David und Klio: Historiographische Elemente in der Aufstiegsgeschichte Davids und im Alten Testament (Beihefte Zur Zeitschrift Fur Die Alttestamentliche Wissenschaft 401) [1 ed.] 3110206951, 9783110206951 [PDF]


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David und Klio: Historiographische Elemente in der Aufstiegsgeschichte Davids und im Alten Testament (Beihefte Zur Zeitschrift Fur Die Alttestamentliche Wissenschaft 401) [1 ed.]
 3110206951, 9783110206951 [PDF]

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Zitiervorschau

Andre´ Heinrich David und Klio

Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Herausgegeben von John Barton · Reinhard G. Kratz Choon-Leong Seow · Markus Witte

Band 401

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Andre´ Heinrich

David und Klio Historiographische Elemente in der Aufstiegsgeschichte Davids und im Alten Testament

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020695-1 ISSN 0934-2575 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen

Für Jo, für meinen Vater, für meine Mutter

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 2007 von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Das Erstgutachten besorgte Prof. Dr. R. G. Kratz, das Zweitgutachten Prof. Dr. H. Spieckermann. Am 23. Januar 2008 fand das Rigorosum statt. Der ursprüngliche Titel der Dissertation („Das historiographische Moment der erzählenden Bücher – exemplarisch dargelegt an Hand des Anfangs der sog. ‚Aufstiegsgeschichte Davids‘“) wurde für die Veröffentlichung abgewandelt. Dagegen erfuhr die Studie selbst nur geringe Veränderungen und Ergänzungen. Neu hinzu traten die Textpräparationen und das Stellenregister. Viele Menschen haben einen Anteil daran, dass die Studie in dieser Form entstehen konnte. Ihnen allen gebührt mein herzlicher Dank. Prof. Dr. Reinhard G. Kratz hat mich nicht nur vor dem Hintergrund meiner Studieninteressen zu der Dissertation ermutigt, sondern auch aufs beste bei den verschiedensten Fragen und Schwierigkeiten begleitet und mir zugleich viele Freiheiten gelassen. Und obendrein hat er mit charmanter Größe einen skeptischen Doktoranden stets lächelnd und verständnisvoll ertragen. Prof. Dr. Hermann Spieckermann verdanke ich neben dem Zweitgutachten ebenso manch wichtigen fachlichen Rat oder Hinweis und nicht zuletzt viel Verständnis in den Situationen, in denen die Koordination des Graduiertenkollegs „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder“ zulasten der Fortarbeit an der Dissertation zu gehen drohte. Darüber hinaus schätze ich mich glücklich, auch von den beiden Göttinger Grandseigneurs Prof. Dr. Rudolf Smend und Prof. Dr. Lothar Perlitt noch manchen Wink oder gar Ratschlag erhascht zu haben. Die Mitglieder der Göttinger alttestamentlichen Doktorandenkolloquien, des genannten Graduiertenkollegs sowie der Forschungsgruppe OTSEM haben mit ihren Rückfragen und Anmerkungen zu meinen Vorträgen ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Entstehung der Dissertation geleistet. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders Prof. Dr. Terje Stordalen, Dr. Hanne Løland sowie Prof. Dr. Kåre Berge erwähnen, die mir während eines mehrwöchigen Forschungsaufenthalts in Oslo im Frühjahr 2006 zahlreiche fachliche Anregungen geliefert und nicht zuletzt einen warmherzigen Empfang und unbeschwerte Tage an der MF bereitet haben. Die Dissertation wurde in finanzieller Hinsicht von dem erwähnten Graduiertenkolleg mit einem sechsmonatigen Übergangsstipendium gefördert, von der Göttinger Schünemann-Stiftung mit einer Auslauffinanzierung sowie von dem Forschungsverbund OTSEM mit Übernahme der jeweiligen Reise- und Aufenthaltskosten. Dem Graduiertenkolleg danke ich überdies für die Zeit, in der ich mit seiner Koordination betraut sein und an seinem Aufbau mitwirken durfte.

VIII

Vorwort

Dasselbe „Privileg der ersten Monate“ habe ich beim damaligen DFG-Projekt Qumranwörterbuch genießen dürfen, hier danke ich insbesondere PD Dr. Annette Steudel und PD Dr. Ingo Kottsieper dafür, daß sie mir gleichermaßen kompetente wie liebenswerte „Chefs“ waren. Dem Herausgeberkreis der BZAW, insbesondere Prof. Dr. M. Witte und meinem Doktorvater, gebührt mein Dank, weil sie die Dissertation in die von ihnen betreute Reihe aufgenommen haben. Zu guter Letzt möchte ich all jenen ein herzliches Dankeschön sagen, die sich im Zusammenhang mit der vorliegenden Studie bereitwillig an diverse Kärrnerarbeiten gemacht haben: Prof. Dr. Uwe Becker hat in einem Proseminar vor soundsoviel Jahren einem jungen Studenten sehr geduldig die Grundlagen der exegetischen Wissenschaften vermittelt. Seine Stimme meine ich nach wie vor in meinem Ohr zu hören, wenn ich in der Bibel lese, besonders im Alten Testament. Seitens des Verlages Walter de Gruyter haben Herr Dr. A. Döhnert, Frau Dr. S. Krämer sowie nicht zuletzt Frau S. Dabrowski viel Sachverstand und Verständnis bewiesen. Pfarrer Kai Sundermeier hat das Manuskript eines Kommilitonen und Freundes aus dem Ravensbergischen wieder und wieder gelesen, mitunter zäh diskutiert und vor allem aufopferungsvoll korrigiert. Johanna Heinrich hat ähnliche Opfer gebracht, aber obendrein noch die Lasten eines zu verfertigenden Stellenregisters und eines bisweilen der Doktorarbeit wegen miesepeterigen Ehemannes ertragen. Die Dres. Peter Porzig, Martin Hallaschka, Hannes Bezzel und Eva-Maria Silies haben ebenso wie Pfarrerin Sarah A. Oltmanns teils Korrektur gelesen, teils zusammen mit anderen den Freund auf der Göttinger Heizung bei Laune gehalten und teilweise sogar beides zugleich souverän bewerkstelligt.

Asemissen bei Bielefeld, im Oktober 2009 A. H.

Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................................................................ VII

1

Die Fragestellung ................................................................................................. 1 Die Ausgangsfrage ........................................................................................ 1 Historiographie als Gegenstand der modernen Historik ....................... 2 1.2.1 Geschichtsschreibung als Teil der Geschichtswissenschaft ......... 3 1.2.2 Geschichtswissenschaft als Sonderfall historischen Denkens ...... 6 1.2.3 Entstehung und Funktionen des historischen Denkens ............... 8 1.2.3.1 Die erste Wurzel: das Subjekt und seine Orientierungsbedürfnisse .............................................................. 8 1.2.3.2 Die zweite Wurzel: das Objekt und seine Vorstellbarkeit als Geschichte ................................................................................. 9 1.2.4 Geschichtswissenschaft als methodisiertes historisches Denken und Erzählen ................................................. 11 1.2.5 Zusammenfassung: Geschichtsschreibung als Sonderform historischen Erzählens ...................................................................... 16 1.3 Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage .......................... 17 1.3.1 Der langwährende Konsens ............................................................ 17 1.3.2 Hubert CANCIK ................................................................................. 25 1.3.3 John VAN SETERS ............................................................................. 29 1.3.4 Erhard BLUM ..................................................................................... 33 1.4 Das Programm der Untersuchung ........................................................... 39 1.4.1 Reformulierung der Fragestellung .................................................. 39 1.4.2 Wahl des Gegenstandes der Untersuchung ................................... 41 1.4.3 Zur Methode der textgenetischen Analyse der AG ..................... 43 1.4.3.1 Forschungsgeschichtlicher Abriß ............................................... 43 1.4.3.2 Ansatz und Vorgehensweise der textgenetischen Untersuchung ............................................. 48 1.1 1.2

2 2.1 2.2

1 Samuel 15,1–35 ............................................................................................... 50 Einleitende Betrachtung ............................................................................ 50 Untersuchung .............................................................................................. 51

X

Inhaltsverzeichnis

2.3

3 3.1 3.2 3.3

4

70 70 80 80 81 83 86 89

1 Samuel 15,35–16,13 ........................................................................................ 95 Einleitende Betrachtung ............................................................................ 95 Untersuchung .............................................................................................. 96 Auswertung ............................................................................................... 105 3.3.1 Die Bearbeitungen .......................................................................... 105 3.3.2 Die Grundschicht von 1 Sam 15,35–16,13 ................................. 108 1 Samuel 16,14–23 ........................................................................................... Einleitende Betrachtung .......................................................................... Untersuchung ............................................................................................ Auswertung ............................................................................................... 4.3.1 Die Bearbeitung ............................................................................... 4.3.2 Die Grundschicht von 1 Sam 16,14ff. ........................................

112 112 113 123 125 130

1 Samuel 17,1–18,4 .......................................................................................... Einleitende Betrachtung .......................................................................... 5.1.1 Einleitende Betrachtung der beiden Fassungen ......................... 5.2 Untersuchung ............................................................................................ 5.3 Auswertung ............................................................................................... 5.3.1 Das Verhältnis von Langfassung und Kurzfassung ................... 5.3.2 Entstehung der Langfassung ......................................................... 5.3.2.1 Davids Sieg als Zeichen für Jhwhs Beistand .......................... 5.3.2.2 David als Goliatbezwinger ........................................................ 5.3.2.3 David als Glaubensheld ............................................................. 5.3.2.4 David als Freund Jonatans ........................................................ 5.3.2.5 David als ‚Nobody‘ in königlichen Diensten ......................... 5.3.2.6 David und Israel als geschmähte Außenseiter ........................ 5.3.2.7 David als Hirte und Waffenträger ............................................ 5.3.2.8 David als Waffenträger und ehemaliger Hirte ........................

131 131 131 133 170 170 187 188 189 191 193 195 197 201 205

4.1 4.2 4.3

5

Auswertung ................................................................................................. 2.3.1 Die Bearbeitungen ............................................................................ 2.3.2 Die Grundschicht von 1 Sam 15,1–34 ........................................... 2.3.2.1 Erzählerisches Profil .................................................................... 2.3.2.2 Das Verhältnis von 1 Sam 15* zu Dtn 25,17–19 ..................... 2.3.2.3 Das Verhältnis von 1 Sam 15* zu 1 Sam 30 ............................. 2.3.2.4 Theologisches Profil ..................................................................... 2.3.2.5 Das Verhältnis von 1 Sam 15* zu 1 Sam 13,7b–15a ...............

5.1

Inhaltsverzeichnis

5.3.2.9

6

209 209 210 232 232 243

1 Samuel 19,1–24 ............................................................................................. Einleitende Betrachtung .......................................................................... Untersuchung ............................................................................................ Auswertung ............................................................................................... 7.3.1 Die Bearbeitungen .......................................................................... 7.3.2 Die Grundschicht von 1 Sam 19 ..................................................

245 245 246 264 264 271

1 Samuel 20,1–21,1 .......................................................................................... Einleitende Betrachtung .......................................................................... Untersuchung ............................................................................................ Auswertung ............................................................................................... 8.3.1 Der zweite Abschied der Freunde (20,40–42) ........................... 8.3.2 Das Zögern des Königs (20,26.27a) und abhängige Ergänzungen ......................................................... 8.3.3 Der Bundesschluß (*20,12–16) und abhängige Ergänzungen ................................................................. 8.3.4 Die Vereinbarung des geheimen Zeichens (*20,10.18–22.35aa[?].37bb.38aa) ................................................ 8.3.5 Die Grundschicht von 1 Sam 20,1–21,1........................................

274 274 275 318 319

1 Samuel 21,2–16 ............................................................................................. 9.1 Einleitende Betrachtung .......................................................................... 9.2 Untersuchung ............................................................................................ 9.3 Auswertung ............................................................................................... 9.3.1 Die Bearbeitungen .......................................................................... 9.3.2 Die Grundschicht von 1 Sam 21,2ff. ..........................................

335 335 335 346 346 349

7.1 7.2 7.3

8 8.1 8.2 8.3

10

Die Grundschicht von 1 Sam 17,1–18,4 und ihre erste Erweiterung ........................................................ 207

1 Samuel 18,5–30 ............................................................................................. 6.1 Einleitende Betrachtung .......................................................................... 6.2 Untersuchung ............................................................................................ 6.3 Auswertung ............................................................................................... 6.3.1 Die Bearbeitungen .......................................................................... 6.3.2 Die Grundschicht von 1 Sam 18,5ff. ..........................................

7

9

XI

321 323 330 333

Gesamtauswertung .......................................................................................... 352

XII

11

Inhaltsverzeichnis

10.1 Textgenese ............................................................................................ 10.1.1 Die Grundschicht der Aufstiegsgeschichte Davids ............... 10.1.2 Die Bearbeitungen ...................................................................... 10.2 Das historiographische Moment der Aufstiegsgeschichte Davids .........................................................

352 352 364

Textpräparationen ............................................................................................ 11.1 1 Samuel 15,1–34 ................................................................................. 11.2 1 Samuel 15,35–16,13 .......................................................................... 11.3 1 Samuel 16,14–23 ............................................................................... 11.4 1 Samuel 17,1–18,4 .............................................................................. 11.5 1 Samuel 18,5–30 ................................................................................. 11.6 1 Samuel 19,1–20,1a ............................................................................ 11.7 1 Samuel 20,1b–21,1 ............................................................................ 11.8 1 Samuel 21,2–16 .................................................................................

377 377 379 380 381 384 386 388 391

372

12

Abkürzungs- und Literaturverzeichnis ......................................................... 393

13

Stellenregister .................................................................................................... 415

Seltsame Grille des Volkes! Es verlangt seine Geschichte aus der Hand des Dichters und nicht aus der Hand des Historikers. Es verlangt nicht den treuen Bericht nackter Tatsachen, sondern jene Tatsachen wieder aufgelöst in die ursprüngliche Poesie, woraus sie hervorgegangen. Das wissen die Dichter, und nicht ohne geheime Schadenlust modeln sie willkürlich die Völkererinnerungen, vielleicht zur Verhöhnung stolztrockner Historiographen und pergamentener Staatsarchivare. Nicht wenig ergötzte es mich, als ich in den Buden des letzten Jahrmarkts die Geschichte des Belisars in grell kolorierten Bildern ausgehängt sah, und zwar nicht nach dem Prokop, sondern ganz treu nach Schenks Tragödie. »So wird die Geschichte verfälscht« – rief der gelahrte Freund, der mich begleitete –, »Sie weiß nichts von jener Rache einer beleidigten Gattin, von jenem gefangenen Sohn, von jener liebenden Tochter, und dergleichen modernen Herzensgeburten!« Ist denn dies aber wirklich ein Fehler? soll man den Dichtern wegen dieser Fälschung gleich den Prozeß machen? nein, denn ich leugne die Anklage. Die Geschichte wird nicht von den Dichtern verfälscht. Sie geben den Sinn derselben ganz treu, und sei es auch durch selbsterfundene Gestalten und Umstände. Es gibt Völker, denen nur auf diese Dichterart ihre Geschichte überliefert worden, z. B. die Indier. Dennoch geben Gesänge wie der Mahabharata den Sinn indischer Geschichte viel richtiger als irgendein Kompendienschreiber mit all seinen Jahrzahlen. Heinrich Heine

1

Die Fragestellung

Ist einer eine grobe Sau, qui non delectatur cognitione historiarum.1 Philipp Melanchthon

1.1

Die Ausgangsfrage

Die vorliegende Untersuchung möchte klären, ob und ggf. in welchem Sinne die erzählenden Bücher des Alten Testaments als Geschichtsschreibung bzw. Historiographie einzustufen sind.2 Um die Aufgabenstellung möglichst klar zu konturieren und zugleich vor einer naheliegenden Engführung zu bewahren, muß diese Frage von einer anderen sorgfältig unterschieden werden: der Frage nach der Historizität dessen, was in den betreffenden Texten geschildert wird.3 Den Gegenstand dieser Arbeit bilden, anders ausgedrückt, nicht die jeweils erzählten Ereignisse, sondern vielmehr die Erzählungen selbst. Beabsichtigt ist des näheren, die literarische Eigenart der erzählenden Bücher unter erkenntnis- bzw. geschichtstheoretischen Gesichtspunkten zu erfassen. Um die Relevanz der Ausgangsfrage deutlicher herauszustreichen, kann man sie daher auch wie folgt formulieren: In welchem Verhältnis steht die Art von Literatur, die heutzutage mit guten Gründen als

–––––––––––––– 1 2

3

Melanchthon nach einer Nachschrift seiner zwischen 1555 und 1560 gehaltenen Vorlesung über Weltgeschichte, zitiert nach Berger: Vorlesungen. S. 783. Die Begriffe ‚Geschichtsschreibung‘ und ‚Historiographie‘ werden hier und im folgenden synonym verwendet. Was den Terminus ‚Altes Testament‘ anbelangt, so ist zwar nicht zu bestreiten, daß er negative Assoziationen wecken oder bedenkliche Vorstellungen transportieren kann. Die in den letzten Jahren vorgeschlagenen Alternativen (etwa ‚Erstes Testament‘ oder ‚Hebräische Bibel‘) sind indes nicht minder problematisch, nicht zuletzt insofern sie zu verschleiern drohen, mit welcher Tradition christliche Theologie nun einmal umzugehen hat. Ich sehe hier die ernstzunehmende Gefahr, daß durch schlichte Neubenennungen die Lösung der eigentlichen, tieferliegenden Probleme und damit nicht zuletzt auch der jüdisch-christliche Dialog eher behindert als befördert wird. Der Gebrauch der geläufigen Bezeichnung ‚Altes Testament‘ (‚AT‘) erscheint mir daher nicht nur angemessen, sondern nachgerade angezeigt. Zur Sache s. auch GERSTENBERGER: Theologien. S. 10; DOHMEN: Einheit. S. 14–20; ZENGER: Schrift. S. 14–16. Darüber hinaus wird der Historizitätsproblematik im Anschluß an die begriffliche Grundlegung in 1.2 keinerlei Bedeutung mehr zukommen.

2

Die Fragestellung

Geschichtsschreibung bezeichnet werden kann, zu jener, die im AT in den Büchern Gen – 2 Kön, 1 und 2 Chr, Esra, Nehemia, Ester und Rut vorliegt?4 In jüngeren übergreifenden historiographiegeschichtlichen Darstellungen werden die alttestamentlichen Prosawerke in der Regel als Geschichtsschreibung gewertet, ohne daß dabei allzu große Mühe auf eine argumentative Absicherung dieser Einschätzung verwandt wird.5 Studien dieser Art können daher im folgenden weitgehend unberücksichtigt bleiben. In diese Form gebracht, verlangt die Ausgangsfrage nach einem Historiographiebegriff, der zwei grundlegende Bedingungen erfüllt: Er muß zum einen dem derzeitigen wissenschaftstheoretischen Diskussionsstand der historischen Disziplinen entsprechen, darf m. a. W. keine unmittelbar zum Zweck dieser Untersuchung entworfene Spezialdefinition darstellen, sondern sollte sich nach Möglichkeit eine aktuelle, fächer- und schulübergreifend konsensfähige Begriffsbestimmung zueigen machen. Zum anderen darf dieser Historiographiebegriff nicht nur auf eine bestimmte historische Epoche oder einen speziellen Kulturkreis anwendbar sein.6 Er muß vielmehr dem Umstand Rechnung tragen, daß die Aufgabenstellung darauf zielt, zwei Phänomene miteinander in Beziehung zu setzen, die in kulturhistorischer Hinsicht zwei weit auseinanderliegenden Kontexten entstammen.

1.2

Historiographie als Gegenstand der modernen Historik

Die erste der beiden oben genannten Bedingungen macht es erforderlich, zunächst einen Blick auf den derzeitigen Diskussionsstand in jener Disziplin zu werfen, die für die fachliche Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft zuständig ist, die sogenannte Geschichtstheorie oder Historik. Von ihr steht zu erwarten, daß sie verläßlich Aufschluß darüber zu geben vermag, was vom heutigen wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet unter dem Begriff ‚Geschichtsschreibung‘ zu verstehen ist. Den umfassendsten und meistrezipierten geschichtstheoretischen Entwurf, der in den letzten vier Jahrzehnten vorgelegt wurde,7 stellt zweifellos Jörn –––––––––––––– 4

5 6 7

Zu dem naheliegenden Einwand, ein solcher Vergleich verfahre anachronistisch, s. u. 1.2.2 sowie 1.4.1. – Auch die erzählenden Bücher, die sich über den Umfang des hebräischen Kanons hinaus in der LXX oder in der apokryphen Literatur finden, sowie die kleineren Prosastücke im AT (wie etwa das Jonabuch oder einzelne Passagen der drei großen Propheten) fallen prinzipiell unter diese Fragestellung. Vgl. insbesondere SIMON: Historiographie. S. 42; etwas eingehender VÖLKEL: Geschichtsschreibung. S. 67f. Hierzu s. etwa auch GRABBE: Historians. S. 158; ROBERTS: Myth. S. 3. Zu den geschichtstheoretischen Entwürfen Karl-Georg FABERs und Kurt KLUXENs s. GOERTZ: Umgang. S. 60–67. Zur Rezeption RÜSENs in der alttestamentlichen Wissenschaft s. beispiels-

Historiographie als Gegenstand der modernen Historik

3

RÜSENs in drei Bänden sukzessive publizierte Historik dar.8 Sie bietet sich daher in besonderem Maße als Ausgangspunkt der Untersuchung an und soll, der Aufgabenstellung entsprechend, vor allem auf den von RÜSEN entwickelten Historiographiebegriff hin befragt werden. Dabei ist nicht zuletzt das zweite der beiden oben erwähnten Kriterien im Auge zu behalten, d. h. die Notwendigkeit der kultur- und epochenübergreifenden Anwendbarkeit der Definition. Die Darstellung des RÜSENschen Historiographieverständnisses kann sich weitestgehend auf den ersten der drei Bände beschränken, da hier die theoretischen Grundlagen für die in den beiden weiteren Bänden erfolgende Untersuchung der Faktoren des historischen Denkens geschaffen werden.9

1.2.1

Geschichtsschreibung als Teil der Geschichtswissenschaft

R ÜSEN geht es in seiner dreibändigen Studie darum, den Vernunftanspruch der Geschichtswissenschaft darzulegen und zu erörtern. Er beginnt zu diesem Zweck in dem ersten der drei Bände mit einer Grundlagenreflexion und führt dabei den Terminus ‚disziplinäre Matrix‘ in die Geschichtstheorie ein.10 Bezeichnet sind mit diesem Begriff „die für die Geschichte als Fachdisziplin maßgeblichen Faktoren oder Prinzipien des historischen Denkens in ihrem systematischen Zusammenhang“11. Insgesamt zählt RÜSEN fünf solcher Faktoren: 1) Interessen: Seinen Ausgang nimmt jegliches historisches Denken bei den natürlichen Bedürfnissen des Menschen, sich mit seinem jeweiligen Handeln ––––––––––––––

8

9

10 11

weise BLUM: Notwendigkeit. S. 39, Anm. 74; GERTZ: Erinnerung. S. 3, Anm. 3; JANOWSKI: Kanon. S. 15 und passim; VAN O ORSCHOT : Geschichte. S. 7–9 und passim. Aus dem neutestamentlichen Bereich s. etwa REINMUTH: Historik. S. 40–42 und passim; SCHNELLE: Paulus. S. 2 und S. 8; SCHRÖTER: Wissenschaft. S. 856 und passim. Zur Aufnahme des RÜSENschen Entwurfs außerhalb der Theologie s. GOERTZ : a. a. O. S. 67–73; KORNBICHLER : Rezension zu RÜSEN: Vernunft. S. 177–182. – RÜSENs Position wird flankiert von der ausgesprochen gelungenen Studie ‚Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie‘ des Niederländers Chris LORENZ (Originaltitel: ‚De constructie van het verleden. Een inleiding in de theorie van de geschiedenis‘. Amsterdam 1987). RÜSEN: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983; ders.: Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung. Göttingen 1986; ders.: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989. Erst im letzten Arbeitsschritt (10.2), der Auswertung, soll auch ein kurzer Blick auf die von RÜSEN im dritten Teil seiner Historik entwickelten Gedanken geworfen werden. S. auch in Kap. 1 die Anm. 69 und 72 mit jeweiligem Haupttext. Den Hintergrund für diese Begriffswahl bilden die wissenschaftstheoretischen Arbeiten Thomas S. KUHNs (s. hierzu die bibliographischen Angaben bei RÜSEN: Vernunft. S. 142, Anm. 11). RÜSEN: a. a. O. S. 24.

4

Die Fragestellung

(oder auch Erleiden) in der Zeit zu orientieren. Doch erst wenn diese Bedürfnisse vom menschlichen Bewußtsein aufgegriffen und interpretiert worden sind, können sie als Faktor des Geschichtsdenkens gelten. RÜSEN bezeichnet sie in dieser bewußten Form als Interessen. 2) Ideen: Um aus der Summe der Fakten, die aus der Vergangenheit bekannt sind, einen sinnvollen, aussagekräftigen und relevanten Zusammenhang, d. h. (eine) Geschichte zu formen, bedarf es leitender Hinsichten, oberster Sinnkriterien oder – wie RÜSEN sagt – Ideen. Von ihnen her bestimmen sich einerseits die Methoden, mit denen das Gestern untersucht werden soll.12 Unter ihrem Einfluß nehmen aber andererseits auch die oben erwähnten Bedürfnisse die Gestalt konkreter Interessen an.13 3) Methoden: Daß konkrete Erfahrungen über die Vergangenheit, in der Regel Quellenbefunde, in das historische Denken eingebracht werden, gibt diesem lediglich seine spezifisch geschichtliche Ausrichtung. Erst die Art und Weise, wie dies geschieht, entscheidet darüber, welchen Geltungsansprüchen eine Geschichte genügen kann. So bedarf das wissenschaftlich verfaßte Geschichtsdenken fest umrissener Methoden, mit denen es die von ihm verwendeten empirischen Daten erhebt. Dieser einzelne Faktor beeinflußt wiederum die ganze übrige disziplinäre Matrix. So bestimmen die Methoden der empirischen Forschung automatisch vor allem darüber, welche Formen gewählt werden, um die jeweils erzielten Ergebnisse zu präsentieren. Andererseits schränkt allein schon der Umstand, sich auf bestimmte Methoden festlegen zu müssen, die Auswahl der leitenden Hinsichten nicht unwesentlich ein.14 4) Formen: Der von Ideen geprägte und methodisch geregelte Blick auf die Vergangenheit hat – weil er interessengeleitet ist – eine natürliche Tendenz dazu, weiter- und zu diesem Zweck zunächst wiedergegeben zu werden. Dies geschieht üblicherweise auf sprachlich-narrativem Wege. Die Formen, die dabei Verwendung finden, sind keineswegs mit den Methoden der Forschung zu identifizieren, gleichwohl aber von erheblichem Einfluß auf den darzustellenden Inhalt. Sie bilden den vierten Faktor der disziplinären Matrix, der zugleich den Bereich markiert, den die Historiographie innerhalb der Geschichtswissenschaft einnimmt. 5) Funktionen: Da jegliches Geschichtsdenken mehr oder minder konkreten Interessen und Bedürfnissen entspringt, kann es sich nicht um seiner selbst willen vollziehen. Es ist vielmehr darauf hin angelegt, dem Menschen mit seiner Lebenspraxis in der Zeit Orientierung zu verschaffen. Diese „Funktionen der Daseinsorientierung“15 stehen zwar in engem Zusammenhang mit jenen Interessen –––––––––––––– 12 13 14 15

Hierzu s. 3). Vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 25f. Vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 27. RÜSEN: a. a. O. S. 28 (im Original kursiv gesetzt).

Historiographie als Gegenstand der modernen Historik

5

und Bedürfnissen, sind aber nach RÜSEN dennoch von ihnen als eigenständiger Faktor zu unterscheiden. Die Pointe dieses fünfgliedrigen Modells besteht darin, daß die Faktoren in der genannten Reihenfolge einen „Regelkreis“16 ergeben. Dies liegt daran, daß sie sich auch als „Etappen eines kognitiven Prozesses“17 verstehen lassen, also gedanklich aufeinander aufbauen: Aus den lebenspraktischen Interessen erwachsen leitende Hinsichten auf die Vergangenheit, Ideen, unter deren maßgeblichem Einfluß sich die Methoden der Geschichtsforschung formieren. Aus diesen ergeben sich die Formen der Darstellung, der Historiographie, von denen wiederum abhängt, welche daseinsorientierenden Funktionen das jeweilige Geschichtswissen erfüllen kann. Der Kreis schließt sich, weil diese Funktionen schließlich wieder Einfluß auf die Interessen nehmen: Können sie die Bedürfnisse nach Orientierung gänzlich befriedigen, bleibt das entstandene historische Wissen voll in Geltung. Wenn sich jedoch die jeweilige Interessenlage verschoben hat oder die Orientierungsleistung der Geschichte aus anderen Gründen nicht (mehr) hinreicht, dann hebt der Erkenntnisprozeß von neuem an. Innerhalb dieses Regelkreises differenziert RÜSEN zwischen lebensweltlichen und fachwissenschaftlichen Faktoren. Die Kreisbewegung setzt mit den Interessen in der Hälfte der allgemeinen Lebenspraxis ein, führt dann mit den Ideen, Methoden und Formen durch die andere, die fachwissenschaftliche Hälfte, um wieder bei den Funktionen in den lebensweltlichen Bereich einzumünden.18 Damit wird deutlich, daß selbst wissenschaftlich verfaßte Geschichte unvermeidlich in lebenswirkliche Zusammenhänge eingebettet ist.19 Der Wert der Untersuchung RÜSENs liegt vor allem darin begründet, daß mit Hilfe des Regelkreismodells verständlich gemacht werden kann, warum Geschichte immer wieder neu geschrieben werden muß, nie ein für allemal feststeht.20 Diese ja gerade für die Geschichtswissenschaft charakteristische Vorläufigkeit aller Erkenntnis kann R ÜSEN deshalb recht plausibel erklären, weil er die Lebensumstände des jeweiligen erkennenden Subjekts konsequent in seine Überlegungen miteinbezieht. Die Notwendigkeit, Geschichte immer wieder aufs neue zu formulieren, erschließt sich so als Folge der wechselnden Zeitläufte und der mit ihnen sich wandelnden Bedürfnisse des Menschen. –––––––––––––– 16

17 18 19 20

RÜSEN: a. a. O. S. 31. – Der Gedanke des Einflusses der Ideen auf die Bedürfnisse (s. o. Anm. 13) zeigt, daß die Interpretation als Regelkreis lediglich eine theoretische Annäherung an ein de facto weitaus komplexeres Interdependenzgeflecht darstellt. RÜSEN (a. a. O. S. 31) spricht daher auch von dem „stark schematisierten und abstrakten“ Charakter dieses Modells. RÜSEN: a. a. O. S. 29. Vgl. das Schaubild bei RÜSEN: ebd.; etwas elaborierter noch in RÜSEN: Art. Disziplinäre Matrix. S. 63. RÜSEN: Vernunft. S. 30f. Vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 31.

6

Die Fragestellung

Vor diesem gedanklichen Hintergrund stellt sich Geschichtsschreibung mithin als ein konstitutives Element der Geschichtswissenschaft dar, das unlöslich in ein Interdependenzgeflecht von Orientierungsbedürfnissen, Theoriebildungen, Geschichtsforschung und Orientierungsleistung eingewoben ist.

1.2.2

Geschichtswissenschaft als Sonderfall historischen Denkens

Die disziplinäre Matrix der Geschichtswissenschaft spiegelt in ihrem oben dargestellten Aufbau die „Etappen eines kognitiven Prozesses der menschlichen Zeitorientierung durch historisches Denken“21 wider. Bei diesen Etappen handelt es sich um „Faktoren, die grundsätzlich in jedem historischen Denken vorkommen (wenn man die Bedeutung von ›Methode‹ ganz weit faßt)“22. Historische Wissenschaft und gemeinmenschliches Geschichtsdenken werden also durch dieselben Prinzipien konstituiert. Dabei entscheidet allein der Grad der Methodisierung des Erkenntnisprozesses darüber, in welchem Ausmaß historisches Denken Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen kann.23 Wissenschaftlich betriebenes Geschichtsdenken erscheint also lediglich als ein „Spezialfall des historischen Denkens“24 im allgemeinen, es handelt sich nicht etwa um zwei kategorial verschiedene Phänomene. Dieser Sonderfall kann darüber hinaus auch nicht scharf vom übrigen Geschichtsbewußtsein abgegrenzt werden, vielmehr ist mit fließenden Übergängen zu rechnen. Wissenschaftlich fundierte Historiographie ist, anders ausgedrückt, nach RÜSEN nur eine Erscheinungsform historischen Erzählens unter vielen. Ihr Spezifikum besteht in ihrem besonders hohen Geltungsanspruch: Sie erhebt Anspruch auf Allgemeingültigkeit, d. h. „daß im Prinzip jeder dem zustimmen muß, was sie über die menschliche Vergangenheit als historische Erkenntnis an den Tag gebracht hat.“25 Grundsätzlich aber geht sie wie jede andere historische Erzählung auch vor, wenn sie ihr Publikum davon zu überzeugen sucht, daß es dem Glauben schenken darf, was sie berichtet. Das Publikum muß sich – genauer ausgedrückt – bereit finden, die jeweilige Geschichte als Grundlage seines künftigen Handelns zu akzeptieren. Das kann deswegen problematisch sein, weil in historischen Erzählungen stets auch Bilder personaler und / oder sozialer Identitäten entworfen werden und damit unweigerlich das Sozialgefüge der Hörerschaft beeinflußt wird. Diese Überzeugungsarbeit nun, die jede Form historischer Erzählung grundsätzlich zu leisten hat, vollzieht sich RÜSEN zufolge auf drei Ebenen: –––––––––––––– 21 22 23 24 25

RÜSEN: a. a. O. S. 29. RÜSEN: ebd. Vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 88f. Zur Methodisierung s. auch 1.2.4. GOERTZ: Umgang. S. 71. RÜSEN: Vernunft. S. 76.

Historiographie als Gegenstand der modernen Historik

7

1) auf der ihres Erfahrungsgehalts, 2) auf der ihres Bedeutungsgehalts und 3) auf der ihres Sinngehalts. Mit dem ‚Erfahrungsgehalt‘ einer Geschichte sind diejenigen ihrer Aussagen gemeint, die oben als faktenbezogene bezeichnet wurden. Demgegenüber bezieht sich der Begriff ‚Bedeutungsgehalt‘ auf die normbezogenen Aussagen. ‚Sinngehalt‘ schließlich meint die Vermittlung und Vereinigung beider Aussageebenen im Akt des historischen Erzählens, „die narrative Synthesis von Erfahrung und Norm“26. Diese dritte Ebene ist den anderen beiden vor- und auch übergeordnet: Zeitlich betrachtet ist der Sinngehalt von Geschichten den anderen Größen vorgeordnet. Denn Erfahrungs- und Bedeutungsgehalt jeweils für sich genommen erschließen sich erst, wenn die Tradition27, in der beide Momente noch eine sinnhafte Einheit bilden, kritisch reflektiert wird. Übergeordnet ist der Sinngehalt insofern, als er nicht einfach eine automatische Addition oder Amalgamation von Erfahrung und Bedeutung darstellt. Die Vermittlungsleistung erfolgt vielmehr auf der Basis „einer leitenden common-sense-Bestimmung im Orientierungsrahmen menschlicher Lebenspraxis“28. Auf jeder der genannten drei Ebenen müssen Geschichten ihren Wahrheitsoder Geltungsanspruch begründen. Da es hierbei allein um Überzeugungsarbeit und infolgedessen lediglich um Begründungen, Argumentationen (nicht etwa um Beweise im strengen Sinne) gehen kann, spricht RÜSEN von den drei Formen von „Triftigkeit“ einer historischen Erzählung.29 Er bezeichnet sie als a) die „empirische“30, b) die „normative“31 und c) die „narrative Triftigkeit“32. Empirische Triftigkeit wird ihm zufolge erreicht, indem die von der Geschichte behaupteten Tatsachen durch Erfahrungen abgesichert werden. Zu diesem Zweck macht der jeweilige Autor oder die jeweilige Autorin33 beispielsweise Quellenangaben, be–––––––––––––– 26 27 28

29 30 31 32 33

RÜSEN: a. a. O. S. 80. Zum Begriff der Tradition bei RÜSEN s. 1.2.3.2. RÜSEN: Vernunft. S. 81. RÜSEN (ebd.) spricht auch von einer „Idee“ oder von einem „obersten Gesichtspunkt der menschlichen Daseinsorientierung“. Zur Überordnung des Sinngehalts über die beiden übrigen Ebenen vgl. z. B. auch RÜSEN: a. a. O. S. 84. Darüber hinaus vermeidet er damit die begriffliche Unschärfe, durch die sich die Rede von der ‚historischen Wahrheit‘ auszeichnet. RÜSEN: a. a. O. S. 82. RÜSEN: ebd. RÜSEN: a. a. O. S. 83. Hier und im folgenden wird, sofern neuzeitliche Personengruppen oder überzeitliche Sachverhalte im Blick sind, ausdrücklich sowohl die maskuline als auch die feminine Form verwandt, weil dies m. E. schlicht ein Gebot der sprachlichen Präzision und der Höflichkeit ist. Was hingegen die verschiedenen Verfasserkreise betrifft, auf die das AT zurückgeht, beschränke ich mich auf den Gebrauch des Maskulinums, da die Existenz antiker judäischer bzw. israelitischer Schreiberinnen, Ergänzerinnen usw. weitestgehend ausgeschlossen werden kann.

8

Die Fragestellung

nennt Gewährsleute oder betont seine bzw. ihre Autopsie. Normative Triftigkeit bedarf des Aufweises, daß ein dargestellter historischer Zusammenhang für die Gegenwart und Zukunft bedeutsam ist. Solche Relevanz kann allein im Rückgriff auf geltende Normen oder Wertvorstellungen begründet werden. Konkret geschieht dies nach RÜSEN z. B. in Form einer „Erklärung didaktischer Absichten, oft auch in der Form einer explizit dargelegten ›Moral von der Geschicht‹“34. Narrative Triftigkeit schließlich leitet sich aus einem obersten Sinnkriterium ab, das die angesprochene Hörerschaft mit der Erzählung teilt. Es wird üblicherweise an einer exponierten Stelle der Geschichte dargelegt, „sei es in der Form einer Berufung auf die für die Lebenspraxis ihrer Adressaten maßgebende Sinninstanz, sei es in der Berufung auf common-sense-Vorgaben der Zeitorientierung, die [...] über allen Zweifel erhaben sind.“35

1.2.3

Entstehung und Funktionen des historischen Denkens

Um in den Blick zu bekommen, was historisches Denken ist, beginnt RÜSEN damit, die Lebensvollzüge zu analysieren, aus denen es entspringt. Er setzt also nicht mit wissenschaftstheoretischen Erörterungen ein, sondern fragt viel grundsätzlicher nach den anthropologischen oder lebensweltlichen Wurzeln jeglichen Geschichtsdenkens. „Um zu wissen, was es heißt, auf wissenschaftliche Weise historisch zu erkennen, muß geklärt werden, was es heißt, überhaupt historisch zu denken.“36 Zu diesem Zwecke nähert sich RÜSEN dem Geschichtsbewußtsein gedanklich von zwei Seiten: einmal ausgehend vom Subjekt, das dieses Bewußtsein ausbildet, und zum anderen von dem Objekt her, das als Geschichte vorgestellt wird.37 Hier wie dort findet er jeweils eine Wurzel des menschlichen Geschichtsdenkens. Auf diese Weise setzt RÜSEN seine Konzeption von subjektivistischen wie auch von objektivistischen Ansätzen sehr deutlich ab und versucht stattdessen, ein Mittelposition zu etablieren.38 1.2.3.1

Die erste Wurzel: das Subjekt und seine Orientierungsbedürfnisse

Die erste der beiden Wurzeln entdeckt RÜSEN im Subjekt, näherhin im Menschen mit seinem Bedürfnis nach Orientierung in der Zeit. Dabei geht RÜSEN in seinen Überlegungen von einem Menschenbild aus, demzufolge das Spezifikum des –––––––––––––– 34 35 36 37 38

RÜSEN: a. a. O. S. 82. RÜSEN: a. a. O. S. 83. RÜSEN: a. a. O. S. 47. Vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 58 und S. 18. Hierzu vgl. auch RÜSEN: a. a. O. S. 58–64, bes. S. 62f.

Historiographie als Gegenstand der modernen Historik

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Menschen in seiner Intentionalität besteht. Durch das Moment der Intentionalität ist der Mensch zugleich als ein Wesen charakterisiert, „das immer über das hinaus sein muß, was der Fall ist“39, RÜSEN bezeichnet diesen Umstand auch als die „anthropologische Tatsache eines grundsätzlichen Intentionalitätsüberschusses“40. In Hinblick auf das Problem der Orientierung des Menschen in der Zeit stellt sich dieser Sachverhalt so dar: Den in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein gesammelten Erfahrungen des Menschen stehen seine auf die Zukunft gerichteten Absichten gegenüber, wobei diese niemals deckungsgleich mit jenen Erfahrungen sind, sondern stets über sie hinausgehen. Ins Bewußtsein tritt diese Differenz dem Menschen vornehmlich in Krisensituationen oder – allgemeiner ausgedrückt – „immer dann, wenn zeitliche Veränderungen des Menschen und seiner Welt vom Menschen selbst handelnd und leidend bewältigt werden müssen.“41 In solchen Situationen werden mithin zwei verschiedene Formen von Zeitbewußtsein sichtbar, die RÜSEN entsprechend der für seinen Ausgangspunkt grundlegenden Unterscheidung von Erfahrung und Absicht nun als ‚Zeiterfahrung‘ und ‚Zeitabsicht‘ bezeichnet. Als Geschichtsbewußtsein bezeichnet R ÜSEN nun genau jenen Prozeß, in dem diese beiden Arten von Zeitbewußtsein miteinander vermittelt werden und an dessen (stets nur vorläufig zu denkendem) Ende sich der Mensch in der Zeit (vorübergehend) zurechtfindet. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, daß sich nach RÜSEN dieser Prozeß nicht in der Bestimmung von Zweck-Mittel-Relationen erschöpft, sondern vielmehr Sinnvorstellungen hervorbringt. Als diejenige Bewußtseinsoperation, in der sich der oben genannte Vermittlungsprozeß vollzieht, identifiziert RÜSEN das Erzählen. 1.2.3.2

Die zweite Wurzel: das Objekt und seine Vorstellbarkeit als Geschichte

Dabei stößt er auf ein Phänomen, das er die ‚Vor-Geschichte‘ oder die ‚Tradition‘ nennt. In dieser Größe sieht RÜSEN beide Aussagemodi (Sollen und Sein) noch ununterscheidbar vereint, was er auf den vorbewußten Charakter der VorGeschichte bzw. Tradition zurückführt: „Tradition ist also die Weise, in der die menschliche Vergangenheit schon vor der besonderen Deutungsleistung des Geschichtsbewußtseins im Orientierungsrahmen der menschlichen Lebenspraxis wirksam ist. Ihr vor-geschichtlicher [sic] Charakter besteht darin, daß in ihr die Vergangenheit als Vergangenheit gar nicht bewußt ist [...]. Tradition ist schlechthinnige Einheit von Zeiterfahrung und Zeitabsicht [...].“42

–––––––––––––– 39 40 41 42

RÜSEN: a. a. O. S. 49. RÜSEN: ebd. RÜSEN: ebd. RÜSEN: a. a. O. S. 68.

10

Die Fragestellung

Diese Einheit kann nach RÜSEN durch zweierlei aufgesprengt werden: a) dadurch, daß sich neuartige Situationen ergeben, in denen die Orientierungsfunktion der Tradition aufgrund neuer Zeiterfahrungen nicht mehr hinreicht; b) dadurch, daß der Mensch seine gegebene Situation gedanklich transzendiert und dabei über den status quo hinausgehende Zukunftsabsichten und neue Zeiterwartungen entwickelt.43 Diesen zweiten Fall versteht RÜSEN als eine anthropologische Konstante, er spricht in diesem Zusammenhang vom ‚Intentionalitätsüberschuß‘44 des Menschen. Sobald Menschen ihre die Vergangenheit und Gegenwart übersteigenden Intentionen erkennen, entdecken sie auch die Unterschiedenheit von Gestern, Heute und Morgen, die in der Tradition noch nicht erkennbar war. Es entwickelt sich das Geschichtsbewußtsein, das neben der Ausdifferenzierung der absoluten Gegenwart in die drei Zeitstufen auch eine Differenzierung hinsichtlich der Relevanz der Vergangenheit (Tradition, Kondition, Relikt)45 mit sich bringt. In der Form der Tradition wirkt die Vergangenheit direkt als Handlungsorientierung fort. Sie kann jedoch auch lediglich indirekt, nämlich in Form von Konditionen, Rahmenbedingungen menschlicher Lebenspraxis weiter wirksam sein. Schließlich kann sie auch ihre normative Wirksamkeit vollständig eingebüßt haben und in Form von bloßen Relikten noch in die Gegenwart hineinragen. Das Geschichtsbewußtsein, das sich durch diese zweifache Differenzierungsleistung herausbildet, eröffnet der menschlichen Handlungsorientierung daher weitere Räume in der Vergangenheit: Das Gestern tritt nun nicht mehr nur als Tradition auf den Plan, sondern auch in den Handlungsbedingungen sowie den (noch) bedeutungslosen Überresten früheren menschlichen Handelns. Ausgehend von der Tradition kann sich der Mensch mittels des Geschichtsbewußtseins seine eigene, neue, bedeutungsvolle Vergangenheit rekonstruieren, indem er diese Tradition öffnet und um andere noch gegenwärtige Elemente des Gestern erweitert – solange, bis die Vergangenheit wieder, diesmal in Form einer Geschichte, die benötigte Orientierung liefern kann. Dabei können durchaus auch Aspekte der Vergangenheit als bedeutungslos ausgeblendet, also vergessen werden. Die Tradition wird also nicht nur vermehrt, sondern ggf. auch vermindert. Ziel dieses Prozesses aus gezieltem Erinnern und Vergessen ist es, eine erneuerte „identitätsbildende Kontinuitätsvorstellung“46 zu entwickeln, die dann als adäquater Ausgangs- und Orientierungspunkt für das anstehende menschliche Handeln, d. h. für die Zukunftsbewältigung dienen kann. Die Form, in der sich dieser Prozeß vollzieht, ist die des (historischen) Erzählens. –––––––––––––– 43 44 45 46

Streng genommen handelt es sich bei diesen beiden Fällen freilich nur um zwei Seiten ein und derselben Medaille. Daneben nennt er als Synonyma ‚Geist‘ und ‚Bedürfnisstruktur‘, vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 49. Vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 73f. Nur das erste der drei Schlagworte wird von RÜSEN selbst geprägt, die anderen zwei bieten sich lediglich der Sache nach an. RÜSEN: a. a. O. S. 75.

Historiographie als Gegenstand der modernen Historik

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Geschichtsbewußtsein stellt sich demzufolge als die Deutung von Zeiterfahrungen in Hinblick auf Zeitabsichten und zum Zweck der Handlungsorientierung dar.47

1.2.4

Geschichtswissenschaft als methodisiertes historisches Denken und Erzählen

Das wissenschaftlich verfaßte historische Denken und Erzählen ist für RÜSEN , wie oben bereits erwähnt, nur eine besondere Form des Geschichtsbewußtseins überhaupt. Worin das Spezifikum der Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung besteht, das kann RÜSEN in einem einzigen Satz zusammenfassen: „Wissenschaft ist Methode.“48 Dies wird wenig später präzisiert: „Geschichtliches Denken ist [...] in dem Maße wissenschaftlich, in dem es methodisch verfährt. Methodisch verfährt es insofern, als Begründungen für seine Geltungsansprüche zum integralen Bestandteil der Geschichte selber werden.“49

Entsprechend der RÜSEN schen Konzeption von Geschichtsbewußtsein muß diese Methodisierung auf drei Ebenen erfolgen: a) auf der Ebene des Erfahrungsgehalts einer Geschichte, b) auf der Ebene des Bedeutungsgehalts einer Geschichte und c) auf der Ebene des Sinngehalts einer Geschichte. Ad a): Historische Erzählungen beziehen sich wesentlich auf vergangenes Geschehen. Sie sind – in RÜSENs Diktion – „immer Aussagen darüber, daß etwas in der Vergangenheit der Fall war.“50 Um als glaubhaft eingestuft zu werden, müssen solche Erzählungen bei den Kreisen, an die sie sich wenden, Überzeugungsarbeit leisten. Dies geschieht, indem die Geschichten „das, was in der Vergangenheit der Fall war, mit dem bezeugen, was von der Vergangenheit noch gegenwärtig da ist.“51 Es handelt sich, anders ausgedrückt, um einen Argumentationsprozeß, für den der Rekurs auf empirisch feststellbare Zeugnisse des Geschehenen grundlegend ist. Dabei faßt RÜSEN den Bereich dessen, was als Erfahrung gelten kann, ausdrücklich recht weit: „Was alles zum Bereich dieser Erfahrung gehört, läßt sich nicht unabhängig von den Lebenssituationen bestimmen, in denen Geschichten erzählt werden: Zur Erfahrung gehört alles das, was der Erzähler und seine Adressaten als tatsächliche Gegebenheiten in ihrem praktischen Lebensvollzug ansehen.“52

–––––––––––––– 47 48 49 50 51 52

Vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 51. RÜSEN: a. a. O. S. 88. RÜSEN: a. a. O. S. 88f. RÜSEN: a. a. O. S. 90. RÜSEN: ebd. RÜSEN: a. a. O. S. 91.

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Die Fragestellung

Eine historische Erzählung kann dementsprechend immer dann als empirisch triftig gelten, wenn es ihr gelingt, ihre Hörer- bzw. Leserschaft mit Hilfe wie auch immer beschaffenen überkommenen Materials von der Tatsächlichkeit des von ihr geschilderten Geschehens zu überzeugen. Die Methodisierung auf der Ebene des Erfahrungsgehalts vollzieht sich nach R ÜSEN , indem sich historische Erzählungen durchgängig diesem Argumentationsdruck aussetzen und dementsprechend versuchen, ihre faktenbezogenen Aussagen „grundsätzlich an der Erfahrung überprüfbar zu machen und mit ihr zu steigern und zu sichern.“53 Auf diese Art entsteht eine dynamische Form historischen Wissens. Denn jede Geschichte kann sich in Folge der Methodisierung lediglich als Hypothese, als vorläufige und stets weiter zu präzisierende Geschichte verstehen. Diese Dynamik nennt RÜSEN „die Bewegung des Erkenntnisfortschritts“54. Der Weg führt so (wie auch bei der Methodisierung der Geltungssicherung auf den verbleibenden beiden Ebenen)55 mit den Worten RÜSENs „von einer unsicheren Gewißheit zu einer gewissen Unsicherheit“56. Mit diesem Wortspiel ist folgende Entwicklung gemeint: Am Anfang, d. h. vor Beginn der Methodisierung, stehen Geschichten, die in Hinblick auf ihren Wahrheitsgehalt ein ungebrochenes Selbstvertrauen an den Tag legen – aber gerade deshalb in hohem Maße zweifelhaft sind. Am Ende hingegen, also nach Einsetzen des Methodisierungsprozesses, stehen Geschichten, die eine relative Gewißheit für sich in Anspruch nehmen dürfen – und zwar gerade weil sie Zweifel an ihrem Wahrheitsanspruch grundsätzlich zulassen, diese jedoch zugleich mit Argumenten auszuräumen suchen. Ad b): Historische Erzählungen gehen, wie oben bereits ausgeführt, RÜSEN zufolge nicht ausschließlich mit dem um, was vom Gestern noch ins Heute hineinreicht. Sie enthalten vielmehr auch solche Momente, die aus der Gegenwart heraus auf die Zukunft zielen; sie umfassen m. a. W. auch Absichten. Solche Zukunftsabsichten bilden sich maßgeblich unter dem Einfluß von Norm- oder Wertvorstellungen. Decken sich die Normen und Werte, die auf eine Geschichte bestimmend eingewirkt haben, mit denen des Auditoriums, für das diese Geschichte geschrieben wurde, so erscheint diesem die Historie als plausibel, normativ triftig und bedeutsam. Die normative Geltung der Geschichte erscheint in diesem Fall, anders ausgedrückt, als gesichert. Auch dieser Akt der Geltungssicherung kann und soll nach RÜSEN im Zuge der Verwissenschaftlichung von Geschichte methodisiert werden. Dies geschieht –––––––––––––– 53 54 55 56

RÜSEN: ebd. – Dem muß natürlich zwangsläufig eine Differenzierung zwischen der Ebene des Erfahrungsgehalts und den anderen beiden Ebenen vorausgehen, vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 91–93. RÜSEN: a. a. O. S. 93. Hierzu s. u. ad b) und ad c) und vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 100.113. RÜSEN: a. a. O. S. 94 (im Original kursiv gesetzt).

Historiographie als Gegenstand der modernen Historik

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in Form einer „Standpunktreflexion“57. Den jeweils eigenen Standpunkt zu reflektieren, bedeutet für den Historiker bzw. die Historikerin, diejenigen Argumente aufzuführen, die für die von ihm oder von ihr in der Darstellung eingebrachten Normen und Werte sprechen. Zur Debatte steht dabei also die Frage nach der angemessensten Perspektive auf die Vergangenheit. Der Weg der Debatte ist hierbei zugleich auch schon das erste Ziel: es gilt zu erkennen, daß es die einzig richtige Perspektive gar nicht geben kann, sondern lediglich eine Vielzahl von mehr oder weniger adäquaten Perspektiven.58 Das zweite Ziel der Standortreflexion besteht darin, den als Konsequenz aus dieser Erkenntnis drohenden Relativismus zu überwinden. Den geeigneten Weg hierzu bildet wiederum die Diskussion – jedoch nur, sofern sie den Ausgangspunkt für einen Kompromiß, für eine „Perspektivenerweiterung“59 bietet. Die Dynamik einer solchen Diskussion (von konkurrierenden, einander kritisierenden und ergänzenden Perspektiven hin zu einer neuen, jene vorangegangenen vereinigenden Perspektive), die mit diesem Wort angedeutet ist, entspricht der des Erkenntnisfortschritts auf der Ebene des Erfahrungsgehaltes.60 Als regulatives Prinzip dieser Perspektivenerweiterung (d. h. der Standpunktreflexion und der sich anschließenden Diskussion über die jeweiligen Normen und Wertvorstellungen bzw. Perspektiven) nennt RÜSEN das „Kriterium der Verallgemeinerungsfähigkeit von Normen“61. Norm- und Wertvorstellungen, an denen sich ja die Perspektiven der einzelnen Geschichten ausrichten, sollen m. a. W. daraufhin überprüft und danach beurteilt werden, inwieweit sie sich verallgemeinern, auf eine jeweils umfassendere Formel bringen und sich dadurch mit anderen Norm- und Wertvorstellungen vereinigen lassen. Ad c): Historische Erzählungen präsentieren ihren Erfahrungsgehalt und ihren Bedeutungsgehalt nicht isoliert nebeneinanderstehend, sondern in einer narrativen Synthese. Dabei wird der dieser Synthese vorausgehende Vermittlungsprozeß von „sinnbildenden Kriterien (Ideen)“62 geregelt, die quasi als „Leitfaden“63 der jeweiligen Darstellung fungieren. Plausibel oder narrativ triftig erscheint eine

–––––––––––––– 57 58

59 60 61 62 63

RÜSEN: a. a. O. S. 99. Mit dieser Erkenntnis ist dann erneut der „Schritt von einer unsicheren Gewißheit zu einer gewissen Unsicherheit“ (RÜSEN: a. a. O. S. 100 [im Original kursiv gesetzt]; vgl. auch S. 94) getan. RÜSEN: a. a. O. S. 105 (im Original kursiv gesetzt). Vgl. RÜSEN: ebd. und s. o. RÜSEN: a. a. O. S. 106 (im Original kursiv gesetzt). RÜSEN: a. a. O. S. 111. RÜSEN: ebd.

14

Die Fragestellung

Erzählung in genau dem Maße, in dem die ihr zugrundeliegenden Ideen mit denen ihrer Hörer- bzw. Leserschaft übereinstimmen.64 Auch die Geltungsansprüche, die eine historische Erzählung auf der Sinnebene erhebt, können, so RÜSEN, durch methodische Regelungen gesichert werden. Dazu müssen die sinnbildenden Kriterien zunächst „isoliert und in relativer Unabhängigkeit vom konkreten Erfahrungs- und Bedeutungsgehalt einer Geschichte“65 offengelegt und sodann begründet werden. In dieser explizierten Form können sie auch als historische Theorien bezeichnet werden. Die Leistungsfähigkeit historischer Theorien kann an Hand zweier Kriterien überprüft werden: Zum einen ist entscheidend, ob und ggf. inwieweit sie „den Erkenntnisfortschritt durch die historische Forschung und die Perspektivenerweiterung durch die historische Standpunktreflexion in sich verarbeiten können.“66 Je weniger gesicherte Daten und Normvorstellungen ihr entgegenstehen, desto höher ist die Plausibilität einer solchen Theorie. Zum anderen bemißt sich die Überzeugungskraft einer Idee an ihrer Orientierungsleistung. Hierbei ist ausschlaggebend, ob und ggf. in welchem Ausmaß die jeweils angesprochene Hörer- oder Leserschaft „durch den konstruktiv entworfenen Sinngehalt [...] eine Identitätssteigerung erfährt.“67 Der Terminus ‚Identitätssteigerung‘ meint in diesem Zusammenhang die Schaffung zunehmend umfassender Konzepte kultureller Identität. Dabei kommt R ÜSEN zufolge als äußerste Bezugsgröße die Menschheit als ganze in Betracht. Zugleich muß bei diesem Prozeß gewährleistet sein, daß auch kleinere Gruppen ihre jeweilige Identität (im Gegenüber zu anderen Gruppen) innerhalb des großen Referenzrahmens adäquat ausgedrückt sehen. Mit der hier (d. h. unter 1.2.4) nachgezeichneten Darstellung der Art und Weise, wie sich aus dem einfachen, gemeinmenschlichen Geschichtsbewußtsein heraus das wissenschaftlich verfaßte Geschichtsdenken entwickelt, versucht RÜSEN lediglich, „die Prinzipien der Methodisierung des historischen Denkens“68 offenzulegen. Wie sich dieser Regulationsprozeß konkret auf die wissenschaftliche Praxis auswirkt, beschreibt RÜSEN mit Hilfe seines Modells der disziplinären Matrix der Geschichtswissenschaft, und zwar vornehmlich in den Bänden 2 und 3 seiner Historik. Um das Verhältnis zwischen den Geschichtsdarstellungen im AT und moderner Historiographie positiv zu bestimmen, wie das die vorliegende Arbeit anstrebt, ist es jedoch wenig sinnvoll, an den Punkten anzusetzen, an denen sich dieser Methodisierungsprozeß konkret in den verschiedenen Formen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung niederschlägt. Daß die alttestamentliche –––––––––––––– 64 65 66 67 68

Vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 83. RÜSEN: a. a. O. S. 111. RÜSEN: a. a. O. S. 114. RÜSEN: a. a. O. S. 115 (Hervorhebung im Original). RÜSEN: a. a. O. S. 89 (im Original kursiv gesetzt).

Historiographie als Gegenstand der modernen Historik

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Literatur keine Quellenkritik im herkömmlichen Sinne des Wortes kennt, muß nicht erst noch bewiesen werden. Vielmehr ist ausgehend von RÜSENs Beschreibung der Prinzipien der Methodisierung des historischen Denkens nach den grundlegenden strukturellen Unterschieden und Gemeinsamkeiten beider Größen zu fragen. Aus diesem Grund kann hier eine weitere Nachzeichnung des RÜSENschen Entwurfs, insbesondere seiner im zweiten und dritten Band entwickelten Gedanken unterbleiben.69 Lediglich ein Punkt, auf den RÜSEN dort hinweist, verdient m. E. in Hinblick auf die Fragestellung unbedingt Beachtung. Der Prozeß der fortschreitenden Methodisierung wirkt sich RÜSEN zufolge auf den Faktor der Form70 grundsätzlich dahingehend aus, daß Geschichtsschreibung mehr und mehr darauf verzichtet, ihre Darstellung auf sprachlich suggestive Weise abzusichern. Die Anwendung darstellerischer Kniffe o. dgl. wird mithin zunehmend zugunsten argumentativer Elemente zurückgedrängt. Die Form der Historiographie, der diese Entwicklung entgegenstrebt, „löst den schönen Schein auf, in dem sich Geschichte als objektives Sinngebilde präsentiert, und läßt am Sinngebilde der historischen Erkenntnis die Spuren der methodischen Erkenntnisarbeit erscheinen. Sie verzichtet auf die rhetorischen Mittel, die der bloßen Überredung ihrer Adressaten dienen und bescheidet sich mit dem Mittel, andere durch ihre Argumentationen zu überzeugen.“71

RÜSEN kann daher in diesem Zusammenhang auch von einem „Prozeß der Entrhetorisierung“72 sprechen, der darauf abzielt, lediglich rational strukturierte Begründungen, also Argumente im eigentlichen Sinne, als Mittel der Geltungssicherung zuzulassen. RÜSENs geschichtstheoretische Konzeption wirft in ihrer Substanz, aber auch in ihrer Präsentation einige Fragen auf. So ist z. B. kaum zu übersehen, daß seine Verortung der ‚lebensweltlichen Wurzeln‘ des menschlichen Geschichtsbewußtseins auf bestimmten anthropologischen Grundannahmen basiert, die wiederum auf verschiedene philosophische Strömungen zurückgehen und keineswegs über jeden Zweifel erhaben sind.73 Zudem ist es ein wenig irritierend festzustellen, daß R ÜSEN zwar von der Geschichtswissenschaft durchgängig begründend formulierte Darstellungen verlangt, selbst hingegen in seiner Historik die verschiedenen –––––––––––––– 69 70 71 72

73

S. auch im Kap. 1 die Anm. 9 mit Haupttext. S. hierzu 1.2.1. RÜSEN: Rekonstruktion. S. 14. RÜSEN: a. a. O. S. 13. Bei all dem geht es RÜSEN nicht darum, die ästhetischen Gesichtspunkte aus der Arbeit des Historiographen bzw. der Historiographin zu verbannen. Vielmehr sollen die literarischen und die wissenschaftlichen Ansprüche eines Geschichtswerkes in ihrer relativen Unabhängigkeit voneinander gestärkt werden. Vgl. hierzu KORNBICHLER: Rezension zu RÜSEN: Vernunft. S. 178. Entsprechendes gilt auch in Hinblick auf die von RÜSEN angenommenen Wahrheitskriterien des historischen Erzählens, vgl. hierzu MUNZ: Rezension zu RÜSEN: Vernunft. S. 95.

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Die Fragestellung

der Geltungssicherung dienenden Mittel nur sporadisch verwendet.74 Nicht zuletzt aufgrund dieser Schwäche hat ein Rezensent, Peter MUNZ, geurteilt: „[...] Rüsen manages to appear too much like a magician who produces too many rabbits out of too few hats. This is a pity, for some of Rüsen’s rabbits are good, healthy rabbits and with little labor one can show that there is no need for the magician and his hats.“75

Der Versuch, RÜSENs Entwurf eingehend kritisch zu durchleuchten, würde den Rahmen dieser Arbeit zweifellos sprengen.76 Hinzu kommt, daß seine Studie – selbst wenn man von den genannten Punkten nicht absehen mag – die derzeit wohl leistungsfähigste und am weitesten anerkannte geschichtstheoretische Konzeption darstellt.77 Aus diesen Gründen erscheint es mir trotz der genannten Kritikpunkte vertretbar und sogar durchaus sinnvoll, der weiteren Untersuchung den Historiographiebegriff RÜSENs zugrundezulegen.

1.2.5

Zusammenfassung: Geschichtsschreibung als Sonderform historischen Erzählens

Abschließend betrachtet stellt sich Geschichtsschreibung nach R ÜSEN als eine Sonderform geschichtlichen Erzählens dar. Wie jede andere Art historischer Narration auch enthält sie ein deskriptives, auf das jeweilige Objekt ausgerichtetes sowie ein konstruktives, vom jeweiligen Subjekt geprägtes Moment. Wie diese anderen Ausprägungen erhebt auch sie näherhin Geltungsansprüche, die ihren Erfahrungsgehalt, ihren Bedeutungsgehalt sowie ihren Sinngehalt betreffen. Was Historiographie dagegen von einfacheren Formen historischen Erzählens abhebt, ist das Bestreben, ihre Wahrheitsansprüche mittels methodischer Regulation zu sichern. Dies impliziert erstens die ausdrückliche Differenzierung der genannten drei Ebenen (Erfahrung, Bedeutung, Sinn) und zweitens die durchgängige argumentative Absicherung der Aussagen, die auf ihnen getroffen werden (d. h. in bezug auf Fakten, Standpunkt und Theorie), bei möglichst weitgehendem Verzicht auf die Verwendung sprachlich suggestiver Mittel. Ausgehend von diesem Historiographieverständnis RÜSENs soll im folgenden zunächst die Forschungsgeschichte durchmustert werden. Dabei ist zum einen zu fragen, ob und ggf. inwieweit die verschiedenen Historiographiebegriffe, die im –––––––––––––– 74 75 76

77

S. hierzu auch GOERTZ: Umgang. S. 68 und bes. S. 70. MUNZ: Rezension zu RÜSEN: Vernunft. S. 100. Eine wichtige, hier aber nicht näher zu erörternde Anfrage an RÜSENs Gedankengebäude stellt sich in Form postmoderner Ansätze in der Geschichtstheorie. Zum Problem vgl. LORENZ (Konstruktion. S. 153–177 und v. a. S. 177–187) einerseits und BARSTAD (Fact. S. 433–443) andererseits. Vgl. oben Anm. 7.

Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage

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Laufe der Zeit bei der Untersuchung der alttestamentlichen Geschichtsdarstellungen Anwendung gefunden haben, vor dem Hintergrund der RÜSENschen Konzeption plausibel erscheinen. Zum anderen wird zu beachten sein, zu welchen grundlegenden Einsichten über die besondere Art und Weise der ‚Geschichtsbücher‘, Vergangenheit zu schildern, die wissenschaftliche Bibelexegese bis heute gelangt ist. Dabei wird schließlich ein wichtiges Desiderat der bisherigen Forschung zu erkennen sein, dem die Untersuchung in ihrem Fortgang gewidmet sein soll.

1.3

Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage 1.3.1

Der langwährende Konsens

Einer der ersten, die sich gezielt und intensiv mit der Frage befaßten, ob Teile des AT als historiographische Literatur anzusprechen seien, war Hermann GUNKEL. Am prägnantesten formulierte er seine Überlegungen in einem Artikel, der in der ersten Auflage der ‚Religion in Geschichte und Gegenwart‘ im Jahre 1910 erschien und dann, leicht verändert, auch Eingang in die zweite Auflage von 1928 fand.78 GUNKEL konnte dabei bereits auf ein gutes Stück Forschungsgeschichte zurückblicken. Bekannt ist das Urteil, das Wilhelm VATKE im Jahr 1835 gefällt hatte: „[...] kein Buch des A. T., mag sich auch sonst objectiv-historischer Stoff darin finden, verdient den Namen wahrer Geschichtsschreibung“79.VATKE blieb allerdings als Wissenschaftler weitgehend isoliert, so daß seine Einschätzung über lange Zeit hinweg unbeachtet blieb.80 Des weiteren ist in diesem Zusammenhang Ernst MEIER zu nennen, der gute zwanzig Jahre später als VATKE die alttestamentlichen Prosawerke in Teilen als „echte Geschichtswerke“81 bezeichnen und in direkte Nähe zu Herodot rücken konnte. Wichtig wurde für GUNKEL vor allem Eduard MEYERs Schrift ‚Die Israeliten und ihre Nachbarstämme‘ aus dem Jahr 1906. M EYER hatte dort einige Textbereiche aus den erzählenden Büchern (Ri 8f.*; 17f.*; *1 Sam 7–14; *1 Sam 16 – 2

–––––––––––––– 78 79 80 81

GUNKEL: Art. Geschichtschreibung [sic]; I. Im Alten Testament. Sp. 1348–1354; ders.: Art. Geschichtsschreibung, biblische; I. Im AT. Sp. 1112–1115. VATKE: Theologie, Bd. I. S. 716. Zur Wirkung von VATKEs ‚biblischer Theologie‘ s. PERLITT: Vatke. S. 132ff. und S. 143ff. MEIER: Geschichte. S. 8f. (s. auch S. 36). Zu GUNKELs Rezeption des Werkes MEIERs s. KLATT: Hermann Gunkel. S. 112f. 116.

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Die Fragestellung

Sam 4; *2 Sam 9 – 1 Kön 2)82 als „Trümmer eines grossen Geschichtswerks“83 interpretiert, das er als erstes historiographisches Werk von Rang im alten Orient einstufte und der frühen griechischen Geschichtsschreibung „als geistig gleichberechtigt“84 an die Seite stellte. Damit konnten die literarischen Hinterlassenschaften des ‚alten Israel‘ als Ursprung der abendländischen Historiographie gelten. Interessanterweise hatte MEYER zunächst, 1884, (ausgehend von einem vergleichsweise elaborierten Historiographiebegriff)85 zwar durchaus Teile des AT als Geschichtsschreibung gewertet, alles in allem jedoch die genannten Texte eher verhalten gewürdigt: „Der Masse des Volks dagegen liegt nichts an einer Aufzeichnung der gleichzeitigen Begebenheiten; sie haben diese ja selbst miterlebt und jeder kann davon erzählen. Ihr Interesse richtet sich auf die älteste Geschichte des Volks [...]. Bei den historischen Zeiten verweilt die Betrachtung nur da, wo sich die Kunde von grossen Helden des Volkes, von mächtigen Herrschern, von einem glücklichen Zustand erhalten hat, und die Phantasie die Traditionen immer übertriebener und unhistorischer ausmalen kann. Dann wird wohl auch der Versuch gemacht, das Ganze zusammenzufassen, die Lücken auszufüllen, natürlich nach den Anschauungen und Forderungen, mit denen die Gegenwart an die Vergangenheit herantritt. Ueber diese Auffassungen ist Geschichtsschreibung des Orients nie hinausgekommen und auch die griechische hat zuerst auf demselben Standpunkt gestanden.“ 86 „Um das Jahr 840 etwa ist das Werk des sog. Jahwisten geschrieben, das älteste hebraeische Geschichtswerk – denn die weit älteren Erzählungen von Gideon und Abimelek, von Saul und David sind vorwiegend Hofgeschichten von wesentlich anderem Charakter.“87

Knapp fünfzig Jahre später, in der zweiten Auflage seiner ‚Geschichte des Altertums‘ (1931) findet sich dann jedoch die folgende, berühmtgewordene Einschätzung, die ganz auf der Linie des 1906 Geäußerten liegt: „So hat die Blütezeit des judaeischen Königtums eine wirkliche Geschichtsschreibung geschaffen. Kein anderes Kulturvolk des alten Orients hat das vermocht; auch die Griechen sind erst auf der Höhe ihrer Entwicklung im 5. Jahrhundert dazu gelangt und dann allerdings alsbald darüber hinausgeschritten.“88

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84 85 86 87 88

Im folgenden wird der Textbereich 1 Sam 14,52 – 2 Sam 5,25 auch als ‚Aufstiegsgeschichte Davids‘ (abgekürzt ‚AG‘) und der Textbereich 2 Sam 9 – 1 Kön 2 als ‚Thronfolgegeschichte‘ (kurz ‚TFG‘) bezeichnet. M EYER: Israeliten. S. 484. MEYER deutet in diesem Zusammenhang an, daß ihm die Annahme zweier Geschichtswerke angebrachter erscheint, da sich der ‚Ton‘ von *2 Sam 9 – 1 Kön 2 merklich von dem der vorausgehenden Stücken unterscheide (vgl. a. a. O. S. 484f.). MEYER: a. a. O. S. 486. Vgl. MEYER: Geschichte. 1. Aufl. Bd. 1. § 20, S. 18f. MEYER: a. a. O. § 19, S. 17f. MEYER: a. a. O. § 331, S. 402f. MEYER: Geschichte. 2. Aufl. Bd. II,2. S. 285.

Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage

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Welchen Einflüssen sich dieser Umschwung in MEYER s Bewertung der betreffenden Texte verdankt, kann hier nicht untersucht werden. Die Frage wäre jedoch m. E. forschungsgeschichtlich durchaus von Interesse. M EYER verzichtet zwar darauf, eigens die Bewertungsmaßstäbe darzulegen, auf denen sein Urteil fußt. Seine Ausführungen lassen jedoch erkennen, daß für ihn zwei Aspekte ausschlaggebend sind: a) der Wirklichkeitssinn, den die Erzählungen in ihrer Darstellungsweise an den Tag legen,89 und b) der s. E. hohe Grad historischer Glaubwürdigkeit der den einzelnen Berichten zugrundeliegenden Informationen, den er auf eine zeitliche Nähe zwischen den geschilderten Ereignissen und ihrer Aufzeichnung zurückführt.90 Ein ganz ähnliches Bild bietet GUNKELs eingangs genannter Lexikonartikel aus dem Jahr 1910. Vorbildlich beginnt GUNKEL, indem er zunächst seinen Historiographiebegriff darlegt: „Der Geschichtschreiber [sic] will die wirklichen Ereignisse darstellen. Er will durch die landläufigen Vorurteile zu den Tatsachen selber vordringen, und er will ihre innere Verknüpfung zeigen [...].“91

Ausgehend von dieser Definition, mißt GUNKEL vor allem zwei Merkmalen der hebräischen Geschichtsschreibung Bedeutung bei. Er hebt zum einen die besondere Art ihrer Darstellungsweise hervor, die auf wunderhafte Züge verzichtet und sich weitgehend im Rahmen ‚innerweltlicher‘ Möglichkeiten bewegt: „Der Geschichtsschreiber will zeigen, »wie es eigentlich gewesen ist«. Er hat seine Freude an der Wirklichkeit und schildert Personen und Verhältnisse so, wie sie im wirklichen Leben sind. Darum macht die G.[eschichtsschreibung] diejenigen Voraussetzungen von Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, die für jedermann im Leben selbstverständlich sind. Hier schwimmt kein Eisen auf dem Wasser und kein Feuer fällt vom Himmel [...].“92

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So rühmt MEYER (Israeliten. S. 486) etwa: „[...] sie [scil. die altisraelitische Geschichtsliteratur] ist wirklich echte Geschichte, sie wurzelt in lebendigem Interesse an den wirklichen Ereignissen, die sie aufzufassen und festzuhalten sich bemüht.“ Er setzt sie dabei einerseits von den „trockenen Annalen der Babylonier, Assyrer, Agypter [sic]“ ab, andererseits von den „märchenhaften Geschichten der ägyptischen Volksliteratur“ (ebd.). „Die Berichte über David lehren durch ihren Inhalt unwiderleglich, dass sie aus der Zeit der Ereignisse selbst stammen, dass ihr Erzähler über das Treiben am Hof und die Charaktere und Umtriebe der handelnden Persönlichkeiten sehr genau informiert gewesen sein muss [...]“ (MEYER: a. a. O. S. 485). GUNKEL: Art. Geschichtschreibung [sic]; I. Im Alten Testament. Sp. 1348f., (Hervorhebungen hier und im folgenden wie bei GUNKEL). – Beachtung verdient das Ende des Zitats: „[...] demnach ist G.[eschichtsschreibung] stets in irgend einem Maße mit geschichtlicher Kritik und Geschichtsphilosophie zusammen.“ Beide Elemente spricht GUNKEL im Fortlauf des Artikels der ältesten Historiographie in Israel weitestgehend ab (zur Kritik vgl. Sp. 1351f.; zur Geschichtsphilosophie vgl. Sp. 1353) – ohne jedoch sein Urteil deswegen zu modifizieren. A. a. O. Sp.1350f. – GUNKEL kann in diesem Zusammenhang auch von der ‚Profanität‘ der israelitischen Historiographie sprechen, betont aber, daß sie gleichwohl mit dem Walten Gottes

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Die Fragestellung

Zum anderen meint GUNKEL in den betreffenden Texten ein Bemühen der Autoren feststellen zu können, sich eigener Urteile weitgehend zu enthalten, was für ihn mit dem Streben nach historischer Objektivität zusammenfällt: „Erstaunlich objektiv ist der hebräische Geschichterzähler ferner in der Auffassung der handelnden Personen und der Ereignisse. [...] Jede Tendenz liegt ihm fern, ja selbst von [sic] Idealisieren ist wenig zu bemerken. [...] Dabei ist der Geschichtsschreiber höchst zurückhaltend mit seinem Urteil: nicht wie die Dinge zu beurteilen, sondern wie sie geschehen sind, liegt ihm am Herzen.“93

Aus all diesen Formulierungen spricht ein Geschichts- oder Historiographieverständnis, das grundlegend von der Annahme geprägt ist, es sei möglich, zeitlich zurückliegende Ereignisse genau so zu schildern, wie sie sich einst in der Vergangenheit zugetragen haben, sie also mit dem Medium der Sprache vollkommen vorbildgetreu abzubilden. Ihren nachgerade klassisch zu nennenden Ausdruck hat diese für den sog. Historismus typische Anschauung in Leopold VON R ANKEs vielzitiertem Diktum gefunden, er wolle „blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“94 sei. Man kann diese damals wie heute weitverbreitete erkenntnistheoretische Position als ‚naiven Realismus‘ bezeichnen.95 Ihre Hauptschwierigkeit besteht darin, daß sie damit rechnet, man könne Fakten wahrnehmen und ausdrücken, ohne dabei interpretierend tätig zu werden, d. h. ohne die je eigene Subjektivität mit ihren Wert- und Sinnvorstellungen einfließen zu lassen.96 Diese Annahme ist jedoch nicht zu halten, wie mittels zweier einander ähnlicher (und letztlich auf ein und dasselbe Argument hinauslaufender) Argumentationsweisen verdeutlicht werden kann: a) Zum einen ist keine Art der Beobachtung und der Wiedergabe von Gegenständen möglich, die nicht in irgendeiner Weise über den Weg der Sprache verliefe. Durch dieses Medium sind jedoch jeder Beschreibung stets auch Wert- und Sinnvorstellungsaspekte inhärent. „Das Subjekt ist ja über die Sprache ––––––––––––––

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rechne: „Wenn demnach die G.[eschichtsschreibung] profan zu nennen ist, so ist sie doch keineswegs gottlos“ (a. a. O. Sp. 1351; anders noch MEYER, vgl. dazu WESTERMANN: Geschichtsverständnis. S. 611–613). GUNKEL vergleicht sie in diesem Punkt mit Herodot und erblickt den Unterschied zur Darstellungsform der Sage darin, daß die historiographische Literatur „die Gottheit nur indirekt mithandeln“ lasse (ebd.). A. a. O. Sp. 1351. – Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit WELLHAUSEN, der schon deutlich früher die ‚Objektivität‘ der TFG (auf die sich GUNKEL vornehmlich bezieht) hervorgehoben hatte, ohne jedoch dabei über ihre „Parteinahme für David und Salomo“ hinwegzusehen (vgl. WELLHAUSENs Beitrag in BLEEK: Einleitung. S. 227). VON R ANKE: Geschichten. S. VII. GUNKEL greift diese Formulierung kaum von ungefähr auf (s. o. Anm. 91). So etwa KOSELLECK : Standortbindung. S. 179; LORENZ : Konstruktion. S. 63; HUIZINGA: Definition (1942). S. 99. Vgl. LORENZ: a. a. O. S. 17–34.

Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage

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immer in jeder Beschreibung präsent [...].“97 Jeder Versuch, solche Sinn- und Wertvorstellungen vollständig zu eliminieren, ist mithin letztlich zum Scheitern verurteilt. b) Zum anderen kann man auch auf den Umstand verweisen, den KNAUF auf die Formel gebracht hat: „We cannot know the past, for the past is gone.“98 Die Gegenstände, mit denen der Historiker bzw. die Historikerin umgeht, können lediglich Quellen verschiedener Art sein, die noch von vergangenen Fakten, Ereignissen, Prozessen etc. zeugen. Diese Quellen stellen zwar nicht immer selbst schon Interpretationen der Vergangenheit dar, wie dies etwa bei schriftlichen oder bildlichen Darstellungen der Fall ist (man denke nur an ‚gewöhnliche‘ archäologische Funde, z. B. Grundmauern oder Scherben), sie bedürfen jedoch grundsätzlich der Deutung, um überhaupt relevante Informationen liefern zu können.99 GUNKELs (und wohl auch MEYER s) Historiographiebegriff liegt mithin ein defizitäres epistemologisches Konzept zugrunde. GUNKELs Urteil, daß Teile der alttestamentlichen Erzählliteratur als Geschichtsschreibung anzusprechen seien, ist damit in dieser Form hinfällig. Am Rande sei bemerkt, daß GUNKELs Urteil mittlerweile selbst dann problematisch erscheinen muß, wenn man seine erkenntnistheoretische Grundlage akzeptiert: Die Einschätzung, die israelitische Geschichtsschreibung (etwa im Bereich der TFG, auf die er sich ausdrücklich bezieht) sei nahezu tendenzlos, wird heute in der Forschung in der Regel als überholt betrachtet.100 Die These blieb indessen über mehr als fünf Jahrzehnte praktisch unangefochten. So konnte sich ein umfassender fachwissenschaftlicher Konsens herausbilden,101 dessen Einfluß – bei allem Widerspruch, den er in der Zwischenzeit erfahren hat – bis in die Gegenwart reicht.102 Daß sich mit Martin N OTH und Gerhard VON R AD zwei der zweifellos einflußreichsten deutschen Alttestamentler der Nachkriegszeit diese Sicht der –––––––––––––– 97 98

LORENZ: a. a. O. S. 374 (Hervorhebung im Original). KNAUF: History. S. 26. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu. Schon DROYSEN (Historik. S. 422) konnte 1882 formulieren: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“ S. ferner W EIPPERT: Fragen. S. 416; vgl. aber auch schon oben Anm. 85. 99 Vgl. etwa SCHRÖTER: Wissenschaft. Sp. 855, bes. auch Anm. 3. 100 Vgl. den Überblick bei DIETRICH / NAUMANN: Samuelbücher. S. 186–191 und v. a. S. 191–198; ferner etwa KOCH: Art. Geschichte. S. 577. 101 Fünf Positionen, die alle auf der Linie dieses Forschungskonsenses liegen, umreißt CANCIK: Wahrheit. S. 71–77. Auch die Arbeiten von HÖLSCHER (vgl. ders.: Geschichtsschreibung. S. 7ff., 126ff. und 243ff.), SCHULTE (vgl. dies.: Entstehung. S. 6f. und passim) sowie HEMPEL (vgl. ders.: Geschichten. S. 20ff. und passim) bewegen sich weitestgehend in diesem Rahmen. 102 S. u. in Kap. 1 Anm. 115.

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Die Fragestellung

Dinge zueigen machten, bedeutete den vielleicht entscheidenden Schritt in der Entwicklung des GUNKELschen Urteils zur opinio communis. Für die Zwecke dieser Untersuchung ist insbesondere die Position VON RADs von Interesse, weil dieser nicht nur in einem 1944 veröffentlichten Zeitschriftenartikel das Thema eingehend erörterte, sondern vor allem auch gut zwanzig Jahre später zu einer grundlegenden Neubewertung des Sachverhalts gelangte.103 Der erwähnte Artikel VON RADs trägt den Titel „Der Anfang der Geschichtsschreibung im alten Israel.“104 Die Doppeldeutigkeit dieser Überschrift dürfte beabsichtigt gewesen sein.105 Denn VON RAD versucht nicht allein, den Anfang der altisraelitischen Geschichtsschreibung zu bestimmen, er wagt vielmehr auch die Behauptung, in Israel liege der Anfangspunkt aller abendländischen Historiographie. Schon allein hieran wird deutlich, daß VON R AD ganz auf den Schultern von MEYER und GUNKEL steht.106 Wie diese räumt VON R AD näherhin der TFG eine besonders exponierte Stellung ein, sie wird bei ihm in den Rang erhoben, das erste Exemplar vollgültiger Historiographie zu sein.107 So verwundert es auch nicht, daß VON RAD im wesentlichen dieselben Gründe für sein Urteil anführt wie seine zwei Vorgänger: die s. E. glaubwürdige, profane und wertungsfreie Art der Darstellung,108 der weit ausgreifende, logisch stringente und kunstvoll anmutende „Erzählungszusammenhang“109 und die thematische Verwurzelung in der politischen Situation zur Abfassungszeit.110 Eine Erläuterung des Begriffes ‚Geschichtsschreibung‘ oder wenigstens einen Verweis auf eine andernorts gegebene Definition sucht man hier indes (wie im übrigen auch bei MEYER) vergebens – ein untrügliches Anzeichen dafür, daß VON RAD seinen Sprachgebrauch von einem weitgehenden Forschungskonsens gedeckt sah. Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch der Satz, mit dem VON RAD seine Ausführungen

–––––––––––––– 103 Was NOTHs Beitrag anbelangt s. seinen in der dritten Auflage der RGG (1958) publizierten Lexikonartikel ‚Geschichtsschreibung, biblische; I. Im AT‘. Sp. 1498–1501. Einflußreich wird zweifellos auch das zustimmende Urteil EIßFELDTs (Einleitung. S. 66–69) gewesen sein. 104 VON RAD: Anfang. S. 148–188. 105 Vgl. BLUM: Historiographie. S. 65f. 106 Hierzu s. o. und vgl. GUNKEL: Art. Geschichtschreibung [sic]; I. Im Alten Testament. Sp. 1353. GUNKEL beruft sich hier explizit auf MEYER. 107 Vgl. VON R AD : Anfang. S. 159 und 149. – Ab dem Erscheinen seiner ‚Theologie des Alten Testaments‘ im Jahr 1957 weist VON R AD das Primat der AG zu, vgl. VON RAD: Theologie (1957), Bd. I. S. 57, bes. Anm. 20. 108 Vgl. VON RAD: Anfang. S. 178ff. 109 VON RAD: a. a. O. S. 175. Für das Übrige vgl. a. a. O. S. 173–176. 110 Vgl. a. a. O. S. 176–178.

Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage

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einleitet: „Die Geschichtsschreibung gehört für die modernen Völker des Abendlandes zu den selbstverständlichsten geistigen Betätigungen.“111 Offensichtlich ging diese Selbstverständlichkeit im Laufe der sechziger Jahre zunehmend verloren. Zumindest stellte VON R AD 1965 ans Ende seiner ‚Theologie‘ ein Kapitel, in dem er ausführlich auf das Verhältnis des modernen Geschichtsbewußtseins zu jenem eingeht, das dem AT zugrundeliegt. Im Hintergrund stand dabei die, wie es aussieht, dringlich gewordene Frage nach der Historizität der von den alttestamentlichen Geschichtswerken entfalteten Geschehnisse und Prozesse. „Machen wir diese Frage zum entscheidenden Kriterium, dann sind wir wieder auf das uns Geläufige und Bekannte zurückgefallen, und jedes Elektronenhirn kann sich dann das Fazit ausrechnen: mit der historischen Glaubwürdigkeit ist es bei der Geschichtsbetrachtung des alten Israel schlecht bestellt! Alles kommt darauf an, daß wir die Spannung, die zwischen dem modern-historischen und dem antik-kerygmatischen Geschichtsbild besteht, aushalten [...]. Hier stehen nicht einfach Tatsachen gegen Illusionen, sondern wir haben uns mit zwei tief voneinander verschiedenen Weisen, Geschichte zu apperzipieren, auseinanderzusetzen.“112

So drängte sich VON RAD der Schluß auf: „Die Zeit ist vorbei, da wir das alttestamentliche Geschichtsdenken naiv von dem unseren her interpretieren konnten.“113 Interessanterweise liegt aus VON RADs Sicht die Naivität, der er sich hier u. a. selbst bezichtigt, nicht darin, einen unzureichenden Begriff von Geschichte oder Geschichtsschreibung verwandt zu haben. Er moniert vielmehr, daß die Andersartigkeit der alttestamentlichen Geschichtswerke und das Eigenrecht ihres spezifischen Blicks auf die Vergangenheit nicht hinlänglich berücksichtigt und gewürdigt worden seien. Doch auch die Schwächen des lange Zeit vorherrschenden Geschichts- bzw. Historiographiebegriffes blieben nicht verborgen. So konnte Rudolf SMEND 1968 mit Blick auf das oben zitierte Urteil Eduard MEYERs feststellen: „Meyer wußte, wo die Grenze zur »wirklichen Geschichtsschreibung« liegt. Wir wissen das nicht mehr so genau.“114 Der fachwissenschaftliche Konsens, der gute sechzig Jahre gewährt hatte, war unwiederbringlich an sein Ende gelangt. Trotz dieser Entwicklung blieb die einstmalige opinio communis natürlich weiterhin einflußreich. Ihre Auswirkungen reichen bis in die heutige Zeit und stehen –––––––––––––– 111 VON R AD: Anfang. S. 148. – Vergleichbar ist GESEs Position, dem es geradezu absurd erscheint, die Begriffe ‚Geschichte‘ oder ‚geschichtliches Denken‘ zu definieren, weil „eine Teilung von geschichtlichem und ungeschichtlichem Denken“ (ders.: Denken. S. 128) s. E. unmöglich ist. 112 VON RAD: Theologie, Bd. II. S. 443f. 113 VON RAD: Theologie, Bd. II. S. 443. 114 SMEND: Elemente. S. 181. Zu MEYER s. o. Anm. 88.

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Die Fragestellung

zumeist dort im Hintergrund, wo auf eine explizite Reflexion der Termini ‚Geschichtsschreibung‘, ‚Historiographie‘, ‚historiographisch‘ etc. verzichtet wird.115 Betrachtet man abschließend noch einmal die bis hierher skizzierten Positionen, die dem besagten Forschungskonsens zuzurechnen sind, so fällt auf, daß sich die von ihnen verwandten Begründungsmuster in einem Punkt gleichen: Sie alle richten ihr Augenmerk vornehmlich auf den Objektbereich der jeweiligen Geschichtsdarstellung, d. h. auf den jeweils nachgezeichneten historischen Gegenstand und die Angemessenheit seiner Schilderung. Das ist zugegebenermaßen eine naheliegende, aber – wie sich z. T. bereits gezeigt hat – auch eine hochgradig problembeladene Vorgehensweise. Über den Gesichtspunkt der Angemessenheit der Darstellung ergeben sich einige Varianten dieser Art der Annäherung, die sich allesamt auf das Bewußtsein des betreffenden Verfassers konzentrieren. Damit werden die mit einem ‚naiven historischen Realismus‘ verbundenen Probleme vermieden, weil nun nicht mehr versucht wird, die Vergangenheit an sich in den Blick zu bekommen, sondern lediglich die Bedingungen, unter denen sich ihre Nachzeichnung im einzelnen vollzog. Dabei wird a) gern das Wirklichkeitsverständnis des jeweiligen Verfassers thematisiert und als Differenzkriterium die Frage genannt, ob ein Bericht mit göttlicher Einflußnahme rechne oder sich strikt auf die Anführung innerweltlicher Kausalgründe beschränke.116 b) Daneben hat man immer wieder als Maßstab die Fähigkeit und Bereitschaft des Autors geltend machen wollen, die ihm vorgegebenen Stoffe einer kritischen Beurteilung und Auswertung zu unterziehen.117 Beide Vorschläge bestechen dadurch, daß sie nicht nur mit vergleichsweise einfach formulierten Kriterien operieren, sondern darüber hinaus auch auf Bereiche hinweisen, in denen in der Tat ein deutlicher Unterschied zwischen modernen und alttestamentlichen Geschichtsdarstellungen kaum abgestritten werden kann. Allerdings ist damit noch nicht entschieden, ob sich an Hand dieser zwei Gesichtspunkte auch die differentia specifica zwischen Geschichtsschreibung und anderen Formen, vergangenes Geschehen erzählend zu vergegenwärtigen, adäquat beschreiben läßt. Legt man R ÜSEN s Historiographieverständnis zugrunde, so –––––––––––––– 115 Aus der Masse der Belege, die man hier anführen könnte, seien nur zwei herausgegriffen: D IETRICH : Art. Geschichtsschreibung. Sp. 807; SCHÄFER-LICHTENBERGER: David. S. 197*. 206*. D IETRICH legt seinen Historiographiebegriff immerhin an anderer Stelle eingehend dar (vgl. DIETRICH: Königszeit. S. 95–104; vgl. ferner ders.: Arten. S. 134f. und S. 144f.). 116 Vgl. etwa EDELMAN: Dilemma. S. 253; NICHOLSON : Story. S. 144–146; THOMPSON: Art. Israelite Historiography. S. 207. Auf derselben Linie bewegt sich im Grunde auch HALPERN (Historians. S. 266–278; vgl. auch ders.: Historiography. S. 111ff.), wenn er die These plausibel zu machen versucht, die eingeweihten israelitisch-judäischen Kreise hätten in der Regel von sich aus innerhalb der alttestamentlichen Überlieferungen zwischen mythischen Erzählungen und Faktenberichten zu unterscheiden gewußt. 117 Vgl. EDELMAN: ebd.; NICHOLSON: a. a. O. S. 143f.; THOMPSON: a. a. O. S. 206; ähnlich, aber weit umsichtiger GRABBE (Historians. S. 159.161ff.).

Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage

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stellen sich die genannten Differenzen als graduelle Unterschiede dar – keineswegs als prinzipielle. Es handelt sich näherhin aus dieser Perspektive lediglich um verschiedenartige Strategien, die Geltungsansprüche historischer Aussagen zu stützen.118 Ein weiteres Problem des Kriteriums b) besteht darin, daß bei ihm durchweg an explizit vorgetragene Kritik gedacht wird, während die Möglichkeit impliziter Formen kritischen Umgangs mit der Tradition gewöhnlich außer Betracht bleibt.119 Es sind allerdings Alternativen denkbar zu dem erwähnten Versuch, den Historiographiebegriff von der Objektseite her zu bestimmen. Grundsätzlich ebensogut ließe sich Geschichtsschreibung z. B. über das Moment der Form eines Werkes oder über das seiner Funktion definieren. Beide Wege sind im Laufe der Forschungsgeschichte tatsächlich beschritten worden und sollen im folgenden an Hand zweier Beispiele näher in Augenschein genommen werden: Hubert CANCIK als Vertreter eines in der Hauptsache formorientierten und John VAN SETERS als Exponent eines eher funktionsorientierten Historiographiebegriffs. Schließlich wird mit den Überlegungen Erhard BLUM s eine dritte wichtige Position vorgestellt, deren Bedeutung nicht zuletzt darin liegt, daß sie wesentliche Anliegen der Arbeiten von CANCIK und VAN SETERS aufgreift und daraus einen eigenen, vielversprechenden Neuansatz entwickelt.

1.3.2

Hubert CANCIK

Eine eingehende und vor allem auf einer tragfähigen begrifflichen Grundlage fußende Untersuchung der ‚Geschichtsbücher‘ des AT und ihrer besonderen Art der Geschichtsdarstellung bildete, wie oben gezeigt, gegen Ende der sechziger Jahre ein echtes Desiderat der Forschung. Hubert CANCIK nahm sich dieser Aufgabe an. Zunächst legte er in einem 1968 veröffentlichten Lexikonartikel ein differenziertes System zur Beschreibung bzw. Kategorisierung von Geschichtsdarstellungen vor. Grundlegend für dieses System ist seine Unterscheidung zwischen Historiographie und Geschichtsschreibung: „Die Gesamtheit der historischen Texte bezeichnen wir als Historiographie [...]; der Ausdruck G.[eschichtsschreibung] bleibt einer besonders hoch entwickelten Form der H.[istoriographie] [...] vorbehalten.“120

Den auf diese Art vergleichsweise weitgefaßten Bereich historiographischer Schriften unterwirft CANCIK zugleich einer zweiten Differenzierung. Er rechnet –––––––––––––– 118 Zu dem ganzen Fragenkomplex s. auch BLUM: Historiographie. S. 72, Anm. 27. 119 S. hierzu auch in Kap. 1 Anm. 178 sowie 1.4.1. Auch das Historiographieverständnis RÜSENs fordert eine solche Explikation, vgl. 1.2.5. 120 CANCIK: Art. Geschichtsschreibung (BL, 2. Aufl). Sp. 568.

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Die Fragestellung

dabei mit drei verschiedenen Arten der Wiedergabe vergangenen Geschehens: a) Die einfachste Form historiographischer Literatur liegt dieser Einteilung zufolge in solchen Texten vor, „die verhältnismäßig isolierte Taten eines übermächtigen Subjektes an einem passiven Objekt aufzählen“121, CANCIK bezeichnet diese Gruppe als ‚Tatenberichte‘. b) Komplexere Schilderungen, in denen mindestens zwei Personen einander agierend und reagierend gegenüberstehen, fallen unter den Begriff ‚Handlungsdarstellungen‘. c) Die Nachzeichnung übergreifender Prozesse bildet nach CANCIK s Kategorisierung die anspruchsvollste Erscheinungsform historiographischer Arbeit. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß die in ihr zur Darstellung gebrachten Handlungen „als Teile eines den einzelnen Menschen transzendierenden Geschehens erscheinen“122. Das Prädikat ‚Geschichtsschreibung‘ billigt C ANCIK allein den Darstellungsarten b) und c) zu. Er vertritt damit einen Geschichtsschreibungsbegriff, der ganz auf das Moment der Form des jeweiligen Werkes ausgerichtet ist und dabei sowohl dessen Inhalt als auch die Intention des Autors unberücksichtigt läßt.123 In dieser Hinsicht gilt C ANCIK s Augenmerk, linguistisch ausgedrückt, weder der Semantik noch der Pragmatik, sondern der Textsyntax.124 Zwar bezieht CANCIK auch jene beiden Bereiche in seine Überlegungen mit ein, ihnen kommt jedoch, was sein Verständnis von Geschichtsschreibung anbelangt, keine tragende Funktion zu. Das tritt sehr deutlich in der folgenden von ihm vorgenommenen Definition zutage: „G.[eschichtsschreibung] ist eine schriftliche, für ein Publikum bestimmte Darstellung von vergangenen geistigen, politischen, militärischen Handlungen von Menschen, welche durch historische oder moralische Kritik, theologische oder philosophische Deutung oder eine objektive Theorie überhöht sein kann.“125

Gerade jene Elemente, durch welche die Geltungsansprüche einer Schrift offen zutagetreten (namentlich in der Diktion RÜSEN s die Anstrengungen, die eine Erzählung unternimmt, um ihren Erfahrungs-, Bedeutungs- und / oder Sinngehalt zu untermauern), erscheinen hier lediglich als ‚Überhöhungen‘, d. h. als nichtkonstitutiv. In bezug auf den Gegenstandsbereich greift C ANCIK allein das Moment der Referentialität auf vergangenes, von Menschen verantwortetes Ge–––––––––––––– 121 CANCIK: a. a. O. Sp. 567. 122 C ANCIK: a. a. O. Sp. 568. Als Beispiel führt CANCIK in diesem Zusammenhang u. a. die Verwendung des Schemas von Verheißung und Erfüllung an (vgl. ebd. und s. daneben auch a. a. O. Sp. 571). 123 In dieselbe Richtung tendiert z. B. auch SMEND: Art. Geschichtsschreibung. Sp. 118f. 124 Dementsprechend hat CANCIK den Vergleich der formalen Strukturen hethitischer und israelitischer bzw. judäischer Geschichtsdarstellungen zum Hauptgegenstand seiner ‚Grundzüge der hethitischen und alttestamentlichen Geschichtsschreibung‘ betitelten Arbeit von 1976 gewählt (vgl. CANCIK: Grundzüge. S. 9). 125 C ANCIK: Art. Geschichtsschreibung (BL, 2. Aufl.). Sp. 567. CANCIK hat diese Begriffsbestimmung im wesentlichen durchgehend beibehalten, vgl. ders.: Wahrheit. S. 77f.; ders.: Art. Geschichtsschreibung (NBL). Sp. 813; mit leichten Modifikationen in ders.: Grundzüge. S. 15.

Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage

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schehen auf. „Der Versuch, die historiographischen Gattungen nach außertextlichen Gesichtspunkten zu klassifizieren, z. B. danach, ob das, was die Texte berichten, «wirklich so» geschehen ist oder nicht“126, wird von ihm hingegen gänzlich aufgegeben. Die Begründung, mit der dieser Ansatz verworfen wird, ist nicht unproblematisch. CANCIK verweist lediglich auf die s. E. grundlegende Differenz zwischen dem Selbstverständnis neuzeitlicher und altorientalischer Historiographen,127 operiert also mit dem Anachronismusargument.128 Das ist zwar insofern statthaft, als CANCIK diese These – wenn auch an anderer Stelle – später ausführlich erläutert, differenziert und begründet.129 Allerdings schließt CANCIK die Möglichkeit eines verifizierend verfahrenden Historizitätserweises nicht völlig aus und vermag sich insofern von der naiv-realistischen Sichtweise noch nicht vollständig zu befreien. Auf der Grundlage dieser Begriffsbestimmungen gelangt CANCIK zu dem Urteil, daß die Erzählwerke des AT, zumindest in weiten Teilen, als Handlungsoder Prozeßdarstellungen und von daher als Geschichtsschreibung einzustufen seien. Bei dieser Kategorisierung bleibt CANCIK freilich nicht stehen, er untersucht vielmehr auch die spezifischen Ausprägungen, welche die Geschichtsschreibung in der hethitischen, griechisch-römischen und in der israelitischjudäischen Literatur erfahren hat, wobei sein Interesse weiterhin vornehmlich der formalen Struktur gilt. Den Hethitern ist aus seiner Sicht als ersten die „Darstellung von komplizierten Handlungen mit der präzisen Angabe der logischen Verhältnisse zwischen den Handlungsteilen“130 gelungen. Den Griechen dagegen gebühre das Verdienst, die Geschichtsschreibung um das Moment der rational verfaßten historischen Kritik bereichert zu haben. Die Leistung der alttestamentlichen Autoren schließlich bestehe darin, daß sie ausgehend von einer hochentwickelten Theologie den Schritt zu einer „«theologischen Theorie» von Geschichte“131 geschafft hätten, was zumindest im Alten Orient ohne Parallele sei. Hiervon abgesehen nehmen sich die alttestamentlichen Geschichtswerke jedoch im Vergleich zu denen der anderen zwei Kulturen aus CANCIKs Perspektive eher einfach aus. In bezug auf die Präzision ihrer sprachlichen Gestaltung blieben sie hinter beiden zurück. Noch deutlicher sei der Abstand zwischen alttestamentlicher und griechischer Geschichtsschreibung, was ihren jeweiligen Wahrheitsbegriff anbelangt. CANCIK weist in diesem Zusammenhang insbesondere auf zwei Charakteristika der hebräischen Prosawerke hin: zum einen auf die Anonymität ihrer Ver–––––––––––––– 126 127 128 129 130 131

CANCIK: Art. Geschichtsschreibung (BL, 2. Aufl.). Sp. 568. Vgl. ebd. S. hierzu oben Anm. 4. Vgl. CANCIK: Wahrheit. S. 91–108, bes. S. 105ff., s. auch S. 130. CANCIK: Art. Geschichtsschreibung (BL, 2. Aufl.). Sp. 568. Ebd.

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Die Fragestellung

fasser und zum anderen auf das weitgehende Fehlen erzählerischer ‚Metaschichten‘, d. h. auf die ausgesprochen geringe Distanz, die in der Regel zwischen dem Erzähler und seiner Darstellung besteht.132 Wie CANCIK richtig erkennt, verstellen diese beiden Faktoren den biblischen Autoren die Möglichkeit, sich explizit mit abweichenden Darstellungen auseinanderzusetzen – ohne eine solche Diskussionssituation jedoch ist die Herausbildung historischer Kritik s. E. kaum ohne weiteres vorstellbar.133 CANCIK bringt seine Beurteilung des Sachverhalts auf den Punkt, indem er betont, die betreffenden Schriften des AT ließen nicht allein eine Reflexion über die Historizität der von ihnen geschilderten Gegenstände vermissen, „sondern auch jegliche Voraussetzung dazu.“134 CANCIK hat mit seinen Arbeiten die Erforschung der alttestamentlichen Geschichtsdarstellungen und ihres spezifischen Eigengepräges in mehrfacher Hinsicht wesentlich vorangetrieben. Von der Aufgabenstellung der vorliegenden Untersuchung her zu urteilen, können insbesondere seine Zugrundelegung einer elaborierten Definition von Historiographie sowie seine Annäherung an das charakteristische Profil des alttestamentlichen Wahrheitsbegriffes als richtungsweisend gelten. Sinnvoll erscheint darüber hinaus die konsequente Abwendung von dem Versuch, Geschichtsdarstellungen nach ihrem Verhältnis zu der von ihnen abgebildeten vergangenen Wirklichkeit zu beurteilen. Bei all dem darf allerdings nicht übersehen werden, daß CANCIKs Historiographieverständnis für die Zwecke dieser Untersuchung nicht hinreicht, da es mit den Erkenntnis- oder Geltungsansprüchen der Geschichtsschreibung gerade jene Elemente als fakultativ betrachtet, die sich aus neuzeitlicher Perspektive als Konstituenten darstellen. Seine De–––––––––––––– 132 Vgl. CANCIK: Wahrheit. S. 61–64.105–107. – CANCIK wie viele andere auch unterscheidet meist nicht scharf zwischen Erzähler und Autor. Dies kann unter methodischen Gesichtspunkten durchaus problematisch sein, worauf mich u. a. Terje STORDALEN im Gespräch aufmerksam gemacht hat (vgl. auch UTZSCHNEIDER / NITSCHE: Arbeitsbuch. S. 153–155). Gleichwohl erscheint es mir in diesem Fall statthaft, den (scheinbar) weniger präzisen Sprachgebrauch beizubehalten, wie dies auch in der vorliegenden Untersuchung im weiteren geschieht. Denn texthistorisch betrachtet spricht kaum etwas dafür, daß der Erzähler an jenen wenigen Stellen, an denen überhaupt einmal etwas Licht auf ihn fällt, eine vom jeweiligen Autor bewußt gestaltete Fiktion ist. – Terje STORDALEN verdanke ich des weiteren den Hinweis darauf, daß den Verfassern des AT in Form des häufig ‚foculization‘ genannten Gestaltungsmittels eine Möglichkeit gegeben ist, ungeachtet des für solche Zwecke nicht eben günstigen charakteristischen biblischen Erzählstils eine gewisse Distanz zum erzählten Gegenstand auszudrücken (zum Grundlegenden s. auch UTZSCHNEIDER / NITSCHE: a. a. O. S. 170–173). Vor diesem Hintergrund zeigt sich, daß manche Beschreibung des spezifischen Charakters alttestamentlicher Geschichtsdarstellung nicht hinreichend präzise formuliert ist: „Im Gegensatz zu Herodot [...] können sich bibl. Autoren zwar selbst in den Text hineinschreiben, sich aber nicht kritisch über das Überlieferte äußern“ (KNAUF: Art. Geschichte. S. 17f.). 133 Zum ‚agonalen‘ oder ‚kompetitiven‘ Charakter der antiken griechischen Wissenschaften s. auch CANCIK: Verwissenschaftlichung. S. 88–90. 134 CANCIK: Wahrheit. S. 130.

Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage

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finition erweist sich an diesem Punkte als zu stark auf die formale Struktur der Texte ausgerichtet. Daneben fällt ein weiteres auf: CANCIK beschränkt sich bei seinen Untersuchungen ausschließlich auf solche Fälle, in denen historische Kritik in explizierter Form begegnet.135 Diese Entscheidung mag der Sache nach naheliegend erscheinen,136 ist jedoch zumindest insofern nicht ganz konsequent, als sich CANCIK bei der Beschreibung der (von ihm selbst so qualifizierten) historischen Theorie des Deuteronomistischen Geschichtswerkes auch solche Passagen einbezieht, in denen die Deutung des jeweiligen Geschehens einem der Protagonisten in den Mund gelegt wird.137 Gravierender ist allerdings der Umstand, daß auf diese Weise ein wichtiger möglicher Zwischenschritt auf dem Weg von der epischen Tradition hin zur kritischen Historiographie von vornherein ausgeblendet wird. An diesem Punkt wird unten noch einmal anzusetzen zu sein.138

1.3.3

John VAN SETERS

Im Jahre 1983 veröffentlichte John VAN S ETERS seine vielbeachtete Studie ‚In Search of History. Historiography in the Ancient World and the Origins of Biblical History‘.139 Zwei wesentliche Gründe für das breite Interesse an diesem Buch bildeten VAN SETERS’ Spätdatierung der ‚Court History‘140 (und des Jahwisten)141 sowie seine komparatistische, große Teile des historiographischen Vergleichsmaterials aus dem antiken Griechenland und dem alten Orient einbeziehende Vorgehensweise. Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung ist dagegen in erster Linie der von ihm angewandte Historiographiebegriff von Interesse, der Darstellungen der Vergangenheit vornehmlich von ihrer jeweiligen Funktion her betrachtet und einteilt. V AN S ETERS geht bei seiner Begriffsbestimmung von einer Formulierung aus, die mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor Johan HUIZINGA vorgeschlagen hatte, um das Phänomen der Geschichte zu umreißen: „History is the intellectual form in which a civilization renders account to itself of its past.“142 Diese relativ –––––––––––––– 135 Vgl. etwa CANCIK: Wahrheit. S. 9f. 136 Sie liegt zudem auch auf der Linie des RÜSENschen Historiographiebegriffs, vgl. 1.2.5. 137 Vgl. CANCIK: Art. Geschichtsschreibung (BL, 2. Aufl.). Sp. 572; ders.: Art. Geschichtsschreibung (NBL). Sp. 819. 138 S. zunächst die Kritik an BLUM in 1.3.4 und sodann das Programm der Untersuchung 1.4. 139 Zur Vorgeschichte der Publikation s. ZEVIT: Clio. S. 71. 140 VAN SETERS bezeichnet mit diesem Begriff die TFG, die seiner Rekonstruktion nach im wesentlichen folgende Texte umfaßte: 2 Sam 2,8 – 4,12; 5,3a; 9 – 2 Kön 2. Vgl. VAN SETERS: Search. S. 277–291. 141 Hierzu vgl. etwa VAN SETERS: a. a. O. S. 322f.; ferner s. BLUM: Historiographie. S. 69, Anm. 15. 142 Vgl. VAN SETERS: Search. S. 1. Das Zitat entstammt HUIZINGA: Definition (1963). S. 9. Zu Zeit und Ort der Erstveröffentlichung s. HUIZINGA: Bann. S. XI. – Diese Begriffsbestimmung war

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Die Fragestellung

offene, breit angelegte Definition wird nun durch VAN S ETERS um eine Reihe zusätzlicher Kriterien ergänzt und damit merklich enger gefaßt. Geschichtsschreibung im Sinne VAN SETERS’ muß a) einen planvollen Aufbau aufweisen – keineswegs darf es sich etwa um eine beliebige Zusammenstellung historischen Materials handeln; b) die Relevanz des Überlieferten für die jeweilige Gegenwart aufzeigen – die Exaktheit der Darstellung ist demgegenüber nachrangig; c) zu erklären versuchen, warum die Gegenwart so ist, wie sie ist – die Art der Erklärungsansätze ist dabei nebensächlich; d) darauf abzielen, die Identität eines Volks oder einer Gruppe zur Darstellung zu bringen;143 und sie muß e) Bestandteil schriftlicher Überlieferungen sein und für das Selbstverständnis der betreffenden Gruppe eine wichtige Rolle spielen.144 Schriften, die all diese Kriterien erfüllen, bezeichnet VAN S ETERS als ‚history writing‘. Hiervon setzt er eine zweite, deutlich breiter angelegte Kategorie ab: die der ‚historiography‘, die alle mit der Nachzeichnung vergangener Ereignisse befaßten Textarten einbegreift.145 Charakteristisch für V AN S ETERS ’ Ansatz ist der Umstand, daß er bei all dem nicht nur dem Historizitätsproblem keinerlei Beachtung schenkt, sondern auch der Frage nach den erfahrungsbezogenen Geltungsansprüchen, die mit historiographischer Literatur üblicherweise in Verbindung gebracht werden.146 Mit seiner Definition von ‚history writing‘ legt er das Schwergewicht vielmehr auf den Aspekt der normativen Gültigkeit der jeweiligen Geschichtsdarstellung, d. h. auf ihre Bedeutsamkeit. Das geht sehr deutlich aus den von ihm benannten Kriterien b) – e) hervor und ist letztlich darin begründet, daß –––––––––––––– 143

144 145

146

zuvor bereits von den Assyriologen FINKELSTEIN (Historiography. S. 462ff.) und HALLO (History. S. 6ff.) aufgegriffen und fruchtbar gemacht worden. Dieses Kriterium ist in der von VAN SETERS eingangs gewählten Formulierung etwas unscharf: „History writing is national or corporate in character“ (VAN SETERS: a. a. O. S. 5). Zum Ende des Buches wird er bei der Betrachtung eines konkreten Beispiels deutlich präziser: „Dtr’s purpose, above all, is to communicate through this story of the people’s past a sense of their identity – and that is the sine qua non of history writing“ (a. a. O. S. 359). Vgl. VAN SETERS: a. a. O. S. 4f. Vgl. a. a. O. S. 1f. Diese Festlegung erinnert stark an die von CANCIK eingeführte Unterscheidung von ‚Geschichtsschreibung‘ und ‚Historiographie‘, vgl. oben Anm. 120 mitsamt Haupttext. V AN SETERS bezieht sich allerdings an diesem Punkt auf ROBERTS (Myth. S. 3, Anm. 15), bei dem der Gegenbegriff schlicht ‚history‘ lautet. Seine Studie hebt sich in diesem Punkt deutlich von den Arbeiten CANCIKs ab, die ja immerhin auch in den Blick nehmen, welchen Einfluß die formalen Strukturen einer literarischen Tradition für die Ausbildung historischer Kritik haben. VAN SETERS nennt zwar einige grundsätzliche Probleme, welche die Begründbarkeit der Geltung erfahrungsbezogener Aussagen betreffen, tut sie jedoch letztlich als unerheblich ab, vgl. hierzu VAN SETERS: a. a. O. S. 1 sowie S. 354. Auch der Frage der Historizität als solcher wird kaum Bedeutung beigemessen: „History writing is not primarily the accurate portraying of past events“ (a. a. O. S. 4).

Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage

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V AN S ETERS seine Begriffsbestimmung in Anlehnung an die von HUIZINGA vorgeschlagene entwickelt. Bei den Kriterien b) und e) zeigt dies schon ein Blick auf den bloßen Wortlaut: „History writing [...] considers the reason for recalling the past and the significance given to past events.“147 „History writing [...] plays a significant role in the corporate tradition of the people.“148 Auch was c) anbelangt, dürfte diese Einordnung unstrittig sein, weil mit dem Gegenwartsbezug einer Erzählung ihre Relevanz bereits unmittelbar gegeben ist. Lediglich d) impliziert neben der normativen auch die empirische und die narrative Triftigkeit der betreffenden Darstellung. Die erste von VAN S ETERS aufgeführte Bedingung bildet hingegen eine Ausnahme, insofern sie auf die Genese der einzuordnenden Geschichtsdarstellung abhebt. Auf die Erscheinungsform der jeweiligen Überlieferung bezieht sich der erste Teil von Kriterium e).149 Die normative Dimension der HUIZINGAschen Definition liegt maßgeblich darin begründet, daß sie sich Geschichte zum einen in der Art eines Rechenschaftsberichtes und zum anderen als einen Akt der Selbstvergewisserung einer sozialen Gruppe denkt.150 Mit Hilfe dieser Definition durchmustert VAN SETERS die verschiedenen antiken historiographischen Hinterlassenschaften aus Griechenland, aus Mesopotamien, aus dem Hethiterreich, aus Ägypten, aus dem levantinischen Raum und zu guter Letzt aus Israel bzw. Juda. Er gelangt dabei zu dem Schluß, daß aus den genannten Kulturen lediglich die griechische und die israelitisch-judäische den Schritt zur Ausbildung einer Literatur vollzogen hätten, die als ‚history writing‘ bezeichnet werden könne.151 VAN SETERS’ Studie ist ausgiebig und unter verschiedensten Gesichtspunkten besprochen und kritisiert worden.152 Was den von ihm verwendeten Historiographiebegriff anbelangt, konvergieren die diversen einzelnen Einwände, wie mir scheint, in einem Punkt: Seine Definition setzt sich zu weit von dem ab, was gemeinhin unter Geschichtsschreibung verstanden wird. Dies betrifft zunächst –––––––––––––– 147 VAN SETERS: a. a. O. S. 4f. 148 V AN S ETERS : a. a. O. S. 5. Bei dem Kriterium e) handelt es sich genau genommen um zwei selbständige Bedingungen. Hier wurde nur die zweite angeführt, die erste („History writing is part of the literary tradition [...].“) zielt, wie mir scheint, lediglich auf die schriftliche Fixierung der Tradition. 149 Hierzu s. o. Anm. 148. 150 S. hierzu auch LORENZ : Konstruktion. S. 400ff. und S. 414ff. – G RABBE (Historians. S. 158) weist indes mit Recht darauf hin, daß die von VAN SETERS eingeführten fünf zusätzlichen Kriterien z. T. den Absichten zuwiderlaufen, die HUIZINGA mit seiner Definition verband. 151 Vgl. VAN SETERS: Search. S. 354–362. 152 Sehr ausführlich bei Z EVIT : Clio. S. 74–80; ferner s. etwa CANCIK : Art. Geschichte. Sp. 810; EDELMAN: Dilemma. S. 250; GRABBE : Historians. S. 157–159; NICHOLSON : Story. S. 138ff.; WITTE: Von den Anfängen. S. 65; s. auch in Kap. 1 Anm. 153.

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Die Fragestellung

den Umstand, daß dieser Definition zufolge die erfahrungsbezogene Dimension einer Geschichtsdarstellung für die Frage ihrer Klassifizierung (‚historiography‘ oder ‚history writing‘) vollkommen unerheblich ist.153 Der Grund für diese Festlegung dürfte darin zu suchen sein, daß V AN SETERS ausschließlich an einem Vergleich antiker Geschichtswerke gelegen ist – nicht zuletzt, um von daher ein formkritisches Argument für die Datierung des Deuteronomistischen Geschichtswerks zu entwickeln. Doch auch wenn sich seine Aufgabenstellung mithin grundlegend von derjenigen der vorliegenden Arbeit unterscheidet, ist VAN SETERS’ völliges Absehen von den auf der Erfahrungsebene angesiedelten Geltungsansprüchen einer jeweiligen Geschichtsdarstellung dennoch als Versäumnis einzustufen. Denn genau diese Ansprüche auf historische Glaubwürdigkeit stellen das vielleicht charakteristischste Merkmal der Schriften Herodots, Thukydides’ etc. dar,154 denen VAN SETERS immerhin den Deuteronomisten an die Seite stellen möchte. Parallel dazu ist in diesem Zusammenhang des weiteren moniert worden, die oben erwähnten Kriterien c) – e) schlössen moderne wissenschaftliche Formen von Geschichtsschreibung aus VAN S ETERS ’ Begriff von ‚history writing‘ aus.155 Der Einwand erscheint mir im wesentlichen ebenfalls gerechtfertigt, auch wenn man die natürliche Differenz zwischen dem Eigenanspruch eines Historikers bzw. einer Historikerin und dem, was sein resp. ihr Werk hiervon einzulösen vermag, in Rechnung stellen muß.156 Denn offensichtlich will VA N SETERS diese drei Bedingungen nicht in einem weiteren Sinne verstanden wissen, sondern ganz wörtlich. Zumindest in bezug auf den Aspekt nationaler Identitätsstiftung wird das sehr deutlich. Allen Geschichtsdarstellungen nämlich, die etwa die Taten eines Königs wiedergeben und somit nur auf indirektem Wege dem dazugehörigen Staatswesen einen Begriff seiner selbst vermitteln, spricht VAN SETERS den Rang vollgültiger Geschichtsschreibung rundweg ab: „To be sure, the king was both public and political and his deeds were of great significance to the nation. But only when the nation itself took precedence over the king, as happened in Israel, could history writing be achieved.“157

Das Problem braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Wichtiger erscheint mir, auf der anderen Seite zu sehen, welch immensen Fortschritt die von VA N SETERS eingebrachte Begriffsbestimmung für die Diskussion insgesamt bedeutete. War bis dato lediglich nach dem Verhältnis zwischen Darstellung und ‚Wirklichkeit‘ oder nach den spezifischen Bedingungen gefragt worden, unter denen vergangene Ereignisse von antiken Autoren begriffen und geschildert werden –––––––––––––– 153 154 155 156

Vgl. THOMPSON: Art. Israelite Historiography. S. 208f.; ders.: Tradition. S. 14. Vgl. hierzu BLUM: Historiographie. S. 68–72. Vgl. EDELMAN: Dilemma. S. 250; GRABBE: Historians. S. 158. Diesen Unterschied zwischen Eigenanspruch und Außenwahrnehmung bzw. Rezeption scheinen EDELMAN und GRABBE (s. o. Anm. 155) nicht im Blick zu haben. 157 VAN SETERS: Search. S. 355 (Hervorhebungen nicht bei VAN SETERS).

Der forschungsgeschichtliche Hintergrund der Frage

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konnten, so wurde mit V AN S ETERS ’ Beitrag der Blick auf das Verhältnis zwischen dem jeweiligen Text und seiner Leserschaft gelenkt. Damit aber war der Weg dazu gebahnt, die alttestamentlichen Erzählwerke auf ihre textpragmatische Dimension hin zu untersuchen, wie dies bei Erhard BLUM geschieht.

1.3.4

Erhard BLUM

Die Arbeiten Erhard BLUMs stellen einen interessanten und in vielerlei Hinsicht weiterführenden Beitrag dar.158 BLUM setzt bei dem schlichten, aber nicht selten stillschweigend übergangenen Faktum ein, daß biblische Prosawerke in der Regel nicht allein anonym überliefert sind, sondern auch eines expliziten Erzählers entbehren.159 Dieser Umstand ist insofern äußerst bemerkenswert, als er einen deutlichen Unterschied zu den griechischen Geschichtsdarstellungen des sechsten und fünften Jahrhunderts (die ‚Logographen‘, Herodot, Thukydides) markiert, die häufig als Beginn der Historiographiegeschichte betrachtet werden. BLUM untersucht diese Differenz auf ihre textpragmatischen Implikationen hin und kommt zu dem Ergebnis, daß die israelitisch-judäischen und die griechischen ‚Geschichtswerke‘ zwei grundlegend verschiedene Kommunikationsformen repräsentieren. Die letzteren eröffnen ihm zufolge mit der für sie charakteristischen, gegenüber dem jeweils berichteten Stoff distanzierten Autorenrolle dem Lesepublikum die Möglichkeit, selbst ebenfalls kritische Distanz zu wahren und die Darstellung hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts in Frage zu stellen. Zugleich erhebe in dieser Literatur der jeweilige Verfasser ausdrücklich für sich und sein Werk den Anspruch, die vergangenen Ereignisse wahrheitsgemäß zu schildern. Dies beides evoziere in der Leserschaft die Erwartung, es mit einer durchgehend glaubwürdigen Darstellung zu tun zu haben. Und erst aus dieser spezifischen Konstellation von Anspruch und Erwartung entspringe „die Kategorie der ›Historizität‹“160. Diesem ‚ionischen Paradigma‘stellt B LUM das ‚israelitische‘ gegenüber. Kennzeichnend ist hier, so BLUM, vor allem der buchstäblich unmittelbare Geltungsanspruch, „der sich eben nicht über das vorgeschaltete urteilende

–––––––––––––– 158 Ich beziehe mich im folgenden vor allem auf BLUM : Historiographie. S. 65ff. Dieser Aufsatz wurde zwar erst im Jahr 2005 veröffentlicht, geht jedoch auf einen Vortrag zurück, den der Autor bereits 2001 im Rahmen des Heidelberger Symposions „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ gehalten hatte. Eine Art Vorstufe hierzu bildet BLUM : Ein Anfang der Geschichtsschreibung? Anmerkungen zur sog. Thronfolgegeschichte und zum Umgang mit Geschichte im alten Israel. In: Trumah 5 (1996). S. 9–46; im Jahr 2000 erneut veröffentlicht in: DE PURY / RÖMER (Hg.): Thronfolgegeschichte. S. 4–37. 159 Hierzu s. u. in Kap. 1 Anm. 172. 160 BLUM: Historiographie. S. 72.

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Die Fragestellung

Subjekt des Erzählers vermittelt präsentiert.“161 Mit dieser besonderen Darstellungsweise gäben die betreffenden alttestamentlichen Texte zugleich zu verstehen, auf welche Art sie rezipiert sein wollten. Sie zielten auf eine „›ganzheitliche‹ Hermeneutik, die elementar auf Identifikation, Einverständnis etc. ausgerichtet“162 sei. BLUM mag zwar nicht in Abrede stellen, daß auch den biblischen Erzählwerken ein grundlegender Vergangenheitsbezug zueigen ist, doch sieht er diese Art des Geltungsanspruchs „eingebettet in eine umfassendere Verlässlichkeit, die sich letztlich in der Erschließung der Lebenswelt der betreffenden Erzählgemeinschaft bewährt, d.h. in der Bedeutung der Texte für die Identität von Gemeinschaft und Individuen, für deren Handlungsorientierung etc.“163

B LUM vergleicht die alttestamentlichen Geschichtsdarstellungen in ihrer spezifischen Leistung mit Kommunikationsakten, die überwiegend vom Aspekt der Selbstkundgabe geprägt sind, d. h. mit Gesprächssituationen, in denen „eine Person von sich selbst erzählt und sich damit anderen gegenüber definiert.“164 Zugespitzt ausgedrückt zielt also das ‚israelitische Paradigma‘ BLUM zufolge darauf, die Identitätsvorstellung der betreffenden Bezugsgruppe möglichst treffend zum Ausdruck zu bringen – das Moment der Vergangenheitsbeschreibung besitzt demgegenüber keinerlei Eigenrecht, ihm kommt lediglich eine dienende Funktion zu. In dieser Hinsicht lastet nach BLUM auf den Schriften, die zum israelitischen Typus zählen, keinerlei Rechtfertigungsdruck, vielmehr ist durchgehend die Glaubwürdigkeit ihrer Darstellung des Gestern unausgesprochen vorausgesetzt.165 Das ‚israelitische Paradigma‘ stellt sich damit, genauer betrachtet, als „Paradigma des traditionalen Erzählens“166 heraus, was nichts anderes bedeutet als, „daß in Israel offenbar Grundkomponenten mündlich-traditionaler Erzählkommunikation in die schriftliche Überlieferung »herübergerettet« wurden.“167 Diese –––––––––––––– 161 B LUM : a. a. O. S. 73. BLUM hat dabei durchaus im Blick, daß selbst in den alttestamentlichen Stücken, die nicht in der 1. Sg. formuliert sind, bisweilen der Erzählerstandort erkennbar wird, und verweist in diesem Zusammenhang auf Gen 22,14b und 1 Sam 9,9 (vgl. a. a. O. S. 73, Anm. 34). 162 BLUM: a. a. O. S. 73. 163 BLUM: Historiographie. S. 73f. 164 BLUM: a. a. O. S. 74. 165 „Auch die biblischen Erzählungen wollen darstellen, »was und wie es war«, aber das gehört zu den Voraussetzungen der Kommunikation“ (BLUM: Anfang [2000]. S. 10). Darin liegt nach Blum gerade die Parallele zum Selbstkundgabeakt bei Einzelpersonen, bei dem die Hörerin / der Hörer von sich aus „fraglose Authentizität“ (BLUM: Historiographie. S. 74) unterstellt. 166 BLUM: Anfang (2000). S. 11. 167 BLUM: a. a. O. S. 12f. Ders. (Historiographie. S. 82): „Im Vergleich mit dem »Autorenmodell« der frühen griechischen Prosawerke (inkl. Herodot) hat sich als ein Spezifikum der alttestamentlichen Überlieferung erwiesen, dass diese offenbar Grundzüge der Pragmatik mündlicher Sagenerzählung im Medium der Schriftlichkeit bewahrt hat.“

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Art der Darstellung (sei es in mündlicher oder in schriftlicher Form) darf nach BLUM kulturgeschichtlich als der Regelfall gelten, während das ‚ionische Paradigma‘ mit seinen expliziten Geltungsansprüchen im Bereich der Nachzeichnung vergangener Ereignisse die – wenn auch heute dominierend gewordene – Ausnahme bilde.168 Dabei rückt BLUM den israelitischen Typus in unmittelbare Nähe zur frühgriechischen Epik, die er als geistigen Mutterboden des ionischen betrachtet.169 Die alttestamentlichen Prosawerke stehen s. E. wie Homer und Hesiod auf einer literarischen bzw. intellektuellen Entwicklungsstufe, der die Kategorien der Historizität und der Fiktionalität noch völlig unbekannt sind.170 Daher gipfelt BLUMs Untersuchung in der Forderung, „die Kategorie der »Geschichtsschreibung« auf den Umgang mit Geschichte zu beschränken, für den Herodot und Thukydides kulturgeschichtlich als erste Exempel gelten können.“171 B LUM hat mit seinen Ausführungen zweifellos einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis des literarischen Charakters und epistemologischen Anspruchs der erzählenden Bücher des AT geleistet. Sein Verdienst dürfte zunächst darin bestehen, daß er den Blick nachdrücklicher noch als V AN S ETERS auf die textpragmatische Konstitution dieser Schriftwerke gelenkt hat. Vor allem aber ist es ihm gelungen, die Bedeutung zweier Charakteristika der alttestamentlichen Erzählwerke (der Anonymität sowie der weitgehenden Distanzlosigkeit des Erzählers gegenüber dem Dargestellten)172 für die Frage nach dem Selbstverständnis, den Aussageintentionen und den Geltungsansprüchen dieser Art von Geschichtsdarstellung in ihrem vollen Ausmaß sichtbar werden zu lassen. Gleichwohl weist seine Untersuchung, wie mir scheint, zwei nicht unwesentliche Schwachpunkte auf. Hier ist zunächst seine Bestimmung des Begriffes ‚Historiographie‘ zu nennen. BLUM schlägt zwar eine Definition vor, doch geschieht dies nur en passant und – deutlich gravierender – weitgehend ohne Rückbindung an den Diskussionsstand der modernen Historik.173 Die Probleme zeigen sich freilich erst bei näherer Betrachtung. BLUM zufolge kann der Terminus ‚Historiographie‘ nur für solche Arten von Geschichtsdarstellungen mit Fug und Recht ver–––––––––––––– 168 Vgl. BLUM: Historiographie. S. 74. 169 Vgl. BLUM: a. a. O. S. 79f. 170 In bezug auf die Kategorie der Fiktionalität und die These ihrer erst durch die ionische Wissenschaft ermöglichten Herausbildung in der klassischen Antike folgt B LUM den Arbeiten von Wolfgang RÖSLER (v. a. ders.: Entdeckung. S. 283ff. und bes. S. 309–312; weitere s. BLUM: Anfang [2000]. S. 15, Anm. 46) vgl. hierzu BLUM: Historiographie. S. 77–80; zum Fiktionalitätsbegriff ‚erster‘ und ‚zweiter Ordnung‘ vgl. auch ders.: Notwendigkeit. S. 29f. 171 BLUM: Historiographie. S. 75. 172 Als charakteristisch für die Geschichtsdarstellungen des AT wurden diese beiden Eigenschaften freilich schon von CANCIK (Wahrheit. S. 61–65.106f.) erkannt, vgl. 1.3.2. Eine eingehende Darstellung und Interpretation des Sachverhalts liefert auch MACHINIST: Voice. S. 118ff., bes. S. 135–137. 173 Zu einer wichtigen Ausnahme (BLUMs Anachronismusvorwurf betreffend) s. u.

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Die Fragestellung

wendet werden, die ausdrücklich die Historizität der von ihnen nachgezeichneten Fakten, Ereignisse, Strukturen usf. der Vergangenheit reflektieren.174 Das mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Bei näherer Betrachtung jedoch zeigt sich, daß das von BLUM benannte Ausschlußkriterium keineswegs das einzigmögliche ist. Ebensogut wäre es z. B. grundsätzlich vertretbar, die explizite Reflexion über die die jeweilige Darstellung beeinflussenden Wert- bzw. Normvorstellungen, die ‚Standpunktreflexion‘, zur conditio sine qua non zu erheben.175 Eine andere, strenger an R ÜSEN s Entwurf orientierte Möglichkeit besteht darin, die Explikation aller drei Arten von Geltungsansprüchen als unverzichtbares Merkmal historiographischer Literatur zu werten. Hier soll keineswegs versucht werden, diese verschiedenen Möglichkeit gegeneinander auszuspielen. Man tut jedoch m. E. gut daran, sich in bezug auf diesen Punkt die Relativität der BLUM schen Definition vor Augen zu führen.176 Weitaus schwerwiegender erscheint mir der Umstand, daß B LUM an zwei miteinander verquickten Punkten seiner Argumentation in einem strikten Entweder-Oder befangen ist: a) BLUM stuft zum einen die alttestamentlichen Geschichtsdarstellungen als Formen ‚traditionalen Erzählens‘ ein und grenzt sie als solche scharf von der Autorenliteratur der Logographen, Herodots, Thukydides’ usw. ab. Auf diese Weise gerät ein anderes wichtiges Charakteristikum der biblischen Überlieferung, das geradezu als eines ihrer Spezifika gelten kann, nahezu vollkommen aus dem Blick: die großteils ausgesprochen komplexe narrative Struktur der alttestamentlichen Prosawerke, in der sich mit einiger Wahrscheinlichkeit der langwierige, sukzessiv verlaufene Entstehungsprozeß der jeweiligen Texte widerspiegelt.177 So sehr BLUM darin zuzustimmen ist, daß allein im Bereich der Autorenliteratur die Möglichkeit expliziter Argumentation besteht, so sehr wird man zugleich auch auf eine vorsichtigere Beurteilung der Geschichtsdarstellungen des AT dringen müssen. Weiterführend erscheint mir in diesem Zusammenhang die Einschätzung WITTEs: „Kritik gegenüber der Tradition, wie sie sich in den Klassikern der griechischen und römischen Geschichtsschreibung [...] zeigt, begegnet in den alttestamentlichen Geschichtswerken in der Form der Selektion und Redaktion der Quellen sowie der aktu-

–––––––––––––– 174 Vgl. oben Anm. 160 und 171. 175 Das hätte etwa zur Folge, daß man im Grunde erst ab dem 18. Jahrhundert von Geschichtsschreibung sprechen könnte. Zum Grundlegenden s. 1.2.4 sowie RÜSEN: Vernunft. S. 98–108; KOSELLECK: Standortbindung. S. 183–207; GOERTZ: Umgang. S. 35f. 176 Dabei muß man BLUM zugutehalten, daß ihm erklärtermaßen an einer solchen Kategorisierung der alttestamentlichen Prosawerke an sich wenig gelegen ist, vgl. BLUM: Anfang. S. 12, Anm. 36. 177 BLUM (Historiographie. S. 83f.) schenkt diesem Charakteristikum lediglich insoweit Beachtung, als es sich als Folge des Fehlens eines ‚expliziten Autors‘ verstehen läßt. Zum Phänomen der Fortschreibung bzw. der innerbiblischen Exegese s. v. a. KRATZ: Exegese. S. 126ff., bes. S. 150–156; FISHBANE: Interpretation. S. 525–543.

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alisierenden Fortschreibung. Produktive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und ihren Darstellungen erscheint im Gewand der inneralttestamentlichen Schriftauslegung.“178

Im Dialog mit B LUM wird man indes noch einen Schritt darüber hinausgehen müssen und zu prüfen haben, ob sich solche Kritik gegenüber der Tradition allein auf die identitätsstiftenden und handlungsorientierenden Aspekte bezieht oder ob hiervon auch die Faktenebene berührt wird. Denn nur im zweiten Fall könnte man von einem vollgültigen, sich unter der Oberfläche des ‚traditionalen Erzählens‘ vollziehenden Schritt in Richtung auf die griechischen Geschichtswerke sprechen. b) Darüber hinaus erscheint es mir geraten, noch einmal zu bedenken, inwieweit sich die Kategorie der Historizität, wie von BLUM behauptet, tatsächlich erst aus dem Zusammenwirken von expliziertem Geltungsanspruch des jeweiligen Textes und entsprechender Erwartungshaltung seiner Leserschaft heraus bildet.179 Ein Problem dieser These besteht m. E. darin, daß sie völlig im vagen läßt, wo genau die besagte Kategorie entsteht. Drei Möglichkeiten sind denkbar: Erstens könnte sie sich beim ‚Sender‘ bilden. Das dürfte kaum gemeint sein, denn in diesem Fall wäre sie nicht an den Mitteilungsakt gebunden, sondern schon vorher präsent. Zweitens könnte sie beim ‚Empfänger‘ entstehen. Das ist problemlos nachvollziehbar. Drittens könnte gemeint sein, daß sie sich auf beiden Seiten realisiere, was jedoch als bloße Kombination der beiden bereits erwogenen Fälle nur wieder auf die zweite Möglichkeit hinausliefe. Daraus folgt, daß man die Kategorie der Historizität besser als eine Vorstellung auffaßt, die seitens der jeweiligen Rezipienten gebildet wird. Die Absicht des Verfassers / des vorgegebenen Textes / der Tradition scheint mir dabei insofern unerheblich zu sein, als diese nie unmittelbar greifbar ist und von daher stets mit der Möglichkeit ihrer Fehlinterpretation auf seiten der Leserschaft gerechnet werden muß. Diese Präzisierung ist m. E. insofern wichtig, als sie in Verbindung mit dem unter a) Gesagten verdeutlicht, daß der Historizitätsgedanke selbst in solchen Fällen vollgültig zum Tragen kommt, in denen einzelne Bearbeiter fälschlicherweise dem ihnen vorliegenden Text eigenständige Geltungsansprüche auf der Faktenebene unterstellen. Zuletzt soll noch auf einen Punkt in BLUMs Ausführungen eingegangen werden, der für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse ist, weil B LUM hier auf die Konzeption R ÜSEN s ausdrücklich Bezug nimmt und dabei einen fundamentalen Einwand gegen dessen Theoriegebäude formuliert.180 BLUM wirft RÜSEN vor, er verfahre bei seiner Deskription des gemeinmenschlichen Geschichtsbewußtsein anachronistisch, indem er „elementare neuzeitliche Bedin–––––––––––––– 178 WITTE: Von den Anfängen. S. 78; s. auch HALPERN: Historiography. S. 112f. 179 Vgl. oben Anm. 160. 180 S. BLUM: Anfang (2000). S. 17, Anm. 55.

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Die Fragestellung

gungen »historischen Erzählens«“181 unbesehen auch in vormoderner Zeit voraussetze. Dieser Kritikpunkt ist durchaus ernstzunehmen, denn in der Tat versteht RÜSEN das von ihm beschriebene ‚historische Erzählen‘ als „eine Sprachhandlung [...], der man eine anthropologische Universalität nicht bestreiten [...] kann“182, ohne dabei jedoch nennenswerte Mühe darauf zu verwenden, diese relativ kühne These argumentativ zu unterfüttern.183 Zugleich liegt auf der Hand, welche Schwierigkeiten prinzipiell aus BLUMs Einwand für den Versuch resultieren können, das Verhältnis zwischen moderner wissenschaftlicher und antiker israelitisch-judäischer Geschichtsdarstellung positiv zu bestimmen: Sollte sich das Geschichtsbewußtsein, das in den alttestamentlichen Erzählwerken zum Ausdruck kommt, tatsächlich modernen Kategorien weitestgehend entziehen, wäre ein solches Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Leider präzisiert B LUM seine Vorbehalte nicht, so daß undeutlich bleibt, gegen welche konkreten Punkte sich seine Kritik richtet.184 Wie sich jedoch aus dem Kontext ergibt,185 dürfte er im wesentlichen das Moment der faktenbezogenen Geltungsansprüche im Blick haben. Dabei könnte es ihm näherhin entweder a) um die Frage gehen, ob tatsächlich jede Form historischen Erzählens faktenbezogene Geltungsansprüche erhebt, oder b) um die Frage, ob jede Form historischen Erzählens ihre faktenbezogenen Geltungsansprüche begründet. Beide möglichen Einwände laufen m. E. ins Leere. Denn zum einen – ad a) – behauptet BLUM selbst, den alttestamentlichen Prosawerken sei „die Referenz auf geschichtliches Geschehen wesentlich“186. Und zum anderen – ad b) – ist zu bedenken, daß RÜSEN mitnichten davon ausgeht, ‚historisches Erzählen‘ sei in jedweder denkbaren Ausprägung bestrebt, seine faktenbezogenen Geltungsansprüche zu sichern. –––––––––––––– 181 182 183 184

Ebd. RÜSEN: Vernunft. S. 52. Vgl. Anm. 74 und 75. In BLUMs jüngerem Aufsatz zum Thema (Historiographie. S. 65–86) wird dieser Punkt, soweit ich sehe, überhaupt nicht mehr berührt, was bedeuten könnte, daß BLUM diese Position inzwischen aufgegeben hat; vgl. auch seine positive Wertung des RÜSENschen Gesamtentwurfs in BLUM: Notwendigkeit. S. 39, Anm. 74. 185 B LUM geht an der betreffenden Stelle (BLUM : Anfang [2000]. S. 16f.) der Frage nach, ob die Kategorie der Fiktionalität auf alttestamentliche Erzähltexte anwendbar ist. Er verneint dies und gelangt von daher zu dem Schluß, daß literaturwissenschaftlich verfahrende Exegesen des AT grundsätzlich in der Gefahr ständen, spezifisch neuzeitliche Begriffe oder Theorien unreflektiert auf die antiken Texte anzuwenden und auf diese Weise deren Selbstverständnis zu ignorieren. Eine vergleichbare Projektion drohe bei historischen Zugängen, schließt BLUM (a. a. O. S. 17, Anm. 55) und verweist dabei auf RÜSEN. Da das Pendant zur Fiktionalität, d. h. dem Verzicht auf einen Tatsächlichkeitsanspruch der Darstellung auf der Faktenebene, der Historizitätsanspruch moderner Geschichtsschreibung bildet (den die alttestamentlichen Prosawerke nach BLUM in dieser Form noch gar nicht kennen), liegt es nahe, in diesem Bereich BLUMs Vorbehalte gegenüber RÜSEN zu vermuten. 186 BLUM: Historiographie. S. 73; vgl. auch ders.: Anfang (2000). S. 10.

Das Programm der Untersuchung

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Hier mag es genügen, auf das Phänomen der ‚Tradition‘ hinzuweisen, aus der RÜSEN das ‚historische Erzählen‘ hervorgehen sieht und das er zugleich als Vorstufe historischen Erzählens, als „proto-narratives“187 Phänomen auffaßt. Darüber hinaus läßt R ÜSEN s Modell auch Spielraum für die Möglichkeit, daß eine Erzählung (auf einer oder mehreren der drei Ebenen von Geltungsansprüchen) mit keinerlei Zweifel seitens der Rezipienten zu rechnen hat.188 Der Anwendbarkeit des RÜSENschen Historiographiebegriffs auf die alttestamentlichen Erzählwerke steht der Einwand BLUMs demzufolge nicht ernsthaft im Wege.

1.4

Das Programm der Untersuchung

1.4.1

Reformulierung der Fragestellung

Der vorausgegangene Überblick über vier verschiedene grundlegende Positionen in der Debatte um das Verhältnis von alttestamentlicher Geschichtsdarstellung und moderner Historiographie dürfte verdeutlicht haben, daß die heutige Forschung hinter einige zentrale Erkenntnisse nicht mehr zurück kann. a) So kann zunächst der Versuch als gescheitert gelten, den historischen ‚Wahrheitsgehalt‘ eines Textes zum Kriterium zu erklären, mit dessen Hilfe zwischen Geschichtsschreibung und anderen vergangenheitsbezogenen literarischen Gattungen (z. B. Sagen oder Legenden) unterschieden werden soll. b) Auch die Historiographiebegriffe CANCIKs und VAN SETERS’ haben sich als unbrauchbar erwiesen, da sie die nach RÜSEN für historiographische Texte konstitutive Dimension der erfahrungsbezogenen Geltungsansprüche lediglich als fakultativ betrachten. c) Zugleich ist jedoch noch einmal die von CANCIK angestellte Beobachtung hervorzuheben, daß die Anonymität der Verfasser des AT und das weitgehende Fehlen erzählerischer ‚Metaschichten‘ (die geringe Distanz zwischen dem Erzähler und seiner Darstellung) in den alttestamentlichen Werken eine Explikation der Geltungsansprüche weitgehend verhindern. Dieser Punkt verdient insbesondere deswegen Beachtung, weil er einen ersten tiefgreifenden Unterschied zwischen Geschichtsschreibung im R ÜSEN schen Sinne und den erzählenden Werken im –––––––––––––– 187 RÜSEN: Vernunft. S. 66. 188 „Geschichten werden zumeist nicht einfach und ohne weiteres geglaubt [...]“ (RÜSEN : a. a. O. S. 77f.; Hervorhebung nicht bei RÜSEN). Ferner ist es wichtig zu sehen, daß die Skepsis, die nach der Theorie RÜSENs ‚historischem Erzählen‘ (auf welcher der drei Ebenen von Geltungsansprüchen auch immer) von seiten der Hörer- bzw. Leserschaft entgegengebracht wird, nicht aus einer besonderen Bewußtseinsleistung oder Einstellung hervorgeht. Sie resultiert s. E. vielmehr aus dem schlichten Umstand, daß menschliche Vergesellschaftung stets mit der Kollision verschiedenster Einzelinteressen (von Individuen oder Gruppen) verbunden ist, die sich im Ringen um die Anerkennung von (u. a. in Erzählungen artikulierten) Identitätsvorstellungen widerspiegelt (vgl. RÜSEN: a. a. O. S. 78).

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Die Fragestellung

AT markiert. d) Weiterführend erscheint darüber hinaus auch die mit VA N SETERS einsetzende Betrachtung der in Frage stehenden Texte unter textpragmatischen Gesichtspunkten. Denn sie ermöglicht es, jene Argumentationsprozesse sichtbar werden zu lassen, die – wenn man RÜSEN folgt – ein zentrales Charakteristikum historiographischer Werke bilden. e) Das bleibende Verdienst BLUMs besteht darin, die beiden letztgenannten Perspektiven miteinander verbunden und nach den textpragmatischen Implikationen des besonderen, von CANCIK bereits herausgearbeiteten Stils der alttestamentlichen Geschichtsdarstellungen gefragt zu haben. f) Problematisch ist hingegen die von BLUM gezogene Schlußfolgerung, nach der die Prosawerke im AT als verschriftlichte Spielart traditionalen Erzählens darstellen und aufgrund dessen zwangsläufig keinerlei Formen historischer Kritik aufweisen können. Zwar ist BLUM darin zuzustimmen, daß der für die alttestamentliche Prosaliteratur charakteristische Erzählstil die unbedingte Glaubwürdigkeit des Geschilderten suggeriert und auf die uneingeschränkte Zustimmung der Leserschaft zielt. Zugleich darf jedoch nicht übersehen werden, daß mit den beiden Elementen der Anonymität des Erzählers und seiner geringen Distanz gegenüber der von ihm gelieferten Darstellung keineswegs alle grundlegenden Merkmale alttestamentlicher Erzählliteratur genannt sind. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum bilden nämlich die überaus zahlreichen Fortschreibungen, deren Bedeutung für die Frage nach dem Verhältnis von alttestamentlichen und neuzeitlichen Formen, die Vergangenheit darzustellen, – soweit ich sehe – bislang allenfalls ansatzweise gewürdigt wurde. Mit WITTE ist ernsthaft zu erwägen, ob sich nicht in den Ergänzungen und Modifikationen der biblischen Erzähltexte eine implizite (sich quasi subkutan, unter der Oberfläche des von C ANCIK und BLUM treffend umrissenen Erzählstils vollziehende) Kritik an der Tradition artikuliert. Wenn dem so wäre, dann wäre des weiteren zu fragen, ob und ggf. inwieweit diese Kritik als Plausibilisierungsbemühungen, m. a. W. als argumentatives Moment im Sinne des R ÜSENschen Historiographiebegriffs verstanden werden kann. Denn auf diesem Wege könnte es möglich sein, das Verhältnis zwischen alttestamentlicher und moderner Geschichtsdarstellung näher und differenzierter als bislang zu bestimmen. Zuvor muß allerdings noch auf einen naheliegenden und zugleich schwerwiegenden Einwand eingegangen werden. Gegen das genannte Vorhaben könnte man vorbringen, der Versuch einer solchen Verhältnisbestimmung stelle eine anachronistisch verfahrende Betrachtungsweise dar.189 RÜSEN s Historik hat ja, wie der Untertitel des ersten Bandes – ‚Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft‘ – deutlich macht, speziell die zeitgenössische, wissenschaftlich verfaßte Historiographie zum Gegenstand. Die Frage lautet also, zugespitzt formuliert: Läßt sich RÜSENs Historiographiebegriff sinnvoll auf antike Phänomene anwen–––––––––––––– 189 Vgl. oben Anm. 4.

Das Programm der Untersuchung

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den? Oder handelt es sich hierbei um den Vergleich zweier grundlegend verschiedener, mithin inkommensurabler Größen? Zwei Gründe sprechen m. E. dafür, daß ersteres der Fall ist. Zum einen kann die These der Inkommensurabilität nur auf dem Wege einer Verhältnisbestimmung gestützt oder falsifiziert werden. Das aber bedeutet, daß zumindest eine versuchsweise Anwendung des RÜSENschen Verständnisses von Geschichtsschreibung auf die alttestamentlichen Prosawerke durchaus legitim und auch sinnvoll ist. Zum anderen ist auf die charakteristische Form dieses Historiographiebegriffs hinzuweisen. R ÜSEN begnügt sich nicht damit, den wissenschaftsspezifischen Umgang mit der Vergangenheit zu beleuchten, sondern versucht darüber hinaus auch aufzuzeigen, wie sich dieser aus dem gemeinmenschlichen Phänomen des historischen Erzählens entwickelt.190 Sein Konzept erscheint insofern für die Zwecke dieser Untersuchung als geradezu ideal: Es kann prinzipiell auf alle Arten und Ausprägungen menschlichen Geschichtsdenkens angewandt werden und erlaubt zudem eine differenzierte (d. h. nicht auf ein bloßes Entweder-Oder beschränkte) Verhältnisbestimmung zwischen moderner wissenschaftlicher Historiographie und anderen Formen des Umgangs mit Geschichte. Die folgende Untersuchung hat dementsprechend zunächst einen geeigneten Textbereich auszuwählen, sodann seine Entstehung zu rekonstruieren und schließlich die hierbei entdeckten Bestandteile (bis hin zum Ganzen) auf die Ziele oder Zwecke hin zu untersuchen, die mit ihnen vermutlich verfolgt wurden und ihre Abfassung veranlaßt haben dürften. Dabei ist des näheren zu fragen, ob die Texteingriffe, mit denen zu rechnen ist, im einzelnen tatsächlich versuchen, die Geltung der von ihnen jeweils vorgefundenen und adaptierten Erzählung(en) zu erhöhen bzw. zu sichern, und ob sich diese Bemühungen auf alle drei Aussageebenen, also auf den Erfahrungs-, den Bedeutungs- und den Sinngehalt der jeweiligen Erzählung, erstrecken. Vor dem Hintergrund der so gewonnenen Ergebnisse, ist schließlich das Verhältnis zwischen den Geschichtsdarstellungen im AT und gegenwärtiger Historiographie zu beschreiben.

1.4.2

Wahl des Gegenstandes der Untersuchung

Bei der Wahl des Gegenstandes dieser Untersuchung bietet es sich an, einen Text aus der Reihe jener Erzählkomplexe herauszugreifen, die im Anschluß an MEYER, GUNKEL u. a. von der Forschung über lange Zeit als ‚echte Geschichtsschreibung‘ eingestuft wurden. Es kommen also im wesentlichen die Stücke Ri 8f.*; 17f.*; *1 Sam 7–14 sowie die AG und die TFG in Betracht. Ein weiteres Auswahlkriterium ergibt sich daraus, daß die Untersuchung exemplarisch angelegt –––––––––––––– 190 Vgl. 1.2.2 und 1.2.4.

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Die Fragestellung

sein soll. Der zu analysierende Textbereich sollte m. a. W. ein möglichst hohes Maß an Gemeinsamkeiten mit einer möglichst großen Menge anderer alttestamentlicher Erzähltexte aufweisen, um so ein Gesamtergebnis zu gewährleisten, das weitgehend als repräsentativ gelten kann. Aus diesem Grund empfiehlt es sich m. E., das Augenmerk im folgenden auf die AG zu richten. Denn sie nimmt hinsichtlich ihrer formalen Gestaltung eine Mittelstellung zwischen den Überlieferungen von Samuel und Saul in 1 Sam 1–14 und der TFG ein:191 Sie enthält sowohl kleine, episodenhafte, weitgehend aus sich selbst heraus verständliche Erzähleinheiten, wie sie in 1 Sam 1–15 sehr häufig anzutreffen sind, als auch gegen Ende einen Bereich, der sich durch einen relativ geschlossenen und weitgespannten Erzählbogen auszeichnet und darin an die TFG erinnert.192 Aus Gründen der Praktikabilität ist allerdings noch eine weitere Eingrenzung der zu untersuchenden Textmasse notwendig. Mir erscheint es in diesem Zusammenhang am sinnvollsten, den Schwerpunkt der Untersuchung auf den Eingangsteil der AG zu legen, und zwar näherhin auf die Kapitel 1 Sam 15–21. Zum einen nämlich steht dieser Abschnitt, was seinen Erzählstil anbelangt, ungefähr so zwischen dem von Einzelepisoden geprägten Bereich 1 Sam 22–31 und der deutlich geschlosseneren Partie 2 Sam 1–5 wie die AG zwischen den Samuel-SaulÜberlieferungen einerseits und der TFG andererseits. Und zum anderen wird man als Ursache der ausgesprochen komplizierten erzählerischen Struktur der Kapitel 1 Sam 15–21193 einen Entstehungsprozeß von vergleichbarer Komplexität vermuten können. Das aber bedeutet, daß hier die Chance groß ist, trotz des geringen Umfangs des Textabschnitts auf eine relativ hohe Anzahl verschiedener literarischer Straten zu stoßen, was natürlich der Datenbasis der Untersuchung und damit letztlich dem Gesamtergebnis zugute kommt. Was die exakte Abgrenzung des zu analysierenden Textstücks betrifft, so ist zunächst auf die weitreichende Übereinstimmung hinzuweisen, die in der Fachwelt darüber besteht, daß der Vers 1 Sam 14,52 als redaktionelles ‚Scharnier‘ zur Verbindung der älteren Samuel-Saul-Überlieferungen mit der AG zu betrachten ist.194 Aus diesem Grund empfiehlt es sich, mit der Analyse in 1 Sam 15,1 zu beginnen. Bei der Festlegung des Endes des Textausschnitts liegt es hingegen nahe, eine Zäsur aufzugreifen, die allein durch die Erzählung selbst vorgegeben –––––––––––––– 191 Vgl. hierzu v. a. RENDTORFF: Beobachtungen. S. 430; CRÜSEMANN: Widerstand. S. 131; s. auch DIETRICH / NAUMANN: Samuelbücher. S. 68f.; WEISER: Legitimation. S. 329–332. 192 Interessant ist die AG nicht zuletzt auch deshalb, weil sie zeitweilig in dem Ruf stand, den Beginn der israelitischen (und damit auch im weiteren Sinne der abendländischen) Geschichtsschreibung zu markieren, vgl. VON RAD: Theologie, Bd. I. S. 62 mit Anm. 23; zustimmend etwa CRÜSEMANN: a. a. O. S. 130f. 193 EIßFELDT (Einleitung. S. 363) etwa spricht von „dem sehr schwer zu entwirrenden Gewebe von [scil. 1 Sam] 16 14–21 1“. 194 Vgl. etwa BUDDE: Bücher. S. 103; KAISER: Grundriß, Bd. 1. S. 118; KRATZ : Komposition. S. 183; WELLHAUSEN: Composition. S. 252.255; s. auch STOEBE: KAT2 VIII,1. S. 278.

Das Programm der Untersuchung

43

ist. Ab 1 Sam 22,1f. erscheint David nicht mehr als Einzelfigur, die dem König von Israel im guten wie im bösen allein gegenübersteht, sondern vielmehr als Bandenführer, der sich im Konflikt mit Saul bereits auf eine gewisse Machtbasis stützen kann.

1.4.3

Zur Methode der textgenetischen Analyse der AG 1.4.3.1

Forschungsgeschichtlicher Abriß

Die Erforschung der AG und der Historie ihrer Entstehung hat ihrerseits eine Geschichte. Sie soll im folgenden kurz umrissen werden, weil auf diese Weise die Eigenart des methodischen Ansatzes deutlicher zutagetreten kann, der für die sich anschließende Untersuchung der Textgenese von 1 Sam 15–21 gewählt wurde. Die Geschichte der textgenetischen Analyse der AG begann, strenggenommen, erst mit ROSTs Studie ‚Die Überlieferung von der Thronnachfolge Davids‘ aus dem Jahr 1926. ROST vertrat hier die These, die Samuelbücher seien dadurch entstanden, daß vier ursprünglich eigenständige Erzählwerke an- und z. T. auch ineinandergefügt worden seien. Näherhin rechnete R OST mit einer ‚Ladeerzählung‘ (1 Sam *4,1–7,1; 2 Sam 6*), einem ‚Bericht über die Ammoniterkriege‘ (2 Sam *10–12), einer ‚Thronfolgegeschichte‘ (2 Sam 6,16.20ff.; 7,11b.16; *9–20; 1 Kön 1f.*) sowie einer ‚Geschichte von Davids Aufstieg‘ (ungefähr 1 Sam 23*; *27–30; 2 Sam 1,1; 2,4a; *3–5 + evtl. 8).195 Vier Jahre später griff ALT diese Überlegungen auf, ergänzte sie in einigen Punkten und legte damit den Grundstein für die – wenn man so will – klassische Theorie von der ‚Aufstiegsgeschichte Davids‘.196 ALT sah sie im wesentlichen von 1 Sam 16,14 bis 2 Sam 5,12 reichen, also von Davids Ankunft als Harfenspieler am Hofe Sauls bis zu seiner Krönung zum König über Israel.197 Wie ROST hielt er „die Schrift über Davids Aufstieg“198 für eine ursprünglich eigenständige Quelle bzw. ein eigenständiges Werk, von dem er vermutete, daß sein Verfasser den geschilderten Ereignissen „zeitlich ganz nahe“199 gestanden habe. A LT machte auch bereits darauf aufmerksam, daß die Art der Darstellung bei der AG nicht in allen ihren Teilen gleich bleibt, sondern eine Entwicklung durchläuft: –––––––––––––– 195 Vgl. ROST: Überlieferung. S 159.189.214f.238. – Zur Geschichte der Erforschung der AG s. auch die Einführung bei ADAM: Saul. S. 1–8. 196 ALT: Staatenbildung. S. 1–65. Darüber hinaus wurde für die weitere Diskussion, insbesondere in bezug auf das theologische Profil der AG, ein Beitrag von WEISER (Legitimation. S. 325–354) aus dem Jahre 1966 wichtig. 197 A LT (a. a. O. S. 15, Anm. 3.) rechnete aber als Nachträge auch den Rest von 2 Sam 5 sowie 2 Sam 8 hinzu. 198 ALT: a. a. O. S. 34. 199 ALT: ebd.

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Die Fragestellung

„Freilich beginnt auch die Schrift über Davids Aufstieg [...] noch in der anekdotenhaften Art der Heldensage; aber je länger desto deutlicher geht sie dann in eine geschlossenere Darstellung über, die den Leser ohne Umschweife Zug um Zug bis zu dem Bilde der vollendeten Reichsgründung Davids hinführt, mit dem sie schließt.“200

Und auch die zentrale Intention der AG wurde bereits von A LT erkannt und benannt. Er ging davon aus, „daß diese Schrift geradezu aus dem Bedürfnis entstanden [sei], die Berechtigung des Übergangs der israelitischen Königswürde auf David historisch nachzuweisen.“201

ROST und ALT waren freilich nicht die ersten Exegeten, die auf die formale Verschiedenheit der Textbereiche 1 Sam 16 – 2 Sam 5 und 2 Sam 9–20 + 1 Kön 1f. aufmerksam machten. Schon WELLHAUSEN hatte zwischen einer ersten (nach seiner Einteilung 1 Sam 15 – 2 Sam 8) und einer zweiten Geschichte Davids (2 Sam 9–20 + 1 Kön 1f.) unterschieden, die er als vormals eigenständige, teils ergänzte, teils auch verminderte Quellen betrachtete.202 Allerdings hatte sich W ELLHAUSEN s Einschätzung zunächst nicht durchzusetzen vermocht. Unter dem Einfluß der Arbeiten von BUDDE203 und CORNILL204 hatte sich die Anschauung herausgebildet, die Entstehung der Samuelbücher sei in Analogie zu der des Pentateuchs zu erklären. Man ging folglich davon aus, daß ursprünglich zwei oder mehrere in ihrem Erzählstoff und dessen Anordnung weitgehend parallel gestaltete, selbständige literarische Werke existiert hätten, die später durch einen Redaktor zu einer Schrift, den Samuelbüchern, vereinigt worden seien. Des näheren wurden die beiden erschlossenen Erzählwerke nicht selten mit den Pentateuchquellen J und E identifiziert,205 wobei SMEND und EIßFELDT innerhalb der J zugewiesenen Stücke noch einmal zwischen zwei verschiedenen Quellen differenzieren zu können meinten.206 Diese grundlegende Sicht der Dinge, d. h. die Annahme durchlaufender, weithin paralleler, ehemals eigenständiger Erzählfäden in den Samuelbüchern, wurde zwar noch bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein vereinzelt vertreten,207 aufs Ganze gesehen spielte sie jedoch bald schon nach dem Votum ALT s keine große Rolle mehr. Ein – wenn auch ganz äußerlicher – Grund hierfür dürfte darin zu suchen sein, daß sich mit VON R AD und NOTH zwei der einflußreichsten Alttestamentler der Nachkriegszeit die von –––––––––––––– 200 ALT: ebd. Vgl. auch a. a. O. S. 15. 201 ALT: a. a. O. S. 38f., Anm. 4; vgl. auch a. a. O. S. 40, Anm. 1. 202 Vgl. W ELLHAUSEN: Composition. S. 246ff.255ff.261–263. – Zur Forschung an den Samuelbüchern vor WELLHAUSEN s. STOEBE: Das erste Buch Samuelis. S. 32–44. 203 Vgl. etwa BUDDE: Bücher Samuel. S. XII–XXI. 204 Vgl. etwa CORNILL: Einleitung. S. 112–116. 205 S. o. Anm. 203 und 204 sowie auch die Nachweise bei FICKER: Komposition. S. 320, Anm. 11. 206 Vgl. SMEND: J E. S. 183–217; EIßFELDT: Komposition. S. 55; Einleitung. S. 361. 207 Vgl. SCHULTE : Entstehung. S. 203ff. Diese Grundanschauung teilt sie mit ihrem Lehrer HÖLSCHER (Geschichtsschreibung. S. 20ff. und 136ff.).

Das Programm der Untersuchung

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ROST und ALT aufgestellte These zueigen machten.208 Vor allem aber stellen sich der Übertragung der (neueren oder neuesten) Urkundenhypothese auf die Samuelbücher Bedenken grundsätzlicher, namentlich methodischer Art entgegen. Die These zweier oder dreier ehedem selbständiger und durchgehender Quellen ist auf eine große Anzahl von Hilfsannahmen angewiesen: Neben der bloßen Existenz jener nur noch bruchstückhaft erhaltengebliebenen Geschichtswerke setzt sie vor allem unzählige Texteingriffe voraus. Dabei ist jedoch nicht allein die große Menge dieser Zusatzannahmen problematisch, sondern auch die Tatsache, daß es sich bei den genannten Eingriffen überwiegend um Textstreichungen handeln muß. Denn solche Textausfälle sind – zumindest, wenn man sich an die im Laufe der Zeit in der Textkritik gesammelten Erfahrungen hält (lectio brevior potior) – weitaus seltener als sekundäre Textzuwächse. Bei all dem darf indes nicht übersehen werden, daß sich die Anwendung der Urkundenhypothese im vorderen Textbereich der AG nachgerade aufzudrängen scheint: Die zahlreichen Doppelungen209 legen zumindest auf den ersten Blick den Gedanken nahe, daß hier zwei ehedem eigenständige, parallele Erzählfäden ineinandergeflochten worden sein könnten. Der Vorteil dieses Erklärungsmodells ist jedoch, näher besehen, allenfalls gering. Denn die Frage, warum bei der Komposition der Samuelbücher derart viele, z. T. die innere Logik des Geschehens belastende Doppelungen in Kauf genommen wurden, stellt sich in jedem Fall – ganz gleich, ob man sich der Urkunden- oder der Ergänzungshypothese bedient.210 Es kann aus diesen Gründen also durchaus als folgerichtiger wissenschaftlicher Fortschritt betrachtet werden, daß die mit der Genese der Samuelbücher befaßten Studien, die seit Mitte des letzten Jahrhunderts vorgelegt wurden, allenfalls ausnahmsweise noch mit der Urkundenhypothese operierten. Unter diesen Arbeiten lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: zum einen jene Forschungsbeiträge, die ihr Augenmerk vornehmlich auf den Prozeß der Komposition der AG oder der Samuelbücher richten, und zum anderen solche Studien, deren Hauptinteresse den kleinsten literarischen Einheiten und ihren jeweiligen mündlichen Vorgeschichten gilt. An dieser Stelle muß kurz auf eine weitere Strömung innerhalb der alttestamentlichen Exegese hingewiesen werden, die sich im Laufe der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts als eigenständiger Forschungsansatz –––––––––––––– 208 Vgl. VON RAD: Theologie (1992), Bd. I. S. 62; NOTH: Studien. S. 61f. 209 Davids zweifache Ankunft bei Saul in 1 Sam 16,14–23 und 17,31ff. + 17,55–18,2, Davids doppelte Einführung in 1 Sam 16,1–13 und 17,12, die beiden Heiratsgeschichten in 1 Sam 18,17–19 und 18,20–27, die wiederholte Einführung der Freundschaft zwischen David und Jonatan in 1 Sam 18,1.3; 19,1b etc. 210 Es ist vielleicht kein Zufall, daß die Urkundenhypothese in der Blütezeit des sog. Historismus favorisiert wurde. Denn wer diesen Erklärungsansatz vorzieht, kann dem Redaktor immerhin die nach wissenschaftlichen Maßstäben höchst ehrenwerte Absicht unterstellen, er habe die Textmasse der ihm vorliegenden Werke in möglichst großem Umfang bewahren wollen.

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Die Fragestellung

entwickelt und gerade im Bereich der Samuelbücher zahlreiche Beiträge hervorgebracht hat: auf den ‚New Literary Criticism‘.211 Charakteristisch für die Vertreterinnen und Vertreter dieses Ansatzes ist der Versuch, sich ganz auf die Komposition der biblischen Texte zu konzentrieren, ohne dabei die Frage nach ihren jeweiligen Entstehungsbedingungen miteinzubeziehen.212 Angesichts dieser bewußten Ausklammerung der sog. diachronen Dimension sind die Untersuchungen, die dem New Literary Criticism zuzurechnen sind, für die folgende Untersuchung von untergeordneter Bedeutung und brauchen daher an dieser Stelle nicht eingehender besprochen zu werden.213 Zu der zweiten der genannten drei Gruppen gehören u. a. die Arbeiten von HERTZBERG, GRØNBÆK, STOEBE und CAMPBELL.214 Die entscheidende Schwäche dieses Forschungsansatzes liegt darin begründet, daß durch die Konzentration auf die kleinsten rekonstruierbaren erzählerischen Einheiten, auf ihre jeweiligen Formen und Entstehungshintergründe der Blick auf das Ganze zumeist leidet.215 Damit aber erscheint diese Herangehensweise für die Zwecke der vorliegenden Arbeit als unbrauchbar.216 Die Mehrzahl der jüngeren Forschungsbeiträge zur AG und den sie umgebenden Texten ist allerdings der ersten der beiden oben erwähnten Gruppen zuzurechnen. Es handelt sich hierbei m. a. W. um Arbeiten, die – wenngleich jeweils in sehr verschiedenem Maße – die Redaktionsgeschichte der betreffenden Texte aufzuhellen bemüht sind. In diesem Zusammenhang sind neben vielen anderen die Arbeiten von NÜBEL, MILDENBERGER, VEIJOLA, FICKER, VAN DER –––––––––––––– 211 Einen guten Einblick in die Ziele, Vorgehensweisen und methodischen Grundentscheidungen, die mit diesem Ansatz verbunden sind, bieten OEMING / PREGLA: New Literary Criticism. S. 1–23. Wichtig für die Auslegung der AG sind vor allem A LTER (David Story), FOKKELMAN (Art) und POLZIN (Samuel) geworden. 212 Vgl. OEMING / PREGLA: a. a. O. S. 6. 213 Damit ist freilich nicht gesagt, daß auch die Textbeobachtungen usw. von den dieser Richtung zuzurechnenden Exegetinnen und Exegeten für die vorliegende Studie und insbesondere ihre Textanalysen nicht von Interesse wären, s. hierzu im übrigen auch Anm. 216 (Kap. 1). 214 Vgl. etwa HERTZBERG: Samuelbücher. S. 10–12; GRØNBÆK: Geschichte. S. 259f.; STOEBE: Das erste Buch Samuelis. S. 52–54; CAMPBELL: 1 Samuel. S. 1–9. Mit Blick auf ihr jeweiliges primäres Forschungsinteresse sind u. a. GREßMANN (Geschichtsschreibung), CASPARI (Samuelbücher) und HYLANDER (Samuel-Saul-Komplex) als ihre Vorläufer zu nennen. Vgl. auch FICKER : Komposition. S. 65f. 215 So schon EIßFELDT: Einleitung. S. 360f. 216 Das bedeutet mitnichten, daß zugleich auch die Beobachtungen und Folgerungen der betreffenden Exegetinnen und Exegeten für diese Studie ohne Wert sind. Die oben skizzierte Fragestellung (s. hierzu 1.4.1) verlangt lediglich nach einem Vorgehen, bei dem alle Stadien, die der Text bis zum Erreichen seiner ‚Letztgestalt‘ durchlaufen hat, möglichst exakt in den Blick kommen. Von daher ergibt sich aber die Notwendigkeit, bei der Analyse der Texte den Akzent nicht auf form- oder traditionsgeschichtliche Fragestellungen zu legen, sondern einen redaktionsgeschichtlichen Ansatz zu wählen.

Das Programm der Untersuchung

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LINGEN, LANGLAMET, VAN SETERS, KAISER, DIETRICH, VERMEYLEN, KRATZ, FISCHER, WAGNER und A DAM zu nennen.217 Ihnen allen ist die Annahme gemein, die AG oder zumindest der Gesamtkomplex der Samuelbücher sei in einem zeitlich mehr oder minder ausgedehnten Textwachstumsprozeß entstanden.218 Diese These impliziert, daß die Samuelbücher einen Überlieferungskern (oder mehrere derartige Kerne) enthalten, an den (bzw. die) sich im Laufe der Zeit verschiedene andere literarische Stücke angelagert haben. Strittig ist hingegen, a) wo diese ältesten Bestandteile innerhalb der Samuelbücher zu finden, b) wie sie abzugrenzen219 und c) wie sie zu datieren sind. Uneinigkeit herrscht zudem in der Grundsatzfrage, inwieweit solche Überlieferungskerne heutigentags überhaupt noch exakt ermittelt werden können.220 In Hinblick auf die ersten beiden Fragen scheint mir eine Bemerkung FICKERs weiterführend zu sein. Er geht davon aus, daß die AG niemals als selbständige Schrift existiert hat, sondern vielmehr „auf die TFG hin, oder vorsichtiger: zusammen mit einer sekundären Textschicht in II [scil. Sam] 10–20 + I Kön 1–2 konzipiert worden ist“221. Den m. E. wichtigsten Grund für diese Vermutung bildet der Umstand, daß die AG (in der herkömmlichen Abgrenzung 1 Sam 16 – 2 Sam 5) weder einen befriedigenden, die Leserschaft adäquat in die Handlung einführenden Anfang noch ein deutlich markiertes Ende aufweist. Geeignete erzählerische Ausgangspunkte liegen hingegen in 1 Sam 1,1ff. und 9,1ff. sowie – etwas weniger schön, da die Gestalt des David nicht eigens vorgestellt wird – in 2 Sam *13,1ff. vor. Nicht zuletzt aufgrund dieser Beobachtung hat KRATZ angeregt, die AG als ein Bindeglied zwischen zwei ursprünglich eigenständigen Wer–––––––––––––– 217 N ÜBEL : Aufstieg; MILDENBERGER : Saul-Davidüberlieferung; VEIJOLA : Dynastie; FICKER: Komposition; VAN DER L INGEN : David; LANGLAMET : RB 100; ders.: RB 101; VAN SETERS: Search; KAISER : David; DIETRICH : Königszeit; V ERMEYLEN : Loi; KRATZ: Komposition; FISCHER: Hebron; WAGNER: Geist; ADAM: Saul. 218 V AN SETERS hält zwar die AG fast durchweg für eine deuteronomistische Bildung, betrachtet jedoch die TFG als eine spätere Ergänzung (vgl. VAN SETERS: Search S. 264–270.286f.; ähnlich MCKENZIE: König. S. 40). – Einen gewissen Rückschritt stellt demgegenüber HALPERNs Erklärungsmodell dar, demzufolge die AG im wesentlichen auf die Vereinigung zweier verschiedener, ursprünglich selbständiger Erzählwerke zurückgeht, vgl. HALPERN: Demons. S. 15. 277–279. 219 Vgl. in Hinblick auf den Umfang der AG DIETRICH / NAUMANN: Samuelbücher. S. 67f. Einen kompakten Überblick über verschiedene ältere Abgrenzungen der AG bietet SCHICKLBERGER: Davididen. S. 256, Anm. 3. 220 Vgl. DIETRICH / NAUMANN: Samuelbücher. S. 72. Unter den jüngeren Arbeiten verzichten z. B. die von WAGNER (Geist. S. 385ff.) und ADAM (Saul. S. 213–215) weitgehend auf eine detaillierte Rekonstruktion der ältesten Textstufen. FISCHER (Hebron. S. 267–290) hingegen rechnet mit einer relativ klar umrissenen ‚David-Redaktion‘ (s. hierzu a. a. O. S. 333), die eine beträchtliche Anzahl kleiner, unabhängiger Erzählstücke zu einem literarischen Ganzen vereinigt habe und später sukzessive ergänzt worden sei. 221 D IETRICH / NAUMANN : Samuelbücher. S. 86. – Vgl. FICKER: Komposition. S. 273f.; ferner KRATZ: a. a. O. S. 182f.190f.; s. auch LANGLAMET: RB 100. S. 328f.

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Die Fragestellung

ken, zwischen der Sammlung von Saulgeschichten (in 1 Sam *1;*9–14) und einer Sammlung von Davidgeschichten, der sog. TFG (2 Sam *11–20; 1 Kön 1f.*), zu verstehen. Dieser Vorschlag erscheint umso einleuchtender, als er sich sehr elegant zu der zentralen Intention der AG fügt. In der Forschung herrscht ein relativ weitgehendes Einvernehmen darüber, daß David in der AG als legitimer Nachfolger Sauls ausgewiesen werden soll.222 Dieses Darstellungsziel impliziert insgesamt vier zentrale Aussagen: 1. Saul war König über Israel. 2. David war ebenfalls König über Israel. 3. David übernahm das Königsamt von Saul. 4. Diese Übernahme geschah in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen, den ethischen Normen sowie dem geltenden Recht. Der erste der vier Sätze wird durch den Komplex der Saulgeschichten in 1 Sam *1;*9–14 illustriert, der zweite durch die TFG. Um die erwähnte Gesamtintention zu verwirklichen, bietet es sich also an, die Sammlung der Saulerzählungen und die TFG miteinander zu verknüpfen und dabei die dritte und die vierte Aussage ebenfalls erzählerisch zu verarbeiten. Daß die AG nachträglich als ein Scharnier zwischen 1 Sam *1;*9–14 und der TFG eingesetzt wurde, ist also nicht allein aufgrund von Erwägungen zur jeweiligen Form der drei Erzählkomplexe wahrscheinlich, sondern erscheint auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten, namentlich von der Darstellungsabsicht der AG her, plausibel. Obwohl mit den von KRATZ angestellten Überlegungen ein bedeutender Fortschritt in der Erforschung der AG und ihrer Entstehungsgeschichte erreicht ist, bleiben im einzelnen noch zahlreiche Fragen zu klären. Dies hat nicht zuletzt A URELIUS sehr deutlich mit einer Untersuchung demonstriert, in der er sich der Frage nach dem ursprünglichen Beginn der AG widmet. AURELIUS stimmt K RATZ zwar in dessen grundlegenden, oben skizzierten Thesen zum Charakter und zur Genese der AG zu, verortet aber den Anfang der Grundschicht nicht wie jener in 1 Sam 16,14ff., sondern in 1 Sam 17*.223 1.4.3.2

Ansatz und Vorgehensweise der textgenetischen Untersuchung

Die textgenetische Analyse des Abschnitts 1 Sam 15,1–21,16 hat dem oben Gesagten entsprechend bei den von KRATZ erzielten Ergebnissen einzusetzen. Sie greift folglich die von KRATZ aufgestellte These, derzufolge die AG als sekundäres literarisches Bindeglied zwischen den Saulerzählungen in 1 Sam *1;*9–14 und der TFG* eingefügt wurde, als Arbeitshypothese auf. Sodann ist zunächst der Text gründlich auf solche Merkmale hin zu untersuchen, die Hinweise auf seine Entstehungsgeschichte geben könnten. Dieser erste, primär deskriptiv ausgerichtete Arbeitsschritt ist deshalb mit größtmöglicher Sorgfalt durchzuführen, weil die Modelle, die bislang zur Textgenese der AG entwickelt wurden, in der Regel –––––––––––––– 222 Vgl. hierzu DIETRICH / NAUMANN: Samuelbücher. S. 77–79. 223 Vgl. AURELIUS: David. S. 60f.

Das Programm der Untersuchung

49

daran kranken, daß sie von einer relativ geringen Anzahl von Beobachtungen ausgehend die gesamte Entwicklung der betreffenden Texte zu rekonstruieren versuchen. Auf der Grundlage der auf diese Weise erzielten Ergebnisse ist anschließend in einem zweiten Arbeitsschritt ein Modell der Entstehung der AG zu entwerfen. Hierbei empfiehlt es sich, das sog. Subtraktionsverfahren anzuwenden. Damit ist nichts anderes gemeint, als daß bei der Entwicklung jenes Modells sukzessive von Aussagen, die mit relativ hoher Sicherheit getroffen werden können, zu solchen voranzuschreiten ist, die an eine größere Zahl von Bedingungen geknüpft sind und daher nur eine geringere Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen können. Konkret bedeutet dies in der Analyse eine Bewegung von den jüngsten Textzusätzen, die z. T. noch in den Bereich der Textkritik gehören, über die älteren literarischen Straten bis schließlich hin zur Grundschicht der AG. Um die Menge der auszuwertenden Textbeobachtungen in einem überschaubaren Rahmen zu halten, wird der Textausschnitt 1 Sam 15–21 noch einmal in acht kleinere Einheiten unterteilt. Bei ihnen handelt es sich um Sinnabschnitte, die durch den Gang der Erzählung selbst vorgegeben sind, namentlich um folgende Stücke: 1 Sam 15,1–35; 1 Sam 15,35–16,13; 1 Sam 16,14–23; 1 Sam 17,1–18,5; 1 Sam 18,6–30; 1 Sam 19,1–24; 1 Sam 20,1–21,1; 1 Sam 21,2–16. Die Analyse dieser acht Textabschnitte folgt jeweils der oben beschriebenen Vorgehensweise.

2 2.1

1 Samuel 15,1–35 Einleitende Betrachtung

Der zu untersuchende Textabschnitt hat seinen deutlich markierten Anfang in 1 Sam 15,1. Ihm geht in 14,47–51 ein Summarium voraus, in dem verschiedene Informationen zu Sauls Regierungszeit gegeben werden und dem eine (im jetzigen Zusammenhang) relativ isoliert stehende Notiz über Sauls Philisterkämpfe und seine daraus folgende Rekrutierungspraxis folgt (14,52). Mit dem Auftritt Samuels in 15,1 und seinem Auftrag an Saul hebt demgegenüber klar etwas Neues an: ein Erzählbogen, der bis 15,34 reicht. Dort trennen sich die Wege Samuels und Sauls wieder, was in einer für erzählerische Schlußpunkte charakteristischen, bisweilen ‚Doppelschluß‘ genannten Formel ausgedrückt wird, wie sie sich ganz ähnlich z. B. auch in 14,46 findet.1 Mit V. 35 leitet das Kapitel 15 dann zum Folgekapitel über, indem es noch einmal zwei einzelne Erzählzüge in Erinnerung ruft, die dann in 16,1 zum Ausgangspunkt für die Geschichte von der Salbung Davids durch Samuel werden (Jhwhs Reue, Saul zum König gemacht zu haben, und Samuels Unzufriedenheit über diesen Sinneswandel, vgl. 15,11). Gegenstand des Kapitels ist Sauls auf göttlichen Befehl hin unternommener Amalekiterfeldzug, der von ihm nicht in der angeordneten Rigorosität durchgeführt wird und somit Jhwh dazu bewegt, Saul seine Königsherrschaft abzusprechen und den Übergang der Herrscherwürde auf eine andere Person anzukündigen. 1 Sam 15 legt also die erzählerische Grundlage für Davids Salbung in 16,1–13 sowie seine anschließend beginnende Karriere. Eine solche Basis ist allerdings schon mit 1 Sam 13f., insbesondere mit der ‚ersten‘ Verwerfungsgeschichte 13,7b–15a in ähnlicher Form gelegt. Die Salbung Davids (16,1–13) wird dort zwar noch nicht vorbereitet, immerhin werden aber bereits die Weichen für Sauls Niedergang und Davids Aufstieg gestellt (13,13f.). Von hierher erhebt sich die Frage, wie sich 1 Sam 13,7b–15a und 1 Sam 15 zueinander verhalten. Darüber hinaus ist auch das Verhältnis von 1 Sam 15 zu der Erzählung 1 Sam 30, in der ein Feldzug Davids gegen die Amalekiter geschildert wird, zu bedenken.

–––––––––––––– 1

Vgl. SEELIGMANN: Erzählung. S. 120–123, v. a. S. 122.

Untersuchung

2.2

51

Untersuchung

Betrachtet man das Kapitel 1 Sam 15 als Ganzes, so entsteht zunächst ein ambivalenter Eindruck: Einerseits wirkt die Erzählung – zumindest auf den ersten Blick – durchaus einheitlich. Es finden sich zwar einige Wiederholungen und logische Spannungen, doch springen diese längst nicht immer sofort ins Auge. Dies dürfte seinen Grund darin haben, daß mehr als die Hälfte des Textes von einer dialogisch angelegten Szene eingenommen wird (V. 12–31; hinzu kommt noch Samuels kurzes Zwiegespräch mit Agag in V. 32f.). Wiederholungen, Mißverständnisse, Neueinsätze, Brüche etc. sind typische Elemente mündlicher Kommunikation. Vor diesem Hintergrund treten daher die Indizien, die auf verschiedene Fortschreibungsschichten von Texten deuten, in 1 Sam 15 nicht so deutlich hervor, wie dies etwa in rein erzählenden Stücken der Fall ist. Andererseits hinterläßt die Geschichte bei der Leserschaft eine ähnliche Unsicherheit wie der Abschnitt 1 Sam 13,7b–15a. Hier wie dort wird nicht recht deutlich, worin genau die Verfehlung Sauls bestanden haben soll: In 13,7b–15a kommen Ungehorsam in Form voreiligen Handelns sowie eigenmächtiges Eingreifen in priesterliche Aufgabenbereiche in Frage.2 In Kapitel 15 ist zumindest klar, daß Saul die Bannung Amaleks nicht in der Rigorosität ausgeführt hat, wie sie ihm von Samuel aufgetragen worden war (V. 3). Allerdings hat Saul nach Darstellung des Textes gleich in zweifacher Hinsicht seine Pflicht verletzt, weil er erstens den König der Amalekiter und zweitens (zusammen mit dem Kriegsvolk) einen Teil der Beute nicht unter den Bann tun mochte.3 Darüber hinaus erschließt sich selbst bei aufmerksamer Lektüre kaum, wie sich diese zwei Verwerfungen Sauls auf der Ebene der Erzähllogik zueinander verhalten, ob es also z. B. einen gedanklichen, narrativen oder sonstwie gearteten Fortschritt von 1 Sam 13,7b–15a zu 1 Sam 15 gibt und worin dieser ggf. besteht.4 Das Kapitel 15 setzt recht unvermittelt ein. Samuel ist plötzlich wieder bei Saul, obwohl er den König erst in 13,15a verlassen hatte; wo die Anfangsszene spielt, bleibt völlig offen, vielleicht ist nach 13,16 an Gibea Benjamin gedacht. Zwei andere Bezüge sind immerhin deutlicher: V. 1 greift auf die Geschichte von Sauls Salbung durch den Seher Samuel (9,1–10,16) zurück.5 Und hinter V. 2 steht zum –––––––––––––– 2 3

4 5

Die beiden Alternativen sind ausführlicher dargelegt bei DONNER: Verwerfung. S. 252f. S. auch unten 2.3.2.5. Eindeutig benannt wird dabei allerdings nur die zweite Verfehlung (V. 19b). Daß Samuel zum Schluß den Amalekiterkönig eigenhändig hinrichtet, zeigt jedoch, daß die Geschichte auch diesem anderen Aspekt einige Bedeutung beimißt. Die Schonung Agags ist zudem durch die Anweisung in V. 3 deutlich als Vergehen gekennzeichnet. Dazu s. u. 2.3.2.5. Vgl. WELLHAUSEN: Composition. S. 246.

52

1 Samuel 15,1–35

einen Ex 17,8–16, die Erzählung von Israels Kampf gegen die Amalekiter, die mit dem Fazit endet, Jhwh wolle dieses Volk austilgen und stehe daher von Generation zu Generation mit ihm im Krieg.6 Zum anderen könnte auch Dtn 25,17–19 (die Ermahnung, Amalek nach Einnahme des verheißenen Landes auszulöschen) vorausgesetzt sein.7 Das Kapitel gliedert sich in folgende sechs Abschnitte: 15,1–3 Sauls Beauftragung, 15,4–9 Ausführung des Auftrags, 15,10f. Jhwhs Reaktion und Samuels Fürbitte, 15,12–31 Dialog zwischen Samuel und Saul, 15,32f. Hinrichtung Agags durch Samuel, 15,34f. Schluß. Der lange Passus 15,12–31 kann noch einmal in fünf Szenen unterteilt werden. 1. Szene (V. 12–15) Einleitung (V. 12–13a) und erster Redegang (Sauls Behauptung, Samuels Einwand, Sauls Antwort), 2. Szene (V. 16–23) Überleitung (V. 16) und zweiter Redegang (Anklage durch Samuel, Sauls Entgegnung, Widerlegung und Verurteilung durch Samuel), 3. Szene (V. 24–26) Sauls Schuldeingeständnis und Bitte um Vergebung, Samuels Wiederholung des Urteils, 4. Szene (V. 27–29) Bekräftigung des Urteils durch Samuel, 5. Szene (V. 30f.) erneutes Schuldeingeständnis Sauls und Bitte um (partielle) Rehabilitation, Gewährung der Bitte durch Samuel. In V. 1–3 beauftragt Samuel den König Saul im Namen Jhwhs, das Volk der Amalekiter vollständig auszulöschen; sogar der Viehbestand Amaleks soll ausnahmslos getötet werden. Die eigentliche Beauftragung erfolgt dabei in V. 3, während die V. 1ab–2 hierfür erst einmal eine argumentative Basis schaffen. V. 1abgb dient dazu, die Autorität aufzuzeigen, die hinter Samuel und dem von ihm erteilten Auftrag steht; V. 2 begründet dagegen den Inhalt jenes Auftrags. Das führt zu dem bemerkenswerten Umstand, daß die Handlungsanweisung selbst kürzer ausfällt als ihre Legitimierung. Überdies ist eine Einleitung wie die aus V. –––––––––––––– 6

7

Vgl. ebd. und etwa STOLZ: a. a. O. S. 100. – Was den genauen Umfang der Erzählung Ex 17,8ff. anbelangt, der hier vorausgesetzt wird, ist Zurückhaltung geboten. Ex 17,14 und 15f. könnten Nachträge sein (vgl. LEVIN: Jahwist. S. 358), sie sind allerdings auch nicht unbedingt erforderlich, um 1 Sam 15,2ff. zu verstehen. Die Frage kann und darf hier deswegen offenbleiben. Im folgenden wird der Einfachheit halber stets von Ex 17,8–16 gesprochen. Vgl. FORESTI: a. a. O. S. 92–102, bes. auch S. 92, Anm. 1. Anders MOMMER: a. a. O. S. 152f. – Zum Problem s. 2.3.2.

Untersuchung

53

1abg vor der Botenformel (V. 2aa ) zwar möglich, jedoch eher selten zu finden.8 Damit deutet sich bereits an, daß V. 1 (oder zumindest V. 1abg) mit dem Folgenden nur lose verbunden ist. In diese Richtung weisen noch zwei weitere Beobachtungen: V. 1abg steht erstens in einem gewissen Spannungsverhältnis zu V. 17a und b9. Dort nämlich wird in der ersten Vershälfte formuliert, Saul sei vaør lEa∂rVcˆy yEfVbIv. V. 17b dagegen bemüht zwar dieselbe Nomenklatur wie V. 1, nennt aber nicht Samuel, sondern Jhwh als Subjekt der Königssalbung. Zweitens wird in V. 1b die Wurzel omv mit der Präposition l gebraucht, während im weiteren nur noch omv mit b kombiniert wird.10 Darüber hinaus weist FORESTI mit Recht darauf hin, daß V. 1b – genau wie V. 2aa – eine feierliche Redeeinleitung darstellt und daß diese beiden Teilverse direkt aufeinanderfolgend recht schwerfällig wirken.11 Da das hD;tAo◊w aus V. 1b etwas verlangt, wovon das anschließend Ausgesprochene abgesetzt werden kann, setzt dieser Halbvers aller Wahrscheinlichkeit nach V. 1abg voraus. V. 2aa steht also mit 15,1b und abg in Konkurrenz. Interessant ist schließlich noch die Formulierung hÎwh◊y yérVbî;d lwøq (V. 1b), die nur wenige, relativ junge Parallelen im AT aufweist.12 Die LXX bietet hier eine wichtige Variante: Sie liest kai« nuvn a‡koue thvß fwnhvß kuri÷ou, scheint also das yérVbî;d offensichtlich nicht in ihrer Vorlage vorgefunden zu haben.13 Folglich dürfte es sich bei diesem Wort um das Ergebnis einer Glossierung handeln, deren Grund darin zu suchen sein wird, „dass ‚Stimme Gottes‘ als Anthropomorphismus galt.“14 V. 3 beginnt mit einem Imperativ sowie einem Perfectum consecutivum, jeweils in der 2. Sg. m. 15,3aa2 führt diese Reihe fort – allerdings mit einer 2. Pl. m.: wøl_rRvSa_lD;k_tRa MR;tVmårSjAh◊w. Anschließend, in V. 3ab, vollzieht sich sofort ein erneuter –––––––––––––– 8

9 10 11 12 13 14

Die Botenformel leitet zwischen Gen und 2 Kön 40mal direkt die wörtliche Rede ein (bei insgesamt 54 Belegen in diesem Textbereich): Ex 4,22; 5,1; 7,26; 8,16; 9,1.13; 10,3; 11,4; 32,27; Jos 24,2; Ri 6,8; 1 Sam 2,27; 10,18; 2 Sam 7,5.8; 24,12; 1 Kön 12,24; 13,21; 14,7; 20,13f.28.42; 21,19 (bis); 22,11; 2 Kön 1,6.16; 2,21; 3,16; 9,3.6.12; 19,6.20; 20,1.5; 22,15f.18. Bei den übrigen vierzehn Stellen tritt die Formel zweimal innerhalb einer Prophetenrede auf, die bereits mit denselben Worten eingeleitet worden ist (2 Kön 3,17; 9,32). Fünfmal gehen ihr imperativische Aussagen voraus (Jos 7,13; 1 Kön 11,31; 17,14; 2 Kön 7,1; 4,43), einmal ein kurzer Nominalsatz (2 Sam 12,7; in derselben Prophetenrede begegnet die Formel dann noch einmal in 12,11), einmal eine rhetorische Frage (2 Kön 1,4). Einmal wird zuvor der Adressat angerufen (1 Kön 13,2), einmal das drohende Unheil vorab begründet (2 Kön 21,12). Nur ein einziges Mal (neben 1 Sam 15,2) geht der Botenformel explizit der Hinweis voraus, daß Jhwh den Propheten gesandt habe (Ex 7,17). Vgl. FORESTI: a. a. O. S. 43. Vgl. V. 19f.22.24. Bedeutsam ist diese Formulierung insofern, als sie auch in V. 22 – einem der theologisch wichtigsten Verse der Erzählung in ihrer Letztgestalt – verwandt wird. Vgl. FORESTI: ebd. Dtn 4,12; Ps 103,20 (in bezug auf Gottes Worte); Dtn 1,34; 5,28 (in bezug auf von Menschen gesprochene Worte); Dan 10,6.9 (in bezug auf den Boten in der Vision). Vgl. schon WELLHAUSEN: Text. S. 96. Man vermißt diese Variante im Apparat der BHS5. WELLHAUSEN: Text. S. 96.

54

1 Samuel 15,1–35

Subjektwechsel. Nicht mehr eine Mehrzahl ist hier angesprochen, sondern wiederum (wie in V. 3aa 1) Saul allein. Nun stellt V. 3aa , insbesondere das Wort MR;tVmårSjAh◊w seit langer Zeit bereits eine crux interpretum dar. Anlaß hierfür ist neben dem wiederholten Subjektwechsel v. a. die Lesart der LXX von 15,3a, die der besseren Übersicht halber hier in gegliederter Form präsentiert wird:15 A kai« nuvn poreu/ou kai« pata¿xeiß to\n Amalhk B kai« Ierim kai« pa¿nta ta» aujtouv C kai« ouj peripoih/shØ e˙x aujtouv D kai« e˙xoleqreu/seiß aujto\n kai« aÓnaqematiei√ß aujto\n kai« pa¿nta ta» aujtouv E kai« ouj fei÷shØ aÓp∆ aujtouv. Element A entspricht recht genau dem V. 3aa 1 des MT. Alles übrige des Halbverses läßt sich hingegen nicht gleichermaßen problemlos zuordnen. Denn allem Anschein nach ist V. 3aa 2 gleich zweimal ins Griechische übertragen worden, einmal in Form der Elemente B und C sowie einmal in Form von D und E.16 Aus dem Wortlaut von D (und besonders dem aujto\n kai« pa¿nta ta» aujtouv) hat man seit LÖHR immer wieder gefolgert, die ursprüngliche Lesart müsse Ow;tVmårSjAh◊w tRa◊w gelautet haben.17 Doch diese Formulierung wirkt einigermaßen „harsh for the ear and is not found attested elsewhere in the MT.“18 Darüber hinaus stellt diese Rekonstruktion eine deutliche lectio facilior dar. Schaut man sich weiterhin das Verhältnis der Elemente B/C und D/E zueinander an, dann drängt sich der Eindruck auf, es bei D/E mit einer sekundären Erklärung oder Verbesserung des in B/C Geschriebenen zu tun zu haben. Denn B/C dürfte gegenüber D/E mit einiger Sicherheit primär sein, wie sich in V. 8 zeigt, wo das merkwürdige Wort Ierim kein Gegenstück hat (das Verbum aÓ p e÷ k teinen ist m. E. von dem b®rDj_yIpVl ausgehend erschlossen worden).19 Die Glossierung hat vermutlich in erster Linie dem Ierim gegolten, das in V. 3 wie in V. 8 als Eigenname verwendet wird. Ein Blick auf die übrigen Verse von Kap. 15 in der griechischen Fassung zeigt, daß die LXX-Übersetzer durchaus wußten, welche Bedeutung sich mit der Wurzel Mrj verband; so wird das Verb in 15,9.15.18. 20f. mit dem hierfür durchaus geläufigen –––––––––––––– 15 16 17 18

19

Zitiert nach R AHLFS : Septuaginta. Die Kürzel zur Bezeichnung der einzelnen Verselemente wurden von mir zur einfacheren Unterscheidung und Bezeichnung eingefügt. Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 284, Anm. 3 b). Vgl. THENIUS / LÖHR: Bücher Samuels. S. 69. So auch WELLHAUSEN: Text. S. 96. FORESTI: a. a. O. S. 40, Anm. 48. Er verweist darüber hinaus auch auf Dtn 13,16, wo ebenfalls ein Banngebot und dazu auch auf ganz ähnliche Art ausgesprochen wird. Die verschiedenen Objekte, die unter den Bann getan werden sollen, sind dort allerdings allein durch Verwendung der Nota accusativi bezeichnet – und nicht etwa wie in der Konjektur von THENIUS / LÖHR durch Suffigierung des Prädikats und folgender Verwendung der Nota accusativi zugleich. Das Verbum ist sonst nur ein einziges Mal als Übertragung der Wurzel Mrj belegt (Dan 11,44). Zur Kombination von sowohl Mrj als auch hkn mit den Worten b®rDj_yIpVl vgl. LOHFINK: Art. Mrj. Sp. 195.

Untersuchung

55

wiedergegeben.20 Daraus ergibt sich aber zwangsläufig die Frage, warum in 15,3 und 8 dann nicht ebenfalls so verfahren wurde. Mir erscheint es am wahrscheinlichsten, daß in V. 3 der Vorlage der LXX eine Textirritation vorgelegen hat, welche den (oder die) Übersetzer dazu zwang, sich um eine alternative Erklärung bzw. Übertragung des nicht mehr klar zu deutenden hebräischen Wortes zu bemühen.21 Vermutlich fand man sie, indem man das Wort als Eigennamen interpretierte, was in V. 3 einen erträglichen Sinn ergab und auch in V. 8 möglich erscheinen mußte, sofern man sich dort ein hD;kIh als ausgefallen dachte und dementsprechend aÓpe÷kteinen im griechischen Text ergänzte.22 Möglicherweise wurde dabei die Buchstabenfolge aus V. 8 einfach für das fragliche Wort in V. 3 übernommen. Dies legt zumindest die Endung -im nahe, die in V. 3 (MT) keinerlei Anhalt hat, sehr wohl aber in V. 8 (MyîrTjRh). Rückschlüsse von der griechischen Fassung von 15,3 auf die hebräische Vorlage sind daher in jedem Falle mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Passabler wirkt auf den ersten Blick FORESTIs Vorschlag, anstatt des Mem finale ein h und mithin hD;tVmårSjAh◊w zu lesen.23 Allerdings ist die Verwechslung dieser zwei Buchstaben kein allzu häufig auftretendes Phänomen.24 Hinzu kommt, daß F ORESTI s Lesart erstens nirgends handschriftlich bezeugt ist und zweitens klar eine lectio facilior bedeutet – was im übrigen auch für den Vorschlag THENIUS ’ gilt.25 Dies letzte Argument steht mutatis mutandis auch der Annahme LEVINs entgegen, Mtmrjhw sei als 2. Sg. m. Perf. mit Suffix der 3. Pl. m. zu verstehen.26 Ein weiteres Problem dieser scheinbar eleganten Lösung stellt der Umstand dar, daß nach jener Änderung der Vokalisation Amalek plötzlich auch grammatikalisch als Gruppe aufgefaßt werden muß, während Samuel vorher wie nachher von Israels Erzfeind lediglich im Singular spricht.27 e˙xoleqreu/ein

–––––––––––––– 20 21 22 23 24

25 26 27

Zu den Übertragungsmöglichkeiten der LXX von Mrj vgl. ebd. Dabei dürfte es sich um eine korrumpierte Fassung des Wortes MR;tVmårSjAh◊w gehandelt haben. Das Verbum (hi) hkn (in Verbindung mit b®rDj_yIpVl) gibt die LXX durchaus z. T. mit aÓpoktei÷nein wieder, vgl. Ijob 1,15.17; Jos 11,11. Vgl. FORESTI: ebd. Er weist auch darauf hin, daß dieselbe Form (ebenfalls plene geschrieben!) in 15,18 auftritt. Vgl. hierzu KRAUSS: Textkritik. In: ZAW 48 (1930). S. 321–324. Obwohl KRAUSS möglichst viele wahrscheinliche Belege für Schreibfehler dieser Art beizubringen versucht, verweist er doch bezeichnenderweise in diesem Zusammenhang nicht auf 1 Sam 15,3, sondern lediglich auf V. 18 (vgl. a. a. O. S. 323). Dies gesteht grundsätzlich auch DONNER (Verwerfung. S. 241, Anm. 33) ein – entscheidet sich dann aber doch für THENIUS’ Konjektur. Vgl. LEVIN: Rezension zu FORESTI. Sp. 105. Vgl. 15,2 und 3ab. Amalek wird darüber hinaus im ganzen Kap. 15 (mit Ausnahme von 15,18bg) als Singular behandelt, vgl. FORESTI: a. a. O. S. 40, Anm. 49f.

56

1 Samuel 15,1–35

Aus all diesen genannten Gründen erscheint es mir geraten, den Wortlaut von V. 3a so zu belassen, wie er sich im MT findet, und die Spannung, die sich hier durch den wiederholten Subjektwechsel ergibt, vorerst schlicht zur Kenntnis zu nehmen. V. 3b setzt die Kette imperativischer Aussagen aus V. 3a insofern relativ nahtlos fort, als sich das Perfectum consecutivum hD;tAmEh◊w unmittelbar an den Prohibitiv lOmVjAt aøl◊w aus V. 3ab anlehnt und sich wie dieser (und V. 3aa1) an ein einzelnes Gegenüber richtet. Allerdings fällt 15,3b dem Inhalt nach gegenüber V. 3a etwas zurück. Denn jener verlangt ja die Vernichtung all dessen, was Amalek gehört, während hier allein die Tötung der Bevölkerung und ihres Viehbesitzes gefordert wird. Doch auch in sprachlicher Hinsicht wirkt der Halbvers in Kapitel 15 ziemlich isoliert: nicht ein einziges seiner vier Wortpaare wird im weiteren Verlauf der Erzählung wieder aufgegriffen. Besonders signifikant ist in diesem Zusammenhang die Formulierung hRc_dAo◊w rwøÚvIm. Sie ist als pars pro toto aufzufassen und dürfte soviel wie ‚sowohl Groß- als auch Kleinvieh‘ meinen. Hierfür findet sich jedoch im gesamten übrigen Text stets die Formel r∂qD;bAh◊w Naø…xAh.28 Der Vers bedarf weiterhin der Ergänzung durch 15,9, weil allein dort die (partielle) Erfüllung des in V. 3b Gebotenen berichtet wird, während V. 8 lediglich von der Bannung der amalekitischen Bevölkerung spricht. 15,9 seinerseits benötigt jedoch mitnichten V. 3b – die Anweisung aus V. 3a genügt völlig, um den Zusammenhang zu verstehen. Terminologische Nähen zeigt der Halbvers zu Jos 6,21 und 1 Sam 22,19. Dort finden sich nämlich ebenfalls Aufzählungen die mit den Worten _dAo◊w vyIaEm hDÚvIa beginnen,29 die Elemente rwøv, hRc und rwømSj enthalten und in Zusammenhang mit einer Anwendung des Bannes stehen.30 Zumindest die erste der beiden Parellelstellen dürfte sich einer relativ späten Fortschreibungsstufe verdanken.31 Ein letzter Blick auf den Vers als ganzen führt einen deutlichen und grundlegenden Unterschied der ganzen Erzählung 1 Sam 15 zu jener aus 1 Sam 30 vor Augen: Während sich dort die Notwendigkeit eines Feldzugs gegen Amalek aus der Handlung selbst, namentlich aus dem amalekitischen Überfall auf die David –––––––––––––– 28 29 30

31

Vgl. 15,9.14f.21 (stets in der genannten Wortreihenfolge). Zur Formel hDÚvIa_dAo◊w vyIaEm vgl. darüber hinaus die überwiegend späten Stellen Jos 8,25; 2 Sam 6,19; Neh 8,2; 1 Chr 16,3; 2 Chr 15,13. – In 1 Sam 15,3 enthält die Phrase kein w. In Jos 6,21 fällt das Wörtchen Mrj sogar, in 1 Sam 22,19 kann man wohl mit STOEBE (a. a. O. S. 415), STOLZ (a. a. O. S. 147) u. a. die Bannkonzeption als Hintergrund vermuten. BUDDE (a. a. O. S. 154) bemerkt zumindest die Verbindung von 1 Sam 15,3 und 22,19. Zu Jos 6 vgl. FORESTI (a. a. O. S. 125–129), der den V. 21 zu ‚DtrN‘ rechnet. Vgl. ferner VEIJOLA: Wahrheit. S. 123, Anm. 98. – Zu 1 Sam 22 ist immerhin des öfteren schon beobachtet worden, daß der V. 19 sich nicht gerade glatt an seinen Vorvers anfügt; vgl. BUDDE: ebd.; STOEBE: a. a. O. S. 414f.; HERTZBERG: a. a. O. S. 148. M. E. ist es am wahrscheinlichsten, daß V. 19 eine Ergänzung zu V. 18 darstellt, der sich seinerseits durch die Schreibung des Namens Doëg als relativ junge Erweiterung (vgl. BUDDE: ebd.; STOEBE: ebd.) zu erkennen gibt.

Untersuchung

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unterstellte Stadt Ziklag ergibt, ist es hier der durch Samuel ergehende Befehl Jhwhs mit dem Rekurs auf Ex 17,8ff., der den Stein ins Rollen bringt. 15,2f. zeugen mithin von einem weiteren literarischen Horizont und einer stärkeren theologischen Durchformung als 30,1ff., was dafür sprechen könnte, daß 1 Sam 15* später als 30* entstanden ist.32 V. 4 trägt für den Fortgang der Erzählung nahezu nichts aus, lediglich auf V. 4aa mag man nur ungern verzichten, weil dort das Heer zusammengerufen wird. MyIaDlVÚfA;b verweist vermutlich auf dieselbe Ortslage wie MRlRf aus Jos 15,24, d.h. auf eine Ortschaft im Südreich.33 Der Kontrast zwischen der Truppenstärke der Kontingente aus dem Norden und der aus dem Süden scheint in V. 4ag und 4b eine Rolle zu spielen, wie dies etwa auch in 1 Sam 11,8 der Fall ist. Dabei macht die syntaktische Struktur von V. 4b einen leicht diffusen Eindruck, denn nach MyIpDlSa t®rRcSoÅw erwartet man nicht die Präposition tRa, sondern eher – wie in V. 4ag – die direkte Nennung des Gezählten. In V. 5a lautet die Lesart des MT qElDmSo ryIo_dAo, während die LXX einen Plural bezeugt (eºwß tw◊n po/lewn Amalhk). Die hebräische Fassung fügt sich insofern besser in die Erzählung ein, als sie mit nur einer Stadt rechnet und nur dies im Zusammenhang, insbesondere des in V. 5b erwähnten Hinterhalts (dazu s. u.), einen akzeptablen Sinn ergibt. Ich halte daher den MT-Wortlaut für ursprünglich.34 B UDDE hingegen entscheidet sich für die Mehrzahl, weil er an den nomadischen Charakter des amalekitischen Volkes denkt und sich aus diesem Grunde eine einzige Stadt nicht vorstellen mag.35 Ähnlich könnten indes auch schon die Schöpfer der LXX kombiniert haben. Vor allem aber vermischt diese Argumentation den historischen Befund völlig unreflektiert mit dem philologischen, was methodisch nicht statthaft ist. V. 5b schmiegt sich syntaktisch eng an V. 5a an. Einziges Problem in diesem Halbvers ist das Prädikat b®rÎ¥yÅw. Ein weithin und mit Recht favorisierter Lösungsversuch besteht darin, hier eine Ableitung von der Wurzel bra vorzunehmen und entweder b®rÎ¥yÅw als Hiph‘il zu deuten oder anders zu punktieren und b®r…OyÅw (Qal) zu lesen oder gar eine Verschreibung aus bOrTa‰¥yÅw o. ä. anzunehmen.36 Diese Möglichkeit wird durch die Übersetzung der LXX gestützt, was indes mitnichten bedeutet, daß sie die Konsonantenfolge brayw in ihrer Vorlage las. Es ist durchaus denkbar, wenn nicht wahrscheinlich, daß auch sie schon bryw vorfand und damit vor dieselben Probleme gestellt war wie die moderne Exegese. Einer grundsätzlich ebenfalls denkbaren Ableitung von der Wurzel byr steht m. E. entgegen, daß diese –––––––––––––– 32 33 34 35 36

Zu den Einzelheiten s. u. 2.3.2.3. Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 283f.; sowie BUDDE: a. a. O. S. 108. So schon WELLHAUSEN: a. a. O. S. 97. Vgl. ebd. Vgl. ebd. sowie STOEBE: a. a. O. S. 284, Anm. 5 b); vgl. aber auch GK § 68i.

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im Sinne von ‚kämpfen‘ (zwischen Personengruppen) ausschließlich mit einem direkten Objekt oder in Pluralformen gebraucht wird.37 Ich favorisiere daher die Vokalisierungen b®rÎ¥yÅw oder b®r…OyÅw, die beide dasselbe bezeichnen und den zusätzlichen Vorteil haben, nicht mit Schreibfehlern rechnen zu müssen. Saul legt demnach in V. 5b einen Hinterhalt, was allerdings nicht sonderlich gut zu V. 6 paßt. Die Nachricht an die Keniter setzt den Erfolg des ganzen Unternehmens aufs Spiel, das doch wohl nur dann von Erfolg gekrönt werden kann, wenn es unerkannt bleibt.38 Der Erzählfaden von V. 6 wird auffälligerweise nirgends wieder aufgenommen. Der Vers hebt sich auch durch zwei der von ihm benutzten Termini klar vom Kontext ab: Nur er spricht erstens vom yIqElDmSo und zweitens von den lEa∂rVcˆy y´nV;b (beide V. 6a).39 Im übrigen Kapitel werden dieselben Größen einfach durch die Nomina propria qElDmSo sowie lEa∂rVcˆy bezeichnet. Für sich betrachtet, macht der Vers einen sehr heterogenen Eindruck. So verwendet V. 6b bereits wieder den Eigennamen qElDmSo und versieht das Gentilizium yˆnyéq nicht wie V. 6a mit dem Artikel. Aber auch innerhalb von V. 6a selbst wirkt der Numeruswechsel bei der Anrede der Keniter etwas seltsam (V. 6aa 1: Pl., dagegen V. 6aa2bg: Sg.). Der Folgevers gibt keine Schwierigkeiten auf. Eine enge Parallele zu V. 7b bildet Gen 25,18a, wo von den Söhnen Ismaels gesagt wird: r…wv_dAo hDlyˆwSjEm …wnV;kVvˆ¥yÅw h∂r…wÚvAa hDkSaø;b MˆyårVxIm y´nVÚp_lAo rRvSa. Für Konjekturen besteht in 15,7 keinerlei Anlaß.40 V. 7a bildet einen festen Bestandteil der Rahmenhandlung, weil er Sauls Sieg vermerkt, der ab 15,8 vorausgesetzt wird. V. 8 schließt sich direkt an den ihm vorausgehenden Vers an, indem er den Narrativ aus V. 7a zunächst fortführt und auch nicht noch einmal das Subjekt der Handlung expliziert. Dann folgt in V. 8b ein invertierter Verbalsatz, bei dem das Objekt an den Anfang gerückt und mithin betont ist; das Subjekt ist nach wie vor Saul. Diese syntaktische Struktur läßt darauf schließen, daß hier der Gegensatz zwischen Agag, der am Leben bleibt (V. 8a), und dem übrigen Volk, das umkommt (V. 8b), fokussiert wird. Folglich dürfte 15,8b die erste Vershälfte voraussetzen. Andererseits bedarf auch 15,8a der Ergänzung durch V. 8b, da die Schonung Agags überhaupt nur dann einer Erwähnung wert ist, wenn dem übrigen Volk ein anderes Schicksal zuteil wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich also bei V. 8 um eine homogene Einheit. Die V. 20.32f. bauen deutlich auf diesem Vers auf. –––––––––––––– 37

38 39 40

Vgl. Gen 26,20; Ri 11,25 (beide Male mit direktem Objekt). Vgl. ferner Gen 26,21f. (beides Pluralformen). In Gen 13,7 und Ri 12,2, wo das zugehörige Nomen byîr verwandt wird, werden ebenfalls beide Gegner genannt. Anders, aber ohne Nennung von Argumenten WELLHAUSEN: Text. S. 96f. Vgl. z. B. Jos 8,14. Zur einzigen Ausnahme im MT (V. 15) s. u. Gegen u. a. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 97; BUDDE: a. a. O. S. 109.

Untersuchung

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15,9 enthält direkt am Versanfang eine Disgruenz: Dem Prädikat im Singular, lOmVjÅ¥yÅw, stehen zwei Handlungsträger, MDoDh◊w l…waDv, gegenüber. Das Volk greift dabei erstmals an dieser Stelle ins Geschehen ein. Aus der Aufzählung der verschonten Objekte sticht dann das Wort MyˆnVvI;mAh◊w hervor, da es einerseits seinem Inhalt nach die Konstruktusverbindung bAfyEm_lAo◊w r∂qD;bAh◊w Naø…xAh sprengt,41 andererseits aber auch noch nicht zum nächsten Objekt gehört. Dementsprechend ist es vermutlich als Apposition zu verstehen.42 In V. 9abb stehen dann beide Prädikate, anders als in V. 9aa , im Plural. V. 9ab hält gegenüber V. 9aa streng genommen keine neue Information bereit, wohingegen V. 9b immerhin die andere Seite der Medaille zeigt, indem er positiv benennt, welchen Teil der Beute Saul und das Volk letztlich unter den Bann taten. Mit all dem bringt V. 9 einen Erzählzug in die Geschichte ein, der in ihrem Fortgang recht bedeutsam wird; hier knüpfen die V. 14f.19b.21f.24 an. 15,9 selbst greift die Wurzel lmj aus V. 3ab auf und setzt V. 7a, die Erwähnung des Sieges Sauls über die Amalektier, voraus. Eine leichte Spannung besteht zu V. 8a, weil dort bereits erwähnt wird, daß Saul den Amalekiterkönig nicht umbringen läßt, und somit die in V. 9a genannte Verschonung keine wirklich neue Information darstellt. Die V. 10–13 treiben die Handlung ziemlich gleichmäßig voran: Jhwh teilt Samuel zunächst mit, er bedauere es, Saul zum König gemacht zu haben, weil dieser nicht seinem Befehl nachgekommen sei; Samuel wird daraufhin zornig und hadert die ganze Nacht lang mit Jhwh (V. 10f.). Am nächsten Morgen geht Samuel dem König entgegen, man teilt ihm unterwegs mit, Saul habe sich nach Gilgal begeben, dort begegnen sich die beiden dann auch tatsächlich, und Saul begrüßt den Propheten, indem er von sich aus behauptet, Jhwhs Befehl ausgeführt zu haben (V. 12f.).43 – Die kurze Nacherzählung macht bereits klar, daß nichts aus diesem Abschnitt redundant ist. Selbst die Meldung, die dem Samuel über Sauls Aufenthaltsort gemacht wird (V. 12b), mag man nicht missen, da andernfalls unklar bliebe, wo die ganze ab V. 13 folgende Szene spielt.44 Daß Saul in V. 13 fast exakt dieselbe Formulierung benutzt wie Jhwh in V. 11a,45 nur dabei das genaue Gegenteil behauptet, läßt das Grundproblem der Erzählung markant hervortreten und zeigt an, daß nach der recht langen Exposition nun der eigentli–––––––––––––– 41 42

43 44 45

Es dürfte wohl kaum gemeint sein, daß das Beste des jeweils zweiten Wurfes geschont wurde. Vgl. zu mit w angefügten Appositionen GK § 154a, Anm. 1b). – Als Apposition wertet schon W E L L H A U S E N das Wort – allerdings erst, nachdem er es zu Myˆ … n A m V v A h konjiziert hat; vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 98. So nach dem MT, die Lesart der LXX dürfte sich sekundär und mit Blick auf 13,7b–15a entwickelt haben; vgl. dazu etwa WELLHAUSEN: Text. S. 99; STOEBE: a. a. O. S. 290, Anm. 12 b). In V. 21 und 33 wird dieser Ort dann bereits vorausgesetzt. Den Unterschied macht allerdings allein die Vokalisierung von ywbd als Pl. + Suffix der 1. Sg. aus. Man könnte den Konsonantenbestand genauso gut auch singularisch deuten. Angesichts von 15,13 halte ich dies sogar für die Intention des Verfassers.

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che Konflikt beginnt. Tatsächlich ist nach den V. 1–9 und 10f. nun das erzählerische Grundproblem hinreichend dargestellt und damit der Weg für das lange Streitgespräch zwischen Samuel und Saul geebnet (V. 12–31). In diesem Dialog bilden die V. 12–15 die erste Szene, wobei den V. 12–13a eine einleitende Funktion zukommt und Sauls Aussage aus V. 13b den ersten Redegang des Zwiegesprächs (V. 13b–15) eröffnet. In 15,14f. hinterfragt dann der Prophet die vom König geäußerte These (V. 13b) auf indirekte Weise, indem er nach der Herkunft des Viehgebrülls fragt – amalekitisches Vieh darf es ja gemäß der Anordnung aus V. 3a (implizit formuliert) und 3b (explizit formuliert) nach dem Feldzug nicht mehr geben. Der König kann die Existenz des Viehs nicht leugnen, versucht aber augenscheinlich seine These aufrechtzuerhalten, indem er klarstellt, nicht er, sondern das Volk habe die Tiere verschont. Gleichzeitig rechtfertigt er diese Praxis erstens mit dem Hinweis auf die hinter ihr stehende Absicht, die Tiere Jhwh darzubringen (V. 15a), und zweitens mit der Versicherung, alles übrige sei anordnungsgemäß vernichtet worden (V. 15b). Die beiden Verse führen also, wie oben auch bereits erwähnt, den Inhalt von V. 9 weiter. Darüber hinaus fällt noch viererlei an 15,15 auf: Erstens wird hier (wie in V. 6) Israels Feind mit Hilfe des Gentiliziums yIqElDmSo bezeichnet, während das übrige Kapitel den Eigennamen qElDmSo gebraucht. Die LXX bezeugt hier zwar den Eigennamen, doch bietet sie damit nur die lectio facilior. Überdies lassen sich m. E. keine triftigen Gründe ausmachen, warum im MT der Name zum Gentilizium abgeändert worden sein sollte. yIqElDmSoEm muß also als ursprüngliche Lesart gelten. Zweitens begegnet an dieser Stelle erstmalig in Sauls Munde die Apposition KÔ yRhølTa, die er noch zwei weitere Male im Gespräch mit Samuel dem Gottesnamen anfügt (V. 21.30). Diese Formulierung, die so auch noch in 1 Sam 7,8 (LXX) und 12,19 auftritt, darf man sicherlich nicht so verstehen, als wolle sie Sauls Unglauben zum Ausdruck bringen.46 Gleichwohl tritt hier eine Auffassung zutage, derzufolge Saul in einer deutlichen Distanz zu Jhwh steht, die offensichtlich eines Mittlers bedarf, um überwunden zu werden. Daran anknüpfend fällt drittens auf, daß V. 15ab (ÔKyRhølTa hÎwhyAl AjOb◊z NAoAmVl) ein verblüffend ähnlich klingendes Gegenstück in V. 21b (lÎ…gVlˆ…gA;b ÔKyRhølTa hÎwhyAl AjO;b◊zIl) hat. Möglicherweise hat man es hier mit einer etwas freier als üblich formulierten Wiederaufnahme zu tun. Dazu könnte zumindest auch die vierte Beobachtung passen: Innerhalb von V. 15 wechselt auffälligerweise dreimal das grammatikalische Subjekt; in V. 15aa1 handelt eine nicht näher bezeichnete Mehrzahl, in V. 15aa2b dagegen MDoDh, und in V. 15b schließlich spricht Saul in der 1. Pl. von sich und dem Volk.

–––––––––––––– 46

Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 290, Anm. 15 c) sowie CASPARI: KAT VII, S. 183. Letzterer deutet m. E. zu recht an, daß Samuel inzwischen die Funktion gegenüber Gott einnimmt, die vormals noch dem König zukam.

Untersuchung

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V. 16 bildet ein kleines Zwischenstück vor dem zweiten Redegang (V. 17–23), das für sich genommen wenig Auffälliges enthält.47 Der Vers knüpft in 15,16abg nur locker an das im Vorvers Gesagte an. Vorausgesetzt ist auf jeden Fall Samuels nächtliches Zwiegespräch mit Jhwh (V. 10–12). In V. 17 beginnt dann der zweite Redegang, der mit einer langen Anklage Samuels beginnt (V. 17–19) und einer etwas kürzeren Gegenrede Sauls endet (V. 20f.). An sie schließt sich der eigentliche Schuldspruch, die V. 22f., an, so daß insgesamt der ganze Abschnitt 15,18–23 von V. 17 abhängt. 15,17b differiert, wie schon erwähnt, von 15,1 darin, wie er von der Salbung Sauls spricht. Wiederum ein wenig anders kleidet V. 11aa denselben Sachverhalt in Worte; Jhwh sagt dort, es reue ihn, Saul zum König gemacht zu haben (JKRlRmVl l…waDv_tRa yI;tVkAlVmIh_yI;k yI;tVmAjˆn). Auch V. 17a hält eine terminologische Besonderheit bereit: Saul wird hier der Titel lEa∂rVcˆy yEfVbIv vaør beigelegt, der in 1 Sam 15 gar keine und im übrigen Alten Testament zumindest keine genaue Entsprechung kennt.48 Mit dem Gedanken, Saul halte sich selbst für gering (V. 17a: ÔKy‰nyEoV;b hD;tAa NOf∂q_MIa awølSh), zeigt sich darüber hinaus auch ein innerhalb des Kapitels singuläres erzählerisches Moment. Die syntaktische Struktur der ersten anderthalb Verse des Abschnitts ist unkompliziert: Nach der kurzen Sprechernotiz V. 17aa beginnt Samuel seine Worte mit einer rhetorischen Eingangsfrage, die als Nominalphrase gebildet ist (V. 17ab) und die durch zwei Aussagesätze im Narrativ fortgeführt wird (V. 17b.18a). Daran schließt sich die ebenfalls im Imperfectum consecutivum formulierte Einleitung des Gotteswortes, das V. 18b anführt, bündig an. Erst innerhalb des folgenden, von Samuel zitierten Jhwh-Befehls verwirrt sich die Syntax zusehends. Namentlich das Versende fügt sich schlecht zu dem Vorausgehenden, da V. 18bb mit Blick auf Amalek noch ein singularisches Pronominalsuffix gebraucht, während dann V. 18bg eine Nota accusativi mit Pluralsuffix verwendet, um auf Amalek zurückzuverweisen.49 Ferner kommt die Aufforderung wøb D;tVmAjVlˆn◊w nach V. 18ba, der Aufforderung zur Vernichtung Amaleks, ein wenig zu spät; man sollte hier eher die umgekehrte Reihenfolge erwarten.50 Ferner befremdet die Erwähnung –––––––––––––– 47

48

49

In V. 16b liest der MT: …wrVmaø¥yÅw. Mit dem Qere und allen mir bekannten Auslegungen wird man hier den Singular zu lesen und dementsprechend einen Schreibfehler zu vermuten haben. Vgl. etwa: BUDDE: a. a. O. S. 110. DRIVER: a. a. O. S. 126. STOEBE: a. a. O. S. 288 und S. 290, Anm. 16 a). Vgl. auch den umgekehrten Fall in 1 Sam 13,19 und in 16,4. Am engsten sind Dtn 1,15 und 5,23 hiermit verwandt, und auch Dtn 1,13; 29,9 und 33,5 gehören noch hierzu. Doch ist an diesen Stellen stets an eine Vielzahl von Oberhäuptern gedacht. Damit erstrecken sich die Parallelen durchweg auf solche Bereiche des Deuteronomiums, die spätere und späteste Textwachstumsstufen repräsentieren; vgl. KRATZ: Ort. 110ff.114ff. Vgl. FORESTI : a. a. O. S. 40. – Die Versionen bieten hier keine sehr vertrauenserweckenden Alternativen, da sie allesamt recht glatt durchlaufen. Die LXX liest z. B.: poreu/qhti kai« e˙xole÷qreuson tou\ß amarta¿nontaß ei˙ß e˙me÷ to\n Amalhk kai« polemh/seiß aujtou/ß eºwß suntele÷shØß aujtou/ß.

50

Vgl. FORESTI: a. a. O. S. 40–42.

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der MyIaDÚfAj in V. 18ba. Denn eigentlich geht es hier doch um eine Paraphrase dessen, was Jhwh in 15,3 durch Samuel dem König Saul aufgegeben hatte – von der Vernichtung der Sünder verlautet dort jedoch rein gar nichts. Ungewöhnlich ist dabei auch, daß MyIaDÚfAjAh_tRa und qElDmSo_tRa asyndetisch nebeneinander stehen.51 Schließlich fällt noch der kleine, aber feine Unterschied auf, daß Samuels Aufforderung aus V. 3a mit den Worten hDtyI;kIh◊w JKEl beginnt, jene in V. 18b hingegen mit den Worten hD;tVmårSjAh◊w JKEl einsetzt. V. 18a führt mit der Rede von dem ‚Weg‘ (JK®r®;d), auf den Jhwh den König gesandt habe (jlv im Qal, kombiniert mit b), eine Formulierung in das Kapitel ein, die nur einmal in V. 20a wiederaufgegriffen wird, sonst jedoch nirgends in 1 Sam 15 gebraucht wird. Im übrigen AT ist hiermit nur noch 1 Kön 8,44 (par. 1 Chr 6,34) vergleichbar – ein Vers, dessen Kontext wohl als spätdeuteronomistisch gelten kann.52 In V. 19 erreicht Samuels Anklagerede dann ein vorläufiges Ende. Sie gipfelt in der im Perfekt formulierten, allgemein gehaltenen Frage, warum Saul der ‚Stimme Jhwhs‘ nicht gehorcht habe (V. 19a), die durch die zwei von ihr abhängigen Frageelemente (jeweils im Imperfectum consecutivum) aus V. 19b näher erläutert wird. Sauls Vergehen besteht nach 15,19b darin, sich auf die Beute gestürzt und ‚das in den Augen Jhwhs Schlechte‘ getan zu haben. Damit ist ein Aspekt in die Geschichte eingebracht, der sich sonst allenfalls angedeutet findet: der Vorwurf, Saul habe sich aus Habgier an der Beute vergriffen.53 Er klingt vielleicht in V. 9b an,54 richtet sich dann aber anders als hier gegen das ganze israelitische Heer, nicht gegen den König allein. Auch hier ist wieder die Begriffswahl interessant. V. 19b benutzt das Nomen lDlDv, das noch einmal in V. 21a begegnet, im übrigen Kapitel 15 jedoch nicht mehr, wiewohl seine Verwendung mitunter durchaus möglich gewesen wäre, wenn nicht gar nahe gelegen hätte (etwa in 15,9 oder 15). Dagegen tritt es zweimal in Kapitel 14 auf (14,30.32), einmal sogar in der Wendung lDlDÚv(Ah)_lRa fyo (14,3255), was bereits WELLHAUSEN zu der Vermutung veranlaßte, 15,19 könnte von 14,32 inspiriert sein.56 Auch die Erzählung von Davids Amalekiterfeldzug bedient sich viermal der Vokabel (1 Sam 30,16.19f.22). Die erwähnte Wendung hÎwh◊y y´nyEoV;b oårDh hco schließlich ist zwar eine geläufige deute–––––––––––––– 51 52 53 54 55

56

Vgl. BROCKELMANN: Syntax. § 128. Vgl. WÜRTHWEIN: ATD 11,1. S. 96; KRATZ: Komposition. S. 197. – Zum Begriff ‚deuteronomistisch‘ und den mit ihm verbundenen Problemen s. GERTZ: Tora. S. 244f. Ähnlich STOEBE: a. a. O. S. 294 sowie 290, Anm. 19 a); vgl. auch ALTER: David Story. S. 90. Vgl. Klein: WBC 10. S. 150f. Anders STOEBE: a. a. O. S. 287. Dabei ist der MT von 14,32 (cAoÅ¥yÅw) zu verbessern in fAoÅ¥yÅw oder fAoÎ¥yÅw. Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 93; DRIVER: a. a. O. S. 115; BUDDE: a. a. O. S. 99; STOEBE: a. a. O. S. 268, Anm. 32 a), sowie die überwiegende Mehrzahl. Vgl. WELLHAUSEN: Composition. S. 246.

Untersuchung

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ronomistische Ausdrucksweise,57 wird indes innerhalb von 1 Sam 15 nicht noch einmal aufgegriffen. Zu V. 19a ist zu bemerken, daß hier zum ersten Male in 1 Sam 15 (von insgesamt vier Belegen innerhalb dieses Kapitels) die Formulierung ‚hören auf (b) NNs Stimme‘ begegnet.58 Dies ist insofern auffällig, als zuvor Sauls Verfehlung mit den Worten MyIqEh aøl yårDb√;d_tRa◊w ... yI;k thematisiert wurde (vgl. auch 15,13), wozu schließlich die Verwerfungsbegründung in V. 23b (hÎwh◊y rAb√;d_tRa D;tVsAaDm NAoÅy; ähnlich V. 26b) ein ansprechendes Gegenüber bildet. In V. 20f. rechtfertigt sich Saul gegenüber dieser Anklage. Der König greift zunächst Samuels Worte aus V. 19a auf und behauptet das genaue Gegenteil. Interessant an dieser Entgegnung ist zunächst ihr Beginn mit der Partikel rRvSa, die für gewöhnlich nur Objektsätze in indirekter Rede einleitet.59 Die einzige alttestamentliche Parallele für dieses Phänomen bietet die in ihrem Alter schwer einzuschätzende Textstelle 2 Sam 1,4.60 Mit V. 20ab nimmt Saul sodann das in V. 18a Gesagte auf und gibt an, entsprechend gehandelt zu haben. Dasselbe geschieht cum grano salis in V. 20bb, wo er mit der Behauptung, Amalek vernichtet zu haben, auf V. 18b rekurriert. In 15,20ba dagegen trifft Saul eine Aussage, die eines Gegenstücks in V. 17f. sowie V. 3 gänzlich entbehrt: Er erwähnt, Agag hergebracht zu haben. Doch jener Viertelvers ist fest in das syntaktische Gefüge integriert, da er wie V. 20ab und völlig regelkonform mit einem Imperfectum consecutivum die im Perfekt gebildete Aussage aus V. 20aa fortsetzt.61 Für die Erzählung hat 15,20ba eine nicht unerhebliche Bedeutung, weil hier der König gewissermaßen gegen sich selbst Zeugnis ablegt, indem er beiläufig eine seiner Verfehlungen erwähnt – allerdings ohne sie auch als eine solche zu bewerten. Von V. 20ba auf b b wechselt dann erneut das Tempus. V. 20bb will aber durch seine invertierte Satzstellung offenkundig das Objekt qElDmSo_tRa◊w betonen und mithin wohl einen Gegensatz zur Aussage aus V. 20ba ausdrücken.62 –––––––––––––– 57 58

59 60

61 62

Das ist seit langem erkannt, mit schöner Regelmäßigkeit kommt sie in dem sog. Königeschema vor. Vgl. etwa KRATZ: Komposition. S. 162ff.; s. auch WEINFELD: Deuteronomy. S. 339. Abzusetzen davon ist die Formulierung Vl omv (s. o.). Zu den Belegen von Vb omv in 1 Sam 15 s. o. in Kap. 2 Anm. 10. Das Verbum omv tritt daneben noch dreimal auf (15,4.14.22), also insgesamt nicht eben selten in Kapitel 15. Vgl. GK § 157c. FISCHER (Hebron. S. 18–23.40f.) betrachtet 2 Sam 1,4 als Bestandteil einer der Vorlagen, welche die von ihm angenommene David-Redaktion im ausgehenden 7. Jh. verarbeitete. KRATZ (Komposition. S. 186.192) hingegen hält 2 Sam 1–16 für eine sekundäre, im weiteren Sinne deuteronomistische Bildung (‚DtrS‘). Ich neige eher der zweiten Lösung zu, da FISCHER (a. a. O. S. 291ff. und passim) mit der Annahme mehrerer lediglich fragmentarisch erhaltener Erzählungen operieren muß, seine Theorie m. a. W. auf deutlich mehr Voraussetzungen beruht als der KRATZsche Ansatz. Vgl. GK § 49a. Die entsprechende Übertragung ins Deutsche müßte dann lauten: „...ich brachte Agag, den König von Amalek, her, Amalek (selbst) aber habe ich vernichtet!“

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Das Perfekt aus V. 20bb wird darüber hinaus gut durch den Narrativ aus V. 21 fortgesetzt. Saul vermeidet hier ein Geständnis und lastet die Verschonung der Kriegsbeute dem Volke an – wie schon in V. 15a.63 Dabei findet zwar die ebenfalls bereits aus 15,15a bekannte Apposition ÔKyRhølTa (vgl. auch V. 30) erneut Verwendung, nicht jedoch die (auch noch in V. 9a vorkommende) Formulierung r∂qD;bAh◊w Naø…xAh bAfyEm. An ihrer Statt erscheint M®rEjAh tyIvaér – ein Ausdruck, der in 1 Sam 15 wie im übrigen AT singulär ist. Ein Unterschied zu V. 15a besteht auch darin, daß dieser Vers das Gentilizium yIqElDmSo benutzt, während V. 20b, an den sich 15,21 ja perfekt anschließt, einfach den Eigennamen qElDmSo gebraucht. Zusammenfassend ist mit Blick auf die V. 17–21 (unter Absehung der Textirritationen in V. 18b) festzuhalten, daß dieser Abschnitt für sich genommen vergleichsweise konsistent wirkt, jedoch eine Reihe terminologischer Merkmale enthält, die ihn innerhalb des Kapitels (zumindest in sprachlicher Hinsicht) ein wenig isolieren, während nur zwei deutliche Überschneidungen mit dem im übrigen Text gepflegten Sprachgebrauch erkennbar sind (in V. 19a.20a und V. 21b). Zwei Halbverse (17a und 19b) heben sich darüber hinaus auch dem Inhalte nach etwas ab. Zu all dem tritt zuletzt die Beobachtung hinzu, daß die V. 17–21 den Fortgang der Erzählung nicht wesentlich vorantreiben, im folgenden auch nirgends vorausgesetzt sind und daher V. 22 problemlos an V. 16 anschließen könnte. Schließlich fällt Samuel sein Urteil über das Fehlverhalten des Königs, wobei er sich zweier prägnanter theologischer Lehrsätze in Versform bedient (V. 22.23a), denen dann unmittelbar die eigentliche Verwerfungsaussage folgt (V. 23b). 15,22 und 23a sind durch ihre Gegenstände voneinander unterschieden, bilden indes zugleich von ihrem gedanklichen Gehalt zwei Seiten ein und derselben Medaille. Während V. 22 zwei Arten der Jhwh-Verehrung miteinander vergleicht und zueinander in Relation zu setzen sucht, beschäftigt sich V. 23a mit dem Verhältnis zwischen zwei Verhaltensweisen, die Jhwh mißfällig sind, nämlich zwischen Götzendienst und Ungehorsam. Beide Aussagen sind durch das yI;k in V. 23a miteinander verknüpft, so daß 15,23a als Begründung für das in V. 22 Gesagte aufgefaßt werden kann. Eine tiefere Verbindung besteht jedoch nicht, 15,22 bleibt auch ohne den sich anschließenden Halbvers verständlich. Diese Kluft wird noch tiefer, wenn man beachtet, daß V. 22 zwei Stichworte aus dem vorausgegangenen Teil der Erzählung wiederaufgreift: hÎwh◊y lwøqV;b omv aus V. 19a bzw. 20a sowie die Wurzel jbz aus V. 15a bzw. 21b.64 Etwas Vergleichbares ist in Hinblick –––––––––––––– 63

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Insofern besteht hier eine deutliche Doppelung, die indes kaum auf eine Wiederaufnahme zurückzuführen sein dürfte, da der Wortlaut von V. 15 und der von V. (20b) 21 zu verschieden sind. – Eine kleine Wiederaufnahme könnte dagegen V. 22aa1 (lEa…wmVv rRmaø¥yÅw) im Gegenüber zu V. 17aa darstellen, dazu s. u. unter 2.3. Vgl. auch FORESTI: a. a. O. S. 34f. FORESTI hat indes leider kein Auge für die Verschiedenheit von V. 22 und V. 23a.

Untersuchung

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auf V. 23a nicht festzustellen.65 Aus all dem geht das Abhängigkeitsverhältnis der Verse hervor: V. 23a schließt sich an V. 22 an, der seinerseits die V. 20f. voraussetzt. V. 23b hebt sich insofern sehr deutlich von 15,22.23a ab, als hier keine allgemeine theologische Regel formuliert, sondern ein konkretes Urteil verkündet wird.66 Mit leicht differentem Wortlaut begegnet dieselbe Aussage noch einmal in V. 26b, dort jedoch mit yI;k (anstatt mit NAoÅy) eingeleitet und im zweiten Satz etwas breiter formuliert.67 15,23b setzt außer dem Grundkonflikt (V. *1–13) allenfalls noch das Überleitungsstück V. 16 voraus, weitere Bezüge oder Voraussetzungen sind nicht zu erkennen. Die dritte Szene des Dialogs wird von den V. 24–26 gebildet. Saul gesteht seine Schuld ein und bittet Samuel um Vergebung sowie darum, mit ihm zusammen umzukehren und Jhwh anzubeten. Beides wird ihm vom Propheten verwehrt, der sein Verhalten mit dem erwähnten, 15,23b wiederholenden V. 26b. Bereits V. 24 ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst einmal bemüht Sauls Schuldbekenntnis nicht wieder die Formel hÎwh◊y lwøqV;b omv (vgl. 15,19f.) oder greift auf die Wendung hÎwh◊y rAb√;d_tRa MyIqEh (vgl. 15,11.13) zurück. Stattdessen gibt Saul zu, nicht allein den Befehl Jhwhs übertreten zu haben (hÎwh◊y_yIÚp_tRa yI;t√rAbDo), sondern auch die Worte Samuels (ÔKy®rDb√;d_tRa◊w). Diese Unterscheidung zwischen Jhwhs Gebot und Prophetenwort, die wohl als Versuch einer „Sicherung gegen anthropomorphes Mißverständnis“68 zu verstehen sein dürfte, ist bemerkenswert und sucht in 1 Sam 15 vergeblich ihresgleichen; dasselbe gilt auch für die Formulierung des Gedankens. V. 24b macht dann wieder Gebrauch von dem aus V. 19f.22 bekannten lwøqV;b omv, doch ist es nun die Stimme des Volkes, der Saul, wie er bekennt, verwerflicherweise gehorcht hat. Zusammen mit seinem Folgevers hat 15,24 ein deutlich erkennbares Gegenstück in 15,30. Die Ähnlichkeit beruht auf der Parallelität der folgenden zwei Elemente: a) Schuldeingeständnis (V. 24aa par. V. 30aa), b) Bitte darum, gemeinsam mit Saul kehrtzumachen, um Jhwh anzubeten (V. 25b par. V. 30b). Samuel kommt in V. 26 (anders als in V. 31) Sauls Bitte nicht nach und begründet dies mit der zu V. 23b analogen Verwerfungsaussage. Der Abschnitt 15,24–26 stellt mithin eine eigentümlich janushafte Erscheinung dar: Einerseits zeigt er sprachlich wie inhaltlich ein z. T. recht eigenes Gepräge, –––––––––––––– 65 66

67

68

Dem Inhalt nach liegt hier eher ein Anklang an 1 Sam 28,3ff. vor. Ob man dem Halbvers einen „prosaic tone“ (FORESTI: a. a. O. S. 34) attestieren sollte, oder ob doch vielleicht poetischer Stil vorliegt, wie das z. B. das Druckbild der Biblia Hebraica Stuttgartensia suggeriert, kann hier offenbleiben. 15,23b: JKRlR;mIm ÔKVsDaVmˆ¥yÅw hÎwh◊y rAb√;d_tRa D;tVsAaDm NAoÅy. 15,26b: lEa∂rVcˆy_lAo JKRlRm twøyVhIm hÎwh◊y ÔKVsDaVmˆ¥yÅw hÎwh◊y rAb√;d_tRa hD;tVsAaDm yI;k. In 15,23b ist statt des JKRlR;mIm mit einiger Wahrscheinlichkeit der Infinitiv constructus JKølV;mIm zu lesen. Vgl. etwa FORESTI: a. a. O. S. 26, Anm. 2; BUDDE: a. a. O. S. 112 und etliche andere. Vgl. ferner die grammatikalischen Parallelen im AT (1 Sam 8,7; 15,26; 16,1; Hos 4,6). STOEBE: a. a. O. S. 291, Anm. 24a).

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1 Samuel 15,1–35

andererseits weisen seine drei Verse Parallelen zu drei anderen Stellen des Kapitels auf. Der Erzähllogik nach ist er mit einiger Wahrscheinlichkeit von V. 22 abhängig, denn er kennt die Beuteproblematik (das Agagthema hingegen bleibt unberührt), das Eingreifen des Volks sowie wegen V. 24 wohl auch eine Aussage, die Saul in irgendeiner Form der Sünde überführt. Dagegen scheinen die drei Verse 24–26 ihrerseits im weiteren Verlauf der Geschichte nirgends vorausgesetzt zu sein. Mit V. 27 beginnt die vierte Szene, die bis V. 29 reicht und an die sich die fünfte (V. 30f.) unmittelbar anschließt. Samuel schickt sich in 15,27 an zu gehen, woraufhin Saul ihn festzuhalten versucht und dabei ein Stück von Samuels Mantel abreißt. Dies nimmt der Prophet zum Anlaß, das Geschehen zur Zeichenhandlung zu stilisieren und feierlich zu erklären, daß Jhwh nun endgültig die Königswürde von Saul gerissen und sie einem würdigeren Kandidaten übereignet habe (V. 28). In V. 29 fügt Samuel noch flugs, aber etwas unvermittelt hinzu, Jhwh lüge nicht und bereue auch niemals. Saul gesteht daraufhin in V. 30 seine Schuld, bittet aber zugleich auch darum, Samuel möge ihn vor den Würdenträgern des Landes ehren und mit ihm zusammen kehrtmachen und Jhwh anbeten – und Samuel gewährt beides (V. 31). – Die Zusammenfassung deutet bereits an, daß die beiden Szenen genaugenommen in drei Teile zerfallen, deren zweiter mit den anderen beiden kaum verbunden ist. Weder bedürfen die V. 27f. der Fortsetzung durch V. 29 noch setzen die V. 30f. jenen Vers voraus. Umgekehrt knüpft auch V. 29 seinerseits nur sehr oberflächlich an 15,27f. an. Er steht außerdem in krassem Widerspruch zu V. 11 und 35, da er Jhwh die Möglichkeit zur Reue abspricht. All dies deutet darauf hin, daß es sich bei 15,29 um einen sekundären Nachtrag zu 15,27f. handelt.69 Die V. 30f. hingegen sind nur auf den ersten Blick unabhängig von V. 27f. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß schon das erste Wort von 15,30 (rRmaø¥yÅw) durch sein impliziertes Subjekt auf den Anfang von V. 28 (lEa…wmVv wyDlEa rRmaø¥yÅw) angewiesen ist, da nur im Zusammenspiel mit dieser Redeeinleitung auf Anhieb deutlich wird, wer in V. 30 das Wort ergreift. Des weiteren setzen auch V. 30b und 31a die Mantelszene voraus, denn Saul bittet hier Samuel darum, mit ihm zusammen umzukehren, was dieser dann auch tut. Das Verbum bwv kann dabei nur im eigentlichen Sinne gebraucht sein und soviel wie ‚sich wenden‘ oder ‚zurückkehren‘ meinen. Eine übertragene, theologische Bedeutung ist hier zumindest unwahrscheinlich, da Samuel in V. 31a dem Saul ganz offensichtlich einfach hinterdreingeht. Der einzige Vers aber, der ein solches Umwenden bzw. eine Rückkehr Samuels nötig macht, ist V. 27a: tRkRlDl lEa…wmVv bO;sˆ¥yÅw. –––––––––––––– 69

Vgl. FORESTI: a. a. O. S. 28f., Anm. 8; dort auch noch einige andere erwägenswerte Gründe, die eventuell dafür sprechen, daß V. 29 eingeschoben wurde. Anders JEREMIAS (Reue. S. 33–36), der sich allerdings ausschließlich auf rein theologische Überlegungen stützt und die auf diese Weise offenbleibenden Fragen selbst bemerkt (vgl. a. a. O. S. 35, Anm. 33).

Untersuchung

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Doch auch die V. 27f. kommen nicht gut ohne 15,30f. aus. Die ausdrucksstarke Szene, in der dem König seine herrscherliche Würde geradezu entrissen werden muß, verlangt nach einer Erklärung dafür, wie sich Saul unter diesen Umständen über längere Zeit hinweg noch an der Macht halten konnte. Eine klare, wenn auch einfache, Antwort ergibt sich aus V. 30f.: Dem König wird eine partielle (vermutlich interimistisch gedachte) Restitution zuteil, insofern der Prophet ihm zugesteht, sich wieder (und wohl vor den Augen des Volkes) Jhwh im Kultus zu nähern. Aufgrund dieses Verhältnisses von 15,27f. und 30f. zueinander ist es relativ wahrscheinlich, daß die vier Verse genuin zusammengehören. Die V. 30f. könnten weiterhin vielleicht mit V. 15 und 21 in Beziehung stehen, da der König in 15,30 den Gottesnamen wieder einmal um die Apposition ÔKyRhølTa ergänzt. Dies unterscheidet sie wiederum von den (oben bereits erwähnten) teilweise recht ähnlich anmutenden V. 24f. Anders als V. 21 jedoch weist V. 30 nicht noch einmal auf den Ort des Geschehens, Gilgal, hin und gleicht darin V. 15. Darüber hinaus ist an 15,30 noch die Formulierung d‰g‰n◊w yI;mAo_y´nVqˆz d‰g‰n aÎn yˆnédV;bA;k lEa∂rVcˆy interessant. Sie zeugt natürlich einerseits von der Vorstellung, daß dem König das Volk als mehr oder minder eigenständiger Akteur gegenübersteht. Wichtiger ist indes zu bemerken, daß dieses Gegenüber in anderen Termini ausgedrückt wird als in V. 17a, wo auch schon das politische Verhältnis zwischen König und Volk anklingt. Während Saul dort den lEa∂rVcˆy yEfVbIv vorsteht, werden in V. 30 stattdessen die Ältesten des Volks sowie Israel als solches genannt, von den Stämmen verlautet hingegen nichts. Der Unterschied erscheint der Sache nach gering, ist in sprachlicher Hinsicht jedoch kaum von der Hand zu weisen. Hinzu kommt eine grundlegende Differenz zwischen dem Saulbild der V. 17–19 und demjenigen, das die V. 30f. zeichnen. In 15,17 befürchtet der Prophet offenbar, Saul könne seine geringe Meinung über die eigene Person anführen, um sich seiner Verantwortung zu entziehen. Der Saul aus V. 30f. hingegen bekennt sich zu seiner Verfehlung und steht anscheinend kaum in der Gefahr, zu gering von sich zu denken, denn er bittet im gleichen Atemzug darum, der Gottesmann möge ihn vor dem Volke ehren. Es sieht demnach so aus, als könnten die V. 17 und 30f. kaum auf ein und derselben Linie liegen. Die Mantelszene (V. 27f.) besitzt unverkennbar in 1 Kön 11,29–39 ein Pendant, wo der Prophet Ahija ebenfalls eine Zeichenhandlung mit Hilfe eines zerrissenen Mantels vollzieht und dem Jerobeam die Herrschaft über das Nordreich verheißt. Innerhalb des Kapitels 15 sind die Bezüge der V. 27f. weniger deutlich: Sie bilden zwar eine passende Fortsetzung zu V. 26, weil sie eine Verwerfungsaussage voraussetzen, könnten aber ebensogut an V. 23b, 23a oder 22 anknüpfen; grundsätzlich wäre sogar ein Anschluß an V. 21, V. 20, V. 19 oder gar V. 15 möglich, doch ist an diesen Stellen die Mißbilligung Samuels, die Sauls Reue bewirkt, noch nicht so deutlich ausgesagt wie in V. 22f. Im gesamten Kapitel ohne Parallele ist der in 15,27f. ausgesprochene Gedanke, Jhwh habe die Königsherrschaft über Israel an einen anderen, besseren Kandidaten weitergereicht. Damit wird

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1 Samuel 15,1–35

schon recht unverblümt auf David vorverwiesen, der im Folgekapitel auftritt.70 Im übrigen jedoch bringt die kleine Szene „nichts Neues, sondern unterstreicht nur das bereits Verkündete.“71 V. 29 enthält mit lEa∂rVcˆy jAx´n einen Begriff, der im gesamten AT singulär ist. Als nächste Parallele kann 1 Chr 29,11 gelten.72 Dies könnte auf eine Entstehung in spätpersischer, wenn nicht gar hellenistischer Zeit hindeuten, da 1 Chr 29,11 Teil eines Textbereiches ist, der wahrscheinlich nicht zur Grundschicht der Chronik zählt.73 Vom theologischen Aussagegehalt her berührt sich 1 Sam 15,29 hingegen deutlich mit Num 23,19, was vielleicht auf eine etwas frühere Genese führt.74 Mit den V. 32f. schließt sich nun nach dem langen Redeteil ein völlig anders gearteter Abschnitt an, in der nach einem kurzen Zwiegespräch Samuel den Amalekiterkönig hinrichtet. Das größte Problem in diesen zwei Versen stellt der Ausspruch Agags in V. 32b dar. Nach dem MT lautet er t‰wD;mAh_rAm rDs NEkDa, was man gern mit „Fürwahr, gewichen ist des Todes Bitterkeit!“75 übersetzt. Der Rede Sinn bleibt hierbei indes recht dunkel. In der LXX fallen die letzten Worte Agags etwas deutlicher aus: ei˙ ou¢twß pikro\ß oJ qa¿natoß. Weil der MT die schwierigere, die LXX aber die kürzere Lesart bietet, ist mit dem bloßen Hinweis auf textkritische Faustregeln nichts auszurichten. Beide Lesungen könnten überdies durch einen Lese- bzw. Schreibfehler aus der jeweils anderen entstanden sein.76 Mit Blick auf die LXX könnte man auch an eine beabsichtigte Veränderung des Textes denken, deren Ziel es war, den Inhalt des Textes zu glätten. So ergäbe sich evtl. ein leichtes Übergewicht für die masoretische Fassung. Allerdings ist auch zu bedenken, ob wirklich beide Möglichkeiten in ihrem Kontext einen hinreichenden Sinn ergeben. Daß die LXX-Fassung diese Bedingung erfüllt, liegt auf der Hand. Dies gilt umso mehr, wenn man sich die Handlungsanweisung aus V. 3a, insbesondere die Aufforderung, kein Mitleid mit Amalek zu haben, noch einmal vor Augen führt. Denn vor diesem Hintergrund liest sich der Dialog zwischen Agag und Samuel wie eine Illustration und eine Rechtfertigung dieses Gebots in einem.77 –––––––––––––– 70 71 72 73 74 75 76 77

Hinsichtlich dieses überleitenden Charakters der zwei Verse besteht eine gewisse Affinität zu 15,35, wo ebenfalls für die folgende Erzählung vorgebaut wird. Vgl. dazu unten Kapitel 3. STOEBE: ebd. 1 Chr 29,11aa: dwøhAh◊w jAx´…nAh◊w t®rRaVpI;tAh◊w h∂r…wb◊…gAh◊w hD;lüd◊…gAh hÎwh◊y ÔKVl. Vgl. FORESTI: a. a. O. S. 28f., Anm. 8. Vgl. KRATZ: Komposition. S. 49f.52. LEVIN (Jahwist. S. 388) denkt augenscheinlich an eine nachendredaktionelle Abfassung. Etwas früher (erste Hälfte des 5. Jh.) hat jüngst ACHENBACH (Vollendung. S. 424) datiert. HERTZBERG: a. a. O. S. 97; ähnlich u. a. ALTER: a. a. O. S. 93; NOWACK: Richter. S. 78. Denkbar sind Dittographie mit anschließender Änderung des m zu einem s (MT) sowie Haplographie bzw. Homoioteleuton (LXX). Daß WELLHAUSEN (Text. S. 101) die Fassung der LXX für „etwas ganz Triviales“ hält, hat zwar einen gewissen Unterhaltungswert, trägt indessen für die Diskussion überhaupt nichts aus. Dasselbe gilt für STOEBE: a. a. O. S. 292, Anm. 32b; DRIVER: a. a. O. S. 130. – Vgl. dagegen SMITH: ICC 8–9. S. 141f.; KLEIN: WBC 10. S. 145f.; GREßMANN: SAT II/1. S. 59.

Untersuchung

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Dagegen wirken die Erklärungen des Wortlauts des MT allesamt recht bemüht und operieren mit Vorstellungen bzw. Erzählzügen, die nicht der Geschichte selbst entnommen, sondern an sie herangetragen sind.78 Die LXX hat somit m. E. in diesem Falle die ursprüngliche Lesart bewahrt. Ein weiteres Problem stellt das Wort tO…nådSoAm dar (V. 32a), dessen Bedeutung unsicher ist. Die LXX übersetzt es als tre÷mwn, weswegen man vorgeschlagen hat, im Hebräischen besser tyˆ…nådOoVm (Wurzel: dom) zu lesen.79 Dem Inhalt nach fügt sich diese Lösung zwanglos in den Gesamtzusammenhang ein. Ihre Nachteile bestehen darin, daß sie in dieser Form nirgends sonst bezeugt ist und außerdem in der letzten Silbe eine (absichtliche oder unabsichtliche) Defektivschreibung voraussetzt.80 Daneben erscheint es ebenso denkbar, tO…nådSoAm in Anlehnung an twø…nådSoAm aus Ijob 38,31 zu interpretieren (Wurzel: II Ndo).81 Hierbei müßte man wiederum eine Defektivschreibung annehmen und zugleich den Ausdruck als adverbialen Akkusativ (‚in Fesseln‘) deuten. Dieser Vorschlag fügt sich in den Kontext nicht minder gut ein als der erste und bedarf ebenfalls wie jener zweier zusätzlicher Annahmen, was eine Entscheidung nicht eben erleichtert. Da aber bei der Lesung tO…nådSoAm zumindest eine Parallelstelle mit derselben Form benannt werden kann, ist sie m. E. ein wenig gegenüber der ersten im Vorteil.82 Die dritte in der Forschungsgeschichte vorgeschlagene Erklärung (Ableitung von der Wurzel I Ndo, dementsprechend zu übersetzen als ‚frohen Mutes‘ o. dgl.)83 findet schon STOEBE aufgrund ihrer Ableitung „sehr bedenklich“84. Darüber hinaus geht diese Variante wiederum von dem Erzählzug der Todesbereitschaft Agags aus, der nirgends sonst in der Geschichte angelegt ist. Sie kann daher mit einiger Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Daß mit Blick auf die anderen beiden Möglichkeiten kein ähnlich sicheres Urteil gefällt werden kann, ist insofern zu verschmerzen, als –––––––––––––– 78

79 80 81

82

83 84

An Erklärungsmodellen seien genannt: H ERTZBERG : a. a. O. S. 103. S. E. ist entweder „die befreiende Gewißheit des sicheren Todes [...] oder die Hoffnung, daß mit dem Auftreten des alten Mannes die Gnade in Aktion treten werde“, der Hintergrund der Worte Agags. – KEIL: BC 2. S. 127. Ihm zufolge erwartet Agag, nunmehr am Leben zu bleiben. – STOLZ: a. a. O. S. 105. Er nimmt Todesverachtung als Ursache an, denn „dem stolzen Nomaden ist der Tod lieber als die Knechtschaft.“ Vgl. LAGARDE: Prophetae. S. LI; DRIVER: a. a. O. S. 129f. Zur Formbildung vgl. GK § 100g. Analoge Bildungen gibt es allerdings, vgl. oben Anm. 79 (Kap. 2). Vgl. KLOSTERMANN : a. a. O. S. 60, Anm. 32r. KLOSTERMANN ersetzt allerdings in diesem Zusammenhang auch in V. 32ag den Namen gÅgSa durch das Partizip zUjDa. – Zum Beleg bei Hiob vgl. STRAUß: BK XVI/2, S. 332, 338f. – Vgl. ferner zum Wort tO…nådSoAm Ges.18, Bd. 3, S. 707. – Zur Wurzel II Ndo vgl. KBL3, Art. II Ndo, S. 748. Die Sache würde wieder etwas anders liegen, wenn in Ijob 38,31 doch, wie z. B. STOEBE (a. a. O. S. 292, Anm. 32 a)) annimmt, das twø…nådSoAm auf einer versehentlichen Metathesis von n und d beruhte und dann von der Wurzel dno abzuleiten wäre. Vgl. BUDDE: a. a. O. S. 112f. Weitere Belege bei STOEBE: ebd. Ebd.

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1 Samuel 15,1–35

es für die Analyse der Erzählung nur von geringer Bedeutung ist, ob der Amalekiterkönig nun ‚bebend‘ auftritt oder eben ‚in Fesseln‘. V. 33 schließt sich nahtlos an 15,32 an und birgt keinerlei Schwierigkeiten. In V. 34 liegt ein Doppelschluß vor, der berichtet, daß die beiden Hauptakteure Samuel und Saul voneinander scheiden, und damit das Ende der Geschichte anzeigt. Dementsprechend wirkt 15,35 ein wenig nachgeschoben. Der Vers berichtet, Samuel habe um Saul getrauert und ihn daher bis zu seinem Lebensende nicht wiedergesehen, und erinnert außerdem noch einmal an Jhwhs Reue in bezug auf Saul. Damit leitet V. 35 über zur folgenden Episode, Davids Salbung durch Samuel (16,1–13). Diese Scharnierfunktion zeigt sich v. a. daran, daß in 16,1 Samuels Trauer über Sauls Verwerfung erneut angesprochen wird. Und Jhwhs Reue erscheint nachgerade als der Auslöser seines in 16,1 an Samuel ergehenden Auftrags und damit als ‚Aufhänger‘ der ganzen Salbungserzählung.85

2.3 2.3.1

Auswertung Die Bearbeitungen86

Da sich V. 29 erstens, wie oben gezeigt, zwar an die V. 27f. anlehnt, jedoch von seinem Inhalt her in 1 Sam 15 relativ isoliert dasteht und zweitens deutliche Berührungen mit chronistischen und nachpriesterschriftlichen Stücken erkennen läßt, wird er als recht junger, vermutlich in spätpersischer Zeit entstandener Zusatz zu werten sein. Seinen Verfasser dürfte die Bileamerzählung (insbesondere Num 23,19) inspiriert haben und, damit einhergehend, die Sorge um ein von Anthropomorphismen möglichst freigehaltenes Gottesbild. Gott und Mensch erscheinen daher in 15,29 als völlig inkommensurable Größen. Dieselbe Tendenz, wiewohl weit schwächer ausgeprägt, zeigt sich auch in den V. 24–26 (die sich durch die Wiederaufnahme von V. 23b in V. 26b deutlich als Einschub zu erkennen geben) sowie in dem offensichtlich ebenfalls sekundären Eintrag yérVbî;d in V. 1bb. Mithin liegt es nahe, hier die nächstältere Entwicklungsstu-

–––––––––––––– 85 86

„Der Verfasser von 16,1 hat 15,35 bloss als Haken benutzt [...].“ WELLHAUSEN: Composition. S. 248. Vgl. hierzu auch unten 4.1. BLUM (Notwendigkeit. S. 24f.) hat mit einem gewissen Recht auf die Probleme des hier und im folgenden zur textgenetischen Rekonstruktion verwandten Subtraktionsverfahrens und der mit ihm verbundenen Terminologie (‚Bearbeitung‘ bzw. ‚Ergänzung‘, ‚Grundschicht‘ usw.) hingewiesen. Das spricht jedoch keineswegs gegen die Methode selbst, sondern lediglich dagegen, sie unreflektiert und infolgedessen schematisch anzuwenden.

Auswertung

71

fe zu vermuten.87 Das ist mit Blick auf 15,24–26 auch deshalb wahrscheinlich, weil dieses Stück nirgends in der Erzählung vorausgesetzt wird. Und auch die Vielzahl der literarischen Querbeziehungen (zu 15,19f.22.23b.30f.) deutet in diese Richtung. Die Unterscheidung zwischen Jhwhs Ausspruch und den Worten Samuels ist zwar ein markantes Element in der Theologie desjenigen Bearbeiters, der sich im Abschnitt V. 24–26 zu Wort meldet, spiegelt indes kaum sein Hauptanliegen wider, da er es nur ganz beiläufig einfließen läßt. Wichtiger dürfte ihm das Schuldeingeständnis Sauls sein, aus Angst dem Willen des Volkes stattgegeben zu haben.88 Denn auf diese Weise übernimmt der König selbst die Verantwortung für sein Handeln und damit auch für sein weiteres Geschick. Und dies bedeutet, daß Jhwh gegenüber Saul deutlicher noch als zuvor entlastet ist. Vor allem aber die unnachgiebige Haltung Jhwhs, die aus Samuels Antwort spricht (V. 26), scheint dem Ergänzer wichtig zu sein, weil die ganze interpolierte Gesprächssequenz auf sie hin zuläuft. 15,26 führt der Leserschaft unmißverständlich vor Augen, daß die Schuld des Königs nicht vergeben wird und ihm die Möglichkeit der Umkehr damit verwehrt bleibt. Dies zu betonen liegt dem Bearbeiter vielleicht deshalb derart am Herzen, weil nicht auszuschließen ist, daß V. 30f. von der Leserin resp. vom Leser in entgegengesetzter Richtung gedeutet wird. Anhaltspunkte für eine entstehungsgeschichtliche Verortung sind nicht auf Anhieb zu entdecken. Aufgrund der Datierung von 15,29 sowie der nächstälteren Bearbeitungsschicht empfiehlt es sich aber m. E., mit einer Abfassung in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts zu rechnen. Das nächstältere Textstratum dürfte in den V. 15b–18a.b*89.19–21 vorliegen. Grundlegend für diese Rekonstruktion sind drei Faktoren, die oben bereits herausgearbeitet wurden: a) der Sprachgebrauch der V. 15b–21, der sie in mehrfacher Hinsicht von ihrem literarischen Kontext unterscheidet, b) die Wiederaufnahme, die V. 21 gegenüber V. 15a zu bilden scheint, sowie c) der Umstand, daß die Erzählung auch nach Abzug dieses Versbestandes noch sinnvoll und gut verständlich bleibt. Schließlich deutet der oben rekonstruierte ursprüngliche Textbestand von V. 18b auf eine Nachzeitigkeit des Abschnitts im Vergleich zu V. 3a (und folglich auch im Verhältnis zu der mit 3aa2 verbundenen Bearbeitung)90 hin. –––––––––––––– 87

88

89 90

Dabei ist es denkbar, daß die Glosse und jene drei Verse von ein und derselben Hand eingefügt wurden, was zumindest aus methodischen Erwägungen heraus die einfachste und damit auch plausibelste Lösung darstellt. STOEBE (a. a. O. S. 295) bezeichnet die Erwähnung der Furcht Sauls vor dem Volk sogar als „die Quintessenz der ganzen Erzählung“, was mir allerdings etwas überspitzt erscheint, da 1 Sam 15 immerhin auch einige wichtige Aussagen über Jhwh trifft (V. 22–23a.29). Zu V. 18bbg s. u. Zu dieser Bearbeitung und ihrem Umfang s. u.

72

1 Samuel 15,1–35

Denn die konsequent singularisch formulierte Aufforderung hD;tVmårSjAh◊w JKEl klingt wie eine stilistisch glättende Mischung aus 15,3aa 1 (hDtyI;kIh◊w JKEl, Singular!) und 3aa 2 (MR;tVmårSjAh◊w, Plural!). Der redaktionelle Einschub beschränkt sich im wesentlichen darauf, Sauls Schuld weiter zu verdeutlichen. Dabei bereichert er aber die Erzählung um drei neue Aspekte. Zum einen wird Sauls Verantwortlichkeit für die geschehene Verfehlung herausgestrichen, indem Samuel nachdrücklich auf Sauls Amt hinweist, das ihn ungeachtet eventueller Selbstzweifel (V. 17a) zum Befehlshaber der Stämme bestellt. Zum anderen werden mit V. 19b dem König viel deutlicher, als das etwa noch in V. 9 anklingt, niedere Motive, namentlich Hab- oder Eigensucht, mit Blick auf sein Handeln unterstellt. Und zuletzt scheint sich Saul gleich zweimal selbst zu verraten: einmal indem er erwähnt, zusammen mit dem Volk den Rest der Beute gebannt zu haben (V. 15b) (was ja im Umkehrschluß nichts anderes bedeutet als, daß letztlich auch beide, Volk und König, den anderen Teil eben nicht vernichtet haben), und einmal indem er en passant davon spricht, Agag nach Gilgal gebracht, also verschont zu haben (V. 20ba ). Damit ist die Tendenz dieses Einschubs offenkundig: Sauls Schuld soll klarer als zuvor herausgearbeitet werden, indem gezeigt wird, daß er a) definitiv für alles Geschehene die Verantwortung trägt, b) willentlich und aus verwerflichen Motiven so gehandelt hat und c) sogar selbst (und wohl wider seine Absicht) gesteht, was ihm zur Last gelegt wird. All das aber läuft auf ein einziges theologisches Ziel hinaus: Jhwhs Verantwortung für Sauls Verwerfung zu minimieren. Der Versuch, die fragliche Ergänzung zu datieren, ist mit den üblichen Schwierigkeiten behaftet. Einen der wenigen Anhaltspunkte liefert die Formel omv hÎwh◊y lwøqV;b, die aus dem deuteronomistischen Sprachschatz und damit aus frühestens spätvorexilischer, wahrscheinlicher aber aus exilischer Zeit stammt.91 Für sich betrachtet, macht sie eher einen spät- oder nachexilischen Eindruck, weil sich in ihr eine deutliche Gehorsamsforderung ausspricht.92 Ein Blick auf ihre Belege im AT zeigt, daß sie in der Tat sehr häufig in Verbindung mit dem Motiv der Gesetzesobservanz auftritt.93 Die Einfügung könnte folglich dementsprechend zu datieren sein. Allerdings ist zusätzlich in Rechnung zu stellen, daß sowohl der Gebrauch jener Formel als auch die mit ihr ausgedrückte Forderung nach ihrem Aufkommen terminologisches bzw. theologisches Allgemeingut geworden sein dürften und deswegen nur bedingt aussagekräftig sind. Einen festeren Orientierungspunkt bietet der Titel lEa∂rVcˆy yEfVbIv vaør (V. 17a). Er stellt zwar in dieser Form ein Hapaxlegomenon dar, dürfte jedoch den Sprachgebrauch einiger Deuterono–––––––––––––– 91 92 93

Zur Formel vgl. THIEL: Redaktion. S. 86; VEIJOLA : Königtum. S. 88f. – Zur Datierung vgl. KRATZ: Komposition. S. 137f. 189f. 325f. Ähnlich VEIJOLA: a. a. O. S. 89. Vgl. auch MÜLLER: a. a. O. S. 190; ferner LEVIN: Verheißung. S. 108, Anm. 136. Belegstellen bei MÜLLER: a. a. O., Anm. 61.

Auswertung

73

miumspassagen voraussetzen, die allesamt auf sehr jungen Textwachstumsstufen liegen und großteils schon auf die Vereinigung der Priesterschrift mit dem übrigen Pentateuchstoff zurückblicken.94 Damit kommt als Entstehungszeit vielleicht am ehesten das ausgehende fünfte oder beginnende vierte Jahrhundert in Betracht.95 Die übrigen sprachlichen Merkmale des Einschubs (in V. 18.20 die Formulierung (q) jlv + Präposition b + JK®r®;d; in V. 20 die Partikel rRvSa zur Einleitung direkter Rede) weisen ungefähr in dieselbe Richtung. Mit den V. 3aa2.9.14.15a.22aa2–b.27f.30f. kann die früheste der Bearbeitungsschichten in 1 Sam 15 abgehoben werden. Ihre innere Einheit ist nicht gänzlich über alle Zweifel erhaben, bei ihrer zweiten Hälfte (V. 27f.30f.) könnte es sich eventuell auch um einen eigenständigen Zusatz handeln (dazu s. u.). Von der Grundschicht des Kapitels kann sie aber mit Hilfe zweier Kriterien relativ klar abgegrenzt werden. Im bis hierher verbliebenen Textbestand fallen nämlich zwei Bereiche auf, in denen die Erzählung nach wie vor inkonsistent wirkt: erstens in ihrem Schwanken zwischen der Verschonung Agags einerseits und der Verschonung des Beuteviehs andererseits als Grund für die Verwerfung des Königs96 und zweitens in dem wiederholten Wechsel zwischen Stücken, in denen Saul allein der Träger der Handlung ist, und solchen Passagen, in denen Saul im Zusammenspiel mit bzw. im Gegenüber zu dem Kriegsvolk agiert. Überblickt man den verbliebenen Text, so zeigt sich rasch, daß diejenigen Passagen, die allein Saul als Subjekt des Feldzugs verstehen (V. 3aa 1b.4a.5.7f.[10.]11–13. 23b), der Geschichte nicht ohne Schaden für den erzählerischen Zusammenhang entnommen werden könne – sie sind konstitutiv für den Erzählverlauf und mithin wahrscheinlich Teil des narrativen Grundstratums. Wie sich an V. 8 zeigt, in dem Saul sowohl allein handelt als auch den Amalekiterkönig am Leben läßt, gehören diese Verse mit dem Agag-Motiv zusammen (V. 8.32f.). Jene Stellen hingegen, die Saul und das Volk als einigermaßen gleichwertige Akteure betrachten (V. 3aa2.9.15, aber auch V. 30), und jene, an denen Sauls Fehlverhalten darin besteht, Teile der Beute nicht gebannt zu haben (ausgehend von V. 3aa2 die V. 9.14.15a.22aa2–b), sind weniger fest in den Kontext eingefügt. Dies geht daraus hervor, daß sie sich dem Ganzen entnehmen lassen, ohne daß hierdurch der –––––––––––––– 94 95 96

Vgl. oben Anm. 48 (Kap. 2) und zudem noch KRATZ: Komposition. S. 132–135. Nach KRATZ (a. a. O. S. 328) müßte man genauer von ‚Enneateuchstoff‘ sprechen. Vgl. KRATZ: a. a. O. S. 329. Zu diesem Problem bemerkt bereits HYLANDER (Samuel-Saul-Komplex. S. 189) sehr treffend: „Es ist [...] nicht nur allein mit dem Stücke 24–31 zu erklären, dass die Erzählung [...] zwei Höhepunkte erreicht. Mit in rhythmischer Form gegebener Begründung wird das Urteil über den Wert des geplanten Opfers gesprochen (V. 22), in rhythmisch bewegter Form wird auch das Todesurteil über den Gefangenen gefällt (33a). Die Motive kämpfen tatsächlich um die beherrschende Stellung in der Geschichte. Man muss darum die Frage erheben, ob sie nicht verschiedenartigen Ursprungs sind.“

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Fortlauf des Geschehens ernsthaft ins Stocken geriete. In Hinblick auf V. 22aa2–b könnte man noch (bei aller hierbei gebotenen Vorsicht) ins Feld führen, daß er die Verfehlung des Königs mit der Wendung hÎwh◊y lwøqV;b (q) omv (aøl) anspricht, während V. 11 und V. 13 hierzu NN rAb√;d_tRa (hi) Mwq (aøl) verwenden, was schön mit der Begründung der Verwerfungsaussage V. 23b (hÎwh◊y rAb√;d_tRa sam) korrespondiert. Damit können V. 3aa 2.9.14.15a.22aa2–b ohne weiteres bereits als Teil dieser frühesten Bearbeitung gelten. Etwas komplizierter liegen die Dinge bei den V. 27f. und 30f. Die V. 27f. bieten, wie oben bereits dargelegt, nur wenige Anhaltspunkte für eine Zuordnung zu einer der literarischen Schichten des Kapitels. Die verfügbaren Hinweise deuten jedoch, wenn ich recht sehe, darauf hin, daß die V. 27f. und 30f. auf ein und demselben Stratum liegen. Des weiteren besteht Grund zu der Annahme, die vier Verse könnten zusammen mit den V. 3aa 2.9.14.15a. 22aa2–b der Erzählung eingefügt worden sein. Die charakteristische Formulierung ÔKyRhølTa hÎwhyAl, von der Saul im Zwiegespräch mit dem Propheten Gebrauch macht, findet sich nämlich sowohl in V. 30 als auch in V. 15. Sie begegnet zwar ebenso in V. 21, dort jedoch augenscheinlich im Zusammenhang mit einer Wiederaufnahme. Ferner legen Beobachtungen zur Terminologie sowie zum jeweiligen Saulbild den Schluß nahe, daß V. 30 nicht zeitgleich mit jenem Textblock (V. *15b–21) entstanden sein dürfte, dem V. 21 allem Anschein nach zugehört.97 Die herausgearbeitete Ergänzung hat die ihr vorliegende Fassung um einige markante Aspekte bereichert. So stellt sie dem König das Volk als weiteren Akteur an die Seite (V. 9) und dehnt das Banngebot auf den gesamten Besitz der Amalekiter aus (V. 3a). Insbesondere dieser zweite Punkt ist interessant, weil er nur wenige Parallelen im AT hat. In den Kriegsgesetzen des Deuteronomiums wird der Umgang mit eroberten Städten geregelt, wobei zwei Fälle unterschieden werden: einerseits Städte außerhalb und andererseits Städte innerhalb des verheißenen Landes. Für erstere gilt, daß nach dem Sieg lediglich der männliche Bevölkerungsteil umgebracht werden soll (Dtn 20,12–15). Im zweiten Fall hingegen ist hDmDv◊n_lD;k zu töten (20,16f.).98 Dieser zweite Fall dürfte aber gegenüber dem ersten auch ein literarisch sekundäres Stadium widerspiegeln.99 Es läßt sich also allein schon in Dtn 20 eine Tendenz zur Radikalisierung des Banngebotes feststellen. –––––––––––––– 97

98

99

a) In 15,17 wird Saul lEa∂rVcˆy yEfVbIv vaør genannt, in 15,30 hingegen steht der König ‚den Ältesten seines Volkes‘ bzw. lEa∂rVcˆy vor. b) 15,17 geht davon aus, daß Saul gering von sich denkt, während 15,30 einen Herrscher präsentiert, der recht selbstbewußt darauf pocht, daß sein Status vor den Augen der Menge bestätigt wird. Mit dem hebräischen Terminus dürften sowohl Menschen als auch Tiere gemeint sein, vgl. die Übersetzung ‚Lebewesen‘ in KBL3, Art. hDmDv◊n, S. 689. Anders FORESTI (a. a. O. S. 121), doch ohne Begründung. Vgl. etwa DIETRICH: Bannkriege. S. 147, Anm. 8; FORESTI: a. a. O. S. 120–122; MERENDINO: Gesetz. S. 225–227.232f.; ROSE: ZBK.AT 5.1. S. 250–252; SCHWIENHORST: Eroberung. S. 95, Anm. 28.

Auswertung

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Unter die schärfste Form des M®rEj fallen dann in Dtn 13,13–19 Städte, die sich der Apostasie schuldig gemacht haben: Sie sollen komplett ausgelöscht werden, und selbst von den erbeuteten materiellen Gütern darf nichts unvernichtet bleiben (Dtn 13,16–18). Die oben in 1 Sam 15 herausgearbeitete Schicht bewegt sich damit irgendwo zwischen den in Dtn 20,16f. und den in Dtn 13,13ff. ausgedrückten Vorstellungen. Mit Dtn 20 stimmt die Ausgangssituation (Krieg gegen außenpolitische Feinde) überein, mit Dtn 13 das Strafmaß (vgl. 1 Sam 15,3a). In welchem zeitlichen Rahmen man sich hiermit bewegt, ist nicht ohne weiteres näher zu bestimmen. Immerhin scheint soviel klar zu sein, daß Dtn 20,16f. nicht zum Kern des Deuteronomiums,100 auch nicht zu seiner ersten Überarbeitung101 gehören kann und daß es sich bei Dtn 13,16b.17(ohne ryIoDh_tRa vEaDb D;tVpårDc◊w).18a um einen spätdeuteronomistischen Zusatz handeln dürfte.102 Noch frappierender sind indes die Berührungen mit Jos 6f., denn dort erstreckt sich das Banngebot (über Menschen und Vieh hinausgehend) auf die Besitzgegenstände der Einwohner Jerichos103 und die Situation eines Krieges gegen äußere Feinde ist zugrundegelegt. Das bedeutet, daß die hinter 1 Sam 15,3a.9 stehende Bannkonzeption nirgends vom deuteronomischen Gesetz exakt gedeckt ist, dafür jedoch eine enge Parallele im Josuabuch hat. Besonders nah steht der hier herausgearbeiteten Ergänzungsschicht die Erzählung von ‚Achans Diebstahl‘ in Jos 7, weil hier zu der Bannkonzeption noch die Gehorsamsthematik hinzutritt. VEIJOLA hat die betreffenden Textanteile von Jos 7 im wesentlichen einer am Gesetz orientierten Bearbeitung (‚Dtr N‘) zugewiesen.104 Dabei macht er bereits selbst darauf aufmerksam, daß der s. E. nächstjüngere Entwicklungsschritt (die Einfügung von Jos 7,19.24b) „auf ein chronistisch-priesterliches Entstehungsmilieu“105 schließen läßt, und wertet dies als Indiz für die relative textgenetische Jugend der von ihm unter ‚Dtr N‘ verbuchten Passagen. Man wird hier, wie –––––––––––––– 100 Vgl. KRATZ: Komposition. S. 122f.138. 101 Vgl. SCHWIENHORST: a. a. O. S. 95, Anm. 28. Die von ihm herausgearbeitete Grundschicht von Dtn 20,10–18 (V. 10–14) ist bereits als Redaktionsschicht einzustufen, vgl. KRATZ: Komposition. S. 122f.138. 102 Vgl. VEIJOLA: Wahrheit. S. 123f.; ders.: ATD 8,1. S. 292f. 103 Vgl. Jos 6,17–19.21.24; 7,11.21. Die Entstehung von Jos 6 dürfte sich in einem langwierigen Prozeß vollzogen haben, wie schon die Untersuchung von SCHWIENHORST (a. a. O. S. 39ff.) wahrscheinlich gemacht hat. Dabei werden die Parallelen zu 1 Sam 15 von deuteronomistischen, vielfach sogar von deutlich späteren Bearbeitern stammen (vgl. KRATZ: Komposition. 209); dazu s. u. 104 Vgl. VEIJOLA: Wahrheit. S. 123, Anm. 98; ders.: Klagegebet. S. 188f. FORESTI (a. a. O. S. 125) schließt sich seinem Urteil an. VEIJOLA rechnet des näheren dieser nomistischen Bearbeitung folgende Stücke zu: Jos 6,17f. 20*.21.24a*–25; 7,1.6*.7.8*.9*.10.11*.12a.13a.14.15aab.16–20.24*. 25a.26a. Die oben in Anm. 103 (Kap. 2) genannten Verse, die in der ihnen zugrundeliegenden Bannkonzeption mit der hier herausgearbeiteten Ergänzungsschicht auffällig übereinstimmen, liegen VEIJOLAs Rekonstruktion zufolge fast vollständig auf diesem Stratum. 105 VEIJOLA: Klagegebet. S. 189, Anm. 79.

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1 Samuel 15,1–35

mir scheint, diesem Wink folgen und sogar noch ein wenig über VEIJOLA hinausgehen müssen und die fragliche Bearbeitung in Jos 6f. deutlich später zu datieren haben. Dieser Schluß legt sich nicht zuletzt auch wegen des Motivs der Heiligung (Jos 7,13a) nahe. Insbesondere die Verwendung der Wurzel (hitp) vdq ist dabei aufschlußreich: Von den insgesamt 24 Belegen findet sich mehr als die Hälfte allein in der Chronik.106 Damit ist ein deutlicher Hinweis auf das Alter der bis hierher herausgearbeiteten ersten Ergänzung von 1 Sam 15 entdeckt. Ein weiterer charakteristischer Zug dieser Bearbeitungsschicht besteht darin, daß sie Saul deutlicher als ehedem ins Zwielicht rückt: Der König versucht, seine Verantwortung auf das Kriegsvolk abzuwälzen (V. 15) und gibt an, die geschonte Beute hätte zu einem späteren Zeitpunkt dargebracht werden sollen – die Bearbeitung aber läßt sehr geschickt offen, ob das Volk wirklich solch hehre religiöse Absichten hegte (vgl. V. 9a), und versteht sich zugleich meisterlich darauf, mit wenigen Worten Zweifel an dieser Lesart zu säen (V. 9b). Gleichzeitig beginnt man beim Lesen auch, der Führungsstärke Sauls zu mißtrauen. Denn obwohl der König das Volk augenscheinlich nur als Entschuldigung für seinen Fehltritt vorschiebt, legt er doch auch Wert darauf, vor den Ältesten seines Volkes bestätigt (oder vielleicht gar rehabilitiert)107 zu werden (V. 30a). Der literarische Reiz dieser Ergänzung liegt nicht zuletzt darin, wie vielschichtig und facettenreich das Porträt erscheint, das sie von Saul zeichnet. Mit der Szene aus 15,30f. scheint sie darüber hinaus dem bemerkenswerten Umstand Rechnung zu tragen, daß im folgenden die Königsherrschaft Sauls trotz göttlicher Verwerfung noch eine Weile fortdauern wird.108 Daß Sauls Verhältnis zu Gott ein mittelbares ist und nur über die Person des Propheten führt, macht der Ergänzer deutlich, indem er Saul dem Samuel gegenüber zweimal von ‚deinem Gott‘ (ÔKyRhølTa) sprechen läßt (V. 15.30). Damit ist der König bereits arg depotenziert – er redet den Propheten an, „wie sonst der Untertan den König“109. Die Situation ist der aus 1 Sam 12,19 vergleichbar. Samuel –––––––––––––– 106 1 Chr 15,12.14; 2 Chr 5,11; 29,5.15.34(bis); 30,3.15.17.24; 31,18; 35,6; die übrigen Belege (Ex 19,22; Lev 11,44; 20,7; Num 11,18; Jos 3,5; [7,13]; 1 Sam 16,5 [dazu s. u. 3.3.1]; 2 Sam 11,4; Jes 30,29; 66,17; Ez 38,23) sind mehrheitlich ähnlich jung. 107 Die Frage, ob hier an eine Rehabilitation oder an eine Bestätigung Sauls gedacht ist, entscheidet sich u. a. daran, wie man das yI;mIo b…wv◊w aus V. 30 interpretiert: als Aufforderung im übertragenen oder im wörtlichen Sinne. Im ersten Falle wäre Samuel damit aufgefordert, gemeinsam mit Saul dessen Buße zu tragen, im andern Falle wäre schlichtweg an eine Rückkehr zum Ausgangspunkt (wohl Gilgal, vgl. V. 12) gedacht. Beides könnte prinzipiell möglich sein (vgl. SCHROER: Samuelbücher. S. 79; KBL3, Art. bwv, S. 1326ff.; SOGGIN: Art. bwv. Sp. 885–890) und auch nebeneinander bestehen. Primär dürfte aber ein erneuter Ortswechsel gemeint sein, wie aus V. 31a deutlich hervorgeht, wo Samuel – der dessen ja in der Erzählung gar nicht bedarf – ‚umkehrt‘. 108 Vgl. etwa CAMPBELL: FOTL VII. S. 156. 109 STOEBE: a. a. O. S. 290, Anm. 15 c). – Als Kontrast bietet sich 1 Sam 13,13 an, wo die Stellung Samuels längst noch nicht so exklusiv erscheint. Als Belege für die übliche sprachliche Konvention beim Dialog zwischen König und Untertan vgl. 2 Sam 14,11.17; 24,3.23; 1 Kön 1,17; 1 Chr

Auswertung

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hat dort eine ähnlich exklusive Mittlerposition inne, allerdings wendet sich in 12,19 das Volk an Samuel, während der König unbeteiligt im Hintergrund bleibt. In 15,15.30 dagegen sind die Rollen genau umgekehrt verteilt. Anerkanntermaßen handelt es sich bei 1 Sam 12 um einen Text deuteronomistischer Herkunft,110 der darüber hinaus wohl schon einem weit fortgeschrittenen Stadium dieser Theologie entstammt.111 Die V. 16–20.25 dürften sogar eine im Vergleich zur Grundschicht jenes Kapitels noch einmal sekundäre Textwachstumsphase darstellen.112 Dementsprechend wird man die hier untersuchte Bearbeitung ähnlich zu datieren haben. Der theologische Standpunkt des Ergänzers ist schließlich auch durch die harsche Kultpolemik gekennzeichnet, die in 15,22 zum Ausdruck kommt. Sie läuft im Kontext der Erzählung auf den Schluß hinaus, daß selbst die vorgebliche Absicht, das Banngut Jhwh als Opfer darzubringen (V. 14.15a) keine Entschuldigung für die unvollständige Vollstreckung des Banns bietet. Die lehrsatzhafte Form von V. 22 belegt indes, wie sehr neben einer theologischen Aktualisierung der Erzählung auch eine unmittelbare Beeinflussung der Leserschaft im Blick ist.113 Mit Hilfe einer einprägsamen, prägnanten Formulierung soll ihr eingeschärft werden, daß rechte Jhwh-Verehrung den Opferkult der Beachtung des göttlichen Willens unterordnet. Diese Opferpolemik bietet einen weiteren Ansatzpunkt für die Datierung der Ergänzungsschicht. Denn es liegt auf der Hand, daß eine Kritik dieser Art nur vor dem Hintergrund eines funktionierenden und weithin etablierten Kultbetriebs Sinn ergibt. Das fügt sich hervorragend zu der zeitlichen Ansetzung der Grundschicht, die hier bereits vorweggenommen sei. Ihr zufolge dürfte 1 Sam 15* um die Mitte des fünften Jahrhunderts entstanden sein. Da die V. 15b–18a.b*.19–21, die nächstjüngere Ergänzung, um die Wende vom fünften zum vierten Jahrhundert hinzugetreten zu sein scheint, bietet es sich an,

––––––––––––––

110 111 112 113

11,2; 2 Chr 16,7; cum grano salis auch 1 Sam 25,29. Dagegen läßt sich als Parallele für 1 Sam 15,15.21.30 noch Jos 1,17 benennen, wo Josua im Gespräch mit dem Volk steht (ähnlich wie Samuel in 1 Sam 12) – nach FRITZ (HAT I/7, S. 30f.) handelt es sich hierbei um einen wohl späten deuteronomistischen Nachtrag; vgl. auch KRATZ: a. a. O. S. 199. Ferner sind hier noch 1 Kön 13,6; 17,12; 18,10; 2 Kön 19,4 (par. Jes 37,4); Jer 40,2; 42,2f.5 zu erwähnen. Vgl. MOMMER: a. a. O. S. 123; weitere Verweise sind dort aufgelistet. Vgl. KRATZ: a. a. O. S. 178f. Vgl. MÜLLER: a. a. O. S. 192–196.263f. Vgl. auch VEIJOLA: Deuteronomisten. S. 204, Anm. 69. Zwar ist nicht auszuschließen, daß hier lediglich eine bereits mündlich geprägte Formel aufgegriffen und weiterverwendet wurde, doch ändert das nichts an dem grundlegenden Sachverhalt. Denn in diesem Fall bliebe immerhin die Entscheidung des Bearbeiters, den überkommenen Lehrsatz wörtlich zu zitieren, anstatt ihn in eventuell lebendiger klingende, aber eben auch weniger eingängige Prosa umzuformulieren.

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für das Stratum 15,3aa 2.9.14.15a.22aa2–b. 27f.30f. eine Abfassung ungefähr zwischen 450 und 400 v. Chr. anzunehmen.114 Bei einer Reihe von (Teil-)Versen aus 1 Sam 15 steht zu vermuten, daß auch sie dem Text nachträglich zugewachsen sind, ohne daß sich jedoch erkennen ließe, wann genau (innerhalb der relativen Chronologie) dies geschehen sein wird. Sie sollen daher wie Einzelzusätze behandelt und im folgenden nur kurz besprochen werden.115 V. 1ab–b* (d. h. ohne yérVbî;d) dürfte aufgrund der oben angestellten Beobachtungen als sekundär gegenüber V. 1aa und 2 einzustufen sein. Ihm ist vornehmlich daran gelegen, Samuel und insbesondere seine dem König übergeordnete Position zu legitimieren. Zu diesem Zweck verweist die Ergänzung auf 1 Sam 9f., also darauf, daß Jhwh einst den Samuel zum Königsmacher bestellt hatte. Augenscheinlich wird hier das Prophetenamt Samuels, das etwa im Folgevers in der Verwendung der Botenformel anklingt, als alleinige Legitimationsgrundlage als nicht mehr hinreichend empfunden. Auf den ersten Blick ist es dabei näherhin die in V. 3 folgende Beauftragung Sauls, deren Rechtmäßigkeit erwiesen werden soll. Doch da diese letztlich nur den erzählerischen Ausgangspunkt für die Verwerfungsansage (V. 23b, V. 28, evtl. auch schon V. 26b) schafft, dürfte klar sein, daß es hier primär um das Recht Samuels geht, eben diese Verwerfung auszusprechen. Durch die Voranstellung des Themas der Königssalbung rückt zugleich die Amalekiterproblematik etwas aus dem Zentrum heraus und erscheint jenem gegenüber (ganz buchstäblich) nachgeordnet. Vielleicht kann der eingefügte Teilvers als eine Art Leseanweisung verstanden werden, mit deren Hilfe die Aufmerksamkeit der Leserschaft nachdrücklicher noch als zuvor auf V. 23b usf. gerichtet werden soll. Einer genaueren Zu- oder Einordnung entziehen sich auch die V. 3b und 6. Aufgrund der oben dargelegten Abhängigkeitsverhältnisse wird man sagen dürfen, daß 15,3b später als V. 3a und 9 angesetzt werden muß. Zugleich wurde eine sprachliche Nähe von V. 3b zu Jos 6,21 konstatiert. Dies deutet ebenfalls auf eine eher späte Entstehung hin, da Jos 6,21 zu einer Bearbeitung der Jerichoerzählung gehört, die in der Forschung ‚Dtr N‘ zugewiesen worden ist.116 Hinter der Interpolation von V. 3b dürfte die Absicht gestanden haben, das in V. 3a Gesagte –––––––––––––– 114 Weiteren Aufschluß könnte ein eingehender Vergleich mit ähnlich gehaltenen Stücken geben, namentlich mit Jes 1,11–17; Jer 7,21–23; Hos 6,6; Amos 5,21–25; Mi 6,6–8; Spr 21,3. Dafür ist hier allerdings nicht der rechte Ort. Denn ein solcher Vergleich wird nicht zuletzt dadurch erschwert, daß derartige Kultpolemiken grundsätzlich zu jeder Zeit entstanden sein können, wie etwa ein Blick auf die sog. ‚Lehre des Merikerê‘, V. 129 (AOT. S. 35), zeigt (vgl. KRATZ: Erkenntnis. S. 10). 115 Der Arbeitsschritt wird an dieser Stelle der Untersuchung nötig, weil die Zusätze in V. 18b abgehoben sein müssen, bevor die nächste größere Ergänzung in 15,17.18ab*.19–21 herausgearbeitet und beleuchtet werden kann. 116 Vgl. Anm. 31 (Kap. 2).

Auswertung

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noch zu explizieren, wozu Jos 6 vielleicht die Vorlage lieferte. Sollte letzteres tatsächlich der Fall gewesen sein, könnte man eventuell auch 1 Sam 15,6 als Reminiszenz an die Jerichogeschichte verstehen. Denn so wie hier der freie Abzug der Keniter sichergestellt werden soll, wird dort die Schonung der Hure Rahab und ihrer Angehörigen ausdrücklich angemahnt bzw. berichtet (Jos 6,17.25). Beide Male geht es um Personengruppen, die Israel auf dem Weg ins Land unterstützten (Jos 2; 1 Sam 15,6a; vgl. hierzu auch Ri 4,11), und beide Male befinden sich diese inmitten der Feinde, die es zu vernichten gilt. Beweisen läßt sich mit Hilfe dieser Analogie freilich nichts, doch erscheint es mir angesichts des Ausgeführten am wahrscheinlichsten, 15,3b und 6aa1 zumindest in unmittelbarer zeitlicher Nähe zueinander anzusetzen.117 V. 18b weist eine ganze Reihe ungewöhnlicher Merkmale auf, die oben im Deskriptionsteil bereits erörtert wurden. Von ihnen her legt sich der Schluß nahe, daß sowohl die Worte MyIaDÚfAjAh_tRa als auch V. 18bbg sehr wahrscheinlich keine ursprünglichen Bestandteile des Halbverses sind. Das Versende (V. 18bbg ) scheint klarstellen zu wollen, daß mit hD;tVmårSjAh◊w eine vollständige Vernichtung gemeint ist. Diese Ergänzung setzt zwar V. 3a voraus, bietet sonst jedoch kaum Ansatzpunkte für eine zeitliche Einordnung. In V. 18bg dürfte das Wort MDtOa noch einmal etwas später angehängt worden sein, so daß das Ende des Verses nach der ersten Überarbeitung vielleicht MDtwø;lA;k dAo wøb D;tVmAjVlˆn◊w lautete. Aus dem Plural-Suffix des Infinitivs geht hervor, daß man sich als Handlungsträger wohl schon das Kriegsvolk dachte, was die Formulierung in die Nähe von V. 9 (in seiner Endgestalt) und die von ihm abhängigen Verse rückt. Die Nota accusativi könnte nachgetragen worden sein, weil man ein Objekt zu dem Infinitiv constructus vermißte. Zeitgleich oder noch einmal später könnte dann die Ergänzung in V. 18ba vorgenommen worden sein. Sie wirkt nicht nur in Kap. 15 sehr isoliert. Auf der Suche nach Parallelen kann man vielleicht am ehesten an 1 Sam 28,3b denken, doch bleibt auch das ganz ungewiß. Aus all dem folgt, daß der Grundbestand von V. 18b einstmals wahrscheinlich qElDmSo_tRa hD;tVmårSjAh◊w JKEl rRmaø¥yÅw gelautet haben wird (= V. 18b*). Da V. 23a zwar formal an V. 22 anknüpft, ihn jedoch um einen etwas andersartigen Gedanken ergänzt, wird er später als jener entstanden sein. Dem Glossator gilt es offensichtlich bereits als ausgemacht, daß Jhwh Mantik und Götterstatuen verabscheut. Ja, der Anspruch des ersten Gebots ist ihm wohl derart selbstverständlich, daß er noch einen Schritt weitergehen und schon im Eigensinn des Menschen Jhwh gegenüber eine Form von Götzendienst erblicken kann. Das ist zweifelsohne eine recht fortgeschrittene Sicht der Dinge, ein An–––––––––––––– 117 Noch einmal später dürften V. 6b und 6a a2bg hinzugetreten sein. 15,6b mag man weniger gern missen als V. 6aa2bg, da V. 6aa1 ja noch offen läßt, wie die Keniter auf die Aufforderung Sauls reagieren. Daher möchte ich bei aller gebotenen Vorsicht vermuten, daß V. 6b eher als V. 6aa2bg hinzugesetzt wurde.

80

1 Samuel 15,1–35

haltspunkt für eine weitergehende Einordnung jedoch bietet sich damit nicht und läßt sich auch sonst nirgends ausmachen.

2.3.2

Die Grundschicht von 1 Sam 15,1–34 2.3.2.1

Erzählerisches Profil

Nachdem all diese Ergänzungen abgehoben worden sind, verbleibt für die Grundschicht des Kapitels folgender Versbestand: V. 1aa.2.3aa 1b.4a.5.7f.10–13. 22*.23b.32–34.118 Erzählt wird hier, wie Saul von Samuel beauftragt wird, die Amalekiter zu schlagen und dabei kein Mitleid walten zu lassen (V. 1aa.2.3aa1b. 4a.5.7f.). Genau das aber tut er dann doch, indem er den König der Amalekiter am Leben läßt (V. 8). Samuel wird daraufhin von Jhwh über das Geschehene sowie über seine Einstellung hierzu in Kenntnis gesetzt (V. 10.11a). Widerstrebend fügt sich Samuel dann in seine Mission und tut dem König den Willen Jhwhs kund (V. 11b–13.22*.23b), um anschließend Sauls Auftrag zu vollenden und den bis dato verschonten Amalekiterkönig hinzurichten, bevor er selbst endgültig den Plan verläßt (V. 32–34). Die kleine Geschichte hat eine relativ breit angelegte Exposition (V. 1aa .2. 3aa1b .4a.5.7f.), der ein nur um weniges längerer Hauptteil folgt (V. 10–13.22*. 23b.32f.). Die Klimax bilden hierbei die V. 22*.23b.32f., d. h. die Verkündung des göttlichen Urteils sowie seine indirekte Begründung in Form der Agagszene, an die sich mit V. 34 ein bündiges Ende anschließt. Neben diesem deutlichen Achtergewicht zeichnet die Geschichte auch eine gewisse Knappheit der Mittel aus, die sich besonders in V. 11 zeigt, wo mit keinem Wort erläutert wird, was genau Jhwh an Sauls Umsetzung seines Auftrags auszusetzen hat. Die Leserin bzw. der Leser ist natürlich seit V. 8 im Bilde, und auch V. 11 dürfte so gedacht sein, daß Jhwh den Samuel hier viel umfassender informiert und die Verschonung Agags erwähnt – nur wird dies in der Erzählung selbst eben nicht ausgeführt. Die Erzählung ist in mehrfacher Hinsicht als Prophetenerzählung stilisiert: Sie verwendet die Boten- und die Wortereignisformel (V. 2 und V. 10) sowie die in prophetischen Stücken häufig gebrauchte Partikel NAoÅy.119 Samuels nicht gerade zimperliches Auftreten in der Agagszene V. 32f. erinnert überdies an das nicht minder rigorose Vorgehen des Elija gegen die unterlegenen Baalspriester in 1 Kön 18,40.120 Doch ist die theologische Motivation jeweils verschieden: Elija streitet für die Anerkennung der Einzigkeit Jhwhs, Samuels Verhalten hingegen –––––––––––––– 118 V. 35 ist bislang ausgespart worden, weil für seine Einordnung die Analyse von 1 Sam 16 unbedingt erforderlich ist, die erst im nächsten Kapitel unternommen wird. 119 Zur Partikel vgl. DIETRICH: Prophetie und Geschichte. S. 64–70. 120 Ähnlich WELLHAUSEN: Composition. S. 246; MOMMER: a. a. O. S. 151.

Auswertung

81

gründet sich auf Ex 17,8–16 und die dort ausgesprochene Ankündigung Jhwhs, die Amalekiter auszurotten.121 2.3.2.2

Das Verhältnis von 1 Sam 15* zu Dtn 25,17–19

Liegt der Erzählung auch Dtn 25,17–19 zugrunde? Einige Exegeten gehen davon aus.122 Unzweifelhaft ist in jedem Fall, daß sich 1 Sam 15,2abb (hDcDo_rRvSa tEa yI;t√dåqDÚp Mˆy∂rVxI;mIm wøtølSoA;b JK®r®;dA;b wøl MDc_rRvSa lEa∂rVcˆyVl qElDmSo) und Dtn 25,17 (qElDmSo ÔKVl hDcDo_rRvSa tEa rwøkÎz Mˆy∂rVxI;mIm MRkVtaExV;b JK®r®;dA;b) in ihrem Wortlaut berühren.123 Doch aus dieser sprachlichen Nähe kann auch der entgegengesetzte Schluß gezogen werden, daß nämlich Dtn 25 die Erzählung von Sauls Amalekiterschlacht und zweiter Verwerfung kannte. Diese Möglichkeit schließt F ORESTI aufgrund zweier Überlegungen aus: a) Die Erzählung 1 Sam 15 und v. a. der Handlungsauftrag aus V. 2f. bedürfen s. E. keiner zusätzlichen theologischen Begründung; b) gesetzt den Fall, der Verfasser der Dtn-Stelle hätte 1 Sam 15,2f. vorliegen gehabt, warum, so FORESTI , wurde dann nur V. 2 bis in den Wortlaut hinein antizipiert, nicht aber das mindestens ebenso wichtige Element des M®rEj-Gebots aus V. 3a?124 Keines der zwei Argumente vermag mich voll und ganz zu überzeugen. Denn – ad a) – daß 1 Sam 15 keine zusätzliche Legitimierung des Handlungsauftrags benötigt, bedeutet keineswegs schon, daß eine Vorschaltung des Gebots im Dtn sinnlos wäre. Eine solche Ergänzung könnte ja durchaus auch am theologischen Rang des Dtn interessiert gewesen sein, der natürlich desto besser zur Geltung kommt, je öfter das, was das Dtn gebietet, später auch tatsächlich ins Werk gesetzt wird. Ad b) ist anzumerken, daß dieses Argument nur dann greift, wenn V. 3 bei Abfassung von Dtn 25,17–19 bereits das Banngebot enthielt. Nach der hier vertretenen Rekonstruktion der Textgenese ist genau dies aber nicht der Fall. Des weiteren könnte man im Gegenzug fragen, warum die doch nicht ganz unwichtige Ruheformel aus Dtn 25,19 in 1 Sam 15 nirgends rezipiert wird. – Sehr bedenkenswert erscheint mir aus diesen Gründen die Position MOMMERs, 1 Sam 15* eine entstehungsgeschichtliche „Zwischenstellung“125 zuzuweisen, nämlich nach Ex 17,8ff. und vor Dtn 25,17ff. Als Grund für die Annahme der Priorität von 1 Sam 15* gegenüber Dtn 25,17ff. nennt er mit Recht u. a. das völlige Fehlen typisch deuteronomistischer Sprachmerkmale in V. 2f.126 Hinzufügen sollte man noch, daß Dtn 25 mit –––––––––––––– 121 Zu 1 Kön 18 vgl. KRATZ: Komposition. S. 171; WÜRTHWEIN: ATD 11,2. S. 217. Zu 1 Sam 15 vgl. Anm. 6 (Kap. 2). 122 Vgl. GRØNBÆK: a. a. O. S. 46; BERGES: a. a. O. S. 177f.; FORESTI: a. a. O. S. 92–102; YONICK: Rejection. S. 61; SMITH: a. a. O. S. 131. 123 Vgl. DONNER: a. a. O. S. 244. 124 Vgl. FORESTI: a. a. O. S. 92, Anm. 1. 125 MOMMER: a. a. O. S. 152. 126 Vgl. MOMMER : a. a. O. S. 152f. Gut beobachtet ist, daß in Ex 17,14.16 Jhwh selbst den Krieg gegen Amalek zu führen scheint, während in Dtn 25,17ff. Israel hierzu beauftragt wird, in 1 Sam

82

1 Samuel 15,1–35

V. 18a, der Betonung der Wehrlosigkeit der Opfer des amalekitischen Angriffs, einen Aspekt enthält, der in 1 Sam 15 nirgends rezipiert wird, obwohl dies, wie gleich noch zu zeigen sein wird, insbesondere V. 33 durchaus gut zu Gesicht gestanden hätte.127 Die Erzählung knüpft also klar an die geschichtstheologische Konzeption von Auszug und Landnahme an, allem Anschein nach jedoch nicht an Dtn 25,17ff. Mit der Abhängigkeit von Ex 17,8–16 ist aber bereits ein guter Ansatzpunkt für die Datierung von 1 Sam 15* gefunden. Denn wie KRATZ überzeugend dargelegt hat, dürfte es sich bei Ex 17,8ff. um eine nachpriesterschriftliche Einfügung handeln.128 Dazu paßt zudem auch die Tatsache, daß 1 Sam 15,7b stark an Gen 25,18 erinnert, d. h. an einen Vers, der, wie LEVIN formuliert, „nach verbreiteter [...] Annahme eine nachpriesterschriftliche Glosse“129 darstellt. Allerdings ist damit, sofern man hier von einer direkten Abhängigkeit ausgehen will,130 noch längst nicht entschieden, in welcher Richtung das Dependenzgefälle verläuft. Ich zumindest vermag nicht einzusehen, weshalb 1 Sam 15,7 zwingend jünger sein müßte als Gen 25,18, wie LEVIN behauptet. Alternativ könnte man sich folgende Genese vorstellen: Der Grundbestand von Gen 25,18 dürfte mit LEVIN in V. 18aa(ohne MˆyårVxIm y´nVÚp_lAo rRvSa r…wv_dAo)b zu finden sein.131 Dieser Schluß drängt sich in der Tat angesichts der durch ... r…wv_dAo und ... h∂r…wÚvAa hDkSaø;b verursachten Doppelung sowie der altertümlichen Schreibung des Suffixes in hDkSaø;b auf. Es ist nun auffällig, daß in 1 Sam 15,7b nicht (was buchstäblich näher gelegen hätte) die Präposition dAo, sondern der Infinitiv hDkSaø;b aufgegriffen wird. Das spricht m. E. dafür, daß der Verfasser von 1 Sam 15,7b Gen 25,18 in dessen Grundfassung rezipierte (möglicherweise durchaus mit einem ––––––––––––––

127

128

129 130

131

15,2f. hingegen der König; allerdings trägt dies kaum etwas für die Rekonstruktion des Abhängigkeitsverhältnisses der drei Stellen aus. – Kritisch hinsichtlich der Priorität von Dtn 25,17ff. gegenüber 1 Sam 15* äußert sich auch DIETRICH (DIETRICH / NAUMANN: a. a. O. S. 42.). S. u. zum Mitleidmotiv in der Grundschicht. – Was die Abhängigkeitsverhältnisse anbelangt, in denen Dtn 25,17ff. steht, wird man zumindest mit MOMMER, FORESTI u. a. soviel sagen können, daß eine Anlehnung des Textes an Ex 17,8ff. wahrscheinlich ist. Vgl. MOMMER: ebd.; FORESTI: a. a. O. S. 98–100. – Sekundär sind vermutlich Dtn 25,17b und 18b hinzugewachsen; vgl. a. a. O. S. 98. Vgl. KRATZ: Komposition. S. 246f.300. Etwas anders, aber durchaus vereinbar hiermit SCHMITT (Geschichte. S. 343f.), der diesen Text „als eine in die exilisch-nachexilische Situation hineinsprechende Lehrerzählung“ versteht und ihn entstehungsgeschichtlich in unmittelbarer Nachbarschaft zu 1 Sam 7,2–13 verortet (vgl. a. a. O. S. 340f.343). LEVIN: Rezension zu FORESTI. Sp. 107. Vgl. etwa LEVIN: Jahwist. S. 194. Durchaus denkbar wäre auch, daß es sich hierbei nicht um eine literarisch, sondern mündlich geprägte stehende Formel handelt; vgl. auch die Formulierung aus 1 Sam 27,8, die in ihrer ursprünglichen Form wohl ebenso hierher zu rechnen ist, jedoch kleinere sprachliche Abweichungen enthält (wie ja auch Gen 25,18 und 1 Sam 15,7b keineswegs identisch sind). Vgl. zu 1 Sam 27,8 DIETRICH / NAUMANN: a. a. O. S. 42. Vgl. LEVIN: Jahwist. S. 194.

Auswertung

83

Seitenblick auf Gen 16,7 und / oder Ex 15,22), dabei jedoch für h∂r…wÚvAa aufgrund der graphischen Nähe und geographischer Erwägungen (Exodus!) y´nVÚp_lAo rRvSa r…wv Mˆy∂rVxIm einsetzte. Dies könnte dann später wiederum zurückgewirkt und wörtlichen Eingang in Gen 25,18 gefunden haben. 2.3.2.3

Das Verhältnis von 1 Sam 15* zu 1 Sam 30

Ein weiteres Problem stellt das Verhältnis von 1 Sam 15* zu der Erzählung von Davids Amalekiterfeldzug in 1 Sam 30 dar. Oben, beim Vergleich der auslösenden Momente der beiden Amalekiterfeldzüge (15,2f. und 30,1ff.), hatte sich bereits die Vermutung nahegelegt, die Erzählung 1 Sam 15* sei später als jene aus 1 Sam 30 entstanden.132 Denn der von Samuel übermittelte Befehl Jhwhs und der Rückverweis auf Ex 17,8ff. lassen einen höheren Grad der theologischen Durchdringung des Stoffes und einen deutlich weiter gefaßten literarischen Horizont erkennen, als das in dem Seitenstück der Fall ist. Dort stellt der Angriff nämlich schlicht die ‚natürliche‘ Reaktion Davids auf die Zerstörung Ziklags durch die Amalekiter dar und kommt dementsprechend ohne theologische Motivation aus. Man könnte versucht sein, diese Verschiedenheit der beiden Erzählungen unter Hinweis auf die Orakelbefragung 30,7f. und die ihr vorausgehende Szene 30,6 zu relativieren oder gar in Abrede zu stellen. Allerdings übersieht eine solche Argumentation, daß das Jhwh-Orakel in 30,8b zwar den Ausschlag für Davids Offensive gibt, keineswegs aber den Anlaß dazu liefert. Darüber hinaus erscheint mir mehr als fraglich, ob die V. 6–8 einen genuinen Bestandteil der Geschichte bilden. Erstens stimmt die in V. 6a genannte Gruppe der fortgeführten Personen (wyDtOnV;b_lAo◊w wønV;b_lAo) weder mit der aus V. 2a (lwødÎ…g_dAo◊w NOf∂;qIm ;hD;b_rRvSa MyIvÎ…nAh_tRa) genau überein noch mit jener aus V. 3b (MRhyEtOnVb…w MRhy´nVb…w MRhyEv◊n…w). Und zweitens ist keiner der drei Verse für das Erzählganze konstitutiv, nicht eine der hier gegebenen Informationen wird im Späteren vorausgesetzt. Vermutlich sollte mit Einfügung der V. 7f. eine Angleichung an 1 Sam 23,2.4.9–13 und 2 Sam 2,1 erreicht werden,133 während die Einschaltung von V. 6 vielleicht dazu gedacht war, David einmal mehr (nach vor allem 1 Sam 23f.; 26) als unschuldig bedrängten Frommen zu präsentieren. Auch die Tatsache, daß die Formulierung hDlVoDmÎw a…whAh Mwø¥yAhEm (30,25a) nur noch ein weiteres Mal im gesamten AT, und zwar auffälligerweise in 16,13a begegnet, also in einem Stück, das – wie sich unten zeigen wird – nach 1 Sam 15* abgefaßt worden sein dürfte,134 vermag keineswegs die These von der Priorität des Kapitels 30* gegenüber 1 Sam 15* zu erschüttern. Es zeigt sich nämlich bei näherem Hin–––––––––––––– 132 Zu demselben Schluß kommt auch DONNER (a. a. O. S. 245f.), allerdings mit unzureichenden Argumenten. 133 S. auch LANGLAMET: RB 100. S. 326. 134 Vgl. dazu 3.3.2.

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1 Samuel 15,1–35

sehen, daß die Erzählung von Davids Amalekiterfeldzug in ihrer jetzigen Form gleich drei Pointen besitzt: a) den Sieg über Amalek mitsamt der Rettung der Verschleppten (V. 17–19), b) Davids Anordnung, daß die Kriegsbeute zwischen allen Truppenkontingenten gleichmäßig aufgeteilt werden solle (V. 23–25) und c) Davids generöse Beteiligung der Ältesten Judas an seinem persönlichen Gewinn (V. 26ff.). Daher drängt sich der Verdacht auf, daß hier wiederholt nachgearbeitet wurde. In diese Richtung deutet auch der Umstand, daß die V. 21–25 sich nicht gut zu 30,20 fügen und sogar den Zusammenhang zwischen V. 20 und 26 zerreißen. Denn wenn in V. 20b das geraubte Vieh als Beute Davids bezeichnet wird, dann können seine Männer schwerlich unter sich die Verteilungsmodalitäten erörtern, wie das in 30,22 geschieht. Umgekehrt kann David nur solches Gut verschenken, das ihm auch tatsächlich zusteht, und überdies erscheint sein Verhalten nur in diesem Fall als großzügig. Daß in V. 20 ausdrücklich von der dˆw∂;d lAlVv gesprochen wird, bereitet also den V. 26 äußerst geschickt vor und läßt eigentlich keinen Platz für die Episode 30,21–25. Damit ist zugleich auch über die V. 9b–10 entschieden, welche die V. 21–25 vorbereiten und folglich mit ihnen zusammen eingefügt worden sein dürften. Des weiteren wird es sich auch bei den V. 26–31 um einen Zusatz handeln. Dieser Schluß legt sich nahe, weil allein in V. 26 (und in dem soeben als sekundär erkannten V. 23) die Vorstellung des Jhwh-Kriegs anklingt. Schließlich ist noch mit einer Reihe kleinerer Ergänzungen zu rechnen. Neben den V. 6 und 7f. werden wahrscheinlich auch die V. 5.18b nachträglich eingeschrieben worden sein, bei denen es sich lediglich um Explikationen jeweils vorausgegangener Verse handelt: 30,5 will deutlich machen, daß die zuvor erwähnte Verschleppung der Frauen aus den V. 2a und 3b auch David selbst betrifft, und V. 18b soll zeigen, daß die in V. 18a berichtete Rettung alles Geraubten auch die der beiden Ehefrauen Davids einbegreift. Daß 30,18b den Zusammenhang der V. 18a und 19a zertrennt135 und darüber hinaus der weitere Verlauf weder V. 5 noch V. 18b präsupponiert, belegt den Nachtragscharakter der anderthalb Verse. 30,17bb klappt auffallend nach und könnte aus diesem Grund ebenfalls auf einen Ergänzer zurückzuführen sein. Weiterhin vermute ich Zusätze in V. 3b, namentlich die beiden Wörter MRhyEtOnVb…w MRhy´nVb…w, und in V. 19a, ebenfalls die Erwähnung von Söhnen und Töchtern (twønDb…w MyˆnD;b_dAo◊w). Zumindest in dem letztgenannten Fall ist recht deutlich, daß eine Erweiterung vorliegt. Denn das twønDb…w MyˆnD;b_dAo◊w ist nach dem bereits vorausgegangenen lwødÎ…gAh_dAo◊w überschüssig,136 wie ein Vergleich mit der zweiten Hälfte von 30,19a zeigt. Dort besteht die Kon–––––––––––––– 135 Der Satz ...lwødÎ…gAh_dAo◊w NOf∂;qAh_NIm MRhDl_rå;dVo‰n aøl◊w aus V. 19a kann sich unmöglich auf die wyDvÎn yE;tVv_tRa aus V. 18b zurückbeziehen, sondern knüpft vielmehr an qElDmSo …wjVqDl rRvSa_lD;k tEa (V. 18a) an. Ähnlich etwa SMITH: a. a. O. S. 249. 136 WELLHAUSEN (Text. S. 144) will das Problem mit Hilfe der LXX-Lesart lösen, die aber ihrerseits nur eine Reaktion auf das Problem darstellen dürfte.

Auswertung

85

struktion aus je einem mit NIm und einem mit dAo◊w eingeleiteten Satzbestandteil. Daß lwødÎ…gAh_dAo◊w das ursprüngliche Element in der ersten Hälfte von V. 19a darstellt, beweist das komplementäre NOf∂;qAh_NIm. Zu guter Letzt dürfte es sich auch bei jenen Stücken um Nachträge handeln, die von einer Verschleppung der Frauen berichten: V. 2aba.3b*.18a.19*. Dies legt sich aus dem Umstand nahe, daß in V. 18a die Amalekiter etwas anders bezeichnet werden (qElDmSo) als in V. 1b (yIqElDmSo). Anders als 30,1b ist V. 18a für das Erzählgerüst nicht konstitutiv und dürfte daher das jüngere Stück darstellen. Mit V. 18a fällt der Erzählstrang aus der Geschichte heraus, der auf eine zumindest partielle Wiederherstellung der Verhältnisse vor dem amalekitischen Überfall zielt, d. i. der Raub der Frauen aus Ziklag. Insgesamt spiegeln all diese kleinen Ergänzungen in 1 Sam 30 (mit Ausnahme der V. 6–8 und V. 17bb) den Versuch wider, die Geschichte zu einem möglichst glimpflichen Ende kommen und damit den Sieg Davids um so staunenswerter erscheinen zu lassen. Zieht man dies alles ab, so bleibt eine Grunderzählung mit ungefähr folgendem Umfang übrig: 30,1.2bb.3a.4.9a.11–17a*.ba . Ihr Gegenstand ist eine Art Rachefeldzug Davids gegen die Amalekiter, die seinen Stützpunkt Ziklag devastiert haben. Von der Rettung irgendwelcher Bevölkerungsteile der Stadt verlautet noch ebensowenig wie von Davids Beute und ihrer Verteilung. Mit der Komposition dieser kleinen Geschichte dürfte die Absicht verbunden gewesen sein, David für den Zeitraum der Schlacht zwischen Israel und den Philistern mit einem gleichermaßen glaubwürdigen wie ehrenvollen Alibi auszustatten. Genau genommen ist ein erstes Alibi schon mit Kapitel 29 gefunden, weil Davids Teilnahme an jenem Kriegszug hier bereits ausgeschlossen wird. Die Erzählung 1 Sam 30* baut diesen Gedanken insofern noch ein wenig aus, als sie sich nicht mit der Behauptung begnügt, David habe nicht auf seiten des Erzfeindes Israels gekämpft, sondern vielmehr auch sein engagiertes militärisches Vorgehen gegen Israels zweiten Widersacher par excellence demonstriert. Allerdings ist nicht auf Anhieb zu erkennen, inwieweit Amalek bei Abfassung von 1 Sam 30* tatsächlich bereits als Erbfeind gegolten hat und ob 1 Sam 30* vielleicht auch schon mit Ex 17,8ff. vertraut gewesen ist. Das Problem verlangt nach einer eingehenden Erörterung, die hier jedoch nicht geleistet werden kann. Daß bei der Suche nach einem passenden Gegner für David die Wahl des Verfassers zufällig auf jenes Volk fiel, das im Laufe der weiteren Entstehungsgeschichte des AT zum Inbegriff der Feinde Israels werden sollte, erscheint mir indes nicht unbedingt naheliegend. Die Frage ist nur, ob hier schriftliche oder mündliche Traditionen im Hintergrund gestanden haben. In bezug auf die Ausgangsfrage nach dem textgenetischen Verhältnis der Kapitel 15* und 30* zueinander ergibt sich somit folgendes Bild: Die Erzählung von der ‚zweiten Verwerfung Sauls‘ ist sehr wahrscheinlich u. a. von dem Bericht über Davids Amalekiterfeldzug inspiriert. Und dieser dürfte seinerseits Ex 17,8ff. oder wenigstens die Vorstellung einer grundlegenden Feindschaft zwischen Israel und Amalek voraussetzen.

86

1 Samuel 15,1–35

2.3.2.4

Theologisches Profil

Neben dem nachpriesterschriftlichen Stück Ex 17,8ff. wird also auch die vermutlich ähnlich zu datierende Erzählung 1 Sam 30* vorausgesetzt sein. Zugleich läßt 1 Sam 15* aber auch deutlich deuteronomistische Einflüsse erkennen. Diesen Schluß legt zumindest die Gehorsamsthematik nahe, von der die Grundschicht maßgeblich geprägt ist. Sie schlägt sich nicht zuletzt in der Benutzung der charakteristischen Formulierung hÎwh◊y rAb√;d_tRa (hi) Mwq (aøl) aus den V. 11 und 13 nieder. Allerdings fällt auf, daß es sich bei dieser Wendung nicht um eine typisch deuteronomistische Wendung handelt, denn sie tritt in exakt dieser Form nur hier auf. Die Wurzel (hi) Mwq in Verbindung mit dem Substantiv rDb∂;d allein ist zwar im AT etwas häufiger anzutreffen, und zwar bezeichnenderweise besonders oft zwischen Dtn und 2 Kön.137 Allerdings ist es in diesen Fällen vornehmlich Jhwh, der Wort hält. Lediglich drei der Belegstellen gebrauchen die Wendung in Hinblick auf ein menschliches Subjekt: Dtn 27,26; 2 Kön 23,3.24.138 Die bundes- bzw. gesetzestheologische Prägung der drei Stücke läßt dabei auf eine relativ späte Entstehung schließen.139 Zusammenfassend kann man sagen, daß die V. 11 und 13 ein deuteronomistisches Grundthema aufgreifen, sich dabei jedoch einer Formulierung bedienen, die Anklänge an spätdeuteronomistische Passagen aufweist, im übrigen jedoch singulär ist. Bemerkenswert ist weiterhin die Verwendung des Verbums sam, das immerhin an vier zentralen Punkten des Deuteronomistischen Geschichtswerkes bemüht wird: dreimal zu Beginn des Königtums in Israel (1 Sam 8,7[bis]; 10,19), sechsmal im Bereich der Übergangs der Königswürde von Saul auf David (1 Sam 15,23[bis].26[bis]; 16,1.7), zweimal in dem Kapitel, das die Gründe für den Untergang des Nordreiches reflektiert (2 Kön 17,15.20) und schließlich einmal in der Notiz, die den Untergang des Südreichs zu begründen versucht (2 Kön 23,27).140 Diesen zwölf Belegen in vier theologisch ausgesprochen wichtigen Textbereichen, steht eine einzige Verwendung an weniger exponiertem Orte gegenüber: im Dialog zwischen Gaal und Sebul (Ri 9,38). Diese Verteilung dürfte kaum zufällig sein. –––––––––––––– 137 Dtn 9,5; 27,26; 1 Sam 1,23; 15,11.13; 2 Sam 7,25; 1 Kön 2,4; 6,12; 8,20; 12,15; 2 Kön 23,3.24 (= 12 Belege). Jes 44,26; Jer 28,6; 29,10; 33,14; 34,18; Dan 9,12; Neh 5,13; 9,8; (= 8 Belege). Nicht eingerechnet sind 2 Chr 6,10 (par. 1 Kön 8,20) und 10,15 (par. 1 Kön 12,15). 138 Außerhalb des Deuteronomistischen Geschichtswerkes wäre noch auf Neh 5,13 zu verweisen. 139 Zu Dtn 27 vgl. KR A T Z: Komposition. S. 134; NO T H : Studien. S. 17. Zu 2 Kön 23 vgl. WÜRTHWEIN: ATD 11,2. S. 452ff. (‚DtrN‘); KRATZ: a. a. O. S. 173. 140 Es wird freilich an all den genannten Stellen in verschiedener Weise gebraucht; dazu vgl. Anm. 141 (Kap. 2). Jede der neben 1 Sam 15,23.26 genannten Belegstellen dürfte vergleichsweise jung sein; vgl. etwa a) zu 1 Sam 8 MÜLLER: a. a. O. S. 119ff.146f.259f.; VEIJOLA: Königtum. S. 55ff.; b) zu 1 Sam 10 vgl. MÜLLER: a. a. O. S. 158ff.175f.261; VEIJOLA: a. a. O. S. 41–48; c) zu 1 Sam 16 s. u. 3.3; d) zu 2 Kön 17 vgl. KRATZ: Komposition. S. 173.193; WÜRTHWEIN: ATD 11,2. S. 396f.; e) zu 2 Kön 23 vgl. KR A T Z : a. a. O. S. 173.193; SPIECKERMANN: Juda. S. 43–46. WÜRTHWEIN: a. a. O. S. 462.

Auswertung

87

Sie zeugt m. E. vielmehr von einem entschiedenen theologischen Gestaltungswillen, der jeden Umbruch innerhalb der politischen Ordnung des Volkes Israel mit Hilfe des Begriffes sam zu erklären sucht, wobei die Verwerfung durch Gott jeweils einer Verwerfung des göttlichen Willens (resp. Gottes selbst) durch den Menschen folgt.141 Damit ist keineswegs behauptet, daß all diese Stellen gleichzeitig abgefaßt wurden – von einer chronologischen Nähe der Texte auszugehen, dürfte jedoch das bei weitem Natürlichste sein. Die Grundschicht von 1 Sam 15 zeigt damit ein weiteres Mal eine Affinität zu jenen literarischen Straten, die für gewöhnlich mit dem Siglum ‚Dtr N‘ bezeichnet werden.142 Dieses Ergebnis kann noch ein wenig präzisiert werden. Mit 1 Sam 8,7 und 10,19 wurden zwei Stücke mit 1 Sam 15* in Verbindung gebracht, die der sog. ‚königsfeindlichen Reihe‘143 zuzurechnen sind. Das ist insofern interessant, als in der Grundfassung von 1 Sam 15 von einer Parteinahme wider das Königtum nicht das Geringste zu spüren ist. Es erscheint eher wie eine mehr oder weniger hingenommene Gegebenheit. Für die Person Sauls bekundet sie sogar ganz offen eine gewisse Sympathie, indem sie Samuel für ihn eintreten läßt. Offensichtlich besteht das theologische Problem des Kapitels nicht darin, eine adäquate Staatsform für Israel zu entwerfen, sondern darin, das Schicksal Sauls verständlich zu machen. Es liegt m. E. nahe, hinter der theologischen Distanz, die zwischen 1 Sam 8,7; 10,19 einerseits und 1 Sam 15* andererseits sichtbar wird, auch eine entstehungsgeschichtliche Abständigkeit zu vermuten. Dabei dürfte 1 Sam 15* näherhin etwas später abgefaßt worden sein, weil die Vorstellung der Theokratie hier wie selbstverständlich vorausgesetzt wird (15,1–4*), während sie dort noch umstritten zu sein scheint. Damit ist schließlich die Frage nach dem Gegenstand der Erzählung in ihrer ältesten Fassung berührt. Grundlegend für 1 Sam 15* ist zunächst, wie bereits beobachtet, die Gehorsamsthematik. Es tritt aber noch ein anderer Gedanke hinzu, der sich wie ein roter Faden durch die Erzählung zieht, man könnte bei diesem Leitmotiv vom ‚Mitleidmotiv‘ sprechen. In V. 3 wird Saul aufgetragen, auf keinen Fall Mitleid mit Amalek zu haben (wyDlDo lOmVjAt aøl◊w). Um seine Mißachtung dieser Anweisung möglichst deutlich zutage treten zu lassen, wird dann in V. 9a* dasselbe Verb bemüht: gÎgSa_lAo l…waDv lOmVjÅ¥yÅw. Samuel legt kurze Zeit später ein ähnli–––––––––––––– 141 In 1 Sam 8–10 geht der Impuls zur Veränderung der politischen Ordnung vom Volk aus, so daß keine sich anschließende Verwerfung durch Jhwh vonnöten ist. Nach 1 Sam 15,23.26 hat König Saul das Wort Jhwhs verworfen, was umgehend zu seiner eigenen Absetzung führt (ebd. und 16,1; V. 7 ist davon zwar nicht ganz, aber doch weitgehend unabhängig). Jhwhs Gebote sowie seinen Bund mit Israel sieht 2 Kön 17,15 von den Israeliten verworfen, in 17,20 zieht Gott dann die entsprechenden Konsequenzen. 2 Kön 23,27 ist die einzige Stelle, an der von Jhwh gesagt wird, er habe sein Volk verworfen, ohne daß die Abwendung seines Volkes von ihm zuvor mit derselben Vokabel ausgesagt worden wäre (vgl. 2 Kön 23,26 sowie 21,11–16). 142 Vgl. Anm. 140 (Kap. 2). 143 Vgl. etwa KAISER: Grundriß, Bd. 1. S. 116.

88

1 Samuel 15,1–35

ches Verhalten an den Tag (wenngleich dies nicht mit Hilfe der Wurzel lmj ausgedrückt wird), indem er für den von Jhwh bereits aufgegebenen König fürbittend eintritt. Ein letztes Mal begegnet das Motiv in den V. 32f. Der gefangene König beklagt kurz vor seiner Hinrichtung sein dräuendes Schicksal, woraufhin ihm vom Propheten eine sehr ernüchternde Antwort zuteil wird: Weil er, Agag, zahllose Mütter ihrer Kinder beraubt habe, erwarte nun seine Mutter dasselbe Los. Daß hier ausgerechnet auf das Mutter-Kind-Verhältnis bzw. auf den Topos der Kinderlosigkeit abgehoben wird, um Agags Liquidierung zu rechtfertigen, dürfte kaum ein Zufall sein. Wäre es dem Autor lediglich um eine Strafmaßbegründung auf der Linie des ius talionis gegangen, hätte eine weniger melodramatische Formulierung völlig ausgereicht. Daß V. 33 eine andere Argumentationsebene wählt und bei der Lektüre das Bild weinender Mütter heraufbeschwört, dürfte sich der Raffinesse des Autors verdanken und nicht allein als Antwort auf Agags Seufzer zu verstehen sein. Vielmehr wird hier indirekt, aber gezielt die Mitleidthematik wiederaufgegriffen, um aufzuzeigen, weshalb der Auftrag aus V. 3 derart rigoros formuliert ist: weil nämlich Amalek selbst (angeblich) auch kein Erbarmen gekannt hatte in bezug auf Israel. Vor diesem Hintergrund muß sich das Mitleid Sauls weitaus weniger angebracht ausnehmen, während seine Verwerfung plötzlich leichter nachzuvollziehen wird. Damit aber erscheint Jhwhs Reue (V. 11), und d. h. letztlich er selbst, als gerechtfertigt. Gleichwohl verliert aber auch Saul nicht sein Gesicht; die Schuld liegt zwar nun eindeutig auf seiner Seite, doch hat sein Vergehen – für sich betrachtet – nichts Abstoßendes an sich.144 Überdies springt dem König mit Samuel ein prominenter Fürsprecher bei, was auf der Ebene der Textpragmatik den Effekt hat, daß sich allen noch nicht vollends überzeugten Lesern bzw. Leserinnen nun eine Identifikationsfigur bietet, mit der ihnen sozusagen ihre Vorbehalte gegenüber Jhwhs Ratschluß zugestanden werden. Zuletzt soll sich die Leserschaft natürlich ein Beispiel daran nehmen, daß diese Figur dann aber doch noch auf Jhwhs Linie einschwenkt. In all dem zeigt sich ein beträchtliches erzählerisches Geschick, das, weil es gezielt zum Erweis der Gerechtigkeit Gottes eingesetzt wird, zugleich einen fortgeschrittenen Umgang mit dem Problemfeld der Theodizee erkennen läßt. Darüber hinaus mag die Grundschicht wohl auch eine gewisse Sympathie für den verworfenen König nicht verhehlen. Doch während letzteres noch gut in die Exilszeit passen könnte, scheinen mir die beiden anderen Aspekte weit in die nachexilische Epoche zu weisen. In diese Richtung deutet auch ein Vergleich der beiden Verwerfungserzählungen: –––––––––––––– 144 Man vgl. dagegen die sog. ‚Schandtat von Gibea‘, durch die Saul über seine Herkunft quasi im vorhinein desavouiert wird. Vgl. hierzu BECKER: Richterzeit. S. 263. BECKER macht allerdings, da er 1 Sam 15 nur am Rande und überdies als ein Ganzes betrachtet, keinen wesentlichen Unterschied zwischen den antisaulidischen Tendenzen in Ri 19 und 1 Sam 15 aus.

Auswertung

2.3.2.5

89

Das Verhältnis von 1 Sam 15* zu 1 Sam 13,7b–15a

Vor dem Hintergrund der bis hierher erzielten Ergebnisse soll im folgenden untersucht werden, in welchem Verhältnis 1 Sam 15* und 13,7b–15a zueinander stehen, da sich nur auf diesem Wege zeigen kann, worin das Proprium der ‚zweiten Verwerfung Sauls‘ (Kap. 15*) besteht. Zugleich werden sich auch zusätzliche Hinweise auf das Alter von 1 Sam 15* aus dieser Untersuchung ergeben. Vorab sei auf einige Antwortversuche hingewiesen, die bisher in der Frage nach dem Verhältnis von1 Sam 15 zu 1 Sam 13,7b–15a unternommen wurden. STOEBE sieht einen entscheidenden „Unterschied darin, daß das, was dort [scil. in 13,7b–15a] erst als mögliches Geschehen anvisiert ist, hier [scil. in 1 Sam 15] als unwiderrufliches Faktum festgestellt ist.“145 Eine andere thematische Zuordnung nimmt MOMMER vor: Er hält 13,7bff. für die ‚Verwerfung der Dynastie‘, Kapitel 15* hingegen für die ‚Verwerfung der Person Sauls‘.146 Beide Verhältnisbestimmungen kranken vor allem daran, daß ihnen keine nennenswerte Begründung beigegeben wird. Eine ganz andere Richtung schlägt SEEBAß ein.147 Seine überaus komplizierte textgenetische Rekonstruktion läuft i. w. darauf hinaus, daß sowohl 1 Sam 15* als auch *13,7b–15a erst nachträglich zu einer Verwerfungserzählung umgestaltet wurde. Die Unhaltbarkeit dieser These liegt in der Menge der von ihr erforderten Zusatzannahmen begründet. „Die sog. Gilgal-Episode ist in die Schilderung der Philisterkämpfe Sauls (1. Sam. 13–14) sekundär eingebaut worden. Das ist offenkundig und allgemein akzeptiert.“148 In der Tat ist diese Passage (V. 7b–15a), die von einem Zusammentreffen Sauls und Samuels kurz vor Beginn der Philisterschlacht berichtet, vom Vorhergehenden deutlich abgesetzt: V. 6 und 7a beschreiben die Fluchtbewegungen von Israeliten und Hebräern, während 7b dies nicht notwendig voraussetzt, jedoch mit Subjekt- und Ortswechsel eindeutig einen Neueinsatz initiiert. Die Szene schließt in V. 15a mit dem Weggang Samuels und ist so auch gegen alles Folgende klar abgesetzt.149 Vorbereitet und überhaupt erst ermöglicht wird die Handlung von 13,7b–15a durch 1 Sam 10,8. Samuel instruiert hier den soeben zum König gesalbten Saul, vor ihm nach Gilgal hinabzugehen und dort sieben Tage lang zu warten, bis er zu ihm stoße, dem Jhwh diverse Opfer darbringe und Saul kundtue, wie er nun weiter zu verfahren habe. Der Vers steht in seinem

–––––––––––––– 145 STOEBE: a. a. O. S. 278f. 146 MOMMER: a. a. O. S. 141, dort auch weitere Literatur, und S. 162. Ähnlich bereits BERGES : Verwerfung. S. 290; BIRCH: Rise. S. 102f.107f.; KLEIN: WBC 10. S. 127; STOEBE: a. a. O. S. 252. 147 SEEBAß: I Sam 13–15. S. 154–157.176f. 148 DONNER: Verwerfung. S. 251. Vgl. auch dort die Verweise in Anm. 84. 149 Vgl. SEELIGMANN: Erzählung. S. 121.

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1 Samuel 15,1–35

Kontext etwas isoliert und wird darum von den meisten Exegeten zu 13,7b–15a hinzugenommen.150 Uneinigkeit herrscht in der Frage, ob dieser Einschub einen einheitlichen Block darstellt. Zumindest in jüngerer Zeit haben sich jedoch die Stimmen gemehrt, die von einer zweistufigen Entstehung ausgehen.151 M. E. dürfte damit das Richtige getroffen sein, allerdings lassen die bis heute vorgelegten textgenetischen Rekonstruktionen noch einige Fragen offen. Dies betrifft zunächst den mutmaßlichen Grundbestand der Episode. Nach VEIJOLA findet sich dieser in den V. 7b–12.15a, sekundär dagegen sind ihm zufolge die V. 13f.152 Sollte dem wirklich jemals so gewesen sein, hätte sich die kleine Szene mit einer sehr kargen Andeutung begnügt, um Samuels Mißbilligung gegenüber Sauls Handeln auszudrücken: DtyIcDo hRm lEa…wmVv rRmaø¥yÅw (V. 11a). Allenfalls den (nach dieser Rekonstruktion) wortlosen Abgang Samuels in V. 15a könnte man noch als indirekte Kommentierung des Verhaltens des Königs verstehen. Ein noch schwerwiegenderes Problem der V EIJOLAschen Hypothese besteht darin, daß sie kaum Gründe dafür benennen kann, genau diese zwei Verse und nur sie als spätere Einschaltung zu werten. Wenn ich recht sehe, sind es bei VEIJOLA vier Beobachtungen, die ihn dazu bewegen, die V. 13f. als sekundären Eintrag in den Abschnitt V. 7b–15a zu interpretieren: 1) In 1 Sam 13,14 begegnet erstmalig eine Aussage, die auf die Legitimation der Davididen-Dynastie abzielt. – 2) Der gesamte Abschnitt 7b–15a ist von einer gewissen Ambivalenz geprägt. Einerseits will er „offensichtlich die Verwerfung Sauls schildern“153, andererseits tut er „dies aber so, dass die Sympathie des Lesers auf Sauls Seite bleibt“154, indem er nämlich Saul exakt die von Samuel angeordnete Zeitspanne warten und dann angesichts der drohenden Kriegsgefahr beherzt handeln läßt – um ihn dann doch des Ungehorsams zu –––––––––––––– 150 Vgl. etwa WELLHAUSEN: Composition. S. 245f.; BUDDE: a. a. O. S. 69.82; VEIJOLA: Königtum. S. 115, Anm. 2; MOMMER: a. a. O. S. 136; KRATZ: a. a. O. S. 177. Anders DIETRICH (David. S. 67), der lediglich die Versteile 10,8abgba als *13,7bff. vorbereitenden Nachtrag versteht. Richtig daran ist zumindest soviel, daß sich 10,8 von 13,7b–15a insofern abhebt, als er in 8ag yEjVbˆz AjO;b◊zIl MyImDlVv formuliert, während Saul in 13,9a nur von MyImDlVÚvAh spricht. Ich vermute daher, daß es sich bei 10,8ag um eine Glosse handelt (ähnlich MOMMER : a. a. O. S. 142f.), für deren Einfügung entweder priesterliche Opfertheorien ausschlaggebend gewesen sein mögen (so MOMMER: ebd.) oder aber vielleicht auch 11,15, wo das Volk (zusammen mit Saul?) bereits MyImDlVv MyIjDb◊z in Gilgal darbringt. (Soll hier eventuell schon vor 13,7bff. eine Zuwiderhandlung gegen das Gebot Samuels angedeutet werden?) 10,8ag steht jedenfalls asyndetisch neben 8ab, worin sich der sekundäre Charakter des Teilverses zeigt. 151 Vgl. VEIJOLA: Dynastie. S. 55–57; MOMMER: a. a. O. S. 135–145; KRATZ: a. a. O. S. 176f.191; ähnlich auch STOEBE: a. a. O. S. 210f.252. Vgl. des weiteren DIETRICH: David. S. 67f. Er nimmt einen ursprünglich prosaulidischen Charakter des Abschnitts an, der später dann einer antisaulidisch orientierten Bearbeitung unterzogen wurde; dies wird allerdings kaum näher begründet. 152 Vgl. VEIJOLA: ebd. Ihm schließt sich KRATZ (a. a. O. S. 176f.191) uneingeschränkt an. 153 VEIJOLA: a. a. O. S. 55. 154 Ebd.

Auswertung

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bezichtigen. Diese Spannung baut sich maßgeblich zwischen den V. 13f. und den übrigen Versen des Abschnitts auf. – 3) Anders als in 10,8 angekündigt, bekommt Saul in V. 13f. keine neuen Anweisungen von Saul, sondern lediglich Vorhaltungen zu hören. Daß es sich bei Samuels Anordnung aus 10,8 um eine hÎwh◊y tÅwVxIm (so 13,13) handelt, verlautet dort nirgends. – 4) 13,13f. nehmen unschön und „ungeschickt die ausführlich geschilderte Verwerfung Sauls in 1 Sam 15“155 vorweg. Dagegen ist Folgendes geltend zu machen: Ad 1) Die nicht zu bestreitende legitimatorische Funktion der V. 13f. sagt nichts über die Stellung der beiden Verse zu ihrem Kontext aus, denn es ist durchaus möglich (und in diesem Falle m. E. sogar sehr wahrscheinlich), daß die V. 7b–12 dazu verfaßt wurden, um 13,13f. vorzubereiten. Ad 2) Die genannte Ambivalenz des Abschnitts ist in der Tat auffällig und bedarf einer Erklärung. Allerdings bleibt diese Spannung auch dann noch erhalten, wenn man V. 13f. entnimmt, weil sich in V. 11a zumindest ein gewisser Vorbehalt Samuels gegenüber dem König zeigt. – Oder rechnet VEIJOLA damit, daß in 7b–15a ein größeres ursprüngliches Textstück ausgefallen und durch ein anderes (die V. 13f.) ersetzt worden ist?156 Das würde allerdings eine nicht unproblematische Zusatzannahme bedeuten und ändert v. a. auch nichts am Charakter von V. 11. Ad 3) Daß Saul keine weiteren Anweisungen erhält und daß Samuel in 10,8 seine Worte nicht eigens als göttlichen Auftrag kenntlich macht, besagt allgemein nicht allzuviel und trägt für die Frage nach der Entstehung von 13,13f. kaum etwas aus. Ad 4) Ob die V. 13f. tatsächlich Kap. 15 lediglich antizipieren, ist noch zu untersuchen. Auf jeden Fall ergibt sich aber auch aus der Ähnlichkeit zu 1 Sam 15 kein zwingendes Argument, allein die V. 13f. aus dem Zusammenhang der V. 7b–15a herauszutrennen. Das einzige typische Anzeichen für Textfortschreibung in 13,7b–15a findet sich ausgerechnet in den V. 13f. selbst. In V. 13ba heißt es: hÎwh◊y tÅwVxIm_tRa D;t√rAmDv aøl JKD…wIx rRvSa ÔKyRhølTa.157 Vor diesem Hintergrund nimmt sich nun V. 14bbg (D;t√rAmDv aøl yI;k hÎwh◊y ÔKV…wIx_rRvSa tEa) deutlich wie eine Doppelung aus, so daß sich die Vermutung aufdrängt, einer der beiden Sätze könnte nachgetragen sein.158 Verglichen mit V. –––––––––––––– 155 VEIJOLA: a. a. O. S. 56. 156 Vgl. VEIJOLA: a. a. O. S. 56. 157 Möglicherweise muß hier statt der Negation aøl die Partikel (a)…wl gelesen werden, vgl. z. B. BUDDE: a. a. O. S. 87; WELLHAUSEN: Text. S. 83. Diese Konjektur ist allerdings nicht zwingend erforderlich, vgl. GK § 159dd sowie STOEBE: a. a. O. S. 245, Anm. 13 a). Sie unterliegt überdies dem Verdacht, eine lectio facilior zu generieren. Die nahe Parallele 1 Sam 14,30 schließlich ist zwar auffällig, jedoch nur bedingt aussagekräftig, da sie entstehungsgeschichtlich früher anzusiedeln sein dürfte als V. 7b–15a; vgl. etwa WELLHAUSEN: Composition. S. 245f. 158 Diese Doppelung sieht auch MOMMER (a. a. O. S. 137), ohne daraus allerdings Konsequenzen zu ziehen. Vielmehr rechnet er sowohl V. 13b als auch 14bbg einem deuteronomistischen Verfasser zu (vgl. a. a. O. S. 140), während der Grundbestand der Gilgal-Episode noch in die Zeit der Reichsteilung datieren soll (vgl. a. a. O. S. 141.145). Selbst wenn V. 13b.14bbg tatsächlich aus einer Feder stammen sollten, wäre doch eine Entstehung des Abschnitts im 10. Jahrhundert eher

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1 Samuel 15,1–35

14bbg macht 13,13ba einen etwas elaborierteren Eindruck: Erstens bemüht er das Abstraktum hÎwVxIm, zweitens formuliert er möglicherweise einen Irrealis159 und drittens fügt er an den Gottesnamen die Apposition ÔKyRhølTa an, was eine deutlich am Deuteronomium orientierte Diktion darstellt, hinter der V. 14bbg leicht zurückbleibt. Daher halte ich es für plausibler, daß V. 13ba nachgetragen wurde. Vermutlich ist auch V. 13bb hierzuzurechnen, da er V. 13ba voraussetzen dürfte160 und obendrein seinem Inhalt nach eine Dublette zu V. 14a bildet. Die Absicht hinter dieser Interpolation dürfte darin bestanden haben, noch deutlicher herauszustreichen, daß auch Saul anfangs die Verheißung einer ‚ewigen Dynastie‘ zugedacht war, er diese aber selbst im letzten Moment verspielte. Somit hat der Einschub 13,7b–15a anfangs vermutlich nur die V. 7b–13a. 14–15a umfaßt, bevor er von einem Interpolator um V. 13b erweitert wurde. Bei diesem ursprünglichen Versbestand erübrigt sich die Frage nach dem Alter der Erweiterung beinahe, denn die nomistische Tendenz und Sprache von V. 14b sind offensichtlich und zudem wiederholt festgestellt worden.161 Das auffälligste und dementsprechend häufig diskutierte Merkmal dieser Erzählung besteht darin, daß sie nicht vollkommen schlüssig zu erklären vermag, worin im einzelnen Sauls Verfehlung besteht. Die beiden grundlegenden Antwortmöglichkeiten scheinen klar zu sein: Entweder wartet Saul nicht lange genug auf die Ankunft Samuels, oder die Darbringung des Brandopfers bildet den Stein des Anstoßes.162 Weiterführend könnte der Ansatz MOMMERs sein, demzufolge diese Alternativsetzung letztlich zu kurz greift.163 S. E. verlangt Samuels Anweisung 10,8 von Saul, nicht allein das Ende der siebentägigen Frist abzuwarten, sondern auch die Ankunft Samuels, seine Darbringung der Opfer und seine weiteren Instruktionen. Diese Interpretation setzt ein sehr wörtliches Verständnis von 10,8 voraus,164 was im––––––––––––––

159 160 161

162

163 164

unwahrscheinlich (vgl. dazu grundsätzlich FINKELSTEIN / SILBERMANN : Posaunen. S. 167ff. und passim; NIEMANN: Ende. S. 127ff.). Überdies ändert sich auch durch die Eliminierung beider Teilverse nichts an der Disposition der Episode: In ihrem Zentrum steht Sauls Ungehorsam gegenüber dem Auftrag, der an ihn durch den Gottesmann Samuel ergangen ist – das aber ist genau der Stoff aus dem die sogenannten ‚DtrN‘-Passagen gemacht sind. Vgl. Anm. 157 (Kap. 2). Dies gilt unabhängig davon, ob man 13,13ba als Irrealis versteht oder nicht, vgl. GK § 159dd. Allen voran natürlich von V EIJOLA: a. a. O. S. 55–57. Vgl. ferner etwa KRATZ: a. a. O. S. 178; MOMMER: a. a. O. S. 140; etwas verhaltener (unter den Jüngeren) z. B. CAMPBELL: FOTL VII. S. 140; VERMEYLEN: Loi. S. 58f. Doch auch sie denken an deuteronomistische Verfasserkreise. Eine kleine Übersicht über verschiedene Einschätzungen bietet DONNER: Verwerfung. S. 252f.; er selbst votiert für die zweite Möglichkeit. Weitere Literatur bei MOMMER: a. a. O. S. 142, Anm. 47. Vgl. MOMMER: a. a. O. S. 142–144. Diese Deutung muß insbesondere davon ausgehen, daß es sich bei der Nennung der siebentägigen Frist und dem sich anschließenden Temporalsatz ...ÔKVl yI;tVoådwøh◊w ÔKyRlEa yIawø;b_dAo in 10,8b um zwei nicht gleichbedeutende, eigenständige Bedingungen handelt. Das ist prinzipiell möglich, entspricht aber m. E. nicht dem üblichen Sprachempfinden.

Auswertung

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merhin denkbar erscheint. Man wird jedoch zumindest noch einen zweiten Aspekt zu berücksichtigen haben: Sowohl die älteste Fassung von 13,7bff. als auch ihre Bearbeitung in 13,13b lassen keinerlei Interesse daran erkennen, die oben aufgeworfene Frage zu klären, an welchem Punkt der Handlung genau ein Fehlverhalten auf seiten Sauls vorliegt. Beide Fassungen begnügen sich mit dem bloßen, durch die Autorität des Propheten gedeckten Urteil, der König habe das Gebot Jhwhs mißachtet.165 Dieser Punkt markiert den vielleicht wichtigsten Unterschied der beiden Verwerfungszerzählungen: Die Erzählung 1 Sam 15* beläßt es nämlich nicht bei dem ebenfalls recht allgemein gehaltenen Schuldspruch V. 23b, sondern führt der Leserschaft gleich im Anschluß sehr drastisch Sauls Versäumnis vor Augen, indem sie Samuel selbst zum Schwert greifen und den bis dahin verschonten Amalekiterkönig niederstrecken läßt (V. 32f.). Dieser Befund läßt sich m. E. am plausibelsten so deuten, daß die Autoren von 13,7b–15a noch eine Leserschaft erwarteten, die das über Saul gesprochene Urteil gänzlich unhinterfragt ließ. Demgegenüber scheint bei der Abfassung von Kapitel 15* von Anfang an ein Lesepublikum im Blick gewesen zu sein, das die Berechtigung der Verwerfung Sauls in allen Teilen nachvollziehen können wollte. Damit ist bereits ausgesprochen, in welcher Reihenfolge die beiden Stücke verfaßt worden sein dürften: 1 Sam 13,7b–15a ist sehr wahrscheinlich 1 Sam 15* entstehungsgeschichtlich vorausgegangen.166 Für diesen Schluß lassen sich auch noch einige weitere Argumente beibringen: Erstens ist Kapitel 15* als Erzählung viel breiter angelegt und weist überdies – anders als 13,7bff. – einen weitgespannten literarischen Horizont auf (v. a. Ex 17,8ff.; zu 1 Sam 30 s. u.). Zweitens spielt der Halbvers 15,23b mit dem Verb (q) sam, indem er es zur Bezeichnung der Schuld wie auch der Strafe heranzieht. Vielleicht soll damit die Angemessenheit des göttlichen Urteils sprachlich verdeutlicht werden, auf jeden Fall zeigt sich hier zweifellos ein ausgeprägterer literarischer Gestaltungswille als in 13,13f. Drittens zeugt 15,23b – verglichen mit 13,13f. – auch in theologischer Hinsicht von einer fortgeschrittenen Reflexion. Anders als in der Erzählung von der ‚ersten Verwerfung‘ wird in Kapitel 15* nicht von einem einzelnen Verstoß gegen eine konkrete Anordnung Jhwhs gesprochen. Vielmehr wählt der Verfasser die Formulierung, Saul habe ‚das Wort Jhwhs verworfen‘ (hÎwh◊y rAb√;d_tRa D;tVsAaDm), und gibt damit eine etwas tiefgreifendere Kritik zu erkennen. Schließlich kann man noch auf das erzählerische Geschick verweisen, mit dem es dem Autor von 1 Sam 15* gelingt, die Abwendung Jhwhs von Saul als berechtigt zu erweisen, ohne dabei den König in Bausch und Bogen zu verdammen (dazu s. o.). Während hier offensichtlich gezielt Raum für Mitleid mit Saul gelassen wird (V. 11), ist in der anderen Erzählung nichts derglei–––––––––––––– 165 Vgl. auch WEISER: 1. Samuel 15. S. 216. 166 So u. a. auch DONNER: a. a. O. S. 259; FORESTI: a. a. O. S. 167 und passim; KRATZ: a. a. O. S. 191; SMITH: a. a. O. S. 130; genau umgekehrt WELLHAUSEN: Composition. S. 245.

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1 Samuel 15,1–35

chen zu entdecken. Auch in dieser Hinsicht nimmt sich also 1 Sam 15* deutlich elaborierter als 13,7bff. aus, und wiederum liegt es nahe, hier einen fortschreitenden Verfeinerungsprozeß anzunehmen und vor diesem Hintergrund in dem versierteren Erzähler den späteren zu vermuten. Der Vergleich von 1 Sam 13,7b–15a und 1 Sam 15* ergibt zum einen, daß die Abfolge der beiden Verwerfungserzählungen im ersten Samuelbuch der Reihenfolge ihrer Entstehung entspricht: Zunächst dürfte 13,7b–13a.14–15a in den Kontext eingesetzt und anschließend in einem zweiten Schritt um 13,13b ergänzt worden sein, dann erst wurde 1 Sam 15* abgefaßt. Daß 13,7bff. auf zwei verschiedene Bearbeiter zurückgeht, die beide eine stark von der Gehorsamsthematik geprägte Theologie vertreten, stützt die oben bereits des öfteren angedeutete Vermutung, 1 Sam 15* sei in die nachexilische Zeit zu datieren. Denn geläufiger Anschauung zufolge sind solche nomistischen Passagen (‚Dtr N‘) ungefähr ab der Spätphase des Exils entstanden. Bedenkt man weiterhin, daß 1 Sam 15* nicht nur P, sondern mit Ex 17,8–16 sogar schon ein nachpriesterschriftliches Erzählstück voraussetzt, und nimmt man für die Abfassung von P die Zeit um 500 v. Chr. an,167 so erscheint es am einleuchtendsten, die Entstehung von 1 Sam 15* um die Mitte des fünften Jahrhunderts anzusetzen.168

–––––––––––––– 167 Vgl. KAISER: Einleitung. S. 117; KRATZ: Komposition. S. 248. Anders z. B. LEVIN: Testament. S. 75; s. auch die Übersicht von Forschungspositionen bei KAISER (Grundriß. S. 58.60f.) und ZENGER (Werk. S. 166f). 168 Daß bei der Abfassung von 1 Sam 15* auch noch weitere schriftliche Überlieferungen neben den genannten eine Rolle gespielt haben, wie etwa EDELMAN (Battle. S. 79f.) vermutet, ist zwar durchaus möglich, jedoch allenfalls sehr mühsam wahrscheinlich zu machen (vgl. a. a. O. S. 71ff.).

3 3.1

1 Samuel 15,35–16,13 Einleitende Betrachtung

Die Erzählung von der Salbung des jungen David beginnt nach der üblichen Kapitel- bzw. Verseinteilung in 1 Sam 16,1 mit dem Auftrag Jhwhs an Samuel, einen neuen König zu salben. Dem geht mit 15,35 ein Vers voraus, der deutlich von der zuvor geschilderten Verwerfung Sauls zum neuen Abschnitt überleitet und zu diesem Zweck noch einmal zwei in 1 Sam 15 bereits gegebene Informationen wiederholt, die für das Folgende wichtig werden: a) Samuels Trauer um den von Jhwh verworfenen Saul (15,35ab; vgl. 15,11b) und b) Jhwhs Reue in bezug auf seine vormalige Entscheidung, Saul zum König über Israel einzusetzen (15,35b; vgl. 15,11a). Beide Punkte werden in 16,1 sofort wieder aufgegriffen, was den Schluß nahe legt, daß 15,35 als Einleitung für die Salbungsgeschichte geschrieben wurde und folglich mit dieser auf ein und derselben literarhistorischen Ebene liegt.1 Die Notiz 15,35aa , die anmerkt, Samuel habe den König Saul nach dessen Verwerfung bis zu seinem Tode nie wiedergesehen, hat vielleicht die Funktion, den in 15,34 erreichten erzählerischen Endpunkt noch einmal zu unterstreichen. Für die folgende Episode hat sie allein dadurch eine gewisse Bedeutung, daß sie den endgültigen Bruch zwischen Samuel und Saul signalisiert.2 Nach hinten hin ist die betreffende Texteinheit sehr klar durch den Vers 16,13 begrenzt, der sich in 13b eines geradezu klassischen Kunstgriffes bedient, um einen narrativen Schlußstrich zu ziehen, indem er nämlich Sauls Fortgang vom Ort des Gesche–––––––––––––– 1

2

Warum nach MOMMER (a. a. O. S. 177f.) 16,1 durch V. 1aa2b sekundär ergänzt und damit redaktionell an 15,35 angeglichen worden sein soll, vermag ich nicht einzusehen. Denn 15,35 enthält ja nur solche Informationen, die entweder von geringer Bedeutsamkeit (V. 35aa) oder aber bereits bekannt sind (V. 35abb). Beide Erzählzüge werden aber allein in 16,1–13 noch einmal wichtig, so daß man davon ausgehen kann, daß V. 35 von jeher 16, 1ff. vorbereitet hat. 15,35 und *16,1–13 müssen damit zwar noch nicht zwingend von ein und derselben Hand stammen, doch ist die Annahme einer zeitgleichen Entstehung naturgemäß die einfachste, der im übrigen auch nichts im Wege steht. Die Argumentation WELLHAUSENs (Composition. S. 248) ist interessant, wirkt jedoch etwas künstlich. Denn 16,1 soll kaum etwas über die Dauer der Trauer Samuels aussagen, sondern vielmehr deren Intensität veranschaulichen. 15,35 ist in der Tat ein ‚Haken‘, aber einer, den der Verfasser von 1 Sam 16,1–13 selbst ‚an der Wand‘, an Kap. 15, angebracht hat. Sie wird konterkariert durch die erneute Begegnung zwischen Samuel und Saul in 1 Sam 19,18–24 (dazu s. u.) und hat möglicherweise die Inspiration für die Abfassung von 1 Sam 28,3ff. geliefert, wo sich Samuel und Saul nach dem Tod des Propheten noch einmal gegenüberstehen.

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1 Samuel 15,35–16,13

hens erwähnt.3 Die folgende Untersuchungsschritt muß mithin neben der Perikope 1 Sam 16,1–13 auch den Scharniervers 15,35 miteinbeziehen. Der Gegenstand des zu analysierenden Textabschnitts ist die Salbung des bis hierher der Leserschaft noch nicht bekannten jungen David. Damit ist schon angedeutet, daß die kleine Erzählung zwei grundlegende Funktionen für den Fortgang des Geschehens (auf der Ebene des Textes in seiner ‚Endgestalt‘) erfüllt: Sie illustriert zum einen den Übergang der Königswürde von Saul auf David und führt zum anderen ausführlich den Letzteren in die Handlung ein. Hieraus wiederum ergeben sich zwei wichtige weiterführende Fragen in Hinblick auf die Genese des Textes: 1. Wie verhält sich diese Geschichte zu jener anderen, die von der Salbung Sauls berichtet (1 Sam 9,1–10,16)?4 2. In welcher Beziehung steht die hier vorliegende Einführung Davids zu jener Passage aus der Goliatepisode, die allem Anschein nach noch einmal denselben Zweck verfolgt (1 Sam 17,12–15)?5

3.2

Untersuchung

Die anmutige, eindrückliche und wohl aus diesem Grunde selbst heutigentags noch weithin bekannte Erzählung macht auf den ersten Blick einen homogenen Eindruck.6 Vor diesem Hintergrund ist es nur um so bemerkenswerter, daß innerhalb des AT nur ganz vereinzelt auf sie Bezug genommen wird.7 Allein der Abschnitt 16,14–23 scheint sich durch die Erwähnung der hÎwh◊y tEaEm hDo∂r_Aj…wr (V. 14) eng an 16,13 anzuschmiegen – ohne allerdings die Salbung Davids expressis verbis aufzugreifen. Wie aus dem oben bereits zu 15,35 Gesagten hervorgeht, baut der Text auf der Kenntnis der Verwerfungsgeschichte 1 Sam 15 auf. –––––––––––––– 3 4

5 6 7

Hierzu vgl. die oben in Kap. 2 unter Anm. 1 aufgeführte Literatur. Hierher gehört darüber hinaus die Frage nach dem Verhältnis zu den anderen beiden Salbungen Davids: 2 Sam 2,1–4 (vorgenommen durch die h∂d…wh◊y yEv◊nAa) und 5,1–5 (vorgenommen durch y´nVqˆz_lD;k lEa∂rVcˆy). Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch noch 1 Sam 19,18–24 zu bedenken, weil diese Episode erstens das Ende der Salbung Sauls aufgreift (1 Sam 10,10–12) und zweitens die einzige neben 16,1–13 ist, in der „Samuel und David positiv einander zugeordnet“ werden (MOMMER: a. a. O. S. 176f.). Zum Verhältnis der Einführung Davids aus 1 Sam 16,1-13 zum Abschnitt 16,14ff. s. 4.3. Zur literarischen Qualität der Erzählung s. den Verweis in Anm. 61 (Kap. 4). Wenn ich recht sehe, kommen hier sechs Stellen in Betracht (2 Sam 12,7; 19,22; 22,51; 23,1; 1 Chr 11,3; Ps 89,21), von denen jedoch nur eine einzige über allen Zweifel erhaben ist. Eine Salbung, die sowohl von Jhwh als auch von Samuel betrieben wird, kennt offensichtlich allein 1 Chr 11,3. Daran ändert auch nichts, daß zweifellos bei diesem Vers ebenso 2 Sam 5,3 Pate gestanden hat. 2 Sam 12,7 und Ps 89,21 erwähnen immerhin beide, Jhwh selbst habe David gesalbt, was freilich auch eine rückblickende theologische Überhöhung von 2 Sam 2,4 und 5,1–3 sein könnte. Die übrigen drei Stellen schließlich bezeichnen David lediglich als Gottes Gesalbten – auch das kann natürlich von 1 Sam 16,1–13 inspiriert sein, dürfte sich aber vielleicht ebensogut als sprachliche Konvention erklären lassen.

Untersuchung

97

Folgende Gliederung legt sich vom Ablauf des Geschehens her nahe: 15,35 Überleitung von der Vewerfung Sauls zur Salbung Davids 16,1–3 Beauftragung Samuels durch Jhwh 16,4f. Samuels Ankunft in Bethlehem und Vorbereitungen für die Opferfeier 16,6–10 Präsentation der sieben ältesten Söhne Isais 16,11–13 Salbung des jüngsten Sohnes und Schluß. Zu 15,35 wurde oben bereits alles Wichtige gesagt: Was der Vers anmerkt, ist allein in Hinblick auf 16,1ff. einer Erwähnung wert. Er unterstreicht mit V. 35aa das Erzählende in 15,34 und faßt in 35ab und b das zusammen, was für das Verständnis der sich anschließenden Salbungserzählung zu wissen nötig ist. 16,1 setzt nicht bloß dem Inhalt nach 15,35 voraus, sondern auch hinsichtlich des Sprachgebrauchs, indem er das in V. 35ab mit der Präposition lRa konstruierte Verbum (hitp) lba aufgreift.8 Der Vers ist auch insofern von seinem Vorgänger abhängig, als er offenkundig eine andere, spätere Situation zugrundelegt als die in 15,34 umrissene. Diese Differenz wird der Leserschaft bei der Lektüre allein durch die Notiz 15,35 vor Augen geführt, welche die direkte zeitliche Geschehensfolge des Kapitels 15 durch die Ausdehnung des chronologischen Horizonts bis zum Tode Samuels deutlich aufbricht. V. 1 kennt außerdem, wie man aus dem lEa∂rVcˆy_lAo JKølV;mIm wyI;tVsAaVm ersehen kann, bereits 15,23, vielleicht auch schon 15,26. Dabei ist allerdings zu beachten, daß alle drei Verse in ihren Formulierungen der Verwerfung Sauls leicht divergieren. Deutlicher indes ist die terminologische Kluft, die sich zwischen 16,1 und 16,7 auftut: Während nämlich in jenem Anfangsvers des Kapitels das Verb sam die Reaktion Jhwhs auf das Fehlverhalten des Königs bezeichnet, scheint es in V. 7 lediglich den Gegensatz zu rjb zu bilden (vgl. V. 8f.).9 V. 2 schließt sich nahtlos an und bietet keinerlei sprachliche Schwierigkeiten. Allerdings enthält der Vers zwei Vorstellungen, die sich etwas mit ihrem Kontext stoßen. Erstens erscheint das Verhältnis zwischen Prophet und König hier im Gegenüber zu 1 Sam 15 oder auch 13 auffällig verschoben. Denn dort ist Samuel noch eine dem König übergeordnete Autorität, die von jenem uneingeschränkt respektiert wird. Hier dagegen (V. 2a) fürchtet sich der Prophet vor dem König und den von ihm zu erwartenden Mordanschlägen.10 Samuels ängstliches Auftre–––––––––––––– 8

9 10

Die Abhängigkeit wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, daß (hitp) lba in Kombination mit der Präposition lRa im AT einzig an diesen beiden Stellen zu finden ist; vgl. MOMMER: a. a. O. S. 178. Vgl. ebd. Vgl. WELLHAUSEN: Composition. S. 248. Vgl. insbesondere auch MOMMER: a. a. O. S. 177f., der zwar ganz andere Schlüsse aus dem erwähnten Faktum zieht, aber weitere Literaturverweise bereit hält. Sehr naheliegend, wenn auch logisch nicht zwingend, ist die Vermutung STOEBEs (a. a.

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1 Samuel 15,35–16,13

ten steht zudem auch in einem gewissen Kontrast zu der Szene, in der ihm bei seiner Ankunft die Ältesten des Ortes bibbernd entgegenziehen (V. 4b). Zweitens fragt man sich beim Lesen von V. 2b, weshalb ein Prophet, der bei der Bevölkerung in derart hohem Ansehen steht, mit eigener Hand Schlachtvieh herbeischaffen muß, um in Bethlehem Opfer darbringen zu können.11 Darüber hinaus ist noch interessant, daß der von Jhwh selbst vorgegebene Wortlaut, mit dem sich Samuel gegenüber neugierigen Fragern aus der Affäre ziehen soll (V. 2bg : AjO;b◊zIl yItaD;b hÎwhyAl), tatsächlich auch in genau dieser Form vom Propheten etwas später angewandt wird (vgl. V. 5aa). V. 3 bildet eine gute Fortsetzung zum Vorangegangen, denn Jhwh gibt dem Samuel hier noch einige weitere Instruktionen mit auf den Weg: Zunächst wird ihm befohlen, zu jener vorgeschützten Opferfeier den Bethlehemiter Isai einzuladen (V. 3a), was sich auch mit Blick auf den Inhalt blendend an V. 2b fügt, sodann verspricht Jhwh, seinen Propheten beizeiten alles Nötige wissen zu lassen, und schärft ihm schließlich ein, wirklich nur den zu salben, den er ihm nennen wird (V. 3b). Grundsätzlich wäre der Vers auch als direkte Weiterführung von 16,1 denkbar. Doch fügt sich das Perfectum consecutivum Dta∂r∂q◊w, dem ein weiteres in V. 3bb folgt, stilistisch ein wenig besser zum V. 2b, in dem ebenfalls ein Befehl Jhwhs durch Verwendung des Perfekts ausgedrückt wird.12 Denn 16,1b enthält zwar zu Beginn einen Imperativ, doch endet der Halbvers mit einem indikativischen Hauptsatz (V. 1bb). Merkwürdig wirkt die Formulierung jAbÎΩzA;b yAvˆyVl Dta∂r∂q◊w, weil man üblicherweise nicht die Präposition b, sondern l erwarten sollte,13 und zwar um so mehr, als einerseits eben diese Wendung in V. 5b tatsächlich auch auftaucht und andererseits die LXX hier wie dort ei˙ß th\n qusi÷an liest.14 Desungeachtet besteht aber keine Veranlassung, hier eine Konjektur vorzunehmen, da eine solche lediglich der lectio difficilior ausweichen würde. V. 3a ist aber auch auf der Erzählebene aufschlußreich. Die Einladung zum Opfermahl soll ihm zufolge nämlich allein an Isai ergehen. Daß Samuel in V. 5b neben Isai auch dessen Söhne zu Tisch bittet, mag man noch damit erklären, daß in 16,3a die männlichen Nachkommen des Bethlehemiters stillschweigend mitgemeint sind. Doch spätestens, wenn der Prophet in V. 5a auch die Ältesten kurzerhand zum Opfer lädt, zeigt sich eine deutli–––––––––––––– 11 12 13 14

O. S. 303), daß „[d]as Moment der Furcht Samuels vor Saul, nach Kap. 15 überraschend, [...] die Kenntnis von Sauls Rache an den Priestern von Nob Kap. 22 voraus[setzt] [...].“ Ähnlich schon BUDDE: a. a. O. S. 115; vgl. auch GREßMANN: a. a. O. S. 64. D;t√rAmDa◊w, die sich anschließenden Worte sind Teil dieses Befehls und unterbrechen die Folge D;t√rAmDa◊w Dta∂r∂q◊w ... somit nicht. Vgl. etwa DRIVER: a. a. O. S. 132; BUDDE : a. a. O. S. 115; STOEBE: a. a. O. S. 300, Anm. 3 a). STOEBE entscheidet sich indes dennoch (und mit Recht) für die Lesart des MT. Peschitta und Vulgata deuten ebenfalls eher auf ein l in V. 3a.

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che Inkonsistenz der Erzählung.15 Denn insbesondere V. 3b legt ja ganz offensichtlich Wert darauf, daß Samuel bei seinem weiteren Vorgehen strikt Jhwhs Anweisungen befolgt, was sich nicht gut mit der Spannung zwischen V. 3a und 5a vereinbaren läßt. 16,3b stimmt dagegen mit V. 12b und vor allem mit V. 6f. überein, wo Samuels eigene Vorstellungen hinsichtlich der Eignung des Eliab umgehend von Jhwh korrigiert werden. Mit V. 4aa wird zunächst die Ausführung dessen festgestellt, was Jhwh seinem Propheten aufgetragen hatte. Das ist zweifellos eine geradezu idealtypische Fortsetzung der V. 1–3. Allerdings könnte sich bei genauerem Hinsehen ein Problem durch V. 4ab ergeben. Dort wird nämlich offensichtlich mitgeteilt, wie Samuel weiter verfährt, nachdem er die göttlichen Instruktionen befolgt hat: „...und er kam nach Bethlehem hinein.“ Die Erzählung setzt hier nach der summierenden Notiz V. 4aa ganz deutlich an jener Stelle wieder ein, an der Samuel die Ortschaft betritt. Doch zu diesem Zeitpunkt ist von dem, was Samuel befohlen worden ist, noch längst nicht alles umgesetzt: Samuel hat weder bereits das Opfer für Jhwh als Grund seines Kommens vorgeschoben (V. 2bbg ) noch Isai eingeladen (V. 3a) geschweige denn irgendjemanden zum König gesalbt (V. 3bbg). Bei seiner Ankunft kann Samuel lediglich den ersten drei Anordnungen Jhwhs Folge geleistet haben, namentlich sein Ölhorn zu füllen, loszugehen (V. 1b) und eine junge Kuh mitzunehmen (V. 2b).16 Man wird also in bezug auf V. 4a zumindest soviel sagen dürfen, daß der Halbvers, wenn er streng beim Wort genommen wird, (vor dem Hintergrund der V. 5.12f.) in einer gewissen Spannung zu V. 2bbg.3 steht. Diese relativiert sich allerdings weitgehend, wenn man die Parataxe aus V. 4a nicht als Ausdruck einer chronologischen Abfolge versteht,17 sondern als eine Explikation des ersten selbständigen Satzgefüges (V. 4aa ) durch das zweite (V. 4ab). Hierbei ist zu beachten, daß explizierende Passagen wie 4ab nicht unbedingt die jeweils vorausliegende Anweisung in allen Einzelheiten wiederholen müssen, vielmehr bisweilen das eine oder andere Element des Angeordneten unterschlagen und anscheinend als in der ‚Erfüllungsformel‘18 bereits enthalten –––––––––––––– 15 16

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Vgl. auch BUDDE: a. a. O. S. 115. Selbstverständlich kann man mit einem gewissen Recht einwenden, V. 4aa müsse nicht zwingend aussagen, Samuel habe bereits alles in die Tat umgesetzt, was ihm von Jhwh aufgegeben worden war. Denn die Leserin resp. der Leser versteht den Teilvers ganz intuitiv und ohne Schwierigkeiten durch den Kontext (V. 4abff.) als partielle Verwirklichung des göttlichen Gebotes. – Diese Möglichkeit besteht in der Tat, ist allerdings keineswegs wesentlich wahrscheinlicher als die andere, so daß m. E. eine argumentative Pattsituation entsteht. Ich beschränke mich daher darauf, die Spannung zwischen V. 1–3 und 4aa festzustellen. Zwei schöne Beispiele, bei denen ein 1 Sam 16,4aa ähnlicher Satz nicht durch das Folgende näher ausgeführt wird, sondern einfach die Erfüllung des zuvor Gebotenen berichtet, an die sich dann das weitere Geschehen anschließt, finden sich in Num 23,2.30. Damit bezeichne ich jene relativ häufig begegnenden Formulierungen, die (wie 1 Sam 16,4aa) mit den Worten ... NN rDmDa / rE;bî;d / hÎ…wIx rRvSa(A;k) NN cAoÅ¥yÅw o. dgl. den Vollzug einer im Vorfeld ge-

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denken können.19 Mithin kann an dieser Stelle nicht entschieden werden, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang V. 4a die V. 2 und 3 voraussetzt. Sicher ist allein die Abhängigkeit des Halbverses von 16,1. Was V. 4b berichtet, dient in erster Linie dazu, V. 5a vorzubereiten. Der übergroße Respekt, den die Einheimischen dem Propheten zollen, steht, wie schon erwähnt, in einem sonderbaren Kontrast zu dem, was Samuel von seiten des Königs befürchtet. Sehr ähnlich, nicht allein dem Motiv, sondern vor allem auch der Formulierung nach, ist 1 Sam 21,2b.20 Anders als 16,4b baut das, was auf 21,2b folgt, allerdings auf dem dort Geschilderten auf. Zudem ist die Reaktion Ahimelechs in 21,2b insofern verständlich, als David dort – wenig standesgemäß – ohne einen einzigen Gefolgsmann auftritt und die Szene somit durchaus dazu angetan ist, schlimme Befürchtungen zu wecken. Dagegen kommt die Furcht der Ältesten in 16,4b reichlich überraschend. 21,2b ist mit anderen Worten im Unterschied zu 16,4b fest in seinen literarischen Kontext integriert. Im übrigen bietet 16,4b noch drei kleine textliche Schwierigkeiten: Daß der MT in V. 4bb anstatt des zu erwartenden Plurals den Singular rRmaø¥yÅw liest, ist vielleicht auf einen Schreibfehler zurückzuführen.21 Die Interrogativpartikel h, die manche vor dem MølDv ergänzen wollen,22 wird von der Syntax nicht unbedingt erfordert,23 sondern erweckt vielmehr den Eindruck, den Text sprachlich glätten zu wollen. Das hRaørDh, das LXX und 4QSamb bezeugen, ist lectio longior und könnte angefügt worden sein, um dem Text einen archaischen Anstrich zu verleihen (vgl. 1 Sam 9,9.11.18f.) oder um die Parallelität des Erzählten zur Salbung Sauls zu unterstreichen.24 V. 5a führt den in 16,4b aufgenommenen Faden fort und berichtet, wie Samuel den Ältesten zu verstehen gibt, daß er in friedlicher Absicht, nämlich um Jhwh ein Opfer darzubringen, gekommen sei und wie er sie dann auch gleich zu dieser Zeremonie einlädt. Diese allgemeine Beteiligung am Schlachtopfer scheint, wie oben bereits gezeigt, V. 3a.5b.13a zu widersprechen. Das Problem hängt ––––––––––––––

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gebenen Anordnung zum Ausdruck bringen wollen; vgl. etwa Gen 21,1; 43,17; Ex 7,6; Lev 8,4; Num 23,30; 1 Sam 28,17; an Variationen bzw. verwandten Formulierungen vgl. z. B. Gen 6,22; Ex 16,24; Num 31,7. Vgl. Gen 43,16f.(18–24); Rut 3,1ff. (bes. 3,6). Dort ist mit der LXX ... wøta∂rVqIl JKRlRmyIjSa dårTj‰¥yÅw zu lesen, vgl. dazu 9.2 zur Stelle. Vgl. BUDDE: a. a. O. S. 115; BUDDE konjiziert unter Berufung auf den Plural der LXX. Möglich ist auch die Konjektur zum Partizip, m., Sg. + Artikel rEmOaDh, die z. B. DRIVER (a. a. O. S. 132.) vertritt. Als unpersönlichen Ausdruck deuten den Singular BROCKELMANN: a. a. O. § 36d; GK § 144d. Das Problem kann und muß hier nicht weiterverfolgt werden. Z. B. BUDDE: ebd. Vgl. DRIVER: a. a. O. S. 133; GK § 150a. DRIVER etwa verweist mit Recht auf 2 Sam 18,29 als analogen Fall. Gegen BUDDE: ebd.

Untersuchung

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indessen zuallererst davon ab, ob V. 5ag wirklich nach dem MT (jAbÎΩzA;b yI;tIa MRtaDb…w)25 oder besser nach der LXX (kai« eujfra¿nqhte met∆ e˙mouv sh/meron)26 zu lesen ist. Weil mit der LXX-Fassung genau jene Spannung hinsichtlich der Zahl der geladenen Teilnehmer an der Kultmahlzeit verschwindet,27 verdient der MT auch hier den Vorzug. Doch nicht nur die Liste der Geladenen nimmt sich in V. 5a und 5b verschieden aus. 16,5ab setzt voraus, daß sich die Gäste selbständig kultisch vorbereiten können (…wv√;dåqVtIh), in V. 5b hingegen, bei Isai und seinen Söhnen, übernimmt diese Aufgabe der Prophet. 16,5b könnte überdies genauso gut direkt an V. 4a anschließen; von dem, was in den V. 4b.5a geschildert ist, wird nichts in den folgenden Versen präsupponiert. Für den Verlauf der Geschichte insgesamt stellt V. 5b darüber hinaus einen unverzichtbareren Bestandteil dar, weil hier Samuel und Isai erstmalig miteinander in Berührung kommen und sich auch keine Alternative für die Andeutung dieses ersten Kontakts finden läßt. Denn V. 11 setzt mit der Erwähnung der MyîrDo◊n bereits eindeutig 16,5b voraus.28 Was die literargenetische Einordnung von V. 5a anbelangt, ist daran zu erinnern, daß das Verb vdq (hitp) überwiegend in der Chronik begegnet.29 Der Handlungsfaden verwirrt sich in den V. 6–10 dann zusehends. Das beginnt gleich in 16,6a: Wo mag sich das, was dieser Vers schildert, nach Absicht seines Verfassers zutragen? Und welches Geschehen bildet seinen szenischen Hintergrund? Offenkundig ist an einen geschlossenen Raum gedacht, den Isai und seine Söhne erst betreten müssen. Dafür spricht zumindest, daß Samuel den

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So u. a. HERTZBERG: a. a. O. S. 107 und 109; STOLZ: a. a. O. S. 105. So WELLHAUSEN: Text. S. 101; BUDDE: a. a. O. S. 116 u. v. a. WELLHAUSEN argumentiert auf zwei verschiedenen Ebenen: a) auf der stilistischen und b) auf der psychologischen. Die LXXFassung ist s. E. ursprünglich, weil a) dadurch die Doppelung jAbÎΩzA;b ... (V. 5a g) / jAbÎΩzAl ... (V. 5bb) vermieden wird und b) „weil der nackte Ausdruck Erklärung des verhüllten sein kann, nicht aber umgekehrt der verhüllte der des nackten“ (W ELLHAUSEN: ebd.). Das erste Argument funktioniert besser in umgekehrter Richtung und das zweite rechnet so sehr mit psychologischen Motiven, daß es die erzähllogischen Spannungen übersieht, welche die LXX ausräumen zu wollen scheint. – BUDDE führt überdies noch das Argument an, der griechisch überlieferte Wortlaut passe viel besser als Entgegnung auf die Furcht der Stadtältesten. Darin kann man jedoch auch ebensogut ein exzellentes Motiv für die Schöpfer der LXX (oder ihrer Vorlage) erblicken, den MT abzuwandeln. Die Ältesten brauchen sich hier nur noch zu lustrieren und mit Samuel zusammen zu freuen – an der Opferhandlung teilnehmen sollen sie nicht. Vgl. HERTZBERG : ebd. – Warum STOEBE sich gegen diese richtige Beobachtung HERTZBERG s wendet (vgl. STOEBE: a. a. O. S. 300f., Anm. 5 c)), deutet er leider nicht einmal ansatzweise an. Daran ändern auch die V. 6–10 nichts, denn sie sind ihrerseits ebenso auf die Erwähnung der Söhne Isais aus V. 5b angewiesen. Vgl. oben in Kap. 2 Anm. 106.

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Eliab erst MDawøbV;b erblickt.30 Aber ob dies nun der Ort ist, an dem die Kultmahlzeit eingenommen werden soll,31 oder vielleicht einer, an dem die kultische Reinigung Isais und seiner Familie zu erfolgen hat,32 bleibt unklar, obschon die erste Möglichkeit m. E. ein wenig wahrscheinlicher ist.33 Unzweifelhaft ist hingegen, daß 16,6a den V. 5b kennt und an ihn anknüpft, denn das Suffix der 3. m. Pl. am Infinitiv constructus MDawøbV;b verweist auf Isai und seine Söhne (V. 5ba) zurück.34 Mit V. 6b scheint die Handlung zunächst weiterzulaufen: sobald Samuel den Ältesten Isais gesehen hat, hält er ihn schon für den von Jhwh vorgesehenen König. Auch die Reaktion Jhwhs (V. 7) schließt sich prompt und paßgenau an. Die V. 8–10 bergen dagegen eine zweite große Ungereimtheit: Isai läßt seine sieben anwesenden Söhne wie auf dem Laufsteg vor Samuel entlangschreiten, und der Prophet muß ihm jedesmal erneut bescheiden, daß Jhwh auch diesen Sohn nicht erwählt habe. Es ist offensichtlich, daß hier davon ausgegangen wird, Isai wisse längst über Gottes Plan Bescheid – was sich allerdings bis hierher mit keinem Wort angedeutet hat.35 Sieht man hiervon einmal ab, macht der Abschnitt 16,6–10 für sich genommen einen recht homogenen Eindruck, da die fünf Verse konsequent und folgerichtig aufeinander aufbauen. Mit seinem Kontext kollidiert der Passus jedoch des öfteren. Neben den soeben genannten beiden Punkten, ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß V. 7a das Verbum sam in einem anderen Sinn gebraucht als z. B. 16,1. Hinzu kommt die Abwertung der äußeren Erscheinung Eliabs (V. 7), die schwerlich auf einer Linie mit V. 12a liegen kann, weil dort mit einiger Genugtuung und ganz ohne Vorbehalte Davids ansprechendes Aussehen hervorgehoben wird.36 In V. 7ba wird von den meisten in Anlehnung an den Text der LXX statt des rRvSa ein rRvSaA;k gelesen und nach M∂dDaDh hRa√rˆy die Apodosis MyIhølTa(Dh) hRa√rˆy ergänzt.37 Dieser Vorschlag ist verlockend, weil auf diese Art aus dem im MT schwerver–––––––––––––– 30

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Das Suffix dürfte sich auf das wyÎnD;b_tRa◊w yAvˆy_tRa des Vorverses rückbeziehen. Grundsätzlich könnte auch Samuel miteingeschlossen sein, doch ist dies nicht sehr wahrscheinlich, da in diesem Fall ungeklärt bleibt, warum der Blick des Propheten ausgerechnet beim Eintreten auf Eliab fällt. So scheint es BUDDE (a. a. O. S. 116) zu sehen. So WELLHAUSEN: Text. S. 101. Dafür spricht v. a. die Abfolge der Handlungen in V. 5b (zuerst Lustration, dann Einladung), die doch aller Wahrscheinlichkeit auch eine zeitliche Folge meinen dürfte und dementsprechend in V 6ff. die Schilderung der Opferzeremonie oder ihres Beginns erwarten läßt. Das Suffix kann sich nicht unter Absehung von V. 5b auf die Ältesten aus V. 4b.5a beziehen, weil dann völlig unklar bliebe, wie Samuel in 16,6b Eliab als Sohn Isais erkennen kann. Auch BUDDE (a. a. O. S. 116) entdeckt hierin „ein Zeichen der Gedankenlosigkeit des Erzählers.“ Vgl. etwa STOEBE: a. a. O. S. 304f.; D IETRICH: David. S. 53; ebenso, wenn auch vorsichtiger STOLZ: a. a. O. S. 108; MOMMER: a. a. O. S. 180. Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 101; DRIVER: a. a. O. S. 133; BUDDE: a. a. O. S. 116; ähnlich CROSS: DJD 17. S. 228; STOEBE: a. a. O. S. 301, Anm. 7 c).

Untersuchung

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ständlichen Teilvers ein eingängiger Sinnzusammenhang entsteht. Genau dies ist andererseits aber auch ein Grund dafür, weshalb gegenüber der LXX-Lesart Vorsicht geboten sein dürfte: die griechische Fassung stellt eindeutig die lectio facilior dar. Ferner ist kaum einleuchtend zu erklären, wie aus diesem glatten Satzgefüge der merkwürdige V. 7ba hervorgegangen sein soll.38 Wahrscheinlicher nimmt sich daher die Möglichkeit aus, daß 16,7ba (MT) die älteste Lesart repräsentiert und grammatikalisch als Breviloquenz oder als Anakoluth aufgefaßt sein will.39 16,7b ist als eine weisheitliche Sentenz ohne Gegenstück innerhalb des gesamten Kapitels.40 Die in V. 6–10 beschriebene Prozedur erinnert in manchem an 10,17–27, die Wahl Sauls zum König über Israel mittels Losentscheid: Hier wie dort wird das Verbum b rjb in bezug auf Jhwh und seine jeweilige Willensbekundung gebraucht (10,24; 16,8–10), beide Male vollzieht sich das Geschehen als eine Auswahl aus einer größeren Menge potentieller Kandidaten. Doch gibt es auch Unterschiede,41 deren wichtigster die konträre Bewertung der äußeren Gestalt des künftigen Königs sein dürfte: In 10,23f. wird die Körpergröße Sauls offensichtlich hochgeschätzt, in 16,7 dagegen ausdrücklich als adäquates Kriterium ausgeschlossen. Die Namen der drei Söhne Isais werden noch einmal etwas später in 17,13 genannt; dort wird über 16,6–10 hinausgehend erwähnt, daß es sich bei ihnen um die drei ältesten Söhne handelt. In 16,11 tritt die Königskür in ihre entscheidende Phase: Samuel erkundigt sich bei dem Familienvater, ob eigentlich jeder seiner Söhne anwesend sei, und erfährt so von der Existenz Davids, der gerade außer Hauses ist, um das Kleinvieh zu hüten. Samuel ordnet daraufhin an, auch diesen Kleinsten umgehend herbeizuschaffen. Bereits die Zusammenfassung macht klar, daß dieser Vers den Abschnitt 16,6–10 hervorragend weiterzuführen vermag. Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen auch, daß er jenen Vorlauf nicht voraussetzt: V. 11 kann mindestens ebensogut an V. 5b anknüpfen, weil er mit keinem einzigen Wort eine –––––––––––––– 38

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STOEBE (a. a. O. S. 301, Anm. 7 c)) denkt an ein Homoioarkton, so auch CROSS: a. a. O. S. 228. Dagegen wendet BARTHÉLEMY (Critique. S. 189) völlig zu Recht ein: „De fait, Mdah hary aurait pu être sujet à une chute accidentelle (par homéoarcton), mais pas les deux mots que suive ceuxlà... et cela n’expliquerait en tout cas pas la chute dans le *M [scil. MT] du ‘kaf’ que le *G [scil. LXX] attesterait avant rva (au cas où on lui attribue une Vorlage précise).“ Zu den Übersetzungsmöglichkeiten vgl. BARTHÉLEMY: a. a. O.; STOLZ: a. a. O. S. 105. Zu dieser Bewertung des literarischen Charakters des Verses vgl. MOMMER: a. a. O. S. 180; S TOLZ : a. a. O. S. 107; STOEBE: a. a. O. S. 304. Daß Gott das Herz des Menschen sieht resp. prüft, ist ein recht verbreiteter Topos im Sprüchebuch, vgl. hierzu z. B. Spr 11,20; 15,11; 16,5; 17,3; 21,2; 24,12. Geläufig zumindest ist auch die Entgegensetzung von Gott und Mensch, vgl. etwa Spr 16,1.9; 20,24; 29,25. Weitere weniger bedeutsame Differenzen finden sich knapp aufgelistet bei MOMMER: a. a. O. S. 179f.

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Kenntnis der V. 6–10 verrät. Stilistisch betrachtet stößt sich V. 11 sogar ein wenig mit seinem Vorvers, und zwar insofern, als er mit den Worten yAvˆy_lRa lEa…wmVv rRmaø¥yÅw beginnt und damit die Redeeinleitung V. 10ba doppelt. Dies ist deswegen recht ungewöhnlich, weil Samuels Worte, mit denen er sich an Isai wendet, nach V. 10bb direkt, d. h. ohne erneute Einführung, und völlig problemlos in V. 11 mit der Frage MyîrDo◊…nAh …w;mAtSh weiterlaufen könnten. Daß David der jüngste im Kreis der acht Brüder ist, berichtet neben V. 11 auch 17,14. Als Kleinviehhirte ist er darüber hinaus auch noch in 16,19; 17,15.20.28.34 und 2 Sam 7,8 bekannt. Die zweite Vershälfte läßt den Erzählfaden konsequent weiterlaufen und bietet wenig Überraschendes. Schwierig zu vokalisieren wie auch zu interpretieren ist das Prädikat bsn, es scheint hier aber doch wohl soviel wie ‚sich zu Tische legen‘ zu meinen.42 Für die textgenetische Analyse ist die genaue Bedeutung des Verbs indessen unerheblich, weil sich von ihm in keinem Fall erschließen läßt, ob die V. 6ff. nun den Lustrationsvorgang oder bereits die Opferfeier selbst zum Hintergrund haben. V. 12 schließt wiederum nahtlos an das bisher Erzählte an: Isais Jüngster wird augenblicklich herbeigeschafft und erweist sich (ungeachtet des V. 7) als hübscher Knabe (yIaør bwøf◊w MˆyÅnyEo hEp◊y_MIo yˆnwøm√dAa a…wh◊w). Sein Aussehen wird in 17,42 ganz ähnlich beschrieben: hRa√rAm hEp◊y_MIo yˆnOm√dAa◊w rAoÅn. In der Beschreibung von 16,18 (rwø;bˆg◊w N´…gÅn AoédOy wø;mIo hÎwhyÅw rAaø;t vyIa◊w rDb∂;d Nwøb◊n…w hDmDjVlIm vyIa◊w lˆyAj) liegt eine weitere Parallele vor, in der Davids angenehme Erscheinung jedoch nur ein Vorzug unter vielen ist. Den Widerspruch, der zwischen V. 7 und V. 12 besteht, wurde offensichtlich schon von den Verfassern der LXX wahrgenommen, die vermutlich aus diesem Grunde am Ende von V. 12a das Wort kuri÷wˆ einfügten.43 Auch alles übrige der Erzählung läuft gleichmäßig und folgerichtig fort: Nachdem Samuel von Jhwh Bescheid bekommen hat, den hübschen Hirtenjungen zu salben (V. 12b), schreitet der Prophet augenblicklich zur Tat und vollzieht (entgegen V. 5a) im kleinen Kreise den Ritus an David. Daraufhin ergreift der Geist Jhwhs von David Besitz und verläßt ihn auch fortan nicht mehr (V. 13a). Die Geschichte schließt ein bißchen abrupt mit dem plötzlichen Weggang Samuels (V. 13b), ohne sich im mindesten um das weitere Ergehen des Gesalbten und seiner Familie zu kümmern. Daß allein die Familie Davids Zeuge seiner Salbung zum König wird, ist angesichts der Befürchtungen Samuels zwar einleuchtender als die Anwesenheit der Stadtväter ganz Bethlehems, paßt aber dennoch nicht gut zu V. 2.44 –––––––––––––– 42 43 44

Vgl. KBL3, Art. bbs, S. 698; BUDDE: a. a. O. S. 117. Für weitere Vorschläge und die dazugehörige Literatur vgl. STOEBE: a. a. O. S. 301f., Anm. 11 d). Vgl. HERTZBERG: a. a. O. S. 107; STOEBE: a. a. O. S. 302, Anm. 12 c); WELLHAUSEN: Text. S. 102. So auch BUDDE: a. a. O. S. 117.

Auswertung

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Bemerkenswert ist ferner die Wirkung der Geistbegabung Davids: Während es sich an allen anderen vergleichbaren Stellen, an denen die Wurzel (q) jlx in Verbindung mit dem Wort jwr zu finden ist,45 um spontane, vorübergehende ‚Geisteszustände‘ handelt, währt die ‚Inspiration‘ hier hDlVoDmÎw a…whAh Mwø¥yAhEm. Mit 1 Sam 18,10 verbindet den Vers immerhin, das Verbum mit der Präposition lRa, anstatt mit lAo zu kombinieren, wie es die restlichen Belege tun. Interessant ist schließlich, daß der Name ‚David‘ in der Geschichte erst ganz zum Schluß erwähnt wird. Schon seit V. 11 hätte man seine Nennung eigentlich erwarten können. Doch fällt er erst jetzt, nach der Salbung, im Zusammenhang mit dem Eindringen46 der hÎwh◊y_Aj…wr.47

3.3 3.3.1

Auswertung Die Bearbeitungen

Im Durchgang durch den Text (in seiner ältesten, über die verschiedenen Schriftzeugen rekonstruierbaren Fassung) haben sich verschiedene Indizien gefunden, die darauf hindeuten, daß die Erzählung von der Salbung Davids nicht einheitlich ist. Die wichtigsten seien hier noch einmal kurz aufgeführt: Die Ältesten von Bethlehem werden nur in den V. 4b.5a erwähnt, in der weiteren Handlung aber nicht einmal vorausgesetzt. Die Art der Lustration, an die in V. 5a bg gedacht ist, unterscheidet sich klar von jener, die dann in V. 5ba vollzogen wird. Diese zwei Beobachtungen belegen eine gewisse Sonderstellung der V. 4b.5a. Auch die V. 6–10 fügen sich der Erzählung nicht optimal ein: Dies zeigt sich a) in der unklaren Ausgangssituation in V. 6, b) in der Abwertung des äußeren Erscheinungsbildes (V. 7), die in Spannung mit Davids Beschreibung in V. 12a steht, c) in dem Gebrauch von sam in V. 7a, der sich deutlich von jenem in V. 1a unterscheidet, d) in dem Umstand, daß in den V. 8–10 Isai in Samuels Vorhaben eingeweiht zu sein scheint, während er in den V. 4ff. ahnungslos ist, sowie e) in der Doppelung der Redeeinleitung von V. 10b durch V. 11a. All das deutet darauf hin, daß die V. 6–10 der Erzählung nachträglich hinzugewachsen sind. Schwieriger gestaltet sich die Frage nach der Zugehörigkeit der V. 2f. Durch V. 2 wird, wie sich an V. 2bbg zeigt, V. 5a vorbereitet. Ferner wurde oben beobachtet, daß der Vers im Fortgang der Erzählung nirgends präsupponiert ist. Dasselbe gilt cum grano salis auch für V. 3: Zwar kommen die Heiligung und die Einladung Isais und seiner Söhne zum Opfer (V. 5b) ohne V. 3 ein wenig unver–––––––––––––– 45 46 47

Ri 14,6.19; 15,14; 1 Sam 10,6.(jeweils hÎwh◊y Aj…wr) 10; 11,6; 18,10 (jeweils MyIhølTa(_)Aj…wr). So die Übersetzung von (q) jlx nach KBL3, Art. jlx, S. 961. Möglich ist auch, mit ‚durchdringen‘ zu übertragen, vgl. DIETRICH: David. S. 56. Darauf weist auch STOEBE (a. a. O. S. 302, Anm. 13 b)) hin.

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1 Samuel 15,35–16,13

mittelt, doch ist die Abfolge der V. 1.4a.5b trotzdem gut verständlich und mithin durchaus möglich. Zudem fällt auf, daß das Motiv der Opferfeier auch sonst in der Geschichte nur von ganz untergeordneter Bedeutung ist. Es dient lediglich als Staffage, was allein schon daraus hervorgeht, wie selten es erwähnt wird bzw. anklingt.48 Für ein sekundäres Hinzutreten von 16,3 sprechen auch die leichten Differenzen, die zwischen V. 3 und V. 5b bestehen: a) V. 3a kombiniert das Verb (q) I arq mit der Präposition b, V. 5b hingegen mit l; dabei ist 16,5b (im Gegensatz zu 16,3a) konstitutiv für das Handlungsgerüst. b) In V. 3a ist allein von Isai die Rede, in V. 5b von Isai und seinen Söhnen. Zu guter Letzt ist davon auszugehen, daß V. 3 zeitgleich mit V. 2 verfaßt wurde, denn er führt seinen Vorvers in stilistischer Hinsicht mustergültig fort; Indizien für eine eventuelle zeitversetzte Entstehung zeigen sich dagegen nirgends. Neben den V. 4b.5a sowie 6–10 sind also allem Anschein nach auch die V. 2f. nachträglich der Erzählung hinzugewachsen. Damit erhebt sich sogleich die Frage nach ihrem zeitlichen Verhältnis zueinander – sie läßt sich aber m. E. allenfalls ansatzweise beantworten. Die V. 6–10 zeigen auf den ersten Blick keine nennenswerte Affinität zu den anderen zwei Versgruppen. Deutlich hingegen ist, daß V. 2f. und 4b.5a nicht optimal miteinander harmonieren: Nach V. 3 soll bloß Isai (der Name ist vielleicht als pars pro toto für die ganze Familie zu verstehen) zur Zeremonie geladen werden, was auf der Linie von V. 2a liegt, wo Samuel ja Angst hat, Saul könne von der Salbung erfahren – V. 5a zufolge sollen desungeachtet auch alle Stadtältesten teilnehmen. Dieser Widerspruch läßt sich am einfachsten damit erklären, daß die V. 4b.5a nach den V. 2f. eingetragen wurden. (Die umgekehrte Reihenfolge ist weniger wahrscheinlich, weil sonst in V. 3, der ja Samuels Handeln ganz auf die Grundlage der Anweisungen Jhwhs stellen will, doch wohl auch die Beteiligung der Ältesten Bethlehems genannt worden wäre.) Neben 16,2f. setzen die V. 4b.5a wahrscheinlich auch 1 Sam 21,1–11* voraus, wie die motivliche und sprachliche Nähe der Verse 16,4b und 21,2b bei gleichzeitiger festerer Einbindung des letztgenannten Halbverses in seinen Kontext vermuten läßt. Die Erzählung wird mit diesem Einschub vor allem um das Moment des übergroßen Respekts bereichert, den die Bevölkerung Samuel zollt. Daher liegt es nahe, an dieser Stelle das Hauptinteresse des Interpolators zu vermuten. Das genannte Motiv steht in unübersehbarem Kontrast zu der Einstellung, die nach V. 2f. der König dem Samuel gegenüber an den Tag legt. Ich vermute aus diesem –––––––––––––– 48

1 Sam 16,2b.3a.5ab.11b. – Das Motiv dürfte sich in erster Linie dem Umstand verdanken, daß der Erzähler 1 Sam 9,1ff. nachahmt; dazu s. u. 3.3.2. Das Abhängigkeitsgefälle von 1 Sam 9,1–10,13 nach 1 Sam 16,1–13 kann als opinio communis gelten. Vgl. nur etwa BUDDE : a. a. O. S. 114; GREßMANN : a. a. O. S. 64; GR Ø N B Æ K : a. a. O. S. 72; KRATZ: Komposition. S. 183; MOMMER: a. a. O. S. 181f.185; STOEBE : a. a. O. S. 302; STOLZ: a. a. O. S. 106; WELLHAUSEN: Composition. S. 248. – Ganz anders dagegen METTINGER: a. a. O. S. 177–179.

Auswertung

107

Grund, daß die V. 4b.5a entstanden sind, um Samuels Autorität zu belegen, die angesichts des V. 2a fraglich erscheinen konnte. Mit einer solchen Aufwertung Samuels geht fraglos (und sicherlich nicht unbeabsichtigt) auch eine Abwertung Sauls einher: Wer imstande ist, einem allseits gefürchteten Gottesmann nach dem Leben zu trachten, verdient natürlich nichts als Abscheu und Verachtung. Terminus a quo für diese Ergänzung dürfte die Grundschicht von 1 Sam 21,1–11 sein.49 Bevor die V. 4b.5a hinzutraten, dürften allem bisher Gesagten nach die V. 2f. eingeschrieben worden sein. Aus ihnen spricht zum einen die Absicht, Sauls Charakter in ein für ihn noch ungünstigeres Licht zu rücken (V. 2a). Zugleich ist damit ein Anlaß für das Opferfest geschaffen, so daß dieses bis dato eher randständige Motiv fester in die Erzählung eingebunden wird. Überdies erscheint Jhwh durch die zusätzlichen Anweisungen V. 2b–3b stärker als zuvor als eigentlicher spiritus rector des Geschehens. Möglicherweise hat den Interpolator die Erzählung von Sauls Mord an den Priestern von Nob (1 Sam 22,6ff.) inspiriert.50 Daneben bietet sich noch mit dem Gebrauch des Verbums (hitp) vdq (V. 5a) ein weiterer Anhaltspunkt für eine ungefähre zeitliche Verortung des Einschubs. Er deutet in die Zeit der Entstehung der Chronik, also in das vierte Jahrhundert. Wieder ein anderes Stratum repräsentieren wahrscheinlich die V. 6–10. Zwar ist es durchaus auch denkbar, daß dieser Abschnitt und die V. 2f. aus ein und derselben Feder stammen, doch spricht nichts unmittelbar für eine solche Zusammengehörigkeit. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß beide Passagen eine deutliche antisaulidische Tendenz aufweisen (V. 7 verwirft die Auffassung, die Körpergröße eines Menschen besage etwas über dessen Eignung zum Herrscher, und wendet sich damit indirekt gegen Saul, vgl. 1 Sam 9,2; 10,23f.)51, denn dieser Zug ist allen Straten des Abschnitts 15,35–16,13 mehr oder minder zu eigen. Auch daß die V. 2f. Jhwh als treibende Kraft hinter den Kulissen ausweisen wollen, was grundsätzlich gut zu den V. 6f. paßt, ist m. E. noch nicht allzu signifikant – bereits die Grundschicht rechnet, wie sich noch zeigen wird, mit Jhwhs maßgeblicher Einflußnahme auf das Geschehen.52 Vor allem aber verraten die V. 8–10 keinerlei Interesse daran, Jhwhs Eingreifen zu betonen: Samuel wirkt hier viel–––––––––––––– 49 50 51 52

Hierzu s. u. 9.3. Vgl. hierzu Anm. 10 (Kap. 3). STOLZ: a. a. O. S. 107: „Damit ist Saul gleichzeitig abgewertet.“ S. u. (3.3.2) und vgl. die V. 1 und 12f. – Daß DIETRICH (David. S. 53f.) die Vorstellung, „der Prophet stehe ständig in unmittelbarem Kontakt zu Gott“ (a. a. O. S. 54), hier geradezu zu einem literarkritischen Kriterium erhebt, erscheint mir nicht gerechtfertigt, weil diese These übersieht, daß bereits mit V. 1 (und selbst schon in V. *1aa.b, wie DIETRICH den Grundbestand des Verses rekonstruiert; vgl. ebd.) eine klare Anweisung Jhwhs an Samuel ergeht.

108

1 Samuel 15,35–16,13

mehr recht eigenständig, obwohl die Zurückweisung der übrigen Isaisöhne an sich eine hervorragende Gelegenheit geboten hätte, Jhwh ein weiteres Mal als Samuels Souffleur zu präsentieren. Mir erscheint es daher geraten, für die V. 2f. und 6–10 eine zeitversetzte Entstehung anzunehmen, wobei die Reihenfolge der Einfügungen offen bleiben muß.53 Das Schwergewicht der Bearbeitung 16,6–10 liegt nicht auf ihren letzten drei Versen, die in der Hauptsache wohl lediglich eine retardierende Funktion ausüben sollen, sondern vielmehr auf den V. 6f. Dies zeigt sich darin, daß jene recht stereotyp formuliert sind, während diese ohne Wiederholungen auskommen und geradlinig auf ihren Höhepunkt, auf die weisheitlich anmutende Sentenz in V. 7b zulaufen. Dementsprechend zeigt sich hier auch das Hauptanliegen der Bearbeitung: Sie will die Geschichte von der Salbung Davids zu einer Beispielerzählung umformen. Die eigentliche Handlung tritt demgegenüber zurück. Statt ihrer steht nunmehr der Lehrsatz im Vordergrund des Interesses, daß einzig Jhwh den Menschen in allen Dimensionen seiner Person wahrnimmt, während Menschen einander immer nur unvollkommen, buchstäblich oberflächlich wahrnehmen können. Es ist bezeichnend für die Art der Überarbeitung, daß sie sich allem Anschein nach so sehr auf dieses Aussageziel konzentriert, daß sie die vormalige Anschaulichkeit und Stringenz der Handlung völlig aus dem Auge verliert. Sie ist darin mit den beiden jüngsten (oben rekonstruierten) Ergänzungen des Kapitels 15 vergleichbar.54 Von 15,24–26 unterscheidet sich die Einschaltung 16,2f.6–10 allerdings deutlich in ihrem Gebrauch des Verbums sam (vgl. 15,26 und 16,7a). Hingegen erinnert die prononcierte Entgegensetzung von Gott und Mensch wiederum an 15,29. Einen direkten Nexus lassen die beiden Bearbeitungen zwar nicht erkennen, aufgrund der genannten Nähen ist es aber das Natürlichste, sie zeitlich nicht allzu weit voneinander entfernt anzusiedeln.

3.3.2

Die Grundschicht von 1 Sam 15,35–16,13

Aus allem bis hierher Ausgeführten ergibt sich, daß die ursprüngliche Fassung des untersuchten Abschnitts in den Versen 15,35 und 16,1.4a.5b.11–13 zu finden ist. Diese kleine Erzählung setzt bereits die Verwerfung Sauls aus Kapitel 15 in irgendeiner Form voraus. Von ihr leitet sie mit 15,35 über zum Beginn der weiteren Handlung, die sich in 16,1 mit der Beauftragung Samuels vollzieht. Die Umsetzung dieser Anweisungen wird dann in einem ersten Schritt in den V. 4a und 5b berichtet, bevor mit V. 11, dem Problem der einstweiligen Nichtanwesenheit des jüngsten Sohnes, der weitere Verlauf ein wenig retardiert. V. 12 bringt dann die –––––––––––––– 53 54

Auch das entstehungsgeschichtliche Verhältnis der V. 6–10 zu den V. 4b.5a kann dementsprechend nicht näher bestimmt werden. 15,29 und 15,24–26, dazu s. o. 2.3.1.

Auswertung

109

Ankunft Davids, ein kurzes Lob auf seine schöne Gestalt und schließlich Jhwhs Befehl, David zu salben. Mit 16,13a gelangt die Erzählung an ihr Ziel: die Salbung erfolgt, und Gottes Geist kommt auf den Knaben. V. 13b markiert bündig das Ende der Geschichte. Die Episode enthält zwei auffällige Eigenheiten, die auch noch in der Endgestalt des Textes herausstechen und oben bereits erwähnt wurden: a) das Opferfest, das nur am Rande vorkommt, aber für den Fortlauf der Handlung keine Rolle spielt, sowie b) die Nennung des Namens Davids, die erst ganz zum Schluß und auch hier noch ziemlich en passant erfolgt. Beides hängt mit den literarischen Voraussetzungen der Story zusammen. Zum einen kennt sie 1 Sam *9,1ff., wo Sauls Salbung durch den Seher Samuel berichtet wird. Das ist deswegen so sicher, weil die Verse 1 Sam 15,35–*16,1ff. ganz selbstverständlich vom König Saul sprechen – dieser wird aber allein in *9,1ff. eingeführt. Will man also nicht mit der zwar möglichen, jedoch problematischen Annahme ehemals selbständiger mündlicher oder schriftlicher Erzählstücke operieren,55 dann muß der Verfasser der Salbungsgeschichte Davids diejenige Sauls bereits gekannt haben. Und auf diese Weise erklärt sich auch der für sich genommen völlig redundante Erzählzug des Opferfestes: er dürfte eine Reminiszenz an jene Erzählung darstellen.56 Daß zum anderen Davids Name erst so spät und anscheinend ganz nebenbei fällt, deutet m. E. darauf hin, wie vertraut dem Ergänzer und seiner Leserschaft die Gestalt Davids bereits gewesen sein muß. Dazu paßt auch die Tatsache, auf die oben schon hingewiesen wurde, daß Kapitel 17 eine mustergültige Einführung des jungen Helden enthält (17,12ff.), die offensichtlich noch nichts von Davids Salbung weiß (vgl. 17,28). All das spricht für eine relativ späte Entstehung der Grundschicht, und in dieses Bild fügen sich auch noch zwei weitere Details bestens ein: 1) Die anderen beiden Stellen, die von einer Salbung Davids berichten (2 Sam 2,4; 5,3), sind nach allgemeinem Dafürhalten in ihrem Charakter einfacher, wirken mithin urtümlicher als 15,35–16,13.57 2) Das Grundstratum knüpft mit –––––––––––––– 55

56 57

Das Problem ist im wesentlichen methodischer Natur. Rechnet man mit solchen ehedem für sich bestehenden und im Wortlaut bereits relativ festen mündlichen Vorstufen, erhöht man damit die Summe der für die Textgenese als maßgeblich erachteten Faktoren: der Bearbeiter wird sozusagen aufgeteilt in einen Redaktor und die jeweilige eingeflossene Tradition. Das kann im Einzelfall selbstverständlich sinnvoll sein, wenn sich auf diese Art anderweitig nicht zu begreifende Phänomene erklären lassen. Im großen und ganzen erscheint es mir jedoch ratsamer, nach Möglichkeit den ‚Occam’s razor‘ genannten Grundsatz der Denkökonomie ernst zu nehmen und sich an dasjenige Modell zu halten, das mit der geringsten Anzahl an Zusatzannahmen auskommt. Zu bedenken ist ferner, daß ein Rückgriff hinter die schriftlichen Überlieferungen auf die oralen Traditionen mit methodisch kaum zu kontrollierenden Unwägbarkeiten verbunden ist. Daß 1 Sam *9,1ff. die Vorlage für 1 Sam 16,1–13 abgegeben haben wird, nimmt die überwiegende Mehrheit der Auslegerinnen und Ausleger an, s. o. Anm. 48 (Kap. 3). Dieser Sachverhalt wird häufig (und etwas vorschnell) unter dem Gesichtspunkt der Historizität des Dargestellten betrachtet und zur Sprache gebracht, vgl. DIETRICH: a. a. O. S. 55; DONNER: Geschichte. S. 217–220; MOMMER: a. a. O. S. 178f. Dieses Urteil rührt m. E. einzig von dem lite-

110

1 Samuel 15,35–16,13

15,35 sekundär an die früheste Fassung von 1 Sam 15 an, die aller Wahrscheinlichkeit nach aus Verfasserkreisen stammt, die zwar nachpriesterschriftlich anzusetzen sind, deren theologische Grundanschauung aber nach wie vor stark von dem ursprünglich spätdeuteronomistischen Gedanken der Gesetzesobservanz bestimmt ist. Mit Blick auf das Kapitel 15 stellt sich weiterhin die Frage, welcher der dort vorgefundenen Bearbeitungen die Grundschicht der Salbungserzählung am nächsten steht. Sie ist nicht mit Sicherheit zu beantworten, was nicht zuletzt daran liegt, daß sich nahezu keine sprachlichen, theologischen o. ä. Merkmale bieten, die einen klaren Anhaltspunkt liefern könnten.58 Dem Inhalt nach kommt aber zuerst die Schicht in Betracht, der die Verse 15,27f. zugehören, weil nur hier innerhalb von 1 Sam 15 über die bloße Kundgabe der Verwerfung ausdrücklich hinausgegangen und der Übergang des Königtums über Israel von Saul auf eine andere Person angekündigt wird. Möglicherweise hat also die erste Bearbeitung von Kapitel 15 auch 1 Sam 15,35 und *16,1–13 geschaffen.59 Denkbar wäre auch, daß ihre Entstehung durch jene erste Überarbeitung lediglich veranlaßt wurde. Hinsichtlich dessen, was die Geschichte von Davids Salbung durch Samuel in ihrem Kontext leisten soll, kann kein ernstlicher Zweifel bestehen: Ihr ist zuallererst daran gelegen, bereits dem jungen David bei seiner Einführung eine „geistliche Weihe“60 zuteil werden zu lassen, die derjenigen Sauls aus 1 Sam 9,1–10,1361 ––––––––––––––

58

59

60

rarischen Charakter der drei betreffenden Stücke her, der in 2 Sam 2,4 und 5,3 eben noch recht unprätentiös erscheint, in 1 Sam 16,1–13 sich dagegen schon theologisch weit anspruchsvoller ausnimmt. Vgl. ferner KUTSCH: David. S. 115f.120; STOEBE: a. a. O. S. 303f.; WASCHKE: Gesalbte. S. 49–51; WEISER: Legitimation. S. 327. Zur Sprache befindet BUDDE (a. a. O. S. 114) zwar einerseits, „dass unser Abschnitt kaum sprachliche Merkmale sehr später Entstehung aufweist“, schränkt dieses Urteil allerdings unter Hinweis auf die „Anlehnung an ältere Stücke“ (ebd.) gleich wieder ein und entdeckt zudem „in bOsÎn [V. 11]ein Zeichen der späten Entstehung des Stücks“ (a. a. O. S. 117). – DIETRICH (a. a. O. S. 53) veranschlagt u. a. aufgrund der Verwendung der Begriffe sam und rjb für die V. 1aa2[ab yAtDm_dAo]bg.2–4aa.6ab–10.12b.13aa2[ab jAlVxI;tÅw]b eine deuteronomistische Verfasserschaft (‚DtrP‘), muß jedoch zugestehen, daß der Gebrauch von sam in V. 7 einigermaßen ungewöhnlich ist (vgl. ebd.). – Nimmt man beide Beiträge gleichermaßen ernst (wobei die von der hier vertretenen abweichende textgenetische Rekonstuktion DIETRICHS mitzubedenken ist), so kommt man immerhin auf einen späten Ergänzer, der sich bei seiner Arbeit souverän deuteronomistischer und anderer auf ihn gekommener Texte bedient. Dazu fügt sich das Urteil des in derlei Dingen sonst eher zurückhaltenden STOEBE (a. a. O. S. 303): „In der gegenwärtigen Form stellen die Verse eine redaktionelle Überleitung von der Vita Sauls zu der Davids dar; es könnte sogar sein, daß das Stück als Ganzes dieser Absicht seine Entstehung verdankt, also literarischen Ursprungs ist. Dann wird es jünger als der Grundbestand von Kap. 15, aber ungefähr gleichzeitig mit der anzunehmenden ausformenden und unterstreichenden Bearbeitung dieser Überlieferung sein.“ Dabei ist natürlich in Rechnung zu stellen, daß STOEBE sich die Genese von 1 Sam 15 völlig anders denkt, vgl. STOEBE: a. a. O. S. 282f. WELLHAUSEN: Composition. S. 248.

Auswertung

111

ebenbürtig ist.62 Es kommt sogar eine gewisse Überlegenheit Davids bzw. seiner Salbung zum Ausdruck, wenn nämlich David zum einen als jüngster aus der Menge der Söhne Isais ausgewählt (16,11f.) und zum anderen die sich daraufhin an ihm vollziehende Geistbegabung als eine dauerhafte charakterisiert wird (V. 13a). Zugleich wird mit der Hinwendung Jhwhs zu dem jungen David natürlich auch seine endgültige Abkehr von Saul (1 Sam 15) noch einmal unmißverständlich unterstrichen.

–––––––––––––– 61 62

Ein zusätzliches Pendant zu 1 Sam 10,10–12 wird dann noch in 19,18–24 nachgeliefert. Dazu s. u. Kapitel 7. Ganz ähnlich z. B. STOEBE : a. a. O. S. 280, Anm. 18, und S. 302; W EISER : a. a. O. S. 326; WELLHAUSEN: a. a. O. S. 248, Anm. 1) („Wenn Saul vom Seher zum Königtum berufen war, so durfte David nicht rein als self-made man erscheinen.“).

4 4.1

1 Samuel 16,14–23 Einleitende Betrachtung

Die zu untersuchende Texteinheit setzt sich von ihrem literarischen Kontext deutlich ab. Ihr Beginn ergibt sich indirekt aus der typischen Schlußnotiz 16,13b. Auf dieselbe Art geht aus dem Eingangssatz 17,1, der als ein solcher gut zu erkennen ist, ihr Schluß klar hervor. Auf der anderen Seite wird mit V. 14 aber auch ganz unverkennbar ein neuer Problemhorizont aufgerissen, der dann in V. 23 seine (partielle) Lösung erfährt. Die Erzählung berichtet, wie die musikalischen Fähigkeiten des jungen David ihn an den Hof Sauls führen. Sie steht damit in unübersehbarer Konkurrenz zu 1 Sam 17, wo ebenfalls eine Erklärung für Davids Eintritt in die Dienste des Königs gegeben wird, wobei indes Davids militärisches Geschick den Ausschlag gibt.1 Im übrigen ist die Geschichte von David, dem jungen Harfenspieler, der gerufen wird, um mittels seines Saitenspiels dem an einer Art Depression leidenden König Linderung zu verschaffen, zumindest im AT ohne unmittelbare Parallele.2 Gleichwohl harmoniert sie aufs schönste mit diversen anderen Passagen, insbesondere aus den erzählenden Büchern und aus dem Psalter, die David als Dichter und Sänger kennen.3

–––––––––––––– 1

2

3

Einen Harmonisierungsversuch dürfte nach verbreiteter Auffassung 1 Sam 17,15 darstellen, womit aber noch nichts darüber gesagt ist, auf welche textgenetische Stufe von 1 Sam 16,14ff. dieser Ausgleich blickt. Eine gewisse Affinität zeigt 1 Sam 16,14–23 zur Josephsgeschichte (bes. Gen 41) sowie zu Dan 2: Hier wird jeweils ein junger Mann aufgrund herausragender Fähigkeiten zum König beordert, dessen Problem er auf Anhieb zu lösen vermag und der ihm daraufhin eine privilegierte Stellung einräumt. Vgl. etwa 2 Sam 1,17–27; 3,33f.; 22; 23,1–7; schließlich wohl auch 2 Sam 6 (par. 1 Chr 13; 15,1–16,6.37–43); 1 Chr 16,7–36. – Eine übersichtliche Auflistung derjenigen Psalmen, die sich in ihren Überschriften nicht bloß auf Davids Person, sondern sogar auf verschiedene Stationen in seinem Leben beziehen, bietet MCKENZIE: a. a. O. S. 49. – Vgl. auch Am 6,5.

Untersuchung

4.2

113

Untersuchung

Die Erzählung von Davids Ankunft am Hofe Sauls macht auf den ersten Blick einen in sich geschlossenen, einheitlichen Eindruck und wird vom nachfolgenden Text zweimal unmittelbar vorausgesetzt (1 Sam 18,10f.; 19,9f.). Probleme ergeben sich indes, wenn man zu klären versucht, auf welchen erzählerischen Grundlagen sie ruht. Einerseits knüpft sie augenscheinlich an die Geistbegabung Davids aus 16,13 an, wenn sie berichtet, Jhwhs Aj…wr sei von Saul gewichen (V. 14a). Andererseits setzt sie Davids Salbung und deren Folgen mit keinem Wort voraus und wirkt überdies wie eine eigenständige Einführung des Helden, die des Vorlaufs durch 16,1–13 nicht bedarf.4 Diese und andere Überlegungen haben WELLHAUSEN dazu bewogen, die Episode als die ursprüngliche Fortsetzung von 1 Sam 14,52 und damit als den eigentlichen Anfang der AG Davids zu betrachten.5 Bis heute ist dies die vorherrschende Auffassung geblieben.6 Die weitere Untersuchung wird diese These zu prüfen haben. Der Textabschnitt läßt sich wie folgt gliedern: 16,14 das Problem: die Heimsuchung Sauls durch einen bösen Geist 16,15f. der Lösungsvorschlag der Knechte Sauls: Musik als Therapie 16,17–20 die Umsetzung des Vorschlags: der Harfenspieler David wird vorgeladen 16,21–23 das Ergebnis: Davids Bewährung und Verbleiben am Königshof. V. 14a knüpft unmittelbar an V. 13 an. Andere Verse kommen kaum als Anschlußstellen in Frage, da die Geistbegabung in V. 14a genau wie im Vorvers als eine längerwährende gedacht ist und nicht spontan und punktuell wie z. B. in 10,6.10–13 und letztmalig in der Saulgeschichte vor Kapitel 16 in 11,6.7 Als Fort–––––––––––––– 4 5

6

7

Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 308f.; GREßMANN: a. a. O. S. 65. Vgl. WELLHAUSEN: Composition. S. 245, Anm. 1, 248f.252.255; ders.: Prolegomena. S. 260f. – W ELLHAUSEN s Hauptargument lautet, der Abschnitt 16,1–13 sei abhängig von Kap. 17, also müsse entweder 16,14–23 oder 17,1ff. die ursprüngliche Einleitung der AG darstellen; weil aber 16,14ff. weniger legendarisch klinge als 17,1ff., werde die genuine Fortsetzung von 14,52 in 16,14ff. zu finden sein. – Die Schwäche dieser für WELLHAUSEN nicht untypischen Argumentation besteht darin, daß sie die historische Plausibilität eines Berichtes als sicheres Indiz dafür wertet, daß dieser in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den von ihm berichteten Ereignissen verfaßt worden sein muß. Vgl. auch DIETRICHs Verdikt (DIETRICH / NAUMANN: Samuelbücher. S. 17) über eine vergleichbare Passage aus WELLHAUSENs Composition: „Auf kaum reflektierte Weise greifen hier literarische, historische, ästhetische und theologische Urteile ineinander.“ Vgl. etwa ALBERTZ: Religionsgeschichte. S. 188; KAISER: David. S. 285 (allerdings mit Anschluß an 14, 46).289; KRATZ: Komposition. S. 183f.; MCKENZIE: a. a. O. S. 40; SMEND: Entstehung. S. 130. Vgl. aber auch Anm. 55 (Kap. 4). Ob man deswegen aber das Weichen des Geistes Jhwhs als iterative Handlung aufzufassen hat, wie STOEBE: a. a. O. S. 307, Anm. 14 b) und GK § 112h voraussetzen, ist mir mehr als fraglich.

114

1 Samuel 16,14–23

setzung von 14,52 taugt V. 14a deswegen auf keinen Fall. Daß eine Aj…wr von einem Menschen ‚weicht‘ (rws), ist eine Ausdrucksweise, die außer in 16,23 nirgends sonst im AT belegt ist. V. 14b paßt gut als Weiterführung von 14a und weist keinerlei Anzeichen auf, die gegen eine genuine Verbindung sprächen. Möglich wäre auch eine Anlehnung des Halbverses an 14,52, weil hier wie dort Saul das Subjekt des Satzes ist, doch würde dies einen ziemlich abrupten Themenwechsel bedeuten: geht es in Kapitel 14 noch um die Rekrutierungspraxis des Königs, wird hier auf einmal über seinen mentalen Zustand gesprochen. Ungewöhnlich ist das Prädikat des Satzes, da die Wurzel (pi) tob abgesehen von 1 Sam 16,14 und 15 sonst nur noch in poetischen Kontexten Verwendung findet,8 beispielsweise in 2 Sam 22,5. Nicht minder interessant ist das Subjekt mit seinen Ergänzungen, denn die Vorstellung, daß Jhwh einen Geist ausgehen läßt, der Menschen negativ affiziert, ist nur sehr spärlich im AT bezeugt. Neben 1 Sam 16,14ff. und den davon abhängigen Stücken 1 Sam 18,10f. und 19,9f. sind hier nur noch Ri 9,23 sowie 1 Kön 22,19–23 zu nennen. Folgt man den Untersuchungen WÜRTHWEINs und MÜLLERs,9 können beide Stellen in ihrem jeweiligen literarischen Kontext als ausgesprochene Spätlinge gelten. Auffallend uneinheitlich ist die Terminologie des Textes, wenn es um den Geist geht, der den König heimsucht. Der Ausdruck hÎwh◊y tEaEm hDo∂r_Aj…wr begegnet im ganzen Abschnitt nur hier und ist auch sonst singulär, was durch das (etwas „nachklappende“10) hÎwh◊y tEaEm bedingt ist – die Formulierung hDo∂r Aj…wr ist in Ri 9,23 belegt und dürfte ursprünglich auch in 1 Sam 16,16 gestanden haben.11 In 1 Sam 16,15 wird der böse Geist hDo∂r MyIhølTa_Aj…wr,12 in 16,23a dagegen einfach MyIhølTa_Aj…wr genannt. V. 23b spricht darüber hinaus von hDo∂rDh Aj…wr, was ebenfalls ohne Gegenstück im AT ist. In V. 15 stellen Sauls Knechte noch einmal fest, was bereits in 16,14 berichtet wurde, daß nämlich der König das Opfer eines bösen Geistes ist. Der Vers ––––––––––––––

8

9 10 11 12

Dazu, daß das Perfekt consecutivum seinen frequentativen Charakter nicht notwendig aus dem vorausgehenden Tempus beziehen muß, vgl. GK § 112g und dd. V. 14b dürfte jedenfalls iterativ aufzufassen sein, wie aus dem Fortgang der Geschichte erhellt. Vgl. auch DRIVER: a. a. O. S. 134. Vgl. DRIVER: a. a. O. S. 134. Die Belege sind 2 Sam 22,5; Ps 18,5; Jes 21,4; Ijob 3,5; 7,14; 9,34; 13,11.21; 15,24; 18,11; 33,7. Im Niph‘al begegnet die Wurzel dreimal, stets in vergleichsweise jungen Schriften des AT: Est 7,6; Dan 8,17; 1 Chr 21,30. Vgl. auch AURELIUS: David. S. 66. Vgl. WÜRTHWEIN : a. a. O. S. 257; MÜLLER : a. a. O. S. 108–118 sowie 254–259. Vgl. auch KRATZ: a. a. O. S. 212.217.(170f.)192. KRATZ: a. a. O. S. 183, Anm. 88. Dazu s. u. zu V. 16. So auch 1 Sam 18,10. Ebenso ist vielleicht auch in 19,9 zu lesen (vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 112), wo der MT hDo∂r hÎwh◊y Aj…wr bezeugt, die LXX jedoch pneuvma qeouv ponhro\n bietet. Zu 16,15 und 16 s. u.

Untersuchung

115

schafft also eine gute Fortsetzung des zuvor Erzählten und leitet zugleich die Sequenz 16,15–18 ein, in der die Dienerschaft im Gespräch mit Saul den Plan entwickelt, David als Musiktherapeuten an den Hof zu holen. Die einzige Schwierigkeit entsteht durch die Lesart der LXX, die nicht bloß von einem ‚Gottesgeist‘ spricht, sondern von einem pneuvma kuri÷ou ponhro\n. Das könnte auf eine hebräische Vorlage deuten, die wie der MT in 1 Sam 19,9 hDo∂r hÎwh◊y Aj…wr las. Allerdings hat bereits WELLHAUSEN mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß in 19,9 wegen des undeterminierten Adjektivs wahrscheinlich MyIhølTa und eben nicht das Tetragramm zu lesen sein dürfte.13 Zudem ist auch ein Motiv für eine solche Veränderung bei der Übersetzung ins Griechische (oder eventuell auch schon vorher) leichthin vorstellbar, wird doch mit dem expliziten Hinweis auf den Gott Israels noch deutlicher herausgestrichen, daß jener Geist keine eigenständige Macht, einen Dämon o. ä., verkörpert.14 Das Umgekehrte, also ein grundsätzlich auch denkbarer Versuch, durch Ersetzung des Jhwh-Namens die Verantwortung Jhwhs in Abrede zu stellen, hat eine weitaus geringere Wahrscheinlichkeit für sich, weil in diesem Fall auch ein entsprechender Eingriff in V. 14b zu erwarten wäre – für derlei gibt es jedoch m. W. keinen Beleg. Nachdem die Hofleute die Diagnose gestellt haben (V. 15), unterbreiten sie dem König sogleich in 16,16 ihren Therapievorschlag – die Handlung könnte also kaum folgerichtiger verlaufen. Daß dieser Plan vorsieht, einen Harfenspieler15 zu engagieren, dessen Musik dem geplagten Saul Linderung verschaffen soll, wird hinlänglich deutlich. Der Teufel steckt allerdings wiederum im textkritischen Detail, denn der MT bietet einen etwas holprigen Wortlaut, neben dem sich die griechische Fassung bedeutend klarer ausnimmt. Der Text der LXX in 16,16a lautet: ei˙pa¿twsan dh\ oi˚ douvloi÷ sou e˙nw¿pio/n sou kai« zhthsa¿twsan tw◊ˆ kuri÷wˆ hJmw◊n a‡ndra ei˙do/ta ya¿llein e˙n kinu/raˆ. Auf dasselbe laufen die Version Vulgata und die der Vetus Latina (Ò93.94) hinaus. Diese Fassung favorisiert WELLHAUSEN: „es mögen deine Knechte sich dir gegenüber ein Wort erlauben und dir einen Mann suchen u. s. w.“16 Sie bedarf indes mindestens dreier zusätzlicher Annahmen: a) das Verb rAmaøy müßte entweder am Ende ein w verloren haben, oder man müßte hier mit einer Defektivschreibung der Pluralform rechnen, b) das …wn´nOdSa hätte innerhalb des Satzgefüges seine Position verändert haben –––––––––––––– 13 14 15

16

Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 112. Weniger einleuchtend ist es m. E., die LXX-Lesart lediglich als „Ungenauigkeit“ (STOEBE: a. a. O. S. 307, Anm. 15 a)) des Übersetzers abzutun. Genaugenommen müßte man von einem ‚Leierspieler‘ sprechen (vgl. etwa STOLZ : a. a. O. S. 110; BRAUN: Musikkultur. S. 40f.), vgl. dazu auch unten Anm. 63 (Kap. 4). Der Vertrautheit des Begriffes willen wird der hebräische Terminus rwø…nI;k aber im folgenden zumeist weiter mit dem deutschen Begriff ‚Harfe‘ wiedergegeben. WELLHAUSEN: Text. S. 102.

116

1 Samuel 16,14–23

(oder, wie WELLHAUSEN meint, hinzugefügt worden sein)17 müssen, c) das …wvVqAb◊y schließlich wäre in wvqbw oder wvqbyw abzuändern. Führt man sich dies vor Augen und bedenkt außerdem die Möglichkeit, daß sich vielleicht bereits die Schöpfer der LXX (oder ihrer Vorlage) mit einem syntaktisch ungelenken Text konfrontiert sahen und ihre Fassung aus diesem Grunde möglicherweise lediglich einen Glättungsversuch darstellt, so keimen ernste Zweifel an dieser Lösung auf. Das Verbum rma überdies „requires to be followed by the words said“18, wie DRIVER angemerkt hat, man müßte also zusätzlich noch den Jussiv rAmaøy durch eine entsprechende Form der Wurzel (pi) rbd ersetzen. KLOSTERMANN schließlich hat ebenfalls völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß auf diese Weise eine einigermaßen umständliche Formulierung geschaffen würde, die im Gegensatz zu der vergleichsweise einfach gehaltenen aus V. 17a stände.19 Als Alternative böte sich an, mit dem Ausfall der Präposition lRa nach dem Subjekt …wn´nOdSa (vielleicht aufgrund einer aberratio oculi eines Schreibers) zu rechnen (vgl. die anschließende Formulierung in V. 17a), dann müßte man das ÔKy‰nDpVl als eine Art asyndetischen Relativsatz auffassen, zu dem sich jedoch im AT m. W. kein analoger Fall anführen läßt.20 So ist es wohl das Beste, sich zunächst einmal darauf zu beschränken, mit STOEBE festzustellen, daß hier allem Anschein nach „[z]wei verschiedene Gedanken ineinandergeschoben“21 sind: der (vorerst nur vorgeschlagene) Auftrag, einen Harfenspieler zu suchen, und die Bereiterklärung der Knechte Sauls (ÔKy‰nDpVl ÔKy®dDbSo). Es dürfte folglich die überzeugendste Lösungsmöglichkeit sein, sich eng an STOEBEs Übersetzung des Verses anzulehnen und die Worte ÔKy‰nDpVl ÔKy®dDbSo innerhalb des Satzgefüges als Parenthese zu interpretieren.22 Denn die Entstehung der MT-Lesung aus der der LXX ist selbst dann, wenn man mehrere Verschreibungen o. dgl. annimmt, nicht sehr wahrscheinlich, der umgekehrte Fall dagegen – denkt man etwa an die Möglichkeit eines Glättungsversuchs – ist es durchaus. Diesen Schluß erleichtern die textlichen Unterschiede in der zweiten Hälfte des Verses, die in zwei von drei Fällen auf den sekundären Charakter der griechischen –––––––––––––– 17 18 19 20

21 22

Vgl. ebd. DRIVER: a. a. O. S. 135. Vgl. KLOSTERMANN: a. a. O. S. 62, Anm. 16x. Zu solchen asyndetischen Relativsätzen vgl. BROCKELMANN: a. a. O. §§146–149. – Vergleichbar sind dann vielleicht die Relativsätze (allesamt mit der Relativpartikel rRvSa) in Gen 33,14; Lev 18,27f.; 1 Kön 16,25.30; 2 Kön 21,11; Spr 23,1; Neh 5,15; 2 Chr 1,12. Meistens ist hier zwar das suffigierte y´nVpIl Ausdruck eines zeitlichen Sachverhalts, zweimal jedoch ist es eindeutig räumlich gemeint (Gen 33,14 und Spr 23,1). STOEBE: a. a. O. S. 307, Anm. 16 b). STOEBE (a. a. O. S. 307) übersetzt: „Wollte doch unser Herr einen Befehl geben, deine Knechte sind ja deines Winks gewärtig, daß deine Knechte einen Mann suchen sollen [...].“ Noch etwas besser STOLZ (a. a. O. S. 108), da er den Befehl unpersönlich (unter Verwendung des indefiniten Pronomens ‚man‘) faßt: „Unser Herr gebe doch Anweisung – deine Knechte stehen dir zur Verfügung –, daß man einen Mann suche [...]!“

Untersuchung

117

Fassung hindeuten.23 Allein die Übersetzung pneuvma ponhro\n, die das MyIhølTa des MT nicht wiedergibt, scheint Ursprüngliches bewahrt zu haben. Dafür spricht nicht allein die textkritische Faustregel (lectio brevior potior), sondern auch, daß sich weder eine theologische noch eine erzählerische Intention darin erkennen ließe, das Wort MyIhølTa zu unterdrücken. Dagegen dürfte wiederum das Nebeneinander der zwei Partizipien N´…gÅnVm AoédOy in V. 16a keine Korruption, sondern vielmehr den originären Wortlaut darstellen.24 Anzumerken ist zuletzt noch, daß V. 16 nicht die in den V. 14f. verwandte Wurzel tob aufgreift, um Sauls geistig-seelischen Zustand zu beschreiben, sondern stattdessen die Formulierung lAo hyh wählt, die ähnlich noch einmal in V. 23 auftaucht (lRa hyh). V. 17 schildert die Umsetzung dessen, was die Knechte ihrem König in V. 16a angeraten hatten, und paßt sich damit in den Handlungsfortgang optimal ein. Es verdient besondere Beachtung, daß der Vers die Begrifflichkeiten, deren sich sein Vorvers bedient, zweimal leicht variiert. Zum einen sollen die Hofleute nicht nach jenem Musiker suchen (vqb im Pi‘el), sondern Ausschau halten (har im Qal); zum anderen wird der Gesuchte nun als N´…gÅnVl byIfyEm vyIa umschrieben, während er dort als N´…gÅnVm AoédOy vyIa bezeichnet wird. Zugleich ist aber festzustellen, daß 16,17 auf die Rede der Knechte Sauls (V. 15f.) angewiesen ist, weil andernfalls der Sinn des königlichen Befehls nicht deutlich würde. Doch auch V. 17 seinerseits scheint fest in den Kontext integriert zu sein, denn ohne ihn erschließt sich weder der Folgevers noch alles weitere. Ebenfalls von einer gewissen Variabilität im Ausdruck zeugt V. 18. Dort ergreift gleich zu Beginn jemand aus der Menge der Hofleute das Wort, der aber nun nicht mehr (wie in den V. 15–17) dRbRo genannt wird, sondern MyîrDo◊…nAhEm dDjRa. Und wiederum ein wenig anders als der voraufgegangene Text wählt V. 18 für den zu engagierenden Harfenspieler den Terminus N´…gÅn AoédOy. An diese genannte erste kurze Charakterisierung des Isaisohnes schließen sich insgesamt nicht weniger als fünf weitere an, die allesamt ähnlich knapp gehalten sind. Von David wird hier – und zwar in dieser Reihenfolge – gesagt, daß er a) einer angesehenen Familie entstamme,25 b) ein gestandener Kriegsmann sei, c) es überdies verstehe, geschickt und verständig seine Worte zu wählen,26 –––––––––––––– 23

24 25

26

Vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 102. Es handelt sich erstens um die Formulierung e˙n thvØ kinu/raˆ aujtouv, die wohl das hebräische wødÎyV;b erläutern soll, und zweitens um den offensichtlichen Zusatz kai« aÓnapau/sei se am Ende des Verses. Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 307f., Anm. 16 c), sowie die dort aufgeführte Literatur. Zur abweichenden, aber sekundären LXX-Fassung vgl. W ELLHAUSEN : Text. S. 103. – Zum Begriff lˆyAj rwø;bˆ…g vgl. STOEBE: a. a. O. S. 193, Anm. 1 h), dort auch weitere Literatur. Vgl. ferner S TOLZ : a. a. O. S. 108; DRIVER: a. a. O. S. 69; BUDDE: a. a. O. S. 59, 119. Anders noch z. B. GREßMANN: a. a. O. S. 65; HERTZBERG: a. a. O. S. 108. STOEBE (a. a. O. S. 308, Anm. 18 c)) betont m. E. etwas einseitig und lediglich unter Verweis auf 2 Sam 16,23 das Moment der Verständigkeit der Rede. Das erscheint mir allein deswegen schon

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1 Samuel 16,14–23

und d) auch noch gut aussehe (V. 18a) – kurz und gut: e) daß Jhwh mit ihm sei (V. 18b). Die Liste der positiven Eigenschaften ist also nicht nur recht lang, sie läßt auch einen planvollen Aufbau, ein System gänzlich vermissen.27 Die Elemente a) und b) passen gut zueinander und dürften einem höfischen oder militärischen Ideal entsprechen – in der Beschreibung eines Leierspielers hingegen wirken sie, in dieser Kombination wenigstens, eher deplaziert.28 Dem N´…gÅn AoédOy steht indessen eine gewisse Wortgewandtheit (d. h. Element c)) sicher gut zu Gesicht.29 Die Aussagen d) und e) wiederum sind vergleichsweise unspezifisch und könnten sowohl hier- wie dorthin gehören. Mithin sieht es so aus, als unterbräche die Motivik des Kriegsmannes die des lyrischen Musikers. In diese Richtung weist auch die Beobachtung, daß die Erzählung bis hierher nicht einmal ansatzweise den Auftritt eines Soldaten vorbereitet. Was die Leserin oder der Leser erwartet, ist allein die Präsentation eines Harfenspielers, der dem König Linderung seiner Leiden zu schaffen vermag.30 Andererseits finden sich so gut wie keine sprachlichen Indizien, die gegen eine genuine Zusammengehörigkeit der erwähnten sechs Charakterisierungselemente sprächen.31 Wirft man nun einen Blick auf diese Aussagen über David im einzelnen, so treten einige interessante Querbeziehungen zutage. Die Wurzel Ngn kommt im AT an zwölf Stellen vor, wovon allein die Hälfte in die hier zu untersuchende Geschichte und die von ihr abhängigen Episoden 18,10f. sowie 19,9f. fällt. Von den übrigen Belegen stammen drei aus Psalmtexten (Jes 38,20; Ps 33,3; 68,26), und ein weiterer steht in direktem Zusammenhang mit dem Motiv des Geistwirkens (2 Kön 3,15).32 Die letztgenannte Stelle, wiewohl selbst auch schon nicht allzu alt,33 könnte eventuell die Abfassung von 1 Sam 16,14ff. beeinflußt haben, da sie unter umgekehrtem Vorzeichen eine vergleichbare Szene präsentiert: hier wird ein –––––––––––––– 27 28

29 30 31

32 33

problematisch, weil weder dort noch andernorts das Wort NwøbÎn im Zusammenhang mit der Person des Ahitofel fällt. Zu allem Weiteren vgl. den Haupttext. Anders STOEBE: a. a. O. S. 308, Anm. 18 d). Inwiefern s. E. „die Charakterisierung folgerichtig aufgebaut“ ist (ebd.), verrät STOEBE allerdings nicht. So schon G REßMANN : a. a. O. S. 65f.; TIKTIN: a. a. O. S. 22. Das Element der edlen Abstammung mag, für sich genommen, durchaus auch zum Idealbild des lyrischen Sängers passen; noch besser jedoch fügt es sich in die Beschreibung eines Helden. Das scheint auch GREßMANN (a. a. O. S. 65f.) andeuten zu wollen. Ähnlich schon TIKTIN: a. a. O. S. 22; WEISER: Legitimation. S. 334. Gegen DIETRICH: Königszeit. S. 250, Anm. 14; TIKTIN: a. a. O. S. 22. Allenfalls könnte auf das Fehlen des w vor lˆyAj rwø;bˆg in manchen Textzeugen verwiesen werden, das jedoch nur sehr spärlich belegt ist (z. T. in rabbinischen Schriftzitaten und in zweien der von KENNICOTT kollationierten Handschriften). Die übrigen beiden sollen nicht verschwiegen werden, wirken aber bedeutend weniger aufschlußreich: Jes 23,16; Ez 33,32. W ÜRTHWEIN (a. a. O. S. 280.285f.) hält die Elisa-Episode 2 Kön 3,9b–17* für eine nachdeuteronomistische Ergänzung, wobei er V. 15b noch einmal als eine zeitlich nachgelagerte Glosse wertet.

Untersuchung

119

Spielmann herbeigeschafft, unter dessen Klängen Elisa in prophetische Ekstase gerät. Die Geisteinwirkung34 ist hier also durchaus erwünscht und wird durch die Musik nicht etwa gemildert, sondern gezielt befördert – eine Vorstellung, die sich ähnlich auch in 1 Sam 10,5 bezeugt findet. Darüber hinaus ist in Hinblick auf die Verwendung der Wurzel Ngn festzuhalten, daß eine Kombination mit der Wurzel ody zu nur hier und (etwas anders) in 16,16 begegnet. Um einiges häufiger ist der Ausdruck lˆyDj rwø;bˆ…g im AT anzutreffen: Von den insgesamt 32 Belegen entfällt ein Großteil auf anerkanntermaßen späte Literaturwerke.35 Daß der Terminus hier auf David angewendet wird, rückt den Helden in unmittelbare Nähe zum jungen Saul, der in 1 Sam 9,1 ebenfalls so tituliert wird.36 rDb∂;d Nwøb◊n ist ein Hapaxlegomenon. Das Partizip Niph‘al für sich genommen kommt dagegen des öfteren vor,37 besonders häufig ist seine Verwendung in den Proverbien. Das Deuteronomistische Geschichtswerk indes hält insgesamt nur vier Belege bereit, die überdies allesamt auf späten Wachstumsstufen zu liegen scheinen.38 Zweimal wird das Wort am Beginn der Josephsgeschichte benutzt (Gen 41,33.39). Bezieht man noch die Belege Qoh 9,11; Hos 14,10 und Sir 9,15 mit ein, so läßt sich zumindest eine gewisse Affinität des Ausdrucks zu weisheitlicher oder weisheitlich geprägter Literatur nicht verleugnen.39 Auch die Formulierung rAaø;t vyIa ist nur an dieser Stelle im AT belegt. rAaø;t allein wird zwar häufiger gebraucht, seine Verwendung scheint aber für keine Gruppe von Texten oder Verfasserkreisen charakteristisch zu sein. Es ist lediglich –––––––––––––– 34

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36 37 38 39

Strenggenommen ist hier von Aj…wr (außer in einigen hebräischen Handschriften sowie in ˇ) überhaupt nicht die Rede, sondern von der ‚Hand Jhwhs‘ (hÎwh◊y_dÅy). Die Einwirkung an sich wird immerhin mit denselben Worten wie in 1 Sam 16,16 beschrieben: mit hyh + lAo + Personalsuffix. Rut 2,1; Neh 11,14; 1 Chr 5,24; 7,2.5.7.9.11.40; 8,40; 9,13; 12,22.26.29.31; 26,6.31; 28,1; 2 Chr 13,3; 14,7; 17,13f.16f.; 25,6; 26,12; 32,21 (= 27 Belegstellen). Dem stehen lediglich fünf Verse im sog. Deuteronomistischen Geschichtswerk gegenüber, die den Begriff gebrauchen: Ri 11,1; 1 Sam 9,1; (16,18); 1 Kön 11,28; 2 Kön 5,1. In der letztgenannten Stelle stellen die zwei Wörter vermutlich eine Glosse oder ein Ergebnis der Textverderbnis dar (vgl. etwa WÜRTHWEIN: a. a. O. S. 296 (dort Verweis auf den Apparat der BHS, die hier ‚fortasse delendum‘ notiert) oder KLOSTERMANN: a. a. O. S. 405). Die Verwendung des Begriffes hDmDjVlIm vyIa ist demgegenüber bedeutend weniger aufschlußreich und kann daher hier vernachlässigt werden. Gen 41,33.39; Dtn 1,13; 4,6; (1 Sam 16,18); 1 Kön 3,12; Jes 3,3; 5,21; 29,14; Jer 4,22; Hos 14,10; Spr 1,5; 10,13; 14,6.33; 15,14; 16,21; 17,28; 18,15; 19,25; Qoh 9,11. Vgl. auch Sir 9,15. Zu Dtn 1,13 und 4,6 vgl. V EIJOLA : ATD 8,1. S. 22–28 und 110–112. – Zu 1 Kön 3,12 vgl. KRATZ: a. a. O. S. 167f.; anders allerdings WÜRTHWEIN: a. a. O. S. 30–34. In bezug auf die Proverbien und Qohelet bedarf das keiner Erläuterung. Zu Gen 41,33.39 vgl. LEVIN: Jahwist. S. 285f. und 440f.; zu Hos 14,10 vgl. etwa KRATZ: Erkenntnis. S. 17f. Sowohl die Hosea- als auch die zwei Genesisstellen liegen KRATZ bzw. LEVIN zufolge jeweils auf einer sehr späten Fortschreibungsschicht. Das von LEVIN rekonstruierte Stratum kennt darüber hinaus auch die Vorstellung der positiven Einwirkung der oder einer göttlichen Aj…wr (vgl. Gen 41,38 und LEVIN: a. a. O. S. 285). Zu einer weiteren Parallele zu Gen 41 vgl. Anm. 46 (Kap. 4).

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1 Samuel 16,14–23

festzustellen, daß beim Auftreten einer neuen Figur gerne auch deren Aussehen beschrieben wird.40 V. 18b besteht aus der etwas weiter verbreiteten der beiden Spielarten der sogenannten ‚Mitseins-Formel‘ oder ‚Beistandsformel‘,41 die mit der Präposition MI o gebildet wird. Sie ist beinahe im ganzen AT zu finden, besonders konzentriert in den erzählenden Werken (mit Ausnahme des Estherbuchs, das keinen Beleg aufweist). In der Weisheitsliteratur hingegen ist sie bloß ein einziges Mal vertreten, in den Psalmen nur dreimal, in den Klageliedern überhaupt nicht. Der assertorische Gebrauch der Formel, der den Beistand Gottes konstatiert, findet sich auffallend oft zu Beginn der AG, nämlich neben 1 Sam 16,18 in 18,12.14.28, also insgesamt viermal.42 Eine vergleichbare Häufung ist sonst nur noch am Anfang der Josephsnovelle (Gen 39,2f.21.23, dort aber mit tEa) anzutreffen. In V. 19 folgt der König umgehend dem soeben vorgetragenen Vorschlag und sendet Boten zu Isai, um dessen famosen Sohn an den Hof zu bringen. Dabei ergibt sich indes bei aufmerksamer Lektüre ein Problem, denn Saul läßt in Bethlehem gezielt nach David fragen – dessen Name war jedoch bis hierher dem König gegenüber noch gar nicht genannt worden. Allein die Leserin resp. der Leser kennt ihn bereits aus 16,13. Zu dieser relativ unscheinbaren Unanschaulichkeit gesellt sich gleich noch eine zweite: Saul weiß bereits, daß David sich beim Kleinvieh aufhält,43 obwohl auch dies noch mit keinem Wort in der vorausgegangenen Szene am Hofe erwähnt worden ist.44 Zugleich muß aber auch gesehen werden, daß der Vers integraler Bestandteil der gesamten Geschichte ist, weil ohne ihn unklar bliebe, wie Isai von Sauls Ansinnen erfahren haben kann. V. 19a allein würde diese Informationslücke auch nur unzureichend schließen, da man sich in diesem Falle die eigentliche Nachricht an Isai hinzudenken müßte, was einigermaßen ungewöhnlich wäre. –––––––––––––– 40

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Hierzu kann man Gen 29,17; 41,18f.; (1 Sam 16,18); 25,3; 28,14; 1 Kön 1,6 und Est 2,7 rechnen, cum grano salis vielleicht auch Gen 39,6. Die übrigen Belege sind Dtn 21,11; Ri 8,18; Jes 52,14; 53,2; Jer 11,16 und Klgl 4,8. Zu ihr vgl. PREUß : Art. tEa, MI o. Sp. 486ff. Zu den altorientalischen Parallelen der Formel vgl. ders.: ZAW 80. S. 161–171. Einen Überblick über verschiedene jüngere Positionen zur Frage nach der Herkunft der Beistandsformel bietet BERGE: Zeit. S. 195–203. Vgl. hierzu auch WEISER: Legitimation. S. 334f. – Ein weiteres und zugleich letztes Mal begegnet die Formel, assertorisch verwendet, am Schluß der AG in 2 Sam 5,10. Als Wunsch oder Verheißung aus dem Munde von Menschen ist sie (innerhalb der AG) noch in 1 Sam 17,37 und 20,13 bezeugt. Die Peschitta bietet hier einen einfacheren Text, der dieses Detail unterschlägt – aber auch aus genau diesem Grund als ursprüngliche Fassung höchstwahrscheinlich ausscheidet. – Die LXX ergänzt noch ein besitzanzeigendes Pronomen am Ende des Verses, was ebenfalls einen sekundären Zug darstellen dürfte (lectio brevior). Daß David ein Kleinviehhirte war, wird zuvor nur in 16,11 ausgesagt; in Kap. 17 kommen noch die V. 15.20.28 und 34 hinzu. Vielleicht gehört auch 2 Sam 7,8 hierher.

Untersuchung

121

V. 20 spinnt den Erzählfaden ganz geradlinig fort: Isai reagiert völlig angemessen auf Sauls Wunsch, indem er nicht allein seinen Sohn ziehen läßt, sondern diesem auch noch einige Dinge mitgibt, die teils für David, teils als Geschenk für den König gedacht sein dürften.45 Der Vers baut unmittelbar auf 16,19 auf und ist ohne diesen kaum vorstellbar. Auch in V. 21 läuft die Handlung zunächst bruchlos weiter, doch ergeben sich dann plötzlich in V. 21b zwei auffällige Irritationen. Nachdem in V. 21a berichtet worden ist, daß David zu Saul kommt und ‚vor ihm dient‘46, formuliert 21ba nun: dOaVm …whEbDhTa‰¥yÅw. Grammatikalisch ist der Sachverhalt an sich eindeutig: Da erstens in der vorausgegangenen Vershälfte David das Subjekt beider Satzgefüge bildet, zweitens V. 21ba durch nichts einen Wechsel des Handlungsträgers andeutet und drittens im sich anschließenden V. 21bb wiederum allein David als Subjekt gedacht sein kann,47 müßte man eigentlich auch in V. 21ba den Isaisohn als die handelnde Person betrachten. Dem stehen nun allerdings nicht allein die Voten fast sämtlicher Auslegerinnen und Ausleger entgegen,48 sondern vor allem auch zwei Beobachtungen am Text selbst. So ist schwerlich von der Hand zu weisen, daß die Aussage, David habe den Saul sehr liebgewonnen, dem Gefälle der Erzählung vollkommen zuwiderläuft. Das Interesse beim Lesen bzw. Hören geht ja vielmehr in die Richtung zu erfahren, ob und ggf. wie David am Königshof aufgenommen wird. Hinzu kommt der bemerkenswerte Umstand, daß insbesondere zu Beginn der AG zwar des öfteren das Verbum bha bzw. das Nomen hDbShAa Verwendung findet,49 doch ausschließlich in der Weise, daß David derjenige ist, dem Liebe entgegengebracht wird. Dem umgekehrten Fall begegnet man nirgends.50 –––––––––––––– 45

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Die LXX bietet hier einen vom MT abweichenden Text, sie liest statt des hebräischen rwømSj das vielleicht auf das Getreidemaß rRmOo zurückgehende Wort gomor (weitere Möglichkeiten verzeichnet bei STOEBE: a. a. O. S. 308, Anm. 20 a); noch einmal anders BUDDE: a. a. O. S. 120). Weder dies noch jenes dürfte ursprünglich sein. Die größte Wahrscheinlichkeit hat wohl die (auch von der BHK favorisierte) Zahlenangabe hDÚvImSj für sich, denn: „Nur Zahlen kommen bei Mjl vor, keine Maasse [sic]“ (WELLHAUSEN: Text. S. 103). Blickt man beispielsweise nach 1 Sam 10, 3 oder 17,17, wirkt diese Zahl auch einigermaßen realistisch. 17,18 zeigt überdies, daß es üblich war, auch dem Dienstherrn etwas mitzubringen. y´nVpIl + (q) dmo; diese Formulierung begegnet bezeichnenderweise auch in Gen 41,46. Zur Übersetzung mit ‚dienen‘ vgl. RINGGREN: Art. dAmDo. Sp. 198; anders BUDDE: a. a. O. S. 120. Daß V. 21bb besagen will, Saul sei Davids Waffenträger geworden, kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden, da eine solche Aussage den gesamten Kontext gegen sich hat. Vgl. etwa BERGES: a. a. O. S. 226; BRUEGGEMANN: Samuel. S. 126; GREßMANN: a. a. O. S. 65; H ERTZBERG : a. a. O. S. 108f.; MCKENZIE : a. a. O. S. 83; MILDENBERGER : a. a. O. S. 108; NÜBEL: a. a. O. S. 20; STOEBE: a. a. O. S. 307; STOLZ: a. a. O. S. 109f.; THOMPSON: Significance. S. 335; unklar KLOSTERMANN: a. a. O. S. 62. Weitere Literatur bei BERGES: a. a. O. S. 226, Anm. 59. Vgl. 1 Sam 18,1.16.20.22.28; 20,17 (bha). 1 Sam 18,3; 20,17; 2 Sam 1,26 (hDbShAa). Vgl. BERGES: a. a. O. S. 226.

122

1 Samuel 16,14–23

Die zweite Irritation in V. 21b besteht darin, daß nach V. 21bb David sogleich zum Waffenträger des Königs avanciert. Mit dieser Beförderung nimmt das Geschehen eine Wendung, die man bei der Lektüre bis hierher nicht unbedingt erwartet hätte. Der mit den V. 14f. aufgerissene Problemhorizont, die Heimsuchung Sauls durch einen bösen Geist, verlangt vielmehr nach einem Ereignis, das die Not des Königs behebt oder wenigstens lindert. Und vor dem Hintergrund von V. 16 müßte diese Rolle eigentlich Davids Saitenspiel zufallen. Überdies wüßte man auch gern, welche Umstände oder Eigenschaften dem jungen Mann aus Bethlehem diesen ersten Schritt auf der Karriereleiter ermöglichen. Im jetzigen Zusammenhang liefert lediglich der (wie schon erwähnt) nicht ganz unproblematische V. 21ba eine mehr oder minder zufriedenstellende Antwort auf diese Frage. Was dagegen als Begründung viel näher gelegen hätte, wird erst ganz zum Schluß in V. 23 vermeldet: die Bewährung Davids in seiner Eigenschaft als königlicher Musiktherapeut. Die Handlung folgt also nicht, wie man es erwarten sollte, dem Schema Dienst – Bewährung – Beförderung, sondern nimmt interessanterweise den Verlauf Dienst – Beförderung – Bewährung. Hiervon einmal abgesehen, wird man ferner zumindest fragen dürfen, weshalb David als Harfner überhaupt dazu kommt, den Rang eines Waffenträgers einzunehmen. Natürlich ist es möglich, diese Stellung dahingehend zu interpretieren, daß der mit ihr in Friedenszeiten verbundene Aufgabenbereich dem eines „Leibpagen“51 entsprochen habe. Doch wo immer sonst Waffenträger im AT auftreten, nehmen sie stets ausschließlich militärische Funktionen wahr.52 Für sich betrachtet setzt V. 21 kaum eine Information aus 16,14ff. voraus, einzig David und Saul sind als bereits bekannt gedacht. Vielmehr schließt sich der Vers sehr gut an 14,52 an, da hier von Sauls Rekrutierungspraxis berichtet wird. Bezieht man den näheren Kontext in die Überlegungen mit ein, so zeigt sich eine interessante Verbindung zweier Aussagen: David wird erstens als Sänger bzw. Musiker dargestellt und zweitens als von Saul geliebt. Bemerkenswert an dieser Kombination ist, daß sie ganz ähnlich in 2 Sam 1,17ff., namentlich in 1,26 begegnet, wo David in einem Klagelied um Saul und Jonatan trauert und dabei zu guter Letzt die Liebe besingt, die ihm von Jonatan entgegengebracht wurde. Beachtung verdient hierbei der Umstand, daß die Passage 1,25b–27 kein ursprünglicher Bestandteil der Klage, sondern vielmehr ein späterer Zuwachs zu sein scheint.53 –––––––––––––– 51 52 53

GREßMANN: a. a. O. S. 66. Vgl. Ri 9,54; 1 Sam 14,1–14; 31,4–6; 2 Sam 18,5; 23,37. Auch Ri 7,10f. und 1 Sam 20,21ff. können hierzugerechnet werden. Den uneinheitlichen Charakter des Stückes 2 Sam 1,17ff. bemerken auch FISCHER: Hebron. S. 335, Anm. d; STOEBE: KAT2 VIII,2. S. 92, Anm. 25 b) sowie S. 96; S TOLZ : a. a. O. S. 189. STOEBE geht näherhin davon aus, daß die V. 25b–27 nachträglich angefügt wurden. Allerdings rechnet er hier nicht mit einer Fortschreibung, sondern mit der Zusammenführung zweier alter,

Auswertung

123

Was eben vor dem Hintergrund von V. 21 zum Problem der Geschehensfolge der Perikope gesagt wurde, gilt ebenso für V. 22: Womit hat sich David das Wohlwollen des Königs erworben? Man erfährt es auch hier noch nicht. Der Vers setzt, anders als 16,21, Details aus 16,14ff. voraus, denn er kennt bereits Isai und weiß auch, daß Davids weiterer Aufenthalt am Hofe der Zustimmung seines Vaters bedarf. Die Szene wird indes mehr angedeutet als ernsthaft geschildert: wie Isais Antwort ausfällt, muß augenscheinlich überhaupt nicht expliziert werden. Auch V. 23 setzt wie selbstverständlich voraus, daß David in königlichen Diensten verbleibt. Doch wird darüber hinaus dargestellt, wie David sich in Versehung der Aufgabe bewährt, deretwegen er ursprünglich einmal an den Hof geholt worden war. Natürlich macht er seine Sache glänzend. Wenn Saul von einem bösen Geist geplagt wird, greift der Knappe zur Leier, und sogleich geht es dem König besser. Die sprachlichen Auffälligkeiten des Verses wurden z. T. schon genannt: Um das Wirken des Geistes zu beschreiben, wird hier Aj…wr (q) hyh NN lRa ... formuliert, in V. 16b dagegen NN lAo ... Aj…wr (q) hyh. 16,23a gebraucht mit MyIhølTa_Aj…wr54 einen Terminus für den bösen Geist, der sich leicht von allen anderen in der Episode verwendeten abhebt. Wieder anders formuliert V. 23b: hDo∂rDh Aj…wr. Und schließlich wird auch das Ablassen des Geistes vom König in leichter Differenz zum Schwinden der Aj…wr in V. 14 geschildert. Denn in 16,14 weicht der Geist l…waDv MIoEm, in V. 23b dagegen wyDlDoEm.

4.3

Auswertung

Die bis hierher gemachten Beobachtungen lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: a) Es finden sich zahlreiche Anhaltspunkte für die Vermutung, daß 16,14–23 erst sehr spät in den jetzigen Zusammenhang getreten ist, und zwar vermutlich als Fortschreibung zu 15,35–16,13.55 Dafür spricht erstens der Umstand, daß die ––––––––––––––

54 55

quellenhafter Stücke. Warum diese Verse unbedingt alt sein und vielleicht sogar auf David selbst zurückgehen sollen, vermag man indes nicht ohne weiteres einzusehen. Sie lassen sich ganz im Gegenteil einzig als sekundäre Erweiterungen erklären, denn V. 25b greift mit dem Wort ÔKyRtwømD;b ausdrücklich den ersten Teil des Liedes auf, namentlich V. 19a und das dort angesprochene Israel. Das Ziel dieses Einschub besteht vermutlich in erster Linie darin, Davids Unschuld am Tode Sauls und Jonatans möglichst eindrücklich vor Augen zu führen. Daß die V. 25b–27 diesen Zweck etwas besser erfüllen als der Beginn des Liedes, spricht nicht für ihre Authentizität, sondern für ihre textgenetische Nachzeitigkeit gegenüber 1,17–25a. Zum Alter des Lieds oder wenigstens seiner Einfügung vgl. auch KRATZ: Komposition. S. 186.192. Das von der LXX bezeugte pneuvma ponhro\n dürfte eine Angleichung des Ausdrucks an V. 16 (LXX) sein. So auch AURELIUS: David. S. 66; GUNNEWEG: Geschichte. S. 71f.; NÜBEL: a. a. O. S. 92; genau umgekehrt ADAM (Saul. S. 152), jedoch rein thetisch formuliert.

124

1 Samuel 16,14–23

Episode thematisch viel besser an 16,13 anschließt als an die denkbaren Alternativen 15,34 und 14,52, weil sie wie 16,13 von Geistverlust und Geisteinwirkungen handelt. Zweitens deutet auch das Ende von V. 19 (Naø…xA;b rRvSa) auf eine Kenntnis der Salbungsgeschichte, insbesondere von V. 11 hin. Zwar könnte hier auch Kap. 17 eingewirkt haben, doch müßte man dann mit einem Bearbeiter rechnen, der nicht allein dem Informationsstand der Figuren (wie hier z. B. dem Sauls), sondern auch dem der Leserschaft allenfalls geringe Beachtung zu schenken bereit war. Auf dieser Ebene liegt auch das dritte Argument: Daß Saul in V. 19 Davids Namen weiß, ohne daß dieser zuvor im Gespräch mit den Hofleuten gefallen ist, kann entweder auf einen Ergänzer zurückzuführen sein, der nicht konsequent dem Rechnung trug, was die Leserin bzw. der Leser beim aktuellen Stand der Geschichte wissen kann; dann müßte die Salbungserzählung nicht unbedingt vorausgesetzt sein. Oder man begnügt sich damit, einen Überarbeiter anzunehmen, der keinen Wert darauf legte, die innere und die äußere Handlung widerspruchsfrei aufeinander abzustimmen. In diesem Falle dürfte 16,14ff. nach 15,35ff. eingefügt worden sein. Und in der Tat scheint diese Annahme plausibler zu sein, weil sie gegenüber ihrer Alternative den literarisch versierteren Ergänzer voraussetzt. Ein allzu grob arbeitender Verfasser paßt aber nicht gut zu dem im übrigen recht gediegenen literarischen Charakter, der oben immer wieder zutagetrat. Viertens ergibt sich aus der Sprache und aus den Motiven, welche die Geschichte verwendet, ein Netz vielfältiger Querbeziehungen zu anderen alttestamentlichen Schriften. Dabei gehören die engsten motivischen Parallelen ausnahmslos textgenetisch relativ jungen Stufen an (Ri 9,23; 1 Kön 22,19–23; 2 Kön 3,15), während die sprachlichen Anklänge zumindest einen weiten literarischen Horizont des Autors erkennen lassen (neben Termini, die aus der Weisheit oder dem Psalter stammen, zeigten sich Spuren, die auf die Josephsnovelle verweisen). Zugleich prägt der Text zwei Begriffe, die nirgends sonst im AT zu finden sind (rDb∂;d Nwøb◊n und rAaø;t vyIa, beide V. 18a), kombiniert als einziger die Wurzeln ody und Ngn (V. 16.18) und wird nur zweimal in den nachfolgenden Erzählungen vorausgesetzt (18,10f.; 19, 9f.). b) Die Erzählung macht aufs Ganze gesehen einen sehr einheitlichen, geschlossenen Eindruck. Zwar wirkt der Text, was seinen sprachlichen Ausdruck anbelangt, äußerst abwechslungsreich. (Dieser Umstand ist insofern erwähnenswert, als alttestamentliche Erzählprosa in ihrer Wortwahl – gemessen freilich an heutigen Maßstäben – zu einer gewissen Stereotypie neigt; hier tritt vielleicht ein weiteres Indiz für eine späte Abfassung zutage.) Doch weist der Abschnitt nur ganz vereinzelte Redundanzen und logische Sprünge auf und stellt sich im übrigen als ein Text dar, dessen einzelne Elemente erzählerisch konsequent ineinandergreifen. c) Gleichwohl lassen sich vier Hinweise entdecken, die auf ein literarisches Wachstum deuten. Erstens ist in V. 21 der Satz 21ba auffällig, da er aller Wahrscheinlichkeit nach Saul als Handlungsträger voraussetzt und damit einige Un-

Auswertung

125

ordnung in die Syntax des übrigen Verses bringt. Zweitens zeigt sich im selben Vers sowie auch in V. 18, daß in der Erzählung zwei Motive recht unverbunden nebeneinanderstehen: David ist zwar ganz überwiegend als Harfenspieler gedacht, erscheint aber (etwas überraschend) in 16,18.21 auch als Soldat.56 Drittens unterscheidet sich V. 21 insofern von allen anderen Versen der Geschichte, als er seinen jetzigen literarischen Kontext nicht (erkennbar) voraussetzt,57 vielmehr für sich genommen optimal zu 14,52 paßt. Viertens ist die Darstellung des Geschehensverlaufes zu nennen, welche die einfachere und der Sache nach viel näherliegende58 Abfolge von Dienst – Bewährung – Beförderung in die weitaus ungewöhnlichere Ordnung Dienst – Beförderung – Bewährung bringt. Setzt man diese drei Punkte zueinander in Beziehung, so drängt sich der Schluß auf, daß der Erzählfaden von 1 Sam 16,14–23 einst sozusagen um V. 21* ‚herumgesponnen‘ wurde. Denn alle literarkritisch relevanten Spuren, die zuletzt aufgezählt wurden, laufen in 16,21 zusammen und belegen eine gewisse Sonderstellung des Verses, die sich, wie mir scheint, am besten erklären läßt, wenn man von einem vormaligen Eigenleben von V. 21 ausgeht. Das führt dann zu folgendem textgenetischen Modell:

4.3.1

Die Bearbeitung

Die Erzählung von der Ankunft des Harfenspielers David am Königshof dürfte mit Ausnahme von V. 21abb und einigen kleineren Ergänzungen aus der Feder eines Bearbeiters stammen. Zu diesen kleineren Einschüben könnte das Ende von V. 14b (die Wörter hÎwh◊y tEaEm) zählen, da es erstens ein bißchen ‚hinterherhinkt‘59 und zweitens nicht wie V. 14a die Präposition MIo, sondern tEa gebraucht. Keines dieser beiden Argumente ist indes zwingend: Die Syntax des fraglichen Satzes weist keinerlei Störungen auf, und das Spiel mit Synonymen oder sinnverwandten Begriffen bzw. Wendungen scheint geradezu ein Charakteristikum des Abschnitts 16,14ff. zu sein. So bleibt einzig ein tendenzkritisches Argument. Das im einzelnen wahrscheinlich kaum mehr vollständig zu erklärende heillose Durcheinander, das in bezug auf die Näherbestimmungen der Aj…wr innerhalb des MT und der Versionen in 16,14ff., 18,10 und 19,9 herrscht, könnte m. E. zumin–––––––––––––– 56

57 58 59

Die Konkurrenz dieser beiden Motive sieht auch ADAM (Saul. S. 151f.), ohne jedoch ihre Entstehung schlüssig zu erklären. Die von ihm postulierte Grundschicht der Erzählung (1 Sam 16,16abb.17-23abb a , vgl. ADAM : a. a. O. S. 151) hat keinen adäquaten Anfang und weist v. a. noch immer die genannte motivische Doppelung auf. Das sieht auch ADAM (vgl. ders: a. a. O. S. 151, Anm. 175), ohne das Problem jedoch zu lösen. Umgekehrt wird 16,21* jedoch seinerseits von diesem Kontext vorausgesetzt und kann daher unmöglich nachgetragen worden sein. Sie liegt z. B. den Erzählungen Gen 41,1–46 und Dan 2,1–49 zugrunde. Vgl. Anm. 10 (Kap. 4).

126

1 Samuel 16,14–23

dest teilweise Ausdruck eines zunehmend streng gefaßten monotheistischen Gottesbildes sein. Sollte diese Vermutung zutreffen, wäre im Laufe der Textgeschichte versucht worden, durch entsprechende Glossen oder Ersetzungen den bösen Geist immer deutlicher als nichtselbständige Größe auszuweisen, als bloßes Werkzeug Gottes bzw. Jahwes. So läßt sich zumindest relativ einleuchtend der Befund in 16,16 erklären, wo zunächst wohl nur von einer hDo∂r Aj…wr die Rede war (V. 16b*), bevor dann im MT ein MyIhølTa zwischen die beiden Wörter trat. Die _Aj…wr hDo∂r MyIhølTa aus 16,15MT wiederum ist in einigen hebräischen Handschriften (und der LXX resp. ihrer Vorlage) zur hDo∂r hÎwh◊y Aj…wr (vgl. 19,9MT) verändert worden. Ich tendiere deswegen bei aller gebotenen Vorsicht dazu, auch in dem hÎwh◊y tEaEm einen sekundären Einschub zu sehen, mit dem ein erster Schritt in diese Richtung getan wurde. Eine weitere Ergänzung dürfte die Parenthese ÔKy‰nDpVl ÔKy®dDbSo in V. 16a darstellen, die aber allein als eine erzählerische Ausschmückung ohne theologische Intention zu verstehen ist. Dagegen sehe ich keinen sprachlichen oder tendenzkritischen Anhaltspunkt dafür, in V. 18 mit Auffüllungen oder mit einer nachträglichen Ergänzung des Relativsatzes am Ende von V. 19 zu rechnen.60 Abzüglich der genannten späteren Einzelzusätze umfaßt die Bearbeitungsschicht damit die Verse 14*.15.16*–20.21ba .22f. In mehrfacher Hinsicht zeugt dieses Textstratum von den literarischen Fähigkeiten seines Autors. So verrät der Wortschatz nicht nur eine weitgehende Vertrautheit mit den Erzählwerken des AT, sondern auch Einflüsse aus der Sprache des Psalters und der Weisheit. Dabei ist mitunter eine derartige Ausdrucksvielfalt festzustellen, daß man kaum darin fehlgehen wird, hier einen gewissen künstlerischen Gestaltungswillen zu unterstellen.61 Auch der Aufbau der kleinen Geschichte ist nicht ohne Raffinesse: Die Darstellung hält sich nicht sklavisch an den Verlauf der zu schildernden Handlung, sie verläßt stattdessen zum Ende hin die von hierher vorgegebene Reihenfolge der Ereignisse und schließt nicht etwa, wie man erwarten könnte, mit der Nachricht von Davids beginnendem Aufstieg, sondern klingt erst kurz darauf mit seiner Bewährung, mit der Erwähnung der tatsächlich lindernden Wirkung seines Harfenspiels aus. Daß dem Verfasser schließlich in V. 22 allein die Notiz über die Aussendung der Boten zu Isai ausreicht, um eine ganze Szene anzudeuten, läßt seine literarischen Fähigkeiten vollends zutage treten. Seine Leistung –––––––––––––– 60 61

Gegen DIETRICH: Königszeit. S. 250, Anm. 14. Vgl. auch oben Anm. 31 (Kap. 4). Auch SEIDL (David. S. 47–53.54) hebt nach eingehender Untersuchung der ‚Ausdrucksseite‘ von 1 Sam 16,1–13 und 16,14–23 die hohe literarische Qualität beider Erzählungen hervor. Allerdings leidet sein Gesamtbild der Entstehung der Kapitel 16–18 darunter, daß er vorschnell (d. h. ohne die Texte en détail unter literarkritischen Gesichtspunkten zu studieren oder wenigstens alternative textgenetische Modelle zu diskutieren) seine Überlegungen auf eine Art Fragmentenhypothese gründet.

Auswertung

127

wird allein dadurch ein wenig geschmälert, daß er es in V. 19 versäumt, Sauls Wissensstand in Hinblick auf den vorgeschlagenen Harfenspieler schlüssig auf den bis dorthin geschilderten Handlungsverlauf abzustimmen.62 Entstehungsgeschichtlich betrachtet hat diese Bearbeitung zweierlei zur Voraussetzung: Zum einen fußt sie, wie bereits ausgeführt wurde, auf der Episode 15,35–16,13, zum anderen verrät ihr Sprachgebrauch eine weisheitlich-poetische Prägung, so daß man von einer gewissen Vertrautheit des Autors mit entsprechenden Texten ausgehen kann. Wenn aber der sich allmählich formierende dritte Kanonteil dem Bearbeiter offensichtlich bekannt war, dann muß auch erwogen werden, ob (und gegebenenfalls inwieweit) das Motiv des saitenspielenden David ein Reflex dieser Textkenntnis, namentlich der des Psalters, ist. In diesem Zusammenhang erhebt sich weiterhin die Frage, in welchem Verhältnis 1 Sam 16,14ff. zu jenen Stellen steht, die David als Dichter bzw. Sänger präsentieren (2 Sam 1,17–27; 3,33f.; 22; 23,1–7). Der Text selbst gibt nur wenige Anhaltspunkte an die Hand. Immerhin wird man soviel sagen dürfen, daß er kaum Interesse erkennen läßt, in aller Deutlichkeit einen Psalmsänger darzustellen. Es ist nicht einmal vollends klar, ob man an rein instrumentale Aufführungen zu denken hat oder eher an Vokalmusik, die durch das Schlagen der Leier lediglich unterlegt wurde. Der zweiten Möglichkeit ist vielleicht der Vorzug zu geben, denn der rwø…nI;k scheint „ein rhythmisch-begleitendes, kein melodisches Instrument gewesen zu sein.“63 Im übrigen läßt die Erzählung aber von Gesang nichts verlauten. Dieser Befund ist nun alles andere als eindeutig, m. E. bieten sich drei Möglichkeiten: Das geringe Interesse daran, David als Sänger auszuweisen, kann entweder daher rühren, daß a) diese Vorstellung (noch) unbekannt war oder b) zwar bekannt war, aber dem Bearbeiter nicht wichtig erschien, oder c) ihm bereits derart selbstverständlich war, daß es ihm nicht mehr nötig erschien, sie weiter auszuführen. Die erste Erklärung hat am wenigsten Wahrscheinlichkeit für sich, da die Überarbeitung mit V. 18.21ba eine Motivkombination enthält, die ganz ähnlich u. a. in 2 Sam 1,26 auftaucht, was eine zeitgleiche Entstehung nahelegt. Weil aber 2 Sam 1,26 eine Erweiterung des Klagelieds 1,17ff. darstellt, dürfte der Verfasser in dem von ihm bearbeiteten Stoff bereits die Vorstellung von David als Sänger vorgefunden haben. Eine begründete Entscheidung zwischen den beiden verbleibenden Alternativen ist hingegen kaum möglich. Auffällig ist immerhin, daß das in 1 Sam 16,14f. verwendete Verb (pi) tob mit 2 Sam 22,5 auch an einer Stelle gebraucht wird, die David ganz klar bereits als Psalmsänger oder -dichter beschreibt. Doch ist mit diesem Befund allein nur wenig gewonnen, und so wird man sich wohl oder übel darauf beschränken müssen, die Entstehung der Bearbeitung in 1 Sam 16,14ff. zeitlich nicht allzu weit von der Eingliederung jenes –––––––––––––– 62 63

Eine ähnliche Vermischung der Ebene des Erzählers mit der einer seiner Figuren findet sich in 1 Sam 17,8, auf die schon WELLHAUSEN (Text. S. 104) hinweist. SEYBOLD: David. S. 148.

128

1 Samuel 16,14–23

Psalms in die Samuelbücher abzurücken. V EIJOLA kommt nach einer eingehenden textgenetischen Analyse von 2 Sam 22 (wie des gesamten Abschnitts 2 Sam 21–24) zum Schluß, der Text müsse von einem spätdeuteronomistischen Redaktor (er nennt ihn ‚Dtr N‘) eingepaßt worden sein.64 SEYBOLD hingegen sieht die Einfügung des Liedes (wie auch die der Kapitel 2 Sam 21.23f.) im Zusammenhang „mit der Entstehung der kanonischen Samuelbücher“65 und siedelt sie dementsprechend „in der Zeit der Konsolidierung des zweiten Kanonteils“66, nämlich „in spätpersischer Zeit“67 an. Die bereits dargestellten Ansatzpunkte für eine Datierung von 1 Sam 16,14ff. fügen sich zu der zweiten Hypothese erheblich besser als zu der ersten. Für das Davidbild bedeutet all dies: Der David, der in 16,14ff. vorgestellt wird, ist vermutlich bereits als Sänger gedacht und bewegt sich zuallermindest mit großen Schritten auf den Psalmdichter zu, als der er in 2 Sam 22 erscheint. Es ist sogar möglich, daß diese Vorstellung bereits im Hintergrund von 1 Sam 16,14ff. steht, doch kommt man an diesem Punkt ohne eine eingehendere Untersuchung über bloße Spekulationen nicht hinaus. Daß eine solche Darstellung Davids verglichen mit jener aus V. 21* eine deutliche Sublimierung darstellt, ist evident. Denn einmal ist sein Hauptbetätigungsfeld nun nicht mehr das Kriegshandwerk, sondern das Musizieren und das Lindern seelischer Störungen. Zum anderen aber geht die Initiative jetzt eindeutiger als zuvor vom König und seinen Knechten aus, die David ja ganz gezielt wegen jener Fähigkeiten an den Hof holen. Damit setzt sich folglich eine Tendenz fort, die schon in 15,35–16,13 zu beobachten ist, wo David ebenfalls ganz passiv erscheint, indem er von Jhwh ausgewählt wird und nicht etwa wie in 1 Sam 30,26ff., 2 Sam 2,4bff. oder 3,1ff. (v. a. 3,12ff.) mehr oder weniger selbst die Hand nach der Krone ausstreckt.68 Die Bearbeitung blendet gleichwohl Davids übrige Qualitäten keineswegs aus. Sie werden erwähnt (V. 18f.), tragen aber nicht mehr die eigentliche Handlung, sondern dienen lediglich dazu, das ohnehin schon überaus positive Davidbild würdig abzurunden. Der spätere König über Israel und Nachfolger Sauls hat, so die Vorstellung, die der Bearbeiter vermitteln will, seinen Aufstieg mitnichten selbst betrieben, sondern wurde von den (gottgelenkten) Ereignissen an den Hof und letztlich zur Königsherrschaft geführt. Es ist bemerkenswert, daß der Verfasser die Figur des Saul vergleichsweise freundlich zeichnet, obwohl seine Sympathie eigentlich David gilt und seine Darstellung auf die Entkräftung jeglichen Zweifels an dessen Legitimtät zielt. Israels –––––––––––––– 64 65 66 67 68

Vgl. VEIJOLA: Dynastie. S. 123 und 126. SEYBOLD: a. a. O. S. 150. SEYBOLD: a. a. O. S. 151. Ebd. Zu 1 Sam 30,26ff. vgl. etwa DIETRICH : Königszeit. S. 66; STOLZ : a. a. O. S. 181; zu 2 Sam 2,4bff. vgl. DIETRICH : a. a. O. S. 69f.; DONNER : Geschichte. S. 218; zu 2 Sam 3,1ff. vgl. DIETRICH: ebd.; DONNER: a. a. O. S. 219.

Auswertung

129

König gerät unter der Hand des Bearbeiters zu einer geplagten und von daher bemitleidenswerten Person. Die Verwerfung Sauls ist hier überhaupt nicht mehr im Blick. Sein ganzes späteres Verhalten wird so in ein sehr viel milderes Licht getaucht, denn es entspringt jetzt unkontrollierbaren äußeren Einflüssen und nicht mehr allein eigensüchtigem Machterhaltungsstreben. In diesem Zusammenhang ist schließlich noch auf eine gewisse Unbestimmtheit hinzuweisen, welche die Bearbeitung in der theologischen Frage nach den Ursachen für Sauls Leiden an den Tag legt. Es bleibt völlig offen, in welchem Verhältnis die hÎwh◊y Aj…wr und die hÎwh◊y tEaEm hDo∂r_Aj…wr (V. 14) zueinander stehen. Hinzu kommt, daß das hÎwh◊y tEaEm, wie oben bereits erläutert, vermutlich auf einen späteren Glossator zurückgeht und der hÎwh◊y Aj…wr also wohl lediglich ein böser Geist oder, nach V. 15, eine hDo∂r MyIhølTa_Aj…wr gegenübersteht. Die späteren Bearbeiter und Ergänzer haben offensichtlich zunehmend Wert darauf gelegt, deutlich werden zu lassen, daß es Jhwh war, von dem der böse Geist ausging.69 Der Verfasser von 16,14ff. dagegen scheint keinerlei Anstrengungen in dieser Richtung unternommen zu haben. Man kann natürlich mit einigem Recht, vor allem unter Hinweis auf die späte Entstehung des Stückes, davon ausgehen, daß die Formulierung _Aj…wr hDo∂r MyIhølTa einen von Jhwh gesandten Geist meint. Dennoch bleibt es ein bedenkenswertes Faktum, daß dies nur gedacht und nicht etwa mittels einer durchgehenden Verwendung des Jhwh-Namens auch sprachlich explizit gemacht worden ist. Der Autor konzentriert sich, wie es scheint, vornehmlich auf die Darstellung Davids. Der Problemkreis der Theodizee und des ‚unde malum?‘ interessiert ihn entweder nicht oder wird von ihm bewußt offengelassen. Angesichts der erzählerischen und stilistischen Qualitäten der Bearbeitung sowie ihrer weisheitlichen Prägung nimmt sich aber die zweite Möglichkeit weitaus wahrscheinlicher aus.70 Theologiegeschichtlich paßt diese Sicht der Dinge am ehesten in eine Epoche, in der „Gott als verborgen erfahren wird und immer mehr in die Ferne rückt“71 und in der aus diesem Grunde „vermittelnde Zwischengrößen, die Gottesfurcht, die personalisierte Weisheit, die Tora, immer wichtiger“72 werden.

–––––––––––––– 69 70

71 72

S. u. zu 1 Sam 19,9f. Vgl. auch das oben zu 16,15LXX Ausgeführte. Zu einer vergleichbaren Einschätzung gelangt WILLIS (I Sam 16–18. S. 295–302.313f.). Er weist die Erzählung (allerdings mitsamt 16,21abb) dem von ihm angenommenen ‚final redactor‘ zu und argumentiert dabei v. a. mit den motivischen Berührungen der Episode mit den sich anschließenden Stücken der AG (dazu s. die Tabelle a. a. O. S. 300–302). – NORTH (Rise. S. 542f.) stimmt immerhin insoweit mit der hier vertretenen zeitlichen Ansetzung überein, als er die ‚Harfenspielerepisode‘ für das jüngste der drei als Erzählanfänge vorstellbaren Stücke *16,1–13; *16,14–23 und *17,1–54 hält. KRATZ: a. a. O. S. 329. Ebd.

130

1 Samuel 16,14–23

4.3.2

Die Grundschicht von 1 Sam 16,14ff.

Nach Abzug der Bearbeitung verbleibt für das Grundstratum allein der Vers 21ab b , der an 14,52 angeschlossen haben dürfte. Die erste Phase von Davids Aufstieg wird hier mit wenigen Worten und ohne Rückgriff auf die Vorstellung göttlicher Initiative geschildert, sie erscheint so als folgerichtiges Glied einer ganz innerweltlich dargestellten Ereigniskette. Der geringe Umfang dieser Schicht verbietet weitergehende Schlüsse. Da es sich aber, wie der Anschluß an 14,52 nahelegt, um das Grundstratum der AG handeln dürfte, wird sich im Fortgang der Untersuchung noch Gelegenheit ergeben, das theologische und literarische Profil des zugehörigen Verfassers zu studieren.

5 5.1

1 Samuel 17,1–18,4 Einleitende Betrachtung

Die Geschichte von David und Goliat stellt für die wissenschaftliche Exegese eine besondere Herausforderung dar, was vor allem aus der Tatsache resultiert, daß sie in zwei verschiedenen Fassungen auf uns gekommen ist.1 Der auffälligste Unterschied der beiden Versionen besteht in ihrem jeweiligen Umfang: Während der MT, wenn man 18,1–4 hinzunimmt, insgesamt 62 Verse zählt, umfaßt die LXX lediglich 32 Verse und bietet so einen deutlich kürzeren Text. Das mit diesen Zahlen bereits angedeutete, grundlegende textkritische Problem soll im folgenden angegangen werden, indem zunächst, ganz wie bisher, der Text möglichst umfassend und präszise beschrieben wird. Weil vom Langtext aus eine derartige Deskription ein wenig leichter fällt, wähle ich ihn als Ausgangspunkt. Der beträchtliche Umfang der Überschüsse bzw. Lücken macht es erforderlich, bei der Entscheidung zwischen LXX und MT in höherem Maße als sonst das Textganze in die Überlegungen miteinzubeziehen. Daher werden die beiden Fassungen nicht fortlaufend, d. h. Vers für Vers, gegeneinander abgewogen, sondern erst zu Beginn des Auswertungsteils. Nur dort, wo es darum geht, den originären Wortlaut eines Verses zu rekonstruieren, i. e. im konkreten Einzelfall, werden bereits während dieses ersten Arbeitsschrittes textkritische Entscheidungen gefällt.

5.1.1

Einleitende Betrachtung der beiden Fassungen

Die Texteinheit 1 Sam 17,1–18,4 setzt gut erkennbar mit dem Einleitungssatz 17,1 ein. Schwieriger ist es dagegen, das Ende der Erzählung anzugeben; grundsätzlich kommen drei Stellen in Betracht: Nach ihrer Klimax in den V. 49–51 erreicht die Geschichte in V. 54, wo der Ausgang der Schlacht beschrieben wird, einen ersten Schlußpunkt. Ihm folgt allerdings sogleich die Szene 17,55–58, welche ihrem Inhalt nach zunächst an das Gespräch zwischen Saul und David in V. 31–40a anknüpft (V. 55), sodann aber in ihrer zweiten Hälfte (V. 57f.) außerdem auch den Sieg über den Philister voraussetzt. Sie gehört damit thematisch noch –––––––––––––– 1

Ein weiterer Grund hierfür ist natürlich die außerordentliche Beliebtheit, der sich die Erzählung wohl schon seit jeher erfreut hat und von der sie selbst heute kaum etwas eingebüßt zu haben scheint. Zur vielgestaltigen Rezeption des Kapitels vgl. NITSCHE: David. S. 102ff. Ein weiteres Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit erwähnt MCKENZIE: König David. S. 83.

132

1 Samuel 17,1–18,4

unmittelbar zur Goliatgeschichte, obwohl das grundlegende Problem, die Philisterbedrohung, bereits gelöst ist. An die V. 55–58 wiederum ist die Episode 18,1–4 angeschlossen, in der vom Beginn der Freundschaft zwischen Jonatan und David berichtet wird. Auch sie basiert noch ganz auf dem in Kap. 17 Erzählten, spielt sie doch noch am Tage dieses Sieges (und allem Anschein nach auch am selben Ort, etwas Gegenteiliges verlautet zumindest nirgends) und erwähnt zwei Konsequenzen dieses Erfolgs (vgl. 18,1f.). Erst mit 18,5 fängt dann ein gänzlich neuer Handlungsstrang an, denn an dieser Stelle bildet weder der Tag des Zweikampfes den zeitlichen Ausgangspunkt des Geschehens noch werden hier weitere direkte Folgen jenes Duells geschildert. Zwar rekurriert 18,6 noch einmal auf Davids Heldentat, doch bleibt nun offen, wie sich die hier berichteten Ereignisse zeitlich zu denen aus 17,1–18,4 verhalten. Die Tatsache, daß der Abschnit 18,5–30 um ein eigenes, neues Thema kreist (und zwar um den Beginn und die Ursachen für Sauls feindselige Haltung gegenüber David), bestätigt diese Abgrenzung. Etwas anders nehmen sich die Konturen der Erzählung in der Kurzfassung aus, deren Haupttextzeuge der Codex Vaticanus (LXXB) ist.2 Denn ihr fehlen (verglichen mit der hebräischen Version) die Stücke 1 Sam 17,12–31.38b.41.48b. 50.55–58 und 18,1–4 sowie im weiteren die V. 5.6aa.8b.10f.12b.17–19.21b.26b. 29b–30,3 lediglich an zwei Stellen (17,36.43) finden sich kleinere Textüberhänge.4 Der Einsatzpunkt ist identisch mit dem des MT und bedarf somit keiner Erläuterung mehr. Dasselbe gilt in bezug auf 17,54, der hier wie dort einen ersten Schluß markiert. Dann jedoch schließt sich direkt die Episode 18,6ab –8a.9 an, in der Sauls aufkeimende Mißgunst mit jener Bevorzugung erklärt wird, die David im Lied der jubelnden Frauen erfahren haben soll. Die Szene endet mit dem Fazit (18,9), der König habe David fortan scheel angeblickt, was dann noch in den darauf folgenden V. 12a.13–16 in seinen Konsequenzen weiter ausgeführt wird, bevor mit 18,20ff., der Michalepisode, schließlich etwas ganz Neues beginnt. Man kann folglich mit einem gewissen Recht sagen, daß die Goliatgeschichte der LXX bis 18,16 reicht – denn nach 17,54 wird ja auch hier der Sieg Davids hinsichtlich seiner Folgewirkungen beschrieben. Allerdings ist die szenische Einheit etwas weniger fest als die zwischen 17,1–54 und 17,55–18,4, weil das Entgegenziehen der Frauen ja schon einen gewissen zeitlichen Abstand zum eigentlichen Sieg voraussetzt. Hinzu kommt die thematische Zusammengehörigkeit aller zwischen –––––––––––––– 2

3

4

Daneben wird der Kurztext auch noch von einigen wenigen weiteren Zeugen geboten, vgl. dazu PISANO: Additions. S. 78. Dagegen bieten der Codex Alexandrinus sowie die überwiegende Mehrzahl der griechischen Handschriften in 1 Sam 17f. einen Text, der ungefähr in seinem Umfang dem des MT entspricht. Hinzu kommen natürlich noch einzelne fehlende (wie auch zusätzliche) Wörter, dazu vgl. die bei TOV aufgeführten ausführlichen Auflistungen (ders.: Nature. S. 19ff.). Vgl. zum fehlenden Versbestand auch BUDDE: a. a. O. S. 121 und 132; DIETRICH: Erzählungen. S. 61. Nicht berücksichtigt hierbei sind einzelne Wörter, die keine direkte Entsprechung zum MT aufweisen (wie beispielsweise das to\n a‡ndra in 17,40).

Untersuchung

133

18,5 und 18,30 befindlichen Passagen, die 18,6abff. ebenfalls ein wenig von der Goliaterzählung abrückt. Die beobachteten Textstrukturen im MT wie in der LXX lassen es geraten erscheinen, den folgenden Untersuchungsschritt nicht auf den Abschnitt 17,1–54 zu beschränken, sondern von vornherein die Stücke 17,55–58 und 18,1–4 miteinzubeziehen und das dreifache Ende im MT zunächst einfach als ein auffälliges Faktum festzuhalten. Eine solche Abgrenzung verändert auch nicht viel an der Bestimmung des Gegenstands der Erzählung. Zentrales Thema ist in jedem Fall der Kampf zwischen David und Goliat, nur daß in 17,1–54 vor allem sein Zustandekommen und Verlauf, in 17,55–18,4 dagegen seine Konsequenzen im Vordergrund stehen. Darüber hinaus erscheint es aus den oben genannten Gründen wie auch aus pragmatischen Erwägungen vertretbar, die übrigen Verse aus 1 Sam 18 erst im nächsten Kapitel zu untersuchen. Was die Schilderung der Folgen des Sieges über Goliat anbelangt, die in 17,55–18,4 (nur MT) erfolgt, so ergeben sich mehrfach Berührungen mit anderen Texten. Zunächst ist hier 1 Sam 19,1b zu nennen, wo Jonatans besonders inniges Verhältnis zu David noch ein weiteres Mal erzählerisch ein- oder zumindest angeführt wird. Sodann begegnet das Motiv des Bundesschlusses zwischen David und Jonatan (18,3) auch noch in 20,8.16; 22,8 und in 23,18. Und zuletzt wird von 18,2 und 17,15 offensichtlich Davids Ankunft am Hofe Sauls aus 16,21 vorausgesetzt. Dieser letztgenannte Querbezug kann allerdings kaum darüber hinwegtäuschen, daß die Goliaterzählung mit den Versen 17,12ff. (nur im MT) eine eigene Einführung des Helden bieten will und auf diese Weise zwangsläufig in Konkurrenz zu 16,14ff. gerät.

5.2

Untersuchung

Schon ein flüchtiger Blick genügt, um zu erkennen, was die Erzählung von Davids Sieg über Goliat grundlegend von allen bis hierher untersuchten Texten unterscheidet: mit einem Umfang von 62 Versen (MT) ist sie beinahe doppelt so lang wie jene.5 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich eine weitere Besonderheit: Der ganze Text wirkt durch verschiedene Wiederholungen und Widersprüche sowie die beiden schon erwähnten sich am Ende anschließenden Szenen äußerst inhomogen. Erwähnt seien hier vorab nur die nach 17,8 unnötige erneute Redeeinleitung in V. 10 (vgl. auch V. 43 und 44), der zweifache Hinweis auf die Furcht des Kriegsvolks (V. 11 und V. 24), die doppelte Notiz über den Aufbruch Davids und des Philisters in V. 40b.41a und V. 48) und schließlich die nicht miteinander in –––––––––––––– 5

Vgl. COUFFIGNAL: David. S. 433.

134

1 Samuel 17,1–18,4

Einklang zu bringenden Verse 50b und 51, denen zufolge Goliat einmal durch Stein und Schleuder, einmal durch das Schwert umkommt. Demgegenüber nimmt sich die griechischsprachige kurze Fassung um einiges unauffälliger aus. Das betrifft nicht allein ihren Textumfang, sondern auch ihren literarischen Charakter, der bei der Lektüre einen viel einheitlicheren und stimmigeren Eindruck hinterläßt. So wird nur einmal die Furcht des israelitischen Heeres erwähnt (17,11), von David wie auch von Goliat wird nur ein einziges Mal berichtet, sie hätten sich aufeinander zu in Bewegung gesetzt (17,40b und 48a), der Philisterrecke schließlich stirbt eindeutig, ohne jedwede gegenläufige Bemerkung, durchs Schwert (17,51). Die unscheinbareren doppelten Redeeinleitungen (17,8+10.43+44) finden sich hingegen auch in der LXX, wobei jene aus V. 44 sogar durch das LXX-Plus und den damit verbundenen Sprecherwechsel in V. 43 plötzlich sogar eine echte erzählerische Funktion hat. Details aus den voraufgegangenen Kapiteln werden fast nirgends in 1 Sam 17,1–18,4 als bekannt vorausgesetzt, und mit Ausnahme von König Saul und seinem Sohn Jonatan führt die Geschichte jeden Akteur eigens ein. Umgekehrt scheint aber auch nur eine Handvoll relativ vereinzelter Textstücke die Erzählung ihrerseits zu kennen.6 Alles in allem sieht es daher so aus, als sei die Goliatepisode nur locker in ihren literarischen Kontext eingebunden. Der Aufbau des Texts (MT) stellt sich folgendermaßen dar:7 17,1–11 das Problem: Goliats Herausforderung zum Zweikampf 17,12–22 der Auftritt des Helden: Davids eher zufälliges Erscheinen 17,23–31 die Wende: David erkennt die Notlage und erklärt sich zum Duell bereit 17,32–39 die Verzögerung der Lösung: David vor dem skeptischen König Saul 17,40–51a die Lösung des Problems: Davids Sieg über Goliat V. 40–47: das Wortgefecht V. 48–51: der Zweikampf 17,51b–54 der Schluß: Israel besiegt die Philister 17,55–58 18,1–4

die Folgen (I): der König erfragt Davids Herkunft die Folgen (II): der Königssohn schließt Freundschaft mit David, und dieser verbleibt endgültig am königlichen Hofe.

17,1 beginnt damit, eine völlig neue Szenerie vor den Augen der Leserschaft auszubreiten. Hierzu werden die Philister wieder ‚reaktiviert‘, die ja schon seit 1 Sam 14 nicht mehr in Erscheinung getreten waren, nun aber in Juda erneut aufmarschieren. Textkritisch schwierig sind allein die Toponyme hOkwøc / Sokcwq und –––––––––––––– 6 7

Hier sind zu nennen: 1 Sam 18,6; 19,5; 20,8; 21,9f; 22,10; ferner in der LXX: Ps 143,1; 151,1.6f.; Sir 47,4f. Die kursiv gesetzten Abschnitte fehlen im Kurztext der LXX.

Untersuchung

135

MyI;må;d sRpRa / Efermem. Da aber sowohl die genauen Ortsnamen als auch die entsprechenden Lokalisierungen für den Fortgang der Erzählung nichts austragen, kann hier eine Diskussion der Alternativen unterbleiben.8 Die V. 2f. fahren damit fort, das Setting der sich ab V. 4 entspinnenden Handlung vorzustellen. Sie sind daher – wie auch V. 1 – unverzichtbarer Bestandteil der Erzählung und somit vermutlich Bestandteil der ältesten Fassung der Erzählung. In formaler Hinsicht ist festzustellen, daß der Verfasser sich offensichtlich an einer sprachlichen Konvention orientiert, nach der die Gruppenbezeichnung MyI;tVvIlVÚp nicht mit dem Artikel kombiniert zu werden pflegt.9 In V. 4 gerät der Erzählfluß ein erstes Mal ins Stocken, denn mit 17,4b beginnt eine Passage, die bis einschließlich V. 7 reicht und etwas langatmig alle möglichen, nicht zuletzt in ihrer Summe ziemlich imposanten Details über die Größe und die Bewaffnung des Philisters herzählt. Erst in V. 8 setzt sich die eigentliche Handlung fort. Damit schaffen die V. 4b–7 zweifellos eine spannungssteigernde Retardation, eine darüber hinausgehende Funktion haben sie jedoch nicht, weil sie durchgehend nur solche Informationen einfließen lassen, die für die weitere Erzählung von allenfalls untergeordneter Bedeutung sind. So wird allein in 17,45 auf den Abschnitt rekurriert, indem noch einmal der Nwødy;Ik Erwähnung findet. In drei unauffälligen Details unterscheiden sich die V. 4b–7 von ihrem literarischen Kontext. Erstens folgt V. 5 offensichtlich anderen orthographischen Konventionen als V. 38, indem er nicht oAbwøq, sondern oAbwø;k schreibt. Zweitens weiß der Abschnitt nichts von einer b®rRj des Philisters zu berichten.10 Das ist umso bemerkenswerter, als diese Waffe das einzige Ausrüstungsstück des Philisters darstellt, das in der weiteren Handlung Bedeutung erlangt. Denn (zumindest im MT) macht David seinem Gegner schließlich mit dessen eigenem Schwert den Garaus (V. 51). Drittens spricht V. 7 von einem Schildträger Goliats, der in 17,41b zwar noch einmal kurz genannt wird, dann aber bei der Schilderung des Waffenganges auffälligerweise keine Rolle mehr spielt (vgl. V. 49–51).11 All dies könnte darauf hindeuten, daß die V. 4b–7 ihrem literarischen Kontext erst nachträglich hinzugewachsen sind.

–––––––––––––– 8 9

10 11

Zum ersten Ortsnamen vgl. stattdessen WELLHAUSEN: Text. S. 103; STOEBE: a. a. O. S. 316, Anm. a) und b); zum zweiten vgl. STOEBE: a. a. O. S. 316, Anm. d). Anders z. B. V. 51b und 52a (dazu s. u.). – Zu a◊yÅ…gAh◊w aus V. 3 findet sich in einigen wenigen hebräischen Handschriften die orthographische Variante yghw. Aufgrund ihrer geringen Bedeutung sowie ihrer spärlichen Bezeugung kann sie hier vernachlässigt werden. Vgl. V. 51, aber auch V. 45 und 47. Vgl. auch TIKTIN: Untersuchungen. S. 23f. Darüber wundert sich schon GALLING (Goliath. S. 157f.): „Er [scil. der Schildträger] geht bis zum letzten Augenblick dem Riesen voran, [...] vergisst im entscheidenden Moment, Goliath den Schild zu übergeben, und verschwindet wie der Geist von Hamlets Vater einfach von der Bühne.“ Vgl. auch WELLHAUSEN: Text. S. 108.

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Auch die Einleitung des Abschnitts 17,4b–7, der Viertelvers 4ab , zeigt eine ungewöhnliche Eigenschaft, auf die bereits TIKTIN hingewiesen hat:12 Der Philister, gegen den David antritt, wird innerhalb des Kapitels nur zweimal mit Namen und Herkunftsort genannt (V. 4ab und 23aa).13 An allen übrigen Stellen der Erzählung heißt Davids Widerpart dagegen schlicht yI;tVvIlVÚpAh.14 Möglicherweise handelt es sich also bei den V. 4ab und 23aa um sekundäre Stücke. Des weiteren fällt auf, daß ein Krieger namens Goliat aus Gat, der im Zweikampf einem Bethlehemiter unterliegt, auch noch einmal in 2 Sam 21,19 begegnet, wo der Sieger allerdings den Namen yérVoÅy_NR;b NÎnDjVlRa trägt und Soldat in König Davids Diensten ist. Jener Vers weist darüber hinaus noch eine weitere signifikante Parallele zum Abschnitt 1 Sam 17,4ab–7 auf: Die schwere Bewaffnung des Philisters und damit die Gefahr, die von ihm ausgeht, wird in 1 Sam 17,7aa der Leserschaft mit eindrücklichen Worten vor Augen geführt: „Und der Schaft seiner Lanze war wie ein Weberbaum“15. Derselbe Vergleich in exakt derselben Formulierung findet sich noch einmal in 2 Sam 21,19, sonst hingegen nur noch an Stellen, die entweder von 1 Sam 17 oder 2 Sam 21,19 abhängig sind.16 Schließlich ist noch auf einen weiteren bemerkenswerten Umstand hinzuweisen: Nur zwei Verse im gesamten AT benennen ausdrücklich das Gewicht einer Lanze bzw. eines Speeres.17 Dabei handelt es sich zum einen um 1 Sam 17,7ab und zum anderen um 2 Sam 21,16. Doch während der Nˆyåq (2 Sam 21,16) ‚nur‘ 300 Schekel18 wiegt (eine an sich recht stattliche Summe für diese Art Waffe)19, bringt die tyˆnSj aus 1 Sam 17,7 gleich das Doppelte auf die Waage. Sie ist überdies nicht wie jener aus Bronze, sondern aus dem in waffentechnischer Hinsicht vorteilhafteren Eisen. Darüber hinaus wird in 1 Sam 17,7 eigens betont, daß sich jene 600 Schekel Gewicht allein auf die Spitze des Speeres beziehen. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen legt sich die Vermutung nahe, daß die V. 4ab –7 en bloc entstanden und von 2 Sam 21,16.19 inspiriert sind. –––––––––––––– 12 13 14 15

16 17 18 19

Vgl. TIKTIN: a. a. O. S. 23. Hinzu kommen noch außerhalb von Kap. 17 die Verse 1 Sam 21,10 und 22,10; beide setzen 1 Sam 17 voraus. – Dagegen ist in 2 Sam 21,19 sowie 1 Chr 20,5 eine andere Person gemeint. 17,8(Selbstbezeichnung!).10f.16.26(bis).32f.36f.40–42.43(bis).44f.48(bis).49.50(bis).51.54f.57(bis); des weiteren: 18,6 und 19,5. KLOSTERMANN: Bücher. S. 63. – Diese Übersetzung folgt dem Qere und den Versionen. Der MT bietet XEj◊w statt XEo◊w. Zu dieser Entscheidung gegen den MT vgl. auch DELITZSCH (Lese- und Schreibfehler. S. 93, Abschn. 97 a)); BUDDE (a. a. O. S. 122) wie überhaupt die meisten Auslegerinnen und Ausleger. 1 Chr 20,5 und 1 Chr 11,23; zur Abhängigkeit der zweiten Stelle vgl. AURELIUS: a. a. O. S. 50, Anm. 27; STOEBE: KAT2 VIII,2. S. 504, Anm. 21 d). Hierzu, aber auch zum Vorausgegangenen vgl. auch NITSCHE: David. S. 71, Anm. 56. Zu dem vom MT gelesenen låqVvIm vgl. STOEBE: KAT2 VIII,2. S. 461 und 462, Anm. 16 i). Vgl. STOEBE: KAT2 VIII,2. S. 462, Anm. 16 h).

Untersuchung

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Im übrigen birgt der Abschnitt aber nur wenig Auffälligkeiten und wirkt für sich genommen sehr einheitlich. Allerdings taucht eine ganze Reihe kleinerer Probleme textkritischer oder auch bloß terminologischer Natur auf, die hier nur summarisch behandelt werden sollen. Daß der Begriff MˆyÅnE;bAh_vyIa (V. 4a) eine Art Vorkämpfer bezeichnet, darf inzwischen als opinio communis gelten.20 Die Versionen wußten offensichtlich mit dem Wort nicht mehr allzuviel anzufangen.21 Ebenfalls in V. 4 (MT) ist es ein merkwürdiger Erzählzug, daß jener besagte Zweikämpfer nicht aus der Schlachtformation, sondern aus den ‚Lagern‘ (twønSjA;mIm) der Philister hervortritt. Insofern ist es begreiflich, warum W ELLHAUSEN u. a. den Text hier nach der LXX (e˙k thvß parata¿xewß) ändern und twøk√rAoA;mIm lesen wollen.22 Viel weniger einzusehen ist, wie und weshalb aus einem solchen twøk√rAoA;mIm die Lesart des MT entstanden sein soll; die hebräische Fassung dürfte hier folglich das Ursprüngliche bewahrt haben.23 – Hinsichtlich der Körpergröße des Philisters (17,4b) schwanken die Angaben der einzelnen Textzeugen beträchtlich. Daß die Phantasie der Schreiber an diesem Punkt besonders angeregt worden sein dürfte, liegt auf der Hand. Es ist daher das Natürlichste, die niedrigste Zahl, d. h. die Lesart der LXX (u¢yoß aujtouv tessa¿rwn ph/cewn kai« spiqamhvß),24 zu bevorzugen, die auf eine (besonders für damalige Verhältnisse) immer noch ganz stattliche Erscheinung führt.25 In V. 6 ist mit den Versionen und den allermeisten Fachgelehrten statt des Singulars tAjVxIm der entsprechende Plural zu lesen;26 möglicherweise liegt hier bloß eine Defektivschreibung vor. Die Bedeutung des Wortes NwødyI;k (V. 6 und 45) ist noch immer nicht gänzlich klar. Nach dem derzeitigen Stand der Forschung könnte es sich entweder um einen Wurfspieß oder um eine Art Krummschwert handeln.27 In 17,7 ist gleich zu Beginn anstatt XEj◊w vermutlich XEo◊w zu lesen, zur Begründung vgl. die oben in Fußnote 15 dieses Kapitels angegebene Literatur. Nachdem in 17,4aa der Philister bereits vorgetreten war, schmettert er nun in den V. 8–10 den Israeliten seine Herausforderung zum Zweikampf entgegen. Dreierlei ist hierbei interessant: a) Wie oben schon erwähnt, wird der Philister nur –––––––––––––– 20 21 22 23 24 25

26 27

Vgl. KBL3, Art. MˆyÅnE;b, S. 134; Ges.18, Art. NˆyA;b, S. 141f. Vgl. STOEBE: KAT2 VIII,1. S. 316f., Anm. 4 a). Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 103; BUDDE: a. a. O. S. 122. So auch (allerdings mit wenig überzeugenden Gründen) STOEBE: a. a. O. S. 317, Anm. 4 b). So auch 4QSama, vgl. DJD XVII, S. 78. Die LXX-Fassung als „eine rationalistische Verkleinerung“ (BUDDE: a. a. O. S. 122; ähnlich STOEBE: a. a. O. S. 317, Anm. 4 d)) zu werten, ist vor dem Hintergrund der Einschätzung, die unten zum Verhältnis des Textes der LXX und des MT gewonnen wird, durchaus verlockend. Allerdings müßte man dazu erst einmal schlüssig darlegen, daß das Phänomen des kürzeren Textes mit dem des ‚gekürzten‘ Goliat genuin zusammenhängt. Vgl. statt vieler STOEBE: a. a. O. S. 317, Anm. 6 a); WELLHAUSEN: a. a. O. S. 103. Vgl. Ges.18, Art. NwødyI;k, S. 541; nach BORGER (Bogenköcher. S. 77f.) ist ‚Wurfspieß‘ aber das Unwahrscheinlichere.

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an zwei Stellen mit Namen genannt. Daß dies jedoch ausgerechnet an dem Punkt der Erzählung unterbleibt, an dem er selbst sich seinen Feinden vorstellt, wirkt etwas verwunderlich. b) In V. 8b liest der MT vyIa MRkDl_…wrV;b. Hier wird üblicherweise und letztlich mit Recht meist in …wrSjA;b abgeändert.28 Allerdings ist ROFÉ dafür eingetreten, die Lesart des MT beizubehalten und die Tatsache ernstzunehmen, daß dieser Wortlaut offensichtlich eine sehr junge Sprachstufe widerspiegelt.29 Der Einwand ist im Grundsatz vollkommen berechtigt, da wie jede Konjektur auch diese in der Gefahr steht, bloß einer vermeintlich schwierigeren Lesart auszuweichen. Andererseits ist klar, daß sprachgeschichtlich junge Elemente auch aufgrund von Flüchtigkeitsfehlern der Kopisten in ältere Texte eindringen können. Eine Entscheidung zwischen diesen zwei Möglichkeiten kann an dieser Stelle der Untersuchung noch nicht erfolgen, sondern muß die Ergebnisse der textgenetischen Analyse berücksichtigen.30 c) Weil die in V. 8a einsetzende direkte Rede des Philisters ununterbrochen bis zum Ende von V. 9 läuft und Goliat auch noch in 17,10 das Wort hat, ist die erneute Redeeinleitung31 zu Beginn von V. 10 redundant. Hinzu kommt, daß für das Handlungsgerüst auch der übrige V. 10 nicht unbedingt gebraucht wird, während die eigentliche Herausforderung aus V. 8f. schlechterdings unverzichtbar ist. Denn V. 10b faßt nur das in V. 8bb und 9 Gesagte noch einmal zusammen, und in V. 10a weist der Philister lediglich noch explizit darauf hin, den Schlachtreihen Israels mit seiner Rede Hohn gesprochen zu haben. Dies alles zusammengenommen legt den Schluß nahe, daß die V. 8f. zur Grundfassung der Erzählung gehören, nicht jedoch der V. 10. Das Motiv der Schmähung bzw. Schande (hDÚp√rRj oder Verbum Prj) kehrt des öfteren in der Erzählung wieder und verweist auf dieses mit 17,10 gestellte Ausgangsproblem zurück (V. 25f.36.45). Die Stücke 17,25f.36.45 sind daher wahrscheinlich zusammen mit 17,10 oder etwas später entstanden. V. 11 beschließt die erste Szene, indem er die Reaktion des Königs und seines Heers auf die Drohworte des Philisters schildert: Angst und Schrecken greifen unter ihnen um sich. Die dabei benutzte Formulierung dOaVm …wa√rˆ¥yÅw (V. 11b) taucht noch einmal genauso (nur in der etwas geläufigeren Pleneschreibung …wa√ryˆ¥yÅw dOaVm) in V. 24bb auf. Doch während es in 17,11 die entschlossen vorgetragene Herausforderung ist, welche die Israeliten einschüchtert, genügt dazu in V. 24 schon der bloße Anblick des Vorkämpfers. Hier könnte sich bereits andeuten, –––––––––––––– 28 29 30

31

Vgl. z. B. BUDDE: a. a. O. S. 123; DRIVER: a. a. O. S. 140. DRIVER nennt als direkte Parallelen 1 Kön 18,25 und Jos 24,15. Vgl. ROFÉ: Battle. S. 129. Vgl. ebenso STOEBE: a. a. O. S. 318, Anm. 8 d) und die dort angegebene Literatur. Hierbei wird sich V. 8 als Teil einer Grundschicht herausstellen, die nach ihrer Entstehung noch zahlreichen Bearbeitungen unterzogen wurde; dazu s. u. 5.3. Dieses Ergebnis spricht m. E. eher gegen die von ROFÉ favorisierte Lesart des MT, weil der Zeitrahmen für die späteren Schichten dann sehr eng würde. Auf sie wurde oben bereits kurz hingewiesen; vgl. auch NÜBEL: a. a. O. S. 21.

Untersuchung

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daß V. 11 älter ist als V. 24. In einer gewissen Spannung zu der in V. 11 erwähnten Furcht des israelitischen Heeres steht V. 20b, weil dort die Truppen offensichtlich ganz unbekümmert aufmarschieren und das Schlachtgeschrei anstimmen.32 Allerdings ist V. 20b auch vor dem Hintergrund von 17,16 zu sehen, wo vermerkt wird, daß sich die in V. 3ff. geschilderte Prozedur vierzig Tage lang wiederholt habe. Eine leichte Divergenz zwischen 17,11 und 17,20b ist gleichwohl nicht zu übersehen, und so liegt es nahe, hier mit zwei verschiedenen Verfassern zu rechnen. Da 17,11 unverzichtbar ist, um das Grundproblem der Erzählung (die Mutlosigkeit Israels nach Goliats Aufforderung zum Zweikampf) zu erfassen, kann er schlechterdings nicht entbehrt werden und dürfte so zum ältesten Bestand der Geschichte zählen. 17,12 mitsamt allem, was bis einschließlich V. 31 folgt, fehlt in der LXX. Der Vers ist aber auch noch mit zahlreichen anderen Problemen verknüpft. Das auffälligste dürfte darin bestehen, daß hier eine nach 15,35–16,13 an sich nicht mehr nötige zweite Einführung Davids vorliegt. Mit diesem Faktum scheint es zusammenzuhängen, daß die Nennung des ephratitischen Mannes gegen alle Regeln der Kongruenz33 durch das mit dem Artikel versehene Demonstrativpronomen h‰ΩzAh spezifiziert wird: auf diese Weise soll wahrscheinlich auf den aus Kap. 16 bekannten Isai zurückverwiesen werden. In Übereinstimmung mit Kap. 16 wird weiterhin von Davids Vater behauptet, er habe acht Söhne gehabt (17,12ag) – das jedoch fügt sich nicht zu dem, was nach 17,12 kommt, denn dort hat er nur vier. „Die drei großen sind in den Krieg gezogen (V. 13a), und wenn auch David wegzieht, überläßt er das Vieh nicht etwa einem der übrigen Brüder, die es offenbar nicht gibt, sondern einem Wächter (V. 20).“34 Bei V. 12ag könnte es sich also um eine spätere Ergänzung handeln. Die weitere Qualifizierung Isais durch V. 12b ist mit ihrem unklaren Wortlaut in 12bb Auslöser einer umfangreichen Diskussion geworden, die indes nur recht vage Ergebnisse gezeitigt hat.35 Da der Halbvers überdies für die weitere Analyse kaum etwas austrägt (terminologisch oder thematisch signifikante Berührungen zu anderen Teilen des Kapitels zeigen sich nicht), mag hier der Verweis auf BARTHÉLEMYs umsichtige Übertragung von V. 12bb genügen: „un notable, éminent (litt.: arrivé) par rapport aux hommes du commun“36. –––––––––––––– 32 33

34 35 36

Vgl. AURELIUS: a. a. O. S. 51f. Vgl. BUDDE: a. a. O. S. 124; WELLHAUSEN: Text. S. 105. – Die Peschitta sowie die hebräischen Zitate, die hyh anstatt des h‰ΩzAh bieten, erklären sich aller Wahrscheinlichkeit nach als Versuche, diese sprachliche Härte zu mildern. AURELIUS: a. a. O. S. 52. Eine gute Zusammenfassung bietet BARTHÉLEMY: a. a. O. S. 190f. BARTHÉLEMY: a. a. O. S. 191. – Zur Bedeutung von V. 12b s. aber auch das in 5.3.2.7 zum Verhältnis von V. 13a und V. 12b Gesagte.

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Die V. 12ff. setzen ganz ohne Zweifel die Einleitung 17,1–11 (wenigstens in einem Grundbestand) voraus, weil andernfalls nicht zu verstehen wäre, was es etwa mit dem Krieg in V. 13a oder mit dem Philister aus V. 16 auf sich hat. Die Passage 17,12ff. ist m. a. W. wahrscheinlich von *17,1–11 literarisch abhängig. V. 13 setzt die im Vorvers begonnene Vorstellung Isais und seiner Familie fort und geht dabei vor allem auf die drei ältesten Söhne ein. Merkwürdig ist, daß der Satz 13a im jetzigen Text (und so wohl auch nach LXXA) zwei Prädikate (V. 13aa: …wkVl´¥yÅw, V. 13ab: …wkVlDh) enthält, deren syntaktisches Verhältnis zueinander nicht deutlich wird und die, jeweils für sich genommen, im Grunde dasselbe bezeichnen. Da V. 13aa indes weniger präzise formuliert ist als V. 13ab, liegt die Vermutung nahe, daß es sich bei dem zweiten Viertelvers um eine sekundäre Explikation des ersten handelt. In diesem Zusammenhang fällt des weiteren auf, daß die Worte l…waDv_yérSjAa …wkVlDh MyIlOd◊…gAh aus V. 13a kurze Zeit später in V. 14b erneut begegnen. Hier liegt möglicherweise eine Wiederaufnahme vor. Dazu paßt auch noch eine andere Beobachtung: 17,13b hebt sich von V. 13a dadurch ab, daß er die Wurzel (q) Klh mit der Präposition b und nicht wie jener mit l kombiniert.37 Die Namen der drei Isaisöhne wurden zuvor bereits in 16,6.8f. genannt. In Kapitel 17 begegnen sie noch einmal ganz kurz in V. 17–19.22f. Der größte, Eliab, wird darüber hinaus auch noch in V. 28 erwähnt. V. 14 weist, abgesehen von der eben angemerkten Parallelität von V. 14b und einem Teil von V. 13a, keinerlei Besonderheiten auf. Anders liegen die Dinge in 17,15.38 Fast geschlossen und zudem seit geraumer Zeit beurteilt die Fachwelt den Vers als sekundäre Einfügung, die 1 Sam 16,14ff. und 1 Sam 17 miteinander in Einklang bringen soll.39 Demgegenüber ist allerdings festzuhalten, daß der Vers aus Kapitel 16 allenfalls die Anwesenheit Davids am Königshof voraussetzt und sich im übrigen von seinem Kontext mitnichten auffällig abhebt.40 Man könnte sogar versucht sein, den Vers in direktem –––––––––––––– 37

38 39

40

Die Bezeugung des Prädikats …wkVlDh in V. 13b ist zwar strittig. Sein Fehlen ist jedoch nicht allzu gut bezeugt, nur eine hebräische Handschrift, einige LXX-Codices sowie Peschitta und Vulgata stehen für diese Lesart ein, so daß man gut daran tun wird, hier den Wortlaut des MT beizubehalten. Darüber hinaus ergeben sich in Hinblick auf V. 13b noch zwei weitere textkritische Probleme, bei denen allerdings in beiden Fällen der MT (1. hDmDjVlI;mA;b; 2. rwøkV;bAh) vorzuziehen ist, weil sich die Alternativlesarten leicht als sprachliche Harmonisierung mit dem Kontext (hDmDjVlI;mAl, vgl. V. 13a) bzw. als stilistische Glättung (wørOkV;b) erklären lassen. Daß einige hebräische Handschriften hier Mom (MIoEm) anstelle von lAoEm lesen, dürfte allein einen stilistischen Verbesserungsversuch eines Kopisten widerspiegeln. Vgl. etwa DRIVER: a. a. O. S. 141; H ERTZBERG : a. a. O. S. 116; S CHROER : a. a. O. S. 90; STOEBE : a. a. O. S. 322, Anm. 15 a); STOLZ : a. a. O. S. 111, Anm. 42; etwas anders CASPARI: KAT VII. S. 213, Anm. 152. Daß der Vers sich eigentlich ganz problemlos in seine textliche Umgebung einfügt, sieht auch FOKKELMAN: Art, Bd. 2. S. 153f. Allerdings wendet er sich auch dagegen, die Partizipien aus V. 15 frequentativ aufzufassen, ohne indes die zugrundeliegende Punktierung anzuzweifeln und vor allem ohne seine Interpretation eingehend zu begründen (vgl. a. a. O., Anm. 16).

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Zusammenhang mit 17,14b zu sehen und als kontrastierende Aussage zu deuten.41 Klh und bvw wären dann als Perfekta aufzufassen und dementsprechend zu vokalisieren, sie müßten überdies je für sich stehen und ein Gegensatzpaar bilden (‚hingehen‘ und ‚zurückkehren‘). Vor allem letzteres wäre aber im biblischen Hebräisch recht exzeptionell. Denn in der Regel bildet Klh in Verbindung mit einem anderen Verbum der Bewegung eine Art Hendiadyoin.42 Mit Blick auf 17,15 bedeutet dies, daß aller Wahrscheinlichkeit nach Davids zeitweilige Anwesenheit am Hofe bereits vorausgesetzt ist. David ist also nicht wie seine Brüder erst anläßlich des Feldzugs gegen die Philister zu Saul gekommen, sondern hat sich schon vorher bei jenem aufgehalten. Von dort aus, so die Vorstellung des Verfassers, kehrte er in regelmäßigen Abständen43 zurück nach Bethlehem, um seinem Vater bei der Arbeit zu helfen. V. 16 erscheint wieder vergleichsweise unauffällig. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß durch ihn die Ausgangssituation, wie sie sich in V. 3ff. darstellt, auf einen längeren Zeitraum hin zerdehnt wird, indem hier vom Philister gesagt wird, er sei vierzig Tage lang, und zwar jeweils morgens und abends, Israel mit seinen Lästerreden entgegengetreten. Damit ist der Vers eine unabdingbare Voraussetzung für die V. 17–24, weil diese auf die zweite (geschilderte) Herausforderung Goliats (V. 23) hinarbeiten. Die V. 17–19 enthalten die Anordnung Isais, der seinen Sohn David ausschickt, um die übrigen Söhne im Felde zu verproviantieren, in Erfahrung zu bringen, ob sie wohlauf sind, sowie ihrem Vorgesetzten auch noch eine Kleinigkeit zuzustecken. Der kleine Passus enthält keine nennenswerten textkritischen Schwierigkeiten und zeigt einen bruchlosen, stringenten Aufbau. Der Ausdruck lEa∂rVcˆy vyIa lOk◊w tritt in Kapitel 17 nur hier und in V. 24 auf.44 Das könnte bedeuten, daß 17,19 und 17,24 von ein und derselben Hand stammen. V. 20 schließt sich unmittelbar daran an und berichtet die Umsetzung des Gebotenen. Für den Gesamtzusammenhang von 1 Sam 17 ist der Vers nur dann unverzichtbar, wenn man (wie V. 15) davon ausgeht, daß David nicht (mehr) am Königshof weilt.45 Das Verhältnis von V. 20b zu V. 11 wurde oben bereits geklärt. Dem dort Ausgeführten entsprechend wird hier nicht eine kühne Attacke, –––––––––––––– 41 42

43

44 45

In diese Richtung geht die Interpretation FOKKELMANs, vgl. die vorausgehende Anm. Vgl. zu Klh und bwv Gen 8,3; 32,1; Num 24,25; Dtn 20,5–8; Ri 21,23; 2 Kön 19,36 (par. Jes 37,37); Hos 2,9. Zu Klh und awb vgl. Num 13,26; Jos 2,1.22; Ri 19,10; 1 Kön 14,17; 2 Kön 4,25; Rut 2,3. Zum Grundsätzlichen vgl. auch WALTKE / O’CONNOR: Introduction. § 39.2.5. Dies allerdings nur, wenn es sich bei bvw Klh (wie nach masoretischer Punktierung) um zwei Partizipien handeln sollte (vgl. B ROCKELMANN : a. a. O. § 44c); andernfalls wäre wohl an eine einmalige Rückkehr gedacht. Anders und auch sämtlich untereinander verschieden formulieren nämlich die V. 3.11.52 und 53; die V. 2 und 25 sprechen lediglich von lEa∂rVcˆy vyIa. Kommt man dagegen von 1 Sam 16,14ff. her, bedarf es des Verses nicht mehr. Das übersieht AURELIUS: a. a. O. S. 52.

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sondern lediglich der allmorgendliche Aufmarsch der Truppe berichtet. Die Erwähnung der Schlachtrufe belegt also allenfalls, daß Klappern bereits im Altertum zum Handwerk gehört hat.46 Überdies liegt die Syntax in 17,20b etwas im argen: Zum einen befremdet der Artikel vor dem Partizip aExOy, weil sich seinetwegen V. 20ba entweder wie ein erweitertes Objekt zu dem vorausgegangenen Prädikat aøbÎ¥yÅw ausnimmt oder wie der Beginn einer Casus-pendens-Konstruktion.47 Streicht man ihn, wie das die meisten tun,48 ergibt 17,20ba einen eigenständigen und nicht zuletzt sinnvollen Satz. Diese Lösung erscheint zwar nicht ideal, doch immerhin möglich und ist mit den geringsten Problemen behaftet. Das w am Wortanfang von …woérEh◊w fortzulassen,49 stellt keine echte Alternative dar, weil das Partizip in 17,20b a lˆyAjAh◊w als Singular auffaßt, während das Prädikat aus 20bb einen Plural voraussetzt.50 Diese Spannung zwischen den beiden Viertelversen wird noch dadurch etwas gesteigert, daß V. 20bb wörtlich genommen von einem Schreien ‚in‘ der Schlacht spricht,51 obwohl ein Kampf ja noch gar nicht begonnen haben kann. Das zeigt nämlich V. 21, der das Erzählte im übrigen passend fortsetzt und keinerlei Besonderheiten enthält. Die V. 22–24 spielen auf dem eigentlichen Schlachtfeld. David überläßt alles, was er mitgebracht hat, einem Mann im Feldlager und läuft zum Aufmarschplatz hinüber,52 wo er dann auch seine Brüder begrüßt. Bald darauf ist der Philister wieder zur Stelle und läßt seine üblichen Worte hören, so daß David nun des eigentlichen Problems gewahr wird. Alle übrigen bekommen es erneut mit der Angst zu tun. – Die Handlung ist folgerichtig aufgebaut und kommt nur an einer Stelle ins Stocken: In V. 23aa zerreißt die Apposition tÅ…gIm wømVv yI;tVvIlVÚpAh tÎyVlÎ…g den Zusammenhang der Worte MyI;tVvIlVÚp twøk√rAoA;mIm ... hRlwøo MˆyÅnE;bAh vyIa h´…nIh◊w.53 Wie oben erwähnt, kommt der Name Goliat in Kapitel 17 sonst nur noch in V. 4 vor, während er sonst überall yI;tVvIlVÚpAh heißt. In 17,23aa könnte also eine Glossierung vor–––––––––––––– 46 47

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Gegen AURELIUS: a. a. O. S. 51f. Es sei denn man liest, wie dies einige wenige hebräische Handschriften tun, worh anstatt (wie der MT) …woérEh◊w. Denn dann kann das Wort die Rolle des (einzigen) Prädikats in V. 20b übernehmen. Doch dürfte diese Lesart selbst vermutlich schon einen frühen Erklärungsversuch der schwierigen Passage darstellen. – Die erste Möglichkeit ist wiederum relativ unwahrscheinlich, weil lˆyAjAh◊w im Gegensatz zu hDlÎ…gVoA;mAh kein He locale aufweist; DRIVER erwägt deshalb zaghaft die zweite (vgl. ders.: a. a. O. S. 142). Vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 106; BUDDE: a. a. O. S. 126; DRIVER: a. a. O. S. 142f. u. v. a. Zum Problem des Perfectum copulativum vgl. SPIECKERMANN: Juda. S. 120–130. Gegen KLOSTERMANN: a. a. O. S. 167, Anm. 20o. Das scheint auch schon BUDDE zu sehen, vgl. ders.: a. a. O. S. 126. Vielleicht ist in V. 22 das aøbÎ¥yÅw (MT) aufzugeben, denn es wird von einigen Versionen nicht bezeugt (LXX in der Lukianischen Rezension, Peschitta und Vulgata), ohne daß sich irgendein Grund für eine etwaige Streichung erkennen ließe. Für die Analyse ist diese Frage indes kaum von Bedeutung. Mit dem Qere ist wohl twøk√rAoA;mIm für das im MT bezeugte twørSoA;mIm zu lesen; vgl. BUDDE: ebd.; etwas anders STOEBE: a. a. O. S. 324, Anm. 23 b).

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liegen. Interessanterweise sticht diese Stelle nicht nur im MT hervor, sondern ist auch in der LXXA auffällig: Überall ringsum gebraucht der Alexandrinus als Übersetzung für yI;tVvIlVÚpAh das griechische oJ aÓllo/fuloß, allein in V. 23 formuliert er Goliaq o filistiaioß. Mit der Wendung hR;lEaDh MyîrDb√;dA;k rE;båd◊yÅw verweist V. 23 auf die Herausforderung des Philisters in 17,8–10 zurück, setzt sich aber zugleich auch insofern ein wenig von den (fest in ihren näheren Kontext der V. 25–31 eingebetteten) V. 27 und 30 ab, als diese mit h‰ΩzAh rDb∂;dA;k offensichtlich die singularische Variante bevorzugen. Folglich dürfte V. 23 erstens das Stück *17,8–10 voraussetzen und zweitens auf einer anderen textgenetischen Ebene als die V. 27 und 30 liegen. Das Verhältnis von 17,24 zu 17,11 wurde oben bereits beschrieben. Die Gesprächsszene 17,25–31 dreht sich, äußerlich betrachtet, um die Belohnung, die der König für denjenigen ausgelobt hat, der den Philisterrecken bezwingt. Dieses Thema legt der Verfasser seinen Figuren allerdings vornehmlich deshalb in den Mund, weil er sich eine Gelegenheit zu schaffen sucht, Davids Mut, Entschlossenheit und religiösen Eifer herauszustellen. Die Textpassage enthält einige volkstümliche Märchenmotive54 und wirkt im übrigen sehr geschlossen, weist zugleich aber auch einige Besonderheiten und Querverbindungen auf. V. 25 bemüht, wie zuvor bereits V. 10, die Wurzel Prj; im Folgevers taucht sie sogar gleich zweimal auf. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang die wörtliche Übereinstimmung von V. 26bbg und V. 36bbg (MyIhølTa twøk√rAoAm PérEj yI;k Myˆ¥yAj). Ebenso findet sich der Ausdruck h‰ΩzAh lérDoRh yI;tVvIlVÚpAh sowohl in V. 26 als auch in V. 36. Beides führt zu der Vermutung, die zwei Verse könnten auf demselben Textstratum liegen. Die LXX-Fassung weist überdies (anders als der MT) in V. 36b, zwischen a und b, ein kurzes Textstück auf, das zunächst deutliche Ähnlichkeiten mit einem Teil von 17,26a (lEa∂rVcˆy lAoEm hDÚp√rRj ryIsEh◊w zD;lAh yI;tVvIlVÚpAh_tRa hR;kÅy rRvSa vyIa) aufweist und in der zweiten Vershälfte sogar wortwörtlich 17,26ba (yI;tVvIlVÚpAh yIm yI;k h‰ΩzAh lérDoRh) entspricht.55 Den beiden offenbar in mehrfacher Hinsicht miteinander verbundenen Versen läßt sich 17,45bb an die Seite stellen, wo David Goliat gegenüber vom yEhølTa D;tVpårEj rRvSa lEa∂rVcˆy twøk√rAoAm spricht. Doch zeigt sich hier im Vergleich zu 17,26.36 eine signifikante Metathese: während dort von den ‚Schlachtreihen Gottes‘ die Rede ist, geht es hier um den ‚Gott der Schlachtreihen Israels‘. V. 45 gebraucht darüber hinaus die Gottesbezeichnung twøaDbVx hÎwh◊y, die V. 26 und 36 wählen dagegen das

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Vgl. GREßMANN: a. a. O. S. 72; GUNKEL: Märchen. S. 140; STOLZ: a. a. O. S. 115; nur teilweise zustimmend STOEBE: a. a. O. S. 327f. ...oujci« poreu/somai kai« pata¿xw aujto\n kai« aÓfelw◊ sh/meron o¡neidoß e˙x Israhl dio/ti ti÷ß oJ aÓperi÷tmhtoß ou∞toß...; das Stück soll im folgenden 17,36baLXX genannt werden.

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weitaus seltenere Myˆ¥yAj MyIhølTa.56 Einiges deutet also darauf hin, daß 17,45 nicht zusammen mit 17,26.36 abgefaßt worden ist. Deutliche Parallelen zu 17,26.36 weist die Erzählung von der Belagerung Jerusalems durch Sanherib (2 Kön 19) auf. Denn erstens begegnen dort sowohl die Wurzel Prj als auch der Ausdruck yDj MyIhølTa.57 Und zweitens ist auch der Problemhorizont vergleichbar: Beide Male geht es um die Bedrohung durch einen übermächtig erscheinenden Feind, der sich obendrein erdreistet, die Macht Jhwhs anzuzweifeln. Sowohl V. 25 als auch V. 26 sind jeweils als Ganzes für alles Folgende im Abschnitt 17,25–31 unverzichtbar.58 Bei 17,25 liegt das auf der Hand, weil andernfalls die Nachfrage Davids nach der ausgelobten Prämie (V. 26) und die anschließende Antwort der Umstehenden (V. 27) unverständlich würden. Aber auch V. 26 wird in toto für den Zusammenhang gebraucht, denn V. 31 setzt ja ein beherztes Diktum des David voraus, und als ein solches kann allein 17,26b,59 keineswegs aber die Informationsfrage 17,26a gelten. Es ist interessant zu sehen, daß die Erzählung, obwohl sie doch eigens in V. 25 eine Siegesprämie ankündigt und damit die Spannung weiter erhöht, trotzdem im weiteren nirgends mehr auf diesen Punkt eingeht. Zwar könnte man die beiden Heiratsgeschichten 1 Sam 18,17–19 und 20ff. für Fortsetzungen dieses Erzählstranges halten, doch zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß weder hier noch dort die Hand der jeweiligen Tochter als Lohn für eine etwaige von David bereits im Vorfeld erbrachte Leistung gedacht ist.60 In V. 27 wird dem David eine erste Auskunft zuteil, daran knüpft V. 28 an, in dem Eliab den kleinen Bruder ob jener Gespräche über die Höhe des Kopfgeldes zur Rede stellt. Der Umstand, daß Eliab derart respektlos mit David umzuspringen wagt, steht in einer gewissen Spannung zu *15,35–16,13. Dort salbt ja der Prophet Jhwhs den jüngsten der Söhne Isais vor den Augen aller seiner Brüder zum König über Israel, was eigentlich Grund genug sein sollte, diesem fortan in –––––––––––––– 56

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In exakt derselben Form taucht der Begriff sonst nur noch in Dtn 5,26 und Jer 10,10; 23,36 auf. Vgl. daneben noch yAj MyIhølTa in 2 Kön 19,4.16 und (par.) Jes 37,4.17, yAj lEa in Jos 3,10; Hos 2,1; Ps 42,3; 84,3 sowie aD¥yAj aDhDlTa in Dan 6,21.27. Vgl. 2 Kön 19,4.16.22f. par. Jes 37,4.17.23f. Ein durchaus verzichtbarer Zusatz ist dagegen in 17,25 das Wörtchen hvyal, das einige hebräische Handschriften und Zitate offensichtlich als Verdeutlichung des Gemeinten hinter wø;tI;b_tRa◊w wøl_NR;tˆy einfügen. Zum herausfordernden Tenor der Frage 17,26b vgl. die analogen Fälle Ex 5,2 und Ri 9,28. Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 327.350f. Anders STOLZ: a. a. O. S. 126 (in bezug auf die Merabepisode). Wegen der zentralen Rolle, die der Brautpreis hier spielt, ist klar, daß die Michalerzählung den Passus 17,25–31 (noch) nicht im Blick haben kann. Zu 18,17–19 s. u. Kapitel 6; man wird hierzu zumindest sagen dürfen, daß eine Verbindung zwischen 17,25ff. und 18,17–19 nirgendwo offen zutagetritt. Von den übrigen Versprechungen aus 17,15 – Reichtum, (Abgaben-)Freiheit der väterlichen Sippe – verlautet im übrigen nirgends mehr auch nur ein Wort.

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frommer Scheu zu begegnen.61 Die Erzählung *15,35–16,13 könnte folglich mit guten Gründen für eine jüngere Fortschreibung gehalten werden. Auch zu V. 15 fügt sich das Verhalten des großen Bruders nicht sonderlich gut. Denn wenn David bereits als rangniederer Kriegsknecht dient, dann wirkt es merkwürdig, ihm zu unterstellen, er sei nur daran interessiert, einmal eine Schlacht von nahem zu sehen. Und bedenkt man ferner, daß David Waffenträger beim König ist und folglich zuallererst dessen Befehl untersteht, so erscheint es vollends abwegig, ihn wegen seines Kommens anzuherrschen. David erscheint hier m. a. W. überhaupt nicht als Knappe, sondern allein als Hütejunge und vermeintlich neugierige Göre. Wahrscheinlich stammen also auch V. 15 und V. 28 nicht aus einer Feder. Des weiteren setzt 17,28 deutlich die Kenntnis von V. 13b voraus, weil nur hier die Brüder Davids namentlich eingeführt werden. Man sollte nicht verhehlen, daß die V. 25–27 nicht unbedingt der Fortsetzung durch V. 28–30 bedürfen, V. 31 könnte sich vielmehr auch direkt an 17,27 anschließen.62 Allerdings lassen sich keine allzu auffälligen Differenzen zwischen 17,25–27 und 28–30 ausmachen,63 und darüber hinaus haben die despektierlichen Reden Eliabs noch den hübschen Effekt, Davids gleichermaßen frommes wie heldenhaftes Wesen später, beim Sieg über den Philister, nur umso deutlicher hervortreten zu lassen und bis dahin die Spannung noch ein wenig zu steigern – all dies aber liegt ganz auf der Linie von 17,25–27. In V. 29 verteidigt David sich gegenüber den Anschuldigungen Eliabs, um dann sogleich noch einmal andernorts nachzufragen (V. 30). In V. 31 kommen Davids Worte schließlich dem König zu Ohren, der den kühnen Jüngling sogleich herbeiholen läßt. Ab V. 32 ist der Text wieder durch den MT und die LXX bezeugt. Vorzuziehen ist hier allerdings die griechische Lesart.64 Der Vers bildet einen kaum verzichtbaren Bestandteil der Erzählung, da mit ihm jene Szene beginnt, in der David sich vor dem König dazu bereiterklärt, den Kampf mit dem Philister aufzunehmen. Die übrigen Verse, die sich um das Gespräch zwischen Saul und David drehen, sind allesamt von ihm abhängig. Dagegen könnte 17,32 auch allein, –––––––––––––– 61 62 63 64

Ähnlich BUDDE (a. a. O. S. 126): „Mit der Königssalbung steht unser Vers in grellem Widerspruch“. Gegen AURELIUS: a. a. O. S. 53. Daß V. 31 eindeutig seinen Vorvers 17,30 voraussetzt, stimmt so nicht. Allenfalls könnte man darauf verweisen, daß in V. 27a MDoDh als Singular aufgefaßt wird (rRmaø¥yÅw), während V. 30b mit Blick auf dasselbe Subjekt den Plural (…whUbIv◊yÅw) wählt. Der MT bietet mit M∂dDa_bEl gegenüber den diversen Versionen (rabbinische Zitate: Klmh bl; LXX: hJ kardi÷a touv kuri÷ou mou, ähnl. Ò93.94) zwar klar die lectio difficilior, doch drückt sich in der Lesart (die überdies leicht im Zusammenspiel mit einem Lesefehler entstanden sein könnte, vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 106) auch eine Aufwertung der Gestalt des David aus: er erscheint hier noch entschlossener und dadurch nicht zuletzt heroischer als in der LXX. Das dürfte kein Zufall sein. Vgl. auch STOEBE: a. a. O. S. 330, Anm. 32 b) und die dort genannte Literatur.

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i. e. ohne 17,33–39, bestehen, weil mit ihm bereits das Wichtigste gesagt ist, während die Folgeverse lediglich die Diskussion schildern, die sich als Reaktion auf Davids Entschluß entspinnt. Andererseits ist aber auch nur schwer vorstellbar, daß die Szene ohne jegliche Entgegnung des Königs auskommen könnte. In 17,33 wendet Saul gegen Davids Ansinnen ein, er sei noch zu jung und unerfahren, um gegen einen gestandenen Kriegsmann wie den Philister anzutreten. Die sich anschließenden V. 34–37a zielen vornehmlich darauf ab, diesen (an sich völlig berechtigen) Gedanken zu entkräften und gleichzeitig Davids besondere Eignung für die bevorstehende Aufgabe herauszustellen. Dabei wird zweierlei ins Feld geführt: a) Davids Erfahrungen im Kampf mit wilden Tieren, die er als Hirte gesammelt hat (V. 34–36), und b) Jhwhs schützendes Handeln, auf das David fest vertraut (V. 37a, vielleicht auch schon V. 36b). Keiner der V. 33–37a wird andernorts vorausgesetzt, was dafür sprechen könnte, daß sie allesamt sekundär eingeschaltet wurden. V. 34 leitet die erste Hälfte der Argumentation ein. Der Satz ÔKV;dVbAo hÎyDh hRoOr Naø…xA;b wyIbDaVl65 klingt für sich genommen so, als liege Davids Arbeit bei der Herde seines Vaters bereits einige Zeit zurück.66 Wäre hier nämlich eine präsentische Aussage intendiert, hätte sich eher ein Nominalsatz wie Naø…xA;b wyIbDaVl ÔKV;dVbAo hRoOr nahegelegt.67 Das fügt sich indes nicht gut zu der Vorstellung, David habe erst kurz zuvor seine Herde verlassen (V. 15.20.28). Möglicherweise werden an dieser Stelle zwei verschiedene textgenetische Straten erkennbar. Eine weitere Schwierigkeit stellt sich in V. 34b, der mit den Worten bwø;dAh_tRa◊w yîrSaDh aDb…w beginnt. Zunächst fällt auf, daß dem Prädikat im Singular offensichtlich zwei Subjekte gegenüberstehen: Löwe und Bär. Und auch die übrigen Verben sowie die Pronominalsuffixe, die sich in V. 34b und 35 auf Davids vormalige ‚Gegner‘ beziehen, verweisen allesamt durch ihren Numerus (ausschließlich Singular) auf ein einzelnes Tier.68 Diese Disgruenz wäre nicht allzu ungewöhnlich, wenn man nun das Wort tEa als Präposition (‚mit‘) deuten könnte. Gerade diesem Verständnis stellt sich jedoch die Partikel w entgegen.69 Der gesamte Befund ist umso auffälliger, als man zwei Verse –––––––––––––– 65 66

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Eine Reihe hebräischer Handschriften sowie die Peschitta bezeugen ybal. Das Problem braucht hier allerdings nicht näher erörtert zu werden. S. auch STOEBE: a. a. O. S. 330, Anm. 34 b). SMITH: Commentary. S. 161: „hyh [...] might be used if David had just come from the flock, but it more naturally applies to a state which he has quitted some time in the past.“ So auch HUNZIKER-RODEWALD: Hirt. S. 47, Anm. 23; STOLZ: a. a. O. S. 112; STOEBE: a. a. O. S. 330, Anm. 34 a); ders.: Goliathperikope. S. 406. Anders, aber nicht eben zwingend BUDDE: a. a. O. S. 127. Seine Interpretation als Perfectus praesens ist keineswegs die nächstliegende Möglichkeit (die Belege für diesen Gebrauch des Perfekts in GK § 106g–l sind ganz anderer Art), sondern wohl von V. 15 und 20 her inspiriert. Vgl. z. B. Gen 47,3. Vgl. STOEBE: KAT2 VIII,1. S. 330f., Anm. 34 d). Daß es sich hier um eine (im AT ohnehin sehr seltene) Nominativdetermination handelt, schließt z. B. STOEBE (a. a. O. S. 330, Anm. 34 d)) zu Recht aus, denn in diesem Falle wäre kaum zu er-

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weiter eine Nota accusativi vermißt – und zwar ausgerechnet vor dem Wort bwø;dAh. Die Kennzeichnung als Akkusativ ist in V. 36 unerläßlich, weil erstens die Syntax des Satzes dies erfordert70 und zweitens das dort vorausgehende andere (und durch das doppelte MÅ…g sogar parallelisierte) grammatikalische Objekt auch solch ein Element aufweist. Der Verdacht liegt daher nahe, das textliche Problem sei auf den Fehler eines Kopisten zurückzuführen.71 Auf keinen Fall ist das tRa (etwa unter Hinweis auf den Text einiger hebräischer Handschriften und rabbinischer Zitate) zu tilgen, denn damit wäre lediglich eine glattere Lesung gewonnen. Vielmehr wird sich die textgenetische Analyse an dieser Stelle zu bewähren haben. In V. 35b dürfte das Wort N∂qÎz mit ‚Mähne‘ zu übersetzen sein,72 darauf deutet zumindest der Kontext hin. Offensichtlich ist an dieser Stelle allein an den Löwen, nicht aber an den Bären gedacht. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu sehen, daß die einzige Wendung, die exklusiv auf den Bären gemünzt sein könnte (V. 35ba: yAlDo M∂qÎ¥yÅw),73 im Narrativ (oder unpunktiert zumindest im Imperfectum copulativum) steht und damit die Syntax des Satzes (V. 34b.35) sprengt, der sonst allein Verba im Perfectum consecutivum (iterativisch gebraucht)74 enthält. V. 35ba ist zudem keineswegs für den Satzzusammenhang nötig – löst man ihn probeweise heraus, ergibt sich vielmehr ein grammatikalisch wie erzählerisch rundes Gefüge: 17,34b bildet die Protasis, V. 35* die Apodosis; wenn der Löwe zuschlug, dann lief ihm David nach, griff ihn an und rettete zunächst das Schaf, um anschließend das Raubtier am Kragen zu packen und endgültig niederzustrecken. 17,35ba könnte daher einen nachträglichen Zusatz darstellen. Betrachtet man die V. 34f. im Verhältnis zur Gesamtanlage der Erzählung, so fällt eine weitere Kleinigkeit auf. Die Geschichte ermöglicht auf ganz natürliche ––––––––––––––

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klären, warum nicht auch yîrSaDh solchermaßen determiniert ist. GK § 117k favorisiert wohl daher, das tRa◊w als Präposition zu deuten – nicht ohne allerdings die Möglichkeit zu erwähnen, daß hier durchaus auch ein bloßer Schreibfehler vorliegen könnte. Vgl. GK § 117, S. 377ff. im Zusammenhang mit der Tatsache, daß (hi) hkn fast immer mit der Nota accusativi oder mit einem suffigierten Pronomen verwendet wird. Zu den Ausnahmen und ihren Bedingungen s. u. 5.3.2.8. Das scheint schon WELLHAUSEN andeuten zu wollen; vgl. ders.: Text. S. 106. So u. a. STOEBE: a. a. O. S. 329 und 331, Anm. 35 c); im Anschluß an ihn auch AURELIUS: a. a. O. S. 56, Anm. 56; ferner STOLZ: a. a. O. S. 112. HERTZBERG (a. a. O. S. 111; s. auch Anm. 7) übersetzt zwar mit ‚Bart‘, meint damit aber die Löwenmähne; so auch ALTER: a. a. O. S. 107, Anm. 35. Anders offensichtlich BUDDE: a. a. O. S. 128. So STOEBE : a. a. O. S. 331, Anm. 35 b). Seiner Ansicht nach ist hier auf die Eigenschaft des Bären angespielt, sich auf seinen Hinterbeinen aufrichten zu können. AURELIUS (ebd.) stimmt ihm darin zu. – Das könnte durchaus sein. Zu bedenken ist allerdings, daß die Wurzel Mwq in Verbindung mit der Präposition lAo häufig gebraucht wird, um die Auflehnung z. B. gegen einen Feind auszudrücken (so etwa in Ri 9,18.43; 20,5 oder 2 Sam 18,31f.) – zugegebenermaßen jedoch nie gegen einen aus dem Tierreich. Das zumindest war wohl die Intention des Verfassers. Die Punktatoren scheinen hingegen eher an ein einmaliges Geschehen gedacht zu haben, vgl. DRIVER: Notes. S. 145.

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Weise den Sieg des jungen David über seinen kampferprobten Gegner, indem sie ihm eine Distanzwaffe in die Hand gibt. Demgegenüber sehen die V. 34f. den Grund für Davids Erfolg darin, daß er bereits als Hirte wilde Tiere überwunden habe – und zwar im direkten Nahkampf (V. 35). So gesehen wirken die V. 34f. im Gesamtzusammenhang wie ein Fremdkörper. Sie sind daher möglicherweise als Ergänzung einzustufen. Zu V. 36 ist das meiste bereits gesagt. Hinzuzufügen ist die Beobachtung, daß 17,36a keinerlei neue Informationen bietet, sondern bloß das in V. 34f. Gesagte zusammenfaßt. Ebensowenig enthält der Textüberschuß der LXX (zwischen 17,36ba und bb)75 etwas, das die Leserin / der Leser nicht schon wüßte. Der Teilvers verdeutlicht lediglich Davids Absicht, den Philister zu besiegen und auf diese Weise Israels Ehre wiederherzustellen. V. 37 enthält ganz zu Beginn eine erneute Redeeinleitung, die – allein von der Erzähllogik her beurteilt – überflüssig erscheinen muß, da David ohnehin seit V. 34 ununterbrochen das Wort hat; sie fehlt denn auch in der LXX. Von den direkt vorausgehenden Versen hebt sich V. 37a auch dadurch leicht ab, daß er nicht bwø;d schreibt (so V. 34 und 36), sondern (defective) bO;d. Zudem gerät der grimmig entschlossene und zugleich fromme Ton, der aus V. 36b sprach, nun vollends zum Pathos. Dabei gibt V. 37a den vorangegangenen drei Versen eine ganz neue Wendung. Hatten diese nach Sauls Einwand in 17,33 zu erklären versucht, warum David als erfahrener Hirte durchaus gute Gründe hatte, den Zweikampf zu wagen, so wird hier nun eine ganz anders geartete Begründung für Davids Mut genannt: sein festes Vetrauen auf Jhwh. Aus Selbstvertrauen wird, wenn man so will, plötzlich Gottvertrauen. Ausschlaggebend für einen Sieg ist dieser Sicht der Dinge zufolge nicht militärisches Geschick, sondern allein Jhwhs Eingreifen zugunsten einer Kriegspartei. All dies spricht dafür, daß V. 37a nicht zeitgleich mit 17,33–36 abgefaßt wurde. In seiner Tendenz berührt sich der Halbvers mit den V. 45 und 47. Auf die vorausgegangene Schmährede des Philisters (dessen Name weder hier noch in V. 37 fällt) entgegnet David dort, er ziehe twøaDbVx hÎwh◊y MEvV;b lEa∂rVcˆy twøk√rAoAm yEhølTa in den Kampf, und setzt davon das Verhalten seines Gegners ab, der ihm NwødyIkVb…w tyˆnSjAb…w b®rRjV;b entgegentrete (V. 45). V. 47 bringt diese theologische Anschauung auf den Punkt: es geht hiernach darum, zu erkennen, „daß Jahwe nicht Schwert und Spieß braucht, um Rettung zu schaffen, denn Jahwes ist der Krieg“76. Eine ähnliche Sichtweise ist in der Erzählung 1 Sam 7,3ff. prägend, wo der Angriff der Philister im wesentlichen von Jhwh allein und überdies ohne Zuhilfenahme von Waffengewalt zurückgeschlagen wird. Dort findet sich zudem

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S. o. Anm. 55 (Kap. 5). STOEBE: a. a. O. S. 329.

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auch, wie in 17,37a(bis), die Formulierung ... dÅ¥yIm ... (hi) lxn (1 Sam 7,3.14).77 Und Samuel ähnelt in seinem Handeln dem David aus 17,37, wenn er sich trotz der Macht des Feindes nicht in seinem Vertrauen auf Jhwhs Hilfe beirren läßt. Die Vermutung liegt nahe, daß die V. 37a.45.47 nicht nur inhaltlich, sondern auch entstehungsgeschichtlich zusammengehören und zumindest ähnlich wie 1 Sam 7 zu datieren sind. Durch V. 37a wird aber nicht allein David als ‚Glaubensheld‘ ausgewiesen, auch das Licht, das auf Saul fällt, verändert sich merklich durch den Halbvers. Denn wenn Saul in den V. 38f. seinem Schützling Waffen anlegt, um ihn für den Kampf zu wappnen, dann erscheint das, durch die Brille von V. 37a betrachtet, als deutlicher Ausdruck mangelnden Gottvertrauens.78 Die Worte, die der König in 17,37b an David richtet, bilden eine angemessene erzählerische Fortsetzung zur ersten Hälfte des Verses, könnten jedoch ebensogut auch an V. 36, an V. 33–35 oder auch an V. 32 anschließen. Auch in theologischer Hinsicht trägt der Halbvers kein spezifisches Gepräge. Zwar hat man die Mitseins-Formel als „das wichtigste Theologumenon der Aufstiegsgeschichte“79 bezeichnet, weil sie sich besonders zu Beginn der AG sehr häufig findet, doch darf das nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Formel als solche (noch dazu in ihrer Verwendung als Wunsch oder Verheißung) nicht einmal ansatzweise einer bestimmten Epoche oder geistigen Strömung zugeordnet werden kann. Die V. 38–40a schildern Sauls gutgemeinten Versuch, David mit adäquatem Kriegsgerät auszustatten und ihn auf diese Weise auf das bevorstehende Duell vorzubereiten. Diese Ausrüstung erweist sich indes sehr schnell als kontraproduktiv, David probiert zwar alles ihm Angebotene ganz willig aus, sieht sich jedoch in seiner Beweglichkeit eingeschränkt (V. 39). Und so greift er stattdessen auf die Bewaffnung zurück, mit der er besser umzugehen versteht: auf Stock und Steinschleuder (V. 40a). Der Wortlaut bietet im einzelnen mannigfaltige textkritische Probleme. In V. 38 ist wahrscheinlich mit dem MT oAbwøq zu lesen. Die von einigen Handschriften bezeugte Lesart oAbwø;k erklärt sich als orthographische Angleichung an die Schreibung aus V. 5.80 – Die LXX hat statt des vom MT bezeugten wy∂;dAm lediglich mandu/ a n , verzichtet also darauf, den Eigner des Mantels an dieser Stelle näher zu bestimmen. Zwischen den beiden Lesarten zu entscheiden, fällt schwer. HUTZLI verweist auf die Tatsache, daß „im folgenden Kolon von ‚einem Helm‘ und nicht –––––––––––––– 77

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Weitere Belegstellen in den Samuelbüchern sind die (nach KRATZ: a. a. O. S. 174ff.) überwiegend späteren Ergänzungen (‚DtrS‘) entstammenden Stücke 1 Sam 4,8; 10,18; 12,10f.; 14,48; 2 Sam 12,7. Vgl. DIETRICH: Erzählungen. S. 66. V EIJOLA: Dynastie. S. 133. Vgl. auch W EISER : a. a. O. S. 334f. Vgl. auch oben 4.2 zu 1 Sam 16,18b. Anders BUDDE: a. a. O. S. 128, doch ohne angemessene Begründung.

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‚seinem (Sauls) Helm‘ die Rede ist [...].“81 Vielleicht gebührt hier also der LXXLesung der Vorrang. – V. 38b fehlt in der LXX und stellt zumindest in sprachlicher Hinsicht eine Duplikation zu V. 38aa dar. Der Halbvers ist m. E. originär, zur Begründung s. u. 5.3.1. Auf den ersten Blick ergeben sich freilich eher Gründe für seine sekundäre Hinzufügung. Von Saul zu sagen, er vertraue auf den Schutz eines Nwøy√rIv, bedeutet, ihn (noch weiter) mit dem Philister zu parallelisieren (vgl. V. 5) und ihm indirekt mangelndes Gottvertrauen (vgl. den unmittelbar vorausgehenden V. 37a) vorzuwerfen. Überdies wirkt es, wie bereits angedeutet, etwas unschön, daß der Halbvers genau dasselbe Verbum in exakt derselben Form (vE;bVlÅ¥yÅw) als Prädikat benutzt wie V. 38aa. Dagegen fällt es schwer zu beurteilen, wie sich dAm und Nwøy√rIv zueinander verhalten und ob ihre gemeinsame Nennung hier sinnvoll ist oder nicht.82 Da aber, wie unten noch zu zeigen sein wird, das Fehlen des Halbverses in der LXX mit einiger Wahrscheinlichkeit auf eine umfangreiche Streichung innerhalb der griechischsprachigen Fassung zurückzuführen ist, empfiehlt es sich, V. 38b als Glosse zu werten, die noch vor Entstehung der LXX eingefügt wurde. – Dagegen ist kaum zu entscheiden, ob das ebenfalls von der LXX nicht bezeugte NAtÎn nachgetragen wurde oder ob hier lediglich eine Freiheit der griechischen Übersetzer vorliegt. Da die Fassung des MT keineswegs syntaktisch unmöglich ist,83 sich überdies keine einleuchtenden Gründe für eine solche Zufügung angeben lassen, ist vielleicht der MT zu bevorzugen; indes wiegt diese Frage nicht eben schwer. In V. 39 herrscht weitaus größere Verwirrung, was sich freilich erst zeigt, wenn man die Varianten miteinander vergleicht. Nach dem MT ist David durchgehend das grammatikalische Subjekt, in der LXX dagegen legt Saul dem David das Schwert an (kai« e¶zwsen to\n Dauid th\n rJomfai÷an aujtouv). „Wahrscheinlich hielt LXX es für nöthig, das Suffix in wbrj und wydm auf Saul zu beziehen: was mit Fug nur angieng, wenn Saul Subject des Satzes war“84. Die griechische Fassung will also vermutlich sicherstellen, daß hier von Sauls Schwert die Rede ist und David folglich kein eigenes besitzt. Das setzt zwar noch nicht zwingend die Kenntnis der V. 12–31 voraus,85 liegt aber wenigstens auf der Linie dieser Verse. Durch diese übersetzerische Freiheit entsteht kurz darauf das Problem, daß der Subjektwechsel, der sich mit dem nächsten Prädikat (e˙ k opi÷ a sen ) vollzieht, nur noch durch den Kontext, nicht aber mehr durch Text selbst auf Anhieb zu erkennen –––––––––––––– 81 82 83

84 85

HUTZLI: Retuschen. S. 104. BUDDE (a. a. O. S. 128) beispielsweise hält die Erwähnung des Panzers nach dAm, das er als ‚Rüstung‘ übersetzt, für überflüssig und mithin störend. Ähnlich STOEBE: a. a. O. S. 331, Anm. 38 b); vgl. GK § 112a und b; vgl. ferner SPIECKERMANN: Juda. S. 120–130; gegen BUDDE: a. a. O. S. 128; KLOSTERMANN: a. a. O. S. 70, Anm. 38x; anders aber auch GK § 112tt. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 107. So STOEBE: a. a. O. S. 331, Anm. 39 a).

Untersuchung

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ist. Obwohl man den MT tatsächlich so verstehen kann, als meine er an dieser Stelle ein Schwert Davids, dürfte dies nicht intendiert sein. Denn 17,39 verwendet in direkter Folge zwei Possessivsuffixe, von denen das zweite (wy∂;dAmVl) klar auf Saul zurückverweist (vgl. V. 38a).86 – Weiter hat die LXX dort, wo MT lRaø¥yÅw liest, das Wort e˙kopi÷asen, was vielleicht im Hebräischen aRl…´yÅw entspricht.87 Es ist m. E. kaum möglich, zwischen diesen Alternativen zu entscheiden, weil sich durch einen Schreibfehler nur allzu leicht die eine aus der jeweils anderen ergeben haben könnte. Interessanterweise folgt sowohl im MT als auch in der LXX dem jeweiligen Verb eine zusätzliche Information (MT: hD;sˆn_aøl yI;k, LXX: a‚pax kai« di÷ß), was in beiden Fällen wie eine sinnstützende Erläuterung aussieht und als längere Lesart hier wie dort vermutlich sekundär sein dürfte. In bezug auf das Prädikat bleibe ich aus rein pragmatischen Gründen beim Wortlaut des MT. Ähnliches gilt für die Frage, ob das letzte Verbum des Verses (Mrsyw) als Plural (so LXX) oder als Singular (so MT unter Hinzufügung des präzisierenden dˆw∂;d) zu lesen ist. Da direkt zuvor noch David agiert hat, erscheint mir jedoch die zweite Möglichkeit ein wenig wahrscheinlicher.88 Im Anschluß an V. 37 nimmt sich Sauls Unterstützung, wie schon erwähnt, zwangsläufig als Ausdruck krassen Unglaubens aus, als Fortsetzung etwa von V. 36 oder gar 35 wirkt sie dagegen nachvollziehbar und keineswegs verwerflich. In diesem Zusammenhang fällt auf, daß David sich in 17,38f. nicht einmal ansatzweise bei der Anprobe ziert, in V. 39 legt er sogar selbst Hand an. Und daß er letztlich die Rüstung wieder ablegt, geschieht aus ganz praktischen Erwägungen (yItyI;sˆn aøl yI;k hR;lEaD;b tRkRlDl lAk…wa aøl) und nicht etwa aufgrund theologischer Vorbehalte. Offenkundig fügt sich 17,38–40a nicht so gut zu 17,37 wie zu dessen Vorversen.89 Die V. 38f. sehen in David allem Anschein nach einen Hirten. Dies geht aus V. 39 hervor, wo sich David mit Sauls Schwert gürtet,90 offensichtlich steht ihm kein eigenes zur Verfügung. Das aber bedeutet, daß er hier, wenigstens in dieser Situation, nicht als königlicher Waffenträger aufgefaßt wird, da er als solcher ein –––––––––––––– 86 87 88

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Anders STOEBE: a. a. O. S. 336 und 331, Anm. 39 a). Vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 107. Zum Ganzen der V. 38f. vgl. auch HUTZLI: Retuschen. S. 103–109.113f. HUTZLI hält hier ausnahmslos die Lesungen der LXX für älter und wertet den MT-Wortlaut der beiden Verse als Ergebnis einer Überarbeitung, die „das Bild eines körperlich schwachen und in militärischen Dingen unerfahrenen David korrigieren“ wollte (HUTZLI: a. a. O. S. 114). Das grundlegende Problem an dieser Sichtweise besteht m. E. darin, daß die Gesamtbewegung des Textwachstums von 1 Sam 17 in entgegengesetzter Richtung verlaufen sein dürfte: David erscheint in den älteren Straten z. T. noch als junger Krieger, während er in den jüngeren Stücken mehr und mehr zum Hirtenjungen wird, der allein aufgrund seines Gottvertrauens obsiegt (zu all dem s. u. den Arbeitsschritt 5.3.2). Wo der MT tatsächlich einmal ‚aufrüstet‘, gilt dies gerade nicht David, sondern seinem Widerpart (s. o. zu 17,4). Das übersieht AURELIUS: a. a. O. S. 57f. und 63f. Vgl. dazu die vorausgegangenen textkritischen Ausführungen.

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eigenes Schwert bei sich trüge.91 Das paßt am besten zu dem Davidbild, das V. 15 vertritt. Denn ihm zufolge fungiert David zwar schon als Waffenträger Sauls (so seit 16,21*), hilft zugleich aber bisweilen – und so auch hier – bei seinem Vater noch als Hirte aus und hat dann natürlich keine Waffen zur Hand. Auf diese Weise klärt sich auch die Frage, warum dem David überhaupt Sauls Rüstung zugemutet wird:92 David ist mitnichten zu klein, um sie tragen zu können, denn er leistet ja bereits Militärdienst. Zugleich ist er als Waffenträger zwar gewohnt, einen Teil der Waffen des Königs zu schleppen, nicht aber geübt, sie allesamt und am eigenen Körper zu tragen.93 Auf der anderen Seite steht diese Anschauung deutlich im Widerspruch zu solchen Passagen, die – wie 17,28 – David bloß als einen (vermeintlich sensationslüsternen) Jungen betrachten, nicht aber als königlichen Knappen. Die V. 38f. könnten demzufolge auf derselben textgenetischen Ebene liegen wie V. 15, wohingegen eine genuine Zusammengehörigkeit mit 17,28 relativ unwahrscheinlich ist. In V. 40a sticht besonders eine unschöne Doppelung ins Auge: David legt die soeben gesammelten Schleudersteine einerseits wøl_rRvSa MyIoOrDh yIlVkI;b und in den f…wqVlÅy andererseits. Zwar ist bis heute nicht eindeutig geklärt, was mit dem zweiten Terminus genau bezeichnet sein soll,94 soviel dürfte aber sicher sein: die Geschosse können kaum an zwei Orten gleichzeitig lagern.95 Eine der beiden Formulierungen dürfte also vermutlich nachgetragen worden sein. Ein weiteres Problem zeigt sich, wenn man sich die in V. 40 beschriebene Szene einmal en détail vor Augen führt: David hält hier Schleuder und Stecken in seinen Händen und hat folglich keine Hand mehr frei – genau das müßte er aber, um nämlich einen Stein in die Schleuder legen zu können.96 Überhaupt wird nicht recht deutlich, wozu David diesen Stock benötigt – um den Philister zu besiegen, benutzt er ja lediglich Schleuder und Schwert. Man hat diesen merkwürdigen Zug der Erzählung auf ganz verschiedene Weise zu erklären versucht: der Stock diene zum Schleu-

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95 96

Vgl. Ri 9,54; 1 Sam 31,4f. Auf sie weist z. B. STOEBE mit gutem Recht hin, vgl. ders.: a. a. O. S. 336. Vgl. Davids Begründung dafür, daß er mit jener Rüstung nicht umgehen kann: hR;lEaD;b tRkRlDl lAk…wa aøl yItyI;sˆn aøl yI;k (V. 39a). Schon die griechischsprachigen Übersetzer wußten mit der Vokabel nichts mehr anzufangen und behalfen sich mit den Worten ei˙ß sullogh\n; vgl. STOEBE: a. a. O. S. 332, Anm. 40 c). Man könnte versucht sein, f…wqVlÅ¥yAb…w als spezifizierende Erläuterung zu deuten (Waw explicativum), so daß hier gar keine Dublette vorläge. In diesem Fall muß man aber auch einleuchtend erklären, warum dem Autor daran gelegen war, die gleichermaßen eindeutige wie nebensächliche Angabe MyIoOrDh yIlVkI;b zu konkretisieren. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 107: „Dass David die fünf Steine nicht in zwei Taschen gesteckt haben werde, sollte einleuchten [...].“ Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 337; ders.: Goliathperikope. S. 409.

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dern des Steins, einem Täuschungsmanöver oder einfach zum Steinesuchen.97 Aber keiner dieser Lösungsvorschläge vermag zu überzeugen. Denn das Sammeln der Steine wird nur ganz am Rande erwähnt, von einer etwaigen List Davids verlautet rein gar nichts, und daß David – einem Baseballspieler gleich – seinen Stab als Schläger benutzt haben sollte, ist reichlich weit hergeholt. Der Stecken, der David mit dem Beginn von V. 40 in die Hand gedrückt wird, dürfte sich vielmehr der Absicht seines Verfassers verdanken, den Helden als Hirten auszuweisen. Genau das ist ja ein Anliegen der V. 15ff. und 34f. Ein Hirte besitzt vielleicht eine Schleuder, sicher aber kein Schwert – eine Hiebwaffe jedoch ist in V. 34f. deutlich vorausgesetzt. Vermutlich ist hier an den für einen Hirten typischen Stecken gedacht. V. 40 läßt David mithin genau so auftreten, wie dieser sich in seiner Unterredung mit König Saul (V. 34f.) selbst skizziert hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, daß der Anfang von 17,40 (wødÎyV;b wølVqAm jå;qˆ¥yÅw) später als der Rest des Verses entstanden ist, und zwar entweder zusammen mit V. 15ff. oder mit V. 34f. In der eigentlichen Schlüsselszene, die Davids raschen Sieg über Goliat schildert (V. 49), ist V. 40a wahrscheinlich vorausgesetzt, denn dort werden Davids Tasche und die darin befindlichen Steine wie selbstverständlich erwähnt. Der Halbvers dürfte daher zum Handlungsgerüst der Erzählung gehören. Die V. 40b.41 leiten über zur nächsten Szene, dem Wortgefecht der beiden Kontrahenten, das sich bis V. 47 erstreckt, bevor mit V. 48 das eigentliche Duell beginnt. Sowohl die V. 40b.41a als auch V. 48 erwähnen, daß sich die beiden Zweikämpfer aufeinander zu bewegen. Der verbale Schlagabtausch vollzieht sich augenscheinlich, während die zwei einander entgegenmarschieren – so ließe sich der Befund auf den ersten Blick wenigstens deuten. Schaut man jedoch genauer hin und nimmt man dabei V. 40b.41a und V. 48 jeweils für sich wahr, dann klingt es beide Male eher so, als hätten die Duellanten eben noch gestanden und machten sich nun auf den Weg.98 Man muß hier mithin von einer Dublette sprechen.99 In der LXX ergibt sich diese Schwierigkeit indes nicht, ihr fehlen die V. 41 und 48b, so daß dort zunächst David auf den Philister zugeht (V. 40b), sodann die verbale –––––––––––––– 97 98 99

Vgl. TIKTIN: a. a. O. S. 27 – er faßt außerdem die beiden Stellen, die von der Schleuder sprechen, als Glossen auf. Vgl. ferner BUDDE: a. a. O. S. 129; MCKENZIE: a. a. O. S. 91. Eindeutig ist v. a. V. 48aa, weil er vom Aufbruch des Philisters spricht (yI;tVvIlVÚpAh M∂q_yI;k hÎyDh◊w). KELLERMANN (Geschichte. S. 354–357) möchte diese Doppelung mit Hilfe der Annahme erklären, die Darstellung gehe von einer durch ein Hypophysenadenom verursachten Einengung des Blickfeldes des Philisters aus. David nutze den ‚Tunnelblick‘ des Gegners aus, indem er sich aus dessen Blickfeld herausbewege und ihm so die Möglichkeit nehme, sich vor dem tödlichen Schleuderstein zu schützen. Abgesehen von den komplizierten Zusatzannahmen, auf die sie angewiesen ist, krankt KELLERMANNs Interpretation vor allem daran, daß sie den Gegenstand der Erzählung zu erklären sucht, ohne zuvor ihre Struktur und Entstehungsgeschichte hinreichend untersucht zu haben.

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Auseinandersetzung beginnt, bevor sich zuletzt endlich auch Davids Widerpart aufmacht (V. 48a). Für die Erzählung sind die Verse, die zwischen 17,40b.41a und 48 stehen insofern von unmittelbarer Bedeutung, als sie den Fortlauf der Ereignisse verlangsamen und somit die Spannung der Leserin bzw. des Lesers steigern. Gleichwohl haben sie keinen Anteil an der Rahmenhandlung, die durchaus auch ohne sie auskommen könnte. Es könnte sich hier m. a. W. um einen sekundären Einschub handeln. V. 41b enthält nur die unscheinbare Information, wonach der Philisterrecke noch durch einen Schildträger zusätzlich geschützt wird, der ihm vorangeht. Dies ist allerdings insofern nicht neu, als V. 7b bereits dasselbe berichtet hat – wenn auch mit leicht abweichendem Wortlaut.100 17,41b dürfte den V. 7b voraussetzen, andernfalls käme die Erwähnung des Knappen etwas überraschend. Daß der aEcOn hÎ…nI…xAh im weiteren nirgends mehr begegnet, wurde oben bereits festgestellt.101 V. 42 ist wieder im MT wie in der LXX bezeugt, wenn letztere auch eine kleine Abweichung aufweist: Während die masoretische Fassung von yI;tVvIlVÚpAh spricht, nennt die griechische Version stattdessen allein seinen Namen.102 Dabei fällt innerhalb der LXX eine winzige orthographische Inkonsistenz auf. 17,42 schreibt den Namen mit einem d im Auslaut (Goliad ), V. 4 dagegen wählt die Variante Goliaq. Des weiteren benutzt der MT zwei Verben, um zum Ausdruck zu bringen, daß der Philister seinen Gegner mustert (dˆw∂;d_tRa hRa√rˆ¥yÅw yI;tVvIlVÚpAh fE;bÅ¥yÅw), der LXX genügt eines (kai« ei•den Goliad to\n Dauid), und zwar das Pendant zum hebräischen hRa√rˆ¥yÅw.103 WELLHAUSEN schließlich hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß V. 42 nach V. 41a zu spät kommt. Denn bei dieser Reihenfolge der Verse eilt der Philister seinem Kontrahenten bereits entgegen (V. 41a), noch bevor er ihn erblickt hat (V. 42a).104 Hier deutet sich offensichtlich an, daß die V. 41a und 42 nicht demselben textgenetischen Stratum angehören. 17,42b berührt sich mit 1 Sam 16,12 in der Art, in der er Davids Äußeres beschreibt. Die Parallelstelle 16,12 formuliert freilich etwas vollmundiger (yˆnwøm√dAa a…wh◊w yIaør bwøf◊w MˆyÅnyEo hEp◊y_MIo, während 17,42b nur hRa√rAm hEp◊y_MIo yˆnOm√dAa sagt).105 Die Verachtung, die der Philister bei diesem Anblick empfindet, kann nur bedeuten, daß er –––––––––––––– 100 17,7b: wyÎnDpVl JKElOh hÎ…nI…xAh aEcOn◊w; 17,41b: wyÎnDpVl hÎ…nI…xAh aEcOn vyIaDh◊w. 101 Vgl. oben zu 17,7 und siehe auch Anm. 11 (Kap. 5). 102 Diese durchaus nicht unwichtige Variante wird bedauerlicherweise im textkritischen Apparat der BHS5 mit keinem Wort erwähnt. 103 Vgl. die Auflistung und Gegenüberstellung von hebräischem und griechischem Text bei TOV: Nature. S. 27. 104 Vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 108. 105 Die LXX-Lesart steht ihrer Parallele noch näher, weil sie MˆyÅnyEo hEp◊y_MIo (meta» ka¿llouß ojfqalmw◊n) statt des masoretischen hRa√rAm hEp◊y_MIo bezeugt. Eine sekundäre Angleichung dürfte hier wahrscheinlicher sein als ein etwaiger nachträglicher Versuch, die beiden Stellen sprachlich voneinander abzusetzen.

Untersuchung

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David bereits von weitem als zarten und eben nicht wehrhaft wirkenden Jüngling erkennt. Damit paßt V. 42 am besten zu dem Davidbild, das u. a. 17,28 vertritt, möglicherweise liegen beide Stücke auf derselben Textwachstumsstufe. V. 43 setzt mit einer Redeeinleitung ein, die völlig identisch mit dem Anfang von V. 44 ist: dˆw∂;d_lRa yI;tVvIlVÚpAh rRmaø¥yÅw. Diese Dublette wäre gar keine, wenn jener Text ursprünglich wäre, den die LXX zwischen 17,43a und 43b liest.106 Denn durch diese kurze Entgegnung Davids würde genau solch eine Einleitungsformel nötig, um in V. 43b den erneuten Sprecherwechsel mit anzuzeigen. Doch kann V. 43adLXX mit Fug und Recht als später Nachtrag gewertet werden.107 Zum einen läßt sich nämlich m. E. kein Grund angeben, der zu einer solchen versehentlichen Auslassung oder absichtsvollen Streichung geführt haben könnte. Dagegen ist ein Motiv für die Hinzufügung des Versteils ohne weiteres vorstellbar, erscheint David doch erst durch V. 43adLXX als eloquenter und gewitzter Bursche. Zum anderen paßt die Erwähnung der Steine nicht gut zur vorausgegangenen Nennung des Stockes (man erwartet hier eher das Begriffspaar ‚Stock und Schleuder‘ oder eben ‚Schleuder und Steine‘). Zudem mindert sie die Erzählspannung etwas, weil sie schon auf das Ende des Philisters vorausgreift,108 und mischt unter die im übrigen durchgängig grimmigen und entschlossenen Worte einen leichteren, ironischen Ton.109 Mit dem Verweis auf Davids Stecken setzt der Vers unzweifelhaft 17,40 voraus. Daß V. 43b die Götter des Philisters ins Spiel bringt, also auch die religiöse Dimension des Geschehens in den Blick nimmt, rückt den Vers in unmittelbare Nachbarschaft zu 17,25 und 36. Hier wie dort findet sich obendrein das Motiv der verbalen Verunglimpfung durch den Philister. Die Einleitung 17,44a wirkt im direkten Anschluß an V. 43 (MT) ebenso entbehrlich wie V. 37a gegenüber 17,34a. Die folgende Drohung des Philisters (V. 44b) hat eine Parallele in V. 46a, einem Stück aus Davids Gegenrede. Beide Male sucht der Sprecher sein Gegenüber einzuschüchtern, indem er ankündigt, ihn bzw. seine Kameraden den wilden Tieren zum Fraß vorzuwerfen. Dabei bemühen die zwei Halbverse zwar eine ähnliche, aber eben doch nicht dieselbe Rede–––––––––––––– 106 kai« li÷qoiß kai« ei•pen Dauid oujci÷ aÓll∆ h· cei÷rw kuno/ß (= V. 43adLXX). 107 W ELLHAUSEN (ebd.) ereifert sich: „Wie man es wagen kann, die von LXX [...] eingeschobene Antwort Davids »Ja, noch viel schlimmer als ein Hund« in den Text aufzunehmen, ist mir unbegreiflich.“ Vgl. auch BUDDE: a. a. O. S. 129; KLOSTERMANN: a. a. O. S. 71, Anm. 43n. 108 So mit einem gewissen Recht STOEBE: KAT2 VIII,1. S. 332, Anm. 43 c). Man sollte allerdings auf dieser Ebene sehr vorsichtig argumentieren. So sieht GOODING (Approach. S. 68) etwa durch das kai« li÷qoiß geradezu die Pointe der Erzählung zerstört und votiert von hier aus gegen die Ursprünglichkeit des Versteils. Dieses Argument funktioniert indes nur, wenn man – wie er – davon überzeugt ist, Davids Taktik bestehe darin, „that Goliath should concentrate on the staff, and think David is going to use it, and so be utterly taken by surprise when David uses a sling“ (ebd.). Doch das wahrscheinlich zu machen, dürfte schwerfallen. 109 Ähnlich GOODING: a. a. O. S. 68f.; STOEBE: a. a. O. S. 332, Anm. 43 c).

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wendung. Der Philister tönt: h®dDÚcAh tAmThRbVl…w MˆyAmDÚvAh PwøoVl ÔK√rDcV;b_tRa hÎnV;tRa◊w yAlEa hDkVl. David dagegen erwidert (V. 46a): X®rDaDh tÅ¥yAjVl…w MˆyAmDÚvAh PwøoVl h‰ΩzAh Mwø¥yAh MyI;tVvIlVp h´nSjAm r‰gRÚp yI;tAtÎn◊w. Die Differenz ist der Sache nach gering (in beiden Fällen liegt die Aussageintention auf der Hand), in sprachlicher Hinsicht jedoch auffällig. Der Ausdruck h®dDÚcAh tAmThRb (V. 44) ist im gesamten AT singulär, am nächsten kommen ihm Joel 1,20 (twømShA;b h®dDc) und Ps 8,8 (y∂dDc twømShA;b), die aber beide in ganz anderen Kontexten stehen und dabei auch die ‚Vögel des Himmels‘ unerwähnt lassen. Die LXX übersetzt hier mit toi√ß kth/nesin thvß ghvß, was man aber besser nicht zum Ausgangspunkt für textkritische Operationen machen sollte, da diese Formulierung nicht häufiger belegt ist als jene.110 Im Hebräischen wäre eher X®rDaDh tAmThR;b111 oder das noch geläufigere h®dDÚcAh tÅ¥yAj112 zu erwarten. Selbst das von V. 46 verwendete X®rDaDh tÅ¥yAj begegnet des öfteren, und zwar vornehmlich in der Priesterschrift sowie bei Ezechiel.113 V. 44 wählt also nicht bloß einen etwas anderen Wortlaut als V. 46, er formuliert vielmehr auch derart unkonventionell, daß man wohl mit einer gewissen Berechtigung von einer Stilblüte sprechen kann.114 Die beiden Verse dürften kaum auf ein und denselben Verfasser zurückzuführen sein. Die Tendenz, die sich in 17,45 zeigt, entspricht der von V. 37a. Leitend ist hier wie dort die Überzeugung, daß Jhwh allein über Sieg und Niederlage entscheidet. In diese Richtung geht auch V. 47, der hervorhebt, „daß Jahwe nicht Schwert und Spieß braucht, um Rettung zu schaffen“115, daß seine Hilfe mithin nicht an äußere Bedingungen geknüpft ist.116 –––––––––––––– 110 Die Formulierung begegnet in der LXX nur hier. Geläufiger ist ta» qhri÷a thvß ghvß (so z. B. 1 Sam 17,46). – Indirekt stützt die LXX damit sogar den Wortlaut des MT an dieser Stelle. 111 Vgl. Dtn 28,26; Jer 7,33; 15,3; 16,4; 19,7; 34,20 – alle Belege im Zusammenspiel mit den Pwøo MˆyAmDÚvAh; ferner noch Jes 18,6, wo allerdings der Geier (MyîrDh fyEo) das gefiederte Gegenstück bildet. 112 Insgesamt 28mal belegt, davon siebenmal zusammen mit den ‚Vögeln des Himmels‘ (Gen 2,20; 2 Sam 21,10; Ez 31,6.13; 38,20; Hos 2,20; 4,3). 113 Wichtigste Parallele ist hier Ez 29,5, weil diese Gerichtsandrohung ankündigt, Pharao sowohl den X®rDaDh tÅ¥yAj als auch den MˆyAmDÚvAh Pwøo zum Fraß vorzuwerfen. Weitere Belege sind Ez 34,28 und Ijob 5,22 (beide Stellen nehmen die ‚Tiere‘ als Gefahrenquelle wahr) sowie Gen 1,25; 9,2.10 (alle drei gehören zu P; das Augenmerk liegt hier nicht mehr auf dem Aspekt der Gefahr, die potentiell von den ‚Tieren‘ ausgeht). 114 Man kann natürlich fragen, ob die ungeschickte Formulierung nicht vielleicht mit Absicht gewählt worden ist – etwa um den Philister, der hier das Wort führt, der Lächerlichkeit preiszugeben. Da sich eine solche Tendenz sonst nirgends (weder in V. 44 noch im übrigen Kapitel) erkennen läßt, ist dies aber ganz unwahrscheinlich. – DIETRICH weist übrigens darauf hin, daß der ungelenke Ausdruck schon bei den Rabbinen für Heiterkeit gesorgt hat; vgl. DIETRICH: Erzählungen. S. 66, Anm. 32. 115 STOEBE: a. a. O. S. 329. 116 Den Widerspruch, den DIETRICH (Erzählungen. S. 73: „Jhwh hilft nicht mehr gegen Waffen (so V. 45), sondern ohne sie“) und AURELIUS (a. a. O. S. 59) zwischen V. 45 und 47 wahrzunehmen meinen, vermag ich nicht zu erkennen, denn V. 45 besagt nichts darüber, wie sich Jhwhs Hilfe im einzelnen gestaltet.

Untersuchung

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In V. 45 findet sich die triadische Formel NwødyIkVb…w117 tyˆnSjAb…w b®rRjV;b, die nirgends sonst im AT belegt ist. Auch Sirach und die Kriegsregel, die beide die Vokabel NwødyI;k kennen und gebrauchen, bieten nichts dergleichen.118 Dagegen bedient sich V. 47 mit tyˆnSjAb…w b®rRjV;b einer recht geläufigen Dyas.119 Weil 17,45 und 47, wie bereits gezeigt, im übrigen einander recht nahe zu stehen scheinen, ist diese Differenz auffallend. Der Befund könnte darauf hindeuten, daß das NwødyIkVb…w in V. 45 nachträglich eingefügt wurde. Hinzu kommt, daß das Begriffspaar ‚Schwert und Speer‘ zumindest in V. 47 als pars pro toto zu verstehen sein dürfte, d. h. daß hier ist mitnichten eine exakte Auflistung aller Kriegswaffen Goliats intendiert ist, sondern lediglich der Verweis auf Waffen im allgemeinen. Dagegen klingt die Trias aus V. 45 aufgrund der Ungeläufigkeit der Formulierung so, als wolle sie tatsächlich die Angriffswaffen des Philisters herzählen. Doch auch diese Interpretation bereitet Probleme, denn von einer b®rRj verlautet bei der ausführlichen Beschreibung Goliats und seiner Rüstung in 17,4–7 nicht ein Wort. Denkbar wäre vor diesem Hintergrund, daß das NwødyIkVb…w eingefügt wurde, um den Ausdruck b®rRjV;b tyˆnSjAb…w mit Blick auf 17,4–7 zu erläutern. Das Verhältnis von 17,45 zu den V. 10.25f.36 wurde bereits bei der Untersuchung von 17,25f. dargestellt. V. 46 knüpft unmittelbar an seinen Vorvers an und setzt insbesondere dessen Redeeinleitung V. 45a voraus. Im übrigen hebt sich der Vers aber in mehrfacher Hinsicht von seiner Umgebung ab. Daß er eine Redewendung, die V. 44b gebraucht, aufgreift und sprachlich verbessert, wurde bereits erwähnt. Daneben ergeben sich noch zwei weitere Doppelungen, diesmal mit V. 47: Zunächst kündigt David seinem Gegner an, Jhwh werde ihn, den Philister, in seine Hand ausliefern (V. 46a). Diese Drohung wiederholt er kurz darauf (V. 47) noch einmal, richtet sie dort allerdings an das gesamte feindliche Heer. Des weiteren formuliert er in V. 46b eine Art theologisches Lernziel, das er mit seinem bevorstehenden Sieg über den Philister verfolgt: lEa∂rVcˆyVl120 MyIhølTa v´y yI;k X®rDaDh_lD;k …wo√d´y◊w. Gleich danach (V. 47a) benennt er dann noch ein zweites, das allerdings von h‰ΩzAh lDh∂;qAh_lD;k, also –––––––––––––– 117 Die Bedeutung des Begriffes NwødyI;k hat in der Forschungsgeschichte für einiges Kopfzerbrechen gesorgt und ist bis heute noch nicht mit letzter Sicherheit geklärt. Die meisten Ausleger schwanken zwischen den Übersetzungen ‚Speer‘ und ‚Sichel- / Krummschwert‘ (vgl. die Literaturangaben bei STOEBE: a. a. O. S. 317f., Anm. 6 b); ferner KBL3, Art. NwødyI;k, S. 450). Da das Problem für die Frage nach der Entstehung von 1 Sam 17 kaum etwas austrägt, kann es hier auf sich beruhen. Ich schließe mich im folgenden STOEBEs Urteil und Übersetzung an (d. i. ‚Krummschwert‘, vgl. STOEBE: a. a. O. S. 316 und 317f., Anm. 6 b)). 118 Vgl. Sir 46,2; 1QM V,6f.11f.14; VI,5. 119 Vgl. 1 Sam 13,19.22; Jes 2,4; Mi 4,3; Nah 3,3; ähnlich 1 Sam 21,9; Ps 57,5; Ijob 41,18. 120 Vielleicht ist mit der LXX, der Vulgata sowie einigen weiteren Zeugen stattdessen larcyb zu lesen (lectio difficilior); vgl. BUDDE: a. a. O. S. 129. Allerdings ist diese Frage für die hier zu leistende Untersuchung von untergeordneter Bedeutung.

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von den Israeliten erreicht werden soll: sie sollen erkennen, tyˆnSjAb…w b®rRjV;b aøl_yI;k hDmDjVlI;mAh hÎwhyAl yI;k hÎwh◊y AoyIvwøh◊y. Hier zeigt sich darüber hinaus, daß 17,46 im Vergleich zu V. 47 einen weiteren Horizont aufweist: nicht allein Israel (so V. 47), sondern X®rDaDh_lD;k soll aus seiner Tat eine Lehre ziehen.121 Außerdem ist auch das Anliegen von V. 46 insofern grundlegender als das von V. 47, als hier nicht wie dort verdeutlicht werden soll, wie Jhwh seine Hilfe ins Werk setzt – es steht vielmehr die Gewißheit auf dem Spiel, ob Jhwh Israel beisteht. Das Blickfeld ist auch noch in einer anderen Hinsicht geweitet. Indem V. 46 David ankündigen läßt, er werde den Philister erschlagen, (hi) hkn, und dann post mortem sein Haupt abtrennen, scheint er sowohl auf V. 50, (hi) hkn, als auch auf 51 (wøvaør_tRa ;hD;b_t∂rVkˆ¥yÅw) anzuspielen. Überdies schaut der Vers bereits recht detailliert auf die Konsequenzen des bevorstehenden Zweikampfes, d. h. auf den Ausgang des Feldzugs, wie er sich in den V. 52b.53 darstellt, wenn er David sagen läßt, er werde die Leichname des Philisterlagers122 den Vögeln usf. zum Fraß vorwerfen. All diese Beobachtungen lassen es eher unwahrscheinlich erscheinen, daß die V. 46 und 47 auf ein und denselben Verfasser zurückgehen. Zu V. 47 ist schon beinahe alles gesagt. Er könnte sowohl an V. 45 anschließen als auch an V. 46a, während die jetzige Anbindung an 17,46b durch das zweifache …wo√d´y◊w (V. 46b und 47a) zumindest auffällig erscheint. In seiner Tendenz gleicht er eher 17,45 (s. o.). Eigentümlich ist die Bezeichnung des israelitischen Heeres als lDh∂q, als ‚Versammlung‘ bzw. ‚Gemeinde‘, die vorwiegend in relativ jungen Textteilen begegnet.123 Hinzu kommt die ähnlich charakteristische Formulierung hDmDjVlI;mAh hÎwhyAl yI;k aus V. 47b, deren nächste Parallelen, wie ROFÉ gezeigt hat, in 1 Chr 5,22 und 2 Chr 20,15 zu finden sind.124 Diese zwei Textstücke gehö–––––––––––––– 121 Dabei ist es ganz gleich, wie man X®rDaDh_lD;k übersetzt. Denn ob sich V. 46b nun an ‚alle Welt‘ (so z. B. ALTER: David Story. S. 109; MCCARTER: 1 Samuel. S. 285; SMITH: a. a. O. S. 163; STOEBE: a. a. O. S. 329 u. v. a.) oder bloß an ‚das ganze Land‘ (so DIETRICH: Erzählungen. S. 73, Anm. 62) wendet, ändert nichts an der Tatsache, daß in 17,47 allein Israel angesprochen ist. 122 Die Lesung des MT (MyI;tVvIlVp h´nSjAm r‰gRÚp) wird von vielen nach der der LXX (ta» kw◊la¿ sou kai« ta» kw◊la parembolhvß aÓllofu/lwn) geändert; vgl. etwa BUDDE: a. a. O. S. 129; WELLHAUSEN: a. a. O. S. 108. Demgegenüber hat jedoch BARTHÉLEMY (Critique. S. 191) mit guten Gründen den MT als „presque surement primitive“ herausgestellt. 123 In der erzählenden Literatur begegnet das Nomen v. a. in zwei relativ jungen Bereichen: a) 1/2 Chr, Esra und Neh – 43 Belege und b) Priesterschrift – 21 Belege. Die elf Belegstellen im Deuteronomistischen Geschichtswerk (Jos 8,35; Ri 20,2; 21,5.8; [1 Sam 17,47]; 1 Kön 8,14[bis].22.55. 65; 12,3) liegen allesamt auf jüngeren Wachstumsstufen, vgl. z. B. KRATZ: Komposition. S. 167–169.203.208f. Ähnliches kann von den elf Belegen im Dtn gelten (Dtn 5,22; 9,10; 10,4; 18,16; 23,2.3[bis].4[bis].9; 31,30; vgl. KRATZ: a. a. O. S. 138). Auch FABRY (Art. lDh∂q. Sp. 1208) konstatiert, daß das Nomen nur äußerst selten in alten Stücken des AT auftaucht. 124 Vgl. ROFÉ: Battle. S. 138f. Weitere, allerdings entferntere Parallelen bei AURELIUS: a. a. O. S. 59, Anm. 67. – Die Parallelität zu 2 Chr 20 wird noch deutlicher, führt man sich vor Augen, daß dort auch das Substantiv lDh∂q (V. 5.14) begegnet.

Untersuchung

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ren wahrscheinlich nicht der Grundschrift der Chronik an,125 ihre Entstehung dürfte folglich in die spätpersische oder gar die frühhellenistische Zeit fallen. Daß V. 48 eine Dublette zu V. 40b.41a bildet und nach dem Wortgefecht zwischen David und Goliat zum eigentlichen Zweikampf überleitet, wurde bereits erwähnt. Die zweite Hälfte des Verses wird von der LXX nicht bezeugt. Weil die griechische Fassung zudem auch V. 41 nicht liest, stellt sich der Hergang der Szene in der LXX deutlich anders dar als im MT. David nähert sich ihr zufolge zuerst dem Philister (V. 40b), dann erfolgt der Wortwechsel, und erst, als David seine Drohrede beendet hat, macht sich auch Goliat auf (V. 48a). David wirkt in dieser Version der Geschichte noch ein wenig beherzter, offensiver als in der hebräischen, weil sich dort die beiden Kontrahenten zeitgleich auf den Weg machen, während es hier allein David ist, der die Initiative ergreift und auf seinen Gegner zumarschiert. Das Fehlen der V. 41.48b führt darüber hinaus dazu, daß der Geschehensverlauf (durch den Fortfall der Doppelung) bei der Lektüre einen erheblich stringenteren Eindruck hinterläßt. Andererseits vermißt man in der LXX auch ein Pendant zu dem Prädikat bårVqˆ¥yÅw (V. 48a), die masoretische Lesart steht als lectio longior in Verdacht, das Ergebnis einer Ergänzung zu sein. Doch läßt sich m. E. kein einleuchtendes Motiv für eine solche Glossierung angeben. Außerdem bietet die LXX am Versanfang ebenfalls eine kürzere Lesart (kai« aÓne÷sth für M∂q_yI;k hÎyDh◊w), die sich am einfachsten als Textglättung bzw. als ‚freie‘ Übersetzung erklärt. Bezieht man dies in die Überlegungen mit ein, fällt es um einiges schwerer, das bårVqˆ¥yÅw als Einschub zu werten.126 V. 49 enthält die ganze Kampfhandlung: David greift einen Stein aus seiner Tasche, schleudert ihn und trifft den Philister an der Stirn, der daraufhin sofort zu Boden geht. Wie auch alles noch Folgende in Kapitel 17 setzt der Vers den vorangegangenen verbalen Schlagabtausch mit keinem Wort voraus. Er könnte dementsprechend auch direkt auf V. 40a folgen, ein Anschluß an V. 40a, b, 41a oder b wäre ebenso denkbar.127 Für das Grundgerüst der Handlung ist 17,49 schlichtweg unverzichtbar, weil sich hier Davids entscheidende Siegestat ereignet und die Geschichte damit ihre Akme erreicht. –––––––––––––– 125 Vgl. KRATZ: Komposition. S. 51f. 126 Die Frage braucht hier nicht endgültig entschieden zu werden, da sie für alles weitere wenig austrägt. Ich neige aber aufgrund des Versanfanges und seiner Bezeugung dazu, in V. 48a entgegen der textkritischen Faustregel der längeren Fassung den Vorzug zu geben. – Die Lesarten der Versionen zu V. 48b sind m. E. ebenfalls als Übersetzungen zu verstehen, die sich primär am Sinn und nicht am Einzelwort orientieren, vor hDk∂rSoA;mAh muß deswegen keineswegs eine Präposition gestanden haben; vgl. hierzu GK § 118d und f. 127 Stilistisch würden sich m. E. am besten V. 41a oder b hierfür eignen, da in diesen zwei Halbversen nicht David das grammatikalische Subjekt ist, was erklären könnte, weshalb V. 49 ausdrücklich David als Handlungsträger ausweist und nicht etwa mit einem impliziten Subjekt operiert. Eine solche Argumentation ist allerdings nicht zwingend.

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Davids Sieg wird in den folgenden zwei Versen erzählerisch noch ein wenig ausgekostet, die Leserschaft soll auch die genauen Umstände der Heldentat erfahren. Dabei geraten 17,50 und 51 jedoch in einen unleugbaren Widerspruch zueinander, weil zuerst betont wird, David habe seinem Gegner nicht mit Hilfe eines Schwerts den Garaus gemacht (V. 50), dann aber das glatte Gegenteil behauptet wird (V. 51). Die beiden Verse dürften also vermutlich zwei verschiedene Textwachstumsstufen repräsentieren.128 Allerdings ergibt sich dieses Problem nur im MT, denn in der Fassung der LXX ist V. 50 nicht enthalten. In 17,50 wird nicht restlos klar, ob bereits Davids Treffer mit der Steinschleuder als finaler Todesstoß zu verstehen ist oder ob eher daran gedacht ist, daß David seinen Gegner erst in einem zweiten Schritt (etwa mit seinem Stecken aus V. 40a) erschlägt.129 Die Frage besteht, anders ausgedrückt, darin, ob V. 50aa und ab zwei verschiedene Handlungen oder aber ein und denselben Akt meinen, und resultiert letztlich aus der Bedeutungsvielfalt des Verbums (hi) hkn.130 Interessanterweise hat V. 50ab (…whEtyIm◊yÅw yI;tVvIlVÚpAh_tRa JKÅ¥yÅw) eine wortwörtliche Entsprechung in 2 Sam 21,17ab,131 dort aber steht (hi) hkn einfach für ‚(er)schlagen‘. Da dies ohne–––––––––––––– 128 KUNZ (Sinuhe. S. 96f.; ebenso in ders.: Frauen. S. 113f.) versucht, die zweifache Notiz über die Tötung des Goliat als integralen Bestandteil der Erzählung zu erweisen, indem er a) auf eine vergleichbare Doppelnotiz im Sinuhe-Roman hinweist (vgl. TUAT, Bd. 3, S. 897f. [§ 21, Zeilen 6–10]) und b) zu bedenken gibt, daß die V. 50 und 51 aus jeweils verschiedenen Perspektiven erzählt sein könnten (17,50: Außenansicht; 17,51: Blickwinkel Davids). Allerdings bleibt an der betreffenden Stelle (§ 21, Zeilen 6–8) offen, ob ‚der Starke von Retjenu‘ bereits tödlich getroffen oder nur kampfunfähig gemacht ist, so daß hier mitnichten eine doppelte Tötungsnotiz wie in 1 Sam 17,50f. vorliegt. Weiterhin sagt die Möglichkeit, daß ein erzählerischer Perspektivwechsel zwischen den beiden Versen vorliegen könnte, noch nichts darüber aus, ob ein solcher auch tatsächlich intendiert und für den genannten Widerspruch verantwortlich ist. Der Text selbst enthält indes, soweit ich sehe, keinerlei Anzeichen, die eine derartige Darstellungstechnik wahrscheinlich machen könnten. Die übrigen Parallelen zwischen der Sinuhe-Erzählung und 1 Sam 17, auf die KUNZ (Frauen. S. 105) aufmerksam macht (namentlich der Umstand, daß der Sieg sowohl dem Helden als auch der Gottheit zugeschrieben wird, sowie die Begegnung des Helden mit seinem Dienstherrn nach Überwindung des Gegners) sind für meine Begriffe nicht allzu auffällig. Vor allem aber lassen sich diese motivischen Berührungen zwar vielleicht noch gegen allzu einfach konstruierte textgenetische Modelle ins Feld führen (vgl. dazu a. a. O. S. 116), ein stichhaltiges Argument für die Einheitlichkeit der Erzählung 1 Sam 17 kann sich aus ihnen jedoch nicht ergeben, da die entscheidenden Textirritationen an anderen Stellen der Erzählung liegen (dazu s. 5.3.2). 129 Für die erste Möglichkeit votieren AURELIUS : a. a. O. S. 60; G REßMANN : a. a. O. S. 70; HERTZBERG: a. a. O. S. 112; KLOSTERMANN: a. a. O. S. 73; MCKENZIE: a. a. O. S. 86; STOEBE: a. a. O. S. 330. Die zweite Möglichkeit bevorzugt STOLZ: a. a. O. S. 113.121, vgl. aber auch a. a. O. S. 120 (zu V. 48f.), wo er merkwürdigerweise davon spricht, daß der Philister durch den Schleuderstein „tödlich getroffen“ worden sei. 130 Vgl. KBL3, Art. hkn, S. 658f.; dort z. B. die Bedeutungen ‚erschlagen‘ und ‚treffen, verwunden‘. 131 Entferntere Parallelen, die aber ebenfalls die Wurzeln twm und hkn (jeweils Hiph‘il und im Imperfectum consecutivum, 3. Sg./Pl.) verwenden, finden sich in Jos 10,26; 11,17; 2 Sam 4,7; 14,6; 18,15; 1 Kön 16,10; 2 Kön 15,10.14.30; 25,21; Jer 41,2; 52,27; vgl. AURELIUS : a. a. O. S. 60,

Untersuchung

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hin die näherliegende Übersetzung ist, tendiere ich dazu, V. 50aa und ab als eine zeitliche Abfolge zu werten.132 Sollte dies zutreffen, dann hätte der Verfasser des Verses weder an ein Schwert noch an die Schleuder als ‚Tatwaffe‘ gedacht, sondern – denn etwas anderes bietet sich nicht – vermutlich an den aus V. 40 und 43 bekannten Stecken. Das aber heißt, daß David hier wohl als Hirte gesehen wird und damit wahrscheinlich die V. *15–31 vorausgesetzt sind. Daß V. 50 eine Parallele in der Heldenliste 2 Sam 21,15ff. hat, rückt ihn darüber hinaus in die Nähe der Verse 4, 7 und 23. Zudem läßt der Vers eine gewisse Affinität zu V. 45 und vor allem V. 47 erkennen, weil er offensichtlich das Ziel verfolgt, Davids Großtat vom Verdacht freizuhalten, sie sei mit Hilfe eines Schwerts vollbracht worden. Dabei klingt er wie eine allzu wörtliche Interpretation von 17,47. Denn wenn dort gesagt wird, Jhwh helfe nicht durch ‚Schwert und Speer‘, so bezieht sich das keineswegs nur auf diese zwei speziellen Waffen, sondern auf Kriegsgerät im allgemeinen. Und ebensowenig meint V. 47a, daß Jhwh nur da seinen Beistand gewähre, wo keinerlei Gebrauch von Waffen gemacht wird, der Satz dürfte vielmehr besagen, daß Jhwh vollkommen unabhängig von sämtlichen äußeren Gegebenheiten als Helfer einzugreifen vermag. Der Verfasser von V. 50 aber scheint 17,47 in beiden Punkten anders verstanden zu haben, anders läßt sich m. E. zumindest kaum erklären, warum er in V. 50b mit Nachdruck feststellt: dˆw∂;d_dÅyV;b NyEa b®rRj◊w.133 Diese Art zu denken erinnert ein wenig an die Trias aus V. 45, die durch ihr drittes Glied (NwødyIkVb…w) den Anstrich einer Aufzählung bekommt, obwohl die ersten beiden Elemente für sich genommen (tyˆnSjAb…w b®rRjV;b) gut und gern auch als pars pro toto für Waffen im allgemeinen dienen könnten. V. 51 zerfällt in zwei Teile: Die erste Vershälfte setzt den Bericht darüber fort, was mit dem Philister geschah, nachdem er durch Davids Schleuderstein gefällt worden war. Die zweite Hälfte leitet einen kurzen Abschnitt ein, der die Folgen des Zweikampfs schildert (V. 51b–53.54). Neben dem genannten Widerspruch zu V. 50 ist das wichtigste Problem dieses Verses die Frage, wessen Schwert David in 17,51a benutzt: das seines Widersachers oder sein eigenes? Der Syntax nach zu urteilen, handelt es sich um Davids Schwert, denn in der gesamten ersten Vershälfte bildet David das grammatikali–––––––––––––– Anm. 70. An keiner der genannten Stellen ist von der Einwirkung eines Geschosses o. ä. die Rede. 132 Für diese Interpretation spricht nicht zuletzt auch die Existenz von V. 50b. Denn wenn ohne weiteres klar wäre, daß 17,50a allein den Schleuderschuß und seine Auswirkung schildert, dann hätte es wohl kaum des Hinweises bedurft, David habe bei all dem kein Schwert zur Hand gehabt. 133 Ähnlich auch AURELIUS: a. a. O. S. 60. Er zieht überdies die Möglichkeit in Erwägung, daß die Notiz darauf zielen könnte, David als waffenungeübten Knaben zu erweisen. Das könnte in der Tat ein Nebengedanke gewesen sein, doch sicher nicht der entscheidende Beweggrund, denn die Jugend und Unerfahrenheit Davids hätte man deutlicher als mit dem Hinweis auf seine Waffe zum Ausdruck bringen können.

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sche Subjekt, auf das man das Possessivsuffix beim Lesen intuitiv zuallererst bezieht. Zwingend ist diese Folgerung indes nicht, das Suffix könnte auch auf den Philister blicken. Für diese Möglichkeit könnte auch die auffällige Breite sprechen, in der erzählt wird, wie sich David des Schwertes bedient; der Vers verwendet hierauf sage und schreibe vier Verben: (q) jql, (q) Plv, (polel) twm, (q) trk.134 Besonders der Umstand, daß David das Schwert aus seiner Scheide gezogen habe, ist an sich keiner gesonderten Erwähnung wert – es sei denn, es handelte sich hier um die Waffe seines Gegners. Doch ausgerechnet dieses Element (;h∂rVoA;tIm ;hDpVlVvˆ¥yÅw) ist in der LXX nicht bezeugt. Der MT stellt hier also die längere Lesart dar und kann schon insofern weniger Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen. Zudem läßt sich ein handfestes Motiv ausmachen, das hinter einer Ergänzung der zwei Wörter gestanden haben könnte: der Wunsch, das besagte Schwert als Waffe des Philisters auszuweisen.135 Zwar ist auch der umgekehrte Fall (mit dem entsprechenden Zweck, David als Krieger kenntlich zu machen,) nicht völlig auszuschließen, doch ist er m. E. aufgrund des unauffälligen Charakters des Erzählelements, dessen Aussagekraft sich mithin nicht auf Anhieb erschließt, um einiges weniger wahrscheinlich.136 Daraus folgt, daß in 17,51a mit dem Wort wø;b√rAj ursprünglich nur eine Waffe Davids gemeint sein kann und mithin David hier als Waffenträger gedacht ist.137 Auch darin offenbart sich also ein Widerspruch zu V. 50, denn dort wird der jugendliche Held allem Anschein nach in erster Linie als Hirte betrachtet. Ein weiterer Unterschied zu V. 50 besteht darin, daß 17,51 kaum Querbeziehungen innerhalb des Kapitels und darüber hinaus erkennen läßt. Lediglich die V. 54.57 greifen auf das Motiv der Enthauptung des Philisters zurück. In V. 51b nun reagieren die Philister auf den Tod ihres Vorkämpfers und ergreifen die Flucht. Das Heer Israels nimmt daraufhin die Verfolgung des Feindes bis in das Gebiet der Philisterstädte Gat und Ekron auf (V. 52), um anschließend umzukehren und das verwaiste Lager der Besiegten zu plündern (V. 53). –––––––––––––– 134 Zum Vergleich kann man beispielsweise Ri 3,21; 9,54 oder 1 Sam 31,4 heranziehen, die allesamt mit weniger Verben auskommen. 135 STOEBE (a. a. O. S. 333, Anm. 51 c)) bringt es auf den Punkt: „Fehlt [scil. der Satz ;h∂rVoA;tIm ;hDpVlVvˆ¥yÅw] bezeichnenderweise in ©, denn diese Angabe unterstreicht, daß es sich um Goliaths Schwert handeln muß.“ – Genausogut kann man sich vorstellen, daß hier ein Ergänzer lediglich die Erzählung ausschmücken und die Spannung so ein wenig steigern wollte. Der hier vertretenen Argumentation tut das jedoch keinen Abbruch. 136 Merkwürdigerweise spricht WELLHAUSEN (a. a. O. S. 109) sich hier für den MT aus: „[...] es war eine Arbeit, das Riesenschwert aus der Scheide zu ziehen“. In der Tat soll wohl genau das ausgedrückt werden, was aber gerade gegen die Ursprünglichkeit der Worte spricht, weil dadurch ja Davids bzw. Jhwhs Verdienst noch größer ausfallen muß. Vor allem aber paßt dieses Votum WELLHAUSENs nicht gut dazu, daß er sonst im großen und ganzen der LXX-Fassung den Vorzug gibt; vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 104f. 137 Ähnlich SMITH: a. a. O. S. 163; STOEBE: a. a. O. S. 333, Anm. 51 b). Anders u. a. AURELIUS: a. a. O. S. 60; BERGES : a. a. O. S. 244; BUDDE: a. a. O. S. 130. DIETRICH : Erzählungen. S. 66f. GREßMANN: a. a. O. S. 69–71.

Untersuchung

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Dieser kleine Abschnitt, der auf der Notiz über den Sieg Davids und den Tod des Philisters aufbaut, weist in sich einige Spannungen auf. Erstens werden die Philister in V. 51b und 52a als MyI;tVvIlVÚpAh bezeichnet, in V. 52b und 53 dagegen als MyI;tVvIlVÚp. Diese unscheinbare Differenz ist deshalb bemerkenswert, weil innerhalb von 1 Sam 17 nirgends sonst die Gruppenbezeichnung MyI;tVvIlVÚp mit dem Artikel kombiniert wird,138 auch dann nicht, wenn es das (deutsche) Sprachempfinden eigentlich forderte.139 Zweitens spricht V. 52a von den h∂d…whyˆw lEa∂rVcˆy yEv◊nAa, 17,53 hingegen wählt stattdessen den Begriff lEa∂rVcˆy y´nV;b140. Beide Ausdrucksweisen sind innerhalb der Erzählung singulär, die erste sogar im gesamten AT. Der Terminus lEa∂rVcˆy y´nV;b wird darüber hinaus ausschließlich in späten oder zumindest sekundären Stücken des 1. Samuelbuchs gebraucht,141 innerhalb des Pentateuchs gilt er bekanntlich als eines der sprachlichen Charakteristika der Priesterschrift.142 Das Begriffspaar h∂d…whyˆw lEa∂rVcˆy begegnet ebenfalls häufig in jüngeren Passagen,143 von lEa∂rVcˆy yEv◊nAa sprechen hingegen auch Stücke, die als vergleichsweise alte Bestandteile der Samuelbücher gelten können.144 Drittens zeigt ein Blick auf 17,52, daß V. 52a bg (NwørVqRo145 yérSoAv dAo◊w a◊yÅg146 ÔKSawø;b_dAo) und die zweite Hälfte von V. 52b (JK®r®dV;b NwørVqRo_dAo◊w tÅ…g_dAo◊w MˆyårSoAv) einander stark ähneln. Dies ist um so auffälliger, als im übrigen V. 52b gegenüber der ihm vorausliegenden Vershälfte eher das bereits –––––––––––––– 138 Um auf bestimmte einzelne Personen zu verweisen, wird der Artikel dagegen durchaus verwendet, vgl. etwa 1 Sam 17,8.10f. et passim. 139 Als Beispiele vgl. V. 1–4. Zum Grundsätzlichen vgl. GK § 125d. Abweichungen von dieser sprachlichen Konvention finden sich nur selten: Jos 13,2; 1 Sam 4,7; 7,13; 13,20; (17,51b.52a); 2 Sam 5,19; 21,12; 1 Chr 11,13; 2 Chr 21,16. 140 Die LXX liest hier a‡ndreß Israhl, was aber eine Angleichung an V. 52 sein dürfte. Die Abänderung eines etwaigen ursprünglichen lEa∂rVcˆy yEv◊nAa in lEa∂rVcˆy y´nV;b ist unwahrscheinlich, weil der fragliche Begriff in 17,52 dann auch hätte modifiziert werden müssen. 141 Daß 1 Sam 15,6aa2bg einen ausgesprochen späten Zusatz darstellt, wurde oben angedeutet (vgl. in Kap. 2 Anm. 117). Fünfmal taucht die Bezeichnung in 1 Sam 7 auf (V. 4.6.7[bis].8), also in einem Kapitel, dessen relative textgenetische Jugend selbst von einem zurückhaltenden Exegeten wie STOEBE (a. a. O. S. 171) zugestanden wird; vgl. statt vieler auch KRATZ: Komposition. S. 178. Weitere Belege in 1 Sam sind 2,28; 9,2; 10,18; 11,8; 14,18; dazu vgl. KRATZ: a. a. O. S. 176–179. In 2 Sam vgl. 7,6f.; 21,2. 142 Vgl. SMEND: Entstehung. S. 49. 143 Von insgesamt siebzehn Belegen finden sich sieben in 1/2 Chr. Vergleichsweise alt (‚DtrG‘) dürfte 2 Sam 5,5 sein, vgl. KRATZ: a. a. O. S. 186. 144 1 Sam 31,1.7; 2 Sam 2,17; 15,6 – vgl. hierzu KRATZ: a. a. O. S. 181.186. Vgl. auch FISCHER : Hebron. S. 21f.94f. und (zusammenfassend) 333. 145 Die griechischen Handschriften lesen stattdessen einhellig eºwß thvß pu/lhß ∆Askalw◊noß. Allerdings scheint die LXX im Bereich der Samuelbücher Ekron mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu Aschkelon abgewandelt zu haben, vgl. 1 Sam 5,10; 6,16 und 7,14 sowie WELLHAUSEN: a. a. O. S. 61.68.109. Nur wo beide Ortslagen gemeinsam genannt werden, bleibt Ekron unverändert (vgl. 1 Sam 6,17), deswegen vielleicht auch in 17,52b. 146 Mit der LXX ist hier Geq bzw. tÅ…g zu lesen. Zur Begründung vgl. STOEBE: a. a. O. S. 333f., Anm. 52 b); WELLHAUSEN: a. a. O. S. 109.

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Gesagte expliziert als neue Informationen zu liefern. Denn daß ein Teil der Philister-Armee zwischen Schaarajim und Ekron gefallen sein muß, ergibt sich von selbst aus der Notiz 17,52a, nach der die Israeliten ihren Feind bis nach Ekron verfolgten. Alles in allem zeichnet sich damit ab, daß die V. 52b.53 wahrscheinlich nicht auf derselben textgenetischen Ebene liegen wie die V. 51b.52a. V. 52b schließt an V. 51b.52a an und ist, wie auch V. 53, von ihnen logisch abhängig. Dadurch, daß V. 53 das Schicksal des philistäischen Heer(lager)s (h‰nSjAm) thematisiert, steht er überdies in einer gewissen Verbindung zu V. 46. V. 54 setzt den – allerdings nur vorläufigen – Schlußpunkt der Geschichte, indem er noch einmal auf Davids glückliches Geschick blickt und kurz die Trophäen präsentiert, die der junge Held sich erworben hat: den Kopf und die Waffen des Philisters. Mit der Erwähnung jenes Kopfes ist deutlich V. 51 vorausgesetzt. Zugleich steht der Vers durch die Nennung des Ortes, an den David das Haupt des Philisters bringt, in krassem Widerspruch zu der Episode 2 Sam 5,6–9, derzufolge Jerusalem erst zu einem viel späteren Zeitpunkt von David erobert und somit ihm zugänglich wurde.147 Auch zu 1 Sam 21,9f.; 22,10.13 fügt sich 17,54 nur mit Mühe:148 Während David nach V. 54b die Ausrüstung des überwundenen Gegners wølFhDaV;b149 aufbewahrt, geht 21,9f. (zusammen mit 22,10.13) davon aus, sie sei in das Heiligtum von Nob verbracht worden. Darüber hinaus zeigt der Umstand, daß David ein eigener lRhOa zugeschrieben wird, welche Vorstellung der Vers von dem Philisterbezwinger hat: er denkt nicht an einen Hütejungen, sondern an einen Mann mit eigenem Besitz.150 Obwohl die Erzählung mit V. 54 bereits zu einem Ende gekommen ist, schließt sich mit den V. 55–58 noch eine Szene an, die in zwei kurze, aufeinander bezogene, aber zeitversetzt gedachte Teilszenen zerfällt: 17,55f. berichtet, wie sich König Saul bei seinem General Abner nach der Herkunft Davids erkundigt, während David dem Philister entgegentritt – die beiden Verse knüpfen also an die in –––––––––––––– 147 Der Vers wird daher von den meisten als sekundär eingestuft, vgl. statt vieler die gute Übersicht bei FLOß: David. S. 54f. 148 Im weiteren Verlauf der Untersuchung wird sich noch zeigen, daß hinter 1 Sam 21,9f. und 22,10.13 eine feinsinnige Auslegung von 17,54 steht, die es ermöglicht, die zwischen 1 Sam 17,54 und 2 Sam 5,6–9 bestehende Spannung aufzulösen, vgl. dazu 9.3. 149 Die Annahme, hiermit sei das Zelt Jhwhs gemeint (so u. a. KLOSTERMANN: a. a. O. S. 95, Anm. 10i; HERTZBERG: a. a. O. S. 119) hat keinerlei Anhalt im Text und entspringt harmonisierender Zusammenschau mit Kap. 21f. 150 Dabei kann man mit Recht fragen, was genau mit dem Terminus ‚Zelt‘ gemeint sei. M. E. wird der Begriff hier in übertragenem Sinne gebraucht und meint die Wohnstätte Davids; vgl. den synonymen Parallelismus in Ri 20,8, vgl. ferner Ges.18, Art. lRhOa, S. 20; ALT: Zelte. S. 240. Evtl. könnte man auch an ein Zelt im Heerlager denken, doch wie auch immer man die Sache wendet: David besitzt offensichtlich eine eigene Behausung oder gar ein eigenes Heim, was doch auf eine ganz andere soziale Stellung verweist als z. B. 1 Sam 18,2b. Entsprechend schließt auch STOEBE (a. a. O. S. 334, Anm. 54 b) mit dem Fazit: „Jedenfalls ist die Vorstellung vom Hirtenknaben hier durchbrochen.“

Untersuchung

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V. 40b.41a bzw. 48 geschilderte Situation an und können dementsprechend als Analepse bezeichnet werden. In 17,57f. kehrt David dann just aus dem Zweikampf zurück, als er schon vor den König geführt und nach dem Namen seines Vaters gefragt wird – den erzählerischen Einsatzpunkt dieser zweiten Rückwendung bildet also das in V. 51 Geschilderte. Daß die Figur des Abner als bekannt vorausgesetzt werden kann,151 ist nur aufgrund der Kenntnis von 1 Sam 14,50f. möglich.152 Daß die Passage mit 1 Sam 16,14–23 kollidiert, leidet keinen Zweifel, denn noch bevor David endgültig engagiert wird, ist Saul ja bereits über den Namen und das Elternhaus seines Harfenspielers im Bilde.153 Dieses Problem ergibt sich allerdings allein im hebräischen Text, die LXX bezeugt die V. 55–58 nicht. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, wie sich die vier Verse zu 16,21* und 17,15 verhalten. Viel hängt davon ab, welches Interesse hinter Sauls Frage aus 17,55a steht: Will er wirklich nur den Namen von Davids Vater wissen? Oder geht es ihm eher darum zu erfahren, wer David ist? Diese zweite Möglichkeit würde bedeuten, daß nach Ansicht des Verfassers David dem König noch unbekannt ist. Die erste hingegen würde eine gewisse, wenn auch nur recht oberflächliche, Vertrautheit der beiden zulassen. Sie scheint mir die wahrscheinlichere zu sein, da das AT durchaus die gezielte Frage nach dem Namen einer Person kennt.154 Die Fälle, in denen hierauf mit allgemeineren Angaben zur Herkunft geantwortet wird,155 erklären sich ebenso aus dem Kontext wie jene, in denen die Frage allein auf den Vaternamen zielt. Der König kennt also allem Anschein nach David bereits (wenn auch nicht namentlich)156, interessiert sich nun aber, da dieser solchen Mut bewiesen hat (V. 32–40), endlich auch dafür, woher er stammt.157 –––––––––––––– 151 Am Ende von 17,55a dürfte der Name allerdings nachgetragen sein, wie zumindest Alexandrinus, Peschitta und einige andere Zeugen nahelegen. 152 Dabei orientiert sich der Verfasser an der üblichen Schreibung des Namens, wie sie sich erstmalig in 14,51 findet, die Form r´nyIbSa ist einzig in 14,50 belegt. 153 Vgl. 1 Sam 16,18f.22. 154 Vgl. Gen 27,18.32; 32,28; Ex 3,13; Spr 30,4; Rut 3,9. Vgl. auch KUNZ: Frauen. S. 104f. 155 In Gen 24,23 fragt der Knecht Isaaks zwar allein nach dem Vaternamen Rebekkas, doch liegt dies unverkennbar an dem Grundproblem der Erzählung (vgl. 24,4). Ähnlich liegen die Dinge in 1 Sam 30,13, wo ein ausgezehrter junger Mann seine Herkunft nennen soll. Sie ist aber nur insofern von Interesse, als sie es dem Erzähler erlaubt, mittels jener Figur David und seine Leute auf die Spur der Amalekiter zu führen, also die Handlung weiter voranzutreiben. Daß umgekehrt in 2 Sam 1,8 ein junger Mann auf die Frage hD;tDa_yIm mit dem Hinweis antwortet, er sei Amalekiter, ist wiederum der Intention des Verfassers geschuldet: Er will auf schnellstem Wege die Figur in ein ungünstiges Licht rücken. Weshalb schließlich die zweiundvierzig Prinzen in 2 Kön 10,13 nicht alle einzeln ihren jeweiligen Namen nennen, sondern stattdessen auf ihren königlichen Bruder verweisen, bedarf keiner Erläuterung. 156 Vgl. 17,55f.58, wo Saul offensichtlich den David nur als rAoÅ…nAh bzw. als MRlDoDh zu bezeichnen und anzusprechen weiß. 157 Gegen STOEBE: a. a. O. S. 340; STOLZ: a. a. O. S. 121.

166

1 Samuel 17,1–18,4

Damit wird es zugestandenermaßen eher schwieriger als leichter, die Funktion dieses Abschnitts zu erklären. GOODING hat den beachtenswerten Vorschlag gemacht, Sauls Frage müsse in Zusammenhang mit der von ihm ausgelobten Siegesprämie (V. 25b) gesehen werden.158 Demzufolge bestände Sauls Anliegen in V. 55 darin, in Erfahrung zu bringen, wem er (im Falle eines Sieges) das Privileg der Abgabenfreiheit zu verleihen habe. Die Idee ist bestechend, hat allerdings den Nachteil, daß die V. 55–58 nicht mit einem Wort jene vom König ausgesetzte Belohnung erwähnen. Man wird m. E. aber immerhin soviel sagen dürfen, daß die Szene sehr schön das Ergebnis veranschaulicht, das der Sieg über den Philister zeitigt: David rückt endgültig in den Gesichtskreis des Königs. Zugleich wird der Leserschaft an exponierter Stelle, nämlich am (vorläufigen) Schluß der Erzählung, ein zweites Mal (nach V. 12) der volle Name Davids präsentiert. Das könnte ebenfalls in der Absicht des Verfassers gelegen haben, wird doch auf diese Weise das Augenmerk für alles Folgende noch einmal deutlich auf David gerichtet. Vor allem aber ergibt sich durch die vier Verse eine Möglichkeit, den merkwürdigen Umstand zu verstehen, daß David einerseits bereits Saul gedient hat (17,15) und dementsprechend den König direkt und ohne Selbstvorstellung anzusprechen wagt (17,32), andererseits aber nicht von sich aus vor ihn tritt, sondern wie ein Fremder herbeigeholt werden muß (17,31). Diese logische Spannung löst sich in der analeptisch erzählenden Vorstellungsszene, die ausgesprochen raffiniert den König nach dem Namen des Vaters des jungen Helden forschen läßt (17,55f.58) und somit andeutet, daß Saul und David einander allenfalls oberflächlich kennen können, zugleich aber mit keinem Wort – wie dies etwa mit der Frage nach dem Namen Davids geschehen wäre – behauptet, die beiden begegneten einander hier zum ersten Mal. Die Art, in der die vier Verse ihren Helden präsentieren, liegt damit also ungefähr auf der Linie der V. 25–31. Auch dort wird David ja ein ganzes Stück vom König abgerückt: Er ist wohl nach wie vor als Waffenträger Sauls gedacht (16,21*), im Vordergrund steht jedoch seine Beschäftigung als Hütejunge (V. 28). Daher bedarf es auch der Initiative Dritter, um ihn vor den König gelangen zu lassen (V. 31). Für sich genommen wirkt der Abschnitt 17,55–58 einheitlich, Spannungen o. dgl. finden sich nicht. Die Verse 1 Sam 18,1–4 bilden den letzten Teil der Erzählung. Sie berichten, wie David infolge seines Triumphes über den Philister am Königshof verbleibt und mit Jonatan, dem Sohn Sauls, Freundschaft schließt. In der LXX sind die vier Verse nicht bezeugt.159 18,1aa knüpft unmittelbar an den ihm vorausgehenden Vers an (wøtø;lAkV;k yIh◊yÅw l…waDv_lRa rE;bådVl). Weil V. 1 überdies einheitlich zu sein scheint, ist er als ganzes von –––––––––––––– 158 Vgl. GOODING : Approach. S. 60. Zustimmend DIETRICH : Erzählungen. S. 67, Anm. 37; EDELMAN: King. S. 134. 159 4QSama bezeugt zumindest die Verse 18,4f., vgl. DJD XVII, S. 80.

Untersuchung

167

17,58 abhängig. Die Formulierung dˆw∂;d vRp‰nV;b h∂rVvVqˆn NDtÎnwøh◊y vRp‰n◊w aus V. 1abg hat in den Schriften des AT nur eine Entsprechung. Diese findet sich in Gen 44,30b (wøvVpÅn◊w wøvVpÅnVb h∂r…wvVq) und entstammt somit, wenn man der Analyse LEVINs folgt, einer der letzten Bearbeitungen der Josephsgeschichte.160 Die in V. 1b gebrauchte Wendung wøvVpÅnV;k NN (q) bha hingegen ist allein in V. 3b noch einmal in ähnlicher Form belegt (wøvVpÅnV;k wøtOa wøtDbShAaV;b).161 Man kann daher diese beiden Halbverse mit Recht als Dublette ansprechen. Doch auch 18,1a und 3a unterscheiden sich ihrem Inhalt nach nur geringfügig voneinander. Beide wollen das innige Verhältnis zwischen Jonatan und David darstellen. Während V. 3a dies aber auf einer recht förmlichen Ebene tut und von einer tyîrV;b zwischen den Freunden spricht, zeigt V. 1a eher die dahinterliegende emotionale oder psychologische Seite, sozusagen die ‚Innenseite‘ dieser Verbindung. Es liegt nahe, die genannten Differenzen auf eine zeitversetzte Entstehung der beiden Verse zurückzuführen. Das Motiv des ‚Liebens‘ (bha) verbindet die Verse 18,1 und 3 nicht nur untereinander, sondern auch mit einer Reihe von Textstellen im näheren literarischen Umfeld wie etwa 16,21; 18,16.20.22.28; 20,17. Vor allem ist hier aber 2 Sam 1,26 zu nennen, wo David in seiner Klage um Jonatan u. a. die hD b S h A a seines Freundes besingt.162 –––––––––––––– 160 Vgl. LEVIN: Jahwist. S. 297. – ACKROYD (Verb. S. 213f.) hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Wurzel rvq allein in 1 Sam 18,1 und in Neh 3,38 im Niph‘al begegnet. Bei dem Viertelvers Neh 3,38ab dürfte es sich näherhin um eine sekundäre Ergänzung handeln (vgl. WRIGHT: Identity. S. 120–122.125). Möglicherweise hat hier wie dort bei der Wahl des Verbums (ni) rvq der Wunsch eine Rolle gespielt, die politische Dimension des jeweiligen Geschehens anklingen zu lassen, denn (q) rvq kann auch die Bedeutung ‚verschworen sein‘ haben (vgl. ACKROYD: ebd.; WRIGHT: a. a. O. S. 121; zur Bedeutung der Wurzel s. KBL3, Art. rvq, S. 1076). 161 Eine weitere, ein wenig entferntere Parallele liegt in 1 Sam 20,17b vor: wøbEhSa wøvVpÅn tAbShAa_yI;k. Vergleichbar sind außerdem Lev 19,18 und 34. 162 M ATHYS (Nächsten: S. 19) ist zuzustimmen, wenn er in 2 Sam 1,26 eine homoerotische Note wahrzunehmen meint. Das legt zumindest der dort angestellte Vergleich der Liebe Jonatans mit der MyIvÎn tAbShAa nahe, mit dem die Sphäre des Eros m. E. eindeutig berührt wird. Das Klagelied Gilgameschs über Enkidu (VIII,1ff., bes. 59) zeigt sehr eindrücklich, daß derlei im Alten Orient durchaus möglich war und auch auf eine gewisse literarische Tradition verweisen konnte; vgl. MATHYS: a. a. O. Im Zusammenhang mit 1 Sam 18,1ff. (wie auch 1 Sam 19f.) ist aber vor allem wichtig zu sehen, daß das Bedeutungsspektrum der Wurzel bha sehr viel mehr umfaßt als allein das sexuelle Moment. So hat THOMPSON (Significance. S. 334–338) zu Recht darauf hingewiesen, daß der Terminus am Beginn der AG in erster Linie dazu verwendet wird, um politische Loyalitätsverhältnisse auszudrücken. Die Hinwendung Michals zu David (1 Sam 18,20.28) ist hiervon wohl abzusetzen, obschon sie natürlich auch eminente politische Implikationen hat. Damit ist nicht gesagt, daß nicht auch weitere Bedeutungsmöglichkeiten von bha in der Schilderung des Verhältnisses zwischen David und Jonatan mitschwingen können – der Akzent aber ist anders gesetzt. Zur jüngeren Diskussion der Frage vgl. etwa auch SCHROER / STAUBLI: Saul. S. 15ff.; ZEHNDER: Beobachtungen. S. 153ff. sowie v. a. den umsichtigen Aufsatz von NISSINEN: Liebe. S. 250ff.

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1 Samuel 17,1–18,4

Weil der Vers von Jonatan erzählen kann, ohne ihn zuvor eingeführt zu haben, ist es wahrscheinlich, daß er bereits auf die Erzählung 1 Sam 13f. zurückblickt, in der dieser erstmalig auftritt.163 Allerdings wird der Name Jonatan in den Kapiteln 13f. (bis auf die zwei Ausnahmen 14,6.8) durchgehend in der kürzeren Version NDtÎnwøy geschrieben, während hier wie in der gesamten AG (mit der einzigen Ausnahme in 19,1) und ebenso in der TFG ausschließlich die Langform NDtÎnwøh◊y anzutreffen ist.164 Seinerseits bildet der Vers 18,1 mit seiner Notiz über die Entstehung der Freundschaft zwischen David und Jonatan eine wichtige Verstehensgrundlage für den Fortgang der Handlung ab Kapitel 19. Denn wenn Jonatan von dort an David wiederholt zu Hilfe kommt und dadurch sogar in Konflikt mit seinem Vater gerät, verlangt das natürlich nach einer Erklärung. Allerdings wird dieses bemerkenswerte Verhalten des Königsohns auch noch andernorts erläutert. Die knappe Notiz 19,1b erwähnt fast beiläufig, David habe in der Gunst des Prinzen gestanden. Weil diese Bemerkung nicht einmal ansatzweise ein Interesse daran erkennen läßt, das in 18,1 Gesagte der Leserschaft in Erinnerung zu rufen, sich überdies auch keinerlei sprachliche Berührungen mit jenem Vers zeigen, kann man sich dem Schluß kaum entziehen, daß 18,1 das Verständnis der Kapitel 19ff. zwar befördert, aber nicht erst ermöglicht. Vergleicht man weiterhin die beiden Verse, so fällt auf, wieviel vollmundiger 18,1 formuliert: Dort liebt Jonatan den David wie seine eigene Seele, d. h. wie sich selbst, während er nach 19,1b lediglich großes Gefallen an ihm findet. Man könnte dies als Hinweis darauf verstehen, daß 19,1b möglicherweise früher als 18,1 abgefaßt wurde. Nachdem der Blick zunächst in 17,55–58 auf David und Saul und anschließend in 18,1 auf David und Jonatan geruht hat, wird nun in 18,2 wieder auf die erste Personenkonstellation zurückgeschwenkt. 18,1 nimmt sich, so gesehen, wie eine Unterbrechung aus. Auch die Formulierung a…whAh Mwø¥yA;b verweist auf die Goliaterzählung zurück und läßt das Berichtete sich noch am Tag des Sieges ereignen. Mit der Notiz, der König habe David an jenem Tage bei sich aufgenommen und ihn nicht zu seinem Vater zurückkehren lassen, wird ein deutlicher Schlußpunkt gesetzt. David erscheint hier als Knabe, über den sein Vater und der König verfügen können, was im Widerspruch zu jenem Davidbild steht, das sich letztmalig in 17,54 zeigte. Wenn man beachtet, daß auch 17,54 eine angemessene Schlußnotiz bildet, verschärft sich der Gegensatz zwischen den zwei Versen noch. Auch die Möglichkeit einer Rückkehr Davids in sein Vaterhaus, die Saul in 18,2 grundsätzlich noch zu sehen scheint, weist darauf hin, daß der Vers David noch nicht als eine fest und zeitlich durchgehend etablierte Größe am Hof betrachtet. Er stimmt darin vor allem mit 17,12–31 überein. Nicht ganz klar ist das Verhältnis –––––––––––––– 163 Die Figur des Saulssohnes Jonatan wird dort namentlich in 13,2f.16.22; 14,1.3f.6.8.12–14.17.21. 27.29.39–45.49 genannt. 164 Die Chronik bevorzugt für den Sauliden Jonatan die lange Schreibart (1 Chr 8,33f.; 9,39f.), enthält aber an einer Stelle auch die kurze (1 Chr 10,2).

Untersuchung

169

von 18,2 zu 16,22, wo der Regent dem Isai bereits mitteilen läßt, er werde David in seine Dienerschaft aufnehmen. Das klingt zunächst wie eine Doppelung zu 18,2,165 allerdings fällt bei näherem Hinsehen auf, daß 16,22 (anders als 18,2) nichts darüber aussagt, ob David damit ständig in der Nähe des Königs zu leben habe oder ob es ihm gestattet sei, zwischen Königshof und Vaterhaus zu hin- und herzupendeln. In 18,3f. richtet sich der Blick noch einmal zurück auf David und Jonatan. Erwähnt wurde bereits, daß V. 1b und 3b eine Dublette darstellen, während V. 1a und 3a sich eher komplementär zueinander verhalten. Das Motiv der tyîrV;b zwischen den beiden Figuren begegnet hier zum ersten Mal in der Erzählung, kehrt hernach aber noch zweimal wieder (1 Sam 20,16 und 23,18). Darüber hinaus wird noch an einigen Stellen auf einen Bundesschluß zurückverwiesen, ohne daß jedoch im einzelnen stets deutlich ist, auf welchen Text der jeweilige Vers zurückblickt. Zwar rekurriert 1 Sam 20,8 ohne Zweifel auf 18,3,166 bei 20,23.42; 22,8 und 2 Sam 21,7 aber ist eine vergleichbar eindeutige Zuordnung nicht möglich. V. 4 lehnt sich eng an seinen Vorvers an und illustriert das neuentstandene Freundschaftsverhältnis, indem er berichtet, der Königssohn habe seine Waffen dem jungen Helden geschenkt. Hier zeigt sich, daß die V. 3f. noch ein wenig über V. 1 hinausgehen. Denn während 18,1 sich im wesentlichen darauf beschränkt, die Entstehung jener Freundschaft festzustellen, versuchen die V. 3f. auch etwas von den Implikationen dieser Entwicklung spürbar werden zu lassen. Die immense Aufwertung seiner sozialen Stellung, die der Bund mit dem Kronprinzen für David bedeutet, wird durch das Geschenk Jonatans eindrucksvoll illustriert – der Sohn des Isai ist nunmehr ausstaffiert wie ein Königssohn. Den Preis für diesen rasanten Aufstieg zahlt indes – wenn man so will – die Leserschaft. Denn daß David zu diesem Zeitpunkt schon engen Umgang mit einem Mitglied der königlichen Familie pflegt,167 nimmt dem weiteren Verlauf des Kapitels insofern einen beträchtlichen Teil seines Reizes, als das Ziel, dem die Erzählung hier zustrebt, die Etablierung Davids in den Reihen der königlichen Familie, nicht erzählerisch effektvoll in Etappen, sondern gleich mit einem Schlag und obendrein zu Beginn der Zeit Davids am Hofe Sauls erreicht wird.168 Darüber hinaus wirkt im MT der Zusammenhang von 18,6 mit der Goliaterzählung – wie er sich in der hebräi–––––––––––––– 165 So etwa ROFÉ: a. a. O. S. 120. 166 Vgl. etwa AURELIUS: a. a. O. S. 48; BARTHÉLEMY: Niveaux. S. 50; BUDDE: a. a. O. S. 121.131; ferner s. u. 5.3.1, Abschn. 6., und 8.2 zu 1 Sam 20,8. – Wie ADAM (Saul. 142) behaupten kann, das Stück 18,1-4 sei sekundär aus 20,8 gebildet worden, verstehe ich nicht. 167 Man sollte bei der Betrachtung der V. 1 und 3f. nicht vorschnell das später Folgende mit in den Blick nehmen, wie es STOLZ (a. a. O. S. 123) tut, wenn er jenen Freundschaftsbund als eine Art ‚Blutsbrüderschaft‘ mit weitgehenden rechtlichen Implikationen interpretiert. 168 Ähnlich ROFÉ (a. a. O. S. 120): „[...] the story of Jonathan’s love for David comes at too early a point in the narrative, as does that of David’s appointment to head of the warriors [scil. 18,5].“

170

1 Samuel 17,1–18,4

schen Fassung durch die Worte yI;tVvIlVÚpAh_tRa twø;kAhEm dˆw∂;d b…wvV;b in 18,6aa ausdrückt – durch die Verse 17,55–58, vor allem aber durch 18,1–5 sehr gedehnt.169

5.3 5.3.1

Auswertung

Das Verhältnis von Langfassung und Kurzfassung

Die bis hierher erzielten Beobachtungen sollen zunächst in bezug auf die eingangs aufgeworfene Frage ausgewertet werden, wie sich die kürzere und die längere Fassung der Erzählung zueinander verhalten. Es bieten sich zwei grundlegende Möglichkeiten: „Entweder ist der längere Text von MT (und LXXA) der ursprüngliche und der knappere von LXXB das Ergebnis einer entschiedenen Kürzung, oder die Textform von LXXB ist die ursprüngliche und die MT-Fassung (die dann auch von LXXA übernommen wurde) das Ergebnis eines Wucherungsvorganges.“170

Die erste der beiden Alternativen, d. h. die textgenetische Priorität der Langfassung, erscheint mir vor dem Hintergrund der oben durchgeführten Untersuchung wahrscheinlicher.171 Das soll im folgenden erläutert werden.172 1. Es fällt auf, daß die LXX sehr häufig ausgerechnet an solchen Stellen ‚Lücken‘ gegenüber dem MT aufweist, an denen dieser eine Dublette enthält oder eine Aussage, die in logischem Widerspruch zu einer anderen aus den Kapiteln 16–18 –––––––––––––– 169 Vgl. ROFÉ: a. a. O. S. 120. Andererseits muß man zugestehen, wie unklar selbst im MT bleibt, an welcher Stelle der Erzählung 18,6 anknüpfen will. 170 D IETRICH : Erzählungen. S. 61. – Dieser Grundfrage widmet sich der Sammelband von BARTHÉLEMY, GOODING, LUST und TOV: The Story of David and Goliath. Textual and Literary Criticism. Papers of a Joint Research Venture. (OBO 73). Göttingen 1986; er stellt ohne Zweifel einen Meilenstein innerhalb der Diskussion dar. Eine gute Übersicht über die Positionen verschiedener zeitgenössischer Exegeten bietet CAMPBELL: FOTL 7. S. 189–191; eine gute und zugleich knappe Einführung in die Diskussion findet sich bei LESTIENNE / GRILLET (BdAl 9. S. 291–293). 171 Diese Einschätzung teilen u. a. auch AURELIUS (a. a. O. S. 46–48), BARTHÉLEMY (Niveaux. S. 47ff.), BUDDE (a. a. O. S. 121), DIETRICH (a. a. O. S. 61–64), EIßFELDT (Komposition. S. 12, Anm. 3), GOODING (Approach. S. 55ff.), KAISER (David. S. 284f., Anm. 13), KUENEN (Einleitung. S. 61f.), K UNZ (Sinuhe. S. 97, Anm. 27), KRATZ (Komposition. S. 184), ROFÉ (Battle. S. 119–122) und VAN DER KOOIJ (Story. S. 118ff.). 172 Dabei läßt es sich nicht immer vermeiden, auch die Verse 18,5–30 in die Überlegungen miteinzubeziehen, deren Untersuchtung eigentlich Aufgabe des nächsten Kapitels ist (6). Auch dem nächsten Arbeitsschritt (5.3.2), i. e. der Auswertung der textgenetischen Analyse von 17,1–18,4, muß mitunter vorgegriffen werden, was letztlich darin begründet liegt, daß textkritische und literarkritische Vorgehensweise in praxi ineinandergreifen und mithin nicht gänzlich voneinander geschieden werden können.

Auswertung

171

steht: David wird in 17,12–15173 ein zweites Mal nach 16,1–13 eingeführt, ebenso wird er ein zweites Mal nach 16,14–23 in 17,55–58 und 18,2 am Königshof etabliert. Er ergreift zu Beginn von 17,37 erneut das Wort, obwohl er schon seit V. 34a spricht, wird in V. 38a mit Sauls dAm und in 38b mit einem Nwøy√rIv bekleidet und bricht in 17,48b zum zweiten Male nach V. 40 zum Zweikampf auf. Auch von Goliat wird zweimal berichtet, er sei David entgegengezogen (V. 41 und 48a). Er wird überdies auch zweimal und auf zwei einander widersprechende Weisen ums Leben gebracht: in 17,50 und 51. Ähnliches gilt auch für den Textbereich 1 Sam 18,5–30: Zwei militärische Beförderungen werden David zuteil (18,5 und 13), die aber insofern nicht gut zueinander passen, als die zweite gegenüber der ersten einen Rückschritt, also eher eine Degradierung bedeutet. Gepeinigt von einem bösen Geist, verübt König Saul zweimal einen spontanen, aber erfolglosen Mordanschlag auf David (18,10f. und 19,9f.), wobei der erste der beiden Versuche außerdem noch die logische Geschehensfolge von 1 Sam 18 ein wenig durcheinanderwirbelt.174 Weiter werden in direkter Folge zwei recht ähnliche Episoden erzählt, in denen David jeweils mit einer Tochter Sauls verheiratet werden soll (18,17–19 und 20–27). Auch 18,12b gehört in diese Reihe: Er nimmt sowohl V. 14b als auch V. 28a unschön vorweg und wiederholt zugleich auch noch 16,14. Und 18,30 bringt (neben 18,5) den Gedanken vor, David habe immer und überall erfolgreich agiert, der bereits in V. 14–16 tragend ist. V. 21b (zu dem V. 26b hinzugehört) schließlich dupliziert zwar keine andere Textstelle, steht aber in deutlicher Spannung zu V. 22. Denn dort schickt Saul seine Bediensteten vor und legt Wert auf Geheimhaltung, während er hier frei heraus mit David spricht. Zudem enthalten die V. 21b.26b mit dem Gedanken, daß der Brautpreis für Michal innerhalb einer vom König festgelegten Frist zu zahlen sei, einen Erzählzug, dessen Bedeutung für den Verlauf der Geschichte sehr vage bleibt und somit eher dazu angetan ist, Verwirrung zu stiften als Spannung zu erzeugen. Nur zwei der in der LXX fehlenden Textteile passen nicht in dieses Schema. So stellt der Satz yI;tVvIlVÚpAh_tRa twø;kAhEm dˆw∂;d b…wvV;b aus 18,6aa weder die Duplikation eines anderen dar noch verursacht er logische Widersprüche. Er wirkt allerdings, wenn man wie die LXX 17,55–18,5 nicht liest, im Anschluß an 17,54 überflüssig. Die einzige vollgültige Ausnahme bildet V. 29b,175 sein Fehlen ist m. E. in der Tat nicht ohne weiteres zu erklären. LUST hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß auch der Kurztext noch Unstimmigkeiten enthält. So wird David in 17,33 als rAoÅn bezeichnet –––––––––––––– 173 Logisch baut die ganze Passage V. 16–31 auf dieser Einführung auf, so daß ein Fortfall von V. 12–15 notwendig auch den der V. 16–31 zur Folge haben muß. 174 Vgl. dazu etwa BUDDE: a. a. O. S. 132; KRATZ: a. a. O. S. 184f. 175 18,8b dürfte eine späte, V. 8a explizierende Glosse sein, die lediglich Eingang in den MT, nicht aber mehr in die (Vorlage der) LXX fand; vgl. dazu 6.2 zur Stelle.

172

1 Samuel 17,1–18,4

(und dabei deutlich von einem hDmDjVlIm vyIa abgesetzt)176, und in V. 38f. ist er nicht in der Lage, sich in der Rüstung Sauls einigermaßen sicher zu bewegen. Das paßt nicht recht zu 16,14–23,177 da er dort als gestandener Krieger vorgestellt wird (V. 18: hDmDjVlIm vyIa◊w lˆyAj rwø;b…ˆg). Weitere Spannungen verursachen das Lied der Frauen in 18,7, das nicht zu einer einzelnen Heldentat Davids paßt,178 und die Erwähnung Jerusalems in 17,54, die zu 2 Sam 5,6–9 im Widerspruch steht. Angesichts dessen erscheint es ihm „difficult to understand why an editor who was removing contradictions so boldly, would not remove them all [...].“179 Der Einwand ist grundsätzlich nicht unberechtigt, doch zeigt schon ein Blick auf das grammatikalisch anstößige Wort h‰ΩzAh aus 17,12, welches gemeinhin und wohl zu Recht als nachträglicher Vermittlungsversuch zwischen 16,1ff. und 17,12ff. aufgefaßt wird,180 daß selbst bei Harmonisierungen Unachtsamkeiten unterlaufen konnten. In summa: So gut wie überall, wo der MT gegenüber der LXX Überschüsse aufweist, liegen Textirritationen vor (in Form von Dubletten, logischen Spannungen o. ä.). Eine etwas eigenwillige Interpretation dieses Befundes hat TREBOLLE vorgelegt.181 Die Vielzahl der Doppelungen und Wiederaufnahmen im MT versteht er als „precious traces of the work accomplished by the editor(s) who linked the various compositional units by employing such editorial techniques“182. Dieser Einschätzung könnte man an sich zustimmen, wenn TREBOLLE nicht zugleich die These verträte, jene Doppelungen und Wiederaufnahmen seien eingefügt worden, „in order to obtain an easier and smoother transition among the different episodes of the composition“183. So betrachtet erscheint natürlich der kürzere Text, den die LXX bietet und der gemeinhin als lectio facilior bewertet wird, mit einem Schlag als die lectio difficilior und infolgedessen als die wahrscheinlich ältere Fassung. Allerdings erläutert TREBOLLE nicht, inwiefern solche Wiederholungen den vorgegebenen Text bzw. die Übergänge der einzelnen Episoden zu verbessern helfen. „[T]he editorial function of linking two literary units“184 wird m. a. W. lediglich postuliert, nicht jedoch demonstriert. Hinzu kommt, daß TREBOLLE –––––––––––––– 176 Es ist bei alledem gleichgültig, ob hier der Gegensatz zwischen Knabe und Mann oder der zwischen Anfänger und altgedientem Krieger gemeint ist, weil 17,33 in jedem Falle 16,18 zuwiderläuft – und zwar unabhängig davon, welche Art von Literatur 16,14ff. darstellt; gegen STOEBE: a. a. O. S. 335. 177 Vgl. DRIVER: Notes. S. 150. 178 Zur Aussagekraft von 18,6f. s. u. Punkt 6. 179 LUST: a. a. O. S. 9. 180 Vgl. etwa STOEBE: a. a. O. S. 322, Anm. 12 a); STOEBE denkt freilich an eine harmonisierende Tendenz beim Verfasser der Goliaterzählung. 181 TREBOLLE: Story. S. 16–30. 182 TREBOLLE: a. a. O. S. 27. 183 TREBOLLE: a. a. O. S. 23. 184 TREBOLLE: a. a. O. S. 19.

Auswertung

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mitunter ein wenig übereilt zur Bezeichnung ‚resumptive repetition‘ greift. In 1 Sam 18,1 (nach der LXXL) möchte er etwa das pro\ß Saoul und das aujtw◊ˆ (im MT l…waDv_lRa) als Wiederaufnahme verstehen. An anderen Stellen geht er von einer etwas willkürlichen Verwendung dieser Ergänzungstechnik aus, beispielsweise wenn er 18,21ba als Wiederaufnahme des l…waDv rRmaø¥yÅw aus 18,21aa wertet und daraus „the insertion of a second discourse of redactional character (v 21b)“185 erschließt.186 Darüber hinaus neigt TREBOLLE m. E. dazu, den textkritischen Wert der LXXL ungewöhnlich hoch zu veranschlagen. 1 Sam 18,5 in der Fassung der LXXL z. B. bietet zweifellos eine einfachere Lesart als 1 Sam 18,5MT und legt sich deshalb eher als sekundäre Textfassung nahe.187 So vermag – trotz einiger interessanter und durchaus zutreffender Einzelbeobachtungen – TREBOLLEs Versuch, plausible Argumente für die Annahme der textgenetischen Priorität der LXXBFassung in 1 Sam 17f. beizubringen, insgesamt nicht recht zu überzeugen. Nach allem Gesagten drängt sich daher die Vermutung auf, daß der Kurztext das Ergebnis einer gezielten Überarbeitung ist, deren Hauptzweck darin bestand, die Geschichte von diversen Unebenheiten zu befreien.188 2. An dieser Stelle ist es angezeigt, die Gegenprobe zu machen und zu prüfen, ob sich umgekehrt auch ein Motiv vorstellen läßt, aus dem heraus alle oder zumindest die meisten der in der LXX nicht bezeugten Stücke ergänzt worden sein könnten. Die beiden längsten Passagen innerhalb der MT-Überhänge (17,12–31; 17, 55–18,6aa) haben immerhin dies gemein, daß sie David nicht als einen etablierten Krieger, sondern als einen nur hin und wieder am Königshofe arbeitenden jungen Hirten darstellen, dessen Familienverhältnisse dem Regenten darum nicht bekannt sein können. Es läge also an sich nahe, in der Vermittlung ebendieses Davidbildes eine maßgebliche Absicht des Verfassers zu vermuten. Allerdings lassen sich auf diese Art keineswegs alle Überschüsse des MT erklären. Schon 18,5 zeigt keine sonderliche Affinität zu einer solchen Sichtweise. Schwerer wiegen indessen die Verse 17,37aa1(nur dˆw∂;d rRmaø¥yÅw).38b.41.48b; 18,10f.17–19.21b.26b,189 hinter denen andere Intentionen stehen müssen. Man könnte deswegen versucht sein, ein zweites, komplementäres Darstellungsziel anzunehmen. Passend zum Wunsch, David möglichst positiv zu charakterisieren, wäre das Bestreben vorstellbar, das Bildnis Sauls noch weiter einzuschwärzen, so etwa in 18,17–19 oder vielleicht in –––––––––––––– 185 TREBOLLE: a. a. O. S. 18. 186 Zu den typischen Kennzeichen des Phänomens der Wiederaufnahme s. KUHL: Wiederaufnahme. S. 2; ferner WONNEBERGER: Redaktion. S. 117–123. 187 Anders jedoch TREBOLLE: a. a. O. S. 22. 188 Vgl. AURELIUS: a. a. O. S. 47. 189 18,8b.12b.29b.30 zeichnen David zwar nicht als jungen Hirten, dienen immerhin aber ad maiorem gloriam Davidis.

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17,38b. Dazu jedoch fügen sich 18,10f. nur schlecht, denn hier erscheint Saul als ein geplagter, von unkontrollierbaren Mächten heimgesuchter Mann. Vollends scheitert diese These an 17,37aa1.41.48b; 18,21b.26b. Was eine Ergänzung dieser Verse bzw. Versteile zum Ausdruck hätte bringen sollen, ist schlichtweg nicht zu einzusehen.190 Indes haben AULD und HO einen interessanten Beitrag vorgelegt, in dem sie die Überhänge des MT als Fortschreibungen deuten, deren gemeinsames Ziel darin bestehe, David vor dem Hintergrund der Saulerzählungen in 1 Sam 9f. zu profilieren und dabei vornehmlich von Saul abzusetzen, und die zu jenem Zweck die dort vorkommenden Stoffe und Motive aufgreifen und literarisch weiterverarbeiten.191 Folgende Bezüge (in Form von Parallelen wie auch von Kontrasten zwischen den zwei Figuren) lassen sich nach AULD und HO zwischen beiden Komplexen erkennen: a) Saul nimmt sich – rein äußerlich betrachtet – wie ein stilechter Infant aus, David dagegen bloß wie ein Fant (vgl. 1 Sam 9,1f.; 17,12–16). b) Saul wird aufgrund einer unbedeutenden, aber nachvollziehbaren Alltagsbegebenheit vom Vater ausgesandt, während David den zwar wichtigen, doch für einen Jungen viel zu gefährlichen Auftrag bekommt, nach seinen Brüdern zu sehen, die in die Schlacht gezogen sind (9,3; 17,16–18). c) Saul hat nichts bei sich, um einen Seher zu bezahlen; anders David: sein Vater hat ihm auch ein Geschenk für den Tausendschaftsführer mitgegeben (9,7; 17,18a). d) Saul findet nicht, was er zu suchen ausgesandt wurde – David schon (9,4; 17,22). e) David läßt trotz ungewohnter Umgebung und nahem Feind keinerlei Furcht erkennen und verweilt nicht lange beim Troß, Saul indes versteckt sich beim Troß, und zwar schon bei einem vergleichsweise nichtigen Anlaß (17,20–22; 10,22). f) David erscheint, insonderheit in seiner Art zu fragen, viel cleverer, entschlossener, energischer und erfreut sich nicht von ungefähr zuletzt auch größerer Erfolge und Wertschätzung als Saul (17,26.41.48 und 18,30; 9,5–7 und 10,21–23.27). g) Sowohl in der Saulerzählung als auch in der Geschichte von Davids Sieg über Goliat steht ganz am Schluß die Frage nach dem Vater der Hauptfigur (10,10f.12LXX; 17,55–58). h) Saul und seiner Familie wird durch Samuel die Königswürde zugesprochen, und dieses Verheißungswort rechnet fest mit seiner Erfüllung, wohingegen das Versprechen Sauls, David dürfe sein Schwiegersohn und somit Mitglied der königlichen Familie werden, zunächst auf eine Beleidigung und beim zweiten Mal auf den baldigen –––––––––––––– 190 Das gilt in der Tat auch für 18,21b.26b. Natürlich könnte man die eventuelle Hinzufügung der zwei Halbverse als Versuch verstehen, die Erzählspannung nachträglich durch ein retardierendes Moment zu erhöhen. Dem steht allerdings die Beobachtung entgegen, daß die Geschichte ausgerechnet dort, wo sie das Erzähltempo unter Verwendung des Motivs der ablaufenden Frist hätte drosseln können, in V. 26b, äußerst wortkarg wird. 191 AULD / HO : Making. S. 19ff. AULD hat die in von ihm und HO in diesem Aufsatz vertretenen Thesen jüngst noch einmal wiederholt in AULD: Story. S. 118ff.

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Tod Davids zielt (9,20b; 18,17–19.21.25). i) Saul ist dazu berufen, das Volk Jhwhs zu retten, doch er überträgt diese Aufgabe David (9,16; 18,17a). j) Genauso wie Saul im Anschluß an Samuels Verheißung wehrt auch David zunächst ab, als ihm die Chance versprochen wird, in die königliche Familie einzuheiraten, und zwar ebenfalls mit einer dreigliedrigen rhetorischen Frage (9,21; 18,18). k) Samuel lädt den jungen Saul zu einem „covenant meal“192 ein, in ähnlicher Weise schließt auch Jonatan einen Bund mit David (9,23f.; 18,3f.). l) Samuel entläßt Saul erst am nächsten Morgen, während David gar nicht mehr zu seinem Vater zurückkehren darf (9,25; 18,2). m) In 10,10 wird berichtet, wie der Geist Gottes über Saul kommt, 18,10–12 dagegen erzählt, daß ein böser Gottesgeist den König heimsucht, und erwähnt darüber hinaus auch Sauls Gottverlassenheit.193 Das grundlegende Problem an all diesen Querbeziehungen besteht darin, daß nur sehr schwer zu entscheiden ist, ob sie sich tatsächlich dem Verfasser (oder ggf. den Verfassern) der betreffenden Verse verdanken oder erst dem Auge des späteren Betrachters. AULD und HO versäumen es m. E., ihre Thesen in ausreichendem Maße methodisch abzusichern. Dies sei an zwei Beispielen verdeutlicht: Die beiden Exegeten vergleichen 1 Sam 9,7 und 17,26 miteinander und kommen rasch zu dem Ergebnis: „The formal and stylistic similarity of these two passages is very clear“194. Dies wird leider nicht näher begründet, doch sind in den Übersetzungen der zwei Verse immerhin zu einigen Wörtern die jeweiligen hebräischen Äquivalente in Klammern angefügt. Wenn ich diese Parenthesen recht verstehe, sollen sie die besonderen Ähnlichkeiten innerhalb des hebräischen Textes vor Augen führen helfen. Dabei handelt es sich um folgende Sätze bzw. Wörter: 9,7: [(LXXB) wø;mIo rRvSa] wørSoÅnVl l…waDv rRmaø¥yÅw; 17,26: wø;mIo MyîdVmOoDh MyIvÎnSaDh_lRa dˆw∂;d rRmaø¥yÅw. 9,7: vyIaDl ayIbÎ…n_hAm…w; 17,26: vyIaDl hRcDo´¥y_hAm. 9,7: hDm...yI;k; 17,26: yIm yI;k. Nimmt man alles zusammen, so ergeben sich drei, maximal vier wörtliche Übereinstimmungen: 1. rRmaø¥yÅw, 2. wø;mIo (allerdings nur unter äußerstem Vorbehalt, weil an dieser Stelle der MT vorzuziehen ist)195, 3. vyIaDl ... hAm, 4. yI;k. Bei den Entsprechun–––––––––––––– 192 AULD / HO: Making. S. 34. 193 Vgl. zu dieser Aufzählung AULD / HO: a. a. O. S. 25–37; eine Kurzfassung findet sich in AULD: Story. S. 125. Darüber hinaus werden von AULD und HO noch fünf weitere Parallelen aufgeführt, die schon von LUST beobachtet wurden: „a. A man has a son (9.1 // 17.12). b. He sets a minor task to his son (9.3 // 17.17–18). c. The hero meets the leader of his country (9.17ff. // 17.55–58). d. ‚On that day‘ is used in 9.24 and 18.2. e. The hero succeeds the leader“ (AULD / HO: a. a. O. S. 24); vgl. LUST: Story. S. 13. 194 AULD / HO: a. a. O. S. 28. 195 Es handelt sich um die längere Lesart, überdies ist mir nicht einsichtig, warum das Stück im MT weggefallen sein sollte. Mit Recht wird diese Variante daher von nahezu allen Kommentatoren

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gen 1., 2. und 4. handelt es sich um ‚Allerweltsausdrücke‘, die selbst in dieser Kombination keinerlei Signifikanz für sich in Anspruch nehmen können. Das dritte Pendant verdient diesen Namen genausowenig, da ausgerechnet die Prädikate, also die syntaktischen Herzstücke, vollkommen verschieden ausfallen: hier eine 1. Person, Plural, von der Wurzel (hi) awb, dort eine 3. Person, Singular, von der Wurzel (ni) hco. Als zweites Beispiel drängt sich die oben unter k) genannte Kombination von 9,23f. und 18,3f. auf. Terminologisch bestehen zwischen beiden Passagen keine nennenswerten Verbindungen, und auch das Setting ist völlig unterschiedlich: Das eine Mal erklärt der Leiter einer Festversammlung einen fremden jungen Mann zum Ehrengast, das andere Mal schließt ein Königssohn mit einem jungen Kriegshelden einen Bund und schenkt ihm aus diesem Anlaß einen Teil seiner Ausrüstung. Beide Male handelt es sich zweifellos um eine unerwartete, hohe Auszeichnung der Hauptfigur, in der sich ihre königliche Bestimmung schon andeutet, doch erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten darin bereits. Von einem Bund gar verlautet in 9,23f. nicht ein einziges Wort.196 Die nähere Betrachtung der beiden Beispiele stimmt also skeptisch, was die Stichhaltigkeit der These von AULD und H O anbelangt. Damit ist keineswegs behauptet, die Beobachtungen der zwei Exegeten seien samt und sonders als hinfällig zu betrachten. Doch ihr Versuch nachzuweisen, daß hinter allen MTÜberschüssen eine gestalterische Absicht stehe, nämlich „the purpose of contrasting David and Saul“197, kann nach allem Gesagten zumindest in dieser Form als gescheitert gelten. Ein prinzipieller Einwand erhebt sich zudem gegen die These von AULD und H O : Handelt es sich bei von ihnen behaupteten gemeinsamen Intention jener Verse, die der LXX fehlen, um ein Spezifikum des MT-Plus’? Oder lassen sich vergleichbare Parallelen, bei denen David im Vergleich zu Saul besser abschneidet, auch innerhalb des Kurztextes entdecken? Mir scheint letzteres der Fall zu sein. So wird Davids äußere Erscheinung in 17,42 ebenso lobend hervorgehoben wie die Sauls in 9,2, nur daß David – im Gegensatz zu Saul – offensichtlich noch nicht wie ein Krieger aussieht und darum maßlos unterschätzt wird, was seinen Sieg aber nur um so wunderbarer macht. David mußte ganz wie Saul (9,3) ausziehen, um verlorengegangene Tiere seines Vaters zurückzubringen – nur daß David dabei sogar mit wilden Tieren zu kämpfen hatte und obendrein auch erfolgreicher war (17,34f.). Saul folgt hier wie dort dem Vorschlag eines ihm an sich nur assistierenden rAoÅn (9,5–10; 17,32ff.), bei dem rAoÅn der zweiten Erzählung handelt es sich –––––––––––––– unberücksichtigt gelassen und hat ebensowenig Eingang in die kritischen Apparate von BHS5 und BHK gefunden. 196 Dasselbe gilt übrigens für 2 Sam 15,7–12 und 1 Kön 1,9f., die AULD und H O ebenfalls zu ‚covenant meals‘ (unter Berufung auf ACKROYD: CNEB 8. S. 80) erklären wollen. 197 AULD / HO: a. a. O. S. 38.

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aber um niemand anderen als David. Man könnte diese Reihe noch verlängern und dabei auch Bezüge zu 1 Sam 11 oder 13f. herstellen. Wichtiger indes ist zu sehen, daß das Band, das AULD und H O zufolge die Verse des MT-Überhanges untereinander verbindet, diese in der griechischen Fassung nicht bezeugten Passagen zugleich auch mit dem vermeintlichen Grundbestand verknüpft.198 Die beiden Autoren dürften dies vermutlich sogar unumwunden zugestehen,199 denn ihr Hauptargument zielt in eine etwas andere Richtung; es lautet: „[H]ow could an editor (or translator) miss out these interesting elements from the David story?“200 Man darf jedoch nicht übersehen, daß diese Frage im Grunde genommen kein neues Argument liefert, sondern lediglich die textkritische Faustregel ‚lectio brevior potior‘ variiert bzw. ausführt. Der stärkere Teil ihrer Ausführungen liegt meiner Ansicht nach in ihrem (wenn auch nicht immer gelungenen) Versuch, möglichst alle über den Text von LXXB hinausgehenden Verse als Parallelisierungen der Erzählung mit jener aus 1 Sam 9f. zu erklären. Es zeigt sich mit anderen Worten keine inhaltliche oder formale Klammer, welche alle oder eine überwiegende Mehrzahl der einzelnen Elemente des MTÜberschusses miteinander verbinden könnte. Schon aus diesem Grund ist eine andere einflußreiche Hypothese ausgesprochen unwahrscheinlich, der zufolge die Überschüsse des MT in 1 Sam 17f. jemals eine eigenständige Erzählung gebildet haben. Das größte Manko dieser von MCCARTER u. a.201 vertretenen Theorie besteht freilich darin, daß sie mit umfangreichen Textstreichungen rechnen muß. Die Verse 17,12ff. etwa bilden keineswegs einen selbständigen Erzählanfang, da sie bereits eine Kriegssituation präsupponieren, wie sie in 17,1ff. geschildert wird. Ähnlich verweist V. 23 auf eine voraufgegangene Rede des Philisters zurück, bleibt folglich ohne V. 8–10 oder etwas Vergleichbares unvollständig.202 Angesichts dessen kommt man nicht umhin, einen fortgefallenen Erzählanfang zu postulieren, um M CCARTERs These aufrechtzuerhalten. Doch selbst wenn sich zwei ehedem selbständige Texte nachweisen ließen, bliebe der Wert dieses Arguments gering. Denn „[...] the fact that the MT may have preserved two versions of the same event, does not indicate that the second version is younger than the first, nor that it was interpolated ‘into the primary

–––––––––––––– 198 Hinzu kommt noch, wie AULD selbst feststellt, daß die MT-Überschüsse sich auch in ihrem Sprachgebrauch nicht auffällig von den übrigen Stücken unterscheiden – „linguistically, they blend perfect into the context“ (AULD: Story. S. 125). 199 Vgl. etwa AULD / HO: a. a. O. S. 24f.) 200 AULD / HO: a. a. O. S. 37. 201 Vgl. MCCARTER: a. a. O. S. 307; LUST: Story. S. 9; HERTZBERG: a. a. O. S. 114. 202 Vgl. PISANO: a. a. O. S. 83.

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narrative at some time subsequent to the divergence of the ancestral textual traditions that lie behind MT and LXX’.“203 Darüber hinaus ist bei einer Reihe von Versen überhaupt kein Grund ersichtlich, aus dem heraus ihre Einfügung erfolgt sein könnte. 3. Wenn die Textteile des MT-Plus’ später entstanden sein sollten als die Kurzfassung der Kapitel 17f., dann wäre aufgrund der verschiedenen Intentionen, die aus den diversen nur vom MT bezeugten Stücken sprechen, eine sukzessive Ergänzung das Wahrscheinlichste. Für letzteres zumindest sprechen auch einige weitere Indizien innerhalb des MT-Überhanges: In 17,24 scheint beispielsweise eine Wiederaufnahme von V. 11 vorzuliegen. Die Verse 18,1b und 3b bilden eine Dublette. Und 18,5 steht insofern in einer Spannung zu 18,6aa, als er den Tag des Philistersieges hinter sich läßt und in der Erzählung weiter voranschreitet, während V. 6aa erneut zu jenem Ereignis zurückkehrt und es zum Ausgangspunkte wählt. Laut 18,18 geniert sich David, zu einem Schwiegersohn des Königs zu werden, obwohl er gemäß 17,25 ein Anrecht darauf hat. Wenigstens drei Phasen der Textentstehung müßte man m. E. unter diesen Bedingungen annehmen. Das geht aus 17,55–58; 18,1–4 hervor. Denn der Zusammenhang von 17,58 und 18,2 wird von 18,1 unterbrochen. Und das in 18,1 Gesagte wiederum wird von den V. 3f. unter dem Gedanken des Bundes reformuliert.204 Man müßte folglich mit einem komplexen, mindestens dreistufigen Textwachstumsprozeß rechnen, der sich sehr spät, nämlich nach Entstehung der LXX-Fassung (etwa gegen Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr.)205, vollzogen und dementsprechend bis weit in das 2. Jahrhundert gereicht hat. 4. Eine derart späte, umfangreiche Fortschreibung des MT im Bereich der Vorderen Propheten ist ohne Parallele.206 Dem steht andererseits der Befund gegenüber, daß die rigorose Kürzungspraxis, die annehmen muß, wer die Langfassung des MT favorisiert, zumindest im Bereich der LXX gleichfalls analogielos sein dürfte.207 Eine der längsten Passagen, die aus der LXX offensichtlich gestrichen worden sind, umfaßt zwei Verse: 1 Kön 14,19f.208 Verwickelter ist der Sachverhalt im Buch Jeremia, dessen griechischsprachige Fassung ebenfalls einen bedeutend geringeren Umfang besitzt als die masoretische (der Text der LXX ist ungefähr um ein Sechstel kürzer). Die Mehrzahl der –––––––––––––– 203 204 205 206 207 208

LUST: a. a. O. S. 9 (mit Zitat von MCCARTER: a. a. O. S. 307). Vgl. auch unten 5.3.2. Vgl. TOV: Text. S. 114. Vgl. DIETRICH: Erzählungen. S. 62, dort auch Anm. 17. Vgl. aber auch Anm. 207 (Kap. 5). Vgl. LUST: a. a. O. S. 9. Vgl. GOODING: a. a. O. S. 119.

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Exegetinnen und Exegeten geht dabei davon aus, daß die LXX die ursprünglichere Textform bewahrt habe und der MT demgegenüber ein weit fortgeschrittenes Stadium der Textfortschreibung darstelle.209 Doch auch die entgegengesetzte Ansicht, die den Kurztext teilweise oder in überwiegendem Maße als Ergebnis von Streichungen zu erweisen sucht, hat namhafte Befürworter gefunden.210 In einer sehr umsichtigen, ausgewogenen, wenn auch etwas knappen Erörterung hat sich SCHMID des Problems angenommen. Er kommt dabei zu dem Fazit: „Die mutmaßliche Vorlage von JerLXX und JerMT verhalten sich zueinander nicht wie ein Ausgangs- und ein Endpunkt, sondern wie zwei Endpunkte, und enthalten beide bezüglich ihrer Differenzen sowohl primäre als auch sekundäre Lesarten“211. Dabei räumt er der LXX in bezug auf die Einzeltexte vorsichtig eine gewisse Prävalenz ein, in Hinblick auf die Stoffanordnung dagegen gibt er dem MT den Vorzug.212 Angesichts dieses Forschungsstands erscheint es geraten, die Überlieferungssituation des Jeremiabuches, nicht vorschnell als Analogiefall für diese oder jene Möglichkeit einzustufen. Das Beispiel lehrt lediglich, daß grundsätzlich mit beiden Phänomenen, mit Kürzungen wie mit späten Fortschreibungen, zu rechnen ist. Auf eine vergleichbare, umfangreiche Textkürzung scheint immerhin das sog. Astronomische Buch in seiner jetzigen Gestalt innerhalb des Äthiopischen Henochbuches (1 Henoch) zurückzugehen.213 Möglich ist ferner, daß auch der Textbestand des dritten Esrabuches (namentlich in 3 Esra 9,37ff.; vgl. auch Josephus, Antiquitates XI) auf eine kürzende Überarbeitung von Neh 8–10 zurückgeht.214 Aufs Ganze gesehen ergibt sich m. E. ein argumentatives Remis. Auch die Tatsache, daß die Entstehung antiker Texte in weitaus geringerem Maße von Kürzungen als von Ergänzungen geprägt gewesen zu sein scheint, vermag daran nur wenig zu ändern.215 Zwar ergibt sich von hierher ein gewisser Vorteil für das Fortschreibungs- bzw. Ergänzungsmodell, d. h. für die Priorität des Kurztextes, doch darf dabei nicht übersehen werden, wie gering das Gewicht einer solchen Argumentation ist. Denn es liegt in der Natur der Sache, daß mit statistischen Aussagen dem konkreten Einzelfall nicht immer beizukommen ist. –––––––––––––– 209 210 211 212 213 214

Vgl. SCHMID: Buchgestalten. S. 17–19; dort auch die Literaturverweise. Vgl. LEVIN: Verheißung. S. 69–72; vgl. auch SCHMID: a. a. O. S. 19. SCHMID: a. a. O. S. 21. Vgl. SCHMID: a. a. O. S. 22 und 311–319. Vgl. BEYER: Texte. S. 226; MILIK: Books. S. 275; VANDERKAM: Einführung. S. 59. Zum Grundlegenden s. etwa KRATZ: Komposition. S. 74–76.92–98; EIßFELDT: Einleitung. S. 778–780; anders hingegen u. a. KAISER (Apokryphen. S. 27–30), der die These vertritt, „daß im 3. Esra das Ende einer älteren Ausgabe des Chronistischen Geschichtswerks erhalten ist“ (ders.: a. a. O. S. 28). 215 Vgl. TOV: Story. S. 134.

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5. Ein anderes Argument, das mit dem Analogieprinzip operiert, bezieht sich auf die Struktur der umliegenden Kapitel in LXX und MT. Hier bietet sich besonders 1 Sam 20 an, denn dieser Text ist mit 42 Versen nicht nur von vergleichbarem Umfang, sondern läßt auch durch zahlreiche Brüche, Ungereimtheiten usf. einen ähnlich komplexen Entstehungsprozeß erkennen.216 Trotz dieser Parallelen ist das Kapitel jedoch (anders als 1 Sam 17f.) von LXX und MT ohne frappante Unterschiede überliefert worden. Ähnlich liegen die Dinge in Hinblick auf die Kapitel 14 und 15. Das aber bedeutet, daß sich der relativ einheitlich wirkende, knappe Text von 1 Sam 17f. (LXX) neben denen der sechs anderen Kapitel (1 Sam 14f.; 20 in LXX und MT) eher ungewöhnlich ausnimmt, während 1 Sam 17f. (MT) sich gut in diese Reihe einfügt.217 6. Ein noch wichtigerer Einwand gegen das Primat der Kurzfassung ergibt sich aus 1 Sam 20,8a (LXX).218 An dieser Stelle wird zweifellos der Abschnitt 18,1–4 vorausgesetzt, der allerdings allein durch den MT bezeugt ist.219 Ähnliches gilt vielleicht für 1 Sam 18,6f.: Das Siegeslied, das die Frauen dort zu Davids Ehren singen, paßt eher zu wiederholten Erfolgen in einem längerwährenden militärischen Konflikt, wie sie in 18,5 anklingen, als zu einem einzigen gewonnenen Zweikampf (wie ihn Kap. 17 berichtet). Die LXX verrät also augenscheinlich gleich zweimal ihre Kenntnis des Langtextes.220 Das muß auch LUST zugestehen, der jedoch desungeachtet für die Priorität des Kurztextes eintritt. Er versucht, des Problems Herr zu werden, indem er zur Hilfsannahme einer Parablepsis greift. Wie allerdings der Blick eines Schreibers von 17,54 nach 18,6 abgeirrt sein soll, wird bei ihm nicht recht deutlich. Denn selbst wenn die lateinischen Handschriften, auf deren Wortlaut von 18,6 er sich beruft, hier Ursprüngliches bewahrt haben sollten, bleiben doch drei Fragen offen: a) Wieso sollte ein Kopist eine derart große Textmasse aus dem Auge verlo–––––––––––––– 216 Vgl. unten 8.3. 217 BUDDE: a. a. O. S. 140: „Dass LXX alle Einschübe mit MT teilt, erweckt kein günstiges Vorurteil für ihren kürzeren Text in Cap. 17f.“ 218 Vgl. AURELIUS : a. a. O. S. 47f.; BUDDE : a. a. O. S. 121; BARTHÉLEMY: Niveaux. S. 50; EIßFELDT: a. a. O. S. 15; KAISER: David. S. 285, Anm. 13; VEIJOLA: Dynastie. S. 86. 219 AULD und HO ziehen diese Folgerung allerdings in Zweifel: „To be sure, 20.8 does not say that a covenant has been made between the two, but only that David claims Jonathan has brought him into the covenant of the Lord (... tabh hwhy tyrbb). This may mean being brought into a covenant still to be made rather than already made“ (AULD / HO: a. a. O. S. 35). Diese Erklärung verkennt vollkommen die textpragmatischen Gegebenheiten, die hinter 20,8 stehen. Zur Erläuterung dessen s. u. 8.2 und vgl. einstweilen die Einschätzung des in diesen Dingen für gewöhnlich eher zurückhaltenden STOEBE: a. a. O. S. 370, 374, Anm. 8 c); vgl. ferner z. B. HERTZBERG: a. a. O. S. 132; STOLZ: a. a. O. S. 133 und 136. 220 Vgl. BARTHÉLEMY: a. a. O. S. 49f.; AURELIUS: a. a. O. S. 47f. Damit ist zugleich angedeutet, daß in 18,6aa die Worte yI;tVvIlVÚpAh_tRa twø;kAhEm dˆw∂;d b…wvV;b sekundär sein müssen. Vgl. dazu unten Kap. 6.

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ren haben?221 b) Und weshalb sollte dies im Falle zweier Formulierungen geschehen sein, die im Hebräischen offensichtlich nicht identisch gewesen sein können, sondern allenfalls als „similar“222 einzustufen sind? c) Wenn wirklich eine aberratio oculi, die ihren Ausgang in 17,54ab genommen hat (MIDlDv…wr◊y …whEaIb◊yÅw) der Grund für das Fehlen der Verse 18,1b.3–5.6aa 223 gewesen sein sollte, warum ist die zweite Vershälfte von 17,54 (wølFhDaV;b MDc wyDlE;k_tRa◊w) dann nicht auch ausgefallen? 7. Völlig zu Recht hat T OV wiederholt auf die sorgfältige Art der Übertragung hingewiesen, von der die Fassung der LXX geprägt ist.224 Es leuchtet daher unmittelbar ein, wenn er behauptet, daß der Respekt, den die griechischen Übersetzer dem Original offensichtlich gezollt haben, kaum eine Kürzung vom Ausmaße des MT-Überhanges zugelassen hätte.225 Allerdings ist es wichtig zu sehen, daß dieser Einwand allein den Prozeß der Übertragung betrifft und weder eine gekürzte Vorlage noch eine kürzende Überarbeitung der LXX ausschließt.226 Auch dürfen TOVs Beobachtungen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Kurzfassung verglichen mit der MT-Version auch Textüberschüsse (17,36baLXX.43adLXX) und sogar orthographische wie terminologische Divergenzen aufweist. –––––––––––––– 221 Das sieht L UST wiederum selbst und behilft sich mit der Annahme, daß die Verse 17,55–58; 18,1a.2 dem Schreiber noch nicht vorlagen (wie in einem Text des Hippolyt bezeugt), sondern erst aus einer anderen Version der Geschichte bzw. deren Einarbeitung stammen; vgl. LUST: a. a. O. S. 8f. und zur Veranschaulichung S. 14. Man kann insgesamt m. E. dem Urteil kaum ausweichen, daß LUSTs Theorie insofern zu kompliziert ausfällt, als sie mit unnötig zahlreichen Zusatzannahmen operiert. Ein weiteres Problem besteht darin, daß er sich mehrfach auf Textzeugen beruft, deren Aussagekraft hinter der von LXXB, LXXA und des Codex Petropolitanus deutlich zurückbleibt. 222 LUST: a. a. O. S. 8. Es handelt sich des näheren um die Worte „et ferret caput eius in Ierusalem“, die in einigen lateinischen Handschriften auf das „percusso Philistaeo David“ folgen, vgl. V ERCELLONE : Lectiones, S. 263. Dieser Satz könnte nun zwar vielleicht auf ein hebräisches MIDlDv…wr◊y wøvaør aEbÎ¥yÅw führen, das ein unachtsamer Schreiber unter Umständen mit dem MIDlDv…wr◊y …whEaIb◊yÅw aus 17,54 verwechselt haben könnte, doch ist es um einiges wahrscheinlicher, daß der fragliche Satz bloß eine späte Glosse darstellt. Denn er stellt nicht nur die längere, sondern auch die einfachere, gefälligere Lesart dar, weil durch ihn der chronologische Einsatzpunkt von 18,6ff. eindeutig bestimmt wird: Die Frauen ziehen singend aus ihren Städten, als David das Haupt des Philisters nach Jerusalem bringt; hier wird also explizit an 17,54a angeknüpft. Die Zweifel an der Ursprünglichkeit des Satzes sind – nebenbei bemerkt – nicht gerade neu, vgl. ebd. 223 Zu dieser Versangabe s. o. Anm. 221 (Kap. 5). 224 Vgl. neben seinen Beiträgen in dem von BARTHÉLEMY herausgegebenen Sammelband auch TOV: Composition. S. 97–137. 225 Vgl. TOV: Nature. S. 38; so u. a. auch HENTSCHEL: NEB.AT 33. S. 108. 226 Dementsprechend erwartet TOV, daß sich in der Diskussion der vier Exegeten (s. o. in Kap. 5 die Anm. 170) am ehesten auf dieser Linie ein Konsens abzeichnen könnte; vgl. TOV: Story. S. 134. Diesen Schwachpunkt erkennen auch AULD und HO (Making. S. 24), schlagen daraus jedoch kaum Gewinn, sondern plädieren vielmehr für ein Modell, demzufolge das MT-Plus auf “literary creation by a redactor out of existing material in 1 Samuel” (ebd.) beruhe.

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Von besonderem Interesse sind zwei Punkte, an denen sich mehr oder minder deutliche Parallelen zwischen dem Kurztext und dem MT-Plus zeigen. Zunächst ist hier natürlich V. 36baLXX zu nennen, der – wie oben bereits beschrieben – solch frappierende Übereinstimmungen mit 17,26a und vor allem ba aufweist, daß hier ein Zufall praktisch ausgeschlossen ist. Folglich stellt sich die Frage, ob der Fall wahrscheinlicher ist, daß der (etwaige) Schöpfer des MTÜberhangs sich aus V. 36 baLXX bedient hat, oder der, daß ein (eventueller) Überarbeiter der LXX (oder ihrer Vorlage) das, was ihm aus dem weggekürzten Textbereich wertvoll oder verwertbar erschien, in den verbliebenen Rumpftext herübergerettet hat. Die erste Möglichkeit ist der zweiten gegenüber deutlich im Nachteil, muß sie doch erklären, warum der Ergänzer V. 36 nicht in der vorgefundenen Form (LXX) beließ, sondern den Vers kürzte. Außerdem müßte man ein plausibles Motiv für die Neupositionierung des Teilverses finden. Bei der zweiten Hypothese ergibt sich dieses Motiv quasi von allein durch den Fortfall der V. 12–31, man muß lediglich – was alles andere als abwegig erscheint – einen Bearbeiter unterstellen, der Davids Entschlossenheit und Mut betonen wollte und daher V. 26 nicht aufgeben mochte.227 Weiterhin ist auf 17,42 (LXX) hinzuweisen, wo wie bei der Langfassung in 17,23 der Name Goliat nach 17,4 ein zweites Mal begegnet.228 Hochgradig unwahrscheinlich ist die Annahme, der in 17,42 (LXX) belegte Eigenname sei nachträglich im MT durch das viel allgemeinere yI;tVvIlVÚpAh ersetzt und nach V. 23 verpflanzt worden. Denn für einen solchen Schritt besteht erneut keinerlei Anlaß. Der umgekehrte Fall, daß der Eigenname das yI;tVvIlVÚpAh verdrängt hat, erscheint dagegen durchaus naheliegend, weil (wie noch zu zeigen sein wird)229 schon die Namensnennung in 17,4 einen literarischen Zuwachs darstellt, die Tendenz, dem Gegner mehr und mehr individuelle Züge zu verleihen, also ohnehin in der Textgeschichte von 1 Sam 17 beobachtet werden kann. Gestützt wird diese Einschätzung durch den oben schon erwähnten Umstand, daß der Name Goliat in der LXX an den zwei besagten Textstellen unterschiedlich geschrieben wird (V. 4: Goliaq ; V. 42: Goliad ).230 Denn diese Differenz läßt darauf schließen, daß die beiden Passagen nicht aus ein und derselben Feder stammen. Ein dritter Punkt betrifft einen terminologischen Unterschied zwischen 17,40 und 43. Bemerkenswerterweise gibt V. 43 twølVqA;mA;b mit e˙n rJa¿bdwˆ wieder, obwohl –––––––––––––– 227 Daß die LXX-Überhänge 17,36b aLXX.43adLXX als Zuwächse einzustufen sind, vermuten überdies mit guten Gründen: AURELIUS: a. a. O. S. 47f.; GOODING: Approach. S. 67–69; STOEBE: a. a. O. S. 331, Anm. 36 b), sowie S. 332, Anm. 43 c); WELLHAUSEN: Text. S. 106–108. 228 Ein Unterschied besteht freilich darin, daß 17,23 noch den Eigennamen um zwei zusätzliche Informationen ergänzt (yI;tVvIlVÚpAh, vielleicht als eine Art cognomen zu verstehen, sowie die Herkunftsbezeichnung tÅ…gIm). 229 S. u. 5.3.2. 230 Der Text, den TOV seinen Ausführungen zugrundelegt (LXXB), ist hier eine Spur glatter als der bei RAHLFS gebotene. S. dazu TOV: Nature. S. 24 und 27.

Auswertung

183

kurz zuvor V. 40 das Wort wølVqAm noch als th\n bakthri÷an aujtouv übersetzt. Das ist umso interessanter, als sich in der LXX unmittelbar an das e˙n rJa¿bdw der oben als V. 43adLXX bezeichnete Textüberhang anschließt. Hier an bloße Koinzidenz zu denken, dürfte das schwächste Erklärungsmodell sein. Plausibler erscheint mir die Möglichkeit, daß bei der Einfügung von V. 43adLXX auch die Übertragung des twølVqA;mA;b verändert wurde, indem man den ursprünglich verwendeten Terminus bakthri÷a bzw. bakthri÷ai durch das Wort rJa¿bdoß ersetzte. Über die Gründe für diese Substitution läßt sich nur spekulieren. Letztlich wird das Sprachempfinden des Bearbeiters den Ausschlag gegeben haben. Möglicherweise schien ihm der rJa¿bdoß auf der Bildebene (das Totschlagen eines Hundes) passender als die bakthri÷a. Vielleicht war ihm rJa¿bdoß auch bloß geläufiger, denn der Begriff bakthri÷a begegnet lediglich zehnmal im AT, während es jener auf ganze 117 Belege bringt. Das hebräische lé;qAm wird zudem in den meisten Fällen als rJa¿bdoß übersetzt (Gen 30,37–39.41; 32,11; Num 22,27; 1 Sam 17,43; Jer 31,17; Ez 39,9; Hos 4,12; Sach 11,7.10.14), nur drei Stellen verwenden bakthri÷a (Ex 12,11; 1 Sam 17,40; Jer 1,11). Außerdem könnte man überlegen, ob die ursprüngliche griechische Fassung hier eventuell wie der MT (twølVqA;mA;b) eine pluralische Formulierung enthielt, was dann den Anlaß für einen Eingriff gebildet haben könnte. Weniger wahrscheinlich ist dagegen die Annahme, der vom Sprachgebrauch in 17,40 abweichende Begriff rJa¿bdoß sei gewählt worden, um dem Plural der hebräischen Vorlage Rechnung zu tragen. Denn dem steht der Befund entgegen, daß überall dort, wo im Hebräischen lé;qAm in der Mehrzahl gebraucht wird, die griechische Fassung auch das rJa¿bdoß in den Plural setzt (vgl. Gen 30,37–39.41; Sach 11,7; anders allein 1 Sam 17,43). Mit der Annahme einer solchen Substitution ist zugegebenermaßen noch nichts über das Verhältnis dieses redaktionellen Eingriffs zu den ‚Lücken‘ des LXX-Textes ausgesagt. Immerhin zeigt aber, wie mir scheint, auch 17,43LXX eine gewisse Tendenz, die Darstellung des Geschehens zu glätten. Daß 17,44a eine klare Doppelung zu 17,43aa darstellt, wurde schon gesagt. Sie fällt nicht allzusehr auf, weil V. 43b die wörtliche Rede unterbricht und dadurch eine erneute Redeeinleitung sinnvoll macht. Andererseits haben die beiden Sätze exakt denselben Wortlaut, was man angesichts ihres geringen Abstandes voneinander zumindest als stilistische Härte bezeichnen darf. Dieser Schönheitsfehler wird in der LXX dadurch ein wenig weiter abgemildert, daß auch V. 43adLXX zwischen die zwei identischen Versteile tritt, sich nunmehr also ein Sprecherwechsel vollzieht (kai« ei•pen Dauid), der die erneute Redeeinleitung in 17,44a endgültig rechtfertigt. Es ist demnach wenn schon nicht erwiesen, so doch wenigstens nicht unwahrscheinlich, daß die Überarbeitung von V. 43 unter anderem das Ziel verfolgte, den ihr vorgegebenen Text stilistisch zu glätten. Bedenkt man in diesem Zusammenhang, was oben bereits angedeutet wurde, daß sich nämlich das Fehlen der (an sich funktionslosen) Redeeinleitung aus V. 37 in der LXX kaum etwas anderem als einer Kürzung verdanken kann, welche die unschöne und zudem unnötige Doppelung

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1 Samuel 17,1–18,4

mit V. 34 beseitigen wollte,231 dann zeigt sich eine gewisse Parallelität. Das aber bedeutet, daß sich hinsichtlich ihrer Tendenz Nähen zwischen den Textüberhängen und den ‚Lücken‘ der LXX ausmachen lassen. Mitunter sind sich LXX-Plus und -Minus sogar im buchstäblichen Sinn nahe: so etwa in 17,36f., wo einem Überschuß (17,36baLXX) auf dem Fuße eine (gegenüber dem MT) kürzere Lesung (17,37a) folgt.232 Wenn die Überhänge der LXX nun als sekundär einzustufen sind,233 dann gilt das also vermutlich auch für die Stellen, an den die griechische Fassung kürzer als die hebräische ausfällt. Auch die gesonderte Untersuchung der wenigen Textüberhänge und internen Spannungen der durch die LXX bezeugten kürzeren Fassung deutet also darauf hin, daß nicht die Überschüsse des Langtextes das Ergebnis einer umfangreichen Fortschreibung jener kurzen Version sind, sondern umgekehrt die ‚Lücken‘ und Überhänge des Kurztextes das Produkt einer weitreichenden, überwiegend mit Streichungen operierenden Bearbeitung der langen Version. 8. Die beiden soeben erwähnten sprachlichen Divergenzen in der LXX geben überdies einen deutlichen Hinweis darauf, wann jene (vorwiegend kürzende) Bearbeitung der Langfassung stattgefunden haben dürfte. Weil die griechische Version sowohl in der Schreibung des Namens Goliat als auch in der Übersetzung des hebräischen Wortes lé;qAm schwankt, legt sich der Schluß nahe, daß dieser Schritt nach der Übersetzung (des Langtexts) ins Griechische erfolgt ist. Entstehungsgeschichtlich müßte man dann ungefähr an das ausgehende 3. oder das beginnende 2. Jahrhundert v. Chr. als Zeitpunkt dieser Überarbeitung denken. 9. Ein wesentliches Problem dieses Erklärungsmodells besteht darin, daß es mit einer Textstufe rechnen muß, die durch keinerlei Handschriften belegt zu sein scheint. Die griechischsprachige Langfassung gilt nämlich nach verbreitetem Urteil gegenüber ihrem Kontext als sekundär, weil sie sich von ihm durch einige sprachliche Besonderheiten abhebt. Diese Abweichungen sind von WE LLHAUSEN , DRIVER und vor allem PETERS zusammengetragen worden,234 wobei allerdings im Einzelfall durchaus Modifikationen nötig sind. Die ungewöhnliche Formulierung o filistiaioß (17,23) etwa, die m. W. nicht eine einzige Parallele

–––––––––––––– 231 Indes darf nicht verschwiegen werden, daß die nach 17,8 ebenso (wenigstens für die Handlung als solche) redundante Sprecheinleitung 17,10 unangetastet blieb. Zum Problem der Konsequenz oder Stringenz der anzunehmenden Überarbeitung vgl. oben 5.3.1, Absatz 1. 232 Entsprechendes läßt sich mutatis mutandis auch in Hinblick auf 17,41.42 und 43 feststellen. 233 Vgl. oben Anm. 227 (Kap. 5). 234 Hierzu vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 104f.; DRIVER: a. a. O. S. 140; v. a. aber die umfangreiche Auflistung bei PETERS: Beiträge. S. 36–40.

Auswertung

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innerhalb der LXX hat,235 als Argument für den Nachtragscharakter des ganzen Abschnitts zu werten, ist, wie mir scheint, nicht sachgemäß. Denn auch das TextPlus der LXXA (17,12–31) spricht sonst ausschließlich von aÓllo/fuloi bzw. von aÓllo/fuloß. Eher wird man hier an eine vereinzelte Glosse zu denken haben, die im übrigen dafür spricht, daß 17,23 (MT) erst nach Abfassung des LXXA-Textes (in seiner ursprünglichen Form) um die Worte tÅ…gIm wømVv yI;tVvIlVÚpAh tÎyVlÎ…g erweitert wurde.236 Auch einige andere Punkte lassen es geraten erscheinen, sich die einzelnen Argumente der drei Exegeten nicht unbesehen anzueignen.237 Die erdrückende Vielzahl der (zumindest meistens) ungeläufigen Übersetzungsweisen macht es jedoch alles in allem recht unwahrscheinlich, daß die LXXA in ihren Überschüssen gegenüber LXXB einen Teil der frühesten griechischsprachigen Übertragung bewahrt haben könnte. Erschwerend kommt noch hinzu, daß der Alexandrinus den Vers 17,12 mit den Worten kai« ei•pen Dauid beginnt, hier also genauso einsetzt wie in V. 32 und damit unwillentlich den Einschub der V. 12–31 zu erkennen gibt.238 Doch auch die Verfechter der Theorie, nach welcher der griechische Kurztext direkt auf eine hebräische Vorlage zurückgeht, sind vor die Schwierigkeit gestellt, von einer Textstufe ausgehen zu müssen, die handschriftlich nicht belegt ist. Somit herrscht auch in diesem Punkte ein argumentatives Remis. Ihm entgeht nur, wer die Schöpfer der LXX zugleich als (hauptsächlich kürzend verfahrende) Bearbeiter von 1 Sam 17f. betrachtet. Diese Theorie aber kann nach den Arbeiten TOVs239 als unwahrscheinlichste Möglichkeit gelten. 10. Aufgrund der genannten Beobachtungen und Überlegungen gehe ich davon aus, daß dem MT die textgenetische Priorität gegenüber der kürzeren, von der LXXB bezeugten Fassung zukommt. Die LXX-Version geht auf eine Revision des –––––––––––––– 235 Üblicherweise wird die Bezeichnung MyI;tVvIlVÚp / yI;tVvIlVÚp in Ri–2 Kön stets als aÓ l lo/ f uloi / aÓ l lo/fuloß übersetzt. In Gen–Jos herrscht hingegen die Übersetzung Fulistiim vor (einzige Ausnahme: Ex 34,15); vgl. dazu auch SEELIGMANN: Septuagint Version. S. 245f. 236 Damit ergibt sich der bemerkenswerte Befund, daß die LXXA-Fassung zumindest an dieser Stelle auf einem älteren Texttyp aufbaut als dem, von welchem die Abfassung der LXXB ihren Ausgang nahm. Denn der Vaticanus läßt ja, wie oben in 5.3.1, Absatz 7, dargelegt, in 17,42 noch erkennen, daß ihm 17,23 in der masoretischen Fassung vorlag. 237 Schon DRIVER (a. a. O. S. 140) ist unsicher, ob die Übersetzung des bE…xÅyVtˆ¥yÅw (17,16) mit ejsthlw¿qh angesichts von 2 Sam 23,12 wirklich exzeptionell und mithin aussagekräftig ist. Auch aÓ n hgge/lhsan für wdˆ…gÅ¥yÅw (17,31) ist nicht so ungewöhnlich, wie PETERS (a. a. O. S. 37) augenscheinlich meint (vgl. etwa 1 Sam 3,13; 25,12; 2 Sam 10,5.17). 238 Vgl. LUST: Story. S. 6. Freilich muß der Umstand, daß diese Verse der LXX A nachträglich zugewachsen sind, noch nicht zwingend bedeuten, daß sie darum auch jünger als alles übrige sind. Denkbar wäre auch, daß sie zunächst Teil der ursprünglichen LXX-Fassung waren, dann von einem Redaktor gestrichen wurden, schließlich aber von dritter Hand dem Kurztext wiedereingegliedert wurden. LUSTs Annahme ist indes naheliegender. 239 Vgl. TOV: Composition. S. 97ff.; ders.: Nature. S. 19ff.

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griechischen Texts zurück, deren primäres Anliegen es war, eine inhaltlich wie stilistisch ebenmäßigere Erzählung zu schaffen. Zeitlich gehört diese umfangreiche, aber offensichtlich nur punktuell (1 Sam 17f.) durchgeführte Überarbeitung vielleicht noch ins frühe 2. Jahrhundert v. Chr. Man könnte versucht sein, erheblich später zu datieren, doch dem widerrät der Umstand, daß von der ursprünglichen Fassung, dem originären griechischen Langtext, allem Anschein nicht einmal eine Spur erhalten geblieben ist. Das erzählerische Profil des Verfassers ist vor allem durch den äußerst ungewöhnlichen Versuch bestimmt, eine möglichst widerspruchsfreie, in der Ereignisfolge stringente und zudem möglichst gleichmäßig voranschreitende Geschichte herzustellen. Dieser Versuch spiegelt sich am deutlichsten in der Streichung der Verse 17,12–31.41.48b.50.55–58; 18,2.5 wider, mit der die gröbsten Ungereimtheiten ausgeräumt sind, doch auch die Auflösung von Dubletten (z. B. durch den Fortfall von 18,10f.) sowie die Beseitigung redundant erscheinenderer Elemente (wie etwa in 18,21b.26b) gehören hierher. All das setzt eine Auffassung von Prosaliteratur voraus, die sich grundlegend von derjenigen unterscheidet, auf welcher die alttestamentlichen Erzählwerke fußen. Es liegt nahe, diese Entwicklung auf den Einfluß griechischen Denkens, genauer: griechischsprachiger Literatur zurückzuführen. Insofern ist es um so bemerkenswerter, wenn GOODING sich andernorts in der LXX-Version (17,43adLXX) an die Art von Humor erinnert fühlt, die etwa bei Aristophanes begegnet.240 Zugleich fällt auf, daß sich keinerlei Hinweise zeigen, die auf ein weiterreichendes historiographisches Interesse des Bearbeiters hindeuten könnten. Der Überarbeiter entnimmt dem Text zwar z. T. recht lange Passagen, fügt ihm jedoch kaum Neues hinzu – damit aber ist die entscheidende Chance vertan, die Glaubwürdigkeit des Berichteten durch zusätzliche Informationen, Überlegungen etc. zu erhöhen. Dort, wo er tatsächlich einmal nachbessert, zeigt sich, daß sein Augenmerk in erster Linie dem Davidbild der Erzählung gilt. Den Isaisohn will er offenkundig als unerschrocken und gewitzt verstanden wissen (V. 43adLXX). Dies geht auch aus V. 36baLXX hervor, den er aus dem weggekürzten langen Abschnitt herüberrettet – vermutlich weil Davids Mut aus diesen Worten des jungen Helden besonders eindrucksvoll spricht. Auch in dieser Hinsicht nimmt es also nicht wunder, daß der Überarbeiter auf jene Szenen meinte verzichten zu können, die David als Hütejungen auffassen (v. a. 17,12–31). Und ebenfalls vor diesem Hintergrund wird nun auch verständlich, warum sich die Bearbeitung allein auf die Kapitel 1 Sam 17f. beschränkt: nur hier werden Heldentaten des Kriegers David

–––––––––––––– 240 S. Anm. 109 (Kap. 5).

Auswertung

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berichtet – nach seinem Philistersieg in 18,20–27 beginnen schon alsbald in 1 Sam 19 die Fluchtgeschichten, die ihn primär als Verfolgten darstellen.241 Es ist schwer einzuschätzen, welche Vorstellungen oder Intentionen hinter dieser Revision gestanden haben mögen. Versteht man die Figur des David als Chiffre für Israel / Juda, dann läge natürlich eine Entstehung während der Makkabäeraufstände oder -herrschaft nahe.242 Doch die Tatsache, daß sich die griechischsprachige Fassung des Langtextes nicht erhalten hat, macht, wie schon dargelegt, die Annahme einer derart späten Überarbeitung problematisch. Die Zeit der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Ptolemäern und Seleukiden gegen Ende des 3. bzw. zu Anfang des 2. Jahrhunderts v. Chr., d. h. die zunehmende Destabilisierung der politischen Situation vor allem in Syrien-Palästina, könnte ebensogut Hoffnungen auf eine erneute staatliche Selbständigkeit geschürt haben, die sich dann unter Umständen in der hier beschriebenen Revision und ihrem Davidbild niederschlugen.

5.3.2

Entstehung der Langfassung

Die Untersuchung des Abschnitts 1 Sam 17,1–18,5 hat sich bis hierher vornehmlich darauf beschränkt, ein komplexes Geflecht aus logischen Beziehungen sowie sprachlichen Parallelen und Differenzen freizulegen. Immerhin dürfte dabei aber bereits soviel klar geworden sein, daß die Texteinheit eine Vielzahl von z. T. sehr unterschiedlichen Vorstellungen darüber vereint, wer oder was jener Held der Geschichte namens David bei seinem Sieg über den Philister war. Er wird dort als als lebender Beweis für alle Welt verstanden, daß Jhwh seinem Volk beisteht (so in V. 46), als Bezwinger nicht irgendeines namenlosen Philisters, sondern des großgewachsenen, gutgerüsteten Goliat (v. a. in den V. 4–7), als Glaubensheld, der sein Geschick allein Jhwhs Obhut anvertraut (vgl. V. 37a.45*.47), als Freund des Königssohnes Jonatan (18,1.3f.), als wenig beachteter Knappe, d. h. als ein Niemand, von dem erst aufgrund seines Erfolgs Notiz genommen wird (17,55–58), als kühner Hütejunge, der von seinem älteren Bruder allein dafür angeherrscht wird, daß er sich dem Schlachtfeld bloß nähert (so in den V. 25–31), als Teilzeitkraft, gleichermaßen im militärischen Bereich wie in der Viehwirtschaft tätig (besonders V. 15), als ehemaliger Hirte (V. *33–35) sowie zu guter Letzt als Waffenträger im Dienste des Königs (so etwa in V. 32 und 54). Bei näherem –––––––––––––– 241 Eine Ausnahme stellt hier 1 Sam 25 dar, wo aber ebensowenig ein Husarenstück des Kriegers David dargeboten wird wie in den Erzählungen, die mit 1 Sam 27 beginnen – hier wie dort tritt David allenfalls als Heerführer in Erscheinung. 242 Darauf, daß diese Phase der Geschichte Israels mitunter recht deutliche Spuren in der LXX hinterlassen hat, weist schon SEELIGMANN (Septuagint Version. S. 222–257) hin.

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1 Samuel 17,1–18,4

Hinsehen zeigt sich, daß diese verschiedenen Davidbilder unterschiedlichen textgenetischen Straten entsprechen. Das soll im folgenden demonstriert werden. 5.3.2.1

Davids Sieg als Zeichen für Jhwhs Beistand

Eine sehr späte Ergänzung scheint in den V. 46.52b.53 vorzuliegen. Daß V. 46 sich von seinem näheren Kontext, dem Wortwechsel der beiden Zweikämpfer, abhebt, wird vor allem an dem theologischen Gedanken erkennbar, den er in seiner zweiten Hälfte dem Helden in den Mund legt. David äußert hier den Wunsch, alle Welt möge an seinem unmittelbar bevorstehenden Sieg ablesen, daß Israel einen Gott habe, der ihm allzeit beistehe. Dagegen ist nach V. 45 und 47 Israel aufgerufen zu erkennen, daß Jhwh vollkommen souverän über Sieg und Niederlage entscheidet. Neben der jeweiligen theologischen Botschaft sind also auch die Adressaten jeweils verschieden: V. 47 richtet sich an Israel, V. 46 gleich an X®rDaDh_lD;k. Hinzu kommt ferner, daß durch den Anfang V. 46aa und durch 47bb zweimal in direkter Folge, doch bei unterschiedlichem Wortlaut die sogenannte Übergabe- oder Übereignungsformel243 Verwendung findet. Schließlich bildet 17,46 auch eine Doppelung zu V. 44. Dort spricht der Philister davon, den Leichnam seines Gegners den Vögeln des Himmels h®dDÚcAh tAmThRbVl…w zum Fraß vorwerfen zu wollen. David erwidert mutatis mutandis dasselbe, wenngleich mit anderen Worten – in seiner Version soll das Mahl den Vögeln des Himmels X®rDaDh tÅ¥yAjVl…w bereitet werden. Die Formulierung aus 17,44 ist nicht bloß im ganzen AT singulär, sie kann wohl sogar mit einigem Recht als Stilblüte angesprochen werden.244 Demgegenüber ist der Ausdruck aus V. 46 durchaus geläufig und nimmt sich daher wie eine stilistische Korrektur aus. Am häufigsten findet er sich in der Priesterschrift.245 Wie P klingt auch V. 53, wenn er von den lEa∂rVcˆy y´nV;b spricht. Diese Wortwahl ist deswegen besonders auffällig, weil sie sonst nirgends in Kap. 17 anzutreffen ist. Darüber hinaus verbindet die V. 46 und 53 auch die Erwähnung des Philisterlagers. Zu V. 53 gehört vermutlich V. 52b hinzu, denn diese beiden Textstücke setzen die V. 51b.52a voraus, unterscheiden sich von ihnen aber darin, daß sie das Gentilizium MyI;tVvIlVÚp nicht mit dem Artikel kombinieren. Da 17,52b offensichtlich die diversen Ortsbezeichnungen, die V. 52a anführt, noch einmal neu deuten will, nimmt er sich wie ein Verbesserungsversuch und damit ähnlich wie 17,46 aus. Es zeigen sich also mehrere Nähen zwischen V. 46 und den V. 52b.53, ohne daß daraus jedoch mit Sicherheit eine zeitgleiche Einfügung abgeleitet werden kann. Aus Gründen der Denkökonomie (‚Occam’s razor‘) dürfte diese Möglichkeit allerdings zu favorisieren sein. –––––––––––––– 243 Zum Grundsätzlichen hierzu vgl. ACKROYD: Art. dÎy. Sp. 450f.; LIPINSKI: Art. NAtÎn. Sp. 698f. 244 Vgl. Anm. 114 (Kap. 5). 245 Vgl. Anm. 113 (Kap. 5).

Auswertung

189

Damit ergibt sich als Gesamtbild eine nicht sehr umfangreiche Ergänzung, die sich zum einen dadurch auszeichnet, daß sie die literarische Qualität der Erzählung zu heben sucht. Zum anderen ist ihr daran gelegen, den Sieg Israels über die Philister in seiner Deutlichkeit noch zu steigern. Ihr zentrales Anliegen besteht aber darin, der Großtat Davids eine neue Bedeutung zu verleihen. Sie will seinen Sieg als ein weithin erkennbares (also sich nicht allein Jhwh-Verehrern erschließendes) Zeichen dafür verstanden wissen, daß Israel des Beistands seines Gottes gewiß sein kann. Eine Datierung der Ergänzung ist allenfalls im Ansatz möglich. Als terminus a quo können a) die Entstehung der Priesterschrift und b) die Abfassung der vorausgesetzten V. 44f. und 52a gelten. Damit ist aber nicht viel gewonnen, zumal auch das zeitliche Verhältnis zu dem gleich noch herauszuarbeitenden Stratum (s. u. 5.3.2.2) nicht sicher ist. Wegen ihrer theologischen Anschauungen möchte ich aber die V. 46.52b.53 etwas später als die Goliatergänzung ansetzen. Denn aus ihnen spricht eine Theologie, die zwar nach wie vor primär um Israel und seinen Gott kreist, dabei jedoch auch schon die übrige Welt als relevante Größe in den Blick nimmt. 5.3.2.2

David als Goliatbezwinger

Aus den V. 4ab–7 spricht deutlich das Anliegen, der Figur des Philisters, gegen den David zu Felde zieht, individuelle, und zwar möglichst furchteinflößende Züge zu verleihen. Daß dieser Abschnitt keinen genuinen Bestandteil der Erzählung bilden kann, geht daraus hervor, daß sich der Name Goliat in 1 Sam 17f. nur an zwei Stellen findet, im übrigen jedoch unbekannt ist. Am sinnfälligsten wird dies in 17,8, wo amüsanterweise sogar der philistäische Vorkämpfer selbst sich nicht anders vorzustellen weiß als mit dem Gentilizium yI;tVvIlVÚpAh. Auch hemmen die V. 4ab–7 spürbar den Fortgang der Handlung und unterscheiden sich in mehreren Details von ihrem Kontext.246 Der Viertelvers 4ab und (wenigstens teilweise) auch die übrigen Verse dürften überdies durch 2 Sam 21 inspiriert sein, wo u. a. ein gewisser Goliat noch von einem Bethlehemiter namens Elhanan niedergestreckt wird. Dafür spricht zum einen die Geläufigkeit des Phänomens, daß verdienstvolle Taten von niedriggestellten auf höherrangige Personen übertragen werden. Zum anderen weist die Beschreibung der Bewaffnung des Goliat aus 1 Sam 17,5–7 unübersehbare, z. T. wörtliche Anklänge an 2 Sam 21,19 und 16 auf, –––––––––––––– 246 Diese Details, es sei hier noch einmal kurz wiederholt, betreffen a) die Orthographie: V. 5 schreibt oAbwøk◊w – V. 38 hingegen oAbwøq; b) die Bewaffnung des Philisters: nach V. 45 und 51(MT) scheint er über eine b®rRj zu verfügen (vgl. auch 21,10 und 22,10) – nicht so jedoch in 17,5–7; c) die Handlung: ein Schildträger taucht nur in V. 7b und 41b auf – doch nirgends in der Schilderung des Zweikampfes; d) die Terminologie: in V. 7b wird der Knappe des Philisters hÎ…nI…xAh aEcOn genannt – V. 41b bezeichnet ihn dagegen als hÎ…nI…xAh aEcOn vyIaDh.

190

1 Samuel 17,1–18,4

fällt aber insgesamt viel breiter aus und überbietet auch die waffentechnischen Angaben aus 2 Sam 21,16 in mehrfacher Hinsicht. Zwei Absichten dürften maßgeblich die Abfassung dieser Verse veranlaßt haben. Erstens darf man wohl den Wunsch unterstellen, das Erzählte weiter auszumalen und vor allem spannender zu gestalten. Zu diesem Zweck bot es sich an, den Gegenspieler des Helden gleichermaßen plastisch wie drastisch zu beschreiben und dabei zugleich den Fortgang der Handlung zu verlangsamen. Zweitens wird der Wunsch eine Rolle gespielt haben, Davids Verdienst noch deutlicher, als bis dato geschehen, hervorzuheben. Der theologische Clou besteht dabei darin, daß es nicht etwa Davids Sieg über den übermächtigen Feind ist, der ihn zum Helden macht. Vielmehr knüpft die Ergänzung an V. 45* an – der Vers nennt den Gegner noch yI;tVvIlVÚpAh und bezeugt damit selbst, älter als V. 4ab–7 zu sein – und führt also der Leserschaft klar vor Augen, daß sich das Selbstvertrauen des Philisters auf nichtige, äußerliche Dinge wie etwa seine Bewaffnung stützt, während David seine Zuversicht aus dem Vertrauen auf Jhwh bezieht. Der Philister wird so wie der Ungläubige par excellence ausgewiesen, David aber erscheint als um so leuchtenderes Vorbild im Glauben. Eine Datierung der Einfügung fällt nicht leicht. Immerhin kann man als terminus ad quem die Abfassung von Ps 151 benennen, denn dieser Psalm blickt bereits auf den Kampf Davids gegen Goliat zurück, kennt also bereits das soeben herausgearbeitete Stratum. K AISER rechnet damit, daß der Psalm vor Beginn des 2. vorchristlichen Jahrhunderts verfaßt wurde.247 Die Ergänzung müßte somit ebenfalls spätestens im 3. Jh. v. Chr. vorgenommen worden sein.248 Weiterhin ist zu bedenken, daß die LXX sowohl den Abschnitt 17,4ab–7 selbst enthält als auch die auf ihm aufbauenden Stücke 1 Sam 21,9f. und 22,10. Da diese zwei Stellen mit einiger Wahrscheinlichkeit erst nach der hier herausgearbeiteten Schicht entstanden sind,249 wird man mit der Datierung auch nicht allzu nahe an die Entstehungszeit der LXX heranrücken dürfen. –––––––––––––– 247 Vgl. KAISER: Apokryphen. S. 69. 248 Der terminus a quo ergibt sich aus der Datierung der nächstälteren Schicht (vgl. 5.3.2.3). Damit bestätigt sich das Urteil PERLITTs (Riesen. S. 245): „Namen, Beschreibungen und Begriffe aus dem Umkreis von Riesen-Vorstellungen finden sich insgesamt nicht in der älteren oder gar ältesten Literatur Israels, sondern ganz überwiegend in spät- und nach-deuteronomisitischen Texten [...].“ 249 Beide erwähnen (anders als 17,4ab–7) das Schwert (b®rRj) des Goliat, vgl. Anm. 246 (Kap. 5). Andererseits liest 22,10 (LXX) im Gegensatz zu 21,10 (LXX) nicht Goliaq, sondern Goliad. Das könnte als Indiz dafür verstanden werden, daß 22,10 noch einmal später als 21,10 und damit auch als die Grundfassung der LXX (in diesem Textbereich) anzusetzen ist. 22,10b sieht interessanterweise auch im MT wie eine Glosse aus, da der Halbvers anders als V. 10ab (bei im übrigen völlig parallelem Satzbau) vor dem Verbum Ntn das Objekt eigens mit Hilfe der Nota accusativi kennzeichnet, vgl. BUDDE: a. a. O. S. 153.

Auswertung

191

Die Einsprengsel tÅ…gIm wømVv yI;tVvIlVÚpAh tÎyVlÎ…g in 17,23aa , 17,41b sowie NwødyIkVb…w am Schluß von 17,45a sind zweifellos von 17,4ab –7 abhängig und werden etwas später eingefügt worden sein. Im Fall von 17,23aa ist dies noch einigermaßen deutlich aus der Textfassung von LXXA abzulesen, wie oben bereits dargelegt wurde.250 17,41b hebt sich schon im MT terminologisch leicht von seinem Gegenstück in 17,7b ab, weil er nicht wie jener vom hÎ…nI…xAh aEcOn spricht, sondern die Bezeichnung zu hÎ…nI…xAh aEcOn vyIaDh erweitert. Das NwødyIkVb…w aus V. 45a schließlich kann nach meinem Dafürhalten allein als nachträglicher, von einem ausgesprochen buchstäblichen Verständnis geprägter Vermittlungsversuch zwischen 17,5–7 und 45* verstanden werden. Alle drei Einschübe dienen der nachträglichen Verzahnung der V. 4ab –7 mit ihrem Kontext. Offensichtlich wurde eine gewisse Andersartigkeit jenes Abschnitts bereits in der Antike empfunden. 5.3.2.3

David als Glaubensheld

Der nächstältere Ergänzungsschub251 umfaßt die V. 37a.44.45*(d. h. ohne NwødyIkVb…w). 47.50. Daß diese Verse tatsächlich älter sind als das zuletzt betrachtete Stratum, geht deutlich daraus hervor, daß Davids Gegner hier lediglich yI;tVvIlVÚpAh genannt wird und noch nicht den Namen Goliat trägt.252 Die Zusammengehörigkeit jener Verse dagegen zeigt sich in der ihnen gemeinsamen Tendenz, David als Helden besonderen Zuschnitts zu charakterisieren, dessen kühne Siegesgewißheit sich nicht auf die eigene Stärke oder Rüstung gründet, sondern dem Vertrauen auf Jhwh entspringt. Diese Tendenz wird ein erstes Mal in 17,37a sichtbar, wo David nicht mehr, wie noch unmittelbar zuvor in den V. 34–36, mit seiner als Hirte erworbenen Erfahrung im Kampf gegen Raubtiere argumentiert, um dem Philister entgegentreten zu dürfen, sondern mit dem Schutz, den Jhwh ihm vormals hat angedeihen lassen und auf den er weiterhin vertraut. Nicht minder deutlich begegnet sie sodann in den V. 45* und 47. Und schließlich gehört auch V. 50 hierher, wenngleich dieser, wie oben dargelegt, eine stark auf den Wortlaut fixierte Interpretation von 17,45*.47 und insbesondere der dort begegnenden Formulierung b®rRjV;b tyˆnSjAb…w zu sein scheint. Denn dieser Umstand macht es zwar wahrscheinlich, daß 17,50 ein Supplement darstellt, zeigt aber zugleich auch, wie nahe sich die V. 45*.47 und V. 50 in ihren Intentionen stehen: Dort wird David als vorbildlicher Frommer ausgewiesen, der sich nicht auf Waffengewalt verlassen mag – hier wird versucht, diese Aussage mit jener anderen aus V. 51 vermitteln, derzufolge David –––––––––––––– 250 Vgl. 5.3.1, Absatz 9. 251 Der Begriff mag ungewohnt klingen, erscheint mir aber angemessen, da es sich hier um zwei oder drei thematisch eng verwandte Einfügungen handeln dürfte, wie im folgenden gezeigt werden soll. 252 Vgl. V. 37.44.45*.50.

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den Philister mit einem Schwert zu Tode bringt. In gewisser Weise spricht dieses Anliegen auch aus 17,44, da der Vers durch die prahlerische Rede des Philisters dem David erst den Anlaß dazu liefert, den Grund für seine Siegesgewißheit kundzutun. Wie V. 50 vermutlich ein sekundäres Interpretament darstellt, so könnte auch V. 37a von den V. 44.45*.47 textgenetisch abzusetzen sein. Denn anders als 17,47 verwendet er nicht die Wurzel (hi) ovy, um Jhwhs Retterhandeln zu bezeichnen, sondern die Wurzel (hi) lxn, was unter Umständen auf verschiedene Verfasser deuten könnte, letztlich aber kaum von Belang ist – die theologische Intention, die hinter V. 37a steht, ist ja, wie soeben gezeigt, dieselbe wie die, die aus den V. 44.45*.47 spricht. So sehr die beschriebene Tendenz die V. 37a.44.45*.47.50 untereinander vereint, so sehr unterscheidet sie sie zugleich von der übrigen Erzählung. Zu dieser theologischen Differenz tritt eine Reihe weiterer Merkmale jener Verse hinzu, die es recht unwahrscheinlich macht, daß diese Textteile dem ursprünglichen Bestand der Erzählung angehören. So hebt sich V. 37a von seinen ihm direkt vorausgehenden Versen auch dadurch ab, daß er erstens nicht bwø;d schreibt (so V. 34 und 36), sondern (defective) bO;d, und zweitens eine nach V. 34 an sich nicht mehr nötige Redeeinleitung enthält.253 Das letztgenannte Phänomen begegnet auch in V. 44a, welcher wörtlich V. 43aa wiederholt. 17,45* und 47 benutzen als einzige Verse in der gesamten Erzählung die Dyas ‚Schwert und Speer‘. Darüber hinaus gebraucht V. 45* die Gottesbezeichnung lEa∂rVcˆy twøk√rAoAm yEhølTa twøaDbVx hÎwh◊y, was innerhalb des Kapitels ebenso singulär ist wie der Terminus lDh∂q aus V. 47. Zuletzt steht 17,50 in einem unauflösbaren Widerspruch zu 17,51. Die Erzählung wird durch die Ergänzung der genannten Verse um eine Szene bereichert: David schweigt nicht mehr vornehm vor dem Duell, sondern antwortet dem Philister auf seine lästerlichen Reden. Dahinter steht, wie erwähnt, die Absicht, David als Muster an Gottvertrauen darzustellen, was sich am einfachsten durch fromme Worte aus dem Munde des Helden verwirklichen läßt. Gleichzeitig gerät Davids Gegenspieler, der Philister, der bislang in erster Linie als ein typischer ‚Unbeschnittener‘ (V. 26.36), also vornehmlich als Fremder gesehen wurde,254 auf diese Weise in die Rolle des Gottlosen par excellence. Davids vollmun–––––––––––––– 253 Die These, daß es sich bei V. 37a um ein Textstück handelt, das später entstanden sein wird als die V. *34–36, rechtfertigt sich mithin durch das Zusammenspiel dieser drei Beobachtungen. Entsprechendes gilt für V. 10 im Gegenüber zu den V. 8f. KUNZ geht dagegen davon aus, daß diese beiden der Handlung nach nicht notwendigen Redeeinleitungen (17,10 und 17,37) als Gestaltungsmittel des Verfassers interpretiert werden können, das „eine besonders gewichtige Aussage des Sprechenden“ akzentuieren soll (K UNZ: Frauen. S. 103). Das ist zwar eine interessante Interpretation des Phänomens, reicht jedoch ohne weitere, hiermit konvergierende Beobachtungen nicht aus, um die Einheitlichkeit von 17,8–10 und 17,34–37 wahrscheinlich zu machen. 254 Zur sozialen sowie zur theologischen Dimension des Begriffes vgl. MAYER: Art. lårDo / lé r D o / hDl√rDo. Sp. 385–387.

Auswertung

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dige Worte haben aber noch einen weiteren Effekt. Selbst Sauls an sich einleuchtende Idee, seine Rüstung herzugeben, um so den jungen David bei seinem Waffengang zu unterstützen, bekommt nun einen unangenehmen Beigeschmack: den der Kleingläubigkeit (V. 38f.).255 Die Stilisierung des Helden zum exemplarischen Frommen vollzieht sich also vor dem Hintergrund einer gleichzeitigen theologischen Abqualifizierung sowohl des Gegners als auch des Gönners Davids. Und auch das Heer Israels erscheint in verändertem Licht, denn plötzlich ist nicht mehr von lEa∂rVcˆy yEv◊nAa o. dgl. die Rede, sondern von dem lDh∂q, wodurch ein weiteres Mal sehr deutlich die theologische Dimension des Geschehens unterstrichen wird. Aus all dem spricht ein Denken, das in hohem Maße von der Vorstellung der Theokratie geprägt ist, wie sie z. B. in 1 Sam 7,3ff. begegnet. Hier wie dort ist es Jhwh, der die Schlacht schlägt, auch kommt jeweils einer einzelnen Person eine Art religiöser Vorbildfunktion zu, während alle übrigen Gefahr laufen, angesichts der militärischen Bedrohung ihr Vertrauen nicht mehr ausschließlich auf Jhwh zu richten. Dieses theologische Profil, dessen Ausprägung in nachexilischer Zeit erfolgt sein wird,256 sowie die Berührungen von V. 47 mit zwei vermutlich den Chronikbüchern sekundär hinzugewachsenen Stellen (1 Chr 5,22; 2 Chr 20,15) legen den Schluß nahe, daß die Verse 17,37a.44.45*.47.50 der späten Perserzeit entstammen. 5.3.2.4

David als Freund Jonatans

Den entstehungsgeschichtlich vermutlich nächstfrüheren Entwicklungsschritt stellen die Verse 18,1.3f. dar, in denen der Beginn der Freundschaft zwischen Jonatan und David geschildert wird. Zwar finden sich kaum Anhaltspunkte, an Hand derer das Verhältnis zu dem im letzten Abschnitt herausgearbeiteten Ergänzungsschub bestimmt werden kann, doch ist immerhin soviel sicher, daß die Verse 17,37a.44.45*.47.50 die Bedeutung des Sieges Davids auf einer ganz anderen Ebene ansiedeln als 18,1.3f. Während dort die Heldentat ausdrücklich über sich selbst hinausverweisen und die Machtfülle Jhwhs erkennbar machen soll (V. 47), der gegenüber sich das unerschütterliche Vertrauen Davids dann wie die einzig angemessene menschliche Verhaltensweise ausnimmt (V. 45), wird hier der Überwindung des Philisters vor allem hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Fortschritt der Handlung Bedeutung zugemessen. Intendiert ist nicht eine allgemeingültige theologische Aussage über das rechte Verhältnis zwischen Gott und –––––––––––––– 255 In diesem Zusammenhang kann man auch darüber nachdenken, ob V. 37b nicht auch hierher zu rechnen ist. Der Sinn des Halbverses im Zusammenspiel mit 17,38f. läge dann darin, den König als einen Mann darzustellen, der seinen eigenen frommen Worten in seinen unmittelbar folgenden Taten offenkundig widerspricht. 256 Vgl. etwa GUNNEWEG: Geschichte. S. 138f. und 150–152.

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Mensch, vielmehr soll die Beziehung zweier konkreter Einzelfiguren zueinander erzählerisch ausgestaltet werden. Es versteht sich, daß auch hinter dieser Ausgestaltung theologische Motive stehen. Doch ist der Grad der gedanklichen Abstraktion in 17,37a.44.45*.47.50 merklich höher, was Grund zu der Vermutung gibt, daß die Verse 18,1.3f. etwas früher abgefaßt wurden. Die drei Verse sind wahrscheinlich als Ergänzungen einzustufen, da sich V. 1 einerseits an 17,55–58 anlehnt,257 andererseits aber den Zusammenhang jener Passage mit V. 2 unterbricht. Weil darüber hinaus V. 3 eine auffällige Doppelung zu 18,1 bildet und zudem zusammen mit 18,4 den Beginn der Freundschaft etwas breiter schildert als V. 1, kann man weiterhin davon ausgehen, daß die Verse 18,3f. noch einmal etwas später als V. 1 anzusetzen sind. Vers 18,1 setzt seinerseits vermutlich bereits 19,1b voraus, denn er scheint die dort gegebene Hintergrundinformation zu einer eigenständigen kleinen Szene auszugestalten, die er zudem in der Erzählabfolge noch ein beträchtliches Stück vorzieht und ganz dicht an die Ankunft Davids am Hofe Sauls heranrückt. Durch das Hinzutreten der drei Verse gewinnt vor allem der größere Zusammenhang an innerer erzählerischer Schlüssigkeit. Denn die Freundschaft zwischen David und Jonatan bekommt mit 18,1 und 3f. eine eigene kleine Entstehungsgeschichte, vor deren Hintergrund es begreiflich erscheint, wenn der Königssohn im weiteren Verlauf (von Kapitel 19 an) für seinen Freund Partei ergreift und sich so wiederholt gegen seinen Vater stellt. Damit ist auch schon das zentrale Anliegen der Ergänzung berührt: Indem die Verbindung zwischen Jonatan, dem ältesten Königssohn (vgl. 14,49), d. h. dem Kronprinzen, und David, dem nachmaligen Thronfolger, erzählerisch ausgestaltet wird, die beiden also immer weiter zusammengerückt werden, gewinnt der spätere Übergang des Königtums von Saul auf David nicht nur eine zunehmende innere Folgerichtigkeit, sondern auch eine je und je breitere Legitimation.258 Zugleich deutet sich dadurch, daß der Königssohn seine Waffen dem jungen Helden überläßt (18,4), jener Machtwechsel ein erstes Mal an. Und auch der Gegensatz zwischen dem königlichen Vater und seinem ältesten Sohn klingt hier bereits an, denn David hat ja erst kurz zuvor die Waffen des Königs zurückgewiesen (17,38f.), während er nun das Geschenk des Prinzen offensichtlich annimmt. Bei der zeitlichen Einordnung der Verse ist noch ihre Nähe zu der umfangreichen Bearbeitungsschicht in 1 Sam 16,14–23 zu bedenken, die sich erstens im Gebrauch der Wurzel bha ausdrückt (18,1b.3b und 16,21ba), zweitens aber auch durch die hier wie dort festzustellende Affinität zu späten Fortschreibungen der –––––––––––––– 257 Dieser Abschnitt dürfte selbst auch bereits eine nachträgliche Weiterung darstellen, vgl. dazu unten 5.3.2.5. 258 Vgl. JOBLING: a. a. O. S. 6 und passim; WHITELAM: Defence. S. 72. Zustimmend DIETRICH / NAUMANN: Samuelbücher. S. 61f.; GUNN: Fate. S. 80 und passim. Vgl. auch unten die Kapitel 7 und 8.

Auswertung

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Josephserzählung zu erkennen ist (1 Sam 18,1abg zu Gen 44,30b 259; zu 16,14–23 s. o. 4.2). Die Entstehung dieses Stratums in 16,14ff. wurde oben in spätpersische Zeit datiert, was auch mit der chronologischen Einstufung der zuletzt herausgearbeiteten Ergänzung (s. o. 5.3.2.3 – ebenfalls ungefähr Mitte des 4. Jahrhunderts) durchaus in Einklang zu bringen ist. 5.3.2.5

David als ‚Nobody‘ in königlichen Diensten

Die nächstältere Wachstumsstufe wird durch die Verse 17,55–58 und 18,2 repräsentiert. Daß sie tatsächlich älter sind als 18,1.3f., geht daraus hervor, daß 18,1 einerseits den Zusammenhang von 17,58 und 18,2 zertrennt, andererseits aber auf 17,58 aufbaut.260 Von der übrigen Erzählung heben sich die Verse durch ihren analeptischen oder „nachholenden Stil“261 sowie durch das von ihnen transportierte Davidbild ab. Denn während David hier wie ein Knabe erscheint, der noch unter der Vormundschaft seines Vaters steht, ist er in 17,54 oder – für sich genommen zumindest – in 17,32 deutlich als erwachsener Krieger gedacht. Darüber hinaus stehen die fünf Verse in einer gewissen Spannung zu dem Abschnitt 16,14–23 (vgl. 16,19.22 mit 17,55f.58), wohingegen der zuletzt herausgearbeitete Ergänzungsschub (18,1.3f., vgl. dazu 5.3.2.4) einige Berührungen mit diesem aufweist. Daher liegt der Schluß nahe, daß die Verse 17,55–58; 18,2 der Bearbeitungsschicht in 16,14ff. zeitlich vorausgegangen sein dürften. Zugleich kann man davon ausgehen, daß sie später als der Passus 17,25–31 entstanden sind. Sie stellen sich nämlich dem Problem, das sich aus dem Zusammenspiel der Verse 16,21* und 17,32, nach denen David und Saul einander zu kennen scheinen, und 17,31 ergibt, wo dies allem Anschein nach kaum mehr (bzw. auf der Ebene der Erzählung: noch nicht) der Fall ist. Weil nun wiederum 17,25–31 noch nicht das Erzählstück *15,35–16,13 kennt,262 ergibt sich, daß die Erzählung von Davids Salbung (in ihrem Grundbestand) und die Verse 17,55–58; 18,2 zeitlich entweder in unmittelbarer Nachbarschaft oder gar in einem Zuge entstanden sind. Nicht von ungefähr liegen den beiden Textstücken sehr ähnliche Vorstellungen von David (nämlich als rAoÅn und Mündel seines Vaters Isai) zugrunde. Der Bearbeiter war vermutlich um einen erzählerischen Ausgleich zwischen 16,21*; 17,32 und 17,31 bemüht. Deshalb stellt er David als eine Art ‚Nobody‘ dar, über den der König und sein General praktisch nichts wissen, läßt aber zugleich sehr geschickt in seiner Darstellung genau soviel Spielraum, wie nötig ist, –––––––––––––– 259 Vgl. Anm. 160 (Kap. 5). 260 Die Zusammengehörigkeit der Verse 17,55–58 mit 18,2 erkennt auch FICKER (Komposition. S. 148.153), der in diesem Stück allerdings ein Fragment einer ehemals eigenständigen Variante der Goliaterzählung sieht. 261 HERTZBERG: a. a. O. S. 119. 262 Darauf deutet zumindest die despektierliche Reaktion des großen Bruders Eliab in 17,28 hin, die sich nicht gut zur Salbung Davids im Kreis seiner Brüder fügt (16,13); vgl. auch oben 3.3.2.

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damit David auch weiterhin als dem Saul namentlich bekannt und auf diese Weise problemlos als Knappe in königlichen Diensten gelten kann.263 Hinter all dem dürfte zum einen der Wunsch stehen, die Stringenz und damit die Plausibilität der Geschichte zu erhöhen. Zum anderen unterstützt die Ergänzung damit aber auch den schon in den V. 15–31 zum Ausdruck kommenden Gedanken, der Retter sei dem Heer Israels nicht direkt aus dessen eigenen Reihen erstanden, sondern wunderbarerweise von außerhalb und noch dazu in Gestalt eines Knaben zu ihm gestoßen. Kaum mit Sicherheit zu entscheiden ist die Frage, ob für den Ergänzer beim Ausgestalten dieser Vorstellung primär inhaltsbezogene, theologische264 oder eher die Form betreffende, literarische Maßgaben leitend waren. Für die zweite Möglichkeit spricht vielleicht, daß sich auch unter anderen Gesichtspunkten bei ihm kein theologisches Interesse erkennen läßt, das über die Anschauungen des auf ihn gekommenen Textes wesentlich hinausginge. Denn daß er das Moment der endgültigen Installation Davids am Königshof (nicht das der Ruhmestat an sich) akzentuiert, indem er die Erzählung auf die von ihm geschaffene Schlußnotiz 18,2 hin zulaufen läßt, weist ihn eher als versierten Erzähler denn als originellen Theologen aus. Und weiter zeugt auch die (sofern man *15,35–16,13 voraussetzen kann) erneute Fokussierung Davids mittels Nennung seines vollen Namens an exponierter Stelle (17,58) weniger von theologischer Neuinterpretation des vorgegebenen Stoffes als von einem Ringen um eine möglichst angemessene Form der Erzählung. Damit aber wird eine zeitgleiche Abfassung von 17,55–58; 18,2 und *15,35–16,13 relativ unwahrscheinlich.

–––––––––––––– 263 Diese Interpretation geht maßgeblich auf eine Diskussion der betreffenden Passage im Göttinger alttestamentlichen Doktorandenkolloquium zurück, namentlich auf eine Anregung von Ingo KOTTSIEPER. Ihm wie auch allen übrigen Beteiligten sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. – Zur Einschätzung der sozialen Stellung, in der die V. 55–58 David sehen, vgl. WILLIPLEIN (Michal. S. 84) die David hier allerdings eher als (jungen) Mann versteht. Problematischer ist indes ihre These, 17,55 habe ursprünglich die Fortsetzung zu 14,52 gebildet (vgl. a. a. O. S. 80f., Anm. 8, und passim; dies.: ISam 18–19. S. 141–147). Diese Möglichkeit ist deswegen unwahrscheinlich, weil die V. 55–58 einen vorausgegangenen Kampf Davids mit einem Philister voraussetzen, wie V. 57b sehr deutlich zeigt. Daß WILLI-PLEIN (ISam 18–19. S. 146) erwägt, bei 17,57b könne es sich um eine Ergänzung handeln, obwohl hier keinerlei Kohärenzstörung vorliegt, zeigt nur die Verlegenheit an. Darüber hinaus fehlt bei einem Anschluß von 17,55ff. an 14,52 eine Notiz über Davids Ankunft am Hofe Sauls, denn ohne eine Information dieser Art läuft 14,52 ins Leere. 264 Der bereits erwähnte Erzählzug, daß der Held, der die Rettung Israels einleitet, nicht aus dem bedrängten Heer stammt, sondern ganz unerwartet von außen hinzukommt, berührt sich interessanterweise mit jenem häufig als ‚extra nos‘ apostrophierten Grundzug reformatorischer Theologie. S. hierzu auch 5.3.2.6.

Auswertung

5.3.2.6

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David und Israel als geschmähte Außenseiter

Sehr ähnlich in ihrem Davidbild sind dem Abschnitt 17,55–58 die Verse 17,10.13b.14.25–31.36*(ohne yîrSaDh_tRa MÅ…g).42f.48, die eine zusammenhängende literarische Schicht zu bilden scheinen. Sollte mit der soeben dargelegten Interpretation von 17,55–58 das Richtige getroffen sein, stellt jenes Stratum die nächstältere Ergänzung dar. Sie wird zum ersten Mal in der Herausforderungsrede des Philisters in 17,8–10 greifbar. V. 10 gibt sich durch seine erneute, nach 17,8aab an sich nicht mehr erforderliche Redeeinführung V. 10aa deutlich als sekundärer Zusatz zu erkennen.265 Dazu paßt auch, daß weder diese zweite Redeeinführung noch die folgende Rede selbst die eigentliche Handlung der Geschichte vorantreibt. Der Philister, der in den beiden vorausgegangenen Versen bereits die eigentliche Herausforderung zum Zweikampf ausgesprochen hat, fügt in V. 10 lediglich hinzu, er habe mit alledem die Schlachtreihen Israels verhöhnt. Die Worte des Philisters interpretieren also die V. 8f. und wollen sie in erster Linie als handfeste Beleidigung verstanden wissen. Die Wurzel Prj, die in diesem Zusammenhang benutzt wird, taucht bemerkenswerterweise noch des öfteren wieder auf, um auf dieses Ausgangsproblem zurückzuverweisen. Besonders geballt begegnet sie in 17,25f., nämlich dreimal in zwei Versen. An V. 25 hängt nun die ganze nachfolgende Szene (17,25–31), und da diese einheitlich zu sein scheint, dürfte sie als ganze auf den Verfasser von V. 10 zurückgehen.266 Dafür spricht auch der Umstand, daß V. 25a exakt dieselbe Wendung benutzt wie V. 10. Auch V. 36*(ohne yîrSaDh_tRa MÅ…g )267 gehört wahrscheinlich hierher, denn er formuliert exakt wie 17,26bbg (Myˆ¥yAj MyIhølTa twøk√rAoAm PérEj yI;k) und spielt auf V. 10 an. Zudem wirkt er nach V. 34f. einigermaßen redundant, er enthält zumindest kein einziges neues Detail, das für die weitere Handlung wichtig würde. Aufgrund ihrer Verbindung mit der Szene 17,25ff. müssen auch die V. 13b.14 zu der Ergänzung hinzugezählt werden. Denn diese anderthalb Verse sind notwendig für das Verständnis jener Passage (V. 25ff.), weil sie eine Vorstellung Eliabs, des großen Bruders des Helden, bieten. Andererseits entbehrt die Notiz 17,13b.14 ohne die V. 25ff. einer erzählerischen Funktion, weil die Gestalt Eliabs sonst nirgends innerhalb der Geschichte ausdrücklich genannt wird. Beide Teile sind also aufeinander angewiesen und damit höchstwahrscheinlich zeitgleich entstanden. Die Wiederaufnahme, die V. 14b gegenüber V. 13a darstellt,268 zeigt –––––––––––––– 265 S. auch Anm. 253 (Kap. 5). 266 Die Textpassage setzt sich im übrigen in ihrem Sprachgebrauch leicht von ihrem Kontext ab. Denn während die V. 27.30 h‰ΩzAh rDb∂;dA;k formulieren, wählt V. 23 die pluralische Variante (MyîrDb√;dA;k hR;lEaDh). 267 Zur Entstehung des Verses in seiner Letztgestalt (MT) s. u. 5.3.2.8. 268 Vgl. AURELIUS: a. a. O. S. 52f.; TREBOLLE: Story. S. 24f.

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zudem deutlich, daß die anderthalb Verse kein ursprüngliches Element im dortigen Kontext gebildet haben können. Dafür spricht auch die Tatsache, daß V. 13a l (q) Klh, V. 13b dagegen b (q) Klh formuliert. Um ein letztes Stück dieser Bearbeitungsschicht herauszuarbeiten, ist zunächst noch einmal ein Blick auf jene Szene nötig, die das Wortgefecht zwischen David und dem Philister schildert (17,42–47). Sie ist gerahmt von zwei kurzen Passagen, in denen jeweils erwähnt wird, daß sich die beiden Zweikämpfer aufeinander zubewegen (17,40b.41a und 48). Der verbale Schlagabtausch vollzieht sich augenscheinlich, während die zwei Kontrahenten einander entgegenmarschieren – so ließe sich der Befund bei synchroner Betrachtung wenigstens deuten. Nimmt man indes V. 40b.41a und V. 48 jeweils für sich, dann klingt es beide Male so, als hätten die zwei Duellanten vorher gestanden und machten sich nun auf den Weg. Man kann daher V. 48 als eine Wiederaufnahme ansprechen.269 17,48 wiederholt die V. 40b.41a vermutlich deshalb, weil er wieder – nachdem einige eingefügte Verse etwas abgeführt haben – auf V. 49 zurückschwenken will.270 Von den zwischen V. 40a und V. 49 liegenden Versen sind nach der bisherigen Analyse allein die V. 42f. noch übriggeblieben, sie dürften also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zusammen mit V. 48 ergänzt worden sein und so an dieser Stelle den frühesten Einschub bilden. Selbst innerhalb der hier rekonstruierten relativen Chronologie fällt es nicht leicht, die V. 42f.48 zeitlich einzuordnen. Aufschlußreich ist immerhin, daß V. –––––––––––––– 269 Vgl. AURELIUS: a. a. O. S. 58. Er hält allerdings nur V. 48b für eine Wiederaufnahme von V. 40b, die übrigen Halbverse (V. 41a und 48a) schlägt er beide der Einfügung (zwischen V. 40 und 49) zu. Das ist nicht allzu wahrscheinlich. Erstens wäre dann ursprünglich nur von David erzählt worden, daß er sich aufgemacht habe, während der Philister quasi auf ihn gewartet hätte, was freilich denkbar, aber nicht gerade die nächstliegende Möglichkeit ist. Und zweitens hätte der Einschub (V. 41–46.48) dann seinerseits zweimal den Aufbruch des Philisters erwähnt – was AURELIUS selbst auch bemerkt, jedoch „nach dem langen Dialog nicht unangebracht“ (ebd.) findet. Das ist m. E. keine ausreichende Erklärung für die auffällige Doppelung. – Daß 17,48 einen anderen Wortlaut als V. 40b.41a aufweist und zudem jene zwei Halbverse in umgekehrter Reihenfolge wiederholt, spricht nicht dagegen, ihn als Wiederaufnahme einzustufen. Schon KUHL („Wiederaufnahme“. S. 11), einer der Entdecker dieses Phänomens, warnt davor, bei der Identifizierung von Wiederaufnahmen allzu schematisch vorzugehen und etwa eine wortwörtliche Entsprechung zweier Versteile als conditio sine qua non zu betrachten. 270 Zugegebenermaßen ist für die Erzählung selbst dieses Zurückschwenken nicht notwendig, der gesamte Passus 17,41b–47 hätte auch eingeschoben werden können, ohne daß V. 49 plötzlich unverständlich oder auch nur überraschend geklungen hätte. Ähnliches gilt auch für die auf V. 13a zurückgreifende Wiederaufnahme in 14b und ihre Fortsetzung in V. 15. Dies ist m. E. ein interessanter Befund, der vielleicht darauf hindeuten könnte, daß sich die Fortschreibung im AT keineswegs immer an der Erzähllogik orientierte, sondern vielmehr (wie es hier den Anschein hat) irgendwann eigenständige Konventionen oder Formmerkmale herausgebildet hat. Einschränkend muß aber gleich darauf hingewiesen werden, daß in derselben Fortschreibungsphase offensichtlich die V. 25–31 eingefügt werden konnten, ohne von einer Wiederaufnahme Gebrauch machen zu müssen.

Auswertung

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42b sehr stark an 16,12 erinnert, dabei aber ein wenig verhaltener formuliert ist. Das könnte dafür sprechen, daß 17,42b früher als *15,35–16,13 entstanden ist, was den V. 42 selbst wie auch die V. 43.48 in die Nähe des Abschnitts 17,25–31 rückt, der ebenfalls, wie dargelegt, älter als die Erzählung von Davids Salbung durch Samuel sein dürfte. Eine Zusammengehörigkeit der V. 42f.48 mit den V. 10.13b.14.25–31.36* erscheint auch noch aus einem anderen Grunde denkbar: Sowohl in V. 28 als auch in den V. 42f. wird David mit recht harschen Worten für seinen Mut gescholten. Hier unterstellt ihm sein großer Bruder ein böses, sensationslüsternes Herz; dort verleiht der Philister seiner Verachtung für David Ausdruck und belegt ihn lauthals mit Flüchen. Diese Parallelität könnte beabsichtigt sein, eventuell gar auf einen gemeinsamen Verfasser deuten. Allerdings ist kaum zu leugnen, daß die V. 42f.48 die Wurzel Prj, die in den V. 10.13b.14. 25–31.36* geradezu als eine Art Leitbegriff eingesetzt wird, weder gebrauchen noch auch nur umspielen.271 Es empfiehlt sich daher, die Verse 17,10.13b.14. 25–31.36*.42f.48 nicht als eine Ergänzungsschicht, sondern – etwas vorsichtiger – als einen Ergänzungsschub zu bezeichnen.272 Auffällig ist, daß sich das in den genannten Versen dominierende das Motiv der Verunglimpfung sowohl auf Israel als auch auf die Hauptfigur erstreckt. Das dürfte kein Zufall sein, sondern vielmehr eine bewußte Parallelisierung, hinter der die Absicht steht, Davids Geschick, auf Israel hin transparent zu machen. In ihm soll Israel sein eigenes Los erkennen: vorübergehend verhöhnt und marginalisiert, zu guter Letzt aber siegreich und damit rehabilitiert und allseits respektiert. Das Problem, das sich Israel in Form der Philister stellt, besteht dabei wohl nicht mehr vordringlich darin, die eigene politische Unabhängigkeit zu wahren (so noch in V. 8f.). Bedroht sind vielmehr das Selbstwertgefühl und das Selbstbewußtsein der Verehrer des ‚lebendigen Gottes‘ (so David in V. 26b.36b), die in bezug auf ihren identitätsstiftenden Mittelpunkt, Jhwh, und von daher abgeleitet auch in bezug auf Israel keinerlei hDÚp√rRj dulden können. Diese Sicht der Dinge setzt aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur den Verlust staatlicher Souveränität voraus, sondern auch schon die Entstehung des Monotheismus. Denn der Begriff „MyIhølTa Myˆ¥yAj, der lebendige Gott, schliesst das Leben der übrigen Götter aus.“273 Zeitlich befindet man sich damit irgendwo im Bereich des späten Exils oder der Perser–––––––––––––– 271 An vergleichbaren Ausdrücken finden sich stattdessen die Verben (q) hz;b in V. 42 und (pi) llq in V. 43. Dagegen sieht es im Falle von V. 28 – PAa (q) hrj – aus, als ob hier ein Wortspiel, eine Paronomasie mit der Wurzel Prj, im Hintergrund steht. 272 Sollten die V. 42f.48 tatsächlich ein eigenes Textstratum darstellen, so wären sie mit einiger Wahrscheinlichkeit früher als die übrigen Verse anzusetzen, da der Grad der Theologisierung hier ein wenig niedriger zu sein scheint als dort. Gleichwohl nehmen aber auch diese drei Verse schon eine theologische Dimension des Zweikampfes wahr, wie V. 43b zeigt, jedoch ohne daß dabei deutlich würde, ob hier noch mit der Existenz anderer Götter neben Jhwh gerechnet wird oder nicht. 273 BUDDE: a. a. O. S. 126.

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herrschaft. Darauf deutet auch die nächste biblische Parallele hin: 2 Kön 19, die Erzählung von der Belagerung Jerusalems durch Sanherib, die nahezu denselben Problemhorizont wie 1 Sam 17 aufweist und zudem (den Versen 1 Sam 17,26b. 36b ähnlich) an zwei Stellen das Verb Prj mit der Formulierung yDj MyIhølTa kombiniert (2 Kön 19,4.16). Denn diese beiden Verse gehen, wenn man der Rekonstruktion WÜRTHWEIN s folgen darf, auf spätdeuteronomistische Ergänzer zurück.274 Die theologische Leistung der Bearbeitung besteht vor allem darin, die religiöse Dimension des Philisterkampfes und -siegs explizit zu machen. Auf diese Weise gelingt es ihr zugleich, der vermutlich grundlegend veränderten politischen Situation Rechnung zu tragen und die Relevanz der Erzählung ganz neu herauszustreichen, mithin für ein breiteres Lesepublikum zu sichern. Durch die Parallelisierung des Volkes Israel mit der Figur des kleinen, zunächst geschmähten, letztlich aber siegreichen David erhält die Geschichte darüber hinaus auch einen Verheißungscharakter, der so in den früheren Straten noch nicht greifbar ist. Schließlich zieht sie aber auch eine gedankliche Linie weiter aus, die ihr bereits vorgegeben war, indem sie David in eine noch größere Distanz zum König setzt – er muß ja erst vor den König geführt werden, wagt es also nicht, von sich aus vor ihn hinzutreten (V. 31b) – und damit die Anschauung unterstreicht, der Retter sei dem Volk nicht aus seinen eigenen Reihen erstanden, sondern ganz unerwartet von außerhalb zu ihm gestoßen. Es erscheint müßig zu fragen, ob damit ein inhaltliches Anliegen verfolgt wird, dahinter ein formaler Gestaltungswille steht oder beides zugleich: Die Erzählung gewinnt durch diesen Zug zweifellos in literarischer wie in theologischer Hinsicht. Ähnliches gilt auch in bezug auf die V. 42f.48, die gleichermaßen eine spannungssteigernde Retardation bewirken wie sie die Parallelisierung der Geschicke Israels und Davids vorantreiben. Daß die Bearbeitung das Ergebnis theologischer Reflexion ist, dürfte nach allem Gesagten ohne weiteres einleuchten. Daß aber auch ein gerüttelt Maß Fabulierlust im Spiel gewesen sein wird, geht deutlich aus der (sonst kaum zu erklärenden) Einfügung des Märchenmotivs der wahrhaft fürstlichen Belohnung (V. 25b) hervor.275

–––––––––––––– 274 Vgl. WÜRTHWEIN: ATD 11,2. S. 418 und 424 sowie S. 425 und 428. Vgl. auch KRATZ: Kyros. S. 202; ders.: Komposition. S. 173.193. – Schon der Begriff Myˆ¥yAj MyIhølTa an sich scheint (frühestens) in diese Zeit zu verweisen. So verortet VEIJOLA (ATD 8,1. S. 137) Dtn 5,26 in frühnachexilischer Zeit, indem er den Vers seinem ‚DtrB‘ (dazu s. auch a. a. O. S. 4f.) zuschreibt. Das schließt natürlich nicht aus, daß der Ausdruck auch noch in viel späterer Zeit Verwendung fand wie z. B. in Jer 10,10 (dazu vgl. etwa LEVIN: Verheißung. S. 70). 275 Vgl. oben Anm. 54 (Kap. 5).

Auswertung

5.3.2.7

201

David als Hirte und Waffenträger

Auf das nächstältere Stratum stößt man in V. 12*–13a*.15–23*.24.38f.40(nur jå;qˆ¥yÅw wødÎyV;b wølVqAm). Es tritt vielleicht am deutlichsten in 17,24 zutage, wo mit leichten Veränderungen noch einmal die in V. 11 geschilderte Situation heraufbeschworen und dramatisch gesteigert wird. Während es in 17,11 die Herausforderung des Philisters ist, die Saul und ganz Israel erschrecken läßt, genügt in V. 24 der bloße Anblick des Vorkämpfers, um lEa∂rVcˆy vyIa l;Ok Furcht einzuflößen, ja sogar in die Flucht zu schlagen. Insbesondere diese Steigerung deutet darauf hin, daß V. 24 gegenüber V. 11 als nachzeitig einzustufen ist. Für eine zeitversetzte Entstehung spricht auch der Umstand, daß V. 24b den Narrativ der Wurzel (q) I ary plene, V. 11b diesen jedoch (offensichtlich anderen Konventionen folgend) defective schreibt. Der gesamte Abschnitt 17,12.13a.15–23*.24 dürfte mithin sekundär hinzugewachsen sein. V. 11 dagegen wird mit einiger Sicherheit zum Grundbestand gehören, denn ohne diesen Vers würde die Geschichte genau jenes Erzählzugs entbehren, der die Notlage erst in ihrem vollen Ausmaß erkennbar werden läßt. Man kann gegen diese Folgerung natürlich auch Einwände geltend machen. So weist AURELIUS insonderheit auf die Diskrepanz zwischen V. 11 und V. 20b hin, daß sich hier schon jähe Furcht der Israeliten bemächtigt hat, während dort alsbald dasselbe Heer sein Kriegsgeschrei erhebt.276 AURELIUS wertet daher 17,11 als einen Nachtrag und rechnet 17,20 zur Grundschicht. Indes läßt die Spannung, in der jene beiden Einzelaussagen zueinander zu stehen scheinen, rasch nach, wenn man beachtet, wie die zwei Verse in den Fortgang des Geschehens eingebettet sind. V. 20 folgt ja nicht unmittelbar auf V. 11, vielmehr werden zuvor einige Hintergrundinformationen zu David und seiner Familie gegeben (V. 12.13a.15). Vor allem aber stellt V. 16 die Handlung in einen weiteren zeitlichen Rahmen, indem er den Philister vierzig Tage lang morgens und abends mit derselben Herausforderung vor die Israeliten treten läßt, d. h. die Ausgangssituation, die in 17,8f. wohl noch als einmaliges Ereignis aufgefaßt ist, auf einen erheblich längeren Zeitraum ausdehnt. Daß in V. 20b das Heer Israels aus dem Rundlager ausrückt und sich zu Schlachtreihen formiert, ist allein dieser zeitlichen Zerdehnung geschuldet. Und auf die letzten beiden Worte aus V. 20 sollte man besser keine allzu großen Hypothesen gründen: Die Wendung ist analogielos im AT und macht wörtlich übersetzt („und sie schrien in der Schlacht“) im Kontext wenig Sinn.277 Die meisten Exegeten behelfen sich mit einer Übersetzung wie: „und [sie] stimmte[n] ‚laut‘ das Kampfgeschrei an.“278 Wenn damit das Richtige getroffen sein –––––––––––––– 276 Vgl. AURELIUS: a. a. O. S. 51f. 277 Vgl. BUDDE: a. a. O. S. 126. 278 HERTZBERG: Samuelbücher. S. 110.

202

1 Samuel 17,1–18,4

sollte, dann wird hier aber nicht eine kühne Attacke, sondern lediglich der allmorgendliche Aufmarsch der Truppe berichtet.279 AURELIUS behauptet zweitens, V. 20 sei im Gegensatz zu V. 11 für den Gesamtkontext unentbehrlich, weil nur so klar werde, wie David ins Feldlager geraten sei. Das stimmt nur bedingt. Auf die zentrale Bedeutung von 17,11 für den Erzählverlauf wurde oben bereits hingewiesen. Hinzu kommt, daß V. 20 (und mit ihm der ganze Abschnitt 17,12–24) nur von einer Leserschaft vermißt wird, der man die erste Geschichte von Davids Ankunft am Königshof (1 Sam 16,14–23) vorenthalten hat. Die Alternative, von der AURELIUS ausgeht (entweder muß 16,14–23 als Ganzes oder Kap. 17 in einem Grundbestand zeitlich primär sein), greift zu kurz. Nach der hier vertretenen Auffassung bildete, wie bereits erwähnt, 1 Sam 16,21* einen textgenetisch recht früh anzusetzenden Nukleus der ersten Geschichte von Davids Ankunft bei Hofe. Damit wird aber V. 20 wie überhaupt der ganze Textblock der V. 12–24 entbehrlich. Daß der Abschnitt *17,12–24 eine Größe sui generis innerhalb des Kapitels darstellt, legt sich auch dadurch nahe, daß die Formulierung lEa∂rVcˆy vyIa lO;k nur hier (V. 19 und 24) begegnet. Dafür, daß 17,24 tatsächlich eine Wiederaufnahme von V. 11 darstellt, spricht schließlich noch ein Umstand, auf den D IETRICH hingewiesen hat: „Innerhalb von 1 Sam 17 liegen unverkennbar zwei Erzählanfänge vor: der in V.1ff und der in V.12ff.“280 Sofern man daraus nicht sogleich folgern mag, es müsse in Kap. 17 auch zwei ehemals eigenständige Erzählungen geben,281 kann man immerhin die Beobachtung verwerten, daß mit 17,12 ein neuer Erzählstrang beginnt. Und dies fügt sich vorzüglich zu der oben genannten Vermutung, der zufolge V. 11 in V. 24 wiederaufgenommen wird und der Text zwischen beiden Versen zusammen mit 17,24 (oder später) eingefügt worden ist. Bei dieser –––––––––––––– 279 Vgl. STOLZ : Buch Samuel. S. 117. – Wem dennoch die Erwähnung des Schlachtgebrülls (vor dem Hintergrund von V. 11) weiter Schwierigkeiten bereitet, den wird allerdings auch die von A URELIUS rekonstruierte Grundschicht der Erzählung unbefriedigt lassen. Denn dort bleibt vollends unklar, warum der Philister ein zweites Mal auftreten und seine Herausforderung aussprechen muß (V. 23, bei AURELIUS Bestandteil der Grundschicht – mit Ausnahme der Glosse tÅ…gIm wømVv yI;tVvIlVÚpAh tÎyVlÎ…g, vgl. ders.: a. a. O. S. 55, Anm. 52) – wenn doch V. 11 sekundär (vgl. a. a. O. S. 51f.) und folglich Israels Heer nicht von Furcht ergriffen ist. Wären die Israeliten wirklich so unerschrocken dargestellt, dann könnte die Erzählung überdies nicht deutlich machen, warum ein dahergelaufener Hirtenjunge überhaupt die Gelegenheit hatte, spontan durch die Schlachtreihen nach vorn zu preschen (vgl. den Übergang von V. 23* zu V. 40). – Zweifel an der hier vorgeschlagenen Lösung hätte vermutlich GREßMANN: SAT II/12, S. 69. Wenn ich ihn recht verstehe, vermißt er beim Erzähler die psychologische Konsequenz: Die Truppen Israels können s. E. schlecht zweimal am Tag vor Angst fast vergehen und dann am jeweils nächsten Morgen wieder frisch und unbekümmert ausrücken. Ob man allerdings an Märchen und Sagen (so das Urteil G REßMANN s: vgl. a. a. O. S.72f.) immer dieselben Maßstäbe anlegen darf wie an neuzeitliche Romanliteratur, erscheint mir zweifelhaft. 280 DIETRICH: Erzählungen. S. 64. Ähnlich GREßMANN: a. a. O. S. 70ff. 281 So DIETRICH: a. a. O. S. 71.

Auswertung

203

neu hinzugekommenen Textmasse handelt es sich des näheren um die Verse 12–13a, 15–23* sowie 24, wobei für V. 12 gleich noch zwei Einschränkungen angeschlossen werden müssen. WELLHAUSENs Urteil, in V. 12aa bilde das Wort h‰ΩzAh einen ungeschickten Nachtrag,282 hat längst mit Fug und Recht den Status einer opinio communis erlangt. Und auch bei V. 12ag handelt es sich vermutlich um eine Glosse, denn im weiteren erscheint David lediglich als einer von vier, nicht als einer von acht Söhnen Isais. Eine dritte Einschränkung ist in bezug auf V. 13a erforderlich: Die merkwürdige Doppelung, die sich aus dem direkten Nebeneinander von V. 13aa und V. 13ab ergibt, dürfte ihren Grund in der sekundären Einfügung der Worte l…waDv_yérSjAa …wkVlDh haben. Mit ihrer Hilfe sollte vermutlich der originäre Wortlaut von V. 13a (hDmDjVlI;mAl MyIlOd◊…gAh yAvˆy_y´nV;b tRvølVv …wkVl´¥yÅw) näher erläutert werden. Es ist auch denkbar, wenn nicht gar noch etwas wahrscheinlicher, daß der Viertelvers 17,13ab als ganzer nachträglich eingeschoben wurde. 17,13a hätte dann ursprünglich MyIlOd◊…gAh yAvˆy_y´nV;b tRvølVv …wkVl´¥yÅw gelautet. Allerdings hat diese Alternative zur Voraussetzung, daß der schwierig zu deutende V. 12b wie folgt übersetzt werden kann: „Und der Mann (selbst) war in Sauls Tagen (schon) zu alt, ‚um‘ unter die (Kriegs)leute zu treten.“283 Denn nur, wenn durch V. 12b bereits das Thema der Teilnahme am Feldzug berührt ist, reicht anschließend V. 13aa allein (d. h. ohne das Wort hDmDjVlI;mAl aus V. 13ab) aus. Mit dem Abschnitt *17,12–24 wächst der Erzählung ein grundlegend neuer Erzählzug zu. David wird nicht länger als ehemaliger Hirte vorgestellt, wie das in den V. *34f. der Fall ist. Er gilt nun vielmehr als eine Art Teilzeitkraft: zeitweilig in Diensten des Königs als Waffenträger, zeitweilig daheim wyIbDa Naøx_tRa twøo√rIl (17,15). Dieser Sichtweise stehen die V. 38f.40(nur wødÎyV;b wølVqAm jå;qˆ¥yÅw) sehr nahe. Durch den Beginn von V. 40 (wødÎyV;b wølVqAm jå;qˆ¥yÅw) ergibt sich auf der Ebene der Erzählung das Problem, daß David eigentlich nicht mehr in der Lage ist, die Schleuder zu betätigen – in der anderen Hand trägt er ja jetzt einen Stecken. Diese Unanschaulichkeit dürfte auf literarische Überarbeitung hindeuten. Das Bestreben dieser Bearbeitung bestand vermutlich darin, David bei seiner Siegestat eindeutig als Hirten auszuweisen, d. h. so, wie er selbst sich kurz zuvor noch beschreibt (V. 34*.35*). Vor dem Hintergrund der Doppelcharakterisierung Davids als Waffenträger und als Hirte ergeben insbesondere die V. 38f. einen guten Sinn. Das Angebot, die Rüstung des Königs anzulegen, ist nur dann sinnvoll, wenn David nicht ein Hirtenbübchen, sondern ein mehr oder weniger ausgewachsener junger Mann ist – ein Knappe beispielsweise. Andersherum ist der Umstand, daß David in V. 39 eines fremden Schwerts bedarf, am besten dann erklärlich, wenn er selbst –––––––––––––– 282 Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 105; DRIVER: a. a. O. S. 140; BUDDE: a. a. O. S. 123f. STOEBE hält die Verwendung des Wortes in diesem Kontext ebenfalls für unmöglich, mag es aber desungeachtet doch nicht als Glosse bewerten, vgl. STOEBE: a. a. O. S. 322, Anm. 12 a). 283 So HERTZBERG (a. a. O. S. 110) in Anlehung an KLOSTERMANN: a. a. O. S. 65, Anm. 12u.

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1 Samuel 17,1–18,4

gerade keins zur Hand hat – etwa, weil er just von den Ziegenherden seines Vaters kommt. Freilich ist damit, daß die V. *12–24 und 38–40(Anfang) zusammenstimmen, noch nicht ihre gemeinsame Entstehung erwiesen, immerhin jedoch dürfte diese Lösung die einfachste und damit auch plausibelste Erklärung für jenen Befund darstellen. Die Leistung des Bearbeiters in seiner Eigenschaft als Erzähler kann kaum überschätzt werden. Indem er die V. *12–24 ergänzt, erfährt die Geschichte nicht allein eine erste merkliche Steigerung der Erzählspannung, sondern erhält zugleich eine angemessene Einführung der Figur des David (V. 12*.13a*.14b.15), was ebenfalls ein Novum darstellt.284 Darüber hinaus geht auf ihn auch die Vorstellung zurück, daß David sich nicht schon unter den Männern des israelitischen Heeres befunden habe, als der Philister zum ersten Male herantrat, sondern erst später von außerhalb hinzugestoßen sei. Dieser neue Zug der Erzählung erfüllt zwei, wenn nicht gar drei verschiedene Funktionen: Erstens ermöglicht er jene eben genannte, die Dramatik des Erzählten steigernde Retardation. Denn es bedarf schon eines guten, d. h. aus dem Geschehen selbst sich nahelegenden Grundes, wenn der Erzählfluß plötzlich verlangsamt wird – andernfalls ließe die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft / Leserschaft ganz rasch nach. Die Idee, daß der nachmalige, aber als solcher schon absehbare Held zunächst weitab vom Ort des Geschehens weilt und sich folglich erst noch auf den Weg machen muß, löst dieses Problem auf geschickte Weise. Zweitens wird mit dem neuen Erzählzug die Ungleichheit der beiden Gegner verschärft und so der exzeptionelle Charakter der Heldentat noch weiter herausgearbeitet. David ist nunmehr nur noch ein ‚Teilzeitknappe‘ des Königs und dient zwischendurch seinem Vater immer wieder als Hirte oder Laufbursche (V. 15.17).285 Vom Stand des Berufskriegertums solchermaßen weit abgesetzt, nimmt sich David gegenüber seinem Gegner nun noch weniger ebenbürtig aus als ehedem, so daß sein Sieg um so erstaunlicher und bewundernswerter erscheinen muß. Drittens drückt sich in dem charakteristischen Motiv, daß der Retter den Schauplatz erst noch betreten muß, vielleicht auch ein Wissen darum aus, daß Heil, Rettung etc. Erfahrungen sind, die sich jedweder menschlicher Verfügbarkeit entziehen. Allerdings bleibt fraglich, ob sich darin tatsächlich eine Intention des Verfassers oder eher seine gestalterische Intuition widerspiegelt, ob man an dieser Stelle also von narrativer Theologie sprechen kann oder nicht. Zwar verrät die Verwendung des Hirtenmotivs den Einfluß altorientalischer Königsideolo-

–––––––––––––– 284 Zu den späteren Stücken s. o. die Kapitel 3 und 4 sowie 5.3.2.5. 285 Es könnte allerdings auch sein, daß in V. 15 an eine einmalige Rückkehr gedacht ist, vgl. dazu Anm. 43 (Kap. 5).

Auswertung

205

gie,286 setzt also wohl eine gewisse Vertrautheit mit zumindest einem grundlegenden Theologumenon voraus. Andererseits ist zu bedenken, daß sich die Einfügung des Erzählzuges bereits aus den beiden zuvor dargestellten Beweggründen hinlänglich erklärt und im übrigen die Geschichte auf diesem Stratum sonst nirgends Anzeichen dezidiert theologischer Reflexion erkennen läßt. Als Entstehungszeit der Bearbeitung kommt möglicherweise noch die vorexilische Zeit in Betracht. Dies erscheint zumindest durchaus denkbar angesichts der Tatsache, daß mit der Darstellung Davids als Hirte ein Element der althergebrachten Königsideologie aufgegriffen wird. Auch die Tatsache, daß hier der Stammvater der Jerusalemer Könige erfolgreich die politische Unabhängigkeit Israels verteidigt, könnte zu dieser Ansetzung passen. Da es sich zudem nicht etwa um die Unabhängigkeit Judas, sondern um die Israels handelt, wird man des näheren an die Zeit nach dem Untergang des Nordreichs denken müssen, in der das Südreich wohl schon den Anspruch erhoben hatte, der legitime Rechtsnachfolger des daniederliegenden Nachbarstaates zu sein. 5.3.2.8

David als Waffenträger und ehemaliger Hirte

Die nächstältere Ergänzung dürfte in den V. 33.34*(ohne bwø;dAh_tRa◊w).35*(ohne M∂qÎ¥yÅw yAlDo) zu finden sein. An dieser Stelle soll kurz auf die sprachlichen Probleme und Besonderheiten der V. 34–36 eingegangen werden, die bis hierher bewußt ausgeklammert wurden. Es handelt sich dabei zunächst um die Beobachtung, daß in V. 36a vor bwø;dAh eine Nota accusativi zu fehlen scheint, während in V. 34b eine solche merkwürdigerweise vor einem grammatikalischen Subjekt zu stehen kommt. Die Vermutung liegt nahe, es hier mit dem Ergebnis eines (buchstäblichen) Versehens eines Schreibers zu tun zu haben, der das tRa in V. 36a ergänzen wollte, aber aufgrund einer aberratio oculi den Zusatz in V. 34b vornahm.287 Demzufolge dürfte V. 34ba zuvor bwø;dAh◊w yîrSaDh aDb…w („und kam ein Löwe oder ein Bär, ...“) gelautet haben. Den äußeren Anlaß für diesen (mißglückten) Verbesserungsversuch dürfte der Umstand geliefert haben, daß 17,36a das erste seiner zwei grammatikalischen Objekte mit Hilfe der Nota accusativi kenntlich machte (yîrSaDh_tRa MÅ…g ), das zweite jedoch nicht (bwø;dAh_MÅ…g). Warum aber fehlte in 17,36 diese zweite Nota accusativi? Ein Blick auf die V. 34f. zeigt, daß hier ursprünglich wohl nur von einem der beiden Raubtiere die Rede war: Alle Verben und Pronominalsuffixe, die sich in V. 34b und 35 auf Davids ‚Widersacher‘ beziehen, stehen im Singular. Aus V. 35bb (N∂qÎz / ‚Mähne‘) geht hervor, daß es sich dabei um den Löwen gehandelt haben wird. In diese –––––––––––––– 286 Zum Grundsätzlichen in bezug auf dieses Motiv vgl. STOEBE: a. a. O. S. 305 und die dort gegebenen Literaturverweise. 287 In diese Richtung geht auch schon WELLHAUSEN, vgl. dazu oben Anm. 71 (Kap. 5).

206

1 Samuel 17,1–18,4

Richtung deutet auch V. 35ba (yAlDo M∂qÎ¥yÅw), der nur den Bären meinen kann und sich zugleich durch die Verwendung des Narrativs (inmitten von lauter Perfecta consecutiva) als Glosse zu erkennen gibt. Folglich dürfte die Rede vom Bären sekundär in die V. 34f.* eingedrungen sein. Wenn aber die V. 34a.b*(ohne bwø;dAh_tRa◊w).35a.bbg allein vom Löwen sprachen, dann liegt der Schluß nahe, daß sich V. 36 ehedem lediglich mit der Nennung des Bären anschloß, die Wörter yîrSaDh_tRa MÅ…g also nachgetragen sind.288 Denn wenn 17,36 eine über das zuvor Gesagte hinausgehende Information geben will, kommt dafür allein der Satz ÔKR;dVbAo hD;kIh bwø;dAh_MÅ…g (V. 36a*) in Frage.289 Das Verbum (hi) hkn wird zwar fast nie ohne Nota accusativi gebraucht, doch sind Ausnahmen möglich, wenn wie hier (und in 2 Chr 14,14) durch das jeweils zuvor Gesagte im Zusammenspiel mit der Partikel MÅ…g das Objekt hinreichend bezeichnet ist. Allem Anschein nach ist also der Löwe sekundär in V. 36 und der Bär sekundär in die V. 34f. eingedrungen, möglicherweise geschah dies gleichzeitig. Darüber, was den Ausschlag zu dieser Angleichung der drei Verse gegeben hat, kann nur spekuliert werden. Am wahrscheinlichsten ist m. E. die Möglichkeit, daß hier die Einfügung von V. 37a im Hintergrund steht, denn dieser Halbvers nennt beide Tiere in einem Atemzug. Dies könnte ein Bearbeiter zum Anlaß genommen haben, die zwei Großtaten Davids als ein und dasselbe Ereignis zu deuten, mithin zu einer einzigen, noch staunenswerteren Heldentat zu stilisieren und auf diese Weise Davids Ruhm weiter zu mehren. Faßt man all dies zusammen, so dürften die V. 34–36 in ihrer heutigen Form (MT) das Ergebnis eines Überarbeitungsprozesses sein, der sich in drei Schritten vollzog: Am Anfang standen die V. 34a.b*.35a.bbg, die zuerst von der Bearbeitung, die oben unter 5.3.2.6 dargestellt wurde, um V. 36* ergänzt wurden. Diese Verse wurden sodann (vielleicht unter dem Eindruck von 17,37a) weiter miteinander verquickt, indem in V. 34b* das Wort bwø;dAh◊w eingefügt wurde (noch ohne das tRa), in V. 36a* das yîrSaDh_tRa MÅ…g und in V. 35 der Teilvers ba. In einem dritten Stadium sollte dann die in V. 36a vermißte Nota accusativi eingepaßt werden – durch eine Unaufmerksamkeit des Schreibers geriet sie jedoch stattdessen in den Vers 34 hinein. David ist in den V. *33–35 als ehemaliger Hirte gedacht. Das belegt die Verwendung des Perfekts in V. 34ab (Naø…xA;b wyIbDaVl ÔKV;dVbAo hÎyDh hRoOr). Damit aber setzen sich die Verse deutlich von den beiden nächstjüngeren Schichten und ihrem jeweiligen Davidbild ab (vgl. 17,15.20 sowie 17,28). Aber auch von der Grundschicht290 unterscheidet sich der kleine Textabschnitt. Während jene älteste Fassung näm–––––––––––––– 288 So bereits STOEBE: a. a. O. S. 331, Anm. 36 a), und 336. 289 V. 36a als ein Ganzes kann nicht diese neue Information gebildet haben, weil sein Anfang yîrSaDh_tRa MÅ…g ja anders als das folgende Objekt eine Nota accusativi verwendet. Und daß die fehlende Nota ohne alle Not von V. 36 nach V. 34 gewandert sein sollte, ist höchst unwahrscheinlich. 290 Dazu vgl. 5.3.2.9.

Auswertung

207

lich David als Schleuderer auftreten und siegen läßt, ihm also erstens eine Distanzwaffe in die Hand gibt und zweitens nichts von seiner Hirtentätigkeit verlauten läßt, präsentieren die V. *33–35 das Bild eines ehemaligen Hütejungen, der Löwen im Nahkampf zu bezwingen vermag. Die drei Verse werden daher als eine Ergänzung des Grundbestands zu werten sein. Ihr eignet eine Tendenz, die Gestalt des David zu heroisieren: Der ursprünglichen Siegestat, die zwar durchaus bewunderungswürdig erscheint, sich aber der Sache nach noch in einem relativ realistischen Rahmen bewegt (ein Vorkämpfer, d. h. vielleicht ein speziell für den Nahkampf ausgebildeter Krieger, unterliegt einem Schleudersoldaten), wird eine zweite an die Seite gestellt, die sich demgegenüber weitaus verblüffender ausnimmt (ein rAoÅn bezwingt im unmittelbaren Zweikampf einen Löwen).291 Daß David in Verbindung mit dem Hirtenberuf gebracht wird, dürfte ein Zug sein, der sich aus altorientalischer Königsideologie im allgemeinen und dem Selbstverständnis der Davididen im besonderen herleitet.292 Die Ergänzung datiert deshalb mit einiger Sicherheit aus der Zeit der Davididenherrschaft über Juda. Mit der Grundschicht setzt sie bereits einen übertragenen Gebrauch des Terminus’ ‚Israel‘ voraus und dürfte daher in die Zeit nach 720 v. Chr. fallen. 5.3.2.9

Die Grundschicht von 1 Sam 17,1–18,4 und ihre erste Erweiterung

Aus allem Gesagten ergibt sich, daß die Grundschicht der Erzählung in 17,1–4aa. 8f.11.32.40*.41a.49.51a.54 vorliegt. Nicht eindeutig zu entscheiden ist die Frage, ob auch V. 37b hierhergehört. Das dürfte immerhin eine akzeptable Möglichkeit sein, weil andernfalls David in V. 32 einen König anspricht, der aus kaum erfindlichen Gründen die Antwort schuldig bleibt.293 Von dieser Grundschicht sind noch einmal die V. 51b.52a zu unterscheiden. Sie heben sich von ihrem Kontext deutlich ab, indem sie statt MyI;tVvIlVÚp stets MyI;tVvIlVÚpAh formulieren. V. 52a gebraucht darüber hinaus auch noch die ebenso ungewöhnliche Formulierung h∂d…whyˆw lEa∂rVcˆy yEv◊nAa. Die beiden Halbverse fügen der Erzählung in –––––––––––––– 291 Nicht von ungefähr findet sich das Motiv des Löwenbezwingers in zahlreichen antiken Heldenerzählungen, vgl. Ri 14,5f.; Enkidu und Gilgamesch (GILGAMESCH-EPOS II,60; IX,8–18); die Überwindung des nemeischen Löwen (HESIOD: Theogonie. 326–332) bildet vielleicht sogar das älteste Element innerhalb der zwölf Taten des Herakles (vgl. GRAF: Art. Herakles, I. Kult und Mythos. Sp. 388). 292 Vgl. zur Hirtenmetapher im allgemeinen HUNZIKER-RODEWALD: Hirt. S. 16–38; zu David im speziellen: vgl. a. a. O. S. 46–50. Interessanterweise kommt auch WENIN trotz seiner ganz anderen Herangehensweise zu einem vergleichbaren Ergebnis: „En conclusion de cette lecture des débuts de David, il est clair que la symbolique du pasteur est centrale dans l’image de roi que le remplaçant de Saül est appelé à incarner“ (WENIN: David roi. S. 87). In altorientalischer herrscherlicher Selbstdarstellung hat ferner nicht selten auch die Löwenjagd des Königs einen festen Platz, vgl. GREßMANN: a. a. O. S. 71; FISCHER: Art. Löwe, I. Alter Orient und Ägypten. Sp. 390. 293 Wer indes diese Kröte zu schlucken bereit ist, könnte V. 37b stattdessen etwa zu V. 37a rechnen.

208

1 Samuel 17,1–18,4

ihrer Grundfassung den Gedanken hinzu, durch Davids Heldentat sei letztlich die ganze Schlacht entschieden worden: Die Philister seien beim Anblick ihres besiegten Vorkämpfers geflohen, und die Männer Israels und Judas hätten ihnen nachgesetzt.294 Die Leistung dieser Ergänzung besteht also darin, die kleine ursprünglich nur an der Einzeltat Davids interessierte Erzählung durch wenige eingefügte Sätze zu einem Schlachtbericht ausgebaut zu haben. Das dürfte bald schon nach Entstehung der Grundschicht geschehen sein, denn mit den V. 1–3.8f. eröffnet sich ein Erwartungshorizont, dem die V. 51a.54 allein kaum gerecht werden können. Diese Grundschicht wird sich unmittelbar an 1 Sam 16,21* angeschlossen haben, da sie David durchweg als Waffenträger auffaßt: Er ist in dieser Eigenschaft natürlich stets in der Nähe des Königs und kann deswegen sein Wort an Saul richten, ohne erst bei ihm vorgelassen werden zu müssen (V. 32). Wiewohl noch kein vollausgebildeter Kriegsmann, ist er doch schon im Waffengebrauch geübt und weiß daher z. B. mit Schleuder und Stein umzugehen (V. 40*).295 Von hierher erklärt sich auch, wie in V. 51 vom Schwert Davids und in V. 54 von seinem lRhOa die Rede sein kann, was in Hinblick auf einen Hütejungen ganz unverständlich bliebe. Das relative Alter des Erzählfadens macht sich insbesondere in der beiläufigen Erwähnung Jerusalems bemerkbar: Von der komplexen Landnahmetheorie, die den Hintergrund von 2 Sam 5,6ab–8 bilden dürfte,296 ist hier noch nichts zu spüren. Der Erzählfaden läuft schließlich in 1 Sam 18,5 weiter, wo David die nächste Sprosse seiner Karriereleiter erklimmt. Mit K RATZ vermute ich, daß die hier freigelegte Grundschicht irgendwann nach 720 v. Chr., d. h. als ein Reflex auf den Untergang Israels verfaßt worden sein dürfte. Wann genau dies geschah und ob mit dieser ältesten Fassung von 1 Sam 17 auch schon das Grundstratum der AG gefunden ist,297 kann jedoch kaum an Hand dieser Analyse entschieden werden. –––––––––––––– 294 Von der Vernichtung des Philisterheeres verlautet dagegen bemerkenswerterweise nichts. Der Sieg dürfte zwar hier so wenig wie dort als eine unblutige Szene vorgestellt sein, immerhin nimmt sich seine Schilderung jedoch in V. 51b.52a noch nicht so einschneidend aus wie in V. 52b.53. 295 Der Begriff oAl®q bezeichnet eine durchaus ernstzunehmende Waffe, mit der ganze Einheiten bestückt waren (vgl. Ri 20,16.). Vgl. dazu die schönen Darstellungen des Lachisch-Reliefs mit einigen einführenden Informationen zur Sache bei USSISHKIN: Conquest. S. 55, 78f., 80f., 82f., 84f. und 95f. 296 Zu dieser Abgrenzung vgl. KRATZ: Komposition. S. 186f. und 192. 2 Sam 5,6ab–8 hat deutlich die Vorstellung zur Voraussetzung, Israel bilde eine Größe sui generis und stehe in Konkurrenz mit anderen Völkern, die neben ihm im Lande wohnen. Speziell auf die Jebusiter gemünzt begegnet dieser Gedanke auch in Jos 15,63; Ri 1,21. Etwas anders FLOß (David. S. 44–50), der 2 Sam 5,6–9 insgesamt (bei Annahme älterer darin enthaltener Traditionen) als Einfügung „von einem dem DtrH (diachron) nachzuordnenden Redaktor“ (a. a. O. S. 46) wertet. S. aber auch unten in Kap. 10 die Anm. 17. 297 Zur zweiten Frage s. auch 6.3.2.

6 6.1

1 Samuel 18,5–30 Einleitende Betrachtung

Der Textabschnitt 1 Sam 18,5–30 stellt sich schon auf den ersten Blick als ausgesprochen komplexe Größe dar. Das liegt zum einen an seinem Aufbau: Anders als etwa in den Kapiteln 17 oder 20 liegt hier nicht eine einzelne große Erzählung vor, es handelt sich vielmehr um eine Anhäufung kleinerer Notizen und Episoden, die zumeist nur oberflächlich untereinander verbunden sind und zahlreiche Wiederholungen und Widersprüche aufweisen (vgl. etwa V. 5a.14a.30b; 5a und 13a; 12a und 15b; 20a und 28b). Zum anderen ist auch an die komplizierte Überlieferungssituation des Textes zu erinnern, auf die oben bereits eingegangen wurde.1 Da sich in jenem Zusammenhang bereits gezeigt hat, daß der im Bereich der Kapitel 1 Sam 17 und 18 durch die LXX bezeugte Kurztext das Ergebnis sekundärer Bearbeitung ist, kann hier gleich von Beginn an die durch den MT repräsentierte Langfassung der Untersuchung zugrundegelegt werden.2 Die Abgrenzung der Texteinheit ergibt sich indirekt aus dem Umfang des vorausgehenden und des sich anschließenden Stückes. So reicht die Goliaterzählung bis nach 18,4, weil bis hierhin der Tag des Sieges über den Philister den zeitlichen Rahmen für alles Geschilderte abgibt. Andererseits bietet 19,1a insofern etwas eindeutig Neues gegenüber den in Kapitel 18 berichteten Ereignissen, als hier Saul erstmals offen den Wunsch äußert, David umzubringen.3 Zugleich läßt sich auch eine thematische Klammer ausmachen, die 18,5–30 zusammenhält und damit diese Textabgrenzung rechtfertigt: die Frage nach den Ursachen für Sauls feindselige Haltung gegenüber David.4

–––––––––––––– 1 2

3

4

Vgl. 5.3.1. Zum genauen Umfang der Lücken in LXXB vgl. 5.1.1 und s. auch Anm. 3 (Kap. 5). In der folgenden Untersuchung werden Textüberhänge des MT gegenüber der LXX, die aus jener dem Textbestand des Vaticanus zugrundeliegenden Kürzung resultieren, nicht erneut aufgeführt. Ein gewisses Problem stellt bei dieser Sicht der Dinge 18,10f. dar, weil es hier bereits zu einem ersten, freilich durch die Einflußnahme des bösen Gottesgeistes ausgelösten offenen Mordversuch kommt. Das braucht aber nicht gegen die hier vorgetragene Bestimmung des durch 1 Sam 18 erreichten gedanklichen Fortschritts zu sprechen. Im folgenden wird sich zeigen, daß die V. 10f. wahrscheinlich jünger sind als die für *18,5–9.12–30 grundlegende erzählerische Konzeption; s. 6.3. Vgl. WELLHAUSEN: Composition. S. 249.

210

1 Samuel 18,5–30

6.2

Untersuchung

Selbst nach mehrmaliger Lektüre hinterläßt der Abschnitt 18,5–30 noch einen diffusen Eindruck. Das liegt nicht in erster Linie an dem raschen Wechsel von Notizen (V. 5; 12f.; 14–16; 28–30) und erzählenden Passagen (V. 6–9; 10f.; 17–19; 20–27), sondern vielmehr an dem nicht selten unklaren Verhältnis der einzelnen Elemente zueinander: Neben handfesten Widersprüchen und unmotivierten Doppelungen finden sich vor allem zahlreiche Fälle, in denen offen bleibt, welcher Art die logische Beziehung zum jeweils vorangehenden Vers bzw. Abschnitt ist. Es mangelt in 18,5–30 an einem erkennbaren, durchgehenden gedanklichen Faden, m. a. W. an erzählerischer Stringenz.5 Eine Gliederung fällt daher zwar vergleichsweise leicht, enthält aber – dem Gesagten entsprechend – eine Reihe von Unwägbarkeiten: 18,5 Davids Aufstieg zum Heerführer 18,6–9 Davids Beliebtheit im Volk weckt Sauls Mißgunst 18,10f. Sauls Heimsuchung durch den bösen Gottesgeist und sein erster Anschlag auf Davids Leben 18,12f. die Folgen des mißglückten Anschlags: Sauls Angst, seine Versetzung Davids 18,14–16 Sauls Grauen angesichts des Erfolges Davids 18,17–19 Sauls Tochter Merab wird David versprochen, aber einem anderen gegeben 18,20–27 Sauls Tochter Michal wird David gegeben 18,28f. die Folgen der Heirat mit Michal: Sauls Haß 18,30 Davids anhaltender Erfolg in den Philisterkämpfen Der Beginn des Textabschnitts (18,5) fällt gleich in seinem ersten Viertel durch seine ungewöhnliche syntaktische Struktur auf. Ohne eine Konjunktion zu verwenden, schließt nämlich der zweite Gliedsatz des Gefüges (lyI;kVcÅy ... lOkV;b ) an den ersten (dˆw∂d aEx´¥yÅw) an. Es ist daher verständlich, daß u. a. vorgeschlagen wurde, das auffällige Phänomen auf den (eventuell sogar originären) Ausfall eines w vor lyI;kVcÅy oder auf eine ungeschickt vorgenommene Glossierung zurückzuführen.6 Ersteres erscheint mir unnötig,7 letzteres ist gar unmöglich. Denn die Erwähnung der Beförderung Davids (V. 5abg ) verlangt nach einer Erklärung, eine solche aber –––––––––––––– 5 6

7

Gleichwohl lassen sich bei näherem Hinsehen Versuche erkennen, einen solchen roten Faden in das Textstück einzuflechten; dazu s. u. etwa zu V. 9. Vgl. etwa WELLHAUSEN : Text. S. 110; BUDDE: a. a. O. S. 131; C ASPARI: KAT VII. S. 222f.; SMITH: a. a. O. S. 167. Das Verbum (q) axy ist hier als militärischer terminus technicus zu verstehen und bedarf daher keiner ergänzenden Richtungsangabe (gegen SMITH: ebd.; vgl. z. B. Gen 14,8; Ex 17,9; Num 1,3.22). Vgl. DRIVER: a. a. O. S. 149; STOEBE: a. a. O. S. 343, Anm. 5 c).

Untersuchung

211

liefert allein V. 5aa in seiner vom MT überlieferten Form. BUDDE bemerkt mit Recht, daß die Verhältnisse, die hier zugrundegelegt werden, denen aus 16,23 ähneln.8 In der Tat ist David in 18,5 offensichtlich als Krieger vorgestellt, den Saul wie selbstverständlich zu verschiedenen militärischen Einsätzen aussenden kann. Dies stellt indes einen unvermittelten Fortschritt gegenüber dem Stand der Dinge zum Ende der Goliaterzählung hin (18,2) dar, während es nach 16,14–23 ganz natürlich wirkt. Allerdings verbleibt David in 16,22f. in seiner Eigenschaft als Harfenspieler am Hof, so daß sich der Vers 16,21*, der sich oben bereits als wahrscheinlicher Grundbestand von 16,14–23 herausgestellt hat und David lediglich als Waffenträger Sauls beschreibt, noch deutlicher als Ausgangspunkt oder zumindest Hintergrund für 18,5 empfiehlt.9 Was den Zusammenhang mit allem in 1 Sam 18 Folgenden anbelangt, so fällt insbesondere der Widerspruch zwischen V. 5abg und V. 13a auf. Während nach 18,5abg David sogleich über die Kriegsleute gesetzt wird, was zumindest so klingt, als sei dabei an alle Kriegsleute gedacht, macht ihn Saul in V. 13a – weitaus bescheidener – zum Anführer einer Tausendschaft.10 Das ist insofern merkwürdig, als die Degradierung, die dieser Schritt vor dem Hintergrund von V. 5 faktisch für David bedeutet,11 nirgends als eine solche reflektiert wird. Die V. 12.13aa lassen vielmehr einen ganz anderen Grund für Davids Versetzung durchblicken: Es geht Saul darum, den Konkurrenten, dessen Erfolg ihm mittlerweile Angst einflößt, aus seiner unmittelbaren Nähe zu entfernen.12 Die Vermutung drängt sich daher auf, daß die V. 5 und 13 nicht von ein und demselben Autor stammen. Zugleich ist zu bedenken, daß einer der zwei Verse konstitutiv für die Grunderzählung sein muß, wie ein Blick auf die Erzählung 18,20–27 zeigt, die Teil jener ältesten Fassung gewesen sein wird.13 Denn wenn David in 18,27a bereits eine Truppe untersteht, so muß zuvor seine Beförderung zum Heerführer o. dgl. berichtet worden sein, wofür aber allein 18,5 und 18,13 in Frage kommen. Wie sich unten noch zeigen wird, dürfte V. 13 jedoch von den V. 10–12 abhängig sein und damit als Bestandteil des Grundstratums ausscheiden. 18,5b stellt kein handlungstragendes Element dar. Er unterscheidet sich darüber hinaus von den V. 20b und 26a, indem er nicht wie jene ...y´nyEoV;b (rDb∂;dAh) rAvˆ¥yÅw formuliert, sondern ... y´nyEoV;b bAfyˆ¥yÅw. Das könnte darauf hindeuten, daß 18,5b nicht von derselben Hand stammt wie 18,20b.26a. Mit 18,6 beginnt eine kleine Erzählung, die bis V. 9 reicht und den Konflikt zwischen Saul und David damit erklärt, daß der König dem jungen Helden seine –––––––––––––– 8 9 10 11 12 13

Vgl. BUDDE: a. a. O. S. 131. Ganz ähnlich EIßFELDT: a. a. O. S. 12f.; s. auch die Übersicht auf S. 57. Vgl. ebd. Vgl. HENTSCHEL: NEB.AT 33. S. 114; anders, doch ohne Argumente STOEBE: a. a. O. S. 350. Vgl. etwa CASPARI: a. a. O. S. 230; STOEBE: a. a. O. S. 342; STOLZ: a. a. O. S. 122. Zur Begründung s. u. zu 18,20.

212

1 Samuel 18,5–30

Beliebtheit im Volk geneidet habe. V. 6 scheint, was den erreichten Stand der Handlung angeht, hinter V. 5 zurückzufallen, da sich hier im zweiten Teil von V. 6aa die Zeitangabe yI;tVvIlVÚpAh_tRa twø;kAhEm dˆw∂;d b…wvV;b (= V. 6aa2) findet, also erneut der Tag des Siegs über Goliat den Ausgangspunkt bildet. Bei näherem Hinsehen fällt allerdings auf, daß V. 6aa2 mit dem Wort MDawøbV;b eine recht ähnliche, wenn auch kürzer gehaltene adverbielle Bestimmung vorausgeht, wodurch eine unschöne Doppelung entsteht (zweimal in direkter Folge ein mit der Präposition b versehener Infinitiv constructus). Zudem zeigt sich, daß V. 6aa 2 erstens nahezu wortwörtlich 17,57aa wiederholt, zweitens für das Satzgefüge 18,6 durchaus nicht konstitutiv ist und drittens auch vom Kontext mit keinem Wort vorausgesetzt wird. Stattdessen wird eine recht unscheinbare Differenz zwischen V. 6aa1 und V. 6aa2 erkennbar: Während MDawøbV;b durch die Verwendung eines pluralischen Suffixes die Ankunft einer Mehrzahl andeutet, ist in V. 6aa 2 lediglich von der Rückkehr Davids die Rede. Natürlich schließt sich beides nicht aus, die Formulierung der zweiten adverbielle Bestimmung scheint den Akzent auf die Hauptfigur zu setzen, wohingegen die erste das Heer als ganzes in den Blick nimmt. Dennoch bleibt festzuhalten, daß die Perspektiven jeweils verschieden sind. Zieht man V. 6aa 2 probehalber ab, so ergibt sich ein nach wie vor vollständig wirkender Vers, der 1 Sam 17 nicht notwendig voraussetzt. Gleichwohl hat auch dieser Rumpfvers eine Affinität zu jener Erzählung. Denn wenn es in V. 6ab14 heißt, die Frauen aus allen Städten Israels seien dem König entgegengezogen, dann kann das nur als Antwort des Volkes auf einen entsprechend spektakulären Sieg zu verstehen sein. Solch ein Sieg aber wird allein in 1 Sam 17 geschildert, 18,5 beläßt es bei einer bloßen Andeutung. Zudem kann das in den V. 6f. Geschilderte auch nicht als eine typi–––––––––––––– 14

Ab V. 6ab bezeugt auch die LXX wieder den Text, freilich mit zahlreichen Abweichungen. Der MT ist indes durchweg vorzuziehen. Alle Elemente von 18,6abMT mit Ausnahme des ersten Wortes (hÎnaRxE;tÅw) sind in der LXX entweder getilgt, uminterpretiert oder an eine andere Stelle innerhalb des Verses gerückt worden. Es fehlen namentlich die Pendants zu den Wörtern MyIvÎ…nAh und rwøvDl. Die Entsprechung zu lEa∂rVcˆy yérDo_lD;kIm plaziert die LXX unmittelbar vor V. 6b. Und anstelle von twølOjV;mAh◊w scheint sie das Partizip f. Pl. Polel von I lwj lesen zu wollen bzw. vorauszusetzen. Die Lesart des MT dürfte nicht allein aufgrund der oben durchgeführten Untersuchung zum Verhältnis von MT und LXXB im Bereich der Kapitel 1 Sam 17f. vorzuziehen sein. Vielmehr hat BUDDE (a. a. O. S. 133) völlig zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Seitenstücke Ri 11,34 und 21,21 den grundlegenden Aufbau des MT stützen, denn: „Jedesmal ist die allgemeine Bezeichnung für die Person der Reigentänzerinnen mit axy voraufgeschickt, wie hier in MT das MyIvÎ…nAh [...].“ In bezug auf das twølOjV;mAh◊w, das in dieser Form keinen hinreichenden Sinn ergibt und einer Verbesserung bedarf, ist vielleicht – wiederum mit BUDDE (ebd.) und wie in Ri 21,21 – twølOjV;mA;b zu lesen (die Alternative, in twølVlOjV;mAh zu verändern – so etwa WELLHAUSEN: Text. S. 110 –, führt zumindest zu einem recht holprigen Text). Statt rwøvDl ist, wie allgemein zugestanden, mit dem Qere von ryIvDl auszugehen. Das ei˙ß suna¿nthsin Dauid der LXX ist einfacher als das taårVqIl JKRlR;mAh l…waDv und rückt David zudem weiter in den Vordergrund, es dürfte daher sekundär sein. Die Einfügung einer Kopula vor hDjVmIcV;b, die BUDDE (ebd.) aufgrund des Wortlauts von V. 6bLXX vornimmt, ist überflüssig (vgl. BROCKELMANN: a. a. O. § 128).

Untersuchung

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sche, häufig wiederkehrende Szene verstanden werden, da der Gebrauch des Imperfectum consecutivum eine iterativische Interpretation ausschließt. V. 7 führt das ryIvDl aus 18,6 aus, indem er den Wortlaut jenes Gesangs präsentiert, den die ausziehenden Frauen angestimmt haben.15 Dieser Liedvers zielt an sich auf die Verherrlichung des überragenden militärischen Erfolges Sauls und Davids – nicht etwa darauf, die Verdienste der zwei Helden gegeneinander aufzurechnen.16 Die Interpretation, die sich dem König in V. 8 aufdrängt und derzufolge das Lied der Frauen ihn gegenüber David zurücksetzt, nimmt sich mithin gegenüber V. 7b deutlich sekundär aus. Allerdings zeigen sich keine weiteren Hinweise, die dafür sprächen, daß V. 8 später als V. 7b in den Kontext eingefügt wurde. Darüber hinaus treiben die V. 6f. die Handlung vor allem insofern voran, als sie eine Erklärung dafür liefern, warum Saul Neidgefühle gegenüber David entwickelt. Aus diesen Gründen legt sich m. E. der Schluß nahe, daß mit 18,7b ein einstmals eigenständiges oder ursprünglich in einen anderen Zusammenhang gehöriges Stück mündlicher oder schriftlicher Überlieferung für die Ausgestaltung der Erzählungen um David und Saul fruchtbar gemacht wurde.17 Es kehrt interessanterweise im folgenden noch zweimal wieder (21,12bbg; 29,5b). Der Text des Liedes bedarf mit Ausnahme der Suffigierungen der beiden Zahlwörter keiner Erörterung. Was jedoch diese Possessivsuffixe angeht, so springt der merkwürdige Umstand ins Auge, daß im Zusammenhang mit ihnen an allen drei Belegstellen des Triumphliedes Irritationen auftreten. In 18,7 betrifft dies das Wort wøpVlTaA;b, in 21,12 beide Zahlwörter (wøpDlSaA;b und wøtObVbîrV;b) und in 29,5 wøtObVbîrV;b. Das Qere sowie alle mir bekannten Auslegungen wollen in allen drei Fällen jeweils das Suffix 3. m. Sg., das an pluralische Substantive angefügt wird (wy-), lesen. Das paßt in der Tat am besten zu einem Siegeslied wie diesem und dürfte daher vermutlich auch die Aussageabsicht der frühesten Fassung widerspiegeln. Damit ist allerdings noch nichts über die tatsächlich älteste Schreibung ausgesagt. Ich vermute, daß die in 21,12 bezeugte Lesung in allen drei Fällen ursprünglich ist, gleichwohl aber schon ‚Davids Zehntausende‘ und auch ‚Sauls Tausende‘, also die größtmögliche Menge an erschlagenen Philistern meint. Es ist nämlich kaum einzusehen, weshalb hier und in 29,5 absichtlich bei den twøbDb√r die inkorrekte

–––––––––––––– 15

16 17

Mit WELLHAUSEN (Text. S. 110) ist das twøqSjAcVmAh, zu dem die LXX keine Entsprechung besitzt und das mithin die lectio longior darstellt, als Glosse zu werten. An eine Streichung auf seiten der LXX und ihrer Bearbeiter zu denken, legt sich m. E. deswegen nicht unbedingt nahe, weil hDlOjVm (V. 6) und (pi) qjc (V. 7MT) in ihrer Bedeutung doch recht weit auseinander liegen. Vgl. hierzu den exzellenten Abschnitt bei MCCARTER: a. a. O. S. 311f.; vgl. ferner HERTZBERG: a. a. O. S. 122; STOEBE: a. a. O. S. 349; anders STOLZ: a. a. O. S. 123. In diese Richtung scheinen auch die Vermutungen GREßMANNs (a. a. O. S. 78f.) und STOLZ’ (a. a. O. S. 123) zu gehen. Vgl. auch WEISER: Legitimation. S. 331.

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1 Samuel 18,5–30

Suffigierung gewählt worden sein sollte.18 Dagegen bestand in 18,7 konkrete Veranlassung, die Anzahl der von Saul getöteten Feinde weiterhin mit einem einfachen w zu suffigieren, denn auf diese Weise konnte (bei der durch 18,8 verbürgten, Saul und David gegeneinander ausspielenden Interpretationsart des Verses) Sauls Erfolg auf einfachem Wege geschmälert werden. Daß in 21,12 die Korrektur des wøtObVbîrV;b unterblieb, mag damit zusammenhängen, daß hier das fehlende y keinen Einfluß auf die Bedeutung des Wortes hat.19 Interessant ist schließlich das Davidbild, welches das Siegeslied widerspiegelt: David ist keineswegs als Knabe, sondern zweifellos als erprobter Krieger gedacht. Der Vers knüpft also vermutlich an das Kapitel 17 in einer relativ frühen Fassung an. V. 8 schließt sich unmittelbar an und führt das Erzählte anschaulich weiter. In einem kurzen Monolog zieht der König seine Schlüsse aus dem in V. 7 erwähnten Siegeslied. Saul nimmt es als Zeichen dafür, daß David höher in der Gunst des Volkes steht als er. Strittig ist dabei allerdings der originäre Umfang des Verses. Sowohl V. 8aa1 (dOaVm l…waDvVl rAjˆ¥yÅw) als auch V. 8b wird zwar vom MT, nicht aber von der LXX bezeugt. In bezug auf V. 8b wird man guten Gewissens von einer nachträglichen „Retouchierung“20 sprechen dürfen, da der Halbvers das im vorangegangenen V. 8ab Angedeutete lediglich expliziert, Gründe für seine Tilgung sich indes nicht auf Anhieb ausmachen lassen. Dagegen bin ich sehr im Zweifel, ob auch V. 8aa1 als Hinzufügung einzustufen ist, weil in diesem Falle kaum der Name l…waDv versetzt, sondern viel eher die daraus resultierende, aber nicht allzu auffällige Doppelung zwischen V. 8aa 1 und 8aa 2 in Kauf genommen worden wäre.21 WELLHAUSEN argumentiert: „dam lwavl rjyw ist an dieser Stelle übertrieben und psychologisch unfein.“22 Diese Überlegung ist aus zwei Gründen problematisch: a) Wie sich im Laufe dieser Untersuchung immer wieder zeigt, hat bei der Abfassung bzw. Überarbeitung der Texte der Wunsch nach psychologischer Konsequenz nur ab und an eine Rolle gespielt.23 b) Selbst wenn man sich auf WELLHAUSENs Argumentation einläßt, so stellt sein Vorschlag doch zweifellos die lectio facilior dar. Die kürzere Lesart dürfte dementsprechend auf die oben bereits wahrscheinlich gemachte straffende, harmonisierende Redaktion des LXX-Textes zurückgehen. In –––––––––––––– 18

19 20 21 22 23

Strenggenommen handelt es sich nicht um eine orthographisch falsche, sondern bloß altertümliche Form der Suffigierung (vgl. HAE II/2, S. 4). Der argumentative Wert der Überlegung verringert sich dadurch jedoch nicht. Wie zudem ein Blick auf 18,15 und vor allem auf V. 22aa (im Gegenüber zu V. 22ag) zeigt, scheint es keine systematische Korrektur der Orthographie des Textes gegeben zu haben. So WELLHAUSEN: a. a. O. S. 111; zustimmend z. B. STOEBE: a. a. O. S. 349, Anm. 16. Gegen SMITH: a. a. O. S. 170; STOEBE: a. a. O. S. 344, Anm. 8 a); u. v. a. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 111. Vgl. auch Anm. 165 (Kap. 8); s. aber auch Anm. 108 (Kap. 6).

Untersuchung

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der Tat nimmt sich nämlich die LXX-Fassung von Kapitel 18, was die Entwicklung der Figur des Saul anbelangt, deutlich stringenter als die MT-Version aus (V. 8f.: Mißgunst Sauls; V. 12: Furcht [fobe÷omai]; V. 15: Grauen [eujlabe÷omai]; V. 29: gesteigertes Grauen [prosti÷qhmi ... eujlabe÷omai ... e¶ti])24. Das Fazit aus der vorangegangenen Episode zieht V. 9: Saul, so wird gesagt, sei David von jenem Tage an mit Mißgunst begegnet. Damit ist ausdrücklich auf die Bedeutung des Geschehens für alles weitere hingewiesen, 18,9 gliedert die V. 6–8 also erst in den Erzählverlauf ein und ist von daher als Schluß der Anekdote kaum zu erübrigen.25 Zuletzt fällt noch auf, daß die Formulierung _tRa N´ywøo l…waDv yIh◊yÅw ... Mwø¥yAhEm dˆw∂;d stark derjenigen ähnelt, die etwas später in V. 29b gebraucht wird: MyImÎ¥yAh_lD;k dˆw∂;d_tRa b´yOa l…waDv yIh◊yÅw. V. 10 markiert einen deutlichen Einschnitt innerhalb des Kapitels, insofern die hier geschilderte Handlung deutlich von den vorausliegenden Ereignissen mit der Formulierung t∂rFjD;mIm yIh◊yÅw abgesetzt wird. Der böse Gottesgeist ergreift wieder Besitz von Saul, der – wie nebenbei erwähnt wird – seine Lanze in Reichweite hat, doch glücklicherweise ist wie üblich (MwøyV;b MwøyV;k) David mit seinem Harfenspiel zur Stelle. Schon diese Zusammenfassung zeigt eindeutig, daß an dieser Stelle 16,14–23 präsupponiert wird. Dies Verhältnis bestätigt auch der Umstand, daß allein hier und in 16,13 die Wurzel (q) jlx mit der Präposition lRa kombiniert wird, denn der Abschnitt 16,14ff. setzt 16,13 voraus.26 Außerdem begegnet der Ausdruck hDo∂r MyIhølTa Aj…wr nur in 16,15f. und in 18,10. Eine weitere Verbindung besteht zu der Erzählung 19,18–24, in der David sich zu Samuel flüchtet und der ihm nachstellende Saul durch eine MyIhølTa Aj…wr außer Gefecht gesetzt wird. Dabei verwenden die Verse 19,20f.23f. das Verb (hitp) abn zur Beschreibung eines ekstatischen Zustandes, der allenfalls indirekt noch mit mantischer Praxis zu tun hat und durch die Art seiner Inszenierung eine deutliche innere Distanz des Verfassers gegenüber dem Phänomen der prophetischen Raserei erkennen läßt.27 Beide Aspekte finden sich in gesteigerter Form auch in 18,10: Der Bezug zur Prophetie fehlt hier gänzlich, und der Furor ist eindrücklich abqualifiziert, indem er als –––––––––––––– 24

25 26 27

Vgl. W ELLHAUSEN : Text. S. 111f. Seine an sich sehr scharfsinnige Überlegung, in Kapitel 18 könne keine harmonisierende, also Wiederholungen etc. streichende nachträgliche Redaktion erfolgt sein, da in diesem Fall auch die Doppelung, welche die V. 12a und 15b bilden, ausgeräumt hätte werden müssen (vgl. WELLHAUSEN: Composition. S. 249), kann von dieser Zusammenstellung aus leicht widerlegt werden. Denn anders als im hebräischen Text – V. 12: (q) I ary; V. 15: (q) III rwg („stronger expression than aryw in v. 12“, so DRIVER: a. a. O. S. 153); V. 29: I ary (q) – ergibt sich im griechischen eine Abfolge von Ausdrücken, die sich als konsequente Steigerung des Angstmotivs begreifen läßt (vgl. die Auflistung der Begriffe im Haupttext). Damit fällt ein weiteres Argument gegen die Prioriät des Langtextes in 1 Sam 17f. dahin. Mit dem Qere ist statt des NOwDo im MT besser N´ywøo zu lesen; vgl. nur BUDDE: a. a. O. S. 133; KBL3, Art. Nyo, S. 773. Vgl. 4.3. Hierzu vgl. auch 7.2 und 7.3.1 zur Stelle.

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1 Samuel 18,5–30

Auswirkung einer hDo∂r MyIhølTa Aj…wr verstanden wird.28 Noch um einiges deutlicher ist die Querverbindung zu 19,9f., denn diese beiden Verse stellen unverkennbar eine Dublette zu 18,10 und dem ihn unmittelbar fortführenden V. 11 dar. Allerdings sind auch kleinere Unterschiede zu erkennen: In 19,9 ist anders als in 18,10 nicht das Verb (q) jlx gebraucht, sondern lRa + (q) hyh.29 Ferner weicht David in 18,11 gleich zweimal Sauls Lanze aus, in 19,10 hingegen nur einmal, wobei die Texte überdies zwei verschiedene Verben gebrauchen (18,11: (q) bbs; 19,10: (q) rfp). Schließlich folgt in 19,10b die Notiz, daß David aufgrund von Sauls Anschlag aus 19,10a sein Heil in der Flucht gesucht habe, während in 1 Sam 18 nichts dergleichen verlautet. Diese zahlreichen Differenzen legen den Schluß nahe, daß 18,10f. und 19,9f. nicht von ein und demselben Schreiber stammen. Ein weiteres Seitenstück bildet die Szene 20,33a. Hier wirft30 Saul indes den Speer nach seinem eigenem Sohn, und zwar ohne daß zuvor von der Einwirkung eines bösen Geistes berichtet worden wäre, offensichtlich ist hier lediglich an einen Wutanfall des Königs als Ursache gedacht. 18,10f. und 19,9f. zeugen insofern von fortgeschrittener theologischer Durchformung des Stoffes und lassen sich überdies als Übertragung des Motivs von Jonatan auf den Hauptakteur David verstehen; sie dürften daher zeitlich später als 20,33 anzusetzen sein. Die folgenden V. 12–16 bilden bei der Interpretation von Kapitel 18 ein besonderes Problem: Sie treiben die Handlung nicht entscheidend voran, werden daher vom Folgenden nirgends vorausgesetzt,31 sind ihrerseits in ihren Bezügen und Voraussetzungen nur schwer zu durchschauen und halten darüber hinaus einige Widersprüche und Doppelungen bereit. V. 12a bringt ein neues Element in das Geschehen ein, wie es sich bis hierher entwickelt hat: Sauls Furcht vor David. Allerdings bleibt völlig offen, wodurch sie verursacht wird. Im jetzigen Zusammenhang könnte man meinen, Davids geschicktes zweimaliges Ausweichen vor Sauls Lanzenstoß sei als Auslöser dieser Angst gedacht. Diese Folgerung ist jedoch nicht zwingend, schon V. 12b bringt eine andere Erklärung vor, indem er darauf verweist, daß Jhwh den König verlassen, dem David aber beigestanden habe. Durchaus denkbar ist auch, daß beide Möglichkeiten zutreffen, denn V. 12b bietet eine vergleichsweise abstrakt gehalte–––––––––––––– 28 29 30

31

Ähnlich LEHNART: Saul. S. 219f. Schwieriger ist die Frage, ob in 19,9 ursprünglich von einem ‚Gottes-‘ oder einem ‚Jhwh-Geist‘ die Rede war; s. dazu die Diskussion unter 7.2 zum betreffenden Vers. Mit WELLHAUSEN (Text. S. 111), in Anlehnung an die Wortwahl der LXXOL (h™ren) bzw. des Targums und vor allem aufgrund der inneren Wahrscheinlichkeit angesichts des zweifachen Ausweichens ist das Verbum in 18,11aa wohl als l;Ofˆ¥yÅw zu vokalisieren und dementsprechend von (q) lfn herzuleiten, vgl. auch DRIVER: a. a. O. S. 152; LANGLAMET : RB 101. S. 348; anders LUCIANI: forma. S. 385ff.; STOEBE: a. a. O. S. 344f., Anm. 11 a). In 20,33 verdient indes eher die Punktierung der Masoreten den Vorzug, dazu s. 8.2. Die einzige (allerdings nur scheinbare) Ausnahme stellt V. 29a dar, der aussieht, als verweise er auf V. 12a zurück, s. hierzu jedoch das unten zu V. 28a Gesagte.

Untersuchung

217

ne Begründung, während das in 18,10f. Geschilderte einen handfesten Anlaß liefert. Hält man V. 12b allein für ausreichend, dann könnte 18,12 direkt an V. 9 anknüpfen. Weil V. 12a indes das grammatikalische Subjekt expliziert (l…waDv), was sich nach V. 11b ganz natürlich, im Anschluß an V. 9 (wo ebenfalls Saul ausdrücklich als Handlungsträger genannt wird) hingegen ungewöhnlich ausnimmt, ist dies eher unwahrscheinlich. Darüber hinaus kommen noch zwei weitere Anschlußmöglichkeiten in Betracht: V. 12 könnte a) V. 8 oder gar b) V. 5 fortsetzen. Gegen b) spricht m. E., daß in diesem Falle der Meinungsumschwung beim König in bezug auf David etwas unvermittelt aufträte. Die Alternative a) ergäbe hingegen einen passablen Übergang. Dennoch gehe ich davon aus, daß V. 12 von jeher den V. 11 fortgesetzt hat. Hierfür spricht nämlich der Umstand, daß die Wendung NN MI o E m (q) rws sonst innerhalb der Samuelbücher nur noch in 16,14 begegnet.32 18,12 weist m. a. W. ebenso wie 18,10f. deutliche Nähen zu der Erzählung 16,14–23 auf, während sich in 18,8 nichts dergleichen zeigt. Hinzu kommt, daß bei der Betrachtung der V. 8 und 9 keinerlei Anzeichen gefunden wurden, die gegen eine zeitgleiche Entstehung dieser beiden Verse sprächen. Schließlich verdient noch die Kombination des Verbs (q) I ary mit NN y´nVpI;lIm Beachtung,33 weil sie außer in V. 12a nur noch dreimal bei Qohelet vorkommt (Qoh 3,14; 8,12f.). Dieser charakteristische Sprachgebrauch hebt 18,12 auch von 18,29 ab, wo NN y´nVÚpIm (q) I ary formuliert wird. V. 13 greift, wie es aussieht, die Formulierung NN MIoEm (q) rws aus V. 12 auf und variiert sie durch die Verwendung des Hiph‘ils leicht. In der Tat findet sich auch keine bessere Anschlußmöglichkeit für ihn als V. 12. Denn die Versetzung bedarf schon eines Anlasses, als solcher kommt aber allein – neben 18,12 – V. 9 in Frage.34 Der Neid Sauls ist durchaus dazu angetan, eine plausible Motivation für Davids Verbannung aus der Nähe des Königs zu liefern. Erneut ist es aber die Explikation des Subjekts in den beiden betreffenden Versen, die eine solche direkte Aufeinanderfolge von 18,9 und 18,13 unwahrscheinlich erscheinen läßt. So betrachtet spricht einiges dafür, die V. 10–13 als einen (vielleicht auch genuin) zusammengehörigen Sinnabschnitt zu werten.

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Daß in 16,14 vom Schwinden des Geistes Jhwhs die Rede ist, während 18,12 von Jhwh selbst spricht, hat naheliegende sachliche Gründe: Der Fortgang des Geistes muß ja nach 16,14 nicht noch einmal erwähnt werden und könnte nach 18,10f. sogar mißverständlich klingen, vor allem aber mußte wohl in Anlehung an die direkt zuvor in V. 12ba benutzte Mitseinsformel formuliert werden. Diese Verbindung dürfte dem ursprünglichen Text von V. 12a entsprechen. Die wenigen hebräischen Handschriften und Zitate, die stattdessen NN y´nVÚpIm (q) I ary lesen, dürften sich stilistischer Korrektur verdanken, denn NN y´nVÚpIm (q) I ary ist die bei weitem geläufigere Formulierung. Als Fortführung von 18,5 wäre der Vers unsinnig, im Anschluß an 18,11 bliebe zumindest unklar, welche Absicht der König mit dieser Maßnahme verfolgt.

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Das äußerlich auffälligste Merkmal der V. 14–16 besteht darin, daß man sie allesamt bereits andernorts gelesen zu haben meint. V. 14a35 gleicht deutlich V. 5aa , ähnlich verhält es sich mit V. 14b und V. 12ba.28ab. 18,15a erinnert an V. 28a (auch wenn dort Davids Erfolg mit Hilfe des Topos’ des göttlichen Beistands ausgedrückt wird), 18,15b hingegen an V. 12a. Eine Ausnahme macht V. 16a, der sich dadurch von seinem Kontext klar abhebt, daß er Israel und Juda sozusagen als gleichrangige Größen nebeneinanderstellt.36 Das dort verwandte Motiv des ‚Liebens‘, (q) bha, in Verbindung mit David begegnet allerdings wiederum bei einer ganzen Reihe von anderen Versen: 16,21; 18,1.3.20.22.28. In V. 16b schließlich liegt unübersehbar ein Gegenstück zu V. 13b, näherhin eine (vergleichsweise frei formulierte) Wiederaufnahme jenes Halbverses vor.37 Diese letzte Beobachtung legt zudem den Schluß nahe, daß die V. 14–16 en bloc an dieser Stelle eingeschoben wurden. Die Sonderstellung der drei Verse in ihrem literarischen Umfeld verrät sich zugleich auch durch ihren signifikanten Sprachgebrauch. Neben der schon erwähnten selten anzutreffenden Dyas h∂d…whyˆw lEa∂rVcˆy38 ist hier zunächst die Verwendung des Verbums III rwg in V. 15b zu nennen, die sich im AT lediglich zehnmal findet (und zwar überwiegend im dritten Kanonteil sowie im Dtn), indes im Bereich zwischen Jos und 2 Kön allein hier begegnet.39 Ein ebenfalls nicht allzu häufig im AT anzutreffendes und vermutlich sprachgeschichtlich relativ junges Phänomen stellt der Gebrauch der Partikel rRvSa als Konjunktion (anstelle des üblichen yI;k) dar.40 Zu guter Letzt kann auf das Partizip der Wurzel (hi) I lkc hingewiesen werden, das außer in den V. 14f. sowie in Am 5,13 ausschließlich in den Ketubim bezeugt ist.41 Nimmt man all dies zusammen (den kompilationsartigen Zug der V. 14–16 und ihre Begriffswahl, die sie mit überwiegend jüngeren –––––––––––––– 35

36 37

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41

In V. 14a ist weder mit LXX u. a. lDkV;b zu lesen noch mit dem Qere wyDk∂r√;d, denn beides stellt lediglich eine sprachliche bzw. orthographische Erleichterung dar. Anders z. B. BUDDE: a. a. O. S. 134. Vergleichbares findet sich innerhalb der AG nur noch in 1 Sam 17,52 und 2 Sam 3,10; 5,5. Vgl. TREBOLLE: Story. S. 23. Die LXX liest am Ende von V. 16b pro\ prosw¿pou touv laouv, was im Vergleich zum MRhy´nVpIl des MT dem Wortlaut von V. 13b etwas näher kommt, aber genau deswegen auch auf sekundäre Angleichung schließen läßt. – Wie AURELIUS (David. S. 67) behaupten kann, V. 16 stelle eine Wiederaufnahme von V. 5 dar, ist mir unerklärlich. Zwar gibt es durchaus inhaltliche Parallelen (David ist beide Male als Heerführer vorgestellt, der die Sympathien des Volkes hat), die sprachlichen Berührungen zwischen V. 5 und V. 16 sind indes deutlich geringer als jene zwischen V. 13b und V. 16b. S. Anm. 143 (Kap. 5). Die Belege im einzelnen sind: Num 22,3; Dtn 1,17; 18,22; 32,27; 1 Sam 18,15; Hos 10,5; Ps 22,24; 33,8; Ijob 19,29; 41,17. Analoge Fälle finden sich etwa in Ex 11,7; Ez 20,26; Qoh 8,12 sowie in 1 Kön 22,16; vgl. DRIVER: a. a. O. S. 127 (zu 1 Sam 15,20); ferner GK § 157c; KBL3, Art. rRvSa, S. 95. Zur Sprachstufe, auf der diese Verwendung möglich wird vgl. BROCKELMANN: a. a. O. § 160b. Vgl. Ps 14,2; 41,2; 53,3; Ijob 22,2; Spr 10,5.19; 14,35; 15,24; 16,20; 17,2; 19,14; 21,12; Dan 1,4; 11,3.35; 12,3.10; 2 Chr 30,22.

Untersuchung

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Stücken des AT gemein hat), dann erscheint es als das wahrscheinlichste, daß der Passus 18,14–16 erst recht spät in das Kapitel eingefügt wurde. Besonders befremdlich mutet es an, daß der kleine Abschnitt im folgenden nirgends vorausgesetzt wird. Denn dies läßt die Frage nach der Leistung oder Bedeutung der drei Verse um so dringlicher erscheinen. Es empfiehlt sich, zu diesem Zweck an jenen beiden Stellen einzusetzen, deren Entsprechungen zum übrigen Kapitel am geringsten sind: in V. 16a und V. 15a. Der erste Halbvers weitet einfach den Kreis der Personen, deren Sympathien David genießt, so weit wie irgend möglich aus, was im Grunde bloß die konsequente Fortführung jener Tendenz darstellt, die in 16,21; 18,1.3.20.22.28 sichtbar wird. Interessanter erscheint der zweite Halbvers, der sich sowohl von V. 12 als auch von V. 28a signifikant absetzt. Wie schon erwähnt, berichtet 18,28a42, Saul habe erkannt, daß Jhwh auf der Seite Davids stehe. Demgegenüber klingt die Aussage aus 18,15a etwas verhaltener, Saul sieht hier lediglich – wenn man so will – die Außenseite jenes göttlichen Beistands: Davids Erfolg. Aus dieser Erkenntnis erwächst laut V. 15b Sauls Grauen vor David. Geht man noch einen Schritt weiter zurück, dorthin, wo die Mitseinsformel in 1 Sam 18 zum ersten Mal verwendet wird, zu V. 12, so zeigt sich, daß hier das Verhältnis zwischen Jhwhs Beistand und Sauls Handeln noch einmal anders bestimmt wird: Saul fürchtet sich – so 18,12 – vor David (V. 12a), weil Jhwh mit David ist, während er ihn, Saul, verlassen hat (V. 12b). Betrachtet man dieses Satzgefüge genauer, wird schnell klar, daß es das Kausalverhältnis zwischen der Aussage aus V. 12a und jener aus V. 12b nicht eindeutig bestimmt. Ist gemeint, daß Saul Angst vor David bekommt, weil er erkennt, daß Jhwh sich von ihm abgewandt hat und nunmehr auf Davids Seite steht? Diese Interpretation liegt zweifellos am nächsten, wie daraus hervorgeht, daß man sie bei einer ersten oder einer flüchtigen Lektüre des Textes ganz unwillkürlich vollzieht. Oder sollte der Vers besagen, Sauls Furcht resultiere unmittelbar (also ohne daß dabei Sauls Bewußtsein im Spiel wäre) daraus, daß Jhwh nicht mehr für ihn, sondern für David Partei ergreife? Diese zweite Möglichkeit mag auf den ersten Blick gekünstelt erscheinen, bietet aber bei näherem Hinsehen einen entscheidenden Vorteil: Wenn der König bereits vor den beiden ‚Heiratsgeschichten‘ 18,17–19 und 20–27 wissen sollte, daß David göttlichen Beistand genießt, dann stellt sich die Frage, wie Saul darauf hoffen kann, die Philister möchten vielleicht seinen Gegner aus dem Weg räumen.43 Genau diese Spannung auf dem Wege –––––––––––––– 42 43

Dies gilt zumindest für den Halbvers in seiner Gestalt nach Zeugnis des MT sowie der LXX; zum vermutlich originären Wortlaut von 18,28a s. u. Sie stellt sich natürlich in ähnlicher Weise auch dann, wenn man allein 18,28 und die darauffolgenden Erzählungen bis 27,4 betrachtet. Jedoch kommt hier erstens hinzu, daß 18,29 sogleich einen zusätzlichen Grund für Sauls weiteres Handeln einführt: seinen Haß gegenüber David. Zweitens ist die Situation, die 18,17–19 und 20–27 zugrundeliegt, insofern von derjenigen der Verfolgungserzählungen verschieden, als der König hier auf einen Sieg der Philister über David setzt, was schon – wenn Saul tatsächlich das in 18,12b Gesagte erkannt hätte – eine Preisgabe

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einer Reformulierung von V. 12 aufzulösen, könnte die Absicht der V. 14–16 sein. Die V. 17–19 erzählen die erste der beiden ‚Heiratsgeschichten‘. Sie berichten, wie der König seinem Knecht David die Hand seiner ältesten Tochter Merab verspricht. In der Hoffnung, David möge alsbald im Krieg ums Leben kommen, nennt Saul Tapferkeit vor dem Feind als einzige Bedingung für diese Ehrenbezeugung. Doch zu guter Letzt wird die Kronprinzessin – ohne Nennung von Gründen – mit einem anderen vermählt. Die kleine Episode ist nur locker mit ihrem Kontext verbunden: Keine der folgenden Erzählungen greift direkt oder indirekt Informationen aus 18,17–19 auf, und woran die Merabgeschichte ihrerseits anknüpft, wird nur umrißhaft erkennbar. 18,17 weist keinerlei Anzeichen auf, die den Schluß auf eine sukzessive Entstehung des Verses (wie etwa den Nachtrag von V. 17b) nahelegen könnten. Er kennt David als erprobten Kriegsmann, der sogar Umgang mit dem König pflegt (V. 17a). Er sieht allerdings auch schon das Ende des freundlichen Verhältnisses zwischen Saul und David gekommen: Saul hegt bereits handfeste Pläne, David diskret aus dem Weg zu räumen (V. 17b). Diese Wendung des Geschehens bedarf einer gewissen erzählerischen Vorbereitung, und so ist davon auszugehen, daß sie entweder V. 9, V. 12 oder V. 15 als Hintergrund voraussetzt. Ich vermute, daß 18,9 den eigentlichen Anknüpfungspunkt darstellt. Wenn sich nämlich, wie oben gezeigt, die V. 12f. an 18,10f. anlehnen und des weiteren diese vier Verse zusammen die Grundlage für 18,14–16 bilden, dann scheiden die anderen beiden Möglichkeiten wahrscheinlich aus. Denn in den V. 10f. erscheint Saul als geplagte Gestalt, seine offene Aggression als Folge einer Art Besessenheit, während in 18,17ff. nichts dergleichen zu spüren ist. Vor allem jedoch bleibt die Heimlichkeit, mit der Saul in V. 17b sein finsteres Vorhaben ins Werk setzt, unverständlich, wenn bereits ein Anschlag auf Davids Leben hinter ihm liegt.44 18,17b zeigt darüber hinaus, wie oberflächlich die kleine Erzählung mit allem übrigen verbunden ist. David dazu anzuhalten, die Jhwh-Kriege zu führen, heißt nämlich nichts anderes als Eulen nach Athen zu tragen, er ist ja schon längst zum Feldherrn ernannt worden (18,5).45 Sauls Anweisung geht in dieser Hinsicht keinen Schritt über den status quo hinaus und enthält auch sonst nichts, was die Chance auf Davids Tod im Felde erhöhen könnte. Mittel und Zweck passen m. a. W. nur dann ––––––––––––––

44 45

Davids durch Jhwh zur Voraussetzung haben müßte. Wenn hingegen Saul (wie in 18,28) lediglich begriffen hat, daß Jhwh David hilft, nicht aber (wie in 18,12bb), daß Jhwh ihn, Saul, verlassen hat, dann kann er nach wie vor auf göttliche Unterstützung oder wenigstens Neutralität hoffen und dann ergibt es durchaus einen Sinn, wenn er im folgenden immer wieder Davids und seiner Leute habhaft zu werden versucht. Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 350; WELLHAUSEN: Composition. S. 249. 18,5 dürfte konstitutives Element des Grundstratums sein, zur Begründung s. o. zur Stelle.

Untersuchung

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zueinander, wenn man den erzählerischen Zusammenhang ausblendet.46 Daher steht zu vermuten, daß die Episode 18,17–19 nachgetragen wurde. Beachtung verdient des weiteren eine sprachliche Nähe zwischen den V. 17b und 21a. Beide Halbverse gebrauchen die Wendung b NN dÅ y (q) hyh, um Sauls Hoffnung zum Ausdruck zu bringen, David werde im Kampf gegen die Philister fallen.47 Der Begriff hÎwh◊y twømSjVlIm aus V. 17a führt unzweifelhaft auf den Vorstellungskreis des Jhwh-Krieges und findet sich nur dreimal im AT.48 Die nächste Parallele liegt dabei in 1 Sam 25,28 vor, wo ebenfalls von David gesagt wird, er führe die Kriege Jhwhs. Dabei handelt es sich des näheren um einen Vers, der mit einiger Wahrscheinlichkeit nachträglich in das Kapitel 25 eingefügt wurde und alles in allem auf einer relativ späten literarischen Ebene angesiedelt zu sein scheint.49 Zugleich führt Sauls Fingerzeig aus V. 17a einen grundlegenden Unterschied zwischen der Merab- und der Michalepisode vor Augen, wenn man zum Vergleich V. 25a heranzieht. Während der Krieg des Königs gegen die Philister laut 18,17a (insbesondere dem Terminus hÎwh◊y twømSjVlIm nach) religiös motiviert ist, dient er 18,25a zufolge einem denkbar profanen Zweck: JKRlR;mAh yEb◊yOaV;b MéqÎ…nIhVl. Stellt man die allgegenwärtige Tendenz der fortschreitenden Theologisierung der Stoffe in Rechnung, dürfte dies als ein Hinweis auf ein höheres Alter der V. *20–27 im Vergleich zu den V. –––––––––––––– 46

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Auf das Mißverhältnis zwischen Mittel und Zweck haben auch bereits GREßMANN (a. a. O. S. 79), GRØNBÆK (a. a. O. S. 103f.) und KRATZ (Komposition. S. 184) aufmerksam gemacht. Die Deutung als ‚Dienst-‘ oder ‚Vasallenehe‘ (so WILLI-PLEIN: Michal. S. 84f., Anm. 18) stellt den Versuch dar, den Spannungen zwischen 18,17–19 und 18,5 sowie zwischen 18,17–19 und 18,20ff. einen tieferen Sinn abzuringen. Das ist an sich legitim, hat aber wenig Anhalt am Text selbst und erscheint zudem insofern inkonsequent, als WILLI-PLEIN etwa bei der Beurteilung der Jonatanepisode *19,1–7 keine vergleichbaren Zusatzannahmen in Erwägung zieht (vgl. WILLIPLEIN: ISam18–19. S. 153–163). Anders dagegen V. 25b, dazu s. u. zur Stelle. Num 21,14; 1 Sam 18,17; 25,28; hinzu kommt noch Ex 15,3 mit hÎwh◊y hDmDjVlIm. V EIJOLA (Dynastie. S. 51–54) schlägt den Vers zwar seinem ‚DtrG‘ zu, doch ist einer solchen vergleichsweise frühen Ansetzung gegenüber Skepsis angebracht. Denn die Verse, die VEIJOLA der deuteronomistischen Bearbeitung zuschlägt (25,21f.23b.24b–26.28–34.39a[ab rRmaø¥yÅw]), messen David unmißverständlich an seinem Tun, was auf eine nomistische Perspektive schließen läßt, auch wenn das klassische Vokabular (‚Gesetz‘, ‚Gebot‘ usf.) nicht gebraucht wird. Besonders markant ist jedoch die Art, in der hier einer einfachen Gehorsamstheologie die Spitze genommen wird: Jhwh selbst sorgt den V. 26 und 33f. zufolge dafür, daß David sich nicht an Nabal vergeht und damit seine künftige Herrschaft über Israel beeinträchtigt oder gar verspielt (V. 30f.). Das theologische Problem, das hier im Hintergrund steht, ist dasselbe wie in 2 Sam 7,14f. und in PG, wo das Gesetz zunächst durch das Heiligtum substituiert wird (vgl. etwa KRATZ: Komposition. S. 328): Alle drei Stellen zeugen von der Erfahrung des Scheiterns an der Forderung des Gesetzesgehorsams. Anders als dort werden in 1 Sam 25 aber nicht die Bedingungen des Heils modifiziert, sondern kommt Jhwh dem Individuum bei der Einhaltung des Gesetzes zur Hilfe. Interessant ist weiterhin, daß in 1 Sam 25,31 Metaphern aus dem Wortfeld ‚Fallen / Hindernisse‘ verwandt werden (h∂q…wÚp,lwøvVkIm), weil damit ein Bogen von 1 Sam 18,17a zu 18,21a (véqwøm, dazu s. u. in diesem Kap. Anm. 64) geschlagen ist. lwøvVkIm und véqwøm zusammen begegnen etwa in Jes 8,14.

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17–19 zu verstehen sein. Schließlich ist noch die betonte Voranstellung des Objekts, bårEm hDlwød◊…gAh yI;tIb mitsamt der darauf zurückverweisenden Nota accusativi ;hDtOa, in Sauls Vorschlag aus V. 17aa zu beachten.50 Sie läßt vermuten, daß hier auf 17,25 (das dort zitierte Versprechen des Königs, denjenigen, der den Philister überwindet, zu seinem Schwiegersohn zu machen) aufgebaut wird,51 auch wenn dies nicht explizit geschieht und so kein Nachdruck hierauf zu liegen scheint. Möglicherweise hängt damit auch der merkwürdige Erzählzug zusammen, demzufolge Merab erst nach Ablauf einer gewissen Frist David angetraut werden soll (V. 19). Denn in 17,25ff. und allen weiteren zugehörigen Versen ist David ja noch als Knabe vorgestellt,52 so daß die Vermutung naheliegt, die Wartezeit habe den Sinn, seine Heiratsfähigkeit abzuwarten.53 V. 18 schreitet stracks in der Erzählung fort. David erwidert den Vorschlag des Königs ganz der Etikette entsprechend, indem er die „für den wohlerzogenen Mann notwendige Bescheidenheitswendung“54 bemüht. Das Substantiv yˆ¥yAj55 wird von den folgenden Wörtern yIbDa tAjAÚpVvIm erläutert, was diese vielleicht als Glossierung ausweist.56 In V. 19 schließt die Episode damit, daß Merab – den Versprechungen des Monarchen zum Trotz – zu guter Letzt einem anderen zur Frau gegeben wird.57 Mit V. 20 beginnt die einzige etwas weiter ausgeführte Erzählung des Kapitels. Sie schildert, wie es zur Ehe zwischen David und Michal, der jüngeren Tochter Sauls, kommt. Blickt man zunächst auf diese Geschichte als ganze und –––––––––––––– 50 51

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Vgl. zum Grundsätzlichen BROCKELMANN: Syntax. § 123. So auch BUDDE: a. a. O. S. 134; H ERTZBERG : a. a. O. S. 125; SMITH : a. a. O. S. 171. Anders G REßMANN : a. a. O. S. 79; STOEBE : a. a. O. S. 350f.; sein Argument, daß David in 18,18 bescheiden, in 17,26 dagegen recht forsch dargestellt sei, übersieht, daß in 18,17–19 (anders als in 17,25ff.) eine Audienz geschildert wird. Die Differenz kann zudem allenfalls gegen die Annahme einer gleichzeitigen Entstehung der beiden Stücke ins Feld geführt werden. S. 5.3.2.6. So etwa schon BUDDE: a. a. O. S. 134; HERTZBERG: a. a. O. S. 125. BUDDE: a. a. O. S. 134 (mit Verweis auf den analogen Fall 1 Sam 9,21); ähnlich NITSCHE: Komplexität. S. 188. Anders MOMMER (David. S. 199f.), der Davids Worte, wenn ich ihn recht verstehe, als ernstgemeinte Weigerung auffaßt (ähnlich WILLI-PLEIN: Michal. S. 84; dies.: ISam 18–19. S. 150) und sich dementsprechend über die Spannung zwischen den V. 18 und 19 wundert. Damit wäre der Charakter der Antwort Davids völlig fehlgedeutet, vgl. nur etwa STOEBE (a. a. O. S. 351) und 1 Sam 18,23; 2 Sam 7,18; 9,8; 2 Kön 8,13; ferner HAE I, S. 411f., Lak(6):1.2,3f. Diese Vokalisierung wird gemeinhin der masoretischen vorgezogen; vgl. etwa DRIVER: a. a. O. S. 153; STOEBE: a. a. O. S. 345, Anm. 18 a); WELLHAUSEN: Text. S. 111. So u. a. BUDDE: a. a. O. S. 134; DRIVER: a. a. O. S. 153; STOEBE: a. a. O. S. 345, Anm. 18 b); WELLHAUSEN: a. a. O. S. 111. Ein eigenes, hochgradig komplexes, für die Zwecke dieser Untersuchung indes eher nebensächliches Problem stellt das Verhältnis dieses Verses zu der Notiz 2 Sam 21,8 dar, der anstatt Merab ihre Schwester Michal (so MT und LXXB) als Ehefrau jenes yItDlOjV;mAh lEayîr√dAo nennt. Die LXXLFassung, die hier für den Namen Merab zeugt, scheidet als lectio facilior aus.

Untersuchung

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auf den Erzählverlauf in den Kapiteln 18 und 19 insgesamt, so zeigt sich, daß die Michalepisode für den grundlegenden Handlungsstrang unverzichtbar ist. Denn in 1 Sam 19 finden sich lediglich zwei Episoden, in denen über Ereignisse berichtet wird, die als Auslöser für Davids Flucht in Frage kommen: Sauls Speerwurf unter Einwirkung des bösen Geistes (19,9f.) und Davids Warnung durch Michal (19,11f.). Ersteres scheidet aus, weil es den relativ jungen Text 1 Sam 16,14–23 präsupponiert, folglich dürfte in 19,11f. ein Stück der ältesten Fassung der AG vorliegen. Da weiterhin 19,11 Michal als Davids Frau bezeichnet, muß auch 18,20–27 (ggf. in einer Grundform) zum ursprünglichen Bestand der AG gehört haben. Des weiteren fällt mit Blick auf die Erzählung insgesamt auf, daß die Merabepisode hier nirgends vorausgesetzt ist.58 Die Handlung nimmt ihren Ausgang darin, daß Michal dem jungen Helden sehr zugetan ist (V. 20a). Saul erfährt davon und billigt die Gefühle seiner Tochter, was der Text mit den Worten wyÎnyEoV;b (rDb∂;dAh)59 rAvˆ¥yÅw ausdrückt. Dieselbe Wendung begegnet in V. 26a: dˆw∂d y´nyEoV;b rDb∂;dAh rAvˆ¥yÅw. Daneben finden sich in Kapitel 18 noch zwei verwandte Formulierungen: zum einen in 18,5b, wo es heißt _lDk y´nyEoV;b bAfyˆ¥yÅw l…waDv yédVbAo y´nyEoV;b MÅg◊w MDoDh, und zum anderen – unter negativem Vorzeichen – in V. 8a, wo von Saul gesagt wird h‰ΩzAh rDb∂;dAh wyÎnyEoV;b oår´¥yÅw. Für die Zwecke dieser Untersuchung ist insbesondere ersteres bedeutsam, denn hier zeigt sich hinsichtlich des Sprachgebrauchs eine gewisse Spannung zwischen 18,5b und 18,20ff., die um so deutlicher ausfällt, als – wie V. 26a zeigt – dem Erzähler offensichtlich wenig an stilistischer Variation gelegen war.60 Die V. 21f. knüpfen unmittelbar an 18,20 an, indem sie Sauls weitere Reaktion auf die Kunde von der Zuneigung seiner Tochter zu David schildern. Zunächst beschließt der König in einem kurzen Monolog, die Situation zu nutzen, um sich des vermeintlichen Konkurrenten zu entledigen (V. 21a61). Im Gegensatz zu 18,17 paßt sich das Motiv der finsteren Hintergedanken Sauls hier (und in V. 25a) etwas besser der Erzählung ein. Denn in 18,25a wird David immerhin ein –––––––––––––– 58

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Vgl. HERTZBERG: a. a. O. S. 125f.; WELLHAUSEN : Composition. S. 249. WELLHAUSENs Hinweis auf V. 23, in dem David offenkundig noch nichts von einer vormaligen Verlobung mit Merab wisse, wie aus seinem Abwiegeln hervorgehe, überzeugt jedoch nicht. Denn derlei Demutsgesten gehören zum guten Ton, vgl. Anm. 54 (Kap. 6). So der MT, der Vaticanus läßt das rDb∂;dAh unberücksichtigt, bezeugt es jedoch in V. 26. Vielleicht ist der LXXB-Lesart aufgrund ihrer Kürze der Vorzug zu geben, doch ist die Frage kaum zu entscheiden. Vgl. etwa das viermal verwendete JKRlR;mA;b (hitp) Ntj (V. 22f.26f.), das erst ganz zuletzt in V. 27b von der Wendung hDÚvIaVl NN2_tRa NN1Vl (q) Ntn abgelöst wird. V. 21b ist wahrscheinlich nachgetragen und gehört deshalb nicht hierher (dazu s. u.). Daß die LXX anstelle des wøb_yIhVt…w im MT, das sich auf David bezieht, kai« h™n e˙pi« Saoul liest, stellt mit hoher Wahrscheinlichkeit „ein sehr deutliches Beispiel einer willkürlichen Einsetzung des Explicitum[s]“ (WELLHAUSEN: Text. S. 111) dar. Vgl. auch BUDDE: a. a. O. S. 134; STOEBE: a. a. O. S. 345, Anm. 21 b).

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konkreter militärischer Auftrag zuteil, womit Sauls Hoffnung auf Davids baldigen Soldatentod zumindest ein wenig neue Nahrung erhält. Andererseits überrascht auch in der Michalerzählung die Höhe des Einsatzes, den König Saul riskiert, denn kaum etwas könnte Davids vermeintlichen Usurpationsbestrebungen weiter entgegenkommen als die Vermählung mit einer Tochter Sauls.62 Vorausgesetzt dürfte – wie in 18,17 – die Episode 18,6–9 sein. Auffällig ist weiterhin, daß mit V. 21a und V. 25b Sauls geheime Absichten der Leserin / dem Leser gleich zweimal offenbart werden, ohne daß sich dabei sprachliche Berührungen zwischen den zwei Halbversen zeigen. Dies könnte auf ihre sukzessive Entstehung hindeuten. Aufmerksamkeit verdient schließlich noch die Wendung véqwømVl NN l (q) hyh. Sie ist außer in 1 Sam 18,21 noch in Ex 10,7; 23,33; Jos 23,13; Ri 2,3 und Ps 106,36 und damit überwiegend in nomistisch geprägten Passagen zu finden, die sich um die Fremdvölker- und Götzenproblematik drehen,63 nur Ex 10,7 und 1 Sam 18,21 selbst machen hier eine Ausnahme. Der Begriff véqwøm indes ist zumeist in poetischen bzw. weisheitlichen Zusammenhängen anzutreffen.64 In V. 21b wendet sich Saul direkt an David und teilt ihm die Frist mit, nach der die Verbindung geschlossen werden soll.65 Daß Saul hier den direkten Kontakt zu David sucht, während er im folgenden lieber seine Knechte vorschickt (vgl. V. 22–25a.26a), gibt Anlaß zu der Vermutung, der Halbvers könnte nachträglich hinzugewachsen sein.66 Zudem wird die Vorstellung eines begrenzten Zeitraums, innerhalb dessen der blutige Brautpreis zu zahlen ist, außer in den V. 21b und 26b nirgends vorausgesetzt. Die Heimlichkeit, mit der Saul in V. 22 sein Vorhaben in die Tat umzusetzen beginnt, steht nicht nur, wie soeben erwähnt, in Kontrast zu seinem Vorgehen in V. 21b, sondern auch zu seiner Verfahrensweise in den V. 17–19. Während er dort die Hochzeit schlicht festsetzt, wirbt er in den V. 22.25a dezent, aber unmißverständlich um David, indem er ihn erstens seiner und seines Hofes Geneigtheit versichert und ihm zweitens in der Frage des Brautpreises insofern entgegenkommt, als er statt der üblichen finanziellen Leistungen (vgl. etwa Gen 24,53) –––––––––––––– 62 63 64

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So schon GREßMANN: a. a. O. S. 79; vgl. auch KRATZ: Komposition. S. 184. Vgl. MÜLLER: a. a. O. S. 40. Vgl. auch Ex 34,12; Dtn 7,16. Vgl. Ex 10,7; 23,33; 34,12; Dtn 7,16; Jos 23,13; Ri 2,3; 8,27; 1 Sam 18,21; 2 Sam 22,6; Jes 8,14; Am 3,5; Ps 18,6; 64,6; 69,23; 106,36; 140,6; 141,9; Ijob 34,30; 40,24; Spr 12,13; 13,14; 14,27; 18,7; 20,25; 22,25; 29,6.25. Eine crux interpretum stellt zweifellos das Wort MˆyA;tVvI;b dar. Die einfachste und plausibelste Lösung bietet nach wie vor KLOSTERMANNs (a. a. O. S. 76f., Anm. 21bf; ähnlich HERTZBERG: a. a. O. S. 123, Anm. 4; die von ihnen vertretene These einer Wanderung des Halbverses vom Ende von V. 17b bzw. von V. 18 aus nach hierher ist dagegen unnötig; vgl. des weiteren GREßMANN: a. a. O. S. 77) Konjektur MˆyAtÎnVvI;b, die darüber hinaus auch die Bedeutung des bei allen anderen Interpretationen rätselhaft bleibenden V. 26b erklärt. Anders S TOEBE : a. a. O. S. 346, Anm. 21 d); DRIVER: a. a. O. S. 153f. So bereits WELLHAUSEN: Composition. S. 249; vgl. auch STOEBE: a. a. O. S. 346, Anm. 22 b).

Untersuchung

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eine militärische akzeptiert (eine ähnliche Übereinkunft begegnet in Gen 29,18ff.). Angesichts dessen erscheint es fraglich, ob die V. 17–19 und die V. *20–27 von einer Hand stammen. Der Wortlaut von 18,22 bedarf an vier Stellen der Erläuterung: 1) Der MT liest in V. 22aa w∂dDbSo_tRa, was in der Regel, wie vom Qere vorgeschlagen, in das orthographisch korrekte wy∂dDbSo_tRa geändert wird.67 Eher als mit dem versehentlichen Fortfall des y ist jedoch damit zu rechnen, daß hier ein Überbleibsel älterer Schreibkonventionen vorliegt.68 2) Die LXX bezeugt direkt im Anschluß an jenes toi√ß paisi«n aujtouv das Partizip le÷gwn, zu dem sich allerdings kein Pendant im MT findet und das als die längere Lesart sekundär sein dürfte. 3) Dasselbe gilt mutatis mutandis für das Pronomen uJmei√ß, das in der LXX auf den Imperativ lalh/ s ate folgt, dabei jedoch keine Entsprechung im MT hat. 4) Das erste Wort von V. 22b lautet im MT hD;tAo◊w, die LXX scheint dagegen mit ihrem kai« su\ hebräisches hD;tAa◊w vorauszusetzen. Hinter dem Text der LXX könnte der Wunsch stehen, jeden der drei Sätze V. 22ab, 22ag und 22b mit dem grammatikalischen Subjekt einzuleiten. Ich vermute daher, daß der MT hier die ältere Lesart bietet und die LXX auf den stilistischen Gestaltungswillen des oder der Übersetzer zurückzuführen ist. Die V. 23 und 24 lehnen sich unmittelbar an 18,22 an, indem sie berichten, wie die Knechte den Befehl des Königs zunächst in die Tat umsetzen (V. 23) und sodann ihrem Herrn hierüber Meldung machen (V. 24). V. 24a endet im MT mit dem Infinitiv constructus rOmaEl, den die LXX indes nicht bezeugt. Damit hängt es zusammen, daß die LXX den V. 22b nicht wie der MT als direkte Rede der Knechte Sauls auffaßt, sondern die Wörter hR;lEaDh MyîrDb√;dA;k als Adverbialbestimmung zu V. 22a und dˆw∂;d rR;bî;d als einen sie erläuternden (asyndetischen) Relativsatz interpretiert und dementsprechend in ihrer Fassung das Relativum a± einfügt. Wahrscheinlich handelt es sich bei beiden Überschüssen um Zusätze, welche die jeweilige Deutung stützen sollen. Weil asyndetische Relativsätze insbesondere in den Prosastücken des AT ausgesprochen selten vorkommen,69 zudem Streichungen (wie hier eine etwaige Tilgung des Relativpronomens) als weitaus unwahrscheinlicher gelten müssen, dürfte die Interpretation, die dem LXX-Text zugrundeliegt, vermutlich sekundär sein. Sie geht jedoch vielleicht auf die nicht uninteressante Beobachtung zurück, daß die Knechte (außer in V. 22MT) nirgends direkt zu Wort kommen (vgl. V. 23a.26a). Nimmt man dies ernst und führt sich überdies vor Augen, daß der Vers auch ohne seine beiden letzten Wörter einen guten Sinn ergäbe,70 so wird man zumindest erwägen müssen, ob nicht der Vers in seiner Grundform einmal folgendermaßen gelautet haben könnte: hR;lEaDh MyîrDb√;dA;k wøl l…waDv yédVbAo …wdˆ…gÅ¥yÅw. –––––––––––––– 67 68 69 70

So etwa BUDDE: a. a. O. S. 135; STOEBE: a. a. O. S. 146, Anm. 22 a). Vgl. auch das zu V. 7 Angemerkte. Vgl. hierzu GK § 155; BROCKELMANN: Syntax. §§ 146–149. Zur Wendung hR;lEaDh MyîrDb√;dA;k ... (hi) dgn vgl. Gen 24,28.

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Sauls Entgegnung folgt in V. 25a. Der König läßt David ausrichten, ihm sei nichts an der Zahlung eines herkömmlichen Brautgeldes gelegen, vielmehr verlange er von seinem künftigen Schwiegersohn die Tötung einhundert philistäischer Männer und als Beweis die Vorlage der entsprechenden Anzahl von Vorhäuten. Daß hinter diesem Wunsch Sauls eine ganz andere Motivation steht als hinter jenem, den der König in V. 17ab äußert, wurde oben bereits festgestellt. Auch auf die Doppelung, die durch V. 25b im Gegenüber zu V. 21a entsteht, wurde schon hingewiesen: hier wie dort wird Saul – bei unterschiedlicher Wortwahl – unterstellt, er habe die Liebe seiner Tochter dazu benutzt, um David in eine Falle zu locken. Und wie in den V. 17 und 21a wird auch von 18,25b aller Wahrscheinlichkeit nach die Szene 18,6–9 vorausgesetzt, in der sich der Konflikt zwischen Saul und David bereits anbahnt. Allerdings ist V. 25b etwas knapper als V. 17b und V. 21a formuliert. Ein weiterer Unterschied zu V. 17b besteht darin, daß in V. 25b der Gedanke keine Rolle spielt, Saul habe die Philister benutzen wollen, um sich selbst die Hände nicht schmutzig machen zu müssen (V. 17b hingegen: MyI;tVvIlVÚp_dÅy wøb_yIhVt…w wø;b yîdÎy yIhV;t_lAa). Das könnte darauf hinweisen, daß V. 25b möglicherweise etwas früher als V. 17b und V. 21a verfaßt wurde. Das einfache yI;k, das der MT bietet, ist beizubehalten, obschon verschiedene Textzeugen für MIa yI;k einstehen (u. a. einige hebräische Handschriften und Zitationen sowie die LXX). Denn MIa yI;k stellt nicht nur die längere Lesart, sondern auch den geläufigeren Ausdruck dar. Dagegen ist in Hinblick auf das grammatikalische Objekt innerhalb von V. 25bb das dˆw∂;d_tRa des MT als nachträgliche Explikation des weniger eindeutigen aujto\n zu werten, das die LXX bezeugt und dem im Hebräischen wohl ein Personalsuffix am Infinitiv constructus lyIÚpAhVl entsprochen haben wird. Daß die LXX ferner den Begriff MyI;tVvIlVÚp_dÅyV;b durch den Plural ei˙ß cei√raß tw◊n aÓllofu/lwn wiedergibt, scheint einem ihrer Übersetzungsmuster geschuldet zu sein.71 V. 26a72 setzt die Erzählung passend fort, indem er die Überbringung der Nachricht an David schildert. Allerdings bemerkt BUDDE zu Recht: „rDb∂;dAh und JKRlR;mA;b NE;tAjVtIhVl ist ganz dasselbe“73. V. 26ag klappt m. a. W. deutlich nach und expliziert lediglich das mit dem Wort rDb∂;dAh Ausgedrückte. So liegt der Gedanke an eine Glossierung nahe, auch wenn 18,26ag sowohl vom MT als auch von der LXX bezeugt wird. V. 26b gibt eine Hintergrundinformation zu dem vorausgegangenen Halbvers und vermerkt, zu jenem Zeitpunkt seien ‚die Tage‘ noch nicht verstrichen gewesen. Er greift damit allem Anschein nach V. 21b auf, ist aber im übri–––––––––––––– 71 72

73

Vgl. Ri 15,12; 1 Sam 12,9; 28,19 in MT und LXX; anders allerdings Ri 10,7; 13,1. Zu Beginn von V. 26aa liest die LXX kai« aÓpagge÷llousin oi˚ pai√deß Saoul, der MT hingegen formuliert etwas weniger präzise wy∂dDbSo …wdˆ…gÅ¥yÅw. Letzteres dürfte ursprünglich, ersteres sekundäre Explikation sein. BUDDE: a. a. O. S. 135.

Untersuchung

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gen nicht weiter mit dem Kontext verbunden. Auch hier könnte also ein Nachtrag vorliegen. In V. 27 gelangt die Geschichte an ihr Ende: David liefert den geforderten Brautpreis ab und darf daraufhin die Prinzessin heiraten. Der Wortlaut des Verses wirft eine Reihe von Problemen auf: a) Die Anzahl der von David abgelieferten Trophäen differiert im MT (MˆyAtaDm) und in der LXX (e˚kato\n) erheblich. Wie längst von WELLHAUSEN erkannt, dürfte hier die griechische Fassung die ältere darstellen.74 Denn zum einen erscheint die Möglichkeit einer absichtlichen Reduzierung der Menge, also einer gewollten Schmälerung der Heldentat, kaum wahrscheinlich, und zum anderen behauptet David nach 2 Sam 3,14, er habe Michal um den Preis von einhundert Vorhäuten zugesprochen bekommen.75 Schließlich ist noch auf V. 27ab hinzuweisen, der augenscheinlich hervorheben will, daß David die erforderliche Menge in der Tat vollständig abgeliefert hat. Diese Notiz wäre aber sinnlos, wenn 18,27aa behauptete, David hätte zweihundert Vorhäute vorgelegt. b) Das Prädikat M…waVlAm◊yÅw aus dem genannten V. 27ab hat keine Entsprechung in der LXXB. Da sich m. E. kein Grund angeben läßt, warum das Wort jener harmonisierenden Bearbeitung zum Opfer gefallen sein sollte, der die Kapitel 1 Sam 17f.LXX unterzogen wurden, liegt es nahe, diese kürzere Lesart vorzuziehen. Dies gilt um so mehr, als durchaus ein handfestes Motiv für eine solche Einschaltung vorliegt, denn durch die Betonung der Vollständigkeit der Summe wird Davids Heldentat ja noch staunenswerter. Allerdings steht das Prädikat – wie oben unter a) dargelegt – in einer gewissen Spannung zu der Vorstellung, David habe gleich die doppelte Anzahl an Feinden getötet. Ich vermute daher, daß zunächst das Wort M…waVlAm◊yÅw eingefügt wurde und dann (derselben Tendenz folgend) in einem zweiten Schritt die Zahl hDaEm zu MˆyAtaDm erhöht wurde. c) Zu fragen ist ferner, ob das besagte Prädikat in V. 27ab ursprünglich im Plural (so der MT) oder im Singular (so nach einigen LXX-Handschriften, Aquila, Theodotion u. a.) gestanden hat. Für gewöhnlich entscheidet man sich mit WELLHAUSEN76 für die Einzahl, weil die Mehrzahl nicht zu dem folgenden NE;tAjVtIhVl paßt. Gerade dieser Umstand läßt aber das M…waVlAm◊yÅw des MT als schwierigere und damit eher als vermutlich ältere Lesart erscheinen. Gleichwohl bleiben leichte –––––––––––––– 74 75

76

Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 111; vgl. ferner z. B. DRIVER: a. a. O. S. 154; GREßMANN: a. a. O. S. 77; anders etwa BUDDE: a. a. O. S. 135; CAMPBELL: a. a. O. S. 196f.; STOEBE: a. a. O. S. 342. CAMPBELL (a. a. O. S. 197) hat möglicherweise recht, wenn er feststellt: „In 2 Sam 3:14, [...] the reference may be to what was asked for rather than actually provided.“ Doch ist damit allenfalls eines der drei Argumente gegen die Lesart des MT entkräftet. Zudem ist in Hinblick auf 2 Sam 3,14 zu bedenken, daß dem Verfasser hier zweifellos daran gelegen ist, David mit möglichst guten Gründen für seine Rückforderung Michals auszustatten. Insofern ist es verwunderlich, daß er David nicht auf die zweihundert um Michals willen erschlagenen Philister verweisen läßt, was doch noch einmal etwas zugkräftiger gewesen wäre als bloß den vom König geforderten geringeren Brautpreis anzuführen. Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 111.

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1 Samuel 18,5–30

Zweifel, weil auch die Möglichkeit ursprünglicher Defektivschreibung (Malmyw)77, die „aus Anstandsrücksichten“78 pluralisch gedeutet wurde, nicht ausgeschlossen werden kann. d) Daß sowohl im MT als auch in der LXX(-Vorlage) nachgearbeitet wurde, zeigen auf jeden Fall die explizierten Subjekte im MT (V. 27aa: zweites dˆw∂d; V. 27b: l…waDv), die in der LXX ohne Gegenstück sind, sowie das in der LXX bezeugte, im MT jedoch entsprechungslose zweite und gänzlich redundante aujtw◊ˆ vor ei˙ß gunai√ka (V. 27b). e) Die LXX hat mit e˙pigambreu/etai bereits den Vollzug der Hochzeit im Blick, im MT ist durch NE;tAjVtIhVl lediglich die Absicht Davids bezeichnet. Letzteres halte ich für originär, da andernfalls kein gedanklicher Fortschritt mehr zwischen V. 27ag und V. 27b bestände. Man könnte versucht sein, in V. 27aa das Subjekt des zweiten und dritten Prädikats, wyDvÎnSaÅw a…wh, als Glosse zu betrachten. Dagegen ist jedoch zweierlei einzuwenden: Zum einen entspricht die Konstruktion ... JKÅ¥yÅw wyDvÎnSaÅw a…wh JKRl´¥yÅw, gerade auch in ihrer Disgruenz, ganz dem üblichen hebräischen Sprachgebrauch.79 Und zum anderen ist schwer nachzuvollziehen, weshalb ein Schreiber dem Helden nachträglich Helfer beigesellt haben sollte, wenn damit doch dessen Verdienst geschmälert wird. V. 28a versieht die Erzählung 18,20ff. mit einem Fazit, indem er behauptet, an jenem Tag habe Saul begriffen, daß Jhwh mit David sei. Diese Interpretation wird von LXXB und MT geteilt, allerdings mit dem Unterschied, daß im griechischen Text kein Pendant zum zweiten Prädikat aus V. 28aa (oåd´¥yÅw) zu finden ist. Als längere Lesart kann die des MT kaum Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen. Dieser Schluß ist um so sicherer, als ein Grund für eine Ergänzung des oåd´¥yÅw auf der Hand liegt. In unvokalisiertem Zustand läßt das Satzgefüge 18,28a nämlich zwei Deutungsmöglichkeiten zu. Das erste Wort, aryw, kann entweder von har (q) (vokalisiert: a√rÅ¥yÅw) oder von (q) I ary (vokalisiert: a∂rˆ¥yÅw)80 abgeleitet werden. Erst die Kombination mit dem Verbum (q) ody fixiert den Sinn des Halbverses so, daß allein die Interpretation ‚Und Saul sah...‘ noch möglich ist. Wenn also das Prädikat oåd´¥yÅw sekundär hinzugesetzt ist, dann stellt sich die Frage, welche der beiden denkbaren Bedeutungen ursprünglich beabsichtigt war. Zweierlei spricht für die Vermutung, daß der Autor die Ableitung von (q) I ary im Sinn hatte.81 Zum einen ergibt sich, wie oben bereits erwähnt, nur dann ein schlüssiger Geschehensverlauf, wenn Sauls Furcht vor David erst nach dem in *18,20–27 Erzählten aufkeimt. –––––––––––––– 77 78 79 80

81

Vgl. ebd. Ebd. Vgl. BROCKELMANN: a. a. O. § 132. Diese defektive Schreibung des Narrativs von (q) I ary begegnet äußerst häufig in den Samuelbüchern (1 Sam 4,7; 7,7; 17,11; 18,12; 21,13; 28,5.20; 2 Sam 6,9; 10,19; 12,18; Pleneschreibung allein in 12,18; 17,24), während sie etwa in Gen und Ex gar nicht zu finden ist (Pleneschreibung dagegen in Gen 3,10; 20,8; 28,17; 32,8; 42,35; 43,18; Ex 1,17; 2,14; 14,10.31; 34,30). Der Vers in dieser Form wird im folgenden 18,28a* genannt.

Untersuchung

229

Denn andernfalls bleibt völlig unverständlich, warum der König einen Mann in seine Familie einheiraten läßt, durch den er sich in seiner Herrschaft bedroht sieht. Nach *18,20–27 findet sich jedoch keine Notiz, die das Motiv der Angst einführen könnte – mit Ausnahme von 18,28a*. Zum anderen scheint V. 29a im Zusammenhang mit der Figur des Saul das Stichwort (q) I ary aufzugreifen, wie sich aus der Verwendung von (hi) Psy ergibt. Außer in V. 28a* begegnet (q) I ary allerdings nirgends im näheren Umfeld des Verses, der letzte Beleg findet sich in V. 12a. In dieses Bild fügt sich eine weitere Beobachtung vortrefflich ein: Wenn man V. 28a dem obigen Vorschlag entsprechend liest, erhält man einen Vers, der ein enges Seitenstück in V. 12 besitzt. Dieser Parallelvers müßte aber allem Gesagten zufolge jünger sein als 18,28a*. In der Tat zeigt sich bei einem Vergleich der beiden Stücke, daß der Text von V. 28a* recht knapp gehalten ist und sich auf die nötigsten Informationen beschränkt, während V. 12 (bei weitgehender terminologischer Übereinstimmung mit 18,28a*) weiter ins Detail geht und sich aufgrund dessen wie das Ergebnis fortgeschrittener erzählerischer Reflexion ausnimmt. So stellt V. 28aa * lediglich fest, Saul habe sich gefürchtet (l…waDv a∂rˆ¥yÅw), V. 12a dagegen formuliert etwas präziser dˆw∂d y´nVpI;lIm l…waDv a∂rˆ¥yÅw. Entsprechendes gilt für die Begründung, die hier wie dort folgt: V. 28ab formuliert kurz und bündig dˆw∂;d_MIo hÎwh◊y yI;k.82 In V. 12b wird darüber hinaus darauf hingewiesen, daß Saul hingegen von Jhwh verlassen worden sei. V. 28b geht der ersten Vershälfte gegenüber noch einen Schritt weiter und trifft eine Aussage, die zu einem zweiten Fazit in V. 29 führt: Saul, so wird hier gesagt, habe sich fortan noch mehr vor David gefürchtet und ihn obendrein zu hassen begonnen. Allerdings ist V. 28b in zwei verschiedenen Fassungen überliefert. Der MT scheint hier V. 20a zu wiederholen, indem er noch einmal Michals Liebe zu David erwähnt (…whVtAbEhSa l…waDv_tA;b lAkyIm…w).83 Im Unterschied dazu nimmt sich V. 28bLXX wie eine Duplikation von V. 16a aus, denn hier wie dort ist es das Volk, von dem behauptet wird, es habe David geliebt (kai« pa◊ß Israhl hjga¿pa aujto/n).84 Die graphische Ähnlichkeit der beiden Varianten im Hebräischen macht es sehr wahrscheinlich, daß hier nicht etwa „deux traditions littérairement autonomes“85 vorliegen, sondern vielmehr mit direkter textgenetischer Abhängigkeit zu rechnen ist. Für die textkritische Entscheidung scheint mir wesentlich zu sein, daß die Lesart des MT in einer Hinsicht deutlich die lectio difficilior darstellt: Während die erneute Erwähnung der Liebe des Volkes zu David keinerlei Probleme –––––––––––––– 82 83

84 85

Zur Syntax (ary absolut verwendet + Begründung mit yk) vgl. Gen 3,10. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine wortwörtliche Wiederholung (V. 20a: lAkyIm bAhTaR;tÅw dˆw∂;d_tRa l…waDv_tA;b), die Annahme einer Wiederaufnahme erscheint dementsprechend zwar möglich, aber nicht eben naheliegend. Dem Subjekt pa◊ß Israhl stellt V. 16a freilich noch Ioudaß an die Seite. BARTHÉLEMY: a. a. O. S. 193. Die Ähnlichkeit der Buchstaben (lwaC_tb lkymw und larCy_lkw) bemerkt schon THENIUS: Bücher Samuels. S. 77; vgl. auch BUDDE: a. a. O. S. 135.

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1 Samuel 18,5–30

mit sich bringt, gefährdet der zweite Hinweis auf Michals Zuneigung die logische Stringenz der Erzählung. Das liegt daran, daß in V. 16f. offen bleibt, ob der König von Davids Popularität erfährt oder nicht, wohingegen nach V. 20b kein Zweifel mehr daran bestehen kann, daß Saul um die Gefühle seiner Tochter weiß. Wenn aber V. 28b dem König keinerlei Erkenntnisfortschritt beschert, dann bleibt unklar, was die Steigerung der Furcht Sauls in V. 29 auslöst.86 Dieser unscheinbare logische Sprung erweist indes keineswegs den sekundären Charakter der Worte l…waDv_tA;b lAkyIm…w.87 Er deutet vielmehr darauf hin, daß V. 28b und das Vorausgehende, entstehungsgeschichtlich betrachtet, auf zwei verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Daß sich diese Folgerung in der Tat aufdrängt, zeigen einige Beobachtungen zu den V. 29 und 30.88 Zunächst ist festzustellen, daß V. 29 von V. 28b abhängig ist, denn bevor sich Sauls Angst steigern kann, muß erst ein entsprechender Anlaß erwähnt werden. Zwar könnte V. 30 grundsätzlich ebensogut an V. 28a oder V. 28b wie an V. 29 anschließen, doch spricht letzten Endes nichts effektiv gegen die Abfolge V. 29 – V. 30. Die zwei Verse passen sogar recht gut zueinander, weil sie beide jeweils einen längeren Zeitraum überblicken (V. 29b: MyImÎ¥yAh_lD;k; V. 30b: MDtaEx yé;dIm). Es ist daher das nächstliegende, die V. 28b–30 als genuine Einheit zu verstehen.89 Dabei fällt auf, daß diese zweieinhalb Verse (anders als etwa die V. 27b und 28a) im weiteren Fortgang der Handlung nirgends vorausgesetzt werden.90 Hinzu kommt, daß V. 29a insofern ein wenig über V. 28a* hinausgeht, als er das Verb (q) I ary nicht absolut gebraucht, sondern mit den Worten dˆw∂d y´nVÚpIm ausdrücklich festhält, vor wem Saul sich fürchtet. Schließlich läßt V. 30 erkennen, daß er nicht zum ältesten Textbestand des Kapitels gehören kann. Zum einen steht die Aussage, David habe im Krieg mehr Erfolg als die übrigen Soldaten Sauls gehabt (V. 30b), in Spannung zu V. 5, der – wie sich oben gezeigt hat – als Bestandteil der Grundfassung von 1 Sam 18 gelten darf. Denn nach V. 5 ist Da–––––––––––––– 86

87 88

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So schon THENIUS / LÖHR (a. a. O. S. 85) und WELLHAUSEN (Text. S. 111), die jedoch beide diese Beobachtung gegen die Originarität des MT ins Feld führen. Weil auf diese Weise der Text lediglich ‚eingeebnet‘ wird und die Entstehung des MT aus der LXX überdies nicht erklärt werden kann, muß man dieses Urteil in Zweifel ziehen. Von der Ursprünglichkeit des MT geht auch STOEBE (a. a. O. S. 346, Anm. 28 b)) aus; vgl. etwa auch GREßMANN: a. a. O. S. 77; HERTZBERG: a. a. O. S. 124; STOLZ: a. a. O. S. 125. In V. 29a bezeugt zwar der MT ein explizites Subjekt (l…waDv), nicht jedoch LXXB. Ich halte die MT-Fassung für jünger, weil sie nicht nur länger ist, sondern obendrein um höhere sprachliche Präzision bemüht zu sein scheint. Alternativ könnte man V. 29a als eine Art Wiederaufnahme von V. 28a betrachten. Diese Möglichkeit scheidet m. E. jedoch deswegen aus, weil sie impliziert, daß es dem Ergänzer primär um die Einfügung von V. 28b zu tun war. Für eine solche Einschaltung lassen sich aber nur schwerlich plausible Gründe angeben, denn V. 28b ist lediglich eine Variation von V. 20a und bringt keinen neuen Aspekt in die Erzählung ein. Dies illustriert der Text der LXXB sehr deutlich, der zumindest die V. 29b–30 einfach übergehen kann, ohne daß hieraus Probleme für die weitere Erzählung erwachsen.

Untersuchung

231

vid schon zum Oberbefehlshaber avanciert und muß sich dementsprechend mit niemandem aus dem Heer mehr messen.91 Zum anderen gebraucht V. 30 das Verb I lkv im Qal und hebt sich damit auch in seinem Sprachgebrauch von V. 5 ab, denn jener benutzt stattdessen das bei dieser Wurzel übliche Hiph‘il. Daneben fällt an V. 30 noch der Ausdruck MyI;tVvIlVp yérDc auf, der sich im ganzen AT nur hier und in 1 Sam 29,3f.9 findet. Interessant daran ist, daß der Begriff ein etwas häufiger begegnendes Äquivalent besitzt, MyI;tVvIlVp y´n√rAs, das jedoch ausschließlich in jüngeren Partien der erzählenden Bücher zu finden ist.92 Dagegen dürfte 1 Sam 29* ein vergleichsweise altes Erzählstück darstellen, was deshalb sehr wahrscheinlich ist, weil David hier ein Alibi verschafft wird, das ihn von dem Verdacht befreien soll, Sauls Tod und Israels Niederlage gegen die Philister (1 Sam 31) direkt mitverschuldet zu haben. 1 Sam 29,593 setzt (wenn auch nicht notwendig, so doch wahrscheinlich) das Siegeslied der Frauen aus 1 Sam 18,7 voraus, was insofern höchst interessant ist, als 18,29b formal wie inhaltlich auffällig an 18,9 erinnert.94 Hier schließt sich gewissermaßen ein Ring aus Querbezügen sowie thematischen und sprachlichen Parallelen, der eine wie auch immer geartete textgenetische Verflechtung der Stücke 18,6–9, 18,28b–30 und *29,1ff. sehr wahrscheinlich macht.

–––––––––––––– 91

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93

94

Man kann mit einem gewissen Recht einwenden, daß mit den hDmDjVlI;mAh yEv◊nAa aus V. 5 nicht unbedingt alle Kriegsleute gemeint sein müssen, daß m. a. W. die Existenz weiterer, ungenannter Truppen vorausgesetzt sein könnte (vgl. etwa 2 Kön 25,19; par. Jer 52,25). Dagegen spricht jedoch, daß sich eine derart differenzierte Heeresstruktur nirgends sonst in der AG andeutet. Jos 13,3; Ri 3,3; 16,5.8.18.23.27.30; 1 Sam 5,8.11; 6,4.12.16; 7,7; 29,2.7b; 1 Chr 12,20. Vgl. zur ersten Orientierung hinsichtlich des Alters der Stellen KRATZ: Komposition. S. 52f.191f.217. Zur Datierung von Ri 16 vgl. WITTE: Simson. S. 542–549. Was 1 Sam 29,2.7b anbelangt (sowie V. 6b, der ebenfalls von Myˆn∂rV;sAh spricht), ist davon auszugehen, daß hier drei sekundäre Ergänzungen vorliegen. Keine der drei Stellen ist nämlich fest in ihrem Kontext verankert, während die V. 3f.9 allesamt konstitutive Elemente der Erzählung darstellen. Allein das zweite MyI;tVvIlVp yérDc in V. 4aa könnte im MT nachgetragen sein, denn es fehlt in der LXX. Die LXX bietet darüber hinaus eine etwas andere Verteilung der zwei Ausdrücke, wenn man – wie in der Regel angenommen – ihr satra¿pai (29,2.3a.6f.9) tatsächlich als Pendant zu Myˆn∂rVs und strathgoi«¿ (29,3b.4) als Entsprechung zu MyîrDc verstehen darf (so etwa BUDDE: a. a. O. S. 185). Sie spiegelt damit jedoch, wie mir scheint, keinen älteren Text wider, denn jener Wechsel kann weder inhaltlich noch textgenetisch bedingt sein: satra¿pai und strathgoi« meinen hier eindeutig dieselben Personen (vgl. V. 9, der auf V. 4 zurückgreift) und die V. 3b.4 sind genauso fest in das Erzählganze eingebettet wie V. 3a. Ähnlich STOEBE: a. a. O. S. 498, Anm. 3 a). Der Vers gehört zwar nicht zum Erzählgerüst von 1 Sam 29, könnte aber desungeachtet durchaus Teil der Grundschicht sein. Dieser Frage kann hier allerdings nicht weiter nachgegangen werden. Vgl. hierzu das zu V. 9 Gesagte.

232

1 Samuel 18,5–30

6.3

Auswertung

Für die Rekonstruktion der Genese von 1 Sam 18 sind insbesondere zwei der oben angestellten Beobachtungen bzw. Überlegungen von grundlegender Bedeutung: a) Die Erzählung von Davids Hochzeit mit Michal in *18,20–27 muß ein Stück des Grundstratums der AG und damit auch des Kapitels 1 Sam 18 darstellen. Das liegt deshalb auf der Hand, weil für Davids Flucht in 1 Sam 19 nur zwei Anlässe in Betracht kommen: entweder Sauls Speerwurf aus 19,9f. oder die Postierung der Häscher vor Davids und Michals Haus in 19,11f. (ggf. in einem Grundbestand). Von diesen beiden Szenen scheidet aber die erste definitiv aus, da sie bereits die späte Erzählung von Sauls Heimsuchung durch den bösen Geist (16,14–23) kennt und auf ihr aufbaut. Wenn aber *19,11f. Teil der AG in ihrer frühesten Fassung ist, dann muß dies auch für *18,20–27 gelten. Denn allein hier wird die Schließung der Ehe zwischen David und Michal berichtet, die 19,11 voraussetzt. b) Der Erzählstrang, demzufolge der König den David zu seinem Schwiegersohn macht, läßt sich schlecht mit der in den V. 6–9, 12f., 15, 17–19, 21a und 25b zum Ausdruck kommenden Vorstellung vereinbaren, Saul habe den jungen Helden schon vor dessen Verheiratung mit der Prinzessin mehr und mehr als Rivalen betrachtet. Denn es steht außer Zweifel, daß eine solche Verbindung eher dazu angetan ist, Davids Karriere zu fördern als sie zu behindern. Aus all dem folgt, daß im wesentlichen die V. *20–27 den Ausgangspunkt der Entstehung von Kapitel 18 markieren, die V. 6–9, 12f., 15, 17–19, 21a und 25b (z. T. mit einigen weiteren zugehörigen Stücken) hingegen später sukzessive eingefügt wurden. Bei diesem Fortschreibungsprozeß ist darüber hinaus mit einer Dynamik zu rechnen, in deren Folge sich der Konflikt zwischen Saul und David auf jeder neuen Textwachstumsstufe etwas weiter zuspitzt.

6.3.1

Die Bearbeitungen

Der vermutlich jüngste Bearbeitungsschub95 ist in den V. 14–16, in V. 28a (nur oåd´¥yÅw) sowie in der LXX-Fassung von V. 29a zu finden. Daß es sich bei dem Versblock 18,14–16 um einen Einschub handeln wird, geht erstens aus der – nicht am exakten Wortlaut orientierten – Wiederaufnahme von V. 13b durch V. 16b hervor. Zweitens kann auf den Umstand verwiesen werden, daß keine der in den drei Versen gegebenen Informationen im Fortlauf der Handlung aufgegriffen oder vorausgesetzt wird. Drittens nehmen sich die V. 14–16 wie eine Art Reformulie–––––––––––––– 95

Mit diesem Terminus bezeichne ich eine Gruppe thematisch verwandter Ergänzungen, vgl. Anm. 251 (Kap. 5).

Auswertung

233

rung von mindestens sechs anderen Textstücken aus: V. 14a korrespondiert mit V. 5aa, V. 14b mit V. 12ba und V. 28ab. 18,15a erinnert an V. 28a, V. 15b an V. 12a und V. 16b greift, wie erwähnt, offensichtlich auf V. 13b zurück.96 Und viertens weist der Passus 18,14–16 eine auffallende Häufung seltener Ausdrücke bzw. Formulierungen auf: die Dyas lEa∂rVcˆy h∂d…whyˆw, die Wurzel III rwg, die anstelle von yI;k als Konjunktion gebrauchte Partikel rRvSa, das Partizip der Wurzel (hi) I lkc. Daß die V. 14–16 tatsächlich am Ende des Fortschreibungsprozesses innerhalb von Kapitel 18 stehen, läßt sich nicht an Hand dessen erschließen, was sie auf der Geschehensebene voraussetzen. (Aus dieser Perspektive betrachtet, könnte man allein in bezug auf V. 16 feststellen, daß hier wohl schon die in 18,5a berichtete militärische Beförderung Davids im Hintergrund steht.) Für diese textgenetische Einordnung sprechen vielmehr allein die oben genannten Beobachtungen zur formalen Gestaltung des Abschnitts, allen voran der Umstand, daß V. 16b eine Wiederaufnahme von V. 13b darstellt. Denn bei den V. 10–13 handelt es sich – wie unten zu zeigen ist – um die, verglichen mit den verbleibenden literarischen Straten des Kapitels, jüngste Ergänzung. Das vordringliche Anliegen des Ergänzers dürfte darin bestanden haben, die V. 5–13 einer ordnenden Reformulierung zu unterziehen und dabei insbesondere die Bedeutung von V. 12 mit dem Fortgang des Kapitels abzustimmen. V. 12 mußte insofern problematisch erscheinen, als er dem König bereits eine Erkenntnis zubilligt, welche die Hoffnung, die Philister könnten David zum Verhängnis werden, eigentlich gleich im Keim erstickt: die Erkenntnis, daß David auf Jhwhs Beistand zählen kann. Die Einschaltung der V. 14f. versucht nun, das in 18,12 Gesagte zurechtzurücken und klarzustellen, inwieweit Saul Jhwhs Parteinahme für David wahrnimmt. Der König bemerkt, so die Meinung des Bearbeiters, zunächst nur die Auswirkungen des göttlichen Beistands, d. h. den Erfolg Davids, nicht jedoch die eigentliche Ursache. Damit ist eine nachvollziehbare erzählerische Grundlage für Sauls folgende Versuche gelegt, seinen Konkurrenten mehr oder weniger ohne eigenes Zutun aus dem Weg zu räumen. Daneben tritt in V. 16a eine weitere Absicht zutage, wenn die verschiedenen ähnlich gehaltenen Aussagen aus u. a. 18,1.3.5.20.22.28.30 zu der Aussage verdichtet werden, David genieße im ganzen Volk Sympathie. Offensichtlich ist es dem Ergänzer hier darum zu tun, den Kontrast zwischen dem König und seinem Volk in ihrem jeweiligen Verhalten gegenüber David noch etwas pointierter zum Ausdruck zu bringen, als dies in seiner Vorlage geschah. Das Hauptanliegen dieses Bearbeiters wurde etwas später von demjenigen, der den Text ins Griechische übertrug, aufgegriffen und kongenial weiterverfolgt. So las dieser Übersetzer das Prädikat aryw in V. 28a als a√rÅ¥yÅw und gab es dementsprechend als kai« ei•den wieder. Vor allem aber gestaltete er die Ereignisfolge in –––––––––––––– 96

Vgl. auch VAN DEN BORN: BOT IV,1. S. 89.

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1 Samuel 18,5–30

seiner Fassung ein wenig stringenter, als er sie in seiner Vorlage vorgefunden hatte, indem er das aørEl PRsaø¥yÅw aus V. 29 mit den Worten kai« prose÷qeto eujlabei√sqai (anstatt mit dem, gemessen an der von ihm vorgenommenen Übertragung von V. 12, wortgetreuen fobei√sqai) übersetzte. Denn dadurch ergab sich anders als im hebräischen Text eine sprachlich konsequent umgesetzte, gleichmäßige Entwicklung der Furcht des Königs: kai« e˙fobh/qh Saoul (V. 12) – kai« eujlabei√to (V. 15) – kai« prose÷qeto eujlabei√sqai (V. 29).97 Noch einmal etwas später wurde innerhalb der Überlieferung des hebräischen Textes die von dem Verfasser der V. 14–16 vermutlich beabsichtigte und vom Schöpfer der LXX-Fassung von 1 Sam 18 bereits tatsächlich bezeugte Interpretation von V. 28a* durch einen kleinen Eingriff fixiert. Durch Interpolation des Wortes oåd´¥yÅw verwandelte sich die ursprüngliche Notiz über die Furcht Sauls (dˆw∂;d_MIo hÎwh◊y yI;k l…waDv [lies: a∂rˆ¥yÅw] aryw) endgültig in die Feststellung, Saul habe Jhwhs Parteinahme für David bemerkt (...yI;k oåd´¥yÅw l…waDv a√rÅ¥yÅw). Die älteste Stufe dieses Bearbeitungsschubs, die Einfügung der V. 14–16, dürfte entsprechend ihrer Abhängigkeit von der Ergänzung 18,10–13 schon in die hellenistische Zeit gehören. Bei den anderen beiden Entwicklungsstufen liegt dies – aufgrund der üblichen zeitlichen Ansetzung der Entstehung der LXX – ohnehin auf der Hand. Die nächstältere Bearbeitungsschicht, die in 18,10–13 zu finden sein dürfte, setzt sich von den übrigen Teilen in 18,5ff. insbesondere durch zwei charakteristische Züge ab: Erstens schildert sie eine Szene, in der Saul einen offenen Anschlag auf Davids Leben verübt. Das ist beim bis hierher erreichten Stand der Erzählung insofern bemerkenswert, als Saul bei den folgenden beiden Versuchen viel vorsichtiger und ganz im geheimen zu Werke geht. Zweitens ist Saul bei diesem ersten Anschlag nicht im Vollbesitz seiner mentalen Kräfte, sondern steht unter dem Einfluß eines bösen Geistes. Dank dieses zweiten Erzählzuges fügt sich die kleine Episode, wenn auch mehr schlecht als recht, der Kette der Ereignisse in 18,5ff. und ihrer inneren Logik überhaupt erst ein. Denn bei dem Speerwurf in 18,10f. agiert Saul ja nicht als Herr seiner selbst, sondern als Getriebener, so daß David sich an dieser Stelle tatsächlich noch nicht veranlaßt zu sehen braucht, das Wohlwollen des Königs grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Gleichwohl stehen die beiden Ursachen für Sauls Vorgehen gegen David – also die Geisteinwirkung einerseits und Sauls Eifersucht bzw. Furcht andererseits – im Verlauf des Kapitels fast ebenso unverbunden nebeneinander wie die zwei verschiedenen Arten dieses Vorgehens (unverhohlen in 18,10f., heimlich in 18,17–19.20–27). Lediglich in V. 12 erscheint Sauls Furcht als Folge des Umstands, daß seine Lanzenstöße beide –––––––––––––– 97

Vgl. hierzu auch das in Anm. 24 (Kap. 6) sowie in dem zugehörigen Haupttext Ausgeführte. Im hebräischen Text hingegen macht die Abfolge einen eher willkürlichen Eindruck: l…waDv a∂rˆ¥yÅw (V. 12) – rÎgÎ¥yÅw (V. 15) – aørEl PRsaø¥yÅw (V. 29).

Auswertung

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Male ins Leere gegangen sind (V. 11). Doch wird ein solcher Zusammenhang weder hier noch andernorts expliziert. Die V. 12f. dürften desungeachtet zusammen mit den V. 10f. entstanden sein. Sie schließen nämlich zum einen sprachlich besser an diese an als an 18,9 und erinnern zum andern mit der Wendung NN MIoEm (q) rws (V. 12) auffällig an den Vers 16,14, der wie die gesamte Erzählung von David als Harfenspieler (16,14–23) auch im Hintergrund von 18,10f. steht. Betrachtet man nun neben 18,10f. auch die V. 12f., so treten auch hier Spannungen mit dem Kontext zutage. So paßt erstens Davids Beförderung zum Tausendschaftsführer (V. 13a) nicht gut zu jener vorausgegangenen Einsetzung zum Heerführer (V. 5a). Und zweitens gebraucht V. 12a bei der Erwähnung der Angst des Königs vor David eine andere Formulierung als V. 29a. Der Abschnitt 18,10–13 ist unzweifelhaft abhängig von 16,14–23, wie aus zwei signifikanten terminologischen Übereinstimmungen mit jener Erzählung (zum einen lRa + (q) jlx nur hier und in 16,13, der wiederum den erzählerischen Ausgangspunkt für 16,14ff. bildet; zum anderen hDo∂r MyIhølTa Aj…wr nur hier und in 16,15f.) und vor allem aus der Bemerkung hervorgeht, David habe MwøyV;b MwøyV;k Harfe gespielt (V. 10a). Deutlich ist ferner die Nähe zu der Szene aus 19,9f., in der Saul seinen Speer ebenfalls unter Einwirkung des bösen Geistes nach David wirft. Die unterschiedliche Wortwahl der beiden Stücke (18,10: lRa + (q) jlx, dagegen 19,9: lRa + (q) hyh; 18,11: (q) bbs, hingegen 19,10: (q) rfp) macht es indes unwahrscheinlich, daß 18,10–13 und 19,9f. von einer Hand stammen. Vielmehr dürfte 18,10–13 etwas später und in direkter Abhängigkeit von 19,9f. entstanden sein. Letzteres legt sich durch die frappante Ähnlichkeit der beiden Stücke von selbst nahe. Daß Saul in 18,10f. gleich zwei Mordversuche unternimmt, während er es in 19,9f. bei einem einzigen bewenden läßt, dürfte auf die spätere Abfassung von 18,10f. hindeuten,98 da die sukzessive Erhöhung numerischer Angaben eine immer wieder festzustellende Tendenz des Fortschreibungsprozesses darstellt. Darüber hinaus scheint der Verfasser von 18,10–13 ein wenig tiefer geschürft zu haben als der von 19,9f. Denn jener hat allenfalls durch die Wahl des Ortes, an dem er die Verse 19,9f. einfügte, angedeutet, wie er sich das Verhältnis zwischem dem Wirken des bösen Gottesgeistes und dem Handeln Sauls vorstellte. Der Autor von 18,10–13 hingegen hat dieses Problem aktiv angegangen, indem er sich nicht mit der Lanzenstoßszene begnügt hat, sondern den V. 10f. sogleich die V. 12f. folgen ließ, die einen – wenn auch etwas vagen – Zusammenhang zwischen jenen beiden Ebenen herstellen. Auch dies spricht m. E. für eine spätere Entstehung der Passage 18,10–13. Etwas schwieriger ist das Verhältnis von 18,10–13 zu den übrigen Teilen des Kapitels 18 zu bestimmen. Deutlich ist zunächst, daß 18,12 wohl als Neuinterpretation von 18,29a und 28a gewertet werden kann. Vier –––––––––––––– 98

Ähnlich ADAM: Saul. S. 137 u. 167.

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Beobachtungen können hierfür ins Feld geführt werden: a) Die Formulierung, mit der V. 12a Sauls Furcht zum Ausdruck bringt, fällt etwas präziser aus als jene in V. 28aa*. b) Auch die Begründung, mit der V. 12b den Hintergrund dieser Furcht erläutert, ist breiter angelegt als jene in V. 28ab ; V. 29 bietet sogar überhaupt nichts dergleichen. c) Bei der Kombination des Verbs (q) I ary mit NN y´nVpI;lIm in V. 12a handelt es sich um einen späte, sonst nur noch in Qohelet belegte Wendung, während die in V. 29a verwendete Formulierung NN y´nVÚpIm (q) I ary die klassische Ausdrucksweise darstellt. d) Schließlich ist noch einmal an die eingangs gemachte Feststellung zu erinnern, daß das Furchtmotiv vor der Erzählung von der Heirat zwischen David und Michal fehl am Platze ist, ursprünglich dürfte es vielmehr hinter jene Geschichte gehören. All dies zusammengenommen führt zu dem Schluß, daß sich der Verfasser von 18,10–13 wahrscheinlich von V. 28f. hat inspirieren lassen. Auf diese Weise erklärt sich auch, weshalb die Vorstellung, David sei lediglich ein militärischer Anführer neben anderen, in V. 13 wie in V. 30 begegnet. Denn 18,30 dürfte, wie unten noch zu zeigen ist, zusammen mit 18,28b.29 entstanden sein. Ebenfalls wird noch zu zeigen sein, daß die V. 28b–30 wahrscheinlich zusammen mit der Episode 18,6–9 entstanden sind. Das aber bedeutet zugleich, daß die V. 10–13 vermutlich ebenso schon auf 18,6ff. zurückblicken. In dieselbe Richtung scheint auch die Einleitung von V. 10, t∂rFjD;mIm yIh◊yÅw, zu deuten. Sie setzt nämlich voraus, daß unmittelbar zuvor die Ereignisse eines einzelnen anderen Tages geschildert werden. Diese Bedingung vermag allein 18,6–9 zu erfüllen, nicht jedoch 18,5, da hier ein längerwährender Prozeß zusammengefaßt wird. Tertium non datur, denn V. 5 muß Teil der Grundschicht des Kapitels 18 wie der AG sein: Neben dem ausscheidenden V. 13 berichtet nur er Davids Aufstieg zum Militärführer, den die Episode 18,20ff. voraussetzt. Zu guter Letzt ist noch das entstehungsgeschichtliche Verhältnis zwischen 18,10–13 und jenen Stücken zu bedenken, die Saul bei seinen beiden Verschwägerungsversprechen finstere Hintergedanken unterstellen (18,17–19.21a.25b). M. E. muß die Einfügung der V. 10–13 später angesetzt werden. Das Furchtmotiv paßt nämlich selbst in Verbindung mit dem der Hintergedanken Sauls nicht gut vor die ‚Heiratsgeschichte‘ 18,20ff. Ohne diese Kombination indes müßte es im Vorfeld der V. 20ff. völlig unverständlich erscheinen. Des weiteren kann auch eine gleichzeitige Entstehung von 18,10–13 und 18,17–19.21a.25b ausgeschlossen werden, da Saul hier unter Einfluß des bösen Geistes agiert, während er dort durchweg aus eigenem Antrieb handelt. Zudem ergibt die Tatsache, daß Saul in den V. 17b.21a.25b allein sich selbst gegenüber seine Mordabsichten eingesteht, nur dann einen Sinn, wenn nicht schon ein offener Mordversuch hinter ihm liegt. Die Einfügung der V. 10–13 dürfte den Versuch widerspiegeln, die Figur des Saul möglichst weitgehend aus dem Gedanken heraus zu verstehen, daß es sich bei ihr um eine getriebene Existenz handelt. Konkreter ausgedrückt steht hinter dem Einschub folgende Überlegung: Wenn bereits das vorläufige Ende des Konflikts zwischen Saul und David (d. i. die Flucht des Helden ab 19,10) von einer

Auswertung

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Heimsuchung des Königs durch den bösen Geist ausgelöst worden ist, müßte dann nicht an seinem Anfang ebenfalls die Einwirkung jener Aj…wr gestanden haben? Angesichts dieses Gedankenganges verwundert es nicht, daß der Ergänzer sich gleichzeitig entscheidet, das Motiv der Furcht Sauls den ‚Heiratsgeschichten‘ voranzustellen. Denn es muß ja verständlich gemacht werden, wieso der lediglich kurzzeitig wirksame negative Einfluß jenes Geistes dauerhaft einen Keil zwischen Saul und David zu treiben vermag. Der Sache nach bietet sich hier eine psychologische Erklärung an. Und näherhin muß eine Argumentation mit Sauls Furcht gegenüber einem Rückgriff auf eine seiner übrigen in 1 Sam 18* erwähnten Emotionen (V. 8: Zorn; V. 9: Mißgunst / Eifersucht) geeigneter erscheinen, weil mit ihr zugleich an den eigentlichen Grund des Zorns und des Neides gerührt werden kann. Abgerundet wird das Bild, das der Bearbeiter von Saul zeichnet, schließlich mit dem Hinweis auf die letzte und tiefste Ursache dieser Furcht in V. 12bb: die Gottverlassenheit des Königs. Aus all dem spricht gleichermaßen der Wunsch, das Schicksal des ersten Gesalbten Israels zu begreifen, wie das Wissen um die Vermessenheit dieses Wunsches. Es verwundert daher nicht im mindesten, wenn V. 12 in sprachlicher Hinsicht an Qohelet erinnert (NN y´nVpI;lIm (q) I ary). Die Ergänzung in die hellenistische Zeit zu datieren, liegt jedoch nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Abhängigkeit von den vermutlich spätpersischen Stücken 16,14–23 und 19,9f. nahe.99 Die nächstältere Entwicklungsstufe stellen die V. 17–19.21a.25b dar. Allerdings empfiehlt es sich, in ihrem Fall erneut von einem ‚Bearbeitungsschub‘ anstatt von einer ‚Bearbeitungsschicht‘ zu sprechen, da sie vermutlich von zwei oder drei verschiedenen Händen stammen.100 Der gemeinsame Nenner der V. 17–19.21a.25b besteht darin, daß sie Saul unterstellen, er habe David mit der in Aussicht gestellten Verschwägerung dazu motivieren wollen, gegen die Philister zu Felde zu ziehen, weil er so dessen baldigen Soldatentod herbeizuführen hoffte. Diese Vorstellung nimmt sich in zweierlei Hinsicht äußerst unanschaulich aus: a) Der Auftrag, gegen die Philister zu ziehen, enthält nichts, was über die bis dahin vorausgesetzte Situation hinausginge, Davids Aufgabe besteht ohnehin schon darin, den Philistern Paroli zu bieten. Das von Saul angewandte Mittel erfüllt also seinen Zweck allenfalls unzulänglich. b) Der Einsatz, den Saul bei seinem Spiel wagt, ist unerklärlich hoch. Denn um als König den Heerführer zu einer weiteren Attacke zu bewegen, bedarf es nicht gleich des Versprechens, ihn mit einer Prinzessin zu vermählen. Vor allem aber erscheint es nachgerade paradox, wenn ein Herrscher seinem Rivalen dabei behilflich ist, in die königliche Familie einzuheiraten und damit seine Position erheblich zu stärken. Man kann nun mit einem gewissen Recht einwenden, daß das Alter einer Darstellung keineswegs am Grad ihrer Anschaulichkeit abzulesen ist. –––––––––––––– 99 Zur zeitlichen Ansetzung von 16,14ff. vgl. 4.3.1 und zu der von 19,9f. vgl. 7.3.1. 100 S. auch Anm. 95 (Kap. 6).

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So dürfte es sich etwa bei dem Vers 19,11 um einen Teil der Grundschicht der AG handeln, ohne daß sich auf der Geschehensebene erklären ließe, warum dort die Häscher erst bis zum Morgengrauen warten müssen, bevor sie zuschlagen dürfen.101 Im Falle der V. 17–19.21a.25b ist allerdings zusätzlich zu bedenken, daß sie alle nach einem Ereignis o. dgl. im Vorfeld verlangen, das eine Erklärung für Sauls heimliche Mordabsichten liefert. Da dies nach Abzug von 18,14–16 und 18,10–13 allein von den V. 6–9 geleistet werden kann, diese jedoch (wie unten gezeigt wird) keinen ursprünglichen Bestandteil des Kapitels darstellen, müssen Sauls finstere Hintergedanken nachträglich hinzugesetzt worden sein. Daß die V. 17–19.21a.25b wahrscheinlich später als *18,20–28a und 18,6–9, jedoch früher als 18,10–13 und 18,14–16 entstanden sind, ergibt sich von selbst aus dem bis hierher Gesagten.102 Dies bestätigt, zumindest was das Verhältnis von 18,17–19 zu *18,20–28a anbelangt, auch der Vergleich der V. 17a und 25a: Während Saul in 18,25a Davids bevorstehenden Angriff auf die Philister als persönlich motivierten Rachefeldzug bezeichnet, spricht er in 18,17a (ebenfalls mit Blick auf Davids Philisterkämpfe) von hÎwh◊y twømSjVlIm. 18,17a verrät also einen Blickwinkel, der in weit stärkerem Maße von theologischen Vorstellungen geprägt ist als der von 18,25a. Es liegt nahe, diesen höheren Grad theologischer Durchformung mit einer späteren Abfassung zu erklären. Dagegen fällt es schwer zu beurteilen, wie sich der Bearbeitungsschub zu den V. 28b–30 verhält. Gemessen an der Art ihrer Bearbeitung, gehen die Verfasser der V. 17–19.21a.25b einen Schritt weiter als der Ergänzer von 18,28b–30. Während sich jener darauf beschränkt, bereits vorhandene Linien etwas breiter nachzuziehen (V. 29: aus Sauls Neid und Furcht gegenüber David wird Haß; V. 30: aus einem sehr erfolgreichen wird der erfolgreichste Krieger Sauls), gestalten jene den vorgefundenen Stoff grundlegend um, indem sie Sauls großzügiges Zugeständnis an seine Tochter und ihren Geliebten zu einem Mordkomplott umdeutet. Ich halte es daher bei aller gebotenen Vorsicht für ein wenig wahrscheinlicher, daß die V. 17–19.21a.25b zeitlich nach 18,28b–30 entstanden sind als umgekehrt. Hinzu kommt noch, wie sich unten zeigen wird, daß die V. 28b–30 vermutlich gemeinsam mit den V. 6–9 eingefügt wurden. Darüber hinaus setzt der Abschnitt 18,17–19 mit seiner betonten Voranstellung des grammatikalischen Objekts in V. 17a (ÔKVl_NR;tRa ;hDtOa bårEm hDlwød◊…gAh yI;tIb) augenscheinlich auch das Versprechen Sauls aus 17,25 voraus, dem Bezwinger des philistäischen Vorkämpfers als Belohnung seine Tochter zur Frau zu geben, doch ist in diesem Punkt schwerlich Gewißheit zu erreichen. –––––––––––––– 101 Vgl. hierzu 7.2 und 7.3.2. 102 Da es sich bei den V. 17–19.21a.25b indes um eine Gruppe von Ergänzungen handelt, ist im einzelnen die Möglichkeit einer Überschneidung mit der nächstjüngeren Bearbeitung (18,10–13) nicht völlig auszuschließen.

Auswertung

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Ebenfalls kaum endgültig zu klären ist die Frage, wie sich die V. 17–19.21a.25b, entstehungsgeschichtlich betrachtet, untereinander verhalten. Dreierlei ist immerhin deutlich: a) Es findet sich kein Hinweis darauf, daß die V. 17–19 in sich literarisch geschichtet wären, sie sind daher als einheitlich zu betrachten. b) V. 25b zeigt weder Anklänge an 18,17–19 noch an 18,21a. Zugleich fällt auf, daß V. 25b etwas knapper als 18,17b und 18,21a formuliert ist und zudem im Unterschied zu 18,17b das Problem der persönlichen Schuld unberührt läßt. Es könnte sich also bei ihm um eine einzelne Glosse handeln, die etwas früher als 18,17–19 und 18,21 eingefügt wurde. c) V. 21a und V. 17b gebrauchen beide die Wendung b NN dÅy (q) hyh, dies könnte auf zeitgleiche Entstehung wie auch auf gegenseitige Benutzung zurückzuführen sein. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen und Folgerungen erscheint folgender Entstehungsprozeß zumindest denkbar: Zunächst wurde V. 25b eingefügt und so die Erzählung *18,20ff. grundlegend umgedeutet. Diesen Impuls aufgreifend, stellte ein Späterer der zweiten ‚Heiratsgeschichte‘ die erste (18,17–19) voran. Gleichzeitig oder in einem dritten Schritt wurden in der Michalepisode Sauls üble Absichten noch einmal an exponierterer Stelle, direkt am Anfang, expliziert. Allen drei Einfügungen ist das grundlegende Ziel gemein, Saul in ein möglichst ungünstiges Licht zu rücken. Während die mit den Einfügungen der V. 21a und 25b verbundenen Intentionen damit bereits im wesentlichen benannt sind, könnten hinter 18,17–19 noch drei weitere Überlegungen stehen. Erstens klärt sich hier, was aus der in 14,49 erwähnten älteren Saultochter Merab geworden ist. Diese Frage könnte sich durchaus aufgedrängt haben, zumindest soweit bei der Leserschaft die in Gen 29,26 genannte Regel Beachtung fand, der zufolge zunächst die jeweils älteste Tochter zu verheiraten war.103 Zweitens fragt man sich nach aufmerksamer Lektüre der V. 20–27, weshalb Saul nicht auf die Idee kommt, seinen ungeliebten künftigen Schwiegersohn etwas länger hinzuhalten oder gar die versprochene Hochzeit einfach auszusetzen. Auch diesem Einwand könnte der Passus 18,17–19 zu begegnen suchen, denn hier legt er genau die herrscherliche Willkür an den Tag, die er in den V. 20ff. vermissen läßt.104 Drittens greift 18,17 augenscheinlich das Motiv der ausgelobten Siegprämie aus 17,25 –––––––––––––– 103 Dieser Brauch wird im 2. Jahrhundert v. Chr. sogar auf die ‚himmlischen Tafeln‘ zurückgeführt (Jub 28,6f.), was darauf hinzudeuten scheint, daß ihn die antike judäische Leserschaft von Gen 29 nicht als bloßen Taschenspielertrick Labans einstufte. Auch MOMMER (David. S. 201) rechnet mit der Existenz einer solchen Tradition. 104 Allerdings ist nicht zu übersehen, daß das Problem damit keineswegs ganz aus der Welt geschafft ist. Die Frage bleibt, wieso Saul nicht auch bei seiner Tochter Michal im letzten Moment die Hochzeit mit David abwendet. Hierin zeigt sich aber, wie mir scheint, gerade ein wichtiges Charakteristikum der Fortschreibungen im AT: Die Ergänzungen dienen zwar dem Zweck, Verständnisfragen verschiedenster Art in bezug auf den jeweils vorgegebenen Text zu beantworten, sie sind aber nicht unbedingt darauf angelegt, die hinter diesen Fragen stehenden Probleme im einzelnen und konsequent einer gedanklichen bzw. erzählerischen Lösung zuzuführen.

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auf, worin sich wohl der Wunsch widerspiegelt, einen geschlossenen Erzählbogen zu schaffen, denn ohne 18,17ff. entbehrt 17,25 einer Erfüllungsnotiz.105 Wenn, wie es aussieht, 17,25 tatsächlich in 18,17 vorausgesetzt sein sollte, so ist damit prinzipiell ein terminus a quo gefunden. Indes kann die Entstehungszeit des Stratums, auf dem jener Vers liegt, nur recht grob auf das fünfte oder vierte Jahrhundert eingegrenzt werden.106 Da die nächstjüngere Bearbeitungsschicht in 1 Sam 18 in die hellenistische Epoche datiert wurde und sich in den V. 17–19.21a.25b zudem terminologische Berührungen mit Stücken zeigten, die entweder vom Gedanken der Fremdvölker- und Götzenthematik geprägt sind (so etwa Ex 23,33; Jos 23,13; Ri 2,3; Ps 106,36; vgl. dazu 1 Sam 18,21a), gehorsamstheologische Anschauungen bereits hinter sich lassen (1 Sam 25,28–34, vgl. dazu Anm. 49) oder gar dem weisheitlich-poetischen Milieu entstammen (hierzu vgl. Anm. 64), erscheint mir eine Abfassung im vierten Jahrhundert etwas wahrscheinlicher.107 Den nächstfrüheren Bearbeitungsschritt des Kapitels stellt die Einfügung der V. 6–9.28b–30 dar. Diese Verse unterscheiden sich von 18,5 darin, daß sie David als einen Truppenführer im Dienste des Königs unter vielen betrachten (V. 30), während er dort augenscheinlich als oberster Heerführer gedacht ist. Zu dieser inhaltlichen tritt eine sprachliche Differenz: 18,5 gebraucht das Verb I lkv im Hiph‘il, 18,30 dagegen verwendet es im Qal. Die V. 6–9 geben ihren Nachtragscharakter dadurch zu erkennen, daß sie in Hinblick auf den Fortschritt der Ereignisse hinter 18,5 zurückfallen. Denn dort wird mit wenigen Strichen Davids beginnender Aufstieg, also eine sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Entwicklung skizziert, während hier, in 18,6ff., noch einmal an die vor V. 5 liegende Erzählung von Davids Sieg über den philistäischen Vorkämpfer ange–––––––––––––– 105 Einen anderen Grund für die Einfügung von 18,17–19 nimmt LAWTON (David. S. 423–425) an. Ihm zufolge dient die Episode v. a. dazu, die Gestalt des David mit der des Jakob aus Gen 29 zu parallelisieren und die Leserschaft auf diese Weise auf einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Figuren aufmerksam zu machen: „After all, Jacob loves Rachel. But that is the point. Aware of the parallel, the reader expects to learn that David ‘loves’ Michal. And yet that is what the reader does not hear. [...] Mentioning Merob sets up a parallel which underscores what David lacks in his relationship with Michal: love“ (a. a. O. S. 425). Die Beobachtung an sich ist interessant und verdient durchaus Beachtung. Allerdings vermißt man bei LAWTON eine historische Verankerung seiner These. LAWTON nimmt als leitende Absicht hinter der Ergänzung offensichtlich den Wunsch an, den Charakter Davids genauer auszuleuchten und auf diese Weise die literarische Qualität der Erzählung zu heben. Dabei bleibt jedoch völlig offen, unter welchen historischen Umständen ein solches Unterfangen vorstellbar sein könnte. 106 Vgl. 5.3.2.6. 107 Daß diese Einschätzung weiterer Überprüfung bedarf, versteht sich von selbst. Am aussichtsreichsten dürfte ein eingehender Vergleich mit den ähnlich gearteten Passagen in 1 Sam 25 sein, dem allerdings eine gründliche textgenetische Analyse dieses überaus komplexen Kapitels vorauszugehen hat. Für eine derartige Untersuchung ist hier nicht der nötige Raum. Zum Grundlegenden s. o. Anm. 49 (Kap. 6) sowie DIETRICH / NAUMANN: Samuelbücher. S. 102–108.

Auswertung

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knüpft wird. Was das Verhältnis zu den V. *20–28a anbelangt, so ist zumindest der sekundäre Charakter der V. 28b–30 offenkundig. Die V. 28b.29a greifen nämlich zum einen deutlich den Anfangs- und den Schlußsatz der Michalepisode auf (18,20a und 28a*). Zum anderen münden sie anschließend in einem Fazit (V. 29b), das zwar gegenüber jenem ersten aus V. 28a* eine Steigerung bedeutet (Sauls Furcht vor David schlägt in Haß um, dieser Haß wird ausdrücklich als dauerhaft charakterisiert), gleichwohl aber auch eine Dublette darstellt. Denn 18,29b liefert keine Information, die im Fortgang der Handlung aufgegriffen oder auch nur vorausgesetzt wird. Dasselbe gilt für V. 30, der sich auch insofern als ein passender (und aus diesem Grund wohl auch genuiner) Abschluß der V. 28b–29 erweist, als er a) wie V. 29b einen größeren Zeitraum überblickt und b) sich hierin und in der Bemerkung über Davids militärischen Erfolg ebenfalls als Reformulierung eines anderen Verses zu erkennen gibt, namentlich des V. 5a. In bezug auf das Verhältnis zwischen den V. 6–9 und *20–28a muß man sich vor Augen halten, daß die Erzählung von Davids Hochzeit mit Michal einen unverzichtbaren Bestandteil der Grundschicht bildet und zugleich notwendig 18,5a vorausetzt. V. 5a aber steht, wie schon erwähnt, in einer gewissen Spannung zu den V. 6–9. Die genuine Zusammengehörigkeit der V. 6–9 und 28b–30 ergibt sich aus folgender Überlegung: Als Grund für die auffällige sprachliche und inhaltliche Ähnlichkeit der Formulierungen aus 18,9 und 18,29b kommt entweder eine Abfassung durch ein und denselben Autor oder eine Nachahmung des einen Verses durch den Verfasser des anderen in Frage. Die erste Möglichkeit erscheint jedoch ein wenig plausibler, weil sowohl V. 9 als auch V. 29b den Zielpunkt des jeweils vorangehenden Textes bildet. Die Tendenz der beiden Stücke ist m. a. W. dieselbe: Hier wie dort geht es darum, eine grundlegende Veränderung zum Schlechten in Sauls Einstellung zu David darzustellen und zugleich auf ihre Ursachen hin durchsichtig zu machen. Da sich zudem (abgesehen von der Verschiedenheit der Kompositionstechniken, die in den V. 6–9 und 28b–30 zum Zuge gekommen sind) keine weiteren Spannungen oder Unterschiede zwischen den beiden Einfügungen zeigen, liegt es am nächsten, hier mit ein und demselben Verfasser zu rechnen. Schwer zu beurteilen ist, wie sich diese zwei Textpassagen zu 1 Sam 29 verhalten. 18,30 gebraucht mit MyI;tVvIlVp yérDc einen Ausdruck, der im ganzen AT sonst nur noch in 1 Sam 29, und zwar in den älteren Bestandteilen belegt ist (1 Sam 29*). Das spricht dafür, daß 18,30 und *29,1ff. entweder von ein und demselben Ergänzer stammen oder einer der beiden Texte auf den anderen eingewirkt hat. Daß 29,5 mit großer Wahrscheinlichkeit 18,6–9 voraussetzt, unterstreicht dabei noch einmal deutlich die Verbindung zwischen den beiden Kapiteln, sagt aber an sich nichts über die Richtung des Dependenzgefälles zwischen 18,28b–30 und *29,1ff. aus. Immerhin sieht es vor dem Hintergrund der oben erschlossenen zeitgleichen Abfassung von 18,6–9 und 18,28b–30 so aus, als hätten die besagten Ergänzungen in 1 Sam 18 das Kapitel 29* beeinflußt. Denkbar und bei näherem

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Hinsehen sogar durchaus naheliegend erscheint die Möglichkeit einer gemeinsamen Abfassung. Die Einfügungen 18,6–9 und 18,28b–30 zielen nämlich darauf ab, Sauls Wandlung zum Bösewicht so zu gestalten, daß sie nachvollziehbar und somit möglichst über jeden Zweifel erhaben erscheint. Diese Tendenz aber korrespondiert auffallend mit der apologetischen Ausrichtung von 1 Sam 29*. David, so will diese Episode verdeutlichen, trifft keine Schuld am Tod seines ehemaligen Herrn. An dem Feldzug, in dessen Verlauf Saul umkam, durfte David aufgrund der Angst der Philisterfürsten, von ihm verraten zu werden, überhaupt nicht teilnehmen. Letztlich ist es hier wie dort dieselbe Frage, die im Hintergrund steht: Wer trägt die Verantwortung für den Konflikt zwischen David und Saul? Und hier wie dort lautet die Anwort: einzig und allein Saul. Damit ist die Frage nach den Absichten, die mit dem Einschub der V. 6–9 und 28b–30 verbunden gewesen sein dürften, bereits im wesentlichen beantwortet. Bewunderung verdient das erzählerische Geschick, das aus den beiden eingetragenen Passagen spricht. Zum einen hat der Ergänzer, was den Charakter Sauls betrifft, eine psychologisch durchaus realistisch anmutende Entwicklungslinie gezeichnet,108 die ihren Ausgang bei der Mißgunst Sauls gegenüber dem jungen Helden nimmt, sich nach weiteren Erfolgen Davids in stetig wachsende Furcht verwandelt, um schließlich in fortdauerndem Haß zu enden. Zum anderen erscheint es mir möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, daß V. 7 als einfacher rhetorischer Trick zu verstehen ist, der die Bereitschaft der Leser steigern sollte, dem Gelesenen uneingeschränkt Glauben zu schenken. Daß ein Text, der auf einleuchtende Weise an bereits Bekanntes anzuknüpfen vermag, sich deutlich geringeren Zweifeln ausgesetzt sieht als ein allein aus sich selbst schöpfender Text, liegt auf der Hand. Der Verfasser der Episode 18,6–9 setzt möglicherweise genau hier an. Er verwendet nämlich mit V. 7b aller Wahrscheinlichkeit nach ein älteres, vermutlich ehedem selbständiges Überlieferungsstück,109 von dem gut vorstellbar ist, daß es weiteren Kreisen vertraut war, und erhöht so die Überzeugungkraft seiner Darstellung. Sofern man 1 Sam 29* zu dieser Bearbeitung hinzurechnen darf, wird man zuletzt auch darauf verweisen können, wie geschickt der Verfasser das Besondere der von Kapitel 27 an bestehenden Konstellation zu nutzen weiß, um Davids Unschuld zu erweisen. David kann seiner Argumentation zufolge gar nicht an der Schlacht auf dem Gebirge Gilboa teilgenommen haben, weil kaum ein philistäischer Feldherr das Risiko auf sich genommen hätte, einen potentiellen Verräter in den eigenen Reihen zu dulden. Über die Zeit der Entstehung dieser Ergänzung kann allenfalls spekuliert werden. Das lebendige Interesse, Saul zu belasten und so zugleich David freizusprechen, könnte wie das weitestgehende Fehlen theologischer Aspekte auf eine –––––––––––––– 108 Eine derartige Darstellungsweise ist keineswegs die Regel, vgl. hierzu etwa Anm. 93 (Kap. 8). 109 Vgl. 6.2 zur Stelle.

Auswertung

243

vorexilische Abfassung hindeuten. Da sich keine weiteren Anhaltspunkte zeigen, wird man es hierbei belassen müssen. Die vermutlich früheste Ergänzung, die der Text erfahren hat, liegt in den V. 21b.26b vor. Daß diese beiden kleinen Stücke nicht zum ursprünglichen Textbestand des Kapitels gehören können, zeigt sich vor allem darin, daß sich der König in V. 21b direkt an David wendet, während er es im weiteren Verlauf des Geschehens vorzieht, die Verhandlung über Mittelsmänner zu führen. Zudem wird das Motiv der befristeten Zeit außer in V. 26b nirgends sonst vorausgesetzt. Der Zweck dieser Ergänzung könnte darin bestanden haben, die Spannung der vorgegebenen Erzählung ein wenig zu erhöhen. Hinweise auf das Alter der Bearbeitung sind nicht auszumachen.

6.3.2

Die Grundschicht von 1 Sam 18,5ff.

Die Grundschicht des Kapitels dürfte allem bis hierher Gesagten entsprechend folgenden Umfang haben: 18,5a.20.22–25a.26a.27.28a*. Der Halbvers 18,5b ist möglicherweise nachträglich hinzugewachsen, wie sich daraus ergibt, daß sich die von ihm verwendete Formulierung ... y´nyEoV;b bAfyˆ¥yÅw von derjenigen unterscheidet, welche die fest integrierten V. 20b.26a gebrauchen: ...y´nyEoV;b (rDb∂;dAh) rAvˆ¥yÅw. Allerdings ist der Vers keinem der rekonstruierten Straten ohne weiteres zuzuordnen, es handelt sich also vielleicht um einen Einzelzusatz. Diese kleine Erzählung präsupponiert notwendig Davids Ankunft am Hofe Sauls (16,21*), enthält jedoch keinen Hinweis darauf, ob ihr auch die früheste Fassung von Davids Sieg über den philistäischen Vorkämpfer (1 Sam 17*) bekannt ist. Als Leserin bzw. Leser mag man zwar jene Geschichte ungern vor 18,5a missen, weil sie veranschaulicht, wie man sich den Erfolg vorzustellen hat, aufgrund dessen David zum Oberbefehlshaber avanciert, doch gerade dieser Umstand könnte auch für eine sekundäre Einfügung von 1 Sam 17* sprechen. Die Frage muß hier offengelassen werden. Gegenstand der Erzählung 1 Sam 18* ist Davids rasanter Aufstieg, dessen Gipfel in seiner Vermählung mit einer der Königstöchter besteht. Zugleich wird der Leserschaft, allerdings auf etwas drastischere Weise, auch Davids militärischer Erfolg vor Augen geführt. Dann folgt unvermittelt die Peripetie: Saul beginnt, sich vor David zu fürchten, weil er erkennt, daß Jhwh den jungen Helden begünstigt. Die erzählerische Basis für die Entstehung des folgenreichen Konflikts zwischen Saul und David ist damit gelegt. Bei all dem fällt auf, daß der Verfasser sich auf das Nötigste beschränkt hat. Eine theologische Deutung des Geschehens liegt ihm ebensowenig am Herzen wie eine gleichmäßig voranschreitende Darstellungsweise. Das Bild, das er zeichnet, nimmt sich z. T. skizzenhaft oder holzschnittartig aus, da einige wesentliche Entwicklungen (Davids Beförderung zum Oberbefehlshaber, das Aufkeimen der Liebe Michals und der Furcht Sauls) eher

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1 Samuel 18,5–30

knapp benannt, als ausführlich geschildert werden. Um so wichtiger scheint der Autor Davids Einheirat in die königliche Familie zu nehmen, denn ihr Zustandekommen erzählt er vergleichsweise anschaulich und detailreich. Eine Datierung des Grundstratums vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Analyse gestaltet sich schwierig. Immerhin dürfte jedoch für eine vorexilische Abfassung sprechen, daß die Erzählung noch keine theologische Durchformung aufweist und die Gepflogenheiten am Königshof zudem recht realistisch zur Darstellung bringt.

7 7.1

1 Samuel 19,1–24 Einleitende Betrachtung

Der Anfang des zu untersuchenden Textabschnitts wird durch Sauls offene Ankündigung markiert, David umzubringen (19,1a). Damit, daß Saul seine Maske fallen läßt, ist ein deutlicher Schritt über die Ereignisse aus 1 Sam 18 hinaus gemacht. Gleichzeitig ist auf diese Weise die Situation geschaffen, die den folgenden drei Kapiteln zugrundeliegt: David sieht sich als Einzelperson den Nachstellungen Sauls ausgesetzt. Erst ab 1 Sam 22,1f. sammelt David Männer um sich und steht infolgedessen seinem Feind nicht mehr völlig wehrlos gegenüber. Der Abschnitt 1 Sam 19–21 läßt sich leicht weiter untergliedern: Hängt Davids Überleben in 1 Sam 19f. noch ganz vom Wohlwollen Jonatans, Michals und Samuels ab, so beginnt der Verfolgte ab 1 Sam 21 schließlich, sein Geschick in die eigenen Hände zu nehmen. Die Kapitel 19f. erweisen sich darüber hinaus auch insofern als zusammengehörig, als David hier noch mehr oder minder im Dunstkreis des Königs weilt, aus dem er erst mit 21,1 endgültig heraustritt.1 Innerhalb von 1 Sam 19f. kann weiterhin zwischen 19,1–8 und 19,9ff. differenziert werden: Die ersten acht Verse schildern Jonatans Versuch einer Aussöhnung zwischen David und Saul, der zumindest für kurze Zeit Erfolg hat und Davids Rehabilitierung bewirkt. Dann jedoch folgen drei Erzählungen, in denen sich die jeweilige Hauptfigur (19,11–17: Michal; 19,18–24: Samuel / Jhwh; 20,1–21,1: Jonatan) direkt gegen Saul wenden muß, um David beistehen zu können. Ungeachtet dieser vorgegebenen Strukturen erscheint es ratsam, sich bei der Untersuchung des Erzählkomplexes 1 Sam 19f. an der geläufigen Kapiteleinteilung zu orientieren und 1 Sam 19 und 1 Sam 20 nacheinander und jeweils für sich in Augenschein zu nehmen. Dies legt sich nicht allein aus Gründen der Praktikabilität nahe, auch die Form der beiden Kapitel spricht für eine solche Aufteilung. Denn während in 1 Sam 19 vier kurze, lediglich locker miteinander verknüpfte Episoden vorliegen, spannt sich von 20,1 ein weiter, geschlossener Erzählbogen aus, der erst in 21,1 an sein Ende gelangt. Die erwähnten vier Episoden haben den Beginn der Flucht Davids vor König Saul zum Gegenstand. Seinen Ausgang nimmt das Geschehen mit Sauls unverhohlen ausgesprochenen Mordplänen (19,1a). Sein Sohn Jonatan (in 19,1b–7), seine Tochter Michal (in 19,11–17) und der Gottesmann Samuel bzw. Gott selbst –––––––––––––– 1

Eine Ausnahme stellt hier die Episode 19,18–24 dar, die in der Gegend von Rama spielt. Von 20,1b an hält sich David dann allerdings wieder in Jonatans Nähe auf.

246

1 Samuel 19,1–24

(in 19,18–24) ergreifen indes für David Partei und bewahren ihn vor den Anschlägen des Königs. Ein Intermezzo eigener Art scheint die kleine Szene 19,9f. darzustellen, da sie allein Saul und David auftreten läßt und Saul hier überdies nicht absichtsvoll, sondern unter Einwirkung des bereits aus 16,14ff. bekannten bösen Geistes einen Anschlag auf Davids Leben verübt.

7.2

Untersuchung

Aus dem bis hierher Gesagten ergibt sich bereits im wesentlichen eine angemessene Gliederung des Textes, in der Jonatan- wie in der Michalepisode erscheint allerdings eine weitergehende Differenzierung sinnvoll. 19,1–8 19,1a 19,1b–7 19,8

Jonatans Eintreten für David Sauls offen ausgesprochene Mordpläne Jonatans Eintreten für David und Davids Rehabilitierung Notiz: Erfolg Davids im fortdauernden Philisterkrieg

19,9f.

Sauls Mordanschlag auf David unter Einfluß des bösen Geistes

19,11–17 19,11f. 19,13–17

Michals Fluchthilfe Michal warnt David und verhilft ihm zur Flucht Michal verschleiert Davids Flucht

19,18–24

David unter dem Schutze Samuels

Diese vier Episoden setzen jeweils recht verschiedene Informationen als bekannt voraus. Während 19,1–8 im wesentlichen nur die Kenntnis der drei beteiligten Charaktere erfordert, bedarf es bei 19,9f. der Erzählung 16,14ff., um zu verstehen, was es mit dem bösen Geist auf sich hat. In 19,11–17 steht die Ehe zwischen David und Michal im Hintergrund (18,20ff.), in 19,18ff. hingegen das positive Verhältnis zwischen Samuel und David, das zuvor einzig in 16,1–13 thematisiert worden ist. V. 1a stellt den Ausgangspunkt für die erste der vier Episoden dar. Daß Saul seine Absicht, David zu ermorden, offen ausspricht, zieht alles weitere in den Versen 19,1b–7 nach sich. Desungeachtet zeigt sich eine geringfügige Differenz zwischen V. 1a und V. 1b, welche die Schreibung des Namens Jonatan betrifft. In der ersten Vershälfte findet die etwas kürzere Namensform NDtÎnwøy Verwendung, in

Untersuchung

247

der zweiten Vershälfte dagegen die Langform NDtÎnwøh◊y.2 Im Bereich der AG ist diese Verwendung der Kurzform singulär. Sie dominiert dagegen in den Saulerzählungen aus 1 Sam 13f., wo sie sogar die originäre Schreibkonvention repräsentiert.3 Das theophore Element why scheint, den epigraphischen Befunden nach zu urteilen, typisch für die in Juda gepflegte (Schrift-)Sprache gewesen zu sein, während im Nordreich das Pendant wy geläufiger war.4 Nimmt man beides zusammen (die statistische Verteilung der beiden Schreibweisen in den Samuelbüchern und die geographische Verteilung der inschriftlichen Bezeugungen der beiden theophoren Elemente), so drängt sich die Vermutung auf, daß die Kapitel 13f. möglicherweise im Nordreich, die Texte der AG dagegen eher im Südreich entstanden sein könnten. Diese Folgerung deckt sich mit den Ergebnissen, zu denen auf anderem Wege K RATZ jüngst gekommen ist.5 In Hinblick auf 19,1a ergibt sich hieraus zwar keineswegs, daß der Halbvers auf einer textgenetischen Stufe mit den Saulerzählungen aus Kapitel 13f. stehen muß, immerhin zeigt er aber eine gewisse Affinität zu jenem Textkomplex. Dazu kann auch der Umstand gerechnet werden, daß Jonatan hier offensichtlich als enger Vertrauter seines Vaters gedacht ist, wie das auch 13,2.16.22 und indirekt selbst 14,1b6 erkennen lassen. Im Bereich der AG zeugt nur 20,25ff. von einer ähnlichen Vorstellung, doch ist hier schon längst ein Keil zwischen Vater und Sohn getrieben. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den V. 1a und 1bff. ist über jeden Zweifel erhaben: die V. 1bff. sind auf 19,1a angewiesen, nicht jedoch umgekehrt. V. 1a scheint also älteren Ursprungs zu sein als die V. 1b–8. Wenn allerdings die V. 1b–8 als genuine Fortsetzung des Halbverses dahinfallen, dann fragt sich, wo –––––––––––––– 2 3

4

5 6

Diese Differenz wird auch von ˇ bezeugt. Die Langform findet sich in 1 Sam 13f. nur zweimal (14,6.8), die Kurzform hingegen zweiundzwanzigmal (s. dazu in Kap. 5 Anm. 163). In 14,6–10 liegt dabei offensichtlich ein Einschub vor, denn diese Passage wird erstens nirgends im Fortgang der Erzählung vorausgesetzt und weist zweitens einige Merkmale auf, die sie von ihrer Umgebung absetzen (neben der abweichenden Schreibung des Namens Jonatan sind noch zu erwähnen: a) die Bezeichnung des Philisterpostens, die in V. 1a MyI;tVvIlVÚp bA…xAm lautet, in V. 6a dagegen MyIlérSoDh bA…xAm; b) die Übergabeformel, die in V. 10a auf Jonatan und seinen Knecht, in V. 12bb indes auf Israel gemünzt ist; c) der Umstand, daß Jonatans Waffenträger allein in V. 7 das Wort ergreifen darf, sonst hingegen schweigt; d) die explizite theologische Dimension jener Verse, die der Erzählung von Jonatans Heldentat (14,1–14) mit Ausnahme von V. 12bb fehlt). Zur Schreibung des Namens in der Chronik vgl. Anm. 164 (Kap. 5). Vgl. hierzu TUAT II, S. 562, Anm. c) zur „Inschrift auf dem Rand einer Steinschale“; S. 563, Anm. a) zur „Inschrift auf einer Votivschale aus Stein“ und Anm. 1 a) zur „Inschrift auf Pithos B“; S. 570 (zu 10. „Zweiseitig beschriebenes Siegel des Zadoq bzw. des Sacharjaw“). In den Samaria-Ostraka – vgl. HAE I, S. 101, Sam(8):1.45,3 – findet sich bezeichnenderweise allein die Kurzform Ntnwy. Vgl. KRATZ: Komposition. S. 190f. Vgl. aber etwa auch schon DIETRICH: David. S. 138f. Nach Ansicht des Verses ist es offensichtlich keine Selbstverständlichkeit, daß Saul nicht über die militärischen Operationen seines Sohns Bescheid weiß.

248

1 Samuel 19,1–24

der mit V. 1a aufgenommene Erzählfaden weiterläuft. M. E. kommen allein die V. 11f. in Betracht, denn nur hier bilden die ruchbar gewordenen Mordpläne des Königs die Basis für das weitere Geschehen, ohne daß bereits die Flucht Davids vorausgesetzt wäre. Und das wiederum bedeutet, daß V. 1a Teil des literarischen Grundstratums sein muß. Denn über den (für den Fortgang der Ereignisse unverzichtbaren) Beginn der Flucht Davids berichten lediglich die zwei kurzen Passagen 19,9f. und 19,11f., von denen die zweite zur ältesten Fassung der AG gehören muß, da sich die erste durch ihren Rückbezug auf 16,14–237 als junges Erzählelement zu erkennen gibt. Die zweite Hälfte des V. 1 präsentiert eine Information, die bereits aus 18,1.3 bekannt ist und die wichtigste erzählerische Voraussetzung für Kapitel 20 bildet: Jonatan hegt Sympathien für David. Anders als in 18,1.3 wird hier, um diesen Gedanken zum Ausdruck zu bringen, das Verbum (q) I Xpj gebraucht, was verglichen mit der Wortwahl aus 18,1b (wøvVpÅnV;k NDtÎnwøh◊y wøbDhTa‰¥yÅw) oder aus 18,3b (wøtOa wøtDbShAaV;b wøvVpÅnV;k) eine merklich verhaltenere Formulierung darstellt. 18,1 wird noch durch das Motiv der ‚Seelenverbindung‘ (dˆw∂;d vRp‰nV;b h∂rVvVqˆn NDtÎnwøh◊y vRp‰n◊w) ergänzt, in 18,3 tritt neben die Erwähnung der hDbShAa das Motiv des Bundesschlusses, während in 19,1b keine vergleichbare weitergehende Aussage getroffen wird. Es bestätigt sich daher der Schluß, der sich auch schon oben bei der Untersuchung von 18,1.3 nahegelegt hatte, daß 19,1b älter ist als jene zwei Verse aus 1 Sam 18. Die V. 2f. schildern, wie Jonatan sich angesichts des Dilemmas verhält, einerseits von seinem Vater ins Vertrauen gezogen worden zu sein, andererseits aber ausgerechnet das Opfer jenes geplanten Mordkomplotts zum Freund zu haben. Es sind folglich beide Hälften von V. 1 vorausgesetzt. Jonatan warnt David vor dem Anschlag seines Vaters und rät ihm, sich eine Weile zu verstecken (V. 2), er selbst wolle mit Saul sprechen und David anschließend Bericht erstatten (V. 3). In LXXB fehlt V. 2ab eine Entsprechung zu dem yIbDa des MT an dieser Stelle, der kürzere Text dürfte auch hier vorzuziehen sein. Dasselbe könnte mutatis mutandis in bezug auf das in der LXXB ebensowenig wiedergegebene hD;tAo◊w gelten, wenn nicht das ou™n als Übersetzung von hD;tAo◊w zu werten wäre. In V. 2ba ist hingegen au¡rion prwi« sekundäre Erläuterung von r®qO;bAb (MT). Die Reihenfolge der beiden Verben in V. 2bb ist in der LXX zwar plausibler als im MT, darum aber gerade nicht ursprünglich.8 Die V. 2f. werden ihrerseits nirgends vorausgesetzt, V. 4 könnte problemlos direkt an V. 1b anschließen. Hinzu kommt, daß V. 3aa 2 (= MDv hD;tAa rRvSa h®dDÚcA;b) weder vorbereitet worden ist noch im folgenden aufgegriffen wird: Wo Jonatan sich mit seinem Vater unterredet, ist m. a. W. für alles weitere genauso gleichgültig wie die Frage, an welchem Ort David sich versteckt hält.9 Außerdem fällt auf, –––––––––––––– 7 8 9

Dazu s. 4.3. Gegen WELLHAUSEN: Text. S. 112; richtig STOEBE: a. a. O. S. 356, Anm. 2 d). So auch KAISER: David. S. 283, Anm. 11.

Untersuchung

249

daß der Vollzug dessen, was Jonatan in 19,2f. vorschlägt, nicht eigens erzählt wird, sondern beim Lesen gedanklich ergänzt werden muß. Eine solche Knappheit des Stils ist indes keine Seltenheit und spricht folglich nicht zwangsläufig gegen die Einheitlichkeit der Erzählung an dieser Stelle.10 Ähnliches gilt für die (vermeintliche) Redundanz der V. 2f. Dagegen spricht viel dafür, daß es sich bei V. 3aa2 tatsächlich um einen Einschub handelt. Das kleine Stück steht nicht nur, wie erwähnt, völlig isoliert innerhalb der Episode 19,1–7, es hat auch ein Pendant in Kapitel 20, das sich seinem Kontext indes sehr viel besser einfügt: 1 Sam 20,5b*.24a.11 V. 4 kann, wie erwähnt, sowohl V. 3 als auch V. 1 fortsetzen. Zusammen mit V. 5 berichtet er, wie Jonatan seinen Vater davon zu überzeugen versucht, daß David zu schonen sei. In 19,4b weicht die LXX in vier Punkten vom MT ab: a) Anstatt des Suffixes der 3. Sg. m. (MT) bezeugt die LXX eines der 2. Sg. m. b) An dieses wø;dVbAoV;b schließt der MT den Namen David mit der Konjunktion b an, in der LXX steht dagegen allein der Name. c) V. 4bb leitet der MT mit yIk◊w ein, während die LXX ein einfaches kai« bietet. d) Ebenda zeigt der MT mit dem Wort ÔKVl an, daß Davids Taten (Jonatan zufolge) für Saul sehr gut waren, die LXX enthält dagegen keinen vergleichbaren Bezug auf den König. Was a) anbelangt, verdient mit Sicherheit der MT den Vorzug,12 denn wie z. B. 2 Sam 14,6 (MT wie LXX) zeigt, ist die dort verwandte Formulierung im höfischen Sprachgebrauch durchaus üblich. Die LXX schwenkt hier offensichtlich auf den etwas direkteren (vgl. etwa 1 Sam 16,16) Redestil ein. Ebenso nehmen sich die Lesarten der LXX in den unter b) und c) genannten Fällen jeweils wie Vereinfachungen (jedoch syntaktischer Art) aus. In Hinblick auf d) fällt eine Entscheidung ausgesprochen schwer, weil einerseits der Wortlaut des MT als Präzisierung, andererseits derjenige der LXX als Verallgemeinerung gedeutet werden kann.13 Da indes die LXX in den drei zuvor besprochenen Fällen jeweils die sekundäre Lesart repräsentiert, erscheinen auch hier Zweifel an ihrer Ursprünglichkeit angebracht. Mit dem MT ist in V. 5ab Saul als Subjekt zu betrachten, nicht lEa∂rVcˆy_lD;k, wie es die LXX will. Zu Recht macht WELLHAUSEN darauf aufmerksam, daß erstens Israel schlecht als 3. Sg. f. aufgefaßt werden kann (eine Interpretation, die man –––––––––––––– 10

11 12 13

Vgl. etwa 1 Sam 16,22f., wo Isais Plazet und Davids Verbleiben am Königshof eher angedeutet als ausgeführt werden, oder 1 Sam 21,9f., wo man sich Ahimelechs Herausgabe des Schwerts ebenfalls hinzuzudenken hat. Auch 1 Sam 21,15f. gehört hierher, weil dort zwar Achischs Befehl, nicht aber mehr dessen Umsetzung geschildert wird. Das erste und das dritte Beispiel stammen jeweils aus einem mehr oder weniger einheitlichen Komplex, das zweite hingegen stellt tatsächlich eine Ergänzung dar; vgl. dazu 4.3 und 9.3. Allen drei Stellen ist jedoch ihre vergleichsweise späte Entstehung gemein. Beide Teilverse gehören zur Grundschicht von 1 Sam 20, vgl. dazu 8.3.5. Gegen BUDDE: a. a. O. S. 137; richtig STOEBE: a. a. O. S. 356, Anm. 4 a). Vgl. dazu auch das unten zu V. 5 Ausgeführte.

250

1 Samuel 19,1–24

der LXX angesichts des jmCtw aus V. 5ab unterstellen müßte) und daß sich zweitens eine Argumentation mit Davids Beliebtheit in Israel gemessen an Jonatans Absichten eher kontraproduktiv auswirken muß.14 Nicht weniger wichtig scheint mir der Umstand zu sein, daß mit der LXX-Lesart erneut eine Verallgemeinerung erreicht wird, welche die Bedeutung der Taten Davids stärker als im MT hervortreten läßt – ganz wie in V. 4. Der Text der beiden Verse (19,4f.) klingt etwas holprig. So zeugt die in V. 4b verwendete Apposition dˆw∂dVb, die das Wort wø;dVbAoV;b ergänzt, nicht unbedingt von stilistischer Eleganz und ist überdies als Information nach V. 4a überflüssig. Eine ähnlich unschöne Doppelung entsteht dadurch, daß die letzten beiden Gliedsätze aus V. 4b jeweils mit der Konjunktion yI;k eingeleitet werden. Hier wie dort könnte nachgearbeitet worden sein, denn an beiden Stellen ist die jeweils zweite Information nicht unbedingt erforderlich. Allerdings leitet V. 4bb auf den ersten Blick gut zu V. 5a über, wo sich Jonatan nicht mehr damit begnügt, Davids Unschuld zu betonen, sondern vielmehr positiv auf das von ihm Geleistete abhebt. Schaut man genauer hin, so zeigt sich jedoch, daß V. 4bb wohl eine Vielzahl von Verdiensten voraussetzt (wyDcSoAm),15 während V. 5a allein auf Davids Sieg über den (nota bene nicht namentlich genannten) Philister verweist. Aufgrund der Asyndese (DtyIa∂r) schließt sich V. 5ab an den vorausgehenden Viertelvers nicht optimal an. Da 19,5ab nirgends im folgenden vorausgesetzt wird, könnte es sich auch bei ihm grundsätzlich um eine Glosse handeln, allerdings finden sich m. E. keine weiteren Indizien, die in diese Richtung deuten. Ebenso steuert auch V. 5b nach Jonatans Appell in V. 4b nichts effektiv Neues mehr bei, sondern wirkt eher wie die Reformulierung jenes Halbverses in Form einer Frage. Interessant ist weiterhin auch der Sprachgebrauch in 19,5; drei Ausdrücke verdienen besondere Beachtung: a) Die charakteristische Wendung NN vRp‰n (tRa) (q) Myc NN PA;kV;b begegnet noch drei weitere Male im AT: in Ri 12,3; 1 Sam 28,21; Ijob 13,14. Die ersten beiden Verse entstammen dabei Passagen, die ihrem Kontext mit großer Wahrscheinlichkeit nachträglich zugewachsen sind.16 Die Erzählung 1 Sam *28,3bff. weist zudem gewisse Nähen zu 1 Sam 15, nicht zuletzt zu 1 Sam 15,35 auf.17 b) Mit hDo…wvV;t (q) hco liegt eine Formulierung vor, die ausschließlich auf –––––––––––––– 14 15

16 17

Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 112. Man hat wiederholt unter Hinweis auf GK § 93ss versucht, das Wort wyDcSoAm als Singular zu deuten (so etwa BUDDE: a. a. O. S. 137; DRIVER: a. a. O. S. 156; in GK selbst wird 1 Sam 19,4 dagegen nicht angeführt), nicht zuletzt aufgrund der Disgruenz, die zwischen ihm und dem singularischen Adjektiv bwøf herrscht. Doch diese ist im Althebräischen nicht ungewöhnlich (vgl. BROCKEL MANN: a. a. O. § 28bg), und der Hinweis auf V. 5a, in dem ja nur eine Tat Davids erwähnt wird (so argumentiert STOEBE: a. a. O. S. 356, Anm. 4 c)), vermag deshalb nicht zu überzeugen, weil die Einheitlichkeit des Textes ja gerade zur Debatte steht. Vgl. BECKER: Richterzeit. S. 221; KRATZ: Komposition. S. 217 und 192. Bei 1 Sam 28,17–19aa handelt es sich nach VEIJOLA (Dynastie. S. 57–59; ähnlich u. a. schon BUDDE: a. a. O. S. 183; HERTZBERG: a. a. O. S. 175; STOEBE: a. a. O. S. 495) um einen deutero-

Untersuchung

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jüngeren Fortschreibungsstufen innerhalb der Samuelbücher begegnet (vgl. 1 Sam 11,13; 2 Sam 23,10.12).18 c) Der Ausdruck yIqÎn M∂;d schließlich scheint ebenfalls eine Affinität zu Textbereichen zu haben, die mehrheitlich literargenetisch fortgeschrittene Stadien widerspiegeln.19 Das Faktum der Kumulation dreier überwiegend in jüngeren Textschichten begegnender Formulierungen in einem Vers bildet für sich genommen noch ein weiteres Indiz für die relative textgenetische Jugend von Vers 19,5.20 V. 621 leitet das Ende der kleinen Geschichte ein: Saul nimmt sich die Worte seines Sohnes zu Herzen und schwört, David nicht zu töten. Der Vers bietet wenig Auffälliges, er bildet eine passable Fortsetzung zu V. 5b, könnte aber ebensogut an V. 4ba, 4bb, 5aa oder 5ab anschließen. Die Wendung NN lwøqV;b (q) omv, die er gebraucht, ist nicht sehr aufschlußreich, da sie sich nicht auf den Gehorsam gegenüber Jhwh, Gottes Hören auf die Stimme eines Beters o. dgl. bezieht, sondern auf eine rein innerweltlich gedachte zwischenmenschliche Situation; in diesem Sinn kann sie praktisch zu jeder Zeit verwendet worden sein (vgl. nur Gen 27,8.13.43; 1 Sam 28,21f.; 2 Sam 13,14; Spr 5,13). In bezug auf die Schwurformel hÎwh◊y_yAj aus 19,6b gilt im wesentlichen dasselbe, sie findet sich in frühen wie in späten Stücken des AT und ist darüber hinaus auch mindestens zweimal in den Lachisch-Ostraka (6. Jh. v. Chr.) belegt.22 V. 723 setzt den vorangegangenen Vers voraus, was nicht nur daraus ersichtlich wird, daß sich Jonatan mit den Worten hR;lEaDh MyîrDb√;dAh_lD;k tEa direkt auf die Un––––––––––––––

18 19

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nomistischen Zusatz (‚DtrP‘), der wohl die Verbindung von 1 Sam 15 und 28,3bff. explizieren soll (vgl. DIETRICH: David. S. 26). Allerdings ist der Nachtragscharakter dieser Verse keineswegs über allen Zweifel erhaben, wie etwa schon HOFFMANN (Reform. S. 293f.) angemerkt hat. Zum Verhältnis von 1 Sam 15 und 28 vgl. auch KRATZ: Komposition. S. 186. Zu 1 Sam 15,35 s. 3.3.2. Vgl. etwa KRATZ: a. a. O. S. 191f.; MÜ L L E R: a. a. O. S. 175f.261f.; VEIJOLA: Dynastie. S. 34.119f.; s. auch WELLHAUSEN: Composition. S. 260–263; Prolegomena. S. 247. Vgl. zunächst Dtn 19,10; 21,8; 27,25; 2 Kön 21,16; 24,4; Jer 7,6; (19,4); 22,3; 26,15. Zur ersten Orientierung vgl. KRATZ: a. a. O. S. 138.193; THIEL: WMANT 41. S. 110. Die nächste Parallele stellt 2 Kön 21,16 dar, weil dort wie in 1 Sam 19,5 neben jenem Ausdruck auch die Wurzel afj gebraucht wird. Nach W ÜRTHWEIN (ATD 11,2. S. 439–441) liegt in 2 Kön 21,16 ein Nachtrag im Stil von ‚DtrN‘ vor. Vgl. weiterhin Jes 59,7; Joel 4,19; Jona 1,14; Ps 94,21; 106,38; Spr 6,17. WEINFELD (Deuteronomy. S. 356) wertet desungeachtet yIqÎn M∂;d als „an ancient phrase“. Ganz ähnlich stuft KAISER (Grundriß, Bd. 1. S. 118) 19,5 als Fremdkörper deuteronomistischer Provenienz ein. Das Partizip le÷gwn, das die LXX (über den MT hinausgehend) am Ende von V. 6ba liest, dürfte auf einen sekundären stilistischen Verbesserungsversuch zurückzuführen sein. Als relativ alte Belege kommen etwa Ri 8,19 und 1 Kön 17,1 in Frage (vgl. KRATZ: a. a. O. S. 211.170), jung dürften hingegen z. B. 1 Sam 28,10 und 2 Kön 5,16.20 sein (vgl. KRATZ: a. a. O. S. 186.192; WÜRTHWEIN: ATD 11,2. S. 296–303); vgl. ferner HAE I, S. 416f., Lak(6):1.3,9 und S. 426f., Lak(6):1.6,12, evtl. auch S. 431, Lak(6):1.12,3 sowie S. 387, Arad(6):21,5. Vermutlich ist in Anlehnung an den Text von LXXB in V. 7ab der Name NDtÎnwøh◊y als sekundäre Zutat zu streichen. Daß mit der dreimaligen ausdrücklichen Nennung des Subjekts eine Betonung erreicht werden soll (analog in 2 Sam 6,14; 12,19), erscheint mir offensichtlich, damit ist

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1 Samuel 19,1–24

terredung mit seinem Vater bezieht, sondern auch in der Rehabilitation zum Ausdruck kommt, die David zuteil wird. Mit V. 8 liegt eine Notiz vor, deren Funktion sich darin erschöpfen dürfte, Davids Wiedereinsetzung in seine alten Rechte und Aufgaben zu illustrieren. Dieser Schluß legt sich nahe, weil der Vers die Handlung nicht vorantreibt, im weiteren Verlauf des Geschehens nirgends aufgegriffen wird, selbst nur Davids Stellung als Heerführer voraussetzt und in alldem deutlich an 18,30 erinnert. Nach 19,8 ist die Erzählung im wesentlichen wieder an dem Punkt angelangt, von dem die Episode 19,1ff. ihren Ausgang genommen hatte. Auf diese Art ergibt sich, wenn man so mag, eine erzählerische Schleife, die mit Sauls Mordplan (19,1a) anhebt, dann berichtet, wie der König von diesem Vorhaben abgebracht wird (V. 1b–8), um schließlich trotz alledem in die Szene eines ersten versuchten Anschlags zu münden (V. 9f.; anschließend auch noch die vergleichbare Szene 19,11f.). Auf der Ebene der erzählerischen Gestaltung läßt sich dieser Sachverhalt als retardierendes Moment begreifen, also als geläufiger darstellerischer Kunstgriff, der als solcher über die Einheitlichkeit eines Textes wenig auszusagen vermag. Innerhalb der Handlung jedoch ergibt sich durch die Episode nicht bloß eine Verzögerung, sondern ein doppelter Rückschritt, denn Saul läßt seinen ursprünglichen Plan in den V. 6f. ja fallen, um zu guter Letzt doch wieder auf ihn zurückzukommen (V. 9f. und v. a. 11f.). So betrachtet erscheint die Geschichte von Jonatans Einsatz für David wie ein Fremdkörper innerhalb des Gesamtzusammenhangs.24 Die LXX bietet in 19,8 drei Varianten, die jedoch allesamt als sekundär gelten müssen. Sie geht über den Wortlaut des MT hinaus, indem sie a) angibt, gegen wen sich der fortdauernde Krieg richtet (pro\ß Saoul), und b) den großen Schlag gegen die Philister (so MT) als einen sehr großen bezeichnet (plhgh\n mega¿lhn sfo/dra). Da hier beide Male die längere Lesart vorliegt, ist der MT vorzuziehen. Außerdem scheint sie statt des aEx´¥yÅw im MT ein anderes hebräisches Verb vorauszusetzen.25 Wie allerdings ein Blick auf 18,5.13.16 zeigt, dürfte auch an dieser Stelle der MT das Ursprüngliche bewahrt haben.26 Alle Varianten stimmen in der Intention überein, die blasse Notiz etwas nachzukolorieren.

–––––––––––––– 24

25 26

allerdings noch nichts über die originäre Lesart ausgesagt (gegen STOEBE: a. a. O. S. 357, Anm. 7 a)). Eine Konsequenz dieser zweifachen Regression innerhalb des Handlungsverlaufs liegt darin, daß – wenn man die diachrone Perspektive unberücksichtigt läßt – König Saul plötzlich als wankelmütiger Charakter erscheint. Möglicherweise ist dieser des öfteren wiederkehrende Erzählzug (vgl. 14,18f.44f.; 24,17; 26,21) sogar erst durch die Einfügung der V. 1bff. entstanden. LXX: kati÷scusen, zu den möglichen Entsprechungen vgl. THENIUS: a. a. O. S. 78. Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 357, Anm. 8 b).

Untersuchung

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Die Formulierung twøyVhIl hDmDjVlI;mAh PRswø;tÅw aus 19,8a ähnelt der am Anfang von 18,29a: ... aørEl l…waDv PRsaø¥yÅw (Infinitiv constructus + l NN Psy), doch ist im Unterschied zu 19,8a in 18,29a die Schreibung des Verbs inkorrekt. Die V. 9f. liegen, wie oben bereits angedeutet, insofern quer zu dem beherrschenden Thema von Kapitel 19, als sie einen Mordanschlag schildern, den König Saul nicht absichtsvoll, sondern unter Einfluß des bösen Gottesgeistes verübt.27 Auch auf das Verhältnis zu dem nahezu identischen Seitenstück 18,10f. sowie zu 20,33 wurde bereits eingegangen.28 Dabei hat sich gezeigt, daß die Zwillingspassage aus Kapitel 18 textgenetisch wahrscheinlich direkt von 19,9f. abhängt, während die Abfassung von 19,9f. ihrerseits von 20,33 inspiriert worden sein dürfte und darüber hinaus die Kenntnis der Erzählung 16,14–23 zur Voraussetzung hat. Der Wortlaut der zwei Verse im MT weicht in vielen Punkten von dem der LXX ab. Statt des Gottesnamens Jhwh hat die Vorlage der LXX in V. 9aa wohl MyIhølTa gelesen, wie das griechische pneuvma qeouv ponhro\n vermuten läßt. Schon W ELLHAUSEN bemerkt, daß „das undeterminierte hor“ indirekt für die Version der LXX-Vorlage zeugt.29 Bei den weiteren Unterschieden fällt es häufig schwer, die ursprüngliche Lesart zu bestimmen. Daß die LXX die Suffigierung von wøtyEbV;b (V. 9ab ) nicht wiedergibt, könnte griechischem Sprachempfinden geschuldet sein,30 zumindest fällt auf, daß in der LXX des öfteren im Zusammenhang mit dem Ausdruck e˙n oi¶kwˆ auf die Verwendung des Possessivpronomens verzichtet wird (vgl. etwa Dtn 11,19; Spr 31,21). Wenn dagegen der MT in V. 9ag überflüssigerweise darauf hinweist, daß es sich bei dem Speer um Sauls Waffe gehandelt habe (wøtyˆnSjÅw), während die LXX lediglich kai« do/ru bezeugt, wird man darin vielleicht eher eine sekundäre Explikation zu sehen haben. Eine nachträgliche Präzisierung gleicher Art liegt der LXX-Lesart e˙n tai√ß cersi«n aujtouv zugrunde, der auf seiten des MT ein einfaches dÎyV;b gegenübersteht. Zwar wird in 16,16.23; 18,10, wo David ebenfalls als Harfner dargestellt ist, formuliert, er habe wødÎyV;b gespielt, doch –––––––––––––– 27

28 29 30

Man könnte fragen, ob in alttestamentlicher Zeit der Gegensatz zwischen bewußtem, eigenständigem Handeln und solchem Verhalten, das sich der Einwirkung eines wie auch immer gearteten Geistes verdankt, in dieser Schärfe möglicherweise noch nicht gesehen wurde. Ein Blick auf 16,14–23 (auf die Erzählung also, auf die 19,9f. aufbaut) zeigt allerdings, daß die Heimsuchung durch den Gottesgeist als punktuelles, nicht als ein sich über einen längeren Zeitraum hinziehendes Geschehen gedacht ist. 19,9f. kann demnach nicht das auslösende Moment für die beiden weiteren Anschläge (V. 11ff. und 18ff.) bilden. Und das bedeutet, daß zumindest ein anderer Unterschied zwischen den Episoden in V. 9f., V. 11ff. und V. 18ff. auf jeden Fall bestehen bleibt: In der Speerwurfszene wird eigens erwähnt, was Saul zu dem Anschlag auf Davids Leben verleitet hat, in den übrigen beiden hingegen nicht. S. 6.2. Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 112. Der Ausdruck für sich meint soviel wie ‚zu Hause‘ und ist für die erste Hälfte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. belegt, vgl. etwa BAUER: Wörterbuch. Art. oi•koß, Sp. 1137; die Wendung e˙n oi¶kwˆ kaqeu/dein ist sogar schon im fünften Jahrhundert v. Chr. nachweisbar, vgl. LIDDELL / SCOTT: Lexicon. Art. oi•koß, S. 1205.

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erscheint vor diesem Hintergrund nur noch unerklärlicher, weshalb das Suffix im MT hätte ausfallen sollen (noch dazu, wenn es sich – wie die LXX voraussetzt – um ein Pluralsuffix gehandelt haben sollte)31. Die LXX hat wahrscheinlich auch in 19,10ab das grammatikalische Subjekt durch Einfügung des Namens Dauid expliziert. Hingegen dürfte es wiederum auf eine (von 18,11 inspirierte) Glossierung im MT zurückzuführen sein, daß die LXX kein Gegenstück zu ryI;qAb…w (V. 10aa ) enthält. In V. 10b liest man am besten in Anlehnung an das e˙n thvØ nukti« e˙kei÷nhØ der LXX (dort 19,11; dazu s. u.), der Ausfall eines h zwischen den Wörtern hDl◊yA;lA;b und a…whAh erscheint nachvollziehbar. In V. 9aa findet die seltene Ausdrucksweise NN lRa ... Aj…wr (q) hyh Verwendung, die sonst nur noch in 16,23 begegnet, was eine gemeinsame Entstehung der beiden Stücke zumindest denkbar erscheinen läßt. Die letzten beiden Wörter von V. 10bMT (a…whAh hDl◊yA;lA;b) bilden in der LXX den Kopf des nachfolgenden Verses (kai« e˙genh/qh e˙n thvØ nukti« e˙kei÷nhØ), wobei die Vorlage der LXX offensichtlich noch ein yIh◊yÅw vorausgeschickt hat. Diese Aufteilung wird von den meisten Auslegungen übernommen,32 dürfte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit sekundär sein. Denn erstens stellt die LXX-Lesart die lectio longior dar, und zweitens ist die Vorstellung einer nächtlichen Szenerie in den V. 9f. wie auch im Vorausgegangenen mit keinem Wort angelegt. Dies bemerkt schon WELLHAUSEN,33 zieht daraus jedoch fälschlicherweise die Konsequenz, die Zeitangabe gehöre an den Anfang von V. 11. Doch auf diese Weise ist das Problem keineswegs zu lösen, der Ausdruck a…whAh hDl◊yA;lA;b impliziert nämlich, daß schon die Speerwurfepisode sich des Nachts zugetragen hat. WELLHAUSENs Argument fällt also dahin, und so sieht man sich auf die textkritische Faustregel zurückgeworfen. Spielt nun die Szene 19,9f. in der Nacht, ohne daß die Handlung selbst oder ihre Vorgeschichte dies erfordern, dann bleibt nur der Schluß, daß V. 10b auf das Folgende hin verfaßt wurde. Die V. 9f. müssen also entweder mit den V. 11f. zusammen oder nach ihnen entstanden sein. V. 11a schließt sich an die V. 9f. an, ohne sie indes vorauszusetzen. Saul ist hier also wahrscheinlich durchaus Herr seiner Sinne und schreitet erneut zur Tat. Er sendet Männer aus, die Davids Haus observieren (und David nötigenfalls wohl festhalten) sollen, damit er ihn am nächsten Tag umbringen kann.34 Michal jedoch –––––––––––––– 31 32

33 34

Anders u. a. BUDDE: a. a. O. S. 137; STOEBE: a. a. O. S. 357, Anm. 9 c). Vgl. etwa BUDDE: a. a. O. S. 137; DHORME: a. a. O. S. 173; DRIVER: a. a. O. S. 156; KLEIN: a. a. O. S. 192f.; STOEBE : a. a. O. S. 355; T HENIUS : a. a. O. S. 78; WELLHAUSEN : a. a. O. S. 112. Richtig dagegen z. B. STOLZ: a. a. O. S. 128. Vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 112. Ich schließe mich mit dieser Deutung WELLHAUSEN (ebd.) an, der die Kopula zwischen wørVmDvVl und wøtyImShAl (in V. 11a) für sekundär hält, weil sie eine Koordination zwischen den beiden durch den Infinitv constructus ausgedrückten Finalsätzen suggeriert, die nicht zur Konzeption der Erzählung paßt. Hätte Saul den Boten den Auftrag geben wollen, David zu töten, hätte es nicht der vorausgehenden Bewachung bedurft. Hinzu kommt, daß der Text des MT leicht durch eine

Untersuchung

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warnt ihren Mann vor dem Anschlagsversuch ihres Vaters. Schon die Zusammenfassung zeigt, daß der Vers auf die Eheschließung zwischen Michal und David (*18,20ff.) zurückblickt. Schlicht vorausgesetzt und nicht eigens erläutert wird ferner Davids Anwesenheit in seinem Haus, wann und wie er dorthin gelangt, bleibt offen. V. 10b will zwar offenkundig eine Erklärung bieten, doch fällt diese nicht eben präzise aus. 19,11 könnte m. a. W. ebensogut an V. 8, an V. 7 oder an V. 1a anschließen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich sogar, daß 19,1a einen weitaus besseren Anknüpfungspunkt darstellen dürfte. Denn allein hier findet sich eine Information, die ansatzweise zu erklären vermag, wie Michal in V. 11b überhaupt von dem Mordversuch ihres Vaters erfahren konnte.35 V. 12 bringt das im vorausgegangenen Vers Erzählte zum Abschluß, indem er berichtet, wie Michal ihrem Mann die Flucht ermöglicht. Sie läßt ihn zum Fenster hinaus – ein Detail, das verdeutlicht, daß die Szene ihrem Autor kaum allzu konkret vor Augen gestanden haben wird.36 Denn diese List kann ja nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn Sauls Schergen einzig auf die Eingangstür ein Auge haben.37 Als Alternative böte sich nur die Zusatzannahme, daß das besagte Fenster nicht allein aus der Wohnung, sondern auch aus der Stadt führt, wie das etwa bei der Rahabepisode Jos 2 der Fall ist.38 Doch nichts davon findet sich im Text auch nur angedeutet. ––––––––––––––

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36 37 38

Verdoppelung des letzten Buchstabens von wørVmDvVl entstehen konnte. Anders z. B. STOEBE: a. a. O. S. 357, Anm. 11 c) – leider ohne Begründung. – Daß Saul mit seinem Mord bis zum nächsten Morgen zu warten gedenkt, wird nicht weiter begründet und ist der Sache nach natürlich ungeschickt. Schon WELLHAUSEN (ebd.) weist jedoch auf Ri 16,2 hin, also letztlich darauf, daß derlei wirklichkeitsfern anmutende Details in alttestamentlicher Erzählliteratur durchaus nicht ungewöhnlich sind. Allerdings löst sich der erwähnte unrealistische Zug, der dem Vers eignet, auch dann nicht vollständig auf, wenn man ihn direkt auf 19,1a folgen läßt. Denn erstens ist Michal in der Szene aus V. 1a nicht anwesend, und zweitens verlautet dort kein Wort von Sauls Zeitplan, der ihr in V. 11b jedoch augenscheinlich bekannt ist. Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 360f. So WILLI-PLEIN: ISam 18–19. S. 151f. Damit ist indes allein die Möglichkeit der Flucht erklärt, nicht jedoch das seltsam nachlässige Verhalten der Männer Sauls. Die Nähe zu Jos 2,15 ist auffällig, andererseits jedoch nicht so eklatant, daß man unbedingt von direkter literarischer Abhängigkeit ausgehen muß, Einflüsse mündlicher Traditionen sind ebensogut denkbar, da es sich um ein Wandermotiv zu handeln scheint (vgl. STOLZ: a. a. O. S. 130; zum Motiv vgl. auch 2 Kor 11,33 sowie Apg 9,25). WILLI-PLEIN (a. a. O. S. 151) schließt rundweg aus, daß 19,11f. von Jos 2 abhängig sein könnte. Zur Begründung verweist sie auf das in der Rahabgeschichte vorausgesetzte, vergleichsweise große Fenster, das unter fortifikatorischen bzw. städtebaulichen Gesichtspunkten am ehesten zu den stabilen politischen Verhältnissen der Perserzeit paßt. Die Beobachtung an sich ist interessant, allerdings empfiehlt es sich m. E., Details wie diesem keine allzu große Beweislast zuzumuten. Denn – wie sich unten noch zeigen wird – selbst alte Überlieferungsstücke sind nicht immer völlig anschaulich erzählt. Bemerkenswert erscheint mir weiterhin, daß es sich bei Jos 2* um einen Text handelt, der – wenn man den Ausführungen KRATZ’ (Komposition. S. 208–210) folgt – zusammen mit einigen anderen Stücken

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Wie in V. 10b begegnet auch in V. 12b eine Notiz, die den glücklichen Ausgang des Fluchtversuchs feststellt. Dabei zeigt sich schnell, daß in 19,12b das ältere der beiden Stücke vorliegt, denn 19,10b setzt ja die V. 9–10a und damit die ausgesprochen junge Episode 16,14–23 voraus. Notizen dieser Art finden sich darüber hinaus auch in 19,18aa ; 20,1a; 21,1a.11a; 22,1a, doch kommen als ursprüngliche Fortsetzung zu 19,12a allein 19,12b und 22,1 in Betracht. Vers 19,18aa scheidet hierfür aus, weil er Davids Weg zu Samuel führen läßt, was zur Voraussetzung hat, daß David und Samuel einander kennen, d. h. die nicht zum Grundstratum gehörige Geschichte *16,1–13 präsupponiert. Auch unter formalen Gesichtspunkten betrachtet, fügt sich V. 18aa nicht gut zu V. 12a. Die betonte Voranstellung des grammatikalischen Subjekts sowie die Verwendung des Perfekts, mit dem hier vermutlich die Vorzeitigkeit im Sinne eines Plusquamperfekts ausgedrückt werden soll, sind kaum anders als vor dem Hintergrund der V. 13–17 zu verstehen. Auch 20,1a bietet keine Alternative, weil hier mit der Nennung der Ortslage aus 19,18–24 direkt auf jene Episode zurückgegriffen wird. Daß sowohl 21,1a als auch 21,11a mit dem Prädikat M∂qÎ¥yÅw beginnt, das einen Aufbruch kennzeichnet, macht einen Anschluß eines der beiden Halbverse an 19,12a gleichfalls unwahrscheinlich, denn dort leitet Michal ja Davids Flucht ein. 19,12b hingegen schließt perfekt an 19,12a an, so daß es nahe liegt, ihn für die originäre Fortsetzung zu halten. Diese Möglichkeit scheidet allerdings nach meinem Dafürhalten aus. Begibt man sich nämlich auf die Suche nach einem Vers, der seinerseits 19,12b optimal fortsetzt, so bleibt (im Textbereich vor der letzten verbliebenen Alternative zu 19,12b, d. h. vor 22,1) einzig 21,11b übrig.39 Dieser Halbvers aber eröffnet die Erzählung über Davids ersten Aufenthalt bei Achisch von Gat (21,11b–16), die in 21,12 höchstwahrscheinlich auf *18,6–9 zurückgreift, also auf eine Passage, die nicht zur Grundschicht gehört haben dürfte.40 Doch auch wenn man den Halbvers von der Episode 21,12ff. abstreift und dementsprechend die Fortsetzung des Erzählfadens nach 27,2 (dem Beginn des zweiten Aufenthalts bei Achisch) sucht, ergeben sich Probleme. Denn ab 27,3 wird immer wieder voraus––––––––––––––

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40

die frühen Josuaüberlieferungen (Jos 6*;8*) und den Exodusstoff in einer Landnahmeerzählung vereinigte. Denn der hier vertretenen Auffassung nach handelt es sich bei 1 Sam 19,11–12a um ein Stück der Grundschicht der AG und damit um den Bestandteil einer Bearbeitungsschicht, welche den Komplex der frühen Saulüberlieferungen (1 Sam *9–14) mit dem der TFG zusammenband. Man kann also immerhin vielleicht soviel sagen, daß Jos 2,15 und 1 Sam 19,12a zwei ähnlich verfahrenden und möglicherweise auch ähnlich zu datierenden (dazu vgl. KRATZ: a. a. O. S. 319ff.) Redaktionen entstammen. Grundsätzlich könnten natürlich auch noch andere Verse als Anschlußstücke in Frage kommen, näher betrachtet scheiden sie aber allesamt aus: 19,18aa2 leitet eine Episode ein, die *16,1–13 zur Voraussetzung hat. 20,1b hingegen bildet den erzählerischen Ausgangspunkt für eine Geschichte, die eine Neuauflage von 19,1b–8 darstellt (zur Begründung s. u. 8.3.5). 21,2 schließlich fügt sich aus stilistischen Gründen nicht gut zu 19,12b, weil hier der Handlungsträger eigens genannt wird (dˆw∂d aøbÎ¥yÅw), während 19,12b bereits mit David als implizitem Subjekt operiert Vgl. 6.3.

Untersuchung

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gesetzt, daß David eigene Gefolgsleute bei sich hat (27,3.8ff.; 28,1; 29,3a; 30; 2 Sam 1 und vor allem in dem für alles weitere unerläßlichen Kapitel 2 Sam 2)41, ohne daß diese jedoch bei einem Zusammenhang 19,12b + 21,11b + 27,3ff. eingeführt worden wären. Die einzige Textstelle, die erklärt, wie David zum Anführer einer Freischar avanciert, stellt nämlich 1 Sam 22,1b.2 dar.42 All das macht es m. E. sehr wahrscheinlich, daß die Fluchtnotiz, die ursprünglich auf 19,12a folgte, jene aus 22,1 war.43 Und auch die geographischen Verhältnisse fügen sich bestens in dieses Bild, denn bei Adullam (22,1) dürfte es sich um eine Ortslage handeln, die sich nur wenige Kilometer östlich vom antiken Gat befindet und somit bei einer Flucht von Gibea nach Gat durchaus auf dem Weg lag.44 Der kleine Schwank 19,13–17 bedarf immerhin des V. 12b, die ganze Geschichte ist ja darauf hin angelegt, Davids Flucht zu verschleiern. Ihrerseits werden die fünf Verse indes nirgends im folgenden vorausgesetzt. Dies wie auch der Umstand, daß sich V. 18aa 1 wie eine (am Inhalt, nicht am Wortlaut orientierte) Wiederaufnahme von V. 12b ausnimmt, kann als Hinweis darauf gewertet werden, daß es sich bei 19,13–18aa1 um eine Interpolation handelt. Obschon sich einige logische Sprünge bzw. wirklichkeitsfern anmutende Züge zeigen, gibt es dagegen keine nennenswerten Indizien, die für eine sukzessive Entstehung des Abschnittes selbst (von einzelnen Glossierungen abgesehen) sprächen. Die Handlung ist schnell erzählt: Michal bastelt aus der Statue eines Hausgottes, einem Ziegenfell und einer Decke eine menschenähnliche Atrappe, die sie in ein Bett legt, um so Davids Anwesenheit vorzutäuschen. Die Boten, die ihr Vater ausgesandt hat, um David abzuholen, schickt sie mit der Ausrede, ihr Mann sei krank, wieder zurück.45 Als Saul erneut Männer zu Davids Haus kommandiert,46 –––––––––––––– 41

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44 45

Zum vermutlich ältesten Stratum in 2 Sam 1f. s. KRATZ: Komposition. S. 186f.192. Anders FISCHER: Hebron. S. 13ff. und 43ff. sowie die Textpräparation S. 334–337. Zu den Vorbehalten gegenüber FISCHERs Rekonstruktion s. o. Anm. 60 (Kap. 2). Das sieht auch CAMPBELL: a. a. O. S. 224. Vgl. auch den Exkurs I: Zur Entstehung von 1 Sam 22 unter 8.3.3. Um ganz genau zu sein, muß man den Übergang wie folgt bestimmen: 19,12a – 19,12b – 22,1ab2 (=MD;lüdSo tårDoVm_lRa ) – 22,1b.2. Der verbleibende Beginn von Kap. 22 (V. 1aab1 = fElD;mˆ¥yÅw MDÚvIm dˆw∂;d JKRl´¥yÅw) dürfte eine Wiederaufnahme sein. Zur Lokalisierung von Gibea, Gat und Adullam vgl. WEIPPERT: Palästina. S. 614. In V. 14b ist mit dem MT rRmaø;tÅw zu lesen (so auch HERTZBERG: a. a. O. S. 128; MCCARTER: a. a. O. S. 324; STOEBE: a. a. O. S. 358, Anm. 14 a); S TOLZ : a. a. O. S. 128); das kai« le÷gousin der LXX soll den wenig anschaulichen Charakter der Szene verdecken, den schon WELLHAUSEN (a. a. O. S. 113) bemerkt hat: „Man kann nach MT. nicht anders verstehen, als dass Michal die Boten Sauls nicht ins Haus hineinliess, um sie sich durch Augenschein von Davids Zustande überzeugen zu lassen, sondern an der Thüre abfertigte mit dem Bescheide, David sei krank. Wozu dann aber der Firlefanz v. 13? Der war doch darauf berechnet, dass ihn jemand sah und sich dadurch täuschen liess.“ WELLHAUSEN hält freilich die LXX-Fassung für das Ursprüngliche (vgl. ebd.; so auch – bei anderer Übersetzung – BUDDE: a. a. O. S. 138).

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die ihn mitsamt Bett herbeibringen sollen, fliegt der Schwindel auf. Der König stellt seine Tochter zur Rede,47 doch diese zieht sich äußerst gewieft aus der Affäre, indem sie vorgibt, David habe ihr mit dem Tode gedroht. Ein wichtiges Problem in Hinblick auf 19,13–17 besteht darin, daß hier anscheinend ohne Scheu und ohne expliziten wertenden Kommentar von einem Hausgott (MyIp∂rV;t)48 gesprochen wird, obwohl (von Monotheismusforderung und Bilderverbot im Pentateuch einmal abgesehen) relativ spät anzusetzende Stellen wie 2 Kön 23,24 und Sach 10,2 (indirekt auch 1 Sam 15,23) scharf gegen solche Kultbilder polemisieren.49 Die Frage lautet näherhin, ob in den V. 13–17 ein altertümliches und aus nicht ohne weiteres einsichtigen Gründen unkommentiert gebliebenes Traditionsstück vorliegt oder aber eine Ergänzung, die derart spät vorgenommen wurde, daß sie die Bilderpolemiken entstehungsgeschichtlich bereits hinter sich ließ.50 Die zweite Möglichkeit ist nicht nur deswegen wahrscheinlicher, weil sie eine plausible Erklärung für das Fehlen jeglicher ausdrücklicher theologischer Wertung aufzuweisen hat, sie kann sich auch auf die Analogie Gen 31 berufen. Der dort zu findende Erzählstrang, der den Raub eines Hausgottes durch Rahel zum Thema hat (Gen 31,19b.30b.32a[nur KyRhølTa_tRa].b.34a.35), dürfte nämlich der Analyse LEVINs zufolge eine späte, nachendredaktionelle Ergänzung darstellen.51 Die Erzählung 19,13–17 wird durch die Überleitung V. 18aa1 (fElD;mˆ¥yÅw jårD;b dˆw∂d◊w) mit dem Folgenden verbunden. Dabei fällt auf, daß sich V. 18aa1 gleichermaßen gut vor V. 18aa2 wie vor 20,1b ausnimmt, während der von 19,18ff. nach 20,1bff. hinüberführende Halbvers 20,1a durch den Rückverweis hDm∂rD;b twˆwø…nIm nur an seinen jetzigen Ort paßt. Die Überleitung könnte also entstehungsgeschichtlich zu den –––––––––––––– 46

47

48 49

50 51

V. 15a ist nach der LXX (als der kürzeren und schwierigeren Textform) zu lesen: dˆw∂;d_lRa jAlVvˆ¥yÅw rOmaEl. Daß die mit dem Infinitiv constructus eingeleitete Botschaft sich nicht an eine dritte Person richtet, sondern an die Boten selbst, ist ungewöhnlich, könnte aber gerade den Ausschlag dafür gegeben haben, nach dem Prädikat die Wortgruppe twøa√rIl MyIkDaVlA;mAh_tRa l…waDv einzufügen und die Präposition lRa zur Nota accusativi abzuändern. Strenggenommen ist die Frage Sauls (fElD;mˆ¥yÅw yIb◊yOa_tRa yIjV;lAvV;tÅw yˆnItyI;mîr hDkD;k hD;mDl) angesichts der konkreten Situation merkwürdig gestellt. Denn wieso Michal ihren Ehemann nicht aufzuhalten vermochte, kann man sich denken. Weniger klar ist, weshalb sie Davids Flucht anschließend aktiv gedeckt hat; darauf scheint die Frage des Königs aber nicht abzuzielen. – Im MT ist in V. 17bb hinter rAmDa_a…wh wahrscheinlich nachträglich das Wort yAlEa eingefügt worden, es weist zumindest in der LXX kein Gegenstück auf. Zum Begriff vgl. DDD2, Art. Teraphim, S. 844–850; KBL3, Art. MyIp∂rV;t, S. 1651–1653; dort jeweils auch Literaturverweise. Zur zeitlichen Einordnung von 2 Kön 23,24 vgl. SPIECKERMANN: Juda. S. 137f. (Fortschreibung innerhalb von ‚DtrN‘); so auch WÜRTHWEIN: ATD 11,2. S. 455–462; zu der von Sach 10,2 vgl. KAISER: Grundriß, Bd. 2. S. 154f. (vermutlich aus hellenistischer Zeit); zu 1 Sam 15,23a vgl. 2.3.1. Die erste der beiden Alternativen favorisiert z. B. HENTSCHEL: NEB.AT 33. S. 118. Vgl. LEVIN: Jahwist. S. 244.

Untersuchung

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V. 13–17 gehören. In welchem textgenetischen Verhältnis die Teraphimepisode zu dem sich anschließenden Abschnitt 19,18–24 steht, ist nicht auf Anhieb auszumachen. Die beiden Texte haben zunächst eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Hier wie dort schickt Saul seine Häscher (MyIkDaVlAm) vor, um seines vermeintlichen Feindes habhaft zu werden; diese Ähnlichkeit geht so weit, daß die V. 14b und 20aa1 einander wortwörtlich entsprechen (dˆw∂;d_tRa tAjåqDl MyIkDaVlAm l…waDv jAlVvˆ¥yÅw). In beiden Erzählungen scheitern Sauls Männer an ihrem Auftrag, so daß Saul sich zuletzt genötigt sieht, selbst auf den Plan zu treten, dabei jedoch ebenso rasch an seine Grenzen stößt (V. 17; V. 22–24). Überhaupt eignet beiden Stücken eine deutliche saulkritische Tendenz, der mit recht burleskem Humor Ausdruck verliehen wird. In diesem Zusammenhang fällt weiterhin auf, mit welch spöttischer Distanz in beiden Erzählstücken zwei damals vermutlich landläufige religiöse Phänomene dargestellt werden. Und schließlich ähneln sich 19,13–17 und 19,18–24 auch darin, daß sie in ihrer Anlage je ein recht deutliches Analogon aufweisen (zu 19,13–17 vgl. Gen 31,19bff.; zu Gen 19,18–24 vgl. 2 Kön 1,9ff. und s. u.). Zugleich deutet die Wiederaufnahme von V. 12b in V. 18aa 1 darauf hin, daß es sich bei 19,13–18aa1 um einen sekundären Einschub handelt. Damit ist allerdings noch keineswegs ausgemacht, in welcher textgenetischen Relation diese mutmaßliche Ergänzung zu 19,18aa2ff. steht. Denn mit 20,1a besitzt auch dieser Abschnitt ein Endstück, das als frei formulierte Wiederaufnahme (sei es von V. 12b, sei es von V. 18aa 1) verstanden werden kann. Daneben zeigen sich aber zu guter Letzt auch Details, die den Eindruck erwecken, 19,18ff. sei daran interessiert, das in 19,13ff. Erzählte noch zu überbieten. So wendet sich hier nicht mehr bloß eine der Töchter Sauls von ihrem Vater ab, sondern die einzige dem König übergeordnete Größe – Samuel selbst, und mit ihm Jhwh – bezieht aktiv Stellung gegen Saul. Auch die Schlußszene V. 17 fällt für Saul deutlich weniger schmachvoll aus als ihr Gegenstück in V. 24a, wo der König sich vor aller Augen nackt und von Sinnen im Staube wälzt. All dies scheint darauf hinzudeuten, daß der Verfasser der Samuelepisode die Geschichte von Michal und dem verkleideten Hausgötzen bereits kannte und sich überdies von ihr inspirieren ließ.52 Auch die Übereinstimmung der V. 14b und 20aa1 erklärt sich besser (gleichwohl nicht ausschließlich), wenn man eine Entwicklung von 19,13ff. nach 19,18ff. hin annimmt, weil es sich in diesem Fall um eine Zitation gehandelt hätte, die mit der natürlichen Leserichtung (‚von oben nach unten‘) und nicht gegen sie verlaufen wäre. Der Abschnitt 19,18–20,1a erzählt, wie David sich vor Sauls Nachstellungen unter Samuels Fittiche flüchtet. Weil der Prophet in der Gegend von Rama weilt, muß David sich hierzu von Gibea aus nach Norden wenden, was angesichts einer –––––––––––––– 52

Ähnlich auch VERMEYLEN: Loi. S. 117.

260

1 Samuel 19,1–24

Flucht, die zunächst in den Süden, nach Adullam führt, merkwürdig erscheint.53 Der Umstand, daß David und Samuel einander kennen, verlangt nach der Erzählung *16,1–13 im Vorfeld. Außerdem wird sowohl 19,1a als auch 19,11–12a vorausgesetzt, denn 19,18abg zeugt nicht allein von offenkundigen Mordabsichten Sauls, sondern auch schon von einem Versuch, diese Pläne in die Tat umzusetzen.54 Als Saul Davids Aufenthaltsort erfährt, schickt er Männer aus, die David ergreifen und zu ihm bringen sollen. Doch der Plan mißlingt. Kaum angekommen, erblicken Sauls Männer die ‚Prophetenjünger‘, die sich um Samuel scharen, werden von einem Gottesgeist erfaßt und verfallen wie jene in prophetische Raserei. Die beiden anderen Trupps, die Saul jeweils anstelle des unverrichteter Dinge zurückkommenden vorigen losschickt, können ebensowenig etwas bewirken (V. 21), so daß Saul sich schließlich selbst auf den Weg macht (V. 22–23a). Doch auch Saul gerät in Verzückung – David ist also gerettet (V. 23b–24a). Zu guter Letzt wird in einer kleinen ätiologischen Notiz das Sprichwort MIayIb◊…nA;b l…waDv MÅgSh auf diese Begebenheit zurückgeführt (V. 24b). V. 20MT liest a√rÅ¥yÅw, während die LXX, Ò93.94 und einige andere Versionen hier das Prädikat im Plural bezeugen. Weil die Fassung des MT keinen vernünftigen Sinn ergibt, wird der LXX-Text ursprünglich sein.55 Am Versende enthält die LXXB keine Entsprechung zu den Wörtern hD;mEh_MÅ…g im MT, sie könnten als längere Lesart eine Ergänzung darstellen, wie sie womöglich auch in V. 24aaMT zweimal ganz ähnlich vorgenommen worden ist (dort jeweils nach dem Prädikat a…wh_MÅ…g). Auch das Partizip MyIaV;bˆn am Ende von V. 20aa ist ohne Gegenstück in der LXX. Es hängt mit jenen drei Stellen unmittelbar zusammen, da es den Anknüpfungspunkt für das besagte hD;mEh_MÅ…g bildet. Das könnte bedeuten, daß im MT die besagten Wörter ergänzt wurden, um den Anhalt noch deutlicher herauszustreichen, den das Sprichwort MIayIb◊…nA;b l…waDv MÅgSh (V. 24) an dem Geschehen hat. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß auf seiten der LXX nachgearbeitet wurde. Mit dem Wegfall der betreffenden Wörter in den V. 20 und 24 treten nämlich die Verhaltensweisen der Propheten um Samuel, der Männer Sauls sowie dasjenige Sauls auseinander. Die Propheten sind nunmehr lediglich anwesend, Sauls Männer geraten in Ver–––––––––––––– 53 54

55

So schon WELLHAUSEN: Composition. S. 250. In der LXX ist 19,18 mit zwei kleinen Abweichungen vom Wortlaut des MT überliefert: In V. 18b bezeugt sie nicht das Pronomen a…wh, sondern liest den Namen Dauid, was sich am plausibelsten als sekundäre Explikation erklärt. Derselbe Wunsch nach einem etwas präziser gefaßten Text dürfte auch dafür verantwortlich sein, daß der Ortsangabe e˙n Nauaq am Ende des Verses in der LXX noch ein e˙n Rama folgt, das der MT hier nicht enthält. – Die Ortsnamen sind in 19,18–24 fast durchweg mit Problemen behaftet, was besonders für das tyˆwøn gilt, dessen originäre Aussprache nach wie vor nicht sicher ist. Für die Zwecke dieser Untersuchung tragen diese Fragen allerdings nur wenig aus, auf eine Diskussion kann daher verzichtet werden. Zu den Grundproblemen s. STOEBE: a. a. O. S. 365, Anm. 18 b); S. 366, Anm. 22 b) und c); WELLHAUSEN : Text. S. 113f. So z. B auch BUDDE: a. a. O. S. 139; STOEBE: a. a. O. S. 366, Anm. 20 c).

Untersuchung

261

zückung, der König selbst aber reißt sich sogar die Kleider vom Leib etc. Während sich also dem MT nach Saul tatsächlich wie einer von den Propheten benimmt, führt er sich der LXX zufolge noch weit anstößiger auf als sie. Die genannten Lücken der LXX verbindet augenscheinlich die Tendenz, Sauls Andenken buchstäblich und weiter noch als ehedem ‚in den Staub zu zieh’n‘. Für den MT ist nichts Vergleichbares zu entdecken, er dürfte daher den originären Wortlaut bieten. – In bezug auf die Bedeutung des Ausdrucks MyIayIb◊…nAh tåqShAl herrscht nach wie vor Ungewißheit. Die Versionen setzen vielleicht das ähnlich seltene hD;lIhVq (Dtn 33,4; Neh 5,7; Sir 7,7; 42,11) voraus, was allerdings auch ein bloßer Interpretationsversuch der Übersetzer sein könnte.56 In der jüngeren Forschung wird das Hapaxlegomenon håqShAl stattdessen häufig als ‚Kreis der Ältesten‘57 bzw. ‚senatus‘58 übersetzt. Da beide Möglichkeiten deutliche Berührungen zeigen, die Frage für die Zwecke dieser Untersuchung indes von untergeordneter Bedeutung ist, braucht das Problem hier nicht weiter erörtert zu werden. Die LXX hat am Anfang von V. 22 einen kleinen Textüberhang, sie liest hier kai« e˙qumw¿qh ojrghvØ Saoul. Diese Verseinleitung ist aber mit Sicherheit sekundär, da sie die Szene weiter ausgestaltet und ein Fortfall dieses Stückes zudem kaum zu erklären wäre.59 Des weiteren liest die LXX eºwß touv fre÷atoß touv a‚lw anstelle von lwødÎ…gAh rwø;b_dAo im MT, was auf N®rO…gAh rwø;b im Hebräischen hindeutet. Diese Lesart erscheint etwas ansprechender als die des MT, denn im hebräischen Text nimmt sich die Kombination von indeterminiertem Substantiv und determiniertem Adjektiv grammatikalisch anstößig aus.60 Vor allem klingt die Ortsbezeichnung im MT relativ unspezifisch, so daß hier eventuell die LXX im Recht ist;61 das Problem ist nicht gänzlich befriedigend zu lösen. Das letzte Prädikat des Verses steht nach der LXX im Plural, nach dem MT und einer LXXB-Handschrift jedoch im Singular. Da der Singular die lectio ardua darstellt, gleichwohl durchaus möglich ist,62 wird man ihn vorziehen müssen. In 19,23ba wird die Figura etymologica JKwølDh JKRl´¥yÅw des MT von der LXX lediglich durch ein einfaches kai« e˙poreu/eto wiedergegeben. Das ist auffällig, weil die LXX im Bereich der Samuelbücher diese Konstruktion im Griechischen zumeist

–––––––––––––– 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 366, Anm. 20 a). So Ges.18, Art. håqShAl, S. 598f. KBL3, Art. håqShAl, S. 495. So die meisten und auch schon WELLHAUSEN: Text. S. 114. Vgl. aber zu möglichen Ausnahmen BROCKELMANN: a. a. O. § 60a. So u. a. auch BUDDE: a. a. O. S. 139; WELLHAUSEN: a. a. O. S. 114; anders STOEBE: a. a. O. S. 366, Anm. 22 b); CAMPBELL: a. a. O. S. 208. Vgl. BROCKELMANN: a. a. O. § 36d.

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1 Samuel 19,1–24

nachzuahmen sucht.63 Man kann daher davon ausgehen, daß die LXX-Lesart hier die ältere darstellt. Anstatt vor Samuel (so MT) rast Saul in 19,24aLXX e˙nw¿pion aujtw◊n. STOEBE hält es für möglich, daß mit der LXX-Lesung dem Vers 15,35 (dem Fazit, Saul und Samuel hätten sich von jenem Tage an nie wieder gesehen) Rechnung getragen werden soll.64 Allerdings ist mit dem Pronomen keineswegs Samuels Anwesenheit ausgeschlossen, so daß es näher liegt, die Lesart des MT als sekundäre Explikation zu betrachten. Die Erzählung 19,18-20,1a schließt sich mit V. 18 gut an den vorausgehenden Text an. Prinzipiell wäre jedoch auch z. B. ein direkter Übergang von V. 10 oder V. 12 nach V. 18aa2 denkbar. Am Ende bildet 20,1a eine Art Scharnier zwischen 19,24 und 20,1bff., wobei auch hier grundsätzlich noch zahlreiche andere Anschlüsse vorstellbar wären (etwa 19,24 / 21,2 oder 19,24 / 21,11a oder 20,1a / 21,11b etc.). Daß 20,1a nicht wie 19,18f.22f. tywn, sondern twwn liest, muß nicht gegen eine genuine Zusammengehörigkeit sprechen, da die Buchstaben w und y in hebräischen Handschriften häufig kaum zu unterscheiden sind.65 Beachtung verdient das Verhältnis der Episode zu drei anderen Textstellen: a) In 15,35 wird behauptet, Samuel habe bis zu seinem Tode Saul nie wieder zu Gesicht bekommen. Dem läuft 19,18–24 klar zuwider. b) Eine Ätiologie für das Sprichwort aus V. 24b findet sich auch in 1 Sam 10,11, woraus eine unübersehbare logische Spannung resultiert, denn natürlich kann ein geflügeltes Wort schwerlich zwei verschiedenen Situationen entspringen. Darüber hinaus fällt auf, um wieviel freundlicher der Ton ist, den 1 Sam 10,10–12 in bezug auf Saul anschlägt, als jener, der in 19,18ff. vernehmbar wird. Jeweils bedingt durch den Kontext, erscheint Saul in 10,10–12 als sympathischer junger Mann, über dessen Umgang mit Ekstatikern man sich wundert, in 19,18ff. dagegen als finsterer Bösewicht, dessen schmachvolles Scheitern man als Leserin bzw. Leser mit einer gewissen Genugtuung betrachtet.66 Die zwei Texte verbindet weiterhin, daß sie sich auf eine ihnen jeweils vorausliegende Salbungserzählung zurückbeziehen: 10,10–12 lehnt sich unmittelbar an *9,1–10,9 an, und 19,18ff. setzt *16,1–13 voraus. Der kleinen Anekdote 10,10–12 (zusammen mit dem sie vorbereitenden, in Kap. 9f. vermutlich sekundär eingefügten Vers 10,567) kommt dabei die Funktion zu, die Salbung Sauls bzw. seine darin zum Ausdruck kommende göttliche Erwählung zu bestätigen, indem sie das Eintreffen des dritten –––––––––––––– 63

64 65 66 67

Vgl. 1 Sam 14,19; 2 Sam 13,19; 18,25; anders 2 Sam 3,24, doch ist hier der Text der LXX sekundär (vgl. STOEBE: KAT2 VIII,2. S. 134, Anm. 24 d)) und scheint sogar noch indirekt den Infinitiv absolutus von (q) Klh zu bezeugen. Vgl. STOEBE: KAT2 VIII,1. S. 366, Anm. 24 b). Vgl. WÜRTHWEIN: Text. S. 119; vgl. zur Veranschaulichung nur etwa DJD 17, Plate XXIV. Ähnlich DIETRICH: David. S. 60. Vgl. etwa KRATZ: Komposition. S. 176, Anm. 78.

Untersuchung

263

der drei angekündigten Zeichen nicht nur erwähnt, sondern eigens erzählt.68 Da die Salbung Davids offensichtlich derjenigen Sauls aus 1 Sam 9f. nachempfunden ist,69 1 Sam 16 allerdings einer solchen Bestätigung entbehrt, liegt die Vermutung nahe, daß 1 Sam 19,18ff. dazu geschaffen wurde, diesem Mangel abzuhelfen,70 und mithin auf 10,10–12 zurückblickt. c) In ihrer Anlage hat die Erzählung 19,18ff. frappierende Ähnlichkeit mit 2 Kön 1,9ff. Dort wird erzählt, wie König Ahasja von Israel dreimal nacheinander Boten aussendet, die den Propheten Elija ergreifen sollen, aber auf wunderbare Weise an der Ausführung ihres Auftrags scheitern. Ähnlich wie in 1 Sam 15 und 16,1–13 wird der Gottesmann hier und in 1 Sam 19,18ff. als eine dem König übergeordnete Größe aufgefaßt. 2 Kön 1,9ff. und 1 Sam 19,18ff. gehen aber insofern noch einen Schritt über die in 1 Sam 15 und 16,1–13 vertretene Anschauung hinaus, als ihnen zufolge die Macht eines Samuel und Eljia die der Könige nicht nur de jure, sondern auch de facto weit übertrifft.71 Interessanterweise ist Elija in 2 Kön 1 noch nicht als Ekstatiker dargestellt, bei diesem Zug scheint es sich vielmehr um ein erst etwas später hinzugefügtes Detail zu handeln.72 Das könnte als Indiz dafür zu werten sein, daß die Episode 1 Sam 19,18ff. entstehungsgeschichtlich jünger ist als 2 Kön 1,9ff., da sie beide Vorstellungen kombiniert. In Hinblick auf 2 Kön 1,9ff. kann eine Entstehung in persischer Zeit als recht wahrscheinlich gelten, wie WÜRTHWEIN u. a. deutlich gemacht haben.73 Beachtet man die Nähe zu 16,14ff., in der sich 1 Sam 19,18ff. bewegt und die sich in der tragenden Rolle des jeweiligen Gottesgeistes ausdrückt,74 so erscheint der Ausgang jener Epoche als wahrscheinlichster Entstehungszeitraum. Dazu paßt auch die innere Distanz, die aus der Art und Weise spricht, in der 19,18ff. das Phänomen der ekstatischen Prophetie darstellt.75 Samuel selbst – ohnedies allein –––––––––––––– 68 69 70 71 72 73

74 75

Vgl. ebd. und v. a. MOMMER: a. a. O. S. 181. Vgl. oben 3.3.2, bes. Anm. 56 bzw. 48 (unter 3.3.1). Vgl. MOMMER: a. a. O. S. 181; ders.: Saul. S. 59. Ähnlich CAMPBELL: a. a. O. S. 209. Vgl. WÜRTHWEIN: ATD 11,2. S. 271. Vgl. WÜRTHWEIN: a. a. O. S. 266ff., er spricht näherhin von einem nachdeuteronomistischen Stratum; KRATZ (a. a. O. S. 171) kommt zu dem Schluß: „In II Reg 1,9–16; 2 und 5 scheint der Kampf um den einen Gott längst entschieden, alles konzentriert sich auf den Gottesmann selber.“ Oben wurde bereits die Endgestalt von 1 Sam 16,14ff. in die spätpersische Zeit datiert, vgl. 4.3.1. Deutliche Vorbehalte gegenüber der (ekstatischen) Prophetie spiegeln sich zwar auch anderwärts (etwa in Num 11,26–29; 2 Kön 9,11; Jer 29,26 und Hos 9,7) wider, doch kennzeichnen diese in der Regel nicht den Standpunkt des jeweiligen Verfassers, sondern begegnen nur in Zitaten oder werden einzelnen Figuren in den Mund gelegt. Eine Ausnahme stellt Sach 13,2–6 dar, wo nicht nur offen Kritik an der Prophetie geäußert, sondern auch ihr Ende angesagt wird. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehört Deuterosacharja bereits ins 3. Jahrhundert v. Chr., vgl. KAISER: Grundriß, Bd. II. S. 156f.

264

1 Samuel 19,1–24

hier als Haupt einer ‚Prophetenschule‘ gezeichnet76 – wird deutlich von der Gruppe derer abgesetzt, die in Verzückung geraten (vgl. V. 20a). Auffälliger noch ist, daß die einzige positive Funktion, die der prophetischen Ekstase 19,18ff. zufolge zukommt, darin besteht, den mordlüsternen König unschädlich zu machen.

7.3 7.3.1

Auswertung Die Bearbeitungen

Der Eindruck, der am Beginn dieses Kapitels in bezug auf die Struktur des zu untersuchenden Abschnitts 1 Sam 19,1–24 gewonnen wurde, hat sich weitestgehend bestätigt: 1 Sam 19 zerfällt in vier bzw. (wenn man noch zwischen 19,11f. und 19,13–17 unterteilt) in fünf Einzelepisoden, die untereinander meist nur sehr oberflächlich in Beziehung stehen. Besonders locker fügen sich 19,9f. sowie *19,18–24 (+20,1a) ihrem Kontext ein, bei beiden dürfte es sich um nachträgliche Einsätze in einen älteren Zusammenhang handeln. Die jüngere der beiden Interpolationen liegt vielleicht in den V. 9f. vor, wofür mir zumindest zwei Überlegungen zu sprechen scheinen: a) Als sicher kann gelten, daß die Erzählung *16,1–13 sowohl von der folgenden Episode 16,14ff. als auch von 19,9f. und von *19,18ff. (direkt oder indirekt) vorausgesetzt wird. Bei 19,9f. dürfte es sich näherhin um ein Stück handeln, das zusammen mit der Erzählung 16,14ff. entstanden ist.77 In *16,1–13 wird nun berichtet, wie sich die hÎwh◊y_Aj…wr dauerhaft Davids bemächtigt. Das provoziert die Frage, wie es daraufhin mit Saul weitergeht, von dem ja ebenfalls wiederholt erzählt worden ist, der Geist Gottes habe (wenigstens temporär) von ihm Besitz ergriffen.78 Eine je eigene Antwort wird in *19,18ff. und in 16,14ff. versucht. Während das erstgenannte Erzählstück davon ausgeht, daß Saul auch nach Davids Salbung noch einmal vom Geist Gottes ergriffen wird, wobei diese Geisteinwirkung primär darauf zielt, Davids Leben zu schützen, stellen 16,14ff. und 19,9f. der MyIhølTa Aj…wr bzw. der hÎwh◊y_Aj…wr in Form der hDo∂r MyIhølTa_Aj…wr ein negatives Gegenstück an die Seite und ermöglichen dadurch eine geistgewirkte Beeinträchtigung der Person Sauls, die mehr ist als die bloße Kehrseite der Unterstützung Davids (wie das in 19,18ff. der Fall ist). So betrachtet nehmen sich die Abschnitte *16,1–13; *19,18ff.; 16,14ff. + 19,9f. (in dieser Reihenfolge) wie drei logisch aufeinander aufbauende Stadien eines fortschreitenden theologischen Reflexionspro–––––––––––––– 76 77 78

Vgl. DIETRICH: a. a. O. S. 61. Zur Begründung s. u. Vgl. 1 Sam 10,10 mit der Ankündigung 10,6 sowie ferner 11,6.

Auswertung

265

zesses aus, was eine Entstehung der Texte in ebendieser Abfolge wahrscheinlich machen würde. b) Derselbe Schluß legt sich nahe, wenn man vergleicht, wie die drei Ergänzungsschichten jeweils der Person Sauls gegenüberstehen. 16,1 macht sich das Urteil zu eigen, das in 1 Sam 15* über Saul gefällt wird, sieht in ihm also den ungehorsamen und mithin von Gott verworfenen König. In *19,18ff. werden Saul offene Mordabsichten unterstellt, an deren Verwirklichung dieser jedoch schmählich scheitert. Der König erscheint so als Mensch, der gegen den Willen Jhwhs aufbegehrt (1 Sam 15* und *16,1–13 sind ja bereits vorausgesetzt), gleichzeitig aber von Gott selbst an der Ausführung des konkreten Vorhabens gehindert wird. In 19,9f. schließlich verübt Saul ebenfalls einen erfolglosen Anschlag auf Davids Leben, behält dementsprechend seine Rolle als Bösewicht, erfährt aber zugleich auch ein gewisse Entlastung, indem seine Tat als Folge einer erneuten Heimsuchung durch den bösen Gottesgeist dargestellt wird. Saul wird m. a. W. zunächst als ein in seinem Handeln grundsätzlich freier, allerdings ungehorsamer Mensch gesehen, sodann ein als in seiner Handlungsfreiheit durch Gottes unmittelbares Eingreifen begrenzter und gleichzeitig sich gegen Jhwhs Plan auflehnender Mensch und zu guter Letzt als eine nach wie vor im Aufbegehren gegen die göttliche Vorsehung begriffene, nun aber gänzlich ohnmächtige Person. Die gedankliche Bewegung, die hier zutage tritt, läßt sich auch, vom jeweils implizierten Gottesbild ausgehend, als schrittweise Ausweitung der göttlichen Machtfülle beschreiben, die zwangsläufig zu Lasten der Autonomie und Verantwortung des Menschen geht.79 Das entstehungsgeschichtliche Verhältnis von 19,9f. zu 1 Sam 16,14–23 ist ebenfalls lediglich indirekt zu erschließen. Daß jene zwei Verse die Erzählung von David als Harfenspieler am Hofe Sauls voraussetzen und zudem mit ihr den Gebrauch der Wendung NN lRa ... Aj…wr (q) hyh gemein haben, die sonst nirgends im AT zu finden ist, kann entweder bedeuten, daß sie nach und in direkter Abhängigkeit zu 16,14ff. entstanden sind, oder auf eine gleichzeitige Abfassung beider Stücke hinweisen. Da sich m. E. keine weiteren Anhaltspunkte finden, die beiden Episoden darüber hinaus einen hübschen Rahmen um die Erzählungen über Davids Zeit am Königshof legen (der böse Geist bewirkt mittelbar sowohl Davids Einführung bei Hofe als auch seine Flucht) und es schließlich methodisch geraten erscheint, die Zahl der anzunehmenden Textstraten nicht ohne zwingenden Grund zu erhöhen, dürfte die zweite Möglichkeit vorzuziehen sein. Offensichtlich ist dagegen, daß die Szene aus 1 Sam 20, in der Saul im Affekt seinen Speer nach seinem Sohn Jonatan wirft (20,33), als Vorbild für 19,9f. ge–––––––––––––– 79

Dabei ist freilich die begriffliche Unschärfe oder besser theologische Deutungsoffenheit von 19,9f. (ebenso wie von 16,14ff.) in Rechnung zu stellen, die sich daraus ergibt, daß durch die Einführung der hDo∂r MyIhølTa_Aj…wr eine Art Zwischeninstanz zwischen Gott und Mensch etabliert wird, die keine nähere Profilierung erfährt.

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dient hat. Denn 20,33 weist bei deutlich geringerer theologischer Durchformung des Stoffes auffallend viele Züge auf, die auch in 19,9f. (und 18,10f.) begegnen.80 Die Einfügung der V. 9f. bewirkt eine tiefgreifende Veränderung der Figur des Saul. Der König wird aus der Rolle des Bösewichts weitgehend befreit und avanciert zu einem tragischen Charakter.81 Daß er David nachstellt, wird nicht mehr intentional, nicht mehr als Versuch, seine Herrschaft zu sichern, erklärt, sondern vielmehr kausal, als Folge einer rätselhaften, menschlichem Einfluß entzogenen äußeren Macht. Dabei wird wahrscheinlich bewußt offengelassen, wie sich diese hDo∂r MyIhølTa_Aj…wr zu Jhwh und seinem Willen verhält. Zugleich löst die Ergänzung auch eine kleine, aber nicht unbedeutende, mehrfach wiederkehrende erzählerische Schwierigkeit. Dadurch, daß der ‚Geisteszustand‘ Sauls als problematisch geschildert wird, erscheinen die abrupten Stimmungsumschwünge Sauls erstmals plausibel, die in diesem Bereich der AG wiederholt begegnen (vgl. 19,6; 24,17; 26,21; vgl. auch 14,18f.44f.), aber nie eine nachvollziehbare Begründung erfahren. Aufgrund ihrer Zusammengehörigkeit mit 16,14ff. wird man die Ergänzung 19,9f. in die spätpersische Zeit zu datieren zu haben. Der Abschnitt 19,18aa2–20,1a sperrt sich insofern gegen den Geschehensverlauf, wie er sich aus den umliegenden Texten ergibt, als er David, dessen Flucht eigentlich in den Süden führt (vgl. 21,2.11; 22,1; 23,5 usw.), ins nördlich gelegene Rama davonziehen läßt. Allein dieser Umstand legt bereits den Schluß nahe, daß die Erzählung keinen ursprünglichen Bestandteil der AG bildet. Zahlreiche weitere Indizien kommen hinzu: Nirgends innerhalb der AG wird die Episode aufgegriffen oder wenigstens vorausgesetzt. Stattdessen läuft sie unübersehbar der ätiologischen Passage 10,10–12 sowie der Notiz 15,35 engegen. Nirgends sonst gilt Samuel als Haupt einer Gruppe von Prophetenjüngern, und selten wird das Prophetenwesen mit größerer innerer Distanz geschildert als hier. Allerdings fällt es schwer, das entstehungsgeschichtliche Verhältnis dieser Ergänzung zu den übrigen vermutlich sukzessive eingefügten Stücken (19,1b–8; 19,12b; 19,13–18aa1; zu all dem s. u.) zu bestimmen (zu 19,9f. s. o.). In ihrer grundlegenden, gegen Saul gewendeten Ausrichtung, ihrem mokanten Grundton sowie ihrer Machart (1. Anlage: anfangs wiederholtes Scheitern der jeweiligen Boten, zuletzt persönliches Scheitern Sauls; 2. literarischer Charakter: deutliche Parallele 2 Kön 1,9ff.; zu 19,13ff. vgl. Gen 31,19bff.) gleicht sie 19,13ff. Über die Teraphimepisode geht sie aber insofern hinaus, als sie sich nicht damit begnügt, eine der dramatis personae in Opposition zu Saul treten zu lassen. Sie flicht vielmehr mit der handfesten Demütigung des Königs ein Motiv ein, das sich in 19,13ff. so noch nicht –––––––––––––– 80 81

Vgl. ADAM: Saul. S. 137 u. 167. Zum tragischen Zug in der Darstellung Sauls s. auch VON R AD : Theologie (1992), Bd. I. S. 336–340; GUNN: Fate. S. 28–31.115–131.

Auswertung

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findet. Doch auch die Wahl des jeweiligen Charakters, der sich gegen Saul stellt, läßt in *19,18aa2ff. eine Steigerung gegenüber 19,13ff. erkennen. Während sich in der Teraphimerzählung lediglich ein Mitglied der Familie Sauls gegen ihr Oberhaupt wendet, illustrieren die V. *18aa 2ff. die Parteinahme des ‚Königsmachers‘ Samuel und damit in letzter Konsequenz Jhwhs zugunsten Davids. Schon aus dieser Perspektive nimmt sich *19,18aa 2ff. wie eine Fortentwicklung gegenüber 19,13ff. aus. Hinzu kommt noch die wörtliche Wiederholung des V. 14a durch V. 20aa1, die man vielleicht ebenfalls in diese Richtung gehend verstehen darf. Daß *19,18aa2ff. darüber hinaus auch jünger sein dürfte als alle weiteren bislang noch nicht abgehobenen Ergänzungsschichten in Kapitel 19, erschließt sich bei einem Blick auf die Tendenz, die den Fortschreibungsprozeß in diesem Bereich charakterisiert. Wie sich bereits gezeigt hat, bilden die V. 9f. den jüngsten Zusatz in 1 Sam 19. Daraus folgt, daß die Michalepisode *19,11f. Teil des Grundbestandes sein muß, denn der Beginn der Flucht Davids wird nur in 19,9f. und 11f. geschildert. Demgegenüber scheint die Erzählung, die berichtet, wie Jonatan sich bei seinem Vater für David verwendet (V. 1b–8), eine später entstandene Textwachstumsschicht darzustellen (zur Begründung s. u.). Bereits diese textgenetische ‚Momentaufnahme‘ macht deutlich, in welche Richtung der Fortschreibungsprozeß an dieser Stelle strebt: Davids Unschuld und damit die Rechtmäßigkeit seiner späteren Herrschaft sollen dadurch immer deutlicher herausgearbeitet werden, daß zunächst Sauls Tochter, sodann sein erbberechtigter ältester Sohn, d. h. der Thronfolger, und beide schließlich immer entschiedener für David Partei ergreifen. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus folgerichtig, eine vergleichbare Geschichte über Samuel bzw. Jhwh einzufügen, zweifellos stellt dies jedoch (verglichen mit 19,1b–8 und 19,11ff.) schon ein fortgeschrittenes Stadium erzählerischer Reflexion dar. Älter als *19,18aa2ff. ist vermutlich auch die Erzählung von Davids Salbung in *16,1–13. Daß *19,18aa 2ff. nicht früher entstanden sein kann, liegt auf der Hand, denn um einander wiedersehen zu können, müssen sich Samuel und David erst einmal kennengelernt haben. Weil aber die Rolle Samuels und die Wirkung des Geistes in der Salbungsgeschichte ganz anders aufgefaßt sind als in *19,18aa2ff., werden die beiden Episoden kaum aus ein und derselben Feder stammen. Dafür spricht auch die Tatsache, daß 19,24 offensichtlich den Vers 15,35 nicht im Blick hat, der – wie oben unter 3.3.2 gezeigt – genuin mit *16,1–13 zusammengehört. Das legitimatorische Interesse, das aus *19,18aa2ff. spricht, wurde schon erwähnt. Daneben sind jedoch noch mindestens zwei weitere Gründe zu nennen, die zu der Einfügung geführt haben. Zum einen dient die Episode weiterhin dazu, die Salbungserzählung 16,1–13 nachträglich mit einem die Gültigkeit der göttlichen Erwählung bestätigenden Element zu versehen, um sie auf diese Art ihrem literarischen Vorbild *9,1–10,9 + 10,10–12 formal weiter anzugleichen. Zum anderen bezweckt die Erzählung auch eine Korrektur des Saulbildes, wie es 1 Sam

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1 Samuel 19,1–24

9f.* zeichnet. Indem sie eine Erklärung des Sprichworts MyIayIb◊…nA;b l…waDv MÅgSh gibt, tritt sie in direkte Konkurrenz zu 10,11, wo jener ‚Maschal‘ aus einer ganz anderen Situation im Leben Sauls hergeleitet wird. Die nächstältere Ergänzung ist in den V. 13–18aa 1 zu finden. Daß es sich hier tatsächlich um ein nachträglich eingefügtes Textstück handeln dürfte, legt sich deswegen nahe, weil erstens V. 18aa1 eine freie, aber dem Kontext angemessene Wiederaufnahme von 19,12b bildet, und zweitens das hier Berichtete im folgenden nirgends wieder aufgegriffen oder vorausgesetzt wird. Das entstehungsgeschichtliche Verhältnis des Textabschnitts zu anderen Passagen muß mangels geeigneter Anhaltspunkte unsicher bleiben. Es bietet sich, soweit ich sehe, nur eine Möglichkeit, die Episode 19,13ff. mit anderen Teilen des Kapitels, namentlich den V. 1b–8, begründet zu korrelieren: In 19,5 sind drei Formulierungen entdeckt worden, die andernorts häufig mit sogenannten deuteronomistischen Überarbeitungen in Zusammenhang stehen, und zwar oftmals mit solchen Ergänzungen, die bereits von der Forderung der Kultreinheit geprägt sind oder sie zumindest voraussetzen. Darüber hinaus scheint es angesichts des heiklen Themas des Hausgötzen und des analogen Falles von Gen 31, wo das Teraphimmotiv vermutlich nachendredaktionellen Ursprungs ist, am plausibelsten zu sein, für 19,13ff. eine relativ späte, nachdeuteronomistische Entstehung anzunehmen. Nimmt man dies beides zusammen, bleibt nur der Schluß, daß die V. 1b–882 den V. 13–18aa1 voraufgegangen sein müssen. Der Verfasser des Einschubs gibt deutlich seine davidfreundliche Haltung zu erkennen, indem er Michal entschiedener noch als bereits in den V. 11f. für ihren Ehemann eintreten läßt. Sie überlistet nicht allein die Männer, die Saul ausgesandt hat, um David zu ergreifen, sondern schreckt auch nicht davor zurück, dem eigenen Vater ins Gesicht zu lügen. Selbst Personen, die eigentlich ein natürliches Interesse daran haben müßten, Saul zu unterstützen, kommen – so die Botschaft – nicht umhin, aktiv für David Partei zu ergreifen und damit indirekt seine Unschuld zu bestätigen. Daß die Ergänzung zugleich in dem Maße, in dem sie sich für David ausspricht, auch Saul in ein ungünstigeres Licht rückt, liegt in der Natur der Dinge. Dabei sollte man allerdings nicht, wie es bisweilen getan wird,83 die Erwähnung des Hausgottes als ein gegen Saul gerichtetes erzählerisches Detail begreifen. Eine solche Interpretation übersieht, daß es sich bei Michal nicht allein um Sauls Tochter handelt, sondern auch um Davids Ehefrau. Mit dem Teraphimmotiv müßte mithin die Absicht verbunden sein, gleichermaßen Sauls wie –––––––––––––– 82

83

Das gilt selbst dann, wenn – wie sich sogleich nahelegen wird – V. 5 nachträglich in den Abschnitt 19,1b–8 eingeschoben worden sein sollte. Denn ein an deuteronomischen bzw. deuteronomistischen Texten geschulter Schreiber hätte kaum die unverfängliche Jonatanepisode ergänzt und gleichzeitig die anstößige Michalerzählung unkommentiert gelassen. So BUDDE: a. a. O. S. 138; zustimmend HERTZBERG: a. a. O. S. 130.

Auswertung

269

auch Davids Ansehen herabzusetzen. Für eine solche Intention gibt es jedoch in der übrigen AG weder Anhaltspunkte noch Analogiefälle. Zeitlich paßt die Einfügung am besten in die fortgeschrittene Perserzeit. Für eine solche Ansetzung kann einmal die Nähe zu den bis hierher abgehobenen literarischen Straten sowie zu der sehr ähnlichen Bearbeitungsschicht in Gen 31 ins Feld geführt werden. Darüber hinaus paßt eine derart aufgeklärt anmutende Sichtweise, wie sie 19,13ff. zugrundeliegt, auch am besten in eine historische Situation, die von weitgehender politischer Stabilität geprägt ist, die schriftkundigen Jerusalemer Eliten damit zumindest zeitweilig ihrer Existenzängste enthebt und ihnen so erlaubt, religiösen Unterströmungen wie der Teraphimverehrung mit gelassener Ironie zu begegnen. Der nächstältere Einschub liegt in 19,5 vor, wie sich aus zwei Beobachtungen erschließen läßt: Zum einen wiederholt V. 5b (wenn auch in Form einer Frage ausgedrückt) den an Saul gerichteten Appell aus V. 4b, Davids Leben zu schonen, ohne daß der Kontext eine solche Repetition erforderte. Und zum anderen enthält der Vers eine auffällige Häufung von Formulierungen, die sonst vornehmlich in solchen Passagen begegnen, die im weiteren Sinne als deuteronomistisch klassifiziert werden können. Hinzu kommt, daß im Fortgang der Erzählung weder direkt noch indirekt auf V. 5 zurückgegriffen wird, daß jedoch im Vorfeld (V. 4bb) von mehreren nützlichen Heldentaten Davids die Rede ist, während V. 5 nur von einer zu berichten weiß. Neben den V. 1–4.6f. setzt 19,5 auch die Goliaterzählung voraus, und zwar vermutlich in einer Fassung, die noch nicht der Letztgestalt entsprochen haben wird. Der Philister, den David erschlagen haben soll, ist nämlich, wie es aussieht, noch nicht namentlich bekannt. Für die Datierung der Interpolation ist damit freilich nur wenig gewonnen, da der Name Goliat möglicherweise erst sehr spät in die Erzählung 1 Sam 17 eingedrungen ist.84 Die Ergänzung 19,5 erklärt sich am besten als der Versuch, Jonatans kurzer Verteidigung Davids ein wenig mehr Durchschlagskraft zu verleihen. Denn die Behauptung aus V. 4bb, Davids Wirken sei nicht zuletzt auch für Saul von großem Nutzen gewesen, wird in V. 5a untermauert, indem Davids Philistersieg (1 Sam 17*) als Beispiel angeführt wird. Die zeitliche Ansetzung muß aufgrund der spärlich gesäten Anhaltspunkte zwangsläufig recht vage ausfallen. Immerhin setzt der terminologische Befund eine gewisse Vertrautheit mit Texten voraus, die fortgeschrittene Wachstumsstadien repräsentieren und zu einem großen Teil als deuteronomistisch eingestuft werden können, so daß man hier besser nicht früher als ins 5. Jahrhundert datieren wird. –––––––––––––– 84

Vgl. dazu 5.3.2.2.

270

1 Samuel 19,1–24

Die früheste Ergänzung des Kapitels liegt in den V. 1b–2.3*.4*.6–8 vor.85 Sie hebt sich von ihrer Umgebung zwar nur leicht, aber doch erkennbar ab. Erstens kann hier auf den Umstand verwiesen werden, daß sich die kleine Erzählung in formaler Hinsicht zwar wie eine gewöhnliche Retardation ausnimmt, gemessen an der von ihr geschilderten Handlung, dem Gesamtzusammenhang indes eine zweifache Regression einträgt (die V. 7f. führen auf die Situation von 18,30 zurück, die V. 9f. bzw. 11f. setzen wieder bei 19,1a ein). Ein zweites Indiz stellt die Schreibung des Namens Jonatan dar: Während die V. *1b–8 NDtÎnwøh◊y schreiben, begegnet in V. 1a stattdessen die Kurzform NDtÎnwøy. Mit der Feststellung des Nachtragscharakters von *19,1b–8 ist bereits über das relative Verhältnis dieses Abschnitts zur Grundschicht von Kapitel 19 entschieden. Daneben stellte sich oben bereits als wahrscheinlich heraus, daß 18,1 und 18,3f. auf 19,1b zurückblicken.86 Dies impliziert zugleich, das *19,1–8 als Vorbild bei der Abfassung von 1 Sam 20* gedient hat. Denn dort bildet das Vertrauensverhältnis zwischen David und Jonatan den Ausgangspunkt und die wichtigste Verstehensgrundlage der Erzählung (vgl. 20,1bff.). Sehr gut möglich, aber kaum zu beweisen, ist schließlich, daß 19,8 eine etwas jüngere Variation des Zwischenstücks 18,30 darstellt.87 Dies würde immerhin zwanglos erklären, warum 19,8 dieselbe Formulierung wie 18,29 (Infinitiv constructus + l NN Psy) benutzt, anders als 18,29 jedoch das Verb orthographisch korrekt schreibt. Das entscheidend Neue gegenüber dem älteren Zusammenhang besteht darin, daß die Figur des Jonatan nunmehr eine zentrale Funktion erhält.88 War dem –––––––––––––– 85

86 87 88

Eine kleinere Erweiterung hat diese Erzählungen in V. 3 (V. 3aa2 = MDv hD;tAa rRvSa h®dDÚcA;b), zwei weitere vielleicht in V. 4b (einerseits in Form der Apposition dˆw∂dVb in V. 4ba , andererseits in Form des Viertelverses 4b b) erfahren. Bei der Glosse aus 19,3 dürfte es sich um eine nachträgliche Angleichung an die Erzählung 1 Sam 20 in ihrer ältesten Fassung handeln. Man könnte daher versucht sein, sie mit dem Einschub 19,5 in Zusammenhang zu bringen, weil sich hier wie dort Reflexe umliegender Kapitel zeigen. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch darin, daß 19,5 eine konkrete Funktion für die Argumentation Jonatans erfüllt, während bei 19,3aa2 nichts dergleichen auszumachen ist. So gesehen steht V. 4bb dem V. 5 viel näher. Allerdings wird man in bezug auf Vers 19,4bb besser Vorsicht walten lassen, da sich nur spärliche Anhaltspunkte für seine Zuordnung finden. S. o. 5.3.2.4. Der entgegengesetzte Fall, daß 18,30 den Vers 19,8 variiert, ist grundsätzlich ebenfalls denkbar. In der These, daß textgenetisch betrachtet Michals Parteinahme für David verglichen mit dem Eintreten Jonatans für seinen Freund das ältere Motiv darstellt, berührt sich die vorliegende Untersuchung mit den Überlegungen WILLI-PLEINs (Michal. S. 80f.). Ihren weiteren Thesen, vor allem zum Umfang der Grundfassung der AG (vgl a. a. O. S. 80f., Anm. 8; etwas anders in dies.: ISam 18–19. S. 166–168), vermag ich indes, trotz einiger wertvoller Beobachtungen (insbesondere in Hinblick auf die Bedeutung der weiblichen Figuren für den Gesamtzusammenhang von AG und TFG; vgl. dazu auch WILLI-PLEIN: Frauen. 97–115), nicht zu folgen. Äußerst fragwürdig erscheint mir z. B., daß zwar die Originarität der Goliaterzählung wie auch die der Jonatanepisoden im Kontext der AG hinterfragt wird, nicht aber die der Merab- (1 Sam 18,17–19) oder

Auswertung

271

Prinzen ehedem in bezug auf die Entstehung des Konflikts zwischen David und Saul lediglich eine Art Statistenrolle zugewiesen worden (so in 19,1a), so avanciert er jetzt durch jene Einfügung zum Kronzeugen für Davids Unschuld. Jonatans Parteinahme für David ist ja insofern von besonderem Gewicht, als er in seiner Eigenschaft als ältester Sohn des Königs und damit als direkter Thronanwärter allen Grund hätte, das Verhalten seines Vaters gutzuheißen und sich gegen David zu stellen.89 Jontans Zeugnis wird, anders ausgedrückt, dadurch beglaubigt, daß es seinen eigenen vordergründigen Interessen klar zuwiderläuft. Im Vergleich dazu muß sich Michals Einsatz recht unspektakulär ausnehmen, weil hier durchaus auch eigennützige Motive unterstellt werden können. Man wird daher kaum fehlgehen, wenn man hinter der Einfügung von *19,1b–8 die Absicht vermutet, die Unbescholtenheit Davids und mithin die Rechtmäßigkeit seiner nachmaligen Herrschaft deutlicher noch, als bis dahin geschehen, hervorzuheben. Daß der Einschub der Episode für den Erzählverlauf zugleich auch eine spannungssteigernde Retardation bedeutet, dürfte einen willkommenen Nebeneffekt dargestellt haben. Der Zeitpunkt der Ergänzung kann kaum nennenswert eingegrenzt werden, weil dazu schlicht die nötigen Anhaltspunkte fehlen. Zwar greift in *19,1b–8 die ansonsten beinahe allgegenwärtige Tendenz der Theologisierung der Stoffe offensichtlich keinen Raum, was eine Entstehung im 6. oder gar 7. Jahrhundert denkbar erscheinen läßt, doch ist in Rechnung zu stellen, daß es sich hierbei lediglich um ein argumentum e silentio handelt, das als solches zusätzlicher Absicherung bedarf.

7.3.2

Die Grundschicht von 1 Sam 19

Für die Grundschicht des Kapitels verbleiben allem Gesagten zufolge lediglich die V. 1a.11f., d. h. es bleibt im wesentlichen die kleine Szene übrig, in der Michals Fluchthilfe geschildert wird. Ursprünglich dürfte diese Episode ihre Fortsetzung in 22,1ff. gefunden haben. Dieser Schluß legt sich zumindest nahe, wenn man die Probe aufs Exempel macht und prüft, wie der Erzählfaden, von 19,12b ausgehend, in der ältesten Fassung weitergelaufen sein könnte. Hierbei zeigt sich

–––––––––––––– 89

der Abigajilgeschichte (1 Sam 25). Vgl. auch das in den Anm. 263 (Kap. 5) und 46 (Kap. 6) Gesagte. Die von MORGENSTERN (David. S. 324f.) vertretene These, David sei aufgrund seiner Ehe mit der Tochter Sauls „the natural successor to his father-in-law in the kingship over Israel“ gewesen, steht insofern auf tönernen Füßen, als sie die textgenetischen Strukturen der Kapitel 1 Sam 18–20 vollkommen unberücksichtigt läßt.

272

1 Samuel 19,1–24

nämlich, daß sich nirgends eine adäquate Alternative zu dem Übergang 19,12b / 22,1* bietet.90 Die Intention des Verfassers dürfte sich im wesentlichen darin erschöpfen, David einen raschen, komplikationslosen Abgang zu verschaffen. Michal warnt zwar ihren Ehemann und ist ihm auch bei seiner Flucht behilflich, insgesamt wird ihrer Initiative aber nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das deutet m. E. darauf hin, daß das Problem der Legitimation Davids hier offensichtlich noch keine Rolle spielt, das – wie gezeigt – in der weiteren Textgeschichte von 1 Sam 19 wiederholt angegangen wird, indem man nacheinander die Figuren Jonatan, Michal und Samuel jeweils eindeutig für David Partei ergreifen und sogar die Konfrontation mit Saul wagen läßt. Auch an der Figur des Jonatan hat die Grundschicht kein echtes Interesse. Er fungiert in der kleinen Szene 19,1a, in der Saul seine Mordabsichten offenbart, lediglich als Statist.91 Wie wenig dem Autor auch an einer detaillierten Schilderung der Flucht Davids vom Hofe Sauls liegt, geht daraus hervor, daß die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Handlungsschritten meist nur angedeutet werden und das Ganze auf diese Weise einen ausgesprochen unanschaulichen Charakter erhält.92 Den erzählerischen Zielpunkt der V. 1a.11.12a bildet Davids Ankunft in Adullam und sein anschließender Aufstieg zum Anführer einer Freischar (22,1f.). Für einen Datierungsversuch bieten sich nur spärliche Ansatzpunkte: Neben dem Fehlen jeglicher Anzeichen für eine theologische Interpretation des Geschehens deutet vielleicht auch die Schreibung des Namens Jonatan in seiner im Bereich der AG nur hier belegten Kurzform NDtÎnwøy auf eine relativ frühe, also möglicherweise im 7. Jahrhundert anzusiedelnde Entstehung hin. Denn jene orthographische Konvention scheint ursprünglich im Nordreich gepflegt worden zu sein, während man im Südreich die längere Variante NDtÎnwøh◊y vorzog. Da Israel als Staat 720 v. Chr. unterging, zugleich die Ausmaße Jerusalems unter der Herrschaft Hiskias deutlich zugenommen zu haben scheinen, nimmt man heutzutage meist einen durch den Fall Samarias ausgelösten Zuzug israelitischer Bevölke–––––––––––––– 90 91

92

Zu den einzelnen Möglichkeiten und ihren Nachteilen s. o. 7.2 zu 19,12. Zur präzisen Bestimmung des Übergangs s. v. a. Anm. 43 (Kap. 7). Weitere Argumente dafür, daß das Motiv der Rettung durch Michal älter ist als das des Einsatzes Jonatans für seinen Freund, benennt WILLI-PLEIN: a. a. O. S. 159. Anders KAISER (David. S. 289 und passim), doch verfährt er in seiner textgenetischen Rekonstruktion derart gewaltsam, daß seine These kaum Anspruch auf Wahrscheinlichkeit erheben kann. Zur Erinnerung seien noch einmal drei Fragen aufgeführt, die in der Darstellung weitgehend offen bleiben: a) Wieso wartet Saul mit dem Anschlag bis zum Morgen (V. 11a)? b) Wie erfährt Michal von den Plänen ihres Vaters (V. 1a.11b)? c) Weshalb genügt es, David aus dem Fenster abzuseilen, um Sauls Häscher zu überlisten (V. 12a)? – Die Folgerung KAISERs (David. S. 283f., Anm. 11), aufgrund dieser unklaren Details müsse die Anekdote sekundär sein, ist übereilt und bedürfte einer eingehenden Begründung, die KAISER indes unterschlägt.

Auswertung

273

rungsgruppen93 an und kann dann vor diesem Hintergrund das Eindringen literarischer Werke aus dem Nordreich (wie etwa der Saulerzählungen 1 Sam *9–14) in die judäischen Schriftkorpora verstehen.94

–––––––––––––– 93

94

Vgl. etwa ALBERTZ: Religionsgeschichte. S. 280f.; BECKER: Staatsreligion. S. 11; FINKELSTEIN / SILBERMAN: David. S. 123–126; dies.: Posaunen. S. 263–267; KRATZ: Komposition. S. 319; grundlegend AVIGAD : Jerusalem. S. 31–60; B ROSHI: Expansion. S. 21–26. Angezweifelt wird diese Erklärung des plötzlichen Anwachsens des Stadtgebiets von Jerusalem während des 7. Jahrhunderts u. a. von KNAUF: Rezension zu KRATZ: Komposition. S. 625. S. dazu aber auch die ausgewogene Stellungnahme von FISCHER: a. a. O. S. 281f. So z. B. ganz explizit DIETRICH: Königszeit. S. 219.

8 8.1

1 Samuel 20,1–21,1 Einleitende Betrachtung

Mit dem Text 1 Sam 20 richtet sich der Blick (wie bereits in den Kapiteln 15 und 17) erneut auf eine Erzählung, die in ihrem Umfang ziemlich genau mit den Kapitelgrenzen zusammenfällt. Es handelt sich, anders ausgedrückt, nicht um eine Gruppe kleinerer, mehr oder minder lose miteinander verbundener Einzelepisoden, wie dies etwa in 1 Sam 16 und 18f. der Fall ist, sondern um einen großen Geschehenszusammenhang oder Erzählbogen, der in 20,1 anhebt und erst in 21,1 zum Abschluß kommt. Die Abgrenzung des Textabschnitts fällt daher vergleichsweise leicht, ergibt sich umgekehrt aber auch daraus, daß in 19,24 das kleine Erzählstück über Davids Flucht zu Samuel (19,18ff.) endet, von dem aus 20,1a kurz zur neuen Handlung überleitet, sowie daraus, daß ab 21,2 wiederum etwas Neues, nämlich die Schilderung der Flucht Davids zu den Priestern von Nob, beginnt. Die Geschichte 1 Sam 20 erzählt, wie Jonatan mit Hilfe einer zuvor ersonnenen List Sauls wahre Absichten gegenüber David ans Licht bringt, sich aufgrund dessen mit seinem Vater überwirft und seinem Freund David zur Flucht verhilft. Der gedankliche Fortschritt zu den Erzählungen aus den Kapiteln 18 und 19 besteht dabei vor allem darin, daß nunmehr auch Sauls Sohn die finsteren Absichten seines Vaters endgültig durchschaut und es darüber zum offenen Bruch zwischen König und Kronprinz kommt. Die Leserin bzw. der Leser ist sich dagegen bereits seit 18,17–19; 18,20ff. völlig im klaren darüber, was Saul im Schilde führt. Ebenso wissen David und Michal (seit 19,11ff.) sowie Samuel (seit 19,18ff.) Bescheid, die zugleich auch schon eindeutig und endgültig für David Partei ergriffen haben. Insofern endet mit 1 Sam 20,1–21,1 ein wichtiger Erzählschritt: ein letztes Mal schlägt sich hier eine der zentralen Figuren bewußt1 auf Davids Seite und bezieht Stellung gegen den König.

–––––––––––––– 1

Demgegenüber stellt die Episode 21,2–10 (mit dem Nachspiel in Kapitel 22) etwas vollkommen Neues dar, weil sich David hier die Hilfe des Priesters Ahimelech sichert, indem er sich einiger Notlügen bedient (vgl. 21,3.5f.9). Die Priesterschaft von Nob ergreift also nicht etwa Partei, sondern gerät ganz ohne eigenes Zutun zwischen die Fronten und wird zum ersten Opfer des Konflikts. Zugleich wird aber auch nicht zu erwähnen vergessen, daß Ahimelech noch im Angesicht des drohenden Todes versucht hat, Fürsprache für David einzulegen (22,14).

Untersuchung

8.2

275

Untersuchung

Die Erzählung nimmt sich auf den ersten Blick wie eine weitgehend geschlossene Einheit aus. Lediglich der endgültige Abschied der Freunde in den V. 40–42 konterkariert unübersehbar alle zuvor von ihnen getroffenen Vorsichtsmaßnahmen (V. 18–22.24.35–39) und fügt sich daher dem Ganzen nur äußerst widerstrebend ein. Charakteristisch für den Text sind seine zahl- und z. T. auch recht umfangreichen Dialog- bzw. Gesprächsszenen (V. 1b–15.18–23.(26b).27b–32.36–38. 40.42). Der Erzähler setzt bei seiner Leserschaft vor allem dreierlei als bekannt voraus:2 a) David als Inhaber einer privilegierten Stellung am Königshofe, b) sein freundschaftliches Verhältnis zu dem Prinzen Jonatan sowie c) einen handfesten Anlaß, der ihn an den lauteren Absichten des Königs Saul seiner Person gegenüber zweifeln läßt. Die ersten zwei dieser Voraussetzungen teilt der Text mit der Episode 1 Sam 19,1–7, die sich auch durch die Ähnlichkeit der Story als Dublette zu 1 Sam 20,1–21,1 zu erkennen gibt. Die Handlung vollzieht sich in zwei großen Schritten (A und B), die man für eine erste Gliederung der Geschichte heranziehen kann. Nimmt man die nötigen weiteren Unterteilungen vor, so ergibt sich folgendes Bild: 20,1–23 20,1–3 20,4–9

A: Das Problem und die Entwicklung des Plans Das Problem: Trachtet König Saul David nach dem Leben? Der erste Teil des Plans: Jonatan soll die Absichten seines Vaters ergründen 20,10–23 Der zweite Teil des Plans: Jonatan soll David ggf. heimlich warnen 20,10f. Erneutes Problem: Wie kann David ggf. unbemerkt gewarnt werden? 20,12–17 Der Bundesschluß zwischen David und Jonatan (‚zweiter Bund‘) 20,18–23 Jonatan entwirft den zweiten Teil des Plans, Abschied der Freunde 20,24–21,1 20,24–34 20,35–39

B: Die Durchführung des Plans Jonatan stellt seinen Vater auf die Probe Jonatan warnt David auf vereinbarte Weise

20,40–21,1

Zweiter Abschied der Freunde, Flucht Davids

–––––––––––––– 2

Zu den unscheinbareren, weniger bedeutenderen vorausgesetzten Informationen s. u.

276

1 Samuel 20,1–21,1

Der Vers 20,1 macht für sich genommen einen sehr geschlossenen Eindruck und enthält keine nennenswerten sprachlichen oder textlichen Besonderheiten.3 Die erste Hälfte des Verses reiht sich in eine Gruppe ähnlich formulierter4 Sätze ein, die allesamt von einem Aufbrechen Davids zur Flucht vor Saul sprechen (19,10b.12b.18aa; 21,1a.11a; in bezug auf Achisch auch noch in 22,1a). Infolgedessen nimmt sich die zweite Hälfte des Verses hinter der ersten nicht besser aus als im Anschluß an 19,10b oder 12b. Diese Möglichkeit ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil die Erzählung 1 Sam 20,1–21,1 mit Ausnahme des V. 1a keinerlei Kenntnis der Episode 19,18ff. verrät. Was 20,1b dagegen zwingend voraussetzt, ist eine Notiz, die das Motiv der Freundschaft zwischen Jonatan und David einführt, denn ohne eine solche bliebe unverständlich, weshalb David ausgerechnet dem Königssohn seine Befürchtungen anvertraut. 19,1b oder 18,1 oder 18,3 wird also als bekannt vorausgesetzt. In V. 2 versucht Jonatan, die Ängste seines Freundes zu beschwichtigen, indem er darauf hinweist, daß sein Vater ihn in alle wichtigen Entscheidungen miteinzubeziehen pflege und er folglich von derartigen Mordabsichten wissen müßte, so es sie gäbe.5 Ein solch enges Verhältnis zwischen König und Kronprinz, wie Jonatan es hier beschreibt, wird vor Kapitel 20 allein in 19,1a angedeutet.6 Auch V. 3 blickt möglicherweise in diese Richtung, wenn er davon spricht, daß David ‚Gunst in den Augen Jonatans gefunden habe‘. Schon 19,1b drückt ja mit Hilfe der Wurzel (q) Xpj Jonatans Wohlwollen gegenüber David aus; natürlich könnten stattdessen (oder zugleich) auch 18,1 oder 3 im Hintergrund stehen. Die LXX bietet zwar eine ganze Reihe von Varianten, ist aber allenfalls in bezug auf

–––––––––––––– 3

4 5

6

Lediglich die Schreibung twwn weicht von den Gepflogenheiten aus 19,18–24 ab, könnte aber aufgrund der graphischen Ähnlichkeit von w und y ohne weiteres auf einen bloßen Kopierfehler zurückgehen. Folgende Verben werden dabei wiederholt gebraucht: (q) jrb, (ni) flm, (q) Mwq und (q) Klh; einzig (q) swn begegnet nur in 19,10. In V. 2aa ist statt des hDcDo_wøl im MT mit dem Qere und in Anlehnung an die Lesart der LXX hRcSoÅy_aøl zu lesen; vgl. etwa BUDDE: a. a. O. S. 140; STOEBE: a. a. O. S. 373, Anm. 2 b). Im übrigen ist die griechische Fassung an dieser Stelle jedoch alles andere als vertrauenserweckend: Der Name Iwnaqan ist genauso hinzugefügt wie das soi im Anschluß an mhdamw◊ß / hDlyIlDj, und zwar beides wohl, um den Text stilistisch zu glätten. Dagegen ist das hebräische yˆ…nR;mIm möglicherweise schlichtweg unter dem Eindruck des Suffixes der 1. Sg. in yIbDa übersehen worden. Es steht freilich auch in 1 Sam 13f. im Hintergrund. Von taktischen oder anderen Absprachen verlautet dort allerdings kein Wort – im Gegenteil: Ein zentraler Gedanke von Kapitel 14 besteht gerade darin, daß Saul und sein Sohn jeweils auf eigene Faust handeln (vgl. 1 Sam 14,1.24 und 27).

Untersuchung

277

das erste Verbum des Verses dem MT vorzuziehen.7 Dementsprechend ist hier wahrscheinlich dwøo bRvÎ¥yÅw anstelle von dwøo oAbDÚvˆ¥yÅw zu lesen.8 Die Entscheidung zwischen den beiden vorgeschlagenen Lesarten fällt nicht leicht. Vor allem zwei Punkte verdienen besondere Aufmerksamkeit: a) Es läßt sich kein nachvollziehbarer Grund dafür angeben, warum die Schöpfer der LXX oder ihrer Vorlage hier absichtlich den Text hätten verändern sollen. Denn der Ausdruck ‚antworten / entgegnen‘ fällt ja deutlich hinter den des ‚Schwörens‘ im MT zurück. Man müßte hier also einen Lese- bzw. Kopierfehler annehmen, um die masoretische Lesart als ursprünglicher herauszustellen. Demgegenüber nimmt sich die entgegengesetzte Vermutung, derzufolge der MT hier ein fortgeschrittenes Textstadium widerspiegelt, sehr viel plausibler aus. Denn eine Steigerung des Ausdrucks ist natürlich der zu erwartende Fall, zumal der folgende Text reich an Schwurformeln u. dgl. ist. So betrachtet erscheint also die Priorität der LXXLesart als wahrscheinlicher. b) Die Formulierung dˆw∂;d dwøo bRvÎ¥yÅw ist im AT ohne direkte Entsprechung, lediglich eine Handvoll Stellen bezeugen einen ähnlichen Sprachgebrauch. Im Regelfall wird die Wendung NN tRa rDb∂;d byIvEh gebraucht, wobei das Wort rDb∂;d und das Akkusativobjekt, mit dem das Gegenüber des Sprechenden bezeichnet wird, die Positionen wechseln können (vgl. etwa 1 Kön 12,6.9.16). Bisweilen kann auf das rDb∂;d verzichtet werden (Jes 41,28; Ez 9,11; Spr 18,13; 24,26; 2 Chr 10,16) oder auf die Bezeichnung des Gesprächspartners mit Hilfe der nota accusativi (z. B. Gen 37,14; 2 Sam 24,13; 2 Chr 10,6), als vollgültiges Intransitivum begegnet das Verbum dagegen nie. Aus dieser Perspektive nimmt sich die MT-Lesung deutlich vorteilhafter aus. So ergibt sich eine argumentative Pattsituation, die auch nicht durch den Hinweis auf V. 3b aufzulösen ist. Denn die Tatsache, daß David sich in 20,3b einer Schwurformel bedient, belegt keineswegs, daß in V. 3a von jeher an (ni) obv gedacht war, der Schwur Davids könnte ebensogut auch der Auslöser für eine Bearbeitung des ersten Halbverses gewesen sein. Auch das sprachgeschichtliche Argument, aufgrund der relativen Jugend der Formulierung (dwøo) bRvÎ¥yÅw ihre Ursprünglichkeit im Kontext von 1 Sam 20* auszuschließen, ist nicht stichhaltig, da es stillschweigend ein hohes oder zumindest höheres Alter des Textstücks voraussetzt – genau das aber ist erst noch zu untersuchen.9 Für die Gewichtung der beiden oben genannten Hauptargumente erscheint mir wesentlich zu beachten, –––––––––––––– 7

8

9

Zu den übrigen textkritischen Problemen vgl. BUDDE: a. a. O. S. 140 (der allerdings unnötigerweise erwägt, ob das hebräische oAcRpVk mit dem Speerwurf aus V. 33 in Verbindung zu bringen sei); zu 20,3bg im Verhältnis zum griechischen Text vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 114f. So u. a. BUDDE: a. a. O. S. 140; HERTZBERG: a. a. O. S. 131, Anm. 2; WELLHAUSEN: a. a. O. S. 114. Anders beispielsweise BARTHÉLEMY: a. a. O. S. 194f. DRIVER: a. a. O. S. 160 und 89; STOEBE: a. a. O. S. 373, Anm. 3a). Gegen DRIVER: a. a. O. S. 160; weiter unten wird sich sogar zeigen, daß man sich bei der Datierung der ältesten Fassung von Kapitel 20 durchaus in zeitlicher Nähe zur Abfassung von 2 Chr 10,16 bewegt.

278

1 Samuel 20,1–21,1

daß das Kapitel an mindestens drei weiteren Stellen Ausdrücke bzw. Wendungen aufweist, die nur sehr wenige oder gar keine unmittelbare Parallelen im AT haben.10 Daher ist m. E. bei aller gebotenen Vorsicht die durch die LXX nahegelegte Lesung dˆw∂;d dwøo bRvÎ¥yÅw vorzuziehen. Mit Jonatans Frage aus V. 411 wird zu 20,5 übergeleitet, wo David beginnt, seinen Plan vor dem Freunde auszubreiten; die folgende Rede Davids erstreckt sich bis zum Ende von V. 8. Der Text der LXX weicht darin vom MT ab, daß er zum einen in V. 5ab eine Negation aufweist, zum anderen aber am Versende kein Gegenstück zum hebräischen tyIvIlVÚvAh enthält. Die zweite Variante wird gemeinhin für ursprünglich gehalten,12 worauf auch in der Tat alles hindeutet: Zum einen ist die Formulierung tyIvIlVÚvAh b®rRoDh grammatikalisch unmöglich, da das Substantiv, ein Maskulinum, und das Adjektiv, ein Femininum, in bezug auf ihr Genus nicht miteinander kongruieren. Zum anderen läßt sich schwerlich erklären, wieso ein Bearbeiter / Übersetzer das Adjektiv hätte streichen bzw. unberücksichtigt sein lassen sollen; die Scharte der grammatikalischen Inkongruenz hätte man leichthin durch das Fortlassen des t auswetzen können oder durch die Formulierung einer kongruenten Verbindung im Griechischen. Dagegen leuchtet unmittelbar ein, was mit dem Einschub des Wortes im hebräischen Text bezweckt worden sein könnte: Indem bereits David den dritten Abend als Zeitpunkt der nächsten Zusammenkunft anvisiert,13 gewinnt die Erzählung, was ihren Ablauf anbelangt, weiter an innerer Geschlossenheit; überdies wird auf diese Art noch deutlicher, daß David als spiritus rector bei dem Unternehmen zu gelten hat. Schließlich darf auch nicht übersehen werden, daß sich ‚der dritte Abend‘ als Terminvorschlag zwar aus dem Fortgang der weiteren Erzählung erklärt, bei der es tatsächlich erst am dritten Tag zur Rückkehr Jonatans kommt, nicht aber aus der konkreten Situation Davids in V. 5, weil dieser von der Verzögerung, die sich durch das in 20,26 Berichtete ereignet, ja noch nichts ahnen kann. Aus all dem erhellt, daß das Wort tyIvIlVÚvAh nicht vom Verfasser der Geschichte stammt, sondern eine späte Glossierung darstellt.

–––––––––––––– 10 11 12

13

S. u. zu den V. 16a, 16b und 22a; die weitere Untersuchung wird zudem ergeben, daß diese drei Verse auf jeweils unterschiedlichen Straten liegen. Die LXX versucht, die Satzstruktur etwas transparenter zu gestalten, indem sie den hebräischen Interrogativsatz zu zwei analogen Fragen umformt. Vgl. etwa BARTHÉLEMY: a. a. O. S. 196; BUDDE: a. a. O. S. 141; S. R. DRIVER: a. a. O. S. 161f.; HERTZBERG: a. a. O. S. 132, Anm. 1; WELLHAUSEN: a. a. O. S. 115; offensichtlich anders, aber reichlich unentschlossen S TOEBE : a. a. O. S. 373, Anm. 5 c). G. R. DRIVER (Problems. S. 176) ignoriert das Problem leider und hält sich schlicht an den MT. Nur auf diese Weise ist es möglich, in 1 Sam 20 eine spannungsfreie chronologische Ordnung zu erkennen, wie er es versucht (vgl. a. a. O. S. 175–177). In V. 12 und wohl auch in V. 19 ist es Jonatan, der diesen Termin aufs Tapet bringt.

Untersuchung

279

Dagegen dürfte die erste Variante, die Negation, ein Interpretament der griechischen Übersetzer sein, denn der MT bildet unzweifelhaft die schwierigere Lesart, ohne deshalb aber einen schlechteren Sinn zu ergeben.14 V. 6 schließt nahtlos an den vorausgegangenen Vers an, indem er den Plan weiter ausführt und dabei zum Kern des Vorhabens kommt: zu der List, mit der Sauls wahre Absichten ans Licht gebracht werden sollen. Das Motiv des MyImÎ¥yAh jAb‰z, das im Familienkreise begangen wird, wird in V. 28f. wieder aufgegriffen und erinnert an die Erzählung von Davids Salbung durch Samuel (15,35–16,13), bei der der Prophet ebenfalls aus Sorge um sein Leben ein Opferfest in Bethlehem vortäuscht (16,2f.) und sich unter dem Schutze dieses Vorwandes zur Familie des Isai begibt.15 In V. 7 erklärt David seinem Freund den letzten Teil seiner List, indem er ihm auseinandersetzt, aus welcher Reaktion Sauls er welchen Schluß zu ziehen habe; der Vers scheint also untrennbar mit den zwei voraufgegangenen zusammenzugehören. Genaugenommen gilt dies aber allein für V. 7b16, der die ungünstige Alternative nennt, weil er im folgenden (V. 30.33) tatsächlich vorausgesetzt wird, während der in der ersten Vershälfte bedachte Fall weder eintritt noch auf irgendeine andere Weise Bedeutung erlangt. Man kommt zudem kaum umhin, den Sinn von 20,7a zu hinterfragen. Daß nämlich ein Wutausbruch Sauls, der sich auf Davids Ausbleiben gründet, auf finstere Absichten des Königs schließen läßt, ist durchaus nachzuvollziehen. Doch daß es nachgerade ein Beweis für die Lauterkeit der Gesinnung Sauls sein soll, wenn dieser Davids Abwesenheit ohne nennenswerte Reaktion quittiert, vermag nicht recht einzuleuchten. Hinzu tritt noch eine dritte Beobachtung, die ebenfalls für den Nachtragscharakter von 20,7a spricht: In der gesamten Dialogszene 20,1b–6 haben David und Jonatan miteinander wie Gleichgestellte geredet und einander direkt, in der 2. Person Sg. angesprochen, erst in V. 7a verfällt David dem Freund gegenüber in eine höfisch anmutende Sprache, indem er sich selbst in der 3. Person Sg. nennt und als Knecht Jonatans bezeichnet. Derselbe Sprachgestus begegnet in V. 8. Hinzu kommt noch eine leicht sentimentale Note, die von Davids Behauptung herrührt, lieber durch des Freundes Hand sterben zu wollen als an Saul ausgeliefert zu werden. Dies wie auch der –––––––––––––– 14

15

16

Gegen WELLHAUSEN: a. a. O. S. 115. Daß David „zur täglichen und stehenden Tischgesellschaft Sauls gehört“ (ebd.), also nicht nur zu feierlichen Anlässen mit Saul speist, geht aus V. 25ff. nirgends hervor. Richtig dagegen u. a. BUDDE: a. a. o. S. 141. Wenn die LXX in ihrer Vorlage tatsächlich in V. 6ba zwischen X…wrDl und MRjRl_tyE;b die Präposition dAo vorgefunden haben sollte (so WELLHAUSEN: a. a. O. S. 115) und nicht etwa selbständig in ihrer Übersetzung eºwß ei˙ß ergänzt hat, so wird es sich dabei um einen nachträglichen stilistischen Verbesserungsversuch bzw. eine sprachliche Angleichung an V. 28 handeln. Abweichend vom Wortlaut des MT lautet V. 7ba in der LXX kai« e˙a»n sklhrw◊ß aÓpokriqhvØ soi. Dahinter dürfte aber eine sekundäre stilistische Angleichung an V. 10b stehen, vgl. WE LLHAUSEN: a. a. O. S. 115.

280

1 Samuel 20,1–21,1

Umstand, daß David in V. 8 recht abrupt das Thema wechselt und um Gnade fleht, setzt den Vers klar von 20,7b ab. Deutlich zu erkennen ist ferner, daß 20,8 auf den ‚ersten‘ Bundesschluß (18,3f.) zurückblickt,17 denn David beruft sich auf eine tyîrV;b, die zwischen ihm und Jonatan bestehe. Angesichts der Tatsache, daß in 20,(12–)16a ebenfalls von einem Bundesschluß zwischen David und Jonatan berichtet wird, ist der Versuch AULDs und H O s verständlich, V. 8ab mit jenem ‚zweiten‘ Bundesschluß in Verbindung zu bringen. Ihre Argumentation vermag indes kaum zu überzeugen: Zunächst postulieren sie, in V. 8ab (JKD;mIo ÔKV;dVbAo_tRa DtaEbEh hÎwh◊y tyîrVbI;b yI;k) gehe es nicht um einen schon vollzogenen Bund, sondern um „being brought into a covenant still to be made rather than already made“18; der Vers selber wird dabei nicht näher in Augenschein genommen. Sodann werden die Passagen 20,12–17 und 23,17f. als zwei Seiten ein und derselben Medaille gedeutet. Während in 1 Sam 20,12ff. der Inhalt des Bundes ausgebreitet, noch nicht aber von tyîrV;b gesprochen wird, fällt dann in 1 Sam 23,17f. dieser Begriff, ohne daß aber die Bundesverpflichtungen noch einmal hergezählt werden müssen. „These two episodes therefore complement each other and both relate the making of a covenant“19. Diese Folgerung, daß die beiden Stellen ein und denselben Bundesschluß meinen, ist für die zwei Exegeten insofern von großer Bedeutung, als sie ihnen zwei weitergehende Schlüsse ermöglicht: a) 20,8a kann auf 20,12ff. vorverweisen, weil dort tatsächlich – nämlich im Zusammenspiel mit 23,17f. – ein vollgültiger Bundesschluß geschildert wird; b) 18,3f. erscheint demgegenüber unvollständig, der Erläuterung durch 20,12ff. und 23,17f. bedürftig, folglich am Anfang von Kapitel 18 fehl am Platze und somit wahrscheinlich nachgetragen, zumal auch das Motiv der hDbShAa zwischen David und Jonatan hier wie dort begegne (vgl. 18,1.3 und 20,17), in 20,17 allerdings viel natürlicher wirke. Gegen Folgerung a) spricht zunächst die Tatsache, daß mit dem Erweis der Möglichkeit eines Sachverhaltes noch nichts über dessen Wahrscheinlichkeit ausgesagt ist. Zudem bedarf die Differenzierung zwischen NN MIo tyîrV;b (q) trk (im Sinne von: ‚einen Bund schließen mit jemandem‘) und NN tRa tyîrVbI;b (hi) awb (im Sinne von: ‚jemanden in ein – ggf. noch nicht endgültig fixiertes – Bundesverhältnis führen‘20) einer eingehenden Begründung. Denn sehr viel wahrscheinlicher ist m. E., daß beide Formulierungen ungefähr dasselbe besagen wollen.21 Was die –––––––––––––– 17 18 19 20

21

Vgl. Anm. 218 (Kap. 5). AULD / HO: Making. S. 35. Ebd. Allein der Umstand, daß AULD und HO selbst keinen konkreten Übersetzungvorschlag zu der fraglichen Formulierung ... tyîrVbI;b (hi) awb liefern, sondern sich offensichtlich gezwungen sehen, den Sinn von V. 8a vergleichsweise umständlich zu erläutern, läßt bereits das Problem erahnen. Vgl. hierzu den synonymen Parallelismus membrorum in Ez 17,13: hDlDaV;b wøtOa aEbÎ¥yÅw tyîrV;b wø;tIa tOrVkˆ¥yÅw; zu der Formulierung vgl. ferner Jer 34,(8–)10; Ez 16,8; Sir 44,20.

Untersuchung

281

Folgerung b) anbelangt, ist vor allem darauf hinzuweisen, daß sich an keiner der beiden betreffenden Stellen (20,12ff.; 23,17f.) auch nur eine einzige Andeutung auf der Erzählebene findet, der jeweilige Bund sei noch unvollkommen und bedürfe einer Ergänzung. Vielmehr wollen beide Episoden als je eigenständiger Bundesschluß verstanden werden, und dasselbe gilt dementsprechend auch für 18,3f. Weder bedarf die Wurzel (q) trk des Substantivs tyîrV;b, um einen Vertragsschluß zu bezeichnen,22 noch verlangt die Erwähnung eines Bundesschlusses eine Auflistung der aus diesem Verhältnis resultierenden Pflichten (vgl. etwa 2 Sam 5,3). Wenn dennoch jeder der drei Bundesschlüsse sein eigenes Gepräge hat und damit Aspekte aufweist, die den anderen beiden fehlen, so deutet das auf Ursachen hin, die in der Entstehungsgeschichte der Texte begründet liegen. Interessant an dem Rückbezug von 20,8 auf 18,3f. ist, daß die Ausdrucksweise NN tRa tyîrVbI;b (hi) awb, die der Vers in bezug auf den Bundesschluß zwischen David und Jonatan verwendet, nirgends sonst in diesem Zusammenhang benutzt wird.23 Auch der Begriff hÎwh◊y tyîrV;b ist keineswegs gewöhnlich. Zwar findet er sich im AT insgesamt recht häufig, allerdings zumeist in der Verbindung hÎwh◊y_tyîrV;b NwørSa. Nur an sieben, überwiegend jungen Stellen begegnet er für sich, und unter diesen verwendet ihn allein 1 Sam 20,8 für ein Bundesverhältnis zweier Menschen vor Gott.24 Innerhalb der Samuelbücher stehen ihm der Ausdruck hÎwh◊y tAoUbVv (2 Sam 21,7)25 sowie die Rede vom Bundesschluß hÎwh◊y y´nVpIl (1 Sam 23,18; 2 Sam 5,3 [par. 1 Chr 11,3])26 am nächsten, die ebenfalls in relativ jungen literarischen Zusammenhängen stehen. Was 2 Sam 21,7 angeht, so ist schon seit langem erkannt, daß die Kapitel 2 Sam 21–24 sekundär eingeschaltet worden sein dürften.27 Allerdings gehen die Meinungen darüber auseinander, wann 2 Sam 21,1–14 eingesetzt wur–––––––––––––– 22 23

24

25 26

27

Vgl. KBL3, Art. trk, S. 476; Ges.18, Art. trk, S. 575. 18,3: tyîrV;b (q) trk; 20,16a: NN MIo (q) trk; 22,8: NN MIo (q) trk; 23,18: tyîrV;b (q) trk; vgl. auch 20,17.23.42 und 2 Sam 21,7. Zu den wenigen Entsprechungen, die sich im AT zu der in 20,8a verwendeten Formulierung finden, vgl. Anm. 21 (Kap. 8). In den übrigen sechs Fällen meint er das Verhältnis zwischen Jhwh und seinem Volk: Dtn 4,23; 29,11.24; Jos 7,15; 23,16; Jer 22,9. Vgl. zur ersten Orientierung in Hinblick auf die jeweiligen entstehungsgeschichtlichen Verhältnisse KRATZ: Komposition. S. 130–135.206–208.209. Vgl. zu den Dtn-Stellen auch VEIJOLA: ATD 8,1. S. 102f. Zu Jos 7,15 vgl. auch MÜLLER: Königtum. S. 234. Zu Jer 22,9 vgl. FISCHER: HThKAT 17.1. S. 674; MCKANE: ICC 17.1. S. 520–522. Der Ausdruck ist daneben nur noch in Ex 22,10 und 1 Kön 2,43 belegt. In Verbindung mit einem Bundesschluß begegnet die Formulierung sonst nur noch in 2 Kön 23,3 (par. 2 Chr 34,31), d. h. in einem nachgerade ‚klassisch‘ zu nennenden deuteronomistischen Stück (vgl. WÜRTHWEIN: ATD 11,2. S. 454), sowie – etwas abgewandelt durch ihre Plazierung in einer Gottesrede und das dadurch bedingte Ausbleiben des Tetragramms – in Jer 34,15.18 (zur historischen Situierung des Kapitels vgl. etwa das vorsichtige und doch deutliche Fazit von FISCHER: HThKAT 17.2. S. 261). Vgl. etwa WELLHAUSEN: Composition. S. 260f.; DIETRICH / NAUMANN: a. a. O. S. 157; KRATZ: Komposition. S. 180.192; v. a. auch den guten Überblick über die ältere Literatur bei VEIJOLA: Dynastie. S. 106.

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1 Samuel 20,1–21,1

de: VEIJOLA etwa denkt an die früheste deuteronomistische Bearbeitung,28 K RATZ und selbst N OTH gehen von späteren Ergänzern aus.29 Die entstehungsgeschichtlichen Verhältnisse können hier nicht im einzelnen beleuchtet werden. Beachtung verdient immerhin noch der Umstand, daß 2 Sam 21,7 von einigen in toto,30 von anderen nur in Teilen (V. 7bbg)31 als Glosse betrachtet wird, also noch einmal (sei es ganz, sei es partim) später als 2 Sam *21,1–14 anzusetzen ist.32 Hingegen gehört Ex 22,1033 zum Grundbestand des Bundesbuches, zu den sog. Rechtssätzen, und könnte dementsprechend alt sein,34 wobei freilich die Möglichkeit einer sekundären Einfügung des Gottesnamens in Rechnung zu stellen ist. Die hÎwh◊y tAoUbVv in 2 Kön 1,43 wiederum scheint deuteronomistischen Ursprungs zu sein.35 – Zu 1 Sam 23,18 s. u. zu 20,16a. – In 2 Sam 5,3 dürfte der Viertelvers 3ab interpoliert sein (hÎwh◊y y´nVpIl NwørVbRjV;b tyîrV;b dˆw∂;d JKRlR;mAh MRhDl tOrVkˆ¥yÅw), was zum einen aus der zweifachen Nennung Hebrons (in V. 3aa und 3ab),36 zum anderen aus der Parallele 2 Sam 2,4, die ganz ohne Bundesschluß auskommt, und zum dritten aus dem „Ideal des Wahlkönigtums“37 hervorgeht, das wie aus 5,1f. auch aus 5,3ab spricht und folglich ähnlich jung sein wird. Eine weitere sprachliche Besonderheit des Verses 20,8 besteht darin, daß er die geläufige Redensart dRsRj (q) hco nicht wie üblich mit der Präposition MIo, sondern mit lAo kombiniert.38 Blickt man auf die Geschichte 1 Sam 20,1–21,1 als ganze, so zeigt sich rasch, daß keiner der Verse, die den hier oder in 18,3f. geschlossenen Bund thematisieren oder zumindest voraussetzen (i. e. 20,8.12–17.23.42), fest in das Handlungsgerüst integriert ist. Denn die Erzählung schreitet, wie bereits festgestellt, in zwei aufeinander aufbauenden Schritten voran (A: Problem und Entwicklung des –––––––––––––– 28 29 30 31 32

33 34 35 36 37 38

Vgl. VEIJOLA: a. a. O. S. 126. Vgl. KRATZ: a. a. O. S. 192; NOTH: Studien. S. 62, Anm. 3. So z. B. BUDDE: a. a. O. S. 307. So etwa KLOSTERMANN: a. a. O. S. 235, Anm. 7w; STOEBE: KAT2 VIII,2. S. 454, Anm. 7 d). Möglicherweise trifft sogar beides gleichermaßen zu. Denn einerseits sieht V. 7bbg in der Tat wie eine nachträgliche Erläuterung aus, andererseits ist es aber auch ungewöhnlich, daß V. *7 zunächst die Ausnahme von dem in V. 6 Angekündigten nennt, bevor sich V. 8 der eigentlichen Umsetzung widmet. Vgl. Anm. 25 (Kap. 8). Vgl. KRATZ: a. a. O. S. 146. Vgl. WÜRTHWEIN: ATD 11,1. S. 8. Vgl. MÜLLER: Königtum. S. 150, Anm. 12. KRATZ: a. a. O. S. 186, mit Blick auf 2 Sam 5,1f. Diese Stilblüte hat immer wieder Anlaß für textkritische Eingriffe gegeben, jedoch zu Unrecht, denn die Lesart des MT ist hinreichend bezeugt und vertritt die lectio difficilior. Daß dagegen die Versionen dem üblichen Sprachgebrauch folgen, kann kaum überraschen; anders z. B. W ELLHAUSEN : a. a. O. S. 115. Auch das ÔKV;dVbAoV;b, das die LXX-Vorlage in V. 8ba vielleicht statt des Wortes yI;b (MT) gelesen hat, dürfte sekundäre Angleichung (in diesem Fall an den Stil der Rede aus V. 8a) sein.

Untersuchung

283

Plans, B: Durchführung des Plans, d. i. Ergründung der wahren Absichten Sauls, Warnung des gefährdeten David und dessen Flucht), die zwar die Freundschaft zwischen David und Jonatan, nicht jedoch eine tyîrV;b voraussetzen. Diese Beobachtung bestätigt auch V. 9b, der den Jonatan nach einer kurzen Redeeinleitung in der ersten Vershälfte umgehend an Davids Worte anknüpfen läßt – allerdings an jene aus V. 7bb .39 Davids Berufung auf den Freundschaftsbund und seine Bitte, im Falle einer ihm verborgenen Schuld durch die Hand des Freundes sterben zu dürfen, verhallen, ohne daß Jonatan sie im folgenden noch einmal aufgriffe. All das legt die Vermutung nahe, daß V. 8 nachgetragen worden sein könnte. Die LXX hat am Ende von 20,9ba einen kleinen Überhang (ei˙ß ta»ß po/leiß sou), der aber, wie WELLHAUSEN gezeigt hat, sich mit einiger Wahrscheinlichkeit einer Dublette im hebräischen Text (ÔKyRlDo / ÔKy®rDo), mithin wohl einem Schreib- oder Lesefehler verdankt.40 Mit V. 10 beginnen die Planungen der Freunde um ein zweites Problem zu kreisen. David hat erkannt, daß Jonatan ihn nur dann gefahrlos über Sauls Absichten in Kenntnis setzen kann, wenn sich herausstellen sollte, daß dieser dem David nicht nach dem Leben trachtet. Im anderen Falle hingegen kann eine ungeschützte Warnung ein Risiko für Davids Sicherheit bedeuten, denn Saul könnte ja bei dieser Gelegenheit nur allzu leicht seinen Aufenthaltsort in Erfahrung bringen. Die Frage Davids in 20,10 zielt auf die Entwicklung einer Strategie, mit der dieser Gefahr entgegengewirkt werden kann, und muß deswegen die V. 18–22 nach sich ziehen. Dieser zweite Teil des Plans wiederum bedarf der Umsetzung in den V. 35–39, von denen allerdings allein V. 37b eindeutig auf 20,18–22 zurückgreift (und zwar durch die nur vor dem Hintergrund von V. 22 sinnvolle Frage hDaVlDhÎw ÔKV;mIm yIxEjAh awølSh) – die übrigen Verse (35–37a. 38f.) verlangen nicht zwingend nach einer Vorbereitung durch die V. 10.18–22. Vor dem Hintergrund der Gefährdung Davids ist womöglich auch Jonatans Vorschlag aus V. 11 zu verstehen, das Gespräch auf freiem Felde, also m. a. W. jenseits der Stadtmauern fortzusetzen. Allerdings gibt BUDDE zu bedenken: „Die Unterredung kann nicht vertraulicher werden, und ihr Ort hat sich bisher ausreichend bewährt.“41 Der vorgeschlagene Ortswechsel, der in 20,11b tatsächlich vollzogen wird, paßt mithin zwar gut zu der Überlegung, die hinter 20,10 steht, doch vor dem Hintergrund der konkreten Situation, wie sie sich in 20,1–10 darstellt, nimmt er sich eher wie ein Fremdkörper aus. Ein Blick auf die Verse, die bis zum Ende des ersten Abschnitts folgen (V. 12–23), bestätigt diesen Eindruck. Nirgends wird vorausgesetzt, die zwei Freunde befänden sich allein auf weiter Flur, beide Szenen (V. 12–17 und 18–23) können sich vielmehr problemlos an die –––––––––––––– 39 40 41

Das zeigt die weitgehende wörtliche Entsprechung der beiden Teilverse, V. 7bb: hDo∂rDh hDtVlDk_yI;k oå;d wø;mIoEm, V. 9ba: ÔKyRlDo awøbDl yIbDa MIoEm hDo∂rDh hDtVlDk_yI;k oådEa AoOdÎy_MIa yI;k. Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 115. BUDDE: a. a. O. S. 142.

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1 Samuel 20,1–21,1

erste aus V. 1–9 + 10 anschließen. Lediglich V. 19b, wie ihn die LXX bezeugt, scheint das Setting aus V. 11b vor Augen zu haben, doch dürfte diese Lesart bezeichnenderweise auf eine jüngere, harmonisierende Interpretation des hebräischen Textes zurückgehen.42 Wie schließlich ein Vergleich der V. 11 und 12 zeigt, ist V. 11aa identisch mit der Redeeinleitung aus 20,12a (dˆw∂;d_lRa NDtÎnwøh◊y rRmaø¥yÅw).43 Es spricht also vieles dafür, daß in V. 11abb.12a1 ein sekundärer Einschub vorliegt. V. 12 leitet eine längere Rede Jonatans ein, die erst mit V. 15 endet. Dabei bilden die V. 12f. einen eigenen Sinnabschnitt. Der Königssohn sichert hier seinem Freunde mittels eines Schwures zu, ihm in jedem Fall seine am Hof gewonnenen Erkenntnisse mitzuteilen: sowohl, wenn Saul nichts gegen David im Schilde führt (V. 12), als auch, wenn das Gegenteil zutreffen sollte (V. 13a). Die Parteinahme, die sich in all dem ausdrückt, wird schließlich noch durch den Wunsch Jonatans in V. 13b unterstrichen, Jhwh möge dem David genauso beistehen, wie er einstmals Saul beigestanden habe. Eine gewisse Schwierigkeit stellt die Versabteilung in 20,12f. dar. WELLHAUSEN plädiert dafür, den Beginn von V. 13a (PyIsOy hOk◊w NDtÎnwøhyIl hÎwh◊y hRcSoÅy_hO;k) als Apodosis des Schwursatzes aus V. 12 zu interpretieren.44 Andere ziehen die Formel zum Übrigen von V. 13a und interpretieren sie mithin als Einleitungssatz des zweiten Teils der Zusage Jonatans.45 Die Frage kann hier vernachlässigt werden, weil der Sinn stets auf dasselbe hinausläuft. Die zweite Auffassung hat m. E. größere Wahrscheinlichkeit für sich, weil a) die Formel nirgends sonst am Ende des Schwures steht und b) V. 13a inhaltlich zweifellos von größerem Gewicht ist als V. 12, folglich der Form nach nicht hinter jenem Vers zurückstehen darf und also wie jener einer Schwurformel bedarf.46 Denn daß die Worte lEa∂rVcˆy yEhølTa hÎwh◊y – sei es für sich,47 sei es vor Ausfall eines yAj o. dgl.48 – ursprünglich einen feierlichen Eid einleiten sollten, leidet keinen Zweifel. Dabei ist aus textkritischer Perspektive eher unwahrscheinlich, daß die Versionen hier eine ältere Fassung bezeugen. Sie versuchen allesamt, eine leichtere Lesart zu etablieren.49 Ein weiteres Problem stellt sich in Form des zweiten Teils von V. 13aa: _yI;k ÔKyRlDo hDo∂rDh_tRa yIbDa_lRa bIfy´y. Auch hier ist das Gemeinte beinahe über jeden Zweifel erhaben, was sich u. a. darin ausdrückt, daß die meisten Übersetzungen in diesel–––––––––––––– 42 43 44 45 46 47 48 49

Zur Begründung s. u. zu V. 19. Das Versstück wird im folgenden V. 12a1 genannt. Vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 116. Vgl. etwa DRIVER: a. a. O. S. 163; KLOSTERMANN: a. a. O. S. 86, Anm. 13f; STOEBE: a. a. O. S. 371. Ganz ähnlich STOEBE: a. a. O. S. 375, Anm. 13 a). So EHRLICH: Randglossen. S. 238. So u. a. HERTZBERG: a. a. O. S. 136, Anm. 2. Vgl. auch WELLHAUSEN: a. a. O. S. 116.

Untersuchung

285

be Richtung gehen.50 Der Teufel steckt wiederum im sprachlichen Detail. WELLHAUSEN bringt den Sachverhalt auf den Punkt: „bfyy haben die Punktatoren des folgenden Akk. wegen als Hifil mit Jahwe als Subj. auffassen zu müssen geglaubt, s. aber 2 Sam. 11,25.“51. Obwohl der LXX-Text eine kürzere und auch schwierigere Lesart bietet, dürfte er hier kaum das älteste Textstadium repräsentieren, sondern auf eine versehentliche oder bewußte Auslassung der beiden Wörter lRa bAfyˆy zurückgehen.52 Denn es liegt auf der Hand, daß der V. 13a nach V. 12 den zweiten denkbaren Fall ansprechen will, während die Worte hDo∂rDh_tRa yIbDa yI;k ... yItyIlÎg◊w KyRlDo Ôschlichtweg keinen vernünftigen Sinn ergeben. Die V. 12.13a stellen eine Dublette zu V. 9 dar, die insofern unübersehbar breiter ausgeführt ist, als sie beide Möglichkeiten, den günstigen wie auch den ungünstigen Fall, bedenkt. Die Breite der Darstellung erklärt sich dabei aber keineswegs aus dem Grundproblem der Erzählung, der Ungewißheit, ob der König tatsächlich seinem Knecht David nach dem Leben trachtet oder nicht. Denn wenn Saul keinen derartigen Wunsch in seinem Busen hegen sollte, so wäre es für David ja kein Schade, davon erst mit einer gewissen Verzögerung zu erfahren. Der kasuistische, vertragsmäßige Stil paßt dagegen gut zu dem Bundesschluß, von dem V. 16a spricht, und erscheint aus diesem Blickwinkel auch durchaus angemessen. Die V. 12.13a dürften also genuin mit 20,16a zusammengehören. Weniger fest ist dagegen V. 13b mit dem Vorausgehenden verbunden. Zwar setzt er die V. 12.13a voraus, doch hebt er sich als Wunsch auch deutlich von jenen zwei Schwursatzgefügen ab, zumal er offensichtlich auch nicht ernsthaft mit der ersten der beiden dort genannten Alternativen rechnet.53 Unter formalen wie inhaltlichen Aspekten steht ihm V. 16b am nächsten, von dem er allerdings durch die V. 14f. und nicht zuletzt durch den – wie soeben dargelegt – kaum verzichtbaren V. 16a deutlich getrennt ist. Andererseits fügt sich 20,13b insofern sehr gut zu den V. 12.13a, als er wie diese eindrucksvoll Jonatans Solidarität mit David verdeutlicht. Als Wunschsatz leitet er zudem schön zu den V. 14f. über, die ebenfalls optativisch formuliert sind. Am Ende von V. 12aa fällt die Formulierung tyIvIlVÚvAh rDjDm auf. Sie ist im gesamten AT ohne Parallele und dürfte grammatikalisch – wenn überhaupt – nur mit Mühe zu halten zu sein.54 Den eigentlichen Stein des Anstoßes bildet das –––––––––––––– 50

51 52 53 54

Vgl. etwa ALTER: David Story. S. 125; CAQUOT / DE ROBERT: CAT 6. S. 240; HERTZBERG: a. a. O. S. 136; MCCARTER: AncB 8. S. 333; KLEIN: WBC 10. S. 201; KLOSTERMANN: a. a. O. S. 86; STOEBE : a. a. O. S. 371; STOLZ: a. a. O. S. 133; vergleichbar ist auch DRIVER (a. a. O. S. 163), der die Punktation des MT beibehält; anders dagegen SMITH (a. a. O. S. 188), der sich am Wortlaut der LXX orientiert. W ELLHAUSEN: a. a. O. S. 116. Vgl. auch GK § 117l und zu möglichen, wenn auch m. E. nicht überzeugenden, Einwänden hiergegen STOEBE: a. a. O. S. 375, Anm. 13 d). Vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 116f. Vgl. SMITH: a. a. O. S. 188. So schon WELLHAUSEN: Text. S. 116. Anders offensichtlich STOLZ: a. a. O. S. 133.

286

1 Samuel 20,1–21,1

Adjektiv tyIvIlVÚvAh, denn rDjDm für sich genommen oder in der Verbindung rDjDm tEoD;k ist relativ häufig belegt.55 Dies ist umso auffälliger, als sich bei der Betrachtung von V. 5 bereits ein ganz ähnlicher Befund ergeben hatte:56 das maskuline Substantiv b®rRoDh und das feminine Adjektiv tyIvIlVÚvAh fügen sich schwerlich zueinander. In Hinblick auf 20,5 ist – wie oben gezeigt – aufgrund der Überlieferungssituation relativ sicher, daß das Adjektiv auf einen späten Glossator zurückgeht. Ähnliches könnte für V. 12 gelten, auch wenn die Versionen hier den Wortlaut des MT zu stützen scheinen.57 Denn aus dem Verlauf der Erzählung bis zu diesem Punkte ergibt sich kein Grund, weshalb Jonatan die Dauer der geplanten Sondierungsaktion am Hofe unvermittelt auf zwei Tage heraufsetzen sollte.58 Erst in 20,26 zeichnet sich ab, daß Jonatans Mission am Tag des Neumonds noch nicht zum Abschluß gebracht werden kann. Neben den V. 5 und 12 ist daher auch 20,19aa den Ereignissen einen Schritt voraus. Der Gedanke liegt nahe, daß zumindest die letzten beiden Verse in ihrer jetzigen Form auf ein und denselben Glossator zurückgehen könnten. In Hinblick auf den Sprachgebrauch der V. 12 und 13 stechen insbesondere die beiden Schwureinleitungen hervor. Die erste ist als eine solche im gesamten AT ohne direkte Entsprechung. Der Terminus lEa∂rVcˆy yEhølTa hÎwh◊y für sich genommen begegnet hingegen recht häufig, wobei interessant ist zu sehen, daß sich seine Bezeugung auf die Bücher Jos–2Kön, die chronistischen Schriften sowie auf Proto-Jes und Jer konzentriert,59 während sich z. B. im Pentateuch, bei Ez und im Psalter nur vereinzelte Belege finden.60 Innerhalb der Samuelbücher taucht der Ausdruck insgesamt achtmal auf,61 gehört aber an keiner der Belegstellen zum jeweiligen Grundbestand, sondern liegt vielmehr auf Textebenen, denen durchweg ein deuteronomistischer Charakter bescheinigt wird.62 –––––––––––––– 55 56 57 58

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Vgl. KBL3, Art. rDjDm, S. 541. Die Ähnlichkeit der beiden Stellen ist schon seit langem erkannt, vgl. nur etwa BUDDE: a. a. O. S. 142; DRIVER: a. a. O. S. 164; WELLHAUSEN: Text. S. 116. Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 374f., Anm. 12 b). Das hat als erster WELLHAUSEN (a. a. O. S. 116) erkannt: „Wollte Jonatan nur Einen Tag hier nennen, an dem möglicher Weise seines Vaters Gesinnung zu Tage kam, so musste es der sein, der jenem zuerst Anlass bot, sich zu äussern, der auch von David allein ins Auge gefasst war – wie konnte er bestimmt voraussetzen, dass Saul erst »um die Zeit des nächstdritten Tages« Verdacht schöpfen werde?“ Dabei ist es unerheblich, ob man das hebräische tyIvIlVÚvAh rDjDm als ‚übermorgen‘ oder als ‚am nächstdritten Tag‘ übersetzt. Jos–2Kön enthalten insgesamt 57 Belege, die chronistischen Schriften 36, das Buch Jer enthält 14 Stück und Proto-Jes immerhin noch vier. Insgesamt sechs Belege: Ex 5,1; 32,27; 34,23; Ez 44,2; Ps 41,14; 106,48. 1 Sam 2,30; 10,18; 20,12; 23,10f.; 25,32.34; 2 Sam 12,7. Hält man sich an die LXX, ist noch 14,41 zu nennen. Mit dem Ende der Thronfolgegeschichte (MT) kommen noch 1 Kön 1,30 und 48 hinzu. Vgl. zur ersten Orientierung KRATZ: Komposition. S. 174–193. Zu 1 Sam 2,30; 20,12; 25,32.34; 2 Sam 12,7 vgl. VEIJOLA: a. a. O. S. 35–37, 81–87, 47–54, 115, Anm. 59. Zu 1 Sam 10,18 vgl.

Untersuchung

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Die zweite Schwurformel kann immerhin auf zwei Parallelen verweisen: 1 Sam 25,22LXX und 2 Sam 3,9. An allen drei Stellen fällt der eigentümliche Zug auf, daß „der Schwörende sich selbst beim Namen nennt, statt Pron. suff. zu gebrauchen“63. Weder 1 Sam 25,22LXX noch 2 Sam 3,9 dürfte in seinem literarischen Kontext originär sein, vielmehr stammen beide Stücke, wie VEIJOLA gezeigt hat, mit einiger Wahrscheinlichkeit von späteren Ergänzern.64 In den V. 14f. nennt Jonatan in Form zweier Wunschsätze, welche Gegenleistung er von seinem Freund erwartet, bevor die beiden daraufhin in V. 16a ihr Übereinkommen mit einem Bund besiegeln. Aufgrund der schwierigen Textverhältnisse bedarf sogar schon diese simple Gliederung einer eingehenden Begründung. Probleme bereitet v. a. der Umstand, daß es unmöglich ist, das fünfmal vorkommende alw durchgängig als Negation (aøl◊w) zu übersetzen. Doch auch die Alternative, eine durchgehende Interpretation als Wunschpartikel (aUl◊w), ergibt noch keinen akzeptablen Sinn.65 Vielmehr muß man offensichtlich mit beiderlei rechnen, womit auch schon ein wichtiger Grund für die Verwirrung ausgemacht ist. Aus dem Kontext geht hervor, daß die ersten beiden Male in V. 14 die Wunschpartikel („Oh, daß du, wenn ich noch am Leben sein sollte, oh, daß du dann Barmherzigkeit66 an mir tätest...“), in V. 15a dagegen mit Sicherheit die Negation gemeint sein muß. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, wie V. 15a logisch mit dem t…wmDa alw aus V. 14b (= 14b2 im folgenden) sowie mit 15b verknüpft ist. In der Regel behilft man sich, indem man die LXX zu Rate zieht. Diese faßt zum einen V. 14b2 und 15a, zum anderen V. 15b zusammen mit V. 16a jeweils als ein Satzgefüge auf. Man kommt dann von hierher ungefähr zu folgender Übersetzung der V. 14–16a: „Und möchtest du, sollte ich noch leben, Barmherzigkeit Jahwe’s an mir thun; und sollte ich sterben [...], deine Barmherzigkeit nicht meinem Hause entziehen. Und möchte doch nicht [...], wenn Jahwe deine Feinde ausrottet, Jonatans Name vom Hause Davids losgeris––––––––––––––

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VEIJOLA: Königtum. S. 43–48; MÜLLER: Königtum. S. 175f. Zu 2 Sam 12,7 vgl. DIETRICH: Prophetie. S. 127–132. Zu 1 Sam 23,10f. vgl. VEIJOLA: David in Keïla. S. 10; ders.: Klagegebet. S. 287–289. VEIJOLA: Dynastie. S. 84. Vgl. VEIJOLA: Dynastie. S. 47–54, 59f. VEIJOLA rechnet hierbei näherhin mit früher deuteronomistischer Redaktionsarbeit (‚DtrG‘). Ähnlich jüngst FISCHER : Hebron. S. 116–126; zu 2 Sam 3,9 vgl. auch KRATZ (Komposition. S. 192), der eher an spätere deuteronomistische Ergänzer denkt. Eine Interpretation als Partikel, die einen irreal gedachten Bedingungssatz einleitet (vgl. etwa GK § 151l; BROCKELMANN: Syntax. § 165), scheidet aus inhaltlichen Gründen aus. V. 14a kann unmöglich als eine solche Bedingung gedeutet werden, denn Jonatan ist ja noch recht lebendig, und auch in den folgenden vier Fällen ergäbe diese Möglichkeit keinen vernünftigen Sinn. So nach der LXX. Der MT liest hÎwh◊y dRsRj, was aber sekundär sein dürfte, weil kein Grund ersichtlich ist, aus dem heraus die griechischsprachigen Übersetzer hier hätten kürzen sollen; vgl. auch BUDDE: a. a. O. S. 142f.

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1 Samuel 20,1–21,1

sen werden [...].“67 Diese Fassung hat einen bedeutenden Vorteil gegenüber der masoretischen: Im hebräischen Text drückt V. 16b augenscheinlich einen Wunsch Jonatans in direkter Rede aus, entbehrt jedoch einer geeigneten Redeeinleitung und nimmt sich daher wie ein erratischer Block zwischen den beiden erzählenden Stücken 20,16a und 17 aus. Die LXX hingegen läßt Jonatans Worte nicht mit V. 15 enden, sie betrachtet vielmehr auch noch V. 16a als Teil der wörtlichen Rede des Königssohns. Das hat zur Folge, daß V. 16b nicht nur nicht länger isoliert erscheint, sondern sogar als passabler Abschluß der Rede Jonatans eine konkrete Funktion im Zusammenhang erfüllt. Allerdings weist die griechische Lesart auch drei nicht unerhebliche Nachteile gegenüber der masoretischen auf: a) Ausgerechnet in V. 16a bietet die LXX die lectio longior, sie geht über den MT hinaus, indem sie to\ o¡noma touv Iwnaqan (der MT hat lediglich NDtÎnwøh◊y) und aÓpo\ touv oi¶kou Dauid (also wohl dˆw∂;d tyE;b_MIoEm statt des masoretischen ..._MIo) liest. Ähnliches gilt vielleicht auch in bezug auf die V. 14b2 und 15b.68 b) Die V. 15b.16a (LXX) setzen wie selbstverständlich ein Verhältnis zwischen David und Jonatan voraus, das nicht allein die beiden, sondern auch das ‚Haus Davids‘ einbegreift. Von einem derartigen Verhältnis ist indes, worauf schon STOEBE aufmerksam macht, bis hierher noch nicht ein einziges Wort verlautet;69 die spärlichen Notizen 18,1.3f. bezeugen, für sich genommen, lediglich eine Art Freundschaftsbund.70 Doch selbst wenn man zugestehen wollte, daß an jener Stelle bereits an eine Verbindung der beiden Familien gedacht sein könnte, wäre das Problem damit keineswegs aus der Welt, denn in diesem Falle erhöbe sich sogleich die Frage, warum eine Bitte wie die aus 20,15b.16a (LXX) überhaupt noch erforderlich sei. Wer für den LXX-Text votiert, sieht sich in diesem Punkte mithin vor die Wahl zwischen Skylla und Charybdis gestellt. c) Ein weiteres Problem kommt noch hinzu: Wenn in V. 16a, wie dies in der LXX der Fall ist, kein Bund zwischen den beiden Freunden geschlossen wird, sondern lediglich Jonatan seine Rede weiterführt, und wenn überdies in V. 17 (nach Lesart der LXX) Jonatan derjenige ist, der schwört, und nicht David (wie im MT), dann laufen die V. 23 und 42b – und zwar auch in –––––––––––––– 67

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69 70

W ELLHAUSEN : Text. S. 117. In den ausgelassenen Passagen nennt W ELLHAUSEN die hebräischen Formulierungen, die er an den betreffenden Stellen hinter dem griechischen Text vermutet; zu diesen s. u. sowie Anm. 68 (Kap. 8). S. aber auch die Übersetzung von LESTIENNE / GRILLET in Anm. 86 (Kap. 8). Nach WELLHAUSEN (Text. S. 117) hätte man in V. 14b2 ggf. mit t…wmDa MIa aUl◊w , in V. 15b mit aElaUl◊w statt mit aøl◊w (MT) zu rechnen. Etwas anders BUDDE: a. a. O. S. 142f. In V. 14b2 scheint die LXX darüber hinaus eine Figura etymologica in ihrer Vorlage vorauszusetzen, also einen Infinitiv absolutus von (q) twm, den der MT nicht bezeugt, vgl. BUDDE: a. a. O. S. 142. Vgl. STOEBE: a. a. O. S. 376, Anm. 16 a). Vgl. auch Anm. 167 (Kap. 5). Insofern wäre hier ggf. eher eine Formulierung wie 1 Sam 24,22 oder Rut 4,10 zu erwarten gewesen, also die Bitte darum, den betreffenden Namen nicht aus dem Gedächtnis der väterlichen Sippe zu tilgen.

Untersuchung

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der griechischen Fassung – vollkommen ins Leere. Beide rekurrieren nämlich auf eine Vereinbarung, die von David und Jonatan gemeinsam getroffen wurde. Das Manko des MT, den V. 16b nicht sinnvoll in den Fortgang der Erzählung integrieren zu können, relativiert sich angesichts der unter b) und c) genannten Schwierigkeiten, die der LXX-Text verursacht. Was bleibt, ist die Tatsache, daß der MT die kürzere Lesart darstellt. Es ergibt sich daher ein leichtes argumentatives Übergewicht für den hebräischen Wortlaut.71 Die Fassung der LXX bzw. ihrer Vorlage dürfte demzufolge als Versuch zu verstehen sein, den Sinn des schwierigen Textabschnitts zu klären. Dabei war der Weg, den der Übersetzer oder Bearbeiter zu diesem Zweck beschritt, durch den semantischen Wert der Wurzel trk in den beiden V. 16a vorausgehenden Halbversen vorgezeichnet. Daß mit den V. 12–15 und 16b sowohl vor als auch nach 20,16a unzweifelhaft Stücke in direkter Rede vorliegen, dürfte ein übriges getan haben. Doch auch wenn man der vorgeschlagenen Gliederung folgt, bleibt die Übersetzung der V. 14f. noch mit Schwierigkeiten behaftet. Ausgehend von dem Gegensatzpaar, das die Versglieder 20,14a und 14b2 (= t…wmDa aøl◊w) augenscheinlich bilden, legt sich der Schluß nahe, daß in den V. 14–15a (wohl in Anlehnung an die V. 12f.) zwei entgegengesetzte Fälle durchgespielt werden sollen. Diese gedankliche Struktur spiegelt sich allerdings in den syntaktischen Gegebenheiten nur unvollkommen wider, da weder die V. 14a und 14b2 einander in ihrem Aufbau entsprechen noch die V. 14b1 und 15a.72 Dieser Umstand wiegt jedoch nicht allzu schwer, weil für die Struktur der V. 12f. mutatis mutandis dasselbe gilt. Damit ergibt sich folgende Übersetzung: 14a Oh, daß du, wenn ich noch am Leben sein sollte, 14b1 oh, daß du dann Barmherzigkeit73 an mir tätest! 14b2 Oder daß ich stürbe, 15a du aber deine Gnade nicht auslöschtest von meinem Hause bis in Ewigkeit, 15b und zwar selbst dann nicht, wenn Jhwh einen jeden der Feinde Davids von der Erde auslöschen wird!

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So auch BARTHÉLEMY: Critique. S. 197; NOTH: Bundschließen. S. 146; STOEBE: a. a. O. S. 376, Anm. 16 a); STOLZ : a. a. O. S. 133; VEIJOLA : Dynastie. S. 84f. Dieses Ergebnis wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung wiederholt bestätigen, dazu s. u. V. 14a hebt mit ..._MIa alw an, 14b2 dagegen nur mit alw (wobei hier möglicherweise die Partikel MIa durch eine aberratio oculi verlorengegangen sein könnte, vgl. in Kap. 8 Anm. 68); in V. 14b1 ergibt nur die Lesung des alw als aUl◊w einen Sinn, während in V. 15a nur die Lesung als Negation in Frage kommt. S. Anm. 66.

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V. 15b will augenscheinlich eine Erläuterung zu V. 15a liefern,74 ohne daß der Kontext diese unbedingt erforderte. Aufgrund der Konstruktion des Satzes hinkt der Halbvers darüber hinaus etwas nach. Dies beides könnte dafür sprechen, daß 20,15b eventuell nicht gleichzeitig mit den V. 14–15a entstanden ist, wiewohl sich keine weiteren Indizien finden, die ebenfalls in diese Richtung deuten könnten. Des weiteren fällt auf, daß V. 15b in einer gewissen Beziehung zu V. 16b steht, da er wie jener Jhwhs Vorgehen gegen die Feinde Davids thematisiert.75 V. 16a hat also – wie aus dem zu 20,14f. Gesagten hervorgeht – mit einiger Wahrscheinlichkeit den Vollzug eines Bundesschlusses zwischen David und Jonatan sowie ihren Nachkommen zum Gegenstand. Dabei setzt der Halbvers wahrscheinlich sowohl die V. 12f.* voraus als auch *20,14–15a. Denn zum einen bedarf V. 16a des V. 15a, weil andernfalls kaum zu verstehen wäre, warum Jonatan die tyîrV;b nicht mit David allein, sondern gleich mit dessen ‚Haus‘ eingeht; wenn aber 20,15a vorausgesetzt ist, dann gilt dasselbe aus syntaktischen Gründen auch für V. 14b2 und aus inhaltlichen Erwägungen vermutlich auch für V. 14ab1.76 Zum anderen ist Jonatans Rede auf eine einleitende Notiz angewiesen, wie sie sich letztmalig vor V. 16 am Anfang von V. 12a findet. Zudem wird natürlich viel deutlicher, daß es sich um eine durchaus vertretbare, angemessene Bitte handelt, wenn Jonatan zuvor noch einmal bekräftigt, was er seinerseits für den Freund auf sich nehmen wird (V. 12f.). Vor allem aber weisen die V. 12f.* und *14–15a keinerlei Anzeichen auf, welche die Einheitlichkeit des Abschnitts in Frage stellen könnten. Zusammen mit den V. 12–15a liefert 20,16a eine wichtige Hintergrundinformation für das Verständnis von 2 Sam 9, dem Kapitel, das die Rehabilitation Mephiboschets, des Sohnes Jonatans, schildert. Allerdings fällt auf, daß 2 Sam 9 (anders als 2 Sam 21,7) mit keinem Wort auf 1 Sam *20,12–16 zurückverweist (vgl. 2 Sam 9,1.3.7). 1 Sam 20,12ff. dagegen zielt deutlich darauf ab, daß im Fortgang der Erzählung die Nachkommenschaft Jonatans noch einmal in den Blick genommen wird, was jedoch nur in 2 Sam 4,4; 9; 16,1–4; 19,25–31 und 21,7 der Fall ist. Das alles deutet darauf hin, daß 1 Sam *20,12–16a die Episode 2 Sam 9 mit ihren Querverbindungen bereits kennt; diese Mephiboscheterzählungen dürften aber allesamt einem fortgeschrittenen Stadium der Entstehung der TFG entstammen.77 –––––––––––––– 74

75 76

77

Die Konjunktion zu Beginn des Halbverses ist folglich als Waw explicativum einzustufen, vgl. hierzu etwa GK § 154a, Anm. 1b). So auch S TOEBE : a. a. O. S. 371 und 375f., Anm. 15 b); EHRLICH: a. a. O. S. 238. Zu den Problemen, die sich hieraus ergeben s. u. zu V. 16b. Der in 20,14ab1 genannte Wunsch Jonatans ist der Sache nach viel naheliegender als jener zweite, der sich in den V. 14b2.15a artikuliert: Jonatan hofft natürlich zunächst einmal, möglichst lange am Leben zu bleiben. Vgl. KRATZ: Komposition. S. 181f.

Untersuchung

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In sprachlicher Hinsicht ist die elliptische Formulierung MIo (q) trk (anstelle von MIo tyîrV;b (q) trk) bemerkenswert. Sie begegnet nur selten,78 findet sich aber interessanterweise auch in 22,8, wo ebenfalls von einem Bund zwischen David und dem Kronprinzen die Rede ist. Daher drängt sich der Verdacht auf, daß die zwei Textstellen nicht unabhängig voneinander entstanden sind, zumal sie sich auch in thematischer Hinsicht berühren: Sowohl in 1 Sam *20,12–16 als auch in 1 Sam *22 wird das Problem ins Auge gefaßt, daß durch den Konflikt zwischen Saul und David zwangsläufig unschuldige Dritte (1 Sam *20,12ff.: Jonatan und sein ‚Haus‘, 1 Sam *22: Ahimelech und das ‚Haus‘ seines Vaters) zwischen die Fronten und damit unmittelbar in Lebensgefahr geraten. In beiden Fällen handelt es sich zudem um Familien, deren Fortbestand David später sicherstellen wird.79 Noch auffälliger ist ein anderer Punkt, auf den oben bereits hingewiesen wurde.80 Der Bundesschluß, der in 20,16a erwähnt wird, ist nicht der einzige seiner Art. Schon 1 Sam 18,3 weiß von einer tyîrV;b zu berichten, die David und Jonatan miteinander geschlossen haben sollen, und in 23,18 wird sogar noch ein drittes Mal vom Zustandekommen eines Bundes zwischen den beiden Freunden gesprochen.81 Vergleicht man die drei Stellen untereinander und bezieht man hierbei auch jene Texte ein, die auf einen der drei Bundesschlüsse zurückverweisen (20,8; 22,8 sowie 2 Sam 21,7), so ergeben sich folgende Beobachtungen: a) In 18,3 geht weder aus dem Vers selbst noch aus seinem Kontext hervor, welche Rechte und Pflichten das neuentstandene Bundesverhältnis für die beiden Bündnispartner mit sich bringt. Und in 23,16–18 wird zumindest nicht recht deutlich, ob eine neuerliche Übereinkunft zwischen den beiden Freunden getroffen wird und worin diese ggf. besteht.82 Anders dagegen in 20,16: Hier ist in den vorausgegangenen V. 12f. und 14f. genauestens der Geltungsbereich der tyîrV;b abgesteckt worden: Jonatan verpflichtet sich, David umgehend über die wahren Absichten seines Vaters zu unterrichten, sobald er um sie Bescheid weiß, während David –––––––––––––– 78 79

80 81 82

Vgl. die Verweise in Anm. 22 (Kap. 8) sowie 1 Sam 11,2; 22,8; 1 Kön 8,9; 2 Chr 7,18. Vgl. 2 Sam 9; 16,1–4; 19,25–31 und 21,7 (Mephiboschet ben Jehonathan) sowie (in bezug auf Abjatar ben Ahimelech) 1 Sam 22,20–23; 23,6.9; 30,7; 2 Sam 8,17; 15,24.27.29.35f.; 17,15; 19,12; 20,25; 1 Kön 1,7.19.25.42 (unter Salomo: 2,22.26f.35; 4,4). S. 5.2. Ich werde im folgenden der Einfachheit halber vom ‚ersten‘ (= 18,3), vom ‚zweiten‘ (= 20,16a) und vom ‚dritten‘ Bundesschluß bzw. Bund (= 23,18) sprechen. Man könnte versucht sein, das in V. 17ab Gesagte als Gegenstand der Abmachung zu betrachten, so offensichtlich VEIJOLA (Dynastie. S. 89), der in diesem Zusammenhang von einer „Gegenleistung“ Davids spricht. Dem steht einmal der Umstand entgegen, daß Jonatan seine Worte mit einem Heilsorakel in V. 17aa beginnt, nach dem sich ein Vertragstext äußerst ungewöhnlich ausnähme. Zum anderen deutet auch V. 17b darauf hin, daß es sich bei V. 17ab eher um eine Art Voraussage handeln dürfte. Denn die Behauptung Jonatans, sein Vater wisse längst, daß es so kommen werde, wie zuvor in 23,17ab ausgeführt, ergibt nur einen vernünftigen Sinn, wenn es sich hierbei um ein absehbares Ereignis und nicht um eine willkürliche Festlegung zweier Personen handelt.

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verbindlich zusichert, fortan unter keinen Umständen das Leben Jonatans oder seiner Nachkommen zu bedrohen. b) Dies lenkt den Blick sogleich auf eine weitere Besonderheit des ‚zweiten‘ Bundesschlusses, die mit jener ersten eng verbunden ist: die Tatsache, daß die tyîrV;b nicht bloß zwischen zwei Einzelpersonen geschlossen wird, sondern – so V. 16a – zwischen dem dˆw∂;d tyE;b und Jonatan, wobei dessen ‚Haus‘ vermutlich mitgedacht ist (vgl. V. 15a). Auch dieser Gedanke kommt weder in 18,3 noch in 23,18 zum Ausdruck. c) Für die Szene 20,12–16 insgesamt scheint charakteristisch zu sein, daß sie sich in den V. 12f. zweier Schwurformeln bedient und auch von V. 17 entweder ganz oder teilweise als Schwur verstanden wird. Vergleichbares findet sich bei den anderen beiden Bundesschlüssen nicht. d) Alle drei bis hierher in 20,12–17 entdeckten Elemente sind interessanterweise in 2 Sam 21,7 vorausgesetzt, wo angemerkt wird, daß König David in Hinblick auf Mephiboschet, den Sohn Jonatans, von einer Auslieferung an die Gibeoniten NDtÎnwøh◊y NyEb…w dˆw∂;d NyE;b MDtOnyE;b rRvSa hÎwh◊y tAoUbVv_lAo abgesehen habe, als diese ihr Recht einforderten, Blutrache an Mitgliedern der saulidischen Sippe zu nehmen. e) Zugleich geht 2 Sam 21,7 insofern über 1 Sam 20,12ff. hinaus, als hier seine Bezogenheit auf Jhwh, seine besondere religiöse Dignität, mit der Rede von der hÎwh◊y tAoUbVv begrifflich auf den Punkt gebracht wird. Ganz ähnlich wird in 20,8 der ‚erste‘ Bundesschluß als hÎwh◊y tyîrV;b bezeichnet und in 23,18 von einer y´nVpIl tyîrV;b hÎwh◊y gesprochen. Zwar ist die religiöse Dimension des Bundesschlusses zweifellos auch in 20,12–17 zu greifen (etwa in den beiden Schwurformeln), doch wird hier offensichtlich kein Wert darauf gelegt, sie ausdrücklich hervorzuheben. In 18,3 schließlich sowie – weniger erstaunlich – in den Worten Sauls aus 22,8 verlautet von einer solchen Bezogenheit auf Jhwh nicht ein einziges Wort. Darüber hinaus wird in der Sekundärliteratur häufig die These vertreten, bei 18,3 handle es sich um „eine einseitige Selbstverpflichtung Jonathans“83, von der die beiden folgenden Bundesschlüsse als reziprok gedachte Verpflichtungsverhältnisse abzusetzen wären. Richtig daran ist, daß es an diesem Punkt der Erzählung schon der Sache nach nur Jonatan sein kann, von dem die Initiative zu solch einem Bundesschluß ausgeht. Man sollte jedoch den Wortlaut des Verses nicht überstrapazieren und versuchen, ihm nähere Hinweise auf den Charakter der Verbindung abzulauschen. Daß Jonatan das erste und damit das grammatikalisch maßgebliche Subjekt des Satzes ist, bedeutet mitnichten, daß er als alleiniger Handlungsträger vorgestellt ist.84 Dies gilt umso mehr, als auch der Kontext kein einziges Wort über den Inhalt der tyîrV;b verliert. Zu Konjekturen gar (dˆw∂d◊l oder dˆw∂;d_tRa anstelle des dˆw∂d◊w im MT) besteht überhaupt kein Anlaß. Aus all diesen Beobachtungen ergeben sich zwei konkrete Anhaltspunkte, mit deren Hilfe es möglich erscheint, das entstehungsgeschichtliche Verhältnis etwas –––––––––––––– 83 84

V EIJOLA : Dynastie. S. 86, dort auch weitere Verweise; ähnlich u. a. BUDDE: a. a. O. S. 131; DRIVER: a. a. O. S. 149; STOEBE: a. a. O. S. 343, Anm. 3a); WELLHAUSEN: Text. S. 110. Vgl. BROCKELMANN: a. a. O. § 132; DHORME: Livres. S. 159.

Untersuchung

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näher zu bestimmen, in dem die drei Textstellen 18,3; 20,(12–)16a und 23,18 zueinander stehen: Zum einen zeugt 23,18 von einer weiter fortgeschrittenen theologischen Reflexion, dürfte also jünger sein als die beiden anderen Stücke. Zum anderen geht allein aus 20,12–16a hervor, worin die tyîrV;b zwischen David und Jonatan bestehen soll, was grundsätzlich zwei Schlüsse zuläßt: Entweder wurde das Motiv des Bundesschlusses von 18,3 nach 20,16a versetzt und dabei kräftig ausgestaltet, oder die Entwicklung nahm ihren Ausgang bei Kapitel 20, so daß 18,3 als eine vorgezogene und zugleich gekürzte Fassung von 20,16a aufgefaßt werden müßte. Die größten Probleme im gesamten Kapitel gibt V. 16b auf. Wie oben bereits erwähnt, legt es sich von seinem Inhalt her nahe, den Halbvers als ein Stück direkter Rede Jonatans zu betrachten. Der Kontext hingegen verbietet eine solche Interpretation, denn in V. 16a hat nicht mehr Jonatan das Wort, sondern der anonyme Erzähler. Am besten würde sich 20,16b zu dem Wunsch fügen, den Jonatan in V. 13b ausspricht. Allerdings bliebe die nur leicht ausgestaltete Wiederholung von V. 9 in den V. 12f. ohne den anschließenden Bundesschluß in V. 16a (der sich ja seinerseits mit der Erwähnung des dˆw∂;d tyE;b auf die beiden ihm vorausgehenden Verse stützt) ausgesprochen rätselhaft, da die beiden Verse 12f. ja weder die Handlung vorantreiben noch dem Leser bzw. der Leserin nennenswerte neue Informationen liefern. Die Möglichkeit, daß die V. 12f. in einem frühen Textstadium einmal ohne die V. 14–16a auskamen und stattdessen durch V. 16b fortgesetzt wurden, hat also nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für sich. Vielmehr steht – wie oben bereits erwähnt – zu vermuten, daß die V. 12f. von vornherein auf den Bundesschluß in 20,16a zielten. 20,16b ist innerhalb des Textabschnitts, wie er bis hierher rekonstruiert und beschrieben wurde, offensichtlich völlig isoliert. Die Frage, wie sich die jetzige Form und Position des Halbverses erklären, wird vor diesem Hintergrund nur umso dringlicher.85 Einen wichtigen Hinweis kann hier die LXX liefern. Sie bezeugt nämlich eine Lesart, die – wenn auch unter Zuhilfenahme einiger zusätzlicher Wörter – relativ dicht am Wortlaut des vermutlich ursprünglichen hebräischen Textes bleibt. Ihr wichtigster Unterschied zum MT besteht darin, daß sie an zwei Stellen den hebräischen Konsonantenbestand augenscheinlich anders gedeutet, d. h. anders vokalisiert und gegliedert hat: a) In V. 15b versteht sie das Wort alw offensichtlich als elliptisch formulierten negativen Bedingungssatz.86 b) –––––––––––––– 85 86

Ihr wird nicht selten geflissentlich ausgewichen, vgl. nur etwa STOEBE: a. a. O. S. 376, Anm. 16 b). Vgl. die Übersetzung von LESTIENNE / GRILLET (BdAl 9.1. S. 328): „Et si je n’agis pas comme promis, quand le Seigneur retirera chacun des ennemis de David de la face de la terre, que le nom de Jonathan soit trouvé par la maison de David, et puisse le Seigneur demander des comptes aux ennemis de David.“ Sie kann sich dabei auf die analoge Verwendung der Negation in 2 Kön 5,17 berufen. (Statt des Infinitivs e˙xarqhvnai in V. 16a übersetzen LESTIENNE / GRILLET

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V. 16a bildet nach ihrer Auffassung den dazugehörigen Hauptsatz, wobei das Prädikat trkyw als Niph‘al gelesen wird.87 Diese Interpretation dürfte, wie oben bereits dargelegt, wahrscheinlich nicht der genuinen Aussageintention der betreffenden Verse entsprechen. Sie ist aber insofern äußerst aufschlußreich, als sie eindrucksvoll belegt, daß in bezug auf diese nur schwer zu erschließende Passage offensichtlich schon zu einem recht frühen Zeitpunkt zwei verschiedene Auslegungs- resp. Übersetzungsweisen nebeneinander bestanden haben müssen. Angesichts dessen ist zu überlegen, ob 20,16b nicht auf der Linie dieser zweiten, durch die LXX bezeugten Interpretation der V. 15b.16a verstanden werden könnte. Mir scheint das zumindest möglich zu sein, womit sich ungefähr folgende Übersetzung ergäbe: 14b2 Oder daß ich stürbe, 15a du aber deine Gnade nicht auslöschtest von meinem Hause bis in Ewigkeit! 15b Wenn aber nicht, so möge, während Jhwh einen jeden der Feinde Davids von der Erde auslöscht, 16a Jonatan zusammen mit dem Hause Davids ausgelöscht werden – 16b und Jhwh fordere (wirklich) Vergeltung von den Feinden Davids!

Es ist kaum zu übersehen, daß auch dieser Lösungsvorschlag die seit langem als crux interpretum bekannte Textstelle nicht von sämtlichen Spannungen zu befreien vermag. Hier ist insonderheit der merkwürdige Umstand zu nennen, daß der Halbvers (nach der hier vorgetragenen Deutung) den Kronprinzen einen Wunsch aussprechen läßt, dessen Erfüllung dieser kurz zuvor und eher nebenbei bereits zur Voraussetzung gemacht hat: Jhwhs Vorgehen gegen die Widersacher Davids (vgl. V. 15b).88 Vielleicht sollte 20,16b einfach noch einmal unterstreichen, daß Jonatan tatsächlich die Vernichtung der Feinde Davids herbeiwünscht. Doch wie auch immer dieses seltsame Nebeneinander der V. 15b und 16b zu erklären ist: vor dieselbe Schwierigkeit sind auch alle diejenigen gestellt, die in den V. 15f. den Wortlaut der LXX favorisieren. Und hier lediglich dem MT zu folgen und dabei –––––––––––––– 87

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das von der LXXB gebotene euJreqhvnai, was jedoch als sekundäre Erleichterung zu verstehen sein dürfte.) Auch die Konjunktion w zu Beginn von V. 16a (trkyw) stört dabei keineswegs, denn eine solche Verknüpfung von Bedingungssatz und Hauptsatz entspricht ganz den sprachlichen Konventionen (vgl. BROCKELMANN: Syntax. § 166). Im Falle elliptisch formulierter negativer Bedingungssätze begegnet dieser Sprachgebrauch zwar seltener, ist aber immerhin in 1 Sam 6,9 belegt. Diese Spannung vermeidet SMITH (a. a. O. S. 188f.), indem er in V. 16b kurzerhand das yEb◊yOa streicht. Das erscheint zwar etwas willkürlich, immerhin stellt sich SMITH aber auch der Frage nach den möglichen Gründen für das Hinzutreten dieses einzelnen Wortes: „In some other cases ybya is inserted to avoid an imprecation on David“ (SMITH : a. a. O. S. 188); leider führt er keine Belege an.

Untersuchung

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V. 16b als ‚sinnlose‘ oder unübersetzbare Glossierung abzutun, dürfte demgegenüber sogar eine deutlich schlechtere Alternative darstellen. In Hinblick auf V. 17 ist vor allem der ursprüngliche Wortlaut der ersten Vershälfte strittig. Der MT liest hier dˆw∂;d_tRa AoyI;bVvAhVl NDtÎnwøh◊y PRswø¥yÅw, geht also davon aus, daß Jonatan seinem Freund erneut (oder obendrein)89 einen Schwur abnimmt. Der LXX zufolge (kai« prose÷qeto e¶ti Iwnaqan ojmo/sai tw◊ˆ Dauid) ist es hingegen Jonatan, der ein weiteres Mal schwört. Die griechische Fassung kann jedoch schwerlich die ältere sein,90 denn V. 42b behauptet, beide Freunde hätten einen Eid geleistet, niemals gegen die Nachkommenschaft des anderen vorzugehen – außer in V. 17MT verlautet jedoch nichts von einem derartigen Schwur Davids.91 Des näheren schwört David nach V. 17aMT wøtOa wøtDbShAaV;b, wozu sich in der griechischen Fassung keine Entsprechung findet.92 Hier gebührt m. E. der LXX der Vorzug. Dafür spricht nicht allein die Tatsache, daß sie die kürzere der beiden Lesarten bietet, auch zwei weitergehende Überlegungen deuten in diese Richtung: a) Die Einfügung dieser zwei Wörter liegt insofern ausgesprochen nahe, als beim ‚ersten‘ Bundesschluß zwischen den beiden Freunden exakt dieselbe Formulierung gebraucht wird (18,3b; lediglich der dort noch angeschlossene Vergleich wøvVpÅnV;k geht über 20,17ab hinaus). b) V. 17ab kann als Versuch gedeutet werden, den Übergang von der ersten zur zweiten Vershälfte zu erleichtern. Läßt man den Viertelvers versuchshalber einmal unberücksichtigt, so entsteht beim Lesen des verbliebenen Textes der Eindruck, als wolle 20,17b das direkt zuvor Berichtete dem Leser / der Leserin plausibel machen, m. a. W. den Grund für Jonatans Verhalten in V. 17aa nennen, und erwähne deshalb, daß Jonatan seinen Freund so innig wie sich selbst geliebt habe. Allein von 20,17b ausgehend beurteilt, sollte man weiterhin meinen, in V. 17aa sei davon die Rede, daß Jonatan noch einmal seinen Schwur wiederhole. Denn dem common sense nach zu urteilen, dürfte die wiederholte Versicherung, dem anderen kein Leides zu tun, problemlos als Folge persönlicher Sympathie nachzuvollziehen sein, während der Wunsch, sich eben–––––––––––––– 89 90

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So augenscheinlich STOLZ: a. a. O. S. 133, 137; ähnlich HERTZBERG: a. a. O. S. 132; STOEBE: a. a. O. S. 371. Vgl. dagegen aber KBL3, Art. Psy, S. 399f.; Ges.18, Art. Psy, S. 471–473. So auch HERTZBERG: a. a. O. S. 136, 140; STOEBE: a. a. O. S. 371, 376, Anm. 17 b); STOLZ: a. a. O. S. 133, 137; VEIJOLA: Dynastie. S. 85. Anders z. B. ACKROYD: CNEB 8. S. 162; BUDDE: a. a. O. S. 143; DRIVER: a. a. O. S. 166; MCCARTER: a. a. O. S. 333, 337; WELLHAUSEN: Text. S. 117. Vgl. VEIJOLA: Dynastie. S. 85. Zwar wird von David auch in V. 3MT (sekundäre Lesart, s. o.) berichtet, er habe zum Mittel des Schwurs gegriffen, doch kann diese Szene in 20,42b unmöglich gemeint sein, weil in 20,3 das Problem der Nachkommen noch keine Rolle spielt. Die LXX hatte darüber hinaus auch gute Gründe 20,17aMT abzuändern, nach ihrer Lesart hat David ja bis zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Zusagen gegeben (vgl. 20,16aLXX). Es handelt sich also lediglich um eine Konsequenz aus der Entscheidung der griechischen Übersetzer in bezug auf 20,16a. Eine weitere interessante Variante, die bedauerlicherweise weder in den kritischen Apparat der BHS5 noch der BHK Eingang gefunden hat.

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diese Zusage mehrfach geben zu lassen, wohl eher in ein von Mißtrauen geprägtes Verhältnis paßt.93 20,17aaMT nimmt sich aus dieser Perspektive wie die schwierigere Lesart aus, ich gebe daher der masoretischen Fassung den Vorzug. Die Frage ist allerdings kaum mit Sicherheit zu entscheiden, glücklicherweise hängt aber auch nicht allzuviel von ihr ab. Immerhin dürften die Beobachtungen zu 20,17aaMT und b gezeigt haben, daß die Erzählung hier bei aufmerksamer Lektüre etwas unanschaulich wirkt. Durch das Hinzutreten von V. 17ab löst sich dieses Problem bemerkenswerterweise auf: David schwört nunmehr bei seiner Liebe zu Jonatan,94 und daraus ergibt sich, daß der Leser / die Leserin V. 17b fortan nicht mehr auf Jonatan, sondern auf David bezieht. Dieser harmonisierende Effekt könnte durchaus beabsichtigt gewesen sein, was dafür spricht, daß V. 17ab tatsächlich als späte Glosse zu werten ist. V. 17 setzt aufgrund der Formulierung ...oyI;bVvAhVl NDtÎnwøh◊y PRswø¥yÅw deutlich die Szene V. *12–16a voraus, nirgends sonst hat sich David seinem Freund gegenüber feierlich verpflichtet. Zugleich reibt sich der Vers ein wenig mit jener Passage, da er behauptet, David habe ein weiteres Mal einen Schwur abgelegt, obwohl von dergleichen in diesem Zusammenhang nirgends zuvor die Rede war. Zwar hat VEIJOLA durchaus Recht, wenn er darauf hinweist, daß Bund und Schwur einander bisweilen ergänzen,95 die zeitgleiche Entstehung von *20,12–16a und *17 ist damit jedoch noch nicht erwiesen. Des weiteren spricht der Vers so selbstverständlich von der Zuneigung der zwei Freunde, daß auch schon 18,1 bekannt sein muß, wo dieses Motiv eingeführt wird.96 Weniger sicher ist, ob der Vers auch auf 18,3 zurückblickt, doch kann diese Möglichkeit einige Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen. Erstens mutet nämlich die Formulierung wøbEhSa wøvVpÅn tAbShAa_yI;k ein wenig elaborierter an als 18,3b. Und zweitens ist zu bedenken, daß 20,17 insofern über 18,3 hinausgeht, als neben das Element der tyîrV;b und das der hDbShAa, die beiden Versen gemeinsam sind, hier noch das des Eides hinzutritt. Auch in –––––––––––––– 93

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Ähnlich schon DRIVER: a. a. O. S. 166; SMITH: a. a. O. S. 188f. Mißt man dieser Beobachtung großes Gewicht bei, muß man – entsprechend allem bis hierher Gesagten – annehmen, daß V. 17aa ursprünglich dˆw∂;d_lRa / dˆw∂dVl AoEbDÚvIhVl NDtÎnwøh◊y PRswø¥yÅw lautete, aber noch vor der Entstehung von V. 42b seine heutige Gestalt erhielt. Aufgrund der oben bereits des öfteren gemachten Erfahrung, daß die Texte bisweilen die nach heutigen Maßstäben wünschenswerte oder gar nötige psychologische Stringenz vermissen lassen (vgl. Anm. 279 in Kap. 5 sowie das unter 4.2 zu 1 Sam 16,19 Bemerkte; s. aber auch Anm. 108 in Kap. 6), neige ich allerdings eher dazu, den Wortlaut des MT in V. 17aa für ursprünglich zu halten. Grammatikalisch wäre auch die Interpretation möglich, daß er bei Jonatans Liebe zu ihm, David, den Schwur leistet (so z. B. HERTZBERG: a. a. O. S. 137), der Sache nach ist das jedoch eher unwahrscheinlich; richtig z. B. STOEBE: a. a. O. S. 376, Anm. 17 c). Vgl. VEIJOLA: Dynastie. S. 85 (mit Verweis auf 2 Kön 11,4). Weniger wahrscheinlich ist, daß 19,1a im Hintergrund steht, denn dort wird nicht die Wurzel bha (q) verwandt.

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diesem Punkt scheint 20,17 also einen Schritt weiter zu sein als 18,3, was m. E. ebenso für eine spätere Abfassung spricht. Damit gerät V. 17 in eine gewisse Nähe zu V. 8, dessen Rückbindung an 18,3 ja bereits erörtert wurde. Mit V. 18 wird die Textgrundlage wieder bedeutend sicherer, MT und LXX stimmen von hier an in weitaus höherem Maße miteinander überein.97 Der Gegenstand der Unterredung ist ganz unvermittelt wieder die Frage Davids aus V. 10, die beiden Verse könnten darum genausogut direkt aufeinander folgen.98 Von hier aus legt sich der Schluß nahe, daß alles zwischen den V. 10 und 18 Liegende nachträglich eingeschoben worden sein könnte. Die Worte, mit denen Jonatan hier zu sprechen anhebt, ähneln denen David aus V. 5 (Jonatan: v®dOj rDjDm; David: rDjDm v®dOj_h´…nIh). Diese Doppelung könnte darauf hindeuten, daß entweder V. 5 oder V. 18 sekundär hinzugewachsen ist. Da aber 20,18 anders als 20,5 für das Gerüst der Erzählung nicht konstitutiv ist, liegt es näher, den V. 18 sowie die von ihm abhängigen Stücke (V. 19–22.23 sowie 37b) als Nachträge aufzufassen.99 V. 19 will allem Anschein nach 20,18 fortführen, doch ist der Text am Versanfang (V. 19aa ) augenscheinlich in einem schlechten Zustand.100 Vertretbar erscheint folgende Übersetzung von 20,19a, die den MT-Wortlaut in Gänze beibehält: „Und am dritten Tag sollst du schleunigst hinabgehen und zu dem Ort kommen, an dem du dich am Tag der Tat versteckt hattest, ...“101

Die Schwierigkeiten in 20,19a ergeben sich hauptsächlich aus der eigenwilligen Kombination der ersten beiden Verben des Halbverses. Das Perfekt consecutivum D;tVvA;lIv◊w nimmt sich etwas merkwürdig vor dem Jussiv dérE;t aus, weil man üblicherweise im Hebräischen die umgekehrte Reihenfolge erwarten sollte und sich mit DtaDb…w und D;tVbAvÎy◊w zwei weitere Verben im Perfekt consecutivum völlig regelge–––––––––––––– 97

Der MT konkretisiert, an wen Jonatan sich wendet, indem er die suffigierte Präposition wøl nach rRmaø¥yÅw liest, welche die LXX nicht bezeugt. Die griechische Fassung bietet hier daher vielleicht das Ursprünglichere. 98 So schon BUDDE: a. a. O. S. 143. 99 In diese Richtung tendiert ansatzweise bereits BUDDE, vgl. ebd. Zur Frage nach der Bedeutung der V. 10.18–22 für das Grundgerüst der Erzählung s. auch das unten zu den V. 37f. Ausgeführte. Unten wird sich auch zeigen, daß zwischen den V. *18–22.37b und V. 23 textgenetisch noch einmal unterschieden werden muß. 100 Eine gute Darstellung und Diskussion des Problems sowie einen annehmbaren Lösungsvorschlag bietet BARTHÉLEMY: Critique. S. 198f. 101 Vgl. ebd. sowie KBL3, Art. vlv, S. 1428. – Daß die LXX anstatt des merkwürdigen dOaVm dérE;t in V. 19aa das deutlich unauffälligere kai« e˙piske÷yhØ bezeugt (also wohl von déqDÚpI;tÅw ausgeht), läßt ebenso wie ihre Lesung ei˙ß to\n to/pon sou (anstelle des weniger präzisen MwøqD;mAh_lRa im MT) in V. 19ab eher auf nachträgliche Bemühungen um den ursprünglichen Sinn schließen als auf dessen Kenntnis.

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recht an den Jussiv anschließen.102 Drei weitere Probleme kommen hinzu: Vor dérE;t vermißt man das obligate w, die Konstruktion dérE;t D;tVvA;lIv◊w ist ohne Analogie im AT,103 und überdies kann D;tVvA;lIv◊w als höchstwahrscheinlich imperativisch gemeintes Perfekt consecutivum nicht gut an D;t√dåqVpˆn◊w aus V. 18b anknüpfen. Blickt man auf die inhaltliche Ebene, so erscheint das D;tVvA;lIv◊w noch befremdlicher, denn es fragt sich (wenn man den Vers so übertragen darf, wie oben geschehen), weshalb David erst am dritten Tage den geheimen Ort aufsuchen soll, obwohl er doch eventuell längst in Gefahr schwebt. Das klingt, als solle jener besagte Ort eher als ein Treffpunkt denn als ein Versteck fungieren, und das wiederum bedeutet vielleicht, daß hier V. 11 zugrundegelegt ist, der ja alles bis V. 23 Folgende jenseits der Stadtmauern spielen läßt. Aufmerksamkeit verdient darüber hinaus die Tatsache, daß mit dem beschriebenen Phänomen in V. 19aa erneut eine Textirritation im Zusammenhang mit einer Zeitangabe begegnet, die (wie schon jene aus 20,5 und 12) die aus V. 26f. resultierende, an sich aber nicht vorhersehbare Verzögerung bereits einkalkuliert. Sie wird dabei jedoch – anders als jene aus V. 5 – von allen wichtigen Zeugen vorausgesetzt, ist also textkritisch über jeglichen Zweifel erhaben. Gleichwohl gilt es festzuhalten, daß alle oben aufgeführten Probleme hinfällig werden, sobald man dem Vers das Wort D;tVvA;lIv◊w entnimmt. Neue Schwierigkeiten entstehen auf diesem Wege mitnichten, und so erscheint die Annahme naheliegend, es könnte sich bei jenem Verb um eine Glosse handeln. Bemerkenswert ist ferner, daß Jonatan von einem Ort spricht, an dem sich David hRcSoA;mAh MwøyV;b versteckt habe. „Ich bin überzeugt, dass in hcomh eine Rückweisung auf c. 19, 1–7 steckt [...].“104 Davon nämlich, daß David sich in einem Versteck verbergen mußte, ist im vorausliegenden Teil der Erzählung einzig in 19,2 die Rede gewesen. Die Wahl des Wortes hRcSoAm mag sich trotzdem nicht recht erschließen. Manche übersetzen hRcSoA;mAh MwøyV;b als ‚Tag des Anschlags‘,105 dann würde hier auf 19,9f. zurückgeblickt. (Der erste Anschlag Sauls auf Davids Leben, 18,10f., kann kaum gemeint sein, weil 20,19a ja eine zeitliche Nähe zwischen der ‚Tat‘ und jener Situation voraussetzt, in der David sich erstmalig verbergen mußte.) Allerdings ist auch 19,9f. von 19,1–7 durch den V. 8 (genaugenommen sogar schon durch V. 9, mit dem sich ein Szenenwechsel andeutet) klar abgesetzt. Darüber hinaus ist zumindest zu fragen, ob nicht die Entscheidung für jene Übertragungsweise unbewußt auch dadurch beeinflußt worden sein mag, daß der Begriff ‚Tat‘ (mit dem –––––––––––––– 102 Zum Grundsätzlichen vgl. GK §§ 49 und 112. 103 Vgl. die übrigen Vorkommen des Verbs (pi, pu) vlv: Gen 15,9; Dtn 19,3; 1 Kön 18,34; Ez 42,6; Qoh 4,12 sowie 1 Sam 20,20 (dazu s. u.). 104 WELLHAUSEN: Text. S. 117. 105 So etwa (wenn auch mit deutlichen Vorbehalten) HERTZBERG : a. a. O. S. 137. Ferner (unter Verweis auf die Bedeutung des Substantivs in Ijob 33,17) WELLHAUSEN: a. a. O. S. 117; ähnlich KLEIN: a. a. O. S. 208; MCCARTER: a. a. O. S. 342f.

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das hebräische hRcSoAm ja gern wiedergegeben wird)106 im Deutschen eine gewisse, aus dem kriminologisch-juristischen Sprachgebrauch herrührende negative Konnotation trägt.107 Daneben ist vermutet worden, es sei soviel wie ‚am Werktag‘ gemeint,108 wobei man immerhin auf die einzige terminologisch vergleichbare Formulierung hRcSoA;mAh yEm◊y tRvEv aus Ez 46,1 verweisen kann. Allerdings bleibt hier völlig offen, worin der Sinn dieser Zeitangabe bestehen sollte. Eine dritte Möglichkeit könnte darin bestehen, den Begriff hRcSoAm auf David zu beziehen und so als Rückverweis auf 18,27 zu interpretieren. In diesem Fall müßte man sich, was das Ende von 1 Sam 18 anbelangt, für den Text der LXX entscheiden, die mit 18,29a schließt.109 Denn der MT verdeutlicht mit der Notiz 18,30, daß er Davids Hochzeit und das Aufkommen der Mordpläne Sauls als zwei verschiedene, chronologisch weit auseinander liegende Szenen auffaßt. V. 19b weiht auch die unwissende Leserschaft ein und nennt den Namen jenes vereinbarten Ortes: l‰zDaDh NRbRaDh. Die LXX liest hierfür to\ ergab e˙kei√no, weswegen der hebräische Wortlaut von den meisten in zaD;lAh NRbRaDh, zaD;lAh bO…g√rAaDh o. dgl. abgeändert wird.110 Das dürfte aber mit einiger Wahrscheinlichkeit nachträgliche Angleichung an V. 41aa sein,111 wo die griechische Fassung statt des hebräischen b‰g‰…nAh ebenfalls das merkwürdige Wort ergab bietet. Zumindest stellt der Wortlaut des MT insofern die schwierigere Lesart dar, als er nicht wie die LXX beide Verse über einen Leisten schlägt. Der Name ist nicht, wie das überwiegend geschieht, in Form einer Konstruktusverbindung gebildet, l‰zDaDh dürfte vielmehr als Apposition zu verstehen sein (in Analogie zu r‰zEoDh [NRbRaDh] in 1 Sam 4,1). Die Bedeutung der Wurzel (q) lza („weggehen“; „ausgehen“ / „schwinden“) legt den Verdacht nahe, hier „könnte geradezu an den Stein des Fortgehens (lza) gedacht sein.“112 Dagegen spricht auch nicht, daß es sich bei dem Verbum eventuell um ein Lehnwort aus dem Aramäischen handelt.113 Denn schon der in vielerlei Hinsicht recht al–––––––––––––– 106 Z. B. Ges.17, Art. hRcSoAm, S. 448: „am Tage der Tat“. 107 Freilich kann auch das hebräische hRcSoAm ethisch verwerfliches Handeln bezeichnen, vgl. Ges.18, Art. hRcSoAm, S. 716; MCCARTER: a. a. O. S. 343. Allerdings sind die dort genannten Textbelege nur bedingt aussagekräftig. Sowohl in Micha 6,16 als auch in 2 Chr 17,4 rührt der negative Klang nicht von dem Begriff als solchem her, sondern von der jeweiligen Wortverbindung, in der er steht; ähnliches gilt für Gen 44,15 und Neh 6,14, wo der jeweilige Kontext diese Funktion übernimmt. Eine Ausnahme stellt Ijob 33,17 dar (vgl. dazu Anm. 105 in Kap. 8). 108 So offensichtlich schon die LXX, ferner u. a. EHRLICH: a. a. O. S. 239; GREßMANN: a. a. O. S. 84. 109 Diese Möglichkeit ist oben jedoch bereits als unwahrscheinlich herausgestellt worden, s. o. unter 6.3 und 5.3.1. 110 Vgl. u. a. BUDDE: a. a. O. S. 143; DRIVER: a. a. O. S. 167f.; WELLHAUSEN: Text. S. 117; weitere Verweise bei BARTHÉLEMY: Critique. S. 199; STOEBE: a. a. O. S. 376f., Anm. 19 f). 111 Vgl. BARTHÉLEMY: Critique. S. 199. 112 STOEBE: a. a. O. S. 377, Anm. 19 f); so auch BARTHÉLEMY: Critique. S. 199. 113 Ges.18, Art. lza, S. 30.

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tertümlich anmutende Text 1 Sam *9f. benutzt die Wurzel wie selbstverständlich.114 Aufgrund der genauen Bezeichnung des Verstecks und späteren Treffpunkts könnte man zunächst meinen, V. 19 sei für den weiteren Verlauf der Erzählung unbedingt erforderlich. Indes zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß ausgerechnet jene Szene, in der Jonatan seinen Freund warnt (V. 35–39), von einer genauen Kenntnis der Ortslage nichts erkennen läßt, in dieser Hinsicht also V. 19 keineswegs voraussetzt. Der Vers kann demzufolge schwerlich als konstitutives Element der Erzählung eingestuft werden. In den V. 20–22 kommt Jonatan endlich auf die List zu sprechen, die er anwenden will, um seinem Freund gefahrlos Bescheid zu geben. Dabei stiftet erneut (nach den V. 5.12 und 19) das Auftreten der Dreizahl Verwirrung. Wahrend Jonatan hier angibt, er werde drei Pfeile abschießen, ist später in den V. 36b–38 bloß noch von einem Pfeil die Rede. Und in den V. 21f. spricht Jonatan zwar von MyI…xIjAh, jedoch allein in der masoretischen Fassung, die LXX bezeugt hier jeweils den Singular. In V. 38 dagegen verhält es sich genau umgekehrt: Der MT bietet die Einzahl und die LXX die Mehrzahl. Einmütigkeit herrscht einzig in bezug auf 20,36a, wo beide Textzeugen den Plural haben. WELLHAUSEN hat den Sachverhalt sehr scharfsinnig analysiert und gezeigt, daß in den V. 20 und 36a der Plural ursprünglich sein wird, die Anzahl der Pfeile in V. 20 dagegen sekundär aus dem hebräischen ... vE;lAvSa yˆnSaÅw entstanden sein dürfte, wie dies der Wortlaut der LXX auch noch durchblicken läßt.115 An den übrigen Stellen bildet vermutlich der Singular die jeweils ältere Lesart, was der MT in Hinblick auf V. 21 sogar selbst zu erkennen gibt, wenn er den Imperativ jåq mit einem singularischen Suffix versieht.116 Wenn also in bezug auf 20,20a die Textfassung der LXX originär ist, dann rechnet auch dieser Vers bereits jene Verzögerung aus 20,26 ein, die sich indes überhaupt noch nicht abzeichnet.117 Deswegen ist es nicht uninteressant zu se–––––––––––––– 114 Vgl. 1 Sam 9,7. Zur Einschätzung des Alters der Erzählung vgl. KRATZ: Komposition. S. 179; zu ihrem ursprünglichen Umfang vgl. a. a. O. S. 176, Anm. 78. 115 Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 117f. Man sollte m. E. jedoch ernsthaft erwägen, ob nicht anstelle des Imperfekts vE;lAvSa die entsprechende Form im Perfekt wahrscheinlicher ist, man hätte dann lediglich mit dem versehentlichen Fortfall eines y zu rechnen. Gerade bei Vereinbarungen, Verträgen usf. ist ein solcher Tempusgebrauch durchaus nicht unüblich, vgl. GK § 106m. 116 20,38 ist, soweit ich sehe, von WELLHAUSEN noch nicht problematisiert worden. Wenn er aber recht hat und die älteste Fassung tatsächlich nur von einem Pfeil wußte, während die Plurale aus den V. 20 und 36a sich allein der üblichen Vorstellung bzw. dem gewöhnlichen Sprachgebrauch verdanken, dann muß auch in V. 38 die Einzahl, wie sie der MT bezeugt, den Ausgangspunkt gebildet haben. 117 Daher kommentiert BUDDE (a. a. O. S. 144) die Stelle: „Dass das am dritten Tage beseitigt würde, wäre ganz erwünscht, weil sich der Zeitpunkt erst durch Sauls Schweigen am Neumond ergibt [...].“

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hen, daß der Vers auch ohne dieses Verbum noch einen vollständigen und verständlichen Satz bilden könnte: ... h®rwøa h∂;dIx MyI…xIjAh yˆnSaÅw.118 Es ist nicht auszuschließen, daß das Wort h∂;dIx auf einen Glossator zurückgeht, denn im griechischen Text sowie in der Peschitta findet sich kein Pendant hierzu. Andererseits mag man die Ortsangabe nur ungern missen, weil sonst der Zusammenhang mit 20,19 etwas im Vagen bliebe,119 was jedoch wiederum bedeutet, daß die LXX hier die schwierigere Lesart bietet. Ich neige trotzdem dazu, an dieser Stelle dem MT den Vorzug zu geben. Doch trägt die Frage insgesamt kaum etwas aus und kann daher auf sich beruhen. Nur ein wenig weiter gibt die LXX (und ähnlich wiederum die Peschitta) mit ihrer Übersetzung e˙kpe÷mpwn ei˙ß th\n amattari den V. 20b etwas knapper wieder, als er in der Fassung des MT lautet (h∂rDÚfAmVl yIl_jA;lAvVl), ohne daß dies mit einer Fortschreibung auf seiten des MT zu erklären wäre. Der Dativus ethicus im Hebräischen dürfte eher bei der Übertragung ignoriert, als im MT nachgetragen sein, da er den Sinn des Satzes ja nur unwesentlich beeinflußt. Auffällig ist, daß man mit der Vokabel h∂rDÚfAm bei der Schaffung des griechischen Textes offensichtlich nichts mehr anzufangen wußte. Sprachlich bedingte Verständnisprobleme könnten also den Wegfall jenes Dativs begünstigt haben. Möglich ist ferner, daß das yIl lediglich im Text ein wenig abwärts gewandert ist, denn in V. 21ab liest die LXX das Personalpronomen moi, das im MT an jener Stelle keine Entsprechung hat. Eine sekundäre Lesehilfe stellt mit einiger Sicherheit das Partizip le÷gwn dar, das die LXX zwischen 20,21aa und 21ab plaziert. Der Knappe, für den im Text bislang durchgehend der Terminus rAoÅn gebraucht worden war, wird in V. 22 unvermittelt als MRlRo bezeichnet. Dabei ist weniger der Begriffswechsel von Interesse, denn 20,22 ist für den Gesamtzusammenhang unverzichtbar, kann mithin keinen Nachtrag darstellen. Bemerkenswert ist vielmehr, daß der Ausdruck im gesamten AT nur noch ein einziges weiteres Mal belegt ist: in 1 Sam 17,56.120 Jonatan hat nach V. 22 eigentlich alles für die Durchführung des Plans Nötige gesagt, kommt jedoch in V. 23 noch einmal auf den Bund aus 20,12ff. zurück. Daß der Prinz hier tatsächlich den Bundesschluß aus V. 16a meint, obwohl er nicht die Wendung tyîrV;b (q) trk gebraucht, ist deswegen kaum zweifelhaft, weil sich für die übrigen Absprachen, welche David und Jonatan getroffen haben, der

–––––––––––––– 118 Auch die zugegebenermaßen nicht unbedingt gewöhnliche Syntax des so gewonnenen Gefüges steht dem im Wege, denn sie entspricht ja i. w. derjenigen des vom MT bezeugten Satzes; vgl. zudem Ijob 37,12. 119 Vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 118. 120 Wahrscheinlich hat man ihn noch einmal in 20,38 statt des rAoÅ…nAh des MT zu lesen, dazu s. u. zu V. 38.

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Ton des Fazits 20,23b121 eindeutig zu feierlich ausnähme. Der Plan muß ja nicht MDlwøo_dAo Bestand haben, sondern lediglich für die nächsten zwei Tage. Die Terminierung MDlwøo_dAo begegnet darüber hinaus in Kapitel 20 nur noch in V. 15a und 42b, also an zwei Stellen, die unverkennbar in direktem Zusammenhang mit jenem Bundesschluß stehen. Vergleicht man die V. 15a.23b und 42b (samt ihren jeweiligen Kontexten) miteinander, zeigen sich zwei interessante Unterschiede: a) in V. 23 hat es den Anschein, als werde hier nur von einer Vereinbarung zwischen David und Jonatan als Einzelpersonen gesprochen.122 Dagegen kommt in 20,15a auch das ‚Haus‘ Jonatans und kurz darauf in V. 16a ebenso dasjenige Davids in den Blick. Ähnlich ist es auch in V. 42b, nur daß hier erstens explizit darauf hingewiesen wird, daß das Bundesverhältnis sowohl David und Jonatan als auch ihre jeweiligen Nachfahren umfasse, und zweitens nicht der Begriff tˆyA;b gewählt, sondern vielmehr von oår‰z gesprochen wird. b) Wie bereits erwähnt, spricht V. 23 in bezug auf das, was sich in den V. 12–17 vollzogen hat, lediglich von einem rDb∂;d, wohingegen in V. 16a der Begriff tyîrV;b zwar nicht fällt, aber angedeutet ist. Auch von dem Eid aus V. 17 verlautet nichts. Erst V. 42b kommt auf diesen Ausdruck zurück und geht dabei sogar über V. 17 hinaus, indem er erwähnt, der Schwur sei ‚beim Namen Jhwhs‘ geleistet worden. Insgesamt ist festzustellen, daß V. 42b von den genannten drei Versen das elaborierteste Gepräge aufweist. 20,23 wirkt demgegenüber ausnehmend schlicht, denn weder das ganze Ausmaß noch der feierliche Charakter des Vereinbarten kommen hier recht zum Ausdruck. Von hierher wird man gut beraten sein, bei der Bestimmung des entstehungsgeschichtlichen Verhältnisses der V. 15a und 23b Vorsicht walten zu lassen. Sicher dürfte zunächst nur soviel sein, daß V. 23b eine Übereinkunft kennt, deren Bedeutung folgenschwerer ist als die des Plans aus den V. 5–10.18–22. Ab 20,24 beginnt der zweite Teil der Erzählung, der von der Durchführung dessen handelt, was bis hierher geplant und vereinbart wurde. Die V. 24f. fungieren dabei als Exposition für alles Folgende, indem sie mit wenigen Worten das Zustandekommen der erwünschten Ausgangssituation beschreibt: David hält sich versteckt, der Tag des Neumonds kommt, der König bittet wie üblich seine Vertrauten zur Tafel, Davids Platz aber bleibt leer. Die beiden Verse weisen keine ungewöhnlichen Merkmale auf, sind aber für das Ganze der Geschichte unver–––––––––––––– 121 Die Lesart des MT in V. 23b ist älter als diejenige, welche die LXX bezeugt und die zwischen hÎwh◊y und yˆnyE;b zusätzlich das Substantiv dEo (LXX: ma¿rtuß) enthält. Denn Ursachen für eine mögliche aberratio oculi finden sich nicht, Gründe für eine Glossierung sind dagegen durchaus vorstellbar. 122 Die im übrigen etwas künstliche Unterscheidung VEIJOLAs (Dynastie. S. 84, vgl. auch a. a. O. S. 75) zwischen der Bedeutung des Ausdrucks MDlwøo_dAo in V. 23 einerseits (‚lebenslänglich‘) und in den V. 15 und 42 andererseits (‚für immer‘) hat ihr Recht darin, daß die Frage nach dem Schicksal der Nachkommen in V. 23 tatsächlich außerhalb des Gesichtskreises liegt.

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zichtbar. Beachtung verdient der Umstand, daß Abner hier namentlich erwähnt wird, obwohl er im folgenden keine Rolle spielt. In bezug auf die Textüberlieferung ist mit WELLHAUSEN davon auszugehen, daß in V. 24 die Lesart JKRlR;mAh bRv´¥yÅw des MT älter als das kai« e¶rcetai oJ basileu\ß der LXX ist.123 Der MT klingt hier wie auch im übrigen V. 24bb ein wenig holprig, gibt sich aber gerade damit als ursprünglich zu erkennen. Vor diesem Hintergrund erhellt weiterhin, warum MRjR;lAh_lAo am Ende des Verses ursprünglich sein wird und nicht das Pendant der LXX (e˙pi« th\n tra¿pezan). Die griechische Fassung scheint ihrerseits im folgenden Vers den originären Wortlaut bewahrt zu haben, wo sie wahrscheinlich Mé;dåq◊¥yÅw statt des masoretischen M∂qÎ¥yÅw voraussetzt.124 Mit 20,26 könnte die Handlung eigentlich ihren Anfang nehmen, stattdessen ergibt sich jedoch eine kleine Verzögerung: Saul bemerkt Davids Fehlen, weiß sich dies aber selbst zu erklären und beruhigt sich so bis zum folgenden Tag. Daß dieser eintägige Aufschub von vier vorausliegenden Stellen in den Blick genommen wird, die allesamt in textkritischer Hinsicht erörterungsbedürftig sind (20,5.12.19f.), wurde bereits erwähnt. Nicht minder interessant ist der Gedankengang, mit dem sich Saul einen Reim auf Davids Ausbleiben zu machen versucht: David könnte sich eventuell durch eine Pollution125 verunreinigt haben und daher dem Mahl fernbleiben müssen. Dem König wird damit eine Denkweise unterstellt, die man eher von einem Priester erwarten sollte und die, kaum zufällig, derjenigen Ahimelechs aus 1 Sam 21,5–7 frappierend ähnelt. Denn hier wie dort wird kultische Unreinheit zuallererst mit der menschlichen Sexualität in Verbindung gebracht. In den Einzelheiten bestehen freilich unübersehbare Unterschiede: Zum einen wird in 21,5 von einem anderen Grund für die Verunreinigung (namentlich von mangelnder Enthaltsamkeit) ausgegangen. Zum anderen differieren auch die Begrifflichkeiten nicht unerheblich: 20,26 verwendet das Adjektiv rwøhDf,126 eine Vorzugsvokabel der Priesterschrift,127 21,6 dagegen gebraucht neben dem Substantiv v®dOq das Verb (pi) vdq.128 Hinzu kommt, daß der Einwand Ahimelechs durchaus nahe liegt,129 denn David will ja v®dOq MRjRl (21,5) als Proviant –––––––––––––– 123 Vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 118. 124 Zur Begründung vgl. W ELLHAUSEN: a. a. O. S. 118f. Vgl. auch BARTHÉLEMY: Critique. S. 200; BUDDE: a. a. O. S. 144; STOEBE: a. a. O. S. 377f., Anm. 25 c). 125 So u. a. Ges.18, Art. h®rVqIm, S. 732; BUDDE: a. a. O. S. 144; zur Sache vgl. auch Dtn 23,11; Lev 15,16. 126 Das letzte Wort des Verses dürfte allerdings mit WELLHAUSEN (a. a. O. S. 119), BUDDE (a. a. O. S. 144) u. a. auf Grundlage der LXX-Lesung an dieser Stelle als 3. Sg. m. Perf. im Pu‘al (rAhOf) zu vokalisieren sein. 127 Vgl. etwa MAASS: Art. rhf. Sp. 647. 128 Auch die Wurzel vdq und ihre Derivate werden ausgesprochen häufig von der Priesterschrift bemüht, daneben finden sich aber auch zahlreiche Belege bei Jesaja, Ezechiel, den Psalmen und in der Chronik; vgl. etwa die Tabelle bei MÜLLER: Art. vdq. Sp. 593f. 129 Dazu s. 9.2.

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mitnehmen, was an sich schon Zumutung genug sein dürfte. Dagegen nimmt sich Sauls Überlegung aus 20,26 in ihrem Kontext ausgesprochen fremdartig und unmotiviert aus. Daran ändert auch der Verweis auf Dtn 23,11, einen Vers aus den deuteronomischen Bestimmungen zur Wahrung der Reinheit des Kriegslagers (Dtn 23,10–15), nichts, obwohl jene Stelle zweifellos ein enges Seitenstück zu 1 Sam 20,26 darstellt. Zwar könnte man sich den Ort des Geschehens zur Not auch als Feldlager und eine Kriegssituation als szenischen Hintergrund vorstellen, nur finden sich eben im übrigen Text für eine solche Auffassung keinerlei Anhaltspunkte. Was das Verhältnis von Dtn 23,11 und 1 Sam 20,26 angeht, so ist zwar die Nähe der beiden Stellen unstrittig und ein direkter Zusammenhang nicht unwahrscheinlich, doch dürfte schwerlich zu entscheiden sein, welcher der beiden Stellen das entstehungsgeschichtliche Primat zukommt. Weil also erstens 20,26 und 21,5–7 gleichermaßen Ähnlichkeiten wie Unterschiede aufweisen und zweitens der Vers 20,26 in seinem Kontext gänzlich unmotiviert wirkt, während sich die Verse 21,5–7 organisch aus dem zuvor Geschilderten ergeben, legt sich der Schluß nahe, daß die Abfassung von 20,26 durch die Episode *21,2ff. angeregt wurde. In V. 27aa sieht man sich neuerlich dem inzwischen vertrauten Phänomen gegenüber, daß sich Komplikationen (meist syntaktischer Art) einstellen, sobald die Erzählung jener Verzögerung Rechnung trägt, die sich für den Fortgang der Handlung aus 20,26 ergeben hat. In diesem Fall bildet die maskuline Ordinale ˆnEÚvAh den Stein des Anstoßes, die sich der Sache nach unmöglich auf v®dOjAh und der Grammatik nach ebensowenig auf tårFjD;mIm beziehen kann.130 Die Lesart der LXX (V. 27aa : kai« e˙genh/qh thvØ e˙pau/rion touv mhno\ß thvØ hJme÷raˆ thvØ deute÷raˆ) wurde von WELLHAUSEN u. a. dahingehend gedeutet, daß sich hier eine ältere Dublette oder Wahllesart erhalten habe, die im MT beseitigt oder fortgefallen sei.131 Doch der Wortlaut der LXX ist nicht nur länger, sondern auch glatter, so daß hier m. E. eher an einen dezenten Harmonisierungsversuch seitens der griechischen Übersetzer zu denken ist. Im MT dürfte die Ordinalzahl analog zu der Formulierung yˆnEÚvAh v®dOjAh_MwøyV;b aus V. 34b zu verstehen und dabei folglich ein virtuelles MwøyV;b vor oder in Form von v®dOjAh anzunehmen sein. Noch ominöser erscheint das Gefüge, wenn man sich vor Augen führt, daß mit v®dOjAh tårFjD;mIm allein bereits alles Nötige gesagt gewesen wäre. Vielleicht handelt es sich bei dem Wort yˆnEÚvAh also um eine Glosse, die den Vers an V. 34b angleichen soll. V. 27ab bildet eine wörtliche Wiederaufnahme von V. 25b. Darüber hinaus knüpft er unmittelbar an V. 27aa an und gründet sich damit letztlich wie jener auf 20,26. Während diese anderthalb Verse im folgenden jedoch allenfalls am Rande –––––––––––––– 130 Vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 119. 131 Vgl. ebd. Ferner vgl. BUDDE: a. a. O. S. 144; DRIVER: a. a. O. S. 169; STOEBE : a. a. O. S. 378, Anm. 27 a).

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vorausgesetzt sind, bildet 20,27b132 einen unverzichtbaren Bestandteil der Erzählung: Sauls Frage nach dem Verbleib Davids setzt ja erst alle weiteren Abläufe in Gang. Der Halbvers könnte somit auch direkt an V. 25 anschließen. Die eben erwähnte Wiederaufnahme sowie der Umstand, daß V. 26.27a eine Digression darstellen, machen diese Annahme sogar wahrscheinlich. Dagegen scheint zu sprechen, daß V. 27bb mit den Worten Mwø¥yAh_MÅ…g lwømV;t_MÅ…g deutlich auf 20,26.27a rekurriert. Hinwiederum wird diese Zeitangabe, wie sich bei näherem Hinsehen zeigt, weder von der syntaktischen Struktur des Satzes noch vom weiteren Fortgang der Geschichte zwingend erfordert; sie könnte also durchaus nachträglich hinzugesetzt worden sein. Auffällig ist zuletzt noch, daß Saul hier wie auch in den V. 30f. von David spricht, indem er dessen Vaternamen yAvˆy_NR;b verwendet. In ähnlicher Häufung begegnet er lediglich noch in Kapitel 22 (V. 7–9.13), ferner wurde oben bereits beobachtet, daß dem Namen des Vaters Davids auch in 1 Sam 17,55–58 eine besondere Bedeutung beigemessen wird.133 In den V. 28 und 29 antwortet Jonatan auf die Frage seines Vaters,134 beide Verse gehören zum Handlungsgerüst der Erzählung und sind daher unentbehrlich. Das gilt zumindest für V. 28 in toto sowie für V. 29b: 20,28a enthält die unverzichtbare Redeeinleitung, V. 28b gibt die eigentliche Anwort und ermöglicht so erst die Erläuterung V. 29a, deren Beginn (rRmaø¥yÅw) ohne den vorausgehenden Halbvers unweigerlich mißverstanden, nämlich auf Jonatan anstatt auf David bezogen werden müßte. V. 29b bildet insofern einen gelungenen Abschluß der Worte Jonatans, als er die Frage Sauls aus V. 27b wieder aufgreift. Der Tatsache, daß der Königssohn die Worte seines Vaters z. T. auch leicht variiert (V. 27b: MRjD;lAh_lRa; V. 29b: JKRlR;mAh NAjVlUv_lRa), sollte man dabei nicht allzu große Bedeutung beimessen. Auch V. 28b wandelt ja den Wortlaut der Instruktion, die David seinem Freund in 20,6ba gegeben hat, geringfügig ab,135 ohne daß das Handlungsgerüst der Erzählung eines dieser zwei Stücke entbehren und man dementsprechend eines von ihnen als Zusatz werten könnte. Ähnliches ist in bezug auf V. 29a festzustellen: Zwar deckt sich auch dieser Halbvers nur teilweise mit dem in V. 6b –––––––––––––– 132 Das Ende des Halbverses ist in zwei verschiedenen Fassungen überliefert. 4QSamb liest Njlvh lo, was auch von der LXX gestützt wird, der MT dagegen bezeugt MRjD;lAh_lRa. Diese zweite Lesart dürfte ursprünglich, die erste hingegen als stilistische Glättung zu erklären sein. 133 S. 5.2 zur Stelle. 134 Das kai« ei•pen aujtw◊ˆ, das die LXX liest, ist freilich ebenso sekundär wie das von ihr am Ende von V. 28 bezeugte poreuqhvnai; beiderlei soll nachträglich das Verständnis erleichtern. Der Infinitiv absolutus lOaVvˆn könnte bei der Übertragung ins Griechische verloren gegangen sein. Auch in V. 29 dürfte die LXX (oder ihre Vorlage) weitergearbeitet haben. Denn daß eine Schar von Brüdern (so in LXX und 4QSamb) auf einen einzigen Bruder (so der MT) zusammengestrichen wird, ist deutlich weniger wahrscheinlich als der umgekehrte Fall; gegen BUDDE: a. a. O. S. 145; WELLHAUSEN: a. a. O. S. 119. 135 V. 6ba: wøryIo MRjRl_tyE;b X…wrDl dˆw∂d yˆ…nR;mIm lAaVvˆn lOaVvˆn D;t√rAmDa◊w; V. 28b: MRjDl tyE;b_dAo yîdD;mIoEm dˆw∂;d lAaVvˆn lOaVvˆn.

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Gesagten,136 zudem mag es auf den ersten Blick scheinen, als könnte V. 29b direkt an 28b anschließen, doch zeigt sich bei eingehender Betrachtung, daß auch 20,29a für das Ganze unverzichtbar ist. Denn es bedarf schon einer angemessenen Begründung, wenn der Untertan seinen König buchstäblich ‚sitzen läßt‘. Sauls Reaktion auf diese Antwort schildern die V. 30f., deren Text im einzelnen eine Reihe von Fragen aufwirft.137 Erstens bezeichnet der König in V. 30aMT seinen Sohn als t…w;d√rA;mAh tÅwSoÅn_NR;b, was ins Deutsche übersetzt etwa ‚Sohn der / einer Abgewichenen (von) der Widerspenstigkeit138‘ heißen müßte und evidentermaßen keinen Sinn ergibt. Die LXX hat eine nicht minder seltsame Alternative anzubieten: ui˚e« korasi÷wn aujtomolou/ntwn, wörtlich: ‚Sohn überlaufender Mädchen‘. Man führt dies in der Regel auf tOwd√rOm(Ah) tOrDo◊n_NR;b zurück,139 womit man dem Konsonantenbestand des MT recht nahe kommt (vorausgesetzt sind eine Verwechslung der Buchtstaben w und r sowie eventuell das Fehlen des Artikels). Von hier aus eröffnet sich die Möglichkeit, t…wd√rA;mAh tårSoÅn_NR;b zu vokalisieren, „son of a rebellious girl“140 zu übersetzen und dies als „[son] of a runaway slave-girl“141 zu erklären. Diese Lösung ist nicht über alle Zweifel erhaben, wird aber im allgemeinen und letztlich wohl mit Recht favorisiert;142 für die Zwecke dieser Untersuchung kann es damit ein Bewenden haben. Zweitens findet sich in V. 30bMT die ungewöhnliche, im gesamten AT analogielose Wendung l (q) rjb, während die LXX me÷tocoß liest, was auf das hebräische Wort rEbDj oder rEbOj führt.143 Beide Lesarten sind gleichermaßen als das Ergebnis sekundärer Überarbeitung vorstellbar. Hinter der LXX-Fassung könnte das Bestreben stehen, den Text stilistisch zu glätten. Bei der Entstehung des MTWortlauts hingegen könnte der Wunsch leitend gewesen sein, durch die Verwendung des Verbums (q) rjb die Besonderheit der Verbindung zwischen David und Jonatan stärker hervorzustreichen, als dies mit Hilfe des Terminus’ rEbDj / rE b O j –––––––––––––– 136 V. 6 etwa spricht von MyImÎ¥yAh jAb‰z, V. 29a dagegen von hDjDÚpVvIm jAb‰z. Darüber hinaus flicht 20,29a die Brüder Davids ein, von denen bis dato in Kapitel 20 noch kein Wort verlautet ist. 137 Kaum zweifelhaft ist, daß es sich bei dem Wörtchen dOaVm am Ende von V. 30aa (4QSamb, LXX) um einen Zusatz handelt. 138 Man hat daneben erwogen, das Hapaxlegomenon t…w;d√rAm vor dem Hintergrund des aramäischen / neuhebräischen aDt…wd√rAm zu verstehen und mit ‚Zucht‘ bzw. ‚Züchtigung‘ zu übersetzen, so DE L AGARDE : Mittheilungen. S. 237. Man gelangt dann zu der durchaus passablen Übersetzung ‚Sohn einer Abgewichenen von der Zucht‘. Gemeinhin wird das Wort heute jedoch als von der hebräischen Wurzel drm gebildetes Abstraktum aufgefaßt und dementsprechend mit dem deutschen Begriff ‚Widerspenstigkeit‘ oder ‚Aufruhr‘ wiedergegeben; vgl. KBL3, Art. I t…w;d√rAm, S. 597; Ges.18, Art. t…w;d√rAm, S. 736. 139 Vgl. DRIVER: a. a. O. S. 171. 140 Ebd. 141 Ebd. 142 Zu dem Problem vgl. auch BUDDE: a. a. O. S. 145; WELLHAUSEN: Text. S. 119f.; STOEBE: a. a. O. S. 378f., Anm. 30 a). 143 Vgl. etwa BUDDE: a. a. O. S. 145.

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möglich erschien.144 Daher bieten sich kaum Anhaltspunkte für eine begründete Entscheidung. Zumeist gibt man der LXX-Fassung den Vorzug,145 was m. E. zumindest insofern berechtigt ist, als die einfachere Formulierung besser in die Schilderung eines Wutanfalls paßt. Drittens ist in V. 31 der Wortlaut des Viertelverses ab unsicher. Der MT lautet an dieser Stelle ÔKRt…wkVlAm…w hD;tAa Nwø;kIt aøl, während 4QSamb Ktklmm ta Nkt al und die LXX oujc e˚toimasqh/setai hJ basilei÷a sou liest. Die beiden letzteren weisen in dieselbe Richtung und dürften den ursprünglichen Text wiedergeben. Für den sekundären Charakter des MT an dieser Stelle spricht zum einen die Beobachtung, daß das Substantiv t…wkVlAm im Bereich der Samuel- und Königebücher äußerst selten (1 Sam 20,31; 1 Kön 2,12), dagegen vergleichsweise häufig in den jüngeren Schriften des AT anzutreffen ist.146 Zum anderen läßt sich der MT sehr gut als Auslegung des von 4QSamb und LXX bezeugten Wortlauts begreifen, die durch die Polyvalenz des Prädikats Nkt (3. Sg. f. oder 2. Sg. m.) ermöglicht und durch die Abänderung des ursprünglichen m in ein h und ein w verwirklicht wurde.147 Viertens weicht die griechischsprachige Fassung in V. 31ba darin deutlich vom MT ab, daß sie anstelle des hebräischen yAlEa wøtOa jåq◊w die Worte labe« to\n neani÷ a n hat und damit auf eine Vorlage zurückverweist, die vielleicht r…wjD;bAh_tRa jåq◊w, MRlRoDh_tRa jåq◊w oder dRl‰¥yAh_tRa jåq◊w las.148 Hintergrund dieser Vermutung ist die Beobachtung, daß in 1 Sam 20MT das hebräische rAoÅn in der LXX bis auf eine Ausnahme mit dem griechischen paida¿rion wiedergegeben wird, lediglich in V. 37 findet sich stattdessen neani÷aß. Das scheint darauf hinzudeuten, daß die Schöpfer der LXX bei ihrer Übersetzung die Verschiedenheit der hebräischen Begriffe im Griechischen nachzuahmen versuchten. Diese Vermutung bestätigt sich in V. 22, wo der MT ein einziges Mal MRlRo verwendet und die LXX dem augenscheinlich Rechnung trägt, indem auch sie mit neani÷skoß einen anderen Ausdruck bemüht. Eine Entscheidung zwischen den beiden Lesarten fällt einmal mehr nicht leicht. Ich favorisiere indes die des MT, weil sie sich zum einen unter graphischen Gesichtspunkten eher als Ausgangspunkt denn als Ziel einer Ergänzung vorstellen –––––––––––––– 144 Man bedenke hierbei, daß die Wurzel rjb im 1. Samuelbuch überwiegend in solchen Passagen begegnet, die um die Wahl bzw. Erwählung des Königs über Israel kreisen, vgl. 1 Sam 8,18; 10,24; 12,13; 16,8–10; hinzu kommt noch der Hinweis auf die Erwählung des Priestergeschlechts in 1 Sam 2,28. 145 So u. a. BUDDE: a. a. O. S. 145; DRIVER: a. a. O. S. 171; WELLHAUSEN: a. a. O. S. 120; anders: BARTHÉLEMY: Critique. S. 200f.; STOEBE: a. a. O. S. 372 und 379, Anm. 30 b). 146 Vgl. BARTHÉLEMY: a. a. O. S. 201. Hingegen sind die Belege für hDkDlVmAm relativ gleichmäßig über das gesamte AT verteilt. 147 Wenn eine derartige Auslegungspraxis tatsächlich hinter 20,31ab steht, dann könnte damit ein weiteres Argument für die Priorität des LXX-Textes in V. 30b gewonnen sein; dazu s. o. – Anders in Hinblick auf V. 31ab urteilt STOEBE: a. a. O. S. 379, Anm. 31 a); ähnlich dagegen BUDDE: a. a. O. S. 145. 148 Vgl. BUDDE: a. a. O. S. 145. Zum Problem s. auch das zu den V. 37b.38 Ausgeführte.

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läßt und sich zum anderen im Vergleich zu r…wjD;bAh_tRa jåq◊w o. dgl. weniger plastisch ausnimmt, mithin eher Anlaß für stilistische Nachbesserung gibt. Die V. 30f. leiten den eigentlichen Höhepunkt der Erzählung ein, das Ergebnis jenes Tests, dem Jonatan seinen Vater unterzieht, und sind aus diesem Grunde integraler Bestandteil des Ganzen. In bezug auf V. 30a und 31b bedarf das kaum einer Erläuterung, der Wutausbruch Sauls, seine Schmähung des eigenen Sohnes sowie sein Befehl, David augenblicklich herzuschaffen, werden ja allesamt in den V. 32–34 vorausgesetzt. Doch auch die V. 30b.31a kann die Erzählung nicht gut erübrigen: Das Scheltwort V. 30a verlangt nach einer Begründung, die aber V. 31a allein nicht liefern kann, weil hier gar nichts über Jonatans Verhalten ausgesagt wird. Der König muß folglich zunächst seinem Sohn zu verstehen geben, daß er dessen loyale Haltung David gegenüber längst bemerkt hat (V. 30b), damit sich dem Leser / der Leserin erschließen kann, worin der Vorwurf besteht, den Saul gegen seinen Sohn erhebt. Das bedeutet zugleich, daß auch V. 30b auf die Fortsetzung durch 31a angewiesen ist. Die V. 30f. bilden also – in der oben rekonstruierten Form – einen wesentlichen Bestandteil des Handlungsgerüstes und dürften folglich bereits der ältesten Fassung der Erzählung angehört haben. V. 32 schildert Jonatans Entgegnung auf die Worte seines Vaters. Der Prinz verlangt zu erfahren, welche Vorwürfe gegen seinen Freund vorliegen, die das finstere Ansinnen Sauls rechtfertigen könnten, und bezieht damit natürlich unübersehbar Stellung gegen den eigenen Vater. All das setzt sowohl die V. 30f. voraus als auch Sauls Reaktion in V. 33. Was die Gestalt des Textes angeht, wird wohl ein weiteres Mal die Fassung der LXX vorzuziehen sein, die hier die lectio brevior darstellt.149 In 20,33 tritt die Endgültigkeit der Entscheidung Sauls, den David umzubringen, unmißverständlich zutage, weil sich der König im Zornesrausch dazu versteigt, die Hand gegen den eigenen Sohn und Thronfolger zu erheben. Man kann darüber streiten, ob man hier das Prädikat besser wie im MT lRfÎ¥yÅw (‚er schleuderte / warf‘) vokalisiert und folglich von der Wurzel (hi) lwf ableitet oder ob wie in 1 Sam 18,11 die von den Versionen und im Anschluß an sie auch von BUDDE u. a. vorausgesetzte Punktation l;Ofˆ¥yÅw (‚er hob auf / zückte‘), d. h. die Ableitung von (q) lfn, den Vorzug verdient.150 Mir will allerdings nicht recht einleuchten, was gegen die erste und für die zweite Möglichkeit spricht. Denn –––––––––––––– 149 In 20,32aMT ist demzufolge die Apposition wyIbDa auszuscheiden und in V. 32bMT die beiden Wörter wyDlEa rRmaø¥yÅw. Das Verbum (q) hno wird auch in V. 28 ohne Ergänzung durch (q) rma gebraucht, dort aber ist es die LXX (bzw. ihre Vorlage), die kai« ei•pen aujtw◊ˆ (resp. wyDlEa rRmaø¥yÅw) hinzusetzt (vgl. im Kap. 8 Anm. 134). 150 Vgl. etwa BUDDE: a. a. O. S. 145; BHK zur Stelle; GREßMANN: a. a. O. S. 84; HERTZBERG: a. a. O. S. 133; M CCARTER: a. a. O. S. 339; SMITH: a. a. O. S. 193f.; vorsichtiger DRIVER: a. a. O. S. 171.

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wenn Saul seine Waffe lediglich zückt, um seinen Sohn zu töten, dann entsteht in der Erzählung plötzlich eine kleine Lücke. Der Leser / die Leserin möchte in diesem Fall nämlich wissen, ob Saul diese Absicht auch in die Tat umgesetzt hat. Davon aber verlautet nichts. Daher liegt es nach meinem Dafürhalten näher, an dieser Stelle das Verbum (hi) lwf zugrundezulegen.151 In V. 33a ist das bloße wyDlDo des MT beizubehalten, die LXX expliziert dies mit den Worten e˙pi« Iwnaqan und ist deshalb höchstwahrscheinlich sekundär. Des weiteren kann der Wortlaut von V. 33bbMT kaum ursprünglich sein. Deswegen liest man für gewöhnlich dˆw∂;d_tRa tyImDhVl wyIbDa MIoEm hDtVlDk_yI;k und streicht das ayIh.152 Das Personalpronomen als späteren Glättungsversuch zu verstehen, dürfte in der Tat das plausibelste sein; die LXX (oder ihre Vorlage) hat augenscheinlich hieran angeknüpft und mit Blick auf 20,7 und 9 noch hJ kaki÷a (bzw. hDo∂rDh) ergänzt. Mit V. 33 ist die Klimax der Erzählung erreicht. Indem er die Formulierungen aus V. 7bb und 9ba aufgreift, führt insbesondere V. 33b dem Leser bzw. der Leserin deutlich vor Augen, daß der erste Teil des Plans der beiden Freunde (vgl. V. 5–9) aufgegangen ist. Die Speerwurfszene V. 33a hat in 1 Sam 18,10f. und 19,9f. zwei deutliche Seitenstücke. Anders als 20,33 sind diese aber unlösbar mit den Motiven der Heimsuchung Sauls durch den bösen Geist und des therapeutischen Harfenspiels Davids verbunden und damit von 1 Sam 16,14ff. abhängig. Bei der Betrachtung des Verhältnisses der drei Stellen zueinander hat sich oben bereits gezeigt, daß 20,33 mit einiger Wahrscheinlichkeit älter als die beiden übrigen Stücke ist und überdies auch ihren textgenetischen Ausgangspunkt gebildet haben wird.153 20,34 beschließt den Abschnitt, der von der Umsetzung des ersten Teils des Planes erzählt. Auch Jonatan gerät nun in Wut und verläßt daher, ohne gegessen zu haben, die Tafel.154 In V. 34ba wird noch einmal V. 26 Rechnung getragen und erwähnt, daß es sich um den zweiten Tag des Neumond(fest)es gehandelt habe, was jedoch hinlänglich bekannt (V. 27), und damit an diesem Punkt der Erzählung nicht mehr von Bedeutung ist. Man fragt sich daher, warum diese Information hier noch einmal gegeben wird. Am nächsten liegt es m. E., das Wort yˆnEÚvAh als mit Blick auf V. 26 vorgenommenen Nachtrag zu betrachten. –––––––––––––– 151 Man beachte hierzu das beredte Schweigen bei WELLHAUSEN: a. a. O. S. 120. Richtig STOEBE (a. a. O. S. 372), der jedoch fälschlicherweise 18,11 mit 20,33 über einen Kamm schert (vgl. a. a. O. S. 342); ebenso CAQUOT / DE ROBERT: a. a. O. S. 216.240; STOLZ: a. a. O. S. 122.134. 152 So etwa WELLHAUSEN: a. a. O. S. 120; BUDDE: a. a. O. S. 145; STOEBE: a. a. O. S. 379, Anm. 33 b). 153 S. 6.2. 154 Der Vers beginnt nach 4QSamb mit den Worten ...lom Ntnwy zjpyw, während der MT hier NDtÎnwøh◊y M∂qÎ¥yÅw ...MIoEm hat. Ich halte letzteres für älter, weil es den allgemeineren Ausdruck darstellt und mithin zur stilistischen Verfeinerung angereizt haben könnte. Zur Wurzel zjp und ihrer Bedeutung vgl. KBL3, Art. zjp, S. 872f.

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Ausgesprochen wichtig ist dagegen die Begründung für das Verhalten des Königssohns, die in V. 34bbg in Form zweier mit yI;k eingeleiteter Sätze folgt. Sie wirft sogleich eine Frage auf: Sollen diese zwei Sätze tatsächlich eine Kausalbeziehung aufzeigen? Oder handelt es sich genaugenommen um zwei voneinander unabhängige Gründe, die hier angeführt werden? Gegen die zweite Möglichkeit spricht vor allem der Umstand, daß die beiden yI;k-Sätze unverbunden nebeneinander stehen. Der ersten Möglichkeit steht der Kontext entgegen. Es ist zwar durchaus möglich – und der MT legt dies sogar nahe – das Personalsuffix des Prädikats wømIlVkIh aus V. 34bg auf David zu beziehen und etwa wie folgt zu übersetzen: „... denn er war Davids wegen betrübt, den sein Vater nämlich geschmäht hatte“. Doch ergibt sich damit eine Aussage, die zu allem im Widerspruch steht, was bis hierher erzählt worden ist, denn der König hat schließlich nicht David, sondern den Kronprinzen verunglimpft. Die LXX bietet gleich zwei Lösungen des Problems an. Die meisten Handschriften lesen in V. 34bg o¢ti sunete÷lesen e˙p∆ aujto\n oJ path\r aujtouv, was auf wyIbDa wyDlDo hD;lIk yI;k zurückführt,155 letztlich aber eine deutlich einfachere und obendrein längere Lesart darstellt. Mehr Wahrscheinlichkeit kann deshalb die Fassung des Vaticanus für sich in Anspruch nehmen, derzufolge V. 34bg unmittelbar auf V. 34ba folgt. Sie stellt zwar ebenso eine lectio facilior dar, besticht aber durch ihre Kürze. Daß dieses Fehlen des V. 34bb nicht auf eine aberratio zurückgehen, sondern vielmehr originär sein dürfte, bestätigt der Kontext: Wenn 20,34bg direkt an ba angeschlossen wird, kann das Suffix aus wømIlVkIh auf Jonatan bezogen werden, was sich perfekt zu dem in V. 30 Geschilderten fügt. Die betrübte Stimmung Jonatans aus V. 34bb paßt hingegen nur schlecht zum Zorn des Königssohns, von dem noch in V. 34a die Rede war. 20,34bb dürfte mithin als sekundäre Einschaltung einzustufen sein,156 deren Absicht vermutlich darin liegt, Jonatans Affekt als Ausdruck seiner selbstlosen Sorge um den Freund auszuweisen. Jonatan verläßt die Tafel also ursprünglich deshalb, weil er sich von seinem Vater gedemütigt fühlt. Die V. 35–39 schildern, wie anschließend auch die zweite Hälfte des Planes erfolgreich in die Tat umgesetzt und David heimlich gewarnt wird. Die ganze Passage ist folglich wie der V. 34, den sie voraussetzt, unverzichtbar für das Handlungsgerüst der Erzählung. Nach V. 35 bricht Jonatan erst am nächsten Morgen auf, um David zu warnen. Das ist insofern bemerkenswert, als David in 20,5b angekündigt hatte, bis zum Abend des Neumondtages in seinem Versteck zu warten.157 Die Erzählung offenbart an dieser Stelle also eine leichte Inkonsistenz in ihrem Konzept des zeitlichen Verlaufs der Ereignisse, die aber nicht in Zusammenhang mit jener –––––––––––––– 155 Vgl. WELLHAUSEN: a. a. O. S. 120. 156 Vgl. SMITH: a. a. O. S. 193f.; BUDDE: a. a. O. S. 145 und s. o. 157 Wie oben gezeigt, hat vermutlich erst ein Glossator versucht, durch Einschaltung des Wortes tyIvIlVÚvAh V. 5b auf V. 35 (vor dem Hintergrund der V. 26f.34 gelesen) abzustimmen.

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durch 20,26 ausgelösten Verzögerung steht. Es sind näherhin allein die zwei Wörter r®qO;bAb yIh◊yÅw (V. 35aa), in denen die Unstimmigkeit begründet liegt, der übrige Vers birgt nichts dergleichen und könnte zudem ohne Probleme unmittelbar an V. 34 anschließen. Mithin drängt sich der Eindruck auf, es bei V. 35aa mit einem nachträglich eingefügten Stück zu tun zu haben. Schon WELLHAUSEN hat diese Möglichkeit erwogen: „Man versteht den Grund des Verzuges in so fern nicht, als periculum in mora war, und David v. 5 voraussetzt, dass er über das, was bei Tisch vorgefallen, bis zum Abend des selben Tages Bescheid erhalten werde. Auf der andern Seite konnte der Schein, als ob Jonathan nach der Scheibe schösse, nicht wohl bei Abend aufrecht erhalten werden. Man wird daher die Inconcinnität, die in rqbb yhyw liegt, auf Rechnung des ursprünglichen Verfassers schreiben dürfen.“158

Die Achillesferse dieser Argumentation besteht in der von ihr stillschweigend zugrundegelegten Annahme, das Bankett des Königs müsse des Abends stattfinden. Das ist zwar denkbar, liegt bei einer Neumondfeier vielleicht sogar nahe, steht aber nicht im Text. Außerdem ist nicht auszuschließen, daß die Überlegung, derzufolge ein während der Dämmerung durchgeführtes Bogenschußtraining einen denkbar schlechten Vorwand abgebe, auch von einem Späteren als dem Verfasser angestellt worden sein könnte. V. 36 setzt die Erzählung nahtlos fort und weist mit Ausnahme einiger textkritischer Detailprobleme keine Besonderheiten auf;159 dasselbe gilt für V. 37a.160 Auch V. 37b führt die Pfeilschußszene angemessen weiter, doch macht sich hier eine geringfügige Textirritation bemerkbar: Die Redeeinleitung zu Beginn des Halbverses kehrt, zumindest im MT, beinahe wörtlich in 20,38aa161 wieder. Der ursprüngliche Wortlaut von 20,37b läßt sich indes nicht mehr mit Sicherheit ermitteln. Die Vorlage der LXX hat hier möglicherweise ein anderes Substantiv als rAoÅ…nAh gelesen. Obwohl nämlich die griechische Übersetzung sonst –––––––––––––– 158 WELLHAUSEN: Text. S. 120. 159 Anders als die LXX und 4QSamb weist 20,36MT mit Hilfe des Pronominalsuffixes den Laufburschen als Knappen Jonatans aus, was sich am einfachsten als nachträglich hinzugefügte Information verstehen läßt. Darüber hinaus lautet in 4QSamb der zweite Imperativ jq, das aDxVm des MT dürfte aber wahrscheinlicher sein, denn es wird von der LXX bestätigt (vgl. BARTHÉLEMY: Critique. S. 201). Ob diesem Imperativ ursprünglich ein aÎn (so der MT) oder ein yIl (so nach der LXX) folgte, ist nicht zu entscheiden und ähnlich unerheblich wie die Frage, ob 20,36b mit einem w angehoben hat oder nicht. 4QSamb hängt an das letzte Wort des Verses noch hryoh an, dabei handelt es sich wohl um einen Zusatz, der eventuell unter Einfluß des vorausgegangenen Wortes ersonnen wurde. BARTHÉLEMY (a. a. O. S. 202) geht davon aus, daß sich das Wort einer Dittographie verdankt. Als ursprüngliche Lesung des Endes von V. 36 nimmt er hOryIbSoAhVl an. 160 Anstelle des awølSh im MT liest die LXX e˙kei√ und bezeugt damit wohl hebräisches MølSh, was aber dem hDaVlDhÎw völlig zuwiderläuft und folglich den Sinn entstellt, vgl. WELLHAUSEN: Text. S. 120. Das hnh, das sich hierfür in 4QSamb findet, wird einem nachträglichen Angleichungsversuch an V. 22ab geschuldet sein. 161 Die älteste Form des Viertelverses dürfte allerdings von 4QSamb bezeugt werden, dazu s. u.

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konsequent rAoÅn mit paida¿rion wiedergibt (und dementsprechend dem MRlRo aus V. 22 Rechnung trägt, indem sie den Terminus neani÷ s koß wählt), hat sie hier neani÷aß.162 Mir erscheint es am wahrscheinlichsten, daß ihre Vorlage hier r…wjD;b las, weil dieser Ausdruck in den erzählenden Büchern, aber auch aufs Ganze des AT gesehen, am häufigsten als Pendant zu neani÷aß begegnet.163 Allerdings kann man mit Fug und Recht zweifeln, ob dieser mutmaßliche Wortlaut der LXX-Vorlage originär ist, denn bei der Untersuchung von V. 31 hat sich bereits gezeigt, daß die LXX an dieser Stelle vermutlich eine sekundäre Lesart repräsentiert. Doch auch wenn man 20,37b für sich betrachtet, bietet der MT die plausiblere Alternative, da der Begriff rAoÅn deutlich blasser wirkt als r…wjD;b oder dRl‰y und von daher viel eher nachträglich ausgetauscht worden sein dürfte als jene. Lediglich in zwei kleinen Punkten unterscheiden sich die beiden Redeeinleitungen V. 37bb und V. 38aa: Zum einen endet jene in V. 37bb nicht wie V. 38aa bereits mit den Worten rAoÅ…nAh yérSjAa, sondern schickt noch ein zweites Verb, rRmaø¥yÅw, hinterher. Zum anderen dürfte in V. 38aa der Wortlaut von 4QSamb dem des MT vorzuziehen und mithin hmlo rja anstatt rAoÅ…nAh yérSjAa zu lesen sein.164 Desungeachtet nimmt sich 20,38aa aufs Ganze gesehen wie eine – wiewohl etwas freier gehaltene – Wiederaufnahme von V. 37ba aus, bei den V. 37bb.38aa könnte es sich also um eine Interpolation handeln. Die Analyse von 20,38 bestätigt diese Vermutung. V. 38 bereitet zunächst einiges Kopfzerbrechen. Im Gegensatz zu den beiden vorausgegangenen Versen sowie zu V. 38b und 39 erschließt sich der Sinn von 20,38a nicht ohne weiteres. Man könnte versucht sein, ihn als Veranschaulichung der nervösen Anspannung des Prinzen aufzufassen. Allerdings wird man dieser Möglichkeit keine allzu große Wahrscheinlichkeit zugestehen dürfen, da ein derart subtiler psychologischer Realismus in Kontrast zu den meisten der bisher angestellten Beobachtungen zum literarischen Charakter der Erzählungen der AG steht.165 Unverzichtbare Informationen scheint der Halbvers jedenfalls nicht zu liefern, und so könnte V. 38b grundsätzlich ebensogut direkt an V. 37 anknüpfen. CAMPBELL hat indes darauf aufmerksam gemacht, daß Jonatans Zuruf aus V. 38a –––––––––––––– 162 Ähnlich in V. 31, s. o. 163 Fünf Belege, vgl. 2 Sam 6,1; 1 Kön 12,21; Rut 3,10; 1 Chr 19,10; Spr 20,29; rAoÅn – drei bzw. zwei Belege: (1 Sam 20,37) Sach 2,8; Spr 7,7; dRl‰y – ein Beleg: Dan 1,10. 164 Zur Begründung s. u. 165 Vgl. Anm. 93 (Kap. 8); s. jedoch andererseits auch Anm. 108 (Kap. 6) mit zugehörigem Haupttext. Wenn die oben genannte Interpretation von V. 38a als Illustration der Nervosität Jonatans indes zuträfe, so bliebe selbst der Verfasser von 1 Sam 18,6–9.28b–30 noch weit hinter dem von 20,38a zurück. Denn der Wandel, den Sauls Charakter durchläuft, wird dort zwar sehr geschickt, aber auch sehr direkt beschrieben, während man es hier mit einer ausgesprochen sublimen Darstellungskunst zu tun hätte, die in der Lage gewesen wäre, innere Handlung auf indirektem Wege der Leserschaft vor Augen zu führen.

Untersuchung

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auch als „being addressed covertly to David in place of the coded message“166 verstanden werden kann. Diese Interpretation leuchtet deshalb unmittelbar ein, weil sie V. 38a eine Funktion im Kontext zuweist, die nicht nur klar umrissen ist, sondern auch zum Charakter der Darstellung paßt, und damit das Vorhandensein des Halbverses plausibel zu erklären vermag. Interessant ist weiterhin, daß C AMPBELL s Deutung eine Konkurrenz zwischen V. 38a und V. 37b impliziert, beide Halbverse stellen ihr zufolge eine geheime, an David gerichtete Aufforderung zu fliehen dar. Vor diesem Hintergrund gewinnt die oben geäußerte Vermutung zusätzliche Plausibilität, V. 38aa könnte eine Wiederaufnahme von V. 37ba bilden und damit die V. 37bb.38aa als Einschub ausweisen. Die Ergebnisse der Textkritik zu V. 38aa runden dieses Bild ab: Der Wortlaut von 20,38aa ist unterschiedlich überliefert. Die LXX liest kai« aÓnebo/hsen Iwnaqan ojpi÷sw touv paidari÷ou aujtouv le÷gwn. Sie setzt damit vermutlich eine Vorlage voraus, die sich vom MT unterscheidet, indem sie a) dem Prädikat den adverbiell gebrauchten Infinitiv constructus rOmaEl an die Seite stellt und b) das hebräische Gegenstück zu touv paidari÷ou, und zwar vermutlich rAoÅn,167 als mit einem Suffix der 3. Sg. m. versehen bezeugt. Variante a) geht mit Sicherheit auf einen Zusatz zurück, denn für eine absichtliche Streichung bzw. einen versehentlichen Fortfall sehe ich weder Grund noch Ursache.168 Variante b) wird hingegen, zumindest in bezug auf die Suffigierung, von 4QSamb gestützt. Das Fragment bietet hier des näheren folgenden Text: hmlo rja Ntnwy arqyw. Interessant ist vor allem die altertümliche Kennzeichnung des Suffixes der 3. Sg. m. mit h (hmlo),169 die im Bereich des MT weitestgehend durch die Schreibung mit w verdrängt worden ist. Sie deutet darauf hin, daß es sich bei der Fassung aus Qumran um die älteste erreichbare Textgestalt handelt,170 zumal ihr die LXX in bezug auf die Suffigierung zur Seite steht und in Hinblick auf das Substantiv zumindest nicht notwendig widerspricht.171 Die Substitution des Wortes erschien möglicherweise aufgrund der graphischen Gleichheit von hOmVlAo und hDmVlAo im unpunktierten Zustand angezeigt und wurde überdies durch die Ungebräuchlichkeit des Substantivs –––––––––––––– 166 CAMPBELL: FOTL 7. S. 213. 167 Die einzige Stelle, an der innerhalb der Bücher 1 Sam–2 Kön die LXX nicht paida¿rion als Entsprechung zu rAoÅn wählt, ist 1 Sam 9,27 (stattdessen dort: neani÷skoß). Andererseits ist nicht überall, wo die griechische Fassung paida¿rion hat, im MT rAoÅn zu finden, sondern nicht selten auch dRl‰y (vgl. etwa 2 Sam 12,18f.21f.; 1 Kön 12, 8.10.14), in 1 Sam 21,8 steht es für dRbRo. S. auch oben zu V. 37b. 168 Hinzu kommt, daß in Kapitel 20 die Verba sentiendi aut dicendi vorwiegend mit der jeweils entsprechenden konjugierten Verbform der Wurzel (q) rma kombiniert werden und nicht mit deren Infinitiv constructus; vgl. 20,3(bis).30.32.37, die einzige Ausnahme bildet V. 42. 169 Sie wird im kritischen Apparat der BHS5 leider falsch wiedergegeben. 170 Zudem besteht m. E. auch kein Anlaß, hier eine gezielt eingesetzte archaisierende Schreibung zu vermuten. 171 Vgl. Anm. 167 (Kap. 8).

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begünstigt.172 Daß V. 38aa ursprünglich dieses überaus seltene Nomen verwendet, bestätigt nun indirekt die Richtigkeit der oben aufgestellten These, derzufolge die V. 37bb.38aa als Einschub zu verstehen sind. Denn dieser Sprachgebrauch unterscheidet den Viertelvers vom gesamten Kapitel 20 – mit Ausnahme des V. 22, also ausgerechnet jenes Verses, der die Szene beschließt, in der David und Jonatan den zweiten Teil ihres Plans und damit das geheime Zeichen aus V. 37bb vereinbaren. Es spricht mithin sehr viel dafür, daß die V. 37bb.38aa zusammen mit *20,10.18–22 der Erzählung sekundär eingefügt wurden. Mit V. 39 ist die Handlung an ihr Ziel gelangt: Jonatans Knappe bemerkt nichts von alledem, was hinter seinem Rücken gespielt wird, David indes erkennt das Zeichen und ist gewarnt. Anders als im MT und in 4QSamb endet der Vers im Vaticanus bereits mit 20,39ba.173 Das Problem wird nicht allzu häufig diskutiert, in der Regel zieht man aber die Lesart der beiden hebräischen Zeugen vor.174 Das dürfte allerdings die schlechtere Alternative sein, die LXXB-Fassung ist nämlich sowohl kürzer als auch stilistisch schwieriger, ohne dabei inkorrekt zu sein.175 Ich vermute daher, daß V. 39bb nachträglich hinzugesetzt wurde. Was nach 20,39 noch fehlt, ist lediglich eine passende Schlußnotiz. Stattdessen läuft die Erzählung jedoch noch weiter. Es folgt eine Szene, in der sich David und Jonatan doch noch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und einander ausgesprochen umständlich adieu sagen. Es liegt auf der Hand, daß die beiden Freunde mit diesem Abschied leichtfertig ihre eigenen Vorsichtsmaßnahmen konterkarieren oder – anders gewendet – die Erzählung eine ihrer Grundideen selbst ad absurdum führt.176 Man wird daher kaum fehlgehen, wenn man die V. 40–42 nicht zur ältesten Fassung der Geschichte rechnet. V. 40177 leitet die Abschiedsszene ein, indem er die Voraussetzungen für ein vertrauliches Gespräch schafft: Jonatan schickt seinen Adlatus mit den nicht mehr benötigten Waffen zurück in die Stadt. –––––––––––––– 172 Im übrigen ist, was die Anzahl der Pfeile anbelangt, der Wortlaut des MT dem der LXX vorzuziehen, dazu vgl. das oben zu V. 20 Ausgeführte. Die LXX hat darüber hinaus kein Pendant zum aøbÎ¥yÅw des MT in V. 38bb, was stilistisch sicher nicht schön, als kürzere und schwierigere Lesart aber vielleicht ursprünglich ist. 173 Hinzu kommt noch die Fassung der LXXA, der V. 39 sowie der Anfang von V. 40 (bis paida¿rion) fehlt und die sich hierdurch als aberratio oculi zu erkennen gibt. Vgl. BUDDE : a. a. O. S. 146; STOEBE: a. a. O. S. 379, Anm. 39 a). 174 Vgl. BUDDE: a. a. O. S. 146; MCCARTER: a. a. O. S. 340. 175 Auch in Gen 20,12 leitet die Partikel JKAa einen elliptisch formulierten Satz ein. 176 Vgl. hierzu etwa BUDDE: a. a. O. S. 140; WELLHAUSEN: a. a. O. S. Prolegomena. S. 207f. 177 V. 40bb ist von der LXX offensichtlich fehlinterpretiert worden, sie „scheint unrichtig hDkVl aø;b zu trennen“ (BUDDE: a. a. O. S. 146), wo der MT ayEbDh JKEl liest. Ferner hat sie statt 20,40abMT (_lRa wøl_rRvSa rAoÅ…nAh) e˙pi« to\ paida¿rion aujtouv und in V. 40ba anstelle des wøl im MT tw◊ˆ paidari÷wˆ aujtouv. Letzteres nimmt sich eindeutig wie eine Erweiterung aus, ist folglich wohl als sekundär ein-

Untersuchung

315

Daran knüpft V. 41 unmittelbar an und schildert zusammen mit V. 42 den eigentlichen Abschied. David kommt hierbei zunächst aus seinem Versteck, das auffälligerweise als Hügel bezeichnet wird,178 obwohl in V. 19b lediglich der Name der Ortslage, l‰zDaDh NRbRaDh, ohne eine nähere Charakterisierung genannt worden war. Die Art, wie David sich zunächst gegenüber Jonatan verhält, wirkt befremdlich, die dreimalige Proskynese erinnert eher an ein Hofzeremoniell als an eine Begrüßung unter Freunden. Insofern steht 20,41 in einer gewissen Nähe zu den V. 7a und 8, die sich durch ihren Sprachgebrauch als einer höfisch geprägten Vorstellungswelt verpflichtet zu erkennen geben. Mit der zweiten Vershälfte schlägt das Pendel unvermittelt in die entgegengesetzte Richtung aus: Die beiden Freunde fallen einander in die Arme und weinen, wie es scheint, recht ausgiebig.179 Damit wird hier die enge Verbundenheit der beiden Freunde stärker noch als in V. 17 hervorgehoben, denn während dort genaugenommen nur von Jonatans hDbShAa die Rede ist, läßt V. 41 keinen Zweifel an der Gegenseitigkeit des Verhältnisses. V. 42 rundet die Szene ab: Jonatan entläßt seinen Freund mit dem Friedensgruß (V. 42a) und einer nochmaligen Wiederholung dessen, was sie einander zugeschworen haben (V. 42b). In der ersten Vershälfte ist der Text nach 4QSamb und LXXB zu lesen, denn der MT, bei dem auf das Subjekt noch dˆw∂dVl folgt, stellt die lectio longior dar und läßt sich als das Ergebnis nachträglicher Präzisierung verstehen. Der Übergang von der ersten zur zweiten Vershälfte ist relativ ungewöhnlich. Um einen erträglichen Sinn zu bekommen, muß man die Partikel rRvSa kausal über–––––––––––––– zustufen, und auch im ersten Fall sollte man den MT vorziehen, da 4QSamb hier mit ihm übereinstimmt. Die Frage, ob in V. 40ab die Präposition lRa (MT) oder lAo (4QSamb) originär ist, wird man kaum entscheiden können und daher auf sich beruhen lassen dürfen. 178 In 20,41aa dürfte tatsächlich, wie die meisten vermuten, die Lesart der LXX (aÓpo\ touv ergab) Ursprüngliches bewahrt haben und vielleicht bÎ…g√rAaDh (‘der Hügel’) zu konjizieren sein – so BARTHÉLEMY: Critique. S. 199; ähnlich BUDDE: a. a. O. S. 146; DRIVER: a. a. O. S. 168; WELLHAUSEN: a. a. O. S. 121. STOEBE (a. a. O. S. 379f., Anm. 41 a)) entscheidet sich zwar nicht, bietet aber einen guten Überblick über die Alternativen. – Der Gebrauch des Artikels belegt mitnichten, daß V. 19b bereits denselben Terminus verwandt hat, sondern lediglich, daß V. 41 den in 20,19b genannten Ort meint (gegen WELLHAUSEN: a. a. O. S. 121). 179 V. 41bb lautet im MT lyî;d◊gIh dˆw∂;d_dAo, in der LXX hingegen eºwß suntelei÷aß mega¿lhß. WELLHAUSEN hatte bereits die Vermutung geäußert, daß die Präposition originär sein dürfte, das ‚Explicitum‘ dˆw∂;d sowie mega¿lhß (und ggf. sein hebräisches Pendant) hingegen sekundär (vgl. W ELLHAUSEN: a. a. O. S. 121). Die Rekonstruktion der betreffenden Zeile in 4QSamb scheint dies zu bestätigen: „The line is full without dwd (or ykb) [...]“ (DJD 17, S. 238). Anstatt aber in Anbetracht dieser Tatsache und in Anlehnung an Josephus (Antiquitates VI.241) ldbh do zu lesen (so DJD 17, S. 230.238), liegt es m. E. näher, WELLHAUSENs Vorschlag l;éd◊gAh dAo zu folgen und dies wie etwa STOEBE (a. a. O. S. 380, Anm. 41 b)) mit „sehr lange Zeit“ zu übersetzen, weil man hiermit näher am Wortlaut von MT und LXX bleibt. STOEBE selbst entscheidet sich freilich für eine andere und – nach allem oben Gesagten – zu lange Konjektur; vgl. STOEBE: a. a. O. S. 380, Anm. 41 b); vgl. auch BUDDE: a. a. O. S. 146.

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setzen und folglich im Deutschen mit ‚denn‘ oder ‚angesichts dessen, daß...‘ wiedergeben.180 V. 42b greift damit aller Wahrscheinlichkeit nach auf 20,23 zurück. Diesen Schluß legt zumindest die Tatsache nahe, daß V. 42bb erstens durch das vorausgehende rOmaEl als Zitat ausgewiesen wird und zweitens (wie oben bereits beobachtet wurde) in seinem Wortlaut V. 23b auffällig ähnlich ist. Seinerseits verweist V. 23 jedoch keineswegs auf 20,42 voraus. Der szenische Kontext, in den V. 23 eingebettet ist, schließt im Gegenteil geradezu aus, daß eine Verabschiedung wie die in 20,40–42 noch folgen wird. Wenn sich Jonatan, nachdem mit den V. 18–22 alle nötigen Absprachen getroffen sind, in 20,23 noch einmal vergewissern will, daß die Vereinbarung zwischen ihm und David für immer gültig sein wird, dann ist damit deutlich ein Schlußwort gesprochen, das nicht allein auf diese eine Szene bezogen sein will. Aus V. 23 spricht die Erwartung Jonatans, daß es unter Umständen kein baldiges Wiedersehen geben wird. Eine Möglichkeit wie die aus den V. 40–42 ist hier noch nicht im Blick. Daneben ist hier zurückschauend von einem gegenseitigen Schwur die Rede sowie davon, daß dieser auch die Nachkommen der beiden Freunde miteinbegreife. Auch die V. 15a.16a und 17 dürften also schon vorausgesetzt sein. Betrachtet man die V. 40–42 noch einmal en bloc, so fällt eine ganze Reihe von Ausdrücken und Formulierungen auf, die innerhalb des Kapitels ohne Parallele sind, obwohl ihre Verwendung durchaus auch an anderen Stellen denkbar, wenn nicht gar naheliegend gewesen wäre: a) Nur in V. 40a wird mit einem Relativsatz die Zugehörigkeit des Knappen zu Jonatan verdeutlicht, überall sonst genügt eine entsprechende Suffigierung des Substantivs. b) Sowohl der Terminus bÎ…g√rAa als auch die Wurzel (hisht) II hwj kommen einzig in V. 41a vor. c) Der Begriff II Aoér (‚Stammesverwandter‘, hier: ‚Freund‘) findet sich allein in V. 41b, dasselbe gilt für die beiden Verben (q) hkb und (q) I qvn. d) Von einem Schwur beim Namen Jhwhs spricht außer V. 42b kein zweiter Vers in 1 Sam 20, auch der Ausdruck oår‰z für ‚Nachkommenschaft‘ taucht nur hier auf. Diese hohe Konzentration terminologischer Eigenheiten in diesem Abschnitt belegt eindrucksvoll die Son–––––––––––––– 180 Für die Interpretation des Verses hängt viel davon ab, ob man das rRvSa am Anfang von 20,42b als kausale Konjunktion oder als Relativpartikel auffaßt. Im zweiten Falle könnte man versucht sein, eine Casus-pendens-Konstruktion anzunehmen, die durch ein nachträglich eingefügtes rOmaEl unkenntlich gemacht wurde (so z. B. WELLHAUSEN: Text. S. 121). Für diese Lösung könnte erstens sprechen, daß (der V. 42 ohnehin nahestehende) V. 23 in syntaktischer Hinsicht ganz ähnlich aufgebaut ist. Zweitens läßt sich auch ein nachvollziehbarer Grund angeben, aus dem heraus das rOmaEl eingefügt worden sein könnte: Vielleicht sollte das graphische Erscheinungsbild des Verses nachträglich strukturiert werden, denn der Übergang von V. 42ba nach bb wirkt unpunktiert und handgeschrieben ohne jenen Infinitiv constructus verwirrend: ... ynyb hyhy hwhy hwhy Mvb ... . Allerdings ist das Wort rOmaEl gut bezeugt (vgl. LXX; 4QSamb), so daß die erste Möglichkeit m. E. eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen darf; vgl. dazu auch DRIVER: Notes. S. 172 und 126 sowie die dortigen Verweise auf die vergleichbaren Fälle Gen 30,18; 31,49; 34,13; 1 Sam 26,23.

Untersuchung

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derstellung der V. 40–42 innerhalb des Kapitels. Zugleich deutet sich damit die genuine Zusammengehörigkeit der drei Verse an. Die nächsten Parallelen jenseits der Kapitelgrenzen stellen 1 Sam 23,16–18 sowie 2 Sam 21,7 dar. Der letztgenannte Vers erwähnt im Zusammenhang mit dem Schicksal des Jonatansohnes Mephiboschet einen Eid, durch den David daran gebunden ist, jenen Mephiboschet zu schonen. Dabei hebt 2 Sam 21,7 wie 1 Sam 20,42 explizit die religiöse Dimension dieses Schwures hervor, indem er von einer hÎwh◊y tAoUbVv spricht.181 Des weiteren betont auch er die Reziprozität des Verpflichtungsverhältnisses, das durch diesen Eid zwischen David und Jonatan entstanden ist (V. 7bbg). Anders als 1 Sam 20,42 schließt er dabei zwar de facto die Nachfahren der beiden Freunde ein, expliziert dies aber nicht. Leider ist weder auszumachen, wann der Vers entstanden sein mag,182 noch, wie er sich entstehungsgeschichtlich zu 1 Sam 20,42 verhält. Dasselbe dürfte mutatis mutandis auch für 1 Sam 23,16–18 gelten, eine Episode, von der einigermaßen sicher ist, daß sie nachträglich eingesetzt wurde, bei der aber nur schwer zu bestimmen ist, wann dies geschehen sein mag.183 Die Einheitlichkeit des Abschnitts 20,40–42 kann insbesondere vor dem Hintergrund von 21,1 fragwürdig erscheinen. Dieser Vers, mit dem die Erzählung zweifellos schließt, wird in seiner ersten Hälfte vom MT ohne explizites Subjekt überliefert. Zwar findet sich ein solches in 4QSamb und LXX (dwd), doch dürfte es sich hierbei mit einiger Wahrscheinlichkeit um eine stilistisch glättende Glosse handeln.184 Ohne eine solche Explikation ergibt sich nämlich beim Übergang von 20,42 zu 21,1 ein unvermittelter Subjektwechsel, der den Leser / die Leserin einen Moment lang darüber im unklaren läßt, welche der Figuren hier agiert. Der Gedanke drängt sich auf, 21,1 könnte einmal an einen anderen Vers als 20,42 angeschlossen haben. Das hat VEIJOLA dazu veranlaßt, eine originäre direkte Aufeinanderfolge von 20,42aMT und 21,1 anzunehmen, die nachträglich durch den Einschub von V. 42b verloren gegangen sei.185 Diese These scheitert jedoch daran, daß V. 42a, wie oben dargelegt, nicht nach dem MT, sondern nach dem Text der LXX und 4QSamb, d. h. ohne dˆw∂dVl zu lesen ist. Damit ist der ohnehin nur geringfügige Vorteil, den V. 42a gegenüber V. 42b bietet, verspielt. Man könnte stattdessen V. 41a als Anschlußmöglichkeit ins Auge fassen, denn erstens –––––––––––––– 181 Vgl. auch das oben zu 20,16a Ausgeführte. 182 Hierzu vgl. oben Anm. 32 (Kap. 8) und den zugehörigen Haupttext. 183 VEIJOLA (Dynastie S. 88f.) hat zwar den Nachtragscharakter des Stückes deutlich aufgewiesen, seine These, derzufolge die drei Verse dem frühesten deuteronomistischen Bearbeiter (‚DtrG‘) zuzuschreiben seien, ruht jedoch auf einer äußerst schwachen argumentativen Basis. 184 Gegen BUDDE: a. a. O. S. 146; MC C ARTER : a. a. O. S. 341; SMITH : a. a. O. S. 196; WELLHAUSEN: a. a. O. S. 121 (u. v. a.). Richtig dagegen etwa STOEBE: a. a. O. S. 380, Anm. 21,1 a). 185 Vgl. VEIJOLA: Dynastie. S. 83. Er beruft sich dabei auch auf das ungewöhnliche rRvSa, mit dem von V. 42a zu 42b übergeleitet wird, dazu s. o.

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wird David hier ausdrücklich als Handlungsträger eingeführt und zweitens läßt sich auch in 20,41 eine leichte Spannung zwischen den beiden Vershälften feststellen.186 Die Szene, die sich auf diese Weise ergäbe, nähme sich allerdings reichlich blaß aus, da auf den gründlich vorbereiteten Abtritt des Knappen zwar der dreifache Fußfall Davids folgte, aber nicht eine einzige Reaktion Jonatans. Auch 21,1 liefert also keine stichhaltigen Argumente gegen die Einheitlichkeit der Abschiedsszene 20,40–42, die damit als wahrscheinlich gelten kann. Allenfalls könnte man erwägen, ob eventuell V. 41b nachgetragen wurde, da der Halbvers das Verhältnis der beiden Freunde anders schildert, als V. 41a dies noch tut, oder ob umgekehrt V. 41a (abzüglich der ersten beiden Wörter, die für den Fortlauf des Erzählfadens unverzichtbar sind) eine Einschaltung darstellt. Keine der beiden Möglichkeiten vermag indes zu überzeugen. Der Abschnitt 20,40–42 setzt deutlich V. 17 voraus (s. o.) und damit auch das Motiv der innigen Freundschaft. 20,17 dürfte aber, wie oben dargelegt, in zeitlicher Nähe zu 20,8 entstanden sein, wo das Freundschaftsmotiv im Verein mit Reminiszenzen höfischer Sprache begegnet. Es erscheint daher keineswegs ausgeschlossen, daß auch in 20,40–42 diese beiden Elemente von jeher kombiniert waren. Die Frage nach den Ursachen für den unschönen unausgesprochenen Subjektwechsel ist damit jedoch noch nicht beantwortet. Sieht man von den V. 40–42 ab, dann bleiben nur noch die V. 37–39 als potentielle Anschlußstücke übrig. Denn David muß ja erst noch über den Ausgang der Szene an der königlichen Tafel informiert werden, bevor er verschwinden und die Geschichte enden kann. Aber auch die V. 37f. dürften bei näherer Betrachtung ausscheiden, weil David hier nirgends das grammatikalische Subjekt bildet. Die günstigste Anschlußmöglichkeit bietet deshalb m. E. 20,39ba, wo Jonatan und David (in dieser Reihenfolge)187 als Handlungsträger genannt werden und damit einen vergleichsweise ebenen Übergang zu 21,1 ermöglichen.188

8.3

Auswertung

Die Untersuchung von 1 Sam 20 hat eine beträchtliche Anzahl mehr oder minder auffälliger Kohärenzstörungen, Spannungen, Wiederholungen etc. im Text zum Vorschein gebracht. Aus der Menge dieser Einzelphänomene stechen vier Textirritationen heraus, die sich aus ganzen Szenen ergeben und den Erzählverlauf besonders nachhaltig beeinflussen: –––––––––––––– 186 S. o. zur Stelle. 187 V. 39* schließt also mit der Nennung genau jener Person, die in 21,1a als Handlungsträger gedacht ist: David. 188 So auch BUDDE: a. a. O. S. 146.

Auswertung

319

a) die Abschiedsszene aus den V. 40–42, die dem in 20,10.18–22 geschmiedeten Plan deutlich zuwiderläuft; b) das Zögern des Königs am ersten Tag (V. 26.27a), das eine Retardation bewirkt, der – wie die textkritischen Einzeluntersuchungen gezeigt haben – in einer Reihe von Glossen Rechnung getragen worden ist; c) die Szene des Bundesschlusses zwischen David und Jonatan (V. 12–16), die den Zusammenhang der V. 10 und 18–22 zerreißt; d) die Vereinbarung des geheimen Zeichens (V. 10.*18–22), in der sich Doppelungen zur Entwicklung des ersten Teils des Planes (V. 4–9) ergeben und die nur noch an einer einzigen Stelle vorausgesetzt wird (V. 37b), im übrigen den Fortlauf der Erzählung aber nicht berührt. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich bei diesen vier Szenen um das Ergebnis vier verschiedener Ergänzungen handelt. Diese These soll im folgenden näher ausgeführt und begründet werden. Über jene vier Szenen hinaus geben sich auch noch einige weitere, kleinere Stücke als Zusätze zu erkennen, die z. T. von jenen Erweiterungen unterschieden werden müssen. Sie stehen indes allesamt in deutlicher Beziehung zu den Versen 20,26.27a oder *20,10.18–22 und werden daher mit ihnen zusammen behandelt.

8.3.1

Der zweite Abschied der Freunde (20,40–42)

Die möglicherweise jüngste Ergänzung des Textes liegt in den V. 40–42 vor.189 Die kleine Szene offenbart ihren Nachtragscharakter vor allem dadurch, daß sie den zweiten Teil des Planes der beiden Freunde (V. 18–22: die Festlegung eines geheimen Zeichens, das es Jonatan ermöglichen soll, den Freund nötigenfalls unbemerkt und folglich gefahrlos zu warnen) unweigerlich konterkariert. Aber auch zu dem als Abschiedswort Jonatans formulierten V. 23 paßt das zweite Lebewohl in 20,40–42 nicht recht. Hinzu kommt der Umstand, daß sich der Textblock durch seine Wortwahl in mehrfacher Hinsicht von den übrigen Teilen der Erzählung abhebt, zum Ende hin stilistisch recht hart an den Schlußpunkt der Geschichte (21,1) anstößt und überdies den weitaus eleganteren Übergang von 20,39ba nach 21,1 unterbricht. Zwei Absichten dürften mit der Einschaltung der drei Verse verknüpft gewesen sein. Zum einen ist CAMPBELL zuzustimmen, der vermutet: „A sympathetic –––––––––––––– 189 Daß es sich bei den drei Versen um einen (relativ jungen) Zusatz handelt, wird inzwischen von den meisten Exegetinnen und Exegeten zugestanden, vgl. etwa BUDDE : a. a. O. S. 140.146; GREßMANN: a. a. O. S. 85; MCCARTER: a. a. O. S. 343; SCHROER: a. a. O. S. 97; SMITH: a. a. O. S. 195; STOLZ: a. a. O. S. 138f.; WELLHAUSEN: Prolegomena. S. 207f.; ähnlich VEIJOLA (Dynastie. S. 83), der sogar von zwei Ergänzungen innerhalb von 20,40–42 ausgeht. Anders dagegen STOEBE: a. a. O. S. 390.

320

1 Samuel 20,1–21,1

reader and a good storyteller will recognize the need [...] to have a farewell scene before David leaves for the hiding place.“190 Der Wunsch nach einer finalen Abschiedsszene entspringt aber nicht allein der Gewöhnung an hergebrachte Darstellungsmuster, er hat vielmehr auch eine wichtige am Inhalt orientierte Dimension. Das Interesse des Ergänzers geht dahin, David und Jonatan in völliger Einmütigkeit, ohne auch nur den Anflug eines Mißtons voneinander scheiden zu lassen. Deswegen erkennt David noch einmal ausdrücklich Jonatans Stellung an, die seiner eigenen sozial übergeordnet ist, indem er sich ihm dreimal zu Füßen wirft (V. 41a),191 deswegen küssen sich die beiden Freunde aber auch und weinen zum Abschied (V. 41b). Und ebenfalls aus diesem Grunde entläßt der Prinz seinen Freund, indem er ihm MwølDv wünscht und dies mit dem Hinweis auf den feierlichen Schwur bekräftigt, durch den sie sich auf ewig einander verpflichtet haben (V. 42). Dieses Bild der ungetrübten Eintracht Davids und Jonatans, das die V. 40–42 vermitteln, wirkt sehr effektvoll dem durchaus naheliegenden Verdacht entgegen, der nachmalige König trage möglicherweise Schuld am dauerhaften Niedergang des saulidischen Geschlechts. Das dürfte kein Zufall sein, sondern vielmehr ganz der Absicht des Ergänzers entsprechen. Ihm war m. a. W. daran gelegen, die Rechtmäßigkeit des Anspruchs Davids und seiner Nachkommen auf die Herrschaft über Israel zu untermauern. Daß es sich tatsächlich um die letzte Einschaltung größeren Umfangs in Kapitel 20 handeln könnte,192 geht aus den mannigfaltigen Querbeziehungen hervor, die oben bereits beobachtet wurden. So ist kaum zu übersehen, daß V. 42 ein auf Gegenseitigkeit beruhendes, durch einen Eid verbürgtes Bundesverhältnis zwischen David und Jonatan und ihren Nachkommen voraussetzt und damit auf die V. *12–17 und 23 zurückblickt. Dabei handelt es sich genau genommen um eine Kombination verschiedener Elemente aus jenen sieben Versen: aus den V. 12f. und 17a stammt das Motiv des Schwures der beiden Freunde, aus den V. 15a.16a die Einbeziehung der Nachfahren und aus V. 23 die Vorstellung, Jhwh wache als Zeuge des Bundesschlusses darüber, daß den aus ihm erwachsenden Pflichten nachgekommen wird. Hinzu kommt, daß einige der Motive, die in V. 40–42 wiederkehren, hier ausgearbeiteter, entwickelter anmuten als an jenen Stellen, an denen sie erstmalig in Kapitel 20 begegnen. So geht etwa 20,42 darin über die V. *12f.*17.23 hinaus, daß er von einem Schwur hÎwh◊y MEvV;b spricht, während zumindest in den V. *17 und 23 nichts dergleichen verlautet. Ähnliches gilt in bezug auf V. 41b, der sich nicht wie 20,17b damit begnügt, das besondere Verhältnis und Jonatans zu David auf die Formel wøbEhSa wøvVpÅn tAbShAa zu bringen, sondern erstens versucht, die Innigkeit der Freundschaft anschaulich werden zu lassen (die Freunde küssen einander und weinen beim Abschied), und dabei zweitens auch –––––––––––––– 190 CAMPBELL: FOTL 7. S. 213. Ähnlich CASPARI: KAT VII. S. 255; STOEBE: a. a. O. S. 390. 191 Vgl. STOLZ: a. a. O. S. 138. 192 Zum unklaren zeitlichen Verhältnis zu dem Einschub 20,26.27a s. 8.3.2.

Auswertung

321

das Moment der Reziprozität hervorhebt (die Worte …whEoér_tRa vyIa bilden beide Male Subjekt und Objekt des Satzes). Schließlich begegnet auch das höfische Gebaren, das David in V. 7a und 8a an den Tag legt, noch einmal in V. 41a wieder, wirkt dabei jedoch insofern deutlich ausdrucksstärker, als es sich nicht in einer entsprechenden Redeweise erschöpft, sondern sich zu einer eigenen kleinen (Teil-)Szene, der dreimaligen Proskynese Davids, auswächst. In einer gewissen gedanklichen Nähe zu 20,40–42 scheinen sich 1 Sam 23,16–18 und 2 Sam 21,7 zu bewegen. Ähnlich wie in 20,42 erhält David auch in 23,16f. freundlichen Zuspruch von seinem Freund. Zugleich ordnet Jonatan sich hier David ausdrücklich unter, indem er ihm die Königsherrschaft über Israel verheißt, sich selbst dagegen die Rolle des zweiten Mannes im Staate zuweist, so entsteht etwas wie eine komplementäre Parallele zu 20,41a. 2 Sam 21,7 verbindet mit 1 Sam 20,42 der Umstand, daß hier wie dort sowohl die Bezogenheit des Schwures auf Jhwh als auch die Gegenseitigkeit des Verpflichtungsverhältnisses eigens hervorgehoben wird. Beide Seitenstücke dürften zwar in ihren jeweiligen literarischen Kontext sekundär eingefügt worden sein,193 allerdings ist damit noch nicht viel über ihre zeitliche Ansetzung ausgesagt. Vor allem jedoch bleibt unklar, in welchem textgenetischen Verhältnis sie zu 1 Sam 20,40–42 stehen. Weil überdies (abgesehen von der relativen Chronologie der Straten in 1 Sam 20) keinerlei Anhaltspunkte auszumachen sind, an Hand derer die Entstehungszeit der drei Verse näher bestimmt werden könnte, wird man die Frage nach der historischen Verortung ihres Verfassers offen lassen müssen.

8.3.2

Das Zögern des Königs (20,26.27a) und abhängige Ergänzungen

Ein weiterer, ebenfalls recht junger Einschub liegt in 20,26.27a vor. Er hat offenbar einen Schweif weiterer Hinzufügungen nach sich gezogen (d. h. kleinere Glossen in den V. 5bbMT. 12aa.19aa.20aLXX.27aa.bb und 34ba), die allesamt den veränderten chronologischen Gegebenheiten nach Hinzutreten jener anderthalb Verse Rechnung tragen wollen, wobei sich jedoch das entstehungsgeschichtliche Verhältnis der einzelnen Ergänzungen zu den V. 26.27a nicht immer einwandfrei erschließen läßt. Die These, daß die V. 26.27a nicht zum Grundbestand der Erzählung gehören dürften, kann sich auf zwei Beobachtungen stützen: Zum einen bildet V. 27ab eine wörtliche Wiederaufnahme von V. 25b, zum anderen nimmt sich das, was hier erzählt wird, insofern wie ein Fremdkörper in der Geschichte aus, als Sauls Überlegung durch kein einziges Detail der Erzählung vorbereitet oder nahegelegt wird und damit ausgesprochen unmotiviert wirkt. –––––––––––––– 193 Zu 2 Sam 21,7 vgl. Anm. 182 (Kap. 8); zu 1 Sam 23,16–18 vgl. Anm. 183 (Kap. 8).

322

1 Samuel 20,1–21,1

Das Verhältnis der V. 26.27a zu den übrigen Straten der Geschichte läßt sich dagegen nur ganz ungefähr bestimmen, weil die anderthalb Verse selbst wie auch die übrige Erzählung hierfür nahezu keine Anhaltspunkte liefern. Allein der Umstand, daß der Einschub eine deutliche Nähe zu den V. 5–7 des Folgekapitels aufweist, gibt ein wenig Aufschluß. Denn im Gegensatz zu 1 Sam 21,2–11, wo sich das Problem der kultischen Reinheit quasi organisch aus der Figurenkonstellation ergibt, kommt Sauls Gedankengang in 20,26 ja – wie oben erwähnt – etwas überraschend. Angesichts dessen erscheint es naheliegend, zu vermuten, daß der Einschub 20,26.27a durch die Erzählung *21,2–11 angeregt wurde und mithin jünger als sie sein muß. Mit dieser Folgerung ist allerdings nicht allzuviel gewonnen, da ähnliches auch in bezug auf *22,6–19 +*20,12–16194 zu gelten scheint.195 Man wird die Frage daher offen lassen müssen. Auch in seiner Tendenz zeigt der kleine Einschub keine signifikanten Berührungen mit anderen Stücken. Seine Funktion besteht nämlich primär darin, den Fortlauf der Handlung für einen Moment zu hemmen und mittels dieser Retardation die Erzählspannung zu erhöhen.196 Daneben reden die anderthalb Verse natürlich auch biblischen Reinheitsvorschriften wie Dtn 23,11 das Wort, indem sie sie wie selbstverständliche Faktoren im Denken der Figuren präsentieren. Doch dürfte dies eher einen willkommenen Nebeneffekt dargestellt haben. Hätte man tatsächlich vor allem die Beachtung kultischer Reinheitsgebote propagieren wollen, wäre David als Held der Erzählung hierfür ohne Frage das geeignetere Medium gewesen. Die Gedankenwelt des Verfassers, in die dieser den König versetzt (20,26), weist ihn als Angehörigen priesterlicher Kreise aus. Näherhin wird man aufgrund der zeitlichen Ansetzung der Grundschicht von 1 Sam 20 nicht früher als in das späte fünfte Jahrhundert datieren dürfen und vielleicht sogar eher das vierte Jahrhundert vorziehen müssen.197 Von den kleineren Glossen, die sich dem Wunsch nach einem stimmigen, kohärenten Ablauf verdanken, könnte die Ergänzung in V. 34ba (yˆnEÚvAh) möglicherweise mit den V. 26.27a zusammen entstanden sein, weil V. *34ba den einzigen Punkt in der Geschichte darstellt, an dem durch das Hinzutreten der V. 26.27a ein handfester Bruch in der Chronologie der Erzählung entsteht. Wann in V. 27aa das yˆnEÚvAh und in 27bb Mwø¥yAh_MÅ…g lwømV;t_MÅ…g eingefügt wurde, muß offen bleiben. In bezug auf die Glossen in V. 19aa (D;tVvA;lIv◊w) und in V. 20aLXX (vE;lAvSa / yI;tVvA;lIv) ist immerhin sicher, daß sie nach Entstehung der V. *10.18–22 eingefügt worden sein dürften. V. 19 in seiner Letztform macht darüber hinaus den Eindruck, als präsupponiere er V. 11, weil er den verabredeten geheimen Ort augenscheinlich –––––––––––––– 194 195 196 197

Zur textgenetischen Zusammengehörigkeit dieser beiden Stücke vgl. 8.3.3. S. 8.3.3 und 9.3. Ähnlich STOEBE: a. a. O. S. 388. Zur Datierung der Grundschicht von 1 Sam 20 s. 8.3.5.

Auswertung

323

nicht primär als Versteck Davids, sondern als Treffpunkt der Freunde begreift, was nur dann einen Sinn ergibt, wenn David bereits die Stadt verlassen hat und damit dem direkten Zugriff Sauls entzogen ist. Die Einfügung des Wortes tyIvIlVÚvAh in V. 12aa kann aus naheliegenden Gründen erst nach Abfassung der Bundesschlußszene (in ihrem Grundbestand, das sind die V. 12–15a.16a) erfolgt sein. Zuletzt ist vermutlich die Glosse in V. 5bbMT (tyIvIlVÚvAh) in den Text gelangt, nämlich allem Anschein nach erst nachdem die LXX bzw. ihre Vorlage geschaffen wurde.

8.3.3

Der Bundesschluß (*20,12–16) und abhängige Ergänzungen

Ein weiterer, wirkungsgeschichtlich aber bedeutend wichtigerer Impuls für den Fortschreibungsprozeß im Bereich von 1 Sam 20 wie der angrenzenden Kapitel scheint von der Vorstellung eines Bundesschlusses zwischen David und Jonatan ausgegangen zu sein, die mit dem Einschub der V. 12*–15a.16a in die Erzählung gelangt sein dürfte. Daß es sich bei den zuletzt genannten Versen tatsächlich um eine Interpolation handeln dürfte, geht aus drei Beobachtungen hervor: Erstens zerreißt der Textblock 20,12–17 den natürlichen Zusammenhang der V. 10 und *18ff.,198 in denen der zweite Teil des Plans (namentlich eine Möglichkeit, David ggf. gefahrlos zu warnen) von Jonatan ersonnen wird. Zweitens stellen sich die V. 12f. als eine (lediglich etwas breiter ausgeführte) Dublette zu V. 9 dar. Und drittens bildet der Bundesschluß keinen konstitutiven Bestandteil der Erzählung, was daraus zu ersehen ist, daß er innerhalb des Handlungsgerüstes nirgends vorausgesetzt wird. Wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, dürfte der Einschub *20,12–16 neben der Grundschicht auch die V. 10.*18–22 (und damit wohl auch V. 37b, dazu s. u.) voraussetzen, wohingegen sein Verhältnis zu den V. 26.27a unklar bleibt. Darüber hinaus zeigt der Passus gewisse Nähen zu 1 Sam *22,6ff.199 Erstens verwendet er wie 22,8a die im gesamten AT ausschließlich an diesen zwei Stellen begegnende elliptische Formulierung MIo (q) trk anstatt der geläufigeren Wendung MIo tyîrV;b (q) trk und blickt dabei wohl auch auf 20,16a zurück.200 Hinzu kommt zweitens eine vermutlich ebensowenig zufällige thematische Verwandtschaft: –––––––––––––– 198 Zu V. 11 s. u. 199 1 Sam *22,6ff., die Erzählung von der Ausmordung der Priesterschaft von Nob durch König Saul, stützt sich zwar auf *21,2–10, die Episode über Davids Verproviantierung durch Ahimelech, den Priester von Nob, die beiden Texte liegen aber, textgenetisch betrachtet, nicht auf einer Ebene. *21,2–10 ist vermutlich etwas älter, vgl. dazu 9.3.2 (Exkurs II: Das Verhältnis von 1 Sam 21,2–7a zu *22,6ff.). 200 LANGLAMET (RB 100. S. 354, Anm. 38) macht darüber hinaus auf die Wendung N‰zOa_tRa (q) hlg NN aufmerksam, die in 1 Sam 20,2.12f. und in 22,8(bis).17 begegnet.

324

1 Samuel 20,1–21,1

*20,12–16 wie auch Kapitel *22,6ff. kreisen um den Gedanken, daß der Konflikt zwischen Saul und David auch unschuldige Dritte mitsamt ihrer Nachkommenschaft bedroht (hier Jonatan und sein ‚Haus‘, dort Ahimelech und das ‚Haus‘ seines Vaters), wobei David in diesem Zusammenhang ein durchweg positives Zeugnis ausgestellt wird (er nimmt ja im weiteren Verlauf die Überlebenden in seine Obhut),201 Saul aber ein ausgesprochen negatives (indem er als Mörder der Sippe Ahimelechs dargestellt wird). Aus diesen Gründen erscheint es mir zumindest gut möglich, daß *20,12–16 und *22,6ff. auf ein und denselben Verfasser zurückgehen. Exkurs I: Zur Entstehung von 1 Sam 22 In Hinblick auf die Erzählung von Sauls frevelhaftem Handeln an den nobitischen Priestern rechne ich ungefähr mit folgendem Grundbestand: V. 1*f.6–10a.11–13a.14.16.18bbg. 20. Die V. 3–5 bringen zwei neue Gedanken in die Erzählung ein, indem sie David einerseits als fürsorglichen Sohn und andererseits als einen göttlichen Orakeln völlig vertrauenden Frommen darstellen. V. 10b gibt sich durch die Verwendung der Nota accusativi, die in V. 10ab noch nicht gebraucht wird, als Zusatz zu erkennen.202 Ebenso könnte V. 13b nachgetragen sein, da seine Wortwahl in zahlreichen Details von der der V. 8b.10 abweicht und überdies für die Erzählung als ganze keineswegs konstitutiv ist. (Man könnte auch überlegen, ob vielleicht eher V. 10a als Erweiterung aufzufassen wäre, doch würde in diesem Fall Saul in V. 13b Anschuldigungen erheben, ohne zuvor etwas Derartiges berichtet bekommen zu haben.) Damit wiederum fällt auch V. 15a aus dem Grundbestand heraus, da er V. 13ba voraussetzt, dasselbe gilt für V. 15b im Gegenüber zu V. 13bb. In V. 17 begegnet ein weiterer Gedanke, der für die Grundschicht noch nicht maßgeblich zu sein scheint (vgl. V. 11): eine explizite Begründung für das Todesurteil über die übrigen nobitischen Priester. Überdies wird nur hier und in V. 21 die Bezeichnung hÎwh◊y y´nShO;k gewählt, alle übrigen Verse sprechen lediglich von ‚Priestern‘. So etwa V. 18aba , wo allerdings der Name des edomitischen Knechts anders als in V. 9 (und 21,8) in einer aramäischen Variante wiedergegeben wird (so auch in V. 22). 22,18bbg ist nur im jetzigen Zusammenhang auf ebendiesen Doëg bezogen, dürfte aber ursprünglich Saul gemeint haben, wie noch daraus hervorgeht, daß V. 19 kaum Doëg zum Subjekt haben kann, sondern allein den König als Befehlshaber und Verantwortlichen für das Massaker.203 Ferner wird vielleicht auch V. 19 eine Ergänzung darstellen, weil das hier Berichtete weit über Sauls Androhung aus V. 16 hinausgeht und zudem stillschweigend ein Ortswechsel von Gibea nach Nob

–––––––––––––– 201 Vgl. oben Anm. 79 (Kap. 8). 202 Vgl. BUDDE: a. a. O. S. 153. 203 Vgl. etwa STOEBE: a. a. O. S. 410, Anm. 19 a). VEIJOLA (a. a. O. S. 40f.) betrachtet darüber hinaus auch V. 18bg als Zusatz.

Auswertung

325

vollzogen wird.204 Mit V. 20, der Notiz über die Flucht Abjatars zu David, wird die Geschichte einmal geendet haben. Das kleine Stück 22,21–23 ist nachträgliche Ausdeutung von V. 20, der sekundäre Charakter dieses Abschnitts geht schon daraus hervor, daß er wie V. 17 von ‚Jhwh-Priestern‘ spricht und den Namen ‚Doëg‘ wie in V. 18 schreibt. Interessant ist das Kapitel nicht allein wegen seiner Nähe zu 1 Sam *20,12–16, sondern auch deshalb, weil es in den V. 1f. ein grundlegendes Element der weiteren Erzählungen (mit Ausnahme von 1 Sam 28,3–25 und 31,1–13) bis zur Salbung Davids zum König über Juda (2 Sam 2,4a; von hier an verfügt er natürlich über andere Machtmittel) einführt: Davids aus Verwandten und ‚Outlaws‘ bestehende Gefolgschaft. Soweit ich sehe, gibt es kein Seitenstück zu dieser Notiz. Daraus aber folgt, daß die V. 1f. aus 1 Sam 22 mit großer Wahrscheinlichkeit Bestandteil der frühesten Fassung der AG gewesen sein dürften und in diesem Falle älter sind als alles, was innerhalb dieses Kapitels noch folgt.205 Die einzige Alternative zu dieser Folgerung könnte in der Annahme bestehen, die AG habe in ihrem Grundbestand noch keine Geschichten enthalten, die David als Anführer einer solchen Truppe schildern. Wenn dies auch grundsätzlich vorstellbar ist, so steht dem doch folgende Überlegung entgegen: Der Gesamtzusammenhang der AG erfordert notwendig das Stück 2 Sam 2,1–4a, zum mindesten in einem Grundbestand.206 Ich vermute, daß das älteste Stratum hier in 2,1.2aa.3aLXX.b.4a zu finden ist.207 Dann aber gehören die Gefolgsleute Davids bereits zur Grundschicht der AG, und das bedeutet, es muß irgendwo eine Einführung dieser Männer erfolgen. Außer 1 Sam 22,1f. ist aber keine Textstelle zu entdecken, die dies leisten könnte. Ende des Exkurses

–––––––––––––– 204 Vgl. V EIJOLA : Dynastie. S. 40. Überdies springt die Parallele zu 15,3b ins Auge (vgl. etwa BUDDE: a. a. O. S. 154), einem Halbvers, der seinem Kontext wahrscheinlich ebenfalls nachträglich eingefügt wurde (dazu s. o. unter 2.3.1). 205 Das betrifft also *22,6ff. Zum Alter von *20,12–16 s. u., schon das älteste Stratum von 1 Sam 20 ist aber aller Wahrscheinlichkeit deutlich jünger als die AG in ihrer frühesten Fassung. – Zu 22,1f. s. auch das oben (7.2) zur ältesten Fortsetzung von 19,12a Gesagte. 206 Vgl. KRATZ: Komposition. S. 186f. KRATZ denkt an 2,1aa 1[= NEk_yérSjAa yIh◊yÅw].3.4a, was mir aber nicht einleuchten will. Denn der Anschluß von V. 3 an V. 1aa1 ist stilistisch ausgesprochen hart, üblich ist die Fortsetzung der Formel NEk_yérSjAa yIh◊yÅw durch einen Narrativ (vgl. Ri 16,4; 1 Sam 24,6; 2 Sam 8,1; 10,1; 21,18; 2 Kön 6,24; vgl. auch 2 Sam 15,1; die beiden Ausnahmen 2 Sam 13,1 [Nominalsatz mit folgendem Narrativ] und Joel 3,1 [Imperfekt] sind anders gelagerte Fälle), eine Fortführung durch ein Perfekt, noch dazu bei Voranstellung des Objekts, wäre m. W. analogielos. Hinzu kommt erschwerend, daß die LXXB das Subjekt und das Prädikat von V. 3a (dˆw∂d hDlToRh) nicht bezeugt. Für die Originarität der LXX-Lesart spricht aber nicht allein ihre Kürze, sondern auch der Umstand, daß das dˆw∂d hDlToRh im MT den Zusammenhang von wø;mIo_rRvSa wyDvÎnSaÅw und wøtyEb…w vyIa unschön unterbricht. Schon BUDDE (a. a. O. S. 202) vermutet, daß hier eine Glosse vorliegt, die sich der Einfügung von V. 2ab.b verdankt. 207 Zur Begründung s. das in Anm. 206 (Kap. 8) Gesagte und vgl. die dort genannte Literatur. Darüber hinaus ist noch darauf hinzuweisen, daß V. 2aaMT (das ei˙ß Cebrwn der LXX ist eine verdeutlichende Glosse) in Form des Wortes MDv auf V. 1 zurückverweist, mithin voraussetzt.

326

1 Samuel 20,1–21,1

Der gedankliche Fortschritt, der durch die Einfügung der V. 12*–15a.16a erreicht wird, vollzieht sich auf drei Ebenen: a) Zunächst wird die Selbstverpflichtung Jonatans nun nicht mehr vornehmlich durch Jonatans Beteuerung (V. 9) garantiert, sondern vielmehr durch den Bundesschluß mit David (V. 16a). Aus dem Versprechen wird eine Art Rechtsverhältnis, aus dem sich als Konsequenz eine gewisse ‚Verrechtlichung‘ des Tones ergibt (indem nämlich die Absprache der beiden Freunde von den V. 12f. nun bis in alle Einzelheiten geregelt wird). Dahinter könnte die Absicht des Verfassers stehen, die Verbindlichkeit der Zusage Jonatans zu unterstreichen. b) Wichtiger indes dürfte sein, was die V. 14.15a.16a für die Erzählung leisten, denn sie bilden das eigentliche Novum gegenüber der älteren Fassung. Bei einem Blick auf diese Verse fällt auf, daß hier das Verhältnis der beiden Figuren merklich gewandelt erscheint. Kam bis hierher David allein die Rolle des Bittstellers zu und Jonatan die des Gewährenden, so verändert sich diese Konstellation nun und gewinnt eine symmetrische Gestalt: Beide Personen bedingen sich vom jeweils anderen etwas aus und beide sichern ihrem Gegenüber auch etwas zu. Der Verfasser betrachtet seine Figuren offensichtlich als einander ebenbürtig. Darüber hinaus bringt er mit Jonatans Bitte (V. 14.15a) zum Ausdruck, daß Sauls Sohn bereits fest mit einer grundlegenden Veränderung der Machtverhältnisse zugunsten Davids rechnet und diesen bevorstehenden Umschwung auch akzeptiert. All dies dürfte dem Wunsch des Autors entspringen, die Legitimität der späteren Herrschaft Davids und seiner Nachfahren zu erweisen.208 Denn wenn sich der Kronprinz höchstselbst mit dem Übergang der Königswürde auf David einverstanden erklärt, muß der Vorwurf der Usurpation nahezu gegenstandslos erscheinen.209 Zudem werden die zwei Figuren durch den Bundesschluß noch enger miteinander verknüpft als dies zuvor der Fall war: die bloße Freundschaft bekommt nun zusätzlich Züge einer Rechtspartnerschaft. Dieser Pakt beschränkt sich zwar auf relativ wenige, fest umrissene Rechte bzw. Pflichten, –––––––––––––– 208 Daß tatsächlich nicht allein die Figur des David, sondern vielmehr das gesamte Herrschergeschlecht der Davididen im Zentrum des Interesses steht, tritt spätestens in V. 16a offen zutage, wo es ausdrücklich heißt, Jonatan habe den Bund dˆw∂;d tyE;b_MIo geschlossen. 209 Demgegenüber stellt die Episode 1 Sam 23,16–18 einen weiteren Fortschritt dar, insofern hier erstens das Einverständnis Jonatans noch deutlicher hervorgehoben wird und zweitens der Machtwechsel bereits als eine unumstößliche Tatsache erscheint, vgl. dazu auch das unten zu den 20,12*–15a.16a gedanklich weiterführenden Fortschreibungen Gesagte. S. ferner Anm. 258 (Kap. 5). – Äußerst fragwürdig erscheint mir der Versuch WOZNIAKs (Beschreibungen. S. 215–218), die unterschiedlichen Profile der drei Bundesschlußszenen vor dem Hintergrund altorientalischer Vertragstexte zu erklären. Den Schwachpunkt seiner These bildet dabei nicht der Vergleich an sich, sondern vielmehr der Umstand, daß WOZNIAK erstens die textgenetischen Strukturen der drei betreffenden Stellen vollkommen unberücksichtigt läßt und zweitens einzelne Erzählzüge z. T. recht gewaltsam als Elemente eines Bundesschlußberichtes deutet. Wie man z. B. Jonatans Knappen, der – wie ausdrücklich in 20,39 hervorgehoben wird – Davids Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt, als Bundeszeugen auffassen kann (so WOZNIAK : a. a. O. S. 216), ist mir unbegreiflich.

Auswertung

327

stellt aber dennoch einen deutlichen Fortschritt gegenüber dem Verhältnis zwischen David und Jonatan dar, wie es sich in der Ausgangssituation der Geschichte sowie in 19,1b–7 widerspiegelt. Schwer zu entscheiden ist, ob auch die Notiz 18,1 schon im Hintergrund steht oder ob sie vielmehr eine gedankliche Weiterentwicklung zu *20,12–16a darstellt. Mir erscheint letzteres ein wenig plausibler, weil die Formulierung wøvVpÅnV;k NDtÎnwøh◊y wøbDhTa‰¥yÅw (18,1b)210 von derselben Tendenz zeugt (auch hier sollen David und Jonatan möglichst eng miteinander verbunden werden), gleichwohl aber noch einen Schritt weiter zu gehen scheint als *20,12ff., indem sie David explizit (wøvVpÅnV;k) mit Jonatan auf eine Stufe stellt. Und auch 18,3f. (und 23,16–18) lassen sich am einfachsten als Fortentwicklungen der Bundesschlußszene *20,12ff. verstehen: Zwar bleiben sie auf den ersten Blick hinter ihr zurück, da sie den Geltungsbereich jener ‚ersten‘ und ‚dritten‘ tyîrV;b nicht eigens benennen, dies braucht sie indes mitnichten als Vorstufen des ‚zweiten‘ Bundes auszuweisen. Die Aussparung kann ganz im Gegenteil auch gerade als Zeichen fortgeschrittener erzählerischer Reflexion verstanden werden, gelingt es doch mit ihrer Hilfe, den Gedanken an ein reines Zweckbündnis zu vermeiden, ohne den rechtlichinstitutionellen Aspekt des Verhältnisses zwischen David und Jonatan aufgeben zu müssen. Aus dem konkreten Vertrag wird hier m. a. W. ein weniger fest definiertes, zugleich aber umfassender gedachtes Bündnis.211 In bezug auf 23,16–18 zumindest ist die textgenetische Priorität von *20,12–16a auch noch aus einem weiteren Grunde sehr wahrscheinlich: 23,18 spricht anders als die Szene des ‚zweiten‘ Bundesschlusses davon, die tyîrV;b sei hÎwh◊y y´nVpIl geschlossen worden, was einen höheren Grad theologischer Durchdringung verrät und mithin vermutlich jünger sein dürfte als *20,12ff. c) Eine dritte Funktion erwächst den V. 12*–15a.16a aus ihrem Gegenüber zur Erzählung von Mephiboschets Restitution durch David (2 Sam 9). Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist 2 Sam 9 (und damit alle hiermit unmittelbar zusammenhängenden Texte) älter als *20,12ff. Diesen Schluß legt zumindest die Beobachtung nahe, daß der Abschnitt 1 Sam 20,12ff. zwar auf die Mephiboscheterzählungen zielt, diese jedoch umgekehrt (mit Ausnahme von 2 Sam 21,7) nicht erkennbar auf 1 Sam 20 zurückgreifen. Vor diesem Hintergrund nimmt sich der Einschub *20,12ff. neben dem zuvor Genannten auch wie ein Versuch aus, Davids generöses Verhalten Mephiboschet gegenüber der Leserschaft einsichtiger zu machen. Selbst eine nur ungefähre zeitliche Einordnung des Stückes 1 Sam 20,12*–15a.16a ist schwierig, da die Verse nur spärliche Anhaltspunkte bieten. Die Schwureinleitungen aus den V. 12f. und ihre Parallelen im AT zeigen immer–––––––––––––– 210 Das Objektsuffix bezieht sich auf David, wie aus 18,1a unmißverständlich hervorgeht. 211 Darin haben die Ausführungen von STOLZ (a. a. O. S. 123) ihre Berechtigung, nach denen der Bund aus 18,3 als eine Art Blutsbrüderschaft mit weitreichenden rechtlichen Konsequenzen aufzufassen ist, obschon der Text selbst dies allenfalls andeutet.

328

1 Samuel 20,1–21,1

hin, daß man sich wahrscheinlich auf einem entstehungsgeschichtlich fortgeschrittenen Niveau befindet.212 Etwas weiter führt der Blick zurück zur Analyse von 1 Sam 17,1–18,4. Wie sich im folgenden zeigen wird, spricht einiges dafür, daß a) die erste Ergänzungsschicht in 1 Sam 20 zusammen mit 17,55–58; 18,2 abgefaßt wurde und daß b) das Stück 18,3f. (‚erster‘ Bundesschluß zwischen David und Jonatan) von 1 Sam *20,12–16 abhängig ist. Gemäß dem oben in 5.3.2.4–5.3.2.6 Gesagten ergibt sich damit als wahrscheinlichster Zeitraum für die Entstehung von *20,12–16 die mittlere Perserzeit. Daß die Herrschaft der Davididen, deren Rechtmäßigkeit der Bearbeiter ja allem Anschein nach unter Beweis stellen will, zu jener Zeit bereits längst der Geschichte angehört hat, muß nicht gegen diese Datierung sprechen. Einmal ist keineswegs mit Sicherheit auszuschließen, daß selbst im späten fünften Jahrhundert noch männliche Nachkommen des davidischen Geschlechts bekannt waren und daß hier und da heimliche staatspolitische Hoffnungen auf ihnen ruhten.213 Vor allem aber wird man in Rechnung stellen müssen, daß a) ab einem gewissen Stadium der literarischen Traditionsbildung die Interessen der Bearbeiter sich nicht mehr unmittelbar in den von ihnen jeweils vorgenommenen Texterweiterungen niederzuschlagen und sozusagen ‚eins zu eins‘ abzubilden brauchten, sondern sich durch die Herausbildung einer schriftgelehrten Formel- und Bildersprache vielmehr verschiedenster Chiffren bedienen konnten, und daß b) im Laufe jenes Tradierungsprozesses die alttestamentlichen Schriften irgendwann eine derart hohe Bedeutung bekamen, daß man sie um ihrer selbst willen aktualisierte. Wie eingangs erwähnt, hat die Einfügung der V. 12*–15a.16a eine Reihe weiterer Zusätze nach sich gezogen. Neben den V. 40–42, die oben bereits untersucht wurden, sind hier aus Kapitel 20 die V. 7a.8.11.15b.16b.17 und 23 zu nennen sowie aus dem näheren literarischen Umfeld der ‚erste‘ (18,3f.) und der ‚dritte‘ Bundesschluß (23,16–18). Bei den meisten dieser Stücke scheint es sich um Einsprengsel zu handeln oder zumindest um Zusätze, bei denen die Zugehörigkeit zu anderen, größeren Ergänzungen nicht zu erkennen ist. In diesem Zusammenhang ist zunächst auf V. 11 hinzuweisen. Daß dieser Vers nachgetragen wurde, legt sich sowohl von seiner Form als auch von seinem Inhalt her nahe. Denn erstens stellt

–––––––––––––– 212 Vgl. etwa oben Anm. 62 (Kap. 8). 213 Hundert Jahre zuvor scheint das zumindest bei dem persischen Beamten Serubbabel, der wohl aus davidischem Geschlecht war, noch der Fall gewesen zu sein; vgl hierzu ALBERTZ: Religionsgeschichte. S. 621f. (zur Einstellung der Chronik zu den Davididen, dort auch weitere Literatur). Ferner S. 468ff. und 478ff.; DONNER: Geschichte. S. 444; SASSE: Geschichte. S. 50–56. Mit einer Debatte um das davidische Königtum, die besonders lebhaft während des fünften Jahrhunderts geführt wurde, rechnet z. B. auch RUDNIG (Thron. S. 338; Heilig. S. 154–164).

Auswertung

329

V. 12a1 eine Wiederaufnahme von V. 11aa dar,214 und zweitens ist der in V. 11 vollzogene Ortswechsel nirgends im weiteren Verlauf der Handlung, wie der MT sie schildert, vorausgesetzt. Wahrscheinlich verfolgte die Einfügung das Ziel, noch deutlicher als ehedem herauszustellen, daß sich die anschließende Szene ganz im Geheimen abspielt. Anhaltspunkte für die Bestimmung des relativen Alters des Verses finden sich kaum. Aufgrund der Wiederaufnahme wird man immerhin davon ausgehen können, daß er der Erzählung später als die V. *12–16 zugewachsen ist. Dasselbe Fazit ergibt sich in bezug auf V. 15b, der sich seinem Sinn nach gut, hingegen seiner Syntax nach eher schlecht als recht an V. 15a anlehnt. Es handelt sich vermutlich um eine sekundäre Erläuterung zu 20,15a, welche die unbedingte Beachtung des in den V. 14f. Geforderten sicherstellen will. Diese Glossierung scheint ihrerseits die Einschaltung von V. 16b ausgelöst zu haben. Die Nähe dieser zwei Halbverse deutet sich schon in der Verwendung des Ausdrucks dˆw∂d yEb◊yOa an, die beiden gemein, dem übrigen Kapitel jedoch fremd ist. Ähnlich fremd nimmt sich V. 16b in seinem jetzigen Kontext aus: Das zeigt sich darin, daß er – von seinem Wortlaut her zu urteilen – nur a) als Wunsch Jonatans oder b) als Kommentar des Erzählers verstanden werden kann, daß sich aber gleichzeitig beide Lesarten, wenn überhaupt, nur mit äußerster Mühe zu den V. 16a und 17ff. fügen. Interpretation a) vermag nicht zu überzeugen, da in 20,16a der Erzähler selbst das Wort hat (nicht Jonatan)215 und V. 16b somit eine Redeeinleitung fehlt. Möglichkeit b) hingegen bedeutet eine sowohl unvermittelt einsetzende als auch endende Prolepse und damit einen fühlbaren Sprung im Erzählfluß, was ebensowenig wie a) originär aussieht. Ich vermute daher, daß der Halbvers von einem Schreiber ergänzt wurde, der den Beginn von V. 15b als einen elliptisch formulierten negativen Konditionalsatz auffaßte, dem in V. 16a der zugehörige Hauptsatz folgt.216 Der Einschub ist in diesem Fall als Ausdruck eines Textverständnisses zu werten, das sich (vielleicht angesichts der bedingten Selbstverfluchungen, die Jonatan in den V. 12f. auf sich nimmt) Davids Teil der Absprache unter keinen Umständen ohne eine Strafklausel (für den Fall, daß David dem Vereinbarten zuwiderhandeln sollte) denken mochte oder konnte. Relativ unklar ist die Stellung von V. 23. Der Vers setzt einerseits die V. 15a.16a voraus, indem er auf eine feierliche und folgenschwere Vereinbarung zurückblickt, die überdies MDlwøo_dAo Bestand haben soll. Andererseits ist hier ledig–––––––––––––– 214 Hiervon ausgehend und dem Fortschreibungsverfahren der Wiederaufnahme folgend müßte man den Zusatz eigentlich korrekt als V. 11abb.12a1 notieren. Da aber V. 11aa und 12a1 identisch sind, erscheint die vereinfachte Bezeichnung als V. 11 statthaft. 215 Hierzu s. o. die textkritische Erörterung der V. 14–16 unter 8.2. 216 [V. 15b] „Wenn aber nicht, so möge, während Jhwh einen jeden der Feinde Davids von der Erde auslöscht, [V. 16a] Jonatan zusammen mit dem Hause Davids ausgelöscht werden – [V. 16b] und Jhwh fordere (wirklich) Vergeltung von den Feinden Davids!“

330

1 Samuel 20,1–21,1

lich von einer Übereinkunft zwischen David und Jonatan selbst die Rede, die entscheidende Rolle der Nachfahren (vgl. V. 15a.16a) bleibt unerwähnt. Zudem wird in 20,23 mit keinem Wort angedeutet, daß es sich nicht bloß um eine Absprache, sondern um eine tyîrV;b gehandelt hat. Möglicherweise gehört der Vers also nicht genuin mit 20,12*–15a.16a zusammen, sondern wurde später eingesetzt. Der Sinn dieses Schrittes könnte darin bestanden haben, die Szene 20,18–22 und damit wohl das (zumindest zu jenem Zeitpunkt noch) letzte Gespräch der beiden Freunde mit einem würdigen Schlußwort zu versehen. Weil von einem Schwur im Zusammenhang mit dem Bund nichts verlautet (anders die V. 17 und 42), liegt die Annahme nahe, daß der Vers früher als 20,17 (und 20,40–42) entstanden ist. 20,17 blickt wahrscheinlich schon auf den ‚ersten‘ Bundesschluß (18,3f.) zurück. Darauf deutet zumindest der Umstand hin, daß der Vers sowohl das Element der tyîrV;b (V. 16a) als auch das der hDbShAa Jonatans kennt, darüber hinaus aber auch noch das Schwurmotiv, das 18,3f. nicht kennen, in die Szene einflicht. In dieselbe Richtung weist die Formulierung des V. 17b, die sich trotz vollkommener Bedeutungsgleichheit gegenüber derjenigen aus 18,3b ein wenig filigraner ausnimmt. Viel deutlicher noch wird 18,3 von 20,8 vorausgesetzt: David bezieht sich hier ausdrücklich auf jenen ‚ersten‘ Bundesschluß. Daß er dabei behauptet, von Jonatan in diesen Bund ‚geführt worden‘ zu sein, stellt eine weitere Parallele zu V. 17 dar. Auch dort wird unter Verwendung des Hiph‘ils Davids Handeln auf die Initiative Jonatans zurückgeführt. Mit dem hDbShAa-Motiv aus V. 17b korrespondiert Davids etwas pathetisch anmutender Satz, lieber durch den Freund umkommen zu wollen als dessen Vater in die Hände zu fallen (V. 8b). Es erscheint mir aus diesen Gründen gut möglich, wenn nicht wahrscheinlich, daß 20,8 und 20,17 aus einer Feder stammen. Ebenfalls hierher gehört vielleicht V. 7a, der sich durch den von ihm verwandten höfischen Stil sowohl von 20,5f. als auch von 20,7b sprachlich absetzt, hingegen mit V. 8 hierin zusammenstimmt. Das gemeinsame Interesse dieser zweieinhalb Verse besteht einzig und allein darin, daß Band, das Jonatan und David eint, mit erzählerischen Mitteln noch ein wenig fester zu ziehen. Zu diesem Zweck wird der Ton, den David gegenüber seinem Freund anschlägt, ein wenig ehrerbietiger (V. 7a.8a), wird die gegenseitige Zuneigung der beiden Freunde noch einmal deutlich herausgestrichen (V. 8b.17b.), die einfache tyîrV;b zum Jhwh-Bund gesteigert (V. 8a) und das Element des Schwures hinzugefügt (V. 17a).

8.3.4

Die Vereinbarung des geheimen Zeichens (*20,10.18–22.35aa[?].37bb.38aa)

Die nächstältere Ergänzung dürfte in den V. 10.18.19*.20*.21f.37bb.38aa vorliegen. Daß diese Versgruppe keinen genuinen Bestandteil der Erzählung bildet, machen vor allem vier Beobachtungen wahrscheinlich: Erstens stellt V. 18a eine

Auswertung

331

Doppelung zu V. 5a dar, ist aber zweitens (genau wie dieser ganze zweite Teil des Planes der beiden Freunde) im Gegensatz zu 20,5a für den Gesamtzusammenhang keineswegs konstitutiv, denn einzig V. 37b setzt im weiteren eine Kenntnis der V. 10.*18–22 voraus. Dieser V. 37b steht drittens insofern in einer kaum merklichen Spannung zu V. 38a, als 20,38a zu völliger Redundanz verurteilt ist, solange ihm jener andere Halbvers voraufgeht. Für sich genommen, kann V. 38a als versteckter Wink Jonatans verstanden werden, der David bedeuten soll, sich sofort aufzumachen. Im Anschluß an V. 37b dagegen verblaßt er zu einem bloßen funktionslosen Detail. Viertens stimmt der Wortbestand von V. 38aa auffällig weitgehend mit V. 37ba überein, so daß der Gedanke an eine Wiederaufnahme und mithin an eine nachträgliche Einfügung der V. 37bb .38a a naheliegt. Die genuine Zusammengehörigkeit dieses Einschubs mit dem Passus *20,10.18–22 geht daraus hervor, daß V. 37bb ohne das zuvor in den V. *20–22 vereinbarte geheime Zeichen jeglicher Relevanz entbehrte. Und auch die Tatsache, daß sowohl V. 22 als auch V. 38aa das ansonsten nur noch ein einziges Mal im AT belegte Wort MRlRo gebrauchen, deutet in diese Richtung. Das herausstechendste Merkmal dieser Ergänzungsschicht ist ihr Desinteresse an den theologischen Aspekten der Grunderzählung. Der Überarbeiter sieht evidenterweise keine Veranlassung, die Rechtmäßigkeit der Sache Davids o. dgl. weiter herauszuarbeiten, sein Augenmerk gilt allein der inneren Logik des Geschehens. Die Frage, die ihn umtreibt, lautet: Wie kann David wissen, daß die Worte, die Jonatan in V. 38a an seinen Knappen richtet, in Wirklichkeit ihm gelten und ihn warnen sollen? Die Antwort, die er findet, besteht in zwei Szenen, die er erfindet: in einer weiteren Übereinkunft der beiden Freunde, namentlich in ihrer Vereinbarung eines geheimen Warnsignals, sowie in der Anwendung jenes Codes. Mag der Ergänzer mit alldem auch allein auf der Ebene der Handlung der Geschichte operieren, so ist dieser Eingriff doch keineswegs theologisch bedeutungslos. Denn dadurch, daß die innere Folgerichtigkeit des bloßen Geschehensverlaufs erhöht wird, erfährt ja zugleich auch die Glaubwürdigkeit des Ganzen eine nicht unwesentliche Steigerung. Ob sich der Bearbeiter über diese Tragweite seines Schrittes bewußt war oder nicht, muß dabei freilich offen bleiben. Bei näherem Hinsehen ergeben sich auffallende Parallelen zwischen der hier herausgearbeiteten Ergänzungsschicht und jener Einfügung am Ende der Goliaterzählung, die den jungen David als ‚Nobody‘ an Sauls Hof zeichnet: 1 Sam 17,55–58; 18,2.217 Einmal verbindet die beiden Strata die allein bei ihnen begegnende Verwendung des Substantivs MRlRo (vgl. 17,56; 20,22.38aa). Weiterhin gleichen sie sich auch darin, daß ihr Interesse zunächst jeweils der erzählerischen Stringenz des ihnen vorgegebenen Textkomplexes gilt und allenfalls erst in einem weiteren, mittelbaren Sinne seiner theologischen Dimension. Hinzu kommen –––––––––––––– 217 Zum Folgenden vgl. 5.3.2.5.

332

1 Samuel 20,1–21,1

drittens noch zwei etwas unscheinbarere Parallelen. So erinnert zum einen die in 17,55ff. geschilderte Situation an jene aus 20,25, die zur Grundschicht von 1 Sam 20 gehört und folglich dem Verfasser von *20,10.18–22.37bb.38aa schon vorgelegen hat. Denn nur an diesen beiden Stellen werden der König und sein Feldherr Abner im persönlichen Umgang miteinander dargestellt.218 Zum anderen ähneln sich innerhalb der zwei Ergänzungen auch die Passagen 17,55f. und 20,21f.: Die grundlegende Struktur bildet hier wie dort das Gespräch zweier Erwachsener über einen dritten, selber nicht anwesenden Akteur, bei dem es sich jeweils um einen minderjährigen Knappen handelt. All dies macht es m. E. wahrscheinlich, daß die Ergänzungen 17,55–58; 18,2 und *20,10.18–22.37bb.38a a auf ein und denselben Verfasser zurückzuführen sind. Angesichts des literarischen Profils der Bearbeitung, das grundsätzlich in jeder Epoche vorstellbar ist, und aufgrund der Schwierigkeit, die übrigen Straten in 1 Sam 20 aus sich selbst heraus chronologisch zu verorten, muß man sich bei der Datierung der Bearbeitung auf die (in erster Linie durch die anzunehmende Zusammengehörigkeit von 17,55–58; 18,2 und *20,10.18–22.37bb.38aa ermöglichte) Synchronisierung mit den Straten aus 1 Sam 17,1–18,4 verlassen. Da 17,55–58; 18,2 am ehesten in der ersten Hälfte der Perserherrschaft anzusiedeln ist, wird man für *20,10.18–22.37bb.38aa denselben Entstehungszeitraum voraussetzen dürfen. Auch in V. 35 dürfte die Erzählung in ihrer ältesten Fassung eine Ergänzung erfahren haben. Daß nach V. 35aa Jonatan erst am Morgen nach dem Bankett aufbricht, um seinen Freund zu warnen, widerspricht nämlich V. 5b*, dem zufolge David lediglich bis zum Abend des Neumondtags in seinem Versteck ausharren will. Zudem kann V. 35ab problemlos unmittelbar an 20,34 anknüpfen; nicht nur die Syntax des Halbverses erlaubt diese Verbindung, sondern auch der Umstand, daß 20,35aa nirgends im folgenden vorausgesetzt wird. Zwar ist nicht gänzlich auszuschließen, daß die durch die Zeitangabe aus V. 35aa hervorgerufene Inkonsistenz bereits Bestandteil der ältesten Fassung der Geschichte war. Wahrscheinlicher jedoch ist die Annahme, daß das erzählerisch sperrige Element später hinzugefügt wurde, um den Eindruck zu vermeiden, die Bogenschußszene habe sich des Abends zugetragen, und auf diese Weise die Glaubwürdigkeit des von Jonatan gebrauchten Vorwands aufrechtzuerhalten. Die Intention hinter diesem Einschub ähnelt also vermutlich jener, die mit der Einfügung der V. 10.*18–22.37bb.38aa verfolgt wird. Wenn es auch angesichts des geringen Umfangs der Interpolation schwierig ist, sie entstehungsgeschichtlich einzordnen, –––––––––––––– 218 Allenfalls kann man noch auf 1 Sam 26 verweisen, wo Abner aber weniger als General und Vertrauter des Königs denn als oberster Leibwächter erscheint. Eine weitere Parallele zwischen der Grundschicht von 1 Sam 20 und dem Einschub 17,55–58; 18,2 besteht darin, daß hier wie dort die Abstammung von Isai besonders hervorgehoben wird (vgl. in 20,27b.30b.31a die Bezeichnung yAvˆy_NR;b und vgl. dazu 17,55f.58).

Auswertung

333

dürfte es aber zumindest die nächstliegende Möglichkeit sein, sie zu *20,10. 18–22.37bb.38aa zu stellen.

8.3.5

Die Grundschicht von 1 Sam 20,1–21,1

Die Grundschicht ist allem bis hierher Gesagten zufolge in 20,1b–6.7b.9.24f. 27b*–34*.35abb.36.37aba.38ab.b*.39*; 21,1 und 22,1aab1 (= fElD;mˆ¥yÅw MDÚvIm dˆw∂;d JKRl´¥yÅw) zu finden. Daß dieses literarische Stratum offensichtlich den Nexus 19,11f. / 22,1* unterbricht, ist oben bereits dargelegt worden.219 Deutlich ist ferner die Abhängigkeit der Grundschicht von Kapitel 20 von 1 Sam *19,1b–8: Wie im letzten Abschnitt aufgezeigt, ist nämlich 1 Sam 20* wahrscheinlich älter als die Episode 17,55–58; 18,2 und damit auch älter als die beiden Stücke 18,1 und 18,3f., die das besondere Freundschaftsverhältnis zwischen Jonatan und David thematisieren. Zugleich setzt 1 Sam 20* Jonatans Sympathie für David als bekannt voraus, David wendet sich ja in seiner Not wie selbstverständlich an den Prinzen (20,1bff.). Das aber bedeutet, daß die Erzählung auf *19,1b–8 aufbaut.220 Die Geschichte knüpft vermutlich an 19,12b an und erzählt, wie Jonatan sich für seinen Freund David einsetzt und dabei selbst die Konfrontation mit seinem Vater nicht scheut. Der letztgenannte Zug unterscheidet das Erzählstück von der vorausgesetzten Episode *19,1–8 und stellt zugleich den gedanklichen Fortschritt ihr gegenüber dar. Dort gelingt es Jonatan, zwischen Saul und David zu vermitteln, während es in den V. *30–34 um der Sache Davids willen zum offenen Bruch zwischen Vater und Sohn kommt. Mit diesem von Jonatan in Kauf genommenen Bruch dürfte der Verfasser der Grundschicht von Kapitel 20 die Unschuld Davids und folglich die Rechtmäßigkeit seiner späteren Stellung zu unterstreichen suchen. Der Einschub von 1 Sam 20* markiert zudem den Punkt in der Entstehungsgeschichte der AG, an dem die Figur des Jonatan endgültig aus dem Schatten der Michal heraustritt und zugleich beginnt, ihr den Rang als wichtigste unter den mit David sympathisierenden Figuren streitig zu machen. Jonatan kommt nunmehr das Verdienst zu in beiden kritischen Situationen am Hofe Sauls, in denen Davids Leben akut gefährdet ist, dem Freund beizuspringen und maßgeblich an seiner Rettung beteiligt zu sein, während Michal lediglich beim zweiten Male involviert ist. –––––––––––––– 219 S. o. 7.3 zur Grundschicht von 1 Sam 19. 220 Gegen GRØNBÆK: a. a. O. S. 111–113; L EMCHE : Rise. S. 6; ADAM : a. a. O. S. 133 u. 137 u. a. (ADAMs textgenetische Rekonstruktionen kranken hier wie auch an einigen anderen Stellen daran, daß sie auf eine detaillierte Argumentation weitgehend verzichten. Eine Rolle mag auch spielen, daß ADAM mit einer Art Fortschreibungstechnik rechnet, die er „Motivwiederholung durch Voranstellung“ nennt, ADAM: a. a. O. S. 9.) Richtig hingegen etwa KRATZ: Komposition. S. 185.

334

1 Samuel 20,1–21,1

Die Untersuchung hat keine nennenswerten Hinweise auf die Entstehungszeit des Einschubs zutagegefördert. Angesichts der Abhängigkeit von 1 Sam *19,1b–8 und der zeitlichen Ansetzung dieses Stückes (dazu s. o. 7.3) wird man aber zumindest soviel sagen dürfen, daß eine Abfassung vor Ende des siebten Jahrhunderts ausgeschlossen, im Laufe des sechsten Jahrhunderts hingegen recht wahrscheinlich ist.

9 9.1

1 Samuel 21,2–16 Einleitende Betrachtung

Der Abschnitt 1 Sam 21,2–16 besteht aus zwei kurzen Episoden, die nur oberflächlich miteinander verbunden sind. Die Abgrenzung der beiden Erzählstücke ergibt sich jeweils aus dem berichteten Geschehen: V. 2a erwähnt die Ankunft Davids bei Ahimelech in Nob und bildet damit die Grundlage für den sich sogleich zwischen David und dem Priester entspinnenden Dialog, der mit dem Aufbruch Davids in V. 11a an sein Ende gelangt. Unmittelbar darauf wird mit der Notiz über Davids Ankunft in Gat (V. 11b) die kleine Szenenfolge 21,12ff. eröffnet, die schließlich in einer Art Bonmot des philistäischen Stadtkönigs Achisch gipfelt (V. 16). Der folgende Vers (22,1) ist bereits dem nächsten Abschnitt (22,1–5) zuzurechnen, da er dessen erzählerischen Ausgangspunkt schafft. Die Zusammenfassung der beiden Episoden in einem Kapitel bzw. in einem Untersuchungsschritt rechtfertigt sich durch die besondere Situation Davids, die hier wie dort zugrundegelegt wird: Einerseits ist die endgültige Trennung vom Hofe Sauls bereits vollzogen (vgl. 21,2), andererseits ist David aber noch allein auf der Flucht, mithin noch nicht zum Anführer einer Freischar avanciert (vgl. 22,1f.). Eine weitere inhaltliche Klammer bildet Davids Verhalten, das ihn in eine gewisse Nähe zur Figur des Odysseus rückt,1 wenn er gleichermaßen den Priester wie auch den Philisterfürsten geschickt hinters Licht führt. Für den näheren Kontext ist insbesondere die erste der beiden Episoden von Bedeutung, bereitet sie doch die Erzählung 22,6ff. vor, die Sauls Massaker an der Priesterschaft von Nob zum Gegenstand hat.

9.2

Untersuchung

Aus dem bisher Gesagten geht bereits hervor, daß sich der Abschnitt 1 Sam 21,2–16 in zwei Teile gliedert, die V. 2–11a und die V. 11b–16, die untereinander keinerlei erzählerische Verbindung aufweisen. Immerhin setzen beide Episoden die Fluchtsituation voraus und lassen erkennen, daß David als hochrangige Persönlichkeit vorgestellt ist: Die verwunderte Frage Ahimelechs in V. 2 impliziert, –––––––––––––– 1

Vgl. BUDDE: a. a. O. S. 150 (mit Bezug auf 21,14–16). Auch die Odyssee zeichnet ihren Helden wiederholt als Meister der Verstellung, vgl. etwa Odyssee 4,224ff.; 13,427ff. (hier sogar mit göttlicher Unterstützung).

336

1 Samuel 21,2–16

„that David was usually accompanied by an escort“2, und in 21,12 wähnen die Knechte Achischs gar, es handle sich bei David um Israels König. Hier wie dort findet sich zudem ein expliziter Rückverweis: Die V. 9f. setzen Davids Sieg über den Philister (1 Sam 17) voraus und kennen näherhin sogar schon dessen Namen (vgl. 21,10). 21,12 dagegen scheint auf das aus 18,7 bekannte Siegeslied der Frauen zu rekurrieren. Dieses Lied kehrt noch einmal in 29,5 wieder und bildet damit eine Verbindung zu den Geschichten über Davids Zeit im Dienste der Philister (1 Sam 27.29f.). In diesem Textbereich bildet der Anfang von 1 Sam 27, wo von einer erneuten, diesmal geglückten Flucht Davids in das Herrschaftsgebiet des Achisch von Gat berichtet wird, quasi das positive Gegenstück zu 21,11b–16. Folgende Gliederung des Abschnitts bietet sich an: 21,2–11a 21,2–7 21,8 21,9f. 21,11b–16 21,11b 21,12 21,13f. 21,15f.

David bei Ahimelech in Nob David erhält Proviant von Ahimelech Sauls Gefolgsmann Doëg wird Zeuge der Szene David erhält das Schwert Goliats von Ahimelech David bei Achisch in Gat David kommt zu Achisch von Gat Reaktion der Gefolgsleute Achischs Davids vorgetäuschter Wahnsinn Achischs Reaktion

V. 2 bildet, wie schon erwähnt, den Ausgangspunkt für alles übrige in den V. 3–11a und ist als solcher unverzichtbarer Bestandteil der kleinen Geschichte. Der Name des Priesters aus Nob lautet im MT JKRlRmyIjSa, in der LXX hingegen Abimelec. Ersteres wird gemeinhin und mit Recht als originär angesehen,3 weil die LXX selbst an zwei Stellen (1 Sam 30,7; 2 Sam 8,17) die masoretische Lesart bezeugt.4 Die Formulierung NN taårVqIl (q) drj begegnet interessanterweise im gesamten AT ausschließlich hier und in 16,4b. Anders als 16,4 ist der Vers 21,2 aber fest in seinen literarischen Kontext integriert, hinzu kommen noch die oben ange–––––––––––––– 2 3 4

SMITH: a. a. O. S. 197. Vgl. etwa BUDDE: a. a. O. S. 147; STOEBE: a. a. O. S. 392, Anm. 2 b). Zwei kleinere textkritische Probleme treten noch hinzu: Zum einen liest die LXX thvØ aÓpanth/sei aujtouv, während sich im MT hierfür dˆw∂;d taårVqIl findet. Die zweite Lesart hat schon allein deshalb weniger Wahrscheinlichkeit für sich, weil sie die lectio longior darstellt. Darüber hinaus begnügt sich auch der vermutlich von 21,2 textgenetisch unmittelbar abhängige Vers 16,4b (hierzu s. 3.3.1) mit einem einfachen wøta∂rVqIl, so daß die LXX an diesem Punkt vorzuziehen sein wird. – Das letzte Wort in V. 2 lautet nach 4QSamb Kmo, im MT hingegen JKD;tIa. Erneut könnte der Sprachgebrauch jenes eben genannten Einschubs in Kapitel 16 den Ausschlag in dieser auf anderem Wege kaum zu entscheidenden Frage geben. Denn der Halbvers 16,5a, der zusammen mit 16,4b entstanden zu sein scheint, bevorzugt die Präposition tEa. Daher ist hier vielleicht eher der MT beizubehalten.

Untersuchung

337

stellten Beobachtungen bzw. Überlegungen,5 die den Schluß nahelegen, daß die Verse 16,4b.5a einen Einschub darstellen, zu dem 21,2 die Vorlage lieferte. David ist, wie oben bereits erwähnt, offensichtlich als hochrangiger Soldat bekannt, so daß die Frage des Priesters nachvollziehbar erscheint. V. 3 knüpft unmittelbar an 21,2 an, denn David geht hier sogleich auf die Frage Ahimelechs ein. Daß er allein unterwegs ist, erklärt er, indem er eine geheime Mission vortäuscht, auf die ihn der König geschickt habe. Der Vers ist vor allem in textkritischer Hinsicht erörterungsbedürftig. Im MT dürfte der Name des Priesters nachgetragen worden sein, 4QSamb liest nämlich lediglich dwd rmayw Nhkl und wird darin von der LXX unterstützt, ohne daß sich triftige Gründe benennen ließen, die hier zu einer Streichung hätten Anlaß geben können. Auch das hDm…waVm, für das die LXX kein Pendant bietet, könnte – da es „eine Verschärfung des lAa“6 darstellt – nachgetragen sein.7 Dagegen ist auf seiten der LXX wahrscheinlich das sh/meron als konkretisierende Glosse eingesetzt worden sein,8 wie sich auch in der zweiten Vershälfte die Worte tw◊ˆ legome÷nwˆ qeouv pi÷stiß, die im MT ohne Gegenstück sind, als Verstehenshilfe in Hinblick auf die augenscheinlich nicht mehr geläufige Formulierung yˆnwømVlAa yˆnølVÚp erklären.9 Statt des yI;tVoådwøy im MT ist mit 4QSamb das näherliegende ytdoy von (q) doy zu lesen,10 denn die Po‘elform von ody ist ohne Analogie. In V. 4 klärt David den Priester über den Grund seines Kommens auf, er möchte Verpflegung requirieren. Der Vers erweist sich damit als fester Bestandteil des Handlungsgerüstes, was auch daraus hervorgeht, daß die folgenden drei Verse nur vor seinem Hintergrund zu verstehen sind.11 V. 5: Ahimelech zeigt sich grundsätzlich kooperativ, stellt aber – da es sich um kultisch verwendete Brote handelt – eine Bedingung an die vermeintlichen Empfänger: David und seine Mannen sollen nur dann von dem Brot essen dürfen, wenn sie sich nicht durch Geschlechtsverkehr verunreinigt haben.12 Damit ist –––––––––––––– 5 6 7 8 9 10 11

12

Hierzu s. 3.3.1. BUDDE: a. a. O. S. 147. Er hält das Wort aber gerade wegen dieser Funktion für ursprünglich. Andererseits hat 4QSamb (zumindest nach der Rekonstruktion von CROSS et al.) das Wort vielleicht enthalten; vgl. DJD 17, S. 231. Anders BUDDE: a. a. O. S. 147. Vgl. KLOSTERMANN: a. a. O. S. 93, Anm. 3l. Vgl. etwa DJD 17, S. 235 zur Stelle; BARTHÉLEMY: a. a. O. S. 203; BUDDE: a. a. O. S. 147; SMITH: a. a. O. S. 199; WELLHAUSEN: Text. S. 121. Der Wortlaut des MT dürfte im Ganzen originär sein. Warum BUDDE (a. a. O. S. 148) u. a. statt des hAm in Anlehnung an den Text der LXX das deutli