffes auf die Tatsachenbehauptungen aus. Er war mit Nichtöffentlichkeit, strikter Trennung von Sachverhalt und rechtlicher Würdigung sowie Instanzenzug nicht nur in bezug auf das Endurteil verbunden. Die Wirkung der Rezeption in Deutschland ist an der Verbreitung juristischer Literatur im 16 . Jh. abzulesen, die durch den Buchdruck gefördert worden ist. Es ist eine im wesentlichen populäre Literatur in Form von Klagspiegeln wie dem ‘Laienspiegel’ Ulrich Tenglers, der erstmals 1509 mit einer Vorrede Sebastian Brants gedruckt worden ist. In diesem Vorwort wird der Adressatenkreis beschrieben, für den das anonym überlieferte Werk bestimmt gewesen ist: Layen, es seyen weltlich richter, vorgeer, beysitzer, u rteylsprecher, radtgeber, schreiber, clager, antwu rter. Es ist ein Kreis von Personen, die neben dem gelehrten Richter oder Anwalt ungelehrt im Gericht tätig gewesen sind. Von hier aus wird auch verständlich, warum die Kammergerichtsordnungen, obwohl sie römisches Recht lat. Sprache zu vermitteln hatten, selbst alle in dt. Sprache abgefaßt gewesen sind: Sie waren nicht allein für den neuen Berufsstand der Juristen bestimmt, sondern zugleich auch an den „Rechtslaien“ und die „Laienrechtspflege“ gerichtet (Hattenhauer). Es wurde, wie Sebastian Brant im ‘Klagspiegel’ (1516 ) bemerkte, teu tsch geredet mit lateinischer Zungen. Die Biographie Sebastian Brants ist zugleich bezeichnend für die Laufbahn eines gelehrten Juristen in seiner Zeit. Der 1458 in Straßburg geborene Dichter des ‘Narrenschiffs’ (1494) hatte in Basel studiert und promoviert (1489) und war anschließend hier als praktischer Jurist und Professor tätig gewesen. Er gehörte einem humanistisch gebildeten Freundeskreis an, in dem er lat. Gedichte und Übersetzungen anfertigte. Ein einführendes Lehrbuch ‘Expositones sive declarationes omnium titulorum iuris tam civilis quam canonici’ (1490) erfreute sich mehrerer Auflagen. Nach seiner Rückkehr nach Straßburg wurde er dort Syndicus (1501) und Stadtschreiber (1503); 1502 ernannte ihn Kaiser Maximilian I. zum Comes Palatinus, zum Kaiserlichen Rat und Beisitzer im kayserlichen Hofgericht zu Speyer. Er brachte Tenglers ‘Laienspiegel’ (1509) und den ‘Klagspiegel’ (1516 ) zum Druck. Als Verfasser der ‘Freiheitstafel’, eines Lehrgedichts für die freistädtische
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Führungsschicht Straßburgs (Knape), das als Wandschmuck für einen Raum im Rathaus bestimmt gewesen ist, hat er sich auch über den Begriff der alten deutschen Libertät geäußert und damit zu einem Thema, das in der Zeit von Humanismus und Reformation aktuell gewesen ist, Stellung genommen.
Angesichts dieser Laufbahn eines so bedeutenden Dichterjuristen wie Sebastian Brant ist zu fragen, welchen Anteil der Humanismus an der Rezeption des Römischen Rechts gehabt hat? Von den Rechtshistorikern wird er verhältnismäßig gering eingeschätzt, weil es bei der Rezeption nicht um die Wiederbelebung des antiken Erbes ging, sondern um seine mittelalterliche Umsetzung und Überformung wie seine rein praktische Anwendung. Die Humanisten Ulrich Zasius in Freiburg und Bonifacius Amerbach in Basel, zugleich Verfasser theoretisch-wissenschaftlicher Schriften auf dt. Seite, gelten als Ausnahmen. Aber auch sie haben sich als praktische Juristen betätigt und Schriften mit einer entsprechenden Zielsetzung verfaßt. In diesem Zusammenhang ist auch Thomas Murner, ebenfalls Humanist, Dichter und Rechtsgelehrter, zu erwähnen. 1518 ließ er in Basel eine lat.-dt. Zusammenstellung von Rechtsregeln mit dem Titel ‘Utriusque iuris tituli et regulae’ erscheinen, die sich großer Nachfrage erfreute. 1519 ließ er eine vollständige Übersetzung der Institutionen in das Dt. folgen. Diese Übersetzung steht in ihrer Zeit nicht alleine. Hier sind die Verdeutschungen der ‘Lectura super arboribus consanguinitatis’ des Johannes Andreas und des Pseudo-Andreanischen ‘Ordo judicarius’ zu nennen, die gelehrte Kommentare in die Übersetzung eingearbeitet enthielten. Besonders der ‘Ordo judicarius’ sollte dem ungelehrten dt. Richter, Beisitzer, Schöffen wie auch den Parteien den lat. Prozeßgang nahebringen. Die Gegenüberstellung des dt. Textes mit seiner lat. Vorlage zeigt in bezug auf Lexik und Syntax weitgehende Freiheit. Fremdwörter werden möglichst vermieden. „Alles Gewicht wird auf eine sprachlich plane und faßliche Herausarbeitung des lat. Textes gelegt“ (Stammler). Der Philologe wird von hier aus den Einfluß des Humanismus auf die Rezeption positiver beurteilen als der Rechtshistoriker, zumal sich die sog. Popularjurisprudenz auf die Sprachgeschichte des 15./16 . Jh. ausgewirkt hat, indem sie das Erscheinungsbild der dt. Rechtssprache mitbestimmt hat. Dabei wird zwischen dem Einfluß der Rezeption und dem Vorbild des Humanistenlat. nicht immer streng zu unterscheiden sein. So kommen die Ersparung des Verbum substantivum und die Ellipse der Hilfsverben, das Part. conjunctum und das Part. absolutum, der Akk.
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mit Inf., Cursus und rhythmischer Satzschluß aus der lat. Urkundensprache, gehören also zu den Formen und Formeln, die schon sehr viel früher in die Kanzleisprache übernommen worden sind. Wohl durch die Rezeption sind ausgelöst oder verstärkt worden die Vorliebe für das Subst., der Gebrauch von Adj. und Adv., die Neigung zu Präfix- und Suffixbildungen. Die Fortlassung des Artikels bei Kläger und Beklagter, die sich in der Rechtssprache bis in die Gegenwart hinein erhalten hat, kommt aus dem Humanistenlat. Vor allem aber sind hier die zahlreichen Fremd- und Lehnwörter zu nennen, die seit dem 16 . Jh. die dt. Rechtssprache überfluten und für heimische Bezeichnungen wie Consens für Wille, Approbation für Bestätigung, Testament für letzter Wille eintreten. Diese breite Übernahme von Rechtstermini aus dem Lat. hat die Gruppe der Rechtswörter im engeren Sinne erheblich vergrößert, so daß nun ein exclusiver Wortschatz entstand. Entsprechendes gilt für die Übernahme von Stilmitteln aus dem Lat. Die Juristen als ein neuer Berufsstand erhielten auf diese Weise eine eigene Fachsprache. Diese juristische Fachsprache hatte von Anfang an eine weite und nachhaltige Wirkung, so hat sie z. B. innerdt. Ausgleichsvorgänge gefördert, indem an die Stelle landschaftlich bedingter Varianten wie Dingtag, Rechtstag, Gerichtstag, Tagsatzu ng und Tagfahrt nun als neue Bezeichnung Termin trat. Diese Tendenz zur Vereinheitlichung innerhalb der juristischen Fachsprache, die sich auch auf die Amts- und Geschäftssprache der Kanzleien erstreckte, hat zur Ablösung der nd. Schriftsprache durch die hd. Schriftsprache beigetragen. Die Auseinandersetzung mit der neuen Fachterminologie führte aber auch zu einer Reihe von Ersatzwörtern für Bezeichnungen lat. Ursprungs, zu Lehnübersetzungen und Lehnbildungen, die ihrerseits eine Bereicherung des dt. Rechtswortschatzes wie des Wortschatzes der Allgemeinsprache darstellten. Es sei hier nur die Lehnübersetzung Gläu biger für Creditor (ital. creditore) genannt. Auch an diesem Vorgang ist die sog. Popularjurisprudenz beteiligt gewesen. Dies gilt besonders für Paarformeln und Rechtssprichwörter. Im 15. Jh. dienten Paarformeln dazu, neue Termini in der dt. Rechtssprache einzubürgern. In Formeln wie Consens und Wille, Bestätigu ng und Approbation, Verwaltu ng und Administration, exequ iren und vollstrecken wurde dem Lehn- oder Fremdwort zunächst die dt. Entsprechung verbunden, in der Folgezeit aber weggelassen, so daß allein das Lehnwort, manchmal auch die Lehnübersetzung blieb. Die Zahl der Paarformeln und mehrgliedrigen Wortreihen
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nimmt von hier aus mit der Rezeption erheblich zu. In ähnlicher Weise sollte durch dt. regulae iu ris, Rechtssprichwörter oder Rechtsregeln, die Schicht der juristischen Laien mit Lehrsätzen des römischen und kanonischen Rechts vertraut gemacht werden. Das Sprichwort Das Mehr gilt, Ausdruck des Majoritätsprinzips, das aus dem römischen Recht stammt, gelangte so über das Kirchenrecht (Bologneser Renaissance) in das Dt. Der Stand der Juristen wie die Art ihres Sprechens und Schreibens stieß indessen schon früh auf Kritik. Im ‘ackermann aus Böhmen’ (um 1400) des Prager Notars Johannes von Tepl heißt es: Ju ra, wandelbares u nd widersprüchliches Recht, u nd Ju riste, der gewissenlos criste, mit rechtes u nd u nrechtes vürsprechu ng, mit seinen kru mmen articlen — die u nd ander den vorgeschriben anhangenden künste helfen zu male nicht (c. 26 ). Das Wort vom Ju risten, dem bösen Christen, wird auch von Luther als alt Sprichwort bezeichnet und in seinen Tischreden häufig verwendet, — bezogen auf diejenigen, welche die Werkgerechtigkeit preisen, selbst aber nicht nach christlicher Lehre leben, die Buchgelehrten und Feinde der Theologie, also die Kanonisten. Luther ging von der Vorstellung eines guten Rechts aus, das die Juristen mit ihrer Sprache verdorben haben: Denn die Ju risten dispu tieren u nd handeln mit Worten und ändern die Sachen. Die „Juristenschelte“ Luthers fand in der Reformationszeit Nachahmer, rief aber auch eine Literatur auf den Plan, die Juristen-Spiegel, mit der die Berufsehre des Standes verteidigt werden sollte. Diese Auseinandersetzung um den Berufsstand der Juristen hat zweifellos den Gedanken an eine Kodifikation des Rechts, mit der man den doctores wirksam entgegentreten konnte, beeinflußt, — eine Tatsache, die für die weitere Entwicklung ihre Bedeutung haben sollte. Die Verschriftlichung des Prozeßwesens führte zu einer Vermehrung der Quellen, indem nun mehr oder weniger regelmäßig auch Akten wie Gerichtsprotokolle geführt wurden. Als ein exemplarisches Beispiel, das auch für die gesprochene Sprache der Zeit aufschlußreich ist, sind hier die Protokolle des Duisburger Notgerichts (1537—1545) zu nennen. Seit der 2. Hälfte des 16 . Jh. wurden die Entscheidungen des Reichskammergerichts durch Joachim Mynsinger von Frundeck und später durch Andreas Gail veröffentlicht und damit eine neue Quellengattung der Forschung zugänglich gemacht. Besonders Gail hat sich im Blick auf die praktischen Bedürfnisse des Rechtslebens für die Anwendung des dt. Gewohnheitsrechtes neben dem römischen Recht eingesetzt.
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
2.
Sprachpflege und forensische Rhetorik
Im 17. Jh. setzten sich die Tendenzen in bezug auf eine juristische Terminologie, die im Zusammenhang mit der Rezeption zu beobachten gewesen sind, zunächst fort: die Übernahme von Rechtswörtern aus dem Lat., Ital. und jetzt auch vermehrt aus dem Franz.; gleichzeitig die Schaffung von „Ersatzwörtern“, um einer zu weitgehenden Überfremdung entgegenzuwirken; die „Einbürgerung“ römisch-rechtlicher Begriffe und Prinzipien durch Paarformeln, Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Mit der zunehmenden Kompetenz des jungen Berufsstandes in der juristischen und forensischen Rhetorik stieg der Einfluß derjenigen, die ein juristisches Studium absolviert hatten und eine entsprechende Tätigkeit im städtischen Rat oder am fürstlichen Hof ausübten: Sie waren Gelehrte, Praktiker und Poeten zugleich, deren Wirkung im kulturellen wie politischen Leben auf ihrer Beherrschung der Sprache beruhte. Das Zeitalter des Barock bringt so eine Reihe sog. „Dichterjuristen“ hervor, wie etwa Harsdörffer in Nürnberg oder die Dichter der Schlesischen Schule mit Opitz, Logau und Gryphius. Einige von ihnen gehörten einer oder mehreren der frisch begründeten Sprachgesellschaften an. Die älteste von ihnen, die ‘Fruchtbringende Gesellschaft’ (auch Palmenorden genannt) wurde 1617 nach dem Muster der Academia della crusca in Florenz von Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen in Weimar gegründet, wo sie bis 16 80 bestand. In ihr kamen Fürsten, Adlige und Beamte, meist Juristen, auch bürgerlichen Standes, zusammen, um durch bewußte Sprachpflege die Muttersprache als Sprache von Poesie und Literatur jeder Art zu fördern. Während in der ‘Fruchtbringenden Gesellschaft’ der Adel überwog, hat die von Philipp von Zesen in Hamburg 16 43 begründete ‘Deutschgesinnte Gesellschaft’ oder der von Harsdörffer 1644 mit ins Leben gerufene ‘Pegnesische Blumenorden’ überwiegend bürgerliche Mitglieder. Der Anteil der Juristen ist hier wie dort nicht zu übersehen, wenn auch weder von Rechtshistorikern noch von Philologen auf ihre Wirkung hin untersucht. Immerhin haben Dichterjuristen, die der ‘Fruchtbringenden Gesellschaft’ angehörten, wie Opitz seit 16 29, Schottelius seit 16 42, Gryphius seit 1662 — für die dt. Literatursprache weit über das Barock hinaus Bedeutung gehabt: Opitz, indem er mit dem ‘Buch von der deutschen Poeterey’ einen Leitfaden späterer Anweisungsliteratur der Poetik schuf; Gryphius, der als Syndikus der Landstände des Fürstentums Glogau die hergebrachten Rechte gegenüber dem Kaiser zu vertreten hatte und der in seinem Trauerspiel über
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den altrömischen Rechtsgelehrten Papianus die Konflikte seiner Zeit modellhaft behandelte; vor allem aber Justus Georg Schottelius, der mit juristischen Schriften, Lehrdichtungen und Dramen hervortrat und mit seinem Hauptwerk, der ‘Ausführlichen Arbeit von der Teutschen Haubtsprache’ (16 6 3), für Grammatik und Poetik eine analytische Elementenlehre mit einer synthetischen Kompositionslehre aufstellte. Die dt. Sprache wird hier auf einer naturrechtlichen Basis als gemein wissenschaftswürdig erklärt. Die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges führten dazu, daß die Bemühungen um die Reinerhaltung der Muttersprache nun mit dem Topos von der Hoheit der Nation verknüpft wurden, wie 16 41 durch Christian Gueintz in seinem ‘Deutscher Sprachlehre Entwurf’: „Die Nutzbarkeit der Deutschen Sprache ist hochnöthig zur Erhaltung Deutscher Hoheit“. Und Schottelius warnte in seinem Gedicht ‘Friedens-Sieg’ 16 48 auch vor den politischen Folgen des Sprachverfalls. Dieser ‘Kulturpatriotismus’ war mit der Arbeit in den Sprachgesellschaften, mit ihren Bemühungen um Wörterbücher der dt. Sprache, auf das engste verbunden. Der Flut der Fremdwörter, die mit der Vorrangstellung Frankreichs vor allem auf dem Feld der Diplomatie und Staatskunst, wie dem Militärwesen und der Verwaltung aus dem Franz. heraufkamen, versuchte man durch Erfindung neuer Ersatz- oder Kunstwörter entgegenzuwirken, die Schottelius und Kaspar Stieler (ebenfalls ein Mitglied der ‘Fruchtbringenden Gesellschaft’) in langen Listen zur Befriedigung rein praktischer Bedürfnisse vorlegten. Viele dieser Verdeutschungen sind sehr bald wieder verschwunden, einige aber auch in der Rechtssprache auf Dauer heimisch geworden. So sind neue Begriffe geprägt worden, die aus dem Sprachgebrauch der Juristen heute nicht fortzudenken sind, wie etwa Bescheinigu ng, Erblasser, Gemeinwesen, Rücktritt, zu eignen (Schottelius), oder Genossenschaft, Rechtsbegriff, Staatsku nst, Staatswesen (Philipp von Zesen). Neben den ‘Dichterjuristen’ entstand schließlich der Stand der ‘Dichtersekretäre’. Sie besaßen oft eine juristische Bildung oder Halbbildung und betätigten sich in der Stellung eines Sekretärs bei Hof oder in einer Stadt. Anteil an der Sprachpflege zu haben, gehörte zu ihrem Prestige. Auf sie gehen die Handbücher der Sekretärskunst zurück, wie Kaspar Stielers ‘Teutsche Sekretarius-Kunst’ (16 73) oder Harsdörffers ‘Der Teutsche Sekretarius’ (16 56 ). Diese Bücher, die Formulare zum Abschreiben enthielten, sind Zeugnisse einer neuen Verwaltungskunst und damit einer jungen Verwaltungssprache, die es im einzelnen noch zu untersuchen gilt.
3.
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Von den Kunstwörtern zu einer Wissenschaftssprache
Mit den Bemühungen der Sprachgesellschaften um die dt. Hochsprache und dem Anteil der Juristen daran war weder eine Wissenschaftssprache im allgemeinen wie eine juristische Gelehrtensprache im besonderen begründet: Man disputierte, argumentierte und interpretierte weiterhin lat. oder franz. Ein Wandel stellte sich erst allmählich zwischen Barock und Aufklärung auf der Grundlage der modernen Naturrechtslehre (Grotius, Pufendorf) ein, nach der das Recht bzw. die gerechte Ordnung der Natur des Menschen oder der Natur der Sache zu entsprechen hatte: Lex est ratio su mma insita in natu ra (Cicero). Der Durchbruch zu einer dt. Wissenschaftssprache ist dabei mit den Namen der studierten Juristen und Gelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646—1716), Christian Thomasius (16 55—1728) und Christian Wolff (16 79—1754) verknüpft. Leibniz stand zwar der ‘Fruchtbringenden Gesellschaft’ distanziert gegenüber, hatte sich aber ihre Zielsetzung zu eigen gemacht: die Reinheit und Hoheit der dt. Sprache durch bewußte Sprachpflege zu erhalten. In seiner Schrift ‘Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben’ (16 83), die 1846 erstmals gedruckt wurde, forderte er dazu auf, eine ‘deutschgesinnte Gesellschaft’ zu gründen und die Sprachpflege auch auf die Wissenschaft auszudehnen. In den ‘Unvorgreiflichen Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache’ (16 96 —16 99) hat er diese Überlegungen wieder aufgenommen. Er empfahl ein dt. Werk der „Kunstworte“ und einen „Sprachschatz“ oder ein ‘Glossarium Etymologicon’ zu schaffen, weil Sprachpflege vor allem Wortpflege und Wortforschung sei. — Es ging Leibniz dabei nicht um das Juristendeutsch. Gegen eine Eindeutschung der Juristensprache hatte er Vorbehalte, obwohl einige Gerichte und Fakultäten längst dazu übergegangen waren, Urteile und Gutachten in dt. Sprache abzufassen. Bei den sog. Staatsschriften (Gesetze) glaubte man aber, zunächst noch auf das Lat. und Franz. nicht verzichten zu können. Das Dt. sollte nur dort gebraucht werden, wo es ebensogut oder besser als eine fremde Sprache taugte. So hatte Leibniz bereits 16 6 7 eine Übersetzung des ‘Corpus iuris’ in das Dt. gefordert und verlangt, daß bei juristischen Disputationen die dt. Sprache gebraucht wurde. Als es unter seinem Einfluß im Jahre 1700 zur Gründung der ‘Sozietät der Wissenschaften in Preußen’, der späteren Akademie
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der Wissenschaften zu Berlin, kam, griff Leibniz als erster Präsident im Stiftungsbrief das Problem der Sprachpflege erneut auf, indem er eine Reform zur Reinerhaltung der dt. Sprache forderte, die sich nicht auf die sog. Kunstwörter beschränken, sondern sich auch an der Geschichte der dt. Sprache orientieren sollte. Diese Reform machte er zu einer Sache des Königs. Sprachpflege war damit zu einer Staatsangelegenheit erklärt und die Standessprache der Juristen auf den Weg zu einer staatlich beeinflußten Amtssprache gebracht worden. Dem Gedanken an juristische Vorlesungen in dt. Sprache hat sich Leibniz verschlossen. Ganz anders Christian Thomasius, der 16 87 in der Juristischen Fakultät der Universität Leipzig erstmals eine Vorlesung in dt. Sprache angekündigt hatte. Als er dann in Halle dt.sprachige Vorlesungen hielt, war der Zustrom der Studenten so stark, daß 16 94 dort die Universität gegründet werden konnte, die sich bald zu einem Zentrum der Preußischen Frühaufklärung entwickelte. Als ein Bewunderer der Franzosen, dessen Sprache mit zahlreichen frz. Brocken durchsetzt war, stand Thomasius den Sprachgesellschaften und dem Anliegen der Reinerhaltung der dt. Sprache fern. Doch gelang es ihm, durch seine Vorlesungstätigkeit für seinen Nachfolger Christian Wolff ein tragfähiges Fundament zu errichten, auf dem dieser weiterbauen konnte. Dieser praeceptor germaniae ist wohl die profilierteste Persönlichkeit der Preußischen Frühaufklärung hallischer Prägung. Ihm ging es im Sinne der Vernunftrechtslehre um Klarheit und Durchsichtigkeit der Juristensprache auf Grund logisch-definierter Begriffe in einer widerspruchsfreien Begriffspyramide. Ausgangspunkt war die Definition. Jedem Begriff wurde nur eine Bezeichnung zugeordnet. Auf diese Weise gab es für ihn keine Synonyme. Die schon bei Leibniz erwähnten „Kunstwörter“ tauchen bei Wolff als termini technici der juristischen Wissenschaftssprache wieder auf. Doch war für ihn nicht mehr die Art ihrer Entstehung wichtig, sondern ihre Deutung und Verwendung. Durch eine kluge Auswahl der verwendeten Begriffe und ein stetes Festhalten an ihrem Gebrauch in einem bestimmten Sinne wurde die geforderte gedankliche Klarheit tatsächlich weitgehend erreicht. Wolffs Schüler Carl Günther Ludovici hat durch Wortregister und Übersetzungsgleichungen der Fachausdrücke das juristische Wissenschaftsgebäude seines Lehrers Wolff ganz wesentlich gestützt: Begriffe wie Vermögen, Eigentu m, Gattu ng, Testament u. a. m. verdanken ihre relative Festigkeit den hier gegebenen Definitionen oder Interpretationen.
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4.
Der Weg zum Allgemeinen Landrecht (ALR)
Die Gesetzgebung war in der Zeit der Aufklärung überwiegend ein Werk der Territorien, wobei Preußen und Österreich vorangingen und Maßstäbe setzten. Eine Bewegung besonderer Art führte zu den großen Rechtskodifikationen der Spätaufklärung, von denen hier das Preußische Landrecht (ALR) des Jahres 1794 als ein exemplarisches Beispiel besondere Beachtung verdient. Die tieferen Wurzeln lagen auch für diese Kodifikation im Vernunftrecht und einem damit verbundenen Streben nach Systematik und Bürgernähe. So hatte Montesquieu im ‘Geist der Gesetze’ (1748) einen knappen Stil und „Verständlichkeit für die gesunde Vernunft“ gefordert, was den Gebrauch der Muttersprache als Gesetzessprache voraussetzte. In seiner Schrift ‘Über die Gründe, Gesetze einzuführen oder abzuschaffen’ (1749) äußerte sich der junge Preußenkönig Friedrich II. im Sinne von Montesquieu: Die einzelnen Bestimmungen sollten so klar und genau sein, daß jeder Streit um die Auslegung ausgeschlossen wäre. Sie sollten aus einer Auswahl des Besten bestehen, was die bürgerlichen Gesetze (d. h. hier das römische Recht) enthielten, und „in einfacher und sinnreicher Weise den heimischen Gebräuchen angepaßt sein“. Nicht Sprachpflege sondern Sprachstil mit der Forderung nach Klarheit, Einfachheit und Bestimmtheit standen also im Vordergrund. Die Sprachfrage wurde damit zu einer Forderung an den Gesetzgeber und die Gesetzessprache zu einem Gegenstand der Politik und des Bürgerrechts. Den mühevollen Weg, der bis zu einer leistungsfähigen Gesetzessprache im ‘Allgemeinen Landrecht’ zurückzulegen war, hat Hans Hattenhauer aus juristischer Sicht mit genauen Einzelheiten belegt. Hier können nur wenige Fakten genannt werden, die auch für den Philologen wichtig sind, wenn er sich diesem auch sprachund stilgeschichtlich interessanten Problem zuwendet: Quellen gibt es dafür genug, wie z. B. das ‘Projekt eines Corporis Iuris Fridericiani’ aus dem Jahre 1789, eine Art Lehrbuch, ein aus Vorlesungsmanuskripten verdichteter Text des Großkanzlers Samuel Cocceji. In der Vorrede führt dieser aus, daß der König dieses Landrecht in dt. Sprache anfertigen ließ, „damit ein jeder, der einen Prozeß hat, solches selbst nachsehen, und ob er Recht oder Unrecht habe, daraus erlernen könne“. Aus dem selben Geist heraus verlangte der König in einer Kabinettsorder vom Jahre 1780, „daß alle Gesetze für unsere Staaten und Unterthanen in ihrer eigenen Sprache abge-
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faßt, genau bestimmt und vollständig gesammelt werden“. Diese Maxime hatte auch Carl Gottlieb Svarez (1746 —1798), der als Seele der unter Friedrich dem Großen (1780) eingeleiteten Justizreform gilt, der aber vor allem mit dem Großkanzler J. H. C. von Carmer und dem Strafrechtler E. F. Klein zu den Architekten des ALR von 1794 gehörte. Er sagte, daß alle Gesetze in dt. Sprache und in einem möglichst deutlichen Stil abzufassen sind, so daß „jeder Mann von einiger Erziehung und Ausbildung sie selbst lesen, verstehen und von seinen Rechten und Pflichten sich daraus belehren kann“. Die Entwicklung der dt. Rechts- und Gesetzessprache läßt sich an Werken wie dem Corpus Iuris Fridericiani (1749), an Christian Wolffs dt. Fassung des Naturrechts (1754) und dem ALR (1794) ablesen, wenn man ihre Definitionen wie z. B. zum Begriff der patria potestas, der Gewalt des Vaters über seine Frau und die Kinder, betrachtet. Er wird bei Wolff im Gegensatz zu Cocceji, der den lat. Begriff beibehielt, durch den Begriff der elterlichen Gewalt ersetzt, der im ALR durch eine Reihe von Regeln ergänzt wird, die dem Vater noch immer ein gewisses Vorrecht einräumen. Man kann sagen, daß im ALR die naturrechtliche Theorie Wolffs durch richterliche Erfahrung ergänzt worden ist. Das ALR gilt heute noch als Sprachkunstwerk, — als das erste dt. Gesetzbuch, das aufgrund seiner Sprachform auch den Laien unmittelbar anzusprechen vermag. Es übertrifft darin jüngere Kodifikationen wie das Österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) von 1811 oder das Schweizerische Zivilgesetzbuch von 1911, die sich durch besondere Betonung der Volksnähe auszeichnen. Ausgelöst durch den Tod Friedrichs II. (1786 ) und erneuten Widerstand gegen die geplante Kodifikation unter seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm II., äußert sich Klein in seinen „Annalen der Gesetzgebung und der Rechtspflege“ (1788) zum Sprachproblem, indem er sich mit dem Stil der Geschäfts- und Kanzleisprache auseinandersetzt. Hier tritt er für „Zweckmäßigkeit und Würde des Vortrags“ wie „Sprachrichtigkeit“ und „Rücksicht auf das, was üblich ist“, für „Bestimmtheit und Kürze“ ein; er warnt vor unnötigen Partizipialkonstruktionen und „Schachtelsätzen“, vor dem „Nachschleppen“ der Verben wie auch vor einem übertriebenen Ersatz herkömmlich gefestigter Fremdwörter durch neudt. Kunstwörter; doch solle man statt dominu s besser Eigentümer, statt salvo iu re pignoris besser mit Vorbehalt des Pfandes sagen. Die Frage „Ist es zuträglich, daß der gemeine Mann die Gesetze wisse“, beantwortet er im Sinne der Aufklärung positiv, ohne indessen in
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diesem Zusammenhang auf die Sprachproblematik noch einmal besonders einzugehen. Seine Vorschläge zu diesem Punkt sind aber im ALR weitgehend berücksichtigt. Das auffälligste Merkmal des Textes ist zweifellos die strenge Begrenzung auf den Hauptsatz mit höchstens einem Nebensatz. Die von Wolff aufgestellte Begrifflichkeit wurde durchgehalten. Viele Fremdwörter, die Wolff zur Erinnerung an die juristische Tradition noch beibehalten hatte, fehlen dem ALR. Den Ausschlag für den Stil gab aber nicht die Volkssprache schlechthin, sondern die in Berlin gesprochene Hochsprache, ein „reines Deutsch“ oder ein „Gesetzeshochdeutsch“ (Hattenhauer). Man knüpfte daran die Erwartung, daß der rechtssuchende Bürger das Gesetzbuch dadurch verstehen werde. In dieser Erwartung wurden die Kodifikatoren zunächst enttäuscht: Das ALR wurde als „für den gemeinen Mann unverständlich“ kritisiert. Ein von Svarez u. a. verfaßter populärer Auszug ‘Unterricht über die Gesetze für Einwohner der Preußischen Staaten’ (1793) führte hier indessen vorübergehend zum Erfolg: Das ALR war in kurzer Zeit aus sich selbst heraus verständlich. Es war damit zu einem Instrument der Sprach- und Rechtserziehung geworden. Strittig blieb die Frage der Adressaten: Laien oder Fachleute, Bürger oder Juristen. In der Präambel des ALR sind nicht nur die Bezüge auf die Sprachform getilgt worden, sondern auch die auf den Bürger. Das Gesetzbuch sollte sich an den Juristen wenden. Umso stärker war aber seine Wirkung auf diesen Berufsstand und sein Einfluß auf jüngere Kodifikationen, trotz der Kritik (J. G. Schlosser), auf die das ALR stieß neben hohem Lob (H. Campe), das ihm nicht zuletzt aufgrund seiner sprachlichen Form zuteil wurde. Zu seinen prominentesten Kritikern gehörte F. C. von Savigny.
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Die Kodifikation im Widerstreit
Die aus der Aufklärung stammende Kodifikationsbewegung war eine gesamteuropäische Angelegenheit. Als die erfolgreichste Kodifikation auf naturrechtlicher Basis gilt der ‘Code civil des Français’ (1804), auch Code Napoléon genannt. Mit ihm wurde das revolutionäre Programm der égalitée in Recht und Gesetz verankert. Durch die Napoléonischen Kriege und die damit verbundenen Annektionen hatte der CC in Deutschland vorübergehend (wie im Königreich Westfalen) oder auf Dauer (wie im Großherzogtum Baden bis 1900) Geltung. In Baden freilich besaß nur die dt. Fassung des Landrechts mit an die 500 Zusätzen Gesetzeskraft. An diesen Übersetzungen läßt sich auch sprachlich die Wirkung der
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Rezeption des franz. Rechts ablesen. Vor diesem Hintergrund ist eine Persönlichkeit wie F. C. von Savigny zu sehen. Der Begründer der Historischen Rechtsschule und einer ihrer führenden Köpfe, der Verfasser der „Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter“ (1815), der Marburger Lehrer Jacob und Wilhelm Grimms, der spätere Preußische Justizminister und Vorsitzende des Preußischen Staatsrates (1817) war, ausgehend von der Erkenntnis, daß das geltende Recht aus der geschichtlichen Entwicklung entstanden sei und nicht das Werk zufälliger oder gar willkürlicher Gesetzgebung, grundsätzlich gegen jede Art von Kodifikation. In seiner berühmten Streitschrift ‘Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft’ (1814) setzt er sich mit der Absicht seines Heidelberger Kollegen Thibaut auseinander, ein allgemeines bürgerliches Recht für Deutschland zu schaffen. In dieser Abhandlung ist auch eine Bewertung von Recht und Sprache enthalten, die der juristischen Wissenschaftssprache — Savigny spricht von Rechtssprache und nicht von Gesetzessprache — eine neue Richtung geben sollte. Denn Recht und Sprache stellt Savigny mit Sitte und Verfassung in den Zusammenhang der Gesamtkultur. Recht und Sprache leben nach ihm im „Bewußtsein des Volkes“. Hier nimmt er bereits den von ihm sehr viel später gebrauchten Begriff des ‘Volksgeistes’ voraus. Rechtswissenschaft war danach eine „den Juristen anvertraute Sprachkultur“ und Sprache damit „nicht nur Werkzeug, sondern Wesen des Rechts“. Jacob Grimm stimmte zu, indem er seinem Lehrer schrieb: „Das Recht ist wie die Sprache und Sitte volksmäßig, dem Ursprung und der organischen Fortbewegung nach. Es kann nicht als getrennt von jenen gedacht werden, sondern diese alle durchdringen einander innigst, vermöge einer Kraft, die über den Menschen liegt“. Savigny gilt als der große Stilist der Rechtswissenschaft. Indem er sich gegen die „nichtssagende Kürze“ wendete, verlangte er für die Rechtssprache auch „Schönheit“. Ging es bis zum ALR darum, auch das sprachliche Vorbild des römischen Rechts in das Dt. zu übertragen, so schuf Savigny, von den Denkformen Kants ausgehend, einen neuen Begriffsapparat, der mehr als nur eine „Erinnerung“ an das Corpus iuris war: Zentrale Begriffe wie Rechtsverhältnis waren ohne Äquivalent im Lateinischen. Und auch der Gesetzesbegriff hatte nun nicht mehr viel mit der lex des römischen Rechts zu tun. Als Praktiker an der Gesetzgebung laufend beteiligt, konnte Savigny seine Vorstellungen von der sprachlichen Fassung der Gesetze über den Staatsrat durchsetzen: In dessen Geschäftsord-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
nung (28. Juni 1826 ) wurde auch die Pflege der Gesetzessprache neu geordnet. Die Rechtssprachpflege erhielt dadurch Verfassungsrang. Eine auf ganz Deutschland bezogene Kodifikation des Bürgerlichen Rechts ließ sich indessen auf Dauer nicht verhindern. Sie hatte in vergleichbaren Kodifikationen überregionalen Charakters wie der Wechselordnung von 1848, dem Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch von 186 1 Vorläufer. Aber auch Publikationen der Landesgesetzgebung wie etwa das Sächsische Bürgerliche Gesetzbuch von 186 5 sind hier zu nennen. Alle diese Kodifikationen hat Savignys „Begriffsjurisprudenz“ erst ermöglicht. Sein Stil der Rechts- und Gesetzessprache galt den folgenden Generationen als Vorbild, bis hin zum ‘Bürgerlichen Gesetzbuch des Deutschen Reiches’ (BGB), das nach einer mehr als zwanzig Jahre dauernden Redaktionsarbeit am 1. Januar 1900 in Kraft trat. Die Diskussion eines ersten Entwurfs (1888) verrät die Sorgfalt, mit der Fachausdrücke genau gefaßt und durch sog. Legaldefinitionen erläutert werden. Kritik kam nicht nur aus den Reihen der juristischen Fachvertreter, sondern auch aus dem puristisch eingestellten Kreis des ‘Allgemeinen deutschen Sprachvereins’. Die Abhandlung von J. Erler ‘Die Sprache des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches’ (1896 ) widerlegte indessen die Einwände von dieser Seite, indem er an Hand von Wortlisten zeigte, daß das BGB den Maßstäben der Reinheit, Richtigkeit, Deutlichkeit und Schönheit voll und ganz entsprach. Beispiele wie Bürgerliches Gesetzbu ch statt Civilgesetzbu ch, volljährig statt majorenn, Bekanntmachu ng statt Publikation, Einwilligu ng und Genehmigu ng, sollen und müssen, Werktag statt Wochentag, Finderlohn statt Fu ndlohn, Vorbehaltsgu t, Familienstand, Tu n u nd Unterlassen u. a. m. belegen dies. Die Eindeutschung der Sprache des Privatrechts war hier so vollkommen gelungen, daß sich in den folgenden Jahrzehnten, über den Bestand der Monarchie hinaus, die Sprache der Juristen der Sprache des BGB so anpassen sollte, daß die in ihm enthaltenen Fachausdrücke völlig den Charakter von „Kunstwörtern“ verloren.
6.
Sprachgeschichte und Rechtsgeschichte im 20. Jahrhundert
Der Abstand zwischen MA und Neuzeit läßt sich an zwei Zitaten verdeutlichen, die den Begriff des Diebstahls betreffen. Im ‘Sachsenspiegel’ (um 1224/25) heißt es in einem lapidaren Satz (Ldr. II 13 § 1): Den def scal men hengen. Im heute gültigen Strafgesetzbuch (§ 242 Abs. 1) ist der entsprechende Sachverhalt — die Bestrafung
6. Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichteseit dem Ausgang des Mittelalters
eines Diebs — zwar sehr viel humaner, sprachlich aber weit umständlicher ausgedrückt: Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zu zu eignen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Der Gesetzgeber hat hier deutlich gemacht, daß es sich bei dem entwendeten Gut um eine Sache (nicht um eine Person) handelt, um eine bewegliche Sache (nicht um eine Liegenschaft, Grund und Boden), um eine fremde und damit nicht um eine eigene Sache, — Punkte, die für den juristischen Laien scheinbar unerheblich sind, die für den Richter oder Anwalt im Blick auf die Beurteilung des Tatbestands des Diebstahls und die Bemessung der Strafe aber von Bedeutung (Ausschlußkriterien) sein können. Die besondere Art der Ausdrucksweise hat dabei weder mit der Alltagssprache noch mit der Literatursprache als einer besonderen Form der Hochsprache etwas zu tun: Es ist dies die Sprache des Rechts und der Juristen, die sich — wie der Überblick gezeigt hat — seit dem 15. Jh. durch eine permanente Auseinandersetzung mit dem römisch-kanonischen Recht, durch die Rezeption und Integration seiner Sätze und Inhalte, herausgebildet hat. Dieser Prozeß, der sich auch sprachlich auswirkte, ist an der Übernahme von Fremd- und Lehnwörtern, an Lehnbildungen in Form von „Ersatzwörtern“, an Lehn- und Neuprägungen, den sog. „Kunstwörtern“ oder termini technici, schließlich auch an der Herausbildung einer logisch begründeten Begriffsjurisprudenz abzulesen. Diese Entwicklung ließ das Recht in den Besitz des besonderen Berufsstandes der Juristen gelangen. Eine Fachsprache in einem modernen Verständnis mit einem exclusiven oder gar genormten Wortschatz war damit noch nicht gegeben. Denn die Rechtssprache zeichnet sich durch einen besonders hohen Prozentsatz vager oder unscharfer Begriffe aus, nicht zuletzt bedingt durch ihre Nähe zur Gemein-, Alltags- oder Hochsprache. Man spricht deshalb bei den Rechtswörtern auch von ihrem „Bedeutungskern“ und „mehr oder minder offenen Bedeutungsrändern“ (Schwab 1995). So können Wille und Erkläru ng in der Gemeinsprache wie in der Rechtssprache eine Reihe von Bedeutungsvarianten auf sich vereinigen, während ihre Kombination Willenserkläru ng zu einer eingeschränkten, fixierten Bedeutung geführt hat, so daß es sich hier nun aufgrund der Wortbildung um ein Rechtswort im engeren Sinne und damit um einen bestimmten Begriff handelt, der wie bei Besitz und Eigentum durch entsprechende Legaldefinitionen noch genauer festgelegt werden kann. Von diesen „bestimmten Begriffen“
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sind die „unbestimmten Begriffe“ oder Rechtswörter im weiteren Sinn zu unterscheiden, die durch ihre gleichzeitige Verankerung in der Gemeinsprache, wie dies bei Sache und Ehe der Fall ist, eine unterschiedliche Auslegung des Rechtstextes bedingen können: Hier ist die semantische Entwicklung in der Gemeinsprache von dem Juristen mitzubedenken (Oksaar 196 7). Hinzu kommen die Ermessensbegriffe wie „Interesse der öffentlichen Hand“ und die Generalklauseln wie Treu u nd Glau ben, gu te Sitten, die zwar normativ (d. h. hier maßgeblich) sind, durch ihren unbestimmten Charakter aber dem persönlichen Ermessen einen Freiraum lassen, während die Generalklauseln darüber hinaus noch als „wertausfüllungsbedürftig“ gelten. Ermessensbegriffe und Generalklauseln als „Fundamentalnormen“ schaffen den Gerichten gewisse Spielräume für die gerechte Beurteilung des Einzelfalls. Dieser insgesamt große Bestand an vagen Begriffen, zu denen in Rechtstexten auch die sog. „deskriptiven“ oder „empirischen“ Begriffe wie Bischof, Mensch und Du nkelheit gehören, die sog. Nichtrechtswörter, erklären nicht nur die „Umständlichkeit“ der Rechts- und Gesetzessprache, sondern auch die Tatsache, daß die Frage der „Allgemeinverständlichkeit“ hier mehr als bei anderen Fach- oder Berufssprachen seit Beginn ihrer Herausbildung ein Problem gewesen ist. Dies wird an dem starken Anteil popularistischer Literatur, die sich an den gebildeten Laien oder Bürger wendet, besonders deutlich. Bei dieser besonderen Struktur der Rechtssprache als einer Sprache des Rechtslebens, die Fachleute und Laien betrifft, ist es klar, daß die Erforschung ihrer Geschichte eine Aufgabe ist, vor die Sprachhistoriker wie Rechtshistoriker in gleicher Weise gestellt sind, Standardwerke wie das ‘Deutsche Rechtswörterbuch’ [DRWB] (1917 ff.) und das ‘Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte’ (1971 ff.) enthalten zahlreiche Beispiele für die fruchtbare Weiterführung sprachhistorischer Probleme durch die Rechtsgeschichte und rechtshistorischer Fragen durch die Sprach-, insbesondere Wortgeschichte. Kolloquien interdisziplinären Charakters, deren Ergebnisse in Sammelbänden wie ‘Die Sprache des Rechts und der Verwaltung’ (1981) oder ‘Sprache — Recht — Geschichte’ (1991) niedergelegt sind, gehen in die gleiche Richtung, — sei es, daß entscheidende Punkte in der Entwicklung wie die Eindeutschung der römisch-rechtlichen Fachsprache (Behrens 1991) oder die ersten dt. Übersetzungen des Code Civil (Schubert 1991) behandelt werden, sei es, daß eher Fragen gegenwärtiger Kommunikation thematisiert sind, wie etwa erneut die Frage der Allgemeinverständ-
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lichkeit von Gesetzen (Brandt 1991). Es wird dabei deutlich, daß das 19. Jh. in bezug auf die Rechtssprache ein Desiderat sowohl in der sprachwissenschaftlichen wie rechtshistorischen Forschung darstellt, sei es im Ganzen wie im Blick auf einzelne Themenbereiche. Welchen Einfluß hatte z. B. die Amts- und Gesetzessprache der Hauptstadt Berlin auf die Hochsprache in Preußen und im Reich? Oder: Welche Bedeutung hatte bei Heinrich von Kleist und E. T. A. Hoffmann, Ludwig Thoma u. a. die Tatsache, daß sie den Beruf des Juristen erlernt oder ausgeübt haben, für Sprache und Stil ihrer Werke wie ‘Der zerbrochene Krug’, ‘Michael Kohlhaas’, ‘Das Fräulein von Scudéri’ oder ‘Der Vertrag’? Alles dies sind offene Fragen, die umso mehr auf eine Lösung drängen, als das DRWB für ihre Beantwortung ausfällt, umso mehr seit durch eine Straffung des Unternehmens (1971—76 ) die obere Zeitgrenze für die Erfassung des Materials bei Simplizia auf das Jahr 1800, bei Komposita sogar auf das Jahr 1700 zurückgenommen worden ist. Damit blieb z. B. auch die Verwaltungssprache des 18. Jhs. mit ihren zahlreichen Komposita außerhalb, was vom Standpunkt moderner Fachsprachenforschung aus zu bedauern ist. Hier sind die ‘Rechtswörterbücher’ zu nennen, die den Gebrauch und die richtige Anwendung der Fachsprache des Rechts dem angehenden oder gestandenen Juristen näherbringen oder erklären wollen (Creifels, Köbler). Diesem Gegenwartsbezug sind auch die Arbeiten gewidmet, die man unter dem Begriff der Rechtslinguistik (Podlech 1976 , Bülow/Schneider 1981) zusammenfassen kann. Im Kreis dieser Arbeiten werden zunächst verschiedene Sprach- oder Anwendungsschichten der Rechtssprache unterschieden: 1. die Gesetzessprache, 2. die Wissenschafts- und Gutachtensprache, 3. die Urteils- und Bescheidsprache und schließlich 4. die Sprache des behördlichen Verkehrs, a) mit fachkundigen Empfängern, b) mit fachunkundigen Bürgern (Fotheringham 1981); Fragen der Kommunikation zwischen juristischen Fachleuten und Juristen und Laien (Oksaar 1974) werden zur Diskussion gestellt, wobei aus volkskundlicher oder ethnologischer Sicht auch die Bedeutung der ‘Sprachschranken vor Gericht’ (Bausinger 1976 ) hervorgehoben worden ist, aus linguistischer Sicht aber erneut die Forderung auf Verständlichkeit der Gesetzessprache erhoben wurde (Augst 1981). Der Charakter der Rechtssprache überhaupt (Raible 1981) wie ihrer angeblich genormten Terminologie (Daum 1981) wurden wiederholt infrage gestellt u. a. m. Es wurden auch hier keine Problemlösungen vorgelegt, indessen Arbeitshypothesen geschaffen, an die es anzuknüpfen lohnte, um dem Satz „Sprache nicht Werkzeug, sondern Wesen des Rechts“ in künftiger Forschung näher
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
zu kommen.
7.
Literatur (in Auswahl)
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6. Deutsche Sprachgeschichte und Rechtsgeschichteseit dem Ausgang des Mittelalters
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97
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I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
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sität Kiel. Hrsg. von Jörn Eckert und Hans Hattenhauer. Heidelberg 1991. Die Sprache des Rechts und der Verwaltung. Bearb. von Ingulf Radtke. Stuttgart 1981. (Der öffentliche Sprachgebrauch Bd. II).
7.
Stammler, Wolfgang, Popularjurisprudenz und Sprachgeschichte im 15. Jahrhundert. In: Ders., Kleine Schriften zur Sprachgeschichte. Berlin 1954, 13—18.
Ruth Schmidt-Wiegand, Münster
Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Politische Kommunikation Politische Sprache Politische Lexik Politische Rhetorik Politische Pragmatik Fazit: Forschungsstand und -desiderate Literatur (in Auswahl)
1.
Politische Kommunikation
Politik ist gesellschaftsrelevantes Handeln von Gruppen- bzw. Institutionsrepräsentanten zur Mehrung und Erhaltung des Gemeinwohls und/ oder zur Durchsetzung bzw. zum Abgleich materieller oder ideeller Gesamt- oder Partikularinteressen und besteht zum Großteil in der Diskussion und Bestimmung gesellschaftsintern wie -extern verbindlicher Verfahrensregelungen sowie entsprechender Handlungsentscheidungen. „Politisches Handeln wird durch (mit) Sprache entworfen, vorbereitet, ausgelöst, von Sprache begleitet, beeinflußt, gesteuert, geregelt, durch Sprache beschrieben, erläutert, motiviert, gerechtfertigt, verantwortet, kontrolliert, kritisiert, be- und verurteilt.“ (Grünert 1983, 43) Unabhängig von der jeweiligen Herrschaftsform ist Politik daher zum weitaus überwiegenden Teil politische Kommunikation; in der modernen Medienwelt ist sie es sogar so sehr, daß die These vertreten worden ist, politische Kommunikation habe politisches Handeln weitgehend ersetzt, Politik sei „symbolisch“ geworden (Sarcinelli 1987; Meyer 1992). Unter politischer Kommunikation sind, mit Erfurt (1988, 107), alle zeichenhaften Handlungen zu verstehen, „die die politischen Beziehungen zwischen wie auch innerhalb von politischen Subjekten ausdrücken“. „Politische Kommunikation [...], — impliziert das Zusammenwirken von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen; — ist intentional und überwiegend auf die Organisation politischer Bewußtseinsinhalte und gesellschaftlicher Praxis gerichtet;
— hat meist einen kollektiven Empfänger und einen individuellen Autor und ist letzten Endes immer für ein Kollektivum bestimmt; — ist in ihrer thematischen und interaktionalen Gebundenheit historischen Veränderungen unterworfen; — verändert sich in ihren Formen sowohl mit der technischen Entwicklung wie auch im Prozeß der Veränderung der Subjekte selbst.“ (Ebd., 107).
Danach ist politische Kommunikation durch das Nebeneinander von verbalen und nonverbalen Zeichenhandlungen, durch Intentionalität sowie durch die Ausrichtung auf einen kollektiven Rezipienten gekennzeichnet. Die eigentliche Existenzweise der politischen Kommunikation, fügt Erfurt hinzu, bestehe in den Diskursen der politischen Subjekte. Und die Diskurse sind ebenso dem historischen Wandel unterworfen wie die verbalen Mittel, derer sie sich in je spezifischer Weise bedienen: Wortschatz, rhetorische Formen, Sprechakttypen sowie Textmuster und -stile. Ausprägung und Struktur solcher Diskurse wiederum sind Ausdruck der jeweiligen Herrschaftsform und Spiegel politischer Denkweisen und Problemstellungen sowie des zeit- bzw. gesellschaftstypischen Zustandes politischer Kultur. Politische Kommunikation macht zwar auch von nonverbalen Zeichen wie etwa Gesten, Ikonen (Abbildungen) und Symbolen (Fahnen, Wappen, Gebäuden usw.) Gebrauch, vor allem aber bedient sie sich der Sprache: „[...] das Wort ist ein mächtiges Instrument der Politik.“ (Klaus 1971, 9)
2.
Politische Sprache
Politische Sprache ist entweder das politikbezogene Sprechen der Bürger bzw. die politische Mediensprache der Journalisten, oder sie ist Politiksprache, die — je nach Adressatenbezug — in die politikinterne Sprache i n der Politik und die nach außen ans Staatsvolk gerichtete Politiker-
7. Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte
sprache unterschieden werden kann (vgl. Burkhardt 1996, 80 ff.). Weil Politik essentiell auf die Mittel der Sprache angewiesen ist, aus deren Ensemble sie zugleich eine für ihren Bereich spezielle Auswahl trifft, läßt sie sich auch als „in sich differenzierten Großbereich der Kommunikation [betrachten], in dem Meinungen gefaßt werden und Prozesse ablaufen, die der Herstellung und Durchsetzung verbindlicher oder auch umstrittener gesellschaftlicher Entscheidungen dienen.“ (Strauß/Haß/Harras 1989, 29) Je nach dominierendem Zweck besteht daher der Kommunikationsbereich Politik seinerseits aus unterschiedlichen Teil- und Funktionsbereichen, deren korrespondierende Wortschätze Dieckmann (1975, 50) in „Ideologiesprache“, „Institutionssprache“ und „Fachsprache des verwalteten Sachgebietes“ unterteilt hat. Nach dem Grad des Öffentlichkeitsbezugs haben Strauß/Haß/Harras (1989, 30 f.) dagegen zwischen „Binnen- oder institutionsinterner“, „institutionsexterner“ (d. h. interinstitutioneller) und „öffentlich-politischer“ Kommunikation unterschieden. Über seine genannten Wortschatzunterscheidungen hinaus hat auf der Ebene des Sprachstils wiederum Dieckmann die „Funktionssprache“ als „der organisatorischen Verständigung innerhalb des staatlichen Apparates und seiner Institutionen“ dienende und die „Meinungssprache“ als ideologische Deutungen nach außen an die Öffentlichkeit vermittelnde Sprachschicht voneinander abgehoben (1975, 81). Während Sprache im Innenbereich der Politik zum überwiegenden Teil aus den verschiedenen, funktionssprachlichen Wortschätzen der Sprache des verwalteten Sachgebietes besteht, zielt die nach außen gerichtete Politikersprache auf den Erwerb, die Ausübung und die Sicherung von Macht und ist durch den Gebrauch ideologiesprachlicher Wortzeichen, d. h. durch Meinungssprache gekennzeichnet, die die Medien größtenteils reproduzieren. Politik ist die Regelung von Interessen- und Ideologiekonflikten, die kommunikativ entweder durch öffentliche Meinungskonkurrenz ausgetragen oder durch gewaltsame Meinungsmonopolisierung entschieden werden können, wie sie sich historisch in vielfältigen Maßnahmen der Zensur und Sprachlenkung verwirklicht hat. Doch in Gesellschaftssystemen aller Art machen die Durchsetzung politischer Ziele und die Sicherung von Herrschaft zumindest eine gewisse Grundakzeptanz auf seiten der Bevölkerung erforderlich, die sich durch Gewaltandrohung und -anwendung allein wohl „fördern“, aber nicht erzwingen ließe, sondern im wesentlichen kommunikativ herbeigeführt werden bzw. erhalten werden muß. In jeder Herrschaftsform bleibt die politische Kom-
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munikation im Internum der Politik von Reglementierungen weitgehend frei, das politische Sprechen der Bürger wird sich überall seine Spielräume schaffen. Während jedoch in totalitären Systemen Politikersprache und politische Mediensprache einseitige Agitation und Propaganda und von daher letztlich identisch sind, blüht in pluralistischen Demokratien der öffentlich-kontroverse Diskurs. Im Wechselspiel der politischen Kräfte finden hier die diskutierten Inhalte ihre passenden lexikalischen Ausdrucksformen. Da politisches Handeln und Sprechen interessegeleitet ist und auf möglichst breite Zustimmung abzielt, ist politische Kommunikation unter „perlokutionären“ Gesichtspunkten generell zwischen den Polen (argumentativ-rationales) Überzeu gen und (eher gefühlsmäßig-rhetorisches) Überreden ausgespannt. Mit Blick auf die Tatsache, daß auch dem Überreden/Überzeugen unterschiedliche Adressatenbezüge, Mittel und Zielsetzungen zugrunde liegen können, differenziert Grünert (1983, 45 ff.) zwischen vier Diskurstypen, die er mit dem bekannten, vom Philosophen Wittgenstein entlehnten Terminus als „Sprachspiele“ bezeichnet: (1) das „regulative Sprachspiel“, das mit Hilfe von Setzungen innergesellschaftlich die Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten markiert und dessen Texte: Verfassung, Gesetz, Verordnung, Erlaß, Verfügung, Dekret, Edikt, Bulle usw. Ausdruck der jeweils gültigen Herrschaftsstrukturen sind; (2) das „instrumentale/begehrende Sprachspiel“, in dem sich die Regierten den Regierenden gegenüber dadurch zur Geltung bringen, daß sie Wünsche äußern, Bitten vortragen, Petitionen einreichen, Forderungen stellen oder gar Widerstand leisten; (3) das „integrative Sprachspiel“, das auf die Erzeugung bzw. Erhaltung von Gruppensolidarität und Kollektivbewußtsein gerichtet ist, in dem die verwendeten konnotationsgeladenen SchibbolethWörter die Funktion eines „Gruppenabzeichens“ übernehmen und zu dem etwa Parteiprogramme, politische Gemeinschaftslieder oder „Reden des genus demonstrativum“ zu rechnen sind; (4) das „informativ-persuasive Sprachspiel“, das der Erzeugung eines bestimmten Bewußtseins sowie der Meinungssteuerung dient, „das öffentliche Bild gegenwärtiger politischer Kommunikation nahezu vollständig“ dominiert und in drei Varianten erscheint: (a) „politische Theorie“, (b) „praktische“ Information (zur Vorbereitung regulativer Sprachspiele) und (c) Propaganda.
Im Lichte dieser Kategorien ist die Historiographie der politischen Sprache für Grünert (1984,
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
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31) „als die Beschreibung der Geschichte von Sprachspielen, der Geschichte des Verfügens und Verhinderns, der Durchsetzung und der Wirkung von Sprachspielen“ zu verstehen. Weil sich die vier Diskurstypen in der Praxis auf vielfältige Weise überlappen und durchdringen, erschließt sich die zunächst als streng sachorientiert erscheinende Trennung unterschiedlicher Kommunikationskonstellationen und -formen dem näheren Hinsehen als typologische Differenzierung. Sind in totalitären Gesellschaften „integratives“ und „informativ-persuasives“ Sprachspiel letztlich Teil des „regulativen“, so läßt die politische Kommunikationspraxis der heutigen „Mediendemokratie“ eher die Tendenz erkennen, das „regulative“ und das „integrative“ Sprachspiel in der Dominanz des „informativ-persuasiven“ zum Verschwinden zu bringen. Daß es in der kommunikativen Praxis nur Mischformen gibt und exakte Grenzziehungen daher unmöglich sind, ändert jedoch nichts an der Nützlichkeit der typologischheuristischen Unterscheidungen, die von Grünert (1985) nutzbringend auf Textdokumente der Zeit zwischen der 1815 erfolgten Gründung des Deutschen Bundes und der Revolution von 1848/49 angewandt werden. Was im Rahmen der „Politolinguistik“ (Burkhardt 1996 ) bisher untersucht wurde, war zum weitaus überwiegenden Teil Ideologie- und Meinungssprache, d. h. der je zeitspezifische Wortschatz der „Credenda“ und „Miranda“ (Lasswell, Leites et al. 1949, 10 ff.), wie er zum „informativ-persuasiven“ Sprachspiel gehört. Zumeist stand dabei die Sprache der jeweils eigenen Zeit oder der jüngeren Vergangenheit im Vordergrund der Betrachtung.
3.
Politische Lexik
Politische Auseinandersetzungen werden in erster Linie auf der Grundlage zentraler Wörter ausgetragen. V. a. Schlagwörter werden gebildet und verwendet, um innerhalb themenzentrierter Diskurse für das jeweils eigene politische Lager konzeptuelle „claims“ abzustecken und deren Anerkennung öffentlich durchzusetzen. „Schlagwortforschung“, das Modell des „Begriffe Besetzens“ und „Diskursanalyse“ markieren verschiedene, doch aufeinander bezogene Etappen des linguistischen Studiums historisch-politischer Lexik. 3.1. Schlagwörter Politische Lexikologie oder politische Semantik (vgl. Klein 1989) war und ist im wesentlichen Schlagwortforschung und -kritik. Wenn man dem Grimmschen Wörterbuch (9, 427), dem „Trübner“ (6, 96) und der 9. Auflage des „Paul“ (1992,
736) Glauben schenken darf, dann ist der Begriff Schlagwort zuerst im 18. Jh. aufgetreten und wurde zunächst noch in der Bedeutung ‘Einsatzwort des Schauspielers, Stichwort, Losungswort’ gebraucht, bevor er — wohl unter dem Einfluß der revolutionären Ereignisse und infolge zunehmender Öffentlichkeit im Bereich des Politischen — seit Mitte des 19. Jh. immer deutlicher in die politische Sphäre rückte und sich semantisch verengte. Wird der Begriff 1899 im „Grimm“ noch relativ weit als ‘schlagende, d. h. kurze und treffende bezeichnung’ paraphrasiert, so erscheint er 1992 im „Paul“ als ‘Wort, mit dem man schlägt, das man im Wortgefecht anwendet’. Laut „Trübner“ tritt dieser schon verengten Bedeutung im 19. Jh. noch die semantische Komponente hinzu, „daß es in vieler Munde lebt, wobei das Verbreitungsgebiet größer oder kleiner sein kann“. Erst als dergestalt öffentlich-politisches wurde das Schlagwort, mit Richard M. Meyers von Ladendorf (1906 ) insofern mit Recht als „bahnbrechend“ bezeichneter Studie Vierhu ndert Schlagwörter, exakt im Jahre 1900 offiziell zum Gegenstand der Linguistik. Doch erst Otto Ladendorf selbst konnte der Schlagwortforschung durch sein Historisches Schlagwörterbu ch zum Durchbruch verhelfen. Schlagwörter, das sind für ihn „Ausdrücke und Wendungen [...], denen sowohl eine p r ä g n a n t e F o r m wie auch ein g e s t e i g e r t e r G e f ü h l s w e r t eigentümlich ist, insofern sie nämlich entweder einen bestimmten Standpunkt für oder wider ein Streben, eine Einrichtung, ein Geschehnis nachdrücklich betonen oder doch wenigstens gewisse Untertöne des Scherzes, der Satire, des Hohnes und dergleichen deutlich mit erklingen lassen“ (1968, XIX).
„Prägnante Form“ soll hier wohl andeuten, daß beim Schlagwort eine Diskrepanz besteht zwischen „zugespitztem oder geschliffenem“, d. h. verknapptem Ausdruck und komplexer Bedeutung, der neben einer abstrakten Denotation zugleich eine konnotativ-wertende Komponente innewohnt. Zudem ist das Schlagwort „schon seiner Entstehung nach [...] ein Allerweltsding“ (ebd., XX) und damit dem Bereich der öffentlichen Kommunikation zuzuordnen: „Bald erblüht es, ohne daß es gelingt, seinen Urheber festzustellen, bald läßt sich dieser und die Zeit des Aufkommens genau nachweisen, zumal wenn es sich um charakteristische Prägungen berühmter Männer handelt. Bald wiederum ist das Schlagwort eine Augenblicksschöpfung, eine rednerische Entgleisung, ein Witzwort, ein Spitzname, eine kräftige Verwünschung, eine blendende Phrase, bald eine wohlausgesonnene Losung, ein zündendes Programmwort, eine Parteibezeichnung, ein origineller Titel, eine Herausforderung oder Versprechung. [...] Politik, Literatur und Kunst geben weitaus das meiste an die Hand. [...] Namentlich wenn die Wogen des öffentlichen Lebens beson-
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ders hochgehen, werden eine Menge Schlagworte ans Land geworfen. Viele glitzernde Kiesel, aber auch mancher gehaltvoller Ausdruck“ (ebd.).
Zwar versucht Ladendorf, die von ihm untersuchten Begriffe von Büchmanns „Geflügelten Worten“ und den „epidemisch“ auftretenden „Modewörtern“ zu unterscheiden, doch zeigt schon die zitierte Aufzählung, daß seiner Definition die nötige Trennschärfe noch fehlt. Kein Wunder also, daß Ladendorf zur Schlagwortforschung selbstkritisch anmerkt, daß dieser „junge Zweig am Baume der deutschen Wortforschung“ noch der „Vervollkommnung“ bedürfe (vgl. ebd., XXVII). Noch ein Dreivierteljahrhundert später schließt Walther Dieckmann erkennbar an Ladendorfs Bestimmungen an: „In den Schlagwörtern“, so schreibt er, „werden die Programme kondensiert; sie erheben Relatives zu Absolutem, reduzieren das Komplizierte auf das Typische, Überschaubare, Einfach-Gegensätzliche und bilden dadurch bipolare Wortschatzstrukturen aus; sie bringen das Abstrakt-Ferne sprachlich nahe und geben der Meinungssprache ihre emotionellen Obertöne“ (Dieckmann 1975, 103). Damit ist der bei Ladendorf noch recht vage Schlagwortbegriff auf seinen Wesenskern reduziert. Im selben Sinne versteht daher auch Kaempfert (1990, 1200) unter Schlagwort nur solche Ausdrücke, „in denen sich ein Programm konzentriert oder die eine Zielvorstellung benennen“, fügt aber als pragmatisches Kriterium hinzu, daß der betreffende Ausdruck „in einer gegebenen Gesellschaft oder Gruppe (im Grenzfall auch für ein Individuum allein) besondere Aktualität und Bedeutung“ erlangt haben müsse. Um zudem die Schlagwörter von längeren Syntagmen unterscheiden zu können, wird die Kategorie zusätzlich morphologisch auf Lexeme und Mehrwortlexeme begrenzt. „Während geflügelte Worte meist aus vollständigen Wendungen oder abgerundeten Sprüchen bestehen, sind Schlagworte meist nur ein Wort oder ein durch Haupt- und Eigenschaftswort bezeichneter Begriff.“ (Trübner, 6 , 96 ) Und während geflügelte Worte stets Zitate mehr oder weniger bekannter Herkunft sind und zumeist nur Bildung indizieren und kulturellen Konsens beschwören, sind Schlagwörter vor allem durch die persuasive, ja propagandistische Absicht gekennzeichnet, die ihrem Gebrauch zugrunde liegt (vgl. Hermanns 1994, 12; Wülfing 1982, 37). Soweit sie Wertungen enthalten, ist den Schlagwörtern „immer eine von genau zwei möglichen Appellfunktionen“ (Hermanns 1994, 13) eigen: Sie fordern zu Zustimmung oder Ablehnung bzw. entsprechenden Handlungen auf; Hermanns (1989) hat dies den „deontischen“ Aspekt ihrer Bedeutung genannt. Schlagwörter sind öffentlich-exponierte Ab-
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strakta in appellativ-emphatischer Verwendung. Trotz dieser näheren Bestimmungen bleibt Schlagwort eine in sich heterogene Kategorie, die der Subklassifikation dringend bedarf. Indem sich in ihnen ideologische Differenzen ausdrükken, sind Schlagwörter parteiisch und bilden gewöhnlich „bipolare Wortschatzstrukturen“ (Dieckmann 1975, 103) aus. „In schlagwortmäßiger Betrachtung ist daher die Welt geteilt in zwei disjunkte Mengen und besteht aus ‘guten’ und aus ‘bösen’ Gegenständen, Sachverhalten und Personen.“ (Hermanns 1994, 13) Um diese lexikalische Bipolarität zu bezeichnen, stellt die Forschung die Termini „Fahnenwort“ vs. „Stigmawort“ bereit. Den Begriff politisches Fahnenwort hat — wenngleich noch nicht terminologisch — schon Ladendorf (1906 , 2; s. v. Agrarier) verwendet. „Fahnenwörter“, definiert Hermanns (1994, 16 ), „sind positive (affirmative) Schlagwörter, die zugleich auch als Erkennungszeichen von Parteiungen fungieren und fungieren sollen.“ Damit ist einerseits die Vorsätzlichkeit des Gebrauchs als gruppenintegrative Schibboleths hervorgehoben, andererseits die unzulässige Eingrenzung auf politische Parteien vermieden (denn auch die Angehörigen religiöser, philosophischer und literarischer Richtungen, Bewegungen und Institutionen können Fahnenwörter haben). Dem Begriff des Fahnenworts hat Hermanns (1982, 92) den des „Stigmawortes“ gegenübergestellt, das zwar ebenfalls „einen Parteistandpunkt in plakativer Weise kenntlich“ macht, jedoch dazu dient, die gegnerische Partei, ihre Mitglieder, Ziele und Wertvorstellungen zu desavouieren. In der Reformationszeit war das wichtigste Fahnenwort von Radikalen wie Thomas Müntzer gemeyner bzw. armer man „als Parteibezeichnung für die von der weltlichen und geistlichen Obrigkeit Unterdrückten“, die „zum Träger einer neuen christlichen Gesellschaftsordnung bestimmt“ sind (Diekmannshenke 1994, 171 und 174). Zentrales Stigmawort war dagegen Obrigkeit (auch oberkait, obirkeit, öberkeyt, u berkeyt), das seinerseits als eines der wichtigsten Fahnenwörter Luthers gelten kann und in der „Zwei-ReicheLehre“ des Reformators „die Nahtstelle [kennzeichnet] zwischen Gott und den Gläubigen, auf die weltlichen Verhältnisse übertragen den Untertanen sowohl des geistlichen wie des weltlichen Reiches. Die von Gott eingesetzte Obrigkeit stellt die ausführende Instanz des göttlichen Willens dar, ist also für den Menschen vermittelnde Autorität zu Gott. Aus diesem Verständnis heraus wird deutlich, warum das reformatorische Schlagwort Obrigkeit das katholische Ordnung, welche göttliche Ordnu ng stets nur als einigende Vorstellung in ihrer Totalität denkt, ablösen konnte“ (ebd., 100).
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Während der Ausdruck bei Luther positiv gewertet ist, sich aber zugleich gegen den ordo-Gedanken der katholischen Kirche richtet, bezieht er sich bei den Radikalen ebenso kritisch auf weltliche wie auf geistliche Herrschaftsansprüche gegenüber dem gemeinen Mann, der sich wiederum in der Weltsicht Luthers „entweder als gehorsamer Christenmensch oder als aufrühriger Pöbel“ (ebd., 16 9) präsentiert. Wie die Beispiele zeigen, können Fahnen- und Stigmawörter (wie gemeiner Mann und Pöbel, Obrigkeit und Ordnung) als parteispezifische Gegenbegriffe aufeinander bezogen sein, infolge unterschiedlicher ideologischer Ausdeutung kann aber auch ein und dasselbe Wort sowohl als Fahnen- wie auch als Stigmawort dienen (Obrigkeit bei Luther und bei den Radikalen) und insofern „ideologisch-polysem“ sein (Dieckmann 196 9, 70 ff.; vgl. auch Bachem 1979, 54 ff.). In ähnlicher Weise war Volkssouveränität 1848 in der Paulskirche zentrales Fahnenwort der Linken, die darunter — im Gegensatz zur stigmatisierten Fürstensouveränität — die Selbstherrschaft des Volkes verstand, wie sie Ausdruck des Volkswillens, des Willens des gesamten Volkes, der gesamten Menge, der Volksmeinu ng, der Volksstimme ist und auf der Allmacht des Volkes beruht (vgl. Grünert 1974, 215 f.). Da hingegen für die monarchistische Rechte die Fürsten ohnehin in Übereinstimmu ng mit dem Willen des Volkes regieren, ist für sie Volkssou veränität ausschließlich als Stigmawort in Verwendung und wird folglich „negativiert als ausschließliche, absolu te Sou veränität, als au sschließliche Volkssou veränität, als absolu te Volkssou veränität, als grenzenlose, absolu te, u nbedingte, au sschließliche Volkssou veränität, als eine Souveränität, die falsch aufgefaßt ist, die einenfalschen Begriff von Volkssouveränität darstellt. Es ist die Rede von der omnipotenten Volkssou veränitätstheorie, dem omnipotenten Volksso u veränitätsaxiom“ (ebd., 198). Noch deutlicher als in früheren Zeiten läßt die politische Diskussion in der modernen Mediengesellschaft das Wechselspiel von Fahnen- und Stigmawort hervortreten: Was den einen als Beitritt (nach Art. 23 GG) erschien, wurde von den anderen als (letztlich grundgesetzwidriger) Anschlu ß denunziert (vgl. Stötzel/Wengeler 1995, 331 ff.); was von der einen Seite als Selbstbestimmu ngsrecht der Frau eingefordert wurde, wies die andere als Tötu ng u ngeborenen Lebens zurück (vgl. ebd., 56 3 ff.), und was der eine Teil des politischen Spektrums positiv als Sicherung des Standorts Deu tschland bezeichnet, wird von dem anderen als Sozialabbau kritisiert (vgl. Burkhardt 1996, 91 ff.). Auch wenn die Fahnen- und Stigmawörter zu
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allen Zeiten den lexikalischen Kernbestand politischer Auseinandersetzungen ausgemacht haben, ist doch mit ihrer Unterscheidung die tatsächliche Bandbreite des Schlagworts noch keineswegs erschöpft. Nicht jedes positive Schlagwort ist ein Fahnenwort: Es gibt allseits anerkannte „Hochwertwörter“, wie Frieden, Freiheit, Umweltschutz oder soziale Marktwirtschaft, die (zumindest im bundesrepublikanischen Diskurs) als „perennierende“ Schlagwörter (Kaempfert 1990 b, 201) gelten können und daher heute kaum noch parteigebunden sind, aber gleichwohl Schlagwortstatus beanspruchen können. Darüber hinaus gibt es ebenfalls überparteilich verwendete positive bzw. neutrale Schlagwörter wie etwa Reizüberflutung, Postmoderne, Selbstverwirklichu ng oder Politikverdrossenheit, die an die Diskussion eines bestimmten Zeitabschnitts gebunden sind und daher vielleicht am besten als „Zeitgeistwörter“ bezeichnet werden könnten. Und weitere Unterscheidungen böten sich an: Begriffe wie Entspannu ng, Beschäftigu ngsoffensive, Gesu ndheitsreform, Au fbau Ost, Solidarpakt, die kurz- bis mittelfristige Handlungskonzepte bezeichnen, ließen sich (wiederum mit Ladendorf) als „Programmwörter“ fassen, die der Verständigungsökonomie dienen. Metonymische und insofern ebenfalls sprachökonomisch bedingte Verkürzungen sind schließlich auch die „Stich-“ oder „Themawörter“ Standort Deu tschland; Fristen- vs. Indikationenregelu ng, Amigo-Affäre oder Globalisierung, durch die, im Vertrauen auf die (zumindest basale) Informiertheit des Rezipienten, jeweils nur einige wenige, besonders wichtige Aspekte des Bezeichneten lexikalisch (bzw. semantisch) hervorgehoben werden, sowie Eigennamen-Schlagwörter wie Hallstein-Doktrin, Vertrag von Maastricht, Helsinki-Konferenz oder Au schwitz, Hiroshima, Mogadischu, Bad Kleinen usw., deren Entstehung sich dem („perennierenden“ oder auch nur temporären) Symbolcharakter der jeweiligen Namensträger verdankt. Zudem ist die terminologische Unterscheidung auch von der Seite der Stigmawörter her nicht so stringent und symmetrisch, wie sie zunächst scheint, denn, wie Hermanns selber einräumt (1994, 19 f.), wird Stigmawort inzwischen häufig „als metasprachliche Bezeichnung für jedwedes Wort bzw. Schlagwort [verstanden], das Personen, Gegenstände, Sachverhalte, irgendwie ‘stigmatisiert’“. Weil dem Stigmawort also, nach dem vorherrschenden Verständnis, das Merkmal der Parteilichkeit zuweilen fehlt, kann es auch nicht auf derselben Ebene der Begriffshierarchie angesiedelt sein wie das Fahnenwort. Hinzukommt, daß es sich bei einem weiteren Teil der Stigmawörter lediglich um perspektivisch bedingte Negativierungen von Fahnenwörtern des
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politischen Gegners handelt (Revolu tion im Sprachgebrauch der rechten und linken Seite der Paulskirche). Um die Symmetrie wiederherzustellen, könnte man die Klasse der Stigmawörter auf solche „ideologisch polysemen“ Einheiten begrenzen. Parteiübergreifend negativierende Wörter ließen sich dann als „Unwertwörter“ (Wühler für ‘staatsgefährdende Umtriebe’ im Zeitabschnitt um die 48er Revolution; vgl. Dieckmann 1964, 133), auf die Perspektive einer Partei beschränkte Abwertungen dagegen als „Scheltwörter“ (Papisten als Schlagwort Luthers gegen den katholischen Klerus und dessen Parteigänger) fassen. Fahnenwörtern in der politischen Auseinandersetzung entgegengesetzte Wörter könnten schließlich „Gegenschlag-Wörter“ (Aufrührer vs. Au serwählte in der Zeit der Bauernkriege; Koalition der Mitte vs. Rechtskoalition in der „Wende“ von 1982) genannt werden. Ausgehend von den vorstehenden Überlegungen wird — abweichend von Hermanns (1994, 20) — folgende Schlagwort-Klassifikation angeboten: Einen Teil der Fahnen- und Stigmawörter werden Ideologie- oder Systembezeichnungen wie Sozialismu s, Kapitalismu s, Demokratie, Diktatu r, Nationalismu s, Rassismu s oder Föderalismu s ausmachen, die in ihren Herkunftswissenschaften Philosophie, Politologie, Staatsrecht usw. — nicht aber in der Politik — einen neutralen, deskriptiven Gebrauch haben. Fahnenwörter können im historischen Prozeß über Zeitgeistwörter zu Hochwertwörtern werden. Umweltschutz, das ursprünglich Fahnenwort der GRÜNEN war, ist davon ebenso ein Beispiel wie Solidarität als Fahnenwort der Arbeiterbewegung, Zeitgeistwort der späten 6 0er und frühen 70er Jahre und Hochwertwort der Gegenwart (vgl.
Abb. 7.1: Klassifikation der Schlagwörter
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Solidaritätszuschlag). Umgekehrt können zunächst parteispezifische Schelt- oder Gegenschlag-Wörter zu allgemeinen Unwertwörtern mutieren (etabliert, Fu ndamentalist). Sie können aber auch gruppenintegrativ gebraucht und insofern positiv gewendet werden (Chaot, Sympathisant). Durch emphatische Verwendung können selbst normalsprachliche Begriffe wie Mensch oder Zu ku nft zu Zeitgeist-, Programmoder Hochwertwörtern aufsteigen. In vergleichbarer Weise konnten die Programmwörter der Philosophen des 18. Jhs.: Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde, Menschenrechte (vgl. Stammler 1954, 51 ff.) zu Zeitgeistwörtern der Aufklärung werden, die in der Folgezeit schrittweise als allgemeine Hochwertwörter akzeptiert wurden und schließlich Eingang in die Grundrechte-Artikel des Grundgesetzes fanden. Viele der angeführten Beispiele lassen erkennen, daß die Schlagwörter zu einem Großteil metaphorischer Herkunft sind. Weil Schlagwörter aller Art die Kernwörter politischer Äußerungen bilden, können sie bei der Textinterpretation als „Schlüsselwörter“ betrachtet werden, aus deren Zusammenstellung und semantischer Analyse sich die Textaussage weitgehend „erschließt“. Schlagwörter sind die vielleicht mächtigsten Instrumente der Politik. Durch überhäufigen Gebrauch, besonders wenn dieser mit der Ausbildung „ideologischer Polysemie“ verbunden ist, wird ihr „Geisteskern“ jedoch permanent der Gefahr ausgesetzt „zu verfliegen“; nur „die entseelte Hülle“ bleibt dann zurück (Stammler 1954, 100). 3.2. Besetzen von Begriffen Zwar hatte bereits der Philosoph Hermann Lübbe in zwei Aufsätzen von 1967 und 1975 den
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politischen „Streit um Worte“ (1972) als „Kampf ums Heißen“ (1979, 73) charakterisiert, und schon Horst Grünert (1974, 200, 205 u. ö.) hatte bei der Beschreibung des Sprachgebrauchs der Paulskirche mehrfach vom „Okkupieren“ von Zeichen gesprochen, doch eigentliche Breitenwirkung hat dieser Gedanke erst entfaltet, als er in der politischen Szene selbst einen exponierten Fürsprecher fand. Auf dem 22. Bundesparteitag der CDU, der im November 1973 in Hamburg stattfand, stellte der damalige Generalsekretär Kurt Biedenkopf für die Wahlniederlage der bis dato erfolgsgewohnten CDU eine neuartige Erklärung bereit, die zugleich einen Vorwurf an den politischen Gegner enthielt: Dieser habe durch „Besetzung der Begriffe“ eine „Revolution neuer Art“ bewirkt, eine „Revolution der Gesellschaft durch die Sprache“; Revolutionen fänden heute nämlich nicht mehr durch „gewaltsame Besetzung der Zitadellen staatlicher Macht“ (Biedenkopf 1982, 191), sondern vielmehr durch die schleichende Besetzung der Begriffe statt, mit deren Hilfe die Regierungen regieren (vgl. dazu Hermanns 1994, 21 ff. sowie Klein 1991, 45 ff.). Von seiner Partei verlangte Biedenkopf, sich diese neue lexikalisch-semantische Strategie zu eigen zu machen, und führte zugleich vor, wie eine solche Begriffsbesetzung zu bewerkstelligen sei. Am Beispiel des Begriffs Solidarität, der seit mehr als einem Jahrhundert ein Fahnenwort der Gewerkschaften, der Kommunisten und der SPD gewesen und also von der Arbeiterbewegung besetzt worden war, machte er deutlich, daß man in der öffentlichen Diskussion Wörter zurückgewinnen kann, indem man sie mit neuen Inhalten versieht und mit diesen in passenden Kontexten unablässig wiederholt. Bis Mitte der 80er Jahre war das Biedenkopfsche Modell Gegenstand heftigen publizistischen Streits. „Worte machen keine Politik“ (so der Titel eines von Fetscher/Richter 1976 herausgegebenen Buches) war die Gegenthese der aufgeschreckten Linken, die die Idee des semantischen Kampfes zwischen den Parteien als „aggressiven Nominalismus“, als „Manipulation“ und damit als politische Unmoral verdammte (vgl. dazu Hermanns 1994, 25). Doch ist gerade die begriffliche Umkämpftheit des Besetzungsmodells der beste Beweis für die Richtigkeit der Biedenkopfschen These. Pluralistischer Kampf um Begriffe ist nicht dasselbe wie totalitäre und damit einseitige Propaganda. Denn weil „Politik [...] nicht zuletzt die Kunst [ist], im Medium der Öffentlichkeit Zustimmungsbereitschaften zu erzeugen“ (Lübbe 1972, 16 2), kann es angesichts der gerin-
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gen Bestimmtheit und des schwankenden Gebrauchs“ politischer Begriffe in der öffentlichen Diskussion nur „zwingender politischer Logik [gehorchen], daß man sich [...] wechselseitig die Legitimität des Anspruchs auf den Gebrauch zentraler politischer Vokabeln streitig macht“ (ebd.). Die Benutzung von Schlagwörtern ist semantischer Kampf um die Meinungsführerschaft und damit Teil des ganz gewöhnlichen Ringens um politische Macht im Rahmen des „informativ-persuasiven Sprachspiels“. Ein solcher Kampf um die Begriffe findet in allen Gesellschaftsformationen statt. Während er jedoch in totalitären Systemen öffentlich nur einseitig ausgetragen werden kann, gelangt er dort, wo die Machtverteilung labiler ist, wie in der Demokratie, zu absoluter Dominanz. Indem sich die Linguistik den Biedenkopfschen Gedanken zu eigen machte, war ihr ein Modell an die Hand gegeben, mit dessen Hilfe sich das statische Konzept der traditionellen Schlagwortforschung überwinden und durch ein dynamisches ersetzen ließ, das Politik als öffentlichen Streit um die Bedeutungen der Wörter begriff und zugleich die Möglichkeit bot, bisherige lexikalisch-semantische Überlegungen in den pragmatischen Ansatz zu integrieren. Das semantische Lexikon-Modell wurde durch ein pragmatisches „Diskurs“-Modell ersetzt. Hatte Biedenkopf selbst zunächst nur die Umdeutung bereits in Gebrauch befindlicher Begriffe im Blick, so hat Josef Klein (1989) gezeigt, daß sich die sprachliche Konkurrenz der Diskursparteien auch auf die Ausdrucksseite erstreckt, und zur besseren Differenzierung beider Phänomene eine „Bedeutungs-“ von einer „Bezeichnungskonkurrenz“ terminologisch abgehoben. Während nämlich vor allem bei Fahnenund Stigmawörtern jeweils die Bedeutung ein und desselben Wortes zwischen den Parteien umstritten ist, steht im Falle der Schelt- und Gegenschlag-Wörter die Anwendbarkeit konkurrierender Bezeichnungen auf weitgehend identische Referenten im Zentrum des politischen Streits. Wenn also unterschiedliche Parteien etwa verschiedene Begriffe von Volkssouveränität oder Sozialismu s haben und die jeweils eigene Deutung öffentlich durchzusetzen trachten, liegt „Bedeutungskonkurrenz“ vor; die Folge der Ausbildung solcher gruppenspezifischen Bedeutungen derselben Wortgestalt ist in der Regel „ideologische Polysemie“. Wenn dagegen verschiedene politische Gruppen mit interessenspezifisch oder ideologisch partiell divergierenden Deutungen für dieselbe Sache unterschiedliche Schlagwörter gebrauchen oder gar kreieren, also etwa Rechtsstaat und Polizeistaat, Gleich-
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stellu ng und Gleichberechtigu ng oder (Wirtschafts-)Standort Deu tschland und Lebensstandort Deu tschland öffentlich gegeneinandersetzen, liegt „Bezeichnungskonkurrenz“ vor. Weil sich also der eine Typus des „Streits um Worte“ (Lübbe) auf die Angemessenheit der Bedeutungen, der andere aber auf die Angemessenheit der Bezeichnungen bezieht, denen Bedeutungen zugeordnet werden, könnte man auch zwischen „semasiologischer“ und „onomasiologischer“ Begriffskonkurrenz unterscheiden (vgl. auch Hermanns 1994, 36). Bei Referenz auf dieselbe Sache sind konkurrierende Bezeichnungen in semantischer Hinsicht stets von meliorativen oder pejorativen Nuancierungen betroffen. Auch die „Bedeutungskonkurrenz“ läßt sich, nach Klein (1989, 17), in einen „deskriptiven“ (denotativ-neutralen) und einen „deontischen“ (wertend-verpflichtenden) Subtyp unterscheiden: Während z. B. Hochwertwörter wie Gerechtigkeit „im allgemeinen Sprachgebrauch so stabil und durchgängig mit positiver deontischer Bedeutung verwendet [werden], daß politische Gruppierungen daran nicht rütteln“ (Klein 1989, 21 f.), und daher nur, je nach Ideologievorstellung, in rein sachlicher Hinsicht unterschiedlich verstanden werden, haben Fahnen- bzw. Stigmawörter wie konservativ oder Großer Lau schangriff bei allen Parteien zwar dieselbe denotative Bedeutung, doch werden ihnen aus den verschiedenen politischen Richtungen zugleich diametral entgegengesetzte Bewertungen und Handlungsappelle zugewiesen. 3.3. Diskursanalyse Der Kampf um Begriffe ist das Prinzip politischer Diskurse im Sinne Foucaults (1974, 7 ff.; vgl. dazu Busse/Teubert 1994, 14 ff.), die ihrerseits als Erscheinungsformen von Macht und Streben nach Machterwerb zu interpretieren sind: „Mit Diskursen werden [...] die Kämpfe der Beherrschung in Sprache übersetzt, und ebenso wird das Begehren sprachlich offenbart.“ (Grünert 1984, 31) Sie sind themazentrierte Ausprägungen dessen, was Grünert selbst als „Sprachspiel“ bezeichnet hat. Diskurse sind über einen bestimmbaren, zumeist längeren Zeitraum in der Öffentlichkeit verbal ausgetragene Auseinandersetzungen, die sowohl durch Gemeinsamkeit epochalen Wissens und Denkens als auch durch ideologische Deutungsdifferenzen geprägt sind. Unterschiedliche Vokabeln und Begriffsdeutungen prallen im diskursiven Meinungsstreit aufeinander und werden von den Kontrahenten zu konkurrierenden, aber auch interferierenden Begriffs- und Aussagenetzen aus-
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gebaut, „die sich in einem Text, aber auch in mehreren Texten zugleich entfalten können“ (ebd., 23) und „die involvierten Kommunikationsteilnehmer in hohem Maße thematisch wie instrumental hinsichtlich des Gebrauchs sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten“ binden (Hopfer 1994, 125). Im historisch-gesellschaftlichen Gesamtrahmen und Bedingungsgefüge von Diskursen, die durch die Abfolge wechselseitig aufeinander bezogener Handlungszüge, Sinngebungen, Sinnvoraussetzungen und Begriffsbestimmungen und insofern durch das Vorherrschen intertextueller Bezüge gekennzeichnet sind, vollzieht sich Bedeutungs- und Bezeichnungskonstitution, aber auch semantisch-begrifflicher Wandel. Die Diskursanalyse versteht sich daher als ein empirisch-pragmatisch orientiertes Verfahren zur Beschreibung der lexikalisch-semantischen Polyphonie von Kontroversen im historischen Kontext und ist insofern als eine Erweiterung des begriffsgeschichtlichen Ansatzes zu betrachten. Dabei werden einzelne Begriffe oder „Leitvokabeln“ — wie Gleichberechtigu ng, Soziale Marktwirtschaft oder friedliche Nu tzu ng der Kernenergie — „als diskursstrukturierende und Diskursströmungen benennende Elemente aufgefaßt [...], die einen Teil der diskursiven Beziehungen widerspiegeln“ (Busse/Teubert 1994, 22). Neben der semantisch-pragmatischen Analyse je diskurstypischer, in der Regel antagonistischer (Schlag-)Wörter, Annahmen und Aussagen, stellt die korpusgestützte linguistische Interpretation authentischer „Sprachthematisierungen“, d. h. definierender bzw. kritisierender metasprachlicher Äußerungen der Diskursteilnehmer, wie sie z. B. in politischen Reden bzw. Kommentaren erscheinen oder in den Medien wiedergegeben werden (vgl. dazu auch Stötzel/Wengeler 1995, 2 ff.), die wesentliche Untersuchungsmethode dar. Indem das Ausgehen von authentischen metasprachlichen Äußerungen der Diskursteilnehmer den Einfluß der Beobachterperspektive bei der Dateninterpretation verringern hilft, verspricht das neue Verfahren ein objektiveres Ergebnis. Als älteres Beispiel für eine Sprachthematisierung kann Laubes Kommentar zu einem wichtigen Schlagwort der Paulskirche dienen: „Das Wort ‘ultramontan’ ist ein schlimmes Wort geworden, sogar das Wort ‘fromm’ verdächtigt heutzutage. Ultramontan ist doch noch etwas anderes, es deutet ‘über die Berge’ des Vaterlandes nach einem kirchlichen Staatswesen, welches die eigentümliche Entwickelung der Völkerschaften nicht nur leiten, sondern fesseln will. Geheime Zwecke, geheimes Ordenswesen, das ganze tausendmaschige Flechtwerk einer Herrschaft, die niemand übersehen kann, ist damit verbunden. Das Pfaffentum, das Jesuitentum wird als un-
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zertrennlich davon betrachtet, wie kann es verwundern, daß dagegen eine Zeit eingenommen ist, welche ein nationales Vaterland und eine jedermann ersichtliche Freiheit haben will. Der Ultramontan hat grundsätzlich kein Vaterland. Wenigstens geht ihm das Reich seiner Kirche darüber“ (Laube 1909, 1, 211 f.).
Weil u ltramontan ein (fast) allgemeines Unwertwort des 19. Jhs. ist und Sprachthematisierungen generell von der Lexikographie gern als „sprechende Belege“ verwendet werden, ist das Laube-Zitat auch in Ladendorfs Schlagwörterbu ch (1906 , 320) verzeichnet. Ein jüngeres Beispiel für eine Sprachthematisierung in der Presse stellt der folgende Kommentar zu Doppelverdiener dar, das als typisches Schlagwort der frühen 50er Jahre gelten kann: „Doppelverdiener heißt in aller Welt der Mann, der mehrere Tätigkeiten hat und aus mehr als einer Stellung Gehalt, Lohn oder sonstige Bezüge erhält. Nur in Deutschland nennt man Doppelverdiener ein Ehepaar, dessen beide Partner arbeiten und Gehalt oder Lohn beziehen.“ (ALLGEMEINE ZEITUNG vom 22. 4. 1950; zit. nach Stötzel/Wengeler 1995, 452).
In der Politikersprache selbst sind derartige Thematisierungen perspektivisch: Sie markieren Diskurspositionen und grenzen sie gegen gegnerische Begriffe und an diese geknüpfte Denkweisen ab. Umgekehrt kann daher die Analyse solcher Thematisierungen zur Rekonstruktion ideologischer Positionen und Begriffssysteme sowie zur Beschreibung von Diskursverläufen und politischsemantischen Wandlungsprozessen beitragen. Ein Abriß der Geschichte der politischen Sprache der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage der semantisch umkämpften „Schlagwortfelder“ ist zwar schon bei Bergsdorf (1983) und J. Klein (1989, 29 ff.) nachzulesen. Eine umfassende Diskursgeschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik seit 1945 auf der Grundlage der politisch kontroversen Schlag- und Gegenschlagwörter bzw. auf sie bezogener sprachreflexiver Thematisierungen in der Presse und anderen publizistischen Texten haben jedoch erst jüngst Stötzel/Wengeler (1995) vorgelegt. Detailliertere Spezialstudien zu den politischen „Leitvokabeln“ der Gründungsphase der Bundesrepublik (1945—196 1) finden sich bei Böke/Liedtke/Wengeler (1996 ). Mit Hilfe des diskursanalytischen Ansatzes sind inzwischen auch die verschiedenen Phasen der bundesrepublikanischen Wiederbewaffnungsbzw. (Nach-)Rüstungsdiskussion seit 1945 (Wengeler 1992) sowie die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um die Atomenergie (Jung 1995) eingehend untersucht worden, wobei auch die sprachkritischen Anteile der jeweiligen Diskurse einer kritischen Revision un-
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terzogen wurden (für weitere Einzelstudien vgl. Busse/Hermanns/Teubert [1994]). Daß sich das der politischen Gegenwart abgewonnene Modell des Begriffebesetzens und die diskursanalytische Methode auch bei der Beschreibung der Auseinandersetzungen früherer Epochen bewähren, zeigt eindrucksvoll Diekmannshenkes Studie über die „Schlagwörter der Radikalen der Reformationszeit“ (1994). In demokratischen Systemen wird versucht, durch öffentlichen Diskurs Begriffe durchzusetzen und so für die jeweils eigenen politischen Konzepte Mehrheiten zu schaffen. In totalitären Systemen werden Wörter dagegen „beschlagnahmt“ (vgl. Bachem 1979, 25), alternative Begrifflichkeiten durch Androhung und Anwendung physischer Gewalt ausgeschlossen. Zwar lassen sich infolgedessen das Modell des Begriffebesetzens und das diskursanalytische Verfahren nur in eingeschränktem Maße auf totalitäre Staaten anwenden, doch müssen sich selbst derartige Regimes bei ihrer Bevölkerung um Akzeptanz für ihre Politik bemühen. Einseitige Mittel dazu sind Sprachlenkung und Propaganda, die sich ebenso politischer Schlagwörter bedienen muß wie der pluralistische Diskurs. Ein oppositioneller Gegendiskurs kann hier fast nur als subversive Privatkommunikation gedeihen, wie sowohl „Drittes Reich“ als auch DDR zeigen. In der Gunst der politischen Stunde kann er aber, wie an den Ereignissen des Herbstes 1989 abzulesen ist, auch zur revolutionären Bewegung anschwellen, die die alten Diskurse erschüttert und schließlich die überkommenen Herrschaftsstrukturen zum Einsturz bringt.
4.
Politische Rhetorik
Rhetorische Mittel sind sprachliche Gestaltungsmuster, die traditionell verwendet werden, um durch ihre ästhetische Wirkung zu beeindrucken oder zu überzeugen. Sie erscheinen vor allem in der Literatur sowie in der forensischen und der politischen Rede. Schon in der Antike waren sie den Dichtern und politischen Rednern geläufig und wurden von Rhetorikern wie Quintilian und Cicero ausführlich kommentiert. Bis in die Gegenwart sind sie Gegenstand rhetorischer Theorie und Mittel rhetorischer Praxis geblieben. Die rhetorischen Mittel werden üblicherweise in Tropen und Figuren unterschieden. Nur diejenigen, die für die politische Sprache besonders wichtig sind, können im folgenden beschrieben werden. 4.1. Politische Metaphorik Was über den kognitiven und strategischen Sinn der Schlagwörter gesagt wurde, gilt mutatis mu-
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tandis auch für die Metaphern. Auch sie strukturieren Darstellung und Wahrnehmung von Ereignissen, dienen der Legitimation der eigenen Handlungen und Konzepte vor der Öffentlichkeit einerseits und der Selbstinterpretation andererseits. Zu den charakteristischen Merkmalen politischen Sprachgebrauchs gehört sowohl der wiederholte Gebrauch politiktypischer Metaphern als auch die punktuelle Suche nach der plastischen Metapher. Metaphern sind implizite oder explizite Identitätsaussagen, in denen ein Referenzobjekt in vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichender, ja sogar in zumeist überraschender Weise unter ein Prädikat subsumiert wird, zu dem es den konventionellen Sprachregeln gemäß eigentlich nicht gehört, um durch die abweichende Prädikation einige Eigenschaften des angesprochenen Gegenstandes besonders hervorzuheben. Der Hörer/Leser muß den durch die Regelverletzung vordergründig zerbrochenen Sinn neu stiften, und zwar über den Vergleich der beiden im metaphorischen Ausdruck genannten Gegenstände oder genauer: zwischen dem, was wir bei Nennung der betreffenden Wörter assoziieren. Weil Metaphern Identitätsaussagen sind, lassen sie sich — wie Lakoff/Johnson (1980) das getan haben — am besten mit Sätzen der Form X IST/ FÄLLT UNTER Y beschreiben. Die Leistung der Metapher ganz allgemein beruht auf Ähnlichkeit und/oder Analogie zwischen den Denotaten der beiden Metaphernteile und besteht im Erhellen fokussierter und im Ausblenden nichtintendierter Eigenschaften bzw. Merkmale auf beiden Seiten. Oder wie es Edelman (1990, 148 f.) mit Blick auf die politische Sprache gesagt hat: Die Metapher „intensiviert selektive Wahrnehmungen und ignoriert andere. Das ermöglicht es einem, sich auf die erwünschten Folgen der jeweils favorisierten Politik zu konzentrieren und deren unerwünschte und jeweils irrelevante Voraussetzungen und Nachwirkungen zu übersehen. Jede Metapher kann ein subtiles Mittel sein, das hervorzuheben, was man gerne glauben möchte, und das zu umgehen, was man nicht wahrhaben will. [...] Die Metapher ist daher ein Mittel zur Formung politischer Loyalitäten (und politischer Opposition), zur Formung der Prämissen, unter denen Entscheidungen gefällt werden.“
Gerade angesichts ihrer suggestiven Kraft kann daher die Rolle, die Metaphern in der politischen Auseinandersetzung spielen, nicht genug betont werden. Generell werden durch die Metapher einige Aspekte des metaphorisierten Gegenstandes hervorgehoben, andere ausgeblendet. So fokussierte
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der Paulskirchenabgeordnete Beckerath mit seiner in der Nationalversammlung häufig zitierten Metapher vom zu errichtenden Staat als „Dom“, der die Freiheit begründe (vgl. Burkhardt 1997, 426 f.), zwar auf die ethische Unangreifbarkeit eines solchen, letztlich von Gott regierten Gebildes, blendet dabei jedoch das Problem der Kirchenhierarchie in symptomatischer Weise ebenso aus wie die Frage nach der Finanzierung und dem Verhältnis von Staat und Kirche. So fokussierte die von Kaiser Wilhelm II. zu Beginn des Ersten Weltkrieges häufig gebrauchte anachronistische Metapher von der Armee als seinem „Schwert“ zwar auf eine Vorstellung vom Heer als Instrument in der Hand eines Monarchen, der sich als Herrscher „von Gottes Gnaden“ verstand, blendete jedoch neben dem Volksheercharakter seiner Armee und deren Zusammensetzung aus Millionen von Individuen zugleich die inzwischen technisierte Kriegsführung und damit die zu erwartenden (und auch eingetretenen) Grauen der „Materialschlachten“ aus. Und so betont etwa die für das Jahr 1990 charakteristische Metapher vom „Zug der deutschen Einheit“ die Unausweichlichkeit und Fahrplanmäßigkeit der staatlichen Vereinigung von DDR und (alter) Bundesrepublik; über alternative Bahnverbindungen, etwaige Anschlußzüge, über den Zugtyp, die Beförderungsklasse und die Mitreisenden schweigt sie sich ebenso aus wie über die zu erwartende Höhe des Fahrpreises, die damals manche Kritiker davon abgehalten hat, voreilig auf den Zug aufzuspringen. Jede Zeit und jede größere politische Debatte, so zeigt sich, gebiert ihre eigenen zentralen Metaphern, die durch häufigen Gebrauch zu Schlagwörtern werden können. Nur die wenigsten der Metaphern sind originell, zumeist knüpft man an die traditionellen Muster an, die die Alltagssprache bereitstellt. Man darf daher annehmen, daß die auffällige Stereotypie und Vagheit politischer Sprache vor allem auf den überhöhten Gebrauch vorgefertigter, bereits eingespielter, konventionalisierter, sogenannter „toter“ oder „verblaßter“ Metaphern zurückzuführen ist. Das ist aber nur die halbe Wahrheit, denn gleichwohl dienen auch die verblaßten Metaphern dazu, Ereignisse zu konzeptualisieren und Wahrnehmung zu strukturieren. Sie sind allenfalls als Individuen „tot“, will sagen, werden nicht mehr als Metaphern verstanden, als Metapherntyp und -bildungsmuster sind sie jedoch im allgemeinen sehr lebendig und werden ständig fortgesponnen und reproduziert (vgl. dazu Lakoff/Johnson 1980). Hier können nur fünf solcher Grundmuster genannt werden, die für die politische Sprache besonders charakteristisch sind:
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A. POLITIK IST EIN GEBÄUDE/ THEORIEN SIND GEBÄUDE Wenn etwa Politik bzw. Volkswirtschaft im Sinne der Gebäude-Metapher konzeptualisiert wird, dann müssen innerhalb dieses Bildes Stabilität, solide Fundamente und tragende Pfeiler als zentrale Werte, Instabilität und Zusammenbruch dagegen als Gefahren erscheinen. Die produktiven Kräfte der Instabilität, d. h. ihre dynamischen Aspekte, werden dagegen ausgeblendet: In diesem Sinne ist in der „Wende-Debatte“ von tragenden Pfeilern, soliden Fu ndamenten, den „geistigen und moralischen Gru ndlagen unseres Zusammenlebens“ (Geißler) und vom “Ausbau des Rechtsstaats“ die Rede. Auch die Paulskirchen-Metapher vom zu erbauenden „Dom“ gehört in diesen Zusammenhang. B. POLITIK IST DAS ZURÜCKLEGEN EINES WEGES/EINE REISE Diese Metapher fokussiert auf die Zielgerichtetheit politischen Handelns, blendet jedoch zugleich neben alternativen Reisemöglichkeiten auch die Landschaft aus, durch die gegangen wird. Metaphern wie Politik der kleinen Schritte, der Weg aus der Krise, getrennte Wege gehen, an einem Kreu z- oder Scheideweg angelangt sein sind für die politische Sprache charakteristisch. C. DER STAAT IST EIN SCHIFF Durch die altehrwürdige Metaphorisierung des STAATES als SCHIFF, bei der es sich um die Säkularisierung einer ursprünglich religiösen Metapher handelt, wird der Aspekt der Schicksalsgemeinschaft hervorgehoben. Beispiele für besonders frequente nautische Metaphern dieses Typs sind vor allem den Ku rs bestimmen, einen Ku rs einhalten bzw. einschlagen, gegensteu ern, eine Wende bzw. Wendemanöver du rchführen usw. Die Analogie zwischen Staat und Schiff geht dahin, daß es Mannschaften, Offiziere, einen Steuermann gibt, daß die Besatzung gemeinsam einen Weg zurücklegt, daß der Kapitän den Kurs bestimmt und entsprechend navigieren läßt, daß die Mannschaft zusammenstehen muß, wenn sie die Reise im gefährlichen Element bebzw. überstehen will. Ausgeblendet werden in dieser Metapher hierarchische Unterschiede und divergierende Interessen innerhalb der Crew. Zudem sind Staatskatastrophen, anders als die Gefahren des Meeres, menschengemacht. D. PROBLEME SIND KRANKHEITEN/ POLITIKER SIND ÄRZTE Im Lichte der Metaphern dieses Typs erscheinen wirtschaftliche oder politische Ereignisse als
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Fehlentwicklungen am Gesamtorganismus, deren „Erreger“ von den verantwortlichen Personen unter Rückgriff auf geeignete Behandlungsmethoden zu bekämpfen sind. Ein Verzicht auf therapeutische Maßnahmen ist ebenso ausgeschlossen wie eigenes Verschulden. Hierher gehören Metaphern wie die vom Kollaps des Sozialismu s ebenso wie die von der Gesundung der Staatsfinanzen. Medizinische und Krankheitsmetaphorik ist zwar heute überwiegend in bezug auf die Wirtschaft gebräuchlich; sie findet sich jedoch auch im Umfeld kriegerischer Auseinandersetzungen: Es sei hier nur an die von amerikanischen Militärs während des GolfKriegs eingeführte Metapher vom „chirurgischen Krieg“ bzw. „Schlag“ (am. su rgery strike) erinnert, die z. B. in der folgenden Formulierung des französischen Fernsehens wieder aufgenommen wurde: „Chirurgisch präzis operieren sie den Krebs aus dem Saddam-Geschwulst“ (BILD vom 21. 1. 1991, S. 2). In der Paulskirche war dieser Metapherntyp auch in bezug auf innenpolitische Ereignisse überaus geläufig, insbesondere bei den 20 im Parlament vertretenen Ärzten: „Beliebt waren [...] medizinische Bilder, die gelegentlich mit liebevoller Kleinarbeit gemalt wurden. Hatte schon Schlöffel Deutschland mit einem Scharlachkranken verglichen, der viel Blut verloren habe; war für Edel die Republik der heiße Fiebertraum einer Krankheit gewesen, der sehr bald der eiskalte Fieberschauer einer militärischen Despotie nachzufolgen pflegt, und hatte Vischer gefragt, ob die deutschen Mißstände chirurgisch oder medizinisch, allöopathisch oder homöopathisch geheilt werden sollten, und dabei die Nationalversammlung mit dem Sympathicus verglichen; so gewannen derartige Vergleiche naturgemäß an Beliebtheit, je mehr es dem Ende zuging. Mit medizinischen Bildern wurde um die Loslösung Österreichs gekämpft: Jawohl, erklärte Eisenstuck, Österreich ist ein krankes Glied, das auch den ganzen Körper leidend macht, aber der weise Arzt heilt, und amputiert nicht gleich. Die Erbkaiserlichen andererseits wollten gegen die chronische, schleichende Krankheit die kräftige Diät einer starken Verfassung verordnen.“ (Heiber 1953, 44).
Eine widerwärtige Radikalisierung der Krankheitsmetapher liegt vor, wenn politische Gegner oder ethnische Gruppen als Krankheiten (Pest, Cholera, Krebs, Syphilis, Geschwür) oder als deren Erreger bzw. Überträger (Ungeziefer, Parasiten, Bazillen, Ratten, Schmeißfliegen) metaphorisiert werden (vgl. Bachem 1979, 128 ff.). Weil diese Krankheiten und folglich auch deren Erreger bzw. Überträger gefährlich sind, gehört zur „deontischen“ Bedeutung ihrer Bezeichnungen, daß sie beseitigt bzw. „ausgemerzt“ werden müssen. Wer derartige Meta-
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phern auf andere Personen anwendet, entmenschlicht diese daher nicht nur, sondern stiftet implizit zur Gewalt gegen sie an (vgl. Kurz 1982, 26 ). In der antisemitischen Propaganda der Nationalsozialisten erreichte diese inhumane Metaphorik ihren traurigen Höhepunkt und hat sicherlich in nicht unerheblichem Maße zur psychologischen Vorbereitung des Holocaust beigetragen. In der DVU-Formulierung vom „Politgeschwür der 196 8er“ findet sich diese entmenschlichende Metaphorik noch in den 90er Jahren wieder. E. INNENPOLITIK IST KRIEG/KAMPF Metaphern dieses im innenpolitischen Diskurs (auch in der Presse) besonders häufig gebrauchten Typs fokussieren auf Konkurrenz und Polarisierung im Streit um Machterhalt und -erwerb. In der Sprache des Torpedierens, des Unterminierens, der Gemetzel, Trommel-, Stör- und Sperrfeu er, des Vorstoßes bzw. -marsches, aber auch des Rückzu gs und des Wu ndenleckens, der Graben- und Richtu ngskämpfe, Scharmützel und Scheingefechte, der Fronten, Schützengräben, Flügelkämpfe und Friedensoffensiven, der Wahlkampfschlachten, Preiskriege und Marschkolonnen, der Rededu elle, Ru ndu mschläge und des nur allmählich verrauchenden Pu lverdampfs bleiben kooperative Aspekte der Politik notwendig ebenso ausgeblendet wie das Gemeinwohl als oberstes Ziel politischen Handelns (vgl. Burkhardt 1992, 836 ff.). Manches spricht für die These, daß die Ausbreitung dieses Metapherntyps auf die Militarisierung der Gesellschaft im Wilhelminischen Reich zurückzuführen ist. In all diesen Metapherntypen zeigen sich Alltagstheorien, alltägliche, vorwissenschaftliche Sehweisen, die in der Regel unreflektiert reproduziert werden. Die abgeleiteten Einzelmetaphern mögen „tot“ oder „verblaßt“ sein, produktiv bleiben jedoch die Deutungssysteme, zu denen sie gehören. Aber auch diskurstypische Grundmetaphern wie die Gorbatschowsche vom Haus Europa können ausgebaut werden: „Meiner Ansicht nach läßt sich ohne die USA, die im gesamteu ropäischen Hau s ihr „Penthou se“ haben werden, sicherheitspolitisch weder in Europa, noch in anderen Regionen etwas erreichen. [...] Viele sowjetische Beobachter könnten sich durchaus vorstellen, daß die Türen der beiden deu tschen Wohnu ngen eines künftigen, ausländischer Einqu artieru ngen ledigen europäischen Hau ses füreinander offen stehen und es beide Nachbarn um so leichter haben, miteinander in allen Lebensbereichen zu kommunizieren“ (Nikolai Portugalow in: Moskau News 9/1988; zit. nach Bachem/Battke 1988, 115 f. [Hervorhebungen vom Verf.])
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Wie das im Zusammenhang mit politischen Veränderungen zyklisch wiederkehrende Bild von der Wende war auch die ebenfalls für die späten 80er Jahre typische Metapher vom Hau s Eu ropa keineswegs neu, denn, wie Schirmer (1992) zeigen konnte, wurde sie bereits in der Weimarer Zeit verwendet. Politische Metaphern haben ihre Zeit und ihre Geschichte. Manche Bilder bieten sich immer wieder an, andere werden gerade aufgrund ihrer historischen Reminiszenz von den Späterlebenden wieder aufgegriffen. Nach ihrem Gewicht im jeweiligen Diskurs ließen sich „exponierte“ (zumeist originelle) Basismetaphern, „routinierte“ Metaphern (Ableitungen aus diskurstypischen Bildfeldern) und „konventionelle“ („verblaßte“, „tote“) Metaphern unterscheiden. Während exponierte und routinierte Metaphern ihren eigentlichen Ort im informativ-persuasiven Sprachspiel haben, sind von den konventionellen Grundmustern einige wenige für politische Sprache allgemein charakteristisch. Eine Geschichte der politischen Metaphorik bleibt noch zu schreiben. 4.2. Politische Euphemismen Schon seit der Antike ist der Euphemismus stets eines der wichtigsten persuasiven Instrumente der Politikersprache gewesen. „Es handelt sich [...] um ein psychopolitisches sprachliches Mittel im Dienst der Herrschaftsausübung oder der Anhängerwerbung, das politische Notwendigkeiten oder als notwendig angesehene Maßnahmen nicht direkt beim Namen nennt, sondern sprachlich verschleiert. Der Politiker, der für sein Handeln die Zustimmung der öffentlichen Meinung zu gewinnen sucht, nimmt Rücksicht auf die Gefühle und Wertvorstellungen, die der Hörer mit bestimmten Wörtern verbindet, und umgeht einen eventuellen Widerstand, indem er ein solches Wort vermeidet. An seine Stelle tritt ein anderes, das den Tatbestand verschleiert“ (Dieckmann 1964, 100).
Euphemismen sind demnach als lexikalische oder syntaktische Formen des Beschönigens zu bestimmen, als einkalkulierte Ungenauigkeiten, deren manipulativer Sinn darin liegt, beim Adressaten unliebsame Assoziationen zu unterdrücken oder durch positive zu ersetzen. Indem sie gebildet und verwendet werden, um negative Aspekte des Bezeichneten oder des beschriebenen Sachverhalts zu verhüllen, stellen euphemistische Äußerungen letztlich „partielle Lügen“ (Leinfellner 1971, 42) dar. Doch während solche Lügen im Alltag in der Regel eingesetzt werden, um in tabuisierten Lebensbereichen (Tod, Fäkalien, Sexualität) als übergroß empfundene Deutlichkeit zu vermeiden und dadurch
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die Psyche des Adressaten zu schonen, dienen sie diesem moralischen Zweck in den Sprachspielen der Politik eher selten, sondern sind auf die recht eigennützige Abwendung möglicher Image-Beschädigungen beim Sender und die Vermeidung nachteiliger Folgehandlungen von seiten des Hörers berechnet. So war Hitlers Satz vor dem Nazi-„Reichstag“: „Seit 5 Uhr 45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markierte, deswegen euphemistisch, weil er die kriegerischen Handlungen als solche zwar zugab, den tatsächlichen Angriff aber als Verteidigung zu verklären und damit die Schuld an der Entfesselung des Krieges der polnischen Regierung zuzuweisen suchte. Wie die Metaphern sind auch die Euphemismen Formen des uneigentlichen Sprechens. Doch während die ersteren auf Eigenschaften ihres Referenzobjekts fokussieren, um sie zu „erhellen“, liegt die Aufgabe der letzteren darin, Fokussierungen zu vermeiden, um dadurch den Blick auf unliebsame Denotatseigenschaften zu „verstellen“. Der Euphemismus kann sich entweder der normalen, bereits verfügbaren Wörter der Sprache bedienen oder durch eigens erzeugte Neologismen zum Ausdruck gebracht werden (die gleichwohl von der Sprachgemeinschaft übernommen und dadurch Allgemeingut werden können). Euphemismen lassen sich zunächst formal in „syntaktische“ und „lexikalische“ unterscheiden: Syntaktische Euphemismen sind Sätze, die mit Hilfe von nicht oder weniger negativ konnotierten Wörtern oder Wendungen als ganze so formuliert sind, daß unangenehme Wahrheiten heruntergespielt werden: „Wir durchleben im Osten augenblicklich eine schwere militärische Belastung“ formulierte Goebbels in seiner berüchtigten Sportpalast-Rede nur wenige Tage nach der Schlacht um Stalingrad; im demokratischen Staat mögen die Beispiele harmloser sein, doch werden auch hier Fehler nur selten ausdrücklich eingestanden, Krisen verbal übertüncht: „Auf jeden Fall gibt die derzeitige Konjunkturlage Anlaß zur Diskussion“ ließ im Januar 1970 der damalige Bundesbankpräsident diplomatisch verlauten; und Anfang Mai 1993 disqualifizierte sich der frühere SPD-Vorsitzende und schleswig-holsteinische Ministerpräsident Engholm kurz nach seinem Rücktritt durch die Äußerung, die ihm zur Last gelegte Falschaussage vor dem Kieler Untersuchungsausschuß in der Barschel- bzw. „Schubladen“-Affäre sei für ihn nur „eine Petitesse gewesen“. Auch taktisch bedingtes Auslassen relevanter Informationen
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kann als Euphemismus betrachtet werden (vgl. Leinfellner 1971, 89 ff.): In der denkwürdigen Tagung der DDR-Volkskammer am 13. November 1989 sagte der Vorsitzende des Ministerrates, Willi Stoph, u. a. den Satz: „Unsere Kompetenz war bekanntlich wesentlich eingeschränkt.“ Erst auf mehrmaliges Nachfragen war er bereit, diejenigen zu nennen, die solche Einschränkungen zu verantworten hatten: „Der Vorsitzende des Staatsrates und Generalsekretär des ZK der SED und der Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden, das Mitglied des Politbüros Mittag.“ Lexikalische Euphemismen sind entweder abstrahierend oder positivierend (vgl. dazu auch Reich 1973, 225 f.). Beim abstrahierenden Euphemismus handelt es sich um die spontane oder planmäßige Bezeichnung einer Sache durch einen abstrakteren Oberbegriff, in dem deren negativ bewertete Merkmale getilgt sind: Sonderbehandlu ng für ‘planmäßigen Völkermord’, Anschlu ß Österreichs für ‘Besetzung Österreichs’, pazifizieren bzw. befrieden (nach lat. pacare) für ‘mit militärischen Mitteln unterwerfen’, Gerät oder System für ‘Waffe’, Gebührenanpassung für ‘Gebührenerhöhung’, Aktion für ‘Angriff’ bzw. ‘militärischen Kampfeinsatz’ und neutralisieren für ‘töten’. Positivierend sind solche Euphemismen, in denen negative Merkmale der bezeichneten Sache getilgt und durch positive Assoziationen ersetzt sind: Was eigentlich eine Nuklearkatastrophe ist, wird zum Störfall heruntergespielt, indem das in Katastrophe enthaltene Merkmal ‘von unübersehbaren Ausmaßen’ durch das zu Störfall gehörige Merkmal ‘von zeitlich und lokal begrenztem Umfang’ substituiert wird. Bei den positivierenden Euphemismen handelt es sich zumeist um vorsätzlich zum Zwecke der Beschönigung gebildete Neuwörter: Protektorat für ‘besetztes Gebiet’, freisetzen für ‘entlassen’, Sondermüll für ‘umweltschädliche Abfälle’, Nu ll- oder Minu swachstu m für ‘Stagnation’ bzw. ‘Rezession’, ethnische Säu beru ng für ‘Vertreibung bzw. Ermordung von Angehörigen ethnischer Minderheiten’. Während abstrahierende Euphemismen synekdochisch sind, indem sie auf dem Ausweichen auf einen merkmalsärmeren Oberbegriff beruhen, können positivierende auf metonymische oder metaphorische Weise gebildet sein. Metonymisch sind sie, wenn innerhalb des betreffenden Frames ein Nebenaspekt über Gebühr hervorgehoben und etwa das Ablassen giftiger Chemikalien auf hoher See Verklappu ng genannt wird. Und sie sind metaphorisch, wenn eine verharmlosende Analogie gesetzt wird, wie sie etwa in Begriffen wie atomares Pu lverfaß oder Indu strie- bzw. Entsorgungspark zum Ausdruck kommt.
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In allen seinen Erscheinungsformen dient der politische Euphemismus der Rechtfertigung vor der Öffentlichkeit, aber auch der des Sprechers vor sich selbst. Er ist also einerseits ein strategisches Mittel der Überzeugungsarbeit, andererseits ein psychologischer Schutzwall, mit dem sich einer umgibt, der Schlimmes tut bzw. zu tun beabsichtigt oder schlechte Nachrichten mitzuteilen hat. Zugleich aber besteht die Gefahr, daß Euphemismen unter der Hand zu einer Behinderung des Denkens werden. Gelingt es nämlich, euphemistische Wörter und Wendungen in den allgemeinen Sprachgebrauch einzuführen und eventuell konkurrierende Zeichen zu verdrängen, gelingt es, die lexikalischen Beschönigungen im Wortschatz der einzelnen Sprecher als übliche Bezeichnungen zu verankern und (im Extremfall) selbst die Betroffenen dazu zu bringen, etwa vom Freigesetztbzw. Abgewickeltwerden oder vom Flugkörper (für ‘Rakete’), zu reden, dann hat sich der Euphemismus gleichsam als Schleier über unsere Wahrnehmung gelegt, und es wird selbst für den Erfinder der Beschönigung auf die Dauer schwierig, den bezeichneten Sachverhalt anders als in rosarotem Licht zu sehen. „Manche üble Tat wäre unterblieben“, schreibt Kainz (1972, 386 f.), „wenn die Sprache den Täter gezwungen hätte, ihr ins Gesicht zu sehen, indem sie ihm lediglich die unverblümte Direktbezeichnung zur Verfügung gestellt hätte, [...].“ Insofern sind Euphemismen nicht nur als Mittel der „gewollten Täuschung“ (Heringer 1990, 56 ), sondern auch als Elemente ungewollter Selbsttäuschung zu verstehen (vgl. dazu auch Dieckmann 1964, 108). Auch Euphemismen sind Anlaß sprachlicher Kämpfe und Sprachthematisierungen in der Politik, denn einerseits können sie zum Stigmawort des politischen Gegners avancieren (unerwünschter Nebenschaden, kollektiver Freizeitpark), andererseits hängt die Einstufung als Euphemismus nicht selten davon ab, aus welcher Perspektive man den denotierten Sachverhalt betrachtet (Pflicht u mta u sch vs. Zwangsumtausch). Und der „Vorwurf, die Sprache zur Tarnung politischer Ziele zu mißbrauchen, kann [...] selbst wieder ein propagandistisches Mittel sein“ (Dieckmann 196 4, 103). Wie Weidigs berühmte Ersetzung des Büchnerschen Stigmaworts die Reichen durch den weniger verbindlichen Begriff die Vornehmen im „Hessischen Landboten“ exemplarisch belegt, kann im Polizeistaat die Verwendung von Euphemismen auch dazu dienen, die Zensur zu umgehen oder das Provokationspotential eines Textes zu verringern.
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Je größer das Unheil desto zahlreicher die Beschönigungen. Insofern ist es nicht erstaunlich, daß gerade der Nazi-Terror die meisten und die übelsten Euphemismen hervorgebracht und mit Hilfe von Sprachlenkungs- und Zensurmaßnahmen öffentlich verbreitet hat (vgl. Leinfellner 1971, 155 f.). Unter dem Eindruck der nazistischen, aber auch der stalinistischen Sprache hat Orwell in 1984 den Euphemismus — unter der selber euphemistischen Bezeichnung rektifizieren — zum Prinzip der propagandistischen Lügenarbeit seines „Wahrheitsministeriums“ erhoben. Zwar hat der Euphemismus seinen eigentlichen Ort im „informativ-persuasiven“ und im „integrativen“ Sprachspiel, doch ist er in Zeiten des politischen Umbruchs, in denen wankende Herrscher die Sprechhandlungen ihrer Edikte und Verordnungen nur noch als Ratschläge oder Wünsche zu bezeichnen wagen (vgl. Dieckmann 196 4, 105), auch im „regulativen“ anzutreffen. 4.3. Rhetorische Figuren Wie in anderen Formen elaborierten öffentlichen Sprechens oder Schreibens begegnen auch in politischen Texten rhetorische Figuren aller Art. Ihr Sinn ist es, durch ihre Form oder durch zugrundeliegende Präsuppositionen zu betören. Nur auf diejenigen von ihnen, die für die Politiksprache, v. a. aber für die politische Rede besonders typisch sind, kann im folgenden eingegangen werden. Für umfassendere Darstellungen der politischen Verwendung rhetorischer Mittel sei auf die Arbeiten von Heiber (1953, 201 ff.), Sandow (196 2) und Pelster (196 6 , 94 ff.) verwiesen. Aus der Vielzahl der rhetorischen Figuren scheinen neun für die politische Rede — innerhalb wie außerhalb des Parlaments — besonders charakteristisch zu sein: rhetorische Frage, Paralipse, Parallelismus sowie Klimax, Chiasmus, Wiederholung, Anapher, Epipher und Clausula. Die rhetorische Frage (interrogatio), die in der politischen Rede von alters her besonders häufig ist, stellt eine als Frage formulierte Aussage dar, die das Gegenteil dessen behauptet, was durch die Frageproposition nahegelegt wurde, und nicht auf das Erhalten einer Antwort, sondern auf das Erwirken von Zustimmung gerichtet ist. Bei der rhetorischen Entscheidungsfrage wird — auf indirekte Weise — die Negation des ganzen Satzsinns, bei der rhetorischen Ergänzungsfrage die Nichtbesetztheit der durch das Fragepronomen gekennzeichneten bzw. präsupponierten Kategorie suggeriert. „Kann man es insbesondere eigentlich unseren jüngeren Mitbürgern verdenken, die von Politi-
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kern Charakter, Geradlinigkeit, Glaubwürdigkeit verlangen, wenn sie sich angewidert abwenden?“ fragte der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Barzel, in der „Wende-Debatte“ von 1982 und meinte: ‘nein, man kann es nicht’. „Was unterscheidet hier noch die Theorie und Praxis Adenauers von der uns allen bekannten Linie der Strangulierung der Parteien, wie sie im Hitler-Faschismus üblich gewesen ist?“ fragte DDR-Ministerpräsident Grotewohl Anfang der 50er Jahre in der Volkskammer und meinte: ‘ihn unterscheidet nichts’. Wenn eine rhetorische Frage vom Redner selbst beantwortet wird, liegt die rhetorische Figur der Subiectio vor. So sagte beispielsweise Giskra aus Mährisch=Trübau in der Paulskirche („Posen-Debatte“): „Aber ist es möglich, auch jetzt schon Polen herzustellen? Ist Polen reif dafür? Will Polen es selbst in diesem Augenblicke schon? (Stimmen auf der Linken: Ja!) Ich sage nein, meine Herren; es ist nicht reif dafür und das ganze Volk will es nicht“ (PK 2/1203).
Allerdings ist es taktisch unklug, eine rhetorische Frage (wie im Beispiel) so zu stellen, daß sie vom politischen Gegner per Zwischenruf in der Intention des Redners zuwiderlaufendem Sinne beantwortet und dadurch öffentlichkeitswirksam auf den Redner zurückgewendet werden kann. Die rhetorische Frage muß von der Suggestivfrage geschieden werden (vgl. Burkhardt 1988), die Antwortpräferenzen oder -erwartungen des Sprechers präsupponiert, wie etwa der Ausruf „Wollen Sie die, die in Baden die Waffen ergriffen haben, zurücksetzen gegen einen Prinzen von Preußen?“, mit der der Abgeordnete Brentano am 7. 8. 1848 die monarchistische Rechte der Paulskirche bis zu Forderungen zu Pistolenduellen provozierte. Eine besonders trickreiche rhetorische Figur stellt die Paralipse oder Präteritio dar. Sie besteht darin, daß der Sprecher die Aufmerksamkeit des Publikums auf den von ihm dargestellten Sachverhalt dadurch zu erhöhen trachtet, daß er paradoxerweise ausdrücklich abstreitet, das sagen zu wollen, was er dann doch mehr oder weniger ausführlich mitteilt (vgl. Heiber 1953, 305 f.). So sagte etwa am 14. Juni 1848 der Abgeordnete Heckscher als Berichterstatter „über die schleswig=holstein’sche Sache“ in der Paulskirche: „Nun folgten die Kriegsereignisse, die Sie kennen, und zwar zuerst die glückliche Einnahme von Rendsburg; doch will ich nicht weiter hiervon sprechen, da Ihnen diese Dinge ebenso gut oder besser bekannt sind, als mir. Ich schweige selbst von der glorreichen Eroberung des Danewirke, wo die preußischen Truppen sich unverwelkliche Lorbeeren pflückten.“
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Der Parallelismus, d. h. die syntaktisch gleichartige Formulierung benachbarter Sätze erscheint in der politischen Rede zumeist in der Form der Anapher; so z. B. in Barzels Rede in der „Wende-Debatte“ von 1982: „Man hat aus Ihren eigenen Reihen, Herr Bundeskanzler, Ihre Energiepolitik verhindert, [...]. Man hinderte Sie, eine dem Jahreswirtschaftsbericht entsprechende Wirtschaftspolitik zu machen, [...]. Man kündigte Koalitionsabreden zum Haushalt auf. Man streichelte die sogenannte Friedensbewegung, [...]“.
Die Klimax läßt sich als effektvoll steigernde Aufzählung von Wörtern, Satzteilen oder ganzen Sätzen bestimmen. Die Steigerung entsteht durch schrittweise Erhöhung der konnotativen Wucht der aufgezählten Elemente: „Die Gestalten vieler edelster Männer, die durch die Kirche [...] zurückgesetzt, verfolgt, geächtet, zugrunde gerichtet, gefangen gehalten oder zu Tode gemartet wurden [...]“, sagte z. B. der Abgeordnete Zimmermann vor der Frankfurter Nationalversammlung. Daß sich Klimax und Parallelismus verbinden können, zeigt folgende Passage aus der Rede, die der Koblenzer Abgeordnete Werner am 27. Mai 1848 (Beratung über den „Raveauxschen Antrag“) ebenfalls in der Paulskirche gehalten hat. „Wir wollen ein schönes und festes Band der deutschen Einheit, kein Flickwerk von 38 Stücken, die nach und nach zusammengetragen werden! Wir haben keine österreichische, keine preußische, keine bayerische, keine lichtensteinische Nation. (Bravo!) wir haben eine deutsche Nation. (Stürmisches Bravo!)“.
Ein Chiasmus entsteht durch Nebeneinanderstellung zweier Sätze, in denen zwar jeweils dieselben beiden Wörter bzw. Wortstämme (oder sie vertretende Pronomina) erscheinen, deren syntaktische Funktionen jedoch wechselseitig ausgetauscht sind; ein Beispiel ist Brandts Formulierung: „Das Volk ist nicht für die Parteien und für die Parlamente da. Wir haben für das Volk dazusein“ aus der „Wende-Debatte“. Die Wiederholung ist das nochmalige Aussprechen des Kernwortes oder der Kernaussage eines Satzes, sei es zur Hervorhebung bzw. Bekräftigung des Gesagten, sei es zur Beanspruchung des Rederechts bei anschwellendem Lärm und Zwischenrufen: „Die Verfassung, die Verfassung und nichts als die Verfassung“ formulierte (mit ironisierender Absicht) Vogt am 24. April 1849 in der Paulskirche. „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Ich wiederhole: „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort [...]“, sagte 1987 der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Barschel vor laufenden Fernsehkameras — wenige Tage, bevor nachgewiesen wurde, daß er seinen
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Gegenspieler Engholm doch hatte bespitzeln lassen. „Je klarer die moralische Legitimation einer Regierung —“, sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in der „Wende-Debatte“, bevor er durch „Zurufe von der CDU/CSU“ unterbrochen wurde, und fuhr im Redetext erst nach Wiederholung der übertönten Äußerung fort: „Je klarer ihre moralische Legitimation, desto größer ihre Fähigkeit, auch in kritischen Situationen die Bürger innerlich für die Regierungshandlungen aufzuschließen und zu gewinnen.“ Die Anapher ist die effektvolle Wiederholung derselben Wörter oder syntaktischen Strukturen am Anfang aufeinanderfolgender Sätze bzw. Verse; die Epipher die Benutzung gleichlautender Formulierungen an benachbarten Satz- bzw. Versenden. Mit Hilfe von Anaphern (in ironischem Kontext) verwahrte sich Schmerling in der Paulskirche wirkungsvoll gegen den Vorwurf, nur das Gespenst der Anarchie zu bekämpfen:
endet, lautet die Clausula im von der Fraktionsdisziplin beherrschten „Arbeitsparlament“ immer häufiger: „Die Fraktion X stimmt dem Antrag Y zu“ oder „Wir lehnen den Antrag Y ab.“ Insgesamt scheint die These begründet, daß der Gebrauch rhetorischer Mittel innerhalb wie außerhalb der Parlamente abgenommen hat. Eine derartige Entwicklung könnte sowohl auf die abschreckende Nachwirkung der Nazi-Propaganda als auch auf die Entwertung des Plenums im „Arbeitsparlamentarismus“ zurückgeführt werden. Weil sich in einer solchen Veränderung aber nicht nur das äußere Kennzeichen sprachstilistischer Verflachung, sondern auch eine Tendenz zur Versachlichung sehen läßt, muß man diese Entwicklung nicht zwangsläufig bedauern.
“Wahrlich ein Gespenst, welches gedroht hat, in Frankfurt die Türen dieses Hauses zu erstürmen und in demselben uns zu erschlagen; wahrlich ein Gespenst, welches zwei ehrenwerte Glieder unseres Hauses meuchlings gemordet und andere zu Tode verfolgt hat; wahrlich, meine Herren, ein Gespenst, welches in das badische Oberland den Einfall des Struve herbeigeführt hat [...], wahrlich ein Gespenst, welches in Thüringen jetzt reichliche Brandschatzungen hervorgerufen hat“ [Hervorhebungen vom Verf.].
Obwohl auch und gerade die Formen institutionellen Sprechhandelns und die Textsorten der Politik historischen Veränderungen unterworfen sind, die sich epochal bedingten Stilpräferenzen und dem Wechsel oder internen Wandel politischer Systeme verdanken, ist die politische Sprachpragmatik bis dato ein relativ wenig erforschtes Gebiet geblieben.
Eine bekannte Epipher, die Shakespeares „Brutus ist ein ehrenwerter Mann“ anklingen läßt, verwandte Jordan in seiner Rede vom 17. Juni 1848: „Die Ereignisse thürmen und überstürzen sich lavinenhaft u nd wir — wir halten Feiertage. [...] Eine deutsche Stadt, eine wichtige Seestadt im Süden, ist bedroht von einer feindlichen Flotte, und in diesem Augenblick steht sie vielleicht in Flammen, u nd wir? — wir halten Feiertage! In Prag gestatten wir es, daß ein Slaven=Congreß uns alle möglichen Keckheiten an den Kopf wirft, und warten ab, bis er alles Mögliche gethan haben wird, was ihm beliebt, und dann auseinander geht; denn das geht uns ja nichts an: wir halten Ferien! — In einer nordischen Hauptstadt klopft die Revolution zum zweiten Male an die Pforte. [...] In diesem Augenblick ist dort wirklich schon Blut geflossen; aber das geht uns nichts an, das kümmert uns nicht, wir — halten Ferien!“ [Hervorhebungen vom Verf.].
Die Clausula ist der effektheischende bzw. appellative Schlußsatz einer Rede. Während im weitgehend persuasiv argumentierenden „Diskussionsparlament“ Paulskirche die typische Rede mit einem Appell wie „Treten Sie unserem Antrag bei“, „Ich beschwöre Sie, meine Herren, werfen Sie die Brandfackel des Bürgerkrieges nicht in unser deutsches Vaterland!“ (Moritz Mohl) oder mit einer Sentenz bzw. einem Zitat
5.
Politische Pragmatik
5.1. Politisches Sprechhandeln „Politische Geschichte, die Geschichte politischer Institutionen und politischen Handelns ist untrennbar verbunden mit der Geschichte des regulativen Sprachspiels.“ (Grünert 1984, 32) Sie ist aber zugleich auch die Geschichte der anderen vier Sprachspieltypen, insbesondere des „informativ-persuasiven“. Aufs Ganze gesehen werden in der Sphäre der Politik natürlich alle möglichen Sprechhandlungen vollzogen oder anders gesagt: Politische Äußerungen werden sprachlich und kontextuell so arrangiert, daß sie jeweils im Sinne bestimmter Sprechaktbezeichnungen verstanden werden können (vgl. dazu Burkhardt 1986 ). Wie im normalen Leben wird auch in der Politik auf mündlichem wie auf schriftlichem Wege mitgeteilt, behauptet, gefragt, gebeten, befohlen, gedankt, vorgeschlagen, ein Vorwurf erhoben, sich entschuldigt, gewarnt, gedroht, angekündigt, versprochen oder sogar sein Ehrenwort gegeben. Wie immer kann dies mit Hilfe sprechaktbezeichnender Ausdrücke wie z. B. „Ich frage Sie [...]“, „Ich danke Ihnen“, „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort“ (vgl. dazu Heringer 1990, 188 ff.) oder durch Präsuppositionen und Implikaturen indirekt nahegelegt werden. Insofern könnte eine Beschäf-
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tigung mit der Geschichte politischen Sprechhandelns auf den ersten Blick uninteressant erscheinen. Als „Sprache in der Politik“ spielt sich politische Kommunikation jedoch zu einem Großteil innerhalb von Institutionen ab und bringt dort eigene Sprechhandlungsformen hervor: eine Sitzung eröffnen oder schließen, einen Antrag oder eine Zwischenfrage stellen, zur Abstimmung stellen, das Abstimmungsergebnis feststellen, ein Gesetz verabschieden oder erlassen, verkünden oder in Kraft setzen. Wie sich die Institutionen im Wandel der Staatsformen verändern können, so sind aber auch die Sprechhandlungstypen letztlich abhängig von der politischen Praxis des jeweiligen Systems, das sie hervorgebracht hat. Der zweite Blick offenbart daher, daß politisches Sprechhandeln v. a. innerhalb des „regulativen“ und des „instrumentalen/ begehrenden“ Sprachspiels durchaus seine spezifischen historischen Wandlungen durchlaufen hat. Weil sie neben einer genauen Kenntnis historischer Tatsachen und Zusammenhänge noch die Vertrautheit mit je systemabhängigen Entscheidungsprozessen und Verfahrenstechniken innerhalb politischer Institutionen erfordert, stellt sich die Beschreibung des politischen Sprechhandelns früherer Epochen noch schwieriger dar als die historisch-semantische Analyse politischer Bedeutungen. Eine der wenigen genuin sprachhistorischen Studien zum politischen Sprechhandeln, die bisher vorliegen, stammt von Walther Dieckmann (1989) und ist dem pragmatischen Wandel der explizit-performativen Formeln in preußischen Erlassen des 19. Jahrhunderts und insofern dem „regulativen“ Sprachspiel gewidmet. Indem die Interpretation solcher Sprechhandlungen vom historisch-politischen Kontext und der jeweiligen Organisationsstruktur politischer Systeme und Institutionen abhängig ist, aber zu politischen Sprechhandlungstypen Begriffsbestimmungen oder gar Sprachthematisierungen aus der jeweiligen Zeit nur selten zu finden sind, ergeben sich hermeneutische Probleme, in deren Gefolge sich das Ausgehen vom gegenwartssprachlichen Sprechhandlungsmuster zwangsläufig als untaugliche Methode erweist. So bringen die von Dieckmann als Materialgrundlage gewählten „Erlasse“ aus dem 19. Jahrhundert „sowohl die Vorstellung ins Wanken, das formale Auftreten einer der Typen explizit-performativer Formeln habe in der Regel auch deren Funktion, als auch die Hoffnung, man könne die Abweichung vom normalen Gebrauch aus dem Äußerungsakt selbst erschließen und auf diese Weise dann doch den Handlungscharakter der Äußerung verstehen. Es scheinen entweder andere Regeln zugrunde zu liegen als die, die die Litera-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
tur bisher ausformuliert hat, oder der Gebrauch muß tatsächlich in hohem Grade als abweichend gekennzeichnet sein“ (1989, 178).
Zunächst einmal erweist sich die sprechakttheoretische Orientierung an der mündlichen Kommunikation bei der handlungspragmatischen Analyse historischer Texte insofern als Nachteil, als diese zur geschriebenen Kommunikation gehören, in der Kundgabe- und Äußerungsakt zeitlich in der Regel auseinanderklaffen, so daß Schreibakt und Handlungsvollzug nicht in der von den Sprechakttheoretikern postulierten indem-Relation zueinander stehen können. Im Falle von Erlassen ist daher zwischen Schreibakt, Veröffentlichung und Inkrafttreten zu unterscheiden, die in der Regel in zeitlicher Versetzung nacheinander erfolgen. Darüber hinaus sind in der Regel „Produkte institutionellen Handelns [...] heute und weithin schon im 19. Jahrhundert Resultanten mehrerer Handlungen verschiedener Personen zu verschiedenen Zeitpunkten, von denen meist keine für sich allein die Kraft hat, die Obligationen zu bewirken, die mit dem jeweiligen Handlungsprodukt verbunden sind“ (ebd., 182). Die Folge ist, daß sich auch explizit-performative Sprechhandlungen zu einem Handlungsprozeß zerdehnen, „in dem verschiedene Einzelhandlungen sukzessive dazu beitragen, daß die fragliche Endhandlung zustande kommt“ (ebd.). Daher geht auch schon in vorkonstitutioneller Zeit erst aus dem Zusammenspiel einer als „Erlaß“, „Ordre“ oder „Rescript“ bezeichneten Handlung des Königs, der Gegenzeichnung des Ministers und der Veröffentlichung in der Gesetzessammlung und/oder dem Amtsblatt die intendierte Sprechhandlung hervor. Am Beispiel preußischer Erlasse kann Dieckmann die Systemabhängigkeit politischinstitutioneller Sprechhandlungskonzepte zeigen: Während etwa ein Reichsgraf der absolutistischen Epoche per Verordnung „aus eigener Machtvollkommenheit neue Handlungsbedingungen für seine Untertanen setzen konnte und in seiner Befehlsgewalt keinerlei Einschränkungen unterlag“ (ebd., 183) und im Rahmen des demokratisch verfaßten Staates erst verschiedene aufeinander bezogene Handlungen unterschiedlicher Personen, Gremien und Institutionen vollzogen werden müssen, bevor ein direktiver Text oder eine deklarative Sprechhandlung zustande kommt, ist die Übergangszeit der konstitutionellen Monarchie, besonders aber die Zeit der 48er Revolution, durch einen Machtkampf zwischen alter und neuer Herrschaft gekennzeichnet, der sich auch in der Sprachgebung der Erlasse und Gesetzesverkündigungen widerspiegelt: Zum einen werden trotz Zwischen-
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schaltung parlamentarischer, ministerieller und regierungsamtlicher Entscheidungsprozesse die alten symbolischen Verkündigungsformeln (Wir, Wilhelm, ... verordnen hiermit ...) weitgehend beibehalten, zum andern wird die Deutung des seit Anfang des 19. Jhs. in Preußen gültigen Prinzips der Kontrasignatur im Sinne einer parlamentarischen Verantwortlichkeit des kontrasignierenden Ministers gegenüber der Volksvertretung vom König unterlaufen, indem dieser Erlasse etwa von Mitgliedern der königlichen Familie und Ernennungen vom Ernannten gegenzeichnen ließ und so auch symbolisch auf dem Verständnis der Kontrasignatur als bloße Beglaubigung königlicher Akte insistierte. Auch wenn sie sich mindestens zum Teil in persuasiver Absicht an die Öffentlichkeit richtet, ist zur institutionellen Kommunikation der Politik auch die parlamentarische Sprache zu rechnen. Hier erscheinen einerseits Sprechhandlungen der allgemein verfügbaren Typen, allerdings in von der Alltagssprache abweichender Gewichtung und Verteilung. Andererseits hat der deutsche Parlamentarismus, nach englischem, französischem und belgischem Vorbild, seit der 48er Revolution eine Reihe institutioneller, v. a. gesprächsorganisatorischer Sprechakttypen und Verfahrensmuster hervorgebracht, die z. T. in den Geschäftsordnungen kodifiziert sind und ihrerseits vorbildhaft auf die Arbeitsweise anderer Gremien eingewirkt haben (vgl. dazu Holly 1982, 13 f.). Es handelt sich dabei größtenteils um Sprechakte des Präsidiums, die Burkhardt (1997) unterscheidet in: (a) debattenkonstitutive Sprechhandlungen: Eröffnen und Schließen der Sitzung, Aufrufen und Verlesen der Tagesordnung, Unterbrechung oder Aufhebung der Sitzung, Verkündigung des nächsten Sitzungstages, Bekanntgabe der Tagesordnung der nächsten Sitzung (b) debattenstrukturierende Sprechhandlungen: Eröffnen und Schließen der Debatte zu einem Tagesordnungspunkt, Fragestellung, Frage, ob das Wort gewünscht wird, Feststellen eines Abstimmungsergebnisses (c) debattenorganisierende Moderationen: Bitte um Ruhe, Erteilen des Wortes, Frage nach Gestatten einer Zwischen- oder Zusatzfrage, Abgabe einer Erklärung des Präsidiums (d) autoritative Maßnahmen Ordnungsruf, Rüge, Sachruf, Entziehen des Wortes, Ausschließung von der Sitzung, Aufforderung zur Räumung der Tribüne.
Die meisten dieser Sprechakte sind „deklarativ“, d. h. schaffen zugleich den Tatbestand, den sie sprachlich zum Ausdruck bringen. Gerade die recht chaotisch verlaufene Eröffnungssitzung
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der Paulskirche (vgl. dazu Holly 1982, 20 ff.; Burkhardt 1997, 16 ff.) zeigt, wie wichtig die Verfügbarkeit solcher Sprechakte und an diese gebundener Verfahrensregeln für größere Gremien ist, denn nur die klare Unterscheidung zwischen ANTRÄGEN ZUR SACHE und GESCHÄFTSORDNUNGSANTRÄGEN, die Einhaltung der „Abfolge von ANTRAG, ERÖFFNUNG DER DEBATTE, DEBATTE, FESTSTELLUNG von SCHLUSS DER DEBATTE (eventuell nach vorausgegangenem ANTRAG AUF SCHLUSS DER DEBATTE, der angenommen sein muß), FRAGESTELLUNG, ABSTIMMUNG und FESTSTELLUNG DES ABSTIMMUNGSERGEBNISSES“ (Holly 1982, 27), unter Kenntlichmachung der einzelnen Schritte durch die Präsidenten, garantiert einen verfahrenstechnisch einwandfreien Ablauf der Verhandlung. Ein Redner kann im Prinzip alle denkbaren Arten von Sprechhandlungen vollziehen, obwohl man erwarten kann, daß in seinem Text ASSERTIVA und DIREKTIVA dominieren. Ihm stehen jedoch auch einige (in der Regel mündlich vorzutragende) DEKLARATIVA zu Gebote, von denen die ABGABE EINER ERKLÄRUNG und das STELLEN EINES ANTRAGS für die Institution Parlament besonders charakteristisch sind. Auch diese Muster haben sich historisch herausgebildet und verändert. So konnte Holly (1982, 27) zeigen, daß „die Ausdrücke antragen auf und Antrag in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus noch außerhalb institutioneller Kontexte ungefähr wie vorgeschlagen und Vorschlag gebraucht werden konnten“, ehe sich im Gefolge parlamentarischer Arbeit für das Verb die Form beantragen durchsetzte und, gemeinsam mit dem zugehörigen Substantiv Antrag, die heute übliche Bedeutung entwickelte. Auf der anderen Seite hat der verfahrenstechnische Stellenwert gerade der institutionellen Sprechhandlungen der Redner im Zuge des Wandels vom „Diskussions-“ zum „Arbeits-“ bzw. „Schaufensterparlament“ (vgl. Burkhardt 1992, 156 ff.; 1997, 5 ff.) deutlich abgenommen, denn wenn die Plenarsitzung nur noch eine Dokumentationsfunktion hat und durch Absprachen in den Fraktionen, in den Ausschüssen und im Ältestenrat sowie interfraktionelle Besprechungen alle wesentlichen Fragen bereits vorab geklärt und der Sitzungsablauf vorgeplant ist, sind auch ANTRAGSTELLUNG und ERKLÄRUNG im Plenum zumeist nur noch Zugeständnisse an die institutionell gebotene Form und keine individuellen Sprechhandlungen mehr. Während der Redner Raum für Ausführungen hat, sind die kommunikativen Handlungen
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derjenigen, die das offizielle Rederecht nicht besitzen, notgedrungen kurz und entweder verbal: (a) Zwischenruf (b) Zwischenfrage
oder außersprachlich: (c) Zwischensymptome (Zustimmung, Heiterkeit, Lachen, Widerspruch, Beifall, früher auch Zischen bzw. Murren, Pultdeckelklappen, Verlassen des Sitzungssaales usw.) (d) Abstimmungszeichen (Handzeichen, Aufstehen, Sitzenbleiben).
Diese Zeichen haben ebenfalls ihre Geschichte und unterliegen der historischen Veränderung. Das Pultdeckelklappen, um die Jahrhundertwende von den Abgeordneten des österreichischen Reichsrats zu stundenlanger Störung der Sitzung eingesetzt, war noch im Bundestag der 50er Jahre eine häufig praktizierte Form der Mißfallenskundgebung, die erst mit dem Einbau einer neuen Bestuhlung verschwand. Früher übliches Zischen ist inzwischen aus der Mode gekommen. Nach anfänglich ernsthaft interrogativer Verwendung hat die 1953 mit dem Ziel der Belebung der Debatten eingeführte ZWISCHENFRAGE zwar im Laufe der Zeit zahlreiche Mustervarianten ausgeprägt, ist aber zugleich mehr und mehr zum Mittel der Provokation, Ridikülisierung und Selbstdarstellung herabgekommen (vgl. Burkhardt 1995, 81 ff.; 1998). Auch der Zwischenruf hat vielfältige syntaktische Formen entwickelt und kann zum Vollzug einer Vielzahl unterschiedlicher Sprechhandlungen eingesetzt werden. Die Untersuchung seiner Geschichte hat seit den Tagen der Paulskirchenversammlung einen deutlichen Rollenwandel ergeben: Diente er anfänglich fast ausschließlich der Bekundung von ZUSTIMMUNG oder ABLEHNUNG, liegt seine Aufgabe heute vor allem darin, auf (vermeintlich) vergessene oder unberücksichtigt gebliebene Argumente hinzuweisen. Solche MEMORANDA werden überaus häufig von IRONIE und SPOTT überlagert. Während ZUSTIMMUNG und ABLEHNUNG — bei gleichzeitigem radikalen Anstieg der Zwischenrufquantität und -durchschnittslänge immer geringeren Raum einnehmen, dominieren heute — neben dem echten HINWEIS auf (Gegen-)Argumente vor allem solche Formen, die der RIDIKÜLISIERUNG des Redners dienen. Im „Diskussionsparlament“ kaum vorhandene EVALUATIVA wie VORWURF oder ABQUALIFIKATION (der Person bzw. des Inhalts) beanspruchen im „Arbeits-“ bzw. „Schaufensterparlament“ immer breiteren Raum, auch wenn sie
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
sich dabei — infolge des abnehmenden Gewichtes der Plenardebatte — zumeist moderaterer Formen bedienen. Weil im „Schaufensterparlamentarismus“ die Plenarreden immer weniger dazu dienen, Abgeordnete anderer Fraktionen zu überzeugen, sondern immer deutlicher darauf angelegt sind, die eigene Position zu verteidigen und den politischen Gegner vor den Augen der Nation zu diskreditieren, ist der Zwischenruf nach und nach sowohl in Länge als auch in Variabilität, Leistung und Frequenz immer mehr zu einem — wenngleich ein wenig hilflosen — Stör- und Abwehrinstrument des andersdenkenden Zuhörers ausgebaut worden (vgl. zu alledem Burkhardt 1993, 168 ff.; 1998). Vergleichbare Entwertungen können unter den politischen Bedingungen des jeweiligen Systems bzw. Systemzustands auch andere, nichtinstitutionelle Sprechakttypen durchlaufen, so z. B. das Versprechen, wenn es als Wahlversprechen erscheint. Dann handelt es sich nämlich um Versprechen, von denen jeder weiß (bzw. wissen sollte), daß sie strenggenommen keine sind (vgl. dazu Dieckmann 1981, 278; Heringer 1995, 95 f.), weil in ihnen die versprechenstypische „Glückensbedingung“: daß der Sprecher auch in der Lage ist, den Versprechensinhalt zu verwirklichen, nur selten erfüllt zu sein scheint: Selbst wenn der Wahlkämpfer im Augenblick seines Versprechens den Willen, die eingegangene Verpflichtung zu erfüllen, und den Glauben, das Versprochene später tun zu können, gehabt haben mag, kann er sich nach der Wahl angesichts sich verändernder politischer Lagen bequem auf die Position zurückziehen, daß ihn — trotz guter Absicht — geänderte Bedingungen an der Verwirklichung des Versprochenen gehindert hätten. Der moralische Standard eines politischen Systems läßt sich jedoch am Grad der Glaubwürdigkeit ablesen, den das Volk den Versprechungen seiner Politiker zumißt. 5.2. Politische Textsorten und -stile „Immer muß geredet/geschrieben werden, wenn politisch gehandelt wird, gehandelt werden soll“, schreibt Grünert (1984, 29). „Allerdings unterscheiden sich die Herrschaftssysteme in Gegenwart und Vergangenheit voneinander in ihren Formen und Inhalten, in ihren Zielen und Methoden. Sie unterscheiden sich damit auch in ihren kommunikativen Stilen, d. h. in der Art und Weise, wie sie kommunikative Prozesse ermöglichen.“ Schon Dieckmanns Analyse der Sprechhandlungen in historischen Texten aus dem Bereich des „regulativen“ Sprachspiels ließ (neben der typischen Erlaßstruktur: direktive Überschrift, Angabe des Urhebers, Gegenstand und
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Inhalt der Verordnung, ggf. Hinweis auf Sanktionen, Inkrafttreten, ggf. Übergangsbestimmungen sowie Signatur und Kontrasignatur) zugleich einen Wandel des Textsortenstils erkennen: vom imperialen Gestus zur unpersönlichen Verwaltungssprache, von der persönlichen zur durch institutionelle Verfahren erzeugten Direktive. Am Beispiel der „Markt=Ordnung der Stadt Braunschweig de dato Braunschweig, den 29. September 176 3“ und des „Erneuerten Reglements die Portechaisen=Anstalt in der Stadt Braunschweig betreffend d. d. Braunschweig, den 1. Juli 1784“ haben Cherubim/Objartel/Schikorsky (1987, 148 ff.) den Schematisierungsgrad solcher „regulativer“ Texte erläutert und Textsortenmerkmale wie Häufung von Modalverbkonstruktionen, logisch gliedernden Konjunktionen und präskriptiven Feststellungen zusammengetragen, die nicht nur der „Effektivierung“ dienen, sondern in Verbindung mit der zeittypischen Verwendung appellativer Adverbien wie gnädigst, u nterthänigst, gebührend oder pünktlich sowie jargonhafter Abkürzungen (resp., betr., d. d.) auf die politische Autorität der anordnenden Behörde verweisen. Unter Berücksichtigung der verwendeten Kommunikationsmedien und -bedingungen, des jeweiligen Sprecher- und Adressatentyps sowie unter Rekurs auf charakteristische Ein- und Ausleitungsformeln, Textstrukturen, Sprechhandlungsmuster und Stilgebungen lassen sich also Textsortenmerkmale zusammenstellen und in den diachronischen Vergleich setzen. Wie das „regulative“ hat daher auch jedes der drei übrigen von Grünert unterschiedenen Sprachspiele — in Abhängigkeit von den politischen Gegebenheiten und den epochal verfügbaren technischen Medien — die für es charakteristischen Textsorten und Textsortenstile hervorgebracht: das „informativ-persuasive“ u. a. Flugschrift, Zeitungskommentar, Statement, Interview, Fernsehdiskussion, Parlamentsrede bzw. -debatte, das „integrative“ z. B. Parteiprogramm, Parteitagsrede, Parteizeitung und Rundbrief, das „instrumentale/begehrende“ Petition, Eingabe, Antrag, Volksbegehren u. dgl. Abgesehen von den Flugschriften der Zeit der Bauernkriege (vgl. Diekmannshenke 1994 und die dort angegebene Literatur) sind unter texttypologischen Gesichtspunkten bisher nur Bittschreiben und Parlamentskommunikation historiolinguistisch genauer beschrieben worden. Bei schriftlichen Bitten, die dem „instrumentalen/begehrenden“ Sprachspiel angehören und an einzelne politische Repräsentanten oder staatliche bzw. kommunale Institutionen gerichtet sind, ist zwischen solchen mit und solchen ohne
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Vermutung eines einklagbaren Rechtsanspruchs zu unterscheiden (vgl. Cherubim/Objartel/Schikorsky 1987, 153). Im ersteren Falle handelt es sich um Anträge, Ein- oder Widersprüche, im letzteren um Gesuche oder Petitionen (bei Eingaben oder Beschwerden sind im Prinzip beide Konstellationen möglich). Während es beim Verfassen von Texten der ersten Kategorie lediglich darauf ankommt nachzuweisen oder zu belegen, daß der konkrete Einzelfall den gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien genügt, beruht die Wirksamkeit von Texten der zweiten Gruppe „im wesentlichen auf der Überzeugungskraft verbaler und formaler Gestaltungsmittel“ (ebd.). Gesuche sind daher „um so bedeutsamer, je geringer der gesetzmäßig abgesicherte Organisationsgrad eines Staatswesens ist“ (ebd.). Im Rahmen ihrer Studie zu institutionsbezogenen Texten des 19. Jhs. haben Cherubim/Objartel/Schikorsky besonders den Huldigungsaufwand herausgearbeitet, der in absolutistischer Zeit beim Schreiben von Bittbriefen betrieben werden mußte und sich nicht allein auf die Titulatur („Hochverehrlicher Magistrat“) und den Schluß („Mit ganz vorzüglicher Hochachtung verharre ich in Unterthänigkeit gehorsamst“) erstreckte, sondern auch in der Textmitte durch Einfügung veralteter Fremdwörter (Su pplicant, proponiren) und anderer behördenstilistischer Archaismen (dahier, hiesig) sowie von Devotionsformeln (gehorsamer Bittsteller, seines u nterthänigsten Dafürhaltens) zu beachten war. Im Gefolge politischer Entwicklungen macht die Textsorte Bittgesuch im Laufe des 19. Jhs. deutliche stilistische Veränderungen durch: von der persönlichen Anrede des Landesherrn oder seiner Beamten zur Adressierung an die Behörde, von der narrativen zur knappen, sachbezogenen Darstellungsweise, vom „rückwärtsgewandten Untertanen-“ zum „vorwärtsgewandten Bürgergeist“ (ebd., 16 0). Waren die dem Standesdenken des 18. Jhs. entstammenden Titulaturen für weltliche Behörden (z. B. Hoch, Hochpreislich, Hochverordnet für Königliche; Hochlöblich für Provinzial- und Wohllöblich für Ortsbehörden) schon im frühen 19. Jh. immer weniger als Ausdruck von Unterwürfigkeit verstanden, sondern eher als Textsortenspielregeln gehandhabt worden, so wurden sie 1848 in Preußen und Sachsen offiziell abgeschafft. Demokratische Bestrebungen der jüngeren Geschichte haben dazu geführt, daß sich diese emanzipatorische Tendenz zur Entförmlichung der Kommunikation zwischen Bürger und Staat bis in die Gegenwart fortgesetzt hat. Angesichts immer wieder diagnostizierter Kommunikationsprobleme zwischen Ost und West dürfte sich dennoch gerade nach der Vereinigung der
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beiden deutschen Staaten mit ihrer unterschiedlichen politischen Geschichte die vergleichende synchrone wie diachrone Untersuchung von Texten des „instrumentalen/begehrenden“ Sprachspiels lohnen. „Für das integrative Sprachspiel gilt die Formel: Ich und du, wir beide gehören zusammen“ (Grünert 1984, 34). Das „informativ-persuasive“ in seiner parlamentarischen Spielart folgt dagegen der Formel: Wir und ihr von den anderen Parteien sind Gegner, aber wir und ihr zuhörenden Bürger gehören zusammen. Auch der Parlamentarismus hat neue Text- bzw. Dialogsorten hervorgebracht (neben der Debatte selbst z. B. Fragestunde, Aktuelle Stunde, Große Anfrage, Persönliche Erklärung, Zwischenfrage, Kurzintervention), die im Laufe der Zeit ihrerseits Stilveränderungen durchlaufen haben. Um aber diesen Wandel beschreiben zu können, wären zunächst präzisere Textsortenkriterien nötig, als sie die Forschung bisher hervorgebracht hat: Simmler (1978) gelingt es nicht, die von ihm unterschiedenen „Redesorten“ des Deutschen Bundestages: Kanzler-, Minister-, Fraktionssprecher- und Abgeordnetenrede typologisch überzeugend voneinander abzugrenzen. Elaborierter ist Tillmanns (1989) Versuch, die politischen Textsorten auf der Basis einer Taxonomie unterschiedlicher Handlungsziele und -bedingungen sowie typischer Sprecher-Adressaten-Konstellationen zu klassifizieren. Auch hier scheinen Unterscheidungen wie die zwischen „Kanzler-“, „Minister-“ und „Abgeordnetenrede“ (zudem differenziert nach Regierungs- bzw. Oppositionspartei) jedoch übertrieben und dürften für historische Studien wenig ergiebig sein. Erst wenn man, mit Strauß (1986 ), „kommunikative Verfahren“, d. h. übergeordnete Sprechhandlungsmuster, „Sprachspiele“ (als konventionelle soziale Kommunikations- und Handlungskonstellationen) und den „pragmatischen Textgehalt“, d. h. die charakteristischen Textfunktionen, zur Arbeitsgrundlage macht und dabei zugleich mediale Aspekte, Stilnormen und Sprecher-Adressaten-Bezüge bedenkt, kann eine überzeugende synchronische Typologie politischer Textsorten entstehen, die sich beim diachronischen Vergleich auch auf historische Textvorkommen abbilden ließe. Insofern dürfte bei der Bearbeitung textsortengeschichtlicher Fragestellungen das Ausgehen von Textsortenmustern am erfolgversprechendsten sein. Kilian (1997), der bei seiner Analyse des Grundrechte-Diskurses im Parlamentarischen Rat ein solches Verfahren anwendet, gelingt es, aus dem in dieser Hinsicht traditionell recht unspezifischen parlamentarischen Sprachgebrauch fünf prototypische parlaments-
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typische Dialogsorten herauszufiltern, nämlich Debatte, Diskussion, Aussprache, Beratung und interfraktionelle Besprechung. Die DEBATTE ist die öffentliche Kommunikationsform, „in der ‘Persönlichkeiten’ im Großgruppendialog coram publico, d. h. vor ‘Zeugen’, in Form rationaler, gegenstandsorientierter Rede und Gegenrede die Wahrheit — oder zumindest die für das Gemeinwohl optimale Gestaltung — des politischen Gegenstands ERMITTELN.“ Während sich die DISKUSSION dem typologischen Blick bei näherem Hinsehen als kontroverser Kleingruppendialog zum Zweck der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu erkennen gibt, ist die AUSSPRACHE, als im wesentlichen metakommunikativer Dialog „zur Vereinbarung von Kommunikationsbedingungen“, „Krisenmanagement“ und dient der „HERSTELLUNG und gegebenenfalls KONFLIKTLÖSENDEN VERÄNDERUNG und ERNEUERUNG von binnenkommunikativen beziehungs- und gegenstandsorientierten Handlungsbedingungen“. Dagegen besteht die zentrale Aufgabe der (häufig sprachreflexiven) BERATUNG in der „ÜBERFÜHRUNG DER POLITISCH-IDEOLOGISCH KONSTITUIERTEN MATERIE IN EINE POLITISCH-JURISTISCHE FORM“. Die INTERFRAKTIONELLE BESPRECHUNG schließlich ist die Kommunikationsform, in der zwischen Unterhändlern nicht-öffentlich Kompromisse ausgehandelt und Interessenunterschiede durch Tausch abgeglichen werden. Den ermittelten Dialogsorten werden jeweils die Sprechakttypen zugeordnet, die für sie charakteristisch sind. Indem er die fünf parlamentarischen Dialogtypen auf die Gesamtheit der Plenar- und Ausschußsitzungen des Herrenchiemseer Konvents und des Parlamentarischen Rats abbildet, kann Kilian u. a. zeigen, daß die Funktion der Kommunikationsform Debatte schon im Rahmen des Grundrechte-Diskurses auf ERÖFFNEN und SCHLIESSEN des Diskurses beschränkt und „auf die binnen- und außenkommunikative ORIENTIERUNG“ festgelegt war, während die kontroverse Diskussion im Plenum zwar weiterhin als Idealtyp galt, aber zugleich als ineffektiv betrachtet und daher in die Ausschüsse verlagert wurde, wo sie (zusammen mit der Beratung) das „Diskurszentrum“ bildete. Indem folglich die nicht-öffentlichen Dialogtypen die Szene beherrschten, wurde einerseits der Grundstein für einen effektiven Arbeitsparlamentarismus gelegt, andererseits aber die Chance verspielt, für den neuen Staat die öffentlich-demokratischen Dialogtypen als Normalform parlamentarischer Auseinandersetzung zu etablieren.
7. Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte
War die persuasiv angelegte politische Rede in der Antike, im frühen Parlamentarismus und noch in der Rundfunk-Ära dieses Jahrhunderts die herausragende Kommunikationsform der Politik, so hat diese Textsorte mit dem Aufkommen des Fernsehens und dem Wandel der Volksvertretung zum „Arbeitsparlament“ ihre beherrschende Stellung verloren. Sie erscheint zwar noch im „integrativen“ Sprachspiel als Parteitags- oder Kundgebungsrede (bzw. Gedenkrede, Weihnachts- oder Neujahrsansprache) und im „informativ-persuasiven“ als Parlaments- oder Wahlkampfrede, doch als zentrale Form der Vermittlung zwischen Politik und Öffentlichkeit ist sie inzwischen weitgehend durch die Fernsehdiskussion, die Talkshow, das Politikerinterview und das Fernsehstatement ersetzt worden. Die „Mediendemokratie“ verlangt vom Politiker erhöhte Textsortenkompetenz: Arbeitsgespräch, Fraktions- und Ausschußsitzung, Plenarrede, Zwischenfrage, Presse-, Rundfunkund Fernsehinterview, Referat mit Diskussion im Ortsverein, Parteitagsrede, Pressekonferenz, Rundbrief an die Mitglieder, Zeitungskommentar, Presseerklärung, Beantwortung von Briefen usw. (vgl. zu alledem Holly 1990). Und all diese Textsorten haben natürlich schon ihre — längere oder kürzere — Geschichte, die es zwecks besseren Verständnisses der Gegenwart verdient, analysiert und nachgezeichnet zu werden.
6.
Fazit: Forschungsstand und -desiderate
Die politische Sprache vieler Zeitabschnitte liegt im Dunkel der Geschichte, und infolge von Überlieferungslücken wird manches wohl für immer dort verbleiben. Doch auch wo die Quellenlage günstig ist, harren viele Dokumente noch der historisch-politolinguistischen Untersuchung (z. B. die Protokolle von Magistraten, Zensurbehörden, Ständekammern und der politischen Gerichtsbarkeit). Nur zu einigen besonders wichtigen historischen Epochen liegen linguistische Studien vor, die sich mit der Sprache der politischen Auseinandersetzungen der Zeit beschäftigen. Dabei gilt die Regel: Je näher der Gegenwart, desto höher der Erforschtheitsgrad. Während daher die Geschichte der politischen Lexik nach 1945 mit dem Erscheinen von Stötzel/Wengeler (1995) und Böke/Liedtke/ Wengeler (1996 ) als weitgehend geschrieben gelten kann und sowohl zur Sprache des Nationalsozialismus (z. B. Berning 1958, Maas 1984) als auch zum offiziellen Sprachgebrauch in der DDR (z. B. Reich 196 8, Schlosser 1990) zahlrei-
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che Arbeiten erschienen sind, liegen zu den Schlagwörtern anderer Zeitabschnitte nur mehr oder weniger umfangreiche, empirisch teils mehr, teils weniger gut gestützte Einzelforschungen vor, die ihren Gegenstandsbereich nicht erschöpfen können: Das gilt für Diekmannshenkes (1994) Monographie über die Schlagwörter der Radikalen der Reformationszeit ebenso wie für Stammlers (1954) kleine Studie über diejenigen der Aufklärung, für Wülfings „Schlagworte des Jungen Deutschland“ (1982) ebenso wie für Grünerts (1974) Untersuchung der Paulskirchenlexik oder Clasons (1981) Ausführungen zum politischen Wortschatz der Konservativen zwischen Reichsgründung und dem Ende der Weimarer Republik. Daß Stammler und Wülfing ihre Schlagwortforschungen ausschließlich auf literarische (bzw. philosophische) Texte gestützt haben, kann gerade bei den von ihnen thematisierten Epochen nicht verwundern. Doch auch außerhalb historischer Perioden, in denen die Literatur die politische Diskussion beherrschte, sind literarische Texte stets Spiegel der politischen Kommunikationskultur ihrer Zeit gewesen, denn wer — wie Schiller im Fiesko oder Büchner in Dantons Tod — historisch-politische Figuren literarisch ausgestaltet, wer — wie Laube in Das erste deu tsche Parlament oder Döblin in November 1918 — politische Ereignisse beschreibt, wer — wie die Dichter der Befreiungskriege — auf die eigene Zeit Einfluß zu nehmen sucht oder — wie Heinrich Mann im Untertan, Koeppen im Treibhaus, Christa Wolf in Störfall oder Grass in Unkenru fe — die jeweilige Zeitgeschichte als realen Hintergrund eines fiktionalen Geschehens benutzt, muß sich auch der politischen Sprache bedienen: der Schlagwörter und Leitvokabeln, der Euphemismen und Metaphern, der Formen politischer Rhetorik und Textsortenstilistik. Daß solche literarischen Werke, in denen zuweilen sogar authentische politische Texte bzw. Äußerungen zitiert oder versatzstückhaft eingearbeitet werden, den politischen Wortschatz und Textsortenstil der Zeit schon gleichsam in vorgefilterter Form präsentieren, läßt sie als Gegenstand bzw. Material historisch-politolinguistischer Forschungsbemühungen besonders geeignet erscheinen. Obwohl die Stenographischen Protokolle eine ausgezeichnete und leicht verfügbare Textgrundlage bilden, sind auch von der Geschichte der parlamentarischen Sprache erst einzelne Mosaiksteine beschrieben: Sprachstil und Lexik der Paulskirche (Heiber 1953, Grünert 1974), des Reichstags der Kaiserzeit (Kalivoda 1986 , 1988, 1989, 1991) und des Parlamentarischen Rates
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(Kilian 1997) sowie die historische Entwicklung der Formen und Funktionen des Zwischenrufs (Burkhardt 1998). Neben Forschungen zur Kommunikation im Reichstag der Weimarer Republik fehlen auch solche zum Sprachstil des frühen Bundestages. Auch die Geschichte der parlamentarischen Rhetorik wartet noch auf ihren Autor. Und eine systematische Untersuchung der Genese politisch-institutioneller Sprechakttypen (einschließlich der parlamentarischen) und zur Diachronie politischer Textsorten steht bisher noch aus. Doch erst in der Zusammenschau der Ergebnisse solcher Studien wird sich das geschichtliche Wechselspiel von politischem System und politischer Sprache nebst Veränderungen in Struktur, Funktion und Dominanz der „Sprachspiele“ und in diesem Rahmen auch der Wandel der parlamentarischen Kommunikation auf dem Weg vom „Diskussions-“ zum „Schaufensterparlament“ (in seiner Abhängigkeit von medialen Entwicklungen) vollständig nachzeichnen lassen. Die Historiographie der politischen Sprache in allen ihren „Sprachspielen“ ist eine der kulturellen Aufgaben der Germanistik. Besonders beim Studium historischer Umbrüche wird ihre Bedeutung für die Geschichtswissenschaft deutlich, gehört es doch „zur Ausübung einer neuen Herrschaft, das Zeichen- und Symbolsystem der alten Herrschaft zu beseitigen bzw. semantisch umzustrukturieren“ (Grünert 1984, 34). Einige nicht unbedeutende Beiträge sind schon geleistet (vgl. dazu die Forschungsübersichten bei Kilian [1994] und Burkhardt [1997, 136 ff.]). Doch erst am Ende langwieriger kollektiver Forschungsanstrengungen wird die Hoffnung verwirklicht werden können, dereinst eine umfassende Geschichte der politischen Sprache vorzulegen.
7.
Literatur (in Auswahl)
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7. Deutsche Sprachgeschichte und politische Geschichte
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I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
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Armin Burkhardt, Magdeburg
8. Deutsche Sprachgeschichte und Wirtschaftsgeschichte
8. 1. 2. 3. 4.
1.
123
Deutsche Sprachgeschichte und Wirtschaftsgeschichte Bestandsaufnahme Methodische Zugänge Historisch-systematische Entwicklungsskizze in Forschungsperspektiven Literatur (in Auswahl)
Bestandsaufnahme
1.1. Gegenstandsbereich und Problemstellungen Seit dem Erscheinen der vorangegangenen Auflage des Handbuchs hat sich an den dort konstatierten Desideraten des Forschungsbereichs „Deutsche Sprachgeschichte und Wirtschaftsgeschichte“ zumindest grundlegend nichts geändert. Die seinerzeit getroffene Feststellung, „eine organisierte Zusammenarbeit zwischen der germanistischen historischen Lexikologie auf der einen und der Wirtschaftsgeschichtsforschung auf der anderen Seite existiert nicht“ (Kleiber 1984, 71), trifft nach wie vor zu. Zwar läßt sich eine Intensivierung der Forschungsbemühungen sowohl auf sprachwissenschaftlicher als auch auf historiographischer Seite feststellen, wobei allerdings die bestehende inhaltliche Punktualität des Forschungstableaus bislang nicht zu einem konsistenten Ganzen verbunden werden konnte. Multa, non multum: so läßt sich die Forschungssituation derzeit dementsprechend am treffendsten zusammenfassen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Unzureichende Interdisziplinarität mit all ihren Ursachen und Konsequenzen stellt nur einen Teilaspekt dar. Vor allem ist es der Gegenstandsbereich selbst, der ob seiner unscharfen Grenzen relativ schwer handhabbar ist. Dies betrifft insbesondere das eigentliche Handlungsfeld, nämlich „Wirtschaft“. In der Regel — und das gilt gleichermaßen für historiographische wie sprachgeschichtliche Untersuchungen — werden definitorische Begriffsfestlegungen nicht vorgenommen. Unter der Prämisse eines (faktisch nicht existenten) common sense hinsichtlich dessen, was unter „Wirtschaft“ zu verstehen sei, resultieren demzufolge auch sehr unterschiedliche Spannbreiten der Beschreibungsperspektive. Sie reichen von der Perspektivierung spezifischer Sektoren (Landwirtschaft, Bergbau, Handwerk/Industrie, Handel etc.) über die mehr oder minder ausschließliche Fokussierung ordnungspolitischer Fragestellungen bis hin zu komplexen Ansätzen, die wirtschaftliche Handlungsfelder untrennbar von alltagskulturellen Kontexten sehen. In den wenigen Fällen, in denen die Wirtschaftsgeschichtsschreibung definitorische Ein-
grenzungen explizit vornimmt, liegt ein eher weites Bedeutungsspektrum vor. „Wirtschaft“ wird dann z. B. umschrieben „als immerhin abgrenzbarer Bereich menschlicher Tätigkeit für die Befriedigung von Bedürfnissen an relativ knappen, d. h. nicht unbegrenzt und kostenlos verfügbaren Gütern und Dienstleistungen“ (Zorn 1992, 1). Operationalisiert man eine solche — zweifellos plausible — Definition im Kontext „Deutsche Sprachgeschichte und Wirtschaftsgeschichte“, konturiert sich ein Gegenstandsbereich, der den Wandel der sprachlichen Realisationsformen wirtschaftlichen Handelns insgesamt im Deutschen umfaßt. Daß Sprachgeschichte in diesem Zusammenhang keinesfalls auf Wirtschaftsterminologie begrenzt werden kann, ist evident. Umgekehrt stellt sich allerdings auch die Frage, ob es heute überhaupt sprachliche Bereiche gibt, die von wirtschaftlichen Handlungskontexten im o. g. Sinn unabhängig sind. Zumindest erweisen sich Abgrenzungsversuche als äußerst diffizil, was nicht zuletzt auch in der Fachsprachenforschung der vergangenen Jahre zu lebhaften Diskussionen um den Begriff „Wirtschaftssprache“ geführt hat (Bolten 1992, Bungarten 1994, Hundt 1995). Inhaltlich gerechtfertigt und pragmatisch sinnvoll erscheint es vor diesem Hintergrund, den Gegenstandsbereich in der Weise aufzufassen, daß gezeigt wird, wie wirtschaftliches Handeln, das ja stets sowohl zweckgebundenes als auch kommunikatives Handeln ist, in seiner historischen Entwicklung Sprache einsetzt und verändert, um seinen jeweiligen Zwecksetzungen gerecht zu werden. Resultieren würde — als Forschungsperspektive gesehen — eine in jeder Hinsicht lohnenswerte und aufschlußreiche Sprach- bzw. Kommunikationsgeschichte wirtschaftlichen Handelns im deutschen Sprachraum, die unter anderem die sukzessiv zunehmende Dominanz kommunikativer Aspekte in wirtschaftlichen Handlungskontexten nachweisen könnte. Für die Realisierung eines solchen komplexen Darstellungszusammenhangs stehen bislang, wie erwähnt, allerdings sowohl seitens der Sprach- als auch seitens der Wirtschaftsgeschichtsschreibung nur sehr punktuell Forschungsergebnisse zur Verfügung: 1.2. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung Daß sich ökonomische Entwicklungen sprachlich materialisieren, gilt bei allen Unterschieden im methodischen Ansatz quasi als historiolinguistisches Axiom.
124
Bereits die germanistische Sprachgeschichtsforschung des späten 19. Jahrhunderts mit Vertretern wie Hermann Paul, Georg Wenker oder Johannes Schmidt thematisierte ökonomische Einflüsse, wenn es um die Beschreibung wirtschaftshistorisch ereignisreicher Phasen wie etwa das 15. Jahrhundert oder den Beginn der Industrialisierung ging. Die Analysen beschränkten sich allerdings in der Regel auf Beschreibungen sprachimmanenter Vorgänge (Phonemik, Flexion, Wortschatz), wobei sprachgeographische Aspekte insbesondere in der Tradition des Marburger Sprachatlas zwar eine wesentliche Rolle spielten, insgesamt aber eher auf der Basis einer Deskriptions- als einer Begründungsfunktion. Der Einfluß der Wirtschaftsgeschichtsschreibung auf die Historiolinguistik war dementsprechend gering und nahm allenfalls den Status einer Hilfswissenschaft zur besseren Bestimmung von Periodisierungs- und Raumgrenzen ein. 1.2.1. Sprachgeschichtliche Gesamtdarstellungen Dieser Eindruck bestätigt sich mehr oder minder bei der Durchsicht sprachgeschichtlicher Gesamtdarstellungen, die im 20. Jahrhundert entstanden sind. Sie gehen auf ökonomische Fragestellungen insbesondere dann ein, wenn Veränderungen und Erweiterungen des lexikalischen Inventars erklärungsbedürftig werden. So, um ein Beispiel zu nennen, die Lehnwortbildung durch den englischen Einfluß der Industriellen Revolution, wobei der historische Kontext allerdings auf lapidare Feststellungen wie die reduziert wird, daß England „im 19. Jh. das große Vorbild in Industrie und Handel“ war (v. Polenz 1972, 140), bzw. (nicht ganz ohne sprachpuristischen Beiklang), „daß die rapide Entwicklung von Wissenschaft und Technik, der Wirtschaftsweise und der Verwaltungsorganisation die Sprache seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Tausenden vorher unbekannter Wörter mehr erweitert als bereichert hat“ (Eggers 4, 146). Sofern Textmaterial aus dem Wirtschaftsbereich verwendet wird, dient es in der Regel, wie etwa in einem Kapitel über „Geschäftssprachen im 14. Jahrhundert“ (Eggers, Bd. 3, 6 3 ff.) oder in einem Abschnitt über „Werbesprache der Gegenwart“ (Wolff 1994, 259), nur als Belegmaterial, um genuin sprachliche Veränderungen wie Diphthongierungen, dialektale Spezifika oder Lehneinflüsse nachweisen zu können. Erst in neuester Zeit beginnen sich diesbezüglich Veränderungen dahingehend abzuzeichnen, daß wirtschaftlichen Kontexten eine eigenständige Erklärungsfunktion für Sprachwandel-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
prozesse beigemessen wird. Einen ersten Schritt in diese Richtung unternimmt im Rahmen historiolinguistischer Gesamtdarstellungen die 1991 begonnene Sprachgeschichte von P. v. Polenz (v. Polenz 1991, 1994), deren wesentlicher Unterschied zur vorangegangenen Ausgabe (v. Polenz 1972) gerade i n der Einbeziehung extralingualer — unter anderem eben auch wirtschaftsgeschichtlicher — Aspekte besteht. Bei sprachwissenschaftlichen Einzeldarstellungen zum Verhältnis von Wirtschaft und Sprache läßt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten. 1.2.2. Lexikographische Untersuchungen Die Mehrzahl der bislang vorliegenden Arbeiten zu wirtschaftshistorisch bedingten Einflüssen auf die deutsche Sprache orientiert sich an lexikalischen Fragestellungen. Im Vordergrund stehen hierbei wortgeschichtliche Untersuchungen zu einzelnen Wirtschaftssektoren oder Branchen wie unter anderem zum Maschinenbau im 16 . und 17. Jahrhundert (Taenzler 1955), zum Handel im Dresdner Raum des 16 . Jahrhunderts (Fleischer 1970), zur Textilindustrie im 17./ 18. Jahrhundert (v. Hahn 1971) oder zu florierenden Bereichen im Umfeld der beginnenden Industrialisierung wie Eisenbahnwesen (Krüger 1979), Eisenhüttenwesen (Spiegel 1981) und Buchdruck (Dröge 1978). Beschrieben werden allerdings fast immer fachsprachenimmanente Phänomene und kaum Einflüsse ökonomischer Entwicklungen auf den allgemeinen Sprachgebrauch. Ähnliches gilt für Untersuchungen zu lexikalischen Lehnbeziehungen, die z. B. für die Wirtschaftssprache der Nachkriegszeit in Westdeutschland (Alanne 196 4) und die Sprache der Wirtschaftspolitik in der DDR vorgelegt worden sind (Lehmann 1972). Summa summarum lassen sich entsprechende Arbeiten dahingehend zusammenfassen, daß sie — teilweise überaus detaillierte — Bestandsaufnahmen von Sonderwortschätzen oder Neologismen in bestimmten Zeitabschnitten bieten und insofern auch wichtige Beiträge für ein längst überfälliges historisches Wörterbuch der deutschen Wirtschaftssprache leisten könnten. Diesen Anspruch erfüllen freilich auch eher synchronische Analysen wie etwa solche zur Werbesprache (Römer 196 8, Stave 196 8), Börsensprache (Fluck 1985), Zeitungssprache (Piirainen/Airismäki 1987) oder zur Wissenschaftssprache der Wirtschaft (de Cort/Hessmann 1977/78), die teilweise auch syntaktische Untersuchungen einschließen. Aufschlußreich ist jedoch, daß die meisten der sprachimmanent orientierten Arbeiten zwischen
8. Deutsche Sprachgeschichte und Wirtschaftsgeschichte
den fünfziger und siebziger Jahren entstanden sind. 1.2.3 Sozialhistorisch orientierte Ansätze Bedingt durch ein verändertes, wesentlich stärker an sozialen Fragestellungen orientiertes Erkenntnisinteresse, erfolgte spätestens Mitte der siebziger Jahre auch in der Historiolinguistik ein Perspektivenwechsel mit relativ weitreichenden Konsequenzen. Im Vordergrund standen jetzt weniger sprachimmanente Fragestellungen als vielmehr die Intention, die Rolle der Sprache im Prozeß gesellschaftlicher Veränderungen zu verstehen, Sprachwandel und vor allem sozialhistorischen Wandel in ihrer Interdependenz zu dokumentieren. Oder wie Jakob (1991, 106 ) im Kontext seiner Studie zur Geschichte der Techniksprache postuliert: Sprachgeschichtsschreibung „sollte sich mehr um die historische Beschreibung und Interpretation der Einflüsse ‘von außen’ auf die Sprache kümmern“. Vollkommen neu war dieser Ansatz freilich nicht, wenn man sich die Forschungsergebnisse der von Messing so benannten „Wirtschaftslinguistik“ der 20er und 30er Jahre vor Augen hält. Schon damals war die Entwicklung des kaufmännischen Briefstils untersucht (Penndorf 1932) und „Wirtschaftssprache als Spiegel der Wirtschaftsgeschichte“ (Schirmer 1932) analysiert worden. Man war bemüht, wie Drozd zutreffend zusammenfaßt, „spezielle Erscheinungen des Sprachwandels und des Sprachvergleichs mit den Entitäten der Geschichtsentwicklung der materiellen Welt, mit der Produktions-, Waren- und Handelssphäre zu belegen, und in umgekehrter Weise die historischen Gegebenheiten der Wirtschaft durch die sprachlichen Faktoren zu klären oder zu begründen“ (Drozd/ Seibicke 1973, 68 f.). Die Tradition der Wirtschaftslinguistik endete allerdings mit dem Beginn des Nationalsozialismus. Hinsichtlich des Forschungsgegenstandes verwandt waren seinerzeit Richtungen wie die „Wirtschaftsgermanistik“ Siebenscheins und die strukturelle funktionale Prager Wirtschaftslinguistik unter Vancura und Krejci. Sie brachten zwar noch stilhistorische Untersuchungen zum Geschäftsbrief seit dem 14. Jahrhundert (Krejci 1941) bzw. etymologisch-historische Studien zu Begriffen wie „Handel/Geschäft“, „Schuld“, „Zins“, „Steuer“ und „Gewinn“ hervor (Siebenschein 1936 ), waren aber bereits wesentlich strenger philologisch orientiert als die durchaus interdisziplinär strukturierte „wirtschaftssprachlich-nationenwissenschaftliche Forschung“ Messings (Messing 1928, 17).
125
Mit der erneuten historiolinguistischen Einbeziehung sozialhistorischer und soziologischer Fragestellungen ab den siebziger Jahren bot sich Wirtschaftssprache einerseits als prädestinierter Gegenstand für ideologiekritische Untersuchungen an (Arnold 1973), andererseits wurde sie aber auch als Medium entdeckt, über das alltagskulturelles und berufliches Handeln bestimmter Trägerschichten wirtschaftlicher Wandelungsprozesse überhaupt erst beschreibbar wird (Grosse 1989, Schildt 1989). Beispielhaft für die letzte Gruppe seien genannt Darstellungen zur Entwicklung des wirtschaftlichen Korrespondenzstils im Mittelalter (Gerteis 1989) und der frühen Neuzeit, insbesondere der Kaufmannsbücher (Sachse 1989), zu Sprache und Sprachgebrauch im Industriebetrieb (Mattheier 1989b) und in der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert (Mattheier 1989a) oder Arbeiten zu zeitgeschichtlich bedingten Veränderungen in der Werbesprache (Schindelbeck 1994, Gries/Ilgen/ Schindelbeck 1995, Bolten 1996). Vielversprechend gerade für die Erforschung von Sprachwandelprozessen der neueren Zeit ist zweifellos auch die Analyse semantischer Kontroversen im Kontext von Fahnenwörtern des öffentlichen Sprachgebrauchs (Stötzel 1994). Obwohl bei diesem von der Düsseldorfer Schule initiierten Vorgehen naheliegenderweise primär wirtschaftspolitische Bezüge hergestellt werden (Bolten 1989, Jung 1989, Musolff 1991), ermöglicht es zumindest ausschnitthafte Darstellungen einer „Wirtschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte“ (Wengeler 1994), die in bezug auf den historischen Erkenntnisertrag erheblich über die Resultate sprachimmanenter lexikographischer Ansätze hinausgehen. (Wirtschafts)historische Kontexte erschließen sich hierbei hermeneutisch über Analysen öffentlich-kontroverser Thematisierungen von Sprache, die dann ihrerseits Bausteine einer (noch zu schreibenden) „Problemgeschichte“ (Stötzel 1993) der Wirtschaft bilden. 1.2.4. Kommunikationsgeschichtliche Ansätze Während das Erkenntnisinteresse von i. w. S. sozialhistorisch orientierten Arbeiten darin besteht, Interdependenzen zwischen Sprache, Wirtschaft und gesellschaftlichem Selbstverständnis transparent werden zu lassen, gehen Forschungsarbeiten insbesondere der neunziger Jahre über den traditionellen Sprachbegriff hinaus. Dominierend ist heute eine „Auffassung von Sprachgeschichte, die über bloße historische Linguistik hinausgeht und auf historische Zusammenhänge zwischen Sprache und Gesellschaft im Rahmen kommunikativer Praxis hinweist“ (v. Polenz 1991, 17). Demzufolge geht es auch in dem hier
126
behandelten Gegenstandsbereich nicht mehr primär um Wirtschaftssprache im linguistischen Sinn, sondern um Wirtschaftskommunikation unter Einschluß auch nonverbaler, paraverbaler und extraverbaler Aspekte (Clyne 1993, Schröder 1993, Bolten 1995, Hundt 1995). Ein wesentliches Forschungsziel besteht gegenwärtig darin zu zeigen, wie sich Sprache im Kontext ihrer Vertextungssysteme bzw. wie sich diese Textsysteme selbst vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Entwicklungen verändern. Sprachgeschichte wird damit als Teilbereich einer umfassenderen Kommunikationsgeschichte aufgefaßt, die ihrerseits wiederum als Teilsystem z. B. ökonomischen Handelns verstanden wird. Auf diese Weise rückte eine Reihe von Bezugsgrößen in den Vordergrund, denen seitens der Historiolinguistik bislang wenig Beachtung geschenkt worden ist. Genannt seien kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte z. B. der Werbesprache (Schindelbeck 1995, Bolten 1996 ) oder mediengeschichtliche Entwicklungen (Lersch 1989, Stark 1992, Giesecke 1992, Glück/Sauer 1990, 16 2 ff.), die ihrerseits eine wesentliche Rolle bei der Textsortenkonstitution und damit in bezug auf die Sprachverwendung spielen (Hundt 1995, 72 ff.). Begriffsgeschichte wird damit auch nicht mehr als traditionelle Wortgeschichte verstanden, sondern „als eine Synthese aus institutioneller, theoretisch-reflektierender und Textgeschichte“, wie Hundt unter Einbeziehung der kognitiven Semantiktheorie an der Geschichte des Begriffs „Geld“ gezeigt hat (Hundt 1995, 71). Die damit verbundene und nicht unbeträchtliche Erweiterung des methodischen Inventars ist dem gewandelten Erkenntnisinteresse der gegenwärtigen Sprachgeschichtsschreibung geschuldet. Fernab der überwiegend etymologischen, enzyklopädischen, sprachpuristischen oder immanent-linguistischen Zielsetzungen der vergangenen hundert Jahre ist das deskriptive Anliegen wirtschaftssprachlicher Untersuchungen heute dem Interesse an der Erklärung und dem Verstehen komplexer „kommunikativer Bezugswelten“ (Steger 1984) bzw. kultureller Lebenswelten gewichen. Dies betrifft die erwähnten Untersuchungen zur Selbstthematisierung des öffentlichen Sprachgebrauchs ebenso wie textpragmatische und kognitiv-semantische Ansätze und gilt, wie Busse bemerkt, freilich auch über den Gegenstandsbereich der auf Wirtschaftssprache bezogenen Historiolinguistik hinaus, die sich insgesamt „gerade für das Wie der Entstehung historischen Sinns interessiert“ (Busse 1987, 27) und sich damit selbst zu einer Kommunikationsgeschichte in kulturanalytischer Absicht gewandelt hat.
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
Damit verbunden ist freilich — und zwar mit dem Postulat der Notwendigkeit — eine Bereitschaft zu Interdisziplinarität, die ihrerseits eine Annäherung an die Wirtschaftsgeschichtsschreibung erhoffen und erwarten läßt. 1.3. Ergebnisse der Wirtschaftsgeschichtsforschung Ähnlich wie die Historiolinguistik hat sich auch die Wirtschaftsgeschichtsschreibung erst relativ spät aus jener Fachimmanenz gelöst, die etwa für die Dogmengeschichte oder die „New Economic History“ als eine Sonderform des Positivismus bezeichnend ist. Obwohl jede Form der Wirtschaftsgeschichtsschreibung seit jeher auf Quellen — und damit auf Kommunikationsprodukten — aufbaut, sind kommunikationsgeschichtliche Perspektiven in der Regel unbedacht geblieben. Erst mit der stärkeren Öffnung gegenüber sozialgeschichtlichen Fragestellungen in den sechziger Jahren wurde von der — als „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ fungierenden — Forschung die Notwendigkeit auch begrifflicher Klärung und „Vereindeutigung“ erkannt. Werner Conze bemerkte seinerzeit hierzu: „Vieldeutigkeit, Verwirrung und politisch-ideologische Umwendbarkeit der politisch-sozialen Begriffe und (neuen) Schlagwörter sind bezeichnend für das Zeitalter der Revolution und der sozialen Bewegung. Die Praxis sozialgeschichtlicher Forschung und Darstellung hat bis heute daran gekrankt, daß das begriffsgeschichtliche Bewußtsein häufig nur schwach entwikkelt gewesen ist. Hier liegen vordringliche Aufgaben der Sozialgeschichtsforschung in nächster Zukunft“ (Conze 1985, 25).
Obwohl Sozialgeschichte solchermaßen das tertium comparationis entsprechender methodischer Orientierungen sowohl der Wirtschafts- als auch der Sprachgeschichtsforschung darstellt, hat die Beschäftigung mit ihr nicht zwangsläufig eine Thematisierung des Zusammenhangs von Kommunikations- und Wirtschaftsgeschichte zur Folge. Im Gegenteil, äußerst bedeutsame Handbücher und Gesamtdarstellungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte wie die von Aubin/Zorn (1971/76 ), Cipolla/Borchardt (1976 / 78), Kellenbenz (1977/81) oder Henning (1985/ 93 ff.) gehen auf kommunikations- oder sprachbzw. begriffsgeschichtliche Aspekte nicht gesondert ein. Vorbehalten blieb dies zunächst einer geschichtswissenschaftlichen Forschungsrichtung, die als „Historische Semantik“ (Koselleck 1979) schon im programmatischen Titel den Bezug zwischen Zeit- und Begriffsgeschichte dokumentiert. Aufbauend auf der Methode der beiden grundlegenden Werke „Feudalismus. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte“ von Werner
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Conze (1959) und „Kritik und Krise“ von Reinhart Koselleck (1959) wurde zwischen 1972 und 1992 unter dem Titel „Geschichtliche Grundbegriffe“ ein auf sieben Bände angelegtes „Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“ erarbeitet (Brunner/Conze/Koselleck 1972 ff.). Es intendiert die besagte „Vereindeutigung“ historischer und wirtschaftshistorischer Begriffe, indem, wie beispielsweise in dem umfangreichen Artikel zum Stichwort „Wirtschaft“, Veränderungen der Begriffsextension und -intension anhand von historischem Quellenmaterial recherchiert werden. Obwohl seitens der Historiolinguistik an diesem Ansatz mit der Forderung nach einer Einbeziehung des „Begriffs-Begriffs“ (Busse 1987, 105 f.) methodische Bedenken in bezug auf die „Befangenheit im Zeichenprozeß“ (Busse 1987, 27) artikuliert worden sind, muß es der Geschichts- und nicht der Sprachwissenschaft zugute gehalten werden, überhaupt den Weg zu einer komplexen Darstellung des Verhältnisses von Wirtschafts- und Sprachgeschichte geebnet zu haben. Daß die begriffsgeschichtliche Forschungsmethode ebenso wie ihre Ergebnisse heute von der Wirtschaftsund Sozialgeschichte sehr ernstgenommen werden und einen kaum mehr wegzudenkenden Bestandteil gegenwärtiger wirtschaftshistorischer Forschungsarbeiten ausmachen, zeigt die einschlägige Literatur, in der „die Einschaltung der sprachlichen Begriffsgeschichte (Semasiologie)“ bereits ebenso mit Selbstverständlichkeit gefordert wird (Zorn 1992, 61) wie — eher generalisierend — „mehr Sensibilität für die begriffliche Umwelt“ (Walter 1995, 7). Hervorzuheben ist jedoch vor allem die Etablierung entsprechender begriffsgeschichtlicher Fragestellungen in aktuellen wirtschaftshistorischen Einführungen und Gesamtdarstellungen (Walter 1994, 1995). Ähnlich wie in der aktuellen Sprachgeschichtsforschung geht dies einher mit einer zunehmenden Akzeptanz von Interdisziplinarität und dem Bemühen, institutionell und wissenschaftshistorisch tradierte „Grenzen durch neuartige Fragestellungen zu überwinden oder sich zumindest der Relativität von Grenzen bewußt zu sein, deren Überwindung die Chance neuer Einsichten, also beachtlicher kognitiver Effekte, in sich birgt“ (Walter 1994, 17). Optimistisch in bezug auf eine künftige engere Verschränkung sprach- und wirtschaftshistorischer Forschungen stimmt in diesem Kontext zum einen die Tatsache, daß Sprachwissenschaft heute explizit als „interdisziplinäre Beziehungsebene“ der Wirtschaftsgeschichtsschreibung deklariert wird (Walter 1994, 197 ff.). Zum anderen ist es aber auch die methodische Grund-
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einstellung, die — hier aus wirtschaftshistorischer Sicht formuliert — heute in ähnlicher Weise für die Sprachhistoriker nach der „pragmatischen Wende“ in den achtziger Jahren (v. Polenz 1991, 17) Gültigkeit besitzt: „Wirtschafts- und Sozialgeschichte kann in der Regel nicht monokausal und monomethodisch betrieben werden, sondern bedarf einer am Erkenntnisinteresse ausgerichteten Fähigkeit und Bereitschaft zum Methodenpluralismus“ (Walter 1994, 30). Nicht unerwähnt bleiben soll freilich, daß — wenn nicht aus wirtschaftshistorischer, so doch aus volkswirtschaftlicher Sicht — eine vergleichbare Annäherung der Wirtschafts- an die Sprachwissenschaft bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren stattgefunden hatte. Damals war es Levy (1931), der ähnliche Erkenntnisinteressen verfolgte, wie seinerzeit die oben skizzierte Wirtschaftsgermanistik.
2.
Methodische Zugänge
Rekapituliert man die dargestellten Entwicklungen der Sprach- und Wirtschaftsgeschichtsforschung, kristallisierten sich als gegenwärtig gemeinsame Erkenntnisinteressen heraus, (a) sprachliche Veränderungen insbesondere im semantischen Bereich beschreiben und unter Einbeziehung von Außenvariablen begründen zu können, um ein Maximum an interpretatorischer Angemessenheit bei der Quellendeutung zu erreichen und (b) Veränderungen wirtschaftsbezogener Lebenswelten in ihrer Komplexität unter dem Aspekt des Wandels kommunikativer Bezugssysteme transparent werden zu lassen. Methodisch bieten sich für (a) begriffsgeschichtliche Verfahren im Sinne der historischen Semantik an, wozu gerade in bezug auf Entwicklungen der neueren Zeit auch Begriffsthematisierungen im Rahmen semantischer Kontroversen gerechnet werden müssen. Liegen derartige Thematisierungen nicht oder in nicht ausreichender Form vor, wie es bei früheren historischen Perioden in der Regel der Fall ist, scheint derzeit die kognitive Semantik am ehesten geeignete Analyseinstrumentarien bereitzustellen. Die mit (b) implizierten Fragestellungen fordern zusätzlich Vorgehensweisen der (sozio)kulturellen Textpragmatik. Hier geht es über begriffsgeschichtliche Aspekte hinaus um die Frage, inwieweit Interdependenzen zwischen Entwicklungen sprachlicher, non-verbaler, paraund extraverbaler Teilsysteme bestehen und inwiefern sich hieraus Kommunikationssysteme konstituieren, die für ökonomische Bezugswelten bestimmter historischer Abschnitte als signifikant bezeichnet werden können. Sprachwan-
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delerscheinungen innerhalb dieser Kommunikationssysteme, die im Sinne Galtungs (1985) gleichzeitig als kulturelle Stile einer bestimmten historischen Bezugswelt auffaßbar sind, lassen sich auf diese Weise auch indirekt nachweisen, da aufgrund des Systemcharakters Veränderungen in anderen als sprachlichen Teilsystemen mittelfristig auch Veränderungen des sprachlichen Teilsystems zur Folge haben — et vice versa. Wäre dies nicht so, würde das Kommunikationssystem als System auseinanderfallen. Verdeutlicht sei dies an einem Beispiel der Textsorte „Unternehmensgrundsätze“. Vergleicht man die Auszüge aus entsprechenden Publikationen der Karstadt AG von 196 7 und der Bertelsmann AG von 1992, fällt vor jeder detaillierten sprachlichen Analyse der erheblich liberalere und kooperativere, womöglich als „locker“ zu bezeichnende, Ton der Unternehmensleitlinien von Bertelsmann auf. Den Hintergrund hierfür bilden die sozialen Wandlungsvorgänge der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, in denen auch im unternehmerischen Führungsbereich Pflicht- bzw. Akzeptanzwerte durch Selbstentfaltungswerte abgelöst worden waren. Was sich verbal unter anderem im Verzicht auf imperativisch verwendete Passiversatzformen und Modalverben oder aber in der Einführung einer auf Partnerschaftlichkeit zielenden Lexik äußert, findet entsprechende Pendants etwa in der paraverbalen Textgestaltung: Flattersatz anstelle von Blocksatz, leseorientierte statt hierarchische Gliederungsprinzipien oder typographische Übersichtlichkeit bekräftigen die Offenheit und Dynamik des Inhalts. Umgekehrt dokumentiert sich die inhaltliche Strenge der Karstadt-Führungsgrundsätze in ihrer strengen gestalterischen Form. Eine Vertauschung von Form bzw. Inhalt der beiden Texte wäre indes undenkbar: die Systemkonsistenz würde gesprengt und die Kommunikation als solche unglaubwürdig. In der Kombination der oben unter (a) und (b) genannten methodischen Ansätze ist es möglich, wirtschafts- und sprach- bzw. kommunikationshistorische Entwicklungen als interdependente Prozesse zu beschreiben und damit überdies einen interdisziplinär angelegten Beitrag zur Erforschung kognitiver Wissensrepräsentationen in bezug auf ökonomische Kommunikationskontexte in bestimmten historischen Perioden zu leisten. Eine solche zusammenhängende Darstellung existiert bislang, wie erwähnt, noch nicht. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, bei entsprechenden künftigen Vorhaben auf bereits vorliegende Einzeluntersuchungen zur Wortgeschichte, zum Auftauchen von Neologismen, zu Entlehnungsvorgängen und morphologischen
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sowie syntaktischen Veränderungen zu rekurrieren und sie entsprechend zu integrieren. Die nachfolgende knappe historische Entwicklungsskizze kann in diesem Sinn auch nur Bausteine aus den Bereichen der Wirtschaftsund Sozialgeschichte sowie der Kommunikations- und Sprachgeschichte bereitstellen und mögliche Verbindungsstellen im Sinne von Forschungshypothesen markieren.
3.
Historisch-systematische Entwicklungsskizze und Forschungsperspektiven
3.1. Mittelalter Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein ist das Verständnis von „Wirtschaft“ durch einen Gegensatz geprägt, der unter Berufung auf die Aristotelische Trennung von „Ökonomik“ und „Erwerbslehre“ in Deutschland vor allem in der Scholastik manifest geworden — ist: Dominierend — weil positiv konnotiert — war für „Wirtschaft“ die Bedeutung „Hauslehre“, „Hausverwaltung“, während das Marktgeschehen und auch der frühe Kaufmannsstand mit dem Hinweis auf das biblische Verbot des Zinsnehmens zunächst noch negativ bewertet wurden (Krauth 1984, 26 ff.). Brunner reklamiert in diesem Zusammenhang den in den gegenläufigen Bedeutungen von „Wirtschaft“ zum Ausdruck gelangenden „Gegensatz eines vom Haus und eines vom Markt kommenden Wirtschaftsdenkens“ (Brunner 196 8, 124) zu Recht als Indikator eines tiefgreifenden Wandels, der letztlich den Weg von der mittelalterlichen zur modernen Wirtschaftsweise antizipiert und „von der alteuropäischen Ökonomik zu den modernen Wirtschaftswissenschaften führt“ (Brunner 196 8, 126 ). Lohnenswert wäre es, diesen Gegensatz, der im Sinne der kognitiven Semantik ein für die zeitgenössischen Weisen der Weltwahrnehmung wesentliches „mentales Modell“ dargestellt haben dürfte, in seiner Genese zu verfolgen. Für den Begriff „Wirtschaft“ selbst liegen hierzu vorzügliche Belege im Handbuch der geschichtlichen Grundbegriffe vor (Brunner/Conze/Koselleck 1992, 511 ff.). Sie dokumentieren am Beispiel verschiedener kommunikativer Bezugswelten (Theologen, Philosophen, Kaufleute, Lehrer, Literaten) eine sukzessive Aufwertung und Durchsetzung des marktorientierten Wirtschaftsbegriffs. Indem die Expansion des Handels — genannt seien die Hanse, die Große Ravensburger Handelsgesellschaft oder die Fugger — ebenso wie die Etablierung städtischer Märkte, das Arbeitsmarktgeschehen und nicht zuletzt auch die
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Karstadt AG, 1967 3. Die Führungsmittel a) Die Delegation Jeder Vorgesetzte soll bewirken, daß seine Mitarbeiter im Sinne der geltenden Zielsetzung die besten Leistungen entfalten. Zu diesem Zweck hat er mit Delegation der Entscheidungsbefugnis und der dadurch bedingten Verantwortung zu führen. Das Prinzip der Delegation verlangt, daß Aufgaben und die dazugehörigen Entscheidungsbefugnisse in der stufenmäßigen Ordnung des Unternehmens der unterstmöglichen Stelle übertragen werden. Die Delegationsbereiche in den Stellenbeschreibungen sind nach diesem Prinzip festgelegt. Dort nicht berücksichtigte Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse sind der Stelle zu delegieren, die noch auf Grund ihrer Einordnung und ihrer Zuständigkeit den notwendigen Überblick hat. Der Mitarbeiter ist verpflichtet, im Rahmen seines Aufgabenbereiches selbständig zu handeln. Die in seinem Delegationsbereich fallenden Entscheidungen hat er selbst zu treffen. Wenn jedoch ein Fall, der an sich (It. Stellenbeschreibung) in den Delegationsbereich des Mitarbeiters fällt, durch besondere Umstände eine übergeordnete Bedeutung erhält, ist die Entscheidung des Vorgesetzten einzuholen. Dementsprechend kann der Vorgesetzte in Fällen übergeordneter Bedeutung in den Delegationsbereich des Mitarbeiters eingreifen, wenn dies zur Verwirklichung der für den Vorgesetzten geltenden Zielsetzung notwendig ist. Er soll dem Mitarbeiter gegenüber darlegen, warum er in dessen Delegationsbereich eingreift. Jeder Mitarbeiter hat das Recht, sich beim nächsthöheren Vorgesetzten zu beschweren, wenn sein unmittelbarer Vorgesetzter nachhaltig in seinen Delegationsbereich eingreift und entsprechende Hinweise ihm gegenüber keinen Erfolg hatten. b) Das Mitarbeitergespräch Der Vorgesetzte soll sich zur Vorbereitung von Entscheidungen in wichtigen oder schwierigen Fällen des Rates seiner Mitarbeiter bedienen. Zu diesem Zweck soll er zumindest mit denjenigen Mitarbeitern, in deren Bereich die zu treffende Entscheidung eingreift, ein Mitarbeitergespräch führen. Das Mitarbeitergespräch ist vom Vorgesetzten so zu führen, daß die unbeeinflußte und wirkliche Meinung des Mitarbeiters zum Ausdruck kommt. Bertelsmann AG 1992 Achtung vor dem einzelnen und partnerschaftliche Zusammenarbeit im Unternehmen sind grundlegende Bestandteile unseres Unternehmensverständnisses. Das Partnerschaftsmodell geht von dem Gedanken aus, •daß der einzelne nach Freiraum und Selbstverwirklichung strebt •und daß der motivierte Mitarbeiter Motor des Unternehmens ist. Die Initiative des einzelnen kommt dann zur Entfaltung, wenn er als Partner im Unternehmen anerkannt, in die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung einbezogen wird und darüber hinaus persönlichen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens hat. Partnerschaft bedeutet: •Rechtzeitige und umfassende gegenseitige Information der Mitarbeiter sowie offenen Meinungsaustausch •Schaffung von Freiräumen für den einzelnen zur Erfüllung der übertragenen Aufgaben und Einbeziehung der Mitarbeiter in den unternehmerischen Entscheidungsprozeß auf Abteilungs-, Betriebs- und Konzernebene •Verwirklichung materieller Gerechtigkeit durch marktgerechte Entlohnung, erfolgsabhängige Vergütung der Führungskräfte sowie Beteiligung aller Mitarbeiter an Gewinn und Kapital des Unternehmens im Rahmen der Genußrechtskonzeption von Bertelsmann oder gleichwertiger Lösungen •Sozialverantwortliches Verhalten durch das Bemühen um langfristige Sicherung der Arbeitsplätze und soziale Hilfestellung, wenn staatliche Regelungen nicht ausreichen
Abb. 8.1: Textsorte „Unternehmensgrundsätze“ (aus: Rolf Wunderer (Hg.), Führungsgrundsätze in Wirtschaft und öf- fentlicher Verwaltung. Stuttgart 1983, 371 , und: Vorstand der Bertelsmann AG (Hg.), Unternehmenskon- zeption. Gütersloh 1992, 5)
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Entwicklung der Löhne und Preise von nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen nahezu zwangsläufig wahrgenommen und mehr und mehr auch als Bestandteil eigenen Alltagshandelns reflektiert wurden, rückte das Marktgeschehen auch als Kommunikationsgegenstand stärker in den Vordergrund des Interesses. Belegbar ist dies unter anderem an der (partiell konkurrierenden) Entwicklung der Textgattungen „Hausväterliteratur“ und „Kaufmannsspiegel“. Während die Hausväterliteratur in direktem Rückgriff auf die aristotelische Tradition den Gesamtbereich häuslich-haushälterischer Tätigkeiten unter Obhut des christlich-tugendhaft agierenden „Hausvaters“ thematisierte und dabei eher an Fragen der Bedarfsdeckung als an denen der Gewinnerwartung orientiert war, verfuhr die professionelle Kaufmannsliteratur genau in der umgekehrten Weise. Von Kaufleuten für Kaufleute geschrieben, stellte sie praktische Erfahrungen und die Beschreibung technischer Details in den Vordergrund (Hoock 1981, 254 f., Sachse 1989). Allerdings galt die publizistische Verbreitung derartiger Erfahrungsschätze noch bis zum Dreißigjährigen Krieg „gelegentlich als Verrat kaufmännischer Geschäftsgeheimnisse“ (Sachse 1989, 206 ). Ein spezieller literarischer Markt für Kaufmannsliteratur bzw. handlungswissenschaftliche Literatur entwickelte sich erst an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, genau zu der Zeit, als das Genre der Hausväterliteratur an Bedeutung einbüßte: „Der Niedergang der sozialen Einheit Haus, seit Familienleben und Häuslichkeit auf der einen, Produktion und Erwerb auf der anderen Seite zunehmend getrennte Wege gingen, spaltete am Ende auch Terminologie und Gattung: Die Bücher wandelten sich zu Anleitungen für das innere Hauswesen oder zu familiären Erbauungsbüchern: das Wortpaar ‘Ökonomie’ und ‘Wirtschaft’ aber wurde in die Welt des Erwerbs hinausgetragen, in der sich Sach- und Theorieentwicklungen vollzogen hatten, die auf einen neuen Begriff warteten“ (Brunner/Conze/Koselleck 1992, 559).
Dieser neue Begriff lautete — spätere noch als kameralistischer Grundbegriff verwendet — „Kommerzien“, womit gleichzeitig die dominierende (und durchweg positiv besetzte) Rolle des marktorientierten Handels betont werden konnte. Im Gegensatz zum kameralistischen Schrifttum, für das alleine für die Zeit von 1520 bis 1850 über 14 000 Titel nachgewiesen sind, war die professionelle Kaufmannsliteratur jedoch nicht primär österreichisch-deutsch-mitteleuropäisch geprägt. Es dominierten gerade aufgrund der berufspraktischen Bezüge vielmehr französische, holländische und englische Vorbilder, die letztlich auch die wesentlichen Handelsbezie-
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hungen deutscher Kaufleute reflektieren. Einflüsse auf die Kaufmannssprache sind dementsprechend naheliegend: „Stark vereinfacht dominierte bis ins 14. Jahrhundert das Lateinische (Datum, Kopie, Nota, Register, quittieren), bis ins 16 . Jahrhundert das Italienische (brutto, netto, dito, Lombard, Sorte, Kassa, Skonto), seit dem 17. Jahrhundert das Französische (Adresse, Artikel, Emballage, Etikette) und das Niederländische (Aktie, Niete) und vom Ende des 18. Jahrhunderts an das Englische (Banknote, chartern, Code, Partner) “ (Sachse 1989, 209).
Abgesehen davon, daß sich in diesem Kontext erstmals klare Konturen einer Berufs- und Fachsprache des Handels und mit zunehmender Bedeutung der Geldwirtschaft auch des Finanzwesens herausbildeten, ist der Einfluß der wirtschaftlichen Entwicklung auch auf die Herausbildung einer deutschen Standardsprache nicht zu unterschätzen (Stedje 1994, 115 ff.). Dies betrifft zum einen z. B. Wortentlehnungen und -neubildungen. Zum anderen war es aber auch die durch die wirtschaftliche Entwicklung forcierte Schaffung kommunikationstechnischer Grundlagen, die wesentlichen Einfluß auf das bestehende Kommunikationssystem ausgeübt hat. So ist bürgerliche Schriftlichkeit im wesentlichen Resultat der kaufmännischen Notwendigkeit, Fernhandelsgeschäfte abzuwickeln, ohne dabei die Waren stets begleiten zu müssen. Spätestens seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert agierten oberdeutsche Kaufleute vom Kontor aus mit weitverzweigten Niederlassungen. „Ohne Schriftlichkeit, Buchhaltung und Wechselbrief wäre dies nicht möglich gewesen“ (Schneider 1989, 42), und — wie man hinzufügen muß — ohne die Ablösung des Pergaments durch Papier (1389 war bei Nürnberg die erste deutsche Papiermühle in Betrieb gegangen) ebenfalls nicht. Dies wiederum war bekanntlich eine der Voraussetzungen für die Erfindung des Buchdrucks um 1450 mit — seinerseits — den Konsequenzen einer ersten Vereinheitlichung der Orthographie spätestens ab dem Zeitpunkt der ersten Zeitungsveröffentlichungen (ab 1609). Wie die verminderte Bedeutung des Bartransports von Geld Textsorten wie den Wechsel entstehen ließ, begründete der Wandel vom „Kauf auf Besicht“ zu Liefergeschäften im 16 . Jahrhundert die Entstehung entsprechender Dokumente des Lieferverkehrs. Angesichts des weitverzweigten Niederlassungsgeflechts beispielsweise der Fugger kann man zu Recht von einem perfekt aufgebauten „Nachrichtendienst“ (Schneider 1989, 48) sprechen, der die einzelnen Faktoreien untereinander und mit der Augsburger Zentrale verband. Nahe-
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Abb. 8.2: Niederlassungen und Handelswege der Fugger im Zeitraum von 1493 bis 1525 (aus: Schneider 1989, 60) liegenderweise wurde zum Faktor nur jemand ernannt, „der eine ausreichende Berufserfahrung, verbunden mit guten Sprach- und Marktkenntnissen“ besaß (Hildebrandt 196 6 , 48). Wirtschaftliche Grundsatzentscheidungen wurden in Augsburg gefällt, wohin am Ende des Rechnungsjahres zur Ermittlung des Gesellschaftsvermögens auch die Rechnungsbücher der einzelnen Faktoreien geschickt werden mußten. Zu den Rechnungsbüchern zählten Journal, Schuldbuch und Güterbuch: „Im Journal wurden die täglichen Geschäftsvorfälle in chronologischer Reihenfolge aufgezeichnet. Die einzelnen Posten wurden dann auf die Kosten des Schuldbuchs resp. des Güterbuchs übertragen. Im Schuldbuch waren die Personenkonten (alle Creditores und Debitores) und das Kassenkonto, auf der Aktivseite mit „Uns soll“, auf der Passivseite mit „Sollen wir“ überschrieben, zusammengefaßt. Im Kassenkonto wurden sämtliche Bareinnahmen und Barausgaben ausgewiesen“ (Schneider 1989, 45 f.).
Einen weiteren Aspekt von kommunikations- und
sprachgeschichtlich nachhaltiger Bedeutung markiert zu dieser Zeit die Entstehung der ersten Weltbörsen, die — seit 1531 mit Antwerpen in der Vorreiterrolle — die Bedeutung der Messen sukzessive zurückdrängten und für einen Aufschwung der internationalen Geld- und Kreditkommunikation sorgten. Ungefähr zur gleichen Zeit, als die Kölner und die norddeutschen Börsen sich nach dem Vorbild der Antwerpener Börse konstituierten, läßt sich auch eine Anknüpfung der Kölner Schreibsprache an das Niederländische beobachten (Stedje 1994, 122), während die italienischen Einflüsse durch den Bedeutungsverlust von Venedig als Handelszentrum zurückgingen. Die Führungsrolle im deutschen Fernhandel lag indes seit der Wende zum 16. Jahrhundert bei den oberdeutschen Handelshäusern. Probleme bei der Deckung des Leinwandbedarfs in Schwaben veranlaßten sie ab 1550 zum planmäßigen Ausbau eines Leinewebereibezirks in der Region Schlesien, Lausitz, Nordböhmen, wodurch nicht zuletzt auch die Entwicklung zur deutschen Standardsprache auf ostmitteldeutscher Grundlage einen zusätzlichen Impuls erfuhr.
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3.2. Frühneuzeit: Merkantilismus/ Monetarismus/Kameralismus Mit der Durchsetzung absolutistischer Politik ist nach dem Dreißigjährigen Krieg in Deutschland der Beginn der merkantilistischen Ära anzusetzen. Es handelt sich hierbei um wirtschaftspolitische Maßnahmen, die im Sinne einer „Staatswirtschaft“ primär der Wohlfahrt des absoluten Fürstenstaates dienen sollten. Im Gegensatz zum englischen, französischen, italienischen und niederländischen Merkantilismus konzentrierte sich das wirtschaftspolitische Interesse in den deutschen Territorien nicht primär auf den Handel, sondern auf die Förderung von Gewerbe und Landwirtschaft sowie auf die Anreicherung der fürstlichen Schatzkammer. Diese „camera“ war es dann auch, die der deutschen Variante des Merkantilismus ihren Namen gab: Kameralismus. Entsprechend der absolutistischen Maxime, daß ein Zuwachs an Reichtum auch einen Zuwachs an Macht impliziere, wurden Edelmetallund Bargeldbesitz erheblich aufgewertet, was wiederum zu einer Intensivierung des Bergbaus führte. Aus monetaristischer Sicht war damit auch klar, daß die Kaufkraft von Münzen nicht vom aufgeprägten Nominalwert, sondern vom Metallwert abhing — eine Einsicht, die übrigens schon Kopernikus in seiner 1526 erschienenen Schrift „Monetae cudendae ratio“ formuliert hatte (Walter 1995, 22). Begrifflich wurden die staatswirtschaftlichen Maßnahmen seinerzeit primär unter „Ökonomie“ zusammengefaßt, worunter freilich teilweise auch der Kommerz und die Polizei subsumiert wurden. Nicht zufällig sollte sich dementsprechend die 1727 von Friedrich Wilhelm I. von Preußen an der Universität Halle eingerichtete kameralistische Professur vorzüglich mit „cameralia-oeconomica und Policey-Sachen“ beschäftigen und wurde der seinerzeit wohl bedeutendste Kameralwissenschaftler J. H. G. Justi 1755 als „Oberpolicey-Commissarius und Dozent für Staatsökonomie“ an die Universität Göttingen berufen (Sachse 1989, 212 f.). Mit der Etablierung der Kameralwissenschaften als Universitätsfach war gleichzeitig der Anstoß zu ersten Entwicklungen einer Wissenschaftssprache der Ökonomie gegeben, wobei die kameralistische Betonung statistischer Fragestellungen ihrerseits Verbindungen zur Begriffsbildung in der Mathematik schuf (v. Polenz 1994, 348). Einen weiteren für fach- und berufssprachliche Entwicklungen relevanten Faktor bildete die durch den Merkantilismus geförderte Errichtung von Manufakturen mit Lohnarbeitern. Nach
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französischem Vorbild produzierten sie vor allem für den Luxusbedarf der Höfe und den Bedarf der stehenden Heere. Obwohl ihr Gesamtanteil an der Gewerbeproduktion eher gering einzuschätzen ist, dokumentieren sie das technische Innovationsinteresse der jeweiligen Fürsten, womit sie nicht zuletzt auch eine Stufe der Weiterentwicklung des handwerklichen Maschinenbaus zur Technikwissenschaft markieren. Im Gefolge der Begründung der Technologie als eigener Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Drozd/Seibecke 1973, 17 ff.) entwickelte sich alsdann eine eigene, durch unzählige Fach(wörter)bücher dokumentierte Terminologie. Bezeichnend hierfür ist die Durchsetzung eines funktionalen Benennungsprinzips, das bereits „moderne Prinzipien der Terminologienormung“ erkennen läßt (v. Polenz 1994, 36 4). Obwohl damit die Ablösung des stark dialektal geprägten Handwerkswortschatzes angezeigt war und man durchaus auch zu Recht ab 1785 von frühindustrieller Terminologie sprechen kann (v. Hahn 1971, 51 ff.), war das Denken selbst noch nicht in jene Strukturen eingebunden, die man heute mit dem Stichwort „Produktion“ verbindet. Für das Verständnis von wirtschaftlichem Handeln zur Zeit des Merkantilismus insgesamt ist — gleichsam als „mentales Modell“ — noch die Vorstellung signifikant, „daß alles Gute nur in begrenzter Menge vorhanden sei. Stets wurde das, was man problematisierte, als ein vorgegebener Gesamtbestand gesetzt, innerhalb dessen immer nur kompensatorische Umverteilungen möglich waren“ (Brunner/Conze/Koselleck 1992, 566). Nicht erwogen wurde daher der dann später für die Zeit der Industrialisierung prägende Gedanke einer universalen Vermehrbarkeit von Reichtum durch Produktion. Dies hätte eine Verabschiedung der Vorstellung von einem statischen Handelsvolumen zu Gunsten einer Orientierung an komplexen Wachstumsprozessen vorausgesetzt — ein Aspekt, dem der vorindustriell noch geläufige Begriff „Kommerzien“ im übrigen nicht mehr gerecht werden konnte und weshalb er letztlich auch als Konkurrenzbezeichnung zu „Ökonomie“ später nicht mehr fortbestehen konnte. Gerade die durch den Kameralismus gegenüber dem Mittelalter erheblich verstärkten politischen Implikationen des Wirtschaftsbegriffs haben im Kontext des Übergangs von der repräsentativen zur bürgerlichen Öffentlichkeit dafür gesorgt, daß wirtschaftliche Fragestellungen zu einem Kommunikationsgegenstand von allgemeinem und durchaus zentralem Interesse wurden: „Die Öffentlichkeit war das Forum, über das ge-
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sellschaftliche Verbesserungen, Produktivitätssteigerungen, Partizipation und wirtschaftliche Entfaltung begründet, propagiert und betrieben wurden. Nie zuvor hatte Wirtschaftsliteratur einen derart hohen Stellenwert erreichen können, nie zuvor war ihre Wirkung auf Regierungen, Bürgertum und Öffentlichkeit so groß“ wie in der Zeit der Spätaufklärung (Sachse 1989, 215). Abgesehen von dem enormen Aufschwung in der Entwicklung einer publizistischen Infrastruktur mit unzähligen Verlagen, Lesegesellschaften und Leihbibliotheken schlägt sich dies auch in dem Stellenwert der Rezeption ökonomischer Literatur nieder: Nach der Zahl der veröffentlichten Titel standen Publikationen aus dem Bereich „Landwirtschaft und Gewerbe“ 1740 noch auf dem 10. Rang der in Messekatalogen verzeichneten Buchveröffentlichungen, während sie 1800 bereits den 4. Rangplatz einnahmen (Lersch 1989, 471). Insofern ist die Feststellung sicherlich nicht unzutreffend, daß „die Mobilisierung aktiver Potenzen durch Kommunikation und die literarisch vermittelte Beteiligung breiter Schichten an diesem Prozeß [...] eine Voraussetzung der Industrialisierung gewesen“ sei (Sachse 1989, 215). 3.3. Liberalismus und Industrialisierung Die Verbesserung kommunikativer Infrastrukturen setzte sich im 19. Jahrhundert mit einer bis dahin nicht vorstellbar gewesenen Geschwindigkeit fort. Dies betrifft zunächst vor allem die Drucktechnologie: Mit der Erfindung der Schnellpresse (1812), dampfbetriebener Papiermaschinen, der Holzschliffbereitung, der Setzmaschine (1844) und nicht zuletzt der Rotationsmaschine (in Deutschland ab 1872) konnte die Informationsversorgung bis zum Ende des Jahrhunderts über die gesamte Breite der Bevölkerung abgedeckt werden. Mit der Quantität des öffentlichen Kommunikationssystems verbesserte sich freilich nicht nur seine qualitative Differenzierungs- und Spezifizierungsfähigkeit, sondern auch seine Geschwindigkeit — und zwar schon vor der Erfindung des Telefons. Bezogen auf die in der Soziopragmatik geläufigen Sprachwandelfaktoren Ökonomie, Innovation, Variation und Evolution rückt in diesem Zusammenhang vor allem der Faktor „Ökonomie“ in den Vordergrund. Sprachgeschichtlich bietet das späte 19. Jahrhundert gerade im Bereich der Wortbildung hierfür mannigfache Beispiele. Eines davon ist das Substantiv „Wirtschaft“ selbst, das sich — ähnlich wie die Adjektivform — als eine verkürzte Form von „Volkswirtschaft“ um 1900 endgültig durchzusetzen vermochte. Verwendet wurde es seinerzeit als Sammelbezeich-
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nung für Handlungskontexte des Ackerbaus, der Industrie und des Handels (Brunner/Conze/Koselleck 1992, 586 ). Zu Beginn des Jahrhunderts hingegen war die Bezeichnung vermutlich wegen ihrer Nähe zur hauswirtschaftlichen Altökonomik noch relativ wenig geläufig. Darüber hinaus spielte natürlich auch eine Rolle, daß man nach der Überwindung absolutistischer Territorialstaatspolitik auch keine Veranlassung mehr hatte, an staatswirtschaftlichen Bezeichnungsformen festzuhalten. Naheliegenderweise war jetzt von „Nationalökonomie“ und „Volkswirtschaft“ die Rede, wobei teilweise wieder zwischen „Volkswirtschaftslehre“ und „Volkswirtschaftspflege“ als Bezeichnung der staatlichen Wirtschaftspolitik unterschieden wurde (Brunner/Conze/Koselleck 1992, 583). „Nationalökonomie“ und „Volkswirtschaftslehre“ blieben dann auch bis 1945 weitgehend konkurrierende Bezeichnungen, während die Krise des Nationalitätsbegriffs nach dem 2. Weltkrieg heute die Bezeichnung „Nationalökonomie“ veraltet erscheinen läßt. Ebenso wie diese begriffsgeschichtliche Entwicklung wäre aber auch der skizzierte Fortschritt des Kommunikations- und Verkehrssystems im 19. Jahrhundert nicht ohne die Liberalisierung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen denkbar gewesen. Sie entwickelte sich teilweise nach dem Vorbild Großbritanniens, wobei zu den wesentlichen Aspekten insgesamt der Rückzug der Staatseinmischung in den Wirtschaftsverlauf, die Bauernbefreiung, die Durchsetzung von Gewerbefreiheit und Freihandel und die Gründung von Gewerkschaften (vor allem ab 186 8) zählen. Sprachgeschichtlich dürfte zumindest indirekt zunächst die Preußische Agrarreform (1807) mit der sich daran anschließenden Landflucht zu einer gewissen Dynamik geführt haben. Verstärkt wurde damit die sich das ganze Jahrhundert hindurch fortsetzende Tendenz zur Verstädterung, was seinerseits wiederum — vor allem ab der Gründerzeit — zu Bevölkerungsmischungen und einem damit verbundenen Rückgang der Dialekte führte. Sprachstandardisierungen auf der einen Seite, die wiederum Voraussetzung für die Durchsetzung z. B. der gesamtdeutschen Hochlautung, der Rechtschreibnorm oder der DIN-Bestimmungen waren, standen auf der anderen Seite Differenzierungen z. B. im wirtschaftssprachlichen Bereich gegenüber. Neu geschaffene Handlungskontexte und veränderte kommunikative Bezugswelten wie etwa die gewerkschaftliche Organisation von Arbeitern brachten neue Textsorten und Sprechhandlungstypen hervor, mit denen auch neue kommunikative Erfordernisse
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sprachlich realisiert werden mußten. Hierzu zählen unter anderem Arbeitszeugnisse, Arbeitsordnungen, Flugblätter und betriebliche Versammlungen. Betroffen war auch die überbetriebliche Wirtschaftskommunikation, der ab 1820 in Tageszeitungen eigene Rubriken mit Kurszetteln gewidmet waren, die sich dann ab den dreißiger Jahren zu eigenen Handelsteilen und in der Gründerzeit zu eigenständigen Wirtschafts- bzw. Börsenzeitungen weiterentwickelten. 3.4. Das 20. Jahrhundert Strukturell anknüpfend an die von dem Neomerkantilisten List im Anschluß an Hegel entwikkelte Theorie wirtschaftlicher Perioden ließe sich das Verständnis von Wirtschaft im 20. Jahrhundert in drei Perioden einteilen. Im Unterschied zum wachstumsorientierten klassischen Wirtschaftsbegriff des 19. Jahrhunderts sind allerdings Umkehrungstendenzen zu beobachten: „Das Verständnis von ‘Wirtschaft’ kippte von der Produktion des Reichtums zur Verwaltung der Knappheit, wie sie in der Weltkriegszeit auch eintrat“ (Brunner/Conze/Koselleck 1992, 590). Die nach 1945 einsetzende Konsolidierung und wirtschaftliche Aufschwungphase verdiente vor diesem Hintergrund in der Tat die Bezeichnung „Wunder“, so daß etwa bis zur Rezession 196 6 /6 7 — dokumentiert in zahlreichen Kompositabildungen — mit „Wirtschaft“ stets auch „Wachstum“ assoziiert wurde. Die Rückkehr zum Knappheitsbewußtsein wurde unter anderem forciert durch die Ölkrise, wobei sich zunächst gleichsam zwei unterschiedliche mentale Modelle gegenüberstanden: auf der einen Seite die wirtschaftliche und politische Öffentlichkeit, die mit Euphemismenbildungen wie „Nullwachstum“ oder „Minuswachstum“ zumindest an dem Wachstumsbegriff festhielt, und auf der anderen Seite die ökologische Kritik, der daran gelegen war, „Ökologie“ als Sammelbegriff für Fehlformen wirtschaftlichen Prosperitätsdenkens durchzusetzen. Durch die Einbeziehung ökologischer Fragestellungen sowohl in die Wirtschaftspolitik als auch in die Wirtschaftspraxis konturierte sich dann allerdings gegen Ende des Jahrhunderts ein Wirtschaftsbegriff, der ökologische Bezugswelten relativ weit integriert hatte. Der Einfluß wirtschaftlicher Veränderungen auf den Sprach- und Kommunikationswandel nach 1945 ist vor allem in Hinblick auf die Trennung und Vereinigung der wirtschaftlichen Systeme West- und Ostdeutschlands, den Werbebereich und die Sprache der Wirtschaftspolitik relativ gut dokumentiert (vgl. 2.1.). Neben dem durch die Integration in das westliche Bündnis verstärkten anglo-amerikanischen Einfluß insbe-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
sondere in der Lexik läßt sich als dominierender Faktor wiederum die Sprachökonomie nennen. Präpositionalisierung und Akkusativierung setzen sich syntaktisch gegenüber Genitiv- und Dativformen durch, der Einheitskonjunktiv mit „würde“ löst die bereits als „veraltet“ bezeichneten Konjunktivformen ab. Ähnliche Vereinfachungs- und Verkürzungstendenzen lassen sich im lexikalischen Bereich feststellen („Wirtschaftsstandort“ wird zu „Standort“ Deutschland verkürzt), wobei sich hier andererseits mit der Bildung von zunehmend mehrgliedrigen Komposita auch eine auf den ersten Blick paradoxe Entwicklung zu vollziehen scheint. Tatsächlich ist dies allerdings nur eine adäquate Reaktion auf das durch den Fortschritt der Medientechnologie bedingte rasante Wachstum der Informationsdichte in der gegenwärtigen „Informationsgesellschaft“. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei die Expansion und Differenzierung der Massenmedien: Von der Einrichtung des ersten Hörfunksenders (1923) über die Etablierung des Fernsehens Anfang der 50er Jahre und der Kabel- bzw. Satellitentechnik bis hin zur Durchsetzung neuer Medien des „global village“ wie Internet und E-Mail in den neunziger Jahren hat eine sukzessive Entwicklung von der Informationsdeckung zur Informationsüberlastung stattgefunden, die Schätzungen Recht geben mag, daß 196 0 nur 30—40% und 1990 sogar nur 5—10% der angebotenen Informationen überhaupt noch verarbeitet werden konnten (Stark 1992, 56 ). Da sich das Zeitbudget für die Informationsaufnahme trotz der Entwicklung zur „Freizeit-“ und „Erlebnisgesellschaft“ nicht wesentlich verändert hat und eine Einbindung in die immer schnelleren Kommunikationsnetze heute für jedwedes gesellschaftliche Handeln unverzichtbar geworden ist, mußten sich nahezu zwangsläufig die Kommunikationsgewohnheiten ändern. Dies gilt rezeptiv noch stärker als produktiv und läßt sich vor allem an der Konzeption aktueller Printmedien wie „Focus“ oder „Die Woche“ ablesen. Nach dem Vorbild von „USA Today“ (1982) dominieren präsentative statt diskursive Symbole, was wiederum zu einer erheblichen Verknappung von Inhalten (und Satzkonstruktionen) führt. Das Prinzip, das sich dahinter verbirgt, trägt der Tatsache Rechnung, daß Informationen heute primär ganzheitlich analog und nicht mehr analytischsequentiell verarbeitet werden (Stark 1992, 6 5). Sprachliche Konsequenzen lassen sich vor allem in der Werbung nachweisen, die aufgrund ihrer Omnipräsenz ihrerseits einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Entwicklung der Standardsprache haben dürfte (Stedje 1994, 199).
8. Deutsche Sprachgeschichte und Wirtschaftsgeschichte
135
Sprachliche Aspekte sind hier allerdings wiederum nicht losgelöst von der systemischen Entwicklung zu sehen, innerhalb derer sich vor allem non- und paraverbale Elemente in analoger Weise verändert haben. Als Beispiel sei in diesem Zusammenhang die entsprechende Entwicklung der KarstadtHauszeitschrift von 1935 bis 1989 angeführt. Während die zunehmende Informationsdichte durch die Zunahme des Zeitschriftenumfangs und des Bildanteils dokumentiert wird, verweisen zunehmende Spaltenanzahl, die Einfügung eines Inhaltsverzeichnisses und letztlich die Verwendung von Sparten-Headlines auf die beschriebene Anpassung an Veränderungen der Wahrnehmungsgewohnheiten. Abgesehen von Komprimierungsvorgängen auf der stilistischen Ebene geben in sprachlicher Hinsicht die lexikalischen Veränderungen allein schon im Zeitschriftentitel sehr pointiert die sozialen Liberalisierungstendenzen vor allem seit den siebziger Jahren zu erkennen. In diesem Sinne ist wirtschaftliches Handeln heute stärker denn je über die Öffentlichkeit als Jahr 1935 1954
1961 1967
1973 1989
Titel Die Gemeinschaft. Hauszeitung der Rud. Karstadt AG Die neue Hauszeitung. Für die Betriebsangehörigen der Karstadt AG dto. Karstadt. Rundschau in Wort und Bild. Hauszeitschrift für die Betriebsangehörigen Karstadt Magazin. Hauszeitschrift für die Mitarbeiter von Karstadt Wir. Eine Zeitschrift für die Mitarbeiter von Karstadt
Kommunikationssystem mit Prozessen des Wertewandels und des Wandels gesellschaftlichen Selbstverständnisses verknüpft. Dies betrifft besonders jene Bereiche, die unmittelbar mit Marketing verknüpft sind und dementsprechend auch sprachlich auf Wertewandelprozesse reagieren oder sie antizipieren müssen. Paradigmatisch kann in diesem Zusammenhang die Namensgebung für Produkte der Automobilindustrie genannt werden, die letztlich selbstredend eine thematisch geraffte Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland entfaltet: Was im Kontext der Informationsüberlastung aber auch der Internationalisierung sämtlicher kommunikativer Bezugswelten einerseits zu einer Erhöhung der sprachlichen Innovationsgeschwindigkeit und einer Depräzisierung von Begriffen (etwa in Wirtschafts-Infoshows) führt, schafft auf der anderen Seite allerdings auch Raum für special-interest-Enklaven, die sich partiell durchaus gegenläufig entwickeln könnten. So ist auf dem gegenwärtigen Zeitschriftenmarkt ein Auflagenrückgang von General-interest-Titeln zu Gunsten von mehr oder minder hochspe-
Seiten 12
Inhaltsverzeichnis nein
Sp. 2
Abbild. / s/w-Fotos / Farbfotos 5/3/0
32
nein
2
50/39/0
36 44
ja ja
2—3 3—4
74/67/4 101/95/0
28
ja
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54/53/0
32
ja; Spartenheadlines
3—4
110/109/12
Abb. 8.3: Entwicklung der Karstadt-Hauszeitschrift 50er Jahre „Märchen, Mythos, Idylle“: Janus, Prinz, Goliath, Taunus „Wirtschaftswunder“: Rekord, Tempo, Blitz
50er/60er Jahre „Sozialprestige“: Kapitän, Kadett, Admiral, Diplomat, Consul, Commodore, Senator
70er/80er Jahre „Freizeitgesellschaft“: Ascona, Capri, Monza, Sierra, Fiesta, Scirocco, Passat, Vento, Golf, Derby, Polo
Abb. 8.4: Namensgebung für Produkte der Automobilindustrie
90er Jahre „Postmoderne TechnoKlassik“: Orion, Astra, Vectra, Mondeo, Omega, Scorpio „Erlebnisgesellschaft“: Monterey, Explorer, Galaxy, Tigra, Sharan
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
136
zialisierten Publikationen zu verzeichnen (Stark 1992, 42), in denen die skizzierten Regeln der massenmedialen Kommunikation nicht gelten. Inwieweit dies Konsequenzen für möglicherweise sprachlich divergente Entwicklungen hat, bleibt zu untersuchen.
4.
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Jürgen Bolten, Jena
9. Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte des Alltags
9. 1. 2. 3. 4.
1.
139
Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte des Alltags Die Entdeckung des Alltags Alltag und Sprachgeschichte Geschichte des Alltags und Sprachgeschichte Literatur (in Auswahl)
Die Entdeckung des Alltags
Seit Mitte der 70er Jahre ist in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Fächern eine „Wende [...] zum Alltag“ (Habermas 1979, 30) zu verzeichnen (vgl. Albrecht 1981, Prodoehl 1983), und zwar in der Soziologie in Anschluß an den „Symbolischen Interaktionismus“ und die Ethnomethodologie einerseits und an die „phänomenologische“ Sozialtheorie (Husserl, Schütz) andererseits (vgl. bes. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1980, Schütz/Luckmann 1975, Hammerich/Klein 1978, Sprondel/Grathoff 1979); des weiteren in der Psychologie (Lehr/Thomae 1991), der Anthropologie (Thurn 1980), der Literaturwissenschaft/Erzählforschung (Ehlich 1980). Besondere Resonanz hat diese Entwicklung in der Geschichtsforschung gefunden, wo der Ansatz bes. unter methodologischen Aspekten heftig diskutiert wird (vgl. etwa Albrecht 1981, Delort 1990, Goetz 1990, Peters 1990 u. a.). Da die Arbeiten zur Geschichte und Kulturgeschichte für die Sprachgeschichte von besonderer Bedeutung sind, seien wenigstens ein paar der einschlägigen Arbeiten hier aufgeführt: Allgemein: Wiegelmann (1980), Bergmann/Schörken (1982), Dülmen/Schindler (1984), Ehalt (1984), Jacobeit (1988); Ariès/Duby (1989 ff.); Lüdtke (1989); OdA (1994); zum Mittelalter: A. Borst (1973), Rosenfeld/Rosenfeld (1978), O. Borst (1983), Kühnel (1985), Goetz (1986 ), Jaritz (1989), Reichart (1992), Seibt (1992) sowie die Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit in Wien ab 1976 (vgl. unten Literaturverzeichnis), im weiteren Sinne auch Bumke (1986 ), Wolf (1986 ); zur Neuzeit u. a.: Braudel (1985), Kohler/Lutz (1987), Kuczynski (1981 f.), Richter (1974), Glaser (1994), Peukert/Reulecke (1981); van Dülmen (1990/1992/ 1994); speziell zur Rolle der Frau im Alltag: Ketsch (1983), Beier (1983), Ennen (1984), Opitz (1985), Frau und spätmittelalterlicher Alltag (1986 ); zum Alltag von Kindern und Jugendlichen: Ariès (1990), Winter (1984), Hardach-Pinke/Hardach (1978), Mitterauer (1986), Jaide (1988), Gillies (1980), Gruber (1984).
In der Sprachwissenschaft wird das Phänomen Alltag von jeher im Rahmen der Dialektologie implizit mitbehandelt, schließlich ist Dialekt vor allem ein Phänomen des Alltags. Im Rahmen der
Stilistik, später der Soziolinguistik rückt die Alltagssprache als Funktionalstil (Funktiolekt) des Deutschen und im Gefolge der „pragmatischen Wende“ auch die Alltagskommunikation stärker in das Forschungsinteresse (vgl. etwa Riesel 1970; Löffler 1985, bes. 107 ff.; Steger 1988; Hannappel/Melenk 1990; Mackeldey 1987; 1991 u. a.). In der Sprachgeschichte wurde ‘Alltag’ zumeist über die Sachkultur (Stichwort ‘Wörter und Sachen’) mitbehandelt. Darüber hinausgehende Ansätze sind noch rar, bleiben meist auf die Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts beschränkt und haben bisher nicht zu einer systematischen Betrachtung des Zusammenhangs von Alltag und seiner Geschichte mit der Sprachgeschichte geführt.
2.
Alltag und Sprachgeschichte
Die bisher nur zögerliche Einbeziehung von Alltag in die Sprachgeschichtsforschung hat verschiedene Gründe. Einer davon liegt in der Vagheit des Begriffs Alltag selbst. Neben seiner ‘alltäglichen’ unreflektierten Verwendung taucht der Alltagsbegriff zwar zunehmend theoretisch fundiert auf, wird aber selten scharf definiert, sondern erklärt sich zumeist aus seinem Gegenteil. Elias (1978, 26 ) führt eindrucksvoll vor, wie vielgestaltig der Alltagsbegriff auf diese Weise wird. Seine bereits 1978 nicht vollständige Liste dürfte sich in den 80er Jahren noch erheblich erweitert haben. Trotz aller Unterschiede der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Deutungsmuster meinen Alltag und Alltäglichkeit „einen spezifischen Modus des Verstehens und Handelns in der Wirklichkeit“ (Thiersch 1993, 17). Dieses alltägliche Handeln und Verstehen ist geprägt durch Gewohnheiten, Routinen, von bestimmten Arrangements in sozialen Gruppen. Alltag ist geprägt durch Unmittelbarkeit, Vertrautheit und Entlastung durch Typisierung und Ritualisierung; aber er ist auch geprägt durch Beharrung, durch Ausgrenzung des Unvertrauten und Verdrängung des Fremden (vgl. Kosik 1973). Nicht die großen, herausragenden Ereignisse der Geschichte, auch nicht Kriege und Katastrophen (obgleich diese zum Alltag vieler Generationen gehörten), sondern das tägliche Leben mit Haushalt, Beruf und Freizeit, mit den Grundbedürfnissen Essen/Trinken, Wohnen, Kleidung und Umwelt stehen im Vordergrund.
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In welchem Verhältnis stehen ein so verstandener Alltag und seine Geschichte zur Sprachgeschichte? Das Grundproblem — und damit ein weiterer wesentlicher Grund für die Vernachlässigung des Alltags in der Sprachgeschichtsforschung — liegt in der Gegebenheit sprachhistorischer Forschung überhaupt, daß bis ins 20. Jh. hinein Sprache ausschließlich in geschriebener Form vorliegt. Handeln und Verstehen im Alltag erfolgt aber in weit überwiegendem Maße mündlich (Alltagsgespräch; vgl. dazu Stempel 1984). Und die Sprache der Mündlichkeit (Alltagssprache) ist bis in unser Jh. hinein für die weit überwiegende Zahl der Sprachteilhaber mehr oder weniger dialektal geprägt. Die schriftliche Bewältigung von Alltagssituationen ist dagegen in der Historie vergleichsweise gering vertreten: in erster Linie sind es Briefe, persönliche Aufzeichnungen, Berichte etc. Erst im 19. Jh. wird der Fluß der überlieferten Alltagsschriftlichkeit breiter (vgl. Hopf-Droste 1982; Mattheier 1986 a; Cherubim/Mattheier 1989). Nur dieser kleine Ausschnitt erlaubt es überhaupt, innersprachliche Daten für eine Sprachgeschichte zu gewinnen. Auch literarische Texte können unter Umständen herangezogen werden. Schenda (1985) zeigt am Beispiel Johann Beers Ju cu ndi Ju cu ndissimi Wu nderliche Lebensbeschreibu ng, daß mündliche Kommunikation durchaus auch kritisch aus solchen Texten destilliert werden kann. Dies gilt besonders für pragmatische Einheiten wie Gruß oder Anrede. Der Versuch Stegers (1984; vgl. auch unten Art. 17), Alltag über sog. Alltagstexte sprachgeschichtlich zu fassen und einzubinden in eine Sprachgeschichte als Textsortengeschichte, folgt einem Verständnis von Alltag als einem von vier Sinnbezirken (neben Religion, Wissenschaft und Literatur; vgl. auch Schwitalla 1976 ). Die Sprache eines so breit verstandenen Alltags ist damit die Normalform (Normallage) gegenüber der fachsprachlichen, poetisch-metaphorischen oder kirchlich-rituellen Sprache der drei anderen Bezirke, und Sprachgeschichte und Geschichte der Alltagssprache werden dadurch fast zu Synonymen. Alltagssprache wird aber durch solche Texte nicht unmittelbar erfahrbar. Die mündliche Sprache des Alltags erscheint, wenn überhaupt, immer in schriftlich gebrochener Form; die schriftliche findet sich bei weitem nicht in allen Texten des Alltags. Bibel, Gesangbuch und Katechismus gehören spätestens seit der Reformation untrennbar zum Alltag, zeichnen sich aber gerade nicht durch Alltagssprache — auch nicht in einem weiteren Sinne — aus. Es ist daher hilfreich, zu-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
nächst begrifflich zwischen Texten/Textsorten aus dem Alltag und solchen für den Alltag zu unterscheiden. Texte aus dem Alltag sind Texte, die unmittelbar zur Bewältigung praktischer Alltagssituationen entstehen und die eher ein Stück weit Alltagssprache repräsentieren (z. B. Einkaufszettel). Texte für den Alltag sind Texte, die im Zusammenhang mit alltäglichen Problemen entstehen, die für die Alltagspraxis gedacht sind und auch auf den Alltag einwirken; sie repräsentieren aber eine gehobene(re) Schreib- bzw. Schriftsprache (z. B. Rechtstexte, Expertentexte) und richten sich an eine breitere anonyme Leserschaft. Die Grenze zwischen beiden Typen ist durchaus fließend. So können Kochbücher aus alltagssprachlich notierten Rezepten hervorgehen. Texte für den Alltag können aber durchaus auch Alltagssprache als Objektsprache vermitteln (etwa Sprachreiseführer, die alltagssprachliche Redewendungen vermitteln). Das bedeutet, daß in erster Linie die Texte aus dem Alltag von Interesse sind. Texte für den Alltag sind wegen ihrer Rückwirkung auf den Alltag und die Alltagssprache interessant. Zahlreiche Alltagsbereiche unterliegen seit dem Spätmittelalter einer zunehmenden Verschriftung. Hierzu gehören die sich seit dem Spätmittelalter allmählich entfaltenden sozialverbindenden Texte wie Weistümer, Rechtsbücher, Schöffenbücher, Ordnungen aller Art, Gesetzesbücher etc. mit einem sich ebenfalls herausbildenden Expertentum: Schreiber, Kanzler, Juristen, Advokaten, Amtmänner, in neuerer Zeit Staatsanwälte, Justitiare, Notare, Steuerberater etc. (vgl. Kroeschell 1983). Die zunehmende Verrechtlichung sozialer Beziehungen und deren Monetarisierung, Formalisierung und Vermachtung können anhand der Rechtstexte gut beschrieben werden (vgl. im weiteren Habermas 1981). Des weiteren gehört hierher die seit dem Mittelalter stark anwachsende Flut von anleitenden Texten. Beflügelt durch den Buchdruck umfaßt dieses Schrifttum bald sämtliche Wissensgebiete. Als Expertendarstellungen haben diese alltagspraktischen Texte eine starke Rückwirkung auf den Alltag. Eine besondere Rolle kommt dabei den Texten zu, deren Rückwirkung auf die Sprache gewollt ist: Grammatiken, Briefsteller, Konversationsbüchlein, Orthographielehren und orthographische Wörterbücher, Stillehren, Rhetoriklehren. Die Historische Soziolinguistik geht noch einen Schritt weiter als die Textsortengeschichte, indem sie versucht, eine Verbindung von Textsortengeschichte und alltäglicher Kommunikationspraxis herzustellen (vgl. Cherubim/Mattheier 1989; s. auch Radtke 1994). Das Forschungsin-
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teresse konzentriert sich dabei bisher besonders auf das 19. Jh., da hier erstmals vermehrt Texte aus dem Alltag greifbar werden, die sich mit den Sozialstrukturen in Verbindung bringen lassen (vgl. einzelne Artikel in Cherubim/Mattheier 1989; Cherubim 1983; Grosse 1986 ; Mattheier 1986 a). Der Zugang folgt hier bisher jedoch sehr stark dem Impetus einer ‘Sprachgeschichte von unten’, einer ‘Sprachgeschichte des kleinen Mannes’ (vgl. Ehalt 1984; Schikorsky 1989) und seiner Auseinandersetzung mit der Obrigkeit. Auch das ist ein Teil des Alltags, aber Alltag bezeichnet nicht die Lebenswelt nur der Massen bzw. der Mehrheit (vgl. Ehlich 1980, 16 ), sondern die Lebenswelt aller (s. auch Stempel 1984, 152). Der Vorzug dieser Sichtweise liegt vielmehr darin, daß sich über den Alltag neben den (scheinbar) großen Lenkern der Sprachgeschichte auch die ‘normalen’ Sprachteilhaber näher fassen lassen. Eine konsequente Ausdehnung dieses soziolinguistischen Ansatzes von den direkten und unmittelbaren (face-to-face) Alltagsstrukturen auch auf die indirekten und mittelbaren schließt sich mühelos an die Theorie der sozialen Strukturen der alltäglichen Lebenswelt an, wie sie von Schütz/Luckmann (1975) skizziert wird. Die Sozialstruktur bezieht sich nicht nur auf in einer direkten Wir-Beziehung unmittelbar erfahrbare Mitmenschen („gemeinsamer Ausschnitt des lebensweltlichen Raums und der Weltzeit“; Schütz/Luckmann 1975, 75 f.), sondern auch auf Zeitgenossen, mit denen keine aktuelle Wir-Beziehung besteht, „aber deren Leben in der gleichen gegenwärtigen Spanne der Weltzeit abläuft wie das meinige“ (a. a. O., 81). Mitmenschen können durch räumliche Distanz den Status von Zeitgenossen einnehmen, Zeitgenossen können aus der Anonymität in Wir-Beziehungen treten. Der hierarchisch gestuften Lebenswelt zwischen engster Wir-Beziehung (Paar, Familie, Freundeskreis) und anonymer Ihr-Beziehung entspricht ein sprachliches Verhalten, das sich dem Grad an Anonymität bzw. dem gemeinsamen Wissens- und Erfahrungsvorrat anpassen muß. Eine solche Ausdehnung auf die mittelbaren sozialen Konstellationen und die mittelbare Kommunikation (vgl. auch die diesbezüglichen Anregungen Stegers 1984, 200) kommt auch dem Paradigmenwechsel in der jüngsten Kulturund Gesellschaftsgeschichtsschreibung entgegen, die Fragestellungen zu Mobilität, Sprache, literarischer Öffentlichkeit, Interaktionsweisen in den Mittelpunkt stellt und sich so kommunikations- und sprachwissenschaftlichen Fragestellungen nähert (vgl. etwa Bosl 1972; Glaser/Werner 1990; Heimann 1992). So kann es durchaus auch als eine der Aufgaben der Sprachge-
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schichtsforschung angesehen werden, die alltäglichen Kommunikationsnetze, ihre Entstehung, Veränderung und Frequentierung und deren grundsätzliche Bedeutung für die Entwicklung der Sprache aufzuzeigen, ohne den direkten Einfluß auf die Sprache in jedem einzelnen Fall immer beweisen und beziffern zu können. Die Geschichte der alltäglichen Kommunikation, ihrer Netzwerke und der aus ihr erwachsenden und für sie bestimmten Texte/Textsorten und deren Sprache kann damit als ein nicht geringer Teil der Sprachgeschichte gelten. Wesentliche Größen dieses Netzwerkes sind die Sozialhandul ngsbereiche (Kommunikationsbereiche): Familie/Haushalt, Nachbarschaft/Freundeskreis, Ausbildung/Beruf, Freizeit, Institutionen (vgl. auch Mattheier 1989); die Sozialhandlungsräu me (Kommunikationsräume): Haus, Hof, Kloster, Dorf, Stadt, Stadtumland, Verkehrsraum; die Kommunikationszentren: Eß-/Wohnraum, Markt, Gasthaus, Schule, Arbeitsstätte, etc. und die Kommunikationsgelegenheiten: Mahlzeiten, Einkauf, Spiel, Arbeit etc.
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Geschichte des Alltags und Sprachgeschichte
3.1. Direkte Alltagskommunikation / Alltagsgespräch 3.1.1. Familie / Haushalt / Nachbarschaft / Freundeskreis Der primäre Kommunikationsbereich innerhalb der alltäglichen Lebenswelt ist die Familie. Familie unterliegt nicht nur dem historischen Wandel, sondern ist immer auch ein heterogenes Gebilde, abhängig von der soziokulturellen Position (vgl. etwa Bosl 1975; Bulst/Goy/Hook 1981; Rosenbaum 1982; Reif 1982; Haverkamp 1984; Goetz 1986 , 34 ff.; Weber-Kellermann 1987). Kommunikationsgeschichtlich ist es wichtig, die vorindustrielle bäuerlich-kleinhandwerkliche Familie, die durch die Einheit von Produktion und Haushalt gekennzeichnet ist (Sozialform des „ganzen Hauses“), von Formen mit Trennung von Berufs- und Wohnort zu unterscheiden. In Familien mit Einheit von Produktion und Haushalt (Bauern und deren Gesinde, Handwerker mit Lehrlingen und Gesellen, sowie im Übergang zur Industrialisierung auch Heimarbeiter und Familien von Hausindustriellen) gibt es weit mehr Möglichkeiten gemeinsamer Kommunikation bei der Arbeit und in der Freizeit, wobei es in dieser Sozialform ohnehin keine scharfe Grenze zwischen Produktion und Freizeit gibt.
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Eine Sonderform bildet die adlige Familie, die in der Regel nicht selbst produziert, deren Familienleben vielmehr durch Sicherung ihrer ökonomischen und politischen Herrschaft bestimmt ist. Dem Adel ist es möglich, mehr freie Zeit in Geselligkeit zu verbringen (vgl. Buck 1981; Elias 1983). Eine Sonderform des Zusammenlebens und gemeinsamen Kommunizierens stellen auch die weltlichen und geistlichen Orden dar, sofern sie nicht ohnehin dem Schweigegebot unterliegen oder eine nonverbale Kommunikation praktizieren wie etwa die Trappisten (vgl. Bühler 1923; Bosl 1981/82, Goetz 1986, 87 ff.). Im 19. Jahrhundert ändert sich die Familienstruktur im Zuge der Industrialisierung für große Teile der Bevölkerung. Die Trennung von Arbeits- und Wohnplatz mit scharfer Trennung von Produktion und Freizeit, die zuvor den Alltag nur kleiner Teile der Bevölkerung bestimmte (vor allem der bürgerlichen Familien), wird nun zum Normalfall (vgl. u. a. Reulecke/Weber 1978). Auch Kinder werden nach Durchsetzung der Schulpflicht und der Schaffung von Kindertageseinrichtungen für einen Teil des Tages aus der Familie heraus in andere Bezugsgruppen eingebunden. Für die neue Unterschicht entwickelt sich das Verhältnis von Arbeit und Freizeit zunächst ungünstig: die durchschnittliche Arbeitszeit der Lohnarbeiter betrug um die Mitte des 19. Jhs. (in vielen Betrieben bis in die 90er Jahre) einschließlich der Pausen 13 Stunden. Die durchschnittliche Zahl der Arbeitsstunden pro Jahr lag um 1850 bei 3920 (zum Vergleich: 1981 bei 16 50); der Jahresurlaub vor 1910 betrug durchschnittlich 5 Tage. Die ‘Freizeit’, von der noch die Wegzeiten abgezogen werden müssen, diente zur reinen Reproduktion der Arbeitskraft (vgl. Jaide 1988, bes. 131 f.; Lüdtke 1982). Damit ist die Möglichkeit familiärer Kommunikation auf ein Minimum reduziert. Nicht nur die Arbeit, auch das Freizeitverhalten ist schichtabhängig (vgl. Huck 1982). Während bürgerliche und adlige Familien zunehmend Teile der Freizeit einer (ritualisierten) Geselligkeit widmen (private Geselligkeit, Salons, in Casino-Gesellschaften, Clubs, Kränzchen etc.), ist die echte Freizeit der Industriearbeiter zunächst nur auf den Sonntag begrenzt. Erst durch die Einführung der 48-Stunden-Woche durch den Rat der Volksbeauftragten 1918 und deren Durchsetzung in der Weimarer Republik entsteht die Freizeit im modernen Sinne. Für alle Schichten dürfte jedoch das gemeinsame Essen eine zentrale Kommunikationsgelegenheit innerhalb der Familie bilden, dessen For-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
men und kommunikative Möglichkeiten bisher kaum erarbeitet sind (vgl. in einem etwas anderen Zusammenhang etwa Althoff 1987; bezogen auf das gemeinsame Trinken: Matter 1987; Moulin 1989; des weiteren Mattheier 1993; zur Gegenwartssprache s. Keppler 1994). Zu Aspekten des Familienalltags s. auch Andritzky (1992); Benker (1984); Niethammer (1979); Elias (1983); Schultz (1879/196 5); Teuteberg/Wischermann (1985); OdA, 131 ff.; 142 ff.; 150 ff.; Arnold (1985); Goetz (1986 , 16 5 ff.); Vierhaus (1986 ); Bumke (1986 ); Becher (1990); Ehlert (1991); Weber-Kellermann (1991). Zur Kommunikation in der Familie der Gegenwart s. Mertens (1983, mit weiterer Literatur).
Die direkte familiäre bzw. nachbarschaftliche Alltagskommunikation ist eine Domäne der Mündlichkeit und somit historisch kaum faßbar. Doch existiert eine bisher kaum überschaubare Zahl von privaten Aufzeichnungen. Dieses private Alltagsschrifttum (family papers) ist bisher nur in kleinen Teilen überhaupt erfaßt. Welch riesiges Reservoir hier für die Erforschung der Alltagssprache noch besteht, zeigen die zwischen 200 und 300 festgestellten Hausarchive alleine im Emsland/Artland. Solche Aufzeichnungen sind zuerst aus dem Übergangszeitraum vom Mittelalter zur Frühneuzeit belegt. Seit dem Ende des 14. Jhs. sind Haushaltsrechnungen von Patrizierfamilien wie dem Kölner Hermann von Goch, den Nürnbergern Tucher und Behaim überliefert (vgl. Dirlmeyer 1990). Hierzu gehören im weiteren Sinne auch die kaufmännischen Konten- und Handelsbücher, die in größerer Zahl seit dem 17. Jh. vorliegen. Privatbriefe zwischen Familienmitgliedern sind ebenfalls seit dem Spätmittelalter belegt (vgl. dazu unten 3.2.). Tagebücher und persönliche Aufzeichnungen finden sich oft im Gefolge einschneidender Ereignisse wie Kriege oder längere Reisen (Kriegstagebücher, Veteranenberichte, Selbstbiographien etc.). Mit der Zunahme der Schreibfähigkeit finden sich solche Aufzeichnungen auch im ländlichen Raum und seit dem 19. Jh. auch in Arbeiterfamilien. Es handelt sich um Anschreibebücher, -kalender, Gedächtnisbücher, Notizen, Autobiographien, Familienbücher und Tagebücher im weitesten Sinne (vgl. Hopf-Droste, 1982; Ottenjann/Wiegelmann 1982; Mattheier 1986 a/b; Schikorsky 1989; Grosse 1989; Maas 1995; Gessinger 1980). Wichtige Textsorten für den Alltag in Familie und Haushalt sind Kalender, Prognostiken, Bauernpraktiken; eine besondere Rolle spielt dabei die sog. Hausväterliteratur (vgl. v. Polenz 1994, bes. 379 ff.).
Den nächstgrößeren Kommunikationsradius bildet die sog. Nachbarschaft einerseits und der Freundeskreis andererseits. Der Begriff der Nachbarschaft ist äußerst vage. Nachbar kann die gesamte übrige Einwohnerschaft eines kleinen Dorfes oder einer Kleinstadt, in größeren Städten die Bewohner eines Viertels, einer Straße oder eines großen Mietshauses umfassen.
9. Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte des Alltags
Gemeint ist ein eher unscharf gefaßter Personenkreis, mit dem aufgrund des Wohnplatzes (in Ergänzung oder im Gegensatz zum Arbeitsplatz) ein intensiverer alltäglicher Umgang möglich ist. Kommunikationsgelegenheiten können die gemeinsame Arbeit sein (etwa bei der Ernte, beim Hausbau etc.), zufällige Treffen beim Einkauf im Laden (OdA, 6 0 ff.), auf der Straße, am Gartenzaun, gemeinsame Freizeitaktivitäten, die besonders im Freundeskreis eine zentrale Rolle spielen. 3.1.2. Arbeit, Beruf und Ausbildung Im bäuerlichen und handwerklichen Familienbetrieb mit Einheit von Wohn- und Arbeitsplatz stimmen die Sozialkontakte im privaten und beruflichen Bereich weitgehend überein. Anders im Bauhandwerk und in den Kontoren (OdA, 51 ff.), Kanzleien (OdA, 16 1), im Transportgewerbe, im Bergbau (OdA, 21), in sog. Unternehmerwerkstätten und Manufakturen (vgl. u. a. van der Ven 1972; Eggebrecht/Fleming 1980; Stahleder 1972; Elkar 1983; Braunstein 1992; Werner 1970; Leighton 1972; Westermann 1984; Berings 1992). In diesen Sparten besteht bereits eine Kommunikationsstruktur, wie sie im Industriezeitalter zum Berufsalltag des weit überwiegenden Teiles der Bevölkerung gehört (vgl. Langewiesche/Schönhoven 1981; Ruppert 1983; 1986 ). Auf die grundlegende Änderung der Sozialkommunikation im Rahmen der Industrialisierung wurde oben bereits hingewiesen. Zum Verhältnis von Sprache und Industrialisierung s. Kettmann (1980; 1981); verschiedene Beiträge in Cherubim/Mattheier (1989); Grosse (1986 ); Mattheier (1986a/b; 1987). Mattheier (1989, 101 f.) unterscheidet drei Arten von Gruppenkontakten im Industriebetrieb des 19. Jhs.: Kontakt zwischen gleichrangigen Kollegen, Kontakt mit dem direkten Vorgesetzten und Kontakt mit dem höheren Vorgesetzten (Chef). Im Dienstleistungsgewerbe kommt ein vierter Kontakt hinzu, der überwiegend sprachlich abläuft: das Kunden-, Mandantenbzw. Klientengespräch mit mündlichen Textsorten wie ‘Beratung’, ‘Befragung’ etc. Die Kommunikation mit gleichrangigen Kollegen hängt vom jeweiligen Beruf und der Arbeitsorganisation im Betrieb ab (informelle Ausbildung, Pausen etc.). Die Kommunikation mit dem höheren Vorgesetzten findet (auch) schriftlich statt. Schriftliche Texte der innerbetrieblichen Kommunikation sind vor allem — sofern sie nicht auf den innerbetrieblichen Ablauf bezogen sind — schriftliche Eingaben (Bitten, Beschwerden, Vorschläge etc.). Neben der eigentlichen Arbeit gibt es bereits seit dem Spätmittelalter immer auch eine arbeitsbezogene Sozialkommunikation, die auf die innerbetriebliche Solidarität der Arbeitnehmer zur Durchsetzung spezifischer Arbeitnehmerinteressen gerichtet ist, die sich zur in-
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nerstädtischen, später zur überregionalen Solidarität ausweiten kann und die in Gewerkschaften, Gesellenverbänden, Gesellengilden etc. ihren institutionellen Rahmen findet (vgl. etwa Schanz 1877; Reininghaus 1981; Elkar 1983; Mattheier 1989, 102). Hier werden Textsorten wie Flugblatt, (publizierte) Protestreden, (protokollierte) Verhandlungsgespräche etc. greifbar.
3.1.3. Kommunikationszentren in Dorf und Stadt Die Kommunikationsmöglichkeiten im Dorf oder in der Stadt liegen überwiegend, aber nicht ausschließlich, im Bereich der Freizeit. Kommunikationszentren sind neben dem Marktplatz und anderen öffentlichen Plätzen alle Warte-Räume wie Läden (OdA, 6 0 ff.), das Backhaus von Backgemeinschaften, Brunnen (OdA, 119 ff.), die Mühle (OdA 35 ff.), an Sommerabenden die Schmiede, in jüngerer Zeit auch Friseur, Arzt, Verwaltung etc.; weiterhin Stätten gemeinsamer Beschäftigung wie der Waschplatz, die Almende etc., Orte gemeinschaftlichen Aufenthaltes wie Gasthäuser (vgl. etwa Potthoff/ Kossenhaschen 1933), Trinkstuben, Badehäuser, Vereinshäuser, seit dem 17. Jh. die Cafés (das erste deutsche 16 77 in Hamburg), im 19. Jh. die Kneipen, Trinkhallen, Sportplätze etc. sowie Orte längeren gemeinschaftlichen Aufenthaltes wie Gefängnis (OdA, 250 ff.), Wohn-, Alters-, Jugendheim, Sanatorium, Spital, Krankenhaus (OdA, 26 0 ff.), Kaserne (OdA, 227) etc. Nur wenige dieser Zentren lassen sich auch in ihrer sprachhistorischen Dimension fassen. Kommerzielle Gasthäuser (Peyer 1983; 1987; Potthoff/Kossenhaschen 1933) dienen seit dem Spätmittelalter „auch zum Abschluß von Geschäften, als Vergnügungsstätten und als Versammlungsorte für die Bevölkerung der Umgegend“ (Ohler 1991, 130). Einen guten Eindruck über den „Treffpunkt Badestube“ vermittelt die Beschreibung des Badewesens (in Baden im Aargau) durch den Italiener Poggio di Guccio Bracciolini (1417) (vgl. Irsigler/Lassotta 1993, 97 ff.). Schlieben-Lange (1983, 83) stellt besonders das Café als „Institution der Mündlichkeit“ mit einer Mischung aus „Börse, Umschlagplatz von Neuigkeiten und literarischer Veranstaltung“ heraus (vgl. dazu auch Schivelbusch 1980; Heise 1987; OdA, 111 ff.).
Die Jugend sucht sich von jeher eigene Kommunikationsräume. Die dörflichen und städtischen Spinnstuben (Lichtbuden, Rockenstuben, Kuchelstuben) als Treffpunkte der älteren unverheirateten Jugend werden in dieser Funktion faßbar seit der Frühneuzeit. Sie haben bis ins 19. Jh., auf dem Lande bis in das 20. Jh. eine wichtige soziale Funktion. Die Arbeit an Spinn- und Webstühlen spielt dabei eine nachgeordnete Rolle; die Spinnstube dient in erster Linie dem gemeinsamen Essen, Tanzen, Singen, Erzählen und durchaus auch sexueller Betätigung (vgl. Medick 1982). Im Industriezeitalter entstehen neue Formen. Neben den Cafés, Gaststätten und Clubs entste-
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hen die Eckkneipe (Dröge/Krämer-Badoni 1986 ) und bes. in Industriegebieten mit hohem Anteil an Nachtschichten wie im Bergbau Einrichtungen, die der Spät- bzw. Nachtschicht Rechnung tragen, wie die sog. Schnapskasinos, die nach der Sperrstunde den Bergleuten noch Gelegenheit zum Abkühlen, Trocknen und zum Trinken gaben. Neben den Wirtshäusern sind diese Schnapskasinos „Stätten geselliger Kommunikation und politischer Diskussion“ (Thole 1989, 139). 1894 gab es im Ruhrgebiet 110 solcher Einrichtungen mit über 16 000 meist jüngeren Mitgliedern. Seit der Weimarer Zeit unterliegen Kommunikationszentren für Jugendliche einer zunehmenden Institutionalisierung: es entstehen kirchliche und städtische Jugendtreffs. Daneben etabliert sich besonders seit den 50er Jahren eine Jugendkultur mit eigenen Kommunikationszentren: Diskotheken, Spielhallen etc. Bis ins 19. Jh. hinein stellen die Städte wie die Dörfer einen mehr oder weniger überschaubaren Raum dar. Im Industriezeitalter brechen die vielfach noch ummauerten Städte auf. Die Eisenbahn und neue Industrieanlagen verändern das Stadtbild (allgemein s. Reulecke 1978; 1985; Teuteberg 1983). Der Sog der Industrieanlagen führt zur Landflucht, die die Städte schnell anwachsen läßt. Städte werden zu großregionalen, nationalen und in manchen Fällen zu internationalen Schmelztiegeln. Damit verändert sich auch der Alltag großer Teile der Bevölkerung (am Ende des 19. Jhs. leben nur noch 17 von 67 Mio. Deutschen direkt von der Landwirtschaft). Besonders deutlich wird die explosionsartige Zunahme der Bevölkerung in Berlin (1815: 197 000; 1870: 800 000; 1905: 3 Mio. Einwohner). Mit einer Behausungsziffer von 70 Personen pro Wohnhaus gilt Berlin um die Jahrhundertwende als die am dichtesten bevölkerte Stadt in Europa. Noch extremer verläuft die Entwicklung in einigen Kleinstädten des Ruhrgebietes. In Hamborn z. B. wächst die Bevölkerung zwischen 1890 und 1910 von 5000 auf über 100 000. Einen wichtigen Modernisierungsschritt stellt die Beleuchtung der Städte dar (Schivelbusch 1983). Vereinzelt zunächst werden die Städte um die Mitte des 19. Jhs. mit einer Gasbeleuchtung versehen, dann mit elektrischem Licht, das die Städte bei Nacht zu einem Faszinosum werden läßt. Die Illumination der Städte, die den Tag erheblich verlängert und erst ein Nacht-Leben ermöglicht, verändert auch den Alltag der Städte. Eng mit der Entwicklung der modernen Stadt verbunden ist eine Textsorte, die zuvor nur ein Randdasein in Zeitungen und Zeitschriften geführt hat und im 19. Jh. in das Stadtbild drängt —
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
der Werbetext (mit oder ohne Bild) auf Wänden, Litfaßsäulen, in Schaufenstern, allgegenwärtig und unübersehbar. Eine weitere, noch tiefergreifende Veränderung erfährt die Stadt seit den 1950er Jahren. Mit der Massen-Automobilisierung und der damit verbundenen Stadtumlandzersiedlung verändern die Städte nicht nur weiter ihre Struktur durch ein vergrößertes Weichbild (Tankstellen, Autowerkstätten, Supermärkte etc.), sondern die Innenstädte stellen heute nur noch einen temporären Kommunikationsraum dar (tagsüber während der Geschäfts- und Bürozeiten und abends als Feierabendtreff). Die germanistische Sprachwissenschaft hat in den letzten Jahren mit dem Arbeitskreis ‘Historische Stadtsprachenforschung’ einen Forschungsschwerpunkt etabliert (vgl. Maas/Mattheier 1987). Dabei geht es um die vielfältigen Schichtungs- und Überschichtungsprozesse in Städten mit eigener Schrifttradition und um die innerstädtischen Modernisierungsprozesse in der Frühneuzeit. Zum Alltag und zur Kommunikation in Dorf und Stadt s. u. a. Bosl (196 6 ); Donat (1980); Brüggemann/Riehle (1986 ); Weber-Kellermann (1987; 1988); Amman (1948); Maschke/Sydow (1977): Ennen (1979); Mitterauer (1980); Das Leben in der Stadt des Spätmittelalters (1980); Maschke (1980); Fleckenstein/Stackmann (1980); Endres (1982); Moeller/Patze/Stackmann (1983); Steuer (1984); Benevolo (1984); Haase (1978); Rüthing (1986 ); Pleticha (1985); Engel (1993). Zur Rolle der Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte s. Art. 168—172.
3.1.4. Kommunikation im Verkehrsund Wirtschaftsraum Einen weiteren Kommunikationsradius stellen das Einzugs- bzw. Ausstrahlungsgebiet eines Klosters, eines Hofes oder einer Stadt dar. In diesem von der sprachhistorischen Forschung noch wenig beachteten Bereich können Methoden der Kulturraumforschung und der modernen Dialektologie nutzbar gemacht werden. Eine besondere Rolle kommt der bisher in diesem Zusammenhang ebenfalls kaum beachteten Zentralitätsforschung zu (vgl. etwa Schöller 1972; Irsigler 1987). Klöster haben seit dem Frühmittelalter bis z. T. weit in die Frühneuzeit hinein „eine besondere Funktion im Verkehrs-, Herbergs- und Nachrichtenwesen“ (Bosl 1972, 44). Haubrichs (1979) hat am Beispiel der Abtei Prüm in der Eifel (9.—11. Jh.) die kulturellen und kultischen Bindungen eines Klosters, die immer auch kommunikative Verbindungen darstellen, aufgezeigt: Fernbesitzungen, verbrüderte Klöster, literari-
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sche Beziehungen, Handschriftenschübe, persönliche Beziehungen der Mönche, Klöster, mit denen nekrologische Notizen getauscht wurden, Reliquienimport und -export, Verbindungen mit Heiligenkultorten. Für Höfe und Städte gilt ein solches Beziehungsnetzwerk seit dem Hoch- und Spätmittelalter in noch weit stärkerem Maße. Sie bilden als Residenzen, Kirch- und Gewerbezentren politische, wirtschaftliche und geistige Mittelpunkte (vgl. Schöller 1972). Die Kommunikation im Verkehrsraum findet durch Pendlertum und Reisen direkt statt, reicht aber aufgrund der größeren Distanzen bereits hinüber zur Fernkommunikation (vgl. 3.2.). 3.1.5. Unterwegssein Reisen gehört zum gesellschaftlichen Alltag. Durch Reisen werden latent bestehende Kommunikationsnetze und -kontakte aktiviert, neue aufgebaut (vgl. Bosl 1972; Moraw 1985; Ohler 1991; Müller 1992). Für große Gruppen der Gesellschaft bestimmt das Unterwegssein den Alltag: Hierzu gehören die Fahrenden, Nichtseßhaften, die Ausgestoßenen und Vogelfreien, Zigeuner, Wanderschauspieler, ambulante Händler, Kriminelle (vgl. Graus in: Moraw 1985, 93 ff.; Hampe 1902). Andere sind häufig aus beruflichen Gründen unterwegs: im Mittelalter der gesamte Hofstaat, Boten, Fernkaufleute, Händler, Vertreter, Transporteure, Seeleute und Schiffer auf Binnengewässern, Soldaten, Wanderprediger etc. Wieder andere sind nur gelegentlich oder während einer bestimmten Lebensphase unterwegs: Pilger/ Wallfahrer (vgl. Schmugge in: Moraw 1985, 17 ff.), Kreuzfahrer, Studenten (vgl. Miethke in: Moraw 1985, 49 ff.), Handwerksgesellen (vgl. Schulz in: Moraw 1985, 71 ff.), Entdeckungs- und Forschungsreisende, Abenteurer, Flüchtlinge und Asylsuchende, Bildungsreisende und Touristen (vgl. Moraw 1985; Ohler 1991; Bausinger/Beyrer/Korff 1991; Knefelkamp 1992; Wallfahrt und Alltag 1992).
Zu den vielfältigen Kommunikationsräumen am Ziel kommen die Kommunikationsgelegenheiten während der Reisen: in der Postkutsche, im Zug, in Gasträumen von Klöstern, in Spitälern, Herbergen, Gasthäusern, seit dem 18. Jh. in Hotels und Restaurants. Kommunikationsgelegenheiten sind der gemeinsame Weg, Essen und Trinken, das Warten in den Wartestationen der Post sowie das Aufwärmen in den Wärmeräumen (vgl. Ohler 1991, 106 ff.; Peyer 1983; 1987). Mit der Einführung von in beiden Richtungen verkehrenden Wagen (Postkutschen) um die Mitte des 17. Jahrhunderts zur Beförderung größerer und schwererer Sendungen ergibt sich eine
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neue Reisemöglichkeit für Personen (erste Kurse Memel-Danzig, Königsberg-Warschau, BerlinKleve, Leipzig-Hamburg) (vgl. u. a. Beyrer 1985). Diese ist jedoch kostspielig; so beträgt der Fahrpreis von Berlin nach Aachen z. B. noch um 1850 mehr als ein Halbjahresverdienst einer Heimarbeiterin (vgl. Leclerc 1989). Mit der Eröffnung der Ludwigs-Eisenbahn am 7. 12. 1835 zwischen Nürnberg und Fürth beginnt auch in kommunikationsgeschichtlicher Sicht ein neues Zeitalter. Die Eisenbahn ist nicht nur die Wegbereiterin der Industrialisierung, sondern bedeutet auch für den Einzelnen eine neue, bisher nicht vorstellbare Art der horizontalen Mobilität (zur Eisenbahngeschichte s. Schadendorf 196 5; Barret 1979; Schivelbusch 1977). Bereits der Bau der Eisenbahn brachte zigtausende von Menschen aus den unterschiedlichen Landesteilen zusammen (vgl. Glaser 1994, 25 f.). Die Eisenbahn selbst wurde in Deutschland mit Hochdruck zu einer neuen Infrastruktur ausgebaut: 1845 war das Streckennetz bereits 2200 km lang, 1850 7500 km, um die Jahrhundertwende bereits über 50 000 und 1917 6 5 000 km. Neben den Vollbahnen spielten auch die regionalen Kleinbahnen eine beachtliche Rolle für die Mobilität; 1909 lag Deutschland mit einem Streckennetz von 756 5 km in Europa (hinter Ungarn) an zweiter Stelle (Grube/Richter 1979, 274 ff.). Die Beförderungszahlen nehmen bes. gegen Ende des Jahrhunderts sprunghaft zu. So wurde der Personenverkehr in Dresden in nur 10 Jahren (1883— 1893) verdoppelt (auf 4,6 Mio.). Mit den Eisenbahnen verändern sich auch die Städte. Ein neuer zentraler Kommunikationsraum entsteht: der Bahnhof mit Gaststätten, der Bahnhofsplatz und die Bahnhofstraße mit Hotels, Läden und Gaststätten. Der Eisenbahn voraus ging bereits die Erfindung des Velocipeds 1816 , der erste Schritt zum modernen Individualverkehr und eine Möglichkeit rascher individueller Fortbewegung auch für ärmere Bevölkerungsschichten, die sich kein Reitpferd leisten konnten. Nur eine Generation später erfolgt der nächste Schub — die Erfindung des Gasmotors und des Automobils 1886 , des Motorrads 1885, des Motorboots 1888 und des motorbetriebenen Flugzeugs 1905 (vgl. Eckermann 1981; Frankenberg/ Matteucci 1973). Im Jahre 1914 sind in Deutschland bereits über 76 000 auto-mobile Fahrzeuge gemeldet, 1939 über 1,4 Mio. PKW und über 1,7 Mio. Krafträder. Nach dem Krieg wird die Millionengrenze bei den PKW im Jahre 1953 wieder überschritten. Jetzt setzt die Massenmotorisierung in der Bundesrepublik ein: 1970 über
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13 Mio. PKW, 1985 über 25 Mio. PKW und 1990 über 33 Mio. PKW. Eine wesentliche Voraussetzung der Massenmobilität ist die Qualität der Verkehrswege (vgl. Lay 1994). Die Straßen des Mittelalters bis in die Neuzeit waren schmal, uneben, löchrig oder schlammig. Zwar befestigte man bereits im 18. Jahrhundert die Wege durch Kalksteine (Chau ssee < via calciata), doch erst mit der Erfindung des Schotterbelags durch John London McAdam 1816 (Makadamstraßen) verbesserte sich das Straßenwesen in Mitteleuropa deutlich. Weitere Schritte zum modernen Verkehrswesen stellen die Erfindung des Asphalts in den USA (1882 wird die erste Straße in Berlin asphaltiert) und die in den 30er Jahren zuerst in Deutschland in großem Stil ausgebaute vierspurige Straße mit voneinander getrennten Richtungsspuren (Autobahn) dar. Auch die Wasserwege werden durch Regulierung, Begradigung und Verbindung durch Kanäle zunehmend zu einem hochfrequenten Wegenetz ausgebaut. Der moderne Straßenbau und die zunehmende Automotorisierung bringen nicht nur immer mehr Menschen in immer größeren Entfernungen zusammen, sondern führen auch zu einer weiteren räumlichen Trennung von Arbeits- und Wohnplatz. Das Unterwegssein — aus welchen Gründen auch immer — bedingt oder fördert eine ganze Palette von Textsorten. Zunächst einmal die Wegezeichen: Ortsschilder, Straßenschilder, Verkehrszeichen. Bereits in ahd. Zeit existieren Übersetzungshilfen für den Kontakt zwischen Romania und Germania: Die sog. Kasseler und Pariser Gespräche enthalten alltagssprachliche Wendungen (vgl. Haubrichs/Pfister 1990; auch Löffler 1985, 207 f.). Dies setzt sich fort mit Vokabel- bzw. Gesprächsbüchern seit dem 15. Jahrhundert (wie etwa die lat.-ital.-tschech.-dt. Phrasensammlung des Johannes von Mosbach aus dem 15. Jh., das ital.-dt. Sprachbuch Meister Jörgs von 1424 oder der ital., griech., türk., dt. sog. Vocabulario nuovo [...], Venedig 1571). Diese Textsorte, die bis in unsere Gegenwart immer mehr anschwillt, ist noch nicht komplett erfaßt und gesichtet. Das Reisen erleichtern sollen Straßenkarten und -führer, zunächst in Form von einfachen Itineraren (wie etwa die Nürnberger Itinerarrolle von etwa 1520) und in Form von Routenhandbüchern (beginnend mit Jörg Gails ‘Raißbüchlein’, vgl. Krüger 1974).
Daneben etabliert sich die anleitende Literatur zunächst in Form von Pilgerführern, dann allgemein als ‘Reiseführer’, die seit dem 16 . Jh. in Gestalt der Apodemik (erstmals so genannt bei: Theodor Zwinger, Methodus apodemica 1577) eine besondere Form hervorbrachte: Anweisungen zum richtigen Verhalten und Beobachten auf
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
Reisen, wie auch das Reflektieren von Reisen (vgl. Stagl 1983). Neben der Anleitung steht die Information (und Unterhaltung) ex post: Reisebericht, -beschreibung, -schilderung (vgl. Lepszy 1952; H. Opitz 1981; Krasnobaev/Robel/ Zeman 1980; Maczak 1982; Brenner 1989; Friedrich 1972). Eine wichtige, bisher wenig beachtete Textsorte stellen die (Reise-)Pässe dar. Sie bilden eine Fundgrube für die historische Namen- und Fachsprachenforschung (Berufsbezeichnungen). 3.2. Indirekte Kommunikation / Mediengeschichte Die Fernkommunikation erfolgt bis zur Technisierung der Kommunikation im 19. Jahrhundert über einen Mittler (Gesandter, Botschafter, Bote, Post), der eine Nachricht mündlich oder schriftlich überbringt. Grundlage eines solchen Systems ist das mittelalterliche Botenwesen (vgl. Kießkalt 1935; Lauffer 1954; Szabó 1983; Gerteis 1989; Schneidmüller 1989; Heimann 1992). Im frühen und hohen Mittelalter herrscht die fallweise, institutionell gesonderte Nachrichtenübermittlung vor. Im Spätmittelalter bilden sich dann die städtischen Botenanstalten und die Nachrichtensysteme der Kaufmannsgesellschaften sowie einiger anderer Institutionen (etwa Universitäten) mit ihren regelmäßigen Botenkursen heraus. Ende des 15. Jahrhunderts bestehen feste Botenkurse zwischen den wichtigen europäischen Städten. Mit Hilfe der Frequenz der Botenläufe läßt sich ein interstädtisches Kommunikationsnetz nachzeichnen. Heimann (1989/90) zeigt anhand von rund 6 00 Ortsnennungen der Kölner „Boten mit der Silberbuchse“ zwischen 1370 und 1380 folgende Botenläufe: Aachen 120, Bonn 85, Mainz 35, Frankfurt/M. 27, Ehrenbreitstein/Koblenz 27, Neuss 24, Düren 19, Andernach 17, Brühl 16 , Brüssel 11 (alle übrigen unter 10). Ähnliche Netze lassen sich für andere Städte wie Augsburg, Bern, Wesel, Trier, Aachen (vgl. Heimann 1992) oder Nürnberg (vgl. Sporhan-Krempel 1968) zeichnen.
Die Haupttextsorte dieser Kommunikation ist der Brief (< breve = kurzes Schreiben, Urkunde) (vgl. Steinhausen 1889/1891/196 8). Für die Sprachgeschichte des Alltags steht dabei der Privatbrief im Vordergrund (vgl. Steinhausen 1899/ 1907; Bürgel 1976 ; Metzler 1987). Privatbriefe zwischen Familienmitgliedern sind seit dem Spätmittelalter belegt. Berühmt sind etwa der Briefwechsel Paulus Behaims mit seinen Geschwistern oder des Ehepaares Balthasar und Magdalena Paumgartner. Mit dem Fortschreiten der Alphabetisierung und der Entwicklung des Postwesens (bes. durch das Einführen des Por-
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tos) breitet sich das Schreiben von Privatbriefen aus. Anlässe für das Schreiben von privaten Briefen sind in der Regel Trennungen von Familienmitgliedern, Freunden oder Liebenden aufgrund von Reisen, Militärdienst oder Kriegen (Feldpost), auswärtige Dienststellung, Migration. Es finden sich aber auch private Geschäftsbriefe u. a. Privatbriefe der Neuzeit sind bisher erst in kleiner Zahl erfaßt oder gar Gegenstand von Untersuchungen. Mit der Einführung der Postkarte in den 186 0er Jahren verändert sich die postalische Kommunikation. Das Briefgeheimnis wird preisgegeben, und es bleibt vom Brief nichts übrig „als die petitio und die zu Adresse und Absender minimalisierte salutatio und conclusio“ (Siegert 1993, 16 0). Die Postkarte wird bereits im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 als Feldpost Correspondenzkarte zum Massenmedium. Die phatische Funktion der Postkarte wird durch die Einführung der Bildpostkarte/Ansichtskarte weiter verstärkt. Die Entwicklung der Fernkommunikation der Frühneuzeit ist geprägt durch das nahezu gleichzeitige Auftreten mehrerer Innovationen. Als bahnbrechende Innovation im Bereich der Dienstleistu ng gilt die Einrichtung eines Netzes regelmäßig verkehrender Stafettenreiterei mit festen Relaisstationen (Posta) und einer Beförderung bei Tag und Nacht durch die Familie Taxis (erster Kurs Mecheln-Innsbruck). Das organisierte Postwesen steht ab 1484/1490 als instrumentum regni (Verträge ab 1505) im Dienst der Habsburger. Im Anschluß an die Postreform in den 1590er Jahren hin zur Reichspost (kaiserliches Postregal) mit Monopolstellung bei der Briefbeförderung erhält die Post eine wesentliche Funktion als Kommunikationsnetzwerk im Rahmen der Kommunikationsgeschichte. Eine wichtige Voraussetzung dafür bildet die Einführung des Portos (16 00), die es nun vermehrt Privatleuten gestattet, das Netzwerk zu nutzen (vgl. Voigt 196 5; Dallmeier 1977; Schilly 1983; Gerteis 1989; Lotz 1989; Behringer 1989; Glaser/ Werner 1990; Heimann 1992; Siegert 1993). Die Effizienz des Systems wird noch gesteigert durch die Mehrfachnutzung des gleichen Systems (Stichwort: Personenbeförderung durch Einführung von Fahrposten seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, vgl. oben) sowie die Beschleunigung innerhalb des Systems durch Eilposten und schließlich die Verlagerung des Systems von der Straße auf den Schienenweg (ab 1848). Ab 1903 (zuerst in Köln) beschleunigen die ersten Motorpostwagen die Verteilung. Zwischen 1872 und 1910 versechsfachen sich die Postsendungen von 972 Mio. auf über 5,9 Milliarden.
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Die Entwicklung des Postwesens bedingt ebenfalls eine Reihe von neuen Textsorten für den Alltag. So existieren bereits im 17. Jahrhundert Fahrpläne, eine Art Fahrtenbuch (der Stundenzettel), Entfernungsübersichten (Meilenzeiger/Meilenscheibe) und die Postroutenkarte, deren Vorläufer die Pilgerkarten (älteste gedruckte ist die um 1500 gedruckte Romwegekarte des Nürnberger Karten- und Kompaßmachers Erhard Etzlaub) und die frühen Straßenkarten wie die Europakarte Martin Waldseemüllers von 1511 sind (vgl. Pfaehler 1989). Eine wichtige Textsorte aus dem Alltag des Postwesens sind die Post-Beschwerdebücher. Eine der ganz großen technischen Innovationen mit direkter sprachgeschichtlicher und kommunikationspraktischer Auswirkung ist die Einführung des Drucks mit beweglichen Metallettern durch Gutenberg und seine Nachfolger (seit der Mitte des 15. Jahrhunderts) (vgl. unten Art. 125; Hirsch 1974; Eisenstein 1979; Hartweg/Wegera 1989 mit weiterer Literatur). Die sprachgeschichtliche Dimension liegt nicht nur in der direkten Auswirkung auf die Entstehung und Entwicklung der nhd. Schriftsprache (vgl. Art. 167), sondern auch in der Veränderung des Textsortenspektrums (beides ist gar nicht zu trennen). Die umfangreichen, großen (und teuren) Folianten weichen dem Kleinschrifttum. Texte werden zunehmend zum Lesen und weniger zum Vorlesen hergestellt, die Fachliteratur erhält einen starken Impuls (s. auch Giesecke 1980). Es bildet sich ein Buchmarkt heraus, dessen Entwicklung in Grundzügen dokumentiert ist (vgl. dazu u. a. Widmann 196 5; 1975; Lülfing 196 9; Engelsing 1973; 1974; Schulz 1981; Weinmayer 1982; Maas 1985; Goldfriedrich 1908; Schenda 1970; Gruenter 1977; Kiesel/Münch 1978; Wittmann 1982; v. Polenz 1991 a, 129 ff.; 1994, 15 ff.). Dem Buchdruck voraus geht die Einführung der Papierherstellung in Europa (aus China über die arabische Welt). Die ersten Papiermühlen finden sich Ende des 14. Jahrhunderts (vgl. Santifaller 1953). Als weitere wichtige technische Innovation, die das Leseverhalten entscheidend beeinflußt, gilt die gewerbsmäßige Herstellung und Vertreibung der Brille (< beryll) im 16 . Jahrhundert (nach Vorläufern seit dem 13. Jh.; vgl. v. Polenz 1991 a, 13 f.). Bestimmte wichtige Schriftmedien werden erst durch den Druck möglich: Flugblatt, Flugschrift und Zeitung. Das Buch spielte bisher im Alltag nur weniger Leute eine Rolle. Mit den neuen erstmals in großer Zahl verbreiteten Texten gewinnt die Mediengeschichte einen größeren Anteil an der Alltagsgeschichte immer breiterer Kreise.
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Die Flugschriftenliteratur beginnt um 1500 (vgl. Schwitalla 1983). Mit dem neuen Medium wird eine Vielzahl an Textsorten für den Alltag transportiert: Rezepte, Prophezeiungen, in der Hauptsache aber agitierende und propagierende Texte (Sermone, Sendbriefe, Gravamina, Artikel etc.). Der Übergang über den aktuellen Gebrauch hinaus zu literarisch oder akademisch anspruchsvolleren Texten ist fließend, so vor allem bei den fiktionalen Textsorten (Dialoge, Lieder, fiktive Briefe etc.). Zu den Flugschriften s. auch Koszyk 1972; Winkler 1974; Ukena 1977; Wettges 1978; Köhler 1981; Harms 1985; Schilling 1990. Neben den brieflich mitgeteilten Zeitungen (< tidinge, zidinge, zidu nge) (vgl. Werner 1975; Lindemann 1978) stellen die seit 1502 sporadisch erscheinende sog. Newe Zeitung und die seit 1558 periodisch (2—3 mal jährlich) erscheinenden Meßrelationen die Grundlage des modernen Zeitungswesens dar. Die erste gedruckte Wochenzeitung, die die Merkmale einer modernen Zeitung — Aktualität, Publizität, Periodizität — erfüllt, ist der Aviso von 16 09 (vgl. Engelsing 196 0). Modernisierungsschübe sind hier die Einführung der frühkapitalistischen Produktions- und Vertriebsmethoden als kommerzielle Innovation um 1770 und die verschiedenen technischen Innovationen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit der Einführung des billigeren Holzschliffpapiers (1844), des Rotationsdrucks (186 3/1872), der Setzmaschine (1884), durch schnellere Beförderung in Nachtschnellzügen (seit den 1950er Jahren) und durch Mitfinanzierung des Drucks über Werbeeinnahmen wird die Zeitung zum ersten Massenmedium (vgl. Weller 1872/196 2; Schottenloher 1922/ 1985; Dresler 1929; Münster 1941; Koszyk 196 6 ; 1972; Lindemann 196 9; Fischer 1972; Welke 1977; Hagelweide 1985; Bobrowsky/Duchowitsch/Haas 1986 ; Blühm/Gebhard 1987; Hunziker 1988; Kästner 1992). Bereits um 1700 existieren rund 6 0 periodisch erscheinende Zeitungen. Um 1800 erscheinen in etwa 150 dt. Städten Tageszeitungen mit einer Auflage von insgesamt 300 000 Exemplaren. Die Zahl der Zeitungen wird auf 200—300 geschätzt (vgl. v. Polenz 1994, 39). Bis 1895 steigt die Zahl der Zeitungen in Deutschland auf über 10 000. Zur Sprache und zur Auswirkung auf die deutsche Sprache s. Fritz 1990; v. Polenz 1991 b; 1994).
Eine sozialgeschichtliche Innovation stellt die Entstehung einer neuen (reformatorischen) literarischen Öffentlichkeit dar, die im Rahmen der großen religionsgeschichtlichen und politischen Auseinandersetzungen des 16 . Jahrhunderts entsteht. Der Begriff der Öffentlichkeit erhält eine (neue) politische Bedeutung: ‘dazu bestimmt, daß etwas für jeden bekannt werde’ (Ukena
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
1977, 36 ) (zum Begriff vgl. Hölscher 1979; Wohlfeil 1982, 123—132; 1984). Diese neue Öffentlichkeit setzt eine Steigerung des Lesenkönnens voraus. In den protestantischen Ländern wird die Alphabetisierung (vgl. unten Art. 175) zwar durch Schulreformen gefördert, doch wird für das 16. Jh. in Städten mit nicht mehr als 10% lesefähiger Bevölkerung gerechnet. Das heißt, daß dem Lesenhören zunächst noch eine größere Bedeutung zukommt (vgl. v. Polenz 1994, 20). Erst mit der Einführung der Schulpflicht steigt die Zahl der Alphabeten und Halbalphabeten allmählich (Engelsing 1973; 1974; Lundgreen 1980/81). Verbunden mit der Umstellung des alten zünftisch organisierten Reichsbuchhandels zum modernen Buchhandel führt dies im letzten Drittel des 18. Jhs. zu einem starken Anstieg des Lesens, der als Leserevolu tion bezeichnet wird. Neue Leserkreise etablieren sich, die sich aufgrund der hohen Abonnementpreise etwa für Zeitungen zum Teil in Vereinen (Lesegesellschaften; vgl. Prüsener 1972; Dann 1981) organisieren; Leihbibliotheken werden eingerichtet (vgl. Jäger/Schönert 1980). Lesesäle, Lesekabinette und Lesehallen (auch getrennte sog. Damenlesehallen), die wiederum zu Kommunikationszentren des Alltags werden, eröffnet. An dieser Leserevolution hat auch die Landbevölkerung einen gewissen Anteil (vgl. Wartburg-Ambühl 1981; Wittmann 1982; Ziessow 1988). Mit der neuen ‘Lesewut’ geht eine Differenzierung der Printmedien einher. Neben Zeitung und moralischer Wochenschrift etabliert sich eine Vielzahl von Zeitschriften (< Journale) (genaue Zahlen bei Kirchner 1958/6 2; s. auch Wittmann 1982; Wehler 1987, I; Fischer 1972; v. Polenz 1994, 38 f.). Zur Entwicklung des Zeitungswesens seit dem 19. Jh. s. Art. 158. Eine dritte Form stellt das sog. Intelligenzblatt dar. Seit 1721 erscheinen diese Anzeigenblätter mit einem starken Alltagsbezug (vgl. Böning 1994). Neben dem Gedruckten bleibt die Handschrift bis ins 20. Jahrhundert dominierend im Brief- und Archivwesen. Dies beginnt sich erst mit der Erfindung der Schreibmaschine (186 4/ 6 9) und deren Einführung im Bürowesen am Ende des 19. Jhs. zu ändern (Martin 1949). Nahezu hundert Jahre hat die Schreibmaschine seitdem den öffentlichen Schriftverkehr geprägt. Das Schreiben mit Hilfe einer Tastatur hat sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte immer stärker ausgedehnt: Computertastaturen, Taschenrechner, Kassen etc. Für die Vervielfältigung von Typoskripten stellen Kopierer und Computer einen neuerlichen Innovationsschub dar. Mit der Einführung der Schreibmaschine verändert sich neben dem beruflichen auch der pri-
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vate Alltag vieler Familien, da sich ein typischer Frauenberuf — die Sekretärin (als Schreibkraft oder Datentypistin) — herausbildet, ein Zustand, der sich auch im Zeitalter der Personalcomputer weitgehend erhalten hat. Die technisierte Kommunikation des 20. Jhs. (s. etwa Weingarten/Fiehler 1988) eröffnet zuvor ungeahnte Möglichkeiten durch die direkte Übertragung von sprachlichen Daten über weite Entfernungen (Telegraphie, Telefon u. Telefax, Funk) und die beliebige Reproduktion von gespeicherten Texten (Tonband, Videorekorder, Computer). Dabei durchdringt die Technik die Kommunikation derart, daß jedes Element des Kommunikationsprozesses durch Technik ersetzt werden kann (vgl. Zoeppritz 1988, 110). Nebenbei erlaubt die Technik auch, gesprochene Alltagstexte zum Zwecke wissenschaftlicher Analyse aufzuzeichnen und verfügbar zu halten, wodurch sich auch die Sprachgeschichtsforschung erheblich verändert. Mit der Erfindung des Telefons in den 186 0er und seiner Einführung in Deutschland in den 1870er Jahren wird die direkte mündliche Fernkommunikation möglich (Genth/Hoppe 1986 ), die Textsorte ‘Telefongespräch’ entsteht (Schenker 1977) mit ganz neuen — allerdings erst in der unmittelbaren Gegenwart exzessiv genutzten Kommunikationsmöglichkeiten (Telefonmarketing, Telefonsex, Telefonterror etc.). Diese Art der Kommunikation, bei der die Übertragungstechnik den ‘Boten’ ersetzt, verändert das Kommunikationsverhalten erheblich. Bereits 1912 haben in Deutschland 39 500 Orte eine eigene Fernsprechanstalt, die insgesamt über 2,3 Mio. Gespräche vermitteln (Ritter/Kocka 1977, II, 93); im Jahre 1986 beträgt die Gesamtzahl aller Telefone in der Bundesrepublik 50 Mio. (26 ,6 Mio. Hauptanschlüsse). Das Telefon hat sich rund hundert Jahre lang nicht prinzipiell verändert (einmal abgesehen von der Einführung der Direktwahl noch zu Beginn des 20. Jhs.). Erst die Einführung der digitalisierten Übermittlung, des Mobilen Telefons und die Verbindung von Computer und Telefonsystem bedeuten eine qualitative Veränderung in der gegenwärtigen Kommunikation. Die Erfindung von Funk und Film führt zu einer Rezeption von indirekter Kommunikation in großem Stil. Eine Theateraufführung erreicht nur jeweils relativ wenige Zuschauer, Film (über zahlreiche Kopien), Radio und Fernsehen jeweils ein Millionenpublikum (vgl. Toeplitz 1973; Eurich 1983; Dahl 1978; 1983). Filme werden in neuartigen Kommunikationszentren, den Kinos, aufgeführt (1905 werden die ersten deutschen Kinoläden in Berlin eröff-
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net). Neben den festen Kinos existiert noch längere Zeit das Wanderkino, das vor allem die ländlichen Regionen versorgt. Diese Institution hat ihre Fortsetzung bis heute in Form des Filmverleihs (Landesbildstellen) an Schulen und andere Bildungseinrichtungen gefunden. Das (Rund-)Funkwesen beginnt in Deutschland in den 1920er Jahren, wird aber erst durch die Einführung des ‘Volksempfängers’ in den 30er Jahren zum Massenmedium (1939 gibt es in Deutschland bereits 10 Mio. Rundfunkteilnehmer; 1976 sind 97% aller bundesdeutschen Haushalte mit mindestens einem Radio ausgestattet). Weit stärker als das Radio hat die noch relativ kurze Geschichte des Fernsehens den Alltag verändert (vgl. Art. 159 mit mehr Zahlen und weiterer Literatur). Am 22. 3. 1935 wird in Berlin das erste öffentliche Fernsehen der Welt, der Deutsche Fernsehfunk, eröffnet. Bis in die 6 0er Jahre spielte das Fernsehen aber keine große Rolle im alltäglichen Leben. Bei Sendebeginn der ARD (1. 11. 54) gab es in der Bundesrepublik 53 377 Fernsehgeräte. Als 9 Jahre später das ZDF an das Netz geht, sind bereits 34% aller bundesdeutschen Haushalte mit einem Gerät ausgestattet, wieder 10 Jahre später bereits 87% (vgl. Art. 154). Sprachgeschichtlich bedeutsam sind neben den neuentstandenen Textsorten (Film, Hörspiel, Nachrichtensendung, Moderatorentexte, TalkShow, Interview etc., vgl. Schenker 1977; Schwitalla 1993) die Einflüsse der Massenmedien auf Sprache und Sprachverhalten (vgl. hierzu Art. 158/159 und Holly/Püschel 1993). Die Veränderung des Alltags in der Gegenwart kann man kommunikationsgeschichtlich als eine systolische Entwicklung bezeichnen. Fernsehen mit einer Vielzahl von Kanälen (plus Video) und eine zunehmende Verbreitung des Computers im Privatbereich mit allen denkbaren Vernetzungsmöglichkeiten führen zu einer stärkeren Wohnplatzbindung. Nicht nur große Teile der Freizeit können so zu Hause verbracht werden, vielmehr wird für bestimmte Berufe die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz wieder aufgehoben. Einen vorläufigen Höhepunkt stellt die Subkultur der Cyberpunks dar, die große Teile ihres Alltags in artifizielle Welten verlegt hat. Zu den sprachgeschichtlichen Auswirkungen elektronischer Medien s. unten Art. 160. 3.3. Kommunikation in und mit öffentlichen Institutionen Die Kommunikation in und mit öffentlichen Institutionen gehört ebenfalls in den Bereich des Alltags. Doch ist es fraglich, inwieweit der je-
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weils institutionsoffizielle Diskurs noch als alltagssprachlich bezeichnet werden kann. Die institutionelle Kommunikation läßt sich von der ‘normalen’ Alltagskommunikation durch eine weit stärkere Ritualisierung und Rationalisierung und durch die prinzipielle Asymmetrie der Gesprächspartner unterscheiden (vgl. Lüger 1980; Wodak 1987). Nach Cherubim (1989, bes. 143 f.) umfaßt Ritualisierung eine Entindividualisierung durch rollenhaftes Sprachverhalten, eine Jargonisierung, symbolische Überhöhung und Neigung zur Archaisierung. Rationalisierung umfaßt sowohl die durch Spezialisierung und Professionalisierung bedingte Herstellung bestimmter Textsorten, Termini und Phrasen, wie auch die Ökonomisierung durch sprachliche Verdichtungen, Variantenabbau und Textgliederung sowie Schematisierung durch Festschreibung/Normierung von Handlungsabläufen und Fixierung von Mustertexten. Bei bestimmten Institutionen muß zudem zwischen interner Kommunikation (Umlauf, Erlaß etc.) und externer Kommunikation unterschieden werden. Neben dem offiziellen Diskurs existieren aber immer auch mehr oder weniger ‘normal’-alltagssprachliche Nebendiskurse, die von den offiziellen zu scheiden sind (allgemein s. Kern 1977; Ehlich/Rehbein 1980; Lüger 1980; Redder 1983a; Wodak 1987). (a) Schule, Bildungseinrichtungen In Schule, Universität und anderen Bildungseinrichtungen steht neben der Alltagssprache der Schüler/Studenten untereinander in Pausen, auf An- und Heimwegen und unterrichtsbegleitend die Unterrichtssprache im offiziellen Diskurs. Deren Verhältnis zur Alltagssprache ist schwierig zu bestimmen und hängt letztlich sehr stark von der Definition von Alltagssprache ab. Die Unterrichtssprache hat jedoch je nach Anlaß Anteil an verschiedenen Funktionalstilen: Literatursprache, Sprache des öffentlichen Verkehrs, Wissenschafts- und Fachsprache und Alltagssprache (im engeren Sinne). Zur Kommunikation in der Schule s. u. a. Goeppert (1977); Switalla (1977); Reinert/Zinnecker (1978); Baurmann/Cherubim/ Rehbock (1981); Reuter (1982); Ehlich/Rehbein (1983); Redder (1983 b). Die historische Dimension der Alltagssprache bleibt hier weitgehend verschlossen, dürften die schulischen Aufzeichnungen in der Regel doch eher die offizielle Sprache repräsentieren oder zumindest durch den Versuch geprägt sein, diese zu erreichen. Zudem ist aufgrund des Gebrauchs der Tafel als Beschreibstoff die Überlieferung eher gering. Es handelt sich in der Hauptsache um Glossen und Interlinearübersetzungen bes. aus dem Lateinischen sowie um kleinere Schreib-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
übungen. Schulhefte sind erst aus jüngerer Zeit überliefert. Einen interessanten Nebenaspekt bieten die deutschen Glossen und Interlinearübersetzungen zu den lat. Schülergesprächsbüchlein des Spätmittelalters und der Frühneuzeit (Bodemann/Grubmüller 1992).
(b) Kirche, Gottesdienst In der Institution Kirche tritt die Alltagssprache bes. im Rahmen von Seelsorge und Beichte auf — Bereiche, die der Forschung kaum zugänglich sind. Im Rahmen des (deutschsprachigen) Gottesdienstes dominieren dagegen vorgegebene Liedtexte, Gebetstexte und ritualisierte Dialoge. Lediglich in der Predigt und im Rahmengeschehen des Gottesdienstes ist mehr oder weniger Raum für Alltagssprachliches (vgl. Ingwer 1983). Dessen Anteil am reichlich überlieferten Predigtmaterial darf jedoch nicht überschätzt werden. Nebenkommunikationen bleiben im Gottesdienst weitgehend auf die Zeit unmittelbar vor und nach dem Gottesdienst beschränkt. (c) Vollziehende Gewalt (Obrigkeit, Ämter, Behörden) Bei Behörden und Ämtern mit Publikumsverkehr findet die Nebenkommunikation in den Warte-Räumen statt. Die offizielle Kommunikation stellt eine Besonderheit dar. Sie ist in hohem Maße asymmetrisch. Die Verwaltung als Teil der vollziehenden Gewalt fordert eine Leistung ein, der einzelne Bürger begehrt eine Leistung, deren Anspruch geprüft wird. Sprachgeschichtlich ist dieser Bereich deshalb bedeutsam, weil ein Großteil dieser Kommunikation schriftlich abläuft. Neben den mündlichen Diskurs zwischen Untertan und Obrigkeit im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit — vom öffentlichen Singen von Schandliedern über die „ungeschickte Rede“ (Grollen, Murren, Gerüchte) bis hin zu Schimpfreden (vgl. Scribner 1992) — treten zunehmend schriftlich fixierte Texte, bes. seit der Zeit der Reformation und der sozialen Umwälzungen im 16 . Jh.: von den ständischen, bäuerlichen und bürgerlichen Gravamina (vgl. Brandt 1988; Grosse 1989; Ebert 1990; Jütte 1992 mit weiterer Lit.) und den Gravamina der Bergarbeiter (vgl. Tenfelde/Trischler 1986 ) über die Eingaben der Gesellen im Rahmen der großen Streikwellen im Vorfeld und am Beginn der Industrialisierung bis hin zum allmählich breiter werdenden Strom der Überlieferung im 19. Jh. (vgl. Grosse 1986 ; Cherubim/ Objartel/Schikorsky 1987). Die Kommunikation zwischen Bürgern und Organen der vollziehenden Gewalt geht allmählich über von eher kollektiven Eingaben zu indi-
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viduellen. Sowohl die kollektiven Eingaben wie auch die von Einzelpersonen folgen indes bestimmten Vorgaben (Höflichkeitsformeln, Anredefloskeln, Demuts- und Gehorsamsbezeugungen unter Verwendung bestimmter Stilistika, s. Grosse 1986 ) und repräsentieren damit bestenfalls eine stark überformte Alltagssprache. Mit dem Anwachsen gleichsinniger Kommunikation tritt eine neue Textsorte als Kommunikationsträger zwischen Bürger und Behörden — das Formular, das allmählich weite Bereiche des Alltags bestimmt: von einfachen Formen wie Zahlkarten, Überweisungsformularen bis hin zu komplizierten mehrseitigen Anträgen wie Formularen zur Steuererklärung, Anträgen auf Sozialleistungen (Wohngeld, Sozialhilfe, Kindergeld) (vgl. dazu Grosse/Mentrup 1980; Lüdenbach 1984; Lambertz 1990). Die formalisierte Abfassung bestimmter Schriftstücke (etwa Urkunden) ist bereits im Mittelalter üblich und wird im Kanzleiwesen der Frühneuzeit zur ars notarii weiterentwickelt. Mit der modernen Qualität der Entwicklung von Institutionen seit dem 18. Jh. (vgl. Cherubim 1989) entwickelt sich auch das Formular zu einer allgegenwärtigen Textsorte. (d) Gericht, Gerichtsbarkeit Eine Sonderform unter den Behörden stellt das Gericht dar. Im Rahmen der Gerichtsbarkeit fallen mehrere Kommunikationsgelegenheiten an, die aber immer durch eine starke Asymmetrie und das Vorhandensein einer institutionell geregelten Kommunikation (Verfahrensnormen) bestimmt werden (vgl. Schütze 1978; Leodolter 1975; Hoffmann 1983a/b). Während Eingaben, Plädoyers, Entscheide, Urteile, Begründungen den offiziellen Diskurs repräsentieren, ist Alltagssprache eher bei den Verhören/Befragungen zu erwarten und dies wiederum eher auf seiten der Befragten, da die Befrager zumeist mehr oder weniger an Vorgaben orientiert sind. So stellt etwa der Hexenhammer einen Fragenkatalog zum (juristisch) korrekten Verhör der Hexerei verdächtigter Personen dar. In diesem Zusammenhang ist die Textsorte Protokoll (Verhör-, Gerichtsprotokoll) von besonderer Bedeutung. Verhörprotokolle (Turmbücher, Urgichtenbücher) und Gerichtsprotokolle stellen eine wichtige Textsorte für die Sprachgeschichtsforschung dar (vgl. etwa Macha 1991; Maas 1988; Mihm 1994).
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Klaus-Peter Wegera, Bochum
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
160
10. Sprachgeschichte, Kulturraumforschung und Volkskunde 1. 2. 3. 4. 5.
6. 7.
1.
Einleitung Mundartgrenzen — Stamm — Territorium Kulturströmungen und Kulturprovinzen Volkskundliche Kulturraumforschung Der Atlas der deutschen Volkskunde in seiner Bedeutung für die historische Wort- und Sachforschung Schlußbemerkung Literatur (in Auswahl)
Einleitung
In jenen Jahrzehnten, in denen die Dialektologie durch den DSA eine zentrale Position in der deutschen Sprachwissenschaft einnahm, erwartete man von Dialektgrenzen vor allem Auskunft zu historischen Fragen. Doch war diese historiolinguistische Betrachtung nur der Anfang einer neuen umfassenderen Forschungsrichtung, der „Kulturraumforschung“. Dabei sollten Sprachgrenzen, Kulturgrenzen, Kulturverflechtung und daraus resultierende Kulturräume Aufschluß über geschichtliche Abläufe in Zeit und Raum geben. Allerdings sind Sprache und Kultur autonomer, als man ursprünglich annahm, und daher können Laut- und Wortgeographie samt Volkskunde nicht einfach in Kongruenz gesehen werden: Bestätigung oder Verstärkung der einzelnen Ergebnisse ist in den wenigsten Fällen möglich (Zender 1937, 87; Weiss 1947, 1952, vgl. dazu Burckhardt-Seebass 1993).
2.
Mundartgrenzen — Stamm — Territorium
Daß die Mundarten, vor allem ihre Lautformen, die Grenzen der altdeutschen Stämme zeigen, war für den Germanisten und Historiker des 19. Jhs. selbstverständlich. Doch schon vor den Aufnahmen für den DSA stellte F. W. Wahlenberg aufgrund eigener Beobachtungen fest, daß sich am Niederrhein Dialektgrenzen verschoben hätten: „Die hochdeutsche Lautverschiebung war eine wandernde, von Süden nach Norden vorrückende und gleichsam erobernde [...]. Das Sprachgebiet des Niederrheins ist ein durch übermächtigen Einfluß der südlichen Mundart dem Niederdeutschen abgerungenes Gebiet“ (Wahlenberg 1871, 13). Wenige Jahre später setzte Georg Wenker ebenfalls am Niederrhein mit seiner Befragung ein. Welche wissenschaftlichen Fragen Wenker zu diesem Unternehmen bewogen haben, ob er die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze nachprüfen wollte, oder ob er nur die genauen Grenzen der Mundarten festlegen
wollte, ist im einzelnen nicht klar. Zunächst standen das reale Bemühen um die Auswertung der Wenkerschen Fragebogen und die Versuche, brauchbare Karten zu entwerfen und herauszubringen, im Vordergrund. Zu verstehen war die Diskussion um den Aussagewert dieser Laienaufzeichnungen in den Jahrzehnten, in denen seit Jost Winteler (1876 ) die phonetische Genauigkeit Triumphe feierte und die oft kuriosen Schreibungen in den Fragebogen nur ein Lächeln hervorriefen. Diese negative Beurteilung war aber wohl auch bestimmt durch den allen bisherigen Annahmen widersprechenden Verlauf der Lautgrenzen. Zwar sah Georg Wenker noch 1886 die Hauptaufgabe in der rein linguistischen Forschung, ihr möchte er neues verwendbares Material liefern, doch betrachtete auch er die Entwicklung der Mundart in enger Verknüpfung mit der Geschichte und sah damals noch die historisch-geographische Erforschung der alten Stammesverhältnisse als wichtigen Zweck des DSA (Wiegand/Harras 1971, 20). Ein Jahrzehnt später aber stellt Hermann Fischer im letzten Kapitel seiner Geographie der schwäbischen Mu ndarten (1895, 88) bereits fest, daß in Schwaben ein Kausalzusammenhang zwischen Abstammung und Sprache aus Sprachgeschichte und Sprachgeographie nicht nachzuweisen sei. Karl Haag ordnete in Württemberg nicht nur das Gewirr von Lautlinien zu Bündeln und halbwegs freien Kerngebieten, sondern er stellte auch den Zusammenfall der Mundartgrenzen mit denen der Territorien fest (Haag 1898, 99). Ungefähr zur gleichen Zeit erschien ein Beitrag von Otto Bremer, in dem hinwiederum recht apodiktisch der Zusammenfall von Stammes- und Mundartgrenzen behauptet wurde (Bremer 1900, 738, 747). Eine entgegengesetzte Position vertrat Ferdinand Wrede (Wrede 1902/196 3, 294—308), damals schon langjähriger Mitarbeiter am DSA: „Die bestehende politische Grenze, meist eine frühere Territorialgrenze, ist also unbestreitbar ein dialektbildendes Element“ (Wrede 1902/ 196 3, 302). Innerhalb solcher Gebiete wirkte nach ihm der Verkehr sprachausgleichend, aber „auch durch die vom Verkehr begünstigte Blutmischung bildet sich eine Spracheinheit“. Wrede erkennt zwar an, daß im ostdeutschen Kolonialland Sprachspuren der Siedler zu finden sind, aber — so sagt er — „diese Ausnahmen bestätigen nur die Regel, daß auch die Dialekte des Ostens nicht in erster Linie alte Erbstücke des Westens, sondern neue Größen sind“ (Wrede 1902/1963, 299). Diese Äußerungen hatten in der Germanistik Folgen. Marburger Doktoranden kontrollierten
10. Sprachgeschichte, Kulturraumforschung und Volkskunde
im Rahmen ihrer Dissertationen die Niederschriften des DSA für beschränkte Räume und erwiesen diese im wesentlichen als korrekt. Dabei wurden die einzelnen Lautunterschiede in etwas fragwürdigen Zählverfahren als Grenzen abgestuft. Die wichtigeren Linien deckten sich dabei sehr oft mit den Territorialgrenzen vor 1800. Daß sich der Lautbestand einer Mundart im Laufe der Zeit sehr verändern kann, war seit Anfang des Jhs. weithin angenommen. In der Schwebe blieb in den ersten Jahrzehnten die Frage, wie weit diese Veränderungen im Sprachbestand ausgriffen, ob es sich nur um Anpassung an andere Grenzen in engem Raum handele, um wieviel Meilen denn Lautgrenzen verschoben werden könnten, wo Ursachen und Anstöße für derartige Veränderungen zu suchen seien und wie man sich im einzelnen die Weitergabe im Zuge des Verkehrs, wie Mischung und Ausgleich, vorzustellen habe. Diese dialektgeographischen Ergebnisse wurden zu Anfang des 20. Jhs. seitens der Volkskunde nur widerstrebend zur Kenntnis genommen. Während in der Dialektgeographie die Kontinuitätsprämisse von Stamm und Mundart zusehends an Boden verlor, versuchte der Ratzel-Schüler Wilhelm Peßler in seiner Dissertation über das altsächsische Bauernhaus (1906 ) und in weiteren Studien den stammesgeschichtlichen Ansatz zu retten. Grundlegend für Peßlers „Volkstums-Geographie“ war die Anthropogeographie seines Leipziger Lehrers Friedrich Ratzel (Peßler 1932, 739) und die Ethnographie der germanischen Stämme Otto Bremers (Bremer 1900). Peßlers volkstums-geographisches Konzept mußte zwangsläufig zu dem Versuch führen, Kultur- und Stammesgrenzen zur Deckung zu bringen. Peßler verstand unter Volkstum-Geographie „die Wissenschaft von der Verbreitung des Volkstums hinsichtlich seiner sämtlichen Äußerungen“ (Peßler 1909, 49), die er später auch „Volkstumsmerkmale“ nannte. Sie seien in ihrer Verbreitung vom „Volkstum“ abhängig und das Kennzeichen einer Bluts- oder Lebensgemeinschaft (Peßler 1912, 58), wobei er allerdings einräumt, daß Sprache und Kultur von der Physis unabhängiger seien und durch Übertragung zu Blutsfremden wandern könnten. Die Linien, welche die äußersten Punkte gleichen Volkstums verbinden, erscheinen bei Peßler unter dem Oberbegriff Volkstumslinien (Iso-Ethnen), unter die er Iso-Somaten, Iso-Psychen, IsoGlossen und Iso-Ergen subsumiert (Peßler 1912, 6 0). Die erste vergleichende ethno-geographische Karte publizierte Peßler (1909, 57) unter dem Titel „Ethno-geographische Wellen des Sachsentums“. Die Karte zeigt nach Peßler
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(1912, 58): „Die Ausdehnung der einzelnen Merkmale des altsächsischen Volksstammes [...], ein Gebiet [...], in dem sowohl Körpertypus als Volkscharakter wie Sprache und Haus rein sächsisch sind. Dies ist das Reingebiet des Sachsentums und zwar für die Jetztzeit, etwa 1900. Genau identisch damit ist das sächsische Kernland, das die Prähistorie und Archäologie für das Jahr 700 erschließt“ (Peßler 1912, 6 1). Nicht nur sinngemäß, sondern fast wörtlich wiederholt Peßler hier die von Bremer (Bremer 1900, 915) für die Hessen aufgestellte These. Es besteht jedoch eine erhebliche Diskrepanz zwischen Peßlers Schlußfolgerungen und der tatsächlichen Aussage der Karte. Bei allen zur Einkreisung des sächsischen „Reingebietes“ herangezogenen „Volkstumsmerkmalen“ bleibt nicht nur die Frage nach ihrem Gewicht für die raumtypische Prägung undiskutiert, sondern auch die nach ihrer eventuellen Wertigkeit als Stammesmerkmal. Die von Peßler herangezogenen Merkmale — wie u. a. die Grenze der nsächs. Dialekte, die Grenze des „altsächsischen“ Hauses, die Grenze der fries. Orts- und Personennamen sowie die Nordgrenze der Bevölkerung mit über 10% des brünetten Menschentyps — sind alles andere als Reinformen, sondern Komplexformen, bei denen eine Reihe von Einzelphänomenen oder auch nur ein einzelnes Phänomen ein „Volkstumsmerkmal“ ergibt. Jede andere — ebenfalls subjektive Merkmalbündelung — hätte zwangsläufig ein anderes „Reingebiet“ ergeben. Da auf der Karte eine Iso-Psyche fehlt und die von Peßler herangezogene Iso-Somate eher geeignet ist, seiner Theorie zu widersprechen als diese zu erhärten, muß er notgedrungen zur Bestimmung des „Reingebietes“ seine Zuflucht zu jenen Merkmalen nehmen, die er für übertragbar hält, nämlich zu „Sprache“ und „Sachen“. Das Ziel einer erschöpfenden geographischen Erfassung aller „volksmäßigen Erscheinungen der Deutschen, welche die urgeschichtlichen und rassenmäßigen Grundlagen samt Sprache, Sachkultur und Volksgeist“ einbeziehen sollte, wurde dann von Peßler zum ersten Mal 1933 im „Volkstumsatlas von Niedersachsen“ vergeblich angestrebt.
3.
Kulturströmungen und Kulturprovinzen
Schon 1902 hatte Wrede geschrieben: „Den Zusammenhang zwischen Geschichte und Sprachforschung wiederherzustellen, sehe ich als eines der schönsten Ziele des Sprachatlas an“ (Wrede 1902/196 3, 306 ). Hermann Aubin, Theodor Frings und Josef Müller gelang es, diesen Zu-
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sammenhang aufzudecken. Ausgangspunkt der rheinischen Kulturraumforschung waren neben den Arbeiten aus dem Umkreis des DSA, in denen der Versuch gemacht wurde, die Sprachlandschaften historisch verstehen zu lernen, die 1926 in Bonn erschienenen „Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden“, ein Gemeinschaftswerk dreier am Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande tätigen Hochschullehrer, des Historikers Hermann Aubin, des Germanisten Theodor Frings und des Dialektologen und Volkskundlers Josef Müller. Frings als führender Kopf dieser drei Forscher hatte vom deutschen Sprachatlas in Marburg die neue methodische Einsicht mitgebracht, daß fließende Grenzen und ständige Bewegung der Sprache als allgemeine Grundtatsache anzuerkennen seien und die enge Gleichung von Mundarten und frühmittelalterlichen Stämmen nicht aufrechtzuerhalten sei (Aubin 1952, 306 ). Von entscheidender Bedeutung wurden die ebenfalls 1926 erschienenen „Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte“ des Historikers Franz Steinbach, in denen u. a. der Nachweis erbracht wurde, daß die germ.-rom. Sprachgrenze nicht ein zufälliges Relikt der Völkerwanderung sei, sondern die klare Grenzlinie zweier großer Kulturzentren darstellt, die sich nach der Völkerwanderungszeit als Ausdruck des Gesamtverlaufes der Kulturentwicklung herausgebildet habe (Steinbach 1926 , 179). Steinbachs hauskundliche Beobachtung, es bestehe kein Zusammenhang zwischen den wichtigsten Gegensätzen Längshaus — Gehöft — Querhaus und der germ. Stammesgliederung, sondern es handle sich hier um europ. Gegensätze, die sich im mitteleurop. Raum kreuzen, und seine weitere Feststellung, die Bauweise sei der Niederschlag von landschaftsbedingten Entwicklungen (Steinbach 1926 , 114 f.) gilt heute ebenfalls als unumstritten. Grundlegend neu an der Betrachtung der Vergangenheit in den „Kulturströmungen“ war, daß 1926 nicht mehr ausschließlich Konstituenten wie Naturraum, Siedlung und Stamm als bestimmend für den Aufbau der Kulturräume betrachtet wurden, sondern daß man nun davon ausging, daß neben diesen Faktoren besonders die dynamisch gestaltenden Kräfte der Geschichte infolge der durch sie ausgelösten Kulturströmungen die Entstehung von Kulturräumen bedingten. Diese neue Betrachtungsweise führte zwangsläufig dazu, daß Kulturräume nicht länger als geographisch eindeutig fest umrissene, von einer „Blutsgemeinschaft“ (Peßler 1909, 49—57) abhängige statische Größen betrachtet werden konnten. Geradezu in Umkehrung der
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
von Peßler für Niedersachsen aufgestellten Thesen wurde nun die historisch gewachsene Kulturmorphologie der Rheinlande als Endprodukt einer Mischung von durch statisch beharrende Kräfte einerseits bedingten Faktoren und zu unterschiedlichen Zeiten aus unterschiedlichen kulturellen Ausstrahlungszentren andererseits wirksamen kulturellen Strömungen beeinflußtes Gesamtgebilde gedeutet. Dies heißt mit anderen Worten, daß bereits 1926 die „Bonner Schule“ nicht nur die statische Kontinuitätstheorie ablehnte, sondern eine dynamische Kulturgeographie vertrat, die mit kulturellen Übertragungen ganz unabhängig von Stamm und Rasse arbeitete. Neu an diesem Ansatz war vor allem die Frage nach den Räumen, die die ganze Fülle der historischen Kulturphänomene bis zum einfachen handwerklichen Gerät in sich begriffen, und das Prinzip, durch Kartierung alltäglicher, allgemeinverbreiteter kultureller Objektivationen zu einem anschaulichen und ortsgetreuen Bild der räumlichen Verbreitung von Massenerscheinungen zu gelangen und mittels der Karte nicht nur ihre Bewegungsrichtungen und Einflußsphären zu ermitteln, sondern darüber hinaus deren Bewegungsprinzipien aufzudecken. Nicht der Raum als Areal als solches ist hier von primärer Bedeutung, sondern die von Menschen in einem geographischen Raum getragenen Dialekt- bzw. Kulturerscheinungen. In diesem Kontext kulturräumlicher Betrachtung wurde die Sprachgeschichte Teil der Kultur- und Geistesgeschichte, und die sprachlichen Entwicklungen in ihrer Ausbreitung wurden Beispiel für das Kulturgefüge und die kulturellen Zusammenhänge in Zeit und Raum (Zender 1959, 13, Grober 1982). Obwohl nach der Veröffentlichung der „Kulturströmungen“ einige Skeptiker mit Anerkennung kargten, fand das Werk ungewöhnlichen Widerhall. Rasch folgten ähnliche Arbeiten: Wagner 1927, Maurer 1929, Bach 1930, Christmann 1931, Stroh 1931, Will 1932, Roukens 1937. Die Schrift von Maurer verdient besondere Erwähnung, weil in ihr schon die modernste Entwicklung, der Einfluß des Großraumes Mainz—Frankfurt auf die Sprache, behandelt ist. Wenn auch mit der Übertragung von Sicht und Methoden rheinischer Dialektforschung nach Ostdeutschland durch Frings, der seit 1927 in Leipzig lehrte, sich manche Einsichten gewinnen ließen, so waren die ostdeutschen Gebiete mit den im Rheinland entwickelten Methoden nicht in gleicher Weise in den Griff zu bekommen (Ebert/Frings 1936 ). Ergiebiger in historischem Sinne sind die Untersuchungen von Teuchert (1944), Schwarz (1935), Mitzka (1937) und Bischoff (1954). Wohl gab es auch hier
10. Sprachgeschichte, Kulturraumforschung und Volkskunde
Sprachbewegungen von Süden her auf der Linie Nürnberg — Thüringen — Leipzig. In erster Linie aber wirkten sich die Siedlerströme und deren Siedlungsinseln aus. Zwar ist die Wirkung der Territorien sichtbar, ist aber gegenüber den Siedlungsräumen deutlich sekundär (Grosse 196 9). Aber erst um 1950 mehren sich allgemeine Stellungnahmen zu den Thesen von Wrede und Frings (z. B. Kuhn 1951). Die Zeit um 1200 könne nicht als unüberwindliche Sperre in der Dialektologie hingenommen werden. Die Verfeinerung der Methoden, Erweiterung der Quellen und Vergleich mit den Ergebnissen von Nachbarfächern machten es möglich, durch die Jahrhunderte bis zu den Sprachverhältnissen in der Zeit der Völkerwanderung vorzudringen. Dabei zeigte sich, daß immer Beharrung und Bewegung in Form und Raum nebeneinander standen. Vor allem wurde mit den Arbeiten von R. Schützeichel und seinen Schülern die Diskussion um das Alter der Lautverschiebung im Rheinland und die Entstehung des Westmitteldeutschen wieder sehr lebhaft. Im Rahmen unseres Themas interessiert, daß auch hier zur Erklärung und Begründung historische Fakten herangezogen werden, wie die frk. Siedlung in der Romania oder die rom. Volksreste an Mosel und Rhein (Schützeichel 196 1/1976 , Kleiber/Pfister 1992, Kleiber 1994). Der Bestand der rom. Lehnwörter bietet wichtige Einblicke in die Geschichte des frühen Mittelalters, daneben steht aber ein gallorömischer Eigenbestand, der auf die fortgeschrittene kelt. Landwirtschaft hinweist (Frings 1932, Müller/Frings 196 8, Post 1982, Kleiber 1990, Kleiber/Pfister 1992). Im volkskundlichen Bereich bot sich für einen Vergleich die Geschichte der Heiligenverehrung in Zeit und Raum an, wobei sich Ursprung, Weg und Motivation einzelner Heiligenkulte darlegen ließen. Dabei zeigen sich etwa in zeitlicher Abfolge als Strahlungszentren die Ile de France zur Merowingerzeit, danach der Bereich der Karolinger an Maas und Mosel, schließlich im hohen Mittelalter Köln und andere Rheinstädte. Die Elbe erweist sich im hohen Mittelalter als scharfe Kult- und Kulturgrenze. Ostdeutschland ist weniger von den Kulten aus der Heimat der Siedler geprägt als von jenen Kulten, die zur Zeit der Besiedlung modern waren. Bis zum Ende des Mittelalters sind Volks- und Staatsgrenzen in der volkstümlichen Heiligenverehrung ohne große Bedeutung, erst seit dem 16 . Jh. werden sie mehr und mehr zum Einschnitt (Zender 1959, 1967, 1970). Forschungsgeschichtlich betrachtet führte diese explikative, vielfach nur die exogenen kulturellen Dominanten betrachtende Sicht zwangs-
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läufig in eine Sackgasse, weil die romanistischen Forschungen aus dem Umkreis des ALF in Deutschland nicht rezipiert wurden. Erst in den internlinguistischen, strukturellen sprachgeographischen Studien des Flamen Jan Goossens, der die romanistischen und germanistischen Ansätze in einer fruchtbaren Synthese miteinander verband, wurde die explikative, nicht die Dialektsysteme als ganze, sondern lediglich einzelne Laute und Wörter bzw. Wortformen betrachtende „atomistische“ Betrachtungsweise der Bonner und Marburger Schule überwunden (Goossens 1963, 1969).
4.
Volkskundliche Kulturraumforschung
Aus heutiger volkskundlicher Sicht wirkte sich die enge Anlehnung der Volkskunde an die explikative Sprachgeographie verhängnisvoll aus, weil führende Köpfe wie Theodor Frings und später Adolf Bach ihre aufgrund sprachlicher Kriterien konstruierten Räume in einer nicht zulässigen Generalisierung als Kulturräume bezeichneten, und dies aufgrund einiger weniger sich deckender Isoglossen und volkskundlicher Isolinien. Nach Bach „[...] bleiben mundartliche und andere volkskundliche Erscheinungen grundsätzlich für unsere Betrachtung gleichwertig“ (Bach 196 0, 334). Frings postulierte geradezu die Loslösung von äußerer Form und innerer Bedeutung und betonte: „Unter bewußter Abbindung aller sprachphilosophischer Spekulationen wurden die verschiedenen grammatischen Kategorien nur unter dem Gesichtspunkte ihres räumlichen Daseins und Lebens beobachtet, gleichwie Haustypen, Trachten, Ortsnamen; sie gelten, unabhängig von ihrem seelischen Gehalt, nur in ihren Formen und als sachliche Objekte“ (Frings 1930, 547). Das Summieren von Isolinien, das in der Lautgeographie u. a. deshalb noch eine gewisse Berechtigung hatte, weil die summierten Elemente einem System angehörten, dessen Konstituenten sich in synchroner und diachroner Sicht gegenseitig bedingten, führte in der Volkskunde zu einem unreflektierten willkürlichen Aufreihen von inhaltlich völlig divergierenden und in ihrem Stellenwert innerhalb der Kultur unvergleichbaren Phänomenen (Wiegelmann 196 5; Cox 1984, 34). Nicht nur die technische Schwierigkeit, komplexe Systeme wie Haus, Nahrung oder Totenbrauch auf einer Karte in ihrer Gesamtstruktur adäquat darzustellen, sondern die Fixierung auf die horizontale Kulturgrenze, die sich tatsächlich manchmal mit den aus der Sprachgeographie bekannten Grenzzonen wie z. B. der Eifel- oder Hunsrückschranke deckten, veranlaßten z. B. Bach (Bach 1937,
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228—236 ; 196 0, 331—338) in direktere Anlehnung an die Dialektgeographie, komplex strukturierte Systeme in Einzelelemente zu zerlegen. Diese atomisierten Elemente wurden je nach Bedarf außerhalb ihres eigentlichen Systems und ohne jeden Bezug zu den anderen ad hoc zur Bildung eines geeigneten Linienbündels verwendet, und auf diese Art wurden Formenkreise zu Kernlandschaften addiert, die dann fälschlicherweise mit Kulturräumen gleichgesetzt wurden (Bach 1937, 228; 196 0, 337). Den wenigen von Bach in seiner Deutschen Volkskunde angeführten Beispielen stehen Hunderte von Isolinien gegenüber, deren Verlauf sich nicht mit den postulierten „Kulturräumen“ deckt (Cox 1989/90, 32 Anm. 4). Eben diese Auffassung von Kulturraum führte dazu, daß nicht das kulturelle Gewicht, d. h. die distinktive Relevanz der kartierten Kulturelemente, hinterfragt wurde (Wiegelmann 196 5, 111), sondern der Verlauf einer gesamtkulturell betrachtet, vielfach unbedeutenden Isolinie zum tragenden Konstituenten einer Kulturgrenze aufgewertet wurde, falls ihr Verlauf sich nur mit den Linienbündeln des rheinischen Fächers deckte. Der Volkskunde fiel in diesem Kontext die Aufgabe einer Hilfswissenschaft zu. Sie sollte lediglich die von der Sprachgeographie erarbeiteten Kulturräume erhärten. Dies führte letztlich dazu, daß in der Kulturraumforschung bis in die jüngste Vergangenheit vielfach nicht die geistige und materielle Kultur als solche untersucht wurde, sondern diese nur als nützliches Vehikel zur Rekonstruktion von Novationsgebieten und Novationsverläufen in Mitteleuropa benutzt wurde (Wiegelmann 196 0: 6 52; 196 1; 196 4: 25; 196 9: 21; 1970: 130; Zender 1972). Erst in der von Günter Wiegelmann durchgeführten ADV-Befragung (196 5/6 8) zur bäuerlichen Sachkultur wurde neben der materiellen Kultur auch den Arbeitsverfahren größere Aufmerksamkeit gewidmet (Wiegelmann 196 9; Cox 1983, 1988). Die volkskundlichen Karten lassen sich sowohl im Bereich der geistigen als auch materiellen Volkskultur kaum mit lautgeographischen Karten vergleichen, sondern sind eher geeignet, weitgespannte überlandschaftliche und übernationale Beziehungen deutlich zu machen, die nicht an die Sprachgemeinschaften gebunden sind bzw. waren. Sie sind deshalb in der Regel auch nicht mit der eher kleinräumigen Betrachtung der Lautgeographie vergleichbar (Zender 1959/6 4; 11 ff.). Dies führte bei den vielfach der Stammeshypothese verhafteten Volkskundlern zwangsläufig zu einer gewissen Enttäuschung über den Aussagewert volkskundlicher Karten, zumal in diesen Kreisen die in den dreißiger Jah-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
ren an die volkskundlichen Karten herangetragene Erwartung, den Bruch zwischen Vor- und Frühgeschichte und der damaligen Zeit zu überbrücken, verständlicherweise nicht erfüllt werden konnte. M. Zender äußerte deshalb bereits 1937 nach dem Erscheinen der ersten Lieferung des Atlas der deu tschen Volksku nde Zweifel und Bedenken, volkskundliche Karten in allzu einseitiger und enger Anlehnung an die von der Dialektgeographie entwickelten Methoden zu deuten. Zenders These lautete, daß es nicht die Aufgabe der kartographischen Methode in der Volkskunde sein könne, die Ergebnisse der Sprachgeographie zu bestätigen, sondern daß sie vielmehr ganz andere Schwerpunkte habe und historische, anders gelagerte Strömungsrichtungen und Schichten des Volkslebens aufzuzeigen vermöge (Zender 1937, 87). Zenders Ansicht fußte auf der später in einer Reihe von Einzeluntersuchungen bestätigten Erkenntnis, daß die räumliche Diffusion von Erscheinungen der geistigen und materiellen Volkskultur vielfach weniger geradlinig und wellenartig verlaufen ist, als man dies ursprünglich aufgrund der sprachlichen Diffusionskarten annahm. Territorial- und Sachverbreitungsgrenzen decken sich meistens nur dann, wenn die Erscheinungen durch obrigkeitliche Zentraldirigierung gesteuert wurden. Ansonsten befinden volkskundliche Phänomene sich unter dem Einfluß endogener und exogener Faktoren in einer fortwährenden Umschichtung, Entwicklung und Veränderung. Die volkskundlichen Karten sind am ehesten noch mit den aus der Wortgeographie bekannten Verbreitungsbildern zu vergleichen. Zwar lassen sich wie in der Dialektgeographie Kern-, Misch- und Übergangsgebiete herausschälen, und tritt auch im volkskundlichen Bereich die aus der klassischen Mundartforschung bekannte Typologie der Kulturbewegungen wie keilförmiges Vordringen an den großen Verkehrswegen, ein Überspringen von Stadt zu Stadt, die Existenz von Reliktgebieten, Resthorsten, Barrierenrelikten und Kontaminationen in Erscheinung, aber Räume, deren Alltagskultur sich distinktiv unterscheidet, ließen sich z. B. im Rheinland nicht herausarbeiten. Die aus der Sprachgeschichte als Dorp/DorfLinie bekannnte Eifelschranke, an der sich in lautgeographischer Hinsicht ein Bündel von Isoglossen verdichtet, tritt auch im Bereich der geistigen und materiellen Alltagskultur in Erscheinung. Allerdings, was vordergründig völlig gegensätzlich zu sein scheint, stellt sich bei einer historischen Betrachtung lediglich als das Ergebnis eines regional unterschiedlichen und phasenverschobenen Novations- bzw. Regressionsverlaufes heraus oder ist z. B. im Bereich der Sach-
10. Sprachgeschichte, Kulturraumforschung und Volkskunde
kultur naturgeographisch bedingt (Zender 1972: Karten 8, 10; Cox 1988). Während — um ein Beispiel zu nennen — 1930 im Köln-Bonner Raum der Hexenglaube und der Glaube, daß ein Geistlicher Feuer bannen kann, nur noch vereinzelt und rudimentär vorhanden waren, verdichten sich die Belege dafür entlang der deutsch-niederländischen Staatsgrenze, im Oberbergischen, in der Eifel und auf dem vorderen Hunsrück, also in jenen Gebieten, die auf Sprachkarten ebenfalls vielfach als Reliktgebiet in Erscheinung treten.
5.
Der Atlas der deutschen Volkskunde in seiner Bedeutung für die historische Wort- und Sachforschung
Im Jahre 1926, zu einem Zeitpunkt, als die Überlegungen zur Gründung eines Atlas der deu tschen Volksku nde allmählich festere Formen annahmen, unterscheiden Karl Jaberg und Jakob Jud in der Zeitschrift „Wörter und Sachen“ in ihrem Bericht über den bereits in Angriff genommenen Sprachatlas Italiens u nd der Südschweiz (AIS) drei Etappen in der Entwicklung der Mundartatlanten: Der DSA sei in seinem Bestreben der phonetischen Abgrenzung von Mundarten im wesentlichen auf der ersten Stufe stehen geblieben und repräsentiere den Forschungsstand um 1875, der Atlas lingu istiqu e de la France (ALF) bilde neben anderen rom. Atlanten mit der Einbeziehung von morphologischen, syntaktischen und vor allem lexikologischen Erscheinungen die zweite Etappe; die dritte Etappe (1923 ff.) hoffen Jaberg und Jud im AIS einzuläuten, „indem er mit dem Zugang zum Worte dem Benutzer zugleich den Zugang zur Sache öffnet [...], das Material [...] soll mit der Sprachwissenschaft zugleich der Sachwissenschaft und der Kulturgeschichte dienen“ (Jaberg/Jud 1926 , 127). Auf deutscher Seite konnte man in den zwanziger Jahren diesem Vorhaben nur wenig Vergleichbares gegenüberstellen. Der DSA wies Wortkarten nur als Zufallsergebnis auf. Die Karte Pferd-Roß-Gaul war so ein „ungewolltes linguistisches Zufallskind“ (Wiegand/Harras 1971, 28). Zwar erschienen dann in W. Peßlers Plattdeu tscher Wort-Atlas von Nordwestdeu tschland (1928) eine Reihe von Bezeichnungs- und Wortbedeutungskarten, allerdings bezogen diese sich insgesamt auf das „altsächsische“ Bauernhaus und vermochte Peßler seine im Vorwort erklärte Absicht, „[...] durch eine enge Beziehung zu den Sachen nicht nur [...] der Sprachforschung förderlich sein, sondern darüber hinaus durch die hierdurch sich ergebenden Auf-
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schlüsse die Erforschung der Wörter und Sachen in einen größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang (zu) stellen“ nicht einzulösen (Peßler 1928, 3). W. Peßler faßte 1907 als erster in Deutschland aufgrund seiner Hausforschungen den Gedanken an eine Ethno-Geographie (Cox 1983, 1581). Obgleich es ihm als ein Verdienst angerechnet werden muß, daß er in zahlreichen Publikationen für die Schaffung eines Gesamtatlas eintrat, und er als erster auf den Wert einer kartographischen Darstellung volkskundlicher Erscheinungen hinwies, waren es doch die Sprachgeographie und die in ihren theoretischen und methodischen Ansätzen auf der Sprachgeschichte fußende „Rheinische Kulturraumforschung“, die der kartographischen Methode und der Fernbefragung zum Durchbruch verhalfen. Der ADV war von Anfang an kein eng fachliches Unternehmen. Nach dem Erscheinen der „Kulturströmungen“ wurde von H. Aubin, Th. Frings und A. Hübner der Plan eines gesamtdeutschen Volkskundeatlasses konkret erörtert (zur Geschichte des ADV vgl. Gansohr-Meinel 1993). Außer den Volkskundlern im engeren Sinn, wie J. Meier und F. Boehm, kamen die Begründer des ADV von der geschichtlichen Landeskunde, Siedlungsgeographie und der Dialektgeographie her (Cox 1983, 1583). Dabei schwebte Frings (Frings 1932, 1) ein dem AIS vergleichbares Werk vor, mit dem in der Verbindung von Wörtern und Sachen alle Schwierigkeiten bisheriger Wortkarten behoben würden, zumal er es bedauerte, daß nicht nur wegen des fehlenden Wortatlas die deutsche Wortforschung der romanischen unterlegen war. Frings hat dann, als er sich mit seinen Ansichten in der damaligen Berliner Arbeitsstelle nicht durchsetzen konnte, schon schnell jedes Interesse am ADV verloren. Peßlers auf Stamm und Volkstum beruhende Vorstellungen fanden im Kreise der Begründer des ADV erstaunlich wenig Anklang. Bereits 1926 wurden in einer ersten breiteren Erörterung des Planes eines Atlas der deu tschen Volksku nde u. a. Körperkunde und Rassenforschung ausgeklammert. Man befürchtete nämlich, eine Verkoppelung mit dem Rassegedanken berge für die volkskundlichen Erhebungen eine Gefahr in sich, da ethnische Gesichtspunkte sich dann als richtungsgebend in den Vordergrund schieben könnten, von denen sie gerade nach den Erkenntnissen der modernen Sprachgeographie unter allen Umständen frei zu halten seien (Hübner 1928, 40). Die Entscheidung der Berliner Zentralstelle, das Material für den ADV im Korrespondentenverfahren zu erheben, wurde offensichtlich in einer gewissen Kenntnis der Nachteile dieses
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Verfahrens gegenüber der Exploratorenbefragung getroffen. Ausschlaggebend war wohl die Tatsache, daß man glaubte, im Korrespondentenverfahren könne man die Befragung in einer verhältnismäßig kurzen Zeit zu einem Abschluß bringen und die Quantität der Fragebogen wiege die Qualität der von Exploratoren ausgefüllten Fragebögen auf oder übertreffe diese sogar. Die hohe Belegdichte des DSA und die Erfolge der Dialektologie schienen den Befürwortern der indirekten Methode recht zu geben (Hübner 1930, 8). Als Richtzahl für die durchschnittliche Belegdichte wurden 25% aller Schulorte (1 Beleg auf 27 km2) gewählt (Schlenger 1934, 140 f.). Die vielzitierte Aussage, die Quantität der ADVBelege erlaube eine Aussage über die Intensität einer Erscheinung, wird durch das tatsächliche Belegnetz und das Erhebungsverfahren entscheiden relativiert. Zweifelsohne hat die große Belegdichte des ADV den Vorteil, daß bei qualitativ gut beantworteten Fragen die Diatopie der einzelnen Phänomene auch auf einer kleineren, regionalen Ebene noch relativ gut hervortritt. Einen objektiven und ausgewogenen Vergleich zwischen Korrespondenten- und Exploratorenverfahren legte R. Weiss bereits 1950 vor (Weiss 1950, 21). Heute ist man sich darüber einig, daß, falls kein rein flächendeckendes Exploratorenverfahren möglich ist, nach einem Nebeneinander beider Verfahren gestrebt werden soll, wobei dem Exploratorenverfahren der breiteste Raum einzuräumen ist. Eine EDV-gestützte Analyse der Basisdaten zum ADV (u. a. Korrelation zwischen Herkunft der Korrespondenten vor Ort, ihrer Verweildauer im Ort, Größe der befragten Orte und der Qualität der Antworten etc.) legte Georg Kehren 1994 vor. Die vorhandenen Sammlungen des ADV beruhen im wesentlichen auf fünf mit Hilfe von Landesstellen von 1930 bis 1935 versandten Fragebogen mit insgesamt 243 Fragen, die wieder in viele Unterfragen zerfallen. Beantwortete Fragebogen liegen aus 16 000—23 000 Orten des früheren Deutschen Reiches in seiner Ausdehnung von 1937, Österreichs, des Sudetenlandes, des Großherzogtums Luxemburg (Fb. 1—3) und aus einer großen Anzahl der dt. Sprachinseln des östlichen Mitteleuropa vor. Die Bogen enthalten vor allem Fragen nach den traditionell beibehaltenen Formen des Brauchtums und des Volksglaubens. Fragen zur materiellen Volkskultur treten sehr zurück. Immerhin enthält der ADV gut 100 Fragen aus dem Bereich „Wörter und Sachen“. In den Jahren 196 5 bis 196 9 versuchte die Arbeitsstelle in Bonn mit drei Frageheften offensichtliche Lücken der Vorkriegsbefragung, nämlich die bäuerlichen Sachgüter und Arbeitsverfahren, nach dem Gedächtnis der alten Leute zu doku-
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
mentieren, wobei in etwa die Zeit um 1900 erfaßt werden sollte. Insgesamt ergab die Befragung einen Rücklauf von ca. 6 000 Frageheften und rund 15 000 Fotografien (Wiegelmann 196 9). Neben einer zeitlichen Unschärfe — die Zeit um die Jahrhundertwende war angesprochen — läßt die Quantität und Qualität der Fragehefte vom 1. bis zum 3. Frageheft deutlich nach. Obgleich komplexe Sachbereiche und Arbeitsverfahren sich offensichtlich wenig für eine Fernbefragung eignen, konnten H. L. Cox und Uwe Meiners, ausgehend von dem ADV-Material unter Einbeziehung historischen Quellenmaterials, in ihren Untersuchungen zu abgesicherten Aussagen gelangen (Cox 1983, 1988, Meiners 1983, 1984). Insgesamt liegen im ADV und im ADV NF 41 Karten zum Komplex „Wörter und Sachen“ vor, wobei anzumerken ist, daß die in der alten Folge publizierten Karten alle ohne Kommentar erschienen sind. Forschung nach dem Prinzip „Wörter und Sachen“ wurde bis heute aufgrund des Frageplans des ADV nur vereinzelt geleistet. Dies hat mehrere Gründe: 1. Die in den dreißiger Jahren wissenschaftshistorisch bedingte Überschätzung der „geistigen“ und die damit verbundene deutliche Abwertung der materiellen Volkskultur. 2. Die Überschätzung der Bedeutung wortgeographischer Karten für die Sachforschung und die folglich daraus hervorgegangenen negativen Erfahrungen. 3. Der infolge unzureichender Formulierung der Fragen fehlende Bezug zwischen Bezeichnung und Sache. 4. Die auch nach dem II. Weltkrieg eher kulturräumlich als sachkundlich ausgerichteten Interessen der Herausgeber und 5. die erfolgte Erkenntnis, daß eine Rekonstruktion historischer Diffusionsprozesse aufgrund synchroner Karten zwangsläufig zu Fehlinterpretationen führen muß, falls nicht ein (möglichst) flächendekkendes historisches Material vorliegt, das es erlaubt, a) eine Reihe von metachronen historischen Verbreitungsbildern zu skizzieren und b) eine Analyse der historischen soziokulturellen und wirtschaftlichen Faktoren vorzunehmen.
Erst im Laufe der Zeit hat man begriffen, daß es sich bei der Diffusion von Innovationen um hochkomplizierte sozialpsychologische Prozesse handelt, bei denen im materiellen Bereich zum Beispiel die Kompatibilität der Neuerung, die Risikobereitschaft der Akzeptanten, der zu erwartende wirtschaftliche Nutzen etc. eine Rolle spielen. Die bis dahin offensichtlich ungenügende Erfahrung mit Fragebogen führte dazu, daß die Fra-
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gen einerseits zu knapp formuliert wurden, andererseits vielfach reine Bezeichnungsfragen gestellt wurden. Das Ergebnis solcher Fragen ist unbrauchbar, da ein eindeutiger Bezugspunkt, die Qualität des Dargestellten, fehlt. Lediglich vollwertige Karten, d. h. Karten, die neben a) den Bezeichnungen Aussagen über b) Qualität, c) Funktion, d) Alter, e) Wertschätzung und f) Intensität enthalten, sind vom ethnologischen Standpunkt aus als sinnvoll zu betrachten (Kretschmer 196 5). Am ehesten konnten dort Ergebnisse erzielt werden, wo eine adäquate Fragestellung es dem Bearbeiter erlaubte, eine vollwertige Karte im oben geforderten Sinne zu erstellen. So konnte z. B. Lothar Martin nicht nur eine Fülle von landschaftstypischen Bezeichnungen des Werbers kartieren, seine Bezeichnungskarte ist eben deshalb auch aufschlußreich, weil sie vielfach nicht nur die Person des Werbers, seine Aufgaben, sein Wirken und Ansehen enthüllt, sondern sogar geschichtliche Veränderungen des Brauches in der Form wie in der Verbreitung erkennen läßt (Martin 1959). Exemplarisch sei noch auf Matthias Zenders Karten zum Thema Grabbeigaben hingewiesen, auf denen Bezeichnung, Verbreitung, Brauchtum und Zweck der Totenmünze einander ergänzen (ADV NF, Kt. 13—20). Ebenfalls aus dialektgeographischer Sicht reicht eine Beachtung der Qualität des Bezeichneten allein nicht aus. Notwendig ist eine über das einzelne Gerät hinausgehende, die funktionalen Zusammenhänge der Arbeitsgeräte berücksichtigende Sachforschung und eine damit einhergehende Bezeichnungsgeographie ganzer Sachfelder (Goossens 1963). Es stellt sich hiermit grundsätzlich die Frage, ob es überhaupt einen Sinn hat, onomasiologische Karten in ethnologische Atlanten aufzunehmen. Die Frage läßt sich nicht eindeutig mit ja oder nein beantworten. Welche Aufschlüsse geben Bezeichnungskarten? — Bezeichnungen geben manchmal Aufschluß über die Herkunft einzelner Sachen oder der Siedler. Allerdings konnte die in den dreißiger Jahren an den ADV herangetragene Erwartung, den Bruch zwischen Vor- und Frühgeschichte und der damaligen Zeit zu überbrücken, weder damals noch später erfüllt werden, da arbeitstechnische, wirtschaftliche und soziale Novationen auch in der präindustriellen Zeit die Alltagskultur fortwährend umprägten. Zweifelsohne ist es richtig, daß die Karten des ADV unter bestimmten Voraussetzungen Aufschlüsse über historische Schichten zu geben vermögen, nämlich dann — wie Ruth Schmidt-Wiegand (1978, 1981), Uwe Meiners (1983, 1984) und H. L. Cox (1983, 1988) nachweisen konnten —, wenn aufgrund eines zeitlich und geographisch exakt fixierbaren Quellenmaterials mehrere synchrone Querschnitte
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unter Berücksichtigung des gesamten kulturellen Kontextes miteinander verglichen werden können. So gibt z. B. eine Bezeichnungskarte der schneidenden Erntegeräte beim Brotgetreide (Sense, Sichel, Sichte) allein weder Aufschluß über die synchrone Verbreitung dieser Geräte an sich, noch vermag sie eine Aussage über die Gründe der historischen Diffusion im geographischen, sozialen und funktionalen Bereich zu leisten. Erst die Analyse des gesamten Sachfeldes aller Erntegeräte in ihrem wirtschaftlichen und funktionalen Kontext (Bodenrelief, Klima, Bonität der Böden, Arbeitsteilung, Hauptfruchtarten etc.) ergibt bei einem historischen Material, das eine Reihe von historischen Querschnitten erlaubt, einen Einblick in die Verbreitungsgeschichte der Geräte, in deren wechselnde Funktionen oder deren Ersatz durch andere Geräte (Cox 1988). Die atomistische, nicht auf die Sach- und Bezeichnungsstruktur eines gesamten Sachfeldes ausgerichtete Fragestellung und der Mangel an historischen Belegen erschwert die Deutung der Kartenbilder in ihrer historischen Dimension nicht nur außerordentlich, sondern macht sie in den meisten Fällen unmöglich. — Bezeichnungen geben trotz Sachwandel manchmal Aufschluß über die frühere Verbreitung einer Sache. So legten z. B. die landschaftlichen Bezeichnungen Rühr- und Stoßmilch für Buttermilch im Rheinland noch lange nach der Einführung der Zentrifuge Zeugnis ab von den älteren Techniken der Butterherstellung (ADV-Frage 91). Allerdings läßt die Wortverbreitung nicht immer Schlüsse auf die Sachverbreitung zu, da Frage und Antwort nicht unbedingt die Wirklichkeit widerspiegeln: „Falsche Antworten der Gewährsleute machen deutlich, daß bei ortspunktbezogenen wortgeographischen Fragen und Karten neben der auf realer Anschauung bzw. Erfahrung beruhenden Kenntnis von Bezeichnungen immer auch mit Kenntnis gerechnet werden muß, die nur auf sprachlicher Vermittlung von Vorstellungsinhalten beruht“ (Grober-Glück 1979/80, 275). — Bezeichnungen geben manchmal Aufschluß über die gefühlsmäßige Einschätzung oder den Wandel des Stellenwertes von Personen und Sachen (ADVKarte NF 5: die Bezeichnungen des Werbers): Bezeichnungen wie Anstauber, Seelenverkäufer, Möglichsmacher und Teufelszujager zeigen die Einstellung des Volkes zu einem absterbenden Brauch, der den Bedürfnissen nicht mehr entspricht. — Die Karte kann sogar zu völlig falschen Schlußfolgerungen führen bei fehlender überregionaler Konstanz der Sachen, da die Bezeichnung aus immanent semantischen Gründen eben nicht, wie man lange annahm, adäquat der Qualität oder Funktion wechselt. Lediglich die Qualität der Mundartwörterbücher der einzelnen Landschaften entscheidet dann darüber, ob die Angaben verwertbar sind. Die vermutete oder sogar aus Unkenntnis der Realien einfach angenommene überregionale Konstanz des Begriffskerns wird nämlich bei zunehmender Größe des Untersuchungsraumes immer unwahrscheinlicher. Onomasiologische Wortkarten werden dem
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Wort als einer Einheit von Bezeichnung und Bedeutung nur dann gerecht, wenn die inhaltliche Komponente überregional konstant ist. „Einmal nämlich hat die Bedeutung einen sachbezogenen Kern, so daß bei Änderung der Sachgrundlage auch eine Änderung der Wortbedeutung eintritt, ohne daß sich deshalb die Bezeichnung mitwandeln muß. In diesem Falle hebt sich die Bezeichnungsgeographie selber auf, da ihre Voraussetzung, die Begriffskonstanz, hinfällig geworden ist. Zum zweiten ist auch die Bedeutung aus immanent semantischen, nicht sachlichen Gründen ebenso der räumlichen Veränderung unterworfen wie die Bezeichnung“ (Reichmann 1969, 70). Gleiche Signifikants bedingen in geographisch voneinander getrennten Räumen längst nicht immer gleiche Signifiés. Form und Material können sich bei gleicher Bezeichnung regional deutlich voneinander unterscheiden. Die mundartlichen Bezeichnungen, die nach Auffassung der Berliner Atlasredaktion „klar“ seien und alle „einen deutlichen Bezug auf Form und Stoff haben“ (Schienger 1934, 377), haben dies eben nicht, sondern sind vielfach eindeutig polysem (Cox 1992, 43). — Sachwandel bedingt nicht immer einen Bezeichnungswandel. Während sich in der Bedeutungsentwicklung von lat. sarcophagus „Steinsarg“ zu frz. cerceuil und hd. Sarg in der Bedeutung „Holzsarg“ nur ein Sem geändert hat (aus Stein > aus Holz), hat sich bei der Entwicklung von germ. (fränkisch) *bera „Bahre“ zu mdal. franz. bière, germ. *bār- zu mdal. dt. Bahre, beide in der Bedeutung „Holzsarg“, das gesamte Semem geändert (Gernand 1928, 32, Cox 1967, 59). — Eine auf sich gestellte Bezeichnungskarte führt, namentlich in ethnischen Mischgebieten und Kontaktzonen, eher in die Irre, als daß sie einen wesentlichen Beitrag zur Erhellung des Signifié zu leisten vermag. Das äußere sprachliche Zeichen, das Signifiant, kann über Jahrzehnte, sogar über Jahrhunderte beibehalten werden, sich sogar über weitere Gebiete ausdehnen, während das Signifié, sei es in Inhalt, Form oder Funktion, einem fortwährenden Wandel unterlag (Cox 1984, 39). Die Bedeutung einer mundartlichen Bezeichnung erschließt sich in ihrem synchronen und historischen Sachbezug in vielen Fällen auch bei aller Eindeutigkeit des Bezugspunktes nur bei einer Analyse des gesamten semantischen Umfeldes einer Bezeichnung. Erst eine die geographische Verbreitung und die funktionalen Zusammenhänge berücksichtigende Analyse der Bezeichnungen ermöglicht es, die ältere Bedeutung zu erschließen.
Der Rückblick hat deutlich gemacht, daß die starke Anlehnung des ADV an den DSA und die Ignorierung der romanistischen Forschungsergebnisse dazu führten, daß der ADV im Bereich der „Wörter und Sachen“ bereits bei der Gründung einen Forschungsrückstand von gut 50 Jah-
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ren hatte. Ausdrücklich ist zu betonen, daß der ADV sich im Bereich der „Wörter und Sachen“ nur dann als Forschungsmittel erschließt, wenn die Quellenlage es ermöglicht, die älteren historischen Schichten einzeln abzutragen. Die ADVKarten sind lediglich als ein „Forschungsmittel“, nicht als ein „Forschungsergebnis“ zu betrachten, da die synchronen Verbreitungsbilder der Raumsynonyme es nur in den seltensten Fällen erlauben, eine direkte Aussage über die Sache bzw. den historischen Sachwandel zu machen. Sie geben allenfalls Hinweise darauf, wo Erklärungsversuche anzusetzen haben. Historische Wort- und Sachforschung müssen sich sinnvoll ergänzen, will man zu tragfähigen Ergebnissen gelangen. In vielen seither erschienenen wortgeschichtlichen Arbeiten werden Schwierigkeiten und Verluste deutlich, die durch das Fehlen dieser sachkundlichen Seite im ADV und DWA für eine geschichtliche Sachforschung entstanden sind. Schwierigkeiten und Probleme in der Wortgeographie berühren sich eher mit denen der volkskundlichen Karten als mit Lautkarten, denn in den Antworten zu den Fragebogen des ADV erleben wir nur noch verstärkt unsere Beobachtungen zur Wortgeographie. Vielfältig und oft fast unmerklich sind die Anlässe, die zur Veränderung und zu neuer sachlicher und sozialer Zuordnung von Überlieferungen beitragen. Traditionelle Lebensformen sind im Rückgang oder schon ausgestorben. Neuerungen sind allenthalben im Kommen, oder sie beherrschen schon das Feld. Alle Überlieferungen wie Innovationen passen sich den allgemeinen Lebensverhältnissen ihrer Umgebung an oder werden von dort beeinflußt. Fast jede Einzelheit vermag sich im Volksleben selbständig zu machen und sich als freischwebendes Requisit da und dort anzuschließen. So gibt es z. B. zum Martinsfest am 11. November wenigstens 20 verschiedene Elemente, die sehr unterschiedlich verbreitet sind (ADV Kten 24—27, 37, 39—42, 59—65, 100—106). Von Anfang an hatte die Berliner Zentralstelle des ADV sich zu ortsgetreuer Wiedergabe aller Belege entschlossen (Schlenger 1934). Diese technische Neuerung gegenüber dem DSA war sicherlich ein Fortschritt. Aber allzu rasch sah der Benutzer der Karten in diesen ortsfesten Belegen einen sicheren Hinweis auf Vorkommen nur in diesen Orten. Solches mag bei allgemein bekannten Bräuchen angehen. Aber meist spiegeln die Antworten in ihrer bunten Mischung die Verhältnisse einer Landschaft wider, ohne damit jedoch ein absolut sicheres Zeugnis für einen bestimmten Ort abzugeben. Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgerichtig, daß ein Kartenbeleg nur Wissen und Wollen eines Mitarbeiters wiedergibt. Mit dieser Erkenntnis aber müßten wir
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zu einer andern Art der Darstellung auf der Karte übergehen. Relevant ist nicht der ortsgetreue Einzelbeleg, sondern die prozentuale Häufigkeit von Angaben gleichen Inhaltes in einer schematisch festgelegten Raumeinheit (Grober-Glück 1974, 13). Mit der von Gerda Grober-Glück entwickelten regionalstatistischen Methode wird auch die Verfälschung des Kartenbildes durch siedlungsleere Räume, durch Lücken oder übergroße Dichte der Befragung zum Teil aufgehoben. Ob mit solcher Projektion der Antworten auf Karten ein in allen Teilen stichhaltiges Verfahren gefunden ist, muß sich erweisen. Jedenfalls ist mit dieser Methode eine der modernen statistisch-quantifizierenden Forschung gemäße Grundlage vorhanden (Grober-Glück 1974, 1975, 1994). Hinzuweisen ist an dieser Stelle ebenfalls auf die von Georg Kehren entwickelte computativ-korrelative Methode. Seine Zielsetzung war es, ein Computerprogramm zur inhaltlichen und kartographischen Bewältigung der Materialmassen des ADV zu entwickeln sowie Fragen nachzugehen wie: das Verhältnis zwischen Korrespondenten (= Bearbeiter des Fragebogens) und befragten Personen (= Gewährsleuten), Zusammenhang und Bedeutung der Ortsgröße für die Repräsentativität der Antwort bzw. für die Beibehaltung älterer Formen sowie auch mögliche Zusammenhänge zwischen der Herkunft der Korrespondenten bzw. ihrer Verweildauer im Ort und der Qualität der Antworten. Während die im ADV vorhandenen Basisdaten früher kaum oder nicht verwendet werden konnten, da mit Ausnahme der Konfessionsverteilung keine ortsgetreuen Hilfskarten mit diesen Basisdaten vorlagen und eine Korrelation der Daten von Hand einen unvorstellbaren Aufwand bedeutet hätte, können nun mit dem von Kehren entwickelten Programm die einmal gespeicherten Basisdaten auf Abruf mit allen Antworten des ADV korreliert werden. Um ein Beispiel zu nennen: Wird ein Zusammenhang zwischen der Ortsgröße und einer Nachbarschaftsverpflichtung vermutet, zeigt eine nach Ortsgrößen gestaffelte Statistik, ob sich signifikante Übereinstimmungen ergeben. Die weiterführende Frage, ob die positiven Belege möglicherweise durch das Belegnetz bedingt sind (z. B. Größe der Orte), läßt sich ebenfalls ortsgenau überprüfen. Die Ergebnisse der Arbeit zeigen, daß die korrelativen Vergleiche mit den Basisdaten vielfach nicht nur methodisch sinnvoll sind, sondern als Basis-Standardprozedur bei jeder ADV-Frage anzuwenden sind. Die korrelativen Vergleiche sind ebenfalls analytisch wertvoll, da sie für die Karteninterpretation von grundlegender Bedeutung sind. Durch die Arbeit wurde darüber hin-
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aus die Einsicht in die wissenschaftshistorisch verständlichen Mängel der ADV-Befragung (Ortsnetz, Korrespondenten/Gewährsleute, Sozialstruktur der Erhebungspunkte etc.) deutlich vergrößert und die Aussagen der bis dahin vorliegenden Interpretationen der Kartenbilder eindeutig relativiert (Kehren 1994).
6.
Schlußbemerkung
Die Karten des ADV bereiteten dem am DSA geschulten Germanisten eine herbe Enttäuschung, denn es gab keine fest abgegrenzten Gebiete und keine scharf trennenden Linien, aber auf den ersten Blick ein ziemliches Durcheinander. Einige Karten brachten Neuerungen, die zum Teil erst in den Jahren der Befragung entstanden waren (Adventskranz, Muttertag). In jedem Falle zeigten alte wie neue Themen Bilder mit vielfacher Bewegung, mit Abbau, Erneuerung oder Aufstieg, mit einer Fülle von Eigenformen und Sonderbildungen und Leerstellen. Alle Träume über die Parallelen zur Dialektgeographie schienen verflogen. Diese Kartenbilder zu erklären und dabei Ursprung, Ausbreitungsweg und Wandlung abzulesen, erwies sich als viel schwieriger, als nach dem optimistischen Wort von Th. Frings anzunehmen war, der gesagt hatte, zur Not komme man auch ohne historische Belege aus. Die Erkenntnis, daß eine Rekonstruktion historischer Diffusionsprozesse aufgrund historischen bzw. synchronen Fragebogenmaterials zwangsläufig zu Fehlinterpretationen führen muß, falls nicht ein möglichst flächendeckendes historisches Material vorliegt, das es erlaubt, eine Reihe von zeitlich gestaffelten historischen Verbreitungsbildern zu skizzieren und eine Analyse der jeweiligen historischen und soziokulturellen Determinanten vorzunehmen, bedingte konsequenterweise auch in der Kulturraumforschung eine Schwerpunktverlagerung von der historischen Makroanalyse größerer geographischer Einheiten zur Mikroanalyse einzelner Orte bzw. kleinerer Räume. Quantitativ und qualitativ ausgewertete serielle Quellen wie Testamente, Inventarverzeichnisse, Nachlaßinventare, Versteigerungsprotokolle etc. bilden nicht nur die Grundlage zur Rekonstruktion von regionalen Novationsverläufen, sondern bieten auch die Möglichkeit, die Qualität der Realien und das Überwechseln von einer Schicht zur anderen zu erfassen. Serielle Quellenanalyse ermöglicht es zumindest für einige Landschaften, zeitliche Schichtung und Wandel bei Gerät und Haushalt, Wohnung und Kleidung in ihrem sozialen Kontext für die letzten vier Jahrhunderte zu verfolgen (Mohrmann 1984, Mangold 1992).
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I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
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Heinrich L. Cox/Matthias ZenderBonn
11. Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der Technik
11. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
1.
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Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der Technik Problemstellung und Begriffsbestimmung Die grundlegende Bedeutung der Technik für die Geschichte des Alltags Die grundlegende Bedeutung der Techniksprache für die Geschichte der Alltagssprache Wortgeschichte und Technikgeschichte Metapherngeschichte und Technikgeschichte Exkurs: Die Verben der Bewegung Bilanz Literatur (in Auswahl)
Problemstellung und Begriffsbestimmung
Die Technik beansprucht in der anthropologischen und universalhistorischen Deutung der Menschheitsgeschichte einen besonders herausragenden Platz. Besonders auffällig, weil an Epochenbezeichnungen erkennbar (z. B. Eisenzeit), erscheint eine solche Sonderstellung der Technik in der Ur- und Frühgeschichte, wo sie gewissermaßen als Indikator für die Entwicklungsstufen der Menschheit fungiert. Technik ist (neben dem Sprachvermögen) ein obligatorischer Bestandteil aller menschlichen Kulturen, gleich welcher Entwicklungsstufe sie angehören. Sie entsteht aus alltäglichem Wissen und Handeln und ist zunächst Teil der Alltagskultur (Steger 1991). Insofern ist die deutsche Sprachgeschichte (und natürlich die Geschichte aller anderen Kultursprachen) grundlegend mit der Geschichte der Technik verwoben. Gegenüber den Fachsprachen der Kommunikationsbereiche Institutionen und Wissenschaften (Steger 1988) nimmt die Techniksprache eine Sonderstellung ein, da sie in ihren Entwicklungen am weitesten und am nachhaltigsten in die alltagssprachlichen Entwicklungsstränge zurückreicht. Der Technikbegriff der Gegenwartssprache spiegelt in seiner Vielschichtigkeit (und gewissermaßen auch in seiner Vagheit) die historisch gewordene Zwischenstellung des Technischen zwischen Alltagshandeln und Fachwissen wider (vgl. Ischreyt 196 5; Jakob 1991 a, 1 ff.; Murswiek 1985, 71 ff.; Walther-Klaus 1987, 204 ff.). Es erscheint daher sinnvoll, sich im Kontext einer historischen Fachsprachenlinguistik der Präzisierung und Einengung eines übergeordneten Technikbegriffs zu bedienen, wie er für die Technik- und Sozialwissenschaften vorgeschlagen wurde: Nur dann sollte man von Technik im Sinne von „(Real-)Technik“ sprechen, „wenn vorwiegend künstliche Objekte, also Artefakte, von Menschen erzeugt und für bestimmte Zwecke verwendet werden“ (Ropohl 1979, 31).
Wenn also im folgenden von der Geschichte der Technik bzw. der Techniksprache gehandelt wird, ist eine Real-Technik vorausgesetzt, die drei Dimensionen erschließt: (1) die technischen Artefakte, (2) deren Herstellung durch den Menschen und (3) deren Verwendung im Rahmen zweckorientierten Handelns. In einem solchen Technik-Begriff sind alle historischen und qualitativen Stufen der Technik (oft einschlägig metaphorisiert: „vom Faustkeil bis zum Kernkraftwerk“) eingeschlossen. Für die Interdependenzen von dt. Sprachgeschichte und Geschichte der Technik ist demnach zu bedenken, (a) daß menschliches Handeln notwendigerweise schon immer auch technisches Handeln war, (b) daß diese Technik zunächst stets in Alltagshandeln eingebettet ist, (c) daß technisches Handeln ‘obligatorisch’ für das Überleben der menschlichen Kulturen war und ist, (d) daß Technik sich erst später als eigenständiger Handlungs- und Kommunikationsbereich etabliert hat, (e) daß technischer Spezialwortschatz seit der schriftlichen Überlieferung des Dt. selbstverständlicher Teil der überlieferten Alltags- und Literatursprache ist.
2.
Die grundlegende Bedeutung der Technik für die Geschichte des Alltags
Der menschliche Alltag wurde nicht erst durch die industrielle Technik technisiert. Er ist seit mindestens zweihunderttausend Jahren nachhaltig durch Artefakte geprägt, etwa in folgenden Bereichen: Beschaffung, Zubereitung und Sammlung der Nahrung (Jagdwaffen, Gefäße), Herstellung von Kleidern (Instrumente zur Bearbeitung von Fellen) u. ä. Der Alltag und der ‘Überlebenskampf’ des homo sapiens waren und sind durch und durch technisch, was ihn in den Entwicklungsstufen der Urgeschichte im übrigen deutlich vom homo erectus und homo habilis unterscheidet (vgl. Sachsse 1978). Die zweckorientierte Werkzeugherstellung und der planvolle und ‘rationelle’ Werkzeuggebrauch gelten auch als entscheidender Entwicklungsschritt bei der „Menschwerdung des Affen“ (F. Engels). Die zentralen Kulturschriften der vorchristlichen Welt enthalten neben ihren Anleitungen für soziales, religiöses, ethisches und institutionelles Verhalten auch stets einen Anteil an Normenvorschriften, die auf technischer Grundlage aufbauen (vgl. Muschalla 1992). Beispiele aus dem
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
174
Alten Testament: „Ihr sollt kein Unrecht begehen bei Gericht, mit Längenmaß, Gewicht und Hohlmaß“ (Levitikus 19, 35; ähnlich auch in Deuteronomium 25, 23). Auch sind in alttestamentliche Wundererzählungen häufig technische Artefakte integriert, die für die Übersteigerung des Geschehens unerläßlich sind bzw. sogar das eigentliche ‘Wunder’ erst konstituieren (z. B. Elias feuriger Wagen, Jakobs überdimensionale Himmelsleiter). Kulturgeschichte der frühen Zeiten ist nicht darstellbar ohne Technikgeschichte: Entwicklungen der Bautechnik, der Keramik, der Werkzeuge, der Fahrzeuge, der landwirtschaftlichen Geräte, der Gießtechnik sind stets Technik- und Kulturfortschritte (anschaulich und programmatisch in Hägermann/Schneider 1991). Neben der einfachen Werkzeugtechnik ist auch die ‘GroßTechnik’ oder das komplexe Techniksystem schon sehr früh in den Alltag eingedrungen: Der Pflug beispielsweise (erstmals ca. 2700 v. Chr. in Ägypten) ist bereits ein komplexes Techniksystem, bei dem erst das koordinierte Zusammenwirken von Mensch (als führende und regelnde Instanz), Tier (als bewegende Instanz) und Gerät (als materialverändernde Instanz) zur Überbietung der einfachen Werkzeugtechnik führt (vgl. Hägermann/Schneider 1991, 37).
3.
Die grundlegende Bedeutung der Techniksprache für die Geschichte der Alltagssprache
Aus der hier nur knapp skizzierten historischen und anthropologischen Bestimmung der Technik ergibt sich die wichtige sprachwissenschaftliche Folgerung, daß der Technikfachsprache gegenüber anderen Fachsprachen insofern eine Sonderstellung zukommen muß, als sie die historisch älteste Fachsprache ist. Sie ist dies, weil ihre Herausbildung der Entstehung der Arbeitsteilung, der Schaffung von Institutionen und der Entstehung der Wissenschaften vorausging. Eben durch seine anthropologische und historische Sonderstellung reicht das Technikwissen am stärksten in die Wissensstufen des Alltagswissens hinab (vgl. Ropohl 1979). Wenn man die Techniksprache in diesem ausgeführten Sinne als anthropologische Konstante der Kommunikation begreift, ist sie notwendigerweise als eine Sprachform anzusehen, die sich aus der Alltagssprache heraus entwickelt hat, aber immer noch — auch im Industriezeitalter — nachhaltig in sie eingebettet ist. Ein maßgebliches Nachschlagewerk für Techniker (Böge 1985) zeigt diese zwei Phasen der Technikentwicklung in seiner Kapitel-
gliederung. Da gibt es zunächst Technikbereiche, die aus der alltäglichen Handwerkstechnik herrühren: Festigkeitslehre, Werkstoffkunde, Spanlose Fertigung und Zerspantechnik. Demgegenüber stehen Technikbereiche, die erst in der Weiterentwicklung der industriellen Maschinentechnik entstanden sind: Elektrotechnik, Werkzeugmaschinen, Kraft- und Arbeitsmaschinen, Fördertechnik, Maschinenelemente und Steuerungstechnik. Da in den Prozessen des 20. Jh. die „Technisierung des Alltags“ und die „Veralltäglichung von Technik“ (Hörning 1988, 51) eine neue Dimension erreicht haben, werden jedoch auch die Technikbereiche der zweiten Gruppe über die entsprechenden Anwendungsmöglichkeiten (z. B. Haustechnik, Küchengeräte, Kraftfahrzeug, Unterhaltungselektronik, EDV) wieder in die Alltagssprache zurückgeführt. Weil Technikwissen aus Alltagswissen entwickelt wurde, sind auch die Techniksprachen voller ‘Alltäglichkeiten’. Das in ihnen gespeicherte und mit ihnen verarbeitete Wissen ist im Gegensatz zu anderen Fachsprachen nicht aus theoriegeleiteten Prinzipien erwachsen, nicht in Auseinandersetzung um Leitbegriffe, theoretische Deutungsmuster oder Ideologien. Es ist Wissen, das sich aus praktischen und alltäglichen Erfahrungen herleitet und die Regeln für die alltägliche Lebensbewältigung enthält. Dieses technische Praxiswissen fußt auf untheoretischer Wissensgrundlage und körperlicher Erfahrung. So weisen Technikfachsprachen (in völliger Übereinstimmung mit dem alltäglichen Sprechen über Technik) eine Fülle an Körpermetaphorik, naiven Analogien und Modellbildungen auf. Die wissenschaftlich falschen Beschreibungen von technischen Vorgängen zeigen von der Antike bis in die Gegenwart, daß Technik nicht (wie oft fälschlich behauptet) angewandte Wissenschaft ist. In einem Text aus dem 5. Jh. v. Chr. wird der Vorgang der Eisenverhüttung ‘wissenschaftlich falsch’, aber ‘technisch richtig’ beschrieben: „Handwerker schmelzen das Eisen durch Feuer, indem sie durch Luftzufuhr das Feuer dazu zwingen. Sie nehmen dem Eisen die vorhandene Nahrung weg. Nachdem sie es lokker gemacht haben, hämmern sie es und drängen es zusammen. Durch die Ernährung mit anderem Wasser wird es stark.“ (zit. nach Hägermann/ Schneider 1991, 99 f.). Solche Beschreibungen zeigen Bestandteile einer naiven Alltagsphysik und reichen in vergleichbarer Qualität bis in die Gegenwart. Die ausdrucksseitige Nähe von Alltagssprache und Techniksprache ist in der Gegenwartssprache anschaulich, ebenso ist sie in der schriftlichen Überlieferung der älteren Sprachstufen
11. Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der Technik
greifbar. Die Überlieferung des ahd. Wortschatzes belegt eindrücklich, daß Bezeichnungen für technische Artefakte selbstverständlich in den Alltags- oder Literaturwortschatz der Denkmäler integriert sind (vgl. Splett 1993): ahsa (Achse), bou g (Ring, Reif), blâsbalg (Blasebalg), bolz (Wurfgeschoß, Pfeil), eimbar (Krug, Eimer, Urne), zwibar (Zuber, Bütte), egida (Egge, Harke), fartbetti (Sänfte, Tragbett), felga (Felge, Radkranz), fîhala (Feile), flegil (Dreschflegel), holzwerk (Holzarbeit, Schnitzwerk), karra/karro (Karren, Wagen), liohtfaz (Licht, Lampe), nagal (Nagel, Pflock, Ruder, mit weiteren Komposita: dwerah-, festi-, îsarn-, saro-, span-, stiu r-), pflastar (Mörtel, Putz), pflu og (Pflug, mit weiteren Komposita: pflu og(es)hou bit, pflu ogrinna, pflu ogsterz, pflu ogzagal), ring (Ring, das Rund, Kreis), sega/ saga (Säge), segansa (Sense, Sichel), stelza (Holzbein, Krücke, dreibeiniger Stuhl), torku l (Kelter, Presse), umbiwu rki (Umzäunung), ziu g (Gerät, Ausrüstung, mit weiteren Komposita: scifziug, scrîbziug, satulziug).
Selbstverständlich ist auch bereits in ahd. Zeit die metaphorische Übertragung von Wortbedeutungen zwischen den Kommunikationsbereichen des Alltags, der Technik und der Religion: Achse (Fahrzeug und Himmel), felga (Felge und Kreisbahn/Kreislauf), nagal (Nagel und Fingernagel), pflastar (Mörtel und Wundpflaster). Die Konzeption von universellen Metaphern, wie sie die Gegenwartssprache kennt (z. B. Flügel, Ring, Kopf), ist ebenfalls für das Ahd. belegt. Nach Splett (1993, 751) können ahd. ring folgende Bedeutungen zugeordnet werden: Ring, das Rund, Kreis, Kreisbahn, Kreislauf, Windung, Wirbel, Erdkreis, Amphitheater, Mauerring, Kopfreif, Reif, Kranz, Schleife, Schlinge, Kette, Joch, Halsjoch, Panzerring, ringförmiges Gebäck, Versammlung. Das Mhd. zeigt eine weitere Ausdifferenzierung des technischen Wortschatzes, z. B. in den Wortfeldern ‘Werkzeug/Gerät’ (gerüste, geschirre, ziu c, geziu ge u. a.), ‘Gefäß’ (ampel, mu lde, brente, gelte, gevœze, bu terich, kiste, vaz u. a.), ‘Schneidewerkzeug’ (sege, sichel, hepe, kippe, schaere, bîhel, sëgense). Technischer Wortschatz ist selbstverständlich und ubiquitär in den literarischen Denkmälern. Herbert Walz (1994) hat dies anschaulich am Beispiel der Erzählvarianten von „Alexanders Tauchfahrt“ gezeigt. Die Technikutopie antizipiert in ihren technischen Details die Tauch- und U-Boot-Techniken des 20. Jhs. Verwendet wird zwar technischer Spezialwortschatz, der jedoch gleichzeitig wieder an alltagsnahe Technik anschließt. Im einzelnen werden beschrieben das wundersame Gefährt (z. B. ain truhen, in eimo glase, in einem glasevazze, ain starcken kasten), die Vorrichtungen zur Befestigung und zur ‘Versorgung’ des Fahrzeuges (z. B. ein keten, ein lange eysnen ket-
175
ten, ein rôre, ein snuore) und Details des Materials und der Ausstattung (z. B. mit îsen, mit eysen, ein türlîn, mit eime starken ledere).
4.
Wortgeschichte und Technikgeschichte
Die großen wortgeschichtlichen Bewegungen, die direkt und massenhaft in der Alltagssprache die technikgeschichtlichen Entwicklungen widerspiegeln, setzen erst im 19. Jh. ein (vgl. Wagner 1974). Erst mit der breiten Entfaltung der Technisierung und Industrialisierung, die einhergeht mit der Veralltäglichung der industriellen Werkzeug-, Maschinen- und Fahrzeugtechnik, ist die Situation geschaffen, daß moderne Technik auch im Alltag Verwendung findet und somit auch die Alltagssprache eminent beeinflußt. Besonders die Bereiche der neuen Kraftmaschinen (Dampfmaschine, Verbrennungsmotor) und der neuen Landfahrzeuge (Eisenbahn, Fahrrad, Automobil) stehen hier an erster Stelle (vgl. Jakob 1991 a, 220 ff.). Dabei ist häufig zu beobachten, daß technische Innovationen mit ‘alten’ Wörtern benannt werden und somit eine begriffliche Divergenz entsteht zwischen dem älteren und dem jüngeren Begriff, die aber durch die ausdrucksseitige Kontinuität verdeckt werden kann. Dies kann am Beispiel der Wortgeschichte von Eisenbahn gezeigt werden. Ursprünglich war mit Eisenbahn nur die Schienenanlage gemeint, auf denen die Wagen (zunächst im Bergwerk oder beim Materialtransport vom Bergwerk zum Hafen o. ä.) von Pferden gezogen wurden. In den Quellen wird das Wort ausschließlich in der Bedeutung ‘Schiene für Pferdewagen’ gebraucht: „so daß jetzt 10 Pferde auf dieser Eisenbahn eben so viel verrichten, als sonst 400“ (Brockhaus 2. Aufl., Bd. 2, 1812, 36 9). Erst in den 40er Jahren ist zu beobachten, wie das Wort allmählich zur üblichen Bezeichnung für das ‘gesamte Verkehrswesen auf Eisenbahnen’ wird. Das Verkehrsmittel ‘Eisenbahn’ hat die Zeitgenossen verängstigt und begeistert, die Verkehrsverhältnisse der Neuzeit revolutioniert und die Mobilität von Gütern und Personen mit den bekannt weitreichenden Folgen für Kultur und Wirtschaft drastisch gesteigert. Aber der technische Teil, der dem neuen Verkehrsmittel den Namen gibt, ist für dasselbe „eigentlich am wenigsten neu und charakteristisch“ (Rahnenführer 196 5, 18). Wenn man heute davon spricht, daß 1835 zwischen Nürnberg und Fürth „die erste Eisenbahn“ fuhr, meint man damit eigentlich: Erstmals wurde in Deutschland eine technische Einrichtung realisiert, die die drei schon längst bekannten technischen Teilelemente ‘Fahrzeug’, ‘Eisenbahn’ und ‘Dampfmaschine’ zusammenführte und kombinierte.
Reflexionen über solche durch Technikinnovationen hervorgerufene Divergenzen zwischen
176
wort- und begriffsgeschichtlichen Abfolgen finden sich häufig bei lexikalischen Definitionsversuchen Johann Beckmanns, des maßgeblichen Technologen des 18. Jhs. Beispiel: „Kutschen [...] Wenn man unter diesem Namen einen jeden bedeckten Wagen, worin man mit einiger Bequemlichkeit fahren kan, verstehen will, so ist wohl das Alterthum eines solchen Fuhrwerks nicht in Zweifel zu ziehen.“ (Beckmann 1782, Band 1, 390). Auch die Wort- und Begriffsgeschichte der Maschine zeigt Auseinanderentwicklungen: Archaische und moderne Begrifflichkeit überlagern sich, ferner kommt eine varietätenlinguistische Differenz zwischen Alltagsbegriff und Fachbegriff hinzu, so daß in der dt. Sprache insgesamt ein vielfältiger und facettenreicher Begriff von ‘Maschine’ existiert (vgl. Jakob 1989; Jakob 1991 a, 173 ff.; Ropohl 1991; Schmidt-Biggemann 1980). Zu bedenken ist das grundsätzliche Problem, daß die Wortgeschichte gewissermaßen die Innovationsgeschichte der Technikentwicklung nachzeichnet bzw. genauer die Veralltäglichung dieser Innovationen im Alltagsbewußtsein und in der Alltagssprache protokolliert. Beispiel: In der Frühphase der Entwicklung des Fahrrades ist Velocipede ein Fachwort, das nur im Spezialwortschatz des Fachmannes oder des HobbySpezialisten für avantgardistische Entwicklungen verankert ist. Mit der Veralltäglichung dieser Fahrzeugtechnik werden Bezeichnungen wie Velocipede, Fahrrad, Hochrad u. a. zu Alltagswörtern. Nachfolgender Ausschnitt aus dem Artikel „Velocipede“ im „Gewerbe- und UniversalLexikon für Jedermann“ (186 9) zeigt, welcher Mittel sich solche Wissens- und Sprachvermittlung bedient: inhaltliche Anknüpfung an Vorwissen über die Vorgängertechnik ‘Pferd/Reiter’ und modellhafte Analogiebildung zu ihr, technische und andere Vergleiche zwischen Vorgänger und Nachfolger, damit zwanghaft eine sprachliche Anknüpfung an den bestehenden Wortschatz; mit der Kreation von „Pferde-Metaphorik“ in der neuen Maschinentechnik wird die technische Innovation sprachlich archaisiert: [...] buchstäblich soviel als Schnellfüssler, eine seit 186 8 zu Paris in Mode gekommene Fortbewegungsmaschine, welche in einiger Beziehung das Reitpferd zu ersetzen bestimmt ist. [...] Die Räder sind von der ungefähren Grösse wie bei Equipagen [...] Zwischen beiden Rädern ist der Sitz oder Sattel des Reiters, welcher letztere die Maschine durch ein Trittwerk mittelst der Füsse in Trieb setzt. Vor dem Reiter [...] ist die Vorrichtung [...] zur Regulierung des Laufes [...] Der Gebrauch des Velocipedes erfordert einen eben so sorgfältigen Unterricht wie das Reiten auf Pferden [...] (Zitiert nach: Rauck/Volke/Paturi 1979, 41).
Geschichte des Technikwortschatzes ist auch
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
Geschichte der Mehrsprachigkeit und Geschichte der Entlehnung. In den Techniktexten des 19. Jhs. ist die jeweils neueste Technik stets mehrsprachig: „Dampfmaschine. Feuermaschine; Machina ope vaporum mota; Machine à feu, machine à vapeur; Steam engine; nennt man diejenigen Maschinen, welche durch Dampf in Bewegung gesetzt werden [...]“ (Physikalisches Wörterbuch, Bd. 2, 1826 , 417). Die Quellen des 19. Jhs. zeigen in ihren sprachlichen Befunden (und belegen dies zusätzlich durch entsprechende metasprachliche Äußerungen), daß in vorpuristischer und vornationalistischer Zeit der internationale Techniktransfer selbstverständlich auch Sprachtransfer ist und daß die allgemeine Wortgeschichte des Dt. im 19. Jh. im besonderen auch eine Entlehnungsgeschichte des Technikwortschatzes ist: Wenn auf solche Weise nach und nach die Kenntniß der französischen und englischen Kunstausdrücke mehr verbreitet wird, so findet dadurch Mancher eine Erleichterung beim Studieren ausländischer Werke, und das Heer schlechter Übersetzer kommt dann endlich vielleicht dahin, uns weniger oft mit barbarischen oder sinnlosen Verdeutschungen zu peinigen. (Karmarsch 1841, Band 2, V).
Wie durch technische Innovationen und deren massenhafte Diffusion Wortfelder neu strukturiert werden, läßt sich an der historischen Entwicklung des Wortfeldes ‘Fahrzeug’ zeigen. Bis ins 18. Jh. war das Wort Fahrzeu g reserviert für die Gruppe der Wasserfahrzeuge: „Fahr-Zeug, bedeutet allerhand Gattung grosser und kleiner Schiffe“ (Universallexikon/Zedler 1734, Band 9, 105). Damit stand es in Opposition zu den Wörtern Wagen oder Fuhrwerk, die als Oberbegriffe für ‘Landfahrzeuge mit Rädern’ fungierten. Erst im 19. Jh. wurde mit der Innovation der kraftmaschinengetriebenen Landfahrzeuge (zunächst die Eisenbahn, später das Automobil) ein Oberbegriff ‘Fahrzeug’ notwendig, für den der Ausdruck bezeichnenderweise von der technisch am fortgeschrittensten Fahrzeugtechnik, der Schiffahrt, entlehnt wurde.
Anhand der Entwicklung eines technischen und alltäglichen Begriffes von der Elektrizität im 18./ 19. Jh. läßt sich zeigen, wie direkt die sich wandelnden Vorstellungen und Konzepte von dieser zunächst ‘unfaßbaren’ Energieform auf die Wortfindungsversuche einwirkten. Das am Ende der Entwicklung stehende Alltagswort (elektrischer) Strom steht für eine modellhafte Vorstellung ‘Elektrizität = Flüssigkeit/Strömung’. Dieses Modell und die entsprechende Metaphorik können allerdings erst zu Beginn des 19. Jhs. allmählich entstehen, nachdem nach den Innovationen von Galvani und Volta die ‘Strömung’ zum
11. Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der Technik
herrschenden Denkkonzept geworden ist. Die Quellen belegen vier Etappen dieser begriffsund wortgeschichtlichen Präzisierung: (1) Elektrizität = ‘Kraft’: „heisset diejenige Krafft derer Cörper, vermöge welcher sie, wenn sie starck gerieben worden, leichte Sachen an sich ziehen“ (Universallexikon/Zedler 1734, Band 8, 708) (2) Elektrizität = ‘Materie’: „wodurch aus von Natur elektrischen Körpern die elektrische Materie herausgelocket, und unelektrischen Körpern mitgetheilet wird“ (Jacobsson 1781, Bd. 1, 578) (3) Elektrizität = ‘Flüssigkeit’: „elektrisches Fluidum“ (Physikalisches Wörterbuch 1828, Band 4.2, 749) (4) Elektrizität = ‘Strömung’: „der Zustand einer continuierlichen (ununterbrochenen) und in sich zurückkehrenden Bewegung oder Strömung in den Leitern“ (Populäres Physikalisches Lexikon 1835, Bd. 2, 472).
5.
Metapherngeschichte und Technikgeschichte
Die grundsätzlichen Vorbemerkungen zur historisch alten Verwobenheit von Alltags- und Techniksprache sind den Sprachwissenschaftlern zumindest im Hinblick auf die Geschichte der Metaphorik vertraut. Immer wieder wurde beobachtet und betont, daß die Techniksprachen ganz besonders zu einer extensiven Verwendung von Mensch-, Tier-, Körper- und Organmetaphorik neigen (vgl. Bückendorf 196 3; Dröge 1978, 49 ff.; Hahn 1971, 91 ff.; Hums 1988; Spiegel 1972, 157 ff.; Taenzler 1955, 198 ff.). Zur Deutung solch sprachlicher Phänomene bietet sich eine Herleitung aus Konzepten der philosophischen Anthropologie an, wie sie erstmals in der Theorie von Ernst Kapp (1877), der Werkzeugherstellung als ‘Organimitation’ deutet, und später in der Theorie von Arnold Gehlen (1957) fundiert wurden. Nach Gehlen dienen Werkzeugherstellung und Werkzeuggebrauch dem ‘Mängelwesen’ Mensch als überlebensnotwendige Strategien, nämlich als ‘Organersatz’, ‘Organverstärkung’ und ‘Organentlastung’ (vgl. hierzu ausführlich Jakob 1991 a, Kap. 2). Von solch philosophisch-anthropologischen Deutungsmustern ausgehend, wird plausibel, daß alltägliches Sprechen über Mensch, Natur und Technik notwendigerweise isomorph sein muß. Eine etymologische und wortgeschichtliche Trennung zwischen ‘natürlich-menschlicher Grundbedeutung’ der Wörter und der jeweiligen technischen Metapher ist in der Alltagssprache kaum möglich. Vielmehr müssen sich in der Alltagssprache, aber auch in der Techniksprache als Fachsprache technische, menschliche und natürliche Inhalte
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und Sprachformen permanent überlagern und durchdringen. Die Isomorphie von Technik und Natur, besonders die Isomorphie von Artefakt und Körper bzw. Organ, läßt sich an der Metaphorik zeigen, die die Techniksprache auf der Grundlage von Wörtern mit ehemals ‘natürlicher’ oder ‘menschlicher’ Grundbedeutung bildet (vgl. Jakob 1991 a, 24). Dies konnte für die älteren Sprachstufen nur anhand weniger Beispiele angedeutet werden. Die im Prinzip identischen Vorgänge sind für die jüngere Sprachgeschichte und für die Gegenwartssprache dagegen reichhaltig belegt. Fünf ‘Quellbereiche’, aus denen die Metaphorik der Techniksprache gespeist wird, lassen sich festhalten: (1) Menschliche Organe und Körperteile: Arm, Auge, Backe, Bart, Bauch, Bein, Brust, Busen, Daumen, Elle, Fau st, Finger, Fu ß, Gesicht, Glatze, Haar, Hals, Hand, Herz, Kehle, Kinn, Knie, Kopf, Kropf, Leber, Lippe, Locke, Mund, Nacken, Narbe, Nase, Niere, Ohr, Rippe, Rücken, Ru mpf, Schenkel, Schulter, Sehne, Sohle, Stirn, Wange, Zahn, Zehe, Zopf, Zunge. (2) ‘Artifizielle Organe’ des Menschen: Bett, Brille, Flöte, Gabel, Griffel, Haube, Helm, Hemd, Hose, Hut, Kamm, Kette, Korb, Krone, Krücke, Mantel, Mütze, Sattel, Schürze, Schu h, Schwert, Tasche, Trommel. (3) Tiere: Bär, Bock, Esel, Fisch, Frosch, Fuchs, Gans, Geier, Geiß, Gemse, Grille, Henne, Hund, Igel, Kalb, Kamel, Katze, Kranich, Kröte, Krokodil, Küken, Mau lwu rf, Mau s, Pferd, Ratte, Roß, Sau , Schildkröte, Schlange, Schnecke, Schwein, Vogel, Wespe, Widder, Wolf, Wurm. (4) Tierische Organe und Körperteile: Feder, Fell, Flügel, Horn, Huf, Klaue, Kralle, Panzer, Pratze, Qu aste, Rüssel, Schnabel, Schu ppen, Schwanz, Schwinge, Stachel, Tatze. (5) Pflanzen und Pflanzenteile: Apfel, Ast, Banane, Baum, Beere, Birne, Blatt, Blüte, Blume, Bohne, Dorn, Fru cht, Korn, Krone, Nu ß, Rose, Ru te, Schale, Stamm, Stengel, Stiel, Wu rzel, Zweig, Zwiebel.
Neben den Metaphern, die durch einfache Formoder Funktionsähnlichkeit motiviert sind (z. B. Flügel), sind besonders diejenigen interessant, die eine Gesamtdeutung und Gleichsetzung von Artefakt und Lebewesen anzeigen (z. B. Wolf, Bär). Nach Meinung der älteren Fachsprachenforschung sind solche Lebewesen-Metaphern in den Techniksprachen Indikatoren für bestimmte Denkkonzepte und den Wunsch nach ‘Verlebendigung’ der Technik (z. B. Taenzler 1955, 216 ). Doch hier ist wissenspsychologisch zu präzisieren: Der Mensch deutet Technik lebendig oder gar menschlich, ohne aber wirklich an ein ‘Leben’ im Werkzeug oder in der Maschine zu
I. Deutsche Sprachgeschichte im Rahmen der Kulturgeschichte
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glauben. In das Alltagshandeln eingebundene technische Handlungen sind so selbstverständlich ‘menschlich’ und ‘alltäglich’, daß sie — ohne weitere Reflexion — eben auch sprachlich ‘vermenschlicht’ werden. Die zwanghafte sprachliche Teleologisierung der Technik, besonders der neuen und noch nicht durchschaubaren, bestätigt dies: Der Dru cker spinnt, der Compu ter will das nicht (vgl. Jakob 1991 b). Die Isomorphismen im Sprechen über Mensch, Natur und Technik sind nach Auffassung der Wissenspsychologie keine kognitiven oder sprachlichen Einzelfälle. Vielmehr gehört es zu den Grundprinzipien der menschlichen Wissensspeicherung und -verarbeitung, daß sie mit Hilfe von Analogien zu bestehendem Vorwissen und mit modellhaften Repräsentationen anderer Wissensbestände operiert (vgl. Gentner 1983; Johnson 1987; Johnson-Laird 1983; Lakoff/Johnson 1980). Nicht die einzelne Metapher, sondern die hinter ihr stehenden metaphorischen Konzepte, wie z. B. MASCHINE IST MENSCH, sind die sprachlichen Belege dafür, daß die Verarbeitung von Technikwissen in einigen wenigen Modellen vonstatten geht. Gedankliche und sprachliche Verarbeitung von Technik findet im wesentlichen in vier zentralen Modellen statt (vgl. zur ausführlichen Herleitung: Jakob 1991 a, Kap. 3). Die ‘Vermenschlichung’ unbelebter Artefakte und die ‘Technisierung’ von Menschen ist in der Geschichte stets unterschiedlich vollzogen worden. Keinesfalls ist die Grenzziehung zwischen Lebendigem und Künstlichem konstant und zwanghaft durch die Sprache vorgegeben. Dem antiken Autor erscheint offensichtlich eine Dreiteilung der Instrumente in sprachbegabte, stimmbegabte und stumme (womit Sklaven, Ochsen und Geräte gemeint sind) nicht anstößig (Varro, 37 v. Chr.; nach Hägermann/Schneider 1991, 57). Dem Autor des 18. Jh. ist der menschliche Körper „die allerschönste, vortrefflichste, und künstlichste Maschine“ (Universallexikon/ Zedler 1739, Bd. 20, 810).
6.
Exkurs: Die Verben der Bewegung
Ein Blick in eine Grundlagenstudie zu den deutschen Verben der Fortbewegung (Schröder 1993) zeigt, daß die dt. Sprache ungefähr 250 Verben der Fortbewegung kennt und daß davon etwa ein Fünftel sowohl eine natürlich-körperbezogene (also alltagssprachliche) Bedeutung als auch eine technisch-werkzeugbezogene (also techniksprachliche) Bedeutung aufweisen. Zu den ca. 50 alltäglich-technischen Bewegungsverben gehören beispielsweise:
bewegen, biegen, fahren, fallen, fliegen, fliehen, folgen, gehen, gleiten, holen, hüpfen, klettern, kommen, landen, laufen, prallen, rasen, rammen, reiten, rennen, rollen, rücken, rutschen, schieben, schießen, schleppen, schlittern, schwingen, sinken, springen, stapfen, steigen, streifen, wenden, ziehen.
Dabei ist der häufigste Übertragungsweg von der ursprünglichen, also historisch „wörtlichen“ Bedeutung (Bewegung des menschlichen Körpers) zur historisch jüngeren und „metaphorischen“ Bedeutung (Bewegung des technischen Artefakts). Eine weitere Grundlagenstudie zu den Verben der Körperteilbewegung — das sind alle Verben, „die eine willentliche Bewegung von Körperteilen bei Menschen denotieren“ (Krohn 1984, 33) — zeigt eindrücklich, wie universell und vielfältig die natürlich-körperbezogenen Verben technisiert werden können und wie der komplexe Bewegungsapparat des Menschen als Denkmodell und als Sprachlieferant für technische Vorgänge dominiert (vgl. Krohn 1984, 36 — 51). Beispiele: anstoßen, aufmachen, aufreißen, aufsperren, aufwerfen, ausbreiten, beißen, beugen, bewegen, biegen, drehen, drücken, ducken, ergreifen, greifen, klappen, klopfen, öffnen, packen, pendeln, schaben, schieben, schlagen, schließen, schwenken, senken, stampfen, treten, vorbeugen, vorschieben, winken, wippen, zumachen, zurückwerfen, zurückziehen, zusammenbeißen.
Das Phänomen, daß die Bewegungsverben des Grundwortschatzes sowohl eine alltäglich-körperliche als auch eine speziell-technische Bedeutung aufweisen können, ist ebenfalls schon für das Althochdeutsche belegt. Belege wie biogan, dru cken, faran, fu oren, giozan u. a. bestätigen sprachgeschichtlich, was technikgeschichtlich vorauszusetzen ist, nämlich daß das frühe Mittelalter schon eine Werkzeug- oder Gerätetechnik des Biegens, des Fahrens, des Gießens etc. kannte. Ahd. grîfan steht als Gegenbeispiel. Es hat noch keinerlei Technikbedeutung, weil die maschinelle Greiftechnik erst viel später entsteht. Man darf also behaupten, daß die eigentlich sprachhistorisch unauffälligen Bedeutungserweiterungen im Verbal-Grundwortschatz des Dt. direkt reale Entwicklungen der Technikgeschichte widerspiegeln. Insofern sind die Bewegungsverben des Grundwortschatzes der anschaulichste ausdrucksseitige Beleg für die These von der Verwobenheit der Alltagssprache mit der Technikgeschichte und für die These von der historischen Tiefe dieser Verwobenheit. In jeder Studie zur Geschichte einer technischen Fachsprache wird relativ unhinterfragt vorausgesetzt, daß der jeweilige Fachwortschatz für
11. Deutsche Sprachgeschichte und Geschichte der Technik
die Benennung der natürlichen und technischen Vorgänge und Verfahren immer auch die ‘alltäglichen’ Verben der Bewegung und der Körperlichkeit enthält (vgl. z. B. Dröge 1978, 48). Je weiter man in der Geschichte der Technikquellen zurückgeht, desto körperbezogener und desto ‘vermenschlichter’ sind die Beschreibungen der Bewegungen und Vorgänge mittels der entsprechenden Verben, weil der Mensch noch direkt an der Maschinenaktivität als ‘Beweger’ partizipiert: „Die Bewegungen der Maschinen durch Menschen und Vieh geschehen auf vielerley Arth, als: 1. Durch Ziehen. 2. Durch Niederdrücken. 3. Durch Schieben. 4. Durch Stossen. 5. Durch Aufheben. 6. Durch Treten. 7. Durch Drehen und Umdrehen. 8. Durch Fortgehen oder Lauffen.“ (Leupold 1724, 116 ). Mit dem Fortschritt der Technik übernehmen Kraftmaschinen die Rolle des menschlichen oder tierischen Antriebs. Die körperbezogenen Verben konservieren dann sprachlich den Stand der vormodernen Technik.
7.
Bilanz
Eingebunden in die fortschreitende Technisierung der menschlichen Zivilisationen vom werkzeugherstellenden Urmenschen bis zur Zivilisation der Industriegesellschaft ist die Entwicklung der Techniksprache als Fachsprache von weitreichender historischer Tiefe und stets eingebunden in die Alltagssprache. Die Techniksprache als Fachsprache ist in der Abgrenzung der Varietätenlinguistik insofern die Nahtstelle zwischen Alltagssprache und den alltagsferneren Fachsprachen (Wissenschaften, Institutionen). Insofern sind Anthropomorphisierungen und Teleologisierungen im Sprechen über Technik ebenso selbstverständlich wie die dominierende Natur- und Körper-Metaphorik. Sie sind das sprachliche Symptom einer historisch sehr alten Beziehung von natürlicher und technischer Umgebung: Die Technik gehört auch sprachlich zur Kultur des Menschen, die eigentlich seine „zweite Natur“ ist (Gehlen 1986, 38). Die Bezüge zwischen der dt. Sprachgeschichte und der Geschichte der Technik herauszuarbeiten gehört nicht zu den traditionellen Schwerpunkten der historisch orientierten Sprachwissenschaft. Solche Distanz ist wissenschaftsgeschichtlich bedingt. Demgegenüber steht als Paradoxon der hier vorgetragene Befund, daß nämlich die Geschichte der Technik deutlicher und direkter in die Bedeutungsstrukturen und die Entwicklung des Wortschatzes der Alltagssprache hineingreift als andere historische Entwicklungen.
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8.
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