Schriftauslegung im Ezechielbuch: Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Ez 34-39 (Beihefte zur Zeitschrift fur die Alttestamentliche Wissenschaft) [1 ed.] 311020858X, 9783110208580, 9783110211146 [PDF]

The theology of Isaiah 40-55 has two seemingly contradictory aspects: the tension between the consolatory message of del

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German Pages 465 [466] Year 2009

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Schriftauslegung im Ezechielbuch: Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Ez 34-39 (Beihefte zur Zeitschrift fur die Alttestamentliche Wissenschaft) [1 ed.]
 311020858X, 9783110208580, 9783110211146 [PDF]

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Zitiervorschau

Anja Klein Schriftauslegung im Ezechielbuch

Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Herausgegeben von John Barton · Reinhard G. Kratz Choon-Leong Seow · Markus Witte

Band 391

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anja Klein

Schriftauslegung im Ezechielbuch Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Ez 34-39

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020858-0 ISSN 0934-2575 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

 

                Meinen Eltern         

 

VORWORT  Die  vorliegende  Arbeit  wurde  im  Sommersemester  2008  unter  dem  Titel „Schriftauslegung im Ezechielbuch. Ein Beitrag zur Redaktion der  Heilsprophetien  Ez  34‐39  im  Kontext  des  Buches“  von  der  Theologi‐ schen  Fakultät  der  Georg‐August‐Universität  zu  Göttingen  als  Disser‐ tation angenommen. Termin des Rigorosums war der 11. Juni. Für den  Druck wurde die Arbeit nur geringfügig überarbeitet.  Viele haben Anteil daran, dass meine Dissertation nun vorliegt. An  erster  Stelle  sei  Herr  Prof.  Dr.  Reinhard  G.  Kratz  genannt,  der  die  Studie  angeregt  und  mit  hilfreicher  Kritik  begleitet  hat.  Für  seine  nie  nachlassende Geduld mit meinen Fragen, die mitreißende Begeisterung  für  die  alttestamentlichen  Texte  und  sein  Vertrauen  darauf,  dass  die  Schriftauslegung  im  Ezechielbuch  zu  einem  Ziel  kommen  würde,  sei  ihm  herzlich  gedankt.  Darüber  hinaus  hat  er  mir  als  seiner  Mitarbei‐ terin  ab  April  2008  ein  Höchstmaß  an  Freiraum  und  Unterstützung  gewährt,  so  dass  Rigorosum  und  Drucklegung  zügig  abgeschlossen  werden konnten.   Mein  Dank  gilt  des  Weiteren  Herrn  Prof.  Dr.  Dr.  h.  c.  Hermann  Spieckermann  und  Frau  Prof.  Dr.  Karin  Schöpflin  für  die  Übernahme  des  Zweit‐  bzw.  Drittreferats.  Beide  haben  die  Arbeit  von  Anfang  an  begleitet  und  mein  Vorankommen  durch  hilfreiche  Hinweise  unter‐ stützt.  Wertvolle  Denkanstöße  verdanke  ich  ebenso  den  Teilnehmern  des  Göttinger  Doktorandenkolloquiums  und  des  nordisch‐deutschen  Netzwerkes OTSEM, in deren Kreise ich Teile der Arbeit vorstellen und  diskutieren konnte. Ich möchte ferner Herrn Prof. Dr. Christoph Levin  erwähnen,  dem  ich  für  sein  engagiertes  Interesse  an  meiner  Unter‐ suchung  und  seine  weiterführenden  Anmerkungen  danke.  Auf  seine  Einladung geht auch eine spannende Diskussion über meine Thesen im  Münchener Doktorandenkolloquium zurück, von der ich sehr profitiert  habe.  Dem  Ev.  Studienwerk  e. V.  Villigst  gebührt  Dank  für  die  Unter‐ stützung  meines  Projektes  durch  ein  Promotionsstipendium  und  die  langjährige  Förderung  und  Forderung,  die  ich  schon  während  meiner  Studienzeit erfahren durfte.   Schließlich  danke  ich  den  deutschsprachigen  Herausgebern  der  Reihe  BZAW,  Herrn  Prof.  Dr.  Reinhard  G.  Kratz  und  Herrn  Prof.  Dr.  Markus  Witte,  für  die  Aufnahme  meiner  Arbeit  sowie  dem  Verlag 

VIII 

Vorwort 

  Walter  de  Gruyter,  hier  besonders  Herrn  Dr.  Albrecht  Döhnert,  Frau  Dr. Sabine Krämer und Frau Sabina Dabrowski, für die freundliche und  engagierte Zusammenarbeit.  Die tatkräftige Hilfe von Freunden und Kollegen hat vieles erleich‐ tert. Herr PD Dr. Ingo Kottsieper und Herr PD Dr. Thilo Rudnig haben  mich  beim  Umgang  mit  sprachlichen  Eigenheiten  des  Ezechielbuches  unterstützt;  mit  Herrn  Detlef  Fraenkel  konnte  ich  die  Besonderheiten  von  Pap.  967  erörtern.  Dazu  kommen  die  Korrekturlesenden,  die  sich  unermüdlich  mit  verschiedenen  Wachstumsstufen  von  Vorträgen  so‐ wie der Promotions‐ und der Druckfassung auseinander gesetzt haben.  Hier  danke  ich  vor  allem  Birke  Siggelkow‐Berner  und  Dr.  Christoph  Berner  sowie  Dr.  Hannes  Bezzel,  Mirjam  Bokhorst,  Merlind  Börner,  Franziska Ede, René Enzenauer, Tanja Pilger, Dr. Peter Porzig, PD Dr.  Annette Steudel, Sabine Weingärtner und Dr. Alexa Wilke.  Der erfolgreiche Abschluss dieser Arbeit verdankt sich nicht zuletzt  dem Rückhalt und der Unterstützung durch meine Familie.    Göttingen, im Oktober 2008  Anja Klein 

 

INHALTSVERZEICHNIS Kapitel I: THEMA UND FRAGESTELLUNG 1.  Das Problem  ...........................................................................................  1  2.  Stand der Forschung und methodische Grundlegung  .....................  3  2.1.  Das Phänomen der Schriftauslegung  .........................................  3  2.2.  Das Ezechielbuch in der kritischen Forschung  .........................  6  2.3.  Berührungen mit anderen Büchern  ..........................................  17  3.  Zur Anlage der Arbeit  ........................................................................  23 

Kapitel II: AUFTAKT ZUR HEILSVERKÜNDIGUNG: EZ 34 1.  Problemanzeige  ...................................................................................  24  2.  Das Hirtenkapitel Ez 34  ......................................................................  25  2.1.  Übersetzung  .................................................................................  25  2.2.  Textanalyse  ..................................................................................  32  3.  Innerbiblische Auslegung in Ez 34  ....................................................  42  3.1.  Das Wort gegen die Könige Jer 23,1‐8  ......................................  42  3.1.1. Übersetzung  .......................................................................  42  3.1.2. Textanalyse  .........................................................................  44  3.2.  Vergleichende Analyse  ...............................................................  46  3.3.  Rekonstruktion des Auslegungsvorganges  .............................  49  3.4.  Das literarische Wachstum des Hirtenkapitels  .......................  55  4.  Die Heilsprophetien in Ez 34‐39  ........................................................  59  4.1.  Zum methodischen Vorgehen  ...................................................  59  4.2.  Pap. 967 und der textgeschichtliche Befund  ............................  60  4.3.  Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen zu Ez 34‐39  ..........  66  4.4.  Die Bedeutung von Ez 34 für die Heilsprophetien  .................  77  5.  Zwischenergebnis und Konsequenzen für das weitere  Vorgehen  ...............................................................................................  78 

Kapitel III: SCHRIFTAUSLEGUNG IN EZ 34-39 1.  Der neue Bund: Ez 36,23bb‐38  ............................................................  81  1.1.  Standortbestimmung und Vorgehensweise  ............................  81  1.2.  Textanalyse  ..................................................................................  81  1.3.  Der literarische Kontext  .............................................................  85  1.4.  Innerbiblische Auslegung in Ez 36,23bb‐38  .............................  89  1.4.1.  Zur Frage nach den literarischen Vorlagen  ..................  89 



Inhaltsverzeichnis   

1.4.2.  Das eine Herz und der neue Geist in Ez 11,14‐21  ........  90  1.4.3.  Das neue Herz und der neue Geist in Ez 18,31  ............  97  1.4.4.  Herz und Bund im Jeremiabuch  ....................................  99  1.4.5.  Das reine Herz und der erneuerte Geist in Ps 51  ......  106  1.5.  Der neue Bund im Ezechielbuch  .............................................  110  2.  Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f.  .......................................................  111  2.1.  Standortbestimmung und Vorgehensweise  ..........................  111  2.2.  Textanalyse  ................................................................................  112  2.2.1.  Abgrenzung  ....................................................................  112  2.2.2.  Aufbau und Grundwort  ................................................  114  2.2.3.  Textwachstum  ................................................................  122  2.3.  Der redaktionelle Horizont  ......................................................  125  2.4.  Innerbiblische Auslegung in Ez 38,1‐39,22  ............................  127  2.4.1.  Zur Frage nach den literarischen Vorlagen  ................  127  2.4.2.  Die Beziehungen zu den anderen   Fremdvölkersprüchen im Buch  ...................................  128  2.4.3.  Der Feind aus dem Norden im Jeremiabuch  .............  132  2.5.  Die Niederlage des letzten Feindes im Ezechielbuch  ..........  139  3.  Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29  ..................  140  3.1.  Standortbestimmung und Vorgehensweise  ..........................  140  3.2.  Textanalyse  ................................................................................  141  3.3.  Beobachtungen zum redaktionellen Horizont  ......................  148  3.4.  Innerbiblische Auslegung in Ez 36,16‐23ba; 39,23‐29  ...........  151  3.4.1.  Zur Frage nach den literarischen Vorlagen  ................  151  3.4.2.  Das Handeln Jhwhs um seines Namens willen in   Ez 20  .................................................................................  154  3.4.3.  Die Heilsbegründung im Deuterojesajabuch  .............  161  3.5.  Die Heiligkeit von Jhwhs Namen im Ezechielbuch  .............  168  4.  Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28  ...............................  169  4.1.  Standortbestimmung und Vorgehensweise  ..........................  169  4.2.  Textanalysen  ..............................................................................  170  4.2.1.  Der Heilsbund mit der Herde Jhwhs: Ez 34,25‐30  .....  170  4.2.2.  Der ewige Heilsbund: Ez 37,25‐28  ...............................  172  4.3.  Das literarische Verhältnis  .......................................................  175  4.4.  Innerbiblische Auslegung in Ez 34,25‐30 und 37,25‐28  ........  179  4.4.1.  Zur Frage nach den literarischen Vorlagen  ................  179  4.4.2.  Der ewige Bund in Ez 16,59‐63 und Jer 32,37‐41  .......  180  4.4.3.  Die Segensworte in Lev 26,3‐13  ...................................  184  4.4.4.  Das Wohnen Jhwhs inmitten seines Volkes  ...............  190  4.4.4.1.  Der traditionsgeschichtliche Hintergrund  ...  190  4.4.4.2.  Das ewige Wohnen Jhwhs in Ez 43,1‐9  .........  192 

Inhaltsverzeichnis   

XI 

4.4.4.3.  Die Wohnungsaussagen der   Priestergrundschrift  .........................................  194  4.4.4.4.  Das Wohnen Jhwhs in 1 Kön 6,11‐13  ............  203  4.4.5.  Zur Nachgeschichte: Ez 34,25LXX; Jes 54,9f. und   Hos 2,20  ...........................................................................  204  4.5.  Jhwhs Wohnungsnahme und der Heilsbund  ........................  208  5.  Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24  ...........  211  5.1.  Standortbestimmung und Vorgehensweise  ..........................  211  5.2.  Textanalyse  ................................................................................  212  5.3.  Das literarische Verhältnis zu Ez 34  .......................................  219  5.4.  Die Zeichenhandlung von der Wiedervereinigung  .............  224  5.4.1.  Zur Frage nach den literarischen Vorlagen  ................  224  5.4.2.  Zeichenhandlungen im Ezechielbuch  .........................  225  5.4.3.  Das Motiv der Wiedervereinigung  ..............................  228  5.5.  Die Verheißung des davidischen Herrschers  ........................  232  5.5.1.  Königserwartung und Messias  ....................................  232  5.5.2.  Die Herrschererwartungen im Ezechielbuch  .............  234  5.5.3.  Die Erneuerung des Königtums in den anderen  Prophetenbüchern  .........................................................  245  5.5.3.1.  Weissagungen im Ersten Jesajabuch  .............  245  5.5.3.2.  Neuanfang in Bethlehem: Mi 5,1‐5  ................  252  5.5.3.3.  Restauration des Königtums im   Jeremiabuch  ......................................................  255  5.5.3.4.  Die Hütte Davids: Am 9,11f.  ..........................  259  5.5.3.5.  Hoffnung auf Serubbabel im Haggai‐ und  Sacharjabuch  .....................................................  260  5.5.4.  Synthese und Zusammenfassung  ................................  265  5.6.  David und die Wiedervereinigung  .........................................  268  6.  Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14  ............  270  6.1.  Standortbestimmung und Vorgehensweise  ..........................  270  6.2.  Textanalyse  ................................................................................  270  6.2.1.  Aufbau und Grundschicht  ............................................  270  6.2.2.  Literarische Nacharbeit  .................................................  276  6.2.3.  Textwachstum  ................................................................  283  6.3.  Beobachtungen zum redaktionellen Ort  ................................  285  6.4.  Innerbiblische Auslegung in Ez 37,1‐14  .................................  289  6.4.1.  Zur Bildersprache  ..........................................................  289  6.4.2.  Die Todesmotivik  ...........................................................  290  6.4.3.  Die Verleihung des Lebensgeistes  ...............................  296  6.5.  Das neue Schöpfungshandeln Jhwhs  .....................................  299  7.  Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15  ..............................  300  7.1.  Standortbestimmung und Vorgehensweise  ..........................  300 

XII 

Inhaltsverzeichnis   

7.2.  Textanalyse  ................................................................................  301  7.2.1.  Aufbau und Gliederung  ................................................  301  7.2.2.  Grundschicht und ursprünglicher Textanschluss  .....  309  7.2.3.  Das weitere Textwachstum  ..........................................  314  7.3.  Das Verhältnis zu den Grundworten in Ez 34 und 37  .........  317  7.4.  Innerbiblische Auslegung in Ez 35,1‐36,15  ............................  320  7.4.1.  Zur Frage nach den Vorlagen  ......................................  320  7.4.2.  Das Gebirge Seir und Edom  .........................................  321  7.4.3.  Das Gericht über die Berge Israels: Ez 6  .....................  324  7.4.4.  Die Berge Israels im Ezechielbuch  ...............................  329  7.4.5.  Das Land als Menschenfresserin in Num 13f.  ............  336  7.5.  Exkurs: Zur Rolle von Lev 26  ..................................................  337  7.6.  Die Heilswende für das Land und seine Bewohner  .............  348 

Kapitel IV: REDAKTION ALS REZEPTION 1.  Rückblick und weiteres Vorgehen  ..................................................  349  2.  Das literarische Wachstum der Heilsprophetien im   Ezechielbuch  .......................................................................................  350  2.1.  Zur Entstehung von Ez 34‐39  ..................................................  350  2.1.1.  Die Grundschicht  ...........................................................  350  2.1.2.  Die ersten Erweiterungen der Grundschicht  .............  352  2.1.2.1.  Textbestand  .......................................................  352  2.1.2.2.  Der erste Fortschreibungsschub  ....................  353  2.1.2.3.  Der zweite Fortschreibungsschub  .................  356  2.1.2.4.  Redaktionsgeschichtliche Auswertung  ........  358  2.1.3.  Die weiteren Fortschreibungen  ....................................  358  2.1.3.1.  Textbestand  .......................................................  358  2.1.3.2.  Fortschreibungen in Ez 34 und 37  .................  359  2.1.3.3.  Die Heiligungskapitel Ez 36,16‐39,29  ............  368  2.1.3.4.  Redaktionsgeschichtliche Auswertung  ........  373  2.1.4.  Die Umstellung zur masoretischen Textfolge  ............  374  2.2.  Synthese und Zusammenfassung  ...........................................  378  2.3.  Ausblick auf die Heilsworte in Ez 1‐33  ..................................  380  2.4.  Heilsverheißung als Schriftauslegung  ...................................  384  3.  Zur Frage einer ursprünglichen Buchgestalt  .................................  388  3.1.  Die Fragestellung  ......................................................................  388  3.2.  Erwägungen zum Textbestand  ...............................................  389  3.3.  Die erste Gola im Ezechielbuch  ...............................................  399  3.4.  Zur literarhistorischen Einordnung  ........................................  403  4.  Schriftgelehrte Prophetie im Ezechielbuch  ....................................  406 

SCHICHTENTABELLE .............................................................................  409 

Inhaltsverzeichnis   

XIII 

LITERATURVERZEICHNIS 1.  2.  3.  4. 

Quellen und Textausgaben  ..............................................................  411  Hilfsmittel  ...........................................................................................  413  Kommentare  .......................................................................................  413  Sekundärliteratur  ...............................................................................  416 

STELLENREGISTER ................................................................................  433

 

 

Kapitel I  THEMA UND FRAGESTELLUNG  1. Das Problem  Das  Phänomen  der  Schriftauslegung  hat in der jüngeren alttestament‐ lichen Forschung zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dahinter steht  die  Erkenntnis,  dass  die  Auslegung  der  Schrift  schon  in  der  Schrift  selbst beginnt und literarische Fortschreibungsprozesse im Alten Testa‐ ment  als  Vorgänge  von  innerbiblischer  Rezeption  und  Auslegung  beschrieben  werden  können.  Die  folgende  Arbeit  befasst  sich  mit  der  Schriftauslegung  im  Ezechielbuch  und  untersucht  dabei  die  Frage,  in‐ wieweit innerbiblische Auslegungsvorgänge zum literarischen Wachs‐ tum des Buches beigetragen haben.   Das  Ezechielbuch  fällt  durch  eine  weitreichende  Kenntnis  der  alt‐ testamentlichen  Überlieferung  auf,  die  dem  mit  dem  Buch  verbunde‐ nen Propheten schon früh den Ruf des Epigonentums eingetragen hat.1  In der Tat greift das Buch in auffälliger Weise auf Motive und Inhalte  anderer  Bücher  zurück,  die  zitiert  und  variiert  werden  und  ihrerseits  Auslegungsprozesse  anstoßen.  So  erweist sich die Berufungsvision, in  der  Ezechiel  den  Auftrag  bekommt,  eine  Buchrolle  zu  essen  (Ez  2,9‐ 3,3),  als  eine  konkrete  Ausgestaltung  des  Bildwortes  in  Jer  15,16:  „Fanden sich Worte von Dir, so habe ich sie gegessen, und dein Wort  wurde  mir  zur  Wonne  und  zur  Freude  meines  Herzens.“  Überhaupt  scheint das Jeremiabuch eine besondere Rolle zu spielen, da nicht nur  die  Komposition  des  Ezechielbuches  als  Prophetenbiographie  an  das  Jeremiabuch erinnert, sondern auch Motive wie der gute Hirte in Ez 34  (vgl.  Jer  23)  oder  der  neue  Bund  in  Ez  36  (vgl.  Jer  31)  Parallelen  im  Jeremiabuch  haben.  Andere  Topoi  wie  das  kommende  Ende  in  Ez  7  oder  die  Bildreden  über  die  untreue  Frau  Jerusalem  in  Ez  16  und  23  legen dagegen Verbindungen zum Amos‐ und zum Hoseabuch nahe.  Diese vielfältigen Parallelen sind bisher zumeist unter der Prämisse  untersucht  worden,  ob  der  historische  Prophet  Ezechiel  oder  seine  Schule  Kenntnis  der  Botschaft  der  anderen  Propheten  gehabt  haben  konnten.  Dagegen  wird  in  dieser  Studie  das  vorliegende  Propheten‐                                1 

Vgl. WELLHAUSEN, Prolegomena, 403.  

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Thema und Fragestellung   

buch  als  Ausgangspunkt  gewählt  und  die  Frage  gestellt,  ob  sich  die  zahlreichen  Berührungen  durch  literarische  Auslegungsvorgänge  er‐ klären lassen. Die Untersuchung bleibt aber nicht beim Aufweis inter‐ textueller  Verbindungen  stehen,  sondern  es  wird  vielmehr  gefragt,  welche  Bedeutung  der  Verarbeitung  und  Interpretation  literarischer  Vorbilder  für  die  Genese  des  Ezechielbuches  zukommt.  So  verbindet  sich  die  Analyse  der  redaktionsgeschichtlichen  Auslegungsvorgänge  im Wachstum des Buches mit der Frage nach der Auslegung außerhalb  des Buches vorgegebener Texte im Zuge der Buchgenese.  Als  Untersuchungsgegenstand  bietet  sich  dabei  aus  mehreren  Gründen  die  Redaktion  der  Heilsprophetien  Ez  34‐39  an.  Zum  einen  stellen  diese  Heilsworte  im  dritten  Buchteil  einen  gut  abgegrenzten  Textbereich  dar,  dessen  literarisches  Wachstum  bisher  noch  nicht  Ge‐ genstand  einer  eigenen  Untersuchung  gewesen  ist.  Zum  anderen  bil‐ den die Heilsprophetien durch die Bezüge zu den anderen Buchteilen  ein  „Buch  im  Buch“,  so  dass  entscheidende  Fragestellungen  für  die  Ezechielexegese an Ez 34‐39 in nuce behandelt werden können.   Die Studie erlaubt auf diese Weise nicht nur neue Einblicke in das  Phänomen innerbiblischer Schriftauslegung und das theologische Ver‐ ständnis des Prophetenwortes, das hinter diesen Rezeptionsvorgängen  steht,  sondern  sie  leistet  zugleich  auch  einen  Beitrag  zur  Erforschung  der  Buchgenese  im  Ezechielbuch,  bei  der  nach  wie  vor  Fragen  offen  sind.  Es  steht  zu  vermuten,  dass  es  sich  bei  der  Schriftgelehrsamkeit  des  Buches  nicht  um  ein  willkürliches  Gestaltungsmittel handelt, son‐ dern  dass  diese  eigentümliche  Prägung  auch  Rückschlüsse  auf  den  historischen  und  literarischen  Ort  des  Ezechielbuches  in  der  Prophe‐ tenbuchreihe zulässt.   Der folgende Forschungsüberblick gliedert sich in drei Teile: Zuerst  soll mit dem Phänomen der Schriftauslegung eine kurze Einführung in  das  Thema  und  die  Fragestellung  gegeben  werden,  die  im  Zentrum  dieser  Arbeit  stehen  (Kap.  I.  2.1).  Daran  schließt  sich  eine Darstellung  der kritischen Forschung am Ezechielbuch an (Kap. I. 2.2.), worauf eine  Durchsicht der vorliegenden Arbeiten zu Berührungen des Buches mit  anderen Schriften folgt (Kap. I. 2.3.). Auf diese Weise können die bishe‐ rigen  Ansätze  und  Ergebnisse  beschrieben  und  die  grundsätzlichen  Probleme aufgezeigt werden, um vor diesem Hintergrund das metho‐ dische Vorgehen der Studie zu begründen. Ein Überblick über die An‐ lage der Arbeit schließt den einführenden Hauptteil ab (Kap. I. 3.). 

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2. Stand der Forschung und methodische Grundlegung  2.1. Das Phänomen der Schriftauslegung  Der  Begriff  der  innerbiblischen  Exegese  bzw.  der  innerbiblischen  Schriftauslegung  bezeichnet  „das  Gesamtphänomen  der  Fortschrei‐ bungstätigkeit, bei der vorgegebene biblische Texte – aus dem näheren  oder weiteren Kontext – ausgelegt und aktualisiert werden.“2 Diese De‐ finition von U. BECKER (2005) steht am Ende eines längeren forschungs‐ geschichtlichen Prozesses, in dem zunehmend erkannt worden ist, dass  die  Schriften  des  Alten  Testaments  das  Ergebnis  literarischer  Wachs‐ tumsprozesse  sind,  in  denen  die  Schrift  sich  selbst  auslegt.  Voraus‐ setzung dafür, dass die Schriftauslegung überhaupt in den Blickpunkt  der  Forschung  rückte,  war  eine  entscheidende  Wende  in  der  Einord‐ nung  und  Bewertung  der  biblischen  Bücher.3  Schon  die  kritische  For‐ schung  des  19.  Jh.s.  stellte  fest,  dass  es  eine  Nachgeschichte  der  Texte  innerhalb des Alten Testaments gibt. Allerdings wurden die ergänzen‐ den  Fortführungen  als  das  Werk  von  Epigonen  theologisch  abqualifi‐ ziert, während das Interesse allein dem „Ursprünglichen“ galt, wie der  literarischen  Quelle  im  Pentateuch  oder  den  ipsissima  verba  der  Pro‐ pheten.4 Die kritische Exegese sah ihre Aufgabe oft mit dem Erweis der  Sekundarität getan, ohne jedoch das ergänzte Material auf seinen theo‐ logischen  Gehalt  und  seinen  literarischen  Zusammenhang  mit  dem  Grundbestand hin zu befragen.  Mitte  des  20.  Jh.s.  fand  dann  ein  Umbruch  statt,  durch  den  die  sekundären Stücke in ihrer Funktion als literarische Nachinterpretation  in  den  Blick  rückten.  Von  großer  Bedeutung  für  die  deutschsprachige  Wissenschaft war der Aufsatz von I.L. SEELIGMANN über die „Voraus‐ setzungen  der  Midraschexegese“  (1953),  in  dem  dieser  bereits  inner‐ halb des Alten Testaments mit den Midraschim vergleichbare Interpre‐                                2 

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BECKER,  Exegese,  88.  Zur  Definition  von  innerbiblischer  Exegese  vgl.  auch  KRATZ,  Exegese, 126‐128. Nach wie vor fehlt ein aktueller Lexikonartikel zum Phänomen der  Schriftauslegung  im  Alten  Testament.  So  setzt  der  entsprechende  TRE‐Artikel  mit  der Schriftauslegung im Judentum ein und es wird nur im ersten Absatz darauf hin‐ gewiesen,  dass  die  Schriftauslegung  bereits  ein  wichtiger  Faktor  in  der  Entstehung  der  Bibel  selbst  ist  (vgl.  STEMBERGER,  Art.  Schriftauslegung,  442).  Die  RGG  enthält  dagegen  in  der  dritten  Auflage  einen  kurzen  Artikel  zur  Schriftauslegung,  der  in  einem  Unterabschnitt  auf  das  Alte  Testament  eingeht.  In  der  vierten  Auflage  sucht  man allerdings vergebens, da ein entsprechender Artikel fehlt und unter dem Stich‐ wort  „Schriftauslegung“  lediglich  auf  die  Einträge  „Bibelwissenschaft“,  „Exegese“  und „Hermeneutik“ verwiesen wird.   Zur Forschungsgeschichte vgl. SCHMID, Schriftauslegung, 1‐22.  Vgl. dazu die programmatische Darstellung bei HERTZBERG, Nachgeschichte, insbes.  110‐112.120f. 

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tationsvorgänge  nachwies.  Er  stellte  deshalb  die  These  auf,  dass  sich  die  Anfänge  der  jüdischen  Exegese  organisch  aus  der  Eigenart  der  biblischen Literatur entwickelt hätten.5 Damit wurde das ergänzte Ma‐ terial  erstmals  explizit  als interpretierende Zusätze charakterisiert, die  einen  produktiven  Faktor  in  der  literarischen  Formierung  des  Alten  Testaments  darstellen.  In  der  Folgezeit  rückten  die  sekundären  Nach‐ interpretationen immer mehr in das Interesse der Forschung. So prägte  W. ZIMMERLI in seinen Arbeiten zum Ezechielbuch (1969ff.) den Begriff  der „Fortschreibung“ für literarische Erweiterungen, die den Aussage‐ gehalt des vorgegebenen Grundwortes neu entfalten wollen, so dass es  zu  einer  sukzessiven  Anreicherung  eines  literarischen  Kernelementes  kommt.6   Neben die Erkenntnis, dass die Sekundarität vieler Stücke über das  Modell der Auslegung zu erklären ist, trat auch die Einsicht, dass sich  das  Phänomen  nicht  nur  auf  einzelne  Glossen  und  Einzeltextfort‐ schreibungen  beschränkt.  Vielmehr  zeigte  es  sich,  dass  das  sekundäre  Material einen erheblichen Anteil der alttestamentlichen Schriften aus‐ macht,  und  dem  Phänomen  der  Schriftauslegung  von  daher  auch  Bedeutung  für  text‐  und  sogar  buchübergreifende  Zusammenhänge  zukommt.  So  beschrieb  M. HENGEL  (1994)  die  Zeit  des  Zweiten  Tem‐ pels als eine Epoche der „Schriftwerdung“ und „Schriftauslegung“ und  betonte  dabei,  dass  die  Entstehung  des  Kanons  als  das  Produkt  eines  vielfältigen Auslegungsprozesses zu verstehen sei.7   Die  innerbiblische  Schriftauslegung  gewann  aber  vor  allem  darin  ihre  Bedeutung  für  die  alttestamentliche  Wissenschaft,  dass  Redak‐ tionsvorgänge  im  Wachstum  der  einzelnen  Bücher  als  Rezeptions‐ geschichte  verstanden  wurden.8  In  besonderem  Maße  betrifft  das  die  Prophetenbücher, aus deren Erforschung die leitenden Impulse für das  Verständnis  des  Phänomens  gewonnen  wurden.  Die  Sonderstellung  der  Prophetenbücher  erklärt  sich  aus  dem  speziellen  Zeitbezug  des  prophetischen  Wortes,9  das  schon  im  Werden  der  alttestamentlichen                                 5  6 

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Vgl. SEELIGMANN, Voraussetzungen, 151.  Vgl.  ZIMMERLI,  BK,  106*.  Zu  einer  programmatischen  Auswahl  von  Beispielen  vgl.  DERS.,  Phänomen,  176‐190,  sowie  insgesamt  ZIMMERLIS  zweibändigen  Kommentar  (1969) zum Ezechielbuch.  Vgl. HENGEL, Schriftauslegung, 8.  Vgl. dazu STECK, Überlieferung, 95, und KRATZ, Art. Redaktionsgeschichte, 370. Zur  Verbindung  von  innerbiblischer  Exegese  und  Redaktionsgeschichte  vgl.  insgesamt  KRATZ, Exegese, 150‐156, sowie zu Rezeptionsforschung und alttestamentlicher Exe‐ gese DOHMEN, Rezeptionsforschung, insbes. 129‐134.  Vgl.  dazu  ZIMMERLI,  Prophetenwort,  481‐496;  VON  RAD,  Theologie  II,  51f.;  HERMIS‐ SON, Zeitbezug, 96‐110; STECK, Prophetenauslegung, 149‐156, und KRATZ, Redaktion,  22f. 

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Schriften als Gotteswort für diese und alle künftigen Zeiten verstanden  wurde  (vgl.  Jes  8,16‐18  und  30,8).  So  zeigt  die  Fortschreibung  vorlie‐ gender  Texte durch sekundäre Ausdeutungen, dass sich die Verfasser  dieser Zusätze der historischen Bedingtheit des vorgegebenen Prophe‐ tenwortes durchaus bewusst waren. Zugleich aber müssen sie mit einer  absoluten Gültigkeit des Wortes gerechnet haben, da sie keinen neuen  Text verfasst haben, sondern den alten unter dem Eindruck einer ver‐ änderten geschichtlichen Erfahrung neu interpretiert haben.10 Nicht das  ältere,  vorhergehende  Prophetenwort  erweist  sich  als  erklärungsbe‐ dürftig, sondern das in ihm enthaltene Sinnpotential muss für die aktu‐ elle  historische  Situation  entfaltet  werden.  Prophetie  in  diesem  Sinne  ist  Geschichtsdeutung:  In  der  interpretierenden  Fortschreibung  älterer  Prophetenworte  in  demselben  Buch  oder  über  Buchgrenzen  hinweg  wird die Zeiterfahrung in ein übergreifendes Geschichtsbild einer gott‐ gewirkten  Geschichte  eingeordnet.  Die  Deutungskategorien  für  diese  gesamte  Geschichte sind im prophetischen Wort bereits offenbart, das  in seiner schriftlichen Gestalt aber immer wieder neu ausgelegt werden  muss und dabei literarisch produktiv wird.11 Eine  umfassende  typologisierende  Behandlung  des  von  ihm  als  „innerbiblical exegesis“12 bezeichneten Phänomens hat M. FISHBANE in  seiner  Studie  „Biblical  Interpretation  in  Ancient  Israel“  (1985)  unter‐ nommen.  Seine  Einteilung  der  verschiedenen  Ausprägungen  differen‐ ziert zwischen Auslegungsvorgängen im Bereich der Textüberlieferung  (Scribal Comments and Corrections), der Gesetzesliteratur (Legal Exegesis),  der  erzählenden  (Aggadic  Exegesis)  und  der  prophetischen  Literatur  (Mantological Exegesis). Jüngst hat R.G. KRATZ (2004) vorgeschlagen, das  unterschiedliche Material nach äußeren Kriterien zu ordnen und unter‐ scheidet  zwischen  Kommentar,  Zitat  und  Nachschrift,  Textüberliefe‐ rung und Übersetzung sowie dem Phänomen der Redaktion.13 Trotz  der  vielen  weiterführenden  Arbeiten,  die  in  den  letzten  Jahren  entstanden  sind,14  bleibt  die  Erhellung  der  innerbiblischen  Re‐ zeptionsvorgänge  die  Aufgabe,  die  der  gegenwärtigen  Propheten‐ forschung aufgegeben ist, und an deren Anfang sie sich noch befindet.  Mit der Frage nach der Schriftauslegung im Ezechielbuch wird die ak‐ tuelle Forschungsdiskussion in der vorliegenden Studie aufgenommen.                                 10  Vgl. dazu STECK, Prophetenauslegung, 151 u.ö., der von einer „Metahistorie“ in den  überlieferten Prophetenworten spricht.  11  Vgl. dazu auch das Verständnis des Prophetenwortes im Habakukpescher 1QpHab  II,9f.: „Worte seiner Knechte, der Propheten, durch die Gott alles verkündet hat, was  über sein Volk und sein Land kommen wird.“  12  FISHBANE, Interpretation, 10‐13 u.ö.  13  Vgl. KRATZ, Exegese, 128.  14  Siehe dazu den Forschungsüberblick bei SCHMID, Schriftauslegung, 14‐18. 

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Die  Schriftauslegung  kommt  dabei  unter  einem  doppelten  Aspekt  in  den  Blick,  der  durch  den  spezifischen  Verweischarakter  der  Texte  im  Ezechielbuch  vorgegeben  ist:  So  sind  die  Einzeltexte  zuerst  als  Fort‐ schreibung  des  näheren  literarischen  Kontextes  literarkritisch  und  redaktionsgeschichtlich zu analysieren, ehe in einem zweiten Schritt zu  untersuchen  ist,  inwieweit  im  jeweiligen  Einzelfall  literarische  Vorla‐ gen aus anderen Buchteilen bzw. anderen Büchern15 zitiert und verar‐ beitet werden.  Es bietet sich deshalb an, im Folgenden zwischen den literarischen  Referenzbereichen  zu  unterscheiden,  auf  die  die  Auslegungsvorgänge  bezogen  sind.  Da  sich  die  Arbeit  auf  die  Heilsprophetien  in  Ez  34‐39  konzentrieren  wird,  sind  die  Anspielungen  und  Nachinterpretationen  innerhalb dieses Buchabschnittes in der literarkritischen Analyse bzw.  im  Rahmen  der  redaktionsgeschichtlichen  Einordnung  des  jeweiligen  Einzeltextes  zu  behandeln.  Von  diesen  „selbstreferentiellen“  Ausdeu‐ tungen sind Auslegungsvorgänge zu unterscheiden, die sich auf Texte  und Motive außerhalb dieses Textbereiches beziehen und ein „Fremd‐ zitat“ darstellen. Auch wenn es sich dabei in beiden Fällen um Spielar‐ ten  innerbiblischer  Exegese  handelt,  soll  der  Begriff der innerbiblischen  Auslegung im Folgenden nur mit Blick auf literarische Vorlagen außer‐ halb von Ez 34‐39 verwendet werden, da dies zur klareren Abgrenzung  der unterschiedlichen Referenzbereiche beiträgt.  2.2. Das Ezechielbuch in der kritischen Forschung  In seiner überlieferten Gestalt will das Ezechielbuch der durchgehende  Selbstbericht  des  Propheten  Ezechiel,  Sohn  des Busi (Ez 1,3), sein, der  in der Zeit der ersten Deportation von 597 v. Chr. unter den Exulanten                                 15  Wenn im Folgenden nicht nur für die literarische Endgestalt der alttestamentlichen  Schriften,  sondern  auch  für  bestimmte  Abschnitte  oder  einzelne  literarische  Vor‐ stufen der Buchbegriff verwendet wird, versteht sich von selbst, dass hier nicht die  moderne Definition des Buches als geschlossenes Autorenwerk vorausgesetzt wird.  So ist zuerst zu berücksichtigen, dass es sich bei der literarischen Produktion in alt‐ testamentlicher Zeit um Schriftrollen gehandelt hat, deren spezifische Eigenschaften  das  Phänomen  der  Fortschreibung  begünstigt  haben  (zu  den materialen und litera‐ tursoziologischen Bedingungen vgl. SCHMID, Buchgestalten, 35‐43). Die alttestament‐ lichen Autoren werden zudem eine andere Auffassung dessen gehabt haben, was ein  literarisches Werk ausmacht, so dass mit BARTON allererst zu fragen ist: „What is a  Book?“ (vgl. BARTON, Book, 1). Mit diesen Einschränkungen gibt es aber nicht nur im  Fall  des  Ezechielbuches,  sondern  auch  generell  Hinweise  darauf,  dass  die  alttesta‐ mentlichen  Schriften  keine  Ansammlungen  disparaten  Textmaterials  sind,  sondern  schon in ihrer Entstehungszeit als gegliederte (Sinn‐)Einheiten wahrgenommen wur‐ den;  dies  rechtfertigt  m.  E.  die  Verwendung  des  Buchbegriffes  (vgl.  dazu  auch  die  methodischen Impulse von STECK, Überlieferung, insbes. 93ff.). 

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in Babylon wirkt. Trotz seiner Situierung im Exil richten sich mehrere  Reden  des  Propheten  an  Israel  im  Land,  so  dass  ein  doppelter  Adres‐ satenkreis entsteht. Das Buch fällt vor allem durch seinen einheitlichen  Stil und die planvolle Gestaltung auf. Es ist bis auf die beiden Ausnah‐ men  in  Ez  1,3  und  24,24  durchgehend  als  Selbstbericht  in  Ich‐Form  geschrieben, der durch das durchlaufende Datierungssystem (Ez 1,1f.;  [3,16];16 8,1; 20,1; 24,1; 26,1; 29,1.17; 30,20; 31,1; 32,1.17; 33,21; 40,1) den  Charakter  einer  Biographie  erhält.  Der  geschlossene  Aufbau  des  Be‐ richtes  wird  durch  die  Typisierung  der  Sprache  unterstrichen,  die  zu  einer  epischen  Breite  der  mit  einer  Vielzahl  von  Formeln  gegliederten  Redepassagen neigt. Drei große Visionsblöcke (Ez 1‐3; 8‐11; 40‐48), eine  weitere  Vision  in  Ez  37,1‐14,  sowie  mehrere  Zeichenhandlungen  (vgl.  z. B.  Ez  4,1‐5,4;  37,15‐19),  Bildreden  (Ez  15;  17;  19;  34  u.ö.)  und  Ge‐ schichtsrückblicke (Ez 16; 20; 23) strukturieren das Buch.   Durch  diese  kompositionelle  Gestaltung  ergibt  sich  ein  Aufbau  nach  dem  sogenannten  dreigliedrigen  eschatologischen  Schema,  das  sich auch in anderen Prophetenbüchern findet:17 Der erste Teil (Kap 1‐ 24)  umfasst  Gerichtsprophetie,  in  der  Ezechiel  die  Zerstörung  Jerusa‐ lems  von  587  v.  Chr.  voraussagt,  und  deren  Erfüllung  durch  den  Be‐ richt über den Anmarsch des Königs von Babel in 24,1f. besiegelt wird.  Der Mittelteil (Kap. 25‐32) besteht aus Fremdvölkerorakeln, die die Ein‐ nahme  der  Stadt  zeitlich  und  örtlich  überbrücken,  während  der  dritte  Teil  mit  dem  Eintreffen  der  Nachricht  vom  Fall  Jerusalems  (Ez  33,21)  einsetzt  und  Heilsprophetie  für  Volk,  Stadt  und  Land  enthält.  Inner‐ halb  dieses  Abschnittes  stellt  der  sogenannte  „Verfassungsentwurf“18  in Ez 40‐48 eine eigenständige Größe dar, während Kap. 33 eine Reihe  von  Texten  enthält,  die  zu  den  eigentlichen  Heilsworten  in  Ez  34‐39  überleiten.  Ein  System  von  internen  Vernetzungen  und  expliziten  Rückbezügen  durchzieht  das  gesamte  Buch,  so  dass  die  Heilsprophe‐ tien auf die vorhergehenden Unheilsansagen bezogen sind.   Der  eingangs  beschriebene  Forschungsumbruch,19  durch  den  die  literarische  Nachinterpretation  in  den  Blick  rückte,  führte  in  der  Pro‐ phetenforschung  zu  einer  Verlagerung  des  Fokus  weg  von  der  Frage  nach  dem  historischen  Propheten  hin  zum  schriftlich  vorliegenden  Prophetenbuch. Es ist inzwischen weitgehend Konsens der Forschung,                                 16  Ez  3,16  weicht  darin  von  den  übrigen Datierungen ab, dass die Angabe keine voll‐ ständige Datumsangabe, sondern nur eine einfache Tagesangabe enthält.  17  Vgl. das Protojesaja‐, das LXX‐Jeremia‐ und das Zephanjabuch.  18  Der Begriff „Verfassungsentwurf“ hat sich in der Forschung als Bezeichnung für die  Kapitel 40‐48 etabliert. Er geht zurück auf den Habilitationsvortrag von A. BERTHO‐ LET (1896); vgl. BERTHOLET, Verfassungsentwurf, IIIf.3 u.ö.  19  Vgl. dazu o. Kap. I. 2.1. 

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dass  die  Worte  in  den  prophetischen  Büchern  nur  zu  einem  geringen  Teil auf einen historischen Propheten zurückzuführen sind.20 Vielmehr  müssen  die  Bücher  als  das  Produkt  eines  langen  und  vielschichtigen  Wachstumsprozesses  gelten.  Im  Falle  des  Ezechielbuches  setzte  die  historisch‐kritische  Forschung  allerdings  erst  relativ  spät  ein  und  bis  heute  ist  dieser  Zugang  nicht  unumstritten.21  Dies  ist  in  erster  Linie  durch die planvolle Gestaltung des Buches zu erklären, die ein einheit‐ liches, biographisches Verständnis nahe legt. So urteilt schon C.H. COR‐ NILL  in  seiner  Einleitung  in  das  Alte  Testament  (1892):  „Wenn  irgend  ein Buch des AT den Stempel der A u t h e n t i e  an der Stirne trägt und  uns noch in der Gestalt vorliegt, in welcher es aus der Hand seines Ver‐ fassers  hervorgieng,  so  ist  es  das  Buch  Ez.  Kein  anderes  ist  eine  so  grossartig angelegte und so klar durchgeführte planvolle Einheit, kein  anderes zeigt so vom ersten bis zum letzten Buchstaben dieselbe Hand,  denselben  Geist,  dieselbe  scharf  ausgeprägte  Individualität  ...“.22  So  steht  man  vor  der  paradoxen  Situation,  dass  das  Ezechielbuch  zwar  das Buch ist, an dem ZIMMERLI mit der Fortschreibung ein grundlegen‐ des  Phänomen  der  literarischen  Nachinterpretation  entdeckte,  es  aber  im Gegensatz zu den anderen großen Prophetenbüchern aufgrund der  scheinbaren  Geschlossenheit  immer  wieder  Spekulationen  über  seine  literarische Einheitlichkeit hervorgerufen hat.  Das  exegetische  Hauptproblem  des  Buches  stellt  daher  die  Ein‐ ordnung seiner planvollen Kompositionsgestalt dar. Dabei stehen sich  in  der  Forschungsgeschichte  im  Wesentlichen  zwei  methodische  Zu‐ gänge  zum  Buch  gegenüber,  die  auch  die  gegenwärtige  Exegese  be‐ stimmen. Die Vertreter der ersten Position wählen einen „synchronen“  Zugang  zum  Buch  und  führen  es  als  literarische  Einheit  in  toto  auf                                 20  Vgl. STECK, Prophetenauslegung, 138‐145, und KRATZ, Redaktion, 9‐27.  21  Zur Forschungsgeschichte allgemein vgl. ZIMMERLI, BK, 4*‐12*; LANG, Ezechiel, 1‐17;  SIMIAN, Nachgeschichte, 18‐58, und POHLMANN, ATD, 23‐27; mit Blick auf Ez 25‐32  FECHTER,  Bewältigung,  3‐16.16‐19;  zu  Person  und  Wirken  Ezechiels  FEIST,  Ezechiel,  passim;  unter  besonderer  Berücksichtigung  von  Ez  40‐48  RUDNIG,  Heilig,  5‐28;  im  Hinblick auf die Textgeschichte SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 1‐38. Die aktuellste  und  umfassendste  Darstellung  liegt  mit  dem  dreiteiligen  Forschungsbericht  von  POHLMANN vor; vgl. POHLMANN, Forschung, 60‐90.164‐191.265‐309; POHLMANN hat  2008 auch einen ausführlichen Forschungsbericht mit dem Titel „Ezechiel: Der Stand  der theologischen Diskussion“ (Darmstadt 2008) vorgelegt, der für die Drucklegung  dieser  Arbeit  aber  nicht  mehr  berücksichtigt  werden  konnte;  vgl.  den  entsprechen‐ den Nachtrag im Literaturverzeichnis.  22  CORNILL, Einleitung2, 170. Allerdings hat CORNILL seine Einschätzung in den späte‐ ren  Auflagen  seiner  Einleitung  modifiziert;  vgl.  CORNILL,  Einleitung7  (1913),  184:  „Nur  müssen  wir  uns  seine  Entstehung  anders  denken,  als  bisher  geschah.  Es  ist  nicht ein in Einem großen Zug ausgeführter architektonischer Aufbau, sondern eine  Sammlung  von  kleinen  und  kleinsten  Einheiten,  die  Ez  selbst  in  langandauernder  unablässiger Arbeit vielfach nach religiös‐praktischen Gesichtspunkten herstellte.“ 

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einen  Verfasser  zurück.  Diese  Einheitshypothese  dominierte  die  For‐ schung  bis  zum  Ende  des  19.  Jh.s.  und  hat  ihren  herausragenden  Vertreter in R. SMEND sen., der das Ezechielbuch in seinem Kommentar  von 1880 (KEH) dem Propheten Ezechiel zuschreibt. Das Buch sei „ein  in sich geschlossenes Ganzes, eine schriftstellerische Einheit, in der Ez.  am Abend seines Lebens seine Gesammtauffassung der damaligen La‐ ge  Israels  wie  seiner  Vergangenheit  und  Zukunft  niedergelegt  hat.“23  Gegenwärtig  wird  diese  Position  von  M.  GREENBERG  vertreten,  der  in  seinem auf drei Bände angelegten Kommentar (AncB 1983/1987) einen  holistischen Zugang („holistic interpretation“24) wählt und den histori‐ schen Propheten als Autor und Editor seines eigenen Werkes versteht.  Dabei  argumentiert  er  ähnlich  wie  SMEND  mit  der  durchdachten  Komposition des Buches: „Since the art and design of the oracles in the  Book  of  Ezekiel  show  a  characteristic  configuration  of  features  ...,  it  does  not  seem  naive  or  implausible  to  suggest  that  an  individual  authorial mind and hand are responsible for them.”25 Beeinflusst durch  GREENBERG  verfolgt  auch  D.I.  BLOCK  in  seinem  zweibändigen  Kom‐ mentar (NICOT 1997/98) einen holistischen Ansatz.26 Die sprachliche und kompositionelle Einheitlichkeit des Buches ist  nicht  nur  als  Argument  für  die  Verfasserschaft  des  Propheten  heran‐ gezogen  worden,  sondern  sie  hat  auch  immer  wieder  Vermutungen  hervorgerufen, hier könne es sich um Pseudepigraphie handeln. Neben  den Arbeiten von L. ZUNZ (1873)27 und C.C. TORREY (1930)28 ist hier vor  allem J. BECKER (1982) zu nennen, der das Buch als pseudepigraphische  Schrift eines späten Schriftgelehrten aus dem 5. Jh. betrachtet. Es han‐ dele sich um ein „Prophetenbuch aus der Retorte, das von vornherein  und  ausschließlich  den  Exilspropheten  Ezechiel  zeichnen  will.“29                                 23  SMEND, KEH, XVI.  24  GREENBERG,  AncB,  18;  zu  GREENBERGS  grundsätzlichen  Bedenken  gegenüber  der  literar‐ und redaktionskritischen Methode siehe auch DERS., Criteria, 130‐135.  25  GREENBERG, AncB, 396.  26   Vgl. BLOCK, NICOT I, 24 Anm. 33: „I follow Greenbergʹs more holistic approach.”  27  ZUNZ, Bibelkritisches, 241, kommt zu dem Urteil: „Der Name Ezechiel ist erdichtet;  den  Verfasser  dieses  Prophetenbuches  kennen  wir  nicht“  und  datiert  das  Werk  dieses  unbekannten  Verfassers  in  die  Zeit  zwischen  440‐400  v.  Chr.  (vgl.  ZUNZ,  a.a.O., 241f.).  28  Nach  TORREY  ist  das  Ezechielbuch  auf  einen  Jerusalemer  Propheten  priesterlichen  Ranges zurückzuführen, der das Buch um 230 v. Chr. verfasst hat, wobei es der Fik‐ tion nach als Prophetie von 663 v. Chr. verstanden werden sollte (vgl. TORREY, Pseu‐ do‐Ezekiel, 71ff.98f.112f.).  29  BECKER,  Erwägungen,  138;  die  Position  liegt  derzeit  nur  in  Form  einer  kurzen  Ab‐ handlung vor. Vgl. ebenso U. FEIST (1995), der in einer Durchsicht der Forschungsge‐ schichte  zu  dem  Ergebnis  kommt,  dass  das  Buch  „als  ein  bewußt  stilisiertes  und  eben  fingiertes  ‘Prophetenbuch’“  eines  späteren  Verfassers  „ein  Übergangsstadium 

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BECKER begründet seine Position wie auch die Vertreter, die das Buch  in  Gänze  auf  den  Propheten  zurückführen,  mit  der  sprachlichen  und  kompositionellen  Einheitlichkeit  des  Buches,  das  deshalb  entweder  vom  Propheten  selbst  stammen  müsse  oder  ein  Pseudepigraphon  sei;  da  aber  unbestreitbar  einiges  nicht  vom  historischen  Ezechiel  verfasst  sein  könne,  sei  mit  einer  am  Schreibtisch  entstandenen  „Propheten‐ interpretation“ zu rechnen.30 Diesen einheitlich orientierten Ansätzen steht eine Forschungsrich‐ tung  gegenüber,  die  mit  einem  literarischen  Wachstum  des  Buches  rechnet und die kompositionelle Gesamtanlage auf einen oder mehrere  Redaktionsvorgänge  zurückführt.  Dabei  differieren  die  verschiedenen  Modelle vor allem darin, dass der Anteil der Redaktion gegenüber dem  Anteil  des  historischen  Propheten  unterschiedlich  bestimmt  wird. Der  Beginn der kritischen Forschung am Ezechielbuch ist mit dem Namen  von J. HERRMANN verbunden, der 1908 in seinen „Ezechielstudien“ die  These  aufstellt,  dass  das  Buch  kein  zusammenhängendes  literarisches  Erzeugnis  sei,  „sondern  eine  Sammlung  von  kleineren,  selbständigen  Abschnitten, genau wie Jes und Jer“.31 Der Prophet Ezechiel selbst gilt  ihm  als  Sammler  und  Hauptredaktor  des  Buches,  allerdings  will  er  auch  weitere  Redaktionen  und  die  Existenz  weniger  nichtezechieli‐ scher  Stücke  nicht  ausschließen.32  In  der  Nachfolge  HERRMANNS  ent‐ standen  mehrere  Arbeiten,  die  den  überwiegenden  Anteil  des  Buches  auf  den  Propheten  zurückführen  und  mit  redaktioneller  Nacharbeit  teils noch durch den Propheten selbst, teils durch Spätere rechnen. An  dieser  Stelle  sind  die  Kommentare  von  G.  FOHRER  (HAT  1955),  W. EICHRODT (ATD 1959/1969) sowie B. LANGS  Studie „Kein Aufstand  in Jerusalem“ (1981) zu erwähnen. Als epochemachend für diesen An‐ satz  erwies  sich  aber  der  zweibändige  Kommentar  von  W.  ZIMMERLI  (BK  1969),  der  den  redaktionellen  Anteil  des  Buches  vor  allem  einem  Lehrhaus‐Betrieb  zuschreibt  und  die  Schule  Ezechiels  für  die  heute  vorliegende  Gestalt  des  Ezechielbuches  verantwortlich  macht.33  Aller‐ dings  stellt  er  auch  fest,  dass  die  Grenzen  zwischen  Einzeltextfort‐ schreibung  und  Gesamtredaktion  fließend  sind:  „Zunächst  fehlt  es                                

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zu  eigentlicher  apk  Literatur“  darstelle  (FEIST,  Ezechiel,  223).  In  jüngerer  Zeit  hat  K. SCHÖPFLIN  in  ihrer  2002  erschienenen  Habilitationsschrift  „Theologie  als  Biogra‐ phie  im  Ezechielbuch“  die  Frage  der  Pseudepigraphie  neu  aufgegriffen.  Sie  weist  den  literarischen  Charakter  des  Buches  als  autobiographische  Fiktion  nach  (vgl.  SCHÖPFLIN, Theologie, 345), wobei sie allerdings mit einem literarischen Wachstum  des Buches rechnet; vgl. zu ihrer Studie auch u. Kap. I. 2.3.  Vgl. BECKER, Erwägungen, 139.  HERRMANN, Ezechielstudien, 4.  Vgl. HERRMANN, Ezechielstudien, 4‐8.61‐63.  Vgl. ZIMMERLI, BK, 109*. 

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nicht an einigen, wenn auch spärlichen Wahrnehmungen, die deutlich  machen, daß der Prozess der G e s a m t r e d a k t i o n nicht säuberlich von  dem Vorgang der ‘Fortschreibung’ und der Nachinterpretation der ein‐ zelnen Redeeinheiten getrennt werden kann.“34 Im  Gegensatz  zu  diesen  eher  konservativ  orientierten  Zugängen  zum  Buch  gibt  es  eine  Anzahl  von  Arbeiten,  die  redaktionsgeschicht‐ lich  angelegt  sind  und  eine  ipsissima  vox  des  Propheten  nur  noch  an  wenigen Stellen zu erkennen glauben. Hier ist an erster Stelle der Ent‐ wurf  von  G.  HÖLSCHER  „Hesekiel  –  Der  Dichter  und  das  Buch“  aus  dem  Jahr  1924  zu  nennen.  HÖLSCHER  kritisiert,  dass  HERRMANN  auf  halbem Wege stehen geblieben sei, indem er dem Propheten selbst den  hauptsächlichen  Anteil  an  der  vorliegenden  Komposition  zugeschrie‐ ben  habe.35  Nach  HÖLSCHER  ist  der  Prophet  im  Wesentlichen  Dichter,  dessen Gedichte und Visionen nur den Kern des Buches bildeten, wäh‐ rend die prosaischen Stücke des Buches sowie seine erstmalige Zusam‐ menstellung  das  Werk  eines  jüngeren  Redaktors  seien.36  Ebenso  rech‐ net V. HERNTRICH in seiner Studie „Ezechielprobleme“ (1932) mit einer  erheblichen redaktionellen Nacharbeit, durch die er auch das Problem  der  doppelten  Adressatenschaft  erklären  will.  Danach  sei  der  histo‐ rische Prophet Ezechiel im Jerusalem der letzten Jahre vor der Zerstö‐ rung  von  587  v.  Chr.  aufgetreten.  Ein  im  Exil  wirkender  Redaktor,  dessen  Ziel  es  unter  anderem  gewesen  sei,  „der  Golah  Jojachins  die  geistige  Führung  des  exilischen  Israels  zu  sichern“,37  habe  seine  Pro‐ phetie in ein babylonisches Gewand gebracht und so die exilische Situ‐ ierung  geschaffen.38  Die  Frage  der  Lokalisierung  des  Propheten  be‐ schäftigt  die  Forschung  bis  heute  und  mehrere  Exegeten  gehen  im  Gefolge von HERNTRICH von einer zeitweisen Wirksamkeit Ezechiels in  Jerusalem aus.39 Während HÖLSCHER und HERNTRICH noch mit einem größeren Be‐ stand an Worten des historischen Propheten im Buch rechnen, tritt die  ipsissima vox in den jüngeren redaktionsgeschichtlichen Entwürfen fast  ganz  hinter  die  Redaktion  zurück.  So  reduziert  J.  GARSCHA  in  seiner  Untersuchung von Ez 1‐39 („Studien zum Ezechielbuch“ 1974) den An‐                                34  35  36  37  38  39 

ZIMMERLI, BK, 109f.*  Vgl. HÖLSCHER, Hesekiel, 3.   Vgl. HÖLSCHER, Hesekiel, 5f.  HERNTRICH, Ezechielprobleme, 128.  Vgl. HERNTRICH, Ezechielprobleme, 124‐130.   So z. B. BERTHOLET, HAT, XIV: „Demgegenüber ist im vorliegenden Kommentar der  Versuch  gemacht,  seine  Verkündigung  aus  der  A n n a h m e   e i n e s   d o p p e l t e n ,   t e i l s   j e r u s a l e m i s c h e n ,   t e i l s   e x i l i s c h e n ,   W i r k u n g s f e l d e s   H e s ʹ   heraus  zu verstehen.“ Vgl. zu diesem Problem auch die Überblicke bei FOHRER, Hauptpro‐ bleme, 8‐23, und LANG, Ezechiel, 8‐12. 

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Thema und Fragestellung   

teil  des  historischen  Propheten  auf  etwa  12  Verse  in  Ez  17,1‐10*  und  23,1‐25*.40  Diese  Texte  seien  zusammen  mit  anderen  vorliegenden  Überlieferungen in Kap. 19*; 23*; 24* und 31* die Basis für ein Prophe‐ tenbuch,  das  um  500  v.  Chr.  von  einem  unbekannten  Autor  zusam‐ mengestellt  worden  sei.41  In  der  Folgezeit  habe  dieses  Buch  mehrere  Überarbeitungen  erfahren,  wobei  GARSCHA  eine  „deuteroezechieli‐ sche“ Redaktion identifiziert, die zwischen 400 und 350 v. Chr. die An‐ sprüche  der  Gola  in  das  Buch  eingetragen  habe.42  T.  KRÜGER  geht  in  seiner  Monographie  „Geschichtskonzepte  im  Ezechielbuch“  (1989)  auch  der  bei  GARSCHA  erneut  thematisierten  Frage  der  Golaorientie‐ rung nach. Ausgehend von seiner Analyse der Geschichtsentwürfe im  Ezechielbuch  (Ez  5,5‐17;  16,1‐43  und  23,1‐10;  20)  entwickelt  er  ein  ei‐ genes Entstehungsmodell für das Buch. Danach lägen die Worte des im  babylonischen Exil befindlichen Propheten zuerst in älteren Sammlun‐ gen  vor,  die  in  ihrer  Perspektive  auf  ganz  Jerusalem/Israel  gerichtet  seien.43  Dieses  vorliegende  Material  sei  dann  nach  dem  Wirken  des  Propheten  durch  eine  die  Gola  favorisierende  Redaktion  in  einem  „älteren  Ezechielbuch“  verarbeitet  worden,  das  im  Grundbestand von  Ez 1‐24/33‐37 enthalten sei.44 Gegenwärtig  existiert  mit  dem  Kommentar  von  K.‐F.  POHLMANN  nur  ein  einziges  für  das  gesamte  Buch  ausgearbeitetes  redaktionsge‐ schichtliches  Modell  (ATD  1996/2001);  die  Kommentierung  der  Kap.  40‐48  hat  dabei  T.A.  RUDNIG45  übernommen.  POHLMANN  greift  in  den  Fragen der Golaorientierung und der ältesten Texte auf Impulse seiner  Vorgänger  zurück,  orientiert  sein  Entstehungsmodell  aber  auch  an  dem  theologiegeschichtlichen  Befund  im  Jeremiabuch.46  Grundlage  seines  Modells  ist  eine  ältere  Klagensammlung  mit  Bildworten  zum  Untergang  des  judäischen  Königtums  in  der  Abfolge  Ez  19*;  31*  und  15*.47  Die  Interpretation  dieser  Klagen  als  proleptisch  habe  noch  in  exilischer Zeit zur Entstehung eines Prophetenbuches geführt, das sich                                 40  Vgl. GARSCHA, Studien, 44.63.286‐288.  41  Vgl. GARSCHA, Studien, 284‐286.288‐294.  42  Zu GARSCHAS Entstehungsmodell insgesamt vgl. GARSCHA, Studien, 283‐315; zu der  von  ihm  angenommenen  deuteroezechielischen  Schicht  vgl.  GARSCHA,  a.a.O.,  122‐ 131.294‐303.  43  Vgl.  dazu  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  394‐464,  und  zusammenfassend  KRÜGER,  a.a.O., 464‐471.  44  Zu diesem älteren Ezechielbuch vgl. KRÜGER, Geschichtskonzepte, 306‐394.  45  RUDNIG hat in Anknüpfung an das von POHLMANN entwickelte Entstehungsmodell  auch eine eigene Untersuchung von Ez 40‐48 im Kontext des Buches vorgelegt („Hei‐ lig und Profan“ 2000).  46  Vgl. POHLMANN, Ezechielstudien, 4.  47  Vgl. POHLMANN, ATD, 36‐39.292‐297. 

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an  Israel  im  Land  richte.48  Dieses  ältere  Prophetenbuch  sei  zunächst  durch eine die Gola Jojachins favorisierende Redaktion (ausgehendes 5.  Jh. v. Chr.) und danach durch mehrere diasporaorientierte Redaktionen  (4. Jh. v. Chr.) bearbeitet worden.49 Im  Hinblick  auf  die  Analyse  der  Heilsprophetien  in  Ez  34‐39  sind  des Weiteren die beiden Monographien von F.‐L. HOSSFELD (1977) und  S. OHNESORGE (1991) zu nennen, die zwar keinen Gesamtentwurf zum  Ezechielbuch  vorlegen,  aber  mehrere  Einzeltextanalysen  zu  Heilswor‐ ten des Buches vornehmen. HOSSFELD untersucht paradigmatisch „acht  in sich abgerundete Makrotexte“50 in Ez 17,11‐24; 22,1‐16; 28,1‐10; 30,1‐ 19;  34,1‐21;  36,16‐38;  37,1‐14  und  38,1‐39,29,  um  ausgehend  von  den  Resultaten  der  Einzeltextanalysen  die  Hypothese  eines  mehrstufigen  Redaktionsprozesses  für  das  Buch  zu  entwickeln.  Er  kommt  dabei  zu  dem Ergebnis, dass in allen Fällen ein literarischer Kern auf den histo‐ rischen  Propheten  zurückzuführen  sei,  der  mehrere  Fortschreibungen  erfahren habe. Diese redaktionelle Nacharbeit systematisiert HOSSFELD  in Form von sechs teilweise durchlaufenden Bearbeitungsschichten, die  durch  unterschiedliche  theologische  Einflussbereiche  gekennzeichnet  sind.51 Dagegen orientiert OHNESORGE seine Textauswahl an der Frage,  in  welchen  Texten  „Jahwe  als  derjenige  geschildert“  wird,  „der  an  Is‐ rael bzw. den Israeliten gestaltend tätig wird“,52 und legt seiner Unter‐ suchung deshalb die folgenden fünf Texte zugrunde: Ez 11,14‐21; 20,1‐ 44; 36,16‐38; 37,1‐14 und 37,15‐28. Obwohl er ähnlich wie HOSSFELD zu  dem  Ergebnis  kommt,  dass  jeweils  ein  Grundwort  des  Propheten  durch  nachfolgende  Überarbeitungen  literarisch  erweitert  wurde,  bleibt er kritisch gegenüber der Annahme von durchlaufenden Bearbei‐ tungsschichten und ordnet die unterschiedlichen Nachinterpretationen  deshalb vorwiegend nach inhaltlichen Gemeinsamkeiten.53 Von  Bedeutung  für  die  vorliegende  Untersuchung  ist  schließlich  auch  die  bisher  unveröffentlichte  Dissertation  von  P. SCHWAGMEIER                                 48  49  50  51 

Vgl. POHLMANN, ATD, 33‐36.  Zu POHLMANNS Entwurf vgl. zusammenfassend POHLMANN, ATD, 22‐39.  HOSSFELD, Untersuchungen, 56.  Vgl. dazu HOSSFELD, Untersuchungen, 510‐529; siehe auch DERS., Ezechiel, 273. Wäh‐ rend  die  erste  und  zweite  Schicht  noch  stark  der  ezechielischen  Vorlage  verhaftet  seien,  sei  die  dritte  Bearbeitung  thematisch  durch  die  Heilsbotschaft  vom  neuen  Exodus  gekennzeichnet.  Die  vierte  Schicht  zeichne  sich  dagegen  durch  ihre  Bezie‐ hungen  zur  deuteronomistischen  Literatur  aus,  während  die  fünfte  Verbindungen  zur  Priestergrundschrift  und  zum  Heiligkeitsgesetz  aufweise.  Die  sechste  Bearbei‐ tung zeige Berührungen mit Deuterojesaja und den Psalmen sowie mit nachdeutero‐ nomistischen Partien des Jeremiabuches.  52  OHNESORGE, Jahwe, 1.  53  Vgl. dazu OHNESORGE, Jahwe, 423‐434. 

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Thema und Fragestellung   

(2004).  Diese  grundlegende  Studie  zur  Textgeschichte  des  Ezechielbu‐ ches beschäftigt sich mit den Unterschieden zwischen der griechischen  Überlieferung  und  dem  masoretischen  Text,  wobei  insbesondere  der  griechische  Papyrus  967  im  Vordergrund  steht.54  Dieser  Textzeuge  weist  eine  vom  masoretischen  Text  abweichende  Kapitelfolge  im  Be‐ reich von Ez 36‐39 auf, in der nach SCHWAGMEIER eine gegenüber dem  masoretischen Text ältere Form des Buches bewahrt worden ist.55   Die Durchsicht grundlegender Positionen der Forschungsgeschich‐ te  hat  die  Problemkonstellationen  deutlich  gemacht,  denen  sich  eine  literarhistorische  Arbeit  zum  Ezechielbuch  zu  stellen  hat.  So  ist  die  Hauptfrage  die  nach  der  Beziehung  zwischen  den  Einzeltexten  und  dem kompositionellen Rahmen.56 Aus der Einheitlichkeit des Buches ist  nicht  zwangsläufig  zu  folgern,  dass  der  Entwurf  auf  nur  einen  Ver‐ fasser  zurückzuführen  ist.  Vielmehr  kann  die  planvolle  Komposition  auch das Werk einer oder mehrerer Überarbeitungsschübe sein, deren  Interesse  gerade  darauf  zielt,  eine  sprachlich  und  kompositionell  ein‐ heitliche  Struktur  zu  schaffen.  Eine  gewisse  Skepsis  gegenüber  den  unterschiedlichen  Ausprägungen  der  holistischen  oder  pseudepigra‐ phischen  Hypothese  ist  schon  aus  dem  Grund  geboten,  dass  die  Ein‐ heitlichkeit  des  Buches  hier  nicht  das  Ergebnis  der  Analyse,  sondern  bereits ihre Voraussetzung ist.57   Vertreter dieser Positionen übersehen des Weiteren, dass es sich im  Ezechielbuch  nur  um  eine  scheinbare  Einheitlichkeit  handelt,  da  mit  den literarischen Problemen des Buches wie Dubletten, Häufungen von  Redeformeln  oder  dem Wechsel von Poesie und Prosa durchaus Indi‐ zien  für  ein  literarisches  Wachstum  vorliegen.  Darüber  hinaus  weist  der Text des Ezechielbuches zahlreiche textkritische Probleme auf; von  besonderer  Bedeutung  für  die  hier  vorgelegte  Fragestellung  ist  dabei  das  Zeugnis  des  griechischen  Papyrus  967  mit  seiner  vom  masoreti‐ schen  Text  abweichenden  Kapitelfolge.  Unabhängig  davon,  wie  diese  Differenz auszuwerten ist, stellt doch der textgeschichtliche Befund an  sich bereits eine gewichtige Anfrage an die Hypothese dar, das Ezechi‐ elbuch  habe  von  Anfang  an  als  einheitliche  Komposition  vorgelegen.  Er  deutet  vielmehr  auf  „wesentlich  kompliziertere  und  länger  wäh‐ rende Überlieferungs‐ und Buchgestaltungsprozesse“58 hin. Schließlich  legt  auch  die  doppelte  Adressatenschaft  des  Propheten  in  der  vorlie‐                                54  Vgl. SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 42f.  55  Vgl.  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen, 313‐317. Die These ist davor schon von LUST,  Ezekiel, 517‐533, vertreten worden; vgl. dazu u. Kap. II. 4.2.  56  Vgl. POHLMANN, ATD, 26.  57  Vgl. auch die Kritik von RUDNIG, Heilig, 28.  58  POHLMANN, Forschung, 308. 

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genden Buchgestalt die Vermutung nahe, dass hier redaktionelle Über‐ arbeitungen  stattgefunden  haben,  in  denen  die  Botschaft  des  Pro‐ phetenbuches  auf  verschiedene  Adressatengruppen  hin  aktualisiert  worden  ist.  In  diesem  Zusammenhang  wird  insbesondere  danach  zu  fragen sein, welche Bedeutung der Favorisierung der ersten Gola in der  Genese des Ezechielbuches zukommt.   Ferner kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Pro‐ phet,  wenn  schon  nicht  Autor  des  gesamten  Buches,  so  doch  wenigs‐ tens  Verfasser  des  jeweiligen  literarischen  Grundbestandes  in  den  untersuchten  Texten  ist.59  Diese  Annahme  suggeriert  bereits  ein  Vorverständnis  dessen,  was  Prophetie  ist  und  wie  ein  echtes  Prophe‐ tenwort auszusehen hat, und stellt eine unzulässige methodische Eng‐ führung dar. Vielmehr ist als einzig sicherer Ausgangspunkt die über‐ lieferte  Buchgestalt  zu  wählen,  die  der  historischen  Quellenlage  entspricht.  Es  ist  deshalb  eine  „Literarkritik  eigener  Art“60  gefragt,  die  vom  gegebenen  Buchganzen  aus  nach  möglichen  älteren  Überliefe‐ rungsstufen  zurückfragt,  ohne  von  vornherein  die  Einheitlichkeit  des  Buches  oder  die  Verfasserschaft  des  Propheten  vorauszusetzen.  Grundlage der Exegese können dementsprechend nicht die Einzeltexte  sein,  in  denen  die  ipsissima  vox  des  Propheten  gesucht  wird,  sondern  das  Buch  als  schriftliche  Überlieferung.  An  dieser  Stelle  hat  auch  der  „synchrone“ Zugang zum Buch seine Berechtigung, da jegliche literar‐  und  redaktionskritische  Analyse  auf  den  Beobachtungen  zum  Buch‐ ganzen aufbauen muss. Die Exegese darf aber nicht bei der Endgestalt  des  Buches  stehen  bleiben,  da  dies  eine  Verkürzung  der  literarischen  und  theologischen  Tiefendimension  der  Texte  bedeutet.  Vielmehr  müssen sie in ihrer Kohärenz und Inkohärenz wahrgenommen werden  und  die  Auffälligkeiten  gegebenenfalls  durch  literarisches  Wachstum  erklärt  werden.  Erst  wenn  die  ältesten  Texte  des  Buches  und  ihr  historischer  Ort  bestimmt  worden  sind,  kann  danach  gefragt  werden,  ob in ihnen die Worte eines historischen Propheten überliefert sind.   Letztendlich muss sich die These eines mehrstufigen Entstehungs‐ modells  des  Buches  daran  bewähren,  ob  methodisch  Einzeltexte  und  übergreifende  Textzusammenhänge  nachzuweisen  sind,  die  verschie‐ denen  Entstehungsphasen  zugeordnet  werden  können.  Die  Klärung                                 59  An dieser Stelle müssen sich insbesondere jene Entstehungsmodelle Anfragen gefal‐ len  lassen,  die  von  vornherein  mit  einem  substantiellen  Anteil  an  authentischen  Prophetenworten  rechnen  und  jeden  Text  auf  diesen  Grundbestand  hin  befragen  (vgl. neben den älteren, am Propheten orientierten Entstehungsmodellen jüngst auch  HOSSFELD und OHNESORGE).  60  STECK, Überlieferung, 81; vgl. auch seine methodologischen Grundimpulse zur Exe‐ gese  in  den  Prophetenbüchern  in:  STECK,  a.a.O.,  3‐124.  Siehe  dazu  ferner  KRATZ,  Redaktion, 11‐13. 

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dieser  Frage  setzt  den  sorgfältigen  Einsatz  der  historisch‐kritischen  Untersuchungsmethoden  voraus.  Dabei  ist  aber  zu  berücksichtigen,  dass die klassische Literarkritik im Ezechielbuch an ihre Grenzen stößt.  Auch wenn viele Redepassagen den Eindruck erwecken, dass sie nicht  in einem Zuge entstanden sind, so fehlen doch vielfach noch die Krite‐ rien, um die unterschiedlichen Fortschreibungsschübe in ein Verhältnis  zueinander zu setzen.61 Dies sollte jedoch nicht zu einer Absage an die  literar‐  und  redaktionskritische  Methode  führen,62  sondern  die  einzel‐ nen  exegetischen  Befunde  müssen  angesichts  der  planvollen  Gestal‐ tung  im  Ezechielbuch  anders  gewichtet  werden.  So  kommt  der  Ten‐ denzkritik  eine  größere  Bedeutung  zu,  da  es  in  vielen  Fällen  eine  an‐ dere inhaltlich‐theologische Ausrichtung ist, die die Sekundarität eines  Textabschnittes anzeigen kann. Die entscheidende Frage ist, ob sich der  Themenwechsel  im  Text  sinnvoll  durch  die  Aussageabsicht  eines  ein‐ zigen  Autors  erklären  lässt  oder  ob  er  auf  eine  veränderte  geschicht‐ liche  Erfahrung  hindeutet,  die  Anlass  für  eine  sekundäre  Nachinter‐ pretation geworden ist.  Ebenso  ist  auch die Formkritik von entscheidender Bedeutung, da  gerade die extensive Verwendung von Redeeröffnungs‐ und Beschluss‐ formeln  Anzeichen  für  redaktionelle  Nacharbeit  sein  kann.  Mehrere  Exegeten  haben  bereits  darauf  hingewiesen,  dass  das  Formelgut  im  Ezechielbuch  nicht  nur  gliedernde  Funktion  hat,  sondern  in  vielen  Fällen  dazu  dient,  sekundäre  Ergänzungen  an  den  vorliegenden  Text  anzuschließen.63  In jedem Fall bedürfen die einzelnen Entscheidungen  der  Überprüfung  durch  das  gesamte  Instrumentarium  der  text‐,   literar‐, form‐ und redaktionskritischen Exegese.   Im Idealfall setzen die vorangehenden methodischen Forderungen  eine  Analyse  des  gesamten  Buches  voraus,  die  aber  in  dieser  Studie  nicht durchgeführt werden kann. Es liegt deshalb nahe, die Frage nach  innerbiblischer  Auslegung  auf  einen  Buchabschnitt  zu  konzentrieren,  wobei  sich  aus  mehreren  Gründen  die  Heilsprophetien  in  Ez  34‐39  anbieten.  So  hat  zuerst  der  Forschungsüberblick  gezeigt,  dass  diese  Texte  als  Ganzes  bisher  noch  nicht  der  Gegenstand  einer  eigenen  Untersuchung  gewesen  sind;  allein  die  Einzeltextanalysen  von  HOSS‐ FELD und OHNESORGE bieten in einigen Fällen Anknüpfungspunkte für                                 61  Vgl. zu dieser Problemanzeige KRATZ, Propheten, 83.  62  Vgl.  dazu  LANG,  Aufstand,  127,  der  sich  in  einer  Absage  an  die  Modelle  von  GAR‐ SCHA  und  ZIMMERLI  für  einen  Rückbezug  auf  das  Entstehungsmodell  von  FOHRER  ausspricht:  „So  deutet  alles  darauf  hin,  daß  die  literarkritische  Arbeit  am  Ezechiel‐ buch  längst  noch  keine  endgültigen  Ergebnisse  aufzuweisen  hat  und  daß  Fohrers  Modell nicht einfach überholt ist.“  63  Vgl.  dazu  GARSCHA,  Studien,  311‐315;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  10‐58,  und  SCHÖPFLIN, Theologie, 56‐126. 

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die  Fragestellung.  Darüber  hinaus  bilden  die  sechs  Kapitel  einen  gut  abgegrenzten  Abschnitt  innerhalb  des  Ezechielbuches,  so  dass  die  methodologischen  Prämissen  im  Folgenden  auf  diesen  Buchbereich  angewendet  werden  können.  So  kann  der  Ausgangspunkt  der  Analy‐ sen nur eine Relieflesung dieses gesamten Textbereiches sein, von der  aus  nach  älteren  Wachstumsstufen  zurückgefragt  wird.  Dabei  wird in  Anknüpfung an die Forschungsdiskussion auch das textgeschichtliche  Verhältnis  zwischen  dem  masoretischen  Text  und  dem  griechischen  Textzeugen  Pap.  967  zu  klären  sein,  dessen  abweichende  Kapitelfolge  eine gewichtige Infragestellung für die „sichere“ Ausgangsposition des  masoretischen Textes darstellt.64   Erst  in  einer  Gesamtsichtung  der  sekundären  Stücke  in  Ez  34‐39  wird die Frage zu beantworten sein, ob sich das Wachstum der Heils‐ prophetien im Buch eher über ein am Einzeltext orientiertes Fortschrei‐ bungsmodell  (vgl.  z. B.  ZIMMERLI;  OHNESORGE)  oder  ein  (buch‐)redak‐ tionelles  Modell  (vgl.  z. B.  GARSCHA;  HOSSFELD;  POHLMANN)  erklären  lässt. Die Frage wird sich daran entscheiden, ob die sekundären Stücke  in Kap. 34‐39 im Sinne einer auf größere Zusammenhänge gerichteten  Redaktion systematisiert werden können oder ob es sich um Fortschrei‐ bungen  handelt,  die  in  einer  thematischen  Weiterführung  nur  den  engeren literarischen Kontext im Blick haben.   2.3. Berührungen mit anderen Büchern  In  der  Geschichte  der  Ezechielforschung  ist  bereits  mehrfach  auf  die  literarischen  Verbindungen  bzw.  thematischen  Nähen  hingewiesen  worden, die das Ezechielbuch zu anderen alttestamentlichen Schriften  aufweist.65  Im  Zentrum  steht  dabei  zumeist  das  Verhältnis  zu  dem  Jeremiabuch, der Priesterschrift und dem Heiligkeitsgesetz. Allerdings  ist  nach  wie  vor  nicht  nur  die  Auswahl  des  Bezugmaterials,  sondern  auch  die  Deutung  der  Berührungen  zwischen  dem  Ezechielbuch  und  anderen Büchern umstritten.66 Bezeichnend für die ältere Forschung ist  der  Versuch,  das  Verhältnis  zwischen  den  Texten  durch  ein  einfaches  Abhängigkeitsverhältnis  zu  erklären,  wobei  die  entscheidende  Frage  ist,  welchem  der  Bücher  oder  der  mit  dem  Buch  verbundenen  Per‐ sönlichkeit  die  Priorität  zugesprochen  wird.  So  geht  R.  SMEND  sen.  davon  aus,  dass  der  historische  Prophet  Ezechiel  durch  die  „Lecture                                 64  Vgl. dazu u. Kap. II. 4.2.  65  Siehe  dazu  FOHRER,  Hauptprobleme,  135‐164,  und  ZIMMERLI,  BK,  62*‐79*.  Für  die  Forschung seit 1969 vgl. auch POHLMANN, Forschung, 270‐271.  66  Vgl.  dazu  nur  die  unterschiedliche  Zusammenstellung  des  Materials  bei  SMEND,  KEH, XXIV‐XXVIII; FOHRER, Hauptprobleme, 135‐164, und ZIMMERLI, BK, 62*‐79*.  

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der älteren prophetischen Schriften, namentlich des Amos, Hosea, Jesa‐ ja, Zephanja, vor Allem aber des Jeremia beeinflusst“ sei.67 In Bezug auf  das  Heiligkeitsgesetz  und  den  Priesterkodex  kommt  er  dagegen  zu  dem Urteil, dass diese jünger als Ezechiel und zum Teil von diesem her  zu  verstehen  seien.68  Im  Folgenden  ist  nun  ein  kurzer  Überblick  über  die  Arbeiten  zu  geben,  die  die  Beziehungen  zwischen  dem  Ezechiel‐ buch  und  anderen  Schriften  des  Alten  Testaments  behandeln.  Der  Schwerpunkt  liegt  dabei  auf  den  neueren  Studien,  die  sich  in  der  Hauptsache mit dieser Fragestellung beschäftigen und an deren Ergeb‐ nisse die vorliegende Arbeit anknüpfen kann.   Von  besonderem  Interesse  ist  von  jeher  die  Untersuchung  der  offenkundigen Bezugnahmen des Ezechielbuches auf das Jeremiabuch  gewesen.69  In  der  älteren  Forschung  hat  die  These,  dass  Ezechiel  von  seinem  Vorgänger  sachlich  oder  sprachlich  abhängig  sei,  weiten  An‐ klang  gefunden.70  Allerdings  ist  auch  versucht  worden,  die  Parallelen  und  thematischen  Verbindungen  zwischen  den  Büchern  auf  das  ge‐ meinsame  zeit‐  und  theologiegeschichtliche  Umfeld  der  beiden  Pro‐ pheten  zurückzuführen.71  G.  FOHRER  (1952),  J.W.  MILLER  (1955)  und  W. ZIMMERLI  (1969)  haben  diese  Ansätze  miteinander  kombiniert  und  gehen davon aus, dass zwischen den einzelnen Verbindungen zu diffe‐ renzieren sei, die sich teils als literarische oder traditionsgeschichtliche  Abhängigkeit, teils aber auch durch dasselbe zeitgeschichtliche Umfeld  erklären ließen.72 Dagegen will S. HERRMANN in seiner Arbeit über „Die  prophetischen Heilserwartungen im Alten Testament“ (1965) die Bezie‐ hungen  zwischen  den  beiden  Propheten  durch  eine  vergleichbare  dtr.                                 67  68  69  70 

SMEND, KEH, XXIV.  Vgl. SMEND, KEH, XXVII.314.  Vgl. dazu insgesamt den Forschungsbericht bei VIEWEGER, Beziehungen, 4‐15.  Bei den Vertretern einer literarischen Abhängigkeit ist COOKE, ICC, xxxi, zu nennen:  „One  point  remains  to  be  noticed:  the  connexion  between  Ezekiel  and  the  book  of  Jeremiah. It is evident that Ezekiel has borrowed from his predecessor many turns of  language  as  well  as  figures.”  Vgl.  auch  HAAG,  Untersuchung,  141:  „Daß in literari‐ scher Hinsicht Ez den Einfluß Jrʹs verrät, haben wir gesehen.“ Zur These der münd‐ lichen Abhängigkeit siehe ROBINSON, Prophecy, 151, und DERS., Roll, 218.  71  An dieser Stelle ist z. B.  VON  ORELLI, KK, 7 zu nennen: „Doch ist nicht mit S m e n d   (S. XXIV f.) von ‘Entlehnungen’ aus Jeremia zu sprechen, die sich in großer Zahl bei  Ez.  fänden,  sondern  die  mannigfachen  Berührungen  ...  erklären  sich  leicht  daraus,  daß  die  beiden  Propheten  geistesverwandte  Zeitgenossen  sind,  welche  über  diesel‐ ben Gegenstände zu sprechen haben.“ In ähnlicher Weise kommt auch HERNTRICH,  Ezechielprobleme,  130,  in  Bezug  auf  die  festgestellten  Berührungen  zu  dem  Ergeb‐ nis: „Beide Propheten stehen demselben jerusalemer Volk gegenüber, sie reden aus  derselben  inneren  und  äußeren  Not  heraus,  sie  nehmen  zu  denselben  Äußerungen  des Volkes individuell verschieden Stellung.“  72  Vgl. dazu FOHRER, Hauptprobleme, 138f.; MILLER, Verhältnis, 116‐119, und ZIMMER‐ LI, BK, 69f.* 

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Überarbeitung  erklären.73  Die  Verbindungen  seien auf das Prosamate‐ rial  in  Jeremia  zu  beschränken,  welches  auf  eine  dtr.  Schule  zurück‐ gehe, die ihren Einfluss auch auf die Endredaktion des Ezechielbuches  ausgeübt  habe.74  Da  sich  die  vorliegende  Arbeit  auf  die  Heilsworte  in  Ez 34‐39 konzentriert, wird ferner die Monographie von C. LEVIN über  „Die Verheißung des neuen Bundes“ (1985) zu berücksichtigen sein. Im  Rahmen seiner Untersuchung der Bundestheologie im Alten Testament  behandelt er die Texte in Ez 11,14‐21; 36,16‐28; 37,20‐28 und 34,25‐31, in  denen  er  literar‐  und  theologiegeschichtlich  die  „Nachgeschichte“  der  jeremianischen Bundesverheißung sieht.75 Ausführlich  hat  D.  VIEWEGER  in  seiner  Studie  „Die  literarischen  Beziehungen  zwischen  den  Büchern  Jeremia  und  Ezechiel“  (1989)  die  Frage  nach  den  Verbindungen  zwischen  den  beiden  Propheten‐ schriften  neu  aufgenommen.  Seine  Arbeit  setzt  es  sich  zum  Ziel,  zu  erkunden,  „welche  Bilder,  Wendungen,  Gedanken  oder  Themen  des  Jeremiabuches  in  der  Schrift  Ezechiels  Aufnahme  gefunden  haben,  in  welcher  Form  dies  geschah  und  wo  die  Ursachen  für  eine  solche  lite‐ rarische  Anknüpfung  zu  finden  sind.“76  Er  kommt  dabei  zu  dem  Ergebnis, dass sich der Großteil der Berührungen durch die Rezeption  jeremianischer  Überlieferung  erkläre,  die  nicht  nur  auf  die  Tätigkeit  des Propheten Ezechiel, sondern auch auf dessen Schülerkreis zurück‐ zuführen  sei.  Dabei werde nicht nur „echt jeremianisches“ Gut aufge‐ nommen, sondern auch Material aus dem Schülerkreis Jeremias.77 Zwei  Anfragen sind m. E. an VIEWEGERS Vorgehen zu stellen: Zum einen legt  er keine methodische Reflexion über den von ihm verwendeten Rezep‐ tionsbegriff zugrunde, so dass unklar bleibt, nach welchen Kriterien er  die  für  die  Untersuchung  relevanten  Texte  auswählt  und  woran  sich  die  Frage  einer  literarischen  Verbindung  entscheidet.  Zum  anderen  müssen seine Ergebnisse vor dem Hintergrund der neueren Forschung  im Jeremia‐ und im Ezechielbuch neu bewertet werden, da von einem                                 73  Vgl. HERRMANN, Heilserwartungen, 285.  74  Vgl.  HERRMANN,  Heilserwartungen,  285.289f.  R.  LIWAK  (1976)  hat  die  These  einer  dtr.  Überarbeitung  des  Ezechielbuches  weiterverfolgt,  vgl.  LIWAK,  Probleme,  2f.  In  seiner  Untersuchung  kommt  er  zu  dem  Urteil,  dass  mit  einem  dtr.  überarbeiteten  Ezechielbuch zu rechnen sei, dessen Berührungen speziell mit dem Jeremiabuch sich  durch  die  Affinität  der  Verfasserkreise  erklären  ließen  (vgl.  LIWAK,  a.a.O.,  37.205‐ 219).  75  Vgl. dazu LEVIN, Verheißung, 205‐222. Auch W. THIEL (1977) hat sich bereits mit den  Berührungen in der Bundestheologie zwischen dem Jeremia‐ und dem Ezechielbuch  beschäftigt, wobei er aber keine direkte Verbindung erkennt, sondern annimmt, dass  die Bundestheologie in beiden Büchern durch die dtr. Nacharbeit eingetragen wor‐ den sei (vgl. THIEL, Rede, 26f.).  76  VIEWEGER, Beziehungen, 1f.  77  Vgl. VIEWEGER, Beziehungen, 166‐170. 

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längeren literarischen Wachstum der Bücher auszugehen ist, das nicht  allein mit der These eines Schülerkreises erklärt werden kann.  In  Bezug  auf  das  Jeremiabuch  ist  schließlich  noch  die  Studie  von  K. SCHÖPFLIN  („Theologie  als  Biographie  im  Ezechielbuch“  2002)  zu  erwähnen,  die  sich  mit  der  literarischen  Komposition  des  Ezechielbu‐ ches als Prophetenbiographie beschäftigt. In ihrer Analyse der biogra‐ phischen Texte im Bereich von Ez 1‐33 kommt sie zu dem Schluss, dass  neben dem Deuteronomistischen Geschichtswerk und dem Deuterono‐ mium  vor  allem  das  Jeremiabuch  vorausgesetzt  sei.  Dieses  „fungiert  auch als Vorbild der (auto)biographischen Anlage, da das Jeremiabuch  die  Lebensgeschichte  seines  Titelhelden  in  einer  Mischung  aus  Selbst‐  und  Fremdbericht  präsentiert  und  speziell  in  den  Fremdberichten  mit  der  Schilderung  der  historischen  Ereignisse  der  Zeit  um  587/6  verbin‐ det.“78 Im Blick auf das Deuterojesajabuch hat D. BALTZER in seiner Disser‐ tation  „Ezechiel  und  Deuterojesaja“  (1969)  die  Berührungen  in  der  Heilserwartung  der  beiden  Propheten  untersucht.  Die  thematischen  Nähen  in  der  Verkündigung  Ezechiels  und  Deuterojesajas seien dabei  primär  auf  die  ihnen  gemeinsame  Situation  als  Exilsprophet  zurück‐ zuführen.79  Allerdings  will  er  eine  mögliche  Beeinflussung  Deutero‐ jesajas durch Ezechiel nicht grundsätzlich ausschließen.80 Die Ergebnis‐ se BALTZERS sind vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der Texte im  Ezechielbuch vermutlich erst in nachexilischer Zeit entstanden ist, neu  zu  überdenken.  In  gleicher  Weise  muss  auch  für  Jes  40‐55  damit  ge‐ rechnet werden, dass es sich hier um ein über einen längeren Zeitraum  gewachsenes Buch handelt.81 Für  die  Bereiche  der  priesterlichen  und  deuteronomistischen  Lite‐ ratur fragt R.L. KOHN in ihrer Studie „A New Heart and a New Soul“  (2002)  nach  dem  Vorhandensein  priesterlicher  und  deuteronomisti‐ scher Termini und Konzepte im Ezechielbuch. Auf der Basis der Unter‐ suchung  von  mehreren  Formulierungen  und  Vorstellungen,  die  Eze‐ chiel  mit  der  Priesterschrift  bzw.  der  deuteronomistischen  Literatur  teilt,  kommt  sie  zu  dem  Ergebnis,  dass  der  historische  Prophet  beide  Textkorpora  bereits  voraussetze  und  sich  auf  sie  beziehe.82  Als  Exils‐ prophet habe er vor der Notwendigkeit gestanden, von einem Gott zu  sprechen, der sein Volk scheinbar verlassen habe, so dass Ezechiel zur  Interpretation  von  Israels  Vergangenheit  auf  die  vorliegenden  schrift‐                                78  79  80  81  82 

SCHÖPFLIN, Theologie, 352.  Vgl. BALTZER, Ezechiel, 178‐183.  Vgl. BALTZER, Ezechiel, 179.  Siehe dazu z. B. den Forschungsüberblick bei VAN OORSCHOT, Babel, 1‐22.  Vgl. KOHN, Heart, 84f.94f.104. 

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lichen  Quellen  zurückgegriffen  habe.83  Die  Ergebnisse  von  KOHN  ver‐ dienen  Beachtung,  da  sie  das  literarische  Argument  in  den  Vorder‐ grund  rückt  und  eine  detaillierte  Zusammenstellung  inhaltlicher  und  sprachlicher  Parallelen  vorlegt.  Allerdings  bleiben  auch  hier  kritische  Anfragen  an  das  Vorgehen  zu  stellen:  Neben  der  keineswegs  unum‐ strittenen  Voraussetzung,  dass  es  sich  bei  Priesterschrift  und  deutero‐ nomistischer Literatur im Wesentlichen um Texte handele, die exilisch  bereits vorliegen, setzt KOHN auch für das Ezechielbuch unhinterfragt  die  exilische  Abfassung  durch  den  historischen  Propheten  voraus.84  Darüber  hinaus  vernachlässigt  auch  sie  den  Aspekt  der  Auslegung,  indem  sie  nicht  ausführlicher  danach  fragt,  mit  welcher  Intention  die  Texte im Einzelfall im Ezechielbuch aufgenommen werden.  Der kurze Überblick über die Forschung zeigt, dass die Frage nach  Berührungen  des  Ezechielbuches  mit  anderen  alttestamentlichen  Bü‐ chern  vor  allem  von  zwei  methodischen  Grundentscheidungen  be‐ stimmt wird: dem vorausgesetzten Entstehungsmodell des Buches und  den Kriterien für die Auswertung der vorliegenden Berührungen. Mit  wenigen  Ausnahmen  (vgl.  z. B.  LEVIN  und  SCHÖPFLIN)  gehen  die  bis‐ herigen  Studien  von  einem  prophetenorientierten  Ansatz  aus,  der  die  Entstehung  des  Buches  hauptsächlich  auf  den  historischen  Propheten  und  evtl.  noch  seinen  Schülerkreis  zurückführt.  Dies  hat  zur  Folge,  dass  die  in  Frage  kommenden  Texte  vor  allem  dahingehend  beurteilt  werden, ob Ezechiel bzw. seine Schule jeweils Zugang zu den Worten  der anderen biblischen Autoren gehabt haben können. Auf diese Weise  sind  die  Ergebnisse  durch  ein  Vorverständnis  der  jeweiligen  Prophe‐ tenbiographie beeinflusst, und der textliche Befund wird zum Teil mit  Rekurs auf den vorliterarischen Überlieferungsraum erklärt. Die These  des  vergleichbaren  zeit‐  und  theologiegeschichtlichen  Umfeldes verla‐ gert die Gründe für die Berührungen schließlich komplett in den nicht‐ literarischen Rückraum der Texte.   Nach  den  hier  vorgelegten  methodischen  Erwägungen  zur Entste‐ hung  des  Ezechielbuches  entspricht  dies  aber  nicht  der  tatsächlichen  Quellenlage,  sondern  die  Texte  begegnen  als  Bestandteil  schriftlicher  Überlieferungskomplexe.  Es  ist  deshalb  ein  literarischer  und  buch‐ orientierter  Ansatz  zu  wählen,  so  dass  die  Berührungen  des  Ezechiel‐ buches mit anderen Büchern als literarisches Phänomen in den Blick zu  nehmen  sind.  In  diesem  Zusammenhang  muss  auch  mit  der  Möglich‐ keit  eines  längeren  literarischen  Wachstums  sowohl  des  Ezechielbu‐ ches  als  auch  der  anderen  Schriften  des  Alten  Testaments  gerechnet  werden. Unter diesen Voraussetzungen kann nicht von vornherein auf‐                                83  Vgl. KOHN, Heart, 106f.  84  Vgl. KOHN, Heart, 1. 

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Thema und Fragestellung   

grund  des  Entstehungsmodells  über  die  literarische  Priorität  geurteilt  werden, sondern es ist jeweils im Einzelfall über das textliche Verhält‐ nis zu entscheiden.  Wenn versucht wird, die Verbindungen mit anderen Büchern über  das Modell der Schriftauslegung zu erklären, so steht die Analyse vor  dem  grundlegenden  Problem,  wie  ein  rezipierender  Text  und  seine  Vorlage überhaupt als solche zu erkennen sind und ihr Verhältnis zu‐ einander  bestimmt  werden  kann.  Die  Feststellung  einer  literarischen  Abhängigkeit,  die  mit  sprachlichen  und  inhaltlichen  Verbindungen  begründet wird (vgl. KOHN), kann dabei nur der erste Schritt sein. Die  eigentlich spannende Frage ist aber die, welchem der beiden Texte die  Priorität  zukommt,  und  mit  welchem  spezifischen  Interesse  er  im  jüngeren Text ausgelegt wird. Aus diesem Grund muss der sprachliche  und inhaltliche Vergleich mit einem Kriterium ergänzt werden, das die  Unterscheidung zwischen Vorlage und Auslegung ermöglicht.   Das  methodische  Instrumentarium  zur  Unterscheidung  zwischen  älteren und jüngeren Texten im näheren oder weiteren Kontext inner‐ halb eines biblischen Buches ist die Literar‐ und Redaktionskritik. Die  Unterscheidung  erweist  sich  aber  als  ungleich  schwieriger,  wenn  die  beiden  Texte  entweder  in  verschiedenen  Buchteilen  oder  über  Buch‐ grenzen  hinweg  aufeinander  Bezug  nehmen.  Für  diesen  Fall  hat  M. FISHBANE in seiner grundlegende Studie zur innerbiblischen Schrift‐ auslegung (1985) zwei Kriterien entwickelt. Dabei greift er auf die aus  der  Traditionsgeschichte  stammende  Unterscheidung  von  Überliefe‐ rungsgut  (traditum)  und  dem  Vorgang  der  Überlieferung  (traditio)  zurück, die er auf die literarische Vorlage und ihre sekundäre Nachin‐ terpretation  überträgt.85  Ein  Auslegungsverhältnis  („innerbiblical  exe‐ gesis“) ist nach FISHBANE da wahrscheinlich, wo erstens „multiple and  sustained  lexical  linkages  between  two  texts  can  be  recognized“  und  zweitens  „the  second  text  (the  putative  traditio)  uses  a  segment  of  the  first (the putative traditum) in a lexically reorganized and topically re‐ thematized way.”86 FISHBANES  Kriterien  werden  im  Folgenden  neben  dem  Instrumen‐ tarium  der  historisch‐kritischen  Exegese  in  den  relevanten  Analysen                                 85  Vgl. FISHBANE, Interpretation, 10‐13.   86  FISHBANE, Interpretation, 285. Gegen diese Definition grenzt sich FISHBANES Schüler  B. SOMMER (1998) ab. Er verwendet „exegesis“ im engeren Sinn nur für die Fälle, wo  ein  Text  den  Sinn  eines  vorliegenden  Textes  zu  erklären  sucht  (vgl.  SOMMER,  Pro‐ phet, 23). Für alle anderen Fälle entwickelt er die Kategorien „influence“, „echo“ und  „allusion“  (vgl.  SOMMER,  a.a.O.,  22‐31).  Diese  Kategorisierung  ist  für  die  hier  ver‐ folgte  Fragestellung  ungeeignet,  da  sie  zu  einer  Überschematisierung  führen  kann  und außerdem übersehen wird, dass jede Bezugnahme auf eine literarische Vorlage  ein Vorverständnis des Textes und damit eine Auslegungsintention voraussetzt. 

Zur Anlage der Arbeit 

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zugrunde gelegt und kritisch auf ihre Anwendbarkeit hin geprüft. Ihr  Vorzug  liegt  darin,  dass  sie  die  sprachliche  und  inhaltliche  Abhän‐ gigkeit mit der Frage verbinden, in welchem Text die strukturelle und  thematische  Ausformung  durch  ein  auf  den  anderen  Text  gerichtetes  Auslegungsinteresse erklärt werden kann. Damit wird ein wesentlicher  Zug innerbiblischer Exegese aufgezeigt: Im Selbstverständnis der Texte  sagt  Auslegung  etwas  Neues  an,  aber  sie  tut  dies  in  der  Sprache  und  Vorstellung des Alten, das das Neue bereits in sich trägt. 

3. Zur Anlage der Arbeit  Der folgende Hauptteil der Studie gliedert sich in drei Abschnitte. Am  Anfang steht eine exemplarische Analyse des Hirtenkapitels Ez 34 und  seiner Position innerhalb der Heilsprophetien im dritten Buchteil (Kap.  II). Da Ez 34 einer der Texte ist, die deutliche Bezüge zu einer Vorlage  aufweisen, kann anhand dieses klaren Beispiels das methodische Vor‐ gehen  exemplifiziert  werden.  Darüber  hinaus  liegt  mit  dem  Kapitel  auch das erste der Heilsworte in Ez 34‐39 vor, so dass mit seiner Unter‐ suchung  ein  Ausgangspunkt  für  die  Sichtung  des  gesamten  Buchab‐ schnittes gegeben ist, die am Ende dieses Teils (Kap. II. 4.) steht. Aus‐ gehend von den Ergebnissen dieses ersten Überblicks folgen im zwei‐ ten  Hauptteil  die  textlichen  Analysen  der  weiteren  Heilsworte,  die  jeweils auf ihren literarischen Ort im Ezechielbuch und ihre möglichen  literarischen Vorlagen hin befragt werden (Kap. III). Im folgenden Kap.  IV  wird  zusammenfassend  das  literarische  Wachstum  in  Kap.  34‐39  dargestellt.  Hierbei  wird  auch  zu  überlegen  sein,  welches  Verhältnis  zwischen den anfänglichen Heilsverheißungen und der ursprünglichen  Buchgestalt  bestehen,  und  welche  Aussagen  sich  über  diese  treffen  lassen. Ein Resümee zur Bedeutung der Schriftauslegung in der Entste‐ hungsgeschichte des Ezechielbuches (Kap. IV. 4.) beschließt die Arbeit. 

 

Kapitel II  AUFTAKT ZUR HEILSVERKÜNDIGUNG:   EZ 34  1. Problemanzeige  Das sogenannte „Hirtenkapitel“ Ez 34 eröffnet als erstes Heilswort den  dritten  Teil  des  Ezechielbuches,  der  vorwiegend  Heilsprophetie  für  Volk,  Stadt  und  Land  enthält.  Im  Bild  des  Hirten  und  seiner  Herde  wird  dem  Volk  Sammlung  und  Rückführung  und  dem  Land  Restitu‐ tion  verheißen.  Allerdings  ist  Ez  34  kein  reines  Heilswort:  Der  Heils‐ prophetie  für  Volk  und  Land  steht  eine  Gerichtsansage  an  die  Führer  Israels  gegenüber,  die  als  schlechte  Hirten  für  die  Zerstreuung  des  Volkes verantwortlich gemacht werden.   In  der  Forschungsgeschichte  ist  bereits  früh  erkannt  worden,  dass  Ez  34  mit  der  Hirtenmotivik  ein  Wort  aus  dem  Jeremiabuch  interpre‐ tiert.  So  urteilt  schon  SMEND  sen.  aufgrund  der  offenkundigen  Nähen  zwischen  den  beiden  Texten  über  Ez  34:  „Das  Stück  ist  eine  Nachbil‐ dung  von  Jer.  23,1‐8.“1  Exegeten  wie  MILLER,  ZIMMERLI  oder  jüngst  ALLEN  haben  ebenso  auf  die  Verbindungen  zwischen  dem  Hirten‐ kapitel und dem Wort gegen die Könige Jer 23,1‐8 hingewiesen.2 Aller‐ dings  ist  bisher  kaum  der  Versuch  unternommen  worden,  nach  dem  genauen  literarischen  Abhängigkeitsverhältnis  zwischen  den  beiden  Texten  zu  fragen  und  den  Auslegungsvorgang  nachzuzeichnen.  Dazu  ist die Analyse oft von vornherein auf den Bereich der Texte begrenzt  worden,  in  dem  die  ipsissima  verba  der  Propheten  vermutet  werden.3  Die  Unzulässigkeit  des  Echtheitskriteriums  für  die  hier  vorgelegte  Fragestellung  bedarf  keiner  weiteren  Erläuterung.  Vor  allem  schließt  eine  methodische  Beschränkung  auf  die  jeweilige  Grundschicht  die                                 1  2  3 

SMEND, KEH, 272.  Vgl. dazu MILLER, Verhältnis, 106; ZIMMERLI, BK, 835, und ALLEN, WBC 29, 161.  Vgl. z. B. MILLER, Verhältnis, 106 Anm. 2: „Wie man dazu die Verbindung zwischen  der  messianischen  Verheissung  in  Hes.  34  :  23  (‫ עבדי דויד‬... ‫)והקמותי‬  und  in  Jer.  23  :  5  (‫)והקמתי לדוד‬ ansehen will, hängt z.T. von einer Betrachtung der Echtheit Jer. 23 : 5 ab.“  Vgl.  außerdem  VIEWEGER,  Beziehungen,  102,  der  die  Analyse  im  Jeremiabuch  von  Anfang an auf Jer 23,1‐4 beschränkt, da er nur diese Verse auf den Propheten bzw.  seine Schülerschaft zurückführt. 

Das Hirtenkapitel Ez 34 

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Möglichkeit aus, dass auch auf späteren literarischen Wachstumsstufen  Rezeptionsvorgänge  stattgefunden  haben.  Dies  verkennt  aber  gerade  den produktiven Charakter innerbiblischer Auslegungsprozesse.   Im Folgenden wird deshalb zuerst eine Textanalyse sowohl von Ez  34 als auch von Jer 23,1‐8 unternommen, um das jeweilige literarische  Wachstum der Texte zu untersuchen. Erst auf dem Hintergrund dieser  Ergebnisse soll in einer vergleichenden Analyse das literarische Ausle‐ gungsverhältnis  der  beiden  Texte  in  den  Blick  kommen.  Im  Zentrum  stehen  dabei  die  Fragen,  auf  welchen  diachronen  Ebenen  Verbindun‐ gen  zwischen  den  beiden  Texten  nachzuweisen  sind  und  mit  welcher  Intention  hier  jeweils  auf  die  Aussagen  des  anderen  Textes  zurückge‐ griffen  wird.  In  diesem  Zusammenhang  wird  auch  zu  prüfen sein, ob  noch andere Texte des Alten Testaments zur Entstehung des Hirtenka‐ pitels beigetragen haben. In einem dritten Schritt wird die Perspektive  auf  die  gesamten  Heilsworte  in  Ez  34‐39  ausgeweitet,  um  zu  unter‐ suchen,  in  welchem  redaktionellen  Horizont  sich  die  Auslegungsvor‐ gänge  in  Ez  34  vollzogen  haben.  An  dieser  Stelle  soll  in  einer  ersten  redaktionsgeschichtlichen  Untersuchung  die  literarische  Zuordnung  der  Heilsworte  in  den  Blick  kommen,  um  die  nachfolgenden  Einzel‐ exegesen im dritten Hauptteil der Arbeit vorzubereiten. 

2. Das Hirtenkapitel Ez 34  2.1. Übersetzung  1  Und es erging das Wort Jhwhs an mich folgendermaßen:   2  Menschensohn,  prophezeie  wider  die  Hirten  Israels:  Prophezeie,  und  du  sollst  zu  ihnen,  den  Hirten,  sagen:  So  spricht  der  Herr4  Jhwh:  Wehe  den  Hirten  Israels,  die  sich  selbst  weiden.5  Sollen  die  Hirten nicht die Herde weiden?                                 ‫אדני‬ fehlt in LXX*; vgl. auch V 8.10.11.15.17.20.30.31. Hierbei handelt es sich um ein  grundsätzliches textkritisches Problem, da die Doppelbezeichnung Gottes als ‫אדני יהוה‬  im Ezechielbuch in der LXX meistens nur mit einfachem ku,rioj wiedergegeben wird.  Es  kann  aber  davon  ausgegangen  werden,  dass  ‫אדני יהוה‬  in  der  Botenspruchformel  und der Gottesspruchformel ursprünglich ist, „nämlich um damit zum Ausdruck zu  bringen,  daß  YHWH  als  der  Herr  gesprochen  hat,  man  sich  diesem  seinem  Wort  folglich  unbedingt  zu  beugen  hat.“  (SCHÖPFLIN,  Theologie,  95).  In  ähnlicher  Weise  vertreten auch ZIMMERLI, BK, 1258; WILLMES, Hirtenallegorie, 44, und ALLEN, WBC  29,  3.156,  die  Ursprünglichkeit  der  Doppelbezeichnung.  Zu  weiterer  Literatur  be‐ treffs dieses Problems vgl. ZIMMERLI, BK, 1250‐1258.1265 (Exkurs 1), und  SCHÖPFLIN,  Theologie, 94f.  Die MT‐Lesung ‫ היו רעים אותם‬ist durch Peschitta, Vulgata und Targum gut bezeugt, so  dass  eine  Erwägung  der  von  LXX  gebotenen  Lesart  mh. bo,skousin poime,nej e`autou,j 





 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

3  Die  Milch6  verzehrt  ihr  und  mit  der  Wolle  kleidet  ihr  euch.  Das  Gemästete schlachtet ihr – die Herde7 weidet ihr nicht.  4  Die  Schwachen8  habt  ihr  nicht  gestärkt  und  das  Kranke  habt  ihr  nicht  geheilt  und  das  Verletzte  habt  ihr  nicht  verbunden  und  das  Versprengte  habt  ihr  nicht  zurückgebracht  und  das  Umherirrende  habt ihr nicht gesucht. Aber mit Stärke9 habt ihr über sie geherrscht  und mit Gewalt.10   5  Und sie11 zerstreuten sich, weil es keinen Hirten gab. Und sie wur‐ den  allen  wilden Tieren des Feldes zum Fraß. Und sie zerstreuten  sich,12                                  nicht geboten ist. Diese Variante mit Fragesatz kann als Angleichung an die folgende  Frage  erklärt  werden.  Zum  Ausdruck  des  Reflexivs  durch  Verb  und  suffigiertes  ‫ ֵאת‬  vgl.  GesK  §135k.  Anders  dagegen  GREENBERG,  der  die  Aktion  der  Hirten  nicht  reflexiv  versteht,  sondern  das  Pronomen  auf  die  Herde  bezieht:  „who  have  been  tending them“ (GREENBERG, AncB, 693.695). Im Blick auf den folgenden Satz ist das  eine eher problematische Übersetzung.   6  Vokalisation ‫ ֶה ָח ָלב‬  („die  Milch“)  mit  LXX  (to. ga,la)  und  Vulgata  (lac).  MT  liest  ‫ ַה ֵח ֶלב‬  „das Fett“; diese Lesart wird auch von der Peschitta bezeugt. Die Vokalisierung nach  LXX  u.a.  scheint durch den Kontext geboten, da der Fleischverzehr im dritten Vor‐ wurf aufgenommen ist, und erst dort die Schlachtung der Tiere erwähnt wird (so mit  SMEND,  KEH,  273;  ZIMMERLI,  BK,  827;  BLOCK,  NICOT  II,  278  Anm.  30;  WILLMES,  Hirtenallegorie, 44, und POHLMANN, ATD, 459).  7  Wenige hebräische Handschriften, LXX, Peschitta und Vulgata ergänzen die Kopula  (‫)ו‬  vor  ‫הצאן‬.  Diese  Variante  ist  als  nachträgliche  Glättung  zu  beurteilen;  vgl.  auch  ZIMMERLI, BK, 827: „Der harte Stil des M ist nicht zu ändern“.  8  LXX,  Theodotion,  Peschitta  und  Vulgata  lesen  den  Singular,  der  aber  als  Anglei‐ chung  an  die  folgenden  Singulare  zu  erklären  ist.  MT  ist  als  lectio  difficilior  beizu‐ behalten.   9  Anstelle  des  MT  ‫וּ ְב ָחזְ ָקה‬  bietet  LXX wohl aus  ‫וּ ַב ֲחזָ ָקה‬ übersetztes kai. to. ivscuro.n. Diese  Variante  ist  aber  als  Angleichung  an  den  vorhergehenden  V  4a  sowie  an  V  16  zu  erklären.  So  gegen  ZIMMERLI,  BK, 827, der die Lesart als Folge der Dittographie im  Schlussteil  des  Verses  erklärt;  die  Lesart  des  MT  gilt  WILLMES,  Hirtenallegorie,  46,  und BLOCK, NICOT II, 278 Anm. 36, als ursprünglich.   10  LXX* lässt ‫אתם ו‬ aus und übersetzt V 4b mit kai.  to.  ivscuro.n kateirga,sasqe mo,cqw|  („das  Starke  habt  ihr  niedergetreten  mit  Gewalt“).  ZIMMERLI,  BK,  827,  beurteilt  das  feh‐ lende ‫אתם‬ als verschriebene Dittographie nach ‫רדיתם‬, das auch dadurch auffalle, dass  der Kontext eine feminine Form erfordere. Da nach GesK §135o aber auch eine mas‐ kuline  Form  möglich  ist,  ist  MT  als  lectio  difficilior  beizubehalten  (so  mit  WILLMES,  Hirtenallegorie, 46).  11  Das  in  MT  implizierte  Subjekt  ‫צאני‬  wird  in  LXX  (ta.  pro,bata,  mou)  sowie  in  Peschitta  und Vulgata ergänzt. Gegen ZIMMERLI, BK, 828, und WILLMES, Hirtenallegorie, 46, ist  diese  Ergänzung  des  Subjekts  weder  ursprünglich  noch  sinnvoll,  sondern  stellt  gegenüber MT die lectio facilior dar. Da noch zu zeigen sein wird, dass mit V 3f. ein  Einschub  vorliegt  (vgl.  dazu  u.  Kap.  II.  2.2.),  könnte  das  Subjekt  in  LXX,  Peschitta  und Vulgata nachgetragen worden sein, um den Bezug auf die Herde in V 2 deutlich  zu machen.  12  ‫ותפוצינה‬ am Ende des Verses ist redundant. Es fehlt in der Peschitta, während die LXX  das Verb mit ‫צאני‬ aus V 6a verbindet und dort keine Entsprechung für das Verb  ‫ישׁגו‬  hat. Da es gute Gründe gibt, die Ursprünglichkeit von  ‫ישׁגו‬ zu bezweifeln (vgl. Anm. 

 

Das Hirtenkapitel Ez 34 

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6  meine  Schafe  (irren  umher).13  Auf  allen  Bergen  und  auf  jedem  hohen Hügel und über das ganze Land hin sind meine Schafe zer‐ streut worden. Und es gibt keinen, der fragt, und keinen, der sucht.   7  Darum, ihr Hirten, hört das Wort Jhwhs:  8  So  wahr  ich  lebe,  Spruch  des  Herrn  Jhwh,  fürwahr,  weil  meine  Herde zur Beute wurde und meine Schafe zum Fraß wurden allen  wilden Tieren des Feldes, weil kein Hirte da war und die Hirten14  nach  meiner  Herde  nicht  fragten,  sondern  die  Hirten  sich  selbst  weideten, aber meine Herde nicht weideten,  9  darum, ihr Hirten, hört das Wort Jhwhs:  10  So spricht der Herr Jhwh: Siehe, ich komme über15 die Hirten und  ich  fordere  meine  Herde  aus  ihrer  Hand  und  ich  mache,  dass  sie  aufhören,  meine  Herde16  zu  weiden,  und  die  Hirten  werden  nicht  mehr  sich  selbst  weiden.  Und  ich  werde  meine  Herde  ihrem  Ra‐ chen entreißen, so dass sie ihnen nicht (mehr) zum Fraß werden.  11  Fürwahr, so spricht der Herr Jhwh: Siehe, ich selbst, ich frage nach  meinen Schafen und ich nehme mich ihrer an.                                 13), ist mit BHS; FOHRER, HAT, 191, und ZIMMERLI, BK, 828, der Lesart der LXX zu  folgen und ein Zusammenhang von ‫ותפוצינה‬ (V 5) mit ‫צאני‬ (V 6) anzunehmen (LXX: kai. diespa,rh mou ta. pro,bata). ZIMMERLI, BK, 828, zieht allerdings im Anschluss an HERR‐ MANN, KAT, 219, auch in Erwägung, dass es sich bei ‫ותפוצינה צאני‬ insgesamt um eine  Stichwortglosse am Rand gehandelt haben könnte, die an der falschen Stelle in den  Text geraten sei. Für die Textaussage ist dieser kurze Satz sicherlich nicht zwingend  erforderlich.  Das Verb  ‫ישׁגו‬ ist in mehrerer Hinsicht problematisch: Es fehlt in der LXX (vgl. vor‐ herige Anmerkung), der unverbundene Einsatz mit der PK‐Konjugation fällt aus der  Situationsbeschreibung  heraus,  die  maskuline  Form  steht  in  Spannung  zu  den  femininen  Verben  im  Kontext  und  darüber  hinaus  wird  ‫שׁגה‬  sonst  nur  für  das  menschliche  Verhalten  gebraucht.  Hier  ist  es  sowohl  als  Fortbewegungsverb  im  Sinne des „Umhertaumelns“ (vgl. Jes 28,7) als auch als Affektverb im Sinne von „ab‐ irren,  sich  vergehen“  (Prov  19,27;  Ps  119,21.118)  belegt  (vgl.  SEIDL,  Art.  ‫ ָשׁגָה‬/‫ ָשׁגַג‬,  1059f.). Es erscheint deshalb wahrscheinlich, dass es sich bei  ‫ישׁגו‬ um eine nachträg‐ liche Einfügung handelt, in der das Bild der umherirrenden Schafe auf die Situation  der Menschen ausgelegt wird, die sich unter den falschen Hirten im moralischen Sin‐ ne  „verirrt“  haben  (so  gegen  WILLMES,  Hirtenallegorie,  47,  und  BLOCK,  NICOT  II,  278f. Anm. 41, die die Ursprünglichkeit von ‫ישׁגו‬ vertreten).  So  mit  LXX  (oi`  poime,nej),  Peschitta  und  einigen  Targum‐Ausgaben.  MT  bietet  die  suffigierte Form ‫רעי‬ („meine Hirten“), die aber im Kontext des Scheltwortes über die  Hirten  Israels  nicht  sinnvoll  ist,  da  das  Possessivpronomen  für  die  Herde  Jhwhs  reserviert ist. So ist der Vorschlag von ALLEN, WBC 29, 157, überzeugend, dass MT  aus einer abkürzenden Glosse ʹ‫רעי‬ (= ‫)רעים‬ oder ʹ‫י‬ ʹ‫רע‬ (=‫)רעי ישׂראל‬ hervorgegangen ist.  ‫אל‬  für  ‫;על‬  vgl.  auch  V  13.14.  Beide  Präpositionen  werden  im  Ezechielbuch  ohne  er‐ kennbare Unterscheidung verwendet (vgl. ZIMMERLI, BK, 6, zu Ez 1,17).  Mit  ZIMMERLI,  BK,  828,  und  WILLMES,  Hirtenallegorie,  48,  kann  vermutet  werden,  dass das von LXX und Peschitta bezeugte Suffix an ‫צאן‬ im MT vor dem folgenden ‫ו‬  durch Haplographie ausgefallen ist. 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

12  Wie ein Hirte sich seiner Herde annimmt am Tage, da er inmitten  seiner  zerstreuten  Schafe  ist,17  so  will  ich  mich  meiner  Schafe  an‐ nehmen,  und  ich  will  sie  erretten  aus  allen  den  Orten,  wohin  sie  zerstreut worden sind am Tage der Wolken und der Dunkelheit.   13  Und ich führe sie aus den Völkern heraus und ich sammele sie aus  den Ländern. Und ich bringe sie in ihr Land und ich weide sie auf  den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Wohnsitzen des Lan‐ des.  14  Ich  werde  sie  auf  guter  Weide  weiden,  und  auf  dem  hohen  Berg  Israels18 wird ihr Weideplatz sein. Dort werden sie sich lagern auf  guter Weide, und fette Weide weiden sie ab auf den Bergen Israels.  15  Ich selbst weide meine Herde und ich selbst lasse sie lagern, Spruch  des Herrn Jhwh.  16  Das  Umherirrende  suche  ich  und  das  Versprengte  bringe  ich  zu‐ rück  und  das  Verletzte  verbinde  ich  und  das  Kranke  stärke  ich.  Aber das Fette19 und das Starke rotte ich aus.20 Ich will es21 weiden  in Gerechtigkeit.                                  17  Die  textliche  Situation  in  V  12a  ist  schwierig.  Die  Peschitta  streicht  den letzten Teil  des  betreffenden  Halbverses  und  liest  nur  „am  Tag  des  Sturmes“  (‫)ביום דזיקא‬,  wäh‐ rend die LXX das Suffix bei ‫היותו‬ streicht, den Tag mit den Angaben aus V 12bb näher  bestimmt  als  o[tan h=| gno,foj kai. nefe,lh  und  statt  ‫נִ ְפ ָרשׁוֹת‬  (von  ‫פרשׁ‬  „trennen,  abson‐ dern“) die Punktation ‫נִ ְפ ָרשׂוֹת‬ (von ‫פרשׂ‬ „sich zerstreuen“) voraussetzt. BHS; BHK und  ZIMMERLI, BK, 829, schlagen wie LXX die Streichung des Suffixes und die Ersetzung  des Verbs vor, wobei ZIMMERLI aber der Lesart der Peschitta folgt und den Rest des  Halbverses  als  Glosse  ansieht.  WILLMES,  Hirtenallegorie,  49f.,  streicht  mit  LXX  das  Suffix,  folgt  dann  aber  einem  Vorschlag  von  EHRLICH,  nach  dem ‫ נפרשׁות‬Schafe  bezeichne, die von wilden Tieren verwundet wurden (vgl. EHRLICH, Randglossen V,  127). Einzig die Ableitung des Verbs von der Wurzel ‫פרשׂ‬ erscheint sinnvoll, da der  Vergleichspunkt  zwischen  V  12a  und  V  12b  eindeutig  auf  das  Einsammeln  der  verloren gegangenen Schafe zielt. Ansonsten ist MT als lectio difficilior beizubehalten.   18  Anstelle des Plurals  ‫ובהרי מרום־ישׂראל‬ in MT bezeugen zwei hebräische Handschriften  sowie LXX und Targum den Singular. Während der Plural als Angleichung an den  Kontext (V 13.14b) zu erklären ist, stellt der Singular eindeutig die lectio difficilior dar  und kann deshalb als ursprünglich gelten (so auch mit RUDNIG, Heilig, 61; dagegen  bevorzugen  ZIMMERLI, BK, 829; WILLMES, Hirtenallegorie, 51, und BLOCK, NICOT II,  287, die Lesart des MT).  19  MT  ‫ואת־השׁמנה‬  hat  in  LXX,  Codex  Wirceburgensis  und  den  Sangallensia‐Fragmenten  keine  Entsprechung  und  wird  u.a.  von  FOHRER,  HAT,  193,  und  ZIMMERLI,  BK,  830,  gestrichen. Der Verdacht liegt aber nahe, dass LXX den Text von V 16 dem vorher‐ gehenden V 4 angeglichen hat, so dass an MT festzuhalten ist.   20  Statt  MT  ‫אשׁמיד‬  (‫שׁמד‬  „ausrotten“)  lesen  zwei  hebräische  Handschriften  ‫אשׁמיר‬  (‫שׁמר‬  „hüten, bewachen“). Diese Variante wird auch von LXX (fula,xw), Peschitta und Vul‐ gata  (custodiam)  unterstützt.  In  einer  hebräischen  Handschrift  fehlt  das  Verb  völlig.  MT setzt damit eine negative Wertung der Fetten und Starken voraus, die auch die  aramäische Textüberlieferung durch die Auslegung auf die „Sünder“ und „Schuld‐ beladenen“  unterstützt.  Die  Lesung  von  LXX  u.a.  erklärt  sich  leicht  durch  die  An‐ gleichung des Verses an V 4, in dem LXX die Starken als das Opfer der bösen Hirten 

 

Das Hirtenkapitel Ez 34 

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17  Und  ihr,  meine  Herde,  so  spricht  der  Herr  Jhwh:  Siehe,  ich  richte  zwischen Schaf und Schaf, den Widdern und den Böcken.   18  Ist  es  euch  zu wenig? Die gute Weide weidet ihr ab und den Rest  eurer Weide zertretet ihr mit euren Füßen. Klares Wasser trinkt ihr  und das übrig gebliebene trübt ihr mit euren Füßen.   19  Und meine Schafe sollen das, was eure Füße niedergetreten haben,  abweiden und trinken, was eure Füße getrübt haben?  20  Darum,  so  spricht  der  Herr  Jhwh  zu  ihnen:  Siehe,  ich  selbst,  ich  werde richten zwischen fettem Schaf22 und magerem Schaf,   21  weil ihr mit Seite und Schulter wegdrängt und mit euren Hörnern  alles Schwache wegstoßt, bis ihr sie nach draußen zerstreut habt.   22  Und ich helfe meiner Herde, damit sie nicht mehr zur Beute wird.  Und ich richte zwischen Schaf und Schaf.   23  Und  ich  werde  einen  einzigen23  Hirten  über  sie24  bestellen,  und  er  wird sie weiden, meinen Knecht David; (er wird sie weiden,)25 und  er wird ihnen zum Hirten.                                  darstellt, so dass sie in V 16 konsequenterweise der guten Hirtenschaft Jhwhs anver‐ traut  werden  müssen.  MT  stellt  den  schwierigeren  Text  dar  und  sämtliche  Abwei‐ chungen sind als Versuch zu erklären, durch eine Lesung von ‫ד‬ als ‫ר‬ die anscheinend  als  anstößig  empfundene  Gotteshandlung  des  „Ausrottens“  abzumildern  (so  auch  WILLMES, Hirtenallegorie, 52).  Anstelle  des  fem.  sg.  Suffixes  des  MT  bieten  LXX,  Peschitta  und  Vulgata  ein  Suffix  fem. pl. und ergänzen die Kopula. Es besteht aber keine Notwendigkeit, den MT zu  ändern, da die Singular‐Form die Singulare aus V 16a fortsetzt (so mit ZIMMERLI, BK,  830).  Für  MT  ‫ ִב ְריָה‬  („Speise“,  vgl.  2  Sam  13,5.7.10†)  bezeugen  einige  Handschriften  ‫ ְב ִריאָה‬  oder  ‫ ְב ִריָּה‬  (von  ‫ברא‬  II  „wohlgenährt/fett“);  LXX  liest  ivscurou/.  Zur  Erklärung  der  Punktation  siehe  BAUER/LEANDER,  Grammatik,  §74hʹ,  denen  zufolge  die  Lesart  des  MT entweder als Verschreibung aus ‫ ְב ִריאָה‬zu deuten ist oder als Fehlvokalisation von  ‫ ְב ִריָּה‬  (so  auch  ZIMMERLI,  BK,  830;  BLOCK,  NICOT  II,  288 Anm.  92,  und  WILLMES,  Hirtenallegorie, 53).  Für  MT  ‫ ֶא ָחד‬  bieten  Alexandrinus  und  Pap.  967  e[teron,  was  auf  ein  ‫אָ ֵחר‬  der  Vorlage  führen  könnte  (vgl.  ebenso  Codex  Wirceburgensis  und  die  arabische  Übersetzung),  während Vaticanus und Sinaiticus e[na lesen und damit die Lesart des MT stützen. Die  Variante von Alexandrinus und Pap. 967 könnte als Verlesung von  ‫ ֶא ָחד‬ in  ‫אָ ֵחר‬ erklärt  werden (so ZIMMERLI, BK, 831; WILLMES, Hirtenallegorie, 54, und BLOCK, NICOT II,  294 Anm. 114); es kann aber ebenso eine bewusste Abänderung vorliegen, da auf der  Ebene des Endtextes der „andere“ Hirte David als Gegenstück zum Hirten Jhwh in  den V 11‐16 gedeutet werden kann (so auch ALLEN, WBC 29, 158, und COOKE, ICC,  381: „an attempt at reconciliation with v.15“). In jedem Fall ist MT als ursprüngliche  Lesart anzusehen.  MT ‫עליהם‬ fehlt in den Geniza‐Fragmenten; eine Handschrift von Kennicott, Peschitta  und Vulgata bezeugen das feminine Suffix ‫עליהן‬. Da der Suffixgebrauch im gesamten  V 23 inkonsistent ist, ist MT textkritisch als lectio difficilior vorzuziehen; vgl. auch die  entsprechenden Varianten in V 23ba (siehe aber Anm. 25) und V 23bb.  Der Vers 23ba fehlt in LXX* und Codex Wirceburgensis. Inhaltlich wiederholt der Vers  den  Schluss  von  V  23aa,  wobei  allerdings  das  feminine  Suffix  (‫)ורעה אתהן‬  durch  ein  maskulines Suffix (‫)ירעה אתם‬ ersetzt wird, so dass hier ein Zusatz zu vermuten ist, der 

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24  Und  ich,  Jhwh,  werde  ihnen  zum  Gott,  und  mein  Knecht  David26  wird Fürst sein in ihrer Mitte. Ich, Jhwh, habe geredet.27 25  Und ich schließe einen Bund des Heils mit ihnen28 und ich schaffe  das böse Getier von der Erde weg. Und sie werden in der Wüste (in  Sicherheit)29 wohnen und schlafen in den Wäldern.  26  Und  ich  mache  sie  und  die  Umgebung  meines  Hügels  zu  einem  Segen30  und  ich  lasse  Regen  herabfließen  zu  seiner  Zeit,  segens‐ reiche Regengüsse werden es sein.                                

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die Weideaussage bezogen auf eine maskuline Bezugsgruppe im Text nachträgt (so  auch  ZIMMERLI,  BK,  831;  zur  textkritischen  Bewertung  vgl.  auch  COOKE,  ICC,  382,  und ALLEN, WBC 29, 158). Vgl. dazu auch die Analyse u. Kap. II. 2.2.  LXX* lässt ‫עבדי‬ aus und bietet nur kai. Dauid. ZIMMERLI, BK, 831, und WILLMES, Hir‐ tenallegorie,  54,  erklären  MT  als  nachträgliche  Angleichung  an  V  23,  aber  m.  E.  ist  für diese Entscheidung der textkritische Befund nicht ausreichend.  Die  Gottesspruchformel  fehlt  in  der  Peschitta.  Das  kann  als  Angleichung  an  den  Kontext erklärt werden, da die Gottesrede in V 25 fortgesetzt wird.  LXX mit Pap. 967 und entsprechend Codex Wirceburgensis bieten tw/| Dauid anstelle von  ‫להם‬ und machen so David zum Bundespartner. Es kann sich hierbei nicht um einen  Überlieferungsfehler handeln, sondern nur um eine bewusste Abänderung, die aber  in beiden Strängen der Textüberlieferung denkbar ist: Entweder ist die masoretische  Variante Angleichung an den Bundesschluss in Ez 37,26, der sowohl im MT als auch  in der LXX „mit ihnen“ (‫להם‬/auvtoi/j) geschlossen wird, oder die Variante der griechi‐ schen  Bezeugung  (mit  Codex  Wirceburgensis)  ist  als  Angleichung  an  V  24  erklärbar.  Da die Fortführung in V 25 mit 3. Pers. pl. und die Pluralangabe des Bundespartners  in  V  30  eher  dafür  sprechen,  dass  der  davidische  Bundesschluss  sekundär  nachge‐ tragen  worden  ist,  wird  der  masoretische  Text  beibehalten.  Vgl.  dazu  auch  u.  Kap.  III. 4.2.1. und III. 4.4.5.  Das in MT bezeugt ‫לבטח‬ fehlt in der Überlieferung der LXX*. Durch diese adverbiale  Bestimmung  wirkt  die  zweite  Hälfte  des  Verses  überfüllt.  Da  ‫לבטח‬  als  Leitwort  in  V 25‐30 dient, könnte es als Glosse in V 25b nachgetragen sein (so gegen ZIMMERLI,  BK, 831; ALLEN, WBC 29, 158, und BLOCK, NICOT II, 294 Anm. 121).  V 26a ist problematisch, wie auch der Überlieferungsbefund zeigt: Die LXX bezeugt  weder die Kopula vor ‫סביבות‬ (so mit Vulgata, Peschitta und Targum) noch ‫ברכה‬ (mit  Codex Wirceburgensis). Dieser äußere Befund spricht gewichtig gegen die Ursprüng‐ lichkeit der Kopula. Das in LXX fehlende ‫ברכה‬ könnte durch aberratio oculi von V 26a  ans Ende von V 26b MT geraten sein (vgl. RUDNIG, Heilig, 61 mit Anm. 48; so gegen  LEVIN, Verheißung, 220, der an der Kopula und ‫ברכה‬ als ursprünglicher Lesart fest‐ hält). Es ist deshalb zu überlegen, ob der Vers nicht mit RUDNIG, a.a.O., 61, wie folgt  wiederzugeben ist: „Und ich werde sie [...] rings um meinen Hügel setzen [...]“. Die  weiteren inhaltlichen Bedenken, die gegen den Vers vorgebracht werden, sind nicht  überzeugend. So verweist ZIMMERLI auf die „ungewöhnliche Bezeichnung des Tem‐ pelberges ... als ‫“גבעתי‬ und vermutet auch auf Grund der „Gedankenfolge im Über‐ gang  von  25  zu  26b“  eine  „tiefer  greifende  Verderbnis“  des  Textes  (ZIMMERLI,  BK,  831).  Seine  im  Anschluss  an  BERTHOLET  vorgenommene  Konjektur  ‫ונתתי את הרביבים‬ ‫בעתם‬ „und ich gebe Regengüsse zu ihrer Zeit“ (BERTHOLET, HAT, 120; vgl. ZIMMERLI,  BK,  831;  vgl.  auch  BHS;  EICHRODT,  ATD,  330,  und  ALLEN,  WBC  29,  158)  ist  wegen  der  massiven  Eingriffe  in  den  Konsonantenbestand  des  MT  wenig  plausibel.  Auch  die  inhaltlichen  Gründe  rechtfertigen  diese  Intervention  nicht:  Zwar  ist  die  Erwäh‐ nung von ‫ גבעה‬im Kontext auffällig, aber als Bezeichnung für den Tempelberg ist das 

 

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27  Und der Baum des Feldes gibt seine Frucht und das Land gibt sei‐ nen Ertrag; und sie sind auf ihrem Land in Sicherheit. Und sie wer‐ den erkennen, dass ich Jhwh bin, wenn ich die Stangen ihres Jochs  zerbreche und sie aus der Hand derer rette, die sie knechten.  28  Und sie werden den Völkern nicht mehr zur Beute, und die wilden  Tiere  des  Landes  fressen  sie  nicht.  Und  sie  wohnen  in  Sicherheit,  und es wird keinen geben, der sie erschreckt.   29  Und ich errichte ihnen eine Pflanzung des Heils,31 und sie werden  nicht mehr durch Hunger im Land weggerafft, und das Schmähen  der Völker werden sie nicht mehr ertragen.  30  Und sie werden erkennen, dass ich, Jhwh, ihr Gott (mit ihnen)32 bin,  und  dass  sie  mein  Volk  sind,  das  Haus  Israel,  Spruch  des  Herrn  Jhwh.  31  Und ihr,33 meine Herde, die Herde meiner Weide (von Menschen)34  seid ihr, und35 ich bin euer Gott,36 Spruch des Herrn Jhwh.                                  Wort  in  Jes  10,32  und  31,4  belegt  und  begegnet  als  Begriff  für  die  Hügel  im  Land  auch im literarischen Kontext in Ez 34,6 und 36,6.  So mit der Textvariante der LXX (futo.n eivrh,nhj), Codex Wirceburgensis (plantam pacis)  und Peschitta, die auf ein ursprüngliches  ‫מטע שׁלם‬ schließen lassen (zur Bevorzugung  dieser  Lesart  vgl.  auch  ZIMMERLI,  BK,  832;  WILLMES,  Hirtenallegorie,  56;  ALLEN,  WBC 29, 158, und BLOCK, NICOT II, 295 Anm. 128). Diese Lesart passt inhaltlich zur  Verheißung  der  ‫ברית שׁלום‬  in  34,25,  während  der  masoretische  Text  an  dieser  Stelle   (‫)מטע לשׁם‬ durch Metathesis erklärt werden kann (vgl. auch die Variante der Vulgata,  die  germen  nominatum  bietet).  Der  Targum  liest  ‫נצבא לקיימא‬  („Pflanze  des  Bundes“)  und verstärkt damit noch den Bundesbezug.  ‫אתם‬  fehlt  in  wenigen  hebräischen  Handschriften,  LXX*,  Codex  Wirceburgensis  und  Peschitta und ist für den Kontext der Bundesformel ungewöhnlich. Hier ist deshalb  mit ZIMMERLI, BK, 832.846, ein Zusatz zu vermuten, der den Zuwendungscharakter  der Bundesformel näher entfalten will (vgl. auch FOHRER, HAT, 195; anders BLOCK,  NICOT II, 295 mit Anm. 130).  Die Anrede ‫אתן‬ fehlt in LXX*, Codex Wirceburgensis und der koptischen Übersetzung;  zwei  hebräische  Handschriften  bezeugen  die  maskuline  Form.  Der  Genuswechsel  kann  als  Angleichung  an  den  Kontext  in  V 24ff.  erklärt  werden,  in  denen  durchge‐ hend  eine  maskuline  Bezugsgruppe  im  Blick  ist.  Gegen  ZIMMERLI,  BK,  846,  ist  der  Befund nicht gewichtig genug, um eine Streichung der Anrede zu rechtfertigen.  ‫אדם‬  ist  in  LXX*  und  Codex  Wirceburgensis  nicht  bezeugt.  Das  Wort  erregt  den  Ver‐ dacht  nachträglich  eingefügt  zu  sein,  um  das  Bild  der  Herde  ausdrücklich  auf  die  Menschen zu beziehen. Die Eintragung von ‫אדם‬ in den hebräischen Text könnte dann  im Zusammenhang mit der späten Fortschreibung Ez 36,37f. stehen (so ALLEN, WBC  29, 158; vgl. auch ZIMMERLI, BK, 832), mit der die Heilsprophetien in Ez 34‐39 insge‐ samt eine Systematisierung erfahren; vgl. dazu u. Kap. IV. 2.1.4.  Mit LXX, Peschitta und Vulgata wird die Kopula ergänzt.  Einige  hebräische  Handschriften,  LXX,  Peschitta  und  Vulgata  schicken  den  Gottes‐ namen (‫)יהוה‬ voraus. Dies kann als nachträgliche Angleichung an den ezechielischen  Sprachgebrauch gewertet werden, da die Doppelbezeichnung im Ezechielbuch häu‐ figer auftritt. In der Bundesformel ist der Gottesname dagegen unüblich, so dass mit  ZIMMERLI, BK, 832, am MT festzuhalten ist. 

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2.2. Textanalyse  Das  Hirtenkapitel  Ez  34  ist  sowohl  sprachlich  als  auch  inhaltlich  klar  von  seinem  literarischen  Kontext  abgegrenzt.  So  kündigt  die  Worter‐ eignisformel in Ez 34,1 einen Neuanfang an;37 das Ende dieses so eröff‐ neten  Textstückes  wird  durch  eine  weitere  Wortereignisformel  in  Ez  35,1 markiert. Während das vorherige Kapitel Ez 33 nach der Nachricht  von  der  Einnahme  Jerusalems  in  33,21f.  Worte  gegen  die  Restbewoh‐ nerschaft Judas (Ez 33,23‐29) sowie Reflexionen über das Prophetenamt  (Ez  33,30‐33)  enthält,  folgt  in  Ez  35,1‐36,15  eine  Gerichtsansage  gegen  das Gebirge Seir und ein Heilswort für die Berge Israels.   Obwohl Ez 34 den Eindruck einer planvoll gestalteten literarischen  Einheit erweckt, gibt es einige Hinweise darauf, dass mit einem sukzes‐ siven  literarischen  Wachstum  zu  rechnen  ist.  Dafür  spricht  zuerst  der  variierende Einsatz der Bildmotive: Das dominierende Motiv des Kapi‐ tels ist das Bild der Herde. Aber während es in den V 1‐10 dazu dient,  die  Pflichtvergessenheit  der  schlechten  Hirten  anzuprangern,  wird  es  in den V 17‐22 zur Gerichtsankündigung verwendet, die an einen Teil  der Herde gerichtet ist. Weiterhin ist zu fragen, ob das Bild nicht etwas  überstrapaziert wird, da sowohl Jhwh als auch David als Hirte gezeich‐ net werden, der die Herde von den schlechten Hirten übernimmt.38 Vor  allem  sind  es  aber  die  zahlreichen  Redeeröffnungs‐  und  Beschlussfor‐ meln, die darauf hinweisen, dass die einheitliche Gestaltung des Kapi‐ tels  auf  redaktionelle  Bearbeitungen  zurückgeht.  Im  Folgenden  soll  deshalb  unter  Berücksichtigung  formkritischer  Gesichtspunkte  die  Struktur des Kapitels analysiert werden, um zugleich Indizien zu sam‐ meln, die auf ein literarisches Wachstum hindeuten.39                                37  Zur Funktion der Wortereignisformel als Anfangssyntagma vgl. HOSSFELD, Untersu‐ chungen, 27, sowie SCHÖPFLIN, Theologie, 57‐68.  38  Dies  wird  u.a.  von  HÖLSCHER,  Hesekiel,  171;  BERTHOLET,  HAT,  121;  LEVIN, Verhei‐ ßung,  218,  und  POHLMANN,  ATD,  464,  als  Argument  für  eine  literarkritische  Zäsur  zwischen  den  beiden  Abschnitten  V 11‐16  und  V  23f.  angeführt.  Demgegenüber  sehen  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  455,  und  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen,  275,  eine  chronologische  und  sachliche  Unterscheidung  zwischen  dem  Handeln  Jhwhs  und  der  Hirtentätigkeit  Davids,  die  keinen  Anlass  zu  literarkritischen  Operationen  biete.  39  Unter den literar‐ und redaktionskritisch arbeitenden Exegeten herrscht Einigkeit da‐ rüber,  dass Ez 34 literarisch mehrschichtig ist. Die genaue Abgrenzung der Grund‐ schicht  hat  dagegen  zu  höchst  unterschiedlichen  Ergebnissen  geführt:  HÖLSCHER,  Hesekiel,  170,  sieht  die  Grundschicht  in  V  1‐15,  die  er  seinem  Redaktor  zuweist.  FOHRER, HAT, 190, geht dagegen von zwei vereinigten Worten in V 1‐16.17‐31 aus,  die  einen  Nachtrag  in  V  23f.  erfahren  haben.  ZIMMERLI,  BK,  832‐834.847,  sieht  die  Grundlage des Kapitels in zwei auf den Propheten zurückgehenden Einheiten V 1‐15  und  17‐22,  die  von  diesem  durch  V  23f.  und  wahrscheinlich  auch  V  16  ergänzt  worden  seien;  auf  den  Schülerkreis  führt  er  V  25‐30.31  zurück.  In  ähnlicher  Weise 

 

Das Hirtenkapitel Ez 34 

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Mit  der  Wortereignisformel  in  V  1  wird  eine  prophetisch  über‐ mittelte Jhwh‐Rede eingeleitet, die mit einem Weheruf über die Hirten  Israels  einsetzt.  Diesen  wird  vorgeworfen,  sich  selbst  anstelle  der  Herde zu weiden (V 2) und ihren Pflichten gegenüber der Herde nicht  nachgekommen  zu  sein (V 3f.). Als Folge dieses Fehlverhaltens haben  sich  die  Schafe  über  das  ganze  Land  hin  (‫על כל־פני הארץ‬,  V  6)  zerstreut   (‫פוץ‬,  V  5.6)  und  sind  den  wilden  Tieren  zum  Fraß  geworden.  Dieser  Weheruf  gegen  die  Hirten  Israels  verlangt  in  der  Fortsetzung  nach  einer  Drohrede,  die  in  V  7  mit  der  Partikel  ‫לכן‬  einzusetzen  scheint.  Allerdings folgt auf die Eröffnung eine erneute Anklagerede, in der die  Anschuldigungen  aus  den  vorangehenden  V  2‐6  aufgenommen  wer‐ den. Erst in den V 9f. schließt sich die erwartete Drohrede an, die for‐ mal durch ein zweites ‫לכן‬ in V 9 und die Botenformel in V 10 eingeleitet  ist. Diese Doppelung der V 7f. und V 9f. deutet bereits auf eine sekun‐ däre  Einfügung  von  V  7f.  hin.40  Die  Verse  versprechen  nicht  nur  in  ihrer Einleitung eine Drohrede, ohne dieser Ankündigung nachzukom‐ men,  sondern  sie  geben  sich  auch  durch  Anleihen  an  den  Kontext  als  sekundäre  Einschreibung  zu  erkennen.  So  nehmen  sie  einerseits  mit  der Wendung  ‫לכן רעים שׁמעו‬ in V 7 die Einleitung der Drohrede V 9 vor‐ weg,  andererseits  rekurrieren  sie  inhaltlich  auf  die  Anklagen  aus  den  V 2‐6. Die ursprüngliche Fortsetzung des Weherufes in V 1‐6 ist damit  in V 9f. zu suchen, in denen Jhwh ankündigt, dass er seine Herde aus  der Hand der Hirten fordern und ihrer Zuständigkeit für die Schafe ein  Ende  machen  wird.  Allerdings  gibt  es  auch  innerhalb  des  Weherufes  V 1‐6 Anzeichen für literarische Nacharbeit. So fällt zuerst auf, dass die  Vergehen der Hirten in V 2‐4 zwischen Pflichtvergessenheit und Eigen‐ nutz variieren: Während sie in V 2 der Vernachlässigung ihrer Weide‐ pflicht  gegenüber  der  Herde  beschuldigt  werden,  wird  ihnen  in  V  3f.                                 geht auch ALLEN, WBC 29, 158‐161, von zwei Orakeln in V 1‐16*.17‐22 aus, die durch  die drei Fortschreibungen V 23f.25‐30.31 erweitert worden seien. GARSCHA, Studien,  200‐206, schreibt seinen Grundtext 34,1‐3.9‐15.25‐30 der deuteroezechielischen Bear‐ beitung  zu,  während  HOSSFELD,  Untersuchungen,  230ff.284‐286,  die  Grundschicht  auf  ein  Gerichtswort  des  Propheten  in  34,1f.9*f.  begrenzt,  das  einen  sechsstufigen  Fortschreibungsprozess erfahren habe. LEVIN, Verheißung, 219, findet das Grundge‐ rüst in 34,1‐6*.9‐10.13*.23‐24 und streicht den göttlichen Hirten literarisch zugunsten  der Ursprünglichkeit des Hirten David. KRÜGER, Geschichtskonzepte, 449‐458, sieht  Ez  34,1‐24  als  einheitliche  „differenzierende  Prophezeiung“  (vgl.  dazu  WILLMES,  Hirtenallegorie,  234ff.),  die  durch  V  25‐30  ergänzt  worden  sei.  Anders  POHLMANN,  ATD,  463f.,  der  die  Grundschicht  in  den  Abschnitten  V  1‐10  und  V  11‐16  findet,  wobei er aber auch die ursprüngliche Zugehörigkeit der V 25‐30 nicht ausschließen  will.  BERTHOLET,  HAT,  118f.,  und  WILLMES,  Hirtenallegorie,  212‐225,  unternehmen  schließlich beide eine Quellenscheidung im Bereich der V 1‐16 und vermuten jeweils  in einem der so eruierten Texte die Grundlage des Kapitels.  40  Zum Nachtragscharakter der V 7f. vgl. ZIMMERLI, BK, 212; HOSSFELD, Untersuchun‐ gen, 232f.237f., und ALLEN, WBC 29, 159. 

 

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die Bereicherung an den Tieren vorgeworfen, ohne dass sie ihren Für‐ sorgepflichten nachgekommen wären. Der Eindruck eines literarischen  Bruches  zwischen  V  2  und  V  3f.  wird  auch  durch  den  Adressaten‐ wechsel von 3. Pers. pl. in V 1f. zu 2. Pers. pl. in V 3f. bestätigt, so dass  in V 3f. ein Zusatz zu vermuten ist.41 V  11  markiert  einen  Einschnitt  durch  den  erneuten  Gebrauch  der  Botenformel, die durch das einleitende ‫כי‬ an den vorangehenden Rede‐ teil  rückgebunden  ist.  Darüber  hinaus  lehnt  sich  der  Vers  auch  durch  die  Wiederholung  der  Kombination  von  einer  Botenformel  mit  dem  Präsentativ  ‫הנני‬,  dem  Verb  ‫דרשׁ‬  und  dem  Objekt  ‫את־צאני‬  an  den  vorher‐ gehenden V 10 an. Der so eröffnete Redegang wird in V 15 durch eine  Gottesspruchformel  abgeschlossen  und  stellt  formal  eine  Heilsankün‐ digung  dar:  Jhwh  sagt  an,  dass  er  sich  selbst  seiner  Herde  annehmen  (V  11)  und  die  in  die  Länder  zerstreuten  Schafe  sammeln  und  heim‐ führen wird (V 12f.), um sie auf den Bergen Israels (‫הרי ישׂראל‬, V 13.14)  zu weiden. Auch in diesem Abschnitt gibt es Anzeichen für literarische  Nacharbeit. So fällt zuerst V 12 durch den Verweis auf den Tag Jhwhs  als  „Tag  der  Wolken  und  der  Dunkelheit“  (vgl.  Ez  30,3)  aus  seinem  Kontext heraus und wiederholt außerdem das Rettungsmotiv aus V 10  (‫נצל‬  hif.).  Schließlich  hebt  sich  der  Vers  auch  sprachlich  durch  die  Durchbrechung  der  Reihung  von  AK  consecutivum‐Formen  in  V 10f.13  ab, so dass hier ein sekundärer Eintrag vermutet werden kann, der das  Motiv des Tages Jhwhs in den Text einschreibt. 42 In V 13f. ist dagegen  die  Häufung  von  Weide‐  und  Gebirgsterminologie  auffällig.43  Insbe‐ sondere  die  Lokalisierung  der  Weide  ‫בהר מרום־ישׂראל‬44 in V 14a steht in  Konkurrenz zu V 13b.14b, wo der Weideplatz der Schafe jeweils als ‫הרי‬ ‫ישׂראל‬ bezeichnet wird. Da die Berge Israels ansonsten in Kap. 34 nur im                                 41  Im Allgemeinen wird der Anredewechsel von V 2 zu V 3 als literarisches Stilmittel  gewertet (vgl. z. B. ALLEN, WBC 29, 161; BLOCK, NICOT II, 283), das keinen Anlass  zu  literarkritischen  Operationen  biete;  vgl.  aber  HOSSFELD,  Untersuchungen,  236f.   259‐261,  der  zwei  Fortschreibungen in V 3 und V 4‐6 unterscheidet. GARSCHA, Stu‐ dien, 201f., nimmt dagegen einen Nachtrag in V 4‐8 an.   Evtl. ist auch innerhalb des Zusatzes V 3f. noch weiter literarkritisch zu differenzie‐ ren.  Dafür  könnte  die  unterschiedliche  Natur  der  Vorwürfe  in  V  3  (Bereicherung)  und  V  4  (Vernachlässigung  der  Fürsorge)  sowie  der  Wechsel  von  der  Präformativ‐ konjugation in V 3 zur Afformativkonjugation in V 4 hindeuten; vgl. dazu auch die  weitere Analyse in Kap. II. 3.4.  42  Vgl. auch LEVIN, Verheißung, 219 Anm. 84, der V 11.12b (mit Nachtrag in V 12a) als  Ergänzung zu V 10 einordnet.  43  In der Sekundärliteratur herrscht Uneinigkeit hinsichtlich der Beurteilung der V 13f.  HOSSFELD,  Untersuchungen,  242.264f.,  scheidet  V  14b  als  auffüllende  Glosse  aus,  während LEVIN, Verheißung, 219 Anm. 84, sowohl in V 13bb als auch in V 14 spätere  Zusätze  sieht.  RUDNIG,  Heilig,  61  mit  Anm.  45,  vermutet  einen  Nachtrag  in  V  14a  und erwägt eine ursprüngliche Fortsetzung von V 13 in V 14b.  44  Zur Bevorzugung der singularischen Lesart vgl. o. Anm. 18. 

 

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Plural auftreten, ist zu erwägen, ob es sich in V 14a um einen Nachtrag  handelt,  der  die  Vorstellung  des  Gottesberges  einträgt.45  V  14b  fällt  dagegen in zweifacher Hinsicht auf: Zum einen hebt er sich durch die  femininen  Verbformen  von  seinem  Kontext  ab,  in  welchem  ‫צאן‬  („Herde“)  durchgängig  maskulin  gebraucht  ist,  zum  anderen  fällt  die  chiastische Vorwegnahme von V 15 in V 14b auf: In V 15 werden Jhwh  in umgekehrter Reihenfolge die Tätigkeiten zugeschrieben, die in V 14  von den Schafen ausgeführt werden. Dies könnte dafür sprechen, auch  V  14b  auf  redaktionelle  Nacharbeit  zurückzuführen.  Das  Verständnis  des Leitwortes ‫צאן‬ im Sinne eines maskulinen Kollektivs unterscheidet  den  Grundtext  in  V  11‐15*  nicht  nur von dem zu vermutenden Nach‐ trag  in  V 14b,  sondern  es  setzt  den  Redegang  auch  vom  vorherigen  Abschnitt 34,1f.5f.9f. ab, in dem ‫צאן‬ feminin gebraucht wird (V 5.6.10).46  Dies wird noch zu berücksichtigen sein.   Obwohl V 15 mit der Gottesspruchformel abschließenden Charak‐ ter  hat,  wird  die  Jhwh‐Rede  in  V  16  fortgesetzt,  der  vor  allem  durch  seine  wortwörtlichen  Bezüge  zu  V  4  auffällt.47  Darüber  hinaus  wird  durch  die  adverbiale  Bestimmung  des  göttlichen  Weidens  ‫במשׁפט‬  das  Thema  des  folgenden  Abschnittes  vorweggenommen.  Trotz  dieser  Querverbindungen  zum  Kontext  steht  der  Vers  „eigenartig  im  Nie‐ mandsland“,48  da  er  formal  durch  die  vorausgehende  Gottesspruch‐ formel in V 15 und die nachfolgende Botenformel in V 17 isoliert ist. In  der  Sekundärliteratur  wird  er  deshalb  oft  als  Überleitung  oder  als  (redaktioneller)  Gelenkvers  beurteilt,  der  34,1‐15  mit  34,17ff.  verbin‐ det.49  Auf  der  Ebene  des  Endtextes  ist  die  Gelenkfunktion  des  Verses  nicht  zu  bestreiten,  es  wird  aber  zu  fragen  sein,  ob  er  auch ursprüng‐ lich mit dieser Intention verfasst worden ist.                                  45  So auch RUDNIG, Heilig, 61. Vgl. dazu u. Kap. III. 7.4.4.  46  Die wechselnden Formen in V 4 stehen innerhalb eines sekundären Einschubes, vgl.  die vorhergehende Textanalyse. Das Verbum  ‫ישׁגו‬ in V 6a ist dagegen bereits im text‐ kritischen  Untersuchungsschritt  als  Nachtrag  eingeordnet  worden  (vgl.  Anm.  13),  während mit ‫נפצו‬ in V 6b eine communis‐Form vorliegt.  47  ‫את־האבדת אבקשׁ‬, V 16; vgl.  ‫ואת־האבדת לא בקשׁתם‬, V 4;  ‫ואת־הנדחת אשׁיב‬, V 16; vgl. ‫ואת־הנדחת לא‬ ‫השׁבתם‬, V 4;  ‫ולנשׁברת אחבשׁ‬, V 16; vgl.  ‫ולנשׁברת לא חבשׁתם‬, V 4, und ‫ואת־החולה אחזק‬, V 16; vgl.  ‫ואת־החולה לא־רפאתם‬, V 4.  48  ZIMMERLI, BK, 833.  49  Die überleitende Funktion von V 16 ist schon von HÖLSCHER, Hesekiel, 170, erkannt  worden.  Auch  nach  ZIMMERLI,  BK,  833,  erfüllt  der  Vers  „die  Aufgabe  eines  Binde‐ gliedes“,  das  V  17ff.  mit  V  1‐15  verbinde.  Vgl.  ferner  GARSCHA,  Studien,  201,  und  HOSSFELD,  Untersuchungen,  244.282.285,  die  V 16  beide  als  redaktionellen  Zusatz  beurteilen,  der  die  vorhergehenden  Verse  mit  dem  folgenden  Abschnitt  verbinden  soll. Dagegen sieht LEVIN, Verheißung, 219 Anm. 84, in V 15f. eine ergänzende Ein‐ heit zu seiner Grundschicht in V 1‐6*.9‐10.13*.23‐24. 

 

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Die  folgende  kleine  Einheit  umfasst  die  V  17‐22.  In  V  17  wird  die  Zäsur nicht nur durch die bereits erwähnte Botenformel, sondern auch  durch  die  erneute  Anrede  markiert,  die  diesmal  an  die  Schafe  als  Adressaten  gerichtet  ist.  Zwar  bleibt  der  Abschnitt  mit  dem  Bild  der  Schafherde in der Motivik der vorangehenden Redeeinheiten, aber mit  der  Ankündigung  des  Gerichts  unter  den  Schafen  wird  ein  neues  Thema eingeführt: Anstelle des Fehlverhaltens der Hirten steht nun mit  dem Umgang der Schafe untereinander ein anderes Missverhältnis im  Zentrum.  Angeklagt  werden  die  Schafe,  die  für  die  anderen  die  Nah‐ rungsgrundlage  zerstören  (V  18)  und  die  Schwächeren  aus  der  Herde  verdrängen,  so  dass  diese  zerstreut  werden  (‫פוץ‬  hif.,  V  21).  Dement‐ sprechend  wird  die  Heilsankündigung  an  die  gesamte  Herde  durch  eine  ethische  Differenzierung  innerhalb  der  Herde  abgelöst,  in  der  Jhwh  seine  Schafe  (‫צאני‬,  V  19.22)  vor  dem  Fehlverhalten  der  anderen  Schafe retten wird (‫ישׁע‬ hif., V 22). Dieses veränderte Heilsverständnis,  nach dem die wahre Gottesherde erst durch eine Scheidung unter den  Schafen konstituiert wird, spricht dafür, in V 17‐22 eine Fortschreibung  des vorherigen Abschnittes zu sehen.50 Ohne  Zäsur  schließt  sich  in  V  23  die  Verheißung  des  einen  (‫אחד‬,  V 23)  davidischen  Hirten  an,  dessen  Einsetzung  mit  der  halben  Bun‐ desformel  in  V  24a  bestätigt  wird.  Eine  Wortbekräftigungsformel  in  V 24b  schließt  die  Einheit  ab.  Im  Gegensatz  zu  den  vorhergehenden  V 17‐22 ist in V 23f. nicht mehr von einer Differenzierung des Heils die  Rede, sondern es wird erneut das heilvolle Geschick der Gesamtherde  thematisiert. Auch wenn eine formale Zäsur fehlt, so sprechen doch die  inhaltlichen  Gründe  dafür,  V  23f.  vorerst  nicht  auf  einer  literarischen  Ebene mit V 17‐22 einzuordnen. Es erscheint aber auch unwahrschein‐ lich, dass die Bestellung des Hirten David gleichursprünglich mit den  Abschnitten ist, in denen Jhwh die Fürsorge für die Herde übernimmt  (V  1‐10*;  V 11‐15*),  so  dass  mit  V  23f.  eine  eigenständige  literarische  Schicht  vorliegt.51  In  diesen  Versen  zeigt  schon  der  textkritische  Be‐ fund, dass sie das Objekt weiterer redaktioneller Nacharbeit geworden  sind. So ist auf jeden Fall der Nachsatz ‫הוא ירעה אתם‬ in V 23ba als Nach‐                                50  So mit HÖLSCHER, Hesekiel, 170f.; HOSSFELD, Untersuchungen, 233.244‐253.282f. (für  34,17‐24  insgesamt);  LEVIN,  Verheißung,  219  Anm.  84,  und  SCHWAGMEIER,  Unter‐ suchungen,  274  Anm.  980.  Anders  ZIMMERLI,  BK,  833f.,  und  KRÜGER,  Geschichts‐ konzepte, 452.  51  Vgl. OHNESORGE, Jahwe, 370. Zu einer literarkritischen Trennung der beiden Hirten  siehe HÖLSCHER, Hesekiel, 171; BERTHOLET, HAT, 121; LEVIN, Verheißung, 218, und  POHLMANN,  ATD,  464,  während  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  455,  und  SCHWAG‐ MEIER,  Untersuchungen,  275,  die  ursprüngliche  Zusammengehörigkeit  der  beiden  Gestalten vertreten. 

 

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trag  einzuordnen.52  Er  stellt  eine  Doppelung  zu  der  Weideaussage  in  V 23aa  dar  und  ist  darüber  hinaus  auch  in  der  LXX*  nicht  bezeugt.53  Der Teilvers V 24ab ist dagegen auffällig, da er den engen Zusammen‐ hang  zwischen  V  23bb  und  V  24aa  stört,  indem  er  gegenüber  V 24aa  das zweite Glied in der Nachahmung der Bundesformel einnimmt und  so in Konkurrenz zu V 23bb tritt. Hier dürfte deshalb ein späterer Zu‐ satz vorliegen, durch den David nachträglich der Titel  ‫נשׂיא‬ zugewach‐ sen ist.54 Trotz des Abschlusses durch die Wortbekräftigungsformel in V 24  setzen  die  V  25‐30  unvermittelt  mit  der  Verheißung  des  Heilsbundes  und  der  Beschreibung der künftigen heilvollen Situation im Land ein.  Damit ist bereits formal ein Hinweis auf sekundäre Fortschreibung ge‐ geben, da die Wortbekräftigungsformel die sicherste Schlussformel im  Ezechielbuch  ist.55  Weiterhin  wird  die  Hirtenmotivik  fast  vollständig  aufgegeben,  auch  wenn  die  angeschlagenen  Themen  wie  Sicherheit  und  Fruchtbarkeit  im  Land  sowie  Schutz  vor  den  wilden  Tieren  nahe  beim  Bild  der  Herde  bleiben.  Der  Abschnitt  V  25‐30  kann  deshalb  als  eine  weitere  Fortschreibung  angesehen  werden,  die  mit  einer  Gottes‐ spruchformel in V 30 abgeschlossen wird. Auffällig ist die Doppelung  der Erkenntnisformeln in V 27.30; in V 30 wird die Erkenntnisaussage  zusätzlich mit einer erneuten Bundesformel gekoppelt. Da die Erkennt‐ nisformel sowohl am Ende wie auch in der Mitte eines Redeabschnittes  stehen  kann,  wird  im  Folgenden  noch  zu  untersuchen  sein, inwieweit  diese  Formeln  als  Hinweis  auf  literarische  Nacharbeit  in  34,25‐30  ge‐ wertet werden können.56 V  31  lenkt  nach  dem  Abschluss  durch  die  Gottesspruchformel  in  V 30 mit einer Wiederholung der Bundesformel im Bild der Herde zu  den V 1‐24 zurück. Mit einer erneuten Gottesspruchformel gibt sich der                                 52  So mit ZIMMERLI, BK, 831; HOSSFELD, Untersuchungen, 248, und OHNESORGE, Jahwe,  371. Anders LEVIN, Verheißung, 219f. Anm. 86, der die Ursprünglichkeit von V 23ba  vertritt.  53  Vgl. zum textkritischen Befund o. Anm. 25.  54  So  mit  LEVIN,  Verheißung,  219f.  Anm.  86.  Die  literarkritische  Ausscheidung  beider  Davidaussagen  in  der  Hirtenverheißung  34,23f.,  wie  sie  von  HOSSFELD  und  OHNE‐ SORGE vorgenommen wird, ist dagegen nicht überzeugend. Sie weisen insbesondere  darauf hin, dass die Apposition in V 23ab nicht direkt hinter dem Bezugsobjekt  ‫רעה‬ ‫אחד‬  stehe,  sondern  durch  einen  Verbalsatz  von  diesem  getrennt  werde  (vgl.  HOSS‐ FELD,  Untersuchungen,  248‐252,  und  im  Anschluss  an  diesen  OHNESORGE,  Jahwe,  371;  siehe  ferner  GROSS,  Hoffnung,  113f.).  Die  Satzstellung  erklärt  sich  aber  durch  den Zitatcharakter von V 23aa, der auf Jer 23,4 rekurriert; vgl. dazu u. Kap. II. 3.3.  55  Vgl. dazu HOSSFELD, Untersuchungen, 46‐53, sowie SCHÖPFLIN, Theologie, 105‐107.  56  So nimmt LEVIN, Verheißung, 220, in V 27abb und V 28 zwei sekundäre Ergänzun‐ gen an; vgl. ebenso FUHS, NEB, 195. Zur ausführlichen Analyse von Ez 34,25‐30 vgl.  u. Kap. III. 4.2.1.  

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

Vers  als  redaktioneller  Nachtrag  zu  erkennen,  dessen  Funktion  darin  besteht, V 25‐30 in das Kapitel zu integrieren und eine kompositorische  Einheit herzustellen.  Die Ergebnisse der ersten Analyse können damit wie folgt zusam‐ mengefasst werden: Das Kapitel besteht aus den fünf kleinen Einheiten  in V 1‐10*.11‐15*.17‐22.23f.* und V 25‐30. Weiterhin sind die V 3f.; V 7f.;  V  12;  V  14a.b;  V  16  und  V  31  als  redaktionelle  Nachträge  identifiziert  worden.  Da  der  dritte  (V  17‐22),  vierte  (V  23f.*)  und  fünfte  (V  25‐30)  Redegang  als  Fortschreibungen  anzusehen  sind,  kann  die  Grund‐ schicht des Kapitels nur in den übrigen Teilen V 1‐10*.11‐15* zu finden  sein. Die erste Jhwh‐Rede in V 1‐10* ist dabei konstitutiv für das Ganze.  Nicht nur liegt allein hier ein sinnvoller Anfang für den Text vor, son‐ dern  in  diesen  Versen  wird  auch  das  Hirtenmotiv  eingeführt,  das  im  Rest des Kapitels vorausgesetzt ist.   Es bleibt die Frage, ob der Grundbestand des Kapitels in V 1f.5f.9f.  (V  1‐10*)  eine  für  sich  abgeschlossene,  sinnvolle  Texteinheit  darstellt,  oder ob auch der folgende Abschnitt in V 11‐15* noch zum Ausgangs‐ text zu ziehen ist. Zwar scheint die Sammlungsverheißung in V 11‐15*  auf  die  Situation  der  Zerstreuung  zu  antworten,  aber  die  literarische  Zäsur in V 11 sowie der Genuswechsel im Suffixgebrauch bei ‫צאן‬ spre‐ chen dagegen, hier die ursprüngliche Fortsetzung der Grundschicht zu  sehen.  Auch  wenn  ‫צאן‬  als  Metapher  für  das  Volk  ein  Kollektivbegriff  ist,  für  den  beide  Genera  belegt  sind, 57  so  ist  doch  kaum  vorstellbar,  dass ein und derselbe Autor in der Mitte seines Textes das Genus des  Leitwortes wechselt. Es liegt näher, den Wechsel in Kap. 34 mit einem  redaktionellen  Übergang  zu  erklären,  durch  den  das  Bild  der  Herde  auf das Volk durchsichtig gemacht wird.58   Darüber hinaus sind Zweifel daran angebracht, ob die Sammlungs‐ verheißung in V 11‐15* wirklich auf dieselbe Situation bezogen ist wie  die Zerstreuung der Schafe in V 1f.5f. Die Rückführungsansage in V 13  sieht eindeutig die Sammlung der weltweiten Diaspora vor, wie an der  Verwendung  der  für  den  „neuen  Exodus“  typischen  Begriffe  wie  ‫יצא‬                                 57  Nach  JOÜON/MURAOKA,  Grammar,  §134d,  wird  ‫צאן‬  normalerweise  feminin  ge‐ braucht, kann aber gelegentlich auch maskulin verstanden werden.  58  So auch HOSSFELD, Untersuchungen, 242, der aufgrund des Suffixgebrauches V 11‐15  von  seiner Grundschicht in V 1f.9f. abtrennt, und auch V 14b mit seinen femininen  Formen  als  Zusatz  innerhalb  von  V  11‐15  bestimmt.  WILLMES,  Hirtenallegorie,  213,  nimmt  die  Beobachtungen  hinsichtlich  des  Genusgebrauches  dagegen  zum  Anlass,  zwei  Texte  zu  rekonstruieren,  in  denen  ‫צאן‬  einmal  maskulin  und  einmal  feminin  aufgefasst  wird.  Es  ist allerdings fraglich, ob der Genuswechsel das alleinige Krite‐ rium der literarkritischen Analyse sein sollte; vgl. dazu auch die Kritik an WILLMESʹ  Vorgehen bei KRÜGER, Geschichtskonzepte, 450f. 

 

Das Hirtenkapitel Ez 34 

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hif., ‫קבץ מן הארצות‬ und ‫בוא‬ hif. gezeigt werden kann.59 In 34,6 ist dagegen  davon  die  Rede,  dass  die  Schafe  „auf  allen  Bergen  (‫)בכל־ההרים‬,  auf  jedem  hohen  Hügel  (‫)על כל־גבעה רמה‬  und  über  das  ganze  Land  hin  (‫על‬ ‫“)כל־פני הארץ‬  zerstreut  sind.  Die  Formulierung  ‫הארץ‬  steht  im  Ezechiel‐ buch  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Belege  für  das  Land  Israel,  während  sie  nur  an  wenigen  Stellen  die  Erde  insgesamt  bezeichnet.60  Die Lemmata ‫הר‬ und ‫גבעה‬ finden sich darüber hinaus in Ez 6,3.13; 36,4.6  in der Beschreibung des Landes Israel, so dass zu überlegen ist, ob die  Zerstreuung in 34,6 für eine Situation der Orientierungslosigkeit steht,  die zwar auf das Exil übertragen werden kann, in erster Linie aber die  Lage im Land selbst beschreibt (vgl. 1 Kön 22,17).61 Die Beobachtungen  sprechen dafür, in V 11‐15* eine erste Fortschreibung der Grundschicht  zu  sehen,  in  der  die  Blickrichtung  von  der  Absetzung  der  schlechten  Hirten zur Heimführung der weltweiten Diaspora verschoben wird.  Wird  nach  dem  redaktionellen  und  historischen  Ort  des  Grund‐ wortes in 34,1‐10* gefragt, so ist zuerst zu überlegen, wer die schlech‐ ten Hirten sind, denen Jhwhs Gericht gilt. Die nähere Bestimmung als  Hirten „Israels“ zeigt zuerst an, dass ihnen eine besondere Aufgabe am  Gottesvolk  obliegt,  wobei  die  mit  ‫ישׂראל‬  gebildete  constructus‐Verbin‐ dung auch ein sprachliches Spezifikum des Buches darstellt.62 Näheren  Aufschluss gibt die Metapher des Hirten und seiner Herde, die in der  Königsideologie  des  Alten  Orients  ein  gebräuchliches  Bild  für  den  Herrscher ist, der als Hirte über sein Volk wacht.63 So kann der Hirten‐ titel  zur  Bezeichnung  des  Königs  werden,  aber  auch  als  Titulatur  für  andere Führer des Volkes gebraucht werden, die vom göttlichen Hirten                                 59  Vgl.  HOSSFELD,  Untersuchungen,  263.309‐314;  zu  einem  Überblick  über  die  Samm‐ lungsaussagen in den heilsprophetischen Texten des Ezechielbuches vgl. u. Kap. III.  3.3.  60  Zu  ‫הארץ‬  als  Bezeichnung  für  Israel  vgl.  Ez  6,14;  7,2.7.23.27;  8,12.17;  9,9;  11,15;  12,6.12.19.20;  14,15.16.17.19;  15,8;  17,5.13;  22,29.30;  23,48;  33,24.25.26.28.29;  34,13.  25.27.28(?).29;  35,14;  36,18.34.35;  38,9.16;  39,12.13.14.15.16;  45,1.4.8.16.22;  46,3.9;  47,13,14,15;  47,21;  48,12.29.  Als  Terminus  für  die  ganze  Erde  findet  sich  ‫הארץ‬  in  Ez  28,18; 29,6; 31,12; 34,28(?); 38,12.  61  Vgl.  auch  ZIMMERLI,  BK,  838,  der  von  einer  „Doppelsinnigkeit  des  ‘Zerstreutwer‐ dens’“  spricht,  das  sowohl  auf  den  Horizont  des  Landes  Kanaan  wie  auch  auf  die  Exilswirklichkeit verweise.  62  Im Ezechielbuch tritt  ‫ישׂראל‬ in einer Reihe von constructus‐Verbindungen auf, die im  Alten Testament sonst nicht belegt sind. Vgl. dazu insgesamt ZIMMERLI, Israel, 75‐90,  nach  dem  hier  eine  Ausrichtung  der  Verkündigung  auf  die  „Gesamtgrösse  Israel“  vorliegt (DERS., a.a.O., 80).  63  Vgl.  dazu  WALLIS,  Art.  ‫ ָר ָעה‬,  570‐572;  SEUX,  Épithètes,  244‐250.441‐446;  KEEL,  Welt,  208f.;  WILLMES,  Hirtenallegorie,  425‐436,  und  HUNZIKER‐RODEWALD,  Hirt,  16‐38.  Siehe ferner J. SEIBERT, Hirt – Herde – König. Zur Herausbildung des Königtums in  Mesopotamien,  Berlin  1969,  und  D.  MÜLLER,  Der  gute  Hirte.  Ein  Beitrag  zur  Ge‐ schichte ägyptischer Bildrede, ZÄS 86, 1961, 126‐144. 

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

mit  dem  Weiden  der  Herde  beauftragt  werden.64  In  dieser  Form  lässt  sich die Verwendung der Hirtenmetapher auch für das Alte Testament  belegen.65  Allerdings  ist  es  gerade  in  Bezug  auf  Ez  34  schwer  zu  ent‐ scheiden,  welche  Herrschaftsgruppe  im  Bild  der  schlechten  Hirten  angeklagt wird. Die weithin übliche Deutung, nach der der Weheruf in  Ez  34  gegen  die  Könige  Judas  bzw.  ein  vorexilisches  Führungskolle‐ gium  gerichtet  sei,66  die  mit  ihrem  Fehlverhalten  das  Exil  verschuldet  hätten, bringt einige Schwierigkeiten mit sich. Der historischen Fiktion  des Buches nach ist das Hirtenkapitel zeitlich nach dem Fall der Stadt  Jerusalem anzusetzen, so dass eine Situation nach der Katastrophe von  587  v.  Chr.  im  Blick  ist.67  Es  kann  auch  kein  Rückblick  vorliegen,  da  sich  die  schlechten  Hirten  mit  dem  Nicht‐Weiden  der  Herde  eines  gegenwärtigen  Vergehens  schuldig  machen;  sie  könnten  ja,  wenn  sie  nur  wollten.  Hinter  den  Hirten  Israels  ist  deshalb  eine  Gruppe  von  Führungsinstanzen  in  nachstaatlicher  Zeit  zu  vermuten,  die  für  den  desolaten Zustand des Volkes im Land („Zerstreuung“) verantwortlich  sind.  Dies  passt  auch  mit  der  zuvor  gemachten  Beobachtung  zusam‐ men,  dass  die  Zerstreuung  der  Schafe  in  34,6  die  Situation  im  Land  beschreiben könnte, die erst in 34,11‐15* eine nachträgliche Auslegung  auf die weltweite Diaspora erfahren hat.   Diese Führungsinstanzen müssen aber nicht unbedingt im Bereich  der  Restbevölkerung  im  Land  gesehen  werden,68  wie  sich  das  von  Jes  56,10‐12 her nahe legen würde, sondern es ist auch die Möglichkeit in  Betracht  zu  ziehen,  dass  es  sich  hierbei  um  Fremdherren  wie  Könige,  Satrapen,  Provinzstatthalter  u.ä.  handeln  könnte.  Seit  dem  Ende  des                                 64  Vgl.  z.  B.  die  Selbstvorstellung  Hammurapis  als  von  den  Göttern  bestellter  Hirte:  „Ich  Hammurapi,  der  von  Enlil  berufene  Hirte  ...“  (Prolog  des  Hammurapi‐Codex,  vgl. BORGER, Codex, 40).  65  Vgl. dazu HAMP, Hirtenmotiv, 7‐20; SCHOTTROFF, Psalm 23, 86‐92; WILLMES, Hirten‐ allegorie, 277‐350, und HUNZIKER‐RODEWALD, Hirt, 43‐72.  66  An  die  Könige  Judas  denken  SMEND,  KEH,  273;  HÖLSCHER,  Hesekiel,  169;  ALLEN,  WBC  29,  161;  BLOCK,  NICOT  II,  282,  und  GREENBERG,  AncB,  694f.,  während  EICH‐ RODT,  ATD,  327,  den  Bezug  auf  vorexilische  „führende  Kreise  in  Juda“  sieht;  vgl.  auch  FOHRER,  HAT,  192:  „die  regierenden  Schichten  Judas  in  der  Gegenwart  Ezʹs,  einschließlich  Zedekias“.  ZIMMERLI,  BK,  834.836,  und  HOSSFELD,  Untersuchungen,  254, sprechen allgemein von der politischen Führerschaft, ohne eine zeitliche Einord‐ nung vorzunehmen.  67  Vgl.  Ez  33,21f.  Selbst  wenn  Ez  34  diesen  Text  noch  nicht  voraussetzen  sollte,  wird  der Fall der Stadt in den Fremdvölkerworten bereits als geschehen dargestellt, da die  umliegenden  Nachbarn  Israels  mit  Spott  auf  das  Ereignis  reagieren  (vgl.  Ez  25,1‐ 26,6).  68  So POHLMANN, ATD, 464, der in den Hirten Israels Führer im Bereich der Restbevöl‐ kerung nach den Ereignissen um 587 v. Chr. sieht. Da er von einer Grundschicht im  Bereich von V 1‐16 ausgeht, muss er die Vorwürfe an die Hirten so weit fassen, dass  diese das Volk letztendlich in die Diaspora treiben (vgl. POHLMANN, a.a.O., 465). 

 

Das Hirtenkapitel Ez 34 

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Exils  stand  Juda  sowohl  in  der  persischen  als  auch  in  der  hellenisti‐ schen Epoche unter andauernder Fremdherrschaft, gegen die ebenso in  Sach 10,3 und 11,4 mit dem Bild der Hirten polemisiert wird. Insbeson‐ dere ein Indiz könnte für diese Deutung sprechen: In V 10 droht Jhwh  den Hirten als Strafe für die unterlassene Hirtenschaft an, dass er seine  Herde ihrem Rachen (‫)מפיהם‬ entreißen wird (‫נצל‬ hif.), so dass sie ihnen  nicht  mehr  zum  Fraß  (‫)לאכלה‬  werden  wird.  ‫נצל‬  hif.  wird  an  einigen  Stellen  im  Alten  Testament  für  die  Befreiung  aus  der  Hand  von  (Fremdvölker)‐Feinden gebraucht.69 Das Verb ‫אכל‬ kann dagegen für das  feindliche Verhalten der Völker gebraucht werden, die Israel bzw. sein  Land fressen.70 Hier ist insbesondere Jer 50,17 zu nennen, wo Israel mit  einem versprengten Schaf verglichen wird, das zuerst vom König von  Assur  gefressen  wird  (‫)אכל‬,  ehe  Nebukadnezar  ihm  die  Knochen  abnagt. Schließlich wird auch im unmittelbaren literarischen Kontext in  Ez  35,12  in  identischer  Formulierung  von  Seir/Edom  gesagt,  dass  es  sich  die  Berge  Israels  zum Fraß (‫)לאכלה‬ genommen habe.71 Vor diesem  Hintergrund  liegt  es  nahe,  das  Bild  in  Ez  34,10  als  Metapher  für  die  Befreiung des Volkes aus der Fremdherrschaft zu deuten, vor allem da  den Hirten auch keine Bestrafung angesagt wird, sondern sie allein die  Zuständigkeit über das Volk verlieren. Zwar wird die Frage nicht mit  letzter  Sicherheit  zu  beantworten  sein,  aber  für  die  weitere  Analyse  wird hier vorgeschlagen, hinter den Hirten in Ez 34 Fremdvölkerherr‐ scher oder vielleicht auch von ihnen ermächtigte Israeliten zu sehen.  Dann  bleibt  allerdings  noch  zu  überlegen,  wer  die  „Tiere  des  Fel‐ des“  sind,  denen  die  Schafe  in  Ez  34,8  in  ähnlicher  Weise  wie  den  schlechten  Hirten  zum  Fraß  (‫)לאכלה‬  werden.  Zwei  Möglichkeiten  sind  denkbar:  Die  parallele  Stellung  dieses  Schicksals  zu  dem  Verhängnis  der  Schafe,  „zum  Raub“  (‫לבז‬,  34,8)  zu  werden,  könnte  zuerst  für  eine  rein metaphorische Deutung sprechen, bei der das Zugrundegehen des  Volkes  in  unterschiedlichen  Bildern  geschildert  wird.  Ebenso  ist  aber  denkbar,  dass  es  sich  auch  bei  den  „Tieren  des  Feldes“  um  verschie‐ dene  fremde  Völker  handelt,  die  die  Nachlässigkeit  der  schlechten  Hirten  ausnutzen,  um  Territorium  und  Bevölkerung  Israels  zu  dezi‐ mieren.                                  69  Vgl.  von  Feinden  allgemein  Ri  8,34;  1  Sam  12,10f.;  2  Kön  17,39;  Ps  31,16;  von  den  Ägyptern Ex 3,8; Ri 6,9; von den Philistern 1 Sam 7,3; aus der Hand Babels Jer 42,11;  siehe dazu insgesamt HOSSFELD/KALTHOFF, Art. ‫נצל‬, 572‐577. Im Ezechielbuch findet  sich ‫נצל‬ hif. mit dem Volk als Objekt auch in 13,21.23, wo Jhwh ansagt, dass er sein  Volk vor den schlechten Prophetinnen retten wird; evtl. ist diese Rettungsaussage in  34,10 aufgenommen worden; vgl. dazu u. Kap. IV. 2.3.  70  Vgl. dazu Jes 1,7; Jer 8,16; 10,25; 50,7; 51,34; Ps 79,7.  71  Zum  literarischen  Verhältnis  von  Ez  35,1‐15*  und  34,1‐10*  vgl.  u.  Kap.  III.  7.3.  und  IV. 2.1.3.2. 

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

Die  Analyse  ist  damit  zu  dem  Ergebnis  gekommen,  dass  die  Grundlage  des  Textwachstums  im  Hirtenkapitel  mit  dem  Bildwort  in  V 1f.5f.9f.  (34,1‐10*)  vorliegt,  in dem Jhwh den Fremdvölkerhirten das  Gericht  ansagt  und  verkündet,  dass  er  sein  Volk  ihrer  Herrschaft  im  Land  entreißen  wird.  Dieses  Bild  ist  allerdings  auch  auf  die  Lage  der  Diaspora  übertragbar,  in  der  sich  das  Volk  generell  unter  der  Fremd‐ herrschaft  befindet.  Konsequenterweise  wird  das  Eintreten  Jhwhs  für  sein Volk in V 11.13.15 (34,11‐15*) deshalb sekundär auf die Heimfüh‐ rung  der  Diaspora  ausgelegt,  die  er  aus  der  Zerstreuung  in  den  Län‐ dern retten wird. Weitere Fortschreibungen liegen mit der Verheißung  des  davidischen  Hirten  (V 23f.*),  des  Heilsbundes  (V  25‐30)  und  der  Ankündigung  des  Gerichtes  unter  den  Schafen  (V  17‐22)  vor.  Da  ins‐ besondere  das  Grundwort  des  Hirtenkapitels  und  seine  ersten  Fort‐ schreibungen  literarische  Berührungen  mit  Jer  23,1‐8  aufweisen,  ist  zuerst  die  vergleichende  Analyse  mit  dem  Jeremiatext  anzuschließen,  ehe das weitere literarische Wachstum in Ez 34 in den Blick genommen  wird.  Auf  diese  Weise  können  nicht  nur  zusätzliche  Informationen  zum  historischen  Ort  und  der  Aussageintention  von  Ez  34  gewonnen  werden,  sondern  es  kann  auch  aufgezeigt  werden,  in  welcher  Form  innerbiblische  Auslegungsvorgänge  das  literarische  Wachstum  des  Kapitels beeinflusst haben. 

3. Innerbiblische Auslegung in Ez 34  3.1. Das Wort gegen die Könige Jer 23,1‐8  3.1.1. Übersetzung  1  Wehe den Hirten, die die Schafe meiner72 Weide zugrunde richten  und zerstreuen, Spruch Jhwhs.73 2  Darum, so spricht Jhwh, der Gott Israels, über die Hirten, die mein  Volk  weiden:74  Ihr  habt  meine  Schafe  zerstreut  und  sie  vertrieben.                                 72  Vaticanus und Sinaiticus (vgl. auch Codex Wirceburgensis) bieten anstelle des Suffixes  1. Pers. sg. den Genitiv des Personalpronomens 3. Pers. pl. (th/j nomh/j auvtw/n) und be‐ ziehen  ‫מערית‬  auf  die  Hirten.  Die  Variante  des  MT  ist  lectio  difficilior,  während  die  Textvarianten  der  LXX  als  Versuch  erklärt  werden  können,  den  Text  zu  verein‐ fachen. Dies geschieht evtl. in Angleichung an Jer 10,21 und 25,36, wo ‫מרעית‬ jeweils  mit  Bezug  auf  die  Hirten  gebraucht  wird;  das  Lemma  ist  überhaupt  nur  an  diesen  drei Stellen im Jeremiabuch belegt. LUNDBOM, AncB, 167, und DRINKARD, WBC, 324,  ziehen  die  MT‐Lesart  vor,  während  RUDOLPH,  HAT,  124;  MCKANE,  ICC,  554,  und  HUNZIKER‐RODEWALD, Hirt, 73f., den LXX‐Text übernehmen.  73  LXX*  lässt  die  Spruchformel  am  Ende  des  Verses  aus,  vgl.  auch  V  2.  Dies  ist  als  Glättung zu erklären. 

 

Innerbiblische Auslegung in Ez 34 

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Und  ihr  habt  nicht  nach  ihnen  gesehen.  Siehe,  ich  werde  an  euch  die Bosheit eurer Taten heimsuchen, Spruch Jhwhs.   Und ich selbst sammele den Überrest meiner Herde aus allen Län‐ dern, wohin ich sie vertrieben habe. Und ich werde sie zurückbrin‐ gen  zu  ihrem  Weideplatz, und sie werden fruchtbar sein und sich  vermehren.  Und  ich  werde  Hirten  bestellen  über  sie  und  die  werden  sie  wei‐ den.  Und  sie  werden  sich  nicht  mehr  fürchten  und  nicht  mehr  erschrecken und nicht mehr vermisst werden,75 Spruch Jhwhs.  Siehe, Tage kommen, Spruch Jhwhs, da werde ich dem David einen  rechtmäßigen76 Spross erstehen lassen. Und er wird als König herr‐ schen und einsichtig handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im  Land.   In  seinen  Tagen  wird  Juda  gerettet  werden  und  Israel77  in  Sicher‐ heit  wohnen.  Und  dies  ist  sein  Name,  mit  dem  man  ihn  rufen  wird:78 Jhwh, unsere Gerechtigkeit.79 Deshalb  siehe,  Tage  kommen,  Spruch  Jhwhs,  da  sagen  sie  nicht  mehr:  So  wahr  Jhwh  lebt,  der  die  Israeliten  aus  Ägypten  herauf‐ geführt hat, 









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                               74  LXX bietet evpi. tou.j poimai,nontaj to.n lao,n mou und lässt wohl in Folge von Haplogra‐ phie das erste ‫הרעים‬ aus.  75   ‫ולא יפקדו‬ fehlt in LXX*; Vulgata übersetzt sinngemäß et nullus quaeretur ex numero. Das  Vorkommen  des  Leitwortes  ‫פקד‬  kann  hier  aber  als  strukturelle  Parallele  zu  ‫פקד‬  in  V 2a.b gesehen werden, so dass am MT festzuhalten ist. 76  Sowohl  Peschitta  als  auch  Targum  gehen  von  einer  nominalen  Lesung  ‫ ֶצ ֶדק‬  anstelle  des Adjektivs  ‫ ַצ ִדּיק‬ aus. Dahinter kann der nachträgliche Einfluss durch das  ‫ ֶצ ַמח ְצ ָד ָקה‬  der  Parallele  Jer  33,15f.  vermutet  werden.  Zur  Übersetzung  von  ‫צדיק‬  im  Sinne  von  „rechtmäßig“ vgl. HALAT, 940. Zur Diskussion vgl. u. Kap. III. 5.5.3.3.  77  Der Codex Sinaiticus bietet für  ‫וישׁראל‬ die Variante kai.  Ierousalhm. Diese Lesart ist wie  schon die Variante in V 5 (vgl. Anm. 76) mit einer Beeinflussung durch die Parallele  in Jer 33,15f. zu erklären, wo Juda und Jerusalem nebeneinander gestellt werden.  78  Anstelle  von  ‫יִ ְק ְראוֹ‬  bieten  wenige  Ausgaben  die Verbform 3. Pers. pl.  ‫יִ ְק ְראוּ‬. Targum,  Vulgata  und  die  Versio  Arabica  lesen  3.  Pers.  pl.  mit  Suffix  3.  Pers.  mask.  sg.  Nach  GesK §60c, ist die ungewöhnliche MT‐Form als forma mixta zu erklären, die als lectio  difficilior beizubehalten ist (so mit MCKANE, ICC, 563). Die Varianten verdeutlichen  den Kollektivbezug, der im MT in Form der unpersönlichen 3. Pers. sg. angelegt ist.  79  LXX  übersetzt  den  Namen  als  Iwsedek;  Symmachus  hat  dikai,wson h`ma/j;  vgl.  auch  Targum und Vulgata (iustus noster).   80  V 7f. sind in der LXX am Ende des Kapitels nach 23,40 eingeordnet. In textkritischer  Sicht  spricht  einiges  dafür,  dass  die  LXX  die  ursprüngliche  Stellung  der  Verse  7f.  bewahrt hat. Denn die fehlerhafte Zuordnung von evn toi/j profh,taij (‫לנבאים‬, MT V 9)  zu  V  6  in  LXX  (vgl.  ZIEGLER,  LXX  Jeremias,  263)  ist  nur  so  zu  erklären,  dass  der  Übersetzer eine hebräische Vorlage hatte, in der V 9 direkt auf V 6 folgte, und V 7f.  noch nicht an dieser Stelle eingefügt waren (so auch MCKANE, ICC, 566). Vgl. dazu  die redaktionsgeschichtliche Diskussion in Kap. II. 3.1.2. 

 

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8  sondern: So wahr Jhwh lebt, der die Nachkommenschaft des Hau‐ ses  Israels  heraufgeführt  und  zurückgebracht  hat81  aus  dem  Land  des  Nordens  und  aus  all  den  Ländern,  wohin  ich  sie  vertrieben  hatte.82 Und sie sollen auf ihrem Land wohnen.  3.1.2. Textanalyse  Jer 23,1‐8 steht am Ende der Sammlung von Worten gegen die Könige  Judas  in  Jer  21,11‐23,8.83  Es  wird  im  Allgemeinen  angenommen,  dass  der  Text  aus  den  drei  kleinen  Einheiten  V  1‐4.5f.7f.  zusammengesetzt  ist.  Uneinigkeit  herrscht  dagegen  in  den  Fragen,  ob  auch  die  V 1‐4  bereits  das  Produkt  eines  mehrstufigen  Wachstums  sind84  und  inwie‐ weit  die  Verse  auf  den  historischen  Propheten  Jeremia  zurückgeführt  werden können.85   Ausgangspunkt  des  literarischen  Textwachstums  ist  unbestreitbar  der Weheruf gegen die schlechten Hirten in Jer 23,1, der auf die Klage  Jer  10,21  zurückgeht,86  und  mit  einer  Gottesspruchformel  abgeschlos‐ sen  wird.  Aufgrund  des  Neueinsatzes  durch  ‫לכן‬  und  die  Botenformel  ist in V 2 eine erste Fortschreibung zu sehen, die den Vorwurf ergänzt,  dass  die  Hirten  nicht  nach  der  Herde  gesehen  haben,  und  ihnen  die  Heimsuchung  durch  Jhwh  androht.  Abgesehen  von  der  kurzen  Notiz  in Jer 22,22 ist in den Worten gegen die Könige Judas ansonsten nicht  von den Hirten die Rede. Wie aber die vorangehende Analyse im Hir‐ tenkapitel  Ez  34  gezeigt  hat,  ist  die  Verwendung  des  Hirtentitels  für  den König und andere Führungspersönlichkeiten im Alten Orient wie  auch im Alten Testament belegt. Aus der Kontextstellung von Jer 23,1f.  am Ende der Worte gegen die Könige Judas kann deshalb geschlossen  werden,  dass  sich  die  Gerichtsworte  auf  eben  diese  Könige  (und  evtl.  weitere  Führer  des  Volkes)  beziehen.  Sie  sind  an  ihrem  göttlichen                                 81  LXX* lässt wohl durch Haplographie ‫העלה ואשׁר‬ aus (so mit LUNDBOM, AncB, 177).  82  LXX bietet eine Verbform 3. Pers. sg (‫) ִה ִדּי ָחם‬ anstelle der 1. Pers. sg. im MT (‫) ִה ַד ְח ִתים‬.  Die  Variante  kann  als  Angleichung  an  den  Schwursatz  in  der  ersten  Vershälfte  erklärt  werden,  während  der  MT  die  lectio  difficilior  bietet.  Evtl.  liegt  auch  Einfluss  der Parallele in Jer 16,15 vor, auf den auch die Ersetzung der Wohnungsaussage in  V 8b durch kai. avpekate,sthsen auvtou.j zurückgeführt werden kann.  83  Zu dieser Abgrenzung vgl. HERMISSON, „Königsspruch“‐Sammlung, 296‐299.  84  So  z.  B.  LEVIN,  Verheißung,  188‐190,  der  einen  vierstufigen  Fortschreibungsprozess  des  Weherufes  Jer  23,1  annimmt;  vgl.  auch  MCKANE,  ICC,  555‐559.  Dagegen  argu‐ mentieren  THIEL,  Redaktion  I,  246‐248,  und  HUNZIKER‐RODEWALD,  Hirt,  74‐78,  zu‐ gunsten der Einheitlichkeit der V 1‐4.  85  So nimmt LUNDBOM, AncB, 164ff., die Verfasserschaft des Propheten für alle Orakel  in  Jer  23,1‐8  an.  Vgl.  auch  RUDOLPH,  HAT,  125,  der  V1f.4‐6  auf  den  Propheten  zu‐ rückführt.  86  So mit THIEL, Redaktion I, 247, und LEVIN, Verheißung, 188. 

 

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Auftrag, das Volk zu weiden, gescheitert und werden der Zerstreuung  und  der  Vernachlässigung  der  Herde  beschuldigt.87  Das  erweiterte  Grundwort  in  Jer  23,1.2  hat  damit  eindeutig  die  politischen  Verhält‐ nisse im vorexilischen Juda vor Augen, die schließlich zum Exil geführt  haben.88 An  dieses  Gerichtswort  in  Jer  23,1.2  haben  sich  die  drei  heilspro‐ phetischen  Fortschreibungen  in  V  3f.;  V  5f.  und  V  7f.  angeschlossen.  Die  V 3f.  greifen  erneut  das  Thema  der  zerstreuten  Herde  auf,  aller‐ dings  sind  hier  nicht  die  Hirten  die  Verantwortlichen,  sondern  Jhwh  selbst hat nach V 3 die Schafe vertrieben. Er kündigt ihre Sammlung an  und  will  Hirten  über  sie  bestellen  (‫קום‬  hif.),  die  die  Herde  weiden  sollen.  In  diesen  Versen  wird  das  Bild  der  zerstreuten  Herde  auf  die  Zerstreuung  der  Diaspora  durch  Jhwh  übertragen  (‫)קבץ מכל הארצות‬,  wobei  aber  die  Frage  offen  bleibt,  ob  sie  nur  die  babylonische  Gola  oder  schon  eine  weltweite  Diaspora  im  Blick  haben.89  Eine  erneute  Gottesspruchformel schließt die so erweiterte Einheit V 1‐4 ab.  Die  folgenden  V  5f.  geben  sich  dadurch  als  Fortschreibung  zu  er‐ kennen,  dass  die  Verheißung  des  davidischen  Sprosses  durch  die  parallele  Konstruktion  mit  ‫קום‬  hif.  auf  die  Bestellung  neuer  Hirten  in  V 3f. bezogen ist. Durch diese Wiederaufnahme tritt der Spross an die  Stelle  der  Hirtengruppe,  so  dass  V  3f.  in  V  5f.  eine  Auslegung  erfah‐ ren.90  Als  das  letzte  Glied  der  Fortschreibungskette  können  die  V 7f.  angesehen  werden,  in  denen  die  Sammlungsverheißung  der  Diaspora  als  Überbietung  des  Exodus  nachgetragen  wird.  Sie  zeigen  bereits  durch die Wiederaufnahme der Einleitungsformel aus V 5 ‫הנה ימים באים‬ ‫נאם־יהוה‬ (vgl. V 7) und das rückbezügliche ‫לכן‬, dass sie nicht auf dersel‐ ben  literarischen  Ebene  einzuordnen  sind  wie  die  vorausgehenden  V 5f. Vor allem aber geben sie sich dadurch als jüngster Nachtrag der  Perikope zu erkennen, dass sie in der LXX am Ende von Kap. 23 einge‐ ordnet  sind,  wo  nach  dem  textkritischen  Urteil  ihre  ursprüngliche  Position  ist.91  Darüber  hinaus  findet  die  Textdifferenz  zwischen  MT                                 87  So u.a. mit ZIMMERLI, BK, 835; LUNDBOM, AncB, 167; MCKANE, ICC, 555.   88  Vgl. LEVIN, Verheißung, 188, und SCHMID, Buchgestalten, 273f. Letzterer führt aller‐ dings nur Jer 23,1 an, während er in 23,3f. die Situation des Exils vorausgesetzt sieht;  23,2 bleibt dabei unerwähnt.  89  Für  die  babylonische  Gola  spricht  sich  SCHMID,  Buchgestalten,  273f.,  aus,  während  LEVIN, Verheißung, 188, dafür votiert, dass die Sammlung in V 3f. auf die „Diaspora  ‘aus allen Ländern’“ bezogen ist.  90  Nach SCHMID, Buchgestalten, 273, Anm. 342f., handelt es sich bei Jer 23,5f. um eine  „Verdeutlichung“, die dem Missverständnis wehren wolle, „23,4 könnte auch frem‐ de Herrscher meinen“. Da der eine Davidide in V 5 aber an die Stellen der Hirten‐ gruppe  (pl.!)  tritt,  liegt  m.  E.  nicht  nur  eine  Verdeutlichung  vor,  sondern  eine  von  V 3f. divergierende Herrscherkonzeption.  91  Vgl. dazu o. Anm. 80. 

 

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und LXX auch eine redaktionsgeschichtliche Erklärung. So hat SCHMID  darauf  hingewiesen,  dass  die  Verse  an  ihrem  ursprünglichen  Ort  am  Ende  des  Kapitels  die  golaorientierte  Passage  Jer  24,1‐10  korrigieren  sollen. Erst im Zuge einer Überarbeitung nach Gabelung der Textüber‐ lieferung sei die Diasporaverheißung mit der Restauration der Davids‐ dynastie verbunden und die Verse 7f. an ihren jetzigen Ort hinter 23,5f.  gestellt worden.92 Auffällig ist weiterhin, dass auch in Jer 23,1‐8 einige Unsicherheiten  bezüglich  des Genusgebrauches von ‫צאן‬ zu notieren sind: Während in  V 2.3a eine männliche Bezugsgruppe im Blick ist, deuten die Suffixe in  V 3b auf ein weibliches Verständnis von ‫צאן‬ hin. Wenn man V 3b nicht  als nachträgliche Einfügung ausscheiden will, wofür außer des Suffix‐ wechsels  wenig  spricht,  bleibt  nur  die  Erklärung,  dass  auch  an  dieser  Stelle das Bild der Herde auf das Volk durchsichtig gemacht wird.93 Die Ergebnisse der Textanalyse können damit wie folgt zusammen‐ gefasst  werden:  Nucleus  des  literarischen  Textwachstums  in  Jer  23,1‐8  ist das Wehewort gegen die Hirten Israels in V 1, das zuerst in V 2 eine  gerichtsprophetische Fortschreibung erfahren hat. An dieses so zusam‐ mengesetzte Gerichtswort haben sich dann drei heilsprophetische Fort‐ schreibungen  in  den  V  3f.;  V  5f.  und  7f.  angeschlossen.  Im  Zuge  des  Textwachstums  zeigt  sich  eine  theologiegeschichtliche  Abfolge  von  Schuldreflexion (V 2), Diasporaorientierung (V 3f.), politischen Restau‐ rationserwartungen  (V  5f.)  bis  hin  zur  Kombination  von  Davidrestau‐ ration und Heimkehr der Diaspora (V 5‐8). Das Gottesverhältnis wird  in  V  7f.  neu  in  der  Sammlung  der  Diaspora  begründet,  die  als  Über‐ bietung des Exodus dargestellt wird.   3.2. Vergleichende Analyse  Bei  einem  Vergleich  der  beiden  Texte  fallen  sofort  die  zahlreichen  Stichwortverbindungen  zwischen  Jer  23,1‐8  und  Ez  34  ins  Auge.  Auf‐ fällig  ist  zuerst  der  parallele  einleitende  Weheruf  ‫הוי רעים‬  in  Jer  23,1  bzw.  ‫הוי רעי־ישׂראל‬  in  Ez  34,2.  Die  Näherbestimmung  der  Hirten  in  Ez  34,2 als Hirten „Israels“ erklärt sich dabei mit dem spezifischen Sprach‐                                92  Vgl. SCHMID, Buchgestalten, 271.323‐327. Dagegen sieht LEVIN, Verheißung, 189, die  ursprüngliche Position der Verse 7f. in der MT‐Textüberlieferung bewahrt. Die Text‐ differenz erklärt er dadurch, dass die Verse in der LXX sekundär an den Schluss des  Kapitels  gesetzt  wurden,  um  ihm  einen  „heilvollen  Abschluß“  zu  geben  (LEVIN,  a.a.O., 189).  93  So auch DUHM, KHC, 181: „In v. 3a das männliche, in v. 3b weibliche Suffixe, welch  letztere sich auf die Schafe beziehen werden; ...“. Vgl. dazu auch MCKANE, ICC, 556,  und LEVIN, Verheißung, 188. 

 

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gebrauch  des  Buches.94  In  beiden  Texten  findet  sich  des  Weiteren  der  Vorwurf, dass die Hirten für die Zerstreuung der Herde verantwortlich  seien  (Jer  23,1f.  ‫פוץ‬  hif.;  Ez  34,6  ‫פוץ‬  ni.95).  Auch  die  Gerichtsankündi‐ gung „über die Hirten“ (‫על־הרעים‬, Jer 23,2; vgl. ‫אל־הרעים‬, Ez 34,10)96 ist in  beiden Texten in gleicher Weise mit der Konjunktion ‫לכן‬ und der Boten‐ formel eingeleitet. Schließlich deutet auch die parallele Verheißung, die  zerstreute  Herde  aus  den  Ländern  zu  sammeln,  auf  eine  Verbindung  zwischen  den  Texten  hin:  In  Jer  23,3  ist  diese  Verheißung  mit  ‫קבץ‬  pi.,  dem  Objekt  ‫את־שׁארית צאני‬  und  der  Ortsangabe  ‫מכל הארצות‬  gebildet.  Ez  34,13 weicht geringfügig davon ab, indem die genauere Bestimmung ‫כל‬  ausgelassen ist und das Objekt der Sammlung durch das Suffix 3. Pers.  mask. pl. vertreten wird. Außerdem steht vor der Sammlungsansage in  paralleler  Konstruktion  die  Verheißung,  die  Herde  aus  den  Völkern  hinauszuführen (‫מן־העמים‬ ‫והוצאתים‬, Ez 34,13). Die beiden Texte berühren  sich weiterhin darin, dass jeweils die Rückführung der Herde auf ihre  Weide (‫נוה‬, Jer 23,3; Ez 34,14a.14b) vorgesehen ist, die im Hirtenkapitel  allerdings sowohl literarisch als auch redaktionell sekundär gegenüber  der  Rückführung  auf  die  Berge  Israels  (34,13)  ist.  Das  Lemma  ‫נוה‬  ist  über Ez 34,14 hinaus nur noch in Ez 25,5 im Ezechielbuch belegt, wo es  aber nicht für das Land Israel verwendet wird, während es an mehre‐ ren  Stellen  im  Jeremiabuch  vorkommt  (vgl.  Jer  9,9;  23,10;  25,30;  31,23;  33,12; 49,19.20; 50,7.19.44.45).  Darüber  hinaus  findet  sich  sowohl  im  Jeremiatext  als  auch  in  der  Ezechielperikope  die  mit  ‫קום על‬  hif.  gebildete  Bestellung  eines  bzw.  mehrerer  Hirten  über  die  Herde.  Dabei  konkurrieren  in  Jer  23  zwei  Aussagen miteinander: Während in Jer 23,3f. mehrere Hirten angekün‐ digt werden, die die Schafe weiden sollen, wird auf der späteren litera‐ rischen  Ebene  V  5f.  ein  rechtmäßiger  Spross  aus  Davids  Geschlecht  verheißen, ohne dass weiter auf die Hirtenmetapher Bezug genommen  wird.  Ez  34,23f.  „überrascht  demgegenüber  durch  die  Ankündigung,  daß  David  selber  der  kommende  gute  Hirte  sein  werde.“ 97  Auf  den  ersten Blick scheint Ez 34,23f. damit eine Kombination der beiden jere‐ mianischen  Wachstumsstufen  zu  bieten,  da die Hirtenverheißung von  Jer  23,4  mit  der  Davidverheißung  von  Jer  23,5  verbunden  ist.  Jedoch  wird kein rechtmäßiger Davidspross (‫)צמח צדיק‬ erwartet, der als König  herrscht, sondern im Ezechielbuch ist von David als „Fürst“ (‫)נשׂיא‬ und  „Knecht“  (‫)עבד‬  die  Rede.  Darüber  hinaus  fehlt  in  Ez  34  jegliche  Kon‐                                94  Vgl. dazu o. Kap. II. 2.2.  95  ‫פוץ‬ hif. findet sich ferner in Ez 34,21, wo es allerdings für die Zerstreuung der schwa‐ chen Schafe durch die starken Tiere gebraucht wird.   96  Zur Vertauschung von ‫אל‬ und ‫על‬ im Ezechielbuch vgl. o. Anm. 15.  97  ZIMMERLI, BK, 842. 

 

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kretion der Art und Weise, wie David seine Hirtenschaft ausüben soll,  während  in  Jer  23,5  die  Herrschertätigkeit  des  rechtmäßigen  Sprosses  durch  die  Trias  ‫מלך‬,  ‫שׂכל‬  hif.  und  ‫עשׂה משׁפט וצדקה‬  näher  bestimmt  wird.  Das Attribut  ‫במשׁפט‬ kennzeichnet allerdings in Ez 34,16 die Hirtentätig‐ keit Jhwhs.   Die folgenden Stichwortverbindungen sind weitere Indizien dafür,  dass  mit  einer  Abhängigkeit  zwischen  Jer  23,1‐8  und  Ez  34  gerechnet  werden  kann:  So  enthalten  beide  Texte  die  Zusage  des  sicheren  Woh‐ nens  (‫)לבטח‬  im  Land:  In  Jer  23,6  ist  diese  Verheißung  Folge  der  Herr‐ schaft  des  Davidsprosses;  in  Ez  34,25‐30  taucht  die  Formulierung  als  Leitwort auf, um das Bild vom heilvollen Leben im Land auszumalen.  Hingegen ist sie dort wie sonst auch im Ezechielbuch mit  ‫ישׁב‬ konstru‐ iert (vgl. Ez 28,26bis; 38,8.11; 39,6.26) und nicht mit jeremianischem ‫שׁכן‬.  Schließlich scheint eine besondere Verbindung zwischen Jer 23,1f. und  Ez  34,4.16  zu  bestehen,  wie  die  parallele  Verwendung  der  Verben  ‫אבד‬  und  ‫נדח‬  (in  verschiedenen  Stämmen)  belegt.  Der  deutlichste  Hinweis  besteht  aber  in  der  seltenen  Verbindung  ‫צאן מרעיתי‬  in  Jer  23,1  und  Ez  34,31, die überhaupt nur an diesen beiden Stellen im Alten Testament  belegt ist.  Der Befund der vergleichenden Analyse zeigt damit eindeutig, dass  von  einer  literarischen  Abhängigkeit  zwischen  Ez  34  und  Jer  23,1‐8  ausgegangen werden kann. Dafür sprechen zuerst die Stichwortverbin‐ dungen,  die  nicht  nur  zahlreich  vorhanden  sind,  sondern  in  vielen  Fällen Schlüsselwörter der beiden Perikopen betreffen, die ansonsten in  den  beiden  Büchern  selten  oder  gar  nicht  belegt sind. Darüber hinaus  ist  auch  die  inhaltliche  und  strukturelle  Nähe  zwischen  den  beiden  Texten  nicht  zu  übersehen.  Ist  demnach  mit  einem  Abhängigkeits‐ verhältnis zu rechnen, so liegt zumindest auf der Ebene der jeweiligen  Grundschichten  in  Jer  23  das  traditum  für  Ez  34  vor. 98  Dies  zeigt  sich                                 98  So  mit  der  überwiegenden  Mehrheit  der  Ausleger.  Zumeist  wird  die  Abhängigkeit  des Grundwortes im Hirtenkapitels auf Jer 23,1f. beschränkt (vgl. HÖLSCHER, Hese‐ kiel, 169; MILLER, Verhältnis, 106; ZIMMERLI, BK, 835.841, und ALLEN, WBC 29, 161).  GARSCHA, Studien, 201f.206, sieht eine literarische Abhängigkeit dagegen nur in Ez  34,4‐8.16.31, wobei seine vergleichende Analyse erheblich von den hier vorgelegten  Ergebnissen  abweicht.  Er  folgert  daraus,  dass  das  bei  ihm  von  Jer  23  unabhängige  Grundwort  Ez  34,1‐3.9‐15.25‐30  erst  in  der  Fortschreibung  durch  V  4‐8.16.31  an  Jer  23,1‐4 angeglichen worden sei (vgl. GARSCHA, a.a.O., 201f.206). Nach LEVIN, Verhei‐ ßung, 219, bildet Jer 23,1‐8 insgesamt die literarische Vorlage von Ez 34. Sein metho‐ disches  Vorgehen  erscheint  allerdings  dadurch  problematisch,  dass  er  die  Grund‐ schicht von Ez 34 mit Hilfe von Jer 23,1‐8 rekonstruiert, wodurch die Abhängigkeit  nicht Ergebnis, sondern Voraussetzung der Analyse ist. Keine Stellungnahme zu den  Nähen zwischen Jer 23 und Ez 34 enthält die Darstellung von POHLMANN, ATD, 459‐ 470, während KRÜGER, Geschichtskonzepte, 453f., lediglich auf die Parallele von Ez  34,23f. in Jer 23,4a verweist, ohne dies aber hinsichtlich eines möglichen literarischen  Verhältnisses  auszuwerten.  HOSSFELD,  Untersuchungen,  256f.,  sieht  zwar  die  Nähe 

 

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vor allem an der Verwendung der Hirtenmetapher. Jer 23 verrät in der  Verwendung des Bildes ein eindeutiges Interesse an den Vergehen der  judäischen  Könige  und  ihrer  Bestrafung  (Jer  23,1f.),  das  auf  den  Kon‐ text  der  jeremianischen  Worte  gegen  die  Könige  verweist.  Darüber  hinaus  kann  der  Text auf Jer 10,21 zurückgreifen, wo die Hirtenmeta‐ pher bereits für die Könige Judas verwendet wird. Im Ezechielbuch ist  die Bestrafung der Hirten dagegen den Heilsverheißungen an die Her‐ de untergeordnet und das Bild des Hirten wird nur noch einmal in Ez  37,24  verwendet,  wobei  es  aber  nahe  liegt,  zumindest  den  dortigen  Gebrauch des Hirtentitels durch Einfluss von Ez 34 zu erklären.99 Mit‐ hin  liegt  die  Vermutung  nahe,  dass  das  Wehewort  gegen  die  Hirten  seinen  ursprünglichen  Ort  im  Jeremiabuch  hat  und  von  dort  über  Jer  23,1‐8* in das Ezechielbuch getragen worden ist.100 Wenngleich die generelle Richtung der Abhängigkeit von Jer 23,1‐8  zu  Ez  34  zu  laufen  scheint,  kann  jedoch  die  Möglichkeit  einer  gegen‐ seitigen  Auslegung  in  einer  späteren  Phase  des  Textwachstums  nicht  ausgeschlossen werden. Deswegen soll im Folgenden versucht werden,  den  literarischen  Auslegungsprozess  zu  rekonstruieren.  Zu  fragen  ist  hier  nach  Integration  und  Neuverständnis  des  literarisch  Vorgege‐ benen  sowie  nach  Absicht  und  Veranlassung  der  Rezeption.  Im  Rah‐ men dieser Fragestellung muss auch die Möglichkeit in Betracht gezo‐ gen  werden,  dass  neben  Jer  23  noch  andere  literarische  Vorlagen  zur  Entstehung von Ez 34 beigetragen haben.   3.3. Rekonstruktion des Auslegungsvorganges  Obwohl  beinahe  jede  literarische  Ebene  von  Ez  34  Stichwortverbin‐ dungen  zu  Jer  23  enthält,  treten  sie  gehäuft  in  der  Grundschicht  und  den beiden Fortschreibungen in Ez 34,11‐15* und 34,23f.* auf, während  Ez 34,17‐22 und 34,25‐30 kaum noch Bezüge zu Jer 23 aufweisen. Um‐ gekehrt  beschränken  sich  die  Querverbindungen  auf  den  Textbestand  von  Jer  23,1‐6,  wobei  insbesondere  die  Differenzen  in  der Verheißung  des davidischen Herrschers noch weiterer Überlegungen bedürfen. Die                                 zur Verwendung des Hirtenbildes im Jeremiabuch, warnt aber vor „einer zu simplen  Konstruktion  von  direkten  Abhängigkeitsverhältnissen“  und  kommt  zu  dem  Schluss, dass Ezechiel eigenständig formuliert habe; vgl. auch GROSS, Hoffnung, 112‐ 114, der davon ausgeht, dass Ez 34,1‐24 und Jer 23,1‐6 unabhängig voneinander ent‐ standen seien.  99  Vgl. dazu u. Kap. III. 5.3.  100  Vgl. auch GREENBERG, AncB, 709: „Jeremiah appears to have innovated the theme of  the  delinquent  shepherds,  announced  in  a  nutshell  in  [Jer]  2,8:  ‘the  shepherds  rebelled against me.’” 

 

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Tatsache, dass keine inhaltliche oder terminologische Nähe zu Jer 23,7f.  besteht,  erklärt  sich  am  einfachsten  daraus,  dass  die  Verse  erst  zu  einem  relativ  späten  Zeitpunkt  an  Jer  23,1‐6  angefügt  worden  sind.101  Zum  Zeitpunkt  des  Auslegungsprozesses  haben  sie  entweder  noch  ganz  gefehlt  oder  standen  noch  an  ihrer  ursprünglichen  Position  am  Ende des Kapitels.  Der Verfasser des Grundwortes in Ez 34 hat sich eng an Inhalt und  Struktur  von  Jer  23,1f.  orientiert.  Nach  dem  von  ihm  gestalteten  Neu‐ einsatz  durch  die  Wortereignisformel  in  Ez  34,1  folgen  in  34,2  der  Weheruf  und  in  34,5f.  die  Aussagen  über  die  Zerstreuung  der  Schafe  (vgl. Jer 23,1), während die Drohrede in 34,9f. eine Aufnahme von Jer  23,2  darstellt.  Bei  einem  Vergleich  von  traditum  und  traditio  fallen  zu‐ erst  kleinere  Abweichungen  ins  Auge.  So  erscheinen  die  Vorwürfe  an  die  Hirten  in  der  ezechielischen  Version  weniger  schwerwiegend:  Während diese in Jer 23,2 der aktiven Zerstreuung (‫פוץ‬ hif.) angeklagt  werden, besteht ihr Vergehen in Ez 34,2 darin, „sich selbst zu weiden“   (‫)היו רעים אותם‬.  Die  Frage,  was  genau  sich  hinter  diesem  Vorwurf  ver‐ birgt, ist schwer zu beantworten, da der reflexive Gebrauch von ‫רעה‬ im  Alten Testament nur in diesem Vers belegt ist. Die parallele Konstruk‐ tion von V 2b, in dem das „sich selbst Weiden“ dem Weiden der Herde  gegenüber  gestellt  wird,  spricht  aber  für  eine  Deutung,  nach  der  die  Hirten mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt sind und deshalb  die  Herde  vernachlässigen.  In  Folge  dieser  Pflichtvergessenheit  zer‐ streuen sich die Schafe (‫פוץ‬ ni.) über das ganze Land hin, ohne dass sich  jemand  ihrer  annimmt.  Die  Schuld  der  Hirten  besteht  damit  nicht  in  erster Linie in der aktiven Vertreibung der Schafe, sondern vor allem in  der unterlassenen Führung und Sammlung der Herde.   Die  Frage,  ob  dem  Autor  der  Grundschicht  von  Ez  34  die  erste  heilsprophetische  Fortschreibung  in  Jer  23,3f.  noch  nicht  vorlag,  oder  ob  er  diese  absichtlich  ignoriert  hat,  ist  kaum  zu  entscheiden.  Festzu‐ halten bleibt aber, dass er mit Jer 23,1f. auf einen Text zurückgreift, der  die vorexilischen Verhältnisse in Juda thematisiert, und diesen zur Be‐ schreibung  der  exilisch‐nachexilischen  Situation  im  Land  verwendet.  An die Stelle der Könige Judas vor der Katastrophe treten in Ez 34 die  fremden  Herrscher  nach  der  Katastrophe,  die  in  ähnlicher  Weise  wie                                 101  Vgl. dazu o. Kap. II. 3.1.2. Die einzige mögliche Verbindung zwischen Ez 34 und der  Fortschreibung Jer 23,7f. ist die Zusammenstellung der Wurzel ‫בוא‬ hif. mit ‫אדמתם‬ (Ez  34,13; vgl. Jer 23,8). Diese Parallele ist aber nicht im Hinblick auf einen Auslegungs‐ vorgang  auszuwerten.  Zum  einen  steht  das  Verb  in  Jer  23,8  nicht  unmittelbar  vor  ‫אדמתם‬,  und  zum anderen ist die Wendung gerade in den heilsprophetischen Texten  des  Ezechielbuches  zu  gut  belegt,  als  dass  sie  als  eindeutiges  Indiz  für  eine  litera‐ rische Abhängigkeit gewertet werden könnte (vgl. Ez 20,42; 37,12; mit Suffix vgl. Ez  36,24; 37,21). 

 

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die schlechten Hirten in Jer 23 ihre Aufgaben gegenüber dem Volk ver‐ nachlässigt  haben.  Sollte  Jer  23,3f.  in  Ez  34,1‐10*  bereits  vorausgesetzt  sein, so ist die Übernahme der Herde durch Jhwh auch als Abgrenzung  gegenüber  der  Verheißung  in  Jer  23,3f.  zu  verstehen,  nach  der  neue  (menschliche)  Hirten  für  das  Volk  eingesetzt  werden.  Dieser  Aspekt  bleibt  aber  auch  für  die  nächste  Wachstumsstufe  im  Hirtenkapitel  zu  berücksichtigen, auf der das literarische Verhältnis zwischen Jer 23,3f.  und Ez 34,11‐15* zu untersuchen ist.  In  diesem  Fall  erscheint  es  sehr  viel  schwieriger,  die  Frage  einer  möglichen Abhängigkeit zu entscheiden, da mit ‫קבץ מן הארצות‬ (Jer 23,3;  vgl.  Ez  34,13)  nur  eine  einzige  Stichwortverbindung  zwischen  den  Fortschreibungen in ihrem ursprünglichen Textbestand vorliegt.102 Die  Erwähnung  von  ‫נוה‬  in  Ez  34,14a.14b  (vgl.  Jer  23,3)  ist  dagegen  auf  jeweils sekundäre Nacharbeit innerhalb der Erweiterung 34,11‐15* zu‐ rückzuführen. Auch wenn die wenigen Belege von ‫נוה‬ im Ezechielbuch  (Ez 25,5; 34,14bis) dafür sprechen, hier eine Anspielung auf Jer 23,3 zu  sehen,  ist  damit  noch  kein  Urteil  über  die  grundsätzliche  Beziehung  der  Texte  getroffen.  In  einem  inhaltlichen  Vergleich  der  Sammlungs‐ aussagen liegt in Ez 34,13 mit der dreistufigen Verheißung von Hinaus‐ führung  (‫יצא‬  hif.),  Sammlung  (‫קבץ‬  pi.)  und  Rückführung  (‫בוא‬  hif.)  ein  Überschuss gegenüber Jer 23,3 vor, das nur eine zweistufige Ankündi‐ gung  mit  den  Elementen  Sammlung  (‫קבץ‬  pi.)  und  Rückführung  (‫שׁוב‬  hif.)  enthält.  Dieses  inhaltliche  Plus  in  Ez  34,13  spricht  dafür,  Jer  23,3  als dem kürzeren Text die literarische Priorität einzuräumen.  Des Weiteren unterscheiden sich die beiden Texte in der Frage, wer  die  Herde  von  den  schlechten  Hirten  übernehmen  wird.  In  Jer  23,4  bestellt Jhwh neue menschliche Hirten, während in Ez 34,11‐15* Jhwh  selbst an die Stelle der Hirten Israels tritt. Zwar wird dieser in Ez 34,11‐ 15* nicht explizit mit dem Hirtentitel versehen, aber es wird mehrfach  das  Verb  ‫רעה‬ für das göttliche Handeln gebraucht (vgl. 34,13.15 sowie  34,14a),  und  der  Nachtrag  in  V 12  vergleicht  Jhwh  explizit  mit  einem  Hirten,  der  sich  seiner  Schafe  annimmt.  Obwohl  eine  letztgültige  Sicherheit  in  der  Frage  nicht  zu  erreichen  sein  wird,  spricht  m.  E.  vor  allem  die  parallele  Position  der  beiden  Stücke  im  Anschluss  an  zwei  literarisch  voneinander  abhängige  Texte  dafür,  auch  im  Fall  von  Jer  23,3f.  und  Ez  34,11‐15*  ein Abhängigkeitsverhältnis anzunehmen. An‐ dernfalls  müsste  postuliert  werden,  dass  die  beiden  Autoren  die  Sammlungsverheißung  unabhängig  voneinander  an  die  Hirtenworte                                 102  ‫קבץ‬ pi. in Verbindung mit ‫מן הארצות‬ ist noch an mehreren Stellen im Ezechielbuch be‐ legt  (vgl.  Ez  20,34.41;  36,24;  39,27),  die  aber  mit  einiger  Sicherheit  Ez  34,13  bereits  voraussetzen,  so  dass  hier  literarisch  der  älteste  Beleg  der  Sammlungsverheißung  vorliegt; vgl. dazu u. Kap. III. 3.3.  

 

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angeschrieben  hätten,  ohne  von  der  entsprechenden  Textentwicklung  im anderen Buch Kenntnis gehabt zu haben.103   Die detailliertere Sammlungsaussage im Hirtenkapitel ist dabei als  Auslegung  der  jeremianischen  Vorlage  zu  verstehen,  wobei  die  wich‐ tigste Neuinterpretation darin besteht, dass der Verfasser von Ez 34,11‐ 15*  die  Rettung  und  weitere  Sorge  für  das  Volk  ganz  in  die  Hand  Jhwhs  legt.  An  die  Stelle  einer  neuen  menschlichen  Führungsgruppe,  wie sie Jer 23,3f. nach Heimführung der Diaspora vorsieht, setzt er im  Hirtenkapitel  die  Verheißung  der  Königsherrschaft  Jhwhs.  Schließlich  deutet die nachträgliche Eintragung von ‫נוה‬ in Ez 34,14a und 34,14b auf  zwei Ergänzer hin, die die Verbindungen zwischen den beiden Texten  weiter  verstärken  wollen.  Ihnen  geht  es  darum,  die  Weide,  auf  die  Jhwh  seine  Herde  nach  Jer  23,3  bringen  wird,  mit  dem  Gottesberg  (34,14a) bzw. den Bergen Israels (34,14b) zu identifizieren und die Gül‐ tigkeit der Sammlungsverheißung aus Jer 23,3 zu betonen.  Damit  ist  als  nächstes  die  auffällige  Doppelung  der  Davidver‐ heißung  in  Jer  23,5f.  und  Ez  34,23f.*  zu  berücksichtigen.  Die  einzige  lexikalische  Verbindung  zwischen  den  beiden  Texten  besteht  in  der  parallelen Nennung des Davidnamens (Jer 23,5; vgl. Ez 34,23f.), aber Ez  34,23f.* berührt sich darüber hinaus in der Formulierung ‫והקמתי עליהם רעה‬ ‫אחד ורעה אתהן‬ mit der Bestellung der neuen Hirten in Jer 23,4 (‫והקמתי עליהם‬  ‫)רעים ורעום‬.  Inhaltlich  liegen  mit  Jer  23,5f.  und  Ez  34,23f.*  völlig  ver‐ schiedene Konzepte der Herrscherverheißung vor: In Jer 23,5f. wird ein  Spross  aus  Davids  Geschlecht  erwartet,  auf  dessen  gerechte  Herr‐ schaftsausübung  besonderer  Wert  gelegt  wird.  Die  Bezeichnung  des  Sprosses  als  „rechtmäßig“  deutet  auf  eine  gewisse  Kontinuität  der  davidischen  Herrscherlinie  hin,  wohingegen  in  Ez  34,23f.*  von  David  selbst die Rede ist, dessen Einsetzung mit der Bundeszusage verknüpft  wird. Die Abfolge von Ez 34,23bb und 34,24aa legt dabei ein Verständ‐ nis  nahe,  wonach  David  in  das  Bundesverhältnis  zwischen  Jhwh  und  seinem  Volk  mit  hineingenommen  wird.104  Seine  Herrschaft  wird  da‐ raus legitimiert, dass er als Hirte über das Gottessvolk gesetzt ist.  Trotz  dieser  inhaltlichen  Differenzen  sprechen  die  Stichwortver‐ bindungen  auf  Seiten  von  Ez  34,23f.*  dafür,  dass  diese  Nachinter‐ pretation  die  heilsprophetische  Fortschreibung  von  Jer  23,1f.  in  V  3f.  bereits voraussetzt.105 Damit bleiben aber noch zwei Möglichkeiten, die                                 103  So  ALLEN,  WBC  29,  161,  der  die  Abhängigkeit  der  beiden  Texte  auf  Jer  23,1f.  be‐ schränkt  und  in  Bezug  auf  weitere  Parallelen  von  „independent  developments  of  basic material in the two complex texts“ spricht.   104  Vgl. dazu auch u. Kap. III. 5.5.4.  105  Auch wenn des Öfteren auf die Nähe zwischen den Verheißungen Jer 23,5f. und Ez  34,23f. hingewiesen wird (vgl. ZIMMERLI, BK, 841; BLOCK, NICOT II, 297 Anm. 140), 

 

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Doppelung  der  Davidpassagen  in  den  beiden  Texten  zu  erklären.  Zu‐ erst ist denkbar, dass die Davidverheißung ihren ursprünglichen Ort in  Ez  34,23f.*  hat  und  sich  mit  der  Verwendung  von  ‫קום‬  hif.  als  eine  er‐ neute  Auslegung  der  Hirteneinsetzung  in  Jer  23,3f.  zu  erkennen  gibt.  Diese Heilsansage könnte schließlich auf die Textentwicklung in Jer 23  zurückgewirkt  haben  und  dort  die  Fortschreibung  des  Textes  um  die  Ankündigung  des  davidischen  Sprosses  in  V  5f.  veranlasst  haben.  Alternativ  ist  es  möglich,  dass  der  Davidverheißung  in  Jer  23,5f.  der  Vorzug zu geben ist, die daraufhin das Textwachstum im Hirtenkapitel  beeinflusst  hat.  Unter  dieser  Prämisse  ist  die  Ankündigung  des  davi‐ dischen  Hirten  in  Ez  34,23f.*  als  Rezeption  der  beiden  literarischen  Wachstumsstufen  in  Jer  23,3f.  und  Jer  23,5f.  zu  erklären,  in  denen  die  neuen menschlichen Hirten und der Davidspross unverbunden neben‐ einander stehen.   Den  Ausschlag  für  Jer  23,5f.  als  den  literarisch  vorgängigen  Text  gibt m. E. die Beobachtung, dass sich die Verheißung des davidischen  Hirten  in  Ez  34,23f.*  aus  der  Rezeption  der  beiden  Fortschreibungs‐ stufen  in  Jer  23,3f.5f.  erklären  lässt,  während  umgekehrt  offen  bliebe,  warum Jer 23,5f. als Auslegung von Ez 34,23f.(*) auf die Verwendung  des Hirtenbildes verzichten sollte. Ebenso müsste eine Erklärung dafür  gefunden werden, warum Jer 23,5f. nicht auf den Bundesschluss Bezug  nimmt, der die Verheißung in Ez 34,23f.* inhaltlich bestimmt, während  die fehlende Gerechtigkeitsterminologie in Ez 34,23f.* darin eine Erklä‐ rung  findet,  dass  im  Hirtenkapitel  allein  der  göttliche  Hirte  für  die  gerechte Herrschaftsausübung zuständig ist (vgl. Ez 34,16). Ez 34,23f.*  kann damit als Versuch gedeutet werden, die Ankündigungen der neu‐ en Hirten und des davidischen Sprosses aus Jer 23 zu systematisieren:  Die Identifikation der neuen heilszeitlichen Hirten mit dem einen davi‐ dischen  Spross,  die  dort  nur  indirekt  durch  die  Position von Jer 23,5f.  als  Fortschreibung  hinter  Jer  23,3f.  vorgenommen  wird,  erfährt  in  Ez  34,23f.*  eine  explizite  Auslegung  in  der  Verheißung  des  einen  Hirten  David.   Dessen ungeachtet kann weder im Fall von Ez 34,23f.* noch im Fall  von Jer 23,5f. ein Einfluss weiterer Texte bzw. Herrschaftsvorstellungen  an  dieser  Stelle  ausgeschlossen  werden,  der  die  unterschiedlichen  in‐                                wird nur selten ein mögliches Abhängigkeitsverhältnis diskutiert. GROSS, Hoffnung,  113f., hält es für unwahrscheinlich, dass die Texte in Abhängigkeit voneinander for‐ muliert worden sind (vgl. auch OHNESORGE, Jahwe, 372f. Anm. 161), während LEVIN,  Verheißung, 219, und FUHS, NEB, 194, eine Abhängigkeit in Ez 34,23f. von Jer 23,5f.  vertreten. Bei LEVIN ist allerdings die These vorausgesetzt, dass Jer 23,1‐8 als Ganzes  die literarische Vorlage von Ez 34 darstelle (vgl. dazu Anm. 98), während GROSS der  These  von  HOSSFELD  folgt,  der  zufolge  die  Daviderwartung  in  Ez  34,23f.  sekundär  innerhalb der Herrscherverheißung nachgetragen worden sei; vgl. dazu Anm. 54. 

 

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haltlichen  Füllungen  der  Verheißungen  erklären  könnte.  Im  Fall  des  Ezechielbuches  wird  vor  allem  noch  die  Verbindung  zu  Ez  37,24  zu  bedenken sein, eine Verheißung, in der in ähnlicher Weise der Knecht  David als Hirte tituliert wird. Darüber hinaus sind aber auch Texte wie  Hos 3,5 und Jer 30,9 zu beachten, die ebenfalls die Doppelaussage über  Jhwh als Gott und David als König enthalten.106 Weiterhin ist nach den kleineren Stichwortverbindungen zwischen  Jer  23,1‐6  und  Ez  34 zu fragen. Im Fall von Ez 34,25‐30 und Jer 23,1‐6  gibt es mit ‫לבטח‬ (Ez 34,25.27.28; vgl. Jer 23,6) nur eine einzige Parallele,  bei der aber fraglich ist, ob hier eine bewusste Anspielung auf Jer 23,6  vorliegt. Zuerst zeigt ein Blick in die Konkordanz, dass das Motiv des  sicheren  Wohnens  einen  geläufigen  Terminus  der  Heilsverheißung  darstellt, der als geprägte Wendung einen Zustand beschreibt, in dem  die  äußeren  Umstände  geordnet  und  friedlich  sind.107  Darüber  hinaus  weist  Ez  34,25‐30  in  sprachlicher  und  inhaltlicher  Sicht  eine  erstaun‐ liche Nähe zu der Segensreihe in Lev 26 auf, in der ebenfalls die Vor‐ stellung des sicheren Wohnens auftaucht.108 Es liegt deshalb näher, die  Vorlage für ‫לבטח‬ in Ez 34,25‐30 in Lev 26 zu suchen, wobei das genaue  literarische  Verhältnis  der  beiden  Texte  zueinander  noch  näher  zu  untersuchen  sein  wird.109  Die  Verwendung  der  Verben  ‫אבד‬  und  ‫נדח‬  in  den  kleineren  Fortschreibungen  des  Hirtenkapitels  (Ez  34,4.16)  kann  dagegen als deutliche Anspielung auf Jer 23,1f. verstanden werden: Die  Bezüge signalisieren, dass die Hirten Israels sich in gleicher Weise der  schlechten  Behandlung  der  Schafe  schuldig  gemacht  haben,  während  Jhwh  so  nicht  nur  zum  positiven  Gegenbild  der  Hirten  aus Ez 34,1‐6*  wird,  sondern  zugleich  auch  den  (vorexilischen)  Hirten  aus  Jer  23,1f.  gegenübergestellt  wird.  In  ähnlicher  Weise  verweist  der  redaktionelle  Vers Ez 34,31 mit ‫צאן מרעיתי‬ auf die Herde zurück, die bereits in Jer 23,1  im Blick ist, und macht deutlich, dass es sich an beiden Stellen um das‐ selbe Volk handelt.  Die  vorangehenden  Beobachtungen  haben  gezeigt,  dass  Jer  23  als  literarische Vorlage für das Hirtenkapitel Ez 34 gedient hat, wobei aber  die  Abhängigkeit  auf  Jer  23,1‐6  einzuschränken  ist.  Abgesehen  von  kleineren  Anspielungen  in  Ez  34,4.16.31  hat  sich  der  Auslegungsvor‐                                106  Auf  diese  Parallelen  verweisen  auch  ZIMMERLI,  BK,  843,  und  KRÜGER,  Geschichts‐ konzepte,  454.  Zu  einer  Einordnung  von  Ez  34,23f.  in  den  Kontext  der  Davidver‐ heißungen im Alten Testament vgl. u. Kap. III. 5.5.4.  107  Vgl. GERSTENBERGER, Art. ‫בטח‬, 303.  108  Auf die zahlreichen Nähen zwischen Lev 26 und Ez 34,25‐30 ist mehrfach hingewie‐ sen  worden;  vgl.  z.  B.  ELLIGER,  HAT,  366;  ZIMMERLI,  BK,  844;  HOSSFELD,  Untersu‐ chungen, 273‐276; ALLEN, WBC 29, 163, und insbesondere die Synopse bei BALTZER,  Ezechiel, 156‐160.  109  Vgl. dazu u. Kap. III. 4.4.3. 

 

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gang  in  drei  Stufen  vollzogen,  in  denen  die  einzelnen  Abschnitte  aus  Jer  23,1f.3f.  und  23,5f.  im  Hirtenkapitel  aufgenommen  worden  sind  und dort eine breite Ausgestaltung erfahren haben. Darüber hinaus hat  sich  gezeigt,  dass  mit  weiteren  literarischen  Vorlagen  für  das  Kapitel  zu rechnen ist. So kommt als traditum für Ez 34,25‐30 insbesondere Lev  26 in Frage, und auch die Davidverheißung in Ez 34,23f. wird noch auf  eventuelle Parallelen außerhalb von Jer 23,5f. hin zu befragen sein.110 Es  soll  nun  im  Folgenden  das  literarische  Wachstum  des  Hirtenkapitels  von der Grundschicht bis zu der jüngsten Erweiterung nachgezeichnet  werden, um auf diese Weise die Bedeutung der Vorlage Jer 23 für die  Textentwicklung aufzuzeigen.  3.4. Das literarische Wachstum des Hirtenkapitels  Das  Grundwort  des  Hirtenkapitels  findet  sich  in  Ez  34,1‐10*  (V  1f.5f.  9f.). Der Verfasser dieser Jhwh‐Rede benutzt das Wort gegen die Köni‐ ge Judas in Jer 23,1f., um nach dieser Vorlage ein bildhaftes Heilswort  an das Volk zu verfassen, das diesem die Befreiung aus der Fremdherr‐ schaft im Land verheißt. Im Gegensatz zum Autor von Jer 23,1f. ist er  weniger  an  einem  Schuldaufweis  der  Hirten  interessiert,  sondern  es  geht ihm um die Absetzung der Fremdvölkerhirten durch Jhwh, der an  ihre  Stelle  tritt  und  damit  die  Heilswende  einleitet.  Eine  historische  Einordnung  dieser  Verheißung  ist  schwierig,  da  das  ehemalige  judäi‐ sche  Staatsgebiet  in  der  persischen  und  hellenistischen  Zeit  durch‐ gängig unter Fremdherrschaft stand. Die Frage wird deshalb erst nach  einer Analyse der gesamten Texte im Bereich von Ez 34‐39 zu entschei‐ den sein.111 In  der  ersten  Fortschreibung  des  Grundwortes  durch  Ez  34,11‐15*  setzt sich die Intention fort, die Bedeutung Jhwhs für das Heil hervor‐ zuheben.  Die  Frage,  ob  auch  Ez  34,11‐15*  auf  die  Vorlage  in  Jer  23  rekurriert,  konnte  zwar  nicht  mit  der  gleichen  Sicherheit  wie  für  die  Grundschicht  entschieden  werden,  ein  Auslegungsverhältnis  zu  Jer  23,3f. ist aber wahrscheinlich. Ähnlich wie in der Vorlage wird die Situ‐ ation  der  Zerstreuung  in  Ez  34,11‐15*  sekundär  als  Bild  für  die  Dias‐ pora verwendet, die von Jhwh als dem guten Hirten aus allen Ländern  gesammelt  und  in  das  Land  zurückgeführt  wird.  Die  Absetzung  der  fremden  Herrscher  als  Beginn  der  Heilswende  (34,1‐10*)  hat  sich  für  den  Autor  von  34,11‐15*  anscheinend  als  nicht  ausreichend  erwiesen,  sondern  an  ihrer  Stelle  muss  Jhwh  seine  Königsherrschaft  im  Land                                 110  Vgl. dazu insgesamt Kap. III. 4 und III. 5.  111  Vgl. dazu u. Kap. IV. 2.1.2.3. 

 

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errichten, um das Heil dauerhaft zu sichern. Das Interesse an der Dias‐ pora deutet auf einen theologiegeschichtlichen Ort in der „Diasporaori‐ entierung“ des Ezechielbuches hin und legt damit eine Abfassungszeit  im  5.  oder  4.  Jh.  v.  Chr.  nahe.112  Allerdings  ist  bisher  weder  abschlie‐ ßend geklärt, ob eine durchgehende diasporaorientierte Redaktion für  das Buch angenommen werden kann, noch ist auszuschließen, dass die  bleibende  Diasporaproblematik  auch  in  jüngeren  Texten  des  Buches  eine Rolle spielt.   Auf  den  folgenden  literarischen  Ebenen  ist  das  so  erweiterte  Grundwort  durch  die  kleineren  Zusätze  in  V  3f.,  V  7f.,  V  12,  V  14a,  V 14b und V 16 ergänzt worden. Diese Erweiterungen stammen sicher  nicht  von  derselben  Hand,  es  ist  aber  schwierig,  Aussagen  über  ihre  relative  chronologische  Abfolge  und  ihr  Verhältnis  zu  den  weiteren  drei  großen  Fortschreibungen  in  V  17‐22;  V  23f.*  und  V  25‐30  zu  tref‐ fen.  Die  V  3f.  haben  eindeutig  die  Funktion,  die  Vergehen  der  Hirten  näher zu konkretisieren, so dass sie auch als Auslegung des „sich selbst  Weidens“  aus  V  2  verstanden  werden  können.  Dieses  wird  hier  nicht  nur als Pflichtvergessenheit, sondern zuerst als Ausbeutung der ihnen  anvertrauten  Schafe  (V 3)  und  schließlich  auch  als  unterlassene  Hilfe‐ leistung  gegenüber  den  bedürftigen  Herdenmitgliedern  interpretiert  (V 4). Diese beiden unterschiedlichen Gesichtspunkte könnten auf eine  literarische Mehrschichtigkeit des Zusatzes V 3f. hindeuten, sie ist aber  nicht  notwendig  vorauszusetzen.  Allerdings  ist  im  Rahmen  dieser  Untersuchung schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass V 16  eng mit V 4 verbunden ist und beide Aussagen terminologische Bezüge  zu  Jer  23,1f.  aufweisen.  Da  die  zwei  Verse  im  Hirtenkapitel  Jhwh  in  positiver Wendung Verhaltensweisen zuschreiben, deren Vernachlässi‐ gung  die  Hirten  Israels  angeklagt  werden,  liegt  die  Vermutung  nahe,  dass  die  V 4.16  derselben  Hand  zuzuschreiben  sind,  die  den  Kontrast  zwischen den schlechten Hirten und dem göttlichen Hirten weiter ver‐ schärfen  will.  Die  Funktion  von  V  16  als  verbindendes  Element  zu  V 17‐22  ist  deshalb  eher  als  sekundär  zugewachsene  Aufgabe  anzu‐ sehen.  Die  redaktionelle  Einfügung  der  V  7f.  bringt  kaum  etwas  Neues,  sondern wiederholt Aussagen der vorherigen V 2 und V 5f. Die Bedeu‐ tung  des  Abschnitts  kann  damit  am  ehesten  als  redundantes  Element                                 112  So  nimmt  POHLMANN,  ATD,  34,  eine  diasporaorientierte  Redaktion  des  Ezechiel‐ buches an, die er in das 4. Jh. v. Chr. datiert. In ähnlicher Weise haben KRATZ, Kyros,  206‐216,  und  SCHMID,  Buchgestalten,  269‐277.343f.,  für  das  Deuterojesaja‐  und  das  Jeremiabuch Indizien für eine diasporaorientierte Redaktion herausgearbeitet, die sie  allerdings zeitlich abweichend von POHLMANN im 5. Jh. v. Chr. ansetzen. Vgl. zum  Jeremiabuch bereits die Überlegungen von LEVIN, Verheißung, 167‐169. 

 

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benannt  werden,  das  vor  der  folgenden  Gerichtsankündigung  noch  einmal  die  Anklagepunkte  wiederholt.113  Die  Ergänzung  in  V  12  trägt  dagegen das Motiv des „Tages Jhwhs“ in das Kapitel ein, indem betont  wird,  dass  die  Versprengung  der  Schafe  an  einem  „Tag  der  Wolken  und der Dunkelheit“ stattfindet. Auf diese Weise wird impliziert, dass  die  Zerstreuung  der  Schafe  nicht  nur  auf  die  Vernachlässigung  durch  die  Hirten  zurückzuführen  ist,  sondern  auch  Teil  des  göttlichen  Ge‐ richtes ist (vgl. Jer 23,3). Die beiden Nachträge in V 14a und V 14b ver‐ danken  sich  dagegen  unterschiedlichen  Versuchen,  die  gute  Weide   (‫יהיה נוהם‬ ... ‫במרעה־טוב‬, V 14a; ‫בנוה טוב‬, V 14b) der Schafe zu lokalisieren. Während der Autor von V 14a davon spricht, dass der gute Weideplatz  der Schafe auf dem Gottesberg liegt, betont V 14b in Übereinstimmung  mit  der  Ortsangabe  in  V  13,  dass  die  gute  Weide  der  Schafe  auf  den  Bergen  Israels  zu  finden  ist,  so  dass  hier  eine  nachträgliche  Korrektur  von V 14a vermutet werden kann.  Während die relative Chronologie der kleinen Einfügungen schwer  zu  bestimmen  ist,  gibt  es  einige  Hinweise,  die  auf  das  sachliche  und  zeitliche Verhältnis der übrigen drei großen Fortschreibungen in V 17‐ 22; V 23f.* und V 25‐30 schließen lassen. So setzt der Redegang in V 25‐ 30 die Einsetzung des davidischen Hirten in V 23f.* bereits voraus, da  in ihm die Bundesverheißung aus diesen Versen aufgenommen und als  Zusage  des  Heilsbundes  (‫)ברית שׁלום‬  interpretiert  wird.  Rein  formal  spricht  auch  die  abschließende  Gottesspruchformel  in  V 24b  dafür,  dass  die  Weiterführung  der  Jhwh‐Rede  in  34,25‐30  eine  sekundäre  Fortschreibung  darstellt.  Dagegen  könnte  sie  der  Ergänzung  durch  V 17‐22  literarisch  vorausgehen:  Während  V  25‐30  und  V  23f.*  darin  übereinstimmen, dass sie bedingungsloses Heil für die gesamte Herde  in  Aussicht  stellen,  wird  in  V  17‐22  die  Heilszugehörigkeit  vom  Ver‐ halten der einzelnen Schafe abhängig gemacht. 114 Damit kann in 34,23f.* die zweite größere Fortschreibung des Hir‐ tenkapitels  gesehen  werden,  mit  der  wahrscheinlich  in  einer  Ausle‐ gung  von  Jer  23,3f.5f.  die  Einsetzung  des  davidischen  Hirten  in  das  Kapitel  eingetragen  wird.  Der  Text  reflektiert  auf  diese  Weise  eine  andere  Konzeption  der  Heilszeit,  insofern  nicht  Jhwh,  sondern  der                                 113  Vgl.  ALLEN,  WBC  29,  159.  HOSSFELDS  Erklärung,  dass  mit  dem  Einschub  V  7f.  die  Balance  der  Komposition  intendiert  sei,  überzeugt  dagegen  nicht  (vgl.  HOSSFELD,  Untersuchungen, 281).  114   Vgl. dazu die theologiegeschichtliche Abfolge der Heilsaussagen in den Propheten‐ büchern, wie sie von STECK und SCHMID beschrieben wird. Diese gehen davon aus,  dass  die  auf  das Gottesvolk im Ganzen gerichtete Heilsperspektive nachträglich an  einigen Stellen eine Konditionalisierung erfahren habe (vgl. STECK/SCHMID, Heilser‐ wartungen, insbes. 31f.). 

 

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Knecht David der eine Hirte für das Volk sein wird.115 Die „Einzigkeit“  (‫)אחד‬ des neuen Hirten erklärt sich aus der Abgrenzung gegenüber der  Vorlage in Jer 23,3f.5f., in der mehrere Hirten eingesetzt werden, deren  Verhältnis gegenüber dem davidischen Spross nicht explizit ausgeführt  wird.116  Darüber  hinaus  wird  mit  der  Bundesformel  in  Ez  34,23  auch  ein neues Gottesverhältnis zwischen Jhwh und seinem Volk begründet,  in  das  der  davidische  Hirte  mit  einbezogen  wird.  Darin  liegt  ein  ent‐ scheidender  Unterschied  zur  weiteren  –  literarisch  unabhängigen  –  Entwicklung  der  Vorlage  im  Jeremiabuch.  Denn  während  in  Jer  23,7f.  die  Sammlung  und  Heimführung  der  Diaspora  das  grundlegende  Ereignis  ist,  an  dem  sich  Jhwhs  Gottsein  für  Israel  erweist,  wird  das  Gottesverhältnis  im  Ezechielbuch  durch  den  Bundesbegriff  beschrie‐ ben.117 Die nächste Fortschreibung in 34,25‐30 knüpft an diese Bundes‐ verheißung an und stellt ausführlich die segensreichen Auswirkungen  des Heilsbundes für Land und Volk dar.   Mit  34,17‐22  liegt  schließlich  die  letzte  größere  Erweiterung  des  Hirtenkapitels vor. Die Verse werden nach V 16 eingefügt, da in 34,1‐ 16 bereits von der Herrschaft Jhwhs die Rede ist, die in V 17‐22 durch  den neuen Aspekt des Richteramts ergänzt wird. Darüber hinaus bietet  V  16  mit  der  adverbialen  Bestimmung  der  göttlichen  Tätigkeit  durch  ‫במשׁפט‬  den  idealen  Anknüpfungspunkt,  der  vielleicht  sogar  Anlass  für  die  Fortschreibung  gewesen  ist.  Die  Ausführungen  über  das  Gericht  zwischen  den  Schafen  konditionieren  im  Nachhinein  die  zunächst  bedingungslose Heilsverheißung des Kapitels, da nicht mehr allein die  Zugehörigkeit zur Herde bzw. zum Volk für das Heil qualifiziert, son‐ dern  Jhwh  über  den  Einzelnen  richten  wird.  Hinter  dieser  Fortschrei‐ bung können Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen  im  Land  vermutet  werden,  die  um  die  Frage  kreisen,  wer  zum  Volk  Jhwhs dazu gehört.  Zuletzt  fügt  eine  späte  Hand  den  redaktionellen  V  31  an,  um  das  Hirtenkapitel  als  Ganzes  literarisch  abzurunden.  Der  Vers  integriert  V 25‐30  und  greift  erneut  die  Metapher  des  Hirten  und  seiner  Herde  auf.  Dabei  verweist  der  seltene  Ausdruck  ‫צאן מרעיתי‬  nicht  nur  auf  die  Herde in Ez 34 zurück, sondern er verrät auch, dass der Redaktor sich  der literarischen Wurzeln des Hirtenkapitels bewusst ist: Er betont ein                                 115  Vgl. RUDNIG, Heilig, 61.  116  Vgl. aber SCHMID, Buchgestalten, 273 Anm. 342f., der in der Fortschreibung von Jer  23,3f. durch V 5f. von einer „Verdeutlichung“ spricht (siehe o. Anm. 90). Mit ‫אחד‬ in  Ez 34,23 liegt des Weiteren ein Bezug auf die entsprechende Heilsverheißung in Ez  37 vor; vgl. dazu u. Kap. III. 5.3.  117  Dazu  beobachtet  LEVIN,  Verheißung,  245f.,  dass  die Bundesformel im Ezechielbuch  mit  der  Ausnahme  von  Ez  37,23  regelmäßig  als  Klimax  diene  und  die  Verheißung  stets auf den Bund Jhwhs mit Israel gerichtet sei. 

 

Die Heilsprophetien in Ez 34‐39 

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letztes Mal ausdrücklich, dass die Heilsprophetie von Ez 34 der Herde  Jhwhs gilt, die bereits Jer 23,1 im Blick hat. Die Rezeption von Jer 23 in  Ez 34 dient dabei nicht nur der Kontinuität und Versicherung der jere‐ mianischen  Heilsverkündigung,  sondern  die  verschiedenen  Autoren  im Hirtenkapitel setzen je eigene Akzente. Es wird vor allem deutlich,  dass  die  Beständigkeit  des  Heils  weder  durch  eine  Austauschung  der  Hirten  noch  durch  einen  davidischen  Spross gesichert wird. Vielmehr  liegt sie allein in Jhwhs Zuständigkeit, der sich selbst an die Stelle der  fremden  Herrscher  setzt  und  das  Verhältnis  zu  seinem  Volk  mit  dem  Bund auf eine neue Grundlage stellt. 

4. Die Heilsprophetien in Ez 34‐39  4.1. Zum methodischen Vorgehen  Die  vorangegangene  Analyse  hat  gezeigt,  dass  die  Grundschicht  des  Hirtenkapitels  auf  die  literarische  Vorlage  in  Jer  23,1f.(3f.)  zurück‐ geführt  werden  kann,  die  neben  anderen  Stücken  entscheidend  zum  Textwachstum  in  Ez  34  beigetragen  hat.  Offen  geblieben  sind  dabei  aber  bisher  die  Fragen,  wodurch  der  erste  Autor  des  Grundwortes  überhaupt  veranlasst  wurde,  auf  eine  literarische  Vorlage  zurückzu‐ greifen, und welche Funktion das Hirtenkapitel in der Komposition der  Heilsprophetien  in  Ez  34‐39  erfüllt.  Um  diese  Fragen  zu  beantworten,  soll  im  Folgenden  in  einer  Analyse  der  gegebenen  Buchgestalt  eine  erste  Sichtung  der  heilsprophetischen  Aussagen  im  dritten  Buchteil  unternommen  werden.  Die  genaue  Analyse  wird  sich  dabei  auf  die  Heilsworte in den Kapiteln 34‐39 beschränken. Zwar hat RUDNIG jüngst  nachgewiesen, dass zwischen Ez 1‐39 und dem Verfassungsentwurf Ez  40‐48  zahlreiche  terminologische,  stilistische  und  inhaltliche  Korres‐ pondenzen existieren,118 doch auch wenn es sich bei Kap. 40‐48 um eine  thematische  Fortsetzung  der  Heilsworte  in  Ez  34‐39  handelt,  so  liegt  mit 40,1 der Beginn eines neuen Buchteils vor. Der Verfassungsentwurf  ist durch seine Einleitung in 40,1ff. klar vom vorhergehenden Kontext  abgegrenzt und als eigenständige vierte Vision des Ezechielbuches ge‐ staltet. Aus diesen Gründen erscheint es sachgerecht, im weiteren Ver‐ lauf der Arbeit zwar die thematischen und strukturellen Verbindungen  von  Ez  40‐48  zur  Heilsprophetie  in  Ez  34‐39  zu  berücksichtigen,  auf  eine vollständige Analyse der Tempelvision aber zu verzichten.                                 118  Vgl. RUDNIG, Heilig, 52‐64. Zu den Bezügen im Einzelnen vgl. RUDNIG, a.a.O., 63f. 

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

Gewichtige  Anfragen  ergeben  sich  bei  der  Analyse  von  Ez  34‐39  durch  das  Zeugnis  des  griechischen  Papyrus  967  (Pap.  967),  der  nicht  nur eine Auslassung in Ez 36,23bb‐38 aufweist, sondern vor allem auch  eine  vom  masoretischen  Text  abweichende  Kapitelfolge  in  Ez  36‐39  bezeugt. Diese differierende Kapitelanordnung und das Verhältnis von  Pap.  967  zu  der  masoretischen  Textbezeugung  sind  damit  von  erheb‐ licher  Bedeutung  für  die  redaktionsgeschichtliche  Untersuchung  der  Heilsworte  in  Ez  34‐39.  Für  das  weitere  Vorgehen  bedeutet  dies,  dass  zuerst  der  textliche  Befund  zu  klären  ist,  ehe  eine  Analyse  der  betref‐ fenden Texte unternommen werden kann.  4.2. Pap. 967 und der textgeschichtliche Befund  Pap. 967 ist ein Hauptzeuge des vorhexaplarischen LXX‐Textes, der aus  der zweiten Hälfte des 2. oder der ersten Hälfte des 3. Jh.s. stammt und  mit kleineren Lücken den Text von Ez 11,25‐48,35 bezeugt.119 Dem Text  des Buches Ezechiel folgen im Codex noch die Bücher Daniel, Susanna,  Bel et Draco und Esther. Da das Ezechielbuch in den Textfunden vom  Toten Meer nur äußerst fragmentarisch vertreten ist,120 kommt Pap. 967  nicht  nur  Bedeutung  als  ältester  griechischer  Handschrift  zu,  sondern  er kann in diesem Umfang auch als ältester Textzeuge des Buches über‐ haupt gelten.121   Der  Papyrus  zeigt  die  beiden  bereits  erwähnten  Auffälligkeiten:  Erstens  lässt  er  die  längere  Passage  Ez  36,23ba6‐38  aus  (im  Folgenden  36,23bbff.),122  und  zweitens  bezeugt  er  eine  andere  Kapitelanordnung  im Bereich von Ez 36‐39. Auf die Heilsworte in Kap. 36 folgen die Kap.                                 119  Vgl. dazu den Überblick bei ZIMMERLI, BK, 117*f.; JAHN, Text, 9‐13, und RAHLFS, Ver‐ zeichnis,  98‐103.182f.228.249.334f.  Die  einzelnen  Blätter  des  Papyrus  verteilen  sich  auf:  Dublin,  vorher  London  (Chester  Beatty‐Papyri;  ediert  in:  KENYON,  Chester  Beatty Biblical Papyri, 1‐16), Princeton (John H. Scheide‐Sammlung; vgl. zur Edition  JOHNSON/GEHMAN/KASE, John H. Scheide Biblical Papyri, 141‐181), Köln (Edition in:  JAHN,  Text,  19‐124)  sowie Madrid und Montserrat bzw. Barcelona (zur Edition vgl.  FERNÁNDEZ‐GALIANO, paginas, 7‐76).   120  Zu  den  Bibelhandschriften  vom  Toten  Meer,  die  als  Abschriften des später kanoni‐ schen  Ezechiel  einzuordnen  sind  (1Q9;  3Q1;  4Q73‐75;  11Q4  und  MasEzek)  vgl.  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen,  50‐66.101‐106.  Zur  generellen  Bedeutung  des  Eze‐ chielbuches  in  Qumran  vgl.  BROOKE,  Ezekiel,  317‐331.336f.,  und  SCHWAGMEIER,  a.a.O., 50‐106.  121  Vgl.  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen,  181.  Zur  textgeschichtlichen  Bedeutung  von  Pap. 967 für das Ezechielbuch siehe schon GEHMAN, Relations, 281‐287, und ZIEGLER,  Bedeutung, 76‐94.  122  Die Gottesspruchformel in V 23ba6‐8 fehlt nicht nur in Pap. 967, sondern auch sonst in  der griechischen Überlieferung, so dass für die dem Papyrus eigentümliche Auslas‐ sung im Folgenden die Bezeichnung 36,23bbff. gewählt wird. 

 

Die Heilsprophetien in Ez 34‐39 

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38  und  39  mit der Gog‐Perikope, während die Vision von den trocke‐ nen  Knochen  37,1‐14  mit  den  anschließenden  Heilsworten  in  37,15‐28  zwischen Kap. 39 und 40 eingeordnet ist. Die textgeschichtliche Bedeu‐ tung dieses Befundes wird noch dadurch erhöht, dass der von Pap. 967  unabhängige  altlateinische  Textzeuge  Codex  Wirceburgensis  (5.  Jh.  n.  Chr.)123 sowohl in der abweichenden Kapitelanordnung als auch in der  Auslassung  von  Ez  36,23bbff.  mit  Pap.  967  übereinstimmt.124  Lange  wurden  die  besagten  Auffälligkeiten  in  der  Ezechielexegese  entweder  ignoriert  oder  als  ein  Problem  der  LXX‐Textgeschichte  angesehen,  so  dass  die  grundsätzliche  Priorität  des  masoretischen  Textes  vertreten  wurde.125 Unter dieser Prämisse können die Abweichungen in der Textbezeu‐ gung aber nur unbefriedigend erklärt werden.126 So ist zuerst versucht  worden, die Auslassung von 36,23bbff. als Ausfall durch homoioteleuton  in 36,23 und 36,38 zu erklären.127 Dagegen spricht nicht nur die Länge  der Auslassung,128 sondern auch die Tatsache, dass 36,23 und 36,38 nur  geringen  Anhalt  für  eine  aberratio  oculi  bieten:  Zwar  enthalten  beide  Verse  in  der  zweiten  Hälfte  eine  Erkenntnisformel,  aber  diese  unter‐ scheidet  sich  in  V  23  nicht  nur  durch  das  Subjekt  ta. e;qnh  (‫)הגוים‬  von  V 38,  sondern  V 23b  enthält  im  Gegensatz  zu  V  38b  noch  weitere  Ele‐ mente.  Außerdem  müsste  bei  einer  Auslassung  durch  eine  aberratio  oculi  der  Text  nach  36,23ba  mit  37,1  fortgesetzt  werden  und  nicht  mit  38,1,  wie  es  aber  in  Pap.  967  der  Fall  ist.  SPOTTORNO  hat  deshalb  die  These  aufgestellt,  dass  die  beiden  Auffälligkeiten  durch  das  Zusam‐                                123  Die Unabhängigkeit des Codex Wirceburgensis zeigt sich daran, dass dieser Pap. 967  in etlichen der kleineren Auslassungen nicht folgt.  124  Den Nachweis der Übereinstimmungen zwischen Codex Wirceburgensis und Pap. 967  in den genannten Besonderheiten hat BOGAERT, Témoignage, 387‐392, erbracht.  125  So erwähnen weder SIMIAN, Nachgeschichte, 88‐103, noch HOSSFELD, Untersuchun‐ gen, 287‐340, in ihren Analysen von Ez 36,16‐38 die durch das Zeugnis von Pap. 967  gegebene Problematik. Dagegen urteilt ZIMMERLI, BK, 873: „Das mögliche Fehlen des  Passus in LXX 967 und der besondere Charakter der Übersetzung desselben würde  dann  ein  Problem  der  Geschichte  nur  von  LXX,  nicht  von  MT  darstellen.“  In  ähn‐ licher Weise kommt auch LEVIN, Verheißung, 211 Anm. 51, zu dem Schluss: „Zwar  dürfte  Papyrus  967  hier  den  Urtext  der  Septuaginta  vertreten.  Im  Verhältnis  zum  hebräischen Text ist die Lücke aber sicher sekundär.“ Vgl. auch die Argumentation  bei GREENBERG, AncB, 738‐740, zugunsten der Priorität des masoretischen Textes.  126  Vgl. dazu auch die Zusammenstellung und Diskussion der folgenden Positionen bei  SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 183‐186.  127  Vgl.  FILSON,  Omission,  31f.,  und  im  Anschluss  an  diesen  FOHRER,  HAT,  203,  sowie  LANG, Ezechiel, 31.  128  Zwar  zeigt  Pap.  967  auch  sonst  etliche  möglicherweise  auf  homoioteleuta beruhende  Auslassungen, aber diese enthalten im Durchschnitt ca. 20 Buchstaben und maximal  266 Buchstaben, während es sich bei 36,23bbff. um insgesamt 1451 Buchstaben han‐ delt. 

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

mentreffen  eines  Blattverlustes  mit  einer  versehentlichen  Blattver‐ tauschung in der Vorlage von Pap. 967 zu erklären seien.129 Bei diesem  Versuch  muss  man  allerdings  nicht  nur  mit  gleich  zwei  Versehen  in  der  Textüberlieferung  rechnen,  sondern  auch  noch  mit  der  dritten  Hypothese,  dass  sowohl  der  fehlende  Abschnitt  von  Kap.  36  als  auch  die  folgenden  Kapitel  jeweils  auf  genau  ein  Blatt  gepasst  hätten.  Und  hierbei wäre noch nicht das Zeugnis des Codex Wirceburgensis mit in die  Überlegungen einbezogen.   Einen anderen Ansatz wählt GARSCHA, der die abweichende Kapi‐ telfolge  in  Pap.  967  als  „dogmatische  Korrektur“  erklären  will:  „Der  Ansturm der Völker (38,1‐39,29) muß erst erfolgt sein, ehe die Heilszeit  beginnen  kann.“130  Auch  wenn  diese  Beobachtung  sicher  nicht  unzu‐ treffend  ist,  bleibt  GARSCHAS  Lösung,  die  er  allerdings  auch  nur  im  Rahmen zweier Fußnoten darstellt, eine Erklärung für die Auslassung  in Ez 36 schuldig.  Aus dieser kurzen Übersicht wird deutlich, dass die Schwäche der  bisher  unternommenen  Lösungsvorschläge  gerade  in  ihrer  Konzen‐ tration  auf  nur  eine  Auffälligkeit  des  Pap.  967  liegt.  Denn  um  beide  Phänomene  sowie  die  parallele  altlateinische  Bezeugung  erklären  zu  können,  müssen  sie  mit  einer  zweiten  bzw.  dritten  These  kombiniert  werden.  Es  legt  sich  deshalb  nahe,  nach  einer  zusammenhängenden  Erklärung  für  abweichende  Textfolge  und  Auslassung  zu  suchen.131  Unter  dieser  Voraussetzung  hat  LUST  die  These  aufgestellt,  dass  Pap.  967  eine  hebräische  Vorlage  bezeuge,  die  gegenüber  dem  masoreti‐ schen Text ursprünglicher sei.132 Ausgehend von einer stilistisch‐termi‐ nologischen Untersuchung des hebräischen und griechischen Textes in  36,23bb‐38,  die  die  Sonderstellung  des  Stückes  zeigt,133  macht  er  plau‐ sibel, dass der Abschnitt sowohl in der ersten Fassung des griechischen  Textes wie auch in dessen hebräischer Vorlage gefehlt habe. Hier liege  vielmehr eine späte redaktionelle Bildung vor, die Formulierungen aus  anderen  Stellen  des  Ezechiel‐  und  des  Jeremiabuches  aufnehme  und  somit  den  „Charakter  einer  Anthologie“134  habe.  Das  Problem  der  un‐ terschiedlichen Kapitelanordnung kann er dann dadurch lösen, dass er                                 129  Vgl.  SPOTTORNO,  Omisión,  95‐97,  und  im  Anschluss  an  diese  ALLEN,  WBC  29,  177,  und OHNESORGE, Jahwe, 203‐207.   130  GARSCHA, Studien, 122 Anm. 349; vgl. auch GARSCHA, a.a.O., 293f. Anm. 823.  131  So mit LUST, Ezekiel, 518.533, und SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 186.  132  Vgl. dazu und zum Folgenden LUST, Ezekiel, 517‐533.   133  Vgl. LUST, Ezekiel, 521‐525. Bereits THACKERAY ist aufgrund einer stilistischen Unter‐ suchung  von  Ez  36,24‐38  zu der Überzeugung gekommen, dass der Übersetzer der  LXX hier ein älteres Stück eingearbeitet habe (vgl. THACKERAY, Septuagint, 124‐129).  Siehe dazu auch ZIMMERLI, BK, 873.   134  LUST, Ezekiel, 522: „character of an anthology“. 

 

Die Heilsprophetien in Ez 34‐39 

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die  Funktion  von  Ez  36,23bb‐38  als  die  eines  Verbindungsstückes  be‐ stimmt, das die Umstellung von Ez 37 von seinem ursprünglichen Ort  zwischen Kap. 39 und 40 vor Kap. 38 ermöglichen soll. Diese Kapitel‐ umstellung sei vermutlich auf eine pharisäische Bearbeitung in christ‐ licher  Zeit  zurückzuführen,  durch  die  die  Position  der  Pharisäer  in  theologischen  Auseinandersetzungen  mit  den  Christen  gefestigt  wer‐ den sollte.135 Die These von LUST zur Priorität der von Pap 967 bezeugen Buch‐ version  hat  in  den  Untersuchungen  von  SCHWAGMEIER  eine  aus‐ führliche  Bestätigung  gefunden.136  Sie  ist  der  einzig  überzeugende  Erklärungsvorschlag für die Auffälligkeiten in Pap. 967, da sie die Aus‐ lassung von 36,23bbff. in einen kausalen Zusammenhang mit der vom  masoretischen  Text  abweichenden  Kapitelfolge  bringt.  Dazu  kommt  die  sprachliche  Sonderstellung  des  Stückes,  die  auf  diese  Weise  eine  einleuchtende Begründung findet. Die verbindende Funktion zeigt sich  insbesondere an zwei Beobachtungen: So nimmt 36,27 mit der Formu‐ lierung „und meinen Geist gebe ich in euer Inneres“ (‫)ואת־רוחי אתן בקרבכם‬  in  einem  Satz  das  Thema  der  in  Ez  37,1‐14  folgenden  Vision  von  der  Belebung der trockenen Knochen vorweg (vgl. ‫ונתתי רוחי בכם‬, 37,14). Mit  dem  vorhergehenden  Abschnitt  ist  Ez  36,23bbff.  dagegen  durch  die  inclusio  „nicht  um  euretwillen“  (‫)לא למענכם‬  in  36,22  und  36,32  verbun‐ den. Auch wenn LUST in der Frage der Priorität von Pap. 967 zu folgen  ist, muss seine zeitliche Ansetzung aufgrund der Textfunde vom Toten  Meer  ausgeschlossen  werden.  Denn  die  Handschrift  des  Buches  Eze‐ chiel,  die  in  Masada  gefunden  wurde  (MasEzek),  bezeugt  materialiter  für  die  zweite  Hälfte  des  1.  Jh.s  v.  Chr.  eine  Ausgabe  des  Buches  mit  der  Kapitelfolge  36‐37‐38‐39  und  dem  „Verbindungsstück“  36,23bb‐ 38.137 Auf der Suche nach einer neuen zeitlichen Einordnung der Über‐ arbeitung hat das 1. Jh. v. Chr. deshalb als terminus ad quem zu gelten.  Der terminus a quo hängt dagegen von der Datierung der vorausgehen‐ den redaktionsgeschichtlichen Vorgänge im Buch ab.138 Neben  der  zeitlichen  Ansetzung  ist  die  These  von  LUST  aber  auch  in ihrer Grundaussage kritisiert worden. So hat OHNESORGE eingewen‐ det,  dass  Ez  36,23bb‐38  literarisch  nicht  einheitlich  sei,  was  gegen  die                                 135   Vgl. LUST, Ezekiel, 532.   136  Vgl. insbesondere SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 180‐186.313‐317.  137  Vgl.  die  Edition  von  TALMON  in:  TALMON,  Masada  VI,  59‐75;  zur  Datierung  vgl.  TALMON, a.a.O., 60.   138  Vgl. dazu u. Kap. IV. 2.1.4. Vgl. auch SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 356‐358, der  ebenfalls auf die Textfunde von Masada hinweist und zu dem Ergebnis kommt, dass  die Umarbeitung zur masoretischen Textfolge in das 3. oder 2. Jh. v. Chr. zu datieren  sei (vgl. SCHWAGMEIER, a.a.O., 364). 

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

von LUST angenommene Funktionsbestimmung spreche.139 Es ist aller‐ dings fraglich, ob die Einheitlichkeit tatsächlich Kriterium für die Gül‐ tigkeit der These sein kann. Vielmehr ist entscheidend, dass die redak‐ tionelle  Verbindungsfunktion  bereits  für  den  Grundbestand  von  Ez  36,23bbff.  nachweisbar  ist,  falls  sich  erweisen  sollte,  dass  das  Stück  literarisch  mehrschichtig  ist.140  Dann  spräche  nichts  dagegen,  dass  der  Grundbestand  weitere  Fortschreibungen  erfahren  hat.  Mit  der  späten  Einfügung von Ez 36,23bbff., nachdem sich die Textüberlieferung in die  durch  Pap.  967  bezeugte  Tradition  und  die  protomasoretische  Buch‐ fassung  gegabelt  hat, liegt ein Fall vor, bei dem die Vorgänge literari‐ scher Fortschreibung in die Phase der Textüberlieferung hineinreichen.  Dabei  handelt  es  sich  nicht  um  einen  Einzelfall,  sondern  es  zeigt  sich  zunehmend, dass in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten mehrere  Textfassungen  nebeneinander  existierten  und  gerade  die  Abweichun‐ gen  zwischen  diesen  verschiedenen  Fassungen  Beleg  dafür  sind,  dass  man sich hier noch in einem Stadium des produktiven Textwachstums  befindet.141 Eine mehrstufige literarische Nacharbeit gerade an Gelenk‐ stücken mit buchredaktioneller Bedeutung wie Ez 36,23bbff. kann des‐ halb nicht überraschen.  Als zweiter Kritikpunkt ist der Hinweis von BLOCK zu nennen, dass  Ez  36,16‐23ba  ohne  die  Fortsetzung  in  36,23bbff.  fragmentarisch  blei‐ be.142  Die  Fortsetzungsbedürftigkeit  von  36,16‐23ba  ist  nicht  von  der  Hand  zu  weisen:  In  diesem  Text  kündigt  Jhwh  an,  dass  er  die  Ehre  seines  heiligen  Namens  unter  den  Völkern  wiederherstellen  will,  so  dass  man  eine  Erfüllung  dieser  Ankündigung  erwartet.  Fraglich  ist  allerdings,  ob  gerade  36,23bbff.  der  ideale  Kandidat  für  eine  Fortset‐ zung ist, denn ab V 24 folgt ein mehrstufiges Restitutionsprogramm, in  dem  das  Handeln  Jhwhs  zugunsten  seines  Namens  keine  Rolle  mehr  spielt.  Aus  der  Fortsetzungsbedürftigkeit  von  36,16‐23ba  ist  deshalb  nicht  notwendigerweise  abzuleiten,  dass  die  ursprüngliche  Fortfüh‐ rung in 36,23bbff. vorliegen muss, sondern es ist vielmehr zu fragen, ob  auf einer früheren literarischen Wachstumsstufe ein anderes Textstück  als  ursprüngliche  Fortsetzung  in  Frage  kommt.  Die  erste  Wahl  dafür                                 139  Vgl. OHNESORGE, Jahwe, 205f. Ebenso will ALLEN, WBC 29, 177f., in Abgrenzung von  LUST in 36,23bbff. ein überarbeitetes Redaktionsstück sehen, das aus Ezechiels Schule  stamme.  Dagegen  verteidigt  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen,  324‐328,  erneut  die  Einheitlichkeit von Ez 36,23bb‐38.  140  Vgl. dazu den hier erbrachten Nachweis u. Kap. III. 1.2.  141  Vgl.  dazu  grundsätzlich  STIPP,  Textkritik,  143‐159;  ULRICH,  Process,  51‐78,  und  KRATZ, Exegese, 144‐150.  142  Vgl.  BLOCK,  NICOT  II,  341.  BLOCK  greift  dabei  die  Argumentation  von  ZIMMERLI,  BK,  873,  auf,  der  sich  mit  diesem  Argument  für  einen  ursprünglichen  Textzusam‐ menhang in 36,16‐32 ausgesprochen hat. 

 

Die Heilsprophetien in Ez 34‐39 

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wären  die  Gog‐Kapitel  Ez  38f.,  die  in  Pap.  967  direkt  auf  36,16‐23ba  folgen, wobei aber noch zu prüfen sein wird, inwieweit es sich hier um  einen ursprünglichen Textzusammenhang handeln kann.143 Die  kritische  Durchsicht  der  Positionen  zum  textgeschichtlichen  Befund  zeigt  damit,  dass  der  griechische  Pap.  967  mit  großer  Wahr‐ scheinlichkeit  eine  ältere  Ausgabe  des  Ezechielbuches  repräsentiert,  der  gegenüber  der  masoretische  Text  eine  jüngere  Buchrezension  darstellt.144  Diese  ältere  Buchfassung  ist  dabei  nur  indirekt  in  der  hebräischen  Vorlage  des  griechischen  Papyrus  greifbar  und  muss  im  Vergleich  von  MT  und  Pap.  967  erschlossen  werden.145  Bei  dem  im  Papyrus nicht enthaltenen Abschnitt Ez 36,23bb‐38 handelt es sich um  ein  spätes  Verbindungsstück,  das  die  Kapitelumstellung  von  der  Ab‐ folge  in  Pap.  967  zur  Struktur  des  masoretischen  Textes  leistet,  und  damit zu den jüngsten Texten des Buches gehört.   Dieses  Ergebnis  hat  erhebliche  Konsequenzen  für  die  Analyse  der  Heilsworte,  da  die  redaktionsgeschichtliche  Untersuchung  für  sämt‐ liche  Wachstumsstufen,  die  der  protomasoretischen  Buchfassung  lite‐ rarisch vorausgehen, die Textfolge von Pap. 967 zugrunde legen muss.  Auch  wenn  in  jüngster  Zeit  zunehmend  die  Bedeutung  des  Papyrus  für  die  Ezechielexegese  erkannt  worden  ist,  wobei  insbesondere  die  Arbeiten  von  POHLMANN  und  SCHWAGMEIER  zu  nennen  sind,146  steht  nach wie vor eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung für Ez 34‐39  aus, die die einzelnen Textanschlüsse untersucht und die literarischen  Schichten  neu  in  den  Blick  nimmt.  Im  folgenden  Überblick  über  die  Heilsverheißungen von Ez 34‐39 soll deshalb gezeigt werden, wie das  Zeugnis  des  Pap.  967  für  die  redaktionsgeschichtliche  Analyse  frucht‐ bar gemacht werden kann. 

                               143  Vgl. dazu u. Kap. II. 4.3.  144  Vgl. SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 317.  145  Vgl.  dazu  auch  die  Erwägungen  zur  hebräischen  Vorlage  der  Seputaginta  von  AEJMELAEUS, Vorlage, 58‐71.87‐89.  146  POHLMANN,  ATD,  524f.,  legt  in  seinem  Kommentar  die  Textfolge  von  Pap.  967  zu‐ grunde, wobei er aber die redaktionsgeschichtlichen Konsequenzen für den Bereich  der Heilsprophetie in Ez 34‐39 im Gesamtentwurf des Kommentars nicht ausführlich  darstellen kann. SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 239‐317, konzentriert sich auf eine  Gegenüberstellung  der  beiden  durch  MT  und  Pap.  967  repräsentierten  Buchge‐ stalten. Seine grundlegenden Ergebnisse sind in Bezug auf die weiteren literarischen  Vorstufen  des  Buches  noch  weiter  auszuwerten.  Weiterhin  haben  auch  RUDNIG,  Heilig, 54, und PETRY, Entgrenzung, 259‐262, in ihren Arbeiten das Zeugnis von Pap.  967 berücksichtigt. 

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

4.3. Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen zu Ez 34‐39  Die  folgende  Relieflesung  der  Heilsworte  in  Ez  34‐39  stellt  eine  erste  Sichtung und Sortierung der im dritten Teil dieser Studie (Kap. III.) zu  behandelnden  Texte  und  Textabschnitte  dar,  wobei  zugleich  Indizien  für  eine  literar‐  und  redaktionskritische  Analyse  gesammelt  werden  sollen. Es wird deshalb darum gehen, die Gliederungselemente in den  betreffenden  Kapiteln  bezüglich  der  Textabgrenzungen  auszuwerten  und inhaltliche oder terminologische Querverbindungen zwischen den  Texten zu notieren. Diese Frage ist im Hinblick auf die Problemstellung  der  Arbeit  auch  auf  mögliche  Entsprechungen  der  ezechielischen  Heilsprophetien  zu  den  Unheilsansagen  im  ersten  Buchteil  sowie  Be‐ rührungen  mit  anderen  alttestamentlichen  Büchern  auszuweiten.  Das  Ziel  des  nachfolgenden  Überblicks  ist  deshalb  ein  zweifaches:  Zuerst  soll  eine  vergleichende  Betrachtung  der  einzelnen  Texte  in  Ez  34‐39  eine vorläufige redaktionsgeschichtliche Einordnung der Stücke erlau‐ ben, auf der die folgenden Einzeltextanalysen aufbauen können. Dane‐ ben  geben  die  aufgezeigten  Verbindungen  von  Ez  34‐39  zu  anderen  Teilen  des  Ezechielbuches  bzw.  zu  anderen  Schriften  des  Alten  Testa‐ ments  einen  ersten  Hinweis  darauf,  welche  Texte  für  die  Analyse  der  innerbiblischen Auslegung zu berücksichtigen sein werden.  Heilsworte finden sich im Buchablauf schon im ersten und zweiten  Teil  des  Ezechielbuches;  hier  sind  die  kurzen  heilsprophetischen  An‐ hänge in Ez 11,17‐20; 13,21.23; 16,53‐63; 17,22‐24; 18,31; 20,39‐44; 21,32b  und  28,25f.  zu  nennen.  Ihren  eigentlichen  Ort  hat  die  Heilsprophetie  aber  im  dritten  Teil  des  Buches  in  Kap.  34‐39.  Voraussetzung  für  das  Einsetzen  der  Heilsworte  ist  der  Fall  Jerusalems,  der  in  Ez  24,1f.  mit  dem  Belagerungsbeginn  der  Stadt  durch  den  König  von  Babel  bereits  besiegelt ist. Eine genaue Beschreibung der Einnahme Jerusalems fehlt  zwar, diese wird aber in den Fremdvölkersprüchen Ez 25‐32 als bereits  geschehen vorausgesetzt, da die Zerstörung Jerusalems (25,3; 26,2), die  Verwüstung des Landes (25,3) sowie das Schicksal des Volkes (25,3.15)  als Grund für das Frohlocken der Nachbarvölker genannt werden. Mit  dem  Eintreffen  des  Entkommenen  in  Ez  33,21,  das  auf  den  5.10.  des  zwölften  Jahres  „unserer  Wegführung“  (‫)לגלותנו‬  datiert  ist, 147  erreicht  die Nachricht vom Fall der Stadt auch den Propheten, woraufhin sein  Mund wieder geöffnet wird (33,22).                                  147  Nach  den  Berechnungen  von  KUTSCH,  Daten,  44f.,  entspricht  dies  dem  19.  Januar  586.  KUTSCH  setzt  dabei  voraus,  dass  die  erste  Einnahme  der  Stadt  mit  Hilfe  der  babylonischen Chronik Wiseman auf den 2. Adar des 7. Regierungsjahres von Nebu‐ kadnezar, d. h. den 16. März 597, zu fixieren ist (vgl. KUTSCH, a.a.O., 12f.70f.). 

 

Die Heilsprophetien in Ez 34‐39 

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Die  Öffnung  von  Ezechiels  Mund  ist  aber  nicht  gleichbedeutend  mit dem Beginn der Heilsprophetie, sondern in Ez 33,23‐29 folgt zuerst  ein Wort gegen die Restbewohner Judas, die das Land für sich in An‐ spruch nehmen (‫לנו נתנה הארץ למורשׁה‬, 33,24). In paralleler Formulierung,  nur ergänzt durch ein Demonstrativpronomen, haben in Ez 11,15 die in  der  Stadt  Verbliebenen  gegenüber  den  Exulanten  ihren  Anspruch  auf  das Land geltend gemacht. Neben diesem Rückverweis auf Ez 11 ent‐ hält der Abschnitt auch eine Reihe von sprachlichen Verweisen auf die  kommenden Texte: So weist Jhwh den Anspruch der Restbevölkerung  u.a. mit der Begründung zurück, dass sie Blut vergießen (‫שׁפך דם‬, 33,25;  vgl.  36,18)  und  die  Frau  des  Nächsten  unrein  machen  (‫טמא‬  pi.,  33,26;  vgl.  36,17f.).  Deshalb  kündigt  er  an,  dass  alle,  die  in  den  Trümmer‐ stätten (‫חרבה‬, 33,24.27; vgl. 35,4; 36,4.8.10.12.33) leben, den wilden Tie‐ ren  zum  Fraß  werden  sollen  (‫חיה‬  mit  ‫אכל‬,  33,27;  vgl.  34,5.8.28;  39,4;  ferner  35,10  von  den  Bergen  Seirs  und  34,10  von  den  Hirten  Israels).  Von  den  Bergen  Israels  (‫הרי ישׂראל‬,  33,28;  vgl.  34,13.14;  36,1.4.8;  37,22;  38,8; 39,2.4.17) wird dagegen gesagt, dass sie wüst daliegen werden, so  dass  niemand  darüber  hinwandert  (‫עבר‬  Pt.,  33,28;  vgl.  35,7;  36,34;  39,11bis.14bis.15).  Dieser  „Kompendiumscharakter“  des  Textes  kann  vorsichtig  als  Indiz  dafür  gewertet  werden,  dass  33,23‐29  einen  Groß‐ teil der folgenden Texte bereits voraussetzt. Im Hintergrund der Passa‐ ge  sind  Auseinandersetzungen  um  den  Landbesitz  zwischen  der  im  Land  verbliebenen  und  der  aus  Exil  bzw.  Diaspora  heimkehrenden  Bevölkerung zu vermuten, wie sie ähnlich auch in Ez 11,14ff. diskutiert  werden.  Nach einem weiteren Wort über die Zuverlässigkeit des Propheten‐ wortes  in  Ez  33,30‐33  folgt  eingeleitet  mit  der  Wortereignisformel  in  34,1  das  Hirtenkapitel  als  erste  Heilsverheißung  des  dritten  Buchteils.  In  fünf  größeren  Phasen  des  literarischen  Wachstums  wird  hier  der  Beginn  des  Heils  für  das  Volk  thematisiert. 148  Auf  der  Ebene  der  Grundschicht 34,1‐10* setzt das Heil mit der Absetzung der Fremdvöl‐ kerhirten  im  Land  ein,  deren  Stelle  von  Jhwh  selbst  eingenommen  wird.  Die  Fortschreibung  in  34,11‐15*  baut  die  Vorstellung  von  Jhwh  als  dem  göttlichen  Hirten  weiter  aus,  überträgt  die  Situation  der  Zer‐ streuung  aber  nun  auf  die  Diaspora,  die  durch  Jhwh  auf  die  Berge  Israels  heimgeführt  wird.  An  dieses  erweiterte  Grundwort  haben  sich  in 34,23f.* und 34,25‐30 Reflektionen über die politische Verfassung im  Land  und  das  Gottesverhältnis  angeschlossen,  die  Voraussetzungen  für  die  Beständigkeit  des  Heils  bedenken.  Schließlich  wird  mit  dem  Scheidungsgericht über die Schafe in 34,17‐22 die Gültigkeit der folgen‐                                148  Vgl. dazu o. Kap. II. 2.2. und II. 3.4. 

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

den  Heilsworte  auf  die  Schafe  eingegrenzt,  die  nach  dem  Gericht  die  wahre  Herde  Jhwhs  bilden.  Wie  bereits  gezeigt,  ist  das  Hirtenkapitel  klar von seinem Kontext abgegrenzt, obgleich es auch durch Stichwort‐ aufnahmen  mit  diesem  verzahnt  ist:  So  verweist  der  Ausdruck  „zum  Fraß allen Tieren des Feldes werden“ (34,8) auf 33,27 zurück; zugleich  liegt  aber  ein  Vorverweis  auf  das  Zitat des Gebirges Seir in 35,12 vor,  das meint, die Berge Israels seien ihm zum Fraß gegeben. Ebenso liegt  mit den  ‫הרי ישׂראל‬ in 34,13.14 als das Ziel von Jhwhs Rückführungshan‐ deln  einerseits  ein  Rückverweis  auf  33,28  vor,  während  die  Nennung  der  Berge  andererseits  das  Thema  der  folgenden  Abschnitte  Kap.  35  und 36,1‐15 vorwegnimmt, in denen diese eine wichtige Rolle spielen.  Diese beiden Textstücke sind durch die Wortereignisformel in 35,1  formal einem einzigen Wortereignis zugeordnet. Ez 35 enthält Unheils‐ ansagen  für  das  Gebirge  Seir  (V 2.3.7)  bzw.  Edom  (V  15)  mit  den  variierenden Begründungen, dass es Blutschuld auf sich geladen habe  (V 6), Besitzansprüche an Israels Land angemeldet (V 10) und Schmä‐ hungen über die Berge Israels ausgesprochen habe (V 12). In Ez 36,1‐15  werden  dem  Propheten  dagegen  Heilsworte  an  die  personifizierten  Berge Israels aufgetragen (V 1.4.8). Die ausdrückliche Adressierung der  Verheißungen an die  ‫הרי ישׂראל‬ erinnert an Ez 6, wo den Bergen Israels  das Gericht angesagt wird, so dass 36,1‐15 als Aufhebung der dortigen  Unheilsansagen erscheint. Vor allem aber sind Ez 35 und 36,1‐15 durch  eine  Vielzahl  von  Querverbindungen  aufeinander  bezogen:  In  beiden  Fällen  werden  die  prophetischen  Worte  an  die  personifizierten  Berge  gerichtet, so dass das Geschick der Berge Seirs gleichsam als die dunkle  Folie  erscheint,  vor  der  die  Heilsaussagen  an  die  Berge  Israels  ent‐ wickelt  werden: 149  Der  ewigen  (‫)עולם‬  Verwüstung  des  Berglandes  von  Seir  steht  dabei  die  endgültige  (‫)לא עוד‬  Aufhebung  der  Schmach  und  der  unheilvollen  Zustände  auf  den  Bergen  Israels  gegenüber  (35,9  //  36,12.14.15;  vgl.  auch  34,28f.).  Der  Neubesiedelung  der  ‫הרי ישׂראל‬  und  der Vermehrung der Bevölkerung (‫)אדם‬ auf ihnen korrespondiert dage‐ gen  die  Verwüstung  auf  dem  Gebirge  Seir  und  die  Ausrottung  der  Bevölkerung (36,10‐12 // 35,7f.15). Und was Seir beansprucht hat, näm‐ lich  das  Land  zu  besitzen  (‫ירשׁ‬,  35,10),  das  wird  nun  Israel  zugespro‐ chen (‫ירשׁ‬, 36,12).  Neben  den  Korrespondenzen  gibt  es  aber  auch  Differenzen  zwi‐ schen  den  beiden  Texten:  So  fällt  in  36,1‐15  auf,  dass  es  „der  Feind“  (36,2) bzw. „der Rest der Nationen“ (36,3.4.5) ist, der jeweils angeklagt  wird, sich das Land zum Besitz genommen zu haben; indes wird Edom  nur  in  V  5  im  Anschluss  an  die  restlichen  Nationen  genannt,  wo  die                                 149  Zur sachlichen Entsprechung von Ez 35 und Ez 36,1‐15 vgl. auch ZIMMERLI, BK, 857;  GREENBERG, AncB, 723f., und SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 276f. 

 

Die Heilsprophetien in Ez 34‐39 

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Nennung  eher  nachklappenden  Charakter  hat,  während  das  Gebirge  Seir als Widersacher in 36,1‐15 überhaupt keine Erwähnung findet. Die  Gegenüberstellung  des  Gebirges  Seir  mit  den  Bergen  Israels  lässt  sich  somit nur aus dem Buchablauf ersehen, in dem Ez 36,1‐15 von Kap. 35  herkommend gelesen werden soll. Es wird im Laufe der weiteren Ana‐ lyse genauer danach zu fragen sein, ob Ez 35 und 36,1‐15 von Anfang  an  aufeinander  bezogen  waren  oder  ob  die  Korrespondenzen  das  Ergebnis einer nachträglichen Angleichung sind.150 Dabei sind auch die  Bezüge zu Kap. 6 mit in die Überlegungen einzubeziehen.151   Über die Korrespondenzen innerhalb des Textblockes Ez 35,1‐36,15  hinaus  sind  noch  einige  Verbindungen  zu  den  anderen  Texten  der  Heilsprophetien zu notieren. In den Kapiteln wird mit dem „Schmähen  der Völker“ (‫כלמת גוים‬, 36,6; vgl. 36,15), das die Berge ertragen mussten,  ein  Bogen  zurück  zu  34,29  geschlagen,  wo  den  Bewohnern  ebenso  zugesichert  wird,  dass sie das Schmähen der Völker nicht mehr ertra‐ gen  müssen.  Das  Leitwort  „Mensch“  (‫)אדם‬,  das  die  Passage  36,10‐14  kennzeichnet,  in  der  Jhwh  die  Wiederbesiedelung  der  Berge  verheißt,  erinnert dagegen an 34,31, wo die Herde Gottes nachträglich als Men‐ schenherde  (‫)מרעיתי אדם‬  bestimmt  wird.152  In  gleicher  Weise  kündigt  Jhwh in 36,37 an, dass er die Israeliten zahlreich an Menschen machen  wird  wie  eine  Herde  (‫)כצאן אדם‬.  Schließlich  nimmt  Ez  35,10  mit  der  Rede  von  den  zwei  Völkern  und  den  zwei  Ländern  das  Thema  der  Heilsworte in Ez 37,15ff. vorweg und problematisiert damit eine Situa‐ tion  im  Land,  die  ansonsten  in  den  Kapiteln  keine  Rolle  spielt.  Viel‐ mehr  zeichnen  sich  die  Stücke  in  35,1‐36,15  durch  die  metaphorisch‐ personifizierende Redeweise von den Bergen aus, die über diese Texte  hinaus  nur  noch  in  Ez  6  begegnet.  Die  Vermutung  liegt  nahe,  dass  hinter  den  Bergen  Israels  das  Land  steht,  das  im  Bild  der  Berge  Em‐ pfänger  von  Gerichts‐  und  Heilsansagen  wird.  Dieser  besondere  Sprachgebrauch  findet  sich  im  Alten  Testament  nur  im  Ezechielbuch,  so  dass  noch  zu  überlegen  sein  wird,  woher  dieses  Bild  kommt  und  worin seine besondere Funktion für das Buch liegt.153 Es  ist  nun  die  Frage,  ob  die  Grundschicht  von  Ez  34  die  Kapitel  35,1‐36,15 in einer frühen Wachstumsstufe bereits voraussetzt oder ob  ein umgekehrtes Verhältnis anzunehmen ist. Zwar thematisieren beide  Textstücke  die  Situation  im  Land,  aber  während  in  Ez  34,1‐10*  die  Befreiung des Volkes von Fremdherrschaft im Vordergrund steht, ist in  Ez  35,1‐36,15  die  Restitution  des  Landes  das  zentrale  Anliegen.  Die                                 150  151  152  153 

Vgl. dazu u. Kap. III. 7.2.  Vgl. dazu u. Kap. III. 7.4.3.  Zur Sekundarität von ‫אדם‬ in 34,31 vgl. o. Anm. 34.  Vgl. dazu u. Kap. III. 7.4.4. 

 

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Lage der Bevölkerung kommt dabei nur in zweiter Linie in den Blick,  indem den Bergen die Vermehrung der Bevölkerung „auf euch“ (‫עליכם‬,  36,11) angesagt wird. Dies könnte dafür sprechen, dass zumindest die  Grundschicht  in  Ez  35,1‐36,15  dem  Ausgangstext  im  Hirtenkapitel  vorausgeht, der nach der erfolgten Restitution des Landes die Lage des  Volkes in den Blick nimmt.  Im Buchablauf folgt auf die Heilsworte an die Berge Israels in 36,16  eine erneute Wortereignisformel, die formal den gesamten Komplex Ez  36,16‐37,14  umspannt.  Die  textgeschichtliche  Analyse  hat  allerdings  gezeigt,  dass  die  Kapitelabfolge  von  36  und  37  das  Ergebnis  einer  nachträglichen  Umstellung  ist.154  Da  im  Zuge  dieser  Umstellung  auch  36,23bb‐38 als redaktionelles Verbindungsstück in das Buch gekommen  ist, ist der nächste Textabschnitt in der Abgrenzung 36,16‐23ba in den  Blick zu nehmen. In diesem Stück steht wie auch im Hirtenkapitel das  unter  die Völker zerstreute Israel im Vordergrund. Aber anders als in  Kap.  34  ist  durch  die  Zerstreuung  Israels  nicht  das  Wohlergehen  der  Herde bedroht, sondern die Heiligkeit des Namens Jhwhs. Als Grund  für die Zerstreuung wird in 36,17‐19 angegeben, dass die Israeliten das  Land  durch  „ihren  Wandel  und  ihre  Taten“  (‫)בדרכם ובעלילותם‬  verun‐ reinigt haben (‫טמא‬ pi.), so dass Jhwh seinen Grimm über sie ausgegos‐ sen  (‫ואשׁפך חמתי‬,  36,18)  und  sie  unter  die  Völker  versprengt  hat.  Aber  gerade diese Situation der Zerstreuung hat nach 36,22 die Entweihung  des heiligen Namens zur Folge, so dass Jhwh gezwungen ist, um seines  Namens  willen  einzugreifen.  Im  Vergleich  mit  dem  vorangehenden  Text  in  36,1‐15  fällt  auf,  dass  36,16‐23ba  in  die  Zeit  vor  die  derzeitige  desolate Lage des Landes zurückblickt und die Gründe dafür erörtert,  warum  die  Bevölkerung  unter  die  Völker  zerstreut  worden  ist.  Dies  lässt  darauf  schließen,  dass  Ez  36,1‐15  als  dem  als  ergänzungs‐  bzw.  interpretationsbedürftig  empfundenen  Text  die  literarische  Priorität  gegenüber 36,16‐23ba einzuräumen ist.155 Der  Abschnitt  Ez  36,16‐23ba  zeigt  einige  Verbindungen  zu  voran‐ gehenden  Texten  im  Buch:  Die  in  36,18  genannte  Verunreinigung  durch Blutvergießen verweist zurück auf Kap. 22, in dem die Vergehen  der  Stadt  Jerusalem  und  ihrer  Bewohner  mehrfach  als  Blutvergießen  beschrieben  werden  (vgl.  22,3.4.6.9.12.27).  Entsprechend  sagt  Jhwh  in  22,22  an,  dass  er  seinen  Grimm  über  die  Israeliten  ausgegossen  habe   (‫שׁפכתי חמתי‬,  vgl.  36,18).  Daneben  bestehen  aber  auch  enge  Verbindun‐ gen zu Ez 20. Der in diesem Kapitel enthaltene Geschichtsrückblick hat  in V 39‐44 einen heilsprophetischen Ausblick auf die Zukunft, in dem  Jhwh ähnlich wie in 36,16‐23ba ankündigt, dass er an den Israeliten um                                 154  Vgl. dazu o. Kap. II. 4.2.  155  Vgl. POHLMANN, ATD, 474. 

 

Die Heilsprophetien in Ez 34‐39 

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seines  Namens  willen  handeln  wird  (‫למען שׁמי‬,  20,44;  vgl.  ‫לשׁם־קדשׁי‬,  36,22)  und  nicht  entsprechend  ihren  Wegen  und  Taten  (...  ‫לא כדרכיכם‬ ‫וכעלילותיכם‬, 20,44; vgl. dagegen 36,18). Allerdings ist zu fragen, ob in Ez  20  nicht  insgesamt  ein  anderes  geschichtstheologisches  Konzept  vor‐ liegt,  da  dort  das  Gericht  an  den  Israeliten  zusammen  mit  ihrer  Zer‐ streuung unter die Völker Bestandteil von Jhwhs Ordnungsplan ist, der  von Anfang an dem Ansehen seines Namens in den Augen der Völker  Rechnung trägt.156 Die Berührungen des Geschichtsrückblickes in Ez 20  mit der Heilsprophetie im dritten Buchteil werden deshalb noch weiter  zu  untersuchen  sein.157  Schließlich  wird  auch  in  der  Tempelvision  im  Zusammenhang  der  Rückkehr  Jhwhs  in  Ez  43,7b‐9  das  Problem  des  heiligen Namens wieder aufgegriffen. Außerdem gibt es über das Eze‐ chielbuch  hinausgehend  einige  Texte  im  Deuterojesajabuch,  in  denen  in ähnlicher Weise die Sorge um Jhwhs Namen als Begründungsmotiv  für  das  göttliche  Heilshandeln  genannt  wird.  Schon  ZIMMERLI  hat  auf  die „auffallend enge sachliche Parallele in Jes 43,22‐28“158 hingewiesen,  neben  der  auch  Jes  48,1‐11  und  Jes  52,4‐6  zu  nennen  sind,  in  denen  ebenso das Problem thematisiert wird, wie die Souveränität von Jhwhs  Namen gewährleistet werden kann.159 Im Rahmen der textgeschichtlichen Analyse ist bereits aufgefallen,  dass Ez 36,16‐23ba im Buchkontext fortsetzungsbedürftig bleibt, da die  sekundäre  Weiterführung  in  36,23bb‐38  das  Problem  des  heiligen  Na‐ mens  nicht  weiter  verfolgt.  Es  gibt  im  dritten  Buchteil  aber  zwei  wei‐ tere Textstücke, die sich mit Jhwhs heiligem Namen beschäftigen. Das  erste  ist  die  Gog‐Perikope  in  38,1‐39,22,160  in  der  Jhwh  seinen  Namen  heiligt,  indem  er  Gog  und  sein  Völkerheer  auf  den  Bergen  Israels  schlägt (39,4.7). Dabei scheint sich hinter dem Feind Gog eine Anspie‐ lung auf den jeremianischen „Feind aus dem Norden“ (vgl. Jer 4‐6*) zu  verbergen. Da in Pap. 967 Ez 38f. direkt auf 36,16‐23ba folgen, läge es  nahe,  hier  einen  ursprünglichen  Textzusammenhang  zu  vermuten.161  Allerdings ist anzufragen, ob nicht auch mit der Gog‐Perikope bereits  eine Fortschreibung von 36,16‐23ba vorliegt. Denn die Art und Ausfüh‐ rung  der  Heiligung  in  Ez  38,1‐39,22,  die  Zerschlagung  Gogs,  stellt                                 156  Vgl.  POHLMANN,  ATD,  486.  Zu  den  Verbindungen  vgl.  auch  KRÜGER,  Geschichts‐ konzepte, 441f.  157  Vgl. dazu u. Kap. III. 3.4.2.  158  ZIMMERLI, BK, 876.  159  Vgl. dazu KRATZ, Propheten, 85, der in Ez 36,22‐23 ein Zitat von Jes 52,5f. sieht.  160  Die  genaue  Abgrenzung  der  Gog‐Perikope  nach  hinten  ist  umstritten;  zu  der  hier  vertretenen Einteilung vgl. die Analyse in Kap. III. 2.2.1.  161  So  weist  auch  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen,  185,  darauf  hin,  dass  Ez  36,16‐23ba  nicht  fragmentarisch  bleibt,  wenn  man  die  Fortsetzung  in  Ez  38f.  sieht.  Allerdings  trifft er keine Aussage über die mögliche Ursprünglichkeit dieses Textanschlusses. 

 

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sachlich  keine  passende  Lösung  für  das  Problem  in  36,16‐23ba  dar.  Dieses  besteht  eben  nicht  in  einer  Feindbedrohung  Israels  von  außen,  sondern  in  der  Zerstreuung  Israels  unter  die  Völker,  die  aber  in  der  Gog‐Perikope  so  gut  wie  keine  Rolle  spielt.162  Es  ist  deshalb  zu  ver‐ muten,  dass  die  gesamten  Gog‐Kapitel  einen  gegenüber  36,16‐23ba  sekundären Textkomplex darstellen.  Der zweite Text, der sich ebenfalls mit Jhwhs heiligem Namen be‐ schäftigt, ist Ez 39,23‐29, der in der Textanordnung von Pap. 967 nach  Abtragung  der  Gog‐Perikope  38,1‐39,22  direkt  auf  36,16‐23ba  folgt.  Üblicherweise  wird  in  diesem  Text  in  verschiedenen  Abgrenzungen  der Epilog der Gog‐Kapitel gefunden, aber in seinem Anliegen zeigt er  vielmehr inhaltliche und terminologische Berührungen mit 36,16‐23ba:  So  geht  es  in  beiden  Fällen  nicht  nur  um  den  heiligen  Namen  Jhwhs  (36,20.21.22; vgl. 39,25), sondern während das Ansehen des Namens in  36,16‐23ba  durch  die  Diasporasituation  Israels  gefährdet  ist,  wird  in  39,23‐29  gerade  die  Sammlung  der  Diaspora  als  das  Handeln  Jhwhs  zugunsten seines heiligen Namens verstanden. Des Weiteren bildet in  der  griechischsprachigen  Überlieferung  die  Selbstbezeichnung  Jhwhs  als desjenigen, der seinen Zorn auf das Haus Israel ausgegossen hat (ouevxe,cea  to.n  qumo,n  mou,  39,29),  eine  deutliche  Korrespondenz  zu  36,18   (‫)ואשׁפך חמתי‬.  Der  masoretische  Text  spricht  dagegen  von  der  Ausgie‐ ßung  des  Geistes  (‫אשׁר שׁפכתי את־רוחי‬,  39,29),  mit der ein Rückbezug auf  die Geistbegabung in der Vision 37,1‐14 gegeben ist.163 Insgesamt legen  die  aufgezeigten  Entsprechungen  die  Vermutung  nahe,  dass  in  39,23‐ 29  die  vermisste  Fortsetzung  von  36,16‐23ba  vorliegt.  Allerdings  fällt  auf,  dass  in  36,23ba  und  39,23 zwei auf die Völker bezogene Erkennt‐ nisformeln aneinander stoßen; eine Dublette, die man in einer durchge‐ henden  Textschicht  nicht  erwarten  würde.  Im  Rahmen  der  Einzeltext‐ analyse  wird  noch  zu  zeigen  sein,  dass  es  sich  bei  36,23aba  um  eine  Einzelversfortschreibung  handelt,  die  erst  zu  einem  Zeitpunkt  des  Textwachstums an 36,16‐22 angefügt wurde, als der Text bereits durch  einen Grundbestand der Gog‐Perikope von 39,23‐29 getrennt wurde.164 Für  die  weitere  Analyse  ist  deshalb  davon  auszugehen,  dass  die  beiden  Texte  über  den  heiligen  Namen  Jhwhs  in  der  Abgrenzung  36,16‐22;  39,23‐29  sekundär  durch  die  Einfügung  der  Gog‐Perikope  in  38,1‐39,22  getrennt  worden  sind.  Diese  Kapitel  bieten  eine  Alternativ‐                                162  Vgl. lediglich die Verse 38,8.12.14, nach denen das gesammelte Volk bereits wieder  in sein Land zurückgekehrt ist.  163  Es spricht einiges dafür, der Lesart der griechischsprachigen Überlieferung den Vor‐ zug gegenüber der masoretischen Textvariante zu geben; zur ausführlichen textkriti‐ schen und redaktionsgeschichtlichen Diskussion vgl. u. Kap. III. 3.2.  164  Zum ausführlichen Nachweis dieser These vgl. u. Kap. III. 3.2.  

 

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lösung für die Heiligung von Jhwhs Namen, dessen Souveränität Jhwh  in  der  Zerschlagung  Gogs  erweist.165  Die  Fortschreibung  von  36,16‐ 23ba durch 36,23bb‐38 wäre dann sozusagen die „dritte Variante“, die  allerdings  Jhwhs  Sorge  um  den  heiligen  Namen  nicht  weiter  thema‐ tisiert,  sondern  ein  mehrstufiges  Restitutionsprogramm  für  das  Haus  Israel  entfaltet.  Neben  der  Funktion  als  Verbindungsstück  fallen  vor  allem die Beziehungen zum literarischen Kontext, insbesondere zu den  beiden  Bundesschlusstexten  in  34,25‐30  und  37,20‐28,  auf.  Die  innere  Erneuerung der Israeliten durch die Gabe des neuen Herzens und des  neuen  Geistes  in  36,26f.  legt  im  Fall  von  36,23bb‐38  die  Frage  nahe,  inwieweit  hier  Verbindungen  zur  Verheißung  des  neuen  Bundes  im  Jeremiabuch bestehen.166 Auf das redaktionelle Gelenkstück in 36,23bb‐38 folgt auf der Ebene  der  masoretisch  bezeugten  Buchgestalt  Kap.  37,  das  im  griechischen  Papyrus  direkt  hinter  39,23‐29  steht.  Das  Kapitel  zerfällt  thematisch  und  formal  in  zwei  Hälften.  Den  ersten  Abschnitt  bildet  in  Ez  37,1‐14  die dritte Vision des Propheten, in der er auf der Ebene die Wiederbele‐ bung  der  Knochen  durch  den  Geist  (‫רוח‬,  V  5.6.8.9.10.14)  schaut.  Dem  eigentlichen Visionsinhalt in V 1‐10 ist in V 11‐14 ein Disputationswort  angefügt,  in  dem  das  Haus  Israel  seine  Todesverfallenheit  beklagt  (V 11),  woraufhin  Jhwh  dem  Volk  die  Öffnung  der  Gräber  ankündigt  (V 12.13). Das Bild der geöffneten Gräber, wie es im Disputationswort  gezeichnet  wird,  steht  dabei  unverkennbar  in  Spannung  zu  dem  Bild  der  auf  der  Ebene  zerstreuten  Knochen  im  Visionsbericht.167  Die  Ver‐ mutung  liegt  deshalb  nahe,  dass  innerhalb  der  Perikope  37,1‐14  mit  literarischem Wachstum zu rechnen ist. Gerade im Vergleich mit dem  vorherigen Textstück ist auffällig, dass 37,1‐14 kaum mit dem näheren  Kontext in Ez 34‐39 verzahnt ist. Abgesehen von den zwei Schaltstellen  39,29 MT und 36,26f., in denen über das Leitwort ‫רוח‬ auf zwei verschie‐ denen  literarischen  Wachstumsstufen  die  Verbindung zu Kap. 37 her‐ gestellt ist, wird in dem Stück mit „Gebein“ (‫עצם‬, V 1.3.4.5.7.11), „Grab“  (‫קבר‬, V 12.13) und dem Verbum ‫חיה‬ (V 3.5.6.9.10.14) ein eigenes Voka‐ bular verwendet.   Trotz  der  wenigen  Bezüge  zum  Kontext  der  Heilsworte  gibt  es  Hinweise  darauf,  dass  die  Vision  in  Ez  37  eine  wichtige  buchstruktu‐                                165  So in der Sache auch POHLMANN, ATD, 516f., der allerdings in Kap. 38f. die Textab‐ grenzungen 38,1‐39,24 und 39,25‐29 zugrunde legt.   166  Vgl. dazu u. Kap. III. 1.4.4.  167  So mit POHLMANN, ATD, 493. ZIMMERLI, BK, 888, sieht V 1‐10 und V 11‐14 dagegen  im Verhältnis von Bild und Deutung zueinander stehen; daher dürfe die Spannung  zwischen Totengebeinen und Gräbern nicht zur „Zerreißung der beiden Teile“ ver‐ leiten. Zur literarkritischen Diskussion vgl. u. Kap. III. 6.2.1. 

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

rierende Funktion hat, da inhaltliche und terminologische Querverbin‐ dungen  zu  anderen  Buchteilen  vorliegen.  So  ist  37,1‐14  als  Visions‐ bericht zuerst formal mit den anderen drei großen Visionen des Buches  verbunden.  Die  Vision  vom  Auszug  der  Herrlichkeit  Jhwhs  aus  dem  Tempel  (Ez  8‐11)  und  die  Vision  vom  Wiedereinzug  in  Jerusalem  (Ez  40‐48)  bilden  das  Gerüst  der  Komposition,  das  mit  der  Berufung  des  Propheten durch die Herrlichkeit Jhwhs am Fluss Kebar (Ez 1‐3) kom‐ plementiert wird. Dabei wirkt die kurze Vision in Ez 37,1‐14 gegenüber  den anderen Visionen im Buch aber etwas verloren, und ihre Funktion  für das Buchganze ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich.168 Weiterhin  schlägt  die  Vision  über  das  Leitwort  ‫עצם‬  auch  einen  Bogen  zu  zwei  weiteren  Texten  im  ersten  Teil  des  Buches:  In  Kapitel  6,  der  Gerichts‐ rede  über  die  Berge  Israels,  verkündet  Jhwh,  dass  er  die  Gebeine  der  Israeliten  rings  um  ihre  Altäre  streuen  wird  (vgl.  6,5).  In  Ez  24,1‐14,  dem  Bildwort  über  das  Fleisch  im  Topf,  stehen  die  Knochen  in  ähnli‐ cher Weise für das, was von der Bevölkerung des zerstörten Jerusalem  nach  dem  Gericht  übrig  geblieben  ist (24,4.5.10).  Somit  zeichnet  sich  eine zweite rote Linie innerhalb der Buchkomposition ab: Die Gebeine  tauchen  sowohl  im  ersten  Gerichtswort  Ez  6  als  auch  im  letzten  Ge‐ richtswort  Ez  24  auf,  zu  denen  Ez  37,1‐14  ein  (ursprüngliches?)  heil‐ volles  Gegenstück  bildet.  Neben  dem  Motiv  der  Knochen  wird  auch  die  Geistbegabung  noch  daraufhin  zu  untersuchen  sein,  auf  welchen  traditionsgeschichtlichen  Hintergrund  bzw.  auf  welche  literarischen  Vorlagen sie zurückgeführt werden kann.169 Aufgrund der wenigen Verbindungen zum Kontext in Ez 34‐39 ist  es schwierig, ein erstes Urteil über die Position von 37,1‐14 im literari‐ schen Wachstum des dritten Buchteils zu fällen. Die Vision gehört auf  jeden Fall nicht zu den jüngsten Fortschreibungen, da die Querverbin‐ dungen zeigen, dass sie von 36,23bb‐38 und 39,23‐29 bereits vorausge‐ setzt wird. Von besonderem Interesse für die redaktionsgeschichtliche  Analyse wird das Verhältnis der beiden Grundworte in Ez 34,1‐10* und  Ez  37,1‐14  sein.170  Die  beiden  Texte  stehen  in  einer  gewissen  Konkur‐ renz  zueinander,  da  sie  in  verschiedenen  Bildern  von  der  Restitution  des Hauses Israel sprechen und damit eine jeweils andere Antwort auf  die Frage geben, wie die Berge Israels in 36,1‐15 eine Vermehrung der  Menschen erfahren werden. Eine genauere Klärung der relativen litera‐ rischen Abfolge von 34,1‐10* und 37,1‐14 wird noch zu leisten sein; da  die Stücke aber thematisch miteinander konkurrieren, kann zumindest                                 168  Vgl. dazu die Überlegungen zur Funktion der Vision in Kap. VI. 3.2.  169  Vgl. dazu u. Kap. III. 6.4.  170  Vgl. dazu u. Kap. III. 6.3. und III. 7.3. 

 

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als  gesichert  gelten,  dass  sie  verschiedenen  literarischen  Wachstums‐ stufen angehören.  Auf  die  Vision  in  Ez  37,1‐14  folgt  im  zweiten  Teil  des  Kapitels  in  37,15‐19  eine  Zeichenhandlung,  in  der  der  Prophet  die  Einheit  der  beiden  Israel‐Teilgrößen  Juda  und  Joseph  symbolisieren  soll.  Die  Ein‐ leitung  durch  die  Wortereignisformel  in  37,15  zeigt  bereits,  dass  die  Zeichenhandlung nicht auf derselben literarischen Ebene liegt wie das  vorhergehende  Textstück  37,1‐14.  Da  es  in  37,1‐14  um  die  Restitution  des ganzen Hauses Israel (‫;כל־בית ישׂראל‬ 37,11) geht, wäre zu überlegen,  ob 37,15‐19 dieses Thema nachträglich bildlich ausgestaltet und damit  gegenüber 37,1‐14 sekundär ist.  An die Zeichenhandlung Ez 37,15‐19 haben sich in 37,20‐28 weitere  Heilsworte  angelagert,  die  durch  das  rückbezügliche  ‫עץ‬  in  V  20  (vgl.  V 16.17.19)  als  Fortschreibung(en)  zu  erkennen  sind.  Auch  inhaltlich  beziehen  sich  zumindest  die  Verse  20‐24  auf  die  vorangehende  Zei‐ chenhandlung zurück, da in ihnen parallel zu der angestrebten Einheit  (‫אחד‬,  37,16.17.19)  von  Juda  und  Joseph  die  Sammlung  und  Rückfüh‐ rung  zu  einem  Volk  (‫גוי אחד‬,  37,22)  unter  einem  König  (‫מלך אחד‬,  37,22)  verheißen  wird.  Dieser  König  wird  in  V  24  mit  dem  Knecht  David  identifiziert,  der  als  einziger  Hirte  (‫)רועה אחד‬  über  die  Israeliten  herr‐ schen  soll.  In  der  Titulatur  Davids  als  Hirte  klingt  die  Davidver‐ heißung  des  Hirtenkapitels  an  (vgl.  34,23f.),  wobei  aber  auch  eine  gegenseitige  Beeinflussung  der  beiden  Herrschererwartungen  nicht  von  vornherein  auszuschließen  ist.  In  37,25  folgt  eine  erneute  David‐ verheißung,  die  aber  aufgrund  der  divergierenden  Herrscherkon‐ zeption von 37,24 zu trennen ist: In V 24 fungiert David als König und  Hirte,  in  V  25  wird  er  jedoch  als  ‫נשׂיא‬  bezeichnet. 171  Es  fällt  weiterhin  auf,  dass  das  mit  V  25  eröffnete  Heilswort  in  37,25‐28  sich  inhaltlich  nicht  mehr  auf  die  Zeichenhandlung  zurückbezieht,  sondern  mit  den  Verheißungen  von  Davidherrschaft,  Landbesitz  und  ewigem  Heils‐ bund  (‫ברית שׁלום ברית עולם‬,  37,26)  eine  Art  Kompendium  der  Heils‐ zukunft  im  Land  bietet.  Mithin  kann  in  37,25‐28  mit  einer  weiteren  Fortschreibung  der  in  37,15‐24  vorangehenden  Heilsworte  gerechnet  werden.172                                  171  Vgl.  RUDNIG,  Heilig,  66.  Die  griechischsprachige  Bezeugung  nimmt  dagegen  einen  Ausgleich  zwischen  den  unterschiedlichen  Titulaturen  vor  und  bezeichnet  David  sowohl  in  37,24  als  auch  in  37,25  als  a;rcwn.  Zur  Priorität  des  masoretischen  Textes  und der Interpretationsabsicht, die hinter der Textabänderung auf Seiten der griechi‐ schen Überlieferung steht, vgl. u. Kap. III. 4.2.2. Anm. 232, sowie u. Kap. III. 5.2.  172  Anders RUDNIG, Heilig, 66, der zu dem Schluss kommt, dass 37,25‐28 die ursprüng‐ liche Fortsetzung von 37,1‐14 darstelle; zur Diskussion dieser These vgl. u. Kap. III.  4.2.2., insbes. Anm. 234. 

 

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Die Rede vom Heilsbund und das ewige Wohnen im Land verwei‐ sen  dabei zurück auf Ez 34,25‐30, ein Text, in dem in ähnlicher Weise  die heilvolle Zukunft im Land beschrieben wird. Darüber hinaus kom‐ men wie für dieses Stück auch in Ez 37,25‐28 die Segensverheißungen  von Lev 26 als Vorlage in Frage, da die Zusage Jhwhs, unter den Isra‐ eliten  zu  wohnen,  hier  eine  beinahe  wörtliche  Entsprechung  hat  (Ez  37,26; vgl. Lev 26,11). Als Erfüllung dieser Ankündigung erscheint auf  der  Ebene  des  Endtextes  die  Rückkehr  der  Herrlichkeit  Jhwhs  in  den  Tempel in Ez 43,1‐9, wobei insbesondere auf die Unverbrüchlichkeits‐ aussagen  in  beiden  Verheißungen  hinzuweisen  ist  (‫לעולם‬,  37,25.26.28;  vgl. 43,7.9). Nach dem Zeugnis von Pap. 967 stand 37,25‐28 einmal un‐ mittelbar vor der Tempelvision in Ez 40‐48, so dass zu überlegen ist, ob  der  Text  auf  einer  bestimmten  literarischen  Ebene des Buches als Ein‐ leitung zum Verfassungsentwurf eingeschrieben worden ist.   Die  redaktionsgeschichtlichen  Beobachtungen  können  damit  wie  folgt  zusammengefasst  werden:  Für  36,23bb‐38  konnte  wahrscheinlich  gemacht werden, dass es sich hier um den jüngstem Text innerhalb von  Ez 34‐39 handelt, der als redaktionelles Verbindungsstück die Umstel‐ lung der Kapitel zur Abfolge der masoretischen Textgestalt ermöglicht.  Auch  mit  der  Gog‐Perikope  38,1‐39,22  liegt  eine  späte  Einfügung  vor,  die  im  Anschluss  an  36,16‐22(23aba)  eine  alternative  Antwort  darauf  gibt,  wie  die  Heiligkeit  von  Jhwhs  Namen  unter  den  Völkern  wieder‐ hergestellt  werden  kann.  Die  Gog‐Kapitel  zertrennen  dabei  einen  vorausgehenden Textzusammenhang von 36,16‐22 mit 39,23‐29, in dem  zum ersten Mal die Heiligkeit von Jhwhs Namen zur Begründung des  göttlichen  Heilshandelns  herangezogen  wird.  Schließlich  liegen  mit  34,25‐30 und 37,25‐28 zwei Texte vor, in denen in identischer Formulie‐ rung  vom  Schluss  eines  Heilsbundes  gesprochen  wird,  und  die  beide  Nähen zum Segensformular von Lev 26 aufweisen. Auch auf der litera‐ rischen  Ebene  der  Heilsworte  in  37,15‐24  zeigt  Kap.  37  Berührungen  mit dem Hirtenkapitel 34, das ebenfalls von der Rückführung der Dias‐ pora  (34,11‐15*)  und  der  Verheißung  des  davidischen  Hirten  spricht  (34,23f.*). Aber auch hier bedarf das genaue literarische Verhältnis wei‐ terer Untersuchungen.173 Zuletzt verbleiben die drei großen Texte in Ez 34,1‐10*; 37,1‐14 und  35,1‐36,15.  Eine  erste  vorsichtige  Einordnung  hat  wahrscheinlich  ge‐ macht,  dass  die  Grundschicht  in  34,1‐10*  den  Ausgangstext  von  35,1‐ 36,15 bereits voraussetzt und nicht auf eine literarische Ebene mit dem  konkurrierenden  Stück  in 37,1‐14 gehört. Damit ist nur noch über das  Verhältnis  zwischen  35,1‐36,15  und  37,1‐14  zu  urteilen.  Hier  liegt  zu‐                                173  Vgl. dazu u. Kap. III. 5.3. 

 

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erst  die  Vermutung  nahe,  dass  37,1‐14  mit  der  Restitution  des  Volkes  ein  Folgeproblem  gegenüber  der  Restitution  des  Landes  in  35,1‐36,15  thematisiert  und  damit  literarisch  sekundär  ist.  Ebenso  ist  aber  auch  denkbar,  dass  37,1‐14  ursprünglich  mit  den  Heilsworten  in  35,1‐36,15  zusammengehört  und  deren  Inhalt  beglaubigt,  indem  Jhwhs  Heils‐ wirken  als  in  Gang  gesetzt  beschrieben  wird.  Weniger wahrscheinlich  ist auf dem jetzigen Stand der Untersuchung die Variante, dass es sich  bei  37,1‐14  gegenüber  35,1‐36,15  um  den  literarisch  vorgängigen  Text  handelt;  die  Wiederbelebung  des  Volkes  ist  am  ehesten  als  ursprüng‐ liche  oder  als  redaktionelle  Antwort  auf  die  Mehrungsverheißung  an  die Berge zu verstehen. Allerdings muss die endgültige Klärung dieser  Frage den Einzeltextanalysen vorbehalten bleiben.  4.4. Die Bedeutung von Ez 34 für die Heilsprophetien  Beim Durchgang durch die Heilstexte in Ez 34‐39 hat sich gezeigt, dass  dem  Hirtenkapitel  eine  wichtige  Funktion  für  den  dritten  Buchteil  zukommt. Im Rahmen der Gesamtkomposition stellt es eine Art Ouver‐ türe dar, in der die verschiedenen Topoi der Heilsprophetie eingeführt  werden,  die  in  den  folgenden  Texten  eine  Rolle  spielen.  So  hat  die  Restitution des Volkes im Grundwort 34,1‐10* eine inhaltliche Parallele  in 37,1‐14 und vielleicht auch in 37,15‐19, während die Verheißung des  neuen  Exodus  an  die  Diaspora  ein  weiteres  Mal  in  37,20‐24  begegnet.  36,16‐23ba  und  39,23‐29  scheinen  dagegen  auf  diese  Sammlungsver‐ heißungen bereits Bezug zu nehmen, indem sie mit den Überlegungen  zu Jhwhs heiligem Namen nach dem Begründungsmotiv für die Heim‐ führung  der  Diaspora  fragen.  Die  Ankündigung  des  davidischen  Hirten in Ez 34,23f.* hat dagegen eine Parallele in 37,24, wo die David‐ herrschaft  allerdings  im  Rahmen  ausführlicherer  Überlegungen  zur  politischen  Lage  im  Land  thematisiert  wird  (vgl.  37,15‐19.20‐24).  Des  Weiteren  berühren  sich  34,25‐30  und  37,25‐28  in  der  Verheißung  des  Heilsbundes  und  seiner  segensreichen  Auswirkungen  auf  Volk  und  Land, so dass einzig die jüngste Fortschreibung in 34,17‐22 keine Ver‐ bindungen zu den anderen Heilsworten in Ez 35‐39 aufweist.  Die  vorangegangenen  Beobachtungen  erlauben  einige  Mutmaßun‐ gen über die Entstehung von Ez 34. Wenn angenommen werden kann,  dass  der  Ausgangstext  des  Hirtenkapitels  in  Ez  34,1‐10*  den  Grund‐ bestand  von  35,1‐36,15  bereits  voraussetzt,  dann  könnte  die  bildhafte  Rede  von  den  Bergen  Israels  Anlass  für  die  Auslegung  von  Jer  23,1f.(3f.) gegeben haben. Die Motivik legt es nahe, vom Volk auf den  Bergen im Bild der Schafherde zu sprechen, und da die Vorstellung der  zerstreuten Herde zur Beschreibung der desolaten Situation des Volkes 

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

im Land bereits in Jer 23,1f. begegnet, ist sie in Ez 34 erneut aufgenom‐ men  worden.  Darüber  hinaus  ist  zu  überlegen,  ob  Ez  34,1‐10*  bereits  auf  die  in  35,1‐36,15  angelegte  Fremdvölkerproblematik  reagiert:  Wie  das Heil für das Land mit dem Gericht über das Gebirge Seir beginnt,  so  setzt  das  Heil  für  das  Volk  mit  der  Absetzung  der  Fremdvölker‐ hirten ein.   Über die expositorische Funktion hinaus liegt im gesamten Hirten‐ kapitel ein Scharnierstück vor, in dem die Bedingungen für den Über‐ gang zum Heil immer wieder neu durchdacht werden. Während in der  Grundschicht die Befreiung von der Fremdherrschaft den Umschwung  zum Heil markiert, rechnet die erste Fortschreibung in 34,11‐15* damit,  dass erst die gesamte Diaspora heimgeführt werden muss, ehe das Heil  beginnt. Die letzte Fortschreibung in 34,17‐22 konditionalisiert schließ‐ lich  nachträglich  die  gesamten  Heilsaussagen  in  Ez  34‐39,  da  sie  nur  noch  einem  bestimmten  Teil  des  Volkes  gelten,  der  sich  durch  das  moralisch‐ethisch  richtige  Verhalten  qualifiziert  hat.  Eventuell  sind  hier auch noch Ez 33,23‐29 und Ez 35,1‐15 mit in die Überlegungen ein‐ zubeziehen,  die  einem  bestimmten  Bevölkerungsanteil  bzw.  einem  exemplarischen  Fremdvolk  das  Gericht  ansagen,  so  dass  in  Ez  33‐35  insgesamt mit einem Gelenkstück des Buches zu rechnen wäre. 

5. Zwischenergebnis und Konsequenzen für das   weitere Vorgehen  Die  Untersuchung  des  Hirtenkapitels  und  seines  Kontextes  im  dritten  Teil des Ezechielbuches lässt bereits erahnen, dass innerbiblische Aus‐ legungsvorgänge einen entscheidenden Faktor im literarischen Wachs‐ tum der ezechielischen Heilsprophetien darstellen. Allerdings sind hier  unterschiedliche  literarische  Referenzbereiche  zu  unterscheiden.  So  haben zuerst die zahlreichen Bezüge innerhalb der Heilsworte in Ez 34‐ 39  gezeigt,  dass  Fortschreibungsprozesse  im  Ezechielbuch  in  hohem  Maße  als  Reaktion  auf  den  vorliegenden  Textbestand  zu  verstehen  sind.  Darüber  hinaus  bestehen  neben  den  selbstreferentiellen  Auf‐ nahmen aber auch Verbindungen zu Texten der übrigen Buchteile und  Berührungen  mit  anderen  Schriften  des  Alten  Testaments.  Die  nach‐ folgende  Untersuchung  der  Schriftauslegung  im  Ezechielbuch  wird  deshalb nicht nur die literarischen Verbindungen innerhalb von Ez 34‐ 39  und  zwischen  den  verschiedenen  Buchabschnitten  zu  berücksich‐ tigen  haben,  sondern  es  sind  auch  Texte  außerhalb  des  Buches  mit  einzubeziehen. 

 

Zwischenergebnis und Konsequenzen für das weitere Vorgehen 

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Für diese Fragestellung bietet sich im Folgenden ein grundsätzlich  dreischrittiges  Vorgehen  an:  Am  Anfang  steht  jeweils  die  Einzeltext‐ analyse,  an  die  sich  eine  Untersuchung  des  redaktionellen  Horizontes  in  Ez  34‐39  anschließt.  Hier  sind  die  Verbindungen  des  jeweiligen  Stückes  zum  literarischen  Kontext  daraufhin  auszuwerten,  welchen  Textbestand  es  voraussetzt  und  mit  welchen  Texten  es  eine vergleich‐ bare  theologische  Aussageabsicht  teilt.  Im  dritten  Schritt  schließt  sich  die  Analyse  der  innerbiblischen  Auslegung  an,  in  der  die  Frage  nach  möglichen  literarischen  oder  auch  traditionsgeschichtlichen  Vorlagen  zu stellen ist, die außerhalb des Textbereiches Ez 34‐39 liegen. Entspre‐ chend den vorausgegangenen methodischen Erwägungen wird der Be‐ griff der innerbiblischen Auslegung in den Einzeltextanalysen den Aus‐ legungsvorgängen  vorbehalten  bleiben,  deren  Referenzbereich  über  den Buchabschnitt Kap. 34‐39 hinausgeht.174   Die  redaktionsgeschichtlichen  Beobachtungen  zu  Ez  34‐39  haben  bereits  in  einigen  Fällen  Hinweise  zur  literarischen  Einordnung  er‐ bracht.  Insgesamt  müssen  die  gemachten  Beobachtungen  aber  noch  genauer  textkritisch,  literarkritisch  und  redaktionsgeschichtlich  über‐ prüft  werden,  um  weitere  Aufschlüsse  über  die  relative  Schichtenab‐ folge  in  Ez  34‐39  zu  gewinnen.  Im  weiteren  Vorgehen  soll  dabei  das  Subtraktionsprinzip  Anwendung  finden,  indem  von  der  Ebene  des  masoretisch bezeugten Buchganzen aus die einzelnen diachronen Ebe‐ nen nacheinander analytisch abgetragen werden, wobei die letzte vor‐ masoretische  Wachstumsstufe  im  Zeugnis  des  Pap.  967  materialiter  greifbar ist. Allerdings gilt dies im Grundsatz nur für die Textfolge des  Papyrus,  die  für  sämtliche  vorausgehende  literarischen  Ebenen  zu‐ grunde  zu  legen  ist,  während  dessen  Lesungen  im  Einzelnen  auf  die  Priorität  gegenüber  dem  masoretischen  Text  hin  zu  prüfen  sein  wer‐ den.175 In den Fällen, in denen die redaktionsgeschichtliche Zuordnung  noch unklar ist, werden thematisch ähnliche Texte im Zusammenhang  behandelt, da so am ehesten die relative Abfolge geklärt werden kann.  Eine weitere Richtschnur ist mit der relativen Chronologie der Schich‐ ten  im  Hirtenkapitel  Ez  34  gegeben,  zu  denen  die  anderen  Texte  im  Bereich  von  Ez  35‐39  in  Beziehung  gesetzt  werden  können.  Als  Einzi‐ ges der Stücke aus dem Hirtenkapitel wird die Verheißung des Heils‐ bundes in 34,25‐30 noch einmal gesondert zu untersuchen sein, weil sie  aufgrund  der  fehlenden  Herdenmetaphorik  bisher  nur  kurz  gestreift  worden ist.  Für die Einzeltextuntersuchungen legt sich somit die nachstehende  Reihenfolge  nahe:  Am  Anfang  steht  die  Analyse  von  36,23bb‐38,  das                                 174  Vgl. dazu o. Kap. I. 2.1.  175  Vgl. dazu die methodischen Einschränkungen o. Kap. II. 4.2. 

 

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Auftakt zur Heilsverkündigung: Ez 34   

nach den Ergebnissen der textgeschichtlichen Untersuchung das jüngs‐ te Textstück im Bereich von Ez 34‐39 repräsentiert (Kap. III. 1.). Daran  schließt sich die Analyse der Gog‐Perikope 38f. an (Kap. III. 2.), auf die  die  Untersuchung  der  literarisch  vorausgehenden  Textschicht  36,16‐ 23ba; 39,23‐29 folgt (Kap. III. 3.).176 Als nächstes ist das Kapitel 37 von  der  mutmaßlich  jüngsten  Wachstumsstufe  aus  abzutragen,  so  dass  zuerst  die  Verheißung  des  Heilsbundes  in  37,25‐28  im  Verbund  mit  34,25‐30  zu  behandeln  ist  (Kap.  III.  4.).  Daran  schließen  sich  die  Aus‐ führungen über das geeinte Volk und den einen Herrscher in 37,15‐24  an  (Kap.  III.  5.),  ehe  zuletzt  die  Vision  von  den  trockenen  Knochen in  37,1‐14  in  den  Blick  kommt  (Kap.  III.  6.).  Damit  bleiben  nur  noch  die  Heilsansagen an die Berge Israels in 35,1‐36,15 (Kap. III. 7.), mit deren  Grundbestand  die  Untersuchung  die  mutmaßlich  ältesten  Heilsworte  im Bereich von Ez 34‐39 erreicht hat. 

                               176  Da  erst  im  Laufe  der  jeweiligen  Einzeltextanalysen  der  genaue  Nachweis  erbracht  wird,  dass  die  Gog‐Perikope  38,1‐39,22  umfasst,  bzw.  dass  in  36,23aba  ein  späterer  Einschub vorliegt, gehen die Analysen von der jeweils weiteren Textabgrenzung aus. 

 

 

Kapitel III  SCHRIFTAUSLEGUNG IN EZ 34‐39  1. Der neue Bund: Ez 36,23bb‐38  1.1. Standortbestimmung und Vorgehensweise  Die  textgeschichtliche  Untersuchung  hat  ergeben,  dass  das  Textstück  Ez  36,23bb‐38  zu  den  jüngsten  Texten  des  Ezechielbuches  gehört  und  im  Bereich  von  Ez  34‐39  die  letzte  größere  Fortschreibung darstellt.1  Die  Besonderheit  dieser  Perikope  liegt  aber  nicht  nur  in  ihrer  bereits  erwähnten Funktion als redaktionelles Verbindungsstück, sondern mit  der  Ankündigung  eines  neuen  Herzens  und  eines  neuen  Geistes  für  das  Haus  Israel  enthält  sie  Verheißungen,  die  zu  den  zentralen  Heils‐ aussagen  des  Buches  gehören.  Im  Folgenden  soll  in  drei  Schritten  ge‐ zeigt werden, dass im Hintergrund der Aussagen über das neue Herz  und  den  neuen  Geist  Reflexionen  über  einen  neuen  Bund  stehen,  wie  sie  auch  in  anderen  Texten  des  Ezechiel‐  und  des  Jeremiabuches  zu  finden sind.   Grundlage der Ausführungen ist in einem ersten Schritt eine Text‐ analyse  von  Ez  36,23bb‐38,  die in einem zweiten Abschnitt durch eine  Untersuchung  des  literarischen  Kontextes  ergänzt  wird.  Daran  an‐ schließend  ist  im  dritten  Teil  nach  den  inner‐  und  außerbuchlichen  Vorlagen  für  die  Aussagen  vom  neuen  Herz  und  neuen  Geist  zu  fragen,  um  schließlich  zusammenfassend  darzustellen,  durch  welche  Auslegungsprozesse  der  neue  Bund  seinen  Weg  in  das  Ezechielbuch  gefunden hat.  1.2. Textanalyse  Mit  Ez  36,23bb‐38  liegt  zwar  eine  späte  Einschreibung  an  dieser  Stelle  im  Buch  vor,  aus  der  kontextuellen  Position  kann  aber  geschlossen  werden,  dass  der  Text  als  Fortführung  des  vorhergehenden  Abschnit‐

                               1 

Vgl. dazu o. Kap. II. 4.2. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

tes Ez 36,16‐23ba verstanden werden will.2 In diesem durch die Wort‐ ereignisformel in 36,16 eröffneten Abschnitt steht das aufgrund seiner  bösen Taten unter die Völker zerstreute Israel im Vordergrund, das die  Heiligkeit von Jhwhs Namen unter den Völkern bedroht. In 36,22 liegt  mit  der  durch  die  Partikel  ‫לכן‬  eingeleiteten  Aufforderung  an  den  Pro‐ pheten,  zum  Haus  Israel  zu  reden,  eine  Zäsur  vor.  Die  entsprechende  Botschaft wird mit einer Botenformel eingeleitet und enthält die Aussa‐ ge, dass Jhwh „nicht um euretwillen“ (‫)לא למענכם‬ handeln wird, sondern  um seines Namens willen. Dementsprechend kündigt Jhwh in 36,23aba  die Heiligung seines Namens an, damit die Völker zur Erkenntnis ge‐ langen. Nach dem textgeschichtlichen Befund liegt mit dieser Erkennt‐ nisformel  in  V 23ba  ein  erster  Schlusspunkt  des  Abschnittes  36,16ff.  vor.  Dafür  spricht  auch  die  Anknüpfung  an  die  Erkenntnisaussage  durch einen mit der Präposition  ‫ ְבּ‬ angeschlossenen Infinitiv in 36,23bb,  die  auf  eine  nachträgliche  Texterweiterung  hindeutet.3  Diese  literari‐ sche  Zäsur  wird  noch  durch  die  Ergänzung  der  Erkenntnisformel  mit  einer nachfolgenden Gottesspruchformel in V 23ba verstärkt.   Indes  ist  diese  Gottesspruchformel  gerade  in  Pap.  967,  wie  auch  sonst  in  der  LXX,  nicht  bezeugt.4  Dieses  textkritische  Problem  ist  ent‐ weder  über  eine  Hinzufügung  auf  Seiten  des  masoretischen  Textes  oder  einer  Auslassung  in  der  griechischen  Überlieferung  zu  lösen.  Wird  mit  dem  masoretischen  Text  die  Ursprünglichkeit  der  Gottes‐ spruchformel angenommen, so kann das Fehlen der Formel in der LXX  als nachträgliche Glättung erklärt werden. Diese Lösung hat den Vor‐ teil,  dass  der  literarische  Einschnitt  in  V  23ba  durch  die  Kombination  von  Erkenntnisformel  und  Gottesspruchformel  zusätzlich  an  Plausibi‐ lität gewinnt.5 Andererseits hat der redaktionsgeschichtliche Überblick  plausibel  gemacht,  dass  auf  einer  vorhergehenden  literarischen  Ebene  ein literarischer Zusammenhang von 36,16‐22(23aba) mit 39,23‐29 und  sekundär mit 38,1‐39,22 zu vermuten ist. Dabei ist zu berücksichtigen,                                 2 

3  4  5 

Zum  grundsätzlichen  Verhältnis  von  Redigierendem  zu  Redigiertem  siehe  STECK,  Exegese, 78‐80. Problematisch ist in diesem Zusammenhang eine Textanalyse, in der  eine  Grundschicht  im  Bereich  von  Ez  36,16‐38  rekonstruiert  wird,  die  vom  materi‐ alen  Befund  her  ein  sekundär  hergestellter  Textzusammenhang  ist;  vgl.  z. B.  die  Textanalysen von SIMIAN, Nachgeschichte, 88‐103; LEVIN, Verheißung, 209‐214, und  OHNESORGE, Jahwe, 207‐262, die jeweils eine Grundschicht im Bereich von 36,16‐38  annehmen.  Vgl.  dazu  auch  die  entsprechende  Kritik  bei  SCHWAGMEIER,  Untersu‐ chungen, 325f.  Vgl. POHLMANN, ATD, 487.   Die  Gottesspruchformel  gehört  zu  den  hexaplarisch  asterisierten  Stellen,  vgl.  ZIEGLER, LXX Ezechiel, 264f.  So vertreten von HOSSFELD, Untersuchungen, 288f., der gerade die Kombination der  Erkenntnisformel  mit  der  Gottesspruchformel  in  V  23ba  als Indiz für einen literari‐ schen Einschnitt wertet. 

   

Der neue Bund: Ez 36,23bb‐38 

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dass  es  sich  gerade  bei  V  23aba  um  eine  sekundäre  Ergänzung  inner‐ halb dieser Textschicht handelt, die wahrscheinlich im Zusammenhang  mit der Entwicklung der Gog‐Kapitel steht.6 Auf dieser Ebene des Text‐ wachstums  wäre  eine  Gottesspruchformel  eher  störend,  da  sie  den  inhaltlichen  und  positionellen  Bezug  von  38,1‐39,22  auf  36,16‐23ba  unterbräche. Dies spricht deshalb für die zweite Lösung, nach der die  Gottesspruchformel  in  V 23ba nachträglich als gliederndes Element in  den masoretischen Text eingefügt worden ist.7 Vermutlich im Zuge der  Einschreibung  von  36,23bb‐38  in  den  vorgegebenen  Textzusammen‐ hang  kommt  ihr  die  Funktion  eines  Scharniers zu,  indem  sie  die  vor‐ hergehende Gottesrede 36,16‐23ba abschließt und einen Anknüpfungs‐ punkt für die Fortschreibung 36,23bbff. bietet.8   Die folgenden Beobachtungen können die These weiter untermau‐ ern, dass innerhalb von V 23 mit einem literarischen Bruch zu rechnen  ist:  Zwar  nimmt  der  Infinitiv  in  V  23bb  mit  ‫קדשׁ‬  das  Hauptverb  von  V 23a auf und stellt so einen inhaltlichen Zusammenhang her, aber an‐ ders als in V 23a steht das Verbum in V 23bb nicht im picel, sondern im  nifcal.  Dementsprechend  kündigt  Jhwh  in  V  23a  die  Heiligung  seines  Namens  unter  den  Völkern  an,  während er in V 23bb seine Heiligung  an  Israel  vor  den  Völkern  verheißt.  Besieht  man  sich  aber  die  Fortset‐ zung,  so  bleibt  es  bei  einem  „leeren  Versprechen“,  da  die  durch  den  erweiterten  Infinitiv  eingeleitete  Jhwh‐Rede  nicht  mehr  auf  diese  An‐ kündigung Bezug nimmt. Stattdessen folgt in 36,24ff. ein mehrstufiges  Restitutionsprogramm für das Haus Israel, in dem die Völkerperspek‐ tive fast vollständig ausgeblendet wird. Das Ergebnis der textgeschicht‐ lichen Analyse, nach der in 36,23bb‐38 mit einem jüngeren Nachtrag zu  rechnen ist, hat damit auch eine literarkritische Bestätigung erfahren.  Ein  Durchgang  durch  diesen  Nachtrag  zeigt,  dass  er  von  relativer  Geschlossenheit  ist.  Formal  eröffnet  der  Infinitiv  in  V  23bb  eine  an‐ knüpfende Jhwh‐Rede, die sich der Restitution Israels zuwendet. Erster  Schritt dieses Restitutionsprogramms ist in V 24 die Ankündigung von  Sammlung  und  Rückführung  ins  Land,  auf  die  in  V  25  die  kultische  Reinigung im Land folgt. Jhwh kündigt an, Wasser über die Israeliten  zu  sprengen  und  sie  von  ihren  „Mistdingern“  rein  zu  machen.  Dieser  äußeren  Reinigung  wird  in  V  26a  die  innere  Erneuerung  durch  die                                 6  7  8 

Zur Sekundarität von V 23aba vgl. u. Kap. III. 3.2.  Anders  OHNESORGE,  Jahwe,  211f.  mit  Anm.  41,  der  mit  einer  späteren  Auslassung  der Formel in der griechischen Überlieferung rechnet.  SCHÖPFLIN,  Theologie,  101‐105,  hat  jüngst  erneut  darauf  hingewiesen,  dass  sich  die  Funktion der Gottesspruchformel nicht in ihrer Stellung als Schlussformel erschöpft,  sondern  dass  sie  auch  in  Kontextposition  auftritt.  Vgl.  zur  generellen  Verwendung  der Gottesspruchformel im Ezechielbuch auch HOSSFELD, Untersuchungen, 37‐40. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Gabe des neuen Herzens (‫)לב חדשׁ‬ und des neuen Geistes (‫)רוח חדשׁה‬ zur  Seite  gestellt.  V 26b  und  V 27  führen  dabei  jeweils  einen  Aspekt  von  V 26a näher aus: Während in V 26b die Ersetzung des steinernen Her‐ zens  in  Form  einer  Transplantation9  dargestellt  wird,  in  der  das  stei‐ nerne  Herz  durch  ein  fleischernes  Herz  ersetzt  wird,  spezifiziert  V  27  die Geistgabe näher als die Gabe des Geistes Jhwhs (‫)רוחי‬. Durch diese  anthropologische  Instandsetzung  sorgt Jhwh dafür, dass die Israeliten  seinen  Gesetzen  gemäß  leben  werden  (V  27).  V 28  schließt  die  innere  Erneuerung  mit  der  Gabe  des  Landes  und  der  Bundesformel  ab,  so  dass hier eine erste Zäsur gegeben ist.   V  29a  nimmt  zum  zweiten  Mal  das  Thema  der  Unreinheit  auf,  während V 29b im Verbund mit V 30 zu dem Topos „Fruchtbarkeit im  Land“ überleitet. V 31 kehrt anschließend in einem Rückgriff auf 36,17  zu  den  bösen  Taten  der  Israeliten  zurück  und  schildert  die  künftige  Einsicht  im  Blick  auf  den  vorherigen  Wandel.  In  V  32a  kündigt  Jhwh  erneut  an,  dass  er  nicht  um  der  Israeliten  willen  (‫)לא למענכם‬  handeln  wird  und  wiederholt  damit  die  Aussage  von  36,22.  Dementsprechend  ergeht an die Israeliten in V 32b die Mahnung, sich ihrer Wege zu schä‐ men.   Nach  dieser  Aufforderung  wird  in  36,33  mit  der  Botenformel  eine  neue  Jhwh‐Rede  eröffnet,  die  den  Wiederaufbau  der  Trümmerstätten  im Land und die Restitution des Landes verheißt. Die Anspielung auf  den Garten Eden in V 35 (‫;כגן־עדן‬ vgl. Gen 2,15; 3,23f. und Jes 51,3) zeigt,  dass mit der inneren Erneuerung des Menschen auch eine Erneuerung  des  Landes  verbunden  ist.  Die  kurze  Rede  wird  in  V  36  mit  einer  auf  die  Völker  zielenden  Erkenntnisformel  und  einer  erweiterten  Wort‐ bekräftigungsformel  abgeschlossen.  Der  folgende  Abschnitt  36,37f.  respektiert diese gewichtige Schlussformel, indem er mit einer weiteren  Botenformel  in  V  37  neu  einsetzt.  In  den  Versen  wird  als  weiterer  Schritt  des  Restitutionsprogramms  die  Vermehrung  der  Bevölkerung  thematisiert.  Die  Textanalyse  hat  damit  gezeigt,  dass  sich  die  Jhwh‐Rede  Ez  36,23bb‐38  in  drei  kleine  Einheiten  in  den  V  23bb‐32.33‐36  und  37f.  untergliedern lässt. Die zweite und dritte kleine Einheit können als re‐ daktionelle  Nachträge  eingeordnet  werden,  die  das  Restitutionspro‐ gramm  um  die  Aspekte  „Aufbau  der  Städte  und  des  Landes“  sowie  „Vermehrung  der  Bevölkerung“  ergänzen. 10  Für  eine  sekundäre  Ab‐                                9 

Vgl. KRÜGER, Herz, 82, der in Bezug auf Ez 36,26 von einer „Transplantations“‐Per‐ spektive spricht.   10  Die  Sekundarität  der  Abschnitte  36,33‐36.37f.  wird  allgemein  anerkannt;  vgl.  z. B.  ZIMMERLI,  BK,  872f.;  SIMIAN,  Nachgeschichte,  102f.;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  289f.300‐303.326‐328.339f.;  LEVIN,  Verheißung,  210;  ALLEN,  WBC  29,  176‐178,  und 

   

Der neue Bund: Ez 36,23bb‐38 

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fassung  der  Abschnitte  spricht  nicht  nur  die  sorgfältige  Aus‐  und  Einleitung durch Formelgut, sondern vor allem die inclusio von V 32 zu  V  22.  Die  Wiederaufnahme  des  ‫לא למענכם‬  signalisiert,  dass  in  V 32  ein  Text  endet,  der  einen  Bogen  zu  dem  vorgegebenen  Abschnitt  36,16‐ 23ba schlagen will. Damit ist zugleich ein Argument für die literarische  Einheitlichkeit  der  verbleibenden  V  23bb‐32  gegeben.  In  stilistischer  Hinsicht bildet einzig die Bundesformel in V 28 eine gewisse Zäsur, da  in  den  folgenden  V 29f.  mit  der  Fruchtbarkeit  des  Landes  ein  neues  Thema  angeschlagen  wird.11  Allerdings  liegt  hier  kein  literarischer  Bruch vor, sondern die Perspektive wechselt mit V 29 von den Voraus‐ setzungen  zu  den  heilvollen  Auswirkungen  des  Bundesschlusses.  Ge‐ nau  wie  die  anderen  Themenwechsel  innerhalb  des  Abschnittes  sollte  auch  dieser  nicht  literarkritisch  ausgewertet  werden,  da  sich  die  ver‐ schiedenen  Motive  durch  den  Kompendiumscharakter  des  Textes  er‐ klären lassen.   Für  Ez  36,23bb‐38  ergibt  sich  somit  ein  dreistufiger  literarischer  Wachstumsprozess, der aber nach den in der textgeschichtlichen Ana‐ lyse unternommenen Überlegungen nicht gegen die These spricht, dass  es  sich  hier  um  einen  späten  redaktionellen  Nachtrag  in  der  hebräi‐ schen  Textüberlieferung  handelt.12  Vielmehr  zeigt  sich,  dass  die  we‐ sentliche verknüpfende und kompilierende Funktion bereits durch das  erste Fortschreibungsstück 36,23bb‐32 geleistet wird, während die zwei  folgenden  Nachträge  lediglich  ergänzenden  Charakter  haben.  Die  nachstehende  Untersuchung  konzentriert  sich  deshalb  auf  Ez  36,23bb‐ 32 und soll durch einen Blick auf die Bezüge des Textstückes zu seinem  literarischen Kontext den Kompendiumscharakters aufzeigen.  1.3. Der literarische Kontext  Die zahlreichen kontextuellen Bezüge von Ez 36,23bb‐32 konzentrieren  sich  vor  allem  auf  die  beiden  Bundesschlusstexte  in  Ez  34,25‐30  und  37,25‐28  sowie  auf  ihren  Kontext.13  37,20ff.  scheint  dabei  der  Haupt‐                                OHNESORGE, Jahwe, 218f.245‐259. Dagegen vertritt SCHWAGMEIER, Untersuchungen,  185.325‐328,  auch  aufgrund  des  materialen  Befundes  die  literarische  Einheitlichkeit  von 36,23bb‐38.  11  Dies nimmt LEVIN, Verheißung, 210, als Anlass, in V 29‐32 einen jüngeren Nachtrag  seiner bis V 28 reichenden Grundschicht anzunehmen. SIMIAN, Nachgeschichte, 93f.;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  337‐339,  und  OHNESORGE,  Jahwe,  217f.,  identifizieren  aufgrund  des  thematischen  Wechsels  in  V  28  die  V  29f.  als  Einschub  in  die  jeweils  vorgängige literarische Schicht.  12  Vgl. dazu die methodischen Überlegungen in Kap. II. 4.2.   13  LUST, Ezekiel, 525‐528, sieht zwar den Kompendiumscharakter des Abschnittes, stellt  die verschiedenen Bezüge in das Buch aber ohne weitere qualitative Wertung neben‐

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

bezugstext zu sein. Dies beginnt schon bei der dreigliedrigen Formulie‐ rung  des  „neuen  Exodus“  in  36,24,  die  nicht  nur  auf  34,13  zurück‐ verweist,  sondern eine identische Parallele in 37,21 hat. Nur in diesen  beiden  Versen  wird  für  den  neuen  Exodus  die  Verbtrias  mit  ‫לקח‬  für  „herausnehmen“  gebildet,  das  sich  von  der  Zeichenhandlung  37,15ff.   (‫לקח‬,  V  16bis.19)  her  nahe  legt.  Auch  die  kultische  Reinigung  in  36,25  bezieht  sich  mit  dem  parallelen  ‫גלולים‬  („Mistdinger“)  als  Bezeichnung  für die Götzen auf 37,23a zurück.14 Allerdings mit dem entscheidenden  Unterschied, dass es in 36,25 Jhwh ist, der die Israeliten von ihren Göt‐ zen  rein  machen  wird,  während  in  37,23a  von  den  Israeliten  selbst  erwartet wird, dass sie sich nicht mehr mit diesen verunreinigen.  Die  innere  Restitution  durch  das  neue  Herz  und  den  neuen  Geist  sowie die Ersetzung des steinernen Herzens durch das fleischerne Herz  sind dagegen ohne Parallele im literarischen Horizont. Erst die Näher‐ bestimmung  des  Geistes  als  Geist  Jhwhs  verweist  auf  die  Vision  von  der Wiederbelebung der trockenen Knochen in 37,1‐14. In der Gabe des  neuen  Geistes  (36,26),  der  zugleich  Jhwhs  Geist  ist  (36,27),  wird  die  Verheißung  von  37,14  vorweggenommen:  „Ich  gebe  meinen  Geist  in  euch, so dass ihr lebt.“15 Die Querverbindung zeigt sich vor allem da‐ ran, dass an beiden Stellen eine Form von ‫נתן‬ verwendet wird (36,26f.;  vgl.  37,14).  Auch  der  Gesetzesgehorsam,  der  als  Konsequenz  der  in‐ neren  Erneuerung  dargestellt  wird,  hat  eine  Parallele  im  Kontext:  So  erscheint das gesetzesgemäße Handeln des Volkes in 37,24 als Auswir‐ kung  des  Bundesverhältnisses  in  37,23.  Auch  hier  fällt  wieder  der  qualitative Unterschied auf, dass die Gesetzesmäßigkeit in 37,24 konse‐ quentes  Handeln  des  Volkes  ist  (‫)ועשׂו אותם‬,  während  in  36,27  betont  wird, dass Jhwh den Gesetzesgehorsam der Israeliten bewirkt (‫)ועשׂיתי‬.  Die Bundesformel in 36,28 kann sicherlich als Bezug auf die umliegen‐ den Bundesformeln in 34,24.30 bzw. 37,23.27 gedeutet werden, sie fällt  aber insbesondere durch die Verwendung des betonten Personalprono‐ mens ‫אנכי‬ auf. Hier hat anscheinend das Jeremiabuch mit den identisch  formulierten Bundesformeln Jer 11,4; 24,7 und 30,22 Pate gestanden.16

                               einander.  LEVIN,  Verheißung,  214‐216,  nimmt  dagegen  eine  umgekehrte  Abhängig‐ keit in 37,20‐28 von 36,16‐28* an.  14  ‫גלול‬ ist neben 36,25 und 37,23 in Ez 34‐39 nur noch in 36,18 belegt; vgl. dazu auch u.  Kap. IV. 2.1.3.3.  15  So auch LUST, Ezekiel, 526, und PFEIFFER, Herz, 304.  16  Wie in der Parallele Jer 11,4 sowie in Ez 37,25 wird der Bund in Ez 36,28 mit der Lan‐ deszusage  verbunden;  allerdings  ist  in  Ez  36  aus  der  bedingten  Landeszusage  eine  bedingungslose  geworden  ist,  da  durch  Jhwhs  Heilshandeln  ein  erneuter  Abfall  gänzlich ausgeschlossen ist (vgl. dazu LEVIN, Verheißung, 213f.). 

   

Der neue Bund: Ez 36,23bb‐38 

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Die  erneute  Erwähnung  von  Unreinheit  in  Ez  36,29  verdankt  sich  mit  dem  Verbum  ‫ישׁע‬  hif.  in  Verbindung  mit  einer  Bildung  von ‫טמא‬17  erneut  dem  Bezug  auf  37,23,  ist  aber  zugleich  Rückverweis  auf  34,22,  da das Verb nur an diesen drei Stellen im Ezechielbuch belegt ist. Auf  diese Weise wird das umfassende Heilshandeln Jhwhs für sein Volk in  Erinnerung gerufen, wie es in den vorliegenden Texten beschrieben ist.  Zugleich dient das Verweisgeflecht aber auch dazu, in 36,29f. die heil‐ vollen Auswirkungen des Bundes auf das Land anzuschließen, wie sie  auch  in  34,25‐30  beschrieben  werden.  Dies  kann  durch  die  Stichwort‐ verbindungen „Frucht des Baumes“ (‫)פרי העץ‬ und „Feld“ (‫)השׂדה‬ erhärtet  werden.18 Die Ermahnung sich der früheren Taten zu schämen (36,31),  ist  nicht  nur  Rückgriff  auf  36,17,  sondern  vor  allem  Verweis  auf  das  Ende des großen Geschichtsrückblickes in Ez 20,43.19 Anscheinend will  der Autor von 36,23bbff. in seinem Nachtrag auch die Voraussetzungen  für die Einsicht geschaffen sehen, die nach dem Geschichtsrückblick Ez  20 die Reaktion des Volkes auf das göttliche Heilshandeln sein soll.  Da  die Bezüge der beiden Nachträge in 36,33‐36.37f. für die Frage  nach  dem  neuen  Bund  nicht  von großer Relevanz sind, sollen sie hier  nur kurz Erwähnung finden. Die Texte verdanken sich vor allem einer  Auslegung der kleinen Restitutionsprogrammatik in Ez 36,9‐11, wo der  bzw. die Verfasser Aussagen über die Bearbeitung des Landes (‫ עבד‬ni.,  36,9; vgl. 36,34), die Wiederbewohnung der Trümmerstätten (‫ונשׁבו הערים‬  ‫והחרבות‬, 36,10; vgl.  ‫ישׁבו‬ ... ‫והערים החרבות‬, 36,35) und die Vermehrung der  Bevölkerung  (‫רבה אדם‬,  36,10.11;  vgl.  36,37)  vorgegeben  fanden.20  Der  Vergleich  der  vermehrten  Bevölkerung  mit  einer  Herde  (‫)כצאן‬  in  Ez  36,37.38 verweist dagegen zurück auf die Metaphorik des Hirtenkapi‐ tels  Ez  34.  Durch  diesen  Rückbezug  wird  angedeutet,  dass  die  Anfül‐ lung der Städte durch die Menschen geschehen soll, die der Hirte Jhwh  in Ez 34 zurückführt. Zugleich aber kann durch die Position vor Ez 37  auch die Wiederbelebung der trockenen Knochen als Bereitstellung der  Bevölkerung interpretiert werden, die in 36,37f. ankündigt wird. Diese  Beobachtung bestätigt den zuvor geäußerten Verdacht, dass Ez 34 und  Ez 37 in einem konkurrierenden Verhältnis zueinander stehen. Schließ‐                                17  In 36,29 steht ‫טמאה‬, in 37,23 dagegen ‫טמא‬ hif.  18 ‫פרי‬ ist in Ez 34‐39 überhaupt nur in 36,8; 34,27 und 36,30 belegt; in Verbindung mit  ‫שׂדה‬ findet es sich in 34,27 und 36,30.  19  36,31 stellt eine fast wortwörtliche Zitation von 20,43 dar, vgl. 36,31: ‫וזכרתם את־דרכיכם‬ ‫הרעים ומעלליכם אשׁר לא־טובים ונקטתם בפניכם על עונתיכם ועל תועבותיכם‬  mit  20,43: ‫וזכרתם־שׁם‬ ‫את־דרכיכם ואת כל־עלילותיכם אשׁר נטמאתם בם ונקטתם בפניכם בכל־רעותיכם אשׁר עשׂיתם‬.  20  SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 327, weist ebenfalls auf die epexegetischen Verbin‐ dungen  zwischen  36,23bb‐38  und  36,8‐10  hin,  kommt  aber  aufgrund  einer  abwei‐ chenden  Stichwortanalyse  zu  anderen  Textabgrenzungen  als  die  hier  vorgelegte  Analyse. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

lich  speisen  sich  die  beiden  Ergänzungen  in  36,33‐36.37f.  auch  aus  Anklängen an das Jeremia‐ und das Deuterojesajabuch.21 Die  Ergebnisse  der  vorhergehenden  Analyse  können  damit  wie  folgt  zusammengefasst  werden:  Die  Stellung  als  Verbindungselement  und der Kompendiumscharakter konnten sowohl für Ez 36,23bb‐32 als  auch  für  die  zwei  Nachträge  in  36,33‐36.37f.  nachgewiesen  werden.  Speziell  im  Fall  von  36,23bb‐32  erschöpft sich die Funktion des Textes  aber  nicht  in  den  oben  genannten  Bestimmungen,  sondern  die  viel‐ fachen Bezüge auf die im Kontext vorgegebenen Bundestexte in 34,25‐ 30  und  37,25‐28  zeigen,  dass  der  Autor  Voraussetzungen  und  Konse‐ quenzen  dieser  Bundesschlüsse  darstellen  will.  Die  „Leerstelle“  des  Textes,  nämlich  die  fehlende  ‫‐ברית‬Terminologie,  ist  deshalb  am  ein‐ fachsten dadurch zu erklären, dass die beiden anderen Bundesschlüsse  im  Buchkontext  bereits  vorliegen.22  Beide  Bundesverheißungen  spre‐ chen mit dem „Heilsbund“ (‫ברית שׁלום‬, 34,25; 37,26) bzw. dem „ewigen  Bund“ (‫ברית עולם‬, 37,26) ein Gottesverhältnis an, das ein dauerhaft gülti‐ ges sein soll.   Hinter  der  Entstehung  von  Ez  36,23bbff.  können  deshalb  Reflexio‐ nen  darüber  vermutet  werden,  wie  diese  Dauerhaftigkeit  des  Bundes  gewährleistet  werden  kann.  Eine  auf  vergangene  Schuld  gerichtete  kultische Reinigung, wie sie Ez 37,23 vorsieht, hat sich anscheinend als  nicht ausreichend erwiesen. Die Antwort, die der Verfasser gibt, zieht  deshalb  die  naheliegende  Konsequenz  aus  der  bisherigen  Geschichte  Jhwhs  mit  seinem  Volk:  Die  Dauerhaftigkeit  des  Bundesverhältnisses  kann nur von Jhwh selbst gestiftet werden, der so zum Alleingaranten  des Heils wird. Indem er die Israeliten mit dem neuen Herz und dem  neuen  Geist  ausstattet,  schafft  er  die  nötigen  Voraussetzungen  zur  Erfüllung der Bundespflicht, so dass für die Zukunft ein erneuter Ab‐ fall unmöglich gemacht wird. Die wesentliche Erneuerung durch Herz  und  Geist  bildet  deshalb  auch  das  novum  des  Programms  von  Ez  36,23bb‐32  im  literarischen  Kontext.  Allerdings  haben  die  Aussagen  zwei enge Parallelen im vorderen Buchteil in Ez 11,14‐21 und Ez 18,31.  Deshalb  soll  im  Nachstehenden  die  Perspektive  ausgeweitet  werden,                                 21  Neben der bereits erwähnten Anspielung auf den Garten Eden in Ez 36,35 (vgl. Jes  51,3) gibt es thematische Berührungen in der Frage nach dem Wiederaufbau des Zer‐ störten  (vgl.  Jes  44,26.28;  49,17;  54,11f.)  und  nach  der  Wiederbevölkerung  der Stadt  (vgl.  Jes  54,1‐3).  Die  Pflanzmetaphorik  in  Ez  36,36  ist  dagegen  ein  typischer  Topos  des Jeremiabuches (vgl. Jer 1,10; 24,6; 42,10; 45,4 u.ö.) und findet sich nur an dieser  Stelle  im  Ezechielbuch.  Zum  Motiv  des  Bauens  und  Pflanzens  im  Jeremiabuch  vgl.  LEVIN, Verheißung, 143‐146, sowie R. BACH, Bauen und Pflanzen, in: RENDTORFF, R.  und  K. KOCH,  Studien  zur  Theologie  der  alttestamentlichen  Überlieferung,  Neuen‐ kirchen‐Vluyn 1961, 7‐32.   22  So mit SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 324. 

   

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um zuerst Ez 11 und Ez 18 zu berücksichtigen, ehe auch außerhalb des  Ezechielbuches  nach  möglichen  Vorlagen  für  die  Rede  von  neuem  Herz und neuem Geist gefragt werden kann.  1.4. Innerbiblische Auslegung in Ez 36,23bb‐38  1.4.1. Zur Frage nach den literarischen Vorlagen  Wie der Vergleich mit dem literarischen Kontext gezeigt hat, liegt das  proprium  der  Fortschreibung  36,23bb‐32  in  der  Reflexion  darüber,  wie  der Mensch innerlich verfasst sein muss, damit die dauerhafte Gültig‐ keit  des  Bundesschlusses  gewährleistet  ist.  Die  anthropologischen  Zentralbegriffe  sind  dabei  ‫לב‬  und ‫רוח‬.  Die  Rede  vom  ‫לב‬  bezeichnet  im  Alten  Testament  nicht  nur  das  Herz  als  physiologisches  Organ  des  Körpers, sondern ‫לב‬ steht vor allem für das Zentrum der menschlichen  Person,  das  ihre  Gefühle  und  Handlungen  von  innen  heraus  steuert  und  bestimmt.  Es  ist  von  daher  auch  der  Ort  der  Vernunft  und  zum  Vernehmen des Wortes Gottes berufen.23 Die ‫רוח‬ steht dagegen für die  dem Menschen von Gott zukommende Lebenskraft und kann so auch  eine Reihe von menschlichen Gemütsverfassungen bezeichnen.24   Im  Ezechielbuch  wird  von  Anfang  an  mit  einer  Veränderungs‐ bedürftigkeit  des  Herzens  gerechnet,  das  in  Ez  2,4  und  3,7  als  hart   (‫)חזקי־לב‬ bzw. verstockt (‫)קשׁי־לב‬ beschrieben wird. Mit diesem Motiv des  harten Herzens wird die Unfähigkeit der Israeliten ausgesagt, sich für  Gottes Wort zu öffnen; ihre Mitte ist für jegliche Einsicht verschlossen.  Neben  Ez  36,26f.  thematisieren  noch  zwei  andere  Texte  die  defizitäre  Verfassung des Herzens im Verbund mit einer Aussage über den Geist.  So  hat  die  Entrückungsvision  in  Ez  11,14‐21  einen  heilsprophetischen  Anhang erhalten, in dem der Diaspora ein einziges Herz und ein neuer  Geist  verheißen  werden.  Daneben  ist  noch  der  ebenfalls  heilsprophe‐ tische Nachtrag in Ez 18,31 zu nennen. Im Anschluss an die ethischen  Reflexionen  über  die  Schuldhaftung  und  die  Möglichkeit  der  Umkehr  ergeht dort die Aufforderung an die Israeliten, sich ein neues Herz und  einen neuen Geist zu schaffen.   Über  das  Ezechielbuch  hinausgehend  gibt  es  im  Alten  Testament  eine  Vielzahl  von  Texten,  die  die  anthropologische  Verfasstheit  des  Menschen  als  Voraussetzung  für  das  Gottesverhältnis  bedenken  wie                                 23  Vgl.  WOLFF,  Anthropologie,  90.  Zum  Ganzen  siehe  auch  WOLFF,  a.a.O.,  69‐95;  KAI‐ SER, Gott II, 297‐301, sowie STOLZ, Art. ‫ ֵלב‬, 861‐867, und FABRY, Art. ‫ ֵלב‬, 420‐447.  24  Vgl. dazu WOLFF, Anthropologie, 57‐67; KAISER, Gott II, 294‐297, sowie die entspre‐ chenden Artikel von ALBERTZ/WESTERMANN, Art.  ‫רוּ ַח‬, 726‐753, und TENGSTRÖM, Art.  ‫רוח‬, 385‐418. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

z. B.  Lev 26,41; Dtn 30,6 oder Jer 4,4.25 Diese Stücke bilden zusammen  den  traditionsgeschichtlichen  Hintergrund  für  die  Frage  nach  dem  neuen Bund in Ez 36,23bbff. Die folgende Analyse wird sich aber neben  den Parallelen im ersten Buchteil auf eine Gruppe von Texten im Jere‐ miabuch  konzentrieren,  die  aufgrund  ihrer  sprachlichen  und  thema‐ tischen  Nähen  als  literarische  Vorlagen  in  Frage  kommen.  Es  handelt  sich  dabei  um  Jer  24,6f.;  31,31‐34  und  32,37‐41,  in  denen  in  ähnlicher  Weise  wie  in  den  Texten  des  Ezechielbuches  das  Problem  des  unzu‐ reichenden Herzens durch einen Eingriff Gottes behoben wird. Schließ‐ lich  wird  noch  Ps  51  mit  in  die  Überlegungen  einzubeziehen  sein,  in  dem sich der Beter ein reines Herz und einen erneuerten Geist erbittet.  Auch wenn hinter dieser Bitte auf den ersten Blick eine andere Vorstel‐ lung  steht  als  hinter  Ez  36,23bbff.,  so  sind  die  Stichwortverbindungen  des  Psalms  zu  den  Passagen  des  Ezechielbuches  doch  so  zahlreich,  dass  ein  literarisches  Abhängigkeitsverhältnis  nicht  von  vornherein  ausgeschlossen werden kann.  1.4.2. Das eine Herz und der neue Geist in Ez 11,14‐21  Die Aussagen über das eine Herz und den neuen Geist in Ez 11,14‐21  stehen in einem Text, der schon früh als redaktioneller Zusatz zur Ent‐ rückungsvision  verdächtigt  worden  ist.  So  urteilt  bereits  BERTHOLET,  dass  „dieses  Stück  mit  seiner  Glücksverheißung  völlig  aus  dem  Rah‐ men seiner Umgebung herausfällt“.26 Allerdings handelt es sich bei Ez  11,14‐21  nicht  um  ein  beliebig  in  die  Vision  eingebautes  Versatzstück,  sondern der Text hat die Klage des Propheten in Ez 11,13 zur Voraus‐ setzung,  wo  Ezechiel  darüber  wehklagt,  dass  Jhwh  mit  dem  Überrest  Israels ein Ende machen will. Aufgrund seiner Folgeposition erscheint  11,14‐21  als  Antwort  auf  diese  Frage.  In  formaler  Hinsicht  ist  der  Ab‐ schnitt  allerdings  klar  von  seinem  Kontext  abgegrenzt,  so  dass  er  im  Folgenden  als  literarisch  eigenständiger  Text  behandelt  werden  kann.  Nach vorne signalisiert die Wortereignisformel in 11,14 einen Neuein‐ satz, während das Stück nach hinten in 11,22‐25 durch den Auszug der  Herrlichkeit Jhwhs und die Rückführung des Propheten nach Babylon  begrenzt ist.   Formal liegt in Ez 11,14‐21 ein Disputationswort vor, da Jhwh dem  Propheten in V 15 die negative Bewertung der Gola durch die Jerusale‐ mer  mitteilt,  die  den  Exulanten  aufgrund  ihrer  in  der  Exilssituation  begründeten  Ferne  von  Jhwh  das  Anrecht  auf  das  Land  absprechen.  Diese abschätzige Beurteilung wird in der Folge in zwei Redeaufträgen                                 25  Zu den entsprechenden Texten im Pentateuch vgl. KRÜGER, Herz, 65‐81.  26  BERTHOLET, HAT, 40. 

   

Der neue Bund: Ez 36,23bb‐38 

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an den Propheten in V 16.17 korrigiert, an die sich in V 19f. Heilsver‐ heißungen an die Diaspora angeschlossen haben. Den Angehörigen der  Diaspora wird die Gabe eines einzigen Herzens (‫לב אחד‬, V 19) und eines  neuen Geistes (‫רוח חדשׁה‬, V 19) angekündigt, die als Voraussetzung für  den  Bundesgehorsam  dargestellt  werden;  vgl.  die  Bundesformel  in  V 20. Die beiden Verse V 18 und V 21 thematisieren mit der Problema‐ tik des Götzenkultes ein anderes Thema.  Auch wenn die jüngere Ezechielforschung sich darin einig ist, dass  dieser  Abschnitt  literarisch  nicht  einheitlich  ist,  sind  Art  und  Ausmaß  der Ergänzungen umstritten.27 Entscheidend für die weitere Analyse ist  die Frage, ob die Aussagen über die innere Erneuerung auf die Ebene  der ursprünglichen Textfassung von 11,14‐21 gehören28 oder ob sie ein  späterer Nachtrag sind.29 Das eigentliche Problem, das in dem Disputa‐ tionswort  verhandelt  wird,  ist  die  Frage  des  rechtmäßigen  Landbesit‐ zes, das spätestens mit der Bestätigung des Anspruches der Exulanten  in V 17 eine befriedigende Lösung erhält. Allerdings ist die Zugehörig‐ keit  gerade  von  V  17  zur  Grundschicht  der  Perikope  fraglich,  da  der  Vers  sich  nicht  nur  durch  den  Adressatenwechsel  zur  2.  Pers.  pl.  von  seinem  Kontext  abhebt,  sondern  auch  in  einem  Konkurrenzverhältnis  zu dem vorhergehenden V 16 zu stehen scheint.30 Die zwei Verse fallen  nicht  nur  durch  die  parallele  Einleitung  mit  Redebefehl  und  Boten‐ formel auf, sondern sie bieten inhaltlich beide eine Korrektur des Zitats  in  V  15,  so  dass  zu  fragen  ist,  welche  Version  die  ursprünglichere  ist.  V 17 bestätigt den Landanspruch der Exulanten in einer Formulierung  des  neuen  Exodus,  während  V  16  die  Annahme  widerlegt,  dass  die  Ferne in der Gola mit einer Gottesferne einhergehe. V 16 hat damit ein‐ deutig den Kontext im Blick, der vom Auszug der Herrlichkeit in Rich‐                                27  Mit  einigen  Abweichungen  vertreten  ZIMMERLI,  BK,  247‐251;  LEVIN,  Verheißung,  206f.,  und  OHNESORGE,  Jahwe,  6‐48,  ein  mehrschichtiges  Wachstum  von  11,14‐21.  Auch POHLMANN, ATD, 127.165‐169, nimmt an, dass eine golaorientierte Fassung in  11,14‐21* mehrfach überarbeitet worden sei, verzichtet aber auf die genaue Abgren‐ zung der einzelnen Stadien. Dagegen gehen die älteren Kommentatoren zumeist von  literarischer  Einheitlichkeit  aus;  vgl.  HERRMANN,  KAT,  57f.73f.;  BERTHOLET,  HAT,  40f.,  und  COOKE,  ICC,  124‐126.  In  der  jüngeren  Forschung  wird  diese  These  auch  wieder  von  GREENBERG,  AncB,  189‐191,  vertreten.  Weiterhin  sind  an  dieser  Stelle  LIWAK,  Probleme,  110‐113,  und  im  Anschluss  an  diesen  KRÜGER,  Geschichtskon‐ zepte, 318‐323, zu nennen, die beide von einer einheitlichen Komposition in Ez 11,14‐ 20 ausgehen und lediglich V 21 als Nachtrag ausscheiden.  28  Die Zugehörigkeit von V 19f. zur ursprünglichen Textfassung von 11,14‐21 vertreten  ZIMMERLI, BK, 251, und LEVIN, Verheißung, 206f.  29  Eine sekundäre Einschreibung der V 19f. in die Grundschicht von 11,14‐21 nehmen  EICHRODT, ATD, 50 Anm. 2; OHNESORGE, Jahwe, 11, und LANG, Ezechiel, 25, an.  30  So  mit  LEVIN,  Verheißung,  206,  und  OHNESORGE,  Jahwe,  7.  Anders  HOSSFELD,  Eze‐ chiel, 280, der im Übergang von V 16 zu V 17 einen „situationsbedingten Richtungs‐ wechsel“ sieht. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

tung Osten, also in Richtung der Gola, berichtet. Da der Vers außerdem  durch  das  Stichwort  ‫רחק‬  an  V  15  anschließt  und  ebenso  in  der  Anre‐ deform 3. Pers. pl. mit diesem übereinstimmt, ist ihm m. E. gegenüber  V  17  der  Vorzug  zu  geben.31  Da  die  Jerusalemer  den  Exulanten  das  Land  gerade  mit  der  Begründung  absprechen,  dass  sie  fern  von  Jhwh  seien, ist mit der Bestätigung der Gottesnähe auch die Bekräftigung des  Landanspruches verbunden. V 17 ist dann als späterer Nachtrag einzu‐ ordnen, der die Sammlung der Diaspora ergänzt und das Anrecht auf  das Land noch einmal wiederholt.   Weiterhin können V 18 und V 21 als Zusätze bestimmt werden, die  die Götzenthematik nachtragen.32 Es spricht einiges dagegen, dass das  so  abgegrenzte  Disputationswort  in  Ez  11,14‐16  eine  ursprüngliche  Fortsetzung  in  V  19f.  gehabt  hat.  Zuerst  geht  die  Frage  der  inneren  Beschaffenheit  des  Volkes  eindeutig  über  das  in  11,14‐16  verhandelte  Problem  hinaus,  und  zweitens  spricht  auch  der  Umschwung  vom  Rückblick in V 16 zu einer auf die Zukunft gerichteten Verheißung da‐ für,  dass  die  V  19f.  erst  sekundär  an  die  Grundschicht  angewachsen  sind.33 Dabei setzen sie mit großer Wahrscheinlichkeit bereits deren Er‐ weiterung durch V 17 voraus, da die Gabe des einen Herzens und des  neuen  Geistes  erst  nach  der  erfolgten  Rückkehr  des  Volkes  ins  Land  Sinn macht.34 Schließlich  sind  noch  zwei  textkritische  Probleme  in  V  19  zu erör‐ tern, die auch für die Textanalyse von Bedeutung sind. In V 19aa wird  das  Herz  bei  den  maßgeblichen  Textzeugen  verschieden  näher  be‐                                31  Vgl. auch OHNESORGE, Jahwe, 7‐9. Dagegen entscheidet sich LEVIN, Verheißung, 206,  für einen ursprünglichen Textzusammenhang von V 15 mit V 17 und scheidet V 16  als Nachtrag aus. Er argumentiert dabei damit, dass die parallele Redeeinleitung von  V 16.17 nur mit V 16 als sekundärem Vorspann zu V 17, nicht aber mit einem Nach‐ trag von V 17 zu V 16 zu erklären sei; den Anredewechsel führt er dagegen auf die  Anlehnung an die Vorlage in Jer 32,37‐39 zurück (vgl. LEVIN, a.a.O., 206). Abgesehen  davon, dass es nicht unproblematisch erscheint, die Grundschicht in Ez 11,14‐21 mit  Hilfe  der  literarischen  Vorlage  zu  rekonstruieren,  ist  m.  E.  der  Anredewechsel  das  gewichtigere literarkritische Problem als die parallele Redeeinleitung, die gerade als  Wiederaufnahme von V 16 einen sinnvollen Anschluss für einen späteren Nachtrag  darstellt.  32  So mit ZIMMERLI, BK, 251; LEVIN, Verheißung, 206f., und OHNESORGE, Jahwe, 9.12f.  Da V 18 und V 21 inhaltliche Divergenzen haben (V 18 berichtet von der Reinigung  des  Landes  von  seinen  Scheusalen,  ‫שׁקוציה‬,  während  der  nachstehende  V 21 mit der  Möglichkeit eines Abfalls des Volkes zu ihren Scheusalen,  ‫שׁקוצהם‬, rechnet), gehören  sie zwei verschiedenen literarischen Schichten an.  33  Vgl. OHNESORGE, Jahwe, 11.  34  Vgl. auch LEVIN, Verheißung, 209, der darauf hingewiesen hat, dass im Wortlaut der  Gehorsamszusage in Ez 11,20 Rückbezüge auf die Bundesschlussszene in Dtn 26,16‐ 19  vorliegen,  mit  denen  der  heilsgeschichtliche  Zusammenhang  von Bundesschluss  und Landzusage auf die Landnahme der Diaspora übertragen wird (vgl. dazu eben‐ so PETRY, Entgrenzung, 247‐249). 

   

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stimmt. Der MT liest  ‫ ֵלב ֶא ָחד‬, während die LXX kardi,an e`te,ran bietet und  dabei auf ein zugrunde liegendes ‫ אָ ֵחר‬schließen lässt. So wird denn in  der Sekundärliteratur für den MT mehrheitlich eine Verlesung von ‫ר‬ in  ‫ד‬ angenommen, da das „andere“ Herz besser mit dem in V 19b geschil‐ derten  Vorgehen  in  Einklang  zu  bringen  ist.35  Denn  in  V  19b  kündigt  Jhwh an, dass er das steinerne Herz entfernen und durch ein fleischer‐ nes  und  damit  anderes  Herz  ersetzen  wird.  Schon  daran  zeigt  sich  aber,  dass  die  LXX‐Variante  eine  (intentionale)  Glättung  des  Textes  darstellt  und  damit  lectio  facilior  ist.  Peschitta  und  Targum  bezeugen  schließlich  zusammen  mit  einigen  hebräischen  Handschriften  ‫לב חדשׁ‬,  was  aber  als  Angleichung an Ez 18,31 und 36,26 zu erklären ist.36 Der  MT ist damit als lectio difficilior beizubehalten.   Das zweite Problem liegt in V 19ab vor, in dem abweichend von der  sonst  im  Text  vorherrschenden  Anredeform  an  ‫ קרב‬das  Personalsuffix  der  2.  Pers.  pl.  benutzt  wird.  Weiterhin  fällt  der  Versteil  dadurch  auf,  dass die Aussage von der Gabe der ‫רוח חדשׁה‬ nicht nur ohne Bezug im  Kontext ist, sondern auch den engen Zusammenhang zwischen 11,19aa  und  11,19b  stört.37  Das  Problem  des  abweichenden  Personalsuffixes  sollte deshalb nicht textkritisch gelöst werden, indem man z. B. der von  der  LXX  bezeugten  Lesart  den  Vorzug  gibt,  die  auf  ein  Suffix  3.  Pers.  pl. schließen lässt.38 Vielmehr bietet sich eine literarkritische Erklärung  an, nach der bei der Geistgabe in V 19ab mit einem Nachtrag innerhalb  der  Perikope  zu  rechnen  ist.39  Die  Varianten  in  der  Textüberlieferung  sind dann als Versuch zu bewerten, die aus der nachträglichen Einfü‐ gung entstandenen Spannungen innerhalb des Verses zu glätten.  In Ez 11,14‐21 kann somit eine Grundschicht in den V 14‐16 ange‐ nommen  werden,  in  deren  Hintergrund  Auseinandersetzungen  über  das Anrecht auf das Land zwischen der im Land verbliebenen und der  aus  Exil  bzw.  Diaspora  heimkehrenden  Bevölkerung  zu  vermuten  sind.40 Über die Gründe, warum das Disputationswort an dieser Stelle                                 35  So  z. B.  OHNESORGE,  Jahwe,  9f.;  KAISER,  Gott  III,  33;  ALLEN,  WBC  29,  118.129,  und  POHLMANN, ATD, 127. Anders dagegen LEVIN, Verheißung, 209, und BLOCK, NICOT  I, 342 mit Anm. 10.  36  ZIMMERLI,  BK,  201,  erwägt,  die  Variante  des  MT  über  Verstümmelung  eines  ur‐ sprünglichen ‫חדשׁ‬ zu ‫חד‬ zu erklären, aus dem dann ‫אחד‬ entstanden sein könnte. Das  scheint  aber  doch  eine  eher  umständliche  Annahme  zu  sein  (vgl.  dazu  auch  die  Kritik bei LIWAK, Probleme, 130).  37  Vgl. OHNESORGE, Jahwe, 11.  38  Vgl. BHS; ZIMMERLI, BK, 201, und POHLMANN, ATD, 127.  39  Einen  Nachtrag  vermuten  ebenso  OHNESORGE,  Jahwe,  11;  LEVIN,  Verheißung,  207,  und  ALLEN,  WBC  29,  129.  ZIMMERLI,  BK,  190.201,  wählt  dagegen  die  textkritische  Lösung und nimmt ursprüngliches ‫בקרבם‬ an.  40  In  dieser  Abgrenzung  der  Grundschicht  mit  OHNESORGE,  Jahwe,  4‐21,  der  den  Grundbestand  allerdings  auf  den  Propheten  Ezechiel  zurückführt.  Es  ist  nicht  aus‐

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

eingestellt worden ist, können nur Vermutungen angestellt werden, da  dazu die Textschichtung des literarischen Horizontes bzw. der gesam‐ ten  Entrückungsvision  mit  in  die  Überlegungen  einbezogen  werden  müsste.  In  jedem  Fall  wird  durch  die  Position  des  Textes  das  in  der  Vision  angekündigte  Totalgericht  über  die  Jerusalemer  dahingehend  korrigiert, dass mit der Gola/Diaspora ein legitimer Rest vorhanden ist,  von dem die Restitution Israels ausgehen kann. Darüber hinaus erhält  der folgende Auszug Jhwhs aus der Stadt eine vorgeschaltete Deutung,  da durch die Bewegung der Herrlichkeit nach Osten die vermeintliche  Gottesferne der Exulanten aufgehoben wird.   Die sekundäre Einfügung der V 19f. in die Grundschicht verdankt  sich  anscheinend  Überlegungen  darüber,  wie  die  Restitution  Israels  gewährleistet  werden  kann.  Um  in  der  Zukunft  ähnliche  wie  in  der  Vision geschilderte Gräueltaten zu verhindern, gibt Jhwh den Israeliten  ein  „einziges  Herz“  in  ihr  Inneres.  Es  liegt  nahe,  hinter  dem  einzigen  Herzen  eine  kollektive  Bestimmtheit  zu  vermuten,  nach  der  die  ein‐ zelnen Herzen in der Gemeinschaft übereinstimmen.41 Die nähere Aus‐ führung des Handelns Jhwhs in V 19b, nach der er das steinerne Herz  durch  ein  fleischernes  ersetzt,  zeigt  aber,  dass  das  einzige  Herz  im  Sinne eines „anderen“ Herzens zu verstehen ist. Das steinerne Herz ist  per  se  ein totes Herz (vgl. 1 Sam 25,37), das unempfänglich ist für das  Wort Gottes. Erst eine Austauschung durch ein fleischernes und damit  aufnahmefähiges Herz macht es möglich, dass die Israeliten den Geset‐ zen Jhwhs gegenüber gehorsam sind. Anscheinend hat der Autor von  Ez 11,19f. bei dem Gegensatz von steinernem und fleischernem Herzen  die  innerbuchlichen  Bezüge  zu  Ez  2,4  und  3,7  vor  Augen,  wo  von  ei‐ nem verhärteten Herz der Israeliten die Rede ist.42 Darauf könnte auch  die  Verwendung  des  bestimmten  Artikels  an  ‫לב האבן‬  hindeuten.  Nur  durch die in 11,19f. beschriebene Gabe des einen als des anderen Her‐ zens  kann  wieder  ein  aufnahmefähiges  Willenszentrum  geschaffen  werden,  das  wie  in  Ez  36,26f.  Vorbedingung  nicht  nur  für  den  Geset‐ zesgehorsam, sondern auch für das neue Bundesverhältnis ist.  Die  vergleichende  Analyse  von  Ez  11,14‐21  und  36,23bb‐32  zeigt,  dass  es  weitere Nähen zwischen den beiden Texten gibt. Ihnen ist ge‐                                zuschließen,  dass  die  ursprüngliche  Textfassung  noch  kleinere  Nachträge  enthält,  die aber für die weitere Analyse ohne Bedeutung sind (vgl. dazu die Beobachtungen  von OHNESORGE, a.a.O., 6f.).  41  Vgl. KRÜGER, Herz, 82.  42  Vgl.  zu  der  Ersetzung  des  steinernen  durch  das  fleischerne  Herz  auch  EICHRODT,  ATD,  349:  „Die  Beziehung  der  Neuschaffung  auf  die  eigentliche  Zentralsünde  Israels,  seine  Unempfindlichkeit,  in  der  es sich allen göttlichen Liebeserweisen und  Mahnungen  völlig  verschloß  und  zum  Haus  der  Widerspenstigkeit  wurde,  ist  mit  Händen zu greifen.“ 

   

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meinsam,  dass  sie  eine  Veränderung  des  Herzens  Israels  für  die  Zeit  nach der Heimkehr der Diaspora erwarten, die Voraussetzung für das  durch  die  Bundesformel  bestimmte  Gottesverhältnis  ist  (11,20;  vgl.  36,28). Trotz dieser inhaltlichen Gemeinsamkeiten hat die Analyse von  36,23bb‐32 aber erbracht, dass sich der Text in seinen konkreten Formu‐ lierungen von seinem literarischen Kontext speist und darin nicht von  Ez 11,14ff. abhängig ist. Eine Ausnahme bilden aber die Aussagen über  das  Herz  und  den  Geist  in  Ez  36,26‐28,  die  im  literarischen  Kontext  ohne  Parallele  sind,  dafür  aber  so  zahlreiche  sprachliche  und  thema‐ tische  Verbindungen  zu  Ez  11,19f.  aufweisen,  dass  sie  nur  durch  die  Annahme einer literarischen Abhängigkeit zu erklären sind. So stellen  die zwei Texte die Verheißung von Herz und Geist nebeneinander, auf  die  jeweils  eine  Bundesformel  folgt.  In  beiden  Fällen  ist  dabei  eine  Einseitigkeit  impliziert,  da  allein  Jhwh  durch  die  innere  Erneuerung  des  Bundespartners  die  Voraussetzungen  für  die  Dauerhaftigkeit  des  Bundes schafft. Aber während die Verheißung des Geistes mit  ‫רוח חדשׁה‬  in  11,19ab  und  36,26ab  identisch  formuliert  ist,  gibt  es  Abweichungen  hinsichtlich der Näherbestimmung des Herzens: In 11,19aa wird ein ‫לב‬ ‫אחד‬  in  Aussicht  gestellt,  während  36,26aa  in  paralleler  Formulierung  zur  Geistgabe  von  einem  ‫לב חדשׁ‬  spricht.  Der  Rest  der  Verse  berichtet  jeweils in identischer Formulierung davon, dass Jhwh den Geist in ihr  Inneres  (‫)בקרבכם‬  geben  wird,  das  steinerne  Herz  (‫)לב האבן‬  aus  ihrem  Fleisch (‫)מבשׂרם‬ entfernen (‫סור‬ hif.) und durch ein fleischernes Herz (‫לב‬  ‫)בשׂר‬  ersetzen  wird.  Während aber in 11,20 die Ersetzung des Herzens  und die Gabe des neuen Geistes direkt zur Folge haben, dass die Isra‐ eliten  den  Gesetzen  Jhwhs  gegenüber  gehorsam  sind  (‫)למען‬,  ist  es  in  36,27 Jhwh selbst, der bewirkt (‫)ועשׂיתי‬, dass die Israeliten sich gesetzes‐ gemäß verhalten. Hier scheint sich also eine pessimistischere Sicht der  Dinge auszudrücken, da die Alleinwirksamkeit Jhwhs zum Heil gegen‐ über Ez 11,19f. stärker betont wird.  Wird eine literarische Abhängigkeit zwischen Ez 11,19f. und 36,26‐ 28 angenommen, so ist danach zu fragen, welcher der beiden Abschnit‐ te der ursprünglichere ist. Der materiale Befund liefert darüber keinen  Aufschluss, da der Text des Pap. 967 erst ab Ez 11,25 überliefert ist, so  dass  allein  der  inhaltliche  Vergleich  den  Ausschlag  geben  kann.  Zwei  Gründe sprechen dafür, in Ez 11,19f. die literarische Vorlage für 36,26‐ 28  zu  sehen. 43  Zuerst  sind die Aussagen über Herz und Geist in 36,26                                 43  So  auch  SIMIAN,  Nachgeschichte,  349;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  296‐298.317‐ 319.336, und OHNESORGE, Jahwe, 233. LEVIN, Verheißung, 212f., stimmt zwar in der  Richtung der Abhängigkeit mit diesen überein, kommt aber zu dem Ergebnis, dass  36,16‐28*  insgesamt  eine  Neufassung  von  11,14‐21*  sei,  was  nach  den  hier  vorge‐ legten  Analysen  eher  unwahrscheinlich  ist.  Eine  umgekehrte  Richtung  der  Abhän‐

   

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anders  als  in  11,19  auf  eine  Hand  zurückzuführen  und  stimmen  auch  in  ihrer  Charakterisierung  als  „neu“  überein.  Dies  legt  den  Schluss  nahe,  dass  36,26  als  der  spannungsfreiere  und  stärker  systematisierte  Text  auch  der  redigierende  Text  ist.  Umgekehrt  fällt  es  schwer,  eine  Erklärung  dafür  zu  finden,  warum  der  Autor  von  11,19f.*  zwar  die  Aussagen über das Herz aus 36,26 rezipiert, aber erst eine zweite Hand  die  Geistgabe  nachgetragen  haben  sollte.  Vielmehr  erscheint  es  ein‐ leuchtend,  dass  sich  in  Bezug  auf  die  Geistgabe  die  Richtung  der  Ab‐ hängigkeit  umgekehrt  hat  und  der  neue  Geist  in  11,19ab  eine  sekun‐ däre  Angleichung  an  36,26  darstellt.44  Denn  anders  als  in  11,19  passt  der  neue  Geist  in  36,26  zum  neuen  Herz  und  ist  durch  V  27a  in  den  Kontext  eingebunden,  wo  die  Geistgabe  ihren  ursprünglichen  Ort  in  der  Vision  Ez  37,1‐14  hat.  Zweitens  kann  die  stärkere  Betonung  der  Alleinwirksamkeit Jhwhs zum Heil in 36,26‐28 als Korrektur der Sicht  von  11,19f.*  verstanden  werden,  so  dass  auch  das  Gottesbild  in  den  Texten  dafür  spricht,  in  11,19f.*  das  36,26  literarisch  vorausgehende  Stück zu sehen.  Der Auslegungsprozess kann damit wie folgt rekonstruiert werden:  Der Verfasser von Ez 36,23bb‐32 hat auf den älteren Text Ez 11,14‐16.17  zurückgegriffen,  der  ihm  in  einer  bereits  um  V  19aa.b.20  ergänzten  Fassung  vorlag.  Sein  Interesse  an  diesem  Text  kann  damit  begründet  werden, dass er ebenso wie der Autor von 11,19f.* an der Frage interes‐ siert war, wie ein Bund mit dem heimgekehrten Israel von dauerhafter  Gültigkeit  sein  kann.  In  beinahe  wortwörtlicher  Zitation  übernimmt  der Verfasser deshalb die Aussagen über die Transplantation des Her‐ zens  aus  11,19f.*,  wobei  er  aber  an  die  Stelle  des  einen  Herzens  die  Verheißung  eines  neuen  Herzens  und  eines  neuen  Geistes  setzt.  Die  Andersartigkeit  des  Herzens,  die  in  Ez  11  nur  anklingt, wird in Ez 36  durch  das  neue  Herz  und  den  neuen  Geist  so  ausgelegt,  dass  eine  völlige  Erneuerung  des  menschlichen  Willenszentrums  in  den  Blick  kommt. Im Motiv der Neuheit und der Geistgabe in das Innere besteht  deshalb  der  entscheidende  Überschuss  von  36,26f.  im  Vergleich  mit  11,19f.*.  Dies  scheint  auch  ein  späterer  Redaktor  so  empfunden  zu  haben,  der  die  Querverbindungen  zwischen  den  beiden  Texten  zum  Anlass genommen hat, den neuen Geist in 11,19ab nachzutragen. 

                               gigkeit  nehmen  dagegen  EICHRODT,  ATD,  50;  LANG,  Ezechiel,  25;  FUHS,  NEB,  204,  und BEHRENS, Visionsschilderungen, 246‐248, an.  44  So mit LEVIN, Verheißung, 207.211, und OHNESORGE, Jahwe, 47f. 

   

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1.4.3. Das neue Herz und der neue Geist in Ez 18,31  Die  vorangehende  Analyse  hat  gezeigt,  dass  die  entscheidende  Neu‐ interpretation der Vorlage Ez 11,19f.* in 36,26f. in der Ersetzung des ‫לב‬ ‫אחד‬  durch  den  ‫לב חדשׁ‬  und  der  Erweiterung  der  Prophezeiung  um  die  Gabe  der  ‫רוח חדשׁה‬  besteht.  Diese  Kombination  von  neuem  Herz  und  neuem Geist weist einige Berührungen mit Ez 18,31 auf, wo die Israe‐ liten dazu aufgefordert werden, sich ein neues Herz (‫)לב חדשׁ‬ und einen  neuen  Geist  (‫)רוח חדשׁה‬  zu  schaffen.  Der  Aufruf  steht  am  Ende  des  Kapitels Ez 18, das Reflexionen über die Schuldhaftung und die Mög‐ lichkeit zur Umkehr enthält. Auch wenn immer wieder zugunsten der  literarischen Einheitlichkeit des Kapitels argumentiert wird, zeigen die  Aussageverschiebungen und die formale Gestaltung, dass sich mehrere  anknüpfende  Abhandlungen  an  ein  ursprüngliches  Disputationswort  in Ez 18,1‐4* angeschlossen haben.45 Während das Grundwort die Idee  der  Kollektivschuld  mit  dem  einfachen  Hinweis  auf  die  individuelle  Verantwortung abweist, wird das Problem des übergreifenden Schuld‐ zusammenhangs  in  den  Fortschreibungen  in  kasuistischer  Form  aus‐ geweitet  und  am  Beispiel  von  Gerechtem  und  Gottlosem  umfassend  diskutiert. 18,31 findet sich dabei am Ende des Abschnittes 18,21‐32, in  dem die Möglichkeiten bedacht werden, dass ein Gerechter doch noch  fallen kann bzw. einem Ungerechten die Umkehr möglich wird. Durch  das  ganze  Kapitel  zieht  sich  das  Motiv,  dass  jeder  um  seiner  Schuld  willen sterben soll, derjenige aber leben wird, der gerecht ist, bzw. der  den Weg der Umkehr wählt (vgl. z. B. 18,4.9.13.17f.21‐32).  Die  Übereinstimmungen  zwischen  Ez  18,31  und  36,26  zeigen  ein‐ deutig,  dass  hier  mit  einem  literarischen  Abhängigkeitsverhältnis  zu  rechnen  ist.  Die  Formulierung  ‫לב חדשׁ‬  ist  überhaupt nur an diesen bei‐ den Stellen für das gesamte Alte Testament belegt, zudem wird sie an  beiden  Stellen  mit  ‫רוח חדשׁה‬  kombiniert.  Anders  als  in  36,26  sind  das  neue Herz und der neue Geist in 18,31 aber nicht Inhalt einer göttlichen  Verheißung  (‫;ונתתי לכם‬  36,26a),  sondern  das  Volk  selbst  soll  die  innere  Erneuerung an sich vornehmen (‫;ועשׂו לכם‬ 18,31a). Diese Differenz zeigt,  dass  die  beiden  Aussagen  literarisch  nicht  auf  einer  Ebene  liegen  können,  da  sich  in  ihnen  eine  unterschiedliche  Sicht  der  Fähigkeiten  Israels  spiegelt,  das  menschliche  Willenszentrum  neu  zu  gestalten. 46  Wie auch im Verhältnis von 11,19f.* zu 36,26f. sollte der im Bezug auf  die menschlichen Möglichkeiten „optimistischeren“ Sicht von 18,31 die                                 45  Vgl. dazu POHLMANN, ATD, 260f. Dagegen vertreten ZIMMERLI, BK, 396, und neuer‐ dings  auch  ALLEN,  WBC  28,  268,  sowie  BLOCK,  NICOT I, 554f., die literarische Ein‐ heitlichkeit des Kapitels.  46  Vgl. OHNESORGE, Jahwe, 234. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

literarische Priorität vor der Verheißung in 36,26 gegeben werden, die  mit der Betonung der göttlichen Alleinwirksamkeit eine Korrektur von  18,31  darstellt.47  Diese  relative  Chronologie  wird  weiterhin  durch  das  textgeschichtliche Zeugnis von Pap. 967 bestätigt, in dem 18,31 bereits  enthalten  ist,  so  dass  es  dem  Autor  von  36,26  bereits  vorgelegen  hat.  Dieser  setzt  das  neue  Herz  und  den  neuen  Geist  aus  18,31  in  seiner  Auslegung  von  11,19f.* an die Stelle des „einen“ Herzens, behält aber  aus 11,19a die Bestimmung als göttliche Gabe bei.   Trotz  dieser  wörtlichen  Zitation  stehen  hinter  Ez  18,31  und  36,26  inhaltlich völlig unterschiedliche Vorstellungen. Während in 36,23bb‐32  das heimkehrende Volk Jhwhs im Vordergrund steht, wird in Kap. 18  der  Einzelne  in  den  Blick  genommen.  Dementsprechend  geht  es  in  36,26 um die innere Bestimmtheit des Volkes als Voraussetzung für ei‐ nen dauerhaften Bundesschluss, während 18,31 das geforderte ethische  Verhalten  des  Individuums  in  seinem  Verhältnis  zu  Gott  in  den  Blick  nimmt. Aus diesem Grund fehlt in 18,31 und seinem literarischen Kon‐ text die Bundesterminologie ebenso, wie der Text auch keine weiteren  Stichwortverbindungen mehr zu 36,23bb‐32 aufweist.   Wenn  Ez  36,26  damit  zur  literarischen  Nachgeschichte  der  Aus‐ sagen über das neue Herz und den neuen Geist in Ez 18,31 gehört, so  bleibt die Frage, ob es sich in 18,31 um Eigenformulierungen des Ver‐ fassers  handelt  oder  ob  sie  auf  einen  anderen  literarischen  oder  tradi‐ tionsgeschichtlichen Hintergrund zurückgehen. Innerhalb des engeren  Kontextes von Kap. 18 handelt es sich um hapax legomena, die sich auch  nicht  durch  vorgängige  Aussagen  erklären  lassen.  Im  weiteren  Hori‐ zont  des  ersten  Buchteiles  handeln  zwar  einige  Stellen  über  das  menschliche  Herz, 48  von  denen  aber  nur  wenige  eine  über  das  Stich‐ wort ‫לב‬ hinausgehende Verbindung aufweisen. So findet sich innerhalb  eines  heilsprophetischen  Anhangs  an  die  Worte  gegen  die  falschen  Propheten und Prophetinnen in Kap. 13 in 13,22 der Vorwurf, dass sie  das  Herz  des  Gerechten  verzagt  machen.  Die  Stelle  berührt  sich  mit  18,31  darin,  dass  in  diesem  Anhang  in  gleicher  Weise  der  Gerechte  dem  Gottlosen  gegenübergestellt  wird  und  es  um  die  Erhaltung  des  Lebens  geht.  Schon  die  isolierte  Position  des  Einwurfes  spricht  aber  eher  dafür,  dass  in  13,22  die  Argumentation  von  18,21‐32  bereits  vo‐ rausgesetzt ist. Außerdem wäre damit noch nicht das Motiv der Neu‐ heit erklärt. So bleibt nur noch die Frage nach dem Verhältnis von 18,31                                 47  Vgl. auch OHNESORGE, Jahwe, 234. Dagegen sieht LEVIN, Verheißung, 211, die Paral‐ lele 18,31 aus 36,26 entnommen.  48  Vgl.  Ez 2,4; 3,7.10; 6,9; 11,19‐21; 13,2.17.22; 14,3‐5.7; 20,16; 21,12.20; 22,14. ‫חדשׁ‬ ist im  Ezechielbuch  neben  18,31  nur  noch  in  11,19ab  und  36,26  belegt,  von  denen  aber  zumindest 36,26 zur literarischen Nachgeschichte von 18,31 gehört. 

   

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zu  der  Auslegungskette  in  Ez  2,4  –  3,7  –  11,19f.*.  Zwar  gibt  es  keine  weiteren  Stichwortverbindungen  zwischen  diesen  Stellen,  aber  sie  be‐ rühren  sich  in  der  inhaltlichen  Gegenüberstellung  von  Leben  und  Tod.49  Das  steinerne  Herz  in  11,19f.*  steht  für  das  tote  Herz,  das  den  Menschen  uneinsichtig  und  handlungsunfähig  macht,  während  das  fleischerne  Herz  als  das  lebendige  zur  Einsicht  und  zum  willigen  Gehorsam  befähigt.  Der  Autor  von  18,31  könnte  deshalb  unter  dem  Eindruck von Ez 11,19f.* zu dem Schluss gekommen sein, dass die Um‐ kehr  zum  Leben  notwendigerweise  auch  die  Schaffung  eines  neuen  Herzens und eines neuen Geistes voraussetzt.   Des  Weiteren  ist  es  möglich,  dass  eine  Parallele  aus  dem  Jeremia‐ buch  in  der  Entstehung  von  18,31  eine  Rolle  gespielt  hat.  Denn  das  Sprichwort über die sauren Trauben in Ez 18,2, das die Grundlage der  folgenden Argumentationen bildet, hat eine wortwörtliche Parallele in  Jer  31,29  (vgl.  Dtn  24,16).  Dort  geht  das  Wort  unmittelbar  der  Verhei‐ ßung  des  neuen  Bundes  in  Jer  31,31‐34  voraus.  Die  parallele  Abfolge  der  Topoi  „saure  Trauben“  und  „neuer  Bund“  im  Jeremia‐  und  im  Ezechielbuch ist zumindest auffällig. Es wäre deshalb vorstellbar, dass  ein  späterer  Autor  durch  die  doppelte  Abhandlung  des  Sprichwortes  dazu  angeregt  wurde,  auch  das  Motiv  der  Neuheit  in  Ez  18  nachzu‐ tragen (vgl. 18,31).   Ez 18,31 hat sich damit als weitere literarische Vorlage für die Aus‐ sagen  von  Herz  und  Geist  in  36,26f.  erwiesen.  Vor  allem  aufgrund  seiner  Kürze  und  der  besonderen  inhaltlichen  Prägung  fällt  es  aber  schwer, eine Aussage über den Hintergrund des Stückes zu treffen. Es  erscheint zumindest wahrscheinlich, dass es Ez 11,19f.* bereits voraus‐ setzt  und  evtl.  auch  schon  die  Verheißung  des  neuen  Bundes  in  Jer  31,31‐34  kennt.  Da  dieser  Text  auch  für  die  weitere  Analyse  von  Ez  36,23bb‐32  von  einiger  Bedeutung  ist,  sollen  im  Folgenden  die  Paral‐ lelen im Jeremiabuch mit in die Untersuchung einbezogen werden.  1.4.4. Herz und Bund im Jeremiabuch  Im Jeremiabuch gibt es mit Jer 24,6f.; 31,31‐34 und 32,37‐41 drei Texte,  in denen die Verfasstheit des menschlichen Herzens in ihrer Bedeutung  für das Gottesverhältnis thematisiert wird. Alle drei stehen unbestreit‐ bar  an  Schaltstellen  des  Buches  und  enthalten  zentrale  Texte  der  jere‐ mianischen  Heilsverkündigung. Aber da die jüngste Forschung in Be‐ zug auf die Frage, wie das Buch entstanden ist, und auf welche Kreise  die  Entstehung  zurückgeführt  werden  kann,  weit  von  einer  communis                                 49  Vgl. dazu auch WOLFF, Anthropologie, 89. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

opinio  entfernt  ist,50  werden  sich  die  nachstehenden  Analysen  auf  vor‐ sichtige textliche Beobachtungen beschränken.  Der  erste  Text  im  Buchablauf,  der  eine  Veränderung  des  Herzens  ins  Auge  fasst,  ist  Jer  24,6f.,  genauer  V  6‐7a.  Diese  Verse  geben  sich  durch die anknüpfende Wiederholung an V 5 und die sachliche Span‐ nung  zu  V  7b  als  Zusatz  innerhalb  der  Feigenkorbvision  Jer  24  zu  erkennen.51  Die  ursprüngliche  Vision  spricht  in  V  5  lediglich  davon,  dass Jhwh die Gola „zum Guten“ (‫)לטובה‬ ansehen wird. Die Ergänzung  in  V  6‐7a  konkretisiert  in  der  Aufnahme  von  ‫לטובה‬  dieses  Handeln  dahingehend,  dass  Jhwh  ihnen  ein  Herz  geben  wird,  damit  sie  ihn  erkennen (‫ונתתי להם לב לדעת אתי כי אני יהוה‬, V 7aa). Diese Gotteserkenntnis  ist  Voraussetzung  für  den  Bund,  der  in  V  7ab  mit  der  Bundesformel  folgt.   Das zweite Stück ist die viel besprochene Perikope über den neuen  Bund  in  Jer  31,31‐34.52  Unabhängig  von  der  Frage,  ob  hier  deutero‐ nomistische,  nach‐deuteronomistische  oder  anti‐deuteronomistische  Verfasser  zu  Worte  kommen,  gilt  der  Text  nach  wie  vor  in  seinem  wesentlichen  Bestand  als  literarisch  einheitlich.53  Er  gehört  mit  großer  Sicherheit zusammen mit Jer 30,1‐3 und 31,27‐30 zu einer mehrstufigen  Prosaschicht,  die  sekundär  das  Trostbüchlein  in  Jer  31f.  rahmt.  Inner‐ halb  dieses  Rahmens  sagt  31,31‐34  als  letzten  Schritt  eines  Restitu‐ tionsprogramms die Neukonstituierung Israels durch den neuen Bund  (‫ברית חדשׁה‬,  V  31)  an.  Dieser  neue  Bund  wird  von  dem  Bund  bei  der  Herausführung aus Ägypten abgesetzt, den die Väter gebrochen haben                                 50  Vgl.  dazu  SCHMID,  Buchgestalten,  23‐35,  und  den  Forschungsbericht  von  S.  HERR‐ MANN,  Jeremia.  Der  Prophet  und  das  Buch,  EdF  271,  Darmstadt  1990,  sowie  die  gängigen Einleitungen.  51  So mit LEVIN, Verheißung, 200f., und SCHMID, Buchgestalten, 260.  52  In Bezug auf Jer 31,31‐34 hat sich in der jüngsten Forschung eine „erhöhte neue Un‐ übersichtlichkeit“ (GROSS, Zukunft, 138) eingestellt. War lange Zeit die auf Analysen  von  HERRMANN,  Heilserwartungen,  179‐185,  und  THIEL,  Redaktion  II,  20‐28,  basie‐ rende These konsensfähig, dass 31,31‐34 zusammen mit 30,1‐3 und 31,27‐30 zur pro‐ saischen  deuteronomistischen  Redaktion  des  Buches  gehört,  so  ist  dies  neuerdings  wiederholt in Frage gestellt worden. SCHMID, Buchgestalten, 302‐304.348.372f., lehnt  die  These  einer  deuteronomistischen  Redaktion  ab  und  datiert  31,31‐34  als  „anti‐ deuteronom(ist)isch“  in  die  ausgehende  Perserzeit;  vgl.  dazu  auch  GROSS,  Bund,  262f.,  der  ebenfalls  den  dtr.  Charakter  von  31,31‐34  bestreitet,  und  das  Stück  für  „nachdtr“ und „nachexilisch“ erklärt. Im englischsprachigen Raum dominiert dage‐ gen die Zuschreibung der Verheißung des neuen Bundes an den Propheten (vgl. z. B.  HOLLADAY, Hermeneia II, 197, und LUNDBOM, AncB, 465.471).  53  Anders LEVIN, Verheißung, 30, der innerhalb von Jer 31,27‐34 mit einem vierstufigen  Wachstum  rechnet.  Er  geht  von  einer  „Gattung  der  prophetischen  Heilsankündigung“  (LEVIN,  a.a.O.,  28)  in  31,31a.34aba1  aus,  die  nachträglich  um  die  Verheißungen  von  neuem  Bund  in  V  31b‐32.33b.34ba2bg  sowie  von  der  ins  Herz  geschriebenen  Tora  V 33a erweitert worden sei. Zur Kritik vgl. SCHMID, Buchgestalten, 69f.  

   

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(V  32).  Er  ist  durch  zweierlei  charakterisiert:  Zum  einen  wird  Jhwh  seine Tora in das Innere der Israeliten (‫)בקרבם‬ geben und auf ihr Herz  schreiben  (V  33),  was  zu  einer  allgemeinen  Gotteserkenntnis  im  Volk  führt  (V  34aba).54  Zum  anderen  aber  ist  konstitutiv,  dass  Jhwh  ihre  Schulden  vergeben  und  ihrer  Sünden  nicht  mehr  gedenken  wird  (V 34bb).  Der  dritte  Text  ist  schließlich  Jer  32,37‐41,  der  zu  den  Texten  im  Buch  gehört,  die  von  der  Sammlung  der  Diaspora  reden.  Das  Stück  verheißt  in  diesem  Zusammenhang  den  Schluss  eines  dauerhaften  Bundes, einer ‫ברית עולם‬ (V 40). Voraussetzung für diesen ewigen Bund55  ist in V 39 die Gabe eines einzigen Herzens (‫)לב אחד‬ und eines einzigen  Weges (‫)דרך אחד‬.56 Das Schneiden des Bundes ist darüber hinaus damit  verbunden, dass Jhwh den Israeliten Gottesfurcht in ihre Herzen geben  wird, damit sie nicht von ihm abweichen (‫סור‬ kal, V 40).   Bevor  nach  den  Querverbindungen  zum  Ezechielbuch  gefragt  wird, sind die drei Texte aus dem Jeremiabuch in ein relatives Verhält‐ nis zueinander zu setzen. Was die Verfasstheit des menschlichen Her‐ zens  angeht,  ist  eine  Weiterentwicklung  von  Jer  32,37‐41  hin  zu  Jer  31,31‐34 zu beobachten: Während in 32,40 die Gottesfurcht in das Herz  gelegt wird, ist es in 31,33 die Tora, die in das Innere gegeben bzw. auf  das  Herz  geschrieben  wird.  Beide  Texte  sehen  damit  einen  Eingriff  in  das Herz vor, aber während in Jer 32,40 mit der Gottesfurcht die Vor‐ aussetzung  für  den  Gehorsam  eingesenkt  wird,  wird  in  Jer  31,33  in  Form der Tora der Gotteswille selbst inkorporiert. In 31,33 liegt damit  im Vergleich zu 32,40 ein steigerndes Moment, da das Willenszentrum  des Menschen nicht nur auf Gott hin ausgerichtet wird, sondern gleich‐ sam mit dem Gotteswillen verschmilzt. Darüber hinaus zielt die Gabe  des einen Herzens und des einen Weges in 32,39 eher auf die Einigkeit                                 54  Gleichwohl  die  Einschreibung  der  Tora  auf  das  Herz  einen  Bezug  zu  Jer  17,1  nahe  legt, wo davon die Rede ist, dass die Sünde Judas in die Tafel ihres Herzens einge‐ schrieben  ist  (vgl.  z. B.  PFEIFFER,  Herz,  302),  hat  BEZZEL,  Konfessionen,  82f.,  den  Nachweis  geführt,  dass  Jer  17,1‐4  als  Reaktion  auf  Jer  31,33  zu  verstehen  ist  und  darüber hinaus vielleicht sogar schon Ez 11,19 und 36,26 voraussetzt.  55  Dem  ewigen  Bund  geht  in  Jer  32,38  bereits  eine  Bundesformel  voraus,  so  dass  die  Verheißung  des  einen  Herzens  auch  als  Bundesgabe  verstanden  werden  kann.  Der  entscheidende Bundesschluss folgt mit dem ewigen Bund aber erst in 32,40, so dass  die  Gabe  des  ‫לב אחד‬  zumindest  als  Voraussetzung  für  die  dauerhafte  Gültigkeit  zu  sehen ist. Zu den Verbindungen zwischen Jer 32,37‐41 und der Verheißung der ‫ברית‬ ‫עולם‬ in Ez 37,26 vgl. u. Kap. III. 4.4.2.  56  Ähnlich wie in Ez 11,19 bezeugt die LXX auch in Jer 32,39 anstelle von ‫לב אחד‬ kardi,an e`te,ran neben o`do.n e`te,ran und verweist damit auf ein zugrunde liegendes ‫אָ ֵחר‬. Hier ist  allerdings mit SCHMID, Buchgestalten, 82f. Anm. 143, auf Seiten der LXX eine Inter‐ pretation  nach  Jer  31,33  und  Ez  36,26  anzunehmen.  Die  Ursprünglichkeit  des  MT  wird ebenso von LEVIN, Verheißung, 203, und OHNESORGE, Jahwe, 10, vertreten. 

   

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innerhalb  eines  Kollektivs,  während  31,31‐34  das  Motiv  des  Herzens  individualisiert.  Insgesamt  spricht  das  dafür,  31,31‐34  als  vorgeschal‐ tete Präzisierung von 32,37‐41 zu verstehen, während umgekehrt keine  Intention für die nachträgliche Einschreibung von 32,37‐41 hinter 31,31‐ 34 zu erkennen ist.57 Jer 24,6‐7a scheint dagegen die Abfolge von neu‐ em und ewigem Bund bereits vorauszusetzen, da in diesen Versen die  Gabe des Herzens aus 32,39 mit der Gotteserkenntnis aus 31,34 verbun‐ den ist.58 Zwar fehlt die Bundesterminologie in diesem Abschnitt, aber  die  Aussage,  dass  Jhwh  sein  Auge  auf  sie  zum  Guten  (‫לטובה‬,  24,6)  richten wird, kann als Vorverweis auf Jer 32,40.41 verstanden werden,  wo das Heilshandeln Jhwhs unter den Begriff des „Gutes tun“ (‫יטב‬ hif.)  gefasst wird.  Die Beobachtungen im Jeremiabuch können damit wie folgt zusam‐ mengefasst werden: Alle drei Texte behandeln die notwendige Verän‐ derung  des  menschlichen  Herzens  als  Voraussetzung  für  den  Bund.  Als  ältester  Beleg  kann  Jer  32,37‐41  angenommen  werden,  in  dem  die  Gabe  des  einzigen  Herzens  und  die  eingesenkte  Gottesfurcht  Vorbe‐ dingung  für  den  ewigen  Bund  ist.  Jer  31,31‐34  präzisiert  nachträglich  die Bedingungen für den ewigen Bund, der ein Bund von neuer Quali‐ tät  sein  muss, wenn er Bestand haben soll. Aus der Gottesfurcht wird  dabei  in  einer  inhaltlichen  Weiterführung  in  31,33  die  Tora,  die  Jhwh  selbst auf das Herz schreiben wird und die zur Gotteserkenntnis führt.  Jer 24,6‐7a bereitet schließlich in einer späteren Vorschaltung im Buch‐ ablauf  die  Kombination  von  ewigem  und  neuem  Bund  vor  und  fügt  diese in die Feigenkorbvision Jer 24 ein.  Die Berührungen zwischen den drei Texten des Jeremiabuches und  den behandelten Stücken im Ezechielbuch haben von jeher Beachtung  gefunden. 59 Neben dem vergleichbaren Interesse an der Beschaffenheit  des  menschlichen  Herzens  (und  Geistes)  als  Voraussetzung  für  den  Bund, das nur in Ez 18,31 nicht nachweisbar ist, sind es vor allem die  zahlreichen  Stichwortverbindungen,  die  auf  eine  Beziehung  zwischen  den Texten hindeuten. So ist es insbesondere das Lemma „neu“ (‫)חדשׁ‬ in  Verbindung  mit  einer  Aussage  über  das  Herz  bzw.  den  Geist,  das  in                                 57  Vgl.  SCHMID,  Buchgestalten,  103,  und  KRÜGER,  Herz,  82f.  Dagegen  rechnet  LEVIN,  Verheißung, 202‐205, den „Bund mit der ökumenischen Judenheit“ in 32,36‐41* zur  Nachgeschichte  seiner  literarkritisch  reduzierten  Bundesverheißung  von  Jer  31,31‐ 32.33b‐34 (vgl. dazu o. Anm. 53).  58  Vgl. zu dieser Abfolge SCHMID, Buchgestalten, 261; KRÜGER, Herz, 84. Anders LEVIN,  Verheißung, 200.202, wonach Jer 24,6‐7a zwar Jer 31,31‐24* voraussetze, aber litera‐ rische Priorität gegenüber Jer 32,36‐41 habe.  59  Siehe  schon  COOKE,  ICC,  391,  zu  Ez  36,26:  „Ezekielʹs  conception  corresponds  to  Jeremiahʹs new covenant, in which Jahvehʹs law is bestowed inwardly, and written on  the heart“.  

   

Der neue Bund: Ez 36,23bb‐38 

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dieser Kombination im gesamten Alten Testament überhaupt nur in Jer  31,31‐34; Ez 11,19f.; Ez 18,31 und Ez 36,26f. belegt ist. Die Bestimmung  der Verheißung als Gabe Jhwhs (‫)]ו[נתתי‬ findet sich in Jer 24,7; Jer 31,33;  Jer 32,39; Ez 11,19 und Ez 36,26. Des Weiteren ist auf die Querverbin‐ dungen mittels der Gabe ins Innere (‫קרב‬ mit Präposition  ‫) ְבּ‬ in Jer 31,33;  Ez  11,19;  Ez  36,26  und  dem  ähnlichen  Gebrauch  des  Verbes  ‫ סור‬in  Jer  32,40 (kal) und Ez 11,19; 36,26 (hif.) zu verweisen. Die zahlreichen und  bedeutsamen Stichwortverbindungen im Verbund mit den inhaltlichen  Nähen lassen nur den Schluss zu, dass ein literarisches Abhängigkeits‐ verhältnis  zwischen  den  Texten  aus  dem  Jeremia‐  und  dem  Ezechiel‐ buch existiert.60 Bei  dem  Versuch,  das  gegenseitige  Abhängigkeitsverhältnis  der  Texte zu klären, empfiehlt es sich, mit der vergleichenden Analyse bei  Ez 11,19f.* zu beginnen, da dieser Text Ausgangspunkt für die Ausle‐ gungsgeschichte im Ezechielbuch ist. Im genaueren Vergleich mit den  Jeremiatexten fällt sofort die enge Verwandtschaft mit Jer 32,37‐41 auf.  So reden nur diese beiden Texte von der Gabe des einzigen Herzens (‫לב‬  ‫;)אחד‬  vgl.  Jer  32,39  und  Ez  11,19.  Der  Autor  im  Ezechielbuch  ergänzt  diese Gabe zwar noch um die Ersetzung des steinernen Herzens durch  das  fleischerne  Herz,  aber  es  ist  sicher  kein  Zufall,  dass  er  für  den  Vorgang des Entfernens das Verb ‫סור‬ verwendet, das auch für Jer 32,40  belegt  ist.  Desgleichen  scheint  die  Formulierung  der  Bundesformel  in  Ez 11,20 aus Jer 32,38 übernommen zu sein. Es spricht deshalb einiges  dafür, in Jer 32,37‐41 die Vorlage für die spätere Fortschreibung von Ez  11,14‐16.17  durch  V  19f.*  zu  sehen.61  Der  Ausleger  in  Ez  11,19f.*  zeigt                                 60  In der Sekundärliteratur wird die Analyse der Abhängigkeit zumeist auf Jer 31,31‐34  und  Ez  36,26f.  (11,19f.)  beschränkt,  wobei  fast  durchgängig  die  Abhängigkeit  des  Ezechieltextes  von  Jeremia  vertreten  wird  (vgl.  z. B.  MILLER,  Verhältnis,  98f.;  ZIMMERLI,  BK,  879f.;  VIEWEGER,  Beziehungen,  92‐94;  BLOCK,  NICOT  II,  356,  und  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen,  318‐321).  LEVIN  geht  ebenfalls,  wenn  auch  mit  Differenzierungen innerhalb von Jer 31,31‐34, davon aus, dass die Jeremiatexte älter  sind  und  spricht  sich  in  seiner  breit  angelegten  Studie  über  die  Verheißung  des  neuen Bundes für eine relative Abfolge Jer 31,31‐34* – Jer 24,6‐7a – Jer 32,36‐41* – Ez  11,14‐21*  –  Ez  36,16‐28*  –  Ez  18,31  –  Jer  31,33a  aus  (vgl.  LEVIN,  Verheißung,  197‐ 214.257‐264).  SCHMID,  Buchgestalten,  82‐85.260f.,  erwägt  dagegen  eine  umgekehrte  Verhältnisbestimmung  von  Jer  31  und  Ez  36  und  kommt  so  zu  der  entstehungs‐ geschichtlichen  Abfolge  Jer  32,39  –  Ez  11,19  –  Ez  36,26f.  –  Jer  31,33  –  Jer  24,6‐7a.  HOSSFELD,  Untersuchungen,  318,  spricht  nur  von  einer  „gewissen  Verwandtschaft“  in  Bezug  auf  Jer  31,31‐34  und  Ez  36,26f.  Vgl.  auch  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  447f.,  der  in  ähnlicher  Weise  annimmt,  dass  Jer  31,31ff.  und  Ez  36,16ff.  je  auf  ihre  Weise Erwartungen der Exilszeit aufnehmen und verarbeiten.  61  LEVIN,  Verheißung,  205f.,  versucht  den  Nachweis,  dass  Ez  11,14‐21*  insgesamt  auf  die  Vorlage  in Jer 32,37‐41 zurückzuführen sei, was aber nach der hier vorgelegten  Textanalyse von Ez 11,14ff. eher unwahrscheinlich ist. LEVIN argumentiert dabei vor  allem mit dem Kontext, da in beiden Texten die Verheißung auf die Klage des Pro‐ pheten  antwortet  (Jer  32,17;  vgl.  Ez  11,13)  und  jeweils  das  Thema Landerwerb und 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

dabei eine außergewöhnliche Treue gegenüber seiner Vorlage. So über‐ nimmt er unverändert die Aussage über das ‫לב אחד‬, obwohl die Eigen‐ formulierung in Ez 11,19b zeigt, dass es ihm eigentlich um ein anderes  Herz  geht,  das  „fleischern“  und  damit  Jhwhs  Willen  gegenüber  auf‐ nahmefähig ist.62 Die eingesenkte Gottesfurcht, die in Jer 32,39.40 sozu‐ sagen  als  Zwischenschritt  zum  Gehorsam  benötigt  wird,  ist  in  Ez  11,19f.*  überflüssig,  da  mit  der  Erneuerung  des  Herzens  durch  Jhwh  der  Gehorsam  sicher  gestellt  ist.  Es  ist  darum  um  so  auffälliger,  dass  sich keine Bezüge zwischen Ez 11,19f.* und der Verheißung des neuen  Bundes  in  Jer  31,31‐34  aufzeigen  lassen,  die  der  inhaltlichen  Konzep‐ tion von Ez 11,19f.* in diesem Punkt näher steht. Dies kann vorsichtig  so gedeutet werden, dass Jer 31,31‐34 dem Autor von Ez 11,19f.* noch  nicht vorgelegen hat.63 Anders sieht die Sache dagegen mit dem Verhältnis von Jer 31,31‐ 34 und Ez 36,26f. aus. Allein schon das doppelte Vorkommen von ‫לב‬ in  Kombination  mit  dem  Motiv  der  Neuheit  spricht  für  eine  literarische  Verbindung. Darüber hinaus handeln auch beide Texte von einer Ein‐ senkung  in  das  Innere  (‫בקרבם‬,  Jer  31,33;  ‫בקרבכם‬,  Ez  36,26f.);  allerdings  mit  dem  Unterschied,  dass  in  Jer  31,33  die  Tora  in  das  Innere  gelegt  bzw.  auf  das  Herz  geschrieben  wird,  in  Ez  36,26f.  dagegen  der  Geist  Jhwhs.  In  beiden  Abschnitten  ist  überdies  die  Reflexion  über  die  ver‐ gangene  Schuld  konstitutiv  für  den  Neuanfang.  Doch  während  der  Neuanfang in Jer 31,34 die Vergebung der Schuld und ein Nicht‐Mehr‐ Gedenken  der  Sünden  beinhaltet,  ist  in  Ez  36,25  die  kultische  Reini‐ gung  Voraussetzung.  Die  Unterschiede  zwischen  den  Texten  lassen  sich am einfachsten durch die Annahme erklären, dass Ez 36,26f. eine  Weiterführung und Korrektur der jeremianischen Gedanken darstellt. 64                                 Löserecht (‫גאלה‬, Jer 32,7.8; vgl. Ez 11,15) eine Rolle spielt. Allerdings bleibt anzufra‐ gen, ob die Bezüge aus dem weiteren Kontext von Jer 32 wirklich die Annahme einer  Abhängigkeit rechtfertigen, vor allem, da die Klage des Propheten in Ez 11,13 wei‐ tere wörtliche Parallelen in Ez 4,14; 9,8 und 21,5 hat, und das Stichwort ‫גאלה‬ sich auch  aus dem übergeordneten Thema „Landbesitz“ ableiten lässt (vgl. ZIMMERLI, BK, 248).  62  LEVIN gebührt das Verdienst, darauf hingewiesen zu haben, dass an dieser Stelle ein  Beispiel früher Ketib/Qere‐Exegese vorliegt (vgl. LEVIN, Verheißung, 209). Die Septu‐ aginta habe das Qere dann in den Text übernommen (vgl. ebd.).  63  Vgl. SCHMID, Buchgestalten, 83.  64  So  auch  VON  RAD,  Theologie  II,  245;  GROSS,  Mensch,  102f.,  und  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen, 320. Dagegen zieht SCHMID, Buchgestalten, 83, in Erwägung, dass  Jer  31,31‐34  im  Sinne  einer  „antischwärmerischen  Reaktion“  auf  Ez  36,27  zu  ver‐ stehen  sei:  „Wer  die  Tora  im  Herzen  hat,  benötigt  nicht  den  Geist  Jhwhs,  dessen  Gesetze zu erfüllen.“ An dieser These erscheint zuerst problematisch, dass sie nicht  erklären kann, welchen Hintergrund Ez 36,26f. mit der Betonung von ‫קרב‬, ‫חדשׁ‬ und ‫לב‬  vor Augen hat (vgl. dazu auch die Kritik bei SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 319f.).  Weiterhin  bedürfte  dann  einer  Erklärung,  warum  bei  einer  „antischwärmerischen“ 

   

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Der  Autor  ist  anscheinend  der  Meinung  gewesen,  dass  nicht  nur  eine  neue Verwendung des Herzens wie in Jer 31,31‐34 erforderlich ist, son‐ dern  dass  dessen  umfassende  Erneuerung  verheißen  werden  muss.65  Gegenüber dem jeremianischen Konzept kann deshalb hinter Ez 36,26f.  der Gedanke einer „völligen Ersetzung des Personzentrums“66 gesehen  werden.  Die  Schuldvergebung  aus  Jer  31,34  ist  damit  überflüssig,  da  die  Israeliten  aufgrund  ihres  neuen  Herzens  selbst  zur  Einsicht  kom‐ men (vgl. Ez 36,31). An ihre Stelle tritt in 36,25 die kultische Reinigung,  die auf ein priesterliches Verständnis der Schuld hindeutet.   Allerdings muss an dieser Stelle noch Ez 18,31 berücksichtigt wer‐ den. Nach den bisherigen Ergebnissen geht Ez 18,31 Ez 36,26f. voraus,  da  die  Kombination  von  neuem  Herz  und  neuem  Geist  in  36,26  eine  Aufnahme  aus  18,31ab  darstellt.  Wenn  damit  das  Motiv  der  Neuheit  bereits  innerbuchlich  vorgegeben  ist,  so  liegt  die  Frage  auf  der  Hand,  ob die Entstehung von Ez 36,26 auch ohne Jer 31,31‐34 denkbar wäre.  Allerdings  findet  sich  erst  in  dem  Jeremiastück  die  entscheidende  in‐ haltliche  Kombination  der  Neuheit  mit  dem  Bund,  auf  die  hin  das  gesamte Textstück in Ez 36,23bb‐32 ausgerichtet ist. Aus diesem Grund  erscheint es unwahrscheinlich, dass Ez 36,26f. ohne direkten Bezug auf  Jer 31,31‐34 formuliert worden ist. Auch die Idee der Gabe in das Inne‐ re  (‫)בקרבם‬,  mit  der  Ez  36,26  über  die  zweite  innerbuchliche  Vorlage  in  Ez 11,19f.* hinausgeht, kann nur durch die Parallele in der Vorlage Jer  31,33  erklärt  werden.  Die  größte  Wahrscheinlichkeit  hat  deshalb  die  These,  dass  der  Autor  von  Ez  36,23bb‐32  in  seinen  Formulierungen  sowohl auf Jer 31,31‐34 als auch auf Ez 18,31 rekurriert hat. In Jer 31,31‐ 34 fand er die Konzeption des neuen Bundes vorgegeben, während er  aus Ez 18,31 die Verbindung von neuem Herz und neuem Geist zitiert,  die er als Versatzstück in seiner Auslegung von Ez 11,19f.* verwendet.  Dies  erklärt  auch,  warum  er  den  Geist  erst  in  36,27  als  „Geist  Jhwhs“  näher bestimmt: Während in Ez 36,26 die Aussagen aus Ez 11,19* und  18,31  miteinander  kombiniert  werden,  enthält  Ez  36,27  die  Deutung,  durch  die  der  neue  Geist  mit  dem  Geist  Jhwhs  aus  Ez  37,1‐14  identi‐ fiziert wird.  Vor dem Hintergrund dieser relativen Chronologie ist es weiterhin  wahrscheinlich, dass auch Ez 18,31 die Verheißung des neuen Bundes  in  Jer  31,31‐34  bereits  voraussetzt. Eine Verhältnisbestimmung zu den                                 Korrektur von Ez 36,27 neben der Geistgabe auch die Gabe des neuen Herzens nicht  rezipiert worden ist, das doch gut zum neuen Bund passen würde.  65  Vgl. SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 320.  66  Vgl.  KRÜGER,  Herz,  82.  Entsprechend  hat  KRÜGER  ebd.  für  die  ezechielische  Kon‐ zeption  den  Begriff  der  „Transplantationsperspektive“  im  Gegenüber  zur  „Implan‐ tationsperspektive“ im Jeremiabuch geprägt. 

   

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anderen Texten des Jeremiabuches fällt aber ähnlich wie bei den Texten  aus dem Ezechielbuch nicht nur wegen der Kürze von Ez 18,31 schwer,  sondern  auch  dadurch,  dass  aufgrund  der  abweichenden  inhaltlichen  Konzeption keine weiteren Querverbindungen mehr bestehen.   Es bleibt schließlich die Frage nach der Einordnung von Jer 24,6‐7a.  Zwar  zeigt  der  Text  eine  thematische  Nähe  zu  Ez  11,14ff.,  aber  auf‐ grund der fehlenden Stichwortverbindungen und der bisher angenom‐ menen Entstehungsfolge kann ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Tex‐ ten im Ezechielbuch ausgeschlossen werden.  1.4.5. Das reine Herz und der erneuerte Geist in Ps 51  Als letzter Text ist schließlich noch Psalm 51 mit in die Überlegungen  einzubeziehen,  der  schon  früh  durch  seine  sprachlichen  und  inhalt‐ lichen  Verbindungen  zum  Ezechielbuch  aufgefallen  ist.  So  äußert  be‐ reits DUHM im Hinblick auf Ps 51,12f. die Vermutung, die Verse seien  „deutliche Anspielung auf Hes 11,19 oder 36,26.“67 Ps 51 steht am Beginn der zweiten Gruppe von Davidpsalmen in Ps  51‐72. Diese herausgehobene Stellung lässt vermuten, dass er als redak‐ tioneller Psalm entweder für genau diese Position verfasst worden ist,  oder  dass  er  zumindest  sekundär  als  programmatische  Eröffnung  des  zweiten  Davidpsalters  dort  eingestellt  worden  ist.68  Die  einleitenden  V 1f. zeigen auf jeden Fall, dass der Psalm mit seiner Verortung in der  Vita Davids bereits einen kompositorisch gestalteten Gesamtpsalter vor  Augen  hat.  Ohne  Berücksichtigung  der  einleitenden  Verse  kann  der  Psalm  in  zwei  Teile  in  V  3‐11  und  V  12‐19  gegliedert  werden,  die  je‐ weils  durch  Stichwortverbindungen  aufeinander  bezogen  sind,69  wäh‐ rend  der  Nachtragscharakter  von  V  21f.  weitgehend  anerkannt  ist.70  Nach  einem  ausführlichen  Bekenntnis  der  Sünden  und  der  Bitte  um  Reinigung im ersten Teil erbittet sich der Beter in V 12 ein reines Herz   (‫)לב טהור‬ und die Erneuerung (‫ חדשׁ‬pi.) eines „festen Geistes“ (‫)רוח נכון‬ in  seinem  Inneren  (‫)בקרבי‬.  Das  Motiv  des  Geistes  wird  in  den  folgenden  Versen noch weiter variiert: So soll Gott in V 13b den Geist seiner Hei‐ ligkeit  (‫)רוח קדשׁך‬  nicht  von  dem  Sprecher  nehmen,  während  in  V 14b  von  einem  „willigen  Geist“  (‫)רוח נדיבה‬  die  Rede  ist,  mit  dem  Gott  den  Beter  stützen  möge.  Aus  Dankbarkeit  für  seine  Errettung  bietet  der                                 67  DUHM, KHC, 146. Vgl. auch GUNKEL, HK, 224.  68  Die  erste  Möglichkeit  wird  von  PFEIFFER,  Herz,  296,  vertreten,  während  ZENGER,  HThK.AT, 56, sich für eine redaktionelle Umstellung des Psalmes durch die Redak‐ toren des Davidpsalters Ps 51‐72 ausspricht.  69  Vgl.  PFEIFFER,  Herz,  293f.,  und  ZENGER,  HThK.AT,  46‐48.  Dagegen  schlägt  HAAG,  Psalm, 172‐175, eine dreistrophige Gliederung des Psalms in V 3‐6.9‐13.15‐19* vor.  70  Vgl. HAAG, Psalm, 171; TATE, WBC, 9.12.29, und ZENGER, HThK.AT, 48. 

   

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Beter das Opfer seiner Lippen an, da Jhwh kein Gefallen an kultischen  Opfern habe (V 16‐18).71 Vielmehr wird das gottgefällige Opfer als eine  innere Verfasstheit beschrieben, die durch einen gebrochenen Geist (‫רוח‬  ‫)נשׁברה‬  und  ein  gebrochenes  und  zerschlagenes  Herz  (‫)לב־נשׁבר ונדכה‬  ge‐ kennzeichnet ist (V 19).  Der  genaue  Vorstellungsgehalt  der  Aussagen  über  das  Herz  und  den Geist ist nur schwer zu ergründen. Hinter der Bitte um ein reines  Herz in V 12 könnte sich sowohl das Konzept des anderen oder neuen  Herzens  aus  dem  Ezechielbuch  verbergen  als  auch  die  Reinigung  des  vorhandenen  Herzens.  In  Bezug  auf  den  Geist  ist  dagegen  zwischen  den unterschiedlichen Vorstellungen in Ps 51 zu differenzieren. Im Fall  des  „festen  Geistes“  scheint  der  Sprecher  einen  neuen  (‫חדשׁ‬  pi.,  V 12)  Geist  zu  erbitten,  während  der  „Geist  der  Heiligkeit“  den  heiligen  Geist  Jhwhs  meint,  dessen  Gabe  an  den  Beter  bereits  erfolgt  ist.  Auch  die ‫נדיבה‬ ‫רוח‬ könnte als der leitende Geist von Jhwh verstanden werden  (vgl. Ps 143,10), 72 aber da ‫נדב‬ terminus technicus für die freiwillige Opfer‐ gabe  ist73  und  im  Kontext  von  der  Selbstdarbringung  des  Beters  die  Rede  ist  (Ps  51,16‐19),  ist  der  Ausdruck  ‫רוח נדיבה‬  besser  als  Aussage  über  die  innere  Verfasstheit  des  Menschen  zu  verstehen.  Der  „willige  Geist“  kennzeichnet  die  Jhwh‐gefällige  Geisteshaltung  des  Menschen,  der sich selbst als Opfer Gott hingibt. Die Beschreibung des zerbroche‐ nen  Geistes  bzw.  des  zerbrochenen  und  geschlagenen  Herzens  in  Ps  51,19  kann  sich  deshalb  nur  auf  den  an  Herz  und  Geist  erneuerten  Menschen beziehen.74   Die inhaltliche Konzeption von Ps 51 steht damit in einer gewissen  Nähe  zu  den  besprochenen Texten aus dem Ezechielbuch, da eine Er‐ neuerung  des  menschlichen  Willenszentrums  und  der  Lebenskraft  in‐ tendiert ist, die nur durch einen Eingriff Gottes vorgenommen werden  kann. Diese inhaltliche Übereinstimmung sowie die zahlreichen Stich‐ wortverbindungen  zeigen,  dass  mit  einer  literarischen  Verbindung  zwischen  Ps  51  und  den  Stücken  aus  dem  Ezechielbuch  gerechnet  werden  kann.75  Indes  ist  die  genaue  Verhältnisbestimmung  der  Texte                                 71  Zu den Diskussionen, inwieweit hier eine Abschaffung des Opferkultes im Blick ist,  vgl. den Überblick bei TATE, WBC, 27‐29.  72  Vgl. TATE, WBC, 25. Dasselbe Verständnis zeigt die Übersetzung der LXX, die für ‫רוח‬ ‫נדיבה‬ in Ps 51,14 pneu,mati h`gemonikw/| bietet.  73  Vgl.  ZENGER,  HThK.AT,  53.  Zum  semantischen  Verständnis  von  ‫נדב‬  im  Sinne  einer  freiwilligen Opfergabe vgl. CONRAD, Art. ‫נדב‬, 239‐241.  74  Vgl. auch ZENGER, HThK.AT, 55.  75  So  mit  GUNKEL,  Psalmen, 224; LEVIN, Verheißung, 211; PFEIFFER, Herz, 303‐306, die  auf  Seiten  des  Ezechielbuches  aber  nur  Ez  11,19  und  36,26  berücksichtigen.  OHNE‐ SORGE, Jahwe, 33.236, spricht sich indes gegen eine direkte Verbindung zwischen Ps  51  und  Ez  11,19  sowie  36,26  aus.  HAAG,  Psalm,  passim,  vertritt  die  These,  dass  der 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

schwierig.  In  der  Parallelisierung  von  ‫לב‬  und  ‫רוח‬  in  Kombination  mit  der  Wurzel  ‫חדשׁ‬  und  der  Ortsangabe  ‫בקרב‬  steht  Ps  51  insbesondere  Ez  36,26 nahe. Diese Kombination von Motiven findet sich bei den bisher  behandelten Texten sonst nur noch in Ez 11,19f., der aber nicht für eine  literarische  Beziehung  zu  Ps  51  in  Frage  kommt,  da  die  Querver‐ bindungen allesamt auf einer nachträglichen Angleichung von 11,19f.*  an 36,26 beruhen. Mit Ez 36,23bb‐32 berührt sich Ps 51 weiterhin in der  Vorstellung,  dass  der  inneren  Erneuerung  eine  kultische  Reinigung  vorausgehen  muss  (‫טהר‬  Ps  51,4.9;  vgl.  Ez  36,25).  Allerdings  mit  dem  Unterschied, dass es in dem Psalm anders als in Ez 36,26f. nicht um die  Gewährleistung des Bundes mit dem Volk geht, sondern um das indi‐ viduelle  Gottesverhältnis.  Entsprechend  zielt  die  innere  Erneuerung  weniger auf die Zukunft als vielmehr auf die Reinigung von vergange‐ nen  Sünden.  In  der  Konzentration  auf  den  Einzelnen  zeigt  sich  dage‐ gen  eine  gewisse  inhaltliche  Parallele  zu Ez 18,31, mit dem der Psalm  auch den weisheitlichen Hintergrund teilt.76 Indessen weicht die inhalt‐ liche  Konzeption  von  Ps  51  doch  in  einem  entscheidenden  Punkt  von  Ez  18,31  ab:  Nicht  den  Israeliten  wird  zugetraut,  das  Neuerungshan‐ deln zu leisten, sondern Ps 51,12 sieht ein schöpfungsmäßiges Handeln  Gottes  am  Menschen  vor  (‫)ברא־לי‬.  Ein  literarisches  Abhängigkeitsver‐ hältnis zwischen Ps 51 und Ez 18,31 erscheint aus diesem Grund eher  unwahrscheinlich.   Es  bleiben  damit  zwei  Möglichkeiten:  Entweder  ist  in  Ps  51  eine  weitere literarische Vorlage für Ez 36,26f. zu sehen oder der Psalm ba‐ siert auf einer Auslegung des ezechielischen Textes. M. E. erklären sich  die Abweichungen zwischen den beiden Texten am einfachsten durch  die  These,  dass  in  Ps  51  eine  Aktualisierung  und  Weiterentwicklung  der  ezechielischen  Verheißung  vorliegt:  Was  in  Ez  36,26f.  dem  Volk  verheißen  worden  ist,  erfleht  der  Beter des Psalms nun für sich.77 Das  steigernde  Moment  gegenüber  Ez  36,26f.  zeigt  sich  vor  allem  im  Ge‐                                gesamte  Psalm  traditionsgeschichtlich  u.a.  auf  dem  Restitutionsprogramm  gründe,  das die Schule Ezechiels in 36,16‐32 entworfen habe.  76  Vgl. PFEIFFER, Herz, 306f.   77  So  auch  ZENGER,  HThK.AT,  52f.;  GROSS,  Mensch,  107,  und  HAAG,  Psalm,  186‐188.  Damit ergeben sich aber nicht unwesentliche Konsequenzen für die historische Ein‐ ordnung  des  Psalms:  Wenn  er  nach  der  hier  vorgelegten  Analyse  die  späte  re‐ daktionelle  Fortschreibung  Ez  36,23bb‐32  bereits  voraussetzt,  dann  muss  für  den  Psalm eine Abfassungszeit im 3. oder sogar 2. Jh. v. Chr. angenommen werden (vgl.  dazu u. Kap. IV. 2.1.4.). Im Allgemeinen wird der Psalm jedoch in das 5. Jh. v. Chr.  datiert, vgl. z. B. ZENGER, HThK.AT, 30, wobei allerdings in den meisten Fällen nicht  die  Abhängigkeit  von  Ez  36,26f.  bestritten  wird,  sondern  für  dieses  Stück  eine  wesentlich frühere Datierung angenommen wird (vgl. exemplarisch ZENGER, a.a.O.,  52f., der für Ez 36,24‐28 von einer exilischen oder frühnachexilischen Abfassung aus‐ geht). 

   

Der neue Bund: Ez 36,23bb‐38 

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brauch  von  ‫ברא‬  für  das  Handeln  Gottes  anstelle  von ‫נתן‬.  Das  Verb  ‫ברא‬  ist  im  Alten  Testament  nur  Gott  als  Träger  des  Tuns  zugeeignet  und  findet  sich  vor  allem  in  der  Priesterschrift  und  im  Zweiten  Jesaja,  wo  von  der  anfänglichen  Schöpfung  und  der  Erneuerung  der  Schöpfung  die Rede ist.78 Die vollständige und wesentliche Erneuerung des Men‐ schen in Ez 36,26f. wird in Ps 51,12 durch die Verwendung von ‫ברא‬ als  erneute Schöpfertat Jhwhs rezipiert. Damit wird auch ein weiteres Mal  auf  die  Alleinwirksamkeit  Gottes  zum  Heil  verwiesen,  da  die  innere  Neuausstattung  des  Menschen  allein  durch  seine  schöpferische  Tat  möglich ist.79 Die Interpretation als Schöpfertat legt sich für den Autor  von  Ps  51 vielleicht auch von der Position seines traditum unmittelbar  vor der Vision von der Wiederbelebung der trockenen Knochen (‫)עצמות‬  in  Ez  37,1‐14  her  nahe.  Darauf  könnte  die  Verwendung  von  ‫עצם‬  in  Ps  51,10 deuten, wo davon die Rede ist, dass die von Jhwh zerschlagenen  Gebeine (‫)עצמות דכית‬ wieder frohlocken sollen. Zwar ist ‫עצם‬ für den Psal‐ ter mit 13 Belegen kein unüblicher Terminus, aber die Position von Ps  51,10  vor  der  Auslegung  von  Ez  36,26f.  in  Ps  51,12‐14  macht  es  doch  wahrscheinlich,  dass  in  diesem  Vers  eine  Anspielung  auf  Ez  37,11‐14  vorliegt.80 Es ist schließlich zu überlegen, ob sich die Vorstellung des willigen  Geistes  in  Ps  51,14  einer  Auslegung  der  Geistgabe  aus  Ez  36,27  ver‐ dankt. Während in Ps 51,14 der erbetene willige Geist die Ausrichtung  des menschlichen Willens auf Jhwh beschreibt, ist die Gabe von Jhwhs  Geist  in  Ez  36,27  Voraussetzung  für  den  Gesetzesgehorsam  des  Men‐ schen. Mithin ist es in beiden Texten die Verfasstheit des menschlichen  Geistes, die über das Gottesverhältnis des Menschen entscheidet, auch  wenn  in Ps 51 die Spiritualisierung des Opfers im Vordergrund steht,  während  Ez  36,27  auf  die  Bundespflicht  zielt.  Auf  jeden  Fall  zeigt  bereits  die  vierfache  Nennung  von  ‫רוח‬,  dass  der  Geist  in  Ps  51  eine  gegenüber dem Herz bedeutendere Stellung einnimmt. Damit zeichnet  sich  von  Jer  32,37‐41  über  Ez  11,19f.*  –  Jer  31,31‐34  –  Ez  18,31  –  (Jer                                 78  Vgl.  dazu  insgesamt  A.  ANGERSTORFER,  Der  Schöpfergott  des  Alten  Testaments.  Herkunft  und  Bedeutung  des  hebräischen  Terminus  ‫ברא‬  „schaffen“,  Regensburger  Studien zur Theologie, Frankfurt a. M. 1979. Zur Verwendung des Begriffs in Ps 51  vgl. auch GROSS, Eigenart, 253f.  79  Vgl. GROSS, Mensch, 106f.; HAAG, Psalm, 186f., und ZENGER, HThK.AT, 53.  80  Vgl.  ZENGER,  HThK.AT,  52,  sowie  PFEIFFER,  Herz,  305.  Es  gibt  einige  Hinweise  da‐ rauf, dass der Psalm noch weitere prophetische Stücke voraussetzt, vgl. z. B. die Re‐ de  von  Gottes  heiligem  Geist,  der  nur  noch  in  Jes  63,10.11  belegt  ist.  Des  Weiteren  können auch die Bitten um Sündenvergebung (vgl. Jes 43,25; 44,22; Jer 31,31‐34), die  Erschaffung  von  Neuem  (vgl.  Jes  42,5‐9;  43,19  und  48,1‐11)  und  die  Einsicht  des  Beters (vgl. Ez 36,31) auf vorgegebene Stücke zurückgehen, auch wenn hier nicht in  jedem Fall eine literarische Abhängigkeit vorliegen muss. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

24,6‐7a)81 – Ez 36,23bb‐32 – Ez 11,19ab bis zu Ps 51 ein Interpretations‐ vorgang ab, in dem die Verfasstheit des Geistes zunehmend an Bedeu‐ tung gewinnt. Ist es in den Texten des Jeremiabuches ebenso wie in der  ursprünglichen Fassung von Ez 11,19f.* anfangs nur die Beschaffenheit  des  Herzens,  die  thematisiert  wird, tritt in Ez 36,26f. und sekundär in  Ez 11,19f. (V 19ab) der neue Geist neben das neue Herz, bis in Ps 51 die  Geisteshaltung über das Gottesverhältnis entscheidet.82 Zwar wird der  Bund in Ps 51 nicht näher thematisiert, aber vor dem literarischen Hin‐ tergrund steht außer Frage, dass die Bitten um das reine Herz und den  erneuerten Geist auf die Individualisierung der Verheißung des neuen  Bundes  zurückzuführen  sind:  „Mit  diesen  Bitten  bittet der Beter letzt‐ lich um die Gnade des Neuen Bundes.“83 1.5. Der neue Bund im Ezechielbuch  Die Frage nach dem neuen Bund im Ezechielbuch hat damit eindeutig  eine  positive  Antwort  gefunden.  Der  späte  Nachtrag  in  Ez  36,23bb‐32  formuliert Voraussetzungen für einen dauerhaften Bundesschluss, wie  er im literarischen Kontext vorgegeben ist. Da der Autor dabei auf Jer  31,31‐34  als  Vorlage  zurückgreift,  schwebt  ihm  zweifelsfrei  nicht  nur  ein dauerhafter, sondern der dauerhafte als der neue Bund vor.   Wird danach gefragt, wie der neue Bund den Weg ins Ezechielbuch  gefunden hat, so muss allerdings mit Ez 11,19f.* begonnen werden, wo  sich  der  neue  Bund  gleichsam  durch  ein  Hintertürchen  in  das  Buch  schleicht.  Dort  erörtert  der  Autor  von  Ez  11,19f.*  als  Erster  in  einer                                 81  In  Bezug  auf  Jer  24,6‐7a  kann  nur  als  gesichert  gelten,  dass  dieser  der  jüngste  der  drei Jeremiatexte ist. Da kein Abhängigkeitsverhältnis zu den Stücken aus dem Eze‐ chielbuch festgestellt wurde, muss seine relative Einordnung unsicher bleiben.  82  Dieser  Auslegungsvorgang  findet  in  der  Gemeinderegel  von  Qumran  (1QS)  eine  Fortsetzung, wo die Beschaffenheit der ‫רוח‬ über die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft  entscheidet  (vgl.  1QS  II,14.20;  V,21.24;  VI,17;  VII,18.23; IX,14.15.18). Darüber hinaus  finden sich zahlreiche lexikalische und inhaltliche Anspielungen auf Ps 51. So ist zu  überlegen, ob in der Selbstbezeichnung der Gemeindemitglieder als derjenigen, die  sich als willig erweisen (‫המתנדבים‬, vgl. V,1.6.8.10.21.22; ‫המתנדב‬, VI,13; ‫הנדבים‬, I,7.11) ein  Bezug auf die ‫רוח נדיבה‬ in Ps 51,14 vorliegt. Für diese Überlegung spricht auch, dass  im  Kontext  der  zwei  Passagen,  die  das Selbstverständnis der Gemeinde als freiwil‐ liges  Opfer  beschreiben  (VIII,4‐10;  IX,4‐6),  der  im  Alten  Testament  und  in  Qumran  äußerst  selten  belegte  Terminus  ‫רוח נשברה‬ (VIII,3; vgl. XI,1) verwendet wird; vgl. Ps  51,19.  Schließlich  sieht  die  Zwei‐Geister‐Lehre  in  1QS  ähnlich  wie  Ps  51  eine  neue  Schöpfung (‫עשות חדשה‬, IV,25) vor, die eine innere Reinigung und Restitution der Geis‐ tesverfassung (‫טהר‬/‫ )רוח‬durch den Geist der Heiligkeit (‫ברוח קודש‬, IV,21) beinhaltet.  83  ZENGER, HThK.AT, 53. Vgl. auch GROSS, Eigenart, 254: „Das, was die beiden Prophe‐ ten  [Jeremia  und  Ezechiel]  als  einziges  Heilmittel  in  der  derzeitigen,  der  Sünde  verhafteten  Situation  des  Menschen  erkennen  und  für  die  Heilszukunft  verheißen,  eben darum bittet der Psalmist.“ 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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Auslegung von Jer 32,37‐41 eine Veränderung des Herzens als Voraus‐ setzung  für  einen  Bund  mit  der  Diaspora.  In  einem  nächsten  Schritt  lässt sich ein späterer Verfasser in Ez 18,31 zu der Aussage vom neuen  Herz und neuen Geist inspirieren, die vermutlich sowohl Ez 11,19f.* als  auch Jer 31,31‐34 voraussetzt. In seiner Rezeption von Jer 31 greift der  Autor  von  Ez  36,23bb‐32  auf  diese  innerbuchlichen  Vorlagen  zurück  und  zitiert  sowohl  Ez  11,19f.*  als  auch  Ez  18,31.  Dabei  interpretiert  er  allerdings  die  Gabe  des  neuen  Geistes  als  die  Gabe  von  Jhwhs  Geist,  wie  sie  ihm  in  Ez  37,1‐14  vorgegeben  ist.  Das  Verständnis  des  neuen  Bundes  in  Ez  36,23bb‐32  ist  radikaler  und  umfassender  gedacht  als  in  Jer 31,31‐34, denn anders als im Jeremiabuch wird nicht nur der Bund  erneuert,  sondern  Jhwh  schließt  seinen  Bund  mit  einem  neuen  Men‐ schen.  Sein  Heilshandeln  zielt  auf  eine  Neuschöpfung  der  mensch‐ lichen Natur, so dass ein Zurückfallen in die alten Wege und Taten qua  natura nicht mehr möglich ist. In Ps 51 wird die Vorstellung der Neu‐ schöpfung schließlich auf die Spitze getrieben, indem die innere Erneu‐ erung  explizit  als  Schöpfungsakt Gottes erbeten wird. Allerdings liegt  der Fokus hier auf dem Individuum, das Gottes schöpferisches und er‐ neuerndes Handeln an sich erbittet.   Ez  36,23bb‐32  kann  somit  als  theologischer  Kulminationspunkt  in  einer Reihe von Texten bezeichnet werden, in denen in zunehmendem  Maße  ein  Eingriff  Gottes  in  das  menschliche  Willenszentrum  erwartet  wird,  um  die  Unverbrüchlichkeit  des  Bundes  mit  seinem  Volk  zu  ge‐ währleisten. Es bleibt zu fragen, ob diese Aussagen in Verbindung mit  der Umstellung der Kapitel zur Struktur des masoretischen Textes viel‐ leicht  schon  im  Blick  auf  das  sich  formierende  corpus  propheticum  entstanden sind. Auch wenn eine genaue Klärung erst in der syntheti‐ schen Analyse erfolgen kann, bleibt festzuhalten, dass die Verheißung  von neuem Herz und neuem Geist nicht ohne den Bezug auf das Jere‐ miabuch zu denken ist. 

2. Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f.  2.1. Standortbestimmung und Vorgehensweise  Die Gog‐Perikope in Ez 38f. berichtet in einer Fülle von Einzelmotiven  von  dem  Einfall  feindlicher  Mächte  aus  dem  Norden  unter  Führung  von Gog und deren endgültiger Niederlage auf den Bergen Israels. Die  Position der Kapitel innerhalb der Heilsprophetie des dritten Buchteils  ist dabei in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. So fällt zuerst auf, dass die  Perikope  durch  ihre  Stellung  von  den  anderen  Fremdvölkersprüchen 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

im  zweiten  Buchteil  Kap.  25‐32  isoliert  ist.  Schon  von  daher  liegt  die  Vermutung nahe, dass es sich hier nicht nur um ein sozusagen „verirr‐ tes“  Fremdvölkerwort  handelt,  sondern  dass  die  Perikope  von  beson‐ derer Bedeutung für die Heilsprophetie des Buches ist. Darüber hinaus  stehen die Gog‐Kapitel nach der ersten Analyse auch in dem Verdacht,  einen  ursprünglichen  Textzusammenhang  in  Ez  36,16‐22(23aba)  und  39,23‐29 zu zertrennen,84 wobei aber insbesondere die genaue Abgren‐ zung nach hinten noch weiterer Untersuchung bedarf.  Es wird deshalb im Folgenden in drei Schritten zu analysieren sein,  welche  Funktion  die  Gog‐Perikope  im  dritten  Teil  des  Buches  ein‐ nimmt  und  warum  sie  genau  an  dieser  Stelle  eingeschrieben  worden  ist.  Zuerst  wird  es  in  der  Textanalyse  darum  gehen,  die  Perikope  von  ihrem  literarischen  Kontext  abzugrenzen  und  den  Ursprungstext  zu  eruieren.  Anschließend  soll  in  einer  Untersuchung  des  redaktionellen  Horizontes  geklärt  werden,  mit  welcher  Intention  das  Grundwort  an  diesem  Ort  im  Buch  eingefügt  worden  ist.  Als  erhellend  für  diesen  Problemkomplex  kann  sich  die  Frage  erweisen,  inwieweit  die  Gog‐ Perikope  auf  Vorlagen  im  Buch  oder  außerhalb  des  Buches  zurück‐ geführt  werden  kann.  Deshalb  folgt  in  einem  dritten  Abschnitt  der  Vergleich  mit  nahestehenden  Texten  des  Buches  sowie  die  Analyse  möglicher  Vorlagen  im  Jeremiabuch,  um  abschließend  die  Gog‐Peri‐ kope in die Heilsprophetie des Ezechielbuches einzuordnen.  2.2. Textanalyse  2.2.1. Abgrenzung  Wird  nach  der  genauen  Abgrenzung  des  Gog‐Komplexes  gefragt,  so  muss  die  Untersuchung  nach  dem  Zeugnis  des  Pap.  967  von  einer  literarischen  Ebene  ausgehen,  auf  der  die  Kapitel  Ez  38f.  zwischen  Ez  36,16‐23ba und Ez 37 eingeordnet sind. Von dem vorangehenden Stück  in 36,16‐23ba, welches das Ansehen von Jhwhs heiligem Namen durch  die Zerstreuung Israels unter die Völker bedroht sieht, ist die Gog‐Peri‐ kope durch die Wortereignisformel in 38,1 klar abgegrenzt. Die genaue  Abgrenzung nach hinten stellt die Analyse dagegen vor einige Schwie‐ rigkeiten. Zwar ist auf jeden Fall mit der Visionseinleitung in 37,1 eine  Zäsur gegeben, aber auch bei den vorhergehenden Abschnitten ist die  ursprüngliche  Zugehörigkeit  zum  Gog‐Komplex  fraglich.  Das  letzte  Stück, das eindeutig zur Gog‐Thematik zu ziehen ist, ist 39,17‐20. Diese                                 84  Vgl. dazu o. Kap. II. 4.3. Bei Ez 36,23aba handelt es sich um eine nachträgliche Ein‐ zelversfortschreibung, die erst eingefügt worden ist, als 36,16‐22 und 39,23‐39 bereits  durch die Gog‐Perikope voneinander getrennt wurden (vgl. dazu u. Kap. III. 3.2.). 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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Verse  nehmen  eine  Ankündigung  aus  39,4  auf,  nach  der  Gog  mit  sei‐ nem Heer den wilden Tieren zum Fraß werden wird, und machen sie  zum  Thema  eines  eigenen  Abschnittes.85  Die  genaue  Zuordnung  der  folgenden Verse 39,21‐29 ist dagegen von jeher unter den Exegeten dis‐ kutiert worden.86   Das gesamte Stück gliedert sich in drei Redegänge in V 21f., V 23f.  und  V  25‐29,  von  denen  die  beiden  letzten  durch  die  korrespondie‐ rende Wendung ‫ואסתר פני‬ (V 23.24) bzw.  ‫ולא־אסתר עוד פני‬ (V 29) verbun‐ den sind. Zumindest in Bezug auf 39,25‐29 ist klar erkennbar, dass der  Text in Spannung und Widerspruch zum Inhalt der eigentlichen Gog‐ Perikope steht: So kündigt Jhwh in diesen Versen die Schicksalswende  Israels  an  und  verheißt  Sammlung  und  Rückführung  des  zerstreuten  Volkes  (V 27).  Diese  Ereignisse  werden  aber  in  der  Gog‐Perikope  fast  durchgängig  als  bereits  geschehen  vorausgesetzt  (vgl.  38,8.12.14).  Des  Weiteren scheint das Stück völlig in Unkenntnis über das Anliegen der  vorherigen Texte zu sein: Anders als in 38,1‐39,20 geht es nicht um eine  Feindbedrohung  Israels,  sondern  die  Heilswende  Israels  soll  das  Got‐ tesverhältnis  restituieren  und  der  Wiederherstellung  von  Jhwhs  heili‐ gem  Namen  unter  den  Völkern  dienen.  In  diesen  Aussagen  zeigt  sich  zwar eine gewisse Nähe zum Anliegen der Gog‐Perikope, die ebenfalls  ein  Interesse  an  der  Völkererkenntnis  (vgl.  38,16.23;  39,7)  und  der  Of‐ fenbarung  von  Jhwhs  heiligem  Namen  (39,7)  hat.  Aber  während  dort  die  Völker  angesichts  der  Zerschlagung  Gogs  und  seines  Heeres  zur  Erkenntnis kommen, wird diese in 39,25‐29 durch Jhwhs Rückführung  seines Volkes bewirkt. Diese Beobachtungen sprechen eindeutig dafür,  dass 39,25‐29 nicht der eigentlichen Gog‐Thematik zuzuordnen ist und  bestätigen somit die Annahme, dass es sich hier um das Gegenstück zu  36,16‐22(23aba)  handelt,  das  mit  diesem  vor  Einfügung  der  Gog‐Peri‐ kope einen Textzusammenhang gebildet hat.                                  85  Anders  dagegen  HÖLSCHER,  Hesekiel,  186f.,  der  den  ursprünglichen  Schluss  der  Gog‐Weissagung bereits in 39,16 sieht und das Opfermahl der Tiere in 39,17‐20 nicht  mehr auf Gog, sondern allgemein auf die Fürsten der Erde bezieht. Gegen diese The‐ se sprechen aber die Stichwortverbindungen, durch die der Bezug von 39,17‐20 auf  39,4 und damit auf Gog evident wird (‫על הרי ישׂראל‬, V 4; vgl. V 17; ‫צפור כל כנף וחית השׂדה‬,  V 4; vgl. ‫לצפור כל כנף ולכל חית השׂדה‬, V 17).  86  Vgl.  dazu  den  Forschungsüberblick  bei  BLOCK,  Gog  I,  258‐261.  BLOCK  ist  in  der  jüngeren Forschung der Einzige, der die Zugehörigkeit von 39,21‐29 zur eigentlichen  Gog‐Perikope vertritt (vgl. BLOCK, a.a.O., 257‐270, sowie  DERS., NICOT II, 479f.). Die  weiteren  Vorschläge  sehen  in  dem  Stück  zumeist  eine  redaktionelle  Abrundung  entweder  der  Gog‐Perikope  oder  der  vorgängigen  Heilsprophetie,  wobei  aber  die  genaue  Abgrenzung  variiert;  vgl.  ZIMMERLI,  BK,  968  (zu  39,23‐29);  GARSCHA,  Stu‐ dien, 123 Anm. 353 (zu 39,21‐29); HOSSFELD, Untersuchungen, 492 (zu 39,23‐29), und  im  Anschluss  an  diesen  ALLEN,  WBC  29,  204.  POHLMANN,  ATD,  514‐518,  bestimmt  39,25‐29 dagegen als ein der Gog‐Perikope vorgängiges Stück. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Als  nächstes  kommt  der  Redegang  39,23f.  als  mögliches  Ende  der  Gog‐Perikope  in  Betracht.  In  diesen  beiden  Versen  kündigt  Jhwh  an,  dass  die  Völker  im  Rückblick  erkennen  werden,  dass  das  Haus  Israel  wegen seiner Vergehen in die Zerstreuung geführt worden ist. Inhalt‐ lich passt diese Aussage sehr viel besser zu dem nachfolgenden Stück  in  39,25‐29,  das  ebenfalls  die  Völkererkenntnis  mit  der  Diaspora‐ situation  Israels  verbindet,  als  zu  der  Gog‐Perikope.  Da  auch  schon  aufgezeigt  worden  ist,  dass  V  23f.  und  V  25‐29  durch  die  Korrespon‐ denz  von  ‫ואסתר פני‬  in  V  23f.  zu  ‫ולא אסתר עוד פני‬  in  V  29  zusammenge‐ halten  werden,  liegt  es  nahe,  V  23f.  noch  zu  dem  folgenden  Stück  in  39,25‐29 zu ziehen.87 Damit bleibt nur noch die Zugehörigkeit von 39,21f. zu klären. V 21  enthält  die  für  Ez  38f.  zugegebenermaßen  singuläre  Ankündigung,  dass  Jhwh  seine  Herrlichkeit  (‫;כבודי‬  vgl.  im  Kontext  des  dritten  Buch‐ teiles nur noch Ez 43,2‐5) unter die Völker geben wird, die sein Gericht  sehen werden. Daraufhin wird auch das Haus Israel für alle Zeiten zur  Gotteserkenntnis  kommen  (V  22).  Diese  beiden  Verse  sind  schwerlich  ohne  Einbeziehung  der  Gog‐Thematik  verständlich.  Auch  wenn  sich  das  erwähnte  Gericht  als  das  Gericht  über  Israel deuten ließe, so liegt  es doch näher, dahinter die Vernichtung Gogs und seiner Völkerschar  durch Jhwh zu sehen. Desgleichen verweist das rückbezügliche  ‫מן־היום‬  (V 22b) auf eben dieses Geschehen, auf das die gesamte Gog‐Perikope  hindurch  immer  wieder  mit  zeitlichen  Angaben  Bezug  genommen  wird  (vgl.  38,10.14.18;  39,8.11.13).  Da  39,22  mit  der  „Huldformel“,  die  das  Gottesverhältnis  zum  Erkenntnisgegenstand  Israels  macht,  auch  eine  passende  Schlussformulierung  aufweisen  kann,  spricht  alles  da‐ für, dass hier der eigentliche Abschluss der Gog‐Perikope vorliegt. Die  Kapitel  sind  damit  in  der  folgenden  Textanalyse  in  der  Abgrenzung  38,1‐39,22 (38f.*) zu behandeln.  2.2.2. Aufbau und Grundwort  Die  Untersuchung  der  Gog‐Perikope  ist  von  jeher  durch  die  Doppe‐ lung in Kap. 38 und 39 bestimmt worden, die beide ein Wort gegen den  Fürsten Gog enthalten.88 Will man darin nicht ein besonderes Stilmittel  der  Darstellung  sehen,  mit  dessen  Hilfe  das  Geschehen  von  verschie‐ denen  Seiten  beleuchtet  wird,89  dann  liegt  hier  bereits  ein  Indiz  dafür                                 87  Anders POHLMANN, ATD, 516f., der in V 21‐23(24) den Abschluss der Gog‐Perikope  sieht.  88  Zur  Forschungsgeschichte  vgl.  LUTZ,  Jahwe,  63‐65;  OTZEN,  Art.  ‫גּוֹג‬,  958‐965,  und  LANG, Ezechiel, 110‐112.  89  So z. B. COOKE, ICC, 408; BLOCK, NICOT II, 425. 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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vor, dass Ez 38f. keine einheitlich konzipierte Textabfolge darstellt. Auf  einen  literarischen  Fortschreibungsprozess  deuten  auch  die  Häufung  des  Formelgutes  sowie  mehrere  Anredewechsel  und  inhaltliche  Ver‐ schiebungen hin.90 Diese These ist in der folgenden Textanalyse durch  weitere Beobachtungen zu erhärten. Dabei steht insbesondere die Frage  im  Vordergrund,  ob  die  Doppelung  des  Wortes  gegen  Gog  mit  der  Annahme  eines  strophischen  Grundwortes  erklärt  werden  kann  oder  ob  sie  auf  die  nachträgliche  Fortschreibung  eines  Kernelementes  zu‐ rückgeht.91 Aufgrund der isolierten Stellung des Stückes wird schließ‐ lich  auch  die  Möglichkeit  in  Betracht  zu  ziehen  sein,  dass  sich  das  literarische  Wachstum  des  Stückes  außerhalb  des  Buches  abgespielt  hat,  und  der  gesamte  Gog‐Komplex  erst  in  seiner  jetzt  vorliegenden  Form in das Buch eingearbeitet worden ist.92 Ein Überblick über Ez 38,1‐39,22 zeigt, dass eine Grundschicht des  Textes  nicht  ohne  zumindest  eines  der  beiden  ursprünglichen  Worte  gegen  Gog  in  Kap.  38  und  39  rekonstruiert  werden  kann.  Das  erste  Kapitel in Ez 38 lässt sich mit Hilfe des Formelgutes in vier Redegänge  gliedern.  Die  erste  Rede  in  38,1‐9  setzt  mit  der  Wortereignisformel  in  V 1 ein und ist nach hinten durch den Neueinsatz in V 10 begrenzt. In  diesen  Versen  wird  der  Prophet  in  38,2  aufgefordert,  sein  Angesicht  gegen  Gog,  den  Fürsten  von  Meschech  und  Tubal,  zu  richten  und  gegen  ihn  zu  prophezeien.  Es  ist  bisher  nicht  gelungen,  eine  befriedi‐ gende historische Identifikation für die Gestalt „Gog“ vorzunehmen.93                                 90  In  der  jüngeren  von  einem  diachronen  Ansatz  ausgehenden  Forschung  ist  beinahe  unbestritten,  dass  die  Gog‐Perikope  in  ihrer  vorliegenden  Form  das  Ergebnis  eines  komplizierten  literarischen  Wachstumsprozesses  ist;  vgl.  dazu  den  Überblick  bei  ALLEN,  WBC  29,  202‐204,  und  BLOCK,  NICOT  II,  426‐430.  Die  literarische  Einheit‐ lichkeit wurde vor allem in der älteren Forschung vertreten; vgl. z. B. HÖLSCHER, He‐ sekiel,  177f.  (für  38,1‐39,16),  und  COOKE,  ICC,  407f.422  (für  38,1‐39,20).  Neuerdings  behandeln  auch  BLOCK,  NICOT  II,  426f.,  und  PREMSTALLER,  Fremdvölkersprüche,  8.222‐249, in ihren holistisch ausgerichteten Analysen Kap. 38f. als einheitlich.  91  ZIMMERLI, BK, 937f., legt ein strophisches Grundwort in 38,1‐9*; 39,1‐5.17‐20 zugrun‐ de;  ihm  folgt  GARSCHA,  Studien,  231‐239.  In  ähnlicher  Weise  spricht  POHLMANN,  ATD, 511, davon, dass für den Ursprungstext lediglich 38,1‐9; 39,1‐5.7 und eventuell  39,17‐20  in  Frage  kämen.  LUTZ,  Jahwe,  65,  greift  zwar  ZIMMERLIS  Vorschlag  auf,  spricht  dem  Grundbestand  aber  38,1‐9  ab,  das  „sekundäre  Nachbildung  zu  39,1‐5“  sei,  und  reduziert  das  Grundwort  damit  auf  zwei  Strophen  in  39,1‐5.17‐20.  HOSS‐ FELD, Untersuchungen, 402ff.498‐501, geht wie LUTZ davon aus, dass die Doppelung  der Gog‐Worte das Ergebnis literarischer Fortschreibung ist, findet die Grundschicht  der Perikope aber in 38,1‐3a; 39,1b‐5.   92  So  FUHS,  NEB,  214.  Dieser  vertritt  die  These,  dass  mit  der  ehemals  selbständigen  Gog‐Perikope  ein  früher  apokalyptischer  Versuch  vorliegt,  der  durch  die  redaktio‐ nelle  Einbindung  in  das  Buch  zu  einem  Geschehensvorgang  „herabgeschraubt“  werde, der auf der Linie der Völkersprüche liege (vgl. FUHS, a.a.O., 224).  93  Zu  den  zahlreichen  Deutungsversuchen  vgl.  FOHRER,  HAT, 212‐216; ZIMMERLI, BK,  938‐942.947f.; LANG, Ezechiel, 110f., und neuerdings BLOCK, NICOT II, 432‐436. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Aus den Angaben des Textes wird nur ersichtlich, dass er der Anführer  einer  Völkerschar  ist  und  Meschech  und  Tubal  (vgl.  Ez  32,26)  seinen  eigentlichen  Herrschaftsbereich  bilden.  Das  Problem  seiner  histori‐ schen  Identifikation  wird  deshalb  im  Folgenden  zugunsten  der  Frage  nach seiner Funktion innerhalb der Perikope zurückgestellt.   Die  in  V  3  durch  die  Botenformel  eingeleitete  Jhwh‐Rede  richtet  sich  in  durchgehender  Anrede  an  diesen  geheimnisvollen  Gog,  den  Jhwh mitsamt seinem ganzen Aufgebot gegen die Berge Israels führen  will (V 8). Die Auseinandersetzung zwischen Jhwh und Gog wird da‐ bei durch die Herausforderungsformel ‫הנני אל‬ in V 3 als eine Art Zwei‐ kampf  geschildert,94  in  dem  die  Vorteile  allerdings  klar  verteilt  sind:  Jhwh beherrscht die Szene und steuert Gogs Handeln nach Belieben.  In  38,10‐16  folgt  im  zweiten  Redegang  eine  anknüpfende  Jhwh‐ Rede,  die  in  V  10  durch  eine  erneute  Botenformel  und  die  rückver‐ weisende  Zeitangabe  ‫ביום ההוא‬  angeschlossen  ist.  Diese  Rede  wird  in  V 14  durch  einen  mit  der  Partikel  ‫לכן‬  eingeleiteten  Redeauftrag  mit  Botenformel untergliedert, der die beiden Teile in ein kausales Verhält‐ nis  zueinander  setzt.  Das  erste  Stück  in  V  10‐13  beschreibt  in  fort‐ führender Anrede an Gog dessen Motive für den Zug gegen Israel. Gog  wird darin in V 12 in den Mund gelegt, dass er gegen das restituierte  Volk ziehen wolle, um Beute zu erbeuten (‫)לשׁלל שׁלל‬ und Plündergut zu  plündern (‫)ולבז בז‬. Anders als in 38,1‐9 erscheint hier nicht primär Jhwh  als  die  treibende  Kraft,  sondern  Gog  zieht  aus  eigenem  Entschluss  gegen das Land, um seine Beutegier zu befriedigen. Die V 14‐16a beste‐ hen dagegen aus einer einzigen rhetorischen Frage, die inhaltlich nichts  Neues bringt, sondern durch Wiederaufnahmen aus V 8f. gekennzeich‐ net  ist.  Erst  V  16b  enthält  die  eigentliche Zielaussage des Abschnittes:  Jhwh  wird  Gog  über  sein  Land  kommen  lassen,  damit  die  Völker  ihn  erkennen  und  er  sich  an  diesem  vor  ihren  Augen  als  heilig  erweisen  kann.  Der  Anschluss  dieses  zweiten  Redeganges  durch  eine  weitere  Botenformel  in  V  10  und  die  Wiederaufnahmen  in  V  14‐16a  deuten  darauf hin, dass es sich bei diesem Abschnitt um eine sekundäre Fort‐ schreibung  handelt.  In  ihr  wird  das  Vorhergehende  dahingehend  er‐ gänzt,  dass  eine  subjektive  Motivation  für  den  Zug  Gogs  gegen  Israel  und mit der Völkererkenntnis das eigentliche Ziel von Jhwhs Handeln  nachgetragen wird.  Nach  der  erweiterten  Erkenntnisformel,  mit  der  der  zweite  Rede‐ gang  in  38,16b  schließt,  folgt  in  38,17,  eingeleitet  durch  eine  Boten‐ formel, eine erneute Anrede Gogs. Er wird von Jhwh als der angespro‐ chen, der durch „meine Knechte, die Propheten Israels“ (‫)עבדי נביאי ישׂראל‬                                 94  Vgl. dazu HOSSFELD, Untersuchungen, 435f. Zu einer umfassenderen Untersuchung  dieser Formel siehe HUMBERT, Herausforderungsformel, 101‐108. 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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in  früheren  Tagen  (‫)בימים קדמונים‬  angekündigt  worden  ist.  Mit  dieser  Einordnung Gogs in die prophetische Tradition liegt eine Kommentie‐ rung  des  vorherigen  Geschehens  vor,  die  deutlich  über  den  Horizont  der  Gog‐Perikope  hinausgeht,  so  dass  hier  ein  weiterer  Nachtrag  zu  vermuten ist. In der Wendung „meine Knechte, die Propheten“ klingt  spät‐dtr. Sprachgebrauch an.95 Dieser Nachtrag umfasst nur V 17, da in  V 18 mit der zeitlichen Anknüpfung ‫ביום ההוא ביום בוא גוג‬ und der unter‐ streichenden  Gottesspruchformel  ein  so  gewichtiger  Einschnitt  gege‐ ben  ist,  dass  hier  der  Beginn  eines  neuen  Redegangs  vorliegen  muss.  Die  so  eröffnete  Einheit  umfasst  die  Verse  38,18‐23  und  wird  in  V  23  durch  eine  weitere  auf  die  Völker  gerichtete  Erkenntnisformel  abge‐ schlossen. Von den vorherigen Stücken grenzt sich der Text vor allem  dadurch  ab,  dass  Gog  nicht  mehr  direkt  angesprochen  ist,  sondern  über  ihn  und  sein  Geschick  in  der  dritten  Person  gehandelt  wird.  Die  Auseinandersetzung  zwischen  Jhwh  und  Gog  bleibt  dabei  nicht  mehr  im  Bild  des  Zweikampfes,  sondern  ist  als  Gerichtsverfahren  (‫שׁפט‬  ni.,  V 22)  geschildert.  Erst  in  diesem  letzten  Redegang  von  Kap.  38  wird  explizit angekündigt, dass Gog eine Niederlage im Land Israel erleiden  wird. Die Darstellung des Gerichts über ihn bekommt dabei aber kos‐ misch‐universalistische  Züge  und  geht  so  über  die  Bestrafung  einer  einzelnen Feindmacht weit hinaus.   Das zweite Wort gegen Gog in Kap. 39 hat einen komplexeren Auf‐ bau  als  Kap.  38  und  bereitet  bei  der  Gliederung  in  Redegänge  einige  Schwierigkeiten. Der erste Redegang setzt in 39,1a mit einer doppelten  Anrede,  Redebefehl  und  Botenformel  ein.  Wie  in  38,1‐9  wird  mit  der  anschließenden Herausforderungsformel in 39,1b ein Wort gegen Gog,  den  Hauptfürsten  von  Meschech  und  Tubal,  eröffnet,  den  Jhwh  aus  dem  „äußersten  Norden“  (‫מירכתי צפון‬,  V  2)  auf  die  Berge  Israel  führen  will. Aber im Gegensatz zu der parallelen Schilderung in 38,1‐9 wird in  39,4f. auch die Niederlage des Feindes beschrieben: Gog wird auf den  Bergen Israels fallen und den wilden Tieren zum Fraß gegeben werden.  Die Wortbekräftigungsformel in V 5b hat dabei deutlichen Abschluss‐ charakter,  der  noch  durch  eine  nachstehende  Gottesspruchformel  ver‐ stärkt wird, so dass hier das Ende des ersten Redeganges zu vermuten  ist. 96   Die folgenden Verse sind damit auf jeden Fall sekundär gegenüber  39,1‐5,  wobei  ihre  genaue  Einordnung  aber  schwierig  erscheint.  39,6  führt  trotz  der  Zäsur  in  V  5  die  Jhwh‐Rede  fort,  allerdings  wechselt                                 95  Vgl. WESTERMANN, Art. ‫ ֶע ֶבד‬, 193.  96  So  mit  ZIMMERLI,  BK,  936;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  408.  Dagegen  zieht  POHL‐ MANN,  ATD,  511,  noch  V  7  zum  Ursprungstext  in  39,1‐5,  ohne  dabei  auf  die durch  die Wortbekräftigungsformel gegebene Zäsur einzugehen. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

hier die Rederichtung, da die Anrede an Gog aufgegeben ist, um ergän‐ zend  festzustellen,  dass  Jhwh  auch  das  Heimatland  von  Gog  vernich‐ ten  wird.  Eine  Erkenntnisformel,  die  auf  die  „Bewohner  der  Inseln“  gerichtet  ist,  schließt  den  Vers  ab.  Der  folgende  V  7  hat  keine  eigene  Einleitung,  schlägt  aber  mit  der  Offenbarung  von  Jhwhs  heiligem  Namen ein neues Thema an, das zwar bereits in 36,16‐23ba eine Rolle  spielt,  in  der  Gog‐Perikope  aber  bisher  noch  nicht  behandelt  worden  ist. Die Offenbarung von Jhwhs heiligem Namen ist dabei auf die Völ‐ ker gerichtet, wie die Erkenntnisformel in V 7b zeigt. Der folgende V 8  hat  eindeutig  abschließenden  Charakter,  da  er  mit  einer  unterstrei‐ chenden  Gottesspruchformel  festhält,  dass  Jhwh  das  Eintreffen  seiner  Ankündigungen  garantiert.97  Der  Abschluss  in  V  8b  ‫דברתי‬  ‫היום אשׁר‬  ‫הוא‬ kann dabei als inclusio zu der Wortbekräftigungsformel in V 5 interpre‐ tiert werden; er verweist aber in der Endgestalt der Gog‐Perikope auch  zurück  auf  den  Vers  Ez  38,17,  der  in  ähnlicher  Weise  das  Eintreffen  früherer Weissagungen zum Thema hat.  Wird  39,8  als  Abschluss  der  vorhergehenden  Textfolge  39,1‐5.6f.  bestimmt, so muss der folgende Abschnitt V 9f. einer anderen literari‐ schen  Schicht  angehören.  Inhaltlich  geht  es  um  das  Problem,  wie  die  Bewohner  Israels  mit  den  Waffen  und  der  Ausrüstung  des  gefallenen  Feindes  verfahren  sollen.  Der  Abschnitt  zeigt  einige  Berührungen  zu  38,12f.,  da  der  Gegner  in  V  10  als  „Räuber“  (‫)שׁללים‬  und  „Plünderer“   (‫)בזזים‬ bezeichnet wird.  In 39,11 beginnt mit dem Rückverweis ‫והיה ביום ההוא‬ ein neues Stück,  das  ähnlich  wie  39,9f.  ein  Folgeproblem  behandelt;  diesmal  allerdings  die  Frage,  wie  das  Haus  Israel  mit  den  Überresten  der  toten  Feinde  verfahren  soll,  die  das  Land  verunreinigen.  Dieses  Problem  zieht  sich  durch  die  gesamten  Perikope  V  11‐16,  die  aber  in  V  13b  durch  eine  Gottesspruchformel in zwei Unterabschnitte gegliedert wird. Während  in  V  11‐13  grundlegend  das  Begräbnis  der  Feinde  zur  Reinigung  des  Landes thematisiert wird, handeln V 14‐16 über die praktische Umset‐ zung des Unternehmens. Es ist daher schwierig zu entscheiden, ob die  Gottesspruchformel  in  V  13  eine  literarkritisch  auswertbare  Zäsur  bildet oder ob sie lediglich gliederndes Stilmittel ist.  Auf jeden Fall eröffnet 39,17 mit Anrede, Botenformel und Redeauf‐ trag einen neuen Redegang, der in V 20 durch eine Gottesspruchformel  beschlossen wird. Wie bereits besprochen, greift der Abschnitt auf die  vorausgehende Ankündigung von Gogs Ende in 39,4 zurück. Aus der  einfachen Beseitigung der Feindüberreste durch die Tiere wird dabei in                                 97  HOSSFELD,  Untersuchungen,  423f.,  notiert  zwar  den  Abschlusscharakter  von  39,8,  zieht dann aber doch die Möglichkeit vor, in V 8 die Einleitung des Abschnittes 39,8‐ 10 zu sehen. 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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V 17‐20 ein großes Opfermahl (‫)זבח‬, das Jhwh für die Tiere bereitet. Die  Verse  stehen  inhaltlich  unverkennbar  in  Widerspruch  zu  der  vorher‐ gehenden  Einheit,  da  nach  der  in  V 11‐16  vorgesehenen  Beseitigung  der  Leichen  nichts  mehr  für  die  Tiere  übrig  bliebe.  39,17‐20  ist  damit  einer  anderen  literarischen  Ebene  zuzuordnen  als  39,11‐16.  Ebenso  wenig  sind  die  Verse  aber,  wie  oft  vermutet  wird,  als  ursprüngliche  Fortsetzung  der  Grundschicht  in  Kap.  39  anzusehen.98  Die  inhaltliche  Verschiebung zu 39,4 zeigt, dass es sich bei diesem Abschnitt vielmehr  um  einen  späteren  Nachtrag  handelt,  der  die  Beseitigung  von  Gogs  Überresten durch wilde Tiere zum Motiv des Opfermahles ausbaut.  Damit  bleibt  nur  noch  das  kurze  Stück  39,21f.  Wie  die  Unter‐ suchung der Abgrenzung gezeigt hat, liegt mit diesen Versen der Ab‐ schluss der eigentlichen Gog‐Perikope vor. V 21 betont noch einmal die  Bedeutung, die Jhwhs Gericht an Gog für die Völker hat, während V 22  den  Blick  auf  Israel  lenkt,  das  durch  das  Geschehen  ebenfalls  zur  Gotteserkenntnis kommt. Die Zusage von Jhwhs Gottsein für das Haus  Israel schließt den gesamten Komplex ab.  Die  Ergebnisse  der  Textanalyse  können  damit  wie  folgt  zusam‐ mengefasst werden: Die beiden Worte gegen Gog in Kap. 38f. gliedern  sich  in  mehrere  Redegänge,  von  denen  aber  nur  die  beiden  Kernele‐ mente  in  Ez  38,1‐9  und  39,1‐5  für  das  Grundwort  in  Frage  kommen.  Die anderen Redegänge haben sich gegenüber diesen als sekundär er‐ wiesen  und  sind  jeweils  von  einem  der  beiden  Texte  abhängig.  Es  ist  nun nach dem genauen Verhältnis von 38,1‐9 und 39,1‐5 zueinander zu  fragen. Für die Annahme eines strophischen Grundwortes könnten die  vielfachen  Übereinstimmungen  zwischen  den  Stücken  sprechen:99  In  beiden  Texten  wird  der  Prophet,  angesprochen  als  ‫בן אדם‬,  mit  einem  Wort  gegen  Gog,  Hauptfürst  von  Meschech  und  Tubal,  beauftragt  (38,2;  39,1).  Auch  der  eigentliche  Gegenstand  des  Redeauftrages  wird  parallel mit der Herausforderungsformel ‫הנני אל‬, gefolgt von der Anre‐ de  Gogs  als  Fürst  von  Meschech  und  Tubal  und  folgendem  ‫ושׁובבתיך‬,  eingeführt  (38,3f.;  vgl.  39,1f.).100  Schließlich  berühren  sich  die  beiden                                 98  Vgl.  ZIMMERLI,  BK,  936f.;  GARSCHA,  Studien,  236f.,  und  LUTZ,  Jahwe,  65.  Dagegen  rücken  HÖLSCHER,  Hesekiel,  186f.,  und  HOSSFELD,  Untersuchungen,  425,  das  Stück  39,17‐20 von der Grundschicht in Kap. 39 ab.  99  Vgl. dazu ZIMMERLI, BK, 938, der auf die „stilisierte Gleichartigkeit“ von 38,1‐9 und  39,1‐5 verweist, mit der sie einsetzen. Siehe auch die Gegenüberstellung von 38,1‐4aa  und 39,1‐2aa bei BLOCK, NICOT II, 424f.  100  An dieser Stelle ist allerdings zu beachten, dass die ältere griechischsprachige Über‐ lieferung anstelle von 38,4aba1.2 nur einfaches kai. suna,xw se liest. Dies wird gewöhn‐ lich  textkritisch  dahingehend  interpretiert,  dass  LXX*  V  4a  nicht  bezeuge  (vgl. z. B.  BHS;  POHLMANN,  ATD,  505,  und  PREMSTALLER,  Fremdvölkersprüche,  222).  Aller‐ dings  fällt  auf,  dass  in  der  Parallelstelle  39,2  hebräisches  ‫ושׁובבתיך‬  (vgl.  38,4aa1)  mit  suna,xw übersetzt wird, so dass mit ZIMMERLI in Bezug auf die LXX*‐Variante in 38,4 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Texte auch in der Ortsangabe „äußerster Norden“ (‫ירכתי צפון‬, 38,6;101 vgl.  ‫מירכתי צפון‬,  39,2),  wobei  dieser  Begriff  in 38,6 aber Synonym für die zu  Gog gehörenden Scharen des Hauses Torgama ist, während er in 39,2  die  Richtung  angibt,  aus  der  die  Feindmacht  Gog  gegen  Israel  heraufzieht. Es wäre verlockend, in ‫הרי ישׂראל‬ (38,8; vgl. 39,2.4) eine wei‐ tere  Verbindung  zwischen  den  beiden  Stücken  zu  sehen.  Indes  muss  auffallen,  dass  die  Angabe  in  38,8  nicht  nur  in  einem  stilistisch  etwas  überfrachteten Vers steht, sondern dass der Versteil 38,8abg ‫על הרי ישׂראל‬ ‫אשׁר־היו לחרבה תמיד‬  auch  den  Zusammenhang  zwischen  den  femininen,  auf ‫ארץ‬ bezogenen Partizipien (V 8aa) und dem Pronomen ‫היא‬ (V 8ba)  zertrennt.  Die  Vermutung  liegt  deshalb  nahe,  dass  es  sich  bei  V  8abg  um eine Glosse handelt, durch die nachträglich eine Aussage über die  Berge Israels ergänzt wird.102 Trotz dieser zahlreichen Verbindungen gibt es aber auch entschei‐ dende  Divergenzen  zwischen  den  beiden  Texten.  So  enthält  Ez  38,1‐9  zahlreiche  Überschüsse,  die  die  militärische  Ausstattung  Gogs  (V  4),  die  ihn  begleitenden  Völker  (V  5f.)  und  die  Begleitumstände  seines  Zuges gegen Israel (V 9) näher beschreiben. Dagegen informiert allein  Ez 39,1‐5 darüber, dass und wie sich die Niederlage Gogs gegen Jhwh  gestalten  wird.  38,1‐9  lässt  zwar  implizit  vermuten,  dass  der  Feldzug  Gogs  kein  gutes  Ende  nehmen  wird,  aber  über  den  eigentlichen  Aus‐ gang  und  die  genaueren  Umstände  informiert  explizit  erst  der  späte  Nachtrag  in  38,18‐23.  Diese  Ergänzung  hat  allerdings  nur  noch wenig  mit der konkret in 38,1‐9 geschilderten Situation gemein. Entscheidend  ist schließlich auch die unterschiedliche Perspektive auf Israel: In 38,1‐9  zieht  Gog  gegen  das  Israel,  dessen  Wiederherstellung  als  Volk  und  Land  in  den  umliegenden  Heilsankündigungen  in  Aussicht  gestellt  wird (V 8).103 39,1‐5 spricht dagegen lediglich von den „Bergen Israels“,                                 in Erwägung gezogen werden sollte, „ob nicht LXX auch in 38,4  ‫ושׁובבתיך‬ vor Augen  gehabt  habe“  (ZIMMERLI,  BK,  925).  Der  Überschuss  des  MT  hat  eine  Parallele  im  Wort  gegen  den  Pharao  Ez  29,4,  so  dass  hier  vielleicht  eine  nachträgliche  Anglei‐ chung  des  Gog‐Wortes  an  dieses  Fremdvölkerwort  zu  sehen  ist,  die  erst  spät  Ein‐ gang mehr in die griechische Überlieferung gefunden hat.  101  Die LXX liest an dieser Stelle avpV evsca,tou borra/  („aus dem äußersten Norden“), aller‐ dings ist dies als Angleichung an 39,1‐5 zu erklären, so dass die masoretische Lesart  beizubehalten  ist  (so  mit  ZIMMERLI,  BK,  926,  und  PREMSTALLER,  Fremdvölkersprü‐ che, 222; anders BERTHOLET, HAT, 130, und FOHRER, HAT, 213, die ein ‫מירכתי‬ des MT  postulieren).  102  Ähnlich auch HOSSFELD, Untersuchungen, 412.  103  Vgl.  dazu  die  Anklänge  insbesondere  von  38,8  an  die  Heilsverheißungen  des  Kon‐ textes:  Das  Schwert  als  Instrument  von  Jhwhs  zurückliegendem  Gericht  (vgl.  35,5;  39,23);  die  Sammlung  (‫)קבץ‬  bzw.  Heraufführung  (‫יצא‬  hif.  bzw.  hof.)  des  Volkes  aus  den  Nationen  (vgl.  34,13;  37,21),  das  Wohnen  in  Sicherheit  (‫;לבטח‬  vgl.  28,26;  34,25.27.28;  39,26),  die  Wiederbewohnung  des  verwüsteten  Landes  (vgl.  36,8.10f.)  und mit dem Nachtrag 38,8abg der Verweis auf die Zeit, als die Berge zur Trümmer‐

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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auf die Jhwh Gog bringen wird. Die Bewohner dieser Berge sind in die‐ sem Abschnitt noch nicht im Blick, sondern sie treten erst in den Nach‐ trägen  39,9f.11‐16  auf.104  In  dieser  Sicht  Israels  könnte  39,1‐5  in  die  Nähe  von  Ez  36,1‐15  gerückt  werden,  das  in  ähnlicher  Weise  mit  der  Restitution  der  Berge  Israels  beschäftigt  ist,  während  ihre  Wieder‐ besiedelung durch das heimkehrende Volk Israel noch aussteht. Damit  wäre  für  39,1‐5  anders  als  in  der  restlichen  Gog‐Perikope  eine  Veror‐ tung kurz vor der noch ausstehenden Heilswende Israels in Erwägung  zu ziehen. Dazu passt auch die Beobachtung, dass 39,1‐5 anders als alle  anderen Redegänge in 38,1‐39,22 keine zeitliche Datierung enthält, die  das  Geschehen  als  „Nächstes“  oder  „Nachnächstes“  bestimmt.  Diese  zeitliche Verortung wird erst durch die Nachträge in Ez 39,8.11.13 bzw.  die Vorschaltungen in 38,8.10.14.16.18.19 hergestellt.  Die  aufgezeigten  Divergenzen  zwischen  38,1‐9  und  39,1‐5  erschei‐ nen  zu  gewichtig,  als  dass  hier  ein  zweistrophisch  gestaltetes  Grund‐ wort vermutet werden kann. Vor allem in Bezug auf den Inhalt setzen  die  beiden  Texte  unterschiedliche  Schwerpunkte:  Während  in  39,1‐5  die  Zerschlagung  Gogs  durch  Jhwh  im  Vordergrund  steht,  geht  es  in  38,1‐9  um  die  Bedrohung  des  heimgekehrten  Israel  durch  Gog  und  seine  Heerscharen.  Ist  einer  der  beiden  Texte  damit  als  sekundäre  „Nachahmung“105  einzuordnen,  so  kann  dies  nur  auf  38,1‐9  zutreffen.  Das Stück bildet im Vergleich mit 39,1‐5 die redundantere und detail‐ reichere  Fassung,  während  39,1‐5  die  logischere  und  kürzere  Abfolge  der Ereignisse bietet. Darüber hinaus wird 38,1‐9 ohne 39,1‐5 auch gar  nicht verständlich, da nur hier der genaue Ausgang von Gogs Feldzug  und  sein  Ende  auf  den  Bergen  Israels  beschrieben  wird.  Schließlich  weist 39,5 mit der Wortbekräftigungsformel auch die stärkste Schluss‐ formulierung  innerhalb  von  38f.  auf,  was  dafür  spricht,  dass  hier  das  ursprüngliche  Ende  des  Grundwortes  vorliegt.  Indes  wäre  an  dieser  Stelle sogleich einzuwenden, dass die ideale Einleitung mit der Worter‐ eignisformel  gerade  nicht  in  39,1,  sondern  in  38,1  vorliegt.106  Dies  ist                                 stätte  wurden  (‫;חרבה‬  vgl.  36,4.10).  Auch  wenn  in  diesem  synchronen  Überblick  teil‐ weise Stellen aufgeführt sein mögen, die bei Abfassung von 38,8 noch nicht im Buch  vorlagen, so wird bei der Fülle der Belege doch deutlich, dass 38,8 bewusst auf die  umliegenden Heilsankündigungen Bezug nehmen will.  104  In  ähnlicher  Weise  beobachtet  LUTZ,  Jahwe,  77,  dass  „die  ursprünglichen  Stücke  39,1‐5.17‐20 ausschließlich von der Vernichtung Gogs“ sprechen, „ohne daß von ei‐ nem  Auftrag  an  Israel  die  Rede  wäre.“  Dagegen  sieht  er  in  38,1‐9  „eine  antiisraeli‐ tische Zuspitzung, die dem Grundbestand der Perikope fremd war.“ (ebd.).  105  LUTZ, Jahwe, 76.  106  HOSSFELD, Untersuchungen, 431f.433‐444.462‐467, rekonstruiert ein Grundwort, das  38,1‐3a  und  39,1b‐5  umfasst,  und  erhält  so  einen  Text,  der  sowohl  Einleitungs‐  als  auch  Schlussformel  aufweist.  Dies  ist  zweifellos  eine  elegante  Lösung,  allerdings  können die beigebrachten Argumente nicht in allen Punkten überzeugen. So ist m. E. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

allerdings  kein  zwingendes  Argument  gegen  die  Annahme,  dass  das  Grundwort  der  Gog‐Perikope  in  39,1‐5  zu  finden  ist.  Denn  der  Ge‐ brauch  der  Wortereignisformel  setzt  voraus,  dass  es  sich  bei  dem  so  Eingeleiteten  um  einen  neuen,  selbständigen  Abschnitt  handelt,107  wie  er  mit  der  Endfassung  von  Ez  38f.  auch zweifelsfrei vorliegt. Es muss  aber  die  Möglichkeit  in  Betracht  gezogen  werden,  dass  der  ursprüng‐ liche  Grundtext  gar  keinen  neuen  Abschnitt  innerhalb  der  Heilspro‐ phetie bildete, sondern dass er als Weiterführung oder Korrektur eines  bereits  vorliegenden  Textzusammenhanges  verstanden  werden  sollte.  In diesem Fall bedurfte das postulierte Grundwort in 39,1‐5 nicht not‐ wendig einer eigenen Eröffnungsformel, sondern diese wurde erst auf  einer  späteren  literarischen  Ebene  in  38,1  erforderlich,  als  das  Grund‐ wort  bereits  zu  einem  Gog‐Komplex  angewachsen  war,  der  als  eigen‐ ständiger Abschnitt im Buch wahrgenommen wurde.   2.2.3. Textwachstum  Die bisherigen Ergebnisse haben gezeigt, dass sich an die Grundschicht  in Ez 39,1‐5 mehrere sekundäre Nachträge angeschlossen haben, deren  relative  Chronologie  schwer  zu  bestimmen  ist.  Da  eine  vollständige  Analyse der Gog‐Perikope im Rahmen dieser Studie nicht zu leisten ist,  soll  im  Folgenden  nur  eine  kurze  skizzenhafte  Zuordnung  der einzel‐ nen Ergänzungen versucht werden.  Als  erste  Fortschreibung  kommen  Ez  38,1‐9*,108  39,17‐20  und  viel‐ leicht noch 39,6f. in Betracht, da alle anderen Stücke bereits die Heim‐ kehr  Israels  und  damit  die  Erweiterung  des  Grundwortes  um  38,1‐9*  voraussetzen.  Von  diesen  dreien  ist  38,1‐9*  der  naheliegendste  Kandi‐ dat, da der Text sich in Struktur und Inhalt an das Grundwort anlehnt,  aber  noch  keine  Kenntnis  der  anderen  Stücke  zeigt.109  Es  kann  auch                                 fraglich, ob die Einleitung in 39,1a schon aus dem Grund von V 1b‐5 abzutrennen ist,  dass  sie  Gog  nur  mit  Eigennamen  anredet  und  damit  in  Spannung  zu  der  Heraus‐ forderungsformel  steht,  die  Eigennamen  und  Titel  benutzt  (vgl.  HOSSFELD,  a.a.O.,  420). Des Weiteren hat HOSSFELD keine literarkritischen Argumente für die Abtren‐ nung  von  38,1‐3a  von  den  folgenden  V  3b‐9  und  begründet  die  Zusammenge‐ hörigkeit des Stückes mit 39,1b‐5 vor allem über einen formkritischen Vergleich mit  anderen  Fremdvölkersprüchen  des  Buches  (vgl.  HOSSFELD,  a.a.O.,  467).  Dieser  Ver‐ gleich  allein  kann  die  von  ihm  unternommene  literarkritische  Operation  aber  nicht  rechtfertigen (vgl. dazu auch die Kritik bei ALLEN, WBC 29, 203f.).  107  Vgl. HOSSFELD, Untersuchungen, 27; SCHÖPFLIN, Theologie, 62.   108  In  dieser  Analyse  ist  nur  38,8abg  als  spätere  Einschreibung identifiziert worden; zu  weiterer  Nacharbeit  innerhalb  des  Abschnittes  vgl.  ZIMMERLI,  BK,  924‐927,  und  HOSSFELD, Untersuchungen, 409‐414.  109  Der  Zusatz  ‫ארץ המגוג‬  ist  mit  ZIMMERLI,  BK,  924f.;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  410,  und ALLEN, WBC 29, 199, als Glosse zu streichen, die von 39,6 her späteren Eingang  in das erste Gog‐Wort gefunden hat. 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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angenommen  werden,  dass  das  Grundwort  die  nachahmende  Erwei‐ terung auf der ersten Stufe des Wachstums erfahren hat, ehe es durch  weitere Fortschreibungen aktualisiert und kommentiert wird. So bringt  39,6f. mit der Völkererkenntnis ein neues Element ein, während 39,17‐ 20  thematisch  bereits  ein  Stück  weit  von  der  Gog‐Perspektive  abge‐ rückt ist, da als Bestandteil des Opfers nicht ausdrücklich Gog und sei‐ ne Völkerscharen genannt werden, sondern dieses aus Überresten von  „Helden“ (‫)גבורים‬ und „Fürsten der Erde“ (‫)נשׂיאי הארץ‬ bereitet ist (V 18).  Der  Text  gehört  damit  wahrscheinlich  zu  den  jüngeren  Zusätzen  im  Kapitel.  Mit der Vorschaltung von Ez 38,1‐9* wird die Auseinandersetzung  zwischen  Gog  und  Jhwh  zu  einer  Bedrohung  Israels  durch  die  Feind‐ macht  Gog ausgebaut. Zugleich werden die Ereignisse durch die zeit‐ liche  Verortung  in  38,8  in  die  Zukunft  verlegt.  Das  so  erweiterte  Grundwort 38,1‐9*; 39,1‐5 schildert in logischer Abfolge die Bedrohung  Israels  durch  Gog  und  dessen  Ende  auf  den  Bergen  Israels.  Mit  der  Wortereignisformel  in  38,1  wird  das  Stück  als  eigenständiges  Worter‐ eignis von seinem vorhergehenden Kontext abgegrenzt, während nach  hinten weiterhin die Wortbekräftigungsformel in 39,5 als Schlusssignal  fungiert.   Als nächstes ist das erweiterte Gog‐Wort durch die Fortschreibung  Ez  38,10‐16  aufgesprengt  und  evtl.  gleichzeitig  auch  durch  Ez  39,6f.  fortgeschrieben  worden.  Beide  Texte stehen  darin  in  einer  gewissen  Nähe  zueinander,  dass  sie  höhepunktartig  auf  die  Völkererkenntnis  zulaufen, wobei sie allerdings jeweils anders akzentuieren. Obwohl in  38,10‐16  zuerst  eine  subjektive  Begründung  für  den  Zug  Gogs  gegen  Israel  ergänzt  wird,  betont  V 16  abschließend,  dass  in  Wirklichkeit  Jhwh das Handeln Gogs steuert: Jhwh lässt Gog gegen sein Volk kom‐ men,  damit  die  Völker  ihn  erkennen,  wenn  er  sich  an  Gog  als  heilig  erweist. In 39,6f. ist der Erkenntnisgegenstand dagegen genauer als der  heilige  Name  Jhwhs  bestimmt,  den  Jhwh  in  seinem  Volk  kundtun  wird,  damit  die  Völker  ihn  erkennen.  Die  Fortschreibung  38,10‐16  konnte  nur  zwischen  38,1‐9*  und  39,1‐5  eingestellt  werden,  da  der  in‐ nere Monolog Gogs nur vor der Schilderung seiner Niederlage sinnvoll  ist. Auf diese Weise wird das erweiterte Gog‐Wort zweigeteilt und der  Weg  für  eine  getrennte  Fortschreibung  der  beiden  Gog‐Worte  in  Kap.  38 und 39 geebnet.   Das  weitere  Textwachstum  scheint  in  einer  gewissen  Parallelität  erfolgt zu sein. So folgen in Ez 38,17 und 39,8 zwei Nachträge, in denen  die Ereignisse um Gog jeweils als Erfüllung vorhergehender Prophetie  gedeutet werden. Während 38,17 Gog konkret als den identifiziert, von  dem  „meine  Knechte,  die  Propheten  Israels“  prophezeit  haben  und 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

damit auf einen deuteronomistischen Hintergrund verweist, bleibt 39,8  allgemeiner.  Dort  wird  lediglich  festgestellt,  dass  der  Tag  eingetreten  ist,  von  dem  Jhwh  geredet  hat.  Auch  wenn  sich  damit  ein  ähnliches  thematisches  Interesse  in  den  beiden  Ergänzungen  zeigt,  so  spricht  doch die unterschiedliche Form des Rückbezuges dagegen, hier diesel‐ be Hand zu vermuten.  Auf  einer  späteren  literarischen  Ebene  wird  Ez  38,1‐9.10‐16.17  durch  38,18‐23  fortgeschrieben,  wo  erneut  die  Völkererkenntnis  eine  Rolle spielt (V 23). Jhwhs Handeln in Bezug auf die Völker geht aber in  diesem Stück weit über die Zerschlagung Gogs hinaus und nimmt die  Züge  eines  universalen,  apokalyptischen  Gerichts  über  die  Welt  an.110  In  dieser  späten  Fortschreibung  steht  der  umfassende  Machterweis  Jhwhs gegenüber den Völkern im Vordergrund, nicht mehr die Bedro‐ hung Israels durch eine Feindmacht.   In  Kap.  39  ist  schließlich  noch  das  gegenseitige  Verhältnis  der  Er‐ gänzungen  in  39,9f.;  39,11‐16;  39,17‐20  und  39,21f.  offen  geblieben.  Es  ist  bereits  festgestellt  worden,  dass  V  11‐16  und  V  17‐20  nicht  auf  derselben  literarischen  Ebene  eingeordnet  werden  können,  da  sie  un‐ terschiedliche  Antworten  darauf  geben,  was  mit  den  Überresten  der  Feinde  passieren  soll.  Da  V  17‐20  auf  V  4  Bezug  nehmen,  ist  es  am  wahrscheinlichsten,  hier  die  ursprüngliche Fortsetzung von 39,1‐5.6f.8  zu  sehen.  Die  Verse  11‐16  konnten  dann  nur  noch  vor  V 17‐20  einge‐ setzt werden, da der Nachtrag nur so sinnvoll über die Beseitigung der  Leichen  berichten  konnte.  Umgekehrt  erscheint  es  wenig  realistisch,  dass der Autor von V 17‐20 seine Rezeption von 39,4 an V 11‐16 ange‐ fügt haben sollte, da dann von vornherein eine sinnlose Szenenabfolge  entstanden  wäre.111  Hinter  der  Einschreibung  von  V 11‐16  kann  ein  priesterliches Interesse an der Reinigung des Landes vermutet werden,  das den Text in eine gewisse Nähe zu der Vision in Ez 37,1‐14 rückt, da  in  beiden  Texten  das  Vorhandensein  menschlicher  Überreste  auf  dem  Land problematisiert wird.112   Die  Stellung  von  39,9f.  ist  schwer  zu  bestimmen.  Mit  der  Besei‐ tigung der Ausrüstung des Feindes wird wie auch in 39,11‐16 ein Fol‐ geproblem behandelt, das aus der Zerschlagung der Feindesmacht auf  den  Bergen  Israels erwächst. Damit könnte der Text sowohl nachträg‐ lich  vor  V 11‐16  eingestellt  worden  sein,  als  auch  dieser  Ergänzung  schon vorausgehen. Auf jeden Fall scheint der Abschnitt mit der Cha‐                                110  Vgl. FUHS, NEB, 219: „Die Häufung der Vernichtungsbilder sind (sic!) Kennzeichen  apokalyptischer Sprache.“  111  Vgl. auch POHLMANN, ATD, 523.  112  Zum Verhältnis von Ez 39,11‐16 und 37,1‐14 vgl. u. Kap. III. 6.3. 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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rakterisierung  der  Feinde  als  Räuber  und  Plünderer  bereits  die  Fort‐ schreibung in 38,10‐16 vorauszusetzen.   Schließlich ist noch nach der Einordnung von 39,21f. zu fragen. Die  Analyse der Abgrenzung hat bereits gezeigt, dass in diesen zwei Ver‐ sen  eine  Vielzahl  von  Rückbezügen  auf  die  Gog‐Perikope  vorliegt,  so  dass hier von einem Epilog gesprochen werden kann. Neben den Rück‐ verweisen  scheint  der  Abschnitt  aber  auch  Beziehungen  zum  folgen‐ den  Kontext  zu  haben.  So  sind  die  auf  Israel  bezogenen  Erkenntnis‐ formeln in V 22 und V 28 bis auf die zusätzliche Nennung des Subjekts  ‫בית ישׂראל‬  in  V  22  identisch  formuliert.  In  seiner  jetzigen  Position  hat  39,21f.  damit  nicht  nur  Abschlussfunktion  für  die  Gog‐Perikope,  son‐ dern  das  Stück  erscheint  auch  als  Scharnier  zwischen  diesem  Text‐ komplex und dem folgenden Abschnitt 39,23‐29. Die genauen Verbin‐ dungen  zwischen  der  Gog‐Perikope  und  ihrem  literarischen  Horizont  werden in der folgenden Untersuchung des redaktionellen Horizontes  genauer zu analysieren sein.  2.3. Der redaktionelle Horizont  Die  erste  redaktionsgeschichtliche  Einordnung  konnte  wahrscheinlich  machen, dass Ez 36,16‐22(23aba) und 39,23‐29 eine zusammengehörige  Textfolge  bilden,  in  der  die  Heiligung  von  Jhwhs  Namen  thematisiert  wird. 113 So hat denn auch die Analyse der Abgrenzung des Gog‐Kom‐ plexes ergeben, dass der Text 39,23‐29 keine ursprüngliche Verbindung  mit diesem aufweist, während die Berührungen mit 36,16‐22 offenkun‐ dig  sind.  Ist  damit  die  Zusammengehörigkeit  von  36,16‐22  und  39,23‐ 29 nicht in Frage zu stellen, so muss das Grundwort der Gog‐Perikope  in  diesen  vorliegenden  Textzusammenhang  eingeschrieben  worden  sein.114  Die  Alternative,  dass  39,23‐29  als  spätere  Fortschreibung  von  36,16‐22(23aba)  nicht  hinter  diesen  Text  eingestellt,  sondern  an  die  bereits  eingefügte  Gog‐Perikope  angeschlossen  worden  sein  sollte,  er‐ scheint nicht sinnvoll, da gerade auf diese Weise die Zusammenschau  der beiden Stücke erschwert wäre. Unter der Prämisse, dass Fortschrei‐                                113  Vgl. dazu o. Kap. II. 4.3. Zur genaueren Untersuchung des literarischen Verhältnisses  von  Ez  36,16‐23ba  und  39,23‐29  vgl.  auch  u.  Kap.  III.  3.2.  Dort  findet  sich  auch  der  Nachweis,  dass  es  sich  bei  36,23aba  um  einen  Einzelversnachtrag  handelt,  der  erst  eingefügt  worden  ist,  als  36,16‐22  und  39,23‐29  bereits  durch  die  Gog‐Perikope  voneinander getrennt wurden.  114  Ähnlich bereits HERRMANN, KAT, 251, der aufgrund der Berührungen von 39,25‐29  zur Heilsprophetie in Kap 34‐37 zu der Vermutung kommt, „d a ß   s i e   [V 25‐29] d i e   bis  Kap.  37  reichende  Sammlung  schon  abschlossen,  als  die  Gog‐ k a p i t e l   n o c h   n i c h t   v o r h a n d e n   w a r e n . “  

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

bungen  im  Alten  Testament  eben  nicht  den  Charakter  des  Zufälligen  haben, muss deshalb gefragt werden, warum Ez 39,1‐5 gerade an die‐ sen  kontextuellen  Ort  zwischen  36,16‐22  und  39,23‐29  eingefügt  wor‐ den  ist.  Wenn  zutrifft,  dass  das  Grundwort  der  Gog‐Kapitel  ähnlich  wie  Ez  36,1‐15  mit  Ereignissen  auf  den  Bergen  Israels  vor  der  Heim‐ kehr  des  Volkes  beschäftigt  ist,  musste  es  auf  jeden  Fall  vor  dem  Be‐ richt  über  die  Schicksalswende  Israels  in  39,23‐29  eingefügt  werden.  Allerdings  hätte  sich  in  diesem  Fall  doch  eher  eine  Einschreibung  di‐ rekt hinter 36,1‐15 angeboten. Die Positionierung innerhalb des bereits  vorliegenden  Textzusammenhanges  36,16‐22;  39,23‐29  lässt  deshalb  nur den Schluss zu, dass durch 39,1‐5 eine Neuinterpretation des Nah‐ kontextes intendiert ist. Anscheinend soll die Ankündigung, dass Jhwh  um  seines  Namens  willen  handeln  wird  (36,22),  direkt  auf  die  Zer‐ schlagung Gogs in 39,1‐5 bezogen werden. Das Grundwort löst damit  die in 39,23‐29 gegebene Antwort ab und fügt eine zweite Version der  Ereignisse  an,  durch  die  Jhwh  seine  Souveränität  gegenüber  den  Völ‐ kern  erweisen  wird:  Eben  nicht  durch  Sammlung  und  Rückführung  des  Gottesvolkes,  sondern  zunächst durch die Zerschlagung Gogs auf  den  Bergen  Israels.  Der Abschluss der Einschreibung durch die Wort‐ bekräftigungsformel  in  39,5  stellt  eine  deutliche  Abgrenzung  gegen‐ über der ursprünglichen Fortsetzung in 39,23‐29 dar. Mit diesem Nach‐ weis,  dass  Ez  39,1‐5  für  seinen  jetzigen  Ort  in  der  Heilsprophetie  des  Buches  geschrieben  worden  ist,  kann  auch  die  These  ausgeschlossen  werden, dass die gesamte Perikope 38f.* erst nachträglich in das Buch  eingefügt worden ist. 115 Das  literarische  Wachstum  des  Grundwortes  zu  einem  umfassen‐ den Gog‐Komplex hat weitere interpretierende Fortschreibungen nötig  gemacht,  die  den  Zusammenhang  mit  dem  Kontext  in  Ez  34‐39  im  Blick haben. So scheint die Erweiterung zu einem zweiteiligen Grund‐ wort in Ez 38,1‐9*; 39,1‐5 und die Gestaltung als eigenständiges Wort‐ ereignis  die  Interpretation  des  Stückes  durch  den  Nahkontext  er‐ schwert zu haben. Aus diesem Grund nimmt ein späterer Autor in Ez  39,6f.  die  Deutung  explizit  in  die  Gog‐Perikope  mit  hinein  und  führt  aus,  dass  die  Zerschlagung  Gogs  der  Völkererkenntnis  und  der  Heili‐ gung  von  Jhwhs  Namen  dient  (vgl.  auf  späteren  literarischen  Ebenen  auch  38,16.23).  Auf  diese  Weise  hat  sich  die  Gog‐Perikope  von  ihrem  unmittelbaren  Kontext  gelöst  und  konnte  zu  einem  eigenständigen  Komplex anwachsen, dessen Anliegen weit über die ursprüngliche Ab‐ sicht des Grundwortes hinaus ausgeweitet worden ist. Allerdings gibt  es  auf  den  verschiedenen  literarischen  Ebenen  mehrere  Anzeichen                                 115  So gegen FUHS, NEB, 214. 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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dafür, dass ein Ausgleich mit den umliegenden Texten vorgenommen  wird.  So  schreibt  der  Verfasser  von  39,6f.  zwar  die  Interpretation  von  Gogs  Niederlage  in  das  nun  eigenständige  Wortereignis  ein,  aber  die  Erwähnung des heiligen Namens Jhwhs in V 6 schlägt eine Brücke zum  literarischen  Kontext.  Insbesondere  der  Epilog  in  39,21f.  ist  als  redak‐ tionelles Klammerstück verfasst, das von der Gog‐Perikope zu 39,23‐29  überleiten  soll.  So  bereitet  die  in  39,22  auf  Israel  bezogene  Erkennt‐ nisaussage  die  Aussage  über  die  Völkererkenntnis  in  39,23  vor  und  verweist zugleich auf die parallele Erkenntnisformel in 39,28.  2.4. Innerbiblische Auslegung in Ez 38,1‐39,22  2.4.1. Zur Frage nach den literarischen Vorlagen  Obwohl  die  Analyse  des  redaktionellen  Horizontes  die  Frage  klären  konnte,  mit  welcher  Intention  das  Grundwort  des  Gog‐Komplexes  an  seinen  ursprünglichen  Ort  im  Buch  eingeschrieben  worden  ist,  bleibt  das  Bild  des  auf  den  Bergen  fallenden  Feindes  aus  dem  Norden  doch  rätselhaft.  Die  Kapitel  sollen  deshalb  im  Folgenden  auf  ihre  literari‐ schen  und  traditionsgeschichtlichen  Vorlagen  hin  befragt  werden,  um  zu  klären,  welche  Vorstellungen  in  diesem  Motiv  aufgenommen  sind.  Dabei  werden  zwei  literarische  Referenzbereiche  zu  berücksichtigen  sein.   Der erste Komplex sind die üblicherweise als Fremdvölkersprüche  bezeichneten Texte des zweiten Buchteils Ez 25‐32.116 Trotz der Position  von Ez 38f.* innerhalb der Heilsprophetien in Kap. 34‐39 wird die Gog‐ Perikope traditionell zu diesen Fremdvölkerworten des Buches gerech‐ net.117 Eine Untersuchung der Berührungen zwischen Ez 38,1‐39,22 und  Kap.  25‐32  kann  deshalb  die  Frage  klären,  ob  die  Einordnung  als  Fremdvölkerspruch seine Berechtigung hat, und zugleich den Blick für  Unterschiede schärfen, die erklären können, warum Ez 38f.* eben nicht                                 116  Es  ist  nach  wie  vor  umstritten,  inwieweit  im  Alten  Testament  überhaupt  mit  einer  Gattung „Fremdvölkerwort/‐spruch“ zu rechnen ist (vgl. zu dieser Problematik den  Forschungsüberblick bei FECHTER, Bewältigung, 3‐19). Wenn der Begriff im Folgen‐ den für einen Text gebraucht wird, hat er deshalb keine formkritische Konnotation,  sondern  steht  für  die  gebräuchliche Bezeichnung der Worte in Ez 25‐32. Seine Ver‐ wendung  erscheint  dadurch  gerechtfertigt,  dass  hier  Texte  zusammengestellt  sind,  die  in  ähnlicher  Form  das  Geschick  nicht‐israelitischer  Völker  thematisieren  (vgl.  auch die Definition bei FECHTER, a.a.O., 2f.).  117  Vgl. jüngst PREMSTALLER, Fremdvölkersprüche, 222‐249, und FECHTER, Bewältigung,  1.  Letzterer  rechnet  die  Kapitel  zwar  zu  den  Fremdvölkerworten  im  Buch,  berück‐ sichtigt  sie  aber  nicht  in  seiner  ausführlichen  Analyse  ausgewählter  Worte  (vgl.  FECHTER, a.a.O., 24f.). Dies allein verweist schon auf die besondere Stellung von Ez  38f.* innerhalb der Fremdvölkersprüche.  

   

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im  zweiten  Buchteil  zu  stehen  gekommen  ist.  Im  Unterschied  zu  den  anderen  Sprüchen,  die  an  historisch  belegte  Fremdvölker  gerichtet  sind,  bereitet  insbesondere  die  Identifikation  des  Feindes  in  der  Gog‐ Perikope  Probleme.  Allerdings  ist  schon  lange  gesehen  worden,  dass  die  Feindmotivik  in  Ez  38f.*  in  einigen  Punkten  Berührungen  mit  der  Beschreibung des „Feindes aus dem Norden“ im Jeremiabuch aufweist.  In  einem  zweiten  Schritt  ist  deshalb  danach  zu  fragen,  inwieweit  sich  die  Gog‐Gestalt  einer  Rezeption  der  entsprechenden  Texte  aus  dem  Jeremiabuch  verdankt.  Vereinzelt  werden  dabei  auch  Texte  aus  ande‐ ren Schriften des Alten Testaments zu berücksichtigen sein.  2.4.2. Die Beziehungen zu den anderen Fremdvölkersprüchen   im Buch  Die Einordnung von Ez 38f.* als Fremdvölkerwort hat gute Gründe für  sich.  So  macht  bereits  auf  der  Ebene  des  Grundwortes  die  Anrede  an  Gog,  Hauptfürst  von  Meschech  und  Tubal  (39,1;  vgl.  32,26)  deutlich,  dass  es  hier  um  ein  Wort  gegen  ein  nicht‐israelitisches  „Fremdvolk“  geht. Auch von seiner Struktur her zeigt 39,1‐5 einige Berührungen mit  dem  Aufbau  anderer  Fremdvölkersprüche:  So  wird  der  Prophet  mit  dem Imperativ von ‫נבא‬ ni. (vgl. Ez 25,2; 28,21; 29,2; 30,2) und der Her‐ ausforderungsformel ‫הנני אל‬ (vgl. Ez 29,10 und 30,22; vgl. ‫הנני על‬, Ez 26,3;  28,22 und 29,3.8) aufgefordert, Gog ein Gerichtswort Jhwhs auszurich‐ ten.  Auch  inhaltlich  existieren  einige  Verbindungen,  insbesondere  zu  dem  ersten  Ägyptenorakel  in  Ez  29,1‐6.  Ebenso  wie  dem  Pharao wird  Gog angekündigt, dass er auf das freie Feld fallen soll (‫על־פני השׂדה תפול‬,  29,5;  vgl.  39,5).  Diese  Wortverbindung  kommt  nur  an  diesen  beiden  Stellen vor, so dass mit Sicherheit eine Verbindung zwischen den Tex‐ ten  existiert. 118  Des  Weiteren  könnte  auch  in  der  Drohung,  dass  Jhwh  Gog die Pfeile aus seiner rechten Hand fallen lassen wird (‫נפל‬ hif., 39,3)  eine Aufnahme der Worte gegen den Pharao vorliegen. Denn das Verb  ‫נפל‬  hif.  ist  in  der  Bedeutung  „aus  der  Hand  schlagen“  nur  noch  in  Ez  30,22  im  Buch  belegt,  wo  dem  Pharao  angesagt  wird,  dass  Jhwh  ihm  das Schwert aus der Hand fallen lassen wird. Ebenso teilt er nach 29,5  (vgl. 32,4‐6) das Schicksal Gogs, dass er wie dieser den Vögeln und Tie‐ ren zur Sättigung gegeben wird (‫נתן לאכלה‬, 29,5; vgl. 39,4). Dabei weicht  aber  in  29,5  die  genaue  Aufzählung  der  Tiere  (‫)לחית הארץ ולעוף השׁמים‬  leicht von der inhaltlichen Parallele in 39,4 ab (‫)צפור כל־כנף וחית השׂדה‬.                                 118  Vgl.  im  Alten  Testament  nur  noch  Jer  9,21,  ein Text, in dem Jhwh verkünden lässt,  dass die Leichen der Menschen wie Dünger auf die Fläche des Feldes fallen werden   (‫)ונפלה נבלת האדם כדמן על־פני השׂדה‬. 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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Auch  wenn  die  Struktur  und  die  inhaltliche  Ausrichtung  des  Grundwortes Ez 39,1‐5 die Einordnung als Fremdvölkerwort rechtferti‐ gen, so fallen doch erhebliche Unterschiede zu den Sprüchen in Ez 25‐ 32  auf.  Zuerst  gibt  es  nicht  einen  einzigen  historisch  identifizierbaren  Adressaten, gegen den sich das Wort richtet. Zwar wird Gog in 39,2 als  Hauptfürst von Meschech und Tubal bezeichnet, das in 27,13 als Han‐ delspartner  von  Tyrus  erscheint  und  in  32,26  als  untergegangenes  Reich  unter  anderen  genannt  wird,  aber  bereits  in 39,4 wird das Heer  auf  viele  Völker  ausgeweitet,  die  mit  Gog  gegen  Israel  ziehen.  Hinzu  kommt die Auffälligkeit, dass Gog mit Zügen beschrieben wird, die in  anderen Worten den Pharao von Ägypten kennzeichnen. Der entschei‐ dende Unterschied ist aber die Tatsache, dass sich das Schicksal Gogs  im  Herzen  Israels,  auf  den  ‫הרי ישׂראל‬  (39,2.4),  vollstrecken  wird,  wäh‐ rend die Ankündigungen in Ez 25‐32 den Gegnern jeweils ein Ende in  ihrem  eigenen  Land  bzw.  ohne  genaue  Verortung  ansagen.  Die  Berge  Israels  finden  im  gesamten  zweiten  Buchteil  Ez  25‐32  nicht  einmal  Erwähnung. Das Schicksal Gogs scheint damit enger mit dem Geschick  Israels verbunden zu sein, als dies in den anderen Fremdvölkerworten  der Fall ist.119   Auch in den Fortschreibungen des Grundwortes setzt sich die Ten‐ denz  fort,  einerseits  Züge  anderer  Fremdvölkerworte  aufzunehmen,  während  andererseits  deutlich  Bezug  auf  die  umliegende  Heilspro‐ phetie genommen wird. In 38,1‐9* wird mit der Einleitung in V 2 ‫בן־אדם‬ ‫והנבא עליו‬  ...  ‫שׂים פניך אל‬  eine  andere  für  Fremdvölkersprüche  charakte‐ ristische Einleitung (vgl. 25,2; 28,21; 29,2; 35,2) gewählt.120 Des Weiteren  wird  die  detaillierte  Beschreibung  von  Gogs  Heer  und  Ausrüstung  in  38,4  durch  Stichwortverbindungen  parallel  zu  der  Darstellung  der  Assyrer  und  Babylonier  im  Buch  gestaltet.  So  treten  diese  stets  mit  Pferden (‫)סוסים‬ und Reitern (‫)פרשׁים‬ auf; vgl. die Darstellung der Assyrer  in  23,6.12  und  der  Babylonier  in  23,23;  26,7.10.121  Auch  die  speziellen  Waffen  ‫צנה‬  (38,4;  39,9;  vgl.  23,24;  26,8)  und  ‫מגן‬  (38,4f.;  39,9;  vgl.  23,24  und  27,10)  finden  sich  im  gesamten  Buch  nur  in  Beschreibungen  der  Ausrüstung von Assyrern und Babyloniern. Die Charakterisierung der  Feinde  als  „prächtig  gekleidet“  (‫;לבשׁי מכלול‬  38,4;  vgl.  23,12)  schlägt  ei‐                                119  Vgl. auch Ez 35,1‐15, das neben Ez 38f.* das einzige Fremdvölkerwort außerhalb von  Ez  25‐32  ist.  Auch  hier  zeigt  sich  durch  die  parallele  Gestaltung  zu  36,1‐15  eine  unmittelbare Verbindung mit dem Schicksal Israels; vgl. dazu u. Kap. III. 7.2.  120  Allerdings  findet  sich  diese  Einleitung  auch  an  anderen  Stellen  im  Buch,  an  denen  Ezechiel  zur  Weissagung  aufgefordert  wird;  vgl.  Ez  6,2;  13,17;  21,2;  21,7  und  35,2  (mit ‫)על‬.  121  In  Kombination  sind  ‫ סוס‬und  ‫פרשׁ‬  nur  an  den  genannten  Stellen  im  Buch  belegt,  so  dass sie mit Sicherheit als Attribute für die beiden Feindmächte Assur und Babylon  gelten können. 

   

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nen  weiteren  Bogen  zur  Schilderung  der  Assyrer.  Schließlich  ist  auch  die Bezeichnung der Feindesmacht als „großes Heer“ (‫קהל רב‬, 38,4; vgl.  ‫קהל‬,  38,7  und  ‫קהל גדול‬,  38,13)  nur  noch  in  17,17  für  den  Pharao  von  Ägypten  und  in  26,7  für  Babel  gebraucht  (vgl.  einfaches  ‫קהל‬  noch  in  27,27.34  für  Tyrus,  in  32,22.23  für  Assur  und  in  23,24  für  die  Feinde  generell).  Ein  späterer  Ergänzer  hat  die  Charakterisierung  Gogs  mit  Zügen des Pharaos noch durch ein Zitat aus dem ersten Ägyptenwort  verstärkt,  nach  dem  Jhwh  Spitzhaken  in  die  Kinnladen  des  Pharao  geben wird (‫ונתתי חחים בלחייך‬, 29,4 [Qere]; vgl. 38,4). Auf den ersten Blick  erscheinen  die  Stichwortverbindungen  nicht  erstaunlich,  da  bei  der  Beschreibung  von  Heer  und  Ausrüstung  generell  ein  bestimmtes  und  begrenztes  Vokabular  zu  erwarten  ist.  Allerdings  spricht  gerade  die  Häufung der Stichwortverbindungen in 38,4f. dafür, dass hier bewusst  auf  vorgegebene  Feindesdarstellungen  zurückgegriffen  wird,  um  Gog  auf diese Weise Züge verschiedenster Gegner zu verleihen.122 Auch in den weiteren Fortschreibungen finden sich Nähen zu den  Fremdvölkersprüchen in Ez 25‐32. So dienen in Ez 38,10‐16 und 39,9f.  von  ‫בזז‬  und  ‫שלל‬  abgeleitete  Formen  (vgl.  38,12f.;  39,10)  als  Leitwörter.  Sie  kommen  in  dieser  Zusammenstellung  überhaupt  nur  in  den  Gog‐ Kapiteln sowie im zweiten Ägyptenwort in 29,17‐21 vor. Dort kündigt  Jhwh  in  29,19  an,  dass  Nebukadnezar,  der  König  von  Babel,  über  das  Land  Ägypten  kommen  und  Beute  erbeuten  (‫)ושלל שללה‬  und  Plünder‐ gut  plündern  (‫)ובזז בזה‬  wird.  Die  Verbindung  zu  Nebukadnezar  wird  noch  dadurch  verstärkt,  dass  in  26,7  das  Kommen  des  Königs  von  Babel aus dem Norden (‫)מצפון‬ angesagt wird.123   In  Ez  39,11‐16  fällt  dagegen  die  Häufung  von  Wortbildungen  mit  der  Wurzel  ‫קבר‬  („Grab/begraben“)  auf  (39,11.12.13.14.15bis).  Neben  39,11‐16  ist  die  Wurzel  im  Buch  nur  noch  in  zwei  anderen  Perikopen  belegt. Die erste davon ist Ez 37,11‐14, wo Jhwh ansagt, die Gräber des  Hauses  Israel  zu  öffnen  und  die  Israeliten  aus  ihren  Gräbern  herauf‐ kommen  zu  lassen.  Diese  Verheißung  bildet  zweifellos  ein  heilvolles  Gegenbild  zum  Ende  der  Feindmächte  in  39,11‐16,124  wobei  aber  noch  zu  klären  sein  wird,  welches  Bild  das  ursprünglichere  ist.  Der  andere  Text ist das letzte Ägyptenwort in Ez 32,17‐32, wo von den Gräbern der                                 122  Es kann nicht in allen Punkten nachgeprüft werden, ob die fraglichen Texte bei Ab‐ fassung der Gog‐Perikope bereits im Buch standen. Allerdings spricht die Häufung  von Querbeziehungen zu verschiedenen Texten in 38,1‐9* dafür, dass diese Verse mit  Bezug auf andere Stücke verfasst worden sind.  123  Vgl. auch Ez 23,24, wo nach der griechischsprachigen Bezeugung das Kommen der  Babylonier  und  anderer  Völker  aus  dem  Norden  angesagt  wird. Allerdings ist hier  zu  vermuten,  dass  die  Variante  der  LXX  eine  Angleichung  des  verdorbenen  MT‐ Textes an 26,7 darstellt (so auch ZIMMERLI, BK, 533).  124  Vgl. PREMSTALLER, Fremdvölkersprüche, 244; vgl. dazu auch u. Kap. III. 6.3. 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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bereits  in  der  Unterwelt  versammelten  Fremdvölker  die  Rede  ist,  zu  denen  auch  Ägypten  hinabgestürzt  werden  soll  (V  18).125  Als  zweites  Leitwort  wird  in  32,17‐32  ‫המון‬  gebraucht  („Prunk/Gepränge“;  V  16.18.  20.24.25.26.31.32),126  durch  das  der  selbstherrliche  Anspruch  der  Fremdvölker  ihrem  schmählichen  Ende  in  der  Unterwelt  gegenüber‐ gestellt wird. Es wird kaum Zufall sein, dass dasselbe Wort als inclusio  das Stück 39,11‐16 rahmt (V 11bis.15.16). Durch diese spezifischen Ver‐ weise  wird  in  der  Schilderung  von  Gogs  Ende  zugleich  auch  an  das  Schicksal  der  anderen  Fremdvölker  in  der  Unterwelt  erinnert,  so  dass  Gogs  Zerschlagung  nachdrücklich  unterstreicht,  dass  Jhwh  seine  Macht  gegenüber  jedem  Feind  erweisen  wird.  Im  Unterschied  zu  Ez  32,17‐32 hat Israel wiederum Anteil an dem Niederfall der Feindmacht,  indem die Bewohner für das ordnungsgemäße Begräbnis von Gogs Ge‐ pränge Sorge tragen. Auf den ersten Blick besteht damit kein Zweifel, dass mit dem Gog‐ Komplex ein literarisch gewachsenes Fremdvölkerwort vorliegt. Aller‐ dings  wird  gerade  im  Vergleich  mit  den  anderen  Fremdvölkersprü‐ chen seine außergewöhnliche Stellung deutlich. Die vielfachen Referen‐ zen  zeigen,  dass  Gog  mit  Zügen  gezeichnet  wird,  die  vor  allem  in  Ez  25‐32,  aber  auch  in  der  Bildrede  Ez  23  zur  Beschreibung  der  Assyrer,  Babylonier und Ägypter verwendet werden. Insbesondere werden ihm  Charakteristika  Nebukadnezars  und  des  Pharaos  zugeschrieben.  Die  Bezüge häufen sich dabei in der Fortschreibung 38,1‐9, so dass vermu‐ tet  werden  kann,  dass  diese  Ergänzung  unter  anderem  die  Anglei‐ chung Gogs an die vorhergehenden Feindbilder intendiert. Die Feind‐ macht  Gog  mit  den  ihn  begleitenden  Völkern  erscheint  damit  als  eine  Personifikation  aller  Feinde,  die  Israel  im  Buch  Ezechiel  gegenüber‐ stehen,  wobei  allerdings  die  Herleitung  des  Namens  Gog  ungeklärt  bleiben  muss.  Jedoch  liegt  die  Annahme  nahe,  dass  gerade  keine  his‐ torische  Figur  im  Blick  ist,  sondern  dass  es  sich  bei  „Gog“  um  eine  literarische  Kunstgestalt  handelt,  die  im  Rahmen  der  Heilsgeschichte  als der letzte Feind im Buch besiegt wird.   Die  Mutmaßung,  dass  die  Gestalt  Gogs  nicht  für  ein  historisches  Fremdvolk  steht,  sondern  eine  Art  Idealfeind  repräsentiert,  zeigt  be‐ reits, dass die Gog‐Perikope kein Fremdvölkerwort im Sinne der in Ez  25‐32  gesammelten  Sprüche  ist.  Grundsätzlich  unterscheidet  sie  sich  von diesen dadurch, dass das Drohwort gegen die Feindmacht auf den                                 125  NOBILE,  Beziehung,  256,  kommt  aufgrund  der  Beziehungen  zwischen  Ez  32,17‐32  und Ez 38‐39 sogar zu der These, dass sie derselben literarischen Hand zuzuschrei‐ ben seien.  126  Das  Wort  begegnet  insgesamt  16‐mal  in  den  Worten  gegen  den  Pharao  und  gegen  Ägypten; vgl. Ez 29,19; 30,4.10.15; 31,2.18; 32,12bis.16.18.20.24.25.26.31.32. 

   

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Bergen Israels und damit im Land selbst vollstreckt wird. In den Fort‐ schreibungen  wird  dann  auch  das  heimgekehrte  Israel  mit  in  das  Ge‐ schehen einbezogen, so dass die Gog‐Kapitel sehr viel mehr in die Aus‐ sagen des Buches eingebettet sind, als dies in Ez 25‐32 der Fall ist. Im  Folgenden  sind  nun  die  außerbuchlichen  Parallelen  in  den  Blick  zu  nehmen,  um  genauer  klären  zu  können,  welche  weiteren  Motive  auf  die Darstellung Gogs in diesem besonderen Fremdvölkerwort Einfluss  genommen haben.  2.4.3. Der Feind aus dem Norden im Jeremiabuch  Die einzige Information, die zur Identifikation Gogs im Grundwort der  Perikope  gegeben  wird,  ist  die  Angabe,  dass  Jhwh  ihn  aus  dem  äußersten  Norden  (‫מירכתי צפון‬,  39,2)  herbeiführen  wird.  Diese  Angabe  erinnert  an  eine  Reihe  von  Texten  des  Jeremiabuches,  in  denen  von  einer  Feindmacht  aus  dem  Norden  die  Rede  ist,  die  über  Israel  kom‐ men wird.   Die Stücke vom Feind aus dem Norden in Jer 4‐6* gehören zu den  ältesten  Texten  des  Jeremiabuches,  die  aus  Sammlungen  von  Unheils‐ ankündigungen  und  Klagen  bestehen  und  den  Untergang  Jerusalems  sowie  das  Geschick  der  Tochter  Zion  thematisieren.127  Die  einzelnen  Texte  der  Sammlungen  heben  sich  dadurch  hervor,  dass  sie  nicht  als  Gotteswort  formuliert  sind  und  keine  Reflexion  über  die  mögliche  Schuld Israels enthalten. In die Nähe dieser frühen Klagen und Unter‐ gangsankündigungen gehören konzeptionell auch einige Fremdvölker‐ sprüche in Jer 46‐49*, die ebenfalls vom kommenden Gericht durch den  „Feind aus dem Norden“ über andere Völker sprechen, ohne diese mit  einer  Anklage  oder  Begründung  zu  versehen.128  Erst  auf  späteren  Stufen  des  Buchwachstums  setzt  eine  Nachinterpretation  ein,  die  in  Anklagen  und  Unheilsbegründungen  die  Verantwortung  Israels  the‐ matisiert und den Untergang theologisch als Gericht Jhwhs über Zion/  Jerusalem deutet.129 Die Anklagen auf dieser Ebene sind zumeist in der  Anrede  an  eine  2.  Pers.  fem.  sg.  gehalten  und  richten  sich  an  die  per‐ sonifizierte Frau Jerusalem, der der Abfall von Jhwh in Form des Ehe‐ bruches vorgeworfen wird.                                  127  Zur Textabgrenzung vgl. LEVIN, Verheißung, 153f. Anm. 22, und POHLMANN, Ferne,  129‐132.  128  Vgl. SCHMID, Buchgestalten, 334.  129  LEVIN,  POHLMANN  und  BIDDLE  gebührt  das  Verdienst,  in  ihren  Arbeiten  auf  diese  Differenz  zwischen  den  ältesten  Texten  und  der  Theologisierung  und  Begründung  dieser Stücke in der literarischen Nachinterpretation aufmerksam gemacht zu haben;  vgl. LEVIN, Verheißung, 153‐156.194; POHLMANN, Ferne, 113‐213; BIDDLE, Redaction  History, 72‐76.206‐213, sowie den Überblick bei SCHMID, Buchgestalten, 330‐340. 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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In  dieser  Personifikation  zeigt  sich  bereits,  dass  die  Klagen  über  den  Feind  aus  dem  Norden  und  ihre  theologischen  Ausdeutungen  einen  bestimmten  traditionsgeschichtlichen  Hintergrund  vor  Augen  haben. So hat SCHMID aufgezeigt, dass sie als dezidierte Gegenposition  zur klassischen Zionstheologie zu verstehen sind, wie sie z. B. in Ps 46;  48  und  76  zum  Ausdruck  kommt.130  Nach  dieser  Vorstellung  gründet  das  Schutzvermögen  und  die  Wehrhaftigkeit  Jerusalems  auf  der  Prä‐ senz  Jhwhs  auf  dem  Zion.  In  den  Klagen  über  den  Feind  aus  dem  Norden  kommt  aber  gerade  die  Erfahrung  zum  Ausdruck,  dass  Stadt  und  Land  keineswegs  durch  die  Präsenz  Jhwhs  geschützt  sind,  son‐ dern die Tochter Zion dem anstürmenden Feind schutzlos ausgeliefert  ist.  Im  Zuge  der  theologischen  Nachinterpretation  wird  die  Ausgelie‐ fertheit  dahingehend  gedeutet,  dass  Jhwh  selbst  der  als  Ehebrecherin  vorgestellten  Größe  Zion‐Jerusalem  seine  Schutzmacht  entzogen  hat.  Aus der Klage der Tochter Zion über den anrückenden Feind aus dem  Norden wird in dieser Nachinterpretation die Anklage der Frau Jerusa‐ lem,  die  von  Jhwh  in  seinem  Strafgericht  dem  Feind  preisgegeben  wird.  Ein Vergleich von Ez 38,1‐39,22 mit den entsprechenden Texten aus  dem  Jeremiabuch  zeigt,  dass  in  beiden  Büchern  die  Vorstellung  eines  Feindes  aus  dem  Norden  (‫)צפון‬  anzutreffen  ist.  Im  Ezechielbuch  wird  ‫צפון‬ in dieser Bedeutung überhaupt nur im Rahmen der Gog‐Perikope  verwendet  (vgl.  Ez  38,6.15;  39,2),  während  das  Motiv  im  Jeremiabuch  in  Jer  1,13.14.15;  4,6;  6,1.22;  10,22;  13,20  und  25,9  zu  finden  ist.  Ferner  ist der Feind aus dem Norden auch in Jer 46,6.10.20.24; 47,2; 50,3.9.41;  51,48  belegt,  wo  der  Widersacher  allerdings  nicht  eine  Bedrohung  für  Israel darstellt, sondern sich gegen andere Völker richtet. Da das Motiv  nur in der Gog‐Perikope und den entsprechenden Texten des Jeremia‐ buches  Verwendung  findet,  kann  mit  großer  Sicherheit  eine  Verbin‐ dung  zwischen  den  beiden  großen  Prophetenbüchern  vermutet  wer‐ den.  Die  Belege  im  Jeremiabuch  sind  allerdings  über  das  ganze  Buch  verteilt, so dass danach zu fragen bleibt, ob es sich bei der Verbindung  um  eine  traditionsgeschichtliche  oder  eine  literarische  Abhängigkeit  handelt. 131 Zur Beantwortung dieser Frage sind im Folgenden die Stich‐                                130  Vgl. SCHMID, Buchgestalten, 332‐338, sowie auch STECK, Zion, 130‐132. Zu einer um‐ fassenden Studie zur Gestalt der Tochter Zion vgl. WISCHNOWSKY, Tochter, 1‐274.  131  Ein  eindeutig  literarisches  Abhängigkeitsverhältnis  zwischen  den  Texten  des  Jere‐ miabuches  und  der  Gog‐Perikope  nehmen  HÖLSCHER,  Hesekiel, 180.183; ZIMMERLI,  BK, 938f., sowie VIEWEGER, Beziehungen, 46‐50, an. SMEND, KEH, 300f.; BERTHOLET,  HAT, 133f.; FOHRER, HAT, 214; LUTZ, Jahwe, 69f.125‐130; ALLEN, WBC 29, 204, und  POHLMANN, ATD, 512, verweisen ebenfalls auf die Verbindungen zwischen den Tex‐ ten,  ohne  dass  aber  die  Art  und  Weise  der  Abhängigkeit  ersichtlich  wird.  Allein  BLOCK, NICOT II, 440f., spricht sich dezidiert gegen eine Verbindung aus. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

wortverbindungen  genauer  in  den  Blick  zu  nehmen,  wobei  zwischen  dem  Grundwort  im  Gog‐Komplex  und  seinen  Fortschreibungen  zu  unterscheiden ist.  Das Grundwort in 39,1‐5 zeigt eine auffallende Nähe zu Jer 6,22f.132  Während dort in 6,22 angekündigt wird, dass ein Volk aus dem Land  des Norden (‫)מארץ צפון‬ kommt (‫)בוא‬, ein Volk, das sich aufmacht (‫עור‬ ni.)  vom äußersten Ende der Erde (‫)מירכתי־ארץ‬, soll Gog in Ez 39,2 aus dem  äußersten Norden (‫)מירכתי צפון‬ heraufgeführt (‫עלה‬ hif.) und auf die Berge  gebracht werden (‫בוא‬ hif.). Die Formulierungen in Ez 39,2 bieten damit  eine  Art  Kompilation  der  Angaben  aus  Jer  6,22,  und  da  ‫ירכה‬  außer  an  den genannten Stellen nur noch vereinzelt in den beiden Büchern ver‐ wendet wird,133 kann hier ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis an‐ genommen werden. Diese Annahme bestätigt sich auch darin, dass die  Ausrüstung  Gogs  mit  dem  Bogen  (‫קשת‬,  Ez  39,3;  vgl.  39,9) der Angabe  in  Jer  6,23  folgt,  nach  der  der  Feind  aus  dem  Norden  mit  dem  Bogen  bewaffnet  ist.  Jer  6,22f.  gehört  zu  den  ältesten  Unheilsansagen  des  Jeremiabuches, die noch keine theologische Reflexionsebene aufweisen.  Demgegenüber  ist  das  Grundwort  in  Ez  39,1‐5  eindeutig  als  begrün‐ detes Gotteswort gestaltet und weist eine theologische Dimension auf.  Wenn  das  im  Jeremiabuch  gewonnene  Kriterium  Anwendung  findet,  wonach  die  reflektierende  Gottesrede  ein  jüngeres  Stadium  repräsen‐ tiert als die einfache Klage, so muss in Jer 6,22f. das traditum vorliegen,  das in Ez 39,1‐5 als traditio aufgenommen worden ist.   Über die jeremianische Vorlage hinaus ist in Erwägung zu ziehen,  ob das Grundwort mit der Ankündigung der Vernichtung des Feindes  auf den Bergen Israels in Ez 39,4 nicht auch ein Motiv aus dem Jesaja‐ buch  aufnimmt. 134  Dort  sagt  Jhwh  Assur  in  Jes  14,25  die  Vernichtung  auf  „meinen  Bergen“  (‫)על־הרי‬  an,  was  an  die  Zerschlagung  Gogs  auf  den  Bergen  Israels  erinnert.  Die  Bezeichnung  als  Berge  Jhwhs  in  Jes  14,25  leitet  sich  vom  Wohnen  Jhwhs  auf  dem  Zion  ab,135  so  dass  hier  ebenso wie in den jeremianischen Klagen über den Feind aus dem Nor‐ den  ein  zionstheologischer  Hintergrund  vorliegt.  Da  aber  abgesehen  von  ‫הרי‬  keine  weiteren  Stichwortverbindungen  mehr vorliegen, ist die  Frage  der  genauen  Abhängigkeit  schwer  zu  beantworten.  Mit  Sicher‐                                132  Jer 6,22f. hat eine Parallelstelle in Jer 50,41f., die aber von Jer 6,22f. abhängig ist (vgl.  SCHMID,  Buchgestalten,  117f.338).  Der  Text  wird  deshalb  in  der  vergleichenden  Analyse nicht berücksichtigt.  133  ‫ירכה‬ findet sich im Jeremiabuch ferner in Jer 25,32; 31,8 und 50,41; vgl. im Ezechiel‐ buch noch Ez 32,23. Die Formulierung ‫)מ(ירכתי צפון‬ (Ez 38,6; 39,2) hat außerdem eine  wörtliche  Parallele  in  Ps  48,3,  wo  sie  für  die  Lokalisation  des  Gottesberges  Zion  steht; vgl. dazu KÖRTING, Zion, 169f.  134  So schon ZIMMERLI, BK, 939f; vgl. auch ALLEN, WBC 29, 210.  135  Vgl. ZIMMERLI, BK, 939. 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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heit  hat die Vorstellung, dass Gott den Feind im Land selbst besiegen  wird,  Eingang  in  das  Grundwort  der  Gog‐Perikope  gefunden,  und  auch  wenn  es  wahrscheinlich  ist,  dass  Jes  14,25  literarisch  im  Hinter‐ grund  steht,  ist  ebenso  der  Rekurs  auf  ein  traditionsgeschichtliches  Motiv zu erwägen.136 Die  Verbindungen  zu  dem  „Feind  aus  dem  Norden“‐Zyklus  im  Jeremiabuch  setzen  sich  auch  bei  der  Erweiterung  des  Grundwortes  durch  Ez  38,1‐9  fort.  So  findet  sich  in  38,6  ebenso  wie  im  Grundwort  die Angabe ‫ירכתי צפון‬ als Abstraktum zur Identifikation des Feindes aus  dem „äußersten Norden“. Des Weiteren gibt es auch Parallelen in der  Beschreibung  der  Feindesmacht,  da  die  Völkerscharen  Gogs  ebenso  wie der jeremianische Feind mit Pferden beritten sind (‫סוס‬, Ez 38,4; vgl.  Jer  6,23;  8,6.16).  In  Ez  38,9  wird  ihr  Auftauchen  schließlich  mit  dem  Heraufziehen  eines  Unwetters  (‫)עלה כשׁאה‬  bzw.  dem  Kommen  einer  Wolke  (‫)בוא כענן‬  verglichen.  Dies  erinnert  an  die  Klage  in  Jer  4,13,  wo  von  der  Feindmacht  ausgesagt  wird,  dass  sie  wie  Wolken  heraufzieht   (‫)כעננים עלה‬. Eventuell ist der Vergleich mit einem Unwetter im Ezechiel‐ buch auch durch Einfluss von Jes 10,3 zu erklären; einem Text, der sich  mit  dem  Gog‐Wort  darin  berührt,  dass  er  ebenso  eine  Heimsuchung  von  weither  erwartet,  deren  Kommen  mit  einem  Sturm  (‫)שׁואה‬  ver‐ glichen wird.137   Die  Fortschreibung  Ez  38,10‐16  fällt  indes  dadurch  auf,  dass Gogs  Gedanken  wie  ein  Zitat  der  Ankündigung  von  Nebukadnezars  Zug  gegen Hazor in Jer 49,30‐32 erscheint. In beiden Texten wird von dem  Gegner ausgesagt, dass er einen Plan fasst (‫חשׁב מחשׁבה‬, Ez 38,10; vgl. Jer  49,30)  und  hinaufziehen  wird  (‫עלה‬  kal,  Ez  38,11;  vgl.  Jer  49,31)  gegen  die, die in Sicherheit (‫לבטח‬, Ez 38,11; vgl. Jer 49,31) und ohne Riegel und  Tore (‫ובריח ודלתים אין להם‬, Ez 38,11; vgl.  ‫לא־דלתים ולא־בריח‬, Jer 49,31) woh‐ nen.  Die  Stücke  berühren  sich  auch  darin,  dass  beiden  Widersachern  Beutegier  und  Plünderungslust  nachgesagt  wird  (‫שׁלל שׁלל‬,  ‫בזז בז‬,  Ez  38,12;  vgl.  Jer  49,32).  Zwar  lassen  sich  einige  dieser  Stichwortverbin‐ dungen  auch  durch  innerbuchliche  Aufnahmen  erklären,  aber  die  pa‐ rallele  Gestaltung  der  beiden  Texte  spricht  dafür,  dass  auch  an  dieser  Stelle ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis vorliegt.   Innerhalb  des  Abschnittes  38,14‐16,  der  sich  durch  eine  Reihe  von  Wiederaufnahmen aus Ez 38,1‐9 auszeichnet, wird das Kommen Gogs                                 136   Allerdings ist noch die späte Fortschreibung in Ez 38,18‐23 zu berücksichtigen, in der  mit  der  Drohung,  dass  Jhwh  das  Schwert  auf  allen  seinen  Bergen  (‫לכל־הרי‬,  38,21)  gegen Gog bringen wird, eine direkte Anspielung auf Jes 14,25 vorliegen könnte.  137  ‫שׁואה‬/‫שׁאה‬ ist außer in Jes 10,3 bzw. Ez 38,9 für die beiden Prophetenbücher nur noch  einmal in Jes 47,11 belegt, wo Babel ein Unheil angekündigt wird, das wie ein Sturm  (‫)שׁואה‬ kommen soll. Auf die Nähe zwischen Jes 10,3 und Ez 38,9 verweisen ebenfalls  LUTZ, Jahwe, 128, und ZIMMERLI, BK, 951. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

erneut  mit  dem  Heraufziehen  einer  Wolke  (‫עלה כענן‬,  V  16)  verglichen.  Außerdem wird ein weiteres Mal durch sein Kommen aus dem Norden  (‫עלה מירכתי צפון‬, V 15) und seine Ausstattung mit Pferden (‫סוסים‬, V 15) die  Verbindung  zu  38,1‐9  und  darüber  hinaus  zu  den  jeremianischen  „Feind  aus  dem  Norden“‐Texten  verdeutlicht.  Es  ist  schließlich  auch  zu überlegen, ob hinter der textkritisch problematischen Stelle  ‫ ֵת ָדע‬ (‫ידע‬  kal) in 38,14 nicht  ‫ ֵתעֹר‬ (‫עור‬ ni.) zu vermuten ist, wie dies auch die grie‐ chischsprachige Überlieferung mit evgerqh,sh|  nahe legt.138 In diesem Fall  wäre in 38,14 auch das Verbum ‫עור‬ ni. aus Jer 6,22 aufgenommen, wo‐ durch die Verbindung zwischen den Texten weiter ausgebaut wäre.139 Die Zerstörung der Waffen durch die Bevölkerung in Ez 39,9f. hat  zwar keine Parallele in den ältesten Texten des Jeremiabuches, aber das  Motiv begegnet in den beiden Zionspsalmen Ps 46,10 und Ps 76,4. Die  Texte berühren sich darin, dass sowohl in Ps 46,10 als auch in Ez 39,9f.  eine  Beseitigung  der  Waffen  mit  Hilfe  von  Feuer  vorgesehen  ist;140  außerdem  stimmen  mit  Bogen  (‫קשׁת‬,  Ez  39,9;  vgl.  Ps  46,10;  76,4)  und  Schild (‫מגן‬, Ez 39,9; vgl. Ps 76,4) einige der genannten Waffengattungen  überein.  Allerdings  wird  gerade  für  den  Vorgang  der  Zerstörung  ein  unterschiedliches Vokabular gebraucht (‫בער‬/‫נשׂק‬/‫בער אשׁ‬, Ez 39,9; ‫שׁבר‬/‫שׂרף‬ ‫באשׁ‬,  Ps  46,10;  ‫שׁבר‬,  Ps  76,4),  und  während  in  Ez  39,9f.  die  Zerstörung  der Waffen von der Bevölkerung der Städte vorgenommen wird, ist es  in  Ps  46  und  Ps  76  Jhwh  selbst,  der  die  Waffen  der  Feinde  beseitigt.  Aufgrund  der  eher  spärlichen  Stichwortverbindungen  ist  eine  litera‐ rische  Verbindung  zwischen  den  Texten  nicht  wahrscheinlich.  Es  ist  allerdings  möglich,  dass  mit  der  Beseitigung  der  Waffen  bewusst  ein  älteres Bild aufgenommen wird, das mit dem Motivkomplex „Vernich‐ tung des Gottesfeindes“ verbunden ist.141 Schließlich  ist  noch  die  Fortschreibung  in  Ez  39,17‐20  in  den  Blick  zu  nehmen.  Die  Textanalyse  hat  bereits  gezeigt,  dass  es  sich  hier  um  eine Ausgestaltung von Ez 39,4 handelt. Aber anders als in der inner‐ textlichen Vorlage bekommt die Beseitigung der feindlichen Überreste  durch die wilden Tiere in 39,17‐20 durch die Bezeichnung als Schlacht‐                                138  So  vertreten  von  HÖLSCHER,  Hesekiel,  182;  FOHRER,  HAT,  215;  ZIMMERLI,  BK,  927,  und  FUHS,  NEB,  217.  Dagegen  geben  BLOCK,  NICOT  II,  499  Anm.  125,  und  PREM‐ STALLER,  Fremdvölkersprüche,  224,  dem  masoretischen  Text  den  Vorzug,  dessen  Lesart auch durch Peschitta, Vulgata und Targum bezeugt wird.  139  Zu ‫עור‬ ni. im Jeremiabuch vgl. noch die Parallele zu Jer 6,22 in 50,41, sowie in 25,32:  „Ein gewaltiger Sturm (‫)סער גדול‬ macht sich auf (‫עור‬ ni.) vom äußersten Ende der Erde   (‫)מירכתי־ארץ‬.“  140  Vgl. auch Jes 9,4, wo die Vernichtung der Ausrüstung des Feindes durch Feuer (‫)אשׁ‬  thematisiert  wird.  Allerdings  geht  es  hier  nur  um  die  Bekleidung,  namentlich  „Stiefel“ (‫)סאון‬ und „Mantel“ (‫)שׂמלה‬.  141  Vgl. ZIMMERLI, BK, 963, und ALLEN, WBC 29, 207.  

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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opfer (‫זבח‬, V 17bis.19) einen neuen, sakralen Bedeutungsinhalt. Mit die‐ ser Konzeption steht Ez 39,17‐20 in einer gewissen Nähe zu dem Vers  Jer  46,10,  wo  die  Vernichtung  Ägyptens  durch  Jhwh  ebenfalls  als  ‫זבח‬  bezeichnet  wird.142  Die  beiden  Texte  berühren  sich  weiterhin  darin,  dass  der  Vorgang  selbst  als  „Fressen“  (‫)אכל‬  bezeichnet  wird  und  das  Blut (‫)דם‬ der Feinde Bestandteil des Opfermahles ist.   Allerdings unterscheiden sich die Stücke deutlich in der dargestell‐ ten Form des Opfermahles: Während das Schlachtopfer in Ez 39,17‐20  auf den Bergen Israels bereitet wird und die wilden Tiere den gefalle‐ nen Feind beseitigen, steht in Jer 46,10 die Vernichtung der Ägypter im  Land des Nordens im Vordergrund. „Fressen“ wird dort das Schwert,  ohne  dass  von  einer  Beteiligung  der  Tiere  die  Rede  ist.  Indes  ist  zu  berücksichtigen, dass Jer 46,10 zu den Fremdvölkerworten im Jeremia‐ buch gehört, die in einer konzeptionellen Nähe zu Jer 4‐6* stehen.143 Da  ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Grundwort Ez  39,1‐5 und Jer 4‐6* nachgewiesen werden konnte, liegt die Vermutung  nahe,  dass  der  spätere  Verfasser  von  Ez  39,17‐20  um  die  Verwandt‐ schaft  der  Texte  im  Jeremiabuch  wusste  und  auf  Jer  46,10  als  weitere  literarische  Vorlage  zurückgriff.  Diese  These  gewinnt  zusätzlich  an  Überzeugungskraft, wenn berücksichtigt wird, dass es in Jer 46,10 um  die  Zerschlagung  des  ägyptischen  Heeres  geht.  Da  Gog  in  den  Fort‐ schreibungen des Grundwortes mit Zügen des ägyptischen Pharaos ge‐ zeichnet worden ist, erscheint es wahrscheinlich, dass auch in 39,17‐20  ein für die Ägypter gebrauchtes Gerichtsbild auf ihn übertragen wird.   Die vergleichende Analyse hat damit gezeigt, dass ein literarisches  Abhängigkeitsverhältnis  zwischen  der  Gog‐Perikope  und  dem  jeremi‐ anischen  „Feind  aus  dem  Norden“‐Zyklus  in  Jer  4‐6*  vorliegt.  Es  ist  nun  im  Folgenden  danach  zu  fragen,  mit  welcher  Intention  die  ver‐ schiedenen  Verfasser der Gog‐Perikope jeweils auf die jeremianischen  Vorlagen  zurückgegriffen  haben.  Bereits  auf  der  literarischen  Ebene  des Grundwortes bekommt Gog Züge des Feindes aus dem Norden, so  dass er als der mächtige Feind erscheint, der im Jeremiabuch die Toch‐ ter Zion bedroht. Allerdings stellt Gog in der ezechielischen Auslegung  keine  wirkliche  Bedrohung  mehr  dar,  sondern  seine  Niederlage,  die  von  Anfang  an  fest  steht,  dient  allein  dem  Machterweis  Jhwhs.  Dabei  fließt  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  auch  die  aus  dem  Jesajabuch  entlehnte  Prophezeiung,  dass  der  Feind  auf  den  Bergen  Jhwhs  schei‐ tern wird (Jes 14,25), mit in den Auslegungsvorgang ein. Der Verfasser                                 142  Das  Motiv  des  Schlachtopfers  für  das  Gericht  über  den  Feind  findet  sich  noch  in  Zeph. 1,7f. (vgl. auch Jes 34,1‐8); allerdings fehlen hier über ‫זבח‬ hinausgehende Stich‐ wortverbindungen.  143  Vgl. SCHMID, Buchgestalten, 334. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

des Grundwortes in Ez 39,1‐5 bezieht die jesajanische Drohung auf den  Feind aus dem Norden und kommt so zu der Ankündigung, dass Gog  aus dem Norden auf den Bergen Israels fallen wird.   In der Erweiterung des Grundwortes in Ez 38,1‐9* und den nachfol‐ genden Fortschreibungen in Ez 38,10‐16 und 39,9f.17‐20 wird Gog mit  weiteren  Zügen  des  Nordfeindes  ausgestattet,  wobei  auch  auf  Vorla‐ gen  aus  den  jeremianischen  Fremdvölkersprüchen  in  Jer  46,10  und  49,30‐32  zurückgegriffen  wird.  In  diesem  fortlaufenden  Auslegungs‐ prozess erscheint der Zug Gogs immer mehr als die Einlösung der An‐ kündigung des Feindes aus dem Norden, wie sie in den ältesten Texten  des  Jeremiabuches  vorliegt.  Von  besonderer  Bedeutung  erscheint  vor  diesem Hintergrund die deutende Fortschreibung in Ez 38,17, die Gogs  Kommen  als  das  Eintreffen  früherer  Prophezeiungen  deutet:  „Du  bist  der,  von  dem  ich  in  vergangenen  Tagen  geredet  habe  durch  meine  Knechte,  die  Propheten  Israels.“144  Anders  als  in  der  vergleichbaren  Stelle  in  39,8,  in  der  lediglich  darauf  verwiesen  wird,  dass  Jhwh  von  diesem Tag geredet hat (‫)הוא היום אשׁר דברתי‬, kommt 38,17 mit dem Ver‐ weis auf „meine Knechte, die Propheten“ einer expliziten Zitation sehr  nahe.  Hier  scheint  sich  bereits  ein  Schriftverständnis  abzuzeichnen,  nach  dem  die  Schrift  als  eigene  Größe  mit  Autorität  verstanden  wird,  die zitiert und kommentiert werden kann. Aufgrund der vorhergehen‐ den  Bezüge  auf  das  Jeremiabuch  ist  Ez  38,17  nicht  als  allgemeiner  Verweis zu verstehen, sondern es liegt ein spezifischer Hinweis auf die  Verkündigung  des  Jeremiabuches  vor,  die  in  der  Gog‐Perikope  eine  Auslegung  erfährt.  Der  Verfasser  will  das  Kommen  Gogs  explizit  als  Aktualisierung  der  Ankündigung  des  Feindes  aus  dem  Norden  ver‐ stehen  und  gibt  so  eine  (Lese‐)Anweisung  zur  Interpretation  des  Vor‐ herigen.145                                144  Die obige Übersetzung folgt der nicht‐hebräischen Textüberlieferung. Der MT bietet  in  38,17  durch  einleitendes  ‫האתה‬  eine  rhetorische  Frage.  Da  allerdings  das  he  inter‐ rogativum in LXX, Peschitta und Vulgata nicht bezeugt wird und die Lesart des MT  durch  Dittographie  mit  dem  vorausgehenden  ‫יהוה‬  erklärt  werden  kann,  wird  hier  den Textbezeugungen der Versionen der Vorzug gegeben (so mit ZIMMERLI, BK, 92,  und FUHS, NEB, 218). Dagegen behalten BLOCK, NICOT II, 452 Anm. 132, und PREM‐ STALLER, Fremdvölkersprüche, 225, die Lesart des MT bei.  145  So mit HÖLSCHER, Hesekiel, 182f.; FISHBANE, Interpretation, 477, und ZIMMERLI, BK,  943f. Dagegen spricht sich BLOCK entschieden gegen ein derartiges Verständnis von  Ez  38,17  aus  (vgl.  BLOCK,  NICOT  II,  453‐456,  und  ausführlicher  DERS.,  Gog  II,  154‐ 172).  Er  legt  in  38,17  die  Lesart  des  MT  zugrunde  und  geht  davon  aus,  dass  diese  Frage mit einem entschiedenen Nein von Gogs Seite beantwortet werden müsse (vgl.  BLOCK,  Gog II,  170f.).  Insbesondere  die  Divergenzen  in  der  Zeichnung  des  Feindes  aus dem Norden im Vergleich mit dem Auftreten Gogs sprächen nach BLOCK dafür,  dass  38,17  gerade  einer  fälschlichen  Aneignung  älterer  Prophezeiungen  entgegen‐ wirken wolle: „Gog is in fact not the ‘foe from the north’ of whom Jeremiah spoke.“ 

   

Die Zerschlagung Gogs: Ez 38f. 

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Bei  einer  Übersicht  über  die  Vorlagen  fällt  auf,  dass  in  der  Gog‐ Perikope  hauptsächlich  auf  Texte  zurückgegriffen  wird,  die  einen  zionstheologischen Hintergrund haben. Für die Sammlung von Klagen  und Unheilsansagen im Jeremiabuch hat sich gezeigt, dass in ihnen die  Abwesenheit  von  Jhwhs  Schutzmacht  auf  dem  Zion  zum  Ausdruck  kommt. In den interpretierenden Fortschreibungen wird das Anrücken  des  Feindes  dagegen  zum  Gericht  über  die  Frau  Jerusalem,  der  Jhwh  selbst  seine  Schutzmacht  entzogen  hat.  Gegenüber  dieser  Interpreta‐ tionslinie wählt die Auslegung im Ezechielbuch einen deutlich anderen  Weg.  Auch  hier  kommt  es  zu  einer  Instrumentalisierung  des  Feindes,  den  Jhwh gegen Israel aufziehen lässt, aber nur mit dem Ziel, ihn auf  den  Bergen  Israels  vernichtend  zu  schlagen.  Die  Souveränität  Jhwhs  und  seine  Schutzmacht,  deren  Fehlen  in  der  Textsammlung  Jer  4‐6*  durch  das  Anrücken  des  Nordfeindes  zutage  tritt,  findet  in  der  Gog‐ Perikope  eine  nachdrückliche  Bestätigung  durch  die  völlige  Zerschla‐ gung des Gegners. Daran wird bereits deutlich, dass zwar zionstheolo‐ gische  Motive  in  den  Gog‐Komplex  eingeflossen  sind,  dass  aber  eine  gänzlich  andere  Gottes‐  und  Landkonzeption  im  Hintergrund  steht:  Jhwhs Souveränität hat sich vom Zion gelöst und erweist sich auf den  Bergen Israels, die anstelle des Gottesberges zum Ziel des Feindes aus  dem Norden geworden sind. 146 2.5. Die Niederlage des letzten Feindes im Ezechielbuch  Die Geschichte der Gog‐Perikope im Ezechielbuch könnte damit kaum  spannender sein. Sie beginnt mit einem relativ schmalen Grundwort in  Ez  39,1‐5,  das  bewusst  in  einen  vorliegenden  Textzusammenhang  36,16‐22;  39,23‐29  eingeschrieben  wird,  um  die  Heiligung  von  Jhwhs  Namen  mit  der  Zerschlagung eines Feindes auf den Bergen Israels zu  verknüpfen. Zwar muss es weiter rätselhaft bleiben, warum der Feind  den  Namen  „Gog“  erhalten  hat,  es  konnte  aber  eindeutig  nachge‐ wiesen  werden,  dass  sich  in  dieser  Gestalt  Züge  der  Fremdvölker  im  Ezechielbuch  und  des  Feindes  aus  dem  Norden  im  Jeremiabuch  ver‐ mischen.  Die  Figur  „Gog“  wird  so  zu  einer  literarischen  Kunstgestalt,  die  als  Feind  katexochen  gezeichnet  ist.  Während  die  Bezüge  auf  die  Vorlagen  im  Grundwort  noch  relativ  spärlich  gehalten  sind,  machen                                 (BLOCK, Gog II, 171). Damit verkennt er m. E. den rezeptiven Charakter der Schrift‐ auslegung, die gerade durch eine Neuinterpretation des traditum gekennzeichnet ist.  146  Auf  den  zionstheologischen  Hintergrund  der  Gog‐Perikope  weist  insbesondere  ALLEN, WBC 29, 207.210, hin. Auch er kommt zu dem Schluss: „ ... the ‘mountains of  Israel’ have been substituted for Zion as the target of invasion“ (ALLEN, a.a.O., 210).  Vgl. dazu auch ZIMMERLI, BK, 939f., und u. Kap. III. 7.4.4. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

die  zahlreichen  Verweise in den weiteren Fortschreibungen die Bezie‐ hungen  evident.  Dabei  scheint  insbesondere  mit  der  Erweiterung  des  Grundwortes  um  38,1‐9*  eine  Klarstellung  der  Verhältnisse  beabsich‐ tigt zu sein, da sich hier die Querverbindungen zu den ezechielischen  Fremdvölkersprüchen und den Texten aus dem Jeremiabuch häufen.   Zugleich  beginnt  mit  dieser  Erweiterung  die  Geschichte  der  Gog‐ Perikope als eigenständiges Wortereignis innerhalb der Heilsprophetie  des Ezechielbuches, in der die Zerschlagung des Feindes immer umfas‐ sendere  Züge  annimmt.  Gog  und  seinem  Völkerheer  wachsen  in  die‐ sem  Auslegungsprozess  mehr  und  mehr  Charakteristika  von  Israels  Feinden  zu,  so  dass  ihre  Zerschlagung  im  Buchkontext  zum  endgül‐ tigen  Sieg  über  den  Völkerfeind  schlechthin  wird.  Wie  die  Heilspro‐ phetie  im  Ezechielbuch  als  Aufhebung  der  Unheilsansagen  im  ersten  Buchteil  erscheint,  so  besiegelt  die  Gog‐Perikope  Jhwhs  endgültigen  Sieg über die Fremdvölker, wie er im zweiten Buchteil schon angelegt  ist. Die Niederlage Gogs wird damit zu einem wichtigen Stadium der  Heilswende Israels und unterscheidet sich in dieser Funktion auch von  den anderen Fremdvölkersprüchen in Ez 25‐32. Allerdings verweist die  Zeichnung  Gogs  auch  über  das  Ezechielbuch  hinaus.  Da  sein  Zug  ge‐ gen Israel als die Erfüllung der Ankündigung des jeremianischen Fein‐ des  aus  dem  Norden  dargestellt  wird,  erleidet  eben  dieser  Feind  im  Ezechielbuch  als  dem  letzten  großen  Prophetenbuch  seine  endgültige  Niederlage. 147 Gog wird so nicht nur zum letzten Feind im Buch selbst,  sondern auch in buchübergreifender Perspektive erweist sich der Sieg  Jhwhs über diesen Feind als die endgültige Demonstration seiner Sou‐ veränität.  So  ist  HÖLSCHERS  Beurteilung  der  Perikope  letztlich  nichts  hinzuzufügen: „Der literarische Charakter der Weissagung ist m. E. mit  Händen zu greifen.“148

3. Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29  3.1. Standortbestimmung und Vorgehensweise  Im  Bereich  der  Heilsprophetie  von  Ez  34‐39  gibt  es  mit  Ez  36,16‐23ba  und Ez 39,23‐29 zwei Texte, die das Handeln Jhwhs um seines heiligen  Namens willen vor dem Hintergrund der Diasporaproblematik thema‐ tisieren.  Beide  Perikopen  sind  in  den  bisherigen  Kapiteln  mehrfach  in                                 147  Vgl. SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 331, der ebenfalls auf die Bedeutung der Gog‐ Perikope  im Rahmen des sich formierenden Prophetenkanons hinweist. Siehe dazu  auch u. Kap. IV. 2.1.3.3.  148  HÖLSCHER, Hesekiel, 188. 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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den Blick gekommen. Im Laufe der Untersuchungen hat sich dabei die  Hypothese  bestätigt,  dass  es  inhaltliche  und  stilistische  Verbindungen  zwischen  den  zwei  Texten  gibt  und  diese  auf  der  literarischen  Ebene  vor  Einfügung  der  Gog‐Perikope  Ez  38,1‐39,22  einen  Textzusammen‐ hang gebildet haben.149   In der folgenden Analyse ist nun in einem ersten Schritt danach zu  fragen, ob es sich hierbei um einen ursprünglichen Textzusammenhang  handelt  oder  ob  dieser  sekundär  durch  die  Fortschreibung  von  Ez  36,16‐23ba durch 39,23‐29 hergestellt worden ist. An dieser Stelle wird  auch  die  bereits  mehrfach  geäußerte  Vermutung  zu  überprüfen  sein,  dass vor der Einfügung der Gog‐Perikope mit einem Textanschluss von  39,23  an  36,22  zu  rechnen  ist.150  Daran  anschließend  sollen  in  einem  zweiten  Schritt  Beobachtungen  zur  Bestimmung  des  redaktionellen  Horizontes gesammelt werden, wobei insbesondere der Bezug auf die  anderen  Sammlungsverheißungen  der  Diaspora  und  das  literarische  Verhältnis mit der Gog‐Perikope in Ez 38,1‐39,22 im Vordergrund ste‐ hen.  Schließlich  ist  im  letzten  Teil  die  Frage  zu  stellen,  inwieweit  die  Idee  von  Jhwhs  Handeln  um  seines  heiligen  Namens  willen  in  Ez  36,16‐23ba  und  39,23‐29  auf  eine  literarische  oder  traditionsgeschicht‐ liche Vorlage zurückgeführt werden kann. Hierbei kommen neben der  thematischen  Parallele  in  Ez  20  vor  allem  eine  Reihe  von  Texten  im  Deuterojesajabuch in den Blick, in denen die Instanz von Jhwhs Namen  in  ähnlicher  Weise  als  Begründungsmotiv  für  sein  Heilshandeln  ge‐ braucht wird.   3.2. Textanalyse  Die Analyse der beiden Stücke Ez 36,16‐23ba und Ez 39,23‐29 ist in der  bisherigen Forschung vor allem dadurch bestimmt worden, dass nicht  mit einer literarischen Zusammengehörigkeit der zwei Texte gerechnet  worden ist. In Bezug auf 36,16‐23ba wird zumeist eine Grundschicht im  Bereich  von  36,16‐38  rekonstruiert,151  während  39,23‐29  in  verschie‐ densten  Abgrenzungen  als  Epilog  der  Gog‐Perikope  38f.  eingeordnet                                 149  Vgl. dazu o. Kap. II. 4.3.; Kap. III. 2.2.1. und III. 2.3.  150  Vgl. dazu o. Kap. II. 4.3.; Kap. III. 1.2. und III. 2.3.  151  So  rechnen  ZIMMERLI,  BK,  872‐874;  GARSCHA,  Studien,  216f.,  und  SIMIAN,  Nachge‐ schichte,  88‐103,  mit  einer  Grundschicht  in  36,16‐32*.  LEVIN,  Verheißung,  209‐214,  rekonstruiert eine Grundschicht in 36,16‐28*, während OHNESORGE, Jahwe, 203‐220,  einen  Grundbestand  in  36,16‐24*  annimmt.  HOSSFELD,  Untersuchungen,  287‐290,  kommt dagegen zu dem Ergebnis, dass die Grundschicht nur in dem Bereich 36,17‐ 21* zu finden sei.  

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

wird.152 Dies hängt vor allem damit zusammen, dass das Zeugnis von  Pap. 967 in früheren Studien noch nicht berücksichtigt werden konnte  oder seine Bedeutung gerade für die Analyse von Ez 36‐39 in späteren  Arbeiten  nicht  erkannt  worden  ist.153  Vom  handschriftlichen  Befund  her erweist es sich insbesondere im Fall von 36,16ff. als problematisch,  wenn eine Grundschicht postuliert wird, die teils im Bereich von 36,16‐ 23ba liegt, teils aber in den Bereich von 36,23bb‐38 hineinragt, das zum  Abfassungszeitpunkt von 36,16‐23ba noch gar nicht im Buch gestanden  haben kann. Die folgende Untersuchung wird deshalb zeigen, dass sich  durch die Behandlung von 36,16‐23ba; 39,23‐29 als Textzusammenhang  nicht  nur  neue  Erkenntnisse  über  die  Hintergründe  für  die  Konzipie‐ rung der Texte gewinnen lassen, sondern auch ihre Bedeutung für das  Wachstum der Heilsprophetie in Ez 34‐39 neu zu bewerten ist.   Wie bereits gezeigt werden konnte, ist der erste Abschnitt der Text‐ folge in Ez 36,16‐23ba von seinem vorhergehenden Kontext formal und  inhaltlich  gut  abgegrenzt.154  So  wird  der  Neueinsatz  insbesondere  mit  der  Wortereignisformel  in  36,16  signalisiert,  aber  darüber  hinaus  fällt  auch  der  Wechsel  in  der  Erzählperspektive  auf,  da  in  36,16ff.  nicht  mehr  das  Geschick  der  Berge  Israels  im  Vordergrund  steht  (vgl.  36,1‐ 15),  sondern  das  Haus  Israel  in  das  Zentrum  des  Interesses  rückt  (36,17.21.22). In dieser Rede teilt Jhwh dem Propheten in einem Rück‐ blick mit, warum das Haus Israel unter die Völker zerstreut wurde und  aus  welchen  Gründen  diese  Zerstreuungssituation  eine  faktische  Be‐ drohung  für  seinen  Namen  darstellt.  Ursache  der  Exilierung  ist  der  Tatbestand,  dass  Israel,  als  es  noch  in seinem Land wohnte, das Land  durch  seinen  Weg  und  seine  Taten  (‫)בדרכם ובעלילותם‬  verunreinigte  (‫טמא‬  pi., 36,17). Als Reaktion auf diese Verfehlungen seines Volkes hat Jhwh  seinen  Grimm  über  die  Israeliten  ausgegossen  (‫ואשׁפך חמתי‬,  36,18)  und  sie unter die Nationen zerstreut (‫פוץ‬ hif., 36,19). Aber gerade durch die‐ se Situation in der Diaspora hat Israel den Namen Jhwhs entweiht (‫חלל‬  pi.),  da  die  Völker  von  ihnen  sagen:  „Das  Volk  Jhwhs  sind  diese  und  aus seinem heiligen Land haben sie hinausziehen müssen“ (36,20).   Dementsprechend wird Jhwh zu einer erneuten Reaktion gezwun‐ gen und kündigt dem Haus Israel in 36,22, eingeleitet durch die Parti‐ kel ‫לכן‬, eine Redeaufforderung an den Propheten und eine Botenformel,                                 152  Die  Forschungslage  zu  Ez  39,23‐29  ist  bereits  im  vorhergehenden  Abschnitt  dieser  Studie  diskutiert  worden.  Vgl.  dazu  und  zu  der  hier  vorgelegten  Abgrenzung  des  Textabschnittes o. Kap. III. 2.2.1.  153  Als einzige Ausnahme ist hier auf die Analyse von POHLMANN hinzuweisen, der mit  Verweis auf Pap. 967 die These aufgestellt hat, dass die beiden Texte in der Abgren‐ zung 36,16‐23ba; 39,25‐29 einen ursprünglichen Textzusammenhang gebildet haben  (vgl. POHLMANN, ATD, 517f.524f.). Zu Pap. 967 vgl. o. Kap. II. 4.2.  154  Vgl. dazu o. Kap. III. 1.2. 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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an, dass er nicht um ihretwillen (‫)לא למענכם‬, sondern um seines heiligen  Namens  willen  (‫)לשׁם קדשׁי‬  handeln  wird.  In  36,23aba  wiederholt  Jhwh  seine Intention zu handeln mit den Worten, dass er seinen großen Na‐ men  (‫)את־שׁמי הגדול‬  heiligen  wird,  damit  die  Nationen  ihn  erkennen.  Dieser  Vers  fällt  nicht  nur  aufgrund  seiner  Redundanz  aus  dem  Rah‐ men, sondern auch die Bestimmung von Jhwhs Namen als „groß“ hebt  ihn vom sonstigen Sprachgebrauch im literarischen Kontext ab (vgl. ‫שׁם‬ ‫;קדשׁי‬  36,20.21.22;  39,25).  Damit  bestätigt  sich  die  Vermutung,  dass  in  36,23aba  mit  einem  nachträglichen Zusatz zu rechnen ist,155 der wahr‐ scheinlich  die  Integration  der  Gog‐Perikope  in  den  literarischen  Kon‐ text zum Ziel hat; dies wird im Fortgang der Textanalyse noch genauer  zu prüfen sein.  Die zweite Hälfte der Textfolge in 39,23‐29 beginnt mit der Ankün‐ digung, dass die Nationen in der Zerstreuung Israels unter die Völker  das  Gericht  Jhwhs  erkennen  werden.  Dieses  Gericht,  das  der  Schuld  und dem treulosen Handeln (‫)מעל‬ Israels angemessen ist, wird in 39,24  prägnant in der Wendung ‫מהם‬ ‫ואסתר פני‬ zusammengefasst. In 39,25 liegt  ein weiterer kleiner Einschnitt vor: Eingeleitet mit der Partikel ‫לכן‬, einer  erneuten  Botenformel  und  der  Zeitbestimmung  ‫עתה‬  kündigt  Jhwh  an,  das Geschick Jakobs zu wenden (‫אשׁיב שׁבות‬ [Qere]) und für seinen heili‐ gen Namen zu eifern (‫קנא‬ pi); eine Vorstellung, die „mit seiner Unnah‐ barkeit,  Hoheit  und  Heiligkeit  korrespondiert“.156  Zu  erwarten  wäre  jetzt  eine  Angabe  darüber,  wie  genau  Jhwhs  Eingreifen  zugunsten  seines  heiligen  Namens  aussieht,  aber  stattdessen  überspringt  39,26  diese Handlung und redet von der Situation Israels, nachdem es in sein  Land  zurückgekehrt  ist.  Dort  soll das Volk seine Schmach tragen (‫ונשׂו‬ ‫)את־כלמתם‬157 und seine Untreue (‫)ואת־כל־מעלם‬, mit der die Israeliten treu‐ los an Gott gehandelt haben. Erst im nachstehenden Vers folgt in Form  des  Partizips  ‫בשׁובבי‬  die  Ankündigung  Jhwhs,  Israel  aus  den  Völkern  zurückzubringen, so dass er sich vor den Nationen als heilig erweisen   (‫קדשׁ‬ ni., 39,27) und Israel ihn erkennen wird (39,28).   Es  ist  deshalb  zu  überlegen,  ob  in  39,26  eine  spätere  Ergänzung  vorliegt,  die  die  Einsicht  Israels  nach  der  Rückkehr  ins  Land  einträgt.  Für  eine  sekundäre  Einfügung  spricht  auch  die  Wiederaufnahme  des                                  155  Zur  Sekundarität  von  Ez  36,23aba  vgl.  LEVIN,  Verheißung,  211,  und  OHNESORGE,  Jahwe,  212f.;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  288f.,  sieht  in  V  22‐23ba  insgesamt  einen  Nachtrag zu seinem Grundwort in 36,17‐21*.  156  SAUER, Art. ‫ ִקנְאָה‬, 649.  157  Mehrere  Exegeten  ändern  den  Text  an  dieser  Stelle  in  ‫ונשׁו‬  „sie  sollen  vergessen   (‫“)נשׁה‬,  da  hier  eine  Heilsaussage  erwartet  wird  (vgl.  BHS;  BERTHOLET,  HAT,  134f.;  FOHRER,  HAT,  218;  LUST,  Text,  53,  und  FUHS,  NEB,  223).  Dafür  gibt  es  nicht  nur  keinen  Anhalt  in  den  Versionen,  sondern  der  MT  bietet  darüber  hinaus  die  lectio  difficilior und ist deshalb beizubehalten (so auch ZIMMERLI, BK, 932). 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Verbs ‫מעל‬ aus 39,23 in 39,26a und die Anbindung an den partizipialen  Beginn von 39,27 über das Partizip  ‫בשׁבתם‬ in 39,26b. Wenn also in 39,26  mit  einem  Nachtrag  zu  rechnen  ist,  könnte  das  Partizip  ‫בשׁובבי‬  ur‐ sprünglich  an  39,25  angeschlossen  haben  und  so  die  Art  und  Weise  explizieren, wie Jhwh für seinen Namen eifern will: „Und ich eifere für  meinen  heiligen  Namen,  indem  ich  sie  aus  den  Völkern  zurückbringe   (‫)בשׁובבי‬ ...“ (39,25b.27aa). Den Abschluss des gesamten Textstückes bil‐ det  in  39,29  die  Ankündigung,  dass  Jhwh  sein  Angesicht  nicht  mehr  vor  ihnen  verbergen  wird  (‫)ולא־אסתר עוד פני מהם‬,  wenn  er  seinen  Geist  über das Haus Israel ausgegossen hat (‫)אשׁר שׁפכתי את־רוחי‬.   An  dieser  Stelle  ist  allerdings  ein  textkritisches  Problem  zu  disku‐ tieren,  da  die  griechischsprachige  Überlieferung  in  39,29  für  ‫רוחי‬  die  Übersetzung to.n qumo,n mou bietet. ‫רוח‬ kann für eine Reihe von Gemüts‐ verfassungen mithin auch des Zornes stehen, so dass eine enge Verbin‐ dung  zwischen  den  beiden  Begriffen  besteht.  Dies  zeigen auch Belege  wie  Jes  59,19;  Sach  6,8;  Hi  15,13  und  Prov  18,15;  29,11,  wo  ‫רוח‬  durch  qumo,j wiedergegeben wird. 158 In Bezug auf Ez 39,29 ist deshalb zu klä‐ ren,  ob  eine  vom  masoretischen  Text  abweichende  Vorlage  anzuneh‐ men ist,  die  ein  Wort  für  „Zorn“  geboten  hat,  oder  ob  eine  besondere  Interpretation  auf  Seiten  der  griechischen  Überlieferung  vorliegt  (‫רוח‬  im  Sinne  von  qumo,j).  Im  Horizont  des  Einzeltextes  ist  die  Frage  kaum  zu  entscheiden,  da  beide Möglichkeiten sinnvoll erscheinen: Während  die Ausgießung des Zornes das endgültige Ende des Gerichtes signali‐ siert, verweist die Ausgießung des Geistes auf die zukünftige heilvolle  Wende im Geschick Israels.  In  dieser  Frage  kann  sich  erneut  das  Zeugnis  des  Pap.  967  als  Schlüssel  erweisen.  Nach  den  bisherigen  redaktionsgeschichtlichen  Überlegungen ist für Ez 39,23‐29 eine Position direkt vor der Vision Ez  37,1‐14  anzunehmen.  An  diesem  literarischen  Ort  erscheint  die  Text‐ variante des masoretischen Textes „verfrüht“, da 39,23‐29 weder redak‐ tionell  noch  kontextuell  eine  Handlung  vorausgeht,  auf  die  sich  die  perfektisch  formulierte  Aussage  über  die  Geistausgießung  beziehen  könnte. Darüber hinaus erscheint es unwahrscheinlich, dass der Über‐ setzer von Pap. 967 ursprüngliches ‫רוח‬ mit qumo,j wiedergegeben hätte,  wo  er  doch  im  Anschluss  daran  in  37,1‐14  ‫רוח‬  konsequent  als  pneu/ma  übersetzt. 159  Wird  hingegen  ein  ursprüngliches  Wort  für  „Zorn“  (‫חמה‬/ ‫)זעם‬  in  39,29  angenommen,  so  könnte  die  Abänderung  zu  ‫רוח‬  im  MT                                 158  Vgl.  TENGSTRÖM,  Art.  ‫רוּ ַח‬,  397.411,  und  zu  den  Belegen  im  Einzelnen  HATCH/RED‐ PATH, Concordance, 660‐662. Für die Ezechiel‐LXX gibt es aber mit Ausnahme der in  Frage stehenden Stelle 39,29 keinen weiteren Beleg für die Übersetzung von ‫רוח‬ mit  qumo,j.  159  Vgl. LUST, Text, 52. 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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gerade  mit  der  Umstellung  zur  masoretischen  Kapitelabfolge  erklärt  werden.  Denn  in  Folge  dieser  Umstrukturierung  verliert  die  Perikope  einerseits  den  kontextuellen  Bezug  auf  37,1‐14  und  rückt  andererseits  in die Endposition der Heilsworte von Ez 34‐39. Die Textabänderung in  ‫רוח‬  trägt  diesen  Konsequenzen  Rechnung,  indem  mit  der  Geistausgie‐ ßung  auf  die  vorausgehende  Belebung  der  Knochen  zurückverwiesen  und des Weiteren ein heilvoller Abschluss am Ende des Buchteiles her‐ gestellt wird. Im Folgenden ist deshalb davon auszugehen, dass die ur‐ sprüngliche hebräische Textfassung ein Wort für „Zorn“ enthalten hat,  das in der griechischsprachigen Überlieferung bewahrt worden ist.160 In  dieser  Buchgestalt  schlägt  die  Ausgießung  des  Zornes  in  39,29  einen  Bogen zurück zu 36,18, so dass das Gerichtshandeln Jhwhs als inclusio  die Textfolge 36,16‐22(23aba); 39,23‐29* rahmt.  Der  Durchgang  durch  die  Texte  hat  gezeigt,  dass  die  Zusammen‐ gehörigkeit  der  beiden  Stücke  kaum  in  Frage  zu  stellen  ist.  Jhwhs  heiliger Name spielt in beiden Texten eine wichtige Rolle (36,20.21.22;  vgl. 39,25), und im Bereich von Ez 34‐39 wird das Thema mit Ausnah‐ me  von  39,7  nur  in  diesen  beiden  Abschnitten  aufgenommen.161  Auch  wenn  die  inhaltliche  Bezogenheit  damit  nicht  in  Frage  zu  stellen  ist,  bleibt noch zu klären, ob es sich hierbei um einen ursprünglichen Text‐ zusammenhang handelt.   Für die Annahme einer durchgehenden Grundschicht sprechen vor  allem tendenzkritische Erwägungen. Die Texteinheit 36,16‐22 ist in sich  nicht  abgeschlossen,  sondern  die  Ankündigung,  dass  Jhwh  für  seinen  heiligen  Namen  eintreten  wird,  erweist  das  Stück  als  fortsetzungs‐ bedürftig. Das Problem, das ungelöst bleibt, ist die Situation der Dias‐ pora,  durch  die  das  Volk  passiv  den  Namen  Jhwhs  entweiht.  In  den  Augen  der  Völker  besteht  in  der  Trennung  Israels  von  seinem  Land  Anlass  zum  Spott  über  den  anscheinend  ohnmächtigen  Gott,  so  dass  Jhwhs heiliger Name profaniert wird. Dies setzt auch voraus, dass den  Völkern die vergangene Geschichte Israels nicht als „Schuldgeschichte“  verständlich  ist,162  so  dass  sie  in  der  Zerstreuung  nicht  die  göttliche                                 160  So mit LUST, Text, 53, der allerdings davon ausgeht, dass die Abänderung der hebrä‐ ischen  Vorlage  bereits  vor  Umstellung  der  Kapitel  zur  MT‐Struktur  erfolgt  sei.  Zu  einem  synchronen  Vergleich  der  Ablauflesung  in  MT  und  Pap.  967,  die  die  hier  vorgetragene  Interpretation  der  Textvarianten  stützt,  vgl.  SCHWAGMEIER,  Untersu‐ chungen,  286.293‐295.  Dagegen  sieht  ALLEN,  WBC  29,  202,  in  der  Lesung  der  LXX  „an exegetical interpretation“ und verweist dabei auf Ez 36,18 und 39,23f. In gleicher  Weise sieht BLOCK, NICOT II, 478f. Anm. 89, in der Variante der LXX eine Harmoni‐ sierung mit der bei Ezechiel üblichen Wendung ‫שׁפך חמה‬.  161  Ez 39,7 setzt die Textfolge 36,16‐22(23aba); 39,23‐29 aber bereits voraus; vgl. dazu o.  Kap. III. 2.2.3. Außerhalb von Ez 34‐39 wird das Thema nur noch in Ez 20 und 43,7b‐ 9 verhandelt.  162  Vgl. KRÜGER, Geschichtskonzepte, 254. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Strafmaßnahme erkennen. Die Ankündigung in 36,22 erfordert deshalb  zwingend  eine  Reaktion  Jhwhs,  durch  die  einerseits  die  Zerstreuung  Israels  aufgehoben  und  andererseits  die  Einsicht  der  Völker  herbei‐ geführt wird. Sowohl der Erkenntnisgewinn der Völker (vgl. 39,23) als  auch  die  erforderliche  Sammlungsverheißung  (vgl.  39,27)  finden  sich  aber  erst  in  Ez  39,23‐29*,  so  dass  hier  die  ursprüngliche  Fortsetzung  vorliegen muss.163 Der in diesem Fall für die Grundschicht zu postulie‐ rende Textanschluss von 36,22 zu 39,23 fällt zwar durch einen Wechsel  in der Anrede Israels von der 2. Pers. pl. zur 3. Pers. pl. auf, aber dieser  ist  durch  einen  Perspektivwechsel  zu  erklären:  Während  in  36,22  die  Einsicht Israels im Vordergrund steht, rücken mit 39,23 die Völker und  ihre Sicht auf Israel in das Zentrum.  Nach  den  bisherigen  Überlegungen  ist  damit  von  einer  Grund‐ schicht in Ez 36,16‐22; 39,23‐29* auszugehen, die sich in drei Teile glie‐ dern  lässt:  Nach  der  Wortereignisformel  in  36,16  folgt  in  den  Versen  36,17‐21* eine Rede Jhwhs an den Propheten, in der er diesem in einem  Rückblick  auseinander  setzt,  wie  es  zur  Profanierung  seines  heiligen  Namens  unter  den  Völkern  kommen  konnte.  Anschließend  folgt  in  36,22;  39,23f.  ein  weiterer  Redegang,  der  aber  diesmal  an  das  Haus  Israel  gerichtet  ist,  und  in  dem  Jhwh  seine  Motivation  zum  Handeln  und  sein  Ziel  benennt.  Der  abschließende  dritte  Abschnitt  der  Gottes‐ rede in 39,25‐29* schildert schließlich, wie Jhwh zugunsten seines heili‐ gen  Namens  handeln  wird.  Als  nachträgliche  Ergänzungen  konnten  bereits  die  Einzelverse  36,23aba  und  39,26  identifiziert  werden,  aber  darüber  hinaus  sind  noch  ein  paar  andere  Teilverse  zusatzverdächtig,  wie im Folgenden zu zeigen sein wird.  So fällt zuerst der Vergleich von Israels unreinem Wandel mit der  weiblichen Monatsregel in 36,17b auf. 164 Der invertierte Verbalsatz un‐ terbricht nicht nur die Narrativkette, mit der die Handlung in V 17a.18  geschildert wird, sondern der Vergleich fällt auch dadurch aus seinem                                 163  Auf die Fortsetzungsbedürftigkeit von 36,16‐23ba in Bezug auf die Ausführung von  Jhwhs  Eintreten  für  seinen  heiligen  Namen  ist  bereits  mehrfach  verwiesen  worden  (vgl. schon ZIMMERLI, BK, 873, sowie BLOCK, NICOT II, 341). So ziehen die meisten  Exegeten, die eine Grundschicht im Bereich von 36,16‐38* rekonstruieren, die Samm‐ lungsaussage 36,24 zu ihrer Grundschicht, denn die „spottende Feststellung der Völ‐ ker  von  20  wird  durch  diese  Rückführung  zunichte  gemacht.“  (ZIMMERLI,  BK,  878;  vgl.  auch  GARSCHA,  Studien, 216f.; SIMIAN, Nachgeschichte, 91; LEVIN, Verheißung,  213,  und  OHNESORGE,  Jahwe,  215).  Lediglich  HOSSFELD,  Untersuchungen,  287‐290.  335‐338,  ordnet  V  24  einer  Ergänzung  seiner  Grundschicht  in  36,16‐22  zu,  so  dass  sein Ausgangstext keine Sammlungsansage enthält. Zur „Fortsetzungsbedürftigkeit“  von 36,16‐23ba vgl. auch o. Kap. II. 4.2.  164  FOHRER, HAT, 203: „erläuternde Gl. [= Glosse]“. Auf den Ergänzungscharakter von  V  17b  verweisen  auch  LEVIN,  Verheißung,  210;  OHNESORGE,  Jahwe,  208,  und  FUHS,  NEB, 203. 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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Kontext heraus, dass mit ‫דרכם‬ ein neues Subjekt eingeführt wird. Wei‐ terhin  wird  von  den  meisten  Exegeten  36,18abb  (36,18*)  als  Nachtrag  eingeordnet, der mit Verweis auf das Blutvergießen und die Verunrei‐ nigung durch die „Mistdinger“ (‫)גלולים‬ eine gegenüber V 17 sekundäre  Begründung  für  Jhwhs  Gericht  anführt.165  Der  sekundäre  Charakter  zeigt sich nicht nur an der Wiederaufnahme der Wurzel ‫שׁפך‬ aus V 18aa  in  V 18ab,  sondern  auch  daran,  dass  die  entsprechenden  Versteile  in  der  LXX*  fehlen.  Der  Nachtrag  dient  ebenso  wie  die  Glosse  in  36,17b  der  näheren  Beschreibung  der  kultischen  Vergehen  Israels  und  ver‐ wendet dabei Begriffe, die auch in anderen Texten des Ezechielbuches  den  negativen  Wandel  Israels  illustrieren.166  Schließlich  ist  zu  über‐ legen,  ob  weiterhin  in  36,21  eine  spätere  Ergänzung  vorliegt,  da  der  Rückblick  auf  Jhwhs  Mitleid  für  seinen  heiligen  Namen  ein  retardie‐ rendes Moment im Handlungsablauf darstellt. Auf einen späteren Zu‐ satz  deutet  in  diesem  Fall  auch  die  Wiederaufnahme  der  Ortsangabe  ‫אשׁר־באו שׁם‬ aus V 20aa in V 21bb (‫)אשׁר־באו שׁמה‬ hin.167   Innerhalb von 39,23‐29 bleibt nur noch V 28agb zu berücksichtigen.  Hier stellt sich ein in erster Linie textkritisches Problem, da der Versteil  in der LXX* nicht überliefert ist. Darüber hinaus fällt die Sammlungs‐ aussage V 28ag MT durch ein eher unübliches Vokabular auf. So wird  nicht das sonst gebräuchliche ‫קבץ‬ pi. verwendet,168 sondern ‫כנס‬ pi., des‐ sen Auftreten in biblischen Büchern ein verlässlicher Indikator für eine  späte Abfassung ist.169 Aus der Verwendung von ‫כנס‬ in Verbindung mit  der Nicht‐Bezeugung des Versteiles V 28agb in der LXX* kann deshalb  geschlossen werden, dass dieser zu den jüngsten Textanteilen des Bu‐ ches gehört und erst nach Abtrennung der griechischen Textüberliefe‐ rung eingefügt wurde.170 Weiterhin sprechen inhaltliche Gesichtspunk‐ te für einen theologiegeschichtlich späten Abfassungszeitpunkt, da im  Hintergrund  der  Verheißung,  keinen  in  der  Diaspora  zurückzulassen,                                 165  Vgl. FOHRER, HAT, 203; EICHRODT, ATD, 343; ZIMMERLI, BK, 870.875; SIMIAN, Nach‐ geschichte, 88; HOSSFELD, Untersuchungen, 290f., und LEVIN, Verheißung, 210.   166  Zum Vorwurf des Blutvergießens (‫)שׁפך דם‬ vgl. Ez 22,3.4.6.9.12.27; 33,25. Die Verun‐ reinigung (‫)טמא‬ mit den ‫גלולים‬ findet sich in Ez 20,7.18.31; 22,3.4; 23,7.30; 37,23, wo sie  allerdings jeweils nicht auf die Verunreinigung des Landes, sondern auf die Selbst‐ verunreinigung  des  Volkes  bzw.  Ohola  und  Oholiba  bezogen  ist;  vgl.  zu  den  ‫גלולים‬  auch u. Kap. IV. 2.1.3.3.  167  Einen Nachtrag in V 21 nehmen LEVIN, Verheißung, 211, und im Anschluss an die‐ sen FUHS, NEB, 203f., an. Anders dagegen ausdrücklich OHNESORGE, Jahwe, 210f.  168  Vgl. Ez 11,17; 20.34.41; 28,25; 34,13; 36,24; 37,21; (38,8 ‫קבץ‬ pu.); 39,27.  169  Vgl. HURVITZ, Study, 124.  170  So  mit  LUST,  Text,  50f.  Zu  weiteren  Differenzen  zwischen  griechischer  und  hebräi‐ scher Überlieferung in Ez 39,28 und dem literarischen Kontext, die für die hier vor‐ gestellte Analyse nicht von Bedeutung sind, vgl. LUST, a.a.O., 48‐54. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Diskussionen  darüber  zu  vermuten  sind,  ob  alle  aus  der  weltweiten  Diaspora zurückkehren können bzw. wollen.  Für  die  Grundschicht  ergibt  sich  damit  die  nachstehende  Abgren‐ zung: 36,16.17a.18aa.20.22; 39,23‐25.27.28aab.29 (im Folgenden 36,16‐22;  39,23‐29*).  Sie  ist  in  36,17b;  36,18abb;  36,21;  39,26  und  39,28agb  durch  Zusätze erweitert worden, die primär auf die Aussagen des Grundwor‐ tes  bezogen  sind  und  diese  näher  ausführen.  In  Bezug  auf  den  Nach‐ trag  36,23aba  ist  dagegen  vermutet  worden,  dass  seine  Einschreibung  mit dem Textwachstum im Bereich von Ez 38,1‐39,22 zusammenhängt.  Dies  bestätigt  sich  daran,  dass  durch  diese  Einzelversfortschreibung  eine  Dublette in der Textfolge entsteht, da in 36,23aba und 39,23 zwei  auf  die  Völker  gerichtete  Erkenntnisformeln  aneinander  stoßen.  Die  Einschreibung  von  36,23aba  macht  deshalb  nur  zu  einem  Zeitpunkt  Sinn, als die beiden Teile der Grundschicht in 36,16‐22 und 39,23‐29 be‐ reits durch einen Grundbestand der Gog‐Kapitel voneinander getrennt  wurden. Entweder handelt es sich um ein redaktionelles Scharnier, mit  dessen  Hilfe  das  ursprüngliche  Gog‐Wort  39,1‐5*  in  den vorliegenden  Textzusammenhang „eingepasst“ wird oder es liegt eine späte Bearbei‐ tung vor, durch die Ez 38f. eine Leseperspektive vorangestellt wird. Da  die  Rede  vom  großen  Namen  Jhwhs  (36,23aba)  ohne  Pendant  im  ge‐ samten  Textbereich  36,16‐39,29  ist,  spricht  dies  eher  für  die  Annahme  einer sekundären „externen“ Deutung.  Wird  nach  dem  proprium  des  Grundwortes  Ez  36,16‐22;  39,23‐29*  gefragt,  so  ist  dies  darin  zu  sehen,  dass  die  Zerstreuung  Israels  unter  die  Völker  nicht  primär  heilsgeschichtlich  als  Strafmaßnahme  für  die  Vergehen  der  Israeliten  thematisiert  wird,  sondern  in  ihren  negativen  Auswirkungen  für  das  Ansehen  von  Jhwhs  heiligem  Namen. 171  Dabei  ist es nicht der Wandel des Volkes in der Diaspora, der den göttlichen  Namen profaniert, sondern seine faktische Existenz in der Zerstreuung  unter  die  Völker  gibt  den  Gott  Israels  dem  Ohnmachtsverdacht  preis,  so  dass  er  zum  Handeln  „um  meines  heiligen  Namens  willen“  (‫לשׁם‬ ‫)קדשׁי‬ gezwungen ist.  3.3. Beobachtungen zum redaktionellen Horizont  Es ist nun danach zu fragen, inwieweit sich an dieser Stelle Aussagen  über  den  redaktionellen  Ort  des  Grundwortes  im  dritten  Teil  des  Ezechielbuches treffen lassen. Der Text zeigt zuerst eine Prägung durch  priesterliche  Denkkategorien:  Die  früheren  Vergehen  Israels  und  die  Profanierung  von  Jhwhs  heiligem  Namen  werden  als  Verunreinigung                                  171  Vgl. BETTENZOLI, Geist, 193. 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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(‫טמא‬  pi.,  36,17;  ‫טמאה‬,  39,24)  und  Entweihung  (‫חלל‬  pi.,  36,20.21.22.23)172  beschrieben,  denen  Jhwh  seine  Ankündigung  entgegensetzt,  sich  als  heilig  zu  erweisen  (‫קדשׁ‬  ni.,  39,27).  Neben  Ez  36,16‐22;  39,23‐29*  spielt  der heilige Name Jhwhs im dritten Buchteil noch in Ez 39,7 und 43,7b‐9  eine  Rolle.  In  39,7  liegt  bereits  eine  Rezeption  von  36,16‐22(23aba);  39,23‐29 vor, in der das Handeln Jhwhs für seinen heiligen Namen se‐ kundär auf die Zerschlagung Gogs ausgelegt wird. Dagegen wird der  heilige Name Jhwhs in 43,7b‐9 nicht als Begründungsmotiv verwendet,  sondern diese nachträgliche Überarbeitung stellt die Wohnungszusage  Jhwhs  in  43,7a  sekundär  unter  die  Bedingung,  dass  das  Haus  Israel  Jhwhs  heiligen  Namen  nicht  mehr  verunreinigen  soll  (‫טמא‬  pi.).173  Mit  RUDNIG  ist  im  Hintergrund  von  V  7b‐9*  das  dtn.‐dtr.  Theologumenon  von  dem  am  Kultort  wohnenden  Namen  Jhwhs  zu  vermuten,  so  dass  hier  ein  von  dem  Kontext  in  43,1‐7a*  zu  trennender  Vorstellungszu‐ sammenhang  auftritt,  in  dem  die  direkte  kultische  Gegenwart  Jhwhs  im Heiligtum vermieden wird.174 Die  Vorstellung  vom  Handeln  Jhwhs  um  seines  heiligen  Namens  willen  hat  damit  in  36,16‐22;  39,23‐29*  ihr  erstes  Auftreten  innerhalb  der  Heilsprophetie  von  Ez  34‐39.  In  der  Analyse  hat  sich  der  Text  als  theologische Reflexion erwiesen, die mit der Diasporaproblematik ver‐ traut  ist  und  sie  in  ihren  Auswirkungen  auf  die  Heiligkeit  von  Jhwhs  Namen  hin  bedenkt.  Da  es  also  weniger  um  die  Ankündigung  des  Heils  als  vielmehr  um  seine  Begründung  geht,  kann  geschlossen wer‐ den,  dass  die  Perikope  im  redaktionellen  Horizont  eine  oder  mehrere  Sammlungsansagen voraussetzt, die in 36,16‐22; 39,23‐29* eine theolo‐ gische  Interpretation  erfahren.  Dafür  kommen  mit  Ez  34,13  und  Ez  37,21 zwei Heilsankündigungen des Kontextes in Ez 34‐39 als mögliche  Bezugstexte  in  Frage.175  Allerdings  unterscheiden  sich  die  beiden  Ver‐ heißungen  in terminologischer Hinsicht deutlich von der Sammlungs‐                                172  Die Entweihung von Jhwhs Namen begegnet als geprägte Wendung im Alten Testa‐ ment,  die  neben  dem  Ezechielbuch  vor  allem  im  Heiligkeitsgesetz  belegt  ist.  Dort  findet sie sich in der Begründung konkreter Vorschriften (Lev 18,21; 19,12; 21,6), als  das  allgemeine  Ziel  der  Vorschriften  (Lev  22,2.32)  und  in  der  Begründung  eines  Straftatbestandes (Lev 20,3); vgl. dazu SIMIAN, Nachgeschichte, 165, und MAASS, Art.  ‫חלל‬, 571‐574.  173  Zum  Nachtragscharakter  der  Verse  vgl.  ausführlich  RUDNIG,  Heilig,  82‐96.201‐204;  siehe ferner VOGT, Untersuchungen, 150f.; FUHS, NEB, 41f., und TUELL, Law, 38‐42.  Dagegen  rechnen  FOHRER,  HAT,  241f.;  ZIMMERLI,  BK,  1074,  und  EICHRODT,  ATD,  391‐393, die Verse zum Grundbestand. Vgl. auch die Analyse u. Kap. III. 4.4.4.2.  174  Vgl. RUDNIG, Heilig, 85.  175  Die  weiteren  Sammlungsaussagen  in  Ez  36,24  und  38,8  gehören  dagegen  zu  Text‐ stücken, die 36,16‐22; 39,23‐29* bereits voraussetzen; vgl. o. Kap. III. 1.3. und III. 2.3.  Zu  einer  Zusammenschau  der  Sammlungs‐  und  Rückführungsverheißungen  in  Ez  34‐39 vgl. u. Kap. III. 5.3. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

ansage in 39,27: Während die Ankündigung von Sammlung und Heim‐ führung  in  34,13  und  37,21  mit  der  Verbtrias  ‫יצא‬  hif.  (34,13)  bzw.  ‫לקח‬  (37,21)  sowie  ‫קבץ‬  pi.  und  ‫בוא‬  hif.  gebildet  wird,  wird  in  39,27  für  die  dreistufige  Verheißung  ‫שׁוב‬  pil.,  ‫קבץ‬  pi.  und  ‫קדשׁ‬  ni.  verwendet.  Der  Gebrauch von ‫קדשׁ‬ in der dritten Position erklärt sich dadurch, dass der  Fokus in 39,27 nicht auf der Rückführung als solcher liegt, sondern auf  den Auswirkungen, die diese für das Ansehen Jhwhs in der Völkerwelt  hat. Schwieriger ist die Erklärung für die Verwendung von ‫שׁוב‬ pil. Das  Verb ist in der Bedeutung „zurückbringen“ überhaupt nur in Jes 49,5;  Jer  50,19  und  Ps  60,3  belegt.176  Insbesondere  zu  Jes  49,5  besteht  eine  weitere  Verbindung  mit  der  Nennung  von  „Jakob“  zur  Bezeichnung  des  Volkes  Israel,  die  im  Ezechielbuch  außer  in  39,25  nur  noch  in  der  Perikope über den ewigen Heilsbund in 37,25 belegt ist.177 Die dreiglie‐ drige Verheißung in 39,27 kann damit als Fortführung der Sammlungs‐ verheißungen in 34,13 und 37,21 verstanden werden, in der Sammlung  und  Rückführung  Israels  in  ihren  Auswirkungen  auf  das  Ansehen  Jhwhs reflektiert werden. Es fällt weiterhin auf, dass 36,16‐22; 39,23‐29* durch eine besondere  Sicht auf die Völker geprägt ist. Anders als im ersten Buchteil agieren  die Völker nicht als von Israels Schuld betroffene bzw. daran beteiligte  oder  als  Jhwhs  Gericht  vollstreckende  Instanzen,  sondern  sie  nehmen  mit  ihrer  Deutung  entscheidenden  Einfluss  auf  die  Geschichte  Isra‐ els.178 Es ist nicht nur ihr Spott, der Jhwh dazu bringt, der Zerstreuung  seines Volkes ein Ende zu setzen, sondern die Völker sollen Einsicht in  Gottes  Heilsplan  mit  Israel  bekommen  und  darin  Gotteserkenntnis  erhalten  (vgl.  39,23  sowie  den  Nachtrag  in  36,23aba).  Diese  Linie  der  Völkererkenntnis wird in der Gog‐Perikope 38,1‐39,22 weitergeführt, in  der  mehrfach  die  Betonung  darauf  liegt,  dass  Jhwhs  Handeln  auf  die  Erkenntnis der Völker gerichtet ist (vgl. 38,16.23; 39,6.7). Das Motiv der  Völkererkenntnis  findet  sich  im  Bereich  von  Ez  34‐39  ferner  in  der  späten redaktionellen Fortschreibung 36,36 und in dem Heilsbundtext  37,28; darüber hinaus ist es auch in den Fremdvölkersprüchen belegt.179 Dazu passt die Beobachtung, dass auch Jhwhs Ankündigung, sich  bzw. seinen Namen durch sein Handeln an Israel zu heiligen (‫קדשׁ‬ ni.,  Ez 20,41; 28,25; 36,23; 38,16; 39,27; ‫קדשׁ‬ pi. Ez 20,12; 36,23aba; 37,28), auf  die bereits erwähnten Texte des Buches beschränkt ist. Die Völker wer‐                                176  Vgl. im Kontext noch Ez 38,4 und 39,2, dort aber in der Bedeutung „herumlenken“.  177  In  Ez  37,25  erklärt  sich  die  Bezeichnung  durch  die  gesamtisraelitische  Perspektive,  vgl. dazu u. Kap. III. 5.4.3. Zu „Jakob“ vgl. weiterhin Ez 20,5 und 28,25.  178  Vgl. KRÜGER, Geschichtskonzepte, 255.  179  Zu den Belegen in den Fremdvölkerworten vgl. Ez 25,5.7.11; 25,14; 25,17; 26,6; 28,22.  23.(24); 29,6.9; 30,8.19.25.26; 32,15. 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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den  folglich  in  einer  Reihe  von  jüngeren  Heilstexten  zu  dem  Forum,  vor dem Jhwh seine Heiligkeit an Israel erweist. Zwar haben sie selbst  keinen  Anteil  am  Heil,  bekommen  aber  Einsicht in das göttliche Han‐ deln,  dessen  Bedeutung  durch  die  „Öffentlichkeit“  des  Völkerforums  eine weitere Steigerung erfährt.  Die  Beobachtungen  zum  redaktionellen  Horizont  haben  damit  ge‐ zeigt,  dass  Ez  36,16‐22;  39,23‐29*  nicht  zu  den  ältesten  Stücken  im  Bereich von Ez 34‐39 gehören kann. Vielmehr setzt der Textzusammen‐ hang bereits das Thema der Sammlung und Heimführung voraus, das  in  seinen  Auswirkungen  auf  die  Heiligkeit  von  Jhwhs  Namen  disku‐ tiert wird. Seinerseits erfährt 36,16‐22; 39,23‐29* im Nahkontext nur in  der  Gog‐Perikope  eine  Rezeption,  die  in  das  vorliegende  Textstück  hineingeschrieben wird und zu einem eigenständigen Wortereignis an‐ wächst. Die Zerschlagung Gogs erscheint zuerst durch die Kontextpo‐ sition, aber dann auch explizit (vgl. 39,7) als Handeln Jhwhs zugunsten  seines heiligen Namens und rückt an die Stelle, die im ursprünglichen  Grundwort  die  Sammlung  des  Volkes  einnimmt.180  Auf  diese  Weise  entsteht  in  36,16‐39,29  sukzessive  ein  relativ  abgeschlossener  Block  innerhalb  von  Ez  34‐39,  der  durch  eine  eigene  Auslegungsgeschichte  anwächst und durch die vormals zusammengehörigen Stücke in 36,16‐ 22(23aba)  und  39,23‐29  gerahmt  wird.  Der  einzige  Text,  der  im  Nah‐ kontext Verbindungen zu diesen Kapiteln aufweist, ist Ez 37,25‐28, der  neben  der  Bezeichnung  Israels  als  „Jakob“  auch  durch  das  Motiv  der  Völkererkenntnis mit 36,16‐39,29 verbunden ist.   3.4. Innerbiblische Auslegung in Ez 36,16‐23ba; 39,23‐29  3.4.1. Zur Frage nach den literarischen Vorlagen  Das bestimmende Motiv in Ez 36,16‐23ba; 39,23‐29181 ist das Eingreifen  Jhwhs um seines heiligen Namens willen, in dem sich die dtn.‐dtr. Na‐ menstheologie182  und  die  priesterliche  Vorstellung  von  der  Heiligkeit  Jhwhs zu einem Begründungsmotiv für das göttliche Handeln verbin‐ den.  Mit  der  dtn.‐dtr.  Namenstheologie  wird  im  Bereich  der  dtn.‐dtr.  Literatur  ein  theologisches  Konzept  bezeichnet,  nach  dem  der  Name  Jhwhs  als  Vertretung  des  im  Himmel  anwesenden  Gottes  im  Tempel                                 180  Vgl. dazu o. Kap. III. 2.3.  181  Im Folgenden steht nur dann 36,16‐22; 39,23‐29*, wenn die Angabe sich zweifelsfrei  auf die Grundschicht des Textes bezieht.  182  Vgl.  VEIJOLA,  Klagegebet,  301:  „Die  starke  Hervorhebung  des  Namens  Jahwes  als  Motiv seines Handelns in den exilischen Schriften ist kaum unabhängig von der dtn  Namenstheologie entstanden ...“. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

gegenwärtig  ist.183  Theologiegeschichtlich  kann  hinter  dieser  Vorstel‐ lung der Versuch vermutet werden, die lokale Präsenz Jhwhs nach der  Zerstörung  des  Tempels  auf  eine  neue  Grundlage  zu  stellen  und  neu  zu  definieren.  Der  Name  Jhwhs  als  „Ausstrahlung  seiner  Person“184  ermöglicht  einerseits  die  andauernde  Gegenwart  Gottes  auf  Erden,  während  andererseits  die  Souveränität  seiner  Person  durch  die  Ab‐ straktion  gewahrt  bleibt.  In  gleicher  Weise  kann  der  heilige  Name  Jhwhs  durch  die  Situation  des  Volkes  in  der  Diaspora  zwar  entweiht  werden, aber die Person Jhwhs bleibt davon unberührt, wie er mit dem  machtvollen Eingreifen zugunsten seines Namens unter Beweis stellt.  Mit  dem  Adjektiv  „heilig“  ist  dem  Namen  Jhwhs  in  dieser  Funk‐ tion auch das Gottesattribut der „Heiligkeit“ zugewachsen, wie es sich  vor  allem  in  priesterschriftlichen  Texten  findet.  Die  Heiligkeit  Jhwhs  gehört zu den grundsätzlichen Aussagen über Gott im Alten Testament  und begründet den qualitativen Abstand zwischen ihm und seinen Ge‐ schöpfen.185  So  wird  die  Heiligkeit  durch  Reinheit  und  Absonderung  bewahrt,  während  sie  durch  Entweihung  (‫)חלל‬  und  Verunreinigung   (‫)טמא‬ bedroht ist. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine abso‐ lute  Eigenschaftsaussage,  sondern  da  Jhwh  der  „Heilige  Israels“  ist,  erweist  sich  seine  Heiligkeit  vor  allem  in  Relation  zu  seinem  Eigen‐ tumsvolk Israel.186   Daraus folgt zuerst, dass eine Jhwh entsprechende Heiligkeit auch  von  Israel  gefordert  wird,  die  sowohl  die  kultisch‐rituelle  Heiligkeits‐ forderung  wie  auch  das  Gebot  sittlicher  Vollkommenheit  einschließt  (vgl.  Lev  19,1).  Das  Heiligkeitsgesetz  in  Lev  17‐26  enthält  dement‐ sprechend  ein  umfassendes  Konzept  einer  Ethik der Heiligkeit, in der  Jhwhs heiliger Name zur fundamentalen Begründung der Heiligkeits‐ forderung wird (Lev 20,3; 22,2.32). Darüber hinaus steht durch die Bin‐ dung  von  Jhwh  an  sein  Volk  mit  dem  Geschick  Israels  zugleich  auch  das  Ansehen  und  die  Herrlichkeit  von  Jhwhs  Namen  mit  auf  dem  Spiel.  Eine  mögliche  Fehlbeurteilung  von  Israels  Situation  durch  die                                 183  Vgl.  dazu  GRETHER,  Name,  31‐35;  VAN  DER  WOUDE,  Art.  ‫ ֵשׁם‬,  953‐955;  METTINGER,  Dethronement,  38‐79.116‐134;  KELLER,  Untersuchungen,  130‐152.153‐170.207,  und  KAISER, Gott II, 198‐203.  184  KAISER,  Gott  II,  201.  Zur  Diskussion,  inwieweit  der  Name  Jhwhs  als  „Hypostase“  bezeichnet  werden  kann,  vgl.  KAISER,  a.a.O.,  201,  der  sich  gegen  ein  hypostasiertes  Verständnis ausspricht. Anders dagegen KELLER, Untersuchungen, 139‐141.  185  Vgl. dazu insgesamt MÜLLER, Art. ‫קדשׁ‬, 589‐609; KORNFELD/RINGGREN, Art. ‫קדשׁ‬, 1179‐ 1204, und KAISER, Gott II, 104‐27. 186  Siehe  Hos  11,9  und  zu  der  Rede  vom  „Heiligen  Israels“  die  zahlreichen  Belege  im  Jesajabuch  (Jes  1,4;  5,19.24;  10,20;  12,6;  17,7;  29,19;  [29,23];  30,11.12.15;  31,1;  37,23;  41,14.16.20;  43,3.14;  45,11;  47,4;  48,17;  49,7;  54,5;  55,5;  60,9.14).  Vgl.  zum  Jesajabuch  auch KRATZ, Israel, 85‐90. 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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Völker, die zu einer Profanierung seines Namens führt, kann ihn des‐ halb  zum  Einschreiten  bewegen  (vgl.  z. B.  Ps  79,9f.;  115,1f.).187  Diese  Vorstellung, dass Jhwh etwas „um seines Namens willen“ tut, wird im  Allgemeinen  durch  eine  Form  von  ‫למען‬  mit  angeschlossenem,  suffi‐ giertem  ‫שׁם‬  bzw.  durch  die  elliptische  Wendung  ‫למעני‬  ausgedrückt.188  Neben der Verwendung als Begründungsmotiv kann der Name Jhwhs  auch  zu  einer  Anrufungsinstanz  werden,  durch  die  Jhwh  „um  seines  Namens  willen“  zum  Einschreiten  zugunsten  seines  Volkes  bewegt  werden  soll.  In  dieser  Prägung  ist  die  Formel  am  häufigsten  in  der  Volksklage  oder  in  der  individuellen  Klage  belegt  (vgl.  ‫למען שׁמך‬,  Jer  14,7.21; Ps 25,11; 31,4; 109,21; 143,11; ‫למענך‬, Dan 9,19). Weiterhin begeg‐ net  die  Wendung  als  Vertrauensmotiv  (‫למענ שׁמו‬,  Ps  23,3),  als  Selbst‐ aussage Jhwhs (vgl. ‫למעני‬, 2 Kön 19,34; 20,6; Jes 37,35) und im Rückblick  auf Jhwhs Geschichtshandeln (vgl.  ‫למען שׁמו‬, Ps 106,8). Auf den „großen  Namen“  bezogen  findet  sich  das  Motiv  schließlich  noch  in  den  dtr.  Stücken  Jos  7,9 (‫)לשׁמך הגדול‬ und mit leicht abweichender Terminologie  in 1 Sam 12,22 (‫)בעבור שׁמו הגדול‬.189 Der  traditionsgeschichtliche  Hintergrund  für  die  Verwendung des  Motivs in Ez 36,16‐23ba; 39,23‐29 ist damit klar umrissen. Für die Frage  nach  möglichen  literarischen  Vorlagen  sind  nun  im  Folgenden  die  Texte zu untersuchen, in denen die Vorstellung in ähnlicher Weise zur  Begründung  von  Jhwhs  Handeln  an  Israel  verwendet  wird.  Zuerst  begegnet die Formel  ‫למען שׁמי‬ im großen Geschichtsrückblick Ez 20, wo  mehrfach  davon  die  Rede  ist,  dass  Jhwh  mit  Rücksicht  auf  seinen  Namen  von  einem  bestimmten  Gerichtshandeln  absieht  (vgl.  Ez  20,9.  14.22). In diesem Kapitel ist das Handeln „um meines Namens willen“  auch das leitende Prinzip für den heilvollen Neuanfang (vgl. Ez 20,44).  Wird  die  Perspektive  auf  das  gesamte  Alte  Testament  ausgeweitet,  so  tritt insbesondere das Deuterojesajabuch in den Blick, in dem es mit Jes  43,22‐28  (‫למעני‬,  43,25)  und  Jes  48,1‐11  (‫למען שׁמי‬,  48,9;  ‫למעני‬  ‫למעני‬,  48,11)  zwei  Perikopen  gibt,  in  denen  ebenfalls  der  göttliche  Name  als  Motiv  für Jhwhs Heilshandeln zugunsten Israels thematisiert wird. An dieser  Stelle  ist  auch  das  Stück  Jes  52,4‐6  mit  in  die  Überlegungen  einzu‐ beziehen,  das  zwar  nicht  die  Wendung  ‫למען‬  enthält,  aber  eine  große  thematische Nähe zu den Texten des Ezechielbuches aufweist.                                  187  Vgl.  in  der  Sache  auch  Texte  wie  Ex  32,12‐14;  Nu  14,13;  Dtn  9,26‐29;  Dtn  32,27;  Jos  7,8‐10, in denen Jhwh vorgehalten wird, dass eine endgültige Vernichtung Israels in  den  Augen  der  Völker  als  Ohnmacht  oder  Unfähigkeit  missverstanden  werden  könnte.   188  Vgl. dazu BRONGERS, Partikel, 92‐96; HERMISSON, BK, 242f.; SIMIAN, Nachgeschichte,  342, und VAN DER WOUDE, Art. ‫שׁם‬, 958‐960, der hier von einer „nach‐dtn. Wendung“  spricht (VAN DER WOUDE, a.a.O., 958). Vgl. insgesamt GRETHER, Name, insbes. 52‐58.  189  Vgl. hier noch Ez 36,23aba (‫)וקדשׁתי את־שׁמי הגדול‬. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

3.4.2. Das Handeln Jhwhs um seines Namens willen in Ez 20  Der Geschichtsrückblick in Ez 20 zeichnet sich durch einen klaren Auf‐ bau  aus:  Die  V  5‐29  enthalten  einen  dreiteiligen  Geschichtsabriss,  der  von  einer  versuchten  Prophetenbefragung  Jhwhs  durch  die  Ältesten  Israels in den V 1‐4.30f. gerahmt wird. Auf diese inclusio folgt in V 32‐ 38  die  Ankündigung  eines  Scheidungsgerichts  Jhwhs  über  das  Volk,  während  sich  in  V  39‐44  ein  heilsprophetischer  Ausblick  anschließt.190  Eine vollständige literarkritische Untersuchung von Ez 20 kann im Fol‐ genden nicht gegeben werden, so dass sich die Analyse auf die Punkte  beschränken  wird,  die  für  den  Untersuchungsgegenstand  relevant  sind. Da das Handeln Jhwhs um seines Namens willen in Ez 20 sowohl  im  ersten  als  auch  im  dritten  Teil  des  Kapitels  eine  wichtige  Rolle  spielt, ist insbesondere nach dem redaktionellen Verhältnis dieser bei‐ den Abschnitte zu fragen.  Das  erste  Stück  in  Ez  20,5‐29  weist  in  drei  Phasen  der  Geschichte  Israels mit seinem Gott die umfassende Verschuldung Israels nach. Die  Vätergeneration in Ägypten (V 5‐10), die Vätergeneration in der Wüste  (V 11‐17) und die Söhnegeneration in der Wüste (V 18‐24) repräsentie‐ ren drei geschichtliche Abschnitte mit einer wiederkehrenden Ereignis‐ folge: Obwohl Jhwh heilvoll an seinem Volk handelt, verhält Israel sich  widerspenstig gegenüber seinem Gott (‫מרה‬, V 8.13.21). Deshalb gedenkt  Jhwh, seinen Grimm über es auszugießen (‫שׁפך חמה‬, V 8.13.21), handelt  dann  aber  gnädig  um  seines  Namens  willen  (‫עשׂה למען שׁמי‬,  V 9.14.22),  damit dieser nicht entweiht würde (‫חלל‬ ni., V 9.14.22). Dieses Handeln  besteht in allen drei Fällen darin, dass Jhwh das Volk mit Rücksicht auf  seinen  Namen  verschont  und  lediglich  zu  einer  abgemilderten  Straf‐ maßnahme greift. So wird die Vätergeneration von Ägypten aus nicht  in das Land, sondern in die Wüste geführt (V 10), und obwohl sie sich  auch dort widerspenstig verhalten, werden sie von Jhwh nicht vernich‐ tet,  sondern  verbleiben  zur  Strafe  in  der  Wüste  (V  17).  Die  Söhnege‐                                190  Aufgrund dieses klaren Aufbaus ist, von einzelnen sekundären Zusätzen abgesehen,  immer  wieder  die  literarische  Einheitlichkeit  von  Ez  20  vertreten  worden;  vgl.  HÖLSCHER, Hesekiel, 101; COOKE, ICC, 213; EICHRODT, ATD, 169‐186; GARSCHA, Stu‐ dien,  114‐121;  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  207‐214;  GREENBERG,  AncB,  376‐388,  und  POLA,  Priesterschrift,  155f.  Die  Vertreter  eines  literarkritischen  Wachstums  sprechen sich in unterschiedlichen Abgrenzungen gegen eine ursprüngliche Zusam‐ mengehörigkeit des Geschichtsrückblickes mit der Heilsverheißung aus (vgl. HERR‐ MANN,  Heilserwartungen,  264f.;  FOHRER,  HAT,  71;  ZIMMERLI,  BK,  437f.;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  332‐334, und SEDLMAIER, Studien, 121). LIWAK, Probleme, 146‐149  (und  im  Anschluss  an  diesen  LANG,  Ezechiel,  27),  rekonstruiert  dagegen  eine  Grundschicht  in  V  1‐26.30f.39‐44,  die  die  Heilsprophetie  mit  einschließt,  während  OHNESORGE, Jahwe, 78‐105, nur die V 1*.2.3*.5a*.7‐9a zum Grundwort zählt und eine  umfangreiche mehrstufige Bearbeitung dieses Ausgangstextes annimmt.

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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neration  verwirkt  in  gleicher  Weise  wie  ihre  Väter  den  Eintritt  in  das  Land und wird stattdessen unter die Völker versprengt und in die Län‐ der  zerstreut  (V  23).  Am  Ende  des  dreistufigen  Geschichtsrückblickes  können  die  kleinen  Einheiten  V 25f.  und  V  27‐29  als  Nachträge  aus‐ geschieden werden.191 Während hinter V 25f. ein von V 5‐24* zu diffe‐ renzierendes  Schuldverständnis  steht,  da  Jhwh  selbst  Anlass  zu  den  Vergehen der Israeliten gegeben hat, wird in V 27‐29 der Kult auf den  Höhen im Land verurteilt, obwohl sich das Volk nach V 23 noch in der  weltweiten Zerstreuung befindet.  Der heilsprophetische Ausblick in Ez 20,39‐44 ist durch die betonte  Anrede  ‫ואתם בית ישׂראל‬ in V 39 von dem vorherigen Kontext abgegrenzt  und als Neueinsatz gekennzeichnet. Jhwh kündigt in diesem Abschnitt  an,  dass  das  Haus  Israel  seinen  heiligen  Namen  (‫)שׁם קדשׁי‬  nicht  mehr  mit Gaben und Götzen entweihen wird (‫חלל‬ pi., V 39). Vielmehr soll es  seinem Gott auf seinem heiligen Berg, dem hohen Berg Israels (‫בהר־קדשׁי‬  ‫בהר מרום ישׂראל‬, V 40) 192 mit dem rechtmäßigen Kult dienen. Nach dieser  Ankündigung folgt in V 41f. die Verheißung von Sammlung und Rück‐ führung,  durch  die  sich  Jhwh  vor  den  Augen  der  Völker  als  heilig  erweisen will (‫קדשׁ‬ ni., V 41). Abschließend betonen V 43f. die Einsicht  des  Volkes  und  dessen  Erkenntnis,  dass  Jhwh  um  seines  Namens  willen  (‫למען שׁמי‬,  V  44)  an ihnen  handelt  und  nicht  entsprechend  ihren  bösen  Wegen  und  ihren  verderbenbringenden  Taten  (‫לא כדרכיכם הרעים‬ ‫ וכעלילותיכם הנשׁחתות‬, V 44). Allerdings gibt es auch innerhalb von V 39‐44  Anzeichen  für  literarische  Nacharbeit.  Der  neue  Kult  auf  dem  hohen  Berg Israels in V 40 setzt den neuen Exodus bereits voraus, der in V 41f.  deshalb  post  festum  kommt  und  darüber  hinaus  als  Ziel  der  Rückfüh‐ rung  nicht den Berg, sondern das Land angibt. Stilistisch fallen V 41f.  außerdem durch die Wiederaufnahme von V 40ba in V 41aa1‐4 und die  Doppelung  der  Erkenntnisformel  auf  (V  42,  vgl.  V  44).  Da  V  43  mit  dem  rückbezüglichen  ‫שׁם‬  gut  an  V  39f.  angeschlossen  werden  kann,  sprechen diese Indizien dafür, in V 41f. eine nachträgliche Erweiterung 

                               191  Zur  Sekundarität  von  V  25f.  vgl.  OHNESORGE,  Jahwe,  84.175‐182.  Der  Nachtrags‐ charakter  von  V  27‐29  wird  auch  von  HÖLSCHER,  Hesekiel,  109f.  Anm.  1;  COOKE,  ICC, 219; ZIMMERLI, BK, 438.452, und LIWAK, Probleme, 149, vertreten. Des Weiteren  rechnen  einige  Exegeten  die  Aussagen  über  den  Sabbat  nicht  zum  ursprünglichen  Kernbestand  von  V  5‐24,  vgl.  HÖLSCHER,  Hesekiel,  110  Anm.  1;  EICHRODT,  ATD,  170f.,  und  ausführlich  VEIJOLA,  Propheten,  258‐264.  Es  kann  nicht  ausgeschlossen  werden,  dass  noch  weitere  Nachträge  innerhalb  des  Geschichtsrückblick  vorliegen,  so dass die Textangabe Ez 20,5‐24* im Folgenden asterisiert verwendet wird.  192  ‫הר מרום ישׂראל‬ ist einzig noch in Ez 17,23; 34,14 im Buch belegt; vgl. zu den Bergen im  Ezechielbuch u. Kap. III. 7.4.4. 

   

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des  Abschnittes  zu  sehen,  mit  der  die  Heilsverheißung  durch  die  An‐ kündigung von Sammlung und Rückführung ergänzt wird.193 Wird  nach  dem  redaktionellen  Verhältnis  von  Ez  20,5‐24*  und  20,39‐44* gefragt, so spricht wenig für eine ursprüngliche Zusammen‐ gehörigkeit der beiden Abschnitte. Der erste Teil gehört eindeutig zum  Grundwort in Ez 20, das sich wahrscheinlich sogar in der durch V 1‐4  und  V  30f.  gerahmten  Fassung  von  V  5‐24*  erschöpft  (Ez  20*).194  Die  V 39‐44*  nehmen  weder  inhaltlich  Bezug  auf  den  Schuldaufweis  V  5‐ 24*, noch setzen sie die Rahmensituation des ersten Teils voraus. Über‐ dies erscheint es unwahrscheinlich, dass das Grundwort von Ez 20 im  Kontext der Unheilsansagen in den nachstehenden Kapiteln Ez 21f. von  Anfang an Heilsprophetie enthalten haben sollte, da dies den Gerichts‐ ansagen  der  Kapitelfolge  die  Schärfe  nähme.195  Vielmehr  deutet  die  ausdrückliche  Adressatennennung  in  V  39  nicht  nur  auf  einen  glie‐ dernden,  sondern  auf  einen  redaktionellen  Einschnitt  hin.  Die  Aus‐ sagen  über  den  Jhwh‐gefälligen  Kult  auf  dem  hohen  Berg  scheinen  dabei  als  Gegenbild  zu  der  Höhenkultpraxis  in  V  27‐29  konzipiert  zu  sein, die ihrerseits einen Nachtrag zu V 5‐24* darstellen. Im Folgenden  ist  deshalb  davon  auszugehen,  dass  V 39‐44*  einen  nachträglichen  heilsprophetischen  Anhang  in  Ez  20  darstellen,  der  bereits  die  Ergän‐ zung  des  Grundwortes  um  V  27‐29  voraussetzt  und  auf  diese  Verse  reagiert.  Die  redaktionsgeschichtliche  Einordnung  der  Fortschreibung  in  V  25f.  kann  an  dieser  Stelle  offen  gelassen  werden,  da  der  Text  für  die weitere Analyse nicht von Bedeutung ist.  Das verbindende Element zwischen dem Geschichtsrückblick in Ez  20,5‐24*  und  der  Heilsverheißung  in  Ez  20,39‐44*  ist  die  Rede  vom  (heiligen)  Namen  Jhwhs,  die  allerdings  in  beiden  Teilen  unterschied‐ lich verwendet wird. Im ersten Teil wird durch den Verweis auf Jhwhs  Namen  (‫)למען שׁמי‬  der  Beweggrund  für  die  göttliche  Verschonung  des  Volkes  angegeben.  Die  eigentlich  dem  Wandel  des  Volkes  angemes‐ sene  Strafmaßnahme,  nämlich  seine  Vernichtung  durch  den  Gottes‐ zorn,  brächte  eine  Entweihung  des  Namens  mit  sich,  da  die  Bindung  an  das  Gottesvolk  und  damit  dessen  Existenz  für  die  Souveränität  Jhwhs konstitutiv ist. Die Entweihung des Namens bleibt hier also eine  potentielle  Konsequenz,  die  Jhwh  vermeidet,  indem  er  von  einem  Vernichtungsgericht  absieht.  Die  Zerstreuung  des  Volkes  in  die  Dias‐                                193  So mit HOSSFELD, Untersuchungen, 333‐335, und OHNESORGE, Jahwe, 101‐103.  194  So auch HERRMANN, Heilserwartungen, 264f., und ZIMMERLI, BK, 438.452.  195  Vgl. auch POHLMANN, ATD, 302, der vermutet, dass „Ez 20 wegen seiner umfassen‐ deren  Darlegungen  zum  Thema  ‘Zorn  Jahwes’  nachträglich  vor  Ez  21/22  unterge‐ bracht  wurde  und  auf  diese  Weise  die  nun  folgenden  Ausführungen  der  in  Ez  20  vorgelegten Systematik untergeordnet wurden.“ 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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pora  ist  dabei  nur  eine  der  Maßnahmen,  die  er  als  Ersatzhandlungen  vornimmt, um die Unversehrtheit seines Namens zu bewahren.  Im Unterschied dazu ist im heilsprophetischen Anhang zuerst von  einer faktisch stattgefundenen Entweihung des göttlichen heiligen Na‐ mens (‫)שׁם קדשׁי‬ die Rede, derer sich die Israeliten in der Vergangenheit  mit  ihren  kultischen  Freveln  schuldig  gemacht  haben  und  die  für  die  heilvolle Zukunft ausgeschlossen wird (20,39). Das Attribut ‫קדשׁ‬ erklärt  sich  eventuell  durch  die  Nähe  zum  ‫הר קדשׁ‬,  es  macht  aber  auch  von  daher  Sinn,  dass  der  Tatbestand  der  Entweihung  im  Gegensatz  zum  ersten  Teil  in  Form  von  praktisch‐kultischen  Vergehen  beschrieben  wird. Der Tatbestand der Profanierung vollzieht sich hier nicht in einer  Völkerperspektive,  in  der  Jhwhs  Souveränität  auf  dem  Spiel  steht,  sondern allein im Verhältnis von Jhwh zu seinem Volk, das die Heilig‐ keit  von  Jhwhs  Namen  durch  das  richtige  kultisch‐ethische  Verhalten  bewahren kann. Anders sieht das mit 20,44 aus, wo erneut das Hand‐ lungsprinzip  aus  dem  ersten  Abschnitt  benannt  wird:  Jhwh  handelt  nicht,  wie  es  dem  Wandel  seines  Volkes  angemessen  wäre,  sondern  allein aus Rücksicht auf seinen Namen. Hier ist das Ansehen des gött‐ lichen Namens nicht direkt mit dem Lebenswandel des Volkes verbun‐ den  wie  in  20,39,  sondern  vergleichbar  mit  dem  Geschichtsrückblick  wird  die  Souveränität  Jhwhs  gerade  dadurch  gewahrt,  dass  das  gött‐ liche  Handeln  aus  einem  Tun‐Ergehen‐Zusammenhang  gelöst  wird.  Der  Vers  hat  damit  eindeutig  das  gesamte  Kapitel  vor  Augen und er‐ füllt die Funktion einer Unterschrift, die die Heilsprophetie von 20,39‐ 44 in den Gesamtzusammenhang einbindet.  Der  Vergleich  von  Ez  20  mit  Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  zeigt,  dass  Jhwhs  Sorge  um  seinen  (heiligen)  Namen  in  beiden  Fällen  vor  dem  Hintergrund  einer  weltweiten  Zerstreuung  Israels  behandelt  wird,  so  dass man zu Recht davon sprechen kann, dass die Texte eine „Theolo‐ gie der Diaspora“ 196 betreiben. Die inhaltliche Nähe kommt auch in den  terminologischen  Berührungen  zwischen  den  Stücken  zum  Ausdruck:  In  beiden  steht  die  Ausgießung  des  Gotteszornes  als  Bild  für  das  Gericht  (‫שׁפך חמה‬,  36,18;  vgl.  20,8.13.21),  will  Jhwh  der  Entweihung  seines Namens entgegen wirken (‫חלל‬, 36,20.21.22.23aba; vgl. 20,9.14.22)  und  beschließt  deshalb  zu  handeln  (‫עשׂה‬,  36,22;  vgl.  20,9.14.22.44).  Darüber hinaus begegnet in 20,41f. wie in 39,27 der Gedanke, dass sich  Jhwh  durch  Sammlung  und  Rückführung  vor  den  Augen  der  Völker  als heilig erweist (‫קדשׁ‬ ni.) und schließlich bezeichnet in beiden Texten  das  Wortpaar  „Wege  und  Taten“  (‫דרך‬/‫עלילות‬,  36,17.19;  vgl.  ‫דרכים‬/‫עלילות‬                                 196  RUDNIG, Heilig, 240. Zu einer Gegenüberstellung der beiden Texte vgl. KRÜGER, Ge‐ schichtskonzepte, 441‐444; RENDTORFF, Ez 20, 260‐265; POHLMANN, Ezechielstudien,  29‐84, und RUDNIG, a.a.O., 240f. 

   

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20,43f.) den Wandel Israels. Trotz der zahlreichen Übereinstimmungen  fallen  aber  auch  eine  Reihe  von  Divergenzen  ins  Auge.  Nur  in  20,39  wird  die  Bezeichnung  ‫שׁם קדשׁי‬  verwendet,  während  in  36,16‐23ba;  39,23‐29 durchgängig die feste Wendung  ‫לשׁם קדשׁי‬ belegt ist (vgl. 36,22;  39,25).  In  20,9.14.22.44  wird  ‫שׁם‬  zwar  auch  mit  einer  Partikel  verbun‐ den,  aber  dort  in  der  Form  ‫למען שׁמי‬.  Weiterhin  ist  in  Ez  20  davon  die  Rede,  dass  die  Israeliten  sich  selbst  verunreinigen  (‫טמא‬  hitp.,  20,7.18),  während  in  36,17.18  das  Land  verunreinigt  wird  (‫טמא‬  pi.).  Schließlich  variiert  die  Terminologie  in  den  Passagen,  die  von  der  potentiellen  bzw. der tatsächlichen Entweihung von Jhwhs Namen sprechen. Wäh‐ rend  in  20,9.14.22  mit  ‫חלל‬  ni.  formuliert  wird,  verwenden  20,39  und  36,20.21.22 ‫חלל‬ pi.; in 36,23 steht ‫חלל‬ pu.  Mit  diesen  terminologischen  Unterschieden  gehen  Divergenzen  in  Konzeption und Aussageintention der beiden Texte einher. Zuerst un‐ terscheiden  sich  die  Stücke  in  dem  Stellenwert,  der  Jhwhs  Namen  zukommt.  Während  in  Ez  20,5‐24*  Jhwhs  Handeln  von  Anfang  an  darauf  zielt,  die  Reputation  des  göttlichen  Namens  in  der  Völkerwelt  zu wahren, setzt Ez 36,16‐23ba; 39,23‐29 mit der Zustandsbeschreibung  ein, dass das Ansehen von Jhwhs Namen unter den Nationen bereits in  Frage gestellt ist (36,20). Konsequenterweise zielt Jhwhs Handeln nicht  darauf, seine Ehre unter den Völkern zu wahren, sondern darauf, diese  erst  wieder  herzustellen.  Die  Profanierung,  die  sich  in  Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  faktisch  vollzogen  hat,  ist  in  Ez  20,5‐24*  erst  drohende  Mög‐ lichkeit,  der  Jhwh  durch  sein  Handeln  entgegenwirken  will.  Zwar  ist  die Sorge Jhwhs um seinen Namen in beiden Fällen das Begründungs‐ motiv  für  das  Handeln  an  seinem  Volk,  aber  dieses  Handeln  folgt  unterschiedlichen  Maßstäben.  Während  im  Geschichtsrückblick  Ez  20  der  Tun‐Ergehen‐Zusammenhang  prinzipiell  zugunsten  der  Wahrung  von  Jhwhs  Souveränität  zurückgestellt  wird,  führt  das  angemessene  Strafhandeln Jhwhs in Ez 36,16‐23ba; 39,23‐29 gerade zur Profanierung  seines  Namens  vor  den  Völkern,  so  dass  er  Gnade  vor  Recht  ergehen  lässt und die Diaspora heimholt.  Obwohl beiden Stücken eine „Theologie der Diaspora“ zugeschrie‐ ben  werden  kann,  variiert  doch  gerade  die  Bedeutung,  die  der  Zer‐ streuungssituation beigemessen wird. In Ez 20,5‐24* resultiert die welt‐ weite  Diaspora  aus  Jhwhs  Handeln  um  seines  Namens  willen,  denn  gerade  weil  er  bei  der  Söhnegeneration  in  der  Wüste  seinen  Grimm  zurückhält,  werden  diese  unter  die  Völker  zerstreut  (20,22f.).  In  Ez  36,16‐23ba; 39,23‐29 ist die Diasporasituation dagegen die Folge davon,  dass  Jhwh  seinen  Zorn  konsequent  ausgegossen  hat,  und  erst  dieser  Zustand  veranlasst  ihn  zum  Eingreifen  zugunsten  seines  Namens  (36,21). Damit zeichnen sich zwei unterschiedliche Geschichtsentwürfe 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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in Ez 20,5‐24* und Ez 36,16‐23ba; 39,23‐29 ab, worauf bereits KRÜGER in  seiner  Untersuchung  der  Geschichtskonzepte  im  Ezechielbuch  hin‐ gewiesen hat.197 In 36,16‐23ba; 39,23‐29 herrscht eine „antithetische Be‐ ziehung von Vergangenheit (Gericht) und Zukunft (Restitution)“198 vor.  Während das Handeln Jhwhs in der Vergangenheit davon geprägt war,  dass  er  an  Israel  gemäß  seines  Wandels  gehandelt  hat,  ist  das  angekündigte  Heilshandeln  dadurch  gekennzeichnet,  dass  Jhwh  in  Souveränität  allein  um  seines  Namens  willen  handeln  wird.  In  Ez  20  dagegen  ist  die  Sorge  Jhwhs  um  seinen  Namen  eine  Konstante,  die  sowohl sein Gerichtshandeln in der Vergangenheit (V 5‐24*) wie auch  sein Heilshandeln in der Zukunft (V 39‐44*) begründet.  Der  kurze  Hinweis  auf  Jhwhs  heiligen  Namen  in  20,39  fällt  aus  mehreren  Gründen  aus  dieser  Gegenüberstellung  hinaus:  Zwar  liegt  mit  der  Nennung  von  Jhwhs  heiligem  Namen  eine  Verbindung  zu  36,16‐23ba; 39,23‐29 vor, aber die Heiligkeit von Jhwhs Namen ist hier  direkt  mit  dem  Wandel  der  Israeliten  verbunden  und  die  Völkerpers‐ pektive wird ausgeblendet. Es ist vielmehr an eine Verbindung mit Ez  43,7b‐9  zu  denken,  wo  gleichermaßen  der  heilige  Name  Jhwhs  und  damit  seine  Gegenwart  unter  dem  Volk  durch  das  kultische  Fehlver‐ halten profaniert werden kann.   Zusammenfassend rechtfertigen die Ergebnisse der vergleichenden  Analyse zumindest in Bezug auf den Geschichtsrückblick in Ez 20* die  Annahme  eines  literarischen  Abhängigkeitsverhältnisses  mit  Ez 36,16‐ 23ba; 39,23‐29. Die wörtlichen und inhaltlichen Verbindungen sind zu  zahlreich, als dass es sich hier um einen Zufall oder um eine rein tradi‐ tionsgeschichtliche  Abhängigkeit  handeln  könnte.  Auf  der  anderen  Seite  aber  sprechen  die  konzeptionellen  und  terminologischen  Diver‐ genzen  dagegen,  in  beiden  Texten  denselben  Autor  am  Werk  zu  sehen.199 Vielmehr liegt es nahe, die beiden Stücke in ein Auslegungs‐ verhältnis  zueinander  zu  setzen,  wobei  das  traditum  nur  in  Ez  36,16‐ 23ba; 39,23‐29 vorliegen kann.200 Ez 20* repräsentiert im Vergleich dazu  die stärker systematisierte Geschichtskonzeption: Hier wird das Motiv  vom  Handeln  Jhwhs  um  seines  Namens  willen  konsequent  auf  die                                 197  198  199  200 

Vgl. KRÜGER, Geschichtskonzepte, 441‐444.  KRÜGER, Geschichtskonzepte, 442.  So gegen HOSSFELD, Untersuchungen, 335.  Diese  Richtung  der  Abhängigkeit  vertreten  auch  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  442,  und  im  Anschluss  an  diesen  POHLMANN,  Ezechielstudien,  80.  Dagegen  plädiert  SIMIAN,  Nachgeschichte,  353,  für  die  „Priorität  von  Ez  20  vor  Ez  36,16ff.“  GREEN‐ BERG, AncB, 384, und RENDTORFF, Ez 20, 262, betonen in ihren synchronen Ansätzen,  dass  Ez  36  eine  Weiterführung  des  Motivs  von  Ez  20  darstellt.  Für  die  literarische  Ebene  der  endgültigen  Buchgestalt  ist  dies  sicher  eine  zutreffende  Beschreibung,  aber sie ist nicht auf das relative chronologische Verhältnis der Texte übertragbar. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

gesamte  Geschichte  mit  Israel  angewendet,  während  es  in  36,16‐23ba;  39,23‐29 gewissermaßen als „Notmaßnahme“ für die aktuelle Situation  erscheint, da Jhwhs Handeln in der Vergangenheit seinem Ansehen in  der  Völkerwelt  geschadet  hat.  Desgleichen  zeigt  Ez  20*  im  Vergleich  mit 36,16‐23ba; 39,23‐29* ein fortgeschritteneres Stadium der Reflexion  über  die  Stellung  Israels  in  der  Diaspora  und  sein  Gottesverhältnis.201  In  Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  wird  die  Diasporasituation  als  Bedrohung  für  Jhwhs  Gottsein  angesehen,  dessen  Ruf  davon  abhängt,  dass  Israel  in seinem angestammten Land wohnt. In Ez 20* dagegen erscheint die  Zerstreuung  als  eine  Maßnahme  im  planvollen  Geschichtshandeln  Gottes, durch die er von Anfang an seine Souveränität vor den Völkern  beweist; die Existenz in der Diaspora ist ein Stück Normalität, das sei‐ nen festen Platz in Gottes Heilsplan für Israel hat.202 Dessen ungeachtet zielt aber auch Ez 20 in seiner Endgestalt auf die  Heimführung der gesamten Diaspora, wie die Rekonstruktion des Aus‐ legungsvorganges  zeigt.  Wenn  in  Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  die  Vorlage  für Ez 20 zu sehen ist, so übernimmt in einem ersten Schritt der für den  Geschichtsrückblick  in  V  5‐24*  verantwortliche  Autor  das  Motiv  vom  Handeln Gottes um seines Namens willen aus 36,16‐23ba; 39,23‐29 und  funktioniert es in seinem Aufweis der Verschuldung Israels zur Matrix  des göttlichen Handelns um. In dieser Rezeption ist auch der Versuch  zu erkennen, die Souveränität Jhwhs und die Heiligkeit seines Namens  aus dem Zusammenhang mit dem tatsächlichen (Wohl‐)Verhalten des  Volkes  zu  lösen.  Nach  36,16‐23ba;  39,23‐29  hat  gerade  das  gerechte  Strafhandeln  Jhwhs  zu  der  Profanierung  seines  Namens  geführt,  so  dass  in  Ez  20*  nicht  mehr  der  Tun‐Ergehen‐Zusammenhang  zur  Ma‐ xime  des  göttlichen  Verhaltens  gemacht  wird,  sondern  die  Wahrung  der  göttlichen  Souveränität.  Dabei  ist  in  Betracht  zu ziehen, dass dem  Autor von Ez 20,5‐24* als dem Verfasser des jüngeren Textes die Stücke  36,16‐23ba  und  39,23‐29  nicht  mehr  als  durchgehende  Textfolge  vor‐ gelegen  haben.203  So  hat  auch  die  vergleichende  Analyse  gezeigt, dass  die  gewichtigeren  Querverbindungen  zwischen  20,5‐24*  und  36,16‐ 23ba  vorliegen.  Es  bleibt  aber  die  Möglichkeit,  dass  der  Autor  des  Geschichtsrückblickes  die  Zusammengehörigkeit  von  36,16‐23ba  und  39,23‐29  erkannt  hat,  und  dass  seine  Auslegung  auf  beide  Texte  über  Jhwhs heiligen Namen zurückgeht.                                 201  So mit RUDNIG, Heilig, 241.  202  Vgl.  dazu  auch  die  ausführlichen  Überlegungen  von  POHLMANN,  Ezechielstudien,  67‐77,  der  zu  ähnlichen  Ergebnissen  hinsichtlich  des  theologischen  Standpunktes  von Ez 20 kommt.  203  Diese  Einschätzung  findet  ihre  Bestätigung  in  der  redaktionsgeschichtlichen  Dar‐ stellung des Wachstums in Ez 34‐39; vgl. dazu u. Kap. IV. 2.1.3.3. 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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Der spätere Verfasser von Ez 20,39f.43f. greift ein weiteres Mal auf  das Motiv des heiligen Namens zurück, benutzt dieses aber nur in dem  kurzen  Hinweis,  dass  der  heilige  Name  in  der  Zukunft  nicht  mehr  durch  kultisches  Fehlverhalten  des  Volkes  profaniert  werden  soll.  Schließlich ergänzt eine jüngere Hand in Ez 20,41f. die Verheißung des  neuen Exodus, die aufgrund der terminologischen Berührungen mit Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  als  erneute  Aufnahme  der  dortigen  Heilsver‐ heißung  eingeordnet  werden  kann.  Ähnlich  wie  in  39,27  wird  sich  Jhwh durch die Rückführung der Diaspora vor den Völkern als heilig  erweisen  (20,41).  Auf  diese  Weise  bekommt  auch  der  Geschichtsrück‐ blick in Ez 20 einen heilvollen Abschluss, der die Sammlung der Dias‐ pora  zum  letztendlichen  Ziel  von  Jhwhs  Handeln  um  seines  Namens  willen erhebt.  3.4.3. Die Heilsbegründung im Deuterojesajabuch  Drei  Stücke  im  Deuterojesajabuch berühren sich darin mit den Texten  über den heiligen Namen im Ezechielbuch, dass in ähnlicher Weise auf  den  Namen  Jhwhs  oder  die  Souveränität  seiner  Person  zur  Begrün‐ dung  des  göttlichen  Handelns  verwiesen  wird.  Das  erste  Stück  in  Jes  43,22‐28  thematisiert  die  Restitution  des  Volkes  Jakob‐Israel  (43,22.28)  durch  Auslöschung  der  Verbrechen  und  Tilgung  der  Sünden.  Dabei  betont Jhwh aber in V 25 mit zweimaligem vorangestellten ‫אנכי‬, dass er  allein  um  seinetwillen  (‫)למעני‬  heilvoll  an  Jakob‐Israel  handeln  wird,  dem  aufgrund  seiner  Vergehen  faktisch  jeglicher  Anspruch  auf  das  Heil  abgesprochen  wird  (vgl.  43,22‐24).  Von  kleineren  Zufügungen  abgesehen kann Jes 43,22‐28 als einheitliches Textstück betrachtet wer‐ den. 204 Der zweite Text in Jes 48,1‐11 enthält eine ausführliche Begründung  der  Gewissheit  des  neuen  Heils.  Nach  dem  erweiterten  Aufmerksam‐ keitsruf  an  das  Haus  Jakob‐Israel  in  48,1f.  folgt  in  V 3‐8  eine  Ankün‐ digung  des  neuen  Heils  im  Gegensatz  zum  früheren,  das  Jakob‐Israel  aufgrund  seiner  Treulosigkeit  von  Mutterleib  an  bisher  noch  nicht  mitgeteilt worden ist. Die V 9‐11 enthalten schließlich eine ausführliche  Begründung dafür, warum Jhwh das neue Heilshandeln für sein Volk  unternimmt, obwohl Israel dieses nicht verdient hat. Allein um seines                                 204  Die Ankündigung in V 28a, dass Jhwh die Obersten des Heiligtums entweihen wird   (‫)חלל‬,  kann  mit  ELLIGER,  BK,  360.367,  und  HERMISSON,  BK,  243,  als  Zusatz  beurteilt  werden. Die LXX überliefert den Halbvers als kai. evmi,anan oi` a;rcontej ta. a[gia, mou, was  auf ein zugrundeliegendes  ‫ויהללו שׂרים קדשׁי‬ schließen ließe. Da die Variante von kaum  einer  anderen  Version  bezeugt  ist  und  der  MT  die  lectio  difficilior  bietet,  wird  dem  MT  der  Vorzug  zu  geben  sein  (so  mit  ELLIGER,  BK,  362f.;  OSWALT,  NICOT,  157;  BLENKINSOPP, AncB, 229f., gegen BHS). 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Namens willen (‫)למען שׁמי‬ wird Jhwh seinen Zorn zurückhalten (‫)ארך אף‬  und  Israel  nicht  ausrotten  (‫כרת‬  hif.,  V  9).  Die  Läuterung  Israels  im  Schmelzofen  (‫)כור‬  hat  keinen  Erfolg  erzielt  (V 10),  so  dass  Jhwh  sich  entschließt, um seinetwillen (‫)למעני למעני‬ einen Neuanfang mit Israel zu  unternehmen  (‫)עשׂה‬,  damit  sein  Name  nicht  entweiht  würde  (‫חלל‬  ni.,  V 11).  Der  Text  schweigt  sich  somit  über  den  Gegenstand  des  neuen  Heils aus und stellt stattdessen dessen Gewissheit in den Vordergrund,  die  allein  in  der  Souveränität  Jhwhs  und  seines  Namens  begründet  ist.205  Auch  wenn  das  Nebeneinander  von  Weissagung  und  Strafwort  immer  wieder  Anlass  gegeben  hat,  die  literarische  Einheitlichkeit  des  Textes in Frage zu stellen, ist mit KRATZ und HERMISSON einzuwenden,  dass  die  Pointe  von  Jes  48,1‐11  in  der  Gewissheit  des  Heils  trotz  und  gerade in Anbetracht der wesenhaften Sündigkeit Israels liegt.206   Der dritte Text findet sich mit Jes 52,4‐6 unmittelbar vor der Schil‐ derung der Rückkehr Jhwhs nach Jerusalem‐Zion in 52,7‐10. Das Stück  stellt  eine  Fortschreibung  der  vorausgehenden  Textfolge  52,1f.3  dar,207  in der Jhwh sein souveränes Handeln an seinem Volk beschreibt: „Um‐ sonst“  (‫)חנם‬,  d.  h.  ohne  dass  der  Feind  dafür  bezahlt  hat,  ist  das  Volk  ins Exil verkauft worden, und auch die Exilswende liegt allein in Jhwhs  Entschluss (52,3). Jes 52,4‐6 greift dieses Stichwort auf und interpretiert  es  sekundär  dahingehend,  dass  das  Exil  sinnlos  geblieben  ist,  da  das  Volk  umsonst  (‫חנם‬,  V  5)  hinweggenommen  wurde.  Die  einzige  Folge  ist, dass die Beherrscher höhnen (‫הלל‬ po.)208 und Jhwhs Name gelästert  wird  (‫נאץ‬  hitpo.,  V  5),  so  dass Jhwh ein Einschreiten zugunsten seines  Namens  ankündigt  (V  6).  Die  Kontextposition  vor  Jes  52,7‐10  könnte  dafür  sprechen,  dass  Jes  52,4‐6  als  vorangestellte  Begründung  der  Rückkehr  Jhwhs  und  die  damit  verbundene  Heimkehr  aus  Exil  bzw.  Diaspora gelesen werden will. Im Rückblick hat sich das Exil als höchst                                 205  Siehe  dazu  HERMISSON,  BK,  242:  „Dieser  Text  sagt  noch  nichts  Konkretes  über  das  ‘Neue’,  sondern  beantwortet  nur  die  Frage,  warum  Jahwe  überhaupt  noch  einmal  einen  Neuanfang  mit  seinem  Volk  macht.  ‘Um  meines  Namens  willen’:  Darin  und  darin allein gründet Israels neue Existenz.“  206  Vgl. KRATZ, Kyros, 115, und HERMISSON, BK, 210. Dagegen hat DUHM, HK, 360‐364,  ein  unkritisches  Heilswort  in  V  1*.3.5a.6.7a.8a.11*  rekonstruiert,  das  sekundär  mit  einer mahnenden Überarbeitung erweitert worden sei; vgl. im Anschluss an diesen  ELLIGER, Deuterojesaja, 185‐198, und SCHMITT, Prophetie, 48‐56.  207  Vgl.  VAN  OORSCHOT, Babel, 134f.; STECK, Tröstung, 90 Anm. 49, und  DERS., Beobach‐ tungen, 124.  208  Mit  1QJesa  ‫יהוללו‬  gegen  MT  ‫יהילילו‬  (‫ילל‬  hif.).  Der  masoretische  Text  ergibt  an  dieser  Stelle keinen Sinn, da unklar bleibt, warum die (fremden) Herrscher heulen sollten,  so  dass  die  Lesart  der  Jesajarolle  vorzuziehen  ist;  vgl.  WATTS,  WBC,  215;  anders  OSWALT, NICOT, 358. WESTERMANN, ATD, 201, interpretiert den masoretischen Text  im Sinne der Variante von 1QJesa: „... so ist wohl gemeint, daß seine Beherrscher sich  brüsten oder ähnlich.“  

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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rufschädigend für den Namen Jhwhs erwiesen,209 und die Rückführung  der Diaspora ist die Maßnahme, die Jhwh zur Wiederherstellung seines  Rufes in die Wege leiten wird.  Wird nach dem Verhältnis der drei Texte zueinander gefragt, bietet  es  sich  an,  den  Einstieg  bei  Jes  43,22‐28  zu  nehmen.  Im  Vergleich  mit  Jes 48,1‐11 geht es hier um die Faktizität der Sündentilgung, ohne dass  die  Angemessenheit  des  Heilshandeln  hinterfragt  wird,  so  dass  Jes  43,22‐28  die  literarische  Priorität  zukommt.  48,1‐11  nimmt  dagegen  in  der  Sache  die  Problemlage  aus  43,22‐28  auf  und  reflektiert  über  die  Gründe, warum dem Volk trotz anhaltender und wesentlicher Versün‐ digung ein Neuanfang zuteil wird.210 Das doppelte ‫למעני‬ in 48,11 kann  dabei  als  expliziter  Rückverweis  auf  das  zweifache  ‫אנכי‬  in  43,25  ver‐ standen  werden,  so  dass  die  Vermutung  nahe  liegt,  dass  48,1‐11  von  Anfang an als Weiterführung von 43,22‐28 abgefasst worden ist.211 Die  Einordnung von Jes 52,4‐6 erweist sich hingegen als schwierig, da ab‐ gesehen  von  dem  Interesse  an  Jhwhs  Namen  keine  weiteren  Verbin‐ dungen  zu  den  anderen  Texten  vorliegen.  Das  Stück  setzt  aber  auf  jeden  Fall  Jes  52,1f.3  und  auch  Jes  52,7‐10212  schon  voraus,  so  dass  es  nicht zu den ältesten Texten im Buch gehört.213 Der  erste  Überblick  über  die  drei  Texte  hat  bereits  gezeigt,  dass  eine  vergleichende  Analyse  mit  den  Stücken  aus  dem  Ezechielbuch  durchaus seine Berechtigung hat. Sowohl Jes 43,22‐28 als auch Jes 48,1‐ 11  betonen  die  Souveränität  des  göttlichen  Heilshandelns  (‫למעני‬,  Jes  43,25;  ‫למען שׁמי‬, Jes 48,9; ‫למעני למעני‬, Jes 48,11), das nicht vom Wandel des  Volkes abhängig ist, während Jes 52,5 die Vorstellung enthält, dass das  Ansehen  des  göttlichen  Namens  unter  den  Völkern  durch  die  Dias‐ porasituation  Israels  beschädigt  wird.  Indes  ist  weiter  zwischen  den  einzelnen Texten im Deuterojesajabuch zu differenzieren.                                  209  Vgl. BLANK, Isaiah, 8: „He [der Autor von Jes 52] hears God admit, so to speak, that  the exile is a truly unprofitable, if not, indeed, diasadvantageous business“.  210  So in der Bestimmung des Verhältnisses mit HERMISSON, BK, 243. KRATZ, Kyros, 114‐ 117.206‐216,  rechnet  Jes  48,1‐11  zu  seiner  Ebed‐Israel‐Schicht,  während  Jes  43,22‐28  nach seinen Analysen zu der Grundschicht in Kap. 40‐48* gehört (vgl. KRATZ, a.a.O.,  148‐157);  er  setzt  somit  implizit  dieselbe  diachrone  Abfolge  voraus.  Anders  VAN  OORSCHOT,  Babel,  295‐299.300‐306,  der  die  beiden  Texte  in  der  Abgrenzung  Jes  43,22‐24.26‐28* und 48,1*.2‐8.11 derselben literarischen Schicht (R3) zurechnet.  211  Umgekehrt scheint der Ergänzer in 43,25 (vgl. Anm. 204) die Wurzel ‫חלל‬ im Blick auf  48,11 verwendet zu haben, um die Beziehung zwischen den beiden Stücken hervor‐ zuheben (so auch HERMISSON, BK, 243).  212  Die Rückkehr Jhwhs in Jes 52,7‐10 bildet den Epilog der Grundschicht in Jes 40‐48*;  vgl. dazu STECK, Beobachtungen, 81f., und KRATZ, Kyros, 154f.  213  STECK hat die These aufgestellt, dass Jes 52,3.4‐6 bereits die Verbindung zum Ersten  Jesaja über Kap. 35 voraussetzt, so dass es einer relativ jungen Schicht im Buch an‐ gehört (vgl. STECK, Heimkehr, 73f.80, und DERS., Beobachtungen, 125). 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Jes  43,22‐28  als  das  vermutlich  älteste  Wort  der  drei  Stücke  weist  die  wenigsten  lexikalischen  und  inhaltlichen  Verbindungen  mit  dem  Ezechielbuch  auf.  Zwar  wird  vergleichbar  mit  Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  die Souveränität Jhwhs betont, aber mit ‫למעני‬ (Jes 43,25) findet eine For‐ mulierung  Verwendung,  die  in  keinem  der  Ezechieltexte  gebraucht  wird. Darüber hinaus fehlt auch die Vorstellung, dass das Ansehen von  Jhwhs  Namen  durch  die  Situation  oder  das  Verhalten  Israels  beschä‐ digt wird.   In Jes 48,1‐11 häufen sich hingegen die inhaltlichen und terminolo‐ gischen Nähen zu den Ezechieltexten, wobei insbesondere Verbindun‐ gen  zu  Ez  20  bestehen.  So  wird  in  diesen  beiden  Texten  die  Sorge  Jhwhs  um  seinen  Namen,  der  nicht  entweiht  werden  soll  (‫חלל‬  ni.,  Jes  48,11;  vgl.  Ez  20,9.14.22),  als  das  treibende  Motiv  des  göttlichen  Han‐ delns  (‫עשׂה‬,  Jes  48,3.11;  vgl.  Ez  20,9.14.22.44;  36,22)  benannt.  Die  Ver‐ wendung von  ‫למען שׁמי‬ (Jes 48,9; vgl. Ez 20,9.14.22.44) zur Formulierung  dieses  Interesses  ist  dabei  ein  wichtiges  Indiz  für eine literarische Ab‐ hängigkeit, da der Terminus über diese beiden Texte hinaus nur noch  in  Jes  66,5  belegt  ist. 214  Auch  inhaltlich  berührt  sich  Jes  48,1‐11  in  der  Ausprägung des Motivs der Sorge um Jhwhs Namen näher mit Ez 20  als mit Ez 36,16‐23ba; 39,23‐29. Dort dient die Sammlung der Diaspora  der Reputation von Jhwhs heiligem Namen, während sich sowohl in Ez  20 als auch in Jes 48,1‐11 der Gedanke findet, dass die Zurückhaltung  des göttlichen Zornes und somit die Verschonung des Volkes dem An‐ sehen  des  Namens  dient.  In  der  Sicht  auf  das  Volk  gibt  es  weitere  Berührungen zwischen Jes 48 und Ez 20: In beiden Texten werden die  Israeliten als ‫בית יעקב‬ (Ez 20,5; Jes 48,1) bezeichnet; eine Benennung, die  sich im Zweiten Jesaja darüber hinaus noch in Jes 46,3 und 58,1 findet,  im  Ezechielbuch  aber  nur  an  dieser  einzigen  Stelle  belegt  ist.  Zwar  wird auch in Ez 39,25 die Bezeichnung ‫יעקב‬ für das Volk gewählt, aber  hier  könnte  ebenso  Einfluss  von  Jes  49,5  vorliegen;  ein  Text,  zu  dem  weitere  Bezüge  in  36,16‐22;  39,23‐29*  vorliegen. 215  Schließlich  setzen  sowohl  Ez  20  als  auch  Jes  48,1‐11  eine  grundlegende  Versündigung  Israels voraus, die sich in Ez 20 in der wiederholten Widerspenstigkeit  gegenüber  Jhwh  äußert,  indessen  Jes  48,1‐11  von  einer  wesenhaften  Sündigkeit des Volkes ausgeht.   Trotz  dieser  Übereinstimmungen  fallen  aber  auch  terminologische  und inhaltliche Unterschiede auf: So spricht Ez 20 von der Ausgießung  (‫)שׁפך‬ des göttlichen Grimms (‫חמה‬, Ez 20,8.13.21), von der Jhwh absehen                                 214  An dieser Stelle ist davon die Rede, dass eine Gruppe im Volk um des Jhwh‐Namens  willen (‫)למען שׁמי‬ verfolgt wird; der Verweis auf Jhwhs Name dient hier der Begrün‐ dung einer Spaltung im Gottesvolk.  215  Vgl. dazu o. Kap. III. 3.3. 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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wird,  während  in  Jes  48,9  davon  die  Rede  ist,  dass  Jhwh  um  seines  Namens  willen  seinen  Zorn  (‫)אף‬  zurückhält  (‫ארך‬  hif.).  Vor  allem  aber  findet sich die Bedeutung, die in der Argumentation von Ez 36,16‐23ba;  39,23‐29 und Ez 20 den Völkern bei der Entweihung des göttlichen Na‐ mens zukommt, in Jes 48,1‐11 nur andeutungsweise – vor wem Jhwhs  Name entweiht wird, ist nicht explizit erwähnt.  Dagegen  spielt  die  Völkerperspektive  eine  wichtige  Rolle  in  Jes  52,4‐6. Die einzige Konsequenz, die das Exil für das Volk gehabt hat, ist  die  Lästerung  von  Jhwhs  Namen  durch  das  Höhnen  der  Fremdherr‐ scher. Mit der Fehlbeurteilung des Exils durch die Völker wird hier das  gleiche  Problem  verhandelt  wie  in  Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  und  durch  die  redaktionelle  Verbindung  mit  Jes  52,7‐10  ist  in  gleicher  Weise  die  Rückführung  des  Volkes  als  Lösung  vorgesehen.  Es  bleibt  aber  fest‐ zuhalten, dass das Vokabular von Jes 52,4‐6 erheblich von den ezechie‐ lischen  Formulierungen  abweicht  und  sich  abgesehen  vom  Interesse  am Namen Jhwhs (‫שׁמי‬, Jes 52,5.6) keine terminologischen Querverbin‐ dungen finden.216 Es  ist  nun  danach  zu  fragen,  welche  Rückschlüsse  aus  den  Ergeb‐ nissen der vergleichenden Analyse gezogen werden können. In Bezug  auf  Jes  43,22‐28*  gibt  es  zu  wenige  Querverbindungen,  als  dass  eine  literarische Abhängigkeit postuliert werden könnte. Wiewohl es wahr‐ scheinlich ist, dass der Text eine Rezeption in Jes 48,1‐11 erfahren hat,  kann  im  Hinblick  auf  die  Stücke  des  Ezechielbuches  lediglich  davon  ausgegangen werden, dass die Texte einen gemeinsamen traditionsge‐ schichtlichen Hintergrund haben.217 Auch  im  Fall  von  Jes  48,1‐11  und  Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  gibt  es  kaum Anhaltspunkte für ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis. Bis  auf das den Texten gemeinsame Begründungsmotiv (‫לשׁם קדשׁי‬, Ez 36,22;  ‫למען שׁמי‬, Jes 48,9) existieren keine weiteren thematischen Verbindungen  zwischen  den  Texten,  und  auch  die  „deuterojesajanischen“  Termini  ‫יעקב‬  und  ‫שׁוב‬  pil.  in  Ez  39,25.27  verweisen  eher  auf  Jes  49,5  als  auf  Jes  48,1‐11.  Der  Unterschied,  dass  Israel  Jhwhs  heiligen  Namen  nach  Ez  36,20.21.22.23 faktisch entweiht hat, während die Argumentation in Jes                                 216  Der Versuch BLANKS, in Jes 52,5 das Motiv der „Entweihung des göttlichen Namens“  nachzuweisen, indem er in Jes 52,5 das zweite ‫נאם יהוה‬ auf ein als Abkürzung miss‐ verstandenes  Suffix  ‫‐ני‬  zurückführt  und  ursprüngliches  ‫יחללוני‬  rekonstruiert  (vgl.  BLANK, Isaiah, 1‐8), kann nicht überzeugen. Über die falsche Auflösung des Suffixes  hinaus  ist  er  noch  gezwungen,  eine  Vertauschung  von  ‫ה‬  und  ‫ח‬  anzunehmen.  Es  ist  aber höchst unwahrscheinlich, dass ein geläufiges Motiv zwei aufeinanderfolgenden  Versehen in der Texttradierung zum Opfer hätte fallen können; das hieße, den Über‐ lieferern jegliche Schriftgelehrsamkeit abzusprechen.  217  Vgl. ZIMMERLI, BK, 876, der in Jes 43,22‐28 eine „auffallend enge sachliche Parallele“  zu Ez 36,16‐38 sieht. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

48,1‐11  darauf  zielt,  der  Entweihung  entgegen  zu  wirken,  zeigt  auf  jeden Fall ein fortgeschritteneres Reflexionsstadium. Will man ein Aus‐ legungsverhältnis  zwischen  den  Texten  in  Erwägung  ziehen,  müsste  Jes  48,1‐11  deshalb  zusammen  mit  Ez  20  zur  Nachgeschichte  von  Ez  36,16‐22;  39,23‐29*  gerechnet  werden.  Da  Jhwhs  Namen  und  das  Ein‐ treten für seine Ehre neben Jes 48,11 noch in Jes 42,8f. eine Rolle spie‐ len,218  könnte  die  Argumentation  in  Jes  48,1‐11  aber  auch  durch  den  Kontext  im  Buch  erklärt  werden.  Die  Frage  kann  hier keiner abschlie‐ ßenden Klärung zugeführt werden.  Anders sieht die Sache mit dem Verhältnis von Jes 48,1‐11 und Ez  20  aus,  wo  die  zahlreichen  inhaltlichen  und  terminologischen  Berüh‐ rungen  eindeutig  auf  eine  literarische  Abhängigkeit  hindeuten.  Die  Erkenntnis,  dass  eine  besondere  Verbindung  zwischen  Ez  20  und  Jes  48,1‐11  vorliegt,  ist  nicht neu und wird im Allgemeinen mit ezechieli‐ schem Einfluss auf Jes 48,1‐11 erklärt.219 Für eine dergestaltige Annah‐ me  könnte  sprechen,  dass  nicht  nur  das  Motiv  von  Jhwhs  Sorge  um  seinen  Namen  in  Jes  48,9.11,  sondern  auch  die  „Härte  Israels“  in  48,4   (‫קשׁה‬,  vgl.  Ez  2,4;  3,7;  ‫מצח‬,  vgl.  Ez  3,7)  und  das  Läuterungsgericht  im  Schmelzofen  in  48,10  (‫כור‬,  vgl.  Ez  22,17‐22)  eine  Parallele  im  Ezechiel‐ buch  haben.  Andererseits  kann  diese  These  nicht  erklären,  warum  in  Ez  20,5  die  „deuterojesajanische“  Bezeichnung  ‫בית יעקב‬  für  das  Volk  verwendet wird und in Jes 48,1‐11 das ezechielische  ‫שׁפך חמה‬ durch ‫ארך‬ ‫אף‬  ersetzt  sein  sollte,  obwohl  auch  ‫חמה‬  im  Zweiten  Jesaja  belegt  ist.220  Deshalb  soll  im  Folgenden  versucht  werden,  in  Bezug  auf  das  Motiv  von Jhwhs Namen die umgekehrte Richtung der Abhängigkeit plausi‐ bel zu machen.                                 218  Nach  KRATZ,  Kyros,  206‐216.217,  gehören  Jes  42,8  und  Jes  48,1‐11  sogar  derselben  literarischen Schicht an, so dass in Jes 48,1‐11 mit einer Redaktion zu rechnen ist, der  grundsätzlich ein Interesse an Jhwhs Namen zugeschrieben werden kann. In Jes 42,9  findet  sich  darüber  hinaus  auch  die  Gegenüberstellung  des  Früheren  und  des  Neuen, die in Jes 48,1‐11 ebenfalls thematisiert wird, so dass weitere Verbindungen  zwischen den beiden Texten bestehen.  219  Eine literarische Abhängigkeit in Jes 48,1‐11 von Ez 20 bzw. Ez 36 vertreten BLENKIN‐ SOPP,  AncB,  290,  und  HERMISSON,  BK,  243.  Zustimmung  hat  auch  die  These  von  SCHMITT,  Prophetie,  48‐56,  gefunden,  demzufolge  das  Grundwort  in  Jes  48,1‐11  durch eine schultheologische Bearbeitungsschicht (48,1*.2.4.5b.7b.8b.9f.11*) erweitert  worden sei, die „engere terminologische und vorstellungsmäßige Beziehungen zum  Ezechielbuch“ aufweise (Zitat SCHMITT, a.a.O., 54; vgl. im Anschluss an diesen POHL‐ MANN,  Ezechielstudien,  74f.).  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  443f.,  spricht  davon,  dass das Motiv des Eintretens Jhwhs für die Ehre seines Namens in der Völkerwelt  Ez  36,22  bei  Deuterojesaja  in  Jes  43,22‐28  und  48,11  aufgenommen  sei,  während  KRATZ,  Kyros,  115,  in  einzelnen  Versen  von  Jes  48,1‐11  eine  von  Ezechiel  geprägte  Sprachebene sieht. VAN  OORSCHOT, Babel, 305 Anm. 69, weist schließlich auf gegen‐ seitige Beeinflussungen von Jes 48,1‐11 und dem Ezechielbuch hin.  220  Vgl. Jes 42,25; 51,13.17.20.22; 59,18. 

   

Der heilige Name Jhwhs: Ez 36,16‐23ba und 39,23‐29 

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Demnach  hätten  dem  Autor  von  Ez  20*  sowohl  die  Vorlage  in  Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  als  auch  das  auf  Jes  43,22‐28*  (und  Ez  36,16‐22;  39,23‐29*?) zurückgreifende Stück Jes 48,1‐11 vorgelegen, die er in sei‐ nem Text rezipiert. Aus Ez 36,16‐23ba; 39,23‐29 übernimmt er die Vor‐ stellung, dass Jhwhs Name vor den Völkern entweiht wird und macht  diese zum Leitmotiv seines Geschichtsrückblickes in Ez 20,5‐24*. Aller‐ dings interpretiert er das vorliegende Motiv in einer Auslegung von Jes  48,1‐11 dahingehend, dass Jhwhs Name nicht durch die Existenz in der  Diaspora,  sondern  durch  ein  vernichtendes  Strafgericht  über  Israel  entweiht würde. Das im Ezechielbuch nicht belegte jesajanische ‫ארך אף‬  (vgl. Jes 48,9) ersetzt er dabei durch die für das Buch geläufige Formu‐ lierung  ‫שׁפך חמה‬, die er auch in seinem Bezugstext in Ez 36,18; (39,29)221  bereits vorliegen hat. Weiterhin übernimmt er aus Jes 48,1 die Volksbe‐ zeichnung ‫בית יעקב‬ und aus Jes 48,9 die geprägte Wendung ‫למען שׁמי‬, wo‐ durch  auch  das  Fehlen  von  Jhwhs  „heiligem“  Namen  in  Ez  20,9.14.22  im Vergleich mit Ez 36,16‐23ba; 39,23‐29 eine Erklärung findet. Da auf  diese Weise sowohl die Übereinstimmungen wie auch die Divergenzen  zwischen den Texten eine befriedigende Lösung finden, ist im Verhält‐ nis  der  beiden  Stücke  zumindest  in  Bezug  auf  das  Motiv  von  Jhwhs  Handeln  zugunsten  seines  Namens  umgekehrt  mit  einem  deuteroje‐ sajanischen Einfluss auf Ez 20* zu rechnen.   Als Letztes ist noch nach der Einordnung von Jes 52,4‐6 zu fragen.  Allein  in  diesem  Text  werden  im  Deuterojesajabuch  die  Völker  in  Person der Beherrscher explizit als das Forum benannt, vor dem Jhwhs  Ruf  zu  wahren  ist.  Darüber  hinaus  wird  die  Namenslästerung  in  Jes  52,4‐6  durch  die  Einschreibung  redaktionell  mit  der  Heimkehr  Jhwhs  und  damit  den  Exilierten  in  Jes  52,7‐10  verbunden,  so  dass  zu  über‐ legen ist, ob hier nicht der Geburtsort für das Begründungsmotiv vor‐ liegt,  das  im  Ezechielbuch  einen  so  breiten  Raum  einnimmt.  Auch  wenn  keine  eindeutigen  sprachlichen  Indizien  für  eine  Abhängigkeit  vorliegen, erscheint es möglich, dass dem Autor von Ez 36,16‐22; 39,23‐ 29*  dieser  Text  bereits  vorlag  und  er  ihn  in  seiner  Argumentation  auf  die  Situation  der  Diaspora  hin  ausgelegt  hat.222  Dafür  spricht  ferner,  dass Ez 36,16‐22; 39,23‐29* mit der Doppelbezeichnung des Volkes als  ‫יעקב‬/‫ישׂראל‬  und  der  Verwendung  der  Wurzel  ‫שׁוב‬  pil.  weitere  Querver‐ bindungen zum deuterojesajanischen Textbereich aufweist.                                 221  Im  Fall  von  39,29  konnte  wahrscheinlich  gemacht  werden,  dass  hier  ursprünglich  vom Ausgießen des Zornes die Rede ist, vgl. o. Kap. III. 3.2.; demnach ist auch hier ‫שׁפך חמה‬ möglich.  222  So  auch KRATZ, Propheten, 85: „Die Sammlung Israels aus den Völkern soll, wofür  hier  [in  Ez  36,22‐23]  Jes  52,5‐6  zitiert  wird,  die  Heiligkeit  des  Namens  Gottes  de‐ monstrieren“. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

3.5. Die Heiligkeit von Jhwhs Namen im Ezechielbuch  Ez 36,16‐22; 39,23‐29* steht damit am Anfang einer Reihe von Texten in  den  Heilsprophetien  des  Ezechielbuches,  in  denen  die  Heiligkeit  und  Souveränität  Jhwhs  vor  den  Völkern  immer  wieder  neu  durchdacht  wird. Dabei bringt das Stück Jhwhs heiligen Namen als Begründungs‐ motiv mit ins Spiel und verwendet diesen als Interpretationskategorie  für  die  Diasporasituation.  Diese  stellt  faktisch  eine  Entweihung  des  göttlichen Namens vor den Völkern dar und erweist sich damit als ein  höchst rufschädigendes Unternehmen für Jhwh. Diese negative Bewer‐ tung  der  Zerstreuungssituation  findet  sich  bereits  in  Jes  52,4‐6,  das  mutmaßlich als Vorlage für den Autor von 36,16‐22; 39,23‐29* gedient  hat und aus dem er das Motiv übernimmt.   Traditionsgeschichtlich  steht  im  Hintergrund  der  Argumentation  die  Verbindung  der  dtn.‐dtr.  Namenstheologie  mit  der  priesterlichen  Vorstellung  von  der  Heiligkeit  des  göttlichen  Namens.  Sowohl  die  dtn.‐dtr.  Namenstheologie  wie  auch  die  Vorstellung  vom  Handeln  Jhwhs  um  seines  Namens  willen  sind  dabei  gegen  einen  Ohnmachts‐ verdacht  Jhwhs  gerichtet.  Die  dtn.‐dtr.  Namenstheologie  überwindet  diesen Verdacht, indem die Gegenwart Gottes im Tempel dahingehend  eingeschränkt wird, dass nur sein Name im Heiligtum anwesend ist, so  dass  seine  Souveränität  von  der  Zerstörung  des  Heiligtums  unange‐ tastet bleibt. In gleicher Weise wird in der „Heiliger‐Namen‐Theologie“  im Ezechielbuch nur der Name Gottes durch die Diasporasituation ent‐ weiht. Jhwh erweist seine unangetastete Souveränität vor den Völkern,  insofern  er  machtvoll  zugunsten  seines  heiligen  Namens  eintritt.  Den  Völkern  wird  dadurch  die  Einsicht  zuteil,  dass  die  Trennung  Israels  von  seinem  Land  nicht  die  Ohnmacht  Jhwhs  demonstriert,  sondern  dass es allein in seinem Entschluss liegt, diese Situation herbeizuführen  oder sie aufzuheben.   In Ez 20* hat diese Vorstellung eine Rezeption erfahren, in der das  Motiv von Jhwhs Handeln um seines Namens willen zum Handlungs‐ prinzip  der  gesamten  Heilsgeschichte  wird.  Während  die  Vorstellung  in  Ez  36,16‐22;  39,23‐29*  quasi  aus  der  Not  geboren  wird,  zu  begrün‐ den,  warum  Jhwh  sein  Volk  unverdientermaßen  aus  der  Diaspora  heimführt,  zielt  das  Handeln  Jhwhs  in  Ez  20  von  Anfang  an  auf  die  Wahrung seines Ansehens in der Völkerwelt. So gefährdet die Diaspo‐ rasituation anders als in der Vorlage 36,16‐23ba; 39,23‐29 nicht den Ruf  von  Jhwhs  Namen,  sondern  dient  gerade  dessen  Bewahrung.  Neben  den  Ausführungen  in  Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  greift  der  Verfasser  von  Ez  20*  aber  auch  auf  die  Heilsbegründung  in  Jes  48,1‐11  zurück,  wo  das Heil in gleicher Weise allein auf den souveränen Entschluss Jhwhs 

   

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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und die Sorge um seinen Namen zurückgeführt wird. Mit diesem Text  teilt der Autor weiterhin die Einsicht in die wesenhafte Sündigkeit des  Volkes,  durch  die  jeglicher  Anspruch  auf  Heil  ausgeschlossen  ist.  In‐ dem  Jhwh  sein  Handeln  von  dem  Wandel  des  Volkes  unabhängig  macht  und  allein  die  Sorge  um  seinen  Namen  zum  Maßstab  erhebt,  erfährt seine Souveränität eine weitere Steigerung.  Die Auslegungsgeschichte von Ez 36,16‐22; 39,23‐29* setzt sich auch  im redaktionellen Horizont der Heilsprophetie in Ez 34‐39 fort. Zuerst  zertrennt die Einfügung der Gog‐Perikope den ursprünglichen Textzu‐ sammenhang  in  36,16‐22;  39,23‐29*.  Damit  geht  zwar  der  Bezug  der  Heiligung  auf  die  Sammlung  der  Diaspora  verloren,  aber  die  Ein‐ schreibung  baut  die  Völkerperspektive  weiter  aus,  da  das  Handeln  Jhwhs zugunsten seines Namens sekundär auf die Zerschlagung Gogs  auf den Bergen Israels ausgelegt wird. Das weitere literarische Wachs‐ tum  der  Gog‐Perikope,  die  in  der  vorliegenden  Buchgestalt  fast  zwei  Kapitel einnimmt, führt dazu, dass Ez 36,16‐22(23aba) und 39,23‐29 im‐ mer  weiter  voneinander  entfernt  werden,  so  dass  ihr  ursprünglicher  Zusammenhang  aus  dem  Blick  gerät.  Stattdessen  werden  die  beiden  Stücke zum Rahmen um Ez 38,1‐39,22 und in Kap. 36‐39 entsteht suk‐ zessive ein Heiligungs‐Cluster, der erst durch die Einfügung von Kap.  37 im Zuge der Kapitelumstellung zur masoretischen Textfolge zerteilt  wird. 

4. Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28  4.1. Standortbestimmung und Vorgehensweise  In  den  vorangehenden  drei  Unterkapiteln  sind  mit  Ez  36,23bb‐38;  Ez  38,1‐39,22  und  Ez  36,16‐23ba;  39,23‐29  die  Textstücke  behandelt  wor‐ den,  die  miteinander  eng  durch  das  Motiv  der  Heiligung  verbunden  sind und eine eigene Auslegungsgeschichte in der Redaktion der Heils‐ prophetien haben (vgl. Kap. III. 1.‐3.). Bevor mit Ez 35,1‐36,15 die mut‐ maßlich  ältesten  Texte  innerhalb  der  Kapitel  36‐39  analysiert  werden  können,  ist  zuerst  noch  Ez  37  in  den  Blick  zu  nehmen,  damit  eine  gleichmäßige Abtragung der Textschichten gewährleistet ist.  Die Analyse des Kapitels wird mit der Verheißung des Heilsbundes  (‫)ברית שׁלום‬  in  Ez  37,25‐28  beginnen,  mit  der  die  mutmaßlich  jüngste  Fortschreibung in Ez 37 vorliegt.  223 Dabei ist aber zu beachten, dass Ez  37,25‐28  eine  enge  Parallele  in  Ez  34,25‐30  hat,  in  der  ebenfalls  vom                                 223  Vgl. dazu o. Kap. II. 4.3. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Bund  des  Heils  die  Rede  ist.  Da  34,25‐30  der  einzige  Text  des  Hirten‐ kapitels ist, der bisher noch nicht genauer analysiert worden ist, sollen  die thematisch verwandten Stücke im Folgenden zusammen behandelt  werden.  Die beiden Texte berühren sich nicht nur in ihrer Rede von der ‫ברית‬ ‫שׁלום‬, sondern sie weisen auch beide eine erstaunliche Nähe zu der Se‐ gensreihe  des  Heiligkeitsgesetzes  in  Lev  26,3‐13  auf.  Während  Ez  34,25‐30 mit diesen Worten vor allem das Interesse an einer heilvollen  Ordnung  im  Land  teilt,  wird  in  Ez  37,25‐28  ebenso  wie  in  Lev  26  das  kultische Wohnen Jhwhs in der Mitte des Volkes verheißen. Es ist des‐ halb  im  Folgenden  zu  untersuchen,  inwieweit  ein  Auslegungsverhält‐ nis zwischen Lev 26,3‐13 und den ezechielischen Texten über den Bund  des Heils nachzuweisen ist.   Ausgangspunkt  dieser  Fragestellung  ist  eine  Analyse  der  beiden  Ezechieltexte,  an  die  sich  im  zweiten  Schritt  die  Frage  nach  dem  ge‐ genseitigen literarischen Verhältnis anschließt. Danach kann im dritten  Teil nach den literarischen Vorlagen gefragt werden. Neben der Bezie‐ hung zu Lev 26,3‐13 wird hier auch zu klären sein, welche Bedeutung  dem Motiv von Jhwhs Wohnen inmitten seines Volkes für das Konzept  des  Heilsbundes  zukommt.  Deshalb  wird  dieses  Kapitel  durch  einen  Überblick über eine Reihe von Texten aus dem Ezechielbuch, der deu‐ teronomistischen Überlieferung und vor allem der Priestergrundschrift  abgerundet, die in gleicher Weise von der göttlichen Gegenwart in der  Mitte der Israeliten sprechen. Abschließend ist aufzuzeigen, über wel‐ che  Texte  und  durch  welche  Auslegungsvorgänge  die  ‫ברית שׁלום‬  ihren  Weg in die Heilsverkündigung des Ezechielbuches gefunden hat.  4.2. Textanalysen  4.2.1. Der Heilsbund mit der Herde Jhwhs: Ez 34,25‐30  Der  Text  über  den  Bund  des  Heils  in  Ez  34,25‐30  steht  am  Ende  des  Hirtenkapitels  in  Ez  34  und  stellt  auch  in  redaktioneller  Hinsicht  eine  späte Fortschreibung des Grundwortes dar.224 Von der vorausgehenden  Verheißung  des  davidischen  Hirten  in  Ez  34,23f.  ist  das  Stück  zwar  durch  die  Wortbekräftigungsformel  in  34,24b  klar  abgegrenzt,  bezieht  sich  aber  in  redaktioneller  Hinsicht  auf  diese  Verheißung  zurück,  da  das  Bundesverhältnis  zwischen  Jhwh  und  seinem  Volk  aus  V  23f.  in  V 25‐30  vorausgesetzt  ist  und  unter  dem  Vorzeichen  des  ‫שׁלום‬  inter‐ pretiert wird. Die abschließende Gottesspruchformel in V 30 trennt das                                 224  Vgl. dazu und zum Folgenden o. Kap. II. 2.2. und II. 3.4. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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Stück  von  dem  nachfolgenden  redaktionellen  V  31,  der  das  Hirten‐ kapitel beschließt.  Die  Ausführungen  über  den  Heilsbund  beginnen  in  Ez  34,25  mit  der Ankündigung, dass Jhwh „mit ihnen“ (‫)להם‬, d. h. mit den Schafen  der  Herde,  einen  Heilsbund  schneiden  will  (‫)כרת‬.  An  dieser  Stelle  ist  ein  textkritisches  Problem  anzusprechen,  das  von  einiger  Bedeutung  für  die  weitere  Untersuchung  ist.  Die  griechischsprachige  Überliefe‐ rung  mit  Pap.  967  bietet  in  V  25  tw/|  Dauid  anstelle  von  ‫להם‬  und  geht  damit  von  David  als  Bundespartner  aus  (vgl.  auch  die  entsprechende  Variante des Codex Wirceburgensis). Die textkritische Diskussion ist aber  zu dem Ergebnis gekommen, dass sowohl die Fortführung des Verses  mit einem Subjekt 3. Pers. pl. (‫)וישׁבו‬ als auch die Erwähnung des Volkes  in der Bundesformel V 30 dafür sprechen, dass der MT die ursprüng‐ liche Variante des Bundesschlusses bewahrt hat.225 Weiterhin wird aus  dem  vorangehenden  Stück  34,23f.  deutlich,  dass  der  Bund  zwischen  Jhwh  und  dem  Volk  geschlossen  wird,  während  David  lediglich  eine  Funktion  innerhalb  dieses  Bundesverhältnisses  zukommt.  Auch  dies  lässt  erwarten,  dass  die  Fortschreibung  in  34,25‐30  in  ihrer  ursprüng‐ lichen Intention eben dieses Bundesverhältnis zwischen Jhwh und Volk  weiter thematisieren will. Dagegen stellt die Übertragung des Bundes‐ schlusses  auf  David  eine  bewusste  Abänderung  auf  Seiten  der  Text‐ überlieferung dar, die bereits durch die mit Pap. 967 bezeugte Buchfas‐ sung repräsentiert wird.226 Die  Verheißung  des  Heilsbundes  in  Ez  34,25‐30  schließt  drei  gött‐ liche Maßnahmen ein: Zuerst wird Jhwh die Sicherheit im Land wieder  herstellen,  indem  er  die  wilden  Tiere  ausrottet,  so dass „sie“ sicher in  den Wäldern schlafen können (V 25). Die V 26f. beschreiben zweitens,  dass er für die Regengüsse zur rechten Zeit Sorge tragen wird, um die  Fruchtbarkeit  des  Landes  zu  gewährleisten.  Am  Ende  von  V  27  steht  eine  erweiterte  Erkenntnisformel,  die  betont,  dass  Jhwh  sein  Volk  aus  der Knechtschaft befreien wird, und V 28 schließt daran mit der Zusi‐ cherung  an,  dass  sie  weder  den  fremden  Völkern  noch  den  wilden  Tieren  mehr  zur  Beute  werden  sollen.  Schließlich  wird  als  dritte  gött‐                                225  Vgl.  dazu  o.  Kap.  II.  2.1.  Anm.  28.  Zur  Bevorzugung  der  masoretischen  Lesart  vgl.  BERTHOLET, HAT, 120; ZIMMERLI, BK, 831, und BLOCK, NICOT II, 294. SCHWAGMEIER,  Untersuchungen,  309,  beurteilt  dagegen die griechische Lesart „arbeitshypothetisch  vorsichtig als lectio difficilior und MT als Angleichung von Kap.34 (sic!) an 37“, ohne  allerdings die textinternen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. In seiner Gegenüber‐ stellung  von  MT  und  Pap.  967  gibt  er  dem  Papyrus  die  textgeschichtliche  Priorität  und  sieht  gerade  in  der  Rolle  Davids  den  „exemplarischen  Differenzpunkt“  zwi‐ schen den beiden Überlieferungen (vgl. SCHWAGMEIER, a.a.O., 297‐312.313‐317).  226  Vgl. dazu u. Kap. III. 4.4.5. und Kap. IV. 2.1.4. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

liche Handlung die Errichtung einer Pflanzung des Heils227 in Aussicht  gestellt, die zur Folge hat, dass es keine Hungersnot mehr geben wird  und die Schmähungen durch die Völker ein Ende haben werden (V 29).  Das gesamte Stück wird in V 30 mit einer Kombination aus einer weite‐ ren  Erkenntnisformel,  einer  Bundesformel  und  einer  Gottesspruchfor‐ mel abgeschlossen.   Obwohl  das  Stück  inhaltlich  eine  starke  Geschlossenheit  aufweist,  wird  die  literarische  Einheitlichkeit  durch  die  doppelte  Erkenntnis‐ formel  in  V  27.30  in  Frage  gestellt.  Zwar  kann  die  Erkenntnisformel  auch textgliedernde Funktion haben, es zeichnet sich aber die Tendenz  ab,  „daß  diese  Wendung  in  ihren  verschiedenen  Varianten  den  End‐ punkt  einer  Rede  bzw.  eines  Redeabschnittes  bilden  soll.“228  Im  Fall  von  Ez  34,25‐30  sprechen  indes  auch  inhaltliche  Gründe  dafür,  die  durch die erste Erkenntnisformel eingeleiteten V 27b‐28 als eine spätere  Einfügung  zu  beurteilen.  Die  Verse  unterbrechen  die  Aufzählung  der  göttlichen  Maßnahmen  und  können  als  Wiederaufnahme  des  Tier‐ friedens aus V 25 erklärt werden, der sekundär auf die Befreiung vom  Joch der Fremdvölker hin ausgelegt wird.229   Wie der Überblick gezeigt hat, erschließt sich die Aussageintention  von  Ez  34,25‐30  erst  im  Kontext  des  gesamten  Hirtenkapitels.  Die  Fortschreibung  zielt  eindeutig  darauf,  das  vorangehende  Bundesver‐ hältnis aus 34,23f. zwischen Gott und dem Volk unter das Vorzeichen  des  ‫שׁלום‬  zu  stellen  und  die  heilvollen  Auswirkungen  des  Bundes  auf  den  gesamten  Lebensbereich  des  Volkes  darzustellen.  Auch  wenn  die  Herdenmetaphorik  formal  aufgegeben  ist,  zeigen  Wendungen  wie  „wohnen in der Wüste“ und „schlafen in den Wäldern“ (V 25), dass die  Verheißung  des  Heilsbundes  der  Herde  gilt,  deren  Wohlergehen  der  vorliegende Textbestand in Ez 34 im Blick hat.  4.2.2. Der ewige Heilsbund: Ez 37,25‐28  Ebenso wie Ez 34,25‐30 am Ende des Hirtenkapitels die segensreichen  Auswirkungen  des  Heilsbundes  beschreibt,  so  steht  auch  der  zweite  Text  über  die  ‫ברית שׁלום‬  in  Ez  37,25‐28  am  Schluss  des  Kapitels.  Das                                 227  So mit der Textvariante der alten Übersetzungen; vgl. dazu die textkritische Diskus‐ sion der Stelle in Kap. II. 2.1. Anm. 31.  228  SCHÖPFLIN, Theologie, 110; vgl. ebenso HOSSFELD, Untersuchungen, 40‐45.  229  Siehe  auch  POHLMANN,  ATD,  468,  der  V  27b‐28  als  zusatzverdächtig  beurteilt.  Des  Weiteren unterscheiden LEVIN, Verheißung, 220f., und FUHS, NEB, 195, zwei Ergän‐ zungen in V 27abb und V 28. LEVIN, a.a.O., 220, beurteilt außerdem noch V 26bb als  den  „Inbegriff  einer  Glosse“.  Anders  schreibt  HOSSFELD,  Untersuchungen,  254,  den  Erkenntnisformeln  lediglich  „ornamentale“  Funktion  zu  und  betrachtet  die  Fort‐ schreibung V 25‐30 insgesamt als literarisch einheitlich. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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Stück  schließt  die  auf  die  Vision  Ez  37,1‐14  folgenden  Heilsworte  in  37,15ff.  mit  der  Verheißung  des  ewigen  Heilsbundes  ab,  der  auf  die  Zusage von Jhwhs Wohnen inmitten seines Volkes zuläuft (37,26.28).  Wird  nach  der  Einordnung  von  Ez  37,25‐28  in  das  Gesamtkapitel  gefragt,  so  spricht  einiges  dafür,  in  diesem  Text  die  letzte  Fortschrei‐ bung in diesem Bereich zu sehen, die die vorliegende Bundesformel in  37,23  aufgreift  und  in  Form  des  ewigen  Heilsbundes  interpretiert.230  Das  Grundwort  des  Kapitels  stellt  nach  den  bisherigen  Überlegungen  die Vision von den trockenen Knochen in 37,1‐14 mit der einleitenden  Wortereignisformel  in  37,1  dar,231  an  die  sich  in  37,15‐19  die  Zeichen‐ handlung  von  den  zwei  Hölzern  angeschlossen  hat.  Die  folgenden  Heilsworte  in  37,20‐24  geben  durch  Stichwortverbindungen  zu  erken‐ nen,  dass  sie  von  der  Symbolhandlung  abhängig  sind  und  ihrerseits  Fortschreibungen  derselben  darstellen  (‫עץ‬,  37,20;  vgl.  37,16.17.19;  ‫אחד‬,  37,22.24; vgl. 37,19). Dagegen enthält 37,25‐28 keine Rückbezüge mehr  auf  die  Zeichenhandlung  und  auch  die  von  V 24  divergierende  Herr‐ scherkonzeption (‫נשׂיא‬, 37,25 gegenüber ‫מלך‬ in 37,24)232 zeigt, dass V 25‐ 28 nicht auf dieselbe literarische Ebene wie die vorausgehenden V 20‐ 24 gehören.233 Schließlich werden die V 25‐28 durch das Leitwort ‫לעולם‬,  „für  ewig“,  zusammengehalten,  das  in  den  vier  Versen  dreimal  ver‐ wendet  wird  (V  25.26.28;  vgl.  noch  ‫עולם‬,  V  25.26),  während  es  in  den  übrigen Texten des Kapitels nicht ein einziges Mal belegt ist. In 37,25‐ 28 ist deshalb mit einer vom vorherigen Kontext abzugrenzenden Ein‐ heit  zu  rechnen,  die  allerdings  durch  den  unvermittelten  Einsatz  mit                                 230  Ebenso ZIMMERLI, BK, 907f.913‐915; GARSCHA, Studien, 223‐229; FUHS, NEB, 211‐214;  LEVIN, Verheißung, 214‐218 (für 37,26f.*); OHNESORGE, Jahwe, 339‐418; KRÜGER, Ge‐ schichtskonzepte,  438f.,  und  POLA,  Priesterschrift,  198f.  Anders  dagegen  RUDNIG,  Heilig,  65‐68,  der  in  37,25‐28  die  ursprüngliche  Fortsetzung  von  37,1‐14  sieht  (vgl.  dazu Anm. 234).   231  Zum ausführlichen Nachweis der These vgl. u. Kap. III. 6.3.  232  In  der  LXX  (mit  Pap.  967)  wird  David  sowohl  in  37,24  (MT:  ‫)מלך‬  wie  auch  in  37,25  (MT:  ‫)נשׂיא‬ als a;rcwn tituliert, so dass in der griechischen Textbezeugung kein Unter‐ schied zwischen den Herrschererwartungen in 37,24 und 37,25 vorliegt. Die Variante  der LXX ist gegenüber der masoretischen Davidverheißung lectio facilior. Sie kann als  Versuch beurteilt werden, die literarkritisch zu erklärende Akzentverschiebung von  37,24 zu 37,25 auszugleichen (vgl. auch 37,22, wo LXX anstelle des ‫מלך אחד‬ a;rcwn ei-j  bietet) und mit der Verheißung in 34,24 zu harmonisieren (MT: ‫נשׂיא‬/LXX: a;rcwn); vgl.  dazu  die  Analyse  von  Ez  37,15‐24  u.  Kap.  III.  5.2.  Zur  Priorität  der  masoretischen  Textbezeugung siehe auch ZIMMERLI, BK, 905f., sowie BLOCK, NICOT II, 406f.413f.  233  Bei  dieser  Abgrenzung  ist  allerdings  die  genaue  Zuordnung  von  V  24b  schwierig,  der theoretisch auch zum folgenden Abschnitt V 25‐28 gehören könnte (so ZIMMERLI,  BK,  907;  vgl.  weiterhin  OHNESORGE,  Jahwe,  347,  und  POLA,  Priesterschrift,  197);  zu  den  Gründen,  warum  hier  die  literarische  Einheitlichkeit  von  V  24  vertreten  wird,  vgl. die Analyse u. in Kap. III. 5.2. Wie dort zu zeigen sein wird, handelt es sich bei  V 24 insgesamt um einen Einzelversnachtrag, der bereits die gesamte mehrschichtige  Textfolge 37,15‐19.20‐23* voraussetzt. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

der Verbform  ‫וישׁבו‬ ein bereits eingeführtes Subjekt 3. Pers. pl. voraus‐ setzt. Da die Gottesrede in 37,1‐11 an den Propheten ergeht, in 37,12‐14  aber  direkt  an  Israel  gerichtet  ist,  kommt  als  Subjekt  für  37,25‐28  nur  das  Gottesvolk  aus  37,20‐24  in  Frage,  von  dem  dort  in  3.  Pers.  pl.  die  Rede  ist.234  Konsequenterweise  kann  in  37,25‐28  nur  die  jüngste  Fort‐ schreibung  des  Kapitels  vorliegen,  die  in  V 28  mit  einer  erweiterten  Erkenntnisformel abgeschlossen wird. Von seinem nachfolgenden Kon‐ text, der nach dem Zeugnis von Pap. 967 in dem Beginn der Tempelvi‐ sion 40‐48 besteht, ist der Text durch die Visionseinleitung in 40,1 klar  abgegrenzt.  In der protomasoretischen Buchfassung markiert dagegen  die Wortereignisformel der Gog‐Perikope in 38,1 einen Neueinsatz.  Auch  wenn  die  literarische  Integrität  von  37,25‐28  grundsätzlich  kaum  in  Frage  gestellt  werden  kann,  lassen  sich  innerhalb  des  Ab‐ schnittes verschiedene Nachträge abheben. So ist mit dem Zeugnis der  LXX*  nicht  nur  der  Hinweis  auf  die  späteren  Generationen  in  V 25ba  zu streichen, sondern auch die Verheißung der Vermehrung in V 26ba.  Über  den  textkritischen  Befund  hinaus  können  diese  Entscheidungen  auch literarkritisch gerechtfertigt werden: Der Verweis auf Kinder und  Kindeskinder in V 25ba stellt eine nachträgliche Ausweitung von V 25a  dar, in der die andauernde Gültigkeit der Landverheißung betont wer‐ den  soll.235  Die  Vermehrung  des  Volkes  in  V  26ba  kann  dagegen  als  spätere  Glosse  eingeordnet  werden,  die  durch  Wiederaufnahme  des  folgenden ‫ונתתי‬ aus V 26bb eingefügt worden ist.236 Schließlich gibt sich  auch der Verweis auf die Väter in V 25ab durch den Suffixwechsel und  die  parallele  Gestaltung  zu  V  25aa  als  späterer  Nachtrag  zu  erken‐ nen.237   Der verbleibende Text in Ez 37,25aa.bb.26a.bb.27f. (37,25‐28*) bildet  eine  sorgfältig  durchkomponierte  literarische  Einheit,  die  in  V  25  mit  der Verheißung eröffnet wird, dass die Israeliten in ihrem Land leben  werden, das Jhwh seinem Knecht (‫)עבד‬ Jakob gegeben hat.238 Die Bestä‐                                234  So  gegen  die  These  von  RUDNIG,  Heilig,  65‐68,  wonach  37,25‐28  die  ursprüngliche  Fortsetzung  der  golaorientiert  überarbeiteten  Vision  37,1‐14*  darstellt;  ihm  folgt  PETRY, Entgrenzung, 271. Zwar sieht auch RUDNIG das Problem des Personenwech‐ sels, aber seine Versuche, diese Differenz mit einer Angleichung von 37,25‐28 an die  nachträglich  eingeschobenen  V 20‐24  oder  mit  einem  bewussten  Perspektivwechsel  zu  erklären  (vgl.  RUDNIG,  a.a.O.,  66f.)  sind  m.  E.  nicht  überzeugend.  In  literarkri‐ tischer  Hinsicht  ist  der  Anredewechsel  zu  gewichtig,  als  dass  ein  ursprünglicher  Textzusammenhang von 37,1‐14* mit 37,25‐28 postuliert werden könnte.  235  Vgl. OHNESORGE, Jahwe, 347.401, und RUDNIG, Heilig, 68.   236  So  auch  FOHRER,  HAT,  211;  EICHRODT,  ATD,  358;  LEVIN,  Verheißung,  217;  OHNE‐ SORGE, Jahwe, 348f., und RUDNIG, Heilig, 69.  237  Vgl. RUDNIG, Heilig, 68.  238  Die  auffällige  Erzväterthematik  (der  Knecht  Jakob;  vgl.  auch  den  Verweis  auf  die  Väter im Nachtrag V 25ab) erklärt sich daher, dass 37,25‐28 eine Fortschreibung der 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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tigung  der  Landverheißung  wird  durch  die  Ankündigung  ergänzt,  dass David für alle Zeit (‫)לעולם‬ Fürst (‫)נשׂיא‬ über das Volk sein wird.239  In  V 26  verheißt  Jhwh,  dass  er  einen  Heilsbund  (‫)ברית שׁלום‬  mit  ihnen  schneiden  wird  (‫)כרת‬,  der  im  Folgenden  näher  als  Bund  von  dauer‐ hafter  Gültigkeit  (‫)ברית עולם‬  bestimmt  wird.  Die  Bundesverheißung  konkretisiert sich in der Zusage, dass Jhwh sein Heiligtum (‫)מקדשׁי‬ auf  ewig (‫)לעולם‬ in die Mitte seines Volkes geben wird. Diese Ankündigung  der  kultischen  Gegenwart  Gottes  wird  im  folgenden  V  27  wiederholt,  wobei  diesmal  aber  die  Bezeichnung  ‫משׁכן‬,  „Wohnung“,  an  die  Stelle  von  ‫מקדשׁ‬  tritt.240  Eine  Bundesformel  besiegelt  die  göttliche  Zusage  in  V 27, während sich in V 28 noch eine auf die Völker gerichtete Erkennt‐ nisformel anschließt. Die Völker werden Jhwh erkennen, der Israel hei‐ ligt,  indem  sein  Heiligtum  (‫)מקדשׁי‬  für  ewig  (‫)לעולם‬  in  der  Mitte  seines  Volkes sein wird (V 28).   Ez 37,25‐28* ist damit klar durch die Vorstellung der Unverbrüch‐ lichkeit des Heils geprägt, wie die Verwendung des Leitwortes ‫לעולם‬ in  V 25.26.28 zeigt: „Es geht um die Zusage der unverbrüchlichen Dauer  des  von  Gott  Verheißenen.“241  Die  ‫ברית שׁלום‬  wird  so  als  ewiger  Bund  beschrieben,  der  die  Gültigkeit  der  Landzusage  und  den  ewigen  Be‐ stand  der  davidischen  Herrschaft  mit  einschließt  und  zuletzt  in  der  Zusage der göttlichen Präsenz in der Mitte des Volkes konkret Gestalt  annimmt.   4.3. Das literarische Verhältnis  Wie  die  Einzeltextanalysen  gezeigt  haben,  liegt  es  nahe,  eine  literari‐ sche  Verbindung  zwischen  Ez  34,25‐30  und  Ez  37,25‐28  anzunehmen,  da  beide  Texte  eine  Verheißung  der  ‫ברית שׁלום‬  enthalten.  Über  diese  zwei  Stücke  hinaus  ist  der  Terminus  nur  noch  in  Jes  54,10  und  Num  25,12  im  Alten Testament belegt, wo er aber jeweils in einem anderen                                 Zeichenhandlung  über  die  Wiedervereinigung  in  37,15‐19  darstellt  und  im  Rekurs  auf die Erzväter eine gesamtisraelitische Perspektive einnimmt; vgl. dazu u. Kap. III.  5.4.3.  239  Mehrfach wird die gesamte Davidverheißung in V 25bb als Nachtrag angesehen; vgl.  VEIJOLA, Verheißung, 165 Anm. 3; LEVIN, Verheißung, 214, und OWCZAREK, Vorstel‐ lung, 128‐131. Für diese Annahme gibt es m. E. kein überzeugendes literarkritisches  Argument.  240  Der  Wechsel  der  Bezeichnung  für  die  göttliche  Wohnung  rechtfertigt  allein  noch  nicht  die  literarkritische  Ausscheidung  von  V  27aa  (so  gegen  OHNESORGE,  Jahwe,  350, und RUDNIG, Heilig, 69).  241  ZIMMERLI, BK, 913. Einzig bei der Landverheißung fehlt die Aussage über die ewige  Gültigkeit in Form des Adverbs ‫לעולם‬, dessen Fehlen aber augenscheinlich durch den  Nachtrag in V 25ba korrigiert werden soll (vgl. RUDNIG, Heilig, 68). 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Kontext  verwendet  wird.242  Es  ist  nicht  nur  die  spärliche  Bezeugung  des Begriffs, die auf eine enge Beziehung zwischen den beiden Texten  des  Ezechielbuches  hindeutet,  sondern  auch  der  identische  Wortge‐ brauch, da der Bundesschluss in den zwei Stücken mit der identischen  Formulierung ‫וכרתי להם ברית שׁלום‬ (34,25; 37,26) angekündigt wird.  Weiterhin ist die Bundeszusage in beiden Fällen redaktionell an ei‐ ne vorausgehende Davidverheißung angeschlossen (34,23f., vgl. 37,24),  wobei  es  allerdings  einen  entscheidenden  Unterschied  gibt:  Während  David in 34,23f.* als Knecht (‫)עבד‬ und Hirte (‫)רעה‬ bezeichnet wird und  ihm sekundär noch die Bezeichnung als Fürst (‫נשׂיא‬, 34,24ab) zugewach‐ sen  ist,  spricht  die  Verheißung  in  37,24  zwar  auch  vom  Knecht  und  Hirten David, dieser soll aber als König (‫)מלך‬ über das Volk herrschen.  Die Ankündigung des davidischen Herrschers wird in 37,25 innerhalb  der Perikope über den Heilsbund wiederholt, diesmal allerdings unter  Verwendung der auch im Hirtenkapitel gebrauchten Titulatur  ‫נשׂיא‬. Da  es im gesamten Ezechielbuch nur in diesen zwei Kapiteln eine explizite  Davidverheißung  gibt,  an  die  sich  in  beiden  Fällen  die  Zusage  des  Heilsbundes  angeschlossen  hat,  kann  dies  kaum  Zufall  sein,  sondern  spricht  für  eine  innere  Nähe  des  (ewigen)  Heilsbundes  zur  Davider‐ wartung.  Als  Schlüssel  für  diesen  Zusammenhang  kann  sich  ein  näherer  Blick  auf  Wesen  und  Bedeutung  der  Attribute  ‫שׁלום‬  und  ‫עולם‬  erweisen. ‫שׁלום‬ ist ein „zutiefst positiver Begriff, der mit den Vorstellun‐ gen  von  Unversehrtheit,  Ganzheit,  Heilsein  von  Welt  und  Mensch  zu  tun  hat“,243  und  dessen  Durchsetzung  in  der  altorientalischen  Königs‐ ideologie  oft  mit  der  Königsherrschaft  verbunden  wird.244  Diese  Kon‐ zeption hat ihre Spuren auch im Alten Testament hinterlassen; vgl. z. B.  Texte wie 1 Kön 5,4f; Jes 9,1‐6; Mi 5,1‐5 und Ps 72. In gleicher Weise hat  die  Vorstellung  von  der  „Ewigkeit“  des  Königtums  ihren  ursprüng‐ lichen  Ort  in  der  Königsideologie245  und  ist  von  der  deuteronomisti‐ schen Überlieferung auf David und seine Dynastie übertragen worden;  vgl. z. B. den Davidbund von 2 Sam 23,5.246 Damit werden sowohl in Ez                                 242  In Jes 54,10 gilt die Zusage der  ‫שׁלומי‬ ‫ברית‬ der Frau Zion gleichsam als Kompensation  des  vorausgehenden  Gotteszornes,  vgl.  dazu  u.  Kap.  III.  4.4.5.  In  Num  25,12  wird  Pinehas die  ‫בריתי שׁלום‬ als Vergütung für sein verdienstvolles Handeln zugesprochen.  Allerdings liegt hier nach GesK §128d; §131r Anm. 4, keine status constructus‐Verbin‐ dung wie in den anderen Belegen vor, und auch inhaltlich handelt es sich nicht um  ein Bundesverhältnis zwischen Jhwh und seinem Volk, sondern um eine persönliche  Zusage an Pinehas. Aus diesen Gründen kann Num 25,12 in der folgenden Analyse  unberücksichtigt bleiben.  243  STENDEBACH, Art. ‫ ָשׁלוֹם‬, 19.  244  Vgl. dazu SCHMID, šalôm, 30‐36, sowie STENDEBACH, Art. ‫ ָשׁלוֹם‬, 19‐25.  245  Vgl. PREUSS, Art. ‫עוֹ ָלם‬, 1150f.   246  Vgl. VEIJOLA, Dynastie, passim, insbes. 68‐79.127ff. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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34,25‐30*  als  auch  in  Ez  37,25‐28*  im  Anschluss  an  die  Davidverhei‐ ßungen  Attribute  auf  das  Bundesverhältnis  zwischen  Jhwh  und  dem  Volk  übertragen,  die  mit  der  Königsherrschaft  verbunden  sind.  Indes  bleibt  festzuhalten,  dass  die  Bundesverheißung  in  Ez  34,25‐30*  erst  sekundär  an  die  Davidweissagung  angefügt  worden  ist,  während  die  beiden Verheißungen in Ez 37,25‐28* von Anfang an auch in einer Text‐ einheit zusammengeschlossen sind.  Die beiden Verheißungen in Ez 34 und 37 differieren aber vor allem  in der unterschiedlichen Füllung der Bundesschlüsse. Während die ‫ברית‬ ‫שׁלום‬  in  Ez  34,25‐30*  einen  Zustand  umfassenden  Heils  für  Volk  und  Land zur Folge hat, zeigt in Ez 37,25‐28* schon die Näherbestimmung  des Heilsbundes als ‫ברית עולם‬ an, dass der Fokus hier auf der Betonung  der unverbrüchlichen Dauer liegt.  Trotz  der  festgestellten  Differenzen  rechtfertigen  insbesondere  die  terminologischen  Querverbindungen  und  die  jeweilige  Nähe  zu  den  beiden  einzigen  Davidverheißungen  des  Buches  die  Annahme  einer  literarischen Abhängigkeit. Es stellt sich die Frage der chronologischen  Reihenfolge,  die  vom  äußeren  Befund  her  nicht  entschieden  werden  kann,  da  es  sich  bei  beiden  Stücken  jeweils  um  eine  späte  Fortschrei‐ bung  im  Kapitel  handelt.  Der  innere  Befund  spricht  jedoch  eindeutig  dafür, in Ez 34,25‐30* das traditum für Ez 37,25‐28* zu sehen. 247 Zuerst  liegt in 34,25‐30* der einfachere Text vor, dem gegenüber 37,25‐28* die  detailliertere  und  tiefer  gehende  Reflexion  über  die  ‫ברית שׁלום‬  bietet.  Dazu ist der Autor von 34,25‐30* allein an der Beschreibung des Heils‐ bundes und seiner segensreichen Auswirkungen interessiert, während  der  Verfasser  von  37,25‐28*  zwar  den  Terminus  ‫ברית שׁלום‬  verwendet,  diesen aber vor allem als Bund von ewigem Bestand beschreibt. Da die  segensreichen  Auswirkungen  in  Form  von  Fruchtbarkeit  und  Frieden  in  Ez  37,25‐28*  gar  nicht  mehr  thematisiert  werden,  liegt  es  nahe,  die  kurze  Erwähnung  des  Heilsbundes  in  37,26  als  Verweis  auf  etwas  bereits Vorausgesetztes, d. h. auf die Vorlage in Ez 34,25 zu verstehen.  Schließlich spricht auch die Einbindung der Davidverheißung für diese  Richtung der literarischen Abhängigkeit. Denn die ursprüngliche Kom‐ bination  von  Daviderwartung  und  Heilsbund  in  37,25‐28*  deutet  darauf  hin,  dass  dem  Autor  des  Textes  die  redaktionelle  Zusammen‐ stellung  der  beiden  Ankündigungen  im  Hirtenkapitel  (34,23f.*25‐30*)  bereits vorgelegen hat.                                 247  So auch HERRMANN, Heilserwartungen, 274, und OHNESORGE, Jahwe, 389. Dagegen  vertritt  LEVIN,  Verheißung,  218‐222,  die  umgekehrte  Richtung  der  Abhängigkeit,  während  THIEL,  Rede,  21,  Ez  34,25‐30  und  Ez  37,24b‐28  „denselben  Händen“  zu‐ schreibt. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Der Auslegungsvorgang kann damit wie folgt beschrieben werden:  Der  Verfasser  von  Ez  34,25‐30*  ist  der  erste,  der  im  Ezechielbuch  von  der  ‫ברית שׁלום‬ spricht und mit diesem Konzept sekundär das in 34,23f.*  vorgegebene  Bundesverhältnis  zwischen  Gott  und  Volk  interpretiert.  Der spätere Autor von Ez 37,25‐28* greift den Begriff der  ‫ברית שׁלום‬ aus  34,25  auf  und  baut  darauf  seine  Ausführungen  über  die  ‫ברית עולם‬  auf.  Dabei geht es ihm in erster Linie um den Nachweis, dass die ‫ברית עולם‬  aus 37,25‐28* mit der  ‫ברית שׁלום‬ aus 34,25 identisch ist, wie auch aus der  redundanten  Formulierung  ‫וכרתי להם ברית שׁלום ברית עולם יהיה אותם‬  in  37,26a  deutlich  wird.  Der Autor zitiert hier wortwörtlich den Bundes‐ schluss aus 34,25aa (‫)וכרתי להם ברית שׁלום‬ in seinem Text und fügt daran  die  eigene  Deutung  (‫)ברית עולם יהיה אותם‬  an.  Diese  versatzartige  Ausle‐ gungstechnik, die auch schon für die Rezeption der Bundestexte in Ez  11,19f.  und  Ez  36,23bb‐32  nachgewiesen  werden  konnte,248  deutet  da‐ rauf hin, dass die Vorlage zu einem gewissen Grad als „feststehender“  Text verstanden wird, an den die eigene Interpretation nur angeschrie‐ ben werden kann.  Da der Leser Ez 37,25‐28* von Ez 34,25‐30 her kommend lesen soll,  sind  die  segensreichen  Auswirkungen  der  ‫ברית שׁלום‬  in  37,26  bereits  durch den Bezug auf die Vorlage in 34,25‐30 impliziert, so dass sich die  Beschreibung in 37,25‐28* auf die Unverbrüchlichkeit des kommenden  Heils  konzentrieren  kann.  Bei  dieser  Darstellung  sind  vor  allem  zwei  Aspekte bedeutsam: Zuerst wiederholt der Verfasser von Ez 37,25‐28*  die ihm bereits in seinem Kapitel vorliegende Davidverheißung (37,24)  und  verwendet  dabei  die  Titulatur  ‫נשׂיא‬,  die  sich  sekundär  auch  in  34,24ab  findet.  Anscheinend  will  er  den  vorliegenden  Text  in  37,24  dahingehend korrigieren, dass die Herrschererwartung nicht auf einen  davidischen König gerichtet ist, sondern auf den davidischen Fürsten,  von dem auch das Hirtenkapitel spricht.249 Ein absolutes novum gegen‐ über  der  Vorlage  stellt  in  37,25‐28*  dagegen  Jhwhs  Gegenwartsver‐ sprechen dar, das Höhe‐ und Schlusspunkt der Bundesverheißung bil‐ det (vgl. 37,26.28).250 Zwar setzt bereits das Bild des göttlichen Hirten in  Ez  34  die  göttliche  Präsenz  inmitten  des  Volkes  voraus  (vgl.  ‫בתוך־צאנו‬,  34,12), aber die Verheißung von Jhwhs Wohnen inmitten seines Volkes                                    248  Vgl. dazu o. Kap. III. 1.4.  249  Zum literarischen Verhältnis der Davidaussagen in Ez 34 und Ez 37 vgl. u. Kap. III.  5.3.  250  So  auch  RUDNIG,  Heilig,  71:  „Der  Schlußakzent  von  Ez  37,25ff*  liegt  eindeutig  auf  Jahwes Gegenwartsversprechen (V.26b*.28b). Bund (V.26a.27*) und Jahweerkenntnis  der Völker (V.28a) fungieren sozusagen als Rahmendaten: die Erfüllung der Verhei‐ ßungen ist sowohl Inhalt des Bundes als auch Grund der Jahweerkenntnis der Völ‐ ker.“ 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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hat  eine  andere  (kultische)  Qualität,  so  dass  zu  bezweifeln  ist,  ob  sie  inhaltlich  aus  der  Metaphorik  des  Hirtenkapitels  abgeleitet  werden  kann.251   4.4. Innerbiblische Auslegung in Ez 34,25‐30 und 37,25‐28  4.4.1. Zur Frage nach den literarischen Vorlagen  Im  Folgenden  ist  zu  untersuchen,  durch  welche  literarischen  oder  theologiegeschichtlichen  Prozesse  sich  die  bundestheologische  Inter‐ pretation der göttlichen Gegenwart unter dem Vorzeichen der ‫ברית שׁלום‬  erklären  lässt.  Die  Analyse  möglicher  Vorlagen  für  die  Ezechieltexte  wird dabei von vier Fragestellungen bestimmt.  Zuerst ist zu überprüfen, ob die Interpretation des Heilsbundes als  ewiger Bund in Ez 37,25‐28252 allein durch die Übertragung von tradi‐ tionell mit der Davidherrschaft verbundenen Attributen zu erklären ist  oder  ob  sie  auf  die  literarische  Rezeption  einer  Vorlage  zurückzu‐ führen  ist.  Die  Ankündigung der ‫ברית עולם‬ hat anders als die  ‫ברית שׁלום‬  eine  breite  Bezeugung  im  Alten  Testament,  wobei  zwei  Texte  von  be‐ sonderem Interesse für die Analyse des ewigen Bundes in Ez 37,25‐28  sind.  So  ist  zuerst  die  einzige  innerbuchliche  Parallele  in  Ez  16,59‐63  auf mögliche Berührungen hin zu überprüfen, bevor auch Jer 32,37‐41  mit einzubeziehen ist, das von allen prophetischen Verheißungsworten  über den ewigen Bund die größten terminologischen Übereinstimmun‐ gen zeigt.  In  einem  zweiten  Schritt  ist  zu  untersuchen,  inwieweit  es  sich  bei  der Konzeption der  ‫ברית שׁלום‬ in terminologischer und inhaltlicher Sicht  um eine Eigenschöpfung des Verfassers von Ez 34,25‐30* handelt. Aus  dem  altorientalischen  Umfeld  ist  das  Motiv  einer  Übereinkunft  zwi‐ schen  den  Göttern  bekannt,  die  in  unterschiedlichsten  Ausprägungen  sowohl  die  Verschonung  der  Menschheit  als  auch  die  Herbeiführung  eines  kosmischen  Friedenszustandes  beinhaltet. 253  Aber  selbst  wenn  sich hier inhaltlich vergleichbare Einzelzüge aufzeigen lassen, so findet  sich doch kein Äquivalent zur alttestamentlichen Terminologie der ‫ברית‬                                251  Die durch ‫אתם‬ erweiterte Erkenntnisformel in Ez 34,30 könnte darauf hindeuten, dass  die  Verheißung  von  Jhwhs  Wohnen  unter  den  Israeliten  in  Ez  37,25‐28  bereits  vorausgesetzt ist, aber nach dem textkritischen Urteil ist diese Erweiterung sekundär  (vgl. Kap. II. 2.1. Anm. 32), so dass es sich hier wahrscheinlich um eine nachträgliche  Anspielung an 37,25‐28 handelt.  252  Ein Stern (*) wird im Folgenden nur da gesetzt, wo die Textabgrenzung explizit auf  die Grundschicht bezogen ist.   253  Vgl. dazu BATTO, Covenant, 187‐201. Zu einer umfassenden Untersuchung der Frie‐ densvorstellung im Alten Orient und im Alten Testament vgl. SCHMID, šalôm, 13‐90. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

‫שׁלום‬,254  so  dass  die  Formulierung  und  das  damit  verbundene  Konzept  nicht  einfach  aus  dem  religionsgeschichtlichen  Vergleich  abzuleiten  sind. Vielmehr ist danach zu fragen, ob die  ‫ברית שׁלום‬ auf einen literari‐ schen Hintergrund zurückgeführt werden kann. Ein passender Kandi‐ dat  für  diese  Frage  ist  die  Segensreihe  des  Heiligkeitsgesetzes  in  Lev  26,3‐13,  die  nicht  nur  vielfältige  Nähen  zu  Ez  34,25‐30  aufweist,  son‐ dern  vor  allem  dadurch  bedeutsam  erscheint,  dass  die  Einzelverhei‐ ßung von ‫שׁלום‬ unter die Zusage des Bundes gestellt wird.  Mit Ez 37,25‐28 berührt sich Lev 26,3‐13 dagegen in der Verheißung  der  göttlichen  Gegenwart,  so  dass  von  hier  aus  die  Bedeutung  des  Wohnungsmotivs  für  die  ‫שׁלום‬  ‫ברית‬  untersucht  werden  kann.  Der  Ver‐ gleich  mit  der  Segensreihe  führt  dabei  aufgrund  der  aufzuzeigenden  Berührungen  fast  zwangsläufig zur Priestergrundschrift, in der Jhwhs  Wohnen  unter  den  Israeliten  in  einer  Reihe  von  Texten  begegnet.  Mit  der  Berücksichtigung  von  Ez  43,1‐9  und  1  Kön  6,11‐13  werden  alle  weiteren Texte im Alten Testament behandelt, in denen Gottes Gegen‐ wart unter den Israeliten eine Rolle spielt.  Schließlich  ist  die  Ankündigung  der  ‫ברית שׁלום‬  nicht  ohne  Nachge‐ schichte geblieben. Dazu gehört zuerst die nachträgliche Textänderung  in Ez 34,25LXX, die David zum Bundespartner macht, aber auch im Fall  der singulären Erwähnung des Heilsbundes in Jes 54,10 und dem Tier‐ bund  in  Hos  2,20  wird  zu  zeigen  sein,  dass  sie  Berührungen  mit  den  Texten  aus  dem  Ezechielbuch  aufweisen  und  zur  literarischen  Nach‐ geschichte der Bundesverheißungen gehören.  4.4.2. Der ewige Bund in Ez 16,59‐63 und Jer 32,37‐41  Die  Verheißung  der  ‫ברית עולם‬  findet  sich  in  vier  Themenkreisen  der  alttestamentlichen Literatur:255 Bereits Erwähnung gefunden hat zuerst  die  Verheißung  der  ewigen  Dynastie  an  David  in  2  Sam  23,5  (vgl.  Jes  55,3),  die  als  ‫ברית עולם‬  bezeichnet  wird.  Am  häufigsten  ist  der  ewige  Bund zweitens in der Priesterschrift belegt, wo ‫ברית עולם‬ sowohl für den  Noachbund  (Gen  9,16)256  als  auch  für  den  Abrahambund  (Gen  17,7.13.19; vgl. 1 Chr 16,17 und Ps 105,10) verwendet wird. Genau wie  der  Regenbogen  beim  Noachbund  und  die  Beschneidung  beim  Abra‐                                254  Zu diesem Ergebnis kommt auch BATTO, Covenant, 187 Anm. 1. Er sieht allerdings  eine große traditionsgeschichtliche Nähe zwischen den Verheißungen, die von einer  ‫ברית שׁלום‬  sprechen  (Jes  54,10;  Ez  34,25;  37,26)  und  den  altorientalischen  Texten  und  geht davon aus, dass der Heilsbund als prophetische Bezeichnung für ein älteres bib‐ lisches und altorientalisches Motiv zu gelten habe (vgl. BATTO, a.a.O., 187.211).  255  Zu dieser Einteilung vgl. SCHMID, Buchgestalten, 101f.  256  Vgl. weiterhin Gen 9,12, wo Gott einen Bund auf ewige Generationen (‫)לדרת עולם‬ hin  stiftet. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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hambund als Zeichen des Bundesschlusses gelten, so wird in Ex 31,12‐ 17  der  Sabbat  als  ewiges  Zeichen  zwischen  Jhwh  und  seinem  Volk  eingesetzt  und  erhält  die  Bezeichnung  ‫ברית עולם‬  (Ex  31,16).  Drittens  können auch rituelle Opferbestimmungen als ‫ברית עולם‬ bezeichnet wer‐ den;  vgl.  Lev  24,8  und  Num  18,19.  Von  besonderem  Interesse  für  die  hier  vorgelegte  Fragestellung  erweist  sich  aber  viertens  die  Ankündi‐ gung  des  ewigen  Bundes  in  den  Heilsverheißungen  der  Propheten‐ bücher, die über Ez 37,26 hinaus noch in Jes 61,8; Jer 32,40; 50,5 und Ez  16,60 begegnet. Von diesen sind nun aus oben genannten Gründen Ez  16,60 und Jer 32,40 näher in den Blick zu nehmen.  Die  Verheißung  des  ewigen  Bundes  in  Ez  16,60  steht  innerhalb  eines heilsprophetischen Anhangs der Bildrede von der untreuen Frau  Jerusalem  in  Ez  16,59‐63,  der  die  jüngste  Fortschreibung  des  Kapitels  darstellt.257 Das Stück kann in zwei Teile gegliedert werden: Im ersten  Abschnitt V 59‐61 sagt Jhwh Jerusalem zu, dass er des Bundes geden‐ ken wird, den er mit ihr in ihrer Jugend geschlossen hat (vgl. 16,8). Im  Gegensatz  zur  Treulosigkeit  der  Frau  Jerusalem,  die  den  Bund  gebro‐ chen hat (‫פרר‬ hif., V 59), wird Jhwh zu seinem Bund stehen und ihn als  einen ewigen Bund (‫ברית עולם‬, V 60) wieder aufrichten (‫קום‬ hif., V 60), so  dass sich Jerusalem ihres früheren Wandels schämen wird. Der zweite  Teil in V 62f. wiederholt erweiternd die Aussagen über die Bundesver‐ heißung und die nachfolgende Einsicht Jerusalems und verbindet diese  mit der Erkenntnisformel.258 In  terminologischer  Hinsicht  zeigt  die  Bundesverheißung  Berüh‐ rungen mit den priesterschriftlichen Bundestexten,259 da die Kombina‐ tion von ‫קום‬ hif. und ‫ברית עולם‬ neben Ez 16,60 nur noch in der priester‐ schriftlichen  Erzählung  vom  Abrahambund  in  Gen  17,7.19  belegt  ist.  Allerdings  bezeichnet  in  Ez  16,60  die  Präposition  ‫ל‬  das  Objekt  des  Bundesschlusses (‫)לך‬, während in sämtlichen priesterschriftlichen Bele‐ gen von ‫קום ברית‬ die Präposition ‫ את‬verwendet wird.260 Auf die priester‐ schriftliche Überlieferung könnte weiterhin die Wendung „des Bundes  gedenken“ (‫)זכר ברית‬ verweisen, die in Gen 9,15f.; Ex 2,24; 6,5 und Lev  26,42bis.45 priesterschriftlich belegt ist. Von besonderer Bedeutung er‐ scheinen  hier  Lev  26,42.45,  da  Jhwh  vergleichbar  mit  Ez  16,60  ankün‐                                257  Vgl.  HÖLSCHER,  Hesekiel,  97;  BERTHOLET,  HAT,  57;  FOHRER,  HAT,  92f.;  ZIMMERLI,  BK, 369‐371; KRÜGER, Geschichtskonzepte, 325‐332, und POHLMANN, ATD, 221.235.  258  Der  redundante  Charakter  von  V  62f.  spricht  dafür,  hier  eine  nachträgliche  Ergän‐ zung von V 59‐61 zu sehen (vgl. auch LEVIN, Verheißung, 225).  259  Eine Nähe zur Priesterschrift notieren auch EICHRODT, ATD, 132; BALTZER, Anmer‐ kungen, 172, und FUHS, NEB, 10.  260  Gen 6,18; 9,9.11 (9,17 mit ‫;)בין‬ 17,7.19.21; Ex 6,4; vgl. auch Lev 26,9. Eventuell ist diese  Differenz  auf  Seiten  von  Ez  16,60  mit  Einfluss  von  Jer  32,40  (‫)וכרתי להם ברית עולם‬  zu  erklären; vgl. dazu im Folgenden. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

digt,  dass  er  zugunsten  der  gegenwärtigen  Generation  der  Israeliten  des Bundes in der Vergangenheit gedenken wird. Der Schluss liegt des‐ halb nahe, dass die Unverbrüchlichkeit der Bundeszusage an Jerusalem  in Ez 16,60 durch Rekurs auf die priesterschriftliche Überlieferung aus‐ gesagt wird.  In  dieser  Betonung  der  Unverbrüchlichkeit  steht  Ez  16,59‐63  der  Bundesverheißung  in  Ez  37,25‐28  sehr  nahe. In beiden Texten handelt  es  sich  um  eine  reine  Heilsgabe  Jhwhs,  ohne  dass  von  einer  Gegen‐ leistung des Bundespartners die Rede ist. Im Gegenteil macht Jhwh in  Ez 16 deutlich, dass die Frau Jerusalem den Bund nicht aufgrund ihres  vorbildlichen  Verhaltens,  sondern  gerade  unverdient  erhält.  In  Ez  37,25‐28  ist  der  neue  Gesetzesgehorsam  der  Israeliten  (vgl.  37,24b)  dagegen  Auswirkung  des  vorangehenden  Bundesverhältnisses  (vgl.  37,23), so dass das Volk die  ‫ברית שׁלום‬ zwar nicht unverdient, aber doch  als Heilsgabe erhält, da Jhwh selbst den nötigen Gesetzesgehorsam erst  bewirkt. Allerdings unterscheiden sich die beiden Texte in der Formu‐ lierung  der  Bundeszusage:  Während  in  Ez  16,60.62  von  der  „Aufrich‐ tung“ (‫קום‬ hif.) des Bundes die Rede ist, wird in Ez 37,26 unter Verwen‐ dung von ‫כרת‬ vom „Schneiden“ des Bundes gesprochen.   Weiterhin  besteht  die  Besonderheit  der  ‫ ברית עולם‬in  Ez  16,59‐63  darin, dass sie Bestätigung und Wiederherstellung einer in der Vergan‐ genheit  erfolgten  Bundeszusage  Jhwhs  ist,  während  Ez  37,25‐28  text‐ intern keine Hinweise darauf enthält, dass der ewige Bund die Konti‐ nuität mit einem vorhergehenden Bundesschluss bezeichnet.261 Hier ist  allerdings  das  literarische  Verhältnis  zwischen  den  beiden  Texten  zu  berücksichtigen.  Da  der  Begriff  ‫ברית עולם‬  nur  an  diesen  beiden  Stellen  im  Buch  belegt  ist  und  das  Vorkommen  des  Bundesbegriffes  generell  auf wenige Texte begrenzt ist,262 kann mit einer literarischen Abhängig‐ keit  gerechnet  werden.  Dabei  erweist  sich  allerdings  die  Bestimmung  der  relativen  Abfolge  als  äußerst  schwierig,  da  abgesehen  von  der  identischen  Formulierung  ‫ברית עולם‬  keine  weiteren  inhaltlichen  oder  terminologischen  Querverbindungen  zwischen  den  Texten  vorliegen.  Ein erstes richtungsweisendes Indiz könnte die Verwendung der unter‐ schiedlichen  Verben  für  den  Bundesschluss  sein.  Während  der  Ge‐ brauch von ‫קום‬ hif. in Ez 16,60 auf den priesterschriftlichen Einfluss zu‐ rückzuführen ist, zeigt sich in der Formulierung ‫כרת ברית‬ in Ez 37,26 der                                 261  Auf diesen Unterschied in der Bundeskonzeption von Ez 37,25‐28 im Vergleich mit  Ez  16,59‐63  verweisen  auch  EICHRODT,  ATD,  131f.,  und  KRÜGER,  Geschichtskon‐ zepte, 330f.  262  Neben  den  besprochenen  Stellen  in  Ez  16,8.59‐63;  34,25  und  37,26  ist  ‫ברית‬  im  Eze‐ chielbuch nur noch in dem Stück 17,11‐21 sowie in 20,37 und 44,7 belegt. In Ez 30,5  steht ‫ארץ הברית‬ für das Land eines Fremdvolkes. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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Einfluss  der  Vorlage  Ez  34,25.  Bei  einer  angenommenen  literarischen  Priorität  von  Ez  16,59‐61  erklärt  dies,  warum  der  Verfasser  von  Ez  37,25‐28*  nicht  ebenfalls  die  Formulierung  ‫קום‬  verwendet  hat.  Umge‐ kehrt wäre nur schwer einsehbar, warum der Autor von Ez 16,60 zwar  die  Formulierung  ‫ברית עולם‬  aus  Ez  37,26  übernehmen,  dabei  aber  das  zugehörige Verb austauschen sollte.  Die Terminologie ‫כרת ברית‬ verweist allerdings über Ez 34,25 hinaus  auch auf den nicht‐priesterschriftlichen Textbereich, in dem analog zu  Ez 34,25 und Ez 37,26 vom „Schneiden“ (‫)כרת‬ des Bundes die Rede ist  (vgl. z. B. Gen 15,18; 21,27; 26,28; 31,44; Ex 34,27; Dtn 5,2). In dem pro‐ phetischen  Heilswort  Jer  32,37‐41263  wird  schließlich  in  vergleichbarer  Formulierung zu den beiden Ezechieltexten der ewige Bund verheißen:  ‫וכרתי להם ברית עולם‬  (Jer  32,40;  vgl.  ‫שׁלום‬  ‫וכרתי להם ברית‬,  Ez  34,25; ‫וכרתי להם‬ ‫ברית שׁלום ברית עולם‬, Ez 37,26). Die Wendung ‫ברית‬ ‫וכרתי‬ ist über diese drei  Stellen hinaus im Alten Testament nur noch in Jer 31,31 sowie in Hos  2,20  belegt,  die  beide  mit  den  anderen  Texten  in  einem  literarischen  Verhältnis  stehen, so dass auch im Fall von Jer 32,40 und den Verhei‐ ßungen  in  Ez  34,25  und  Ez  37,26  eine  literarische  Bezugnahme  wahr‐ scheinlich ist.264 Darüber hinaus berührt sich Jer 32,37‐41 mit Ez 34,25‐ 30 auch in der Verwendung der Pflanzmetaphorik für das kommende  Heil: Während Jer 32,41 davon spricht, dass Jhwh das Volk in das Land  pflanzen  wird  (‫)נטע‬,  ist  in  34,29  von  der  Pflanzung  (‫)מטע‬  des  Heils  die  Rede,  die  in  Zukunft  verhindern  wird,  dass  das  Volk  durch  Hunger  umkommt.265 Beide Bundesschlüsse sind somit auf das zukünftige heil‐ volle Ergehen des Volkes im Land gerichtet.  Aufgrund der Verbindungen zwischen Ez 34,25‐30 und Jer 32,37‐41  liegt es nahe, die Formulierung des Bundesschlusses in Ez 34,25 auf die  Vorlage in Jer 32,40 zurückzuführen. Von hier aus hat die Terminologie  ‫וכרתי להם ברית‬  dann  Eingang  in  Ez  37,26  gefunden,  dessen  Autor  die  Verheißung noch um die ‫ברית עולם‬ erweitert, die ihm sowohl in Jer 32,40  als auch in Ez 16,60 bereits vorliegt. Selbst wenn sich die exakte Formu‐ lierung  der  Bundesverheißung  in  Ez  37,26  einer  Rezeption  von  Jer                                 263  Zur Analyse von Jer 32,37‐41 vgl. auch o. Kap. III. 1.4.4.  264  LEVIN, Verheißung, 217, nimmt für die fünf Belege eine literaturgeschichtliche Abfol‐ ge Jer 31,31 – Jer 32,40 – Ez 37,26 – Ez 34,25 – Hos 2,20 an. Nach den hier vorgelegten  Ergebnissen  ist  sowohl  die  Abfolge  innerhalb  des  Jeremiabuches  umzudrehen  (Jer  32,40  –  Jer  31,31;  vgl.  dazu  o.  Kap.  III.  1.4.4.)  als  auch  die  Reihenfolge  im  Ezechiel‐ buch (Ez 34,25 – Ez 37,26; vgl. dazu o. Kap. III. 4.3.). Zu Hos 2,20, dessen Abhängig‐ keit von Ez 34,25 kaum zu bestreiten ist, vgl. u. Kap. III. 4.4.5.  265  SCHMID  hat  außerdem  den  Nachweis  geführt,  dass  im  Bundesschluss  Jer  32,40  das  Volk in die Königspflicht genommen wird (vgl. SCHMID, Buchgestalten, 102), so dass  hier wie in den ezechielischen Bundesverheißungen mit der Davidherrschaft verbun‐ dene Attribute auf das Bundesverhältnis mit dem Volk übertragen werden. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

32,40/Ez  34,25  verdankt,266  so  ist  doch  aufgrund  der  inhaltlichen  Kor‐ respondenzen, die das Ezechielbuch strukturell gliedern, zu vermuten,  dass die ‫ברית עולם‬ darüber hinaus auf den ewigen Bund in Ez 16,60 ver‐ weisen will. In der auffälligen Formulierung  ‫ברית שׁלום ברית עולם‬ werden  die beiden Bundesschlüsse aus Ez 16,60 und Ez 34,25 miteinander ver‐ bunden  und  legen  sich  wechselseitig  aus.267  Anscheinend  will  der  Autor die beiden vorliegenden Selbstverpflichtungen Jhwhs gegenüber  dem  personifizierten  Jerusalem  und  dem  Gottesvolk  in  seinem  Text  zusammengeschaut  wissen.  Die  Unverbrüchlichkeit  des  Heilsbundes  verweist  in  dieser  Form  nicht  nur  auf  die  zukünftige  ewige  Dauer,  sondern in der ‫ברית‬  ‫שׁלום‬ schwingt auch die andauernde Gültigkeit des  Bundes mit, den Jhwh nach Ez 16,8 in der Vergangenheit mit der Frau  Jerusalem geschlossen hat. In der Verheißung der ‫ברית עולם‬  ‫ברית שׁלום‬ in  Ez 27,26 mischen sich damit literarisch und konzeptionell verschiedene  Ausprägungen  der  alttestamentlichen  Bundestheologie,  die  verdichtet  und systematisiert werden.   4.4.3. Die Segensworte in Lev 26,3‐13  Die sogenannten „Segensworte“268 des Heiligkeitsgesetzes in Lev 26,3‐ 13 sind Teil des Segen‐ und‐Fluch‐Kapitels Lev 26, das das Korpus des  Heiligkeitsgesetzes  in  Kap.  17‐26  beschließt.  Die  Verheißungen  sind  formal als Jhwh‐Rede an das Volk gestaltet. Während in V 3 die folgen‐ den Segensverheißungen unter die Bedingung des Gesetzesgehorsams  gestellt  werden,  zeichnen  die  V  4‐13  das  Bild  eines  umfassenden  Friedenszustandes  im  Land.  Diese  Darstellung  lässt  sich  in  drei  Teile  gliedern: Im ersten Abschnitt V 4f. kündigt Jhwh an, dass er die Frucht‐ barkeit des Landes und des Feldes gewährleisten wird, so dass die Isra‐ eliten keinen Hunger mehr leiden werden. Im zweiten Teil V 6‐8 folgt  die Gabe der  ‫שׁלום‬ für das Land, die sich in diesem Abschnitt vor allem  in der Sicherheit vor feindlichen Angriffen manifestiert. Der dritte Teil                                 266  LEVIN, Verheißung, 217f., erkennt in der Einleitung des Bundesschlusses in Ez 37,26  eine  „Variante  von  Jer  32,40“,  in  der  das  Stichwort  ‫עולם‬  als  Erläuterung  ins  zweite  Glied getreten sei.  267  So auch HERRMANN, Heilserwartungen, 274; THIEL, Rede, 21, und OHNESORGE, Jah‐ we, 389.396. Anders OWCZAREK, Vorstellung, 133, die urteilt: „Alles spricht dafür, Ez  16,59ff. erst nach Ez 37,26‐28* anzusetzen.“  268  Streng  genommen  kommt  die  Wurzel  ‫ברך‬  in  Lev  26,3‐13  nicht  vor;  allerdings  wird  die Bezeichnung als Segensworte durch die formgeschichtliche und inhaltliche Nähe  zu  dem  Segen‐und‐Fluch‐Kapitel  Dtn  28  gerechtfertigt,  das  in  ähnlicher  Weise  und  Funktion am Ende des Gesetzeskorpus Dtn 12‐26 steht. Da Dtn 28 im Gegensatz zu  Lev  26  kaum  inhaltliche  oder  terminologische  Verbindungen  zu  den  Texten  des  Ezechielbuches aufweist, wird sich die folgende Untersuchung auf Lev 26,3‐13 kon‐ zentrieren. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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in V 9‐13 thematisiert die Beziehung zwischen Jhwh und seinem Volk,  die unter das Vorzeichen der Bundesverheißung (‫קום ברית‬, V 9) gestellt  wird und Gestalt gewinnt in der Ankündigung, dass Jhwh seine Woh‐ nung  (‫)משׁכני‬  in  die  Mitte  des  Volkes  geben  wird  (‫בתוככם‬,  V  11).  Die  Bundesformel  in  V  12  und  die  durch  das  Exoduscredo  erweiterte  Selbstvorstellungsformel in V 13 schließen die Segensreihe ab.  Es  gibt  einige  Indizien  dafür,  dass  die  Verheißungen nachträgliche  Ergänzungen erfahren haben. So ist zuerst V 8 als sekundärer Nachtrag  auszuscheiden,  wie  die  Wiederaufnahme  von  ‫רדף‬  aus  V  7  am  Anfang  des  Verses  zeigt.269  Anscheinend  ist  mit  diesem  Vers  eine  überstei‐ gernde Ausschmückung der Aussage von V 7 intendiert. V 10 gibt sich  dagegen  schon  dadurch  als  Ergänzung  zu  erkennen,  dass  er  den  Zu‐ sammenhang  von  V  9  mit  V 11 unterbricht und inhaltlich zu der Ver‐ heißung von V 5 zurückkehrt, nach der kein Hunger mehr im Land zu  befürchten  ist.270  Schließlich  können  auch  die  V  11b‐12aa  als  sekun‐ därer  Nachtrag  eingeordnet  werden,  die  durch  Wiederaufnahme  des  ‫בתוככם‬ aus V 11a eine Aufnahme aus der Fluchreihe (V 11b) sowie eine  Anspielung auf 2 Sam 7,7 (V 12aa) in den Text einfügen.271 Auf  die  zahlreichen  Berührungen  zwischen  der  Segensreihe  von  Lev  26,3‐13  und  den  Verheißungen  des  Heilsbundes  im  Hirtenkapitel  Ez  34,25‐30  ist  schon  mehrfach  hingewiesen  worden.272  Die  Texte  be‐ rühren sich in ihrem weitaus größten Bestand, wobei die Art der Ver‐ bindungen aber variiert. So hat die Ankündigung aus Lev 26,6, die wil‐ den  Tiere  aus  dem  Land  wegzuschaffen  (‫)והשׁבתי חיה רעה מן־הארץ‬  eine  wortwörtliche  Entsprechung  in  Ez  34,25,  während  die  Zusage,  dass                                 269  So auch ELLIGER, HAT, 365, und LEVIN, Verheißung, 223.  270  Vgl.  ELLIGER,  HAT,  365:  „10  sprengt  inhaltlich  den  Zusammenhang.  Die  Rückkehr  zum Thema von 5b fällt auf“. Den Nachtragscharakter von V 10 sehen ferner BALT‐ ZER, Ezechiel, 157, und LEVIN, Verheißung, 223.  271  Vgl. LEVIN, Verheißung, 223. Die These von LOHFINK, Abänderung, 159‐165, V 9.11‐ 12* insgesamt stellten einen Einschub in die Segensreihe von Lev 26,3‐13 dar, ist we‐ nig  überzeugend,  da  er,  von  der  metrischen  Besonderheit  der  Verse  abgesehen,  kaum literarkritische Argumente dafür anführen kann. Vielmehr stützt er seine Posi‐ tion  auf  ELLIGERS  These,  der  Kern  von  Lev  26  sei  ein  Stück  aus  der  Liturgie  des  Herbstfestes, sowie auf die Beobachtungen, dass diese Verse anders als der Rest des  Textes „nur ganz schwache Bezüge zu Ezechiel“ hätten und eine besondere Nähe zu  Zentraltexten  von  PG  aufwiesen  (vgl.  LOHFINK,  a.a.O.,  158).  Die  erste  Beobachtung  trifft  nach  der  hier  vorgelegten  vergleichenden  Analyse  nicht  zu.  Die  zweite  sollte  indes nicht literarkritisch ausgewertet werden, sondern es ist zu fragen, welche Kon‐ sequenzen sich für das Verhältnis von Lev 26 zur Priestergrundschrift ziehen lassen,  wenn  V  9.11f.*  zur  Grundschicht  von  Lev  26  gehören  (siehe  dazu  ansatzweise  u.  Kap. III. 4.4.4.3.). Zur Bedeutung von Lev 26 für das Ezechielbuch vgl. u. Kap. III. 7.5.  272  Vgl.  ELLIGER,  HAT,  366;  ZIMMERLI,  BK,  844;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  273‐276;  ALLEN,  WBC  29,  196;  BLOCK,  NICOT  II,  303f.,  und  insbesondere  die  Synopse  bei  BALTZER, Ezechiel, 156‐160, in der er auch Ez 37,25‐28 mit berücksichtigt. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

keiner  sie  aufstören  wird  (‫מחריד‬  ‫)ואין‬,  sekundär  in  Ez  34,28  begegnet.  Andere  Querverbindungen  weisen  dagegen  geringfügige  Abweichun‐ gen  in  der  Wortanordnung  oder  der  Formulierung  auf,  wofür  die  pa‐ rallelen Verheißungen von Regen zu seiner Zeit (‫ונתתי גשׁמיכם בעתם‬, Lev  26,4  //  ‫והורדתי הגשׁם בעתו‬,  Ez  34,26),  von  der  Fruchtbarkeit  des  Landes   (‫ונתנה הארץ יבולה‬, Lev 26,4 // ‫והארץ תתן יבולה‬, Ez 34,27) und von der Frucht‐ barkeit  der  Bäume  (‫ועץ השׂדה יתן פריו‬,  Lev  26,4  //  ‫ונתן עץ השׂדה את־פריו‬,  Ez  34,27) angeführt werden können. Weiterhin fällt die parallele Selbstbe‐ zeichnung  von  Jhwh  als  desjenigen,  der  die  Stangen  ihres  Jochs  zer‐ bricht,  auf  (‫ואשׁבר מטת עלכם‬,  Lev  26,13  //  ‫בשׁברי את־מטות עלם‬,  Ez  34,27),  da  die Formulierung nur in diesen beiden Versen im Alten Testament be‐ legt ist. Auch wenn es sich dabei in Ez 34,27 um eine sekundäre Ergän‐ zung  handelt,  so  ist  die  spärliche  Bezeugung  doch  ein  gewichtiges  Indiz für eine literarische Verbindung zwischen den Texten.   Beide  Stücke  enthalten  darüber  hinaus  die  Zusicherung,  dass  der  Hunger zukünftig keine Rolle mehr im Land spielen wird, wobei diese  Verheißung  aber  inhaltlich  und  terminologisch  unterschiedlich  gefüllt  wird  (vgl.  Lev  26,5  und  Ez 34,29). Schließlich spielt die Ankündigung  des sicheren Wohnens, die in Lev 26,5 (‫)ישׁב לבטח‬ begegnet, in Ez 34,25‐ 30  den  Part  eines  Leitmotivs  (vgl.  Ez  34,25.27.28).  Die  bedeutsamste  Parallele findet sich aber im gemeinsamen Interesse an der Zuordnung  von  ‫שׁלום‬  und  ‫ברית‬.  Während  die  ‫ברית‬  in  Lev  26,9  die  Verheißung  des  ‫שׁלום‬  und  der  anderen Segenszusagen abschließend sichert, steht in Ez  34,25 (vgl. Ez 37,26) die Zusage der  ‫ברית שׁלום‬ über den gesamten Heils‐ zusagen. Im Begriff der  ‫ברית שׁלום‬ sind Bund und Heil eng aufeinander  bezogen, so dass „der Bund ein Verhältnis des ‫ ָשׁלוֹם‬ inauguriert.“ 273 Die Verbindungen zwischen Lev 26,3‐13 und Ez 37,25‐28 sind zwar  nicht ganz so vielfältig, dafür aber um so gewichtiger. So hat die Ver‐ heißung  aus  Lev  26,11,  dass  Jhwh  seine  Wohnung  in  die  Mitte  des  Volkes geben wird (‫)ונתתי משׁכני בתוככם‬ eine genaue Entsprechung in Ez  37,26,  wobei  allerdings  die  Bezeichnung  ‫מקדשׁ‬,  „Heiligtum“,  anstelle  von  ‫משׁכן‬  verwendet  wird  (‫)ונתתי את־מקדשׁי בתוכם‬.  Der  Ausdruck  ‫משׁכן‬  für  die göttliche Wohnstatt begegnet indes in der Wiederholung der Woh‐ nungszusage  in  Ez  37,27,  wo  die  Verheißung  mit  dem  Verb  ‫היה‬  kons‐ truiert ist. Am Schluss des Textes findet sich mit Ez 37,28 in der Erwei‐ terung  der  Erkenntnisformel  die  dritte  Wohnungsverheißung  (‫)מקדשׁי‬,  die mit ‫בתוכם‬ ebenfalls eine Verbindung zu Lev 26,11 aufweist. Schließ‐ lich enthalten beide Stücke auch die Ankündigung, dass Jhwh das Volk  zahlreich  machen  wird  (‫רבה‬  hif.,  Lev  26,9;  vgl.  Ez  37,26),  wobei  in  Ez  37,26 aber eine sekundäre Ergänzung des Grundtextes vorliegt.                                 273  VON RAD, Art ‫ ָשׁלוֹם‬, 401. Vgl. auch BALTZER, Ezechiel, 161. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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Die  ältere  Forschung  hat  versucht,  die  Berührungen  zwischen  der  Segensreihe des Heiligkeitsgesetzes und dem Ezechielbuch durch indi‐ rekte Abhängigkeit zu erklären. So führte ELLIGER Lev 26,3‐13 und Ez  34,25‐31  auf  eine  gemeinsame  Quelle,  nämlich  ein  „Stück  aus  der  Agende des Herbstfestes“274 zurück. Dagegen sind zuerst methodische  Einwände zu erheben, da mit der Herbstfestagende eine Gattung pos‐ tuliert  wird,  für  deren  Existenz  bzw.  deren  Sitz  im  Leben  es  keinerlei  Anhalt in den Texten gibt. Vor allem aber spricht die Befundlage in den  Texten  selbst  weniger  für  eine  indirekte  Abhängigkeit  in  Form  einer  gemeinsamen  Quelle  oder  Gattung,  als  vielmehr  für  ein  literarisches  Abhängigkeitsverhältnis.  Hier  ist  vor  allem  auf  die  zahlreichen  termi‐ nologischen Stichwortverbindungen hinzuweisen, die ein enges litera‐ risches  Verhältnis  zwischen  Lev  26,3‐13  und  Ez  34,25‐30  wahrschein‐ lich machen. Selbst Dtn 28, das in formal gleicher Weise wie Lev 26 als  Segen‐und‐Fluch‐Kapitel  das  dtn.  Gesetzeskorpus  in  Dtn  12‐26  be‐ schließt,  weist  weniger  lexikalische  Berührungen  mit  Lev  26,3‐13  auf  als  Ez  34,25‐30.  Darüber  hinaus  deutet  auch  die  erstaunlich  parallele  Anordnung der Motive im Ezechielbuch auf ein literarisches Verhältnis  hin. Diese ist so zu beschreiben, dass die Verse in Lev 26,3‐6 Berührun‐ gen  mit  Ez  34,25‐30  aufweisen,  während  Lev  26,9‐13  Entsprechungen  in  Ez  37,25‐28  hat.  Mithin  wird  die  Struktur  der  Texte  nur  dann  „deckungsgleich“,  wenn  die  verbundenen  Ezechieltexte  den  Segens‐ verheißungen des Heiligkeitsgesetzes gegenüber gestellt werden. Dies  lässt  nur  den  Schluss  zu,  dass  entweder  Lev  26,3‐13  oder  Ez  34,25‐30  im  Verbund  mit  Ez  37,25‐28  als  literarisches  traditum  verwendet  wor‐ den ist.275   Es wird nun zu klären zu sein, welcher Seite die literarische Priori‐ tät  zukommt.  Der  ausschlaggebende  Punkt  ist  m. E.  die  unterschied‐ liche  Bundesaussage  in  den  drei  Texten.  In  Lev  26  ist  die  Zusage  des  ‫שׁלום‬  vom  Bundesschluss  getrennt  (vgl.  Lev  26,6.9)  und  stellt  nur  eine                                 274  ELLIGER, HAT, 366; vgl. im Anschluss an diesen ZIMMERLI, BK, 78*.844. Auch KILIAN,  Untersuchung, 159‐163, und diesem folgend WILLMES, Hirtenallegorie, 356f., führen  die  Gemeinsamkeiten  zwischen  Ez  34,25‐30  und  Lev  26,4‐13  auf  eine  gemeinsame  Quelle zurück. Zur generellen Untersuchung des Verhältnisses von Heiligkeitsgesetz  und  Ezechielbuch  vgl.  FOHRER,  Hauptprobleme,  148‐154;  ZIMMERLI,  a.a.O.,  70*‐79*,  und LIWAK, Probleme, 7‐23.  275  Die  These  einer  literarischen  Abhängigkeit  zwischen  Lev  26  und  Ez  34,25‐30  (teil‐ weise  unter  Berücksichtigung  von  Ez  37,25‐28)  wird  auch  mehrheitlich  in  der  ge‐ genwärtigen  Forschung  vertreten,  wobei  allerdings  Uneinigkeit  in  der  Frage  der  literarischen  Priorität  herrscht.  Während  sich  LEVIN,  Verheißung,  222‐230,  und  GRÜNWALDT, Heiligkeitsgesetz, 348‐354, für eine chronologische Abfolge Lev 26 – Ez  aussprechen,  vertreten  BALTZER,  Ezechiel,  158f.;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  273‐ 276;  ALLEN,  WBC  29,  163;  BLOCK,  NICOT  II,  303f.,  und  GREENBERG,  AncB,  707,  die  Abhängigkeit der ezechielischen Texte von Lev 26.  

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Segensverheißung unter mehreren dar, während ‫שׁלום‬ in Ez 34 und Ez  37 das bestimmende Vorzeichen ist, unter das sich die gesamten Heils‐ zusagen  subsumieren  lassen.  Dies  zeigt  sich  auch  an  der  sprachlichen  Verbindung  in  der  Bezeichnung  ‫ברית שׁלום‬  (Ez  34,25;  vgl.  37,26).  Die  Vermutung, dass sich ein späterer Autor durch die Segensreihe in Lev  26 zur kreativen Formulierung der  ‫ברית שׁלום‬ inspirieren ließ, hat mehr  Wahrscheinlichkeit  für  sich  als  die  Annahme,  dass  der  Heilsbund  aus  Ez  34  und  Ez  37  in  Lev  26  in  zwei  einzelne  Heilsgaben  aufgespalten  wurde.276 Ein weiteres Indiz für die Priorität der Segensworte des Hei‐ ligkeitsgesetzes gegenüber den Ezechieltexten könnte die Verwendung  von  ‫משׁכן‬ für die göttliche Wohnung sein. Die übliche Bezeichnung für  das  Heiligtum  im  Ezechielbuch  ist  der  Terminus  ‫מקדשׁ‬,  während  der  Ausdruck  ‫משׁכן‬ einzig in Ez 37,27 belegt ist.277 Diese singuläre Verwen‐ dung  macht  allerdings  Sinn,  wenn  sie  als  Anspielung  auf  die  Vorlage  in Lev 26 interpretiert wird.278 Im Folgenden ist deshalb davon auszu‐ gehen, dass Lev 26,3‐13 das literarische traditum ist, auf das sowohl der  Autor von Ez 34,25‐30* als auch der spätere Verfasser von Ez 37,25‐28*  bei der Komposition ihrer Texte zurückgegriffen haben.  Nach der hier vorgeschlagenen relativen Abfolge können folgende  Aussagen  über  den  Auslegungsvorgang  getroffen  werden:  Grundlage  der Rede vom Bund des Heils sind die Segensworte aus Lev 26,3‐13, in  denen unter Vorbedingung des Gesetzesgehorsams unter anderem der  Zustand  von  ‫שׁלום‬  verheißen  und  durch  die  Bundeszusage  besiegelt  wird.  Diese  Worte  haben  zuerst  in  der  Fortschreibung  des  Hirtenka‐ pitels  in  Ez  34,25‐30*  eine  Auslegung  erfahren,  in  der  der  Autor  die  Gültigkeit der Segensverheißungen aus Lev 26 für das Volk im Bild der  Schafherde  aktualisiert.  Bei  der  Beschreibung  der  heilvollen  Auswir‐ kungen  orientiert  er  sich  eng  an  den  Bildern,  die  in  Lev  26  gebraucht  werden, arrangiert sie in seiner Auslegung aber in neuer Weise. Die ge‐ wichtigste  Neuinterpretation  besteht  darin,  dass  er  die  in  Lev  26,3‐13  als  Einzelverheißungen  vorliegenden  Zusagen  von  ‫שׁלום‬  und  ‫ברית‬  ver‐ bindet und seine gesamten Ausführungen unter das Stichwort der ‫ברית‬                                276  LEVIN,  Verheißung,  225,  sieht  die  Bundesverheißung  in  Lev  26,9  nicht  aus  den  bei‐ den Vorlagen Ez 34,25 oder 37,26 entlehnt, sondern führt sie auf Ez 16,62 zurück. Er  lässt aber offen, aus welchen Gründen der Autor bei der Formulierung des Bundes‐ schlusses  auf  eine  dritte  Vorlage  neben  Ez  34  und  37  zurückgegriffen  haben  sollte.  GRÜNWALDT, Heiligkeitsgesetz, 350, notiert zwar, dass die Rede vom Friedensbund  Ez  34,25  in  Lev  26,9  „aufgesprengt“  wird,  gibt  aber  keine  Erklärung  für  diesen  ex‐ egetischen Vorgang.  277  Darüber hinaus findet sich ‫משׁכן‬ nur noch in Ez 25,4, wo der Plural ‫משׁכניהם‬ in profaner  Verwendung die Wohnungen der „Söhne des Ostens“ bezeichnet.  278  Vgl. auch LEVIN, Verheißung, 217, der  ‫משׁכן‬ in Ez 37,27 als nachträgliche „Parallelan‐ gleichung  aus  Lev  26,11“  beurteilt,  während  er  grundsätzlich  die  Priorität  von  Ez  37,26f.* gegenüber Lev 26,3‐13 annimmt (vgl. dazu LEVIN, a.a.O., 222‐228). 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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‫שׁלום‬ stellt. Die Vorstellung des Heilsbundes klingt in Lev 26 durch die  inhaltliche  Bezogenheit  von  ‫ברית‬  und  ‫שׁלום‬  zwar  bereits  an,  wird  aber  noch nicht explizit formuliert. Allerdings verwendet der Autor von Ez  34,25‐30*  in  der  Formulierung  des  Bundesschlusses  nicht  das  Voka‐ bular  aus  Lev  26,9  (‫)קום ברית‬,  sondern  spricht,  wahrscheinlich  in  einer  Anspielung auf Jer 32,40, vom „Schneiden“ (‫)כרת‬ des Heilsbundes.279 Die Aufnahme und Neuverwendung der Motive aus Lev 26,3‐13 in  Ez 34,25‐30* ist schwer zu beschreiben. Vermutlich hat sich der Autor  von Ez 34 von zwei Überlegungen leiten lassen: Zuerst konzentriert er  sich in seinen Ausführungen auf die Aspekte von Frieden und Sicher‐ heit, die er als Folge des Heilsbundes darstellt und die von einiger Be‐ deutung für das künftige Leben im Land sind. Darüber hinaus scheint  er  sich  an  dem  im  Hirtenkapitel  dominierenden  Bild  der  Herde  zu  orientieren, was einige der Abweichungen und Auslassungen erklären  könnte.280 So steht am Anfang seiner Darlegungen über den Heilsbund  in  Ez  34,25  überschriftartig  die  aus  Lev  26,6  entlehnte  Zusage,  dass  Jhwh die wilden Tiere ausrotten wird, so dass „sie“ sicher in Wald und  Wüste wohnen und schlafen können. Daran schließen sich in Ez 34,26f.  die  Verheißungen  der  Fruchtbarkeit  aus  Lev  26,4  an,  die  nicht  un‐ wesentlich für das Ergehen einer Schafherde sind, während in Ez 34,29  mit  dem  Ende  des  Hungers  und  der  Schmähungen  durch  die  Völker  das  äußere  und  innere  Wohlergehen  gesichert  wird.  Der  Überschuss  gegenüber  der  Vorlage  besteht  in  Ez  34,25‐30*  vor  allem  in  der  ab‐ schließenden Erkenntnisformel in 34,30, die signifikant für die Theolo‐ gie des Ezechielbuches ist.281 Im Blick auf Lev 26,3‐13 fällt dagegen auf,  dass die Verheißung der göttlichen Gegenwart in der Mitte des Volkes  keine Aufnahme in Ez 34,25‐30* gefunden hat. Da es in der Textanalyse  keine  Indizien  dafür  gegeben  hat,  dass  es  sich  hierbei  um  eine  nach‐ trägliche Ergänzung in Lev 26 handelt, ist dies nur mit einer bewussten  Auslassung  zu  erklären.  Es  liegt  nahe,  die  Nichtverwendung  so  zu  erklären, dass die Verheißung der göttlichen Wohnung im Kontext des  Hirtenkapitels für den Buchablauf „zu früh“ gekommen wäre; darüber  hinaus  impliziert  bereits  das  Bild  des  göttlichen  Hirten  die  Anwesen‐ heit Jhwhs inmitten seines Volkes (vgl. auch Ez 34,12).  Um  so  bedeutsamer  ist  die  Tatsache,  dass  die  Verheißung  vom  Wohnen Jhwhs aus Lev 26,11 im zweiten ezechielischen Wort über den                                 279  Vgl. dazu o. Kap. III. 4.4.2.  280  Vgl. dazu auch HOSSFELD, Untersuchungen, 273‐276. Sein abschließendes Urteil über  den  Autor  von  Ez  34,25‐30,  er  habe  „Lev  26,4‐13  nach  eigenen  Plänen  regelrecht  ‘ausgeschlachtet’“  (HOSSFELD,  a.a.O.,  276),  ist  zwar  nicht  gerade  freundlich,  in  der  Sache aber durchaus zutreffend.  281  Vgl. dazu insgesamt ZIMMERLI, Erkenntnis, 5‐16.64‐75. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Heilsbund eine Aufnahme erfahren hat. Der Verfasser von Ez 37,25‐28*  ist  sich  des  Auslegungsverhältnisses  zwischen  Ez  34,25‐30*  und  Lev  26,3‐13 anscheinend bewusst und greift in seiner Auslegung des Heils‐ bundes in Ez 34,25‐30 ein zweites Mal auf die Segensworte des Heilig‐ keitsgesetzes  zurück.  Anders  als  Ez  34,25‐30*  zeigt  Ez  37,25‐28*  eine  sehr  viel  größere  Unabhängigkeit  gegenüber  der  Vorlage  und  nimmt  nur die Verheißung aus Lev 26,11 auf, nach der Jhwh seine Wohnung   (‫)משׁכני‬  in  ihre  Mitte  setzen  wird.  In  seiner  Auslegung  ersetzt  der  Ver‐ fasser  den  Terminus  ‫משׁכן‬  in  Ez  37,26  durch  das  im  Ezechielbuch  üb‐ liche  ‫מקדשׁ‬  (vgl.  auch  Ez  37,28),  wobei  er  aber  im  folgenden  Vers  Ez  37,27  in  einer  Anspielung  auf  Lev  26,11  die  Verheißung  mit  der  Be‐ zeichnung  ‫משׁכן‬  wiederholt.  Anders  als  dies  in  Ez  34,25‐30*  der  Fall  gewesen  wäre,  erfüllt  die  Aufnahme  der  Wohnungsverheißung  aus  Lev 26,11 in Ez 37,25‐28* eine wichtige buchstrukturierende Funktion:  Die  Perikope  hat  nach  dem  Zeugnis  von  Pap.  967  ihren  literarischen  Ort unmittelbar vor der Schlussvision Ez 40‐48 und nimmt mit der Prä‐ senz  von  Jhwhs  Heiligtum  ein  zentrales  Thema  des  Verfassungsent‐ wurfes vorweg. Ez 37,25‐28* bildet auf diese Weise ein Gelenkstück im  dritten  Buchteil,  das  die  Heilsprophetie  von  Ez  34ff.  abschließt  und  gleichzeitig zur Tempelvision überleitet.  Das Motiv der  ‫ברית שׁלום‬ im Ezechielbuch ist mehr als die zufällige  Kombination zweier Begriffe. Wie aus der vorangehenden Darstellung  ersichtlich  wird,  handelt  es  sich  um  eine  planvolle  Interpretation  der  Segensbestimmungen aus Lev 26,3‐13 die in zwei aufeinander bezoge‐ nen Texten im Ezechielbuch ihre besondere Gestalt gewinnt. Von daher  kann bei der  ‫ברית שׁלום‬ durchaus von einer geprägten Wendung gespro‐ chen werden.282 Des Weiteren hat sich gezeigt, dass die Vorstellung des  Heilsbundes im Verlauf des Auslegungsprozesses mit einem wichtigen  Motiv  verbunden  worden  ist:  dem  Wohnen  Jhwhs  in  der  Mitte  seines  Volkes.  Dieses  Motiv  soll  im  Folgenden  genauer  untersucht  werden,  um  darzustellen,  welche  Bedeutung  es  für  die  ezechielische  Konzep‐ tion des Heilsbundes hat.  4.4.4. Das Wohnen Jhwhs inmitten seines Volkes  4.4.4.1. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund  Die  Vorstellung  vom  „Wohnen  Jhwhs  inmitten  der  Israeliten“,  die  sprachlich  durch  die  Kombination  von  ‫שׁכן‬  mit  folgendem ‫בתוך‬ und ‫בני‬                                 282  So gegen STENDEBACH, Art.  ‫ ָשׁלוֹם‬, 36, der aufgrund der wenigen Belege zu der These  kommt, dass „es keine fest geprägte Verbindung von berît und šālôm gibt“ (vgl. auch  SCHMID, šalôm, 76 Anm. 2).  

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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‫ישׂראל‬/Suffix  umschrieben  wird,  hat  ihre  traditionsgeschichtlichen  Wurzeln in der (vorexilischen) Zionstheologie. Ein zentrales Theologu‐ menon  dieser  Theologie  ist  die  persönliche  Gegenwart  Gottes  im  Heiligtum,  die  mit  Elementen  der  Wohn‐  und  Thronvorstellung  ver‐ bunden wird.283 Der Zion als Gottesberg wird hierbei zum Ort der Ver‐ mittlung  von  himmlischer  und  irdischer  Sphäre  und  verklammert  die  Vorstellung,  Jhwh  throne  im  Himmel,  mit  seiner  Präsenz  im  Tempel  auf  dem  Zion.  Mit  der  Einnahme  Jerusalems  und  der  Zerstörung  des  Heiligtums  587  v.  Chr.  geriet  die  Zionstheologie  in  eine  Krise,  da  der  Anspruch falsifiziert wurde, die Gottesgegenwart auf dem Zion garan‐ tiere die Sicherheit von Stadt und Volk. Darüber hinaus fehlte mit dem  Verlust  des  Tempels die Vermittlungsinstanz zwischen dem Irdischen  und  dem  Himmlischen.  Konsequenterweise  musste  diese  Krise  in  exilisch‐nachexilischer  Zeit  dazu  führen,  dass  die  Vorstellungen  von  Jhwhs Gegenwart auf dem Zion und im Heiligtum einigen Modifikati‐ onen unterzogen wurden.284 Die Formel von Jhwhs Wohnen „inmitten  der Israeliten“ scheint dabei für eine Konzeption zu stehen, in der die  lokale  Bindung  Jhwhs  und  die  damit  verbundenen  Heilszusagen  zu‐ mindest  teilweise auf das Verhältnis zum Gottesvolk übertragen wur‐ den.285  Im  Folgenden  wird  noch  zu  untersuchen  sein,  inwieweit  die  Bindung der göttlichen Gegenwart an das Volk mit der lokalen Gegen‐ wart Jhwhs auf dem Zion bzw. im Tempel zusammen gedacht werden  kann.  Neben den schon besprochenen Belegen in Lev 26 und Ez 37 findet  sich die Vorstellung vom Wohnen Jhwhs in der Mitte des Gottesvolkes  noch in Ez 43,1‐9 sowie in 1 Kön 6,11‐13, Ex 25,8f. und Ex 29,43‐46. Im  Kontext der Priesterschrift sind weiterhin die beiden Notizen Ex 24,16  und  Ex  40,35  mit  in  die  Überlegungen  einzubeziehen,  da  an  diesen                                 283  Die verschiedenen Vorstellungen, die sich mit dem Zion verbunden haben, werden  in  der  Forschung  unter  Begriffen  wie  „Jerusalemer  Kulttradition“,  „Tempeltheolo‐ gie“ oder „Zionstheologie/‐tradition“ verhandelt. Zu den unterschiedlichen Ausprä‐ gungen vgl. SCHMID, Jahwe, 168‐197; METZGER, Wohnstatt, 139‐158; STECK, Friedens‐ vorstellungen,  13‐51;  JANOWSKI,  Keruben,  231‐264;  PREUSS,  Theologie  I,  286‐289;  DERS.,  Theologie  II,  41‐55;  KRATZ,  Reste,  53‐62,  und  RUDNIG,  Jahwe,  267‐273.  Eine  ausführliche Untersuchung der Formel vom Wohnen Jhwhs in der Mitte des Volkes  findet sich bei JANOWSKI, Mitte, 165‐193; vgl. aber zur Kritik an seiner These RUDNIG,  Jahwe, 278.  284  Zu den verschiedenen Versuchen, Jhwhs Wohnen auf dem Zion neu zu fassen, vgl.  RUDNIG, Jahwe, 274‐283.  285  Vgl.  auch  JANOWSKI,  Mitte,  190,  der  urteilt:  „Seit  der  Exilszeit  kommt  es  somit ver‐ stärkt zu einer Übertragung des in vorexilischer Zeit dem Gottesberg Zion und sei‐ nem Tempel zugesagten Heils auf das Volk Israel; anders ausgedrückt: Die Schekina‐ Theologie erhält jetzt eine nationale, auf die Restitution Israels als Gottesvolk bezo‐ gene, geradezu ekklesiologische Komponente.“ 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Stellen ebenfalls das Verbum ‫שׁכן‬ mit einer Erscheinungsform Jhwhs als  Subjekt (‫כבוד יהוה‬, Ex 24,16/‫ענן‬, Ex 40,35) verwendet wird.286 4.4.4.2. Das ewige Wohnen Jhwhs in Ez 43,1‐9  Der prophetische Bericht über die Rückkehr Jhwhs in das Heiligtum in  Ez  43,1‐9  bildet  den  Abschluss  der  eigentlichen  Tempelvision  in  40,1‐ 43,12 und stellt einen vorläufigen Höhepunkt innerhalb der Kap. 40‐48  dar.287 Der Text berichtet davon, wie der Prophet die Rückkehr des ‫כבוד‬  ‫יהוה‬  schaut  (V  1‐5),  der  das  Tempelhaus  erfüllt  (‫מלא‬,  V  5),  bevor  Jhwh  aus dem Inneren des Hauses zu Ezechiel spricht (V 6‐9). Diese Gottes‐ rede  enthält  in  V  6‐7a  zuerst  eine  unbedingte  Präsenzzusage,  in  der  Jhwh zusichert, dass er an der Stätte seines Thrones (‫)את־מקום כסאי‬ und  seiner  Fußsohlen  (‫)ואת־מקום כפות רגלי‬  auf  ewig  inmitten  der  Israeliten  wohnen wird (‫אשׁכן־שׁם בתוך בני־ישׂראל לעולם‬, V 7a). Diese Zusage wird in  V 7b‐9 anschließend unter die Bedingung gestellt, dass das Haus Israel  den heiligen Namen Jhwhs (‫)שׁם קדשׁי‬ nicht mehr verunreinigen soll. Die  formale  Wiederaufnahme  der  Gegenwartszusage  aus  43,7a  in  43,9b,  der  terminologische  Wechsel  von  den  „Israeliten“  (43,7a)  zum  „Haus  Israel“ (43,7b) und die Vorstellung von Jhwhs heiligem Namen zeigen,  dass es sich hier um eine sekundäre Fortschreibung handelt, die in die  Nähe der dtn.‐dtr. Namenstheologie zu rücken ist.288 In dieser Nachin‐ terpretation wird die unbedingte kultische Gegenwart aus V 7a dahin‐ gehend korrigiert, dass nur Jhwhs heiliger Name im Tempel anwesend  ist, während die Wohnungszusage sekundär unter die Bedingung des  rechten  kultischen  Verhaltens  gestellt  wird.289  Innerhalb  des  verblei‐ benden  Textbestandes  43,1‐7a*  ist  mit  weiterem  literarischen  Wachs‐ tum  zu  rechnen,  wobei  insbesondere  der  Zusammenhang  zwischen  dem Bericht über die Rückkehr der Herrlichkeit (43,1‐5) und der gött‐ lichen Präsenzzusage (43,6‐7a) noch weiter zu untersuchen sein wird.290 Im  Vergleich  mit  Ez  37,25‐28*  fällt  die  ursprüngliche  Version  der  Wohnungszusage  in  Ez  43,6‐7a  vor  allem  dadurch  auf,  dass  die  Bin‐ dung  der  göttlichen  Gegenwart  an  das  Volk  mit  der  Zusage  der  Prä‐ senz an einem bestimmten Ort verbunden ist. Die Begriffe  ‫שׁכן‬, ‫מקום כסי‬  und  ‫מקום כפות רגלי‬  in  der  Lokalisierung  der  göttlichen  Präsenz  weisen                                 286  Die  Zusammengehörigkeit  der  priesterschriftlichen  Belegstellen  zeigt  sich  auch  da‐ ran, dass das Verbum  ‫שׁכן‬ im Exodusbuch überhaupt nur in diesen vier Texten ver‐ wendet wird, wobei jedes Mal Jhwh bzw. eine seiner Erscheinungsformen (‫כבוד יהוה‬/  ‫)ענן‬ Subjekt ist.  287  Zur Analyse vgl. z. B. ZIMMERLI, BK, 1070‐1088; RUDNIG, Heilig, 82‐96.201‐204.   288  Vgl. dazu o. Kap. III. 3.3.  289  Vgl. RUDNIG, Heilig, 85.  290  Vgl. dazu u. Kap. IV. 3.2. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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dabei auf den Einfluss der vorexilischen Thronvorstellung zurück.291 In  dieser  Ortsbindung  liegt  zugleich  auch  der  entscheidende  Überschuss  gegenüber  der  Verheißung  in  37,25‐28*:  Während  die  Aussage,  dass  Jhwhs  Wohnen  sich  inmitten  der  Israeliten  realisieren  wird  (‫בתוכם‬,  37,26.28;  vgl.  ‫בתוך בני־ישׂראל‬,  43,7a  bzw.  ‫בתוכם‬,  43,9b),  in  beiden  Texten  enthalten ist, weiß allein Ez 43,7a von einer lokalen Selbstbestimmung  Jhwhs.  Weiterhin  unterscheiden  sich  die  Texte  auch  in  der  Formulie‐ rung der Wohnungszusage: In Ez 37,25‐28* wird nominal von der Gabe  von  Jhwhs  Heiligtum  (‫מקדשׁי‬,  37,26.28)  bzw.  seiner  Wohnung  (‫משׁכני‬,  37,27)  gesprochen,  während  die  Zusage  in  43,7a  mit  dem  Verbum  ‫שׁכן‬  konstruiert  ist  (vgl.  ebenso  43,9b).  Die  Texte  berühren  sich  allerdings  eng  in  der  Betonung  der  Unverbrüchlichkeit  der  göttlichen  Zuwen‐ dung,  die  sich  in  dem  Adverbial  ‫לעולם‬  ausdrückt  (Ez  37,25.26.28;  vgl.  43,7a und 43,9b). Der Begriff ‫לעולם‬ findet sich außer in Ez 37,25‐28* und  43,6‐7a.(7b‐9)  nur  noch  im  Fremdvölkerwort  gegen  Tyrus,  dem  in  Ez  26,21 ewiges Verloren‐Sein angesagt wird.  Insbesondere  diese  terminologische  Querverbindung  und  das  ver‐ gleichbare  Interesse  an  der  Gegenwart  Jhwhs  legen  den  Schluss  nahe,  dass Ez 37,25‐28* und Ez 43,6‐7a literarisch aufeinander bezogen sind.  Dabei  kann  die  Möglichkeit  ausgeschlossen  werden,  dass  sie  auf den‐ selben Autor zurückgehen, da hinter 43,6‐7a mit der zusätzlichen Bin‐ dung  Jhwhs  an  den  Zion  ein  anderes  Wohnungskonzept  steht  als  hinter  den  Aussagen  von  37,25‐28*.292  Kommt  einem  der  Texte  die  literarische Priorität zu, so ist sowohl denkbar, dass 37,25‐28* nachträg‐ lich  als  Ankündigung  des  Geschehens  vor  43,6‐7a  eingestellt  worden  ist,  als  auch  dass  43,6‐7a  sekundär  die  Einlösung  der  Wohnungs‐ verheißung aus 37,25‐28* berichten soll. Allerdings erweckt die Einbet‐ tung der Gegenwartszusage in Ez 37,25‐28* in eine umfassende Ansage  des  unverbrüchlichen  Heils  den  Eindruck,  eine  gegenüber  43,6‐7a  sekundäre  Nachinterpretation  zu  sein.293  Für  diese  Richtung  der  Ab‐ hängigkeit spricht auch der „Kompendiumscharakter“ der Verheißung  37,25‐28*, die neben 43,6‐7a(7b‐9?) noch andere Texte des Verfassungs‐ entwurfes im Blick zu haben scheint.294                                291  Vgl.  RUDNIG,  Heilig,  39.  Siehe  auch  KÖRTING,  Zion,  222:  „Die  Königsherrschaft  Gottes ist mit der Vorstellung verbunden, daß der Berg Thron oder gar Fußschemel  Gottes ist (vgl. u. a. Ps 99).“  292  Vgl. aber RUDNIG, Heilig, 373, der sowohl Ez 37,25‐28* als auch 43,6a.7a seiner gola‐ orientierten  Redaktion  zuweist.  Selbst  wenn  mit  verschiedenen  Händen  innerhalb  einer  Redaktion  gerechnet  wird,  sind  die  unterschiedlichen  Akzentsetzungen  in  beiden Texten m. E. zu groß, als dass sie auf dieselbe redaktionelle Bearbeitung des  Buches zurückgeführt werden können.  293  So auch OWCZAREK, Vorstellung, 135. Anders RUDNIG, Heilig, 373; vgl. Anm. 292.  294  Vgl. dazu RUDNIG, Heilig, 62f.65‐71.345f.; siehe auch u. Kap. IV. 2.1.3.2. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

4.4.4.3. Die Wohnungsaussagen der Priestergrundschrift  Werden die vier relevanten Texte der Priesterschrift in Ex 24,16; 25,8f.;  29,43‐46 und 40,35 in den Blick genommen, so fällt zuerst auf, dass die  Wohnungsaussagen  an  für  die  Komposition  entscheidenden  Punkten  über die gesamte Stiftshüttenperikope verteilt sind. Weiterhin gehören  sie mit Ausnahme von Ex 40,35, dessen Einordnung noch zu diskutie‐ ren  sein  wird,  alle  der  ursprünglichen  Priesterschrift  PG  an.295  Dies  ist  bereits  ein  Hinweis  darauf,  dass  die  Vorstellung  vom  Wohnen  Jhwhs  eine besondere Bedeutung für die Aussageabsicht und die Konzeption  der Priestergrundschrift hat. Für die folgende Untersuchung der Woh‐ nungstexte ist es deshalb notwendig, von der ursprünglichen Priester‐ schrift  in  der  Sinaiperikope  auszugehen  und  die  Texte  vor  diesem  Hintergrund zu analysieren.  Die erste Notiz in Ex 24,16 ist Teil der Theophanieerzählung in Ex  24,15b‐18a,  die  nach  dem  einleitenden  Itinerar  in  Ex  19,1  die  priester‐ grundschriftliche  Sinaiperikope  eröffnet.  In  Ex  24,16  wird  davon  be‐ richtet,  wie  der  ‫כבוד יהוה‬  sich  auf  dem  Sinai  niederlässt  (‫)שׁכן‬  und  die  Wolke (‫)ענן‬ den Berg bedeckt (‫כסה‬ pi.). Die Schilderung der Theophanie  weist  über  sich  hinaus,  da  der  Ruf  Jhwhs  nach  Mose  (Ex  24,16)  eine  Jhwh‐Offenbarung  erwarten  lässt.  An  Ex  24,15b‐18a  schließt  sich  des‐ halb in der Grundschrift eine zweiteilige Jhwh‐Rede in Ex 25,1‐9; 29,43‐ 46  an,  deren  Teile  durch  den  Auftragsbericht  Ex  25,10‐29,42  unter‐ brochen  werden.296  In  beiden  Redeabschnitten  spielt  die  Vorstellung  vom Wohnen Jhwhs eine wichtige Rolle.   Im  ersten  Teil  der  Jhwh‐Offenbarung  Ex  25,1‐9  können  V  1.2aa.8f.  für  die  Priestergrundschrift  reklamiert  werden.297  In  dieser  ursprüng‐ lichen Textfassung teilt Jhwh Mose mit, dass die Israeliten ihm ein Hei‐ ligtum  (‫מקדשׁ‬,  V  8)  bzw.  eine  Wohnung  (‫משׁכן‬,  V  9)  errichten  sollen,  damit er in ihrer Mitte wohnen kann (‫ושׁכנתי בתוכם‬, V 8). Mit der gleichen                                 295  Als  das  „anerkannte  Minimum“  der  Priestergrundschrift  im  Bereich  der  Sinaiperi‐ kope können Ex 19,1; 24,15b‐18*; 25,1.8f.; 29,45f.; 40,16f.33f.* gelten, die das Rahmen‐ gerüst der Handlung bilden. POLA, Priesterschrift, 342 Anm. 144, beschränkt sich in  seiner Abgrenzung von PG mit kleineren Abweichungen auf diesen Minimalbestand,  aber auch in umfangreicheren Bestimmungen der ursprünglichen Priesterschrift sind  diese relevanten Texte jeweils enthalten (vgl. z. B. die Entwürfe von WEIMAR, Struk‐ tur, 85; OTTO, Forschungen, 25f. [mit Ende von PG in 29,46]; OWCZAREK, Vorstellung,  319; KRATZ, Komposition, 105.328 Anm. 30, und FREVEL, Blick, 145).  296  Es ist fraglich, ob bzw. welche Teile des Auftragsberichts zur Grundschicht gezählt  werden können. Zur Diskussion vgl. FRITZ, Tempel, 112‐157; WEIMAR, Sinai, 340‐358.  297  Für  die  V  3‐7  hat  POLA  überzeugend  nachgewiesen,  dass  die  Details  der  Verse  be‐ reits den gesamten Auftragsbericht Ex 25‐29.30f. voraussetzen, der aber seinerseits in  großen Teilen sekundär ist (vgl. POLA, Priesterschrift, 259f.). Dementsprechend ist in  V  2abb  auch  der  Hinweis  auf  die  Hebopferthematik  zu  streichen  (so  mit  FREVEL,  Blick, 183). Zur Abgrenzung vgl. übereinstimmend auch WEIMAR, Sinai, 341. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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Wurzel  ‫שׁכן‬, die zuvor das Sich‐Niederlassen der Herrlichkeit auf dem  Berg bezeichnet, wird hier die Zielaussage der Offenbarung formuliert.  Der zweite Abschnitt der Jhwh‐Rede Ex 29,43‐46 enthält zuerst in V 43  die  Aussage,  dass  Jhwh  sich  „dorthin“  (‫)שׁמה‬,  d.  h.  in die Wohnung,298  bestimmen (‫יעד‬ ni.)299 und sie durch seinen ‫כבוד‬ heiligen wird (‫קדשׁ‬ ni.).  In  V 44*300  wird  die  Heiligung  des  Zelts  der  Begegnung  (‫)אהל מועד‬  ergänzt,  während  V  45  die  erneute  Verheißung  enthält,  dass  Jhwh  in‐ mitten  der  Israeliten  wohnen  wird  (‫)ושׁכנתי בתוך בני ישׂראל‬.  Diese  Selbst‐ bindung Jhwhs an das Volk wird in V 45b.46 durch eine Reihung von  Bundesformel  und  Erkenntnisformel  besiegelt.  Die  Bundesformel  ent‐ hält dabei nur die auf das Gottsein für Israel bezogene Hälfte, während  die Erkenntnisformel durch eine Selbstvorstellungsformel erweitert ist,  in der die Wohnungsnahme Jhwhs als das Ziel der Hinausführung aus  Ägypten  benannt  wird.  Auch  Ex  29,43‐46*  verlangt  eindeutig  nach  einer  Fortsetzung  in  der  Priestergrundschrift,  da  die  Ankündigung  Jhwhs, in der Mitte seines Volkes wohnen zu wollen, durch nichts als  Hoffnung gekennzeichnet ist, sondern auf eine Verwirklichung auf der  Textebene  drängt.301  Daneben  ist  die  Zusammengehörigkeit  von  Auf‐ trag  und  Ausführung  charakteristisch  für  die  Konzeption  der  ur‐ sprünglichen  Priesterschrift,302  so  dass  auch  aus  diesem  Grund  mit  einer  Angabe  über  die  Vollendung  der  Arbeit  am  Heiligtum  zu  rech‐ nen ist.  Der Bericht über den Abschluss des Bauberichtes, in dem sich auch  die  letzte  Aussage  über  das  Wohnen  Jhwhs  findet,  steht  in  Ex  40,33b‐ 38. Ex 40,33b ist mit der kurzen Notiz über die Vollendung (‫כלה‬ pi.) des  Werkes  (‫)מלאכה‬  durch  Mose  wegen  seines  Rückbezuges  auf  die  Voll‐                                298  Das  ‫שׁמה‬ in Ex 29,43 könnte als Bezug auf  ‫משׁכן‬ in Ex 26,30 interpretiert werden, das  für  den  vorderen  Anschluss  der  Perikope  in  PG  in  Frage  kommt  (vgl. auch FREVEL,  Blick, 103). Hierbei wird vorausgesetzt, dass ein Grundbestand des Auftragsberichts  zur Grundschicht gehört.  299  Die Übersetzung folgt STRUPPE, Herrlichkeit, 32; vgl. dazu STRUPPE, a.a.O., 42‐45.  300  Es  ist  fraglich,  ob  der  gesamte  Vers  Ex  29,44  zur  ursprünglichen  Priesterschrift  gehört. Bei der Reihung von Altar, Aaron und Söhne sowie Priesterdienst in V 44abb  sind  bereits  die  Teile  des  Auftragsberichts  vorausgesetzt,  die  die  Einrichtung  des  Kultbetriebes zum Ziel haben. Mit FREVEL, Blick, 103f., ist vielmehr zu überlegen, ob  V 44abb insgesamt als Nachtrag auszuscheiden ist. Gegen POLA, Priesterschrift, 233‐ 237, gibt es aber keinerlei Gründe, den Abschnitt auf V 45f. zu begrenzen (vgl. dazu  die Kritik bei FREVEL, Blick, 96‐104).  301  So gegen OTTO, Forschungen, 25f., der in Ex 29,46 das Ende von PG sieht. Die Errich‐ tung des Heiligtums ist in seinem Entwurf entbehrlich, da er die Aussageabsicht von  PG  in  einer  „Legitimation  der  Aufgabe  der  aaronidischen  Priester  in  einer  an  den  Sinai  zurückprojizierten  Heiligtumsätiologie“  sieht  (OTTO,  a.a.O,  27).  Zur  ausführ‐ lichen Kritik seines Entwurfes vgl. FREVEL, Blick, 112‐148.  302  Vgl. exemplarisch ELLIGER, Sinn, 130.  

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

endung der Schöpfung in Gen 2,2a eindeutig zu PG zu zählen.303 Damit  ist zwar das Werk vollendet, aber das leere Heiligtum verlangt deutlich  noch nach der Einlösung der Wohnungszusage aus Ex 29,43‐46*.304 Erst  in Ex 40,34, wo die Wolke das Zelt der Begegnung bedeckt (‫כסה‬ pi.) und  der ‫כבוד‬ die Wohnung (‫)משׁכן‬ erfüllt (‫)מלא‬, kommt die Zusage Jhwhs an  ihr  Ziel.  Im  Grunde  muss  dem  nichts  mehr  hinzugefügt  werden,  so  dass  mit  Ex  40,34  ein  sinnvolles  Ende  der  priestergrundschriftlichen  Sinaiperikope vorliegt.  Diese  Hypothese  findet  eine  literarkritische  Bestätigung  in  Ex  40,35‐38. Ex 40,35 ist ein Vers, der sich durch die Wiederaufnahme der  Aussagen  aus  Ex  40,34  über  Wolke  und  ‫כבוד‬  eindeutig  als  sekundäre  Ergänzung zu erkennen gibt.305 Auch wenn die Aussage über die Wol‐ ke leicht variiert wird (‫שׁכן‬, Ex 40,35; vgl. ‫כסה‬ pi., Ex 40,34), so ist doch  deutlich,  dass  die  Anwesenheit  der  Wolke  auf  bzw.  der  Herrlichkeit  Jhwhs im Heiligtum aus 40,34 in 40,35 sekundär wieder aufgenommen  werden,  um  eine  Begründung  dafür  anzuschließen,  warum  Mose  das  Heiligtum nicht betreten kann. Genau diese Situation wird in Lev 1,1ff.  vorausgesetzt, wo Mose von Jhwh aus dem Zelt heraus angeredet wird  und die Offenbarung der Gesetze empfängt. Ex 40,35 kann deshalb als  redaktionelles Scharnier eingeordnet werden, das die Gesetzgebung in  Lev  1,1ff.  mit  dem  Bau  des  Heiligtums  verbindet.306  Schließlich  bleibt  noch die Frage der Einordnung von Ex 40,36‐38. Die Aussagen über die  Wanderungspraxis  der  Israeliten,  die  von  der  Stellung  der  Wolke  be‐ einflusst  wird,  kommen  vor  dem  eigentlichen  Bericht  über  den  Auf‐ bruch vom Sinai in Num 10,11ff. zu früh und haben überdies eine Pa‐ rallele  in  Num  9,15ff.  Dies spricht dafür, dass in Ex 40,36‐38 ebenfalls  ein  redaktionelles  Gelenkstück  vorliegt,  das  in  diesem  Fall  die  Funk‐ tion hat, die Stiftshüttenperikope mit dem Aufbruch vom Sinai und der  Wüstenwanderung in Num 1ff. bzw. Num 10,11ff. zu verknüpfen.307 Der  vorausgehende  Überblick  hat  gezeigt,  dass  die  Vorstellung  vom Wohnen Jhwhs und ihre Heilsbedeutung für das Gottesvolk leit‐ motivartig  die  priestergrundschriftliche  Sinaiperikope  durchzieht.  Ex  25,1.2aa.8f.  kann  dabei  als  Exposition  bezeichnet  werden,  in  der  Jhwh  zuerst  seinen  Willen  bekundet,  unter  den  Israeliten  zu  wohnen.  Der                                 303  ‫מלאכה‬  in  Verbindung  mit  ‫כלה‬  pi.  ist  nur  an  diesen  beiden  Stellen  (Gen  2,2a  und  Ex  40,33b) für die Priesterschrift belegt.  304  So gegen POLA, Priesterschrift, 297, nach dem die ursprüngliche Priesterschrift in Ex  40,33  mit  einem  leeren  Heiligtum  ihr  Ende  hat.  Zur  Kritik  an  seinem  Entwurf  vgl.  ausführlich FREVEL, Blick, 89‐145.  305  Anders OWCZAREK, Vorstellung, 247f., und FREVEL, Blick, 93‐96.183‐185, die V 35 zur  Grundschicht rechnen.  306  Vgl. KRATZ, Komposition, 106f.  307  Vgl. KRATZ, Komposition, 106f. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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eigentliche „Programmtext“ der Perikope ist aber Ex 29,43‐46*, der die  göttliche  Wohnungsnahme  als  Selbstbestimmung  Jhwhs  zugunsten  Israels beschreibt. Das Heil für das Volk liegt nicht im göttlichen Woh‐ nen  als  solchem,  sondern  das  Aussagegefälle  des  Textes  läuft  auf  die  Zusage  von  Jhwhs  Gottsein  für  Israel  zu,  die  „die  eigentliche  Sinn‐ spitze“308  des  Abschnittes  bildet.  Ex  24,16  und  Ex  40,34  legen  sich  schließlich  als  Rahmen  um  die  Sinaiperikope  und  stehen  sprachlich  und  inhaltlich  in  einem  Korrelationsverhältnis:  Während  in  Ex  24,16  die  Wolke  den  Berg  bedeckt  (‫כסה‬  pi.)  und  der  ‫כבוד יהוה‬  auf  dem  Berg  Wohnung nimmt (‫)שׁכן‬, bedeckt (‫כסה‬ pi.) die Wolke in Ex 40,34 das Zelt,  während der ‫כבוד יהוה‬ die Wohnung (‫)משׁכן‬ erfüllt (‫)מלא‬. Auf diese Weise  ist  die  lokale  Wohnungsnahme  der  Herrlichkeit  Jhwhs  auf  dem  Sinai  Vorschein der kultischen Präsenz im Heiligtum, das so zum „Sinai auf  der  Wanderung“309  wird.  Zu  beachten  bleibt  dabei,  dass  zwar  Jhwhs  Gegenwart  im  Heiligtum  das  Ziel  der  Stiftshüttenperikope  ist,  aber  durch nichts angezeigt wird, dass er seine Präsenz an einen festen Ort  bindet.  Gerade  die  Transportabilität  des  Heiligtums  ermöglicht  eine  göttliche Präsenz Jhwhs, wo immer sich sein Volk befindet.  Die  Beobachtungen  zum  Wohnungsmotiv  gewinnen  zusätzlich  an  Bedeutung, wenn in Ex 40,34 nicht nur das Ende der PG‐Sinaiperikope  gesehen  wird,  sondern  mit  diesem  Vers  auch  das  Ende  der  Priester‐ grundschrift  vorliegt.310  Für  diese  These  spricht  zuerst,  dass  sich  die  Anbindung  des  Gesetzes  und  der  Wüstenwanderung  durch  das  redaktionelle Gelenkstück Ex 40,35.36‐38 als sekundär erwiesen haben.  Darüber  hinaus  findet  sich  weder  im  Bereich  von  Leviticus  noch  in  Numeri ein möglicher Abschlusstext. Damit bliebe nur noch die Notiz  über  den  Tod  des  Mose  in  Dtn  34,  der  sich  aber  ohne  Aufbruch  vom  Sinai  und  ohne  Wüstenwanderung  nicht  nur  „im  Niemandsland“  wiederfindet,  sondern  auch  literarisch  und  kompositorisch  keine  priesterschriftliche  Prägung  erkennen  lässt.311  Wenn  auch  Dtn  34  als  Kandidat für ein mögliches Ende der Priestergrundschrift ausscheidet,  ist  man  an  das  Ende  der  Sinaiperikope  in  Ex  40,34  gewiesen.312  Die                                 308  WEIMAR, Untersuchung, 135.  309  GÖRG, Zelt, 74.  310  Vgl. KRATZ, Komposition, 113.328 Anm. 30. Ansonsten liegt ein ausgearbeiteter Vor‐ schlag für ein Ende von PG im Bereich der Sinaiperikope nur von POLA vor, der das  Ende  allerdings  bereits  in  Ex  40,33  sieht  (vgl.  POLA,  Priesterschrift,  213ff.291‐298).  Zur  Diskussion  um  das  Ende  der  Priestergrundschrift  siehe  ausführlich  FREVEL,  Blick (vgl. Anm. 312).  311  Den  Nachweis  hat  PERLITT,  Priesterschrift,  133‐141,  geführt.  Vgl.  auch  DOHMEN/  OEMING, Kanon, 54‐68.  312  Anders  FREVEL,  BLICK,  342,  der  in  einer  ausführlichen  Sichtung  der  Forschungs‐ geschichte  zu  dem  Ergebnis  kommt,  dass  „es  derzeit  keine  sinnvolle  und  haltbare 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Einwohnung Gottes im Heiligtum, mit der sich die Offenbarung Jhwhs  als  der  Gott  Israels  „in  ihrer  Mitte“  vollzieht,  wäre  auf  diese  Weise  Zielpunkt  und  theologische  Mitte  nicht  nur  des  Sinaigeschehens,  son‐ dern der gesamten ursprünglichen Priesterschrift.313 Vergleicht  man  die  Wohnungstexte  der  Priestergrundschrift  mit  den Ezechieltexten, so steht außer Frage, dass sie denselben traditions‐ geschichtlichen  Hintergrund  haben.  In  der  folgenden  vergleichenden  Analyse wird darüber hinausgehend zu fragen sein, ob auch ein litera‐ risches  Abhängigkeitsverhältnis  zwischen  den  Texten  nachgewiesen  werden kann. Bei dieser Frage ist auch die Segensreihe Lev 26,3‐13 mit  in  die  Überlegung  einzubeziehen,  die  einerseits  als  traditum  für  Ez  37,25‐28*  identifiziert  werden  konnte,  die  aber  andererseits  als  Ab‐ schluss  des  Heiligkeitsgesetzes  Lev  17‐26  auch  Verbindungen  zur  Priesterschrift  aufweist.  Unter  dem  Vorbehalt,  dass  jegliche  Aussagen  über literarische Abhängigkeiten bei der großen Anzahl von Texten in  höchstem  Maße  hypothetisch  bleiben  müssen,  und  gerade  das  grund‐ sätzliche  Verhältnis  von  Priestergrundschrift,  Heiligkeitsgesetz  und  Ezechielbuch  einer  umfassenderen  Untersuchung  vorbehalten  bleiben  muss,  können  die  folgenden  Beobachtungen  doch  einen  Beitrag  zur  Diskussion leisten.  Zuerst  fällt  auf,  dass  zwar  alle  Texte  eine  Form  von  ‫שׁכן‬  mit  Jhwh  als Subjekt und der Angabe ‫בתוך‬ gefolgt von ‫בני ישׂראל‬/Suffix verwenden,  im Gebrauch des Motivs aber Formulierungsunterschiede auftreten. So  sprechen  Lev  26,3‐13  und  Ez  37,25‐28  in  nominaler  Terminologie  da‐ von,  dass  Jhwh  seine  Wohnstatt  (‫משׁכני‬,  Lev  26,11;  vgl.  ‫מקדשׁי‬  in  Ez  37,26.28  bzw.  ‫משׁכני‬  in  Ez  37,27)  in  die  Mitte  der  Israeliten  geben  wird   (‫)נתן‬. Dagegen wird in den priestergrundschriftlichen Texten eine Ver‐                                Alternative zu Dtn 34 als Schluß einer Priestergrundschrift gibt.“ Er führt insbeson‐ dere an, dass ein Schluss von PG am Sinai mit zu großen Zugeständnissen bezüglich  der Landverheißung erkauft werde, da diese am Sinai keine Erfüllung erfahre (vgl.  FREVEL, a.a.O., 185f.). Allerdings ist er seinerseits angesichts der Textgestalt von Dtn  34  zu  der  Hypothese  gezwungen,  dass  Bestandteile  einer  priesterschriftlichen  Ver‐ sion  über  den  Tod  des  Mose  in  der  jetzigen  literarischen  Gestalt  von  Dtn  34  auf‐ gegangen seien (vgl. FREVEL, a.a.O., 233). Und ob der „Blick auf das Land“ in Dtn 34  als (partielle) Realisierung der Landverheißung gelten kann (vgl. FREVEL, a.a.O., 349‐ 371, insbes. 369), sei hier zumindest angezweifelt.  313  Eine  Untersuchung  der  Priestergrundschrift  unter  der  Voraussetzung,  dass  sie  mit  der Einwohnung Jhwhs in Ex 40,34 an ihr Ende und Ziel kommt, steht zurzeit noch  aus,  ist  aber  zweifellos  ein  Desiderat  der  Forschung.  Allerdings  ist schon mehrfach  darauf hingewiesen worden, dass die Stiftshüttenperikope eine inclusio zum priester‐ schriftlichen Schöpfungsbericht darstellt, vgl. z. B. BUBER/ROSENZWEIG, Schrift, 40ff.,  JANOWSKI, Sühne, 309‐312; ZENGER, Bogen, 170‐175, und WEIMAR, Sinai, 358ff. Da die  Abgrenzung  des  priestergrundschriftlichen  Materials  aber  gerade  im  Bereich  der  Sinaiperikope nach wie vor umstritten ist, variieren die Studien in der Wertung des  Befunds teils erheblich. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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balform von ‫שׁכן‬ gebraucht (Ex 25,8; 29,45.46), um das göttliche Wohnen  inmitten  des  Volkes  zu  bezeichnen.  Darin  berühren  sich  die  Belege  in  PG  allerdings  mit  Ez  43,7a(9b),  wo  anders  als  in  Ez  37,26  nicht  das  Nomen,  sondern  das  Verbum  der  Wurzel  ‫שׁכן‬  benutzt  wird.  Unter‐ schiede  finden  sich  weiterhin  im  Charakter  der  Heilszusage.  Für  die  priesterschriftlichen Texte konnte bereits gezeigt werden, dass ihre Be‐ sonderheit  in  der  freien  Selbstbestimmung  Jhwhs  zugunsten  Israels  liegt. In gleicher Weise enthalten auch die Texte aus dem Ezechielbuch  mit Ausnahme von Ez 43,7b‐9 eine unbedingte Heilsverheißung, wäh‐ rend  in  Lev  26,3‐13  die  Zusage  der  göttlichen  Präsenz  der  Bedingung  des  Gesetzesgehorsams  unterliegt,  die  überschriftartig  über  der  Se‐ gensreihe steht (Lev 26,3).  Ungeachtet  des  divergierenden  Charakters  der  Heilsworte  weisen  die  Wohnungszusagen  in  Ex  29,43‐46*  und  Lev  26,11‐13*  dieselbe  strukturelle Anordnung auf. In beiden Fällen wird die Verheißung von  Jhwhs  göttlicher  Präsenz  von  einer  Bundesformel  gefolgt,  an  die  sich  eine erweiterte Selbstvorstellungsformel anschließt (vgl. Ex 29,45f. und  Lev  26,11‐13*).  Die  Erweiterung  verweist  dabei  jeweils  in  paralleler  Formulierung  auf  das  Exodushandeln,  indes  mit  dem  Unterschied,  dass das Exodusgeschehen in Lev 26,13 als Befreiung aus der Knecht‐ schaft bestimmt wird, während in Ex 29,46 die Wohnungsnahme Jhwhs  Ziel der Herausführung aus Ägypten ist. Darüber hinaus enthält Ex 29  gegenüber  Lev  26 darin einen auffälligen Überschuss, dass die Selbst‐ vorstellung  Jhwhs  als  Gegenstand  der  Erkenntnisformel  erscheint.  Diese  formale  Anordnung  verweist  wiederum  auf  Ez 37,25‐28*, wo in  ähnlicher Weise die Verheißung der göttlichen Gegenwart mit der Bun‐ desformel und einer erweiterten Erkenntnisformel verbunden ist.314 Die  beiden  Texte  berühren  sich  ferner  darin,  dass  die  Wohnungsnahme  Jhwhs  das  Geschehen  ist,  an  dem  die  Israeliten  (Ex  29,46)  bzw.  die  Völker  (Ez  37,28)  zur  Erkenntnis  gelangen  sollen.  In  der  Bezeichnung  des göttlichen Handelns als „Heiligung“ (‫קדשׁ‬ ni., Ex 29,43; vgl. ‫קדשׁ‬ pi.,  Ez 37,28) gibt es eine weitere Querverbindung zwischen den Stücken.  Es ist nun die Frage, wie sich diese Beobachtungen im Hinblick auf  das  literarische  Verhältnis  der  Texte  zueinander  bewerten  lassen.  Zu‐ erst  hat  sich  auch  unter  Einbeziehung  einer  umfassenderen  Textbasis  die  These  einer  literarischen  Abhängigkeit  zwischen  Lev  26,3‐13  und  Ez  37,25‐28*  bestätigt.  Diese  beiden  Texte  heben  sich  nicht  nur  durch  ihre  parallele  Formulierung  der  Wohnungsaussage  von  den  anderen  Texten ab, sondern sie verbinden darüber hinaus die göttliche Präsenz  mit  dem  Begriff  der  ‫ברית‬.  Die  kultische  Konkretisierung  des  Bundes‐                                314  Vgl. auch RUDNIG, Heilig, 67, der von einer „Strukturparallele“ im Hinblick auf Ex  29,45f. und Ez 37,25‐28* spricht.  

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

verhältnisses  in  der  göttlichen  Gegenwart,  die  in  Lev  26,3‐13  bereits  impliziert  ist,  gewinnt  ihre  Gestalt  in  der  ezechielischen  Prägung  der  ‫ברית שׁלום‬  (Ez  34,25;  37,26).  In  diesem  Zusammenhang  ist  allerdings  auch  die  Bundestheologie  in  der  Priestergrundschrift  zu  berücksich‐ tigen. PG vermeidet, wahrscheinlich in Absetzung von der nicht‐pries‐ terschriftlichen  Erzählung,  den  ‫‐ברית‬Begriff  in  der  Sinaiperikope.  An  die Stelle des Sinai/Horeb‐Bundes treten in der Priestergrundschrift die  beiden  ausdrücklich  als  ‫ברית‬  bezeichneten  Bundesschlüsse  mit  Noach  und  der  Menschheit  (Gen  9,1‐17)  bzw.  mit  Abraham  und  Israel  (Gen  17).315  Allerdings  ist  das  priesterschriftliche  Geschehen  am  Sinai  nicht  ohne bundestheologischen Bezug. Denn während Gegenstand der noa‐ chitischen  Bundesverheißung  die  Zusage  ist,  dass  keine  Sintflut  mehr  über die Erde kommen wird, ist der Abrahambund inhaltlich durch die  Zusage eines exklusiven Gottesverhältnisses bestimmt: „Und ich werde  meinen Bund aufrichten ... zu einem ewigen Bund (‫)לברית עולם‬, um dir  Gott zu sein und deinen Nachkommen nach dir.“ (Gen 17,7; vgl. auch  Ex  6,7).  Diese  Verheißung  findet  in  der  Einwohnung  des  Heiligtums  am  Sinai  ihre  Erfüllung,  so  dass  für  die  Priesterschrift  ein  Bundesver‐ ständnis  vorausgesetzt  werden  kann,  das  sich  im  kultischen  Wohnen  Jhwhs  inmitten  der  Israeliten  realisiert.316  Die  Ankündigungen  in  Lev  26 und Ez 37 können damit als Verheißung des Geschehens verstanden  werden, das in der Priestergrundschrift berichtet wird. Durch den kon‐ zeptionellen  Bezug  auf  den  ewigen  Bund  in  Gen  17  kommt  der  gött‐ lichen  Präsenz  in  der  Priesterschrift  darüber  hinaus  in  gleicher  Weise  Unverbrüchlichkeit  zu,  wie  sie  auch  in  Ez  37,26  in  der  ‫ברית עולם‬  ver‐ heißen ist.   Nach  den  vorangegangenen  Überlegungen  schließt  sich  konse‐ quenterweise  die  Frage  an,  in  welchem  literarischen  Verhältnis  Lev  26,3‐13 und Ez 37,25‐28 zu den Texten der Priestergrundschrift stehen.  Es  ist  bereits  mehrfach  darauf  hingewiesen  worden,  dass  Lev  26,3‐13                                 315  WELLHAUSEN zählt mit Schöpfungsbund, Noachbund, Abrahambund und Sinaibund  vier  Bünde  in  der  Priesterschrift,  die  er  deshalb  als  „‘Vierbundesbuch’  (quatuor)“  bezeichnet  (WELLHAUSEN,  Composition,  1;  vgl.  auch  DERS.,  Prolegomena,  336‐340);  vgl. auch LEVIN, Verheißung, 231, der von vier Bundesverheißungen spricht, wobei  er  aber  anstelle  des  Schöpfungsbundes  Ex  6  zu  den  vier  Bundestexten  zählt.  Es  ist  allerdings  zu  beachten,  dass  Ex  6  und  Ex  29  als  Bestätigung  und  Erfüllung  dem  Abrahambund  in  Gen  17  zuzurechnen  sind,  so  dass  die  Priestergrundschrift  durch  zwei große Bundesverheißungen mit der Menschheit (Noachbund, Gen 9) und Israel  (Abrahambund,  Gen  17)  gegliedert  wird  (vgl.  STECK,  Aufbauprobleme,  305‐308;  KRATZ, Komposition, 230‐233.248.328). Dagegen hat WEIMAR, Struktur, 85.115.156ff.,  eine  Zweiteilung  der  Priesterschrift  in  Ur‐  und  Vätergeschichte  einerseits,  Exodus‐ geschichte andererseits vorgeschlagen (Gen 1,1‐Ex 1,7/Ex 1,13ff.), von der auch FRE‐ VEL, Blick, 197f., nicht vorschnell Abschied nehmen will.  316  Vgl. auch OWCZAREK, Vorstellung, 234‐239. 

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nicht nur in der Wohnungsverheißung Querverbindungen mit PG auf‐ weist,  sondern  dass  der  Text  im  Bereich  der  Verse  26,9‐13  eine  Reihe  von  weiteren  Übereinstimmungen  mit  den  Bundestexten  der  Priester‐ schrift  enthält.317  Neben  den  bereits  aufgezeigten  Parallelen  zwischen  Ex  29,43‐46  und  Lev  26,3‐13  berührt  sich  Lev  26,9  mit  den  PG‐Texten  auch  in  der  priesterschriftlich  bevorzugten  Formulierung  vom  „Auf‐ richten“  des  Bundes  (‫)קום ברית‬318  sowie  in  der  Verheißung,  das  Volk  fruchtbar  zu  machen  und  es  zu  mehren  (‫פרה‬  hif.;  ‫רבה‬  hif.).319  Die  Viel‐ zahl  der  Stichwortverbindungen,  die  gehäuft  in  Lev  26,9‐13  auftreten  und  eine  Reihe  von  priesterschriftlichen  Zentralbegriffen  betreffen,  lässt  auch  im  Fall  von  Lev  26  und  PG  auf  eine  Abhängigkeit  schlie‐ ßen.320   Hier sind nun zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder bündelt Lev  26,9‐13* mit einer bestimmten Absicht zentrale Topoi der Priesterschrift  oder  große  Teile  der  Priestergrundschrift  sind  auf  das  Stück  aus  dem  Heiligkeitsgesetz zurückzuführen. Ausschlaggebend ist m. E. die Beob‐ achtung, dass es sich bei sämtlichen Querverbindungen zwischen den  Texten um Begriffe handelt, die im Heiligkeitsgesetz allein in Lev 26,9‐ 13* belegt sind, während sie in der Priesterschrift konzeptionell einge‐ bunden  und  über  den  gesamten  Textbereich  verstreut  sind.321  So  sind  die  Lemmata  ‫שׁכן‬,  ‫ברית‬,  ‫רבה‬  und  ‫פרה‬  im  gesamten  Heiligkeitsgesetz  mit  der Ausnahme von Lev 26 nicht ein einziges Mal belegt, und auch das  Motiv von Jhwhs Gegenwart in der Mitte seines Volkes findet sich nur  in Lev 26,11. Da in Lev 26,9‐13* damit auf engstem Raum geballt zen‐ trale Topoi aus PG begegnen, liegt es nahe, den Abschnitt als Reaktion  auf die Priesterschrift zu verstehen.322 Die Annahme des umgekehrten  Abhängigkeitsverhältnisses  ist  nach  den  hier  vorgelegten  Ergebnissen  schon dadurch unwahrscheinlich, weil offen bliebe, auf welchen litera‐ rischen  Hintergrund  die  singulären  Verheißungen  in  Lev  26,9‐13*  zu‐                                317  Vgl. ELLIGER, HAT, 366; LOHFINK, Abänderung, 159‐163; die Zusammenstellung bei  LEVIN, Verheißung, 229, sowie GRÜNWALDT, Heiligkeitsgesetz, 348‐374.377.  318  Vgl. dazu o. Kap. III. 4.4.2., insbes. Anm. 260.  319  Vgl.  die  zahlreichen  P‐Belege  von  ‫פרה‬  (kal/hif.)  in  Kombination  mit  ‫רבה‬  (kal/hif.)  in  Gen  1,22.28;  8,17;  9,1.7;  17,20;  (28,3);  35,11;  47,27;  (48,4);  (Ex  1,7);  denen  nur  vier  Belege  im  restlichen  Alten  Testament  gegenüber  stehen  (Lev  26,9;  Jer  3,16;  23,3;  Ez  36,11).   320   Ein  literarisches  Abhängigkeitsverhältnis  zwischen  PG  und  Lev  26,9‐13*  vertreten  LOHFINK, Abänderung, 163; CHOLEWIŃSKI, Heiligkeitsgesetz, 121‐123, LEVIN, Verhei‐ ßung, 228; und GRÜNWALDT, Heiligkeitsgesetz, 354.  321  Vgl. auch GRÜNWALDT, Heiligkeitsgesetz, 354.  322  So in der Bestimmung der Abhängigkeit mit LOHFINK, Abänderung, 164, und im An‐ schluss  daran  CHOLEWIŃSKI,  Heiligkeitsgesetz,  121‐123.  Dagegen  hat  nach  LEVIN,  Verheißung, 228, Lev 26,3‐13* das Muster für die Bundesverheißungen der Priester‐ schrift abgegeben.  

   

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rückzuführen  wären.  Die  Rezeption  der  priestergrundschriftlichen  Wohnungszusage in Lev 26 kann somit als Korrektur der unbedingten  Verheißung  der  Gottesgegenwart  von  Ex  29  interpretiert  werden.323  Anscheinend  ist  in  Lev  26  ein  Autor  am  Werk,  dem  es  nicht  nur  um  den  Abschluss  des  Heiligkeitsgesetzes  geht,  sondern  der  bereits  den  Zusammenhang  von  Heiligkeitsgesetz  mit  PG  berücksichtigt  und  die  priesterschriftliche Theologie sozusagen im Nachwort unter die Bedin‐ gung des Gesetzesgehorsam stellt.  Wie  ist  aber  unter  dieser  Prämisse  das  literarische  Verhältnis  zwi‐ schen  den  Wohnungsaussagen  der  ursprünglichen  Priesterschrift  und  den Texten aus dem Ezechielbuch zu beurteilen? Wenn der Autor von  Ez  37,25‐28*  auf  Lev  26,3‐13*  als  traditum  zurückgreift,  müssen  ihm  auch  die  Wohnungstexte  der  Priestergrundschrift  bereits  vorgelegen  haben. Für eine direkte literarische Abhängigkeit gibt es aber mit Aus‐ nahme  des  strukturell  vergleichbaren  Aufbaus  von  Ex  29,45f.  und  Ez  37,25‐28* wenig sichere Anhaltspunkte. Mit der Verheißung des Heilig‐ tums  als  Verwirklichung  des  Bundesverhältnisses  setzt  Ez  37,25‐28*  zwar  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  die  Bundestheologie  der  Priester‐ grundschrift  voraus,  literarisch  steht  es  aber  den  Verheißungen  des  Heiligkeitsgesetzes näher als den Texten von PG.324 Die Sache stellt sich als noch komplizierter dar, wenn auch noch Ez  43,1‐9  mit  in  die  Überlegungen  einbezogen  wird.  In  Bezug  auf  Lev  26,3‐13  gibt  es  in  diesem  Fall  keine  Hinweise  auf  eine  Abhängigkeit,  dagegen  legt  die  vergleichbare  Formulierung  der  Wohnungsaussagen  eine Beziehung zwischen Ez 43,6‐7a und den Wohnungstexten von PG  sehr  nahe,  wobei  dem  sachlichen  Überschuss  in  Ez  43,6‐7a  eine  ent‐ scheidende Rolle zukommt. Die Verheißung zeichnet sich dadurch aus,  dass Jhwh sich nicht nur an das Gottesvolk bindet, sondern zusätzlich  an  „die  Stätte  meines  Thrones  und  die  Stätte  meiner  Fußsohlen“  (Ez  43,7a).  An  die  Stelle  der  Transportabilität  der  Stiftshütte  als  wandern‐ der Sinai tritt im Ezechielbuch die lokale Bindung Gottes an das Heilig‐ tum  auf  dem  Zion,  die  die  Zusage  des  exklusiven  Gottesverhältnisses  ergänzt.  Dies  könnte  dafür  sprechen,  dass  Ez  43,6‐7a  einen  jüngeren  theologiegeschichtlichen  Standort  verrät,  an  dem  zwar  die  priester‐ grundschriftliche  Lösung  des  Kultes  von  Jerusalem  vorausgesetzt  ist,                                 323  So mit LOHFINK, Abänderung, 165‐168, der allerdings davon ausgeht, dass es sich bei  V  9.11‐12  um  einen  von  der  Priesterschrift  abhängigen  Einschub  in  den  Segen  des  Heiligkeitsgesetzes handelt.  324  OWCZAREK,  Vorstellung,  131‐138,  kommt  zu  dem  Schluss,  dass  eine  literarische  Abhängigkeit zwischen Ez 37,26‐28 und dem priesterschriftlichen Heiligkeitsentwurf  vorliegt, berücksichtigt Lev 26 in ihrer Analyse aber nur am Rande (vgl. OWCZAREK,  a.a.O., 135). POLA, Priesterschrift, 277f., geht dagegen davon aus, dass PG die (retro‐ jizierte) Erfüllung der Verheißungen aus Ez 37,26‐28 berichtet. 

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zugleich  aber  wieder  an  die  vorexilische  Tempeltheologie  angeknüpft  wird.325 Schließlich bleibt noch die parallel konstruierte Notiz über die  Erfüllung des Heiligtums durch den ‫כבוד‬ (‫מלא‬, Ex 40,34; vgl. Ez 43,5) zu  berücksichtigen.  Eine  vergleichbare  Notiz  findet  sich  nur  noch  im  Be‐ richt  über  den  Bau  des  Tempels  in  1  Kön  8,10f.  bzw.  2  Chr  5,13f.  mit  7,1f., so dass auch hier mit einer literarischen Abhängigkeit zu rechnen  ist. Nähere Aussagen über dieses Verhältnis können aber erst getroffen  werden, wenn der literarische Ort und die Funktion von Ez 43,1‐5* im  Wachstum  des  Ezechielbuches  bestimmt  worden  sind,  so  dass  die  Beantwortung  dieser  Frage  dem  Schlusskapitel  vorbehalten  bleiben  muss.326 Ausgangspunkt  der  Analyse  des  Wohnungsmotivs  war  die  Frage,  inwieweit  die  Vorstellung  vom  Wohnen  Jhwhs  in  der  Mitte  der  Isra‐ eliten  von  Bedeutung  für  das  Konzept  des  Heilsbundes  ist.  Dabei  hat  insbesondere die Rezeption von PG über Lev 26,3‐13* und Ez 37,25‐28*  eine Auslegungsbewegung erkennen lassen, in der das Wohnen Jhwhs  zunehmend unter das Vorzeichen der  ‫ברית שׁלום‬ gestellt worden ist. Die  bundestheologische  Deutung  des  Wohnens,  die  in  der  Priestergrund‐ schrift  bereits  angelegt  ist,  wird  in  Lev  26,3‐13*  mit  dem  ‫‐שׁלום‬Begriff  verbunden  und  bekommt  ihre  spezifische  Ausprägung  im  ezechie‐ lischen Konzept des Heilsbundes.   4.4.4.4. Das Wohnen Jhwhs in 1 Kön 6,11‐13  Der letzte Wohnungstext 1 Kön 6,11‐13 stellt nach einhelliger Meinung  einen  späten,  dtr.  Einschub  in  den  (vor‐)dtn.  Tempelbaubericht  1  Kön  6*  dar.327  In  diesem  Nachtrag  richtet  sich  Jhwh  an  den  König  Salomo  und sagt ihm zu, die an David ergangenen Verheißungen unter der Be‐ dingung auf ihn zu übertragen, dass Salomo die Gesetze einhält (V 12).  Als  Inhalt  dieser  Verheißungen  erscheint  in  V  13  die  Zusage  Jhwhs, 

                               325  Anders OWCZAREK, Vorstellung, 211f., die in Ez 43,7 den ältesten Beleg für die Woh‐ nungsformel  sieht  und  eine  Beeinflussung  der  priesterschriftlichen  Heiligtums‐ konzeption durch die ezechielische Verkündigung annimmt. Vgl. auch POLA, Pries‐ terschrift, 275‐281, insbes. 281.  326  Vgl. dazu u. Kap. IV. 3.2. und IV. 3.4.   327  Vgl. VEIJOLA, Verheißung, 149f.155; WÜRTHWEIN, ATD, 65, und RUDNIG, Jahwe, 279  mit Anm. 48. Während VEIJOLA, a.a.O.,149f.155, die Verse auf den Redaktor DtrN zu‐ rückführt, schreibt WÜRTHWEIN, a.a.O.,65, DtrN nur V 11f. zu und sieht in V 13 einen  spät‐dtr. Nachtrag. Die Tatsache, dass die V 11‐14* insgesamt in LXX* fehlen, könnte  ein weiteres Indiz dafür sein, dass es sich hierbei um einen literarisch späten Zusatz  handelt. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

unter  den  Israeliten  zu  wohnen  (‫)ושׁכנתי בתוך בני ישׂראל‬  und  sie  nicht  zu  verlassen.328 In  der  Formulierung  der  Wohnungsintention  weist  1  Kön  6,11‐13  eine  wortwörtliche  Parallele  zu  Ex  29,45f.  auf;  von  der  Argumenta‐ tionsstruktur  her  berührt  sich  der  Text  aber  vor  allem  mit  Ez  43,7b‐9,  da die Gegenwart Jhwhs in beiden Texten an bestimmte Bedingungen  geknüpft  wird.  Der  entscheidende  Unterschied  liegt  darin,  dass  Ez  43,7b‐9  das  Wohnen  Jhwhs  für  die  Zukunft  vom  kultisch‐ethischen  Verhalten  des  Volkes  abhängig  macht,  während  1  Kön  6,11‐13  die  Bedingung zeitlich auf den Bau des salomonischen Tempels zurückver‐ legt  und  den  König  in  die  Verantwortung  nimmt.  In  der  Perspektive  von 1 Kön 6,11‐13 besteht keine Notwendigkeit, einen Ohnmachtsver‐ dacht  Jhwhs  nach  587  v.  Chr.  zu  entkräften,  da  dieser  gar  nicht  erst  aufkommen  konnte.  Vielmehr  steht  die  lokale  Gegenwart  Jhwhs  im  Tempel  von  Baubeginn  an  unter  der  Einschränkung  des  königlichen  Gesetzesgehorsams,  so  dass  die  Zerstörung  des  Heiligtums  aus  der  Sicht des spät‐dtr. Autors als die logische Konsequenz des königlichen  Fehlverhaltens erscheinen muss.   Mit  dieser  Sicht  auf  die  Katastrophe  ist  1  Kön  6,11‐13  der  Text,  in  dem die Krise der Zionstheologie in Bezug auf die göttliche Gegenwart  am  weitesten  reflektiert  worden  ist.  Da  weiterhin  die  spät‐dtr.  Datie‐ rung allgemein anerkannt ist, liegt hier mit einiger Wahrscheinlichkeit  der  jüngste  Text  über  das  Wohnen  Jhwhs  in  der  Mitte  seines  Volkes  vor. Auch wenn dem Verfasser die anderen Wohnungstexte aufgrund  dieser Einordnung theoretisch schon vorgelegen haben könnten, ist es  angesichts des kurzen Abschnittes kaum möglich zu entscheiden, ob er  mit einer bestimmten Auslegungsintention geschrieben worden ist. Es  ist  zumindest  in  Betracht  zu  ziehen,  dass  1  Kön  6,11‐13  sich  sachlich  direkt  auf  die  ezechielischen  Wohnungsbedingungen  in  43,7b‐9  be‐ zieht,  die  zeitlich  im  Bau  des  Ersten  Tempels  verankert  werden.  Auf  diese  Weise  unterliegt  die  Zusage  der  göttliche  Präsenz  inmitten  des  Volkes von Anfang an bestimmten Einschränkungen.  4.4.5. Zur Nachgeschichte: Ez 34,25LXX; Jes 54,9f. und Hos 2,20  Auch  wenn  das  Konzept  der  ‫ברית שׁלום‬  in  dieser  Form  nur  in  Ez  34,25  und Ez 37,26 belegt ist, so gibt es doch eine Reihe von Texten, die in die  Nähe  dieser  Vorstellung  gehören  oder  in  denen  der  Heilsbund  eine                                 328  Es  lässt  sich  diskutieren,  ob  V  13  mit  dem  Wechsel  von  Salomo  zu  den  Israeliten  einen Nachtrag im Nachtrag darstellt (so WÜRTHWEIN, ATD, 65); die Frage kann hier  aber  offen  bleiben.  Egal  ob  die  Verbindung  von  V  11f.  mit  V  13  ursprünglich  oder  redaktionell ist, steht die Wohnungszusage Jhwhs in V 13 von Anfang an unter der  Bedingung des (königlichen) Gesetzesgehorsams. 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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Nachgeschichte  erfahren  hat.  Dazu  gehört  zuerst  die  griechischspra‐ chige Überlieferung von Ez 34,25, die den Text dahingehend abändert,  dass David anstelle des Volkes zum Bundespartner wird.329 Hinter die‐ ser  Abänderung  des  Textes  stehen  wahrscheinlich  Bestrebungen,  die  Rolle  Davids  in  Ez  34  weiter  aufzuwerten  und  den  Heilsbund  als  Davidbund  zu  konkretisieren.  Dies  führt  allerdings  dazu,  dass  in  der  griechischsprachigen Überlieferung die Bundespartner in Ez 34 und 37  abweichend vom masoretischen Text nicht identisch sind, sondern der  Heilsbund einmal mit David (34,25) und einmal mit dem Volk (37,26)  geschlossen wird.330 Eine  andere  Ausprägung  erhält  die  Rede  vom  Heilsbund  in  den  Heilsverheißungen des Deuterojesajabuches, wo Jhwh der Frau Zion in  Jes  54,9f.  die  Unverbrüchlichkeit  seiner  ‫ברית שׁלומי‬  zusagt.  Bei  diesen  Versen  handelt  es  sich  um  eine  nachträgliche  Ergänzung  des  Heils‐ wortes in Jes 54,1‐8*, in dem Frau Zion zur Freude aufgerufen wird, da  Jhwh sie wieder in den Ehestand erheben wird und ihr reichen Kinder‐ segen  ankündigt.331  Dabei  liegt  die  Betonung  darauf,  dass  Zions  Zu‐ stand der Verlassenheit nur kurz währte, während Jhwh sich ihrer nun  mit ewiger Gnade (‫בחסד עולם‬, V 8) erbarmen wird. Der Nachtrag in Jes  54,9f. bietet eine Auslegung der ewigen Gnade, indem die Unverbrüch‐ lichkeit des Heils durch einen Vergleich mit dem Noachbund bekräftigt  wird:  Genau  wie  Jhwh  sich  im  Noachbund  verpflichtet  hat,  die  Erde  nicht mehr zu überfluten (V 9), so verpflichtet er sich gegenüber Zion,  dass  die  Heilswende  unumkehrbar  ist und sein Heilsbund nicht wan‐ ken wird (V 10).332 Der  literarische  Horizont  gibt  einige  Hinweise  darauf,  was  sich  hinter  der  Zusage  des  Heilsbundes  in  Jes  54,10  verbirgt.  Der  Bundes‐ begriff ist im Deuterojesajabuch neben 54,10 nur noch in 55,3 belegt, wo  Jhwh  ankündigt,  dass  er  einen  ewigen  Bund  (‫)ברית עולם‬  mit  dem  Volk  schließen wird, dem dadurch wie David die unverbrüchlichen Gnaden‐ gaben  (‫)חסדי דוד הנאמנים‬  zuteil  werden.  ‫שׁלום‬  als  Bezeichnung  des  kom‐ menden  Heils  findet  sich  dagegen  schon  auf  der  literarischen  Ebene  der Grundschicht in Jes 52,7, wo es als Folge der Rückkehr Jhwhs nach  Jerusalem‐Zion  verheißen  wird  (vgl.  weiterhin  Jes  53,5;  54,13;  55,12).  Dieser  kurze  Überblick  zeigt  bereits,  dass  die  den  ‫חסד עולם‬  auslegende                                 329  Zur Priorität des MT vgl. o. Kap. II. 2.1. Anm. 28 und Kap. III. 4.2.1.  330  Vgl. dazu auch u. Kap. IV. 2.1.4.  331  Zum Ergänzungscharakter der V 9f. vgl. BEUKEN, Isaiah LIV, 51‐54; STECK, Anlage,  92;  DERS.,  Beobachtungen,  105f.;  WISCHNOWSKY,  Tochter,  206,  und  erwägungsweise  VAN OORSCHOT, Babel, 265 Anm. 129.   332  In Jes 54,10 liegen terminologische und inhaltliche Anklänge an den Zionspsalm 46  vor; vgl. dazu BALTZER, Ezechiel, 173f. 

   

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‫ברית שלומי‬ in Jes 54,10 nicht von der ‫ברית עולם‬ in Jes 55,3 getrennt werden  kann.333  Während  dort  die  Heilsgaben  von  David  auf  das  Volk  über‐ tragen werden, ergeht die Zusage des dauerhaften Heils in Jes 54,10 an  das personifizierte Jerusalem, dem bereits in Jes 52,7, ermöglicht durch  die  Heimkehr  Jhwhs,  ‫שׁלום‬  verheißen  worden  ist.  Die  personifizierte  Frau  Zion  als  Bundespartnerin  dient  dabei  als  Mittlerfigur,  durch  die  sowohl  die  Stadt  als  auch  das  Volk  am  Heil  partizipieren.334  Trotz  dieser  klaren  Bezüge  ist  es  aber  fraglich,  ob  der  innerbuchliche  Hori‐ zont  ausreicht,  um  das  Auftreten  der  ‫ברית שׁלומי‬  in  Jes  54,10  zu  erklä‐ ren.335 Über  die  eindeutigen  Anspielungen  auf  den  priesterschriftlichen  Noachbund  hinaus  (Jes  54,9)  verweist  die  Beschreibung  des  unver‐ brüchlichen  (‫עולם‬,  Jes  54,8)  Charakter  des  Heils  mit  Hilfe  des  ‫‐שׁלום‬ Begriffes und der Bundesvorstellung (‫ברית שׁלומי‬, Jes 54,10) auch auf den  Heilsbund  in  Ez  37,25‐28.336  Genau  wie  dort  werden  mit  der  David‐ herrschaft  verbundene  Verheißungen  (Jes  55,3)  auf  das  Volk  übertra‐ gen und unter die ‫ברית שׁלום‬ gestellt. Das spricht dafür, in Jes 54,10 nicht  nur einen Bezug auf Jes 55,3 zu vermuten, sondern auch eine Anspie‐ lung auf den ezechielischen Heilsbund, wobei sich die suffigierte Form  ‫ברית שׁלוםי‬  durch  das  nebenstehende  ‫חסדי‬  erklären  lässt.337  Dieser  litera‐ rische  Hinweis  auf  die  Heilsverheißung  des  Ezechielbuches  trägt  zu‐ sätzlich  zur  Bestärkung  der Heilsgewissheit bei: Die Wiederaufnahme  Zions  hat  nicht  nur  die  gleiche  Unverbrüchlichkeit  wie  der  Noach‐ bund,  sondern  Jhwhs  Gegenwartszusage  ist  ebenso  von  Dauer  wie  es  in Ez 37,26 bereits verheißen ist.  Schließlich  ist  als  Letztes  noch  Hos  2,20  in  den  Blick  zu  nehmen.  Dieser Vers steht innerhalb des heilsprophetischen Abschnittes in Hos  2,16‐25,  in  dem  Jhwh  der  Frau  Jerusalem  einen  Neuanfang  in  der  Wüste verheißt. Zu diesem Neuanfang gehört in Hos 2,20 der Bundes‐ schluss mit den Tieren, der die Entfernung von Kriegsgeräten aus dem  Land  sowie  das  sichere  Bleiben  mit  einschließt.  Die  isolierte  Stellung  des Verses deutet darauf hin, dass hier ein Einzelverszusatz vorliegt.338                                 333  Vgl. STECK, Beobachtungen, 106, und inhaltlich auch BALTZER, Ezechiel, 175.  334  Zur  Personifikation  Zion‐Jerusalems  im  Alten  Testament  vgl.  u.  Kap.  III.  7.4.4. und  die dort angegebene Literatur.  335  So  mit  STECK,  Beobachtungen,  106;  vgl.  auch  ebd.  zu  einer  ausführlichen  literari‐ schen Einordnung des Verses.   336  Auf  die  Berührungen  zwischen  Jes  54,10  und  Ez  37,25‐28  haben  bereits  ZIMMERLI,  BK, 918, und BALTZER, Ezechiel, 160‐162.174f., hingewiesen. Zu weiteren Verbindun‐ gen zwischen Jes 54,2‐3.9‐10 und dem Ezechielbuch vgl. STECK, Beobachtungen, 106.  337  So  gegen  STENDEBACH,  Art.  ‫ ָשׁלוֹם‬,  33,  der  die  constructus‐Verbindung  als  „Zusage  meines Heils“ wiedergeben und den Beleg in die Nähe von Num 25,12 rücken will.  338  So mit WOLFF, BK XIV/1, 57f.; JEREMIAS, ATD, 48f., und LEVIN, Verheißung, 242.  

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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Zwar ist er durch die Zeitangabe ‫ביום ההוא‬ (Hos 2,20a; vgl. 2,18.23) mit  dem  literarischen  Kontext  verbunden,  grenzt  sich  aber  durch  den  Be‐ zug auf ein Subjekt 3. Pers. pl. von diesem ab. Dort ist in Hos 2,16f.19  von Frau Jerusalem in 3. Pers. sg die Rede, während sie in Hos 2,18.21f.  in 2. Pers. sg. direkt angesprochen wird.  Ein  Vergleich  mit  dem  Bundesschluss  in  Ez  34,25  zeigt  die  Nähe  zwischen  den  beiden  Texten:  Wie  in  Ez  34,25  wird  auch  der  Bundes‐ schluss in Hos 2,20 mit der Formulierung ‫וכרתי להם ברית‬ zugesagt, ohne  dass  allerdings  klar  wird,  wer  mit  dem  ‫להם‬  gemeint  ist.  Da  allerdings  am Ende des Verses vom sicheren Liegen (‫)שׁכב לבטח‬ im Land die Rede  ist, das mit großer Sicherheit auf die Israeliten bezogen ist, können die‐ se auch als Bezug für das ‫להם‬ angenommen werden. Aus dem folgen‐ den, durch  ‫ ִעם‬ angeschlossenen Objekt wird aber deutlich, dass das ‫להם‬  dahingehend  zu  deuten  ist,  dass  der  Bund  zu  Gunsten  der  Israeliten  geschlossen  wird,  während  der  eigentliche  Bundespartner  die  Tiere  sind. 339  Diese  Konstruktion  ist  nur  so  zu  erklären,  dass  es  sich  bei der  einleitenden  Bundesschlussformulierung  um  ein  direktes  Zitat  aus  Ez  34,25 handelt, das in Hos 2,20 auf einen Bund mit den Tieren hin aus‐ gelegt  wird.  Während  im  Ezechielbuch  auf  den  Bundesschluss  die  Zusage folgt, die wilden Tiere (‫)חיה־רעה‬ von der Erde (‫)מן־הארץ‬ auszurot‐ ten, sind sie in Hos 2,20 in das Heil mit einbezogen.340 Auch hier zeigt  sich  priesterschriftlicher  Einfluss,  da  der  Bund  über  die  Tiere  des  Fel‐ des  (‫)חית השׂדה‬  hinaus  auch  auf  Vögel  (‫)עוף השׁמים‬  und  Kriechtiere  (‫רמשׂ‬  ‫)האדמה‬  ausgedehnt  wird  und damit „auf sämtliche Gattungen der frei‐ lebenden  Landtiere  nach  dem  Schöpfungsbericht  und  der  Fluter‐ zählung der Priesterschrift“.341 Von der Erde (‫)מן־הארץ‬ entfernt werden  in Hos 2,20 dagegen die Kriegsgeräte, so dass die ezechielische Zusage  der  Sicherheit  vor  feindlichen  Angriffen  zur  Idee  des  Völkerfriedens  erweitert wird. Schließlich findet auch das sichere Verbleiben im Land  eine  Aufnahme,  allerdings  in  der  Konstruktion  mit  dem  Verb  ‫שׁכב‬,342  während der Ezechieltext mit ‫ישׁב‬ formuliert (vgl. Ez 34,25.28).   Hos  2,20  hat  seinen  Ort  damit  fraglos  in  der  literarischen  Nach‐ geschichte der ezechielischen Texte über den Heilsbund. Der Autor re‐ zipiert insbesondere Ez 34,25‐30 und entwirft auf dieser Grundlage das  Bild  eines  vollkommenen  Friedens  mit  den  Tieren  und  den  Völkern.  Während im traditum vor allem die Sicherheit der Israeliten vor der Be‐                                339  In dieser Deutung mit JEREMIAS, ATD, 49f.  340  Vgl. LEVIN, Verheißung, 244f.  341  LEVIN, Verheißung, 244. Vgl. die Belege für ‫חיה‬, ‫עןף‬ und ‫רמשׂ‬ in den Tierreihen in Gen  1,21.28; (6,20); 7,14.21; 8,17.19; 9,2 sowie in Lev 11,46 und Ez 38,20.  342  ‫שׁכב‬ in Verbindung mit ‫לבטח‬ findet sich neben Hos 2,20 nur noch in Hi 11,18 und Ps  4,9. 

   

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drohung durch Tiere und Fremdvölker im Vordergrund steht, werden  diese  in  der  traditio  mit  in  das  Heil  einbezogen,  das  auf  diese  Weise  kosmische Ausmaße gewinnt.  4.5. Jhwhs Wohnungsnahme und der Heilsbund  Die vorangehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die Verheißung  des Heilsbundes im Ezechielbuch eine wichtige Rolle spielt. Im ersten  Teil  des  Buches  gipfelt  die  Gerichtsankündigung  in  Ez  7,25  in  der  Drohung, dass die Ausschau nach ‫שׁלום‬ vergeblich sein wird: „‫ובקשׁו שׁלום‬  ‫“ואין‬. Auch die falschen Propheten wird man daran erkennen, dass sie  ‫שׁלום‬  verkündigen,  obwohl  keiner  da  ist  (vgl.  Ez  13,10.16).  Aber  diese  brüsken Zurückweisungen sind nicht das letzte Wort im Buch, sondern  die  entsprechenden  Heilsworte  antworten  darauf  mit  der  Verheißung  der ‫ברית שׁלום‬ in Ez 34,25‐30 und Ez 37,25‐28. Nicht nur der komplizierte  Auslegungsprozess,  der  zur  Entstehung  des  Heilsbundes  geführt  hat,  sondern auch seine Rezeptionsgeschichte zeigen, dass er als geprägter  Begriff zu verstehen ist, mit dem das Ezechielbuch die Verheißung der  segensreichen Zukunftsordnung überschreibt.  Ein Vorbote des Heilsbundes findet sich bereits in der Segensreihe  des  Heiligkeitsgesetzes  Lev  26,3‐13,  wo  die  Verheißung  von  ‫שׁלום‬  und  die Gabe des Heiligtums in die Mitte der Israeliten abschließend durch  den Bundesschluss besiegelt wird. Auf diesen Text greift der Autor von  Ez 34,25‐30* zurück, der das Bild der heilvollen und segensreichen Zu‐ kunft  in  den  Farben  von  Lev  26,3‐13  malt  und  unter  den  Oberbegriff  der  ‫שׁלום‬  ‫ברית‬  stellt,  die  Jhwh  mit  seiner  Herde  schließen  wird.  Dabei  zeigt sich bereits eine gewisse Nähe zur Daviderwartung, da die Aus‐ führungen  über  den  Heilsbund  als  Fortschreibung  an  die  Verheißung  des  davidischen  Hirten  in  Ez  34,23f.*  angefügt  werden.  Der  dort  zwi‐ schen Jhwh und dem Volk geschlossene Bund, in den auch der davidi‐ sche  Hirte  mit  einbezogen  wird,  erfährt  in  Ez  34,25‐30*  eine  Interpre‐ tation als segensreicher Heilsbund. Wahrscheinlich hat dies den Autor  von Ez 37,25‐28* dazu veranlasst, die vorliegende Davidverheißung in  Ez 37,24 ebenfalls um die Zusage des Heilsbundes zu ergänzen.   Allerdings ist Ez 37,25‐28* alles andere als eine Kopie der Heilsver‐ heißungen aus Ez 34,25‐30*, sondern das Stück stellt eine Art Kulmina‐ tionspunkt  im  dritten  Buchteil  dar.  Der  Verfasser  greift  nicht  nur  auf  den  Begriff  der  ‫ברית שׁלום‬  aus  Ez  34,25‐30*  zurück,  sondern  er  bezieht  auch die Vorstellung der ‫ברית עולם‬ in seine Verheißung mit ein, die an  dieser Stelle auf die Bundesschlüsse in Ez 16,60 und Jer 32,40 verweist.  Durch  diese  Kombination  legen  sich  die  verschiedenen  Bundes‐ verheißungen  wechselseitig  aus,  so  dass  die  Unverbrüchlichkeit  des 

Der Bund des Heils: Ez 34,25‐30 und 37,25‐28 

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kommenden  Heils  betont  wird.  ‫לעולם‬  wird  dabei  zum  bestimmenden  Leitwort  der  Verheißungen  in  Ez  37,25‐28*,  die  inhaltlich  durch  die  Gültigkeit der Landgabe, der ewigen Davidherrschaft und der Zusage  der kultischen Gegenwart Jhwhs in der Mitte seines Volkes gefüllt wer‐ den.  Die  Verheißung  des  göttlichen  Heiligtums,  auf  die  der  Text  in  Ez  37,25‐28* zuläuft, verdankt sich erneut dem Rückgriff auf Lev 26,3‐13.  Dies zeigt, dass der Autor von Ez 37,25‐28* sehr genau um das Ausle‐ gungsverhältnis zwischen Ez 34 und Lev 26 wusste, und seinerseits die  Vorlage  seiner  Vorlage  benutzt,  um  die  Vorstellung  vom  Wohnen  Jhwhs in den Text einzutragen. Die Besonderheit seiner Rezeption liegt  dabei  in  der  bundestheologischen  Deutung  der  göttlichen  Gegenwart,  mit der der ewige Heilsbund Jhwhs „inmitten seines Volkes erfahrbare  Wirklichkeit wird.“343 Es bleibt die Frage, warum gerade Lev 26 eine so  herausgehobene Rolle für die Heilsprophetie des Ezechielbuches spielt.  Wahrscheinlich  boten  sich  die  Bilder  von  Fruchtbarkeit  und  ‫שׁלום‬  im  Land für den Autor von Ez 34,25‐30* als passende Vorlage an, um die  Zukunft  des  Volkes  im  Land  zu  beschreiben.  Es  ist  aber  auch  zu  ver‐ muten, dass Lev 26 zur Abfassungszeit der Heilsbundtexte eine hervor‐ gehobene  Stellung  inne  hatte,  eventuell  als  Abschlusstext  des  noch  nicht  um  Lev  27  ergänzten  Heiligkeitsgesetzes,  vielleicht  aber  auch  schon  als  Ende  der  mit  dem  Heiligkeitsgesetz  verbundenen  Priester‐ schrift.344 Das Motiv vom Wohnen Jhwhs ist nicht auf Lev 26 und Ez 37 be‐ schränkt,  sondern  hat seine breiteste Bezeugung in der Priestergrund‐ schrift,  die  auf  die  Einwohnung  des  Heiligtums  am  Sinai  hinausläuft.  In  dieser  Wohnungsnahme  Jhwhs  erfüllt  sich  die  im  Abrahambund  gegebene  Zusage  eines  exklusiven  Gottesverhältnisses  für  Israel.  Für  die Segensreihe des Heiligkeitsgesetzes Lev 26,3‐13 konnte ein Abhän‐ gigkeitsverhältnis  mit  den  Wohnungsaussagen  der  PG  nachgewiesen  werden. Diese sind in Lev 26 in der Verheißung des göttlichen Heilig‐ tums  aufgenommen,  mit  der  abschließenden  Bundeszusage  verknüpft  und  unter  die  Vorbedingung  des  Gesetzesgehorsams  gestellt  worden.  Allerdings erfährt die Korrekturabsicht von Lev 26 in der erneuten Re‐ zeption  in  Ez  37,25‐28*  ihrerseits  eine  Abwandlung.  Zwar  wird  die  bundestheologische  Auslegungslinie  weitergeführt,  indem  das  Woh‐ nen  Jhwhs  den  Heilsbund  nun  inhaltlich  bestimmt,  aber  in  Bezug  auf  den  Charakter  der  Heilszusage  entschränkt  der  Verfasser  den  gesetz‐ lichen Vorbehalt und macht die göttliche Präsenz zur reinen Heilsgabe.  In  dieser  bundestheologischen  Verbindung  vom  Wohnen  Jhwhs  als                                 343  LEVIN, Verheißung, 233.  344  Zur Bedeutung von Lev 26 für das Ezechielbuch vgl. auch den Exkurs u. Kap. III. 7.4. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Voraussetzung für den Zustand von  ‫שׁלום‬ im Land kann die besondere  Interpretationsleistung  des  Verfassers  von  Ez  37,25‐28*  gesehen  wer‐ den.  An dieser Stelle ist noch ein Seitenweg der Auslegung zu beachten,  der  über  die  Wohnungsaussagen  von  Ez  43,1‐9  führt.  Auf  der  Buch‐ ebene stellen sich die Verheißungen der ewigen göttlichen Gegenwart  in 43,6‐7a(7b‐9) als Erfüllung der Wohnungsverheißung in Ez 37,25‐28  dar.  Die  Analyse  hat  aber  gezeigt,  dass  in  37,25‐28*  im  Vergleich  mit  43,6‐7a eine bundestheologische Nachinterpretation vorliegt, die direkt  vor  die  Tempelvision  eingeschrieben  worden  ist.  Ez  43,1‐9  weist  auch  keine  Berührungen  mit  der  Segensreihe  Lev  26,3‐13  auf,  von  der  Ez  37,25‐28*  literarisch  abhängig  ist;  dafür  gibt  es  aber  sichere  Hinweise  darauf,  dass  der  Text  sprachliche  und  konzeptionelle  Verbindungen  zur  Priestergrundschrift  hat.  Neben  der  identisch  formulierten  Woh‐ nungsaussage (Ez 43,7b.9b // Ex 25,8; 29,45.46) ist hier auch auf die pa‐ rallele Notiz über die Erfüllung des Heiligtums hinzuweisen (Ez 43,5 //  Ex  40,34).  Aber  im  Gegensatz  zur  priesterschriftlichen  Vorstellung  verkündet Jhwh in Ez 43,7a nicht nur seine Intention, inmitten der Isra‐ eliten wohnen zu wollen, sondern er bindet seine kultische Gegenwart  für  die  Zukunft  auch  wieder  an  den  Zion. Dies erinnert an die Heim‐ kehr Jhwhs im Deuterojesajabuch, die die Rückkehr nach Zion‐Jerusa‐ lem  zum  Ziel  hat  (Jes  52,7‐10).  Diese  Bezüge  auf  Priestergrundschrift  und  Deuterojesajabuch  werden  noch  im  Hinblick  auf  die  literarhisto‐ rische Einordnung des Ezechielbuches zu berücksichtigen sein. 345 Es bleibt noch die Nachgeschichte des Heilsbundes zu rekapitulie‐ ren.  Sowohl  für  Hos  2,20  als  auch  für  Jes  54,9f.  konnte  nachgewiesen  werden,  dass  die  Texte  die  ezechielische  Heilsprophetie  aufnehmen  und ihrerseits auslegen. Die breiteste Rezeption hat die  ‫ברית שׁלום‬ aller‐ dings im Ezechielbuch selbst gefunden. Hier ist nicht nur die nachträg‐ liche Umwandlung des Heilsbundes zu einem Davidbund in der grie‐ chischsprachigen  Überlieferung  von  Ez  34,25  zu  nennen,  sondern  vor  allem die Verheißung des neuen Bundes in Ez 36,23bb‐32.346 In diesem  Stück  schlägt  sich  die  Erkenntnis  nieder,  dass  die  Konzeption  des  Heilsbundes  als  reine  Heilsgabe  nicht  ausreichend  ist,  um  die  Unver‐ brüchlichkeit der  ‫ברית שׁלום‬ zu gewährleisten. Wenn diese wirklich von  Dauer sein soll, muss der Heilsbund mit einem an Herz und Geist er‐ neuerten Menschen geschlossen werden, so dass sich die Rezeption der  ‫ברית שׁלום‬ in der Interpretation als neuer Bund vollendet. 

                               345  Vgl. dazu u. Kap. IV. 3.4.  346  Vgl. dazu o. Kap. III. 1.2. und III. 1.3. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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5. Das geeinte Volk, der eine König und David:  Ez 37,15‐24  5.1. Standortbestimmung und Vorgehensweise  Nachdem  die  vorausgehende  Analyse  die  Vermutung  bestätigt  hat,  dass mit Ez 37,25‐28 die jüngste Fortschreibung in Kap. 37 vorliegt (vgl.  Kap. III. 4.), ist nun mit Ez 37,15‐24 die literarisch vorgängige Schicht in  den  Blick  zu  nehmen.  Es  handelt  sich  hier  um  einen  Textkomplex,  in  dem  ausgehend  von  einer  Zeichenhandlung  des  Propheten  Aussagen  über  die  Einheit  des  Volkes  im  Land  unter  einem  einzigen  Herrscher  gemacht  werden.  In  der  folgenden  Textanalyse wird insbesondere die  Frage  zu  beantworten  sein,  ob  es  sich  hier  um  ein  einheitliches  Stück  handelt  oder  ob  eine  literarisch  mehrschichtige  Textfolge  vorliegt,  in  der  das  Motiv  der  Einheit  in  einer  Reihe  von  Fortschreibungsschüben  variiert wird. Eine zweite Fragerichtung wird durch die Ergebnisse der  redaktionsgeschichtlichen  Einordnung  von  Ez  37,25‐28 vorgegeben, in  der gezeigt werden konnte, dass die Verheißung des Heilsbundes in Ez  37,25‐28 eine Rezeption von Ez 34,25‐30 darstellt. Da auch die Ankün‐ digungen in Ez 37,15‐24 eine Reihe von Berührungen mit dem Hirten‐ kapitel aufweisen, wird in der Untersuchung des redaktionellen Hori‐ zontes  das  literarische  Verhältnis  zu  den  Heilsworten  von  Kap.  34  im  Vordergrund stehen.  Unter  dem  thematischen  Vorzeichen  der  Einheit  werden  in  Ez  37,15‐24  vor  allem  zwei  Heilserwartungen  verhandelt:  die  Wiederver‐ einigung  von  Nord‐  und  Südreich  und  die  Erwartung  des  (davidi‐ schen)  Herrschers,  die  eine  Parallele  in  Ez  34,23f.  hat.  Während  die  Vereinigung  der  beiden  Israel‐Teilgrößen  in  der  sonstigen  propheti‐ schen  Heilsverkündigung  nur  am  Rande  eine  Rolle  spielt,  gehört  die  Herrschererwartung  zu  den  bestimmenden  Heilsverheißungen  in  den  Prophetenbüchern.  Dies  erschwert,  wenn  auch  aus  unterschiedlichen  Gründen, in beiden Fällen die Frage nach möglichen literarischen Vor‐ lagen.  Im  Fall  der  Wiedervereinigungshoffnung  sind  die  wenigen  Texte  im  Alten  Testament  zu  untersuchen,  die  in  gleicher  Weise  eine  gemeinsame Zukunft von Nord‐ und Südreich voraussetzen. Dabei ist  insbesondere  auch  zu  erörtern,  warum  dieser  Topos  der Heilsverkün‐ digung  im  Ezechielbuch  in  die  Form  einer  Zeichenhandlung  gefasst  wird. Bei der Verheißung des davidischen Herrschers wird dagegen zu  prüfen  sein,  inwieweit  sich  die  Herrschererwartung  im  Ezechielbuch  von den entsprechenden Restaurationshoffnungen in den anderen Pro‐ phetenbüchern  unterscheidet  und  welche  literar‐  oder  traditionsge‐ schichtlichen Verbindungen zu diesen bestehen. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

5.2. Textanalyse  Es  herrscht  weitgehend  Einigkeit  darüber,  dass  der  literarische  und  thematische Kern des Textblockes Ez 37,15‐24 in der Zeichenhandlung  des Propheten in 37,15‐19 vorliegt, da die folgenden Verse thematisch  und  literarisch  auf  diese  Symbolhandlung  bezogen  sind.347  Das  Text‐ stück  wird  in  37,15  durch  die  Wortereignisformel  von  der  vorange‐ henden  Vision  in  37,1‐14  abgegrenzt,  während  die  nachfolgende  Ver‐ heißung  des  Heilsbundes  in  V  25‐28  eine Fortschreibung darstellt, die  inhaltlich  keine  Anklänge  mehr  an  die  eigentliche  Zeichenhandlung  aufweist.348 Es ist nun im Folgenden zu überprüfen, inwieweit auch im  Bereich von 37,15‐24 mit weiteren Ergänzungen zu rechnen ist.   Der  Text  gliedert  sich  mit  der  eigentlichen  Zeichenhandlung  in  V 15‐19 und den daran anschließenden Heilsworten in V 20‐24 in zwei  Abschnitte,  die  durch  die  Wortereignisformel  in  V  15  einem  einzigen  Wortereignis zugeordnet werden. Die Beauftragung zur Zeichenhand‐ lung wird nach der Wortereignisformel mit der Anrede des Propheten  durch  ‫ואתה‬  und  dem  Menschensohntitel  eröffnet  (V  16).  Jhwh  fordert  den  Propheten  zu  der  symbolischen  Handlung  auf,  zwei  Hölzer  zu  nehmen  (‫)קח־לך‬,  sie  mit  den  Namen  „Juda“  (‫)ליהודה‬  und  „Joseph“   (‫)ליוסף‬349 zu beschriften (V 16) und sie zu einem Holz (‫)לעץ אחד‬ zusam‐ menzufügen  (‫ קרב‬pi.,  V 17).  Die  beiden  Aufschriften  auf  den  Hölzern  sind jeweils durch eine nachfolgende Angabe erweitert, die den Bezug  auf  das  Gesamtvolk  Israel  herstellt  (‫ולבני ישׂראל חבריו‬/‫)וכל־בת ישׂראל‬,  und  die  Bezeichnung  „Joseph“  soll  darüber  hinaus  durch  die  Zufügung  „Holz Ephraims“ (‫)עץ אפרים‬ ergänzt werden. Der sekundäre Charakter  des ‫עץ אפרים‬ in V 16b, das keine Entsprechung in der ersten Vershälfte                                 347  Mit einer Grundschicht in V 15‐19*, die durch eine oder mehrere Fortschreibungen in  V  20‐28  ergänzt  worden  ist,  rechnen  ZIMMERLI,  BK,  906f.;  LEVIN,  Verheißung,  214;  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  438f.;  OHNESORGE,  Jahwe,  339‐351;  POLA,  Priester‐ schrift,  196f.,  und  POHLMANN,  ATD,  500f.  Eine  umfangreichere  Grundschicht  im  Bereich  von  V  15‐22*  nehmen  HÖLSCHER,  Hesekiel,  176f.;  FOHRER,  HAT,  210f.;  GARSCHA,  Studien,  224f.,  und  ALLEN,  WBC  29,  192,  an,  wobei  Letzterer  noch  den  Einschluss von V 23‐24a für denkbar hält (vgl. ebd.). Die literarische Einheitlichkeit  von  37,15‐28  vertreten  dagegen  EICHRODT,  ATD,  358‐361;  BLOCK,  NICOT  II,  393f.,  und  GREENBERG,  AncB,  752‐760.  BERTHOLET,  HAT,  128f.,  führt  den  gesamten  Text  37,15‐28  mit  Ausnahme  einer  Glosse  in  V  19f.  auf  den  Propheten  zurück,  wobei  er  aber  einschränkt,  dass  die  Zuschreibung  von  V  23‐28  an  Hesekiel  „Zweifeln  unter‐ worfen“ sei (BERTHOLET, a.a.O., 129).  348  Vgl. dazu o. Kap. III. 4.2.2.  349  Es  ist  umstritten,  ob  es  sich  bei  dem  ‫ל‬  in  ‫ליהודה‬  und  ‫ליוסף‬  um  ein  lamed  inscriptionis  handelt  (vgl.  GesK  §119u)  oder  ob  es  zueignende  Funktion  hat,  vgl.  ZIMMERLI,  BK,  904.910. Da es am wahrscheinlichsten ist, dass die Hölzer als Symbol für das auf sie  Geschriebene  dienen,  wird  hier  die  erste  Alternative  vertreten  (so  mit  BERTHOLET,  HAT, 128; FOHRER, HAT, 209; OHNESORGE, Jahwe, 340; FUHS, NEB, 21).  

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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hat,  ist  weitgehend  anerkannt.350  Es  stellt  sich  allerdings  die  Frage,  ob  auch  die  auf  Israel  bezogenen  Attribute  nachträgliche  Erweiterungen  der  ursprünglichen  Aufschriften  darstellen.351  Die  Namen  „Juda“  und  „Joseph“ sind als Platzhalter für die zwei Israel‐Teilgrößen völlig aus‐ reichend,  so  dass  die  jeweiligen  Israel‐Angaben  als  verdeutlichende  sekundäre Ergänzungen eingestuft werden können.   Für den beabsichtigten Fall, dass das Volk den Propheten nach dem  Sinn  seiner  Handlung  fragen  wird,  gibt  Jhwh  Ezechiel  klare  Instruk‐ tionen  (V  18).  Eingeleitet  durch  die  imperativische  Aufforderung  ‫דבר‬,  einer Botenformel und dem Präsentativ ‫הנה אני‬ trägt er ihm in V 19 die  deutende  Jhwh‐Botschaft  auf,  die  der  Prophet  ausrichten  soll:  Jhwh  verkündet,  dass  er  das  Holz  Joseph  nehmen  (‫)לקח‬  und  auf  das  Holz  Juda legen wird,352 so dass sie eins in seiner Hand werden. Dem einfa‐ chen ‫עץ יהודה‬ in V 19b steht dabei in V 19a ‫עץ יוסף‬ entgegen, das ähnlich  wie  in  V  16  durch  zwei  auf  Ephraim  bzw.  das  Volk  Israel  bezogene  Angaben näher bestimmt wird (‫)אשׁר ביד־אפרים ושׁבטי ישׂראל חברו‬. Da diese  Erweiterungen keine Entsprechungen in der zweiten Vershälfte haben,  ist hier ähnlich wie in V 16 von nachträglichen Ergänzungen auszuge‐ hen.353  Das  Ziel  der  göttlichen  Handlung  entspricht  der  Zeichen‐ handlung  des  Propheten:  Wie  dieser  vereinigt  auch  Jhwh  die  beiden  Hölzer in seiner Hand (‫והיו אחד בידי‬, V 19bb; vgl. ‫והיו לאחדים בידך‬, V 17b).354  ZIMMERLI  hat  dabei  zu  Recht  darauf  hingewiesen,  dass  die  Deutung  der  Symbolhandlung  weniger  Interpretation  der  an  sich  eindeutigen                                 350  Vgl. BHS; BERTHOLET, HAT, 128; FOHRER, HAT, 209; ZIMMERLI, BK, 904; OHNESORGE,  Jahwe, 341; ALLEN, WBC 29, 190, und BLOCK, NICOT II, 396 mit Anm. 14.  351  Vgl.  OHNESORGE,  Jahwe,  341.  So  auch  HÖLSCHER,  Hesekiel,  176;  BERTHOLET,  HAT,  128; COOKE, ICC, 400f. Mit der ursprünglichen Zugehörigkeit der Angaben rechnen  dagegen FOHRER, HAT, 209, und ALLEN, WBC 29, 190.  352  Anscheinend  haben  verschiedene  Auffassungen  darüber,  bei  welcher  Israel‐Teil‐ größe  der  Einigungsvorgang  ansetzt,  zu  einer  Störung  des  MT  in  V  19  geführt.  So  konkurriert  im  vorliegenden  Text  der  Akkusativ  ‫אותם‬,  der  eine  Hinzufügung  von  Joseph zu Juda impliziert, mit der Angabe ‫את עץ־יהודה‬, nach der das Holz Juda auf das  Holz  Joseph  gelegt  wird.  Da  das  pluralische  Suffix  an  ‫אותם‬  bereits  die  Deutung auf  die  Stämme  Israels  vor  Augen  hat,  liegt  hier  eine  sekundäre  Glosse  vor  (vgl.  zur  Diskussion ZIMMERLI, BK, 905, und OHNESORGE, Jahwe, 342f.).  353  Zur  Sekundarität  von  ‫ביד־אפרים‬  ‫אשׁר‬  vgl.  ZIMMERLI,  BK,  90,  und  erwägungsweise  BERTHOLET, HAT, 128. Den Nachtragscharakter sämtlicher Attribute vertreten HÖL‐ SCHER,  Hesekiel,  176;  COOKE,  ICC,  401,  und  OHNESORGE,  Jahwe,  341.  EICHRODT,  ATD,  358,  postuliert  die  Ursprünglichkeit  der  zum  ‫עץ יוסף‬  gehörenden  Erweiterun‐ gen in V 19a (ohne ‫ביד אפרים‬ ‫)אשׁר‬ und folgert daraus für V 16, dass nur die Ergänzung  der Aufschrift „Juda“ in V 16a sowie der Ephraimbezug in V 16b als sekundär anzu‐ sehen seien. Dabei übersieht er aber den parallelen Aufbau der jeweiligen Halbverse  sowohl in V 16 als auch in V 19, der gegen diese Lösung spricht.  354  Der Unterschied zwischen Plural (‫)אחדים‬ und Singular (‫)אחד‬ erklärt sich dadurch, dass  die Handlung des Propheten nur unvollkommen das göttliche Vereinigungshandeln  abbilden kann, dem allein die vollendete Zusammenfügung vorbehalten bleibt. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Handlung  als  vielmehr  Betonung  der  göttlichen  Wirksamkeit  ist:  „Ganz  entschieden  wird  dagegen  von  Jahwe  selber  die  Verheißung  ausgesprochen, daß er persönlich das Getrennte in seiner Hand wieder  zur Einheit zusammenfassen werde.“355 Der zweite Abschnitt des Textstückes in Ez 37,20‐24 beginnt in V 20  mit einem Rekurs auf die Hölzer in der Hand des Propheten, der an die  Szenerie  der  vorhergehenden  Zeichenhandlung  anknüpft.  Auf  diesen  Rückverweis  folgt  in  V  21‐24  eine  zweite  Deutung  der  Symbolhand‐ lung, die durch einen mit V 19 identischen Redeauftrag an den Prophe‐ ten eingeleitet wird (‫]ו[דבר אלהם כה־אמר אדני יהוה הנה אני לקח‬, V 19.21). Die  Doppelung  der  Redeeinleitungen  in  V  19  und  V  21  legt  den Verdacht  nahe, dass nur einer der beiden Redegänge zur Grundschicht zu ziehen  ist. Da die Deutung in V 19 im Bild der Zeichenhandlung bleibt, wäh‐ rend V 21‐24 inhaltlich von dieser abstrahieren, ist V 19 eindeutig der  Vorzug  zu  geben.356  In  V  21  liegt  demgegenüber  der  Beginn  einer  se‐ kundären Deutung vor, die durch die Wiederaufnahme in V 20 an den  Grundbestand  angebunden  ist,  so  dass  dem  Gliederungseinschnitt  in  V 20 auch ein redaktioneller Einschnitt entspricht.   In der Nachinterpretation wird das „Nehmen“ der Hölzer (‫לקח‬, vgl.  V 16.19) in V 21 auf das „Herausnehmen“ (‫)לקח‬ der Israeliten zwischen  den Völkern übertragen, aus denen Jhwh sie sammeln und in ihr Land  bringen wird. An diese Rückführungsverheißung schließt sich in V 22  die Ankündigung an, dass Jhwh die Israeliten in ihrem Land, auf den  Bergen  Israels,  zu  einem  Volk  (‫לגוי אחד‬,  vgl.  ‫לעץ אחד‬  V 17.19)  machen  wird  (‫עשׂה‬,  vgl.  V  19).  Hierbei  fällt  die  doppelte  Zielbestimmung ‫בארץ‬ ‫ישׂראל‬  ‫בהרי‬  auf.  Die  allgemeinere  Angabe  ‫בארץ‬  verdient  auf  jeden  Fall  den Vorzug vor der konkreten Lokalisation ‫בהרי ישׂראל‬, aber da auch die  einfache  Ortsangabe  den  parallelen  Aufbau  von  V  22a  und  V  22b  aus  dem Gleichgewicht bringt, ist zu erwägen, ob hier nicht insgesamt eine  nachträgliche Ergänzung vorliegt.357 Die Einheit des Volkes wird durch  einen  König  garantiert  (‫)מלך אחד‬,358  unter  dessen  Regentschaft  die  Isra‐                                355  ZIMMERLI, BK, 912.  356  So mit OHNESORGE, Jahwe, 339; vgl. weiterhin ZIMMERLI, BK, 907.912; LEVIN, Verhei‐ ßung,  214.  Weniger  überzeugend  ist  m.  E.  der  Versuch  von  BERTHOLET,  HAT,  128;  FOHRER, HAT, 211, und FUHS, NEB, 211, die die Doppelung der Einleitung in V 19.21  mit einer Glosse in V 19f.* erklären wollen. Gegen eine postulierte Fortführung der  Grundschicht durch V 22 spricht vor allem, dass die Jhwh‐Rede damit unvermittelt  von der Bildebene auf die Sachebene überginge (vgl. POHLMANN, ATD, 501 Anm. 6).  357  Vgl. ZIMMERLI, BK, 905, und OHNESORGE, Jahwe, 344.  358  Die LXX bezeugt sowohl in V 22 wie auch in V 24 a;rcwn, was auf ein ‫נשׂיא‬ in der Vor‐ lage  hindeuten  könnte.  Allerdings  hat  ZIMMERLI,  BK,  905,  in  V  22  zu  Recht  auf  die  deutliche Korrespondenz mit dem folgenden ‫ממלכות‬ hingewiesen, das auch von LXX  bezeugt  wird  (basilei,aj)  und  für  ursprüngliches  ‫מלך‬  spricht.  Da  die  LXX‐Variante  darüber  hinaus  als  Angleichung  an  Ez  34,24  und  37,25  erklärt  werden  kann,  wo 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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eliten  sich  nicht  mehr  (‫)לא עוד‬  in  zwei  Völker  bzw.  zwei  Königreiche  teilen werden. Anders als in der ersten Deutung (V 19) steht in V 20‐22  nicht mehr die Vereinigung zweier Israel‐Teilgrößen im Vordergrund,  sondern die „Bewahrung des neu gesammelten Volkes vor einer neuen  Spaltung.“359 Der eine König ist zugleich Garant wie auch Symbol der  neu hergestellten Einheit.  Damit bleibt in Ez 37,15‐24 nur noch die literarische Zugehörigkeit  von  V  23  und  V  24  zu  bedenken,  die  beide  den  Eindruck  von  Einzel‐ versnachträgen erwecken. Für eine literarische Zäsur nach V 22 spricht  zuerst die Tatsache, dass mit der Einheit des Volkes in V 22 das Ende  der Korrespondenzen zur Zeichenhandlung des Propheten erreicht ist.  Darüber  hinaus  weist  der  nachfolgende  V  23  weder  sprachliche  noch  inhaltliche  Verbindungen  zu  V  15‐19  auf,  sondern  mit  der  kultischen  Reinheit Israels tritt ein neues Thema in den Blick. Die Israeliten sollen  sich  nicht  mehr  (‫)לא עוד‬  mit  ihren  „Mistdingern“  (‫ )בגלוליהם‬verunreini‐ gen (‫טמא‬ hitp.),360 und Jhwh wird sie retten (‫ישׁע‬ hif.) und von ihren kul‐ tischen  Vergehen  reinigen.  Die  inhaltliche  Eigenständigkeit  bestätigt  die Vermutung, dass mit V 23 eine Ergänzung vorliegt, wobei aber zu  überlegen  ist,  ob  die  am  Ende  stehende  Bundesformel  den  ursprüng‐ lichen Abschluss von V 20‐23* gebildet haben könnte.361 Die Restitution  des Gottesverhältnis vollendet auf diese Weise die Zusammenführung  der Israeliten unter einem König. Die dazwischen stehenden Aussagen  über  die  kultische  Reinheit  in  V  23abab*  (37,23*)  stellen  auf  jeden  Fall  einen  späteren  Nachtrag  dar,  der  über  die  Wiederaufnahme  der  for‐ malen  Struktur  von  V  22b  (‫לא עוד‬  mit  Israel  als  Subjekt)  im  parallel  konstruierten V 23a angebunden wird.362 Im Fall von V 24 sprechen ebenfalls mehrere Gründe dafür, diesen  Vers  von  der  sekundären  Deutung  in  V  20‐23*  abzuheben.  Zuerst  ist                                 359  360 

361  362 

David ebenfalls als a;rcwn bezeichnet wird, ist der Lesart des MT der Vorzug zu ge‐ ben. Vgl. dazu auch die weitere Textanalyse.  ZIMMERLI, BK, 913.  Bei dem erweiternden  ‫ובשׁקוציהם ובכל פשׁעיהם‬, das in LXX* nicht bezeugt wird, handelt  es sich um eine nachträgliche Glosse, die die kultischen Vergehen der Israeliten wei‐ ter  ausmalt;  dafür  spricht  auch  der  überfüllte  Charakter  des  Verses  im  MT  (vgl.  FOHRER, HAT, 211; ZIMMERLI, BK, 905, und PETRY, Entgrenzung, 267; anders LEVIN,  Verheißung, 215 Anm. 67).   Dies erwägen POHLMANN, ATD, 503, und PETRY, Entgrenzung, 268 (vgl. aber Anm.  362).  Die literarische Einheitlichkeit der Aussagen über die kultische Reinheit in V 23* ist  umstritten. Vgl. dazu OHNESORGE, Jahwe, 346, der einen ursprünglichen Textzusam‐ menhang  in  V  20‐22.23a.bb*  zugrunde  legt  und  nur  die  Aussagen  mit  Jahwe  als  Subjekt abhebt. PETRY, Entgrenzung, 268, sieht dagegen in V 23a den Einschub und  in  V  23b  (evtl.  nur  die  den  Vers  abschließende  Bundesformel)  den  ursprünglichen  Anschluss an V 22. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

mit  der  Bundesformel  in  V  23  ein  gewisser  Abschluss  der  vorausge‐ henden Fortschreibung erreicht, so dass V 24 kaum auf dieselbe litera‐ rische  Ebene  gehört.363  Aber  auch  aus  inhaltlichen  Gründen  kann  er  nicht  die  ursprüngliche  Fortsetzung  von  V  20‐23*  bilden,  da  der  im  Text bisher nicht näher bestimmte König in V 24a auf einmal mit dem  Knecht  David  identifiziert  und  in  einer  Aufnahme  der  Formulierung  von V 22ab (‫)ומלך אחד יהיה לכלם‬ als der eine Hirte für das Volk (‫ורועה אחד‬  ‫)יהיה לכלם‬  bezeichnet  wird.  V  24a  stellt  damit  eine  präzisierende  Auf‐ nahme  von  V  20‐23*  dar,  die  auf  einer späteren literarischen Ebene in  den  Text  eingefügt  worden  ist.364  V  24b  scheint  dagegen  mit  der  zukünftigen  Erfüllung  der  Rechte  und  Satzungen  Jhwhs  auf  das  Bun‐ desverhältnis  in  V  23bb*g  bezogen  zu  sein,  als  deren  Auswirkung  das  Halten der göttlichen Gebote dargestellt wird (vgl. dazu Ez 11,19f.; Dtn  26,16‐19 oder Jer 31,31‐34). V 24 kann damit insgesamt als Einzelvers‐ nachtrag  betrachtet  werden,  der  eine  Ausdeutung  der  literarisch  vor‐ ausgehenden Einheit in V 20‐23* in Bezug auf die äußere (V 24a) sowie  die innere Verfasstheit (V 24b) des Volkes enthält. Eine weitere Auftei‐ lung der beiden Vershälften auf zwei verschiedene redaktionelle Hän‐ de  liegt  sicher  im  Bereich  des  Möglichen,  ist  aber  vom  Text  nicht  zwingend gefordert.365 Ausgeschlossen werden kann jedoch die These,  dass  in  V  24b  der  Beginn  der  folgenden  Einheit  V 25‐28  vorliegt.366  Dagegen  spricht  zuerst  der  invertierte  Einsatz  von  V  24b  mit  ‫ובמשׁפטי‬,  aber  auch  die  inhaltliche  Bezogenheit  des  Gesetzesgehorsams  auf  die  Bundesformel in V 23. Als literarischer Neueinsatz bietet sich vielmehr  der Vers 37,25* an, der mit der ewigen (‫)לעולם‬ Davidherrschaft das Leit‐ motiv des folgenden Stückes einführt.  Die  Ergebnisse  der  literarkritischen  Analyse  können  damit  wie  folgt  zusammengefasst  werden:  Die  Grundschicht  der  Textfolge  in  Ez  37,15‐24(28) bildet die Zeichenhandlung des Propheten in 37,15‐19*, die  die Vereinigung der zwei Israel‐Teilgrößen „Juda“ und „Joseph“ durch  Jhwh symbolisieren soll. Auch wenn das Interesse des Grundwortes an                                 363  So  mit  OHNESORGE,  Jahwe,  345;  anders  LEVIN,  Verheißung,  216  Anm.  73,  der  sich  dabei durch die von ihm angenommene Abhängigkeit des Textes von 36,24‐28 leiten  lässt, und POHLMANN, ATD, 501, der von der kleinen Einheit V 23f. ausgeht.  364  Auch die literarische Einheitlichkeit von 37,24a wird diskutiert. Vgl. z. B. HOSSFELD,  Untersuchungen, 248‐252, und im Anschluss an diesen OHNESORGE, Jahwe, 373, die  in 37,24aa einen Ergänzer am Werk sehen, der den verheißenen Herrscher auf David  hin konkretisiert. M. E. ist eine weitere literarkritische Differenzierung innerhalb von  V 24a nicht zwingend erforderlich; vielmehr scheint gerade in der Davidverheißung  der entscheidende Überschuss vorzuliegen, der den Fortschreibungsschub ausgelöst  haben könnte.  365  Vgl.  z. B.  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  439,  der  zwei  eigenständige  Fortschreibun‐ gen in V 24a und V 24b unterscheidet.   366  So gegen ZIMMERLI, BK, 907; OHNESORGE, Jahwe, 347, und POLA, Priesterschrift, 197. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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der „Wiedervereinigung von Norden und Süden“367 unverkennbar ist,  wird  noch  zu  klären  sein,  ob  hier  die  vorexilisch‐exilische  Trennung  der  beiden  politischen  Einheiten  Nord‐  und  Südreich  problematisiert  wird368  oder  ob  „Juda“  und  „Joseph“  als  Chiffren  zu  interpretieren  sind,  unter  denen  die  nachexilische  Teilung  in  die  persischen  Provin‐ zen Jehud und Samaria verhandelt wird. In einer ersten Fortschreibung  V  20‐23*  wird  die  ursprüngliche  Zeichenhandlung  durch  eine  zweite  Deutung  ergänzt,  die  das  vereinigende  Handeln  Jhwhs  sekundär  auf  den neuen Exodus und die Zusammenführung der Israeliten in einem  Königreich  unter  einem  König  auslegt.  Das  Grundproblem  stellt  hier  nicht  mehr  die  Spaltung  des  Volkes  dar,  sondern  vielmehr  die  Zer‐ streuungssituation Israels, die der Trennung der beiden Hölzer korres‐ pondiert.  Die  weitere  Nachinterpretation  des  Stückes  vollzieht  sich  durch  zwei  Einzelversfortschreibungen  in  V  24  und  V  23*.  Da  V  24  thematisch an V 20‐23* orientiert ist und den König aus V 22 mit dem  Knecht  und  Hirten  David  identifiziert,  ist  ihm  die  Priorität  vor  V  23*  einzuräumen. Diese letzte Einschreibung trägt die (vergangenen) kulti‐ schen Vergehen des Volkes und seine Reinigung durch Jhwh nach, die  dadurch zur Voraussetzung des Bundesverhältnisses in V 23bb*g wird.  Bei  den  bisherigen  Ausführungen  ist  die  Frage  nach  der  Identität  des  geheimnisvollen  Königs  in  V  20‐23*  offen  geblieben,  da  sie  text‐ intern  nicht  enthüllt  wird.  Im  Bild  der  Zeichenhandlung  liegt  es  zwar  nahe, dass nur ein „David“ als Herrscher des geeinten Israels in Frage  kommt, aber ebenso ist auch Jhwh selbst ein möglicher Kandidat, da er  die neue Einheit durch Sammlung und Rückführung erst herstellt und  ihr  Bestehen  garantiert.369  Die  nachträgliche  Identifikation  des  Königs  mit  David  durch  die  Fortschreibung  in  37,24  könnte  sowohl  eine  Verdeutlichung  der  impliziten  Aussage,  genauso  gut  aber  auch  eine  nachträgliche  Korrektur  des  Vorherigen  darstellen.  Die  griechische  Textüberlieferung  löst  die  Frage  dadurch,  dass  sie  den  zukünftigen  Herrscher  sowohl  in  37,22  als  auch  in  37,24  als  a;rcwn  bezeichnet  (vgl.  ebenso 37,25), was auf ein zugrundeliegendes  ‫נשׂיא‬ führt und eine Iden‐ tität  des  Herrschers  in  sämtlichen  Verheißungen  von  Kap.  37  impli‐                                367  WESTERMANN, Heilsworte, 134.  368  Vgl. exemplarisch ZIMMERLI, BK, 908, und OHNESORGE, Jahwe, 351f.354, die die Zei‐ chenhandlung auf den historischen Propheten zurückführen.  369  Die  Deutung  auf  David  stellt  die  mehrheitlich  in  der  Forschung  vertretene  Lösung  dar; vgl. die gängigen Kommentare und exemplarisch POHLMANN, ATD, 503 Anm.  20: „Als Repräsentant des geeinten Israel bietet sich im Rückblick auf den Begründer  des  geeinten  Königreiches  verständlicherweise  nur  ein  ‘David’  an.“  Soweit  hier  gesehen wird, zieht allein JOYCE, King, 328.335, eine Identifikation mit Jhwh in Erwä‐ gung, entscheidet sich aber letztendlich dafür, dass die Deutung auf einen mensch‐ lichen Herrscher „the most natural reading of 37.22“ ist (vgl. JOYCE, a.a.O., 335). 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

ziert. Die Textvarianten sind allerdings als Angleichungen zu erklären,  die nicht nur innerhalb von Kap. 37 die Erwartungen systematisieren,  sondern den Zukunftsherrscher auch mit dem davidischen Fürsten aus  Ez 34,24 identifizieren. Dem masoretischen Text ist deshalb die Priori‐ tät  zu  geben,  so  dass  die  unterschiedlichen  Herrschererwartungen  in  Ez  37,20‐23*.24.25ff.  literarkritisch  auszuwerten  sind  und  einer  redak‐ tionsgeschichtlichen Erklärung bedürfen.370 Eine  Übersicht  über  den  Gebrauch  des  ‫‐מלך‬Titels  im  Ezechielbuch  kann zur ersten Erhellung des Problems beitragen, wer mit dem König  in  37,22  gemeint  ist.  Die  Titulatur  wird  in Ez 1,2 und 17,12.16 mit Be‐ zug  auf  Jojachin  an  nur  zwei  Stellen  im  Buch  für  einen  konkreten  judäischen König verwendet, während dieser sonst als  ‫נשׂיא‬ bezeichnet  ist.371  Daneben  ist  ‫מלך‬  durchgehend  der  Titel  für  den  babylonischen  König  (vgl.  17,12.16;  19,9;  21,24.26;  24,2;  26,7;  29,18.19;  30,10.24f.)  und  den Pharao von Ägypten (vgl. 29,2f.; 30,21f.; 31,2; 32,2.11). Nicht näher  bestimmte Herrscher von Fremdvölkern werden in 27,33.35; 28,17 und  32,10  ebenso  als  ‫מלך‬  benannt,  während  in  28,12  mit  dem  König  von  Tyros und in 32,29 den Königen von Edom Herrscher kleinerer Staaten  den  Titel  führen.  Schließlich  steht  er  in  43,7b.9  rückblickend  für  die  vorexilischen  Könige  Israels,  indes  die  Bezeichnung  des  judäischen  Königs als ‫מלך‬ in 7,27 eine relativ späte Ergänzung darstellt, die neben  die  ursprüngliche  Titulatur  ‫נשׂיא‬  tritt.372  Des  Weiteren  wird  in  20,33  noch  von  Jhwh  ausgesagt,  dass  er  als  König  über  das  Volk  herrschen  wird  (‫מלך‬  kal).  David  als  der  zukünftige  Herrscher  trägt  dagegen  mit  Ausnahme von 37,24 den Titel ‫נשׂיא‬ (vgl. 34,24; 37,25).  Der Überblick zeigt, dass im Ezechielbuch abgesehen von 37,22.24  generell  der  ‫‐נשׂיא‬Titel  für  den  judäischen  König  und  den  zukünftigen  Herrscher  bevorzugt  wird,  während  die  Titulatur  ‫מלך‬  den  Fremdvöl‐ kerherrschern, insbesondere dem König von Babylon und dem Pharao  von Ägypten, vorbehalten bleibt. Dieser Befund spricht eher gegen die  These, dass der ‫מלך‬ in 37,22 auf David zu beziehen ist, so dass nur noch  zwei  Möglichkeiten  bleiben:  Entweder  ist  –  wie  schon  in  Erwägung  gezogen – der zukünftige Herrscher mit dem göttlichen König Jhwh zu  identifizieren  oder  es  ist  analog  mit  der  überwiegenden  Verwendung  von ‫מלך‬ im Buch mit einem Fremdherrscher zu rechnen. Da Jhwh auch                                 370  Zur textkritische Diskussion der Stellen vgl. o. Kap. III. 4.2.2. Anm. 232 und o. Anm.  358.  371  Vgl. dazu auch u. Kap. III. 5.5.2.  372  Der Versteil über den ‫מלך‬ ist in LXX* und einigen anderen Übersetzungen nicht be‐ zeugt  und  auch  inhaltlich  spricht  das  Nebeneinander  von  ‫מלך‬  und  ‫נשׂיא‬,  das  nur  an  dieser  Stelle  belegt  ist,  für  eine  nachträgliche  Ergänzung  (vgl.  BHS;  ZIMMERLI,  BK,  165; anders ALLEN, WBC 28, 103, und BLOCK, NICOT I, 268 Anm. 141, die die Erwäh‐ nung des Königs für ursprünglich halten). 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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im Hirtenkapitel Ez 34 königliche Züge erhält, soll die endgültige Klä‐ rung  dieser  Frage  für  die  vergleichende  Analyse  von  Ez  34  und  37  zurückgestellt werden.  5.3. Das literarische Verhältnis zu Ez 34  Schon HERRMANN hat die „formale Ähnlichkeit“ zwischen Kap. 37 und  Kap.  34  erkannt,373  und  im  Fall  von  Ez  34,25‐30  und  37,25‐28  konnte  nachgewiesen werden, dass ein literarisches Auslegungsverhältnis vor‐ liegt. Aber auch die an die Zeichenhandlung angefügten Heilsworte in  37,20‐24 zeigen eine weit über formale Ähnlichkeit hinausgehende Nä‐ he zu Stücken des Hirtenkapitels, wie im Folgenden darzustellen ist.  So  fällt  zuerst  auf,  dass  die  Ankündigung  von  Sammlung  und  Rückführung in 37,20‐23* ihre nächste Parallele in der Verheißung des  göttlichen Hirten 34,11‐15* hat. In beiden Fällen wird der neue Exodus  in  einer  dreigliedrigen  Aussagefolge  angekündigt,  die  die  Schritte  „Herausnehmen/‐führen“  (‫לקח‬,  37,21/‫יצא‬  hif.,  34,13),  „Sammeln“  (‫קבץ‬,  34,13;  37,21)  und  „Hineinbringen“  (‫בוא‬  hif.,  34,13;  37,21)  umfasst.  Mit  kleineren  Abweichungen  findet  sich  diese  Verheißung  an  insgesamt  sechs Stellen im Ezechielbuch (Ez 11,17; 20,34f.; 20,41f.; 34,13; 36,24 und  37,21),374 so dass mit LUST auch von einer geprägten Wendung gespro‐ chen  werden  kann,  für  die  er  den  Begriff  „‘Gathering  and  Return’  formula“ einführt.375 Charakteristisch für diese Formel ist nicht nur der  dreistufige  Aufbau,  sondern  auch  die  Verwendung  einer  Verbtrias,  deren  zweites  und  drittes  Glied  fast  durchgängig  mit  einer  Form  von  ‫קבץ‬ pi. und ‫בוא‬ hif. gebildet wird.  Von den fünf Belegen weicht Ez 11,17 sprachlich am weitesten von  den  anderen  Stellen  ab,  da  für  die  Verbtrias  ‫קבץ‬  pi.,  ‫אסף‬  und  ‫נתן‬  ver‐ wendet wird. Der Gebrauch von ‫נתן‬ erklärt sich durch den Kontext, in  dem es um die Gültigkeit der Landgabe geht (‫נתן‬, 11,15), aber auch im  zweiten  Glied  tritt  ein  anderes  Verb  auf.  Für  die  Sammlungs‐  und  Rückführungsverheißung in 36,24 konnte dagegen eine literarische Ab‐                                373  Vgl.  HERRMANN,  Heilserwartungen,  274;  er  bezieht  bei  dieser  Aussage  auch  noch  Kap. 36 in die „formale Ähnlichkeit“ mit ein.  374  Zu weiteren Sammlungs‐ und Rückführungsverheißungen, die aber eine abweichen‐ de Terminologie aufweisen, vgl. Ez 28,25; 38,8; 39,27. In Ez 37,12 findet sich weiter‐ hin  eine  an  die  Öffnung  der  Gräber  angeschlossene  Verheißung  der  Heimführung,  die mit ‫בוא‬ hif. konstruiert ist; vgl. dazu u. Kap. III. 6.3.  375  LUST, Gathering, 139.  LUST beschränkt das Vorkommen dieser Formel nicht auf das  Ezechielbuch,  sondern  weist  sie  auch  im  Jeremiabuch  nach,  wo  die  Belege  aber  sprachlich stärker von der Verwendung im Ezechielbuch abweichen; vgl. dazu LUST,  a.a.O., 127‐136. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

hängigkeit von Ez 34,13 und vor allem von 37,21 aufgezeigt werden.376  Die  Beeinflussung  durch  Ez  37,21  zeigt  sich  insbesondere  an  der  Ver‐ wendung  von  ‫לקח‬  in  der  ersten  Position  der  Verbtrias,  das  von  der  Zeichenhandlung  in  37,15‐19  her  Eingang  in  die  Sammlungsverhei‐ ßung  37,21  und  von  da  in  die  Nachinterpretation  36,24  gefunden  hat.  Die  beiden  Belege  in  Ez  20,34f.  und  20,41f.  stimmen  zwar  im  Verbge‐ brauch mit 34,13 überein (‫יצא‬ hif., ‫קבץ‬ pi., ‫בוא‬ hif.), weisen aber gegen‐ über  diesem  Text  jeweils  entscheidende  Divergenzen  auf,  die  für  eine  spätere  Abfassung  sprechen.  So  unterscheidet  sich  20,34f.  darin  von  34,13, dass im dritten Schritt nicht die Rückführung in das Land Israel  vorgesehen  ist,  sondern  das  Volk  in  die  Wüste  der  Völker  (‫אל־מדבר‬ ‫העמים‬,  20,35)  gebracht  wird.  Hier  liegt  eindeutig  eine  Anspielung  auf  die als bekannt vorausgesetzte Wendung vor, da die negative Konnota‐ tion des Zieles nur vor dem Hintergrund des „Normalgebrauches“ der  Formel  verständlich  wird.  In  Ez  20,41f.  hat  der  dreigliedrige  Aufbau  dagegen eine Erweiterung erfahren, da zwischen Sammlung und Rück‐ führung  die  Verheißung  eingeschoben  worden  ist,  dass  Jhwh  sich  an  Israel vor den Völkern (‫)לעיני הגוים‬ als heilig erweisen wird (‫קדשׁ‬ ni.).377   Damit  bleiben  als  literarisch  älteste  Belege  nur  noch  Ez  34,13  und  37,21 übrig, die sich vor allem darin unterscheiden, dass das Volk aus  unterschiedlichen  Orten  herausgeführt  wird:  Während  34,13  die  Sammlung aus den Völkern (‫)מן־העמים‬ und aus den Ländern (‫)מן־הארצות‬  vorsieht,  ist  in  37,21  davon  die  Rede,  dass  das  Volk  zwischen  den  Völkern heraus (‫)מבין הגוים‬ und von ringsumher (‫)מסביב‬ gesammelt wer‐ den  muss.  Die  Divergenzen  deuten  darauf  hin,  dass  37,21  eine  Zer‐ streuungssituation voraussetzt, in der sich die Diaspora bereits mit den  Völkern ihrer Exilsländer vermischt hat.378 Dies könnte dafür sprechen,  dass mit 37,21 eine Abwandlung der Sammlungsaussage in 34,13 vor‐ liegt,  die  ihrerseits  den  ezechielischen  Prototyp  der  „Gathering  and  Return“‐Formel repräsentiert.379                                  376  Vgl. dazu o. Kap. III. 1.3.  377  Hier  liegt  wahrscheinlich  eine  Anspielung  auf  Ez  39,27  vor,  ein  Text,  in  dem  die  Sammlung Israels (‫קבץ‬ pi.) ebenfalls das Ziel hat, dass Jhwh sich vor den Augen der  Völker an Israel als heilig erweist; vgl. die parallele Formulierung ‫קדשׁ‬ ni. gefolgt von ‫לעיני הגוים‬. Siehe dazu insgesamt o. Kap. III. 3.4.2.  378  Vgl. auch POHLMANN, ATD, 503, der über 37,21 urteilt: „Die Formulierung ‘zwischen  den  Völkern  heraus,  wohin  sie  gegangen  sind’  dürfte  signalisieren,  daß  jetzt  auch  diejenigen einbezogen sind, die ‘freiwillig’ die Diasporaexistenz gewählt haben.“  379  Allerdings  liegt  in  Ez  34,13  nicht  der literarische Ursprungsort für die Sammlungs‐ verheißung  vor,  sondern  die  vergleichende  Analyse  mit  Jer  23,1‐8  hat  es  wahr‐ scheinlich  gemacht,  dass  die  Verheißung  im  Ezechielbuch  auf  Jer  23,3  zurückgeht,  wo  Jhwh  seiner  Herde  Sammlung  (‫קבץ‬  pi.)  und  Rückführung  (‫שׁוב‬  hif.)  ansagt;  vgl.  dazu o. Kap. II. 3.3. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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Wenn  damit  wahrscheinlich  gemacht  werden  kann,  dass  die  Ver‐ heißung  von  Rückführung  und  Sammlung  in  Ez  37,21  bereits  34,13  voraussetzt, ist nun nach dem generellen Verhältnis der beiden Stücke  in  Ez  34,11‐15*  und  37,20‐23* zu fragen. Die zwei Texte berühren sich  nicht  nur  darin,  dass  der  neue  Exodus  ein  zentrales  Theologumenon  darstellt,  sondern  beide  reden  auch  von  einem  Hirten  bzw.  einem  König,  der  eine  wichtige  Funktion  am  Volk  wahrnimmt.  Es  stellt  sich  die Frage, ob in dieser inhaltlichen Nähe zwischen 34,11‐15* und 37,20‐ 23* nicht der Schlüssel für das bisher ungeklärte Problem liegt, wer der  geheimnisvolle  König  in  37,22  ist.  Da  Jhwh  in  Ez  34  als  der  göttliche  Hirte königliche Züge erhält und der literarisch jüngere Text in 37,20‐ 23* von einem König spricht, der die Einheit des Volkes wahren wird,  liegt es nahe, hier eine direkte Bezugnahme zu vermuten. Ez 37,20‐23*  kann dann als Auslegung von 34,11‐15* verstanden werden, in der das  Bild  des  Hirten  aufgelöst  wird,  um  Jhwh  als  König  Israels  zu  prokla‐ mieren. Die traditio hat ein theokratisches Ideal vor Augen, in dem Gott  nicht  nur  die  zukünftige  Einheit  des  Volkes  herbeiführt,  sondern  als  König  auch  die  Dauerhaftigkeit  dieses  Zustandes  garantiert.380  Wird  der eine König in 37,20‐23* mit Jhwh identifiziert, ist dies ein weiteres  Argument  für  die  These,  dass  mit  der  Bundesformel  in  V  23bb*g  der  ursprüngliche  Abschluss  der  Einheit  vorliegt.  Das  Bundesverhältnis  zwischen Gott und seinem Volk ist Bestätigung der theokratisch‐politi‐ schen Herrschaft, die er über Israel ausüben wird.  Die  sekundäre  Nacharbeit  in  37,22,  durch  die  die  Ortsangabe  ‫בהרי‬  ‫ישׂראל‬ in 37,20‐23* nachgetragen wird, verstärkt die Verbindungen zwi‐ schen  den  Stücken.  Denn  in  34,11‐15*  sind  die  ‫הרי ישׂראל‬  das  Ziel  der  Rückführung  (34,13.14b),  das  auf  diese  Weise  auch  im  auslegenden  Text  ergänzt  wird,  wo  die  Berge  Israels  ansonsten  keine  Rolle  spie‐ len.381 Darüber hinaus scheint die Einfügung der Berge Israels in 37,22  aber auch das Gerichtswort gegen das Gebirge Seir Ez 35,1‐15 im Blick  zu  haben.  Wie  noch  zu  zeigen  sein  wird,  ist  dort  sekundär  in  einer  Anspielung auf die Thematik in 37,20‐23* die Formulierung ‫את־שׁני הגוים‬ ‫ואת־שׁתי הארצות‬ eingefügt worden (35,10), so dass die Ergänzung der Ber‐ ge Israels in 37,22 mit diesem Nachtrag zusammenhängen könnte.382                                380  Vgl.  konzeptionell  und  terminologisch  die  Heilsverheißung  im  Deuterojesajabuch,  wo Jhwh sich als „euer König“ (‫מלככם‬, Jes 43,15) bzw. als „König Israels“ (‫מלך־ישׂראל‬,  Jes 44,6) bezeichnet.  381  Den  Bezug  des  Nachtrages  ‫בהרי ישׂראל‬  in  37,22  auf  34,13  sieht  auch  LEVIN,  Verhei‐ ßung, 214.  382  Vgl. dazu u. Kap. III. 7.2.1. und III. 7.2.3. Auf diese Weise entsteht ein gegenseitiges  Verweisgeflecht, das die Identität der Berge Israels als Heimatland der beiden Völker  hervorhebt.

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Sowohl in Ez 34 als auch in Ez 37 ist die Sammlungs‐ und Rückfüh‐ rungsverheißung  durch  ein  Davidwort  fortgeschrieben  worden,  das  aber  in  beiden  Fällen  literarisch  mehrschichtig  ist.  In  Ez  34,23f.*  wird  dem göttlichen Hirten zunächst der Knecht David (‫)עבד דוד‬ als der eine  Hirte (‫)רעה אחד‬ zur Seite gestellt, dem in der späteren Ergänzung V 24ab  noch der Titel  ‫נשׂיא‬ zuwächst. In der entsprechenden Fortschreibung in  Kap. 37 wird David in 37,24 zwar auch als Knecht (‫)עבד דוד‬ und einziger  Hirte  (‫)רועה אחד‬  bezeichnet,  aber  anders  als  im  Hirtenkapitel  bekommt  er  den  Königstitel  (‫)מלך‬  verliehen.  Erst  im  redaktionell  nachfolgenden  V 25  erhält  David  entsprechend  dem  Befund  in  Ez  34  zusätzlich  die  Titulatur  ‫נשׂיא‬. Nicht nur die Vielzahl von Stichwortverbindungen, son‐ dern auch die Tatsache, dass nur an diesen beiden Stellen im Ezechiel‐ buch  überhaupt  von  David  die  Rede  ist,  lassen  den  Schluss  auf  ein  literarisches Abhängigkeitsverhältnis zu. Da der Titel ‫אחד‬ ‫ר)ו(עה‬, der in  beiden Davidverheißungen zur Grundschicht gehört, zweifellos seinen  ursprünglichen  Ort  im  Hirtenkapitel  hat,  kann  Ez  34,23f.*  (34,23a.bb.  24aa.b) als Vorlage von Ez 37,24 gelten.383 Ez 34,23f.* ist damit der ältes‐ te Beleg für die Davidverheißung im Ezechielbuch, der sich allerdings  seinerseits mit dem betonten ‫אחד‬ bereits einer Anspielung auf die Heils‐ worte in Ez 37,15‐19.20‐23* zu verdanken scheint.  In  einem  Versuch,  die  gegenseitige  literarische  Beeinflussung  von  Ez  34  und  37,15ff.  nachzuzeichnen,  ist  mit  der  Verheißung  des  gött‐ lichen Hirten in 34,11‐15* zu beginnen, die als relativ ältester Text den  Ausgangspunkt der gegenseitigen Fortschreibungen bildet. Die sekun‐ däre  Deutung  der  Zeichenhandlung  in  37,20‐23*  nimmt  den  Text  auf  und legt ihn mit der Ankündigung des einen Königs theokratisch aus.  Als  nächstes  wächst  das  Hirtenkapitel  um  die  Davidverheißung  in  34,23f.*  an,  die  deutliche  Rückbezüge  auf  die  Verheißungen  in  37,15‐ 19.20‐23*  enthält.  So  kann  zuerst  die  Verbindung  der  halben  Bundes‐ formel  mit  der  Davidverheißung  als  Rezeption  des  Bundesverhält‐ nisses in 37,23bb*g verstanden werden, in das nun auch der zukünftige  Heilsherrscher  mit  einbezogen  wird.  Das  betonte  ‫אחד‬  stellt  dagegen  einen Bezug auf das Motiv der Einheit in 37,15‐19.20‐23* her und könn‐ te  darauf  hindeuten,  dass  der  Autor  von  34,23f.*  in  37,20‐23*  bereits  einen davidischen König vor Augen hat, wenn er vom ‫רעה אחד‬ spricht.  Seine Nachinterpretation, in der er dem göttlichen Hirten von 34,11‐15*                                 383  In dieser Bestimmung des grundlegenden Abhängigkeitsverhältnisses mit ZIMMERLI,  BK, 917; VEIJOLA, Verheißung, 165 Anm. 3. Vgl. weiterhin HOSSFELD, Untersuchun‐ gen,  248‐252,  und  im  Anschluss  an  diesen  OHNESORGE,  Jahwe,  371‐374;  GROSS,  Hoffnung,  113f.,  die  zwar  eine  grundsätzliche  Abhängigkeit  in  37,24*  von  34,23f.*  annehmen (‫)רועה אחד‬, aber davon ausgehen, dass die namentliche Erwähnung Davids  erst nachträglich von der sekundären Ergänzung 37,24aa her in 34,23ab eingetragen  worden ist.  

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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den  Hirten  David  zur  Seite  stellt,  impliziert  auf  jeden  Fall  eine  nicht  unerhebliche  Einschränkung  der  Alleinzuständigkeit  Jhwhs  für  das  Heil.  Diese  Tendenz  zur  Aufwertung  Davids  setzt  sich  in  der  ent‐ sprechenden Fortschreibung in 37,24 fort, wo der König Jhwh in einer  Aufnahme  der  Davidverheißung  aus  34,23f.*  durch  die  Ernennung  Davids zum ‫מלך‬ verdrängt wird. Dies findet allerdings eine Korrektur  in der nachfolgenden Fortschreibung Ez 37,25‐28*, in der David mit der  Titulatur  ‫נשׂיא‬ wieder an den ihm zukommenden Platz verwiesen wird  (V 25).  Auf  dieselbe  Hand  kann  schließlich  auch  die  Ergänzung  in  34,24ab  zurückgeführt  werden,  in  der  David  in  gleicher  Weise  sekun‐ där als ‫נשׂיא‬ bezeichnet wird.384   Damit  ist  nur  noch  offen,  welche  Funktion  die  ursprüngliche  Zei‐ chenhandlung  Ez  37,15‐19*  im  Rahmen  dieses  gegenseitigen  Ausle‐ gungsvorganges wahrnimmt und wie der Einzelversnachtrag Ez 37,23*  redaktionell  einzuordnen  ist.  37,15‐19*  weist  mit  Ausnahme  von  ‫אחד‬,  das wahrscheinlich über die Fortschreibung in 37,20‐23* in 34,23f.* auf‐ genommen worden ist, keine literarischen Verbindungen mit den Tex‐ ten in Ez 34,11ff. auf. In Bezug auf 34,11‐15* deutet die Tatsache, dass  die  Nachinterpretation  der  Symbolhandlung  in  37,20‐23*  diesen  Text  bereits voraussetzt, darauf hin, dass 37,15‐19* dem Stück 34,11‐15* ent‐ weder vorausgeht oder auf derselben literarischen Ebene einzuordnen  ist.  Allerdings  zeigt  37,15‐19*  kein  Interesse  an  der  Situation  der  Diaspora,  sondern  mit  der  Spaltung  in  Nord‐  und  Südreich  wird  ein  Problem  im  Land  thematisiert.  Diese  Perspektive  auf  die  Situation  im  Land  bringt  den  Text  eher  in  die  Nähe  des  Grundwortes  im  Hirten‐ kapitel  34,1‐10*,  das  sich  ebenfalls  mit  der  Lage  des  Volkes  im  Land  beschäftigt.  Diese  literarische  Einschachtelung  macht  am  ehesten  eine  redaktionelle Position von 37,15‐19* zwischen der Abfassung von 34,1‐ 10* und 34,11‐15* wahrscheinlich; die Frage wird aber nicht letztgültig  zu entscheiden sein, da die Stücke nicht zu erkennen geben, inwieweit  sie aufeinander bezogen sind.  Auch der Einzelversnachtrag in Ez 37,23* zeigt mit dem Thema der  kultischen Reinheit keine Berührungen mit dem Hirtenkapitel. Die ver‐ wendete  Terminologie  deutet  insgesamt  auf  eine  relativ  späte  Abfas‐ sung  hin.  So  ist  die  Rettungsaussage  mit  ‫ישׁע‬  hif.  im  gesamten  Buch  außer in 37,23 nur noch in 34,22 und 36,29 belegt, zwei Texten, die zu  den  spätesten  Fortschreibungen  im  Bereich  von  Ez  34‐39  gehören.385  Die  Verunreinigung  (‫טמא‬  hitp.)  mit  den  Mistdingern  (‫)גלולים‬  verweist                                 384  So vermutungsweise auch HOSSFELD, Untersuchungen, 283, und mit größerer Sicher‐ heit  OHNESORGE,  Jahwe,  373,  und  GROSS,  Hoffnung,  113f.  Für  diese  These  könnte  ebenso die parallele Verwendung von ‫בתוכם‬ in 34,24ab und 37,26 sprechen.  385  Vgl. dazu o. Kap. II. 3.4. und Kap. III. 1.2. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

dagegen auf den Nachtrag Ez 36,18abb (36,18*), in dem das Exil mit der  Verunreinigung (‫טמא‬ pi.) des Landes durch die Mistdinger der Israeli‐ ten begründet wird.386 Die Kombination von ‫גלול‬ mit dem Verb ‫טמא‬ ist  überhaupt nur im Ezechielbuch belegt387 und findet sich im Kontext der  Heilsworte  einzig  in  36,18*  und  37,23*.  In  37,23*  ist  deshalb  dasselbe  redaktionelle  Interesse  wie  in  36,18*  zu  vermuten,  so  dass  mit  der  erweiterten Restaurationsverheißung 37,20‐23 auch ein Rückfall in die  Verhaltensweisen  ausgeschlossen  werden  soll,  die  zur  Diasporasitu‐ ation bzw. zur Trennung des Volkes geführt haben.  5.4. Die Zeichenhandlung von der Wiedervereinigung  5.4.1. Zur Frage nach den literarischen Vorlagen  Die  Zeichenhandlung  von  der  Wiedervereinigung  in  Ez  37,15‐19388  wirft  sowohl  in  formaler  wie  auch  in  inhaltlicher  Sicht  Fragen  nach  ihrem  Hintergrund  auf.  So  ist  bereits  ihre  Sonderstellung  als  einzige  „heilsprophetische“  Symbolhandlung  im  Buch  angesprochen  worden,  die einen Vergleich mit den gerichtsprophetischen Zeichenhandlungen  im ersten Buchteil nahe legt. Das Ezechielbuch enthält in Kap. 1‐24 eine  Reihe  von  Texten,  die  sich  unter  dem  Gattungsbegriff  „Prophetische  Zeichenhandlung“  subsumieren  lassen.  Nach  der  formgeschichtlichen  Definition von FOHRER enthalten diese Texte „Verkündigung durch die  Tat“389  und  sind  durch  die  regelmäßig  wiederkehrenden  Merkmale  „Befehl  zur  Ausführung  der  symbolischen  Handlung“,  „Bericht  über  die  Ausführung“  und  „Deutung“  charakterisiert.390  Allerdings  muss  FOHRER  selbst  feststellen,  dass  diese  drei  Merkmale  nicht  immer  alle  vertreten sind und sich überhaupt nur in sieben der von ihm angeführ‐ ten  32  Zeichenhandlungen  im  Alten  Testament  finden.391  Es  erscheint  deshalb  angebrachter,  in  einer  weiteren  Definition  da  von  einer  Sym‐ bolhandlung zu sprechen, wo eine Aktion des Propheten als von Jhwh  veranlasst dargestellt wird, so dass die Handlung aus dieser Indienst‐                                386  Vgl. dazu o. Kap. III. 3.2.  387  Vgl. Ez 18,6.15; 20,7.18.31; 22,3.4 (mit Jerusalem als Subjekt); 23,7 (von Ohola als dem  personifizierten  Samaria);  23,30  (von  Oholiba,  dem  personifizierten  Jerusalem);  36,18; 37,23. Allerdings wird ‫טמא‬ an diesen Stellen in unterschiedlichen Stämmen ver‐ wendet.  388  Im Folgenden steht nur dann ein Stern (*), wenn die Textabgrenzung explizit auf die  Grundschicht bezogen ist.  389  FOHRER, HAT, 28. Vgl. weiterhin die Darstellung bei SCHÖPFLIN, Theologie, 216‐224,  und die dort angegebene Literatur.  390  Vgl. FOHRER, Handlungen, 17f.  391  Vgl. FOHRER, Handlungen, 18. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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nahme  des  Propheten  ihre  theologische  Legitimität  und  ihren  Sinn‐ gehalt  erhält.  Im  Fall  des  Ezechielbuches  spricht  die  mehrfache  Ver‐ wendung  dieser  Form  dafür,  dass  bereits  eine  literarische  Konvention  über  die  Schilderung  derartiger  Handlungen  besteht,392  die  im  Buch  zur  bildhaften  Darstellung  der  Verkündigung  genutzt  wird.  Für  die  vergleichende  Analyse  bietet  sich  insbesondere  der  einleitende  Zei‐ chenhandlungszyklus  in  Ez  4,1‐5,4  an,  zu  dem  Ez  37,15‐19  eine  Reihe  von sprachlichen Querverbindungen aufweist.   Nach dem formgeschichtlichen Teil ist in einem zweiten Abschnitt  der Inhalt der Symbolhandlung in den Blick zu nehmen. Das Motiv der  Wiedervereinigung  von  Nord‐  und  Südreich  stellt  nicht  nur  im  Buch  selbst eine singuläre Verheißung dar, sondern wird auch im gesamten  Alten  Testament  nur  in  wenigen  Texten  im  Rahmen  der  Heilszukunft  thematisiert;  vgl.  Hos  2,2;  Jer  3,18  (23,6;  30,3);  Sach  10,6;  Jes  11,11‐16;  Ob 16‐21 und die Israelperspektive in Jer 30f.*. Bei der vergleichenden  Analyse  wird  deshalb  danach  zu  fragen  sein,  inwieweit  im  Ezechiel‐ buch  ein  neuer  Gedanke  vorliegt  und  welche  Bedeutung  die  Verhei‐ ßung für die Heilskomposition des Buches hat.  5.4.2. Zeichenhandlungen im Ezechielbuch  Nach  der  Darstellung  des  Buches  beginnt  die  Verkündigung  des  Pro‐ pheten  in  Ez  4,1‐5,4  mit  einer  Reihe  von  Zeichenhandlungen,  die  das  Gericht  über  Jerusalem  symbolhaft  vorwegnehmen  und  darin  exposi‐ torische Funktion für den ersten Buchteil haben: „Die sich vollziehende  Katastrophe  wird  programmatisch  an  den  Anfang  gerückt  und  erhält  damit  besonderes  Gewicht.“393  Mit  der  Mehrheit  der  Exegeten  kann  vermutet werden, dass die Grundschicht des Zyklus eine Reihung von  drei  Zeichenhandlungen  umfasst,  in  denen  die  Belagerung  der  Stadt,  die Not der Bewohner während der Belagerung und das Geschick der  Bevölkerung  nach  der  Einnahme  abgebildet  werden  (Ez  4,1f.9‐11*;  5,1f.*).394  Für  die  These  spricht  auch,  dass  mit  dieser  Abgrenzung  ein  dreistrophiges Grundwort vorliegt, in dem die einzelnen Texteinheiten  jeweils  mit  der  Aufforderung  ‫קח־לך‬  (4,1.9;  5,1)  an  den  Propheten  er‐ öffnet werden. Die im weiteren Verlauf des Buches folgenden Zeichen‐                                392  Vgl. SCHÖPFLIN, Theologie, 220.  393  SCHÖPFLIN,  Theologie,  233.  Zur  programmatischen  Funktion  von  Ez  4,1‐5,4  vgl.  insgesamt SCHÖPFLIN, a.a.O., 199‐233.  394  Vgl. HÖLSCHER, Hesekiel, 61‐63; ZIMMERLI, BK, 100‐103; FUHS, NEB, 32; POHLMANN,  ATD,  82.  Die  Dreizahl  der  Handlungen  ist  aber  nicht  unumstritten,  vgl.  exempla‐ risch FOHRER, HAT, 28, der vier Berichte über symbolische Handlungen in Kap. 3,16‐ 5,17  unterscheidet;  zu  weiteren  Vorschlägen  siehe  die  Übersicht  bei  SCHÖPFLIN,  Theologie, 214 Anm. 457. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

handlungen  in  Ez  12,1‐20;  21,11f.17f.24‐27  und  24,15‐24395  konkretisie‐ ren  die  Botschaft  der  ersten  Symbolhandlungen  in  4,1‐5,4  und  stellen  weitere Aspekte der Belagerung und der Einnahme Jerusalems dar.  Von dieser Reihe gerichtsprophetischer Zeichenhandlungen unter‐ scheidet sich Ez 37,15‐19 zuerst durch die Position im dritten Buchteil;  es  ist  die  einzige  Zeichenhandlung  des  Buches,  die  in  der  Handlung  des  Propheten  heilsprophetische  Verkündigung  abbildet.  Allerdings  weist der Text einige Berührungen mit dem programmatischen Zyklus  in Ez 4,1‐5,2* auf. Er scheint den Zeichenhandlungen aus Kap. 4,1‐5,2*  formal nachgebaut zu sein, indem der Prophet ebenfalls mit dem Impe‐ rativ ‫קח־לך‬ zur Handlung aufgefordert wird (37,16; vgl. noch den impe‐ rativischen  Beginn  ‫עשׂה לך‬  in  12,3).396  Mit  Ez  4,1  und  5,1  ist  das  Stück  auch  durch  die  erweiterte  Einleitung  ‫ואתה בן־אדם קח־לך‬  (37,16)  verbun‐ den. Es ist weiterhin auffällig, dass sowohl die Zeichenhandlungsreihe  in Kap. 4f. als auch 37,15‐19 jeweils im Anschluss an eine Vision posi‐ tioniert  sind  (Ez  1‐3;  37,1‐14).397  Allerdings  fällt  es  schwer,  in  dieser  Korrespondenz  ein  System  zu  erkennen:  Die  „Dreizeichenkomposi‐ tion“398 in 4,1‐5,4 folgt direkt auf die Berufungsvision des Propheten in  Ez 1‐3 und stellt programmatisch den Inhalt seiner Verkündigung dar.  Formal  finden  die  drei  Symbolhandlungen  noch  im  visuellen  Kontext  der Eingangsvision statt, da in 4,1ff. eine ausdrückliche Ein‐ oder Über‐ leitung  fehlt.399  37,15‐19  ist  dagegen  durch  die  Wortereignisformel  in  V 15  von  der  vorhergehenden  Vision  getrennt  und  inhaltlich  nur  lose  mit dieser verbunden. Die Texte berühren sich lediglich in der gemein‐ samen  Verwendung  des  Verbums  ‫קרב‬,  die  vielleicht  so  zu  deuten  ist,  dass die Wiederherstellung der Einheit Israels (‫קרב‬ pi., 37,17) der Wie‐                                395  In  dieser  Abgrenzung  mit  SCHÖPFLIN,  Theologie,  224  (vgl.  auch  DIES.,  Ezechiel,  26  Anm.  16).  FOHRER,  Handlungen,  18  (vgl.  die  Einzelanalysen  FOHRER,  a.a.O.,  47‐69),  ordnet neben den vier Berichten in Kap. 4f. im Ezechielbuch die folgenden Texte als  Zeichenhandlungen  ein:  Ez  12,1‐11.17‐20;  21,11f.23‐29;  24,1‐14;  24,15‐24;  die  Reihe  3,22‐27; 24,25‐27; 33,21f. sowie 37,15‐28.  396  So auch ZIMMERLI, BK, 907.  397  SCHÖPFLIN, Theologie, 224 mit Anm. 503, weist darauf hin, dass sich insgesamt drei‐ mal  im  Ezechielbuch  die  Abfolge Vision (Kap. 1‐3; 8‐11; 37,1‐14) – Handlung (Kap.  4f.; 12,1‐20; 37,15‐28) – Wortverkündigung (Kap. 6f.; 12,21ff.; 38f.) finde. In Bezug auf  Kap.  37  ist  diese  These  aber  dahingehend  zu  modifizieren, dass nach dem Zeugnis  von Pap. 967 Ez 37 in der Entstehungsgeschichte des Buches lange Zeit vor Kap. 40  eingestellt  war,  und  sich  die Wortverkündigung vielmehr schon in der sekundären  Deutung 37,20‐22 und den folgenden Fortschreibungen findet.  398  ZIMMERLI, BK, 111 u. ö.  399  Vgl. COOKE, ICC, 57: „all is taking place in vision“; ferner POHLMANN, ATD, 81, und  SCHÖPFLIN,  Theologie,  215.  SCHÖPFLIN  kommt  ebd. zu dem Schluss, dass durch die  Situation im Kontext der Vision die Legitimation der Botschaft Ezechiels noch gestei‐ gert  werde,  da  „der  Angeredete  immer  noch  diesen  ausgezeichneten  Ausnahme‐ zustand besonderer Gottesgegenwart erfährt“. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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derbelebung des Hauses Israels im Zusammenrücken der Knochen (‫קרב‬  kal, 37,7) entspricht.400   Inhaltlich gibt es dagegen wenig Übereinstimmungen von Ez 37,15‐ 19 mit den ursprünglichen Zeichenhandlungen in Ez 4,1‐5,2*, da diese  auf  das  Gericht  über  Jerusalem  bezogen  sind,  während  37,15‐19  die  heilvolle Zukunft des Gottesvolkes im Blick hat. Allerdings ist hier die  nachträgliche  Erweiterung  der  Komposition  durch  die  Zeichenhand‐ lung  in  Ez  4,4‐8401  zu  berücksichtigen,  die  sich  darin  mit  37,15‐19  berührt,  dass  das  Schicksal  von  Nord‐  und  Südreich  im  Verhältnis  zueinander  thematisiert  wird.402  In  dieser  Zeichenhandlung  soll  der  Prophet  durch  die  Gebundenheit  des  eigenen  Körpers  die  Dauer  der  Strafzeit für das Haus Israel (4,4f.) wie für das Haus Juda (4,6) vorab‐ bilden.403  In  diesem  Zusammenhang  wird  aber  V  6  generell  als  nach‐ trägliche  Interpretation  bewertet,  die  das  „Haus  Israel“  (‫)בית־ישׂראל‬  in  4,4f.  als  Bezeichnung  für  das  Nordreich  verstehen  will  und  entspre‐ chend  das  Haus  Juda  (‫)בית־יהודה‬  in  4,6  nachträgt.404  Auch  wenn  die  Perspektive auf Nord‐ und Südreich erst sekundär hergestellt worden  ist,  bildet  sie  doch  auf  der  Ebene  der  vorliegenden  Buchgestalt  eine  inhaltliche Korrespondenz zu 37,15‐19. Auf diese Weise wird dem ge‐ trennten Gericht über die zwei Teilstaaten in der Zeichenhandlung Ez  4,4‐8  symbolisch  die  Wiedervereinigung  der  beiden  Teilgrößen  in  der  Zukunft gegenübergestellt. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die Tex‐ te  mit  Bezug  aufeinander  verfasst  worden  sind,  auch  wenn  die  Frage  der literarischen Priorität hier offen bleiben muss.  Außerhalb  des  Ezechielbuches  hat  Ez  37,15‐19  noch  eine  enge  Parallele in der Symbolhandlung Jes 8,1, in der der Prophet Jesaja den  Namen  seines  zukünftigen  Sohnes  als  „Schnell‐Raub  Eile‐Beute“  auf  eine Tafel schreiben soll (‫)כתב‬. Die Stücke berühren sich in der Auffor‐                                400  Vgl. dazu u. Kap. III. 6.3.  401  Zur  Sekundarität  von  Ez  4,4‐8  innerhalb  des  Zeichenhandlungszyklus  vgl.  HÖL‐ SCHER, Hesekiel, 62; EICHRODT, ATD, 30; ZIMMERLI, BK, 114f.; POHLMANN, ATD, 89,  und SCHÖPFLIN, Theologie, 204.   402  Vgl.  darüber  hinaus  nur  noch  Ez  23,  wo  im  Bild  der  zwei  Schwestern  Ohola  und  Oholiba  das  Geschick  der  beiden  Schwestergrößen  Samaria  und  Jerusalem  verhan‐ delt wird.  403  Zur Zahlensymbolik in 4,4‐8 und den damit verbundenen Interpretationsproblemen  vgl. POHLMANN, ATD, 90‐92; SCHÖPFLIN, Theologie, 205f., und die dort angegebene  Literatur.  404  Vgl. SCHÖPFLIN, Theologie, 206. POHLMANN, ATD, 89, beurteilt Ez 4,5f. insgesamt als  „nachtragsverdächtig“; vgl. auch ZIMMERLI, BK, 122, der innerhalb von Ez 4,4‐8 mit  einer  „Mehrzahl  von  Interpretationsphasen“  rechnet.  Selbst  Exegeten  wie  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  121;  ALLEN,  WBC  28,  68,  und  GREENBERG,  AncB,  118,  die  die  Zeichenhandlung  in  4,4‐8  zur  Grundschicht  der  Zeichenhandlungskomposition  in  4,1‐5,4 ziehen, scheiden 4,6 als sekundären Nachtrag aus. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

derung  ‫קח־לך‬ mit folgendem Imperativ ‫וכתב‬. Da die ezechielische Sym‐ bolhandlung  der  längere  und  detailreichere  Text  ist,  liegt  die  Vermu‐ tung  nahe,  dass  die  Formulierung  in  Ez  37,16  literarisch  von  Jes  8,1  inspiriert worden ist.405 Der Symbolgehalt der Aufschrift, die in Jes 8,1  auf  das  kommende  Unheil  vorausweist,  ist  in  Ez  37,16  übernommen  und heilsprophetisch gewendet worden. Allerdings transportiert in Ez  37,15‐19 nicht die Aufschrift an sich den Gehalt der Handlung, sondern  die Aufschrift dient dem Verständnis der Aktion.  Ez  37,15‐19  weist  damit  einige  Bezüge  zu  Texten  innerhalb  und  außerhalb des Buches auf. Während es in seinem formalen Aufbau die  einleitende  Komposition  der  drei  Zeichenhandlungen  in  Ez  4,1‐5,2*  kopiert,  scheint  sich  die  konkrete  Handlung  des  Aufschreibens  einer  Anspielung auf Jes 8,1 zu verdanken. Wie der Verfasser von Ez 4,1‐5,2*  greift der Autor von Ez 37,15‐19* wahrscheinlich bewusst auf die Form  der Symbolhandlung zurück, um seiner Botschaft eine besondere theo‐ logische  Legitimität  zu  verleihen.  Der  entscheidende  Unterschied  zu  den  Parallelen  im  Jesaja‐  und  im  Ezechielbuch  besteht  darin,  dass  die  Symbolhandlung einen heilsprophetischen Inhalt hat, so dass hier eine  beabsichtigte  Aufnahme  und  Ablösung  der  vorangehenden  gerichts‐ prophetischen  Zeichenhandlungen  zu  vermuten  ist.  Dabei  ist  es  mög‐ lich, dass Ez 37,15‐19* inhaltlich direkt auf die sekundäre Symbolhand‐ lung  von  der  Gerichtsstrafe  der  getrennten  Häuser  Juda  und  Israel  in  Ez  4,4‐8  reagiert.  Mit  dem  Ende  der  Strafe  geht  auch  die  Wieder‐ vereinigung der beiden Israel‐Teilgrößen einher, so dass alle folgenden  Heilsworte nun dem einen Israel gelten.  5.4.3. Das Motiv der Wiedervereinigung  Der  Zusammenschluss  von  Nord‐  und  Südreich  zum  Gesamtvolk  Israel  spielt  in  nur  wenigen  Texten  des  Alten  Testaments  eine  Rolle.  Wird danach gefragt, ob der Autor von Ez 37,15‐19* mit diesem Motiv  auf ein vorgegebenes Heilswort zurückgreift, kommen mit Hos 2,2; Jer  3,18 (23,6; 30,3); Sach 10,6; Jes 11,11‐16 und Ob 16‐21 die Texte in Frage,  in  denen  explizit  zwei  Teilgrößen  Israels  erwähnt  werden.406  Darüber  hinaus  ist  auch  die  Grundkomposition  von  Jer  30f.*  mit  in  die  Über‐ legungen  einzubeziehen,  da  hier  in  gleicher  Weise  eine  gesamtisraeli‐                                405  Vgl. BECKER, Jesaja, 98. Er zieht auch in Erwägung, dass die Verkoppelung von Beru‐ fungsvision und Zeichenhandlungen in Ez 1‐3*; 4,1‐5,2* in Jes 6,1‐8*; 8,1‐4* ihr Vor‐ bild habe (vgl. ebd.).  406  Weiterhin  wird  auch  in  der  Chronik  die  Frage  eines  geeinten  Israels  ausführlich  thematisiert. Zur folgenden Untersuchung der Vorstellung eines geeinten Israels vor  dem Hintergrund von Ez 37,15‐19 vgl. auch OHNESORGE, Jahwe, 354‐361. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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tische  Perspektive  von  Bedeutung  für  die  Konzeption  der  Heilsver‐ heißung ist.  In  Hos  2,2  ist  davon  die  Rede,  dass  sich  die  Söhne  Judas  mit  den  Söhnen  Israels  versammeln  werden  (‫קבץ‬  ni.),  um  ein  gemeinsames  Oberhaupt  (‫)ראשׁ אחד‬  zu  wählen  und  aus  dem  Land  heraufzuziehen   (‫)עלה‬.  Die  Wendung  ‫עלה מן־הארץ‬  kann  auf  die  Rückkehr  aus  dem  Exil  gedeutet  werden,407  wobei  allerdings  der  singuläre  Gebrauch  von  ‫ארץ‬  für den Exilsort auffällig ist. Hier liegt damit die Vorstellung zugrunde,  dass sich Juda und Israel gemeinsam im Exil befunden haben, aus dem  sie  deshalb  auch  zusammen  zurückkehren  werden.  In  gleicher  Weise  drückt  Jer  3,18  die  Hoffnung  aus,  dass  das  Haus  Juda  mit  dem  Haus  Israel  zusammengehen  und  sie  gemeinsam  (‫)יחדו‬  aus  dem  Land  des  Nordens in das Land zurückkehren werden (‫)בוא‬. Das Motiv, dass die  Exilierten  aus  dem  Land  des  Nordens  zurückkommen  werden,  findet  sich  an  mehreren  Stellen  im  Jeremiabuch  (vgl.  Jer  16,15;  23,8;  31,8);  dahinter kann literarisch die Aufhebung der vorhergehenden Unheils‐ prophetie  vermutet  werden.  Das  Volk  wird  von  dort  zurückkehren,  von  wo  aus  der  Feind  aus  dem  Norden  gegen  die  Tochter Zion gezo‐ gen ist (‫בוא‬, vgl. Jer 6,22). Vielleicht steht dahinter aber auch die simple  Tatsache, dass die Exulanten aufgrund geographischer und infrastruk‐ tureller  Gegebenheiten  von  Norden  her  in  das  Land  Israel  zurück‐ gekehrt sind.   Jer  30,3  spricht  ebenfalls  von  der  Rückführung  Israels  und  Judas  durch Jhwh, wobei es sich allerdings um eine einfache Nebeneinander‐ stellung  der  beiden  Israelgrößen  handelt,  ohne  dass  der  Aspekt  der  Gemeinsamkeit besonders hervorgehoben wird. Die Reihung von Isra‐ el  und  Juda  in  Jer  23,6  findet  sich  dagegen  nicht  im  Rahmen  einer  Rückführungsverheißung, sondern im Anschluss an die Ankündigung  des  Davidsprosses,  dessen  Regentschaft  sich  heilvoll  für  Juda  und  Israel auswirken wird. In gleicher Weise verkündet Jhwh in Sach 10,6,  dass  er  das  Haus  Israel  und  das  Haus  Joseph  wieder  in  ihrem  Land  wohnen lassen wird, ohne dass die Art der Wohngemeinschaft nähere  Erläuterung findet.   In  Jes  11,11‐16  wird  die  Wiedervereinigung  von  Nord‐  und  Süd‐ reich  dagegen  in  indirekten  Formulierungen  ausgesagt.  So  ist  in  Jes  11,11‐16 im Anschluss an die Weissagung des zukünftigen Herrschers  11,1‐5(10)  davon  die  Rede,  dass  Jhwh  sowohl  die  Vertriebenen  Israels  zusammenbringen  als  auch  die  Verstreuten  Judas  sammeln  wird  (Jes  11,12).  Nach  der  Rückführung  wird  es  kein  Konkurrenzverhältnis  mehr  zwischen  den  beiden  Israelgrößen  Juda  und  Ephraim  geben,                                 407  So mit JEREMIAS, ATD, 35; OHNESORGE, Jahwe, 355. Anders WOLFF, BK XIV/1, 32, der  die Wendung im Sinne von „s i c h   d e s   L a n d e s   b e m ä c h t i g e n “ wiedergibt. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

sondern diese werden eine „Aktionsgemeinschaft gegen die Völker der  Umwelt“408  bilden  (Jes  11,13f.).  So  spricht  auch  Ob  16‐18  davon,  dass  das  Haus  Jakob  und  das  Haus  Joseph  sich  gegen  das  Haus  Esau  wenden  werden,  um  es  zu  verzehren  (‫אכל‬,  V 18).  Das  Gebirge  Esaus   (‫)את־הר עשׂו‬ soll gerichtet werden und die Königsherrschaft (‫)מלוכה‬ wird  Jhwh gehören (V 21).   In  Jer  30f.*  findet  sich  schließlich  eine  Textschicht,  für  die  SCHMID  vorgeschlagen hat, dass sie zu den ältesten Heilsprophetien nach 587 v.  Chr.  gehört.409  In  dieser  Schicht  artikulieren  sich  Restaurationshoff‐ nungen  aus  der  Sicht  der  im  Lande  verbliebenen  Bevölkerung,  die  besonders  durch die Anrede des Volkes mit der Bezeichnung „Jakob“  auffallen (vgl. Jer 30,7.18; 31,11).410 Durch diesen Rekurs auf die Stäm‐ megemeinschaft  in  den  zwölf  Jakobssöhnen  wird  eine  gesamtisra‐ elitische  Identität  geschaffen,  die  auf  den  Erzvätererzählungen  grün‐ det.411 In  einem  Vergleich  dieser  Texte  mit  Ez  37,15‐19  muss  zuerst  auf‐ fallen,  dass  in  keinem  der  Stücke  die  Wiedervereinigung  per  se  zum  Thema wird. So handelt es sich bei Jer 3,18 und Hos 2,2 in erster Linie  um  Rückführungsverheißungen,  die  darin  übereinstimmen,  dass  sie  vom  Zusammenschluss  Judas  und  Israels  noch  außerhalb  des  Landes  sprechen  und  die  gemeinsame  Rückkehr  aus  dem  Exil  vorsehen.  In  gleicher  Weise  ist  in  Jer  23,6;  Jer  30,3  und  Sach  10,6  die  heilvolle  Zu‐ kunft  der  beiden  Israel‐Teilgrößen  angekündigt,  ohne  dass  aber  der  Gedanke der Vereinigung besonders betont wird. Eine zweite Gruppe  bilden Jes 11,11‐16 und Ob 16‐21, in denen der Zusammenschluss von  Nord‐  und  Südreich  vor  allem  Voraussetzung  für  das  gemeinsame  Vorgehen gegen die Feinde ist. Dagegen steht in Ez 37,15‐19 einzig die  Vereinigung  von  Joseph  und  Juda  im  Vordergrund, die erst sekundär  in V 20‐23* auf die Rückkehr aus dem Exil bzw. der Diaspora gedeutet  wird.  In  gleicher  Weise  wird  der  Zusammenschluss  der  zwei  Israel‐ Teilgrößen erst redaktionell mit der Erwartung eines zukünftigen Herr‐ schers  verbunden  (vgl.  Ez  37,20‐23*.24.25ff.),  während  diese  in  Jes  11,11‐16 vorausgeht und in Jer 23,5f. und Hos 2,2 direkt mit dem Motiv  der  Wiedervereinigung  verbunden  wird.  Der  Ezechieltext  ist  schließ‐ lich auch das einzige Stück, in dem die prophetische Zeichenhandlung                                 408  WOLFF, BK XIV/3, 45f.  409  Vgl. SCHMID, Buchgestalten, 110‐154.212‐214.  410  Bei der Übertragung der Jakobsbezeichnung auf das exilierte Volk in Jer 30,10f.; 31,7‐ 9 handelt es sich nach SCHMID um sekundäre Texte, vgl. SCHMID, Buchgestalten, 164‐ 174.  411  Vgl. SCHMID, Buchgestalten, 115f.  

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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als  Form  der  Verkündigung  gewählt  wird,  während  es  sich  bei  den  anderen Texten durchgehend um Jhwh‐Worte handelt.  Neben diesen inhaltlichen und formalen Differenzen fällt auf, dass  nur sehr wenige Stichwortverbindungen zwischen Ez 37,15‐19 und den  Vergleichstexten  existieren.  In  der  Bezeichnung  von  Nord‐  und  Süd‐ reich als „Joseph“ und „Juda“ liegt eine Parallele zu Sach 10,6 vor, aber  vor  allem  ist  die  Nähe  zwischen  der  Fortschreibung  Ez  37,20‐23*  und  Hos  2,2  zu  notieren.  Hos  2,2  hat  darin  einen  entscheidenden  Über‐ schuss gegenüber den anderen Vergleichstexten, dass vor der gemein‐ samen  Rückkehr  die  Wahl  eines  kollektiven  Oberhauptes  erwartet  wird. Die Formulierung  ‫ראשׁ אחד‬ berührt sich dabei eng mit der Verhei‐ ßung  des  ‫מלך אחד‬  aus  Ez  37,22,  wobei  die  Wahl  von  ‫ראשׁ‬  allerdings  weniger  an  einen  politisch‐staatlichen  Zusammenschluss  als  an  eine  soziale  Stammesgemeinschaft  denken  lässt.412  Trotz  dieser  Divergenz  könnte  die  beiden  Texten  gemeinsame  Besiegelung  der  Einheit  durch  ein  einziges  Oberhaupt  für  ein  literarisches  Abhängigkeitsverhältnis  zwischen  Hos  2,2  und  Ez  37,20‐23*  sprechen.413  Da  die  Charakterisie‐ rung  als  ‫אחד‬  ihren  ursprünglichen  Ort  in  der  Zeichenhandlung  Ez  37,15‐19* hat und von dort sekundär auf die Verheißung des ‫מלך‬ über‐ tragen worden ist, ist eher anzunehmen, dass Hos 2,2 das Motiv aus Ez  37,20‐23* übernommen hat; angesichts der singulären Querverbindung  muss  diese  Entscheidung  über  die  literarische  Abhängigkeit  aber  in  höchstem Maße spekulativ bleiben.414 Über  Ez  37,20‐23*  hinaus  kann  die  vergleichende  Analyse  auch  Licht auf die spätere Fortschreibung 37,25‐28* werfen, in der das neue  Wohnen Israels im Land durch einen Rekurs auf die Landgabe an den  Knecht Jakob begründet wird (vgl. noch Ez 20,5; 28,25; 39,25). Der Be‐ zug auf den Stammvater Israels im Kontext der Zeichenhandlung über  die  Wiedervereinigung  scheint  hier  wie  auch  in  Jer  30f.*  das  Ziel  zu  haben, eine gesamtisraelitische Perspektive in den Text einzutragen.  Die  vergleichende  Analyse  hat  damit  gezeigt,  dass  keiner  der  untersuchten  Texte  als  literarische  Vorlage  für  Ez  37,15‐19*  in  Frage                                 412  ‫ראשׁ‬  steht  überwiegend  für  den  Anführer  einer  sozialen  Gruppe  wie  den  Stammes‐ führer (z. B. Num 30,2; Ri 11,8), das Familienoberhaupt (Ex 6,14; Num 1,4), aber auch  für den König Israels in der Vorstellung, dass er die Stammesführung fortsetzt (vgl. 1  Sam 15,17). Vgl. zur Anwendung auf Personen insgesamt BEUKEN, Art. ‫ראשׁ‬, 277‐279.  413  In dieser Erwägung gegen OHNESORGE, Jahwe, 355f., der eine Abhängigkeit von Hos  2,2; Jer 3,18 und Ez 37,15‐19 für unwahrscheinlich hält.  414  An dieser Stelle wäre noch die thematische Parallele in Ez 37,20‐23* und Ob 21 zu be‐ rücksichtigen. In beiden Texten folgt die Königsherrschaft Jhwhs auf einen Text, der  von  der  Wiedervereinigung  zweier  Israelgrößen  spricht  oder  diese  voraussetzt;  die  unterschiedliche Terminologie (‫מלך‬, ‫ממלכה‬, Ez 37,22; vgl. ‫מלוכה‬, Ob 21) macht ein lite‐ rarisches Abhängigkeitsverhältnis aber eher unwahrscheinlich. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

kommt. Es bleibt aber festzuhalten, dass sich in exilisch‐nachexilischer  Zeit  mit  den  Restaurationserwartungen  im  Land  auch  die  Hoffnung  auf die Wiederherstellung einer politisch‐staatlichen Einheit von Nord‐  und  Südreich  verbunden  hat  (vgl.  Jer  30f.*).  Allerdings  steht  der  Zu‐ sammenschluss der beiden Israel‐Teilgrößen in keinem dieser Texte im  Zentrum, sondern das Motiv ist der Verheißung der Rückführung, des  zukünftigen  Herrschers  oder  der  Unheilsansage  gegen  Fremdvölker  untergeordnet.  Auch  wenn  keine  direkten  literarischen  Berührungen  mit Ez 37,15‐19* aufgezeigt werden konnten, so ist doch zu vermuten,  dass seinem Autor die Mehrzahl der Texte schon bekannt gewesen ist.  Anders  als  in  diesen  erscheint  die  Wiedervereinigung  in  Ez  37,15‐19*  nicht  als  implizite  (Mit‐)Verheißung,  sondern  sie  wird  explizit  zum  Thema eines eigenen Abschnittes gemacht. Hier ist als historischer Ort  deshalb  auch  nicht  mehr  die  exilische  oder  frühnachexilische  Zeit  an‐ zunehmen, sondern der Text scheint auf die anhaltende Trennung des  Volkes  in  Form  der  beiden  persischen  Provinzen  Juda  und  Samaria  anzuspielen.  Erst  in  der  sekundären  Auslegung  37,20‐23*  verbindet  sich das Motiv wie in den traditionsgeschichtlichen Parallelen mit der  Rückführung  des  Volkes  und  der  Idee  eines  zukünftigen  göttlichen  bzw. davidischen Herrschers.  5.5. Die Verheißung des davidischen Herrschers  5.5.1. Königserwartung und Messias  Die  Erwartung  eines  zukünftigen  Herrschers  gehört  im  Alten  Testa‐ ment zu den am breitesten bezeugten Topoi der Heilsverheißung und  findet sich in fast allen Büchern des corpus propheticum. Eine besondere  Ausprägung  gewinnt  die  Herrschererwartung  dabei  in  den  Texten,  in  denen  sich  wie  in  Ez  34,23f.  und  37,24.25ff.  Restaurationshoffnungen  ausdrücken,  die  mit  dem  davidischen  Königtum  verbunden  sind.  Im  Folgenden ist deshalb in zwei Schritten danach zu fragen, welche Rolle  die Ankündigung Davids in den Heilsworten des Ezechielbuches spielt  und  inwieweit  sie  literarische  oder  traditionsgeschichtliche  Berührun‐ gen  mit  den  davidischen  Erwartungen  der  anderen  Prophetenbücher  aufweist.  Zu  diesem  Zweck  sind  zuerst  die  verschiedenen Vorstellun‐ gen der Herrschererwartung im Ezechielbuch und deren gegenseitiges  Verhältnis zu untersuchen. Dabei wird neben den Verheißungen in Ez  34,23f. und 37,20‐23*.24.25ff. auch der heilsprophetische Anhang in Ez  17,22‐24,  die  Ankündigung  des  Kommenden  in  Ez  21,30‐32  sowie  die  Gestalt des ‫נשׂיא‬ in Ez 40‐48 zu berücksichtigen sein.  

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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Ausgehend  von  diesem  Befund  können  dann  in  einem  zweiten  Schritt die Verheißungstexte der Prophetenbücher in den Blick genom‐ men  werden,  die  in  irgendeiner  Form  von  der  Erneuerung  des  (davi‐ dischen) Königtums sprechen. Hier ist zu überlegen, ob eine konzeptio‐ nelle  oder  literaturgeschichtliche  Systematisierung  möglich  erscheint,  die  aufzeigt,  in  welcher  Weise  die  Person  Davids  konstitutiv  für  die  Erwartungen  ist,  und  welche  literarische  Funktion  den  Verheißungen  in den jeweiligen Büchern zukommt. Vor diesem Hintergrund können  dann auch die davidischen Herrschererwartungen im Ezechielbuch be‐ urteilt  werden.  Bei  den  relevanten  Texten  handelt  es  sich  um  die  drei  sogenannten  „messianischen“  Weissagungen  aus  dem  Ersten  Jesaja‐ buch in Jes 7,14‐16; 9,1‐6, und Jes 11,1‐5, die um die Verheißung des ge‐ rechten Herrschers auf dem Thron in Jes 16,4b‐5 und die des gerechten  Königs in Jes 32,1‐5 zu ergänzen sind. Als „messianisch“ wird oft auch  die  Ankündigung  eines  neuen  Herrschers  aus  Bethlehem  in  Mi  5,1‐5  beurteilt,  während  in  den  relevanten  Texte  des  Jeremiabuches  (Jer  23,5f.;  30,21;  33,14‐26)  eher  eine  restaurative  Erwartung  zu  sehen  ist,  die sich auf die Erneuerung des davidischen Königtums richtet. In Be‐ zug auf Jer 23,5f. konnte in der einleitenden Untersuchung des Hirten‐ kapitels  bereits  gezeigt  werden,  dass  die  Verheißung  des  gerechten  Sprosses die Vorlage für das Davidwort in Ez 34,23f.* bildet. 415 An die‐ ser  Stelle  werden  auch  die  kurze  Notiz  in  Jer  30,8f.  und  die  parallele  Formulierung in Hos 3,5 mit in die Überlegungen einzubeziehen sein,  in  denen  in  gleicher  Weise  wie  im  Ezechielbuch  David  und  Jhwh  ne‐ beneinandergestellt  werden.  In  den  kleineren  Prophetenbüchern  sind  schließlich noch das auf die „Hütte Davids“ bezogene Heilswort in Am  9,11f.  sowie  die  auf  Serubbabel  bezogenen  Texte  im  Haggai‐  und  Sacharjabuch (Hag 2,20‐23; Sach 3,8; 4,6‐10; 6,9‐15 und 9,9f.) zu berück‐ sichtigen.   In dieser Auswahl finden sich eine Reihe von Texten, die üblicher‐ weise  als  messianische  Weissagungen  verstanden  werden.  Nach  wie  vor  sind  Vorstellung  und  Begrifflichkeit  des  „Messias“  als  eines  end‐ zeitlichen  Heilsherrschers  in  der  alttestamentlichen  Forschung  stark  umstritten,416  und  diese  Frage  wird  auch  im  Folgenden  nicht  geklärt  werden  können.  Als  Konsens  kann  aber  gelten,  dass  für  Titel  und  In‐                                415  Vgl. dazu o. Kap. II. 3.3.  416  Vgl.  dazu  insgesamt  G.  FOHRER,  Messiasfrage  und  Bibelverständnis,  SGV  213/214,  Tübingen 1957, zur Problemanzeige  siehe weiterhin  STRAUSS, Messias, 9‐16; WASCH‐ KE,  Wurzeln,  4‐9,  und  DERS.,  Frage,  157‐169.  Einen  Einblick  in  die  verschiedenen  Positionen zur alttestamentlichen Messiasvorstellung vermitteln die folgenden Sam‐ melbände: U. STRUPPE  (Hg.), Studien zum Messiasbild im Alten Testament, SBAB 6,  Stuttgart  1989,  sowie  I.  BALDERMANN  u.a.  (Hg.),  Der  Messias,  JBTh  8,  Neukirchen‐ Vluyn 1993. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

halt  der  Messiaserwartung  die  alttestamentliche  Königssalbung  und  die  Verheißung  einer  ewigen  (davidischen)  Dynastie  maßgebend  ge‐ worden  sind.417  So  wird  zwar  in  den  entsprechenden  Aussagen  des  corpus  propheticum  der  Titel  ‫משׁיח‬  nicht  genannt,418  es  lässt  sich  aber  zeigen,  dass  in  einigen  der  auf  das  davidische  Königtum  bezogenen  Verheißungen eine messianische Deutung angelegt ist. Wenn damit im  Folgenden  untersucht  wird,  inwieweit  die  Davidworte  des  Ezechiel‐ buches mit anderen auf die davidische Dynastie bezogenen Verheißun‐ gen verwandt sind, so kann zumindest in dieser Hinsicht ein Beitrag zu  der  Frage  nach  den  Wurzeln  der  Messiasvorstellung  im  Alten  Testa‐ ment geleistet werden.  Eine Einschränkung muss hinsichtlich der theokratischen Strömun‐ gen im Ezechielbuch getroffen werden. Wie die vorangehende Textana‐ lyse  gezeigt  hat,  ist  in  Ez  34  und  37  die  Vorstellung  vom  Königtum  Jhwhs  von  einiger  Bedeutung,  die  sich  über  das  Ezechielbuch  hinaus  v. a. in den Psalmen, aber auch im Deuterojesajabuch findet. Allerdings  gibt es hier keine Hinweise auf eine literarische Abhängigkeit, und da  es  sich  auch  inhaltlich  um  getrennte  Vorstellungskomplexe  handelt,  wird im Folgenden auf eine Gegenüberstellung der Texte verzichtet.  5.5.2. Die Herrschererwartungen im Ezechielbuch  Die  erste  Sondierung  hat  ergeben,  dass  für  eine  Untersuchung  der  Herrschererwartung  im  Ezechielbuch  neben  den  bereits  behandelten  Texten  Ez  34,23f.  und  37,20ff.  vor  allem  drei  Texte  im  ersten  Buchteil  sowie die Gestalt des ‫נשׂיא‬ in Ez 40‐48 zu berücksichtigen sind.  Bei  Ez  17,22‐24  handelt  es  sich  um  einen  nachträglichen  heilspro‐ phetischen  Anhang,  in  dem  die  Einpflanzung  eines  Zederntriebes  auf  dem  hohen  Berg  Israels  verheißen  wird.419  Mit  diesem  Wort  liegt  die  jüngste  Fortschreibung  der  Allegorie  in  Ez  17,1‐10  vor,  in  der  im  Bild  von  Adler,  Zeder  und  Weinstock  das  Geschick  der  letzten  beiden  Könige  Israels  thematisiert  wird.  Im  Bild  des  großen  Adlers,  der  zum  Libanon kommt und den Wipfel der Zeder (‫)את־צמרת הארז‬ nimmt (‫)לקח‬,  um  ihn  ins  Krämerland  zu  bringen  (17,3f.),  wird  die  Exilierung  Joja‐                                417  Vgl. WASCHKE, Art. Messias/Messianismus, 1144, und DERS., Wurzeln, 10f.  418  Siehe aber Jes 45,1, wo der Perserkönig Kyros als  ‫משׁיח‬ bezeichnet wird und als von  Gott berufener Heilsbringer für Israel und die Völker erscheint. Allerdings geht die  explizite  Nennung  des  Kyros  und  damit  seine  Titulatur  als  ‫משׁיח‬  auf  einen  sekun‐ dären Bearbeiter zurück (vgl. dazu KRATZ, Kyros, 19‐33).  419  Vgl.  HÖLSCHER,  Hesekiel,  102;  BERTHOLET,  HAT,  63;  COOKE,  ICC,  190f.;  FOHRER,  HAT,  97;  ZIMMERLI,  BK,  377;  ALLEN,  WBC  28,  255;  POHLMANN,  ATD,  254‐256.  An‐ ders  LANG,  Aufstand,  65,  der  hier  einen  echten  Ezechieltext  sieht,  und  BLOCK,  NICOT I, 549f., dem zufolge 17,22‐24 zum Grundbestand des Kapitels gehört. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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chins  durch  Nebukadnezar  nach  Babel  illustriert.  Die  in  V  5‐10  an‐ schließende  Rede  vom  Weinstock,  der  aufgrund  eigener  Vergehen  verdorren muss, stellt dagegen Zedekia und sein Geschick dar, das in  den  nachfolgenden  V  11‐18.19‐21  eine  theologische  Deutung  erfährt.  Im  Anschluss  an  diese  Ausführungen  kehrt  der  Nachtrag  in  17,22‐24  wieder zur Bildhälfte zurück und rekurriert auf die Motivik von 17,3f.  Ebenso  wie  der  Adler  einen  Zederntrieb  genommen  hat,  kündigt  nun  Jhwh  in  17,22  an,  dass  er  einen  Trieb  vom  hohen  Wipfel  der  Zeder   (‫)מצמרת הארז הרמה‬ nehmen wird (‫)לקח‬, um ihn auf einem hohen und auf‐ ragenden Berg (‫)על הר־גבה ותלול‬ einzupflanzen. In V 23 wird dieser Berg  näher als der hohe Berg Israels (‫)בהר מרום ישׂראל‬ bestimmt und der Erfolg  der  Einpflanzung  beschrieben:  Der  Trieb  wird  Zweige  treiben  und  zu  einer  majestätischen  Zeder  (‫)לארז אדיר‬  heranwachsen. Anhand  dieses  Wachstums  werden  die  anderen  Bäume  des  Feldes  das  Herrschafts‐ prinzip Jhwhs erkennen, der den hohen Baum erniedrigt und den nie‐ drigen Baum erhöht (V 24).  Die vorhergehende Allegorie, als deren Fortsetzung Ez 17,22‐24 zu  verstehen  ist,  gibt  die  Deutungsrichtung  für  die  Bildsymbolik  des  Heilswortes vor. Ebenso wie im Grundwort ist das Motiv der Libanon‐ zeder  (‫)ארז‬  als  Anspielung  auf  das  Königtum  zu  verstehen  (vgl.  Jer  22,6f.;  22,20‐23),420  nur  dass  Ez  17,22‐24  einen  späteren,  vermutlich  nachbabylonischen Standort einnimmt. Die Wiederaufnahme von ‫מצרת‬  ‫הארז‬ in 17,22 (vgl. 17,3) zeigt an, dass Jhwh für den Neuanfang auf die  nach  Babylon  versetzte  Linie  der  davidischen  Dynastie  zurückgreifen  wird.  Wie  von  Nebukadnezar,  so  wird  nun  von  Jhwh ausgesagt, dass  er einen neuen Anfang macht, indem er an die babylonische Linie an‐ knüpft  und  ihr  in  Jerusalem  erneut  zu  Größe  verhilft.  Das  Heilshan‐ deln Jhwhs erscheint so als Überbietung und Vollendung des Handelns  des  babylonischen  Königs  und  strahlt  auch  in  die  Völkerwelt  aus,  insofern  die  Völker  im  Bild  der  anderen  Bäume  des  Feldes  zur  Jhwh‐ Erkenntnis gelangen werden (17,24).  Mit  der  Übertragung  der  Motivik  auf  die  Sachhälfte  ist  aber  die  entscheidende  Frage  danach,  in  welcher  Art  sich  die  Anknüpfung  an  die  babylonische  Linie  vollziehen  wird,  noch  nicht  gelöst.  Vielmehr  gilt: „Der kleine Text 17,22‐24 zeichnet sich durch eine fast unbegrenzte  Interpretierbarkeit  aus,  so  offen  und wenig festgelegt ist er.“421 Beson‐ ders  die  ältere  Forschung  tendierte  dazu,  in  dem  aus  Babylon  nach  Jerusalem versetzten Trieb einen messianischen König zu sehen, wäh‐ rend  der  Text  in  den  jüngeren  Beiträgen  mehrheitlich  als  konkrete                                 420  Vgl. GREENBERG, AncB, 310, und POHLMANN, ATD, 240; zur Baumsymbolik in Ez 17  siehe insgesamt LANG, Aufstand, 38‐46.  421  LANG, Aufstand, 65. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Erwartung eines neuen davidischen Herrschers verstanden wird.422 Die  Trennung  zwischen  diesen  Alternativen  ist  fließend,  es  kann  aber  auf  jeden  Fall  festgehalten  werden,  dass  die  Geschichte  der  davidischen  Dynastie für den Autor von Ez 17,22‐24 mit Jojachin nicht an ein Ende  gekommen  ist.  Vielmehr  hat  das  davidische  Herrschertum  eine  Zu‐ kunft in Jerusalem, die allerdings allein vom Handeln Jhwhs abhängig  ist und deren genaue Einzelheiten im Dunkel bleiben.423 Diese Zukunft  ist  dabei  eng  mit  dem  Zion  verknüpft,  dem  „hohen  Berg  Israels“,  auf  dem  Jhwh  den  Zederntrieb  einpflanzen will. Dieses geschieht nicht in  einer  binnenisraelitischen  Perspektive,  sondern  das  Handeln  Jhwhs  vollzieht  sich  vor  der  Völkerwelt,  die  dadurch  Jhwh‐Erkenntnis  er‐ langt.424 Der zweite Text in Ez 21,30‐32 steht innerhalb eines Kapitels, das in  einer Folge von Texteinheiten in V 1‐5.6‐10.11f.13‐22.23‐32.33‐37 die ge‐ gen Jerusalem in Gang gesetzten Unheilsmächte ankündigt.425 In V 23‐ 32  erhält  der  Prophet  die  Anweisung  zu  einer  Zeichenhandlung,  die  das  Vorrücken  Nebukadnezars  gegen  Jerusalem  symbolisiert,  an  die  sich zwei Gerichtsworte anschließen. Das zweite Gerichtswort in V 30‐ 32 ist an den Fürsten in Jerusalem gerichtet, für den der Tag der Strafe  gekommen ist (V 30). Dabei kann es sich nur um Zedekia handeln, dem  Jhwh im Bild des Verlusts der königlichen Insignien Kopfbund (‫)מצנפת‬  und Krone (‫)עטרה‬ die Amtsenthebung ansagt (V 31a).426 Begründet wird                                 422  Zur  Deutung  auf  einen  messianischen  Zukunftsherrscher  vgl.  HÖLSCHER,  Hesekiel,  102;  GRESSMANN,  Messias,  255;  BERTHOLET,  HAT,  63;  FOHRER,  HAT,  97;  ZIMMERLI,  BK,  389;  EICHRODT,  ATD,  142,  und  LEVENSON,  Theology,  79.  Eine  Auslegung  auf  einen  neuen  (politischen)  Herrscher  vertreten  dagegen  BALTZER,  Ezechiel,  137;  SEYBOLD,  Königtum,  142‐145;  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  334;  und  POHLMANN,  ATD, 256, nach dem hier an die „Restitution des davidischen Königtums“ zu denken  ist.  Die  Versuche,  17,22‐24  als  Begründung  von  Jhwhs  eigenem  Herrschertum  (vgl.  HERRMANN,  Heilserwartungen,  277;  BECKER,  Messiaserwartung,  57)  oder  als  Über‐ tragung  der  Königsherrschaft  auf  das  Volk  (vgl.  VEIJOLA,  Verheißung,  166  Anm.  7)  zu interpretieren, müssen an der textlichen Bezogenheit von 17,22‐24 auf 17,3f. schei‐ tern.  423  So kann mit RUDNIG, Heilig, 160, davon gesprochen werden, dass sich Jhwh „für die  von  Jojachin  ausgehende  davidische  Linie  noch  eine  Option  für  die  Zukunft  offen  hält.“  424  Dies erinnert an die Völkerperspektive in Ez 38,1‐39,22 und 36,16‐23ba; 39,23‐29; vgl.  dazu o. Kap. III. 2.3. und III. 3.3.  425  Vgl.  dazu  ZIMMERLI,  BK,  460‐501;  POHLMANN,  ATD,  313‐326,  sowie  ausführlich  SCHÖPFLIN, Theologie, 21‐55.  426  ‫מצנפת‬  findet  sich  außer  in  Ez  21,31  nur  noch  in  priesterschriftlichen  Passagen  in  Ex  28,4.37bis.39;  29,6;  39,28.31  und  Lev  8,9bis;  16,4,  wo  es  für  die  Kopfbedeckung  des  Priesters steht, während ‫עטרה‬ sowohl die königliche Krone als auch in übertragener  Bedeutung  ein  auszeichnendes  Attribut  bezeichnen  kann  (vgl.  dazu  SCHÖPFLIN,  Theologie,  45f.).  Ähnlich  wie  in  Ez  21,31  symbolisiert  auch  in  Jer  13,18  der  Verlust  der Krone (‫)עטרה‬ den Verlust der Herrschaft. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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dieses  Gericht  mit  der  Umkehrung  der  gegenwärtigen  Verhältnisse,  durch die Jhwh das Niedrige erhöhen und das Hohe erniedrigen wird  (V 31b).427 V 32a fasst Jhwhs Gericht über Jerusalem in das dreifache ‫עוה‬  („Trümmer“),  während  V  32b  die  Begrenzung  eines  nicht  näher  be‐ stimmten Zustandes ankündigt (‫)זאת לא חיה‬, bis einer kommt, dem Jhwh  das Recht/den Rechtsentscheid gibt (‫)אשׁר־לו המשׁפט ונתתיו‬.  Es  fällt  auf,  dass  sich  das  feminine  Suffix  der  Verbform  ‫אשׂימנה‬  in  V 32a auf Jerusalem zurückbezieht, dessen Geschick zuletzt in V 23‐28  thematisiert worden ist. Der Verdacht liegt deshalb nahe, dass in V 30f.  mit dem Gerichtswort über den Fürsten Israels ein nachträglicher Ein‐ schub vorliegt, so dass mit einem ursprünglichen Anschluss von V 32  an V 23‐28(29) gerechnet werden kann.428 Eventuell ist V 32 auch in sich  noch literarisch mehrschichtig, aber diese Frage ist textintern kaum zu  entscheiden,  sondern  hängt  an  der  Deutung  der  kommenden  Herr‐ schergestalt  in V 32b. Entscheidend für die Beantwortung ist die Situ‐ ation,  auf  die  sich  das  ‫זות‬  bezieht  und  von  der  gesagt  wird,  dass  sie  nicht von Dauer ist. Liegt mit ‫זאת‬ ein Bezug auf die Zeit der Trümmer  vor,  die  durch  den  einen  beendet  wird,  dann  handelt  es  sich  um  ein  Heilswort,  das  von  einem  zukünftigen  Herrscher  spricht.  In  diesem  Fall  ist  es  wahrscheinlich,  dass  V  32b  gegenüber  V  32a  sekundär  ist  und  erst  nach  der  Einschreibung  von  V  30f.  angefügt  worden  ist,  um  den  kommenden  Herrscher  als  das  Gegenbild  zu  Zedekia  zu  zeich‐ nen.429 Weist  ‫זאת‬  aber  über  V  32  hinaus  auf  den Zustand der (noch) herr‐ schenden  Ordnung,  der  durch  die  bevorstehende  Einnahme  der  Stadt  beendet wird, dann ist die Ankündigung des Kommenden als Anspie‐ lung  auf  Nebukadnezar  zu  interpretieren,  der  als  Vollstrecker  des  göttlichen Gerichtes die Ordnung zerstören wird. Für letztere Deutung  könnte  der  Gebrauch  der  Wendung  ‫נתן משׁפט‬  in  Ez  23,24  sprechen,  wo  die  Formulierung  die  Bedeutung  „das  Gericht  an  jemanden  überge‐ ben“  hat  und  auf  Babel  und  die  Fremdvölker  als  Gerichtswerkzeuge  Jhwhs  bezogen  ist.  Eine  literarkritische  Differenzierung  innerhalb  von                                 427  In  der  Formulierung  dieses  göttlichen  Herrschaftsprinzips  mit  ‫שׁפל‬  und  ‫גבה‬  hat  Ez  21,31 eine Parallele in 17,24. Die Verse haben auch inhaltliche Berührungen, da die‐ ses Prinzip in beiden Fällen mit dem göttlichen Strafhandeln an Zedekia in Verbin‐ dung gebracht wird.  428  So auch Schöpflin, Theologie, 47f. (vgl. dazu auch Anm. 429), während ansonsten in  der  Sekundärliteratur  fast  ausnahmslos  die  literarische  Einheitlichkeit  von  V  30‐32  vertreten wird.  429  Siehe dazu SCHÖPFLIN, Theologie, 47f., die V 32a zur ursprünglichen Textfolge rech‐ net und in V 32b einen weiteren Nachtrag sieht, der „von einem (endzeitlichen?) von  Gott  besonders  ermächtigten  Herrscher“  spreche  und  sich  „in  die  Reihe  der  sogen.  ‘messianischen’ Texte“ einreihe. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

V  32  ist  in  diesem  Fall  nicht  zwingend  erforderlich.  M.  E.  spricht  die  sprachliche  Parallele  in  Ez  23,24  dafür,  den  kommenden  Herrscher  in  V 32b  mit  dem  König  von  Babel  zu  identifizieren,  der  von  Jhwh  mit  dem  Gerichtsbescheid  (‫)משׁפט‬  über  die  Stadt  ausgestattet  worden  ist,430  so  dass  ursprünglich  keine  Herrschererwartung  vorliegt.  Sekundär  könnte  allerdings  durch  die  Vorschaltung  des  Gerichtswortes  gegen  Zedekia  in  V  30f.  eine  Neulesung  des  nachfolgenden  V  32  intendiert  sein.  Die  Ankündigung  des  Kommenden  wird  auf  diese  Weise  mehr‐ deutig  und  kann  vor  der  dunklen  Folie  des  Frevelfürsten  auch  als  Hoffnung  auf  einen  „rechtmäßig“  von  Gott  ermächtigten  Herrscher  verstanden werden.  Damit  bleiben  nur  noch  die  ‫‐נשׂיא‬Texte  in  der  Vision  des  neuen  Tempels  Ez  40‐48.  In  diesen  Texten  ist  von  der  Gestalt  eines  ‫נשׂיא‬  („Fürst“)  die  Rede,  der  bestimmte  Aufgaben  im  Kult  zu  erfüllen  hat  und  dabei  gewissen  Vorrechten  und  Einschränkungen  unterliegt.  Es  erweist  sich  jedoch  als  äußerst  schwierig,  grundsätzliche  Aussagen  über  den  ‫ נשׂיא‬zu  treffen,  da  er  in  Ez  44,3  das  erste  Mal  unvermittelt  auftritt  und  weder seine  Identität  noch  seine  Funktion  im  Folgenden  grundlegend erklärt werden.  Bei  einem  Durchgang  durch  die  relevanten  Texte  fällt  zuerst  auf,  dass  es  Widersprüche  zwischen  den  Prärogativen  des Fürsten auf der  einen  Seite  und  deren  Einschränkungen  auf  der  anderen  Seite  gibt.431  So  umfassen  seine  Vorrechte  einen  exklusiven  Zugang  zum  Tempel  (44,3) und einen besonderen Anteil am Land (45,7.8a; 48,21f.). Ihm ge‐ bührt  außerdem  das  Recht  auf  Abgaben  des  Volkes  (45,16)  und  er  erscheint als der einzige Kultakteur, der die verschiedenen Opfer voll‐ zieht  (45,17,  vgl.  45,21‐25;  46,4‐7.12).  Demgegenüber  erfährt  die  freie  Verfügungsgewalt des Fürsten über seinen Landanteil in 46,16‐18 eine  nachträgliche  Einschränkung,  während  sein  exklusiver  Zugang  zum  Tempel in 46,1‐3.8‐10 durch ein System von Gang‐ und Torordnungen  zugunsten  der  Priesterschaft  eingeschränkt  wird.  In  gleicher  Weise  scheint  in  einigen  Texten  der  kultische  Vorrang  des  Fürsten  auf  den  Priester übergegangen zu sein (45,18‐20); so ist in 46,2 sogar davon die  Rede, dass allein die Priester die Opfer vollziehen, während der Fürst  an  den  Pfosten  der  Tore  stehen  bleiben  muss.  Schließlich  wird  in  45,8b.9  die  Gruppe  (pl.!)  der  Fürsten  (‫נְ ִשׂיאַי‬/‫)נְ ִשׂי ֵאי‬  angeredet,  die  von                                 430  Siehe  dazu  ausführlich  ZIMMERLI,  BK,  494f.;  vgl.  weiterhin  LANG,  Ezechiel,  119;  LEVENSON,  Theology,  76,  und  POHLMANN,  ATD,  321f.  Eine  heilsprophetische  Deu‐ tung  vertreten  u.a.  HÖLSCHER,  Hesekiel,  115;  BERTHOLET,  HAT,  79,  und  FOHRER,  HAT, 125f. LAATO, Josiah, 176, lässt die Entscheidung offen.  431  Vgl. zum Folgenden die ausführliche Darstellung bei RUDNIG, Heilig, 137‐141. Zum  ‫נשׂיא‬  in  Ez  40‐48  insgesamt  vgl.  RUDNIG,  a.a.O.,  137‐164,  und  ZIMMERLI,  BK,  1227‐ 1229. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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Jhwh ermahnt werden, das Volk nicht mehr zu unterdrücken und des‐ sen Grundbesitz zu respektieren.  Es  steht  außer  Frage,  dass  der  Wechsel  zwischen  Vorrechten  und  Einschränkungen  des  Fürsten  nicht  auf  eine  einzige  Hand  zurück‐ geführt  werden  kann,432  sondern  die  Widersprüche  einer  literarkriti‐ schen  Lösung  bedürfen.  So  hat  bereits  GESE  die  Vorrangstellung  des  ‫נשׂיא‬ zu einem literarkritischen Kriterium innerhalb des Verfassungsent‐ wurfes  gemacht433  und  RUDNIG  führt  diese  These  konsequent  weiter,  indem er zu dem Urteil kommt: „Bevor eine Option eingeschränkt wer‐ den  kann,  muß  sie  erst  einmal  behauptet  werden;  daher  rangieren  grundsätzlich  die  Texte,  die  die  Rolle  des  Fürsten  positiv  zeichnen,  chronologisch  wie  ideell  vor  den  Texten,  die  seine  Kompetenzen  ein‐ schränken.“434 Für die weitere Untersuchung kann deshalb davon aus‐ gegangen werden, dass der  ‫נשׂיא‬ in Ez 40‐48 literarisch ursprünglich als  positiv  besetztes  Oberhaupt  eingeführt  wird,  dem  wichtige  kultische  Pflichten  obliegen.  Eventuell  kann  die  an  den  Fürsten  vorgebrachte  Sozialkritik,  die  u.a.  ermahnt  werden,  das  Volk  nicht  mehr  zu  unter‐ drücken  und  Recht  und  Gerechtigkeit  (‫ומשׁפט וצדקה‬,  45,9)  zu  üben,  da‐ hingehend  gedeutet  werden,  dass  die  Aufgaben  des  Fürsten  auch  politische  Pflichten  umfassten.435  Allerdings  gehören  diese  Stücke  mit  großer Wahrscheinlichkeit zu der literarischen Überarbeitung der  ‫‐נשׂיא‬ Texte,  in  der  die  Rechte  und  Pflichten  des  Fürsten  eine  nachträgliche  Einschränkung  zugunsten  der  Priesterschaft  erfahren  haben.436  Die  Hauptaufgabe  der  ursprünglichen  ‫‐נשׂיא‬Gestalt  liegt  damit  allein  im  kultischen  Bereich.  Die  Frage,  ob  sich  mit  dieser  Figur  die  Hoffnung  auf  einen  zukünftigen  (messianischen)  Herrscher  verbindet  oder  ob  hier  ein  Bezug  auf  eine  reale  Person  der  exilisch‐nachexilischen  Ge‐ schichte  vorliegt,437  kann  erst  nach  einem  Überblick  über  die  sonstige                                 432  So  gegen  EBACH,  Kritik,  194‐206,  der  die  These  eines  planvollen  Ineinanders  von  Vorrechten und Einschränkungen vertritt.   433  Vgl.  GESE,  Verfassungsentwurf,  85‐87.110f.,  der  von  einer  „nasi‐Schicht“  im  Verfas‐ sungsentwurf ausgeht, die die folgenden Texte umfasst habe: Ez 44,1‐3; 45,21a.22ff.;  46,10‐12.  Im  Anschluss  an  diesen  und  mit  kleineren  Modifikationen  vgl.  ZIMMERLI,  BK, 1244‐1249.  434  RUDNIG,  Heilig,  138.  Als  ursprüngliche  ‫‐נשׂיא‬Texte  bestimmt  er  Ez  45,17a.21a.22‐25;  46,6‐7.  Gegen  GESE,  Verfassungsentwurf,  110,  sieht  er  in  diesen  Texten  allerdings  keine eigene Textschicht innerhalb von Ez 40‐48, sondern er rechnet sie seiner gola‐ orientierten Redaktionsschicht im Ezechielbuch zu (vgl. RUDNIG, a.a.O., 151).  435  So RUDNIG, Heilig, 161; vgl. auch SEYBOLD, Königtum, 149.  436  Vgl. LAATO, Josiah, 194‐196; RUDNIG, Heilig, 163f.356‐361.  437  Die  These  einer  Herrschererwartung  vertreten  ZIMMERLI,  BK,  1228f.;  BALTZER,  Eze‐ chiel,  141;  LAATO,  Josiah,  193;  POMYKALA,  Dynasty,  31,  und  RUDNIG,  Heilig,  161.  LEVENSON, Theology, 57ff.75, fasst die Erwartung prägnant in dem Begriff „a‐politi‐ cal  messias“  zusammen.  Eine  Deutung  auf  eine  reale  Gestalt  vertreten  dagegen 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Verwendung  des  Titels  im  Alten  Testament  und  im  Ezechielbuch  ge‐ klärt werden.  Im Alten Testament ist ‫נשׂיא‬ in der Grundbedeutung „Fürst, Erhabe‐ ner“438  vor  allem  in  priesterschriftlichen  Texten  belegt,  in  denen  der  Begriff  die  Stammesführer  oder  Vorsteher  einer  Sippe  bezeichnet,  die  allerdings  jeweils  der  Autorität  von  Mose  und  Aaron  unterstellt  sind  (vgl. Ex 16,22; 34,31; Num 1,16). Dies spricht dafür, dass das Amt des  Fürsten  in  erster  Linie  ein  politisches  Amt  ist,  das  auch  militärische  (vgl. Num 10,4) und richterliche Pflichten (vgl. Jos 22,14.30.32) umfasst.  Von  einer  kultischen  Aufgabe  der  Fürsten  ist  dagegen  an  nur  zwei  Stellen  im  Alten  Testament  die  Rede,  an  denen  die  Fürsten  die  Steine  für das Ephod bereitstellen (Ex 35,27) und ihre Opfergaben zum Altar  des  Sinaiheiligtums  bringen  (Num  7).  An  wenigen  Stellen  im  Alten  Testament bezeichnet  ‫נשׂיא‬ das politische Oberhaupt eines Fremdvolkes  (Gen  34,2;  Jos  13,21)  und  nur  an  einer  Stelle  außerhalb  des  Ezechiel‐ buches  wird  der  Begriff  in  1  Kön  11,34  für  den  israelitischen  König  verwendet.  Dies  geschieht  allerdings  innerhalb  eines  späten  Nachtra‐ ges,  der  wahrscheinlich  die  Verheißungen  des  davidischen  Fürsten  in  Ez 34 und 37 bereits voraussetzt.439 Das  Ezechielbuch  ist  nach  der  priesterschriftlichen  Literatur  der  Textkomplex  mit  den  häufigsten  Belegen  von  ‫נשׂיא‬.  Dem  Fürsten  des  Verfassungsentwurfes  stehen  in  Ez  1‐39  achtzehn  Belege  gegenüber,  die  sich  auf  den  jüdäischen  König  (7,27;  12,10.12;  19,1;  21,17.30;  22,6.25440), das Oberhaupt eines Fremdvolkes (26,16; 27,21; 30,13; 32,29;  38,2.3;  39,1.18)  und  den  davidischen  Zukunftsherrscher  (34,24;  37,25)  verteilen. Aus dem Überblick wird bereits deutlich, dass der Gebrauch  von  ‫נשׂיא‬  für  den  König  eine  gewisse  Nähe  zur  priesterschriftlichen  Konzeption  aufweist,  da  hier  das  Oberhaupt  einer  politischen  Einheit                                 HÖLSCHER, Hesekiel, 212 („das weltliche Oberhaupt der jerusalemischen Judenschaft  neben  dem  Hohenpriester“);  HERNTRICH,  Ezechielprobleme,  162  („weltliches  Ober‐ haupt  neben  dem  Geistlichen“);  GESE,  Verfassungsentwurf,  116f.,  und  TUELL,  Law,  115 („the governor of Persian‐period Yehud“). PROKSCH unterscheidet zwischen dem  Idealbild  des  Fürsten,  das  er  dem  Propheten  zuschreibt  (vgl.  PROKSCH,  Fürst,  119)  und  der  konkreten  geschichtlichen  Gestalt  („Haupt  eines  Fürstengeschlechts“)  in  späteren Nachträgen des Verfassungsentwurfes (PROKSCH, a.a.O., 120.). Zur Diskus‐ sion um die Anspielung auf eine konkrete Gestalt vgl. RUDNIG, Heilig, 161f.  438   STOLZ, Art. ‫נשׂא‬, 115. Vgl. auch NIEHR, Art.  ‫ נָ ִשׂיא‬, 648, der allerdings nur die Grund‐ bedeutung „Erhabener“ anführt. LANG, Aufstand, 179, nimmt außerhalb des Ezechi‐ elbuches  die  Bedeutung  „der  Notable“  an.  Zu  Etymologie  und  Gebrauch  von  ‫נשׂיא‬  vgl. insgesamt SPEISER, Background, 111‐117.  439  Vgl. NOTH, BK, 261, und im Anschluss an diesen WÜRTHWEIN, ATD, 140 Anm. 4. Zur  Intention überlegt NOTH, a.a.O.: „Ein Späterer hätte mit dieser Randbemerkung das  nicht völlige Beseitigen (daher die Einfügung des  ‫כל־‬ in 34a) des davidischen König‐ tums begründen wollen mit einem Hinweis auf einen künftigen davidischen ‫נשׂיא‬.“  440  In Ez 22,25 ist der MT nach LXX in ‫אשׁר נשׂיאיה‬ zu korrigieren; vgl. ZIMMERLI, BK, 521. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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mit dem Titel bezeichnet wird. Die Verwendung von ‫נשׂיא‬ im Gegensatz  zu ‫מלך‬ deutet dabei auf die Intention hin, die politische Dimension des  Amtes  von  vornherein  einzuschränken;  es  handelt  sich  bei  dem  ‫נשׂיא‬  um einen „Herrscher niederen Ranges“.441 Demgegenüber ist die Kon‐ zeption  des  ‫נשׂיא‬  in  Ez  40‐48  ohne  Parallele  im  Alten  Testament.  Zwar  kennen Ex 35,27 und Num 7 eine kultische Funktion der Fürsten, aber  es  handelt  sich  dabei  um  eine  rein  „zutragende“  Tätigkeit,  die  in  keinster  Weise  mit  den  kultischen  Aufgaben  des  einen  Fürsten  in  der  Vision  des  neuen  Tempels  vergleichbar  ist.  Die Frage, ob die priester‐ schriftliche Vorstellung und die ezechielische Konzeption voneinander  abhängen,  ist  schwer  zu  entscheiden.442  Es  erscheint  zumindest  wahr‐ scheinlich, dass sie mit der Bezeichnung  ‫נשׂיא‬ für eine Führergestalt auf  eine  Tradition  zurückgreifen,  die  sie  jeweils  in  ihrem  Sinne  konzep‐ tionell ausformen.  Innerhalb des Ezechielbuches ist dagegen zwingend mit einer lite‐ rarischen  Abhängigkeit  der  unterschiedlichen  ‫‐נשׂיא‬Konzeptionen  in  Kap.  1‐39  und  40‐48  zu  rechnen.  Dafür  spricht  nicht  nur  die  Verwen‐ dung  derselben  Amtsbezeichnung,  sondern  auch  die  inhaltliche Bezo‐ genheit:  Der  kultische  Fürst  in  Ez  40‐48  tritt  in  der  Heilszeit  als  po‐ sitives  Gegenbild  an  die  Stelle  des  judäischen  Königs,  allerdings  mit  dem  Unterschied,  dass  er  einzig  als  kultisches  Oberhaupt  auftritt und  so gut wie keine politische Funktion am Volk ausübt.443 Eine politische  Dimension  bekommt  das  Amt  des  ‫נשׂיא‬  in  Ez  40‐48  einzig  durch  die  Verwendung  des  Titels,  der  im  ersten  Buchteil  für  den  judäischen  König  gebraucht  ist.  Erst  in  den  Überarbeitungen  der  ursprünglichen  ‫‐נשׂיא‬Konzeption  lässt  die  Kritik  am  Fürsten  auch  textintern  die  im  Alten  Testament  üblichen  Königsaufgaben  durchscheinen.  Während  die  Bezeichnung  des  judäischen  Königs  in  Ez  1‐39  auch  ohne  den  ur‐ sprünglichen  ‫נשׂיא‬ in Ez 40‐48 denkbar ist, basiert diese Konzeption auf  dem  Gebrauch  des  Titels  im  ersten  Buchteil,  so  dass  beide  Vorstel‐ lungen entweder auf eine Hand zurückzuführen sind oder dem judäi‐ schen König als  ‫נשׂיא‬ die literarische Priorität einzuräumen ist. Der  ‫נשׂיא‬                                 441  EBACH, Utopie, 48.  442  Vgl. zur Diskussion NIEHR, Art.  ‫נָ ִשׂיא‬, 651. Während NOTH, System, 156f., unter An‐ nahme,  der  Fürst  sei  Sprecher  des  amphiktyonischen  Heiligtum  gewesen,  von  der  Priorität  der  priesterschriftlichen  Konzeption  ausgeht  (vgl.  ebenso  PROKSCH,  Fürst,  116), sieht ROST, Vorstufen, 74f., die Priorität im Ezechielbuch.  443  In  der  Betonung  der  kultischen  Funktion  des  ursprünglichen  ‫נשׂיא‬  vgl.  PROKSCH,  Fürst, 116f.; GESE, Verfassungsentwurf, 85. RUDNIG, Heilig, 161, erklärt diese Zurück‐ haltung in der Beschreibung politischer Funktionen zu Recht mit einem historischen  Ort, an dem der politische status quo Judas noch unklar sei. Die kultischen Aussagen  seien  unverfänglich  und  betonten  klar  die  Führungsstellung  des  ‫נשׂיא‬  (vgl.  RUDNIG,  a.a.O., 161).  

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

in  Ez  40‐48  erweist  sich  damit  in  erster  Linie  als  eine  literarische  Ge‐ stalt,  die  die  Unheilsansagen  an  den  judäischen  König  (vgl.  z. B.  Ez  7,27; 12.10.12; 19,1 u.ö.) in die Zukunft projiziert und heilvoll auf die Fi‐ gur eines kultischen Oberhauptes wendet. An die Stelle des Versagens  der  vorexilischen  Könige  in  politischer  Hinsicht  tritt  im  Verfassungs‐ entwurf  eine  Konzentration  des  Amtes  auf  die  kultische  Führung  des  Volkes.  Ein  Bezug  auf  eine  konkrete  historische  Figur  scheint  damit  eher unwahrscheinlich, auch wenn sich hinter der Figur des ‫נשׂיא‬ durch‐ aus realistische Hoffnungen verbergen könnten, die sich mit einer Füh‐ rungsperson der nachexilischen Zeit verbunden haben.  Es  ist  nun  nach  dem  literarischen  Verhältnis  der  Texte  über  den  davidischen ‫נשׂיא‬ in Ez 34,24 und 37,25 mit den Stücken über den ‫נשׂיא‬ in  Ez 40‐48 zu fragen. Zwar artikuliert sich in beiden Fällen die Hoffnung  auf  einen  zukünftigen  Herrscher,  aber  darüber  hinaus  gibt  es  kaum  Berührungen zwischen den Konzeptionen.444 So hat die kultische Funk‐ tion  des  ‫נשׂיא‬  im  Verfassungsentwurf  keine  Entsprechung  in  den  Verheißungen  Ez  34,23f.  und  Ez  37,24.25ff.,  während  umgekehrt  die  Erwartungen  des  neuen  David,  der  das  Volk  weiden  und  über  es  herrschen  wird,  keine  expliziten  Korrespondenzen  in  der  „Amtsbe‐ schreibung“  des  Fürsten  in  Ez  40‐48  haben.  Weiterhin  gibt  es  keine  Indizien dafür, dass es sich in der Tempelvision um einen davidischen  Herrscher  handelt,  sondern  dies  wäre  nur  aus  der  literarischen  Bezo‐ genheit des Fürsten in Ez 40‐48 auf den judäischen König in Ez 1‐39 zu  schließen.445  In  dieser  Hinsicht  ist  aber  auch  denkbar,  dass  die  ur‐ sprüngliche Konzeption des  ‫נשׂיא‬ in Ez 40‐48 den Gegensatz zu Ez 1‐39  so  weit  führt,  dass  die  davidische  Abkommenschaft  des  zukünftigen  Herrschers nicht mehr intendiert ist.   Anders sähe die Sache dagegen aus, wenn die ‫‐נשׂיא‬Erwartung in Ez  40‐48 bereits die Verheißungen des zukünftigen davidischen  ‫נשׂיא‬ in Ez                                 444  In  der  griechischsprachigen  Textbezeugung  wird  der  Unterschied  zwischen  dem  davidischen  ‫נשׂיא‬  in  Ez  34  und  37  sowie  dem  ‫נשׂיא‬  in  Ez  40‐48  auch  dadurch  betont,  dass  in  Ez  40‐48  die  Übersetzung  (avf)hgou,menoj  und  nicht  a;rcwn  verwendet  wird.  Unabhängig  davon,  ob  hier  mit  mehreren  Übersetzern  oder  nachträglichen  Über‐ arbeitungen  gerechnet  wird,  zeigt  die  unterschiedliche  Terminologie  an,  dass  die  Herrscherkonzeption  in  Ez  40‐48  inhaltlich  als  eine  andere  als  in  Ez  34  und  37  begriffen worden ist (vgl. dazu SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 307f.).  445  Vgl.  POMYKALA,  Dynasty,  31,  der  betont,  dass  nur  die  Verbindung  mit  den  David‐ verheißungen in Ez 34,23f. und 37,24‐25 eine davidische Abstammung des  ‫נשׂיא‬ in Ez  40‐48  nahe  legt.  Anders  GESE,  Verfassungsentwurf,  118,  der  darauf  hinweist,  dass  das  Amt  erblich  sei  und  daraus  folgert:  „An  welches  andere  Geschlecht  aber  kann  man dabei denken als an das davidische?“ Die Identifikation des ‫נשׂיא‬ in Ez 40‐48 mit  einem Davididen vertreten weiterhin PROKSCH, Fürst, 116, und RUDNIG, Heilig, 157:  „Der  ‫נשׂיא‬  ist  von  Hause  aus  der  judäische  König,  wie  die  Durchsicht  des  Titelge‐ brauchs im Ezechielbuch gezeigt hat, d.h. er ist Davidide!“ 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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34,24 und 37,25ff. voraussetzt, die damit eine Deutungsperspektive für  den  Verfassungsentwurf  vorgeben.  Zuerst  kann  ausgeschlossen  wer‐ den,  dass  die  Texte  auf  eine  Hand  bzw.  dieselbe  Redaktion  zurück‐ gehen.  Zwar  zeigt  die  den  Texten  gemeinsame  Titulatur  an,  dass  die  Personen und ihre Aufgaben aufeinander bezogen sind, aber die Amts‐ funktionen  des  ‫נשׂיא‬  in  Ez  34  und  37  weichen  grundlegend  von  den  Bestimmungen  über  den  ‫נשׂיא‬  in  Ez  40‐48  ab,  so  dass  hier  mit  einer  sekundären  Nachinterpretation  der  einen  Herrschererwartung  durch  die andere zu rechnen ist.446 In  der  Frage  der  literarischen  Priorität  spricht  zuerst  der  äußere  Befund dafür, dass dem  ‫נשׂיא‬ in Ez 40‐48 der Vorrang zu geben ist, da  die Davidverheißungen in Ez 34,23f. und 37,24.25ff. relativ junge Fort‐ schreibungen  in  den  beiden  Kapiteln  darstellen.  Darüber  hinaus  ver‐ dankt sich die konkrete Titulatur Davids als  ‫נשׂיא‬ in beiden Fällen einer  nachträglichen  Erweiterung  der  ursprünglichen  Davidverheißungen  (vgl.  Ez  34,24ab;  37,25),447  so  dass  für  diese  ein  noch  späterer  Abfas‐ sungszeitpunkt anzunehmen ist. In Bezug auf die ältesten Stücke über  den  ‫נשׂיא‬  in  Ez  40‐48  existiert  dagegen  der  Konsens,  dass  diese  Texte  unter  der  Prämisse  eines  literarischen  Wachstums  in  Ez  40‐48  zu  den  älteren  Passagen  der  Tempelvision  gehören.  Die  Vermutung,  dass  die  Herrschererwartung  in  Ez  40‐48*  literarisch  vorgängig  gegenüber  den  Davidverheißungen  in  Ez  34  und  37  ist,  lässt  sich  auch  durch  den  inneren  Befund  weiter  erhärten:  Ez  37,25‐28  enthält  mit  dem  Rekurs  auf das Heiligtum und auf das Land eine Reihe von Vorverweisen auf  Texte  des  Verfassungsentwurfes,  so  dass  es  wahrscheinlich  erscheint,  dass sich der Text auch mit der Nennung des  ‫נשׂיא‬ literarisch auf Ez 40‐ 48 zurückbezieht. Von daher hat die Titulatur ‫נשׂיא‬ dann sekundär auch  Eingang  in  die  Davidverheißung  im  Hirtenkapitel  gefunden  (Ez  34,24ab). Umgekehrt wäre kaum erklärbar, warum die Stücke des Ver‐                                446  Die  grundsätzliche  Verschiedenheit  der  Konzeptionen  heben  auch  ZIMMERLI,  BK,  1227f.,  und  TUELL,  Law,  108,  hervor.  Soweit  hier  gesehen  wird,  überwiegt  in  der  exegetischen  Forschung  aber  die  Betonung  der  Gemeinsamkeiten  zwischen  der  davidischen Gestalt in Ez 34 und 37 und dem ‫נשׂיא‬ in Ez 40‐48; vgl. BALTZER, Ezechiel,  141;  LEVENSON,  Theology,  75;  LAATO,  Star,  172  (siehe  auch  DERS.,  Josiah,  193),  und  BECKER,  Messiaserwartung,  58.  Dies  hängt  vor  allem  damit  zusammen, dass keiner  der  genannten  Exegeten  eine  redaktionsgeschichtliche  Zuordnung  der  verschiede‐ nen  Herrschererwartungen  unternimmt,  so  dass  der  ‫נשׂיא‬  in  Ez  40‐48  im  Lichte  der  Daviderwartung von Ez 34,23f. und Ez 37,24.25ff. gelesen wird. Die einzige Ausnah‐ me stellt RUDNIG, Heilig, 160‐162, dar, der allerdings redaktionskritisch von der Prä‐ misse  ausgeht,  dass  die  „golaorientierte“  Davidverheißung  in  Ez  37,25‐28  als  Fort‐ setzung von Ez 37,1‐14 eine notwendige Fortführung in den ‫‐נשׂיא‬Texten von Ez 40‐48  haben  müsse  (vgl.  RUDNIG,  a.a.O.,  65‐71.136).  Diese  Voraussetzung  einer  durchge‐ henden golaorientierten Redaktionsschicht wird hier nicht geteilt.  447  Vgl. die jeweiligen Textanalysen sowie zum intertextuellen Verhältnis o. Kap. III. 5.3. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

fassungsentwurfes  zwar  den  ‫‐נשׂיא‬Titel  aus  Ez  37  aufnehmen  sollten,  nicht aber den Davidbezug.448 Dazu machte die völlige Zurückhaltung  in  der  Beschreibung  der  politischen  Dimension  des  ‫‐נשׂיא‬Amtes  in  Ez  40‐48* nach einer literarischen Vorgängigkeit der Verheißung des davi‐ dischen Fürsten in Ez 34 und 37 nur wenig Sinn.   Damit ist noch nach der Einordnung von Ez 17,22‐24 im Vergleich  mit  den  ‫‐נשׂיא‬Texten  zu  fragen.  Der  Text  hat  weniger  eine  zukünftige  Herrschergestalt  als  die  Kontinuität  des  davidischen  Königtums  im  Blick.  Diese  Kontinuität  wird  über  die  babylonische  Seitenlinie  der  Dynastie ausgesagt, wobei der Text aber insgesamt unspezifisch bleibt,  so  dass  die  literarische  und  historische  Einordnung  erschwert  wird.  Durch  die  bildhafte  Einbeziehung  des  davidischen  Königtums  zeigt  das Stück eine gewisse Nähe zu den Davidtexten in Ez 34 und 37, wäh‐ rend  die  Situierung  der  neuen  Zukunft  auf  dem  hohen  und  aufra‐ genden Berg (‫הר־גבה ותלול‬, 17,22) bzw. dem hohen Berg Israels (‫בהר מרום‬  ‫ישׂראל‬,  17,23)  an  die  Lage  des  neuen  Heiligtums  erinnert,  das  Ezechiel  auf einem sehr hohen Berg (‫הר גבה מאד‬, 40,2)449 schaut. Es ist deshalb zu  erwägen,  ob  die  Verbindung  der  davidischen  Abstammung  mit  der  Lokalisation der Heilszeit auf dem Gottesberg in Ez 17,22‐24 als späte  Fortschreibung  im  Buch  angesehen  werden  kann,  die  im  Bildmaterial  von  Kap.  17  einen  Ausgleich  der  Herrschererwartungen im Buch vor‐ nimmt.  Über  die  Herrschererwartung  im  Ezechielbuch  können  damit  die  folgenden Aussagen getroffen werden. Auf der einen Seite stehen eine  Reihe  von  Texten,  die  vom  Königtum  Jhwhs  sprechen.  Zu  diesen  ge‐ hören die Verheißung des göttlichen Hirten in Ez 34,11‐15*, die Ankün‐ digung des einen Königs in Ez 37,20‐23* und die kurze Notiz über die  Königsherrschaft Jhwhs in Ez 20,33. Neben dieser theokratischen Strö‐ mung  finden  sich  im  Buch  aber  auch  unterschiedliche  Ausprägungen  der  Hoffnung  auf  einen  neuen  (menschlichen)  Herrscher.  Die  älteste  Konzeption liegt in den positiven Textstücken über den ‫נשׂיא‬ in Ez 40‐48  vor,  in  denen  für  die  Zeit  der  Wiedererrichtung  des  Heiligtums  ein                                 448  So  gegen  RUDNIG,  Heilig,  160‐162.347,  der  argumentiert,  dass  die  ‫‐נשׂיא‬Texte  in  der  Grundschicht von Ez 40‐48 als „Konkretisierungen“ der Verheißungen in Ez 17 und  37 zu verstehen seien. Vgl. in dieser Verhältnisbestimmung der Texte ebenso LEVEN‐ SON, Theology, 75; JOYCE, King, 332. BALTZER, Ezechiel, 141, geht davon aus, dass die  messianischen  Weissagungen  aus  Ez  34  und  37  in  den  jüngeren  literarischen  ‫‐נשׂיא‬ Texten aus Ez 40‐48 inhaltlich gefüllt werden, während SEYBOLD, Königtum, 146, die  literarische  Priorität  des  ‫נשׂיא‬  in  der  Tempelvision  vertritt,  der  in  den  späteren  Stücken Ez 34 und 37 mit dem neuen David identifiziert werde.  449  Vgl. sonst nur noch die Lokalisation des Jhwh‐gefälligen Gottesdienstes in Ez 20,40  auf  dem  hohen  Berg  Israels  (‫;)בהר מרום ישׂראל‬  siehe  zu  den  Bergen  im  Ezechielbuch  auch u. Kap. III. 7.4.4. 

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Oberhaupt  erwartet  wird,  dessen  Amtsfunktionen  sich  in  erster  Linie  auf  Ausrichtung  und  Vollzug  des  Kultes  beschränken.  Diese  Herr‐ schererwartung  stellt  ein  literarisches  Gegenbild  zu  dem  als  ‫נשׂיא‬  be‐ zeichneten judäischen König in Ez 1‐39 dar, dessen frevlerischem und  politisch  törichtem  Verhalten  die  positiv  besetzte  Funktion  des  Kult‐ fürsten entgegen gesetzt wird.   Auf  einer  späteren  Wachstumsstufe  wird  die  Daviderwartung  in  Ez 34,23f.* in das Buch aufgenommen, die sich von der Verheißung des  davidischen  Sprosses  in  Jer  23,5f.  her  speist,  und  in  Ez  37,24  rezipiert  wird.  Auf  dieser  literarischen Ebene ist noch kein Bezug zu der Herr‐ scherkonzeption  des  Verfassungsentwurfes  festzustellen,  sondern  un‐ abhängig  davon  wird  in  Ez  34,23f.*  und  37,24  ein  davidischer  Regent  verheißen,  der  innerhalb  des  Bundesverhältnisses  eine  herrschende  Funktion  am  Volk  ausübt.  Erst  die  nachträgliche  Einfügung  der  ‫‐נשׂיא‬ Titulatur  in  Ez  34,24ab  und  37,25  stellt  die  Identifikation  des  davidi‐ schen  Zukunftsherrschers  mit  dem  kultischen  Oberhaupt  des  Verfas‐ sungsentwurfes  her.  Durch  diese  redaktionelle  Nachinterpretation  er‐ fährt  die  ‫‐נשׂיא‬Gestalt  aus  Ez  40‐48  eine  davidische  Überhöhung  und  stellt im Buchablauf eine Konkretisierung der beiden vorausgehenden  davidischen  Herrschaftsverheißungen  dar.  In  ähnlicher  Weise  könnte  Ez 17,22‐24 als nachträgliche Systematisierung der vorliegenden Herr‐ schererwartungen  in  Ez  34  und  37  mit  40‐48  verstanden  werden.  In  diesem Text verbindet sich die Kontinuität des davidischen Herrscher‐ tums mit dem Kult auf dem hohen Gottesberg.   5.5.3. Die Erneuerung des Königtums in den anderen  Prophetenbüchern  5.5.3.1. Weissagungen im Ersten Jesajabuch  Im  Buchablauf  des  Protojesajabuches  findet  sich  die  erste  „messiani‐ sche“ Weissagung in Jes 7,14‐16; da diese aber enge Verbindungen mit  der  Verheißung  eines  zukünftigen  Herrschers  in  Jes  9,1‐6450  aufweist,  bietet es sich an, den Einstieg bei Jes 9,1‐6 zu wählen. Der Text steht am  Ende  der  Jesaja‐Denkschrift  in  Jes  6‐8*  und  verkündet  im  ersten  Teil  V 1‐4  dem  im  Dunkel  lebenden  Volk  ein  großes  Licht  (V  1),  dessen  Kommen das Ende von Krieg und Unterdrückung mit sich bringt (V 4).  Durch  das  einleitende  ‫כי‬  am  Beginn  des  zweiten  Teils  V  5f.  wird  das  Licht  mit  der  Geburt  eines  Kindes  (‫)ילד ילד‬  gleichgesetzt,  das  einer                                 450  BARTH, Jesaja‐Worte, 142f., geht von der Abgrenzung 8,23b‐9,6 aus (vgl. schon ALT,  Jesaja, 29ff.). Zu den wichtigsten Argumenten gegen diese Abgrenzung vgl. WERNER,  Texte, 21f., und KAISER, ATD 17, 197f. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Gruppe 1. Pers. pl. (‫)לנו‬ geboren bzw. gegeben worden ist (‫נתן‬ ni., V 5).  Dem Kind wird eine große Herrschaft auf dem Davidthron (‫)על־כסא דוד‬  und ewige Regentschaft über dessen Königreich vorausgesagt (V 6).451 Trotz  der  Position  am  Ende  der  Denkschrift  knüpft  Jes  9,1‐6  nur  lose  an  die  dort  verhandelten  Themen  an,  so  dass  eine  redaktionsge‐ schichtliche  Einordnung  schwer  fällt.452  Die  relative  literarische Eigen‐ ständigkeit des Stückes und seine Stellung sprechen aber dafür, diesen  Text einer Redaktion zuzuschreiben, die ihn bewusst für den Abschluss  der Denkschrift verfasst hat. Der redaktionelle Charakter von Jes 9,1‐6  zeigt  sich  auch  an  den  zahlreichen  Querverbindungen  zu  anderen  Texten im näheren und weiteren Umfeld, durch die er sich im Rahmen  von Jes 6‐8* „als ein spätes schriftgelehrtes Produkt“453 erweist.   Wird  die  These  vorausgesetzt,  dass  die  Jesaja‐Denkschrift  spätes‐ tens mit der Einschaltung von Jes 7* die Gründe für den Thronverlust  der  Davididen  thematisiert  und  das  Kapitel  damit  frühestens  exilisch  zu  datieren  ist,454  kann  die  redaktionelle  Anfügung  von  Jes  9,1‐6  aus  der Intention erklärt werden, mit der Ankündigung eines zukünftigen  Regenten  einen heilsprophetischen Kontrapunkt zu setzen.455 Die dem  Kind verliehenen Thronnamen (‫פלא יועץ‬, ‫אל גבור‬, ‫אביעד‬,  ‫שׂר־שׁלום‬, V 5) und  die  mit  seiner  ewigen  Regentschaft  verbundenen  Attribute  ‫שׁלום‬,  ‫משׁפט‬  und ‫צדקה‬ zeigen, dass es sich um ein königliches Kind handelt. Dieses  wird  seine  Königsherrschaft  in  geradezu  idealtypischer  Weise  errich‐                                451  Aufgrund  der  Gliederung  in  zwei  Teile  hat  BECKER,  Messias,  245f.,  vorgeschlagen,  einen Grundbestand in V 1‐3(4) anzunehmen, der sekundär durch V 5f. ergänzt wor‐ den sei. Für die Frage nach der Herrschererwartung in Jes 9,1‐6 ist es nicht entschei‐ dend,  ob  V  5f.  ursprünglich  oder  sekundär  mit  V  1‐4  zusammen  gehören,  so  dass  hier auf eine Diskussion von BECKERS These verzichtet werden kann.  452  Zustimmung hat die These von BARTH, Jesaja‐Worte, 41‐176.250‐260, gefunden, wo‐ nach  Jes  8,23b‐9,6  ein  Textprodukt  der  Assur‐Redaktion  sei,  die  Heilsperspektiven  aus  der  Jesaja‐Überlieferung  in  der  Josiazeit  als  erfüllt  ansehe  (vgl.  auch  STRAUSS,  Messias,  33‐39;  SCHMID,  Herrschererwartungen,  67).  Gegen  diese  Einordnung  hat  WERNER,  Texte,  45f.,  Einspruch  erhoben  und  geht  von  einer  nachexilischen  Datie‐ rung aus; vgl. zur nachexilischen Datierung ebenso BECKER, Jesaja, 216f., und  DERS.,  Messias, 242f.  453  BECKER, Jesaja, 216f. Zu den Bezügen vgl. WERNER, Texte, 20‐46, der die These ver‐ tritt, dass es sich „bei Jes 9,1‐6 um eine neuinterpretierende Übernahme der deutero‐ nomistisch  gestalteten  Natansweissagung“  2  Sam  7,8‐17  handele  (WERNER,  a.a.O.,  42).  WASCHKE,  Stellung,  144‐147.155,  weist  dagegen  auf  die  Berührungen  mit  Ps  2  hin.  454  Vgl. dazu BECKER, Jesaja, 59f. Ebenso kommt WERLITZ, Immanuel, 257, zu dem Ur‐ teil, dass Jes 7,1‐17* als „paradigmatische Erklärung für den Thronverlust der Davi‐ diden zu lesen“ sei.  455  Einer historischen Deutung der Weissagung widerrät schon die hier vorgenommene  redaktionsgeschichtliche Einordnung; vgl. auch BECKER, Jesaja, 217. Dagegen vertritt  BARTH,  Jesaja‐Worte,  176f.,  die  These,  Jes  8,23b‐9,6  beziehe  sich  auf  Geburt  und  In‐ thronisation Josias. 

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ten,  so  dass  das  Friedensreich  von  unverbrüchlicher  Dauer  sein  wird   (‫עד־עולם‬,  V  6).  Obwohl  gerade  die  Verheißung  des  ewigen  Königtums  im  Alten  Testament  zum  Inhalt  des  klassischen  Davidbundes  gewor‐ den ist, ist fraglich, inwieweit Jes 9,1‐6 tatsächlich mit dem Fortbestand  der  davidischen  Dynastie  rechnet.  Die  Aussage,  dass  der  erwartete  König  auf  Davids  Thron  und  über  dessen  Königreich  herrschen  wird,  benutzt  zwar  das  Bild  Davids,  zielt  aber  mehr  auf  die  Wiederher‐ stellung  der  davidischen  Herrschaft  als  auf  die  Wiederkunft  eines  Davididen.456  Auch  wenn  die  Erneuerung  des  Königreiches  den  Text  inhaltlich  bestimmt,  liegt  hier  eine  geradezu  utopische  Herrschafts‐ konzeption vor, in der der zukünftige König als Idealgestalt gezeichnet  wird.  Es ist nun kurz auf die Immanuelweissagung in Jes 7,14‐16 einzu‐ gehen,  die  verheißt,  dass  eine  junge  Frau  schwanger  werden  und  ein  Kind gebären wird (‫)וילדת בן‬, das den Namen Immanuel (‫)עמנו אל‬ erhal‐ ten  soll  (7,14).  Seit  dem  Beitrag  von  KAISER  ist  umstritten,  ob  es  sich  hierbei  um  einen  heilsprophetischen  Einschub  in  die  Erzählung  Jes  7,10‐17  handelt  oder  ob  die  Ankündigung  des  Immanuel  zum  ur‐ sprünglichen Textbestand gehört.457 An dieser Einordnung entscheidet  sich  m.  E.  die  Frage  nach  dem  literarischen  Verhältnis  von  Jes  7,14‐16  zu Jes 9,1‐6. Dass mit einer Abhängigkeit zwischen den beiden Stücken  zu rechnen ist, zeigen die sprachlichen Bezüge: In Jes 9,5 ist davon die  Rede, dass der „Wir“‐Gruppe das Kind gegeben ist (‫נתן‬ ni.), während in  Jes  7,14  Jhwh  das  Zeichen  gibt  (‫נתן‬  kal),  das  in  der  Geburt  des  Imma‐ nuel  besteht.  Auch  wenn  bei  der  Verwendung  des  Geburtsmotivs  in  7,14  ein  Einfluss  der  Geburtsnotiz  des  Jesajasohnes  in  Jes  8,3f.  wahr‐ scheinlich  ist,458  so  liegt  doch  in  der  parallelen  Verwendung  von  ‫ילד‬  (7,14;  vgl.  9,5)  eine  weitere  Verbindung  vor.  Schließlich  berühren  sich  die Texte auch im Bezug des künftigen Herrschers auf die Wir‐Gruppe,  denn wie das Kind in Jes 9,5 ‫לנו‬ geboren ist, so drückt sich im Namen  des Immanuel das Gottsein „für uns“ (‫)עמנו‬ aus.   Es  gibt  zwei  Möglichkeiten,  das  Verhältnis  zwischen  Jes  7,14‐16  und  Jes  9,1‐6  zu  beschreiben:  Wenn  7,14‐16  als  sekundäre  Einschrei‐ bung in Kap. 7 zu beurteilen ist, dann stellt das Stück einen nachträg‐                                456  Vgl.  auch  WERNER,  Texte,  39,  der  mit  Verweis  auf  Jer  22,30  darauf  hinweist,  dass  auch die Vorstellung existiert, der Thron Davids könnte verlassen sein: „Das Schick‐ sal des Thrones scheint abgekoppelt von dem des Inhabers und somit der Dynastie.“  457  Traditionell  und  mehrheitlich  wird  die  Zugehörigkeit  von  Jes  7,14‐16*  zur  Grund‐ schicht angenommen; vgl. die gängigen Kommentare zur Stelle. Dagegen hat KAISER,  ATD  17,  158‐163,  jüngst  die  These  vertreten,  dass  Jes  7,14b‐16ba nachträglich in Jes  7,10‐17 integriert wurde (vgl. auch WASCHKE, Wurzeln, 81‐84).   458  Vgl. LEVIN, Verheißung, 236; siehe auch LESCOW, Geburtsmotiv, 177f., der in Jes 8,3  dieselbe Redewendung sieht, die auch in 7,14 vorliege. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

lichen  Vorverweis  auf  den  Heilskönig  in  Jes  9,1‐6  dar,  der  auf  diese  Weise „historisiert“ wird. Gehört 7,14‐16 dagegen zur Grundschicht in  Jes  7,10‐17,  dann  ist  die  Ankündigung  des  Immanuel  wohl  ursprüng‐ lich  auf  den  König  Hiskia  zu  beziehen,  und  erst  die  nachträgliche  relecture  in  Jes  9,1‐6  weitet  die  konkrete  Geburtsankündigung  auf  die  Ansage  eines  zukünftigen  Heilskönigs  aus.459  Auch  wenn  die  Frage  nach  der  ursprünglichen  Identität  des  Immanuel  nicht  endgültig  zu  klären sein wird, so ist doch deutlich, dass von dem Augenblick an, in  dem  sowohl  Jes  7,14‐16  als  auch  Jes  9,1‐6  in  einer  Buchfassung  des  Ersten  Jesaja  enthalten  sind,  der  Immanuel  aus  Jes  7,14‐16  mit  dem  königlichen Kind aus Jes 9,1‐6 identifiziert wird: Die Geburt des Kindes  in Jes 9,1‐6 kann im Buchablauf nur als Einlösung der Immanuelweis‐ sagung aus Jes 7,14‐16 gelesen werden.  Der dritte Text des Jesajabuches in Jes 11,1‐5 kündigt ein Reis (‫)חטר‬  an,  das  aus  dem  Stumpf  Isais  (‫)מגזע ישׂי‬  hervorgehen  (‫)יצא‬  und  Frucht  bringen  wird  (‫פרה‬,  V  1).  Dieser  Abkömmling  wird  in  V  2  als  der  voll‐ endete  Geistträger  Jhwhs  vorgestellt,  der  mit  Weisheit  und  Einsicht,  Rat  und  Stärke  sowie  Erkenntnis  und  Gottesfurcht  die  sechs  funda‐ mentalen  Herrschertugenden  besitzt.460  Die  V  3‐5  konzentrieren  sich  dagegen  auf  die  Beschreibung  seiner  Regentschaft,  die  durch  Gerech‐ tigkeit  (‫צדק‬,  V  4.5)  und  Zuverlässigkeit  (‫אמונה‬,  V  5)  gekennzeichnet  ist.  Auf  einen  späteren  Ergänzer  geht  die  Ansage  eines  umfassenden  Friedensreiches in Jes 11,6‐9 zurück, das die gesamte kreatürliche Welt  mit einschließt und als Illustration der zukünftigen Herrschaft zu ver‐ stehen ist.461 Vergleichbar  mit  der  Position  von  Jes  9,1‐6  am  Ende  der  Jesaja‐ Denkschrift  findet  sich  auch  Jes  11,1‐5  am  Ende  einer  jesajanischen  Sammlung, die wahrscheinlich die Kap. 2‐10* umfasst hat. Der Text hat  einen  protojesajanischen  Horizont  im  Blick462  und  ähnlich  wie  in  Jes                                 459  Vgl. dazu BECKER, Messias, 247, der in der entstehungsgeschichtlichen Abfolge von  Jes  7,14  und  Jes  9,5f.  „eine  Deutung  auf  den  noch  nicht  bzw.  gerade  geborenen  Königssohn Hiskija“ sieht. Ebenso beurteilt VERMEYLEN, prophète, 233f., Jes 9,1‐6 als  Reinterpretation  von  Jes  7,10‐17,  während  SCHMID,  Herrschererwartungen,  69f.,  davon ausgeht, dass Jes 7,14‐16 nachträglich als Deutung vor Jes 8,23‐9,6 eingestellt  worden ist.  460  Vgl. KAISER, Gott III, 192.  461  So  mit  BARTH,  Jesaja‐Worte,  61;  KAISER,  ATD  17,  240;  SCHMIDT,  Ohnmacht,  74.  An‐ ders WERNER, Texte, 49, und BECKER, Messias, 249‐251, die mit der literarischen Ein‐ heitlichkeit von Jes 11,1‐9 rechnen.  462  STECK, Heimkehr, 62‐64, hat überzeugend nachgewiesen, dass es sich bei der späte‐ ren Fortschreibung in Jes 11,11‐16 um eine Einschreibung seiner Heimkehrredaktion  handelt, die die Verbindung des Ersten und Zweiten Jesaja vor Augen hat. Dement‐ sprechend ist in Bezug auf Jes 11,1‐5 ein älterer literarischer und historischer Ort zu  vermuten. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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9,1‐6  findet  sich  eine  schriftgelehrte  Prägung,  die  insbesondere  durch  eine Verbindung von weisheitlichen mit prophetischen Elementen auf‐ fällt.463 Im näheren literarischen Kontext kann Jes 11,1‐5 als Fortschrei‐ bung von Jes 10,33f. verstanden werden, ein Text, in dem Jhwh ansagt,  dass  die  Hochgewachsenen  gefällt  werden  und  die  Emporragenden   (‫)הגבהים‬  niedersinken  werden  (‫שׁפל‬,  V  33).  So  wird  auch  der  Libanon  durch  einen  Mächtigen  (‫)באדיר‬  fallen  (V 34).  Dieser  Gerichtsdrohung  setzt die Verheißung in Jes 11,1‐5 den Neuanfang mit dem kleinen Reis  entgegen, das Jhwh hervorgehen lassen wird. Allerdings sagt auch Jes  11  keine  Kontinuität  der  davidischen  Dynastie  aus:  Mit  der  Rückfüh‐ rung  des  zukünftigen  Heilskönigs  auf  den  Davidvater  Isai  wird  zwar  auf  die  Ursprünge  zurückgegriffen,  aber  das  Bild  des  Stumpfes  lässt  darauf schließen, dass die zu David führende Linie „abgehauen“ ist.464  Der Verweis auf Isai ist nicht als Indiz für eine Restitution der davidi‐ schen Linie zu interpretieren, sondern vielmehr kann mit WERNER ein  Entsprechungsmotiv  vermutet  werden.  Wie  Jhwh  David  als  den  kleinsten und unbedeutendsten der Isai‐Söhne erwählt hat (vgl. 1 Sam  16,1‐13), so stellt das Hervorgehen‐Lassen des kleinen Reises den Neu‐ anfang  der  Heilszukunft  dar.465  Dieser  Neuanfang  wird  zwar  unter  dem  Rückgriff  auf  Bekanntes  ausgesagt,  aber  die  erwartete  Heilsherr‐ schaft transzendiert jegliche (politischen) Erwartungen, die sich mit der  Erneuerung des davidischen Königtums verbunden haben könnten.466 Im Vergleich mit Jes 9,1‐6 ist diesem gegenüber Jes 11,1‐5 die litera‐ rische  Priorität  zu  geben.  Denn  während  es  in  9,1‐6  um  die  Wieder‐ herstellung des davidischen Großreiches und die Befreiung des Volkes  von Fremdherrschaft geht, hat die weisheitliche Regentschaft in 11,1‐5  eine  universale  Perspektive.  Die  in  Jes  9,1‐6  noch  mit  der davidischen  Herrschaft verbundenen Erwartungen sind darüber hinaus in Jes 11,1‐5  ganz  hinter  die  utopische  Zeichnung  der  neuen  Herrschaft  zurück‐ getreten,  so  dass  auch  diese  Beobachtung  für  eine  entstehungsge‐ schichtliche Abfolge Jes 9,1‐6 – Jes 11,1‐5 spricht.467                                463  Vgl.  WASCHKE,  Stellung,  148.  Eine  Auflistung  der  Bezüge  findet  sich  bei  WERNER,  Texte, 49‐70; siehe auch SCHMIDT, Ohnmacht, 72‐74.  464  So  mit  SCHMID,  Herrschererwartungen,  65.  Den  Aspekt  der  Diskontinuität  betont  auch SCHMIDT, Ohnmacht, 72.   465  Vgl. WERNER, Texte, 51. Die exzeptionelle Geistbegabung des zukünftigen Königs ist  damit vielleicht auch als Entsprechung und Überbietung der Geistbegabung Davids  in 1 Sam 16,13 zu verstehen.  466  BECKER  geht  so  weit  zu  urteilen:  „Die  Hoffnung  auf  eine  bloße  Erneuerung  oder  Wiederherstellung der Davidsdynastie (so noch Jes 9,1‐6) wird endgültig aufgegeben.“  (BECKER, Messias, 250).  467  So  in  der  Bestimmung  des  literarischen  Verhältnisses  mit  WASCHKE,  Stellung,  150;  BECKER, Messiaserwartung, 236 und passim. Prägnant kommt IRSIGLER, Beobachtun‐

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

In diesem Zusammenhang ist kurz auf das Verhältnis von Jes 11,1‐ 5 zu Ez 17,22‐24 einzugehen, das eine Reihe von Querverbindungen zu  der jesajanischen Weissagung aufweist. In Ez 17,22‐24 wird ebenso wie  in  Jes  11,1‐5  die  Baummetaphorik  zur  Beschreibung  der  zukünftigen  Herrschaft benutzt und wie in Jes 11,1‐5 gründet die Zukunft auf einer  Seitenlinie, da das vorexilische Königtum nicht mehr besteht. Erstaun‐ lich sind aber vor allem die sprachlichen Querverbindungen nicht nur  zu Jes 11,1‐5, sondern vor allem zu dessen Kontext. So ist sowohl in Jes  11,1 als auch in Ez 17,24 davon die Rede, dass das Reis bzw. der Baum  Frucht  tragen  werden  (‫פרה‬,  Jes  11,1;  vgl.  ‫עשׂה פרי‬,  Ez  17,23).  Weiterhin  benennt Ez 17,24 mit dem Erniedrigen (‫שׁפל‬ hif.) des hohen Baumes (‫עץ‬  ‫)גבה‬  dasselbe  Herrschaftsprinzip  wie  Jes  10,33  (‫שׁפל‬  kal), 468  und  wie  in  Jes 10,34 der Fall des Libanon durch einen Mächtigen (‫)באדיר‬ angekün‐ digt wird, verheißt Ez 17,22‐24 das Neuwachstum der (Libanon‐)Zeder  zu einem mächtigen Baum (‫לארז אדיר‬, 17,23). Es erscheint damit zumin‐ dest  möglich,  dass  Ez  17,22‐24  bereits  die  redaktionell  zusammen‐ gestellte Textfolge Jes 10,33f.; 11,1‐5 voraussetzt und das Motiv der Sei‐ tenlinie von dort übernimmt. Dies wäre ein weiteres Argument dafür,  dass mit Ez 17,22‐24 eine relative späte Herrschaftserwartung vorliegt,  die keine konkrete Hoffnung mehr transportiert, sondern sich auf eine  nicht näher spezifizierte Herrschaft des Heilskönigs richtet.  Neben  den  drei  „messianischen“  Weissagungen  im  Jesajabuch  lie‐ gen  in  Jes  16,4b‐5*  und  Jes  32,1‐5  zwei  weitere  Verheißungen  eines  künftigen  Herrschers  vor.  Als  Zusatz  zu  dem  Moabwort  Jes  16,1‐4a  findet  sich  in  Jes  16,4b‐5*  die  Verheißung,  dass  ein  Thron  (‫)כסא‬  aufge‐ richtet  werden  wird,  auf  dem  einer  sitzt,  der  nach  Recht  (‫)משפט‬  und  Gerechtigkeit  (‫)צדק‬  richten  und  herrschen  wird. Aufgrund  der  Stich‐ wortverbindungen zu Jes 9,1‐6, insbesondere des Thronmotivs, das nur  an  diesen  beiden  Stellen  im  Jesajabuch  auf  einen  zukünftigen  Herr‐ scher  bezogen  wird,  ist  Jes  16,4b‐5*  als  Anspielung  auf  die  dortige  Weissagung  zu  verstehen.  Ein  späterer  Ergänzer  hat  die  Davidtypo‐ logie noch expliziert, indem er den Thron in V 5ab mit dem Zelt Davids  (‫)אהל דוד‬ identifiziert hat.469 In  Jes  32,1‐5  wird  schließlich  recht  undramatisch  ein  König  (‫)מלך‬  angekündigt,  der  in  Gerechtigkeit  (‫)לצדק‬  regieren  wird,  und  dem  zur  Seite  eine  Gruppe  von  Oberen  (‫)שׂרים‬  dem  Recht  gemäß  herrschen  werden (V 1). Die V 2‐5 illustrieren die positiven Auswirkungen dieses                                 gen, 21, zu dem Schluss: „Die Geburt von 7,14 und 9,5 wird in 11,1 in die Metapher  vom frischen Trieb aus dem Wurzelstock gekleidet.“  468  Vgl. in der Kombination von ‫שׁפל‬ und ‫גבה‬ nur noch Ps 138,6; Jes 5,15 und Ez 21,31.  469  Vgl. WILDBERGER, BK, 593, und KAISER, ATD 17, 50. Die constructus‐Verbindung ‫אהל‬ ‫דוד‬ ist nur an dieser Stelle im Alten Testament belegt.  

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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Regiments,  durch  das  das  Sozialwesen  von  allen  Übeln  befreit  wird  und die Verstockung des Volkes ein Ende haben wird (vgl. Jes 32,3 mit  6,9f.). Im Vergleich mit den anderen Texten in Jes 1‐39 fehlt die David‐ typologie zur Beschreibung des Herrschers, dafür trägt dieser aber als  Einziger die Titulatur ‫מלך‬. Die Hoffnung auf seine gerechte Herrschaft  wird  dem  negativen  Bild  der  Oberschicht  entgegengesetzt,  wie  es  in  Kap. 28‐31 entfaltet wird.470 Es ist vorsichtig zu überlegen, ob dem Text  in der Buchkomposition eine Gelenkfunktion zukommt, da er mit dem  Titel  ‫מלך‬  einerseits  auf  die  Aussagen  über  das  Königtum  Jhwhs  in  Jes  40‐55  verweist,  durch  seine  Position  am  Ende  der  Protojesajanischen  Sammlung  Jes  2‐32*  aber  auch  die  vorhergehenden  Herrscherverhei‐ ßungen aufnimmt.471 Mit Jes 32,1‐5 läge damit die jüngste Weissagung  eines zukünftigen Oberhauptes in Jes 1‐39 vor.  Der Befund im Ersten Jesajabuch kann damit wie folgt zusammen‐ gefasst werden: Die drei Weissagungen in Jes 7,14‐16; 9,1‐6 und 11,1‐5  berühren sich darin, dass die Person des zukünftigen Herrschers nicht  näher  bestimmt  wird,  sondern  ein  doppeltes  Identifikationspotential  aufweist.  Innerhalb  des  Buchablaufes  legt  sich  eine  historische  Deu‐ tung auf einen König Israels nahe,472 aber die Offenheit der Darstellung  weist über diese Identifikation hinaus auf einen zukünftigen (eschato‐ logischen) Heilskönig. Dieser wird zwar mit Rückgriff auf Davidtypo‐ logien  als  ein  Herrscher  nach  der  Art  Davids  beschrieben,  aber  er  ist  nicht  explizit  als  Davidide  gekennzeichnet.  Während  die  Verheißung  in  Jes  9,1‐6  noch  durch  die  Hoffnung  auf  die  Wiederherstellung  der  davidischen Herrschaft in Israel bestimmt wird, scheint Jes 11,1‐5 eine  neue  Art  des  Königtums  zu  erwarten,  die  alle  an  David  geknüpften  Erwartungen übersteigen wird. Damit bleiben noch die beiden kleinen  Weissagungen übrig, von denen Jes 16,4b‐5* als Aufnahme von Jes 9,1‐ 6  eingeordnet  werden  kann.  Dahingegen  fällt  Jes  32,1‐5  mit  der  kon‐ kreten  Verheißung  einer  dem  Recht  gemäßen  Regierung  unter  einem  ‫מלך‬  etwas  aus  der  Reihe  der  übrigen  Herrschaftsverheißungen  heraus  und ist vermutlich als redaktionelles Gelenkstück im (Groß‐)Jesajabuch  zu beurteilen.                                 470  Vgl. WASCHKE, Stellung, 151.  471  Vgl.  schon  STECK,  Beobachtungen,  106  Anm.  14,  der  auf  die  Entsprechungen  des  ersten und zweiten Teils des Protojesajabuches (1‐11*; 13‐34*) hinsichtlich der Herr‐ schaftsverheißungen  (11,1ff.;  32,1ff.)  hinweist.  WASCHKE,  Stellung,  141‐155,  hat  jüngst  die  These  aufgestellt,  dass  die  Weissagungen  Jes  9,5f.;  11,1ff.;  32,1ff.  und  55,3ff. im Jesajabuch jeweils „den Abschluß von Sammlungen markieren, die in etwa  auch  den  Entwicklungsprozeß  dieses  Buches  widerspiegeln  (*6,1‐9,6;  *2‐11;  *2‐32;  *40,1‐55,5).“ (WASCHKE, a.a.O., 154).  472  Vgl. dazu insbesondere SCHMID, Herrschererwartungen, 55‐59. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

5.5.3.2. Neuanfang in Bethlehem: Mi 5,1‐5  Im  Michabuch  findet  sich  einzig  in  Mi  5,1‐5  die  Erwartung  eines  zu‐ künftigen  Herrschers.  Der  Text  steht  im  Anschluss  an  eine  redaktio‐ nelle Sammlung Mi 4,9‐14,473 in der der Tochter Zion in einer Reihe von  jeweils durch ‫)ו(עתה‬ eröffneten Sprüchen (4,9.11.14) Heil und Unheil an‐ gesagt wird.  Mi  5,1‐5  wird  in  V  1  mit  der  Anrede  Bethlehem  Efratas  eröffnet,  dem,  obwohl  es  klein  (‫)צעיר‬  ist,  verheißen  wird,  dass  der  Herrscher   (‫)מושׁל‬ über Israel aus ihm hervorgehen wird (‫יצא‬ mit ‫)מן‬. V 2 spricht da‐ gegen davon, dass jemand eine Gruppe 3. Pers. pl. hingeben wird (‫)נתן‬,  bis eine Gebärende geboren hat (‫ )יולדה ילדה‬und der Rest der Brüder zu  den  Israeliten  zurückkehrt;  das  Subjekt  dieses  Verses  kann  nur  mit  Jhwh  identifiziert  werden.  Dagegen  kehrt  V  3  zur  Beschreibung  des  zukünftigen  Herrschers  zurück  und  illustriert  sein  Auftreten  mit  dem  Bild des „Weidens“ (‫)רעה‬, wobei aber hervorgehoben wird, dass er sein  Amt  in  enger  Bindung  an  Jhwh  ausübt.  Seine  Regentschaft  „in  der  Kraft Jhwhs, in der Hoheit des Namens seines Gottes“ (V 3) wird dem  Volk  sicheres  Wohnen  und  ‫שׁלום‬  bringen  (V 4a).  In  V 4b‐5a  liegt  eine  sekundäre Ergänzung vor, die eine Mehrzahl von Herrschern im Blick  hat, während V 5b wieder zu der einen Herrscherfigur aus V 1‐4a zu‐ rückkehrt und mit der Verheißung, dass er Rettung vor Assur bringen  wird,  den  Abschluss  des  ursprünglichen  Heilswortes  gebildet  haben  könnte. 474  Damit  bleibt  nur  noch  über  die  literarische  Zugehörigkeit  von  V  2  zu  entscheiden,  der  den  Zusammenhang  von  V 1  mit  V  3  unterbricht und auch durch den Subjektwechsel als späterer Einschub  verdächtig  ist.  Darüber  hinaus  kommt  die  Terminierung  des  Heilsan‐ bruches  auf  die  Zeit  des  Gebärens  nach  V  1  verspätet,  da  in  diesem  bereits  das  Hervorgehen  des  ‫מושׁל‬  angekündigt  worden  ist.  Es  ist  des‐ halb  vorerst  mit  einem  Einschub  in  V  2  zu  rechnen,475  während  das  Grundwort auf die V 1.3.4a.5b (5,1‐5*) zu beschränken ist.                                  473  Es ist umstritten, ob Mi 4,14 den Abschluss der Spruchsammlung bildet oder ob mit  diesem Vers der Beginn der Weissagung Mi 5,1‐5 vorliegt. Der Neueinsatz mit ‫ואתה‬  in Mi 5,1 und der Anredewechsel von Jerusalem in 4,14 hin zu Bethlehem Efrata in  5,1 spricht für die Abgrenzung 5,1‐5 (so mit WERNER, Texte, 52f.; anders neuerdings  KESSLER, HThK.AT, 218). Zur Analyse der Reihe vgl. WILLI‐PLEIN, Vorformen, 86‐88.  474  So auch WERNER, Texte, 53. Anders SEEBASS, Herrscherverheißungen, 42f., der V 4b‐5  insgesamt  als  Nachtrag  beurteilt,  während  WOLFF,  BK  XIV/4,  107,  mit  einem  ur‐ sprünglichen  Textbestand  in  V  1.3a  rechnet, der durch Nachträge in V 2, V 3b und  V 4b‐5a  erweitert  worden  sei.  KESSLER,  HThK.AT,  219.231f.,  sieht  den  ursprüng‐ lichen  Abschluss  dagegen  mit  Mi  5,3  gegeben.  Zu  einer  Übersicht  über  die  For‐ schungspositionen vgl. KESSLER, a.a.O., 231ff.  475  Vgl.  schon  WELLHAUSEN,  Propheten,  145f.,  und  in  seiner  Nachfolge  HERRMANN,  Heilserwartungen,  146;  LESCOW,  Geburtsmotiv,  192f.;  STRAUSS,  Messias,  57,  und 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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Für die Frage nach der Identifikation des  ‫מושׁל‬ ist zunächst der lite‐ rarische Kontext zu beachten. In Mi 4,8 geht der Spruchreihe Mi 4,9‐5,5  die Verheißung voraus, dass die frühere Herrschaft (‫)הממשׁלה הראשׁנה‬ des  Königtums zur Tochter Zion zurückkehren werde. In der jetzigen Posi‐ tion  am  Ende  der  Sammlung  liegt  es  nahe,  in  5,1‐5*  eine  Anspielung  auf das Heilswort 4,8 zu sehen, wobei die Gestalt des zukünftigen  ‫מושׁל‬  aber  über  die  restaurative  Hoffnung  auf  Erneuerung  des  Königtums  hinausgeht. So wird zunächst keine davidische Abkunft des Herrschers  ausgesagt,  sondern  seine  Herkunft  wird  lokal  als  Hervorgehen  aus  Bethlehem und zeitlich als eine bis in die Urzeiten hinabreichende be‐ stimmt (V 1). Die räumliche Abkunft aus Bethlehem teilt er mit David,  von dessen Vater Isai in 1 Sam 16,1 gesagt wird, dass er aus Bethlehem  stammt.  Obwohl  die  Regentschaft  des  ‫מושׁל‬  damit  als  Neuanfang  ge‐ kennzeichnet  ist,  deutet  die  Lokalisierung  ein  Entsprechungshandeln  Jhwhs  an:  Wie  er  David  aus  Bethlehem  erwählt  hat,  so  wird  er  auch  den ‫מושׁל‬ aus Bethlehem hervorgehen lassen.476 Ein Entsprechungsmotiv  liegt  ebenso  mit  der  Charakterisierung  Bethlehems  als  „klein“   (‫)צעיר‬  vor:  Genau  wie  Jhwh  sich  den  Herrscher  der  Heilszeit  aus  dem  unbedeutenden  Bethlehem  kommen  lassen  wird,  so  wurde  David  als  der  Jüngste  (‫הקטן‬,  1 Sam  16,11)  unter  den  Brüdern  erwählt.477  „Mi  5,1  überträgt diesen Zug am Erwählungshandeln Jahwes (vgl. 1 Sam 16,7)  auf den Herkunftsort.“478 Mithin sieht Mi 5,1‐5* keine geradlinige Fort‐ setzung  des  davidischen  Königtums  vor,  sondern  der  Neuanfang  hat  seinen Ursprung allein in Jhwhs Erwählungshandeln. Zeitlich wird die  Herkunft  des  ‫מושׁל‬  als  von  den  Ursprüngen,  den  Tagen  der  Ewigkeit  her, beschrieben (‫מקדם מימי עולם‬, V 1). Sowohl für ‫קדם‬ als auch für ‫ימי עולם‬  lässt  sich  ein  Bedeutungsspektrum  aufzeigen,  das  eine  bestimmte  (ideale) Epoche der Vergangenheit bezeichnet.479 Da die beiden Zeitbe‐ stimmungen  nur  in  Neh  12,46  auf  die  Regentschaft  Davids  bezogen  werden,  ist  zu  überlegen,  ob  in  dieser  Vorherbestimmung  des  ‫מושׁל‬  in  der  Vorzeit  nicht  auch  ein  Überbietungsmotiv  gegenüber  der  davidi‐ schen Herrschaft angelegt ist.   Wird  der  Blick  ausgeweitet,  so  fallen  die  Parallelen  zwischen  Mi  5,1‐5* und den Weissagungen im Ersten Jesajabuch auf. Wie in Jes 11,1  wird das Kommen des Herrschers als „Hervorgehen“ (‫)יצא‬ beschrieben,                                 476  477  478  479 

WOLFF,  BK  XIV/4,  106.  Für  die  Zugehörigkeit  von  V 2  zur  Grundschicht  plädieren  dagegen WERNER, Texte, 53; KESSLER, HThK.AT, 220f., und WERLITZ, Immanuel, 256.  Zum Entsprechungshandeln Jhwhs siehe auch LESCOW, Geburtsmotiv, 197.  Zum  Motiv,  dass  Jhwh  eine  unbedeutende  Rettergestalt  erwählt  vgl.  ferner  die  Gideon‐ (Ri 6,15) und die Saulüberlieferung (1 Sam 9,21).  WERNER, Texte, 56.   Vgl. dazu den Nachweis bei WERNER, Texte, 54f. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

und  auch  die  heilschaffende  Auswirkung  seiner  Herrschaft  (‫)שׁלום‬  hat  eine  Parallele  in  Jes  9,5  (vgl.  Jes 11,6‐9). In diesem Zusammenhang ist  aber vor allem der Nachtrag in Mi 5,2 mit in die Frage einzubeziehen,  der  eine  auffallende  Nähe  zu  der  Immanuelweissagung  in  Jes  7,14  zeigt.  Die  Stücke  berühren  sich  formal  in  der  Einleitung  durch  die  Konjunktion ‫לכן‬, in der Ansage, dass eine Frau gebären wird (‫וילדת‬, Jes  7,14;  vgl.  ‫ילדה‬,  Mi  5,2),  und  in  der  parallelen  Verwendung  von  ‫נתן‬  mit  Jhwh  als  Subjekt.  Während  es  in  Jes  7,14  aber  die  Geburt  als  Zeichen  ist, die Jhwh gibt, so ist Mi 5,2 dahingehend zu deuten, dass Jhwh die  Israeliten  dem  Unheil  hingeben  wird,  bis  das  Heil  mit  der  Geburt  an‐ bricht. Im unmittelbaren Kontext von Mi 5,1‐5* wird in Mi 4,9f. ebenso  von  einer  Gebärenden  gesprochen,  aber  hier  ist  das  Geburtsmotiv  eindeutig  als  Metapher  für  die  Notzeit  zu  interpretieren,  während  Jes  7,14  und  Mi  5,2  eine  tatsächliche  Geburt  vor  Augen  haben.  Es  kann  zwar nicht ausgeschlossen werden, dass in Mi 5,2 eine Anspielung auf  den im Kontext vorliegenden Text Mi 4,9f. vorliegt; die engeren Bezie‐ hungen  bestehen  aber  zwischen  Jes  7,14  und  Mi  5,2,  das  die  Kenntnis  der  jesajanischen  Weissagung  verrät. 480  Anscheinend  interpretiert  der  Autor  von  Mi  5,2  die  Immanuelweissagung  bereits  als  Verheißung  eines zukünftigen Herrschers, mit dessen Geburt die Heilszeit anbricht,  und identifiziert ihn redaktionell mit dem  ‫מושׁל‬ des Grundwortes in Mi  5,1‐5*.481 Weiterhin erinnert die Tätigkeitsbeschreibung des „Weidens“  (‫)רעה‬ in Mi 5,3 an die Hirtentitulatur in Ez 34,23 und 37,24. Zwar wird  der Titel häufig auf die Könige oder andere Führungsinstanzen in ihrer  Aufgabe  als  Hirten  für  das  Volk  angewendet,482  aber  von  einem  zu‐ künftigen Herrscher wird nur in Mi 5,3 sowie in Ez 34,23 und 37,24 das  Weiden  des  Volkes  ausgesagt.  Da  die  Weissagung  in  Mi  5,1‐5*  einen  gewissen Kompendiumscharakter aufweist und die Hirtentitulatur für  den Zukunftsherrscher in Ez 34 konzeptionell eingebunden ist, könnte  in  Mi  5,3  eine  Anspielung  auf  die  ezechielischen  Daviderwartungen  vorliegen.  Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sowohl das Grundwort in  Mi  5,1‐5*  wie  auch  der  Nachtrag  in  Mi  5,2  eine  große  Nähe  zu  den                                 480  So in der Bestimmung des literarischen Verhältnisses auch WERNER, Texte, 58f.; vgl.  weiterhin  STRAUSS,  Messias,  56;  WERLITZ,  Immanuel,  256,  und  WASCHKE,  Wurzeln,  81. Anders SEEBASS, Herrscherverheißungen, 51, der keine Verbindung zwischen den  Texten sieht; vgl. auch KESSLER, HThK.AT, 225f., dem zufolge die Gebärende in Mi  5,2 allein auf Mi 4,9f. Bezug nimmt und dieses Bild weiter ausführt.   481  Die These einer literarischen Abhängigkeit in Mi 5,2 von Jes 7,14 bleibt auch in Gel‐ tung, wenn V 2 zur Grundschicht in Mi 5,1‐5 gezählt wird (vgl. z. B. WERNER, Texte,  53.56‐59).  Mi  5,2  nehme  den  inzwischen  zum  messianischen  locus  classicus  gewor‐ denen Text Jes 7,14 „in geheimnisvollem Orakelstil“ auf (WERNER, a.a.O., 59).  482  Vgl. dazu o. Kap. II. 2.2. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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Herrscherweissagungen im Jesajabuch aufzeigt und zumindest im Be‐ zug auf Jes 7,14 und Mi 5,2 eine Abhängigkeit wahrscheinlich ist. Aller‐ dings richtet sich die Hoffnung im Grundwort Mi 5,1‐5* nicht auf eine  irgendwie  geartete  Kontinuität  der  davidischen  Herrschaft  oder  des  davidischen  Reiches,  sondern  vielmehr  wird  die  Regentschaft  des  neuen Herrschers als völliger Neuanfang beschrieben, der allein in der  Souveränität Jhwhs begründet ist.  5.5.3.3. Restauration des Königtums im Jeremiabuch  Im  Jeremiabuch  gibt  es  mit  Jer  23,5f.;  33,14‐26;  30,8f.  und  30,21  vier  Texte,  die  die  Frage  eines  zukünftigen  Herrschers  behandeln.  Im  Ab‐ lauf  des  Buches  begegnet  das  erste  Stück  am  Ende  der  Königsspruch‐ sammlung  Jer  21,11‐23,8  mit  der  Verheißung  in  Jer  23,5f.,  dass  Jhwh  dem  David  (‫)לדוד‬  einen  rechtmäßigen  Spross  (‫צדק‬  ‫)צמח‬  erstehen  lassen  wird (‫קום‬ hif.).483 Die Interpretation von ‫צמח צדיק‬ im Sinne eines „recht‐ mäßigen“  Sprosses  ist  nicht  unumstritten,  wird  aber  durch  einige  phönizische  Inschriften  gestützt,  in  denen  der  Begriff  als  geprägte  Wendung für den legitimen Sohn bzw. Erben verwendet wird.484 Evtl.  ist die Formulierung aber auch bewusst auf die Doppeldeutigkeit von  „rechtmäßig“ und „gerecht“ hin angelegt, da das Regiment des Spros‐ ses durch Weisheit sowie Recht und Gerechtigkeit (‫משׁפט וצדקה‬, V 5) ge‐ kennzeichnet ist. Programmatisch wird dem Heilskönig in V 6 auch der  Thronname ‫יהוה צדקינו‬ („Jhwh, unsere Gerechtigkeit“) verliehen.   Anders  als  bei  den  Weissagungen  in  Jesaja‐  und  Michabuch  zeigt  die Erwartung des ‫צמח‬ an, dass hier eine gewisse Kontinuität der davi‐ dischen  Dynastie  vorausgesetzt  wird,  deren  Legitimität  zudem  noch  unantastbar  ist.  Auch  wenn  die  Verwendung  des  Begriffes  ‫צמח‬  so  ge‐ deutet werden kann, dass die Dynastie selbst nicht mehr besteht,485 so  läuft  doch  die  Heilserwartung  nicht  über  eine  Seitenlinie,  sondern  Jhwh wird David selbst einen Spross erwecken. In Jer 23,5f. liegt somit  eine  restaurative Königserwartung vor, die einen zukünftigen Davidi‐ den  im  Blick  hat,  in  dieser  Konkretisierung  der  Hoffnung  aber  nicht  das  auf  einen  Heilskönig  hin  offene  Potential  der  Weissagungen  im  Jesajabuch besitzt. Von diesen berührt sich Jer 23,5f. nur mit Jes 11,1‐5                                 483  Zur ausführlichen Analyse und Einordnung vgl. o. Kap. II. 3.1.2.  484  Vgl. FISHBANE, Interpretation, 472 Anm. 36, mit Verweis auf KAI 43.10f.; siehe auch  die  ausführliche  Diskussion  des  Befundes  bei  LUNDBOM,  AncB,  172f.  Die  Deutung  auf einen rechtmäßigen Spross wird bei HOLLADAY, Hermeneia I, 618, und SCHMID,  Buchgestalten, 62, vertreten, während WEISER, ATD, 198 mit Anm. 1, und LUNDBOM,  a.a.O.,  172f.,  sowohl  die  Interpretation  als  „gerechter“  wie  auch  als  „rechtmäßiger“  Spross für möglich halten.   485  Vgl. LEVIN, Verheißung, 189. 

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in  der  Verwendung  der  Pflanzmetaphorik,  aber  aufgrund  der  unter‐ schiedlichen  Terminologie  und  der  divergierenden  Herrschererwar‐ tung  lässt  sich  keine  Aussage  über  ein  mögliches  Abhängigkeits‐ verhältnis  treffen.486  Allerdings  erinnert  die  Namensnennung  „Jhwh,  unsere Gerechtigkeit“ an Jes 9,1‐6, wo die Verheißungen ebenfalls aus  der Sicht einer Gruppe 1. Pers. pl. formuliert sind.487 In Bezug auf das  Ezechielbuch  konnte  bereits  gezeigt  werden,  dass  die  Verheißung  des  davidischen  Sprosses  in  der  Verheißung  des  davidischen  Hirten  Ez  34,23f.* ausgelegt wird.488 Aber  auch  innerhalb  des  Jeremiabuches  ist  Jer  23,5f.  nicht  ohne  Wirkung geblieben und hat in Jer 33,14‐26 eine mehrstufige aktualisie‐ rende  Aufnahme  erfahren.489  Von  den  drei  aufeinander  folgenden  Königsworten in V 14‐18.19‐22 und 23‐26 erweist sich das erste Wort in  33,14‐18  als  Rezeption,  in  der  aus  dem  ‫צמח צדק‬  ein  ‫צמח צדקה‬  (33,15)  geworden  ist,  so  dass  die  Legitimität  des  Sprosses  auf  seine  gerechte  Herrschaftsausübung  hin  ausgelegt  worden  ist.  Darüber  hinaus  wird  der  Thronname  „Jhwh,  unsere  Gerechtigkeit“  in  33,16  auf  die  Stadt  Jerusalem übertragen, der auf diese Weise die Königswürde zugespro‐ chen  wird.  Der  entscheidende  Überschuss  gegenüber  Jer  23,5f.  findet  sich aber in der Zusage, nach der es David nie an einem Mann fehlen  soll, der auf dem Thron des Hauses Israel (‫על־כסא בית־ישׂראל‬, 33,17) sitzen  wird. Im Gegensatz zur Vorlage steht in Jer 33,14‐17(18)490 nicht so sehr  die  Erwartung  des  Heilskönigs  im  Vordergrund,  sondern  die  Bestän‐ digkeit  der  davidischen  Herrschaft.  Das  zweite  Wort  in  Jer  33,19‐22  verbindet  die  Unverbrüchlichkeitsaussage  für  die  davidische  Herr‐ schaft mit der Zusicherung, dass auch die Nachkommen des Knechtes  David zahlreich sein werden (V 22). So wird die Dynastieverheißung in  den Dienst der Bestandszusage für das Volk gestellt; sie wird „instru‐ mentalisiert, um die Beständigkeit Israels und Judas zu garantieren.“491  Das  letzte  Stück  der Fortschreibungskette in 33,23‐26 schließt die Ver‐                                486  Treffend  urteilt  STRAUSS,  Messias,  66,  über  Jer  23,5f.  im  Vergleich  mit  den  Jesaja‐ texten: „Dieser Spruch bzw. Überlieferungskomplex kommt vielmehr im atl. Kanon  jedenfalls noch von woanders her und geht woanders hin.“  487  So auch LEVIN, Verheißung, 189f.: „Der Thronname erinnert weitläufig an die David‐ verheißung Jes 9,5‐6.“  488  Vgl. dazu o. Kap. II. 3.3.  489  Vgl. RUDOLPH, HAT, 185; FISHBANE, Interpretation, 471f.; VEIJOLA, Verheißung, 162f.;  STRAUSS,  Messias,  64;  KAISER,  Gott  III,  199;  MCKANE,  ICC,  861,  und  SCHMID,  Buch‐ gestalten,  61.  Zu  einer  ausführlichen  literarischen  Analyse  von  Jer  33,14‐26  vgl.  SCHMID, a.a.O., 56‐66.323‐327.  490  Bei Jer 33,18 handelt es sich vermutlich um einen Zusatz, der nachträglich die Levi‐ ten in die Dynastiezusage mit einbezieht; vgl. SCHMID, Buchgestalten, 59.   491  SCHMID, Buchgestalten, 58f. Auf den Zusammenhang von Ewigkeit der Dynastie und  ewiger Dauer des Volkes hat bereits RUDOLPH, HAT, 187, hingewiesen. 

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heißungen mit der Zusicherung Jhwhs ab, dass er an seinem Bund mit  der  Davidsdynastie  festhalten  wird  und  der  Bestand  Israels  gesichert  ist. Die Stellung von Jer 33,14‐26 am Ende der Sammlung Jer 30‐33 und  die  Tatsache,  dass  der  gesamte  Abschnitt  in  der  LXX*  nicht  enthalten  ist, sprechen dafür, dass es sich hierbei mit einiger Wahrscheinlichkeit  um  den  jüngsten  Text  innerhalb  von  Jer  30‐33  handelt,  der  erst  nach  Trennung  der  textgeschichtlichen  Überlieferungsstränge  eingefügt  worden ist.492   Das  dritte  Herrscherwort  in  Jer  30,21  spricht  als  Abschluss  der  Heilszusagen  an  „Jakob“‐Israel  in  Jer  30,18‐21  von  einem  nicht  näher  identifizierten  Oberhaupt,  das  als  „sein  Mächtiger“  (‫)אדירו‬  und  „sein  Herrschender“ (‫)ומשׁלו‬ aus ihm hervorgehen (‫)יצא מן‬ wird. Dieser Herr‐ schergestalt  gewährt  Jhwh  das  Herantreten  (‫קרב‬  hif.)  und  ihm  kommt  das  Privileg  zu,  sich  Gott  zu  nähern  (‫נגשׁ‬  ni.).  Mit  ‫קרב‬  hif.  liegt  ein  terminus technicus der kultischen Sprache vor,493 und auch die Verwen‐ dung von ‫נגשׁ‬ ni. verweist auf den priesterlich‐kultischen Bereich, da es  das Vorrecht der Priester ist, sich Jhwh zu nähern. „[Jer] 30,21 hat also  eine  eher  priesterlich‐kultisch  als  königlich‐politisch  gezeichnete  Ge‐ stalt vor Augen.“494 Oft  wird  auf  die  sprachlichen  Querverbindungen  zwischen  Jer  30,18‐21  und  Mi  5,1‐5*  hingewiesen,  die  in  der  Regel  zugunsten  der  literarischen Priorität von Mi 5,1‐5* ausgewertet werden.495 Die beiden  Texte  berühren  sich  in  der  Verwendung  einer  Form  von  ‫משׁל‬  (‫משׁל‬ ֵ ,  Jer  30,21; vgl. ‫משׁל‬ Pt. kal, Mi 5,1) und dem Verbum ‫יצא‬ in Kombination mit  der Präposition ‫מן‬ (Jer 30,21; vgl. Mi 5,1). Da bereits vermutet worden  ist,  dass  sich  der  Gebrauch  von  ‫יצא‬  in  Mi  5,1  dem  Bezug  auf  Jes  11,1  verdanken  könnte,496  während  es  im  Jeremiabuch  mit  Ausnahme  von  Jer 30,21 keine weitere Herrschererwartung gibt, die diese sprachliche  Kombination verwendet, wird hier der communis opinio in der Bestim‐ mung  des  Abhängigkeitsverhältnisse  gefolgt.  Anscheinend  nimmt  der  Verfasser von Jer 30,18‐21 die Verheißung aus dem Michabuch auf und  interpretiert  sie  hinsichtlich  des  besonderen  Verhältnisses  zwischen  Jhwh und dem kommenden Herrscher.  Als  Letztes  ist  auf  die  Herrscherverheißung  in  Jer  30,8f.  einzuge‐ hen,  die  sich  ebenfalls  an  Jakob‐Israel  richtet  (vgl.  Jer  30,7).  Für  die                                 492  Vgl. SCHMID, Buchgestalten, 61, der den Text auf den Übergang vom persischen zum  hellenistischen Zeitalter datiert (vgl. SCHMID, a.a.O., 326).  493  Vgl. KÜHLEWEIN, Art. ‫קרב‬, 679.  494  SCHMID, Buchgestalten, 124.  495  Vgl.  z.  B.  HERRMANN,  Heilserwartungen,  221  Anm.  22;  SEEBASS,  Herrscherverhei‐ ßungen, 48, und WOLFF, BK XIV/4, 107ff.   496  Vgl. dazu o. Kap. III. 5.5.3.2. 

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kommende  Heilszeit  wird  diesem  angekündigt,  dass  Jhwh  sein  Joch  zerbrechen  wird  (V  8).  Anstelle  eines  Fremdherrschers  soll  das  Volk  Jhwh,  ihrem  Gott  (‫)יהוה אלהיהם‬,  dienen  und  ihrem  König  David  (‫דוד‬ ‫)מלכם‬,  den  Jhwh  ihnen erwecken wird (‫קום‬ hif., V 9). Bei dem in Prosa  geschriebenen  Text  handelt  es  sich  um  einen  nachträglichen  Einschub  innerhalb  der  poetisch  gestalteten  Stücke  des  Kontextes.497  Die  Ver‐ heißung ist von den anderen David‐Passagen im Jeremiabuch dadurch  abzugrenzen,  dass  nicht  ein  Abkömmling  Davids  angekündigt  wird  (vgl. Jer 23,5; 33,15), sondern ähnlich wie im Ezechielbuch David selbst.  An  die  Stelle  des  Fremdherrschers,  der  im  Kontext  von  Jer  30,8f.  mit  Nebukadnezar zu identifizieren ist,498 tritt in der Heilszeit die Hinwen‐ dung zum David redivivus, der neben dem eigentlichen Herrscher Jhwh  seinen  Platz  findet.  Die  Aussage,  dass  Jhwh  den  neuen  David  „er‐ wecken“  wird  (‫קום‬  hif.)  weist  auf  eine  Berührung  mit  der  David‐ verheißung Jer 23,5f. hin. Da der Gebrauch von ‫קום‬ hif. in Jer 23,5 mit  Bezug auf die Formulierung der Verheißung neuer Hirten in Jer 23,3 zu  erklären  ist,  kann  vermutet  werden,  dass  Jer  30,8f.  die  Ankündigung  des  Sprosses  in  Jer  23,5f.  bereits  voraussetzt  und  auf  die  Verheißung  Davids hin auslegt. In Bezug auf Jer 30,21 fällt es dagegen schwer, eine  Aussage über das literarische Verhältnis zu treffen, da keine Stichwort‐ verbindungen zwischen den Texten bestehen und der Herrschergestalt  eine  jeweils  unterschiedliche  Funktion  zukommt.  Allerdings  ist  es  wahrscheinlicher,  dass  die  unbestimmte  Herrschererwartung Jer 30,21  in  Jer  30,8f.  nachträglich  „davidisiert“  und  das  besondere  Gottesver‐ hältnis  in  die  Formel  „Jhwh  ihr  Gott  und  David  ihr  König“  gefasst  wird,499  als  mit  dem  umgekehrten  Prozess  zu  rechnen,  in  dem  die  Davidverheißung Jer 30,8f. nachträglich auf einen unbestimmten Herr‐ scher hin gedeutet würde.  Die kurze Formel in Jer 30,9 „Jhwh ihr Gott und David ihr König“  ist nicht ohne Parallele im Alten Testament. Zuerst ist kurz auf Hos 3,5  einzugehen, wo in identischer Formulierung die Hinwendung der Isra‐ eliten  zu  „Jhwh,  ihrem  Gott“  (‫)יהוה אלהיהם‬  und  „David,  ihrem  König“   (‫ )דוד מלכם‬ausgesagt wird. Da sich diese sprachliche Verbindung nur in  Jer 30,9 und Hos 3,5 findet, ist ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis  wahrscheinlich. Allerdings wird die Nennung Davids in Hos 3,5 mehr‐                                497  Vgl.  RUDOLPH,  HAT,  161;  HOLLADAY,  Hermeneia  II,  150;  LUNDBOM,  AncB,  387;  SCHMID, Buchgestalten, 161f.   498  Vgl. dazu SCHMID, Buchgestalten, 162f. Die Titulatur Nebukadnezars mit ‫עבד‬, die das  besondere Gottesverhältnis anzeigt, findet sich in Jer 25,9; 27,6 und 43,10. 499  Zu  dieser  Bestimmung  des  literarischen  Verhältnisses  vgl.  SCHMID,  Buchgestalten,  125.163. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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heitlich als späterer Nachtrag bewertet,500 so dass dies für die Priorität  von Jer 30,8f. spricht, an das Hos 3,5 sekundär angeglichen worden ist.  Von größerem Interesse für die in dieser Studie verfolgte Fragestellung  sind  die  Parallelen  von  Jer  30,8f.  im  Ezechielbuch.  Dort  findet  sich  innerhalb  der  Davidverheißung  Ez  34,23f.*  in  V 23bb.24aa  eine  Nach‐ ahmung  der  zweigliedrigen  Bundesformel,  in  der  der  Hirte  für  das  Volk  Jhwh  als  dem  Gott  des  Volkes  nebengeordnet  wird.  Auch  wenn  von  Ez  34,23ab  her  klar  ist,  dass  es  sich  bei  dem  Hirten  um  David  handelt, kommt es erst durch die sekundäre Einschreibung von V 24ab  zu  einer  expliziten  Aneinanderreihung  von  Jhwh  und  dem  Fürsten  David. Das spricht dafür, dass David und Jhwh zuerst im Ezechielbuch  in  einer  Nachahmung  der  Bundesformel  nebeneinander  gestellt  wur‐ den und diese Reihung in Form einer geprägten Wendung in Jer 30,8f.  Aufnahme gefunden hat.501   Für das Jeremiabuch ist damit festzuhalten, dass hier anders als im  Ersten  Jesajabuch  oder  im  Michabuch  eine  nachdrückliche  Hoffnung  auf  die  Wiedererrichtung  des  davidischen  Königtums  vertreten  wird.  Einzig  in  Jer 30,21 wird der zukünftige Herrscher weder als Davidide  noch  als  König  bezeichnet,  während  die  relativ  älteste  Verheißung  in  Jer  23,5f.  die  Erwartung  auf  einen  rechtmäßigen  Spross  aus  der  davi‐ dischen  Dynastie  richtet.  Diese  Linie  wird  in  Jer  30,8f.  aufgenommen,  in der David selbst in Form des David redivivus erwartet wird. Schließ‐ lich zeigt die jüngste Textfolge in Jer 33,14‐26, dass die Option auf eine  Restauration des Königtums sich im Jeremiabuch bis in die Spätzeit der  prophetischen Überlieferung hinein durchgehalten hat.  5.5.3.4. Die Hütte Davids: Am 9,11f.  Am  Ende  des  Amosbuches  steht  in  Am  9,11f.  die  Verheißung,  dass  Jhwh  die  verfallene  Hütte  Davids  (‫)את־סכת דוד‬  wieder  aufrichten  und  wie in der Vorzeit (‫)כימי עולם‬ erbauen wird (V 11), so dass die Israeliten  Edom  und  die  Nationen  in  Besitz  nehmen  können  (V 12).  Das  nach‐ folgende  Jhwh‐Wort  in  V  13‐15  beschreibt  die  zukünftige  Heilszeit  in  Bildern  von  der  Fruchtbarkeit  des  Landes  und  dem  Wohlergehen  des  Volkes.                                  500  Vgl.  JEREMIAS,  ATD,  57;  WOLFF,  BK  XIV/1,  71;  DEISSLER,  NEB,  22.  Der  Nachtrags‐ charakter  kann  damit  begründet  werden,  dass  der  Halbvers  mit  der  Nennung  Davids  überfüllt  wirkt  und  dem  doppelten  Objekt  Jhwh/David  in  der  ersten  Vers‐ hälfte allein Jhwh als Objekt in der zweiten Vershälfte gegenübersteht.  501  So auch RUDOLPH, HAT, 161, und SCHMID, Buchgestalten, 162, der allerdings dane‐ ben  noch  Hos  3,5  als  Bezugstext  für  Jer  30,8f.  veranschlagt.  Anders  OHNESORGE,  Jahwe,  375,  der  in  Jer  30,8f.  sowie  Ez  37,23f.;  34,23f.  lediglich  dasselbe  Interesse  an  einer bestimmten Zukunft Israels sieht. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Traditionell  ist  in  diesem  Wort  eine  restaurative  Heilshoffnung  gesehen worden, die sich auf die Wiedererrichtung des Hauses David  bezieht.502  Dabei  wird  die  Rede  vom  „Haus“  aber  bewusst  vermieden  und durch den Begriff der „Hütte“ ersetzt, der anzeigt, dass es sich hier  nur  um  eine  Wiederherstellung  im  bescheidenen  Rahmen  handeln  kann.503 Das Bild ist doppeldeutig, da es sowohl auf die davidische Dy‐ nastie wie auch auf das davidische Großreich bezogen sein kann, aber  auf  jeden  Fall  weist  die  Inbesitznahme  der  anderen  Nationen  in  Am  9,12 darauf hin, dass die notwendige Voraussetzung dieses Geschehens  nur  in  der  Wiedererrichtung  einer  politisch‐staatlichen  davidischen  Größe  bestehen  kann.  Zwar  zeigt  das  Heilswort  „kein  sonderliches  Interesse  an  der  Beschreibung  eines  möglichen  zukünftigen  Herr‐ schers“,504  aber  neben  der  Nennung  des  Davidnamens  scheint  das  Stück  auch  durch  den  Rückbezug  auf  die  idealen  „Tage  der  Vorzeit“  auf  die  Anfänge  Jhwhs  mit  der  davidischen  Dynastie  zu  rekurrieren  (vgl.  2  Sam  7).  Über  die Stichwortbeziehung ‫כימי עולם‬ berührt sich Am  9,11  direkt  mit  Mi  5,1  (‫)מימי עולם‬,505  aber  die  Heilskonzeptionen  unter‐ scheiden  sich  in  der  Bedeutung,  die  der  mythischen  Vorzeit  zugewie‐ sen wird. Während in Mi 5,1 eine Kontinuität vorliegt, da das Hervor‐ gehen  des  ‫מושׁל‬  in  der  Urzeit  angelegt  ist,  kann  in  Am  9,11  von  einer  Korrespondenz gesprochen werden, da das Heil entsprechend der Vor‐ zeit  erwartet  wird.  Ein  literarisches  Abhängigkeitsverhältnis  ist  daher  unwahrscheinlich, da auch inhaltlich keine weiteren Berührungspunk‐ te vorliegen.  5.5.3.5. Hoffnung auf Serubbabel im Haggai‐ und Sacharjabuch  Sowohl  das  Haggai‐  als  auch  das  Protosacharjabuch  thematisieren  in  ihrer  literarischen  Endgestalt  die  Bedeutung  des  neuen  Tempels  und  werden durch ihre jeweilige Datierung auf die persische Zeit paralleli‐ siert.  So  finden  sich  in  beiden  Büchern  Texte,  die  in  unterschiedlicher  Form Hoffnung in die Figur des Davididen Serubbabel setzen, den En‐ kel des letzten judäischen Königs Jojachin, der neben dem Hohepriester                                 502  Vgl.  z.  B.  WOLFF,  BK  XIV/2,  406f.;  SEYBOLD,  Königtum,  61;  BECKER,  Messiaserwar‐ tung, 58, und JEREMIAS, ATD, 134. Dagegen hat VEIJOLA, Verheißung, 167‐169, darauf  hingewiesen,  dass  sich  das  verwendete  Bildmaterial  im  Alten Testament durchweg  nicht  auf  die  Wiedererrichtung  eines  Hauses,  sondern  auf  den  Wiederaufbau  eines  verwüsteten  Landes  bezieht,  so  dass  die  Hütte  Davids  als  Synonym  für  Israel/Juda  zu interpretieren sei.  503  Vgl.  WOLFF,  BK  XIV/2,  407  („Doch  sah  unser  nachexilischer Theologe das Zentrum  des Heils vielleicht kleinräumiger.“) und JEREMIAS, ATD, 134.   504  WASCHKE, Wurzeln, 80.  505  Die constructus‐Verbindung von ‫יום‬ und ‫עולם‬ findet sich außer an den beiden Stellen  nur noch in Dtn 32,7; Jes 63,9.11; Mi 7,14, und Mal 3,4. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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Joschua im Alten Testament als Hauptakteur beim Tempelbau auftritt.  Es erscheint deshalb gerechtfertigt, die relevanten Texte in Hag 2,20‐23;  Sach  3,8;  4,6‐10;  6,9‐15  und  9,9f.  im  Folgenden  gemeinsam  zu  behan‐ deln.  Am Schluss des Haggaibuches findet sich in Hag 2,20‐22.23 ein re‐ daktionell zusammengestelltes Verheißungswort,506 das an Serubbabel,  den Statthalter von Juda (‫)פחת־יהודה‬, gerichtet ist (V 20f.), und in seiner  Grundform den endzeitlichen Umsturz des Kosmos und die Unterwer‐ fung der anderen Völker ankündigt (V 22). Der Zusatz in V 23 richtet  sich erneut an Serubbabel, der nun nicht mit seiner Amtsbezeichnung,  sondern mit seiner Abstammung als „Sohn des Schealtiel“ (‫)בן־שׁאלתיאל‬  und als „Knecht“ (‫)עבד‬ angeredet wird, und dem Jhwh verheißt, dass er  ihn einem Siegelring (‫)חותם‬ gleichmachen und ihn erwählen wird (‫)בחר‬.  Die Verwendung von Motiven aus der königlichen Typologie wie der  Tempelbau,  das  Erwählungsmotiv,  der  ‫‐עבד‬Titel  und  das  Bild  des  Sie‐ gelrings, mit dem eine Anspielung auf Jer 22,24‐27 vorliegt,507 sprechen  dafür, dass hier königliche Erwartungen in die Person Serubbabels ge‐ setzt  werden.  Während  dessen  Großvater  Jojachin  die  Königswürde  durch Verwerfung und Exilierung verloren hat (vgl. Jer 22,24‐27), wagt  Jhwh in Serubbabel einen Neuanfang mit der davidischen Dynastie.508 Im  Protosacharjabuch  ist  als  erster  Text  Sach  3,8  in  den  Blick  zu  nehmen, in dem das Kommen eines anonymen Sprosses (‫)צמח‬ angesagt  wird, der zusätzlich den Knechtstitel trägt. Bei diesem Heilswort han‐ delt es sich um einen Einschub in den Kommentar der Joschua‐Vision  in Sach 3,8‐10, durch den die Steinverleihung an Joschua sekundär auf  den  Spross  gedeutet  wird.509  Der  Knechtstitel,  der  in  Hag  2,23  für  Serubbabel  verwendet  wird,  legt  für  den  unbekannten  Spross  in  Sach  3,8  eine  Identifikation  mit  Serubbabel  nahe.  Außerhalb  des  Haggai‐  und Sacharjabuches findet sich der ‫‐עבד‬Titel nur noch in den Davidpas‐                                506  Vgl.  DEISSLER,  NEB,  264;  KRATZ,  Serubbabel,  88.  Dagegen  vermutet  REVENTLOW,  ATD,  29,  einen  einheitlichen  Zusammenhang  in  Hag  2,20‐23,  während  WÖHRLE,  Sammlungen, 311, die These vertritt, dass 2,23 ursprünglich an die Grundschicht in  2,15‐19* angeschlossen hat und nachträglich durch die Einschreibung von V 20f. von  dieser  getrennt  worden  sei.  Anders  spricht  sich  MARTIN  HALLASCHKA  in  seiner  bisher  noch  nicht  abgeschlossenen  Arbeit  für  die  literarische  Einheitlichkeit  des  Stückes Hag 2,20‐23 aus, in dem er einen relativ jungen Text des Buches sieht. 507  So mit SEYBOLD, Königtum, 245; REVENTLOW, ATD, 30f.; POLA, Priestertum, 161, und  WÖHRLE, Sammlungen, 311. Anders WOLFF, BK XIV/6, 84, nach dem die Rede vom  Siegelring so zu deuten ist, dass Serubbabel das Rechtsgeschäft des Tempelbaus be‐ kräftigt werde.  508  In dieser Deutung mit RUDNIG, Heilig, 158; KESSLER, Book, 237f., und KRATZ, Serub‐ babel, 88.   509  Mit  einem  Einschub  in  V  8f.*,  der  den  anonymen  Spross  einschreibt,  rechnen  SCHÖTTLER, Gott, 376ff., und KRATZ, Serubbabel, 81. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

sagen des Ezechielbuches (vgl. Ez 34,23f.; 37,24.25) für eine zukünftige  Herrschergestalt. In der älteren Forschung ist die Identifikation des ‫צמח‬  mit  Serubbabel  oft  auch  durch  eine  Ableitung  seines  Namens  als  „Spross Babels“ begründet worden;510 gegen diese etymologische Her‐ leitung  haben  sich  aber  jüngst  Einwände  erhoben.511  Obwohl  letztlich  nicht auszuschließen ist, dass mit ‫צמח‬ eine Anspielung auf den Namen  Serubbabels vorliegt, muss doch die Frage gestellt werden, ob das Wort  in  Sach  3,8  nicht  zusätzlich  auf  einen  anderen  Hintergrund  verweist.  ‫צמח‬ wird in Sach 3,8 absolut, gleichsam als Titel, verwendet und scheint  sich damit auf eine bereits bekannte Größe zurückzubeziehen. Als Be‐ zugstext kommt von den Herrscherverheißungen der anderen Prophe‐ tenbücher  nur  die  Verheißung  des  rechtmäßigen  Davidsprosses  in  Jer  23,5f.  in  Frage,  wo  ‫צמח‬  ebenfalls  für  einen  zukünftigen  Herrscher  ver‐ wendet wird.512 Sach 3,8 verbindet auf diese Weise vorgegebene Herr‐ schertitel wie ‫עבד‬ und ‫צמח‬, um die Vorrangstellung eines unbekannten  (davidischen) Herrschers gegenüber Joschua in Sach 3 einzutragen. Der  Bezug  auf  Hag  2,20‐23  legt  zwar  eine  Deutung  auf  Serubbabel  nahe,  der ‫צמח‬ wird aber nicht explizit mit diesem identifiziert.  Die nächste, diesmal unmissverständliche Erwähnung Serubbabels  findet sich in Sach 4,6‐10, das anerkanntermaßen als Einschub zu beur‐ teilen ist, der den Zusammenhang von Leuchtervision und Deutung in  Sach  4  unterbricht.513  Dieser  seinerseits  mehrschichtige  Einschub  ent‐ hält  ausdrücklich  an  Serubbabel  gerichtete  Gottesworte  zur  Vollen‐ dung des Tempelbaus, der sich nicht aus menschlicher Kraft vollziehen  wird, sondern durch den Gottesgeist (‫ברוחי‬, V 6). Auf diese Weise wird  Serubbabel den Schlussstein hervorbringen (‫יצא‬ hif., V 7) und das Werk  vollenden  (V  8f.).  Mit  der  Beauftragung  zum  Tempelbau  wird  Serub‐ babel  auch  in  Sach  4,6‐10  erneut  eine  königliche  Option  entgegen  ge‐ bracht (vgl. 2 Sam 7,13; 1 Kön 6), wobei aber ausdrücklich betont wird,  dass ihm dies nur in der Bindung an Jhwh und dessen Geist gelingen  wird.514   Ein weiteres Mal spielt der ‫צמח‬ im Abschluss des Visionszyklus in  Sach  6,9‐15  eine  Rolle.  In  diesem  Jhwh‐Wort  wird  zuerst  der  Prophet  beauftragt, eine Sammlung durchzuführen, um eine oder mehrere Kro‐                                510  511  512  513  514 

Vgl. exemplarisch SELLIN, KAT, 470f., und STAMM, Namengebung, 269f.  Vgl. POLA, Priestertum, 129.206.  So auch SEYBOLD, Königtum, 209, und POLA, Priestertum, 206f.  Vgl. schon WELLHAUSEN, Propheten, 182f.  Die  Wirkung  des  Geistes  und  das  „Hervorgehen“  des  Schlusssteines  (‫יצא‬  hif.)  erin‐ nern entfernt an die Weissagung in Jes 11,1‐5, wobei aber in Sach 4 der Schlussstein  an  die  Stelle  des  zukünftigen  Königs  getreten  ist.  Ein  literarisches  Verhältnis  zwi‐ schen den Texten erscheint daher eher unwahrscheinlich. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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nen  herzustellen,515  und  den  Hohepriester  Joschua  zu  krönen  (V  11).  Auf diese Krönungsaussage folgt in V 12 in einem Wort an Joschua die  Ankündigung eines als ‫צמח‬ bezeichneten Mannes, unter dem es spros‐ sen wird (‫)צמח‬, und der den Tempel Jhwhs bauen wird. V 13a wieder‐ holt die Ansage des Tempelbaus und fügt erweiternd hinzu, dass „er“  Hoheit (‫)הוד‬ tragen und auf seinem Thron (‫)על־כסאו‬ herrschen werde. In  einer gewissen Konkurrenz zu dieser Thronaussage wird in V 13b die  Ansage  über  die  Herrschaft  auf  dem  Thron  wiederholt,  nur  dass  sie  diesmal eindeutig auf einen Priester bezogen ist. Aus diesen Doppelun‐ gen  wird  bereits  ersichtlich,  dass  das  Wort  ursprünglich  nur  an  einen  der  beiden,  Joschua  oder  den  Spross,  gerichtet  war  und  sekundär  auf  die  Zweiheit  ausgeweitet  worden  ist.516  Da  einzig  vom  Hohepriester  die  Krönung  berichtet  wird  (V  11b),  spricht  dies  dafür,  dass  seiner  Herrschaft die Priorität zukommt. Hier wird deshalb im Anschluss an  SCHÖTTLER  die  These  vertreten,  dass  Krone,  Thron  und  (königliche)  Herrschaft  ursprünglich  dem  Hohepriester  zugedacht  waren  (V  11b.  13a)  und  erst  sekundär  auch  dem  Spross  zugeschrieben  worden  sind  (V  12.13b).517 Mithin wird ähnlich wie in Sach 3,8 die Vorrangstellung  des  Hohepriesters  Joschua  durch  eine  als  ‫צמח‬  beschriebene  Gestalt  nachträglich eingeschränkt. Auch hier legen die dem Spross entgegen‐ gebrachten  Aufgaben  wie  Tempelbau  und  Herrschertum  sowie  die  Anspielung an den Namen eine Identifikation mit Serubbabel nahe, die  aber erneut nicht ausdrücklich expliziert wird.  Damit bleibt nur noch das Textstück Sach 9,9f., in dem der Tochter  Zion‐Jerusalem  der  Einzug  eines  unbekannten  Königs  (‫)מלך‬  angekün‐ digt wird (V 9), der ein universales Friedensreich errichten soll (V 10).  Diese  Herrscherverheißung  unterscheidet  sich  grundlegend  von  der  sonstigen  Herrschererwartung  im  Protosacharjabuch.  So  ist  sie  zuerst  weder  explizit  noch  implizit  mit  der  Person  Serubbabels  verbunden,  aber auch die Zeichnung des Königs als Gerechter (‫)צדיק‬ und seine Ver‐ kündigung  von  Frieden  (‫)שׁלום‬  wurzeln  zwar  in  der  konventionellen                                 515  Zur textkritischen Diskussion vgl. ausführlich POLA, Priestertum, 224f. Die Krönung  nur  einer  Person,  die  in  V  11b  vorgesehen  ist,  sowie  die  singularische  Verbform  in  V 14  sprechen  dafür,  dass  der  Plural  sekundär  ist  und  ursprünglich  nur  von  einer  Krone die Rede war (vgl. KRATZ, Serubbabel, 82).  516  Mehrheitlich  wird  die  literarische  Ursprünglichkeit  des  ‫צמח‬  vertreten;  vgl.  z.  B.  WELLHAUSEN,  Propheten,  185;  ELLIGER,  ATD,  128‐131;  WERNER,  Texte,  84;  KAISER,  Gott III, 185. Anders SCHÖTTLER, Gott, 154‐160, und im Anschluss an diesen KRATZ,  Serubbabel,  82,  die  davon  ausgehen,  dass  die  Krönung  ursprünglich  dem  könig‐ lichen Hohepriester galt und sekundär auch dem ‫צמח‬ Serubbabel zugedacht wurde.   517  Vgl. SCHÖTTLER, Gott, 154‐160.380ff.; siehe auch KRATZ, Serubbabel, 82. Ebenso geht  MARTIN  HALLASCHKA  (vgl.  Anm.  506)  davon  aus,  dass  Sach  6,9‐15  ursprünglich  königliche  Würde  und  Funktionen  (‫;עטרות‬  Tempelbau;  ‫)הוד‬  für  das  zadokidische  Priestertum reklamieren will. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Königstypologie,  berühren  sich  aber  in  keinem  Punkt  mit  den  Herr‐ schererwartungen  in  den  übrigen  Buchtexten.  Vielmehr  scheint  sich  hier die Beschreibung eines zukünftigen Heilskönigs zu finden, wie er  auch  in  anderen  Texten  der  Prophetenbücher  angekündigt  wird  (vgl.  Jes 9,1‐6; 11,1‐5; Mi 5,1‐5*).518 Zusammenfassend  lassen  sich  zwei  Textgruppen  im  Haggai‐  und  Sacharjabuch  unterscheiden.  Die  erste  Gruppe  umfasst  Hag  2,20‐23  und  Sach  4,6‐10,  in  denen  explizit  der  Davidide  Serubbabel  als  Hoff‐ nungsträger  benannt  wird.  Auch  wenn  seine  davidische  Abkunft  und  damit  die  Kontinuität  der  davidischen  Dynastie  nicht  ausdrücklich  erwähnt ist, so wird er doch in Anlehnung an das Bild des davidischen  Königs  im  Alten  Testament  gezeichnet,  indem  ihm  königliche  Optio‐ nen  entgegengebracht  werden.519  In  der  zweiten  Gruppe  von  Texten,  die  Sach  3,8  und  Sach  6,9‐15  umfassen,  ist  dagegen  ein  anonymer  ‫צמח‬  an die Stelle Serubbabels getreten, von dem nun königliche Herrschaft  und  Tempelbau  ausgesagt  werden.  Die  beiden  Texte  berühren  sich  auch  darin,  dass  durch  die  Einschreibung  des  Sprosses  jeweils  eine  ursprüngliche  Vorrangstellung  des  Hohepriesters  Joschua  korrigiert  wird.  Aufgrund  des  literarischen  Kontextes  und  der  Querverbindun‐ gen innerhalb des Buches konnte gezeigt werden, dass der ‫צמח‬ mit Se‐ rubbabel  identifziert  werden  kann.  Allerdings  besitzt  der  Titel  gerade  in  seiner  Anonymität  ein Identifikationspotential, das über die Person  Serubbabels  hinausgeht.  Im  Hintergrund  der  Gestalt  steht  die  Verhei‐ ßung des davidischen Sprosses aus Jer 23,5f., die im Sacharjabuch auf‐ genommen  wird  und  hier  zum  Titel  für  den  zukünftigen  Heilskönig  avanciert.   Im  Haggai‐  und  Sacharjabuch  zeichnet  sich  damit  eine  Überliefe‐ rungsbewegung  ab,  in  der  der  Statthalter  Serubbabel,520  mit  dessen  historischer  Person  sich  vermutlich  konkrete  Restaurationserwartun‐ gen  verbunden  haben,  zu  einer  Chiffre  für  den  zukünftigen  davidi‐ schen König geworden ist. Die Loslösung von seiner Person ist schließ‐ lich  im  literarisch  mutmaßlich  jüngsten  Text  Sach  9,9f.  vollzogen,  der  im  Buchablauf  rezeptionell  zwar  auf  Serubbabel  hin  gelesen  werden  soll,  die  Verheißungen  aber  gewissermaßen  entschränkt  und  auf  den  Heilskönig der Zukunft ausweitet.                                 518  Es ist aber auch mit BECKER, Messias, 252, in Erwägung zu ziehen, „dass in Sach 9,9  ursprünglich  gar  nicht  an  den  Messias‐König,  sondern  an  den  König  Jahwe  gedacht  war, dessen Ankunft am Zion sehnlichst erwartet wird (vgl. Jes 40,1‐11; 52,7‐10).“  519  Vgl. RUDNIG, Heilig, 159, der allerdings keine inhaltliche Differenzierung der Serub‐ babel‐Texte im Haggai‐ und Sacharjabuch vornimmt.  520  Zur  historischen  Bezeugung  vgl.  insgesamt  R.  G.  KRATZ,  Statthalter,  Hohepriester  und  Schreiber  im  perserzeitlichen  Juda,  in:  DERS.,  Das  Judentum  im  Zeitalter  des  Zweiten Tempels, FAT 42, Tübingen 2004, 93‐119. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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5.5.4. Synthese und Zusammenfassung   Die vorangehende Übersicht zeigt, dass sich kein einheitliches Bild für  die  Erwartung  einer  Erneuerung  des  davidischen  Königtums  in  den  Prophetenbüchern zeichnen lässt. Die einzelnen Texte zeigen eine Fülle  von unterschiedlichen Herrschererwartungen, die in irgendeiner Form  explizit  mit  David  bzw.  dem  davidischen  Königtum  verbunden  sind.  Auffällig  ist,  dass  die  Verheißungen  mit  Ausnahme  der  Serubbabel‐ texte im Haggai‐ und Sacharjabuch allesamt am Schluss kleinerer oder  größerer  Textsammlungen  stehen521  und  jeweils  als  redaktionelle  Ein‐ schreibungen verfasst worden sind. Dies zeigt zuerst, dass die Restitu‐ tion  des  Königtums  in  den  Prophetenbüchern  nicht  zu  den  Topoi  der  Heilsverkündigung  gehört,  die  die  Überlieferungsbildung  angestoßen  haben. Vielmehr erweist sich die Thematik als heilsprophetische Reak‐ tion  auf  vorausgehende  Königskritik  (vgl.  Jes  9,1‐6;  11,1‐5;  32,1‐5;  Jer  23,5f.) oder als Konkretisierung bzw. Korrektur einer bestimmten vor‐ gegebenen  Heilsperspektive  (vgl.  Mi  5,1‐5*;  Am  9,11f.;  Hag  2,20‐23;  Sach 4,6‐10; 6,9‐15 und 9,9f.). Die Texte sind darüber hinaus auch durch  große  literarische  Unabhängigkeit  voneinander  gekennzeichnet,  da  es  nur  wenige  Verbindungen  gibt,  die  über  den  Kontext  des  jeweiligen  Buches  hinausweisen.  Allerdings  konnte  für  Mi  5,1‐5*  wahrscheinlich  gemacht werden, dass es die Weissagungen im Ersten Jesajabuch und  vermutlich Ez 34,23f. voraussetzt und die dortigen Aussagen zu einem  Kompendium über den zukünftigen Heilskönig verbindet. Die Erwar‐ tung des kommenden Herrschers aus Mi 5,1‐5* ist dann ihrerseits in Jer  30,21  aufgenommen  worden.  Eine  erstaunliche  Rezeption  hat  schließ‐ lich  auch  die  kurze  Verheißung  des  davidischen  Sprosses  in  Jer  23,5f.  erfahren,  die  in  gleich  drei  Textbereichen  rezipiert  worden  ist.  Zuerst  ist  das  Heilswort  in  Jer  33,14‐26  in  mehreren  Fortschreibungsschüben  aktualisiert  worden,  während  zweitens  durch  seine  Auslegung  in  Ez  34,23f.* die Davidthematik in das Ezechielbuch eingetragen worden ist.  Schließlich  wird  der  Titel  ‫צמח‬  in  den  Herrscherverheißungen  des  Sa‐ charjabuches aufgenommen.  Die  relative  Unabhängigkeit  der  verschiedenen  Vorstellungen  ist  auch daraus zu ersehen, dass sich zwar innerhalb der einzelnen Bücher  konzeptionelle  Linien  nachweisen  lassen,  systematisierende  Aussagen  für die fraglichen Texte im corpus propheticum aber schwer fallen.522 Im                                 521  Vgl. WASCHKE, Wurzeln, 89.  522  So muss der Versuch von SCHMIDT, Ohnmacht, 18‐34, motivgeschichtlich eine zuneh‐ mende  „Passivität“  der  „Messias“‐Gestalt  in  der  üblichen  Reihe  von  messianischen  Texten nachzuweisen, daran scheitern, dass er eine bestimmte diachrone Abfolge der  Texte voraussetzt und sie von vornherein in der Perspektive auf Christus hin liest. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Hinblick auf die Gestalt des erwarteten Herrschers lassen sich aber drei  verschiedene Vorstellungen unterscheiden:523 Zuerst ist die Erwartung  eines Herrschers zu nennen, der in Kontinuität zur davidischen Dynas‐ tie  steht  und  durch  diese  Abstammung  als  idealer  König  qualifiziert  wird. Diese Konzeption findet sich vor allem im Jeremiabuch, wo in Jer  23,5f.  (33,14‐26)  ein  rechtmäßiger  Spross  Davids  erwartet  wird  und  wahrscheinlich  auch  in  Am  9,11f.,  wenn  die  ‫כסת דוד‬  hier  auf  die  davi‐ dische  Dynastie  zu  deuten  ist.  Die  zweite  Gruppe  von  Texten  rechnet  dagegen mit einem Herrscher nach dem Vorbild Davids, dem zwar die  vom  Königtum  Davids  her  bekannten  Herrscherattribute  zukommen,  der aber nicht als Abkömmling dieser Dynastie beschrieben wird. Die  davidische  Typologie  hat  hier  die  Funktion  eines  Entsprechungsmo‐ tivs, wobei insbesondere das vergleichbare Heilshandeln Jhwhs betont  wird, der wie in der vorexilischen Zeit David, so in der Heilszeit einen  neuen Herrscher erstehen lassen wird.524 Dieses Konzept findet sich vor  allem  in  den  Weissagungen  des  Ersten  Jesajabuches  und  in  der  Ver‐ heißung Mi 5,1‐5*, in der der neue Herrscher mit David nur noch durch  denselben  Herkunftsort  verbunden  ist.  In  einer  traditionsgeschicht‐ lichen  Nähe  zu  dieser  zweiten  Konzeption  stehen  auch  die  Ankündi‐ gungen  eines  nicht  näher  bestimmten  Königs  in  Jes  32,1‐5;  Jer  30,21  und  Sach  9,9f.,  in  denen  sich  die  Beschreibung  des  erwarteten  Herr‐ schers ganz vom Bild Davids gelöst hat.  Die übrigen Herrscherverheißungen im Haggai‐ und Sacharjabuch  sperren sich dagegen gegen eine eindeutige Zuordnung. Auf der einen  Seite impliziert der Bezug auf den Davididen Serubbabel in Hag 2,20‐ 23  und  Sach  4,6‐10  ebenso  eine  Kontinuität  der  davidischen  Dynastie  wie auch die Titulatur als „Spross“ in Sach 3,8 und Sach 6,9‐15. Auf der  anderen  Seite  aber  finden  sich  keine  Hinweise  darauf,  dass  eine  Fort‐ setzung  von  Davids  Herrschaft  erwartet  wird;  vielmehr  spricht  Sach  6,13a  davon,  dass  der  ‫צמח‬  auf  „seinem“  Thron  herrschen  wird  und  nicht auf dem Thron Davids. Es kann vermutet werden, dass hinter der  Bewegung  von  Serubbabel  hin  zu  der  Verheißung  des  ‫צמח‬  auch  eine  gewandelte  Herrschererwartung  steht,  die  sich  zunehmend  von  der  Idee einer Kontinuität der davidischen Dynastie gelöst hat.  Als  dritte  Gruppe  sind  schließlich  die  Stücke  in  den  Blick  zu  nehmen, die konkret von David selbst als dem zukünftigen Herrscher                                 523  Die  Kategorien  folgen  der  von  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen,  298,  vorgenomme‐ nen Unterscheidung zwischen „der Erwartung eines primär dynastisch qualifizierten  Davididen und der eines Herrschers wie David.“ Diesen beiden Konzeptionen stellt  er als drittes Modell die von David absolut sprechenden Texte in Ez 34,23f.; 37,24f.;  Hos 3,5 sowie Jer 30,9 gegenüber (vgl. SCHWAGMEIER, a.a.O., 299).   524  Vgl. SCHWAGMEIER, Untersuchungen, 298: „Dieser Herrscher ... steht nicht in der Fol‐ ge Davids, sondern am gleichen Ort wie jener“. 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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sprechen.  Hier  sind  die  Davidverheißungen  des  Ezechielbuches  und  die dadurch beeinflussten Stellen Jer 30,8f. und Hos 3,5 zu nennen. In  diesen  Texten  wird  ‫דוד‬  absolut  gebraucht  und  ist  als  Chiffre  für  den  zukünftigen Herrscher zu verstehen, der im Sinne eines David redivivus  mit  dem  Idealbild  Davids  identifiziert  wird.525  Da  in  Ez  34,23f.*  eine  literarische  Abhängigkeit  von  der  Verheißung  des  davidischen  Spros‐ ses  in  Jer  23,5f.  vorliegt,  kann  die  Erwartung  Davids  im  Ezechielbuch  somit auch als Fortführung und Korrektur der Herrschererwartung im  Jeremiabuch  verstanden  werden.  Die  dort  ausgesagte  Kontinuität  der  davidischen  Dynastie  wird  in  Ez  34,23f.*  durch  die Hoffnung auf den  einen  David  ersetzt  und  zugleich  theologisch  transzendiert:  Die  neue  Hoffnungsgestalt ist die alte und doch ist ihre Herrschaft von anderer  Qualität und von ewiger Dauer.  Darüber hinaus unterscheidet sich die spezifische Ausprägung der  Daviderwartung im Ezechielbuch auch darin von den übrigen Prophe‐ tenbüchern,  dass  die  Herrscherverheißung  mit  der  Bundesvorstellung  verbunden wird. David und Jhwh werden zuerst in Ez 34,23f.* in einer  Nachahmung  der  Bundesformel nebeneinander gestellt, aber auch die  redaktionelle Kombination von Bundesformel und Davidverheißung in  Ez 37,20‐23*.24.25ff. zeigt die innere Bezogenheit von Daviderwartung  und Bundesverhältnis. Indem David in das Bundesverhältnis zwischen  Gott  und  seinem  Volk  mit  hineingenommen  wird,  erhält  seine  Herr‐ schaft von daher ihre Legitimität: Wie Jhwh ihnen zum Gott wird (‫להם‬ ‫לאלהים‬, 34,24aa), so wird David ihnen zum Hirten (‫להן לרעה‬, 34,23bb) und  sekundär zum Fürst in ihrer Mitte (34,24ab).526 Damit ist seine Regent‐ schaft  aber  auch  der  Herrschaft  Jhwhs  untergeordnet,  der  David  er‐ weckt und ihn zum Hirten über sein Volk bestellt (34,23). Die Vorrang‐ stellung  Jhwhs,  die  sich  auch  in  den  theokratisch  geprägten  Stücken                                 525  Mit der Interpretation als „Chiffre“ erübrigt sich eine Diskussion darüber, inwieweit  in diesen Texten die Wiederkehr des (historischen) David oder ein neuer David(ide)  erwartet  wird  (vgl.  zur  Diskussion  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen,  297).  Während  für  das  Ezechielbuch  im  Allgemeinen  die  zweite  Position  vertreten  wird  (vgl.  z.  B.  ZIMMERLI,  BK,  842;  RUDNIG,  Heilig,  61),  hat  SCHWAGMEIER,  a.a.O.,  297‐304,  jüngst  nachzuweisen  versucht,  dass  die  masoretische  Buchgestalt  des  Ezechielbuches  im  Rahmen  der  Wiederbelebung  Israels  die  Rückkehr  des  David  erwartet  (vgl.  schon  HITZIG,  KEH,  265).  Selbst  wenn  diese  Interpretation  für  die  masoretische  Buchfas‐ sung  Gültigkeit  haben  sollte,  muss  doch  von  einem  anderen  Verständnis  für  die  ursprünglichen Daviderwartungen ausgegangen werden, für die sich m. E. die obige  Deutung nahe legt.  526  Vgl.  auch  SEYBOLD,  Königtum,  151:  „Auch  Ezechiel  versteht  das  davidische  König‐ tum von der Konzeption der Bundesrelation her. Der Herrscher ist für ihn Repräsen‐ tant des Jahwevolkes.“ Siehe weiterhin GOSSE, Alliance, 419‐428, der den Nachweis  geführt hat, dass die Davidverheißungen im Ezechielbuch mit dem Thema des neu‐ en Bundes verknüpft worden sind. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

des  Ezechielbuches  und  der  Konzeption  des  ‫נשׂיא‬  gezeigt  hat,  erklärt  zudem, warum der  ‫ברית שׁלום‬ in Ez 34,25 und Ez 37,25 mit dem Volk als  Bundespartner  geschlossen  wird  und  gerade  nicht  mit  dem  Knecht  David.  Der  Zustand  von  ‫שׁלום‬  im  Land  ist  eine  Auswirkung  des  Bun‐ desverhältnisses,  das  Jhwh  gewährt,  nicht  aber  eine  Auswirkung  der  Regentschaft des Heilskönigs; vgl. dagegen Jes 9,5; 11,6‐9; Mi 5,4a; Sach  9,10.  Es  bleibt  zu  fragen,  wie  diese  Beobachtungen  in  Bezug  auf  die  Frage  nach  den  Wurzeln  der  Messiaserwartung  im  Alten  Testament  auszuwerten sind. Der Überblick über die mit David verbundenen Ver‐ heißungen in den Prophetenbüchern hat gezeigt, dass sie in erster Linie  als  Hoffnungen  auf  die  Wiedereinsetzung  eines  Königs  bzw.  des  Kö‐ nigtums zu verstehen sind. Die Übergänge von der irdisch‐politischen  zur  idealisierend‐utopischen  Erwartung  sind  dabei  aber  fließend;  dies  zeigen Texte wie Jes 9,1‐6 und seine Rezeption in Jes 11,1‐5 ebenso wie  die Entwicklung im Haggai‐ und Sacharjabuch. Ein Text wie Jer 33,14‐ 26 beweist, dass sich die Hoffnung auf die Erneuerung des davidischen  Königtums bis in die spätpersische Zeit hinein gehalten hat. Von einem  Messias im Sinne eines „eschatologischen“ Heilsmittlers kann dagegen  erst dann gesprochen werden, wenn klar ist, dass mit einer Wiederein‐ setzung des Königs nicht mehr zu rechnen ist. Hier wäre an den Über‐ gang  von  der  persischen  zur  hellenistischen  Zeit  zu  denken.  In  einer  rückwärtigen  Perspektive  ist  dann  verständlich,  dass  sämtliche  Texte  über  die  Restauration  des  davidischen  Königtums  im  corpus  propheti‐ cum  eine  messianische  Rezeption  erfahren  haben.  Insbesondere  die  Verheißungen Jes 7,14; 9,1‐6; 11,1‐5; Mi 5,1‐5* und Sach 9,9f., in denen  keine Kontinuität der davidischen Dynastie erwartet wird, sondern ein  Herrscher  nach  Art  Davids,  konnten  auf  diese  Weise  zu  den  messia‐ nischen Weissagungen par excellence erhoben werden.  5.6. David und die Wiedervereinigung  Die  vorangehenden  Analysen  haben  gezeigt,  dass  in  Ez  37,15‐24  eine  literarisch  mehrschichtige  Textfolge  vorliegt,  die  sich  als  Epexegese  über das Motiv der Einheit lesen lässt. Grundlage der Fortschreibungs‐ kette ist die Zeichenhandlung von der Wiedervereinigung in 37,15‐19*,  an  die  sich  in  37,20‐23*.24  Ausführungen  über  die  Einheit  des  Volkes  unter einem König und dem einen Hirten David angelagert haben.   Die Symbolhandlung in Ez 37,15‐19* schlägt einen Bogen zum ein‐ leitenden  Zeichenhandlungszyklus  in  Ez  4,1‐5,2*  und  kann  damit  als  Aufhebung der dortigen Gerichtsansage verstanden werden. Inhaltlich  geht  sie  allerdings  neue  Wege,  da  die  Vereinigung  des  Volkes  zum 

Das geeinte Volk, der eine König und David: Ez 37,15‐24 

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alleinigen Verkündigungsinhalt gemacht wird, während diese ansons‐ ten  im  Alten  Testament  Begleit‐  und  Folgeerscheinung  der  Rückfüh‐ rung  des  Volkes  bzw.  des  Vorgehens  gegen  Fremdvölker  ist.  Mit  der  Wiedervereinigung  zu  einem  Volk  stellt  sich  auch  die  Frage  nach  der  politischen Verfassung, die in 37,20‐23*.24 recht unterschiedlich beant‐ wortet  wird.  So  wird  die  Herrschaft  in  37,20‐23*  zuerst  vom  König  Jhwh selbst ausgeübt, der aber im Folgenden Konkurrenz erhält, da in  37,24  David  als  König  Israels  proklamiert  wird.  Die  thematische  Ab‐ folge  vom  Königtum  Jhwhs  und  der  davidischen  Herrschaft  ist  dabei  nicht  ohne  Parallele  in  Ez  34‐39.  Vielmehr  konnte  aufgezeigt  werden,  dass  die  Fortschreibungen  in  37,20ff.  parallel  zum  Wachstum  in  Ez  34,11ff. erfolgen, und es dabei zu einer wechselseitigen Auslegung der  beiden Kapitel kommt. Im Folgenden wird insbesondere noch das Ver‐ hältnis der jeweiligen „Sockeltexte“ in den beiden Kapitel zu analysie‐ ren sein, um nähere Aufschlüsse über Ausgangspunkt und Anstoß des  reziproken Auslegungsvorganges zu erhalten.527 Die wechselnden Vorstellungen über den zukünftigen Herrscher in  Ez 34,23f.*(24ab) und 37,20‐23*.24.25ff. haben schließlich den Anlass ge‐ boten,  nach  der  spezifischen  Ausprägung  der  Herrschererwartung  im  Ezechielbuch  zu  fragen.  Dabei  hat  sich  gezeigt,  dass  die  Davidver‐ heißung  eine  relativ  junge  Heilsthematik  im  Ezechielbuch  ist,  der  auf  den älteren literarischen Ebenen des Buches eine theokratische Konzep‐ tion  vorausgeht.  Dem  göttlichen  Herrscher  Jhwh  wird  als  kultisches  Oberhaupt der  ‫נשׂיא‬ im Verfassungsentwurf zur Seite gestellt, der buch‐ konzeptionell  das  Gegenbild  zu  den  vorexilischen  Königen  von  Juda  bildet und dessen Herrschaft sich gerade darin auf den kultischen Be‐ reich beschränkt.  Zuerst  unabhängig  von  diesen  Herrschererwartungen  tritt  in  Ez  34,23f.* und 37,24 die Daviderwartung auf, die sich einer Rezeption der  Restaurationshoffnung  im  Jeremiabuch  verdankt  und  diese  auf  einen  David  redivivus  hin  auslegt.  Darin  unterscheidet  sich  die  Daviderwar‐ tung im Ezechielbuch grundlegend von den vergleichbaren Texten im  corpus propheticum, die entweder einen Herrscher aus dem davidischen  Geschlecht  oder  einen  Herrscher  nach  dem  Bilde  Davids  erwarten.  In  der  ezechielischen  Konzeption  verbindet  sich  die  Kontinuität  des  Ge‐ schlechts  mit  der  Vorbildfunktion,  so  dass  David  zur  Chiffre  für  den  idealen  Herrscher  wird.  Darüber  hinaus  bekommt  er  eine  Funktion  innerhalb des Bundesverhältnisses zugewiesen und wird in den Bund  zwischen  Jhwh  und  seinem  Volk  mit  eingeschlossen.  In  einem  letzten                                 527  Vgl.  dazu  u.  Kap.  III.  7.3.  zum  Verhältnis  von  34,1‐10*  und  37,1‐6*  und  weiterhin  Kap.  IV.  2.1.3.2.  zur  Bedeutung  von  34,11‐15*  und  37,15‐19*  für  den  Beginn  der  wechselseitigen Auslegung in Ez 34 und 37. 

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Schritt  findet  ein  Ausgleich  mit  der  ‫‐נשׂיא‬Erwartung  in  Ez  40‐48  statt,  indem David in Ez 37,25 und 34,24ab in den Fürstenstand erhoben und  auf  diese  Weise  mit  dem  Fürsten  des  Verfassungsentwurfes  identifi‐ ziert wird. 

6. Die Wiederbelebung der trockenen Knochen:   Ez 37,1‐14  6.1. Standortbestimmung und Vorgehensweise  Für die Analyse von Ez 37 verbleibt nach den voranstehenden Einzel‐ textanalysen in Kap. III. 4. und III. 5. nur noch die erste Kapitelhälfte in  Ez 37,1‐14, die von der Vision über die Wiederbelebung der zerstreuten  Knochen  und  dem  inhaltlich  anschließenden  Disputationswort  einge‐ nommen wird. Wie die erste Sichtung schon gezeigt hat, stellt sowohl  die  literarische  Analyse  als  auch  die  redaktionsgeschichtliche  Einord‐ nung  des  Textes  vor  einige  Probleme.528  So  wird  die  Textanalyse  vor  allem  die  Frage  zu  klären  haben,  in  welchem  literarischen  Verhältnis  Vision  und  Disputationswort  zueinander  stehen.  Die  Untersuchung  des  redaktionellen  Ortes  wird  dagegen  dadurch  erschwert,  dass  das  Stück nur wenige Querverbindungen zu den umliegenden Heilsworten  und zu der zweiten Kapitelhälfte in Ez 37,15‐28 aufweist.  Schließlich  gehört  Ez  37,1‐14  zu  den  Texten  des  Buches,  die  sich  durch eine ausgeprägte Bildhaftigkeit auszeichnen, in der hier der Ge‐ gensatz von Tod und Leben verhandelt wird. Es liegt deshalb nahe, die  verwendeten Bilder in einem dritten Schritt auf ihre literarischen oder  motivgeschichtlichen  Vorlagen  im  Alten  Testament  hin  zu  untersu‐ chen. Während für die Untersuchung der Todesmotivik vor allem das  Bild der zerstreuten Knochen zu berücksichtigen sein wird, ist das be‐ stimmende Bild der Lebenszusage die Geistverleihung, die der Todes‐ verfallenheit entgegengesetzt wird.  6.2. Textanalyse  6.2.1. Aufbau und Grundschicht  Das  grundlegende  literarische  Problem  in  Ez  37,1‐14  ist  die  Zwei‐ teilung des Textes in die Vision in V 1‐10 und das Disputationswort in  V 11‐14, wobei insbesondere die Frage zu stellen ist, wie das im Dispu‐                                528  Vgl. dazu o. Kap. II. 4.3. 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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tationswort verwendete Bild von der Öffnung der Gräber mit dem Bild  der  auf  der  Ebene  zerstreuten  Knochen  zusammen  passt.  In  der  For‐ schung  ist  von  jeher  umstritten,  ob  hier  mit  einer  ursprünglichen  Zusammengehörigkeit zu rechnen ist oder ob das Verhältnis zwischen  den  beiden  Textteilen  redaktionsgeschichtlich  bestimmt  werden  muss.529  In  der  folgenden  Textanalyse  sollen  deshalb  zuerst  Aufbau  und Struktur untersucht werden, ehe nach der literarischen Beziehung  zwischen Vision und Disputationswort gefragt werden kann.  Die  in  Form  eines  Ich‐Berichtes  gestaltete  Vision  des  Propheten  in  37,1‐10 gliedert sich in zwei Abschnitte V 1‐6 und V 7‐10. Der erste Teil  37,1‐6 wird in V 1 mit der Formel eröffnet, dass die Hand Jhwhs über  den Propheten gekommen ist (‫)היתה עלי יד־יהוה‬,530 und ist damit klar als  Neueinsatz gegenüber den vorausgehenden Heilsworten gekennzeich‐ net.531  Bei  dieser  Einleitung  handelt  es  sich  um  eine  Wendung,  die  an  mehreren Stellen im Buch eine Visionsbeschreibung eröffnet (vgl. 1,3b;  8,1 [‫;]ותפל‬ 37,1 und 40,1).532 Nachdem Jhwh auf diese Weise Besitz von  dem Propheten ergriffen hat, wird Ezechiel im Geist Jhwhs (‫)ברוח יהוה‬533                                 529  Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit der V 1‐10 und V 11‐14 nehmen ZIMMERLI,  BK,  888;  GARSCHA,  Studien,  221f.;  BARTELMUS,  Verbform,  384;  KRÜGER,  Geschichts‐ konzepte, 426f.; ALLEN, WBC 29, 183f.; FUHS, NEB, 207, und BEHRENS, Visionsschil‐ derungen,  253‐269,  an;  vgl.  ebenso  GREENBERG,  AncB,  747‐749,  und  BLOCK,  NICOT  II,  372.  Die  Vertreter  einer  redaktionsgeschichtlichen  Lösung  vermuten  die  Grund‐ schicht des Textes zumeist in der Vision V 1‐10*(11a) (vgl. BALTZER, Ezechiel, 114f.;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  369;  HÖFFKEN,  Beobachtungen,  310‐312;  OHNESORGE,  Jahwe, 298, und WAHL, Tod, 231f.); als einzige Ausnahme ist POHLMANN, Ezechiel‐ studien, 115‐119 (vgl. auch  DERS., ATD, 495), zu nennen, der V 11‐14* als literarisch  vorgängig  gegenüber  V  1‐10*  beurteilt.  Schließlich  versuchen  FOHRER,  HAT,  210;  BERTHOLET, HAT, 126, und LANG, Street Theater, 312, die Unstimmigkeiten zwischen  den Bildern dadurch zu lösen, dass sie V 12f.* als Nachtrag ausscheiden.  530  Die  mit  einfacher  Afformativkonjugation  formulierte  Angabe  in  37,1  hat  schon  im‐ mer  Vermutungen  darüber  ausgelöst,  ob  an  dieser  Stelle  eine  ursprüngliche  Da‐ tumsangabe  ausgefallen  ist,  die  den  auffälligen  Tempusgebrauch  erklären  könnte;  vgl. ZIMMERLI, BK, 886.891; EICHRODT, ATD, 354; HOSSFELD, Untersuchungen, 344f.,  und  BLOCK,  NICOT  II,  373.  Die  Textvariante  der  LXX,  die kai. evge,neto  bietet,  ist  als  Versuch zu werten, die auffällige AK‐Form im MT mit einer dem gewöhnlichen Er‐ zähleinsatz ‫ותהי‬ entsprechenden Formulierung zu glätten. Vgl. dazu auch u. Kap. IV.  3.2.  531  In der durch Pap. 967 bezeugten Textfolge gehen der Vision zuerst die Heilsworte an  die  Berge  Israels  in  36,1‐11*  voraus,  die  auf  späteren  Wachstumsstufen  des  Buches  durch 36,16‐22(23aba); 39,23‐29 und 38,1‐39,22 ergänzt werden. In der masoretischen  Buchfassung  steht  die  Vision  37,1‐14  im  Anschluss  an  die  späte  redaktionelle  Ein‐ schreibung in 36,23bb‐38.  532  Die  Wendung  begegnet  allerdings  auch  außerhalb  eines  visionären  Kontextes;  vgl.  dazu  Ez  3,14.22  und  33,22,  wo  jeweils  ein  besonderes  Moment  der  Einwirkung  Gottes auf den Propheten beschrieben wird.  533  Es  fällt  auf,  dass  Jhwh  als  wahrscheinliches  Subjekt  des  ersten  Narrativsatzes  in  Spannung  zu  Jhwh  als  nomen  rectum  der  Genitivverbindung  ‫ברוח יהוה‬  steht;  es  ist 

   

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hinausgeführt  und  auf  die  Talebene versetzt, die mit Gebeinen (‫)עצמות‬  angefüllt  ist  (V  1).  Dort  wird  er  zwischen  den  vielen  vertrockneten  Gebeinen  im  Kreis  herumgeführt  (V 2),  bevor  Jhwh  das  Wort  an  ihn  richtet (V 3).   Eingeleitet durch ‫ויאמר אלי‬ stellt Jhwh dem als Menschensohn ange‐ redeten  Propheten  die  entscheidende  Frage,  ob  diese  Gebeine  wieder  lebendig  werden  können  (‫)חיה‬.  Ezechiel  antwortet  daraufhin:  „Herr  Jhwh, du weißt es.“ Dieser Rückpass der Frage an Jhwh stellt weniger  die  Ohnmacht  des  Propheten  dar, als vielmehr sein Vertrauen auf die  Wirkmächtigkeit  Gottes.  So  zeigt  auch  die  Fortführung,  dass  es  sich  hier um eine rein rhetorische Frage handelt, denn in V 4 erhält der Pro‐ phet  den  Auftrag,  den  in  der  Ebene  zerstreuten  Gebeinen  das  Wort  Jhwhs  auszurichten.  Der  eigentliche  Inhalt  des  Gotteswortes  folgt  in  V 5 mit der durch die Botenformel eingeleiteten Verheißung, dass Jhwh  Geist  (‫)רוח‬  in  die  Gebeine  kommen  lassen  wird  (‫בוא‬  hif.),  so  dass  sie  leben werden (‫)חיה‬. Im folgenden V 6 wird der Vorgang der Wiederbe‐ lebung  konkretisiert,  indem  detailliert  beschrieben  ist,  dass  Jhwh  Seh‐ nen  (‫)גדים‬  über  die  Knochen  geben  wird  (‫)נתן‬,  Fleisch  (‫)בשׂר‬  an  ihnen  aufsteigen  lässt  (‫עלה‬  hif.)  und  sie  mit  Haut  (‫)עור‬  überzieht  (‫)קרם‬.  Eine  erneute  Zusage  der  Geistverleihung,  die  mit  ‫נתן‬  formuliert  ist,  sowie  eine Erkenntnisformel schließen den Vers ab und zeigen eine erste Zä‐ sur an.   Der  zweite  Visionsteil  in  37,7‐10  beginnt  mit  einer  Ausführungs‐ notiz in V 7a und schildert, wie sich die Wiederbelebung der Knochen  vollzieht.  Unter  Rauschen  und  Beben  rücken  die  Gebeine  aneinander   (‫קרב‬, V 7b) und Ezechiel schaut, wie sie entsprechend der Verheißung  aus  V  6  mit  Sehnen,  Fleisch  und  Haut  ausgestattet  werden  (V  8a).  Allerdings ist nach V 8b noch kein Geist in ihnen, so dass in V 9a mit  Anrede  und  Botenformel  der  Auftrag  an  den  Propheten  ergeht,  dem  Geist (‫)הרוח‬ zu prophezeien. Dieser soll von den vier Winden kommen  und  die  Erschlagenen  (‫)הרוגים‬  anhauchen,  damit  sie  wieder  lebendig  werden (V 9b). Eine erneute Ausführungsformel in V 10a leitet den Be‐ richt über das Kommen des Geistes und die Wiederbelebung ein, deren  Erfolg  eine  abschließende  Notiz  beschreibt,  nach  der  die  Gebeine  als  ein sehr mächtiges Heer auf ihren Füßen stehen (V 10b). Mit dem Ein‐ setzen von Rauschen und Beben in V 7 und dem betonten ‫וראיתי‬ in V 8a  scheint  nach  der  literarischen  Zäsur  in  V  6  nicht  nur  ein  zweiter  Visionsteil,  sondern  insgesamt  der  Beginn  eines  neuen  visionären  Er‐                                deshalb zu überlegen, ob es sich bei der Näherbestimmung durch ‫יהוה‬ um eine nach‐ trägliche Einfügung handelt (vgl. dazu HOSSFELD, Untersuchungen, 345‐347; OHNE‐ SORGE, Jahwe, 284). 

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lebnisses vorzuliegen,534 so dass zu überlegen ist, ob V 7‐10 eine sekun‐ däre Fortschreibung des ursprünglichen Visionsberichtes in V 1‐6 dar‐ stellen.  Das Disputationswort 37,11‐14 setzt in V 11 mit einer weiteren An‐ rede  des  Propheten  ein  und  enthält  in  der  ersten  Vershälfte  eine  Deutung der Totenfeldvision, in der die Gebeine ausdrücklich mit dem  ganzen  Haus  Israel  (‫)כל־בית ישׂראל‬  identifiziert  werden.  Die  Einleitung  mit  ‫ויאמר אלי‬,  der  Anrede  des  Propheten  als  ‫בן־אדם‬  und  dem  Rückver‐ weis  ‫העצמות האלה‬  stellt  formal  eine  Parallele  zu  der  Redeeinleitung  in  V 3  dar,  auf  die  aber  in  der  zweiten  Vershälfte  eine  dreiteilige  Klage  eines Subjekts 3. Pers. pl. folgt. Diese Gruppe beklagt, dass ihre Gebei‐ ne  vertrocknet  sind  (‫)יבשׁ‬,  ihre  Hoffnung  verloren  ist  (‫)אבד‬  und  sie  abgeschnitten sind (‫גזר‬ ni.). Hier liegt eine Sammlung von Klagen vor,  die die Gottesferne und Todesverfallenheit des Menschen beschreiben.  Der Prophet bekommt deshalb (‫לכן‬, V 12a) die Aufforderung, der Grup‐ pe  die  Heilszusagen  Jhwhs  auszurichten.  Dieser  kündigt  an,  dass  er  ihre  Gräber  öffnen  (‫)פתח‬,  sie  aus  den  Gräbern  heraufführen  (‫עלה‬  hif.)  und sie in das Land Israel bringen wird (‫בוא‬ hif., V 12). 535 In V 13 folgt  zuerst  eine  Erkenntnisformel,  die  durch  zwei  partizipiale  Aussagen  erweitert ist, die die ersten beiden Verheißungen aus V 12 wieder auf‐ nehmen  (‫בפתחי‬/‫)ובהעלותי‬.  Abschließend  sagt  Jhwh  in  V  14aa  an,  dass  er  seinen Geist in sie geben wird, damit sie leben. Mit der Formulierung ‫ונתתי רוחי בכם וחייתם‬ stellt V 14aa eine wörtliche Aufnahme von V 6ab dar,  nur dass der Geist in V 14aa explizit mit dem Geist Jhwhs identifiziert  wird. In V 14ab folgt eine Aussage über Israels Aufenthalt (‫נוח‬ hif.) im  Land,  bevor  ein  Ensemble  von  erneuter  Erkenntnisformel,  erweiterter  Wortbekräftigungsformel  und  Gottesspruchformel  das  Disputations‐ wort abschließt.   Die Analyse des Aufbaus in Ez 37,1‐14 hat gezeigt, dass der Text in  eine zweiteilige Vision in V 1‐6.7‐10 und das Disputationswort in V 11‐ 14 zu gliedern ist, wobei mit dem zweiten Visionsabschnitt eine sekun‐ däre  Fortschreibung  vorliegen  könnte.  Die  Frage  der  Beziehung  von  V 1‐6(10) zu V 11‐14 entscheidet sich daran, ob eine überzeugende Be‐ gründung  für  den  Wechsel  in  der  Bildebene  gefunden  werden  kann.                                 534  Vgl. zu dieser Beobachtung auch POHLMANN, Ezechielstudien, 102, und WAHL, Tod,  224.  535  Sowohl in V 12a als auch in V 13b ist die Heraufführung aus den Gräbern durch die  Bestimmung ‫עמי‬ erweitert, die allerdings textkritisch nicht gesichert ist. Die Peschitta  bezeugt  den  Begriff in beiden Versen nicht, während LXX* ihn nur in V 13b bietet.  Mit  ZIMMERLI,  BK,  887f.,  wäre  schwer  zu erklären, warum das theologisch zentrale  ‫עמי‬ in LXX* und Peschitta gestrichen sein sollte, so dass hier mit einer nachträglichen  Ergänzung im MT zu rechnen ist, die zuerst in V 13b und schließlich auch in V 12a  eingetragen wurde (vgl. auch OHNESORGE, Jahwe, 296 Anm. 53). 

   

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Für  eine  ursprüngliche  Zusammengehörigkeit  könnte  zuerst  die  Tat‐ sache  sprechen,  dass  die  zwei  Stücke  formgeschichtlich  im  Verhältnis  von  Bild  und  Deutung  zueinander  stehen.536  Es  wäre  dann  denkbar,  dass  es  sich  bei  den  Gebeinen  in  der  Vision  um  Knochen  handelt,  die  aus den Gräbern an die Oberfläche gelangt sind. In diesem Fall ist aber  nur  schwer  zu  erklären,  warum  die  Vision  als  Begründung  und  Aus‐ führung  des  Disputationswortes  vor  V 11‐14  steht  und  nicht  im  An‐ schluss daran.537 Die inhaltliche Spannung zwischen den beiden Teilen  ist deshalb angemessener als Indiz für einen Fortschreibungsprozess zu  bewerten,  so  dass  nach  einer  redaktionsgeschichtlichen  Erklärung  zu  suchen ist.  Die  Frage  der  literarischen  Priorität  entscheidet  sich  an  V  11,  der  eine  Gelenkfunktion  für  die  Textkomposition  einnimmt,  indem  er  Vision  und  Disputationswort  miteinander  verbindet:  Während  V  11a  mit  der  Deutung  der  Totenfeldvision  nach  vorne  hin  orientiert  ist,  bildet  das  Zitat  in  V  11b  den  Anlass  für  die  folgenden  Heilsverhei‐ ßungen.538  Zuerst  gibt  es  in  textkritischer  bzw.  struktureller  Hinsicht  keinen Grund, an der literarischen Integrität von V 11 zu zweifeln, so  dass allein inhaltliche Gesichtspunkte über die Zuordnung des Verses  entscheiden können.539 Die kurze Deutung der Vision in V 11a ist litera‐ risch  nicht  eigenständig,  sondern  verweist  mit  der  zu  V 3  parallelen  Redeeinleitung und dem exponierten ‫העצמות האלה‬ auf V 1‐6 zurück. Das  bedeutet,  dass  der  Vers  entweder  als  ursprüngliche  Inklusion  zu  V  3  das Ende der Totenfeldvision darstellt oder als redaktionelles Scharnier  für  den  Anschluss  des  Disputationswortes  geschrieben  worden  ist.  In  beiden  Fällen  liegt  mit  V  11a  nicht  der  Beginn  eines  eigenständigen  Redeganges vor, sondern der Vers ist Bestandteil der Grundvision oder  setzt  diese  bereits  voraus.  Indes  ist  auch  fraglich,  ob  mit  der  zweiten  Vershälfte  in  V  11b  der  Beginn  einer  unabhängigen  Texteinheit  vor‐ liegt. So wäre der unvermittelte Beginn mit ‫הנה‬ und Partizip ohne Par‐ allele  im  Buch  und  es  stellt  sich  vor  allem  die  Frage,  wer  das  Subjekt                                 536  Zu dieser klassischen formgeschichtlichen Einordnung vgl. ZIMMERLI, BK, 888.  537  Auch ZIMMERLI bietet dafür letztlich keine Erklärung, sondern begnügt sich mit der  Aussage:  „Daß  in  der  Verkündigung  an  das  Volk  das  Bild  der  Totengebeine  durch  dasjenige von den Gräbern verdrängt wird, darf auf keinen Fall zur Zerreißung der  beiden Teile verleiten“ (ZIMMERLI, BK, 888).  538  Zur  Schlüsselstellung  von  V  11  und  der  Diskussion  um  die  Zuordnung  der  beiden  Vershälften vgl. BARTELMUS, Textkritik, 55‐64.  539  So gegen BALTZER, Ezechiel, 101f., und HOSSFELD, Untersuchungen, 360‐363, die bei‐ de  syntaktische  Schwierigkeiten  bei  der  Abgrenzung  der  Nominalsätze  in  V  11  konstatieren und daraus folgern, dass V 11 keine literarische Einheit bilde. Die ins‐ besondere von BALTZER, a.a.O., 102, als „holprig“ empfundene Reihung von ‫המה הנה‬  erklärt sich aus der parallelen Struktur von V 11aa und V 11ab. 

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des  Satzes  ist.540  Zwar  kann  das  Partizip  ‫אמרים‬  für  eine  unpersönliche  Konstruktion  „man  sagt“  stehen,541  aber die Heilsverheißung in 37,12‐ 14 ist durch ‫אליהם‬ (V 12a) ausdrücklich an die Sprecher des Zitats von  V 11b  gerichtet  und  fordert  ein  persönliches  Subjekt.  Aus  den  ge‐ nannten Gründen erscheint die Annahme unumgänglich, dass sich das  Partizip  in  V  11b  auf  ‫כל־בית ישׂראל‬  bzw.  ‫המה‬  in  V  11a  zurückbezieht.  Wenn V 11b damit literarisch auf V 11a bezogen ist, der seinerseits von  V 1‐6(10) abhängig ist, muss das gesamte Disputationswort die Vision  bereits voraussetzen.542 An dieser Stelle ist allerdings noch eine andere Möglichkeit zu dis‐ kutieren. POHLMANN hat den Nachweis versucht, dass es sich bei V 11‐ 14* um ein selbständiges Disputationswort handelt, das erst nachträg‐ lich durch die interpretierende Vision in V 1‐10 erweitert worden sei.543  Dieses  Disputationswort  habe  in  einem  ursprünglichen  literarischen  Zusammenhang  mit  Heilsworten  in  Ez  36,1‐15*  gestanden,  in  denen  sich  Hoffnungen  der  im  Lande  verbliebenen  Bevölkerung  artikulier‐ ten.544 POHLMANN rechnet dabei mit einem Textanschluss von 36,11 zu  37,11b,545  so  dass  die  Volksklage  in  37,11b  als  Klage  des  Volkes  im  Land zu verstehen sei. Allerdings ist zu fragen, ob in diesem Fall nicht  die in der Totenfeldvision 37,1‐6(10) beschriebene Wiederbelebung die  bessere  Fortführung  der  Heilsworte  in  36,1‐15*  bildet.  Zuerst  sind  die  Verheißungen  im  Grundbestand  von  36,1‐15*  an  die  Berge  Israels  gerichtet,  so  dass  bei  einem  postulierten  Textanschluss  von  36,11  an                                 540  BALTZER, Ezechiel, 101f., und HOSSFELD, Untersuchungen, 360‐363, entscheiden sich  aufgrund  der  von  ihnen  festgestellten  syntaktischen  Unregelmäßigkeiten  beide  gegen die Versaufteilung der Masoreten und versetzen den Atnah von ‫המה‬ zu  ‫ישׂראל‬,  um so ein Subjekt für den zweiten Nominalsatz zu gewinnen. Dagegen ist aber ein‐ zuwenden,  dass  die  Abfolge  ‫המה הנה אמרים‬  kaum  eine  syntaktische  Verbesserung  zu  nennen ist und darüber hinaus keine Parallele im Alten Testament hat (vgl. BARTEL‐ MUS, Textkritik, 61f.).  541  Vgl. GesK §116t. Diese Konstruktion findet sich im Ezechielbuch weiterhin in Ez 21,5  und  36,13.  Allerdings  unterscheiden  sich  die  Belege  dadurch  von  Ez  37,11b,  dass  jeweils  eine  formale  Einleitung  für  das  Zitat  gegeben  ist  und  das  Subjekt  des  Aus‐ spruches im folgenden Text keine Rolle mehr spielt, so dass wirklich ein unpersön‐ liches „man“ vorliegt.  542  Das Problem des Subjektbezuges in V 11a könnte auch dadurch gelöst werden, dass  das Grundwort in V 11‐14* ursprünglich an eine kurze Visionseinleitung in V 1.2bb  angeschlossen  haben  könnte.  Auch  hier  besteht  aber  die  Konstellation,  dass  die  Knochen nach V 1 bereits auf der Ebene liegen, bevor in V 12 ihre Herausholung aus  den Gräbern angesagt wird, was m. E. gegen diese Lösung spricht.  543  Vgl. POHLMANN, Ezechielstudien, 115, und DERS., ATD, 495.  544  Vgl. POHLMANN, Ezechielstudien, 118, und DERS., ATD, 495‐497.  545  So  zu  ersehen  aus  dem  Textabdruck  bei  POHLMANN,  ATD,  472.492.  Zur  Untersu‐ chung  von  Ez  36,1‐15  vgl.  u.  Kap.  III.  7.2.;  in  Übereinstimmung  mit  POHLMANN  kommt die Analyse zu dem Ergebnis, dass das ursprüngliche Ende des Grundwortes  in 36,11 vorliegt. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

37,11b  der  Anredewechsel  von  2.  Pers.  mask.  pl.  zu  3.  Pers.  mask.  pl.  zumindest  auffällig  bleibt  und  das  Problem  des  Subjektbezuges  in  V 11b nicht ganz gelöst wird. Dagegen liegt mit dem Visionseinsatz in  37,1 der problemlosere Anschluss an die Erkenntnisformel in 36,11 vor.  Weiterhin  bietet  das  Bild  der  auf  der  Ebene  zerstreuten  Knochen  in  37,1‐6(10)  einen  mindestens  ebenso  guten  Anknüpfungspunkt  für  die  den  Bergen  in  Aussicht  gestellte  Restitution  der  Bevölkerung  wie  das  Disputationswort in 37,11‐14*. Der Versuch, ein der Vision vorgängiges  Disputationswort zu postulieren, wird damit nicht nur durch die text‐ liche  Bezogenheit  der  beiden  Vershälften  in  V  11  erschwert,  sondern  auch der Anschluss an den literarischen Kontext spricht für die Priori‐ tät der Totenfeldvision.   Es  bleibt  nun  noch  zu  entscheiden,  ob  der  Halbvers  37,11a  den  Schluss  der  Totenfeldvision  darstellt  oder  ob  er  das  Disputationswort  eröffnet. Als ursprünglicher Anschluss von V 11a kämen V 5, V 6 oder  V  10  in  Frage,  von  denen  aber  ein  Anschluss  an  V  10  keinen  Sinn  ergibt, da die Knochen hier bereits wieder zu Menschen belebt sind, so  dass  der  Rekurs  auf  die  Gebeine  in  V 11a  als  Deutung  sachlich  und  literarisch  zu  spät  käme.  Der  zweite  Teil  der  Vision  in  V  7‐10  steht  darüber  hinaus  im  Verdacht,  eine  sekundäre  Ergänzung  zu  sein,  so  dass nur noch V 5 und V 6 übrig bleiben, die aber mit der Inklusion der  Lebensverheißung  (V 5)  bzw.  der  Erkenntnisformel  (V  6)  beide  eine  mögliche  Schlussformulierung  aufweisen.  Dies  spricht  dafür,  dass  in  V 11a nicht der Abschluss der Vision vorliegt, sondern der Beginn des  Disputationswortes, das nach dem Prinzip der Wiederaufnahme an die  Totenfeldvision  angeschlossen  worden  ist.546  Für  die  Zuordnung  von  Vision  und  Disputationswort  ergibt  sich  damit  das  folgende  Bild:  Die  Grundschicht in Ez 37,1‐14 bildet die Vision des Totenfeldes in V 1‐6(7‐ 10),  die  sekundär  durch  das  Disputationswort  in  den  V 11‐14  fortge‐ schrieben worden ist.  6.2.2. Literarische Nacharbeit  Auch  wenn  die  literarische  Grundfrage  damit  beantwortet  ist,  so  gibt  es  in  den  beiden  Teilen  doch  weitere  Anzeichen  für  redaktionelle                                 546  Anders  HOSSFELD,  Untersuchungen,  360‐363.369,  der  eine  literarische  Nahtstelle  in  V 11 annimmt, in der der Abschluss der Vision (V 11a ohne ‫)המה‬ mit der Einleitung  zum  folgenden  Abschnitt  (V  11b  mit  ‫)המה‬  „verschweißt“  worden  sei;  zur  Annahme  einer  Nahtstelle  in  V  11a/11b  vgl.  ebenso  HÖFFKEN,  Beobachtungen,  310f.;  GRAFFY,  Prophet, 83, und OHNESORGE, Jahwe, 294f. Dagegen rechnen BALTZER, Ezechiel, 103.  108, und WAHL, Tod, 228, mit einem Abschluss der Vision in V 10, wobei BALTZER in  V  11ab  ein  redaktionelles  Gelenkstück  sieht,  mit  deren  Hilfe  das  ursprünglich  selb‐ ständige Wort V 11aa.b.12f. an die Vision angeschlossen worden sei. 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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Nacharbeit. In der Vision des Totenfeldes ist zuerst der zweite Visions‐ abschnitt  in  V  7‐10  auf  seine  Zugehörigkeit  zu  V  1‐6  hin  zu  unter‐ suchen.  Neben  dem  bereits  notierten  formalen  Neueinsatz  fällt  auf,  dass ‫רוח‬ in diesem Stück mit Ausnahme von V 8a durchgehend deter‐ miniert  als  ‫הרוח‬  verwendet  wird  (vgl.  9a.9b.10b),  was  auf  ein  hypo‐ stasiertes  Verständnis  der  ‫רוח‬  als  personale  Größe  hindeutet.  Darüber  hinaus  wird  der  Geist  nicht  wie  in  V  1‐6  als  von  Jhwh  ausgehend  beschrieben, sondern der Prophet ruft ihn von den vier Winden (‫מארבע‬  ‫רוחות‬,  V  9b)547  herbei,  so  dass  in  V  7‐10  ein  von  V  1‐6  zu  unterschei‐ dendes  Geistverständnis  vorliegt.548  Weiterhin  zeichnet  sich  in  diesen  Versen auch eine divergierende Auffassung des Prophetenamtes ab: In  der  Beschreibung  der  Wiederbelebung  wird  Ezechiel  zum  aktiven  Mittler  zwischen  Jhwh  und  der  Hypostase  des  Geistes,  während er in  den  anderen  Visionsschilderungen  des  Buches  eine  passive  Stellung  einnimmt.549  Schließlich  werden  die  Gebeine  aus  V  1‐6  in  V  9  auf ein‐ mal  als  Erschlagene,  ‫הרוגים‬,  bezeichnet,  die  zu  einem  großen  Heer  wiederbelebt  werden.  Die  bildhafte  Wiederbelebung  der  Knochen  erhält auf diese Weise ein konkretisierendes Element, das die Knochen  als  Überreste  von  Menschen  identifiziert,  die  gewaltsam  zu  Tode  ge‐ kommen  sind.  Es  kann  deshalb  vermutet  werden,  dass  es  in  V  7‐10  anders  als  in  V  1‐6  nicht  mehr  um  eine  symbolische  Wiederbelebung  geht,  sondern  dass  an  die  leibliche  Auferstehung  der  Gefallenen  aus  der Geschichte Israels gedacht ist.550   Über  die  genannten  Beobachtungen  hinaus  beweist  auch  eine  sprachliche  Besonderheit  die  Sonderstellung  der  V  7‐10  in  der  Toten‐ feldvision. Zu Beginn der V 7.8.10 (‫ונביתי‬/‫וראיתי‬/‫)והנבאתי‬ wie auch am An‐ fang  von  V 2  (‫)והעבירני‬  fällt  jeweils  die  Verwendung  einer  AK  consecu‐ tivum‐Form  (weqatal)  an  Stellen  auf,  wo  eindeutig  ein  Progress  in  der  Erzählung  vorliegt.551  Im  Allgemeinen  wird  das  Vorkommen  von  weqatal  an Stellen, an denen eigentlich der Narrativ zu erwarten wäre,  mit  einer  Beeinflussung  durch  das  Aramäische  erklärt,  die  auf  eine                                 547  Das  Motiv  von  den  vier  Windrichtungen  findet  sich  neben  Ez  37,9  nur  noch  in  Ez  42,20;  Sach  2,10;  6,5;  1  Chr  9,24;  Dan  8,8;  11,4  und  4  Esr  13,5.  Es  begegnet  damit  überwiegend in jüngeren Büchern des Alten Testaments.   548  Vgl. HÖFFKEN, 307; WAHL, Tod, 225f. Auch BARTELMUS, Verbform, 384, und OHNE‐ SORGE, Jahwe, 291, verwenden das personifizierte Verständnis des Geistes als literar‐ kritisches Kriterium; allerdings streichen sie die Determination von ‫רוח‬ in V 10b als  spätere Überarbeitung, da sie den Halbvers ihrer jeweiligen Grundschicht zuordnen.  549  Vgl. OHNESORGE, Jahwe, 292, und BARTELMUS, Verbform, 381.  550  Vgl.  auch  WAHL,  Tod,  225:  „Nun  geht  es  nicht  mehr  um  die  Wiederbelebung  der  Gebeine, sondern um die Wiederbelebung der Ermordeten.“  551  Zu  dieser  Problemanzeige  vgl.  ausführlich  BARTELMUS,  Verbform,  368‐375;  siehe  ferner ZIMMERLI, BK, 886, und HOSSFELD, Untersuchungen, 347‐349. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

jüngere Sprachstufe hindeutet.552 Gegen diese These hat ZIMMERLI ver‐ sucht,  den  weqatal‐Formen  in  Ez  37  hypotaktische  Funktion  zuzuwei‐ sen:  Eine  die  Vorbedingung  beschreibende  Aussage  im  Perfekt  mit  ‫ו‬  führe  vorbereitend  zu  der  eigentlichen  Hauptaussage  hin,  die  jeweils  durch  ‫הנה‬  oder  das  erzählende  imperfect  consecutivum  eingeleitet  sei.553  Allerdings  ist  gegen  ZIMMERLI  einzuwenden,  dass  er  seine  Erklärung  durch  Parallelstellen  im  Buch  belegen  will,  die  bei näherem Hinsehen  entweder abweichend konstruiert sind oder gerade Beispiele dafür bie‐ ten, dass die AK consecutivum an dieser Stelle eigentlich einen Narrativ  erwarten  ließe.554  Die  plausibelste  Erklärung  für  die  auffälligen  Verb‐ formen  bleibt  damit  die  These,  dass  es  sich  bei  den  Versen  um  eine  jüngere Textstufe innerhalb der Vision handelt.555 In Bezug auf V 2 ist allerdings auch mehrfach versucht worden, die  weqatal‐Form auf einen Schreiberfehler zurückzuführen,556 oder sie vom  klassischen  Tempusgebrauch  des  Biblischen  Hebräisch  her  mit  einer  iterativen  Funktion  zu  erklären.557  Während  der  Rekurs  auf  ein  Ver‐ sehen  in  der  Textüberlieferung  ohne  Anhalt  in  den  Versionen  speku‐ lativ bleiben muss, gibt es keinen textinternen Hinweis darauf, dass die  Handlung  in  V  2a  als  wiederholter  Vorgang  aufzufassen  ist.  Das  von  den Vertretern dieser These angeführte ‫סביב סביב‬ („ringsherum“)558 kann  m.  E.  nicht  die  Last  des  Nachweises  tragen,  da  es  in  V  2  die  örtliche  Bewegung  angibt  und  keine  iterative  Funktion  hat.  Denkbar  ist  allerdings,  das  weqatal  am  Beginn  von  V  2  als  Fortführung  des  Narra‐ tivs  ‫ויניחני‬  in  V  1a  zu  verstehen,  wobei  allerdings  der  Nominalsatz  in                                 552  Vgl.  z.  B.  GESK  §112pp  mit  explizitem  Verweis  auf  Ez  37,2.7.10;  JOÜON/MURAOKA,  Grammar,  §119z,  mit  Verweis  auf  Ez  37,7.10,  und  BARTELMUS,  Verbform,  375.  Zur  Diskussion  um  „Aramaismen“  im  Biblischen  Hebräisch  vgl.  insgesamt  WAGNER,  Aramaismen,  1ff.,  und  den  Exkurs  „Der  Gebrauch  des  perfectum  copulativum  im  biblischen  Hebräisch“  von  SPIECKERMANN  in:  DERS.,  Juda,  120‐130.  Zum  neuesten  Stand der Forschung siehe HURVITZ, Hebrew, 24‐37.  553  Vgl. ZIMMERLI, BK, 886.  554  Vgl.  dazu  HOSSFELD,  Untersuchungen,  348f.,  der  in  einer  Untersuchung  der  von  ZIMMERLI  angeführten  Belegstellen  den  Nachweis  geführt  hat,  dass  diese  nicht  zur  Begründung  herangezogen  werden  können;  zur  Kritik  vgl.  weiterhin  BARTELMUS,  Verbform, 369‐371.  555  Nach  SCHWAGMEIER,  Untersuchungen,  358,  ist  das  letzte  Drittel  des  4.  Jh.s.  v.  Chr.  (frühestens  332)  terminus  a  quo  für  das  Auftreten  dieses  Sprachgebrauches  im  Eze‐ chielbuch; vgl. dazu auch u. Kap. IV. 2.1.4.  556  Mit  dieser  eleganten  Lösung  behelfen  sich  JOÜON/MURAOKA,  Grammar,  §119z,  die  ‫והעבירני‬  in  V  2  mit  einer  Verschreibung  von  jod  zu  he  erklären  wollen,  so  dass  ur‐ sprüngliches ‫ויעבירני‬ zu lesen sei.   557  Vgl. BARTELMUS, Verbform, 370, und OHNESORGE, Jahwe, 284f. Wie aber BARTELMUS,  a.a.O., 370, selbst feststellen muss, wird Ez 37,2 von keiner gängigen Grammatik als  Beleg für die iterative Funktion des AK consecutivum aufgeführt.  558  Vgl. BARTELMUS, Verbform, 370, und OHNESORGE, Jahwe, 285. 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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V 1b  den  Zusammenhang  unterbricht,  so  dass  auch  hier  eine  Abwei‐ chung  vom  üblichen  Sprachgebrauch  zu  konstatieren  wäre.  Da  es  außerdem  problematisch  erscheint,  dieselbe  sprachliche  Besonderheit  innerhalb eines Textstückes auf unterschiedliche Weise auszuwerten,559  liegt es nahe, in V 2 ebenfalls einen vom aramäischen Sprachgebrauch  beeinflussten  Zusatz  zu  sehen,  der  vielleicht  zusammen  mit  V  7‐10  in  den Text gekommen ist. Für diese Überlegung spricht weiter, dass V 2  inhaltlich  gut  zu  V  7‐10  passt,  denn  das  Umherführen  des  Propheten  und die Betonung der großen Anzahl der Knochen auf der Ebene (‫;מאד‬  vgl.  doppeltes  ‫מאד‬  in  V 10)  ruft  in  V  2  wie  in  V  7‐10  die  Assoziation  eines Schlachtfeldes hervor. Dabei ist aber noch fraglich, ob V 2 in sich  literarisch  einheitlich  ist.  In  V 2ba  und  V 2bb  stehen  zwei  durch  ‫והנה‬  eingeleitete  Nominalsätze  nebeneinander,  die  die  große  Anzahl  der  Knochen  bzw.  ihren  vertrockneten  Zustand  hervorheben.  Diese  paral‐ lele  Konstruktion  der  Vershälften  könnte  darauf  hindeuten,  dass  sie  nicht  auf  dieselbe  literarische  Ebene  gehören.  Während  V 2ba  mit  der  Betonung  der  Menge  an  die  Beschreibung  in  V  1  anknüpft,  nach  der  die Ebene mit Knochen angefüllt ist, bringt V 2bb mit der Vertrocknung  der  Knochen  einen  neuen  Aspekt  ein.  Es  ist  deshalb  zu  überlegen,  ob  der spätere Nachtrag in V 2a mit Hilfe der Wiederaufnahme in V 2ba in  den Text eingefügt worden ist. Der zweite Nominalsatz in V 2bb könnte  dieser Einschreibung entweder vorausgehen oder seinerseits eine noch  spätere Eintragung darstellen.560 Aufgrund der sprachlichen und litera‐ rischen  Auffälligkeiten  ist  deshalb  im  Anschluss  an  die  Arbeiten  von  BARTELMUS und WAHL mit einer nachträglichen Bearbeitung in V 7‐10  zu rechnen,561 zu der hier auch V 2aba gerechnet wird.                                 559  So  gegen  OHNESORGE,  Jahwe,  285,  und  BARTELMUS,  Verbform,  370,  die  zwar  die  Sekundarität  von  V  7‐10*  mit  Verweis  auf  die  AK  consecutivum‐Formen begründen,  dieselbe Auffälligkeit in V 2 aber mit iterativer Funktion erklären wollen.  560  HOSSFELD,  Untersuchungen,  349f.,  scheidet  V  2bb  als  späteren  Nachtrag  in  V  2  aus  und  begründet  dies  mit  dem  Fehlen  eines  zweiten  ‫הנה‬  in  Vergleichstexten  des  Bu‐ ches.  Dagegen  spricht  sich  OHNESORGE,  Jahwe,  285,  gegen  die  Ausscheidung  von  V 2bb  aus,  da  der  Vers  „eine  für  die  weiteren  Aussagen  der  Vision  kaum  entbehr‐ liche Feststellung“ bringe. Es ist aber noch zu erweisen, ob das Attribut der Vertrock‐ nung von Anfang an auch für die zerstreuten Knochen auf der Talebene auszusagen  ist. LXX und Peschitta bieten das zweite ‫והנה‬ nicht, was aber mit ZIMMERLI, BK, 887,  und HOSSFELD, a.a.O., 350, als Textglättung zu beurteilen ist.   561  Als Erster hat HÖFFKEN  die grundsätzliche literarische Einheitlichkeit von 37,1‐10 in  Frage  gestellt  und  kommt  zu  dem  Ergebnis,  dass  eine  dem  Grundauftrag  in  V  5f.  entsprechende  Ausführung  „in  v.  7a,  8  (ohne  die  letzten  drei  Worte)  und  10  (ohne  die  ersten  drei  Worte)“  zu  finden  sei  (vgl.  HÖFFKEN,  Beobachtungen,  308).  BARTEL‐ MUS,  Verbform,  385‐358,  unternimmt  eine  Überprüfung  und  Weiterführung  von  HÖFFKENS Beobachtungen, wobei er insbesondere das Auftreten der AK consecutivum  mit in seine Überlegungen einbezieht und die These vertritt, dass das ursprüngliche  Heilswort in V 1‐6.7b.8a (ohne ‫)וראיתי‬ um den Einschub V 7a.8b‐10 erweitert worden 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Es  gibt  aber  noch  weitere  Hinweise  auf  literarische  Nacharbeit  in  der  ursprünglichen  Totenfeldvision  in  V  1‐6.  So  wird  der  Prophet  in  V 4 aufgefordert, über die Gebeine (‫)על־העצמות‬ zu weissagen, und ihnen  (‫)אליהם‬, die erneut als  ‫העצמות היבשׁות‬ angeredet werden, das Wort Jhwhs  auszurichten. Mit dieser dreifachen Adressatennennung wirkt der Vers  überfüllt  und  insbesondere  die  Nebeneinanderstellung  von  Adressat  im Redeauftrag und unmittelbar daran anschließendem Vokativ deutet  darauf hin, dass der Vokativ zur nachträglichen Explikation von ‫אליהם‬  eingefügt worden ist.562 Damit ist allerdings noch einmal auf V 2bb zu‐ rückzukommen,  dessen  Einordnung  bisher  offen  geblieben  ist.  Wenn  die Charakterisierung der Knochen als „vertrocknet“ in V 4 erst nach‐ träglich erfolgt ist, könnte auch V 2bb zu dieser Überarbeitung gehören,  da  nur  noch  an  dieser  Stelle  in  der  Totenfeldvision  von  der  Vertrock‐ nung  der  Knochen  die  Rede  ist.  Das  Bild  der  trockenen  Knochen  hat  damit seinen ursprünglichen Ort im Disputationswort und ist von dort  erst im Zuge der Überarbeitung durch V 2bb und den Vokativ in V 4bb  in  die  Vision  eingefügt  worden.  In  gleicher  Weise  wie  in  V  4  scheint  auch in V 5 die erneute Adressatennennung ‫לעצמות האלה‬ redundant, so  dass hier mit einer weiteren Glosse zu rechnen ist.563 Des Weiteren gibt es mehrere Gründe, die an der literarischen Ur‐ sprünglichkeit von V 6 zweifeln lassen. Zuerst bildet die abschließende  Geistgabe in V 5 mit dem Ziel der Wiederbelebung (‫)וחייתם‬ eine inclusio  zu  der  rhetorischen  Frage  in  V  3  (‫)התחיינה‬,  so  dass  die  Grundproble‐ matik des Textes bereits in V 5 einer Lösung zugeführt worden ist. V 6  geht  über  diese  Frage  hinaus  und  führt  eine  Differenzierung  des  menschlichen Körpers ein,564 die durch die Wiederaufnahme der Geist‐ begabung an V 5 angeschlossen ist. Dies spricht dafür, in V 6 eine erste  Fortschreibung  der  ursprünglichen  Vision  in  V  1‐5*  zu  sehen,  in  der  das Bild der Knochen zu einer ausführlichen Darstellung der mensch‐                                sei  (vgl.  im  Anschluss  an  diesen  auch  POHLMANN,  Ezechielstudien,  114,  und  erwä‐ gungsweise FUHS, NEB, 210). OHNESORGE, Jahwe, 287‐293, geht dagegen nur im Fall  von V 8b‐10a von einem späteren Nachtrag aus, wobei er aber gezwungen ist, die AK  consecutivum‐Form ‫וראיתי‬ in V 8a und die Determination von ‫רוח‬ in V 10b aus seiner  Grundschicht  zu  streichen.  Schließlich  hat  WAHL,  Tod,  223‐228,  V 7b‐10  insgesamt  als einen auf V 1‐7a hin verfassten Einschub identifiziert.   562  Vgl.  HOSSFELD,  Untersuchungen,  352,  der  den  Nachweis  führt,  dass  an  keiner  ver‐ gleichbaren  Stelle  im  Ezechielbuch  die  letzte  Erwähnung  des  Adressaten  im  Rede‐ auftrag mit dem Vokativ des Aufmerksamkeitsrufes zusammentrifft.   563  So  mit  FOHRER,  HAT,  207;  EICHRODT,  ATD,  353;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  352‐ 354; FUHS, NEB, 207, und OHNESORGE, Jahwe, 286.  564  Eine  vergleichbare  Darstellung  der  Anatomie  durch  die  Reihung  von  ‫עצם‬,  ‫גדים‬,  ‫בשׂר‬  und ‫עור‬ findet sich ansonsten nur noch in Hi 10,11, wo sie ebenfalls im Kontext einer  Schöpfungsaussage zu finden ist: „Mit Haut und Fleisch hast du mich bekleidet und  mit Knochen und Sehnen mich durchflochten.“ 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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lichen Anatomie erweitert wird. Da sich der Gehalt der Nachinterpre‐ tation in V 6aa findet, der durch den Rekurs auf die Geistgabe in V 6ab  angeschlossen  wird,  ist  durchaus  zu  erwägen,  dass die Erkenntnisfor‐ mel in V 6b den ursprünglichen Schluss der Totenfeldvision in 37,1‐6*  gebildet hat.  Schließlich  fällt  auf,  dass  der  Begriff  „Gebeine“,  ‫עצמות‬,  in  der  ge‐ samten  Totenfeldvision  in  seinem  Genusgebrauch  wechselt.565  Aber  anders  als  im  Hirtenkapitel  Ez  34,  in  dem  die  Schwankungen  im  Ge‐ nusgebrauch als literarkritisches Kriterium ausgewertet werden konn‐ ten,566  lässt  sich  der  Wechsel  außer  im  Fall  von  V  4ba.bb  nicht  mit  literarischen  Brüchen  in  Übereinstimmung  bringen.  Es  ist  deshalb  zu  überlegen, ob ein literarisches Stilmittel vorliegt, durch das der Bezug  von  Symbol  und  Symbolisiertem,  d.  h.  Knochen  und  Volk,  dargestellt  wird.  Wenn  auf  der  Bildebene  von  den  konkreten  Knochen  die  Rede  ist,  wird  ‫עצמות‬  als  femininer  Plural  (vgl.  V  2b.3a.4bb)  aufgefasst,  wäh‐ rend  ansonsten  die  Verwendung  als  maskuliner  Plural  vorherrschend  ist (vgl. V 2a.4ba.5f.).567 Im  Disputationswort  V  11‐14  stellt  das  entscheidende  literarische  Problem die Doppelung von Jhwhs Heilshandeln in V 12ab und V 13b  dar, wo in fast identischer Formulierung davon die Rede ist, dass Jhwh  ihre  Gräber  öffnen  (‫אני פתח את־קברותיכם‬,  V  12ab;  vgl.  ‫בפתחי את־קברותיכם‬,  V 13b)  und  sie  aus  diesen  heraufführen  wird  (‫והעליתי אתכם מקברותיכם‬,  V 12ab; vgl. ‫ובהעלותי אתכם מקברותיכם‬, V 13b). Diese Doppelung wird kaum  auf  einen  Autor  zurückzuführen  sein,  so  dass  auch  hier  mit  redaktio‐ neller  Nacharbeit  zu  rechnen  ist.  Da  die  Botenformel  in  V  12aa  eine  Weiterführung durch den Beginn einer Gottesrede erfordert, muss die  Heilsankündigung  in  V  12ab  notwendigerweise  zum  Grundbestand  des  Disputationswortes  gehören,  während  die  parallel  formulierte  Er‐ weiterung  der  Erkenntnisformel  in  V  13b  eine  Wiederaufnahme  von  V 12ab  darstellt.  Es  bleiben  zwei  Möglichkeiten,  die  Funktion  dieser  Wiederaufnahme  in  V  13b  zu  bestimmen:  Zuerst  ist  es  denkbar,  dass  V 13b einen sekundären Einschub in V 12b‐13 abschließt, durch den als  drittes Glied der Heilsankündigung die Rückkehr (‫בוא‬ hif.) in das Land  Israel  (‫)אל־אדמת ישׂראל‬  in  den  Text  eingetragen  wird.568  Alternativ  ist  denkbar, dass V 13b einen Nachtrag in V 13b‐14 anbindet, in dem die                                 565  Vgl. die Auflistung bei ZIMMERLI, BK, 886.  566  Siehe dazu o. Kap. II. 2.2.  567  Vgl.  dazu  ZIMMERLI,  BK,  886;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  349,  und  OHNESORGE,  Jahwe, 285.  568  So POHLMANN, ATD, 495. V 12f.* ist auch mehrfach als Nachtrag eingestuft worden,  um  auf  diese  Weise  das  Bild  vom  Öffnen  der  Gräber  von  der  Totenfeldvision  zu  trennen; vgl. FOHRER, HAT, 210; BERTHOLET, HAT, 126; LANG, Street Theater, 312. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Geistverleihung  und  das  Bleiben  (‫נוח‬  hif.)  im  Land  (‫)על־אדמתכם‬  thema‐ tisiert  werden.569  M. E.  spricht  die  unterschiedliche  Rede  vom  Land  dafür,  V  12b‐13a  die  literarische  Priorität  vor  V  13b‐14  zu  geben,  da  hier in Form einer Einführung explizit vom Land Israel (‫אל־אדמת ישׂראל‬,  V 12b) die Rede ist, während V 14 sich mit  ‫על־אדמתכם‬ auf diese Angabe  zurückzubeziehen scheint.   Damit ist allerdings noch einmal genau zu überlegen, mit welcher  Intention  die  Heilsankündigungen  in  V  13b‐14  an  den  Text  angefügt  sein  könnten.  Zuerst  wird  die  Geistgabe  aus  der  Totenfeldvision  in  V 14a  explizit  als  Verleihung  des  Jhwh‐Geistes  (‫)רוחי‬  bestimmt,  die  darüber  hinaus  durch  die  Verheißung  erweitert  ist,  dass  das  Volk  im  Land verbleiben wird (‫נוח‬ hif.). Die Bedeutung von ‫נוח‬ hif. ist allerdings  nicht  ganz  eindeutig  und  in  der  Aussage  von  V  14ab  (‫והנחתי אתכם‬  ‫)על־אדמתכם‬ ist oft eine Parallele zur Rückkehrverheißung in V 12b (‫והבאתי‬  ‫)אתכם אל־אדמת ישׂראל‬ gesehen worden.570 In ihrer Grundbedeutung deckt  die Wurzel ‫נוח‬ einen semantischen Bereich ab, der das Ruhen als Heils‐ gut  im  Gegensatz  sowohl  zu  einer  Bewegung  als  auch  zu  einem  Zu‐ stand der Unruhe bezeichnet.571 Abgeleitet von dieser Grundbedeutung  ist  im  hifcil‐Stamm  mit  zwei  unterschiedlichen  Formen  zu  rechnen:  Während hif. A (‫ ) ֵהנִי ַח‬als „ruhen lassen, zur Ruhe bringen“ zu überset‐ zen  ist,  bezeichnet  hif.  B  (‫) ִהנִּי ַח‬  ein  „hinlegen,  belassen,  hinsetzen“.  In  Verbindung  mit  dem  Land  (‫)אדמה‬  findet  sich  ‫נוח‬  hif.  überhaupt  nur  in  Jes 14,1; Jer 27,11 und Ez 37,14, die von den Masoreten alle als Formen  des  hif.  B  vokalisiert  sind.572  In  Jes  14,1  scheint  vom  Kontext  her  das  „Ins‐Land‐Setzen“  gefordert  zu  sein,573  allerdings  spielt  auch  der  Ge‐ danke der Feindesruhe im Land mit hinein, wie aus Jes 14,3 (‫נוח‬ hif.) zu  ersehen  ist.  Jer  27,11  ist  dagegen  eindeutig  so  zu  verstehen,  dass  das  Volk  auf  seiner  ‫אדמה‬  belassen  und  nicht  exiliert  wird,  wenn  es  sich  Jhwhs  Willen  gegenüber  gehorsam  verhält.  Diese  Parallelstellen  zei‐ gen, dass ‫נוח‬ hif. keine typische Formulierung einer Rückführungsaus‐ sage  darstellt,  sondern  ein  zukünftiges  Zur‐Ruhe‐Kommen  im  Land  bezeichnet,  das  auch  im  Fall  von  Ez  37,14  zugrunde  gelegt  werden                                 569  Einen  Nachtrag  in  V  13b‐14  vermuten  GARSCHA,  Studien,  222;  HOSSFELD,  Unter‐ suchungen,  367f.;  OHNESORGE,  Jahwe,  295f.,  und  FUHS,  NEB,  207.210.  BALTZER,  Ezechiel, 107f., und ALLEN, WBC 29, 184, beschränken den Nachtrag allein auf V 14.   570  Vgl. z. B. BERTHOLET, HAT, 126; FOHRER, HAT, 209; EICHRODT, ATD, 354, und ZIM‐ MERLI, BK, 886.  571  Vgl. PREUSS, Art. ‫נוּ ַח‬, 298, und STOLZ, Art. ‫נוח‬, 44.  572  Allerdings überlegt WILDBERGER, BK, 526, ob  ‫וְ ִהנִּי ָחם‬ in Jes 14,1 nicht mit Verweis auf  Dtn 3,20 als hif. A  ‫וָ ֲהנִי ָחם‬ zu vokalisieren ist, womit die Vorstellung von der ‫מנוחה‬ im  Land aufgegriffen wäre; aufgrund der Parallelen in Jer 27,11 und Ez 37,14 verfolgt er  diese Überlegung aber letztlich nicht weiter.  573  Vgl. DUHM, HK, 116; WILDBERGER, BK, 501; KAISER, ATD 18, 22.23. 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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kann.574  Gerade  mit  der  literarisch  vorausgehenden  Rückkehrverhei‐ ßung in V 12b erklärt sich die Intention von V 14 daraus, dem Volk im  Sinne  von  Jer  27,11  ein  Bleiben  im  Land  zu  verkünden,  mit  dem  eine  zukünftige  Exilierung  ausgeschlossen  wird.  In  V 11‐14  ist  damit  ein  zweistufiger Entstehungsprozess anzunehmen: Das ursprüngliche Dis‐ putationswort  umfasst  V  11‐13a*,  die  nachträglich  durch  V  13b‐14*  erweitert worden sind.   6.2.3. Textwachstum  Ausgangspunkt  des  literarischen  Wachstums  in  Ez  37,1‐14  ist  die  ur‐ sprüngliche Vision des Totenfeldes in 37,1‐6*, in der Israel im Bild der  zerstreuten  Knochen  die  Wiederbelebung  verheißen  wird.  An  dieser  Stelle  bleibt  noch  zu  klären,  an  welche  Größe  Israels  die  Restitutions‐ verheißung gerichtet ist und welche historische Situation vorausgesetzt  wird.575  Der  symbolische  Tod  des  Gottesvolkes  macht  auf  jeden  Fall  einen nachexilischen Standpunkt wahrscheinlich, wobei zur genaueren  Identifikation  der  Adressaten  die  textinterne  Lokalisation  der  Vision  auf der Talebene (‫הבקעה‬, V 1) herangezogen werden kann. Diese deter‐ minierte  Ortsangabe  ist  über  37,1  hinaus  nur  noch  an  zwei  weiteren  Stellen im Buch belegt: In Ez 3,22f. bezeichnet ‫הבקעה‬ den Ort im Exil, an  dem  Jhwh  in  der  Erscheinungsform  seiner  ‫כבוד‬  mit  dem  Propheten  redet,576 während der Beginn der Tempelvision in Ez 8,4 auf eben die‐ ses  Ereignis  auf  der  Talebene  zurückverweist.  Dies  legt  den  Schluss  nahe, dass die Ebene in 37,1, auf der der Prophet die zerstreuten Kno‐ chen liegen sieht, mit der Ebene identisch ist, auf der er die Herrlichkeit                                 574  Vgl.  POHLMANN,  Ezechielstudien,  116,  und  DERS.,  ATD,  495.  Dagegen  geht  OHNE‐ SORGE, Jahwe, 316f., von einem „(Zurück‐)Versetzen Israels ins Land“ aus, wobei er  aber  nicht  ausschließen  will,  dass  auch  der  Gedanke  des  Bleibens  im  Land  mit  hereinspielt.  Er  argumentiert  dabei  insbesondere  über  die  Zusammengehörigkeit  von 37,14 mit 37,13b, in dem er die Verheißung des neuen Exodus liest (vgl. OHNE‐ SORGE, a.a.O., 313.316). Auch HALAT, 642, schlägt für Ez 37,14 die Bedeutung „set‐ zen, stellen, legen“ vor.  575  Die  Interpretation  der  Vision  hängt  in  diesem  Punkt  von  der  literarischen  Abgren‐ zung  ab:  Exegeten,  die  die  textinterne  Deutung  in  V  11a  zur  Grundschicht  der  Totenfeldvision zählen, sehen in der Vision die Neuerschaffung Gesamtisraels sym‐ bolisiert (vgl. z. B. HOSSFELD, Untersuchungen, 398, und OHNESORGE, Jahwe, 328f.),  während bei einer Abgrenzung im Bereich von V 1‐10* Adressaten wie die erste Gola  (so  POHLMANN,  ATD,  498)  oder  die  Weggeführten  nach  dem  zweiten  Exil  (vgl.  WAHL, Tod, 233) vermutet werden.  576  Die redaktionsgeschichtliche Einordnung von Ez 3,22‐24a(27) ist umstritten. Sowohl  POHLMANN, ATD, 76f. (für 3,22‐27 insgesamt), als auch SCHÖPFLIN, Theologie, 131f.  (für  3,22‐24a),  sind  der  Meinung,  dass  der  Text  bereits  große  Teile  der  vorherge‐ henden Eingangsvision voraussetzt und damit zu den jüngeren Stücken des Buches  gehört.  In  der  vorliegenden  Arbeit  wird  aber  die  These  vertreten,  dass  3,22‐24*  zu  den Texten der ursprünglichen Buchkomposition gehört; vgl. dazu u. Kap. IV. 3.2. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Jhwhs  schaut.  Die  Knochen  symbolisieren  damit  die  Situation  der  ersten Gola, der in der ursprünglichen Totenfeldvision in 37,1‐6* Wie‐ derbelebung  und  Restitution  verheißen  wird.  Es  wird  im  Folgenden  noch  genauer  danach  zu  fragen  sein,  wie  die  Verheißung  der  Gola‐ Belebung zeit‐ und theologiegeschichtlich eingeordnet werden kann.577 Als erste Fortschreibung der Grundschicht 37,1‐6* kommen die Ein‐ schreibung in 37,6a oder das ursprüngliche Disputationswort in 37,11‐ 13a*  in  Frage.  Die  gegenseitige  Zuordnung  kann  hier  offen  bleiben;  evtl. könnte der Gebrauch von ‫עלה‬ hif. in V 12a darauf hindeuten, dass  V 6a bereits vorausgesetzt ist, aber auch das umgekehrte Verhältnis ist  denkbar.  Während  die  Fortschreibung  in  V  6a  noch  stark  an  der  ur‐ sprünglichen Vision orientiert ist, findet mit der Anfügung des Dispu‐ tationswortes  in  seinem  Grundbestand  V  11‐13a*  eine  umfassende  Aktualisierung  des  Visionsinhaltes  statt.  Durch  die  explizite  Deutung  in V 11a wird die erste Gola als „ganz Israel“ (‫)כל־בית ישׂראל‬ bezeichnet  und damit als das wahre Israel verstanden. Zugleich wechselt das Mo‐ tiv  auf  der  Bildhälfte  von  den  zerstreuten  Knochen  zu  den  Gräbern,  aus denen Jhwh das Volk herausholen muss, um es in das Land Israel  zurückzuführen. Hinter dem Bild der Gräber kann eine äußerst negati‐ ve Bewertung der Existenz außerhalb des Landes vermutet werden, die  sich auch in der dreiteiligen Volksklage 37,11a artikuliert. Das entschei‐ dende Heilsereignis, durch das die „Wiederbelebung“ des Volkes sich  vollziehen  wird,  ist  deshalb  nach  37,11‐13a*  der  neue  Exodus,  der  an  die Stelle der Geistbegabung aus der Totenfeldvision getreten ist.   Der  Wechsel  vom  Bild  der  Knochen  zum  Bild  der  Gräber  wird  in  der Volksklage 37,11b durch die Aussage über die trockenen Knochen  vorbereitet, mit der die subjektive Lagebeschreibung des Volkes an die  Situation in 37,1‐6* anknüpft. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass  der  Autor  des  ursprünglichen  Disputationswortes  in  37,11‐13a*  auch  für die Überarbeitung der Totenfeldvision in V 2bb und V 4bb* verant‐ wortlich ist, durch die die Vertrocknung der Knochen sekundär in 37,1‐ 6 eingetragen wird. Diese nachträglich eingefügten Vorabhinweise ver‐ stärken  die  Verbindungen  zwischen  der  Vorlage  in  37,1‐6*  und  ihrer  Nachinterpretation in 37,11‐13a* und verdeutlichen, dass es sich in bei‐ den Texten um ein und dieselben Knochen handelt.  Auf  der  dritten  Wachstumsstufe  wird  das  Disputationswort  um  37,13b‐14* erweitert. Die Aufnahme der Geistbegabung aus 37,1‐6* und  die sprachlichen Rückbezüge auf 37,11‐13a* zeigen, dass dem Nachtrag  eine  Abschlussfunktion  für  die  gesamte  Textfolge  zukommt.  Dies  unterstreicht  die  gewichtige  Schlussformulierung  mit  der  durch  ‫ועשׂיתי‬                                 577  Vgl. dazu u. Kap. IV. 3.3. 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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erweiterten  Wortbekräftigungsformel  in  37,14b.  Durch  diese  Fort‐ schreibung wird eine Neulesung von 37,1‐14 insgesamt intendiert: Der  Autor  ist  offenbar  der  Überzeugung,  dass  das  entscheidende  Heilser‐ eignis der Geistverleihung nicht außerhalb des Landes vollzogen wird  (37,1‐6*)  oder  mit  der  Rückführung  gleichgesetzt  werden  kann (37,11‐ 13a*),  sondern  sich erst nach der Rückkehr des Volkes im Land selbst  ereignen  wird  (37,14).  Zugleich  macht  er  deutlich,  dass  eine  erneute  Exilierung des Volkes ausgeschlossen ist, so dass der Wiederbelebung  Unverbrüchlichkeit zukommt.  Auf der vierten und letzten Stufe des Textwachstums wird die Visi‐ on  in  37,2aba.7‐10 (37,2.7‐10*) durch eine Bearbeitungsschicht ergänzt,  die die symbolische Restitution Israels im Sinne einer Wiederbelebung  der Toten interpretiert. Diese Auslegung verdankt sich vermutlich dem  Bild  der  Heraufführung  aus  den  Gräbern  im  literarisch  vorausgehen‐ den  Disputationswort,  das  hier  eine  konkrete  Interpretation  im  Sinne  einer  leiblichen  Auferstehung  erfährt.  Die  Exegeten,  die  eine  spätere  Überarbeitung  in  37,7‐10  annehmen,  rechnen  übereinstimmend  mit  einer Abfassung in der Makkabäerzeit, da sie hinter der Einschreibung  die Sorge um die Zukunft der gewaltsam zu Tode gekommenen Israe‐ liten  vermuten.578  In  textgeschichtlicher  Hinsicht  ist  diese  Datierung  aber nicht ohne Probleme, da der Text in Pap. 967 bereits enthalten ist,  so dass eine höhere zeitliche Ansetzung zu erwägen ist.579 6.3. Beobachtungen zum redaktionellen Ort  Für die redaktionelle Einordnung von Ez 37,1‐14* konnte voranstehend  gezeigt  werden,  dass  die  Verheißung  der  Wiederbelebung  in  der  ur‐ sprünglichen  Totenfeldvision  37,1‐6*  sachlich  an  den  Heilsankündi‐ gungen  für  die  Berge  Israels  in  Ez  36,1‐15*  orientiert  ist,  so  dass  es  diese  entweder  voraussetzt  oder  die  ursprüngliche  literarische  Fort‐ setzung  der  dortigen  Heilsverheißung  bildet.580  Im  Folgenden  wird  danach  zu  fragen  sein,  welche  weiteren  Verbindungen  zum  literari‐ schen Kontext in Ez 34‐39 bestehen, wobei insbesondere die Beziehung  von  37,1‐14  zu  den  Heilsworten  in  der  zweiten  Kapitelhälfte  37,15‐28                                 578  Vgl.  BARTELMUS,  Verbform,  387,  der  insbesondere  auf  die  Rede  von  den  ‫הרוגים‬  hin‐ weist: „Wer anders als die Märtyrer der Makkabäerzeit könnte damit gemeint sein?“  (vgl. im Anschluss an diesen auch POHLMANN, ATD, 497, sowie ähnlich OHNESORGE,  Jahwe, 323.).  579  Vgl. zu Pap. 967 o. Kap. II. 4.2.; zur hier erwogenen Datierung von 37,2.7‐10* siehe u.  Kap. IV. 2.1.3.2. und IV. 2.1.4.  580  Über  die  genaue  Art  des  Verhältnisses  kann  erst  nach  einer  Analyse  von  Ez  35,1‐ 36,15 entschieden werden; vgl. dazu u. Kap. III. 7.3. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

und  das  literarische  Verhältnis  der  beiden  Grundschichten  in  34,1‐10*  und 37,1‐6* zu klären ist.  In  einem  Überblick  über  die  Querverbindungen  zwischen  37,1‐14  und dem übrigen Textbestand in Ez 34‐39 bestätigt sich der erste Ein‐ druck,  dass  sowohl  die  Vision  als  auch  das  Disputationswort  nur  durch wenig Stichwortverbindungen mit dem Kontext verknüpft sind.  Einzig in Ez 39,29 MT und 36,26f. wird über das Leitwort ‫רוח‬ die Ver‐ bindung zu 37,1‐14 hergestellt. Im Fall von 39,29 ist aber zu berücksich‐ tigen, dass hier ursprünglich von der Ausgießung des Zornes (‫חמה‬/‫)זעם‬  die Rede gewesen ist, die sekundär zur Ausgießung der ‫רוח‬ hin abgeän‐ dert  wurde.581  Die  Geistgabe  in  36,26f.  (‫נתן‬,  vgl.  37,6.14)  setzt  dagegen  aufgrund  des  handschriftlichen  Befundes  die  mehrfach  erweiterte  To‐ tenfeldvision  in  37,1‐14  bereits  voraus.582  Dabei  liegt  insbesondere  mit  der Verheißung in 36,27, dass Jhwh seinen Geist (‫)רוחי‬ in das Innere der  Israeliten geben wird, eine Aufnahme von 37,14 vor. Anscheinend wird  die  Gabe  der  ‫רוח‬  Jhwhs,  die  in  37,1‐14  als  Lebenskraft  wirksam  ist,  in  36,27  im  Sinne  einer  Erneuerung  des  inneren  Menschen  interpretiert,  die den Menschen dazu befähigt, seiner Bundespflicht nachzukommen.  Weiterhin wird im Rahmen der Zeichenhandlung 37,15‐19 für das Zu‐ sammenfügen der Hölzer in der Hand des Propheten das Verbum ‫קרב‬  pi.  verwendet  (37,17),  das  in  37,7  (‫קרב‬  kal)  das  Zusammenrücken  der  Gebeine bezeichnet. Da die Textanalyse allerdings ergeben hat, dass es  sich  bei  37,7‐10  insgesamt  um  einen  späten  Einschub  innerhalb  der  Totenfeldvision handelt, ist hier eher davon auszugehen, dass die Zei‐ chenhandlung  auf  die  sekundäre  Visionsschilderung  eingewirkt  hat.  Schließlich enthalten sowohl 37,12 als auch 37,21 das Motiv der Rück‐ führung (‫בוא‬ hif.) in das Land, wobei für 37,21 aber eine Abhängigkeit  von der Vorlage in 34,13 aufgezeigt werden konnte.583 Die wenigen Stichwortverbindungen zum literarischen Kontext er‐ klären  sich  vor  allem  dadurch,  dass  37,1‐14  durch  ein  eigenes  Voka‐ bular  geprägt  ist,  das  Vision  und  Disputationswort  thematisch  von  ihrem  literarischen  Kontext  abhebt  und  die  redaktionelle  Einordnung  erschwert. Als Leitwort der Vision kann ‫עצם‬ („Gebein“, vgl. 37,1.3.4.5.7  sowie  37,11)  gelten,  das  im  Disputationswort  durch  ‫קבר‬  („Grab“,  vgl.  V 12.13) ergänzt wird. Verbunden sind die einzelnen Texteinheiten vor  allem  durch  das  Interesse  am  Geist  (‫רוח‬,  37,1.5.6.8.9.10.14)  und  seiner                                 581  Vgl. dazu o. Kap. III. 3.2.  582  Vgl. dazu o. Kap. III. 1.3. Das spricht gegen die Versuche, die Aussage von der Geist‐ verleihung  in  37,14  von  36,26f.  herzuleiten;  vgl.  dazu  EICHRODT,  ATD,  354;  GAR‐ SCHA,  Studien,  222;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  386f.;  GRAFFY,  Prophet,  84;  ALLEN,  WBC 29, 184, und BLOCK, NICOT II, 382.  583  Vgl. dazu o. Kap. III. 5.3. 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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lebensschaffenden Wirkung (‫חיה‬, 37,3.5.6.9.10.14),584 wobei V 14 im Dis‐ putationswort  deutlich  als  Inklusion  gestaltet  ist  und  die  thematische  und sprachliche Verbindung zur Vision herstellt. Im Horizont der eze‐ chielischen Heilsworte spielt ‫קבר‬ lediglich in einem Abschnitt der Gog‐ Perikope eine Rolle, in der in Ez 39,11‐16 das Problem verhandelt wird,  wie mit den herumliegenden Überresten der Feinde verfahren werden  soll, die das Land Israel verunreinigen.585 Die Lösung dieses Problems  ist das Begraben (‫קבר‬, vgl. 39,11.12.13.14.15) der feindlichen Überreste.  In diesem Zusammenhang findet sich in 39,15 auch der einzige weitere  Beleg für ‫עצם‬ innerhalb der übrigen Heilsprophetie: Wenn jemand noch  Totengebein (‫)עצם‬ des Feindes herumliegen sieht, so soll er ein Steinmal  daneben  errichten,  damit  die  Überreste  begraben  werden  können.  Da  mit  39,11‐16  ein  relativ  junges  Stück  innerhalb  der  Gog‐Kapitel  vor‐ liegt,586 das darüber hinaus Stichwortverbindungen sowohl zur Toten‐ feldvision  als  auch  zum  Disputationswort  aufweist,  kann  vermutet  werden, dass 37,1‐6.11‐14 in 39,11‐16 bereits vorausgesetzt ist.   In  diesem  Zusammenhang  fällt  ferner  auf,  dass  in Ez 39,11‐16 mit  dem Problem der Verunreinigung des Landes durch die herumliegen‐ den  Knochen  argumentiert  wird,  das  in  37,1‐6*  keine  Erwähnung  findet. ZIMMERLIS Erklärung, dass der Zusammenhang in 37,1‐14 ganz  auf  den  Gedanken  „Tod‐Leben“  ausgerichtet sei und durch keine Ne‐ benerwägungen über „Rein‐Unrein“ davon abgelenkt werden wolle,587  kann  nur  bedingt  befriedigen.  Vielmehr  ist  davon  auszugehen,  dass  das  Element  der  Unreinheit  in  der  Totenfeldvision  bewusst  eingesetzt  wird, um das Gerichtsbild zu verstärken; eine explizite Thematisierung  ist  nicht  nötig,  da  die  Implikation  jedem Leser klar gewesen sein soll‐ te.588  Es  liegt  deshalb  nahe,  in  39,11‐16  eine  bewusste  Anspielung  auf  die  Totenfeldvision  in  37,1‐14  zu  sehen:  Während  das  Haus  Israel  im  Bild  der  Knochen  wiederbelebt  und  aus  den  Gräbern  herausgeführt  wird, ist die Vernichtung des Feindes unumkehrbar und seine Gebeine  werden beerdigt, damit sie das Land nicht mehr verunreinigen.  Auch wenn sich explizite Aufnahmen von Ez 37,1‐14 nur in jünge‐ ren Texten der Heilsprophetie finden, kann damit noch kein Urteil über                                 584  Das  Verbum  ‫חיה‬  ist  im  weiteren  Kontext  nur  noch  für  die  lebendig  machende  Wir‐ kung des Tempelstroms in Ez 47,9 belegt. Auch dort geht die lebensschaffende Kraft  von Jhwh aus, denn erst nachdem sein ‫כבוד‬ wieder in das Gotteshaus eingezogen ist,  fließt das Wasser aus dem Heiligtum hervor.   585  ‫קבר‬ ist darüber hinaus mehrfach in dem Text Ez 32,17‐32 belegt (vgl. 32,22.23.25.26),  wo die Gräber der Fremdvölker in der Unterwelt beschrieben werden.  586  Vgl. dazu o. Kap. III. 2.2.3.  587  Vgl. ZIMMERLI, BK, 893.  588  Zur  Unreinheit  menschlicher  Überreste  vgl.  Lev  5,2;  11,24;  21,1;  22,4;  Num  6,6‐9;  19,11.14‐16; Dtn 21,22f.; Hag 2,13. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

den  redaktionellen  Ort  gefällt  werden.  Die  Frage  muss  deshalb  durch  einen  Vergleich  mit  der  zweiten  Kapitelhälfte  in  37,15‐28  geklärt  werden.  Die  beiden  Aussageeinheiten  sind  klar  voneinander  abge‐ grenzt.  Während  37,1‐14  durch  die  Visionseinleitung  in  37,1  und  die  gewichtige Abschlussformulierung in 37,14 als eigenständige Textfolge  gekennzeichnet  ist,  signalisiert  in  37,15  die  Wortereignisformel  den  Beginn  eines  neuen  Abschnittes.  In  beiden  Fällen  ist  der  nucleus  des  Textwachstums  eine  Grundschicht  (37,1‐6*  bzw.  37,15‐19*),  die  durch  mehrere  darauf  Bezug  nehmende  Forschreibungen  und  Einschübe  erweitert  worden  ist.  Wird  deshalb  nach  dem  Verhältnis  der  beiden  Grundschichten  zueinander  gefragt,589  so  berühren  sie  sich  zuerst  darin,  dass es in beiden Stücken um die Restitution Israels geht. Aber  während  in  37,1‐6*  das  Volk  als  Größe  erst  wieder  ins  Leben  gerufen  werden  muss,  thematisiert  37,15‐19*  die  Wiedervereinigung  von  Juda  und  Joseph  und  damit  die  Restitution  Israels  als  politische  Einheit.  Aufgrund dieser sachlichen Orientierung von 37,15‐19* an 37,1‐6* kann  vermutet werden, dass die Zeichenhandlung die ursprüngliche Toten‐ feldvision  bereits  voraussetzt.  Da  37,11‐13a(14)  thematisch  enger  mit  37,1‐6*  verbunden  ist  als  37,15‐19*,  ist  es  weiterhin  wahrscheinlich,  dass  der  Zeichenhandlung  auch  die  Fortschreibung  der  Totenfeld‐ vision  durch  das  Disputationswort  in  V 11‐13a(14)  vorangeht,  so  dass  die  Wiedervereinigung  Israels  sich  einer  Anspielung  und  Auslegung  der  Vorstellung  vom  „ganzen  Haus  Israel“  (‫כל־בית ישׂראל‬,  37,11a)  ver‐ danken könnte.590 Aber während in 37,11 nur das außerhalb des Landes  befindliche Israel als das wahre Israel bezeichnet wird, richtet sich die  herzustellende  Einheit  in  37,15‐19*  auf  die  im  Land  befindliche  Be‐ völkerung.  Wenn  sich  Ez  37,1‐6*  damit  als  literarischer  Kern  des  gesamten  Kapitels Ez 37 erwiesen hat, bleibt nun noch das Verhältnis zu Ez 34,1‐                                589  Die Frage nach dem relativen chronologischen Verhältnis der beiden Kapitelhälften  ist so bisher noch nicht gestellt worden. In der älteren Forschung überwiegt die Mei‐ nung, beide Hälften ließen sich (in ihrem Grundbestand) auf den Propheten zurück‐ führen (vgl. z. B. BERTHOLET, HAT, 127‐129; FOHRER, HAT, 206.210f.; ZIMMERLI, BK,  891.908).  Auch  OHNESORGE,  Jahwe,  419f.,  kommt  neuerdings  in  seiner  literarkriti‐ schen  Analyse  zwar  zu  dem  Ergebnis,  dass  mit  zwei  Ausgangstexten  in  37,1‐11a*  und  37,15‐19*  zu  rechnen  sei,  führt  diese  aber  ebenso  wie  das  s.  E.  jüngere  Stück  37,11b‐14* auf den Propheten selbst zurück. RUDNIG, Heilig, 65‐71, und im Anschluss  an diesen POHLMANN, ATD, 492‐499, rekonstruieren dagegen einen durchgehenden  golaorientierten Textbestand in 37,1‐14.25‐28*; zur Kritik vgl. o. Kap. III. 4.2.2.  590  Vgl.  zu  dieser  Vermutung  der  Sache  nach  HERRMANN,  Heilserwartungen,  273:  „In‐ dem v. 11 sagt, daß das ganze Haus Israel gemeint sei, nimmt die dort beginnende  Deutung der Gebein‐Vision schon den Scopus der Symbolhandlung mit den beiden  Stäben vorweg, die die Vereinigung der beiden Teilreiche Israel und Juda darstellen  soll.“ 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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10*  zu  untersuchen,  das  entsprechend  Ez  37,1‐6*  den  Sockel  des  Text‐ wachstums  im  Hirtenkapitel  darstellt.  Auch  wenn  die  beiden  Texte  formal  verschiedenen  Gattungen  zuzuordnen  sind  (Visionsbericht  in  37,1‐6*; Wortereignis in 34,1‐10*), berühren sie sich doch in ihrer ausge‐ prägten  Bildhaftigkeit,  mit  der  sie  die  verheerende  Lage  des  Volkes  darstellen.  Im  Hirtenkapitel  steht  die  Zerstreuung  und  das  Ausgelie‐ fertsein  der  Schafe  für  die  Lage  Israels  unter  der  Fremdherrschaft,  während in Kap. 37 die in der Ebene zerstreuten Gebeine den Tod des  Gottesvolkes  symbolisieren.  In  beiden  Fällen  erfolgt  die  Konstitution  des  Volkes  erst  durch  das  Heilshandeln  Jhwhs,  der  seine  Herde  den  schlechten Hirten entreißt und die Gebeine wieder lebendig macht.  Allerdings  sind  auch  die  Unterschiede  zwischen  den  Texten  nicht  zu übersehen, die vor allem eine unterschiedliche Situation des Volkes  voraussetzen. Während die Verheißung der Wiederbelebung in 37,1‐6*  durch  die  Lokalisation  des  Propheten  auf  der  Talebene  an  die  Gola  außerhalb des Landes gerichtet ist, steht in 34,1‐10* die Lage des Volkes  im  Land  im  Vordergrund.  Diese  Divergenz  spricht  dafür,  die  Texte  verschiedenen literarischen Schichten zuzuweisen. Die Frage der litera‐ rischen  Priorität  wird  allerdings  erst  nach  der  Analyse  von  Ez  35,1‐ 36,15  endgültig  zu  beantworten  sein,  da  zu  vermuten  steht,  dass  die  beiden  Grundworte  in  Ez  34  und  Ez  37  in  einem  engen  literarischen  Zusammenhang mit diesen Kapiteln stehen.591 6.4. Innerbiblische Auslegung in Ez 37,1‐14  6.4.1. Zur Bildersprache  Die  Textanalyse  hat  gezeigt,  dass  die  Bildhaftigkeit  das  charakteristi‐ sche Gestaltungsmittel der Heilsworte in Ez 37,1‐14 ist. Da das verwen‐ dete Bildmaterial nicht auf die Verheißungen in 37,1‐14 beschränkt ist,  sondern auch in anderen Texten des Alten Testaments begegnet, ist die  Motivik  im  Folgenden  auf  ihre  literarischen  und  traditionsgeschicht‐ lichen  Wurzeln  hin  zu  befragen.  Auf  diese  Weise  kann  nicht  nur  ge‐ zeigt  werden,  mit  welcher  konkreten  Gestaltungsabsicht  die  Bilder  in  Ez  37,1‐14  gebraucht  werden,  sondern  die  motivgeschichtliche  Unter‐ suchung trägt auch zur Beantwortung einiger bislang offen gebliebener  Fragen bei.  So  ist  in  der  Analyse  der  Todesmotivik  zuerst  die  Herkunft  des  Bildes  der  zerstreuten  Knochen  zu  untersuchen,  die  Hinweise  zur  theologie‐  und  literaturgeschichtlichen  Einordnung  der  Grundschicht                                 591  Vgl. dazu u. Kap. III. 7.3. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

in  Ez  37  geben  kann.  Sämtliche  bisherigen  Versuche,  das  Bild  in  der  Vision  vom  Disputationswort  her  zu  erklären,592  müssen  an  den  text‐ lichen  Gegebenheiten  scheitern,  da  nach  der  hier  vorgelegten  Analyse  die  Vision  in  37,1‐6*  literarisch  vorgängig  gegenüber  dem  Wort  in  37,11‐13a* ist, und das Attribut der Vertrocknung somit erst sekundär  von V 11‐13a* in die Totenfeldvision eingetragen worden ist. In diesem  Zusammenhang wird ebenso zu fragen sein, warum das Bild von den  auf der Ebene zerstreuten Knochen zum Bild der Gräber wechselt. Da  die  Verheißung,  das  Volk  aus  den  Gräbern  heraufzuführen,  auf  die  Volksklage  in  37,11b  antwortet,  werden  an  dieser  Stelle  auch  die  ein‐ zelnen Klagetopoi in V 11b mit in die Fragestellung einbezogen.  In einem zweiten Schritt ist mit der Verleihung der lebensschaffen‐ den ‫רוח‬ das dominierende Bild für das Leben in Ez 37,1‐14 in den Blick  zu  nehmen.  Die  Belebung  des  Menschen  durch  die  ‫רוח‬  findet  sich  in  mehreren  Texten,  die  von  der  anfänglichen  oder  der  erhaltenden  Schöpfung  des  Menschen  sprechen,  so  dass  hier  vor  allem  zu  unter‐ suchen ist, inwieweit das Bild in 37,1‐14 eine besondere Ausgestaltung  erfährt.  6.4.2. Die Todesmotivik  Das  bestimmende  Bild  der  Totenfeldvision  Ez  37,1‐6(10)  sind  die  auf  der  Ebene  zerstreuten  Knochen.  Das  hebräische  Wort  ‫עצם‬  ist  an  sich  kein  Wort  der  Unheilsansage,  sondern  bezeichnet  zuerst  im  anatomi‐ schen  Sinne  einzelne  Knochen  wie  auch  das  ganze  Skelett.593  Als  der  dauerhafteste  Bestandteil  des  Körpers  kann  ‫עצם‬  für  den  „Kern  des  Menschen“594  stehen  und  wird  in  der  weisheitlichen  Literatur  meta‐ phorisch  zum  Synonym  für  den  ganzen  Menschen.  So  impliziert  das  Zerfallen der Gebeine einen Krankheitszustand von Physis und Psyche  zugleich  und  findet  sich  als  Motiv  der  Klage  und  des  Gebets  (vgl. Ps.  22,15f.; 31,11; 32,3; 102,4).   Im Ezechielbuch gibt es mit der Unheilsansage an die Berge Israels  in  Ez  6  und  dem  Bildwort  über  den  Topf  in  Ez  24,1‐14  zwei  Texte,  in 

                               592  So schon ZIMMERLI, BK, 890: „Der eigentliche Entstehungsort des ganzen Bildes, das  der Prophet schaut, liegt ganz offensichtlich in dem Wort, das der Prophet nach 11  aus dem Munde des Volkes zitiert.“ Vgl. auch POHLMANN, ATD, 499: „Dabei diente  das  Zitat  in  V.  11b,  das  hier  ‘uneigentlich  verstandene  Bildwort’  von  den  vertrock‐ neten  Gebeinen  als  Ausgangspunkt  für  die  Konzipierung  eines  Visionsberichts  (Ez  37,1‐10*).“  593  Vgl. dazu und zum Folgenden BEYSE, Art. ‫ ֶע ֶצם‬, 328‐332.  594  KEEL, Welt, 57. 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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denen  ‫עצם‬  im  Gerichtskontext  verwendet  wird.595  Das  Grundwort  in  Kap. 6 stellt in 6,1‐3.7 (6,1‐7*) eine Gerichtsansage an die Berge Israels  dar,  denen  das  Schwertgericht  und  der  Fall  der  Erschlagenen  in  ihrer  Mitte angesagt wird.596 Der zur Fortschreibung in 6,4.5b gehörige Halb‐ vers  6,5b  kündigt  den  Israeliten  in  einer  Abwandlung  des  Erschla‐ gungs‐Motivs an, dass ihre Gebeine (‫)עצמותיכם‬ rings um ihre Altäre ge‐ streut werden sollen. Obwohl kleinere Abweichungen vorliegen, da die  Gebeine  das  eine  Mal auf der Talebene verteilt sind (37,1‐6), während  sie das andere Mal um die Altäre gestreut werden (6,5b), berühren sich  die  Texte  doch  darin,  dass  sie  das  gleiche  Bild  verwenden.  Darüber  hinaus folgt die Aussage über die Gebeine in beiden Fällen auf ein lite‐ rarisch  vorgängiges  Wort  an  die  Berge  Israels  (Ez  6,1‐7*;  vgl.  Ez  36,1‐ 15*).  Dies  deutet  darauf  hin,  dass  hier  eine  bewusst  angelegte  Ent‐ sprechung  von  Ez  37,1‐6*  mit  Ez  6,4.5b  vorliegt, wobei aber die Frage  der  literarischen  Priorität  schwer  zu  entscheiden  ist.597  Vielleicht  liegt  der  Bezug  von  37,1‐6*  gar  nicht  primär  in  der  Aussage  über  die  Ge‐ beine  in  6,5b,  sondern  in  der  Drohung,  dass  Erschlagene  in  die  Mitte  der Berge fallen sollen (6,7). An dieses Bild könnte 37,1‐6* mit der Res‐ titution der ersten Gola anknüpfen, wenn die Vision als Einlösung der  in 36,1‐15* verheißenen Wiederbesiedelung der Berge verstanden wird.  Allerdings werden eben nicht die im Land Erschlagenen wiederbelebt,  sondern das Potential für die Wiederbesiedelung der Berge bildet allein  die erste Gola. Die Aussage über die Gebeine in 6,5b ist dann als nach‐ trägliche  Angleichung  der  Gerichtsansage  in  Ez  6  an  die  Totenfeld‐ vision in 37,1‐6* zu beurteilen.  Der  zweite  mögliche  Bezugstext  im  Buch  liegt  mit  Ez  24,1‐14  vor.  Hier  findet  sich  ‫עצם‬  im  Rahmen  einer  Zusammenstellung  zweier  auf  die Stadt Jerusalem bezogener Bildworte, in denen die Stadt mit einem  Topf  verglichen  wird.  Im  ersten  Bildwort  wird  der  Topf  mit  Fleisch‐ stücken  und  Knochen  (‫עצמים‬,  24,4)  angefüllt,  die  im  Topf  ausgekocht  werden sollen, so dass die Knochen (‫העצמות‬, 24,10) verbrennen. 598 Hin‐ ter  diesem  Wort  scheint  sich  eine  Unheilsweissagung  an  die  Jerusale‐ mer zu verbergen, die ihre Position in der Stadt in trügerischer Weise                                 595  Vgl. als weiteren Beleg noch Ez 32,27, wonach die Helden der Vorzeit mit den Schil‐ den auf ihren Gebeinen (‫)על־עצמותם‬ begraben sind.  596  Zur Analyse von Ez 6 vgl. u. Kap. III. 7.4.3.  597  HOSSFELD, Untersuchungen, 396, schlägt die Priorität von Ez 6 vor: „Bei der Schilde‐ rung  der  Totengebeine,  die  auf  der  Ebene  liegen,  könnte  der  Autor  an  die  Strafan‐ sage von [Ez] 6,4b.5b gedacht haben.“  598  Aufgrund des von Ez 24,5 abweichenden Genus von ‫עצם‬ in 24,10 ist zu überlegen, ob  es sich bei V 10 bzw. dem in LXX* fehlenden Teilvers 10bb um eine sekundäre Deu‐ tung  handelt  (so  ZIMMERLI,  BK,  558,  und  POHLMANN,  ATD,  350.356  mit  Anm.  42).  Dagegen geht FUHS, Ez 24, 272, von einem literarischen Kunstgriff aus.

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

als  unverwundbar  eingeschätzt  haben.599  Gegenüber  dieser  Fehlein‐ schätzung macht Ez 24,10 deutlich, dass im Gottesgericht nicht einmal  mehr  die  Knochen  der  Bewohner  übrig  bleiben  werden.  Allerdings  weist das Gerichtsbild des Topfes über die parallele Metaphorik hinaus  keine weiteren Berührungen mit der Totenfeldvision auf. Die Knochen  sind nicht das Ergebnis des erfolgten Gerichtes, an das die Heilsverhei‐ ßung  anknüpfen  kann  (vgl.  Ez  37,1‐6*),  sondern  auch  noch  die  Kno‐ chen werden im Gericht zerstört werden. Die erneute Nennung von ‫עצם‬  am Ende der Gerichtsansagen in Ez 1‐24 ist aber sicher kein Zufall, so  dass  zu  überlegen  ist,  ob  mit  24,10  eine  Verschärfung  des  Gerichts‐ bildes  aus  Ez  6,5  vorliegt,  die  zugleich  die  Stadtbewohner  von  den  Heilsverheißungen in 37,1‐6*(14) ausnehmen will.600 Da auch ihre Kno‐ chen  noch  vernichtet  werden,  ist  ausgeschlossen,  dass  sie  zu  denen  gehören, denen in 37,1‐6*(14) die Wiederbelebung verheißen wird.  Traditionsgeschichtlich  ist  das  Bild  der  auf  der  Ebene  zerstreuten  Knochen  in  Ez  37  mit  einigen  altorientalischen  Texten  in  Beziehung  gesetzt  worden,  die  verschiedentlich  unter  dem  Begriff  der  „Bundes‐ flüche“  subsumiert  worden  sind.601  In  diesen  Texten  ist  das  Vorgehen  belegt,  die  Körper  derjenigen,  die  Verträge  gebrochen  haben,  auf  das  freie Feld zu werfen und den wilden Tieren zum Fraß zu überlassen.602  Auch im Alten Testament findet sich an mehreren Stellen die Gerichts‐ ankündigung,  die  Körper  unbestattet  herumliegen  zu  lassen,  so  dass  sie den wilden Tieren und den Vögeln des Himmels zum Fraß (‫)לאכלה‬  werden; vgl. Dtn 28,26; Jer 7,33; 16,4.6; 19,7; 34,17‐20; Ps 79,2f. Die Dro‐ hung, nicht bestattet zu werden, ist darüber hinaus in Jes 14,19f.; 34,3;  Jer  9,21;  14,16  und  36,30  belegt.  Allerdings  ist  in  keinem  dieser  Texte  von  den  Knochen  die  Rede,  sondern  es  geht  um  die  Leichen,  die  un‐ bestattet  herumliegen  werden.  Trotz  der  fehlenden  Stichwortverbin‐ dungen  ist  zu  erwägen,  ob  diese  Gerichtsansagen  den  traditionsge‐ schichtlichen  Hintergrund  der  Totenfeldvision  in  Ez  37  bilden,  da  die  Gebeine das sind, was nach einiger Zeit von den unbestatteten Leichen  übrig bleibt.                                 599  600  601  602 

Vgl. das Selbstzitat in Ez 11,3: „Sie [= die Stadt] ist der Topf, wir sind das Fleisch.“  Vgl. POHLMANN, ATD, 356.  So FENSHAM, Curse, 59f., und BLOCK, NICOT II, 377f.  Vgl. in assyrischen Rechtsurkunden die Drohung: „... seinen unbestatteten Leichnam  mögen  die  Hunde  zerfleischen“  (KOEHLER/UNGNAD,  Rechtsurkunden,  16.19).  Eine  entsprechende  Ankündigung  ist  in  den  Vasallenverträgen  Asarhaddons  mit  me‐ dischen Fürsten belegt: „So möge Ninurta, der Erste unter den Göttern, mit seinem  zornigen  Pfeil  euch  niederstrecken,  mit  eurem  Blut  die  Steppe  füllen,  Adler  und  Geier  euer  Fleisch  fressen  lassen“  (425‐427;  BORGER,  Vasallenverträge,  170).  Vgl.  weiterhin:  „So  möge  Palil/Igischtu,  der  erste  Herr,  Adler  und  Geier  euer  Fleisch  [fressen lassen]“ (519‐520; BORGER, a.a.O., 172). 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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Mit Jer 8,1‐3 gibt es allerdings einen Text im Alten Testament, der  die Drohung der nicht ordnungsgemäßen Bestattung mit dem Bild der  Knochen  verbindet.  Der  Text  steht  im  Anschluss  an  Jer  7,32‐34,  wo  davon die Rede ist, dass im Gericht kein Platz zum Begraben mehr da  sein  wird,  so  dass  das  Volk  den  Tieren  unbestattet  zum  Fraß  werden  wird.  Daran  schließt  sich  in  Jer  8,1‐3  die  Ankündigung  an,  dass  man  die  Gebeine  (‫)עצמות‬  sämtlicher  Stände  des  Volkes  aus  ihren  Gräbern   (‫)מקבריהם‬  herausholen  wird  (‫יצא‬  hif.),  um  sie  den  Himmelskörpern  preiszugeben, die sie zuvor angebetet haben.603 Das Gerichtsbild aus Jer  7,32‐34  erfährt  auf  diese  Weise  eine  Weiterführung  und  Steigerung  in  Jer  8,1‐3,  indem  dem  Volk  nicht  nur  zukünftig  die  Verwehrung  der  Bestattung angedroht wird, sondern auch den bereits gestorbenen Isra‐ eliten die Aufhebung der Totenruhe angekündigt wird.  Jer 8,1‐3 weist damit sowohl Verbindungen zu der Totenfeldvision  in Ez 37,1‐6 als auch zu dem Disputationswort in Ez 37,11‐14 auf.604 So  findet  sich  allein  hier  noch  im  Alten  Testament  die  Vorstellung  der  unter freiem Himmel ausgebreiteten Gebeine (vgl. Ez 37,1‐6), die darü‐ ber  hinaus  als  solche  bezeichnet  werden,  die  zuvor  aus  den  Gräbern   (‫מקבריהם‬, Jer 8,1; vgl. ‫מקברותיכם‬, Ez 37,12.13) herausgeholt worden sind.  Der Bildwechsel von den Knochen zu den Gräbern in Ez 37,1‐14 könnte  sich  deshalb  dadurch  erklären,  dass  der  Autor  von  Ez  37,11‐13a*  die  vorliegende  Totenfeldvision  unter  Aufnahme  von  Jer  8,1‐3  gedeutet  hat.  Auf  diese  Weise  konnte  er  die  verstreuten  Knochen  als  aus  den  Gräbern  hervorgeholte  Gebeine  interpretieren,  wobei  er  aber  das  Ge‐ richtsmotiv  in  eine  Heilsankündigung  wendet:  Das  Herausholen  aus  den Gräbern geschieht in Ez 37 nicht im Zuge eines göttlichen Gerichts‐ handeln,  sondern  stellt  den  Beginn  des  neuen  Heilshandeln  dar.605  Allerdings  liegt  in  37,11‐13a*  keine  konkrete  Ankündigung  vor,  son‐ dern das Bild der Gräber steht bildlich‐metaphorisch für die Situation  der Gola, die aus dem Grab des Exils ins Leben im Land geführt wer‐                                603  Zur  Analyse  von  Jer  8,1‐3  vgl.  z.  B.  WEISER,  ATD,  69,  und  MCKANE,  ICC,  181‐182.  Mehrere  Exegeten  erwägen  auch,  ob  Jer  8,1‐3  im  Hintergrund  der  Gerichtsandro‐ hungen in Ez 6,1‐7 steht; vgl. dazu COOKE, ICC, 69; ZIMMERLI, BK, 149; GREENBERG,  AncB, 140, und BLOCK, NICOT I, 228.  604  Eine Verbindung von Jer 8,1‐3 zu Ez 37,1‐14 ziehen MILLER, Beziehungen, 92; FUHS,  NEB, 207, und SCHÖPFLIN, Ezechiel, 25, in Betracht. Dagegen spricht sich VIEWEGER,  Beziehungen, 152, gegen eine Ableitung des Bildes in Ez 37,1‐14 von Jer 8,1‐3 aus, da  die Ableitung des Sprichwortes von Jeremias Gerichtsankündigung „völlig unbewie‐ sen“ bleibe.  605  Die Aussage, dass Knochen aus den Gräbern herausgeholt werden, findet sich über  Jer 8,1‐3 und Ez 37,11‐13a* hinaus nur noch in 2 Kön 23,16, wo Joschija die Knochen  aus den Gräbern herausholen lässt, um sie auf dem Altar zu verbrennen und ihn so  unrein  zu  machen.  Diese  spärliche  Beleglage  könnte  ein  weiteres  Argument  dafür  sein, dass sich der Autor von Ez 37,11‐13a* bewusst auf Jer 8,1‐3 bezieht. 

   

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den  soll.  Allerdings  fällt  auf,  dass  in  Ez  37,12.13  anstelle  von  ‫יצא‬  hif.  (vgl. Jer 8,1) ‫עלה‬ hif. gebraucht wird. Da beide Verben in der Formulie‐ rung  des  Exoduscredos  belegt  sind,606  kann  die  Abänderung  in  Ez  37,11‐13a*  nicht  dadurch  erklärt  werden,  dass  hier  die  Heraufholung  aus den Gräbern auf die Heimführung aus dem Exil übertragen wird.  Allerdings  könnte  sich  der  Begriff  textintern  auf  Ez  37,6  zurückbe‐ ziehen, wo ‫עלה‬ hif. für das Aufsteigen der Sehnen an den Knochen ver‐ wendet wird.  Es ist ferner ist in Betracht zu ziehen, dass die Formulierung durch  die Elemente der Volksklage in V 11b beeinflusst ist, die den Auslöser  für die Heilsankündigungen in 37,11‐13a* darstellen. Dieses Klagewort  vereint  drei  Einzelmotive:  Das  Volk  betrauert,  dass  ihre  Gebeine  ver‐ trocknet sind (‫)יבשׁו עצמותינו‬, ihre Hoffnung verloren ist (‫)אבדה תקותנו‬ und  sie  abgeschnitten  sind  (‫)נגזרנו לנו‬.  Die  Wurzel  ‫יבשׁ‬,  die  für  den  Zustand  des  Trockenseins  oder  den  Vorgang  des  Verdorrens  steht,  bezeichnet  überwiegend einen zu überwindenden Negativzustand, der ein gängi‐ ges Klagemotiv darstellt (vgl. z. B. Ps 90,6; 102,5.12; Thr 4,8).607 Nach Jes  40,7 ist das gesamte Volk wie verdorrtes Gras (‫)יבשׁ חציר‬, das durch den  Hauch  von  Jhwhs  ‫רוח‬  vertrocknet  worden  ist.  Im  Ezechielbuch  findet  sich  der  Terminus  vor  allem  in  den  Gerichtsandrohungen  der  Bildreden  in  Ez  17  und  19.  Jhwh  wird  den  ungehorsamen  Weinstock  und  seine  Früchte  verdorren  lassen  (‫יבשׁ‬,  Ez  17,9f.;  19,12)  und  diese  Strafankündigung  wird  in  Ez  17,24  (vgl.  Ez  21,31)  zum  Grundprinzip  seines  Handelns  erhoben.  Auch  das  Klagewort  vom  Zugrundegehen  der Hoffnung hat eine Parallele in den Bildreden des ersten Buchteiles.  In der Totenklage (‫)קינה‬ Ez 19,1‐9 ist davon die Rede, dass die Hoffnung  der  Löwin  verloren  ist  (‫אבדה תקותה‬,  V  5),  weil  ihr  Junges  in  der  Grube   (‫שׁחת‬,  V  4)  gefangen  und  nach  Ägypten  weggeführt  wird.  Die  Löwin  steht  hier  als  Bild  für  Jerusalem  bzw.  das  Jerusalemer  Königtum,  das  den  Verlust  des  Königs  zu  beklagen  hat.608  Der  weitere  Gebrauch  von  ‫אבד תקוה‬ über das Ezechielbuch hinaus zeigt, dass es sich um eine feste  Wendung  handelt,  die  noch  in  Ps  9,19;  Hi  8,13;  14,19;  Prov  10,28  und  11,7  belegt  ist  und  die  Situation  des  Gott  fernen  und  dem  Tode  ver‐ fallenen  Menschen  bezeichnet.  Schließlich  steht  auch  das  Verbum  ‫גזר‬  für die Todesgewissheit des Menschen, der sich vom Land der Leben‐ den abgeschnitten sieht (vgl. Jes 53,8; Ps 88,6; Thr 3,54).  Die  Untersuchung  der  Einzelmotive  der  Klage  in  Ez  37,11b  zeigt,  dass das Klagewort vor allem durch weisheitlichen Einfluss geprägt ist,  wie die Nähe zu der Psalmenliteratur und anderen Büchern der Ketu‐                                606  Vgl. GROSS, Herausführungsformel, 428; FUHS, Art. ‫ ָע ָלה‬, 93f.  607  Vgl. dazu PREUSS, Art. ‫יָ ֵבשׁ‬, 402f.  608  Zu dieser Deutung vgl. ZIMMERLI, BK, 424; POHLMANN, ATD, 284.  

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bim  beweist.  Vor  diesem  traditionsgeschichtlichen  Hintergrund  findet  auch die von Jer 8,1‐3 abweichende Verheißung vom Heraufführen (‫עלה‬  hif., Ez 37,12.13) aus den Gräbern eine Erklärung. Der Ort des Todes ist  der  Bereich  der  Tiefe,  in  den  der  Mensch  herabsteigen  muss  (‫ירד‬,  vgl.  z. B.  Ps  22,30;  88,5;  Hi  7,9).609  Die  Gegenbewegung  zum  Hinabsteigen  ist durchgehend durch ‫עלה‬ ausgedrückt (vgl. z. B. Ps 30,4; 40,3; Hi 7,9),  so  dass  die  Wahl  der  Formulierung  in  Ez  37,12.13  nicht  überraschen  kann. Als zweiter Referenzbereich für Ez 37,11 zeichnen sich aber auch  die ezechielischen Bildreden in Ez 17 und 19 ab, wo im Bild der Löwin  bzw. des Weinstockes das Unheilsgeschick Jerusalems und des vorexi‐ lischen Königtums dargestellt wird. Die Heilsverheißung in 37,11‐13a*  ist auf diese Weise bewusst als Aufhebung der Gerichtsverkündigung  im ersten Buchteil angelegt.  Die  Ergebnisse  können  damit  wie  folgt  zusammengefasst  werden:  Die Untersuchung der Todesmotivik in Ez 37,1‐14 hat gezeigt, dass das  Bildmaterial  zwar  nicht  auf  eine  einzelne  literarische  Vorlage  zurück‐ geht, dass hier aber eine Fülle von geprägten Wendungen und Einzel‐ motiven  gebraucht  wird,  welche  die  Gottesferne  und  Todesverfallen‐ heit  des  Menschen  beschreiben. 610  In  der  literarischen  Genese  von  Ez  37,1‐14  spiegelt  sich  dabei  eine  mehrfache  Absage  an  vorangehende  oder  implizite  Gerichtsprophetie  wider,  der  die  Lebenszusage  entge‐ gengesetzt wird. So kann im Hintergrund der Totenfeldvision in 37,1‐ 6* das Gerichtsmotiv der nicht ordnungsgemäßen Bestattung vermutet  werden; im Rahmen des Ezechielbuches selbst ist darüber hinaus eine  Verbindung  zu  Ez  6,1‐7* zu erwägen, wo den Bergen Israels angesagt  wird, dass Erschlagene in ihre Mitte fallen werden (6,7).   In  einem  zweiten  Stadium  findet  eine  Neuinterpretation  statt,  in  der  die  zerstreuten  Knochen  wahrscheinlich  unter  Bezug  auf  Jer  8,1‐3  als menschliche Gebeine verstanden werden, die aus den Gräbern her‐ vorgeholt worden sind. Die Gräber werden in Ez 37,11‐13a* metapho‐ risch als Bild für das Exil verwendet, in dem sich das Volk im Bereich  des  Todes  wähnt.  Dementsprechend  beginnt  das  Disputationswort  in  37,11 mit einer Volksklage, in der die Exilierten mit bekannten Bildern  und  geprägten  Wendungen  ihre  Todesverfallenheit  beschreiben.  Die  entsprechende  Verheißung  wendet  das  im  Jeremiabuch  gebrauchte  Gerichtsmotiv der Hervorholung aus den Gräbern in eine Heilsankün‐                                609  Vgl. KEEL, Welt, 55, und die weiteren dort angeführten Belege aus den Psalmen. Im  Ezechielbuch findet sich in Ez 32,17‐32 die Beschreibung des Sturzes Ägyptens in die  Unterwelt (‫ירד‬, Ez 32,18.19.21.24.25.27.29.30).  610  So  auch  SCHÖPFLIN,  Ezechiel,  25f.:  „Der  von  Gott  ferne  Mensch  fühlt  und  begreift  sich als tot; dies Bild greift Ez 37 als Ausgangspunkt auf, um dann die Neubelebung  in zwei Schritten anschaulich darzustellen.“ 

   

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digung  und  macht  die  „Heraufführung“  aus  dem  Exil  zu  einem  we‐ sentlichen Schritt des göttlichen Wiederbelebungshandelns.  6.4.3. Die Verleihung des Lebensgeistes  Das Heilshandeln Jhwhs an seinem Volk konzentriert sich in Ez 37,1‐14  auf  die  Verleihung  der  ‫רוח‬.  Allerdings  wird  der  Begriff  auf  den  ver‐ schiedenen  literarischen  Wachstumsstufen  in  37,1‐14  jeweils  unter‐ schiedlich verwendet.611 In der ursprünglichen Totenfeldvision in 37,1‐ 6*  erscheint  die  ‫רוח‬  in  37,1  zuerst  als  das  Instrumentarium,  mit  deren  Hilfe  der  Prophet  entrückt  wird.  Dieses  Verständnis  findet  sich  an  mehreren  Stellen  im  Buch,  wo  davon  die  Rede  ist,  dass  der  Prophet  vom  Geist  ergriffen  wird  oder  durch  diesen  eine  Ortsveränderung  er‐ fährt;  vgl.  Ez  2,2;  3,12.14.24;  8,3;  11,1.5.24;  43,5.  Von  diesem  Gebrauch  ist  die  Verwendung  in  der  Verheißung  37,5  zu  unterscheiden,  in  der  Jhwh  ankündigt,  dass  er  ‫רוח‬  in  die  trockenen  Knochen  bringen  wird   (‫בוא‬  hif.).  Durch  den  Nachsatz  ‫וחייתם‬  ist  ‫רוח‬  hier  eindeutig  als  lebens‐ schaffendes Prinzip zu verstehen. Die kurze Fortschreibung in Ez 37,6  greift dieses Verständnis auf, wobei aber an die Stelle des Hereinbrin‐ gens (‫בוא‬ hif.) die Geistgabe (‫)נתן‬ getreten ist. 612 Mit derselben Formulie‐ rung  wird  auch  im  Disputationswort  in  37,14  von  der  Gabe  der  ‫רוח‬  gesprochen,  die  hier  explizit  als  Jhwhs  eigener  Geist  (‫)רוחי‬  bezeichnet  wird.  Schließlich  steht  in  dem  sekundären  Einschub  37,2.7‐10*  erneut  die  lebensschaffende  Wirkung  des  Geistes  im  Vordergrund,  der  in  einer  Anspielung  auf  die  Terminologie  von  37,5  in  die  Erschlagenen  „kommt“  (‫בוא‬  kal.,  37,10),  wobei  die  ‫רוח‬ aber in größerer Unabhängig‐ keit von Jhwh als hypostasierte Größe erscheint.  Der kurze Überblick hat gezeigt, dass im gesamten Textstück 37,1‐ 14  auf  den  verschiedenen  literarischen  Wachstumsstufen  mit  den  Be‐ deutungsinhalten  von ‫רוח‬ gespielt wird. Dabei steht aber der Geist als  das  lebensschaffende  Prinzip  im  Vordergrund.  Es  ist  deshalb  im  Fol‐ genden nach Berührungen mit anderen Texten zu fragen, in denen ‫רוח‬  im Kontext einer Schöpfungsaussage bzw. als heilszeitliche Geistverlei‐ hung gebraucht wird. Mehrfach ist in der „zweistufigen“ Beschreibung  der  Wiederbelebung  in  Ez  37,7‐10  eine  Parallele  zum  Schöpfungs‐                                611  Vgl. dazu auch ZIMMERLI, BK, 1262f., und WAGNER, Geist, 53‐62.  612  HOSSFELD, Untersuchungen, 377, will den terminologischen Wechsel durch einen Be‐ deutungswechsel von einer mehr dynamischen hin zu einer dauerhaften Verleihung  des  Geistes  erklären.  Anders  HÖFFKEN,  Beobachtungen,  307  Anm.  9,  der  keinen  Unterschied  zwischen  dem  „Bringen“  und  dem  „Geben“  des  Geistes  machen  will.  Vom „Kommen“ (‫בוא‬ kal.) des Geistes ist weiterhin in Ez 2,2 und 3,24 die Rede, wo  das Kommen des Geistes in den Propheten geschildert wird, während die Gabe (‫)נתן‬  des Geistes noch in Ez 11,19 und 36,26f. verheißen wird. 

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bericht  Gen  2,4b‐7  gesehen  worden,  in  dem  Jhwh zuerst den Leib des  Menschen  bildet  und  ihm  anschließend  den  Lebensatem  (‫)נשׁמת חיים‬  einhaucht (‫נפח‬, Gen 2,7; vgl. Ez 37,9).613 Zwar wird das belebende Prin‐ zip  mit  ‫נשׁמה‬  in  Gen  2,7  gegenüber  ‫רוח‬  in  Ez  37,9  unterschiedlich  benannt,  aber  eine  Reihe  von  Texten  zeigt,  dass  die  beiden  Begriffe  synonym  verwendet  werden  können  (vgl.  Jes  42,5;  Sach  12,1;  Hi  32,8;  33,4; 34,14). Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass die Beschreibung  der  Wiederbelebung  in  der  späteren  literarischen  Überarbeitung  Ez  37,2.7‐10* an den vorpriesterschriftlichen Schöpfungsbericht angelehnt  worden  ist.  Darüber  hinaus  weist  gerade  dieses  Stück  mit  der  dem  prophetischen  Wort  zugeschriebenen  Wirksamkeit  auch  einen  Bezug  auf  die  priesterschriftliche  Schöpfungserzählung  Gen  1,1‐2,4a  auf.  Denn während Ezechiel weissagt, rücken die Gebeine zusammen (vgl.  37,7)  und  der  Geist  kommt  in  sie  (vgl.  37,10),  so  dass  „die  diesem  Prophetenwort  zugesprochene  Mächtigkeit  der  des  Schöpferwortes  Jahwes in Gen 1 durchaus vergleichbar“614 ist. Da Ez 37,1‐14 auf seiner  letzten  literarischen  Wachstumsstufe  Verbindungen  zu  beiden  Schöp‐ fungsberichten  in  Gen  1,1‐2,4a  und  2,4b‐7  aufweist,  setzt  der  Text  die  Verbindung der priesterschriftlichen mit der nicht‐priesterschriftlichen  Erzählung bereits voraus.  Damit  ist  aber  noch  nicht  die  Frage  nach  dem  Hintergrund  der  Geistverleihung  in  der  ursprünglichen  Totenfeldvision  geklärt.  Wäh‐ rend  in  der  nichtpriesterschriftlichen  Schöpfungserzählung  das  Le‐ bensprinzip als  ‫נשׁמה‬ bezeichnet wird, findet sich in den priesterschrift‐ lichen  Belegen  Gen  6,17  und  7,15  die  Vorstellung,  dass  jedes  lebende  Wesen  mit  einer  ‫רוח‬  als  Lebenskraft  ausgestattet  ist  (‫כל־בשׂר אשׁר־בו רוח‬  ‫חיים‬, Gen 6,17; ‫מכל־הבשׂר אשׁר־בו רוח חיים‬, Gen 7,15). So ist Gott als Schöpfer  dadurch  qualifiziert,  dass  er  der  „Gott  des  Lebensodems“  in  allem  Fleisch  ist  (‫אלוהי הרוחת‬,  Num  16,22;  27,16;  vgl.  auch  Hi  12,10).615  Das  menschliche und jedes Leben beruht auf der Teilhabe an der göttlichen  ‫רוח‬, und die Aussendung des Lebensatems wie auch sein Entzug liegen  allein  in  Gottes  Ermessen  (vgl.  Ps  104,29f.;  Hi  34,14f.).616  So  kann  der  Beter in den Psalmen mehrfach die Ermattung seines Geistes beklagen                                 613  Vgl. z. B. ZIMMERLI, BK, 895; BALTZER, Ezechiel, 110; TENGSTRÖM, Art.  ‫רוּ ַח‬, 410, und  FUHS, NEB, 208.  614  BALTZER, Ezechiel, 112f. (das Zitat ist im Original kursiv gedruckt). Darüber hinaus  weist  der  Nachtrag  Ez  37,2.7‐10*  eine  Reihe  von  Bezügen  zu  Texten  auf,  in  denen  von  einer  Wiederbelebung  von  Toten  die  Rede  ist;  vgl.  dazu  die  bei  OHNESORGE,  Jahwe, 306‐308, aufgeführten Belege.  615  Vgl.  ferner  Jes  42,5,  wo  Jhwh  von  sich  sagt,  dass  er  dem  Volk  auf  der  Erde  Atem   (‫)נשׁמה‬ gab (‫)נתן‬ und Lebenshauch (‫)ורוח‬ denen, die auf ihr wandeln.  616  Vgl. KAISER, Gott II, 286. Zur Bedeutung von ‫רוח‬ im Sinne von Lebensgeist vgl. wei‐ terhin TENGSTRÖM, Art. ‫רוּ ַח‬, 407‐411. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

(vgl. z. B. Ps 34,19; 142,4; 143,7) und Gott um die Restitution bitten (Ps  51,12‐14).  Von  der  Geistausgießung  als  zukünftigem  Heilsereignis  ist  neben  dem  Ezechielbuch  noch  in  drei  weiteren  Prophetenbüchern  die  Rede.  So findet sich im Deuterojesajabuch in Jes 44,3f. in einem Wort an den  Knecht  Jakob‐Israel  die  Verheißung,  dass  Jhwh  seinen  Geist  (‫)רוחי‬  auf  den  Knecht  und  seine  Nachkommen  ausgießen  wird  (‫יצק‬,  44,3b),  so  dass sie wie Schilf am Wasser aufsprossen werden (44,4). Diese Ankün‐ digung  ist  mit  der  vorangehenden  Verheißung  parallelisiert,  dass  das  trockene  Land  (‫)יבשׁה‬  wiederbewässert  werden  soll  (44,3a).  Die  Geist‐ verleihung  an  das  Volk  dient  damit  ähnlich  wie  im  Ezechielbuch  der  als  Wiederbelebung  dargestellten  Restitution  des  Volkes,  die  Voraus‐ setzung  für  die  Rückführung  der  Gola  ist.617  Im  ersten  Gottesknechts‐ lied Jes 42,1 sowie in Jes 59,21618 steht dagegen die Gabe des propheti‐ schen Geistes im Vordergrund. Von Jhwhs (heiligem) Geist in der Mitte  des Volkes ist schließlich noch in Jes 63,10f. (‫;רוח קדשׁו‬ vgl. auch ‫רוח קדשׁך‬,  Ps 51,13) und Hag 2,5 die Rede (‫)רוחי‬, während Jo 3,1f. von einer Heils‐ zukunft  spricht,  in  der  Jhwh  den  Gottesgeist  auf  alle  ausgießen  wird   (‫)אשׁפוך את־רוחי‬.  Auch wenn die Geistbegabung in Ez 37,1‐14 keine direkten Berüh‐ rungen  mit  den  einzelnen  Belegen  aufweist,  so  kann  doch  von  einer  konzeptionellen Nähe gesprochen werden. Anscheinend verbindet der  Autor  der  ursprünglichen  Totenfeldvision  die  priesterschriftliche Vor‐ stellung  von  einem  Lebensgeist  des  Menschen  mit  der  im  Deutero‐ jesajabuch vorgesehenen Wiederbelebung durch den Geist in der Heils‐ zeit,  die  das  Leben  des  Menschen  nach  dem  vollzogenen  Gericht  wieder  befördert.  Die  Metapher der Geistbegabung erfährt in Ez 37,1‐ 6* eine bildhafte Ausgestaltung und wird durch das Bild der Knochen,  die  sich  jenseits  aller  Lebensmöglichkeiten  befinden,  im  Sinne  einer  Neuschöpfung  interpretiert.619  Die  Schöpfungsbezüge  werden  in  den  Fortschreibungen  weiter  verstärkt,  indem  in  37,6  zuerst  eine  Differen‐ zierung der menschlichen Anatomie angelegt wird, ehe die Überarbei‐ tung  durch  37,2.7‐10*  die  Wiederbelebung  der  Knochen  in  einer  An‐ spielung auf die beiden Schöpfungsberichte als leibliche Auferstehung                                 617  Zu Jes 44,1ff. vgl. KRATZ, Kyros, 149‐152.161‐163.  618  Jes 59,21 richtet sich an das Volk und den Propheten des Buches; vgl. dazu KRATZ,  Kyros, 147.  619  Vgl.  BALTZER,  Ezechiel,  110‐112.115‐118;  HOSSFELD,  Untersuchungen,  398;  KRÜGER,  Geschichtskonzepte,  426;  OHNESORGE,  Jahwe,  331,  und  FUHS,  NEB,  210.  So  auch  ZIMMERLI, BK, 900: „Nur durch eine neue Aussendung des Lebenshauches, also ein  Geschehen, das ganz vorne da anknüpft, wo nach Gn 2,7 die Erschaffung des ersten  Menschen geschah, kann neues Leben entstehen.“ 

Die Wiederbelebung der trockenen Knochen: Ez 37,1‐14 

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der  Toten  interpretiert.  Die  ‫רוח‬  stellt  dabei  ein  absolutes  Prinzip  dar,  das die Lebenskraft in den Menschen bringt.620 6.5. Das neue Schöpfungshandeln Jhwhs  Die  vorangehende  Analyse  hat  gezeigt,  dass  mit  der  ursprünglichen  Totenfeldvision  in  37,1‐6*  der  literarische  Kern  des  gesamten  Kapitels  Ez  37  vorliegt.  In  diesem  nucleus  finden  sich  Überlegungen  darüber,  wie  die  erste  Gola  im  Exil  wieder  zum  Leben  erweckt  werden  kann.  Auch  die  folgenden  Reflexionen  zur  Restitution  Israels,  die  zu  den  Fortschreibungen  in  37,11‐13a*  und  37,13b‐14*  geführt  haben,  richten  sich auf das ganze Israel außerhalb des Landes bzw. die zurückgekehr‐ te Gola. Erst in der Zeichenhandlung 37,15‐19*, mit der die Fortschrei‐ bung  in  der  zweiten  Kapitelhälfte  beginnt,  wird  die  Frage,  welche  Größe „ganz Israel“ bildet, auf die politische Trennung des Volkes im  Land  bezogen.  Schließlich  überführt  ein  später  Redaktor  die  bildliche  Wiederbelebung des Volkes durch die Einschreibung von 37,2.7‐10* in  die konkrete Verheißung der Auferstehung von den Toten.  Die Vision in Ez 37,1‐14 unterscheidet sich in einigen Punkten von  den  bereits  untersuchten  Texten.  Zuerst  fällt  die  exponierte  Stellung  des Propheten auf, der nicht nur als Empfänger des göttlichen Wortes  in  Anspruch  genommen  wird,  sondern  im  Kontext  der  Vision  gleich‐ sam  in  das  Bild  gesetzt  wird.  Der  spätere  Nachtrag  in  37,2.7‐10*  baut  die  Rolle  des  Propheten  weiter  aus,  indem  es  nun  das  prophetische  Wort selbst ist, das das Heilsgeschehen in Gang setzt. Der Text zeichnet  sich  des  Weiteren  dadurch  aus,  dass  Motive  und  Metaphern  aus  dem  gesamten  Alten  Testament  aufgenommen  werden  und  in  37,1‐14  in  konkrete  Bildhaftigkeit  umgesetzt  werden. 621  Dabei  hat  sich  kein  ein‐ deutiges  Bild  in  der  Frage  nach  möglichen  literarischen  Vorlagen  ergeben,  sondern  Ez  37,1‐14  scheint  auf  den  verschiedenen  Wachs‐ tumsstufen  eine  Vielzahl  von  mit  Tod  und  Leben  verbundenen  Vor‐ stellungen vorauszusetzen, die aufgegriffen und verarbeitet werden. So  rekurriert  der  Autor  von  Ez  37,1‐6*  auf  das  Motiv  des  Lebensgeistes  und  verbindet  dieses  mit  der  Vorstellung  einer  erneuten  Geistbega‐ bung in der Heilszeit, um die symbolische Wiederbelebung des Volkes  darzustellen.  Einzig  für  das  ursprüngliche  Disputationswort  in  Ez  37,11‐13a* liegt vermutlich in Jer 8,1‐3 ein literarischer Bezugstext vor,                                 620  In  ähnlicher  Weise  werden  die  zwei  Geister  in  der  Zwei‐Geister‐Lehre  der  Ge‐ meinschaftsordnung  von  Qumran  (1QS  III,13‐IV,26)  als  zwei  absolute  Prinzipien  verstanden,  die  Gott  dem  Menschen  bei  der  Schöpfung  verleiht  (III,18)  und  deren  Zusammensetzung sein Leben und seinen Wandel bestimmen.  621  Vgl. SCHÖPFLIN, Ezechiel, 25f. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

mit dessen Hilfe das Bild der Knochen in 37,11‐13a* durch das Gräber‐ motiv  interpretiert  wird.  Auf  der  jüngsten  Wachstumsstufe  mischen  sich  in  der  Einschreibung  von  Ez  37,2.7‐10*  Bezüge  auf  die  beiden  Schöpfungsberichte der Genesis, so dass die Wiederbelebung des Vol‐ kes als neues Schöpfungshandeln Jhwhs erscheint.  In  den  Heilsprophetien  des  Ezechielbuches  erfährt  die  Verleihung  der ‫רוח‬ in Ez 37,1‐14 schließlich eine letzte Auslegung in Ez 36,23bb‐32,  wo  die  Gabe  des  Geistes  eine  sittlich‐moralische  Qualität  erhält;  der  Geist Jhwhs ist das Prinzip, das den Menschen erst dazu befähigt, ein  Leben gemäß der göttlichen Ordnungen zu führen. 

7. Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15  7.1. Standortbestimmung und Vorgehensweise  Nachdem  mit  den  beiden  Säulen  der  Komposition  in  Kap.  34  und  37  sowie  den  Heiligungskapiteln  in  Ez  36,16‐39,29  ein Großteil der Texte  in  Ez  34‐39  abgetragen  worden  ist,  steht  nun  als  Letztes  Ez  35,1‐36,15  im Mittelpunkt der Analyse. Dieser Textblock setzt sich aus zwei etwa  gleich großen Hälften zusammen: Einem Gerichtswort über das Gebir‐ ge Seir in 35,1‐15 und einem Heilswort an die Berge Israels in 36,1‐15,  die  auf  der  Ebene  des  Endtextes  durch  das  Schema  „Gericht  für  das  Gebirge Seir – Heil für die Berge Israels“ miteinander verbunden sind.  Wenn die beiden Texthälften ursprünglich zusammengehören, so muss  dieses  Prinzip  bereits  für  das  Grundwort  vorausgesetzt  werden.  Er‐ weist  sich  allerdings,  dass  eines  der  beiden  Stücke  erst  nachträglich  eingeschrieben worden ist, so ist nach Anbindung und Aussageabsicht  des  literarisch  vorhergehenden  Textes  zu  fragen.  Für  diese  Fragestel‐ lung wird insbesondere der Komplex der Fremdvölkerworte in Ez 25‐ 32  zu  berücksichtigen  sein,  der  nicht  nur  zahlreiche  sprachliche  und  thematische  Verbindungen  mit  Ez  35,1‐36,15  aufweist,  sondern  auch  den engeren vorhergehenden Kontext bildet.   Da  sich  gezeigt  hat,  dass  die  jeweiligen  Grundworte  in  Ez  34  und  37 sachlich am Inhalt der Bergkapitel orientiert sind, steht in der redak‐ tionsgeschichtlichen Einordnung die Beziehung von 34,1‐10* und 37,1‐ 6* mit der Grundschicht in 35,1‐36,15 bzw. ihren Fortschreibungen im  Vordergrund.  Diese  Verhältnisbestimmung  ist  von  besonderem  In‐ teresse,  da  die  erste  Sichtung  der  Texte  in  Ez  34‐39  zu  dem  Ergebnis  gelangt  ist,  dass  die  Grundschicht  der  Bergkapitel  zu  den  vermutlich 

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

301

 

ältesten  Texten  in  diesem  Buchabschnitt  gehört.622  Das  bedeutet,  dass  sich  die  Studie  mit  der  vergleichenden  Analyse  von  Ez  34,1‐10*;  35,1‐ 36,15* und 37,1‐6* auf der Ebene der anfänglichen Heilsverheißung im  Ezechielbuch bewegt.  Die  Untersuchung  möglicher  Vorlagen  wird  im  dritten  Teil  von  den in Ez 35,1‐36,15 verwendeten Bildern bestimmt. So ist insbesonde‐ re  zu  untersuchen,  welche  literarischen  oder  traditionsgeschichtlichen  Wurzeln  die  Rede  von  den  Bergen  Israels  bzw.  des  Gebirges  Seir  hat.  Daran  schließt  sich  im  vierten  Teil  ein  Exkurs  zum  Segen‐und‐Fluch‐ Kapitel  Lev  26  an,  für  das  bereits  Verbindungen  zu  den  Heilsbund‐ texten  in  Ez  34,25‐30  und  37,25‐28  nachgewiesen  werden  konnten.  Da  auch  die  Bergkapitel  einige  Bezüge  zu  diesem  vorletzten  Kapitel  des  Heiligkeitsgesetzes aufweisen, scheint es an der Zeit, nach der grund‐ sätzlichen Bedeutung von Lev 26 für das Ezechielbuch zu fragen.  7.2. Textanalyse  7.2.1. Aufbau und Gliederung  Das Gerichtswort an das Gebirge Seir in Ez 35,1‐15 und das Heilswort  an die Berge Israels in Ez 36,1‐15 sind durch die Wortereignisformel in  35,1 einem einzigen Wortereignis zugeordnet. Es ist allerdings fraglich,  ob  auch  in  textgenetischer  Hinsicht  mit  einer  ursprünglichen  Zusam‐ mengehörigkeit  der  beiden  Stücke  gerechnet  werden  kann.623  Formal  gliedert die doppelte Prophezeiungsaufforderung an den Propheten in  35,2  und  36,1  den  Textblock  in  zwei  Hälften,  deren  literarisches  Ver‐ hältnis zueinander Hauptgegenstand der Untersuchung ist. Neben die‐ ser  Frage  steht  aber  auch  die  literarische  Einheitlichkeit  der  beiden  Einzelteile  auf  dem  Prüfstand,  da  sie  durch  eine  Fülle  von  Redefor‐ meln,  unterschiedlichen  Begründungselementen  und  Doppelaussagen  gekennzeichnet  sind,  die  auf  ein  sukzessives  literarisches  Wachstum  hindeuten.  Der  folgende  Überblick  konzentriert  sich  deshalb  auf  Auf‐ bau  und  Gliederung  von  35,1‐36,15,  ehe  anschließend  die  Frage  nach  der Grundschicht gestellt wird.                                  622  Vgl. dazu o. Kap. II. 4.3.  623  Unter  den  Exegeten,  die  literarkritische  Scheidungen  innerhalb  von  Ez  35,1‐36,15  vornehmen,  rechnen  ZIMMERLI,  BK,  859;  GARSCHA,  Studien,  214,  und  POHLMANN,  ATD,  477,  mit  einer  ursprünglichen  Zusammengehörigkeit  der  jeweiligen  Grund‐ worte  in  35*  und  36,1‐15*.  Dagegen  sprechen  sich  HERRMANN,  Ezechielstudien,  36;  HÖLSCHER, Hesekiel, 172, und SIMIAN, Nachgeschichte, 351f., für eine nachträgliche  Abfassung  des  Ausgangstextes  in  Ez  35*  gegenüber  dem  Grundwort  in Ez 36,1‐15*  aus. 

   

302

Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Das  Wort  gegen  das  Gebirge  Seir  in  Ez  35,1‐15  wird  durch  die  Wortereignisformel V 1 von dem vorhergehenden Hirtenkapitel abge‐ grenzt.  Es  gliedert  sich  in  mehrere  kleinere  Redegänge,  die  durch  die  Einleitung  in  V  2  als  Gerichtsworte  gegen  das  Gebirge  Seir  (‫הר שׂעיר‬,  V 2.3) gekennzeichnet sind. In diesem Vers wird der als Menschensohn  angeredete  Prophet  aufgefordert,  sein  Gesicht  gegen  Seir  zu  richten  und  gegen  es zu prophezeien. In V 3aa setzt sich die Anrede des Pro‐ pheten  mit  einer  Redeaufforderung  und  der  Botenformel  fort,  ehe  in  V 3abb  eingeleitet  durch  die  auf  das  Gebirge  Seir  bezogene  Heraus‐ forderungsformel ‫הנני אליך‬ der eigentliche Inhalt der Gerichtsrede folgt:  Jhwh  wird  seine  Hand  ausstrecken  und  das  Gebirge  zur  Wüstung   (‫)שׁממה‬  und  zum  Entsetzen  (‫)משׁמה‬  machen.  Im  Zuge  dieses  Gerichtes  wird im folgenden V 4 auch den Städten die Verwüstung (‫)חרבה‬ ange‐ sagt  und  die  Drohung  an  Seir  wiederholt  (‫)שׁממה‬,  ehe  die  Erkenntnis‐ formel am Ende des Verses eine erste Zäsur anzeigt.  In V 5‐9 folgt zuerst eine durch ‫יען‬ eingeleitete Begründung für das  Gericht:  Seir  hat  sich  der  ewigen  Feindschaft  (‫)איבת עולם‬  an  den  Israe‐ liten  schuldig  gemacht  und  diese  dem  Schwert  preis  gegeben  (V  5).  Deshalb (‫)לכן‬ wird Jhwh ein Blutgericht an ihm vollstrecken (V 6). Mit  V  7  geht die Anrede von 2. Pers. mask. sg. zu 3. Pers. mask. sg. über:  Jhwh redet nun über das Gebirge Seir und bekräftigt seine Absicht, es  zur  Wüstung  und  zum  Entsetzen  (‫)לשׁממה ושׁממה‬ zu machen, und jeden  auszurotten, der darin umhergeht (‫עבר‬, V 7). Die Rede über das Gebir‐ ge setzt sich in V 8a fort, wo Jhwh die Ausrottung der Bevölkerung in  dem  Bild  umschreibt,  dass  er  die  Berge  mit  den  Erschlagenen  füllen  wird. V 8b kehrt wieder zur Anredesituation der V 1‐6 zurück (2. Pers.  mask. sg.), bleibt aber inhaltlich bei den Erschlagenen, deren Tod nun  explizit  auf  das  Schwert  zurück  geführt  wird  (‫)חללי־חרב‬,  und  die  auf  Hügel,  Täler  und  Bachrinnen  des  Gebirges  fallen  sollen.  Die  Begrün‐ dung des Gerichtswortes wird in V 9 durch die vierte Androhung der  Verwüstung  abgeschlossen;  diese  wird  in  einer  Verstärkung  der  bis‐ herigen Aussagen als „ewige Wüstungen“ (‫)שׁממות עולם‬ beschrieben und  geht  mit  der  Verlassenheit  der  Städte  einher.  Ziel  des  Gerichtes  ist  erneut die Jhwh‐Erkenntnis, wobei allerdings offen bleibt, ob die in 2.  Pers. mask. pl. formulierte Erkenntnisformel in V 9b an die Bewohner  Seirs  oder  an  die  Israeliten  gerichtet  ist. 624  Aufgrund der wechselnden                                 624  LXX  und  Peschitta  lesen  den  Singular,  was  dafür  spricht,  dass  die  Versionen  nach‐ träglich  an  den  Kontext  angeglichen  haben  (so  mit  ZIMMERLI,  BK,  853).  Dies  zeigt  sich  auch  daran,  dass  die  LXX  im  Bereich  von  Ez  35,1‐15  die  Erkenntnisformeln  durchgängig mit 2. Pers. mask. sg. wiedergibt, während das Subjekt im MT wechselt,  der in dieser Hinsicht die lectio difficilior bietet. 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

303

 

Anrede kann innerhalb von V 5‐9 mit einem späteren Nachtrag in V 7‐ 8a gerechnet werden, der die vorliegende Gerichtsansage verstärkt.  In V 10‐13 schließt sich eine weitere begründete Gerichtsansage an.  Als  Anlass  (‫)יען‬  für  Jhwhs  Gerichtshandeln  wird  diesmal  in  V  10a  die  Prahlerei  und  das  Besitzstreben  Seirs genannt. Dieses habe sich damit  gebrüstet, die zwei Nationen (‫)את־שׁני הגוים‬ und die zwei Länder (‫ואת־שׁתי‬  ‫ )הארצות‬in Besitz genommen zu haben (‫לי תהיינה‬/‫)וירשׁנוה‬. Die nachgescho‐ bene  Erklärung  in  V  10b  „obwohl doch Jhwh dort war“ ist als Zusatz  verdächtig,  da  hier  innerhalb  einer  Jhwh‐Rede  von  Jhwh  in  3.  Person  gesprochen  wird.  Hier  kann  ein  Ergänzer  am  Werk  gesehen  werden,  der  eine  theologische  Kommentierung  von  Seirs  Fehlverhalten  in  den  Text einträgt.625 Darüber hinaus fallen aber auch innerhalb des für die  Grundschicht  verbleibenden  Verses  Inkonsistenzen  auf.  Während  mit  den  zwei  Nationen  und den zwei Ländern ein pluralisches Objekt für  Seirs Besitzstreben angegeben wird (‫)לי תהיינה‬, weist ‫וירשׁנוה‬ nicht nur ein  Suffix 3. Pers. fem. sg. auf, sondern es setzt auch ein Subjekt 1. Pers. pl.  voraus.626 Das pluralische Subjekt ist als Zitat der Bewohner des Gebir‐ ge Seirs verständlich (vgl. auch 35,12), während das feminine Suffix da‐ rauf hindeutet, dass hier das Land als Ganzes im Blick ist. Auch wenn  die  inhaltliche  Aussage  damit  ohne  Probleme  verständlich  ist,  bleibt  die  Inkongruenz  zwischen  Objekt  und  Suffix  bestehen,  die  m. E.  am  Besten literarkritisch aufzulösen ist. Dabei bleiben zwei Möglichkeiten:  Zuerst  ist  denkbar,  dass  das  Land  ursprünglich  Objekt  des  gesamten  Zitates  war,  das  evtl.  durch  Beeinflussung  von  Ez  37,15‐19.20‐23*  se‐ kundär  durch  die  Formulierung  ‫את־שׁני הגוים ואת־שׁתי הארצות‬ ersetzt wor‐ den ist (vgl.  ‫לשׁני גוים‬, 37,22), wobei die Angleichung des zweiten Verbs  vergessen  wurde.627  Alternativ  ist  denkbar,  dass  es  sich  bei  ‫וירשׁנוה‬  um  einen  späteren  Zusatz  handelt,  der  das  Besitzstreben  Seirs  verdeutli‐ chen soll; in diesem Fall müsste aber damit gerechnet werden, dass das  Suffix  in  den  falschen  Numerus  gesetzt  worden  ist.  Da  ein  Versehen  wahrscheinlicher  erscheint  als  ein  Grammatikfehler,  ist  im  Folgenden  davon auszugehen, dass das Land in V 10 durch eine Überarbeitung in  seiner Gespaltenheit in Nord‐ und Südreich dargestellt werden soll.                                 625  Vgl.  auch  ZIMMERLI,  BK,  853;  SIMIAN,  Nachgeschichte,  107,  und  POHLMANN,  ATD,  476 Anm. 20.   626  Die  Varianten  der  älteren  Versionen,  die  auf  ein  zugrunde  liegendes  ‫וירשׁתין‬  führen  könnten (vgl. z. B. LXX: kai. klhronomh,sw auvta,j), sind lectio facilior und damit als nach‐ trägliche  Textglättung  zu  beurteilen  (so  in  der  Bevorzugung  des  masoretischen  Textes mit ALLEN, WBC 29, 168, und BLOCK, NICOT II, 312f. Anm. 21, während ZIM‐ MERLI, BK, 852, mit Verweis auf die LXX eine Vorlage ‫וירשׁתין‬ annimmt).  627  Vgl.  POHLMANN,  ATD,  479,  der  die  Formulierung  ebenfalls  „als  eine  nachträgliche  Abstimmung  des  Edom‐Zitats  auf  die  spätere  Einschaltung  von  37,15‐24  und  die  dortige Rede von den ‘zwei Völkern und zwei Königreichen’“ erklärt. 

   

304

Schriftauslegung in Ez 34‐39   

V  11  schließt  durch  die  begründende  Partikel  ‫לכן‬  eng  an  den  vor‐ hergehenden  V  10a  an  und  schildert  die  Folgen  für  Seirs  Verhalten:  Eingeleitet mit der Schwurformel kündigt Jhwh an, dass er an Seir han‐ deln  wird  entsprechend  dem  Zorn  (‫)כאפך‬  und  der  Eifersucht  (‫)וכקנאתך‬,  mit  der  Seir  gegen  die  Israeliten  vorgegangen  ist.  Eine  Erkenntnisfor‐ mel, die mit ‫ידע‬ ni. konstruiert ist, bildet einen ersten Einschnitt. In V 12  wird  die  Erkenntnisformel  wieder  aufgenommen  und  ist  durch  eine  zitathafte  Begründung  für  das  Gericht  über  Seir  erweitert:  Jhwh  hat  Seirs  Lästerungen  über  die  Berge  Israels  (‫)על־הרי ישׂראל‬  gehört  (‫)שׁמעתי‬,  dessen  Bewohner  fälschlicherweise  annahmen,  die  Berge  seien  ihnen  zum  Fraß  (‫)לאכלה‬  gegeben. Der  folgende  V  13  knüpft  an  die  Aussage  von V 12 an, wie auch das abschließende ‫אני שׁמעתי‬ zeigt. Der Spott über  die  Berge  Israels  wird  nun  als  Gotteslästerung  interpretiert,  da  die  Schmähungen  Seirs  eine  direkte  Selbstüberhebung  gegenüber  Jhwh  darstellen. Auch wenn sich der Anredewechsel von 2. Pers. sg. in V 12  zu  2.  Pers.  pl.  in  V  13  durch  Bezug  auf  die  Bewohner  Seirs  erklären  ließe,  spricht  er  zusammen  mit  der  weiterführenden  theologischen  Deutung  dafür,  in  V  13  eine  gegenüber  V  10a.11f.  sekundäre  Nach‐ interpretation zu sehen.628 In V 14 liegt mit der Botenformel ein Neueinsatz vor, durch den ein  weiteres  Jhwh‐Wort  eingeleitet  wird,  das  V  14f.  umfasst:  Jhwh  betont  erneut,  dass  das  Gericht  an  Seir  der  Schadenfreude  entsprechen  wird   (‫)כשׂמח‬,  mit  der  es  die  Verwüstung  des  ganzen  Landes  (‫)כל־הארץ‬  kom‐ mentiert  hat.  Das  Motiv  der  Schadenfreude  (‫)כשׂמחתך‬  begegnet  ferner  am Beginn von V 15, nur dass der Spott Seirs diesmal dem verwüsteten  Erbteil (‫)נחלה‬ des Hauses Israel gilt. Ein letztes Mal betont Jhwh, dass er  nach  dem  Talionsprinzip  handeln  und  das  Gebirge  Seir  und  ganz  Edom insgesamt (‫)וכל־אדום כלה‬ als Strafe für ihre Lästerungen zur Wüs‐ tung  (‫)שׁממה‬  machen  wird.629  Die  Angabe  ‫וכל־אדום כלה‬  wirkt  nach  der  vorherigen Nennung des Gebirges Seir nachgetragen, so dass zu über‐ legen ist, ob hier eine sekundäre Glosse vorliegt, durch die das Gebirge                                 628  So auch POHLMANN, ATD, 476, der die Sekundarität des Verses allerdings allein mit  dem Anredewechsel von V 12 zu V 13 begründet.  629  Der  MT  in  V  14  macht  einen  verdorbenen  Eindruck,  so  dass  eine  textliche  Rekons‐ truktion zu erwägen ist, die auch die auffälligen inhaltlichen Doppelungen in V 14f.  erklären  kann.  Zwei  Erklärungen  sind  denkbar:  Entweder  enthält  V  14*  den  ur‐ sprünglichen Text, während V 15a, der in der LXX* fehlt, als Randglosse eine theolo‐ gische Nachinterpretation enthält, die später in den Text selbst geraten ist (so BHS;  FOHRER,  HAT,  199;  POHLMANN,  ATD,  471f.  Anm.  6).  Oder  aber  der  ursprüngliche  Text ist in V 15a enthalten, während ein Grundbestand von V 14 als Glosse zu V 12  gedacht war und irrtümlich als Alternative zu V 15a in den Text genommen wurde  (vgl. ALLEN, WBC 29, 168). Das Fehlen von V 15a in der LXX* wäre in beiden Fällen  als  aberratio  oculi  aufgrund  eines  homoioteleuton  von  V  14  Ende  zu  V  15a  Ende   (‫)אעשׂה־לך‬ zu erklären. 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

305

 

Seir  mit  Edom  gleichgesetzt  wird.630  Eine  Erkenntnisformel  am  Ende  von V 15 schließt die Seir‐Hälfte der Bergkapitel in 35,1‐15 ab.   Das Heilswort an die Berge Israels in Ez 36,1‐15 beginnt in V 1 mit  der  betonten  Anrede  (‫)ואתה‬  des  als  ‫בן־אדם‬  angesprochenen  Propheten,  der  von  Jhwh  beauftragt  wird,  über  die  Berge  Israels  (‫)אל־הרי ישׂראל‬  zu  prophezeien. Ein Höraufruf an die Berge und eine Botenformel in V 2  leiten  die  eigentliche  Weissagung  ein,  die  mit  einer  Begründung  ein‐ setzt: Weil (‫)יען‬ der Feind über die Berge Israels „Ha“ (‫)האח‬ gesprochen  hat und meinte, die ewigen Höhen (‫)ובמות עולם‬631 seien ihm zum Besitz  gegeben  (‫)למורשׁה היתה לנו‬,  wird  Jhwh  handeln.  In  literarkritischer  Hin‐ sicht fällt die Inkongruenz zwischen dem pluralischen Objekt ‫במות‬ und  der singularischen Verbform ‫היתה‬ auf, die nur schwer zu erklären ist. Es  ist  vorgeschlagen  worden,  die  Form  durch  Angleichung  an  das  dane‐ benstehende  ‫למורשׁה‬ zu erklären, die Bezogenheit auf das nicht genann‐ te ‫ארץ‬ vorauszusetzen, oder sie mit dem Kollektivcharakter von ‫במות‬ zu  begründen.632  Zwar  kann  keine  dieser  Lösungen  wirklich  befriedigen,  aber  die  Auffälligkeit  ist  noch  am  ehesten  dadurch  zu  erklären,  dass  ‫במות‬  als  Kollektivbegriff  für  das  Land  steht,  so  dass  keine  Textverbes‐ serung vorgenommen werden muss. Dieser solcherart mit der Partikel  ‫יען‬ eingeleitete Vorsatz über das Verhalten des Feindes lässt eine durch  ‫לכן‬ eingeführte Folgeaussage erwarten. Tatsächlich finden sich im wei‐ teren  Textablauf  sechs  mit  ‫לכן‬  und  Botenformel  eingeleitete  Sätze  (V 3.4.5.6.7.14), die als mögliche Fortführung in Frage kommen.  Von diesen sechs ‫‐יען‬Aussagen scheiden die ersten vier in V 3‐6 als  ursprüngliche  Fortsetzung  von V 1f. aus. V 3 enthält keine an V 2 an‐ knüpfende  Folge,  sondern  nach  einem  erneuten  Prophezeiungs‐  und  Redeauftrag  wird  durch  Botenformel  und  doppeltes  ‫יען‬  eine  weitere  Begründung  eingeführt.  Ausführlicher  als  in  V  2  wird  darauf  verwie‐ sen,  dass  die  Berge  Israels  verwüstet  wurden  und  sie  dem  Rest  der  Nationen (‫)שׁארית הגוים‬ zum Besitz und generell zum Objekt des Spottes  geworden  sind.  Auch  der  folgende  V  4  kommt  nicht  als  Anschluss  in  Frage,  da  die  Partikel  ‫לכן‬  eine  erneute  vokativische  Anrede  der  Berge                                 630  So auch SIMIAN, Nachgeschichte, 115: „erklärende Glosse“.  631  Die  Lesung  ‫ובמות‬  ist  textkritisch  nicht  unumstritten.  Die  LXX  bietet  e;rhma  (vgl.  Pap.  967 evrhmi,a) aivw,nia, was mit Verweis auf Ez 35,9 (MT: ‫שׁממות עולם‬/LXX: evrhmi,an aivw,nion)  von einigen als Verschreibung aus  ‫שׁממות‬ interpretiert wird (vgl. ZIMMERLI, BK, 854;  POHLMANN,  ATD,  472).  Es  liegt  m.  E.  aber  näher,  die Variante der LXX als Anglei‐ chung  an  35,9  und  damit  als  Textglättung  zu  beurteilen,  so  dass  dem  MT  als  der  lectio  difficilior  der  Vorzug  zu  geben  ist  (so  mit  HAAG,  Untersuchung,  19f.;  ALLEN,  WBC 29, 168; GREENBERG, AncB, 717, und BLOCK, NICOT II, 324).  632  Alle drei Alternativen zieht BLOCK, NICOT II, 324, in Erwägung, während ZIMMERLI,  BK,  854,  die  ersten  beiden  Erklärungen  für  denkbar  hält.  SIMIAN,  Nachgeschichte,  130, und im Anschluss an diesen ALLEN, WBC 29, 168, setzen dagegen ein kollektives  Verständnis voraus; vgl. dazu auch GesK §145h. 

   

306

Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Israels  eröffnet,  die  nach  dem  Aufmerksamkeitsruf  und  der  Boten‐ formel  durch  die  zusätzlichen  Adressaten  Hügel,  Bachrinnen,  Täler,  Trümmerstätten und verwüstete Städte erweitert wird. In V 5 leitet das  Ensemble von ‫‐לכן‬Partikel und Botenformel dagegen einen Schwursatz  Jhwhs  ein,  der  bekräftigt,  dass  er  im  Feuer  seines  Eifers  (‫)באשׁ קנאתי‬  gegen den Rest der Nationen und gegen Edom insgesamt (‫)ועל־אדום כלא‬  geredet  habe,  die  sich  sein  Land  zum  Besitz  genommen  haben.  Ver‐ gleichbar  mit  dem  Befund  in  35,15  fällt  der  nachklappende  Charakter  der  Edomnennung  auf,  die  nach  dem  „Rest  der  Nationen“  zu  spät  kommt, so dass mit einer späteren Kommentierung zu rechnen ist, die  Edom  namentlich  in  den  Text  einträgt. Des Weiteren kommt auch die  ‫‐יען‬Aussage in V 6 aus mehreren Gründen nicht als Weiterführung des  Grundwortes  in  Frage.  Zuerst  richtet  sich  das  Jhwh‐Wort  in  diesem  Vers  nicht  an  die  Berge  Israels,  sondern  an  das  Land  Israel  (‫על־אדמת‬ ‫)ישׂראל‬,  auch  wenn  die  Adressaten  ähnlich  wie  in  V  4  nachfolgend  als  Berge,  Hügel,  Bachrinnen  und Täler präzisiert werden. Weiterhin ent‐ hält  der  Vers  keine  Folgeaussage,  sondern  einen  Rückblick,  in  dem  Jhwh in einer Parallele zur Aussage von V 5 betont, dass er in seinem  Eifer  (‫)בקנאתי‬  und  in  seinem  Grimm  (‫)ובחמתי‬  geredet  habe,  da  die  Isra‐ eliten die Schmach der Nationen (‫)כלמת גוים‬ getragen haben (‫)נשׂא‬.  In V 7 findet sich schließlich eine ‫‐לכן‬Aussage, die als Fortführung  von  V  1f.  in  Frage  kommt: 633  Jhwh  schwört  mit  erhobener  Hand,  dass  die Nationen ihre Schmach selbst tragen werden und wendet sich dann  den Bergen Israels zu. Mit betonter Anrede (‫הרי ישׂראל‬ ‫)ואתם‬ werden die‐ se in V 8a erneut angesprochen und ihnen wird verkündet, dass sie für  Jhwhs Volk ihre Zweige treiben (‫)ענפכם תתנו‬ und ihre Frucht tragen wer‐ den (‫)ופריכם תשׂאו‬. In V 8b und V 9 finden sich zwei unterschiedliche Be‐ gründungen  für  diese  Heilswende,  die  jeweils  durch  die  Partikel  ‫כי‬  eingeleitet sind. So ist nach V 8b die Restitution der Berge notwendig,  da  die  Rückkehr  des  Volkes  unmittelbar  bevorsteht,  während  in  V  9  die Heilswende ganz auf Jhwhs souveränen Entschluss zurückgeführt  wird. Eingeleitet durch die positiv gebrauchte Herausforderungsformel  ‫הנני אליכם‬634 sagt Jhwh den Bergen in einer an Lev 26,9 erinnernden For‐ mulierung zu, dass er sich ihnen zuwenden wird (‫)ופניתי אליכם‬ und dass                                 633  Die Mehrzahl der Exegeten ist sich darin einig, dass in V 7 die sachliche Fortführung  der ‫‐יען‬Aussage von V 2 vorliegt (vgl. GARSCHA, Studien, 218; ALLEN, WBC 29, 170;  POHLMANN,  ATD,  477),  allerdings  wird  teilweise  auch  V  6  noch  zur  Grundschicht  gerechnet  (so  HÖLSCHER,  Hesekiel,  173;  ZIMMERLI,  BK,  865),  während  FUHS,  NEB,  201, den Ausgangstext erst mit V 8 wieder einsetzen lässt.  634  Es gibt keinen Grund, die Herausforderungsformel in V 9 aus dem Text zu streichen,  nur  weil  sie  hier  in  heilvollem  Kontext  gebraucht  wird  (so  mit  ZIMMERLI,  BK,  866,  gegen  HUMBERT,  Herausforderungsformel,  104).  Vielmehr  betont  gerade  die  Um‐ funktionierung der üblichen Gerichtsformel die Heilswende für die Berge Israels. 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

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sie bebaut und besät werden sollen (V 9). Die Doppelung der beiden ‫‐כי‬ Sätze in V8b.9 deutet darauf hin, dass eine der beiden Aussagen nach‐ getragen ist, wobei der Verdacht zuerst auf V 8b fällt.635 Während das  Eingreifen  Jhwhs  zugunsten  der  Berge  Israels  die  erwartete  Reaktion  auf das Verhalten des Feindes ist (vgl. 36,2), kommt die Rückkehr des  Volkes im Text überraschend, da die Exilierung bisher noch nicht the‐ matisiert  worden  ist.  Daraus  kann  gefolgert  werden,  dass  V  8b  nach‐ träglich  mit  der  Intention  eingeschrieben  worden  ist,  den  Beginn  des  Heils  mit  der  Rückführung  des  Volkes  anbrechen  zu  lassen.636  Im  ur‐ sprünglichen  Textbestand  liegt  die  Heilswende  dagegen  allein  in  der  erneuten Zuwendung Jhwhs begründet (V 9).  Die  folgenden  V 10 und V 11 kündigen am jeweiligen Versanfang  mit denselben Worten eine Vermehrung der Menschen auf den Bergen  an  (‫)והרביתי עליכם אדם‬,  die  aber  eine  je  unterschiedliche  Fortführung  er‐ hält. Während in V 10 die Vermehrung der Menschen637 als Vorausset‐ zung für die Wiederbesiedelung der Städte und den Wiederaufbau der  Trümmerstätten erscheint, zielt die Vermehrung von Mensch und Tier  in  V  11  auf  die  Wiederherstellung  des  früheren  Zustandes,  der  durch  Jhwhs Heilshandeln noch übertroffen werden soll. Die Verbindung von  Vermehrung und Fruchtbarkeit durch den Doppelausdruck ‫ורבו ופרו‬ in  V 11 ist in der LXX* nicht bezeugt und fällt auch durch 3. Pers. pl. aus  dem Anredestil des Kontextes heraus, so dass hier mit einem Nachtrag  zu  rechnen  ist.638  Dieser  trägt  die  priesterschriftlich  geprägte  Doppel‐ verheißung  (vgl.  Gen  1,22.28;  8,17;  9,1  u.  ö.)  in  den  Text  ein,  um  auf  diese Weise die Mehrung auch für die zukünftigen Generationen sicher  zu  stellen.  Im  Vergleich  der  beiden  Mehrungsverheißungen  in  V  10  und 11* ist V 11*, der allein vom Heil für die Berge Israels spricht, der  Vorzug  vor  V  10  zu  geben,  der  auch  die  Restitution  der  Städte  und                                  635  So  auch  FOHRER,  HAT,  201  („erläuternde  Gl.  [=  Glosse]“)  und  erwägungsweise  SIMIAN,  Nachgeschichte,  75.  Daneben  diskutiert  nur  noch  GARSCHA,  Studien,  213f.  Anm.  630,  die  Frage,  ob  V  8b  ursprünglich  zum  Text  gehört  habe  oder  sekundär  eingeschoben  sei:  „Es  fällt  jedenfalls  auf,  dass  V8b  vom  Volk  redet,  während  V8a  und V9 die Berge ansprechen“. Zwar kommt er ebd. zu dem Ergebnis, dass die Ent‐ scheidung  unsicher  bleiben  muss,  aber  in  seiner  Übersicht  über  die  Grundschicht  von Kap. 36 fehlt V 8b (vgl. GARSCHA, a.a.O., 218).  636  So gegen POHLMANN, ATD, 472.480, der V 8b zur Grundschicht rechnet. Allerdings  äußert er sich nicht weiter zur Bedeutung des Halbverses in der Grundschicht. Für  die von ihm angenommene golaorientierte Überarbeitung des Textes gilt aber: „Und  dieses Heil bricht an mit der Rückführung der Exilierten (36,8b)“ (DERS., Ezechielstu‐ dien, 110).  637  Bei dem Verweis auf „das ganze Haus Israel insgesamt“ (‫כל־בית ישׂראל כלה‬, V 10ab) ist  mit  einem  Nachtrag  zu  rechnen  (vgl.  POHLMANN,  ATD,  480f.),  der  evtl.  durch  die  Thematik in Ez 37,11.15ff. beeinflusst ist.  638  So  mit  EICHRODT,  ATD,  341;  ZIMMERLI,  BK,  856;  ALLEN,  WBC  29,  169;  POHLMANN,  ATD, 472 Anm. 12; anders BLOCK, NICOT II, 332 Anm. 44. 

   

308

Schriftauslegung in Ez 34‐39   

Trümmerstätten  berücksichtigt.639  Die  an  die  Berge  Israels  gerichtete  Erkenntnisformel  in  V  11*  bildet  einen  ersten  literarischen  Abschluss  der Grundschicht innerhalb von 36,1‐11.  In  den  Versen  36,12‐15  folgen  weitere  an  die  Berge  und  das  Land  gerichtete Heilszusagen. V 12 setzt die den Bewohnern geltenden Resti‐ tutionsverheißungen  fort  und  wiederholt  in  anderen  Worten  die  Wie‐ derbesiedelung  der  Berge  aus  V  10.11.  Die  Anrede  wechselt  dabei  in‐ nerhalb  des  Verses  von  2.  Pers.  mask.  pl.  zu  2.  Pers.  mask.  sg.,  wobei  der Bezug dieser 2. Pers. mask. sg. vor Probleme stellt. Wahrscheinlich  ist  bereits  das  Land  im  Blick,  das  auch  in  den  folgenden  V  13ab‐15  Adressat der Rede ist, aber damit ist noch nicht das maskuline Genus  erklärt;  eventuell  ist  hier  mit  weiterer  literarischer  Nacharbeit  oder  Textverderbnis zu rechnen.640 Diesem Adressaten 2. mask. sg. wird an‐ gesagt, dass das Volk Israel ihn in Besitz nehmen wird (‫)וירשׁוך‬, er ihnen  zum  Erbteil  (‫)לנחלה‬  werde,  und  er  die  Israeliten  nicht  mehr  kinderlos  machen soll (‫שׁכל‬ pi.). Das Stichwort  ‫שׁכל‬ nimmt bereits das Thema der  folgenden  Redeeinheit  V  13‐15  vorweg.  Diese  mit  einer  Botenformel  eingeleiteten Verse enthalten ein kurzes, begründetes Heilswort, das in  2.  Pers.  fem.  sg.  an  das  Land  gerichtet  ist.641  Weil  (‫)יען‬  man  über  das  Land sagt, es sei eine Menschenfresserin (‫)אכלת אדם‬ und habe sein Volk  kinderlos gemacht (‫שׁכל‬ pi., V 13), darum (‫)לכן‬ wird es seine Bewohner  in Zukunft nicht mehr gefährden (V 14). Nach der abschließenden Got‐ tesspruchformel in V 14b greift V 15 mit der Schmähung der Nationen   (‫)כלמת הגוים‬,  dem  Höhnen  der  Völker  (‫)חרפת הגוים‬  und  dem  Kinderlos‐ Machen  (‫שׁכל‬  pi.)642 Stichworte  aus  den  vorausgehenden  Redegängen                                 639  Der  Nachtragscharakter  von  V  10  ist  weitgehend  anerkannt;  vgl.  HÖLSCHER,  Hese‐ kiel,  173  Anm.  1;  FOHRER,  HAT,  201;  EICHRODT,  ATD,  341  Anm.  1;  ZIMMERLI,  BK,  859.866; GARSCHA, Studien, 214 Anm. 631, und POHLMANN, ATD, 477. SIMIAN, Nach‐ geschichte, 76f., rechnet dagegen mit einem Nachtrag in V 10abb.11a.  640  So  nimmt  ZIMMERLI,  BK,  856,  einen  Zusatz  in  der  zweiten  Vershälfte  an.  LXX  und  Peschitta gleichen die Formen 2. Pers. mask. sg. an die 2. Pers. mask. pl. an, die so‐ wohl am Anfang von V 12 als auch im folgenden V 13a belegt ist.  641  Das  Heilswort  wird  allerdings  in  V  13aa  in  Form  eines  Disputationswortes  durch  eine an ‫לכם‬ gerichtete Schmähung der Widersacher eröffnet. Die Varianten von LXX,  Peschitta (Polyglotte von Walton) und Targum, die alle den Singular lesen, sind als  Angleichung lectio facilior gegenüber dem MT. Es ist deshalb zu vermuten, dass ‫לכם‬  noch an die vorangehende Anrede der Berge Israels anknüpft (so mit ZIMMERLI, BK,  856),  während  das  Bild  mit  V  13bb  (evtl.  aufgrund  der  zitathaften  Anspielung  auf  Num 13,32; vgl. dazu u. Kap. III. 7.4.5.) auf das Land umbricht.  642  Sowohl in V 14 als auch in V 15 findet sich ‫תכשׁלי‬ ‫לא‬ („du wirst nicht stolpern lassen“),  wo eigentlich  ‫תשׁכלי‬ ‫לא‬ („du wirst nicht kinderlos machen“) zu erwarten ist; vgl. das  Qere.  Wie  der  textkritische  Befund  zeigt,  ist  an  beiden  Stellen  von  einer  Verschrei‐ bung  auszugehen:  Im  Fall  von  V  14  bezeugen  die  Versionen  und  viele  hebräische  Handschriften  die  Lesart  des  Qere  ‫תשׁכלי‬,  während  V  15  das  Ketib  irrtümlich  über‐ nommen zu haben scheint; vgl. auch ZIMMERLI, BK, 856, und ALLEN, WBC 29, 169. 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

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auf,  wobei  V  15b  eine  wortwörtliche  Wiederholung  von  V 14abb  dar‐ stellt.  Die  Textbeobachtungen  in  V  12‐15  lassen  sich  damit  wie  folgt  auswerten:  V 12  scheint  als  redaktionelle  Überleitung  zur  Redeeinheit  V 13f.  abgefasst  zu  sein,643  die  Befürchtungen  gegenüber  einem  als  feindlich empfundenen Land entgegen wirken will. Die Gottesspruch‐ formel  in  V  14  und  der  Kompilationscharakter  von  V 15  sprechen  dafür, in V 15 einen neuerlichen Einzelversnachtrag zu sehen, der das  Heilswort an die Berge Israels als Gesamtkomposition abschließt.  7.2.2. Grundschicht und ursprünglicher Textanschluss  Die  Ergebnisse  der  Untersuchung  von  Aufbau  und  Gliederung  in  Ez  35,1‐36,15  können  damit  wie  folgt  zusammengefasst  werden:  Im  Fall  der Israel‐Hälfte 36,1‐15 umfasst der Ausgangstext nach der hier vorge‐ legten  Analyse  die  V  1f.7‐8a.9.11*  (36,1‐11*)644  und  enthält  mehrere  an  die  Berge  gerichtete  Restaurationszusagen. Die textlichen Verhältnisse  im  Seir‐Teil  Ez  35,1‐15  stellen  dagegen  vor  einige  Probleme:  Der  Text  umfasst nach der formalen Einleitung in V 1‐3aa vier Redeeinheiten in  V  3ab‐4.5‐9.10‐13.14f.*,  innerhalb  derer  sich  bereits  V  7‐8a,  V  10b  und  V 13 als sekundär erwiesen haben. Während das Gerichtswort in V 3ab‐ 4  unbegründet  ist,  nennen  die  übrigen  Einheiten  ein  je  anderes  Motiv  für Jhwhs Handeln: Die ewige Feindschaft Seirs gegenüber den Israeli‐ ten  (V  5‐9*),  der  Besitzanspruch  auf  das  Land  (V  10a.11f.)  und  die  Schadenfreude  über  die  Verwüstung  des  Landes  (V  14f.*). Wenn man  nicht  davon  ausgehen  will,  dass  ein  Verfasser  hier  mehrere  Sprüche  „aus verschiedener Zeit mit unterschiedlicher Akzentuierung zu einer  Sequenz zusammengestellt“645 hat, so sprechen gerade die unterschied‐ lichen  Begründungen  dafür,  die  Redeeinheiten  verschiedenen  literari‐ schen Schichten zuzuordnen.646   Zuerst ist zu vermuten, dass die Schadenfreude Seirs in V 14f.* als  Weiterführung der Spottaussagen in V 10a.11f.(13) zu interpretieren ist,  so  dass  V  14f.*  den  Redegang  V 10a.11f.(13)  bereits  voraussetzt.  Es  ist  allerdings  schwierig,  ein  Kriterium  zu  finden,  mit  dessen  Hilfe  die                                 643  So mit ZIMMERLI, BK, 866; GARSCHA, Studien, 211; FUHS, NEB, 199; ALLEN, WBC 29,  174, und POHLMANN, ATD, 481.  644  Zu diesem Ergebnis vgl. bereits HÖLSCHER, Hesekiel, 173 mit Anm. 1, der V 1‐2.4aba.  6bb.7‐9.11*ff.  für  ursprünglich  hält.  Mit  kleineren  Abweichungen  folgen  ihm  ZIM‐ MERLI, BK, 858f. (V 1f.4aba(?).6b‐9.11); GARSCHA, Studien, 218 (V 1(a?).2.7aa.8a.9.11);  SIMIAN,  Nachgeschichte,  83.86  (V 1.2.4aba.6bbg.7a.bb.8a.9bb.10aa.11b);  FUHS,  NEB,  200  (V  1‐2.4a.8‐9.11),  und  POHLMANN,  ATD,  477  (V 1.2.4aba.7‐9.11).  BERTHOLET,  HAT,  122‐125,  verteilt  den  Textbestand  von  36,1‐15  auf  zwei  Fassungen  und  sepa‐ riert V 1aba.3aba.4b.5abb.6aba.9.10.12.13f. von V 1bb.2.3bb.4a.5aa.6bb.7.8.11.15.  645  FUHS, NEB, 196. Vgl. auch BLOCK, NICOT II, 314.  646  So auch POHLMANN, ATD, 475. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

verbleibenden  drei  Gerichtsansagen  in  ein  literarisches  Verhältnis  zu‐ einander  gesetzt  werden  können.  Als  erhellend  erweist  sich  der  Ver‐ gleich mit den literarischen Schichten in Ez 36,1‐15. So zeigt die unbe‐ gründete Gerichtsansage in 35,3ab‐4 eine auffallende Übereinstimmung  mit dem als sekundär eingeordneten Vers 36,10, da in beiden Einheiten  von den Städten (‫עריך‬, 35,4; ‫הערים‬, 36,10) und den Trümmerstätten (‫חרבה‬,  35,4;  ‫החרבות‬,  36,10)  die  Rede  ist.  Während  den  Bergen  Israels  der  Wie‐ deraufbau  der  Städte  und  Trümmerstätten  verheißen  ist,  wird  dem  Gebirge  Seir  angesagt,  dass  seine  Städte  zur  Trümmerstätte  werden  sollen.  Es  ist  deshalb  zu  überlegen,  ob  die  ausführlichere  Gerichtsan‐ sage in 35,3ab‐4 den sekundären Vers in 36,10 bereits voraussetzt und  das  dort  den  Bergen  Israels  angekündigte  Heil  in  eine Gerichtsansage  an das Gebirge Seir wendet. Im Fall von 35,5‐9* fällt dagegen auf, dass  der  Tatbestand  der  Blutschuld  und  der  Erzfeindschaft  im  Grundwort  36,1‐11* keine Rolle spielt, während 35,10a.11f. mit dem Besitzanspruch  Seirs und dem Spott über das Land eine Entsprechung im Vorwurf an  den  Feind  in  36,2  hat.  Es  kann  deshalb  vorsichtig  vermutet  werden,  dass  die  Redeeinheit  in  Ez  35,  die  inhaltlich  die  größte  Nähe  zur  Grundschicht in 36,1‐15 zeigt, auch das literarisch vorgängige Wort ist.  Der  Ausgangstext  in  Ez  35,1‐15  ist  demnach  in  V  1‐3aa.10a.11f.  (35,1‐ 12*) zu suchen,647 das allerdings noch nicht von den „beiden Nationen“  und den „beiden Ländern“ redet, sondern den Besitzanspruch Seirs auf  das Land zum Thema macht.  Als  nächstes  ist  zu  klären,  ob  von  einem  ursprünglichen  Zusam‐ menhang der Grundworte in Ez 35,1‐12*; 36,1‐11* auszugehen ist oder  ob  sie  verschiedenen  literarischen  Schichten  zuzuordnen  sind.  M.  E.  gibt  es  mehrere  Gründe,  die  gegen  eine  durchgehende  Grundschicht  sprechen: Zuerst ist der Ausgangstext in 36,1‐11* nicht auf den Gegen‐ satz  mit  dem  Gebirge  Seir  hin  ausgelegt,  sondern  als  Widersacher  ist  „der Feind“ (‫האויב‬, 36,2) genannt. Dieser allgemeine Gegenpart wird in  36,7 ursprünglich mit den Völkern ringsumher und in den sekundären  Versen  36,3.4.5  mit  dem  „Rest  der  Nationen“  identifiziert.  Erst  die                                 647  POHLMANN,  ATD,  475f.,  versucht,  Steigerungen  bzw.  Verstärkungen  im  Vergleich  der Einheiten als Kriterium zur Bestimmung des diachronen Verhältnisses heranzu‐ ziehen und kommt zu dem vergleichbaren Ergebnis, dass eine Grundschicht in 35,1‐ 3aa.10‐12.14  zuerst  um  den  Vorwurf  der  Blutschuld  in  V  5‐9*  und  dann sukzessive  um  die  Drohungen  in  V  7;  V  3ab‐4  und  V  9  ergänzt  worden  ist.  SIMIAN,  Nachge‐ schichte,  351f.,  geht  dagegen  davon  aus,  dass  ein  Grundwort  in  35,1‐4  nachfolgend  um  V  5f.  und  V  10f.  erweitert  wurde.  Ansonsten  gibt  es  nur  wenige  Versuche,  die  textlichen  Verhältnisse  in  Ez  35  zu  ordnen.  HÖLSCHER,  Hesekiel,  172  Anm.  2,  kapi‐ tuliert  mit  der  Bemerkung:  „Eine  befriedigende  Analyse  gelingt  mir  auch  nicht“,  während  GARSCHA,  Studien,  218,  ein  nicht  mehr  rekonstruierbares  Wort  gegen  das  Gebirge Seir postuliert, von dem nur noch die Anrede in 35,3 und das Zitat in 35,10a  erhalten geblieben seien.  

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

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nachträglichen  Glossierungen  mit  Edom  in  36,5  und  35,15  sorgen  auf  einer späten literarischen Ebene für ein übereinstimmendes Feindbild,  wobei aber die Gleichsetzung von Seir und Edom noch genauerer Un‐ tersuchungen bedarf.648 Von  diesen  Beobachtungen  her  erscheint  es  ausgeschlossen,  eine  ursprüngliche Zusammengehörigkeit der beiden Hälften im Textblock  Ez 35,1‐36,15 anzunehmen.649 In der Frage der literarischen Priorität ist  der  allgemeinen  Feindbedrohung  der  Berge  Israels  in  36,1‐11*  der  Vorzug vor der exemplarischen Gegnerschaft des Gebirges Seir in 35,1‐ 12* zu geben. Es kann deshalb ein einziges Grundwort in 36,1‐11* zu‐ grunde gelegt werden, das den Bergen Israels Wiederbesiedelung und  Restitution  durch  Jhwhs  heilvolle  Zuwendung  ansagt.650  Begründet  wird dieses Heil durch das anmaßende Verhalten des Feindes, der über  die  Berge  spottet  und  meint,  sie  in  Besitz  nehmen  zu  können,  was  letztlich eine Verletzung von Jhwhs Souveränität darstellt.  Mit  der  Entscheidung  gegen  eine  durchgehende  Grundschicht  in  Ez  35,1‐36,15  ergibt  sich  allerdings  ein  literarisches  Folgeproblem:  Wenn  der  Ausgangstext  in  Ez  35,1‐3aa.10a.11f.  erst  sekundär  vor  das  Grundwort  in  36,1f.7‐8a.9.11*  eingeschrieben  worden  ist,  fällt  die  ein‐ leitende  Wortereignisformel  für  die  Grundschicht  aus  und  36,1  setzt  unvermittelt  mit  der  Beauftragung  des  Propheten  ein.  Die  mit  voran‐ gestelltem  ‫ואתה‬  betonte  Anrede  als  Menschensohn  stellt  aber  keine  eigenständige  Einleitung  dar,  sondern  sie  „markiert  einen  Neuansatz  innerhalb einer bereits begonnenen Rede an Ezechiel“.651 Es ist deshalb  zu fragen, an welchen voranstehenden Text 36,1 ursprünglich oder se‐ kundär angeschlossen hat.  In  einem  rückwärtigen  Durchgang  durch  die  Texte  kommt  zuerst  das  Hirtenkapitel  Ez  34  in  Frage,  dessen  Grundschicht  allerdings  mit  der  Zerstreuung  des  Volkes  und  der  Fremdherrschaft  im  Land  eine  Situation thematisiert, die gegenüber der Restitution des Landes selbst  sekundär  zu  sein  scheint.652  Zwar  könnte  die  Rettung  des  Volkes  in  34,1‐10* als erste Maßnahme für die den Bergen angekündigte Vermeh‐ rung der Bevölkerung interpretiert werden, aber dann bleibt auffällig,  dass dieses Heilshandeln Jhwhs literarisch vor der eigentlichen Verhei‐                                648  Vgl. dazu u. Kap. III. 7.4.2.  649  So  gegen  ZIMMERLI,  BK,  859,  der  zwar  dieselben  Textbeobachtungen  macht,  dann  aber aufgrund des „Sammlungscharakters“ des Buches zu dem Schluss kommt: „Da‐ gegen  ist  nicht  anzunehmen,  daß  im  Gesamtbuch  Ez  36,1‐15  jemals  ohne  35  das  Gegenbild zu 6 gebildet habe.“  650  Zur Priorität von Ez 36,1‐15* vor Ez 35* vgl. HÖLSCHER, Hesekiel, 172; HERRMANN,  Ezechielstudien, 172, und ausführlich SIMIAN, Nachgeschichte, insbes. 351f.  651  SCHÖPFLIN, Theologie, 73. Vgl. ebenso HOSSFELD, Untersuchungen, 36.  652  Vgl. dazu auch u. Kap. III. 7.3. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

ßung in 36,1‐11* steht und nicht danach. Diese Gründe sprechen dafür,  dass 34,1‐10* nicht den vorausgehenden Textanschluss für 36,1 gebildet  hat, sondern auf eine spätere literarische Schicht gehört.  Damit kommen als Nächstes die verschiedenen Texte in Kap. 33 in  den  Blick.  Das  Wort  über  die  Zuverlässigkeit  des  Prophetenwortes  in  Ez  33,30‐33  deutet  auf  eine  Selbstverständigung  über  die  Zuverläs‐ sigkeit der prophetischen Rede hin, die sicherlich nicht zu den ältesten  Stücken  des  Buches  gezählt  werden  kann.  Das  Wort  gegen  die  Rest‐ bewohner  Judas  in  Ez  33,23‐29  behandelt  dagegen  das  Ergehen  der  übrig gebliebenen Bevölkerung in den Trümmerstätten, denen das Ge‐ richt und die endgültige Verwüstung der Berge Israels angesagt wird.  Da der Text ein bereits ergangenes Gericht über das Land voraussetzt  und ein zweites ankündigt, das den in den Bergkapiteln beschriebenen  Zustand  herbeiführen  soll,  ist  hier  ebenso  ein  gegenüber  36,1‐11*  se‐ kundärer  Redegang  zu  vermuten,  in  dem  Konflikte  innerhalb  der  Be‐ völkerung thematisiert werden.653 Auch die Nachricht über den Fall der  Stadt in Ez 33,21f. fällt als Textanschluss für 36,1‐11* aus, da es sich um  einen  Ich‐Bericht  des  Propheten  handelt,  an  den  die  Anrede  von  36,1  nicht  anknüpfen  kann.  Schließlich  sind  die  verschiedenen  Ausfüh‐ rungen über die Beauftragung des Propheten zum Wächter in Ez 33,1‐ 20  zwar  formal  als  Jhwh‐Rede  gestaltet,  aber  in  diesen  Stücken  liegt  eine  Innendiskussion  über  das  Prophetenamt  vor,  die  als  Reflexion  über  den  Buchinhalt  bereits  eine  umfassende  Buchgestalt  vorausset‐ zen.654  Damit  kommt  als  möglicher  Textanschluss  für  36,1  am  ehesten  ein Grundbestand der Fremdvölkerworte in Kap. 25‐32 in Frage.  Der  Komplex  der  Fremdvölkersprüche  gliedert  sich  in  drei  Ab‐ schnitte:  die  fünf  Kurzworte  gegen  unmittelbare  Nachbarvölker  in  Ez  25,1‐26,6,  eine  Sammlung  von  Worten  gegen  Tyrus  in  Ez  26,7‐28,19655  und die Worte gegen Ägypten in Kap. 29‐32. Obwohl eine ausführliche  redaktionsgeschichtliche Untersuchung des Fremdvölkerkomplexes im  Ezechielbuch  noch  aussteht,  ist  bereits  mehrfach  vermutet  worden,  dass  der  Kern  der  Sammlung  in  den  Kurzworten  gegen  die  Nachbar‐ völker zu suchen ist.656 Diese Kurzworte setzen den Fall Jerusalems als                                 653  Vgl. zu Ez 33,23‐29 auch u. Kap. IV. 2.1.2.2.  654  Vgl. auch POHLMANN, ATD, 74f., der wahrscheinlich machen kann, dass die Grund‐ schicht  in  Ez  33,1‐20*  als  Brückentext  komponiert  ist,  der  im  Anschluss  an  Jhwhs  Gerichtswirken in der Völkerwelt sekundär die generelle Frage stellt, wie sicher zu  stellen ist, dass das Gericht nur die trifft, die nicht zur Umkehr bereit sind.  655  Die Worte gegen Tyrus sind in 28,20‐24 noch um ein Wort gegen Sidon ergänzt und  haben  einen  an  Israel  gerichteten  heilsprophetischen  Anhang  in  28,25f.;  zu  diesem  vgl. u. Kap. IV. 2.3.  656  Vgl.  GARSCHA,  Studien,  165,  der  die  älteste  Schicht  in  den  Worten  gegen  Ammon  (25,3b‐5a), gegen Moab (25,8‐10) und gegen Tyrus (26,2‐5a) findet. FECHTER, Bewälti‐

   

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bereits geschehen voraus, da die Einnahme und Zerstörung Jerusalems  (25,3; 26,2), die Verwüstung des Landes (25,3) sowie das Schicksal des  Volkes  (25,3.15)  als  Grund  für  das  Frohlocken  der  Nachbarvölker  ge‐ nannt werden. Darüber hinaus wird den Völkern auch eine Mitschuld  an der Katastrophe zugeschrieben, da sie mit Rachsucht am Haus Juda  gehandelt  haben  (25,12.15).  Über  diese  inhaltlichen  Gemeinsamkeiten  hinaus  fällt  auch  eine  strukturelle  Ähnlichkeit  der  Kurzworte  auf:657  Auf die einleitende Botenformel (25,3.6.8.12.15), die nur im Tyruswort  in 26,3 nachgestellt ist, folgt jeweils ein durch die Partikel ‫יען‬ eingeleite‐ ter  Begründungssatz,  der  den  jeweiligen  Tatbestand  enthält,  der  den  Völkern  zur  Last  gelegt  wird  (25,3.6.8.12.15;  26,2).  Als  Konsequenz  daraus wird ihnen in einer durch ‫לכן‬ eingeleiteten Aussage das Gericht  angesagt (25,4.7.9.13.16; 26,3), die in 25,4.9.16 und 26,3 noch durch den  Präsentativ  mit  Suffix  der  1.  Pers.  sg.  verstärkt  ist.658  Eine  Erkenntnis‐ formel, die mit Ausnahme des Ammonwortes jeweils in 3. Pers. pl. for‐ muliert ist, schließt die einzelnen Kurzworte ab. Gerade diese Erkennt‐ nisformel  zeigt,  dass  das  Gericht  an  den  umliegenden  Völkern  nicht  primär  als  indirekte  Heilsverheißung  für  Israel  gedacht  ist,  sondern  dem Macht‐ und Souveränitätserweis Jhwhs dient. Mit dem Spott über  das  Geschick  des  Landes  und  des  Hauses  Israels  haben  die  Nachbar‐ völker  die  Stellung  Jhwhs  als  allmächtiger  Weltenherrscher  in  Frage  gestellt, so dass er gegen sie einschreitet, um seine Souveränität zu er‐ weisen. An diesem Gericht kommen die Völker notwendig zur Gottes‐ erkenntnis, auch wenn sie davon nicht mehr profitieren können.659 Da  sowohl  inhaltliche  als  auch  formale  Berührungen  zwischen  Ez  36,1‐11*  und  25,1‐26,6*  bestehen,  ist  es  gut  vorstellbar,  dass  die  Heils‐ worte für die Berge Israels ursprünglich an diese Sammlung von Kurz‐                                gung, 286f., vermutet die ältesten Texte der Fremdvölkersprüche dagegen in 25,1‐5;  26,1b‐5a; 27*; 28,11‐19* und 29,1‐5*; während POHLMANN, ATD, 367.526, die ältesten  Texte  in  Ez  25*/26*  findet  (vgl.  aber  das  Druckbild  seines  Kommentars  S. 376f.381‐ 384.402‐405.420.422,  wonach  auch  Teile  von  Ez  27*;  28*; 29* und 31* zu den Texten  seines  älteren  Prophetenbuches  gehören).  Jüngst  hat  auch  SCHÖPFLIN,  Tyrosworte,  203, in ihrer Untersuchung der Tyrusworte innerhalb der Fremdvölkersprüche ver‐ mutet, dass der Kern von Ez 25,1‐26,6* den möglichen Grundstock des Zyklus bildet.  657  Vgl. dazu auch ALLEN, WBC 29, 66. Seiner These, dass diese strukturelle Ähnlichkeit  die Existenz einer Gattung des Völkerspruches („oracles against foreign countries“,  ebd.) beweise, ist allerdings nicht zwingend zu folgen; vielmehr scheint der parallele  Aufbau in Ez 25,1‐26,6 als literarisches Stilmittel verwendet zu sein.  658  Einzig  im  Edom‐Kurzwort 25,12‐14 fehlt der Präsentativ (vgl. aber 35,3); außerdem  ist es mit einer Gottesspruchformel abgeschlossen und der Erkenntnisinhalt besteht  in Jhwhs Rache. Da das Stück überdies eine große inhaltliche Nähe zum Wort gegen  Tyrus in 26,1‐6 zeigt, ist zu überlegen, ob das Edomwort sekundär in die Kurzworte  eingefügt worden ist (so auch POHLMANN, ATD, 368).  659  Zu  dieser  theologischen  Funktionsbestimmung  der  Fremdvölkerworte  in  Ez  25‐26*  vgl. SCHÖPFLIN, Tyrosworte, 195. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

worten angeschlossen haben.660 So bündelt das Zitat der Feinde in 36,2  die Anschuldigungen, die in 25,1‐26,6* gegen die Feinde Israels vorge‐ bracht  werden.  Der  Feind  hat  „‫“האה‬  über  die  Berge  Israels  gesagt  (zu  ‫האה‬  vgl.  25,3  von  Ammon;  26,2,  von  Tyrus)  und  meinte,  die  Höhen  seien ihm zum Besitz gegeben (vgl. 26,2 Tyrus). Mit diesem frevelhaf‐ ten  Verhalten  rechnet  Jhwh  in  36,7  kurzerhand  durch  die  Ansage  ab,  dass die Nationen „rings um euch her“ ihre Schande selbst tragen sol‐ len,  was  als  Anspielung  auf  die  Kurzworte  gegen  die  unmittelbaren  Nachbarn in 25,1‐26,6* verstanden werden kann. Damit ist das Gericht  über  die  Völker  abgeschlossen  und  die  Heilsprophetie  für  Israel  setzt  in  36,8  mit  den  Restaurationszusagen  ein.  Auch  wenn  sich  in  der  Zu‐ sammenstellung  von  Ez  25,1‐26,6*  mit  Ez  36,1‐11*  noch  kein  kausales  Verhältnis zwischen den Gerichtsworten über die Völker und dem Ein‐ setzen des Heils an Israel findet, so suggeriert doch die formale und die  darin intendierte zeitliche Abfolge, dass der Souveränitätserweis Jhwhs  gegenüber  den  Völkern  dem  Heil  Israels  vorausgeht.  Als  ein  einziges  Wortereignis stellt der Komplex 25,1‐26,6*; 36,1‐11* ein Gelenkstück im  Buch dar, an dem sich der Übergang zur Heilsprophetie vollzieht. Die  Fremdvölkersprüche  überbrücken  einerseits  die  Zeit  vom  Untergang  Jerusalems  bis  zum  Einsetzen  der  Heilsprophetie,  andererseits  be‐ kommt das Geschehen eine universale Perspektive, insofern Jhwh seine  Macht auch gegenüber der Völkerwelt erweist. 661   Die literarische Nacharbeit in Ez 35,1‐36,15 zeigt weitere Berührun‐ gen mit den Fremdvölkersprüchen, wobei auch die inhaltliche Zuord‐ nung  von  „Gericht  über  die  Fremdvölker  –  Heil  für  Israel“  eine  Neu‐ interpretation erfährt. Dies wird im Folgenden aufzuzeigen sein.  7.2.3. Das weitere Textwachstum  Als erste Fortschreibung der Grundschicht in Ez 36,1‐11* kommen ent‐ weder die unterschiedlichen Begründungen in Ez 36,3‐6 oder der Aus‐ gangstext  in  der  Seir‐Hälfte  Ez  35,1‐12*  in  Frage.  Beide  Texte  zeigen  eine  große  Nähe  zu  den  Kurzworten  der  Fremdvölkersprüche  und  in  beiden findet sich die personifizierend‐metaphorische Anrede der Ber‐ ge  Israels  bzw.  des  Gebirges  Seir.  Das  Grundwort  in  35,1‐12*  knüpft  zuerst strukturell in der Abfolge von Begründung (‫יען‬, 35,10) und Fol‐ geaussage  (‫לכן‬,  35,11)  an  die  Kurzworte  an.  Aber  auch  inhaltlich  ent‐ sprechen  die  Vorwürfe  an  Seir,  das  Land  Israel  in  Besitz  nehmen  zu                                 660  So  auch  POHLMANN,  ATD,  367,  der  allerdings  von  einer  durchgehenden  Grund‐ schicht  in  Ez  35,1‐36,15  ausgeht  und  deshalb  eine  ursprüngliche  Textfolge  Ez  25*;  26*; 35*; 36* annimmt; vgl. zu seiner Position aber auch Anm. 656.  661  Vgl. SCHÖPFLIN, Tyrosworte, 209. 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

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wollen  (vgl.  ‫לי‬  in  35,10  mit  ‫אלי‬,  26,2)  und  über  dessen  Verwüstung  zu  spotten (35,10a.11f.; vgl. 25,3.6.8; 26,2), den in Ez 25,1‐26,6* aufgezähl‐ ten Tatbeständen. Die einzelnen Aussagen in 36,3‐5 reden dagegen von  dem „Rest der Nationen“, die israelitisches Gebiet annektiert und scha‐ denfroh  über  das  Land  gespottet  haben.  Die  Formulierung  „Rest  der  Nationen“ (‫שׁארית הגוים‬, 36,3.4.5), die im gesamten Alten Testament nur  in diesem Abschnitt belegt ist,662 hat Anlass zu vielfältigen Spekulatio‐ nen geboten. Vom literarischen Zusammenhang mit dem Komplex der  Fremdvölkersprüche her liegt es nahe, die Formulierung dahingehend  zu deuten, dass bereits ein erstes Gericht über die (umliegenden) Völ‐ ker  ergangen  ist,  und  Jhwh  nun  auch  die  übrig  gebliebenen  Nationen  nicht  verschonen  wird.663  36,3‐5  könnte  damit  in  direktem  Bezug  auf  die  Kurzworte  über  die  Nachbarvölker  in  25,1‐26,6*  verfasst  worden  sein. Sekundär wird schließlich auch Edom durch die Glosse in 36,5 zu  dem Rest der Nationen gezählt.  Im  Vergleich  mit  dem  Ausgangstext  in  Ez  35,1‐12*  spricht  das  Feindbild in 36,3‐5 dafür, dass diesem Text die literarische Priorität zu‐ kommt, da die Rede vom Rest der Nationen als Ausweitung des Feind‐ bildes in 36,1‐11* zu verstehen ist. Die Stilisierung des Gebirges Seir als  Widersacher der Berge Israels stellt dagegen eine Korrektur dar, indem  der Gegner auf eine (exemplarische) Größe festgelegt wird. So ist auch  die  nachträgliche  Einfügung  von  Edom  in  36,5  dadurch  zu  erklären,  dass der erweiterte Textbestand in 36,1‐11* nach der Voranstellung von  35,1‐12*  bzw.  dessen  Fortschreibungen  an  diese  angeglichen  worden  ist.  Allerdings  kann  innerhalb  von  36,3‐5  insgesamt  noch  mit  einem  mehrstufigen literarischen Wachstum gerechnet werden, worauf insbe‐ sondere der dreifache Einsatz mit der Partikel ‫לכן‬ hindeutet.664 Für das  weitere Vorgehen ist jedenfalls davon auszugehen, dass die Rede vom  „Rest der Nationen“ in 36,3‐5* die erste Fortschreibung des Grundwor‐ tes  in  36,1‐11*  darstellt.  In  dieser  Einfügung  wächst  der  vorher  nicht  identifizierte Gegner durch die Ausweitung auf den Rest der Nationen  zu  einer  umfassenden  Größe  an  und  die  Vorwürfe  gegenüber  den  fremden  Völker  werden  noch  einmal  gebündelt,  wodurch  sich  aller‐                                662  Vgl.  noch  Am  9,12,  wo  die  Israeliten  den  Überrest  Edoms  und  all  die  Nationen   (‫)את־שׁארית אדום וכל־הגוים‬ in Besitz nehmen sollen.  663  Vgl.  ZIMMERLI,  BK,  864.  EICHRODT,  ATD,  342,  identifiziert  den  Rest  der  Völker  als  „die  nach  der  großen  Kriegsverwüstung  Palästinas  und  Syriens  übriggebliebenen  Staaten“,  während  BLOCK,  NICOT  II,  329,  sie  mit  denen  gleichsetzt  „that  survive  after the Babylonian campaigns in the Levant.“  664  Vgl.  auch  das  Urteil  von  ALLEN,  WBC  29,  171:  „There  seems  to  be  no  compelling  reason  for  denying  Ezekielʹs  voice  and  hand  in  most  of  this  material,  although  the  complexity  of  36:1‐7  does  raise  questions  of  redaction  that  have  not  yet  been  re‐ solved.” 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

dings auch die Heilswende für die Berge Israels literarisch noch einmal  verzögert.665  Eventuell  ist  auch  36,6  noch  vor  der  Einschreibung  von  35,1‐12*  in  das  erweiterte  Grundwort  von  36,1‐11*  eingefügt  worden,  da  der  Einzelvers  sachlich  die  Aussage  von  V 7  vorbereitet  und  das  Land Israel als neuen Adressaten einführt.  Mit der Fortschreibung des erweiterten Grundwortes in Ez 36,1‐11*  um  das  Gerichtswort  gegen  das  Gebirge  Seir  in  Ez  35,1‐12*  wird  die  formale  Zusammenstellung  von  Ez  25,1‐26,6*;  36,1‐11*  aufgelöst,  und  ein  eigenständiges  Wortereignis  in  35,1‐36,11*  entsteht.  Dabei  findet  eine  zweifache  Verschiebung  der  Aussageintention  statt:  Zuerst  wird  der  bisher  nicht  näher  identifizierte  Feind  aus  36,2  mit  dem  Gebirge  Seir  identifiziert,  das  sich  das  Land  der  Berge  Israels  angeeignet  hat.  Darüber  hinaus  entsteht  durch  die  Vorschaltung  des  Seir‐Wortes  vor  die  Heilsansage  an  Israel  ein  kausaler  Zusammenhang  zwischen  den  beiden  Teilen,  so  dass  das  Gericht  an  Seir  zur  Kehrseite  des  Heils  an  Israel  wird.  In  den  weiteren  Fortschreibungen  im  Bereich  von  35,1‐15  wird dieser Gegensatz systematisch ausgebaut, indem das Gericht über  Seir  immer  mehr  zur  dunklen  Folie  wird,  von  der  sich  die  Restaura‐ tionszusagen an Israel um so heller abheben.666 Wahrscheinlich wird die Gerichtsansage in 35,1‐12* zuerst um den  Einschub  in  35,5‐9*  erweitert,  der  Seir  in  einer  Verstärkung  der  Aus‐ sage  zum  Erzfeind  macht  (‫איבת עולם‬,  35,5;  vgl.  25,15  auf  die  Philister  bezogen),  der  eine  Blutschuld  gegenüber  Israel  trägt.  Der  Nachtrag  in  V  14f.* erweitert den Straftatbestand gegen Seir mit dem Vorwurf der  Schadenfreude, während V 10b und V 13 die Deutung in den Text ein‐ tragen,  dass  sich  Seir  mit  der  Annexion  des  israelitischen  Landes  und  dem  Spott  über  die  Verwüstung  letztlich  der  Verletzung  von  Jhwhs  Besitzansprüchen  und  damit  der  Gotteslästerung  schuldig  gemacht  hat.  Damit  wird  die  bereits  in  der  Grundsammlung  der  Fremdvölker‐ worte angelegte Deutung in den Text eingetragen, nach der das Gericht  über  die  Völker  als  Souveränitätserweis  Jhwhs  zu  verstehen  ist.  Schließlich fasst das unbegründete Gerichtswort in 35,3ab‐4 das Gericht  über  Seir  in  der  Androhung  zusammen,  das  Gebirge  zur  Wüstung   (‫)שׁממה‬ und zur Einöde (‫)משׁמה‬ zu machen. Im Verlauf des literarischen  Wachstums  der  Heilsprophetien  im  dritten  Buchteil  ist  zu  einem  spä‐ teren  Zeitpunkt  auch  die  ursprünglich  in  35,10a  zu  rekonstruierende  Aussage  über  die  Inbesitznahme  des  Landes  mit  den  Aussagen  über                                 665  So gegen SIMIAN, Nachgeschichte, 352, der die Funktion der Zusätze in V 3.4.5 darin  sieht,  dass  das  Grundwort  in  36,1‐15*  „teilweise  zum  Gerichtswort  gegen  die  um‐ liegenden  Völker  umgestaltet“  wird.  Ein  Gerichtswort  gegen  die  Fremdvölker,  das  diesen Konsequenzen androht, findet sich aber erst im Ausgangstext von 35,1‐12*.   666  Vgl. SCHÖPFLIN, Tyrosworte, 205. 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

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die  zwei  Nationen  in  Ez  37,15‐19.20‐23*  abgestimmt  worden,  so  dass  der Besitzanspruch Seirs sich jetzt gleichermaßen auf beide Teilgrößen  Israels erstreckt.667 Im  Bereich  der  Israelhälfte  ist  weiterhin  der  Einzelversnachtrag  in  36,10 zu berücksichtigen, der den Wiederaufbau der Städte und Trüm‐ merstätten in den Text einträgt und damit von der Personifikation der  Berge hin zu den für die Bewohner wichtigen Zentren des Alltagsleben  lenkt.  Schließlich  wird  der  mehrschichtige  Nachtrag  in  36,12‐15  ange‐ fügt,  in dem Vorwürfe gegenüber dem Land entkräftet werden, es sei  eine  „Menschenfresserin“  (‫)אכלת אדם‬,  die  ihre  Bevölkerung  kinderlos  mache (‫שׁכל‬ pi.). Neben dem Bezug auf das Gerichtswort an das Gebir‐ ge  Seir,  das  sich  damit  gebrüstet  hat,  dass  ihm  die  Berge  Israels  zum  Fraß  (‫לאכלה‬,  35,12)  gegeben  seien,  zeigt  der  Vorwurf  auch  eine  auf‐ fällige  Nähe  zur  Kundschaftergeschichte  in  Num  13f.668  Anscheinend  sollen hier Ängste und Befürchtungen zerstreut werden, die die außer‐ halb  des  Landes  befindlichen  Adressaten  von  der  Rückkehr  in  das  Land abhalten könnten.  Die  Verzahnung  zwischen  den  beiden  Hälften  im  Textblock  Ez  35,1‐36,15  wird  in  der  Folge  noch  durch  die  nachträgliche  Einschrei‐ bung des Edomnamens in beiden Teilen verstärkt (vgl. Ez 35,15; 36,5).  Es  ist  nicht  genau  festzustellen,  wann  die  Identifikation  des  Gebirges  Seir mit Edom in Ez 35,1‐36,15 literarisch vollzogen worden ist. Zumin‐ dest  für  die  Einschreibung  von  35,1‐12*  und  die  ersten  Fortschrei‐ bungen in der Seir‐Hälfte gilt, dass allein das Gebirge Seir als topogra‐ phischer  Gegenpart  den  Bergen  Israels  gegenübergestellt  wird,  ehe  dieses auf einer relativ jungen literarischen Ebene mit dem Fremdvolk  Edom  identifiziert  wird.  Dem  Gebirge  Seir  bzw.  Edom  kommt  damit  eine herausragende Stellung im dritten Buchteil zu, während die ande‐ ren  Fremdvölker  ihr  Schicksal  im  Kontext  der  Fremdvölkersprüche  Kap. 25‐32 erleiden müssen.  7.3. Das Verhältnis zu den Grundworten in Ez 34 und 37  Die  vorangehende  Analyse  ist  zu  dem  Ergebnis  gekommen,  dass  das  Grundwort der Bergkapitel mit dem Heilswort an die Berge Israels in  Ez  36,1‐11*  vorliegt,  das  ursprünglich  auf  eine  Sammlung  von  Kurz‐ worten gegen die Fremdvölker in Ez 25,1‐26,6* gefolgt ist. Wird danach                                 667  Vermutlich  ist  im  Zuge  dieser  Änderung  auch  die  Ortsangabe  ‫בהרי ישׂראל‬  in  37,22  nachgetragen worden, um die Verbindung zwischen Ez 35,1‐15 und 37,15‐24 hervor‐ zuheben; vgl. dazu o. Kap. III. 5.2.  668  Vgl. dazu u. Kap. III. 7.4.5. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

gefragt,  ob  weitere  Texte  im  Bereich  von  Ez  34‐39  zu  diesem  Textzu‐ sammenhang  gehören  können,  so  kommt  nur  noch  die  ursprüngliche  Totenfeldvision in Ez 37,1‐6* in Frage, die sachlich an den Heilsworten  in  36,1‐15  orientiert  ist.  Des  Weiteren  wird  aber  auch  das  Ausgangs‐ wort des Hirtenkapitel in Ez 34,1‐10* mit zu berücksichtigen sein. Das  Stück weist ebenfalls Verbindungen zu den Bergkapiteln auf und steht  darüber  hinaus  in  einer  gewissen  inhaltlichen  und  literarischen  Kon‐ kurrenz zu 37,1‐6*, da beide Texte im näheren Kontext von 36,1‐11* die  Restitution des Volkes thematisieren.669 Da aber in der vorangehenden  Textanalyse  gezeigt  werden  konnte,  dass  34,1‐10*  gegenüber  36,1‐11*  literarisch  sekundär  ist,  ist  mit  dem  Verhältnis  zwischen  36,1‐11*  und  37,1‐6* einzusetzen.  Diese Verhältnisbestimmung erweist sich als äußerst schwierig, da  es  kaum  interne  Indizien  gibt,  die  hinsichtlich  der  relativen  Abfolge  ausgewertet werden können. Mit Ez 36,1‐11* liegt eine Heilszusage an  die Berge Israels vor, denen Fruchtbarkeit und Wiederbesiedelung ver‐ heißen  wird,  so  dass  hier  die  Situation  im  Land  im  Blick  ist.670  Die  Vision in Ez 37,1‐6* richtet sich dagegen an die erste Gola im Exil, der  die  Wiederbelebung  durch  den  Jhwh‐Geist  zugesagt  wird.  Dies  zeigt  bereits, dass zwei sehr unterschiedliche Texte vorliegen, die darüber hi‐ naus auch durch die Wortereignisformel in 37,1 voneinander getrennt  werden. Der formale Neueinsatz könnte zuerst dafür sprechen, dass es  sich bei 37,1‐6* vergleichbar mit 34,1‐10* um eine sekundäre Weiterfüh‐ rung  der  Restitutionszusagen  an  die  Berge  Israels  handelt.  Hier  wäre  dann davon auszugehen, dass ein die Verhältnisse im Land thematisie‐ render  Text  sekundär  durch  eine  an  die  Gola  gerichtete  Verheißung  fortgeschrieben wird.671 M. E. ist bei dieser Option aber fraglich, ob mit  36,8‐11* eine tatsächliche Zielaussage für die ursprünglichen Heilsver‐ heißungen  des  Buches  vorliegt.  Selbst  wenn  sich  erweisen  sollte,  dass  36,1‐11*  eine  ursprüngliche  Fortsetzung  im  Grundbestand  des  Verfas‐ sungsentwurfes Ez 40‐48 hat,672 so blieben doch die an die Berge Israels                                 669  Vgl. dazu o. Kap. II. 4.3. und Kap. III. 6.3.  670  Zur  Frage  nach  dem  traditionsgeschichtlichen  Hintergrund  der  Personifikation  der  Berge Israels vgl. u. Kap. III. 7.4.4.  671  Zu  dieser  Verhältnisbestimmung  von  Land und (erster) Gola vgl. POHLMANN, Eze‐ chielstudien,  108‐119,  und  DERS.,  ATD,  479‐482.494‐497.497‐499,  der  allerdings  im  Fall von Ez 37,1‐14* eine abweichende Rekonstruktion des Textwachstums zugrunde  legt  (vgl.  dazu  o.  Kap.  III.  6.2.1.).  Nach  POHLMANN  bilden  Ez  36,1‐11*  und  die  ur‐ sprüngliche Fortführung in 37,11‐14* den Abschluss seines älteren Prophetenbuches  mit der Verheißung, dass der Geist Jhwhs Leben im Land schaffen wird (vgl. POHL‐ MANN,  ATD,  494).  Erst  durch  die  Einfügung  der  golaorientierten  Vision  in  37,1‐10*  werde  die  Geistverleihung  sekundär  als  Heilswort  an  die  Exilierten  (um‐)interpre‐ tiert (vgl. POHLMANN, ATD, 29f.498).  672  Vgl. dazu u. Kap. IV. 3.2. 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

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gerichteten  Restitutionsverheißungen  ohne  nähere  Ausführungen  da‐ rüber, wie sich die Heilswende vollziehen wird.  Damit  ist  als  nächstes  das  umgekehrte  literarische  Verhältnis  in  Betracht zu ziehen. Bei dieser Variante bildet Ez 37,1‐6* den literarisch  vorgängigen Text, der sekundär durch die Voranstellung von 36,1‐11*  ergänzt  worden  ist.673  Es  müsste  dann  angenommen  werden,  dass  ein  späterer  Autor  die  Lebensverheißung  an  die  Gola  sekundär  mit  der  Restitutionszusage an das Land ergänzt hat. Dagegen spricht nach wie  vor  das  anfänglich  schon  angeführte  Argument,  dass  die  Wiederbe‐ lebung der Gola wie eine Antwort auf die Mehrungsverheißung an die  Berge  Israels  erscheint.674  Des  Weiteren  stellt  sich  noch  die  Frage,  an  welchen  Text  37,1‐6*  ursprünglich  angeschlossen  haben  sollte;  da  für  36,1‐11* bereits wahrscheinlich gemacht werden konnte, dass das Stück  eine  durchgehende  Textschicht  mit  der  anfänglichen  Sammlung  der  Fremdvölkerworte  bildet,675  käme  nur  die  ursprüngliche  Gerichtspro‐ phetie  in  Ez  1‐24  in  Frage.  Die  Suche  nach  einem  sinnvollen  Textan‐ schluss  erweist  sich  hier  aber  als  schwierig,  so  dass  diese  Option  vor‐ erst zurückzustellen ist.  Versuchsweise soll noch die dritte Variante durchgespielt werden,  nämlich eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Ez 36,1‐11* und  37,1‐6*. Das gewichtigste Argument gegen diese Lösung ist die formale  und  inhaltliche  (relative)  Eigenständigkeit  der  Stücke.  Allerdings  gibt  es  Hinweise  darauf,  dass  auch  für  die  Anfangsgestalt  des  Buches  in  Kap.  1‐24  eine  Zusammenstellung  verschiedener  Gattungen  postuliert  werden  kann,  so  dass  das  Nebeneinander  von  Heilswort  und  Vision  nicht per se ein Argument gegen einen ursprünglichen Zusammenhang  der Texte darstellt.676 Zugunsten dieser Variante ist vor allem anzufüh‐ ren,  dass  die  Totenfeldvision  in  37,1‐6*  eine  sinnvolle  Zielaussage  für  die  Heilsverheißungen  in  36,8‐11*  bietet.  Die  schöpfungstheologisch  konnotierte Wiederbelebung der ersten Gola kann als Antwort auf die  Vermehrungsverheißung in 36,11 verstanden werden. Sie ist damit An‐ geld  des  künftigen  Heils,  durch  das  gewährleistet  wird,  dass  Jhwhs  Heilswirken unumkehrbar in Gang gesetzt ist.677   Der  Überblick  zeigt,  dass  keiner  dieser  drei  Vorschläge  in  allen  Punkten überzeugen kann. Entscheidend ist m. E. aber die Frage nach                                 673  Soweit hier gesehen wird, gibt es keinen Exegeten, der diese Verhältnisbestimmung  in Betracht zieht.  674  Vgl. dazu o. Kap. II. 4.3.  675  Vgl. dazu o. Kap. III. 7.2.2.  676  Siehe  dazu  u.  Kap.  IV.  3.2.  und  exemplarisch  die  Ausführungen  bei  POHLMANN,  ATD, 33‐39.526.  677  Vgl. auch POHLMANN, ATD, 29f.; seine Ausführungen zielen aber auf die golaorien‐ tierte Überarbeitung seiner Textfolge 36,1‐11*; 37,11‐14* durch 37,1‐10*. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

einer  Zielaussage  für  die  anfängliche  Heilsverheißung,  die  allein  mit  der dritten Variante gegeben ist. Unter dem Vorbehalt, dass keine letzt‐ gültige  Sicherheit  zu  erreichen  ist,  wird  deshalb  für  die  weitere  Ana‐ lyse ein ursprünglicher literarischer Zusammenhang von 36,1‐11* und  37,1‐6*  zugrunde  gelegt.678  Dabei  bleibt  aber  noch  das  Verhältnis  von  Land und Gola in dieser Textschicht näher zu bestimmen. Anscheinend  sind Restitution des Landes und Wiederbelebung der Gola zwei Seiten  ein und derselben Medaille: Was den Bergen Israels in 36,1‐11* verhei‐ ßen wird, ist die Bereitung des Landes für die Gola, aus der allein nach  37,1‐6* das Potential für ihre Wiederbesiedelung zu erwarten ist.   Als Letztes ist noch die Frage nach dem Verhältnis von Ez 34,1‐10*  zur  Textfolge  in  Ez  36,1‐11*;  37,1‐6*  zu  bedenken. Die Annahme, dass  34,1‐10*  gegenüber  diesen  Stücken  literarisch  sekundär  ist,  bestätigt  sich  zuerst  daran,  dass  der  Text  keine  auf  die  Restitution  des  Landes  oder der Gola gerichtete Orientierung zeigt, sondern mit der Situation  des  Volkes  unter  der  Fremdherrschaft  ein  neues  Thema  einführt.  Die  Vermutung  liegt  nahe,  dass  sich  dieser  Gegenstand  der  Reaktion  auf  das exemplarische Gericht über Seir/Edom verdankt, das im Hirtenka‐ pitel  auf  die  Lage  im  Land  übertragen  wird.  Darauf  deutet  insbeson‐ dere  die  parallele  Verwendung  von  ‫לאכלה‬  hin  („zum  Fraß  werden“,  35,12;  vgl.  34,10).  Wie  das  Gebirge  Seir  meint,  die  Berge  Israels  seien  ihm  zum  Fraß  gegeben,  so  fressen  auch  die  Fremdvölkerhirten  die  ihnen anvertrauten Schafe. Nachdem deshalb exemplarisch das Gericht  über das Fremdland Seir/Edom ergangen ist, wird nun auch den frem‐ den Herrschern im eigenen Land das Gericht angesagt. Für das Grund‐ wort des Hirtenkapitels 34,1‐10* gilt deshalb, dass es die gesamte Text‐ folge in 35,1‐12*; 36,1‐11* und 37,1‐6* bereits voraussetzt.  7.4. Innerbiblische Auslegung in Ez 35,1‐36,15  7.4.1. Zur Frage nach den Vorlagen  Die  Frage  nach  innerbiblischer  Auslegung  in  Ez  35,1‐36,15  wird  vor  allem  durch  die  Analyse  der  Bergmotivik  bestimmt.  So  ist  zuerst  da‐ nach  zu  fragen,  welche  historische  oder  literarische  Konstellation  das  Gebirge Seir bzw. Edom als Gegenpart der Berge Israels prädestiniert.  Für  die  Beantwortung  dieser  Frage  wird  zu  klären  sein,  in  welchem                                 678  Ein  weiteres  Argument  zugunsten  dieser  Lösung  ist  die  Beobachtung,  dass  sowohl  das Heilswort in Ez 36,1‐11* als auch die Vision in 37,1‐6* Berührungen mit der Ge‐ richtsansage an die Berge Israels in Ez 6,1‐7* aufweisen, so dass die beiden Texte zu‐ sammen ein Gegenstück im dritten Buchteil bilden. Zum Nachweis dieser These vgl.  o. Kap. III. 6.4.2. (zu 37,1‐6*) und u. Kap. III. 7.4.3. (zu 36,1‐11*). 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

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Verhältnis die beiden Bezeichnungen zueinander stehen, ehe die litera‐ rischen und traditionsgeschichtlichen Hintergründe des Antagonismus  untersucht  werden  können.  Der  Gegensatz  zwischen  Seir/Edom  und  den  Bergen  Israels  in  35,1‐36,15  wird  noch  dadurch  verkompliziert,  dass  mit  der  Gerichtsansage  an  die  Berge  Israels  in  Ez  6  ein  Text  im  Buch vorliegt, der das Gegenstück zu den Bergkapiteln bildet und eine  Reihe  von  Berührungen  mit  diesen  aufweist.  Es  wird  deshalb  danach  zu  fragen  sein,  ob  bzw.  in welcher Form Ez 6 eine Bedeutung für das  Textwachstum in den Bergkapiteln zukommt.  Erst  nachdem  dieses  literarische  Dreiecksverhältnis  geklärt  ist,  kann  im  dritten  Abschnitt  untersucht  werden,  welche  Rolle  die  Berge  Israels im Buch und seiner Entstehung spielen, und auf welche literari‐ schen  oder  traditionsgeschichtlichen  Wurzeln  dieses  Bild  zurückgeht.  Schließlich ist noch kurz auf die Fortschreibung in Ez 36,13f. einzuge‐ hen, die mit dem Vorwurf, das Land sei eine „Menschenfresserin“, an  die Kundschaftergeschichte in Num 13f. erinnert. Hier wird zu fragen  sein, inwieweit es sich um eine bewusste Anspielung handelt und wel‐ che  Funktion  dieser  Anschuldigung  im  Rahmen  der  Heilsverheißung  von Ez 36,1‐15 zukommt.  7.4.2. Das Gebirge Seir und Edom  Über  den  Vers  Ez  35,15  hinaus,  in  dem  Edom  und  Seir  miteinander  identifiziert werden, zeichnet sich an mehreren Stellen im Alten Testa‐ ment die Tendenz ab, die beiden Bezeichnungen synonym zu verwen‐ den. 679  Von  den  beiden  Namen  ist  Seir  (‫)שׂעיר‬  der  ältere,680  der  in  der  Mehrzahl der Belege als geographischer Begriff die bergige Region im  Süden  des  Toten  Meeres  bezeichnet.681  Nach  Gen  14,6  und  Gen  36,20.  21.30  ist  Seir  von  den  Horitern  bewohnt,  aber  nach  Dtn  2,5  hat  Jhwh  das Gebirge Seir Esau/Edom zum Besitz gegeben (vgl. auch Dtn 2,4.8.  12.22.29  und  Jos  24,4).  Schließlich  scheinen  Ri  5,4  und  Dtn  33,2  eine  Tradition  zu  bezeugen,  nach  der  Jhwh  selbst  aus  Seir  kommt.  Insge‐ samt  lassen  diese  Belege  keine  grundsätzlich  negative  Haltung  Seirs  gegen Israel erkennen. Erst in der Chronik gibt es mit 2 Chr 20 und 2  Chr  25,11‐14  zwei  Texte,  die  vergleichbar  mit  Ez  35  die  Feindschaft  Seirs gegenüber Israel hervorheben. Der erste Text erzählt vom Bünd‐ nis  Moabs,  Ammons  und  der  Bewohner  des  Gebirges  Seir  (2  Chr                                 679  Zu  den  beiden  Begriffen  siehe  WEIPPERT,  Edom,  388‐394,  sowie  DERS.,  Art.  Edom,  291‐293.  680  Vgl. WEIPPERT, Edom, 388f.  681  Vgl.  dazu  auch  die  Übersicht  über  die  Seir‐Texte  bei  SIMIAN,  Nachgeschichte,  277‐ 290. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

20,10.22) gegen Juda unter Joschafat, das mit einer Niederlage der drei‐ fachen  Fremdvölkerkoalition  endet.  An  diesem  Text  ist  besonders  auffällig, dass im Vergleich mit der Vorlage in 2 Kön 3,4‐27 die Bünd‐ nispartner  ausgetauscht  werden:  Während  sich  Edom  dort  mit  Juda  und  Israel  verbündet  (2 Kön  3,9),  gehören die Söhne Seirs in 2 Chr 20  zur gegnerischen Koalition. Dies deutet darauf hin, dass die Vorlage in  der  Chronik  eine  bewusst  Seir‐feindliche  Überarbeitung  erfahren  hat.  2 Chr 25,11‐14 spricht dagegen vom Sieg Amasjas über die Söhne Seirs  im  Salztal.  Der  kurze  Überblick  zeigt,  dass  durch  die  Zuordnung  des  Gebirges  Seir  zum  Jakob‐Bruder  Esau  zwar  eine  gewisse  Rivalität  zu  Jakob‐Israel angelegt ist, dass aber erst die literarisch jungen Texte in 2  Chr  20  und  2  Chr  25  von  einer  offenen  Feindschaft  zwischen  den  Be‐ wohnern Seirs und Israels sprechen.  Ebenso  wie  Seir  ist  Edom  ursprünglich  eine  Landschaftsbezeich‐ nung  für  einen  Teilbereich  des  Berglandes  Seir,  die  aber  in  der  Folge  zum  Volksnamen  des  dort  ansässigen  Volkes  bzw.  des  Staatswesens  wurde,  so  dass  die  Bezeichnungen  austauschbar  wurden. 682  In  den  Esau‐Jakob‐Erzählungen  der  Genesis  wird  Esau  als  Stammvater  der  auf  dem  Gebirge  Seir  wohnenden  Edomiter  (Gen  32,4;  36,8.9)  darge‐ stellt. Neben dieser Edom‐freundlichen Tradition des Brudervolkes fin‐ den  sich  im  Alten  Testament  auch  eine  Reihe  von  prophetischen  Tex‐ ten,  die  eine  ausdrückliche  Gerichtsdrohung  gegen  Edom  enthalten;  vgl.  Jes  11,11‐16;  34;  63,1‐6;  Jer  25,15‐38;  49,7‐22;  Jo  4,18‐21;  Am  1,11f.;  9,11f.;  Ob  1‐21;  Mal  1,2‐5.683  Die  besondere  Feindlichkeit  gegenüber  Edom,  die  diesem  eine  herausragende  Stellung  unter  den  Fremdvöl‐ kern verschafft, wird im Allgemeinen mit jahrhundertelangen Ausein‐ andersetzungen  zwischen  Edom  und  Juda  um  das  südliche  Gebiet  Judas  begründet.684  Edom  habe  sich  außerdem  aktiv  am  Untergang  Jerusalems  beteiligt  und  das  Machtvakuum  in  exilischer  und  nach‐ exilischer  Zeit  dazu  genutzt,  Besitzansprüche  auf  das  judäische  Land  anzumelden.685  Diese  Interpretation  erweist  sich  allerdings  darin  als  problematisch,  dass  es  neben  den  biblischen  Schriften  nur  begrenzt  außerbiblisches  Quellenmaterial  zur  geschichtlichen  Rolle  Edoms  in  dieser Zeit gibt.686 Zwar liegen archäologische und inschriftliche Zeug‐ nisse  vor,  die  auf  Gebietsüberschreitungen  der  Edomiter  gegen  Ende                                 682  Vgl. WEIPPERT, Edom, 390.422.  683  Vgl.  SIMIAN,  Nachgeschichte,  290‐324.  Zur  Beurteilung  Edoms  im  Alten  Testament  vgl.  ferner  HALLER,  Edom,  109‐117;  HARTBERGER,  An  den  Wassern,  140‐204,  und  MATHEWS, Zion, 69‐119.  684  Vgl. exemplarisch BARTLETT, Brotherhood, 15.17.  685  Vgl.  MYERS,  Edom,  379.387;  CRESSON,  Condemnation,  143;  DONNER,  Geschichte  II,  421, und KNAUF, Umwelt, 144f.  686  Siehe dazu HARTBERGER, An den Wassern, 134‐139. 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

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des 7. Jh.s v. Chr. hindeuten,687 aber es erscheint fraglich, ob das empi‐ rische  Material  allein  ausreicht,  um  die  Sonderstellung  Edoms  in  den  prophetischen Fremdvölkerworten zu erklären.   Vielmehr ist das Phänomen auch als literarisches Deutungsmuster  zu  verstehen,  durch  das  Edom  in  der  Literaturgeschichte  des  Alten  Testamentes zu einer theologischen Chiffre wurde, die sowohl für das  Brudervolk  wie  auch  für  den  Erzfeind  stehen  kann.688  Wahrscheinlich  haben  verschiedene  Faktoren  zu  dieser  Entwicklung  beigetragen:  Zu‐ erst kann historisch mit Gebietsstreitigkeiten zwischen Edom und Juda  gerechnet  werden,  die  in  der  geographisch  angrenzenden  Lage  der  beiden  Gebiete  begründet  sind.  Darüber  hinaus  zeigt  die  Esau/Jakob‐ Überlieferung  in  den  Vätergeschichten  aber  auch,  dass  das  Verhältnis  der  beiden  Nachbarvölker  als  ein  Konkurrenzverhältnis  verstanden  wurde.  Dementsprechend  wundert  es  nicht,  dass  dem  Kontrahenten  Edom  eine  Beteiligung  am  Untergang  Jerusalems  zugeschrieben  wur‐ de,  während  in  ähnlicher  Weise  das  neue  Heil  für  Israel  um  so  ein‐ drücklicher  geschildert  werden  konnte,  wenn  es  mit  dem  Niedergang  des  Nachbarvolkes  einher  ging.  Eventuell  erklärt  die  Stilisierung  Edoms als Erzfeind auch, warum Edom in 2 Chr 20 gegenüber der Vor‐ lage in 2 Kön 3,9 die Seiten wechseln muss und zur Gegnerschaft Isra‐ els  gezählt  wird.  Die  gleichsam  codehafte  Verwendung  des  Namens  setzt sich anscheinend bis in die hellenistisch‐römische Zeit fort, in der  „Esau“ zur Chiffre für das römische Weltreich wird.689   Auf  diesem  Hintergrund  ist  schließlich  auch  das  Wort  gegen  das  Gebirge Seir in Ez 35,1‐15 zu beurteilen. Unter der Voraussetzung, dass  Seir  und  Edom  synonym  verwendet  werden  konnten,  erklärt  sich  die  Wahl  der  Benennung  ‫הר שׂעיר‬  anstelle  von  „Edom“  zuerst  als  Entspre‐ chung  zum literarisch vorgegebenen Heilswort an die Berge Israels in  36,1‐11*.690  Dem  theologischen  Begriff  „Berge  Israels“  für  die  Größe  Israel entspricht das „Gebirge Seir“, das das Siedlungsgebiet des Kon‐ trahenten  Edom  umschreibt.  Wahrscheinlich  legt  sich  die  Gegenüber‐ stellung  auch  durch  die  geographischen  Gegebenheiten  nahe,  da  das                                 687  Vgl. MYERS, Edom, 387‐392; HARTBERGER, An den Wassern, 136f., und WEIPPERT, Art.  Edom, 295f.  688  Vgl.  dazu  auch  SIMIAN,  Nachgeschichte,  323,  der  zu  dem  Urteil  kommt:  „Edom  müßte also in der prophetischen Literatur vor allem als ein theologischer Begriff be‐ trachtet werden.“ In ähnlicher Weise spricht CRESSON, Condemnation, 147f., davon,  dass  Edom  zuerst  als  Begriff  für  die  Nachbarvölker  Judas  gebraucht wurde, ehe es  „a symbol for ‘the enemy’“ wurde. Vgl. zu Ez 35 auch SCHÖPFLIN, Tyrosworte, 209:  „Edom bekommt damit etwas Chiffrenhaftes.“  689  Vgl. HALLER, Edom, 117, sowie CRESSON, Condemnation, 148, und MAIER, Zwischen  den Testamenten, 117.186.289.  690  Vgl. auch SIMIAN, Nachgeschichte, 328.  

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

judäische  Bergland  dem  Bergland  Seir  gegenüber  liegt;  im  Vorder‐ grund steht aber der theologische Gegensatz. Durch die Voranstellung  von  Ez  35,1‐12*  wird  der  nicht  näher  bestimmte  Feind  aus  36,2  mit  Seir(Edom)  identifiziert  und  zugleich  das  Prinzip  „Gericht  für  die  Fremdvölker  –  Heil  für  Israel“  exemplarisch  am  Textblock  Ez  35,1‐ 36,15*  durchgeführt.  Für  die  Rolle  des  Feindes  katexochen  konnte  es  dabei  keine  andere  Idealbesetzung  geben  als  den  Erzfeind  Edom  im  Bild des Gebirges Seir.  7.4.3. Das Gericht über die Berge Israels: Ez 6  Neben den Bergkapiteln gibt es mit Ez 6 einen weiteren Text im Buch,  in  dem  die  Berge  Israels  eine  Rolle  spielen,  und  der  darüber  hinaus  eine  Reihe  von  Verbindungen  zu  dem  Textblock  Ez  35,1‐36,15  auf‐ weist.691  Das  Kap.  6  ist  durch  die  Wortereignisformeln  in  6,1  und  7,1  klar  von  seinem  literarischen  Kontext  abgegrenzt  und  kann  mit  Hilfe  des  Formelguts  in  drei  Redegänge  in  V  1‐7;  8‐10  und  11‐14  gegliedert  werden.  Während  V  1‐7  ein  Gerichtswort  gegen  die  Berge  Israels  ent‐ halten,  das  in  V  7b  durch  eine  Erkenntnisformel  abgeschlossen  wird,  wendet sich der Redegang in V 8‐10 an das Israel in der Zerstreuung.  Das mit einer Botenformel eingeleitete Wort in V 11‐14 enthält dagegen  Reflexionen  über  die  kultischen  und  ethischen  Vergehen  des  Hauses  Israel.  Nicht  nur  die  Verwendung  des  Formelgutes,  sondern  auch  die  thematischen  Verschiebungen  deuten  darauf  hin,  dass  das  Kapitel  keine  literarische  Einheit,  sondern  in  seiner  Endgestalt  das  Produkt  sukzessiven Wachstums ist. Da der Ausgangstext des Kapitels unzwei‐ felhaft in der Gerichtsansage an die Berge Israels vorliegt, die allein für  die hier vorgelegte Fragestellung von Interesse ist, wird sich die folgen‐ de Analyse auf Ez 6,1‐7 beschränken.  Nach  der  eröffnenden  Wortereignisformel  in  V  1  folgt  in  V  2  die  Aufforderung  an  den  Propheten,  sein  Gesicht  gegen  die  Berge  Israels   (‫)אל־הרי ישׂראל‬ zu wenden und gegen sie zu prophezeien. In V 3 schließt  sich  eine  Redeaufforderung  mit  einem  erneut  an  die  Berge  Israels  gerichteten Höraufruf an, ehe die eigentliche Gerichtsansage mit einer  erweiterten  Botenformel  einsetzt.  In  der  Botenformel  werden  die  Adressaten nun genauer als Berge, Hügel, Bachrinnen und Täler ange‐ sprochen, denen Jhwh ansagt, dass er das Schwert über sie bringen und  ihre  Höhen  (‫)במותיכם‬  zugrunde  richten  wird.  In  den  folgenden  Versen  wird  das  Gericht  zuerst  auf  die  Kultgegenstände  wie  „eure  Altäre“                                  691  Vgl. schon HÖLSCHER, Hesekiel, 173: „Die Weissagung an die Berge Israels, bezw. an  die  Berge  und  Hügel,  Rinnsale  und  Täler  36,1‐2.4aba6bb7ff.  ist  als  Gegenstück  zu  Kap. 6 geschrieben“. 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

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(‫)מזבחותיכם‬ und „eure Räucheraltäre“ (‫)חמניכם‬ ausgeweitet (V 4a), ehe in  V  6  neben  der  Zerstörung  der  Kultgegenstände  auch  die  Verwüstung  der  Städte  an  den  Wohnsitzen  angesagt  wird.  Darüber  hinaus  findet  sich in vier verschiedenen Variationen die Drohung, dass die Toten zu  Boden  fallen  werden  (V 4b.5a.5b.7a).692  Die  Erkenntnisformel  in  V  7b  schließt den ersten Redegang ab.  Neben den inhaltlichen Redundanzen fällt auch ein Wechsel in der  Anrede  auf:  Während  die  V  1‐3  in  2.  Pers.  mask.  pl.  eindeutig  an  die  Berge  gerichtet  sind  (‫הרי ישׂראל שׁמעו‬,  V  3),  verweisen  die  durch  Suffixe  der  2.  Pers.  mask.  pl.  näher  bestimmten  Kultgegenstände  (V 4.6ab.b),  Erschlagenen (‫חלליכם‬, V 4b) bzw. Gebeine (‫עצמותיכם‬, V 5b) sowie Wohn‐ sitze (‫מושׁבותיכם‬, V 6aa) eher auf das auf den Bergen wohnende Volk.693  Dieser Bezug liegt eindeutig auch in V 5a vor, wo in 3. Pers. mask. pl.  von  den  Leichen  der  Israeliten  (‫)פגרי בני ישׂראל‬  gesprochen  wird,  wäh‐ rend das Suffix an ‫בתוך‬ in V 7a (‫)בתוככם‬ sowohl auf die Mitte des Volkes  wie auch auf die Mitte der Berge bezogen sein könnte.   Die inhaltlichen Wiederholungen und die wechselnde Anredesitua‐ tion zeigen, dass Ez 6,1‐7 literarisch nicht einheitlich ist, auch wenn Art  und Umfang der Zusätze umstritten sind.694 V 5a ist aufgrund des Per‐ sonenwechsels weitgehend als Zusatz anerkannt.695 Da er Berührungen  mit  Lev  26,30  aufweist,  wird  der  Halbvers  auch  oft  als  von  dort  her  beeinflusste  Glosse  beurteilt;  diese  These  wird  im  Folgenden  noch  zu  prüfen sein.696 Auch im Fall von V 6 sprechen die inhaltlichen Anknüp‐ fungen und der eindeutige Bezug auf die Israeliten („eure Wohnsitze“)  dafür,  hier  einen  sekundären  Nachtrag  zu  sehen,  der  die  Gerichtsan‐ sage aus V 1‐5* aufnimmt und mit Erwähnung der Städte ausdrücklich                                 692  Zu den verschiedenen Aussagen über die Toten vgl. auch o. Kap. III. 6.4.2.  693  In V 4 könnte auch an die Altäre und Räucheraltäre auf den Bergen Israels gedacht  sein, aber die inhaltlichen Parallelen in V 6 sprechen dafür, dass hier die Kultgegen‐ stände der Bewohner im Blick sind (vgl. auch PETRY, Entgrenzung, 294).  694  HÖLSCHER,  Hesekiel,  66,  geht  von  einem  Grundbestand  in  Ez  6,1‐4.5b  aus,  an  den  V 9f.  anzuschließen  seien.  COOKE,  ICC,  68,  und  FOHRER,  HAT,  37,  beschränken  das  Grundwort  auf  V  1‐4,  während  EICHRODT,  ATD,  34f.,  zu  V  1‐4  noch  V  7b  zieht.  ZIMMERLI, BK, 144, scheidet V 5a und V 6‐7a als Nachtrag aus; vgl. ebenso SIMIAN,  Nachgeschichte,  125,  und  SCHÖPFLIN,  Theologie,  235f.  GARSCHA,  Studien,  94f.,  geht  dagegen  von  einem  ursprünglichen  Textzusammenhang  in  5,16‐17;  6,4‐7  aus,  der  sekundär  durch  die  Einfügung  von  6,1‐3  zertrennt  worden  sei.  POHLMANN,  ATD,  104, beschränkt den Ausgangstext auf 6,1‐3.6ab.7; vgl. auch PETRY, Entgrenzung, 300,  der allerdings die Zugehörigkeit von V 6ab und V 7a offen lässt.  695  Vgl.  HÖLSCHER,  Hesekiel,  66;  FOHRER,  HAT,  32;  ZIMMERLI,  BK,  139f.;  SCHÖPFLIN,  Theologie,  235  Anm.  559,  und  PETRY,  Entgrenzung,  295f.  Neben  dem  Adressaten‐ wechsel ist die Nicht‐Bezeugung des Halbverses in der LXX* ein weiteres Argument  für die Sekundarität von V 5a.  696  Vgl. dazu u. Kap. III. 7.5. 

   

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Schriftauslegung in Ez 34‐39   

auf  Stadt  und  Land  ausweitet.697  Damit  verbleiben  für  die  Grund‐ schicht nur noch V 1‐4.5b.7, wobei aber der Wechsel von der personifi‐ zierend‐metaphorischen  Adressierung  der  Berge  in  V  1‐3  hin  zu  der  Anrede der Israeliten in V 4.5b eher auf einen redaktionellen Übergang  hindeutet.698  Es  fällt  weiterhin  auf,  dass  die  Höhen  in  V  3  ohne  Wertung hinsichtlich ihrer Legitimität als Kultstätte genannt werden,699  während die Kultgegenstände in V 4.5a insbesondere durch Nennung  der  „Mistdinger“  (‫גלוליכם‬,  V  4;  vgl.  auch  V  5b.6)  als  Jhwh‐widrig  und  illegitim abqualifiziert werden.700 Aus diesen Gründen liegt es nahe, das Grundwort auf den Textbe‐ stand  in  Ez  6,1‐3  zu  beschränken,  der  dem  Land  im  Bild  der  Berge  Israels  das  Schwertgericht  und  die  Zerstörung  der  Höhen  ansagt.  Zu  diesem  Grundbestand  kann  auch  noch  V  7  gerechnet  werden,  da  ers‐ tens keine Intention erkennbar ist, weshalb die einfache Aussage über  die Erschlagenen nachgetragen sein sollte, und zweitens die Rede von  den Erschlagenen in „eurer“ Mitte (‫)בתוככם‬ gut zu dem den Bergen an‐ gekündigten  Schwertgericht  (V  3)  passt.  In  der  ersten  Fortschreibung  V 4.5b wird eine kultische Anklage der Israeliten in den Text eingetra‐ gen,  während  V  5a  von  den  Toten  der  Israeliten  in  3.  Pers.  pl.  spricht  und vermutlich mit der Absicht in den Text eingeschrieben wurde, die  um  die  Altäre  gestreuten  Gebeine  in  V  5b  ausdrücklich  mit  den  Lei‐ chen der Israeliten zu identifizieren. 701 Damit  ist nun nach dem literarischen Dreiecksverhältnis zwischen  Ez  6,1‐7;  Ez  35,1‐15  und  Ez  36,1‐15  zu  fragen.  Die  Berührungen  zwi‐ schen  diesen  Texten  sind  in  der  Sekundärliteratur  schon  mehrfach  Gegenstand  der  Untersuchung  gewesen,702  aber  da  ein  jeweils  unter‐                                697  Vgl. auch ZIMMERLI, BK, 144; SCHÖPFLIN, Theologie, 236.  698  ZIMMERLI, BK, 144, und SCHÖPFLIN, Theologie, 237, plädieren für die ursprüngliche  Zusammengehörigkeit  von  V  1‐5a,  während  POHLMANN,  ATD,  105,  mit  redaktio‐ neller Nacharbeit rechnet und V 4.5b von seinem Grundwort in V 1‐3 abhebt.  699  So weist POHLMANN, ATD, 104 Anm. 392, mit Verweis auf 2 Sam 1,19.25 darauf hin,  dass die ‫במות‬ nicht zwangsläufig als Kultstätten verstanden werden müssen.  700  Vgl.  PETRY,  Entgrenzung,  296f.  Dieser  hat  auch  eine  ausführliche  Untersuchung  zu  der  in  Ez  6  genannten  Kritik  am  Höhen‐  und  Götzenkult  vorgelegt,  vgl.  PETRY,  a.a.O., 293‐301.  701  Vgl.  POHLMANN,  ATD,  104,  der  darin  eine  explizite  Abgrenzung  gegenüber  Ez  37,1ff. sieht. Zu den Berührungen von Ez 6,1‐7 mit Ez 37,1‐14 siehe o. Kap. III. 6.4.2.  702  Vgl.  SIMIAN,  Nachgeschichte,  passim;  insbes.  351‐358;  GOSSE,  Ézéchiel,  511‐517,  und  POHLMANN, ATD, 104f. Während SIMIAN, a.a.O., 351‐358, die einzelnen literarischen  Wachstumsstufen  in  ein  Verhältnis  zueinander  setzt,  beschränkt  sich  GOSSE,  a.a.O.,  511‐517, auf einen synchronen Vergleich der Texte; siehe dazu auch die tabellarische  Gegenüberstellung  von  Ez  6;  35  und  36,1‐15  bei  GREENBERG,  AncB,  723.  Pro‐ blematisch  erscheint  das  methodische  Vorgehen  von  POHLMANN,  a.a.O.,  104f.,  der  die  Grundschicht  in  Ez  6,1‐7  mit  Hilfe  der  Strukturparallele  in  Ez  35,1‐4(5‐9)  be‐ stimmt. 

   

Heilsworte für die Berge Israels: Ez 35,1‐36,15 

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schiedliches Wachstum der Texte zugrunde gelegt wird, differieren die  Ergebnisse  zum  Teil  erheblich.  Der  folgende  Vergleich  wird  von  den  eruierten  Grundschichten  in  Ez  6,1‐3.7;  35,1‐3aa.10a.11f.  und  36,1f.7‐ 8a.9.11* sowie den entsprechenden Fortschreibungen ausgehen, um auf  den  jeweiligen  literarischen  Schichten  nach  einem  möglichen  Abhän‐ gigkeitsverhältnis zu fragen.   Da  der  Ausgangstext  in  Ez  35,1‐12*  das  Grundwort  in  Ez  36,1‐11*  bereits  voraussetzt,  ist  der  Einstieg  bei  dem  literarischen  Verhältnis  von Ez 6,1‐7* und 36,1‐11* zu wählen, die eine Reihe von Entsprechun‐ gen aufweisen. Zuerst sind es die einzigen Texte des Buches, in denen  die personifizierten Berge Israels angeredet und in nahezu identischer  Formulierung  zum  Hören  des  Gotteswortes  aufgefordert  werden  (‫הרי‬ ‫ישׂראל שׁמעו דבר־אדני יהוה‬,  6,3;  36,1703). Weiterhin spielen in beiden Texten  die Höhen (‫במותיכם‬, 6,3; ‫במות‬ 36,2) eine besondere Rolle, denen in 6,3 das  Gottesgericht angesagt wird, während in 36,2 der Feind meint, diese in  Besitz nehmen zu können. Auch inhaltlich stehen die beiden Stücke in  dem Entsprechungsverhältnis „Gericht für die Berge Israels – Heil für  die Berge Israels“, so dass zu überlegen ist, ob sie von vornherein auf  dieses Korrelationsverhältnis hin angelegt sind.704 Unter dieser Voraus‐ setzung  gewinnt  der  Vorwurf  an  den  Feind  in  36,2  zusätzlich  an  Bri‐ sanz:  Obwohl  es Jhwh ist, der nach 6,1‐7* gegen die Höhen der Berge  Israels vorgegangen ist, meint der Feind, diese nach dem Gottesgericht  in  Besitz  nehmen  zu  können  (36,2).  Auch  die  Fortschreibungen  in  Ez  36,3‐6  weisen  eine  Verbindung  zur  Grundschicht  in  Ez  6,1‐7*  auf,  da  die vierfache Adressatennennung von Bergen, Hügeln, Bachrinnen und  Tälern (‫להרים ולגבעות לאפיקים ולגאיות‬, 36,6) auf die wörtliche Parallele in 6,3  zurückgeführt  werden  kann.  Die  sprachliche  Kombination  dieser  vier  Ortsbezeichnungen begegnet außer an den genannten drei Stellen nur  noch  in  abgewandelter  Form  in  35,8,  wo  aber  die  Reihung  aufge‐ brochen ist. Es ist schließlich zu überlegen, ob die Einschreibung in Ez  36,10 über die Städte (‫)הערים‬ und die Trümmerstätten (‫)החרבות‬ ein