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German Pages 446 Year 2002
War die Moral der Nationalsozialisten doch, vielschichtiger, als wir glauben? Kann gute und nützliche Forschung aus einem Terrorregime kommen? Was könnte dies über die Gesundheitspolitik in unserer heutigen Gesellschaft verraten? Proctor ist der Ansicht, daß wir das Dritte Reich differenzierter betrachten müssen, als wir dies bisher taten. Aber das bedeutet auch, daß die fortschrittliche und weitblickende Gesundheitspolitik der Nationalsozialisten im Grunde derselben Ideologie entstammte wie ihre medizinischen Verbrechen. Nach der Veröffentlichung einer früheren bahnbrechenden Arbeit über die Greueltaten der Nazi-Ärzte verfaßte Proctor dieses Buch, denn er hatte Dokumente entdeckt, wonach die Nationalsozialisten die aggressivste Anti-Raucher-Kampagne in der modernen Geschichte führten. Weitere Forschungen ergaben, daß die Regierung des Dritten Reiches eine breite Palette von Maßnahmen zur Volksgesundheit beschloß, darunter gegen Asbest- und Strahlenbelastung, Pestizide und Lebensmittelfarben. Die Gesundheitsbehörden erließen strikte Vorschriften für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz und förderten bestimmte Nahrungsmittel wie Vollkornbrot und Sojabohnen. Diese praktischen Maßnahmen gingen Hand in Hand mit Gesundheitspropaganda, die zum Beispiel den Körper des Führers und dessen Lebensstil als Nichtraucher und Vegetarier zum Ideal erhob.
RO BER T N. PR OCT OR ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Pennsylvania State University und ein auf dem Gebiet der NS-Medizingeschichte renommierter Historiker. Er ist »Winner of the 1999 Arthur Viseltear Prize«.
Erschienen im Jubiläumsjahr 2002 bei Klett-Cotta
ROBERT N. PROCTOR
BLITZKRIEG GEGEN DEN KREBS Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich Aus dem Amerikanischen übersetzt von Alexandra Bröhm und Katharina Wehrli
KLETT-COTTA
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Nazi War on Cancer« bei Princeton University Press, Princeton, New York © 1999 Princeton University Press Für die deutsche Ausgabe © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart 2002 Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlags Printed in Germany Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart, unter Verwendung der Abbildung 6.1 aus dem Werk Gesetzt aus der 11 Punkt Adobe Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde Auf säure- und holzfreiem Werkdruckpapier gedruckt und gebunden von Clausen & Bosse, Leck ISBN3-608-91031-X
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.
STEPHEN JAY GOULD, RICHARD LEWONTIN, R U T H H U B B A R D , R IC H A R D L E V I N S UND ALLEN ANDEREN VON DER »BIO 106«-A B TE I LU NG .
INHALT Prolog
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KAPITEL 1 WILHELM HUEPERS GEHEIMNIS 23 Der Intellekr triumphiert..................... 25 »Staatsfeind Nummer Eins«.................... 31 Erwin Liek und der Gedanke der Prävention......... 33 Früherkennung und Massenuntersuchungen........... 39 KAPITEL 2 DIE »GLEICHSCHALTUNG« DER DEUTSCHEN KREBSFORSCHUNG 47 Das Schicksal jüdischer Wissenschaftler ............. 48 Erfassung und medizinische Überwachung............ 53 Die Rhetorik der Krebsforschung................. 58 Die Verklärung der Natur und die Frage der steigenden Krebsraten ...................... 65 KAPITEL 3 GENETIK UND RASSENKUNDE 73 Krebs und die »Judenfrage«.................... 74 Selektion und Sterilisation.................... 84
KAPITEL 4 KREBSGEFAHR AM ARBEITSPLATZ 89 Gesundheit und Arbeit im »Reich«................ 90 Röntgenstrahlen und die Märtyrer der Strahlung.........101 Radium und Uran ........................113 Tödlicher Staub .........................122 Asbest – das Totenhemd der Könige...............128 Krebs in der chemischen Industrie................135 KAPITEL 5 DIE NATIONALSOZIALISTISCHE ERNÄHRUNG 141 Widerstand gegen ein von künstlichen Stoffen geprägtes Leben . . 145 Fleisch oder Gemüse....................... 148 Der »Führer« ißt......................... 156 Die Kampagne gegen den Alkohol................ 163 Leistungssteigernde Nahrungsmittel und Medikamente ..... 178 Nahrung zur Krebsbekämpfung ................. 185 Das Verbot von Buttergelb.................... 190 Ideologie und Realität ...................... 196 KAPITEL 6 DIE KAMPAGNE GEGEN DEN TABAK 199 Früher Widerstand........................200 Die Entdeckung des Zusammenhangs..............205 Fritz Lickint: der Arzt, den die Tabakindustrie am glühendsten haßte ........................210 Der medizinische Moralismus der Nationalsozialisten......214 Franz H. Müller: der vergessene Vater der experimentellen Epidemiologie..................220
Praktische Maßnahmen......................227 Karl Astels Wissenschaftliches Institut zur Erforschung der Tabakgefahren ........................ 236 Gesundheit über Alles ...................... 246 Reemtsmas verbotene Frucht................... 258 Der Gegenangriff der Industrie.................. 268 Die Stellung des Tabaks bricht ein................ 273 KAPITEL 7 DAS UNGEHEUERLICHE UND DAS ALLTÄGLICHE 279 Die Frage nach der Wissenschaft unter nationalsozialistischer Herrschaft.................280 Quacksalberei...........................284 Geheime Forschung für biologische Waffen............291 »Organischer« Monumentalismus.................297 Konnten die NS-Maßnahmen Krebs verhindern?.........301 Die »Nazikarte« austeilen.....................304 Ist die NS-Krebsforschung tabu?.................306 Die B-Seite des Nationalsozialismus ...............313 Anmerkungen ........................... 315 Bibliographie............................ 409 Danksagung............................ 425 Register............................... 427
PROLOG
A
m 22. Juni 1941 um halb vier Uhr morgens fielen bewaffnete deutsche Truppen entlang einer 3000 Kilometer langen Front in die Sowjetunion ein. Damit begann eine der längsten und todbringendsten Militäraktionen in der Geschichte. Innerhalb weniger Wochen wurden mehr als eine Million Sowjetrussen – Männer, Frauen und Kinder – umgebracht. Die Invasion sollte schließlich, wie einst schon der Feldzug Napoleons, im bitterkalten Winter vor Stalingrad steckenbleiben, aber nicht bevor noch weitere Millionen Menschen den Nationalsozialisten zum Opfer gefallen waren. In jenen Wochen vor dem »Fall Barbarossa« war Hitler ziemlich nervös. Joseph Goebbels, Reichsminister für »Volksaufklärung und Propaganda« im nationalsozialistischen Deutschland, schrieb am Morgen des Überfalls in sein Tagebuch, der »Führer« werde sich erst wieder beruhigen, wenn die Invasion begonnen habe und eine große Last von seinen Schultern genommen sei. Goebbels war ein enger Vertrauter Hitlers, er genoß jene für ihn kostbaren Stunden, die er unter vier Augen mit jenem Mann verbrachte, den er ein »Genie« und »den größten Befehlshaber aller Zeiten« nannte. In jenen frühen Morgenstunden vor der Dämmerung blieb der Propagandaminister lange mit seinem geliebten Führer auf, im riesengroßen Salon der Reichskanzlei gingen sie stundenlang auf und ab. Worüber unterhielten sich Hitler und Goebbels nur wenige Stunden vor jener militärischen Operation, die die slawischen Völker versklaven und für die Deutschen im entvölkerten Osten neuen »Lebensraum« schaffen sollte? Aus Goebbels’ Tagebuch geht hervor, daß die beiden Männer an Hitlers Rede arbeiteten, mit der er die Invasion verkünden würde. Sie berieten darüber, zu welchem Zeitpunkt diese Rede gesendet werden sollte – schließlich entschieden sie sich für halb sechs Uhr an jenem Morgen. Beide schimpften über den »Verrat« von Rudolf Heß, dem ehemaligen Stellvertreter und designierten Nachfolger des »Führers«, der wenige Wochen zuvor mit einem Fallschirm über Großbritannien abgesprungen war, um auf eigene Faust mit 11
Churchill ein Friedensabkommen auszuhandeln. Sie bewunderten die historische Größe der bevorstehenden Invasion, jene explosionsartige Druckwelle, die Europa vollkommen verändern und das »krebsartige Geschwür«, den Kommunismus, auslöschen sollte.1 Doch sprachen Hitler und Goebbels in jener Nacht auch noch über andere Dinge. Sie diskutierten über die politische Situation in Italien und darüber, welche Bedeutung der englische Pazifismus für die nationalsozialistische Sache habe. Und kurz bevor sie sich voneinander trennten – nur eine Stunde vor dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion – unterhielten sie sich über die aktuellen Fortschritte in der Krebsforschung. Dabei war von der Arbeit eines gewissen Hans Auler die Rede, Professor für Medizin in Berlin und eine der kommenden Größen in der deutschen Krebsforschung. Der genaue Wortlaut ist nicht überliefert (die Hinweise sind jedoch verläßlich genug, um einige plausible Schlüsse daraus zu ziehen), aber allein die Tatsache, daß Hitler und Goebbels überhaupt von Krebs sprachen, scheint einigermaßen erstaunlich. Woher nahmen die politischen Führer des nationalsozialistischen Deutschlands jetzt überhaupt die Zeit – Stunden vor einer großen Invasion –, über Krebs und die Krebsforschung zu diskutieren? War es einfach unbedeutendes Geplänkel, um die Spannung etwas zu lösen, oder steckte doch mehr dahinter? Was für eine Bedeutung hatte Krebs im sogenannten »Tausendjährigen Reich«, was unterschied ihn von anderen gesundheitspolitischen Obsessionen?
Die zentralen Themen dieses Buches sind der Faschismus und die Wissenschaft. Über beides glauben wir viel zu wissen, und gewiß sind uns die meisten der grauenvollen Bilder bekannt: Körper, die mit Baggern in Massengräber geschoben werden; Gold, das aus menschlichen Zähnen herausgebrochen und in Schweizer Bankfächern versteckt wird; menschliches Haar, das zur Wiederverwertung gebündelt wird; verstreute Asche; auseinandergerissene und ausgelöschte Familien. Die verquere Wissenschaft jener Zeit ist nicht weniger berüchtigt: die grauenvollen Experimente in den Lagern; die Luftwaffe, die Dutzende von Männern umbrachte, indem sie sie eisiger Kälte oder sehr niedrigem Luftdruck aussetzte; SS-Ärzte wie Josef Mengele in Auschwitz, der Menschen bei lebendigem Leib Farbe in die Au12
gen injizierte, um festzustellen, ob man braune Augen in blaue verwandeln konnte. Doch inwieweit ist bekannt, daß die Gefangenen in Dachau biodynamischen Honig produzierten oder daß nationalsozialistische Gesundheitsaktivisten die erste großangelegte Nichtraucherkampagne der Welt starteten? Wer hat schon davon gehört, daß die Nationalsozialisten eine der weltweit ambitioniertesten Kampagnen gegen den Krebs führten, in deren Verlauf sie bereits damals Beschränkungen in der Verwendung von Asbest und Rauchverbote erließen sowie krebsauslösende Pestizide und Lebensmittelfarben verboten? Wie viele von uns wissen, daß Sojabohnen auch den Beinamen »Nazi-Bohnen« trugen oder daß Bäckereibetriebe im nationalsozialistischen Deutschland per Gesetz dazu angehalten wurden, Vollkornbrot zu produzieren? Es soll hier um die Geschichte der Medizin gehen, aber auch um Gesundheitspolitik: um die Gesundheitspolitik der Nationalsozialisten, ihre Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit und die nationalsozialistischen Pläne, wie Krankheiten zu bekämpfen seien. Es wird die Rede sein von gesundheitspolitischen Konzepten, aber auch von der Gesundheit selbst. Es soll von jenen erzählt werden, die leiden mußten, und gefragt werden, in welchem Maß sie litten und wofür. Die Komplizenschaft der Wissenschaft mit dem Faschismus wird Thema sein, genauso wie die Komplexität der Wissenschaft im Faschismus. Das Buch handelt davon, wie der Faschismus verschiedene Aspekte der Wissenschaft unterdrückte – indem zum Beispiel Juden und Kommunisten ausgeschlossen wurden –, aber es soll auch darum gehen, wie die faschistischen Ideale bestimmte Forschungsrichtungen und Trends im Lebensstil förderten, die heutigen Konzepten auffällig ähneln. Bücher über den Nationalsozialismus sind fast immer darauf angelegt, zu schockieren oder zu irritieren, die bloßen Tatsachen verlangen einen solchen Umgang mit dem Thema. Was ich jedoch an Beunruhigendem aufzeigen möchte, unterscheidet sich von den meisten neueren Darstellungen zur nationalsozialistischen Medizingeschichte oder zum Holocaust. Es hat sich eine Erzählweise etabliert, in der die Medizin jener Zeit als Abfolge ständig sich steigernder Greueltaten beschrieben wird – von der Rassenhygiene, Sterilisationsprogrammen und dem Ausschluß der Juden über die Euthanasie, mißbräuchliche Experimente bis hin zur sogenannten Endlösung. Die Verwicklung der nationalsozialistischen Ärzte in jene Verbrechen ist erschrek13
kend, aber ähnlich befangen macht es uns, daß diese Ärzte und die Gesundheitsaktivisten Kampagnen starteten, die wir heutzutage als »progressiv« oder gar sozial verantwortlich betrachten würden – und daß ein Teil dieser Arbeit in direktem Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Ideologie stand. Die NS-Ernährungswissenschaftler betonten, wie wichtig es sei, Lebensmittel ohne künstliche Farbstoffe und Konservierungsmittel zu sich zu nehmen. Die nationalsozialistischen Gesundheitsaktivisten wiesen immer wieder darauf hin, wie gesund Vollkornbrot und überhaupt alle vitaminund ballaststoffreichen Nahrungsmittel seien. Viele Nationalsozialisten setzten sich für den Umweltschutz ein, viele aßen kein Fleisch. Tierarten vor dem Aussterben zu bewahren war ein genauso verbreitetes Thema wie der Schutz des einzelnen Tieres.2 Nationalsozialistische Ärzte sorgten sich wegen des häufigen Einsatzes von Medikamenten und der exzessiven Anwendung von Röntgenstrahlen, nationalsozialistische Ärzte warnten vor ungesundem Arbeitsklima und auch davor, daß die Ärzte zu ihren Patienten nicht ehrlich seien – doch dieselben Ärzte ließen zu, daß so monströse Dinge wie der Ausschluß der »rassisch Unreinen« oder der »Unwerten« geschahen. Was soll man von den Anti-Rauch-Kampagnen der Nationalsozialisten halten oder von den Gesundheitsprogrammen, die lanciert wurden, um den Krebs unter Kontrolle zu bringen? Wie sollen wir die Anstrengungen verstehen, die Nutzung von Asbest, von Röntgenstrahlen oder Radium einzuschränken – oder die Kampagne zur Sicherstellung der Lebensmittelqualität und zur »Aufrichtigkeit in der Werbung«? Waren die Nationalsozialisten etwa im Grunde anständige Menschen? War ein Teil dieser guten, anständigen Bestrebungen von nationalsozialistischen Idealen motiviert? Man kann kaum über dieses Thema schreiben, ohne auf grundlegende moralische Fragestellungen zu stoßen – Fragen wie: »Kann aus Bösem auch Gutes entstehen?«. Mir bereiten solche Fragen immer Schwierigkeiten, denn sie scheinen von einem vereinfachten Schreckensbild des Faschismus und einem hölzernen, ahistorischen Bild der Wissenschaft auszugehen. Ich möchte gleich zu Anfang klarstellen, daß es keinesfalls mein Ziel ist, jene Wissenschaftler zu feiern, denen es trotz Hindernissen gelang, ihre wissenschaftliche Arbeit während der Nazi-Ära weiterzuführen. Die Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus tendiert dazu, das bloße Überleben der Wissenschaft als Beweis dafür zu nehmen, daß sich der intellektuelle Geist nicht be14
herrschen läßt. Mir erscheint allerdings die Frage wichtiger, was denn Wissenschaft eigentlich ist, wenn sie unter dem Faschismus so ungehindert gedeihen konnte? Was war der Grund dafür, daß der deutsche Faschismus den Fortschritt bestimmter Bereiche der Wissenschaft förderte, und warum ist dieser Teil der Geschichte bislang aus dem historischen Gedächtnis ausgeblendet worden? Unser Bild des Faschismus ist jenes einer totalitären Ideologie: Die Rhetorik und die Werte der Nationalsozialisten scheinen jede Ritze des intellektuellen Lebens der Deutschen erfaßt zu haben. Aber dieses Bild trifft nur teilweise zu. Die Wissenschaft wurde häufig als treuer und neutraler Untergebener toleriert – auf dem politischen Auge blind, stärkte sie die wirtschaftliche und politische Macht. Zwar flogen Wissenschaftler aus vielen Bereichen den Nationalsozialisten mit wehenden Fahnen zu, aber genauso beängstigend ist der Blick auf jene unzähligen dienstbaren Forscher, die still weiterarbeiteten und sich unter ihr Deckmäntelchen der Neutralität zurückzogen. Wenn man die Dinge so betrachtet, zeichnet sich die sogenannte »gute Wissenschaft« nicht durch heroische ideologische Unschuld aus, sondern durch das blinde Versagen, nachzudenken und Widerstand zu leisten – »Unschuld in Verantwortungslosigkeit«, wie es Herbert Mehrtens treffend bezeichnete.3 Meiner Meinung nach ist es wichtig, daß Wissenschaftler dazu in der Lage sind, die Wahl ihrer Forschungsprojekte zu begründen. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß ich dieses Buch niemals hätte schreiben können, wenn ich nicht die abscheulichen Aspekte der medizinischen Verbrechen der Nazis in meinem ersten Buch Racial Hygiene: Medicine under the Nazis (Cambridge, Mass. 1988) behandelt hätte, das als eine Art Vorrede zum vorliegenden Buch bezeichnet werden kann. Dort habe ich aufgezeigt, daß viele der brutalsten gesundheitspolitischen Kampagnen von Ärzten ausgingen, sie nie dazu gezwungen wurden, mit dem Regime zusammenzuarbeiten, und – was die nationalsozialistische Vernichtungspolitik anging – keine Schachfiguren, sondern Pioniere waren. Ich möchte mich hier weniger mit den NS-Verbrechen beschäftigen, als mit den Taten der Gesundheitsaktivisten, die vergessen wurden, da sie mit den grauenvollen Verbrechen in Zusammenhang standen. Es geht mir nicht darum, verlorene Perlen der Weisheit vor dem Vergessen zu retten oder die 15
Vergangenheit zugunsten der Gegenwart auszubeuten, sondern vielmehr darum, jener beunruhigenden Tatsache einer »qualitativ hochstehenden Wissenschaft« unter dem Nationalsozialismus auf den Grund zu gehen: einer Wissenschaft, die wir wahrscheinlich als bahnbrechend feiern würden, wäre sie vom historischen Umfeld ihrer Entstehung abgelöst. Aber ich möchte auch alltägliche wissenschaftliche Erzeugnisse untersuchen wie Hitlers Wasserfarben,4 die nicht so offensichtlich und unauslöschlich als nationalsozialistische Produkte gelten. Verändert sich unser Blick auf die Geschichte, wenn wir erfahren, daß sich führende Nazis gegen den Tabakkonsum wandten oder nationalsozialistische Gesundheitsbeamten sich wegen des durch Asbest verursachten Lungenkrebses sorgten? Ich denke schon. Wir erfahren, daß der Nationalsozialismus ein differenzierteres Phänomen war, als wir gemeinhin annehmen, verführerischer, geschickter. Wir erfahren, daß die Grenze zwischen »ihnen« und »uns« nicht so klar gezogen werden kann, wie manche sich das gerne vorstellen. Wir müssen erfahren, daß es zwischen jener und unserer Zeit erschreckende Parallelen gibt. Und es wird uns auch klarer, warum so viele Deutsche – und vor allem deutsche Ärzte – den Nationalsozialismus willkommen hießen. Der Nationalsozialismus stand nicht ausschließlich für die angestrebte Vorherrschaft des »Nordischen« oder die Erniedrigung und Ermordung der Behinderten, und es ging nicht ausschließlich um territoriale Expansion oder um den Mord an Juden und Sinti und Roma. Diese Dinge überragten in ihrer Monstrosität alles andere, aber für manche ging es auch darum, Arbeitsplätze zu schaffen, die Straßen zu reinigen und sich langfristig um das »deutsche Erbgut« zu kümmern. All dies soll in keiner Weise entschuldigend oder rechtfertigend wirken – und würde ich glauben, daß es das täte, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben. Der Nationalsozialismus ist der absolute Tiefpunkt der Moral und Kultur des 20. Jahrhunderts, seine Geschichte die ultimative Widerlegung von ethischem Relativismus und solipsistischem Egoismus. Daran können keine Worte etwas ändern. Was ich allerdings zu zeigen hoffe, ist die Tatsache, daß der Nationalsozialismus nuancenreich und komplex war und die Gründe, warum sich die Menschen diesem Gedankengut anschlossen, vielschichtiger und zahlreicher waren, als wir gemeinhin annehmen. Der Nationalsozialismus war nicht nur beliebt, weil die Deutschen die Juden haßten. Der Anti16
semitismus war ein zentraler Bestandteil der NS-Ideologie, aber er war nicht der einzige oder nicht einmal der Hauptgrund, warum Menschen sich dieser Bewegung anschlössen. Die Menschen sahen im Nationalsozialismus eine Verjüngungskur – im Gesundheitswesen und auch in anderen Bereichen. Sie verstanden den Nationalsozialismus als großen und radikalen chirurgischen Eingriff oder als einen Akt der Reinigung, und damit waren nicht immer nur die abscheulichen Aspekte gemeint – dies kann man auch mit dem Privileg der Rückschau sagen.
Ich habe das Thema Krebs als roten Faden meines Buches gewählt, weil Krebs den Blick auf breitere Aspekte der Kultur ermöglicht. Krebs war immer schon eine frustrierende Krankheit, einerseits wegen ihres heimtückischen Wesens und Wachstums und andererseits, weil sie sich therapeutischen Maßnahmen zäh widersetzte. In den zwanziger und dreißiger Jahren zeigen die Statistiken eine Zunahme der Krebserkrankungen, und die Herrscher des sogenannten »Tausendjährigen Reichs« wollten den Grund für diese Entwicklung herausfinden. Krebs war ein schwieriges Symbol: eine Zivilisationskrankheit, eine moderne Krankheit, ein noch nicht besiegtes Übel. Wir werden diese symbolische Bedeutung näher betrachten, insbesondere, wie die Krebsmetaphorik (Geschwüre als Juden, Juden als Geschwüre) in einem allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhang benutzt wurde. Der Krebs wurde zu einer Metapher für all jenes, was man in einer Gesellschaft als negativ betrachtete, und das war nicht nur in Deutschland so; man erinnere sich nur an die Worte Telford Taylors, des Anklägers in Nürnberg, der nach dem Krieg selbst vom Faschismus als »sich ausbreitendem Krebsgeschwür der Menschheit« gesprochen hat. Krebs bekommt einerseits viel Aufmerksamkeit und wird andererseits vernachlässigt. Dieser zwiespältige Umgang demonstriert die tiefen Konflikte mit der Natur dieser Krankheit und die Ratlosigkeit, wie man sich ihr stellen sollte. In den ersten beiden Kapiteln beschäftige ich mich mit dem Hintergrund der deutschen Krebskampagnen, einschließlich der außergewöhnlichen Anstrengungen, die in der Kaiserzeit und während der Weimarer Republik unternommen wurden, als die deutsche Medizin und das deutsche Gesundheitssystem weltweit beneidet wurden. Wir setzen uns mit der »Gleichschal17
tung« der deutschen Krebsinstitutionen und dem Schicksal der jüdischen Krebsforscher auseinander und behandeln das für die Nationalsozialisten so zentrale Thema der Prävention. Wir nehmen die Krebsterminologie genau unter die Lupe – beispielsweise, wie man sich zwanghaft bemühte, die Fachausdrücke aus anderen Sprachen einzudeutschen –, aber auch den Vorstoß, die Öffentlichkeit über den Wert der Früherkennung aufzuklären. Wir thematisieren die kraftstrotzende, zielgerichtete Rhetorik der nationalsozialistischen Medizin, einschließlich der Aufrufe für eine »Endlösung« verschiedener Probleme, die um 1941 erfolgten – dabei ging es beispielsweise um »Brot-« und »Tabakfragen«, um nur einige der weniger bekannten Problematisierungen zu nennen. In Kapitel 3 und 4 wenden wir uns den auf Erb- und Rassenkunde fußenden Vorstellungen über den Krebs zu, betrachten die Verfolgung der jüdischen Krebsforscher und die Pionierarbeit, die in der Aufdeckung von Krebsrisiken im Berufsleben geleistet wurde. Es mag überraschend klingen, aber bereits deutsche Krebsforscher erkannten, daß wenige Krebsarten einfach nur vererbt werden, wogegen viele (vielleicht die meisten) von schädlichen äußeren Einflüssen wie Teer, Ruß, Asbestfasern und Zigarettenrauch verursacht werden. Die radioaktive Strahlung war eine besonders gefürchtete Quelle des Übels. Doch während den »Märtyrern der Strahlung« (fast immer Wissenschaftler, selten Techniker, niemals Patienten) Denkmäler errichtet wurden, erstellte man gleichzeitig Listen zur Erfassung angeblich erbgutgeschädigter Frauen und Mädchen, um sie der Strahlung gezielt auszusetzen und Abtreibungen oder Unfruchtbarkeit auszulösen. Die Deutschen waren in den dreißiger Jahren führend in der Erforschung von Lungenkrebs, der durch Radon verursacht wurde (vor allem bei Arbeitern in Uranminen), und von Lungenkrebs, der mit Asbest im Zusammenhang stand. Man identifizierte neue Gefahren am Arbeitsplatz, allerdings geschah dies gewöhnlich im Rahmen der sogenannten »Selektionsmedizin«, was bedeutete, daß Beschäftigte sich dem Arbeitsplatz und seinen Bedingungen anpassen mußten und nicht umgekehrt. Man untersuchte die Arbeiter in großem Stil auf Frühsymptome für Lungenkrebs oder Hautkrankheiten, und es wurden Anstrengungen unternommen, um Frauen vor Krebs und den Gefahren für die Fortpflanzung zu schützen. Schließlich beutete man Zwangsarbeiter als Sklaven aus, indem man sie die schmutzigsten Arbeiten ausführen ließ. Ein Zweiklassensystem 18
bezüglich Arbeitergesundheit und Sicherheit wurde herausgebildet – dieses beinhaltete strikte Vorkehrungen für »gesunde« Bürger und gefährliche, lebensbedrohliche Belastungen für Ausländer und »Untermenschen«. Die nationalsozialistische Ernährungslehre und Gesundheitspolitik steht im Zentrum des fünften Kapitels. Dort untersuche ich, was Hitler aß, und warum er dies tat, und wie der Körper des »Führers« als Propagandawerkzeug genutzt wurde, um die Bevölkerung zu einem gesunden Lebensstil zu erziehen. Ich thematisiere das Verbot der Lebensmittelfarbe mit dem Namen »Buttergelb« und beschäftige mich mit der heftig umstrittenen Frage, ob Nahrungsbestandteile wie Fleisch, Fett und künstlicher Süßstoff Krebs erzeugen. Ich betrachte Debatten über die Vorratshaltung, in denen Repräsentanten der Armee, die Büchsenvorräte forderten, mit Verfechtern einer gesunden Ernährung zusammenstießen, die den Wert von frischem Obst und Gemüse hervorhoben. Alkohol, Kaffee und Tee und viele andere Dinge wurden zum Objekt ideologischer Kämpfe, als romantische Vorstellungen und die Bedürfnisse der Kriegszeit aufeinanderprallten. Im sechsten und längsten Kapitel des Buches ist Tabak das zentrale Thema. Diesen Blickwinkel habe ich angesichts der bemerkenswerten Tatsache gewählt, daß Nazi-Deutschland die umfassendste Nichtraucherkampagne der Welt führte und bereits in hohem Maße über die durch Tabakkonsum verursachten Krankheiten informiert war. All dies wurde bis heute kaum wahrgenommen. Die führenden Köpfe der Gesundheits- und Militärpolitik sorgten sich, der Tabak könne eine »Gefahr für die Rasse« darstellen, und Hitler setzte sich mehrmals persönlich ein, um die Gefahren zu bekämpfen. In ihrer Anti-Rauch-Kampagne betonten die Nationalsozialisten, daß die drei wichtigen faschistischen Führer Europas – Hitler, Mussolini und Franco – Nichtraucher waren, während Churchill, Stalin und Roosevelt gerne rauchten.5 Hitler war der heftigste Verfechter dieses Glaubens, er sah im Tabak »den Zorn des Roten Mannes auf den Weißen Mann, und eine Rache dafür, daß man dem Roten Mann den Alkohol gab«. Hitler deutete sogar an, der Nationalsozialismus in Deutschland hätte vielleicht niemals gesiegt, hätte er selbst nicht aufgehört zu rauchen! Gleichzeitig gelang es den deutschen Epidemiologen, gesichert und zum erstenmal überhaupt zu beweisen, daß das Rauchen eine der Hauptursachen für Lungenkrebs war. Dies und die Tatsache, daß diese Thematik bis in unsere Gegenwart von der Ge19
schichtsschreibung ausgeblendet worden ist, ist gewiß einer der erstaunlichsten Aspekte am Krieg der Nationalsozialisten gegen den Krebs. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Wissenschaft in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Meine Hauptthese wird sein, daß die im Krieg vorherrschenden Dringlichkeiten einen großen Teil des Optimismus zerstörten, der bezüglich des Gesundheitswesens in der Anfangszeit des Nationalsozialismus vorgeherrscht hatte. Vorstöße für eine gesunde Ernährung wie das Propagieren der Vollkornnahrung und der natürlichen, pflanzlichen Medizin wurden als wirtschaftlich und daher kriegstauglich eingestuft – aber beinahe alle langfristigen gesundheitspolitischen Ziele wurden zurückgestellt (hier gilt es daraufhinzuweisen, daß der Mord an den sogenannten »rassisch Minderwertigen« nicht zurückgestellt, sondern während des gesamten Krieges unvermindert fortgesetzt wurde). In diesem Zusammenhang beschäftigen wir uns auch mit dem mysteriösen Fall des Reichsinstitutes für Krebsforschung, das im besetzten Polen in der Nähe von Posen 1942 eingerichtet wurde: Niemand weiß genau, was dort vor sich ging, aber es gibt Hinweise darauf, daß dieses Institut als Zentrum der nationalsozialistischen Forschungsprogramme zur Entwicklung biologischer Waffen diente. Damit sollte der Generalstab beschwichtigt werden, nachdem man das Atombombenprogramm hintangestellt hatte. An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen, daß sich der Aufbau des Buches an den heute als krebsauslösend betrachteten Faktoren wie Vererbung, Strahlung, Ernährung, Alkohol und Tabak etc. orientiert. Einige strenge Kollegen werden mir sicher eine etwas nachlässige Haltung vorwerfen, wonach ich die Zukunft der Vergangenheit überstülpe. Ich hoffe, meine Beweggründe dafür liegen nicht in einem uneingestandenen Wunsch, den intellektuellen Stellenwert meiner Quellen aufzublasen – Ethnologen lassen sich gerne dazu hinreißen. Meine Absicht ist vielmehr, etwas darüber aussagen zu können, was Krebs zu dieser Zeit (und später) bedeutet hat. Hat der Kampf der Nationalsozialisten gegen den Krebs die Krebsraten in Deutschland gesenkt? Waren einige Strategien wirkungsvoller als andere? In welchen Bereichen nahmen Krebsfälle während des Nationalsozialismus eher zu? Wo gelang es den Nationalsozialisten, Krebsfälle zu verhindern?
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Es gehört zur Arbeit eines Historikers, nach Mustern in Dingen zu suchen, die eng miteinander zu tun haben und sich doch widersprechen. Scheinbar abwegige Merkwürdigkeiten können der Schlüssel zu tieferen Wahrheiten sein. Aus diesem Grund konzentriere ich mich nicht auf die schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten (obwohl es verschiedene geben wird, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen), sondern auf Substanzen und Praktiken, die wir normalerweise nicht mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringen: Essen und Trinken, Chemikalien und Strahlung, Anstrengungen, Fabriken aufzuräumen und den deutschen Lebensstil zu entgiften. Es ist dies die weniger bekannte »B-Seite« des Nationalsozialismus – jene Seite, die für Anstrengungen gegen das Rauchen, Kampagnen für gesündere Ernährung und besseres Wasser, für ausreichende Bewegung und Präventivmedizin verantwortlich war. Ich werde den eigentlichen Nationalsozialismus als eine Art Versuch behandeln – als ein gigantisches hygienisches Experiment, mit dem eine exklusive gesundheitliche Utopie verwirklicht werden sollte. Diese gesundheitliche Utopie war eine Vision, die auch im Zusammenhang mit den bekannteren Geschehnissen, nämlich dem Genozid, stand: Asbest und Blei sollten aus der Luft und dem Wasser der deutschen Fabriken verschwinden, genauso wie die Juden von der deutschen Politik beseitigt werden sollten. Innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie verbanden sich die Reinigung des deutschen Körpers von Umweltgiften und seine Reinigung von »rassischen Fremdkörpern«. Berechtigte und absurde Ängste wurden in der nationalsozialistischen Weltsicht übereinandergeblendet: Es gibt eine Art »homöopathische Paranoia«, die das nationalsozialistische Körperethos durchdringt, eine Angst vor winzigkleinen, aber machtvollen Fremdkörpern, die den deutschen Körper zersetzen, eine Angst, die manchmal grausam und böse ist, manchmal unheimlich zielgerichtet. Diese gegensätzliche Mischung aus Empfindsamkeiten und Krankhaftem ist gewiß einer der verwirrendsten Aspekte des Nationalsozialismus, aber ich denke, man kann daraus auch einen weiteren Schlüssel zum Verständnis des Holocausts ziehen. Historiker und Sozialwissenschaftler haben seit vielen Jahren versucht, die düsteren Phänomene des Faschismus auf den Kapitalismus, den Totalitarismus, den Militarismus, den Antisemitismus oder die »autoritäre Persönlichkeit« zu reduzieren – all diese Dinge sind zentral, je21
doch keines der Elemente kann als alleinige Erklärung dienen. Ich neige dazu, Omer Bartov recht zu geben, der meint, der Holocaust sei eine Art absurder Geschichte, die man immer nur in Teilen begreifen kann, niemals aber als Ganzes.6 Aber vielleicht kann uns dieser Ansatz, daß die Nationalsozialisten auf der Suche nach einer gesundheitlichen Utopie waren, dabei helfen, die beunruhigende Kluft zwischen den grauenvollen Verbrechen der Zeit und ihren bahnbrechenden – wenn auch abgeschnittenen und nun in Vergessenheit geratenen – Errungenschaften im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens zu erklären. Eine letzte Bemerkung zu einer möglichen Fehlinterpretation dieses Buches möchte ich noch machen. Es gibt gewisse Kreise, die auf das Umweltbewußtsein der Nationalsozialisten hinweisen und daraus die Botschaft ableiten, in jedem staatlichen Gesundheitswesen oder jeder Umweltpolitik gäbe es eine latente faschistische Gefahr. Anti-Tabak-Aktivisten wurden als »Gesundheitsfaschisten« und »Niconazis« beschimpft. Weil die Nazis Puristen waren, müssen Puristen heute Nationalsozialisten sein, so lautet die ziemlich verdrehte Schlußfolgerung.7 Es gibt ein lateinisches Sprichwort dafür, so simpel ist der Denkfehler. Tabak ist für 80 – 90 Prozent der Lungenkrebsfälle in den westlichen Industrieländern verantwortlich, und diese Tatsache wird nicht dadurch geschmälert, daß es die Nationalsozialisten waren, die sie als erste bewiesen. Es ist vernünftig, den Zucker- und Fettkonsum einzuschränken und wenig Nahrungsmittel mit chemischen Konservierungsstoffen zu sich zu nehmen, auch wenn nationalsozialistische Ernährungswissenschaftler eine ähnliche Zurückhaltung empfahlen. Vielleicht überraschen uns derartige Dinge, aber wir können uns gewiß nicht davon in unseren Entscheidungen, wie wir uns heute ernähren und wie wir arbeiten, beeinflussen lassen. Oder sollten wir das vielleicht? Ich muß zugeben, daß einer der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe, der Versuch war, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Vielleicht muß man die bereits angespannten Verbindungen durchtrennen, von denen man einst sagte, sie verbänden technische und moralische Werte, ich bin mir nicht sicher. Ich bin normalerweise nicht dafür, daß Wissenschaft wertfrei sein soll, aber ich glaube, wenn die Nationalsozialisten Pioniere in der Krebsforschung waren, so müssen wir wissen, wie es dazu kam und was dies bedeutet. 22
KAPITEL 1
WILHELM HUEPERS GEHEIMNIS Natürlich! In Deutschland wird sehr viel für die Krebsforschung getan, in allen Teilen des Reiches bestehen große Institute, für die der Führer alljährlich große Summen zur Verfügung stellen läßt. Adolf Butenandt, deutscher Nachkriegspräsident der Max-Planck-Gesellschaft, in einem Radiointerview von 1940
A
m 28. September 1933 schrieb Dr. Wilhelm Hueper, leitender Pathologe am Krebsforschungslabor der University of Pennsylvania, einen Brief an den nationalsozialistischen Kultusminister Bernhard Rust. Darin erkundigte sich Hueper nach seinen Chancen, an einer Universität oder einem Krankenhaus des neuen Deutschlands eine Anstellung zu bekommen. Hueper war zehn Jahre zuvor in die USA emigriert, und man kann in seiner unveröffentlichten Autobiographie nachlesen, daß das Hakenkreuz bereits 1919 auf seinem Freikorps-Helm prangte. Jetzt, nur einige Monate nach der »Machtergreifung«, ersuchte der junge Pathologe die deutschen Behörden um Erlaubnis, nach Deutschland zurückkehren zu können, um – wie er schrieb – seine Bindung an das »deutsche Volks- und Kulturgut« wieder zu festigen.1 Es ist in solchen Fällen nicht leicht auszumachen, was Überzeugung und was Opportunismus war. Und obwohl diese Unterscheidung vielleicht eine kleinere Rolle spielt, als wir gemeinhin annehmen, ist Huepers offenkundige Unterstützung des NS-Regimes (seinen Brief beendete er mit einem begeisterten »Heil Hitler!«) doch für all jene schockierend, die nicht mit der politischen Landschaft der europäischen Krebsforschung in den dreißiger Jahren vertraut sind (vgl. Abb. 1.1). Vermutlich beunruhigt uns diese Episode auch, weil sie einigen unserer bestgehüteten politischen Vorurteilen zuwider läuft. Schließlich kennt man Hueper als den »Vater« der amerikanischen Forschung über Krebsrisiken am Arbeitsplatz. Er war es, der dafür ein-
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ABB.1.1. Brief vom 28.September 1933 von Wilhelm Hueper an den NS-Kultusminister Bernhard Rust, in dem Hueper eine Anfrage für eine akademische Position im neuen »Reich« stellt. Hueper wird gemeinhin als Vater der amerikanischen Forschung zu Krebserkrankungen am Arbeitsplatz betrachtet und diente Rachel Carson in ihrem berühmten Werk Der stumme Frühling als Vorbild für das Kapitel über Krebs. Man beachte das »Heil Hitler« am Ende des Gesuchs. Quelle: Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, Rep. 76 Va Sekt. 1. IV, Nr. 5, Bd. 27, S. 19. Mit Dank an Michael Hubenstorf. 24
trat, daß man die Gesundheitsbehörden auf die Gefahren nicht gelüfteter Uranbergwerke aufmerksam machte, und wie kein anderer setzte er sich für die Erforschung krebserregender Stoffe in Lebensmitteln, Luft und Wasser ein. Hueper diente sogar als Leitstern für Rachel Carsons berühmtes Krebskapitel in deren Buch Der stumme Frühling. Wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 1979 wurde Hueper zudem für seine Leistungen in der Erforschung der Krebsrisiken am Arbeitsplatz und der durch die Umweltverschmutzung bedingten Gefahren mit Ehrungen überhäuft.2 Was bewog den Helden von Der stumme Frühling dazu, seine Hoffnungen auf die NS-Bewegung zu setzen? Welche Taten oder Worte der Nationalsozialisten zur Krebsforschung veranlaßten einen Mann wie Hueper dazu, seine Zukunft im »Tausendjährigen Reich« zu sehen? DER INTELLEKT TRIUMPHIERT Über Wissenschaft und Medizin zur Zeit der Nationalsozialisten ist bereits sehr vieles bekannt. So wissen wir, daß bestimmte Wissenschaftszweige zerstört wurden, während andere florierten. Besonders gefördert wurden die angewandten Naturwissenschaften, ebenso jene Wissenschaften, die mit dem nationalsozialistischen Programm der »Rassentrennung« und der Vernichtung Hand in Hand gingen.3 Es ist auch kein Geheimnis mehr, daß sehr viele Ärzte der NSDAP angehörten und etwa 60 Prozent aller Biologen in die Partei eintraten,4 ebenso rund 80 Prozent aller Professoren für Anthropologie – von denen die meisten ebenfalls Ärzte waren.5 Man weiß, daß das NS-Regime ein ausgeklügeltes medizinisches Überwachungssystem unterhielt – dies als Teil des Vorhabens, die deutsche Nation zu stärken;6 und wir wissen auch, daß die nationalsozialistische Kultur eine seltsame Mischung aus modernen und rückwärtsgewandten Elementen bot – eine Mischung, die Jeffrey Herf als »reaktionären Modernismus« charakterisiert hat.7 Bei der Beschäftigung mit unserem Thema dürfen wir nicht vergessen, daß sich der Nationalsozialismus in jenem Land etablierte, das auf die bedeutendste Wissenschaftskultur der Welt zurückblicken konnte, die beinahe die Hälfte aller Nobelpreisträger und viele große Erfindungen hervorgebracht hatte. Die ganze Welt blickte voller Neid auf die deutsche Wissen25
schaft und Medizin, und so mancher hoffnungsvolle Akademiker ging nach Deutschland – in das »Land der Dichter und Denker« –, um sich seine akademischen Sporen abzuverdienen. Man kann das »Dritte Reich« nicht als Rückschritt in die intellektuelle Eiszeit betrachten: So viele Technologien wurden im nationalsozialistischen Deutschland entwickelt oder erreichten in dieser Zeit einen Höhepunkt: das Fernsehen, düsengetriebene Flugzeuge, Lenkflugkörper, elektronische Rechner, das Elektronenmikroskop, die Atomspaltung, die Datenverarbeitung, die industriellen Todesfabriken und die »Rassenforschung«. (Der kürzlich nach dem Roman von Carl Sagan entstandene Science-Fiction-Film Contact zeigt uns, daß die erste Fernsehsendung, die stark genug gewesen sei, dem Planeten zu entfliehen, die Hitlerrede bei der Eröffnung der Berliner Olympiade 1936 wiedergegeben habe.) Es gab Neuerungen auf dem Gebiet der Elementarphysik – im Jahr 1938 entdeckten Otto Hahn und Lise Meitner die Kernspaltung –, im Bereich der Hormon- und Vitaminforschung oder der Motorfahrzeugtechnik, der Volkswagen sollte im wahrsten Sinne des Wortes ein »Wagen des Volkes« sein. Neuentdeckungen machte man auch in der Pharmakologie, bei der Entwicklung von synthetischem Benzin und Gummi (die LG. Farben kontrollierte 1942 mehr als 90 Prozent der synthetischen Gummiproduktion).8 Das Nervengas Sarin und der chemische Kampfstoff Tabun sind beides Erfindungen der I. G. Farben aus der Zeit des Nationalsozialismus – ebenso wie das Opiat Methadon, das 1941 synthetisch hergestellt wurde, und Demerol, das ungefähr zur gleichen Zeit unter dem Namen »Pethidin« entstand.9 Man könnte noch viele weitere Beispiele nennen. Nationalsozialistische Luftfahrtingenieure entwarfen die ersten interkontinentalen Raketen – die allerdings nie gebaut wurden –, und es waren ebenfalls Deutsche, die in den vierziger Jahren den ersten Schleudersitz in einem Düsenflugzeug konstruierten. Deutsche Ingenieure bauten die ersten Autobahnen der Welt, und auf der weltweit ersten Magnetbandaufnahme hört man eine Hitlerrede. Es war der amerikanischen Armeeführung nicht entgangen, daß die deutschen Wissenschaftler während der Hitler-Ära nicht geschlafen hatten; so wurden nach dem Krieg Dutzende von führenden Wissenschaftlern damit beauftragt, Zusammenfassungen ihrer Fachbereiche zu schreiben, die ganze Buchbände füllten – eine eigentliche Encyclopedia Naziana, in die verschiedenste 26
wissenschaftliche Gebiete von der Biophysik bis zur Tropenmedizin Aufnahme fanden. Eigenartigerweise wurden manche Bereiche, wie zum Beispiel die Forschungen zur Gesundheit am Arbeitsplatz oder die Anti-TabakForschung, dabei vernachlässigt.10 Aus diesem Grund kann man nicht einfach behaupten, die Nationalsozialisten hätten den menschlichen Erfindergeist unterdrückt oder dieser habe nur in »innovativen Nischen« überleben können, die sich dem nationalsozialistischen Einfluß entzogen hätten.11 Es greift viel zu kurz, wenn man die Geschichte der Wissenschaft im »Dritten Reich« nur unter dem Gesichtspunkt von Unterdrückung und Überleben beschreibt. Wir müssen vielmehr herausfinden, wie und warum die nationalsozialistische Ideologie bestimmte Wissenschaftszweige förderte, wie die Forschung umgepolt und manipuliert wurde, und wie eng wissenschaftliche Projekte und Strategien mit den Bewegungen der politischen Kräfte zusammenhingen. Wenn wir feststellen, daß manche Wissenschaftszweige eine Blütezeit erlebten, so drängt sich die Frage auf: Was eigentlich war diese Wissenschaft, daß sie sich so leicht an die nationalsozialistische Politik anpaßte? Es ist bis heute noch wenig über die nationalsozialistische Krebsforschung und -bekämpfung geschrieben worden,12 und dafür gibt es aufschlußreiche Gründe. Historiker, die sich mit der NS-Medizin beschäftigten, konzentrierten sich entweder auf die politische und rassistische Ideologie oder die Mittäterschaft der Ärzte in NS-Programmen zur Sterilisation, Segregation und zum Mord im Namen der Medizin (zum Beispiel im sogenannten »Euthanasie«-Programm).13 Man weiß über diese mörderischen Aspekte der Medizin im »Dritten Reich« weit mehr als über viele andere Bereiche, die ebenfalls mit der nationalsozialistischen Ideologie verwoben waren, wie etwa die Sucht- oder Vitaminforschung. All dem haben die medizinischen Fachleute wenig Aufmerksamkeit geschenkt: zum einen weil die Ereignisse schon weit zurückliegen, zum anderen weil man sich wenig Gewinn davon erhofft, die nationalsozialistischen Erfolge in der Bekämpfung von künstlichen Lebensmittelfarben, von Tabak oder Industriestaub hervorzuheben. Vor allem in Deutschland möchte man sich nur ungern daran erinnern. Es ist zwar nicht weiter erstaunlich, daß Krebsforscher kein besonders ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein haben, aber die Vergeßlichkeit wird in Deutschland verstärkt durch einen genuinen Widerwillen gegen alles, was in den dreißiger 27
und vierziger Jahren geschah. Viele Deutsche weichen der nationalsozialistischen Vergangenheit noch immer am liebsten aus. Dies ist eine ernüchternde Tatsache, vor allem wenn man bedenkt, daß die nationalsozialistischen Gesundheitsaktivisten wohl das entschlossenste und erfolgreichste Krebspräventionsprogramm ihrer Zeit entwickelt haben. Da die deutsche Krebsforschung – und die medizinische Forschung im allgemeinen – zur Zeit der »Machtergreifung« die fortschrittlichste der Welt war, ist dieses Engagement eigentlich nicht überraschend. Deutsche Wissenschaftler entdeckten als erste, daß Destillate aus Steinkohlenteer zu bestimmten Arten von Hautkrebs führen; ebenfalls als erste zeigten sie, daß die Arbeit in Uranbergwerken Lungenkrebs zur Folge haben kann (beides in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts). Das erhöhte Risiko, bei der Herstellung von Anilinfarbstoffen an Blasenkrebs zu erkranken, wurde in Deutschland festgestellt (1895),14 desgleichen die Lungenkrebsgefahr, die in Fabriken droht, wo mit Chrom gearbeitet wurde (1911),15 oder die Hautkrebsgefahr durch Sonnenlicht (1894).16 Deutsche Ärzte diagnostizierten den Zusammenhang zwischen Röntgenstrahlen und Krebserkrankungen (1902) und wiesen mittels Tierversuchen erstmals nach, daß Röntgenstrahlen Leukämie hervorrufen können (1906). Sie waren sogar die ersten, die vermuteten, daß ein erhöhter Radongehalt in Wohnhäusern ein Gesundheitsrisiko darstellen könnte (1907).17 Es gibt zahlreiche weitere Beispiele,18 und ich möchte im Interesse der Vollständigkeit (und mit dem Risiko, zu ausführlich zu sein) noch weitere nennen. Johannes Müller leistete in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts Pionierarbeit, als er die mikroskopische Analyse von bösartigen Geschwülsten beschritt und dabei herausfand, daß sich Tumore aus Zellen zusammensetzen; Rudolf Virchow entwickelte im Berlin der 1860er Jahre die Theorie, Krebs könne durch lokale Irritationen entstehen.19 Auch in der Erforschung der »Übertragung von Karzinomen« leisteten Deutsche Pionierarbeit,20 und sie entwickelten schon früh die Theorie von der Latenzzeit, die von der Höhe der Dosis an schädlichen Stoffen abhängig ist.21 Deutsche waren zudem unter den ersten Forschern, die vermuteten, daß Hormone bei der Krebsentstehung eine zentrale Rolle spielen,22 und sie waren schon früh mit jener Idee vertraut, die man heute zuweilen »Xenoöstrogen-Hypothese« nennt, nämlich die Vorstellung, daß virulente petrochemische Karzinogene 28
wie beispielsweise Methylcholanthren aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit mit körpereigenen Hormonen krebsauslösend wirken.23 Und es war ein Münchner Pathologe (Max Borst), der als erster Tumore gemäß ihrer Histogenese klassifizierte – jener Methode, die heute von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angewendet wird, um Krebsfälle einzuordnen.24 Die Liste läßt sich noch verlängern: Deutsche waren die ersten, die Gewebefarben als chemotherapeutische Wirkstoffe verwendeten (1922),25 und sie injizierten ihren Patienten als erste Thorium-Dioxid, um die Kontraste auf den Röntgenbildern zu verbessern (1928).26 Deutsche Genetiker zeigten, daß Dickdarmkrebs als dominantes Merkmal vererbt werden kann, und es war ein deutscher Zoologe – Theodor H. Boveri –, der im Jahr 1902 die These vertrat, Chromosomenanomalien könnten für die Entstehung von bösartigen Tumoren verantwortlich sein.27 In Deutschland fanden die ersten internationalen Kongresse zur Krebsforschung statt (in Heidelberg und Frankfurt am Main, 1906),28 und die weltweit erste Zeitschrift, die ausschließlich der Krebsforschung gewidmet war, erschien ebenfalls in Deutschland.29 Bahnbrechende Arbeit wurde im Bereich der optischen Diagnostizierung von Krebs geleistet. Nicht nur die Röntgenapparaturen und das Kolposkop wurden in Deutschland entwickelt, sondern auch das rektale Endoskop – ein mit Kerzenlicht beleuchtetes Modell, das 1807 in Frankfurt entstand.30 Deutsch war eine Zeitlang die Sprache der internationalen Krebsforschung: Als Katsusaburo Yamagiwa und Koichi Ichikawa im Jahr 1915 ihre Ergebnisse eines Experiments veröffentlichten, in dem sie mit Teer bei Versuchstieren Krebs ausgelöst hatten, taten sie dies auf Deutsch.31 Deutsche vermuteten offenbar auch als erste einen Zusammenhang zwischen Passivrauchen und Lungenkrebs, und zwar bereits im Jahr 1928.32 Die deutschen Wissenschaftler der dreißiger Jahre bauten ihre Arbeit auf dieser wissenschaftlichen Basis auf. Der 1931 gegründete Reichsausschuß für Krebsbekämpfung wurde erweitert, und 1933 startete man ein ehrgeiziges Projekt: die Monatsschrift für Krebsbekämpfung. Diese Zeitschrift wurde vom berüchtigten antisemitischen J. F. Lehmann Verlag gegründet, um die Bestrebungen zur Krebsbekämpfung zu koordinieren. Während der zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft entstanden mehr als tausend medizinische Doktorarbeiten zur Erforschung von Krebs, nur Blutkrankheiten erhielten noch mehr Aufmerksamkeit.33 Man richtete eine zentrale 29
Meldestelle für Krebserkrankungen ein, von der nicht nur die Sterblichkeit (Anzahl der Todesfälle) sondern auch die Erkrankungsziffer (Häufigkeit der Erkrankung) erfaßt wurde. Es wurden Anstrengungen unternommen, um präventionsorientierte Maßnahmen zu fördern – Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz, Gesetze gegen das Panschen von Lebensmitteln und Medikamenten, Rauchverbote und Programme, um den Gebrauch krebsfördernder Kosmetika zurückzudrängen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Hatten die nationalsozialistischen Maßnahmen zur Krebsbekämpfung Erfolg? Mit anderen Worten: Konnten die Krankheitsraten im Deutschland der Nachkriegszeit beeinflußt werden? Die Frage ist von großem Interesse, weil in Deutschland seit den fünfziger Jahren eine deutliche Abnahme der generellen alterskorrigierten Krebs-Sterbeziffer zu beobachten ist. Dies ist genau der Zeitraum, in dem sich die gesundheitspolitischen Maßnahmen der dreißiger Jahre in den Statistiken zu Krebserkrankungen und –Sterblichkeit niederschlagen müßten. Allerdings ist auch möglich, daß die allgemeinen gesundheitsfördernden Maßnahmen – wie beispielsweise die Förderung des Frauensports oder die Kampagne für den Konsum von Vollkornbrot – unbeabsichtigte positive Auswirkungen auf die Krebsrate hatten. Auch andere Maßnahmen, welche die Nationalsozialisten zur Verwirklichung anderer Ziele trafen, hatten vielleicht positive Effekte auf die Krebsrate – beispielsweise die pronatalistische Bewegung, die zur Folge hatte, daß mehr Frauen Kinder bekamen und zugleich das durchschnittliche Empfängnisalter sank. Den größten Einfluß hatte jedoch vermutlich der Krieg selbst. Der Tabak mußte rationiert werden, fettarme, karge Ernährung war an der Tagesordnung, der Lebensstil veränderte sich – all diese Faktoren vermindern das Krebsrisiko. Wie geht man mit diesen Vermutungen um? Kann es sein, daß es einem der mörderischsten Regimes der Geschichte tatsächlich gelang, bei einigen Bevölkerungsgruppen die Krebsraten zu senken? Wer profitierte von diesen Maßnahmen, und wer hatte darunter zu leiden?
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»STAATSFEIND NUMMER EINS« Deutschland war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine reiche Industrienation, die unter einer der höchsten Krebsraten der Welt litt. Das starke Interesse der Deutschen an der Krebsbekämpfung muß vor diesem Hintergrund verstanden werden. Deutsche Gewerkschaften und sozialistische Parteien hatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, sich für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz einzusetzen. In diese Zeit fielen zudem tiefgreifende Wandlungen auf dem Gebiet der Sozialmedizin – Deutschland besaß das weltweit am besten ausgebaute Sozialsystem, das 1883 in Reaktion auf sozialistische Forderungen geschaffen worden war. Die Medizin hatte in Deutschland eine sehr mächtige Position inne, sie war in hohem Maße politisiert, und Berlin galt als eines der weltweit bedeutendsten Zentren für medizinische Forschung.34 Auch die »Lebensreform«-Bewegung spielte in Deutschland eine wichtige Rolle. Deren Anhänger verstanden die Krebserkrankungen als Ausdruck der Tatsache, daß sich der Mensch zu weit von seinen natürlichen Ursprüngen entfernt hatte. Man darf auch nicht außer acht lassen, daß die Versicherungen in der Prävention ein kostensparenderes Mittel sahen als in der Behandlung der Krebserkrankungen. So erstaunt es nicht weiter, daß die Deutschen in den dreißiger Jahren Schritte unternahmen, um den Krebs zu bekämpfen. Auf welche Krebsarten man sich dabei konzentrierte, muß ebenfalls vor dem Hintergrund der besonderen deutschen Entwicklung im Bereich der Industrie, Ideologie und Technologie verstanden werden. Weil Deutschland in den 1890er Jahren eines der führenden Länder in der Produktion synthetischer Farbstoffe war, entdeckten beispielsweise nicht zufällig deutsche Forscher die krebsauslösende Wirkung des Anilinfarbstoffs.35 Deutsche Berufsverbände etablierten als erste informelle Richtlinien für den Strahlenschutz.36 Dies lag nicht nur daran, daß die Röntgenstrahlen in Deutschland entdeckt wurden, sondern war auch Ausdruck der mächtigen und einflußreichen Stellung der deutschen Berufsverbände. In Deutschland erkannte man schon früh die Krebsgefahr, die von Teer, Asbest und Radium ausging, dies hatten die deutschen Arbeiter ihren einflußreichen Gewerkschaften und den Arbeiterparteien zu verdanken. Deutschland anerkannte 1926 als erstes Land Lungenkrebs bei Bergleuten in Uranminen als entschädigungspflich31
tige Berufskrankheit. Amerikanische Industrietoxikologen blickten 1934 voller Bewunderung auf das deutsche Verfahren, chemische Farbstoffe in geschlossenen Fertigungssystemen herzustellen. Auch sie wollten diese Praxis einführen, um Fälle von Blasenkrebs zu verhindern.37 Deutsche gründeten Organisationen, um den Alkohol- und Tabakkonsum zu bekämpfen, weil man der Ansicht war, diese Genußmittel schadeten der Vollkommenheit des deutschen Volkskörpers – eine Sorge, die die Rassenhygiene- und die Lebensreform-Bewegung teilten. Weil man erkannte, daß die Krebserkrankungen ständig zunahmen, gründeten deutsche Ärzte im Jahr 1900 die weltweit erste staatlich unterstützte Gesellschaft zur Krebsbekämpfung: das »Zentralkomitee zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit«.38 Die Deutschen hatten seit Ende des 19. Jahrhunderts ansteigende Krebsraten beobachtet; als die Zahlen in den zwanziger Jahren in die Höhe schössen, erregte dies öffentliches Aufsehen.39 Im Jahr 1928 überholte Krebs die Tuberkulose als zweithäufigste Todesursache, und als die Krebserkrankungen sogar häufiger auftraten als die meistverbreitete Form des Herzinfarkts, wurde die heimtückische Tumorkrankheit zum »Staatsfeind Nummer Eins« erklärt.40 In den dreißiger Jahren starben jährlich rund hunderttausend Deutsche an Krebs; eine weitere halbe Million Menschen lebte mit der Krankheit und litt darunter.41 Deutschland hatte zu dieser Zeit eine der höchsten Krebsraten der Welt – das lag einerseits an der hohen Lebenserwartung der Bevölkerung und andererseits an Lebensgewohnheiten, die die Krebsentstehung förderten. Gleichzeitig hatte Deutschland eines der fortschrittlichsten Gesundheitswesen entwickelt, im Rahmen dessen man sich bemühte, die explodierenden Krebsraten in den Griff zu bekommen. Zudem saß in Deutschland eine politische Partei mit hohem Gesundheitsbewußtsein und einer beispiellosen Staatsgewalt an den Schalthebeln der Macht – eigentlich waren das ideale Voraussetzungen, um die wachsende Gefahr zu bekämpfen. Interessanterweise legten die Nationalsozialisten den Schwerpunkt ihrer Bestrebungen zur Krebsbekämpfung auf die Prävention. Auch bei anderen Fragestellungen entschied sich die NSDAP, vor allem auf Vorbeugung zu setzen: Mit Hilfe der Rassenhygiene wollte man zum Beispiel das Erbgut längerfristig schützen, ganz anders als bei der traditionellen sozialen oder individuellen Hygiene.42 Dieser Ansatz war natürlich nicht vollkommen neu: 32
Sozialistische und kommunistische Ärzte hatten seit langem hervorgehoben, wie wichtig Prävention sei, und nationalsozialistische Ärzte konnten sich sogar auf Platons Mahnung berufen, wonach die Sorge um den Körper der Heilkunst vorzuziehen sei, da erstere die letztere überflüssig mache.43 Bereits zur Zeit der Weimarer Republik unternahm man verschiedene Anstrengungen in diese Richtung: Büros für statistische Erhebungen wurden eingerichtet, mit Hilfe von Aufklärungskampagnen sollte die Früherkennung gefördert werden, und es wurden neue Gesetze beschlossen, die einen gesunden und sicheren Arbeitsplatz fördern sollten. Neu hinzu kam nun im »Dritten Reich« die Allmacht der polizeilichen und gesetzgebenden Autoritäten, um breitangelegte Präventionskampagnen durchzuführen, und der vielgepriesene »politische Wille«, diese Autorität auch einzusetzen, um die Gesundheit der Nation zu stärken.
ERWIN LIEK UND DER GEDANKE DER PRÄVENTION Der Danziger Chirurg Erwin Liek (1878-1935) war einer der bekanntesten Verfechter des nationalsozialistischen Standpunkts zum Thema Krebs. Liek ist eine komplexe und faszinierende Persönlichkeit. Wir werden ihm bei unserer Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Ernährungskonzepten im 5. Kapitel wieder begegnen. Er wird heute in erster Linie als »Vater der NS-Medizin« verunglimpft, war jedoch auch ein weitgereister Mann, ein Kosmopolit, der noch im Jahr 1934 freundliche Worte des Lobs für Freud publizierte.44 Lieks berufliche Karriere umspannte dreißig Jahre, die Schriften, die in dieser Zeit entstanden, zeichneten sich durch eine große thematische Bandbreite aus – einschließlich einer heftigen Attacke gegen gewissenlose Menschenversuche –,45 am bekanntesten jedoch war seine Kritik an der »geistigen Krise« der modernen Medizin: Seiner Meinung nach war die Medizin durch Spezialisierung, Bürokratisierung und Verwissenschaftlichung geschwächt und durch Gier, Kurzsichtigkeit und die mangelnde Anerkennung der natürlichen Fähigkeiten des Körpers, sich selbst zu heilen, verfälscht. Liek war zwar ein Praktiker, aber er hatte auch einen starken Hang zu romantisierenden Ansichten. Er sehnte sich nach vergangenen Zeiten, als die Wissenschaft noch nicht das A und O der Medizin und das Verhältnis 33
zwischen Arzt und Patient (angeblich) noch eine geheiligte Vertrauenssache war. Als Gründer und Herausgeber von Hippokrates, einer allgemeinmedizinischen Zeitschrift, die große Sympathien für homöopathische Ansätze und die Bewegung für natürliche Ernährung hegte, trug er wesentlich zur Einführung einer umfassenderen und ganzheitlicheren Medizin bei, wie sie verschiedene führende Nationalsozialisten vertraten – Mediziner wie Kurt Klare, Karl Kötschau, Walter Schultze und Ernst Günther Schenck, aber auch Politiker in höchsten Positionen wie Heinrich Himmler, Julius Streicher, Rudolf Heß und Hitler selbst.46 Es ist in jedem Fall nicht leicht, Liek einzuordnen, seine Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus war, zumindest zeitweise, ambivalent. Er trat der NSDAP nie bei, trotzdem wurde ihm offenbar – vor 1933 und von Hitler persönlich – die Position des Reichsärzteführers angeboten (dieses Amt übernahm schließlich Gerhard Wagner, ein Bewunderer von Liek, dessen schlechter Gesundheitszustand seine Ernennung verhinderte).47 Im Jahr 1933 war Liek schließlich deutlich in seinem Lob für die NS-Bewegung: In einem Essay mit dem Titel Die Welt des Arztes, der aus jenem Jahr stammt, lobte er Hitler für die »Abwehr und Vernichtung des Marxismus, Verneinung des Gleichheitswahns, Beseitigung der Parteien, Kaltstellung der Schwatzparlamente, Einigung des deutschen Volkes, Abbau der Arbeitslosigkeit und vieles andere mehr«. Nationalsozialismus verkörperte für ihn den »Aufbruch zur Freiheit« und die »Reinigung des deutschen Augiasstalles«.48 In Lieks zahlreichen Publikationen gibt es wenige offen antisemitische Äußerungen, aber man findet versteckte Anspielungen, deren Botschaft ziemlich eindeutig ist – beispielsweise in seinem Angriff auf analytische Labormethoden. Sogar in seiner heftigen Kritik an den Menschenversuchen schwingt Antisemitismus mit, wenn er über die »jüdischen Auswüchse« schreibt, die auf diesem Gebiet publiziert worden seien. – Der bekannteste Fall war jener des Dermatologen Albert Neisser: Neisser spritzte im Jahr 1895 jungen Prostituierten – die jüngste war erst zehn Jahre alt – ein Syphilis-Serum, in der Hoffnung, sie so gegen die Krankheit immun zu machen, statt dessen entwickelten viele von ihnen ein vollständiges Krankheitsbild. Dieser Vorfall löste eine breite Debatte über die ethische Problematik des Experimentierens an Menschen aus, woraufhin die weltweit strengsten Ge34
setze bezüglich mißbräuchlicher Experimente erlassen wurden – es war dies das berühmte preußische Gesetz aus dem Jahr 1900.49 Liek hat sich bekanntermaßen im privaten Kreis über die »Verjudung« der deutschen Medizin beklagt – etwa in Briefen an seinen engen Freund und Verleger Julius F. Lehmann –, und er hat die Juden kritisiert, es mit der Genauigkeit zu übertreiben und eine gewisse wichtigtuerische Effekthascherei in die Wissenschaften mit einzubringen. Er befreundete sich mit dem in München ansässigen Lehmann – einem glühenden Nazi und Deutschlands führendem Verleger medizinischer Schriften.50 Lehmann hatte auch Lieks erstes, sehr erfolgreiches Buch gedruckt: Der Arzt und seine Sendung erschien 1926, wurde mehrmals neu aufgelegt und in mehr als 100000 Exemplaren verkauft (die meisten nach 1933). Die Sorgen des Verlegers wegen des »ganz furchtbaren Einflusses des Judentums« in der Medizin teilte Liek, er war gleichfalls der Ansicht, die »jüdisch beherrschte« Weimarer Republik sei eine Ära der »seelischen Verlumpung« gewesen, und hoffte wie Lehmann, die neue Regierungsspitze könnte die Ehre, Moral und Selbstlosigkeit der deutschen Nation wiederherstellen. Lieks Ehefrau lobte den Arzt später als einen Menschen, der sich schon früh für die nationalsozialistischen Ideale eingesetzt habe.51 Es wäre vielleicht zutreffender, ihn als eine Art Nietzsche der Medizin zu beschreiben, oder vielleicht noch eher als den Frederick Hoffman52 oder die Rachel Carson Deutschlands (wegen seiner Kritik am Niedergang der Umwelt). Liek hat zwei Bücher über Krebs geschrieben. 1932 erschien sein Werk Krebsverbreitung, Krebsbekämpfung, Krebsverhütung, in dem der Danziger Chirurg Krebs als eine »Krankheit der Kultur« bezeichnete, die sich in zunehmendem Maße ausbreite. Eine natürliche Lebensweise sei der beste Schutz vor dieser Krankheit, denn: »je zivilisierter, je wohlhabender ein Land, je eiweißreicher die Ernährung, desto mehr Krebs«.53 Liek war der Überzeugung, daß Krebs bei den »primitiven« Völkern der Erde kaum vorkomme. Diese Ansicht hatte sich seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts verbreitet und wurde von Leuten wie Frederick Hoffman, dem amerikanischen Versicherungsvertreter, oder auch von Vilhjalmur Stefansson, dem Arktisforscher, unterstützt.54 Liek war sich sicher, die steigenden Krebszahlen auf unterschiedlichste Faktoren der modernen Zivilisation zurückführen zu können: arsenhaltige Pestizide, Kunstdünger, übermäßiges Rau35
chen, Trinken und sexuelle Ausschweifungen. Die Menschen würden zu häufig geröntgt, und die aus dem hohen Tempo des modernen Lebens resultierende chronische Angespanntheit schwäche die körperlichen Abwehrkräfte und mache die Menschen viel anfälliger für Krebserkrankungen. In falscher Ernährung erkannte Liek die Hauptursache für Krebserkrankungen – eine Ansicht, die er nicht zuletzt durch die hohen Magenkrebsraten in Japan bestätigt sah. Diese mußten eng mit dem Konsum von enormen Mengen stark gewürzter Speisen zusammenhängen – außerdem äßen die Japaner nur sehr unregelmäßig Fleisch. Für die deutschen Krebszahlen mitverantwortlich waren Lieks Auffassung nach die großen Mengen petrochemischer-Konservierungsmittel und Farbstoffe, die den Nahrungsmitteln zugesetzt wurden. Gemüse, so klagte Liek, werde oft mit einem Kupfersulfat grün gefärbt (100 Milligramm pro Kilogramm betrug damals der Grenzwert für diese Substanz), während Zucker mit einem Farbstoff, der als »Ultramarin« bekannt war, bläulich eingefärbt wurde, einem schwefelhaltigen Natrium-Aluminium-Silikat, das später durch Alizarinblau, ein Kohlenteer-Derivat, ersetzt wurde. Brot bleichte man damals häufig mit Benzoylperoxid, nachdem viele der natürlichen Vitamine und Ballaststoffe, die eigentlich in Vollkornbroten vorkommen, durch die industrielle Verarbeitung entzogen worden waren.55 All dies trug Lieks Meinung nach zur Verbreitung des Krebses bei. In seinem zweiten Buch zum Thema, Der Kampf gegen den Krebs (1934), gestand Liek ein, daß einige Befürchtungen im Zusammenhang mit der Ernährung übertrieben seien. Er war beispielsweise nicht der Meinung, daß Aluminium-Kochtöpfe Krebs verursachen (eine beinahe hysterische Angst in den späten zwanziger Jahren), und er fragte sich, ob die Gefahren des Bleis oder des Quecksilbers nicht übertrieben dargestellt würden (schon damals war die Angst vor Vergiftungen durch Zahnfüllungen verbreitet). Er korrigierte auch einige Aussagen, die er in seinem vorherigen Buch aus dem Jahr 1932 gemacht hatte. So war er beispielsweise nicht mehr der Meinung, daß Rohzucker qualitativ besser sei als raffinierter Zucker oder daß der häufigste blaue Farbstoff im Zucker ein Teer-Derivat sei (die Teerprodukte wurden später eingeführt).56 An seinem Hauptargument hielt er jedoch fest: Krebs konnte durch Prävention verhindert werden. Wenn der Zerfall der natürlichen Lebensweise dafür verantwortlich war, daß die Krebsrate anstieg, so 36
konnte man diesen Trend durch Veränderungen der Lebensweise auch wieder umkehren. Wichtig sei, daß sich die Medizin neu orientiere – das Schwergewicht müsse vom Heilen und Pflegen zur Prävention verschoben werden: Fürsorge und Nachsorge sollten durch eine vermehrte Aufmerksamkeit für die Vorsorge ergänzt werden.57 Liek war sich durchaus bewußt, daß er bei seinen Bemühungen, krebserzeugende Substanzen aus der Umgebung des Menschen zu verbannen, auf mächtigen Widerstand der betroffenen Industriezweige stoßen würde. Die Anbieter von Alkohol, bestimmten Lebensmitteln und pharmazeutischen Produkten beispielsweise schätzten seine Anstrengungen keineswegs. Sie versuchten die Öffentlichkeit vielmehr davon zu überzeugen, daß Bier ein Nahrungsmittel sei, Blechbüchsen der Bequemlichkeit dienten und die Zahnpasta der Marke X Karies bekämpfe. Liek wies nachdrücklich darauf hin, daß von solchen Firmen Widerstand zu erwarten sei; er bemerkte jedoch auch, daß ein neuer politischer Wind wehte, der all dies verändern konnte. Er nennt den Nationalsozialismus nicht beim Namen, spielt aber ganz offensichtlich darauf an. Weiter schreibt Liek, es habe zehn Jahre gedauert, bis man seine Kritik an der Chirurgie ernst genommen habe, nun nehme er an, seine Vorschläge zur Krebsbekämpfung würden schon früher erhört werden. An verschiedenen Universitäten (wie in Wien) wurden Krebskliniken eingerichtet, in denen auch Ernährungstherapien durchgeführt wurden, und die Krebszeitschriften (zum Beispiel die Zeitschrift für Krebsforschung) empfahlen, daß die Direktoren der deutschen Krebskliniken Fachkenntnisse in Ernährungsfragen mitbringen sollten. Liek meinte, Deutschland sei »jetzt dabei, einen weiteren Schritt zu machen, wir kommen von der Vorsorge für den einzelnen Menschen zum Versuch der Krebsverhütung im großen Maßstab, d.h. für das ganze Volk«.58 Liek war nicht der einzige aus dem rechten politischen Lager, der sich für die Prävention einsetzte. Verschiedene führende Nationalsozialisten – von Gauleiter Julius Streicher bis zum Leiter des »Amtes für Volksgesundheit« Leonardo Conti – befürworteten eine Konzentration auf die Präventivmedizin.59 Die Monatsschrift für Krebsbekämpfung vertrat die Devise, je früher ein Tumor behandelt werde, um so größer seien die Heilungschancen. Und die Zeitschrift für Krebsforschung verkündete, Prophylaxe sei die beste Therapie.60 Der Glauben an die Prävention ging Hand in Hand mit der Vor37
stellung »Gemeinnutz geht vor Eigennutz«, ein weiterer Grundsatz des nationalsozialistischen Gedankenguts. So formulierte es auch ein Aktivist im Kampf gegen den Tabak: Nikotin schädige nicht nur den einzelnen Menschen, sondern die gesamte Bevölkerung.61 Auch der Wert, den die Nationalsozialisten mit der Natur und einer natürlichen Lebensweise verbanden, paßte gut zum Konzept der Krebsprävention.62 Hitler war Vegetarier, er rauchte und trank nicht und gestattete niemandem, dies in seiner Gegenwart zu tun – Ausnahmen gab es nur manchmal für Frauen.63 Der Vegetarismus erhielt Auftrieb: Verschiedene Autoren nahmen in der Zeitschrift Hippokrates die aus dem 19. Jahrhundert stammende Empfehlung Friedrich Benekes wieder auf, wonach sich Krebspatienten vegetarisch ernähren sollten.64 Karl Kötschau, seit 1934 Professor für »Organische Medizin« in Jena und der wichtigste Wortführer der Naturheilkunde-Bewegung, startete eine Kampagne gegen die blei- und arsenhaltigen Pestizide, mit denen man die Weintrauben behandelte.63 Auch Befürchtungen aus der Weimarer Zeit, wonach Blei in Wasserleitungen und Zahnpastatuben eine gesundheitsschädigende Wirkung habe, wurden wiederbelebt. Man bemühte sich, die Zusätze in den Nahrungsmitteln einer strengeren Kontrolle zu unterziehen und das übermäßige Salzen von Fertigprodukten zu unterbinden.66 Diese Bemühungen, wieder in Einklang mit der Natur zu leben, führten zuweilen zu seltsamen Allianzen. Die deutschen »Siebenten-Tags-Adventisten«, deren Lehre entsprechende gesundheitspolitische Reformen bejaht, begrüßten das neue Regime im Sommer 1933 ausdrücklich. Sie zeigten sich hocherfreut über die Tatsache, daß die Nation nun in den Händen eines Mannes sei, dessen Macht – ihrer Meinung nach – gottgewollt sei. Auch freute sie die Tatsache, daß Hitler weder rauchte noch trank und zudem Vegetarier war. Die Adventisten traten für Abstinenz und gesunden Lebensstil ein und schienen aus diesem Grund gut zum neuen Zeitgeist zu passen, obwohl ihre Abneigung gegen Schweinefleisch wohl den einen oder anderen irritierte. Am 26. November 1933 wurde die Sekte verboten, und erst nach einigem klugen Taktieren von Seiten des Sektenführers Hulda Jost wurde dieses Verbot rückgängig gemacht.67 Auch Homöopathen schlossen sich den enthusiastischen nationalsozialistischen Gesundheitsaposteln an. Man stimmte darin überein, daß Queck38
silber das Gedächtnis schwäche und Arsen zu Depressionen führe. Der homöopathische Ansatz, der die Bedeutung von seltenen (oder fehlenden!) Spurenelementen ins Blickfeld rückte, paßte zu der Vorstellung, daß durch körperfremde Substanzen wie Quecksilber, Blei oder Arsen gravierende körperliche Schäden verursacht werden. Das Konzept der Prävention ließ sich problemlos mit der Vorstellung vereinbaren, daß man die Gesundheit wiederherstellen könne, wenn man sich den seltenen, aber hochwirksamen Schadstoffen nicht aussetzte, die den deutschen »Volkskörper« angriffen.
FRÜHERKENNUNG UND MASSENUNTERSUCHUNGEN Die Aufwertung der Prävention gab dem nationalsozialistischen Kampf gegen Krebs neue Hoffnung: Die nationalsozialistischen Bemühungen in der Krebsbekämpfung sind geprägt von Optimismus, ein Faktor, der in den Gesundheitsprogrammen der Weimarer Zeit fehlte (siehe Abb. 1.2). Voller Begeisterung feierte Felix Grüneisen, der Generalsekretär des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung, 1933 die kommende Ära einer »planmäßigen Krebsbekämpfung in Deutschland« von nicht vorhersehbarem Ausmaß.68 Ranghohe Nationalsozialisten wiesen frühere Krebsprogramme als zaghafte »Vogel-Strauß-Politik« zurück und versprachen, auf diesem Gebiet mit neuer Kraft vorzugehen.69 Man konnte in medizinischen Zeitschriften nachlesen, wie der »Führer« prahlte, das Wort »unmöglich« gehöre nicht in den Wortschatz eines richtigen Nationalsozialisten. Das Stichwort Früherkennung bildete das Herzstück der Krebspropaganda in der NS-Zeit. Ärzte klagten darüber, wie viele Menschen erst mit Krebserkrankungen in fortgeschrittenem Stadium zu ihnen in die Praxen kamen – dies betraf vor allem Frauen. Inzwischen war man nämlich zu der Einsicht gelangt, daß Tumore in der Gebärmutter oder der Brust eine viel größere Heilungschance hatten, wenn sie früh erkannt wurden. Die Forderungen im Zusammenhang mit der Früherkennung klangen zuweilen etwas phantastisch: Hans Hinselmann, der Erfinder des Kolposkops (ein mit Licht arbeitendes optisches Instrument, mit dem Frauen auf Gebärmutterund Gebärmutterhalskrebs untersucht wurden), prophezeite, daß im Jahr 1938 niemand mehr an diesen Krankheiten zu sterben brauche, falls sein 39
ABB. 1.2. »Krebs, rechtzeitig erkannt, ist heilbar!« Die Nationalsozialisten organisierten Massenkampagnen, um Vorsorgeuntersuchungen zu fördern. Quelle: Friedrich Kortenhaus, »Krebs«, in: Deutsches Gold: Gesundes Leben – Freies Schaffen, hrsg. von Hans Reiter und Johannes Breger (München: Röhrig, 1942), S. 439.
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Instrument breite Verwendung fände. Er warnte auch davor, daß Ärzte, die sein Instrument nicht benützten, sich mitschuldig machten am Tod der weltweit 400000 Frauen, die jährlich an Gebärmutter- und Gebärmutterhalskrebs starben.70 Die Forderungen nach Früherkennung in der NS-Zeit waren natürlich nicht völlig neu. Georg Winter, Chefarzt der Frauenklinik der Universität Berlin, hielt fest, daß um die Jahrhundertwende beinahe drei Viertel der Frauen, die sich wegen Gebärmutterkrebs behandeln lassen wollten, zu spät kamen und er ihnen nicht mehr helfen konnte. Im Dezember 1902 begann er in Königsberg, wo er nun Direktor der Frauenklinik der Universität war, eine Kampagne zur Förderung der Früherkennung. Er verschickte 1200 Broschüren an Ärzte sowie 1100 Handzettel an Hebammen, und wollte so auf die Bedeutung der Früherfassung hinweisen. Er schrieb zudem einen vielbeachteten und in jeder Regionalzeitung abgedruckten Artikel, in dem er die Frauen auf die frühen Symptome der Krankheit und die Notwendigkeit einer sofortigen Diagnose aufmerksam machte. Winter feierte seine eigenen Bemühungen im Jahr 1933 als erste organisierte Kampagne gegen den Krebs.71 Man bediente sich während der NS-Zeit verschiedener Kanäle, um insbesondere die Frauen zu ermutigen, einen Arzt zu konsultieren. Radio- und Zeitungsaufrufe drängten Frauen, sich einer jährlichen oder sogar halbjährlichen Krebsuntersuchung zu unterziehen, während man den Männern riet, ihren Dickdarm so häufig untersuchen zu lassen, wie sie den Motor ihres Autos kontrollierten (siehe Abb. 1.3). In den meisten deutschen Städten wurden »Krebsberatungsstellen« eingerichtet, deren Zweck es war, die Bedeutung der Früherkennung bekanntzumachen und zugleich an Krebs erkrankte Menschen über Therapiemöglichkeiten zu informieren.72 Auch an Ärzte wurden Merkblätter zur Bedeutung der Früherkennung verteilt. Hans Auler beteiligte sich an der Produktion eines Propagandafilms, in dem die Bedeutung der Frühdiagnose und die daraus resultierende mögliche Heilbarkeit der Krebserkrankungen betont wurden. Der Titel des Films gab zu bedenken, daß ansonsten Jeder Achte der Krankheit erliegen werde –73 mit dieser rhetorischen Figur versuchte es Rachel Carson später auch bei den amerikanischen Lesern.74 Man demonstrierte den Frauen, wie sie selbst ihre Brust auf Krebs hin untersuchen konnten (siehe Abb. 1.4); offenbar waren 41
ABB. 1.3. Regelmäßige ärztliche Untersuchungen sind so wichtig wie die regelmäßige Kontrolle des Autos. Aus Kortenhaus, »Krebs«, S. 437; erstmals veröffentlicht im Ausstellungskatalog des Deutschen Hygiene-Museums, Kampf dem Krebs, von Bruno Gebhard (Dresden: Deutscher Verlag für Volkswohlfahrt, 1933), S. 45.
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ABB. 1.4. Anleitung zur Selbstuntersuchung der Brust, etwa 1936. Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden fordert Frauen auf, ihre Brust auf Tumore im Frühstadium zu untersuchen; Deutschland scheint das erste Land der Welt gewesen zu sein, das solche Kampagnen betrieb (vergleichbare amerikanische Anstrengungen setzten erst dreißig Jahre später ein). Frauen wurden auch aufgefordert, ihren Menstruationszyklus in einen Kalender einzutragen, um Unregelmäßigkeiten festzustellen, die auf Krebs hinweisen könnten. Quelle: Kortenhaus, »Krebs«, S. 431.
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die Deutschen weltweit die ersten, die einen solchen Schritt unternahmen – amerikanische Ärzte veröffentlichten vergleichbare Anleitungen erst in den sechziger Jahren. Hunderttausende von Frauen gingen in dieser Zeit zu den Krebsvorsorgestellen. Allein in Königsberg wurden 1942 rund 25000 Frauen untersucht, dabei stellte man 129 vorher unentdeckte Erkrankungen fest.75 Der Feldzug für die Früherkennung flaute nach 1938, als die Propaganda vielen Berichten zufolge ihren Höhepunkt erreichte, etwas ab. Der Krieg dämpfte derartige Anstrengungen, obwohl einige Mediziner nach wie vor auf Maßnahmen hofften. In einem Artikel aus dem Jahr 1942 über »Die Früherfassung des Krebses in der Zukunft« blickte der Gynäkologe Georg Winter optimistisch auf die kommende Entwicklung, in der die »Aufklärung« von massenhaften Röntgenuntersuchungen begleitet sein würde. Eine zentrale Rolle sollte auch der Aufklärung über das Radio zukommen, ebenso wollte man auf die Vorbildwirkung geheilter Krebspatienten setzen: »Weiter ist die von ihrem Krebs befreite Kranke eine wirksame Propagandistin«. Ärzte würden lernen müssen, die Angst vor Krebs – eine spezielle Schwäche »des weiblichen Geschlechts« – zu bekämpfen. Winter prophezeite, zukünftige Krebsspezialisten würden mit speziellen Untersuchungswagen durchs Land fahren, die mit Röntgenstrahlen und anderen diagnostischen Instrumenten ausgerüstet wären, um Erkrankungen der Gebärmutter zu erkennen. Auch schlug er zwei »Krebsmonate« pro Jahr vor, zum Beispiel März und September, in denen Frauen zu Krebsuntersuchungen angehalten würden. Den Auftakt zu den Kampagnen würde eine Propagandawelle bilden – mit Vorträgen, Radioaufrufen und Artikeln in Lokalzeitungen –, während sich die Kliniken, Krankenhäuser und Beratungsstellen auf die Flut der kommenden Untersuchungen vorbereiten würden. Erkrankte Personen würden dann sofort und kostenlos in ein Krankenhaus überwiesen.76 Zahlreiche deutsche Ärzte nahmen die Notwendigkeit der Früherkennung sehr ernst. Robert Hofstätter, ein Antitabak-Aktivist und Frauenfeind, forderte in einem Artikel von 1939 in der wöchentlich erscheinenden Wiener medizinischen Zeitschrift, daß alle deutschen Frauen über Dreißig sich zweimal jährlich einer gynäkologischen Krebsuntersuchung unterziehen müßten. Hofstätter führte aus, daß ein staatliches Krebsuntersuchungsprogramm eine Belegschaft von 5760 Ärzten erfordern und 35 Millionen 44
Reichsmark pro Jahr kosten würde, was eine enorme, aber akzeptable Summe sei. Er forderte außerdem, daß Frauen, die sich nicht untersuchen ließen, bestraft werden sollten, weil sie eine zusätzliche finanzielle Belastung für die Versicherungen darstellten. Frauen, die sich den Untersuchungen widersetzten, sollten im Falle einer Erkrankung nur die Hälfte der üblichen Versicherungssumme erhalten.77 Anzumerken wäre noch, daß das politische Timing von Hofstätter nicht gerade von Scharfsinn zeugte: Er trat der NSDAP im August 1944 bei, nur wenige Monate vor dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft in Österreich. Seine Parteinummer 10078751 ist eine der letzten auf einer langen Liste der Niedertracht.78 Obwohl man sich allgemein darüber einig war, daß die Untersuchungen notwendig waren, war man über die anzuwendenden Techniken keinesfalls einer Meinung. Die meisten Radiologen befürworteten die massenhafte Anwendung von Röntgenstrahlen, aber es gab auch solche – zum Beispiel Fritz König, der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirates des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung –, die der Meinung waren, die Bedeutung der Röntgentechnik werde überschätzt.79 Größere Debatten wurden auch über die Wichtigkeit des Kolposkops für die Untersuchung von Gebärmutterkrebs geführt. Auf einer Tagung 1937 in Berlin argumentierten einige Gynäkologen, daß dieses Instrument überflüssig sei, weil ein erfahrener Spezialist verdächtige Veränderungen der Gebärmutter auch mit Hilfe des Spekulums und mit bloßem Auge identifizieren könne. Ein verbreiteter Einwand war auch, daß der korrekte Gebrauch des Instruments sehr viel Zeit benötige. Der Gebärmutterhals mußte zweimal untersucht werden – vor und nach der Behandlung mit Jod und Essigsäure –, um Krebsgeschwüre im Frühstadium zu erkennen. Die meisten Ärzte waren der Meinung, es sei zwar sinnvoll, das Kolposkop in schon als verdächtig identifizierten Fällen anzuwenden, aber für Massenuntersuchungen eigne es sich nicht.80 Kritik dieser Art mag ein Grund dafür gewesen sein, daß Hinselmann mit Ärzten in Auschwitz bei einem Projekt zusammenarbeitete, in dem getestet wurde, wie nützlich sein geliebtes (und viel gelobtes) Kolposkop bei der Identifizierung von Gebärmutterhalskrebs im sehr frühen Stadium ist. Eduard Wirths assistierte Hinselmann bei dieser Studie. Er war der kommandierende Arzt in Auschwitz und hatte zusammen mit Hinselmann Gynäkologie studiert. Eduard und sein Bruder Helmut, ebenfalls Gynäkologe 45
und Kollege von Hinselmann in Hamburg-Altona, benutzten das Kolposkop, um bei Lagerinsassinnen Gewebeproben vom Gebärmutterhals zu sammeln, die dann nach Hamburg geschickt wurden, wo Hinselmann und Helmut Wirths sie untersuchten.81 Der genaue Zweck dieser Experimente ist noch nicht klar (Zeugenaussagen aus der Nachkriegszeit deuten darauf hin, daß Helmut Wirths der Anstifter dazu war), aber die Untersuchungen könnten Teil der Bemühungen gewesen sein, den Ruf der Kolposkopie für die Identifizierung von Krebsgeschwüren im Frühstadium zu verbessern. Die Experimente hatten wahrscheinlich den Tod mehrerer Lagerinsassinnen zur Folge, da im allgemeinen der ganze Gebärmutterhals entfernt wurde – selbst in Fällen, in denen eine Erkrankung nicht offensichtlich war –, was nicht selten zu Blutungen und Infektionen führte. Nach dem Krieg charakterisierte ein Arzt, der zuvor Gefangener im Lager war, Hinselmanns Experimente als genauso brutal wie viele der bekannteren Menschenversuche im Lager.82
Es war das Ziel der Nationalsozialisten, die Welt zu verändern und die Landkarte Europas nach der von Deutschland bestimmten »Neuen Weltordnung« umzugestalten. Der Zeitgeist war utopisch und pragmatisch zugleich – einerseits strebte man größenwahnsinnige Projekte an, andererseits wollte man bestehende Probleme angehen. Man verordnete »positives Denken«, das den düsteren »kritischen/jüdischen« Geist der Weimarer Zeit ersetzen sollte. Offensive Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit sollten ein neues Zeitalter gesunder, glücklicher Deutscher einleiten. Sie wären geeint durch ihre »Rasse« und die gemeinsame Weltanschauung, wären frei von allen fremden Giften und befreit vom Krebs, der Seuche einer vergangenen Zeit – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.
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KAPITEL 2
DIE »GLEICHSCHALTUNG« DER DEUTSCHEN KREBSFORSCHUNG
Wir Deutschen stehen an einem wichtigen Wendepunkt: Neue Männer prägen das Schicksal unseres Vaterlandes, neue Gesetze werden geschaffen, neue Maßnahmen ergriffen, neue Kräfte erweckt. Der Kampf richtet sich gegen alles, was unrein war und ist. Prof. Dr. Immanuel Gonser, ein führender Aktivist der Abstinenzbewegung, im Jahr 1933
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ie erste und gravierendste Folge der »Gleichschaltung« der deutschen Krebsforschung war der Ausschluß von jüdischen und kommunistischen Wissenschaftlern aus dem staatlichen Forschungs- und Lehrbetrieb. Infolge des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 durften Juden nicht mehr im Staatsdienst tätig sein. Für die Krebsforschung hatte dies tiefgreifende Konsequenzen. Allein am berühmten Krebsinstitut des Berliner Charite-Krankenhauses verloren zwölf oder dreizehn Krebsforscher ihre Stelle.1 Hans Auler, der nach dieser Vertreibungsaktion als einziger Wissenschaftler übrigblieb, übernahm die Leitung des »entjudeten« Instituts, nachdem man Ferdinand Blumenthal, der seit 1919 als Generalsekretär des Zentralkomitees und seit 1931 als zweiter Vorsitzender des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung tätig gewesen war, zum Rücktritt gezwungen hatte.2 Die Charite konnte nie mehr an ihre vergangenen Leistungen anknüpfen, das Zentrum der Berliner Krebsforschung befand sich fortan im Allgemeinen Institut gegen die Geschwulstkrankheiten, das 1935 mit direkter finanzieller Unterstützung des »Führers« im neuen Rudolf-Virchow-Krankenhaus in Berlin errichtet worden war. Der Radiologe und Leiter des neuen Instituts, Heinrich Cramer, verkündete eine neue Ära der Zentralisierung der deutschen Krebsforschung,3 aber in man47
chen Fachrichtungen – wie der Immunologie, der Histologie und in anderen Bereichen, in denen Juden führend gewesen waren – erlitt die Grundlagenforschung einen schweren Schlag, von dem sie sich nie mehr erholen sollte. Die Grundlagenforschung und die angewandte Krebsforschung sind jedoch zwei verschiedene Dinge. Die Nationalsozialisten konzentrierten sich in ihrem Kampf gegen Krebs – wie wir noch sehen werden – stärker auf die Vorbeugung als auf die Heilung dieser schweren Krankheit. Man kann die Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich als Epoche betrachten, in der sich das politische Schwergewicht weg von der Förderung der medizinischen Wissenschaft hin zu einer Förderung des öffentlichen Gesundheitswesens verschob. Wenn man beispielsweise die Forschungsprojekte, die vom Reichsforschungsrat finanziert wurden, mit jenen vergleicht, die das Reichsgesundheitsamt, das Amt für Volksgesundheit der NSDAP oder das Wissenschaftliche Institut zur Erforschung der Tabakgefahren in Jena finanzierten, so wird deutlich, mit welch unterschiedlichen Ansätzen versucht wurde, den Krebs zu kontrollieren (siehe Kapitel 6). Es mag zwar grob erscheinen, aber man könnte sagen, daß der Verlust so vieler Wissenschaftler den Kampf gegen den Krebs nicht lähmte – allerdings nur, wenn man darunter vor allem Präventionsmaßnahmen versteht, so die Kampagne gegen das Rauchen, die Förderung der Früherkennung und Anstrengungen zur Verbesserung der Ernährung der großen Massen. Aber zunächst einige Worte zu den Opfern.
DAS SCHICKSAL JÜDISCHER WISSENSCHAFTLER Natürlich ist es nicht möglich, jedes einzelne Schicksal derer, die unter dem nationalsozialistischen Terror litten, zu rekonstruieren – aber die Erfahrungen einiger Opfer können einen Eindruck dessen vermitteln, was geschah. Hans Sachs (1877-1945) leitete die biologisch-chemische Abteilung des wissenschaftlichen Instituts für Krebsforschung an der Universität Heidelberg, wo er auch Mitherausgeber der Zeitschrift für Immunitätsforschung war. 1935 verlor er seine Stelle in Heidelberg, drei Jahre später emigrierte er nach Oxford und starb schließlich 1945 in Dublin. Richard V. Werner (1875–1943) leitete sowohl das Heidelberger Institut als auch das dortige Samariter-Krankenhaus (von 1916 bis April 1933), zugleich hatte er den 48
Vorsitz des Badischen Landesverbandes zur Bekämpfung des Krebses inne und war Mitbegründer und Herausgeber von Strahlentherapie, Deutschlands führender Fachzeitschrift zur Röntgentherapie. Er mußte seine Heimat 1934 verlassen und eröffnete in einer Krebsklinik in Brunn, Tschechoslowakei, eine Privatpraxis, bis die Klinik 1942 von den deutschen Besatzungsbehörden übernommen wurde. Man entließ Werner und deportierte ihn nach Theresienstadt, wo er 1943 starb. Ernst Witebsky (1901-1969), ein Heidelberger Immunologe, wurde im April 1933 entlassen. Er floh in die Schweiz und 1934 in die USA, wo er im Mt. Sinai Hospital in Manhattan als Arzt praktizierte und später Bakteriologie und Immunologie an der Universität von Buffalo lehrte. Auch Wilhelm Liepmann wurde entlassen. Er war Leiter des Berliner Instituts für Frauenkunde gewesen und die treibende Kraft bei der Gründung einer Sammlung (1929), die deutlich machen sollte, wie wichtig die Früherkennung bei Gebärmutterkrebs ist. Er erhielt schließlich eine Anstellung in Istanbul, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1939 lebte.4 Unter den Vertriebenen befanden sich auch einige Naturheilkundler, Ärzte, die mit pflanzlichen Heilmitteln arbeiteten und der hochtechnisierten Medizin kritisch gegenüberstanden: Max Gerson beispielsweise – er war bekannt dafür, Tuberkulose und Krebs mit speziellen Diäten zu behandeln – wurde aus seiner Position am Münchner Universitätskrankenhaus entlassen, worauf er nach New York emigrierte und eine private Arztpraxis eröffnete (1938). Insgesamt verloren wohl mehr als hundert Krebsforscher ihre Stelle. Wie es scheint, waren sie alle »jüdisch« im Sinne der nationalsozialistischen Definition des Begriffes, die nur nach der Herkunft und nicht nach der Kultur oder dem Glauben fragte. Einer der ganz wenigen jüdischen Krebsforscher von Bedeutung, die ihre Stellung in Deutschland behalten konnten, war der Biochemiker und Nobelpreisträger Otto Warburg, der während der ganzen Zeit der NS-Herrschaft das Kaiser-Wilhelm-Institut für Zellphysiologie in Berlin leitete. 1941 überstand er sogar den Versuch des Direktors der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ihn aus dem Institut zu entfernen. Offenbar gelang es Viktor Brack und Philipp Bouhler, zwei der mächtigsten Männer hinter dem sogenannten »Euthanasie«-Programm, Warburg zu retten.5 Warburgs Mutter war nach nationalsozialistischer Definition »rein arisch«, sein Vater jedoch war Jude. Warum es ihm möglich war, seine Position zu halten, 49
während alle anderen gezwungen wurden zu gehen, wird allgemein damit erklärt, daß Hitler wohl annahm, Warburg stehe kurz vor der Entdeckung einer erfolgreichen Behandlungsmethode für Krebs.6 Noch wahrscheinlicher ist jedoch die Erklärung der Historikerin Kristie Macrakis: Warburgs Institut war mit großzügiger Unterstützung von Seiten der Rockefeller-Stiftung und des »Gradenwitz Fund« gegründet worden; aus diesem Grund sei Warburg vom »Beamtengesetz« aus dem Jahr 1933, das alle Juden und Kommunisten aus dem Staatsdienst ausschloß, nicht betroffen gewesen. Interventionen von mächtigen befreundeten Industriellen halfen ihm gewiß auch, genauso wie die Tatsache, daß er im Ersten Weltkrieg treu für das Vaterland gekämpft hatte.7 Der Deutsche Reichsausschuß für Krebsbekämpfung, den man entsprechend »arisiert« hatte, unterstützte offenbar die Gleichschaltung der deutschen Krebsforschung. In seinem ersten Jahresbericht nach der »Machtergreifung« war der Ausschuß eifrig bemüht, das neue Regime zu loben: Das Jahr 1933 hat für die Krebsbekämpfung eine einschneidende Änderung gebracht: Die nationalsozialistische Umwälzung schuf vollkommen neue Voraussetzungen für gründliche und durchgreifende Maßnahmen auf einem Gebiet, das bisher wesentlich darauf beschränkt war, durch Anregungen die freundliche Bereitwilligkeit der für die Krebsbekämpfung wichtigen Stellen hervorzurufen. Ganz besonders hat der energische Einsatz der Ärzteschaft in voller Geschlossenheit an vielen Stellen bereits jetzt den Nachweis erbracht, daß der Krebsbekämpfung im neuen Deutschland neue Wege eröffnet sind.8 Ähnliche Töne schlug die Zeitschrift für Krebsforschungen? und die neu entstandene Monatsschrift bekräftigte ihren Wunsch, jene, die gegen den Krebs kämpften, mit neuen »Waffen« zu versehen, damit sie ihren Kampf weiterführen könnten. Nichts sollte so bleiben wie zuvor.10 Das Zentralkomitee wurde im Dezember 1933 aufgelöst; die gesamte Krebsforschung des Reiches sollte von nun an vom aktivistischeren und nationalistischeren Reichsausschuß für Krebsbekämpfung koordiniert werden. Die Gründung dieser Organisation nach 1933 zeigt, daß man alles daran setzen wollte, die bislang zersplitterten Kräfte der deutschen Krebsbekämp50
fung zu vereinen. Dieser Schritt signalisiert zudem, wie sich die Schwerpunkte von der Forschung hin zu praktischen Maßnahmen wie der Früherkennung verschoben – eine Veränderung, die auf Kosten der Aktivitäten in der Grundlagenforschung erfolgte.11 Der Reichsausschuß hatte seit seiner Gründung immer betont, welche zentrale Rolle die Vorbeugung, insbesondere die Früherkennung spiele, und die Politik, die man nach 1933 verfolgte, legte noch größeres Gewicht auf diesen inhaltlichen Schwerpunkt. Frauen über Vierzig wurden aufgefordert, sich einer jährlichen Kontrolluntersuchung zu unterziehen, und die vom Dresdener Hygiene-Museum organisierte Ausstellung, die vollständig auf Prävention abzielte, wurde in ganz Deutschland gezeigt und zog mehr als eine halbe Million Besucherinnen und Besucher an.12 Die Vertreibung der Juden und Kommunisten war, mit anderen Worten, nur ein Teil der »Gleichschaltung« der deutschen Krebsforschung. Die nationalsozialistischen Ideologen legten auch großen Wert darauf, das Schwergewicht von der wissenschaftlichen Abstraktion hin zu praktischeren Strategien zu verschieben. Die Zeitschrift für Krebsforschung kündigte an, in ihrem Blatt werde man in Zukunft weniger über die Grundlagen der Biochemie, über Gewebekulturen und Tierversuche lesen, mehr dagegen über klinische Beobachtungen, menschliche Tumorpathologie und Statistik. Diese Linie stimmte mit Lieks Kritik an den »Mäusedoktoren« überein (er spielte damit auf die Befürworter der Vivisektion an, aber auch ganz allgemein auf Krebsspezialisten, die mit Tierversuchen arbeiteten). Die Zeitschrift mahnte, sich nicht zu einseitig auf Labormethoden zu konzentrieren, denn dabei würde man sich nur in unergiebigen Einzelheiten verlieren (was eine verdeckt antisemitische Bemerkung war). Man wollte sich neu auf die Statistik besinnen, von der man sich erhoffte, die Krebszahlen in bestimmten »Rassen«, sozialen Schichten und Berufsgruppen erschließen zu können. Ebenso erwartete man neue Erkenntnisse über die Umweltbedingungen, die Krebs verursachten.13 Ein Detail am neuen nationalsozialistischen Kurs in der deutschen Wissenschaft überrascht: Es wurden weiterhin zahlreiche jüdische Wissenschaftler in deutschen Krebszeitschriften zitiert. Noch ist unklar, wie man das verstehen soll. Man kann diese Tatsache einerseits als einen Hinweis darauf deuten, daß der Nationalsozialismus weniger »totalitär« war, als gemeinhin 51
angenommen wird – das System war polykratisch, und es gab immer wieder gewisse »Lecks« in einzelnen Bereichen. Vielleicht hatte aber das wissenschaftliche Zitieren nicht dieselbe Bedeutung wie heute. Heutzutage machen sich die Wissenschaftler Sorgen darüber, daß aus »NS-Daten« allzu unbefangen zitiert wird (so findet man in der heutigen Fachliteratur zum Beispiel immer noch Verweise auf Mengeles Arbeit über die Vererbung des Wolfsrachens).14 Vielleicht spiegelt unsere heutige Besorgnis darüber, daß höchstkriminelle Wissenschaftler zitiert werden, die große Bedeutung wider, die wir mittlerweile dem wissenschaftlichen Zitieren geben. Es läßt sich heute unmöglich feststellen, was es für die weitere Entwicklung der deutschen Wissenschaft bedeutete, das Talent der jüdischen Wissenschaftler zu verlieren. Vom moralischen Standpunkt aus ist der Verlust an Menschenleben selbstverständlich ungleich viel schlimmer als der Verlust an Talent. Hohl klingen die tausend Klagen über den Tod Einsteins gegenüber der drückenden Stille des gewaltsamen Todes von Millionen uns unbekannter Menschen. Die Vertreibung der jüdischen Wissenschaftler hatte andererseits womöglich nur geringe bremsende Wirkung auf die deutschen Anstrengungen zur Krebsbekämpfung – zumindest kurzfristig gesehen. Sollte dies der Fall sein, dann liegt der Grund darin, daß die Grundlagenforschung im Rahmen der Krebsbekämpfung keine allzu große Rolle spielte. Man wußte bereits, daß Tabak, Ruß, Teer, Asbest und Strahlung zu Krebs führten und daß ein großer Teil der Krebserkrankungen verhindert werden konnte, wenn die Menschen den Kontakt mit diesen Schadstoffen mieden. Bei der erfolgreichen Realisierung von Kampagnen zur Krebsbekämpfung spielte es anscheinend eine größere Rolle, daß die entsprechenden Stellen im Gesundheitswesen ihre politischen Muskeln spielen ließen, als daß sie wissenschaftliche Feinarbeit leisteten. Das läßt sich jedoch nicht verallgemeinern – man wußte sehr wenig über die biochemischen Abläufe in den Zellen bei der Entstehung von Krebs, und auch das Wissen über erfolgreiche Therapieformen war bescheiden. Viele Menschen schienen Krebs als eine Art politische Krankheit zu betrachten, deren Heilungskonzepte im Bereich der Politik und ihrer gesetzgebenden Maßnahmen zu suchen waren. Um die Gefährdung durch krebserregende Substanzen in den Griff zu bekommen, hielt man es in erster Linie für wichtig, gesellschaftliche und wirtschaftliche Freiheiten zu beschneiden. 52
Auf der Basis dieser Erkenntnis können wir nun betrachten, wie man den Krebs weiter bekämpfte, während viele Gebiete der Grundlagenforschung vernachlässigt wurden.
ERFASSUNG UND MEDIZINISCHE ÜBERWACHUNG Im Rahmen der »Gleichschaltung« der deutschen Wissenschaft und Medizin widmete man sich verstärkt der Statistik. Darin zeigt sich zum Teil die Bedeutung, welche die Bevölkerungsstatistiken in den damaligen Wissenschaften im allgemeinen gewannen, aber es spiegeln sich darin auch die Bemühungen der Nationalsozialisten wider, bislang unkontrollierte Sphären des menschlichen Lebens zu überwachen und zu kontrollieren. Nie zuvor hatte es eine Regierung gegeben, die so begierig war wie das NS-Regime, alles zu zählen, zu klassifizieren und zu überprüfen. Es war eine Zeit der Massenuntersuchungen: Die Frauen untersuchte man auf Gebärmutter- und Brustkrebs, die Kinder auf Zahnschäden, die Studenten auf Tuberkulose, die Fabrikarbeiter auf Staublungen und Lungenkrebs, die schwangeren Frauen auf gesundheitliche Beeinträchtigungen und so weiter und so fort. Man legte Erbgesundheits- und »rassische« Karten an, ebenso wie detaillierte Verzeichnisse der räumlichen Verbreitung von Erbkrankheiten. Deutschland wurde das Land mit den meisten Röntgenuntersuchungen der Welt (siehe Kapitel 4), ein Land, in dem man besessen war vom Einteilen, Diagnostizieren, Registrieren, Klassifizieren und Selektionieren. In der Krebsforschung äußerte sich dieser Drang, alles mittels Statistik zu kontrollieren, in der Einrichtung von zentralen Krebsregistern. Das Ausmaß dieser Anstrengungen ist beeindruckend. So arbeiteten zwischen dem 1. Oktober 1933 und dem 30. September 1938 Ärzte aus privaten Praxen und öffentlichen Krankenhäusern in Göttingen, Halle, Kiel und Nürnberg, aber auch aus größeren Landkreisen wie Neustadt an der Aisch, Burgdorf in Hannover, Hohenzollern und Donaukreis (Württemberg) gemeinsam an einem beispiellosen Projekt, um jeden einzelnen Fall einer Krebserkrankung zu registrieren, der in diesen Gebieten vorkam. Zu diesem Zweck versorgte man die dortigen Ärzte mit standardisierten Formularen.15 Ähnliche Register wurden in der Folge in Mecklenburg (1937) und in Sachsen-Anhalt, im 53
Saarland und in Wien (alle im Jahr 1939) eingerichtet. Das Pathologische Institut der Universität München koordinierte die statistische Analyse aller Fälle von Speiseröhrenkrebs, die an 44 pathologischen Instituten des ganzen Reichs erfaßt worden waren. Die Registrierung wurde dadurch erleichtert, daß das deutsche Statistische Amt im Jahr 1933 seine Erhebungen differenzierte: Man unterschied zwischen zwölf verschiedenen Arten von Krebstod, bis dahin waren es nur sechs gewesen. So konnten die tödlichen Tumorerkrankungen weitaus genauer erfaßt werden.16 Entscheidend für diese Register ist der Versuch der Behörden, nicht nur die Krebstodesrate, sondern auch die Häufigkeit der Erkrankungen zu erfassen.17 Es ist sehr wichtig, diese Zahlen zu erfassen, um genauere Aussagen darüber machen zu können, wie häufig bestimmte Krebsarten sind, und nicht nur, wie viele Menschen an dieser Krankheit sterben. Erfaßt man die Häufigkeitsrate der Krankheit, so kann man damit theoretische Aussagen machen, ob die Krebsraten ansteigen oder sinken – ungeachtet dessen, wie erfolgreich Therapieversuche sind. Zudem lassen sich neue Erkenntnisse über die Ursachen der Erkrankung gewinnen, was wiederum neue Möglichkeiten für die Prävention eröffnet. Krebsspezialisten hatten lange Zeit auf derartige Daten gehofft: Die Tatsache, daß nun neben den Sterblichkeitsauch die Erkrankungsraten registriert wurden, stieß auf breite Zustimmung. Es sei dies das erste Mal, daß so etwas in Deutschland geschehe, wenn nicht sogar auf der ganzen Welt.18 Selbstverständlich waren auch die Toten von dieser engmaschigen Überwachung nicht ausgenommen, und bis Mitte der dreißiger Jahre wurden in Deutschland vermutlich weltweit die meisten Autopsien durchgeführt. Zwischen sechs und zehn Prozent aller Leichen wurden einer Autopsie unterzogen – ein außergewöhnlich hoher Anteil. In der Folge eröffneten sich den Statistikern noch nie dagewesene Möglichkeiten, die Krebsraten zu analysieren. Der Reichsausschuß für Krebsbekämpfung beauftragte 1934 Professor Ernst Dormanns vom Pathologischen Institut in München, alle verfügbaren Autopsiedaten über tödliche Krebserkrankungen bei Männern in der Zeitspanne von 1925 bis 1933 zusammenzustellen. Die Studie, die 1936 mit Hilfe dieser Daten publiziert wurde, war offenbar weltweit die umfassendste ihrer Art. Dormanns analysierte Autopsieberichte aus 42 deutschen pathologischen Instituten, erfaßt hatte man dabei 125000 Männer im Alter 54
von über 20 Jahren. Er stellte fest, daß bei 18 Prozent der Männer – oder jedem sechsten Todesfall – eine Krebserkrankung vorlag. Ausgehend von 300000 Männern, die jedes Jahr in Deutschland starben, war also bei 50000 von ihnen Krebs die Todesursache. Dormanns konnte mit seiner Studie zudem aufzeigen, daß die häufigste Krebsart der Magenkrebs war: Ungefähr ein Drittel der Männer, die an Krebs starben, hatten an Magenkrebs gelitten.19 Diese Studien zeigten, daß Krebs ein verbreiteteres Problem war, als zuvor angenommen. Die offiziellen Statistiken führten Mitte der dreißiger Jahre nur 13 Prozent aller Todesfälle in Deutschland auf Krebs zurück; die Forschungsergebnisse von Dormanns und anderen Wissenschaftlern zeigten, daß ein beträchtlicher Anteil der Krebserkrankungen nicht diagnostiziert wurde. Walther Fischer, ein Pathologe aus Rostock, stellte die Behauptung auf, ein Viertel aller Krebserkrankungen würde zu Lebzeiten des Patienten nicht erkannt – und nur die Hälfte aller Krankheitsfälle würde früh genug diagnostiziert, um eine erfolgreiche Behandlung zu ermöglichen. Hellmut Haubold, ein einflußreicher Berliner Krebsstatistiker und Mitglied der SS, bezeichnete Krebs als die eigentliche Todesursache Nummer Eins in Deutschland. Noch mehr Menschen stürben daran als an Herzerkrankungen.20 1942 schätzte Rudolf Ramm die Zahl der jährlichen Krebsopfer in Deutschland auf 150000 bis 160000,21 ganz zu schweigen von der halben Million Menschen, die – zu jedem beliebigen Zeitpunkt – an Krebs erkrankt waren.22 Man begann zu problematisieren, daß immer mehr Menschen an Krebs starben und die Diagnosen noch immer recht ungenau waren. Das führte dazu, daß einige regionale Krebsinstitutionen – in Zusammenarbeit mit dem Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP – Programme für Massenuntersuchungen starteten. Der ostpreußische Landesausschuß für Krebsbekämpfung war eine der ehrgeizigsten Organisationen: 1937 beschloß der Ausschuß auf einer Tagung, alle deutschen Frauen über dreißig Jahre müßten sich regelmäßig auf Brust- und Gebärmutterkrebs untersuchen lassen. Man konzentrierte sich auf diese Krebsarten, weil sie – wie der Königsberger Gynäkologe Felix von Mikulicz-Radecki hervorhob – am leichtesten erfaßt und behandelt werden konnten. Das Untersuchungsprogramm war freiwillig und die Untersuchungen kostenlos, damit möglichst viele Frauen daran teilnahmen. Die Arztkosten wurden von der regionalen Vertretung des Am55
tes für Volksgesundheit der NSDAP übernommen, die auch bei der Organisation der Untersuchungen mithalf. Arme und reiche Frauen sollten damit gleichermaßen von den Untersuchungen profitieren können. Die Frauen wurden mittels Radio- und Plakatpropaganda dazu aufgefordert, die Krebszentren aufzusuchen, und in verschiedenen Zeitungsartikeln wurde das sensible Vorgehen der dortigen Ärzte gelobt. Die Propaganda richtete sich besonders an organisierte Frauengruppen.23 Frauen aus NS-Parteiorganisationen sollten sich als erste untersuchen lassen. Man hoffte, andere Frauen würden diesem Beispiel folgen. In Königsberg richteten alle öffentlichen und privaten Krankenhäuser ambulante Untersuchungszentren ein, wo Chirurgen die Frauen auf Anzeichen von Brustkrebs untersuchten und Gynäkologen nach Krebserkrankungen des Gebärmutterhalses fahndeten. Im Jahr 1937 wurden in jedem Untersuchungszentrum der Stadt allabendlich zwischen 35 und 60 Frauen untersucht. MikuliczRadecki selbst untersuchte in diesem Jahr 2000 Frauen, unter denen er drei zuvor nicht diagnostizierte Krebserkrankungen entdeckte (einen Fall von Mastdarmkrebs, einen Fall von Gebärmutterhalskrebs in fortgeschrittenem Stadium und einen Gebärmutterhalstumor im Frühstadium – zudem einige Störungen, die nicht mit Krebs in Verbindung standen). Die Brustuntersuchungen dauerten durchschnittlich zwei Minuten, die gynäkologischen Untersuchungen durchschnittlich acht. Die Organisatoren betonten, die Untersuchungen würden so schonend wie möglich durchgeführt. Sie fanden in kleinen, abgetrennten Räumen statt, damit den Frauen der Eindruck vermittelt wurde, sie würden individuelle Aufmerksamkeit erhalten. Man bemühte sich auch darum, mit der Propaganda zur Krebsbekämpfung keine unnötige »Krebsangst« zu schüren. Über diese Problematik fanden zahlreiche Diskussionen statt: Wie konnte man die Aufmerksamkeit der Frauen erhöhen, ohne Panik heraufzubeschwören?24 In der Anfangszeit des »Dritten Reiches« sprach man darüber, ein allgemeines »Krebsgesetz« einführen zu wollen. Das Gesetz sollte die obligatorische Meldepflicht für Krebserkrankungen jeder Art umfassen, strengere Schutzbestimmungen beim Röntgen und im Umgang mit radioaktiven Stoffen beinhalten sowie die Publikationsmöglichkeiten von Quacksalbern einschränken.25 Obwohl man auf ein solches Gesetz große Hoffnungen setzte, erhielt Deutschland nie ein landesweites Krebsgesetz. Lediglich in 56
Danzig wurde am 14. April 1939 ein solches Gesetz verabschiedet. Das Danziger Gesetz verlangte, daß jede Erkrankung – auch jeder Verdacht auf eine Erkrankung – innerhalb von sechs Tagen den staatlichen Gesundheitsbehörden gemeldet wurde. Es erteilte zudem allen Frauen über 30 und allen Männern über 45 das Recht auf eine kostenlose Krebsuntersuchung im Jahr.26 Das Danziger Krebsgesetz wurde als Modell für ganz Deutschland begeistert aufgenommen,27 aber die Anforderungen des Krieges scheinen seine weitere Verbreitung verhindert zu haben. Daß sich die Nationalsozialisten bemühten, Register, Massenuntersuchungen und ähnliches einzuführen, muß im Zusammenhang ihrer Bestrebungen zur Verbesserung der medizinischen Überwachung verstanden werden. (Das heute berühmte Krebsregister Dänemarks wurde 1942 während der deutschen Besatzung eingeführt, aber es ist noch nicht geklärt, ob die Nationalsozialisten bei der Einführung des Registers eine Rolle spielten.28) Die Vorschläge auf diesem Gebiet waren oft von großem Ehrgeiz geprägt; so forderte Rudolf Ramm in seiner Funktion als Leiter des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung für alle deutschen Frauen zwischen 35 und 60 und alle Männer zwischen 45 und 60 eine jährliche Untersuchung. Man schätzte diesen Vorschlag in seinen Ausmaßen als gigantisch ein, weil so mehr als 18 Millionen jährliche Untersuchungen nötig geworden wären.29 Und obwohl Ramms Vorschlag oder ähnliche Vorstöße nur teilweise umgesetzt wurden, untersuchte man in dieser Zeit eine beispiellose Anzahl Menschen auf Anzeichen für eine Krebserkrankung. Deutschlands ehrgeiziges Unterfangen, die Krebserkrankungen zu erfassen, wurde schließlich durch die antisemitische Politik des Regimes gefährdet. Im Jahr 1940 hielt der Leiter des Krebsregisters in Nürnberg fest, daß das Berufsverbot für jüdische Ärzte vom 25. Juli 1938 (davon ausgenommen war die Behandlung anderer Juden) die Erhebung genauer Daten über Krebserkrankungen behindere. Rund jeder achte deutsche Arzt war jüdischer Herkunft, und daß die Patienten massenweise den Arzt wechselten, wie es das Verbot forderte, scheint sowohl die Weiterführung von Krankheitsgeschichten als auch andere Aspekte der statistischen Erfassung beeinträchtigt zu haben. Der Leiter des Nürnberger Registers bemerkte, es sei nach 1938 schwierig geworden, bestimmte Teile der Register weiterzuführen.30 57
Aber diese Register hatten ihre Schattenseiten, weil man die statistischen Erhebungen zur Bevölkerung auch zur Registrierung »rassisch Unerwünschter« heranzog. Die Volkszählung von 1939 diente nicht zuletzt dazu, Juden für die Deportationen zu erfassen. Techniken der Datenerfassung spielten bei der »Endlösung« eine zentrale Rolle, eine Tatsache, an die im United States Holocaust Memorial Museum in Washington D. C. erinnert wird, wo Hollerithkarten und eine IBM-Lochkarten-Stanzmaschine aus den dreißiger Jahren ausgestellt sind, um einige der Technologien zu illustrieren, die in der Vernichtungspolitik verwendet wurden.31 Die Begeisterung der Nationalsozialisten für statistisches Erfassen und die mörderische Verwendung der medizinischen Überwachung scheinen die hauptsächlichen Gründe dafür zu sein, daß heutzutage viele deutsche Intellektuelle gegenüber Plänen, ein Krebsregister zu erstellen, noch immer mißtrauisch sind.32
DIE RHETORIK DER KREBSFORSCHUNG Die Doppelzüngigkeit der Sprache totalitärer Regimes ist geradezu charakteristisch. Die Rhetorik der Nationalsozialisten war voller irreführender und verharmlosender Begriffe, politischer Euphemismen, mit denen Maßnahmen nicht abgemildert, sondern verschleiert werden sollten. Joseph Goebbels beherrschte diese Kunst meisterhaft, er vermied gewisse Ausdrücke, um die Leute erst gar nicht auf falsche Ideen zu bringen: Von Attentaten soll man im Kriege weder im negativen noch im positiven Sinne reden. Es gibt gewisse Worte, die wir scheuen müssen wie der Teufel das Weihwasser; dazu gehören z. B. die Worte »Sabotage« und »Attentat«. Man darf solche Begriffe gar nicht in den Alltagsjargon übergehen lassen.33 Einige der Beispiele klingen beinahe amüsant: Die Deutschen sollten nicht den üblichen Ausdruck »Katastrophenhilfe« verwenden, sondern das optimistischere »Erste Hilfe«; auch war den Medien aus Achtung gegenüber den Japanern verboten worden, den Ausdruck »Gelbe Gefahr« zu verwenden.34 Es gab Bestrebungen, die medizinische Sprache zu modernisieren: Beispiels58
weise begann man in dieser Zeit nicht mehr von »Krüppeln«, sondern von »Behinderten« zu sprechen, ebenso wie sich das Vokabular von »Idiot« und »Irrenanstalt« zu »geistig retardierter Mensch« und »Klinik« veränderte. Seltsamerweise wurden die letztgenannten Begriffe von jenen Ärzten eingeführt, die das »Euthanasie«-Programm aufbauten. Der Begriff »Behinderte« wurde beispielsweise 1940 von Ärzten und Bürokraten zum erstenmal verwendet, die die Ermordung von körperlich und geistig behinderten Menschen organisierten. Man sprach nicht öffentlich von Massenmord oder Genozid (dieser Begriff existierte noch nicht einmal), so wurde »Sonderbehandlung« eine der zahlreichen Umschreibungen für Mord, zusammen mit »Abtransport«, »Desinfektion«, »Einschläferung«, »Endlösung«, »Erlösung«, »Euthanasie«, »Evakuierung«, »Gnadentod«, »Judenaktion«, »Liquidation«, »Reinigung«, »Selektion«, »Vergasung«, »Vernichtung« und so weiter.35 Die Nationalsozialisten hatten schließlich so viele verschiedene Bezeichnungen für Mord wie die Inuit (angeblich) für Schnee. Die Gleichschaltung brachte auch Veränderungen in der Sprache der Krebsforschung mit sich. In Anbetracht der steigenden Krebsraten ist es vielleicht nicht erstaunlich, daß Krebsgeschwüre als kraftvolle Metapher benutzt wurden, mit denen die Nationalsozialisten alles stigmatisierten, was sie als unerwünscht betrachteten. Joseph Goebbels geißelte die Objekte seines Hasses regelmäßig als »Krebsgeschwüre« oder »bösartige Geschwüre« – dabei zielte er nicht nur auf Juden und Homosexuelle ab, sondern auch auf das Auswärtige Amt und auf Stalins kommunistisches Imperium.36 Die Deutschen bedienten sich einer derartigen Rhetorik natürlich nicht als einzige: Ein amerikanisches Eugenik-Lehrbuch von 1935 verglich erbkranke Menschen mit »Krebsgeschwüren im Staatskörper«, und es bezeichnete die eugenische Gesellschaft selbst als eine »Gesellschaft für die Kontrolle von sozialem Krebs«.37 Medizinische Metaphern wurden üblicherweise mit dem Ziel verwendet, die rassenpolitisch »Unerwünschten« zu entmenschlichen. Als der SS-Radiologe Prof. Dr. Hans Holfelder im Jahr 1936 in Frankfurt eine Vorlesung über Strahlentherapie hielt, zeigte er den anwesenden Studenten – unter ihnen war auch der junge Richard Doll aus England – ein Dia, auf dem Krebszellen als Juden dargestellt waren (dasselbe Dia zeigte die Röntgenstrahlen, die gegen diese »Tumor-Juden« gerichtet waren, als nationalsozialistische 59
Sturmtruppen) ,38 Juden wurden häufig als »Krebsgeschwüre« innerhalb des deutschen »Volkskörpers« bezeichnet, allerdings waren Bilder, die sich auf infektiöse Erkrankungen bezogen (Juden als Bazillen, Viren) oder sogar ältere Metaphern von Seuchen, Ungeziefer, Parasiten und so weiter, noch immer stärker verbreitet –39 vermutlich weil Krebs noch keine Krankheit war, über die die Gesundheitsbehörden große Kontrolle ausüben konnten. Man hatte zahlreiche Infektionskrankheiten mit Hilfe von Gesundheitsreformen und Therapien, die auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Koch, Pasteur und Ehrlich beruhten, besiegen können. Aber Krebserkrankungen nahmen noch immer zu – und dies könnte der Grund dafür sein, weshalb die Nationalsozialisten für ihre bösartigen Bilder auf ältere medizinische Schreckgespenster zurückgriffen. Es waren oftmals die Ärzte, welche die Juden als Krebsgeschwüre bezeichneten oder Geschwüre als Juden darstellten. Interessant ist aber auch, daß die nationalsozialistischen Ideale die Fachsprache der Krebsforschung durchdrangen. Die medizinische Sprache sollte eingedeutscht, klar und einfach sein. Fremdwörter wurden zugunsten von selbsterfundenen Ausdrükken aufgegeben (nicht »Allele« sondern »Anlagen-Partner«, nicht »Chromosom« sondern »Kernfaden«, nicht »Bastard« sondern »Mischling« etc.), und man kritisierte auch die unklare bürokratische Sprache (zum Beispiel den Juristenjargon innerhalb der Versicherungen).40 Auch in der medizinischen Terminologie jener Zeit findet man zunehmend Metaphern aus der Rassenpolitik oder Bilder, die Ängste vor politischem Chaos schürten oder für politische Einheit einstanden. Bernhard Fischer-Wasels, der große Bekanntheit erlangte, weil er der krebserregenden Wirkung verschiedener petrochemischer Schadstoffe auf die Spur gekommen war,41 charakterisierte den wachsenden Tumor als eine neue »Rasse« von Zellen. Diese würden sich von allen anderen Körperzellen unterscheiden, und die Aufgabe des Krebsspezialisten sei »die vollständige Zerstörung der pathologischen Zellrasse«.42 Krebszellen wurden andernorts auch als Anarchisten und Schmarotzer beschrieben,43 als Bolschewisten, als Urheber von Chaos und Rebellion und ähnlichem. Hans Auler, ein Nutznießer der »Gleichschaltung« der deutschen Krebsforschung, beschrieb Krebszellen 1937 als »revolutionäre Zellen« – vielleicht machte er sich dabei absichtlich über die kommunistische Rhetorik lustig –, während der im Propagandaministerium tätige Curt Thomalla von den Krebszellen 60
sagte, daß sie »einen Staat innerhalb des Staates« bilden –44 dieser Vorwurf wurde auch gegen Juden und Homosexuelle erhoben. Die medizinische Fachsprache wurde also mit politischen Anspielungen durchtränkt – manchmal geschah dies bewußt und absichtlich, manchmal aber auch nicht.45 Bemerkenswert an der nationalsozialistischen Terminologie zur Krebsforschung ist nicht nur, daß die Sprache »gereinigt« werden sollte und Bilder von »rassisch Minderwertigen« als Krebsgeschwüre (und umgekehrt) entstanden. Häufig wurde auch davon gesprochen, daß bestimmte »Probleme gelöst« werden sollten. Führende nationalsozialistische Politiker und Mediziner äußerten sich oftmals dahingehend, daß man für Deutschlands Probleme radikale, dauerhafte oder endgültige Lösungen finden wolle – das taten sie vor allem in den frühen Kriegsjahren, als die Pläne für eine radikale Umgestaltung der deutschen Gesellschaft ihren Höhepunkt erreichten. Die »Endlösung der Judenfrage« ist das bekannteste und entsetzlichste Beispiel, aber ähnliche Ausdrücke wurden auch in zahlreichen anderen Bereichen verwendet. Die NS-Bevölkerungspolitik zielte auf eine »Lösung der Frauenfrage«, wie es Innenminister Wilhelm Frick nannte,46 während die Kampagne zur Wiedereinführung des Vollkornbrots als »endliche Lösung der Brotfrage« bezeichnet wurde.47 Eine medizinische Dissertation aus dem Jahre 1940 forderte eine »Lösung dieses schweren Raucherproblems«,48 und man sprach von einer »Lösung der Krebsbekämpfungsfrage«.49 Die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft war geprägt von einem Geist, der großartige Umwälzungen in Angriff nehmen wollte. Man war der Ansicht, die »Neue Weltordnung« würde das Alte radikal ausrotten. Zu diesem Zwecke bediente man sich nietzscheanischer Begriffe, beschwor die Metaphern der »Dämmerung«: So war die Rede von der »Tabakdämmerung« oder der »Rassendämmerung« (Astel, 1935) und ähnlichem. Indem sich die Nationalsozialisten auf die Bilderwelt Nietzsches oder Wagners beriefen, verliehen sie ihrer verbrecherischen Rassenpolitik eine poetische – man könnte beinahe sagen »opernhafte« – Note. Merkwürdig war zudem, wie der Begriff »Aufklärung« in der nationalsozialistischen Rhetorik zum Krebs beinahe obsessive Verwendung fand. Die Nationalsozialisten sprachen sehr häufig von »Aufklärung« und meinten damit, was heute »Erziehung« oder »öffentliche Indoktrination« genannt wird. Der Begriff tauchte auch in den Bezeichnungen verschiedener Parteiorgani61
sationen auf: Walter Groß’ Aufklärungsamt für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege war eine Art Informationsbüro, das nationalsozialistische Parteigrößen über nationale und internationale Rassenpolitik informierte (das Amt wurde später in »Rassenpolitisches Amt« umbenannt); und Goebbels’ Propagandaministerium hieß eigentlich Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Goebbels, Groß und viele andere ranghohe Nationalsozialisten wie auch die Gesundheitsbehörden charakterisierten ihre Arbeit als »Aufklärungsarbeit«. Der Reichsausschuß für Krebsbekämpfung sah eine seiner Aufgaben in der »Publikumsaufklärung«;50 die Brandenburgische Bezirksarbeitsgemeinschaft für Krebsbekämpfung bekundete ihre Verpflichtung, die Bevölkerung über die Bedeutung der Früherfassung »aufzuklären«.51 Aufklärung war ein rhetorisches Element der Linken und der Weimarer Republik gewesen (die Forderungen nach Sexualaufklärung beispielsweise), aber die Nationalsozialisten verliehen dem Begriff neue, unheilvolle Nuancen. Rückblickend erstaunt es, wie beherrschend das Thema »Aufklärung« war. Die Gesundheitsbehörden sprachen unaufhörlich davon, wie wichtig die »Krebsaufklärung« sei, die »Volksaufklärung über den Krebs« oder die »Aufklärung der Volksgenossen« über die Bedeutung der Früherkennung. Parteifunktionäre zeigten »Aufklärungsfilme« und Tabakgegner forderten »aufklärende« Artikel, die vor den Gefahren des Tabaks warnen sollten. Man unterschied zwischen »Einzelaufklärung« und »Volksaufklärung« – abhängig davon, ob sich die Aufklärung an einzelne Menschen oder die Bevölkerung als Ganzes richtete. (Man war der Ansicht, daß sich die Aufklärung vor allem an Männer richten sollte, da Frauen noch eher bereit waren, für eine Routineuntersuchung in die Klinik zu gehen.)52 Vermutlich wurde der Begriff »Aufklärung« in der NS-Zeit häufiger verwendet als jemals zuvor oder danach. Was aber bedeutete »Aufklärung« in der NS-Zeit? Das Verb »aufklären« bedeutet üblicherweise (er) klären, unterrichten, informieren, unterweisen, lösen, richtigstellen. Ein »Aufklärer« war ein Kundschafter oder ein Pilot eines Aufklärungsflugzeuges, »Aufklärung« wurde (und wird) jedoch auch in der Sexualerziehung oder der kriminalistischen Arbeit verwendet. Geprägt wurde der Begriff »Aufklärung« ursprünglich im 18. Jahrhundert; mit diesem Wort wollte man den Gegensatz zwischen der erhellenden Kraft der 62
Wissenschaft und den dunklen Mächten der Unwissenheit und des Aberglaubens illustrieren. Die Nationalsozialisten hatten allerdings keinesfalls das Ziel, an die Epoche der Aufklärung anzuknüpfen. Der entsprechende französische Begriff lumiéres wurde oftmals als früher Vorläufer einer positivistischen Gleichgültigkeit und der verarmten Doktrin einer Wissenschaft verhöhnt, die nur dem Selbstzweck diene. Die hervorgerufenen Bilder verwiesen eher auf öffentliche Erziehung und Indoktrination – wenn beispielsweise psychiatrische Behörden ihre »Aufklärungspflicht« gegenüber Patienten verkündeten, die sterilisiert werden sollten.53 Aufklärung war in der NSZeit nichts, was man aus eigenem Antrieb zu erreichen suchte, sondern etwas, das man anderen Menschen vermittelte oder das einem von anderen Menschen vermittelt wurde. Die Vorstellung von Aufklärung als persönlicher Bildung und Weiterentwicklung – so wie in der ursprünglichen Bedeutung bei Kant, nämlich Reife zu erlangen und die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen – wird in der NS-Zeit durch die Bedeutung einer staatlich gelenkten Indoktrination und Erhellung ersetzt, die dem Staat dient. Die nationalsozialistische Gesellschaft sollte von oben her transparent sein – eine Philosophie, die weitreichende Konsequenzen hatte, von der allgegenwärtigen Bespitzelung bis zu den Verboten, bestimmte Dinge in Dachgeschossen zu lagern. Die ursprüngliche Vorstellung einer Erhellung ging aber nicht vollständig verloren. Eine obsessive Forderung nach Klarheit zeigt sich in den bereits erwähnten Bestrebungen zur Vereinfachung des medizinischen Jargons, und das Ziel einer reinen Sprache befand sich in Einklang mit der breiteren Forderung nach körperlicher und politischer Reinheit. Propagandaminister Goebbels verkündete im März 1942 stolz – zumindest in seinem Tagebuch –, daß er und seine Mitstreiter es in der Hand hätten, den Menschen Erleuchtung zu bringen.54 »Aufklärung« wurde im »Dritten Reich« zu einem Synonym für Propaganda – ein Informationsstrom, der nur in eine Richtung fließt, eine gelenkte und extreme Form von Klarstellung (deshalb die in der NS-Zeit gebräuchliche Wortzusammensetzung »Aufklärungspropaganda«, die in unseren Ohren seltsam klingt).55 Wenn ich verallgemeinern darf: Aufklärung wird unter faschistischen Bedingungen zur Propaganda.56 Erinnern wir uns auch an die berüchtigte Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 auf dem Alexanderplatz: Sie wurde als »Aufklärungsfeldzug« bezeichnet, mit 63
dem alle Elemente, die als jüdisch, pazifistisch oder bolschewistisch betrachtet wurden, aus der deutschen Kultur eliminiert werden sollten.57 Wir sollten uns vor Augen halten, daß – bezüglich Krebs –- viele, die die farbenfreudigsten Metaphern verbreiteten, keine Quacksalber waren, sondern Gelehrte, die mit dem modernen Stand der Wissenschaft vertraut waren. Dies trifft zum Beispiel auf Karl H. Zinck zu, der 1940 Krebszellen als revolutionär, anarchistisch und bolschewistisch bezeichnete, die einen »Bruderkampf« gegen den Körper führten. Zinck war kein phantasierender Narr, sondern ein habilitierter Professor für Medizin und Dozent an der Universität in Kiel, seine Vorlesungen wurden in den angesehensten medizinischen Fachzeitschriften des »Dritten Reichs« veröffentlicht.58 Er kannte sich gut aus mit den zeitgenössischen Theorien über die Ursachen von Krebs. Zu diesem Urteil gelangt man, wenn man Zincks Haltungen genauer betrachtet. Er erkannte, daß der beobachtete Anstieg der Krebsraten zu einem großen Teil auf das höhere Durchschnittsalter der Bevölkerung zurückzuführen war, während nur bei Lungenkrebs auch die alterskorrigierten Raten deutlich anstiegen – ein Trend, der einigen Forschern zufolge auf vermehrten Tabakkonsum zurückzuführen war. Zudem war auch er der Meinung, daß Paraffin Hodenkrebs und Asbest Lungenkrebs verursachen konnten und der Kontakt mit Anilinfarbstoffen zu Blasenkrebs führen konnte. Zinck wußte, daß Karzinogene bestimmte Organe angriffen (die Leber im Fall von Scharlachrot; die Nieren im Fall von Anthrachinon), was damit zusammenhing, wie sich diese Karzinogene im Körper umwandelten. Er ahnte, daß die Bedeutung von Viren und Traumata überschätzt worden war und man den Hormonen mehr Aufmerksamkeit schenken mußte. Er war sich über die dominante Erblichkeit einer Reihe seltener Krebsarten bewußt (die bekanntesten sind eine Variante der Melanosis (Xeroderma pigmentosum), die Polyposis intestinii und bestimmte Neuroblastome), aber er wußte auch, daß die Gene bei der Entwicklung der meisten Krebsarten keine zentrale Rolle spielten.59 Seine Charakterisierung der Tumore als »bolschewistisch« darf deshalb nicht als Produkt einer verschrobenen Ignoranz verstanden werden, sondern als Teil einer größeren Strömung, die die damalige Medizin prägte.
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DIE VERKLÄRUNG DER NATUR UND DIE FRAGE DER STEIGENDEN KREBSRATEN Es ist selbstverständlich wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß es auch nach der »Gleichschaltung« der deutschen Medizin große Kontroversen darüber gab,60 was an der deutschen Krebspolitik falsch war und wie diese Mängel behoben werden sollten. Die Meinungen blieben in vielen grundlegenden Fragen bezüglich Ursachen, Behandlungsmethoden und Gesundheitspolitik geteilt – sogar bei der Frage, ob die Krebsraten nun tatsächlich anstiegen. Wir müssen diese Spannungen im Kontext der Auseinandersetzungen verstehen, die zwischen den romantisch verklärten und den »alternativen« Strömungen innerhalb der deutschen Medizin im Gange waren – Spannungen, die sich in den Reaktionen auf Lieks Buch über Krebs (1932) zeigten. Erwin Lieks Bücher fanden innerhalb und außerhalb der medizinischen Kreise ein breites Publikum, aber er wurde auch heftig von Ärzten kritisiert, die ihm übelnahmen, daß er sich auf die umweltbedingten Krebserkrankungen konzentrierte (besonders die Chemikalien in der Industrie, aber auch Zusätze in den Nahrungsmitteln sowie die Luft- und Wasserverschmutzung). Viele konservative deutsche Ärzte spotteten darüber, daß er sich für eine natürlichere Lebensweise einsetzte, und bezweifelten seine Feststellung, daß Krebserkrankungen immer häufiger auftraten. Bernhard Fischer-Wasels beispielsweise behauptete im Deutschen Ärzteblatt, Lieks Buch von 1932 bringe »noch nicht eine einzige, noch so winzige neue Tatsache«). Das Buch sei »ein großer Fehlschlag« und habe »mit Wissenschaft nichts zu tun«.61 Eine der Fragen, die Naturmediziner wie Liek von ihren orthodoxeren Kollegen trennte, war, ob die Krebsraten tatsächlich stiegen oder nicht. Es gab zahlreiche statistische Belege für eine Zunahme, diese wurden in den Zeitschriften für natürliche Medizin oft zitiert, aber die Kritik richtete sich gegen die Methoden der Erhebung und Interpretation solcher Statistiken.62 Ein verbreiteter Einwand lautete, die festgestellte Zunahme der Krebssterblichkeitsziffer könne ganz einfach auf die Tatsache zurückgeführt werden, daß viel mehr Krebserkrankungen diagnostiziert wurden – dies war nicht nur ein Ergebnis der verbesserten technischen Hilfsmittel, sondern auch der zunehmenden Hospitalisierung und der Erstellung immer genauerer Sterblichkeitstabellen.63 Diese Sichtweise wurde durch die Tatsache untermauert, 65
daß sich die technischen Methoden der Krebsdiagnostik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts enorm verbessert hatten. Die wichtigsten waren die medizinische Mikroskopie, die Zellpathologie, die Röntgenbilder und eine große Anzahl neuer Instrumente, die ermöglichten, das Körperinnere zu untersuchen: das beleuchtete Rektoskop, die Harnleiter-Zystoskopie, der Kehlkopfspiegel, der Magenkatheter, das Bronchoskop und viele mehr.64 Auch waren die Möglichkeiten für die Krebsdiagnose viel umfassender als in den vorangegangenen Jahren.65 Hellmut Haubold, der Berliner Arzt und SS-Offizier, der über Krebsbekämpfung in Frankreich, Deutschland und Japan schrieb, untersuchte in einem Artikel von 1937 die Frage, ob Krebs anstieg, indem er Krebsraten in Städten und ländlichen Regionen miteinander verglich. Seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde beobachtet, daß die Krebsraten in Städten höher lagen als auf dem Land – die Annahme war, daß das urbane/industrielle Leben (oder die »Zivilisation« im allgemeinen) das Ansteigen von Krebs verursache. Haubold argumentierte, daß die niedrigeren Krebssterblichkeitsraten in den ländlichen Gebieten bloß ein Artefakt der mangelhaften Erfassung der dortigen Todesursachen seien. Diese Idee wurde von der Tatsache gestützt, daß die Zahl der angegebenen Todesursachen »hohes Alter« oder »unbekannte Ursachen« in Gegenden konstant hoch war, wo die Krebsraten niedrig lagen, und umgekehrt. Statistiken aus verschiedenen Teilen der Welt zeigten, daß Länder mit hohen Krebsraten konstant wenige Todesursachen wie »hohes Alter« oder »unbekannte Ursache« verzeichneten. Österreich beispielsweise hatte mit 161 Fällen auf 100000 Einwohner die höchste jährliche Krebssterblichkeitsziffer in Europa, aber es wurden auch keine Todesfälle mit derart unspezifischen Ursachen verzeichnet. Haubold formulierte daraus eine Regel: Je höher die Sterblichkeitsrate von Krebs liege, desto weniger Todesfälle würden durch »hohes Alter« oder »unbekannte Gründe« verursacht. Haubold zeigte auch, daß – zumindest im Fall Frankreichs – die Krebsrate etwas langsamer anstieg, als die Rate der nichtspezifizierten Todesursachen gesunken war – was den Schluß nahelegt, daß Fortschritte in der Krebsbekämpfung erzielt worden waren. Er wies die Vorstellung zurück, daß Menschen in Industrienationen eher an Krebs starben als Menschen aus landwirtschaftlichen Gebieten: Die Krebsraten waren in Industrieländern zwar 66
oft höher (einer von acht Österreichern starb 1930 an Krebs, gegenüber einem von vierzig Litauern), aber dies war höchstwahrscheinlich eine Konsequenz der unterschiedlichen Genauigkeit, mit der solche Daten erhoben wurden. Hohe Krebsraten waren, wenn sie zusammen mit niedrigen Raten von unbekannten oder nichtspezifizierten Todesursachen auftraten, nur ein Maß für die Verläßlichkeit der Sterblichkeitsstatistiken der betreffenden Region. Haubold schloß daraus, daß die Krebsraten in Deutschland in erster Linie darum anstiegen, weil die Deutschen zwanzig Jahre länger lebten als ihre Vorfahren ein halbes Jahrhundert zuvor.66 Dies war ein ernsthaftes Problem. Die »Überalterung« der deutschen Bevölkerung war eine der größten Sorgen der Rassenhygieniker, zumal nun die zusätzliche Bedrohung durch Krebs, dem ja vor allem ältere Menschen zum Opfer fallen, hinzukam. Haubold warnte, daß eine Nation, die ihren »Willen zum Kind« verliere, unter stetig ansteigenden Krebsraten leiden werde.67 Über die Frage, ob »Zivilisation« (Modernität, Luxus, Industrie, urbanes Leben etc.) eine Hauptursache für Krebs sei und ob Krebserkrankungen deshalb zunahmen, waren die deutschen Gelehrten weiterhin geteilter Meinung – so wie dies bis zu einem gewissen Grad heute noch der Fall ist. Die politische Bedeutung dieses Streits unterschied sich allerdings von den Auseinandersetzungen in den sechziger und siebziger Jahren, als die ökologische Linke vor einer »epidemischen« Verbreitung von Krebs, verursacht durch industrielle Verschmutzung und verschiedene persönliche Laster, zu warnen begann.68 Im Deutschland der dreißiger Jahre war es eher die romantisch verklärte Rechte, die das Gespenst einer epidemischen Verbreitung von Krebs beschwor, als die technokratische Linke. Die Schulmediziner (Radiologen beispielsweise) argumentierten eher, daß Krebs unter Kontrolle sei und es sich bei der vermeintlichen Ausbreitung um einen Irrtum handle.69 Dies war eine oft vertretene Auffassung in Deutschlands einflußreichsten pathologischen Instituten: Hans Schwarz an der deutschen Universität in Prag bezweifelte die Ausbreitung der Krankheit,70 ebenso Robert Rößle in Berlin und Bernhard Fischer-Wasels in Frankfurt.71 Dasselbe galt für viele Industrieärzte. E. Pfeil, der leitende Arzt im Ammoniakwerk Merseburg, der 1911 bei den Chromatarbeitern in Ludwigshafen am Rhein Lungenkrebs identifiziert hatte, war überzeugt, daß die Lungenkrebsraten nicht anstiegen, sondern die Wahrscheinlichkeit der Diagnose einfach größer sei als in 67
der Zeit vor den Röntgenapparaten. Fehldiagnosen wie Tuberkulose, Emphyseme, Brustfellentzündung oder chronische Bronchitis seien bei Lungenkrebs zuvor gang und gäbe gewesen, und erst jetzt (1935), behauptete Pfeil, würden die Fälle korrekt erkannt.72 In diesem Kontext muß auch die generelle Angst der romantisch verklärten Rechten vor der »Zivilisation« in Betracht gezogen werden. Der Rassenhygieniker Fritz Lenz argumentierte in einem vielbeachteten Aufsatz aus dem Jahr 1917 – »Zur Erneuerung der Ethik«, von dem er später behauptete, er habe hier die zentralen Elemente der nationalsozialistischen Philosophie vorweggenommen –, daß der technologische Fortschritt eine Entfremdung von der Natur mit sich gebracht habe. Lenz war der Ansicht, der Überfluß von Gütern in der Gesellschaft habe nur zu Mißbrauch geführt; er zitierte Kant und Nietzsche, um seine These zu untermauern, daß das Leiden eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Fortschritts sei. Zivilisation sei lediglich eine technische Größe, Kultur hingegen bilde sich entlang der menschlichen Beziehungen und in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Zivilisation sei nur der Weg, Kultur hingegen das Ziel. Aber die Kultur könne nicht der höchste Wert sein, diese Ehre schrieb er der biologischen »Rasse« zu – ganz dem moralischen Imperativ der Rassenhygiene gemäß.73 Viele zeitgenössische Ansichten über Gesundheit können als Konsequenz dieses Mißtrauens gegenüber der »Zivilisation« betrachtet werden. Der Präsident des Reichsgesundheitsamtes Hans Reiter drängte auf eine Eliminierung der krebserregenden Lebensmittelfarbstoffe und forderte die Rückkehr zu einer Ernährungsweise, die derjenigen unserer Vorfahren ähnlich sein sollte (siehe Kapitel 5). Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti trat für den Bau von nordischen Saunas im ganzen Reich ein, die den Zweck haben sollten, Erkältungen und andere »Zivilisationskrankheiten« zu bekämpfen.74 Die Zivilisation wurde für Nervosität, den steigenden Konsum von Alkohol, Tabak und illegalen Drogen verantwortlich gemacht, zudem für zahlreiche andere Krankheiten – darunter auch Krebs. Der romantisch verklärten Rechten gelang es nie, die ausschließliche Kontrolle über die deutsche Medizin zu erlangen, selbst auf dem Höhepunkt der Macht des NS-Regimes nicht (siehe auch die Kapitel 5 und 7). Dies ist zweifellos ein Grund dafür, warum präventive Gesundheitsmaßnahmen 68
in geringerem Umfang verwirklicht wurden, als viele nationalsozialistische Ideologen sich einst erhofft hatten. Alternative medizinische Zeitschriften begannen das langsame Tempo des Fortschrittes zu kritisieren. Diesen Eindruck erhält man, wenn man beispielsweise im Hippokrates liest, das Interesse an Krebs in den späten dreißiger Jahren sei nicht mehr so groß wie in den vorangegangenen Jahren. Die Aufrüstung für den Krieg mag ein Grund dafür gewesen sein; zudem scheint Lieks Tod im Jahr 1935 die Bewegung verlangsamt zu haben. Ein Nachruf beklagte 1937, daß es um die Frage, was Krebs verursacht und wie er bekämpft werden soll, still geworden sei.75 Daß die konservativen medizinischen Kreise ihre Macht in den späteren Jahren des NS-Regimes wieder festigen konnten, enttäuschte die Naturheilkundler: Die ehrgeizigen medizinischen Projekte, die das Regime lanciert hatte – Röntgen-Massenuntersuchungen, Sterilisationen, rassische Überprüfungen, Impfungen, das »Euthanasie«-Programm, um nur einige wenige zu nennen –, benötigten das Talent und die Kompetenz von Schulmedizinern. Die Naturheilkundler verloren 1939 mit dem Tod von Reichsärzteführer Gerhard Wagner eine ihrer wichtigsten Stützen; der Ausbruch des Krieges im selben Jahr machte es zudem weniger opportun, von der einst gefeierten »Neuen Deutschen Heilkunde« zu sprechen.76 Der alternative Einfluß ging nicht verloren, aber die Methoden der Naturheilkunde wurden von da an eher in die konservativen, allopathischen Verfahren integriert als umgekehrt. Aber es gab noch einen weiteren Grund dafür, daß sich die Etablierung der Naturheilkunde verzögerte, nämlich das »Fallschirmfiasko« von Rudolf Heß, eines der merkwürdigsten Ereignisse im an Merkwürdigkeiten ohnehin nicht armen »Dritten Reich«. Heß war seit der »Kampfzeit« der NSDAP Hitlers rechte Hand gewesen: Er hatte 1923 im Landsberger Gefängnis jenes Diktat aufgenommen, das später zu »Mein Kampf« wurde, und der »Führer« belohnte seinen Sekretär mit einer Ernennung zum Stellvertreter und Nachfolger. Heß war lange ein Anhänger homöopathischer Methoden gewesen, und das ehrgeizigste Krankenhaus für Naturheilkunde wurde nach ihm benannt – das Rudolf-Heß-Krankenhaus, gegründet 1933 in Dresden. Heß hatte immer dafür gekämpft, die Naturheilkunde der »akademischen« Medizin gleichzustellen, und viele führende Köpfe der Naturheilkunde-Bewegung – Reichsärzteführer Gerhard Wagner zum Beispiel – verdankten zumindest einen Teil ihres politischen Erfolgs seiner Schirmherrschaft. 69
Dieser Mann, der Hitler zur Seite gestanden hatte, sprang im Frühjahr 1941 auf dramatische Art und Weise mit einem Fallschirm über England ab, scheinbar im Versuch, mit Churchill über ein mögliches Kriegsende zu verhandeln (er hatte offenbar keine Erlaubnis des »Führers« – aber die Geschichte bleibt mysteriös). Heß wurde verhaftet und im Londoner Tower festgesetzt; Deutschlands politische Elite geriet – gelinde gesagt – in Verlegenheit. Goebbels höhnte in seinem privaten Tagebuch über »Heß mit seinen Verrücktheiten«, beschimpfte ihn als »Morphinisten«. Aber die Flucht des »Stellvertreters des Führers« bot Gelegenheit, die Scharlatanerie in der Medizin – und die Kurpfuscherei überhaupt – anzugreifen.77 Am 12. Juni 1941 verkündete der Propagandaminister: »Alle Astrologen, Magnetopathen, Anthroposophen etc. verhaftet und ihre gesamte Tätigkeit lahmgelegt. Damit ist diesem Schwindel endgültig ein Ende gemacht. Sonderbarerweise hatte nicht ein einziger Hellseher vorausgesehen, daß er verhaftet wurde. Ein schlechtes Berufszeichen.«78 Ich möchte nicht den Eindruck vermitteln, daß die Alternativmedizin aus Deutschland verschwunden war oder etwa in den Untergrund gegangen sei. Himmler war weiterhin ein begeisterter Anhänger der natürlichen Medizin und förderte Experimente in Konzentrationslagern, mit denen er verschiedene natürliche Heilmittel testen ließ. In Dachau gab es mehrere Gewächshäuser, in denen verschiedene Kräuter und Heilpflanzen für Experimente und für eine umfangreiche Produktion gezüchtet wurden. Himmler blieb enthusiastisch in bezug auf Homöopathie, Mesmerismus und die Ganzheitsmedizin, die unter dem Namen »Biochemie« lief. Er glaubte, daß die Wärme des menschlichen Körpers sich grundsätzlich von der gewöhnlichen mechanischen Wärme unterschied, weshalb er die berüchtigten Experimente unterstützte, bei denen getestet wurde, ob Piloten, die in das eisige Wasser der Nordsee gestürzt waren, sich durch menschlichen Körperkontakt rascher aufwärmen würden als durch konventionelle Methoden. In Dachau wurden nackte Frauen gezwungen, die unterkühlten, halbtoten Opfer von hypothermischen Experimenten zu umarmen – man nahm an, daß sich ihre Körperwärme als wirkungsvoller erweisen würde als beispielsweise ein Bad in heißem Wasser. Nach dem Krieg verwiesen einige Schulmediziner, die der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt waren, auf Himmlers Sympathie für natürliche Medizin, weil sie hofften, sich so von der Politik des »Reichsführers« 70
distanzieren zu können. SS-Gruppenführer Karl Gebhardt, der an einigen der ungeheuerlichsten Lagerexperimente teilgenommen hatte, benutzte Himmlers Vorliebe für Alternativmedizin, um zu argumentieren, daß seine eigene Arbeit keine Ähnlichkeit mit derjenigen des SS-Reichsführers aufwies.79 Die Rechnung ging nicht auf, und Gebhardt – der letzte Präsident des Deutschen Roten Kreuzes im »Dritten Reich« und ein Professor für Medizin, der einiges publiziert hatte – wurde von den alliierten Kontrollbehörden am 2. Juni 1948 in Landsberg hingerichtet. Seit dieser Zeit wurde – vor allem in der medizinischen Literatur – die Vorliebe der Nationalsozialisten für das Natürliche dazu benutzt, das Regime einer irrationalen Rückständigkeit zu bezichtigen. Historiker haben die Komplexität der damaligen ideologischen Auseinandersetzungen aufgezeigt, aber der Mythen produzierende Apparat der medizinischen Profession scheint ein Schwarzweißbild vorzuziehen: Nationalsozialisten sind fanatisch und wissenschaftsfeindlich. Dies hat natürlich den Zweck, das selbstgerechte »wir« vom besudelten »sie« zu distanzieren; vielleicht ist es tröstlich zu glauben, daß die »Nazi-Ärzte« Quacksalber gewesen sind – und daß Schulmediziner, da sie ja keine Quacksalber waren, nie in solche Verbrechen, wie sie damals geschehen waren, hätten verwickelt werden können. Man muß sich aber darüber im klaren sein, daß die Naturheilkunde nur einer von mehreren Wegen war, wie die nationalsozialistischen Ärzte unentwegt Krankheiten bekämpften. Der Nationalsozialismus prägte die Schulmedizin so stark wie die Alternativmedizin; Akademiker waren genauso wie die »Quacksalber« darauf versessen, ihre jüdischen Kollegen zu verunglimpfen. Die Herausforderung, die nationalsozialistische Medizin zu verstehen, besteht darin, zu erfassen, wie der Terror neue Grenzen überschritt; wie es kam, daß Verbrechen, Gefühlskälte und gesunder Menschenverstand nebeneinander existierten, in einem Land, das einst als »Land der Dichter und Denker« gepriesen wurde. Wir werden in den Kapiteln 5 und 7 zur Frage der Scharlatanerie zurückkehren – denn es mangelte nicht an Scharlatanen – , aber zunächst einige Worte über den bekannteren rassischen Reduktionismus der Ära und über einen der weniger bekannten, jedoch ergiebigen Aspekte der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik: die Bemühungen, Gefahren für das Erbgut zu erforschen. 71
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KAPITEL 3
GENETIK UND RASSENKUNDE Wir haben die Pflicht, im Notfall für das Vaterland zu sterben; warum sollen wir nicht die Pflicht haben, uns gesund zu erhalten. Hat der Führer dies nicht aus-
drücklich verlangt? Robert Hofstätter, Wiener Gynäkologe und engagierter Tabakgegner, 1939
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ine der Hauptstützen der nationalsozialistischen Ideologie war ihr ungebrochener Glaube an die Allmacht der Biologie. Die NS-Denker argumentierten, die Biologie bestimme das Schicksal, und aus diesem Grund seien so verschiedenartige »Krankheiten« wie Diabetes oder eine Ehescheidung bereits in den Genen verankert. Auf diesem Gebiet trieb die nationalsozialistische Phantasie seltsame Blüten; alle erdenklichen menschlichen Fähigkeiten oder Unzulänglichkeiten wurden auf rassische, genetische oder konstitutionsbedingte Veranlagungen zurückgeführt. Man nahm an, der Hang zur Kriminalität sei erblich – und nicht nur zur Kriminalität im allgemeinen, sondern zu spezifischen Verbrechen (Vergewaltigung, Veruntreuung etc.). Es war der Rassenfanatiker Hans E K. Günther, der die Neigung zur Ehescheidung für erblich hielt, und Fritz Lenz aus München ging sogar so weit zu behaupten, die Neigung, an den Lamarekismus – die Lehre von der Erblichkeit erlernter Eigenschaften – zu glauben, sei angeboren. Seine These sah er dadurch bestätigt, daß die bekanntesten Lamarckianer angeblich jüdisch waren; dies sei eine Folge ihrer angeborenen Neigung, sich anzupassen und sich mit ihrer Umgebung in Übereinstimmung zu bringen – einer Art menschlichen Variante der Mimikry, wie man sie in der Tierwelt vorfinde.1
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KREBS UND DIE »JUDENFRAGE« In Übereinstimmung mit dieser Ideologie behaupteten einige deutsche Ärzte, daß Krebs ebenfalls eine Erbkrankheit sei – eine Krankheit, für die verschiedene Individuen und Rassen in unterschiedlichem Maß anfällig seien. Schon viel früher war man auf die Idee gekommen, Krebs könnte erblich sein. Diese Vorstellung ging auf Friedrich Hoffmanns Postulat einer haereditaria dispositio aus dem 18. Jahrhundert zurück oder ist vielleicht sogar noch älter.2 Im 19. Jahrhundert bemühte man sich mit Hilfe der Statistik, der Erblichkeit von Krebs nachzugehen (es waren dies allerdings sehr ungenaue Verfahren, muß man hinzufügen), und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich genügend Material angesammelt, mit dem sich beweisen ließ, daß bestimmte Krebserkrankungen der Augen (Retinoblastome), des Dickdarms und der Brust über die Keimzellen von den Eltern an die Nachkommen weitergegeben werden können.3 Die Vorstellung, daß zumindest einige Krebsarten erblich sein könnten, wurde von Zwillingsforschungen unterstützt, und bis zu den dreißiger Jahren gab es eine Vielzahl solcher Studien, auf Grund derer man glaubte, den Beweis für eine genetische Veranlagung gefunden zu haben.4 Manche Familien hielt man für immun: In einer Studie aus dem Jahr 1938 wurde über ein kroatisches Adelsgeschlecht behauptet, unter den 133 Angehörigen dieser gut dokumentierten Familie hätte es in einem Zeitraum von beinahe 200 Jahren keine einzige Krebserkrankung gegeben.5 Bereits in den zehner und zwanziger Jahren begann man die Vorstellung zu diskutieren, Vorgänge in der Erbmasse könnten bei der Entstehung von Krebs eine Rolle spielen. Angeheizt wurden diese Vermutungen von der Wiederentdeckung der Mendelschen Vererbungslehre um die Jahrhundertwende und den Arbeiten von Theodor Boveri und anderen. Der Münchner Rassenhygieniker Fritz Lenz vermutete 1921, Krebsgeschwüre würden von einer Mutation des Körperzellgewebes ausgelöst, und diese Mutation könne durch externe Schadstoffe (zum Beispiel Röntgenstrahlen oder Alkohol) ausgelöst werden,6 aber der wichtigste Vertreter der Mutationstheorie war ein junger Heidelberger Chirurg namens Karl Heinrich Bauer. Seine Karriere erinnert an die häufig vernachlässigte, aber zentrale Rolle, welche die Eugenik für den Fortschritt bestimmter Wissenschaftsbereiche spielte. 74
Man kennt Bauer heute vor allem als ersten Rektor der Universität Heidelberg in der Nachkriegszeit und zudem als Gründer und Vorsitzenden des Deutschen Krebsforschungszentrums (gegründet 1964 in Heidelberg), aber er war auch ein begeisterter und früher Anhänger der Eugenik – wenn auch nicht so fanatisch wie manch anderer. In seinem Buch über Rassenhygiene aus dem Jahr 1926 schlug er die Sterilisation von »minderwertigen« Menschen und Heiratsverbote vor, sprach sich aber zugleich gegen den »Irrwahn gewisser Rassefanatiker« aus, die eine vollständige Eliminierung allen »lebensunwerten Lebens« propagierten.7 Er hielt nicht viel von der Theorie, wonach Krebs erblich sei, aber seine Begeisterung für eine traditionellere Eugenik – zum Beispiel den Kampf gegen die Fortpflanzung der Schwachsinnigen – führte ihn so weit, daß er zum Mitautor des offiziellen technischen Handbuches wurde, das 1936 zum NS-Sterilisationsgesetz erschien. Seine Bemühungen auf diesem Gebiet brachten ihm in der Nachkriegszeit den Zorn von politisch aktiven Studenten ein, die 1968 sein Heidelberger Büro besetzten und ihn der Kollaboration mit den Nazis bezichtigten –8 was ich für nicht ganz angemessen halte. Bauer trat der NSDAP niemals bei: Offenbar konnte er gar nicht Mitglied werden, denn seine Frau, die Tochter eines Admirals, war »zu einem Viertel« jüdisch – eine Besonderheit, die ihn auch vom Militärdienst ausschloß und im übrigen wohl seine Nachkriegskarriere gerettet hat. Im. Jahr 1928 veröffentlichte Bauer seine erste umfassende Abhandlung, in der er die Ansicht vertrat, der entscheidende Moment bei der Entstehung bösartiger Tumore sei die somatische Mutation.9 (Unter dem Begriff »somatische Mutation« versteht man die Veränderung von nichtreproduktiven Körperzellen – im Gegensatz zur Veränderung von reproduktiven Zellen wie Sperma oder Eizellen.) Der amerikanische Genetiker Hermann J. Muller hatte kurze Zeit zuvor gezeigt, daß Röntgenstrahlen bei Fruchtfliegen Mutationen von Spermazellen auslösen konnten, und Bauer nutzte diese Erkenntnis für seine Argumentation: Wenn Röntgenstrahlen Krebs verursachen können, müsse Krebs auch als Ergebnis einer Mutation betrachtet werden. Bauers Formulierung war einfach und verallgemeinernd: »Alle positiv mutationserzeugenden, strahlenden Energien sind zugleich positiv krebserzeugend.« Seine Hypothese zur somatischen Mutation stieß in den späten dreißiger Jahren auf breite Akzeptanz – vor allem von seiten der Eu75
geniker. Otmar von Verschuer bemerkte in seinem Leitfaden der Rassenhygiene, bösartige Geschwülste könnten als somatische Mutationen betrachtet werden.10 Die Mutationstheorie erschien jenen Eugenikern, die sich um eine Schädigung der menschlichen Erbmasse sorgten, attraktiv. Einige ihrer Befürchtungen klingen für uns heute durchaus verständlich oder sogar beinahe prophetisch – zum Beispiel die Ängste bezüglich der Röntgenstrahlen oder des Tabaks –, andere erscheinen uns falsch, wenn nicht gar entsetzlich – etwa die Befürchtung, die Vermischung der Rassen könnte die Erbgesundheit der Deutschen schwächen. Im allgemeinen Verständnis der zwanziger und dreißiger Jahre implizierte die Vorstellung einer genetischen Veränderung immer auch rassistisches Denken. Es ist deshalb kaum erstaunlich, daß deutsche Wissenschaftler sich auf »rassische« Prädispositionen beriefen, um die Tatsache zu erklären, daß Menschen in verschiedenen Teilen der Welt in unterschiedlichem Maß an Krebs litten. Von Deutschen, Juden und Skandinaviern glaubte man beispielsweise, daß sie für Krebserkrankungen anfälliger seien als die lateinischen, slawischen und keltischen Völker.11 Man wußte bereits, daß weiße und schwarze Amerikaner unterschiedliche Krebsraten hatten (im allgemeinen hielt man Schwarze für »resistenter«),12 aber man nahm auch an, daß die Krebsraten von Juden und anderen europäischen Völkern im einzelnen voneinander abwichen: Krebsstudien aus der Ukraine der frühen dreißiger Jahre schienen beispielsweise darauf hinzudeuten, daß rund zweimal so viele Juden höheren Alters an Krebs starben wie Ukrainer oder Russen desselben Alters. Man stellte bei Juden eine außerordentlich hohe Rate von Magenkrebserkrankungen fest, und zugleich ein geringes Auftreten von Gebärmutter-, Genital- und Brustkrebserkrankungen.13 Solche Resultate wurden manchmal als Beweis für eine körperliche »Minderwertigkeit« der Juden herangezogen. Allgemein wurde in dieser Zeit versucht, den jüdischen Körper zu pathologisieren: Man behauptete, Juden hätten schlechte Augen, platte Füße und schwache Rücken, zudem gäbe es bei Juden eine hohe Rate von Geisteskrankheiten, sexuellen Unzulänglichkeiten und Homosexualität.14 Man erklärte die Krankheiten der Juden abwechselnd als Folge von Armut oder Reichtum. Wie der Historiker Sander Gilman bemerkt hat, wurde Magenkrebs bei Juden als Beweis dafür betrachtet, daß sie gierig waren.15 Je nach Bedarf beriefen sich die NS-Ärzte auf 76
Teile dieser Literatur, die sie dazu benutzen konnten, die Juden als körperlich und geistig schwach darzustellen. Aus diesem Grund sollten auch Deutsche und Juden nicht untereinander heiraten: Reichsärzteführer Gerhard Wagner behauptete, daß die Vermischung von jüdischem und nichtjüdischem Blut zu einer Ausbreitung von »krankhaften Erbanlangen« der »bastardierten« jüdischen Rasse in der »verhältnismäßig reinen« europäischen Erbmasse führen würde.16 Heute ist man der Meinung, daß die weltweiten Unterschiede bei den Krebsziffern entweder auf statistische Ungenauigkeiten zurückzuführen sind (so scheint es oft, daß es bei Menschen mit schlechter medizinischer Versorgung niedrige Krebsraten gebe, tatsächlich werden sie aber nicht vollständig in den Statistiken erfaßt), oder aber auf das Versagen des Forschers, die unterschiedlichen Altersstrukturen korrekt zu berücksichtigen.17 Zuweilen werden die unterschiedlichen Krebsraten auch mit Ernährungs- und Rauchgewohnheiten erklärt, oder auch mit einer unterschiedlichen Gefährdung durch krebserregende Umweltfaktoren. Aber im Klima des rassistisch orientierten Biologismus dieser früheren Epoche wurden die geographischen und ethnischen Unterschiede oftmals als Beleg für angeborene, rassenspezifische Prädispositionen verstanden. Cesare Lombroso, der italienische Begründer der Kriminalbiologie, behauptete, daß die Juden von Verona doppelt so anfällig für Krebs seien wie die veronesischen Christen. Viele amerikanische Forscher betrachteten Afroamerikaner als relativ immun –18 wie man aber heute erkannt hat, entstand dieser Eindruck lediglich, weil die Tumorerkrankungen in diesem Bevölkerungssegment mangelhaft erfaßt wurden. Auf der ersten Internationalen Konferenz über Krebserkrankungen in London im Jahre 1928 behaupteten Alfredo Nicefore aus Neapel und Eugene Pittard aus Genf, der Homo alpinus und der Homo nordicus hätten aufgrund ihrer angeblich größeren Empfänglichkeit für Krebs die höchsten Krebsraten unter den »uransässigen« europäischen Völkern.19 Auch die Ansicht, daß Italiener gegen Krebs resistent seien, war verbreitet, woraufhin einige Amerikaner vorschlugen, durch Ehen mit italienischen Frauen könnte man krebsresistente Nachkommen zeugen.20 Zudem glaubte man, Juden seien für »neuromyo-arterielle« Glomustumore besonders anfällig und zugleich praktisch immun gegenüber Peniskarzinomen.21 Die Meinungen darüber, ob Juden anfälliger für Krebserkrankungen wa77
ren oder nicht, gingen in Deutschland auseinander. Die Zahlen zu den Todesursachen der Berliner Bevölkerung aus dem Jahr 1905 zeigen, daß 8,6 Prozent der jüdischen Todesfälle auf Krebs zurückzuführen waren, während die Zahl bei der christlichen Bevölkerung bei 6 Prozent lag. Aber man glaubte nicht besonders an solche Zahlen, und zugleich sammelte sich Zahlenmaterial, das sogar eine geringere Anfälligkeit der Juden gegenüber manchen Arten von Krebs belegte. Seit Anfang des Jahrhunderts wurde verlangt, daß die Krebstodesfälle nach den betroffenen Organen registriert wurden (Lunge, Magen etc.), und dies löste neue Spekulationen über die Frage aus, wer für bestimmte Krebsarten anfällig oder immun ihnen gegenüber war. Der Gynäkologe Adolf Theilhaber stellte fest, daß es bei jüdischen Männern höhere Raten von Magen- und Darmkrebs gebe, aber nur sehr wenige Genitalkrebserkrankungen. Daß jüdische Frauen nur sehr selten von Gebärmutterkrebs betroffen waren, wurde oft auf die rituelle Praxis der (männlichen) Beschneidung zurückgeführt, aber der jüdische Neurologe Leopold Löwenfeld schlug eine »anlagebedingte« Erklärung vor: Bei jüdischen Frauen setze die Menstruation früher ein, und deshalb hätten sie mehr Blut in der Gebärmutter, weshalb sie für Gebärmutterkrebs weniger prädisponiert seien. Dies, so behauptete er, sei charakteristisch für Menschen des »plethorischen« Konstitutionstyps.22 Hinweise auf rassenspezifische Prädispositionen ergaben sich auch aus Laborstudien. Bereits in den zwanziger Jahren hatten derartige Untersuchungen gezeigt, daß bestimmte Mäuselinien gezüchtet werden konnten, deren Empfänglichkeit für transplantiertes Krebsgewebe unterschiedlich war oder die auch unterschiedlich anfällig für die Wirkung krebserregender Substanzen waren.23 Reichsführer SS Heinrich Himmler war offenbar fasziniert von dem Plan, eine Rasse von besonders krebsanfälligen Ratten zu züchten: Im Jahr 1939, bei einem Treffen mit Sigmund Rascher, dem berüchtigten Leiter der hypothermischen Versuche in Dachau, schlug Himmler vor, eine solche Rasse von Nagetieren in deutschen Städten auszusetzen, um so die Vermehrung der Ratten einzudämmen. Es ist noch nicht geklärt, inwieweit solche Pläne verwirklicht wurden.24 Die Ergebnisse von Tierversuchen wurden auch auf Menschen übertragen. Unterstützt wurde dieses Vorgehen von den ideologischen Bestrebungen, alle Aspekte des menschlichen Verhaltens – auch angebliche rassische 78
Unterschiede – zu verstehen, die vom »Blut«, der Rasse oder den Genen vorbestimmt würden. Otmar Freiherr von Verschuer, Leiter des Instituts für Rassenhygiene in Frankfurt am Main und Mentor von Dr. Josef Mengele, behauptete, daß Juden nicht nur unverhältnismäßig stark von Zuckerkrankheit, Plattfüßen, Bluterkrankheit und Taubheit betroffen seien, sondern auch von Melanosis, einer erblichen Kinderkrankheit, die zu verschiedenartigen Hautgeschwüren führt, und zudem von Muskeltumoren (das letztgenannte Leiden teilten sie laut Verschuer mit den »Farbigen«). Interessanterweise war Tuberkulose die einzige Krankheit, von der Verschuer annahm, daß sie bei Juden weniger häufig vorkam; dies sei, so behauptete er, eine Folge der evolutionsgeschichtlichen Anpassung der Juden an das urbane Leben.« Allerdings konnte die Erblichkeit von Krebs nie so eindeutig bewiesen werden, wie viele Krebsforscher es sich erhofft hatten. Im Jahr 1937 stützte sich Karl Heinrich Bauer zur Untermauerung seiner Annahme, wonach Krebs in erster Linie äußere Ursachen habe, auf Zwillingsforschungen: Warum litten eineiige Zwillinge sonst so selten an derselben Art von Krebs, fragte er.26 Drei Jahre später führte Bauer weitere Gründe für die These an, daß Krebs als eine Krankheit mit exogenen Ursprüngen betrachtet werden müsse: Zum einen war die Erblichkeit nur bei sehr wenigen Krebsarten offensichtlich, Melanosis, Netzhaut-Neuroblastome und Dickdarm-Polyposis waren bekannte, aber eher seltene Beispiele. Und zum anderen unterschieden sich die Krebsraten bei Frauen und Männern. Kehlkopfkrebs kam bei Männern zwanzigmal häufiger vor als bei Frauen, und Lungenkrebs fünfbis zehnmal häufiger. Konnten männliche und weibliche Lungen wirklich so verschieden sein – oder spielten Umwelteinflüsse ein Rolle? Lippen- und Magenkrebs kamen bei Männern ebenfalls doppelt so oft vor, aber bei Gallenblasenkrebs waren die Verhältnisse umgekehrt (Frauen litten sechs- oder siebenmal häufiger an dieser Krankheit). Derartige Unterschiede ließen sich kaum mit der Erblichkeit erklären. Männliche und weibliche Lungen, Lippen und Mägen unterschieden sich offensichtlich in keinem entscheidenden Punkt. Bauer schlug vielmehr eine befriedigendere Erklärung vor, die sich später als richtig erwies: Er sah den Grund für die unterschiedlichen Krebsraten bei Frauen und Männern in externen Faktoren wie beispielsweise den Rauch- und Trinkgewohnheiten. Dennoch hielt er es für möglich, daß ei79
nige Krebsarten »in der Familie liegen« könnten, aus dem einfachen Grund, weil die Angehörigen einer Familie ähnlichen äußeren Faktoren ausgesetzt waren, zum Beispiel die Familien der Schneeberger Uranbergwerksarbeiter, die seit langer Zeit an Lungenkrebs litten.27 Tatsächlich war es während der NS-Zeit recht üblich, die Entstehung von Krebs an verschiedenen Lebensweisen festzumachen – selbst linientreue Nazis glaubten daran. Arthur Hintze, ein führender Berliner Radiologe und Chirurgieprofessor, vertrat 1939 in einem Artikel über die weltweite Verbreitung von Krebs die Ansicht, daß den Ernährungsgewohnheiten und den religiösen Praktiken eine wichtige Bedeutung zukomme, wenn man die unterschiedlichen Krebsraten in den verschiedenen Teilen der Welt erklären wolle. Magenkrebs war die häufigste Ursache für Krebstodesfälle in Europa und Japan, aber dieselbe Krankheit kam in Kalkutta sehr selten vor, wo sie weniger als ein Prozent der Krebserkrankungen ausmachte. Im Fall Indiens schien diese Differenz wenig mit »Rasse« zu tun zu haben, sondern sie gründete offensichtlich in wirtschaftlichen Zwängen und in Vorschriften der Religion, die zur Folge hatten, daß die dortige Bevölkerung sehr wenig Alkohol und fast kein Fleisch zu sich nahm. Die Lebensgewohnheiten schienen auch für das seltene Vorkommen von Magenkrebs unter der malaiischen Bevölkerung von Java und Sumatra verantwortlich zu sein: In einer großangelegten Autopsiestudie von 3885 Malaien in Batavia fand man nur einen einzigen Fall von Magenkrebs, während diese Krankheit bei den dort lebenden Europäern und Chinesen ziemlich verbreitet war. Hintze hob hervor, daß die meisten Malaien muslimisch sind und deshalb weder Alkohol noch Fleisch konsumieren – Lebensgewohnheiten, die auch zu niedrigen Magenkrebsraten bei den vorherrschend buddhistischen Singhalesen in Sri Lanka führten. Auch die hohen Genital- und Blasenkrebsraten bei Arabern im Mittleren Osten waren auf Lebensgewohnheiten zurückzuführen. Hintze sah den Grund für diese Häufung in Infektionen durch Krankheitserreger wie Bilharzien und Syphilis-Spirochäten und folgte damit interessanterweise Sigismund Peller (einem Juden, dessen Bücher verboten waren). Hintze leugnete nicht, daß verschiedene Individuen und vielleicht sogar verschiedene Rassen ungleich anfälliger für die Wirkung krebserregender Substanzen seien (er wies daraufhin, daß hellhäutige Menschen ein höheres Risiko für durch Sonneneinstrahlung verursachten Hautkrebs tragen). Er 80
maß lediglich den Umweltbedingungen und den Lebensgewohnheiten eine größere Bedeutung zu, als dies gemeinhin der Fall war. Sein Fazit lautete, man solle nicht fatalistisch sein und annehmen, Krebs sei eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Zivilisation. Hintze stellte auch fest, daß viele angeblich »rassische« Unterschiede in demographischen Unterschieden begründet lagen: Zum Beispiel beobachtete man bei Afrikanern oft hohe Sarkom-Raten – aber er erklärte diese Besonderheit mit der Tatsache, daß vor allem junge Menschen unter dieser Krebsart leiden. Da Afrikaner eine kürzere Lebenserwartung hätten als andere Völker, sei der (falsche) Eindruck entstanden, daß Schwarze für Sarkome besonders anfällig seien. Er vermutete auch, daß die Vorstellung, Afrikaner seien besonders anfällig für gutartige Tumore, damit zusammenhängen könnte, daß Nichtafrikaner die kosmetische Methode des rituellen Aufritzens der Haut falsch einschätzten.28 Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, Hintze sei ein begeisterter Boasier gewesen –29 das war er nicht. Er war vielmehr begeisterter Nazi, der unmittelbar von der Vertreibung der Juden aus dem Rudolf-Virchow-Krankenhaus profitiert hatte. Er stellte die gewagte These auf, wonach Krebs bei jungen Menschen bestimmter Völker verbreiteter sei, weil diese Völker der »Jugend der Menschenheit« näherstünden – damit meinte er nach der Evolutionslehre die Vorfahren der Menschen. Er wollte auch der Beobachtung des Amerikaners Frederick L. Hoffman nicht zustimmen, daß die Krebsraten in den zivilisierten Nationen gesamthaft stiegen. Seiner Meinung nach hatte es Hoffman versäumt, die insgesamt höhere Altersstruktur der Bevölkerung in Betracht zu ziehen, da alterskorrigierte Krebssterberaten (zum Beispiel für die Schweiz im Zeitraum von 1901-1933) tatsächlich sanken. Lungenkrebs war die einzige deutliche Ausnahme, doch diese Zunahme wurde von der Abnahme anderer Tumorerkrankungen mehr als ausgeglichen. Hintze hätte genausogut Liek angreifen können, aber Hoffman war ein geeigneteres Ziel. In Haubold – einem SS-Angehörigen und Parteimitglied – fand er einen Verbündeten für seine These, daß Krebs keine unabwendbare Folge der »Kultur« (oder Zivilisation) sei. Seine Schlußfolgerung: Die menschliche Zivilisation hat Krebs teilweise besiegt und wird diesen Kampf weiterhin gewinnen.30 Selbst jene Männer (und fast alle waren Männer), deren Interesse sich vor allem auf genetische (oder »rassische«) Ursachen von Krankheiten richtete, 81
vertraten Krebstheorien, bei denen der Lebensstil berücksichtigt wurde. Otmar von Verschuer bemerkte in seinem Leitfaden zur Rassenhygiene aus dem Jahre 1941 nicht nur, daß Krebstumore »somatische Mutationen« seien, sondern auch, daß die erblichen Anlagen die kulturellen Unterschiede des Krebsvorkommens nur geringfügig beeinflußten. Nur ein Prozent aller Krebserkrankungen waren seiner Meinung nach auf eindeutig erbliche Krebssyndrome zurückzuführen.31 Sogar die Beobachtung, daß Juden für Krebs anfälliger seien, wurde oftmals mit umgebungsbedingten Ursachen erklärt. Martin Staemmler und Edeltraut Bieneck, zwei einflußreiche nationalsozialistische Ärzte, stellten 1940 fest, daß die jüdischen Geburtenraten in den vergangenen Jahren merklich gesunken seien, weshalb es unter Juden einen größeren Anteil älterer Menschen gebe als unter Nichtjuden. Dies erkläre teilweise, warum verhältnismäßig viele Juden an Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Kreislaufversagen starben; und es erkläre auch, warum die jüdische Sterberate bei Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten niedriger sei, da diese Krankheiten vor allem junge Menschen treffen.32 Die oft kommentierten niedrigen Raten von Peniskarzinomen und Gebärmutterhalskrebs bei Juden wurden manchmal auf »rassische« Gründe zurückgeführt, häufiger aber – und zu Recht – sah man die Ursache dafür in der rituellen Praxis der Beschneidung. Auch bei Muslimen, die ebenfalls rituelle Beschneidungen praktizieren, wurde Peniskrebs selten beobachtet. Hintze ging 1939 so weit zu behaupten: »Das einzige sichere Beispiel für das Verschwinden einer Krebsform durch kulturelle Maßnahmen ist die Verhütung des Peniskarzinoms durch die Beschneidung«; in diesem Falle habe »die Kultur den Krebs besiegt«.33 Wie merkwürdig es doch klingt, einen NS-Arzt im Jahre 1939 die gesundheitlichen Vorteile eines jüdischen zeremoniellen Ritus verteidigen zu hören! Zumindest in der Frage, welche Rolle der Natur und welche den Lebensgewohnheiten bei der Entstehung von Krebs zukam, waren sich die Wissenschaftler jener Zeit uneinig. Verallgemeinernd kann man die nationalsozialistische Weltsicht in dieser Frage ungefähr wie folgt zusammenfassen: Bei Krankheiten, an denen Juden verhältnismäßig häufig erkrankten, wurde die »Natur« als Erklärungsmuster herangezogen. Aber man berief sich auf die Lebensgewohnheiten, um Krankheiten zu erklären, von denen Juden anscheinend verschont blieben. Was die Krebserkrankungen anging, blieben 82
die Meinungen jedenfalls geteilt – aus Gründen, die ich gleich erläutern möchte. Verbreiteter noch als die Erklärungsgegensätze, die sich auf die »Rasse« beriefen, waren die Versuche, gewisse körperliche »Konstitutionstypen« zu definieren, die für Krebs oder krebsverursachendes Verhalten – wie Rauchen oder übermäßigen Alkoholkonsum – besonders anfällig seien.34 Fritz Likkint vermutete, daß erbliche Faktoren bei Nikotin- oder Drogenabhängigkeit eine Rolle spielen könnten; Hans Weselmann behauptete, daß der »vegetativ-labile« Typ Nikotin nicht sehr gut vertrage, weshalb es weniger wahrscheinlich sei, daß er rauche und so an Krebs erkranke.35 Hofstätter führten diese Lehren in den zwanziger Jahren zu der plumpen anekdotischen Aussage: »Bei erwachsenen Frauen scheint mir die jüdische Rasse eher zu wesentlichen Intoleranzen gegen Nikotin zu neigen als die arische Rasse. Dafür sind die schwersten Raucherinnen, die ich kenne, drei jüdische und eine arische Frau. Ich kenne keine rothaarige, sehr schwer rauchende Dame und nur wenige blonde.«36 Es wurde damals allgemein anerkannt, daß eine dunklere Hautfarbe vor Krebs schütze, der durch Sonnenlicht verursacht wird. Der Münchner Radiologe Friedrich Voltz, Herausgeber der Radiologischen Rundschau, führte dies weiter und behauptete, daß der »rotblonde Konstitutionstyp« im allgemeinen für Krebs anfälliger sei,37 und sogar, daß Krebsgeschwüre bei Menschen unterschiedlicher »Rassen« auch unterschiedlich auf Röntgenstrahlentherapien reagierten (er vertrat die Ansicht, daß Tumore beim »rotblonden Typ« weniger günstig reagierten als Tumore bei anderen »Rassen«).38 Robert Ritter, der Tübinger Psychiater und Zigeuner-»Experte« (sprich: Mörder), widmete dem Thema »Rothaarigkeit als rassenhygienisches Problem« einen ganzen Aufsatz und wies darin unter anderem auf eine besondere Anfälligkeit der Rothaarigen für Krebserkrankungen hin.39 Der Betriebsarzt Wilhelm Hergt vermutete, daß »blondhaarige Menschen mit zarter Haut« eher den Krebserkrankungen, die am Arbeitsplatz ausgelöst würden, zum Opfer fielen, als »gut genährte, kräftige Personen«,40 und einige Ärzte waren der Meinung, daß die verschiedenen »Rassen« der Welt zu unterschiedlichen Suchtmitteln neigten. So sagte man, daß Schwarze Haschisch vorzögen, Asiaten Opium und »nordische« Europäer Alkohol.41 In einer medizinischen Dissertation von 1940 wurde behauptet, das Zigarrenrauchen sei bei 83
den »pyknischen« und »skierotischen« Typen am stärksten verbreitet (Winston Churchill wurde dabei als Beispiel angeführt), während die schlanken »Leptosomen« – so der typische bayerische Bauer – ausnehmend viel Schnupftabak konsumierten.42 Die damaligen Ansichten über Juden und Krebs waren hinterhältiger und gemeiner als das bisher Beschriebene: Juden galten nicht einfach als mehr oder weniger krebsgefährdet, man schrieb ihnen auch zu, sie würden Krebs auf verschiedene Art übertragen. Auf einer Konferenz im Jahr 1941, auf der die Gründung des Wissenschaftlichen Instituts zur Erforschung der Tabakgefahren in Jena (siehe Kapitel 6) gefeiert wurde, warf man den Juden vor, sie hätten den Tabak in Deutschland eingeführt, und lastete ihnen zudem an, die Importzentren für Tabak in Amsterdam zu beherrschen.43 Man sagte den Juden auch nach, sie würden mit anderen gefährlichen Gütern handeln. Hugo Kleine gab in seinem beliebten Buch über Ernährung den »jüdischen Emanzipierten und vermännlichten Halbweibern« und ihren besonderen kapitalistischen Interessen die Schuld für die Verschlechterung der deutschen Nahrungsmittel – und weil die Ernährung schlechter werde, steige die Krebsrate an.44 Man hielt Juden nicht nur für besonders anfällig gegenüber gewissen Krebsarten und immun gegenüber anderen, man beschuldigte sie vielmehr, eine der Ursachen für Krebs zu sein.
SELEKTION UND STERILISATION Man sollte selbstverständlich nicht vergessen, daß damals praktische – man könnte auch sagen chirurgische – Gründe mitspielten, ob eine bestimmte Krankheit als erblich klassifiziert wurde oder nicht. Das Sterilisationsgesetz von 1933 (»Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«) bot bei einer großen Spannweite von »Erbkrankheiten« eine Grundlage für Sterilisationen, und erblicher Krebs wurde manchmal so kategorisiert, daß er unter dieses Gesetz fiel.45 Prof. Wilhelm Clausen aus Halle forderte beispielsweise 1936, daß Kinder, die unter Retinoblastomen (einer erblichen Krebserkrankung des Auges) litten, sterilisiert werden sollten. Er war jedoch nicht der Meinung, daß man Menschen mit leichteren Formen erblicher Blindheit – wie die Farben- oder Nachtblindheit infolge von leichtem Albinismus – die 84
Fortpflanzungsfähigkeit nehmen sollte.46 Auch Bernhard Fischer-Wasels trat dafür ein, jene Menschen zu sterilisieren, die in bezug auf Krebs erblich belastet waren. In einem Artikel der Zeitschrift Strahlentherapie aus dem Jahr 1934 vertrat der Frankfurter Pathologe die Ansicht, »durch Ausschaltung der schwerbelasteten Familien von der Fortpflanzung, durch Verhinderung der Kombination belasteter Erbmassen, wird sich auf die Dauer sicherlich Gutes erreichen lassen.«47 Die zur Diskussion stehenden Krebsarten waren Tumore der Nerven- und Nieren-Stammzellen, Neuroblastome der Nebenniere und der Sympathikusnerven sowie gewisse erbliche Arten von Nierenkrebs (Nephromen), zudem die bösartigen Netzhautgeschwülste (Retinoblastome), von denen vorwiegend Kinder betroffen sind. Diese Krankheiten kamen keineswegs oft vor, aber die Tatsache, daß sie in hohem Grad erblich waren und für junge Menschen oft tödlich endeten, machte gemäß FischerWasels Sterilisationen notwendig, um die Übertragung auf zukünftige Generationen zu verhindern.48 Es gab zudem Auswirkungen subtilerer Art. Es ist nicht bekannt, ob die Ansicht, wonach »rotblonde Konstitutionstypen« für Krebs anfälliger seien, zur Konsequenz hatte, daß Radiologen bei der Bestrahlung von Personen mit dunklerer Haut weniger vorsichtig gewesen wären. Erwiesen ist allerdings, daß die Vorstellung einer unterschiedlichen rassenspezifischen Anfälligkeit für die Untersuchung von Arbeitern in Industrien mit krebserregenden Substanzen Folgen hatte.49 Auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsschutz im November 1934 legte Prof. Günther Lehmann vom Dortmunder Kaiser-Wilhelm-Institut für Laborphysiologie dar, wie die Nasen der Arbeiter den Quarzstaub unterschiedlich gründlich herausfilterten. Man wußte, daß dieser Staub zu Silikose führte. Diese gefährliche Krankheit drohte bei der Arbeit in Bergwerken und Gießereien, bei der Porzellanherstellung, beim Sandstrahlen und der Bearbeitung von Edelsteinen sowie in anderen Industriezweigen, in denen große Mengen von Steinstaub eingeatmet wurden (siehe auch Kapitel 4). Lehmann konstruierte einen Apparat, mit dem man in die oberen Atemwege eines Arbeiters Staub blasen konnte, der dann durch den Mund wieder aufgefangen wurde. Dadurch konnte man feststellen, wieviel Staub die Nase herausfilterte (angeblich wurde die Lunge bei diesem Testverfahren nicht in Mitleidenschaft gezogen).50 Lehmann fand heraus, daß einige Nasen ein außergewöhnlich 85
gutes »Staubbindungsvermögen« hatten – sie fingen 60 Prozent des eingeführten Staubs auf–, während andere Nasen fast die gesamte Staubmenge in die Lungen eintreten ließen. Mit seiner Apparatur untersuchte er mehrere hundert Bergarbeiter und stellte fest, daß die Nasen jener, die nach über sechzehn Jahren Bergarbeit gesund geblieben waren, eine viel bessere Filterfähigkeit hatten als jene, die an Lungensilikose erkrankt waren. Er fand auch heraus, daß jene Arbeiter, die durch den Mund atmeten, viel anfälliger für die Krankheit waren als die, welche die Luft durch die Nase aufnahmen. Der Dortmunder Professor kam zu dem Schluß, das »Staubbindungsvermögen« der Nase sei wahrscheinlich der zentrale Faktor, um zu bestimmen, ob ein Mensch für Silikose anfällig war. Er empfahl, daß nur Menschen mit einem erwiesenermaßen guten Bindungsvermögen in Produktionszweigen arbeiten durften, wo Lungensilikose eine Gefahr darstellte.51 Der Ratschlag wurde scheinbar in breitem Maße befolgt, obwohl diese Methode, anfällige Arbeiter zu identifizieren, auch angezweifelt wurde.52 Es gab in dieser Zeit viele ähnliche Fälle, in denen besondere Veranlagungen und Anfälligkeiten untersucht wurden. Als Wissenschaftler vom Berliner Institut für Strahlenforschung im Jahr 1939 Versuche zur menschlichen Reaktion auf ultraviolette Strahlen durchführten, wählten sie absichtlich eher dunkelhäutige und braunhaarige Personen aus, weil diese gegenüber der schädlichen Strahlenwirkung angeblich resistenter waren.53 Bergarbeiter wurden regelmäßig geröntgt, man hoffte so, Frühsymptome für Lungenkrankheiten erkennen zu können. Arbeiter, bei denen Verdacht auf eine Erkrankung bestand, wurden entlassen. Hinter diesem Vorgehen steckte, wie wir noch sehen werden, eine paternalistische Philosophie, welche Arbeiter als abstrakte Faktoren im Produktionsprozeß verstand (siehe Kapitel 4). Entscheidend ist dabei, daß das Ziel fast all dieser Bestrebungen war, die Arbeiter dem Arbeitsplatz anzupassen – und nicht umgekehrt. Rassistisches Denken spielte eine zentrale Rolle in den Konzepten, wer anfällig für Krebserkrankungen war und wer nicht – und dabei war Deutschland kein Einzelfall. Selbst nach dem Krieg waren Arbeitsmediziner teilweise noch der Ansicht, daß Menschen mit dunklerer Haut besser für die Arbeit in Industrien mit krebserregenden Substanzen geeignet seien. Wilhelm Hueper, der amerikanische Pionier in der Erforschung der Krebsgefahren am Arbeitsplatz und Vorbild für Rachel Carson, vertrat in seinem 86
Hauptwerk aus dem Jahr 1942 die Ansicht, daß die Haut der »farbigen Rassen« gegenüber den krebserregenden Wirkungen von Teer, Pech und Mineralölen wesentlich widerstandsfähiger sei. Hueper argumentierte, die von Natur aus fettige Beschaffenheit ihrer Haut schütze die Schwarzen offenbar vor der karzinogenen Wirkung vieler industriell verwendeter Chemikalien, da berufsbedingter Hautkrebs und Dermatitis bei ihnen selten beobachtet würden. Der ehemalige Deutsche gab zwar zu, daß die ganze Frage der »rassischen« Resistenz kontrovers diskutiert und ständig revidiert werde. Er wies in diesem Zusammenhang beispielsweise daraufhin, wie unterschiedlich das seltene Vorkommen von Peniskarzinomen bei Juden immer wieder interpretiert worden sei. Ursprünglich hatte man dies als »rassisches« Merkmal betrachtet, nun akzeptierte die überwiegende Mehrheit der Forscher, daß das seltene Vorkommen eine Folge der Beschneidungspraxis war.54 Hueper blieb nichtsdestoweniger überzeugt, daß Schwarze weniger anfällig für Hautkrebs waren. Noch 1956 behauptete er, daß dunkelhäutige Personen für Tätigkeiten in Industrien mit beträchtlicher Krebsgefahr besser geeignet seien –55 eine Meinung, die im Widerspruch zu den Hauptströmungen innerhalb der amerikanischen Sozialwissenschaften stand, die sich immer mehr gegen das rassistische Denken wandten. Hueper wehrte sich erfolgreich gegen den Vorwurf, mit den Nazis zu sympathisieren – und ebenso gegen die Anschuldigung, Kommunist zu sein –, doch seine von rassistischem Denken geprägten Ansichten erinnerten nach wie vor verdächtig an jene seiner ehemaligen Landsleute jenseits des Atlantiks.
Der Nationalsozialismus veränderte die deutsche Krebsforschung und -politik in vielen verschiedenen Bereichen: Die Forschungsterminologie veränderte sich, man entwickelte neue Konzepte über die Krankheitsursachen, man unterstützte andere Institutionen oder Einzelpersonen als zuvor, schloß dafür andere aus oder verbot sie sogar. Auch die Art und Weise, wie Fragen gestellt wurden, blieb nicht die gleiche, und der alltägliche Umgang der Ärzte mit ihren Patienten änderte sich. Der Nationalsozialismus setzte auf das »Rassische«, das Radikale und das Schnelle. Die Gesundheitspolitik stand im Zeichen des Überwachens, der Klassifizierung und Untersuchung, in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Krebserregende Substanzen, 87
Krebsträger und sogar »Krebsängste« wurden bekämpft mit dem Ziel, ein sicheres und gesundes Utopia zu schaffen. Hans Auler, der Berliner Professor, dem es gelungen war, die Karriereleiter innerhalb der Krebsforschung zu erklimmen und Goebbels’ Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, verstand das NS-Regime selbst als Mittel gegen den Krebs: Es muß als ein großes Glück für die Krebskranken bezw. Krebsgefährdeten in Deutschland bezeichnet werden, daß der Aufbau des Dritten Reiches in seinen Grundzügen auf der Gesundheitspflege und Gesunderhaltung des Deutschen Volkes basiert. Die wichtigsten Maßnahmen der Regierung in erbbiologischer Hinsicht, in der Aufziehung der Jugend, insbesondere sportliche Ertüchtigung, Landjahr nach der Schulentlassung, sportliche Ausbildung in der HJ., SA. und SS., die Pflege der Frühehe, die Schaffung der primitivsten Existenzbedingungen, Ehestandsdarlehen, Wohnungshygiene, Siedlung, Arbeitsdienst usw. kann man als indirekte, prophylaktische Maßnahmen gegen den Krebs bezeichnen.56 Es erstaunt kaum, daß Goebbels auf Auler aufmerksam wurde. Er besprach nicht nur Aulers Ideen mit dem »Führer«, sondern belohnte ihn auch mit der beträchtlichen Summe von 100000 Reichsmark, damit er seine Studien weiterführen konnte.57 Die entsetzlichen Konsequenzen der NS-Rassenhygiene sind bekannt, und es wurde bereits viel darüber geschrieben. Weniger bekannt ist jedoch die Tatsache, daß die nationalsozialistische Eugenik sich dafür einsetzte, daß man die schädlichen Wirkungen von mutationsauslösenden und krebserzeugenden Substanzen erforschte – von Alkohol und Tabak über Schadstoffe am Arbeitsplatz bis hin zu gefährlichen Mitteln zur Empfängnisverhütung.58 Die folgenden drei Kapitel untersuchen die nationalsozialistische Forschung zu diesen Themen anhand von drei Beispielen – und zwar in den Bereichen der Arbeitsgesundheit, der Ernährung und des aggressiven Kampfes gegen das Rauchen. In allen drei Gebieten können wir feststellen, daß die NS-Ideologie die Krebsforschung veränderte, manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten.
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KAPITEL 4
KREBSGEFAHR AM ARBEITSPLATZ Ungeheure Kraftanstrengungen eines sich erhebenden Volkes aber können nicht ohne Gefahr für den Gesundheitszustand des Volkes bleiben. Leonardo Conti, Reichsgesundheitsführer, am 25. Mai 1939
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in Teilstück des nationalsozialistischen Programms zur Krebsbekämpfung erstaunt besonders: Die Nationalsozialisten beschäftigten sich ausführlich mit der Krebsgefahr am Arbeitsplatz. Die deutsche Medizin konnte sich bei der Unterstützung der Gewerbehygiene auf eine lange Tradition berufen,1 und die nationalsozialistischen Ärzte setzten diese Tradition fort. Allerdings verfolgten sie dabei widersprüchliche Ziele, da Ideologie und Realpolitik nicht immer miteinander vereinbar waren.2 Bis ins Jahr 1930 hatte man zahlreiche verschiedene Krebsrisiken am Arbeitsplatz festgestellt. Im Mittelpunkt standen dabei durch Röntgenstrahlen verursachter Haut-, Knochen- und Blutkrebs sowie Krebs der inneren Organe, der durch Radiumbelastungen des Körpers verursacht wurde; des weiteren Blasenkrebs bei Färbearbeitern und Lungenkrebs, der durch den Kontakt mit Chrom und bei der Arbeit in Uranbergwerken entstand, ebenso wie die durch Arsen verursachten Krebsarten, die gelegentlich bei Weinbauern, Glas- und Stahlarbeitern auftraten,3 und die Hautkrebsarten, die durch längeren Kontakt mit Paraffin, Teer, Ruß und bestimmten Mineralölen ausgelöst wurden.4 Man bezweifelte zwar, daß diese Krebsarten wesentlich zur allgemeinen Last der Krebskrankheiten beitrugen – Bernhard Fischer-Wasels bemerkte im Jahr 1934, daß die durch Risiken am Arbeitsplatz verursachten Krebsfälle nur einen sehr geringen Anteil aller Krebserkrankungen in Deutschland ausmachten –,5 aber sie waren von politischer Bedeutung, da sie – und darin waren sich fast alle Experten einig – im allgemeinen vermeidbar waren. Wir beginnen mit einem Überblick zur Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz in den dreißiger Jahren, um dann zu analysieren, wie die NS89
Behörden die damals bekanntesten Krebsrisiken am Arbeitsplatz angingen: Es soll darum gehen, wie sie die gefährlichen Wirkungen von Röntgenstrahlen, Radium, Uran, Arsen, Chrom und Asbest einzudämmen versuchten, genauso wie sie sich der Krebsgefahr widmeten, die bei der Anilinfarben-Produktion besteht. Jeder dieser krebserregenden Stoffe konnte, wie wir noch sehen werden, auf eine turbulente politische Geschichte zurückblicken. Zur gleichen Zeit aber, in der die NS-Gesundheitsbehörden Sicherheitsmaßnahmen entwickelten, damit Arbeiter diesen tödlichen chemischen Giften nicht länger ausgesetzt waren, wurden auch Anstrengungen unternommen, einen Teil genau derselben Giftstoffe dafür einzusetzen, Millionen von Juden und Sinti und Roma zu ermorden.
GESUNDHEIT UND ARBEIT IM »REICH« Hitler war im Januar 1933 mit dem Versprechen an die Macht gekommen, der Arbeitslosigkeit in Deutschland und anderen »Übeln«, die man mit der Weimarer Republik in Verbindung brachte, ein Ende zu setzen. Millionen von Arbeitern hatten keine Beschäftigung, und dieses Versprechen fand bei zahlreichen verzweifelten Menschen offene Ohren. Die Kommunistische Partei Deutschlands war in den vorangegangenen Jahren zwar gewachsen, aber innere Streitigkeiten hatten eine einheitliche Front innerhalb der Linken verhindert. So war der Weg für Hitler und seine Anhänger frei. Im Gegensatz zu den Kommunisten schreckte Hitlers Partei die Exponenten der Wirtschaft nicht ab: Auf die Frage, ob er die Industrie verstaatlichen würde, antwortete Hitler: »Warum sollte ich die Industrie verstaatlichen, wenn ich die Menschen verstaatlichen kann?« Die Nationalsozialisten verliehen der Arbeit eine besondere, beinahe magische Aura. Kunst und Literatur feierten die Tugenden des Arbeiters, man stimmte ähnliche Lobeshymnen an, wie sie in der Sowjetunion von der Stachanow-Bewegung und in den USA von Sozialrealisten wie Edward Hopper gesungen worden waren. Wer arbeitete, wurde zum Helden verklärt, wer nicht arbeitete, als heruntergekommener Asozialer beschimpft. Arbeit war eine »moralische Pflicht«, die mit dem Militärdienst oder im Falle der Frauen mit dem Gebären und Aufziehen der Kinder vergleichbar war. Die 90
Menschen hatten nicht das Recht, sondern die Pflicht zu arbeiten –6 dieser Wertewandel zeigte sich auch in der Auflösung der Gewerkschaften. Im Mai 1933 führte Robert Ley einen Staatsstreich gegen die Gewerkschaften, danach forderte man alle Arbeiter und Angestellten dazu auf, sich der nationalsozialistischen Nachfolgeorganisation, der »Deutschen Arbeitsfront« (DAF), anzuschließen. Die DAF amtete in den Fabriken als eine Art Polizei und nahm dort eine beispiellose Machtstellung ein. Sich vor der Arbeit zu drücken kam in diesem Klima dem Hochverrat gleich, und Menschen, von denen man zuvor nicht erwartet hatte, daß sie arbeiteten, wurden nun dazu angehalten – zuerst Frauen, dann Tuberkulosekranke, später Minderjährige und ältere Menschen, und schließlich Millionen ausländischer Arbeitskräfte und Zwangsarbeiter aus den eroberten Gebieten. Für diejenigen Menschen jedoch, die in ein Konzentrationslager verschleppt wurden, kam die Arbeitsunfähigkeit einem Todesurteil gleich. Hitlers Mobilmachung beschleunigte das Arbeitstempo dramatisch. Die Eisen- und Stahlindustrie, die chemische Industrie, die Maschinenindustrie und die Landwirtschaft konnten ihre Produktion sprunghaft steigern, da immer mehr Menschen sich in das Heer der Arbeitstätigen einreihten und immer härter und länger arbeiteten. In der Eisenindustrie und anderen metallverarbeitenden Branchen wurden Überstunden zur Regel, ebenso in der Auto- und Flugzeugherstellung, in den Bergwerken und in der Zementproduktion (die Nationalsozialisten verbrauchten Unmengen von Zement). Im Sommer 1938 arbeiteten die Beschäftigten in den Uniformfabriken zwölf Stunden am Tag, um den Bedarf der Armee zu decken. Bei der Herstellung von Panzern, Sprengkörpern und Munition sowie in vielen anderen Industriezweigen war die Situation nicht anders. Werktätige in der Rüstungsindustrie arbeiteten oft sechzig Stunden in der Woche, auch samstags war der Gang in die Fabrik Pflicht. Jene Arbeiter, welche die massiven Befestigungsanlagen entlang der französischen Grenze errichteten, die als Westwall oder Siegfriedlinie bekannt wurden, mußten ähnliche Arbeitspensen bewältigen. Da die Militarisierung der deutschen Wirtschaft so schnell voranschritt, kamen erheblich mehr Arbeitsunfälle vor. Die Zahl der tödlichen Unfälle stieg in den ersten vier Jahren der NS-Herrschaft um zehn Prozent, was die Gesundheitsbehörden offiziell dem gesteigerten Arbeitstempo zuschrieben.7 Arbeiter in Brauereien hatten die höchste Unfallrate, sie lag sogar höher als 91
diejenige von Minenarbeitern.8 Die Zahl der Werktätigen, die wegen Verletzungen gezwungen waren, in Pension zu gehen, stieg von 4000 im Jahr 1933 (die Unfälle in den Bergwerken sind in dieser Zahl nicht enthalten) auf mehr als 6000 drei Jahre später.9 Im Jahr 1938 wies eine Kampagne daraufhin, daß in diesem Jahr 1,5 Millionen Deutsche am Arbeitsplatz Verletzungen oder Unfälle erleiden und zudem weitere 8000 bei der Arbeit tödlich verunglücken würden. Zwei Jahre später sagte der emigrierte Arzt Martin Gumpert voraus, Deutschland werde, falls das Arbeitsfieber nicht nachlasse, einen Zusammenbruch erleiden, »der jenen des Jahres 1918 bei weitem übertreffen würde«.10 Den deutschen Behörden bereitete der starke Anstieg von Unfällen und Krankheiten einiges Kopfzerbrechen. Etwa ein Dutzend Journalisten publizierten ununterbrochen Artikel zu verschiedenen Aspekten von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz – von den schädlichen Wirkungen des Asbests bis zu den Gefahren des Zinks. Das Archiv für Gewerbepathologie und Gewerbehygiene schrieb über Vergiftungen durch Kohlenmonoxid, während das Zentralblatt für Gewerbehygiene und Unfallverhütung Artikel über die Staubkontrolle in der Textilindustrie und den Strahlenschutz in den mit Radium arbeitenden Betrieben veröffentlichte.11 In Arbeitsphysiologie wurden Berichte über die Auswirkungen beruflicher Tätigkeiten auf die menschlichen Organe publiziert, und die Monatsschrift für Unfallheilkunde schrieb über Unfälle in der Industrie und andere Themen der Versicherungsmedizin. Weitere Zeitschriften beschäftigten sich mit spezifischen Themen der Arbeitsgesundheit und –Sicherheit. Der Gesundheitsingenieur berichtete über die technische Entwicklung von beruflichen Sicherheitsvorkehrungen (zum Beispiel wie man die Fabrikluft sauber halten konnte), während Die Ärztliche Sachverständigen-Zeitung sich mit den Problemen auseinandersetzte, um die sich die Ärzte in den Fabriken kümmern mußten.12 Der Arbeitsschutz schrieb über generelle Maßnahmen, um sich am Arbeitsplatz vor Gefahren zu schützen, während Die Gasmaske, die von der Auergesellschaft in Berlin, einem Uranproduzenten, herausgegeben wurde, über Technologien zur Eindämmung der Staubentwicklung berichtete. Es existieren noch zahlreiche weitere Fachzeitschriften und Buchreihen, die sich in dieser Zeit mit dem Thema Sicherheit am Arbeitsplatz auseinandersetzten –13 insgesamt gab es zu diesem Themenkomplex mehr Publikationen als in jedem anderen Land der Welt. 92
Die NS-Behörden schickten zudem eine beispiellose Anzahl Ärzte in die Fabriken. Das Ziel war teilweise, die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter zu gewährleisten, aber hauptsächlich mußten die Ärzte bestätigen, daß jemand krank genug war, um zu Hause zu bleiben, und natürlich sollten sie auch Drückeberger entlarven. Die Zahl der Betriebsärzte stieg von nur 467 im Jahr 1939 auf erstaunliche 8000 im Jahr 1944. Die meisten dieser Ärzte hatten verschiedenartige Pflichten, dazu gehörte auch, die Arbeitsdisziplin aufrechtzuerhalten und alles Notwendige zu unternehmen, daß die Arbeiter die höchstmögliche Leistung erbrachten.14 Die Haltung der Nationalsozialisten zur Gesundheit und Sicherheit von Arbeitern muß unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Als erstes sollten wir uns daran erinnern, daß sich vieles, aber nicht alles veränderte, als das neue Regime die Macht ergriff. Ein großer Teil der Literatur zu Gesundheitsmaßnahmen in Fabriken, die während des Nationalsozialismus entstand, kann als Fortsetzung der Bemühungen betrachtet werden, die bereits vor der NS-Herrschaft eine gewisse Bedeutung erlangt hatten – dazu gehörten zum Beispiel viele Präventionskonzepte, die von sozialistischen und kommunistischen Gesundheitsbeamten ausgearbeitet worden waren (zum Beispiel das Registrieren von Krankheiten und die Einrichtung von Arbeitsplätzen mit geringstmöglichen Gesundheitsrisiken). Auch die Tatsache, daß Deutschland ein staatlich unterstütztes Sozialsystem besaß, spielte eine wichtige Rolle: Die im Jahr 1883 etablierten Krankenkassen veranlaßten den Staat, sich vermehrt für eine Kostenverringerung im Gesundheitswesen einzusetzen. Die erwünschte Kostensenkung war ein zentrales Motiv für die »Euthanasie«-Aktion – dadurch sollte die finanzielle Last, die durch »lebensunwertes Leben« entstand, wegfallen; dieselbe Logik stand aber auch hinter vielen Gesundheitsreformen in der Arbeitswelt. Viele der Gefahren, die am Arbeitsplatz drohten, wurden in Deutschland schon sehr früh entdeckt, weil das staatliche Gesundheitssystem vorsah, daß Arbeitsunfälle und –krankheiten gemeldet und entschädigt wurden. Aus diesem Grund hatte der Staat großes Interesse daran, die Schadensfälle möglichst gering zu halten. Zweitens muß man berücksichtigen, daß die NS-Behörden daran interessiert waren, leistungsfähige, qualifizierte Arbeiter zur Verfügung zu haben, die nicht krank wurden und ihre Arbeit liebten. Viele Innovationen der dreißiger und vierziger Jahre müssen als Teil der Bemühung verstanden werden, 93
die Arbeiterschaft auf Hochleistung zu trimmen. So wollte man beispielsweise mit dem ambitionierten Reorganisationsplan »Gesundheitswerk« der von Robert Ley geführten Deutschen Arbeitsfront die Deutschen zum gesündesten, leistungsfähigsten Volk der Welt machen.15 »Leistungsmedizin« und »Selektionsmedizin« sollten die Leistung der Arbeiterschaft erhöhen, indem die Arbeitsbedingungen verbessert und leistungsschwache Arbeiter ausgesondert wurden.16 Dieses Streben nach Höchstleistung war größtenteils durch die Kriegsmobilmachung motiviert. Der ehrgeizige Vierjahresplan, der 1936 verkündet wurde, stellte die gesamte deutsche Produktion auf eine militärische Basis, wodurch sowohl das Arbeitstempo als auch die Zahl der Arbeitsstunden erhöht wurden – auch die Zahl der in Heimarbeit geleisteten Stunden stieg.17 Die nationalsozialistischen Bemühungen auf diesem Gebiet müssen auch vor dem Hintergrund größerer militärischer und geopolitischer Zusammenhänge verstanden werden – dabei stehen vor allem die territorialen Ansprüche des Regimes und seine umfassende, oft mörderische Politik, ausländische Arbeitskräfte in deutschen Fabriken als Zwangsarbeiter einzusetzen, im Zentrum. Millionen von Ausländern wurden dazu gezwungen, in der deutschen Industrie und Landwirtschaft Dienst zu tun, Zehntausende verloren dabei ihr Leben. Zwangsarbeiter aus Konzentrationslagern mußten in deutschen Fabriken arbeiten, und Kriegsgefangene wurden als »Studienobjekte« bei tödlichen Experimenten in Konzentrationslagern mißbraucht – viele dieser Versuche hingen mit den Anstrengungen zusammen, die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zu verbessern. Die Experimente mit extremer Kälte oder sehr niedrigem Luftdruck, die in Dachau durchgeführt wurden, sollten beispielsweise der Flugphysiologie (einem Teilgebiet der Militärhygiene) zugute kommen. Man wollte sich auf diesem Weg grundlegendes Wissen erarbeiten, um Piloten retten zu können, die eiskalter Luft oder Wasser ausgesetzt waren, oder auch dem rapiden Druckabfall, wenn in großer Höhe der Schleudersitz betätigt werden mußte. Die deutschen Militärbehörden wollten wissen, ob ein Pilot, der über der Nordsee abgestürzt und drei Stunden lang einer Wassertemperatur von etwa zehn Grad Celsius ausgesetzt war, noch lebte, und ob es sich lohnte, eine Rettungsmannschaft loszuschicken. Viele der berüchtigten Experimente waren so konzipiert, daß derartige praktische Fragen beantwortet werden konnten. 94
Es gab in Deutschland zwei verschiedene Systeme, was die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz anging: Eines galt für die »rassisch Erwünschten«, das andere für die »rassisch Unerwünschten«. Die meisten Bestimmungen zum Schutz der »anständigen, gesunden Deutschen« wurden gesetzlich verankert; viele Mißbräuche, die »rassisch Minderwertige« zu erleiden hatten, fanden in einer juristischen Grauzone statt, die durch die Kriegssituation und die Mißachtung der internationalen Menschenrechte (ein Konzept, das noch nicht sehr weit ausgereift war) entstanden war. Für rechtschaffene, gesunde deutsche Männer – das heißt Männer mit vollen Bürgerrechten, die als »rassisch rein« eingestuft wurden – gab es tatsächlich eine ganze Reihe neuer Schutzbestimmungen (siehe Tabelle 4.1). Neue Verordnungen garantierten materielle Entschädigungen bei Krankheiten, die man sich am Arbeitsplatz zugezogen hatte (beispielsweise durch Asbest oder Petrochemikalien verursachte Krebserkrankungen), und schränkten die Arbeitszeit Jugendlicher ein. Andere Verordnungen verbesserten geltende Schutzbestimmungen für Mütter, Kinder und »ungeborenes Leben«: Man schränkte die Arbeitszeit von Müttern oder Kindern gesetzlich ein, auch wurden Mütter und Kinder vor dem Kontakt mit kritischen Substanzen geschützt oder von besonders gefährlichen Arbeitsprozessen ausgeschlossen (vgl. Tabelle 4.2). Die Maßnahmen, die man traf, um die Gesundheit der Frauen am Arbeitsplatz zu gewährleisten, zielten hauptsächlich auf die Erhaltung der Fortpflanzungsfähigkeit ab. So untersuchte eine 1941 veröffentlichte Studie beispielsweise, welchen gesundheitlichen Risiken Frauen ausgesetzt waren, die in der Tabakindustrie arbeiteten. Die Wirkung des aufgenommenen Nikotins wurde in bezug auf Störungen des weiblichen Zyklus und den Zeitpunkt der Wechseljahre analysiert, auf Fehlfunktionen der Eierstöcke oder auf das hormoneile Gleichgewicht etc.18 Paternalistische, pronatalistische Anliegen standen klar im Zentrum vieler derartiger Bestimmungen – vor allem als sich der Anteil der arbeitstätigen Frauen mit der Zeit erhöhte. Ausländische Arbeiter profitierten natürlich kaum von diesen Sicherheitsbestimmungen. Fünf Millionen Menschen aus anderen Ländern wurden nach Deutschland verschleppt, um den kriegsbedingten Mangel an Arbeitskräften auszugleichen. Die Durchführung dieser großangelegten Verschleppungsaktion lag in den Händen von Fritz Sauckel, dem Gauleiter von Thü95
ringen, der für seinen harten Kurs berüchtigt war. Seit dem 21. März 1942 war er der Hauptverantwortliche für die Heranschaffung von Arbeitskräften (zugleich war er ein führender Aktivist im Kampf gegen das Rauchen – vgl. dazu Kapitel 6). Die Arbeiten, die diese Männer, Frauen und Kinder zu verrichten hatten, waren zumeist anstrengend oder schmutzig. Viele Fremdarbeiter wurden bezahlt, aber nur wenige durften ihren Arbeitsort verlassen und sich frei im 96
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Land bewegen. Der Beschäftigung ausländischer Arbeiter lag das Kalkül zugrunde, diese Menschen im höchstmöglichen Maße auszubeuten, während man die Kosten auf dem geringstmöglichen Niveau hielt.23 Zwar gab es gewisse offizielle Schutzbestimmungen,24 aber sie wurden häufig nicht eingehalten. In den ersten Kriegsjahren waren die meisten Zwangsarbeiter russische und polnische Zivilisten. Sowjetische Kriegsgefangene waren von diesen Arbeiten »ausgenommen«, der Grund dafür war offenbar in erster Linie Hitlers Angst, daß sie in den deutschen Fabriken mehr Schaden anrichten als Nützliches leisten könnten. In dreieinhalb Jahren ließen die Nationalsozialisten ungefähr 2,5 Millionen sowjetische Soldaten in den deutschen Kriegsgefangenenlagern verhungern. Nachdem in den letzten Kriegsjahren schließlich doch entschieden worden war, einige dieser Männer und Frauen zur Arbeit einzusetzen, waren die Lebensmittelrationen äußerst karg und die Behandlung oft unmenschlich. Russische Arbeiter erhielten nur etwa die Hälfte der Rationen für deutsche Arbeiter. Fritz Sauckel wurde nach dem Krieg in Nürnberg für seine Grausamkeit mit dem Tode bestraft.30 Auch für die sogenannten »gesunden« Deutschen wurden die Schutzbestimmungen aber schließlich gelockert, um die Quoten zu erfüllen, welche 98
die militarisierte Wirtschaft erforderte. Eine Bestimmung vom 23. Dezember 1938 verlangte von allen unverheirateten Frauen unter 25 Jahren, ein Jahr lang auf dem Land zu arbeiten. Am gleichen Tag wurde die »Verordnung über die Beschäftigung Jugendlicher« vom April 1938 dahingehend geändert, daß es Jungen unter 16 Jahren nun erlaubt war, in wöchentlichem Turnus bis neun Uhr abends in Stahlwerken zu arbeiten. Junge Männer über 16 Jahre durften rund um die Uhr arbeiten, einschließlich der Nachtschichten von acht Uhr abends bis sechs Uhr früh. Ähnliche Änderungen wurden auch in anderen risikoreichen Industriezweigen vorgenommen, zum Beispiel in den Glashütten, und eine Bestimmung aus dem Jahr 1939 ermächtigte den Arbeitsminister, die Regelungen des Jugendschutzes für andere Industriezweige, die mit der Rüstung zu tun hatten, außer Kraft zu setzen.31 Auf Rückschritten dieser Art beruhte Martin Gumperts negatives Urteil über die NS-Arbeitsbestimmungen: »Hinter einer auf Menschlichkeit setzenden Propagandafassade versteckte sich die schändlichste Ausbeutung von Kinderarbeit, die irgendein Gesetzgeber je zu erlassen gewagt hat.«32 Die meisten damals geltenden Bestimmungen hatten den Zweck, Unfälle zu verhindern, aber körperliche Verletzungen stellten bei weitem nicht die einzige Gefahr dar. Das immer schneller werdende Arbeitstempo hatte offenbar eine starke Zunahme nervöser Beschwerden zur Folge – hauptsächlich Magengeschwüre und andere Magenleiden –, es ist jedoch nicht klar, wie viele dieser Leiden echt waren und wie viele Arbeiter nur simulierten, um sich so von der beschwerlichen Arbeit zu befreien. Magenbeschwerden waren außerordentlich schwierig nachzuweisen, deshalb war der Magen das am ehesten geeignete Organ, um eine Erkrankung vorzutäuschen. Aus diesem Grund wurden die Forschungen intensiviert, wann ein Krankheitsbild echt war und wann ein Arbeiter versuchte, die Krankheit zu simulieren. Ernst W. Baader, Direktor des angesehenen Berliner Universitätsinstituts für Berufskrankheiten und seit 1933 Mitglied der NSDAP, beschuldigte Ärzte und Versicherungsbehörden, sie würden bei solchen Täuschungsmanövern mithelfen und Arbeiter von ihrem Arbeitsplatz fernhalten.33 Viele Ärzte waren jedoch davon überzeugt, daß die Magenleiden tatsächlich zunahmen und eine direkte Folge der Akkordarbeit waren. Verschiedene Maßnahmen wurden getroffen, um die Arbeitssituation erträglicher zu machen, so zum Beispiel das von der DAF organisierte Urlaubsprogramm – als Teil der 99
»Kraft durch Freude«-Bewegung –, mit dem Arbeiter auf Kreuzfahrten geschickt wurden. Hinter den meisten dieser Maßnahmen stand die Absicht, eine gesunde und kräftige Arbeiterschaft zu erhalten. Die Maximierung der Arbeitskraft war immer ein Ziel der Arbeitsmedizin gewesen, aber unter dem NS-Regime wurde es zum allein gültigen und wichtigsten Gegenstand dieser medizinischen Fachrichtung erhoben. Es wurde zunehmend schwierig, sich krank zu melden, man brauchte dazu ärztliche Zustimmung und – falls es länger dauerte – ein ärztliches Attest. Die Ärzte wurden angewiesen, solche Atteste nur in Ausnahmefällen zu bewilligen, in denen der betreffende Arbeiter zweifellos arbeitsunfähig war. Nach Kriegsbeginn, als ein Großteil der Arbeit in der deutschen Industrie und Landwirtschaft von ausländischen Zwangsarbeitern verrichtet wurde, konnte eine Krankheit, die einen Betroffenen arbeitsunfähig machte, den – wahrscheinlich todbringenden – Abtransport in ein Konzentrationslager zur Folge haben. Das höchste Ziel war die Produktivität – so wird denn auch verständlich, warum die Zahl der Verletzungen in den ersten Jahren des Regimes zwar anstieg, der Anteil der Arbeiter, die eine Entschädigungszahlung erhielten, aber abnahm –von 14 Prozent im Jahr 1933 auf nur 9 Prozent im Jahr 1936. Die Gesamtzahl der Industriearbeiter stieg in diesen frühen Jahren rapide an – um 2,25 Millionen –, aber die Anzahl jener, die wegen Arbeitsunfähigkeit eine Pension erhielten, sank tatsächlich von 633 pro Jahr auf nur noch 532.34 Das NS-Regime wollte eine gesunde Arbeiterschaft, aber es war nicht immer willens, einem verletzten Arbeiter zu helfen. Die »fortschrittlichen« Maßnahmen der Arbeitsmedizin im »Dritten Reich« müssen vor diesem Hintergrund verstanden werden. Die NS-Parteispitze unternahm zahlreiche Schritte, um die Gesundheit und Sicherheit der Arbeiterschaft zu verbessern, aber nicht alle Arbeiter waren gleich, wenn es darum ging, tatsächlich Hilfe zu erhalten. Es wurde immer gefährlicher, krank oder verletzt zu sein. Arbeitsunfähigkeit konnte das Todesurteil bedeuten – vor allem, wenn die »rassische Reinheit« eines Menschen in Zweifel gezogen wurde.
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RÖNTGENSTRAHLEN UND DIE MÄRTYRER DER STRAHLUNG Obwohl die Röntgenstrahlen erst 1895 entdeckt worden waren, setzte man die »Wunderstrahlen« schon um die Jahrhundertwende in Hunderten von Kliniken gegen alle möglichen Krankheiten ein. Hysterie oder Unfruchtbarkeit wurde mit Röntgenstrahlen bekämpft, und Kinder wurden aus dem alleinigen Grund mit Röntgenstrahlen behandelt, weil man so den Haarausfall beschleunigen wollte, um gegen andere Krankheiten vorgehen zu können (zum Beispiel die Scherpilzflechte). Röntgenstrahlen und Radiumnadeln wurden zu beliebten Mitteln bei der Behandlung von Krebs und so, neben den chirurgischen Eingriffen, zur zweiten wichtigen Behandlungsmethode (die Chemotherapie, dritte Methode in der therapeutischen Triade, setzte sich erst in den fünfziger Jahren durch). In einem Zeitschriftenartikel aus dem Jahr 1937 wurde die These vertreten, die Röntgentherapie habe die Chirurgie bei vielen bösartigen Krankheiten bereits als bevorzugte Behandlungsmethode abgelöst.35 Die Erkenntnis, daß Röntgenstrahlen und allgemein radioaktive Strahlung neben Verbrennungen, Haarausfall und anderen Symptomen einer akuten Vergiftung vor allem Krebs auslösen konnten, entwickelte sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.36 Als erstes wurde man auf Fälle von Hautkrebs an den Händen aufmerksam (vor allem bei Röntgentechnikern, die die Strahlung oft per Hand prüften), gefolgt von Leukämie, Knochenkrebs und Krebs in verschiedenen anderen Organen. Deutsche Ärzte berichteten 1919 über durch Röntgenstrahlen verursachten Brustkrebs, im Jahr 1923 über Gebärmutter- und Gebärmutterhalskrebs und 1930 über Knochenkrebs.37 Gegen Ende der zwanziger Jahre gab es bereits eine beachtliche Fülle an Forschungsliteratur über Röntgenkarzinome, einschließlich einer großen Anzahl Arbeiten, die auf Tierversuchen basierten.38 Die Röntgenstrahlen wurden sogar dafür verantwortlich gemacht, daß die Lungenkrebsraten anstiegen; denn der Brustkorb war schnell zum meistgeröntgten Körperteil geworden (man wollte so Tuberkulose und andere Lungenkrankheiten diagnostizieren) und einige Ärzte befürchteten, die Krebserkrankungen könnten sich so epidemisch ausbreiten.39 Die hier genannten, genauen Daten zur Entdeckung der verschiedenen 101
Zusammenhänge zwischen Röntgenstrahlen und Krebs sagen nichts darüber, daß Menschen, die an einer durch Strahlung verursachten Krebsart litten, vielleicht über Jahrzehnte hinweg dahinsiechten, während sich die Krankheit von einem Körperteil zum anderen ausbreitete. Ein Laborassistent, der 1897 in einer chirurgischen Klinik in Breslau mit Röntgenstrahlen zu arbeiten begann, entwickelte beispielsweise im Jahr 1899 chronische Ekzeme, und im Jahr 1908 bildeten sich zwei kleine Krebsgeschwüre an seinem linken Zeigefinger. Sie wurden entfernt, aber es bildeten sich immer wieder neue Tumore: 1911 am kleinen Finger der rechten Hand und neun Jahre später am Ringfinger der anderen Hand. 1923 wurden ihm an der linken Hand Tumore entfernt, zusammen mit den Lymphknoten unter der Schulter. Der Krebs breitete sich weiter aus, und 1927 verlor er den ganzen linken Arm an die Krankheit, 1930 wurde ihm dann die Schulter entfernt. Auch wenn seine Krankheitsgeschichte an diesem Punkt abbricht, ist zu vermuten, daß er an der Krankheit starb.40 Viele andere Röntgenspezialisten ereilte dasselbe Schicksal – zum Beispiel den berühmten Röntgenologen Guido Holzknecht –, aber auch zahllose Patienten und Techniker, deren Namen wir niemals erfahren werden. In den zwanziger Jahren begann man die Befürchtungen, daß Röntgenstrahlen Chromosomenschäden bewirken könnten, ernst zu nehmen. Solche Ängste wurden vor allem von deutschen Eugenikern geteilt, die befürchteten, die Strahlung könnte das deutsche Erbgut gefährden.41 Bereits 1903 lagen Untersuchungsergebnisse vor, wonach Röntgenstrahlen zu Unfruchtbarkeit führten: Heinrich Albers-Schönberg aus Hamburg bewies damals, daß Röntgenstrahlen bei männlichen Kaninchen zu Sterilität führen konnten,42 und schon bald existierten auch Untersuchungsergebnisse für Menschen. Im Jahr 1908 stellte ein anderer junger Radiologe beim Fötus einer Frau, die 33mal geröntgt worden war, um eine Abtreibung auszulösen, schwere Chromosomenschäden fest.43 In den frühen zwanziger Jahren waren sich die deutschen Humangenetiker dann darüber im klaren, daß außerordentlich viele Personen, die mit Röntgenstrahlen arbeiteten – einschließlich der Therapeuten und Techniker –, unter Sterilität litten und daß durch Röntgenstrahlen verursachte Genmutationen zumeist die Ursache dafür waren.44 Wissenschaftler aus anderen Ländern machten ähnlich alarmierende Entdeckungen: Französische Wissenschaftler veröffentlichten 1923 den er102
sten Fall eines enfant des rayons X – das Kind wurde mit einem deformierten Kopf geboren, nachdem es als Fötus bestrahlt worden war –,45 und kurze Zeit später warnte ein amerikanisches Lehrbuch davor, daß »fötale Monster« das Resultat sein könnten, wenn man schwangere Frauen röntge.46 Verschiedene führende deutsche Rassenkundler reagierten auf diese Erkenntnisse, indem sie zur Vorsicht bei der Verwendung von ionisierenden Strahlen warnten, da diese die biologische Zukunft der Deutschen gefährden würden. Fritz Lenz, Deutschlands erster Professor für Rassenhygiene (und seit 1937 Mitglied der NSDAP) warnte 1921 in seinem weitverbreiteten Lehrbuch über die menschliche Vererbungslehre davor, daß Röntgenstrahlen und radioaktive Quellen zu angeborenen Schädigungen führen können.47 Eugen Fischer, der Begründer und Leiter des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, Humangenetik und Eugenik, vertrat 1929 und 1930 die Meinung, man könne zwar von vielen Substanzen annehmen, daß sie die Erbsubstanz schädigten (beispielsweise Alkohol, Nikotin, Quecksilber, Blei und Arsen), aber nur bei den Röntgenstrahlen sei diese Wirkung auch tatsächlich nachgewiesen. Fischer verwies auf den bekannten Versuch von H. J. Müller im Jahr 1927, wonach Röntgenstrahlen eine Mutation der Spermazellen der Fruchtfliege Drosophila auslösen konnten. Er erwähnte zudem, daß Emmy Stein in Zusammenarbeit mit Erwin Baur schon einige Jahre zuvor gezeigt hatte, daß Radium bei Löwenmaulstauden zu Schäden in der Erbsubstanz führen konnte (1922, publiziert 1926).48 Am Ende dieses Jahrzehnts belegten Dutzende von Untersuchungen die Macht der Strahlen, angeborene Schäden zu verursachen.49 Als sich die Belege häuften, daß Röntgenstrahlen Erbschäden hervorriefen, begannen sich die Ärzte für strengere Sicherheitsmaßnahmen einzusetzen. Außerdem schlugen sie Heiratsverbote für Menschen vor, die der Strahlung ausgesetzt waren, um zu verhindern, daß diese Nachkommen zeugten. Im Jahr 1927 besprach die führende pädiatrische Zeitschrift Deutschlands zwanzig durch Röntgenstrahlen verursachte Fälle von Geburtsschäden, einschließlich schwerer Deformationen wie zum Beispiel der fötalen Kleinköpfigkeit. Ein Jahr später beschrieb das führende Magazin der deutschen Radiologen den Fall eines Kindes, das mit verkrüppelten Gliedmaßen zur Welt gekommen war, ähnlich wie dies bei Embryos von bestrahlten Mäusen beobachtet worden war. Das Kind war im Mutterleib geröntgt worden, was 103
den Schluß nahelegte, daß die Strahlen für seine Behinderung verantwortlich waren.50 Diese Berichte veranlaßten die Bayerische Gesellschaft für Pädiatrie und Gynäkologie im Jahr 1927 zur Verabschiedung eines Beschlusses, wonach Frauen, die während der Schwangerschaft umfassenden Röntgenbehandlungen unterzogen wurden, eine Abtreibung nahegelegt werden sollte.51 Auch professionelle Eugeniker reagierten mit ähnlich einfallsreichen Vorschlägen. Eugen Fischer vertrat im Jahr 1930 die Ansicht, daß Frauen, die Röntgenstrahlen ausgesetzt waren, grundsätzlich davon abgehalten werden sollten, Kinder zu bekommen.52 Die Eierstöcke von Frauen zu röntgen war in Deutschland und den USA zu einer beliebten Methode geworden, um eine vorübergehende Unfruchtbarkeit zu erzielen. Die Rassenhygieniker betrachteten dieses Vorgehen als Quelle potentiell zerstörerischer Mutationen. Hans Luxenburger, ein Eugeniker an Fischers Institut, schlug 1932 aus diesem Grund vor, ein »Archiv verstrahlter Mädchen und Frauen« anzulegen, um die Betroffenen zu erfassen und ihnen davon abzuraten, Kinder zu haben.53 Die Sorge der Eugeniker um die gesundheitsschädigenden Effekte der Strahlung ergaben sich auch aus dem Umstand, daß viele Ärzte im Umgang mit Röntgenstrahlen und Radium kaum die notwendigen Gesundheits- und Sicherheitsvorkehrungen trafen. Da es keine offiziellen Richtlinien für die Dosierung gab, waren Verletzungen häufig – vor allem in den frühen zwanziger Jahren, als die hochdosierte Strahlung ein beliebtes Mittel war, um Krebs, Hautkrankheiten und zahllose andere Gebrechen zu behandeln. Laut Hermann Holthusen, einem einflußreichen Hamburger Radiologen, gab es Mitte der zwanziger Jahre kein größeres Krankenhaus in Deutschland, in dem nicht Patienten lagen, die an den Folgeschäden der Bestrahlung litten. Es waren dies Patienten, die in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg vor der Einführung genauer Dosierungen und wichtiger Toleranzwerte behandelt worden waren.54 Der fahrlässige Umgang mit den Röntgenstrahlen wurde auch dadurch gefördert, daß die Berufsverbände der Radiologen und Röntgentherapeuten weit mehr daran interessiert waren, die Anwendung der Röntgenstrahlen zu fördern – vor allem als diagnostisches Hilfsmittel –, als vor möglichen gesundheitlichen Schäden zu warnen. So wurde beispielsweise die Bayerische Gesellschaft für Röntgenologie und Radiologie 1931 zu dem Zweck gegründet, die wirtschaftlichen Interessen der Radiologen zu 104
vertreten und die Röntgenkunde und Radiologie zu fördern.55 Gesundheitsund Sicherheitsbestimmungen in Zusammenhang mit Röntgenstrahlen waren nur zweitrangige Anliegen. Im Gegenteil, die Berufsverbände der Radiologen wehrten sich sogar dagegen, daß man die Öffentlichkeit über mögliche genetische Langzeitschäden aufklärte. Im Jahr 1931, als die Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft und die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene eine offizielle Warnung herausgaben, daß Röntgenstrahlen gesundheitliche Schäden verursachen können, reagierte die Bayerische Gesellschaft für Röntgenologie und Radiologie mit einer scharf formulierten Gegendarstellung, in der sie behauptete, die Schlußfolgerungen der Eugeniker beruhten ausschließlich auf experimentellen Studien mit Insekten und Pflanzen. Die Ergebnisse der betreffenden Tierversuche (dabei bezog sie sich klar auf die Experimente Müllers mit den Fruchtfliegen) ließen sich nicht auf den Menschen übertragen. Es sei vielmehr äußerst gefährlich – so diese frühen Radiologen –, Ängste vor Gefahren der Röntgenstrahlen zu schüren, weil dadurch der Fortschritt der Röntgentherapie und -diagnostik behindert würde.56 Die Radiologen erhielten in diesem Punkt interessanterweise Unterstützung von führenden Köpfen des Vereins Sozialistischer Ärzte, der bekanntesten linksorientierten Ärztevereinigung in Deutschland, die kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ins Exil getrieben wurde, da die meisten Mitglieder jüdisch waren.57 Sozialistische Ärzte gehörten zu den frühesten und schärfsten Kritikern des Nationalsozialismus und der Rassenhygiene. Aus unserer heutigen Sicht mag es vielleicht etwas seltsam erscheinen, daß einige Sozialisten das Schreckensbild der durch Röntgenstrahlen verursachten langzeitlichen Gesundheitsschäden als einen weiteren Auswuchs nationalsozialistischer Panikmache abtaten. Julian Marcuse verspottete 1932 in der Zeitschrift der sozialistischen Ärzte das Mißtrauen der Nationalsozialisten gegenüber Röntgenstrahlen als »rassischen Fanatismus«: Merkwürdigerweise ist dies eines der ersten Male – wenn nicht gar das allererste Mal –, daß dieser Begriff in Deutschland gebraucht wird.58 Es mag überraschen, daß die NS-Rassenhygieniker in der umstrittenen Frage der durch Röntgenstrahlen verursachten genetischen Schäden auf der »richtigen« Seite standen – und daß Sozialisten die Gefahr nicht wahrhaben wollten. Aber man sollte sich auch bewußt sein, daß die Eugeniker mit ihren 105
Bemühungen, die Anwendung der Röntgenstrahlen einzuschränken, nicht gegen die Macht der professionellen Radiologen ankamen. Die Nationalsozialisten fürchteten sich zwar vor Krebs, aber sie fürchteten sich noch mehr vor der Tuberkulose, die bis Mitte der zwanziger Jahre die zweithäufigste Todesursache in Deutschland war (bis Krebs diese Position übernahm). In den dreißiger Jahren wurden massenweise Röntgenuntersuchungen durchgeführt – zum Beispiel wurden komplette Belegschaften von Fabriken oder ganze Studentenklassen geröntgt –, um mögliche Träger des Tuberkulosebakteriums zu identifizieren. Am 5. August 1933 berichtete das Deutsche Ärzteblatt von einer neuen Anordnung an der Universität München, daß alle Studenten geröntgt werden sollten. Die 60 Studenten, die sich als infiziert und ansteckend herausstellten (von 1000 Untersuchten), wurden aus den Hörsälen der Universität verbannt.59 Ähnliche Untersuchungen wurden an weiteren deutschen Universitäten und an vielen anderen Orten durchgeführt (siehe Abb. 4.1). Am Nürnberger Parteitag im September 1938 reihten sich die versammelten Parteigrößen und das Publikum alle auf, um sich röntgen zu lassen, und der SS-Röntgenologe Prof. Dr. Hans Holfelder aus Frankfurt am Main überwachte persönlich 10500 Röntgenuntersuchungen ran SS-Männern in einer Zeitspanne von zwei Monaten, was er selbst als eine noch nie dagewesene Leistung bezeichnete.60 Auch in deutschen Fabriken wurden mobile Röntgengeräte aufgestellt, um Arbeiter auf Silikose hin zu untersuchen, obwohl den zuständigen Gesundheitsbehörden oft klar war, daß die Röntgenaufnahmen nicht scharf genug waren, um Frühstadien der Krankheit abzubilden.61 Trotz der Warnungen von Rassenhygienikern wie Fischer und Lenz nahm die Anzahl der geröntgten Menschen unter der NS-Herrschaft sprunghaft zu. Es gab Vorschläge, wonach die gesamte deutsche Bevölkerung auf Anzeichen für Tuberkulose hin geröntgt werden solle, und in einigen Teilen des Landes wurde dieses Ziel offenbar erreicht.62 Im Frühjahr und Sommer 1939 wurde, dank der Mitarbeit der »Röntgenreihenbildnertruppe der SS« unter der Leitung von Holfelder, der gesamten erwachsenen Bevölkerung von Mecklenburg und Pommern der Oberkörper geröntgt – jeder Person über sechzehn Jahren, insgesamt 650000 Menschen. Spezielle Röntgenlampen und Filme wurden für dieses gewaltige Unterfangen entwickelt, und die im häufigsten zum Einsatz gekommenen Untersuchungsgeräte produzier106
ABB. 4.1. Reihenuntersuchung zur Früherkennung von Lungenkrankheiten. Trotz der Furcht der Eugeniker vor Erbgutschädigungen wurden die Deutschen zum meistgeröntgten Volk der Welt. Hier stellen sich Angehörige der Hitler-Jugend auf, um sich den Brustkorb röntgen zu lassen. Auffällig ist das einem Hakenkreuz ähnliche Logo von Koch & Sterzel; viele Firmen (z.B. Siemens-Reiniger) gaben sich nach 1933 ähnlich stilisierte Firmenzeichen (»Pseudohakenkreuze«). Quelle: Reiter und Breger, Deutsches Gold, S. 414.
ten bis zu 100000 Fotos während der ganzen Aktion. (Die Organisatoren verkündeten, mit diesen neu entwickelten Methoden könnten bis zu 600 Menschen pro Stunde geröntgt werden). Die Ärzte, die diese Untersuchungen überwachten, lobten »die so 100 %ig positive Einstellung der Bevölkerung«, die »im wesentlichen nur dem disziplinierten Einsatz des ParteiApparates« zu verdanken sei. Das Amt des Gauleiters Friedrich Hildebrandt übernahm den Großteil der Kosten für die Aktion, aber die Untersuchten mußten ebenfalls einen festen Betrag von 50 Pfennig abliefern, sie hatten zudem die Möglichkeit – für zusätzliche 20 Pfennig –, eine Vergrößerung ihres Röntgenbildes zu erwerben.63 107
Die zunehmende Anwendung von Röntgenstrahlen wurde oft als Beweis für den medizinischen Fortschritt gesehen: In einem Überblick aus dem Jahr 1943 über die medizinische Forschung während des Krieges wurde damit geprahlt, daß die Münchner Universitäts-Frauenklinik 1942 fünfzig Prozent mehr Untersuchungen durchgeführt habe als 1937 (11617 gegenüber 7528).S4 Massenuntersuchungen wurden nicht nur für Tuberkulose, Krebs und Silikose durchgeführt, sondern auch für Herzkrankheiten, Magengeschwüre, Asbestose, Herz- und Kreislaufbeschwerden und andere Krankheiten.65 Während des Krieges, als die Gesundheitsbehörden kranke Arbeiter herauszufiltern versuchten, um zu verhindern, daß sie die gesunden Arbeiter ansteckten, nahmen die Untersuchungen einen beinahe militärischen Charakter an. Die Armee selbst wurde ein wichtiger Antreiber dieser Praxis, indem spezielle »Röntgentruppen« (zumindest in einem Fall führte Albert Speer das Kommando) Soldaten und Zivilisten an der Ostfront röntgten und nach Anzeichen für Lungen- oder Herzkrankheiten suchten.66 Massenuntersuchungen wurden ebenfalls durchgeführt, um tuberkulöse Polen zu identifizieren. Zuerst hatte man sie als Menschen, die für das Reich von »keinem Nutzen« waren, ermorden wollen, aber dieser Plan wurde nicht verwirklicht.67 Einen besonders grausamen Einsatz fanden die Röntgenstrahlen in Auschwitz, wo Wissenschaftler Experimente durchführten, um herauszufinden, ob man mit Hilfe von Röntgenstrahlen verhindern könnte, daß sich »rassisch unwertes Leben« fortpflanzte. Man begann diese Möglichkeit im Jahr 1941 zu erforschen, zu einem Zeitpunkt also, da Pläne, die Juden in Osteuropa zu vernichten, bereits Gestalt annahmen. SS-Oberführer Viktor Brack schlug Himmler in einem Brief vom 23. Juni 1942 vor, die Juden Europas zu sterilisieren: Bei etwa 10 Millionen europäischer Juden sind nach meinem Gefühl mindestens 2-3 Millionen sehr gut arbeitsfähige Männer und Frauen enthalten. Ich stehe in Anbetracht der außerordentlichen Schwierigkeiten, die uns die Arbeiterfrage bereitet, auf dem Standpunkt, diese 2-3 Millionen auf jeden Fall herauszuziehen und zu erhalten. Allerdings geht das nur, wenn man sie gleichzeitig fortpflanzungsunfähig macht. Ich habe Ihnen vor etwa einem Jahr bereits berichtet, daß Beauftragte 108
von mir die notwendigen Versuche für diesen Zweck abschließend bearbeitet haben. Ich möchte diese Tatsachen nochmals in Erinnerung bringen. Eine Sterilisation, wie sie normalerweise bei Erbkranken durchgeführt wird, kommt in diesem Fall nicht in Frage, da sie zu zeitraubend und kostspielig ist. Eine Röntgenkastration jedoch ist nicht nur relativ billig, sondern läßt sich bei vielen Tausenden in kürzester Zeit durchführen.68 Brack hatte zu einem früheren Zeitpunkt schon vorgeschlagen, die Sterilisierung mittels Röntgenstrahlen könne heimlich durchgeführt werden: Ein Weg der praktischen Durchführung wäre z.B., die abzufertigenden Personen vor einen Schalter treten zu lassen, an dem sie Fragen gestellt erhalten oder Formulare auszufüllen haben, was sie ungefähr 2-3 Minuten aufhalten soll. Der Beamte, der hinter dem Schalter sitzt, kann die Apparatur bedienen, und zwar dergestalt, daß er einen Schalter bedient, mit dem gleichzeitig beide Röhren (da ja die Bestrahlung von beiden Seiten erfolgen muß) in Tätigkeit gesetzt werden. In einer Anlage mit 2 Röhren könnten also demgemäß pro Tag etwa 150-200 Personen sterilisiert werden, mit 20 Anlagen also bereits 3000-4000 pro Tag.69 Bracks ungeheuerlicher Plan wurde nie in die Tat umgesetzt. Eine Reihe von Experimenten, die der Gynäkologe Horst Schumann in Auschwitz durchgeführt hatte, ergab, daß die mit dieser Methode sterilisierten Menschen so schwere Verbrennungen erlitten, daß sie nicht mehr arbeitsfähig waren. Fast alle Opfer dieser Versuche – beinahe hundert Menschen – wurden später umgebracht.70 Wenn man bedenkt, wie stark die damals verwendeten Röntgenstrahlen waren und wie viele Menschen den Massenuntersuchungen unterzogen wurden, kann man sich leicht vorstellen, daß vielleicht Hunderte oder sogar Tausende nach dieser Prozedur an Krebs erkrankten. Auch die Röntgenstrahlen, die im Zusammenhang mit eugenischen Sterilisationen eingesetzt wurden, müssen Krebs verursacht haben. Am 25. Februar 1936 erlaubte ein Zusatzartikel zum NS-Sterilisationsgesetz den Einsatz von Röntgenstrahlen, um Frauen zu sterilisieren, die über 38 Jahre alt waren oder bei denen sich 109
das Standardverfahren (Durchtrennen der Eileiter) als zu gefährlich erwies.71 Die Eugeniker hatten sich zwar früher dagegen gewehrt, daß Röntgenstrahlen zur vorübergehenden Unfruchtbarmachung eingesetzt wurden, aber die endgültige Sterilisation schien moralisch, medizinisch und »rassenkundlich« unproblematisch zu sein. Niemand weiß, wie viele Krebserkrankungen durch dieses Verfahren ausgelöst wurden, vor allem da viele der sterilisierten Menschen später in den »Euthanasie«-Aktionen ermordet wurden. Man sollte sich aber darüber im klaren sein, daß die Ärzte – während die Röntgenstrahlen massenhaft zu Untersuchungen und Sterilisationen eingesetzt wurden – noch immer vor den möglichen Erbschäden durch die Strahlung warnten. Volk und Rasse, eine führende, monatlich erscheinende »rassenkundliche« Zeitschrift, ermahnte im Jahr 1935 die Ärzte, ihre Patienten nur unter äußerster Vorsicht mit Röntgenstrahlen und Radium zu behandeln, da die Möglichkeit einer Schädigung der Erbgesundheit sogar bei verschwindend kleinen Dosen bestehe.72 Zwei Radiologen bzw. Rassenhygieniker beurteilten die Sachlage folgendermaßen: Einen Schwellenwert für die Mutationsauslösung durch Röntgen- und Radiumstrahlen gibt es ebensowenig in bezug auf die Wellenlänge der verwandten Strahlen, als in Bezug auf die Größe der verwandten Dosis. Praktisch kann jede, auch die kleinste Dosis und jede Art kurzwelliger ionisierender Strahlen Mutationen auslösen ... Die einzelnen Strahleninsulte summieren sich bezüglich des durch sie ausgelösten Mutationsprozentsatzes sogar nicht nur bei der Einzelperson im Laufe ihres ganzen Lebens, sondern durch die Generationen hindurch, soweit die Geschädigten nicht ohne Nachkommenschaft sterben. Damit wird das Problem der Strahlenwirkung auf die Keimdrüsen ein rassenhygienisches Problem und zwar ein sehr schwerwiegendes.73 Eine Überblicksdarstellung aus dem Jahr 1938 faßte die Gefahr in deutliche Worte: Jede erneute Mutation schwächt das Erbbild des Volkes und erhöht die Zahl der minderwertigen Gene, die schon in der Bevölkerung vorhanden sind. Sorgsames und verantwortungsbewußtes Handeln kann uns davor 110
bewahren, die Volksgesundheit durch radiaktive Strahlung zu gefährden. Die hierfür nötigen Schritte sind offenkundig: Aufklärung über die gefährlichen Eigenschaften von Röntgenstrahlen und Radium, ihre bedachtsame und fachkundige Anwendung in Diagnostik und Therapie sowie angemessene Schutzvorkehrungen für alle der Strahlung ausgesetzten Beschäftigten in der Medizin und Industrie können dazu beitragen, die schädlichen Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf das menschliche Erbgut zu begrenzen.74 Praktische Schritte wurden unternommen, um Krankheitsfälle durch übermäßige oder unregulierte Bestrahlungen zu verhindern; am wichtigsten war in diesem Zusammenhang die »Röntgenverordnung«, die am 7. Februar 1941 vom Reicharbeitsminister erlassen wurde. Darin wurden Grenzwerte festgelegt, die mit den zur selben Zeit in anderen Ländern eingeführten Richtlinien vergleichbar sind: Am Arbeitsplatz galt beispielsweise die »Toleranzdosis« von 0,25 Röntgen pro Tag, was ungefähr den damaligen, in den USA empfohlenen Grenzwerten entsprach. Aber das deutsche Gesetz war in dem Punkt besonders, daß es einen zehn Mal strengeren Grenzwert festlegte (0,025 Röntgen pro Tag), sofern die Möglichkeit einer Erbgutschädigung bestand.75 1942 wurden besondere Regeln in Kraft gesetzt, die den nichtmedizinischen Gebrauch von Röntgenstrahlen regeln sollten – zum Beispiel in der Bauindustrie, wo man Röntgenstrahlen einsetzte, um Fehler in Metallabgüssen oder anderen Materialien zu lokalisieren.76 Vielleicht wurden die Bestimmungen in Deutschland strenger befolgt als anderswo – dieser Eindruck ergibt sich aus der umfassenden Begleitliteratur zum Gesetz, in der verschiedene Aspekte der Reglementierungen detailliert beschrieben wurden, zum Beispiel die optimale Dicke von Bleiumhüllungen oder die Kontrolle der Strahlenbündelung usw.77 Jeder, der einen Röntgenapparat installieren oder bedienen wollte, mußte bereit sein, diese Bestimmungen zu befolgen.78 Auch bemühte man sich weiterhin, die durch Strahlung verursachten Krebserkrankungen zu dokumentieren. Im Jahr 1937 berichtete die Fachzeitschrift Strahlentherapie von einer Frau, die 20 Jahre nach der Röntgenbehandlung eines Schilddrüsenleidens an Kehlkopfkrebs erkrankt war. 1938 beschrieb die Klinische Wochenschrift die Krankheitsgeschichte eines Rönt111
genlabor-Assistenten, der den Strahlen während vieler Jahre ausgesetzt gewesen war und nun an Leukämie litt. 1944 publizierte die Zeitschrift für Krebsforschung den Fall eines 30jährigen Mannes mit Schilddrüsenkrebs, der im Alter von sechs Jahren wegen Skrofulose mit Röntgenstrahlen behandelt worden war.79 Natürlich erfuhren nicht alle, die unter den gesundheitsschädigenden Auswirkungen der Strahlung litten, dieselbe Anteilnahme. Radiologen, die Schaden davongetragen hatten, wurden zu »Märtyrern der Wissenschaft« erkoren. So enthüllten Hamburger Radiologen im April 1936 ein Denkmal, das den Ärzten gewidmet war, die der Arbeit mit Röntgenstrahlen und Radium zum Opfer gefallen waren – das Denkmal steht heute noch vor dem St.-Georgs-Krankenhaus. Ein Jahr später veröffentlichte die Zeitschrift Strahlentherapie eine Ehrenliste von 169 Röntgenologen und Radiologen aus allen Nationen, die der Sache ihr Leben oder einzelne Körperteile geopfert hatten.80 Amerikanische Radiologen veröffentlichten ähnliche Listen (zum Beispiel Percy Browns Liste aus dem Jahr 1936)81 – allerdings verwandelte sich die Verehrung der Märtyrer zu dieser Zeit bereits in peinliche Verlegenheit, was an einer amerikanischen Beschreibung des Kongresses der Radiologen im Jahr 1937 sichtbar wird. Man bezeichnete dieses Treffen als den »Kongreß der Krüppel«.82 Weder in Deutschland noch in Amerika wurden jemals Denkmale errichtet, die an die viel größere Zahl von Patienten und Technikern erinnern, die gelitten haben müssen. Dieser Abschnitt soll mit dem Hinweis enden, daß Therapie, Diagnostik und Sterilisation nicht die einzigen Bereiche waren, in denen die Nationalsozialisten die Röntgenstrahlen einsetzten. Im Zweiten Weltkrieg existierten Pläne, eine »radiologische Bombe« zu entwickeln – mittels konventionellen Sprengstoffs sollten gefährliche Radioisotope verstreut werden. Auch diskutierte man die Konstruktion einer Röntgenstrahlen-Waffe für den Luftkampf. Man stellte sich vor, eine plötzliche Salve von Röntgenstrahlen würde ausreichen, um die Mannschaft einer feindlichen Maschine zu verwunden oder gar zu töten. Ein Bericht von 1944 an das Forschungsinstitut der Luftwaffe in Groß-Ostheim beinhaltete Pläne für eine solche Waffe, aber es ist noch nicht geklärt, ob deren Entwicklung jemals über das Reißbrett hinausging. Die Zwänge der Kriegszeit beschränkten die Geldmittel für viele derartige Pläne, aber der Chef der Luftwaffe, Hermann Göring, wies seine 112
Ingenieure noch im Januar 1945 an, die Möglichkeit, daß man sich mit nuklearen Methoden gegen feindliche Bomber zur Wehr setzte, ernsthaft zu prüfen.
RADIUM UND URAN Die »Radioaktivität« – die in Polen geborene Marie Curie und ihr französischer Ehemann Pierre prägten diesen Begriff – wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts, nur ein Jahr nach den Röntgenstrahlen, entdeckt, als sich das Forscherpaar bemühte, die Fluoreszenz von Uranerz zu erklären. Wie so oft verdankt die Menschheit diese Entdeckung in erster Linie dem Zufall: Henri Becquerel hatte in Paris Uransalze dem Sonnenlicht ausgesetzt, um das Phänomen der Lumineszenz zu erklären, als er zufällig herausfand, daß Uran auch ohne Lichteinfluß fotografische Platten schwärzen konnte. Innerhalb weniger Jahre hatten Marie Curie und ihre Mitarbeiter zwei neue Elemente isoliert, Polonium und Radium, die beide »Radioaktivität« ausstrahlten, ihre Strahlung war sogar tausendfach stärker als diejenige des Urans. In der Hoffnung, Radium könnte zu einem ähnlich wichtigen medizinischen Hilfsmittel werden wie die Röntgenstrahlen, entwickelten Ärzte verschiedene Formen von »Radiumtherapien«, die schon bald ähnlich populär wie die medizinischen Behandlungsmethoden mit Röntgenstrahlen waren. Die Radiumtherapie war in Deutschland so beliebt wie in den USA. Ein Verzeichnis aus dem Jahr 1935, das verschiedene medizinische Anwendungsmöglichkeiten des Radongases oder der Radiumsalze auflistete, nannte Radiumbäder, radioaktive Bandagen, Radiumkompressen und -einlagen, Radium-Einlegesohlen, -Badezusätze, -Ekzemsalben (zum Beispiel ein Produkt namens Thorium-X) und Radiumnadel-Implantate als mögliche Behandlungsmittel. Inhalationstherapien wurden entwickelt, um dieselbe Wirkung wie mit den Dämpfen zu erzielen, und man verkaufte radioaktive Lösungen, ebenso wie mit Mesothorium behandelten Milchzucker und sogar mit Radium angereicherte Schokolade. Radiumkuren wurden verschrieben, um Infektionen zu behandeln, aber auch Rheuma, Neuralgien und hormonelle Störungen wie vorzeitiges Altern, Arteriosklerose, Hyperto113
nie und verschiedene Nervenleiden, ob sie nun echt oder eingebildet waren (zum Beispiel das primäre Parkinson-Sydrom).84 Die Meinungen über die optimale Dosierung bei diesen Behandlungsmethoden gingen oft weit auseinander, aber es handelte sich, an modernen Standards gemessen, um außergewöhnlich hohe Dosen. Ein Professor Friedrich Gudzent aus Berlin verschrieb in seinen »Trinkkuren« tägliche Dosen bis zu 100000 ME (»Mache-Einheit«) Radium, während der Wiener Radiologe Leopold Freund bis zu 300000 ME verschrieb (mehr als 100 Millionen Picocurie).85 Bei den damaligen Radiumkompressen wurden 2–12 Mikrogramm Radium direkt auf die zu behandelnde Hautpartie gelegt, und bei den intramuskulären oder intravenösen Injektionen, die Gudzent empfahl, verabreichte man alle drei Tage eine Dosis von 1–5 Mikrogramm Radium, bis zu einer Gesamtdosis von 100 Mikrogramm.86 Man vermutete, die tödliche Dosis Radium liege zwischen 100 und 500 Mikrogramm, obwohl es aus Amerika Hinweise gab, daß dieser Wert viel niedriger lag. In den USA wiesen einige der Skalenmalerinnen, die mit radioaktiver Farbe arbeiteten, nur 1-2 Mikrogramm körperliche Kontamination auf und litten dennoch unter Symptomen radioaktiver Vergiftung. Heute wissen wir, daß tödliche Krebserkrankungen sogar durch noch kleinere Dosen verursacht werden können. Ein Grund, weshalb die medizinischen Fachleute die Gefahren der Radioaktivität nur langsam erkannten, mag darin liegen, daß deutsche Bäderkurorte viel Geld in die Werbung mit der Heilkraft der Strahlung investierten. Therapeutische Bäder spielten in den zwanziger und dreißiger Jahren eine wichtige Rolle in den Vorstellungen des Bürgertums, wie man eine Krankheit heilen könne (in Thomas Manns Zauberberg findet man einiges von diesem Geist wieder), und die Entdeckung der »radioaktiven Emanation« des Wassers vieler Heilbäder führte zu dem Glauben, daß Radon das entscheidende Element sei. Millionen von Deutschen reisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den radioaktiven Heilbädern von Kreuznach, Gastein und Oberschlema, in der Hoffnung, so neue Lebenskräfte zu schöpfen. Einige dieser Bäder sind heute noch in Betrieb, man kann dort genauso viel Radon inhalieren wie damals. Die Begeisterung für Bäderkuren hielt in der Zeit des Nationalsozialismus an, sie wurde von der romantisch orientierten Naturheilkunde-Bewegung zusätzlich gefördert. Die Deutsche Gesellschaft für Bäder- und Klimaheil114
kunde gründete 1934 eine wissenschaftliche Zeitschrift mit dem Titel Der Balneologe. Damit sollte die Popularität der Bäder gefördert werden. Artikel über verschiedene Formen der Wassertherapie wurden darin veröffentlicht – beispielsweise über die finnische Methode, Wasser auf Granit zu gießen, um so im Saunadampf Radon zu erzeugen –, neben Anzeigen für Kurorte wie das Radiumbad St. Joachimsthal (Jachymov), das Hilfe bei Arteriosklerose, Rheuma und Gicht versprach.87 Die Radioaktivität lag bei einigen der bekanntesten deutschen Bäder außerordentlich hoch – so beispielsweise in Oberschlema mit einer Radioaktivität von fünf Millionen Picocurie pro Liter.88 Wenn wir heute zu verstehen versuchen, warum es solange dauerte, bis die Gefahren der Radioaktivität ernst genommen wurden, müssen wir uns in Erinnerung rufen, daß Radium (zusammen mit seiner »Emanation«, dem Radongas) allgemein als das heilende Element in Bergquellen und Heilbädern angesehen wurde. Sogar einige der schärfsten Kritiker des Bädergewerbes wurden von dem strahlenden Atom verführt. Erich Marx beispielsweise, ein Professor für Radiophysik in Leipzig, veröffentlichte 1932 in einer Wiener Tageszeitung einen Aufsatz mit dem Titel »Die Radiumgefahr in Deutschland«, in dem er warnte, daß Radium und Radongas tödliche Folgen haben könnten. Marx wußte, daß Radium und seine Zerfallsprodukte verantwortlich waren für die bronchialen Tumore, unter denen die Joachimsthaler Bergarbeiter litten. Zudem war ihm bekannt, daß Radium im Körper Knochenkalzium verdrängt und daß die tödlichen Folgen der Strahlung erst Jahre nach dem Kontakt mit radioaktiven Substanzen auftreten können. Er warnte, daß kleine Kinder keine Lösungen mit gefährlich hohem Radiumgehalt trinken oder inhalieren sollten, und er kritisierte, daß Schokoladeriegel verkauft wurden, die bis zu 0,064 Mikrogramm des radioaktiven Stoffes enthielten. Er besprach den bekannten Fall von Eben Byers, dem Stahlmagnaten aus Pittsburgh, der an seiner täglichen Radiuminfusion gestorben war. Marx rief dazu auf, Schokoladeprodukte und Lösungen, die Radiumsalz enthielten, zu verbieten. Aber sogar er war der Meinung, daß eine Lösung – solange sie keine Radiumsalze enthielt (Radongas galt offenbar als ungefährlich) und die Dosen auf einem vernünftigen Maß gehalten wurden (er legte keinen Grenzwert fest) – inhaliert oder getrunken werden könne, und daß dies zweifellos eine gesundheitsfördernde Wirkung habe.89 115
Zu den bekanntesten frühen Opfern der radioaktiven Vergiftung gehören die amerikanischen Radium-Skalenmalerinnen. Das tragische Ausmaß dieser Geschichte ist bekannt: Mindestens hundert Frauen, die Instrumentenskalen und neuartige Gebrauchsgegenstände, die in der Dunkelheit leuchten sollten, mit radioaktiver Farbe bemalt hatten, starben an radioaktiver Vergiftung, weil sie die Pinsel jeweils mit den Lippen »zugespitzt« hatten. Die Frauen starben einen schrecklichen und schmerzvollen Tod. Sie erkrankten an Knochen- und Mundhöhlenkrebs, der zunächst als eine Art Geschlechtskrankheit betrachtet wurde. Man erkannte erst später, daß diese Frauen ihrer Arbeit wegen an Krebs erkrankt und gestorben waren.90 Die Herstellung von Leuchtfarben für Skalen war auch in Deutschland ein wichtiger Zweig der Militärindustrie, der zunehmend an Bedeutung gewann, als sich wegen der Bombardierungen durch die Alliierten die Stromausfälle zu häufen begannen.91 Allerdings waren in Deutschland offenbar weniger Frauen betroffen, weil die deutschen Bestimmungen bezüglich der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz strenger waren als andernorts. (Wie in den USA wurden auch in Deutschland für Lackierarbeiten mit Radiumfarben fast ausschließlich Frauen eingestellt.) Folgeschäden waren auch in Deutschland nicht unbekannt – drei Arbeiterinnen in einer Kompressenfabrik in Berlin klagten über Müdigkeit und nervöse Leiden, nachdem sie in radiumhaltiger Luft (von etwa 13 ME) gearbeitet hatten –, aber es scheint, als hätten die deutschen Skalenmalerinnen weniger leiden müssen als ihre amerikanischen Kolleginnen. Der Unterschied scheint darin zu liegen, daß die deutschen Arbeiterinnen die Pinsel nicht in den Mund nahmen.92 Der amerikanische Skandal um die Radiumfarbe hatte eine gewisse symbolische Bedeutung: Die Opfer waren Frauen, ihre Erkrankung tragisch und manchmal tödlich, aber die Anzahl der Betroffenen war relativ gering – vermutlich etwa hundert Todesfälle und mehrere Tausend Verletzte. In Deutschland sind nur ganz wenige Fälle bekannt, bei denen Frauen durch den Kontakt mit Radiumfarbe starben. Der weit größten Krebsgefahr durch Radioaktivität waren die Bergarbeiter ausgesetzt, vor allem die Arbeiter in den Uran-Kobalt-Silber-Bergwerken rund um die sächsische Stadt Schneeberg, nahe der tschechoslowakischen Grenze. Im Erzgebirge südlich von Dresden hatte man schon lange seltene Metalle abgebaut, und in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts stellte man auf der deutschen Seite des 116
Erzgebirges, in Schneeberg, ein ungewöhnlich häufiges Auftreten von Lungenkrebs fest.93 In Joachimsthal, auf der tschechischen Seite der Berge, wurde man rund 50 Jahre später ebenfalls auf Lungenkrebsfälle aufmerksam.94 Zu dieser Zeit bestand bereits der Verdacht, daß die Wurzel des Übels weder ein Tuberkuloseerreger war noch Arsen, Kieselstaub oder Schimmel aus verrotteten Minenstützpfeilern, sondern bei der Strahlung zu suchen war.95 Bereits im Jahr 1905 hatten Wiener Wissenschaftler in der Luft der Bergwerke Strahlung nachgewiesen. Nach dem Ersten Weltkrieg durchgeführte Messungen zeigten, daß die Werte in verschiedenen Gruben der Region zwischen 1 und 50 »Mache-Einheiten« pro Liter schwankten (was rund 400 bis 20000 Picocurie pro Liter in den heute in Amerika gebräuchlichen Maßeinheiten entspricht).96 Eine detaillierte und aufschlußreiche epidemiologische Studie von 1926 ergab (als Kontrollgruppe wurden Arbeiter einer Farbenfabrik in Oberschlema untersucht, zudem eine separate Kontrollgruppe aus der Bevölkerung), daß 60 bis 75 Prozent der Arbeiter in den Uranbergwerken der Region noch immer an Lungenkrebs starben. Dies war eine sehr hohe Rate, wenn man bedenkt, wie wenig diese Krankheit damals in der Gesamtbevölkerung verbreitet war.97 Rostoskis, Saupes und Schmorls Dreijahresstudie veranlaßte die deutsche Regierung, die »Schneeberger Krankheit« (Lungenkrebs bei Arbeitern in den Uranbergwerken) als berufsbedingte und deshalb entschädigungspflichtige Krankheit einzustufen. Die Gefahr war eindeutig nachgewiesen – obwohl damals nicht alle die Meinung teilten, daß die Hauptursache bei der Strahlung lag. In den zwanziger Jahren verdichteten sich die Hinweise, daß die vom Radium ausgehende Alpha-Strahlung für die »Schneeberger Krankheit« verantwortlich war. Mittels Tierversuchen wurden einige der alternativen Hypothesen überprüft – zum Beispiel, daß die Krankheit von Pilzen an den hölzernen Stützpfeilern der Gruben ausgelöst würde, oder auch durch Arsen –, aber die Resultate blieben zweideutig. Man ließ Mäuse unter Laborbedingungen verschiedene Staubarten aus den Zechen einatmen oder fressen,98 aber es bereitete den Wissenschaftlern einige Probleme, die Minenbedingungen im Labor zu simulieren, auch war es generell schwierig, Lungenkrebs in Tierversuchen, unter Bedingungen irgendwelcher Art, zu erzeugen. Das Interesse an der Frage, was die »Schneeberger Krankheit« auslöste, 117
flackerte 1933 erneut auf, als die Bergwerke in Schneeberg – in Erwartung eines wirtschaftlichen Aufschwungs unter der NS-Herrschaft – wieder in Betrieb genommen wurden. (Die meisten Zechen waren 1928 aus ökonomischen Gründen geschlossen worden, die Nachfrage nach kriegswichtigen Metallen wie Radium und Wolfram steigerte das Interesse an den Bergwerken.) Boris Rajewsky, Direktor des Frankfurter Instituts für die physikalischen Grundlagen der Medizin und später ein wichtiger Gesundheits- und Sicherheitsspezialist im deutschen Atombombenprojekt,99 zeigte, daß die Strahlung in den Minen oft 10000 Picocurie pro Liter erreichte – ein außerordentlich hoher Wert.100 Erich Neitzel aus Berlin, der für das Reichsarbeitsministerium tätig war, gelangte zu ähnlichen Resultaten und befand, daß die Arbeit in radonhaltiger Luft über einen längeren Zeitraum auch dann gefährlich sei, wenn diese nur sehr geringe Mengen des Gases enthielt. Neitzel wußte bereits, daß die Hauptgefahr weniger vom Gas selbst als von seinen radioaktiven Zerfallsprodukten ausging, die sich in der Lunge absetzen können, wo sie fortwährend Strahlung abgeben.101 Mittels Experimenten versuchte man herauszufinden, wieviel Radioaktivität im Urin von Bergarbeitern und in der Luft, die sie ausatmeten, enthalten war, und wie sich die Radioaktivitätswerte in der Luft mit unterschiedlichen Wetterbedingungen veränderten.102 Weitere Versuche wurden durchgeführt, mit denen es schließlich gelang – weltweit zum erstenmal –, bei Tieren, die in Gruben gehalten wurden, Lungenkrebs zu erzeugen. Noch 1936 war Julius Löwy dasselbe Experiment mißlungen: Der deutsch-jüdische Professor aus Prag hatte zuvor, im Jahr 1929, als erster nachgewiesen, daß die Krankheit, an der die Joachimsthaler Bergarbeiter litten, dieselbe wie die »Schneeberger Krankheit« war.103 1936 berichtete er jedoch, daß die Kaninchen und Ratten, die den Staub aus den Gruben einatmeten, alle an den akuten Folgen der Strahlung gestorben seien.104 Der Industriearzt Arthur Brandt, der für die Dresdner Regierung arbeitete, hatte offenbar als erster die Krebsgefahr unter Laborbedingungen rekonstruieren können. Seine 1938 veröffentlichten Resultate zeigten, daß 25 Prozent der Mäuse, die während eines Jahres in den Schächten aufgezogen worden waren, bei der Obduktion Tumore aufwiesen.105 Dies war der erste Tierversuch, mit dem schlüssig nachgewiesen wurde, daß die Luft in den Gruben Lungenkrebs verursachen konnte. 118
Zu dieser Zeit wurde Radon allgemein als wahrscheinlichste Ursache der »Schneeberger Krankheit« angesehen. Der Hauptarzt der Deutschen Arbeitsfront, Hermann Hebestreit, stellte 1939 in einem Artikel unmißverständlich fest, daß »der Lungenkrebs in den Joachimsthaler Uranerzgruben gleichfalls auf radioaktive Stoffe zurückzuführen« sei.106 Nicht alle waren mit diesem Befund einverstanden: Franz Strnad aus Prag war beispielsweise im Jahr 1938 zu dem Ergebnis gelangt, die Radiumausstrahlung (Radon) sei zwar ein wahrscheinlicher Grund für die »Schneeberger Krankheit«, dennoch sei in der Sache noch nichts endgültig bewiesen.107 Die meisten Experten hielten indes Radon tatsächlich für die Hauptursache der Krankheit. Die Deutschen waren damit weltweit die ersten, die – offiziell – anerkannten, daß Radon für Lungenkrebserkrankungen bei Uran-Bergarbeitern verantwortlich war. Im Gegensatz dazu zweifelten die US-Gesundheitsbehörden noch 1950 an dieser ursächlichen Verbindung. Die deutschen Uran-Grubenarbeiter erhielten seit den späten zwanziger Jahren Entschädigungszahlungen für die durch ihre Arbeit verschuldeten Lungenkrebserkrankungen. Die Amerikaner hingegen mußten warten, bis 1991 der »Radiation Exposure Compensation Act« verabschiedet wurde.108 Interessant ist auch, daß die verschiedenen Berufsgruppen in Deutschland zu höchst unterschiedlichen Schlüssen gelangten, was die Wirkungen des Radiums anging – die einen glaubten an eine heilende Kraft, die anderen an eine schädigende. In der Arbeitsmedizin tätige Ärzte bemerkten schon bald, daß Radon die wahrscheinlichste Ursache für Lungenkrebs bei Bergarbeitern war. Die Ärzte in den Heilbädern – die sich oft in der unmittelbaren Nähe von Bergwerken befanden – vertraten dagegen eher die Ansicht, daß das radioaktive Gas den Körper heile. Ärzte aus Kurbädern hatten 1939 Belege dafür publiziert, daß bereits ein Millionstel eines Gramms Radium im Körper eine tödliche Wirkung haben konnte. Aber sie beharrten für gewöhnlich darauf, daß das Radon, das man in den Heilbädern einatmete (zum Beispiel aus Mineralquellen) vollkommen unbedenklich sei. Ausgeklügelte Theorien wurden vorgebracht, die erläutern sollten, wie das Radon dem Körper neue Energien zuführe. So wurde in der Besprechung einer deutschen Radontherapie im Jahr 1938 argumentiert, das radioaktive Gas fördere den Sauerstoffaustausch und stimuliere die Zellen und das Gewebe, ohne nennenswerten Schaden anzurichten. Die Radontherapie wurde als be119
sondere Art der »Schocktherapie« bezeichnet, wodurch die Selbstheilungskräfte des Körpers geweckt und gestärkt würden.109 Natürlich legte die nationalsozialistische Ideologie auf die Gesundheit bestimmter Menschen mehr Wert als auf diejenige anderer. Dies wird unter anderem aus der Korrespondenz darüber ersichtlich, wer in den Bergwerken arbeiten sollte. Am 19. November 1938 schrieb der SS-Oberführer und Regierungspräsident Hans Krebs an Himmler und bat ihn darum, in Joachimsthal KZ-Häftlinge zu beschäftigen, um »unsere armen« sudetendeutschen Bergleute von der Arbeit zu befreien, die sie schon als Vierzigjährige das Leben kosten konnte. Himmler stimmte unter der Bedingung zu, daß die Gefangenen nach zwei oder drei Jahren freigelassen würden, falls sie gute Führung zeigten. Allerdings bleibt unklar, ob solche Vorschläge jemals in die Tat umgesetzt wurden.110 Bekannt ist hingegen, daß nach dem Krieg Zehntausende von politischen Gefangenen in den Joachimsthaler Bergwerken arbeiteten und 90000 Tonnen Uran für das sowjetische Atomarsenal förderten. Tausende dieser Arbeiter starben an Lungenkrebs.111 Auch die Schneeberger Gruben wurden ausgebeutet, dort wurden rund 200000 Tonnen für das sowjetische Nukleararsenal gefördert, die den Russen als Teil der deutschen Reparationszahlungen nach dem Krieg billig verkauft wurden. Es waren dies enorme Unterfangen: Allein in der Uranförderung in Ostdeutschland, die unter dem Decknamen »Wismut« lief– das Wort existiert auch im Russischen –, arbeiteten im Jahr 1949 80000 Männer und Frauen, von denen viele als Zwangsarbeiter begonnen hatten.112 Schließlich waren über eine halbe Million Menschen zum einen oder anderen Zeitpunkt im Projekt »Wismut« beschäftigt, bis nach der Wiedervereinigung von 1990 die meisten Schächte geschlossen wurden.113 Die Region um die Schneeberger Gruben ist heute eines der größten Gebiete Europas mit ökologischen Altlasten. Man versucht dort einen der weltweit schrecklichsten gesundheitspolitischen Alpträume zumindest teilweise vergessen zu machen. In den frühen neunziger Jahren sagte der Direktor des deutschen Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) voraus, der Bergbau werde unter den Einwohnern der Region Schneeberg möglicherweise noch Zehntausende von Todesopfern fordern – zwischen 10000 und 15000 würden an Lungenkrebs sterben – und rund doppelt so viele an Silikose.114 Die Ge120
sundheitsbehörden der DDR hatten vor 1989 bereits 5200 durch Strahlung verursachte Lungenkrebsfälle anerkannt.115 Auch in den Häusern, die in der Nähe der verlassenen, die ganze Region durchziehenden Schächte stehen, ist der Radongehalt in der Luft sehr hoch. Die deutschen Umweltbehörden empfehlen einen Wert von nicht mehr als 250 Becquerel pro Kubikmeter Luft in Wohnungen, aber man hat Häuser gefunden, in denen der Radongehalt 400mal höher lag. Wie in einigen Regionen der USA findet man Radon auch in Häusern, die abseits der Zechen liegen – eine Folge der natürlichen Bodendurchsickerung unter den Grundmauern.116 Ein weiterer interessanter Aspekt der Schneeberger Urangeschichte ist, daß die Amerikaner, die diese Gegend gegen Ende des Krieges besetzten, sich der militärischen Bedeutung der Region offenbar nicht bewußt waren. Die US-Behörden waren sich nicht einig über die Frage, ob es möglich sei, die Nachkriegsproduktion von Uran zu monopolisieren. General Leslie R. Groves vertrat 1945 die Meinung, in Rußland gebe es keine Uran vorkommen. Aber James B. Conant und Vannevar Bush, beides Verantwortliche im »Manhattan Project«, hatten den Kriegsminister Henry L. Stimson bereits im Herbst 1944 darauf hingewiesen, daß es für andere Nationen nicht schwierig sei, an Rohstoffe für die Bombenherstellung zu gelangen.117 Es scheint, als hätten die amerikanischen Behörden die Uranvorkommen in dieser Region übersehen – vielleicht, weil man bereits im nicht weitergeführten deutschen Atombombenprojekt heimische Vorkommen vernachlässigt und statt dessen Uran aus den Bergwerken in Belgisch-Kongo verwendet hatte. Dieser Irrtum ist erstaunlich, vor allem wenn man bedenkt, daß die Angst vor einer deutschen Kontrolle über die Joachimsthaler Bergwerke der ursprüngliche Anlaß für Albert Einsteins berühmten Brief an Präsident Roosevelt war, in dem er die Möglichkeit eines nationalsozialistischen Bombenprojekts erörterte. Die ganze Geschichte wird noch merkwürdiger in Anbetracht der Tatsache, daß J. Robert Oppenheimer – der Mann, der ausgewählt wurde, um das »Manhattan Project« zu koordinieren, und der »Vater der Atombombe« – seine Doktorarbeit an der »Ethical Culture School« in New York ausgerechnet über die Joachimsthaler Minen geschrieben hatte. Joachimsthal hatte vor dem Ersten Weltkrieg ein weltweites Monopol auf die Radiumversorgung und besaß noch immer Reserven für ein ganzes Jahrhundert – wenn man dem Bericht einer deutschen Krebszeitschrift aus dem 121
Jahr 1938 Glauben schenken darf.118 Deshalb ist es sehr eigenartig, daß die US-Behörden das Atompotential der Region nicht erkannten. Die sowjetischen Behörden waren jedoch aufmerksamer: Bereits im Juni 1945, noch bevor der Krieg in Ostasien zu Ende war, wurden sowjetische Geologen nach Schneeberg geschickt, um die Uranvorkommen zu prüfen. Die Sowjetunion erhielt die Kontrolle über diese Region erst gegen Ende des Sommers 1945, als die US-Armee, im Tausch gegen West-Berlin, das Gebiet räumte. Das Wissen um die Uranvorkommen mag ein Grund dafür gewesen sein, daß sich die Sowjetunion auf diesen Handel einließ. Im Januar 1946 hatten die sowjetischen Behörden die Erkundung der Region abgeschlossen, und im Sommer desselben Jahres wurden die Pläne für den Uranabbau entworfen.119 Die US-Behörden müssen ihr Versehen schließlich bitter bereut haben: Der Vorsitzende des AEC, Gordon Dean, schrieb 1953, die Joachimsthaler Minen allein könnten ein beträchtliches Atomenergieprogramm ermöglichen.120
TÖDLICHER STAUB Nicht nur die Röntgenstrahlung, Radium und Uran hatten die deutschen Gesundheitsbehörden schon früh in ihre Schritte einbezogen, um der Gefahren am Arbeitsplatz Herr zu werden. Deutsche Fabrikärzte hatten bereits seit einiger Zeit vor den Risiken des Staubinhalierens gewarnt: Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts äußerte man Bedenken darüber, daß Arbeiter Staub und bleihaltige Farbpartikel einatmeten, und kurze Zeit später war auch bereits die Silikose bekannt, die durch das Einatmen sehr feiner Quarzpartikel ausgelöst wird. Daß man sich vermehrt um diese Risiken sorgte, war teilweise den Aktivitäten der Arbeiterschaft zu verdanken. Die Ursache des Übels lag in den verbesserten Bohr-, Schleif- und Schneidtechniken, wodurch die Arbeiter viel größeren Staubmengen als zuvor ausgesetzt waren. Preßluftbohrer und -hämmer, zusammen mit neuen elektrisch betriebenen Schneid- und Schleifwerkzeugen verschiedenster Art, produzierten viel mehr Staub als handbetriebene Werkzeuge, wodurch die durch Staub verursachten Krankheiten (von Asthma über Tuberkulose bis hin zu Lungenkrebs) drastisch zunahmen. 122
Die bekanntesten frühen Staubkrankheiten standen in keinerlei Verbindung mit Krebs. Das vordringlichste Problem – zusätzlich verschärft durch den Mangel an wirksamen Gesundheitsvorschriften und die Bereitschaft der Arbeiter, gefährliche Tätigkeiten auszuüben – waren akute Vergiftungen. Krebs war nur eines der Dutzenden von Risiken, die ein Grubenarbeiter, ein Schleifarbeiter oder ein Farbenmischer im 19. Jahrhundert auf sich nahm. Auch lebten viele von ihnen nicht lange genug, um an bösartigen Tumoren zu erkranken. Die Krebszahlen wurden zudem durch die lange Zeitspanne – oder »Latenzzeit« – verschleiert, die zwischen dem Kontakt mit der gefährlichen Substanz und dem Auftreten der bösartigen Krankheitssymptome liegt. Zeitliche Verzögerungen dieser Art waren bereits im 19. Jahrhundert beobachtet worden, als man Krebs bei Schornsteinfegern untersuchte,121 aber erst im 20. Jahrhundert wurde thematisiert, daß die Latenz ein generelles Merkmal von Krebs ist. Rostoski, Saupe und Schmorl stellten in den zwanziger Jahren fest, daß die Bergleute in Schneeberg oder Joachimsthal im allgemeinen zehn oder zwanzig Jahre in den Gruben arbeiteten, bevor sie an Lungenkrebs erkrankten. Zudem bemerkten sie, daß mindestens ein Opfer 22 Jahre lang nicht mehr unter Tage gearbeitet hatte, als es erkrankte.122 Man erkannte schließlich, daß auch viele andere Krebsarten lange Latenzzeiten haben: Cecil W. Rowntree aus England vertrat beispielsweise 1922 die Ansicht, daß es bis zu 17 Jahre dauern könne, bis sich Krebs nach übermäßigem Kontakt mit Röntgenstrahlen entwickle. Aus diesen und anderen Berichten – zum Beispiel über die Risiken in Petroleum- und Chromatfabriken – ergab sich die Schlußfolgerung, daß Krebs im allgemeinen erst Jahre oder sogar Jahrzehnte nach dem Kontakt mit der gefährdenden Substanz entstand.123 Chrom war eine der ersten Metallstaubarten, die als krebserregend galten, nachdem man im Jahre 1911 beobachtet hatte, daß Arbeiter aus Chromfabriken an Lungenkrebs erkrankten und starben.124 Chromverschalungen wurden modern, und in vielen beliebten Farbstoffen verwendete man zunehmend Chromsalze und -oxide. Die kranken Chromarbeiter begann man erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wahrzunehmen, und 1911 entstand ein ganzes Buch über die Gefahren dieses Industriezweigs.125 Eine Studie aus dem Jahr 1936 zeigte dann, daß in den vorangegangenen zehn Jahren vierzig Prozent aller Arbeiter in einer chemischen Fabrik in Griesheim (wo Chrom123
sulfate und andere Industriechemikalien produziert wurden) an Lungenkrebs erkrankt waren. Der Autor prophezeite, daß in jeder größeren Chromfabrik in Deutschland Arbeiter an Lungenkrebs erkranken würden.126 Eine weit älteres Problem waren die Arsendämpfe. Im Jahr 1822 berichtete John A. Paris, ein Mitglied der Royal Society of London und Oberarzt am Westminster Hospital, über Hautkrebs bei Arbeitern aus Wales und Cornwall, die in Kupferschmelzen und Blechgießereien arsenhaltigen Dämpfen ausgesetzt waren. Auch Tiere waren offenbar davon betroffen: Man beobachtete in dieser Gegend, wie Pferde und Kühe wegen der Schmerzen, welche die Tumore verursachten, auf den Knien herumkrochen.127 Menschen, die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegen Schuppenflechte mit Kaliumarsenit behandelt wurden, trugen ein höheres Risiko, an Hautkrebs zu erkranken, als die allgemeine Bevölkerung. Auch die Gemeinden, in denen die Leute mit Arsen verunreinigtes Wasser tranken, wiesen überdurchschnittlich hohe Krebsraten auf.128 In den zwanziger Jahren wurden Befürchtungen wegen der arsenhaltigen Pestizide laut, mit denen man die Weinberge zur Schädlingsbekämpfung spritzte. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg hatte man damit begonnen, die Weinberge aus der Luft zu besprühen – den Anlaß dazu bildete nicht nur die kriegsbedingte Verbesserung der zweimotorigen Flugzeuge, sondern auch die Erkenntnis, daß einige der neuen Rebsorten besonders krankheitsanfällig waren. Im Jahr 1929 produzierte Deutschland 1500 Tonnen Arsen, wovon der größte Teil in Weinbergen zum Einsatz kam. Die deutsche Weinproduktion wuchs von 1929 bis 1938 um 60 Prozent, was hauptsächlich auf den zunehmenden Einsatz von Arsen in der Schädlingsbekämpfung zurückzuführen war.129 Vergiftungen kamen nun immer häufiger vor. Das Pestizid hinterließ im Wein und im Traubensaft Rückstände, aber auch im Staub, der aufwirbelte, wenn die Weinberge gepflügt wurden.130 Chronische Arsenvergiftungen wurden bereits vor dem Ersten Weltkrieg als Berufskrankheit erkannt. Das Leiden – vor allem unter Glas- und Stahlarbeitern – war neben Blei-, Quecksilber- und Phosphorvergiftungen eine der ersten durch die Arbeitstätigkeit verursachten Krankheiten, für die eine Meldepflicht bestand.131 In der deutschen »Berufskrankheitenverordnung« von 1925 wurde die Arsenvergiftung zusammen mit acht anderen Vergiftungsarten als entschädigungspflichtige Berufskrankheit anerkannt (die 124
aufgeführten Substanzen waren: Blei, Phosphor, Quecksilber, Benzol, aromatische Nitroverbindungen, Carbonidsulfide, Röntgenstrahlen und radioaktive Substanzen sowie krebserregende Materialien wie Paraffin, Teer, Anthracen und Pech, das vor allem die Haut angriff).132 Arbeiter in der Glasund Stahlindustrie waren die bekanntesten frühen Opfer von Arsenvergiftungen, aber auch Menschen, die in Weinbergen arbeiteten, waren zunehmend in ernster Gefahr. Ernst W. Baader rief 1929 die chemische Industrie auf, einen Ersatz für Arsen als Pestizid zu finden, und er warnte 1937 davor, daß diese Substanz bereits in sehr kleinen Mengen Krebs auslösen könne; er wies auch darauf hin, daß Krebs in der Umgebung von Fabriken, in denen mit Arsen gearbeitet wurde, häufiger auftrat als sonst. Karl Reinhart bemerkte in seiner umfassenden Untersuchung von 1943, daß es im Jahr 1940 589 verifizierte Fälle von Arsenvergiftung unter Winzern gegeben habe, darunter auch einige Krebserkrankungen.133 Das Problem verlor um 1940 etwas an Dringlichkeit, als Insektizide wie Pyrethrum und Chrysanthol eingeführt wurden und das Arsen ersetzten –- auch der Einsatz von Nikotin als Pestizid wurde gefördert.134 Die Partei-Kanzlei der NSDAP verbot den Gebrauch von arsenhaltigen Pestiziden im Februar 1942, erlaubte den Winzern aber, ihre Vorräte bis zum 30. Juni 1942 aufzubrauchen.135 Den Winzern war früher schon verboten worden, bleihaltige Substanzen anzuwenden. Anders als die Weinreben durften Kulturpflanzen wie Erdbeeren oder Tomaten weiterhin mit arsenhaltigen Pestiziden behandelt werden, aber es bestanden unter anderem strenge Vorschriften, wann und wie die Arbeiter spritzen durften und welche Schutzkleidung sie tragen mußten.136 Die deutschen Betriebsärzte waren überwiegend der Ansicht, jeglicher Kontakt mit Industriestaub sei schädlich, aber es war ihnen auch klar, daß wohl die meisten Betroffenen unter Quarz- oder Kieselstaub litten. Die »Quarzstaublunge« wurde als die schlimmste aller durch die Arbeitstätigkeit verursachten Lungenkrankheiten angesehen: Man sagte (und vielleicht zu Recht), am Quarzstaub würden mehr Menschen sterben als an allen anderen Staubarten zusammen. In der deutschen medizinischen Literatur der dreißiger Jahre finden sich Hunderte von wissenschaftlichen Artikeln zu diesem Thema, die alle möglichen Aspekte der Krankheit behandeln – von der schädlichsten Partikelgröße bis hin zum möglichen Krebsrisiko.137 Die Silikose drohte allen, die regelmäßig Staub einatmeten, aber vor allem den Ar125
beitern in Stahlgießereien – man arbeitete dort mit Sand, um die Schmelzmischungen für flüssiges Roheisen herzustellen – und denjenigen, die mit Schleifmitteln auf Quarzbasis arbeiteten (das Produkt »Comet« enthält Quarzsand zum Abschmirgeln), sowie den Arbeitern in Porzellanfabriken und Ziegeleien, in Zechen und Sandbläsereien und denjenigen, die Sand oder Felsstaub ausgesetzt waren. Die Entwicklung maschineller Werkzeuge zur Bearbeitung von Fels (zum Beispiel der Preßlufthammer, der um den Ersten Weltkrieg eingeführt wurde) hatte die Gefährdung durch Felsstaub dramatisch gesteigert – eine Tatsache, die den deutschen Fabrikärzten der dreißiger Jahre wohlbekannt war.138 Otto Schulz, der medizinische Direktor des Instituts für Berufskrankheiten an der Universität Berlin, wies 1939 daraufhin, daß bereits ein oder zwei Jahre Arbeit in einer staubigen Umgebung ausreichten, um Silikose auszulösen, und daß die Symptome typischerweise erst dann auftraten, wenn der Kontakt mit dem gefährlichen Staub vorüber war. Schulz machte auf das schreckliche Beispiel von Gauley Bridge in West Virginia aufmerksam, wo Hunderte von Afroamerikanern an akuter Silikose gestorben waren, nachdem sie beim Bau eines Tunnels für die Firma »Union Carbide« große Mengen von Staub eingeatmet hatten. Er wies zudem auf den großen wirtschaftlichen Schaden hin, den die Krankheit in Deutschland anrichtete: Von 1929 bis Ende der dreißiger Jahre wurden in Übereinstimmung mit den deutschen Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen mehr als sechzig Millionen Reichsmark an silikosekranke Arbeiter und deren Angehörige gezahlt. Schulz forderte eine »Lösung des Staubproblems«, die regelmäßige Reihenuntersuchungen umfassen sollte, zudem sollten alle Arbeiter, die erste Symptome der Krankheit zeigten, in andere Fabriken versetzt werden. Es sei dringend notwendig zu handeln, weil sehr viel »Menschengut« an die Krankheit verlorengehe.139 Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden schon früh Schritte unternommen, um gegen die Staubkrankheiten in der deutschen Industrie vorzugehen. Am 4. April 1934 wurde von der »Steinbruchs-BG« eine »Staubbekämpfungsstelle« eingerichtet, um die Aktivitäten zu koordinieren. Die Stelle erforschte die Konstruktion von Schutzglocken und Vakuumvorrichtungen sowie neue Arten von Filtern und Ventilationsanlagen und suchte nach Möglichkeiten, die Sicherheitseinrichtungen besser zu unterhalten. In 126
Thüringen arbeitete die Staubbekämpfungsstelle mit der Schieferdachindustrie zusammen, um die Staubmenge bei der Schieferspaltung zu reduzieren und die Staubentwicklung einzudämmen, der die Steinmetze und die Zement-, Sand- und Kalkarbeiter ausgesetzt waren. In vielen dieser Industriezweige mußten sich die Arbeiter regelmäßigen medizinischen Untersuchungen unterziehen (zum Beispiel die Sandbläser). Man hoffte, so erste Anzeichen einer Silikose entdecken zu können, obwohl auch Zweifel laut wurden, ob sich die Krankheit im Frühstadium überhaupt diagnostizieren lasse.140 Die Schutzbekleidung war größtenteils recht schwerfällig (und ist es heute noch, muß man hinzufügen), bei den Masken konnte man aber Qualität und Bequemlichkeit verbessern. Synthetische Schleifmittel ersetzten die gefährlicheren steinstaubhaltigen Mittel in der metallverarbeitenden Industrie, und für besonders riskante Industriezweige (wie das Sandblasen) wurden Atemgeräte entwickelt, die Taucherausrüstungen ähnelten.141 Die Staubbekämpfungsstelle richtete ein Labor ein, in dem verschiedene Maskentypen getestet wurden, zudem setzte sie eine besondere Arbeitsgruppe ein, die Fortschritte in der Maskentechnik erzielen sollte.142 Im Jahr 1936 wurde eine Zeitschrift gegründet, Staub: Reinhaltung der Luft, die sich mit den Technologien zur Staubkontrolle beschäftigte. Sie erschien bis ins Jahr 1943 und wurde nach dem Krieg vom Institut für Staubforschung der Universität Düsseldorf weitergeführt. Staub war eine der beinah zwei Dutzend neuen Gesundheitszeitschriften, die im »Dritten Reich« gegründet wurden. Auch Krebs war ein Thema unter den deutschen Betriebsärzten, die sich mit Silikose beschäftigten. Eine Dissertation aus dem Jahr 1934 thematisierte den Zusammenhang zwischen Silikose und Lungenkrebs. Die Hauptfrage war dabei, ob der von den Kohlearbeitern im Ruhrgebiet eingeatmete Quarzstaub bösartige Krebsgeschwüre verursache. Obwohl diese Studie die Frage negativ beantwortete (Silikosekranke waren nicht besonders anfällig für Lungenkrebs), ist das Interesse an dieser Frage an sich bemerkenswert.143 Man erforschte zudem das krebserregende Potential von Sericit (einem seidengrünen Glimmer, der in der Industrie Verwendung fand)144 und das Potential von Fiberglas, Silikose auszulösen.145 Die Frage, ob Quarz krebserregend ist, konnte zur Zeit der NS-Herrschaft nicht beantwortet werden – und auch heute, mehr als ein halbes Jahrhun127
dert später, gibt es noch keine klare Antwort. Was aber relativ eindeutig nachgewiesen werden konnte – in Deutschland früher als andernorts –, ist das todbringende Potential von Asbest.
ASBEST – DAS TOTENHEMD DER KÖNIGE Bei der Entlarvung von Asbest als einer krebserregenden Substanz handelt es sich um eines der bemerkenswertesten Ereignisse der damaligen Erforschung von Industriestaub. Asbest ist ein Magnesiumsilikat, aber der Asbeststaub ist lang und faserig, und diese Eigenschaften sind so ausgeprägt, daß man die Fasern sogar zu feuerfesten Stoffen verweben kann. Man sagt, Karl der Große habe Festmahle auf Tischtüchern aus diesem Material abgehalten und seine Gäste damit verblüfft, daß er das Tuch nach dem Mahl ins Feuer warf, aus dem man es später unbeschädigt wieder herauszog. Im Mittelalter wurden Könige in einem versiegelten Totenhemd aus Asbest eingeäschert – nur die Knochen blieben übrig, sauber und unversehrt. Aus diesem Grund erhielt die Substanz Bezeichnungen wie »magisches Mineralium« oder »Totenhemd der Könige«. Die gleichen Eigenschaften jedoch, die das Material webbar machen, lassen es auch zur tödlichen Gefahr werden. Die langen, dünnen Fasern gehen leicht in die Luft über, werden eingeatmet und setzen sich in der Lunge ab, wo sie jahrelang überdauern und eine Krankheit verursachen können, die man als »Asbestose« kennt. In der modernen Medizin wird dieses Leiden erstmals in England gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben, obwohl man schon seit Jahrhunderten mit Asbest arbeitete und es wahrscheinlich schon manche Erkrankung und manchen Todesfall verursacht hatte.146 Wegen der eingeschränkten Lungenkapazität und der damit verbundenen Komplikationen ersticken – oder ertrinken – die Opfer. Die Krankheit ist offenbar mit dem Gefühl zu vergleichen, als würde einem langsam ein eisernes Band um den Brustkorb zusammengezogen. Deutschland war nie ein wichtiger Produzent von Rohasbest. Vielleicht erkannte man aus diesem Grund erst 1914, daß Asbest tödliche Wirkungen haben kann – zu einer Zeit, als sich die Engländer und Amerikaner bereits eingehend mit dem Thema beschäftigt hatten. In Deutschland wurden viel128
mehr Fertigwaren aus Asbest hergestellt, und bei den damit verbundenen Tätigkeiten erkrankten auch die ersten Arbeiter. Man nannte Asbest damals zumeist »Bergflachs«, und die Krankheit »Asbestose« war schon bald als »Bergflachslunge« bekannt – ein ziemlich rustikaler Euphemismus für eine Krankheit mit derart zerstörerischem Potential.147 Ein mögliches Krebsrisiko erkannte man erst in den dreißiger Jahren, als bereits Zehntausende von Arbeitern – vor allem im Schiffbau – täglich mit diesem Material arbeiteten. Die wärmedämmenden und feuerfesten Eigenschaften des Materials waren beeindruckend, deshalb verwendete man Asbest unter anderem dazu, Dampfrohre zu isolieren oder die Kessel von Dampfmaschinen zu versiegeln und vor Feuer zu schützen. Asbest wurde auch für Bremsen und Kupplungen benutzt, zudem wurde es eingesetzt, um Zement zu härten oder Farben, Textilien und Baumaterialien (zum Beispiel für Dächer und Bodenfliesen) feuerfest zu machen. Im Jahr 1938 erkannte man, daß Asbest die Entstehung von Lungenkrebs fördert. Drei deutsche und eine österreichische Untersuchung lieferten damals überzeugende Beweise für eine solche Verbindung.148 In England und Amerika war schon früher gelegentlich auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Asbest und Lungenkrebs hingewiesen worden,149 aber zu diesem Zeitpunkt waren die deutschen Berichte die umfassendsten und überzeugendsten, und sie beinhalteten die klarsten Schlußfolgerungen.150 Franz Koelsch bemerkte in seinem Beitrag, daß die zwölf Lungenkrebsfälle, die bis dahin auf Asbest zurückgeführt worden waren, die Verbindung nicht sicher bewiesen, wenngleich sie wahrscheinlich sei. Andere Mediziner waren weniger zögerlich: Ludwig Teleky aus Wien vertrat die Ansicht, es sei äußerst wahrscheinlich, daß Asbestose die Entstehung von Lungenkrebs begünstige.151 Der Hannoveraner Pathologe Martin Nordmann zeigte die Verbindung am klarsten auf: Asbestarbeiter seien zweifellos einem Lungenkrebsrisiko ausgesetzt; bei rund 12 Prozent aller Arbeiter, die an Asbestose litten, entwickle sich Lungenkrebs. Nordmanns Fazit lautete, in Deutschland gebe es nun eine neue Krebsgefahr am Arbeitsplatz.152 Zu dieser Zeit hatten die deutschen Behörden bereits Schritte unternommen, um das Risiko für Asbestarbeiter zu verringern – inzwischen konnte man diese Maßnahmen auf eingehende Kenntnisse über die neue, beängstigende Gefahr stützen. Als 1936 eine Kampagne zur Bekämpfung von Indu129
striestaub angestrengt wurde, war eines der Hauptziele der Kampf gegen den Asbest.153 Man führte neue Lüftungssysteme ein, und die schmutzigsten Arbeiten sollten nur noch unter einer Glocke durchgeführt werden, in der man den Staub vom Arbeitsplatz absaugen konnte. Im Jahr 1937 wurde vom Reichsarbeitsministerium in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsschutz eine Unterkommission für Asbestose gegründet. Das neue Gremium setzte sich aus Experten für Mineralogie, Staubtechnologie, Versicherungswesen, klinische Medizin, Pathologie und Physiologie zusammen, den Vorsitz hatte Ernst Baader inne. Die Kommission erforschte, wie die Krankheit entstand und wie man sie verhindern konnte. Man inspizierte Arbeitsplätze und fand heraus, daß die größten Asbestmengen bei den ersten Produktionsschritten freigesetzt wurden, wenn das Mineral zermahlen, geschreddert und gekämmt wurde. Das neu erfundene »Übermikroskop« (ein von Siemens entwickeltes Elektronenmikroskop, mit dem man bis zu 40000fach vergrößern konnte – siehe Abb. 4.2) wurde eingesetzt, um die Frage zu klären, ob die Asbestose durch chemische Prozesse oder durch mechanische Irritationen entstand (man fand mikroskopisch kleine Fasern im Lungengewebe, was auf eine mechanische Irritation hindeutete).154 Verbesserte Lüftungstechniken wurden empfohlen und Arbeiter in zahlreichen Fabriken auf Symptome für Asbestose hin untersucht. Diese Untersuchungen wurden zumeist mittels Röntgenaufnahmen durchgeführt, manchmal aber auch mittels Blut- und Urintests. Auch Günther Lehmanns seltsame Methode, mit der die Filterfähigkeit der Nase getestet wurde, setzte man ein, um bestimmen zu können, wer mehr und wer weniger disponiert für asbestbedingte Erkrankungen war (die Fachleute waren dabei allerdings nicht besonders enthusiastisch).155 Die Anerkennung des Lungenkrebsrisikos veranlaßte die Behörden, die erlaubten Grenzwerte für Staub nach unten zu korrigieren. Am 1. August 1940 gab Baaders Komitee offizielle Richtlinien heraus, in denen die akzeptablen Staubmengen und die Techniken, die zur Reduzierung des Staubs genutzt werden konnten, festgelegt wurden. Mit diesen Richtlinien wurde bestimmt, daß niemand unter 18 Jahren mit Asbest arbeiten dürfe, zudem wurde die Krebsgefahr erneut bestätigt.156 Auch die Entstehung der bösartigen Krebsgeschwüre wurde weiterhin erforscht. Alfred Welz, ein Student Nordmanns, berichtete in einem Artikel von 1942 über einen an Lungenkrebs erkrankten 130
ABB. 4.2. Siemens-Übermikroskop. Mit diesem Instrument fand man Asbestpartikel in Lungentumoren. Quelle: Reiter und Breger, Deutsches Gold, S. 476.
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Arbeiter, der nur vier Jahre lang mit der Faser gearbeitet hatte.157 Ein Jahr später publizierte Hans-Wilfried Wedler aus Berlin eine Untersuchung, die zeigte, daß Asbestarbeiter einem hohen Risiko ausgesetzt waren, an einer seltenen Krebsart namens Mesothelioma zu erkranken, die das Brustfellgewebe (die Pleura) entlang der Außenseite der Lungen befällt.158 Deutschland war zu diesem Zeitpunkt in der Erforschung der Zusammenhänge zwischen Lungenkrebs und Asbest unbestritten führend. In einem Lehrbuch von Wedler aus dem Jahr 1939 findet sich weltweit zum erstenmal die Bemerkung, es bestehe »kaum ein Zweifel daran«, daß Asbest in der Lunge zu Krebs führen könne.159 Im Jahr 1941 wiesen Nordmann und sein Kollege Adolf Sorge, ein Mitglied der NSDAP und SS-Offizier, in einem Tierversuch nach, daß Asbest Lungenkrebs verursachen kann (siehe Abb. 4.3). Während mehrerer Wochen setzten die beiden Forscher Labormäuse asbesthaltigem Staub aus, worauf zwanzig Prozent der überlebenden Tiere bösartige Tumore entwickelten (ein noch viel höherer Anteil der Mäuse wies erste Symptome einer Krebserkrankung auf).160 Ein Artikel aus dem Jahr 1942 lobte die wissenschaftliche Arbeit aus Hannover und betonte, wie weit die Meinungen von deutschen und englisch-amerikanischen Forschern auseinanderlägen. Während man in Deutschland den Zusammenhang zwischen Krebs und Asbest klar bejahte, äußerte man sich im englischsprachigen Raum nur mit großer Zurückhaltung zu dieser Frage.161 Nordmann selbst bemerkte, der Vorsitzende der deutschen Unterkommission für Asbestose – Ernst Baader – sei davon überzeugt, daß tatsächlich eine Krebsgefahr bestehe.162 Im Jahr 1943 war das NS-Regime weltweit die erste Regierung, die durch Asbest verursachten Lungenkrebs und Mesothelioma für entschädigungspflichtige Berufskrankheiten erklärte.163 Amerikanische Anwälte benutzten die Ergebnisse der nationalsozialistischen Forschung später als Beweis dafür, daß der Zusammenhang zwischen Asbest und Lungenkrebs schon zu einem früheren Zeitpunkt bekannt gewesen war, als Johns-Manville und andere Asbesthersteller behaupteten.164 Deutsche Spezialisten für Berufsmedizin – sogar in großen Industriebetrieben wie der I. G. Farben – hatten die Krebsgefahr bereits zu Anfang der vierziger Jahre eingeräumt;165 auch in weitverbreiteten Handbüchern zur Arbeitsmedizin wurde auf den Zusammenhang hingewiesen.166 132
ABB. 4.3. Die Pathologen Martin Nordmann und Adolf Sorge an der UniversitätHannover zeigten mit dieser Vorrichtung, daß eingeatmeter Asbeststaub bei Mäusen Lungenkrebs verursachen kann. Sie übten Kritik an ihren englischen und amerikanischen Kollegen, die die Asbestgefahr für den Menschen nicht erkannt hatten. Beide Ärzte waren Mitglied der NSDAP, Sorge war zudem SSOffizier. Quelle: Martin Nordmann, Adolf Sorge, »Lungenkrebs durch Asbeststaub im Tierversuch«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 51 (1941), S. 170.
Warum dauerte es dann außerhalb Deutschlands so lange, bis man die Verbindung zwischen Asbest und Lungenkrebs anerkannte? Wenn wir diese Frage beantworten wollen, müssen wir zwei Dinge berücksichtigen: erstens die konservative Haltung der Epidemiologie in der Nachkriegszeit und zweitens die nach dem Krieg gängige Verachtung für alles Deutsche, das Stigma des Nationalsozialismus. Letzteres war offensichtlich, so bemerkt Philip Enterline in seiner Geschichte über Asbest und Krebs: »Deutsche Literatur und deutsche Gesetze waren 1943 nicht sehr populär« –167 und das blieb noch einige Zeit so. Was die konservative Haltung der Epidemiologie angeht, ist der Sachverhalt komplizierter. Zunächst war die Epidemiologie, wie sie in den fünfziger 133
Jahren entwickelt wurde, auf eine große Anzahl »Fälle« angewiesen (zum Beispiel Lungenkrebserkrankungen bei Asbestarbeitern), den frühen Asbestforschern standen aber solche Zahlen nicht immer zur Verfügung, Selbst nach Nordmanns Studie von 1938 betrug die Gesamtheit aller bekannten, durch Asbest verursachten Krebsfälle nur gerade sechs (Nordmann hatte zwei neue Fälle hinzugefügt). Die Epidemiologen zeigten sich unbeeindruckt. Noch 1956 konnten amerikanische Epidemiologen darauf verweisen, daß »es zu wenige Fälle und zu wenige epidemiologische Daten gibt, um einen klaren Zusammenhang zwischen Asbest und Lungenkrebs nachzuweisen«. Das angesehene Journal of the American Medical Association stellte sogar noch 1961 fest, daß es noch immer keinen epidemiologischen Beweis für den Zusammenhang gebe.168 Die Schwierigkeiten lagen somit nicht nur im Starrsinn der Industrie begründet – oder in der Kurzsichtigkeit der Epidemiologen oder dem Mißtrauen gegenüber der deutschen Forschung (obwohl all diese Faktoren eine Rolle spielten) –, sondern sie ergaben sich auch aus den neuen Methoden der wissenschaftlichen Beweisführung. Die nationalsozialistischen Wissenschaftler, die zwei Jahrzehnte zuvor den Zusammenhang nachgewiesen hatten, bezogen sich nicht auf epidemiologische, sondern auf klinische und pathologische Erkenntnisse. Ärzte, die Patienten untersuchten, und Pathologen, die Leichen sezierten, hatten festgestellt, daß Asbestarbeiter an Krebs erkrankten, aber auch, daß Lungenkrebs meist in jenen Lungenregionen auftrat, in denen sich die inhalierten Fasern konzentrierten (vor allem in den unteren Lappen). Diesen frühen Wissenschaftlern genügte es, einzelne Fälle detailliert zu studieren, um verläßliche Schlüsse über den kausalen Zusammenhang zu ziehen. Die Epidemiologen und Biostatistiker der Nachkriegszeit hielten wenig von dieser Art der Beweisführung. Richard Doll macht sich noch heute über Nordmanns Anspruch lustig, den Zusammenhang zwischen Asbest und Krebs »bewiesen« zu haben, obwohl er lediglich zwei Einzelfälle untersucht habe.169 Da das neue Gebiet der Epidemiologie einen »höheren« Standard der Beweisführung verlangte, waren diese Forscher gegenüber den Erkenntnissen, die durch klinische Verfahren gewonnen worden waren, voreingenommen – ein Verlust, den Chris Seilers als »die verschwindende klinische Einsicht« bezeichnet hat.170 Auf dem Gebiet der Krebsforschung hatte dies zur Konsequenz, daß die Gefahren von Asbest nur sehr langsam erkannt 134
wurden: Der Konsens, der in den vierziger Jahren in Deutschland vorgeherrscht hatte, wurde in England und Amerika erst zwei Jahrzehnte später erzielt. Wissenschaftliche und politische Vorbehalte gingen dabei – zumindest eine Zeitlang – Hand in Hand und ließen die Wahrheit im dunkeln.
KREBS IN DER CHEMISCHEN INDUSTRIE Berufsbedingter Krebs bei Arbeitern in der chemischen Industrie war viel seltener als in anderen Sparten: Es gab zum Beispiel in Deutschland im 20. Jahrhundert nur etwa tausend offiziell anerkannte Fälle von Blasenkrebs, der durch Anilinfarbstoffe verursacht wurde – und diese Krebsart wird gemeinhin als eine der häufigsten durch die Arbeitstätigkeit hervorgerufenen Tumorarten betrachtet. Diese Zahlen können jedoch täuschen, da sie nur die Fälle berücksichtigen, die von den Fabrikärzten gemeldet und von den Gesundheitsbehörden registriert worden sind. Auch heute wird noch heftig darüber debattiert, wie hoch der Anteil von »Berufskrebs« an den gesamten Krebserkrankungen ist: Die Schätzungen reichen von »vernachlässigbar klein« bis hin zu so hohen Schätzungen wie einem Drittel aller Krebserkrankungen, die bei Arbeitern der chemischen Industrie auftreten.171 Wie auch immer man es mit den Prozenten hält, die tatsächliche Anzahl berufsbedingter Krebsfälle lag gewiß viel höher als die amtlich erfaßte Zahl.172 Die Haltung der Nationalsozialisten zum Krebs in der chemischen Industrie war oftmals widersprüchlich. Viele Gesundheitsbeamten schienen sich ernsthaft über Krebs am Arbeitsplatz Sorgen zu machen, aber der schnelle Ausbau der Rüstungsindustrie und die Konzentration aller Kräfte auf die Produktion lenkte die Aufmerksamkeit schließlich von der Krebsgefahr weg. Die Bemühungen, die Krankheit zu bekämpfen, verwandelten sich in Bemühungen, die kranken Arbeiter zu entfernen – aus den Fabriken und den Krankenhäusern –, und in manchen Fällen brachte man sie sogar um. Der Kampf gegen die Krankheit wurde zu einem Kampf gegen die Kranken. Wie es ein prominenter nationalsozialistischer Arzt nach dem Krieg formulierte, wollten die NS-Ärzte »die Krankheiten beseitigen, indem sie die Kranken auszurotten versuchten«.173 Die Zweigstelle der LG. Farben in Auschwitz setzte dieses Ziel in die Tat um, indem sie bestimmte, daß zu 135
keinem Zeitpunkt mehr als fünf Prozent der gesamten Arbeiterschaft (sämtlich Zwangsarbeiter) hospitalisiert sein durften. Wenn die Fünf-ProzentMarke überschritten wurde, nahmen die Lagerärzte eine Selektion vor, und die ausgewählten Unglücklichen wurden nach Birkenau gebracht und vergast.174 Im abschließenden Teil dieses Kapitels möchte ich mich mit einer der ältesten und bekanntesten berufsbedingten Krebsarten auseinandersetzen: dem Blasenkrebs in der chemischen Industrie. Ein Frankfurter Chirurg, Ludwig Rehn, entdeckte die Krankheit in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei Beschäftigten, die mit Anilinfarbstoff hantieren mußten. Er stellte bei seinen Patienten ein erschreckend hohes Vorkommen dieser Krankheit fest.175 Es ist nicht erstaunlich, daß diese Entdeckung gerade in Deutschland gemacht wurde, denn die deutsche chemische Industrie produzierte bis zum Ersten Weltkrieg mehr als achtzig Prozent des weltweiten Bedarfs an Anilin, Anilinderivaten und aromatischen Anilinen – den entscheidenden Substanzen in synthetischen Farben. Rehn waren drei Arbeiter mit diesem Krankheitsbild aufgefallen (in einer Fabrik mit 45 Beschäftigten), ungefähr zwanzig Jahre, nachdem die Produktion synthetischer Farben begonnen hatte. Rehn selbst zog daraus keinen weitergehenden Schluß, aber es zeigte sich schon bald, daß dieser Krebs zehn bis zwanzig Jahre nach dem ersten Umgang mit den gefährlichen Substanzen entstand. Wilhelm Hueper zeigte schließlich, daß Blasenkrebs – pünktlich wie ein Uhrwerk – in jedem Land auftrat, in dem synthetische Farben produziert wurden.176 Deutschlands »Berufskrankheitenverordnung« aus dem Jahr 1925 forderte, daß Maßnahmen zum Schutz der Arbeiter getroffen wurden.177 Die I. G. Farben verlangte deshalb von den Arbeitern, daß sie sich vor und nach der Arbeit umzogen, damit sie keine verunreinigten Kleider mit nach Hause nahmen. Zudem wurden neue, geschlossene Produktionssysteme eingeführt, die den Kontakt mit den krebserregenden Substanzen auf ein Minimum reduzieren sollten. Diese und andere Maßnahmen verleiteten zu der Behauptung, der durch Anilinfarbstoffe verursachte Blasenkrebs gehöre der Vergangenheit an – eine voreilige Zuversicht, die höchstens politische Zwecke hatte und der Propaganda diente. Vielmehr berichteten deutsche Ärzte auch während der dreißiger Jahre über Blasenkrebsfälle. Martin Staemmler, ein einflußreicher NS-Arzt und 136
Vertrauter des Reichsärzteführers Gerhard Wagner, wies 1938 daraufhin, daß es in Deutschland noch immer Farbstoffabriken gebe, in denen ein Viertel der Belegschaft an Blasenkrebs litt – das Risiko war ungefähr gleich hoch wie das Krebsrisiko der Arbeiter in der Teerindustrie. Dies stand in krassem Gegensatz zu den offiziellen Zahlen aus demselben Jahr, wonach es in ganz Deutschland nur gerade zwölf neue Fälle von berufsbedingtem Krebs zu verzeichnen gab.178 Wilhelm Hueper zitierte 1942 in Occupational Tumors Staemmlers Schätzung von jährlich fünf oder sechs neuen Fällen von Blasenkrebs in Deutschland. Aus seiner Sicht war dies eine überraschend hohe Zahl in einem Land, dessen Kontrollmaßnahmen »nicht nur zu den teuersten und aufwendigsten gehören, die je getroffen wurden, sondern auch schon längere Zeit als irgendwo sonst in Kraft sind«.179 Die Haltung des NS-Regimes gegenüber möglichen Maßnahmen zur Vermeidung von berufsbedingtem Krebs war oft ambivalent. Die Nationalsozialisten wollten gesunde Arbeiter, aber sie wollten ebenfalls eine ungestörte und produktive Atmosphäre in den Fabriken. Die Sicherheitsvorkehrungen in den Fabriken machten zuweilen teure neue Anschaffungen oder zeitaufwendige Veränderungen der Produktionsprozesse notwendig. Die Arbeitsbehörden vermieden es teilweise, auf lebensbedrohende Risiken in der Industrie hinzuweisen – vor allem während des Krieges, als die Fabriken für die Waffenproduktion aufgestockt wurden. Die für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zuständigen Behörden thematisierten Krebs immer weniger, als der Krieg fortdauerte: Der Band der Zeitschrift Arbeitsmedizin aus dem Jahr 1944 beschäftigte sich beispielsweise ausführlich mit der Frage, wie, wann und was Arbeiter essen sollten, erwähnte Krebserkrankungen aber mit keinem Wort. Ein Artikel in Ziel und Weg, dem offiziellen Organ des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes, behauptete 1940, es sei in den vorangegangenen fünfzehn Jahren in Deutschland kein einziger Fall von Blasenkrebs vorgekommen – und widersprach damit den wahrheitsgetreueren Feststellungen Staemmlers aus dem Jahr 1938. Die beschönigende Darstellung des leitenden Arztes der I. G. Farben ließ sich später anhand des firmeneigenen Krebsregisters widerlegen. Daß Ziel und Weg bei diesem falschen Spiel mitmachte, weist wohl daraufhin, daß Druck ausgeübt wurde, solch schmutzige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit zu waschen.180 Wenn Blasenkrebs überhaupt thematisiert wurde, stellte man in erster 137
Linie die Frage, wie man Arbeiter aussondern könne, die als besonders »prädisponiert« für diese Krankheit galten. Wir haben bereits gesehen, daß Betriebsärzte wie Wilhelm Hergt schon vor 1933 die Idee vertraten, wonach es verschiedene »rassische« und konstitutionelle Leibestypen gebe, die unterschiedlich auf krebserregende Substanzen reagierten. In den Jahren 1930 und 1932 schlug der leitende Arzt des I. G. Farben-Instituts zur Erforschung und Behandlung von Berufskrankheiten vor, man solle genealogische Studien vornehmen, um herauszufinden, wer aus einer Gruppe von Arbeitern am ehesten eine Prädisposition für Krebserkrankungen habe. Die Feststellung solcher Personen würde eine angemessenere »Selektion« der Arbeiter für gefährliche Tätigkeiten erlauben.181 Als das Schwergewicht nach 1933 neu auf das menschliche Erbgut und seinen angeblich schicksalhaften Determinismus gelegt wurde, häuften sich solche Vorschläge. Ernst W. Baader, Direktor des Berliner Universitätsinstituts für Berufskrankheiten, behauptete 1937, nur Arbeiter mit einer besonderen Anfälligkeit entwickelten Blasenkrebs, obwohl er sehr wohl wußte, daß diese Art von Tumoren auch bei Menschen auftrat, die sich an der Kleidung vergiftet hatten, die von ihren Vätern, Ehemännern oder Brüdern nach Hause gebracht wurde.182 Franz Koelsch, vielleicht der angesehenste Arbeitsmediziner jener Zeit, versuchte bestimmte Konstitutionstypen einzugrenzen, die sich besonders für die Arbeit in der Stahlindustrie oder in der chemischen Industrie usw. eigneten.183 Große Anstrengungen wurden darauf verwendet, Methoden zu entwickeln, mit denen man resistente Arbeiter erkennen konnte. In der deutschen Arbeitsmedizin sagte man der »Selektionsmedizin« eine großartige Zukunft voraus. Die Idee, besonders »krebsanfällige« Arbeiter von Tätigkeiten auszuschließen, bei denen sie mit gefährlichen Chemikalien in Kontakt kamen, wurde schließlich vom radikaleren Vorschlag begleitet, man solle die »Feinde« des Reichs die mühselige Arbeit erledigen lassen. Die Belegschaften in den deutschen Fabriken veränderten sich während des Krieges vollständig, da Hunderttausende von Zwangs- und Fremdarbeitern dazu gezwungen wurden, in der deutschen Industrie zu schuften. Für diese Menschen galten die normalen Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen nicht, und wir müssen annehmen, daß die Krebserkrankungen, unter denen sie litten, nicht in den offiziellen Statistiken auftauchten.184 Die Zahl der betroffenen 138
Menschen war enorm: Allein bei der LG. Farben in Ludwigshafen wurden rund 63000 Fremdarbeiter, 10000 Häftlinge aus Konzentrationslagern und 10 000 Kriegsgefangene in die Fabriken gezwungen – üblicherweise um die schmutzigsten Arbeiten zu erledigen.185 Tausende von Arbeitern waren in anderen Fabriken tätig – zum Beispiel in der geheimen unterirdischen Fabrik in der Nähe von Nordhausen, wo Gefangene aus dem Konzentrationslager aus radioaktiven Abfällen Atomwaffen herstellen sollten.186 Viele dieser Männer und Frauen müssen an Krebs erkrankt sein, aber darüber gibt es keine Berichte. Krebs war vielleicht auch die geringste Sorge dieser Menschen, da das Leben vieler von der NS-Politik der »Vernichtung durch Arbeit« bedroht war.187 Wer sich nicht zu Tode arbeitete, sah sich mit neuartigen Risiken konfrontiert, sowohl chronischen wie akuten, die sich aus dem außerordentlichen Tempo der deutschen Industrieproduktion ergaben. Die von der Regierung vorangetriebene Politik zur Autarkie zwang das Deutsche Reich, möglichst viele Rohmaterialien selbst zu produzieren (synthetischen Gummi, verflüssigte Kohle, synthetischen Sprengstoff, Farben und Medikamente usw.), wodurch zahllose Arbeiter großen Gefahren ausgesetzt wurden – dieser Tatsache waren sich die führenden Nationalsozialisten durchaus bewußt. Hans Reiter, Präsident des Reichsgesundheitsamtes, wies 1939 in einer Rede auf die Folgen der gesteigerten Kunstseide-Produktion hin: Mehr Arbeiter seien den Hydrogensulfiden ausgesetzt, und zudem gebe es in der Flugzeugindustrie mehr Hautverletzungen durch Metallsplitter und Lungenschädigungen durch Spritzlacke. Die Verwendung von künstlichen Harzen hatte eine Zunahme der Hautkrankheiten zur Folge, und Bleivergiftungen wurden durch den Gebrauch von Tetraäthylblei im Benzin zu einem großen Problem. Man stellte Gesundheitsschäden fest, die durch Benzol in Gummilösungen verursacht wurden, ebenso wie Vergiftungen durch die neuen Pestizide auf Phosphorbasis.188 Die Konsequenzen der zwölf Jahre NS-Herrschaft für die Entwicklung und Verbreitung von Krebs sind schwierig abzuschätzen, aber bestimmte Krebsarten müssen vermehrt vorgekommen sein – trotz all der Schritte, die unternommen wurden, um die Sicherheitsund Gesundheitsbestimmungen am Arbeitsplatz zu verbessern. Der Kampf der Nationalsozialisten gegen Krebserkrankungen am Arbeitsplatz muß vor diesem Hintergrund verstanden werden. Die deutschen Ar139
beiter sollten geschützt werden, aber nur, solange diese Maßnahmen die Produktionspläne nicht gefährdeten. Die »Volksgesundheit« war zwar ein ernsthaftes Anliegen – zumindest, was die »rassische« Elite betraf –, aber durch die Dringlichkeiten des Krieges verloren Krebs und andere chronische Krankheiten bei den Medizinern ihre Priorität. Im Krieg waren schnelle Lösungen gefragt – und nicht die aufwendigen Maßnahmen, die eine wirkungsvolle Prävention erfordert hätte. Das NS-Regime beschloß schließlich, die psychisch Kranken und körperlich Behinderten umzubringen, zusammen mit vielen Epilepsiekranken, geschwächten Fremdarbeitern, schlecht angepaßten Jugendlichen, Kriegsgefangenen und Soldaten, die an Kriegstraumata litten.189 Auch schwerverwundete Soldaten, die von der Ostfront zurückkehrten, wurden möglicherweise Opfer der »Euthanasie«-Programme. Es gibt sogar Hinweise, wonach Hitler darüber nachdachte, die chronisch Lungen- und Herzkranken nach dem Krieg einzusperren und zu sterilisieren.190 Die Sozialpolitik, für die sich das Regime schließlich entschied, setzte den Wert des Lebens mit der Fähigkeit zu arbeiten gleich. Als die Entscheidungsträger befahlen, die psychisch Kranken und körperlich Behinderten in den deutschen Krankenhäusern umzubringen (200000 Männer, Frauen und Kinder wurden in den »Euthanasie«-Programmen ermordet),191 wurden viele noch arbeitsfähige Patienten verschont. Das gleiche Kalkül, das diese Transporte mit schizophreniekranken und manisch-depressiven Menschen in die Gaskammern leitete, zeigte sich auch in anderen Entscheidungen über Leben und Tod: So wurden die Lagerhäftlinge, die nicht mehr arbeiten konnten, in der Regel umgebracht.192 Analog dazu wurde schließlich aus Sicht der Arbeitsmedizin derjenige zum idealen Arbeiter, der bis zur Pensionierung wertvolle Arbeit leistete und kurz darauf starb. Laut Hermann Hebestreit von der Deutschen Arbeitsfront bestand das Ziel darin, die Zeitspanne zwischen Pensionierung und Tod nach Möglichkeit zu verringern – idealerweise auf Null.193 Werner Bockhacker, der Leiter des Gesundheitsamtes der DAF, formulierte ähnliche Vorstellungen – genauso wie Hellmut Haubold, der ältere Menschen als »für das Gesamtvolk nicht mehr direkt nützliches Leben« charakterisierte.194 In den Idealvorstellungen der Nationalsozialisten sollte ein Arbeiter lange und hart arbeiten und dann sterben, um der »Volksgemeinschaft« die finanzielle Last zu ersparen, die ältere und »unproduktive«, kranke Menschen bedeuteten. 140
KAPITEL 5
DIE NATIONALSOZIALISTISCHE ERNÄHRUNG Dein Körper gehört deiner Nation! Dein Körper gehört dem Führer! Du hast die Pflicht, gesund zu bleiben! Ernährung ist keine Privatsache! Nationalsozialistische Slogans
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ie Ernährung spielte im nationalsozialistischen Denken eine wichtige Rolle. Ein gesunder und starker Staat verlangte gesunde und starke Körper, und eine richtige Ernährung galt vielfach als Schlüssel zur Erlangung von Körperkraft. NS-Ernährungswissenschaftler starteten eine breit angelegte Kampagne gegen den übermäßigen Konsum von Fleisch, Süßigkeiten und Fett und propagierten gleichzeitig die Rückkehr zu »naturgemäßeren« Nahrungsmitteln wie Getreide, Früchten und Gemüse. Die Bedeutung, die man körperlicher Reinheit und natürlichen Heilungsmethoden beimaß, war sicher ein Grund für diese Umkehr, aber Fragen der Leistungsfähigkeit bei Arbeit, Sport und im Schlafzimmer waren dabei, ganz wie im Fall der Arbeitsmedizin, noch wichtiger – ebenso wie das politische Ziel der landwirtschaftlichen Autarkie Deutschlands. Das NS-Regime wünschte sich zähe und schlanke Hochleistungsmenschen. Mit der richtigen Ernährungsweise sollten Krebsfälle und Herzkrankheiten zurückgedrängt und gleichzeitig die Arbeitsleistung, die Fruchtbarkeit und die Kampfkraft gesteigert werden. Zudem kamen solche Schritte den Bestrebungen des Regimes zugute, Deutschland aus der Abhängigkeit von ausländischen Lebensmittelimporten zu befreien – ein wichtiger Schritt in Richtung ökonomische Unabhängigkeit. Es ist kaum verwunderlich, daß man damals glaubte, eine mangelhafte Ernährungsweise fördere das Entstehen von Krebs: Man sah den Ursprung fast jeder Krankheit in falscher Ernährung.1 Diese Theorien erhielten zusätzlichen Auftrieb durch die Tatsache, daß vor der explosiven Verbreitung des Rauchens der Verdauungstrakt die am häufigsten von Krebserkrankungen befallene Körperregion war, in Deutschland wie in vielen anderen Län141
dern. Schweizerische und deutsche Statistiken aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigen, daß ein Drittel bis die Hälfte aller durch Krebs verursachten Todesfälle auf Magenkrebs zurückzuführen waren,2 und Dormanns’ ehrgeizige Autopsiestudie aus den frühen dreißiger Jahren kam zu ähnlichen Resultaten.3 Auch in den Vereinigten Staaten waren bösartige Erkrankungen des Magens die hauptsächliche Ursache für einen Krebstod: In einer Studie aus dem Jahr 1937 stellten amerikanische Ärzte fest, daß Magen- und Leberkarzinome zusammengenommen mehr Opfer forderten als irgendeine andere Art der Tumorerkrankung; an zweiter Stelle standen Dickdarm-, Brustund Prostatakarzinome.4 Man weiß eigentlich nicht, warum Magenkrebs in den zwanziger und dreißiger Jahren so verbreitet war – und warum diese Krankheit in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg viel seltener auftrat. Heute sterben in Deutschland nicht einmal mehr ein Viertel soviel Menschen an Magenkrebs wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auch wenn man die unterschiedliche Altersstruktur der Bevölkerung berücksichtigt. Dies gilt für alle Länder – sogar für Japan, wo die bösartigen Magenerkrankungen noch bis vor zehn Jahren die meisten Krebstoten forderten (Lungenkrebs setzte sich im Jahr 1990 an die Spitze der Statistik, nachdem auch in Japan viel mehr Menschen das Rauchen angefangen hatten). Magenkrebserkrankungen scheinen tatsächlich abgenommen zu haben, und die Zahlen haben sich nicht aufgrund verbesserter Diagnostikverfahren oder statistischer Verzerrungen verändert, denn Deutschland war bereits in den zwanziger Jahren weltweit führend, was Autopsien anging, und deshalb in der Lage, die meisten Tumorerkrankungen genau zuzuordnen. Vermutlich lag eine der Ursachen für die immens hohen Magenkrebsraten in der miserablen Qualität der Nahrung. Stark gesalzen, oftmals vergoren und manchmal sogar verfault, war das Fleisch, Gemüse und Getreide zu jener Zeit häufig mit Schimmelpilzen, Bakterien und anderen krebserregenden Schadstoffen verunreinigt. Die Leute aßen zwar frisches Fleisch, aber sie aßen auch viel Fleisch, das gesalzen, getrocknet oder geräuchert war. Wir wissen heute, daß krebserregende Aflatoxine häufig in Schimmelpilzen vorkommen, die Getreide und viele Nüsse befallen. Wir wissen auch von den zahlreichen Vergiftungen, zu denen es in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch derart verdorbene Lebensmittel kam. (Das Magen142
bakterium Helicobacter pylori ist erwiesenermaßen eine Ursache für Magenkrebs – aber es ist wenig darüber bekannt, wie sich die Verbreitung derartiger Infektionen im Laufe der Zeit verändert hat.) Es ist zudem kein Geheimnis, daß Nahrungsmittel oftmals mit effektheischenden Lebensmittelfarben und Konservierungsmitteln behandelt wurden. Dabei wurden bunte Teerfarbstoffe und leuchtend grüne Kupfersulfate – diese wurden 1887 verboten, aber 1928 wieder zugelassen, damit das einheimische Gemüse mit den französischen Produkten konkurrieren konnte – und vieles andere mehr verwendet. Lakritze wurde oft mit Lampenruß gefärbt, den man aus dem Verbrennen von Kerzen gewann. Man kann sich leicht vorstellen, daß die freizügige Verwendung von Farbstoffen und Konservierungsmitteln manch eine Magenkrebserkrankung dieser Zeit verursacht hat. Wir werden uns nun den nationalsozialistischen Standpunkten zur Ernährung zuwenden, uns aber auch mit den Nahrungsmitteln und Ernährungspraktiken beschäftigen – wer aß was, warum und wieviel? Für welche Nahrungsmittel wurde geworben, welche wurden verschmäht? Die Krebserkrankungen waren natürlich nur ein Grund, warum sich NS-Ernährungsspezialisten für eine gesunde Ernährung einsetzten. Die Förderung oder Verurteilung bestimmter Lebensmittel hatte oftmals auch komplexe Gründe auf der symbolischen Ebene – Schlagsahne wurde beispielsweise mit übermäßigem Genuß und Verweichlichung assoziiert,5 Vollkornbrot dagegen mit der bäuerlichen Kultur (siehe Abb. 5.1). NS-Ideologen verurteilten es, wenn Butter künstlich aufgehellt wurde, genauso wie sie Menschen verurteilten, die die Form ihrer Nase durch plastische Chirurgie verändern ließen oder ihre Haare bleichten und so die »rassische Herkunft« verfälschten. Die Ernährungspolitik mündete in Fragen wie: »Wovon haben sich die Menschen ursprünglich ernährt?« (Von Fleisch oder Früchten?), oder »Wie ist die landwirtschaftliche Selbstversorgung am ehesten zu verwirklichen?« (eine Antwort: neue Lebensmittelprodukte entwickeln). Die Ernährung spielt in jedem politischen Klima eine wichtige Rolle – das Deutschland der dreißiger und vierziger Jahren bildete dabei keine Ausnahme. Man darf selbstverständlich nicht vergessen, daß sich die deutschen »Ärzteführer« weniger um die Gesundheit des einzelnen sorgten als vielmehr um die Stärke der »Rasse«, der sogenannten »Volksgemeinschaft«. Die NS-Ernährungspolitik sollte Krankheiten verhindern, aber sie sollte den Deut143
ABB. 5.1. Vollkornbrot mit dem Gütezeichen des Hauptamtes für Volksgesundhek der NSDAE Deutsche Bäckereien wurden dazu angehalten, Vollkornbrot zu produzieren, um die Gesundheit des deutschen Volkes zu stärken. Quelle: Reiter und Breger, Deutsches Gold, S. 123.
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schen auch anderweitig Kräfte verleihen. Wenn man sich diese Voraussetzungen vergegenwärtigt, kann man die nationalsozialistische Faszination für leistungssteigernde Nahrungsmittel und Medikamente – wie zum Beispiel Koffein und verschiedene synthetische Aufputschmittel – besser begreifen. Die Erforschung solcher Substanzen erreichte in den Kriegsjahren ihren Höhepunkt; damals setzte man sich zum Ziel, die Leistungsfähigkeit der Menschen in der Armee und in den Fabriken zu optimieren. Es wurden auch Anstrengungen unternommen, neue Lebensmittelsubstitute zu entwickeln, dies galt besonders für jene Nahrungsmittel, die wegen des Krieges kaum noch erhältlich waren. Alle diese Anliegen – Nähe zur Natur, Arbeitsleistung und billige Lebensmittelsubstitute – spielten in den nationalsozialistischen Lebensmittelreformen eine Rolle. Wie wir sehen werden, waren einige dieser Reformen erfolgreich (so zum Beispiel die Maßnahmen zur Produktion von Vollkornbrot und süßem Most), während andere scheiterten (so die Kampagne gegen den Alkohol). Als die Wirtschaft auf den Krieg einschwenkte, verschlechterte sich die Qualität der Lebensmittel in mancherlei Hinsicht, da die Produkte länger haltbar sein sollten und synthetische Substitute den Markt überfluteten. Die Eßgewohnheiten veränderten sich während der NS-Herrschaft, aber nicht immer in einer für Gesundheit und Wohlbefinden günstigen Weise – vor allem nicht für jene Menschen, die nicht ins nationalsozialistische Weltbild paßten.
WIDERSTAND GEGEN EIN VON KÜNSTLICHEN STOFFEN GEPRÄGTES LEBEN Führende Nationalsozialisten achteten streng darauf, was sie aßen und tranken – und was der Rest der Nation essen und trinken sollte. Wenn die Gesundheit des deutschen Staates von der Gesundheit des deutschen Körpers abhing, dann mußten die selbsternannten Wächter der nationalen Gesundheit sorgfältig darauf achten, wie sie diesen Körper ernährten. Was machte ihn gesund und stark? Was schwächte ihn und schadete ihm? Wie auch in anderen Bereichen der NS-Ideologie ließ man die liberale Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre fallen. So hieß es in einer Schrift 145
der Hitler-Jugend zur Gesundheit: »Ernährung ist keine Privatsache!«6 Schließlich sollte der Körper des deutschen Bürgers dem deutschen Staat gehören. Und da der Staat mit dem »Führer« gleichgesetzt wurde, folgte daraus, daß der Körper dem »Führer« gehörte – so, wie es regelmäßig auf Propagandaplakaten verkündet wurde. Dem Staat kam damit die Aufgabe zu, für die Erhaltung des einzelnen Körpers zu sorgen – ob er nun gesund oder vergiftet, trainiert oder geschädigt usw. war. Dieses Konzept der Pflicht zur Gesundheit, das 1939 offiziell zu einem staatlichen Slogan wurde, setzten nationalsozialistische Philosophen und Politiker an die Stelle des »marxistischen angeblichen Selbstbestimmungsrechtes über den eigenen Körper«.7 Ein Thema war bei der nationalsozialistischen Rhetorik zur Ernährung besonders beliebt: Man sollte zu einer natürlicheren Ernährung ohne künstliche Farbstoffe und Konservierungsmittel zurückfinden. Lebensmittel sollten arm an Fett und reich an Ballaststoffen sein, während Genußmittel wie Kaffee, Alkohol oder Tabak entweder gemieden oder in geringem Maß konsumiert werden sollten. Man sollte wenig Fleisch essen und frische Lebensmittel der konservierten Büchsennahrung vorziehen. Erwin Liek hatte viele dieser Punkte in seinen Büchern zum Krebs aus den Jahren 1932 und 1934 festgelegt (vgl. Kapitel 1), und diesem Vorbild folgten viele NS-Ernährungsideologen. Wie sein amerikanischer Kollege, der Versicherungsagent Frederick Hoffman, vertrat Liek die Meinung, Krebs und andere moderne Krankheiten würden durch Fehlernährung verursacht. Die menschliche Ernährung werde zusehends von künstlichen Inhaltsstoffen geprägt – das Essen werde mit Konservierungsmitteln, Farbstoffen und anderen Zusätzen verfälscht, nur damit sich die Produkte besser verkauften. Zahlreiche Gerichte würden zu lange gekocht, wodurch wichtige Vitamine zerstört würden; die Menschen nähmen zuviel Salz und Proteine und nicht genügend lebenswichtige Minerale und Wirkstoffe zu sich. Man gab dem gehetzten Tempo des modernen Lebens teilweise die Schuld an dieser Entwicklung, da immer mehr Leute lieber eine Büchse öffneten, als ihr Essen frisch zuzubereiten. Gleichermaßen beklagenswert sei die »sinnlose Medikamentenschluckerei«, die von Ärzten gefördert werde, die sich fest in der Hand der Pharmaindustrie befänden. Der übermäßige Konsum von Medikamenten sei selbst wie eine Krankheit, die durch eine unkritische Abhängigkeit von der wissenschaftlichen Medizin verursacht werde.8 146
Franz G. M. Wirz, ein Dermatologe und Mitglied des Ausschusses für Volksgesundheit der NSDAP, war einer der zahlreichen Anhänger Lieks, die die »unnatürlichen« Tendenzen in der deutschen Ernährung kritisierten. In seinem Buch Gesunde und gesicherte Volksernährung aus dem Jahre 1938 bemerkte er, daß sich die deutsche Ernährung im vorangegangenen Jahrhundert dramatisch verschlechtert habe. Die Deutschen hätten im frühen 19. Jahrhundert jährlich 14 Kilogramm Fleisch und 250 Kilogramm Getreide zu sich genommen, Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hingegen 56 Kilogramm Fleisch und nur 86 Kilogramm Getreide. Diese Abkehr von kalorienreichen »Betriebsstoffen« zu proteinreichen »Aufbaustoffen« sei von einer dramatischen Zunahme des Fett- und Zuckerkonsums begleitet gewesen. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Fett habe sich zwischen 1912 und 1936 um etwa ein Viertel auf 103 Gramm pro Tag gesteigert, und der jährliche Zuckerkonsum sei während des 19. Jahrhunderts von 4 auf 24 Kilogramm pro Person in die Höhe geschnellt.9 Die Folge waren nicht nur zunehmende Zahnschäden (die vor 4000 Jahren vollkommen unbekannt gewesen seien), sondern auch eine Flut nervöser Leiden, Unfruchtbarkeit, Magen- und Verdauungsstörungen (auch Tumore) sowie Herz- und Gefäßkrankheiten. Wirz beklagte, daß 17 Prozent der deutschen Rekruten im Jahr 1937 für den Militärdienst nicht zuletzt aufgrund von Zahnproblemen untauglich waren – die seiner Ansicht nach zu Krebs führen konnten. Er kritisierte die Ernährungslehre, die sich lediglich auf die einseitige »Kalorienlehre« versteife, und forderte, die Ernährung dürfe nicht allein der Wissenschaft überlassen werden.10 Daß man sich für eine naturgemäße Ernährung derart einsetzte, hatte auch immer mit dem ökonomischen Nutzen zu tun, den man sich davon versprach. Für Wirz wie für Liek und andere nationalsozialistische Ernährungsfachleute ging es bei der richtigen Ernährung nicht nur um die Gesundheit, sondern auch um wirtschaftliche Effizienz. So hielt man Weißbrot beispielsweise gegenüber Vollkornbrot in beiderlei Hinsicht für minderwertig: Weißbrot sei eine »Erfindung der Französischen Revolution« und ein ausgebleichtes »chemisches Produkt«, wie Gerhard Wagner es abschätzig bezeichnete –11 aber es war auch in der Herstellung teurer. Wenn der Fleisch-, Zucker- und Fettverbrauch in Deutschland verringert würde, hätte dies nicht nur gesundheitliche Vorteile, sondern es würden auch finanzielle Ein147
sparungen daraus resultieren: Eine Reduktion des jährlichen Fleischkonsums von 56 Kilogramm pro Kopf auf 30–35 Kilogramm würde es Deutschland erlauben, Fleisch zu exportieren, was entscheidende wirtschaftliche Vorteile brächte. Die Deutschen wären sowohl gesünder als auch wohlhabender, wenn sie aufhören würden, ihr Brot zu bleichen und ihre Nahrung in Büchsen abzufüllen. Wirz hielt seine Landsleute zudem dazu an, entrahmte Milch zu trinken.12 Viele dieser Forderungen bündelte er unter dem Begriff »Nahrungsfreiheit« – dieses Schlagwort stand für den Plan, Deutschland von fremden Importen unabhängig zu machen.13 Man erhoffte sich aus der Umstellung auf gesunde Ernährung auch wirtschaftliche Vorteile, aber dies galt umgekehrt nur bedingt. Auch damals erkannten viele, daß die schnelle Militarisierung der deutschen Wirtschaft die deutsche Lebensmittelversorgung zu verschlechtern drohte.
FLEISCH ODER GEMÜSE Wenn sich Forscher daran machten, Krebserkrankungen als Folgeerscheinung falscher Ernährung darzustellen, gingen sie zumeist von der Annahme aus, daß Krebs eine Krankheit sei, die nicht durch bestimmte Krankheitserreger oder chemische Stoffe verursacht wurde, sondern durch eine Art fehlerhafter Allgemeinfunktion des Körpers. Krebs entstehe durch eine falsche Ernährung oder durch ständige Belastungen – nach dieser Theorie konnte alles, was den Körper allgemein schwächte, auch Krebs hervorrufen. Weil es den Forschern nicht gelang, das zu finden, worauf die Krebsmediziner noch um 1900 gehofft hatten – nämlich einen »Krebserreger« –, kamen Vermutungen auf, es gäbe tatsächlich keine monokausale Begründung für Krebs. Dies war Lieks These gewesen, und Ärzte wie Fritz Lickint und Friedrich Kortenhaus folgten ihm in diesem Gedanken. In diesem Zusammenhang verstanden die Forscher Krebs als eine »Allgemeinkrankheit« des Körpers – womit Virchows Theorie von Krebs als Produkt einer »lokalen Irritation« in Frage gestellt wurde. Für diese Erkrankung nahm man zahlreiche Ursachen an, die von Vererbung über Fehlernährung bis hin zu Angespanntheit und vielen anderen Faktoren reichten.14 Die Anhänger dieses Erklärungsansatzes plädierten zumeist für eine 148
Ernährung mit wenig Fett, Zucker und Proteinen und viel Obst und Ballaststoffen.15 Dies wurde auch auf der Krebsausstellung des Deutschen HygieneMuseums und von zahlreichen Autoren empfohlen, die an die Homöopathie glaubten und für die Zeitschrift Hippokrates schrieben. Krebs war berüchtigt –, und gefürchtet – weil er Gutgenährte und scheinbar Gesunde traf; deshalb hoffte man, periodisches Fasten und andere Maßnahmen, mit denen die Ernährung eingeschränkt wurde, könnten gegen Krebs helfen. Hungerkuren verschiedenster Art müssen damals sehr beliebt gewesen sein – dies muß man zumindest annehmen, wenn man sieht, wie viele Bücher zu dieser Zeit über dieses Thema verfaßt wurden. Befürworter dieser Ernährungsweise sahen im exzessiven Fleischkonsum die wahrscheinlichste Ursache für Krebserkrankungen. In der Zeit der NSHerrschaft wurde die Kritik am Fleischkonsum durch die Tatsache unterstützt, daß mehrere prominente Nationalsozialisten – allen voran Hitler und Himmler – kein Fleisch aßen; Befürchtungen hinsichtlich eines übertriebenen Fleischverbrauchs waren jedoch bereits vor der NS-Zeit ein beliebtes Thema in Naturheilkunde-Schriften gewesen. Bereits die Lebensreform-Bewegung der Weimarer Zeit hatte auf diesem Gebiet Mäßigung gepredigt. Was nun während des »Dritten Reichs« neu hinzukam – oder eine starke Aufwertung erfuhr –, war die Vorstellung, ein »naturgemäßes Leben« könnte die militärische Tüchtigkeit steigern. In einer von der Hitler-Jugend publizierten Schrift aus der Mitte der dreißiger Jahre, Gesund durch richtige Ernährung, ist ein Abschnitt dem Thema »Zu viel Fleisch kann Dich krank machen« gewidmet. Es ist die Rede von gefährlichen »leeren Kalorien« und von Sojabohnen als »vollwertigem« Ersatz für Fleisch. Ballaststoffreiches Vollkornbrot wurde propagiert, und unterstützt wurde das ganze mit Slogans wie »Wer rastet, der rostet«. Den jungen nationalsozialistischen Lesern wurde eingeschärft, daß die Ernährungsweise keine Privatsache sei und die Kinder des Reiches die Pflicht hätten, gesund zu sein; eine richtige Ernährung würde sie zu gesunden Volksgenossen und Soldaten machen.16 Die Frage, ob Fleisch gesund war oder nicht, ließ sich jedoch nicht so leicht beantworten. Man hatte den Vegetarismus bereits für zahlreiche politische Intrigen instrumentalisiert, und die ganze Sache wurde durch Hitlers persönliche Leidenschaft für die fleischlose Ernährung noch komplizierter. 149
Außerdem setzte man Fleischgenuß mit Faulheit und Völlerei gleich, schrieb ihm zu, Aggressionen zu verursachen, man sah die Nahrungsmittelversorgung gefährdet – Fleisch galt als Verschwendung landwirtschaftlicher Ressourcen –, wehrte sich gegen operative Eingriffe an lebenden Tieren zu Forschungszwecken (siehe Abb. 5.2) und vieles andere mehr.17 Gesundheitsfragen vermischten sich mit all diesen Themen und beeinflußten die Ansichten der Menschen zu Krebsursachen und -heilmethoden. Schließlich hatte man der älteren Generation beigebracht, Krebs könne durch den Genuß von zuviel Früchten und Gemüse verursacht werden. Im 19. Jahrhundert galten Tomaten als Ursache für Krebs (der Glaube beruhte auf der Annahme, daß Tomaten und krebsartige Geschwüre ähnlich aussahen),18 ebenso hielt man frisches grünes Gemüse wie Spinat oder Salat für an Krebserkrankungen beteiligt. Diese Gemüsesorten wurden verdächtigt, Deutschlands Magenkrebsraten in die Höhe zu treiben. Von einem heutigen Standpunkt aus erscheinen uns diese Vermutungen grotesk, da wir ja vielmehr der Überzeugung sind, frisches Obst und Gemüse seien eine gute Vorbeugung gegen Krebserkrankungen – vielleicht wegen (wie Bruce Arnes aus Berkeley behauptet) der darin enthaltenen Antioxidantien. Man nimmt heute viel eher an, daß Magenkrebs entstehen kann, wenn zu wenig Früchte und Gemüse gegessen werden, und statt dessen große Mengen vorgekochte, stark gesalzene oder mit Konservierungsmitteln behandelte Nahrungsmittel. Jene Forscher, die die Gemüse-Krebs-Theorie schon zu Beginn des Jahrhunderts anfochten, wiesen darauf hin, daß Länder, in denen pflanzliche Lebensmittel einen Großteil der Nahrung ausmachten – wie Indien –, hohe Magenkrebsraten aufweisen müßten, was jedoch nicht der Fall war. Länder, in denen die Menschen kaum Fleisch aßen, hatten vielmehr sehr niedrige Krebsraten.19 Diese Überzeugung vertrat auch Liek, und seine Ansichten gewannen während der NS-Zeit an Popularität.20 Es waren jedoch nicht alle dieser Meinung. 1942 berichtete die Monatsschrift für Krebsbekämpfung über die Forschungen des Osloer Arztes Arne H0gaard, der behauptete, bei den »reinrassigen« Inuit im östlichen Grönland gebe es keinerlei Krebsfälle, obwohl sie sich fast vollständig von Fleisch ernährten. Die wal- und seehundjagenden Völker in der Nähe von Angmagssalik würden immer noch ein ganz »natürliches« Leben führen und beträchtliche 2,5 Kilogramm (fettarmes) Fleisch pro Tag zu sich nehmen. Bei 150
ABB. 5.2. »Heil Göring!« Versuchstiere salutieren Hermann Göring für sein Verbot der Vivisektion. Der Reichsmarschall verkündete im August 1933, die »unerträgliche Folter« und das Leiden der Tiere müßten ein Ende haben, und drohte, all diejenigen in ein Konzentrationslager zu schicken, die noch immer glaubten, Tiere behandeln zu können, wie es ihnen beliebte. Quelle: Kladderadatsch, 3. September 1933; mit Dank an Phil Jenkins.
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den europäisierten Inuit im westlichen Grönland gebe es jedoch Krebsraten, die mit den europäischen vergleichbar seien. Der Autor kam zu dem Schluß, die proteinreiche, kohlenhydratarme Ernährung der Inuit im östlichen Grönland, die keinen Krebs kannten, ähnele in gewisser Hinsicht der verbreiteten »krebsfeindlichen Diät«, für die sich Johannes Kretz einsetzte.21 Es gab auch abweichende Stimmen von Wissenschaftlern, die merkwürdigerweise die Meinung vertraten, europäische Metzger erkrankten relativ selten an Krebs, und vom Umgang mit Fleisch ginge eine prophylaktische Wirkung aus. Im Jahr 1935 behauptete ein französischer Arzt, bei den Pariser Metzgern komme Krebs unverhältnismäßig selten vor. Ein Prager Arzt namens Hans Truttwin nahm diesen Gedanken 1941 auf und vertrat die Ansicht, daß Metzger fast nie an Krebs erkrankten. Er empfahl, eine statistische Erhebung durchzuführen, um in dieser Frage zu einem definitiven Ergebnis zu gelangen.22 In seiner eigenen medizinischen Praxis hatte Truttwin in dem Glauben, daß die darin enthaltenen Hormone eine stark krebshemmende Wirkung hätten, Krebspatienten mit Extrakten aus Stierhoden behandelt.23 Victor Mertens, der Herausgeber der einflußreichen Monatsschrift für Krebsbekämpfung, widerlegte diese Behauptung mit der Feststellung, es stünden bereits gute Statistiken über das Vorkommen von Krebs in verschiedenen Berufsbereichen zur Verfügung. Im England des späten 19. Jahrhunderts hätten die Metzger zwar nicht annähernd so hohe Krebsraten wie die Schornsteinfeger, aber sie liefen trotzdem noch immer größere Gefahr, an Krebs zu sterben, als Fischer, Arzte oder Bauern. Truttwins Behauptung, Metzger hätten von allen Berufssparten die niedrigste Krebsrate, sei schlicht und einfach falsch. Mertens setzte einen Doktoranden auf das Thema an, der herausfand, daß im Jahr 1935 in Bayern 71 Metzger an Krebs gestorben waren (mehr als die Hälfte an Magenkrebs). Es gab in diesem Jahr insgesamt 27392 Metzger, das heißt, die Krebssterberate betrug 26 auf 10000, dies war eine höhere Zahl als in der Gesamtbevölkerung (16 Krebstodesfälle auf 10000 Personen). Mertens folgerte daraus, daß man die Kontroverse beenden könne, da die Behauptungen tatsächlich unbegründet seien.24 Hermann Druckrey, ein Vertrauter Himmlers und führender Krebsforscher, behauptete, Vegetarier seien weder anfälliger noch resistenter gegenüber Krebserkrankungen: 152
Die Fleischkost einerseits und die vegetarische Ernährung andererseits sind beide sowohl als Krebsursache wie auch als Krebsheilmittel, immer aber mit unzulänglichen Gründen, hingestellt worden. Statistische Erhebungen haben eindeutig erwiesen, daß keine Zusammenhänge bestehen. Die Trappisten, die rein vegetarisch leben, sind weder krebsresistent noch erkranken sie häufiger an Krebs, als es bei der Durchschnittsbevölkerung der Fall ist. Das Richtige ist sicher eine nicht zu reichliche Mittelkost.25 Die »Fleischfrage« war natürlich noch viel umfassender, es ging nicht nur um die Frage, wodurch Krebs verursacht würde. In der Geschichte der Menschheit wurde der Fleischkonsum immer wieder mit Überfluß gleichgesetzt, und ernährungstheoretische Schriften aus dem 19. Jahrhundert neigten dazu, im Fleischkonsum die Wurzel allen Übels zu erkennen – von der Entstehung der Zivilisation bis zur modernen kriegerischen Grausamkeit. Auch während der NS-Herrschaft wurde Fleisch oft als das Gut aller Güter, jenes Nahrungsmittel, von dem das Glück der Nation abhing, betrachtet. Manche verstanden den Zusammenhang zwischen übermäßigem Fleischkonsum und Krebserkrankungen nur als einen indirekten: So behauptete ein Handbuch der Hitler-Jugend im Jahr 1941, daß Leute, die viel Fleisch äßen, auch mehr tränken und rauchten.26 Die Diskussionen um das Fleisch gingen sogar in Fragen nach dem Ursprung der Menschheit über: Haben die ersten Menschen Fleisch gegessen? Professor Paul Adloff aus Königsberg wies 1938 und noch einmal 1940 die Behauptung zurück, daß der Vegetarismus die ursprünglichste und deshalb natürlichere menschliche Ernährungsform sei (Hitler glaubte dies – was Adloff jedoch vermutlich nicht wußte).27 In einer führenden zahnmedizinischen Fachzeitschrift schrieb der Königsberger Professor, die Struktur der menschlichen Zähne und des Kiefers deute daraufhin, daß unsere frühesten Vorfahren Allesfresser waren. Es gebe nur geringfügige Hinweise, daß die ersten Menschen sich vegetarisch ernährten. Adloff argumentierte, daß man bei den in China gefundenen, eine halbe Million Jahre alten Skeletten – der »Peking-Mensch«, heute klassifiziert als Homo erectus – Tierknochen gefunden habe, was nahelege, daß diese Menschen Fleisch gegessen hätten. Er stellte sogar – zusammen mit dem emigrierten Anthropologen Franz 153
Weidenreich – die Vermutung auf, daß diese ersten Menschen Kannibalen gewesen seien. Adloff wies darauf hin, daß nur sehr wenige Affen sich rein vegetarisch ernährten, und erinnerte seine Leser daran, daß der bekannte Gorilla Bobby im Berliner Zoo äußerst gern warme Wiener Würstchen fresse. Von ihrer Anatomie her seien Menschen Allesfresser. Aus diesem Grund sei es falsch anzunehmen, daß der Vegetarismus die natürlichere Ernährungsweise für den Homo sapiens sei. Tatsächlich gebe es gar keine »naturgemäße« menschliche Ernährung.28 Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß ökonomische Überlegungen für die Kritiker des Fleischkonsums von zentraler Bedeutung waren. Franz Wirz mißbilligte die teure Verwendung von Ackerland, um Getreide als Viehfutter anzubauen. Er merkte an, daß man etwa 90000 Getreidekalorien benötigte, um Schweinefleisch mit dem Nährwert von nur 9300 Kalorien zu produzieren. In seinem Vierjahresplan bezeichnete Göring diejenigen Bauern als »Verräter«, die ihr Vieh mit Getreide mästeten, das statt dessen für Brot hätte verwendet werden können, und diesen Vorwurf hörte man häufig. Wirz trat für eine Reduktion des Ackerlandes ein, das für den Anbau von Viehfutter verwendet wurde, und für eine Ausweitung des Anteils für Obstund Gemüseanbau.29 Die Kampagne gegen den Fleischkonsum muß auch im Zusammenhang mit dem Kampf gegen übermäßige Genüsse gesehen werden. Fleisch war ein Luxus wie Schlagsahne oder Bananen, auf den man als Teil des Opfers, das der einzelne Deutsche für die Nation bringen mußte, zu verzichten hatte. Ein nationalsozialistisches Pamphlet aus Wien warnte vor dem ungebremsten Genuß von Fleisch, Sahne und Früchten: Es gibt Menschen, die lassen sich von ihrem Magen regieren. In ihrer Gier verlangen sie sowohl nach Gulasch wie nach einer großen Portion geschlagener Sahne, bevor sie gesättigt sind. Aber wir fleißigen Kameraden deutschen Blutes wissen, was auf dem Spiel steht! Wir wissen, daß sich der ernsthafte und hart arbeitende Deutsche nicht von geschlagener Sahne und Bananen ernährt. Dies ist nicht die Zeit für zimperliche Feinschmecker und Hysteriker, die jeden Tag einen anderen Appetithappen brauchen.30 154
Das Deutsche Ärzteblatt, die führende medizinische Fachzeitschrift der Nation, brandmarkte den übertriebenen Konsum von Fleisch und Fett beinahe als Landesverrat.31 Der emigrierte Arzt Martin Gumpert zitierte daraus in seinem zu Beginn des Krieges veröffentlichen Buch Heil Hunger! als Beweis für die Armseligkeit der NS-Ernährungspolitik. Wenn man bedenke, wie knapp die Versorgung mit Lebensmitteln aufgrund des Krieges und der damit verbundenen Vorratswirtschaft und des vermessenen Ziels der landwirtschaftlichen Selbstversorgung ohnehin sei, so erscheine doch die Kampagne, welche die Deutschen davon abhalten wolle, zu viel Fleisch und Fett zu essen, einigermaßen zynisch. Als Beleg für seine Argumentation führte Gumpert eine Aufstellung an, die hier als Tabelle 5.1 wiedergegeben ist. Er nahm für das Jahr 1928 den willkürlich normierten Wert 100 an, und leitete davon die übrigen Werte ab.32 Aus heutiger Sicht erscheint es unsinnig, in diesen Zahlen den Beweis dafür zu sehen, daß eine gesunde Ernährungsweise nicht mehr gewährleistet gewesen sei! Den Umstand, daß immer weniger Fleisch und Eier gegessen wurden, interpretierte Gumpert als Beweis für einen jähen Niedergang der Versorgung. Wir würden in diesen Zahlen heute vermutlich eher einen erfolgreichen Übergang von Fleisch und Fetten hin zu gesünderer Nahrung sehen. Er lag mit seiner Begründung des rückläufigen Fleisch- und Fettkonsums gewiß richtig, aber sein Spott über die Anordnungen, Fette aus gesundheitlichen Gründen einzuschränken – er beschimpfte Gesundheitsbeamten als »Hyänen«, die der Öffentlichkeit weismachen wollten, daß Butter Gift für die Gesundheit sei –,33 ist angesichts unseres heutigen Wissens über gesunde Ernährung und dessen, was die Nationalsozialisten darüber zu wissen glaubten, vollkommen unberechtigt.
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Mit seiner allgemeinen Feststellung, wonach die Gesundheit nur eines von mehreren Anliegen in der Ernährungspolitik sei, lag Gumpert zweifellos richtig – denn das alles überragende Ziel war die Remilitarisierung der deutschen Wirtschaft. Wenn Rudolf Heß Kanonen anstatt Butter forderte, ging es gewiß nicht um die Gesundheit, und daraus kann man schließen, daß die Sorge um die Gesundheit nicht der vorherrschende Grund dafür war, daß Fleisch und Fett sogar für die privilegierten, »gesunden« Deutschen knapp wurden. Und als sich das Kriegsgeschehen gegen die Deutschen wendete, sorgte sich das NS-Regime wohl eher darum, daß die Deutschen zuwenig Fleisch als zuviel bekämen: Goebbels hatte dies zumindest im Februar 1942 eingesehen, als er davor warnte, niemand werde »auf wohlabgewogene Argumente hören, wenn ihm die Butter und das Fleisch weggenommen werden«.34
DER »FÜHRER« ISST Die Frage der Haltung zum Fleischkonsum gewann dadurch noch eine besondere Note, daß Hitler selbst Vegetarier war. Diese an sich unbedeutende Tatsache bekam ungeheures Gewicht, wenn man berücksichtigt, welch prominente Rolle sowohl die Nationalsozialisten als auch die Vegetarier dem Körper und einer bestimmten »Lebensweise« zuschrieben – eine Ideologie, die seither auch zu einer etwas peinlichen Angelegenheit für Vegetarier geworden ist (ich selbst esse Fleisch, wie ich an dieser Stelle vielleicht einräumen sollte). Hitlers Vegetarismus tauchte in Nachkriegsdiskussionen über Ernährung und Tierrechte oftmals auf, oder auch wenn es um Antisemitismus und vieles mehr ging. Wie sahen die Eßgewohnheiten des »Führers« aus, und was sagen sie uns über die nationalsozialistische Bewegung? Russische Gerichtsmediziner untersuchten in der Nachkriegszeit Leichenteile, die aus einem flachen Grab außerhalb von Hitlers Bunker stammten, und bestätigten, daß der fragliche Schädel – sehr wahrscheinlich derjenige des »Führers« – die »für einen Vegetarier typische« gelbe Farbe aufweise.35 Hitlers Vegetarismus wurde allerdings schon vor 1933 zum Thema gemacht, als der persönliche Asketismus des zukünftigen »Führers« als ein Modell für den nationalsozialistischen Lebensstil hochgehalten wurde. Auch 156
das Ausland nahm dies wahr, und man berichtete über einige offensichtliche Rückfälle. Otto D. Tolischus hob 1937 in der New York Times hervor, daß der »Führer« zwar Vegetarier sei, weder trinke noch rauche, aber auch ab und an eine Scheibe Schinken genieße, und dazu Delikatessen wie Kaviar oder Schokolade.36 Diese Berichte gaben in der Nachkriegszeit oftmals Anlaß zu Spekulationen, ob man Hitler tatsächlich als Vegetarier bezeichnen konnte.37 Die Ernährung spielte für den »Führer« in jedem Fall eine wichtige Rolle. Er war fasziniert von der Möglichkeit, sich vollständig von rohem Obst, Getreide und Gemüse zu ernähren, und er sprach dieses Thema oft mit Freunden oder Untergebenen an. Kurz nach der »Machtergreifung« arrangierte er ein Treffen mit einer achtzigjährigen Frau aus Bad Godesberg – »Rheinauf und rheinab war sie bekannt als die Seniorin der vegetarischen Ernährungsweise, der Kaltwasserkuren und der Kräuterheilkunde« –, um mit ihr über die Vorteile einer vegetarischen Ernährung zu sprechen. Als ihn der Gestapo-Chef am gleichen Tag von der Notwendigkeit überzeugen wollte, die komplizierte Struktur der Partei zu ordnen, antwortete Hitler, es gebe viel dringendere Probleme als Politik – zum Beispiel, die Lebensgewohnheiten der Menschen zu verändern. Weiter meinte er, was ihm diese alte Frau am Morgen erzählt habe, sei von größerer Bedeutung als alles, was er in seinem Leben noch tun könne.38 Hitler behauptete später, die Menschen hätten einst länger gelebt, und das habe sich nicht nur wegen des Fleischessens geändert, sondern auch weil viele Nahrungsmittel durch das Kochen »sterilisiert« würden, was »Kulturkrankheiten« mit sich gebracht habe. Krebs sei eine solche Krankheit: »Und beruht der Krebs auch auf einer noch unbekannten Voraussetzung, so ist doch möglich, daß diese Voraussetzung nur wirksam wird, wenn der Körper nicht richtig ernährt ist.« Die Menschen hätten seiner Ansicht nach erst begonnen, Fleisch zu essen, als die klimatischen Bedingungen der Eiszeit sie dazu zwangen, auch das Kochen sei zu dieser Zeit aufgekommen. Die nationalsozialistischen Bemühungen, den Konsum von rohem Obst und Gemüse zu fördern, würden nun diese Entwicklung umkehren und die Ernährung »revolutionieren« (»Die Rohkost war eine Revolution!«). Hitler bezweifelte, daß Fette, die aus Kohle gewonnen wurden, genauso gut wie Olivenöl waren. Er befürchtete zudem, der steigende Verbrauch von Tran werde die Wal157
populationen dezimieren. Die Deutschen der Zukunft würden, so behauptete er, mehr Margarine essen, die dann aus den pflanzlichen Ölen aus dem Osten hergestellt werde.39 Wir haben eine ziemlich genaue Vorstellung von Hitlers täglichem Speiseplan, über den seine treu ergebenen Anhänger berichten, die ihm geradezu an den Lippen hingen. Hitler ernährte sich tatsächlich zum größten Teil vegetarisch – aber er genoß auch zuweilen ein Fleischgericht. Der GestapoChef Rudolf Diels schrieb nach dem Krieg, daß Hitler manchmal bayerische Leberknödel aß, aber nur, wenn sie von seinem Freund und Fotografen Heinrich Hofftnann zubereitet worden seien.40 Die New York Times erwähnte Schinken und Kaviar, und man sagte auch, daß Hitler gerne Wildtäubchen gegessen habe. In verschiedenen Quellen wird erwähnt, welche Abscheu Hitler gegenüber dem Fleischessen gehabt habe. 1920 habe der zukünftige »Führer« beispielsweise seine Begleiterin Maria (Mimi) Reiter bei einem Rendezvous gescholten, weil sie ein Wiener Schnitzel bestellt hatte. Sichtlich beunruhigt durch seine Reaktion fragte sie ihn, ob sie etwas falsch gemacht habe, worauf er antwortete: »Nein, nein, Mimi. Du kannst das Wiener Schnitzel ruhig haben. Aber verstehen tu ich das nicht. So ein Leichenfraß! Das ist doch Fleisch von Tieren, die tot sind. Von Leichen, Kadavern.«41 An anderer Stelle bezeichnete Hitler Fleischbrühe als »Leichentee«.42 Für Joseph Goebbels lag die Abneigung seines »Führers« in seinem Respekt für »das tierische Element« im Menschen begründet.43 Goebbels selbst schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen, denn er aß weiterhin Fleisch, bis er sich selbst, seine Frau und seine fünf kleinen Kinder in den letzten Kriegstagen vergiftete. Hitler hatte offenbar 1931 aufgehört, Fleisch zu essen, aber die Gründe für diesen Entschluß (wenn man in einer solchen Angelegenheit von Gründen sprechen kann) sind nicht vollständig geklärt. Mehrere seiner Biographen weisen auf den Einfluß des nationalistischen und antisemitischen Komponisten Richard Wagner hin. In einem Essay von 1881 behauptete Wagner, daß die menschliche Gattung durch Rassenmischung und Fleischessen unrein geworden und vergiftet sei (auch seiner Meinung nach war die ursprüngliche menschliche Ernährung vegetarisch). Eine neue Art von Sozialismus sei nötig, um Deutschland von diesem doppelten Übel zu befreien. Er beschwor das deutsche Volk, sich mit den Vegetariern, den »Tier158
schützern und den Freunden der Mäßigung« zusammenzutun, um sich vor der jüdischen Aggression zu retten. Wagner behauptete, kein Fleisch zu essen, würde die Menschen moralisch erlösen – dies sei sogar für Juden möglich.44 Hitler scheint sich zumindest einen Teil dieser Botschaft zu Herzen genommen zu haben, beteuerte er doch, vor allem wegen Wagners Meinung in dieser Frage kein Fleisch zu essen.45 Man behauptete, Hitler habe es nicht akzeptieren können, daß Tiere getötet wurden, um von Menschen verspeist zu werden, aber ein Autor hat dem entgegengesetzt, daß dieses Bild absichtlich konstruiert wurde, um den deutschen »Führer« als freundlichen und gütigen Menschen darzustellen.46 Arnold Arluke und Boria Sax, zwei Historiker, die sich mit Tierrechten befassen, vertreten die Ansicht, daß beide Behauptungen wahr sein könnten. Sie führen zudem den Hinweis eines Amerikaners aus den vierziger Jahren an, wonach Hitler den Genuß von Fleisch wegen Verdauungsproblemen aufgegeben habe. Was auch immer seine ursprüngliche Motivation gewesen sein mag (es wurde auch vermutet, daß der Tod seiner Nichte seine Abneigung ausgelöst haben könnte),47 der »Führer« selbst vertrat die Meinung, daß er der neuen Ernährung eine bessere Gesundheit und größere Kraft zu verdanken habe. Als er noch Fleisch aß, schwitzte er während seiner langen, demagogischen Reden sehr stark – er verlor zwischen zwei und drei Kilogramm an Gewicht im Verlauf eines Abends –, aber nachdem er das Fleischessen aufgegeben hatte, habe auch das Schwitzen aufgehört. In den vierziger Jahren bezeichnete er sogar seinen Schäferhund Blondi als Vegetarier – und er belehrte einige Besucher darüber, daß die Angewohnheit des Hundes, Gras zu fressen, dessen Verdauungsprobleme gelöst habe.48 Der Vegetarismus war nicht die einzige Eigenart in Hitlers Ernährung: Er hatte sein Leben lang eine Vorliebe für Süßes, und es war bekannt, daß er täglich bis zu einem Kilogramm Schokolade aß.49 Er hatte zudem Zeit seines Lebens eine eher absonderliche Faszination für Langusten, Hummer und Krebse, was einige Wissenschaftler (meines Erachtens unbegründeterweise) auf die Tatsache zurückgeführt haben, daß das Wort »Krebs« nicht nur das Tier, sondern eben auch die Krankheit bezeichne.50 Es ist oft gesagt worden, Hitler habe Angst vor einer Krebserkrankung gehabt, aber die Belege dafür sind etwas vage. Wir wissen, daß er die Reichskanzlei im September 1943 vom Dachauer Arzt Gustav Freiherr von 159
Pohl mit einer Art Wünschelrute auf »Erdausstrahlungen« hin untersuchen ließ –51 der Glaube, »Erdstrahlen« könnten Krebs verursachen, wurde damals von vielen geteilt,52 und diese Vermutungen tauchen auch heute gelegentlich wieder in der Heilkundeliteratur von Quacksalbern auf – siehe Kapitel 7. Wir wissen auch, daß Hitler an Magenkrämpfen litt, die er offenbar als frühe Anzeichen von Krebs deutete.53 Man hat auch vermutet, daß der Krebstod seiner Mutter im Jahr 1907 zu dieser Angst beigetragen hatte: Klara Hitler starb an Brustkrebs, während sie der jüdische Arzt Eduard Bloch behandelte, weshalb verschiedentlich spekuliert worden ist, Hitlers Antisemitismus könnte zum Teil dadurch angeregt worden sein.54 Hitler war nicht der einzige »Vegetarier« unter den ranghohen Nazis. Himmler war ein großer Anhänger der Naturheilkunde (»jeder Arzt sollte Naturheilarzt sein«) und der Rohkost. Er war der Meinung, daß die »östlichen Völker« infolge ihrer pflanzlichen Ernährung gesündere Körper und längere Därme hatten. Ebenso wie Hitler litt auch er unter heftigen Anfällen von Magenschmerzen und vermutete – wiederum wie sein »Führer« –, daß dies Anzeichen für eine Krebserkrankung sein könnten (Himmlers Vater war an Magenkrebs gestorben). Der höchste SS-Mann war überzeugt, daß eine ausgewogene Ernährung für die Erhaltung der Gesundheit grundlegend sei. Er wies die einseitige Vorstellung zurück, wonach die Kalorien das beste Maß für den Nährwert eines Essens seien, und hob statt dessen die Bedeutung der Vitamine, Mineralien, Ballaststoffe und der Vollwertkost im allgemeinen hervor. Er rauchte und trank zumeist nicht, erlaubte sich aber doch hin und wieder eine Zigarre und ein Glas Rotwein. Fettleibigkeit war ihm ein Greuel; im August 1940 initiierte er gemeinsam mit Reinhard Heydrich, dem Chef des Sicherheitsdienstes, eine Kampagne, um die Fettleibigkeit in der SS zu bekämpfen.55 Er wollte seine Waffen-SS-Männer zu Vegetariern machen, die weder rauchten noch tranken, aber es ist unklar, welchen Erfolg diese Überzeugungsversuche hatten. Er erreichte zumindest, daß die SS die meisten deutschen Mineralquellen übernahm, und auf seine Befehle hin wurden in vielen SS-Kasernen und Konzentrationslagern Kräutergärten angelegt.56 Er sehnte sich nach der Zeit, in der alle Deutschen wieder Vegetarier wären, nur dann konnte Deutschland – so phantasierte er über die ursprünglichen Arier – seine rechtmäßige Position als Herrscher über andere Nationen wieder einnehmen.57 160
In jenem Flügel der NSDAP, welcher sich den Vorstellungen von Liek anschloß und romantisch verklärte Naturvorstellungen pflegte, stießen Himmlers Ideen zu einer gesunden Ernährung auf offene Ohren. Er kritisierte die Verteilung von Kunsthonig an die Waffen-SS und die Verfälschung von Nahrungsmitteln überhaupt und verurteilte die bereits weit fortgeschrittene Dominanz von Lebensmitteln mit künstlichen Inhaltsstoffen. Der Ursprung des Problems lag seiner Ansicht nach in der zu großen Machtfülle der Lebensmittelkonzerne. Ihr wirtschaftlicher Einfluß mache es ihnen möglich, den Menschen vorzuschreiben, was sie zu essen hätten. Die Stadtbevölkerung, die sich während des Winters aus Büchsen ernähren müsse, sei bereits in ihrer Hand, nun erlägen auch noch die Menschen auf dem Land dem Diktat des Künstlichen. Der Krieg habe diese Entwicklung fürs erste gestoppt, nach dem Krieg müsse man energisch dagegen vorgehen, daß die Nahrungsmittelindustrie die Gesundheit der Menschen ruinierte.58 Gefragt, wie er die deutsche Ernährungsweise verändern würde, nannte er als Beispiel, er wolle einen Mindestgehalt von Vollkornmehl im Brot staatlich verordnen. Und wie würde er die Leute dazu bringen, dieses Brot zu essen? Da wolle er auf die Propaganda setzen, schließlich gebe es genügend abschreckende Beispiele.59 Diese Propaganda sollte sich an Hausfrauen und Mütter richten, da sie die Verantwortung für eine gesunde Ernährung trugen. Himmler behauptete, er habe den Wert einer richtigen Ernährung durch seine Erfahrung als Bauer schätzen gelernt, eine Erfahrung, die später durch seine Lektüre von Max Bircher-Benner und Ragnar Berg, den beiden damals führenden Vertretern einer natürlichen Ernährung, bestätigt worden sei (Bircher-Benner ist heute vor allem als Erfinder des Müsli bekannt). Der SS-Reichsführer war sich bewußt, wie engstirnig sich die Schulmedizin in dieser Angelegenheit gab. Gleichzeitig war ihm jedoch klar, daß eine großangelegte Kampagne für gesunde Ernährung, unter Einsatz von Propagandafilmen, erst nach dem Krieg angegangen werden konnte.60 Hitler persönlich äußerte im April 1942 Goebbels gegenüber, er wolle bis nach dem Krieg warten, um das Thema des Vegetarismus anzugehen. Er gestand zudem ein, daß der Nationalsozialismus in Deutschland nie triumphiert hätte, wenn er darauf bestanden hätte, jeglichen Fleischkonsum zu verbieten.61 161
Auch Rudolf Heß hatte seine besonderen Ansichten zur Ernährung. Wie Himmler begeisterte sich Hitlers Stellvertreter und Nachfolger für natürliche Heilmittel und die Homöopathie und achtete sehr sorgfältig auf seine Ernährung. Er brachte jeweils seine eigene vegetarische Kost mit zu den Treffen in der Reichskanzlei, die er dann zum Abendessen aufwärmte. Dies verärgerte Hitler, und er beschwerte sich bei Heß: »Ich habe hier eine erstklassige Diätköchin. Wenn Ihr Arzt etwas Besonderes für Sie verordnet hat, dann kann sie es gerne zubereiten. Aber Ihr Essen können Sie nicht mitbringen.«62 Heß entgegnete, sein Essen müsse bestimmte biodynamische Zutaten enthalten, worauf Hitler entgegnete, Heß solle wohl besser zu Hause essen. Offenbar wurde Heß nach dieser Episode nicht mehr so oft eingeladen, um mit dem »Führer« zu speisen.63 Nicht alle führenden Nationalsozialisten waren so wählerisch. Goebbels kleidete sich sehr sorgfältig – seine Garderobe umfaßte mehr als hundert verschiedene Uniformen –, aber er war kein Gourmet. So erinnert sich sein Biograph: Kaum irgendwo sonst in Berlin ißt man so schlecht wie im Hause Goebbels. Essen ist dem Minister gleichgültig, nach wie vor bevorzugt er sein Leibgericht Hering mit Pellkartoffeln, das Gäste oft serviert bekamen. Es wurde zur Gewohnheit, daß sich Gäste vorher in einem Restaurant sättigten, und später im Kriege kann jeder von ihnen gewiß sein, daß auf sein erlesenes Gedeck nicht mehr kommt, als er an Marken abgegeben hat. Auch sonst ist Sparsamkeit ein hervorstechendes Merkmal der Haushaltsführung, die von monatlich 5000 bis 6000 Mark bestritten wird – angesichts der Größe und der zahlreichen Repräsentationsverpflichtungen keine gerade horrende Summe.64 Man mag sich an dieser Stelle vielleicht darüber wundern, was Ausführungen über die Vorlieben von Hitler und anderen in einem Buch über den Kampf der Nationalsozialisten gegen den Krebs zu suchen haben. Ich bin der Meinung, daß Hitlers Lebensgewohnheiten und persönlichen Vorlieben – und sogar seinem Körper – in einem Regime, das von Gesundheit, körperlicher Reinheit und der Macht seines imagebewußten »Führers« besessen war, eine ungewöhnlich große Bedeutung zukam. Hitler sollte das Idealbild 162
des Deutschen verkörpern – wenn man dies genauer betrachtet, stößt man auf einige ziemlich offensichtliche Widersprüche (ein bekannter Witz aus jener Zeit lautete: »Wie sieht der ideale Deutsche aus? Blond wie Hitler, schlank wie Göring, männlich wie Goebbels ...«). Hitlers Körper wurde in einem solchen Maße zum Objekt der Verehrung und Nachahmung, daß die Soldaten der Roten Armee, als sie in Berlin einmarschierten, auf eine Unzahl von Männern mit Hitlerschnurrbart trafen – mehrere Dutzend von ihnen wurden, auf den Verdacht hin, der deutsche »Führer« zu sein, verhaftet. Jeder Deutsche wußte wohl, daß Hitler weder rauchte noch trank, diese Aussage wurde in den Parteischriften ständig wiederholt. Die seltsamen Eigenheiten seines Körpers brachten Hitler unvermeidlichen Spott ein – der Schnurrbart diene vielleicht dazu, »jüdische Nasenlöcher« zu verbergen, und die Mißbildung seiner Genitalien führte zu vielen höhnischen Bemerkungen und zu Großbritanniens berühmtestem Soldatenlied (das zum »Colonel Bogey’s March« gesungen wurde: »Hitler has only got one ball; / Göring has two but very small; / Himmler is very sim’lar, / And Goebbels has no balls at all«). Der prüfende Blick der Öffentlichkeit wurde Hitler schließlich zuviel. Mit einem Erlaß aus dem Jahre 1937 ordnete er an, daß seiner Person und seinen Gewohnheiten keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt werden dürfe. Daß sein Vegetarismus zu Werbezwecken ausgenutzt wurde, scheint bei diesem Schritt auch eine wichtige Rolle gespielt zu haben – die Hersteller von natürlichen Lebensmitteln hatten den Lebensstil des »Führers« dazu benutzt, ihre Produkte zu verkaufen –,65 aber der Diktator befürchtete vielleicht auch, das Verhältnis zwischen Verehrung und Spott könnte sich bald zu seinen Ungunsten verschieben.
DIE KAMPAGNE GEGEN DEN ALKOHOL In ihrer Kampagne für einen »natürlicheren« Lebensstil setzten sich die Nationalsozialisten häufig gegen übermäßigen Alkoholkonsum ein. Wie in den Vereinigten Staaten nahm die organisierte Bewegung gegen den Alkohol im 19. Jahrhundert ihren Anfang: Der Deutsche Verein gegen den Alkoholismus war 1883 gebildet worden, und ungefähr zur selben Zeit wurde die Zeitschrift Auf der Wacht gegründet, mit der über die Gefahren durch alko163
holische Getränke – zuweilen auch durch das Rauchen – informiert werden sollte.66 Die Bewegung erreichte nie die gleiche Stärke wie in den USA, wo von 1919 bis 1933 die landesweit vorgeschriebene Prohibition herrschte, doch die deutsche Bewegung war keineswegs unbedeutend. Als Hitler an die Macht kam, umfaßte die Organisation 19 regionale und 254 lokale Vereinigungen sowie 16 Frauengruppen. Allein die Berliner Zweigstelle hatte 1000 Mitglieder. Über hundert Beratungsstellen wurden eingerichtet, um Alkoholikern Hilfe zu bieten, und man bemühte sich besonders, junge Männer vom Trinken abzuhalten.67 Für die Mäßigung des Alkoholkonsums bzw. gänzliche Abstinenz setzte man sich in verschiedenen politischen Lagern ein. In Österreich war die führende Anti-Alkohol-Organisation der »Arbeiter-Abstinentenbund«, eine sozialistische Vereinigung, die – wie einige behaupteten – sogar besser als die eigentliche österreichische Sozialdemokratische Partei organisiert war. Auch die naturverbundene Wandervogel-Bewegung, die katholischen Studentenverbindungen und die protestantischen Kirchen kämpften gegen übermäßigen Alkoholkonsum. Aufgrund der finanziell schwierigen Lage in den Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg waren manche Gebräuche des geselligen Trinkens zurückgegangen (z.B. die ritualisierten Trinkgelage vieler Studentenverbindungen), und auch der 1926 gegründete »Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund« schrieb sich Strenge und Nüchternheit auf sein Banner. Hitler sagte ungefähr zu dieser Zeit voraus, die Studenten der Zukunft würden nicht nach ihrer Fähigkeit, Bier zu trinken, beurteilt, sondern nach ihrer Fähigkeit, nüchtern zu bleiben.68 Man bekämpfte den Alkohol unter ganz verschiedenen Problematisierungen. Alkoholkonsum wurde als finanzielle Belastung für den Staat betrachtet, als Gefahr für die Gesundheit und als Quelle von unzähligen Übeln und Lastern. Man beschuldigte den Alkohol, Nervenzellen abzutöten und den Geist zu schwächen. Die Trunkenheit fördere den Hang zu Verbrechen und Delinquenz, sagte man, und die Rassenhygienikerin Agnes Bluhm wurde mit ihrer These bekannt, wonach Alkohol Störungen der embryonalen Entwicklung zur Folge habe. Klare Unterscheidungen zwischen angeborenen, genetisch fixierten Schädigungen und solchen, die erst während der embryonalen Entwicklung entstanden, wurden aber nicht immer getroffen, was zu einiger Verwirrung bezüglich der längerfristigen Auswirkungen von Alkohol 164
auf die »Erbgesundheit« führte. Eine mögliche Schädigung des »deutschen Erbguts« diente nach 1933 als Rechtfertigung dafür, daß »chronische Alkoholiker« nach einem entsprechenden Gesetz sterilisiert wurden. Die Deutschen beschäftigen sich auch eingehend mit dem Thema einer möglichen Schädigung von Föten durch Alkoholkonsum, und man vermutete, daß einige Nachkommen der unter Eugenikern bekannten Familie Jukes (man sagte, daß Krankheiten in dieser Familie über mehrere Generationen hinweg vererbt wurden) von einem solchen Syndrom betroffen gewesen sein könnten.69 Es wäre interessant zu wissen, ob vergleichbare deutsche Familien (»Zero«, »Victoria« und »Markus«) auf ähnliche Weise geschädigt gewesen waren – und ob, wie im amerikanischen Fall, die mangelnde Forschung auf diesem Gebiet nach dem Zweiten Weltkrieg etwas mit dem belastenden Erbe der Eugenik zu tun haben könnte. Der Historiker Brian S. Katcher hat darauf hingewiesen, daß Leberzirrhose, Herzmuskelerkrankungen, fötale Schäden und Speiseröhrenkrebs um die Jahrhundertwende als Auswirkungen eines übermäßigen Alkoholkonsums eingeschätzt wurden – ein Wissen, das später wieder verlorenging.70 Die Vorstellung, Alkohol könnte Krebs verursachen, tauchte spätestens im 19. Jahrhundert auf, als man Tumore in die Listen möglicher von dem Teufelszeug verursachter Schäden einzureihen begann. Vermutungen wurden laut, wonach Magenkrebs durch den herben Cidre verursacht werde, den man in der Normandie trank, und durch die trockenen Weine der Ostschweiz.71 Karl B. Lehmanns erwähnte in seinem einflußreichen Lehrbuch über Gesundheit und »Gewerbehygiene« aus dem Jahr 1919, daß bei Wirten, Brauern und anderen Berufsgruppen, die viel mit Alkohol zu tun hatten, hohe Krebsraten auftraten, insbesondere Fälle von Mund- und Speiseröhrenkrebs, für die man hauptsächlich den Alkoholgenuß verantwortlich machte.72 Berufsmäßig Alkohol zu verkaufen oder auszuschenken (besonders in Wirtshäusern) wurde zu einer der am meisten genannten, durch das Arbeitsumfeld bedingten Krebsursachen, an zweiter Stelle rangierte die Arbeit mit Teer, Paraffin oder Mineralöl.73 Die gängige, aus dem 19. Jahrhundert stammende Erklärung besagte, chronischer Alkoholkonsum führe zu einem allgemeinen »Magenkatarrh«, woraus sich eine Krebserkrankung entwickle. Es gab einige Forscher, die dieser Idee widersprachen (Skeptiker wiesen daraufhin, daß Frauen genausooft wie Männer von Krebs betroffen 165
waren, obwohl sie viel weniger tranken),74 aber sie hielt sich bis in die vierziger Jahre.75 Man kann den Einfluß der deutschen Anti-Alkohol-Bewegung in den dreißiger Jahren nicht verstehen, wenn man nicht berücksichtigt, daß viele der führenden Nationalsozialisten sich schon früh für die Abstinenz oder die Mäßigung einsetzten. Erwin Liek war vor dem Ersten Weltkrieg Abstinenzler gewesen und trank auch nachher nie viel. Er machte den übermäßigen Alkoholkonsum für Krebs und viele andere Krankheiten verantwortlich.76 Heinrich Himmler verkündete, daß Alkohol das heimtückischste Gift, mit dem die Menschheit je konfrontiert wurde, und eine Hauptursache für menschliches Versagen sei. Der Führer der SS war als Student einer Verbindung beigetreten und hatte beantragt, wegen seines empfindlichen Magens nicht an den Trinkgelagen teilnehmen zu müssen.77 Hitler selbst griff den Alkohol 1926 in einem Artikel im Völkischen Beobachter an, dem offiziellen Organ der NSDAP. Er erklärte: »Was der Alkohol, besonders in unserem deutschen Volke, an wertvollen Menschen schon vernichtet hat oder für die Nation unbrauchbar macht, ergibt in einem Jahrhundert eine um ein Vielfaches höhere Zahl als die Verluste auf allen Schlachtfeldern in eben diesem Zeitraum.« Der Führer der NSDAP prophezeite, daß ein Volk, welches sich erfolgreich von diesem Gift lösen könnte, vermutlich andere Teile der Welt beherrschen würde, die auf einen solchen Schritt noch nicht vorbereitet seien.78 Da sie so viele führende Nationalsozialisten auf ihrer Seite wußten, vertrauten die Alkoholgegner darauf, daß die nationalsozialistische Zukunft Gutes verhieß. Auf der Wacht, die führende deutsche Anti-Alkohol-Zeitschrift, feierte Hitlers Aufstieg zur Macht voller Begeisterung als wichtigen Wendepunkt in der Geschichte. Nun könne der Kampf gegen alles, was unrein sei, aufgenommen werden.79 Die führenden Nationalsozialisten revanchierten sich: An den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Gründung des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus vom 22. bis zum 25. Oktober 1933 nahmen viele prominente Politiker und Rassenhygieniker teil – unter anderen Eugen Fischer und Fritz Lenz, Innenminister Wilhelm Frick und der künftige Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti. Das Horst-Wessel-Lied wurde gesungen und eine Radiorede von Hitler (»Sport und der neue Mensch«) wurde mit Lautsprechern in die Festhalle übertragen. Die 166
»Gleichschaltung« der deutschen Anti-Alkohol-Organisationen folgte kurze Zeit später: Juden wurden ausgeschlossen und eine neue »judenfreie« Organisation wurde gegründet, die die Bewegung vereinheitlichen sollte.80 Wirtschaftliche Überlegungen spielten im Mißtrauen der Nationalsozialisten gegenüber dem Alkohol ebenfalls eine wichtige Rolle. Die NS-Behörden klagten vor dem Krieg, daß die Deutschen jährlich drei Milliarden Reichsmark für Alkohol ausgaben,81 genug, um Millionen von Volkswagen oder andere nützliche Güter zu kaufen. Auf dem 44. Jahrestreffen des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus im Jahr 1935 trat Dr. Werner Hüttig vom Rassenpolitischen Amt für eine erweiterte Kampagne gegen den Alkoholmißbrauch in der Hitler-Jugend, in Schulen und bei der Arbeit ein. Alkohol wurde als Bedrohung für die »Kampfbereitschaft« der deutschen Jugend dargestellt, und offizielle Vertreter der Hitler-Jugend verglichen die durch Trunksucht hervorgerufene Schädigung mit jener eines Hirntumors. Sie erinnerten an die Mahnung Hitlers, wonach die Zukunft Deutschlands nicht den Trinkern, sondern den Kämpfern gehöre.82 Die Pläne, den Alkoholkonsum zu bekämpfen, wurden schon in den ersten Monaten des Jahres 1933 umgesetzt. Die nationalsozialistische Version des 1. Mai – der »Tag der nationalen Arbeit«, wie er neu hieß – wurde für alkoholfrei erklärt,83 ebenso viele andere von der Partei finanzierten Ereignisse und Einrichtungen wie zum Beispiel die Trainingsanlagen für Deutschlands Olympia-Athleten. Mit einer Verordnung vom 1. November 1933 wurde jede Werbung verboten, die »den politischen Willen des deutschen Volkes verletzen« konnte. Das Gesetz verbot ausdrücklich Anzeigen für alkoholische Erzeugnisse, die auf eine junge Zielgruppe gerichtet waren oder Bilder von Jugendlichen benutzten. 1939 wurde die Verordnung ausgeweitet, jegliche Andeutung einer »gesundheitsfördernden« Eigenschaft von Weinbrand, Likören oder Schnäpsen wurde untersagt, ebenso war jeglicher Hinweis auf Nährwert oder angebliche hygienische Qualitäten verboten, oder jedwede Andeutung, daß ein alkoholisches Produkt die Verdauung fördern oder den Appetit anregen könnte (eine Ausnahme wurde bei jenen Kräuterbittern gemacht, die lindernde pflanzliche Wirkstoffe enthielten). Die Werber durften sich nicht mehr auf den Alkohol als »flüssige Nahrung« beziehen, und in keinem Fall waren Ausdrücke erlaubt, die eine medizinische Wirkung implizierten – Namen wie »Mageninspektor«, »Sanitätsrat«, »Blut167
likör« etc. Harte Strafen (Geldbußen und Haft) wurden über jeden verhängt, den man des Übertretens dieser Gesetze überführte – auch Verlegern und Publizisten, die solche Behauptungen in ihren Zeitschriften und Zeitungen abdruckten, drohten Strafen.84 Die nationalsozialistischen »Antialkoholiker« machten sich auch Sorgen wegen der Verkehrsunfälle. Man hatte erkannt, das Alkohol bei sehr vielen Verkehrsunfällen mit im Spiel war. Dies war keine unbedeutende Feststellung, in Deutschland gab es Mitte der dreißiger Jahre über eine Viertelmillion jährliche Verkehrsunfälle mit mehr als 10000 Todesopfern. Montags ereigneten sich viel mehr Unfälle als mittwochs, was von einigen als Folge von Wochenend-Zechabenden gesehen wurde. Amtliche Schätzungen besagten, daß mehr als zwei Drittel der Verkehrsopfer in direktem Zusammenhang mit Alkohol am Steuer standen.85 Führende Nationalsozialisten nahmen dieses Problem ernst: Himmler richtete 1937 an jeden der 1,7 Millionen Deutschen, die im Besitz eines Führerscheins waren, ein Schreiben, in dem er vor den Gefahren der Trunkenheit am Steuer warnte.86 Die Kampagne wurde auf den Arbeitsplatz ausgeweitet, als Robert Ley von der Deutschen Arbeitsfront versuchte, das Biertrinken bei der Arbeit durch Teetrinken zu ersetzen. Im Jahr 1940 rief Ley eine kräftig beworbene »Teeaktion« ins Leben, um den Konsum von nichtalkoholischen Getränken am Arbeitsplatz zu fördern: 120000 Kilogramm Schwarztee wurden in Blöcke gepreßt und an alle Fabriken verschickt, wo Arbeiter bei Temperaturen von über 28 Grad Celsius arbeiteten – es war bekannt, daß Alkohol dort, wo es heiß war, besonders schwerwiegende Folgen hatte. Das Projekt war offenbar ein Erfolg,87 aber es ist vielleicht nicht unangebracht zu bemerken, daß Ley selbst ein berüchtigter Trinker war, der mehr als einmal dafür gerügt wurde, in trunkenem Zustand öffentlich aufgetreten zu sein. Eine noch ehrgeizigere Kampagne wurde angekurbelt, mit der man die Menschen dazu bringen wollte, mehr Süßmost und Obstsäfte zu trinken, ebenso alkoholfreies Malzbier, Mineralwasser und Gemüsesäfte. Die Bestimmungen, welche die Bezeichnungen der Getränke regeln sollten, bereiteten so manche Schwierigkeiten, und es brauchte einige Anstrengungen, bis entschieden war, wieviel Alkohol ein Bier enthalten durfte, um noch immer als »alkoholfrei« zu gelten. Einige Anstrengungen wurden auch darauf verwandt, eine neue Generation von Getränken aus verflüssigtem Gemüse zu 168
entwickeln – diese Säfte waren vermutlich mit unseren heutigen Gemüseoder Multivitaminsäften zu vergleichen. Die Zeitschrift Gärungslose Früchteverwertung beschrieb neue Methoden der Produktion alkoholfreier Getränke, die von nationalsozialistischen Zeitschriften und Gesundheitsmagazinen kräftig gefördert wurden. Ebenso wurden Programme gestartet, um Kinder vom Alkohol abzuhalten. Das Verbot, mit dem man 1933 die an Jugendliche gerichtete Werbung zu verbieten versuchte, wurde im Jahr 1936 verschärft. Zur selben Zeit führten die Nationalsozialisten ein System ein, mit dem festgelegt werden sollte, welche Getränke für Kinder geeignet waren. Nichtalkoholische Fruchtsaftgetränke bekamen beispielsweise auf dem Etikett den offiziellen Stempel »Jugendwert«, im Gegensatz dazu wurde Coca-Cola als für Kinder ungeeignet eingestuft.88 Der Staat begann sich in vielen anderen Bereichen auf ähnliche Art und Weise einzumischen: Auch Filme wurden beispielsweise offiziell als für Kinder geeignet oder ungeeignet klassifiziert. Trotz der Propaganda und ihrem allgegenwärtigen Alter ego, der »Aufklärung«, schienen diese verschiedenen Bemühungen, die »Getränkefrage« zu lösen, bestenfalls mäßige Erfolge vorzuweisen. Die Produktion von Obstsäften stieg drastisch von ungefähr 16 Millionen Litern im Jahr 1930 auf die beinahe fünffache Menge im Jahr 1937 an, während die Preise für viele Fruchtsäfte jäh sanken (vgl. Abb. 5.3 und 5.4). Der Präsident des Reichsgesundheitsamtes erklärte 1938 den Süßmost zum offiziellen »Volksgetränk«,89 und die Produktion stieg bis in die ersten Kriegsjahre weiter an. Die Brauereien versuchten, sich diesem neuen Trend anzupassen, und begannen nichtalkoholische Getränke zu produzieren. 1936 wurde ein Viertel des deutschen Mineralwassers von Brauereien hergestellt und vertrieben. Mit Ausbruch des Krieges durfte nicht mehr überall Alkohol ausgeschenkt werden: Ein Gesetz vom 18. Oktober 1939 verbot den Verkauf von Alkohol in Wirtshäusern. Auch die Gesetzgebung zur Sterilisation legte ihren frostigen Arm um die Alkoholiker, ein »Erfolg«, von dem wir bereits gesprochen haben. Rassenhygieniker hatten seit langem immer wieder daraufhingewiesen, daß Alkohol das Erbgut schädige, aber auch, daß die Neigung zum Alkoholismus erblich sei. Schon 1903, am Neunten Internationalen Kongreß zur Bekämpfung des Alkoholismus in Bremen, hatte der Psychiater Ernst Rüdin vorgeschlagen, 169
ABB. 5.3. Aufruf an Mütter und schwangere Frauen, Alkohol und Nikotin zu meiden und Fruchtsäfte zu trinken. Aus: Reiter und Breger, Deutsches Gold, S. 302.
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ABB. 5.4. Die Fruchtsaftproduktion in Deutschland von 1926 bis 1937, in Millionen Litern. Die Propagierung von Säften war Teil der Kampagne gegen den Alkohol. Quelle: Reiter und Breger, Deutsches Gold, S. 300.
»unheilbare Alkoholiker« zu sterilisieren, um die Weitervererbung ihrer geschädigten Gene zu verhindern. Sein Vorschlag wurde mit großer Mehrheit abgelehnt,90 aber drei Jahrzehnte später, am 14. Juli 1933, wurde sein Traum Wirklichkeit. Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« erlaubte die Zwangssterilisation von chronischen Alkoholikern und anderen, die als genetisch »minderwertig« betrachtet wurden. Rüdin, der nun Direktor des einflußreichen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Psychiatrie in München war, wirkte bei der Ausarbeitung dieses Gesetzes entscheidend mit. Die Folge war die »Unfruchtbarmachung« von ungefähr 350000-400000 deutschen Bürgern und Bürgerinnen. Erleichtert wurde diese Maßnahme durch die Forderung des Innenministers, wonach alle wegen Alkoholmißbrauchs behandelten Personen dem Reichsgesundheitsamt gemeldet werden müßten. Dort legte man ein Register der Betroffenen an.91 Tausende von Alkoholikern wurden sterilisiert. Erhebungen aus den Jahren 1934–1937 zeigen, daß fünf bis sechs Prozent der Männer, die in Übereinstimmung mit dem Sterilisationsgesetz unfruchtbar gemacht wurden, wegen ihrer Trinkge171
wohnheiten dazu gezwungen worden waren – Schwachsinn war bei weitem die größte Kategorie. Insgesamt wurden mehr Frauen als Männer sterilisiert, aber Alkoholismus war bei ihnen seltener die Begründung dafür.92 Betrachtet man die Anti-Alkohol-Kampagne als Ganzes, so scheint sie wenig dazu beigetragen zu haben, die Alkoholflut in NS-Deutschland entscheidend einzudämmen. Daß der Konsum zu Beginn der NS-Herrschaft gesunken war, erwies sich lediglich als Spätfolge des massiven wirtschaftlichen Einbruchs in Deutschland. Der Bierkonsum sank von 86 Litern pro Person im Jahr 1929 auf 59 Liter im Jahr 1936 – was ungefähr der halben Menge von 1913 entspricht. Dasselbe gilt für den Konsum von Spirituosen, der von 2,8 Litern pro Person im Jahr 1913 auf ungefähr die Hälfte im Jahr 1929 sank und 1933 nur noch 0,6 Liter betrug, danach stieg er langsam wieder auf das Niveau der späten Weimarer Jahre an.93 Die Rezession der frühen dreißiger Jahre verminderte den Alkoholkonsum: Sechs Millionen Frauen und Männer waren arbeitslos, als Hitler an die Macht kam, und Alkohol war zu einem fast unbezahlbaren Luxus geworden. Der Alkoholkonsum stieg im Laufe der dreißiger Jahre wieder an, weil die Wirtschaft sich erholte und weil die Menschen sich vielleicht vor dem nationalsozialistischen Terror in den Alkohol flüchteten. Die Deutschen kauften 1932 rund vierzig Millionen Liter Spirituosen, 1938 fast doppelt so viel. Die Weinproduktion stieg in den ersten fünf Jahren der NS-Herrschaft um fast 80 Prozent, und der Absatz von Sekt gar auf rund das Fünffache. Es wurde auch mehr Alkohol aus minderwertigen Ersatzstoffen wie Zellulose oder Karbid hergestellt, was 1937 20 Prozent aller produzierten Spirituosen ausmachte – offensichtlich wurde dadurch Deutschlands Alkohol-Monopolgesetz von 1922 verletzt, das für solche Produkte eine obere Grenze von 10 Prozent vorsah. Martin Gumpert zog 1940 den Schluß, daß die Deutschen sich selbst in einem Maß vergifteten, das man mit der Vergiftung der Chinesen durch Opium vergleichen könne: Alkohol sei das nationalsozialistische »Opium für Deutschland«.94 Warum sahen die Nationalsozialisten den Alkohol als eine Gefahr? Und warum versagten die nationalsozialistischen Bemühungen, den Alkoholismus zu bekämpfen und den Alkoholkonsum einzuschränken? Viele Zeitgenossen verstanden auch den Alkohol vor allem als wirtschaftliche Bedrohung. Die Nationalsozialisten fürchteten, Alkohol werde zu 172
einer Belastung für die deutschen Finanzen und die Produktivität. Da man sich zum Ziel gesetzt hatte, die deutsche Wirtschaft zu rationalisieren und zu militarisieren, wog diese Befürchtung schwer. Der preußische Gesundheitsminister Arthur Gütt wies 1937 daraufhin, daß die Deutschen jedes Jahr schwindelerregende 3,5 Milliarden Reichsmark für Alkohol und weitere 2,3 Milliarden für Tabak ausgaben: Die Gesamtsumme von 5,8 Milliarden RM machte 10 Prozent (!) des gesamten deutschen »Volkseinkommens« aus.95 Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti brachte dieselben Befürchtungen ein Jahr später vor, als die Ausgaben für Alkohol um eine weitere Milliarde Reichsmark gestiegen waren.96 Diese Zahlen stiegen in den ersten Kriegsjahren weiterhin an, da der deutsche Wohlstand – und vielleicht auch die psychische Belastung – zu weiterem Rauchen und Trinken führte. In vielen deutschen Städten wurde ein nicht unbedeutender Anteil des gesamten verfügbaren Einkommens für Bier, Wein und Spirituosen ausgegeben: fünf Prozent in Lübeck, sieben Prozent in Berlin und überragende dreizehn Prozent in München.97 Der Ernährungsspezialist Hugo O. Kleine wies in einem Buch aus dem Jahr 1940 darauf hin, daß die Deutschen abgesehen von Fleisch und Brot mehr Geld für Alkohol ausgaben als für jedes andere »Nahrungsmittel« (er setzte diese Anführungszeichen).98 Die führenden Nationalsozialisten machten sich auch Gedanken wegen der Kosten, die entstanden, wenn die Produkte aus dem Ackerbau für die Herstellung von Alkohol verwendet wurden, anstatt der Ernährung zu dienen. Im Jahr 1937 wurden beispielsweise für die Produktion von hochprozentigem Alkohol mehr als zwei Millionen Tonnen Kartoffeln, 60000 Tonnen Getreide und fast 60 Millionen Liter Obst verbraucht.99 Mit Bezug auf die vermeintlichen Vorteile der amerikanischen Prohibition argumentierten die nationalsozialistischen Ideologen, die landwirtschaftlichen Ressourcen könnten viel besser genutzt werden. Eine von zwei SS-Offizieren verfaßte Abhandlung über den Alkohol behauptete, aufgrund des amerikanischen Verbots hätten nicht nur die Geisteskrankheiten und die Gesamtsterblichkeit abgenommen, Arbeiter fehlten weniger am Arbeitsplatz, und es würden mehr Schuhe, Kleider und Lebensmittel wie Milch, Kaffee und Käse gekauft. Die Autoren zitierten die Ansicht des amerikanischen Stahlmagnaten H. S. Dulaney, wonach die Prohibition – »eines der bemerkenswertesten Kapitel in der Geschichte der Zivilisation« – die Lebensqualität seiner 173
300000 Arbeiter enorm verbessert habe. Auch Henry Ford wurde mit seiner Aussage zitiert, die Prohibition habe den Achtstundentag und die Fünftagewoche ermöglicht. Die SS-Abstinenzler machten für die Abschaffung der Prohibition die »skrupellose Propaganda von Alkohol-Kapitalisten« verantwortlich, aber sie wiesen auch auf die Anlaß zur Hoffnung gebende Tatsache hin, daß der Verkauf von Alkohol selbst nach dem Zusammenbruch des landesweiten Verbotes im Jahr 1933 in amerikanischen Bundesstaaten wie Alabama, Arkansas, Georgia, Idaho, Kansas und Mississippi weiterhin verboten war.100 Gesundheit war, kurz gesagt, nur eines von vielen Anliegen hinter der nationalsozialistischen Kampagne gegen den Alkohol. Man fürchtete nicht nur ein erhöhtes Krebsrisiko, die Schwächung der Arbeitskraft oder gar die Schädigung des deutschen »Erbgutes«; der Alkohol stellte auch eine symbolische Bedrohung für den nationalsozialistischen Staat und Volkskörper dar, ebenso wie für die Kultur und Zivilisation im allgemeinen. Zu diesem Zweck wurden auch rassistische Bilder herangezogen – wenn beispielsweise jüdische Produzenten von alkoholischen Getränken als »Schnapsjuden« angegriffen wurden –, das vorherrschende Thema war jedoch die Gleichsetzung des Alkohols mit der Degenerierung. Der faule, arbeitslose Trinker wurde als Gegenbild zum fleißigen Nationalsozialisten konstruiert, der träge dasitzende Säufer lief der »Mann-in-Bewegung«-Ethik des Nationalsozialismus zuwider (siehe Abb. 5.5). Der redselige Überschwang, den das Trinken auslöste, beleidigte vielleicht auch die damaligen spartanischen Empfindlichkeiten. Hitler selbst wies auf diese Zusammenhänge auf dem Nürnberger Parteitag von 1935 hin: Es gab Zeiten, sie liegen scheinbar weit zurück und sind uns fast unverständlich, da galt als das Ideal des deutschen Menschen der sogenannte bier- und trinkfeste Bursche. Heute, da sehen wir mit Freude nicht mehr den bier- und trinkfesten, sondern den wetterfesten jungen Mann, den harten jungen Mann. Denn nicht daraufkommt es an, wieviel Glas Bier er zu trinken vermag, sondern darauf, wieviel Schläge er aushalten, nicht darauf, wieviele Nächte er durchzubummeln vermag, sondern wieviel Kilometer er marschieren kann. Wir sehen heute nicht mehr im damaligen Bierspießer das Ideal des deutschen Volkes, sondern in Männern und Mädchen, die kerngesund, die straff sind.101 174
ABB. 5.5. Deutschlands wichtigste Anti-Tabak-Zeitschrift kontrastiert den sitzenden Säufer mit dem energischen NS-Mann der Tat. Quelle: Reine Luft 21 (1939), S. 13.
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Natürlich war der Nationalsozialismus nicht die einzige Bewegung gegen die Trunkenheit, aber er zeigte sich doch ziemlich intolerant gegenüber Menschen, die als faul oder asozial definiert wurden. Wenn man chronisch alkoholkrank, besonders, wenn man dazu noch obdachlos oder auf eine andere Art sozial auffällig war, konnte einen dies in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Nach 1939 liefen obdachlose Trinker, die als asozial gebrandmarkt wurden, Gefahr, in einer »Euthanasie«-Institution zu enden.102 Selbst vor dem Krieg aber konnte anstößiger Alkoholismus einen Menschen ins Konzentrationslager bringen, wenn er keine guten politischen Beziehungen hatte oder die Trunkenheit ihn an der Arbeit hinderte. Warum hatte die Kampagne keinen Erfolg? Die Kehrseite des ökonomischen Arguments war natürlich, daß der Alkohol dem Staat Einnahmen brachte. Allein im Jahr 1937 flössen der Staatskasse 840 Millionen RM aus Alkoholsteuern zu.103 Aber Alkohol war auch ein probates Mittel, um seine Sorgen zu ertränken. So manches Verbrechen wurde nach einem sinnlosen Besäufnis verübt (man erinnere sich an Gumperts Vergleich mit Opium). Viele Aufseher in Konzentrationslagern und Verantwortliche bei der »Euthanasie« waren notorische Trinker, vielleicht versuchten sie ihr Gewissen im Alkoholrausch zu beruhigen. Während des Krieges wurde Alkohol als Anreiz benutzt, um die Leistungen zu steigern, aber auch als Belohnung für diejenigen, die die »schmutzige Arbeit« bei der Vernichtung ausführten. Angehörige der SS erhielten Sonderrationen, aber dasselbe galt auch für in weniger mörderischen Bereichen Tätige.104 Am 1. Februar 1942 befahl Joseph Goebbels, daß Arbeiter in Fabriken, die auf Hochtouren liefen, eine besondere Ration Alkohol und Zigaretten erhalten sollten: »Ich verbiete deshalb in Berlin eine allgemeine Verteilung der zur Verfügung stehenden Alkoholmengen, dringe vielmehr darauf, daß diese dazu benutzt werden, besondere Leistungen in Fabriken durch Alkohol zu honorieren, wie ich überhaupt mehr und mehr auf ein Prämiensystem zusteuern möchte, in dem der, der etwas Besonderes leistet, auch besondere Vorteile für sich beanspruchen kann.« Zwei Wochen später verfügte er, daß 150000 Flaschen Schnaps an die Soldaten an der nördlichen Ostfront verteilt werden sollten, und er vertraute seinem Tagebuch an, daß die Berliner einfach ohne diesen Schnaps auskommen mußten.105 Es lassen sich interessante Schlüsse daraus ziehen, wie unterschiedlich die 176
Nationalsozialisten mit Alkohol und Tabak umgingen. Beide Drogen wurden als gesundheitsschädigend und als finanzielle Belastung betrachtet, trotzdem wurden sie unterschiedlich wahrgenommen. Alkohol war offensichtlich jene Droge, die größeren Schaden anrichtete, und die Rassenhygieniker hielten ihn viel eher für mutationsauslösend. Heute ist bekannt, daß Alkohol Entwicklungsstörungen beim heranwachsenden Fötus verursacht, aber es gibt keinerlei Hinweise auf einen mutagenen Effekt, bei dem Schäden über die Keimzellen auf künftige Generationen übertragen werden könnten. Das Sterilisationsgesetz von 1933 erlaubte die Unfruchtbarmachung von Alkoholikern, aber gegen Raucher wurden keine vergleichbaren Schritte unternommen. Trinker wurden bereits 1934 in Konzentrationslagern interniert, nicht aber Raucher (der Tabakentzug bei weiblichen Gefangenen wurde aber geprüft): Rauchen wurde als Gefahr für die Gesundheit angesehen, doch gegen die Raucher als solche wurden kaum harte Strafmaßnahmen getroffen. Die führenden Nationalsozialisten konnten sich nie so recht entscheiden, wie sie gegen den Alkohol vorgehen sollten. Bier gehörte seit langer Zeit zur deutschen Ernährung, und es war schwierig, sich vorzustellen, wie man den deutschen Arbeiter entwöhnen sollte. Die Alkoholgegner mühten sich, die Menschen davon zu überzeugen, daß Bier kein Nahrungsmittel war; der Ernährungswissenschaftler Wolfgang Kitzing dementierte den von »der Bierindustrie propagierten« Mythos, wonach Bier einfach »flüssiges Brot« sei.106 Die Aufhebung der amerikanischen Prohibition war ein häufiges Gesprächsthema, und die deutschen Alkoholgegner befürchteten, daß auch ihre Bewegung einen Rückschlag erleiden könnte. Führende Nationalsozialisten sorgten sich des öfteren darum, sie könnten wegen ihrer restriktiven Politik bei Alkohol und Tabak übertrieben »puritanisch« wirken: Ein Aufsatz über die »Gesundheitsführung der deutschen Jugend« wies daraufhin, daß gänzliche Verbote – »wie die Prohibitionsgesetze in Amerika« – im Kampf gegen den Alkohol mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht hätten.107
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LEISTUNGSSTEIGERNDE NAHRUNGSMITTEL UND MEDIKAMENTE Nationalsozialistische Rassenkundler unterschieden zwischen sogenannter »negativer« und »positiver« Eugenik: Die »negative« Eugenik zielte darauf ab, die »Minderwertigen« zum Beispiel durch Sterilisation zu eliminieren, während die »positive« Eugenik die Fortpflanzung »wertvollen Lebens« fördern sollte – beispielsweise sollten gesunde Kinder mit finanziellen Prämien belohnt oder Gesetze verabschiedet werden, die Wissenschaftler zur Heirat verpflichten sollten. Eine ähnliche Unterscheidung zeigte sich bei der Ernährungspolitik. Jene Bemühungen, giftige Zusätze und gesundheitsschädigende Panschereien abzuschaffen, wurden bereits erwähnt, aber man war auch bestrebt, Lebensmittel mit optimalem Nährwert zu entwickeln – hochwertige Nahrungsmittel, die den »Übermenschen« stärken würden. Die Natur und das Natürliche waren deshalb nicht die einzigen Themen der nationalsozialistischen Ernährungspolitik. Ebenfalls große Bedeutung hatte das Kriterium »Leistung«; man stellte sich vor, die normale körperliche Leistungsfähigkeit könne durch verschiedene Mittel wie eine künstlich verbesserte Nahrung gesteigert werden. Viel Aufmerksamkeit wurde auf die Frage verwendet, wie verschiedene Nahrungsmittel und Medikamente die Kraft und Konzentration oder andere Aspekte der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit steigern konnten. Zum Beispiel untersuchte man die Wirkung von Koffein, um herauszufinden, ob die geistige und körperliche Effizienz damit ohne gravierende Nebenwirkungen verbessert werden könne. Zudem gab es Untersuchungen, mit denen bestimmt werden sollte, ob das den nichtalkoholischen Getränken zugefügte Koffein für junge Menschen schädlich war oder nicht. Man war der Ansicht, daß nervöse Menschen es nicht besonders gut vertrugen, zudem wurde häufig gesagt, Koffein könne zu Gehörproblemen führen. In einem Handbuch der Hitler-Jugend wurde 1941 erklärt, daß Koffein zumindest für junge Menschen in jeder Form und Stärke ein Gift sei –108 Fritz Lickint erklärte Kaffee zum Karzinogen, aber Hermann Druckrey widersprach. Er wies daraufhin, daß die von Lickint untersuchten Kaffeebohnen bei übertrieben hoher Temperatur geröstet worden seien und dabei Teerstoffe und andere Kohlenstoffverbindungen entstanden seien, die beim normalen Prozeß der Kaffeeherstellung nicht auf178
treten würden.109 Koffeinfreier Kaffee war dann Ende der dreißiger Jahre überall erhältlich – und strikt kontrolliert.110 Umfassende Untersuchungen wurden auch über Pervitin, eines der beliebtesten Aufputschmittel der damaligen Zeit, durchgeführt.111 Pervitin wurde 1938 von einem Chemiker entdeckt, der im Pharmaunternehmen Temmler in Berlin arbeitete. Es wurde bald von jenen gefördert, die überzeugt waren, daß das Amphetamin – wie Koffein oder Adrenalin – die geistige Leistungsfähigkeit steigern konnte. Das neue Medikament half die Müdigkeit zu bekämpfen und konnte zudem die Wirkung von Betäubungsmitteln oder Alkohol mindern. Pervitin wurde benutzt, um Krebspatienten vor einer Operation aufzumuntern,112 und einige sagten, man könne sogar Menschen, die im Koma lägen, damit zu neuem Leben erwecken. Pervitin fand in der Psychiatrie und in Psychotherapien breite Anwendung, 1941 wurde allerdings, nach Berichten über weitverbreiteten Mißbrauch und chronische Abhängigkeit, die Rezeptpflicht für dieses Medikament eingeführt. Experimente in psychiatrischen Kliniken und in Konzentrationslagern ergaben, daß Pervitin Menschen länger als 24 Stunden lang wach halten konnte und sie danach in einen unruhigen Schlaf von bis zu 20 Stunden fielen.113 Die Begeisterung für die Droge nahm in den späteren Kriegsjahren ab, nachdem bekannt geworden war, daß sie eine hohes Suchtrisiko besaß und verschiedene unangenehme Nebenwirkungen mit sich brachte. Das Medikament konnte bestimmte Tätigkeiten zwar klar beschleunigen, aber es konnte auch die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen,114 und der Konsum über längeren Zeitraum schien Persönlichkeitsstörungen ähnlich der Schizophrenie zu verursachen.115 Während es für den gelegentlichen Gebrauch offensichtlich von Nutzen sein konnte (zum Beispiel für Piloten auf langen Nachtflügen), konnte der ständige Konsum zu körperlichen Zusammenbrüchen führen. Koffein und Pervitin waren nicht die einzigen Medikamente, die die Psyche veränderten und an deren Entwicklung während des Krieges geforscht wurde. In Dachau gaben die Ärzte den Gefangenen Meskalin, um herauszufinden, ob sie so ihre Ansichten manipulieren konnten. Nachdem dies mit 30 Häftlingen geschehen war, war man sich allerdings einig, daß es auch unter Verabreichung von Meskalin in Höchstdosen unmöglich sei, jemandem seinen Willen aufzuzwingen wie unter Hypnose.116 179
Militärische Ziele standen im Mittelpunkt dieser Studien – beispielsweise gaben nationalsozialistische Wissenschaftler den Angehörigen der Sturmtruppen Testosteron, um zu testen, ob diese dadurch aggressiver wurden –, aber man interessierte sich auch unter dem Gesichtspunkt der Sucht bekämpfung für diese Drogen. Die Suchtforschung spielte während der NSHerrschaft eine sehr wichtige Rolle, ebenso wie die allgemeinere Frage, wie man illegale Drogen bekämpfen konnte. Die NS-Behörden griffen bei Kokain, Heroin und anderen illegalen Rauschgiften hart durch: Herausgehobene Vertreter der amerikanischen Drogenbekämpfungsbehörden lobten Mitte der dreißiger Jahre die deutschen Bemühungen auf diesem Gebiet als die besten weltweit. Illegale Drogen waren aber nicht das einzige Problem, wie das Reichsgesundheitsamt in einem Bericht von 1939 deutlich machte: Es warnte davor, daß Schlaftabletten in außerordentlich hohen Dosen konsumiert wurden – bis zu vierzig Stück pro Nacht bei einer verbreiteten Marke (Phanodorm). Es wurde immer offensichtlicher, daß sich Deutsche mit Schlaftabletten umbrachten – was dem Regime ohne Zweifel den Schlaf raubte.117 Auch gewöhnliche Nahrungsmittel wurden auf ihr leistungssteigerndes Potential hin untersucht. Eine Studie von 1942 zeigte, daß eine warme Mahlzeit »die Leistung« bei Frauen, die Nachtarbeit leisteten, »um 10 Prozent« steigern könne.118 In einer Untersuchung von 1941 wurde berichtet, daß für Arbeiter, die großer Hitze ausgesetzt waren, kohlenhydratreiche Nahrung am besten sei.119 Lösungen gegen Ermüdung und Erschöpfung standen im Zentrum des Interesses vieler solcher Untersuchungen: Versuche, die von Otto Ranke in den Jahren 1940 und 1941 durchgeführt wurden, zeigten zum Beispiel, daß eine proteinreiche Ernährung unter bestimmten Bedingungen die Müdigkeit vertreiben und die Leistungsfähigkeit bei der Arbeit steigern konnte.120 Man wollte mit diesen Forschungen auch herausfinden, wieviel Eiweiß ein erwachsener Mensch zu sich nehmen mußte, um die »volle Leistungsfähigkeit« aufrechtzuerhalten (laut einer Studie sollten dies 80 Gramm pro Tag sein). Auch die Kalorienzufuhr wurde untersucht: Ranke zeigte, daß eine Ernährung mit weniger als 2000 Kalorien pro Tag zu schrittweisem Gewichtsverlust führte, hauptsächlich weil der Körper die eigenen Fettreserven abbaute.121 Zunehmend wurde auch Aufmerksamkeit auf die Frage gerich180
tet, wie wenig Nahrung ein Mensch brauchte, um zu überleben oder unter unterschiedlichen Bedingungen zu arbeiten. Eine Studie von 1942 untersuchte den Kalorienbedarf von Männern und Frauen von unterschiedlichem Alter und unterschiedlicher Körpergröße und berichtete darüber, inwieweit sich die Ernährungsweise nach der Art der Beschäftigung und anderen Faktoren richten müsse. Der Autor stellte fest, daß Frauen durchschnittlich nur 90 Prozent dessen brauchten, was Männer benötigten, aber daß Kinder beiderlei Geschlechts fast genauso viele Nährstoffe brauchten wie erwachsene Männer. Berufe, bei denen man häufig stand oder ging, erforderten zusätzliche 10 Prozent, körperlich anstrengende Berufe (zum Beispiel Gießereiarbeiter, Zimmerleute oder Häftlinge in Arbeitslagern [!]) noch mehr, und Berufe mit extremer körperlicher Belastung (Schmiede, Arbeiter an Nietmaschinen, Bauarbeiter) am meisten Nährstoffzufuhr. Man erstellte für alle diese Gruppen genaue Berechnungen des täglichen Kalorienbedarfs unter verschiedenen Bedingungen.122 Eine Untersuchung von 1939 hatte gezeigt, daß Studenten, die bei der Ernte halfen, pro Tag durchschnittlich 3610 Kalorien verbrannten, während Landwirtschaftsarbeiter etwa 5700 Kalorien verbrauchten. Der höchste Verbrauch wurde bei Bergsteigern und Skifahrern festgestellt: Eine Analyse von 1944 stellte fest, daß Menschen beim Ausüben dieser Tätigkeiten bis zu 9000 oder 10000 Kalorien am Tag verbrannten. Weitere Studien wurden erstellt, um die Kälteresistenz in Abhängigkeit von der Kalorienzufuhr zu erforschen. Eine Reihe von Untersuchungen, die 1944 begonnen wurden, zeigten, daß die Widerstandsfähigkeit durch Proteinkonsum zu- und durch Fettkonsum abnahm. Diese zuletzt erwähnten Untersuchungen wurden nach dem Krieg mit Unterstützung der US-Militärbehörden fortgesetzt –123 aber wo die ursprünglichen Experimente durchgeführt worden waren, ob Häftlinge in Konzentrationslagern dazu mißbraucht wurden (die publizierten Berichte sagen wenig darüber aus), all das bleibt bei diesen Studien unklar. Auf diesem Gebiet muß noch intensiver geforscht werden, insbesondere sollte man der Frage nachgehen, ob solche Untersuchungen irgendwie mit dem Hungertod von Behinderten in den »Euthanasie«-Institutionen in Verbindung gestanden haben könnten. Die Anstrengungen, die deutsche Ernährung effizienter zu organisieren, stehen auch im Zusammenhang mit den Bemühungen, Ersatzprodukte für 181
die durch den Krieg knapp gewordenen Lebensmittel zu entwickeln. Synthetischer Honig und Margarine waren bereits während des Ersten Weltkriegs auf dem Markt, wie auf den ersten paar Seiten von Erich Maria Remarques berühmten Roman von 1929, Im Westen nichts Neues, deutlich wird. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Liste der synthetischen Lebensmittel stark erweitert. Mineralöle wurden zum Kochen, Fischproteine zum Backen verwendet, und Hefe wurde auf Holz gezüchtet. Man suchte nach Ersatzprodukten für Kaffee (Malzkaffee und ein Kaffee-Ersatz, den man aus Hafer herstellte), für Eiweißlieferanten (Sojabohnen waren beliebt) und für diverse tierische Fette und Öle (gehärtetes Walnußöl diente zum Beispiel als Ersatz für Schweineschmalz). Experimente sollten zeigen, ob Nährstoffe aus Obstkernen gewonnen werden konnten oder ob die Luzerne zur menschlichen Ernährung dienen konnte. Militärische, medizinische und ökonomische Notwendigkeiten spielten bei vielen dieser Fragen eine Rolle – beispielsweise als Artikel über die Frage zu erscheinen begannen, wie man wildwachsende Pflanzen identifizieren konnte, die sich für Kräutertees eigneten.124 Man ermutigte Kinder dazu, ihre Eltern aufzufordern, solchen »deutschen Tee« zu trinken. Der sei gut für die Gesundheit, für die deutsche Wirtschaft und für den Kriegseinsatz (siehe Abb. 5.6 und 5.7).125 Auch für die Produktion von künstlichen Fetten interessierte man sich besonders stark. Wissenschaftler in Otto Flössners Forschungslabor des Reichsgesundheitsamtes führten 1941 Versuche mit Menschen und Tieren über die synthetischen Fette durch, aber die Meinungen über den Geschmack und die Verdaulichkeit der entstandenen Substanzen gingen auseinander.126 Zudem gab es Versuche, mit denen man den Nährwert von Sojabohnenöl, Olivenöl, Kokosnußfett und Walöl vergleichen wollte (Deutschland hatte in den dreißiger Jahren die größte kommerzielle Walfangflotte der Welt). Die Forscher wußten aus Studien aus dem 19. Jahrhundert, daß etwa ein Drittel der Kalorien, die der durchschnittliche Deutsche zu sich nahm, durch Fette gedeckt wurde. Es gab Experimente, um zu bestimmen, wie gut der menschliche Körper einen höheren oder geringeren Fettanteil in der Nahrung vertrug. Eine Reihe unveröffentlichter Untersuchungen, die während des Krieges durchgeführt wurden, stellten fest, daß 50 bis 60 Prozent der Kalorien aus Fett stammen konnten, ohne daß die körperliche Leistungsfähigkeit dadurch vermindert wurde.127 182
Abb 5.6. Die Unterstützung für Heilkräuter und Naturheilverfahren war während der NS-Herrschaft groß; das Konzentrationslager Dachau wurde zu einem der weltweit führenden Produzenten von Heilkräutern und Gewürzen. Quelle: Der Stürmer 14 (1936), Sondernummer 4.
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ABB. 5.7. Kinder wurden dazu ermuntert, für »deutschen Tee« wildwachsende Pflanzen zu sammeln; die Volksgesundheit war dabei nur von nachgeordnetem Interesse – vielmehr verlangte die Kriegsplanung eine Senkung der Heilmittelkosten. Quelle: Reiter und Breger, Deutsches Gold, S. 282.
Einige Vorschläge, mit denen man noch das letzte Gramm eßbaren tierischen Fetts gewinnen wollte, waren ziemlich grausig. 1940 schlug der Direktor der Abteilung für Ernährungsphysiologie des Reichsgesundheitsamtes vor, man sollte sich um neue Verfahren bemühen, mit denen man die vierzig Millionen Kilogramm Blut des Schlachtviehs verwerten könnte, die jedes Jahr in Schlachthäusern weggekippt wurden. Der Ernährungsforscher berechnete, das vergeudete Blut habe einen Proteinwert, der demjenigen von 100000 Stück Vieh entspreche, von denen jedes 500 Kilogramm wiege.128 Noch heute gehen viele deutsche Kochgewohnheiten auf Bemühungen zurück, aus den Erzeugnissen noch das letzte irgendwie Verwertbare herauszu184
holen – man denke nur an die Blutwürste oder an die Mohnkuchen, die aus Krümeln gebacken werden –, aber die Deutschen der dreißiger und frühen vierziger Jahre scheinen diese Bemühungen auf die Spitze getrieben zu haben (hier sei auch an Upton Sinclairs Meinung über die Fleischkonservenhersteller in Chicago erinnert, die alle Teile des Schweins »mit Ausnahme des Quietschens« verwertet hätten). Aus derartigen Geschichten entstand wohl der Mythos, wonach die Nationalsozialisten Fett von ermordeten Juden für die Herstellung von Seife verwendet hätten. Viele andere persönliche Dinge wurden allerdings tatsächlich »wiederverwertet« – Goldfüllungen aus Zähnen, Brillen, Prothesen und sogar menschliches Haar – aber Fett gehörte offenbar nicht dazu.129 Die Studien, mit denen man die Leistungen steigern wollte, müssen als Teil einer umfassenderen Forderung nach Rationalisierung der Ressourcen betrachtet werden. Die Nationalsozialisten waren nicht die ersten, die solche Studien durchführten – die Royal Society of Londons Food Committee hatte in den zwanziger Jahren den Kalorienbedarf für verschiedene Berufe berechnet – ,130 aber die Deutschen trieben diesen Prozeß weiter als alle anderen – mit tödlichen Konsequenzen. Herbert Marcuse pflegte mit Nachdruck zu betonen, daß das, was im kleinen vernünftig ist, im großen die Unvernunft unterstützen kann; die Rationalisierung der deutschen Ernährung und Arbeit mag gewisse kurzfristige Gewinne hervorgebracht haben, aber die militaristische Unmenschlichkeit, die diese Elemente vereinte, ebnete den Weg zum Genozid. Ian Kershaw erinnert uns daran, daß die Straße nach Auschwitz mit Gleichgültigkeit gepflastert war; die Kurzsichtigkeit von Technokraten kommt einem umtriebigen Diktator gerade recht.
NAHRUNG ZUR KREBSBEKÄMPFUNG Der nationalsozialistische Kampf gegen den Krebs war im großen und ganzen eine auf Prävention ausgerichtete Kampagne, aber in vielen Bereichen wurden auch neue Behandlungsmethoden erforscht. Die Schulmedizin behandelte mit chirurgischen Eingriffen oder Bestrahlungen, doch auch Schwermetalle, zahlreiche Arten der Chemotherapie, Heliotherapie, Proteintherapie, Impfstofftherapie, Virustherapie sowie Therapien mit allen 185
möglichen Extrakten – von Misteln und Schierling über Kobragift bis zu chinesischem Rhabarber und Ameisensäure – waren anerkannte Heilmethoden.131 Bernhard Fischer-Wasels erforschte eine Therapieform auf der Basis von Uransalzen, während ein Dr. Flesch-Thebesius aus Frankfurt eine Methode mit Fruchtsaft-Injektionen prüfte. Wie man zeitgenössischen Quellen entnehmen kann, waren Ernährungstherapien in Deutschland außerordentlich beliebt – beliebter als alles andere.132 Die Mehrheit war der Ansicht, daß übermäßiges Essen die Bildung von Tumoren begünstige, während Hunger ihnen vorbeuge;133 aber auch zahlreiche andere Versionen wurden vorgetragen. Tausende von beliebten Büchern, Pamphleten und Artikeln priesen die Vorteile (oder nannten die Nachteile) von bestimmten Nahrungsmitteln oder darin enthaltener Bestandteile – alles, von Aluminium bis Zink. Wie bereits erwähnt, war es eine vieldiskutierte Befürchtung in den späten zwanziger Jahren, daß die Verwendung von Aluminiumpfannen und -geräten für die Zunahme der Krebsfälle verantwortlich sei.134 Die Ursache für Krebs wurde bei allen möglichen Lebensmitteln und Substanzen gesucht, bei Alkohol, Cholesterin, Eiern, Kaffee, Kalium, Kartoffeln, Kohlenhydraten, Milch, Protein, Schweinefett, Salz, Tee, Tomaten, Zucker und sogar beim Wasser. Man sagte, Krebs werde durch übermäßiges Essen hervorgerufen, durch Verstopfung, durch Nahrungsmittel, die zu salzig, zu scharf oder auf andere Weise zu stark gewürzt waren, durch scharfkantige oder ungleichmäßige Zähne, durch die Unfähigkeit des Körpers, Protein umzuwandeln oder durch Fäulnisgifte im Darm. Man glaubte, daß Tumore durch Obst, Milch, periodisches Fasten, rohe Lebensmittel, fleischarme oder kohlenhydratreiche Ernährung und zahllose andere kulinarische Variationen verhindert werden konnten – fast jedes Nahrungsmittel und jede Eßgewohnheit galt zum einen oder anderen Zeitpunkt als krebsfördernd oder krebshemmend. Die Krebsforscher verbrachten viel Zeit mit dem Versuch, bei diesen Diskussionen die Fakten von den Modeerscheinungen zu trennen. Selen wurde als krebsbekämpfender Wirkstoff getestet, ebenso Wismut, Kalzium, Jod, Magnesium, Kalium, Tellur und ein halbes Dutzend anderer Elemente. Die Wirkung auf Tumortransplantate wurde erforscht und die Wirksamkeit von verschiedenen Substanzen in der Beschleunigung oder Verzögerung des Krebswachstums, das von Kohlenteer und anderen Karzinogenen verursacht 186
wird, getestet.135 Nahrungsmittel wurden auf ihre Fähigkeit hin erforscht, einen Tumor zu »nähren« oder »auszuhungern«, ihn sauer oder basisch zu machen. Es wurden Therapien entwickelt, die das Wachstum von Tumoren verlangsamen sollten, indem ihnen Sauerstoff zugeführt oder entzogen wurde; andere Heilmethoden sollten den vom Krebs angegriffenen Körper stärken oder den durch Bestrahlung und Operation entstandenen Schäden entgegenwirken. Die Therapeuten versuchten das ganze zumeist mit der einen oder anderen biochemischen Theorie plausibel darzustellen: Man sagte vom Krebs, er sei eine Krankheit, die durch »Mangel« oder aber auch durch »Überfluß« entstehe, Krebs galt abwechselnd als Resultat lokaler Reizungen, Allergien, »chronischer Selbstvergiftung«, »erstickender Übersäuerung« oder »lokalen Sauerstoffmangels«. Er galt als Folge eines Zuwenig oder Zuviel von ungefähr allem, was man sich vorstellen kann.136 Einige der bekanntesten Theorien widersprachen einander. Alfred Neumann empfahl Kaffee und verbot Milch; Erwin Liek verbot Kaffee und empfahl Milch. Ferdinand Blumenthal vertrat die Meinung, daß eine eingeschränkte Ernährung das Tumorwachstum fördere, und Wilhelm Caspari vertrat das Gegenteil. Liek und andere empfahlen rohes Gemüse, aber Caspari verbot Spinat und Tomaten und warnte davor, daß rohe Nahrungsmittel wirkungslos oder sogar gefährlich seien.137 Fischer-Wasels schränkte die Kohlenhydrate ein, aber Hans Auler erlaubte Brot, Nudeln, Getreide, Malz und Zucker nach Belieben und zudem große Mengen von rohem Fleisch und Fett – besonders Butterfett.138 Auch verschiedene Experimente brachten keine Klarheit, oftmals verunsicherten sie zusätzlich. Die Schwierigkeit bestand darin, daß die Laborresultate je nach Art des Versuchstieres und je nach den Bedingungen, unter denen ein Wirkstoff getestet wurde (Dauer der Anwendung, Kombination mit anderen Stoffen etc.), stark variieren konnte. Manchmal starben Patienten sogar während der Experimente, so zum Beispiel bei einer Versuchsreihe, in der die Krebspatienten in kaltes Wasser getaucht wurden.139 Der Glaube an ihre Ideen muß bei diesen Medizinern oft beharrlich gewesen sein, aber die Schwierigkeiten beim Versuch, solche Fragen mittels Experimenten zu lösen, sollten auch nicht unterschätzt werden. Vitamintherapien gehörten zu den umstrittensten Behandlungsmethoden. Die Vitamine waren vor dem Ersten Weltkrieg im Zuge der Erfor187
schung von Mangelkrankheiten – wie Skorbut und Pellagra in der britischen Armee – entdeckt worden. Die Deutschen erkannten die Bedeutung der Vitamine nur langsam – Max Rubners einflußreiche Kalorienlehre, die um die Zeit des Ersten Weltkrieges populär war, richtete ihr Augenmerk nur auf den Kalorienbedarf des menschlichen Körpers und ignorierte den Wert von frischem Obst und Gemüse – ,140 aber in den dreißiger Jahren bestand über die Bedeutung der Vitamine allgemein ein Konsens. Man hielt die Vitamine für ungesättigte Fettsäuren, die in der Leber produziert würden. Dabei unterschied man fett- und wasserlösliche Arten (A- gegenüber B-Vitaminen zum Beispiel), und bei den Hauptvitaminen A, B, C, D und E wußte man von der Existenz verschiedener chemischer Varianten (B 1–B4 etc.). Es war bekannt, daß Vitamin C vor Skorbut schützte, Vitamin D (Eigensynthese durch den Körper mithilfe von Sonnenlicht) gegen Rachitis141 und B 1 gegen Beriberi. Man fand heraus, daß Unfruchtbarkeit durch Vitamin-EMangel entsteht (1927) und Pellagra durch Vitamin-B 2-Mangel (1925). Obst und Gemüse waren als besonders vitaminhaltig bekannt,142 aber es wurde auch deutlich, daß Vitamine durch Verarbeitung und Lagerung der Nahrungsmittel zerstört werden konnten.143 Es war sogar bekannt, wieviel man von einem bestimmten Vitamin brauchte, um eine besondere Krankheit zu heilen (beispielsweise nur 0,01 mg Vitamin D pro Tag bei Rachitis).144 Der Enthusiasmus bezüglich der Vitamine schien beinahe grenzenlos, wenn zum Beispiel in der ersten Ausgabe der neuen schweizerischen Zeitschrift für Vitaminforschung (1932) prophezeit wurde, die Zukunft der Medizin liege großteils in der Diätetik.145 Krebs war ein naheliegender Kandidat für Vitaminkuren: Eine Vielzahl anderer rätselhafter Krankheiten wurde ja mit Ernährungstherapien behandelt – warum nicht auch Krebs? Gesundheits- und medizinische Fachzeitschriften waren in den dreißiger Jahren voller Besprechungen über Vitamintherapien gegen Krebs.146 Die Hoffnungen auf schnelle Heilung wurden aber gebremst, als sich andeutete, daß vitaminreiche Nahrungsmittel scheinbar genausooft das Tumorwachstum anregten wie bremsten. Wilhelm Caspari vom Frankfurter Institut für experimentelle Therapie legte 1933 dar, daß Vitamin B und in einem geringeren Maß auch Vitamin A in Wirklichkeit das Wachstum von Tumoren förderten; die diesbezüglichen Eigenschaften von Vitamin C waren noch nicht einschätzbar, während Vitamin D 188
keine Auswirkungen der einen oder anderen Art zu haben schien.147 Caspari warnte davor, den Krebspatienten zuviel Vitamin B oder Kalium zu geben; den Patienten wurde davon abgeraten, Spinat, Grünkohl, Tomaten, Kalbsleber, Zunge, Kakao, Hülsenfrüchte, Eßkastanien, vitamin-B-reiche Suppen oder Tee (wegen des Kaliums) in zu großen Mengen zu sich zu nehmen. Er empfahl statt dessen eine kalzium- und magnesiumreiche Diät, die ungefähr derjenigen für Diabetiker entsprach.148 Der Verdacht, Vitamine könnten Karzinogene sein, war so stark, daß die Wissenschaftler des Instituts für Krebsforschung am Berliner Charite-Krankenhaus 1933 allen Ernstes die Meinung vertraten, die Krebssterblichkeit in den Monaten Juni–Juli und Oktober–November sei wegen der vermehrten Vitaminaufnahme in diesen Monaten so hoch. Wie viele andere zu dieser Zeit empfahlen die Autoren eine vitaminarme Ernährung für Krebspatienten.149 Problematischerweise kam auf jede Studie, die scheinbar einen Effekt ableiten konnte, eine andere, die deren Resultat nicht bestätigte. Vitamine waren offenbar für das Wachstum notwendig – aber das Wachstum von Krebstumoren war in dieser Hinsicht jeder anderen Art von Wachstum nicht unähnlich. Ebenso wie die Hormone sind die Vitamine für den Stoffwechsel unverzichtbar, dies gilt für gesundes wie für Krebsgewebe. Als Max Borst 1941 über den Stand der Krebsforschung berichtete, stellte er fest, daß weder Hormone noch Vitamine als Karzinogene oder Antikarzinogene betrachtet werden konnten. Beide waren zentral für die Körperfunktionen, aber keines von beiden schien viel Hoffnung als Heilmittel für Krebs zu bieten.150 Mit einer anderen vermeintlichen Heilmethode für Krebs, die damals in Mode war, verhielt es sich ähnlich: den Darmreinigungen. Angespornt durch die Beobachtung, daß es bei den Joghurt essenden Bulgaren einen erstaunlich hohen Anteil an hundertjährigen Menschen gab, hatte der russische Biologe Ilja Metschnikow diese Idee zu Beginn des Jahrhunderts verbreitet.151 Er stellte sich vor, daß sich im menschlichen Dickdarm manchmal hartnäckige, krebserregende Fäulnisbakterien ansammelten, denen man mit der passenden Diät entgegenwirken konnte. So, wie sie im Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre entwickelt wurde, besagte die Theorie, daß die Kolibakterien Giftstoffe absonderten, die Krebs und andere Erkrankungen des Verdauungstraktes verursachen konnten. Also verschrieb man den Magen- und Darmkrebspatienten Darmreinigungen, begleitet von Einläu189
fen und orthodoxen Behandlungsmethoden wie Bestrahlung und chirurgischen Eingriffen.152 Einer der glühendsten Vertreter der Theorie war Professor Alfred Nissle am Bakteriologischen Forschungsinstitut in Freiburg, der eine spezielle Krebsdiät entwickelte, um die »Dysbakterie« im Dickdarm zu bekämpfen. In den späten zwanziger Jahren brachte Nissle einen Speisezusatz namens »Mutaflor« auf den Markt. Es handelte sich dabei um einen Mistelextrakt, der in verschiedenen Formen verkauft wurde, um angebliche Störungen im Gleichgewicht der bakteriellen »Darmflora« wieder ins Lot zu bringen. Mutaflor war in der NS-Zeit sehr beliebt153 und wurde nicht nur bei der Behandlung von Krebs, sondern auch bei chronischer Arthrose, Krebserkrankungen der Haut und der Organe (unter dem Markennamen »Plenosol«) und vielen anderen Leiden angewandt.154 Hitler war ein begeisterter Anhänger dieser Methode und ließ seine Fäkalien regelmäßig auf krankheitserregende Bakterien hin untersuchen. Der SS-Ernährungsspezialist Ernst Schenck bemerkte indes nach dem Krieg, daß ungesunde Keime jeglicher Art im Stuhl des Führers sich bis zur Unkenntlichkeit verändert haben mußten, nachdem sie Hunderte von Kilometern weit transportiert worden waren, um im Labor analysiert zu werden. Stuhluntersuchungen wurden in der NS-Zeit häufig durchgeführt; es gibt mindestens ein Buch, das ausschließlich der Struktur und den chemischen Eigenschaften von menschlichen Fäkalien gewidmet ist.155 Es ist nicht möglich, alle Krebsdiäten auch nur zu erwähnen, die damals vorgeschlagen wurden, es gab Hunderte. Die Beliebtheit dieser Therapien – über die die Schulmediziner oft spotteten – verdankt sich wahrscheinlich zu einem nicht geringen Teil der Verzweiflung der Krebskranken. Die Bereitschaft, nach einem noch so dünnen Strohhalm zu greifen, blieb dieselbe, als die Nazis an die Macht kamen; und heute liegen die Dinge wohl nicht viel anders. DAS VERBOT VON BUTTERGELB Ich habe oben die in der NS-Zeit gebräuchliche Unterscheidung zwischen »negativer« und »positiver« Rassenhygiene erwähnt – erstere diente dazu, die Fortpflanzung der »Unwerten« einzudämmen, letztere sollte die Reproduktion der »Wertvollen« fördern. Es gab aber auch eine vorbeugende Rassen190
hygiene, die entwickelt wurde, um die menschliche Erbsubstanz vor einer Schädigung zu bewahren. Das Ziel dieser dritten Art von Rassenhygiene war, das menschliche genetische Erbe vor der Gefährdung durch Giftstoffe zu retten – Substanzen wie Alkohol, Strahlung und Tabak, aber auch Stoffe aus der Umwelt, die für die Erbgesundheit eine Bedrohung darstellten. Die NS-Kampagne gegen Karzinogene in der Umwelt kann als Teil der Bemühungen für eine präventive Rassenhygiene betrachtet werden. Eines der bedeutsameren Kapitel dieser Kampagne war das Verbot von 4-Dimethylamino-azobenzol, eines sehr häufig verwendeten Teerfarbstoffes, der unter dem gebräuchlicheren Namen »Buttergelb« bekannt war. Butter wurde seit dem 19. Jahrhundert gefärbt, vor allem weil man die tiefgoldene Farbe der »Junibutter« aus dem Rahm von Kühen nachahmen wollte, die mit frischem, süßem Frühlingsgras gefüttert worden waren. Butter und Margarine wurden entweder mit natürlichen Farbstoffen gefärbt – zum Beispiel mit einem Extrakt aus den Samen des Orleanbaumes aus dem tropischen Amerika –, oder mit Teerfarbstoffen, wobei das 4-Dimethylamino-azobenzol der meistverwendete war. In den USA waren die Teerfarbstoffe bis in die dreißiger Jahre in vielen Bundesstaaten nicht zugelassen, danach wurden sie erlaubt (viele wurden später, in den fünfziger und sechziger Jahren, in den gesamten Vereinigten Staaten wieder verboten). Deutschland war aber das Land, wo die meisten dieser Farbstoffe erstmals synthetisch hergestellt worden waren und wo die erste Massenkampagne angestrengt wurde, sie wegen ihrer krebserregenden Eigenschaften zu verbieten. Ironischerweise wurde das Krebsrisiko von Nahrungsmittelfarbstoffen aus der Gruppe der aromatischen Amine ungefähr zur gleichen Zeit entdeckt, als diese Farbstoffe in den USA zur Verwendung zugelassen wurden. Der erste Hinweis auf eine Gefahr kam Mitte der dreißiger Jahre aus Japan, als Tomizo Yoshida und andere japanische Wissenschaftler zeigten, daß sich bei Ratten, die mit dem Teerfarbstoff o-Amidoazotoluol (Scharlachrot) gefüttert wurden, Lebertumore entwickelten.156 Bei anderen Farbstoffen wurden ähnliche Eigenschaften festgestellt, die beunruhigendsten beim weitverbreiteten Buttergelb, von dem Riojun Kinosita aus Osaka 1937 zeigte, daß es bei Ratten, die dem Stoff zwei oder drei Monate lang ausgesetzt worden waren, Leberkrebs hervorrief.157 191
Deutsche Forscher bestätigten diese Ergebnisse kurze Zeit später, und sie zeigten zudem, daß der Prozeß der Krebsentstehung offenbar Zellkernveränderungen in den betroffenen Geweben mit sich brachte.138 Hermann Druckrey vom Berliner Pharmakologischen Institut stand an der Spitze dieser wissenschaftlichen Bemühungen, indem er zeigte, daß vieles davon abhing, wie sich ein bestimmter Farbstoff durch den Körper bewegte. Fettlösliche Substanzen tendierten dazu, sich im Fettgewebe nahe der Injektionsstelle zu konzentrieren, während wasserlösliche Substanzen wie Buttergelb dazu neigten, im Körper zu wandern. Tierversuche ergaben, daß es zudem wichtig war zu verstehen, wie sich diese Verbindungen im Körper aufspalteten: Azofarbstoffe werden zum Beispiel in der Leber zu Anilin reduziert, was die Entstehung von Leberkarzinomen erklärt.159 Nachfolgende Forschungen zeigten, daß Teerfarbstoffe auch andere Arten von Krebs verursachen können – zum Beispiel Blasen- oder Magenkrebs – und daß verschiedene chemische Varianten eines Farbstoffes verschiedene Arten von Tumoren auslösen.160 Im Juni 1939 gab der Internationale Kongreß für Krebsforschung die einstimmige Empfehlung ab, daß krebserregende Farbstoffe in Lebensmitteln verboten werden sollten.161 Für dreißig verschiedene Azofarbstoffe war zu diesem Zeitpunkt mittels Tierversuchen – teilweise durch Injektionen, teilweise durch Nahrungsaufnahme – bewiesen worden, daß sie Krebs verursachen.162 Diese Empfehlung kam Hans Reiter, dem Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes, zu Ohren, der sie sehr ernst nahm. Im Herbst 1939, nach Gesprächen mit Druckrey und anderen, begann er mit den Vorbereitungen für ein neues deutsches Farbgesetz, das die aktuellen Ergebnisse der Krebsforschung berücksichtigen sollte.163 Reiter befand sich aber in einer schwierigen Situation. Buttergelb war nur einer von vielen Teerfarbstoffen, und die Chemiker der Lebensmittelindustrie führten laufend neue ein. Des weiteren ergab sich das Problem, wie man an die Öffentlichkeit treten sollte. Wenn mitten im Krieg die Farben plötzlich verschwänden, würden die Leute denken, so fürchtete Reiter, sie erhielten minderwertige Lebensmittel oder noch Schlimmeres. Das Gerücht eines Krebsrisikos begann in der Öffentlichkeit umzugehen: 1941 fragte eine Angehörige der Göttinger NS-Frauenschaft bei ihren Vorgesetzten an, warum krebserregende Substanzen in Butter und Margarine noch immer er192
laubt seien. Die Vorgesetzten bezweifelten, daß dies der Fall war, aber sie leiteten die Anfrage der Befehlskette entlang weiter hinauf, bis sie zur regionalen Führerin dieser NS-Organisation, der »Gaufrauenschaftsleiterin«, gelangte. Diese informierte Reiter, die Frauen seien wohl bereit, für den Krieg Opfer zu bringen – krebserregende Substanzen in der Nahrung zu dulden sei aber etwas anderes. Reiter versuchte die Frauenschaftsleiterin zu beruhigen, indem er ihr versicherte, daß das Problem untersucht werde und es keinen Grund zur Sorge gebe. Er bat auch darum, die Angelegenheit vertraulich zu behandeln, damit die Bevölkerung nicht beunruhigt werde.164 Der Präsident des Reichsgesundheitsamtes versuchte das Problem zu lösen, indem er sich privat mit verschiedenen Gruppen traf, die Teerfarbstoffe produzierten und vertrieben; er drängte sie dazu, die Verwendung von Lebensmittelfarbstoffen zu stoppen oder einzuschränken. Er brachte die einflußreiche Fachgruppe für Nährmittelindustrie zu der Einwilligung, die Farbstoffmenge in Puddingpulver um die Hälfte zu reduzieren und die Farbstoffe in anderen Nahrungsmitteln ganz wegzulassen. Die größte Gesellschaft für Gartenbauprodukte (Hauptvereinigung der deutschen Gartenbauwirtschaft) willigte ein, bestimmte Farbstoffe in Tomatenprodukten und Marmeladen einzuschränken und abzuklären, ob das »Grünen« von haltbar gemachtem Gemüse unterlassen werden könne (man vermied Kupfer beim Färben bereits, da es dazu neigte, die Konservenbüchsen zu zerfressen).165 Ein Handelskartell der Milchprodukte-Industrie wollte die Farbstoffe beibehalten, erklärte sich aber schließlich dazu bereit, der Butter weniger davon beizumengen.166 Reiter schrieb auch an die LG. Farben – den Produzenten von fast allen deutschen Lebensmittelfarbstoffen – und verlangte, daß das Unternehmen die Produktion von Buttergelb einstellte;167 die archivierten Dokumente und auch Nachkriegsberichte weisen darauf hin, daß die I. G. Farben sich der Anordnung fügte.168 Reiter wollte zu diesem Zeitpunkt erreichen, daß zumindest die Hälfte aller Farbstoffe aus den deutschen Nahrungsmitteln verschwanden, aber es ist fraglich, wie nahe er diesem Ziel kam. Wir wissen, daß seine Behörde in den Jahren 1940 und 1941 48000 RM – eine ziemlich beträchtliche Summe – für die Erforschung von möglichen Krebsrisiken bei Lebensmittelfarbstoffen investierte;169 wir wissen zudem, daß er sich weiterhin mit Produzenten von Brot, Zuckerwaren, Käse, Marzipan, Speiseeis und nichtalkoholischen Getränken 193
traf, um sie von der Verwendung von Farbstoffen abzubringen – oft erreichte er Zugeständnisse.170 Er traf sich mit Spirituosenherstellern und Restaurantbesitzern, und er diskutierte darüber, ob es den Hausfrauen erlaubt sein sollte, Farbstoffe für den Eigengebrauch zu kaufen. Er beantwortete sogar Anfragen des Militärs, das befürchtete, eine Reihe der von ihm verwendeten synthetischen Gewürze und Aromastoffe könnte krebserregend sein – besonders künstlicher Pfeffer (»Cinnamenylacrylsäurepiperidid«), aber auch künstlicher Nelkenpfeffer, Muskat, Zimt und Kardamom. Reiter ordnete an, daß synthetische Aromastoffe nur in winzigen Päckchen verkauft wurden, um einen übermäßigen Gebrauch zu verhindern; er verfügte außerdem Warnhinweise auf den Verpackungen, daß verdächtige Zutaten wie künstlicher Bittermandel-Geschmack nicht in unverdünnter Form angewendet werden sollten. Er empfahl, wann immer nur möglich natürliche Farbstoffe wie karamelisierten Zucker oder Honig zu verwenden, und er bat das Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP um Hilfe bei seinen Bemühungen, die synthetischen Farbstoffe durch solche aus pflanzlichen Farben wie Karotinöl zu ersetzen. Es sei in dieser Zeit des »totalen Krieges« wichtig, sagte er, daß die Menschen davon überzeugt seien, ihre Nahrungsmittelversorgung sei gesichert.171 Reiter war indes vom Fortgang der Kampagne für ein Verbot der Farbstoffe sichtlich enttäuscht. Die Forschung erlitt im Juni 1943 einen Rückschlag, als die Laboratorien für Tierversuche des Reichsgesundheitsamtes durch Bomben der Alliierten zerstört wurden.172 Im November 1944 ersuchte Reiter den Generalbevollmächtigten für die totale Kriegsmobilisierung um ein Verbot für alle Lebensmittelfarbstoffe; die deutschen Fabriken produzierten jährlich immer noch mehr als 300 Tonnen Lebensmittelfarben – genug, um einen ganzen Güterzug damit zu füllen –, und Reiter argumentierte, daß ein Verbot von militärischem Nutzen sei, da die Chemikalien und Laboratorien, die durch ein solches Verbot verfügbar würden, für kriegswichtigere Zwecke verwendet werden könnten. Reiter wußte aber auch, daß die ganze Frage der Lebensmittelfarben gegenüber dringenderen Problemen – wie Hunger – an Gewicht verlor, besonders da viele in Frage kommende Produkte (beispielsweise gefärbte Krabbensuppe oder Tomatensauce) gar nicht mehr in irgendeiner Form erhältlich waren – ob gefärbt oder nicht. Einige der führenden Nationalsozialisten hatten zu diesem Zeitpunkt die Sache bereits selbst in die Hand genommen: Der Reichsstatthalter für 194
den Gau Ober-Donau hatte im Dezember 1941 ein Verbot für Buttergelb erlassen; Württembergs Innenminister verteidigte solche Verbote mit dem Hinweis darauf, sie würden helfen, den Krieg zu gewinnen.173 Von einflußreichen Ärzten wurden die Proteste gegen die Verwendung von Lebensmittelfarben während des ganzen Krieges fortgesetzt. Johannes Kretz publizierte 1944 einen heftigen Angriff gegen die deutsche Lebensmittelfarben-Politik, er protestierte dagegen, daß trotz des zweifellos belegten Krebsrisikos sehr wenig unternommen worden war, ihren Gebrauch zu verringern. Kretz vertrat die Ansicht, es sei besser, ganz sicher zu gehen und die Verwendung von Azofarbstoffen vollständig zu verbieten –, da einige Menschen besonders empfindlich waren und sogar die kleinste Dosis Krebs auslösen konnte.174 Karl Heinrich Bauer verglich im selben Jahr die fortgesetzte Verwendung von Buttergelb mit einem Massenexperiment: Da die immer wieder gemachten Einwände, daß Nahrungsmittelchemiker oder sonstige Prüfer »nichts Schädliches von den betr. Substanzen gesehen« hätten, heute, nachdem es 30 Jahre Krebsforschung gibt, nicht mehr stichhaltig sind, kommt es ja bei solchen Experimenten ausschlaggebend darauf an, daß die Versuche von vornherein auf den cancerogenen Nachweis ausgerichtet sind oder nicht. Auch von den Röntgenstrahlen, vom Anilin, vom Scharlachrot und vielem anderen hat man ja zunächst angenommen, daß sie völlig harmlos seien, bis erst das Massenexperiment am Berufskrebs des Menschen nach langen Latenzzeiten die cancerogene Wirkung sichergestellt hat. Heil Hitler! K. H. Bauer.175 Bauers Feststellungen zeigen, daß einflußreiche deutsche Ärzte für die Gefahren durch Versuche mit Menschen, durch »Massenexperimente«, sensibel waren, aber sie zeigen auch die Bereitschaft der Ärzte, gegen den Verkauf von Karzinogenen an höchster Stelle im nationalsozialistischen Gesundheitsapparat Protest einzulegen – in diesem Fall bei Paul Rostock, der rechten Hand von Karl Brandt und einem Mann, der nach dem Krieg angeklagt wurde, weil er bei der Organisation der mörderischen Menschenversuche in den Konzentrationslagern mitgewirkt hatte. Das Bemerkenswerteste an dieser Kampagne gegen das Färben von Butter ist wiederum, daß namhafte NS-Ärzte sich als verpflichtet betrachteten, ge195
gen die lebensbedrohlichen Zusätze in der deutschen Nahrung zu kämpfen. Die Kampagne gegen Teerfarbstoffe ist nur ein Beispiel: Bleibeschichtete Zahnpastatuben wurden 50 Jahre vor einer ähnlichen Maßnahme in den USA verboten, und 1937 verbot Hans Reiter das Aufhellen von Mehl. Man bemühte sich, die Wasserqualität zu verbessern176 und die Verwendung von künstlichen Süßstoffen wie Saccharin einzuschränken (einige sagten, es sei krebserregend!).177 Gegen Ende der dreißiger Jahre gab es nur wenige Nationen, die sich dieser Risiken so sehr bewußt und auch bereit dazu waren, die Gefahren in der Nahrung, der Luft und im Wasser des gesunden Bürgers zu beseitigen. IDEOLOGIE UND REALITÄT
Es ist schwierig, die Gesamtwirkung der nationalsozialistischen Ernährungsreformen zu beurteilen, die Prahlereien von den Fakten zu trennen, Ideologie und Realität zu unterscheiden. Es gibt mögliche Verzerrungen, die man berücksichtigen muß: Der wissenschaftlichen Literatur der NS-Zeit kann man nicht immer trauen, da sie oft vom Wunsch geprägt ist, das Vorteilhafte hervorzuheben und Nachteiliges zu verschweigen. Sogar den negativen Darstellungen kann man nicht immer trauen, da apokalyptische Prognosen ein wichtiges Element in der nationalsozialistischen Rhetorik darstellten, vor wie nach 1933 – sie waren Teil der nationalsozialistischen »Revolution«. Es gibt auch Verzerrungen in den Darstellungen von Emigranten wie Martin Gumpert, der das vermutlich übertrieben pessimistische Bild eines sich verschlechternden Gesundheitszustandes der Deutschen, von zunehmender Unterernährung und einem korrumpierten geistigen Leben im »Tausendjährigen Reich« noch vor 1940 zeichnete.178 Etwas dürfen wir aber nie vergessen: Die nationalsozialistischen Ernährungsreformen haben eine düstere, unheilvolle Seite, da sie von Bestrebungen begleitet waren, »unnütze Esser« aus der deutschen Gesellschaft zu eliminieren. Hitler erklärte zu Beginn des Krieges, »daß die Ernährungswirtschaft es nicht erlaube, unheilbar Kranke durch den Krieg zu schleppen ...«179 – und er implizierte damit, es müsse etwas unternommen werden, damit diese aufhören würden zu essen. Noch vor Beginn der »aktiven 196
Euthanasie« wurden die Patienten in psychiatrischen Kliniken auf eine Diät gesetzt, bei der sie fast verhungerten: Die Patienten in der Anstalt Eichberg bei Wiesbaden lebten hauptsächlich von (und starben an) Wurzelgemüse.180 Die Nahrung wurde zu einem politischen Druckmittel, das einige zum Hungertod verdammte und andere am Leben und glücklich erhielt. Bayerns Verordnung vom November 1942 zu Ernährung und Hunger macht dies deutlich: Darin wurde verfügt, daß Patienten, die nützliche Arbeit leisten konnten, größere Rationen erhielten. Niemand weiß genau, wie viele Menschen man absichtlich verhungern ließ; die Gesamtzahl der Opfer dieser »Euthanasie« (von denen ein großer Teil verhungerte) beträgt etwa 200000 Menschen.181 Es gibt aber auch Hinweise darauf, daß sich die Versorgungssituation bei bestimmten Lebensmitteln auch für die große Mehrheit der gewöhnlichen Deutschen außerhalb der »Euthanasie«-Institutionen verschlechterte. Martin Gumpert hatte 1940 in seinem Buch Heil Hunger! festgestellt, daß die Kindersterblichkeit 1937 in Deutschland um 40 Prozent höher lag als in den Niederlanden. Viele Krankheiten häuften sich, darunter Rachitis und Ruhr, die anerkanntermaßen mit Fehlernährung und verdorbenen Nahrungsmitteln in Zusammenhang stehen. Gumpert argumentierte, daß die Ursache für die Zunahme dieser Krankheiten in der Lagerung der Nahrungsmittel für den Kriegsfall zu suchen sei; die gelagerten Vorräte wurden, kurz bevor sie verdarben, verkauft und der Markt mit minderwertigen Lebensmitteln überschwemmt. Sein Fazit war: Hitlers Gesundheitsprogramm sei ein »Verbrechen an der Gesundheit von achtzig Millionen Menschen im Herzen Europas, ein Verbrechen gegen die menschliche Zivilisation«. Er prophezeite, daß die nationalsozialistische Maschinerie wahrscheinlich noch eine Zeitlang unter Druck hohe Leistungen erbringen, eines Tages aber nur noch »ein Haufen Schrott« sein werde.182 Gumpert konnte zwar nichts über den Einfluß des Krieges aussagen, aber einige seiner Prognosen scheinen sich bewahrheitet zu haben. Die Vorratswirtschaft begann am 28. August 1939, vier Tage vor dem Überfall auf Polen.183 Die Produktpalette an Nahrungsmitteln wurde geschmälert – eine »Einheitsmargarine« ersetzte zum Beispiel die drei verschiedenen Buttersubstitute, die zuvor erhältlich gewesen waren –, und Juden erhielten nur einen Bruchteil der Nahrungsmittel, die an Nichtjuden abgegeben wurden. Die 197
Lebensmittelrationen wurden im Lauf des Kriegs auch für die »achtbaren« Deutschen mehrmals gekürzt. Nach einer Kürzung der Rationen im März 1942 stellte eine von Heydrichs Sicherheitsdienst durchgeführte Meinungsumfrage fest, daß keine andere Maßnahme seit Kriegsbeginn der öffentlichen Loyalität einen derartigen Schlag versetzt hatte.184 Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, welche Auswirkungen die nationalsozialistische Ernährungs- und Sozialpolitik auf die deutschen Krebsraten hatte. Der britische Epidemiologe George Davey Smith vertritt die Ansicht, die NS-Kampagne für gesunde Ernährung habe »keine erkennbaren längerfristigen Auswirkungen« auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Deutschen gehabt; er vermutet sogar, daß der Gesamteffekt negativ gewesen sein könnte, wenn man in Betracht zieht, daß nach dem Krieg, in den fünfziger Jahren, eine regelrechte »Freßwelle« folgte. Die Deutschen scheinen die Entbehrungen der Kriegszeit in den nachfolgenden Jahrzehnten mit einer Schlemmerei bis zu massivem Übergewicht (und durch Rauchen) kompensiert zu haben. Die deutschen Mortalitätsraten weisen heute ungefähr dasselbe Schema wie andere Länder auf, in denen zuviel gegessen und geraucht wird,185 allerdings mit einigen bedeutsamen Ausnahmen, auf die ich im Schlußkapitel eingehen werde. In der Nachkriegszeit sanken die Diabetesraten, denn Zucker war nicht ohne weiteres erhältlich; die Sterblichkeitsraten verschiedener anderer Krankheiten waren gleichfalls rückläufig. Veränderungen bezüglich Krebs sind aber viel schwieriger auszumachen. Magenkrebs nahm überall in Europa und Amerika ab, dieses Phänomen steht vermutlich in keinerlei Beziehung zur Gesundheits- und Ernährungspolitik im NS-Staat. Rückläufige Magenkrebsraten sind wahrscheinlich auf den zunehmenden Konsum von frischem Obst und Gemüse zurückzuführen. Zu einem großen Teil ist dies dem verbesserten Transportnetz zu verdanken – besseren Straßen und Autobahnen, aber auch der Entwicklung von Kühllastwagen und -zügen. Die asketischen Ideale der dreißiger und vierziger Jahre sind nicht untergegangen, doch sie stehen nicht mehr mit den rechtsradikalen Impulsen in Beziehung, die wir mit dem mörderischen Antisemitismus assoziieren – zumindest nicht mehr so stark. Bewegungen können aus dem sie unterstützenden ideologischen Kontext losgelöst werden – wie wichtig dieser Kontext zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte für sie auch gewesen sein mag. 198
KAPITEL 6
DIE KAMPAGNE GEGEN DEN TABAK So viele hervorragende Männer sind mir an der Tabakvergiftung verlorengegangen. Adolf Hitler, 1942 Die » Tabakdämmerung« hat begonnen. Wolfgang Klarner in seiner medizinischen Dissertation von 1940
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issenschaftshistoriker neigen dazu, die fünfziger Jahre als eine Art Stunde Null der Tabak- und Gesundheitsforschung zu betrachten. Vor allem als Antwort auf die Frage, wann das Lungenkrebsrisiko erstmals anerkannt worden sei, werden zumeist die fünfziger Jahre genannt. In einer Rezension des Buches Ashes to Ashes von Richard Kluger bemerkte Daniel J. Kevles 1996, es habe für Gesundheitsschäden durch das Rauchen lange kaum Beweise gegeben, diese seien zudem immer »eng an moralische Urteile« gekoppelt gewesen: »Erst ab 1950 erschienen in den Vereinigten Staaten und in England Untersuchungen, die klar zeigten, daß Zigaretten Lungenkrebs verursachen können.«2 Waren es aber tatsächlich die Amerikaner und die Engländer, die als erste den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs bewiesen? Die erstaunliche Wahrheit ist, daß man diese Beziehung ursprünglich im nationalsozialistischen Deutschland erkannt hatte. Die deutsche Forschung zu den Gefahren des Tabakkonsums war tatsächlich eine Zeitlang weltweit die fortschrittlichste ihrer Art, so wie die Deutschen auch auf zahlreichen anderen Gebieten des Kampfes gegen das Rauchen führend waren. Die nationalsozialistische Ärzteelite unterstützte größtenteils die Erforschung der Gefahren des Tabaks. Tatsächlich wurde in Deutschland in den späten dreißiger Jahren erstmals auf breiter Basis von der medizinischen Forschung anerkannt, daß Tabak süchtig macht und Rauchen Lungenkrebs verursacht. Ich werde zeigen, daß die Beachtung dieser Zusammenhänge vom dama199
ligen politischen Klima in Deutschland gefördert wurde, das die Vorteile der Rassenhygiene und der körperlichen Reinheit hervorhob. Tabak galt in der nationalsozialistischen Weltanschauung als Gift für das Erbgut und Ursache für Unfruchtbarkeit, Krebs und Herzinfarkt, als finanzielle Belastung für die Nation und Gefahr für die »Volksgesundheit«. Das NS-Regime führte eine ehrgeizige Kampagne gegen das Rauchen, die ausgedehnte öffentliche Gesundheitserziehung sowie Werbe- und Rauchverbote in zahlreichen öffentlichen Räumen beinhaltete (siehe Abb. 6.1 und 6.2). Der aggressive Kampf gegen das Rauchen stand in enger Beziehung mit dem allgemeineren Schwerpunkt, den das Regime auf die von Ärzten gelenkte »Gesundheitsführung« legte. Diese umfaßte sowohl präventive Gesundheitsmaßnahmen als auch die sogenannte »Gesundheitspflicht« – das Gemeinwohl sollte in puncto Gesundheit Vorrang vor den individuellen Freiheiten haben. Vielleicht am meisten irritiert uns an der nationalsozialistischen Kampagne gegen das Rauchen das eher kompromittierende Licht, das sie auf das damalige Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik wirft. Man kann sich hier nicht länger auf die vertraute Interpretation berufen, wonach die Wissenschaft unterdrückt worden sei oder sich nur widerwillig den politischen Idealen angepaßt habe. Wissenschaft und Politik waren – zumindest in den hier behandelten Aspekten – ein quasi symbiotisches, sich gegenseitig unterstützendes Verhältnis eingegangen. Der Kampf der Nationalsozialisten gegen den Tabak beweist, daß auch eine Wissenschaft, die viele Menschen als »verantwortungsbewußt« bezeichnen würden, im Namen von antidemokratischen Idealen betrieben werden kann. Aus diesem Grund genügt es nicht zu behaupten, die damalige Wissenschaft sei unterdrückt worden und habe nur gerade so überleben können, sondern man muß analysieren, wie die diktatorischen Ideale jener Zeit die Wissenschaft und die Gesundheitspolitik inspirierten und leiteten.
FRÜHER WIDERSTAND Die Kritik am Tabak wurde nicht erst im 20. Jahrhundert laut. Bereits im frühen 17. Jahrhundert gab es in Deutschland Widerstand gegen das Tabakrauchen, -kauen und -schnupfen. Damals wurde der Tabak von holländischen und englischen Soldaten, die im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) 200
ABB. 6.1. Die NSDAP verbot das Rauchen an vielen öffentlichen Plätzen sowie in den Parteibüros und Diensträumen. Man beachte das Gesicht mit den afrikanischen Zügen auf der Zigarre; die nationalsozialistischen Tabakgegner versuchten, das Rauchen als ein Laster der Schwarzen hinzustellen. Quelle: Auf der Wacht 58 (1941), S. 24.
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ABB. 6.2. Titelblatt der Hitler-Jugend-Propagandaschrift Du hast die Pflicht, gesund zu sein!, Bd. 1, Nikotin und Alkohol, hrsg. von der Reichsjugendführung (Berlin: o. V., o.J.). Mit Dank an Charles Rosenberg. 202
kämpften, nach Deutschland gebracht. Der erste belegte Versuch eines elsässischen Bauern im Jahr 1620, in Deutschland Tabak anzupflanzen, stieß auf den Widerstand des Straßburger Stadtrates. Dieser befürchtete, der Tabakanbau könnte die Produktion von wertvolleren Gütern, wie beispielsweise des Getreides, beeinträchtigen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war der Tabakanbau in vielen Gebieten Deutschlands verbreitet, trotzdem gab es Städte, die gegenüber dem neuen Kraut recht mißtrauisch blieben. Im späten 17. Jahrhundert wurden in Bayern, Kursachsen und einigen österreichischen Gebieten Rauchverbote erlassen. 1723 wurde das Rauchen in Berlin verboten, 1742 in Königsberg und 1744 in Stettin.3 Übertrat man dieses Verbot, wurde man hart bestraft. Im Jahr 1691 drohte beispielsweise Personen in Lüneburg, die beim Tabakrauchen oder, wie man sagte, »Tabaktrinken« innerhalb der Stadtmauern angetroffen wurden, die Todesstrafe. Andernorts zog die Übertretung der Tabakgesetze Geldstrafen nach sich (zum Beispiel 50 Gulden in Köln), oder auch Verhaftung, körperliche Züchtigung, Verbannung, Zwangsarbeit, oder es wurde dem Gesetzesbrecher ein Zeichen eingebrannt.4 Viele solcher Verordnungen blieben – allerdings mit geringeren Strafen – in Deutschland bis zur Revolution von 1848 in Kraft, danach wurden die meisten aufgehoben. Die nationalsozialistischen Vordenker instrumentalisierten diesen Zusammenhang später für ihre Behauptung, der Liberalismus habe verderbliche Laster wie Alkohol und Tabak gefördert, und deuteten an, daß Staaten mit absolutistischer Herrschaft diese Entwicklungen vernünftiger angegangen seien. Es ist aus heutiger Sicht nicht mehr klar erkennbar, welche Absichten hinter diesen Verboten standen, wobei die Gesundheit offensichtlich nur eines von mehreren Motiven war. Der Erzbischof von Köln beklagte sich beispielsweise im Jahr 1649, das Rauchen verderbe die Jugend und verursache Brände. Auch hinter dem 1764 von Friedrich dem Großen in Preußen ausgesprochenen öffentlichen Rauchverbot stand die Angst vor Bränden. Goethe äußerte sich 1806 verächtlich über das Rauchen, da es meist zusammen mit Trunksucht auftrete, den Geist verderbe und eine finanzielle Last für die deutsche Nation bedeute, die jährlich mit 25 Millionen Talern zu Buche schlage. Auch Arthur Schopenhauer äußerte sich abfällig über das Rauchen, es sei ein Ersatz für das Denken, und Immanuel Kant bezeichnete Tabak als eine Plage, die zur Gewohnheit werde und besonders für Kinder gefährlich sei.5 203
Die Tabakgegner organisierten sich in Deutschland erstmals im Jahr 1904 im kurzlebigen Deutschen Tabakgegnerverein zum Schütze der Nichtraucher; diesem Zusammenschluß folgten 1910 der Bund Deutscher Tabakgegner im böhmischen Trautenau und ähnliche Vereine in Hannover und Dresden, die beide im Jahr 1912 gegründet wurden. Als die Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg staatliche Souveränität erlangte, entstand in Prag 1920 ein Bund Deutscher Tabakgegner für die Tschechoslowakei. Im selben Jahr wurde in Graz ein Bund Deutscher Tabakgegner für »Deutschösterreich« gegründet. Die böhmische Organisation gab die erste deutschsprachige Fachzeitschrift gegen das Rauchen unter dem Titel Der Tabakgegner heraus (1912-1932). Der Dresdener Bund Deutscher Tabakgegner gründete eine zweite Zeitschrift, den Deutschen Tabakgegner (1919–1935).6 Der Dresdener Verein erwies sich als der langlebigste der drei Zusammenschlüsse. Die Stadt war Deutschlands wichtigstes Zentrum der Tabakherstellung, dort hatte auch die erste Zigarettenfabrik des Landes ihren Sitz: Die Firma Laferme war 1862 gegründet worden und befand sich in russischem Besitz. Man beschäftigte sechs Frauen, die Zigaretten rollten, und einen Mann, der den Tabak schnitt. Dresden hatte zudem eine der höchsten Lungenkrebsraten in Deutschland – nur Chemnitz wies höhere Zahlen auf – und es war zugleich die Heimatstadt eines der mächtigsten Kritiker der Tabakindustrie: Fritz Lickint (1898-1960), der uns noch begegnen wird. Interessant an diesen frühen Anti-Tabak-Organisationen ist die Tatsache, daß der Kampf gegen den Tabak oft Hand in Hand ging mit dem Kampf gegen den Alkohol. Die Situation ist mit jener in den Vereinigten Staaten zu vergleichen, wo die »Temperance«-Bewegung nicht nur gegen den Alkohol vorgehen wollte, sondern auch gegen andere Laster wie Faulheit, Glücksspiel und Fluchen.7 Die Gründer der Dresdener Organisation setzten sich fast ausnahmslos für die Abstinenz ein, genauso wie die Hamburger Vereinigung, deren Name Alkohol- und Tabakgegnerverein bereits auf die Verbindung der beiden Bewegungen hinwies. Eine Prohibition im amerikanischen Stil wurde von vielen Rassenhygienikern aus der Sorge heraus befürwortet, daß Rauchen und Trinken das deutsche Erbgut schädigen könnten. Deutschlands Anti-Alkohol-Kampagne blieb für die Anti-Tabak-Bewegung der NS-Zeit immer von Bedeutung.8 204
DIE ENTDECKUNG DES ZUSAMMENHANGS Als sich eine breit abgestützte Bewegung gegen das Rauchen formierte, wurden auch innerhalb der Medizin Stimmen immer lauter, die Kritik am Tabak übten. Der Militärarzt E. Beck beschrieb die schädlichen Wirkungen des Tabaks, die er während seines Dienstes an der Front im Ersten Weltkrieg beobachtet hatte, und J. E Lehmanns antisemitische Münchener medizinische Wochenschrift publizierte 1921 einen Aufruf »An die Deutsche Ärzteschaft«: Sie solle das Rauchen bekämpfen, weil es dem Körper schade und die verarmte deutsche Nation finanziell belaste.9 Edgar Bejach, der 1927 in seiner medizinischen Dissertation einen Überblick über die deutschen Initiativen gegen das Rauchen gab, forderte Rauchverbote in Zügen, Passagierschiffen und öffentlichen Warteräumen, und er verlangte, daß die Krankenkassen die Gefahren des Tabaks öffentlich bekanntmachten.10 Louis Lewin, ein sehr produktiver Professor der Pharmazeutik an der Universität Berlin, stellte die These auf, daß das Rauchen die Fortpflanzungsorgane der Frauen zu stark stimuliere und so ihre Fähigkeit, gesunde Kinder zu gebären, beeinträchtige. Er forderte die Frauen auf, eine andere Flamme zu hegen, nämlich das Feuer, das Haus und Herd wärme.1’ Robert Hofstätter, der frauenfeindliche Wiener Gynäkologe, schrieb in seinem Buch Die rauchende Frau von 1924 Dutzende von Frauenkrankheiten – darunter auch Menstruationskrämpfe, Gebärmutterschwund und Fehlfunktionen der Eierstöcke – den Wirkungen des teuflischen Krautes zu und forderte, daß Tabakfelder in Obst- und Gemüsegärten umgewandelt werden sollten.12 Manchmal wurde das Rauchen auch als ein Auslöser für Hysterie herangezogen, obwohl der berühmte Wiener Chirurg Theodor Billroth den Tabakgenuß eher als Antwort auf die Nervosität verstand, die das hektische Tempo des modernen Lebens mit sich brachte.13 Viele dieser Themen fanden Eingang in die nationalsozialistische Rhetorik gegen das Rauchen. Rassenhygieniker wandten sich dagegen, weil sie befürchteten, das Erbgut der Deutschen könnte geschädigt werden, Gewerbehygieniker befürchteten eine Schwächung der Arbeitskraft, Krankenschwestern und Hebammen eine Schädigung des »mütterlichen Organismus«. Man sagte vom Tabak, er gehöre »unstreitig zu den zersetzenden Übeln einer vielfach überreif, ja faul gewordenen Zivilisation« und sei eine 205
Ursache für Impotenz bei Männern und Frigidität bei Frauen.14 Die Rhetorik der NS-Zeit stützte sich in ihrer Argumentation auf die frühere Rhetorik der Eugeniker und kombinierte diese mit einer Ethik, die die Reinheit des Körpers und Leistungsfähigkeit bei der Arbeit hochhielt.15 Der Tabakkonsum wurde als eine »Krankheitsepidemie« angegriffen, als »Seuche«, als »trockene Trunkenheit« und »Lungen-Masturbation«, Nikotin- und Alkoholmißbrauch galten als »Zivilisationskrankheiten« und Überreste des Liberalismus.16 Rauchen war, in den Worten des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti, ein tödliches »pharmakologisches Massenexperiment«, das »größte der Weltgeschichte«.17 Manchmal gab man auch den Juden die Schuld: So erklärten zum Beispiel die deutschen Siebenten-Tags-Adventisten das Rauchen zu einem Laster, das von den Juden propagiert werde. Die gesundheitsbewußte Religionsgemeinschaft bezeichnete Alkohol und Nikotin als »nicht artgemäß«.18 In den dreißiger Jahren fand schließlich das Schreckgespenst des Krebses Eingang in die Rhetorik gegen das Rauchen. Bereits im 18. Jahrhundert hatte man darauf hingewiesen, daß Tabak eine der Ursachen für Krebs sein könnte: Der englische Arzt John Hill machte das Rauchen 1761 für Krebserkrankungen der Nasenwege verantwortlich, und drei Jahrzehnte später identifizierte der Deutsche Samuel T. von Soemmerring das Pfeifenrauchen als Ursache für Lippenkrebs –19 Thomas Harriot, der englische Naturwissenschaftler, der das Pfeifenrauchen aus Amerika nach England gebracht hatte, starb 1621 an Lippenkrebs. Sein Tod ist der erste Krebsfall, der auf das Rauchen zurückgeführt wurde, obwohl der Tabak zu jener Zeit nicht unter Beschuß stand.20 Die frühen Einsichten wurden in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts bestätigt, als ein französischer Arzt namens Etienne-Frederic Bouisson in Montpellier herausfand, daß 63 seiner 68 Patienten mit Krebs im Mundbereich (cancer des fumeurs) Pfeifenraucher gewesen waren; die Entfernung der befallenen Mundpartien war eine der häufigsten Operationen in seinem Krankenhaus.21 Der berühmte deutsche Pathologe Rudolf Virchow bestätigte diesen Zusammenhang ein Jahrzehnt später. Friedrich Tiedemann, der an einer Geschichte des Tabaks schrieb, berichtete zur gleichen Zeit über mehrere Fälle von Zungenkrebs, die durch Rauchen verursacht worden waren.22 Das Rauchen blieb allerdings während des 19. Jahrhunderts in erster 206
Linie wohlhabenden Kreisen vorbehalten, weshalb es als Krebsursache keine entscheidende Rolle gespielt haben kann. Noch zur Zeit des Ersten Weltkriegs war Lungenkrebs in Deutschland – wie überall sonst auf der Welt – selten. Ein um die Jahrhundertwende entstandener Bericht nennt eine Gesamtzahl von nur 140 Fällen, die medizinisch bekannt seien.23 Im Jahr 1912, als Isaac Adler die erste umfassende Studie über die Anatomie und Pathologie von Lungenkrebs verfaßte, glaubte er, sich dafür entschuldigen zu müssen, daß er über eine derart seltene und unbedeutende Krankheit schrieb.24 Wenn Professoren der Medizin auf einen Patienten mit dieser Krankheit stießen, bemühten sie sich, diesen ihren Studenten vorzuführen, damit sie wenigstens einmal einen solchen Fall gesehen hätten. Heute ist diese Krankheit der häufigste Grund für einen Krebstod, sie fordert allein in den Vereinigten Staaten jährlich 150 000 Opfer. In China wird Lungenkrebs in naher Zukunft fast eine Million Todesopfer im Jahr fordern – wiederum fast ausschließlich durch das Rauchen verursacht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Rauchen populärer. Verursacht wurde dieser Wandel durch die Mechanisierung der Zigarettenherstellung, verstärkte Tabakwerbung und die staatliche Förderung oder Monopolisierung der Zigarettenindustrie wie in Österreich oder Frankreich, von der man sich Steuereinnahmen erhoffte. Erst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland Zigaretten produziert, damals konnten die Fabrikarbeiterinnen in Dresden nicht mehr als etwa 120 Stück pro Stunde herstellen.25 Zigaretten (wörtlich: »kleine Zigarren«) galten als das passende Genußmittel im immer schneller werdenden Tempo der industriellen Gesellschaft. Sie verpaßten dem Rauchenden eine schnelle Dosis Nikotin, so wie die neu erfundenen Schleckstengel und Schokoriegel den Zuckerspiegel ansteigen ließen und Schußwaffen immer schneller nachgeladen werden konnten. Zigaretten gehörten im Ersten Weltkrieg auf beiden Seiten zur Verpflegung der Soldaten, wodurch die soziale Akzeptanz des Genußmittels in Europa und Amerika wuchs. Der deutsche Zigarettenkonsum stieg von 8 Milliarden Zigaretten im Jahr 1910 auf 30 Milliarden nur 15 Jahre später und gipfelte 1942 in 80 Milliarden Stück (zur Bedeutung dieses Anstiegs kommen wir später).26 Weil mildere Tabaksorten eingeführt und der Tabak mit Heißluft getrocknet wurde, konnten die Raucher den beißenden Rauch problemloser einatmen, weshalb immer mehr Raucher 207
von Pfeifen und Zigarren zu Zigaretten wechselten. Diese Veränderung zeitigte Folgen – tatsächlich war sie, wie Henner Hess beobachtete, revolutionär: »Das Inhalieren läßt sich als Methode der Drogenaufnahme also mit dem Injizieren von Opiaten und die Einführung des neuen Tabaks als revolutionäres Ereignis in der Geschichte des Drogenkonsums mit der Erfindung der hypodermischen Nadel vergleichen.«27 Im Unterschied zu Pfeifenrauchern ziehen Zigarettenraucher den Rauch tiefer in die Lunge und belasten so ihre bronchialen Atemwege mit einer viel höheren Dosis an Teer, Nikotin und anderen schädlichen Substanzen.28 Dies wirkte sich tiefgreifend auf die Krebsraten aus. Die Lungenerkrankungen stiegen sprunghaft an. Ärzte in Dresden, Hamburg und Berlin gehörten zu den ersten, denen die Zunahme um die Jahrhundertwende auffiel, gefolgt von Ärzten aus anderen deutschen Städten.29 Der dramatische Anstieg der Lungenkrebsfälle in den zwanziger und dreißiger Jahren wurde zunächst nicht mit dem Rauchen in Verbindung gebracht. Man gab vielen anderen Faktoren die Schuld: Die Grippeepidemie von 1918 wurde teilweise als Ursache gesehen, ebenso Abgase von Automobilen, Staub von frisch geteerten Straßen, diverse Schadstoffe in der Arbeitswelt (einschließlich des Teers und der Chlorkohlenwasserstoffe), Röntgenstrahlen, die chemischen Kampfstoffe des Ersten Weltkrieges, die Fehlernährung infolge des Krieges oder sogar die zunehmende »Vermischung der Rassen«.30 Einige Wissenschaftler zweifelten daran, daß die Zahlen wirklich stiegen; in einem Artikel der Zeitschrift Medizinische Klinik von 1930 wurde argumentiert, die weitverbreitete Verwendung von Röntgenstrahlen habe einfach zur Folge, daß Lungenkrebs häufiger diagnostiziert werde.31 Am landläufigsten war in der Weimarer Republik jedoch die Ansicht, daß die Krankheit aus noch unbekannten Gründen zunahm. Ein Grund für die Schwierigkeiten, die Ursache des Anstiegs auszumachen, war der Wandel in jener Zeit, der verschiedene, zum Entstehen von Lungenkrebs beitragende Faktoren begünstigte. Der Autoverkehr nahm noch sprunghafter zu als die Lungenkrebszahlen, was zu der Vermutung führte, die Abgase könnten der entscheidende Faktor sein – besonders weil viele der Substanzen im Benzin und eine Reihe seiner Verbrennungsprodukte nachweislich krebserzeugend waren.32 Die Straßen wurden mit atemberaubender Geschwindigkeit asphaltiert: Günther Lehmann aus Dort208
mund wies 1934 darauf hin, daß sich die deutsche Produktion von Straßenteer von 3000 Tonnen im Jahr 1924 um das Vierzigfache, auf 120 000 Tonnen, nur fünf Jahre später gesteigert habe. Staub aller Art wurde für die Zunahme von Lungenkrebs verantwortlich gemacht, da den Menschen bewußt wurde, daß die Verwendung von schwereren Maschinen in Bergwerken, der Metallindustrie und anderen »staublastigen« Industriezweigen zu noch größeren Mengen schädlichen Staubs führte. Viele andere Theorien, die in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren vorgebracht wurden – »Rassenmischung«, Röntgenstrahlen etc. –, hingen mit der Industrialisierung und Urbanisierung zusammen, was es schwierig macht, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten. Rückblickend verwundert es, wie viel Zeit verging, bis Tabak mit Lungenkrebs in Verbindung gebracht wurde. 33 Niemand schien vor Beginn des 20. Jahrhunderts vermutet zu haben, Rauchen könne Lungenkrebs verursachen. Man findet weder in Artikeln über die Anatomie und Pathologie der Krankheit, noch in Abhandlungen über die krebserregenden Wirkungen von Tabak irgendeinen Hinweis auf diesen Zusammenhang. Rauchen wurde zwar als Ursache für Krebs anerkannt, aber man bezog sich dabei ausschließlich auf die bösartigen Erkrankungen der Lippen, des Mundes und der Zunge.34 Eine medizinische Dissertation von 1897 in Frankreich bietet eine hervorragende Darstellung der cancers des fumeurs, die Lippen, Zunge, Kiefer, Rachenhöhle, Mandeln und nasale Atemwege angreifen, aber man findet nicht den geringsten Hinweis darauf, daß die Lunge geschädigt werden konnte.35 In einer Dissertation aus Deutschland von 1898 wird dokumentiert, daß die Arbeiter einer Leipziger Tabakfabrik vermehrt an Lungenkrebs erkrankten, aber auch hier macht der Autor nicht das Rauchen dafür verantwortlich, sondern das Einatmen des Tabakstaubs.36 Es gibt verschiedene Erklärungen dafür, warum es so lange dauerte, bis Rauchen als Auslöser für Lungenkrebs erkannt wurde. Bestimmt spielte es eine Rolle, daß die Krankheit so selten war, zudem wurde Lungenkrebs oft mit Tuberkulose oder anderen, nichtspezifizierten Lungenkrankheiten verwechselt. Wenn wir jedoch von unserem heutigen Wissensstand ausgehen (80 bis 90 Prozent aller Erkrankungen sind durch Rauchen verursacht), muß Lungenkrebs tatsächlich ein sehr ungewöhnliches Leiden gewesen sein. Zigaretten waren bis Ende des 19. Jahrhunderts nicht üblich, und erst 209
danach wurde der Zigarettenrauch mild genug, daß er inhaliert werden konnte. Lungenkrebs war vor jener Zeit einfach eine Krankheit, die kaum die Aufmerksamkeit der Ärzte auf sich zog. Daß der Zusammenhang nicht erkannt wurde, hat vielleicht auch mit dem damaligen Stellenwert der Keimtheorien zu tun. Europäische Wissenschaftler identifizierten um die Jahrhundertwende eifrig Mikroben als Ursachen von zuvor mysteriös scheinenden Krankheiten und verdrängten damit nicht nur die alten Säftetheorien, mit denen Krankheiten auf eine Unausgeglichenheit des Blutes, des Schleims oder der Galle zurückgeführt wurden, sondern auch jene auf die Umwelt bezogenen Theorien, welche die ungesunden Effekte von verpesteter Luft und »Miasmen« thematisierten. Man muß ebenfalls den Stil des ätiologischen Denkens berücksichtigen. Unter dem Einfluß von Virchow, Koch und anderen suchte man die Ursache für Krankheiten (meistens ein krankmachendes Kleinstlebewesen) in sehr großer zeitlicher und räumlicher Nähe zum Krankheitsausbruch. Die damaligen Ärzte konnten sich nicht vorstellen, daß inhalierter Rauch zwanzig Jahre später Krebs verursachte. Das Vorhandensein einer Latenzzeit zwischen der Gefährdung durch bestimmte Substanzen und dem Ausbruch der Krankheit wurde bis ins 20. Jahrhundert nicht allgemein anerkannt. Erst dann setzte sich diese Sichtweise wegen der Krebserkrankungen, die durch das Arbeitsumfeld verursacht wurden, fast gezwungenermaßen durch. In der Folge richtete man die Aufmerksamkeit vor allem auf die Anatomie und Pathologie von Krebs, und nicht auf seine möglichen Ursachen in der Umwelt. Dies änderte sich, als es die explosive Zunahme von Lungenkrebs schwierig machte, einen externen Grund – wie das Rauchen – auszuschließen.
FRITZ LICKINT: DER ARZT, DEN DIE TABAKINDUSTRIE AM GLÜHENDSTEN HASSTE Der Arzt Fritz Lickint, der zunächst in Chemnitz und später in Dresden forschte, publizierte im Jahr 1929 als einer der ersten statistisches Material, das den Zusammenhang zwischen Lungenkrebs und Zigaretten belegte.37 Er war nicht der erste, der auf eine solche Verbindung hinwies – Isaac Adler und andere hatten dies bereits getan –,38 legte aber die bis dahin gründlichste 210
Studie vor und präsentierte neue statistische Daten. Sein Vorgehen war ziemlich einfach: Er erstellte das, was Epidemiologen heute »Fallserien« nennen; so belegte er die hohe Wahrscheinlichkeit, daß Lungenkrebspatienten zugleich Raucher waren. Er wies zudem nach, daß in Ländern, wo Frauen ebensoviel rauchten wie Männer, nur sehr geringe Unterschiede zwischen den geschlechtsspezifischen Lungenkrebsraten bestanden. Lickints Artikel diente zahlreichen nachfolgenden Forschern als Ausgangspunkt: Victor Mertens, Angel Roffo und T. Chikamatsu beispielsweise, die alle die krebserregende Wirkung von Tabakteer demonstrierten und Lickints bahnbrechende Vision würdigten (siehe Abb. 6.3 und 6A).39 Lickint wurde in Deutschland zu einem der wichtigsten Exponenten in der Kritik am Tabakgenuß. Er warnte, daß Rauchen die Gesundheit stärker gefährde als Alkohol, und forderte Maßnahmen, um der Bedrohung zu begegnen. In seinem monumentalen Werk Tabak und Organismus von 1939 führte Lickint eine außerordentliche Bandbreite von Krankheiten auf Tabakrauchen, -kauen und -schnupfen zurück. Der 1100seitige Band, der in Zusammenarbeit mit der Reichsarbeitsgemeinschaft für Rauschgiftbekämpfung im Reichsausschuß für Volksgesundheitsdienst und dem Bund Deutscher Tabakgegner erarbeitet worden war, wurde als »das Standardwerk« beworben und ist wohl die umfassendste wissenschaftliche Anklage gegen das Rauchen, die je publiziert wurde. Unter Bezugnahme auf mehr als achttausend Publikationen aus der ganzen Welt machte der Autor den Tabak verantwortlich für alle Krebsarten entlang der »Rauchstraße« – Lippen, Zunge, Mund, Kiefer, Speiseröhre, Luftröhre und Lungen. Tabak war nicht nur für Krebs verantwortlich, sondern auch für Arteriosklerose, Kindersterblichkeit, Geschwüre, üblen Mundgeruch und Dutzende anderer Krankheiten und Beschwerden.40 Tabak war eine mächtige Droge: Lickint bezeichnete die Abhängigkeit vom Tabak als Nikotinismus (oder Tabakismus), und die davon betroffenen Menschen als Nikotinisten (Tabakisten).41 Er verglich die Tabaksüchtigen zudem mit Morphiumabhängigen und argumentierte in überzeugender Weise, daß Passivrauchen – offenbar hat er diesen Begriff geprägt – für Nichtraucher eine ernsthafte Bedrohung darstelle.42 Lickint vertrat die Meinung, Tausende von Todesfällen durch Krebs könnten verhindert werden, wenn man den Tabakkonsum zurückdränge: 20 Prozent aller tödlichen Krebserkrankungen von Männern begannen bei jenen Orga211
ABB. 6.3. Das zwischen den Geschlechtern ungleiche Verhältnis der Krankheitsfälle war ein wichtiger erster Hinweis auf die krebserregende Wirkung von Tabak. Quelle: Fritz Lickint, Tabakgenuß und Gesundheit (Hannover: Bruno Wilkens, 1936).
nen, die er der »Rauchstraße« zuordnete. Dies brachte ihn zu der Spekulation, daß Tabak bei 7000 jährlichen Todesfällen durch Krebs bei Männern in Deutschland eine zentrale Rolle spielte.43 Lickint war zu dieser Zeit stark in der nationalsozialistischen Politik gegen den Tabak engagiert, obwohl er der NSDAP nie beitrat. Seine Sympathien hatten vor 1933 den Sozialdemokraten gegolten – und es bereitete ihm einigen Kummer, als der politische Wind drehte. Im Jahr 1940 geriet er beinahe in ernsthafte politische Schwierigkeiten, als Karl Astel, der Rektor der Universität Jena und Direktor des Jenaer Wissenschaftlichen Instituts zur Erforschung der Tabakgefahren, seine politische Vergangenheit überprüfte und herausfand, daß er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei gewesen war und zudem dem Verein Sozialistischer Ärzte (VSÄ) und der Liga für Menschenrechte angehört hatte. Lickint hatte seine medizinische Approbation 1934 verloren, weil er auf dem Fragebogen für die Beamtenschaft – den
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ABB. 6.4. Angel H. Roffo stellte diese Tabelle zusammen, um zu zeigen, daß Raucher mit viel größerer Wahrscheinlichkeit an Krebs erkranken als Nichtraucher. 95 Prozent aller Personen, die an Kehlkopfkrebs litten, waren Raucher; Krebserkrankungen von Lunge, Mund, Hals, Zunge und Blase traten ebenfalls mit weit größerer Wahrscheinlichkeit bei Rauchern auf. Im Gegensatz dazu war Brustkrebs bei Nichtrauchern viel häufiger (weil von dieser Krankheit hauptsächlich Frauen betroffen waren und Frauen deutlich weniger rauchten). Quelle: Reine Luft 24 (1942), S. 17; zudem in Lickint, Tabak und Organismus, S. 919.
alle Regierungsbeamten ausfüllen mußten, um »arische« Herkunft und politische Loyalität zu beweisen – nicht angegeben hatte, daß er früher ein Mitglied des VSÄ gewesen war. Das Gericht entschied, Lickints Mitgliedschaft im VSÄ komme der Betätigung in einer kommunistischen Organisation gleich, aber in einem späteren Verfahren wurde dieser Entscheid dahingehend revidiert, daß der Chemnitzer Zweig, dem Lickint angehört hatte, der SPD näher gestanden habe als der KPD. Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti verteidigte Lickint in diesem Verfahren und argumentierte, der geringfügige Verstoß von 1934 verblasse neben Lickints bahnbrechenden Verdiensten um die Tabakforschung. Vielleicht ließ Conti sich in diesem Urteil von der Tatsache beeinflussen, daß seine Mutter, Nanna Conti, nicht 213
nur Leiterin der Reichsfachschaft der Deutschen Hebammen war, sondern auch Vorstandsmitglied des Bundes Deutscher Tabakgegner, der führenden Anti-Tabak-Organisation und des Herausgebers von Reine Lufi.4i Die Episode beweist jedenfalls, daß man mit einer kritischen Haltung gegenüber dem Tabak bei den Machthabern des NS-Regimes punkten konnte – selbstverständlich unter der Voraussetzung, daß man keine jüdischen Vorfahren hatte und seine früheren »Fehler« bereitwillig zugab.
DER MEDIZINISCHE MORALISMUS DER NATIONALSOZIALISTEN Lickint wurde 1939 als der Arzt gelobt, den die Tabakindustrie am meisten haßte,45 aber er war nur einer von vielen Autoren, die sich damals gegen den Tabak einsetzten. Man schrieb dem Tabak einen negativen Einfluß auf die Tapferkeit der deutschen Soldaten zu, weshalb eine Mäßigung des Tabakkonsums notwendig war, um die Kraft und Kampfbereitschaft der Soldaten zu erhalten.46 Ärzte der Luftwaffe waren der Ansicht, Nikotin könne die Leistungsfähigkeit der Piloten beeinträchtigen, und Gerichtsmediziner vertraten die Meinung, Rauchen führe zur Verunreinigung des Blutes mit Kohlenmonoxid.47 Man sagte, daß Rauchen Autounfälle verursache, woraufhin das Fahren »unter Einfluß« von Zigaretten (!) unter Strafe gestellt wurde.48 Der Wiener Arzt Rudolf Friedrich berichtete, daß 80 seiner männlichen Patienten mit Magengeschwüren rauchten, und er machte das Rauchen für das seit dem Ersten Weltkrieg sprunghaft angestiegene Auftreten von Magenleiden verantwortlich.49 Karl Westphal und Hans Weselmann erkannten im Tabak die Hauptursache für Gastritis – in Anbetracht der Verbindungen zwischen Gastritis und Magenkrebs sei der Tabak wahrscheinlich auch eine Ursache für Tumorerkrankungen des Magens.50 Dies war eine besonders schwerwiegende Vermutung, da Magenkrebs bei europäischen (und amerikanischen) Männern in den zwanziger Jahren für die meisten Krebstodesfälle verantwortlich war. Deutsche Ärzte waren sich auch bewußt, daß Rauchen eine wichtige Ursache für Herzinfarkte darstellte (siehe Abb. 6.5 und 6.6).51 Dem Nikotinmißbrauch wurde oft die Schuld für die in Deutschland zunehmende 214
Häufigkeit von Herzinfarkten zugeschrieben. Herzerkrankungen galten zuweilen als das wichtigste schwere Leiden, das durch Rauchen verursacht wurde.52 Gegen Ende des Krieges vermutete man, Nikotin sei ursächlich an den Herzkrankheiten beteiligt, von denen deutsche Soldaten an der Ostfront betroffen waren. Militärärzte diskutierten dieses Thema: Ein Bericht aus dem Jahr 1944, verfaßt von einem Pathologen, kam zu dem Ergebnis, daß 32 untersuchte junge Soldaten, die an der Front an Herzinfarkten gestorben waren, alle stark geraucht hatten. Der Autor zitierte die Meinung des Freiburger Pathologen Franz Büchner, wonach Zigaretten für die Herzkranzgefäße Gift seien. Er räumte allerdings ein, daß kriegsbedingte seelische Belastungen die Krankheit wahrscheinlich mitausgelöst hätten.53 Die Diskussionen um eine mögliche Auswirkung des Rauchens auf die Fruchtbarkeit spielten eine zentrale Rolle in der Opposition der Nationalsozialisten gegen den Tabakkonsum. Es wurde die Meinung geäußert, rauchende Frauen hätten schlechtere Heiratsaussichten, weil sie früher alterten und ihre Schönheit verlören.54 Werner Hüttig vom Rassenpolitischen Amt der NSDAP betonte, in der Muttermilch rauchender Frauen sei Nikotin gefunden worden, und Martin Staemmler, ein einflußreicher NS-Arzt, behauptete, Tabakmißbrauch von schwangeren Frauen sei für die Zunahme von Tot- und Fehlgeburten verantwortlich.55 In Deutschlands führender gynäkologischer Fachzeitschrift konnte man 1943 nachlesen, daß Frauen, die drei oder mehr Zigaretten am Tag rauchten, ein zehnmal größeres Risiko hätten, kinderlos zu bleiben, als Nichtraucherinnen.56 Agnes Bluhm, Deutschlands bekannteste Rassenhygienikerin, vertrat in einem Buch von 1936 die Ansicht, daß Rauchen zu Fehlgeburten führen könne. Diese Gefahr beunruhigte das NS-Regime besonders, da auf eine hohe Geburtenrate bei gesunden deutschen Frauen großer Wert gelegt wurde.57 Rauchen galt auch als ein Risiko für die sexuelle Potenz der Männer. Im Jahr 1941 gab die Hitler-Jugend einen Leitfaden zur Gesundheit heraus, in dem es hieß, Matrosen setzten Tabak ein, um ihr sexuelles Verlangen zu zügeln. Im selben Text wurde ein französischer Vorschlag aus dem 19. Jahrhundert zitiert, wonach Rauchen an französischen Schulen gefördert werden sollte, um die Onanie zu bekämpfen.58 Es gab Stimmen, die dem Tabak ankreideten, den Männern ihre Männlichkeit zu rauben. Dies sollte allerdings nicht heißen, daß er Frauen weiblicher machte. Das Angstbild zielte eher in 215
ABB. 6.5. Eine teufelsköpfige Schlange, die die Namen »Angina« und »TabakSucht« trägt, führt ihre Opfer mit Zigaretten und Zigarren in Versuchung; gegen Ende der dreißiger Jahre wurde Nikotin von nationalsozialistischen Ärzten als süchtig machende Substanz und als eine Hauptursache von Herzinfarkten eingeschätzt. Quelle: Reine Luft 23 (1941), S. 145.
Richtung einer sexuellen Degeneration: Tabak mache Frauen unfruchtbar und Männer impotent. Rauchende Frauen wurden oft als sexuell zügellos dargestellt, doch zugleich betrachtete man das Rauchen auch als Ursache von Frigidität.59 Die Tabakbefürworter bedienten sich jedoch weitaus raffinierterer Bilder, was die Tabakgegner selbstverständlich vor Probleme stellte (damals wie heute, möchte ich hinzufügen). Die Werbung kultivierte das Bild des besonders männlichen rauchenden Mannes und der besonders weiblichen rauchenden Frau. Man bewarb den Tabak als sexuell anregend, während Nichtraucher als sexuell unattraktiv dargestellt wurden, die Männer verweiblicht, die Frauen prüde (siehe Abb. 6.7). 216
ABB. 6.6. Die Zigarette als Schuß ins Herz. Quelle: Reine Luft 23 (1941), S. 99.
Für Tabakgegner stand die Gesundheit jedoch im Zentrum des Interesses. Aus der Sicht der Nationalsozialisten wurden die Gefahren des Tabaks dadurch noch erhöht, daß Tabak süchtig machte. Diese Meinung vertrat Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti 1939, und viele waren sich darin mit ihm einig.60 Der Tabak wurde als Störenfried betrachtet, da Körper und Geist allein dem Führer gehören sollten (Abb. 6.8). Dies war eine schwerwiegende Anklage, da man Süchte generell als erbliche Belastungen verstand und aus diesem Grund für unheilbar hielt.61 Der allgemein verbreitete Standpunkt lautete, daß zwar jeder süchtig werden konnte, die genetisch Schwachen und Degenerierten aber besonders anfällig seien. So entstand das Urteil, Rauchen wäre vor allem unter jungen »Psychopathen« beliebt.62 Es ist noch nicht geklärt, ob Nikotinsüchtige auf Grund ihrer Abhängigkeit jemals eingesperrt worden sind, aber wir wissen, daß andere Süchtige 217
ABB. 6.7. Auf der Wacht, eine Zeitschrift, die sich gegen Alkohol und Tabak wandte, verhöhnt ein Zigaretteninserat, das verboten wurde, weil es Raucher als maskulin und Nichtraucher als prüde darstellt. In einem hier nicht wiedergegebenen Kommentar wird gemutmaßt, daß eine solche Werbung sich über die Bemühungen der Partei lustig mache, Hitler als Vorbild für ein Leben ohne Tabak herauszustellen. Ist dies das erste Anti-Anti-Antiraucher-Bild der Welt? Quelle: Auf der Wacht 54 (1937), S. 6.
dieses Schicksal ereilte. Im Jahr 1941 befahl Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti die Errichtung eines Amtes zur Registrierung von Süchtigen und zur Bekämpfung der Sucht; ähnliche Register wurden erstellt, um Alkoholiker, Obdachlose und andere Unerwünschte zu erfassen.63 Raucher 218
ABB. 6.8. Das NS-Regime war beunruhigt, weil Nikotin eine von den Machthabern nicht kontrollierbare Abhängigkeit schuf, wo doch der Körper dem Staat und dem »Führer« gehören sollte. Quelle: Reine Luft 23 (1941), S. 90.
fürchteten vielleicht derartige Maßnahmen, weil Tabak allgemein als Einstiegsdroge und erster Schritt in einer Entwicklung hin zum Konsum von »härteren« Substanzen wie Morphium oder Kokain galt.64 NS-Deutschland war berühmt dafür, mit Drogenhändlern hart zu verfahren: Im Jahr 1938 lobte die US-amerikanische Drogenbehörde das NS-Regime in einem Bericht dafür, daß es einen berüchtigten österreichischen Drogenhändler in ein Internierungslager gesteckt habe, »wo er zweifellos den Rest seines Lebens verbringen wird«.65
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FRANZ H. MÜLLER: DER VERGESSENE VATER DER EXPERIMENTELLEN EPIDEMIOLOGIE Bei dem Nachweis des Zusammenhangs zwischen Lungenkrebs und Rauchen handelt es sich um eine der bemerkenswertesten gesundheitsmedizinischen Leistungen während des »Dritten Reichs«. Angel H. Roffo aus Argentinien (1882-1947), der den größten Teil seiner Arbeiten in deutschen Fachzeitschriften publizierte, hatte bereits 1930 gezeigt, daß aus Tabakrauch stammender Teer bei Versuchstieren Krebs erzeugte. In nachfolgenden Experimenten fand er heraus, daß einige Tabakteer-Destillate bei 94 Prozent aller dem Giftstoff ausgesetzten Versuchstiere Tumore erzeugten.66 Roffo spielt eine wichtige Rolle, weil er den Blick weg vom Nikotin und hin zum Teer als aktivem Wirkstoff bei der Entstehung von Tumoren lenkte. Lickint bemerkte 1935, daß Nikotin »vermutlich unschuldig« an der Erzeugung von Krebs sei und der Auslöser viel eher beim Benzpyren liege.67 Roffos Experimente wurden zwar von einigen kritisch hinterfragt – zum Beispiel von den englischen Wissenschaftlern Ernest Kennaway und R. D. Passey, die der Ansicht waren, er habe den Tabak bei zu hoher Temperatur verbrannt und damit das Rauchen nicht angemessen simuliert –,68 aber die deutlichen Resultate veranlaßten andere dazu, die Gefahren des Rauchens zu erforschen. Der Wiener Professor Neumann Wender zeigte 1933, daß Tabakrauch nicht nur Teer und Nikotin enthielt, sondern auch Methylalkohol und andere Giftstoffe (siehe Abb. 6.9). Er wies zudem darauf hin, daß der Teergehalt des Zigarettenrauchs zunahm, wenn die verholzten Stengel der Tabakpflanzen bei der Herstellung mitverwendet wurden.69 Enrico Ferrari aus Triest schrieb im selben Jahr, es leuchte ein, daß die zunehmende Verwendung der holzhaltigen Pflanzenteile für die Zunahme von Lungenkrebs verantwortlich sei, da Teer ausgesprochen krebserregend sei. Ferrari behauptete, schon lange »ohne jeden Zweifel« davon überzeugt zu sein, daß Zigaretten eine Hauptursache von Lungenkrebs seien. Er unterstützte Wenders Vorschlag, wonach eine Verwendung der Stengel als ungesetzliches Panschen zu verbieten sei.70 Er wies zudem darauf hin, daß Triest nicht zufällig gleichzeitig eine der höchsten Lungenkrebsraten und eine der höchsten Raucheranteile aller italienischen Regionen habe.71 Lickint hatte 1929 gezeigt, daß die meisten Lungenkrebspatienten Rau220
ABB. 6.9. Dieses Bild wurde in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren Dutzende Male auf der Rückseite der Zeitschrift Reine Luft abgedruckt: Es weist daraufhin, daß Tabakrauch neben Nikotin noch viele andere Giftstoffe enthält. Die meisten Bestandteile waren im 19. Jahrhundert isoliert worden.
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cher waren, und zahlreiche Ärzte folgten nun dieser Spur, um den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs zu belegen. Rudolf Fleckseder aus Wien berichtete 1936, daß ein sehr großer Anteil seiner Lungenkrebspatienten rauche (48 von 51 Männern, 35 rauchten sehr stark); auch andere bemerkten diesen Zusammenhang.72 Nun war das Terrain für die beiden wichtigsten statistischen Analysen dieser Zeit geebnet: eine Studie von Franz Hermann Müller, einem Arzt am Kölner Bürgerhospital (1939), und eine Studie von zwei Wissenschaftlern – Eberhard Schairer und Erich Schöniger –, die am Jenaer Wissenschaftlichen Institut zur Erforschung der Tabakgefahren arbeiteten (1943). Die Analysen sind von historischem Interesse, weil sie die bis zu diesem Zeitpunkt differenziertesten Beweise dafür lieferten, daß Rauchen die Hauptursache für Lungenkrebs ist. Die Studie von 1943 ist zudem bemerkenswert, weil sie mit größter Wahrscheinlichkeit ohne die persönliche Intervention von Hitler nicht geschrieben worden wäre. Beginnen wir mit Müller. Franz H. Müller ist eine der rätselhaften Figuren der Medizingeschichte. Seine Dissertation bot 1939 die weltweit erste kontrollierte epidemiologische Studie zum Zusammenhang zwischen Tabak und Lungenkrebs,73 aber außer einem engen Kreis von Spezialisten kannte die Arbeit kaum jemand. Bisher scheint sich noch niemand die Mühe gemacht zu haben, Müllers Biographie ans Licht zu bringen: Wir wissen nur, daß er am 8. April 1914 in Niederaula bei Köln als siebter Sohn eines Eisenbahnschaffners geboren wurde – diese Information stammt aus dem kurzen Lebenslauf, der seiner Dissertation an der Universität von Köln angefügt war. Nach Ansicht lokaler Archivare wurde seine Personalakte im städtischen Krankenhaus Köln durch die Bombardierungen der Alliierten vernichtet. Die einzigen bekannten Akten über ihn sind jene beschlagnahmten deutschen Dokumente, die im Bundesarchiv in Berlin und in College Park, Maryland (National Archives), aufbewahrt werden. Dort erfährt man, daß er katholisch, ledig, »arisch« sowie Mitglied der NSDAP und der NSKK (motorisierte Truppen) war. Müllers Untersuchung ist eine hervorragende wissenschaftliche Studie. Im Jahr 1939 in Deutschlands führender Krebszeitschrift publiziert, beginnt die Arbeit mit einem Verweis darauf, daß bei den Leichen, die am Pathologischen Institut der Universität Köln einer Autopsie unterzogen wurden, ein dramatischer Anstieg der Lungenkrebsfälle zu beobachten war. Weiter 222
weist er daraufhin, daß Lungenkrebs zwar im 19. Jahrhundert noch kaum vorgekommen, nun aber zur zweithäufigsten Ursache für einen Krebstod aufgerückt war; fast ein Viertel aller Krebstodesfälle im Reich waren auf Lungenkrebs zurückzuführen, Magenkrebs stand mit etwa 59 Prozent immer noch an der Spitze. Müller erwähnt die übliche Liste der Ursachen – »Straßenstaub, Autoabgase, Straßenteerung, Kampfgase, Röntgenstrahlen, Grippe, Verletzungen, Tuberkulose, die steigende Industrialisierung usw.«. Aber er stellt fest, daß »in den letzten Jahren die Bedeutung des Tabakrauchens immer mehr in den Vordergrund gerückt« sei.74 Der Tabakkonsum habe sich in Deutschland von 1907 bis 1935 verfünffacht, wodurch das Lungengewebe einer noch nie dagewesenen Menge von krebserzeugendem Teer ausgesetzt werde. Roffo und Lickint hatten gezeigt, daß Raucher innerhalb von zehn Jahren bis zu vier Kilogramm Teer inhalierten – Müller fügte dem noch hinzu, der Teergehalt der Zigaretten sei in den vergangenen Jahren sogar angestiegen. Dieses Phänomen führte er wie Wender und Ferrari auf die zunehmende Verwendung der holzhaltigen Stengel der Tabakpflanze in der Zigarettenherstellung zurück. Auch die ökonomische Belastung durch das Rauchen war für Müller Anlaß zur Sorge. Er schrieb, zehn Prozent des gesamten nationalen Einkommens würden für Zigaretten und Alkohol ausgegeben – eine Tatsache, die weite Beachtung fand. Die größte Leistung Müllers war allerdings seine statistische Untersuchung, die er angeregt von seinen eigenen Beobachtungen im Klinikalltag begann. Er hatte festgestellt, daß die meisten seiner Lungenkrebspatienten starke Raucher waren und viel mehr Männer als Frauen an Lungenkrebs erkrankten (seine eigenen Daten aus Köln zeigten ein Verhältnis von fünf zu eins) .75 Seine Analyse war eine, wie man heute sagt, auf Umfragen beruhende, retrospektive Fallstudie. Mittels Fragebogen und Krankheitsgeschichten wurden die Rauchgewohnheiten von Lungenkrebspatienten mit jenen einer gesunden »Kontrollgruppe« desselben Alters verglichen. Der Fragebogen wurde an Verwandte des Verstorbenen geschickt (man stirbt relativ rasch an Lungenkrebs) und beinhaltete folgende Fragen: 1. War der Verstorbene, Herr......... Raucher? Wenn ja, wie hoch war sein täglicher Verbrauch an Zigarren, Zigaretten, Pfeifentabak? (Bitte genaue Angaben, möglichst in Zahlen!) 223
2. Hatte der Verstorbene früher geraucht, dann jedoch das Rauchen eingestellt? Bis zu welchem Lebensjahre? Wenn ja, wie hoch war sein täglicher Verbrauch an Zigarren, Zigaretten, Pfeifentabak? (Bitte genaue Antwort in Zahlen!) 3. Hatte der Verstorbene früher stärker geraucht, dann jedoch das Rauchen vermindert? Bis zu welchem Lebensjahre? Wie hoch war in diesem Falle sein täglicher Verbrauch in Tabakwaren vorher und nachher? (Bitte genaue Angaben!) 4. Können Sie mir Angaben darüber machen, ob der Verstorbene während seiner beruflichen Tätigkeit oder auch außerhalb derselben der Einwirkung verunreinigter Luft längere Zeit hindurch ausgesetzt war? Enthielt die verunreinigte Luft Stoffe wie z.B. Rauch, Ruß, Staub, Teer, Dämpfe, Verbrennungs- und Auspuffgase, Kohlen- und Metallstaub, chemische Stoffe, Zigarettendunst oder ähnliche Stoffe?76 Müller erwähnt nicht, wie viele Fragebogen verschickt wurden, aber man erfährt, daß er schließlich 96 »Fälle« zur Verfügung hatte – 86 Männer und 10 Frauen. Sie alle waren an Lungenkrebs gestorben, was durch Autopsien am Pathologischen Institut der Universität Köln oder an einem der sechs anderen Krankenhäuser der Region bestätigt wurde. Zusätzliche Informationen konnten den Krankengeschichten der Patienten entnommen und in einigen Fällen auch an ihrem Arbeitsplatz ergänzt werden. Die 86 Männer, die an Lungenkrebs gestorben waren, wurden in fünf Kategorien unterteilt: extreme Raucher, sehr starke Raucher, starke Raucher, mäßige Raucher oder Nichtraucher. Genauso wurde mit einer Kontrollgruppe von 86 gesunden Männern verfahren, die gleich alt waren wie die Erkrankten.77 Das Resultat der Studie beeindruckt. Es war mehr als sechsmal wahrscheinlicher, daß die Lungenkrebsopfer zu den extremen Rauchern gehörten, die täglich 10–15 Zigarren, mehr als 35 Zigaretten oder mehr als 50 Gramm Pfeifentabak konsumierten. Im Gegensatz dazu wies die gesunde Kontrollgruppe einen viel höheren Anteil an Nichtrauchern auf: 16 Prozent gegenüber nur 3,5 Prozent bei den Lungenkrebsopfern. Die 86 Lungenkrebspatienten hatten insgesamt 2900 Gramm Tabak pro Tag geraucht, während die 86 gesunden Männer nur 1250 Gramm rauchten. Müller kam nicht nur zu dem Schluß, daß Tabak eine wichtige Ursache für Lungenkrebs 224
sei, sondern auch: »Der riesenhafte Anstieg des Tabakverbrauches in den letzten Jahrzehnten ist an erster Stelle für die Zunahme des primären Lungenkarzinoms verantwortlich zu machen« (Hervorhebung im Original).78 Dies ist eine außergewöhnliche Behauptung – so klar hatte dies zuvor noch niemand formuliert. Müller ist sogar noch deutlicher als die britischen und amerikanischen Wissenschaftler bis in die sechziger Jahre. Die häufig zitierte Untersuchung von Richard Doll und A. Bradford Hill aus dem Jahr 1950 kam beispielsweise lediglich zu dem Ergebnis, daß das Zigarettenrauchen »ein Faktor, und zwar ein wichtiger Faktor, bei der Entstehung von Lungenkrebs« sei.79 Wynders und Grahams berühmte Untersuchung aus demselben Jahr charakterisierte Tabak nur als einen »möglichen ätiologischen Faktor« bei der Zunahme der Krankheit.80 Müllers Artikel erstaunt unter verschiedenen weiteren Gesichtspunkten. Zum einen gibt es im Text keine offensichtliche nationalsozialistische Ideologie oder Rhetorik. Man findet lediglich einen knappen Hinweis darauf, man solle »krebsbelasteten Familien« raten, nicht zu rauchen, aber das Wort »Rasse« kommt nicht vor, und es gibt keine weiteren Bemerkungen, aufgrund derer man den Artikel als Teil einer nationalsozialistischen Wissenschaft identifizieren könnte. In der kurzen Bibliographie (27 Texte) wird der Leser auf die Arbeiten von mindestens drei jüdischen Wissenschaftlern verwiesen (Max Askanazy, Walther Berblinger und Max Lipschitz), alle drei werden auch wohlwollend im Text zitiert. Dies ist allerdings nicht so ungewöhnlich, wie es scheint: Jüdische Wissenschaftler aus der Weimarer Zeit wurden in der medizinischen Literatur des »Dritten Reichs« oft zitiert, obwohl gelegentlich Druck ausgeübt wurde, diese Praxis zu unterbinden. Interessant sind auch Müllers Thesen zu weiteren möglichen Ursachen für Lungenkrebs. Ihm war klar, daß Tabak kaum die einzige Ursache für die tödliche Krankheit sein konnte, weil ein Drittel seiner »Krankheitsfälle« entweder nur mäßig oder gar nicht geraucht hatten. Dem Engländer W. Blair Bell und anderen Vertretern der »Bleitherapie« stimmte er nicht zu – diese behaupteten, das Schwermetall stelle eine vielversprechende Behandlungsmöglichkeit für Krebs dar (Blei vernichtete ihrer Meinung nach selektiv Krebszellen). Müller schloß sich eher Carly Seyfarths Einschätzung an, wonach Arbeiter, die einer hohen Dosis Blei ausgesetzt waren – Drucker, Setzer, Metallarbeiter, Klempner und Maler – vielmehr einem erhöhten Krankheits225
risiko ausgesetzt waren. In der von ihm analysierten Gruppe von 86 Männern mit Lungenkrebs waren 17 in besonderem Maße Bleistaub ausgesetzt gewesen, woraus er schloß, daß das Einatmen dieses Schwermetallstaubs einen »fördernden Einfluß« bei der Entstehung von Krebs haben mußte. Zweifellos waren, wie das Arbeitsumfeld der untersuchten Männer nahelegte, noch andere Faktoren beteiligt, denn unter ihnen war ein 48jähriger Schlosser, der Ruß, Rauch und Kohlenstaub ausgesetzt gewesen war; eine 26jährige Hausfrau, die zwei Jahre lang in einer Zigarettenfabrik gearbeitet und Tabakstaub eingeatmet hatte; drei Frauen, die während des Ersten Weltkriegs in einer Munitionsfabrik tätig gewesen und dabei Nitraten, Phosphor, Quecksilber, Chrom, Pikrinsäure und anderen schädlichen Substanzen ausgesetzt gewesen waren; ein 48jähriger Färbearbeiter, von dem man wußte, daß er Anilindämpfe eingeatmet hatte; und mehrere Arbeiter, die mit Chrom – in der einen oder anderen Form – in Berührung gekommen waren. Alle hatten nur mäßig oder überhaupt nicht geraucht, was Müller zu der Annahme führte, daß die schädlichen Substanzen in ihrem Arbeitsumfeld bei der Erkrankung eine Rolle gespielt hatten.81 Was aus Müller selbst wurde, dem Autor der weltweit ersten auf statistischen Daten basierenden epidemiologischen Studie zu den Gefahren des Tabaks, ist unbekannt. Nach Ende des Kriegs finden sich keinerlei Hinweise mehr auf ihn, und es ist sehr wahrscheinlich, daß er noch vor seinem 30. Geburtstag an der Front starb. Wir müssen mehr darüber erfahren, wie und warum dieser unbekannte junge Arzt – der Galois der Tabakforschung –82 dazu kam, bahnbrechende Leistungen in der Tabak-Epidemiologie zu erbringen, um danach wieder vollkommen von der Bildfläche zu verschwinden. Müllers hervorragende Abhandlung wurde in den fünfziger Jahren hin und wieder zitiert. Damals bestätigten Ernst Wynder und Evarts Graham in den Vereinigten Staaten und gleichzeitig Richard Doll und A. Bradford Hill in England den Zusammenhang zwischen Lungenkrebs und Tabak.83 Der »U.S. Surgeon General’s Report« von 1964 zitierte Müllers Untersuchung, ebenso Schairer und Schöniger, mit denen wir uns noch befassen werden. Vernachlässigt wird aber oftmals, daß führende deutsche Ärzte in den vierziger Jahren – mehr als ein Jahrzehnt vor ihren englischen und amerikanischen Kollegen – überzeugt waren, Rauchen mache süchtig und sei zugleich 226
eine Hauptursache für Lungenkrebs.84 Fritz Lickint stellte bereits 1935 in Deutschlands führender medizinischer Fachzeitschrift fest, es bestehe kein Zweifel mehr, daß Tabak bei der Zunahme der Bronchialkrebserkrankungen eine bedeutende Rolle spiele.85 Max de Crinis, einer der einflußreichsten Psychiater jener Zeit und berüchtigter Organisator des mörderischen »Euthanasie-Programms«, stellte 1941 fest, man könne die Frage, ob Tabak eine Ursache für die explosive Zunahme von Lungenkrebs sei, nun bejahen.86 Dieser Konsens ging zusammen mit dem NS-Regime unter und wurde erst nach dem Krieg, unter der Führung von anglo-amerikanischen Wissenschaftlern, wieder aufgenommen.87
PRAKTISCHE MASSNAHMEN Nachdem sich die nationalsozialistischen Behörden ausreichende wissenschaftliche Sachkenntnisse und politische Macht gesichert hatten, begannen sie ihren Kampf gegen das Rauchen mit einer Kombination aus Propaganda, Öffentlichkeitsarbeit und amtlichen Erlassen.88 Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung ordnete an, daß die Gefahren des Tabaks bereits in den Grundschulen behandelt werden sollten, und das Reichsgesundheitsamt (der »Roland« der Gesundheitsführung des Reichs, wie dessen Präsident Hans Reiter prahlte) publizierte Flugblätter, mit denen junge Menschen vor dem Rauchen gewarnt wurden. Bei öffentlichen Vorträgen – zum Beispiel zu den Themen gesunde Mutterschaft oder Impfungen –, die vom Reichsgesundheitsamt finanziert wurden, war Rauchen verboten, und der Reichsstand des Deutschen Handwerks, die »gleichgeschaltete« Handwerker-Vereinigung, empfahl seinen Mitgliedern, während der Arbeit nicht zu rauchen.89 Die Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren wurde im Juni 1939 gegründet, die Überreste von Deutschlands führender Alkoholgegner-Vereinigung gingen darin auf. Die Reichsstelle für Rauschgiftbekämpfung leistete bezüglich Morphium, Schlaftabletten, Coca-Cola, Pervitin (ein rezeptpflichtiges Aufputschmittel) und gelegentlich auch Tabak ähnliche Arbeit. Vom 5. bis 7. März 1939 nahmen 15000 Menschen an einem Kongreß in Frankfurt über die Risiken von Tabak und Alkohol teil, an der der Präsident des Reichsgesundheitsamtes Hans 227
Reiter und andere Nazigrößen – wie Leonardo Conti, Robert Ley und Ferdinand Sauerbruch (der Gerhard Wagner vertrat) – sowohl den Konsum von Alkohol als auch Tabak verdammten, da sie zu Unfruchtbarkeit führen könnten und die deutsche Ökonomie belasteten.90 Während dieser Zeit veröffentlichten Zeitschriften wie Die Genußgifte, Auf der Wacht und Reine Luft regelmäßige Attacken gegen diese »heimtückischen Gifte«. Zudem publizierte man Artikel über die gesundheitsschädigenden Wirkungen von Alkohol, Kokain und anderen »Lastern« wie dem Tanzen von Jugendlichen. Über ein Dutzend Bücher prangerten die »Sklaverei« des Rauchens und die kulturelle »Entartung« an, die man als Folgen des zunehmenden Tabakkonsums befürchtete.91 Tabak wurde als »Feind des Weltfriedens« gebrandmarkt, und man sprach sogar von »Tabakterror« und »Tabakkapitalismus«.92 Karl Astel aus Jena erklärte den Tabak zum »Volksfeind«, und eine medizinische Arbeit über Tabaksucht charakterisierte Zigaretten als »Sargnägel«.93 Hitler selbst verurteilte den Tabak im Jahr 1941 als »eins der gefährlichsten Gifte der Menschheit«.94 Tabakgegner riefen ihren Lesern immer wieder ins Gedächtnis, daß Hitler weder rauchte noch Schnaps trank (siehe Abb. 6.10). Ebenso legte man Wert auf die Feststellung, daß weder Mussolini noch Franco Raucher waren. Auch Max Schmeling, den deutschen Boxweltmeister im Schwergewicht, lobte man als Nichtraucher und Vorbild – dies hielt zumindest bis 1938 an, als der Afroamerikaner Joe Louis ihn in der ersten Runde des Meisterschaftskampfes k.o. schlug, eine Niederlage, die für die NS-Führer äußerst unbequem war. In den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren forderten Tabakgegner höhere Tabaksteuern sowie Werbeverbote, und sie wollten unbeaufsichtigte Verkaufsautomaten und den Verkauf von Tabak an Jugendliche und Frauen im gebärfähigen Alter verbieten lassen. Ebenso sollten das Rauchen am Steuer und am Arbeitsplatz untersagt und Tabakberatungsstellen eingerichtet werden.95 Die Hitler-Jugend und der Bund Deutscher Mädel verteilten Propagandaschriften gegen das Rauchen,96 und der Reichsgesundheitsverlag druckte Broschüren mit Anleitungen, wie Jugendliche einfache Experimente durchführen konnten, die die Gefahren von Alkohol und Tabak demonstrierten.97 Es wurden Beratungsstellen eingerichtet, wo »Tabakkranke« Hilfe suchen konnten – bis Ende der dreißiger Jahre gab es Dut228
ABB. 6.10.
Vorbild Hitler. Quelle: Auf der Wacht 54 (1937), S. 18.
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zende solcher Stellen.98 Rauchfreie Restaurants und Toiletten wurden eröffnet, oft mit finanzieller Unterstützung des Bundes Deutscher Tabakgegner.99 Weiter begann man die Produktion von nikotinfreien Zigaretten zu erforschen. Bereits im 19. Jahrhundert war erkannt worden, daß die »aktive Substanz« im Tabak das Nikotin ist, und bis in die 1890er Jahre hatte man technische Verfahren entwickelt, um den schädlichen und zugleich Genuß bereitenden Wirkstoff zu verdünnen oder vollständig zu entziehen.100 Die Reichsanstalt für Tabakforschung in Forchheim bei Karlsruhe führte mehrere Untersuchungen durch, um das Nikotin aus den Zigaretten zu lösen. Zu diesem Zweck entwickelte man neue Züchtungsmethoden und eine chemische Behandlung der geernteten Pflanzen, und bis ins Jahr 1940 waren fünf Prozent der gesamten deutschen Ernte, oder ungefähr 3000000 Kilogramm, »nikotinfreier Tabak«.101 Mitte der dreißiger Jahre gab es in Deutschland 60000 Tabakanbauer; sie produzierten etwa ein Drittel des Tabakbedarfs im Deutschen Reich.102 Man züchtete damals auch Tabakpflanzen mit hohem Nikotingehalt, um reines Nikotin zu gewinnen, das als Pestizid verwendet wurde. Bis dahin waren Abfallprodukte aus der russischen Tabakproduktion die Hauptquelle für solches Nikotin gewesen, gegen Ende der dreißiger Jahre wurde es jedoch schwierig, Lieferungen zu erhalten, weil sich die deutsch-russischen Beziehungen verschlechterten. Deshalb gewann man den Wirkstoff aus Tabakpflanzen mit hohem Nikotingehalt, die die Reichsanstalt für Tabakforschung eigens zu diesem Zweck züchtete.103 Jeder, der daran zweifelt, daß Tabakfirmen den Nikotingehalt der Zigaretten »manipulieren«, braucht nur die deutsche Tabakliteratur zu konsultieren, dort gibt es zahlreiche Beispiele solcher Manipulationen. Die Verbreitung der »nikotinarmen« oder »nikotinfreien« Tabakprodukte – deren Nikotingehalt oft uneinheitlich war –, führte zu verschiedenen Anstrengungen, die Werbung zu kontrollieren und den Nikotingehalt festzulegen. Die »Verordnung über nikotinarmen und nikotinfreien Tabak« vom 12. Mai 1939 verlangte beispielsweise, daß nikotinarmer Tabak weniger als 0,8 Prozent des Alkaloids enthalten sollte, nikotinfreie Zigaretten nicht mehr als 0,1 Prozent.104 Die Tabakgegner wiesen allerdings weiter gern darauf hin, daß Nikotin nur eine von vielen schädlichen Substanzen im Tabak war und Produkte mit niedrigem Nikotingehalt Raucher sogar dazu ver230
anlassen konnten, noch mehr zu rauchen, um den Nikotinspiegel auf einem für sie angenehmen Niveau zu halten.105 Es wurden außerdem Projekte umgesetzt, mit denen der psychologische und der psychopharmakologische Aspekt des Rauchens erforscht werden sollten. Eine medizinische Studie aus den vierziger Jahren ging den Fragen nach, warum Blinde selten rauchten und warum Soldaten das Rauchen tagsüber als angenehmer empfanden als nachts.106 Ein Artikel aus dem Jahr 1937 fragte nach der »Psychopathologie« des Rauchens und ging der angeblichen Verbindung zwischen Rauchen und Pyromanie nach.107 Anti-Tabak-Zeitschriften suchten regelmäßig den Grund für alle möglichen Verbrechen wie Brandstiftungen, Diebstähle und sogar Morde beim Rauchen (zum Beispiel für den Mord am Wiener Philosophen Moritz Schlick im Jahr 1936 durch einen verrückten, rauchenden Studenten).108 Es gab Dutzende von Präparaten, die den Menschen dabei helfen sollten, mit dem Rauchen aufzuhören. Angeboten wurden beispielsweise Silbernitrat-Mundspülungen – es hieß, diese Substanz bewirke in einem Verhältnis von 1 zu 10000, daß Tabak einen schlechten Geschmack annehme – oder eine Substanz namens »Transpulmin«, die gespritzt wurde und einen ähnlichen Effekt haben sollte – man nahm an, sie verbinde sich mit den Terpenen und anderen aromatischen Bestandteilen im Tabak, woraus eine unangenehme Geschmacksempfindung resultiere). Präparate mit Markennamen wie »Analeptol« und »Nicotilon« wurden angeboten, sowie Tabak-Substitute wie Kaugummi, Ingwer-Präparate, Atropin und MentholZigaretten. Auch die Hypnose war ein beliebtes Mittel im Kampf gegen das Rauchen, ebenso wie verschiedene Arten der psychologischen Beratung. Gesetzliche Maßnahmen wurden ab 1938 eingeführt. In diesem Jahr verboten die Luftwaffe und die Post das Rauchen in ihren Gebäuden. Rauchen wurde mancherorts am Arbeitsplatz, in Verwaltungsgebäuden, Krankenhäusern und Altersheimen verboten;109 und auch die Hebammen wurden angewiesen, während der Arbeitszeit nicht zu rauchen.110 Alle deutschen Züge erhielten Nichtraucherabteile, wer sich nicht an das Verbot hielt, wurde mit einer Buße von zwei Reichsmark bestraft.111 Die NSDAP verbot das Rauchen in ihren Büros am 29. April 1939, und innerhalb eines Jahres hatte Himmler ein Rauchverbot für alle uniformierten Polizeibeamten sowie die SS-Offiziere im Dienst angeordnet.112 (Die Gestapo durfte bei ihren geheimen Aktionen vermutlich immer noch rauchen.) Das Journal of the American 231
Medical Association berichtete in diesem Jahr über Hermann Görings Verordnung, die den Soldaten das Rauchen auf den Straßen, bei Märschen und in den kurzen Dienstpausen verbot.113 Sechzig der größten deutschen Städte verboten 1941 das Rauchen in Straßenbahnen, und auch in Luftschutzräumen durfte man sich keine Zigaretten anzünden – aber es gibt auch Hinweise darauf, daß separate Räume für Raucher existierten.114 Während des Krieges erhielten schwangere Frauen keine Verpflegungsmarken für Tabak (ebenso alle Frauen unter 25 oder über 55 Jahren), Restaurants und Cafes durften keine Zigaretten an weibliche Gäste verkaufen – einige dieser Bestimmungen wurden jedoch mit der Zeit gelockert.115 Im Juli 1943 untersagte man allen Personen unter 18 Jahren das Rauchen in der Öffentlichkeit.116 Im Frühjahr 1944 wurde es in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Städte verboten; Hitler hatte diesen Schritt persönlich angeordnet, um die Gesundheit der jungen Frauen, die als Schaffnerinnen arbeiteten, zu schützen.117 Man muß darauf hinweisen, daß einige dieser Verbote aus der Kriegszeit hauptsächlich erlassen wurden, um Brände zu verhindern. Dies galt eindeutig für das Verbot vom 23. Mai 1940, mit dem das Rauchen in feuergefährdeten Fabriken verboten wurde, aber es traf auch auf die polizeiliche Verfügung vom 18. Mai 1940 zu, die das Rauchen in der Nähe von offenen Getreidespeichern untersagte.118 An Arbeitsorten, wo eine besonders große Brandgefahr bestand, mußten per Gesetz klare Nichtraucherzonen gekennzeichnet werden. Diese Rauchverbote wurden allerdings so oft übertreten, daß Heinrich Himmler polizeiliche Maßnahmen gegen jeden anordnete, der in einem Nichtraucherbereich zur Zigarette griff.119 Es drohten harte Strafen: Im Sommer 1942 wurde ein Mann zum Tode verurteilt, weil er einen kostspieligen Brand mit tödlichen Folgen in einer Farbspritz-Anlage verursacht hatte, die als Nichtraucherzone markiert gewesen war. Das Urteil war bereits vollstreckt worden, als Die Tabakfrage (die Nachfolgerin von Reine Luft) dies lobend erwähnen konnte.120 Bei den Einschnitten in die Tabakwerbung stand das Thema Gesundheit eindeutig im Zentrum. Man verbot den Begriff »Damenzigarette« und die Verwendung erotischer oder auf Frauen fokussierter Bilder, mit denen für Tabakprodukte geworben wurde. Anzeigen, in denen behauptet wurde, das Rauchen habe hygienischen Wert, wurden ebenso verboten wie Bilder, die Raucher als Sportler oder Sportfans darstellten oder sie bei anderen, als 232
typisch »männlich« geltenden Aktivitäten zeigten. Raucher durften in der Werbung nicht mehr am Steuer eines Autos abgebildet werden, zudem war ausdrücklich verboten, sich über Nichtraucher lustig zu machen, was zuvor relativ unverfroren geschehen war (siehe Abb. 6.7 und Abb. 6.11).121 Diese Einschränkungen, die am 17. Dezember 1941 in Kraft traten und von Heinrich Hunke, dem Vorsitzenden des Werberates der Deutschen Wirtschaft, unterschrieben wurden, sind es wert, hier vollständig wiedergegeben zu werden: 1. Inhalt der Tabakwerbung. Die Werbung für Tabakerzeugnisse soll bildlich und inhaltlich zurückhaltend und geschmackvoll sein. Sie soll insbesondere den Bestrebungen zur Erhaltung und Förderung der Volksgesundheit nicht zuwiderlaufen und nicht gegen folgende Gesichtspunkte verstoßen: a) Das Rauchen darf nicht als gesundheitsfördernd oder als gesundheitlich unbedenklich hingestellt werden. b) Unzulässig ist jede Darstellung, die den Eindruck erweckt, als ob das Rauchen ein Zeichen von Männlichkeit sei, sowie die Bezugnahme auf Männer, die für Jugendliche als Vorbild gelten (z.B. Sportler, Flieger). c) Die Anhänger der Enthaltsamkeit oder Einschränkung des Tabakgenusses dürfen nicht lächerlich gemacht werden. d) Die Tabakwerbung darf sich nicht an Frauen richten oder die Frauen mit dem Tabakgenuß in Zusammenhang bringen. e) Die Tabakwerbung darf sich nicht an den Sportsmann oder Kraftfahrer wenden oder auf sie Bezug nehmen. f) Durch den Hinweis auf geringen Nikotingehalt darf nicht zu einem Mehrverbrauch angeregt werden. 2. Beschränkung der Werbemittel. Die Werbung für Tabakerzeugnisse darf nicht mehr durchgeführt werden: a) durch Werbefilme; b) durch Schild- oder Daueranschläge, die außerhalb der Städte der eigenen Leistung, insbesondere an Giebeln und sonstigen
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ABB. 6.11. Im »Dritten Reich« verbotene Anzeigen. Die damals erlassenen Gesetze untersagten die Verwendung von Bildern in der Tabakwerbung, die sich auf Sport oder Erotik bezogen; hier zeigt Reine Luft eine Auswahl unterschiedlicher Anzeigen, die aufgrund des Werbegesetzes zurückgenommen
werden mußten. Quelle: Reine Luft (1939), S. 15.
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Flächen, entlang der Eisenbahnlinien, im Landschaftsbild oder auf Sportplätzen und Rennbahnen angebracht werden; c) durch Anschläge in Postanstalten; d) durch Anschläge in und an den öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln, deren Haltestellen und sonstigen Einrichtungen sowie durch Außenanschläge an nicht festangebrachten Stellen; e) durch Plakate (Bogenanschläge) an Mauern, Zäunen, auf Sportplätzen und Rennbahnen oder durch Abziehbilder, Streifenplakate und Aufkleber an den Scheiben der Schaufenster und Ladentüren; f) durch Lautsprecherwagen; g) durch Postwurfsendungen; h) durch Anzeigen im Textteil von Zeitungen und Zeitschriften.122 Es gab allerdings weiterhin Werbung für Tabak, sogar in nationalsozialistischen Zeitschriften. In österreichischer Tabakwerbung fand man gelegentlich ein augenfälliges Hakenkreuz – die österreichische Tabakindustrie war staatlich monopolisiert. Die Wochenzeitschrift der »Sturmabteilung« Die SA druckte 1940 und 1941 fast in jeder Ausgabe ganzseitige Anzeigen für Reemtsma-Zigaretten – eine Ironie, wenn man bedenkt, wie heftig die Braunhemden diese Firma zehn Jahre zuvor angegriffen hatten. Einige patriotisch eingestellte Menschen protestierten dagegen, daß Werbung für Zigaretten 25 Prozent des ganzen zur Verfügung stehenden Platzes einnahm, während man den Hinterbliebenen von gefallenen Soldaten vorschrieb, ihre Todesanzeigen möglichst kurz zu halten.123 Die Tabakwerbung der Kriegsjahre zeigte oft Bauernhöfe oder Dörfer in Bulgarien, der Türkei, Griechenland oder Mazedonien – Länder, aus denen ein Großteil des deutschen Rohtabaks stammte. Die friedlichen, romantischen Landschaften standen in einem ausgesprochenen Kontrast zu den Kriegsbildern, mit denen die Zeitschrift ansonsten illustriert war.
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KARL ASTELS WISSENSCHAFTLICHES INSTITUT ZUR ERFORSCHUNG DER TABAKGEFAHREN Der Kampf gegen den Tabak erreichte im siebten und achten Jahr der NSHerrschaft seinen Höhepunkt dank der militärischen Erfolge der frühen Kriegsjahre und aufgrund der Erkenntnis, daß die Vorratswirtschaft eine gute Entschuldigung bot, um den Tabakkonsum weitergehend einzuschränken. Wolfgang Klarner aus Erlangen begann seine medizinische Dissertation im Jahr 1940 mit der Bemerkung, die Deutschen erlebten zur Zeit den Anfang vom Ende des Tabaks,124 und es gab Gerüchte, wonach der Tabak dazu bestimmt war, nach Kriegsende vollständig aus dem Reich zu verschwinden.125 Hitler erließ im April 1941 einen scharf formulierten Befehl, mit dem er jegliche Ausweitung des für Tabakanbau verwendeten Ackerlandes verbot,126 und die Parteispitze hatte zu dieser Zeit bereits damit begonnen, die Tabakhersteller unter Druck zu setzen: Sie sollten ihre Betriebe umstellen und statt der Tabakprodukte andere Güter herstellen;127 die Initiative dafür ging offenbar von Gauleiter Fritz Sauckel in Thüringen aus, aber auch von der Kommission für Wirtschaftspolitik der NSDAP.128 In dieser Atmosphäre, die von immer stärkeren Widerständen gegen den Tabak geprägt war, gründeten Wissenschaftler die wichtigste Anti-Tabak-Institution des »Dritten Reichs«, das Wissenschaftliche Institut zur Erforschung der Tabakgefahren, das im Frühjahr 1941 mit der Unterstützung von 100 000 RM aus Hitlers Reichskanzlei an der Universität Jena eingerichtet wurde.129 Das Institut wurde als erste derartige Einrichtung der Welt gefeiert, und der Stolz war wohl nicht ganz unbegründet. Fritz Lickint begrüßte die Gründung des Instituts in einem Brief an den Direktor, in dem er begeistert erklärte, es würden sich nun neue Möglichkeiten eröffnen, um wirksam gegen die Tabakindustrie vorzugehen.130 Am 5. und 6. April 1941 wurde die Eröffnung des Instituts mit einer feierlichen Tagung begangen, auf der viele der prominentesten Tabakgegner Deutschlands Vorträge hielten. Gauleiter Fritz Sauckel verkündete, die Bekämpfung des Tabaks sei notwendig, damit der arbeitende deutsche Mann gesund und kräftig bleibe; Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti betonte, Tabak sei als Suchtmittel zu betrachten, das die Fähigkeit, der Nation zu dienen, schwäche. Karl Astel, jener SS-Arzt, der das Institut gegründet 236
hatte und leitete, prangerte die gesundheitlichen und finanziellen Belastungen durch das Rauchen an und gab dem Tabakkonsum die Verantwortung für eine apathische Lebenseinstellung. Hans Reiter vom Reichsgesundheitsamt legte den Schwerpunkt darauf, wie schädlich das Rauchen für die weibliche Fruchtbarkeit sei, und forderte außerdem, daß der Zusammenhang zwischen Tabak und Magenkrebs erforscht werde. Der Leiter der NS-Steuerbehörde umriß die ökonomischen Kosten des Rauchens – während der Stellvertretende Direktor der Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren die Tabakindustrie angriff, weil sie irreführende Begriffe wie »Tabakgenuß« und »Tabakmißbrauch« verbreite.131 Johann von Leers, Herausgeber der Zeitschrift Nordische Welt und fanatischer Antisemit, gab der Tagung eine beinahe groteske Note. Er beschuldigte den »jüdischen Kapitalismus«, das Rauchen in Europa verbreitet zu haben. Leers beschrieb, wie Juden den ersten Tabak nach Deutschland gebracht hätten und immer noch die Tabakindustrie in Rotterdam, dem Haupthafen für die Einfuhr der Nicotiana nach Europa, kontrollieren würden. Die Französische Revolution habe mit der Salonkultur die Verbreitung des Tabaks beschleunigt – »der liberale Revoluzzer rauchte«. Leers war einer der beiden Redner, die eine Verbindung zur »jüdischen Frage« zogen; seine Rede war die einzige, die vom Deutschen Ärzteblatt als humorvoll charakterisiert wurde – belustigend war offenbar, daß er die Juden verspottete.132 An der Konferenz nahmen weitere herausragende Repräsentanten der deutschen Medizin und Wissenschaft teil. Otto Schmidt, Direktor des Instituts für Gerichtsmedizin der Danziger Medizinischen Akademie, beschrieb die giftige Wirkung von Kohlenmonoxid, und Fritz Lickint sprach einmal mehr über die inzwischen schon bekannten Gefahren des Rauchens. Der Direktor von Dortmunds Institut für Laborphysiologie, Otto Graf, vertrat den Standpunkt, daß Tabak am Arbeitsplatz wegen des Risikos für Passivraucher gänzlich verboten werden sollte. Deutschlands führende medizinische Fachzeitschrift berichtete ausführlich über die Tagung, und Hitler schickte ein Telegramm, mit dem er den Versammelten »die besten Wünsche« sandte, »für Ihre Arbeit zur Befreiung der Menschheit von einem ihrer gefährlichsten Gifte« (siehe Abb. 6.12-6.14). Niemals hat irgendwo auf der Welt eine illustrere Tabakgegner-Versammlung stattgefunden. 237
ABB. 6.12. Titelblatt von Reine Luft (Mai/Juni 1941), der führenden NS-Zeitschrift gegen das Rauchen. Das mit »Tabaksucht« bezeichnete Podium, auf der Schlangen mit Teufelsköpfen drei Raucher umschlingen, ist der klassischen Skulptur Laokoon und seine Kinder nachempfunden (die sich heute im Vatikan befindet). Die Fotografie unten zeigt die Tagung in Weimar vom 5. bis 6. April 1941, auf der die Gründung des Jenaer Wissenschaftlichen Instituts zur Erforschung der Tabakgefahren gefeiert wurde.
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ABB 6 13. Titelseite von Reine Luft 23 (1941), S. 81, auf der Hitlers Grußtelegramm vom 5. April 1941 abgedruckt ist, mit dem er den in Weimar versammelten Würdenträgern zur Ersten Wissenschaftlichen Tagung zur Erforschung der Tabakgefahren und zur Eröffnung des Jenaer Wissenschaftlichen Instituts gratulierte.
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ABB. 6.14. Karl Astel, Rektor der Universität Jena und Direktor des Jenaer Wissenschaftlichen Instituts zur Erforschung der Tabakgefahren, ein fanatischer Antisemit und Verfechter der »Euthanasie«. Astel verbot das Rauchen in den Gebäuden der Universität. Er beging im April 1945 Selbstmord. Quelle: Bundesarchiv Berlin.
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Jena war nun zu einem Zentrum des Kampfes gegen den Tabak geworden –133 hauptsächlich durch die Arbeit von Karl Astel, dem Direktor des neuen Instituts, der seit dem Sommer 1939 auch Rektor der Universität Jena war. Astel leitete das Thüringer Landesamt für Rassewesen und war ein berüchtigter Antisemit und Rassenhygieniker (er war im Juli 1930 der NSDAP und der SS beigetreten). Er trat zudem energisch für die »Euthanasie« ein und besuchte Krankenhäuser in der Region, um die Ärzte davon zu überzeugen, daß sie ihre psychiatrischen Patienten töten sollten. Er war in seiner Unterstützung der Ermordung psychisch Kranker recht unverhohlen; einmal mußte man ihn gar daran erinnern, daß das »Euthanasie-Programm« eigentlich Geheimsache war.134 Astel war an der Vertreibung der Juden aus Universitätspositionen beteiligt, später auch an der Organisation der Deportationen in die Vernichtungslager. Astel war auch ein militanter Nichtraucher und Abstinenzler, der den Kampf gegen den Tabak einmal als »nationalsozialistische Pflicht« bezeichnet hatte.135 Am 1. Mai 1941 verbot er das Rauchen in allen Gebäuden und Unterrichtsräumen der Universität Jena, und im folgenden Frühjahr, als Leiter des Thüringischen Amtes für Volksgesundheit, verkündete er ein Rauchverbot in allen Schulen und Gesundheitsämtern der Region. Tabak mußte seiner Meinung nach Zigarette für Zigarette, Zigarre für Zigarre bekämpft werden. Er war bekannt dafür, jenen Studenten, die es wagten, sein Rauchverbot in der Jenaer Universität zu mißachten, die Zigarette aus dem Mund zu reißen.136 Daß man nicht rauchte, war selbstverständlich eine Anstellungsbedingung am Wissenschaftlichen Institut zur Erforschung der Tabakgefahren: Im Gesuch für das Institut – verfaßt von Gauleiter Sauckel – stand, daß dies ebenso Voraussetzung sei wie die »arische Abstammung«. Man hielt es für wichtig, daß die Forscher frei von Tabaksucht waren, um die »Unbefangenheit« und »Unabhängigkeit« von »Blick, Urteil und Haltung« der Wissenschaftler zu garantieren.137 Asteis Institut unterstützte sowohl die medizinisch ausgerichtete Propaganda als auch die politisch motivierte wissenschaftliche Arbeit. Eines der ehrgeizigsten Projekte war ein Film gegen den Tabak mit dem Titel Genußmittel Tabak; die Regie führte der Prager Medizinprofessor Emil von Skramlik, und produziert wurde das Ganze in Zusammenarbeit mit Bavaria Film. Es ist noch nicht geklärt, ob dieser Film jemals fertiggestellt wurde (eine Ko241
pie ist nicht aufzutreiben). Mit Zustimmung des Propagandaministeriums flössen Zehntausende Reichsmark des Institutsbudgets in die Produktion – Goebbels’ Tagebucheintrag vom 24. Juni 1941 ist zu entnehmen, daß er den Propagandafilm gegen den Tabakmißbrauch billigte.138 Skramlik konnte am 4. November 1942 Dr. Hellmuth Unger, Autor und führender Kopf hinter dem »Euthanasie«-Film Ich klage an, zu einer Mitarbeit an diesem Projekt überzeugen – wiederum manifestiert sich hier die Verbindung zwischen den NS-Verbrechen und der Kampagne gegen den Tabak.139 Die wissenschaftliche Arbeit des Instituts umfaßte mehrere Bereiche. Der Radiologe Wolf Dietrich von Keiser erforschte den Einfluß des Nikotins auf den Magen, der Pathologe Eberhard Schairer verglich die durch Nikotin verursachten Schäden mit jenen von Rheuma. Das Institut leistete finanzielle Unterstützung für die Arbeiten von Günther Just, dem Direktor des Instituts für Erblehre und Eugenik an der Universität Greifswald, und auch Karl Thums, Direktor des Instituts für Erb- und Rassenhygiene der Universität in Prag, wurde unterstützt.140 Wie Horst Wüstners medizinische Dissertation von 1941 illustriert, war Krebs ein wichtiger Schwerpunkt: Wüstner bestätigte die zunehmende Häufigkeit von Lungenkrebs und deren wahrscheinlichen Zusammenhang mit der zunehmenden Verbreitung des Rauchens. Er analysierte die pathologischen Berichte von über 20000 Autopsien, die an der Universität zwischen 1910 und 1939 durchgeführt worden waren, und kam zu dem Ergebnis, daß die Zahl der Lungenkrebserkrankungen um das Zehnfache angestiegen war (von 8 auf 88), obwohl die Gesamtzahl der Krebserkrankungen sich nicht einmal verdoppelt hatte (von 363 auf 734). In der früheren Periode war Lungenkrebs nur für rund zwei Prozent aller Krebstodesfälle verantwortlich gewesen, doch die Autopsien der Jahre 1935 bis 1939 zeigten einen viel höheren Anteil von rund zwölf Prozent.141 Die faszinierendste Arbeit, die Astels Institut hervorbrachte, war jedoch die erstaunlich differenzierte Untersuchung von Eberhard Schairer und Erich Schöniger aus dem Jahr 1943. Die beiden Autoren zeigten am überzeugendsten, welch eine zentrale Rolle das Rauchen bei der Entstehung von Lungenkrebs spielte.142 Über Schöniger, den jüngeren der beiden Männer, ist nicht viel bekannt, aber dafür über Schairer. Eberhard Schairer (geb. 1907) war stellvertretender Direktor des Jenaer Instituts für Pathologie und ein habilitierter Professor der Medizin, mit einer langen Publikationsliste in 242
Gebieten wie der Erforschung der Tumortransplantation und der pädiatrischen Blutbiochemie. Schairer war Schönigers Doktorvater und hat ihm – wie man den Danksagungen am Schluß von Schönigers Arbeit entnehmen kann – das Thema offensichtlich vorgeschlagen. Schairer beantragte 1937 die Mitgliedschaft in der NSDAP und war bereits einigen anderen NS-Organisationen beigetreten (er war zum Beispiel »Sturmarzt« für die SA), bevor er 1938 in die medizinische Fakultät in Jena eintrat. Offenbar fiel er gegen Ende des Krieges in Ungnade und wurde an die Ostfront geschickt. Die Quellenlage ist in diesem Punkt nicht eindeutig, aber sein Sohn sagt, Schairer habe sich geweigert, einen ranghohen Nationalsozialisten zu entlasten, der bei einem Autounfall den Tod eines Mannes verschuldet hatte. Er berichtet weiter, sein Vater habe absichtlich eine Reihe von Tierversuchen gestoppt, an denen er zur Erforschung der Frage, ob Saccharin zu Leberkrebs führe, gearbeitet hatte. Er habe befürchtet, daß negative Resultate (keine Krebsgefahr) die Regierung dazu veranlassen könnten, die Zuckerrationen zu kürzen und die Produktion von künstlichen Süßstoffen anzukurbeln. Im Jahr 1997 war Schairer noch am Leben, aber nicht dazu bereit, ein Interview zu geben.143 Alles, was wir über Erich Schöniger wissen, stammt aus dem Lebenslauf, der am Schluß seiner Dissertation von 1944 abgedruckt ist. Er wurde 1917 in Bad Schwartau bei Lübeck geboren und diente ab dem Sommer 1937 freiwillig in der Wehrmacht. Zwei Jahre später, im Frühjahr 1939, begann er in Jena Medizin zu studieren. 1940 trat er erneut in die Armee ein, um im Feldzug gegen Frankreich zu kämpfen, danach kehrte er nach Jena zurück, um sein Medizinstudium zu beenden. Es existieren keinerlei Hinweise, daß er je der NSDAP beigetreten war. Seine Doktorarbeit von 1944 (Lungenkrebs und Tabakverbrauch) trägt denselben Titel wie die gemeinsame Arbeit mit Schairer von 1943, aber die beiden Texte zeigen Unterschiede, und Schöniger gibt mehr historische Hintergrundinformationen. Es ließen sich keine Hinweise finden, ob er heute noch lebt. Schairers und Schönigers Arbeit zeichnet sich durch ihre Differenziertheit aus, sie übertrifft sogar Müllers um vier Jahre ältere Studie. Die Autoren räumen ein, daß es verschiedene statistische Fehlerquellen gebe, und entwickeln Wege, diese zu umgehen. Sie beginnen mit dem Befund, daß unter den Krebsarten, die durch Autopsien identifiziert wurden, immer häufiger Lun243
genkrebs auftrat, und daß Männer zudem viel öfter als Frauen an Lungenkrebs erkrankten (ihren Berechnungen zufolge sechsmal häufiger). Einige der gängigen Erklärungen, die die Schuld für die rasant steigenden Lungenkrebszahlen nicht beim Tabak sahen – sondern bei anderen Schadstoffquellen wie den Autoabgasen –, verwerfen sie mit dem Argument, daß Lungenkrebs sowohl in den Städten als auch auf dem Land häufiger werde und daß Arbeiter, die von Berufs wegen häufig Motorabgasen ausgesetzt seien, keine höheren Erkrankungsraten aufwiesen. Dann machen sie auf die Tatsache aufmerksam, daß ein starker Raucher während seines ganzen Lebens viele Kilogramm Teer inhaliert – eine ziemlich beängstigende Tatsache, da ja Roffo im Zigarettenrauch Benzyprene nachweisen konnte: Seine Versuchstiere, die mit Tabakteeren bestrichen wurden, entwickelten hohe Krebsraten. Der originellste Aspekt der Studie von Schairer und Schöniger ist ihre Analyse der Korrelationen zwischen Lungenkrebs und dem Rauchverhalten. Sie hielten sich an die von Müller entwickelte Methode und schickten an die Hinterbliebenen von 195 Verstorbenen Fragebogen zu den Rauchgewohnheiten der Lungenkrebsopfer. Sie weiteten Müllers Vorgehen jedoch noch aus, indem sie weitere 555 Fragebogen an die Familien von Patienten schickten, die an anderen Krebsarten gestorben waren – 320 an Magenkrebs, 108 an Dickdarmkrebs, 60 an Prostatakrebs, 35 an Speiseröhrenkrebs und 32 an Zungenkrebs. Sie nahmen an, daß Raucher auch für andere Krebsarten anfälliger waren. Sie schickten auch Fragebogen an 700 männliche Einwohner von Jena im Alter von 53 und 54 Jahren – dem durchschnittlichen Todesalter der Lungenkrebsopfer –, um die Rauchgewohnheiten bei Personen zu bestimmen, die offenbar nicht an Krebs litten.144 Die Resultate waren eindeutig: Unter den 109 Lungenkrebsopfern, über die man brauchbare Daten sammeln konnte, waren nur 3 Nichtraucher, ein viel niedrigerer Anteil als bei der Gesamtbevölkerung (d.h. ungefähr 3 Prozent gegenüber 16 Prozent bei den überprüften gesunden Männern). Das Rauchen schien Krebserkrankungen im allgemeinen nicht zwingend zu fördern, dies ergab eine Analyse der Daten zu anderen Krebsarten wie Magenkrebs. Daraus folgerten Schairer und Schöniger: Rauchen war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Ursache für Lungenkrebs, jedoch weit weniger wahrscheinlich eine Ursache für andere Krebsarten. Die Autoren erklärten, 244
die Resultate seien von »höchster« statistischer Signifikanz, allerdings versuchten sie nicht, diese Signifikanz zu quantifizieren (wie sie dies gewiß hätten tun können, wenn sie die statistischen Chi-Quadrat-Methoden angewandt hätten, die zu dieser Zeit bereits verfügbar waren). Eine Neuauswertung der Studie von Schairer und Schöniger im Jahr 1994 zeigt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß die Resultate durch Zufall zustande gekommen waren, bei weniger als eins zu zehn Millionen liegt.145 Schairers und Schönigers Untersuchung lieferte die bis dahin weltweit schlüssigsten epidemiologischen Beweise dafür, daß Rauchen eine Hauptursache für Lungenkrebs war. Die Studie beeindruckt auch durch ihren Umgang mit möglichen Fehlerquellen. Schairer und Schöniger machten darauf aufmerksam, daß sowohl ihre eigene als auch Müllers Untersuchung bei den Männern einen erstaunlich hohen Anteil von Nichtrauchern aufwiesen (1516 Prozent – verglichen mit Lickints Schätzung von 5-10 Prozent bei der Gesamtbevölkerung). Eine mögliche Ursache dafür sahen die Autoren in einer eventuellen Weigerung von Rauchern, an der Befragung teilzunehmen. Sie vermuteten, die von ihnen untersuchte Gruppe könnte – mit einem Durchschnittsalter von 54 Jahren – mehr Nichtraucher enthalten, als dies bei einer jüngeren Gruppe der Fall gewesen wäre. Sie zogen zudem in Erwägung, daß die Raucher in ihren Antworten vielleicht nicht ganz ehrlich gewesen waren. Die Ursache dafür, daß lediglich 270 der 700 befragten gesunden Männer auf zufriedenstellende Art und Weise antworteten, sahen sie in den vom Krieg geprägten Lebensumständen. Die Tatsache sollte jedoch – so nahmen sie an – das Resultat ihrer Untersuchung nicht verzerren, schließlich ging es in erster Linie darum, das Rauchverhalten von Lungenkrebsund Magenkrebspatienten zu vergleichen. Tatsächlich fanden sie unter den Magenkrebsopfern keinen überdurchschnittlich hohen Anteil an Rauchern.146 Schairers und Schönigers Analyse blieb nicht die letzte Arbeit zur Tabakforschung im »Dritten Reich« (eine Studie von 1944 wies nach, daß Lungenkrebs unter Soldaten die häufigste tödliche Krebserkrankung war – ein Resultat, das nach Ansicht des Autors, eines Wehrmachtangehörigen, mit der Tabakätiologie nicht unvereinbar war).147 Merkwürdig ist jedoch noch das Schicksal der Studie nach dem Krieg. Müllers aus der Vorkriegszeit stammende Untersuchung wurde gelegentlich zitiert, aber kaum jemand scheint 245
Schairers und Schönigers Studie zu kennen.148 In einer deutschen Bibliographie von 1953 zum Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs wird die Arbeit von Schairer und Schöniger nicht einmal erwähnt; ebensowenig in einer ansonsten beeindruckenden historischen Übersicht von 1990 zur Lungenkrebs-Tabak-Epidemiologie.149 Der »U.S. Surgeon General’s Report« von 1964, Smoking and Health, zitiert beide Artikel,150 aber der gleichermaßen berühmte Bericht des britischen Royal College of Physicians, der 1962 erschien, zitiert weder Müller noch die Jenaer Untersuchung.151 Es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß die beiden Beiträge jemals ein breites Publikum fanden. Sir Richard Doll, der oft als jener Forscher bezeichnet wird, der den kausalen Zusammenhang zwischen Lungenkrebs und Rauchen bewiesen habe, teilte mir im Februar 1997 mit, daß er die Arbeit von Schöniger und Schairer nie gesehen habe (ich habe ihm ein Exemplar zugeschickt).152 Die Wissenschaft hat manchmal ein schlechtes Gedächtnis.
GESUNDHEIT ÜBER ALLES Wie soll man die Kampagne der Nationalsozialisten gegen den Tabak einordnen? Eine wichtige Rolle spielte gewiß der erstarkte Glaube an die Präventivmedizin, aber auch von seiten der Versicherungsgesellschaften kam Druck. Sie befürchteten, durch Tabak verursachte Krankheiten könnten zu einer Belastung für das Krankenversicherungswesen werden – die Lebensversicherungsgesellschaften hatten zu diesem Zeitpunkt bereits wahrgenommen, daß die Nikotinsucht zu einer statistisch relevanten Todesursache geworden war.153 Das Reich hatte 1933 schätzungsweise 15 Millionen Mark für Krebsbehandlungen ausgegeben, und die NS-Behörden befürchteten, daß diese Summe mit der Alterung der betroffenen Generationen nur noch ansteigen würde.154 Auch Gewerbehygieniker machten Druck, weil sie befürchteten, daß durch den Tabakkonsum die Arbeitsleistung nachlassen würde. Gegen Ende der dreißiger Jahre mußten sich Personen, die wegen eines »Zigaretten-Magens« (besonders Gastritis oder Magengeschwüre) mehr als vier Wochen am Arbeitsplatz fehlten, in einem Krankenhaus zur Untersuchung anmelden: Wer weiter rauchte und wieder krank wurde, war von Zwangseinweisung in eine Nikotin-Entzugsklinik bedroht.155 In einem Auf246
satz aus dem Jahr 1942 wurde gefordert, man solle Krebs stärker bekämpfen, weil er deutsche Arbeiter auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit töte. Der Autor bemerkte, daß drei Viertel der Menschen, die dem Krebs zum Opfer fielen, »Facharbeiter« seien, während Kinder, Rentner und Invalide nur 24 Prozent ausmachten. Er unterstützte zudem die Idee, daß heiratswillige Personen eine erbgesundheitliche Beratung aufsuchen müßten. So sollte sichergestellt werden, daß sich nicht Personen aus zwei Familien mit beiderseits großer Krebshäufigkeit zusammentaten.156 Das Geschlecht spielte aber dabei, wie bereits erwähnt, eine zentrale Rolle: Frauen und Mädchen riet man viel stärker vom Rauchen ab als Männern und Knaben. Der NS-Kampagne gegen das Rauchen lag die Vorstellung zugrunde, der weibliche Körper sei heilig und verletzlich; daher der allgegenwärtige Slogan: »Die deutsche Frau raucht nicht!«157 Dieser Schwerpunkt ergab sich aus dem Glauben, daß es die Hauptbestimmung der Frau sei, Kinder zu gebären und aufzuziehen. Zudem hielt man den weiblichen Körper für zerbrechlicher und schutzbedürftiger als den männlichen. Nicht nur Lickint beharrte darauf, daß Frauen ähnlich wie Kinder viel anfälliger für den Tabakrauch seien – beide hätten ein leicht erregbares Nervensystem. Er fürchtete, der Tabak könnte die Pflichterfüllung der Frauen, Kinder zu gebären und aufzuziehen, beeinträchtigen, und das Nikotin könnte das deutsche Erbgut schädigen; einen möglichen Einfluß des Rauchens auf das Sperma erwähnt er allerdings nicht.158 Die Forschung dieser Zeit konzentrierte sich in hohem Maße auf die mögliche Schädigung des weiblichen Organismus durch Tabakrauch und Rauchgewohnheiten. Eine merkwürdige Dissertation der Universität Jena ging der Frage nach, wie weibliche Häftlinge auf den Tabakentzug im Gefängnis reagierten (Frauen durften im Gefängnis nicht rauchen). Die Studie implizierte nicht nur, daß »verkommene Frauen« rauchten, sondern auch, daß Frauen viel eher als Männer süchtig wurden und Schaden davon trugen.159 Organisierte Frauengruppen beteiligten sich an diesem Kampf: Der Reichsmütterdienst startete im Sommer 1942 eine Initiative gegen das Rauchen und den Alkohol. Allerdings wollte man sich zurückhaltend geben, aus Furcht, die Bevölkerung zu sehr zu beunruhigen.160 Die Vorstellungen bezüglich der Geschlechter vermengten sich mit anderen Bildern wie den Stereotypen von Rasse und sozialer Herkunft. Rauchen 247
wurde nicht nur mit sexueller Verderbtheit und Zügellosigkeit assoziiert, sondern auch mit Kommunismus und Judaismus. Bei jüdischen und kommunistischen Frauen hielt man es für besonders wahrscheinlich, daß sie rauchten und ihre schlechten Gewohnheiten anderen aufdrängen würden. Rassenhygienische Zeitschriften prägten Bilder von dekadenten Frauen, denen eine Zigarette im Mundwinkel hing. Rauchen wurde mit Jazz und modernen Tänzen, mit Rebellion, Afrika, Schwarzen, Juden, Sinti und Roma in Verbindung gebracht (siehe Abb. 6.15–6.17) und vermischte sich mit vielen weiteren Ängsten, die den nationalsozialistischen Rückzug in eine paranoide, xenophobe Festung aus Reinheit, Sauberkeit und den fanatischen Glauben an männlich kraftstrotzende Gesundheit bewirkt hatten. Man kann aus diesem Grund nicht einfach behaupten, die Anti-TabakBewegung sei entweder in Hitlers persönlichem Fanatismus begründet gewesen oder aus dem Versuch hervorgegangen, den Kapitalfluß ins Ausland zu stoppen.161 Hitler ekelte sich eindeutig vor dem Rauchen: Er erlaubte Eva Braun nicht, in seiner Gegenwart zu rauchen, und Martin Bormann erging es ähnlich. Der »Führer« war nie besonders glücklich, daß Hermann Göring weiterhin in der Öffentlichkeit seine Zigarren paffte, und einmal in den frühen Kriegsjahren tadelte er seinen Reichsmarschall dafür, daß er sich auf einem Standbild mit einer Zigarre im Mund verewigen ließ. Hitler ermutigte seine engen Verbündeten, nicht zu rauchen, und es ist bekannt, daß er diejenigen, denen es gelang, aufzuhören, mit einer goldenen Taschenuhr belohnte.162 Wir wissen auch, daß der »Führer« den Tabak einmal als »die Rache des Roten Mannes« dafür charakterisierte, daß »der Weiße« ihn mit Alkohol zugrunde gerichtet habe. Hitler schien es zu bereuen, daß er seinen Soldaten das Rauchen gestattet hatte: Am 2. März 1942 bemerkte er: »Es war ein Fehler, der auf das Konto der damaligen Heeresführung zu setzen ist, daß wir zu Beginn des Krieges damit angefangen haben, jedem Soldaten täglich soundsoviel Rauchwaren zu geben. Jetzt kann man nicht mehr zurück.« Und er fügte hinzu: »Es ist nicht richtig zu glauben, der Soldat draußen könne nicht leben, ohne zu rauchen«, und er versprach, die Tabakverpflegung der Armee zu streichen, sobald der Sieg errungen sei. Hitler selbst hatte in seiner Jugend in Wien zwischen 25 und 40 Zigaretten pro Tag geraucht. Eines Tages sei ihm aber klar geworden, wieviel Geld er so verschwendete: »Alsbald habe ich 248
ABB. 6.15. Der Tabakkonsum als Hindernis für die Bevölkerungs- und Rassenpolitik: Auf dem Höhepunkt des deutschen Anti-Tabak-Fiebers wurde Rauchen mit rassischer und sexueller »Entartung« gleichgesetzt. So verurteilt dieses Plakat, daß der Tabak die Volkswirtschaft, die Arbeitskraft und die Wehrkraft schädige, Menschen frühzeitig altern lasse und häßlich mache. Der Text »Zwei Rassen« umschreibt euphemistisch, wie Sinti und Roma nach »der Rückkehr der Ostmark ins Reich« zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden, und bezeichnet dies als »ersten Schritt zur Beseitigung einer Landplage«. Quelle: Reine Luft 21 (1939), Rückseite der Nrn. 1 und 2. 249
ABB. 6.16. Eine Illustration aus Reine Luft, die Rauchen und Trinken mit Kapitalisten, Juden, Indianern, Schwarzen, degenerierten Intellektuellen und unsittlichen Frauen assoziiert. Quelle: Reine Luft 23 (1941), S. 121.
meine Zigaretten in die Donau geworfen und nie mehr danach gegriffen.« Er behauptete sogar – so absurd das heute klingen mag –, Deutschland hätte seine damalige Macht niemals erreicht, wenn er weiterhin geraucht hätte: »Ich bin überzeugt, wenn ich Raucher wäre, nie würde ich den Sorgen standgehalten haben, die mich seit so langer Zeit belasten. Vielleicht verdankt dem das deutsche Volk seine Rettung.«163 Man könnte dem selbstverständlich in Anlehnung an Freud entgegenhalten, daß aufhören zu rauchen manchmal nicht mehr bedeutet, als keine Zigaretten mehr anzurühren. Hitlers persönliche Abneigung war nur einer von mehreren Faktoren im nationalsozialistischen Krieg gegen den Tabak. Noch wichtiger war jedoch – und dies wurde immer und immer wieder in Publikationen zur Gesundheit vorgebracht – die Sorge um die Arbeitskraft und die Fruchtbarkeit des deutschen Volkes (siehe Abb. 6.18-6.20). Man hielt dem Tabak wie dem Alkohol vor, an der Kraft des deutschen Volkes zu zehren – bei der Arbeit, in 250
ABB. 6.17. »Der Tabak hat sein Opfer in der Schlinge; der Jude hat sein Opfer in der Schlinge«. Auf dem Gipfel der NS-Kampagne gegen den Tabak galten Zigaretten wie Juden als »Volksfeinde«. Hier werden die Zigaretten mit »Jud Süß« in Verbindung gebracht, dem Bösewicht aus dem berüchtigten antisemitischen Film dieser Zeit. Quelle: Reine Luft23 (1941), S. 10-11.
der Schule, beim Sport, im Schlafzimmer, in der Geburtenklinik und auf dem Schlachtfeld – Experimente im Auftrag der deutschen Armee ergaben in den späten dreißiger Jahren, daß Rauchen die Treffsicherheit der Soldaten beeinträchtige und ihre Fähigkeit, lange Distanzen zu marschieren, vermindere.164 Es verband sich also die ältere moralische Kritik am Rauchen mit der wachsenden Kritik von seiten der Medizin. Die moralische Seite ging nicht verloren, sondern wurde in der Verquickung mit nationalsozialistischer Rhetorik zu körperlicher Reinheit, Rassenhygiene, Leistungskraft und der Pflicht, gesund zu sein, faktisch gestärkt. »Gesundheit über Alles« ist eine der zentralen Maximen der nationalsozialistischen Ideologie. Dies führt uns zu der Frage, warum Deutschland eine so mächtige AntiTabak-Bewegung hatte. In den zwanziger Jahren waren ja die Vereinigten Staaten – und nicht Deutschland – die Nation gewesen, in der die organi-
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ABB. 6.18. Ein Regen von »Tabak-Kapital« ruiniert die deutsche Gesundheit, Arbeitskraft, Kaufkraft und die rassenpolitischen Ziele. Quelle: Reine Luftig (1941), S. 117.
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ABB. 6.19. Ökonomische Kosten des Rauchens. Quelle: Reine Luft (1939), S. 103. 253
ABB. 6.20. »Denk an all die Dinge, die du kaufen könntest, wenn du nicht rauchen würdest!« Ich weiß nicht, wer 1941 in Deutschland Kajaks kaufte, aber so will es jedenfalls das Bild. Quelle: Reine Luft 23 (1941), S. 171. 254
sierte Widerstandsbewegung gegen den Alkohol und den Tabak eine sehr einflußreiche Stellung erlangt hatte. Hinweise darüber, warum sich dies veränderte, findet man bei John C. Burnhams Überlegungen zur damaligen amerikanischen Haltung gegenüber dem Tabak. Burnham zeigt, daß die moralischen Gewißheiten, auf denen in den USA der zwanziger Jahre die Alkoholprohibition und Tabakeinschränkung basiert hatten, in den dreißiger Jahren an Boden verloren. Einige der »Krankheiten« (zum Beispiel die Masturbation), gegen die auf dem Höhepunkt der Prohibition ein Kreuzzug geführt wurde, erwiesen sich als Pseudokrankheiten, und es schien naheliegend, daß dies auch im Falle des Tabaks so war. Schließlich gab es keine Beweise dafür, daß Rauchen wirklich zu Impotenz oder Kriminalität führte. Das Mißtrauen in der Öffentlichkeit gegenüber solcher Panikmache wuchs, und der Beweisdruck verschob sich von den Verteidigern des Tabaks hin zu jenen, die das Rauchen angriffen. Das behinderte auch die Kritik von seiten der Medizin: Die Ärzte, die das Rauchen mit medizinischen Argumenten kritisierten, konnten leicht als Advokaten derselben sittenstrengen Prüderie verunglimpft werden, welche zur Prohibition geführt hatte, zu den Warnungen vor dem Tanzen, dem Kaffeetrinken und Kartenspielen sowie vielen Formen des sexuellen Verhaltens. Amerikanische Ärzte kritisierten den Tabak in den dreißiger und vierziger Jahren sehr selten, und wer sich gegen den Tabakkonsum wandte – auf medizinischen Tagungen zum Beispiel, wo die Vortragssäle oft so verqualmt waren, daß die Ärzte die Dias kaum sehen konnten –, konnte leicht als prüde oder sogar übergeschnappt abgetan werden.165 Burnham beschäftigte sich nicht mit Deutschland, interessant ist jedoch, daß die Situation dort gerade umgekehrt war. In Deutschland wurde die Bewegung gegen Alkohol und Tabak, die in den zwanziger Jahren ihre Anfänge hatte, durch den Aufstieg des Nationalsozialismus gestärkt. Die Alkoholund Tabakgegner zeigten sich über das NS-Regime erfreut, und sogar in den USA lobte eine Anti-Alkohol-Zeitschrift die Wahl Hitlers.166 Deutschland erlebte deshalb keinen so grundlegenden Wandel wie Amerika, als die Prohibition 1933 aufgehoben wurde – zumindest nicht vor den fünfziger Jahren, wie wir weiter unten sehen werden. Deutsche Ärzte mußten nicht befürchten, wegen ihrer Kritik am Tabak als ewiggestrige, puritanische Eiferer abgetan zu werden: Unter Hitler war Mäßigung oder Abstinenz mehr denn je in Mode – zumindest in der öffentlichen Propaganda. 255
Die Deutschen erlebten weder die Prohibition noch die heftigen Reaktionen gegen den Tabak-Moralismus, welche die amerikanischen Ärzte zu spüren bekamen. Aus diesem Grund unterstützten deutsche Ärzte in den dreißiger Jahren viel eher die Forderungen der Tabakgegner als ihre Kollegen in den USA. Die Auswirkungen des Rauchens auf die Gesundheit wurden viel engagierter untersucht und auf breiterer Ebene verurteilt. Für Deutsche war es einfacher, den Tabak scharf zu kritisieren, weil sie nie die moralischen Exzesse der Prohibition erlebt hatten. Der Beweisdruck lastete nicht so sehr auf jenen, die vor den Gefahren des Tabaks warnten. Man riskierte kaum, als überempfindlich oder »moralistisch« beschimpft zu werden, wenn man das Rauchen angriff. Tatsächlich finden sich aber in der Rhetorik der NS-Zeit viele der moralistischen Töne wieder, die mit der amerikanischen Prohibition assoziiert werden. So verkündete Deutschlands führende Gesundheitszeitschrift im Jahr 1941, daß Tabak nicht nur Durchfall verursache und die sexuelle Leistungsfähigkeit vermindere, sondern auch zu kriminellem sexuellem Verhalten führe. Der Verfasser dieses Artikels behauptete, daß die meisten Männer, die wegen Homosexualität verurteilt wurden, starke Raucher seien, und er verlangte, daß der Zusammenhang zwischen Rauchen und abweichendem Sexualverhalten weiter erforscht werde.167 Andere Ärzte brachten Rauchen mit Spielen, Prostitution, Alkoholmißbrauch und anderen Lastern des asozialen »Untermenschen« in Verbindung.168 Wenn man das Ganze jedoch über einen weiteren Zeitraum hinweg betrachtet, so läßt sich auch in Deutschland eine Art Rückschlag beobachten, aber er findet zwei Jahrzehnte später als in den USA statt. Deutschland verlor seine Position als Land mit der weltweit aggressivsten Anti-Tabak-Wissenschaft und -Politik erst nach dem Krieg. Hitler war tot, und viele prominente Tabakgegner hatten ihre Stelle verloren oder waren aus anderen Gründen verstummt. Karl Astel, Leiter des Wissenschaftlichen Instituts zur Erforschung der Tabakgefahren, beging in der Nacht vom 3. auf den 4. April 1945 in seinem Büro an der Universität Jena Selbstmord. Der Tod dieses ranghohen SS-Offiziers und Kriegsverbrechers war ein schwerer Schlag für die Anti-Tabak-Bewegung. Dasselbe gilt für den Tod von Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti, der sich am 6. Oktober 1945 in einem Gefängnis der Alliierten, wo ihn die Verurteilung für seine Rolle im 256
»Euthanasie«-Programm und für andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit erwartete, mit seinem Hemd erhängte. Hans Reiter, der Leiter des Reichsgesundheitsamtes, der einst Nikotin als »größten Schädling der Volksgesundheit« und »größten Schädling der deutschen Wirtschaft« bezeichnet hatte,169 war zwei Jahre lang in einem amerikanischen Gefangenenlager interniert und arbeitete danach als Arzt in einer Klinik in Kassel, er kehrte nicht mehr in den Staatsdienst zurück. Gauleiter Fritz Sauckel, der führende Kopf hinter der Thüringer Kampagne gegen das Rauchen und der Mann, der das Gesuch für Bewilligung und Unterstützung von Astels Institut in Jena aufgesetzt hatte, wurde am 1. Oktober 1946 hingerichtet. Das Nürnberger Gericht befand ihn der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig, nachdem man seine Rolle als Leiter des deutschen Zwangsarbeitssystems untersucht hatte.170 Es ist daher kaum verwunderlich, daß die deutsche Anti-Tabak-Bewegung ihren Schwung verlor. Einige Forschungen auf diesem Gebiet wurden jedoch weitergeführt: Fritz Lickint beschäftigte sich als Professor für Medizin an der Technischen Hochschule in Dresden und als Berater des Deutschen Hygiene-Museums weiterhin mit den Gefahren des Tabaks. Ernst Wynder hatte in den Vereinigten Staaten gezeigt, daß die Siebenten-Tags-Adventisten, die sich strenge Abstinenz auferlegten, viel seltener an Lungenkrebs starben als die amerikanische Durchschnittsbevölkerung. Lickint führte eine ähnliche Studie durch und stellte fest, daß unter den 3626 Todesfällen bei deutschen Adventisten kein einziger Fall von Lungenkrebs war. In einer westdeutschen Untersuchung von 1968 über Gesundheit und Rauchen wurde Lickint als einer der ersten Wissenschaftler der Welt gerühmt, der auf die Rolle der Zigaretten bei der Entstehung von Lungenkrebs aufmerksam gemacht habe.171 Interessanter ist jedoch die Tatsache, daß Lickints Forschungsergebnisse über die Gefahren des Tabaks in den zwölf Jahren der NS-Herrschaft viel ernster genommen wurden als im Nachkriegsklima des geteilten Deutschlands. Auch heute laufen die Anstrengungen im Kampf gegen den Tabak in Deutschland nicht auf so breiter Basis wie auf ihrem Höhepunkt in den Jahren 1939 bis 1941. Die Gesundheitsforschung zu den Gefahren des Tabaks ist verstummt, und man kann sich leicht vorstellen, daß dies deshalb so ge257
kommen ist, weil gerade die Nationalsozialisten in diesem Bereich besonders aktiv gewesen waren. Vermutlich hat die Erinnerung an den Kampf der Nationalsozialisten gegen den Tabak die Anti-Tabak-Bewegung im Deutschland der Nachkriegszeit behindert, aber dieser Frage müßte man an anderer Stelle nachgehen. Auf jeden Fall wurde unsere Wahrnehmung dieses Forschungszweigs von den furchtbar Erinnerungen an die NS-Zeit beeinflußt: Der Mythos, wonach englische und amerikanische Wissenschaftler als erste gezeigt hatten, daß Rauchen zu Lungenkrebs führt (Richard Doll wurde für seine Arbeit auf diesem Gebiet zum Ritter geschlagen), war für beide Seiten bequem – für die Wissenschaftler der siegreichen Nationen wie auch für die Deutschen, die ihre unmittelbare Vergangenheit zu vergessen versuchten. Das Monster, das der Nationalsozialismus war, hatte vielleicht gesündere Lungen, als wir zugeben möchten. REEMTSMAS VERBOTENE FRUCHT Ich möchte den Erfolg der nationalsozialistischen Kampagnen gegen den Tabak nicht überbewerten. In den ersten sechs oder sieben Jahren der NSHerrschaft nahm der Tabakkonsum sehr stark zu (siehe Tabelle 6.1 sowie Abb. 6.21 und 6.22). Dies war eine Konsequenz des wirtschaftlichen Aufschwungs nach 1933, aber auch ein Beleg für die Ohnmacht jedweder Öffentlichkeitsarbeit zu diesem Thema; zumindest in diesen frühen Jahren hatte die Propaganda wenig oder keine Auswirkungen auf die Rauchgewohnheiten.
Quellen: »Rauchen: Wie Gut«, in: Der Spiegel, 22. Januar 1964, S. 61; Economic Research Service, U.S. Dept. of Agriculture. 258
ABB. 6.21.
»Deutschlands Zigarettenverbrauch: Zahlen die zu denken geben«. Aus: Reine Lufi23 (1941), S. 191.
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Der Tabakkonsum nahm in Deutschland schneller zu als in Frankreich: In beiden Ländern wurden 1932 rund 570 Zigaretten pro Kopf konsumiert; 1939 rauchten die Deutschen dann 900 Zigaretten pro Jahr, die Franzosen hingegen nur 670.172 Man hat die These vorgebracht, das Rauchen als solches könne eine Art passiver Widerstand gewesen sein: Junge Leute rauchten, hörten Jazz oder gingen zu geheimen »Swing«-Tanzfeten und hätten dies als eine Art kulturellen Widerstands gegen die nationalsozialistische männliche Sittenstrenge verstanden.173 Es ist schwierig zu sagen, wie gewöhnliche Bürger auf die Rhetorik und die politischen Strategien dieser Zeit reagierten, aber wir haben Belege dafür, daß die NS-Beamten fürchteten, sie könnten übertrieben asketisch oder engstirnig wirken.174 Der Reichsleiter der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley versuchte einmal, eine Trennlinie zwischen »Genuß« und »Freude« zu ziehen – ersteres sei schlecht, letzteres gut –, aber wir wissen nicht, ob irgend jemandem klar war, wie er diese Unterscheidung verstanden wissen wollte. Die nationalsozialistischen Anti-Tabak-Aktivisten wußten um den amerikanischen Rückschlag in Sachen Prohibition, und dieses Wissen beeinflußte eindeutig ihre Warnungen vor einem vollständigen Verbot der Zigaretten. »Die verbotene Frucht reizt«, so charakterisierte ein Aktivist die mißliche Situation.175 Es gibt auch Hinweise, daß einige Repräsentanten des NS-Regimes öffentlichen Widerstand gegen die Anti-Rauch-Kampagne besonders während des Krieges fürchteten. Propagandaminister Joseph Goebbels trat grundsätzlich für die Kampagne ein, aber er war sich auch der Schwierigkeiten bewußt, wenn mehrere Nazigrößen – so Reichsmarschall Göring, wohl kaum ein Ausbund an Askese – weiterhin in der Öffentlichkeit rauchten. Goebbels selbst war seit den zwanziger Jahren ein starker Raucher, und obwohl er versuchte, nur zu Hause zu rauchen, gibt es einige Filmausschnitte aus dieser Zeit, die zeigen, wie er versuchte, die Zigarette zu verstecken, sobald die Kamera in seine Richtung schwenkte. Im Juni 1944 gelang es ihm schließlich, mit dem Rauchen aufzuhören, aber das versuchte Attentat auf Hitler kurze Zeit danach trieb ihn offenbar zu den Zigaretten zurück.176 Goebbels fürchtete, daß die Kriegszeit kein günstiger Moment für diese Kampagne sei und ihr Versagen sich negativ auf die damit befaßten Behörden auswirken könnte.177 Am 18. Juni 1941 befahl er, daß jegliche Tabakpropaganda von 261
seinem Amt bewilligt werden müsse.178 Andere befürchteten negative Auswirkungen der Beschränkungen auf die öffentliche Moral. Reichswirtschaftsminister Walther Funk beklagte, daß Bergleute und Rüstungsarbeiter nicht genug Tabak erhielten. Er warnte auch davor, Tabakarbeiter als Menschen außerhalb der »Volksgemeinschaft« zu stigmatisieren und mit den Juden gleichzusetzen – was im Jahr 1941 gefährliche Anschuldigungen waren.179 Funk schrieb im Mai dieses Jahres an die Parteiführung, weil er wegen dieser Dinge beunruhigt war,180 aber Hitler billigte die Fortsetzung der Kampagne. Er argumentierte, die gesundheitlichen Schäden durch das Rauchens wögen schwerer als die wirtschaftlichen Befürchtungen, und die Tabakarbeiter sollten für »kriegswichtigere« Zwecke eingesetzt werden.181 Es gibt jedoch auch Grund zur Annahme, daß die nationalsozialistischen Tabakverbote nicht immer durchgesetzt werden konnten. Eine medizinische Dissertation aus dem Jahr 1940 bedauert, daß Raucher ihrer Gewohnheit manchmal in Eisenbahnabteilen nachgingen, die für Nichtraucher reserviert waren, und daß man gelegentlich sogar den Schaffner rufen müsse, um den trotzigen Missetäter zum Einlenken zu bewegen. Rauchverbote in Krankenhäusern wurden zuweilen sogar von Ärzten mißachtet; selbstverständlich verloren dadurch die Ratschläge der Ärzte an ihre Patienten, nicht zu rauchen, deutlich an Wirksamkeit.182 Als sich der Krieg hinzog, verlor die Kampagne gegen den Tabak viel von ihrer Dynamik. Die Umstände des Krieges führten einen Arzt der Wehrmacht 1944 zu der Aussage, daß nur ein sehr fanatisch eingestellter Mensch einem Soldaten, der nach den Schrecken des Kampfes seine Nerven mit Alkohol oder Zigaretten zu beruhigen versuchte, dieses untersagen würde.183 Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch, der gelegentlich Beiträge über das Rauchen schrieb, hielt es für falsch, durch Tabakverbote und ähnliches das Leben des einzelnen derart zu kontrollieren.184 Die Klagen darüber, wie unzureichend die Tabakverpflegung sei, mehrten sich, und Heydrichs Sicherheitsdienst (SD) verfaßte 1943 einen geheimen Bericht über die Art und das Ausmaß der öffentlichen Unzufriedenheit.185 Als die Landwirtschaftsbehörden im Frühjahr 1944 wiederum zur Debatte stellten, ob die Tabakproduktion nicht erhöht werden sollte – hauptsächlich um die Bedürfnisse der Wehrmacht zu decken –, willigte Hitler ein und erlaubte, daß der Anbau wieder auf das Niveau von 1941 ausgedehnt wurde.186 262
Wirtschaftliche Faktoren spielten eine zentrale Rolle dabei, daß die Versuche, den deutschen Tabakkonsum einzuschränken, schon früh scheiterten. Der wirtschaftliche Aufschwung in den ersten sechs Jahren der NSHerrschaft erhöhte die durchschnittliche Kaufkraft der Bevölkerung, und die Tabakfirmen benutzten diesen Boom, um den Absatz ihrer Produkte zu steigern. Die deutschen Tabakgegner waren sich dessen bewußt und klagten oft, daß ihre eigenen Bemühungen nicht gegen die mächtigen Anzeigenkampagnen im amerikanischen Stil, die von der Industrie betrieben wurden, ankamen – Kampagnen, die, in Hans Reiters Worten, die »würdelosen Geschmacklosigkeiten« zeigten, »die an die Zeit der Judenherrschaft in Deutschland« erinnerten.187 Man darf außerdem nicht vergessen, daß in Deutschland wie auch anderswo der Tabak eine wichtige Einnahmequelle für die Staatskasse war. 1937/38 betrugen die staatlichen Einkünfte aus Tabaksteuern und -zöllen mehr als eine Milliarde Reichsmark – keine geringe Summe für eine Regierung, die danach strebte, die Wirtschaft des Landes zu modernisieren und zu militarisieren.188 Im Jahr 1941, nach der Erhebung neuer Steuern und der Annexion Österreichs, zahlten die Deutschen etwa doppelt so viel. Laut Reichsfinanzministerium machten die Tabaksteuern zu dieser Zeit etwa ein Zwölftel (!) der gesamten Staatseinnahmen aus.189 Hunderttausende von Deutschen verdankten ihre Existenzgrundlage, direkt oder indirekt, dem Tabak – dieses Argument konnte jedoch auch leicht gegen die Tabakindustrie umgemünzt werden, denn Deutschland benötigte zusätzliche drei Millionen Arbeitskräfte – die vermutlich aus der Tabakindustrie hätten herangezogen werden können.190 Natürlich blieben auch die deutschen Tabakfirmen in dieser Angelegenheit nicht vollkommen passiv. Deutsche Zigarettenhersteller spürten schon früh, daß der politische Wind gedreht hatte, und zeigten sich 1933 als eifrige Befürworter des neuen Regimes. Dies zeigt sich beispielsweise an den sorgfältig durchdachten Alben für Zigarettenbildchen, die von den Tabakfirmen herausgegeben wurden. Amerikanische Firmen hatten im 19. Jahrhundert damit begonnen, zusammen mit den Zigaretten Kartonbildchen abzupakken, und zur Zeit des Ersten Weltkriegs waren die Deutschen diesem Beispiel gefolgt. Es gab viele verschiedene Serien, von »Die deutsche Wehrmacht« und »Die Olympiade von 1936« bis zu gehobeneren Themen wie 263
»Die Malerei der Gotik und der Frührenaissance«.191 Die Alben – heute beliebte Objekte für Sammler – wurden für 50 Pfennig verkauft und sollten bei den Rauchern die Sammelwut entfachen. Diese Zigarettenalben waren oft sehr patriotisch und sentimental, so trauerte die Firma Waldorf-Astoria beispielsweise Deutschlands »großer Vergangenheit« nach, jener Zeit, als die deutsche Seemacht die Herrschaft über Länder und Meere innegehabt habe. Das Album der Firma Kosmos von 1933 glorifizierte die ersten acht Monate der NS-Herrschaft, und die Firma lobte sich im Titel dafür, daß sie seit 1886 ein »rein deutsches Unternehmen«, d.h. »judenfrei« sei.192 Nicht alle Zigarettenfirmen zeigten sich vom Aufstieg des Nationalsozialismus begeistert. Tatsächlich führte Deutschlands größter Produzent – eine Firma, die von Philipp F. Reemtsma in Hamburg geführt wurde – vor 1933 einen stillen Kleinkrieg mit den Nationalsozialisten. Da dies eine sehr interessante Episode ist, erlaube ich mir, an dieser Stelle kurz abzuschweifen. Der Aufstieg der Reemtsma Zigarettenfabrik GmbH ist eine der erstaunlichsten Erfolgsgeschichten der deutschen Wirtschaft. Die Firma hatte vor dem Ersten Weltkrieg nur eine unbedeutende Rolle gespielt und noch im Jahr 1921 nur 360 Millionen Zigaretten jährlich produziert, was 1,5 Prozent des deutschen Marktes ausmachte. Doch es gelang dem Unternehmen, aus der Inflation und dem finanziellen Zusammenbruch der frühen zwanziger Jahre Nutzen zu ziehen, weshalb es vor allem durch den Erwerb der Lagerbestände von Firmen, die finanziell unter Druck standen, rasch expandierte. Am Ende der zwanziger Jahre produzierte die Firma dann fast 20 Prozent der in Deutschland gerauchten Zigaretten. Nachdem finanzielle Abkommen mit mehreren anderen Unternehmen (zum Beispiel Neuerburg) getroffen worden waren, kontrollierte der Zusammenschluß rund drei Viertel der gesamten deutschen Tabakproduktion. Als die Firma die sechs größten tschechischen Tabakproduzenten übernahm, blieb ihr Anteil auch im Jahr 1939 bei über 70 Prozent. In den zwölf Jahren der NS-Herrschaft produzierte das Reemtsma-Imperium rund 400 Milliarden Zigaretten –193 genug, um (nach meiner Berechnung) rund 200000 Todesfälle durch Lungenkrebs und vielleicht doppelt so viele durch Herzinfarkt zu verschulden. In den späten zwanziger Jahren geriet Reemtsma wegen Verletzungen der Kartellbestimmungen und unmoralischer Geschäftspraktiken unter Beschüß. Die Angriffe setzten sich in den frühen dreißiger Jahren fort und 264
wurden noch durch die Tatsache verschärft, daß Ernst Röhms SA damit begonnen hatte, eine eigene Zigarettenmarke herzustellen, um dringend benötigtes Bargeld zu erwirtschaften (siehe Abb. 6.23). In vielen Teilen Deutschlands machten die Erträge aus dem Verkauf der sogenannten »Sturm-Zigaretten«, die von Trommler in Dresden hergestellt wurden, einen beträchtlichen Teil der gesamten Einnahmen der SA aus.194 Eine weitere politische Partei versuchte ihre Kassen nach demselben Schema aufzustocken: Die SPD brachte, kurz bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, ihre eigene »Freiheits-Zigarette« auf den Markt, aber das Unternehmen währte nicht lange.195 Reemtsma war jedoch auch angreifbar, weil ein Vorstandsmitglied, David Schnur, Jude war. Um 1931 wurde die Firma von der SA angegriffen, »Juden-Zigaretten« zu produzieren, worauf Philipp F. Reemtsma sich weigerte, seine Anzeigen in nationalsozialistischen Zeitungen und Zeitschriften zu plazieren. Der Tabakmagnat traf sich dann mit Hitler, um die Unstimmigkeiten beizulegen – das exakte Datum des Treffens ist unbekannt, aber es fand vor 1933 statt –, worauf Hitler die Parteipresse anwies, ihre Attacken einzustellen. Die Parteifunktionäre waren erleichtert, daß sie wieder Einnahmen aus den Anzeigen erzielten, aber einzelne Angriffe auf die Firma wurden noch eine Zeitlang fortgeführt. Der Gestapo-Leiter Rudolf Diels erinnerte sich nach dem Krieg an diese Ereignisse: Zu den »monopolkapitalistischen Hyänen«, die der Justizminister unschädlich machen wollte, gehörte der Hamburger Großunternehmer Reemtsma. Es wurde ihm vorgehalten, daß er seinen Zigarettenkonzern durch Bestechung und meineidiges Verhalten aufgebaut habe. Der Eifer, den die SA in dieser Sache entfaltete, wurde dadurch befeuert, daß die Zigarettenfirma Trommler die SA subventionierte. SA-Männer durften nur Trommler-Zigaretten rauchen. Verkäufer von Reemtsma-Zigaretten wurden verprügelt und ihre Ladenfenster wurden eingeschlagen. Als die Berliner SA Reemtsmas selbst nicht habhaft werden konnte, stellte sie das Ansinnen an das Staatspolizeiamt, ihr bei der Festnahme des Unternehmers behilflich zu sein. Es kam im August [1933] zu einer Aussprache zwischen Göring und Reemtsma, die damit endete, daß der kluge Kaufmann Göring, nachdem er ihn mutig bei seiner Ehre als Offizier ge265
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packt hatte, klarmachte, es sei sinnlos, die Henne zu schlachten, die die Eier legen sollte. Göring sträubte sich nicht, das einzusehen, und Reemtsma zögerte nicht, sich loszukaufen. Göring brauchte Mäzene für seine Kunstsammlerleidenschaft, für die Berliner Oper und für die Züchtung von Auerochsen und Elchen.196 Nach der am häufigsten berichteten Version dieser Geschichte zahlte Reemtsma dem Reichsmarschall 3 Millionen Mark und später eine zusätzliche Summe von 9 Millionen Mark. Göring erklärte nach dem Krieg in Nürnberg unter Eid, daß der Gesamtbetrag, den er dem Adolf-Hitler-Fonds zukommen ließ, 7,276 Millionen Reichsmark betragen habe.197 Die SA stellte schließlich die Herstellung der »Sturm«-Zigaretten kurz vor 1933 ein. Die Entmachtung der SA durch den »Röhm-Putsch« im Jahr 1934 setzte dem vermutlich endgültig einen Schlußstrich; vielleicht wurde Trommler von Reemtsma aufgekauft oder in Umsetzung des Abkommens mit Hitler aufgelöst. Diese Fragen konnten von der Forschung noch nicht geklärt werden.
DER GEGENANGRIFF DER INDUSTRIE Die deutsche Tabakproduktion lief während der dreißiger Jahre relativ unbehindert weiter. Hitler verwirklichte sein frühes Anliegen, den Industriezweig in ein Staatsmonopol zu überführen, nie. Der Reemtsma-Konzern hatte sich in den dreißiger Jahren de facto eine Monopolstellung erarbeitet, was die Verstaatlichung wohl als unnötig erscheinen ließ. Handelszeitschriften der Tabakindustrie durften weiterhin erscheinen, und 1937 wurde sogar eine neue Zeitschrift gegründet: Der Tabak, in dem Artikel veröffentlicht wurden, die für Anbauer und Hersteller sowie andere Geschäftsleute im Tabakhandel von Interesse waren. Ein Jahr später wurde in Bremen eine Internationale Tabakwissenschaftliche Gesellschaft gegründet, Der Tabak war ihr offizielles Organ.198 Von dieser Zeitschrift wurde 1940 ein weiteres Blatt abgespalten, die Chronica Nicotiana. Darin wurde über all jene Ereignisse berichtet, die für die Industrie von Bedeutung waren – man konnte sich über Neuigkeiten zu den chemischen Eigenschaften des Nikotins informieren 268
oder Berichte über den neuesten Stand der Tabaksteuer nachlesen. Auch eine Buchreihe (Monographiae Nicotianae) entstand, in der etwa Behauptungen von Psychobiologen veröffentlicht wurden, daß sowohl die völlige Tabak-»Abstinenz« als auch der exzessive Tabak-»Mißbrauch« als psychopathische »Perversionen« betrachtet werden müßten.199 Die Zeitschrift Chronica Nicotiana vermittelt uns einen Eindruck davon, wie es der Industrie auf dem Höhepunkt des leidenschaftlichen nationalsozialistischen Kampfes gegen den Tabak erging. Sie berichtete über Hygiene bei der Tabakverarbeitung und über die Frage, ob Tabakstaub sich in der Luft mit Bakterien verbinde. Mit dem Verweis auf eine Doktorarbeit sollte gezeigt werden, daß Arbeiterinnen in Tabakfabriken vom Kontakt mit Nikotin keine Schäden davontrugen, oder es wurde ein pharmakologisch orientierter Text zitiert, um zu bekräftigen, daß das Nikotin in der Muttermilch rauchender Frauen dem Säugling nicht schade. Die Zeitschrift räumte zwar ein, daß Menschen, die an Geschwüren litten, vermutlich besser nicht rauchen sollten, aber es wurde auch geargwöhnt, daß Sexualhormone etwas mit der Krankheit zu tun haben könnten.200 Die Berliner Ärztin Margarete Focken war der Auffassung, daß Hormone bei der Entstehung von Tumoren eine wichtigere Rolle spielten als das Rauchen. Focken spritzte mindestens zwei Dutzend Männern, die an Geschwüren litten, weibliche Hormone, und obwohl nicht klar ist, ob andere Ärzte sich diese Methode aneigneten, unterstützte die Tabakindustrie die Forschungen auf diesem Gebiet.201 Die Zeitschrift bezeichnete »extreme Gegner« des Tabaks zudem als »fanatische Psychopathen«202 und warnte vor den »statistischen Spielen« jener, die behaupteten, daß Rauchen das Leben verkürze. Für jemanden, der die letzten fünfzig Jahre amerikanischer Tabakpolitik verfolgt hat, klingt die Reaktion der deutschen Tabakindustrie auf die Kritik vertraut: Grundsatz dieser Strategie ist es, sich für die eigenen Ziele auf den »erhabenen« Standpunkt der nüchternen Wissenschaft zu berufen.203 Interessant an der deutschen Debatte ist jedoch, wie heftig die deutschen Gesundheitsbehörden reagierten. Sie waren nicht gerade erfreut über den Ausflug der Industrie in die medizinische Forschung – wie die folgende Episode illustriert. Helmuth Aschenbrenner, der Vorsitzende der Internationalen Tabakwissenschaftlichen Gesellschaft, kündigte im Sommer 1941 die Gründung ei269
ner Kommission für Gesundheitsforschung an – die Tabacologia medicinalis mit Sitz in Budapest –, welche die Auswirkungen des Tabaks auf die Gesundheit erforschen sollte.204 Den deutschen Gesundheitsbehörden wurde mitgeteilt, die Gesellschaft wolle sich für die Erforschung von Gesundheitsthemen einsetzen, aber man kann sich leicht vorstellen, daß die Gründer vielmehr der jüngsten Flut von Anti-Tabak-Propaganda etwas entgegensetzen wollten. Die gegen den Tabak gerichtete Tagung im März 1939 hatte große Aufmerksamkeit erhalten, und von seiten der Reinen Luft eine neue Runde aggressiver Rhetorik eingeläutet. Zudem erwies sich Müllers Epidemiologie als ziemlich solider Beleg für das Lungenkrebsrisiko des Rauchens.205 Der Tabakverkauf lief zwar weiterhin gut, aber die Industrie schien offenbar die Propagandaschlacht gegen die Tabakgegner zu verlieren – insbesondere nach der Gründung von Asteis Institut. Goebbels’ Ministerium fügte der Gesellschaft im September 1941 eine weitere Niederlage zu: Es verbot die Gründung einer Lavoisier-Stiftung (von der Preise für die Tabakforschung verliehen werden sollten), und begründete diesen Schritt damit, daß dies den französischen Propagandainteressen Vorschub leisten würde.206 Antoine Lavoisier war bekannt für seine Entdeckung, daß die Atmung eine Form der Verbrennung ist. Zudem war er der führende Kopf im französischen Tabakmonopol, bevor er um diesen in der Französischen Revolution gekürzt wurde. Aschenbrenner machte geltend, daß mit der Tabacologia medicinalis die legitimen Anliegen der Tabakindustrie für eine verbesserte Gewerbehygiene verfolgt würden, aber die NS-Gesundheitsbehörden ließen sich von dieser Argumentation nicht beeindrucken. Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti las in der Tabakzeitung von der Gründung der Kommission und veranlaßte sofort eine Untersuchung. Er verlangte von Aschenbrenner, ihm alle Namen der teilnehmenden deutschen Ärzte auszuhändigen. Weiter forderte er, jegliche Aktivitäten der Kommission sofort einzustellen, ebenso die Vorbereitungen für zukünftige Tagungen.207 Aschenbrenner wies diese Forderung höflich zurück und bot statt dessen an, sich an möglichen Empfehlungen Contis für Ärzte, die der Kommission beitreten könnten, zu orientieren. Er respektierte, daß die Tabakfrage dem Reichsgesundheitsführer »sehr am Herzen liegt«, und forderte ihn auf, mit der Kommission zusammenzuarbeiten, anstatt sie zu bekämpfen.208 270
Conti hatte seine Anti-Tabak-Haltung jedoch bereits in vielen Reden und Publikationen deutlich gemacht und auch der Muttergesellschaft der Kommission verboten, für die Internationale Tabaktagung (die für den 25. bis 30. September in Bremen geplant gewesen war, aber wegen des Kriegsausbruchs nicht abgehalten wurde) in deutschen medizinischen Fachzeitschriften zu werben.209 Im August oder September 1941 zwang Conti einen der führenden Köpfe der Kommission, einen Dr. Johannes Bresler aus Kreuzburg, »den Nestor der medizinischen Tabakforschung« in Aschenbrenners Einschätzung, aus der Hygiene-Abteilung zurückzutreten. Aschenbrenner beschuldigte den Reichsgesundheitsführer daraufhin, den »Grundsatz der freien Forschung« zu gefährden.210 Conti traf im Dezember 1941 Philipp F. Reemtsma und drohte dem Tabakmagnaten, ihn persönlich zur Verantwortung zu ziehen, falls Aschenbrenners Gruppe nicht jegliche medizinische Forschung aufgebe.211 Es ist noch nicht geklärt, ob Reemtsma seine finanzielle Unterstützung einstellte (er versuchte jedenfalls, sich von der Gesellschaft zu distanzieren), bekannt ist jedoch, daß die Gesellschaft 1941 bereits angeschlagen war. Weil die Internationale Tabaktagung nicht hatte durchgeführt werden können, ging ein Großteil der Einkünfte verloren, und mit Ausbruch des Krieges floß auch aus jenen Ländern kein Geld mehr, die Deutschland nun nicht mehr freundlich gesinnt waren.212 Der Kampf um den Tabak spitzte sich schließlich zu einem Konflikt zwischen dem tabakfreundlichen Wirtschaftsministerium und dem gegen den Tabak eingestellten Ministerium des Innern zu, das durch Contis mächtiges Hauptamt für Volksgesundheit repräsentiert wurde. Dieser Streit wurde in Goebbels’ Ministerium getragen, wo man sich auf Contis Seite schlug. Das Propagandaministerium argumentierte, die Gesundheitsforschung liege zu Recht im Bereich von Contis Amt, und Aschenbrenners medizinische Kommission sei deshalb ein klarer Angriff auf die Rechte des Reichsgesundheitsführers. Der Fehler liege in den Augen Goebbels’ beim Wirtschaftsminister, weil dieser sich in der ganzen Angelegenheit nicht schon früher mit dem Minister des Innern beraten habe. Aschenbrenner hatte jedoch mächtige Freunde in hohen Positionen und ließ sich nicht so leicht zum Schweigen bringen. Als Franz Wirz, ein Vertrauter Contis, Aschenbrenner entgegenhielt, die Wissenschaftler der Tabakindustrie seien für die medizinische Forschung nicht qualifiziert, erwi271
derte Aschenbrenner, niemand sei mit den medizinischen Aspekten des Tabaks vertrauter als die mit der Industrie verbundenen Chemiker und Biologen wie beispielsweise Adolf Wenusch. Aschenbrenner machte sich zudem über Wirz lustig, da dieser für die Organisation der Hagebuttenernte in Bulgarien verantwortlich war, und fügte hinzu, die Kommission würde, falls die Deutschen sie verbieten wollten, einfach zur von Italienern geführten Internationalen Zentralstelle für Tabak mit Sitz in Rom übergehen – womit Deutschland an Einfluß verlieren würde. Dies hielt Wirz für sehr unwahrscheinlich, da es niemand wagen würde, der europäischen Großmacht Deutschland absichtlich in die Quere zu kommen. Das Verhalten Aschenbrenners, der sich Leonardo Conti, dem mächtigsten Mann der deutschen Medizin und einer der einflußreichsten Figuren im NS-Deutschland, derart widersetzen konnte, kann als Gradmesser für die Macht der deutschen Tabakindustrie gesehen werden. Zudem fällt ins Auge, wie sehr diese Auseinandersetzungen den Konflikten in Großbritannien und in den USA in den fünfziger Jahren ähnelten. Hier wie dort konnten angesehene Ärzte die Gefahren des Tabaks belegen, und in beiden Fällen tat die Tabakindustrie die Forschung als »unwissenschaftlich« ab. In beiden Fällen zogen die Auseinandersetzungen die Aufmerksamkeit hochrangiger Regierungsbeamten des Gesundheitswesens auf sich, und beide Male konterte die Industrie mit Kampagnen, die die Tabakgegner als »unwissenschaftliche Fanatiker« diffamierten. Es gibt jedoch auch Unterschiede zwischen den beiden Konflikten. Zum einen gilt es zu beachten, daß viele prominente deutsche Tabakgegner zugleich Kriegsverbrecher waren. Als Leonardo Conti Schritte unternahm, um die medizinische Forschung der Tabakindustrie zu unterbinden, war er gleichzeitig aktiv in die Organisation des deutschen »Euthanasie-Programms« verwickelt, dessen einziger Zweck es war, rund 200000 körperlich und geistig behinderte Menschen zu ermorden. Und auch Astel kämpfte gegen den Tabak, während er gleichzeitig psychiatrische Kliniken bereiste und die Ärzte dazu drängte, ihre Patienten umzubringen. Hitler persönlich unterstützte Astels Anti-Tabak-Institut im März 1941 – nur neun Monate bevor seine Gefolgsleute in Wannsee die »Endlösung« planten. Es gibt einen weiteren entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Fällen: Während sich die deutschen Gesundheitsbehörden gegen die Pläne 272
der Tabakindustrie durchsetzen konnten – die Tabacologia medicinalis wurde nie gebildet –, war es in den Vereinigten Staaten und in England die Tabakindustrie, die siegreich aus den Auseinandersetzungen hervorging – der »Council for Tobacco Research« hat seit den fünfziger Jahren medizinische Forschung finanziert, die Hunderte von Millionen Dollar kostete.213 Ist es möglich, daß amerikanische Tabakfirmen von ihren deutschen Kollegen die eine oder andere Lektion gelernt haben, wie man trotz feindlich gesinnter politischer Kräfte überlebt?214
DIE STELLUNG DES TABAKS BRICHT EIN Bis zum Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1942 stieg der deutsche Tabakkonsum kontinuierlich an. Er erreichte in diesem Jahr seinen Höhepunkt mit 80 Milliarden Zigaretten; in dieser Zahl waren nicht nur die im »Alten Reich« gekauften Zigaretten enthalten, sondern auch die Österreichs und der tschechischen Gebiete. Diese beiden Länder waren Deutschland inzwischen angeschlossen bzw. als »Protektorat Böhmen und Mähren« angegliedert.215 Die Kriegszeit brachte Tabakrationierungen und andere Notmaßnahmen mit sich – zum Beispiel beim Zigarettenverkauf an schwangere Frauen –, und Bombardierungen wie in Köln begannen die Versorgung zu beeinträchtigen. Hitlers Entscheid aus dem Jahr 1941 zur Begrenzung der Anbauflächen von Tabak behinderte die Bemühungen der Industrie, diese Verluste auszugleichen. Im Februar 1944 pflanzten deutsche Tabakbauern 3000 Hektar weniger an als 1941, und die Importe von unverarbeitetem Tabak waren deutlich gesunken.216 Die Qualität des Tabaks litt, was einen Raucher dazu veranlaßte, den erhältlichen Pfeifentabak mit einer »schlechten Matratzenfüllung« zu vergleichen. Nachdem Rommels Truppen Kyrene in Nordlibyen besetzt hatten, kursierten Gerüchte, wonach die einst beliebte Marke »Johnnies« nun hauptsächlich aus Kameldung bestünde, der als Beute aus dem afrikanischen Feldzug nach Hause gebracht worden sei.217 Weil es weniger Tabak gab, sank der Verbrauch, aber es wurden auch direktere Bemühungen unternommen, das Rauchen unter den Soldaten zurückzudrängen. Am 20. Juni 1940 befahl Hitler, die Tabakrationen für die 273
Wehrmacht so aufzuteilen, daß die Soldaten vom Rauchen abgehalten würden.218 Die Zigarettenrationen wurden pro Mann auf sechs Zigaretten täglich begrenzt, und die Nichtraucher erhielten besondere Extraverpflegung (wie beispielsweise Schokolade oder andere Nahrungsmittel). Manchmal gab es zusätzliche Zigaretten zu kaufen (monatlich bis zu 50 Stück pro Mann), doch sie waren oft nicht erhältlich – so in den Zeiten eines schnellen Vorstoßes oder Rückzugs. Für Frauen, die die Wehrmacht begleiteten, gab es gar keine Tabakrationen. Neue Kriegssteuern machten das Rauchen auch teurer: Mit einem Erlaß vom 3. November 1941 wurde die Zigarettensteuer auf 80–95 Prozent des Verkaufwertes erhöht – das war fast doppelt so viel, wie die Deutschen in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Krieg zahlten.219 Infolge dieser Entwicklungen sank der Tabakkonsum der Wehrmacht während der letzten Kriegsjahre, wobei der entscheidendste Faktor selbstverständlich in der zunehmenden, kriegsbedingten Knappheit lag. Eine Umfrage von 1944 unter 1000 Wehrmännern ergab, daß der Anteil der Soldaten, die rauchten, zwar seit Beginn des Kriegs gestiegen war, der Gesamtkonsum von Tabak jedoch tatsächlich um rund 14 Prozent gesunken war. Insgesamt rauchten nun mehr Soldaten (101 der Befragten hatten neu angefangen zu rauchen, während nur sieben aufgehört hatten), aber sie rauchten im Durchschnitt etwa ein Viertel weniger als in der unmittelbaren Vorkriegszeit (23,42 Prozent weniger, gemäß der übertrieben genauen Untersuchung). Die Anzahl der sehr starken Raucher (30 und mehr Zigaretten pro Tag) war drastisch gesunken – von 4,4 auf nur 0,3 Prozent – ähnliches galt für die mäßig stark Rauchenden. Dieselbe Untersuchung hielt fest, daß der Anteil der Raucher unter den russischen Kriegsgefangenen auf 24 Prozent angestiegen war –220 eine eher absonderliche Statistik, wenn man bedenkt, daß die meisten von ihnen kurz vor dem Hungertod standen oder erschossen wurden. Die Armut der Nachkriegszeit ließ den Konsum weiter sinken. Amtlichen Statistiken zufolge erreichte der deutsche Tabakkonsum das Vorkriegsniveau bis Mitte der fünfziger Jahre nicht mehr. Der Einbruch war enorm: Der Konsum sank in Deutschland von 1940 bis 1950 um die Hälfte; der in Amerika hingegen stieg in derselben Zeitspanne fast auf das Doppelte (siehe Abb. 6.24 und Tabelle 6.1). 274
ABB. 6.24. Der deutsche Zigarettenkonsum sank kriegsbedingt von 1940 bis 1950 um fast die Hälfte. Quelle: Der Spiegel, 22. Januar 1964, S. 61.
Selbstverständlich muß man in Betracht ziehen, daß in diese Statistiken mögliche Fehlerquellen einfließen. Im Fall Deutschlands und Amerikas geben die genannten Zahlen die Verkäufe im Inland wieder, die für Steuerzwecke gemeldet wurden (in beiden Fällen ist damit die Produktion für den Export nicht mitberücksichtigt). Für Deutschland gibt es mehrere Gründe, weshalb die amtlichen Berichte den tatsächlichen Tabakkonsum in der unmittelbaren Nachkriegszeit unterschätzt haben könnten. Zum einen tauchte der blühende Schwarzmarkt für ausländischen Tabak in den amtlichen Statistiken nicht auf. Amerikanische Zigaretten wurden in der Nachkriegszeit zu hohen Preisen gehandelt. Es war damals üblich, amerikanische Marken (»Amis«) als Zahlungsmittel zu verwenden, und ältere Deutsche erinnern sich noch heute daran, daß eine einzige amerikanische Zigarette für sechs oder sieben Mark verkauft werden konnte (gegenüber wenigen Pfennigen 275
für deutsche Marken). Der Tabakschmuggel grassierte: Im Jahr 1949 fanden jeden Monat schätzungsweise 400 Millionen amerikanische Zigaretten ihren Weg nach Deutschland. Und noch 1954 waren es schätzungsweise zwei Milliarden Schweizer Zigaretten – ein Viertel der gesamten Produktion des Landes –, die nach Deutschland und Italien geschmuggelt wurden.221 Dem Schmuggel kam die Tatsache entgegen, daß die deutsche Zigarettenproduktion auf ungefähr 10 Prozent des Vorkriegsniveaus geschrumpft war, weil die Industrie insbesondere nicht in der Lage war, außerhalb Deutschlands Rohtabak zu beschaffen.222 Es war so wenig Tabak erhältlich, daß die amerikanischen Behörden entschieden, als Teil des Marshall-Plans kostenlosen Tabak nach Deutschland zu verschiffen. 24000 Tonnen wurden 1948 nach Deutschland transportiert, gefolgt von weiteren 69000 Tonnen im Jahr 1949. Die Nettokosten für die US-Regierung beliefen sich auf rund 70 Millionen Dollar. Allerdings zogen die amerikanischen Tabakfirmen auch Nutzen daraus, denn die Tabakvorlieben der Deutschen verschoben sich dadurch langsam vom schwarzen Tabak, den sie traditionell vorzogen, zu der milderen, helleren Virginia-Mischung (letztere war angeblich auch bei Frauen beliebter). Die amerikanischen Tabakfirmen zeigten sich über diese Vereinbarung verständlicherweise erfreut.223 Es gibt noch zwei weitere Faktoren, die daraufhinweisen, daß der Tabakkonsum in Wahrheit höher war, als die amtlichen Zahlen angaben. Erstens wurden die Zigaretten in der Nachkriegszeit oft bis ganz zu Ende geraucht. Weggeworfene Zigarettenstummel wurden gesammelt und geraucht, und man muß daraus schließen, daß die Menge an Teer, Nikotin und Asche, die pro (in Deutschland hergestellter oder nach Deutschland geschmuggelter) Zigarette inhaliert wurde, bedeutend größer war als in weniger verzweifelten Jahren; Zigarettenstummel enthalten unverhältnismäßig hohe Konzentrationen an schädlichen Substanzen. Solche Faktoren können eine wichtige Rolle spielen, wenn man das Krebsrisiko der Rauchgewohnheiten berechnen will. In den fünfziger Jahren glaubten zum Beispiel Richard Doll und andere, daß die amerikanischen Raucher einem bedeutend geringeren Krebsrisiko pro gerauchter Zigarette ausgesetzt waren, weil die Raucher in den USA die Zigaretten viel seltener bis ganz zu Ende rauchten. Die Amerikaner rauchten 1930 1285 Zigaretten pro Kopf, und es gab 1950 auf 100000 Männer nur 19 Lungenkrebserkrankungen. Im Gegensatz dazu 276
wurden in Holland 470 Zigaretten pro Kopf geraucht, was aber 24 Lungenkrebsfälle auf 100000 Männer hervorbrachte.224 Nimmt man an, daß zwischen Einwirkung und Krebserkrankung eine zeitliche Verzögerung von zwanzig Jahren liegt, daß Zigaretten die einzige Ursache für Lungenkrebs waren, daß nur Männer rauchten und Statistiken reale Phänomene wiedergeben können (denen sie sich allerdings stets nur grob annähern), dann würde dies bedeuten, daß eine in Amerika gerauchte Zigarette höchstens halb so oft Lungenkrebs verursachte wie eine in Holland gerauchte. Anders formuliert, in Amerika brauchte es etwa 7 Millionen Zigaretten, um einen Lungenkrebsfall hervorzubringen, gegenüber nur 2 Millionen in Holland. Die Zahlen für Deutschland entsprechen in etwa den holländischen.225 Zweitens muß berücksichtigt werden, daß viele Deutsche für den Eigenverbrauch oder Handel ihren eigenen Tabak anpflanzten. Die Reichsanstalt für Tabakforschung in Forchheim – die wichtigste Forschungsinstitution in Deutschland, die noch nach dem Krieg für die Tabakindustrie arbeitete – förderte den Heimanbau in den vierziger Jahren: Ein 1944 vom Direktor des Instituts herausgegebenes Buch liefert detaillierte Anleitungen für den Eigenanbau und die Pflege des Tabaks.226 Der private Anbau wurde nach dem Krieg fortgesetzt, und es gibt noch viele Erinnerungen an Soldaten, die aus dem Osten heimkehrten und die Gärten, die zuvor für den Gemüseanbau genutzt worden waren, mit Tabak bepflanzten. Es ist nicht leicht abzuschätzen, wieviel der Eigenanbau, der Schwarzhandel und das Sammeln und Rauchen von weggeworfenen Zigarettenstummeln zum gesamten Tabakkonsum beitrugen. Es handelte sich wohl um 10 oder 20 Prozent über die offiziellen Zahlen hinaus. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß selbst all diese Faktoren gemeinsam die Knappheit kompensiert hätten, die sich aus dem Zusammenbruch des deutschen Tabakhandels ergab. Die deutsche Heimproduktion in der unmittelbaren Nachkriegszeit entsprach nur einem Bruchteil der Vorkriegsproduktion. Ein großer Teil des selbstangebauten Tabaks wurde schließlich an Tabakfirmen verkauft (und also in den amtlichen Statistiken mitgezählt); die Nachkriegsverpflegung betrug nur etwa ein Fünftel der Rationen in den ersten Kriegsjahren; Frauen erhielten auch nach dem Krieg nur halbe Rationen.227 Die amerikanischen Marken wurden – bei einem Preis von 100 Mark und mehr, in einer Zeit extremer Armut – häufiger gehandelt als geraucht. 277
Wenn man all dies in Betracht zieht, gelangen wir zu dem Fazit, daß der Tabakkonsum tatsächlich zurückging. Zudem können wir den Schluß ziehen, daß die Abnahme sich auf die Krebserkrankungen auswirken mußte – wie wir gleich sehen werden.
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KAPITEL 7
DAS UNGEHEUERLICHE UND DAS ALLTÄGLICHE Wir leben heute in einer aufgeklärten Zeit. Adolf Radermacher, deutscher Krebsforscher, 1942 Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, 1944
E
s gibt verschiedene Gründe, warum sich Historiker bisher kaum mit der Geschichte der Krebsforschung und -bekämpfung unter den Nationalsozialisten beschäftigt haben. Der vermutlich wichtigste Grund war, daß offenbar niemand ein Interesse daran hatte, diese Dinge ans Licht zu bringen. Die Thematik fällt in ein »ideologisches Niemandsland«: Was vor 1980 für die Problematik des Radongehaltes in Häusern galt,1 scheint auch hier zuzutreffen: Es existiert kein vordringliches Bedürfnis, die Aufmerksamkeit auf diesen Themenkomplex zu lenken. Das historische Gedächtnis funktioniert bei allen Ereignissen selektiv, und offenbar ziehen wir es vor, uns auf das Barbarische an der NS-Epoche zu beschränken, ein Schritt, der es uns erlaubt, bequem ein scheinheiliges »Wir« von einem verdammenswerten »Sie« abzugrenzen. Allerdings ist dieses Thema nun einmal gerade deshalb faszinierend, weil es ein besonderes Licht auf Wissenschaft und Gesundheitswesen unter den »extremen« Bedingungen einer Diktatur wirft, der die Gesundheit ein zentrales Anliegen war. Wir haben es hier nicht mit der Geschichte einer Unterdrückung der Wissenschaft oder ihrer unfreiwilligen Anpassung an ein verhaßtes Regime zu tun: Öffentliche Gesundheitsinitiativen wurden vielmehr im Namen des Nationalsozialismus vorangetrieben. Nationalsozialistische Ideale durchdrangen die Praxis und die Popularisierung der Wissenschaft, lenkten sie, motivierten sie und führten sie auf neue Wege, die wir 279
erst langsam zu begreifen beginnen. Der Kampf der Nationalsozialisten gegen den Krebs zeigt, daß eine Wissenschaft, die viele von uns als »rechtschaffene« Wissenschaft bezeichnen würden, auch im Namen von antidemokratischen Idealen betrieben werden kann. Die Programme zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit wurden nicht nur trotz des Nationalsozialismus, sondern auch infolge des Nationalsozialismus betrieben. Aus diesem Grund kann man nicht einfach von der Unterdrückung oder gar dem Überlebenskampf der Wissenschaften sprechen, sondern man muß erkennen, wie die diktatorischen Ideale dazu beitrugen, die damalige Wissenschaft zu inspirieren und anzuleiten. In diesem abschließenden Kapitel möchte ich die Untersuchung ausweiten und mich mit dem Vermächtnis der NS-Krebsforschung beschäftigen, einschließlich der Frage, ob die damalige Krebspolitik einen Einfluß auf die Krebsraten der Nachkriegszeit hatte. Ich möchte unsere Perspektive auf die Quacksalberei erweitern und differenzieren, und ich möchte die Aufmerksamkeit zudem auf das geheimnisvolle Reichsinstitut für Krebsforschung bei Posen lenken, das offenbar als Forschungsstätte für die biologische Kriegsführung gedient hatte und nach dem Krieg den Alliierten von Nutzen war. – Auch werde ich mich dazu äußern, wie wir den nationalsozialistischen Kampf gegen den Krebs interpretieren sollten – und was wir daraus über das Wesen des Nationalsozialismus erfahren. Ich möchte allerdings davor warnen, daß meine Schlußfolgerung nicht besonders schmeichelhaft sein wird: Von der Krebsforschung der Nationalsozialisten geht eine seltsame Vertrautheit aus, die sich nicht sehr gut mit der Art und Weise vereinbaren läßt, wie wir für gewöhnlich jenes Regime betrachten, das den Holocaust zu verantworten hatte.
DIE FRAGE NACH DER WISSENSCHAFT UNTER NATIONALSOZIALISTISCHER HERRSCHAFT Den meisten Menschen fallen in Verbindung mit der NS-Medizin die Verbrechen ein, für die diese Epoche schreckliche Berühmtheit erlangte. Nationalsozialistische Ärzte sterilisierten ungefähr 350000 Deutsche, ermordeten 200000 psychisch Kranke und körperlich Behinderte und töteten minde280
stens 1000 Gefangene in Konzentrationslagern im Rahmen medizinischer Experimente, die dem Fortschritt der deutschen Militärmedizin dienen sollten. Die NS-Ärzte halfen dabei, die Zwangsarbeiter auszubeuten, und waren an der Vernichtung der europäischen Juden und Sinti und Roma beteiligt. Die Greueltaten der NS-Medizin sind uns bekannt, aber es ist auch wichtig, die politischen Abweichungen und Spannungen dieser Zeit zu verstehen. Wir sind es gewohnt, die politische Kultur des Nationalsozialismus als »totalitär« einzustufen, aber die Historiker weisen heute auch zunehmend auf »polykratische« Aspekte des NS-Regimes hin. Es gab untereinander konkurrierende Interessengruppen, die verschiedene Ziele verfolgten, und die politischen Handlungen waren im allgemeinen zumeist das Resultat eines Kampfes verschiedener Gruppierungen – der SS, des Innenministeriums, der mächtigen Ämter von Goebbels und Göring, ganz zu schweigen von Hitlers eigenen Interessen. Es ist auch falsch, in bezug auf die Krebsforschung oder -bekämpfung von einem einheitlichen nationalsozialistischen Kurs zu sprechen. Rudolf Heß und die ihn umgebenden Romantiker setzten sich für naturgemäße Ernährung und spirituelle Harmonie ein, während Hans Auler und andere Verfechter der Schulmedizin für Sparmaßnahmen und technische Verbesserungen eintraten. Hitler verabscheute Fleisch, obwohl einige NS-Ideologen Schweinefleisch als kennzeichnend für die nordische Lebensweise propagierten.2 Die Tabakgegner mußten natürlich gegen den Widerstand der Industrie angehen, aber auch gegen die Kurzsichtigkeit einer Medizin, die sich entweder nicht um Statistiken kümmerte oder sich einseitig darauf festlegte, Krebs zu heilen, und nicht, ihn zu verhindern. Röntgentherapeuten priesen den Nutzen der Strahlung und der Radiumtherapien, während Rassenhygieniker für strenge Kontrollen wegen möglicher Erbschäden eintraten. Die Anhänger einer natürlichen Lebensweise betonten, wie wichtig Sport und frisches Gemüse seien, während die militärischen Planer eifrig damit beschäftigt waren, Tausende von Tonnen Büchsennahrung als Vorräte anzulegen. Die nationalsozialistische Wissenschaft war nicht monolithisch, es gab kaum eine einfache Umsetzung von Ideologie in Politik. Die miteinander konkurrierenden Zielsetzungen zeigen sich beispielsweise in der gegensätzlichen Wahrnehmung der Gefahren durch radioaktive Strahlen. Schon vor 1933 war bekannt, daß Strahlung sowohl Krebs als auch 281
genetische Mutationen auslösen konnte, und gegen Ende der dreißiger Jahre setzte sich zunehmend die Einsicht durch, daß es keinen tatsächlichen Schwellenwert gebe, unter dem die Strahlung vollkommen ungefährlich sei. Die Rassenhygieniker hatten ständig Angst um die Erbgesundheit und forderten strenge Sicherheitsmaßnahmen, um die »gesunden Deutschen« vor der Strahlung zu schützen und die Träger geschädigter Gene daran zu hindern, sich fortzupflanzen. Die nationalsozialistischen Ängste bezüglich radioaktiver Strahlung wurden jedoch mehr als ausgeglichen von dem ebenfalls nationalsozialistischen Drang, Krankheiten (und manchmal Menschen) auszurotten, die als Gefahr für die »Volksgesundheit« wahrgenommen wurden. Die Kampagne für Reihenuntersuchungen mittels Röntgenstrahlen hatte zur Konsequenz, daß eine beispiellose Anzahl Menschen den Röntgenstrahlen ausgesetzt wurden – die Warnungen der Eugeniker wurden dabei einfach mißachtet. Die Personen, die diese Untersuchungen anordneten und durchführten, waren nicht identisch mit denen, die vor der Strahlung warnten – aber interessanterweise war dies kein Konflikt zwischen Nationalsozialisten und Nichtnationalsozialisten, sondern vielmehr ein Konflikt unter Nationalsozialisten mit unterschiedlichem beruflichem Hintergrund oder unterschiedlichen Vorstellungen von Gesundheit. Der SS-Radiologe Hans Holfelder, der dem ambitionierten Vorhaben vorstand, Hunderttausende von Deutschen zu röntgen, versuchte kranke Menschen auszumachen, damit Schritte unternommen werden konnten, sie zu behandeln oder aber zu isolieren. Eugen Fischer hingegen, der vor dem exzessiven Einsatz der Röntgenstrahlen warnte, machte sich vor allem um die langfristige Erbgesundheit der Deutschen Sorgen. Beide waren sie gestandene Nationalsozialisten, aber sie hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie man die Gesundheit ihrer bevorzugten »Rasse« gewährleisten sollte. Ein ähnlich komplexer Sachverhalt zeigt sich bei den Diskussionen um das Radium. Man wußte seit den zwanziger Jahren, daß Radium zu Krebs und fötalen Mißbildungen führen konnte, und schon wenige Jahre nach der Entdeckung von Radium wurden Stimmen laut, die vor dem Inhalieren radonhaltiger Dämpfe warnten. Die Menschen konnten jedoch nur schwerlich glauben, daß es einen krank machen sollte, wenn man die Dämpfe einer reinen Bergquelle einatmete. Aus zwei Gründen wurde die Sache noch komplizierter: Zum einen wurden eventuell Schädigungen oft erst Monate oder 282
Jahre nach dem Kontakt mit Radium sichtbar, zum anderen schien das Radium schon früh Therapieerfolge zu erzielen. Radium wurde zu einem internationalen Prestigeobjekt, da die Nationen miteinander um das wertvolle Element zu wetteifern begannen, es galt als das seltenste und wertvollste Metall der Welt (in den dreißiger Jahren kostete ein Gramm Radium Tausende von Reichsmark).3 Neue Fachrichtungen wie die Radiologie entstanden, die sich mit den Heilkräften der Strahlen befaßten; die Frage nach möglichen Risiken überließ man größtenteils Amateuren und Ad-hoc-Komitees. Das Wissen um den potentiell heilenden Effekt wurde höher bewertet als das Wissen um die möglichen Gefahren. Infolgedessen wurde Radium von vielen Ärzten zur Behandlung von Krebs eingesetzt, nicht aber als Krebsursache eingeschätzt. Die nationalsozialistische Ideologie spielte in vielen dieser Machenschaften keine offenkundige Rolle. Der Radiumforschung und -therapie wohnte eine Trägheit inne, die nicht als Reaktion der Wissenschaftler auf außenstehende politische Autoritäten interpretiert werden darf. Neben der nationalsozialistischen Ideologie prägten auch andere Weltbildfragmente die praktische Medizin auf dem Höhepunkt der nationalsozialistischen Herrschaft. Die Beispiele verdeutlichen, daß es unter den scheinbar lückenlos totalitären Bedingungen des Nationalsozialismus keine einheitliche »Gemeinschaft der Wissenschaftler« gab – selbst nach dem Ausschluß der Juden und der Kommunisten. Zudem wird offensichtlich, daß die Beziehungen zwischen »Wissenschaft« und »Gesellschaft« komplexer sind, als man sie sich gemeinhin vorstellt. Sogar im Mikrokosmos der nationalsozialistischen Krebsforschung existierten sehr unterschiedliche Wege für die Wissenschaft, politisch zu handeln – und umgekehrt. Die Wissenschaftler gaben dem Nationalsozialismus Auftrieb, genauso wie der Nationalsozialismus der Wissenschaft. Die Nationalsozialisten stritten darüber, welche Art der Wissenschaft gefördert werden sollte, und Wissenschaftler stritten darüber, welche Art des Nationalsozialismus unterstützenswert sei. Nie war es möglich, eine klare und formelle Grenze zwischen Wissenschaft und Politik zu ziehen, und es wird auch niemals möglich sein. Ich möchte dem Leser versichern, daß ich nicht beabsichtige, die eindeutigen und traurigen Fakten zu verschleiern – weder die Komplizenschaft bei den Verbrechen noch den unheilvollen Stumpfsinn der nationalsozialisti283
sehen Weltanschauung. Auch ist mir bewußt, daß es für den Historiker manchmal einfach ist, auf Komplexität und Nuancen zu verweisen und sich so einem klaren moralischen Urteil zu entziehen. Trotzdem möchte ich daran festhalten, daß wir allzu oft ein Schreckensbild der NS-Ärzte zeichnen – sie als monströse und sadistische Dämonen darstellen, die auf Genozid und mörderische Experimente versessen waren. Natürlich gab es diese Männer, aber der Nationalsozialismus hatte auch kreative, fruchtbare Köpfe – so verquer dies für uns auch klingen mag.
QUACKSALBEREI Ich möchte es noch einmal wiederholen: Die meisten Menschen denken beim Stichwort NS-Medizin vor allem an die bizarren, grausamen und mörderischen Ereignisse, an Mengele, der Menschen Farbe in die Augen injizierte, oder an die grauenvollen Experimente mit hohem Luftdruck, Erfrierungen und Transplantationen, die in Nürnberg ans Licht kamen.4 Diese Betrachtung bestätigt die verbreitete Annahme, daß ideologisch motivierte wissenschaftliche Untersuchungen von vornherein und in grundsätzlicher Weise korrumpiert sind. Unsere Vorstellung von Ideologie als einem doktrinären Einfluß zur Verdrehung der Wahrheit (oder etwas noch Schlimmerem) läßt die Tatsache außer acht, daß Leidenschaften oft eine große Rolle spielen, wenn Wissenschaft die eine oder andere – bessere oder schlechtere – Richtung einschlägt. Ausgehend von einem engstirnigen Verständnis von Wissenschaft wird man allzuschnell einen Teil des damals weitverbreiteten medizinischen Wissens oder der gängigen Praxis als »Quacksalberei« abtun. Krebs war in den dreißiger Jahren eine geheimnisumwitterte Krankheit – und ist es zumindest teilweise heute noch. Das Versagen der Schulmedizin bei der Heilung oder ausreichenden Behandlung der Krankheit machte es für unzählige Quacksalber und Scharlatane einfach, ihre Ware an den Mann zu bringen. Auch Schulmediziner probierten Therapiemethoden aus, die heute ziemlich dubios anmuten: Fritz Lickint röntgte bei Krebspatienten die Milz, um die Bildung von krebsbekämpfenden Hormonen anzuregen.5 Karl Heinrich Bauer behandelte Krebspatienten mit Benzpyren, weil er glaubte, 284
daß ein Stoff, der die Macht besaß, Krebs auszulösen, ihn vielleicht auch heilen konnte.6 Nachdem Erwin Liek 1932 sein erstes Buch über Krebs publiziert hatte, erhielt er mehr als 300 Briefe von Menschen, die behaupteten, ein Heilmittel gegen Krebs entdeckt zu haben. Die meisten gaben vor, von geldgierigen Ärzten ignoriert worden zu sein, und einige erklärten sich bereit, ihr Geheimnis zu einem hohen Preis zu verraten. Wieder andere verkündeten großzügig, sie seien bereit, den Nobelpreis mit dem Danziger Chirurg zu teilen. Die Deutschen waren mit ihrem verzweifelten Enthusiasmus nicht allein. Im Jahr 1931 hatte die »New York City Cancer Commission« einen Preis für denjenigen ausgesetzt, der eine wirksame Heilmethode anbot. Ungefähr 3500 Vorschläge gingen ein, von denen sich Liek zufolge keiner als vielversprechend genug erwies, um weiterverfolgt zu werden.7 Die führenden Nationalsozialisten waren gegenüber vielen dieser unkonventionellen, »alternativen« oder »organischen« Theorien und Therapien ambivalent eingestellt. Einerseits existierte – in Übereinstimmung mit der offenen Kritik an der Kurzsichtigkeit der Schulmedizin – eine entschiedene Bereitschaft, die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zu erweitern. Der Reichsausschuß für Krebsbekämpfung setzte 1934 ein Unterkomitee ein, das sich mit volkstümlichen Krebstherapien auseinandersetzen sollte, und prüfte schließlich über hundert verschiedene Therapiemethoden. Andererseits befürchtete man, die Scharlatane könnten von nicht geprüften Behandlungsarten profitieren, die Aufmerksamkeit würde dadurch von etablierten Therapieverfahren abgelenkt und die Kranken um ihr Geld gebracht. Meinungsverschiedenheiten dieser Art existierten während der ganzen Zeit der NS-Herrschaft, und es gibt sie in gewissem Maße noch heute. Die NS-Ärzte unterschieden sich in ihrem Streben, Standards zu setzen, um bestimmte Behandlungsmethoden zu routinisieren und die Bevölkerung zu schützen, nicht von anderen Ärzten. Der Kampf gegen die Quacksalber war Teil dieses Prozesses.8 Man hört oft die Meinung, die nationalsozialistische Medizin sei von Quacksalbern dominiert gewesen.9 Aufschlußreich ist meines Erachtens jedoch die Tatsache, daß einige Kommentatoren nach dem Krieg das Thema der Quacksalberei mit der Frage nach dem Widerstand im »Dritten Reich« in Zusammenhang brachten. Die Quacksalberei wurde als eine Form von 285
Verweigerung gefeiert, aber dasselbe gilt auch für die Schulmedizin. Keine dieser zu starken Simplifizierungen trifft allerdings den Kern der Wahrheit, dies wird aus den Interpretationen der Brehmer-Affäre offensichtlich. Wilhelm von Brehmer war eine der heilkundlich umstritteneren Figuren, gegen die sich die nationalsozialistische Kampagne zur Bekämpfung der Quacksalberei wandte. Brehmer war ein Anhänger der »organischen« Medizin, der darauf beharrte, daß Krebs eine ansteckende Krankheit sei, die von Mikroorganismen (dem »Krebsbakterium«) ausgelöst würde. Diese Krebszellen könne man durch einen Anstieg des Alkaligehaltes im Blut feststellen, und die Tumore ließen sich mit Bluttransfusionen und einer Chemotherapie, zusammengesetzt aus Quecksilberdicyanid und Extrakten aus chinesischem Rhabarber, erfolgreich behandeln. Die wissenschaftlich ausgebildeten Krebsspezialisten waren verständlicherweise skeptisch: Die Theorie, daß Krebs ansteckend sei, geisterte seit der Jahrhundertwende durch die medizinische Lehre, Brehmers Versuch, sie zu neuem Leben zu erwecken – mit Unterstützung des Gauleiters Julius Streicher und anderen im »paracelsischen« Flügel der Partei –, wurde weithin als falsch oder gar betrügerisch betrachtet. Der Konflikt kulminierte 1936, als man sich darüber stritt, ob Brehmer in die deutsche Delegation für den Internationalen Pathologenkongreß in Brüssel aufgenommen werden solle. Brehmer wollte seine Resultate auf diesem Kongreß präsentieren, aber Max Borst, Münchner Pathologe und Leiter der Delegation (er war außerdem Vorsitzender des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung), weigerte sich, Brehmer teilnehmen zu lassen, da er befürchtete, der Ruf der deutschen medizinischen Wissenschaft könne Schaden nehmen. Borst und andere Mitglieder der Delegation beschlossen, dem Kongreß fernzubleiben, falls Brehmer nicht ausgeschlossen würde. Borst unternahm sogar den ziemlich verwegenen Schritt, Hitler um ein Urteil in dieser Angelegenheit zu bitten (er schrieb tatsächlich einen Bericht, in dem er dem »Führer« den Streit erklärte).10 Hitler ordnete an, die Angelegenheit auf dem Nürnberger Parteitag von 1936 zu untersuchen. Leonardo Conti stand der damit befaßten Kommission vor, er leitete eine Untersuchung in die Wege und wies schließlich die Theorie Brehmers zurück.11 Man verbot Brehmer, am Kongreß in Brüssel teilzunehmen; von diesem Zeitpunkt an verlor er an Einfluß. Auffällig an der Affäre um Brehmer ist, wie unterschiedlich sie von Perso286
nen mit verschiedenartigen medizinisch-politischen Ansichten wiedergegeben wurde. Von den Befürwortern der alternativen Krebstherapien wurde der Vorfall zu einer Geschichte der abtrünnigen, unorthodoxen Wissenschaft stilisiert, die von den engstirnigen Nationalsozialisten unterdrückt worden sei. So erklärte beispielsweise David Hess in seinem Buch Can Bacteria Cause Cancer?, Brehmers Theorie, wonach Krebs durch einen Erreger im Blut ausgelöst würde, sei nach dem Krieg vor allem unter den NS-Ärzten, die weiterhin praktizierten und die deutsche Medizin beeinflußten, unbeliebt geblieben.12 Hier wird also angedeutet, daß die dogmatischen Nationalsozialisten sich der radikalen neuen Theorie Brehmers (der sich Hess eindeutig anschließt) verschlossen hätten. Dabei wird aber der Umstand ignoriert, daß Brehmer Verbündete der übelsten Sorte hatte – so Julius Streicher, Herausgeber von Der Stürmer und einer der schlimmsten Antisemiten, die jemals existierten. Streicher half Brehmer dabei, sein »Tumorforschungsinstitut« im Theresienkrankenhaus in Nürnberg 1935 einzurichten, wo er ebenfalls dem »Paracelsus-Institut« vorstand.13 In einer anderen Version wird jedoch die Unterdrückung Brehmers als Beweis dafür genommen, daß sich einige Ärzte gegen die NS-Ideologie wehrten. So sieht Wolfgang Weyer in seinem kürzlich erschienen Buch Death of Medicine in Nazi Germany die Bekämpfung Brehmers als Zeichen dafür, daß Widerstand gegen die Nationalsozialisten nicht nur möglich, sondern von Zeit zu Zeit sogar von Erfolg gekrönt war –14 dabei übersieht er allerdings, daß Brehmers Gegner ebenso Nationalsozialisten waren wie seine Anhänger, und im weiteren, daß Brehmer selbst sich als Opfer des nationalsozialistischen Terrors sah.15 Es stimmt zwar, daß Borst kein Mitglied der NSDAP war, aber er wachte über die »Gleichschaltung« im Reichsausschuß für Krebsbekämpfung und kann nicht als Gegner des Nationalsozialismus angesehen werden.16 Hermann Druckrey war ein eifernder Nationalsozialist und aktiver Gegner von Brehmer (und ein sehr guter Wissenschaftler, sollte ich noch hinzufügen). Man darf auch nicht vergessen, daß es Leonardo Conti war, der SS-Offizier und spätere Reichsärzteführer, der Brehmer schließlich die Teilnahme am Kongreß verbot, um die Wissenschaft des Reichs nicht in ein schlechtes Licht zu rücken. Brehmer war weder das Opfer der nationalsozialistischen Engstirnigkeit noch der antinazistischen Schulmedizin. Beide Erklärungsversuche greifen zu kurz. 287
Der Vorfall zeigt vielmehr, daß es den Gesundheitsbehörden – in Deutschland und anderswo – oft Schwierigkeiten bereitete, damals wie heute, die Modetrends in der Krebsforschung von den Fakten zu trennen. Diese Verwirrung zeigt auch, wie wichtig es ist, die Begriffe »Deutsche« und »Nationalsozialisten« nicht synonym zu verwenden: Es waren deutsche Ärzte, die sich Brehmer widersetzten – einige davon waren Nationalsozialisten (Druckrey und Conti) und andere waren es nicht (Borst). Das gleiche läßt sich für diejenigen sagen, die ihn unterstützten. Vielleicht ist es tröstlich zu glauben, daß sich gute Wissenschaft tendenziell mit guter Politik verbinde, wie auch immer man diese beiden Begriffe definiert, aber das ist leider Wunschdenken. Die Affäre um Brehmer zeigt darüber hinaus, daß die Unterstützung von NS-Ideologen nicht immer ausreichte, um eine bestimmte Theorie oder Therapieform am Leben zu erhalten. Dies gilt auch für den seltsamen Fall der »Erdstrahlen« – einer populären Theorie, die besagte, daß verschiedene Krankheiten von der Einwirkung unsichtbarer unterirdischer »Erdstrahlen« herrührten. Anhänger dieser Lehre verdienten in ganz Deutschland gutes Geld damit, Grundstücke nach solchen Strahlen abzusuchen – um abzuklären, ob man dort bauen könne – und dann »Schutzschilder« unterschiedlicher Art gegen diese Strahlen aufzustellen. Diese Vorstellung hatte in der okkulten Literatur eine lange Tradition (sie wies gewisse Ähnlichkeiten mit der Geomantik auf), aber ihre Popularität nahm zu dieser Zeit vermutlich zu, weil sich damals das Bewußtsein bildete, daß Radon, Röntgenstrahlen und sogar kosmische Strahlen Krebs verursachen konnten. Im März 1934 finanzierte der Badische Landesverband zur Bekämpfung des Krebses eine Untersuchung, die diese Theorie überprüfen sollte, und die angesehene homöopathische Fachzeitschrift Hippokrates publizierte noch 1937 Artikel zu diesem Thema.17 Kampagnen gegen Quacksalber sind so alt wie die Medizin selbst. Aber der während der NS-Zeit vorherrschende Drang nach Uniformität und einheitlichen Normen scheint den Gerichten eine freiere Hand gegeben zu haben, ungeprüfte Behandlungsmethoden zu unterdrücken. Im Jahr 1937 erklärte das Reichsministerium der Justiz, der Glaube, daß Erdstrahlen die Gesundheit gefährden könnten, entbehre jeglicher Grundlage, und es sei nicht einmal bewiesen, daß solche Strahlen überhaupt existierten.18 Zwei 288
Jahre später wurde dann ein Mann verurteilt, der Tausende von »Schutzschildern« gegen »Erdstrahlen« verkauft hatte, die gegen Krebs und andere Krankheiten hätten helfen sollen. Dieser Maurermeister aus Potsdam mußte seine Wünschelrutentechnik vor Gericht demonstrieren, und als er an diesem Test scheiterte, wurde er als »gefährlicher Krimineller« bezeichnet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.19 Interessanterweise wurde das Wünschelrutengehen unterdrückt, obwohl es unter einigen hochrangigen Nationalsozialisten sehr beliebt war. Hitler ließ seine Reichskanzlei 1934 von einem Wünschelrutengänger untersuchen, und andere in seiner Umgebung trafen ähnliche Vorsichtsmaßnahmen. Heß war vermutlich der Seltsamste von allen: Man wußte, daß er über seinem Bett starke Magneten aufgehängt hatte, die »negative magnetische Kräfte« aus seinem Körper herausziehen sollten – was andere Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels, der nichts von diesen Dingen hielt, verärgerte. Goebbels nutzte Heß’ Flucht nach England im Jahr 1941 als Vorwand, um eine Hetzkampagne gegen die okkulte Medizin zu starten (vgl. Kapitel 2). Kurz nachdem Heß sich abgesetzt hatte, schrieb der Propagandaminister in sein Tagebuch: »Film gegen Krebs geprüft. Scharfer Angriff gegen die Kurpfuscherei. Nachdem Heß mit seinen Verrücktheiten weg ist, kann man das ruhig laufen lassen«.20 Zwei Monate später, am 16. Juli, verbot man den Naturheilern, »okkulte Methoden« wie Wünschelruten, Pendel oder Schutzschilde gegen Erdstrahlen einzusetzen, um Krankheiten zu diagnostizieren oder zu heilen. Auch Chiropraktikern wurde verboten, Krebs zu behandeln.21 Die Naturheiler durften Krebs noch immer mit »anerkannten Methoden« wie Homöopathie, Kräutern und Massagen behandeln, in Verbindung damit durften sie auch »Magnetismus« und »Biochemie« anwenden. Einige lokale Ärztevereinigungen sahen dies strenger und verurteilten alle Krebsbehandlungen, die von Nichtärzten durchgeführt wurden.22 Wie müssen wir die nationalsozialistische Kampagne gegen die Kurpfuscherei verstehen? Die am häufigsten geäußerte Sorge war, daß die Menschen ihre Ersparnisse für nutzlose Medizin verschwendeten und ihre Gesundheit gefährdeten. Aber man muß die Kampagne auch als Versuch der Ärzte sehen, ihr Monopol über die heilenden Künste zu festigen. Im berühmten Danziger Krebsgesetz wurde beispielsweise allen Nichtärzten verboten, Krebspatienten zu behandeln. Die Unterdrückung der Quacksalber 289
war Teil einer größeren Kampagne, die darauf zielte, medizinische Standards und Effektivität zu heben. Die Quacksalberei war definitionsgemäß ineffektive Medizin, und ineffektive Medizin betrachtete man als hinderlich für die deutsche Wirtschaft und Kampfkraft. Man kann jedoch nicht sagen, die damalige, von der NS-Ideologie vorangetriebene Medizin und Forschung sei per se Quacksalberei oder Humbug gewesen – weder an den damaligen Maßstäben noch an den heutigen Standards gemessen – man ist sich ja auch heute in vielen Bereichen nicht einig, was therapeutisch wirksame und was betrügerische Praxis ist. Das ist die Ironie – und die Komplexität – der nationalsozialistischen Medizin: Die von den Nationalsozialisten vorangetriebene Forschung war oft barer Unsinn, aber nicht immer. Ich möchte diesen Abschnitt mit einem letzten ironischen Aspekt der NSMedizin abschließen, nämlich der nationalsozialistischen Kampagne für Wahrheit in der Werbung: »Die Werbung hat in Gesinnung und Ausdruck deutsch zu sein. Sie darf das sittliche Empfinden des deutschen Volkes, insbesondere sein religiöses, vaterländisches und politisches Fühlen und Wollen, nicht verletzen«; zudem müssen »alle Angaben wahr und klar sein und die Möglichkeit einer Irreführung vermeiden«, beschloß der Werberat der Deutschen Wirtschaft am 1. November 1933. Die NS-Behörden verschärften die Werbegesetze aus der Weimarer Zeit. Es gab neue Vorschriften, wonach unseriöse Werbung für die Wirksamkeit eines Medikaments oder medizinischer Verfahren verboten war. Den Pharmaunternehmen wurde untersagt, Dankesbriefe von zufriedenen Patienten zu veröffentlichen oder unbewiesene Wirkungen zu propagieren. Anzeigen für Medikamente gegen Krebs durften nur noch in medizinischen Fachzeitschriften erscheinen, und Anzeigen, die darauf zielten, die Angst in der Bevölkerung zu schüren (zum Beispiel vor Krebs), wurden ganz verboten.23 Auler und andere verlangten, man müsse alle öffentlichen Aussagen über Krebs reglementieren. Er war der Meinung, die Zeit sei vorüber, in der jeder Arzt oder Nichtarzt seine Meinung zum Wachstum von Krebsgeschwüren kundtun könne.24 Die Kampagne wurde ausgedehnt und galt nicht mehr ausschließlich für Krebs, als Reichgesundheitsführer Conti im Jahr 1939 verkündete, die Regierung werde keine unsachliche Werbung für Babynahrung mehr gestatten, die den »Stillwillen« der Mütter beeinträchtige.25 Der Vorsitzende des staatlichen 290
Werberates prahlte damit, daß die Werbung seit der »nationalsozialistischen Revolution« viel ehrlicher geworden sei. Sechs Jahre nationalsozialistischer Herrschaft hätten endlich etwas Wahrheit in die Werbung gebracht.26 Die Nationalsozialisten hatten anscheinend eine sehr selektive Wahrnehmung, was Täuschungen betraf.
GEHEIME FORSCHUNG FÜR BIOLOGISCHE WAFFEN Man sollte den Erfolg des nationalsozialistischen Kampfes gegen den Krebs nicht zu hoch veranschlagen. Der NS-Militarismus behinderte viele längerfristige Projekte des Regimes, einschließlich verschiedener sehr vielversprechender Kampagnen gegen den Krebs. Die Aktivitäten in der Krebsbekämpfung wurden mit der Fortdauer des Krieges deutlich gebremst: Angesichts der zahllosen Kriegsopfer und der Dringlichkeit, die Produktion auf Hochtouren laufen zu lassen, traten andere Prioritäten in den Vordergrund. Hans Auler bedauerte im Jahr 1943, daß die Pläne für Massenuntersuchungen auf Gebärmutter- und Gebärmutterhalskrebs hin aufgegeben werden mußten,27 auch viele andere Programme litten. Das ist leicht zu verstehen: Ein Land, das Hunderttausende von Männern dem Risiko aussetzt, an der Front zu sterben, wird kaum viele Gedanken auf die Verhinderung von Krebs verwenden. Dasselbe galt für andere Staaten: Wilhelm Huepers Occupational Tumors and Allied Diseases, die umfassendste Analyse der durch die Berufstätigkeit verursachten Krebserkrankungen im 20. Jahrhundert, wurde kaum beachtet, als sie im Frühjahr 1942 publiziert wurde – nur wenige Wochen nachdem die USA Japan den Krieg erklärt hatten.28 Dies bedeutet jedoch nicht, daß in Deutschland während der fünfeinhalb Kriegsjahre keine wichtigen Forschungsprojekte unternommen worden wären. Die Zeitschrift für Krebsforschung und die Monatsschrift für Krebsbekämpfung erschienen bis Ende 1944, wie auch andere Zeitschriften, die über Themen im Zusammenhang mit Krebs berichteten. Auch die Forschungen zu den Gefahren des Rauchens wurden fortgesetzt, desgleichen Experimente zu Lebensmittelfarben, Asbest, Hormonen und zur Rolle der Viren und der Strahlung bei der Krebsentstehung. Man bemühte sich herauszufinden, ob die Traumata und Entbehrungen des Krieges Krebs förderten. Die Mo291
natsschrifi für Unfallheilkunde berichtete über die medizinisch-rechtlichen Aspekte von Tumoren, die durch Unfälle ausgelöst wurden, und ebenso über die Frage, ob Schußwunden zu Krebs führen konnten. Diese Bemühungen wurden auch während des Krieges noch lange fortgeführt, etwa Forschungen, ob Erfrierungen, Verletzungen oder die Kontamination mit Kampfgasen zu Krebs führen konnten.29 Allerdings war einiges, was »Krebsforschung« genannt wurde, nicht das, was es an der Oberfläche zu sein schien. Ute Deichmann hat in ihrer Studie Biologen unter Hitler gezeigt, daß die Mitarbeit an einem Krebsforschungsprojekt – vor allem nach Kriegsbeginn – oft erfolgreich vorgeschoben wurde, um der Einberufung zu entgehen. Adolf Butenandt, der Nobelpreisträger von 1939 für seine Arbeit über Sexualhormone, beschäftigte drei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützte Wissenschaftler, die alle ihrer Arbeit wegen keinen Militärdienst leisten mußten. Damals wie heute gab das Etikett »Krebsforschung« der biologischen Grundlagenforschung eine Aura der Nützlichkeit und Respektabilität – und dies konnte einem Menschen im Deutschland der frühen vierziger Jahre tatsächlich das Leben retten. Richard Kuhn, der Leiter des Heidelberger Kaiser-WilhelmInstituts für medizinische Forschung, setzte sich 1942 dafür ein, daß der Chemiker und Krebsforscher Hans Lettre aus Göttingen vom Militärdienst befreit werden solle, da seine Arbeit militärisches Potential besitze. Schließlich werde auch in den Vereinigten Staaten aktiv an der Frage geforscht, welche Chemikalien Krebs auslösen konnten, und es existierten Vorschläge, krebserregende Substanzen im Krieg einzusetzen. Das heißt, Lettre sollte als Forscher für biologische Waffen eingesetzt werden.30 Dies macht es einigermaßen verständlich, warum – wie wir gleich sehen werden – Deutschlands führende Krebsforscher versuchten, Krebsforschung und Forschung für biologische Waffen miteinander zu verbinden. Einige der Projekte, über die in den letzten Kriegsmonaten diskutiert wurde, haben beinahe etwas Komisches an sich. Ende Februar oder Anfang März 1945 beispielsweise, als die sowjetischen Truppen schon weit in deutsches Territorium vorgedrungen waren, schrieb Himmler an den SS-Reichsarzt Ernst Grawitz und bat ihn, nachzuforschen, warum es in deutschen Konzentrationslagern keine Krebserkrankungen gebe:31 292
Sie hatten mir vor längerer Zeit einmal berichtet, daß in den Konzentrationslagern Krebskranke nicht vorhanden sind. Dies wird mir durch einen Brief des SS-Obergruppenführers Keppler, der mit Ihnen ja hinsichtlich der Erprobung eines neuen Mittels gesprochen hat, bestätigt. Besonders bemerkenswert ist diese Meldung, wenn man berücksichtigt, daß es nach dem Stand vom 20. 2. 1945 28 145 männliche und weibliche Häftlinge im Alter von über 50 Jahren gibt, wobei 4898 über 60 Jahre alt sind. Infolge der Räumung der Konzentrationslager Auschwitz, Monowitz, Groß-Rosen und Stutthof sind diese Zahlen allerdings nicht vollständig. Beachtlich ist das Bild der robusten Gesundheit dieser Häftlinge im Bezug auf Krebserkrankungen, wobei interessant wäre festzustellen, woran die einzelnen sonst sterben. Die Sterblichkeit in den Lagern ist, wie Sie wissen, durchschnittlich keineswegs höher als außerhalb der Lager. Es fallen also Untersuchungen über die Erprobung von neuen Mitteln an vorhandenen Krebskranken, die man damit heilen könnte, fort. Nun würde mich aber die andere Seite der Sache interessieren. Wieviel Krebskranke hat das deutsche Volk? Wieviel Prozent des deut: sehen Volkes befinden sich im Anfangs- oder sonst überhaupt in einem Stadium der Krebserkrankung? Wenn man diesen Satz auf unsere Gefangenen anwendet, von denen allerdings eine ganze Menge Ausländer sind, würde man errechnen können, wieviel Krebskranke unter den 700000 Gefangenen etwa sein müßten. Ich beauftrage Sie mit der Untersuchung der Ursachen, weshalb die Häftlinge nicht krebskrank sind. Ich glaube, daß wir damit der Wissenschaft vielleicht einen noch größeren Dienst leisten. Gez. Himmler.32 Es ist schwierig auszumachen, welches der bizarrste Aspekt dieses Vorschlags ist: Die Vorstellung, daß es in Lagern keinen Krebs gebe? Daß die Gefangenen »robust« seien? Daß Grawitz immer noch die Mittel habe, eine solche Studie durchzuführen? Oder daß sich die Resultate, wie auch immer sie ausfielen, auf die Gesamtbevölkerung übertragen ließen? Himmler muß zu dieser Zeit wohl bereits in einer Art Phantasiewelt gelebt haben. Der Möchtegern-Krebsspezialist verbrachte die letzten Wochen seines Lebens damit, so viele Juden ermorden zu lassen wie nur möglich. Anscheinend hoffte er zugleich, eine letzte Anstrengung gegen den »Volksfeind Krebs« unternehmen zu können. 293
Himmlers Krebswahn kann man als Hirngespinst eines mörderischen Tyrannen abtun, aber es gab während des Krieges ein anderes Krebsforschungsprojekt, das um einiges substantieller war – es erhielt großzügige Unterstützung vom Deutschen Forschungsrat und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – und noch heute rätselhaft ist. Das »Reichsinstitut für Krebsforschung« wurde im Herbst 1942 in Nesselstedt nahe Posen (Poznan) eingerichtet, ungefähr 200 Kilometer östlich von Berlin und auf polnischem Gebiet. Zunächst sind zwei Dinge an diesem Institut bemerkenswert: der Zeitpunkt der Gründung, mitten im Krieg, wo man doch glauben könnte, die Krebsforschung genieße wenig Aufmerksamkeit, und sein Standort, tief im besetzten Polen. Am erstaunlichsten ist aber, wie großzügig es unterstützt wurde: Vom Juli 1943 bis zum Dezember 1944 erhielt das Institut eine Gesamtsumme von 1,5 Millionen Reichsmark, was zu einer Zeit, als die meisten wissenschaftlichen Projekte Kürzungen hinnehmen mußten, eine enorme Summe war. Warum wurde es in diesem Ausmaß unterstützt? Erste Pläne für das »Reichsinstitut für Krebsforschung« bestanden in den frühen vierziger Jahren. Sie wurden vor allem von Rudolf Mentzel vorangetrieben, dem Präsidenten des Deutschen Forschungsrates, und von Kurt Blome, einer der mächtigsten Persönlichkeiten in der deutschen Medizin, er war stellvertretender Reichsgesundheitsführer und Bevollmächtigter für die Krebsforschung.33 Schon in den frühen dreißiger Jahren konnte man in Krebszeitschriften Kritik darüber lesen, daß es kein reichsweites, zentrales Institut gab, das die deutsche Krebsforschung koordinieren konnte. Und obwohl sich einige lautstark für eine dezentralisierte Krebsbekämpfungspolitik einsetzten,34 war das Beispiel der zentralen Institute in anderen Ländern sehr verlockend. In Italien gab es das Mailänder Institut für Krebsforschung, und die USA hatten seit 1937 das »National Cancer Institute«. Der englische »Imperial Cancer Research Fund« existierte bereits seit vier Jahrzehnten,35 und andere Länder hatten vergleichbare Institute. Obwohl Deutschland in der Krebsforschung führend war, besaß es keine zentrale Forschungsinstitution. Das Reichsinstitut sollte diese Lücke füllen. Die Hoffnungen waren groß, als man im Herbst 1942 mit dem Bau des Instituts begann. Hitler war auf dem Höhepunkt seiner Macht, der größte Teil Europas stand unter seiner Herrschaft. Immer noch erwartete man, daß auch die Sowjetunion bald besiegt sein würde: Der Wendepunkt des Kriegs, 294
die Niederlage der sechsten deutschen Armee vor Stalingrad, ereignete sich erst im Januar 1943. Das Reichsinstitut für Krebsforschung wurde unter großer Aufmerksamkeit der Medien eröffnet. Hermann Göring hatte bereits den Rohbau besucht, und Heinrich Himmler unternahm verschiedene Besichtigungen. Das Institut hatte verschiedene Abteilungen: Gynäkologie, Physiologie und eine große »Tumorfarm«, um Tiere für Experimente heranzuzüchten. Die Hoffnungen, die man auf die benachbarte und verbundene Reichsuniversität Posen setzte, waren ebenfalls groß, sie sollte neben der Reichsuniversität Straßburg das zweite Juwel in der Krone des Reichs werden; man wollte die neue Hochschule in Posen entweder »Hermann-Göring-Universität« oder »Adolf-Hitler-Universität« nennen, während Hitler anscheinend keine der beiden Ideen gefiel. Bei näherer Betrachtung der »Krebsforschung« in Nesselstedt offenbart sich allerdings eine verdächtige Kluft zwischen dem, wofür geworben wurde, und den Dingen, die tatsächlich erforscht wurden. Wie Friedrich Hansen aus Hamburg gezeigt hat, war das Reichsinstitut für Krebsforschung offenbar eine getarnte Einrichtung zur Erforschung und Entwicklung biologischer Waffen.36 Die Beweise für diese Behauptung sind, obwohl indirekt, sehr überzeugend. Die enormen Vorkehrungen, die zum Schutz der Anlage getroffen wurden, sprechen für diese Hypothese. Eine drei Meter hohe Mauer wurde rund um das Anwesen gezogen und darauf mehrere Reihen Stacheldrahtzaun angebracht. Das Institut wurde von einer eigenen SS-Einheit bewacht, was für ein nichtmilitärisches Forschungsprojekt eine ungewöhnliche Vorsichtsmaßnahme wäre. Außerdem hatten verschiedene am Institut tätige Forscher einen militärischen Hintergrund und kein offenkundiges Interesse an oder Erfahrung mit der Krebsforschung. Karl J. Groß war ein österreichischer Arzt und SS-Offizier, der nicht auf Krebs, sondern auf Tropenmedizin spezialisiert war. Es war Groß, der den Bau der Anlage überwachte, zu der auch ein Krematorium und die bereits erwähnte »Tumorfarm« gehörten; des weiteren auch verschiedene »Tierversuchskammern«, alle mit einer Toilette, einem Waschbecken und einem Bett – womit sich die Frage aufdrängt, welche Art von »Tieren« man sich für die Experimente vorgestellt hatte. Groß hatte zuvor bereits mit 1700 Gefangenen in Mauthausen experimentiert. Viele dieser Menschen waren während der Versuche gestorben.37 Für den 295
Bau des Instituts wurden Hunderte von polnischen Arbeitern herangezogen; die Mauern erstellte man mit einem besonderen Zement, der vor dem Eindringen von Bakterien schützen sollte.38 Die Hypothese, wonach dort Forschung an biologischen Waffen betrieben werden sollte, wird zusätzlich durch die Tatsache gestützt, daß einige Institutsangehörige – allen voran Kurt Blome, der das NS-Programm zur Erforschung biologischer Waffen seit 1943 leitete – nach Kriegsende schließlich im Rahmen des geheimen Projekts »Paperclip« für die amerikanischen Militärbehörden arbeiteten, einem Forschungsprogramm, in dem man sich das wissenschaftliche Potential der Nationalsozialisten zunutze machen wollte. Blome gestand nach dem Krieg in den Befragungen durch die Amerikaner, daß Himmler ihm 1943 befohlen habe, an Lagerhäftlingen Experimente mit Impfstoffen durchzuführen. Er gab auch zu, die Anlage in Nesselstedt als geeignete Stätte für solche Versuche vorgeschlagen zu haben. Das NS-Projekt zur Erforschung biologischer Waffen mit dem Decknamen »Blitzableiter« wurde der Armeeführung offenbar als Ersatz zugestanden, nachdem sich Hitler einem intensiveren Atombombenprojekt verweigert hatte.39 Das Institut wurde wohl von sowjetischen Truppen überrannt, bevor Blome jemals eine Chance hatte, mit den Experimenten überhaupt zu beginnen. Die Quellen sind an diesem Punkt nicht eindeutig, was ihm vielleicht half, in Nürnberg seine Haut zu retten. Auf jeden Fall erleichterte es ihm, sich nach dem Krieg den amerikanischen Forschungsprogrammen zur biologischen Kriegsführung anzuschließen.40 Ein weiterer Hinweis ergibt sich aus dem Schicksal der Angestellten und der Dokumente des Instituts nach der Eroberung durch die Alliierten. Die Bombardierung des nahegelegenen Posen begann im Herbst 1944; zu dieser Zeit hatten die Befehlshaber der Wehrmacht bereits die Evakuierung von kriegswichtigen Einrichtungen ins deutsche Hinterland befohlen. Die Einrichtungen und das Personal des Nesselstedter Instituts wurden an einen neuen Ort in der Nähe der Stadt Geraberg, südwestlich von Arnstadt, gebracht, in ein Tal (dem Jonastal), das als »letzter Zufluchtsort« der führenden Nationalsozialisten betrachtet wurde. Blome floh im Januar 1945 mit seinen Bakterienkulturen in dieses Tal – anscheinend hoffte er, eine biologische »Wunderwaffe« zu entdecken, die es den Deutschen erlaubt hätte, das Ruder kurz vor dem Zusammenbruch noch einmal herumzureißen. Das 296
umgezogene Institut erhielt viel Geld: 300000 RM im Oktober 1944, gefolgt von 500000 RM am Ende desselben Jahres.41 Amerikanische Truppen entdeckten bei ihrem Vormarsch nach Thüringen einige der Institutspapiere und Einrichtungsgegenstände (die Region wurde später der Sowjetunion im Tausch gegen West-Berlin abgetreten) und erkannten die Anlage als das, was sie war – ein Krebsinstitut, in dem biologische Waffen erforscht wurden und das Entwicklungsmöglichkeiten besaß. Wir wissen sicherlich noch nicht alles über die Nesselstedter Einrichtung. Die Wahrheit darüber muß in amerikanischen, deutschen (oder japanischen) Archiven schlummern. Es ist zu hoffen, daß noch mehr Dokumente auftauchen werden, die zeigen, ob und in welchem Ausmaß in Deutschlands erstem zentralen »Reichsinstitut für Krebsforschung« unter dem Deckmantel ziviler wissenschaftlicher Forschung biologische Waffen mit Massenvernichtungspotential entwickelt wurden.
»ORGANISCHER« MONUMENTALISMUS Es ist viel darüber nachgedacht worden, ob Hitler »modern« oder »antimodern« war – ich habe jedoch diese Debatte immer für ziemlich unergiebig gehalten, weil diese Begriffe sehr vieldeutig sind. Bedeutet Modernität technische Raffinesse? Säkulare oder rationalisierte Institutionen? Gleichheit der Geschlechter und Ethnien? Einen gewissen ästhetischen Stil oder eine bestimmte Haltung gegenüber der Urbanisierung? Oder einfach Dinge, die einem irgendwie aktuell vorkommen? Natürlich sollte man den Nationalsozialismus nicht als ein Phänomen verstehen, das nichts mit unserer »modernen« Welt zu tun hat, als etwas vollständig Fremdes, das einer anderen Welt angehört. Es gibt in der NS-Ideologie unzweifelhaft den Drang »zurück zu den Wurzeln«, der sich im Engagement der Nazis für eine natürliche Ernährung, für »ländliche Werte« und vieles andere mehr zeigt, welches uns an die Beschwörung eines alten Germaniens erinnern mag. Diese Weltsicht ist von einem entstellenden Gemisch von Motiven aus Aufklärung und Romantizismus geprägt: Viele Nationalsozialisten waren gegenüber dem urbanen Leben negativ eingestellt, sie wandten sich gegen das »Künstliche« und gegen verschiedene 297
Hauptströmungen in der Physik des 20. Jahrhunderts (vor allem gegen die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie). Aber es existierte auch eine Art erneuerter klassisch/technischer Monumentalismus, mit dem man sich auseinandersetzen muß. Ein Stadion, in dem eine halbe Million Menschen hätten Platz finden sollen – das größte der Welt –, steht unfertig in Nürnberg und rostet vor sich hin: ein Vermächtnis des »Führers« und seiner Leidenschaft für das monumentale Spektakel. Phantastische Pläne für interkontinentale ballistische Raketen, raketenbetriebene Bomber und Flugzeuge sowie Hochgeschwindigkeitsautobahnen sind ebenso Ausdruck dieser monumentalistischen Vision wie die ehrgeizigen Krebsregister dieser Epoche und die radiologischen Massenuntersuchungen. Der Hang zum Monumentalen durchdringt auch die nationalsozialistischen Vorlieben für eine natürliche, »organische« Lebensweise. Das größte Hakenkreuz der Welt ist heute ein Hain aus Koniferen, der auf dem Landbesitz eines Bauern bei Berlin in der Form eines hundert Meter großen Hakenkreuzes angepflanzt wurde. Seit mehr als sechzig Jahren stehen die Bäume dort und zeigen jeden Herbst das Hakenkreuz-Muster, wenn sich die Blätter der umliegenden Bäume verfärben. Man kann es nur aus der Luft erkennen. Ein weiteres kurioses Beispiel für den »organischen« Monumentalismus der Nationalsozialisten ist die Förderung der pflanzlichen Medizin. Von 1934 bis 1937 stieg die Bodenfläche, auf der Gewürz- und Heilkräuter angepflanzt wurden, auf mehr als das Zehnfache – von 820 auf 8396 Hektar. Vor allem im Thüringer Wald und in Nordostdeutschland baute man diese Kräuter an, aber alle Landesteile waren an dem Programm beteiligt.42 Populäre Zeitschriften priesen die Bedeutung von natürlicher Ernährung und Arznei, und die Apotheker bemühten sich, die Wirksamkeit der Heilpflanzen herauszustreichen. Man ließ Schulkinder heimische Kräuter sammeln, und sogar das Militär interessierte sich dafür. Die Naturheilmethoden wurden mit so großer Begeisterung aufgenommen, daß sich die Wissenschaftler gezwungen sahen, vor den möglichen Gefahren des Kräutersammelns zu warnen. Die Pflanzen enthalten oft hochwirksame Substanzen; wenn man diesen lange ausgesetzt ist – zum Beispiel durch Hautkontakt beim Sammeln oder Weiterverarbeiten –, kann dies zu Vergiftungen führen, was tatsächlich auch vorkam.43 298
In den späten dreißiger Jahren legten Botaniker der SS unter Himmlers Leitung in Dachau riesige Kräutergärten an, um Gewürze und Heilkräuter zu experimentellen Zwecken anzubauen oder sie an die SS und an die Wehrmacht zu verteilen. Das erste deutsche Konzentrationslager brüstete sich schließlich damit, über die weltweit größte kräutermedizinische Forschungsstätte zu verfügen, in der Tausende von Gefangenen auf rund 80 Hektar sorgfältig bebauter Fläche im »Dachauer Moos« Heilkräuter und Gewürze anbauten, trockneten und verpackten.44 Laut Aussage des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß wurde mit dieser »Plantage« beinahe der gesamte Bedarf an Gewürzen produziert, die die Armee während des Krieges benötigte. Die ganze Operation warf großen Profit ab und ließ einige Hunderttausend Mark pro Jahr in die Kassen der SS fließen – sie war tatsächlich so gewinnbringend, daß auch nach 1945 eine lokale Kooperative diese Plantage weiterführte und dabei Hunderte ehemaliger KZ-Häftlinge beschäftigte.45 Ich bin ein Wissenschaftshistoriker, und wenn es etwas gibt, was Angehörige dieser Berufsgattung besonders gerne betonen, so ist es die Tatsache, daß wissenschaftliche Ideen nie in einem Vakuum gedeihen. Ideen haben oft eine gewisse »Wert-Affinität« (value-slope – ein treffender Ausdruck von Iain Boal), sie werden auf seltsame und kaum durchschaubare Art und Weise von sozialen Kräften in die eine oder andere Richtung getrieben, wodurch offensichtlich wird, daß die »Membran« zwischen Wissenschaft und Gesellschaft häufig durchlässig oder zerrissen ist. In bezug auf die NS-Zeit erwartet man, daß die intellektuellen Aktivitäten von größeren nationalistischen, fremdenfeindlichen und rassenhygienischen Strömungen beeinflußt waren. Ich habe bereits mehrere Beispiele für dieses Phänomen erwähnt, aber es gibt selbstverständlich noch viele andere. In der nationalsozialistischen Landschaftsarchitektur wurden beispielsweise heimische Pflanzenarten den exotischen Sorten vorgezogen. Die Bäume im Reich sollten hoch und unnachgiebig sein, und nicht gekrümmt oder »entartet« wie die »Korkenzieher«-Weide oder die Trauer-Buche. Der nationalsozialistische Garten glich in mancherlei Hinsicht dem »wilden Garten«, der von William Robinson und anderen englischen Gärtnern des fin de siécle bevorzugt wurde – obwohl sich die deutsche Landschaftsarchitektur in ihrem krampfhaften Versuch, auf alles Exotische zu verzichten, auch von ihnen unterschied. Die neue Disziplin der 299
Pflanzensoziologie wurde etabliert – eine Art Agroeugenik –, mit der nationalsozialistische Ideale in die Gartenarchitektur eingeführt werden sollten,46 und man entwarf Pläne, um die natürliche Landschaft mit militärischen und politischen Zielen in Einklang zu bringen; zum Beispiel sollten in den besetzten Gebieten im Osten Heckenreihen von Nord nach Süd angepflanzt werden, um etwaige zukünftige Panzerangriffe zu behindern. Auf die Gefahr hin, daß ich mich noch weiter vom Thema Krebs entferne, möchte ich ein letztes Beispiel für den damaligen paternalistischen »Organizismus« nennen, der die Vormachtstellung alles Nordischen betonte: Walther Schoenichens Buch aus dem Jahr 1942 über Naturschutz. Es handelt sich dabei um eine beachtliche Verteidigungsschrift der Umweltethik und der Bewahrung und Wiederherstellung natürlicher Lebenszusammenhänge (»restituierender Naturschutz«). Man findet darin auch Überlegungen zu den verschiedenen Völkermorden der Welt und zu Maßnahmen, die getroffen werden könnten, um indigene Kulturen zu schützen. Im Rahmen seines größeren Vorhabens, die bedrohte Flora und Fauna zu retten, wartet das Buch mit einem ausgeklügelten Plan »zur Erhaltung der heute noch vorhandenen Restbestände primitiver Menschenrassen« auf.47 Schoenichen vertrat zwar die Meinung, daß »die Zurückdrängung der eingeborenen Bevölkerung in vielen Fällen gewiß eine notwendige Folge des Kampfes um das Dasein« gewesen sei, aber er wies auch die beiden vorherrschenden Methoden zurück, die von den Anhängern einer »liberalistischen Weltanschauung« beschritten worden waren – das »Ausrottungsmodell« der Amerikaner und Australier und die »Assimilationstheorie« der Franzosen. Die nationalsozialistische Politik verwerfe diese beiden Herangehensweisen und ziehe statt dessen vor, daß sich »die Eingeborenen entsprechend ihrem eigenen rassischen Erbe« entwickelten. Zumindest Schoenichens Meinung nach würde eine solche Politik ein Verbot »gemischtrassiger« Heiraten beinhalten, um so die »rassische Reinheit« zu gewährleisten, zudem ein Verbot des Tourismus in diese Naturreservate (die Reservate seien keine Zoos), die Unterbindung kolonialer Besiedlung oder der Einfuhr von Alkohol und Baumwolle (um eine »Verkitschung« der indigenen Kulturen zu verhindern). Diese und andere politische Konzepte sollten verhindern, daß beispielsweise die Hochlandbewohner in Neuguinea das doppelte »liberalistische« Schicksal von Ausrottung oder Anpassung erleiden müßten. Die Bewegungsfreiheit innerhalb der 300
Reservate sollte stark eingeschränkt werden – die »Zwergpapuas« sollten beispielsweise nur bis zur Hauptstadt Ambon reisen dürfen. Längere Reisen – nach Java oder gar Europa – würden den Ureinwohnern nur schaden: »Allzu bald würden sie sich an so viel Licht die Flügel verbrennen«.48 Schoenichens »aufgeklärtes« Eingrenzungsmodell der Ureinwohner und des Naturschutzes ist typisch für einen großen Teil der nationalsozialistischen Überlegungen zu Umweltschutz und Anthropologie: Rassistische Ausschlußkonzepte verbanden sich mit der Vorstellung, daß Dinge (oder Menschen) an ihrem angestammten Ort verbleiben und von Supermächten mit weitreichenden Einflußmöglichkeiten und weltverbessernden Plänen kontrolliert werden sollten. Die Krebspolitik der Nationalsozialisten kann auch in diesem ideologischen Kontext verstanden werden: Registrierungen und Routineuntersuchungen, der gesund erhaltene Körper und der ungefährlich gemachte Arbeitsplatz sollten gemeinsam das deutsche Volk für seine Aufgabe stärken, eine bessere Welt zu schaffen.
KONNTEN DIE NS-MASSNAHMEN KREBS VERHINDERN? Den Nationalsozialisten schwebte eine Manipulation des universellen Lebens vor, wie sie zuvor in der modernen Welt noch nie dagewesen war, aber es ist nicht leicht auszumachen, ob die nationalsozialistische Politik zur Bekämpfung von Krebs – oder die Krebspolitik irgendeines anderen Landes – einen erkennbaren Effekt auf die Krebsraten hatte. Das läßt sich schwer beantworten, denn die Leiden und Nöte dieser Zeit hatten – ganz abgesehen vom körperlichen und seelischen Leid an der Front und in den Lagern –, natürlich Auswirkungen auf die langfristige Gesundheit der Bevölkerung, die sich schlecht quantifizieren lassen. Die Medizinhistoriker sind sich sehr wohl bewußt, daß Kriege oft unerwartete und einschneidende Konsequenzen für das Gesundheitsniveau der Bevölkerung haben. Die Hungersnot in Holland in den Jahren 1944–45 ist ein besonders eindrückliches Beispiel: Die Lebensmittelknappheit war das Resultat des nationalsozialistischen Transportembargos, das verhängt wurde, nachdem die Holländer in Erwartung der Befreiung durch die Engländer einen Streik organisiert hatten. Obwohl die Hungersnot nur sechs 301
Monate lang dauerte – bis zum 7. Mai 1945 –, forderte sie Menschenleben in einem schrecklichen Ausmaß. Babys, die in dieser Zeit geboren wurden, waren oft klein oder wurden zu früh geboren, und sie litten überdurchschnittlich oft an Geburtsschäden, einschließlich geistiger Behinderungen.49 Es gibt viele ähnliche Beispiele aus anderen Teilen der Welt: So zog der Golfkrieg von 1991 beispielsweise den Tod von einer Million Irakern nach sich, es starben vor allem Kinder oder alte Menschen wegen fehlender medizinischer Versorgung oder an Krankheiten, die durch verschmutztes Trinkwasser verursacht wurden. Es gibt jedoch auch bekannte Beispiele dafür, daß sich das Gesundheitsniveau durch kriegsbedingte Verknappungen in gewisser Hinsicht verbesserte. Im Ersten Weltkrieg traten zwar Rachitis und andere Vitaminmangelkrankheiten in vielen europäischen Ländern verstärkt auf (weil kaum frisches Obst oder Gemüse gegessen wurde), die Diabetesraten aber sanken deutlich, weil kaum raffinierter Zucker erhältlich war. Viele ähnliche Auswirkungen konnte man nach dem Zweiten Weltkrieg beobachten – weniger Fälle von Arteriosklerose beispielsweise, weil wenig Fleisch und Fett konsumiert wurden.50 Was läßt sich über die langfristige Entwicklung der Krebsraten in Deutschland sagen? Eine interessante Tatsache ist, daß sich bei deutschen Frauen in der Zeit von 1950 bis 1990 offenbar ein deutlicher Rückgang der Krebsraten verzeichnen läßt, wie er noch nie in einer Industrienation vorgekommen ist. Die Zahl der Frauen, die an Krebs starben, fiel von 1952 bis 1990 um ungefähr 12 Prozent, während sie in vielen anderen Ländern stieg.51 Da die heutigen Krebsraten meist das Bild der Belastungen spiegeln, denen die Menschen vor zwanzig bis dreißig Jahren ausgesetzt waren, ist es denkbar, daß die Sozialpolitik der Nationalsozialisten – neben der fettarmen Ernährung während des Krieges und der Armut in der Nachkriegszeit – bei der Abnahme der Krebs-Sterberate eine gewisse Rolle gespielt hat. Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, stellte ich mir vor, daß die nationalsozialistische Politik gegenüber Frauen – zum Beispiel die finanzielle Unterstützung von Athletinnen und Müttern, und dazu die Aufforderung an Frauen, ihre Kinder zu stillen – zumindest teilweise für die sinkenden Krebsraten verantwortlich gewesen sein könnte. Nun zeigt sich jedoch, daß dies nicht zutrifft – jedenfalls nicht in entscheidendem Maß. Die302
ser Schluß ergibt sich aus der Beobachtung, daß die Brustkrebsraten in Deutschland (diejenigen Raten also, die nach unserer heutigen Auffassung als Konsequenz der oben erwähnten Maßnahmen hätten fallen sollen) in Wirklichkeit seit dem Krieg nicht gesunken sind. Von 1952 bis 1990 stieg die alterskorrigierte Zahl der Todesfälle durch Brustkrebs um mehr als 40 Prozent, von 16 pro 100000 auf 23 pro 100000. Wie erklären wir dann die Tatsache, daß die Gesamt-Krebsrate der Männer in der Nachkriegszeit anstieg, während diejenige der Frauen sank? Der entscheidende Punkt ist offenbar, daß – einmal ganz abgesehen von geschlechtsspezifischen Krebserkrankungen wie Brust- und Gebärmutterhalskrebs oder Hoden- und Prostatakrebs – Frauen und Männer eine höchst unterschiedliche Lungenkrebsrate aufweisen. Die Differenz ist frappierend: 1952 betrug die jährliche Lungenkrebs-Todesrate bei Frauen nur gerade 4 pro 100000, während sie im gleichen Jahr bei Männern bei 22 pro 100000 lag. Bis zum Jahr 1990 stieg die Rate bei den Frauen auf 8 pro 100000, während sie bei den Männern auf die enorme Zahl von 49 pro 100000 kletterte (vgl. Tabelle 7.1). In Deutschland sterben heute mehr Männer an Lungenkrebs als an irgendeiner anderen Krebsart, bei Frauen steht Lungenkrebs dagegen immer noch an dritter Stelle, nach Brust- und Dickdarmkrebs. Die Lungenkrebsraten unterscheiden sich zwischen den Geschlechtern so markant, daß ansonsten die Gesamt-Krebsrate bei Männern und Frauen annähernd die gleiche wäre.
Wie läßt es sich erklären, daß soviel mehr Männer als Frauen an Lungenkrebs sterben? Man könnte argumentieren, daß deutsche Männer einem größeren Krebsrisiko am Arbeitsplatz ausgesetzt sind als Frauen, zum Bei303
spiel durch gefährliche Chemikalien. Aber dies gibt keine Antwort auf die Frage, warum die Lungenkrebsrate bei Amerikanerinnen viel höher liegt als bei den deutschen Frauen.52 Tatsächlich gibt es dafür aber eine plausible Erklärung – ich würde für die folgende Begründung plädieren: Erstens hielt der nationalsozialistische Paternalismus Frauen oft mit Zwang vom Rauchen ab, und zweitens brachte der nationalsozialistische Militarismus eine große Zahl von Männern in Situationen, in denen das Rauchen nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert wurde – erinnern wir uns daran, daß der Anteil der rauchenden Männer zunahm, während der durchschnittliche Zigarettenkonsum sank.53 Es gelang den Nationalsozialisten nicht zu verhindern, daß der Tabakkonsum insgesamt anstieg und 1942 einen Höhepunkt erreichte, aber es gelang ihnen, viele Frauen vom Rauchen abzuhalten. Die Armut und die Vorratswirtschaft während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit ließen dann den Tabakkonsum sinken. Man wird nie mit Exaktheit sagen können, wie viele Frauenleben durch die Kampagne gegen den Tabak und den Zusammenbruch der Tabakindustrie im Jahr 1945 gerettet wurden. Trotzdem ist es vielleicht wichtig festzustellen, daß viel mehr Frauen an Lungenkrebs gestorben wären, wenn die Zahl der Erkrankungen in Deutschland so schnell angestiegen wäre wie in den USA. Die Lungenkrebsrate der Frauen stieg in den USA zwischen 1952 und 1990 auf mehr als das Sechsfache (vgl. Tabelle 7.1). Die Zahlen bei den deutschen Frauen hingegen verdoppelten sich nur. Wäre die Rate in Deutschland so schnell gestiegen wie in den Vereinigten Staaten, so wären de facto rund 20000 Frauen mehr gestorben. Es läßt sich also sagen: Welche Faktoren auch immer die deutschen Frauen davon abhielten, sich das Rauchen so schnell anzugewöhnen wie die Amerikanerinnen, sie verhinderten den Lungenkrebstod von rund 20000 deutschen Frauen.
DIE »NAZIKARTE« AUSTEILEN Der Nationalsozialismus bleibt von großem Symbolgehalt, und es ist kaum überraschend, daß er eine wahre Arena für philosophische wie auch kommerzielle Anliegen geschaffen hat. Der Nationalsozialismus ist der moralische Tiefpunkt vieler der »rutschigen Abhänge«, über die sich die Bioethiker 304
ihre Gedanken machen. Er ist der bedrohliche mögliche Endpunkt, an den die Euthanasie und mißbräuchliche Experimente gelangen können. Man kann den Einfluß des Nationalsozialismus auf die medizinische Ethik, die Beziehungen zwischen den Ethnien und auf vieles andere mehr kaum hoch genug einschätzen. Aber ich möchte auch behaupten, daß die »Auswirkungen« der NS-Medizin nicht so offensichtlich sind, wie manche es gern glauben. Man kann beispielsweise die nationalsozialistischen »EuthanasieProgramme« gegenüber Behinderten nicht einfach mit den aktuellen Bemühungen vergleichen, die es den Menschen ermöglichen wollen, die Art und den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen (beispielsweise mittels schriftlicher Erklärungen von Personen, die ihr Leben nicht künstlich verlängert haben möchten). Die Diskussion über die Bioethik ist durchsetzt mit leichtfertigen Gleichsetzungen mit den Vorgängen im Nationalsozialismus, ob es nun um Abtreibung, die technokratische Medizin oder die Sterbehilfe geht. Ich schließe mich der Meinung von Michael Burleigh an, daß die heutige Diskussion über Euthanasie relativ wenig mit der im Nationalsozialismus zu tun hat. Ich würde ebenfalls Arthur Caplan dahingehend zustimmen, daß man Vergleiche mit dem Nationalsozialismus nur mit äußerster Vorsicht ziehen kann, da man sonst Gefahr läuft, entweder die gegenwärtige Politik zu verunglimpfen oder aber die singuläre Ungeheuerlichkeit der nationalsozialistischen Verbrechen zu schmälern.54 Die Bioethiker sind jedoch nicht die einzigen, die eifrig ihre »Lehren« aus dem Holocaust ziehen wollen. Auch die Verteidiger des Rauchens und des Tabaks haben begonnen, auf die »Nazikarte« zu setzen, indem sie von »NicoNazis« und »Tabakfaschismus« reden. Als Anti-Tabak-Aktivisten 1997 in Winthrop (Massachusetts) versuchten, den Tabakverkauf in der Stadt zu verbieten, verkündete ein betroffener Tabakhändler, daß die Gesundheitsbehörden dort weitermachten, wo Hitler aufgehört habe.55 Eine Zeitung in Toronto verurteilte Anti-Tabak-Aktivisten als »NicoNazis« und »Gesundheitsfaschisten«.56 Der unglaublichste mir bekannte Fall ereignete sich im Sommer 1995, als Philip Morris in vielen europäischen Magazinen Anzeigen schaltete, in denen Raucher mit ghettoisierten Juden und Tabakgegner mit Nazis verglichen wurden. In dieser Anzeige war ein Stadtplan von Amsterdam abgebildet, auf dem ein Gebiet in der Nähe des traditionellen Judenviertels abgegrenzt war und als »Raucherviertel« bezeichnet wurde. Die 305
Überschrift lautete: »Wo ziehen sie die Grenze?« – womit impliziert wurde, daß die gesellschaftlichen Bemühungen, das Rauchen zu verbieten, mit den nationalsozialistischen Maßnahmen zur Isolierung der Juden vergleichbar seien (siehe Abb. 7.1). Es wird vermutlich noch mehr solche Versuche geben, die »Nazikarte« zu spielen, da die Auseinandersetzungen um das Rauchen immer heftiger geführt werden.
IST DIE NS-KREBSFORSCHUNG TABU? Es wurde bereits sehr viel darüber geschrieben, was man mit den »besudelten« NS-Forschungsergebnissen tun solle – das hauptsächliche Dilemma liegt in der Frage, ob es für zeitgenössische Forscher unbedenklich ist, wissenschaftliche Informationen zu nutzen, die unter zweifelhaften Umständen erhoben wurden. Die Debatte steht oft im Schatten zahlreicher Mißverständnisse – als ob die »Nazi-Daten« etwas Einmaliges und klar Definiertes wären, als ob in den Archiven der Konzentrationslager bislang unentdeckte Weisheiten versteckt lägen. Diese Vorstellung scheint etwas Aufregendes an sich zu haben: In einer Zeit, in der Enthüllungsgeschichten und Verschwörungstheorien hoch im Kurs stehen, geht so manchem die Phantasie durch: Man stellt sich vor, Menschen in mächtigen Positionen würden große Geheimnisse der einen oder anderen Art hüten, die vielleicht wegen militärischer Geheimhaltung oder wegen irgendeines anderen machtvollen Tabus nicht ans Licht kämen. Die Diskussionen werden großenteils in dieser Atmosphäre geführt. Man glaubt, bisher unentdeckte »Nazi-Daten« könnten Heilungs- und Behandlungsmöglichkeiten beinhalten und so Leben retten. Es wird argumentiert, man müsse die NS-Forschungsergebnisse als eine Art Wiedergutmachung begreifen – als wären die Menschen nicht umsonst gestorben, wenn aus den blutbefleckten Daten ein medizinischer Nutzen gezogen werden könnte.57 In Wahrheit ist alles viel weniger spektakulär. Erstens waren die Amerikaner den NS-Forschungsergebnissen gegenüber von Anfang an keineswegs abgeneigt. Bereits vor Kriegsende interessierte sich die US-Armee für die NS-Wissenschaft und –Technologie, schon damals begannen das Office of Strategie Services und andere amtliche Stellen Akten über die nationalsozia306
ABB. 7.1. »Wo ziehen sie die Grenze?« Der Zigarettenkonzern Philip Morris vergleicht Raucher mit Juden und Tabakgegner mit Nationalsozialisten. Das Unternehmen verschweigt, daß die deutsche Tabakindustrie die Ideen der Nationalsozialisen begeistert aufnahm. Quelle: Newsweek (Eurpäische Ausgabe), 25. Juni 1995, o.O.
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listische Wissenschaft, Kunst und Kultur anzulegen.58 Man schickte Spione aus, die herausfinden sollten, wie weit die Deutschen mit der Entwicklung einer Atombombe gekommen waren,59 und auch die Arbeit der Deutschen an biologischen Waffen wurde eingehend untersucht. Nach dem Krieg setzte die amerikanische Regierung in Kooperation mit den Briten und den Franzosen die FIAT-Kommission ein, welche die Ergebnisse der deutschen Wissenschaftler und Ingenieure sichten und zusammenfassen sollte. Daraus entstand eine wahre Enzyklopädie der deutschen Wissenschaft der Kriegsjahre, die insgesamt rund fünfzig Bände umfaßte und Informationen zu den unterschiedlichsten Themen von der Biophysik bis hin zu den Viruserkrankungen enthielt.60 Man kann die Frage, ob man sich der NS-Forschungsergebnisse bedienen soll, nicht stellen, ohne zu berücksichtigen, daß die Alliierten sie tatsächlich vom ersten Tag an verwendeten. Ich möchte allerdings einräumen, daß es dennoch Fälle gibt, in denen die ethische Diskussion zentral bleibt. Das berühmteste Beispiel der letzten Jahre ist die Frage, was mit dem »Pernkopf-Atlas« geschehen soll. Dies ist ein bekanntes medizinisch-anatomisches Werk, bei dem für die Illustrationen vermutlich Opfer des nationalsozialistischen Terrors hinzugezogen wurden.61 Es gibt Stimmen, die den Atlas als einen der besten charakterisieren, die je publiziert wurden, oder ihn als Standardwerk bezeichnen, an dem alle weiteren illustrierten anatomischen Werke gemessen werden sollten.62 Chirurgen konsultieren den Atlas vor Operationen, und sogar elektronische Fachmedien für den Gebrauch am Computer verweisen auf diesen Band, der für seine Präzision und seine realistischen Darstellungen lange Zeit sehr bewundert wurde. Mißtrauen gegenüber dem Atlas kam erstmals Mitte der achtziger Jahre auf, als ein amerikanischer Illustrator medizinischer Darstellungen entdeckte, daß frühe Ausgaben des Werks versteckte Hakenkreuzsymbole sowie das doppelte Blitzsymbol der SS (beispielsweise in der Signierung eines Zeichners namens Karl Entresser) enthielten. Damals kam der Verdacht auf, die für das Buch verwendeten Leichen könnten Opfer des NS-Massenmordes an Juden und Fahrenden oder der »Euthanasie«-Operation gewesen sein –63 die Köpfe einiger Leichen waren geschoren, wie dies in den Konzentrationslagern üblich gewesen war, und mindestens einer der Männer war beschnitten. Der Verdacht wurde durch die Tatsache erhärtet, daß Prof. Dr. 308
Eduard Pernkopf selbst ein begeisteter und einflußreicher Nationalsozialist gewesen war, der sich der österreichischen Partei der Nationalsozialisten bereits 1933 heimlich angeschlossen hatte. Als Österreich am 15. März 1938 »ins Reich heimgeholt« wurde, wurde Pernkopf zum Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Wien ernannt, wo er die Entlassung von 153 der 197 Professoren anordnete, einschließlich aller Juden und Kommunisten. Zur Belohnung wurde Pernkopf im Jahr 1943 zum Rektor der Universität ernannt. Und obwohl er nach dem Krieg drei Jahre im Gefängnis saß (man konnte ihm keinerlei Verbrechen nachweisen), gelang es ihm, noch im Jahr 1952 den dritten und letzten Band seines großen Werkes zu publizieren. Was soll man tun, wenn sich herausstellt, daß die Leichen, die für den Pernkopf-Atlas benutzt wurden, Opfer der NS-Vernichtungspolitik waren? Soll man das Buch – im Namen der Opfer des Naziterrors – verbieten und aus den Bibliotheken entfernen? Welchen Unterschied macht es, ob die abgebildeten Personen Juden, Euthanasieopfer, politische Gegner der Nationalsozialisten oder Verbrecher waren? Der Band wurde seit den fünfziger Jahren routinemäßig von Ärzten benutzt, offenbar ohne daß sie viel von der Herkunft des Buches gewußt hätten. Die englische Übersetzung von 1990 erhielt sowohl im Journal of the American Medical Association als auch dem New England Journal of Medicine begeisterte Besprechungen – in keiner der beiden Rezensionen stand ein Wort über die faschistischen Neigungen des Autors oder die fragwürdige Herkunft der Leichen.64 Dies ist das Dilemma: Was macht man mit einem Text, der moralisch zweifelhafter Herkunft ist und trotzdem medizinisch wertvoll sein kann? Die Universität Wien hat schließlich im Jahr 1996 eine historische Untersuchung zu diesem Sachverhalt in die Wege geleitet. Großer Druck von Medizinhistorikern und Aktivisten für eine Holocaust-Gedenkstätte war notwendig gewesen, um die Untersuchung in Gang zu bringen.65 Der Bericht erschien im Oktober 1998 mit den folgenden Resultaten: Mindestens 1377 Leichen waren aus den Hinrichtungskammern der Gestapo in Wien in Pernkopfs anatomisches Institut geschickt worden. Die Gehirne von Kindern, die man in der psychiatrischen Klinik von Wien umgebracht hatte, wurden vom Institut mißbraucht. Nur acht Prozent der Ermordeten waren Juden – bei den meisten Opfern handelte es sich um nichtjüdische Österrei309
cher, die sich verschiedene »Verbrechen« zuschulden hatten kommen lassen. Sie waren des Ungehorsams gegenüber dem faschistischen Regime für schuldig befunden worden, der illegalen Schlachtung von Tieren, des unerlaubten Hörens des Senders BBC oder des Handels auf dem Schwarzmarkt.66 Obwohl keines der Opfer in dem Atlas identifiziert werden kann, hat der amerikanische Verlag (Waverly, Inc.), der heute im Besitz der Rechte für den Pernkopf-Atlas ist, verlangt, daß auf jedem in Deutschland verkauften Buch die Warnung aufgedruckt werde, daß die nationalsozialistische und antisemitische Haltung des Autors »einen Schatten« auf dieses Buch werfe. Aber es wurden auch drastischere Maßnahmen gefordert. Die Bibliothek des »National Eye Institute« in Bethesda, Maryland, hat in jedes Buch vorne eine Notiz legen lassen, die den politischen Hintergrund Pernkopfs und die fragwürdige Herkunft der Leichen beschreibt (eine ähnliche Notiz findet man auch im elektronischen Bibliothekskatalog). Andere medizinische Bibliotheken haben das Buch ganz aus ihrer Sammlung verbannt. Ein Arzt aus New Jersey faßte im Jahr 1996 das Entsetzen vieler Kollegen in einem Brief an die medizinische Fachzeitschrift JAMA folgendermaßen zusammen: Die Nationalsozialisten, die nationalsozialistischen Ärzte und ihre Epoche stehen für ein grauenvolles, unvergleichliches Verbrechen, das jeder Menschlichkeit und medizinischen Tradition zuwiderläuft. Das Grauen des Nationalsozialismus macht die üblichen Gedanken zur Verantwortung der Wissenschaft (sowie der Kunst, Literatur und Musik) unzureichend. Viele Historiker und Ethiker stimmen darin überein, daß das medizinische Erbe des Nationalsozialismus aus unserem legitimen professionellen Wissensfundus und der wissenschaftlichen Literatur ausgeschlossen werden sollte. So möchten wir symbolisch daran erinnern, daß sich Pernkopf und seinesgleichen außerhalb der Grenzen der Menschlichkeit bewegten.67 Wie »besudelt« muß eine Arbeit jedoch sein, um eine solche Behandlung zu verdienen? Reicht die Mitgliedschaft eines Autors in der NSDAP oder der SS aus, um ihn aus dem Pantheon der Wissenschaftler zu verbannen? Damit würde man den größten Teil der Krebsforschung ausschließen, die in diesem Buch behandelt wird, und zusätzlich einen großen Teil der Nachkriegswis310
senschaft in Deutschland, darunter fast alle Forschungen zur Humangenetik, da vieles von ehemaligen NS-Sympathisanten erarbeitet wurde. Und was ist mit anderen Verbrechen? Falls ein Philosoph einen Mord begeht, soll man das in seinen Büchern in der Bibliothek vermerken? Der berühmte französische kommunistische Philosoph Louis Althusser brachte seine Frau um und beging daraufhin Selbstmord – aber soweit ich weiß, wurden keine Schritte unternommen, um sein Werk zu verbannen. Was ist mit Wissenschaftlern, die an der Entwicklung der Atombombe mitarbeiteten oder einst Sklaven hielten oder andere verwerfliche Taten begingen (falls sie heute als verwerflich angesehen werden)? Und wie weit soll dieser Makel reichen – bis zu den Leuten, die solche belasteten Werke zitierten oder die sie finanzierten? Solche Fragen gelten keineswegs nur für die Medizin. Mit einem ähnlichen Dilemma sieht sich der kritische Leser des Werkes von Martin Heidegger konfrontiert. Heidegger war nationalsozialistischer Rektor der Universität Freiburg und feierte die innere Wahrheit und Größe des Nationalsozialismus, während er die Juden von der Universität ausschloß.68 Wie soll man mit dem Werk Paul de Mans umgehen, des belgischen Literaturtheoretikers, der pronazistische Schriften verfaßte, bevor er zum Guru der amerikanischen Dekonstruktivisten wurde? Und was ist mit dem Wissenschaftsskeptiker Paul Feyerabend, der 1943–44 als Offizier der deutschen Armee an der Ostfront stand und sich in seiner Autobiographie an diese Zeit nur noch verschwommen erinnert?69 Oder mit Karl H. Bauer, der nach dem Krieg als Leiter des Deutschen Krebsforschungszentrums Erfolge feierte, obwohl er ein begeisterter Befürworter der NS-Sterilisationsgesetze gewesen war? Die Frage läßt sich leichter stellen als beantworten, vor allem wenn wir den Fragehorizont noch ausdehnen: Piaton hat die Sklaverei verteidigt – legt sich deshalb ein schwarzer Schatten über die Eleganz seiner Ethik und Ästhetik? Werden die Leistungen des Staatsmannes Thomas Jefferson gemindert, weil er Sklaven hielt? Im Falle Pernkopfs sind sich die meisten Kommentatoren einig, daß es falsch gewesen war, die Herkunft der Opfer zu ignorieren, und man Schritte unternehmen müsse, um ihre Identität zu klären. Die Vergeßlichkeit in bezug auf die Krebsforschung der Nationalsozialisten eröffnet verschiedene Fragen, und in gewisser Hinsicht geht es um ähnliche Probleme wie im oben 311
erläuterten Fall. Der Kampf der Nationalsozialisten gegen den Krebs wurde ignoriert, weil uns die Vorstellung nicht behagt, daß Menschen mit ruchlosen moralischen Werten dennoch in den Bereichen der Medizin und der öffentlichen Gesundheit hätten ihrer Zeit voraus sein können. Wir scheinen uns mit einem eindeutigen Schwarzweißbild wohler zu fühlen: Wenn doch der Nationalsozialismus die Verkörperung des absolut Bösen war, so müssen wir uns nicht mit den beunruhigenden Verbindungen beschäftigen, die zum Vorher und zum Nachher bestehen. Wir müssen nicht über Hitlers Vegetarismus nachdenken oder über die Kampagnen für ein Verbot von Lebensmittelfarben und den Kampf gegen das Rauchen, gegen die Strahlung und den Asbest – alles Bemühungen, die zumindest teilweise von der nationalsozialistischen Ideologie inspiriert waren. Es ist richtig, daß man sich an die mörderischen Seiten der nationalsozialistischen Medizin erinnert – aber diese bilden nur einen Teil der Geschichte, und wenn man sie für das Ganze nimmt, verzerren sie unsere Wahrnehmung. Nicht weil man so die Verbrechen übertrieben darstellen würde – das wäre kaum möglich –, sondern eher weil die Gefahr besteht, daß wir so die Wurzeln und die Anziehungskraft des Nationalsozialismus nicht verstehen können. Wir müssen auch die fruchtbare Seite des Nationalsozialismus betrachten, und nicht nur seine Grausamkeit. Es darf nicht geschehen, daß vom Nationalsozialismus bloß eine dämonische Karikatur bleibt, die jegliche Verbindungen zu anderen Zeiten und Orten leugnet. Es ist nicht angenehm, an die amerikanischen Ärzte zu denken, die darüber debattierten, ob psychisch kranke Patienten vergast werden sollten,70 oder an die Tatsache, daß eine Schrift von Josef Mengele im Index Medicus aufgelistet ist,71 oder daran, daß die NS-Ärzte die Sterilisationsgesetze und die Politik der Rassensegregation sowie die mißbräuchlichen Experimente mit Blick nach Amerika rechtfertigten. Wir müssen uns der unbequemen Tatsache stellen, daß das nationalsozialistische Deutschland kein isolierter Fremdkörper war: Die Fäden reichen zurück in die Zeit vor 1933 und führen nach 1945 weiter – östlich in den kommunistischen Block und nach Asien, und westlich ins übrige Europa und nach Amerika.
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DIE B-SEITE DES NATIONALSOZIALISMUS Meiner Entscheidung, mich auf die gesundheitspolitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten zu konzentrieren, liegt keineswegs die Absicht zugrunde, zu banalen Schlußfolgerungen darüber, wie »aus Bösem auch Gutes entstehen kann«, zu gelangen, oder die Ehre dieser Epoche zu retten. Ich möchte weder die Aufmerksamkeit von den gutdokumentierten Grausamkeiten ablenken, noch »Hitler hinter uns lassen«, wie dies James Watson gefordert hat, um die Biotechnologie in Deutschland in Schwung zu bringen.72 Mein Ziel ist nicht zu behaupten, heutige Anti-Tabak-Aktivisten hätten faschistische Wurzeln oder die Maßnahmen zur Förderung der öffentlichen Gesundheit seien prinzipiell totalitär – wie uns manche »Freigeister« glauben machen wollen.73 Mein Ziel ist vielmehr zu zeigen, daß die »Gleichschaltung« der deutschen Wissenschaft und Medizin komplexer war, als gemeinhin angenommen wird. Die Geschichte der Wissenschaft unter dem NS-Regime ist einerseits geprägt von Zwangssterilisationen und »Selektionen« im Rahmen der Vernichtungspolitik, aber andererseits auch von öffentlichen Rauchverboten und der Förderung der pflanzlichen Medizin. Wir wollen die Verbrechen eines Mengele nicht vergessen, aber wir sollten uns auch daran erinnern, daß die Gefangenen in Dachau dazu gezwungen wurden, Bio-Honig zu produzieren, und daß die SS den europäischen Mineralwassermarkt kontrollierte. Beide Elemente – das Ungeheuerliche und das Alltägliche – sind zentrale Elemente des Nationalsozialismus. Im Gegensatz zu Horkheimer und Adorno glaube ich nicht, daß jede moderne Wissenschaft eine autoritäre Tendenz in ihrem Kern trägt, genausowenig glaube ich an das nie versiegende selbstzerstörerische Potential der Aufklärung.74 Eine so pessimistische Sicht verkennt, daß Wissenschaft mit vielen unterschiedlichen Zielen betrieben werden kann, auch vernachlässigt sie die Fähigkeit der scientia, als Opposition zu wirken, sei es im Widerstand oder im Wiederaufbau. Jedoch glaube ich, daß wir besser verstehen lernen müssen, wie die alltägliche Praxis der Wissenschaft so leicht mit der alltäglichen Ausübung von Grausamkeit zusammenlaufen konnte. Die Geschichte der NS-Krebsforschung zeigt uns, daß nicht alle Aktivitäten der Nationalsozialisten dahinge313
hend interpretiert werden können, daß sie die Gesundheit der Menschen zu zerstören suchten. Es gibt sogar Bereiche, in denen sie die Gesundheit förderten – zumindest zu einer bestimmten Zeit und für einige Bevölkerungsgruppen. Der ausschließliche Bezug auf die schrecklichen Aspekte der nationalsozialistischen Wissenschaft erleichtert es uns, die Ereignisse der NS-Epoche dem Ungeheuerlichen zuzuschreiben, das vollkommen außerhalb unserer eigenen Welt steht. Aber die Geschichte ist komplexer, als daß die Medizin einfach verrückt gespielt hätte. Die NS-Kampagnen gegen den Tabak oder für den Konsum von Vollkornbrot sind in gewissem Sinne genauso nationalsozialistisch wie der »Judenstern« und die Todeslager. Wenn wir uns mit diesen Komplexitäten auseinandersetzen, so könnte uns dies die Augen dafür öffnen, wie sehr die Vergangenheit mit der Gegenwart zusammenhängt. Vielleicht können wir so auch besser verstehen, warum es dem Nationalsozialismus überhaupt gelang, so viele Anhänger zu finden.
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ANMERKUNGEN
PROLOG 1. Joseph Goebbels, Die Tagebücher von Joseph Goebbels: Sämtliche Fragmente, hrsg. von Elke Fröhlich, Teil 1, Bd. 4, Aufzeichnungen 1924-41 (München 1987), S. 710f. 2. William E. Seidelman, »Animal Experiments in Nazi Germany«, in: Lancet 1 (1986), S. 1214. 3. Herbert Mehrtens, »Irresponsible Purity: The Political and Moral Structure of Mathematical Sciences in the National Socialist State«, in: Monika Renneberg, Mark Walker (Hrsg.), Science, Technology and National Socialism (Cambridge: Cambridge University Press 1994), S. 324-38. 4. Billy F. Price, Adolf Hitler: The Unknown Artist (Houston: Billy F. Price, 1984). 5. D. Bauer, »So lebt der Duce«, in: Auf der Wacht 54 (1937), S. 19f. Die deutsche Propaganda stellte Churchill auch als exzessiven Trinker dar. 6. Omer Bartov, »An Idiot’s Tale: Memories and Histories of the Holocaust«, in: Journal of Modern History 67 (1995), S. 55-82. Ich zweifle Daniel Goldhagens These, wonach der Antisemitismus das zentrale Element des Holocausts war, nicht an (was sollte es sonst gewesen sein?), aber ich zweifle daran, daß man wie er über andere Faktoren einfach hinweggehen kann – beispielsweise die Bürokratisierung des Tötungsprozesses, oder wie man die Juden mit anderem »unwerten Leben« in Verbindung brachte; vgl. ders., Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust (Berlin 1996). 7. Derartige Argumente sind in Mode – vgl. beispielsweise William A. Rusher, »The Health Fascists Are Blowing Smoke«, in: Kerville Daily Times, 4. Januar 1996. KAPITEL 1 1.Hueper nannte als Referenz seinen Bruder Heinz, einen Ortsgruppenleiter in Bochum, der der NSDAP im Herbst 1932 beigetreten war. Huepers Bruder war schon früh Mitglied des Nationalsozialistischen Lehrerbunds (Nr. 21327) 315
und gab seine Religion auf dem NSDAP-Parteiformular als »nat.-soz.« an. Vgl. Heinz Huepers Parteiakte im Bundesarchiv Berlin und W. C. Hueper an Bernhard Rust, Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz, BerlinDahlem, Rep. 76 Va, Sekt. 1, Tit. IV, Nr. 5, Bd. 27, S. 19. Robert Rößle, Direktor des Pathologischen Instituts Berlin, prüfte Huepers Brief (der zusätzlich eine Publikationsliste und einen zweiseitigen Lebenslauf enthielt) und bemerkte, es sei schwierig zu beurteilen, ob Hueper sich für eine akademische Position in Deutschland eigne, da die amerikanische Pathologie nicht mit der deutschen zu vergleichen sei. Hueper war seiner Meinung nach weder erfahren genug für eine Berufung, noch eine »Größe« auf diesem Gebiet. Rößle hielt zudem fest, es sei gegenüber Deutschlands zahlreichen angehenden Professoren nicht gerecht, einen Mann zu ernennen, der Deutschland in seiner schwierigen Zeit nicht die Treue gehalten habe (Rößle an Ministerialrat Schnöring, 13. November 1933, in ebd.). Mein Dank gilt Michael Hubenstorf für den Hinweis auf diese Akten. 2. Siehe meine Untersuchung Cancer Wars: How Politics Shapes What We Know and Don’t Know about Cancer (New York: Basic Books, 1995), S. 36-53; zudem Christopher Seilers, »Discovering Environmental Cancer: Wilhelm Hueper, Post-World War II Epidemiology, and the Vanishing Clinician’s Eye«, in: American Journal ofPublic Health 87 (1997), S. 1824-35. 3. Für neuere Darstellungen siehe Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer (Frankfurt am Main 1997); Christoph Meinel und Peter Vos-winckel (Hrsg.), Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus: Kontinuitäten und Diskontinuitäten (Stuttgart 1994); zudem Renneberg und Walker, Science, Technology and National Socialism. 4. Michael H. Kater, Ärzte als Hitlers Helfer (Hamburg/Wien 2000). Ute Deichmann, Biologen unter Hitler: Vertreibung, Karrieren, Forschung (Frankfurt am Main 1992). 5. Robert N. Proctor, »From Anthropologie to Rassenkunde: Concepts of Race in German Physical Anthropology«, in: Bones, Bodies, Behavior: Essays on Biological Anthropology, hrsg. von George W Stocking, Jr. (Madison: University of Wisconsin Press, 1988), S. 138-79. 6. Paul Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism 1870-1945 (Cambridge: Cambridge University 316
Press, 1989); Christian Pross und Götz Aly (Hrsg.), Der Wert des Menschen: Medizin in Deutschland 1918-1945 (Berlin 1989); Götz Aly und Karl Heinz Roth, Die restlose Erfassung: Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus (Berlin 1984), zudem meine Veröffentlichung Racial Hygiene: Medicine under the Nazis (Cambridge: Harvard University Press, 1988). 7. Jeffrey Herf, Reactionary Modernism: Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich (Cambridge: Cambridge University Press, 1984); vgl. auch Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung: Die Moderne und der Holocaust (Frankfurt am Main 1995) und Mario Biagioli, »Science, Modernity, and the ›Final Solution‹«, in: Probing the Limits of Representation: Nazism and the »Final Solution«, hrsg. von Saul Friedländer (Cambridge: Harvard Universiry Press, 1992), S. 185-205. 8. Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals, Bd. 7 (Washington, D.C.: U.S. Government Printing Office, 1953), S. 27 (dt.: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg, 14. November 1945-1. Oktober 1946, München/Zürich 1984). 9. John Gimbel nimmt in seinem Werk Science, Technology, and Reparations: Exploitation and Plunder in Postwar Germany (Stanford: Stanford University Press, 1990), S. 22, folgendes in seine Liste der Neuerungen in der NS-Ära auf: Fließpressen für Kaltstahl, Infrarotaufnahmen aus der Luft, neue Typen optischer Gläser, leistungsfähige Stromkreisunterbrecher, Spritzgußverfahren, Windkanäle, Azetylenchemikalien, neue Textilien und Textilverarbeitungstechniken, neue Holz- und Keramikprodukte, Röntgenschläuche, Kassettengeräte, starke Pressen, Dieselmotoren, Starkstromleitungen, Radio-Kondensatoren, Farbfilmentwicklung, Präzisionsmahlwerkzeug und eine »einzigartige Maschine zur Schokoladeverpackung«. 10. Office of Military Government for Germany, Field Information Agency Technical, FIAT Review of German Science, 1939-1946, Complete List of Review Titles (Wiesbaden 1947), Gimbel, Science, Technology, and Reparations. 11. Kristie Macrakis, Surviving the Swastika: Scientific Research in Nazi Germany (New York: Oxford University Press, 1993), S. 110f. 317
12. Eine der wenigen Ausnahmen ist Gustav Wagners und Andrea Mauerbergers institutionelle Hagiographie Krebsforschung in Deutschland (Berlin 1989); vgl. zudem Evelyn H. Salazar, Krebsforschung und Krebsbekämpfung in Berlin bis zum fahre 1945 (Berlin: Med. diss., 1986); Ronald Woitke, Zur Entwicklung der Krebserfassung, -behandlung und -fürsorge im »Dritten Reich« (Leipzig: Med. diss., 1993); Achim Thom, »Zur Entwicklung, staatlichen Förderung und Wirksamkeit der außeruniversitären Krebsforschungszentren in Deutschland zwischen 1900 und 1945« (unveröff. MS). Ute Deichmann, Biologen unter Hitler, enthält eine kurze Diskussion der Krebsforschung, S. 126–29. Die umfassendste Bibliographie zur Krebsforschung im »Dritten Reich« und der unmittelbaren Nachkriegszeit ist: Ernst Rückert, Heinz Kleeberg, 25 Jahre Krebsforschung im deutschsprachigen Schrifttum: eine Auswahl von Buch- und Zeitschriftenliteratur aus den Jahren 1931-1955 (Berlin 1961); die umfangreichste, allerdings etwas mangelhafte Bibliographie der Literatur bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts: Robert Behla, Die Carcinomlitteratur. Eine Zusammenstellung der in- und ausländischen Krebsschriften bis 1900 (Berlin: R. Schoetz, 1901). 13. Siehe zum Beispiel Gerhard Baader und Ulrich Schultz (Hrsg.), Medizin und Nationalsozialismus: Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition?, 2. Aufl. (Berlin 1983); Johanna Bleker und Norbert Jachertz (Hrsg.), Medizin im Dritten Reich (Köln 1989); Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik (Opladen 1986); Fridolf Kudlien (Hrsg.), Ärzte im Nationalsozialismus (Köln 1985); Achim Thom und Genadij I. Caregorodcev (Hrsg.), Medizin unterm Hakenkreuz (Berlin 1989); außerdem meine Studie Racial Hygiene und Robert Jay Lifton, Ärzte im Dritten Reich (Stuttgart 1988). 14. Ludwig Rehn, »Blasengeschwülste bei Fuchsin-Arbeitern«, in: Archiv für klinische Chirurgie 50 (1895), S. 588-600. 15.E. Pfeil, »Lungentumoren als Berufserkrankung in Chromatbetrieben«, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 61 (1935), S. 1197-1200. 16. Paul G. Unna wird gemeinhin das Verdienst zugeschrieben, als erster den Zusammenhang zwischen Hautkrebs und Sonnenlicht erkannt zu haben; vgl. ders., Die Histopathologie der Hautkrankheiten (Berlin: A. Hirschwald, 1894). 318
17. Albert Frieben, »Cancroid des rechten Handrückens«, in: Deutsche medicinische Wochenschrift 28 (1902), S. 335; Kurt Ziegler, Experimentelle und klinische Untersuchungen über die Histogenese der myeloiden Leukämie (Jena: G. Fischer, 1906); Heinrich W. Schmidt, »Radioaktivitätsmessungen in St. Joachimsthal«, in: Physikalische Zeitschrift % (1907), S. 1-5; Ekkehard Schmid, »Messungen des Radium-Emanationsgehaltes von Kellerluft«, in: Mitteilungen aus dem physikalischen Institut der Universität Graz 82 (1932), S. 233-42. Die Österreicher stellten als erste eine hohe Leukämie-Rate unter Radiologen fest; vgl. Nikolaus von Jagic et al., »Blutbefunde bei Röntgenologen«, in: Berliner klinische Wochenschrift 48 (1911), S. 1220ff. 18. Richard von Volkmann, leitender Chirurg in der deutschen Armee im Krieg von 1870-71, beschrieb im Jahr 1875 Hodenkrebs bei Männern, die in der Herstellung von Paraffin aus Braunkohle arbeiteten; siehe seine Beiträge zur Chirurgie (Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1875), S. 370 ff. Deutsche erbrachten Pionierleistungen in der Erforschung von durch Benzol verursachter Leukämie; vgl. Carl G. Santesson, »Chronische Vergiftungen mit Steinkohlentheerbenzin: Vier Todesfälle«, in: Archiv für Hygiene und Bakteriologie 31 (1897), S. 336–376; Martha Schmidtmann, »Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung kleiner Benzin- und Benzolmengen auf Atmungsorgane und Gesamtorganismus«, in: Klinische Wochenschrift 9 (1930), S. 2106ff. 19. Johannes Müller, Über den feinen Bau und die Formen der krankhaften Geschwülste (Berlin: Reimer, 1838); Rudolf L. Virchow, Die krankhaften Geschwülste, 3 Bde. (Berlin: Hirschwald, 1863-1867). 20. Arthur Hanau, »Erfolgreiche experimentelle Übertragung von Carcinom«, in: Fortschritte der Medizin 7 (1876), S. 321-39. 21. Kurt Rostoski, Erich Saupe und Georg Schmorl, »Die Bergkrankheit der Erzbergleute in Schneeberg in Sachsen«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 23 (1926), S. 360-84; dort wird daraufhingewiesen, daß die Bergleute der Uranminen von Schneeberg noch zehn bis achtzehn Jahre, nachdem sie die Bergwerke verlassen hatten, an Krebs erkranken konnten; vgl. auch Otto Teutschlaenders Diskussion des »Latenzstadiums der Krebsentstehung« in »Die Berufskrebse (mit besonderer Berücksichtigung der in Deutschland vorkommenden)«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 32 (1930), S. 614-27.
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22. Jens Paulsen, »Konstitution und Krebs«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 21 (1924), S. 126ff. 23. Karl Heinrich Bauer, »Krebs und Vererbung«, in: Münchener medizinische ‘Wochenschrift 87 (1940), S. 474-80; Peter Karlson, Adolf Butenandt: Biochemiker, Hormonforschung, Wissenschaftspolitiker (Stuttgart 1990), S. 126–32 und 184 ff. 24. Charles Steffen, »Max Borst (1869-1946)«, in: American Journal of Dermatopathology 7 (1985), S. 25 ff. 25. Rudolf Roosen, Die Isaminblautherapie der bösartigen Geschwülste (Leipzig: Kabitzsch, 1930). 26. Theodor Blühbaum, Karl Frik und Helmut Kalkbrenner, »Eine neue Anwendungsart der Kolloide in der Röntgendiagnostik«, in: Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen 37 (1928), S. 18-29. 27. Otto Jüngling, »Polyposis intestini«, in: Beiträge zur klinischen Chirurgie 143 (1928), S. 476-83; Theodor H. Boveri, Zur Frage der Entstehung maligner Tumoren (Jena: G. Fischer, 1914), S. 25, 41. 28. George Meyer, »Verhandlungen der Internationalen Konferenz für Krebsforschung vom 25.-27. September 1906 zu Heidelberg und Frankfurt a. Main«, in: Zeitschrift für Krebsforschung (1907), S. vii–xxxvi. 29. Die Zeitschrift für Krebsforschung erschien seit 1904. Die erste allgemeine Fachzeitschrift für Krebs war die Revue des maladies cancereuses, die in Frankreich von 1896 bis 1901 erschien; die japanische Zeitschrift Gann wurde 1907 gegründet, die italienische Zeitschrift Tumori im Jahr 1911. Deutschlands Zeitschrift für Krebsforschung erschien regelmäßig bis 1944; die Publikation wurde kurz nach Kriegsende wieder aufgenommen, und 1971 änderte die Zeitschrift ihren Namen in Zeitschrift für Krebsforschung und klinische Onkologie. 1978 wurde ihr Erscheinen eingestellt. 30. Leopold Schönbauer und Erna Ueberreiter, »Erlaubt das vorliegende statistische Material ein Urteil über eine Zunahme der Krebskrankheit?«, in: Wiener medizinische Wochenschrift 100 (1950), S. 556. Das erste von innen (durch eine Gasflamme) beleuchtete Endoskop wurde 1865 in Frankreich von Antoine Jean Desormeaux entwickelt; eine elektrische Version wurde 1879 von Josef Leiter in Wien hergestellt (ebd.). Die NS-Zeit erlebt die Entwicklung des weltweit ersten Polykolposkops, das mehreren untersuchenden Personen gleichzeitig erlaubt, in die Gebärmutter hineinzusehen; 320
siehe Helmut Kraatz, »Farbfiltervorschaltung zur leichteren Erlernung der Kolposkopie«, in: Zentralblatt für Gynäkologie 63 (1939), S. 2307ff. 31. Katsusaburo Yamagiwa und Koichi Ichikawa, »Experimentelle Studie über die Pathogenese der Epithelialgeschwülste«, in: Mitteilungen aus der medizinischen Fakultät der kaiserlichen Universität zu Tokyo 15 (1916), S. 295-344. 32. »Es ist jedoch durchaus möglich, daß die Frauen oft und lange im Zigarrenrauch gesessen haben und denselben reichlich einatmen mußten.« Siehe Ernst Schönherr, »Beitrag zur Statistik und Klinik der Lungentumoren«, in: Zeitschrift für Krebsforschung (1928), S. 443. 33. »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung (1941), S. 23. Allein im Jahr 1939 wurden 180 deutsche medizinische Dissertationen zu Krebs geschrieben; Krebs war das Thema von 3,5 Prozent der 5232 medizinischen Dissertationen, die in diesem Jahr verfaßt wurden (ebd.). 34. Michael Hubenstorf, »Ende einer Tradition und Fortsetzung als Provinz. Die medizinischen Fakultäten der Universitäten Berlin und Wien 1925–1950«, in: Meinel und Voswinckel, Medizin, S. 33–53. 35. Wilhelm C. Hueper bemerkte in seinem Occupational Tumors and Allied Diseases (Springfield, Illinois: Charles C. Thomas, 1942), daß durch Anilinfarbstoffe verursachte Krebserkrankungen im allgemeinen zehn bis zwanzig Jahre nach Einführung der Farbstoffherstellung im betreffenden Land indiziert wurden (S. 470f.). Der Mannheimer Pathologe Otto Teutschlaender berichtet in seinem Beitrag »Arbeit und Geschwulstbildung«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 1 (1933), S. 106, verblüffend Ähnliches. 36. Hermann Holthusen und K. Englmann, »Die Gefahr des Röntgenkarzinoms als Folge der Strahlenbehandlung«, in: Strahlentherapie 42 (1931), S. 514-31. 37. G. H. Gehrmann, »The Carcinogenetic Agent – Chemistry and Industrial Aspects«, in: Journal of Urology 31 (1934), S. 136; vgl. auch Wolfgang Hien, Chemische Industrie und Krebs (Bremerhaven 1994), S. 252–71. 38. Ferdinand Blumenthal, »Zum 25-jährigen Bestehen des Deutschen Zentralkomitees«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 22 (1925), S. 97-107. Das Zentralkomitee trug zunächst den Namen Comite für Krebssammel321
forschung und wurde 1906 in »Zentralkomitee zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit« umbenannt. Rudolf Virchow, Robert Koch und Lord Joseph Linster (aus London) waren Ehrenmitglieder des ursprünglichen Comites. Deutschlands erste Krebsforschungsinstitute wurden 1903 (im berühmten Berliner Charite-Krankenhaus) und 1904 (in Heidelberg, auf Anregung des Chirurgen Vinzenz Czerny) gegründet. Ähnliche Institutionen existierten bereits in London, Moskau und Buffalo. Großbritannien gründete 1900 sein eigenes »Central Committee for Cancer Research«, im selben Jahr wurde das Londoner Institut »Middlesex Cancer Research Laboratories« gegründet. 39. Blumenthal, »Zum 25-jährigen Bestehen«, S. 97-107. Der Chirurg Theodor Billroth (1829–1894) behauptete, daß er in seiner klinischen Praxis in Österreich höhere Krebsraten beobachte; seine Befürchtungen wurden von Robert Behla, »Über vermehrtes und endemisches Vorkommen des Krebses«, in: Centralblatt für Bacteriologie 24 (1898), S. 780ff, und von F. Reiche (für Hamburg) in seinem »Zur Verbreitung des Carcinoms«, in: Münchener medizinische Wochenschrift AI (1900), S. 1337ff., bestätigt. 40. Fritz Lickint, Die Krebsfrage im Lichte der modernen Forschung (Berlin: F. A. Herbig, 1935), S. 5. Lickints Charakterisierung von Krebs als häufigster Todesursache in Deutschland kam durch einen statistischen Kunstgriff zustande: Er unterschied zwei Arten von Herzinfarkten, wodurch die Gesamtkrebsrate höher als die beiden einzeln berechneten Herzinfarktkategorien ausfällt. Krebs wurde in den dreißiger Jahren im allgemeinen – und zutreffender – als zweithäufigste Todesursache in Deutschland beschrieben. Im Jahr 1892 starben 126000 Deutsche an Tuberkulose; 1932 war diese Zahl auf 48000 gesunken. Die Krebszahlen für diese beiden Jahre lagen bei 28000 und 87000. 41. »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung0) (1941), S. 158. 42. Siehe meine Studie Racial Hygiene, S. 21 f. und 227-50. 43. Georg Boehncke, »Tabak und Volksgesundheit«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 1 (1935), S. 625. 44. Liek antwortete auf die Kritik an seinem Buch über Krebs von 1932, indem er seine eigene Situation mit derjenigen von anderen vielgeschmähten wissenschaftlichen Größen verglich, beispielsweise von 322
Paracelsus, Vesalius, Lister, Pasteur und Freud. Liek zufolge wurde der Wiener Psychoanalytiker ausgelacht, als er seine bahnbrechenden Ideen der Wiener medizinischen Gesellschaft vorstellte. Siehe Erwin Liek, Der Kampf gegen den Krebs (München: Lehmann, 1934), S. 13. 45. Erwin Liek, »Versuche am Menschen« (1928), in seinen Gedanken eines Arztes (Dresden: Carl Reissner Verlag, 1937). 46. Zu Lieks Leben und Werk vgl. Wolfgang Schmid, Die Bedeutung Erwin Lieks für das Selbstverständnis der Medizin in Weimarer Republik und Nationalsozialismus (Erlangen-Nürnberg: Med. diss., 1989); Michael Kater, »Die Medizin im nationalsozialistischen Deutschland und Erwin Liek«, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 440-63; Heinz-Peter Schmiedebach, »Der wahre Arzt und das Wunder der Heilkunde: Erwin Lieks ärztlich-heilkundliche Ganzheitsideen«, in: Der ganze Mensch und die Medizin (Berlin: Argument-Sonderband, 1989), S. 33-53, und Michael Jens, Erwin Liek: Weltanschauung und standespolitische Einstellung im Spiegel seiner Schriften (Frankfurt am Main 1994). 47. Werner Zabel, »Erwin Liek zum Gedächtnis«, in: Hippokrates 6 (1935), S. 188; Kater, Doctors under Hitler, S. 227. Lieks enger Freund Alfred Brauchle berichtet, Liek sei von Wagner angefragt worden, ob er die Leitung des Rudolf-Heß-Krankenhauses in Dresden übernehmen wolle, jedoch aus gesundheitlichen Gründen gezwungen gewesen, abzulehnen; siehe Brauchles Naturheilkunde in Lebensbildern (Leipzig: Philipp Reclam, 1937), S. 397. 48. Erwin Liek, Die Welt des Arztes: Aus 30 Jahren Praxis (München: Lehmann, 1933), S. 239ff. 49. Weindling, Health, S. 169f; Michael A. Grodin, »Historical Origins of the Nuremberg Code«, in: The Nazi Doctors and the Nuremberg Code: Human Rights in Human Experimentation, hrsg. von George J. Annas und Michael A. Grodin (New York: Oxford University Press, 1992), S. 127f. 50. Der Lehmann-Verlag war in der NS-Zeit der wichtigste Verlag für Rassenkunde und Rassenhygiene, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er wegen seiner Affinität zum Nationalsozialismus aufgelöst. Die medizinischen und militärischen Bücher des Verlags wurden unter den Verlagshäusern Springer und Berg aufgeteilt, die Bücher zur Rassenkunde gingen an die Deutsche Gesellschaft für biologische Anthropologie in Hamburg, 323
einer Organisation mit starken Verbindungen zu neonazistischen Kreisen. Skandalöserweise führen alle anerkannten medizinischen Buchhandlungen in Deutschland heute immer noch den Namen Lehmann. Zur frühen Geschichte des Verlags siehe Hermann Wilhelm, Dichter, Denker, Fememörder. Rechtsradikalismus und Antisemitismus in München von der Jahrhundertwende bis 1921 (Berlin 1989), S. 118-127. 51. Liek, Welt des Arztes, S. 239-44; Jehs, Erwin Liek, S. 36 ff. 52. Frederick L. Hoffman, Amerikas führender Krebspräventionist jener Zeit (und ein eingefleischter Rassist), lobte Liek als »einen herausragenden Wissenschaftler und Autor von medizinischer Literatur« und als »eine sehr ernsthafte und kompetente Autorität«; vgl. ders., Cancer and Diet (Baltimore: Williams & Wilkins, 1937), S. 92, 105. Liek war ein talentierter Autor, stolz auf seinen klaren Stil und darauf, daß er das »Kauderwelsch« seiner akademischen Kollegen vermied. Er war Mitglied des leitenden Ausschusses des Deutschen Sprachvereins, einer Organisation, die sich der Erhaltung der deutschen Sprache verschrieben hatte. Lieks Talent wurde sogar von Kritikern wie Bernhard Fischer-Wasels anerkannt, der seinen Stil als verführerisch bezeichnete, und von Georg Wolff, der sagte, sein Buch über Krebs lese sich fast wie ein Roman (Liek, Der Kampf, S. l4f.). 53. Erwin Liek, Krebsverbreitung, Krebsbekämpfung, Krebsverhütung (München: Lehmann, 1932). 54. Siehe Frederick Hoffman, The Morality from Cancer throughout the World (Newark: Prudential Press, 1915); Vilhjalmur Stefansson, Cancer: Disease of Civilization? (New York: Hill and Wang, 1960); zudem meine Veröffentlichung Cancer Wars, S. 16–34. 55. Liek, Der Kampf S. 24. 56. Ebd., S. 25ff. 57. Georg Ernst Konjetzny, »Chronische Gastritis und Magenkrebs«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung! (1934), S. 76ff. Die Meinungen über Lieks Buch von 1932 reichten, wie er im Vorwort von 1934 bemerkte, von »Meisterwerk« bis zu »Mist«. Bernhard Fischer-Wasels aus Frankfurt behauptete, es enthalte keine einzige neue Tatsache; ein Rezensent im Ärztlichen Wegweiser hielt fest, das Buch bringe nichts Neues. Der Vertreter des natürlichen Lebensstils, Max Oskar Bircher-Benner, hingegen lobte das Buch, weil es den einzigen Weg aufzeige, um Krebs zu bekämpfen; siehe 324
Liek, Der Kampf S. 9 f. 58. Liek, Der Kampf S. 11 f. 59. Nürnberger Zeitung, Nr. 266 (1935), S. 5. Streicher sagte, »Krankheitsverhütung« sei wichtiger als »Krankheitsbekämpfung«. 60. »Die Aufgabe«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 1 (1933), S. 2. Hermann Druckrey war der Ansicht: »Die beste Therapie ist die Prophylaxe«; siehe seinen Aufsatz »Ergebnisse der experimentellen Krebstherapie«, in: Zeitschrift für Krebsforschung AI (1938), S. 124. Die Monatsschrift für Krebsbekämpfung trug den Untertitel Verhütung, Erkennung und Behandlung bösartiger Geschwülste und war damit die erste Krebszeitschrift der Welt, die das Wort »Verhütung« im Titel nannte. 61. Herbert Assmann, »Über Nikotinschäden«, in: Die Genußgifte 36 (1940), S. 39. 62. Vgl. Robert Pois, National Socialism and the Religion of Nature (New York: St. Martins Press, 1986); Gert Groening und Joachim WolschkeBulmahn, »Some Notes on the Mania for Native Plants in Germany«, in: Landscape Journal 11 (1992), S. 116-26; zudem mein Buch Racial Hygiene, S. 223-50. 63. Ernst G. Schenck, Patient Hitler: Eine medizinische Biographie (Düsseldorf 1989), S. 32. 64. Georg Bonne, »Nachbehandlung nach Krebsoperation«, in: Hippokrates 9 (1938), S. 6l2f. 65. Karl Kötschau, »Über Umweltschädigungen«, in: Hippokrates 9 (1938), S. 1282f. 66. Gustav Riedlin, »Das Kochsalz als Kulturgift«, in: Fortschritte der Medizin 53 (1935), S. 543f.; vgl. außerdem Hugo O. Kleine, Ernährungsschäden als Krankheitsursachen: Versuch einer Darstellung der gesundheitsschädlichen Folgen zivilisationsbedingter Fehlernährung (Stuttgart: Hippokrates, 1940). 67. Roland Blaich, »Nazi Race Hygiene and the Adventists«, in: Spectrum 25 (September 1996), S. 14. 68. Felix Grüneisen, »Krebsbekämpfung im nationalsozialistischen Staat«, in: Deutsche medizinische Wachenschrift b9 (1933), S. 1498. Auf absonderlich verdrehte Art und Weise beschuldigte Grüneisen die »bolschewistischen Materialisten«, sie behaupteten, Krebs solle nicht bekämpft 325
werden, da er eine »natürliche« Folge des Älterwerdens sei und die menschliche Bevölkerung auf »natürliche« Art und Weise reguliere (S. 1499). 69. Anton Missriegler, »Die Krebsangst«, in: Hippokrates 9 (1938), S. 469ff. 70. Hans Hinselmann, »14 Jahre Kolposkopie. Ein Rückblick und Ausblick«, in: Hippokrates 9 (1938), S. 661-67; vgl. auch die historische Einführung in Hanskurt Bauer, Farbatlas der Kolposkopie, 4. Aufl. (Stuttgart 1993). Hinselmann entwickelte das Kolposkop 1924. Er trat der NSDAP am 1. Mai 1933 bei und erhielt drei Jahre später Deutschlands erste »Dozentur« für Kolposkopie und Frühdiagnose von Gebärmutterkrebs. Die American Society for Colposcopy, Herausgeberin der Zeitschrift The Colposcopist, wurde 1963 gegründet. 71. Georg Winter, »Die erste Krebsbekämpfung, ihre Erfolge und Lehren«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 1 (1933), S. 3-10. 72. Im Jahr 1941 gab es in Deutschland rund 70 Krebsberatungsstellen. Beratungszentren wurden auch im besetzten Osten eingerichtet, siehe zum Beispiel »Krebsberatungsstelle Litzmannstadt«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 11 (1943), S. 72. Die Beratungsstellen wurden nicht alle gleich stark besucht: das Zentrum in Lodz zählte beispielsweise 1941 nur 200 Besucher (ebd.). 73. Rudolf Ramm, »Systematische Krebsbekämpfung«, in: Die Gesundheitsführung, November 1942, S. 268 f. Jeder Achte, auch bekannt unter dem Titel Ein Film gegen die Volkskrankheit: Krebs, wurde 1941 von Walter Ruttmann produziert, mit wissenschaftlicher Beratung von Hans Auler. Aus der Weimarer Republik gibt es mindestens zwei Krebsfdme: Die Krebskrankheit (1925), produziert von Julius Mayr, Paul P. Gotthardt und Carl Moncorps, und Krebs (1930), ein achtzehnminütiger Stummfilm, der vom Deutschen Hygiene-Museum in Dresden produziert und verliehen wurde. Die beste Analyse der medizinischen Filme aus der NS-Zeit bietet Ulf Schmidt, Medical Research Films, Perpetrators, and Victims in National Socialist Gerrnany, 1933–1945 (Oxford: D. Phil, diss., 1997). 74. Rachel Carson, Silent Spring (Boston: Houghton-Mifflin, 1962), S. 219-44 (dt.: Der stumme Frühling, München 1996). I 326
75. Felix von Mikulicz-Radecki, »Vorsichtsuntersuchungen im Rahmen der Bestrebungen um die Krebsfrüherfassung«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung (1942), S. 84-88. 76. Georg Winter, »Die Früherfassung des Krebses in der Zukunft«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 10 (1942), S. 1-5. 77. Robert Hofstätter, »Über die Notwendigkeit der periodischen Gesunden-Untersuchung und der allgemeinen Meldepflicht zur Bekämpfung der Krebskrankheit bei der Frau«, in: Wiener medizinische Wochenschrift 89 (1939), S. 931-34. Die Berechnungen stammen eigentlich von Carl H. Lasch. 78. Akte Hofstätter, Bundesarchiv Berlin. 79. Walter Niderehe, »Bericht über die Vorträge betr. Krebsbekämpfung auf dem 3. internat. Kongreß f. d. ärztl. Fortbildungswesen in Berlin«, 24. August 1937, S. 4, E 1496, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar. 80. Ebd., S. 8. Felix von Mikulicz-Radecki vertrat diese Ansicht. 81. Hermann Langbein, Menschen in Auschwitz (Wien 1972), S. 427 f. Ich möchte Scott Lentz danken, der mich auf diese Einzelheiten aufmerksam gemacht hat. 82. Lifton, Ärzte im Dritten Reich, S. 477. KAPITEL 2 1. Drei der Krebsforscher, die man an der Charite entlassen hatte – Ferdinand Blumenthal, Eduard Jacobs und H. Rosenberg –, fanden vorübergehend in Belgrad neue Anstellungen; vgl. dazu Michael Hubenstorf, Peter Th. Walther, »Politische Bedingungen und allgemeine Veränderungen des Berliner Wissenschaftsbetriebes«, in: Exodus von Wissenschaften aus Berlin: Fragestellung, Ergebnisse, Desiderate, hrsg. von Wolfram Fischer et al. (Berlin 1994), S. 34f. 2. Blumenthal wurde am 24. September 1933 entlassen. Sein Stellvertreter Hans Auler, mit dem Blumenthal lange zusammengearbeitet hatte, wurde zum stellvertretenden Leiter des Krebsinstituts der Charite ernannt. Ferdinand Sauerbruch übernahm die Leitung des Instituts 1935 (vgl. Wagner und Mauerberger, Krebsforschung, S. 13f.). Blumenthal (18701941) war 1906 Chefarzt der Fürsorgestelle für Krebskranke und Krebs327
verdächtige an der Charite gewesen. Später erforschte er, welche Rolle die Vererbung und Verletzungen beim Entstehen von Krebs spielten. Im Jahr 1931 sagte er voraus, daß nicht nur die Krebsfrage gelöst, sondern auch die Zahl der Krebsopfer um die Hälfte gesenkt werden könne, wenn Deutschland und England je ein Kriegsschiff weniger bauen würden und die dadurch eingesparten 40 Millionen Reichsmark statt dessen in je 40 Krebsinstitute investieren würden. Vgl. seine Schrift »Zum 25-jährigen Bestehen«, S. 543. Blumenthal floh 1933 in die Tschechoslowakei, dann nach Wien und nach dem »Anschluß« nach Belgrad. Von Belgrad aus reiste er zuerst nach Tirana, Albanien, und schließlich nach Reval, Estland, wo er von den Russen gefangengenommen wurde. Er wurde 1941 in die UdSSR deportiert, wo er unter ungeklärten Umständen starb. 3. Heinrich Cramer, »Das allgemeine Institut gegen die Geschwulstkrankheiten im Rudolf Virchow-Krankenhaus, Berlin«, in: Zeitschrift für das gesamte Krankenhauswesen 32 (1936), S. 492 ff. Das neue Institut arbeitete schwerpunktmäßig mit Bestrahlungen und experimentellen Hormontherapien. Die biologische Abteilung des Instituts kooperierte eng mit der I. G. Farben, um neue Chemotherapien zu entwickeln; ebd., S. 494. 4. Salazar, Krebsforschung, S. 83. Zahlreiche weitere jüdische Krebsforscher wurden aus Deutschland und nach 1938 aus Österreich vertrieben. Gustav Bucky (1880-?), ein Radiologe, der 1923 in die USA emigriert war, kehrte in den späten zwanziger Jahren nach Deutschland zurück, wo er zum Leiter der radiologischen Abteilung des Rudolf-Virchow-Krankenhauses in Berlin ernannt wurde (1930-1933). Er kehrte 1933 in die USA zurück, wo er am Albert Einstein College of Medicine in New York arbeitete. Ludwig Teleky wurde gezwungen, Wien zu verlassen; siehe Heinrich Buess, »Der Wiener Sozialmediziner Ludwig Teleky (1872-1957) und seine ›History of factory and mine hygiene‹«, in: Wiener medizinische Wochenschrift 131 (1981), S. 479-83. Offenbar gab es relativ wenige Juden in den offiziellen Organisationen gegen Tabak- oder Alkoholkonsum, aber dieses Gebiet muß weiter erforscht werden. Zur Geschichte der Emigration von Medizinern aus NS-Deutschland vgl. Fischer et al, Exodus, S. 34f., 343-591 und 61530. 5. Eckhart Henning, »Otto Warburg«, in: Berlinische Lebensbilder, Bd. 1, Naturwissenschafen, hrsg. von Wilhelm Treue und Gerhard Hildebrandt 328
(Berlin 1987), S. 299-315. 6. Siehe zum Beispiel David Nachmansohn, German-Jewish Pioneers in Science, 1900-1933 (New York: Springer, 1979), S. 254. 7. Macrakis, Surviving the Swastika, S. 63 f. 8. »Mitteilungen des Deutschen Reichsausschusses für Krebsbekämpfung«, in: Zeitschrift für Krebsforschung AI (1935), S. 522-38. 9. »Vorwort zur neuen Folge«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 40 (1934), S. 1 f. Die Zeitschrift betonte, sie müsse zukünftig versuchen, die »Vielseitigkeit« der Ansichten zur Erforschung und Behandlung von Krebs stärker zu berücksichtigen. 10. »Die Aufgabe«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 1 (1933), S. 1. 11. Die Organisationsstruktur des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung ist detailliert dargestellt in Gerhard Krug, Die Organisation des Kampfes gegen den Krebs in wissenschaftlicher und sozialer Hinsicht (Marburg: Med. diss., 1938), S. 18-30. 12. Die Planung für die Ausstellung »Kampf dem Krebs« des Deutschen Hygiene-Museums begann 1930; die Ausstellung wurde im Februar 1931 eröffnet und in der NS-Zeit erweitert, schließlich bereiste sie Hunderte von Städten im ganzen »Reich«. Noch im August 1944 war die Ausstellung in Lauenburg und Stolp zu sehen (»Ausstellungsverzeichnis 1903-1994«, Archiv des Deutschen Hygiene-Museums; persönliche Mitteilung von Marianne Schneider). Der Ausstellungskatalog ist: Bruno Gebhard, Kampf dem Krebs (Dresden: Deutscher Verlag für Volkswohlfahrt, 1931 und 1933). 13. »Vorwort zur neuen Folge«, S. 1. Hitler tat »Wissenschaft zum Selbstzweck« im allgemeinen als unnötig ab. In einem Gespräch vom 27. März 1942 bemerkte der Führer, »über die Herkunft einer lausigen Fistel wisse man nicht Bescheid, die einfachste und weitverbreitetste Krankheit sei nicht erforscht! Aber die Herrlichkeit des Jenseits mit Himmel und Hölle und allen Schikanen sei ergründet«; siehe Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, 1941-42 (Bonn 1951), S. 354. 14. Wiliam E. Seidelman, »Mengele Medicus: Medicine’s Nazi Heritage«, in: Milbank Quarterly 66 (1988), S. 221-39. 15. Wagner und Mauerberger, Krebsforschung, S. 14f. Die verwendeten Formulare wurden abgedruckt in den »Mitteilungen des Deutschen 329
Reichsausschusses«, S. 525–38. Die Ergebnisse dieser Erfassungen wurden nicht veröffentlicht, offenbar aus Angst vor einer ungünstigen öffentlichen Reaktion. Die Stadt Nürnberg führte im Sommer 1933 ein Krebsregister ein; siehe Nürnberger Zeitung 172 (1935), S. 5. Für eine Übersicht über das Nürnberger Programm vgl. Maximilian Meyer, »Schicksal der Krebskranken«, in: Reichs-Gesundheitsblatt 5 (1940), S. 177-93. 16. Adolf Radermacher, Krebssterblichkeit und -bekämpfung in der Hansestadt Köln von 1932-1940 (Köln: Med. diss., 1942), S. 11 f. 17. Das berühmte »Connecticut Tumor Registry« wurde ungefähr zur selben Zeit – 1937 – eingerichtet, siehe J. T. Flannery und D. T. Janerich, »The Connecticut Tumor Registry: Yesterday, Today and Tomorrow«, in: Connecticut Medicinett) (1985), S. 709-12. 18. »Mitteilungen des Deutschen Reichsausschusses«, S. 525. 19. Ernst Dormanns, »Die vergleichende geographisch-pathologische Reichs-Carcinomstatistik 1925-1933«, in: Referate des II. Internationalen Kongresses für Krebsforschung und Krebsbekämpfung 1 (1936), S. 460-79. Zürich war vermutlich die Welthauptstadt der Autopsie, wo etwa ein Drittel aller Autopsien in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden. Siehe Hans R. Schinz und Adolf Zuppinger, Siebzehn Jahre Strahlentherapie der Krebse: Zürcher Erfahrungen 1919-1935 (Leipzig: Georg Thieme, 1937), S. 1. Dormanns trat der NSDAP am 1. Mai 1937 bei; er arbeitete ab 1941 auch im Amt für Volksgesundheit der NSDAP (Bundesarchiv Berlin). 20. Walter Niderehe, »Bericht über die Vorträge betr. Krebsbekämpfung auf dem 3. internat. Kongreß f. d. ärztl. Fortbildungswesen in Berlin«, 24. Aug. 1937, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar; vgl. auch Anm. 40 in Kapitel 1. 21. Eines der interessanten Phänomene im Zusammenhang mit solchen Zahlen ist ihre Verwendung für ein größeres apokalyptisches Szenario: Alarmierende Statistiken unterschiedlicher Art wurden oft benutzt, um Ängste vor etwaigen Gefahren zu schüren, in der Hoffnung, so eine heftige politische Reaktion zu provozieren. Man findet dieses Phänomen in verschiedenen Bereichen der NS-Medizin, beispielsweise in den Diskussionen von Eugenikern über die Behandlung von genetisch »Minderwertigen« und in den Warnungen vor einer unmittelbar bevorstehenden 330
drastischen Lebensmittelknappheit. Kritiker aus dem Exil wie Martin Gumpert nahmen solche Behauptungen manchmal für bare Münze, um das Regime zu kritisieren, aber sie verkannten dabei die breitere rhetorische Funktion solcher Behauptungen. 22. Ramm, »Systematische Krebsbekämpfung«, S. 266. 23. Otto Bokelmann, »Die Rolle der Propaganda im Kampfe gegen den Krebs«, in: Zentralblatt für Gynäkologie 64 (1940), S. 770-77. 24. Ostpreußischer Landesausschuß und Amt für Volksgesundheit der NSDAP, »Abschrift! Durchführung von sogenannten Reihenuntersuchungen«, 12. Juli 1937; Mikulicz-Radecki an das Gesundheitsamt Weimar, 9. November 1937, E 1496, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar. Thüringens Plan war in verschiedener Hinsicht ähnlich, er betonte die Zusammenarbeit mit der NS-Frauenschaft, fokussierte auf Brust- und Gebärmutterkrebs und beinhaltete kostenfreie, regelmäßige Untersuchungen für Frauen über Dreißig sowie die Einrichtung von Krebsberatungsstellen. Die Reichsarbeitsgemeinschaft für Schadenverhütung half Thüringens Gesundheitsamt bei der Aufführung eines Theaterstücks mit dem Titel Zu spät, das für Prävention warb; vgl. Fritze und Morchutt, »Abschrift«, 13. Juli 1937, E 1496, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar. 25. »Mitteilungen des Deutschen Reichsausschusses«, S. 524f.; und besonders die »Niederschrift über die Mitgliederversammlung des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung am 1. Dezember 1933«, E 1498, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, die eine ausführliche Diskussion über die Vorbereitungen für das Gesetz beinhaltet. Hans Reiter vom Reichsgesundheitsamt war der wichtigste Befürworter eines Krebsgesetzes; der Hamburger Radiologe Hermann Holthusen vertrat den Standpunkt, daß das Gesetz die Strahlung regeln sollte, um »das Keimgut des ganzen Volkes« zu schützen (ebd., S. 4). Die deutsehen Gynäkologen unterstützten 1933 auf ihrer jährlichen Tagung in München einstimmig ein staatliches Krebsgesetz (»Lex Lönne«) und betonten die Notwendigkeit von Kampagnen zur Förderung der Früherkennung. Vgl. Friedrich Lönne, »Wirksame Krebsbekämpfung«, in: Neuere Ergebnisse auf dem Gebiete der Krebskrankheiten, hrsg. von Curt Adam und Hans Auler (Leipzig: S. Hirzel, 1937), S. 205. Die Berliner Gesundheits- und Versicherungsbehörden 331
hatten 1933 versucht, eine allgemeine obligatorische Meldepflicht für Berlin einzuführen, aber es ist nicht klar, wie weit diese verwirklicht wurde; siehe Vertrauensarzt 1 (1933), S. 48. 26. »Verordnung zur Bekämpfung bösartiger Geschwulstkrankheiten«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 7 (1939), S. 202 ff. 27. Friedrich Kortenhaus, »Krebs«, in: Deutsches Gold: Gesundes Leben – Frohes Schaffen, hrsg. von Hans Reiter und Johannes Breger (München: Carl Röhrig, 1942), S. 440. Hans Fuchs war der Hauptinitiator des Danziger Krebsgesetzes. 28. Dänemarks Krebsregister ist beschrieben in Johannes Clemmesen, Statistical Studies in the Aetiology of Malignant Neoplasms, Bd. 1 (Kopenhagen: Munksgaard, 1965), S. 35–59; für die frühe Geschichte der Register siehe Carl H. Lasch, »Krebskrankenstatistik: Beginn und Aussicht«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 50 (1940), S. 245-98. 29. »Berichte«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 1 (1941), S. 333. 30. Meyer, »Schicksal«, S. 178. Die Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 7. Juli 1938 schloß Juden – geltend ab dem 30. September 1938 – vom Praktizieren der Medizin aus; siehe Reichsgesetzblatt 1 (1938), S. 969. 31. Zur elektronischen Datenverarbeitung im Zusammenhang mit dem Holocaust siehe: David Luebke und Sybil Milton, »Locating the Victim: An Overview of Census Taking, Tabulation Technology, and Persecution in Nazi Germany«, in: IEEE Annals of the History of Computing 16 (1994), S. 25-39. 32. Ein gutes Beispiel dafür: Angela von Elling, Michael Wunder (Hrsg.), Krebsregister: Erfassung als Politik? (Hamburg 1986); vgl. auch Hiens Kritik an Registern in der Industrie in: ders., Chemische Industrie, S. 250 ff. 33. Joseph Goebbels, The Goebbels Diaries: 1942–1943, hrsg. von Louis P. Lochner (Garden City, N. Y.: Doubleday, 1948), S. 93 (dt.: Louis P. Lochner (Hrsg.), Goebbels’ Tagebücher aus den Jahren 1942–43 mit anderen Dokumenten, Zürich 1948). 34. Goebbels vermerkte in seinem Tagebuch am 11. März 1942, daß er energisch gegen das Gerede über die »Gelbe Gefahr« vorgehen wolle (ebd., S. 120f.). 35. Joseph Wulf, Aus dem Lexikon der Mörder: »Sonderbehandlung« und verwandte Worte in nationalsozialistischen Dokumenten (Gütersloh 1963). 332
36. Zu den Homosexuellen vgl. Goebbels, Diaries, S. 102. Am 15. Juni 1941 bezeichnete der Propagandaminister das Auswärtige Amt als »einen Staat im Staate. Oder besser noch: ein wachsendes Krebsgeschwür«; vgl. seine Tagebücher, S. 692. Am 22. Juni 1941 charakterisierte Goebbels den Kommunismus als ein »Krebsgeschwür«, das »ausgebrannt« werden müsse. Siehe ebd., S. 710. 37. American Eugenics Society, A Eugenics Catechism (New Haven: The Society, 1935). 38. Richard Doll, persönliche Mitteilung vom 3. August 1997. SSOberführer Holfelder kam im Krieg, am 14. Dezember 1944, in der Nähe von Budapest ums Leben; es wäre interessant zu wissen, ob seine Dias in den Archiven der Universität Frankfurt am Main aufbewahrt worden sind. 39. »Der Begriff des Schmarotzers, wie wir ihn in unserem Volke im Juden eindringlich erlebt haben, kann im menschlichen Körper in vielen Fällen sinnbildhaft, ja beinahe gleich gefunden werden. Der Fremdkeim, der im Körper lebt, dessen höchstes Wohlergehen verbunden ist mit einem Widerstreit der einzelnen Organe, mit einer Disharmonie im Körper, mit der Krankheit, spielt er nicht dieselbe Rolle wie der Jude im Volkskörper?«; in: Wolfgang E. Kitzing, Erziehung zur Gesundheit (Berlin: Reichsgesundheitsverlag, 1941), S. 41. 40. Beispiele für die Einführung von »klarer und einfacher Sprache« durch die nationalsozialistischen medizinischen Behörden und ihre Kampagne gegen Fremdwörter (»Fremdwörter sind Fremdkörper« ) finden sich in Ernst Schliack, Die Amtssprache (Berlin: Langewort, 1941); vgl. auch C. R. H. Rabl, »Sprachreinigung«, in: Deutsches Ärzteblatt 63 (1933), S. 117ff. Für Beispiele der Eindeutschung des Fachjargons in der Genetik siehe »Verdeutschte Fachausdrücke in der Vererbungslehre«, in: Volk und Rasse 11 (1936), S. 100 ff. Martin Staemmlers Rassenpflege im völkischen Staat wurde manchmal als beispielhaft für die Meidung von Fremdwörtern betrachtet; siehe Otto Rabes, »Eins tut not«, in: Volk und Rasse 9 (1934), S. 54f. Für einen allgemeineren Überblick und eine Kritik der nationalsozialistischen Sprache siehe Carl F. Graumann, »Die Sprache der NS-Propaganda und ihre Wirkung«, in: Von der Heilkunde zur Massentötung: Medizin im Nationalsozialismus, hrsg. von Gerrit Hohedorf und Achim Magull-Seltenreich (Heidelberg 1990), S. 185-200. 333
41. Bernhard Fischer-Wasels zeigte 1906, daß der Aminoazo-Farbstoff Scharlachrot Krebs verursachen konnte, wenn er in die Ohren von Versuchskaninchen injiziert wurde; siehe ders., »Die experimentelle Erzeugung atypischer Epithelwucherungen und die Entstehung bösartiger Geschwülste«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 53 (1906), S. 2041-47. 42. Bernhard Fischer-Wasels, »Die Bedeutung der besonderen Allgemeindisposition des Körpers für die Entstehung der Krebskrankheit«, in: Strahlentherapie 50(1934), S. 7, 28. 43. Teutschlaender, »Arbeit und Geschwulstbildung«, S. 75. Rudolf Ramm charakterisierte 1942 Krebszellen als »Parasiten am Mark der Volkskraft«; vgl. ders., »Systematische Krebsbekämpfung«, S. 269. 44. Hans Auler, Der Krebs und seine Bekämpfung (Berlin: Reichsdruckerei, 1937), S. 5; vgl. auch Curt Thomallas Bezeichnung von Krebszellen als »bösartige revolutionäre Zellen«, in: ders., Gesund sein – Gesund bleiben (Berlin: F. W. Peters, 1936), S. 352; zudem die Charakterisierung der Krebsentstehung als »revolutionäre krebsige Umwandlung der Zelle« durch den Radiologen Albert Kukowka. Diese Bemerkungen beziehen sich interessanterweise auf das französische Wort re’volution, nicht auf das deutsche Umwälzung. Friedrich Kortenhaus argumentierte, daß Krebs ein Ergebnis »entarteter« Hormone sei; vgl. ders., »Krebs«, S. 427. Krebs ist andernorts auch beschrieben als das Ergebnis einer »Mischlingsheirat« zwischen zwei Zellen; vgl. Fritz Niedermayer, Was ist nun eigentlich Krebs? (Wien: Deuticke, 1941). 45. Max Borst setzte 1941 Krebs mit Rebellion gleich: »Bei der Infektion ist – kurz gesagt – Krieg, bei den bösartigen Geschwülsten aber Revolution oder Anarchie. Dort Kampf des Organismus gegen äußere Feinde, die Bakterien, hier Kampf der Körperzellen gegeneinander – Bruderkampf«; siehe ders., Streiflichter über das Krebsproblem (München: Lehmann, 1941), S. 26. Militärische Metaphern waren ebenfalls verbreitet: Ein Bericht von 1939 über die experimentelle Erzeugung von Sarkomen durch die Verwendung von radioaktiven Nadeln beschreibt die »stürmische« Entwicklung der Tumore nach der Bestrahlung; vgl. Hans Hellner, »Experimentelle Knochensarkome und ihre Beziehungen zu allgemeinen Geschwulstproblemen«, in: Bruns Beiträge zur klinischen Chirurgie 168 334
(1938), S. 547. 46. Wilhelm Frick, Bevölkerungs- und Rassenpolitik, Rede vom 28. Juni 1933 (Langensalza: Beyer & Söhne, 1933), S. 15; vgl. Paula von Groote Siber, Die Frauenfrage und ihre Lösung durch den Nationalsozialismus (Berlin: Kallmeyer, 1933). 47. Franz G. M. Wirz vom Reichsvollkornbrotausschuß sprach 1940 davon, »die Vollkornbrotfrage ihrer endlichen Lösung zuzuführen«; siehe ders., Vom Brot: Wissen und Erkenntnisse, 3. Aufl. (Stuttgart: Hippokrates, 1940), S. 7; zudem meine Studie Racial Hygiene, S. 235 ff 48. Wolfgang Klarner, Vom Rauchen: Eine Sucht und ihre Bekämpfung (Nürnberg: Rudolf Kern, 1940), S. 48. 49. Adolf Gaschler, »Zentrale Krebsbekämpfung, eine neue Aufgabe für die Sozialversicherung«, in: Vertrauensarzt und Krankenkasse 9 (September 1941), S. 10. Es gibt viele weitere Beispiele für die damalige »Problemlösungs«-Rhetorik. Adolf Wenusch forderte eine »endgültige und einzig richtige Lösung des Entnikotinisierungsproblems«, in: ders., Der Tabakrauch: Seine Entstehung, Beschaffenheit und Zusammensetzung (Bremen: Arthur Geist, 1939), S. 72; Goebbels forderte im Frühjahr 1942 die Einrichtung von Bordellen als eine »endgültige Lösung« für das »Problem« der sexuellen Aktivitäten der ausländischen Arbeiter in Deutschland (siehe Diaries, S. 48). Schroeder schrieb im Juni 1944 an Himmler, um die Erlaubnis für die Durchführung von Menschenversuchen einzuholen, mit dem Ziel, eine »endgültige Lösung« des Problems zu finden, wie man Meerwasser trinkbar machen könne; vgl. Trials of War Criminals, 1, S. 46. 50. D. Roeck, »Krebsbekämpfung!«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 7 (1940), S. 32. 51. Wenn beispielsweise der Bayerische Landesverband zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit Filme über die Prävention von Krebs zeigte, nannte er dies »Aufklärungsarbeit«; siehe »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung (1940), S. 47 und 189. 52. Diese verschiedenen Beispiele von Aufklärungsrhetorik stammen aus »Berichte«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst! (1941), S. 333; Klarner, Vom Rauchen, S. 45; und »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 7 (1940), S. 166, 189,238f, 324. 53. Bock, Zwangssterilisation, S. 269. 335
54. Goebbels, Tagebücher, S. 121. 55. Siehe zum Beispiel Friedrich Lönne, »Früherfassung des weiblichen Genitalkarzinoms durch Aufklärungspropaganda«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 9A(1943),S. 58ff. 56. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno scheinen nicht erkannt zu haben, wie populär der Begriff »Aufklärung« in der NS-Zeit war, zumindest haben sie diese Tatsache nie kommentiert. Sie zogen eine Verbindung zwischen dem Faschismus und »der« Aufklärung, indem sie darauf hinwiesen, daß die Ratio beiden Bewegungen zu Grunde lag. Horkheimer und Adorno sahen im Faschismus in mancherlei Beziehung den Höhepunkt der Aufklärung, genau wie für Georg Lukács der Faschismus der Höhepunkt des Kapitalismus war. Horkheimer und Adorno waren der Auffassung, daß die theoretische Moral der Aufklärung zu Propaganda und Sentimentalität neige, während der Nationalsozialismus den Kult der Stärke zu einer welthistorischen Doktrin erhebe und durch seine eiserne Disziplin seinen Anhängern die Mühe moralischer Gefühle erspare. Vgl. dies., Dialektik der Aufklärung (Frankfurt am Main 1991), S. 88-128. 57. Karl-Heinz Brackmann und Renate Birkenhauer, NS-Deutsch: »Selbstverständliche« Begriffe und Schlagwörter aus der Zeit des Nationalsozialismus (Darmstadt 1988), S. 27. Die Nationalsozialisten wollten eine selektiv transparente Gesellschaft – deshalb die Verordnung von 1938, die das Lagern von Gegenständen im Dachgeschoß untersagte, um zu verhindern, daß die Leute etwas versteckten. 58. Karl H. Zinck, »Entstehungsbedingungen des Krebses und die Frage seiner Erblichkeit«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst7 (1942), S. 497. 59. Ebd., S. 497-507. 60. Die »Gleichschaltung« der deutschen Krebsforschung und -bekämpfung wurde in den Kriegsjahren fortgeführt: 1942 ordnete Conti die »Vereinheitlichung« der deutschen Krebskampagnen an. Er unterstellte die Reichsarbeitsgemeinschaft für Krebsbekämpfung (ursprünglich geleitet von Gottfried Frey) dem Reichsausschuß für Krebsbekämpfung, dieser wiederum unterstand Contis unmittelbarer Kontrolle. Max Borst aus München war Präsident der neuen Organisation; Rudolf Ramm wurde Borsts stellvertretender Vizepräsident, und Hans Auler war für die 336
Krebsforschung und –Statistik verantwortlich. Zu Contis Anordnung betreffend der »Vereinheitlichung der Organisationen zur Krebsbekämpfung« vgl. den Bericht in der Monatsschrift für Krebsbekämpfung 10 (1942), S. 155f.; zudem »Mitteilungen« in derselben Ausgabe, S. 169. 61. Erwin Liek zitiert diese sowie andere kritische Stimmen und antwortet darauf in seinem Buch von 1934, Der Kampf gegen den Krebs. 62. Zur Zunahme siehe Karl Richter, »Die Krebskrankheiten arzneilich heilbar«, in: Fortschritte der Medizin 53, (1935), S. 249; für Einwände siehe Bernhard Fischer-Wasels, »Bekämpfung der Krebskrankheit durch Erbpflege«, in: Deutsches Ärzteblatt 64 (1934), S. 92-95. 63. Der Wiener Arzt Sigismund Peller war dieser Meinung; siehe ders., »Die säkulare Krebskurve«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 40 (1934), S. 465-509; ders., »Zu- oder abnehmende Krebsbedrohung im Lichte der Statistik und neuerer Beobachtungen«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 45 (1937), S. 437 f. Peller vertrat die merkwürdige Ansicht, daß Krebs in einer Körperregion Krebserkrankungen in einer anderen Region verhindern konnte: Er verschrieb deshalb Sonnenbestrahlung, in dem Glauben, daß die Krebserkrankung, die so erzeugt würde, besser heilbar sei als andere Formen von Krebs. Siehe ders., Not in My Time: The Story ofa Doctor (New York: Philosophical Library, 1979), S. 98. 64. Schönbauer und Ueberreiter, »Erlaubt«, S. 556. 65. Ernst Dormanns bemerkte 1933, daß die meisten der führenden deutschen Statistiker (zum Beispiel Robert Rößle, Karl von Wolff, Karl Freudenberg, Sigismund Peller und Friedrich Prinzing) glaubten, die beobachtete Zunahme der Krebsrate sei ein Resultat der Alterung und der verbesserten Diagnostik; siehe seinen »Beitrag zur Frage der Zunahme der Krebskrankheit«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 39 (1933), S. 40-53. Dormanns warnte aber auch davor, in den steigenden Krebssterblichkeitsziffern grundsätzlich nur einen Effekt der verbesserten diagnostischen Möglichkeiten zu sehen: Frühere Generationen von Ärzten seien, so insistierte er, nicht so inkompetent gewesen, wie diese These impliziere (ebd., S. 40f.). Dormanns verwendete Autopsieergebnisse, um zu zeigen, daß immer noch eine von fünf Krebserkrankungen falsch diagnostiziert wurde und daß der Anteil der Fehldiagnosen für die Zeitspanne von 1901– 1911 ungefähr gleich groß war wie der von 1922–1931 (S. 42). Dies war für 337
ihn, wie für viele andere, ein Beweis dafür, daß die Krebssterblichkeitsraten tatsächlich noch höher waren, als offiziell gemeldet wurde; es war zudem ein Beweis, daß die verbesserte Diagnostik nicht ausschließlich verantwortlich war für die beobachtete Zunahme der Krebssterblichkeit. Ärzte in den dreißiger Jahren schienen manche Arten von Krebserkrankungen genauso falsch zu diagnostizieren wie ihre Vorgänger vor dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg spottete Karl Freudenberg von der Freien Universität Berlin über die Meinung (die von Quacksalbern vertreten worden sei), daß die Krebsraten anstiegen; siehe ders., »Die scheinbare Zunahme der Krebssterblichkeit«, in: Archiv für Hygiene und Bakteriologie 136 (1952), S. 129-38. Eigenartigerweise war in Freudenbergs Artikel weder Tabak noch Lungenkrebs erwähnt. 66. Hellmut Haubold, »Statistik und volksbiologische Bedeutung des Krebses«, in: Adam und Auler, Neuere Ergebnisse, S. 144–49. 67. Hellmut Haubold, Krebs und Krebsbekämpfung in Frankreich (Leipzig: J.A.Barth, 1936), S. 248. 68. Siehe mein Buch Cancer Wars, S. 54-77. Juraj Körbler behauptete 1973, daß die modernen Nahrungsmittel – trotz der Konservierungsmittel – eigentlich natürlicher seien als die Nahrungsmittel früherer Jahrzehnte; siehe ders., Geschichte der Krebskrankheit: Schicksale der Kranken, der Ärzte und der Forscher (Wien 1973), S. 187. 69. Die Schweizer Radiologen Hans R. Schinz und Adolf Zuppinger präsentierten 1937 statistisches Beweismaterial dafür, daß die alterskorrigierten Krebsraten in Zürich nicht anstiegen; Krebserkrankungen würden häufiger aus keinem anderen Grund zunehmen, als daß die Menschen länger lebten. Siehe dies., Siebzehn Jahre Strahlentherapie, S. 2-16. Die Autoren wiesen allerdings darauf hin, daß bestimmte Krebsarten im Rückgang begriffen seien (Magen-, Gebärmutterkrebs), während andere häufiger würden (Brust-, Lungenkrebs); siehe S. 11 und 15. 70. Die Medizinische Fakultät der deutschen Universität in Prag war eine derartige pro-nationalsozialistische Hochburg, daß alle Fakultätsmitglieder von der tschechischen Polizei verhaftet wurden, als die deutschen Truppen im Herbst 1938 ins Sudetenland einmarschierten. Drei Jahre zuvor hatten tschechische Behörden die meistgelesene deutsche medizinische Wochenzeitschrift als subversive Publikation verboten – J. F. Lehmanns Münchener 338
medizinische Wochenschrift; siehe dazu mein Buch Racial Hygiene, S. 169 und 275 f. 71. Hans Schwarz, »Nimmt die Krebssterblichkeit zu?«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 42 (1935), S. 426-31; Fischer-Wasels, »Bekämpfung der Krebskrankheit«. 72. Pfeil, »Lungentumoren«, S. 1198f. 73. Fritz Lenz, »Zur Erneuerung der Ethik«, in: Deutschlands Erneuerung 1 (1917), S. 42 f. Lenz’ Aufsatz wurde 1933 neu veröffentlicht unter dem Titel Die Rasse als Wertprinzip (München: Lehmann, 1933). 74. Leonardo Conti (Hrsg.), Sauna: Ein Weg zur Volksgesundheit (Berlin: Reichsgesundheitsverlag, 1942), S. 3; vgl. Hans Hoske, »Im Kampf gegen die Zivilisationsschäden«, im selben Band. 75- Albert Wolff, »Zur Krebsfrage: Erwin Liek zum Gedächtnis«, in: Hippokrates 8 (1937), S. 63ff. 76. Detlef Bothe, Neue Deutsche Heilkunde: 1933-1945 (Berlin 1991), S. 290. 77. Goebbels, Tagebücher, S. 651 f., 706. 78. Ebd., S. 688. 79. Trials of War Criminals, 1, S. 656, 668. Gebhardt bezeugte, daß Himmler unentwegt versucht habe, alte Heilmittel neu zu entdecken (S. 669). Die homöopathischen Wirkstoffe, die in den Versuchen in Dachau verwendet wurden, sind auf S. 658 beschrieben. Diese Experimente forderten zehn Todesopfer (S. 659). KAPITEL 3 1. Siehe meine Veröffentlichung Racial Hygiene, S. 55 ff 2. Friedrich Hoffmann, Opera Omniaphysico-medica (Genf 1761), 3, S. 446. 3. Siehe mein Buch Cancer Wars, S. 218–22. 4. Die erste Studie über Zwillinge mit Krebs stammt offenbar von Tito Spannoc-chi, »Contributo alle ereditarietá dei fibromi dell’utero«, in: Archivio italiano di Ginecologia 2 (1899), S. 251–54. Ein Überblick über die Bemühungen, mit Zwillingsforschungen die Frage nach der Erblichkeit von Krebs zu klären, findet sich bei Heinrich Kranz, »Tumoren bei Zwillingen«, 339
in: Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre 62 (1932), S. 173-81; vgl. zudem J. J. Versluys, »Zwillingspathologischer Beitrag zur Ätiologie der Tumoren«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 41 (1935), S. 239-59. 5. Juraj Körbler, »Zur Frage der Vererbung und der Kontagiosität bei Krebs«, in: Zeitschrift für Krebsforschung AI (1938), S. 86. 6. Fritz Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre (München: Lehmann, 1921), S. 258– 62. Ein Artikel aus dem Jahr 1944 in der Zeitschrift für Krebsforschung nannte Charles Otis Whitman, Fritz Lenz und Karl H. Bauer als die frühesten Pioniere der somatischen Mutationshypothese, später gefolgt von Frederik G. Gade aus Norwegen, (Hans?) Schwarz und Hans R. Schinz; siehe Ulrich Henschke, »Über Geschwulsttheorien und die Möglichkeit der Entstehung der Geschwulstzelle durch Spontanmutation«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 54 (1944), S. 12ff. Henschke bemerkte, medizinische Kreise widersetzten sich der Idee, daß nur mutationsauslösende Faktoren Krebs verursachen könnten und alle Karzinogene – z.B. Röntgenstrahlen, Radioaktivität, ultraviolette Strahlen – Mutationen auslösten (S. 15). Henschke stellte korrekterweise fest, daß Krebs im Verlauf der Evolutionsgeschichte nicht ausgerottet worden war, weil er vor allem Menschen angreift, die das Reproduktionsalter überschritten haben. Da die Evolution nur durch Mutation möglich sei, führte er weiter an, sei Krebs in diesem Sinne eine unglückliche Folge der Möglichkeiten der Evolution (S. 23). 7. Karl Heinrich Bauer, Rassenhygiene: Ihre biologischen Grundlagen (Leipzig: Quelle und Meyer, 1926), S. 207. Bauer blieb in seinen frühesten eugenischen Vorschlägen relativ gemäßigt: Er folgte zum Beispiel Bonhoeffer in der Argumentation, daß die Sterilisation nur bei einem kleinen Kreis von Krankheiten angebracht sei; vgl. dazu auch seine Einwände gegenüber »dem Irrwahn gewisser Rassefanatiker, die da glauben, eine aktivistische eliminatorische Rassenhygiene erfordere spartanische Methoden; mißbildete Kinder z.B. gehörten in die Schluchten des Taygetus oder lebensunwertes Leben, z.B. unheilbarer Geisteskranker, sei zu vernichten« (S. 207). Bauer warnte davor, daß eine übertrieben aggressive Eugenik versehentlich die Geburt von Persönlichkeiten der Größe König Wilhelms des Dritten von England (der eine Frühgeburt war) verhindern könnte, oder eines Alexander von Humboldt (der bei der Geburt 340
schwächlich war) oder eines Beethoven (S. 207f.). In Anbetracht seiner späteren Karriere ist es seltsam, daß er Krebs in seinem Buch nicht erwähnte. Bauer wurde jedenfalls zu einem begeisterten Verfechter des Sterilisationsgesetzes von 1933. Nach dem Krieg rehabilitierte ihn der weithin angesehene Philosoph Karl Jaspers, der ihn gegenüber den Anschuldigungen der Amerikaner in Schutz nahm. Dies erlaubte es Bauer, zum ersten Rektor der Universität Heidelberg nach dem Krieg zu werden; vgl. Bernd Laufs, »Vom Umgang der Medizin mit ihrer Geschichte«, in: Hohendorf und Magull-Seltenreich, Von der Heilkunde zur Massentötung, S. 237–41; Cornelia Girndt und Abraham Lauve, »Die vertanen Jahre«, in: Frankfurter Rundschau, 18. Oktober 1986. Für eine eher oberflächliche Darstellung von Bauers Leben und Werk siehe In Memoriam Karl Heinrich Bauer, hrsg. von Fritz Linder (Berlin 1992); vgl. auch Karl Jaspers und K. H. Bauer, Briefwechsel 1945-1968 (Berlin 1983). 8. Karl Heinrich Bauer und Felix von Mikulicz-Radecki, Die Praxis der Sterilisationsoperationen (Leipzig: J. A. Barth, 1936). Die amerikanischen Besatzungsbehörden ernannten Bauer 1945 zum Rektor der Universität Heidelberg. Zu den Beschuldigungen der Nazi-Kollaboration, die 1968 erhoben wurden, siehe Christian Pross, »Nazi Doctor, German Medicine, and Historical Truth«, in: Annas und Grodin, Nazi Doctors, S. 41 und 49, Anm. 31. 9. Karl Heinrich Bauer, Mutationstheorie der Geschwulst-Entstehung (Berlin: Springer, 1928). 10. Otmar Freiherr von Verschuer, Leitfaden der Rassenhygiene (Leipzig: Georg Thieme, 1941), S. 158. Albert Dietrich aus Tübingen folgte Bauer und übernahm dessen These: »Alle positiv mutationserzeugenden, strahlenden Energien sind aber zugleich krebserzeugend (K. H. Bauer)«; vgl. Albert Dietrich, »Der Stand der Krebsforschung«, in: Krebsbehandlung und Krebsbekämpfung, hrsg. vom Landesausschuß für Krebsbekämpfung in Bremen (Berlin: Urban & Schwarzenberg, 1938), S. 15. 11. Max Schüller, »Gibt es eine Prädisposition für Krebs und worin besteht sie?«, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 1 (1904), S. 831. Schüller selbst war der Meinung, es sei noch nicht bewiesen, daß diese Unterschiede auf die Rasse zurückzuführen seien. 12. Deutschlands wichtigste Zeitschrift für Rassenhygiene gab 1904 die 341
folgende weitverbreitete Meinung wieder: »Unter den Menschenrassen ist augenscheinlich die weiße Rasse besonders bevorzugt vom Krebs. Man glaubt vielfach, daß manche farbige Rassen, so u. a. manche Negervölker in Afrika, ganz frei von Krebs, immun gegen ihn seien« (ebd., S. 825). Schüller unterstützte die These, daß Personen, die erst kürzlich in ein Land immigriert waren, krebsanfälliger seien als Personen, die in diesem Land geboren waren (S. 826), eine Meinung, die mit den damals beliebten Keimtheorien im Einklang stand. 13. Ukrainische Frauen starben offenbar viermal häufiger an Krebserkrankungen der Geschlechtsorgane als jüdische Frauen, die in der Ukraine lebten, und es starben auch nur halb so viele ukrainische Jüdinnen an Brustkrebs. Siehe Arkadij M. Merkow, »Zur vergleichenden Charakteristik der Krebsaffektion der wesentlichsten nationalen und sozialen Gruppen der Stadtbevölkerung der Ukraine«, in: Zeitschrift für Krebsforschung^ (1931), S. 285-98. 14. Gerhard Wagner, »Unser Reichsärzteführer spricht«, in: Ziel und Weg 5 (1935), S. 432f.; Theobald Lang, »Die Belastung des Judentums mit Geistig-Auffälligen«, in: Nationalsozialistische Monatshefte 3 (1932), S. 2330; Walter Gross, »Die Familie«, in: Informationsdienst, Nr. 58 (20. September 1938). Für eine provokative Kritik und Besprechung besonders der pränazistischen Literatur siehe Sander L. Gilman, The Jew’s Body (London: Routledge, 1992). 15. Sander L. Gilman, Freud, Race, and Gender (Princeton: Princeton University Press, 1993), S. 172 (dt.: Freud, Identität und Geschlecht, Frankfurt am Main 1994). 16. Wagner, »Unser Reichsärzteführer spricht«, in: Ziel und Weg 5 (1935), S. 432; vgl. Walter Schottky (Hrsg.), Rasse und Krankheit (München: Lehmann, 1936) und Wilhelm Hildebrandt, Rassenmischung und Krankheit: Ein Versuch (Stuttgart: Hippokrates, 1935). 17. Den besten Überblick über Ungenauigkeiten bei Krebsstatistiken bietet wahrscheinlich noch immer Clemmesens Werk Statistical Studies, S. 1–34. 18. Hoffman, Mortality from Cancer, S. 15 f., 129. Nicht alle waren der Auffassung, daß Schwarze weniger anfällig seien: Ein Professor der Physiologie und der medizinischen Jurisprudenz am Medical College of South Carolina in Charleston schrieb 1892: »Wenn wir unsere 342
Aufmerksamkeit noch einmal auf die allgemein anerkannte Ätiologie des Gebärmutterkrebses richten, so sollten wir zweifellos in Erwägung ziehen, daß farbige Menschen dafür besonders anfällig sind. Wenn wir an die Zügellosigkeit und Lasterhaftigkeit dieser Rasse denken und an die unvermeidlichen Traumen im Gebärmutterhals von Frauen, die viele Kinder zur Welt gebracht haben, so sind dies sicherlich keine Bedingungen, die – vorsichtig gesagt – die schwarze Rasse weniger anfällig für Krebs machen würden.« Siehe Middleton Michel, »Carcinoma Uteri in the Negro«, in: Medical News 11 (1892), S. 402. 19. Alfredo Niceforo, »Cancer in Relation to Race in Europe«, in: Report of the International Conference on Cancer (Bristol: J. Wright & Sons, 1928), S. 502; Eugene Pittard, »Can We Ignore the Race Problem in Connection with Cancer?«, ebd., S. 503-7. 20. Hermann Stahr, »Vom Lungenkrebs«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 5 (1938), S. 212. 21. Arthur Purdy Stout, »Tumors of the Neuromyo-Arterial Glomus«, in: American Journal of Cancer 2A (1935), S. 255-72. 22. Gilman, Freud, S. 170-73. Adolf Theilhaber wies als einer der ersten daraufhin, daß Gebärmutterkrebs bei jüdischen Frauen relativ selten war; siehe seinen Beitrag »Zur Lehre von der Entstehung der Uterustumoren«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 56 (1909), S. 1272 f. Theilhabers Sohn Felix, Zionist und Autor der jüdischen Untergangstheorie, befaßte sich auch mit Gebärmutterkrebs. Er floh 1935 aus Deutschland. Die beste Übersicht über die Verbreitung von Krebs bei den europäischen Juden vor 1933 bietet wohl Sigismund Peller, »Über Krebssterblichkeit der Juden«, in: Zeitschrift für Krebsforschung (1931), S. 128–47. Peller war ein Wiener Jude, der 1934 mit seiner Frau nach Palästina auswanderte; vgl. ders., Not in My Time. 23. Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre, S. 264 ff. 24. Sigmund Rascher, »Denkschrift«, 1. Mai 1939, Bundesarchiv Berlin; Wolfgang Benz, »Dr. med. Sigmund Rascher: Eine Karriere«, in: Dachauer Hefte 4 (1988), S. 193f. Das Treffen, das in Raschers Denkschrift beschrieben wird, fand am 24. April 1939 statt. Zusätzlich zu diesem Ratten-Plan wünschte Himmler offenbar, daß Rascher herausfand, ob die Krebsraten in den abgelegenen ostpreußischen Dörfern des Memellandes 343
niedriger seien als anderswo. Himmler war zudem an der Frage interessiert, ob Kunstdünger Krebs verursachten, und zwar im besonderen, ob die Dünger, die man auf Futterwiesen verwendete, bei Kühen Krebs erzeugten. Rascher sollte die örtlichen Tierärzte kontaktieren, auch nationalsozialistische Bauern und führende Kirchenleute, um die lokalen Krebsraten zu bestimmen; er sollte auch erforschen, wie stark die Verwendung von Kunstdünger beim Ackerbau verbreitet war. Himmler wollte außerdem bei KZ-Häftlingen Blutuntersuchungen vornehmen lassen, um herauszufinden, ob man einen Bluttest entwickeln konnte, mit dem sich Frühzeichen einer Krebserkrankung nachweisen ließen (ebd.). 25. Otmar Freiherr von Verschuer, Erbpathologie, Ein Lehrbuch für Arzte und Medizinstudierende (München: Lehmann, 1937), S. 86, 103, 159, 182, 137. 26. Karl Heinrich Bauer, »Fortschritte der experimentellen Krebsforschung«, in: Archiv für klinische Chirurgie 189 (1937), S. 123-84; vgl. auch ders., »Krebs und Vererbung«, S. 479. Der Berliner Pathologe Robert Rößle kam zu dem Schluß, daß Krebs selten vererbbar sei, obwohl Wolfgang Denk aus Wien 1939 auf der Basis von Ergebnissen aus der Zwillings- und Erbforschung folgerte, daß die Erblichkeit bei einem Minimum von 20 Prozent aller Krebserkrankungen eine Rolle spiele; vgl. Robert Rößle, »Zur Frage der Erblichkeit des Carcinoms«, in: Zeitschrift für Krebsforschung A3 (1939), S. 241. 27. Bauer, »Krebs und Vererbung«, S. 475-79. 28. Arthur Hintze, »Kultur und Krebs«, m: Jahreskurse für ärztliche Fortbildung! (1939), S. 67–71. Hintze wurde 1935 zum Leiter der Radiologie im neugeschaffenen Allgemeinen Institut gegen die Geschwulstkrankheiten des Rudolf-Virchow-Krankenhauses ernannt. Er war sich bewußt, daß bestimmte Lebensgewohnheiten die Entstehung von Krebserkrankungen, die durch das Arbeitsumfeld bedingt waren, beeinflussen konnten – zum Beispiel die Gewohnheit, täglich zu baden, auf die er die geringe Verbreitung von durch die Arbeit bedingten Krebserkrankungen (verursacht durch Öl, Teer oder Ruß) in Japan zurückführte; er wußte auch, daß bezüglich der Verbreitung von Krebs der oberflächliche Eindruck oft täuschen konnte, wenn bestimmte Personen – zum Beispiel muslimische Frauen – sich nicht von westlichen Ärzten untersuchen lassen wollten. 344
29. Ein Anhänger des Ethnologen und Anthropologen Franz Boas (1858–1942), der ab 1899 an der Columbia-Universität in New York lehrte und auf zahlreichen Expeditionen die amerikanisch-asiatischen Kulturzusammenhänge erforschte (Anm. d. Ü.). 30. Hintze, »Kultur und Krebs«, S. 73. 31. Verschuer, Leitfaden, S. 159-61. 32. Martin Staemmler und Edeltraut Bieneck, »Statistische Untersuchungen über die Todesursachen der deutschen und jüdischen Bevölkerung von Breslau«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 87 (1940), S. 447-50. Im British Medical Journal wurde hervorgehoben, daß Staemmler und Bieneck die Rolle der staatlichen Gewalt bei der Erstellung dieser Statistiken nicht diskutiert hatten; vgl. »German Medicine, Race, and Religion«, in: British Medical Journal, 17. August 1940, S. 230. 33. Hintze, »Kultur und Krebs«, S. 75f. 34. Eine Darstellung der Konstitutionslehre findet sich in: Gerhard Koch, Die Gesellschaft für Konstitutionsforschung: Anfang und Ende 1942-1965 (Erlangen 1985). 35. Hans Weselmann, »Über die Nicotingastritis«, in: Die Genußgifte 36 (1940), S. 23. 36. Robert Hofstätter, Die rauchende Frau: Eine klinische, psychologische und soziale Studie (Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 1924), S. 71. 37. Friedrich Voltz, »Pigmentbildung und Strahlenbehandlung«, in: Radiologische Rundschau 1 (1933), S. 96. 38. Friedrich Voltz, »Biologische Probleme in der Röntgenstrahlentherapie«, in: Strahlentherapie 47 (1933), S. 137-43. 39. Robert Ritter, »Rothaarigkeit als rassenhygienisches Problem«, in: Volk und Rasse 10 (1935), S. 385-90. 40. Hien, Chemische Industrie, S. 219. 41. Georg Reid, »Weltanschauung, Haltung, Genußgifte«, in: Die Genußgifte 35 (1939), S. 66f. 42. Klarner, Vom Rauchen, S. 18f. Die hier erwähnte Kategorisierung nach Körpertypen geht auf den Psychiater Ernst Kretschmer zurück. 43. »Erkennung und Bekämpfung der Tabakgefahren«, in: Deutsches Arzteblatt 7 (1941), S. 185. 44. Kleine, Ernährungsschäden als Krankheitsursachen, S. 62f. 345
45. Der offizielle Kommentar zum Gesetz spezifizierte, daß Menschen, die an Retinoblastomen litten, sterilisiert werden sollten; siehe Arthur Gütt, Ernst Rüdin und Falk Ruttke, Kommentar zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (München: Lehmann, 1934). 46. August Wagenmann (Hrsg.), Bericht über die einundfünfzigste Zusammenkunft der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft in Heidelberg 1936 (München: Bergmann, 1936); S. 91-102; vgl. auch Karl A. Reisers Kritik an Clausens Ansichten in seinem Aufsatz »Bemerkungen zur Erblichkeitsfrage beim Glioma retinae«, in: Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde 99 (1937), S. 350-55. 47. Fischer-Wasels, »Die Bedeutung der besonderen Allgemeindisposition«, S. 26; vgl. Kurt Blomes ähnliche Ansichten, »Krebsforschung und Krebsbekämpfung«, in: Ziel und Weg 10 (1940), S. 412. 48. Fischer-Wasels, »Bekämpfung der Krebskrankheit«, S. 92-95. Der Gynäkologe Wilhelm Lahm vertrat bereits vor 1933 den Standpunkt, daß Eheberater Daten aus Krebsregistern hinzuziehen sollten, um zu verhindern, daß Menschen heirateten, die erblich bedingt zu Krebs neigten; vgl. ders., »Die ärztliche Fortbildung auf dem Gebiet der Krebsbekämpfung«, in: Strahlentherapie 37 (1930), S. 397-401; ähnliche Ansichten formuliert W Helmreich, »Erblichkeit, Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik«, in: Münchener medizinische Wochenschrift Kb (1936), S. 484. 49. Hien, Chemische Industrie, S. 219 und 271-304. 50. Günther Lehmann, »Die Bedeutung des Staubbindungsvermögens der Nase für die Entstehung der Lungensilicose«, in: Arbeitsphysiologie 8 (1934), S. 218– 50; zudem sein Beitrag »Untersuchungen an Staubmasken«, in: Arbeitsphysiologie 9 (1936), S. 182-205 Rostoski, Saupe und Schmorl hatten 1926 Schneeberger Bergarbeiter dazu gedrängt, durch die Nase zu atmen, um das Lungenkrebsrisiko zu senken (so sollten die krebserregenden Partikel gebunden werden); die Autoren empfahlen den Arbeitern auch, sich nicht davor zu scheuen, ihre Nasenwege chirurgisch vergrößern zu lassen, um so eine bessere nasale Atmung zu erreichen (»Die Bergkrankheit«, S. 375). 51. Lehmanns Bemühungen waren Teil des Versuchs zur »Lösung des Staubproblems«; vgl. Otto Schulz, »Gesundheitliche Schäden durch gewerblichen Staub«, in: Die Gasmaske 11 (1939), S. 57-66. 346
52. Hans Waniek, »Die Verhütung der Staublungenkrankheiten, insbesondere der Silikose«, in: Klinische Wochenschrift 23 (1944), S. 288f. 53. H. Hamperl, U. Henschke und R. Schulze, »Vergleich der Hautreaktionen beim Bestrahlungserythem und bei der direkten Pigmentierung«, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie 304 (1939), S. 21. 54. Hueper, Occupational Tumors, S. 765. 55. Wilhelm C. Hueper, »Causal and Preventive Aspects of Environmental Cancer«, in: Minnesota Medicine, Januar 1956, S. lOf. 56. Zitiert nach Krug, Die Organisation des Kampfes, S. 21. Ein Artikel vom November 1941 in der Berliner Börsenzeitung prognostizierte, daß der reine »Idealismus« des »Dritten Reiches« bewirken würde, daß die Krebsraten sänken; siehe »Nationalsozialismus schützt vor Krebs«, in: Internationales Arztliches Bulletin 2 (1935), S. 17f. 57. Auler traf Goebbels am 15. Februar 1941; der Propagandaminister lobte seine Arbeit in den höchsten Tönen. Erziehungsminister Bernhard Rust belohnte ihn mit weiteren 7000 Reichsmark; siehe Goebbels, Tagebücher, S. 504. Es ist noch nicht geklärt, wofür das Geld verwendet wurde. Vielleicht wurde damit ein Teil der Kosten des Films Jeder Achte bezahlt, an dem Auler mitgearbeitet hatte; dies ist wahrscheinlich, weil Unterstützung dieser Art eine Hauptaufgabe von Goebbels’ Ministerium war. 58. Zu den erbgutschädigenden Verhütungsmethoden siehe Karl E. Fecht, »Über die Keimschäden durch chemische Schwangerschaftsverhütungsmittel«, in: Volk und Rasse 10 (1935), S. 215 ff. KAPITEL 4 1. Zwei der besten frühen Beiträge zu diesem Thema sind Ludwig Teleky, »Der berufliche Lungenkrebs«, in: Acta Unio Internationalis Contra Cancrum 3 (1938), S. 253-73, und Wilhelm Huepers Werk Occupational Tumors. Die beste historische Darstellung der durch Gefahren am Arbeitsplatz verursachten Krebsfälle in Deutschland bietet Wolfgang Hien, Chemische Industrie. Zur allgemeinen Geschichte von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz in Deutschland siehe Franz Koelsch, Beiträge zur Geschichte der Arbeitsmedizin (München 1967); außerdem Alfons Labisch, 347
»Social History of Occupational Medicine and of Factory Health Service in the Federal Republic of Germany«, und Dietrich Milles, »From Workers’ Diseases to Occupational Diseases: The Impact of Experts’ Concepts on Workers’ Attitudes«, beide zu finden in: The Social History of Occupational Health, hrsg. von Paul Weindling (London: Croom Helm, 1985), S. 32-51 und 55-77. 2. Karl-Heinz Karbe, »Das nationalsozialistische Betriebsarztsystem während des Zweiten Weltkrieges – ein Instrument arbeitsmedizinischer Praxis«, in: Medizin für den Staat – Medizin für den Krieg: Aspekte zwischen 1914 und 1945, hrsg. von Rolf Winau und Heinz Müller-Dietz (Husum 1994). 3. Heinz von Pein, »Über die Ursachen der chronischen Arsenvergiftung der Weinbauern«, in: Medizinische Klinik 37 (1941), S. 293ff. 4. Für einen Überblick siehe Hueper, Occupational Tumors; Martin Staemmler, »Beruf und Krebs«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 85 (1938), S. 121–25; Otto Teutschlaender, »Die Berufskrebse mit besonderer Berücksichtigung ihrer Verhütung und der Unfallgesetzgebung«, in: Medizinische Welt II (1937), S. 1267-72; und Franz Koelsch, »Krebs und Beruf«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 5 (1937), S. 7-12. 5. Fischer-Wasels, »Bekämpfung der Krebskrankheit«, S. 94. Den deutschen Gesundheitsbehörden wurden jährlich offiziell nur etwa zwölf Krebsfälle gemeldet, die durch Gefahren am Arbeitsplatz ausgelöst worden waren – vor allem durch Teer verursachte Erkrankungen sowie Blasenkrebs bei Arbeitern der Farbenindustrie, Lungenkrebs bei Chromarbeitern und durch Röntgenstrahlen verursachter Hautkrebs. Die tatsächliche Zahl der Erkrankungen mußte allerdings – das erkannten sogar die nationalsozialistischen Gesundheitsbehörden – um ein vielfaches höher gewesen sein (Staemmler, »Beruf und Krebs«, S. 122). 6. P. E. R., »Arbeit als sittliche Pflicht«, in: Volksgesundheit 1 (1936), S. 239; siehe auch ebd., S. 267-27. 7. Abteilung Volksgesundheit, »Der öffentliche Gesundheitsdienst im Deutschen Reiche 1937«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 14 (1938), S. 161-86. 8. Hans Reiter, »Genußgifte und Leistung«, in: Reichs-Gesundheitsblatt 14 (1939), S. 187. 348
9. Gine Eisner, »Die Entwicklung von Arbeitsmedizin und Arbeitsschutzpolitik nach 1933«, in: Arbeitsschutz und Umweltgeschichte, hrsg. von der Hamburger Stiftung (Köln 1990), S. 90. 10. Martin Gumpert, Heil Hunger! Health under Hitler (New York: Alliance Book Corp., 1940), S. 12f. und 23. In seinem Tagebucheintrag vom 12. Mai 1941 erwähnte Joseph Goebbels einen Bergwerksunfall, der sich kurz zuvor im oberschlesischen Neurode, südlich von Breslau, ereignet hatte und bei dem 189 Minenarbeiter erstickt waren (Tagebücher, S. 636). 11. Siehe zum Beispiel Ernst W. Baader, »Kohlenoxyd-Basedow«, in: Archiv für Gewerbepathologie und Gewerbehygiene 7 (1936), S. 227–34; Willy Matthes, »Zur Staubbeseitigung in der Textilindustrie«, in: Zentralblatt für Gewerbehygiene N. F. 15 (1938), S. 200f; Ludwig Teissl, »Strahlenschutz in gewerblichen Radiumbetrieben«, in: Zentralblatt für Gewerbehygiene N. F. 15 (1938), S. 89ff. 12. Walther Liese, »Gute Luft als raumhygienische Forderung in Arbeitsräumen«, in: Gesundheitsingenieur 60 (1937), S. 374–80. 13. Artikel zu Sicherheits- und Gesundheitsbestimmungen am Arbeitsplatz erschienen auch in Zeitschriften wie der Bau welt, der Rundschau Technischer Arbeit und in Die Chemische Industrie. Die Monatsschrift für Krebsbekämpfung und die Zeitschrift für Krebsforschung widmeten sich oft den Krebserkrankungen am Arbeitsplatz, ebenso die beiden wichtigsten Fachzeitschriften, die sich mit Strahlentherapien beschäftigten: Strahlentherapie und Radiologische Rundschau: Röntgen, Radium, Licht. Zeitschriften wie die Feuerpolizei, die Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure und Die Preßluftindustrie beschäftigten sich mit Gesundheits- und Sicherheitsthemen in besonderen Berufssparten. Weitere Artikel findet man auch in Zeitschriften zum öffentlichen Gesundheitswesen wie Öffentlicher Gesundheitsdienst. Es gab außerdem zwei große Schriftenreihen, die sich der Gesundheit am Arbeitsplatz widmeten: die Schriften aus dem Gesamtgebiet der Gewerbehygiene und Arbeitsmedizin: Abhandlungen über Berufskrankheiten und deren Verhütung, die bis nach dem Krieg von J. A. Barth in Leipzig herausgegeben wurden. 14. Dietrich Milles, »Tendenzen und Konsequenzen. Arbeit und Krankheit unter dem Einfluß nationalsozialistischer Sozialpolitik«, in: Berufsarbeit und Krankheit, hrsg. von Dietrich Milles und Rainer Müller 349
(Frankfurt am Main 1985), S. 124 f. 15. Karl Heinz Roth, »Gesundheitspolitische Kontroversen in der NSDiktatur (1935-1944)«, in: 1999 2 (1995), S. 2. 16. Zur Leistungsmedizin vgl., Sepp Graessner, Leistungsmedizin während des Nationalsozialismus (Hamburg: Med. diss., 1990). 17. Gumpert, Heil Hunger!, S. 23-28. 18. Cäcilie Hennes, Arbeitsschäden der Frau durch Fabrikarbeit (Freiburg: Med. diss., 1941). 19. »Dritte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten. Vom 16. Dezember 1936«, in: Reichsgesetzblatt 1 (1936), S. 1117-20. 20. »Rauchverbot in den Aufenthaltsräumen feuergefährdeter Betriebe«, in: Arbeitsschutz?) (1942), S. 99. 21. »Richtlinien für den Gesundheitsschutz bei Lackier- und Anstricharbeiten«, in: Arbeitsschutz 3 (1942), S. 297 f. 22. »Vierte Verordnung zur Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten. Vom 29. Januar 1943«, in: Arbeitsschutz 3 (1943), S. 65 ff. 23. Trials of War Criminals, 8, S. 1173. 24. Reichsarbeitsblatt 1 (1944), S. 22. 25. »Verordnung über die Beschäftigung Jugendlicher in der Eisen schaffenden Industrie«, in: Reichs-Gesundheitsblatt 13 (1938), S. 226ff. 26. Reichsarbeitsblatt3 (1940), S. 263. 27. Reichsarbeitsblatt 1 (1941), S. 75. 28. »Gesetz zum Schütze der erwerbstätigen Mutter (Mutterschutzgesetz)«, in: Arbeitsschutz 3 (1942), S. 157-62. 29. Reichsarbeitsblatt 1 (1943), S. 280; und 3 (1943), S. 141. 30. Peter W. Becker, »Fritz Sauckel: Plenipotentiary for the Mobilisation of Labour«, in: The Nazi Elite, hrsg. von Ronald Smelser und Rainer Zitelmann (New York: New York University Press, 1993), S. 194-201 (dt. in: Die Militärelite des Dritten Reichs: 27 biographische Skizzen, Frankfurt am Main 1995). 31. Gumpert, Heil Hunger!, S. 29 f., siehe jedoch auch: »Glashüttenverordnung«, in: Reichs-Gesundheitsblatt 14 (1939), S. 72ff. 32. Gumpert, Heil Hunger!, S. 30. 33. Ernst W. Baader schloß sein Medizinstudium im Jahr 1918 ab und 350
gründete 1924 Deutschlands erste Abteilung für Berufskrankheiten an der Universität Berlin, die 1934 zum »Universitätsinstitut für Berufskrankheiten« umorganisiert wurde. Baader trat am 1. Mai 1933 der NSDAP bei. Er war zudem Mitglied der Hitler-Jugend, des NS-Dozentenbundes, des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes und des Kolonialbundes (Bundesarchiv Berlin). 34. Eisner, »Die Entwicklung von Arbeitsmedizin«, S. 90. 35. Schinz und Zuppinger, Siebzehn Jahre Strahlentherapie, S. 318. 36. Cecil W. Rowntree, »Contribution to the Study of X-Ray Carcinoma and the Conditions Which Precede Its Onset«, in: Archives ofthe Middlesex Hospital 3 (1908), S. 182-205; Otto Hesse, Symptomologie, Pathogenese und Therapie des Röntgenkarzinoms (Leipzig: J. A. Barth, 1911). 37. Heinrich Depenthal, »Doppelseitiges Mammakarzinom (Röntgenkarzinom)«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 66 (1919), S. 354f; Ernst Bumm, »Über Röntgenkarzinome bei der Frau«, in: Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie 86 (1923), S. 445–53; Max Lüdin, »Chondrosarkom der Kaninchentibia nach experimenteller Röntgenbestrahlung«, in: Schweizerische medizinische Wochenschrift 60 (1930), S. 162. Lüdin war ein Schweizer Radiologe, der an der Universität Basel arbeitete. 38. Siehe zum Beispiel Bruno Bloch, »Die experimentelle Erzeugung von Roentgen-Carcinomen beim Kaninchen, nebst allgemeinen Bemerkungen über die Genese der experimentellen Carcinome«, in: Schweizerische medizinische Wochenschrift 54 (1924), S. 857-65; Andries R. Jonkhoff, »Röntgencarcinom bei Mäusen«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 26 (1928), S. 32–41. Jonkhoff war Holländer. Zur Geschichte der durch Strahlung verursachten Krebserkrankungen siehe Jakob Furth und Egon Lorenz, »Carcinogenesis by Ionizing Radiations«, in: Radiation Biology, Bd. 1, High Energy Radiation, hrsg. von Alexander Hollaender (New York: McGrawHill, 1954), S. 1145-1201; Antoine Lacassagne, Les cancers produits par les rayonnements electromagnetiques (Paris: Hermann & Cie, 1945), und Juraj Körbler, Strahlen: Heilmittel und Gefahr. Eine Geschichte der Strahlen in der Medizin (Wien 1977). 39. Walter Kikuth, »Über Lungencarcinom«, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie (1925), S. 115. 351
40. Staemmler, »Beruf und Krebs«, S. 123. 41. Vgl. zum Beispiel Lothar Loeffler, »Röntgenschädigungen der männlichen Keimzelle und Nachkommenschaft: Ergebnisse einer Rundfrage bei Röntgenärzten und -technikern«, in: Strahlentherapie 34 (1929), S. 735-66; Heinrich Martius, »Keimschädigung durch Röntgenstrahlen«, in: Strahlentherapie 41 (1931), S. 47-66; Kötschau, »Über Umweltschädigungen«, S. 1289. 42. Heinrich Albers-Schönberg, »Ueber eine bisher unbekannte Wirkung der Röntgenstrahlen auf den Organismus der Tiere«, in: Münchener medizinische Wochenschrift50 (1903), S. 1859f. 43. Otto Friedrich, »Histologische Untersuchung eines intrauterin mit Röntgenstrahlen bestrahlten menschlichen Fötus«, in: Zeitschrift für Röntgenkunde und Radiumforschung 12 (1910), S. 404–12. C. R. Bardeen zeigte ungefähr zur selben Zeit an der Universität von Wisconsin, daß die Nachkommenschaft von Kröten, deren Spermazellen bestrahlt wurden, genetische Defekte aufwies; siehe seinen Artikel »Abnormal Development of Toad Ova Fertilized by Spermatozoa Exposed to Roentgen Rays«, in: Journal of Experimental Zoology 4 (1907), S. 1-44. 44. Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre, S. 258. 45. Eugene Apert und Yves Kermorgant, »L’enfant des rayons X«, in: Presse medicale 31 (1923), S. 1010; R. Pauly, G. Cantorne und J. Bentegeat, »Un microcephale, ›enfant des rayons X‹: Etúde clinique et anatomopathologique«, in: Journal de medicine de Bordeaux 118 (1941), S. 537-51. 46. W. A. Newman Dorland und Maximilian J. Hubeny, TheX-Ray in Embryology and Obstetrics (Saint Paul: Bruce, 1926), S. 26, 312f. 47. Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre, S. 264. Lenz wies daraufhin, daß Radiologen, Röntgentechniker und Chemiker häufiger als die Durchschnittsbevölkerung an Krebs starben (S. 260). 48. Eugen Fischer, »Strahlenbehandlung und Nachkommenschaft«, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 55 (1929), S. 89ff; zudem seine Abhandlung »Erbschädigung beim Menschen«, in: Das kommende Geschlecht 5 (1930), S. 1-19. 49. Der aus Rußland emigrierte Genetiker Nikolaj Timofeeff-Ressovsky zeigte 1935, daß ein einziges Quantum Licht eine Zelle abtöten kann – diese Erkenntnis betrachteten Krebsforscher als entscheidend für die 352
Erforschung der Krebsentstehung; siehe dazu N. Timofeeff-Ressovsky, Karl G. Zimmer und Max Delbrück, »Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur«, in: Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften Göttingen, Fachgruppe VI, N. F. 1 (1935), S. 189-241; Robert Bierich, »Über den Einfluß genetischer Faktoren auf Entstehung und Ausbildung der Krebsanlage«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 48 (1938), S. 87-91. 50. Julius Zappert, »Über röntgenogene fötale Mikrozephalie«, in: Archiv für Kinderheilkunde 80 (1927), S. 34-50; Paul Feldweg, »Ein ungewöhnlicher Fall von Fruchtschädigung durch Röntgenstrahlen«, in: Strahlentherapie 26 (1927), S. 799ff. 51. Körbler, Strahlen, S. 85. 52. Fischer, »Erbschädigung«. 53. Hans Luxenburger, »Temporäre Strahlenamenorrhoe und menschliche Erbforschung«, in: Strahlentherapie 45 (1932), S. 685-88. 54. Hermann Holthusen, »Erfahrungen über die Verträglichkeitsgrenze für Röntgenstrahlen und deren Nutzanwendung zur Verhütung von Schäden«, in: Strahlentherapie 57 (1936), S. 255. 55. Karl Kaestle, »Zwecke und Ziele der Bayerischen Gesellschaft für Röntgenologie und Radiologie«, in: Radiologische Rundschau 1 (1933), S. 28f. 56. »Zur Frage der Keimschädigung durch Röntgenstrahlen«, in: Radiologische Rundschau 1 (1933), S. 56ff. und 97. 57. Siehe meine Untersuchung Racial Hygiene, S. 251–81. 58. Julian Marcuse, »Geschlecht gegen Rasse«, in: Sozialistischer Arzt, Februar/ März 1932, S. 54f. Siehe auch ders., »Nationalsozialistische Rassenexperimente«, in: Sozialistischer Arzt, April/Mai 1932, S. 76ff. Die pronazistische Partei der Sudetendeutschen schlug 1936 ein »Gesetz zum Schutz der Bergarbeiter in Joachimsthal« vor. Die tschechische Regierung führte kurz darauf neue Vorschriften ein, und zwar für Lüftungen, das Naßbohren, neue Staubabsauganlagen, den Gebrauch von Schutzmasken sowie den Schichtwechsel und bessere Urlaubsregelungen. Die Radioaktivität in den Uranminen fiel tatsächlich auf einen Durchschnitt von 2 ME (vgl. dazu die Erläuterungen zu den Maßeinheiten in Anm. 85 von Kap. 4); vgl. auch »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 5 (1938), S. 325. 59. Deutsches Ärzteblatt 63 (1933), S. 182. 353
60. Hans Holfelder, »Einsatz und Tätigkeit der Röntgenreihenbildnertruppe der SS in Mecklenburg«, in: Zeitschrift für Tuberkulose 83 (1939), S. 257-64. 61. »Die Berufskrankheiten im Jahre 1935«, in: Arbeitsschutz 3 (1936), S. 258; vgl. dazu auch Alfred Brinkmann, Reihenuntersuchung in einem Sprengstoffwerk (Münster: Med. diss., 1941). Zu den Apparaturen, die bei diesen Massenuntersuchungen benutzt wurden, vgl. Robert Janker, »Die Röntgenreihenuntersuchung in Betrieben«, in: Arbeitsschutz 3 (1942), S. 319ff. Zur Kampagne, die tuberkulosekranken Polen zu untersuchen, vgl. Franz Puntigam, »Ein Jahr Röntgenuntersuchung polnischer Arbeitskräfte«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst (1943), Nr. 19/20. 62. Hermann Braeuning, »Die Röntgen-Reihenuntersuchung«, in: Röntgenpraxis 11 (1939), S. 391 ff. 63. Holfelder, »Einsatz und Tätigkeit«, S. 258–61. Holfelder publizierte einen Atlas, in dem er fast eine Million Röntgenbilder analysierte, die man im Verlauf dieser Aktion gemacht hatte, siehe seinen Atlas des Röntgenreihenbildes des Brustraumes auf Grund der Auswertung von über 900000 Röntgenreihenschirmbildern (Leipzig: Georg Thieme, 1939), zusammen mit Friedrich Berner. 64. Heinrich Zeiss, »Forschung, Lehre und zivile Krankenversorgung im 4. Kriegsjahr« (1943), Bundesarchiv Berlin. 65. Zur Silikose siehe Rudolf Hoffmann, »Statistische Ergebnisse aus Reihenuntersuchungen auf Silikose in zwei schlesischen Betrieben«, in: Archiv für Gewerbepathologie 10 (1940), S. 378-83; zur Tuberkulose siehe Hans Stoffels, »Durchführung und Ergebnis von Nachuntersuchungen auf Grund der Röntgen-Reihendurchleuchtung nach Prof. Holfelder«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 6 (1941), S. 637-40; zur Asbestose siehe Ehrhardt, »Der heutige Stand der Asbestosebekämpfung«, in: Arbeitsschutz 3 (1940), S. 193. 66. Janker, »Röntgenreihenuntersuchung«, S. 321. 67. Susanne Hahn, »Ethische Grundlagen der faschistischen Medizin, dargestellt am Beispiel der Tuberkulosebekämpfung«, in: Medizin im Nationalsozialismus, hrsg. von Achim Thom und Horst Spaar (Oberlungwitz 1983), S. 133-47; zudem K. Kelting, Das Tuberkuloseproblem im Nationalsozialismus (Kiel: Med. diss., 1974); Götz Aly, »Tuberkulose und Euthanasie«, in: 354
Menschenverachtung und Opportunismus: Zur Medizin im Dritten Reich, hrsg. von Jürgen Pfeiffer (Tübingen 1992), S. 131-46. Der Plan wurde niemals realisiert. 68. Trials of War Criminals, 1, S. 721; gleichfalls in: Alexander Mitscherlich, Fred Mielke (Hrsg.), Medizin ohne Menschlichkeit: Dokumente des Nürnberger Aerzteprozesses. Fischer Verlag, Frankfurt, 1978, S. 242. 69. Trials on War Criminals, 1, S. 720. 70. Ebd., S. 702. 71. Reichsgesetzblatt 1 (1936), S. 119. 72. Franz Schwanitz, »Mutationen und ihre Bedeutung«, in: Volk und Rasse 10 (1935), S. 353. 73. Heinrich Martius und Friedrich Kröning, »Zur Frage der Erbgutschädigung durch Röntgen- und Radiumstrahlen«, in: Medizinische Welt 12 (1938), S. 947-50. 74. Gerhard Schubert und Artur Pickhan, Erbschädigungen (Leipzig: Georg Thieme, 1938), S. 136. 75. Reichsgesetzblatt 1 (1941), S. 88ff.; »Unfallverhütungsvorschriften für Anwendung von Röntgenstrahlen«, in: Arbeitsschutz 3 (1940), S. 238ff. Richard Glocker und E. Kaupp übernahmen 1925 die empfohlenen Toleranzwerte für Röntgenstrahlen des Amerikaners A. Mutscheller und bemerkten, daß die deutschen Röntgentechniker, die einen Abstand von 1,75 Metern zu dem Gerät hielten, einer viel höheren Streustrahlung ausgesetzt waren; siehe: »Über den Strahlenschutz und die Toleranzdosis«, in: Strahlentherapie 20 (1925), S. 144-52. Das »U.S. Advisory Committee on X-Ray and Radium Protection« legte 1931 einen Toleranzwert von 0,2 R/Tag fest, im Jahr 1936 dann einen von 0,1 R/Tag. Die »International XRay and Radium Protection Commission« schlug 1934 und 1937 tägliche Dosen von 0,2 R vor. Siehe dazu Körbler, Strahlen, S. 96. Auch während des Krieges wurden deutsche Betriebsärzte dazu angehalten, bei den Angestellten, die mit Röntgenstrahlen oder Radium arbeiteten, Überschreitungen der Toleranzwerte nicht zuzulassen; siehe »Kleine Mitteilungen«, in: Vertrauensarzt 9 (1941), S. 176. 76. Heinrich W. Ernst, Über die Unfallsverhütungsvorschriften für nichtmedizinische Röntgenanlagen (Leipzig: Georg Thieme, 1942). Ein besonderes Merkblatt wurde vorbereitet, um nichtmedizinisches Personal 355
über die Gefahren der Röntgenstrahlen aufzuklären; siehe »Merkblatt für Röntgenarbeiter«, in: Arbeitsschutz 3 (1942), S. 363f. 77. Siehe zum Beispiel Berthold und Trost, »Messungen zu den Strahlenschutzregeln für technische Röntgenanlagen«, in: Arbeitsschutz 3 (1942), S. 274f. Noch zu wenig erforscht sind die Parallelen und Abweichungen zwischen den damals verschärften deutschen Strahlungsvorschriften und denjenigen in Frankreich, den USA, der Sowjetunion und anderen Ländern. 78. »Röntgenverordnungen«, in: Arbeitsschutz 3 (1942), S. 206. 79. Carl Kruchen, »Spätschädigungen durch Röntgenstrahlen«, in: Strahlentherapie 60 (1937), S. 466-75; Wilhelm Weitz, »Über einen von Anfang an beobachteten Fall von myeloischer Leukämie bei einer Röntgenlaborantin«, in: Klinische Wochenschrift 17 (1938), S. 1579f.; K(arl?) Kindler, »Beitrag zur Frage der Entstehung des Röntgenkrebses in inneren Organen«, in: Zeitschrift für Krebsforschung (1944), S. 153-69. 80. Körbler, Strahlen, S. 75 f. 81. Susan E. Lederer, Subjected to Science: Human Experimentation in America before the Second World War (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1995). 82. Warren Weaver erwähnte 1937, daß J. Lawrence den Kongreß der Radiologen in Chicago einen »Kongreß der Krüppel« genannt habe; siehe dazu Weavers Tagebucheintrag vom 29. Oktober 1937, Rockefeller Foundation Archives 4263-64. 83. Geoffrey Brooks, Hitlers Nuclear Weapons: The Development and Attempted Deployment of’ Radio logical Armaments by Nazi Germany (London: Cooper, 1992), S. 74f. 84. Erich Neitzel, »Berufsschädigungen durch radioaktive Substanzen«, in: Arbeitsmedizin 1 (1935), S. 13. Paul Lazarus machte sich in seinem Handbuch der gesamten Strahlenheilkunde II (München: Bergmann, 1931) über Radiumkompressen als einen nutzlosen Schwindel lustig, aber das Wiener Institut für Radiumtherapie schlug noch 1940 Radoninhalation als Therapie für verschiedene Leiden vor; siehe V. Karg, »Künstliche Radiumemanationstherapie für den praktischen Arzt«, in: Wiener medizinische Wochenschrift 90 (1940), S. 97ff. und 119ff. 85. Ein Curie ist die Menge Strahlung, die von einem Gramm reinem 356
Radium ausgeht, und ein Picocurie ist ein Billionstel eines Curie. Die in Deutschland in den zwanziger und dreißiger Jahren gebräuchlichste Einheit war die sogenannte »Mache-Einheit« (ME), die im heutigen amerikanischen System 364 Picocurie entspricht. Die in der heutigen internationalen Forschung gebräuchlichste Einheit ist Becquerel/m3; dabei entspricht ein Becquerel einem Zerfallsmoment pro Sekunde (lpCi/1 = 37 Bq/m3). Sowohl Picocurie wie Becquerel messen den Zerfall pro Zeiteinheit. Der biologische Effekt einer bestimmten Dosis hängt jedoch größtenteils von den spezifischen Isotopen ab, denen man ausgesetzt ist, und von der Art, wie man ihnen ausgesetzt ist (Verdauung, Inhalation etc.). 86. Neitzel, »Berufsschädigungen«, S. 14. 87. »Die finnische Badestube«, in: Der Balneologe 8 (1941), S. 113f. Deutschland wurde damals wegen seiner zwölf offiziell anerkannten »Radiumkurorte« als das Land der Radiumbäder gehandelt; siehe Boris Rajewsky, »Balneologische Forschung«, in: Der Balneologe 9 (1942), S. 221. 88. Erich Wollmann, »Natürliche und künstliche Radiumwässer«, in: Der Balneologe 6 (1939), S. 386–89. Die sogenannte Salzufler Bestimmung aus dem Jahr 1932 hatte für eine »medizinische Wirkung« Mindestwerte an Radioaktivität festgelegt (vgl. dazu die Erläuterungen zu den Maßeinheiten in Anm. 85 von Kap. 4), und zwar für das Inhalieren von Radon (3 Nanocurie pro Liter), das Baden (30 Nanocurie pro Liter) und das Trinken (300 Nanocurie pro Liter), siehe Erich Wollmann, »Die Technik der Einatmung radonhaltiger Luft«, in: Der Balneologe 5 (1938), S. 60-66. 89. Erich Marx, »Die Radiumgefahr in Deutschland«, in: Neue Freie Presse, 25. September 1932, S. 25, und 27. September 1932, S. 9; vgl. dazu auch die kritische Antwort von Albert Fernau, einem Wiener Professor für medizinische Physik und Radiumchemie, der entgegenhielt, es sei falsch, einen zu engen Vergleich mit den Joachimsthaler Bergleuten zu ziehen, da Lungenkrebs dort nicht nur durch Strahlung, sondern auch durch Felsstaub verursacht werde; vgl. ders., »Die Radiumgefahr in Deutschland«, in: Neue Freie Presse, 4. Oktober 1932, S. 9. Fernau tröstete sich auch mit dem Argument von Stefan Meyer, dem Leiter des Wiener Instituts für Radiumforschung, wonach ein Großteil des während der Therapie inhalierten Radons von den Lungen schnell wieder ausgeschieden würde. 90. Die beste Aufarbeitung der Geschichte der amerikanischen Radium357
skalen-Malerinnen liefert: Claudia Clark, Radium Girls: Women and Industrial Health Reform, 1910-1935 (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1997). 91. P. Rössing, »Über eine ungewöhnliche Form der Radiumvergiftung in der Leuchtfarbenindustrie«, in: Archiv für Gewerbepathologie und Gewerbehygiene 11 (1942), S. 395-401. 92. Es gibt noch weitere Beispiele für Vergiftungen im Zusammenhang mit der chemischen Isolierung von Radium: Im Jahr 1928 waren in Joachimsthal neben den Grubenarbeitern sechzig weitere Arbeiter mit der Gewinnung des Radiums und seiner Reinigung beschäftigt, mindestens fünf von ihnen erkrankten an Lungenkrebs. Drei dieser Männer hatten zuvor in den Zechen gearbeitet, aber zwei von ihnen niemals unter Tage. Ein Bericht von 1935, der sich mit der Gesundheit und Sicherheit bezüglich Strahlung beschäftigte, kam zu dem Schluß, daß diese Fälle ihre Ursache ausschließlich in der Strahlung hatten (Neitzel, »Berufsschädigungen«, S. 29). 93. Friedrich H. Härting und Walter Hesse, »Der Lungenkrebs, die Bergkrankheit in den Schneeberger Gruben«, in: Vierteljahresschrift für gerichtliche Medizin 30 (1879), S. 300, und 31 (1879), S. 109-112, 325. Härtings und Hesses Untersuchung ist einer der Klassiker der Epidemiologie. Sie führen die Lungenkrebsepidemie auf die Veränderung der Arbeitsbedingungen zurück (zum Beispiel die zunehmende Akkordarbeit), auf neue Technologien (wie den Gebrauch von Dynamit) und auf die sich verändernde Beschaffenheit des Erzes in der Erde (Abbau von stark reizendem Erz, dem die Arbeiter dauernd ausgesetzt sind); siehe ebd., S. 319ff. 94. Julius Löwy, »Über die Joachimsthaler Bergkrankheit; vorläufige Mitteilung«, in: Medizinische Klinik 25 (1929), S. l4lf. Löwy beschreibt dort die ersten beiden Lungenkrebserkrankungen, die bei Joachimsthaler Bergarbeitern diagnostiziert wurden – die erste wurde 1926 bei einer Autopsie im Prager Pathologischen Institut entdeckt, die zweite 1928 an der Wilhelm-Nonnenbruch-Klinik derselben Universität. Herman Sikl berichtete 1930, daß acht von zehn Joachimsthaler Grubenarbeitern, bei denen eine Autopsie durchgeführt wurde, an Lungenkrebs gelitten hatten; siehe dazu »Über den Lungenkrebs der Bergleute in Joachimsthal (Tschechoslowakei)«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 32 (1930), S. 609-13. 358
95. Neitzel, »Berufsschädigungen«, S. 19; ebenso Hueper, Occupational Tumors, S. 435-56. Margarete Uhlig publizierte als erste eine Strahlungsätiologie über die Schneeberger Krankheit; siehe ihre Abhandlung »Über den Schneeberger Lungenkrebs«, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie 230 (1921), S. 76-98. Erich Marx stellte 1932 unwiderruflich fest, daß die hohe Lungenkrebsrate in Joachimsthal ihre Ursache im »Radon und seinen Zerfallsprodukten« habe; siehe ders., »Radiumgefahr«, S. 25. 96. Paul Ludewig und Eduard Lorenser, »Untersuchung der Grubenluft in den Schneeberger Gruben auf den Gehalt an Radiumemanation«, in: Zeitschrift für Physik 22 (1924), S. 178-85. Heinrich Mache und Stefan Meyer entdeckten 1905 in den Gruben von Joachimsthal die »Radiumstrahlung«; vgl. Werner Schüttmann, »Aus den Anfängen der Radontherapie«, in: Zeitschrift für die gesamte innere Medizin 41 (1986), S. 451-56. Carl Schiffner, M. Weidig und R. Friedrich berichteten 1908, daß das Wasser aus den Gruben bis zu 2050 ME/1 aufgewiesen habe; vgl. ihre Untersuchung Radioaktive Wässer in Sachsen, I-IV (Freiberg: Craz & Gerlach, 1908–1912), S. 63. Allerdings vermuteten sie keinerlei mögliche Gefahren – ihre einzige Sorge war, ob das Wasser genügend Radioaktivität aufwies, um für medizinische Zwecke nutzbar zu sein (S. 119). Ein Bericht, der nach dem Krieg für die amerikanischen Militärbehörden verfaßt wurde, stellte fest, daß der höchste je in einem deutschen Bergwerk gemessene Wert bei 150 ME lag (vgl. dazu die Erläuterungen zu den Maßeinheiten in Anm. 85 von Kap. 4); vgl. Gerhard Kahlau und A. Schraub, »Krebserzeugung durch Strahlung, insbesondere Schneeberger Lungenkrebs«, in: Biophysics: Part I, hrsg. von Boris Rajewsky und Michael Schön (Wiesbaden: Office of Military Government, 1948), S. 134. 97. Rostoski, Saupe und Schmorl, »Die Bergkrankheit«, S. 360-84. Während der Produktionsspitzen in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts waren ungefähr 700 Bergleute in der Region Schneeberg beschäftigt. Um 1921 war diese Zahl auf 149 gesunken (S. 363). Bis 1926 fiel sie weiter auf 54 Bergleute, und die Gruben wurden kurz darauf geschlossen. 98. Neitzel, »Berufsschädigungen«, S. 20. Das betreffende Experiment mit Arsen wurde von Schmittmann durchgeführt: »Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung des Schneeberger Staubes auf das Bronchial359
Epithel«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 32 (1930), S. 677 ff. Rostoski et al. hatten 1926 vorgeschlagen, daß Tiere in den Schächten gehalten werden sollten, um durch sie herauszufinden, ob das Radon allein die Krankheit verursachte; vgl. ihre Abhandlung »Die Bergkrankheit«, S. 374. Teutschlaender setzte 1931 Mäuse und Karpfen dem Radon aus, da er annahm, die Ursache der »Schneeberger Krankheit« liege in der Strahlung. Es gelang ihm aber nicht, Geschwüre zu erzeugen; vgl. »Niederschrift über die Sitzung des Wissenschaftlichen Ausschusses beim Reichsausschuß für Krebsbekämpfung«, 13. April 1935, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, 1493, S. 27. 99. Rajewsky erhielt im Februar 1943 vom Heereswaffenamt den Auftrag, er solle die biologischen Effekte der Strahlung auf den Körper, einschließlich der Neuronen, untersuchen, mit besonderem Schwergewicht auf der Frage, ob sich diese als Waffe einsetzen ließen. Die betreffende Waffe, eine konventionelle Bombe, die von hochradioaktivem Abfall umgeben war, wollte man vor allem gegen die amerikanische Zivilbevölkerung einsetzen. Man hatte ursprünglich geplant, die Bombe an der gigantischen zweistufigen A9/10 Interkontinental-Rakete (der »New Yorker«) zu montieren, die man von Stützpunkten in Frankreich aus starten wollte. Als das Programm um die A9/10 im Oktober 1942 gestoppt wurde, wandte man sich der Entwicklung von kleineren Raketen zu, die von U-Booten aus gestartet werden sollten. Das für die Bombe verwendete Material mußte mittels chemischer Verfahren aus Abfallprodukten von Atomreaktoren gewonnen werden. Dies war eine gefährliche Arbeit, für die Tausende von Zwangsarbeitern aus Konzentrationslagern herangezogen wurden. Im September 1943 zwang das Heereswaffenamt 15000 Gefangene aus Buchenwald und Natzweiler sowie 2000 Ingenieure, in Niedersachswerfen im Harz eine riesige unterirdische Fabrik zu bauen, wo man die radiologische Bombe herstellen wollte. Der Bau des »SS-Mittelwerks«, wie man die neue Anlage nannte, wurde von SS-Brigadeführer Hans Kammler geleitet, der bereits die Errichtung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Birkenau (Auschwitz II) überwacht hatte. In dieser Anlage, der größten unterirdischen Fabrik der Welt, wurden auch V2-Raketen und V4-Bomber zusammengesetzt. Geoffrey Brooks bemerkt in seiner Geschichte des Projekts, daß keinerlei Strahlenschutz für die Gefangenen bestanden habe; 360
vgl. Brooks, Hitlers Nuclear Weapons, S. 68 und 122-25. 100. Arthur Brandt, »Bericht über die im Schneeberger Gebiet auf Veranlassung des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung durchgeführten Untersuchungen«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 47 (1938), S. 108–11. Rajewsky führte seine Tierversuche über radiogenen Krebs bis 1945 weiter, siehe dazu seinen Artikel mit A. Schraub und G. Kahlau, »Experimentelle Geschwulsterzeugung durch Einatmung von Radiumemanation«, in: Naturwissenschaften 31 (1943), S. 170f. 1942/43 konstruierte Rajewskys Institut ein Drei-Millionen-Volt-Röntgengerät für Krebstherapien, die weltweit größte Vorrichtung zu dieser Zeit; siehe Hans Danzer, »Boris Rajewsky zum 60. Geburtstag«, in: Strahlentherapie 94 (1954), S. 3-6. 101. Neitzel, »Berufsschädigungen«, S. 15-21. Neitzel zeigte 1937, daß eine der Schneeberger Gruben, die als besonders gefährlich galt, 35–44 ME aufwies und daß montags, nachdem die Lüftungsanlagen über das Wochenende abgestellt gewesen waren, die Strahlung bis 111 ME betragen konnte (vgl. die Erläuterungen zu den Maßeinheiten in Anm. 85 von Kap. 4). Siehe dazu seinen »Bericht über die in den Monaten Oktober-November 1936 im Schneeberg-Neustädter Erzbergbau ausgeführten Untersuchungen zur Frage der Lungenschädigung der Bergarbeiter«, in: Arbeitsschutz 3 (1937), S. 70f. Boris Rajewsky begann 1935 ein Projekt, mit dem er die »Toleranzmenge« für Radium, das im menschlichen Körper gespeichert wird, bestimmen wollte. Seine 1936 festgelegte »Toleranzmenge« wurde noch 1950 von dem »International Congress of Radiologists« mit Sitz in London als Richtwert anerkannt und lag offenbar bei 3 bis 30 ME – ein außerordentlich hoher Wert, der offenbar eher Radiumvergiftungen berücksichtigte als Langzeitschäden wie Krebs – vgl. Kahlau und Schraub, »Krebserzeugung«, S. 134. 102. Kahlau und Schraub, »Krebserzeugung«, S. 132-66. 103. Löwy, »Über die Joachimstaler Bergkrankheit«. 104. Julius Löwy, »Die Wirkung der Joachimsthaler Pechblende im Tierversuch«, in: Medizinische Klinik (Prager Ausgabe), Nr. 18(1936), S. 619f. 105. Neitzel, »Berufsschädigungen«, S. 17; Brandt, »Bericht«, S. 108f.; und der ausführlichere Bericht von Hans Rudolph Döhnert, »Experimentelle Untersuchungen zur Frage des Schneeberger Lungenkrebses«, in: 361
Zeitschrift für Krebsforschung A7 (1938), S. 209-39. Döhnert trat im Mai 1933 der NSDAP bei. 106. Hermann Hebestreit, Schutz und Erhaltung der Arbeitskraft (Berlin: Otto Eisner, 1939), S. 204. Vgl. die ähnlichen Annahmen bei Bauer, »Krebs und Vererbung«, S. 475; bei Erwin A. Uehlinger und Otto Schürch, »Über experimentelle Erzeugung von Sarkomen mit Radium und Mesothorium«, in: Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 251 (1939), S. 12–33. Rajewsky maß ungefähr zu dieser Zeit den Strahlenwert in den Häusern der Bergleute, die an Krebs erkrankt waren; vgl. Brandt, »Bericht«. 107. Franz Strnad, »Der Lungenkrebs«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 6 (1938), S. 309f. 108. Siehe meine Untersuchung Cancer Wars, S. 186–92. 109. Wilhelm Engelmann, »The Present Position of Radium Emanation Therapy in Germany«, in: British Journal for Physical Medicine, 1 (1938), S. 229f. und 244. 110. Hans Krebs an Heinrich Himmler, 19. November 1938, und Himmler an Krebs, 15. Dezember 1938, T-175 #87, Mappe 193, Captured German Documents, National Archives. 111. Siehe meine Untersuchung Cancer Wars, S. 192-95. 112. Wolfgang Zank, Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland 1945-49 (München 1987), S. 65 f. 113. Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Wismut und die Folgen des Uranbergbaus (Bonn 1992), S. 15. 114. Patricia Kahn, »A Grisly Archive of Key Cancer Data«, in: Science 259 (1993), S. 448-51; dies., »The Legacy of Schneeberg«, in: Nuclear Engineering, Februar 1991, S. 7; Reimar Paul, Das Wismut-Erbe (Göttingen 1991). 115. Forschungsinstitut, Wismut und die Folgen, S. 15 f. 116. Ebd., S. 13. Eine Untersuchung des bayerischen Umweltministeriums ergab 1991, daß ungefähr die Hälfte aller Häuser in der oberpfälzischen Stadt Neunburg im Winter Radon-Konzentrationen von über 415 Becquerel pro Kubikmeter Luft aufwiesen (vgl. dazu die Erläuterungen zu den Maßeinheiten in Anm. 85 von Kap. 4); siehe Max Daunderer, Gifte im Alltag: Wo sie vorkommen. Wie sie krank machen. Wie man sich vor ihnen schützt (München 1995), S. 137. 362
117. Jonathan E. Helmreich, Gathering Rare Ores: The Diplomacy of Uranium Acquisition, 1943-54 (Princeton: Princeton University Press, 1986), S. 248. 118. »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 5 (1938), S. 324. 119. Norman M. Naimark, The Russians in Germany: A History ofthe SovietZone of Occupation (Cambridge: Harvard University Press, 1995) (dt.: Die Russen in Deutschland: die Sowjetische Besatzungszone 1945–49, Berlin 1997). Der sowjetische Leiter des Projekts »Wismut«, Generalmajor Andrej Malitsev, hatte zuvor den Bau der Moskauer U-Bahn geleitet und, mit Einsatz von Zwangsarbeitern, den Bau eines riesigen, geheimen Tunnels unter dem Fluß Amur in Sowjetasien. Siehe Nikolai Grishin, »The Saxony Uranium Mining Operation (›Vismut‹)«, in: Soviet Economic Policy in Postwar Germany, hrsg. von Robert Slusser (New York: Research Program on the U.S.S.R, 1953), S. 127-52. 120. Helmreich, Gathering Rare Ores, S. 248. 121. Siehe mein Buch Cancer Wars, S. 27. 122. Rostoski, Saupe und Schmorl, »Die Bergkrankheit«, S. 371. Die Autoren stellten eine Latenzzeit von zehn bis achtzehn Jahren fest. 123. Körbler, Strahlen, S. 76. Laut den offiziellen Kommentaren zu den deutschen Arbeitsschutzgesetzen lag die Latenzzeit zwischen dem Kontakt mit Chrom und der Entstehung von Lungenkrebs zwischen 20 und 40 Jahren; siehe Monatsschrift für Krebsbekämpfung 7 (1940), S. 215. 124. Pfeil, »Lungentumoren«. Man problematisierte ebenfalls schon frühzeitig, daß Arbeiter in Zigarren- und Zigarettenfabriken Tabakstaub einatmeten, was rückblickend etwas seltsam wirkt, da die Mediziner schließlich nur äußerst langsam auf die viel größere Bedrohung durch das Rauchen reagierten (siehe Kapitel 6 in diesem Buch). 125. Richard Fischer, Die industrielle Herstellung und Verwendung der Chromverbindung, die dabei entstehenden Gesundheitsgefahren für die Arbeiter und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung (Berlin: A. Seydel, 1911); ders., »Die Gefährlichkeit der Chromatbetriebe – eine Sage?«, in: Beilage zum Proletarier, 18. Mai 1912. 126. W. Alwens, E.-E. Bauke und W. Jonas, »Auffallende Häufung von Bronchialkrebs bei Arbeitern der chemischen Industrie«, in: Münchener 363
medizinische Wochenschrift (1936), S. 485 ff. 127. John A. Paris, Pharmacologia, 5. Auflage (London 1822), S. 208; vgl. auch Ernest L. Kennaway, »A Contribution to the Mythology of Cancer Research«, in: Lancet 243 (1942), S. 769-72, für eine Widerlegung von Paris’ Bericht. 128. Jonathan Hutchinson, »Arsenic Cancer«, in: British MedicalJournal2 (1887), S. 1080f.; James Whorton, Before Silent Spring: Pesticides and Public Health in Pre-DDT America (Princeton: Princeton University Press, 1974), S. 52f, 262 Anm. 36. 1898 entdeckten Ärzte eine hohe Krebsrate bei den Einwohnern von Reichenstein, einer schlesischen Stadt, deren Trinkwasser durch Arsen verunreinigt wurde, als das Grundwasser in die Minenschächte drang (Hueper, Occupational Tumors, S. 40). 129. Hien, Chemische Industrie, S. 309ff. 130. Pein, »Über die Ursachen«. 131. Fritz Curschmann, »Die Anzeigepflicht von Berufskrankheiten«, in: Medizinalarchiv für das Deutsche Reich 4 (1913), S. 1-6. 132. Ina Wagner, Die gewerbehygienische Diskussion während der Weimarer Republik auf dem Weg zur 1. Berufskrankheitenverordnung von 1925 (Berlin: Med. diss., 1990). Für gewisse Wurmkrankheiten standen den Bergleuten ebenfalls Entschädigungen zu, ebenso für die »Schneeberger Krankheit«. 133. Die Geschichte der Krebsfälle, die durch Arsenkontamination am Arbeitsplatz ausgelöst wurden, wird behandelt in Hien, Chemische Industrie, S. 305-48; siehe auch Hueper, Occupational Tumors, S. 33–48 und 406ff. 134. Pein, »Über die Ursachen«, S. 295; Georg Rodenacker, Die chemischen Gewerbekrankheiten und ihre Behandlung (Leipzig: J. A. Barth, 1940), S. 142. 135. Siehe Partei-Kanzlei, Verfügungen/Anordnungen/Bekanntgaben, Bd. 3 (München: Zentralverlag der NSDAP, 1943), S. 46. 136. »Vorsichtsmaßregeln zur Verhütung von Unglücksfällen beim Gebrauch von arsenhaltigen Pflanzenschutzmitteln«, in: Arbeitsschutz 3 (1942), S. 244. 137. Quellen dazu können in den ausführlichen Besprechungen der damaligen Literatur zu diesem Thema in der Monatsschrift für Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin Mitte der dreißiger Jahre gefunden werden. 138. Schulz, »Gesundheitliche Schäden«. 364
139. Ebd., S. 57-62. 140. »Die Berufskrankheiten im Jahre 1935«, S. 258f. 141. Waniek, »Verhütung der Staublungenkrankheiten«, S. 288. 142. Zum Deutschen Ausschuß für Staubschutzmasken siehe Arnold Lämmert, »Über die Aufgaben der Staubbekämpfungsstelle beim Verband der deutschen gewerblichen Berufsgenossenschaften, Berlin«, in: Staub: Reinhaltung der Luft (1937), S. 365-71. 143. Kurt Kollmeier, Silikose und Lungenkrebs (Bonn: Med. diss. 1934); Telekys Bericht aus dem Jahr 1938 (»Beruflicher Lungenkrebs«) übersah den Zusammenhang ebenfalls. 144. Paul Weiland, »Die schädigende Wirkung von Sericit und Stahlschleifstaub«, in: Archiv für Gewerbepathologie 8 (1937), S. 412-25. 145. Holtzmann, »Staublunge durch Glaswolle«, in: Ärztliche Sachverständigen-Zeitung AA (1937), S. 263ff. 146. Von Plinius dem Älteren heißt es, er habe berichtet, daß Sklaven, die mit Asbest arbeiteten, an Lungenkrankheiten litten, aber offenbar beruht dies auf einem Übersetzungsfehler; vgl. Kevin Browne und Robert Murray, »Asbestos and the Romans«, in: Lancet336 (1990), S. 445. 147. Schulz, »Gesundheitliche Schäden«, S. 62. Die frühesten bezeugten Fälle von Asbestose in Deutschland waren anscheinend die in Sachsen von Büttner-Wobst und Trillitzsch festgestellten. Später forschten auch Erich Saupe, der Mineraloge Paul J. Berger, Fritz Stroebe und H.-W. Wedler zu dieser Frage; siehe Hans-Wilfried Wedler, »Über den Lungenkrebs bei Asbestose«, in: Archiv für klinische Medizin 191 (1943), S. 189-209; ders., »Asbestose und Lungenkrebs«, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 69 (1943), S. 575f. 148. Martin Nordmann, »Der Berufskrebs der Asbestarbeiter«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 47 (1938), S. 288-302; Franz Koelsch, »Lungenkrebs und Beruf«, in: Acta Unio Internationalis Contra Cancrum 3 (1938), S. 243-51; Friedrich Hornig, »Klinische Betrachtungen zur Frage des Berufskrebses der Asbestarbeiter«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 47 (1938), S. 281-87; Teleky, »Beruflicher Lungenkrebs«. 149. Vgl. zum Beispiel Kenneth M. Lynch und W. A. Smith, »Pulmonary Asbestosis III: Carcinoma of the Lung in Asbestos Silicosis«, in: American Journal of Cancer2A (1935), S. 56-64; S. Roodhouse Gloyne, 365
»Two Cases of Squamous Carcinoma of the Lung Occuring in Asbestosis«, in: Tubercle 17 (1935), S. 4-10. Eine hervorragende Bibliographie zur frühen Forschung über die Asbestose findet sich bei Otto Lemke, »Asbestose und Lungenkrebs. Zur dritten Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 16. Dezember 1936«, in: Arbeitsschutz 3 (1943), S. 8-15. 150. Siehe Philip E. Enterlines aufschlußreichen Bericht »Changing Attitudes and Opinions Regarding Asbestos and Cancer 1934–1965«, in: American Journal of IndustrialMedicine 20 (1991), S. 685-700; zudem die Kommentare zu seinem Artikel in Nummer 22 (1992), S. 259-80. 151. Für Teleky war es »in höchstem Grade wahrscheinlich, daß Asbestosis für Ca Entwicklung disponiert« (»Beruflicher Lungenkrebs«, S. 259). 152. Nordmann wird zitiert bei Lemke, »Asbestose und Lungenkrebs«, S. 12; vgl. außerdem Hermann Gerbis, »Ein weiterer Fall von schwerer Lungenasbestosis mit ausgedehnter Krebsbildung«, in: Arbeitsblatt 3 (1943), S. 315 f. Nordmanns Lebenslauf ist in der Parteikorrespondenz der NSDAP erhalten, National Archives, College Park, Maryland. 153. Arthur Böhme, »Untersuchungen an den Arbeitern einer Asbestfabrik«, in: Archiv für Gewerbepathologie und Gewerbehygiene 11 (1942), S. 433–52. 154. Joachim Kühn, »Über mikroskopische Untersuchungen an Asbeststaub und Asbestlungen«, in: Archiv für Gewerbepathologie und Gewerbehygiene 10 (1941), S. 473-85. Serpentin, und nicht Hornblende, wurde zu dieser Zeit als die gefährlichste Form dieser Faser angesehen. 155. Ehrhardt, »Der heutige Stand«, S. 193. 156. Reicharbeitsblatt 3 (1940), S. 263. Die »Richtlinien für die Bekämpfung der Staubgefahr in Asbest verarbeitenden Betrieben« werden auch diskutiert bei Ehrhardt, »Der heutige Stand«, S. 191 ff. 157. Alfred Welz, »Weitere Beobachtungen über den Berufskrebs der Asbestarbeiter«, in: Archiv für Gewerbepathologie und Gewerbehygiene 11 (1942), S. 536-50. 158. Wedler, »Über den Lungenkrebs bei Asbestose«, S. 189-209. Wedler wurde am 1. Mai 1937 Mitglied der NSDAP (Bundesarchiv Berlin). 159. Hans-Wilfried Wedler, Klinik der Lungenasbestose (Leipzig: Georg Thieme, 1939), S. 68. 366
160. Martin Nordmann und Adolf Sorge, »Lungenkrebs durch Asbeststaub im Tierversuch«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 51 (1941), S. 16882. 161. Welz, »Weitere Beobachtungen«, S. 537. 162. Nordmann und Sorge, »Lungenkrebs«, S. 169. 163. Hueper, Occupational Tumors, S. 399-405; Barry I. Castleman, »Asbestos and Cancer: History and Public Policy«, in: British Journal of Industrial Medicine 48 (1991), S. 427-30. Asbestbedingter Lungenkrebs wurde 1940 in einem der Kommentare des »Merkblatts« über die entschädigungspflichtigen Krankheiten offiziell anerkannt; siehe Monatsschrift für Krebsbekämpfung 7 (1940), S. 2l4f. 164. David Ozonoff, »Failed Warnings: Asbestos-Related Disease and Industrial Medicine«, in: The Health and Safety of Workers, hrsg. von Ronald Bayer (New York: Oxford University Press, 1988), S. 140. 165. Eberhard Gross, »Das Carcinom vom Standpunkt des Gewerbetoxikologen«, in: Adolf Butenandt et al., Chemie und Krebs (Berlin: Chemie, 1940), S. 101 f. 166. Franz Koelsch, Was weißt du von Berufskrankheiten und Gewerbehygiene? (Berlin: Arens, 1944), S. 25. 167. Enterline, »Changing Attitudes«, S. 691; »deutsche Forscher hatten 1943 den Zusammenhang zwischen Asbest und Krebs erkannt« (ebd.). 168. Literaturhinweise finden sich in ebd., S. 692f. Richard Doll hatte zu dieser Zeit bereits solide epidemiologische Belege für diese Verbindung geliefert; vgl. ders., »Mortality from Lung Cancer in Asbestos Workers«, in: British Journal of Industrial Medicine 12(1955),S.81 f. 169. Richard Doll, persönliche Auskunft. 170. Seilers, »Discovering Environmental Cancer«, S. 1824–35; vgl. auch Harry M. Marks, The Progress of Experiment: Science and Therapeutic Reform in the United States (New York: Cambridge University Press, 1977), S. 13663. 171. Lothar Horbach und Hans Loskant, Berufskrebsstudie: Forschungsbericht, Deutsche Forschungsgemeinschaft (Boppard 1981). Horbach und Loskant schätzten, daß bis zu 20 Prozent der Krebserkrankungen in der Bevölkerung auf Risiken am Arbeitsplatz zurückzuführen waren. 172. Hien, Chemische Industrie, S. 213-71. 367
173. Oswald Bumke, Erinnerungen und Betrachtungen: Der Weg eines deutschen Psychiaters (München 1952), S. 145. 174. Trials of War Criminals, 8, S. 577. 175. Rehn, »Blasengeschwülste«, S. 588–600; David Michaels, »Waiting for the Body Count: Corporate Decision Making and Bladder Cancer in the U.S. Dye Industry«, in: Medical Anthropology Quarterly, 2 (1988), S. 21532. 176. Hueper, Occupational Tumors, S. 470f. Fritz Curschmann bemerkte bereits 1920, daß sich Blasenkrebs für gewöhnlich erst nach vielen Jahren des Umgangs mit Anilinfarbstoffen entwickle; vgl. ders., »Statistische Erhebungen über Blasentumoren bei Arbeitern in der chemischen Industrie«, in: Zentralblatt für Gewerbehygiene 8 (1920), S. 145-49. 177. »Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten«, in: Reichsgesetzblatt 1 (1925), S. 69f. Deutschland änderte seine Bestimmungen zu Berufskrankheiten im Jahr 1929 und noch einmal 1936. Das Gesetz von 1936 vermehrte die Zahl der entschädigungspflichtigen Krankheiten, machte es aber für die Arbeiter schwieriger, Kompensationszahlungen zu erhalten; siehe »Dritte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 16. Dezember 1936«, in: Reichsgesetzblatt 1 (1936), S. 1117; zudem »Die entschädigungspflichtigen Berufskrankheiten«, in: Arbeitsschutz 3 (1940), S. 19-29. 178. Staemmler, »Beruf und Krebs«, S. 122. 179. Hueper, Occupational Tumors, S. 474. 180. B(etina?) Ewerbeck, »Ein Gang durch das Werk«, in: Gesundheitsführung, November 1940, S. 429, zitiert in Hien, Chemische Industrie, S. 224f. Hien bemerkt, daß die LG. Farben 1939 einen Bericht über den »Mythos« publizierte, wonach die Anilinfarbstoffe giftig seien (S. 257). 181. L. Simon, »Dauererfolge der operativen Behandlung von Anilintumoren«, in: Zentralblatt für Gewerbehygiene 7 (1930), S. 78ff; ders., »Prognose und Behandlung der sogenannten Anilintumoren der Blase«, in: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (Berlin: J. Springer), S. 709 ff. Beide Artikel werden zitiert in Hien, Chemische Industrie, S. 220. Es gelang Curschmann 1920 in einem Experiment mit Hunden nicht, Blasenkrebs zu erzeugen; siehe ders., »Statistische Erhebungen«, S. 145 f. 368
Wilhelm Hueper hingegen gelang dies schließlich; vgl. W. Hueper, F. H. Wiley und H. D. Wolfe, »Experimental Production of Bladder Tumors in Dogs by Administration of Beta-Naphthylamine«, in: Journal of Industrial Hygiene and Toxicology 20 (1938), S. 46-84. 182. Ernst W. Baader, »Berufskrebs«, in: Adam und Auler, Neuere Ergebnisse, S. 104-28. 183. Koelsch war ein preußischer Konservativer aus den Reihen der Deutschnationalen Volkspartei. Er entwarf für das Dresdener HygieneMuseum eine Ausstellung über Berufshygiene und schrieb ein wichtiges Lehrbuch über Berufskrankheiten, das von 1937 bis 1966 immer wieder aufgelegt wurde (Lehrbuch der Arbeitshygiene, Stuttgart). 184. Es gibt noch weitere Gründe, die Vollständigkeit der Krebsregister anzuzweifeln: Nicht erfaßt wurden die Arbeiter, die ein krebsförderndes Arbeitsumfeld verließen und erst später an Krebs erkrankten. Auch weiß niemand, wieviele der deutschen Soldaten, die im Krieg starben (fünf bis sechs Millionen), irgendwann an Krebs erkrankt wären. 185. Gine Eisner, »Die Betriebsärzte der IG Farben-Werke«, in: PaxMedica: Stationen ärztlichen Friedensengagements und Verirrungen ärztlichen Militarismus, hrsg. von W. Beck, G. Eisner und H. Mausbach (Hamburg 1986), S. 42-62; Hien, Chemische Industrie, S. 233-38. 186. Brooks, Hitlers Nuclear Weapons, S. 123. 187. Hermann Kaienburg, »Vernichtung durch Arbeit«: Der Fall Neuengamme, (Bonn 1990). 188. Hans Reiter, »Arbeitshygiene und Vierjahresplan«, in: ders., Das Reichsgesundheitsamt 1933-39: Sechs Jahre nationalsozialistische Führung (Berlin: Springer, 1939), S. 251. Reiter wies zudem daraufhin, die Verknappung von Blei habe in vielen Industriezweigen (etwa in Druckereien oder in der Farbenproduktion) zur Verwendung von Ersatzprodukten geführt, wodurch die gesundheitlichen Risiken vermindert worden seien (ebd.). 189. Götz Aly, Peter Chroust und Christian Pross, Cleansing the Fatherland: Nazi Medicine and Racial Hygiene (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1994), S. 1-98. 190. In einem seiner Gespräche im Führerhauptquartier machte Hitler die eher unklare Andeutung, daß Menschen mit Herz- und Lungenkrankheiten »nicht mehr in der Öffentlichkeit bleiben können und ebenfalls 369
keine Nachkommen mehr zeugen dürfen«. Diese Maßnahmen sollten »nach siegreichem Kriegsende schnellstens durchgeführt werden«. Siehe die Notiz, die von Jakob Sprenger, dem Gauleiter von Hessen-Nassau, an einen nicht namentlich genannten Kreisleiter ging; heute ist sie zu finden im Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Nachlaß Fritz Henssler, Mappe 2, Az. I/B/37869/8; publiziert in »Utopie Kreativ 55« (1995), S. 36f. Ernst Haeckel hatte vorgeschlagen, unheilbar Krebskranken freiwillige »Euthanasie« möglich zu machen; vgl. ders., Die Lebenswunder: Gemeinverständliche Studien über biologische Philosophie (Stuttgart: Kröner, 1904), S. 131-35. Der Psychiater E. Wauschkuhn ahnte den Vollzug des »Euthanasie«-Plans von Karl Binding und Alfred Hoche voraus, als er bereits 1922 davor warnte, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis man Krebspatienten gemeinsam mit Blinden und Tauben, Tuberkulosekranken, Kriegsversehrten und arbeitsunfähigen Menschen umbringen würde; vgl. Wauschkuhn, »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 24 (1922), S. 217. Es gibt keinerlei Hinweise, daß Krebspatienten in der Zeit der NS-Herrschaft der »Euthanasie« zum Opfer gefallen wären. 191. Zum deutschen »Euthanasie«-Programm vgl. Michael Burleigh, Death and Deliverance: Euthanasia in Germany, 1900–1945 (Cambridge: Cambridge University Press, 1995); Henry Friedlander, Der Weg zum NSGenozid: Von der Euthanasie zur Endlösung (Berlin 1997); sowie Ernst Klee, Euthanasie im NS-Staat. Die Vernichtung »lebensunwerten Lebens« (Frankfurt am Main 1983). Zu ähnlichen Plänen in den USA vgl. Ezekiel J. Emanuel, »The History of Euthanasia Debates in the United States and Britain«, in: Annals of Infernal Medicine 121 (1994), S. 793-802; Martin S. Pernick, The Black Story: Eugenics and the Death of »Defective« Babies in American Medicine and Motion Pictures since 1915 (New York: Oxford University Press, 1996). 192. Einige Vertreter der Naturheilkunde hatten ähnliche Auffassungen: Karl Kötschau forderte zum Beispiel 1939, daß Menschen auch dann arbeiten müßten, wenn ihre Gesundheit darunter litte. Die Wahl sei »entweder Leistungsfähigkeit oder natürliche Ausmerze«; vgl. ders., Kämpferische Vorsorge statt karitative Fürsorge (Nürnberg: Deutsche Volksgesundheit, 1939), S. 177; zudem Hien, Chemische Industrie, S. 146–57. 370
193. Hermann Hebestreit, »Bedeutung und Zukunftsaufgaben der Arbeitsmedizin«, in: Zentralblatt für Gewerbehygiene 18 (1941), S. 154–64. 194. Sepp Graessner, »Neue soziale Kontrolltechniken durch Arbeitsund Leistungsmedizin«, in: Baader und Schulz, Medizin und Nationalsozialismus, S. 149. Die Bemerkung Haubolds findet sich in ders., »Statistik«, S. 150. KAPITEL 5 1. Bereits während des Ersten Weltkriegs war die Meinung verbreitet, daß eine falsche Ernährung Krebs verursachen könne; siehe David Paul von Hansemann, »Beeinflußt der Krieg die Entstehung oder das Wachstum von Geschwülsten?«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 15 (1916), S. 492-516. Die Ernährung war in den zwanziger Jahren ein Aspekt in Deutschlands ansonsten tayloristischer Laborphysiologie; vgl. Dietrich Milles, »Working Capacity and Calorie Consumption: The History of Rational Physical Economy«, in: The Science and Culture of Nutrition, 1840–1940, hrsg. von Harmke Kamminga und Andrew Cunningham (Amsterdam: Rodopi, 1995), S. 82-87. 2. Virchow, Krankhafte Geschwülste, 1, S. 81 f. 3. Dormanns, »Die vergleichende geographisch-pathologische ReichsCarcinomstatistik«. 4. »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung*) (1938), S. 328. 5. Das SS-Blatt Schwarzes Korps klagte über deutsche Touristen, die in Wiener Kaffeehäusern nach der Annexion Österreichs Schlagsahne verschlangen; ein promilitaristischer Slogan forderte die Entscheidung zwischen »Schlagkraft oder Schlagobers!«; vgl. George Davey Smith, S. A. Ströbele und M. Egger, »Reply«, in: Journal of Epidemiology and Community Health 51 (1997), S. 209. 6. Reichsjugendführung, Du hast die Pflicht, gesund zu sein!, Heft 3, Gesund durch richtige Ernährung (o. O.: Gesundheitsaktion der HitlerJugend, 1939), S. 22. 7. Kitzing, Erziehung, S. 220. 8. Liek, Der Kampf, S. 22. 9. Franz G. M. Wirz, Gesunde und gesicherte Volksernährung (Dresden: 371
Müllersche Verlagshandlung, 1939), S. 1-16. 10. Ebd.; vgl. Gumpert, Heil Hunger!, S. 22f. 11. Siehe meine Untersuchung Racial Hygiene, S. 235 ff. Mussolini war bezüglich Brot sehr enthusiastisch: Ein Handbuch der Hitler-Jugend von 1941 zitiert einige Verse des Duce, in denen er das Brot als »das Herz des Hauses, den Duft des Tisches, das Freudezeichen des Herdes« preist; vgl. Kitzing, Erziehung, S. 187. 12. Wirz, Gesunde und gesicherte Volksernährung, S. 17. Der Welt-MilchKongreß, der in Berlin stattfand, hatte kurz zuvor den Konsum von Magermilch propagiert. 13. Will Kraft, Deutschlands Nahrungsfreiheit (Dresden: Müllersche Verlagshandlung, 1937). 14. Kortenhaus, »Krebs«, S. 426. Einige einflußreiche Schulmediziner stimmten in die Kritik an der Vorstellung (von Virchow) ein, wonach Krebs das Ergebnis einer lokalen Irritation sei; sie vertraten statt dessen die Hypothese, der ganze Organismus sei geschädigt; vgl. Ferdinand Sauerbruch und E. Knake, »Die Bedeutung von Sexualstörungen für die Entstehung von Geschwülsten«, in: Zeitschrift für Krebsforschung A4 (1936), S. 223. 15. Friedrich Kortenhaus war der Ansicht, daß es zur Krebsprävention beitragen würde, wenn man die tierischen Fette durch pflanzliche Öle ersetzte; siehe ders., »Krebs«, S. 441. 16. Reichsjugendführung, Gesund durch richtige Ernährung, Bd. 3 der Gesundheitsaktion der Hitler-Jugend (o. O., 1939), S. 15-18, 22f. 17. Der Aufstieg der Nationalsozialisten machte die deutsche vegetarische Bewegung um einiges schlechter einschätzbar: Auf dem Treffen der Internationalen Union der Vegetarier im Sommer 1933 in der Schweiz wurde der Nationalsozialismus heftig kritisiert, was die deutschen Teilnehmer dazu veranlaßte, sich aus der Internationalen Gesellschaft zurückzuziehen. Ragnar Berg, ein Vertreter der natürlichen Ernährung am Dresdener Rudolf-Heß-Krankenhaus, wurde eingeladen, am Treffen der Union 1935 in Dänemark teilzunehmen; aus Protest gegen deren antideutsche Haltung wies er aber die Einladung zurück. Bergs Protest erreichte Franz Wirz in Heß’ Ministerium, der daraufhin die Polizei anwies, zwei deutsche Delegierte – beides Ärzte –, die zur Tagung reisen wollten, zu verhaften. Im Juli dieses Jahres reiste P. Orlowsky vom Hauptamt für 372
Volksgesundheit der NSDAP begleitet von zwei Kriminalbeamten zum Stettiner Bahnhof, um die Delegierten festzunehmen. In seinem Bericht beschrieb Orlowsky die Delegierten als »eine negative Auslese ... Männlein und Weiblein in phantastischen Aufzügen, mit Pappschachteln und Paketen beladen, der offizielle grüne Lodenmantel nicht zu vergessen ... Schillerkragen und lange Mähne taten das übrige, um zu zeigen, daß hier ›Urnatürliches Leben‹ am Werke ist« (Orlowsky an Wirz, 7. Juli 1935, Schachtel 323, Mappe 7, Deutsche Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives). Deutschlands Verband deutscher Vegetarier-Vereine wurde von Karl Bartes aus Eden bei Oranienburg geleitet; Literatur zum Vegetarismus wurde von der Vegetarischen Presse in Dresden publiziert. 18. Anna Godfeder, »Ist Tomatensaft als krebserzeugender Faktor anzusehen?«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 40 (1934), S. 181-85. 19. Schüller, »Gibt es eine Prädisposition?«, S. 826f.; George H. Fink, Cancer and Precancerous Changes (London: Lewis, 1903); Hoffman, Cancer and Diet, S. 84. 20. Fritz Bodinus, Der Schlüssel zur wirksamen Krebsbekämpfung (Köln: Ernst Stauf, 1937), S. 60-82. 21. »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 10 (1942), S. 99 f. Hogaard rechnete aus, daß die nicht von Krebs betroffenen Eskimos von Angmagssalik im Durchschnitt 300 Gramm Proteine zu sich nahmen, sowie 170 Gramm Fett und weniger als 22 Gramm Kohlenhydrate (ebd.). Johannes Kretz’ krebsfeindliche Diät empfahl, leicht verdauliche Proteine zu essen, zum Beispiel Fisch, zusammen mit Vitaminen und wenig Kohlenhydraten, zugleich warnte er vor tierischen Fetten, künstlich gefärbten oder konservierten Nahrungsmitteln, Kaffee, Alkohol, Tabak und Lebensmitteln, die zu scharf oder zu stark gewürzt waren; vgl. seinen Beitrag »Krebsfeindliche Diät«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 9 (1941), S. 161-72. 22. Hans Truttwin, »Fleischprophylaxe«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 9 (1941), S. 57. Die ursprüngliche französische Untersuchung ist: Jules Blier, »Une croyance populaire á propos du cancer«, in: Presse medicale 43 (1935), S. 1514. 23. Hans Truttwin, »Krebs und Geschlechtlichkeit«, in: Wiener klinische Wochenschrift (1943), S. 28-31 und 49-54. 373
24. Victor E. Mertens, »Krebs und Fleischer«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 10 (1942), S. 219ff. Mertens wies daraufhin, daß die Araber einst rohes Hühnerfleisch als eine Art Krebstherapie verwendet hatten, indem sie es als Kompresse auf Tumore legten (S. 219). 25. Druckrey, »Ergebnisse«, S. 116. 26. Kitzing, Erziehung, S. 182. 27. Schenck, Patient Hitler, S. 27; diese Auffassung wurde von vielen Naturheilkundlern geteilt; vgl. Werner Kollath, »Grundlagen einer dauerhaften Ernährungslehre«, in: Wiener medizinische Wochenschrift 91 (1941), S. 158. 28. Paul Adloff, »Über die ursprüngliche Lebensweise des Menschen«, in: Deutsche ärztliche Wochenschrift A3 (1940), S. 293 f. 29. Wirz, Gesunde und gesicherte Volksernährung, S. 24, 11 ff. 30. Zitiert in Gumpert, Heil Hunger!, S. 81. 31. Zitiert in ebd., S. 81. 32. Ebd., S. 77; die ursprüngliche Quelle ist Gertraud Fieck, »Vorratswirtschaft, eine ernährungspolitische Notwendigkeit«, in: Ärztin 15 (1936), S. 204ff. 33. Gumpert, Heil Hunger!, S. 83. 34. Goebbels, Diaries, S. 81 (Eintrag vom 12. Februar 1942). 35. Ada Petrova, »Tales form the ‘Myth File’« in: Newsweek, 8. Mai 1995, S. 52f. 36. Otto D. Tolischus, »At Home with the Führer«, in: New York Times, 30. Mai 1937. 37. Nicht erwähnt ist Hitler in Rynn Berrys Famous Vegetarians and Their Favorite Recipes (New York: Pythagorean Publishers, 1993). 38. Rudolf Diels, Lucifer ante Portas (Stuttgart 1950), S. 82. 39. Schenck, Patient Hitler, S. 27 f. 40. Diels, Lucifer, S. 82. 41. Günter Peis, »Hitlers unbekannte Geliebte«, in: Der Stern, Nr. 24. Juni 1959, S. 34. 42. Robert G. L. Waite, The Psychopathie God, Adolf Hitler (New York: Basic Books, 1977), S. 19. 43. Zitiert in Arnold Arluke und Boria Sax, »Understanding Nazi Animal Protection and the Holocaust«, in: Anthrozoös 5 (1992), S. 18. 374
44. Peter Viereck, Metapolitics: The Roots of ‘the Nazi Mind (New York: Capricorn, 1961), S. 119. 45. Waite, Psychopathie God, S. 26. 46. Walter C. Langer, The Mind ofAdolf Hitler: The Secret Wartime Report (New York: Basic Books, 1972), S. 49-57; Arluke und Sax, »Understanding Nazi Animal Protection«, S. 29, Anm. 6. 47. Langer, Mind, S. 170; Arluke und Sax, »Understanding Nazi Animal Protection«, S. 29, Anm. 6; dies., »The Nazi Treatment of Animals and People«, in: Reinventing Biology, hrsg. von Lynda Birke und Ruth Hubbard (Bloomington: Indiana University Press, 1995), S. 228-60. 48. Picker, Hitlers Tischgespräche, S. 438f. 49. Thomas Fuchs, »Adolfs Rules«, in: Los Angeles Times, 21. Dezember 1986. 50. Waite, Psychopathie God, S. 19. 51. Hedwig Winzen an E. M. Hoppe, 14. Juli 1936, Reel 30, #383, United States Holocaust Museum Research Institute Archives. 52. Gustav Freiherr von Pohl, »Krankheiten durch Erdausstrahlungen: I. Mitteilung, Krebs«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 32 (1930), S. 597-604. 53. John Toland, Adolf Hitler (Garden City, N. Y.: Doubleday, 1976), S. 277. Hitler intervenierte mindestens einmal – 1940 – persönlich, um die Arbeit eines Wissenschaftlers (Gerhard Seeger) zu unterstützen, der die Rolle der Follikel-Hormone bei der Entstehung von Krebs untersuchte. Wir wissen nicht, warum Seegers Forschung seine Anteilnahme fand (sie beinhaltete die Verwendung des neuerfundenen Elektronenmikroskops), aber sein Angebot von 500 RM pro Monat legt nahe, daß er einige Aufmerksamkeit auf die Krebsforschung richtete. Siehe Karl Brandt an Hans-Heinrich Lammers, 4.2.3.40 R43 11/1226b, Bundesarchiv Potsdam. Wir haben zudem das Zeugnis des SS-Arztes Wilhelm Keppler vom Auswärtigen Amt, der am 14. Oktober 1944 an Himmler schrieb: »Ich weiß, daß der Führer sich sehr für die Frage der Krebsbekämpfung interessiert« (Akte Grawitz, Bundesarchiv Berlin). 54. Der Psychohistoriker Rudolf Binion ist der Autor dieser oft wiederholten Spekulation; vgl. Schenck, Patient Hitler, S. 518-24. 55. Felix Kersten, The Kersten Memoirs: 1940-1945, übers, von C. Fitzgibbon und J. Oliver (New York: Macmillan, 1957), S. 41 f., 294. 375
56. Schenck, Patient Hitler, S. 30. 57. Ernst Günther Schenck, Ich sah Berlin sterben (Herford 1970), S. 18. 58. Ebd.,S.43f. 59. Ebd., S. 44. 60. Ebd., S. 441 61. Schenck, Patient Hitler, S. 29. 62. Albert Speer, Erinnerungen (Frankfurt am Main 1969), S. 133f. 63. Roger Manvell und Heinrich Fraenkel, Heß: A Biography (New York: Drake Publishers, 1973), S. 64f. 64. Helmut Heiber, Joseph Goebbels (Berlin 1962), S. 262. 65. »Kleine Mitteilungen«, in: Vertrauensarzt und Krankenkasse 5 (1937), S. 96. 66. Die Archive des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke, der später umbenannt wurde in Deutscher Verein gegen den Alkoholismus, wurden 1944 oder 1945 durch einen Brand zerstört. Die beste Bibliographie der frühen Alkoholforschung ist: Mark Keller (Hrsg.), International Bibliography of Studies on Alcohol (New Brunswick, N. J.: Rutgers Center of Alcohol Studies, 1966). Eine ältere Bibliographie, zusammengestellt von Emil Abderhalden (Bibliographie der gesamten wissenschaftlichen Literatur über den Alkohol und den Alkoholismus, Berlin: Urban & Schwarzenberg, 1904), enthält mehrere Dutzend Einträge zum Thema der Schwarzbrennerei. 67. »1883-1933: 50 Jahre Deutscher Verein gegen den Alkoholismus«, in: Auf der Wacht 50 (\933), S. 18ff. 68. Geoffrey J. Giles, »Student Drinking in the Third Reich«, in: Drinking: Behavior and Belief in Modern History, hrsg. von Susanna Barrows und Robin Room (Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1991), S. 132–43. 69. Robert J. Karp et al., »Fetal Alcohol Syndrome at the Torn of the Twentieth Century«, in: Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine 149 (1995), S. 45-48. 70. Siehe Brian Katcher, »The Post-Repeal Eclipse in Knowledge about the Harmful Effects of Alcohol«, in: Addiction 88 (1993), S. 729-44; Philip J. Pauly, »How Did the Effects of Alcohol on Reproduction Become Scientifically Uninteresting?«, in: Journal of the History of Biology 29 (1996), S. 1-28. 376
71. Hermann Häberlin, »Ueber Verbreitung und Aetiologie des Magenkrebses«, in: Deutsches Archiv für klinische Medizin 44 (1889), S. 475 f. und 496-99; einen guten Überblick bietet Christoph Ludewig, Beiträge zur Statistik des Speiseröhrenkrebses (Göttingen: Med. diss., 1905). 72. Karl B. Lehmann, Kurzes Lehrbuch der Arbeits- und Gewerbehygiene (Leipzig: S. Hirzel, 1919), S. 58f. 73. Staemmler, »Beruf und Krebs«, S. 122. 74. Schüller, »Gibt es eine Prädisposition?«, S. 829. 75. Hans Doerfler, »Zur Frage der Vererbbarkeit des Krebses«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 10 (1942), S. 45. 76. Liek, Der Kampfe. 21. 77. »Stand im Zeichen des Alkoholverbotes«, in: Auf der Wacht 50 (1933), S. 38 und 77; Giles, »Student Drinking«, S. 134. 78. Werner Bracht und Wilhelm Messer, Alkohol. Volk. Staat, 3. Aufl. (Berlin: Reichsgesundheitsverlag, 1941), S. 34. Hitlers Bemerkungen wurden zuerst im Völkischen Beobachter, 31. März 1926, veröffentlicht. In ihrem Kommentar zur Rede Hitlers bekräftigten die Herausgeber, daß der Führer nicht beabsichtigt habe, einem »Kameraden« zu verbieten, gelegentlich ein Bier zu trinken. Er habe nur daraufhinweisen wollen, wie leicht ein Mann unter dem Einfluß von Alkohol seine Pflicht vergesse. Hitler erklärte einmal, er habe den Alkohol im Jahr 1905 aufgegeben, nachdem er sich, als er den Realschulabschluß feierte, sinnlos betrunken hätte; während des Zweiten Weltkriegs trank er manchmal ein Bier, um einschlafen zu können, obwohl er offenbar befürchtete, daß er davon dick werden könnte (Schenck, Patient Hitler, S. 33). 79. Prof. Dr. Immanuel Gonser, »Zeitwende!«, m: Auf der Wacht 50 (1933), S. 37. Gonser war mehr als 30 Jahre lang Vorsitzender des Vereins gegen Alkoholismus gewesen; er wurde 1937 durch Ernst Bauer ersetzt. 80. »Von der goldenen Jubiläumsfeier unseres Vereins«, in: Auf der Wacht 50 (1933), S. 78ff. »Führer« der neuen Organisation war Fritz Bartels; der Vorsitzende war Immanuel Gonser; siehe Vertrauensarzt 1 (1933), S. 72. Die Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren mit Sitz in BerlinDahlem war aus dem älteren Deutschen Verein gegen den Alkoholismus hervorgegangen; die neue Organisation schluckte schließlich die meisten der geistlichen deutschen Anti-Alkohol-Organisationen. Die Reichsstelle war 377
auf typisch nationalsozialistische Art und Weise organisiert, mit einer Gaustelle in allen Gauen und einer Kreisstelle in jedem Kreis; die Leiter jedes regionalen Zweigs sind aufgelistet in: »Gaue der Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren«, in: Auf der Wacht 57 (1940), S. 60 ff. Die Reichsstelle beschäftigte sich hauptsächlich mit Propaganda, aber sie koordinierte auch den Vertrieb von alkoholfreien Getränken, überwachte die Werbung und verwaltete die 300 staatlichen Trinkerberatungsstellen sowie 300 Trinkerfürsorgestellen usw. Zu den Organisationen vor der NSZeit siehe Christian Stubbe, »Deutscher Verein gegen den Alkoholismus 1883-1933«, in: Auf der Wacht 50 (1933), S. 11ff. und 18 ff. 81. Max Fischer, »Die Alkoholgefahr«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst \ (1935), S. 202ff. 82. »Berichte«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 1 (1935), S. 202ff.; Die Genußgifte 35 (1939), S. 57, 65. 83. »Stand im Zeichen des Alkoholverbotes«, in: Auf der Wacht 50 (1933), S. 38, 77. 84. Bracht und Messer, Alkohol. Volk. Staat, S. 26ff. 85. Ebd., S. 14ff. Es gab 1937 in Deutschland 266400 Verkehrsunfälle und 1935 10014 Verkehrstote. Laut Polizeiberichten standen 5600 der 8000 jährlichen Verkehrsopfer in der Zeit von 1934-1937 mit Alkohol im Zusammenhang (ebd.). 86. Auf der Wacht 54 (1937), S. 54. 87. »Mitteilungen«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 7 (1941), S. 336. 88. Kitzing, Erziehung, S. 194f.; vgl. Heinrich Hunke, »Rede des Präsidenten des Werberates der deutschen Wirtschaft«, in: Volksgesundheit und Werbung, hrsg. vom Werberat der deutschen Wirtschaft (Berlin: Carl Heymanns, 1939), S. 42f. 89. Hans Reiter und Wilhelm Heupke, Obst und flüssiges Obst in der Volksernährung und Krankenbehandlung (Berlin: Wacht-Verlag, 1938). 90. Jeremy Noakes, »Nazism and Eugenics: The Background to the Nazi Sterilization Law of 14 July 1933«, in: Ideas into Politics, hrsg. von R. J. Bullen, H. Pogge von Strandmann und A. B. Polonsky (Totowa, N. J.: Humana, 1984), S. 80. 91. Ernst Sprungmann, »Die Bedeutung der Neuregelung des staatlichen Gesundheitswesens«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 1 (1935), S. 578. 378
92. Verschuer, Erbpathologie, S. 178. 93. »Bierverbrauch im Deutschen Reich«, in: Vertrauensarzt 6 (1938), S. 157. 94. Gumpert, Heil Hunger!, S. 33-37. 95. Arthur Gütt, »Öffentliches Gesundheitswesen und Vierjahresplan«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 3 (1937), S. 211-21. 96. Werberat, Volksgesundheit und Werbung, S. 9. Von Seiten der Versicherungen wurde geltend gemacht, daß Trinker wegen des erhöhten Risikos für Herzinfarkte (»Bierherz«), Krebs, Diabetes und viele andere Krankheiten viel teurer für die Versicherungen seien als Nichttrinker; vgl. Ferdinand Sauerbruch, Fritz Lickint und Ernst Gabriel, Arzt, Alkohol und Tabak (Berlin: Reichsgesundheitsverlag, 1940), S. 14 f. 97. Kitzing, Erziehung, S. 232. 98. Kleine, Ernährungsschäden als Krankheitsursachen, S. 34. 99. Gumpert, Heil Hunger!, S. 36. 100. Bracht und Messer, Alkohol. Volk. Staat, S. 31 f. 101. Zitiert nach ebd.,S. 34. 102. Friedlander, Der Wegzum NS-Genozid: Von der Euthanasie zur Endlösung (Berlin 1997); Wolfgang Ayass, »Asoziale« im Nationalsozialismus (Stuttgart 1995). 103. Gumpert, Heil Hunger!, S. 38. 104. Im Jahr 1938 warb Hermann Göring bei den Bayern für seinen Vierjahresplan, indem er ihnen eine beträchtliche Förderung der Bierbrauereien versprach; vgl. ebd., S. 40. 105. Goebbels, Diaries, S. 64, 82. 106. Kitzing, Erziehung, S. 230f. 107. Georg Reid, »Die Bedeutung der Genußgifte Alkohol und Nikotin für den menschlichen Körper«, in: Die Gesundheitsführung der Jugend, hrsg. von Robert Hördemann und Gerhard Joppich (München: Lehmann, 1939), S. 314. 108. Kitzing, Erziehung, S. 231 f. 109. Hermann Druckrey, »Kaffeeröstprodukte und Krebs«, in: Medizinische Klinik 35 (1939), S. 624f. Ahnliche Einwände wurden gegen Roffos Behauptung vorgebracht, er habe mit Laborexperimenten die krebserregende Wirkung von Tabakteeren bewiesen: Ernest Kennaway aus England 379
warf Roffo vor, er habe den Tabak bei zu hoher Temperatur verbrannt und damit Teerstoffe erzeugt, die beim normalen Rauchen nicht entstanden. 110. Sauerbruch, Lickint und Gabriel, Arzt, Alkohol und Tabak, S.U. 111. Karl Heinz Roth, »Leistungsmedizin: Das Beispiel Pervitin«, in: Ärzte im Nationalsozialismus, hrsg. von Fridolf Kudlien (Köln 1985). 112. C. Pullen, »Bedeutung des Pervitin für die Chirurgie«, in: Chirurg 13 (1939), S. 485 ff. 113. Trials of War Criminals, 1, S. 633. 114. Hans Zimmermann, Zur Frage der Wirkung von Pervitin auf Konzentrationsleistungen (Dortmund: Med. diss., 1946). 115. »Berliner Medizinische Gesellschaft«, in: Klinische Wochenschrift 23 (1944), S. 178. Das Interesse an diesen besonderen Experimenten – die in Buchenwald durchgeführt wurden – scheint aus dem Verdacht entstanden zu sein, daß ein SS-Offizier namens Koehler vorsätzlich vergiftet worden sei. Eine Erklärung lautete, daß ein südamerikanisches Gift (Kurare?) verwendet worden war; eine andere brachte Pervitin in Kombination mit einem Betäubungsmittel ins Spiel. Man führte Versuche durch, um herauszufinden, ob beide Medikamente, miteinander kombiniert, tödlich seien; siehe Trials of War Criminals, 1, S. 691. 116. Martin Lee, Acid Dreams: The CIA, LSD, and the Sixties Rebellion (New York: Grove Weidenfeld, 1987), S. 17. 117. Gerhard Kärber, »Schlafmittelmißbrauch«, in: Reichs-Gesundheitsblatt 14 (1939), S. 537ff. 118. Hans F. Michaelis, »Über die Wirkung einer warmen Mahlzeit auf die Leistungsfähigkeit von Frauen bei Nachtarbeit«, in: Arbeitsphysiologie 12 (1942), S. 134-41. 119. Bernhard Schlegel und Heinrich Böttner, »Experimenteller Beitrag zur Ernährung bei Hitzeeinwirkung auf den menschlichen Organismus«, in: Die Ernährung 6 (1941), S. 177-85. 120. Konrad Lang, »Ernährung«, in: Ernst Rodenwaldt et al., Hygiene. Part I: General Hygiene (Wiesbaden 1948), S. 121 ff. 121. Ebd., S. 121 f. 122. Heinrich Kraut und Herbert Bramsel, »Der Calorienbedarf der Berufe«, in: Arbeitsphysiologie 12 (1942), S. 197-221. 123. Lang, »Ernährung«, S. 123. 380
124. Eduard Schratz, ›»Deutscher Tee‹: Was er sein sollte und was er ist«, in: Die Deutsche Heilpflanze 6 (WAG), S. 112ff. 125. Hans Geith, »Ratschläge für das Heilkräutersammeln mit Schulkindern«, in: Die Deutsche Heilpflanze – Beilage, März 1936, S. 53. 126. Andreas Hock, »Die Zusammensetzung des Kaninchendepotfettes nach Verfütterung eines gesättigten Fettes mit teilweise ungerader Kohlenstoffatomzahl«, in: Die Ernährung 6 (1941), S. 278-81; Lang, »Ernährung«. 127. Lang, »Ernährung«, S. 129ff. 128. Karl Glässer, »Die möglichst restlose Verwertung des Schlachttierblutes zur menschlichen Ernährung«, in: Berliner und Münchener Tierärztliche Wochenschrift, 12. Juli 1940, S. 333-36. 129. Henry Huttenbach, »The Myth of Nazi Human Soap«, in: Holocaust and Ge-nocide Newsletter, Februar 1995, S. 1 f. 130. E. W. Hope et al., Industrial Hygiene and Medicine (London: Balliere, 1923). 131. Diese Liste stammt zum Teil aus einem Vortrag, den Alfred Neumann aus Wien 1933 auf dem Internationalen Krebskongreß in Madrid hielt; zitiert nach Hoffman, Cancer and Diet, S. 100. 132. Hoffman, Cancer and Diet. 1942 akzeptierten die deutschen Krankenkassen die Ernährungstherapie als eine in ihren Kosten zu erstattende Krebstherapie. 133. Felix Mandl, Theorie und Praxis der Krebskrankheit (Wien: Wilhelm Maudrich, 1932); Otto Buchinger, Das Heilfasten und seine Hilfsmethoden als biologischer Weg, 2. Aufl. (Stuttgart: Hippokrates, 1935). 134. Liek, Der Kampf, S. 204; Hoffman, Cancer and Diet, S. 393-400. 135. Hoffman, Cancer and Diet, S. 70–90. Eine gute deutschsprachige Übersicht liefert Carl Lewin, Die Ätiologie der bösartigen Geschwülste (Berlin: Springer, 1928). 136. Hoffman, Cancer and Diet, S. 81-86, 245. Die Allergietheorie wurde von G. Hager entwickelt; vgl. ders., »Krebsentstehung«, in: Medizinische Welt 12 (1938). 137. Hoffman, Cancer and Diet, S. 79-93. 138. Hans Auler, »Über die Wartung und Behandlung Krebskranker«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 1 (1933), S. 28 ff, 61 ff, 101-5, 160-65, 208-11, 261–66. Auler behauptete, daß die salzlose Ernährung, die von 381
Max Gerson vertreten wurde, tatsächlich das Tumorwachstum beschleunige. Gersons Diät bestand aus viel rohem Obst und Gemüse; in den dreißiger Jahren wurde sie auch bekannt als Sauerbruch-Herrmannsdorfer-Gerson-Diät. 139. Die Monatsschrift für Krebsforschung berichtete 1942 über die Experimente mit kaltem Wasser von H. Eltrom aus Kopenhagen, der elf Patienten mit Krebs im Spätstadium (Malignomen), die alle einer umfassenden Bestrahlungstherapie unterzogen worden waren, für viele Stunden in kaltes Wasser gesetzt hatte. Sechs der elf Personen starben infolge Herzstillstands während oder kurz nach dem Experiment. Einer der Patienten war unter dem Einfluß von Betäubungsmitteln während 26 Stunden in Wasser mit einer Temperatur von 26,4 Grad Celsius gelegen. Der deutsche Bericht über diese Versuche hielt fest, daß die Behandlung helfe, die Schmerzen zu lindern, man aber mit weniger gefährlichen Methoden bessere Ergebnisse erzielt hätte; vgl. O. Kaum, »Referate«, in: Monatsschrift für Krebsforschung 10 (1942), S. 223. 140. Max Rubner erwähnte 1916 in seiner Besprechung der deutschen Versorgungssituation im Krieg die Vitamine nicht einmal; vgl. ders., Deutschlands Volksernährung im Kriege (Leipzig: Naturwissenschaften, 1916). 141. John R. Loofbourow, »Vitamin D«, in: Bulletin of Basic Science Research 3 (1931), S. 101 ff. 142. Joachim Kühnau, »Probleme der Vitamin-Terminologie«, in: Zeitschrift für Vitaminforschung 1 (1932), S. 184-91. 143. Arthur Scheunert, »Gemüse als Vitaminquelle«, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 57 (1931), S. 835. 144. Soer, Wieviel Vitamin D ist zur Heilung und zur Vorbeugung von Rachitis notwendig (Leiden: Med. diss., 1931). 145. E. Glanzmann und T. Gordonoff, »Zur Einführung«, in: Zeitschrift für Vitaminforschung 1 (1932), S. 1. 146. In einem Artikel von 1939 in einer schweizerischen medizinischen Fachzeitschrift wurde gezeigt, daß Krebspatienten an einem Vitamin-CMangel litten; daraus wurde der Schluß gezogen, daß alle Krebskranken zusätzliche Vitamine erhalten sollten; siehe Silvio Antes und Clemente Molo, »Zur C-Bilanz bei Geschwulstkranken«, in: Schweizerische medi382
zinische Wochenschrift 69 (1939), S. 619-23. 147. Wilhelm Caspari, »Hormone, Vitamine und Krebs«, in: Arbeiten aus dem Institut für experimentelle Therapie 27 (1933), S. 13fE 148. Wilhelm Caspari, »Über die Ernährung der Krebskranken«, in: Fortschritte der Therapie 9 (1933), S. 129. 149. Fränkel und Gereb, »Wachstumstendenz maligner Tumoren und Vitamin«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 38 (1933), S. 524f£; Leo von Gordon, »Vitamine und Krebs«, in: ebd., S. 398-408. 150. Borst, Streiflichter, S. 7. Das offizielle Mißtrauen bewirkte aber wenig, um die Begeisterung für die Vitamine abzuschwächen: Während des Krieges wurden Vitamine in Schulen und Fabriken verteilt, und Robert Ley initiierte eine »Vitamin-Aktion«, um die Leistung von Arbeitern zu steigern. 151. Scott Podolsky, »Cultural Divergence: Ehe Metchnikoff’s Bacillus bulgaricus Therapy and His Underlying Concept of Health«, in: Bulletin ofthe History of Medicinell (1998), S. 1-27. 152. Friedrich Burgkhardt, »Die zusätzliche biologische Behandlung des Krebses mit hochwertigen Kolistämmen (Mutaflor) und Leberextrakten«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung^ (1941), S. 98. Burgkhardts »Krebsbekämpfungsdiät« verbot schwerverdauliche tierische Fette, außerdem Alkohol, Salz, Nikotin und scharfe Gewürze. Butter, Milch und pflanzliche Fette waren aber erlaubt (S. 109). 153. Siehe zum Beispiel Hugo von Tietzen und Hennig, »Eine Lanze für Mutaflor«, in: Hippokmtes 8 (1937), S. 495f. 154. Martin Weiser, »Mutaflor und Karzinom«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 10 (19’42), S. 101-9. 155. Wilhelm Heupke, Die Faeces des Menschen (Dresden: Steinkopff, 1939). 156. Tomizo Yoshida, »Experimenteller Beitrag zur Frage der Epithelmetaplasie«, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie 283 (1932), S. 29–40; Takaoki Sasaki und Tomizo Yoshida, »Experimentelle Erzeugung des Leberkarcinoms durch Fütterung mit o-Amidoazotoluol«, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie 295 (1935), S. 175–200; außerdem Bauer, »Fortschritte«, S. 158ff. 157. Riojun Kinosita, »Studies on the Cancerogenic Chemical Substances«, in: Transactions of the Japanese Pathology Society 27 (1937), S. 665–727. 383
158. Norbert Brock, Hermann Druckrey und Herwig Hamperl, »Die Erzeugung von Leberkrebs durch den Farbstoff 4-Dimethylaminoazobenzol«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 50 (1940), S. 431-56. 159. Eine ausführliche Dokumentation zu Druckreys Arbeit findet sich in R73/10785-10787, Bundesarchiv Koblenz. Noch im Juli 1944 erhielt Druckrey einen Preis von RM 12000 für seine Forschung zu experimenteller Krebserzeugung. (Mentzel und Blome an Druckrey, 28. Juli 1944, R73/10787, Bundesarchiv Koblenz); nach dem Krieg leitete er die Farbstoffkommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die 1949 gegründet wurde, um die krebserregende Wirkung von Lebensmittelfarbstoffen zu erforschen (Wagner und Mauerberger, Krebsforschung, S. 230). 160. Adolf Butenandt, »Neuere Beiträge der biologischen Chemie zum Krebsproblem«, in: Butenandt et al., Chemie und Krebs, S. 36f. 161. V. Bülow-Schwarte an das Auswärtige Amt, 25. Juli 1939, Rl 8/3656, Bundesarchiv Koblenz. 162. Rene Reding, »Des dangers de cancerisation resultant de l’emploi de colorants dans l’alimentation et en therapeutique«, in: Acta Unio Internationalis Contra Cancrum 4 (1939), S. 735-53. 163. Hermann Druckrey, »Bericht an das Reichsgesundheitsamt«, 13. September 1939; Reiter an den Reichsminister des Innern, 21. Oktober 1939, Rl8/3656, Bundesarchiv Koblenz. Die Lebensmittelgesetze von 1927 und 1936 schränkten die Verwendung gefährlicher Lebensmittelfarbstoffe ein, aber Krebs wurde nicht erwähnt; siehe Reichsgesetzblatt 1 (1927), S. 134-37 und Reichsgesetzblatt 1 (1936), S. 18-22. 164. Wiedel an das Volksgesundheitsamt, 6. August 1941, Rl 8/3656, Bundesarchiv Koblenz. 165. Reiter an den Reichsminister des Innern, 6. Januar 1943, ebd. 166. K. H. Bauer an den Reichsminister des Innern, 26. Januar 1943, ebd. 167. Reiters Brief ist erwähnt in LG. Farben an Melior, 19. November 1939, ebd. Die I. G. Farben verkaufte 1942 Farben im Wert von sieben Millionen Reichsmark; siehe K. H. Bauer an den Reichsminister des Innern, 26. Januar 1943, ebd. 168. Eberhard Groß, Berufskrebs und Krebsforschung (Köln 1955), S. 34. 384
169. Reiter an den Reichsminister des Innern, 28. Februar 1941, R18/3656, Bundesarchiv Koblenz. 1940 wurden zwölf verschiedene Farbstoffe von der I. G. Farben auf Reiters Verlangen hin analysiert; unter den Forschern war die Belegschaft von Druckreys Forschungslabor in Berlin, aber auch Robert Bierich vom Institut für Krebsforschung in Hamburg, Prof. Richard Labes von der Jenaer Pharmakologischen Anstalt, Prof. Karl Zipf vom Pharmakologischen Institut in Königsberg und andere (Reiter an den Reichsminister des Innern, 10. Januar 1940, ebd.). 170. Am 19. Juni 1944 erließ zum Beispiel die Hauptvereinigung der Milch-, Fett- und Eierwirtschaft Maßnahmen zur Regulierung der Farbstoffe im Käse; vgl. Reichs-Gesundheitsblatt 19 (1944), S. 373. 171. Reiter an den Reichsminister des Innern, 20. Februar 1942, Rl 8/3656, Bundesarchiv Koblenz. 172. Reiter an den Reichsminister des Innern, 30. Juni 1943, ebd. 173. Baumgartner an den Reichsminister des Innern, 8. Dezember 1941, ebd. 174. Johannes Kretz, »Gegen die mißbräuchliche Verwendung krebsgefährlicher Teerfarbstoffe (Azofarbstoffe) in den Lebensmitteln«, in: Hippokrates 15 (1944), S. 127f. Kretz und andere nahmen an, daß die schädlichen Effekte der Farbstoffe von ihrer Abspaltung bei der Umwandlung von Proteinen herrührten; man hatte noch nicht erkannt, daß die DNA die molekulare Basis der Erblichkeit ist, und viele Forscher waren sich sicher, daß die Proteine die zentralen Regulatoren bei der Krebsentstehung waren. Man glaubte, daß Karzinogene wie Buttergelb dadurch wirkten, daß sie die Sauerstoffversorgung der Zellen beeinträchtigten; erst in den fünfziger Jahren wurde diese Theorie durch die DNA-Mutationstheorie ersetzt. 175. K. H. Bauer an Paul Rostock, Reichskommissar des Führers für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, 9. November 1944, Rl 8/3656, Bundesarchiv Koblenz. 176. Theodor J. Bürgers, »Wasserhygiene«, in: Rodenwaldt et al., Hygiene, S. 89-94. 177. Die Verordnungen vom 1. und 27. Februar 1939 verboten die Verwendung von Saccharin in Lebensmitteln, wenn keine Ausnahmegenehmigung des Innenministeriums vorlag. In den Aufschriften 385
von Lebensmittelprodukten, die künstliche Süßstoffe enthielten, mußte zudem deutlich auf die schädliche Wirkung hingewiesen werden; siehe Reichsgesetzblatt 1 (1939), S. 111 und 336; Walther Fromme, »Öffentlicher Gesundheitsdienst«, in: Rodenwaldt et al., Hygiene, S. 27. Eberhard Schairer, ein führender Pathologe und Tabakforscher (siehe Kapitel 6), begann während des Krieges das krebsfördernde Potential von Saccharin zu erforschen. Es ist aber nicht klar, zu welchen Ergebnissen er gelangte (George Davey Smith, persönliche Mitteilung). 178. Gumpert, Heil Hunger! 179. Heinz Faulstich, Von der Irrenfürsorge zur »Euthanasie«: Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945 (Freiburg 1993), S. 206f. 180. Horst Dickel, »Alltag in einer Landesheilanstalt im Nationalsozialismus: das Beispiel Eichberg«, in: Euthanasie in Hadamar: Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten, hrsg. vom Landeswohlfahrtsverband Hessen (Kassel 1991), S. 106. 181. Burleigh, Death and Deliverance, S. 240-47. 182. Gumpert, Heil Hunger!, S. 13, 54-57, 77. 183. Terry Charman, The German Home Front 1939-1945 (London: Barrie & Jen-kins, 1989), S. 47. 184. Goebbels, Diaries, S. 145 f. 185. George Davey Smith, S. A. Ströbele und M. Egger, »Reply«, in: Journal of Epidemiology and Community Health 51 (1997), S. 209; John Ardagh, Germany and the Germans, 3. Aufl. (London: Penguin, 1995), S. 212. KAPITEL 6 1. Dieses Kapitel ist eine überarbeitete Version meines Artikels »The Nazi War on Tobacco: Ideology, Evidence, and Public Health Consequences«, in: Bulletin of the History of Medicine 71 (1997), S. 435-88. 2. Daniel J. Kevles, »Blowing Smoke«, in: New York Times Book Review, 12. Mai 1996, S. 13; Richard Kluger, Ashes to Ashes: America’s Hundred-Year Cigarette War, the Public Health, and the Unabashed Triumph of Philip Morris (New York: Alfred A. Knopf, 1996). Die vier meistzitierten Arbeiten wurden 1950 publiziert: Ernst L. Wynder und Evarts A. Graham, »Tobacco 386
Smoking as a Possible Etiologic Factor in Bronchiogenic Carcinoma«, in: JAMA 143 (1950), S. 329-336; Richard Doll und A. Bradford Hill, »Smoking and Carcinoma of the Lung. Preliminary Report«, in: BritishMedicalJournal2 (1950), S. 739-48; Robert Schrek et al., »Tobacco Smoking as an Etiologic Factor of Disease. I. Cancer«, in: Cancer Research 10 (1950), S. 49-58; Morton L. Levin, Hyman Goldstein und Paul R. Gerhardt, »Cancer and Tobacco Smoking. A Preliminary Report«, in: JAMA 143 (1950), S. 336ff. Diesen Untersuchungen folgten Ernst Wynders Arbeit über Tierversuche und die großen vorausschauenden Studien von E. Cuyler Hammond von der »American Cancer Society« in den USA und von Richard Doll und A. Bradford Hill in Oxford und London; siehe Ernst L. Wynder et al., »Experimental Production of Carcinoma with Cigarette Tar«, in: Cancer Research 13 (1953), S. 855–64; E. Cuyler Hammond und Daniel Hörn, »Smoking and Death Rates – Report on Forty-four Months of Follow-up of 187783 Men«, in: JAMA 166 (1958), S. 1159-72; Richard Doll und A. Bradford Hill, »Lung Cancer and Other Causes of Death in Relation to Smoking«, in: British Medical Journal 2 (1956), S. 1071-81. 3. Edgar Bejach, Die tabakgegnerische Bewegung; in Deutschland mit Berücksichtigung der außerdeutschen Tabakgegnerbewegungen (Berlin: Med. diss., 1927), S. 3 f. Tabak wurde bereits 1598 in Braunschweiger Apotheken als Heilmittel angeboten, und Bejach berichtet von einer Anzeige für ein »Wunderkraut« auf einer Frankfurter Handelsmesse im Jahr 1582 (S. 3). 4. Henner Hess, Rauchen: Geschichte, Geschäfte, Gefahren (Frankfurt am Main 1987), S. 20. Hess erwähnt, daß das erste bekannte Tabakverbot der Welt aus dem Jahr 1575 stammt, es untersagte das Rauchen in mexikanischen Kirchen (S. 23). 5. Bejach, Die tabakgegnerische Bewegung, S. 1–7. Eugen Dühring, Engels’ antisemitischer Gegner, verurteilte Tabak als unrein; siehe Friedrich Engels, Anti-Dühring (New York: International Publishers, 1939), S. 130 (dt.: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Stuttgart 1953). 6. Der Bund Deutscher Tabakgegner, Herausgeber von Der Tabakgegner, wurde 1912 in Dresden-Bühlau gegründet, im selben Jahr wurde der Alkohol- und Tabakgegnerverein in Hannover ins Leben gerufen, dessen Vorsitz Hermann Stanger innehatte; die Grazer Organisation leitete ein Dr. 387
Meister. Im Mai 1914 wurde eine Internationale Anti-Tabak-Liga mit deutschen, österreichischen, dänischen und schwedischen Repräsentanten gegründet; die Liga organisierte nach dem Krieg Anti-Tabak-Kongresse. Vgl. Bejach, Die tabakgegnerische Bewegung, S. 3f.; Egon Caeser Conte Corti, Die trockene Trunkenheit: Ursprung, Kampf und Triumph des Rauchens (Leipzig: Insel, 1930); Richard Bretschneider (Hrsg.), Der Weltbund der Tabakgegner (Internationale AntiTabak-Liga): Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung (Dresden: Emil Pahl, 1939). Der Bund Deutscher Tabakgegner wurde 1936 in Deutscher Bund zur Bekämpfung der Tabakgefahren umbenannt und nach Berlin verlegt, wo er der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Rauschgiftbekämpfung« angegliedert wurde. 7. John C. Burnham, Bad Habits: Drinking, Smoking, Taking Drugs, Gambling, Sexual Misbehavior, and Swearing in American History (New York: New York University Press, 1993). 8. Die Fachzeitschrift Die Genußgifte wurde von 1904 bis 1938 unter dem Titel Die Alkoholfrage publiziert, nach 1940 trug sie den Titel Die Volksgifte. Die Zeitschrift Auf der Wacht hatte den Untertitel Amtliches Organ der Reichsstelle gegen Alkohol- und Tabakgefahren und vereinte damit die Bekämpfung von Alkohol und Tabak. Sie erschien im Wacht-Verlag, dieser publizierte auch die Wacht-Zeitschrift: Kampfblatt gegen den Mißbrauch des Alkohols, die Zeitschrift Gärungslose Früchteverwertung und die Blätter für praktische Alkoholgefährdeten-Arbeit. Im Jahr 1937 hatten die Zeitschriften des Wacht-Verlags insgesamt eine Auflage von 310 000 Exemplaren. 1940 wurde der Wacht-Verlag in den Reichsgesundheitsverlag integriert. 9. Robert E. Gaupp, Emil Kraepelin, Emil Abderhalden und Adolf von Strümpell, »An die Deutsche Ärzteschaft«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 68 (1921), S. 832. 10. Bejach, Die tabakgegnerische Bewegung, S. 6. 11. Louis Lewin, Phantastica: Die betäubenden und erregenden Genußmittel (Berlin: Georg Stilke, 1924), S. 320 f. 12. Hofstätter, Die rauchende Frau; vgl. auch sein gleichermaßen paternalistisches Buch Die arbeitende Frau: Ihre wirtschaftliche Lage, Gesundheit, Ehe und Mutterschaft (Wien: M. Perles, 1929). 388
13. Gilman, Freud, S. 176. 14. Boehncke, »Tabak und Volksgesundheit«, S. 625–30. 15. Siehe meine Untersuchung Racial Hygiene, S. 228, 239f. 16. Corti, Die trockene Trunkenheit, Walter Hermannsen, »Erzieher und Erzieherin! Ein Wort an Euch!«, in: Die Genußgifte 35 (1939), S. 74f.; Fritz Lickint, »Nikotinmißbrauch und Nikotinismus«, in: Zahnärztliche Mitteilungen 30 (1939), S. 306–9. Otto Neustätter, ein österreichischer Sozialist, charakterisierte das Rauchen in seinem Artikel »Zur Frage des Lungenrauchens« als »Lungen-Masturbation«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 78 (1931), S. 794. Der Ausdruck »trockene Trunkenheit« geht auf die Satire des jesuitischen Dichters (und Rauchers) Jakob Bälde zurück: Trockene Trunkenheit: Straffrede wider den Mißbrauch des Tabaks (Nürnberg 1658); für Hintergrundinformationen siehe Sigmund von Birken, Die Trockene Trunkenheit, hrsg. von Karl Pörnbacher (München 1967). 17. Conti sprach diese Worte am 25. Mai 1939 anläßlich einer Tagung in Berlin, die vom Werberat der Deutschen Wirtschaft finanziert wurde; siehe Volksgesundheit und Werbung, S. 7-10. 18. Blaich, »Nazi Race Hygiene«, S. 15. 19. John Hill, Cautions against the Immoderate Use of Snuff (London 1761), S. 27–38; Samuel T. von Soemmerring, De morbis vasorum absorbentium corporis humani (Frankfurt 1795), S. 109. Joannes Jacobus Holland scheint der erste gewesen zu sein, der einen Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebs vermutete; vgl. ders., Dissertatio inauguralis medicochirurgica sistens carcinoma labii inferioris absque sectionepersanatum (Rinteln 1739). 20. Juraj Körbler, »Thomas Harriot (1560–1621), fumeur de pipe, victime du cancer?« Gesnerus 9 (1952), S. 52ff. 21. Etienne-Frederic Bouisson, Tribut ä la Chirurgie, Bd. 1 (Paris: Bailliere, 1858), S. 259–303. Einen guten frühen statistischen Überblick zur Rolle des Tabaks bei Krebserkrankungen von Mund, Lippen und Speiseröhre bietet Hugo H. Ahlboms Beitrag »Prädisponierende Faktoren für Plattenepithelkarzinom in Mund, Hals und Speiseröhre: Eine statistische Untersuchung am Material des Radiumhemmets, Stockholm«, in: Acta Radiologica 18 (1937), S. 163-85. Sigmund Freud, der 1923 an Mundkrebs 389
erkrankte und später daran starb, bemerkte 1924 und noch einmal 1939, daß er diese Krankheit seiner Vorliebe für Zigarren zuschreibe; siehe Gilman, Freud, S. 175 und 177. 22. Friedrich Tiedemann, Geschichte des Tabaks (Frankfurt am Main 1954), S. 371. 23. Michael Kaminsky, Ein primäres Lungencarcinom mit verhornten Plattenepithelien (Greifswald: Med. diss., 1898). 24. Isaac Adler, Primary Malignant Growths ofthe Lungs and Bronchi (New York: Longmans, Green, and Co., 1912), S. 3. 25. Georg A. Brongers, Nicotiana Tabacum: The History of Tobacco and Tobacco Smoking in the Netherlands (Amsterdam: H. }-. W. Becht’s, 1964), S. 228 f. Im Jahr 1867 wurde auf der Weltausstellung in Paris eine Maschine ausgestellt, die 3600 Zigaretten pro Stunde rollen konnte; siehe Paul Seufert, Der Feldzug gegen die Zigarette (Basel 1964), S. 33. 1933 konnte eine Maschine in Dresden, die von nur drei oder vier Arbeitern bedient wurde, 400 000 Zigaretten am Tag produzieren; siehe »Allgemeine Tabakgegner-Umschau«, in: Deutscher Tabakgegner 17 (1935), S. 17. Das Philip-Morris-Werk in Concord, North Carolina, produziert heute mehr als doppelt so viele Zigaretten pro Stunde; vgl. Christian Tenbrock, »Glimmstengel mit Batterie«, in: Die Zeit, 31. März 1995, S. 39. 26. »Rauchen: Wie Gut«, in: Der Spiegel, 22. Januar 1964, S. 63. 27. Hess, Rauchen, S. 49. 28. Anton Bock, »Das Lungenrauchen«, in: Vertrauensarzt 6 (1938), S. 155f. 29. Vgl. zum Beispiel Kurt Wolf, »Der primäre Lungenkrebs«, in: Fortschritte der Medicin 13 (1895), S. 725-38, und die Literaturhinweise in meinem Artikel »Nazi War on Tobacco«, S. 444f. Der Kongreß der deutschen pathologischen Gesellschaft von 1923 markierte einen Wendepunkt: Man anerkannte die Zunahme der Zahlen. Mehrere Teilnehmer (Berblinger, Teutschlaender, Askanazy, Fahr, Kraus, Mathias, Mönckeberg und Verse) gestanden die Bedeutung der Krankheit ein; vgl. die Verhandlungen der deutschen pathologischen Gesellschaft 19 (1923), S. 190 ff. Zur Zunahme von Lungenkrebs in Leipzig siehe Carly Seyfarth, »Lungenkarzinome in Leipzig«, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 50 (1924), S. 1497 ff.; allgemeiner Milton B. Rosenblatt, »Lung Cancer in the Nineteenth 390
Century«, in: Bulletin of the History ofMedicine 38 (1964), S. 4l2f. 30. Einen guten Überblick findet man in Huepers Werk Occupational Tumors, S. 369–468. Zur Gaskrieg-Hypothese siehe Fritz Reiche, »Zur Genese der Bronchialkrebse und ihre Beziehungen zu Kampfgasschädigungen«, in: Medizinische Welt 6 (1932), S. 1013f.; zur Hypothese über das Einatmen von Straßenstaub und -teer siehe P. Hampeln, »Häufigkeit und Ursache des primären Lungenkarzinoms«, in: Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 36 (1923), S. 145–50. Zur These der »Rassenmischung« vgl. Jens Paulsens Korrespondenz, zitiert in Hildebrandts Rassenmischung, S. 102. Walter Kikuth behauptete, daß Röntgenstrahlen verantwortlich für die Zunahme sein könnten; siehe seine Studie »Über Lungencarcinom«, S. 107–28. Ernst Schönherr glaubte, daß der zunehmende Autoverkehr an den steigenden Lungenkrebsraten in Chemnitz schuld sei; siehe ders., »Beitrag«, S. 450, zudem S. 443 f. für seine Diskussion der Fehlernährungshypothese. Walther Berblinger aus Jena diskutierte 1925 die Gase in Bergwerken, chemotoxische Entzündungen und das Rauchen, aber er entschied, daß Grippekeime von der jüngstvergangenen Epidemie die wahrscheinlichste Ursache für die Zunahme der Krebserkrankungen seien. Er sagte deshalb voraus, daß die Lungenkrebsraten wieder sinken würden; siehe seinen Artikel »Die Zunahme des primären Lungenkrebses in den Jahren 1920-1924«, in: Klinische Wochenschrift 4 (1925), S. 913–16. Edgar Bejach erwähnte Lungenkrebs in seiner Übersicht von 1927 über die deutsche Anti-Tabak-Bewegung nicht (Die tabakgegnerische Bewegung) 31. Franz Herz, »Hat das Lungenkarzinom an Häufigkeit zugenommen?«, in: Medizinische Klinik 26 (1930), S. 1666-69. Im Jahr 1935 unterstützte Pfeil die Meinung von Herz in seinem Beitrag »Lungentumoren«, S. 1198 f. 32. Hintze, »Kultur und Krebs«, S. 62. 33. Zigaretten wurden ab Mitte der zwanziger Jahre verdächtigt; siehe zum Beispiel Robert Probst, »Die Häufigkeit des Lungencarcinoms«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 25 (1927), S. 431. Einen guten Überblick über die Forschungen zu den Gefahren des Tabaks um 1930 bietet Friedrich Schmetz, Das Tabakrauchen im Lichte der öffentlichen Gesundheitspflege (Berlin: Schoetz, 1930). Eine hervorragende frühe Kritik der Erklärungs391
ansätze, die nicht den Tabak als Ursache für Lungenkrebs sahen, ist Adam Syreks auf Beobachtungen in Krakau beruhende Untersuchung »Zur Häufigkeitszunahme des Lungenkrebses«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 36 (1932), S. 409-15. 34. Hermann Tillmanns führt Lungenkrebs in seinem Artikel »Ueber Theer-, Ruß- und Tabakkrebs«, in: Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 13 (1880), S. 519-35, nicht auf; dasselbe gilt für Hans Pässler in dessen Beitrag »Ueber das primäre Carcinom der Lunge«, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie 145 (1896), S. 191-278. 35. Joseph Cortyl, Du cancer des fumeurs (Paris: Med. diss., 1897). Der Ausdruck cancer des fumeurs stammte aus Bouissons Tributvon 1861. 36. Hermann Rottmann, Über primäre Lungencarcinome (Würzburg: Med. diss., 1898), S. 29, 52. Härting und Hesse versäumten es, Tabak als mögliche Ursache für die Schneeberger Krankheit (Lungenkrebs bei Uranbergwerksarbeitern) zu nennen, und gaben statt dessen dem Arsen die Schuld an den Krebszahlen (heute weiß man, daß Strahlung die Ursache war). 37. Fritz Lickint, »Tabak und Tabakrauch als ätiologischer Factor des Carcinoms«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 30 (1929), S. 349-65; vgl. auch die faszinierende Besprechung und Antwort von Victor E. Mertens, »Zigarettenrauch eine Ursache des Lungenkrebses? (Eine Anregung)«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 32 (1930), S. 82-91. Herbert L. Lombard und Carl R. Doering belegten unabhängig von Lickint, daß ein großer Teil der amerikanischen Lungenkrebspatienten rauchte; vgl. dies., »Cancer Studies in Massachusetts«, in: New England Journal of Medicine 198 (1928), S. 48187. 38. Adler, Primary Malignant Growths, S. 22. Auch Theodor Fahr stellte in seiner Besprechung von Otto Teutschlaenders Untersuchung einen solchen Zusammenhang zur Diskussion; vgl. Verhandlungen der deutschen Gesellschaft für Pathologie 19 (1923), S. 192, und Schönherr, »Beitrag«, S. 443. Carly Seyfarth wies 1924 auf den hohen Anteil von Tabakarbeitern und Wirten unter den Lungenkrebsopfern in Leipzig hin und vermutete, daß die Gefährdung durch Tabakpartikel (auch Rauch) für die steigende Lungenkrebsrate der Stadt verantwortlich sein könnte; vgl. ders., »Lungenkarzinome«, S. 1499 392
39. Fritz Lickint, Tabakgenuß und Gesundheit (Hannover: Bruno Wilkens, 1936), S. 83 f. Frederick L. Hoffman war einer der ersten Amerikaner, die Lickint ernst nahmen; siehe seinen Beitrag »Cancer and Smoking Habits«, in: Cancer ... Comprising International Contributions to the Study of Cancer, hrsg. von Frank E. Adair (Philadelphia: Lippincott, 1931), S. 62-66; zudem Hoffman, Cancer and Diet, S. 489. Auch Jesse M. Gehman wurde auf Lickint aufmerksam; vgl. ders., Smoke over America (East Aurora, N. Y.: The Roycrofters, 1943), S. 180-84. Der Wiener Arzt Franz Högler hielt 1941 fest, daß 82 Prozent seiner Lungenkrebspatienten Männer und alle starke Raucher waren. Er erkannte, daß die Verbannung von Teer aus den Zigaretten genauso wichtig war wie die Eliminierung des Nikotins; vgl. ders., »Welche Erkrankungen sind auf Nikotinschäden zurückzuführen?«, in: Wiener klinische Wochenschrift50 (1941), S. 1016. 40. Fritz Lickint, Tabak und Organismus: Handbuch der gesamten Tabakkunde (Stuttgart: Hippokrates, 1939); vgl. ders., »Die Bedeutung des Tabaks für die Krebsentstehung«, in: Deutscher Tabakgegner 17 (1935), S. 27-30. Einige knappe Bemerkungen zu Lickints Biographie finden sich in Wilhelm C. Crecelius, »In memoriam Fritz Lickint«, in: Deutsches Gesundheitswesen 15 (1960), S. 2283 f.; und in Werner Schüttmann, »Ein Jubiläum im Kampf gegen den Tabakmißbrauch«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 131 (1989), S. 966ff. Lickint wurde 1939 zum Mitglied des Führerrates des Deutschen Bundes für Lebensreform ernannt; siehe Reine Luft 21 (1939), S. 2. 41. Weitere deutsche Begriffe, die damals zur Bezeichnung der Nikotinabhängigkeit verwendet wurden, lauteten: Nicotismus (Bamberger), Nicotianismus (Krafft-Ebing), Nicotinsucht (Lickint), Fumigatismus (Werner Kautzsch) und Kapnomanie (J. Stein); siehe Lickint, »Nikotinmißbrauch«, S. 306–9. Tabakismus war eine deutsche Version von John Harvey Kelloggs »tobaccoism«. Das Konzept des »chronischen Nikotinismus« geht mindestens auf Leo Fürst zurück, »Zur Prophylaxe des Coffeinismus und Nikotinismus«, in: Die ärztliche iW« 14 (1901), S. 351-54. 42. Lickint verwendete den Begriff »Passivrauchen« erstmals 1936 in Tabakgenuß und Gesundheit, S. 26, bemerkte jedoch bereits 1935 in seinem Artikel in der Münchener medizinischen Wochenschrift, daß drei der sieben Frauen seiner Lungenkrebs-Serie in sehr rauchigen Räumen, die von ihren 393
Ehemännern verpestet worden seien, gelebt hätten (»Der Bronchialkrebs der Raucher«, Bd. 82, S. 1233 f.). Auch zuvor hatten Tabak-Kritiker vor den Gefahren eines »Aufenthalts in rauchigen Räumen« gewarnt (z.B. Bejach, Die tabakgegnerische Bewegung, S. 11); Fredrick Hoffman spekulierte 1931, daß Lungenkrebs bei Frauen auf durch Rauchen verursachte Luftverschmutzung zurückzuführen sei; siehe ders., »Cancer and Smoking Habits«, S. 67. Lickint selbst setzte das Passivrauchen mit Julius Finks Konzept des Nicotinismus innocentium gleich; vgl. Tabak und Organismus, S. 269. 43. Lickint, Tabakgenuß und Gesundheit, S. 85. Angel H. Roffo, »Krebserzeugende Tabakwirkung«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung^ (1940), S. 97, nahm Bezug auf Lickints Vorstellung der Krebserkrankungen entlang der »Rauchstraße«. 44. Fritz Lickint, Nazi party membership records, National Archives. Im März 1935 mußte Lickint als Vorsitzender des Bundes Deutscher Tabakgegner zurücktreten; er wurde durch Georg Boehncke ersetzt; siehe »Bundes-Umschau«, in: Deutscher Tabakgegner 17 (1935), S. 20. Lickint schrieb allerdings weiterhin für die Zeitschrift. 45. »Volksgesundheit und Genußgifte«, in: Deutsches Ärzteblatt 69 (1939), S. 196. 46. Georg Boehncke, Die gesetzlichen Grundlagen der Bekämpfung des Tabakmißbrauches in Deutschland (Berlin: Wacht-Verlag, 1937), S. 12. 47. Heinrich Lottig, »Über den Einfluß von Alkohol, Nikotin und Schlafmangel auf die Höhenfestigkeit«, in: Luftfahrtmedizinische Abhandlungen 13 (1938), S. 218–33. Otto Schmidt, Direktor am Gerichtsärztlichen Institut in Danzig, stellte einen erhöhten Kohlenmonoxid-Gehalt im Blut von Rauchern fest, noch viele Stunden, nachdem sie zuletzt geraucht hatten; siehe ders., »Der Kohlenoxydgehalt des Blutes bei Rauchern«, in: Reichs-Gesundheitsblatt 4 (1940), S. 53–58. Schmidt machte sich auch Sorgen um die Schadstoffe in der Luft, die aus anderen Quellen stammten – zum Beispiel die Gefährdung der Hausfrauen durch das Kohlenmonoxid von Gasöfen oder die ähnliche Bedrohung, die von Gasheizungen ausging; vgl. ders., »Über den Kohlenoxydgehalt des Blutes bei chronischer Kohlenoxydvergiftung«, in: Volksgesundheit im Reichsgau Danzig-Westpreußen 1 (1939/40), S. 323-30. 48. »Berlin: Control of the Use of Alcohol and Tobacco«, in: JAMA 113 394
(1939), S. 2163f. 49. Rudolf Friedrich, »Das Nicotin in der Ätiologie und in der postoperativen Nachbehandlung der Ulcuskrankheit«, in: Archiv für klinische Chirurgie 179 (1934), S. 9-28. 50. Karl E. Westphal und Hans Weselmann, »Über Nikotinschädigungen des Magens«, in: Die Genußgifte 36 (1940), S. 1-12; dies., Magenerkrankungen durch Tabakmißbrauch (Berlin: Reichsgesundheitsverlag, 1940). Vgl. Franz Reicherts Ansicht, daß tödliche Magendurchbrüche (infolge von Geschwüren) bei Männern aufgrund der alarmierenden Zunahme des Zigarettenkonsums dreimal häufiger waren als bei Frauen, in: ders., Über die Häufigkeit von Krankheiten: Tuberkulose, Ulkuskrankheit und Krebs (Leipzig: Georg Thieme, 1941), S. 26. 51. Theodor Deneke aus Hamburg behauptete, daß Tabak für 50 bis 75 Prozent aller Angina pectoris-Fälle verantwortlich war; ders., »Tabak und Angina pectoris«, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung (1936), S. 573-76; H. Reindell und R. Winterer, »Untersuchungsergebnisse über die Wirkung des Rauchens auf den Kreislauf«, in: Die Tabakfrage 24 (1942), S. 84-88. 52. Walther Kittel, »Hygiene des Rauchens«, in: Wehrhygiene, hrsg. von Siegfried Handloser und Wilhelm Hoffmann (Berlin: Springer, 1944), S. 242; Paul Laurentius, »Über Herzschäden durch Tabakmißbrauch bei Wehrmachtangehörigen«, in: Der Deutsche Militärarzt 11 (1941), S. 633-40. 53. Alfred Goedel, »Kriegspathologische Beiträge«, in: Kriegschirurgie (Wien: Franz Deuticke, 1944), 1, S. 45 und 51 f. Der Band war Teil der Reihe Wehrmedizin: Kriegserfahrungen 1939-1943, hrsg. von Arnold Zimmer. 54. Boehncke, Die gesetzlichen Grundlagen, S. 6. 55. Werner Hüttig, »Der Einfluß der Genußgifte auf das Erbgut und seine Entwicklung (Alkohol, Nikotin)«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 1 (1935), S. 171. 56. Paul Bernhard, »Über die Ursachen der Sterilität der Frau«, in: Zentralblatt für Gynäkologie 67 (1943), S. 793; ders., Der Einfluß der Tabakgifte auf die Gesundheit und die Fruchtbarkeit der Frau (Jena: G. Fischer, 1943). 57. Agnes Bluhm, Die rassenhygienischen Aufgaben des weiblichen Arztes (Berlin: A. Metzner, 1936). 395
58. Kitzing, Erziehung, S. 225f.; der Vorschlag stammte von D(esire?) Demeaux. 59. Boehncke, »Tabak und Volksgesundheit«, S. 627. 60. Georg Boehncke bemerkte 1939, es bestehe kein Zweifel, daß ein großer Anteil jener, die Tabak rauchten oder kauten, »tabaksüchtig« sei; vgl. ders., Die Bedeutung der Tabakfrage für das deutsche Volk (Berlin: Reichsausschuß für Volksgesundheitsdienst, 1939), S. 14. Leonardo Conti bestätigte 1939, daß Alkohol und Nikotin, wie Morphium und Opium, zu einer chronischen Sucht führen konnten; siehe ders., Zur Gründung der Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren (Berlin: Reichsgesundheitsverlag, 1939), S. 3. Die Nikotinsucht wurde zumindest in einem Fall für das Begehen eines Mordes verantwortlich gemacht; vgl. »Aus dem Gerichtssaal«, in: Reine Luft 29 (1938), S. 48. 61. Irmgard Hanselmann, Zigaretten, Ärzteschaft und Sucht im Spannungsfeld von Politik und Krieg (1900-1950) (Tübingen: Med. diss., 1991), S. 49118. 62. Boehncke, Die gesetzlichen Grundlagen, S. 4. 63. »Kleine Mitteilungen«, in: Vertrauensarzt 9 (1941), S. 128. Das erwähnte Amt war die Reichsmeldestelle für Suchtgiftbekämpfung. 64. Kittel, »Hygiene des Rauchens«, S. 243. 65. Zitiert nach William B. McAllister, A Limited Enterprise: The History of International Efforts to Control Drugs in the Twentieth Century (Ph. D. diss., University of Virginia, 1996), S. 214. 66. Angel H. Roffo, »Durch Tabak beim Kaninchen entwickeltes Carcinom«, in: Zeitschrift für Krebsforschung^ (1931), S. 321 f.; vgl. seine Artikel »Der Tabak als krebserzeugendes Agens«, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 63 (1937), S. 1267-71; und »Krebserzeugende Tabakwirkung«, S. 97-102. T. Chikamatsu demonstrierte ungefähr zur selben Zeit wie Roffo die krebserregende Wirkung von Tabakteeren bei Versuchstieren; siehe seine Studie »Künstliche Erzeugung des Krebses durch Tabakteer bei Kaninchen und Maus«, in: Transactions of the Japanese Pathology Society 21 (1931), S. 244ff. Die ersten Versuche, Krebs mit Tabakteer zu erzeugen, scheinen diejenigen des Militärarztes Anton Brosch aus Wien gewesen zu sein; er bestrich Meerschweinchen mit den Karzinogenen Teer, Paraffin, Ruß und Tabaksaft, erhielt jedoch unklare 396
Resultate; vgl. ders., »Theoretische und experimentelle Untersuchungen zur Pathogenesis und Histogenesis der malignen Geschwülste«, in: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie 162 (1900), S. 32–84. Otto Schürch und Alfred Winterstein führten in den frühen dreißiger Jahren Experimente durch und wiesen darauf hin, daß Tabakteer nur Tumore erzeugte, wenn die Betroffenen gewisse »Prädispositionen« dafür besäßen; vgl. dies., »Experimentelle Untersuchungen zur Frage Tabak und Krebs«, in: Zeitschrift für Krebsforschung AI (1935), S. 76-92. Victor Mertens führte 1930 offenbar als erster Experimente durch, um zu bestimmen, ob Mäuse, die Zigarettenrauch einatmeten, Lungenkrebs entwickelten (vgl. ders., »Zigarettenrauch«). Er wies später daraufhin, E. von Zebrowski aus Kiew habe 1906 Kaninchen dem Zigarettenrauch ausgesetzt, um die gesundheitlichen Auswirkungen zu untersuchen; von Krebs war dabei jedoch nicht die Rede gewesen; siehe E. vom Zebrowski, »Zur Frage vom Einfluß des Tabakrauches auf Tiere«, in: Centralblatt für allgemeine Pathologie 19 (1908), S. 609-17; Victor E. Mertens, »Noch einmal Zigarettenrauch und Lungenkrebs«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 51 (1941), S. 183-92. 67. Lickint, »Die Bedeutung«, S. 30; ders., Tabakgenuß und Gesundheit, S. 84f. Auch Fr. Thys von der »Fondation Medicale Reine Elisabeth« in Brüssel vertrat die Ansicht, daß bei der Entstehung von Lungenkrebs dem Nikotin zuviel und dem Teer zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt werde; vgl. ders., »Note sur l’etiologie du carcinome bronchique«, in: Revue beige des sciences medicales 7 (1935), S. 640-44. Mertens konnte 1941 dann feststellen, daß Nikotin »selten« für die Entstehung von Krebs verantwortlich gemacht wurde; ders., »Noch einmal Zigarettenrauch«, S. 183. 68. Richard Doll, persönliche Mitteilung, 30. Oktober 1996. 69. Neumann Wender, »Eine neue Gefahr für den Raucher«, in: Münchener medizinische Wochenschrift80 (1933), S. 737f. 70. Enrico Ferrari, »Tabakrauch und Lungenkarzinom«, in: Münchener medizinische Wochenschrift m (1933), S. 942. 71. Klarner, Vom Rauchen, S. 22. 72. Rudolf Fleckseder, »Ueber den Bronchialkrebs und einige seiner Entstehungsbedingungen«, in: Münchener medizinische Wochenschrift 83 397
(1936), S. 1585-88. Aaron Arkin und David H. Wagner aus den USA stellten fest, daß 90 Prozent ihrer Lungenkrebspatienten schwere Raucher waren; vgl. ihren Artikel »Primary Carcinoma of the Lung«, in: JAMA 106 (1936), S. 587-91. Roffo nannte eine Zahl von 95 Prozent (»Krebserzeugende Tabakwirkung«, S. 97). Franz Strnad an der Nonnenbruch-Klinik in Prag kam auf einen Anteil von knapp 50 Prozent seiner Patienten und schloß daraus, daß das Rauchen bei der Entstehung der Krankheit wahrscheinlich eine Rolle spielte; er beobachtete zudem, daß die Erklärung, der Tabakkonsum sei verantwortlich für die Zunahme von Lungenkrebs, vor allem bei den südslawischen Autoren beliebt sei. Dabei bezog er sich offenbar auf seine Kollegen in Prag (»Der Lungenkrebs«, S. 309). 73. Franz Hermann Müller, »Tabakmißbrauch und Lungencarcinom«, in: Zeitschrift für Krebsforschung (1939), S. 57-85. Eine kurze Zusammenfassung von Müllers Aufsatz wurde ins Englische übersetzt und in der Ausgabe von JAMA am 30. September 1939 veröffentlicht (S. 1372). 74. Müller, »Tabakmißbrauch«, S. 59. 75. Ebd., S. 57. Walther Reinhard, »Der primäre Lungenkrebs«, in: Archiv der Heilkunde 19 (1878), S. 385, war einer der ersten, die diese ungleiche Verteilung zwischen den Geschlechtern feststellten (in seiner Untersuchungsgruppe befanden sich 16 Männer und 11 Frauen, die an Lungenkrebs erkrankt waren); Walter H. Walshe, Practical Treatise on the Diseases of the Lungs, 4. Aufl. (London: Smith, Eider, 1871), hatte das Ungleichgewicht ebenfalls bemerkt. Hans Pässlers Untersuchung von 1896 umfaßte 50 Männer und 18 Frauen (»Ueber das primäre Carcinom der Lunge«, S. 246); im Jahr 1912 betrug der Anteil der Männer in Adlers Gruppe von 374 Fällen 72 Prozent (Primary Malignant Growths, S. 22). Seyfarths Untersuchung von 1924 beinhaltete 307 Fälle, bei denen am Pathologischen Institut der Universität Leipzig eine Autopsie durchgeführt worden war; darunter waren 258 Männer (»Lungenkarzinome«, S. 1498); für Seyfarth war dieser überproportionale Anteil unzweifelhaft auf die größere Gefährdung der Männer in der Arbeitswelt zurückzuführen, eine Bemerkung, die seltsamerweise seiner Erkenntnis widerspricht, daß Tabak bei der Zunahme der Krebserkrankungen eine Rolle spielen könnte. Im Gegensatz dazu war Wilhelm Hueper 1942 der Ansicht, daß sich die Diskrepanz höchstwahrscheinlich daraus ergab, daß Männer viel mehr 398
rauchten (vgl. ders., Occupational Tumors, S. 426); Huepers Schlußfolgerung ist angesichts seines späteren Mißtrauens gegenüber der »Zigaretten-Theorie« besonders bemerkenswert. 76. Müller, »Tabakmißbrauch«, S. 62 f. 77. Ebd., S. 78. Müller sagt nicht viel darüber, wie die gesunde Kontrollgruppe ausgesucht wurde; auch äußert er sich nicht dazu, warum er die weiblichen Raucherinnen vernachlässigte. Alle 96 individuellen Fälle werden aber diskutiert, auch die Einzelheiten über Gefährdung am Arbeitsplatz, das Alter, der Konstitutionstyp und die gerauchte Tabakmenge, Art und Lokalisierung des Lungengeschwürs und die vorangegangenen Krankheitsgeschichten, besonders der Lungenkrankheiten. 78. Ebd. 79. Doll und Hill, »Smoking«, S. 739-48. 80. Wynder und Graham, »Tobacco Smoking«, S. 329. 81. Müller, »Tabakmißbrauch«, S. 79-82. 82. Evariste Galois war ein französischer Mathematiker im 19. Jahrhundert, der Pionierarbeit auf dem Gebiet der Gruppentheorie leistete und dann im Alter von nur 20 Jahren in einem Duell starb (1832). 83. Siehe zum Beispiel Wynder und Graham, »Tobacco Smoking«, S. 329–36; Richard Doll und A. Bradford Hill, »A Study of die Aetiology of Carcinoma of the Lung«, in: British Medical Journal 2 (1952), S. 1271-86. Willem F. Wassink zitierte Lickint und Müller in seinem »Ontstaansvoorwaarden voor Longkanker«, in: Nederlands Tijdschrift voor Geneeskunde 4 (1948), S. 3732-47. 84. Prof. Berthold Ostertag hielt 1942 fest, daß die Zunahme der Lungentumore unter Rauchern »hinreichend bekannt und unumstritten« sei. Er fügte hinzu, daß es den Ärzten eine wichtige Aufgabe sein müsse, den Tabaksüchtigen dabei zu helfen, sich von ihrer Sucht zu befreien; vgl. ders., »Krebsbekämpfung, Krebsbehandlung«, in: Medizinische Klinik 38 (1942), S. 281; vgl. Prof. Wolfgang Denks Feststellung, wonach man auch die Möglichkeit berücksichtigen müsse, »daß das Einatmen (Inhalieren) des Zigarettenrauches vielleicht mit der enormen Häufigkeit des Lungenkrebses beim Mann in Zusammenhang steht«; ders., »Der Krebs des Mannes«, in: Wiener klinische Wochenschrift 56 (1943), S. 2. 85. Lickint, »Der Bronchialkrebs«, S. 1232ff. 399
86. De Crinis’ Bemerkungen, die ursprünglich im Deutschen Ärzteblatt publiziert wurden, sind wiedergegeben in »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 9 (1941), S. 197. 87. Mit Konsens meine ich, daß zwar nicht alle, aber die meisten dieser Ansicht waren. Ein Artikel von 1939 in einer deutschen medizinischen Fachzeitschrift räumte ein, daß die deutschen Lungenkrebsraten gegenüber den Zahlen von nur zwei Jahrzehnten zuvor um ein 20- bis 25faches angestiegen waren, aber er leugnete, daß Tabak die primäre Ursache dafür war (Hintze, »Kultur und Krebs«, S. 61–76). Ein Artikel von 1941 über die explodierenden Lungenkrebsraten in Stettin berichtete über die Vermutung zahlreicher Autoren, der Kontakt mit Tierprodukten (z.B. von Metzgern oder Lederarbeitern) könne die Ursache sein; vgl. (Gerhard?) v. Glinski, »Über die Zunahme des primären Lungenkrebses«, in: Hippokrates 12 (1941), S. 829-34. Ein Text von 1944 über Lungenkrankheiten nannte Teer, Staub, Automobilabgase, chronischen Katarrh und angeborene Mißbildungen als mögliche Faktoren – und ignorierte damit das Rauchen vollständig –, er gelangte indes zu dem Fazit, daß die wahren Gründe »unbekannt« seien; vgl. Adolf Sylla, Lungenkrankheiten (Berlin: Urban & Schwarzenberg, 1944), S. 619. Tabak war die am eingehendsten diskutierte Hypothese in einem chirurgischen Text über Lungenkrebs aus Wien in der Nachkriegszeit, dessen Autoren nichtsdestoweniger zu dem Schluß kamen, daß die Ursache für die Zunahme der Krankheit noch keine wirklich befriedigende Erklärung gefunden habe; siehe Georg Salzer et al., Das Bronchuscarcinom (Wien 1952), S. 6. Hans Stroink aber erinnert sich an seinen Aufenthalt am Pathologischen Institut München im Jahr 1947, daß der Institutsdirektor Ludwig Burkhardt immer, wenn ein Lungenkrebsfall gezeigt wurde, fragte: »Was hat er geraucht?« (persönliche Mitteilung, 5. Mai 1998). 88. In Österreich organisierten nationalsozialistisch gesinnte Einwohner von Tirol, Vorarlberg und der Steiermark in den Jahren 1933–34 einen Tabakboykott, als Teil einer Bemühung, die Regierung zu stürzen (indem so der Staatskasse die Steuereinkünfte vorenthalten werden sollten). Der Sicherheitskommissar der Steiermark verlangte von allen Tabakverkäufern, daß sie Listen von Kunden ablieferten, die aufgehört hatten, Zigarren und Zigaretten zu kaufen. Das Ziel war wahrscheinlich, die Anhänger des 400
Nationalsozialismus identifizieren und bestrafen zu können. Tabakläden, die die Zusammenarbeit verweigerten, wurde mit einem Entzug der Verkaufslizenz gedroht, verdächtigen Kunden mit einer Buße von 1000 Schilling oder einer Haftstrafe von bis zu drei Wochen; siehe »Behördlicher Kampf gegen Tabakabstinenz in Deutschösterreich«, in: Ärztliche Sachverständigen-Zeitung (1934), S. 200. 89. Boehncke, Die Bedeutung, S. 11 f. Der Erlaß des Ministeriums datiert vom 21. März 1938. 90. Sauerbruch, Lickint und Gabriel, Arzt, Alkohol und Tabak. Diese zweite Reichstagung »Volksgesundheit und Genußgifte« wurde vom Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP finanziert; eine Zusammenfassung der Diskussionen findet man in »Berlin: Stimulants Endanger Public Health«, in: JAMA 112 (1939), S. 2339f. Am 6. März 1939 veröffentlichte Hans Reiter einen Aufruf an Deutschlands führende medizinische, pharmakologische und Ernährungs-Gesellschaften, daß sie die gesundheitsschädigenden Auswirkungen des Nikotins erforschen sollten; vgl. seinen »Aufruf an die deutsche medizinische Wissenschaft!«, in: ders., Reichsgesundheitsamt, S. 262f. 91. Siehe zum Beispiel Hermann Stanger, Ethik, Weltanschauung und Tabak (1937), und Johannes Ude, Rauchsklaverei und Kultur (1937), die beide in Wien von der Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren publiziert wurden. Die Zeitschrift Reine Luft wurde von 1938 bis 1941 vom Deutschen Bund zur Bekämpfung der Tabakgefahren mit Sitz in Berlin veröffentlicht. Nach der Annexion Österreichs übernahm Reine Luft die Tabakfreie Kultur, das Organ der österreichischen und tschechoslowakischen Tabakgegner. Am 4. Oktober 1940 wies der Reichsminister des Innern alle Gesundheitsämter an, die Zeitschrift in ihren Wartezimmern auszulegen; vgl. »Runderlaß des Reichsministers des Innern«, in: ReichsGesundheitsblatt 15 (1940), S. 950. Weitere Fachzeitschriften, die Artikel gegen den Tabak publizierten, waren Die Volksgesundheit, Volksgesundheitswacht, Gesundes Volk und Gesundes Leben. 92. In Richard Bretschneiders Veröffentlichung Der Weltbund finden wir Georg Bonnes Bemerkungen über den Tabak als »Feind des Weltfriedens« (S. 16); der Ausdruck »Tabakterror« wurde ursprünglich vom Stockholmer Tabakgegner J. L. Saxon geprägt (ebd., S. 11). 401
93. Klarner, Vom Rauchen, S. 28. 94. »Erkennung und Bekämpfung«, S. 183; hier wird über das Treffen der Wissenschaftlichen Tagung zur Erforschung der Tabakgefahren vom 5.6. April 1941 berichtet, an die Hitler ein Grußtelegramm schickte. Julius Streicher hatte mehrere Jahre zuvor geäußert, daß Nikotin »das größte Gift für unser Volk« sei; vgl. Erich Bruns und Robert Ley, Partei, Volksgesundheit, Genußgifte. 2. Reichstagung Volksgesundheit und Genußgifte (Berlin: Wacht-Verlag, 1939), S. 9. 95. Boehncke, Die Bedeutung, S. 11 ff; »Erkennung und Bekämpfung«, S. 183 ff. 96. Kitzing, Erziehung, S. 225ff; Charman, German Home Front, S. 53-56. 97. Ferdinand Goebel, 30 Experimente mit Alkohol und Tabak (Berlin: Reichsgesundheitsverlag, 1940). 98. Klarner, Vom Rauchen, S. 45. Das »Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« vom 3. Juli 1934 betraute die Arzte mit der Aufgabe, den Mißbrauch von Alkohol, Tabak, Schlaftabletten, Opiaten und ähnlichen Giften zu bekämpfen; die Methoden, die zur Bekämpfung dieser Übel genannt wurden, umfaßten »Rassenhygiene«, Eheberatung und öffentliche Gesundheitserziehung (Boehncke, Die Bedeutung, S. 10-15; ders., Die gesetzlichen Grundlagen) 99. »Das Haus ohne Aschenbecher«, in: Die Tabakfrage 24 (1942), S. 91. 100. Richard Kissling, Der Tabak im Lichte der neusten naturwissenschaftlichen Forschungen (Berlin: Paul Parey, 1893), S. 65. Soweit bekannt, war es Karl A. Mündner (1835–1891) aus Brandenburg, der als erster versuchte, nikotinarmen Tabak herzustellen. Er war Tabakproduzent und ein Kollege von Otto Unverdorben, der Nikotin in Pfeifenrückständen festgestellt hatte. Mündner entwickelte mit Hilfe ausgewählter Züchtungsmethoden und chemischer Extraktionsverfahren eine nikotinarme »Gesundheitszigarre«, sein Sohn Richard entwickelte dann Zigarren mit Filtern aus Wolle und Kork. Paul Koenig, Direktor der Reichsanstalt für Tabakforschung in Forchheim, charakterisierte Mündner als »ersten Bekämpfer des Nikotins durch Entdeckung der Entnikotinisierung des Tabaks«, und sah darin einen Beleg für die soziale Verantwortung der deutschen Tabakindustrie; siehe ders., Die Entdeckung des reinen Nikotins (Bremen: Arthur Geist, 1940), S. 21 f. und Abbildung 10. 402
101. Franz K. Reckert, Tabakwarenkunde: Der Tabak, sein Anbau und seine Verarbeitung (Berlin: Max Schwalbe, 1942), S. 31. 102. Deutschland war nie ein wichtiger Tabakproduzent, obwohl es 1938 etwa 35000000 kg produzierte – weniger als Griechenland (42000000 kg), Italien (42000000 kg) oder Japan (65400000 kg). Die Vereinigten Staaten waren zu dieser Zeit der größte Produzent der Welt (624400000 kg), gefolgt von Britisch Indien (510000000 kg) und der Sowjetunion (rund 200000000 kg); vgl. »Der Welt-Tabakanbau«, in: Chronica Nicotiana 1 (Heft 2, 1940), S. 131. 103. Moritz an Lammers, 7. Oktober 1941, R43 11/1226b, Bundesarchiv Potsdam. 104. Wilhelm Preiss, Verordnung über nikotinarmen und nikotinfreien Tabak (Berlin: Von Decker, 1939). 105. Klarner, Vom Rauchen, S. 43f. 106. Ebd., S. 39 ff. 107. Else Pappenheim und Erwin Stengel, »Zur Psychopathologie der Rauchgewohnheiten«, in: Wiener klinische Wochenschrift 37 (1937), S. 354ff. 108. »Professor Dr. Schlick ermordet«, in: Tabakfreie Kultur 25 (1936), S. 8. 109. »Berlin«, S. 2163f.; Reichs-Gesundheitsblatt 14 (1939), S. 323, 511 f., 550. 110. Wilhelm Spengler, Genuß? – Ja! Genußgifte? – Nein! (Dresden: Müllersche Verlagshandlung, 1939), S. 53. 111. Kurt Friebe, Eisenbahn-Verkehrsordnung (Leipzig: Verkehrswissenschaftliche Lehrmittelgesellschaft, 1938), S. 29. 112. »Anordnung«, in: Reichs-Gesundheitsblatt 14 (1939), S. 550; »Rauchverbot für die Polizei auf Straßen und in Diensträumen«, in: Die Genußgifte 36 (1940), S. 59. 113. »Berlin: Alcohol, Tobacco and Coffee«, in: JAMA 113 (1939), S. 44f. 114. »Kleine Mitteilungen«, in: Vertrauensarzt 9 (1941), S. 196; »Mitteilungen«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 7 (1941), S. 488. 115. Charman, German Home Front, S. 56; Christoph M. Merki, »Die nationalsozialistische Tabakpolitik«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 36. 116. Walther Fromme, »Öffentlicher Gesundheitsdienst«, in: Rodenwaldt et al., Hygiene, S. 36. 403
117. Informationsdienst des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP, April/Juni 1944, S. 60 f.; Martin Bormann an Hans-Heinrich Lammers, 4. März 1944, R43 11/1226b, Bundesarchiv Potsdam. 118. Reichsgesetzblatt 1 (1940), S. 742 und 814. 119. »Rauchverbot«, in: Arbeitsschutz, 15. Mai 1943, S. 136. Selbst vor dem Krieg hatten einige Tabakverbote wenig mit Gesundheitsschutz zu tun. Rauchen war zum Beispiel in Krankenhäusern und in deutschen U-Booten nicht erlaubt, obwohl im letzteren Fall manchmal zehnminütige Rauchpausen erlaubt waren, wenn ein Unterseeboot aufgetaucht war. Rauchen war oft auch in Fabriktoiletten verboten, weil die Urinale immer wieder von Zigarettenstummeln verstopft wurden; siehe Klarner, Vom Rauchen, S. 29 ff. 120. »Todesstrafe für verantwortungsloses Rauchen«, in: Die Tabakfrage 24 (1942), S. 89. 121. »Bestimmung des Werberates«, in: Wirtschaftswerbung, Dezember 1941, S. 396f; »Berlin: The Nicotine Content of Tobacco Products«, in:/AM/4 113 (1939), S. 1145-50. 122. »Werberat«, in: Chronica Nicotiana 3 (Heft 1, 1942), S. 91 f. 123. Rath an Astel, 25. Februar 1942, Bestand L 512, Universitätsarchiv Jena. 124. Klarner, Vom Rauchen, S. 7. 125. Walther Funk an die Partei-Kanzlei, 20. Mai 1941, R43 11/1226b, Bundesarchiv Potsdam. 126. Bormann an Lammers, 16. April 1941, ebd. Hitlers Befehl datiert vom 23. April 1941. 127. Am 28. Februar 1939 schrieb Philipp F. Reemtsma, Deutschlands allmächtiger Tabakproduzent, dem Leiter der Kommission für Wirtschaftspolitik der NSDAP, Bernhard Köhler, und protestierte gegen dessen Aufruf an die Besitzer von Tabakfabriken: »Sie als Exponent der wirtschaftlichen Willensrichtung der Partei erheben die Forderung, daß sich die Tabakfabrikanten im Laufe eines längeren Zeitraumes umstellen, d.h. schrittweise ihre Betriebe liquidieren.« Reemtsma behauptet in seinem zehnseitigen Brief nonchalant, daß sein persönliches Vermögen nicht vom Tabak abhänge, erinnert jedoch ebenfalls daran, daß Zigaretten die mildeste Form der Tabakerzeugnisse mit dem geringsten Nikotingehalt seien. Zudem bemerkt er, die wichtigen Tabakmärkte im Osten – wie Bulgarien, Griechenland, 404
Türkei – würden von Londoner Firmen kontrolliert werden, falls man die deutschen Tabakhersteller zwänge, ihre Produktion einzustellen. Es fehlte nicht viel, und er hätte die NS-Propaganda als »fanatisch« bezeichnet. Reemtsma warnte davor, daß ein verbotenes »Genußmittel« sehr wahrscheinlich durch ein anderes ersetzt würde. Unter Berufung auf die homöopathischen Methoden, die im Rudolf-Heß-Krankenhaus praktiziert wurden, argumentierte er, daß eine Substanz in einer bestimmten Dosis giftig wirken kann, in einer anderen Dosis aber wohltuend; er versicherte außerdem, daß die Tabakfirmen mit »Volldampf« daran arbeiten würden, den Nikotingehalt der Zigaretten zu senken. Siehe Philipp F. Reemtsma an Bernhard Köhler, 28. Februar 1939, R43/745b, Bundesarchiv Potsdam. 128. Walther Funk an die Partei-Kanzlei, 20. Mai 1941, R43 11/1226b, Bundesarchiv Potsdam. 129. »Erkennung und Bekämpfung«, S. 183 ff. Hitler steuerte 100000 RM aus seiner Reichskanzlei bei; die Witwe von Alfred Ploetz, dem verstorbenen Rassenhygieniker, spendete zudem 500 RM; siehe Bestand L 510, Universitätsarchiv Jena. Ab 1944 wurde dieses Institut dann zuweilen »Institut zur Bekämpfung der Tabakgefahren« genannt; dieser Name stand auf der Titelseite von Erich Schönigers Dissertation; vgl. ders., Lungenkrebs und Tabakverbrauch (Jena: Med. diss., 1944). 130. Lickint an Astel, 21. April 1941, Bestand L 512, Universitätsarchiv Jena. 131. »Erkennung und Bekämpfung«, S. 183ff. 132. Ebd. Vgl. Klarners Beschreibung der Tabakindustrie als »stark mit jüdischen Elementen durchsetzt« (Vom Rauchen, S. 46). 133. Siehe »Auszugsweise Abschrift«, 5. Mai 1941, R43 11/1226b, Bundesarchiv Potsdam. Sachsens Gauleiter Martin Mutschmann war ein weiterer Tabakgegner; 1939 hatte er ein Rauchverbot in allen Verwaltungsgebäuden der Regierung durchgesetzt (Sauerbruch, Lickint und Gabriel, Arzt, Alkohol und Tabak, S. 13). 134. Klee, »Euthanasie«, S. 341 f. und 425. 135. »Erkennung und Bekämpfung«, S. 183. Astel war kurz nach dem Ersten Weltkrieg den antikommunistischen Freikorps beigetreten; am 1. September 1933 wurde er zum Vorsitzenden des Thüringer Landesamts für Rassewesen ernannt, im Juni 1934 zum Direktor der »Jenaer Anstalt für 405
Menschliche Züchtungslehre und Vererbungsforschung« (das 1935 umbenannt wurde in »Institut für Erbforschung und Rassenpolitik«). Im Januar 1939 wurde er mit dem Goldenen Ehrenzeichen der NSDAP ausgezeichnet. 136. Weindling, Health, S. 529. 137. »Die einzelnen wissenschaftlichen Bearbeiter dürfen, damit sie in Blick, Urteil und Haltung unbefangen und unabhängig sind, nicht tabaksüchtig sein. Nichtrauchen ist daher für die Mitarbeit an der Erforschung und Bekämpfung der Tabakgefahren genauso Voraussetzung wie arische Abstammung für die Eignung zu völkischem Kampfe, der zum Siege führen soll«; siehe Fritz Sauckel, »Abschrift«, 20. März 1941, R43 II/745b, Bundesarchiv Potsdam. Sauckels Gesuch wurde Hitler offenbar von Heß’ Stabsleiter Martin Bormann unterbreitet, der die finanzielle Unterstützung billigte. Reichsstatthalter und Gauleiter Fritz Sauckel (an den man sich manchmal spöttisch als »Sauleiter Gauckel« erinnert) lancierte ungefähr zur gleichen Zeit eine Anti-Tabak-Kampagne für Thüringen, die unter anderem ein Rauchverbot in der Öffentlichkeit für Frauen unter 25 Jahren beinhaltete; vgl. NS 18/22 und 18/1826, Bundesarchiv Koblenz. 138. Goebbels, Tagebücher, S. 714. Im Februar 1939 verkündete Reine Luft den Entschluß einer nicht namentlich genannten Filmgesellschaft, in Zusammenarbeit mit dem Bund Deutscher Tabakgegner einen Anti-TabakFilm zu produzieren (21 [1939], S. 2); es ist nicht klar, ob dies der Film war, den Goebbels erwähnte. 139. Bestand L 510, Universitätsarchiv Jena; vgl. Roth, »Filmpropaganda«, in: Reform und Gewissen: »Euthanasie« im Dienst des Fortschritts, hrsg. von Götz Aly et al. (Berlin 1985), S. 125-93; und Michael Burleighs Film von 1993, Selling Murder: The Killing Films ofthe Third Reich. Skramlik reichte nach dem Krieg, am 1. Dezember 1945, ein Gesuch ein: Er müsse als »Opfer« des Nationalsozialismus betrachtet werden; vgl. Susanne Zimmermann, Die medizinische Fakultät der Universität Jena während der Zeit des Nationalsozialismus (Jena: Med. diss., 1994), S. 96. Skramlik war zum Rektor der Universität Jena ernannt worden, nachdem sein Vorgänger, Karl Astel, Selbstmord begangen hatte. 140. Zimmermann, Die medizinische Fakultät, S. 97. 141. Horst Wüstner, Eine Krebsstatistik mit besonderer Berücksichtigung des Bronchialcarcinoms (Jena: Med. diss., 1941). 406
142. Eberhard Schairer und Erich Schöniger, »Lungenkrebs und Tabakverbrauch«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 54 (1943), S. 261-69. 143. Personalakten Eberhard Schairer, D-2487, Universitätsarchiv Jena; George Davey Smith, persönliche Mitteilung. Davey Smith traf sich 1994 mit Schairers Schwiegertochter, die ihm ein Interview mit dem 87jährigen Arzt verweigerte. Sie sagte aber, ihr Schwiegervater sei enttäuscht darüber, daß er für seine Tabakforschung nicht mehr Anerkennung erhalten habe. 144. Schairer und Schöniger, »Lungenkrebs«, S. 263. 145. George Davey Smith, Sabine A. Ströbele und Matthias Egger, »Smoking and Health Promotion in Nazi Germany«, in: Journal of Epidemiology and Community Health 48 (1994), S. 220. 146. Schairer und Schöniger, »Lungenkrebs«, S. 263-66. 147. Albert Dietrich, »Krebs als Kriegsfolge«, in: Zeitschrift für Krebsforschung 54 (1944), S. 198f. 148. Der Science Citation Index zeigt, daß Schairers und Schönigers Arbeit in den sechziger Jahren nur drei- oder viermal zitiert wurde; nur einmal in den Siebzigern und dann nicht mehr bis 1988, als Ernst Wynder sie in seinem Artikel Public Health Reports zitierte. Unter den 65 Verweisen auf Publikationen von Schairer in der Zeit von 1965 bis 1984 beziehen sich nur zwei auf die Arbeit mit Schöniger von 1943. Die Untersuchung kommt im wissenschaftlichen Kanon über Rauchen und Gesundheit einfach nicht vor. 149. Myroslaw Nawrockyi, Tabak und Krebs: Eine Literaturzusammenstellung (Heidelberg: Med. diss., 1953); Colin White, »Research on Smoking and Lung Cancer: A Landmark in the History of Chronic Disease Epidemiology«, in: Yale Journal of Biology and Medicne 63 (1990), S. 29-46. 150. Smoking and Health: Report ofthe Advisory Committee to the Surgeon General of the Public Health Service (Washington, D. C: U.S. Government Printing Office, 1964). 151. Smoking and Health: A Report of the Royal College of Physicians of London on Smoking in Relation to Cancer of the Lung and Other Diseases (London: Pitman Medical Publishing, 1962). Von den 216 Literaturhinweisen in diesem Bericht beziehen sich lediglich sechs auf deutschsprachige Titel, und nur gerade drei auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwölf separate Titel von Richard Doll werden genannt. 407
152. Richard Doll, persönliche Mitteilung. 153. Paul Reckzeh, »Chronische Tabakvergiftung und Lebenserwartung«, in: Medizinische Klinik 35 (1939), S. 1169ff. Reckzeh berichtet, daß 14 von den 1700 Todesfällen, die 1938 von einer führenden Lebensversicherungsgesellschaft gedeckt wurden, ganz oder teilweise auf Nikotinmißbrauch zurückzuführen waren (S. 1170). 154. Grüneisen, »Krebsbekämpfung«, S. 1499. 155. Westphal und Weselmann, »Über Nikotinschädigungen«, S. 14. Westphal war zu dieser Zeit Leiter der Inneren Medizin am städtischen Krankenhaus in Berlin. Er trat der NSDAP und der SS im Jahr 1937 bei, 1939 war er dann SS-Rottenführer. Exzessive Trinker wurden viel härter bestraft als exzessive Raucher: So verkündete die NSDAP-Kreisleitung für die Stadt Ulm im Jahr 1934, daß Arbeitslose, die ihre Unterstützungsgelder an Alkohol verschwendeten, in ein Konzentrationslager eingesperrt würden; siehe »Konzentrationslager für Trinker«, in: Vertrauensarzt 1 (1934), S. 71. Es gibt keinerlei Hinweise dafür, daß man mit Rauchern ebenso hart umsprang, obwohl Boehncke 1939 »nützliche Arbeit« – z.B. im Straßenbau oder der Landwirtschaft – als geeignete Therapie für Tabaksüchtige empfahl. Boehncke schlug weiterhin vor, daß solche Personen in extremen Fällen ihre Bürgerrechte verlieren und unter staatliche Vormundschaft gestellt werden sollten (Die Bedeutung, S. 14). Vgl. auch seine Bemerkung von 1937, daß solche Personen vom Rest der Gesellschaft »zwangsweise abgesondert werden« müßten (Die gesetzlichen Grundlagen, S. 15); zudem Wilhelm Messer, »Zur Entmündigung von Tabaksüchtigen«, in: Reine Luft 24 (1942), S. 36-40. 156. Kortenhaus, »Krebs«, S. 425. 157. Siehe Charlotte Lickint, »Wir deutschen Frauen rauchen nicht!«, in: Deutscher Tabakgegner 16 (1934), S. 1 f. 158. Sauerbruch, Lickint und Gabriel, Arzt, Alkohol und Tabak, S. 13. 159. Gabriele Schulze und Käte Dischner, Die Zigarettenraucherin (Jena: Med. diss., 1942); vgl. Bernhard, Einfluß der Tabakgifte. 160. Jill Stephenson, The Nazi Organisation of Women (London: Croom Helm, 1981), S. 188. 161. Hess, Rauchen, S. 45; vgl. auch Mark W. Rien und Gustaf Nils Doren, Das Neue Tabago Buch (Hamburg 1985), S. 124. Der Tabak408
import kostete Deutschland im Jahr 1940 rund 400 Millionen Reichsmark; siehe Klarner, Vom Rauchen, S. 48. 162. Merki, »Nationalsozialistische Tabakpolitik«, S. 28. 163. Picker, Hitlers Tischgespräche, S. 327 f. Hitler bezeichnete den Tabak am 18. Juli 1942 als »die Rache des Roten Mannes (Indianers) dafür, daß der Weiße ihm den Schnaps gebracht und dadurch ihn zugrunde gerichtet habe« (ebd., S. 439). Im Januar desselben Jahres sagte er, das Rauchen »gehöre zu den widerwärtigsten Dingen«; er behauptete, das Rauchen habe Dietrich Eckart, Paul Ludwig Troost und seinen eigenen Vater zugrunde gerichtet; die Tabaksucht ruiniere zudem seinen Freund und Fotografen Heinrich Hoffmann (Schenck, Patient Hitler, S. 32). 164. Klarner, Vom Rauchen, S. 31. 165. John C. Burnham, »American Physicians and Tobacco Use: Two Surgeon General’s, 1929 and 1964«, in: Bulletin of the History of Medicine 63 (1989), S. 10-15. 166. »Hitler’s Attitude toward Alcohol«, in: Scientific Temperance Journal, Frühjahr 1933, S. 18. 167. Medizinalrat Dr. (Friedrich?) Pfeuffer, »Gesundheitliche Gefahren des Tabakgebrauchs«, in: Öffentlicher Gesundheitsdienst 1 (1941), S. 515. 168. Klarner, Vom Rauchen, S. 33. 169. Hans Reiter benutzte diese Worte auf einer Tagung vom 25. Mai 1939, die vom Werberat der Deutschen Wirtschaft finanziert wurde; vgl. Volksgesundheit und Werbung, S. 17. 170. Walter Naasner, Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft, 1942-1945 (Boppard am Rhein 1994). 171. Wolfgang Cyran, Genuß mit oder ohne Reue? Eine medizinische Analyse über die Gefahren des Rauchens (Reinbek 1968), S. 34. Lickints Nach kriegspublikationen umfassen: Tabakgenuß und Gesundheit (Hanno-ver 1936; überarbeitete Ausgabe 1951); Die Zigarette, dein Schicksal; Die Zigarette – des Menschen Feind (Wiesbaden 1951); Atiologie und Prophylaxe des Lungenkrebses als ein Problem der Gewerbehygiene und des Tabakrauches (Dresden 1953); Wem schaden Alkohol, Tabak und Kaffee (Berlin 1953); Alkohol und Gesundheit (Hannover 1954); und Arbeitshygiene (Berlin 1955). 172. Peter N. Lee (Hrsg.), Tobacco Consumption in Various Countries, 4. Aufl. (London: Tobacco Research Council, 1975), S. 28. 409
173. Die These stammt von Davey Smith et al., »Smoking«, S. 222; vgl. George Davey Smith, Sabine Ströbele und Matthias Egger, »Smoking and Death«, in: British MedicalJournal 310 (1995), S. 396. 174. Siehe zum Beispiel Hermannsen, »Erzieher und Erzieherin!«, S. 78. 175. Boehncke, Die Bedeutung, S. 10. 176. Helmut Heiber, Goebbels (New York: Hawthorn Books, 1972), S. 233 (dt.: Joseph Goebbels, Berlin 1962). 177. Zimmermann, Die medizinische Fakultät, S. 95 f.; Bundesarchiv Koblenz NS 18/226. Goebbels rauchte seit den zwanziger Jahren zwischen 30 und 50 Zigaretten pro Tag. 178. »Antinikotin-Propaganda«, in: Verfügungen/Anordnungen/Bekanntgaben, hrsg. von der Partei-Kanzlei, Bd. 1 (München: Zentralverlag der NSDAP, 1943), S. 408. 179. Walther Funk an den Stellvertreter des Führers, 5. Mai 1941, R43 II/1226b, Bundesarchiv Potsdam. 180. »Form der Propaganda gegen den Tabakmißbrauch«, 22. Mai 1941, R43 11/ 1226b, Bundesarchiv Potsdam. 181. Hans-Heinrich Lammers an Walther Funk, 10. Juni 1941, ebd. 182. Klarner, Vom Rauchen, S. 29f. 183. Walther Kittel, »Alkohol und Wehrmacht«, in: Wehrhygiene, hrsg. von Siegfried Handloser und Wilhelm Hoffmann (Berlin: Springer, 1944), S. 241. 184. Kittel, »Hygiene des Rauchens«, S. 244. 185. »Zur Tabakwarenversorgung«, in: SD-Berichte zu Inlandsfragen, 9. September 1943, R 58/188, Bundesarchiv Potsdam. 186. »Versorgung mit Tabakwaren«, 28. März 1944, R 43 II/1226b, Bundesarchiv Potsdam. 187. Siehe zum Beispiel Reid, »Weltanschauung, Haltung, Genußgifte«, S. 64. Reiters Worte finden sich in Werberat, Volksgesundheit und Werbung, S. 17. 188. Reckert, Tabakwarenkunde, S. 236. 189. »Erkennung und Bekämpfung«, S. 184. 190. Klarner, Vom Rauchen, S. 46. Laut Statistischem Jahrbuch für das Deutsche Reich waren 1936/37 638339 Deutsche im Tabakhandel tätig. Die meisten waren Angestellte in Hotels, Cafes oder Lebensmittelläden, die 410
Tabakprodukte führten; nur rund 53000 waren ausschließlich mit der Produktion und mit dem Verkauf von Tabak beschäftigt (ebd., S. 234). Die beste Darstellung der finanziellen Entwicklung der deutschen Tabakindustrie ist immer noch Kurt Pritz-koleits Werk Auf einer Woge von Gold: Der Triumph der Wirtschaft (Wien 1961), S. 181-244. 191. Von dem Album Die Malerei der Gotik und der Frührenaissance (Hamburg 1938) wurden 1938 700000 Exemplare verkauft. 192. Waldorf-Astoria, Uniformen der Marine und Schutztruppen (München, o. J. [1932]), Vorwort; Kosmos, Bild-Dokumente unserer Zeit (Dresden 1933). 193. Pritzkoleit, Auf einer Woge von Gold, S. 215-18. 194. Conan Fischer, Stormtroopers: A Social, Economic and Ideological Analysis, 1929-1935 (London: Allen & Unwin, 1983), S. 128f. 195. »Kritische Umschau«, in: Deutscher Tabakgegner 15 (1933), S. 11. Die »Freiheits-Zigarette« der SPD wurde beworben als: »Zigaretten, die aber auch, und das ist das Wesentliche, verbunden sind mit unserer Kampfbewegung« (»Tausend in der Minute«, in: Hamburger Echo, 1. Januar 1933). 196. Diels, Lucifer, S. 299. 197. Pritzkoleit, Auf einer Woge von Gold, S. 215 ff. 198. Die Internationale Tabakwissenschaftliche Gesellschaft wurde im März 1938 gegründet, mit eigenen Abteilungen für Geschichte, Chemie, Technische Belange (inklusive Züchtung und Anbau), Wirtschaft und Finanzen. Die Idee war, Tabakexperten auf Tagungen zusammenzubringen, die zeitlich mit Tabak-Handelsmessen zusammenfallen sollten, an denen die neuesten Maschinen für Anbau und Verarbeitung ausgestellt werden konnten. Eine Zentralstelle für Tabak mit Sitz in Rom wurde zur selben Zeit eingerichtet; die Zentralstelle sollte die landwirtschaftlichen Aspekte und die Verpackungsfragen der Industrie behandeln, während sich die Gesellschaft mit den technischen und wissenschaftlichen Aspekten beschäftigte; vgl. »Die Entwicklung der Internationalen Tabakwissenschaftlichen Gesellschaft«, in: Chronica Nicotiana 1 (Heft 2, 1940), S. 2532. Die Gesellschaft sollte ein »rein deutsches Gremium« haben, und Generalsekretär Helmuth Aschenbrenner bemühte sich darum, daß die Leiter der ausländischen Sektionen keine Juden waren (Ungarn wurden 411
hingegen zugelassen). Den Ungarn Janos Bodnar, Direktor des Instituts für Chemie und Medizin in Debrecen, verdächtigte man einmal, jüdischer Abstammung zu sein; ein Bericht der Deutschen Kongreß-Zentrale stellte dann fest, daß er (und seine Frau) Ungarn ohne jüdische Vorfahren waren, aber auch, daß er während seiner Zeit als Dekan der medizinischen Abteilung mehr Juden zugelassen hatte, als aufgrund des Numerus clausus der Universität erlaubt gewesen wären; vgl. Aschenbrenner an die Deutsche Kongreß-Zentrale, 29. April 1939, und Deutsche Kongreß-Zentrale an Aschenbrenner, 16. Juni 1939, Deutsche Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives. 199. Siehe zum Beispiel Tabak und Neurose, Bd. 2 der Monographiae Nicotianae (Bremen: Arthur Geist, 1942), S. 144, zitiert nach Merki, »Nationalsozialistische Tabakpolitik«, S. 32. 200. Chronica Nicotiana 3 (H. 1, 1942), S. 71-74. 201. Margarete Focken, »Über ambulante Behandlung des Ulcus ventriculi und duodeni in der Allgemeinpraxis mit Sexualhormonen«, in: Deutsche medizinische Wochenschrift 67 (1941), S. 1118-21; R. G. J. P. Huisman, »Tabak und Ulkus«, in: Chronica Nicotiana 1 (H. 1, 1942), S. 71 f. 202. Chronica Nicotiana 1 (H. 2, 1940), S. 70; das psychiatrische Urteil stammte von Johannes Lange. 203. Chronica Nicotiana 1 (H. 2, 1940), S. 48. 204. Präsident der Tabacologia medicinaliswar ein Prof. Dr. Andriska aus Budapest, mit einem Prof. Dr. Baglioni aus Rom als Vizepräsident, wobei die Kommission eindeutig ein Marionetten-Gremium der deutschen Tabakindustrie war. Einige Berichte der Kommission sind erhalten in der Deutschen Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives. 205. Aschenbrenner war offenbar bereits im März 1939 nervös, als er der Deutschen Kongreß-Zentrale wegen einer bevorstehenden Tagung des Weltbundes gegen die Tabakgefahren schrieb. Die Vorbereitungen für den später in diesem Jahr angesetzten Internationalen Tabakkongreß waren bereits im Gange, und Aschenbrenner wollte unbedingt verhindern, daß die Pro- und Anti-Tabak-Tagungen zeitlich zusammenfielen; vgl. Aschenbrenner an die Deutsche Kongreß-Zentrale, 10. März 1939, Deutsche Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives. 206. Deutsche Kongreß-Zentrale an Aschenbrenner, 12. September 412
1941, Deutsche Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives. 207. Conti an die Internationale Tabakwissenschaftliche Gesellschaft, 26. August 1941, Deutsche Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives. 208. Aschenbrenner an das Reichswirtschaftsministerium, 1. September 1941, Deutsche Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives. 209. Aschenbrenner an das Reichswirtschaftsministerium, 1. September 1941, Deutsche Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives. Aschenbrenner behauptete, daß Bestrebungen im Gange waren, gegen das Verbot Druck zu machen, zum Beispiel mit der Drohung einiger Ärzte, die Tagung von 1939 – vor der Aschenbrenner warnte – zu boykottieren (ebd.). Die Drohung hatte keine Konsequenzen, da die Tagung nie durchgeführt wurde. 210. Aschenbrenner an das Reichswirtschaftsministerium, 4. Oktober 1941, Deutsche Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives. Aschenbrenner protestierte gegen Contis Maßnahme, indem er äußerte, sie verletze die große Tradition der internationalen Ärzte-Gesellschaften; vgl. Aschenbrenner an das Reichswirtschaftsministerium, 9. September 1941, Deutsche Kongreß-Zentrale. Bresler hatte ein Buch verfaßt mit dem Titel Tabakologia medizinalis: Literarische Studie über den Tabak in medizinischer Beziehung (Halle: Marhold, 1911); auch ein Prof. Mayer Gmelin wurde manchmal als »Nestor der Tabakforschung« bezeichnet. 211. Aschenbrenner an Schweig, 24. Dezember 1941, Deutsche Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives. 212. Aschenbrenner an die Reichsstelle, 1. November 1941, Deutsche Kongreß-Zentrale, Hoover Institution Archives. 213. Siehe meine Untersuchung Cancer Wars, S. 106-10. 214. Nach dem Krieg war Helmuth Aschenbrenner weiterhin Generalsekretär der Internationalen Tabakwissenschaftlichen Gesellschaft. In der Londoner Fachzeitschrift World Tobacco vom März 1964 wird ein Vorschlag des Bremer Tabakverteidigers zitiert, daß Berichte über Rauchen und Gesundheit erst dann ernst genommen werden dürften (er bezieht sich hier auf den »U.S. Surgeon Generals Report« von 1964), wenn die Verfasser psychiatrische Gutachten vorweisen konnten, die bewiesen, daß sie nicht an Pyrophobie (Angst vor Feuer) litten. Von Aschenbrenner heißt es, er habe 413
bewiesen, daß der Ursprung der Tabakgegnerschaft häufig in einer krankhaften (und oft unbewußten) Pyrophobie liege – ein Phänomen, dessen zahlreiche Manifestationen eine unterdrückte Angst vor dem »großen Feuer« oder der Atombombe umfasse. Vgl. ders., »International Perspective on Smoking and Health«, in: World Tobacco, März 1964, S. 19 f. Es wäre nötig, die Geschichte der deutschen Tabakwissenschaft in der Nachkriegszeit gründlich aufzuarbeiten, um sowohl den Apologeten wie der Amnesie nachzugehen. 215. »Rauchen: Wie Gut«, S. 64. 216. Reichswirtschaftsminister an Lammer, 24. Februar 1944, R43 II/1226b, Bundesarchiv Potsdam. 217. Charman, German Home Front, S. 53. Das Reichsgesundheitsamt verwendete 1943 und 1944 viel Zeit darauf, Tabaksubstitute zu prüfen; vgl. R86/4041, Bundesarchiv Koblenz. Eine Liste von mehr als einem Dutzend legalen Substituten – wie Lavendel, Thymian, Distelblätter und Zitronenschalen – findet sich im Reichs-Gesundheitsblatt 14 (1939), S. 491. Flugzeuge der Alliierten warfen im Januar 1945 Propagandaflugblätter über Deutschland ab, in denen sie sich über Deutschlands Tabakknappheit und Tabaksubstitute wie die »Hanfblätter« lustig machten. Die deutschen Behörden fragten sich, ob diese Aktion eine Kriegslist sei, mit der die Deutschen dazu verleitet werden sollten, Marihuana zu konsumieren und sich allmählich selbst zu vergiften (Hudolin an Brendemühl, 13. Januar 1945, R86/4041, Bundesarchiv Koblenz). 218. Kittel, »Hygiene des Rauchens«, S. 245. Bei diesem Befehl handelt es sich um H.Dv. 86/1 Nr. 17 vom 20. 6. 1940. 219. Pritzkoleit, Auf einer Woge von Gold, S. 221 f. Die alliierten Besatzungsbehörden setzten die Steuer nach dem Krieg auf 60 Prozent fest, und die nachfolgende deutsche Gesetzgebung senkte sie weiter auf 42–56 Prozent. Die Zigarettenherstellung in Berlin wurde überhaupt nicht besteuert, was der Hauptgrund dafür war, daß die Produktion dort von 168 Millionen im Jahr 1953 auf 18,8 Milliarden im Jahr 1960 anstieg (ebd.). Die SPD kritisierte die Tabaksteuern in der unmittelbaren Nachkriegszeit als ungerecht gegenüber den Arbeitern; vgl. »Der teure Tabak«, in: Der Sozialdemokrat, 17. Oktober 1946. 220. Kittel, »Hygiene des Rauchens«, S. 245. Die Zahlen für die russischen 414
Kriegsgefangenen wurden offenbar von Prof. Arnold Loeser aus Freiburg gesammelt, der in der Wehrmacht als beratender Pharmakologe diente (ebd.). 221. Seufert, Der Feldzug, S. 31. 222. Im Sommer 1946 produzierten die sechs größten deutschen Zigarettenfirmen in der britischen Besatzungszone nur 10 Millionen Zigaretten pro Tag, in den Jahren vor 1939 war die Produktion zehnmal höher gewesen. 1947 wurden in der britischen, französischen und amerikanischen Zone zusammen täglich 14,8 Millionen Zigaretten produziert; ein Jahr später war die Produktion auf gerade 24,3 Millionen pro Tag in den westlichen Besatzungszonen angestiegen. Man vergleiche diese Zahlen mit dem Jahr 1979, als die westdeutschen Hersteller 370 Millionen Zigaretten pro Tag produzierten. Siehe Friedheim Merz, Die Stunde Null – Eine Sonderdokumentation (Bonn 1981), S. 62ff. Merz schätzt das Zahlenverhältnis zwischen illegaler und legaler Zigarettenproduktion in den unmittelbaren Nachkriegsjahren auf etwa zwei zu eins. Dies würde bedeuten, daß die deutsche Nachkriegsproduktion gut 30 Prozent des Vorkriegsniveaus ausmachte, wenn man davon ausgeht, daß in den Vorkriegsjahren keine illegale Produktion existierte. 223. Merz, Stunde Null, S. 66. 224. Richard Doll et al., »Lung Cancer Mortality and the Length of Cigarette Ends: An International Comparison«, in: British Medical Journal 1 (1959), S. 322-25; Cyran, Genuß, S. 20f. und 34f. 225. Man kann solche Schätzungen für einen späteren Zeitraum verfeinern, da statistische Daten wohl verläßlicher wurden und die Faktoren des Arbeitsumfeldes bei der Entstehung von Lungenkrebs eine geringere Rolle spielten – was die Zigaretten zu einer exklusiveren Ursache für die Krankheit machte. Die 3958 Zigaretten, die zum Beispiel pro Person im Jahr 1962 in den USA geraucht wurden, brachten eine LungenkrebsSterberate bei Männern von 72 auf 100000 im Jahr 1984 hervor, was bedeutet (unter den oben genannten Voraussetzungen), daß es immer noch etwa fünf oder sechs Millionen Zigaretten für eine Lungenkrebserkrankung brauchte. In Deutschland liegt diese Zahl immer noch etwas niedriger, obwohl sich der Unterschied verringert hat: 1960 wurden 1640 Zigaretten pro erwachsene Person geraucht, woraus eine Lungenkrebs-Todesrate bei 415
Männern von 42 auf 100000 im Jahr 1980 hervorging, statistisch also ein Krebsfall auf ungefähr vier Millionen konsumierte Zigaretten kam. 226. Paul Koenig, Tabakkleinanbau, 2. Aufl. (Hannover: M. & H. Schaper, 1946), S. 7. Es gab in Deutschland vor 1939 nur etwa 6000 bis 10000 Eigenanbauer, die meisten in den nordöstlichen Gebieten Deutschlands. Heimanbauern war gestattet, bis zu 50 Quadratmeter zu bepflanzen, oder ein Maximum von 200 Pflanzen zu kultivieren, aus denen 10–12 kg getrockneter Tabak gewonnen werden konnten. Bis zu 25 Pflanzen konnten steuerfrei gezogen werden. Dieselben Gesetze blieben nach dem Krieg unter den alliierten Behörden erhalten, außer daß die steuerfreie Menge auf 15 Pflanzen reduziert wurde (ebd). 117. Die täglichen Tabakrationen bestanden in den frühen Kriegsjahren aus 5 Zigaretten (oder 1-2 Zigarren) für Männer und der Hälfte dieser Menge für Frauen. Die Rationen waren in den späteren Jahren kleiner. Nach Kriegsende erhielten die Männer zwischen 0,9 und 1,3 Zigaretten pro Tag, Frauen wiederum nur halb so viel. Siehe ebd., S. 63. Die Rationen für die Männer der Waffen-SS wurden im Krieg auf 10 Zigaretten pro Tag erhöht; vgl. Ernst G. Schenk, Zur Frage der Sonder- und KonzentratVerpflegung der Waffen-SS (o. O.: SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, o. J.[1944?]), S. 17. Einer der seltsamen Widersprüche dieser Zeit war, daß gleichermaßen Juden, politische Gefangene in Konzentrationslagern und deutsche Frauen außerhalb der Lager während des ganzen Krieges nur halb so große Rationen erhielten. Dies ist eine ziemlich merkwürdige Logik: »Gesunden« deutschen Frauen wurde die halbe Menge zugeteilt, weil Tabak schädlich ist; Juden und KZ-Häftlinge überhaupt erhielten halbe Rationen, weil Tabak als wertvolles und knappes Gut betrachtet wurde. Vgl. das Schreiben Dr. Kreitmairs aus Wien an die Reichsstelle für Kaffee und Tabak, 19. August 1944, R8 XII/53, Bundesarchiv Koblenz. KAPITEL 7 1. Bereits 1907 erkannte man in Deutschland, daß im Innern von Häusern eine Gefahr durch Radonstrahlen drohen kann. In den dreißiger, fünfziger und siebziger Jahren wurde dies wiederholt zum Thema gemacht, bis dann die politischen Ereignisse – vor allem die Ölkrise und der 416
darauffolgende Trend zu einer verbesserten Kälteisolierung der Häuser, aber auch der Unfall in Three Mile Island – die Aufmerksamkeit auf die Radongefahr lenkten; vgl. meine Untersuchung Cancer Wars, S. 197-216. 2. Richard Walther Darre, Das Schwein als Kriterium für nordische Völker und Semiten, (München: Lehmann, 1933). 3. Fr. W. Landgraeber, »Radium-Mineralien und Lagerstätten auf der Erde«, in: Wiener klinische Wochenschrift52 (1939), S. 777. 4. Die den nationalsozialistischen Menschenexperimenten zum Opfer gefallenen Menschen machen, gemessen am ganzen Ausmaß der medizinischen Morde, einen geringeren Anteil aus: Ungefähr 1000 Menschen wurden im Rahmen medizinischer Experimente umgebracht, während rund 200000 im Laufe der »Euthanasie«-Maßnahmen ermordet wurden; vgl. mein unveröffentlichtes Manuskript »How Many People Died from Nazi Human Experiments?«. 5. Fritz Lickint, »Die konservative Behandlung des Krebses«, in: Hippokrates 7 (1936), S. 668. 6. Karl H. Bauer et al., »Weitere Erfahrungen mit cancerogenen Stoffen«, in: Langenbecks Archiv 193 (1938), S. 499-502; Bauer an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, 13. Juli 1938, R73/10179, Bundesarchiv Koblenz. 7. Uek, Der Kampf, S. 19 f. 8. In Hannover behandelte beispielsweise ein Naturheilpraktiker eine Frau, die über Magenschmerzen klagte, mit homöopathischen Medikamenten. Er stellte ebenfalls einen Knoten in ihrer Brust fest, den er als Krebsgeschwür identifizierte – trotzdem behandelte er sie weiterhin mit homöopathischen Mitteln. Der Heilpraktiker riet der Frau, sie solle sich operieren lassen, doch sie weigerte sich. Im April 1939 breitete sich der Tumor aus, die Frau ging zu einem staatlich anerkannten Arzt, der sie ins Krankenhaus einwies. Es war bereits zu spät für eine Operation; man behandelte sie mit Radium, aber sie starb im Juni 1940. Der Naturheilpraktiker wurde wegen »fahrlässiger Tötung« zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Die Urteilsbegründung lautete, er hätte darauf bestehen müssen, daß die Frau sich einer Operation unterziehe. Siehe dazu Bruno Steinwallner, »Zur fahrlässigen Behandlung von Krebskranken«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 10 (1942), S. 160f. In einem ähnlichen Fall im Jahr 1941 wurde eine Frau aus Gräfelfing wegen fahrlässiger Tötung 417
angeklagt, da ein Krebspatient in ihrer Pflege gestorben war. Die Frau wurde für gemeingefährlich erklärt und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Die Monatsschrift für Krebsbekämpfung sah diese Strafe als zu mild an und fragte »Warum nur sechs Monate?« (»Mitteilungen«, in: 9 [1941], S. 179). Weitere Fälle findet man in Nagels Schreiben an die Reichsärztekammer, 27. April 1937, E 1496, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar. Es gibt andere Fälle, in denen Publikationen über Krebs unterdrückt wurden, weil sich die Autoren einer Straftat schuldig gemacht hatten. So wurde im Jahr 1936 ein Arzt namens Josef Wetterer, Herausgeber von Kampf dem Krebs, wegen Betrugs und Wuchergeschäften zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt (Auler an den Landesausschuß, 15. Dezember 1936, E 1493, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar). Wetterer wurde aus der Deutschen Radiologen-Gesellschaft ausgeschlossen. Seine Zeitschrift wurde verboten und sein Buch Heraus aus der Krebsnot, für das er den »CadilhacPreis« erhalten hatte, wurde von der Gestapo konfisziert. Das Gericht ordnete eine psychiatrische Untersuchung an, die von den EuthanasieExperten Schneider und Schwenniger durchgeführt wurde; sie stellten fest, er leide an einer grotesken Gier und habe einen pathologischen Hang zu Profit und Machtstreben; siehe »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 5 (1937), S. 29. 9. Es ist meines Erachtens nicht offensichtlich, daß Betrug oder Unredlichkeit in der NS-Zeit häufiger vorgekommen wären als in irgendeiner anderen Zeit. Man hört selten Geschichten von Plagiatsfällen, Datenfälschungen oder anderen Arten des »Fehlverhaltens« – in der engen Definition des Begriffs –, über die man sich in Forschungsinstituten zuweilen Sorgen macht; vgl. dazu aber auch: Robert L. Berger, »Nazi Science – The Dachau Hypothermia Experiments«, in: New England Journal of Medicine 322 (1990), S. 1435-40. 10. Hans Stroink, »Borst and the Von Brehmer Incident«, in: American Journal of Dermatopathology 8 (1986), S. 522ff. Stroink warf die einzige Kopie von Borsts Bericht im Frühling 1998 fort, zwei Monate bevor ich mit ihm Kontakt aufnahm. 11. Dokumente dazu finden sich unter E 1496, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar. Ungefähr zur selben Zeit forderten die Militärbehör418
den das Reichsgesundheitsamt auf, eine eigene Untersuchung durchzuführen. Vgl. dazu G. Zeugerle an das Reichsgesundheitsamt, 4. März 1936, und den undatierten Bericht von H. Dieckmann, Zusammenfassender Bericht über die amtliche Nachuntersuchung der v. Brehmerschen Krebsdiagnostik, R86 2764, Bundesarchiv Koblenz. Reiters Amt kam zu dem Schluß, daß diese Methode keinen diagnostischen oder therapeutischen Wert habe. 12. David J. Hess, Can Bacteria Cause Cancer? Alternative Medicine Confronts Big Science (New York: New York University Press, 1997), S. 41. 13. Brehmer war von 1935 bis 1937 Vorsteher des Paracelsus-Instituts am Nürnberger Theresienkrankenhaus. Zwei Jahre nach Kriegsende schrieb er, Hitler habe das Institut 1937 aufgelöst. Aber er verschweigt, daß es Streicher war, der ihm ursprünglich diese Position verschafft hatte. Im weiteren berichtete Brehmer, er sei nach 1937 von der Gestapo überwacht worden und habe sich nicht mehr äußern dürfen. Dennoch konnte er seine Forschungstätigkeit am Berliner Forschungslabor für Tumore fortsetzen; siehe Wilhelm von Brehmer, Siphonospirapolymorpha v. Br. (Haag 1947), S. 170. 14. Wolfgang Weyers, Death of Medicine in Nazi Germany: Dermatology and Dermatopathology under the Swastika (Philadelphia: Promethean Medical, 1996), S. 138. Erik Enby präsentiert ähnliche Fehlinterpretationen in seinem Buch Hidden Killers: The Revolutionary Medical Discoveries of Günther Enderlein (Saratoga: S & G Communications, 1990), S. 5–9. 15. Hermann Druckrey ging Brehmers Behauptungen nach und schätzte sie als »völlig haltlos« ein. Er betonte, die Widerlegung von Brehmers Therapie lehre uns, daß man keine therapeutischen Experimente an Menschen unternehmen sollte, ohne zuerst die Ergebnisse wiederholt in Tierversuchen zu überprüfen (»Ergebnisse«, S. 113). Brehmer behauptete nach dem Krieg, sein Leben sei bedroht und seine Reden und Publikationen verboten gewesen, zudem habe er unter Überwachung durch die Gestapo gestanden; vgl. Brehmer, Siphonospira, S. 170. 16. Borst und Grüneisen, »Niederschrift über die Mitgliederversammlung des Reichsausschusses für Krebsbekämpfung am 1. Dezember 1933«, in: E 1498, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar. 17. »Geschäftsbericht«, R86 2764, Bundesarchiv Koblenz; A. Rothacker 419
und H. Degler, »Das magische Reis und seine Probleme«, in: Hippokrates 8 (1937), S. 331-58. 18. »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 5 (1937), S. 116. Das Gericht entschied außerdem, es sei die Pflicht eines jeden Bürgers, die Polizei zu benachrichtigen, falls irgend jemand diese Dinge zu verkaufen versuche. 19. »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung 9 (1941), S. 159. 20. Goebbels, Tagebücher, S. 651 (Eintrag vom 20. Mai 1941). 21. »Mitteilungen«, in: Monatsschrift für Krebsbekämpfung (1941), S. 219. 22. Siehe Albert Hellwig, »Keine Krebsbehandlung durch Nichtärzte«, in: Ärzteblatt für das Sudetenland, Nr. 13 (1941); hier wird über eine dreijährige Strafe für einen Quacksalber berichtet. 23. Werberat, Volksgesundheit und Werbung, S. 28. 24. Auler, Der Krebs und seine Bekämpfung, S. 4. 25. Werberat, Volksgesundheit und Werbung, S. 7–10. 26. Ebd., S. 33. Die Worte stammen von Heinrich Hunke. 27. Hans Auler und Heinrich Martius, Diagnostik der bösartigen Geschwülste (München: Lehmann, 1943), Vorwort. 28. Siehe mein Buch Cancer Wars, S. 36-48. 29. »Referate: Geschwulst«, in: Monatsschrift für Unfallheilkunde 46 (1939), S. 280 f.; Dietrich, »Krebs als Kriegsfolge«. 30. Deichmann, Biologen unter Hitler, S. 126–29. Diese List, die Krebsforschung vorzuschieben, um vom Militärdienst befreit zu werden, wurde anscheinend so oft angewandt, daß sie Aufmerksamkeit erregte: Richard Kuhn informierte im Oktober 1942 den Reichsforschungsrat, die Arbeit in der Krebsforschung solle nicht automatisch bedeuten, daß man keinen Militärdienst leisten müsse (ebd., S. 126). 31. Himmler bemerkte, daß es am 20. Februar 1945 28145 KZGefangene gab, die über fünfzig Jahre alt waren, und 4898 von über sechzig Jahren (es ist klar, daß er nur die Lager meinte, die auf deutschem Boden standen – auch wenn er darauf hinweist, daß die kürzlich erfolgte Räumung von Auschwitz und Monowitz die deutschen Zahlen vielleicht erhöht habe). Himmler hatte Grawitz im Januar 1945 gebeten, bestimmte chemotherapeutische Wirkstoffe gegen Krebs in Joachim Mrugowskis HygieneInstitut der Waffen-SS zu testen. Grawitz hatte Hermann Druckrey bereits 420
1944 dazu veranlaßt, eine Wismutverbindung zu testen, die als »del Franco« bekannt war. Druckrey prüfte in seiner Funktion als Berater für Toxikologie der Wehrmacht Dutzende anderer Substanzen; vgl. dazu Akte Grawitz, Bundesarchiv Berlin. Ich möchte Ulf Schmidt danken, der mich auf diese Akten aufmerksam gemacht hat. 32. Himmler an Grawitz, ohne Datum (nach dem 20. Februar 1945), Akte Grawitz, Bundesarchiv Berlin. 33. Blome hatte unter Hans Reiter, dem Leiter des Reichsgesundheitsamtes, doktoriert. Wie Reiter hatte Blome aus seinen Studientagen Narben von Duellen. Blome war ein vehementer Antisemit und befreundet mit den Mördern Walther Rathenaus, des Außenministers in der Weimarer Republik. Bereits zehn Jahre vor der »Machtergreifung« hatte er in seiner Praxis an seine Patienten nationalsozialistisches Propagandamaterial verteilt; siehe Kurt Blome, Arzt im Kampf – Erlebnisse und Gedanken (Leipzig: Barth, 1942), S. 25, 130, 220, 242; Peter Ferdinand Koch, Menschenversuche (München 1996), S. 206-26. Im Jahr 1938 betonte Ferdinand Lönne gegenüber Blome die Notwendigkeit eines zentralen Instituts; siehe Blome, Krebsforschung, S. 411. Das Reichsinstitut für Krebsforschung wurde von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft verwaltet; im Direktionsgremium saßen außer Mentzel und Blome die folgenden Männer: Prof. Erich Schumann, Leiter der Abteilung Wissenschaft im Oberkommando der Wehrmacht; C. H. Lasch, stellvertretender Direktor der Landesverbände für Geschwulstforschung in Berlin; Ernst Telschow, Generaldirektor der Kaiser-WilhelmGesellschaft; Kurt Huchzermeyer vom Amt für Volksgesundheit der NSDAP für den Reichsgau Wartheland; sowie Hanns Streit, Kurator der Reichsuniversität Posen (»Satzung des Zentralinstituts für Krebsforschung e.V.«, 18. Juni 1942, R2/12540 Bundesarchiv Koblenz). Keitel stimmte der Errichtung des Instituts zu (Klee, Auschwitz, S. 87–93). Hermann Göring ernannte im April 1943 Kurt Blome zum Bevollmächtigten für Krebsforschung. Für weitere Hintergrundinformationen vgl. die exzellente Studie von Ute Deichmann, Biologen, S. 211–24. 34. Ramm, »Systematische Krebsbekämpfung«. 35. Joan Austoker, A History of the Imperial Cancer Research Fund 19021986 (Oxford: Oxford University Press, 1988). 36. Friedrich Hansen, Biologische Kriegsführung im Dritten Reich (Frank421
furt 1993). 37. Götz Aly, »Die schwarze Ratte im U-Boot«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. März 1994; Klee, Auschwitz, S. 87-93. 38. Weitere Wissenschaftler, die an das Institut berufen wurden, waren Dr. (Bodo?) Trappe als Oberassistent und ein Dr. Dehn, der für die Tierversuche zuständig war. Nicht jeder am Institut hatte eine verdächtige Herkunft – Friedrich Holtz war beispielsweise der Leiter des physikalischchemischen Labors am Allgemeinen Institut gegen die Geschwulstkrankheiten in Berlin gewesen (1935–1938), bevor er 1943 zum Direktor der Nesselstedter Anlage ernannt wurde. Sein Forschungsschwerpunkt war in den dreißiger Jahren Krebs durch ultraviolette Strahlung (Hansen, Biologische Kriegsführung, S. 141-52). 39. Ebd.,S. 158-61. 40. Klee vermutet, daß in Nesselstedt Experimente an russischen Kriegsgefangenen durchgeführt wurden (Auschwitz, S. 88). Blome wurde 1951 vom »US Army Chemical Corps« rekrutiert, um an dem geheimen »Project 63« zu arbeiten. Er war in Nürnberg in allen Anklagepunkten freigesprochen worden (das belastende Verhör durch den amerikanischen Geheimdienst wurde nicht als Beweis anerkannt), aber der amerikanische Konsul in Frankfurt verwehrte ihm aufgrund des Geheimdienstberichts die Immigration in die Vereinigten Staaten. Blome erklärte sich schließlich einverstanden, als Arzt im Project 63 in Camp King zu arbeiten; vgl. Linda Hunt, Secret Agenda: The United States Government, Nazi Scientists, and Project Paperclip, 1945 to 1990 (New York: St. Martin’s, 1991), S. 180f. Blome half bei Himmlers Plan mit, im Reichsforschungsinstitut auf der Insel Riems einen Impfstoff gegen das Rinderpestvirus zu entwickeln. Riems wurde 1945 von den Russen eingenommen und bis 1948 als Labor zur Entwicklung biologischer Kampfstoffe benutzt (ebd., S. 186). Koch weist daraufhin, daß einige von Blomes Bakterienkulturen von den Russen in der Führer-Schule für Ärzte in Alt-Rehse beschlagnahmt wurden (Menschenversuche, S. 264). 41. Hansen vermutet, daß die 500000 RM, die im Dezember jenen Jahres Nesselstedt zugesprochen wurden, tatsächlich in den Bau der Geraberger Anlage flössen, die niemals fertiggestellt wurde. Amerikanische Soldaten entdeckten das nicht fertiggestellte Gebäude, darin Petri-Schalen und 422
andere Laborutensilien, als sie Geraberg im April 1945 einnahmen (Biologische Kriegsführung, S. 141). Es wäre interessant zu erforschen, in welchem Ausmaß die medizinischen deutsch-japanischen Kontakte während des Krieges auf das Ziel hin organisiert waren, die Zusammenarbeit in der Produktion biologischer Kampfstoffe zu fördern. Hansen weist darauf hin, daß Dr. Enryo Hojo zu diesem Thema an der militärisch-medizinischen Fakultät in Berlin im Oktober 1941 einen Vortrag hielt (ebd., S. 87). Vgl. dazu auch Hellmut Haubold, »Deutschlands und Japans Zusammenarbeit im Gesundheitswesen«, in: Die Gesundheitsführung, März-April 1944, S. 54ff. 42. Walter Vöcking, »Die Entwicklung des Heil- und Gewürzpflanzenanbaues im Dritten Reich«, in: Die Deutsche Heilpflanze – Beilage, Juli 1939, S. 30. 43. Ludwig Lendle, »Über Vergiftungsmöglichkeiten bei Anbau, Sammeln und Verarbeitung einheimischer Arzneipflanzen«, in: Die Deutsche Heilpflanze – Beilage, November 1934, S. 11 f. 44. Walter Wuttke-Groneberg, Medizin im Nationalsozialismus: Ein Arbeitsbuch (Tübingen 1980), S. 188-202. 45. Enno Georg, Die wirtschaftlichen Unternehmungen der SS (Stuttgart 1963), S. 62-65. 46. Groening und Wolschke-Bulmahn, »Some Notes«, S. 120-23. Frühe amerikanische Eugeniker sahen die imposanten Mammut-Bäume in Kalifornien als die »Arier« des Waldes an. Die »Save-the-Redwoods-League«, die 1918 gegründet wurde, zählte mindestens 18 Eugeniker zu ihren Mitgliedern, einschließlich Madison Grant, Henry Fairfield Osborn und Vernon Kellogg. Vgl. Susan R. Schrepfer, The Fight to Save the Redwoods: A History of Environmental Reform 1917-1978 (Madison: University of Wisconsin Press, 1983), S. 43 f. 47. Walter Schoenichen, Naturschutz als völkische und internationale Kulturaufgabe (Jena: Gustav Fischer, 1942), S. 405-10. Schoenichen zitierte auf dem ersten »International Protection Congress« in Genf die Worte von Paul Sarasin, wonach die wichtigste Aufgabe des weltweiten Umweltschutzes sein müsse, die letzten Angehörigen »primitiver Rassen« vor dem Aussterben zu bewahren und sie für künftige Generationen so unverändert wie möglich zu erhalten (S. 406f.). Schoenichen fügte noch an, es sei 423
wichtig, solche Forderungen im Namen der Biologie und der Anthropologie zu stellen und nicht irgendeiner »verwaschenen Menschlichkeitsidee« nachzuhängen, die »Hottentotten, Juden und Arier« alle in einen Topf werfe (S. 408). 48. Ebd., S. 406–18; für Hintergrundinformationen siehe Raymond H. Dominick, The Environmental Movement in Germany: Prophets and Pioneers, 1871– 1971 (Bloomington: Indiana University Press, 1992), S. 85-115. 49. Mervyn Susser, »Timing in Prenatal Nutrition: A Reprise of the Dutch Famine Study«, in: Nutrition Reviews 52 (1994), S. 84-94. 50. J. M. Winter, »The Impact of the First World War on Civilian Health in Brit-ain«, in: Economic History Review, 2. Folge, 30 (1977), S. 487–507; Marks, Progress of Experiment, S. 164–228. 51. Nikolaus Becker, Elaine M. Smith und Jürgen Wahrendorf, »Time Trends in Cancer Mortality in the Federal Republic of Germany: Progress against Cancer?«, in: International Journal of Cancer A3 (1989), S. 247; persönliche Mitteilungen von Nikolaus Becker. 52. Während des Krieges wurden zahlreiche deutsche Frauen in Waffenfabriken beschäftigt, allerdings oft in der Position von Aufseherinnen; vgl. Angelika Ebbinghaus, Opfer und Täterinnen: Frauenbiographien des Nationalsozialismus (Nördlingen 1987). 53. Es gibt indirekte Hinweise darauf, daß Soldaten eher rauchten als Zivilisten. Eine Studie aus dem Jahr 1944 zeigte, daß in den frühen Kriegsjahren Lungenkrebs die häufigste tödliche Krebsart bei Soldaten war. Im Vergleich dazu starben in der Gesamtbevölkerung Deutschlands mehr als doppelt so viele Männer an Magen- wie an Lungenkrebs. Diese Besonderheit in der Armee hatte nichts mit dem niedrigeren Durchschnittsalter zu tun, was sich daran zeigt, daß Lungenkrebs auch nach alterskorrigierter Statistik die häufigste tödliche Krebsart war (elf Soldaten über 45 starben an Lungenkrebs, 10 Soldaten über 45 starben an Magenkrebs); vgl. Dietrich, »Krebs als Kriegsfolge«, S. 198 f. Aufgrund der langen Latenzzeit muß der Ursprung vieler dieser Lungenkrebserkrankungen vor 1933 liegen, sie spiegeln deshalb auch die Rauchgewohnheiten vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wider. 54. Michael Burleigh, Ethics and Extermination: Reflections on Nazi 424
Genocide (Cambridge: Cambridge University Press, 1997), S. 4 und 150f. Arthur L. Caplan, »The Doctors’ Trial and Analogies to the Holocaust in Contemporary Bioethical Debates«, in: Annas und Grodin, Nazi Doctors, S. 258–75. 55. Carey Goldberg, »Massachusetts Man’s Goal Is to Rid Town of Tobacco«, in: New York Times, 7. Oktober 1997. 56. Rosie DiManno, »The New Rednecks: NicoNazis Pushing Bigotry’s Borders«, in: Toronto Star, 10. März 1997, S. A7. 57. Für Quellen siehe Arthur L. Caplan, When Medicine Went Mad: Bioethics and the Holocaust (Totowa, N. J.: Humana 1992). 58. Barry M. Katz, Foreign Intelligence: Research and Analysis in the Office of Strategie Services 1942-1945 (Cambridge: Harvard University Press, 1989). 59. Mark Walker, Nazi Science: Myth, Truth, and the German Atomic Bomb (New York: Plenum, 1995). 60. Siehe Kapitel 1, Anm. 9. 61. Eduard Pernkopf, Topographische Anatomie des Menschen: Lehrbuch und Atlas der regionär-stratigraphischen Präparation, Band 1-3 (Berlin: Urban & Schwar-zenberg, 1937, 1943 und 1952, zudem spätere Ausgaben und Übersetzungen). Für Hintergrundinformationen siehe Jonathan Broder, »The Corpses that Won’t Die«, in: Jerusalem Post, 22. Februar 1996, S. 24f. 62. Carl Schoettler, »Is Livesaving Tool a Product of Evil?«, in: Baltimore Sun, 1. August 1997. 63. David J. Williams, »The History of Eduard Pernkopf’s Topographische Anatomie des Menschen», in: Journal of Biomedical Communication 15 (1988), S. 2-12. 64. Die beiden Besprechungen stammen von Malcolm H. Hast, in: JAMA 263 (1990), S. 2115 f., und Richard S. Snell, in: New England Journal of Medicine 323 (1990), S. 205. 65. Howard A. Israel und William E. Seidelman, »Nazi Origins of an Anatomy Text: The Pernkopf Atlas«, in: JAMA 276 (1996), S. 1633. 66. Siehe Senatsprojekt der Universität Wien, Untersuchungen zur Anatomischen Wissenschaft in Wien 1938-1945 (Wien 1998); zudem Michael Hubenstorfs Geschichte und Kritik, »Anatomical Science in Vienna, 1938–1945«, in: Lancet, 355 (2000), S. 1385f. 425
67. Richard S. Panush, »Nazi Origins of an Anatomy Text: The Pernkopf Atlas«, in: JAMA 276 (1996), S. 1633f. 68. Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt: For Love of the World (New Haven: Yale University Press, 1982), S. 443ff. (dt.: Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit, Frankfurt am Main 1991). 69. Paul Feyerabend, Killing Time: The Autobiography of Paul Feyerabend (Chicago: University of Chicago Press, 1994), S. 42–53. 70. Vgl. dazu meine Untersuchung Racial Hygiene, S. 179 f. und 380 Anm. 11. 71. Seidelman, »Mengele Medicus«. 72. Robert König, »Watson Urges ›Put Hitler Behind Us›«, in: Science 276 (1997), S. 892. 73. Jacob Sullum, Foryour Own Good: The Anti-Smoking Crusade and the Tyranny of Public Health (New York: Free Press, 1998). 74. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (Frankfurt am Main 1991), S. 1-50.
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Physiologie einschließlich Arbeitsphysiologie zusammengeschlossen. Arbeitsschutz: Unfallverhütung, Gewerbehygiene (1925–1944); erschien als Beilage zum Reichsarbeitsblatt, hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsschutz und während des Krieges vom Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz. Archiv für Gewerbepathologie und Gewerbehygiene (1930–1944), Berlin; erschien wieder ab 1954. Eine führende Zeitschrift im Bereich der Arbeitsmedizin. Ärztliche Sachverständigen-Zeitung (1895-1944), hrsg. von Ernst W. Baader; eine führende Zeitschrift im Bereich der Berufs- und Versicherungsmedizin. Wurde 1954 als Medizinische Sachverständige (Berlin) neu herausgegeben. Auf der Wacht (1939-1942), offizielles Organ der Reichstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren, der wichtigsten nationalsozialistischen Organisation gegen den Konsum von Alkohol und Tabak. Balneologe: Zeitschrift für die gesamte physikalische und diätetische Therapie (1934-1944), hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Bäder- und Klimaheilkunde, zusammengestellt von H. Vogt. Die wichtigste Zeitschrift Deutschlands zur »Bäder-Wissenschaft«. Chronica Nicotiana (1940– 1942), hrsg. von der Internationalen Tabakwissenschaftlichen Gesellschaft, Bremen, zusammengestellt von Helmuth Aschenbrenner. Eine Zeitschrift, die sich für den Tabakkonsum einsetzte, nach dem Krieg als Tabacologia weitergeführt. Deutscher Tabakgegner (1919-1935), in Dresden von dem Verlag des Bundes deutscher Tabakgegner herausgegeben, zusammengestellt von Richard Bretschneider, unter dem Vorsitz von Fritz Lickint; erschien von 1938 bis 1941 unter dem Titel Reine Luft. Die Gasmaske: Zeitschrift für Atemschutz (1929–1941), hrsg. von der Auergesellschaft, einem Produzenten seltener Metalle in Berlin. Die Genußgifte (1939-1941); die Zeitschrift erschien von 1904 bis 1938 unter dem Titel Die Alkoholfrage und von 1941 bis 1944 als Die Volksgifte. Monatsschrift für Krebsbekämpfung (1933-1944), hrsg. vom Reichsausschuß für Krebsbekämpfung, zusammengestellt von Victor Mertens. Die führende Zeitschrift im Kampf gegen den Krebs während der NS-Herrschaft. 428
Öffentlicher Gesundheitsdienst (1935–1945), das Sprachrohr der Gesundheitspolitik des Innenministeriums, hrsg. vom Reichsausschuß für Volksgesundheitsdienst und zusammengestellt von Fritz Cropp. Praktische Karzinom-Blätter (1933-1938), hrsg. von Alfred Neumann in Wien, abgelöst durch die Zeitschrift Radiologia Clinica. Radiologische Rundschau: Röntgen, Radium, Licht (1933-1938), erschien in Berlin, hrsg. von Karger, als das offizielle Organ der Bayrischen Gesellschaft für Röntgenologie und Radiologie. Reine Luft (1938-1941), erschien von 1919 bis 1935 unter dem Titel Deutscher Tabakgegner und 1941 /42 als Die Tabakfrage: Zeitschrift zur Bekämpfung der Tabakgefahren in Berlin. Offizielles Organ des Jenaer Instituts zur Erforschung der Tabakgefahren, hrsg. von Ernst Lindig. Staub: Reinhaltung der Luft (1936-1965), hrsg. von der Staubbekämpfungsstelle des Verbandes der Deutschen Gewerblichen Berufsgenossenschaften. Strahlentherapie (1912-1985), hrsg. von der Deutschen Röntgengesellschaft und der Gesellschaft für Lichtforschung, zusammengestellt von Hans Meyer. Süddeutsche Tabakzeitung (1891-1952), die führende Zeitschrift der deutschen Tabakindustrie, gedruckt in Mannheim/Mainz. Erschien ab Anfang 1952 als Tabakzeitung mit einer Beilage, Tabakforschung (1949– ), hrsg. von der Bundesanstalt für Tabakforschung, Forchheim bei Karlsruhe. Der Tabakgegner (1912-1932), erschien in Trautenau, von 1912 bis 1916 hrsg. von Schürer von Waldheim und von 1916 bis 1932 von Hermann Stanger; später erschien die Zeitschrift unter dem Namen Tabakfreie Kultur in Wien (1935–37), 1938 wurde sie in Reine Luft integriert. Zeitschrift für Krebsforschung (1904–1944), hrsg. vom Reichsausschuß für Krebsbekämpfung, zusammengestellt von Albert Dietrich. Deutschlands wichtigste Zeitschrift zur Krebsforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zentralblatt für Gewerbehygiene und Unfallverhütung (1913-1943), hrsg. vom Institut für Gewerbehygiene, Frankfurt, und der Deutschen Gesellschaft für Gewerbehygiene. Erschien nach dem Krieg als Zentralblatt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz (1951-1975). 429
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DANKSAGUNG
Für ihre aufschlußreichen Kommentare und Anregungen, die mir dabei geholfen haben, verschiedene Ideen zu ordnen, möchte ich allen danken: Jim Adler, Keith Barbera, Iain Boal, Charles Fergus, George Davey Smith, Richard Doll, Lynne Fallwell, Fritz Hansen, Wolfgang Hien, Michael Hubenstorf, Michael Kater, Claudia Koonz, Nancy Krieger, Peter Martin, David Ozonoff, Brigitta van Rheinberg, Ulf Schmidt, Bill Seidelman und Mark Walker. Michael Berenbaum lud mich 1994 ein, mein Thema im Rahmen des J. B. und Maurice C. Shapiro-Forschungsstipendiums am U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington zu verfolgen, wo ich mit der Unterstützung meines hervorragenden Forschungsassistenten Matthias Leitner in der Lage war, viele eher schlecht zugängliche Quellen zur Krebsforschung und -politik der Nationalsozialisten aufzuspüren. Herzlich danken möchte ich auch Regine Kollek und Jan Philipp Reemtsma vom Hamburger Institut für Sozialforschung, die mich eingeladen hatten, acht wunderbare Monate am Institut mit Forschen und Schreiben zu verbringen. Weitere Unterstützung erhielt ich von der National Library of Medicine und dem Penn State’s Institute for Arts and Humanities. Ganz besonderen Dank schulde ich meiner unbeirrbaren Gefährtin der letzten zwei Jahrzehnte Londa Schiebinger. Last but not least (wie man in Deutschland sagt) möchte ich das Quadrumvirat der Harvard-Biologen erwähnen, mit denen ich das Glück hatte, in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren »Biology and Social Issues« zu lehren (und selbst viel dabei zu lernen). Der Kurs hat sich mit der Zeit verflüchtigt, aber sie haben ihre Suche nach den »Wurzeln« fortgesetzt. Ihnen und allen anderen, die von ihrer Lehre beeinflußt worden sind, möchte ich dieses Buch widmen. Zentaur 05-03-18
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