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German Pages 361 Year 2008
Tim Tecklenburg Churn-Management im B2B-Kontext
GABLER EDITION WISSENSCHAFT Kundenmanagement & Electronic Commerce Herausgegeben von Professor Dr. Manfred Krafft Universität Münster
Neue, interaktive Medien und die damit einhergehenden Möglichkeiten, einzelne Kundenbeziehungen datengeschützt optimal zu gestalten, verändern die wissenschaftliche und unternehmerische Landschaft nachhaltig. Mit dieser Schriftenreihe wird ein Forum für innovative und anspruchsvolle Beiträge geschaffen, die sich mit Fragen des Customer Relationship Management, des Direktmarketing, des Electronic Commerce, der marktorientierten Unternehmensführung und des Vetriebsmanagements auseinandersetzen.
Tim Tecklenburg
Churn-Management im B2B-Kontext Eine empirische Analyse unter Berücksichtigung von hierarchischen Kundenstrukturen und heterogenem Kundenverhalten
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Manfred Krafft
GABLER EDITION WISSENSCHAFT
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Westfälische Wilhelms-Universität Münster, 2007 D6
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frauke Schindler / Stefanie Loyal Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-0866-7
Success comes with patience!
Geleitwort
VII
Geleitwort Seit den 1990er Jahren stehen Konzepte des Kundenmanagements in Marketingforschung und -praxis zunehmend im Mittelpunkt konzeptioneller und empirischer Untersuchungen. Auf Grund der Wettbewerbsdynamik und der zunehmenden Saturierung von Märkten sind selbst nachhaltig kundenorientierte Unternehmen gegenwärtig verstärkt mit einer Kundenabwanderungsproblematik konfrontiert, die sich sowohl auf B2B- als auch auf B2C-Märkten feststellen lässt. Zu dieser Thematik des sogenannten Churn Managements gibt es zwar bereits erste Studien, diese beschränken sich aber fast ausschließlich auf Untersuchungen des B2C-Bereichs. Die Erkenntnisse dieser Beiträge können jedoch nicht direkt auf B2B-Kontexte übertragen werden, da Kundenbeziehungen zwischen gewerblichen Anbietern und Abnehmern durch hierarchische Kundenstrukturen und substanziell heterogenes Kundenverhalten gekennzeichnet sind. Aufgrund dieser inhärenten Eigenschaften von B2BKundenbeziehungen erweist es sich als außerordentlich schwierig, verlässliche Prognosen über die Loyalität (bzw. Kündigungsneigung) von Kunden abzugeben, selbst wenn – wie in der Finanzdienstleistungs- oder Telekommunikationsbranche – umfassende Informationen zum Kundenverhalten in Form von Nutzungs- und Transaktionsdaten vorliegen. Gelingt es, durch ein möglichst treffsicheres Analysesystem zu verlässlichen Erklärungen und Prognosen der Abwanderungswahrscheinlichkeit von Kunden zu gelangen, kann dies einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil darstellen. Von einem derartigen Ansatz kann sich insbesondere die Praxis erhoffen, Hinweise zur verbesserten Allokation knapper Mittel auf loyalitätsorientierte Kundensegmente zu erhalten. Aus wissenschaftlicher Sicht liegen bisher nur sehr wenige und zudem methodisch eher limitierte Beiträge zur Erklärung und Prognose der Abwanderungsneigung von B2B-Kunden vor. Eine empirische Untersuchung dieser Fragestellungen kann einen Beitrag zur Theoriebildung leisten, sofern sich bisher nicht bekannte oder nur unzureichend analysierte Wirkungsbeziehungen als statistisch signifikant erweisen und theoretisch motivierte Erklärungen geliefert werden. Vor diesem Hintergrund verfolgt Tim Tecklenburg in seiner Dissertationsschrift folgende drei zentrale Ziele:
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Geleitwort
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Entwicklung und empirische Überprüfung eines konzeptionellen Bezugsrahmens zum Churn-Verhalten in B2B-Kontexten, Methodische und empirische Gegenüberstellung der Qualität verschiedener Methoden zur Erklärung des Churn-Verhaltens, und Ableitung managementrelevanter Implikationen zur Verbesserung des Churn-Managements.
In Kooperation mit einem renommierten Unternehmen der Telekommunikationsbranche konnte Tim Tecklenburg diese Ziele auf Basis von Nutzungs- und Transaktionsdaten untersuchen. Die Stärken der von Herrn Tecklenburg vorgelegten Arbeit liegen im Vergleich traditioneller und fortgeschrittener Analyseverfahren, der fundierten Herausarbeitung von Eignungskriterien für Verfahren zur Churn-Prognose sowie in der Anwendung und Interpretation dieser anspruchsvollen Verfahren in einer eigenen großzahligen empirischen Studie zu diesem Thema. Ein potenzieller Beitrag der Dissertationsschrift von Tim Tecklenburg für die Marketingforschung ist in der erstmaligen Untersuchung des Churn-Managements im B2B-Kontext sowie im Vergleich bisher verwendeter, d.h. traditioneller und neuer, d.h. fortgeschrittener Analysemethoden zu sehen. Für die unternehmerische Praxis verspricht die Dissertationsschrift neue Erkenntnisse zur Identifikation zentraler Determinanten des Abwanderungsverhaltens von Geschäftskunden im Dienstleistungssektor. Zudem zielt die Arbeit darauf ab, den Erklärungsbeitrag von Nutzungs- und Transaktionsdaten für das Churn-Management im B2B-Kontext zu quantifizieren. Ich würde mich persönlich sehr freuen, wenn die Arbeit von Herrn Tecklenburg in Forschung und Praxis eine große Verbreitung findet! Prof. Dr. Manfred Krafft
Vorwort
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Vorwort Mit der Ausarbeitung einer Dissertationsschrift verbinden sich vielseitige und komplexe Erfahrungen, die mich in meiner persönlichen wie beruflichen Zukunft nachhaltig prägen werden. Neben der Entwicklung eines innovativen Untersuchungsgegenstands stehen Fragen der inhaltlichen Ausgestaltung, der zu verwendenden Methodik sowie der forschungsstrategischen Orientierung der Arbeit im Vordergrund. Letztlich resultiert die erfolgreiche Fertigstellung der Dissertation aus der täglich neu zu generierenden intrinsischen Motivation sowie der Fokussierung auf die zentralen Ziele. Die Realisierung des Projekts „Promotion“ konnte mir nur durch vielfache Unterstützung zahlreicher Menschen in meinen privaten wie beruflichen Umfeld gelingen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Manfred Krafft, dem ich durch seine substanzielle Unterstützung die erfolgreiche Fertigstellung meiner Dissertation verdanke. Ebenso danke ich Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Backhaus für die Übernahme des Koreferats. Beide Professoren haben mich während meiner gesamten akademischen Laufbahn stets konstruktiv gefördert und auf diese Weise meine berufliche Orientierung für die Zeit nach meiner Zugehörigkeit zum Institut für Marketing der Universität Münster beeinflusst. An dieser Stelle möchte ich mich ebenfalls bei den Mitarbeitern meines Kooperationspartners bedanken, die mich nicht nur während meines dreimonatigen Aufenthalts vor Ort bei der Datenzusammenstellung und -analyse unterstützt haben und die trotz ihrer täglichen Arbeit immer für Diskussionen ansprechbar waren. Heiko, Daniel und Mania danke ich für ihre Freundschaft, ihre großartige und immerwährende Beantwortung aller dissertationsbezogenen, beruflichen wie privaten Fragen sowie für die vielen schönen, gemeinsam verbrachten sportlichen wie „gesellschaftlichen“ Aktivitäten. In tiefer Verbundenheit bedanke ich mich bei Marco für die vielen offenen und wegweisenden Gespräche sowie seinem Talent, mich in jeder Phase meiner Promotion neu zu motivieren und in jeder Form zu unterstützen! Mein herzlicher Dank gebührt Kirstin und Ann-Kristin für die stetige Bereitschaft, nicht nur Teile meines Skripts kritisch zu hinterfragen. Für die regelmäßigen methodischen Diskussionen gilt mein Dank Sebastian. Matthias danke ich für seine stets „offene
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Vo rwo rt
Tür“ und die großartige Unterstützung in allen Fragen des B2B-Marketing! Einen besonderen Platz in meinen zahlreichen schönen Erinnerungen an meine Zeit am IfM bzw. am MCM nehmen die drei WiWi-Cup-Triumphe 2004, 2005 und 2006 mit unserer MCM-Mannschaft Marketing United ein. Allen Mannschaftskollegen danke ich für die hervorragende Teamstimmung, den glänzenden Kombinationsfußball sowie die unvergesslichen Champions Nights im Juridicum. Andreas stand mir bei Fragen der Formulierung mit seinem großen journalistischen Talent mit Rat und Tat zur Seite. Mein Dissertationsprojekt konnte ich auch nur deshalb erfolgreich beenden, da ich mich immer auf Menschen im Hintergrund verlassen konnte. Hierzu zählen insbesondere meine liebe Oma Hedwig, mein Patenonkel Klemens und natürlich meine beiden großen Brüder Bernd und Marc. Die Basis meines Lebens und meine ganze Persönlichkeit verdanke ich meinen Eltern. Durch ihre Liebe und ihren Rückhalt haben sie im erheblichen Maße zum Gelingen meiner Promotion beigetragen. Ihnen widme ich meine Dissertationsschrift. Tim Tecklenburg
Inhaltsverzeichnis
XI
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis .................................................................................................... XI Abbildungsverzeichnis .......................................................................................... XV Tabellenverzeichnis ............................................................................................ XVII Abkürzungsverzeichnis ........................................................................................ XIX Symbolverzeichnis ............................................................................................. XXIII 1 Einleitung .............................................................................................................. 1 1.1 Relevanz und Zielsetzung der Untersuchung .............................................. 1 1.2 Forschungsstrategische Orientierung der Untersuchung........................... 11 1.3 Aufbau der Untersuchung.......................................................................... 14 2 Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext..... 19 2.1 Churn-Management im Kontext des Kundenmanagements...................... 20 2.1.1 Einordnung des Churn-Managements in das KundenmanagementKonzept ............................................................................................... 20 2.1.2 Definition, Ziele und Prozess des Churn-Managements .................... 25 2.1.2.1 Definitorische Grundlagen ........................................................... 25 2.1.2.2 Ziele und Prozess des Churn-Managements ................................ 28 2.2 Dienstleistungsbezogene Kundenbeziehungen im B2B-Kontext ............. 34 2.2.1 Definitorische Abgrenzung von Dienstleistungen im B2B-Kontext .. 34 2.2.1.1 Charakteristika des Business-to-Business-Kontext ..................... 34 2.2.1.2 Dienstleistungen im Business-to-Business-Kontext .................... 40 2.2.2 Hierarchische Kundenstrukturen und heterogenes Kundenverhalten als zentrale Charakteristika von Dienstleistungen im B2B-Kontext .. 46 2.3 Besonderheiten des Churn-Managements im B2B-Kontext ..................... 49 2.4 Konzeptioneller Bezugsrahmen des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext. 55 2.4.1 Kritische Bestandsaufnahme der Literatur zum Churn-Management 55 2.4.2 Grundlegende Ansatzpunkte des konzeptionellen Bezugsrahmens ... 61 2.4.2.1 Erkenntnisse der Kundenmanagementforschung ......................... 61 2.4.2.2 Globale Differenzierung von Abwanderungsverhalten ............... 65 2.4.3 Ausgestaltung des konzeptionellen Bezugsrahmens .......................... 68 2.4.3.1 Produktbezogene Determinanten ................................................. 69 2.4.3.1.1 Qualität der Kerndienstleistung ................................................... 70 2.4.3.1.2 Produkteinführungen und Innovationsgrad.................................. 72 2.4.3.1.3 Preise, Konditionen und Tarife .................................................... 73
XII
Inhaltsverzeichnis
2.4.3.1.4 Attraktivität des Konkurrenzangebots ......................................... 78 2.4.3.2 Interaktionsbezogene Determinanten........................................... 80 2.4.3.2.1 Außendienstbetreuung ................................................................. 81 2.4.3.2.2 Interaktionsintensität .................................................................... 83 2.4.3.2.3 Beschwerdeintensität ................................................................... 85 2.4.3.2.4 Beziehungsdauer .......................................................................... 87 2.4.3.3 Transaktionsbezogene Determinanten ......................................... 88 2.4.3.3.1 Monetary Value............................................................................ 89 2.4.3.3.2 Frequency ..................................................................................... 90 2.4.3.3.3 Cross- und Up-Selling .................................................................. 92 2.4.3.3.4 Spezifische Investitionen ............................................................. 93 2.5 Zusammenfassende Darstellung des konzeptionellen Bezugsrahmens .... 95 3 Methodische Grundlagen zur Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext ........................................................................................................ 99 3.1 Anforderungen an einen Ansatz zur Churn-Modellierung ...................... 100 3.1.1 Berücksichtigung von Heterogenität als zentrale Anforderung an einen Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens ..................... 101 3.1.1.1 Relevanz der Heterogenität in der statistischen Modellierung .. 101 3.1.1.2 Ansätze zur Modellierung der segmentbezogenen Heterogenität .............................................................................. 104 3.1.2 Weitere Anforderungen an einen Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens.............................................................................. 107 3.2 Klassische Ansätze zur Erklärung des Churn-Verhaltens ....................... 110 3.2.1 Entscheidungsbäume ........................................................................ 110 3.2.2 Neuronale Netze ............................................................................... 112 3.2.3 Hazard-Regression............................................................................ 113 3.2.4 Logistische Regression ..................................................................... 115 3.2.4.1 Grundmodell der Logistischen Regression ................................ 115 3.2.4.2 Eignung der Logistischen Regression zur Erklärung des Churn-Verhaltens ....................................................................... 117 3.3 Neuere Ansätze zur Erklärung des Churn-Verhaltens mit expliziter Berücksichtigung hierarchischer Kundenstrukturen und heterogenem Kundenverhalten...................................................................................... 120 3.3.1 Grundlagen der Modellierung hierarchischer und heterogener Strukturen ......................................................................................... 121 3.3.1.1 Definitorische Grundlagen ......................................................... 121
Inhaltsverzeichnis
XIII
3.3.1.2 Analysis of Covariance .............................................................. 124 3.3.1.3 Random Coefficients Models..................................................... 125 3.3.2 Latent Class-Regression (LCR) ........................................................ 131 3.3.2.1 Methodische Grundlagen der LCR ............................................ 132 3.3.2.1.1 Finite Mixture-Modelle .............................................................. 132 3.3.2.1.2 Latent Class-Analyse als Grundlage der LCR ........................... 135 3.3.2.2 Grundmodell der LCR ............................................................... 141 3.3.2.2.1 Eigenschaften und Modellstruktur ............................................. 141 3.3.2.2.2 Optionen und Restriktionen ....................................................... 147 3.3.2.3 Schätzung und Beurteilung der Modellgüte .............................. 151 3.3.2.3.1 Schätzalgorithmus ...................................................................... 151 3.3.2.3.2 Identifikation der Modelle ......................................................... 156 3.3.2.3.3 Güte der Modellanpassung......................................................... 158 3.3.2.4 Eignung der LCR zur Erklärung des Churn-Verhaltens ............ 160 3.3.3 Multilevel Latent Class-Regression (MLCR) .................................. 161 3.3.3.1 Methodische Grundlagen der MLCR......................................... 162 3.3.3.1.1 Grundlegende Überlegungen ..................................................... 162 3.3.3.1.2 Multilevel Latent Class-Analyse als Grundlage der MLCR ...... 164 3.3.3.2 Grundmodell der MLCR ............................................................ 166 3.3.3.2.1 Eigenschaften und Modellstruktur ............................................. 166 3.3.3.2.2 Schätzung ................................................................................... 169 3.3.3.3 Eignung der MLCR zur Erklärung des Churn-Verhaltens ........ 172 3.4 Zusammenfassende Gegenüberstellung und Beurteilung der Methoden 174 4 Empirische Untersuchung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext ........... 177 4.1 Zielsetzungen und mögliche Erkenntnisfortschritte ................................ 178 4.2 Erläuterung der Datengrundlage ............................................................. 180 4.2.1 Zentrale Rahmenbedingungen .......................................................... 180 4.2.2 Vorgehen bei der Datenerhebung ..................................................... 182 4.2.3 Erläuterung der Nutzungs- und Transaktionsdaten .......................... 185 4.2.3.1 Vorstellung der Variablen .......................................................... 185 4.2.3.2 Deskriptive Analysen ................................................................. 191 4.3 Modellschätzung und Ergebnisse ............................................................ 200 4.3.1 Vorgehensweise bei der Modellschätzung ....................................... 200 4.3.2 Modellschätzung und Ergebnisse auf Basis von Modellierungsansätzen ohne explizite Berücksichtigung hierarchischer Strukturen am Beispiel der Logistischen Regression ....................... 202
XIV
Inhaltsverzeichnis
4.3.2.1 Modellspezifikation und Modellkalibrierung ............................ 202 4.3.2.2 Modellinterpretation................................................................... 207 4.3.2.2.1 Modellinterpretation auf Basis der Klassifizierungsgüte ........... 207 4.3.2.2.2 Modellinterpretation auf Basis der Parameterschätzungen........ 213 4.3.3 Modellschätzung und Ergebnisse auf Basis von Modellierungsansätzen ohne explizite Berücksichtigung hierarchischer Strukturen am Beispiel der Latent Class-Regression ....................... 220 4.3.3.1 Modellspezifikation und Modellkalibrierung ............................ 220 4.3.3.1.1 Grundsätzliche Vorgehensweise ................................................ 220 4.3.3.1.2 Spezifische Vorgehensweise ...................................................... 223 4.3.3.2 Modellinterpretation................................................................... 235 4.3.3.2.1 Interpretation auf Basis der Klassifizierungsgüte ...................... 235 4.3.3.2.2 Modellinterpretation auf Basis der Parameterschätzungen........ 240 4.3.3.2.3 Interpretation auf Basis der Nutzerprofile ................................. 243 4.3.4 Modellschätzung und Ergebnisse auf Basis von Modellierungsansätzen mit expliziter Berücksichtigung hierarchischer Strukturen am Beispiel der Multilevel Latent ClassRegression......................................................................................... 250 4.3.4.1 Modellspezifikation und Modellkalibrierung ............................ 250 4.3.4.1.1 Grundsätzliche Vorgehensweise ................................................ 251 4.3.4.1.2 Spezifische Vorgehensweise ...................................................... 259 4.3.4.2 Modellinterpretation................................................................... 268 4.3.4.2.1 Interpretation auf Basis der Klassifizierungsgüte ...................... 268 4.3.4.2.2 Modellinterpretation auf Basis der Parameterschätzungen........ 272 4.3.4.2.3 Interpretation auf Basis der Nutzer- und Geschäftskundenprofile ............................................................................. 278 4.4 Vergleichende Beurteilung der Ansätze auf Basis der Anforderungen an einen Ansatz zur Churn-Prävention .................................................... 286 5 Schlussbetrachtung und Ausblick ................................................................... 293 5.1 Zusammenfassung ................................................................................... 293 5.2 Implikationen für die Marketingpraxis.................................................... 302 5.3 Implikationen für die Marketingforschung ............................................. 304 5.4 Limitationen und weiterer Forschungsbedarf.......................................... 306 Anhang.................................................................................................................... 311 Literaturverzeichnis .............................................................................................. 313
Abbildungsverzeichnis
XV
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Spezifika des Untersuchungsdesigns ........................................................ 7 Abbildung 2: Zentrale Zielsetzungen der Untersuchung .............................................. 10 Abbildung 3: Aufbau der Arbeit ................................................................................... 17 Abbildung 4: Phasen des Kundenmanagements ........................................................... 24 Abbildung 5: Churn-Management im Kundenlebenszyklus ........................................ 28 Abbildung 6: Prozessschritte des Churn-Managements ............................................... 31 Abbildung 7: Charakteristika des B2B-Marketing ....................................................... 36 Abbildung 8: Geschäftstypenansatz von Backhaus/Voeth ........................................... 39 Abbildung 9: Einordnung von Dienstleistungen in das B2B-/ B2C-Marketing ........... 42 Abbildung 10: Beziehungsgefüge zentraler Konstrukte im Churn-Management ........ 64 Abbildung 11: Globales Spannungsfeld des Churn-Managements im B2B-Kontext .. 66 Abbildung 12: Möglichkeiten der Preisgestaltung ....................................................... 75 Abbildung 13: Produktbezogene Determinanten des Churn-Verhaltens...................... 80 Abbildung 14: Interaktionsbezogene Determinanten des Churn-Verhaltens ............... 88 Abbildung 15: Transaktionsbezogene Determinanten des Churn-Verhaltens.............. 95 Abbildung 16: Bezugsrahmen des Churn-Managements im B2B-Kontext ................. 97 Abbildung 17: Ausgewählte Methoden zur Erklärung des Churn-Verhaltens ........... 100 Abbildung 18: Ansätze zur Segmentierung von Kunden ........................................... 104 Abbildung 19: Anforderungen an einen Churn-Managementansatz .......................... 109 Abbildung 20: Grundidee der Latent Class-Regression ............................................. 142 Abbildung 22: Klassifizierung auf Geschäftskunden- und Nutzerebene ................... 163 Abbildung 23: Durchschnittlicher Gegenwert der Gesamtnutzung im Zeitverlauf ... 195 Abbildung 24: Durchschnittliche Nutzung im Zeitverlauf ......................................... 196 Abbildung 25: Identifizierte Prädiktoren der Logistischen Regression ..................... 204 Abbildung 26: Liftwert-Kurve für das Gesamtsample ............................................... 211 Abbildung 27: BIC-Entwicklung im Rahmen der Modelloptimierung ...................... 233 Abbildung 28: Anforderungen an einen Churn-Management-Ansatz........................ 287 Abbildung 29: Potenzielle Determinanten des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext .. 295 Abbildung 30: Integrierte Determinanten des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext ... 298
Tabellenverzeichnis
XVII
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Beiträge zum Churn-Management ............................................................... 59 Tabelle 2: Systematisierung von Segmentierungskriterien ........................................ 102 Tabelle 3: Zuordnung von Kunden zu unterschiedlichen Segmenten. ....................... 106 Tabelle 4: Vergleichende Gegenüberstellung der Koeffizienten................................ 130 Tabelle 5: Vergleichende Beurteilung klassischer und neuerer Ansätze.................... 175 Tabelle 6: Zeitvariierende Variablen zur Erklärung des Churn-Verhaltens ............... 188 Tabelle 7: Nutzungsdynamik am Beispiel der Quintil-Zugehörigkeit ....................... 190 Tabelle 8: Anteile an Churnern und Nicht-Churnern je Kundenstatuskategorie........ 192 Tabelle 9: Tarifübersicht und Anteil an Churnern und Nicht-Churnern .................... 193 Tabelle 10: Deskriptive Statistiken metrisch skalierter Variablen ............................. 197 Tabelle 11: Deskriptive Statistiken neu entwickelter metrisch skalierter Variablen.. 198 Tabelle 12: Deskriptive Analyse zur Beschreibung des Tarifwahl-Bias .................... 199 Tabelle 13: Pseudo-R²-Statistiken .............................................................................. 205 Tabelle 14: Klassifizierungsmatrix des Kalibrierungssamples................................... 208 Tabelle 15: Klassifizierungsmatrix des Validierungssamples .................................... 209 Tabelle 16: Liftwerte für das optimierte Gesamtmodell............................................. 211 Tabelle 17: Parameterschätzungen für Koeffizienten der Logistischen Regression .. 217 Tabelle 18: Zusammensetzung der Subsamples für die LCR-Modellierung.............. 223 Tabelle 19: Entwicklung von Gütekriterien bei der LCR-Modellierung ................... 225 Tabelle 20: Wald- und Wald(=)-Statistiken für Prädiktoren im LCR-Modell ........... 228 Tabelle 21: z-Werte für die im LCR-Modell integrierten Prädiktoren ....................... 229 Tabelle 22: Wald-Statistik der im LCR-Modell integrierten Kovariaten ................... 231 Tabelle 23: Übersicht über die spezifizierte LCR-Modellstruktur ............................. 232 Tabelle 24: Klassifizierungsmatrix des LCR-Kalibrierungssamples ......................... 236 Tabelle 25: Klassifizierungsmatrix des LCR-Validierungssamples ........................... 237 Tabelle 26: LCR-Deziltrennwerte der geschätzten Churn-Wahrscheinlichkeiten ..... 238 Tabelle 27: Klassifizierungsmatrix des LCR-Testsamples......................................... 239 Tabelle 28: Klassenspezifische R²-Statistiken für das LCR-Modell .......................... 239 Tabelle 29: Parameterschätzungen für Beta-Koeffizienten des LCR-Modells .......... 241 Tabelle 30: Zusammensetzung der latenten Klassen des LCR-Modells .................... 244 Tabelle 31: Parameterschätzungen für Gamma-Koeffizienten im LCR-Modell........ 245 Tabelle 32: Profilierung der latenten Klassen............................................................. 247 Tabelle 33: Zusammensetzung der Subsamples für die MLCR-Modellierung .......... 251
XVIII
Tabellenverzeichnis
Tabelle 34: Variablen für die Spezifizierung der MLCR-Modelle ............................ 255 Tabelle 35: Effekte der Geschäftskundenebene auf Variablen der Nutzerebene ....... 257 Tabelle 36: Entwicklung des BIC bei der MLCR-Modellierung ............................... 258 Tabelle 37: Wald- und Wald(=)-Statistiken für Prädiktoren im MLCR-Modell........ 259 Tabelle 38: z-Werte für die integrierten Prädiktoren im MLCR-Modell ................... 261 Tabelle 39: Wald-Statistik der integrierten Kovariaten im MLCR-Modell ............... 262 Tabelle 40: Wald-Statistiken für den Einfluss der Geschäftskundenebene ................ 263 Tabelle 41: Wald-Statistik der integrierten GClass-Kovariaten im MLCR-Modell .. 264 Tabelle 42: GClass-spezifische Effekte ...................................................................... 265 Tabelle 43: Klassenspezifische Effekte auf Nutzerebene ........................................... 266 Tabelle 44: Klassifizierungsmatrix des MLCR-Kalibrierungssamples ...................... 268 Tabelle 45: Klassifizierungsmatrix des MLCR-Validierungssamples ....................... 269 Tabelle 46: MLCR-Deziltrennwerte der geschätzten Churn-Wahrscheinlichkeiten .. 270 Tabelle 47: Klassifizierungsmatrix des MLCR-Testsamples ..................................... 271 Tabelle 48: Klassenspezifische R²-Statistiken für das MLCR-Modell ...................... 271 Tabelle 49: Beta-Koeffizienten des MLCR-Erklärungsmodells ................................ 274 Tabelle 50: Parameter der GClass-Einflüsse im MLCR-Erklärungsmodell .............. 276 Tabelle 51: Zusammensetzung der latenten Klassen des MLCR-Modells................. 279 Tabelle 52: Zusammensetzung der GClasses ............................................................. 280 Tabelle 53: Gamma-Koeffizienten im MLCR-Klassifizierungsmodell ..................... 282 Tabelle 54: Parameter der GClass-Einflüsse im MLCR-Klassifizierungsmodell ...... 283 Tabelle 55: Parameter der GClass-Kovariaten ........................................................... 285 Tabelle 56: Methodenvergleich auf Basis empirischer Ergebnisse ............................ 288 Tabelle 57: Gütekriterien der Modellanpassung auf Nutzerebene ............................. 290
Abkürzungsverzeichnis
XIX
Abkürzungsverzeichnis AIC ANCOVA ANOVA Aufl. BIC bspw. B2B B2C bzw. ca. CAIC CHAID CIM CLV c.p. CRM df d.h. ed. EM engl. et al. etc. f. ggü. GLM GU Hrsg. ID i.d.R. i.d.S. i.e.S. IMT
Akaike´s Information Criterion Analysis of Covariance Analysis of Variance Auflage Bayesian Information Criterion beispielsweise Business-to-Business Business-to-Consumer beziehungsweise circa Consistent Akaike´s Information Criterion Chi-Square Automatic Interaction Detection Centrum für Interaktives Marketing und Medienmanagement Customer Lifetime Value ceteris paribus Customer Relationship Management degrees of freedom (Freiheitsgrade) das heißt Edition / Editors Expectation-Maximization Englisch(-sprachig) et alii (und andere) et cetera folgende gegenüber Generalized Linear Model(ing) Großunternehmen Herausgeber Identifikationsnummer in der Regel in diesem Sinne im engeren Sinne International Mobile Telecommunications System
XX
i.S. i.S.v. k.A. KKV KMU L2 LCA LCM LCR LL MAIC MBit/s MCC MLCA MLCR MMS NR Nr. o.g. PCC QR RCM RFM S. SAS SIM SMS SO-HO SOW SPSS TK TSP u.a. UDA UMTS
Abkürzungsverzeichnis
im Sinne im Sinne von keine Angaben komparativer Konkurrenzvorteil Klein- und Mittelstandsunternehmen Likelihood-Statistik Latent Class-Analyse Latent Class-Modell(e) Latent Class-Regression Logarithmierte Likelihood- bzw. Log-Likelihood-Statistik Modified Akaike´s Information Criterion MegaBit pro Sekunde (Datenübertragungsgeschwindigkeit) Maximum Chance Criterion Multilevel Latent Class-Analyse Multilevel Latent Class-Regression Multimedia Message Service Newton-Raphson Nummer oben genannt Proportional Chance Criterion Quasirente Random Coefficients Model Recency, Frequency, Monetary Value Seite Statistical Analysis Systems Subscriber Identity Module (Chipkarte zur Identifikation eines Nutzers im Mobilfunknetz eines Anbieters) Short Message Service SmallOffice-HomeOffice (Kundensegement von TSP) Share-of-Wallet Statistical Product and Service Solution Telekommunikation Telecommunication Service Provider unter anderem Upward-Downward-Algorithmus Universal Mobile Telecommunications System
Abkürzungsverzeichnis
v.a. vgl. Vol. WWU z.B. ZfB z.T.
XXI
vor allem vergleiche Volume (Ausgabe) Westfälische Wilhelms-Universität Münster zum Beispiel Zeitschrift für Betriebswirtschaft zum Teil
Symbolverzeichnis
XXIII
Symbolverzeichnis Abschnitt 3.2.4.1 ȕ0 ȕk F() I K L Pi ui xik y Zi
Abschnitt 3.3.1.2 aj b eij yij xij
Abschnitt 3.3.1.3 aj bj Ȗst eij S T IJst
Konstante Regressionskoeffizient der k-ten unabhängigen Variablen xik (k K) kumulative Verteilungsfunktion Indexmenge der Individuen Indexmenge der unabhängigen Variablen Likelihood-Funktion der Churn-Wahrscheinlichkeit Kündigungswahrscheinlichkeit des Individuums i (i I) Störterm für das Individuum i (i I) Ausprägung der k-ten unabhängigen Variablen (k K) des Individuums i (i I) abhängige Variable Linearer Term für die Ausprägung der latenten Variablen des Individuums i (i I)
Konstante für die Gruppe j (j J) Regressionskoeffizient der unabhängigen Variablen x Störterm für Individuum i (i I) aus der Gruppe j (j J) Ausprägung der abhängigen Variablen für Individuum i (i I) aus der Gruppe j (j J) Ausprägung der unabhängigen Variablen für Individuum i (i I) aus der Gruppe j (j J)
Konstante für die Gruppe j (j J) Regressionskoeffizient der unabhängigen Variablen x für die Gruppe j (j J) Effekt der Variablen t der Gruppenebene (t T) auf die Variable s der Individualebene (s S) über alle Gruppen Störterm für Individuum i (i I) aus der Gruppe j (j J) Indexmenge der Variablen auf Individualenebene Indexmenge der Variablen auf Gruppenebene Varianz des Effekts der Variablen t der Gruppenebene (t T) auf die Variable s der Individualebene (s S) über alle Gruppen
XXIV
uj yij xij zj
Abschnitt 3.3.2.1.1 g i,k <
Symbolverzeichnis
Störterm für die Koeffizienten auf Gruppenebene Ausprägung der abhängigen Variablen für Individuum i (i I) aus der Gruppe j (j J) Ausprägung der unabhängigen Variablen für Individuum i (i I) aus der Gruppe j (j J) Ausprägung der unabhängigen Variablen für die Gruppe j (j J)
I K ȝ ʌk ı² ș yi
Dichtefunktion des i-ten Kunden (i I) bei gegebener Klassenzugehörigkeit und Parametervektor der k-ten latenten Klasse (k K) Indexmenge der Kunden Indexmenge der latenten Klassen Mittelwert Relative Klassengröße der k-ten latenten Klassen (k K) Varianz Vektor aller zu schätzenden Parameter Vektor der Response-Variablen des i-ten Kunden (i I)
Abschnitt 3.3.2.1.2 ȕ
Koeffizient im linearen Prädiktor K
fi ( < )
Dichtefunktion des i-ten Kunden (i I)
f ( yi | x,zi )
Dichtefunktion der Response-Variable yi bei gegebener Klassenzugehörigkeit x und bei gegebenen Vektor zi der Ausprägungen der exogenen Variablen des i-ten Kunden (i I) Linearer Prädiktor
Ș
I K M P( x | zi )
ʌ yi x zi
Indexmenge der Kunden Indexmenge der Latenten Klassen Indexmenge der Ausprägungen der nominal skalierten Response-Variablen Zugehörigkeitswahrscheinlichkeit des i-ten Kunden (i I) zu einer latenten Klasse x bei gegebenen Vektor zi der Ausprägungen der exogenen Variablen des i-ten Kunden (i I) Relative Klassengröße bzw. a priori Wahrscheinlichkeit der Klassenzugehörigkeit Response-Variable Latente Klassen-Variable Vektor der Ausprägungen der exogenen Variablen des i-ten Kunden (i I)
Symbolverzeichnis
Abschnitt 3.3.2.2 ȕ
XXV
Koeffizient im linearen Prädiktor K des Erklärungsmodells Koeffizient im linearen Prädiktor K des Klassifizierungsmodells Linearer Prädiktor
Ȗ Ș
f ( yit | x,zitpred )
I K L LL
P x | zicov
Dichtefunktion der abhängigen Variable yit bei gegebener Klassenzugehörigkeit x und bei gegebenen Ausprägungen der Prädiktoren zitpred des i-ten Kunden (i I) bei t-ten Replikation (t T) Indexmenge der Individuen Indexmenge der Latenten Klassen Likelihood-Funktion Logarithmierte Likelihood-Funktion Zugehörigkeitswahrscheinlichkeit des i-ten Kunden (i I) zu einer latenten Klasse x bei gegebenen Ausprägungen der Kovariten z icov
z cov
Relative Klassengröße bzw. a priori Wahrscheinlichkeit der Klassenzugehörigkeit Indexmenge der exogenen, unabhängigen Variablen Indexmenge der Replikation Gewichtungsfaktor des i-ten Individuums in der Modellschätzung Latente Klassen-Variable Replikationsgewicht für das i-te Individuum (i I) für jede t-te Replikation Abhängige Variable des i-ten Individuums (i I) bei der t-ten Repilkation (t T) Ausprägung der unabhängigen Variablen q (q Q) für das i-te Individuum (i I) bei der t-ten Replikation (t T) Kovariate
z pred
Prädiktor
ʌ Q T wi x vit yit zitq
Abschnitt 3.3.3. ȕ ȕg Ȗ
Koeffizient im linearen Prädiktor K des Erklärungsmodells für die Individualebene Koeffizient im linearen Prädiktor K des Erklärungsmodells für die Gruppenebene Koeffizient im linearen Prädiktor K des Klassifizierungsmodells für die Individualebene
XXVI
Symbolverzeichnis
Ȗg g I J ƒ(y ji | x,z ji ,x g )
Ș
K Kg L LL
Indexmenge der Latenten Klassen Indexmenge der GClasses Likelihood-Funktion Logarithmierte Likelihood-Funktion Wahrscheinlichkeitsfunktion der Klassenzugehörigkeit
P <
P x | xg
Koeffizient im linearen Prädiktor K des Klassifizierungsmodells für die Gruppenebene Index für die Gruppenebene Indexmenge der Individuen Indexmenge der Gruppen Dichtefunktion der abhängigen Variable yit jedes Individuums i in der Gruppe j, bei gegebenen Zugehörigkeiten zu den latenten Klassen und GClasses sowie bei gegebenen Werten der Prädiktoren Linearer Prädiktor
Wahrscheinlichkeitsfunktion der Klassenzugehörigkeit auf
z cov
Individualebene bei gegebener GClass-Zugehörigkeit bzw. relative Klassengröße Relative Klassengröße bzw. a priori Wahrscheinlichkeit der Klassenzugehörigkeit Indexmenge der exogenen, unabhängigen Variablen Indexmenge der Replikation Gewichtungsfaktor des i-ten Individuums in der Modellschätzung für das i-te Individuum (i I) Latente Klassen-Variable auf Individuenebene Latente GClass-Variable auf Gruppenebene Replikationsgewicht für das i-te Individuum (i I) für jede t-te Replikation (t T) Abhängige Variable des i-ten Individuums (i I) aus der j-ten Gruppe (j J) Ausprägung der unabhängigen Variablen für das i-te Individuum (i I) aus Gruppe j (j J) Kovariate
z pred
Prädiktor
ʌ Q T wi x xg vit yji zji
Einleitung
1
1 Einleitung 1.1 Relevanz und Zielsetzung der Untersuchung In Marketingforschung und -praxis stehen Konzepte des Kundenmanagements seit den 1990er Jahren verstärkt im Fokus konzeptioneller und empirischer Untersuchungen. Diese zunehmende Bedeutung drückt sich in einer Vielzahl neuerer Begriffe wie Customer Equity, Customer Lifetime Value (CLV), Customer Relationship Management (CRM) oder Kundenorientierung, Kundenbindung und Kundenzufriedenheit aus.1 Den Ausgangspunkt vieler Publikationen zu diesem Thema bilden die Aussagen von Reichheld/Sasser.2 Die beiden Autoren kamen in einer empirischen Untersuchung zum Ergebnis, dass in einzelnen Branchen eine 5%-ige Steigerung der Kundenbindung zu einer Gewinnsteigerung von bis zu 75% führen kann. Obwohl Begriffe wie CRM oder Kundenorientierung inhärente Eigenschaften des Business-to-Business(B2B)-Marketing sind,3 fokussierten sich viele forschungs- und praxisorientierte Publikationen auf das Management von Kundenbeziehungen im Business-to-Consumer(B2C)-Marketing.4 Im Vordergrund dieser Publikationen standen dabei zunächst die Untersuchung grundlegender Konzepte wie Kundenzufriedenheit oder Kundenbindung bzw. -loyalität sowie deren Determinanten und Beziehungen.5 In neueren Publikationen rücken der gesamte CRM-Prozess6, die Allokation von Ressourcen zwischen einzelnen Phasen des Kundenlebenszyklus7 oder die Effektivität und Effizienz von Kundenbindungsprogrammen8 in den Mittelpunkt der Untersuchungen. Erst in jüngerer Zeit finden sich Publikationen bzw. Ansätze, in
1 2 3 4 5
6 7 8
Vgl. bspw. Berger/Nasr (1998); Boulding et al. (2005); Reinartz/Krafft/Hoyer (2004); Verhoef (2003). Vgl. Reichheld/Sasser (1990). Vgl. Backhaus/Bauer (2000), S. 27; Backhaus/Voeth (2007), S. 9-12. Der Begriff B2BMarketing wird im Abschnitt 2.2 definiert und diskutiert. Vgl. Bolton/Lemon/Verhoef (2004); Krafft (2007); Müller (2004); Venkatesan/Kumar (2004). Beziehungen zwischen diesen. Konstrukten können bspw. mit der Partial Least Squares(PLS)Methode untersucht werden. Für eine grundlegende Übersicht zu der Methode vgl. Götz/LiehrGobbers (2004). Für eine elaborierte Anwendung der Methode im Kundenmanagement vgl. Reinartz/Krafft/Hoyer (2004). Vgl. Reinartz/Krafft/Hoyer (2004). Vgl. Reinartz/Thomas/Kumar (2005). Vgl. Götz (2007).
2
Einleitung
denen die Konzepte und Erkenntnisse aus der B2C-Forschung auf das B2B-Marketing übertragen oder in diesem Kontext untersucht werden.9 Für die geschilderten Entwicklungen im B2C- und B2B-Kontext lassen sich vielfältige Gründe anführen. Zunächst sprechen Effizienzerwägungen dafür, dass die Bindung von Kunden günstiger ist als die Akquisition von Kunden.10 Weiterhin wird CRM, i.S. eines ganzheitlichen und systematischen Managements von Kundenbeziehungen, von Unternehmen auf wettbewerbsintensiven Märkten als Möglichkeit wahrgenommen, sich vom Wettbewerb zu differenzieren. Gleichzeitig sinken im Verlauf der Kundenbeziehung auf Grund der gemeinsamen Erfahrungen die Transaktionskosten, indem bspw. keine weiteren Suchkosten für eine erneute Anbieterwahl anfallen.11 Die ganzheitliche Gestaltung von Kundenbeziehungen kann demzufolge einen nachhaltigen Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten. Auf Grund der weiter zunehmenden Wettbewerbsdynamik sind auch sehr kundenorientierte Unternehmen gegenwärtig verstärkt mit einer Kundenabwanderungsproblematik konfrontiert, die sich sowohl auf B2B- als auch auf B2C-Märkten feststellen lässt.12 Im klassischen B2B-Marketing i.S. der Vermarktung von Industriegütern13 ist das Phänomen der Kundenabwanderung im Zusammenhang mit dem sog. Customer Switching Behavior untersucht worden.14 Im B2C-Marketing erfolgt die Untersuchung der Kundenabwanderung verstärkt am Beispiel von Dienstleistungen,15 wobei sich zwei globale Forschungsschwerpunkte feststellen lassen. Innerhalb des ersten Forschungsschwerpunkts konzentrieren sich die Forscher auf die Identifikation von abwanderungsgefährdeten Kunden.16 Im Rahmen des zweiten Forschungsschwerpunkts steht die Rückgewinnung bereits abgewanderte Kunden im Vordergrund.17 Die vorliegende Studie ist dem ersten Forschungsstrom zuzuordnen. Sie fokussiert sich auf die Untersuchung und die Erklärung der Abwanderungsgefahr von Kunden, die Dienstleistungen nachfragen. In der Marketingforschung und -praxis wird das
9 10 11 12 13 14 15 16 17
Vgl. Backhaus/Bauer (2000); Homburg/Giering/Menon (2003); Lam et al. (2004). Vgl. Anderson/Sullivan (1993); Reichheld/Sasser (1990). Vgl. Andreassen/Lindestad (1998). Vgl. Athanassopoulou (2006), S. 87; Wathne/Biong/Heide (2001), S. 63. Der Begriff Industriegüter wird im Abschnitt 2.2 definiert und diskutiert. Vgl. bspw. Heide/Weiss (1995); Yanamandram/White (2006). Zum Begriff Dienstleistung vgl. Abschnitt 2.2. Vgl. Hüppelshäuser (2005); Rüger (2003). Vgl. Homburg/Schäfer (1999); Rutsatz (2004); Thomas/Blattberg/Fox (2004).
Einleitung
3
Management von abwanderungsgefährdeten Kunden mit dem Begriff ChurnManagement bezeichnet, der im Folgenden verwendet wird.18 Eine Möglichkeit, der Abwanderung von Kunden innerhalb des ChurnManagements systematisch entgegenzuwirken, besteht in der Identifikation der Abwanderungsgefahr auf Basis von im Unternehmen vorhandenen Daten.19 Mit der Identifikation ist gleichzeitig eine gezielte Ansprache der abwanderungsgefährdeten Kunden verbunden, um diese weiter an das Unternehmen zu binden.20 Eine implizite Prämisse ist dabei, dass sich das Churn-Verhalten mit einer hinreichenden Genauigkeit anhand von Prädiktoren tatsächlich vorhersagen lässt.21 Insbesondere vor dem Hintergrund hoher Abwanderungsraten, des mäßigen Erfolgs von CRM-Programmen sowie der Notwendigkeit einer effizienten Allokation knapper finanzieller Ressourcen ist es von großer Relevanz, die Einflussfaktoren auf das Churn-Verhalten zu identifizieren.22 Prinzipiell lässt sich das Churn-Verhalten auf exogene und endogene Gründe zurückführen.23 Exogene Ursachen stehen im engen Zusammenhang mit dem Verhalten von Kunden oder Wettbewerbern und sind daher von anbietenden Unternehmen nur bedingt zu beeinflussen. Hingegen liegen endogene Ursachen im Verhalten der Unternehmen selbst begründet. Diesen Gründen können grundsätzlich die Unternehmen eigenständig entgegenwirken. In der vorliegenden Studie sind insbesondere diese von Unternehmen zu beeinflussenden endogenen Ursachen von Interesse, die sich anhand von in Unternehmen potenziell zur Verfügung stehenden Nutzungs- und Transaktionsdaten abbilden lassen. Diese Fokussierung auf endogene Ursachen soll sicherstellen, dass die in dieser Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse auch für Unternehmen von Interesse sind. Die Abwanderung von Kunden zu verhindern, ist insbesondere für Unternehmen relevant, die ihre Leistungen auf Basis vertraglicher Austauschbeziehungen gleichzeitig für Endkunden im B2C-Marketing und für Geschäftskunden im B2B-Marketing anbieten. Dies liegt darin begründet, dass die Unternehmen zwei Vermarktungsansätze
18
19 20 21 22 23
Der Begriff Churn ist aus den Begriffen Change und Turn zusammengesetzt. Vgl. Kehl (2001), S. 208; Krafft (2007), S. 70; Türling (2000), S. 150. In dieser Arbeit werden die Begriffe ChurnVerhalten, Kundenabwanderung und Beziehungsbeendigung synonym verwendet. Vgl. Smith/Willis/Brooks (2000), S. 541. Vgl. Neslin et al. (2006), S. 204. Vgl. Neslin et al. (2006), S. 204. In der Telekommunikationsbranche sind bspw. Abwanderungsraten von über 20% festzustellen. Vgl. Harrison-Walker/Neeley (2004), S. 28; Thomas/Blattberg/Fox (2004), S. 31. Vgl. Hüppelshäuser (2005), S. 2 sowie Abschnitt 2.4.2.2.
4
Einleitung
für eine grundsätzlich ähnliche Leistung integrieren und ihre Ressourcen bestmöglich ausnutzen müssen.24 Beispiele für Branchen, in denen sich die anbietenden Unternehmen gleichzeitig auf B2B- und B2C-Kundengruppen ausrichten, sind die Branchen Assekuranz, Autovermietung, Finanzdienstleistung, Luftfahrt und Telekommunikation. Auf die letztgenannte Branche fokussiert sich die vorliegende empirische Untersuchung des Churn-Managements im B2B-Kontext. Die Kundenbeziehungen zu Geschäftskunden sind für die anbietenden Unternehmen nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil diese Beziehungen im Vergleich zu Beziehungen zu Endkunden oft profitabler sind.25 Bei den aufgeführten Dienstleistungsbranchen resultiert die Bedeutung der Kundenabwanderungsprävention aus der branchenspezifischen Wettbewerbsintensität und Dynamik. Weiterhin ist vielfach eine zunehmende Saturierung der Nachfrage nach Dienstleistungen aus den genannten Branchen festzustellen.26 Die Saturierung bedingt erstens eine flexiblere Anpassung der Unternehmensaktivitäten an die Kundenbedürfnisse und impliziert zweitens die Notwendigkeit, vorhandene Kundenbeziehungen zu sichern bzw. die Abwanderung zu verhindern. Gleichzeitig induziert die starke Verbreitung von Dienstleistungen bei Geschäftskunden im B2B-Kontext, verbunden mit stetig neuen technologischen Entwicklungen, ein exponentielles Wachstum der Menge an Transaktions- und Nutzungsdaten, die potenziell für die Identifikation von abwanderungsgefährdeten Kunden herangezogen werden können. Terrabytes an Daten fließen in Datenbanken und erfordern neue Wege, diese zu analysieren.27 Auf Grund der aufgezeigten Bedeutung von Geschäftskunden für Dienstleistungsunternehmen wird das Churn-Verhalten innerhalb des B2B-Marketing im Weiteren untersucht. In der akademischen Forschung finden sich nur eine sehr geringe Anzahl an Untersuchungen von Dienstleistungen im B2B-Kontext.28 Zudem existieren bislang nur sehr wenige Untersuchungen, die sich im B2B-Kontext mit dem Kundenmanagement im Allgemeinen und dem Churn-Management im Speziellen sowie deren Ausgestaltungsmöglichkeiten beschäftigen.29 Dementsprechend beschränkt sich die Forschung in Bezug auf das Abwanderungsverhalten von Geschäftskunden auf das
24 25 26 27 28 29
Vgl. Lam et al. (2004), S. 293. Vgl. Gerpott (2006), S. 505. Vgl. Athanassopoulou (2006), S. 87; Glöckner/Peters (1994), S. 13. Vgl. Breiman (2001), S. 214. Vgl. Patterson/Johnson/Spreng (1997), S. 4. Vgl. Lam et al. (2004); Wilson (2006).
Einleitung
5
klassische Industriegütermarketing. Bei der Analyse dieses Abwanderungsverhaltens von Geschäftskunden kommen dabei vermehrt Befragungen oder Experteninterviews zum Einsatz.30 Gleichsam ist es für den Erfolg von Unternehmen von immenser Bedeutung, die Beweggründe für das Churn- bzw. das Bindungsverhalten ihrer Kunden zu verstehen.31 Unter Berücksichtigung der bisherigen Ausführungen lässt sich festhalten, dass sich, obwohl das Churn-Management auch für das B2B-Marketing von Bedeutung ist, die Marketingforschung auf die Untersuchung im B2C-Kontext konzentriert hat.32 Daher soll mit der vorliegenden Studie ein Beitrag zur Erklärung des Abwanderungsverhaltens von Geschäftskunden auf Basis von Transaktions- und Nutzungsdaten geleistet werden. Im Kern sind zwei Faktoren anzuführen, die das datengetriebene ChurnManagement im B2B-Kontext vor besondere Herausforderungen stellen. Ein erster Faktor ist die Existenz hierarchischer Kundenstrukturen. Bei Geschäftskunden ist eine Kunden- von einer Nutzerebene zu unterscheiden. Während auf der Kundenebene bspw. die Entscheidung über die Anbieterwahl getroffen wird, findet auf der Nutzerebene die eigentliche Inanspruchnahme der Dienstleistungen statt. Es ist davon auszugehen, dass beide Ebenen Einfluss auf das Churn-Verhalten nehmen können.33 Ein zweiter zentraler Faktor ist die notwendige, individuelle Gestaltung der Austauschbeziehungen zu Geschäftskunden. Diese notwendige Optimierung der Leistungen leitet sich aus den spezifischen Ansprüchen von Geschäftskunden ab. Diese resultieren aus den unterschiedlichen Anforderungen bzw. dem Verhalten der Anwender auf Seiten der Geschäftskunden.34 Das beschriebene heterogene Kundenverhalten ist letztlich Ausdruck der komplexen Umwelt in der Geschäftskunden zu agieren haben. Die Heterogenität spiegelt sich in unterschiedlichen Nutzungshäufigkeiten oder divergierendem Nutzungsverhalten wider.35 Das Churn-Management von Dienstleistungsunternehmen im B2B-Kontext steht somit vor den Herausforderungen, zum 30 31 32 33 34
35
Beispiele hierfür sind Homburg/Giering/Menon (2003); Perrien/Paradis/Banting (1995); Yanamandram/White (2006). Vgl. Colgate/Stewart/Kinsella (1996), S. 24; Yanamandram/White (2006), S. 159. Vgl. Harrison-Walker/Neeley (2004), S. 20. Vgl. Homburg/Jensen (2004), S. 493. In Unternehmen können sich bspw. Unterschiede im Telefonienutzungsverhalten von Außendienstmitarbeitern eines Geschäftskunden ergeben, da einige vermehrt im Ausland und andere eher im Inland tätig sind. In ihrer empirischen Studie zum Churn-Management bemängeln Joo/Jun/Kim die fehlende Erfassung der Heterogenität im Kundenverhalten. Vgl. Joo/Jun/Kim (2002), S. 359.
6
Einleitung
einen die Einflüsse der hierarchischen Kundenstruktur und zum anderen das substanziell heterogene Kundenverhalten entsprechend zu berücksichtigen. Die hierarchische Kundenstruktur und das heterogene Kundenverhalten stellen besondere Anforderungen an die Methoden zur Identifikation von abwanderungsgefährdeten Geschäftskunden. Im Rahmen des Churn-Managements erfolgt die Identifikation klassischer Weise auf Basis von Methoden wie die Hazard-Regression oder die Logistische Regression. Allerdings stellt sich die Frage, ob diese klassischen Ansätze in der Lage sind, die Besonderheiten des B2B-Kontexts zu erfassen. Neuere Ansätze wie die Latent Class-Regression oder die Multilevel Latent Class-Regression stellen hingegen explizit auf die Erfassung von Heterogenität bzw. hierarchischen Strukturen ab. Vor diesem Hintergrund soll in dieser Untersuchung ein Vergleich zwischen klassischen und neueren Ansätze zeigen, wie gut diese geeignet sind, Churngefährdete Kunden zu identifizieren. Eine branchenübergreifende Relevanz erwächst aus der vorliegenden Arbeit insofern, als dass erstens verschiedene Branchen aus dem Dienstleistungssektor auf die Potenziale einer datengestützten Churn-Modellierung abstellen und zweitens sich die empirische Marketingforschung zum Churn-Management bislang fast auschließlich auf das Churn-Verhalten von Endkunden fokussierte. Gleichsam sind auf Grund der Charakteristika des B2B-Marketing deutliche Unterschiede im Churn-Management im Vergleich zum B2C-Marketing zu erwarten.36 Zusammenfassend fokussiert die vorliegende Arbeit auf die Erklärung des Abwanderungsverhaltens von Kunden im B2B-Kontext auf Basis von im Unternehmen vorhandenen Daten. Die folgende Abbildung 1 zeigt die wesentlichen Spezifika des Untersuchungsdesigns der vorliegenden Arbeit.
36
Vgl. Gerpott/Rams (2000), S. 740.
Einleitung
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Abbildung 1: Spezifika des Untersuchungsdesigns Quelle: Eigene Darstellung.
Aus den obigen Ausführungen zur Relevanz der Untersuchung ist ersichtlich, dass der Ursprung der nutzungs- und verhaltensorientierten Analyse des Churn-Verhaltens im B2C-Marketing liegt. Gleichwohl ist die Verhinderung der Kundenabwanderung für Dienstleistungsanbieter im B2B-Kontext auf Grund der ökonomischen Bedeutung von Geschäftskunden ebenso relevant. Da das Churn-Management im B2B-Kontext bisher nur unzureichend empirisch untersucht wurde, ist ein grundsätzliches Ziel der vorliegenden Untersuchung, endkundenorientierte Ansätze aus dem Kundenmanagement im Allgemeinen und dem Churn-Management im Speziellen auf den B2BKontext zu übertragen. Trotz der Relevanz des Churn-Managements für die Anbieter von Dienstleistungen im B2B-Kontext finden sich keine akademischen Studien, die sich explizit auf die Bestimmungsfaktoren des Churn-Managements im B2B-Kontext fokussieren.37 Die vorliegende Studie untersucht vor diesem Hintergrund konzeptionell und empirisch die 37
Vgl. Abschnitt 2.4.1.
8
Einleitung
Möglichkeiten eines auf der Analyse von Transaktions- und Nutzungsdaten von Geschäftskunden basierenden Churn-Managements. Bezogen auf die Konzeptionalisierung steht die Entwicklung eines Bezugsrahmens zur Erklärung des ChurnVerhaltens von Geschäftskunden im Vordergrund. Der Bezugsrahmen verknüpft inhaltlich die einzelnen Determinanten bzw. Einflussfaktoren des Abwanderungsverhaltens miteinander. Des Weiteren erfolgt ein Methodenvergleich zwischen klassischen und neueren Ansätzen zur Erklärung des Churn-Verhaltens. Mit der empirischen Anwendung am Beispiel der wettbewerbsintensiven Dienstleistungsbranche Telekommunikation werden primär zwei Zielsetzungen verfolgt. Die erste Zielsetzung ist die vergleichende Beurteilung unterschiedlicher quantitativer Methoden zur Erklärung des Churn-Verhaltens hinsichtlich deren Eignung, die Abwanderungsneigung von Geschäftskunden unter besonderer Berücksichtigung von hierarchischen Kundenstrukturen und heterogenem Kundenverhalten akkurat zu bestimmen.38 Hierzu werden in dieser Arbeit die Methoden der Latent ClassRegression und Multilevel Latent Class-Regression eingesetzt. Ein Vergleich der Ergebnisse dieser Verfahren mit den Ergebnissen des traditionell eingesetzten Verfahrens der Logistischen Regression dient der Beantwortung der Frage, ob elaboriertere und statistisch anspruchsvollere Ansätze den weniger aufwändigen klassischen Verfahren hinsichtlich der Erklärungsgüte überlegen sind. Die zweite Zielsetzung der empirischen Analyse ist in der Überprüfung des entwickelten Bezugsrahmens im Allgemeinen und der darin integrierten Determinanten im Speziellen zu sehen. Zusammenfassend werden mit der vorliegenden Arbeit somit die folgenden Zielsetzungen verfolgt:39 38
39
Entwicklung und empirische Überprüfung des konzeptionellen Bezugsrahmens, methodische und empirische Gegenüberstellung der Qualität verschiedener Methoden zur Erklärung des Churn-Verhaltens und Ableitung von managementorientierten Handlungsempfehlungen. Im Abschnitt 3.1 werden die zentralen Anforderungen an einen Ansatz zur Erklärung des ChurnVerhaltens abgeleitet. Hierzu zählen die Erfassung der Heterogenität, methodische Robustheit, Berücksichtigung hierarchischer Kundenstrukturen, Stabilität, Aufwand sowie Transparenz des Verfahrens. Insofern wird in der vorliegenden Arbeit der Forderung von Anderson/Sullivan nachgekommen, die „[...]a deeper understanding between the antecedents and consequences“ (Anderson/Sullivan (1993), S. 126) des Kundenmanagements fordern.
Einleitung
9
Aus Sicht der Marketingforschung ist der Beitrag der vorliegenden Arbeit in der erstmaligen Untersuchung bzw. Konzeptionalisierung des Churn-Managements im B2B-Kontext sowie im Vergleich zwischen klassischen und neueren Methoden zu sehen. Für die Marketingpraxis sollen ebenfalls relevante Implikationen aus den Ergebnissen dieser Arbeit abgeleitet werden. Anführen lassen sich hierbei zum einen die empirische Untersuchung der zentralen Determinanten des Abwanderungsverhaltens von Geschäftskunden bei Dienstleistungen. Zum anderen sollen auf Basis der Ergebnisse Schlussfolgerungen in Hinblick auf den Erklärungsbeitrag von Nutzungsund Verhaltensdaten im Rahmen des Churn-Managements im B2B-Kontext abgeleitet werden. Die zentralen Zielsetzungen der vorliegenden Untersuchung verdeutlicht die folgende Abbildung 2.
10
Einleitung
Ziel: Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext am Beispiel von Dienstleistungen
Konzeptionell-methodische Zielsetzungen Entwicklung eines konzeptionellen Bezugsrahmens zur Erklärung des ChurnVerhaltens von Geschäftskunden
Methodenvergleich zwischen klassischen und neueren Ansätzen des ChurnManagements
Empirische Zielsetzungen
Empirische Überprüfung des konzeptionellen Bezugsrahmens
Empirische Überprüfung der Eignung klassischer und neuerer Ansätze zur Erklärung des Churn-Verhaltens
Ableitung konzeptioneller und methodischer Handlungsempfehlungen für das Churn-Management im B2B-Kontext
Abbildung 2: Zentrale Zielsetzungen der Untersuchung Quelle: Eigene Darstellung.
Einleitung
11
1.2 Forschungsstrategische Orientierung der Untersuchung Nachdem die Relevanz und die Zielsetzungen der Untersuchung hinlänglich diskutiert wurden, sollen im Folgenden die unterschiedlichen Optionen zur Erreichung dieser Ziele aufgezeigt werden. Dabei stehen die grundlegende forschungsstrategische Orientierung der Untersuchung sowie die dabei angestrebten Aussagen und Implikationen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Für die forschungsstrategische Orientierung der vorliegenden Arbeit kommen grundsätzlich zwei Untersuchungskonzepte in Frage. Im Rahmen von deduktiven Forschungsansätzen werden wissenschaftliche Fragestellungen auf Basis von theoriegestützten Hypothesen untersucht. Bei einer induktiven Herangehensweise fokussieren sich die Wissenschaftler weniger auf Theorien als vielmehr auf die Exploration der Fragestellungen. Diese beiden Möglichkeiten der grundsätzlichen forschungsstrategischen Orientierung werden im Folgenden detaillierter beschrieben. Breiman differenziert zwischen „stochastic data models“ und „algorithmic models“.40 „Stochastic data models“ sind dem traditionellen Forschungsansatz zuzuordnen, bei dem nach Cox zu Beginn einer Untersuchung die theoretisch motivierte Postulierung eines Beziehungsgefüges bzw. eines Erklärungsmodells des Untersuchungsgegenstands konzeptionalisiert werden sollte.41 Dieser theoretische Bezugsrahmen bzw. die daraus abgeleiteten Hypothesen werden daraufhin auf Basis von Primärdaten anhand inferenzstatistischer Maßzahlen auf Allgemeingültigkeit geprüft. Somit dienen die von der Beobachtungszahl her relativ kleinen und gezielt generierten Primärdatensätze der kriterienbasierten Modellevaluation. Insofern entspricht dieser Ansatz der von Popper vorgeschlagenen Forschungsprogrammatik des kritischen Rationalismus. Der kritische Rationalismus stellt einen deduktivempirischen Forschungsansatz dar und sieht theoretische Erkenntnisse als Ausgangspunkt jeder Untersuchung an.42 Resümierend entspricht der traditionelle Forschungsansatz aus der Sicht von Cox folglich dem höchsten wissenschaftlichen Methodenstandard.
40 41 42
Breiman (2001), S. 199. Vgl. Cox (2001), S. 216 Vgl. Popper (1934, 1963 und 1972). Eine ausführliche Diskussion wissenschaftstheoretischer Ansätze findet sich bei Fritz (1992) sowie Stock (2003), S. 10-20.
12
Einleitung
„Algorithmic models“ finden v.a. im Data Mining Anwendung, das im Mittelpunkt von Untersuchungen im Direktmarketing steht. Ausgangspunkt der Analysen ist die Verfügbarkeit eines z.T. sehr umfangreichen Datensatzes. Der Datensatz wird gegenüber den Primärdaten aus traditionellen Forschungsansätzen nicht für eine spezifische Fragestellung erhoben. Vielmehr resultieren die Daten aus den Aktivitäten im Rahmen von Geschäftsbeziehungen, wie sie z.B. für die Nutzung von Telekommunikationsdienstleistungen vorliegen. Mit dem Einsatz von Methoden des Data Mining wird die Zielsetzung verfolgt, ein existierendes Problem möglichst genau zu erklären.43 Infolgedessen stehen weniger die Theorie und das „Warum“ als vielmehr die Optimierung bestehender Taktiken im Fokus der Analysen. Zur Optimierung lassen sich vielfältige Verfahren aus Bereichen des Operations Research einsetzen.44 „Algorithmic models“ entsprechen in ihren Grundzügen dem Forschungsparadigma des logischen Empirismus.45 Dieser befürwortet eine induktive Herangehensweise an eine Untersuchung. Weiterhin stehen „algorithmic models“ dem wissenschaftlichen Realismus nahe, dessen zentrale Zielsetzung die möglichst exakte Beschreibung der Realität unter Berücksichtigung der induktiven Ableitung von Schlussfolgerungen ist. Für die forschungsstrategische Ausrichtung der vorliegenden Studie ist aus diesen Gründen festzulegen, ob der traditionelle, theoriebasierte („stochastic data models“) oder der algorithmusorientierte Ansatz verfolgt werden soll. Um eine Entscheidung treffen zu können, sollte geprüft werden, ob ein Data Mining-orientierter Ansatz („algorithmic models“) einen aus wissenschaftlicher Sicht substanziellen Beitrag zur akademischen Forschung leisten kann. Bei einem Data Mining-Ansatz ist der Zusammenhang der analysierten exogenen und endogenen Größen a priori nicht bekannt bzw. nicht zwangsläufig theoretisch fundiert. Nach Breiman kann aber auch ein Datensatz am Anfang statistischer Analysen stehen und das Ziel empirischer Studien in der Maximierung der Erklärungsgüte von Modellen liegen.46 Insofern trägt das Data Mining potenziell dazu bei, neue Erkenntnisse für die Forschung zu generieren und bestehende Fragestellungen zu beantworten. Aber auch die in der
43 44
45
46
Vgl. Smith/Willis/Brooks (2000), S. 533. Operations Research ist eine Forschungsdisziplin, in der fortgeschrittene analytische Methoden wie mathematische Modellierung eingesetzt werden, um komplexe Zusammenhänge besser abzubilden und bessere Entscheidungen zu treffen. Vgl. hierzu ausführlich Neumann/Morlock (2002). Zum logischen Empirismus vgl. Carnap (1936); Carnap (1937); Carnap (1953), S. 40. Zum wissenschaftlichen Realismus vgl. Hunt (1990), S. 9; McMullin (1984), S. 26; Lepin (1984), S. 1. Vgl. Breiman (2001), S. 205.
Einleitung
13
Forschung etablierten traditionellen, deduktiv-empirischen Ansätze haben eine Vielzahl nützlicher Theorien und Erkenntnisse hervorgebracht.47 Dennoch führt(e) die starre Orientierung an dem traditionellen Paradigma bei der Entwicklung von Bezugsrahmen zu z.T. elektiv bzw. willkürlich anmutenden theoretischen Fundierungen sowie entsprechenden Schlussfolgerungen. Ein Beispiel hierfür ist der sog. theoretische Pluralismus.48 Dementsprechend führen fragwürdig theoretisch abgeleitete Modelle zu Ergebnissen, die für die Realität nicht zutreffen bzw. die Realität nicht erklären können.49 Die entwickelten Modelle sind in diesem Fall, trotz der erfolgten theoretischen Fundierung, ggf. irrelevant. Demgegenüber wird gegen den Data Mining-Ansätzen der Vorwurf des „modernen Empirismus“ vorgebracht. Die Kritik richtet sich dabei auf die Eigenschaft von Data Mining-Ansätzen, Schlussfolgerungen allein auf der Basis von empirischen Ergebnissen abzuleiten. Gleichwohl kann diesen akademischen Arbeiten insofern nicht der wissenschaftliche Beitrag abgesprochen werden, als dass sie erstens für die Forschung relevante Fragestellungen beantworten und zweitens die Perspektive auf reale Probleme lenken. Im Vordergrund der empirischen Forschung sollte demzufolge die Problemlösung stehen und nicht die Frage, welche Theorie die Zusammenhänge am besten erklären kann. Daher empfiehlt es sich, dass sich Wissenschaftler nicht von vornherein auf den traditionellen Forschungsansatz festlegen. Dies wäre mit der Gefahr verbunden, sich bereits zu Beginn einer Untersuchung einzuschränken. Die Diskussion der beiden grundsätzlichen forschungsstrategischen Ansätze zeigt vielmehr, dass auch Data Mining-Ansätze einen wertvollen Beitrag für die Marketingforschung leisten können. In der vorliegenden Arbeit steht die Erklärung des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden im B2B-Kontext im Mittelpunkt. Ohne den folgenden Ausführungen und Erkenntnissen allzu sehr vorzugreifen, lassen sich die im Laufe der Arbeit identifizierten Determinanten des Churn-Verhaltens nicht gänzlich aus vorhandenen Theorien ableiten. Zudem handelt es sich bei der hier betrachteten Fragestellung um einen bislang kaum erforschten Untersuchungsgegenstand. Vor diesem Hintergrund wird in dieser Untersuchung ein Data Mining-Ansatz zur Bewältigung der oben aufgezeigten Herausforderungen der unternehmerischen Praxis herangezogen. Gleich47 48
49
Ein Beispiel hierfür ist die Transaktionskostentheorie von Williamson (1975). Im Rahmen des theoretischen Pluralismus werden zur theoretischen Fundierung von Zusammenhängen mehrere Theorien oder allein Teilaspekte von Theorien herangezogen. Vgl. Fritz (1984), S. 27. Vgl. Breiman (2001), S. 202.
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wohl leistet dieser Ansatz einen Beitrag zur Marketingforschung, indem zur Generierung theorierelevanter Erkenntnisse beigetragen wird. Zusammenfassend lässt sich die forschungstheoretische Orientierung der vorliegenden Studie wie folgt beschreiben: -
-
Die im Abschnitt 1.1 diskutierten Zielsetzungen werden prinzipiell konzeptionell, also primär nicht theoriebasiert, und im Anschluss empirisch untersucht. Auf Grund des explorativen Charakters der Untersuchung liegt deren Schwerpunkt auf der induktiven Ableitung von Schlussfolgerungen und Erkenntnisgewinnen. Zur Beantwortung der zentralen Fragestellungen dieser Arbeit kommen in der empirischen Untersuchung sowohl deskriptive als auch inferenzstatistische Methoden zur Anwendung. Dabei liegt ein besonderes Gewicht auf den inferenzstatistischen Methoden.
Insofern fokussiert diese Arbeit auf der explorativen Erforschung von Determinanten des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden bzw. der Erklärung des ChurnVerhaltens. Daneben werden mit der Untersuchung auch Aussagen über die Vorteilhaftigkeit unterschiedlicher quantitativer Methoden bei der Analyse des ChurnVerhaltens angestrebt.
1.3 Aufbau der Untersuchung Die vorliegende Arbeit ist in fünf Kapitel untergliedert. Nach diesem einleitenden Kapitel 1 folgen mit einem konzeptionell-methodischen sowie einem empirischen Teil zwei zentrale Untersuchungsblöcke. Der erste zentrale Teil umfasst die konzeptionellmethodische Annäherung an den Untersuchungsgegenstand der Arbeit, dem ChurnManagement im B2B-Kontext. Diesem Teil sind die Kapitel 2 und 3 zuzuordnen. Gegenstand von Kapitel 2 sind die konzeptionellen Grundlagen des Churn-Managements und des B2B-Marketing. Hierbei wird einerseits das Churn-Management in das Kundenmanagement eingeordnet und definiert. Andererseits erfolgen die definitorische Abgrenzung und Charakterisierung der Begriffe B2B-Marketing und Dienstleistungen. Gleichsam wird diskutiert, inwiefern sich die in der vorliegenden Arbeit betrachteten Dienstleistungen in das B2B-Marketing einordnen lassen. Im Anschluss daran werden das Churn-Management und das B2B-Marketing inhaltlich
Einleitung
15
zusammengeführt und die Besonderheiten Churn-Managements im B2B-Kontext aufgezeigt. Hierin ist die Grundlage für die im weiteren Verlauf des Kapitels 2 dargestellte Entwicklung eines konzeptionellen Bezugsrahmens des ChurnManagements im B2B-Kontext zu sehen. Mit der Darstellung des vollständigen Bezugsrahmens endet dieses Kapitel. Im anschließenden Kapitel 3 stehen methodische Ansätze zur Erklärung des Churn-Verhaltens im Mittelpunkt. Zu Beginn werden Anforderungen an einen Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens im aufgezeigten B2B-Kontext abgeleitet. Diese basieren auf den in Kapitel 2 erarbeiteten Erkenntnissen sowie auf zentralen Ansprüchen an inferenzstatistischen Verfahren. Darauf folgt die Darstellung von Verfahren, die klassisch im Rahmen des ChurnManagements Anwendung fanden bzw. finden. Hierbei wird insbesondere der Ansatz der Logistischen Regression diskutiert. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt allerdings auf neueren Ansätzen, die eine Abbildung von hierarchischen und heterogenen Kundenstrukturen ermöglichen. Auf Grund der generell vorhandenen Ähnlichkeit in der Modellierung werden die Logistische Regression als klassischer Ansatz sowie die Latent Class-Regression und die Multilevel Latent Class-Regression als neuere Analysemethoden im Churn-Management ausführlicher vorgestellt. Für jedes der ausgewählten Verfahren wird eine individuelle Beurteilung vor dem Hintergrund der zu Beginn des Kapitels abgeleiteten Anforderungen vorgenommen.50 Kapitel 3 schließt mit einer Evaluierung sowie einer vergleichenden Gegenüberstellung der vorgestellten Methoden. Im zweiten zentralen Teil der Arbeit steht die empirische Untersuchung im Vordergrund, die in Kapitel 4 beschrieben wird. Wie im Abschnitt 1.1.2 verdeutlicht, soll in der empirischen Anwendung einerseits eine Beurteilung der grundsätzlichen Eignung verschiedener Methoden zur Erklärung des Churn-Verhaltens erfolgen. Andererseits dient das Kapitel der empirischen Überprüfung des abgeleiteten konzeptionellen Bezugsrahmens des Churn-Managements im B2B-Kontext. Zur Realisierung dieser Ziele wird zunächst u.a. die grundsätzliche Vorgehensweise innerhalb der empirischen Studie aufgezeigt und die Datengrundlage vorgestellt. Den Erkenntnissen aus Kapitel 3 folgend werden die Entwicklung und die Ergebnisse der Verfahren Logistische Regression, Latent Class-Regression und Multilevel Latent Class-Regression vorgestellt. Anzumerken ist dabei, dass als Ausgangspunkt für die Entwicklung von Modellen bei den beiden letztgenannten Methoden auf die Ergebnisse der Logistischen Regression zurückgegriffen wird. Den Abschluss des Kapitels 4 bildet eine 50
Vgl. hierzu auch Kapitel 2.
16
Einleitung
vergleichende Gegenüberstellung und Bewertung der drei angewandten Methoden vor dem Hintergrund der im Abschnitt 3.1 abgeleiteten Anforderungen. In Kapitel 5 werden die zentralen Ergebnisse dieser Arbeit im Überblick dargestellt. Besondere Bedeutung kommt dabei der Diskussion von Implikationen zu, die sich für die Marketingforschung und -praxis ergeben. Letztlich werden potenzielle Entwicklungslinien für die zukünftige Forschung aufgezeigt. Einen Überblick über den Aufbau der Arbeit zeigt die folgende Abbildung 3.
Einleitung
17 1 Einleitung 1.1 Relevanz und Zielsetzung der Untersuchung
1.2 Forschungsstrategische Orientierung der Untersuchung
1.3 Aufbau der Untersuchung
Konzeptionell-methodischer Untersuchungsteil 2 Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
3 Methodische Grundlagen zur Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext
2.1 Churn-Management im Kontext des Kundenmanagements
3.1 Anforderungen an einen Ansatz zur Churn-Modellierung im B2B-Kontext
2.2 Dienstleistungsbezogene Kundenbeziehungen im B2B-Kontext
3.2 Klassische Ansätze zur Erklärung des Churn-Verhaltens
2.3 Besonderheiten des ChurnManagements im B2B-Kontext
3.3 Neuere Ansätze zur Erklärung des Churn-Verhaltens
2.4 Konzeptioneller Bezugsrahmen des Churn-Managements im B2B-Kontext
3.4 Evaluierung der Ansätze zur Erklärung des Churn-Verhaltens
2.5 Zusammenfassende Darstellung des konzeptionellen Bezugsrahmens
Empirischer Untersuchungsteil 4 Empirische Untersuchung des Churnverhaltens im B2B-Kontext 4.1 Vorgehensweise
4.2 Zielsetzungen
4.3 Datengrundlage
4.4 Modellschätzung und Ergebnisse
4.5 Zusammenfassende Gegenüberstellung der empirischen Ergebnisse
5 Schlussbetrachtung und Ausblick 5.1 Zusammenfassung 5.2 Implikationen für das MarketingManagement
5.3 Implikationen für die Marketingforschung
5.4 Limitationen und weiterer Forschungsbedarf
Abbildung 3: Aufbau der Arbeit Quelle: Eigene Darstellung.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
19
2 Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext Gegenstand des Kundenmanagements ist die Gestaltung der Beziehung zwischen Unternehmen und Kunden. Grundsätzlich ist dabei eine Unterscheidung zwischen Privat- und Geschäftskunden vorzunehmen.51 Hierfür spricht, dass sich das Verhalten dieser beiden Kundengruppen stark voneinander unterscheidet. Während bei Kaufentscheidungen von Geschäftskunden der Fokus überwiegend auf der ökonomischen Vorteilhaftigkeit liegt, stehen bei Privatkunden eher Aspekte wie Image oder Marke im Vordergrund. In der betriebswirtschaftlichen Forschung haben sich für die Unterscheidung zwischen der Bearbeitung von Privatkunden auf der einen und Geschäftskunden auf der anderen Seite die Bezeichnungen Business-to-Consumer (B2C) sowie Business-to-Business (B2B) etabliert.52 Die Unterscheidung zwischen B2C und B2B ist für die vorliegende Untersuchung von zentraler Bedeutung. Wenngleich die Besonderheiten und Charakteristika des B2B-Marketing im Abschnitt 2.2 detailliert beschrieben werden, ist die Unterscheidung zwischen B2C- und B2B-Marketing auch für die Einordnung des Churnbzw. Kundenmanagements relevant. Bevor die Grundlagen des Churn-Managements diskutiert werden (Abschnitt 2.1.2), wird das Churn-Management zunächst in den größeren Zusammenhang des Kundenmanagements eingeordnet (Abschnitt 2.1.1). Der Beschreibung des B2B-Marketing sowie der Besonderheiten von Dienstleistungen im B2B-Kontext (Abschnitt 2.2.1) folgt eine Diskussion der Relevanz von hierarchischen Kundenstrukturen und von heterogenem Kundenverhalten für die Untersuchung des Churn-Managements im Rahmen dieser Arbeit (Abschnitt 2.2.2). Für die Konzeption der vorliegenden Studie sind die Abschnitte 2.3 und 2.4 von besonderer Bedeutung. Im Abschnitt 2.3 werden die Besonderheiten des Churn-Managements im B2B-Kontext auf Basis der vorherigen Ausführungen herausgestellt. Vor diesem Hintergrund erfolgt im Abschnitt 2.4 auf Basis einer umfassenden Bestandsaufnahme der Literatur zum Churn-Management die Entwicklung eines konzeptionellen Bezugsrahmens zur Identifikation gefährdeter Kundenbeziehungen im B2B-Kontext. Das Kapitel 2
51 52
Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 2-7. Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 4 f.
20
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
schließt mit der Darstellung des vollständigen konzeptionellen Bezugsrahmens (Abschnitt 2.5)
2.1 Churn-Management im Kontext des Kundenmanagements In Abschnitt 1.1 wurde bereits auf die enge inhaltliche Beziehung zwischen dem Churn-Management und dem Kundenmanagement hingewiesen. Diese Beziehung soll im Folgenden detaillierter diskutiert werden (Abschnitt 2.1.1). Daraufhin wird das Churn-Management definitorisch abgegrenzt (Abschnitt 2.1.2). Diese Ausführungen dienen dem ganzheitlichen Verständnis des Untersuchungsgegenstands ChurnManagement. 2.1.1 Einordnung des Churn-Managements in das Kundenmanagement-Konzept Innerhalb der Marketingforschung zum Kundenmanagement wird dem ChurnManagement zunehmende Bedeutung beigemessen. Die steigende Bedeutung zeigt sich u.a. in aktuellen Forschungsprojekten bzw. Publikationen, die das ChurnManagement im B2C-Kontext zum Gegenstand haben.53 Das Churn-Management ist aus konzeptioneller Sicht eine Komponente des Kundenmanagements.54 Das Kundenmanagement umfasst dabei erstens die Orientierung sämtlicher unternehmerischen Aktivitäten und Prozesse an den Bedürfnissen der Kunden.55 Zweitens ist die Fokussierung auf die Profitabilität der individuellen Kundenbeziehungen und eine damit verbundene Entscheidung in Hinblick auf die Ressourcenallokation auf einzelne Kunden ein zentraler Aspekt.56 Diese Charakteristika deuten auf die zunehmende Wertorientierung innerhalb des Kundenmanagements hin. In diesem Zusammenhang wird unter Wertorientierung die konsequente strategische Ausrichtung auf wertvolle Kundenbeziehungen verstanden.57 Die Entwicklung des Kundenmanagements als eigenständige Disziplin innerhalb der 53 54 55 56 57
Vgl. Athanassopoulos/Iliakopoulos (2003); Hüppelshäuser (2005); Lemmens/Croux (2006); Neslin et al. (2006); Rüger (2003). Vgl. Knauer (2003), S. 681; Krafft (2007), S. 70-73; Michalski (2006), S. 583 f.; Stauss (2006), S. 434-436. Vgl. Krafft/Götz (2003), S. 340; Reinartz/Krafft/Hoyer (2004), S. 293 f. Vgl. Gupta/Lehmann/Stuart (2004); Jain/Singh (2002); Mulhern (1999); Reinartz/Kumar (2003); Reinartz/Thomas/Kumar (2005); Rust/Lemon/Zeithaml (2004). Zur Bestimmung des Werts einer Kundenbeziehung stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung, die nach der Anzahl der Bewertungskriterien sowie dem Beobachtungszeitraum differenziert werden können. Vgl. hierzu ausführlich Krafft/Albers (2000); Mulhern (1999), S. 27-31.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
21
Marketingwissenschaft liegt in der Kritik an dem vorherrschenden kurzfristigen und transaktionsbezogenen Marketingverständnis begründet.58 Von diesem traditionellen Marketingverständnis unterscheidet sich das Kundenmanagement, indem Letzteres die langfristige und individuelle Gestaltung der Beziehungen zu den Kunden betont. Gleichzeitig konnte eine sinkende Effektivität und Effizienz des traditionellen Marketing beobachtet werden.59 Dies führt(e) zur Entwicklung des Kundenmanagements innerhalb des Marketing.60 Das Kundenmanagement stellt den Kunden und dessen Bedürfnisse in den Mittelpunkt des unternehmerischen Handelns und ist durch fünf zentrale Charakteristika gekennzeichnet:61 -
Identifikation einzelner Kunden bedürfnis- und kundenwertorientierte Segmentierung von Kunden kundenindividueller Dialog und Interaktion persönlicher Kontakt oder automatisierte Prozesse zur Gewährung einer kundenindividuellen Kommunikation Grundgedanke der lernenden Beziehung
Diese Besonderheiten gelten sowohl für das Kundenmanagement im B2C- als auch im B2B-Kontext.62 Im Vordergrund des Kundenmanagements steht zunächst die Identifikation einzelner Kunden. Diese Identifikation stellt die Grundlage für die Segmentierung von Kunden in Hinblick auf deren Bedürfnisse sowie deren Wert für das Unternehmen dar.63 Hierdurch können Unternehmen einerseits den Markterfolg ihrer Produkte und Dienstleistungen erhöhen und andererseits die häufig beschränkten monetären und personellen Ressourcen auf die profitabelsten Kunden alloziieren.64 Diese Fokussierung auf die ökonomisch wertvollen Kunden erlaubt es den Unternehmen, einen kundenindividuellen Dialog bzw. eine Interaktion zwischen ihnen und den Kunden zu initiieren.65 Dies begünstigt ein gesteigertes Vertrauen der Kunden in die Unternehmensleistungen und ist gleichsam die Basis zur Identifikation der spezifischen Kundenbedürfnisse. Insofern rückt der persönliche Dialog in den Vordergrund 58 59 60 61 62 63 64 65
Vgl. hier und im Folgenden Grönroos (1994); Harrison-Walker/Neely (2004), S. 19. Vgl. Terlutter/Kricsfalussy (2004), S. 547. Zu den Begriffen Effektivität und Effizienz vgl. ausführlich Rollberg (1996). Vgl. Bruhn (2001), S. 2-10. Vgl. hier und im Folgenden Gummesson (2002) sowie zur Fokussierung auf den Kunden Shah et al. (2006). Vgl. hierzu ausführlich Abschnitt 2.2. Vgl. Kamakura/Mazzon (1991), S. 214-216. Vgl. Kumar/Lemon/Parasuraman (2006), S. 87 f.; Reinartz/Thomas/Kumar (2005), S. 77 f. Vgl. Jain/Singh (2002), S. 43-45.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
der Beziehung zwischen Unternehmen und Kunden.66 Diese Beziehung wird weiterhin durch automatisierte Prozesse zur Ermöglichung einer kundenindividuellen Kommunikation unterstützt. In diesem Zusammenhang wird auch von „1-to-1 Marketing“ gesprochen.67 Die Entwicklung zum individuellen Dialog mit den Kunden ist insbesondere bei Unternehmen erkennbar, die sich im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit auf Endkunden fokussieren. Im B2B-Bereich ist die individuelle Betreuung sogar schon als originärer Bestandteil anzusehen.68 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das Kundenmanagement auf dem Grundgedanken der lernenden Beziehung beruht. Auf Basis der individuellen Interaktionen können sich beide Partner aufeinander einstellen und auch voneinander lernen. Dem Beziehungsgedanken liegt dabei ein dynamischer Ablauf zu Grunde, der sich auf die Entstehung, die Aufrechterhaltung und Entwicklung von Kundenbeziehungen richtet.69 Der Beziehungsprozess durchläuft die Phasen der Kundenakquisition, Kundenbindung und Kundenrückgewinnung, die unter dem Begriff des Kundenlebenszyklus zusammengefasst werden.70 Jede der drei Phasen ist mit Eigenheiten verbunden und erfordert die Bewältigung spezifischer Aufgaben. Daher wird im Marketing auch von Kundenakquisitions-, Kundenbindungs- und Kundenrückgewinnungsmanagement gesprochen.71 Im Kundenakquisitionsmanagement steht die Identifikation potenzieller Kunden sowie die Anbahnung neuer Geschäftsbeziehungen im Mittelpunkt der Aktivitäten. Primäres Ziel ist es, bei potenziellen Kunden Aufmerksamkeit und Interesse an den Produkten und Dienstleistungen des Unternehmens zu generieren sowie den Erstkauf zu initiieren.72 Hierauf folgt die Phase der Kundenbindung.73 In dieser Phase gewöhnen sich die Geschäftspartner aneinander und intensivieren ihre Beziehung. Innerhalb des Kundenbindungsmanagements konzentrieren sich die Unternehmen 66 67 68 69 70 71 72 73
Vgl. Hesse/Krafft/Peters (2006); Krummenerl (2005). Vgl. Jackson (2005); Kotler (1997); Peppers/Rogers (1997); Simons (2005). Zu den Charakteristika und Besonderheiten des B2B-Marketing vgl. Abschnitt 2.2. Vgl. Berry (1995), S. 236-245. Vgl. Büttgen (2003), S. 61; Reinartz/Krafft/Hoyer (2004), S. 295. Vgl. Rutsatz (2004), S. 23. Vgl. Stauss (2006), S. 433. Der Begriff Kundenbindung ist von dem Begriff Kundenloyalität zu differenzieren. Kundenbindung bezieht sich auf die Strategie von Unternehmen, Kunden an sich zu binden. Demgegenüber ist Kundenloyalität ein psychologischer Zustand des Kunden in Hinblick auf das Unternehmen oder dessen Leistungen. Vgl. Caruana (2004), S. 256; Krafft (2007), S 29-43. Für die vorliegende Arbeit ist diese Unterscheidung allerdings nicht von Relevanz. Daher werden diese beiden Begriffe im Folgenden synonym verwendet.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
23
insbesondere auf die wertvollen Kunden. Im Fokus steht die Bindung der wertvollen Kunden durch gezielte Aktivitäten, bspw. im Rahmen von Kundenbindungsprogrammen. Weiterhin wird versucht, die wirtschaftlichen Potenziale der Kunden auszuschöpfen und diese gleichzeitig zu motivieren, die Produkte und Dienstleistungen bisherigen Nicht-Kunden weiterzuempfehlen.74 In der letzten Phase, der Kundenrückgewinnung, liegt der Schwerpunkt auf dem systematischen Management von beendeten Kundenbeziehungen.75 Überwiegend wird eine Geschäftsbeziehung durch den Kunden beendet. Unter Berücksichtigung von verschiedenen Kriterien wie z.B. Profitabilitätsaspekten wird im Rahmen des Kundenrückgewinnungsmanagements versucht, die Kundenbeziehung wieder zu aktivieren und den verlorenen Kunden zurückzugewinnen.76 Seltener wird eine Geschäftsbeziehung durch das Unternehmen beendet. Gründe für die Beendigung einer Geschäftsbeziehung durch ein Unternehmen sind bspw. mangelnde Profitabilität oder opportunistisches Kundenverhalten.77 Die mit der unternehmensseitigen Beendigung verbundenen Aktivitäten werden unter dem Begriff Exit-Management subsumiert.78 In der Kundenmanagement-Forschung lassen sich verschiedene Strömungen erkennen: Einige Forscher konzentrieren sich auf die Untersuchung der Grundlagen einer erfolgreichen Kundengewinnung.79 Andere Wissenschaftler fokussieren dagegen auf die Voraussetzungen und Möglichkeiten eines erfolgreichen Kundenrückgewinnungsmanagements.80 Der Schwerpunkt der akademischen Beiträge liegt indessen eindeutig auf der Erforschung des Kundenbindungsmanagements.81 Einige Marketingforscher untersuchen auch die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Kundenmanagementphasen.82
74 75 76 77 78 79 80 81
82
Vgl. hierzu ausführlich Nießing (2007). Vgl. Bruhn (2001), S. 119. Vgl. Bruhn (2001), S. 119. Opportunistisches Verhalten bezeichnet hier das Verfolgen der eigenen Interessen unter Ausnutzung der Abhängigkeit des Anbieters. Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 197. Vgl. Reinartz/Krafft/Hoyer (2004), S. 295. Vgl. Rutsatz et al. (2007). Vgl. Bruhn/Michalski (2003); Homburg/Schäfer (1999); Rutsatz (2004), Thomas/Blattberg/Fox (2004). Vgl. Hulbert/Pitt/Ewing (2003); Lewis (2004); Reinartz/Krafft/Hoyer (2004). Detaillierte Übersichten zur Literatur zum Kundenbindungsmanagement finden sich bspw. bei Krafft (2007) und Nacif (2003). Vgl. Reinartz/Krafft/Hoyer (2004); Reinartz/Thomas/Kumar (2005); Thomas (2001); Vankatesan/Kumar (2004).
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Anbahnun Anbahnung g
Sozialisatio Sozialisation n
Gefährdungsphas e
Phase Phasen n
Beziehungsintensit Beziehungsintensität ät
Vor diesem Hintergrund lässt sich zunächst resümieren, dass in allen drei Phasen die wertorientierte Ausrichtung der einzelnen Kundenbeziehungen im Vordergrund steht und die Beziehungsintensität im Kundenlebenszyklus Schwankungen unterliegen kann. Zudem zeigt sich, dass die einzelnen Phasen weiter unterteilt werden können. Die folgende Abbildung 4 skizziert idealtypisch die konzeptionelle Beziehung zwischen den Phasen des Kundenmanagements und der Beziehungsintensität.
Wachstum
Reife
Kündigung
Abstinenz
Revitalisierun sierung g Zeit Zeit
AkquisitionsAkquisitions manageme management
Kundenbindung
-
s Kundenbindungsmanagement manageme
nt
nt
Churn
Rückgewinnung Kundenrück- s
gewinnungsmanagement
Abbildung 4: Phasen des Kundenmanagements Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Rutsatz (2004), S. 23; Stauss (2000), S. 16.
Für die vorliegende Arbeit ist insbesondere von Bedeutung, dass die Geschäftsbeziehung insbesondere in der Kundenbindungsphase wiederholt gefährdet sein kann. Während des gesamten Kundenlebenszyklus lassen sich demnach Phasen identifizieren, in denen sich die Beziehungen zwischen Anbieter und Kunden, bspw. durch mangelhafte Leistungserstellung, negativ entwickeln oder stagnieren. In diesen Phasen sind die Geschäftsbeziehungen gefährdet und es kann zu einer sinkenden Nachfrage und in letzter Konsequenz zur Abwanderung der Kunden kommen.83 Die Gefährdungsphasen bilden den Ansatzpunkt der vorliegenden Arbeit. Das ChurnManagement zielt insbesondere darauf ab, diese Gefährdungsphasen zu identifizieren und geeignete Maßnahmen gegen eine potenzielle Abwanderung zu planen. Im
83
Vgl. Stauss (2000), S. 454.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
25
Folgenden werden vor diesem Hintergrund die zentralen Charakteristika des ChurnManagements diskutiert.
2.1.2 Definition, Ziele und Prozess des Churn-Managements Aus den obigen Ausführungen lassen sich bereits erste Hinweise auf die zentralen Charakteristika des Churn-Managements ableiten. Auf dieser Basis wird im Folgenden das Churn-Management zunächst definiert und von verwandten Begriffen abgegrenzt (Abschnitt 2.1.2.1). Anschließend stehen die Ziele und der Prozess des ChurnManagements im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen (Abschnitt 2.1.2.2).
2.1.2.1 Definitorische Grundlagen Gegenstand des Churn-Managements sind erstens die Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden sowie zweitens die Prävention der Abwanderung von profitablen Kunden im Rahmen des Kundenmanagements.84 Werden diese beiden Aspekte miteinander verknüpft, steht die Minimierung der Kundenabwanderung im Mittelpunkt des Churn-Managements. Die vorliegende Untersuchung fokussiert dabei auf vertragliche Kundenbeziehungen.85 Als abwanderungsgefährdet gelten Kunden, die auf Grund von bestimmten Ereignissen, wie z.B. mangelhafte Leistungserstellung, die Absicht haben, eine Beziehung zu beenden.86 Dementsprechend sind der Entscheidungsprozess sowie damit zusammenhängende Verhaltensweisen der Kunden, zu beachten.87 Die Herausforderung besteht darin, die Abwanderungsgefahr einzelner Kunden zu identifizieren. Hierzu wird insbesondere in Branchen, in denen die Nutzung von Dienstleistungen detailliert und kundenindividuell erfasst werden kann,
84
85
86 87
Vgl. Mozer et al. (2000); Qian/Jiang/Tsui (2006), S. 2913; Rüger (2003), S. 23. In der englischsprachigen Marketingforschung finden sich neben dem Begriff Churn-Management die Bezeichnungen Customer Defection und Customer Attrition. Vgl. bspw. Gessner/Volonino (2005); Neslin et al. (2006); Romaniuk/Sharp (2003); van den Poel/Larivière (2004). Auf Grund des präventiven Charakters des Churn-Managements wird dieses in der deutschsprachigen Forschung von einigen Autoren auch als Kündigungspräventionsmanagement bezeichnet. Vgl. Michalski (2006), S. 585; Stauss (2000), S. 451. Grundsätzlich lassen sich vertragliche von nicht-vertraglichen Kundenbeziehungen unterscheiden. Bei einer vertraglichen Kundenbeziehung bindet sich ein Geschäftskunde a priori über einen reglementierten Zeitraum an einen Dienstleistungsanbieter. Im Falle von vertraglichen Kundenbeziehungen lässt sich dabei das Churn-Verhalten relativ eindeutig bestimmen. Vgl. Elsner/Krafft/Huchzermeier (2004); Fader/Hardie (2007), S. 77; Homburg/Sieben/Stock (2004), S. 33; Reinartz/Thomas/Kumar (2005). Vgl. Bruhn/Michalski (2001), S. 112; Bruhn/Michalski (2005), S. 253-260. Vgl. Michalski (2002), S. 8; Smith/Willis/Brooks (2000), S. 34.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
auf Transaktions- und Nutzungsdaten der Kunden zurückgegriffen.88 Mit Hilfe von statistischen Analysemethoden versuchen Unternehmen bestimmte Muster in Transaktions- und Nutzungsdaten zu entdecken, die auf den Grad der individuellen Abwanderungsgefahr schließen lassen.89 Dieses Vorgehen basiert auf der Annahme, dass Kunden ihr Verhalten vor einer endgültigen Abwanderung ändern.90 Die Quote aus der Anzahl der beendeten Kundenbeziehungen und der Gesamtzahl aller Kundenbeziehungen am Ende einer Betrachtungsperiode wird als „churn rate“ bzw. synonym als Migrationsquote bezeichnet.91 Neben der Identifikation ist die Prävention der Kundenabwanderung das zweite zentrale Charakteristikum des Churn-Managements. Die gezielte Analyse des Nutzungs- und Transaktionsverhaltens der Kunden ermöglicht auch die Identifikation von Kundenpräferenzen hinsichtlich der Leistungserstellung sowie die Signalisierung von Änderungen im Kundenverhalten.92 Im Falle der abwanderungsgefährdeten Kunden lassen sich auf dieser Basis kunden- oder segmentspezifische Angebote bzw. Aktivitäten zur Churn-Prävention ableiten.93 Die Individualität der Angebote und die damit einhergehende Orientierung an den Kundenbedürfnissen führen zu einer höheren Wahrscheinlichkeit der Angebotsannahme. Hierdurch wird der Erfolg der Angebote im Speziellen bzw. der Churn-Prävention im Allgemeinen vergrößert. In Hinblick auf die Churn-Prävention ist zu berücksichtigen, dass der ökonomische Wert des einzelnen Kunden bzw. der einzelnen Kundenbeziehung bei der Budgetallokationsentscheidung Eingang finden sollte. Hieraus folgt, dass das für die ChurnPrävention vorgesehene Marketingbudget zunächst auf jene gefährdete Kunden zu alloziieren ist, die aus Sicht der Unternehmen (zukünftig) am wertvollsten sind.94
88 89
90 91 92 93
94
Vgl. Alvarez/Raeside/Jones (2006), S. 222 f.; Hüppelshäuser/Krafft/Rüger (2006), S. 197 f.; Kim/Song/Kim (2005), S. 265; Wilson (2006), S. 38. Vgl. Barth/Kaletsch (2001), S. 133; Neslin et al. (2006). Eine ausführliche Diskussion der Aufgaben des Churn-Managements erfolgt im folgenden Abschnitt. Zu den statistischen Methoden zur Bestimmung der Abwanderungsgefahr vgl. Kapitel 3. Vgl. Kim/Song/Kim (2005), S. 265. Vgl. Krafft (2007), S. 70. Vgl. Crié/Micheaux (2006), S. 297 f.; Gessner/Volonino (2005), S. 66. Die Begriffe Aktivitäten und Angebote werden im Folgenden synonym verwendet. Beide Begriffe beziehen sich auf sämtliche Maßnahmen, die ein Unternehmen durchführt, um die Abwanderung von Kunden zu verhindern. Vgl. Michalski (2006), S. 585. Das Marketing-Budget von Unternehmen ist grundsätzlich begrenzt. Zur Allokation dieses begrenzten Budgets auf Kunden bzw. einzelne Marketingmaßnahmen im Allgemeinen und Kundenbindungsmaßnahmen im Speziellen existieren zahlreiche Ansätze. Ein ausführlicher Überblick zum State-of-the-Art in der Budgetallokation findet sich in Krafft/Peters (2005) und Peters/Krafft (2005).
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
27
Im Rahmen der definitorischen Abgrenzung des Churn-Managements sind weiterhin die Begriffe „voluntary churn“ und „involuntary churn“ zu unterschieden.95 Während „voluntary churn“ auf die aktive Beendigung durch den Kunden abstellt, bezeichnet „involuntary churn“ die Beendigung der Beziehung durch das anbietende Unternehmen i.S. des Exit-Managements.96 Die vorliegende Arbeit beschränkt sich in diesem Zusammenhang auf die Diskussion des „voluntary churn“, also des kundeninduzierten Churn-Verhaltens. Neben dieser begrifflichen Unterscheidung ist das Churn-Management zudem inhaltlich vom Kundenrückgewinnungsmanagement zu differenzieren. Das Kundenrückgewinnungsmanagement umfasst die Reinitiierung von Beziehungen zu ehemaligen Kunden sowie sämtliche damit verbundenen Maßnahmen.97 In der Fokussierung auf bereits beendete Kundenbeziehungen unterscheidet sich das Kundenrückgewinnungsmanagement deutlich von dem hier zu Grunde liegenden Verständnis des Churn-Managements. Gemein ist beiden Management-Ansätzen, dass sie die Fortführung der Kundenbeziehungen anstreben. In der vorliegenden Arbeit steht indessen die Betrachtung noch existierender Kundenbeziehungen in Hinblick auf die Abwanderungsgefahr einzelner Kunden im Vordergrund. Wenngleich inhaltliche Überschneidungen mit dem Kundenrückgewinnungsmanagement festzustellen sind, wird der aus Abbildung 5 ersichtlichen idealtypischen Einordnung des Churn-Managements als Teil des Kundenbindungsmanagements gefolgt. Zwei weitere Aspekte sind bei der definitorischen Spezifizierung des Begriffs Churn-Management im Rahmen dieser Untersuchung von Bedeutung. Zunächst muss im Rahmen des Churn-Managements bei der Analyse der Kundendaten die Heterogenität der Kundenbedürfnisse bzw. des Kundenverhaltens berücksichtigt werden. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der grundsätzlichen Verschiedenartigkeit des Leistungsspektrums, aber auch der kundenspezifischen Bedürfnisse.98 Weiterhin sind speziell im B2B-Kontext, der ein wesentliches Merkmal des hier betrachteten Untersuchungszusammenhangs darstellt, hierarchische Kundenstrukturen bei der Analyse des Churn-Verhaltens zu berücksichtigen. Dabei können eine Entscheidungs- und eine 95 96 97
98
Vgl. Geppert (2002), S. 1. In der Literatur zum Kundenmanagement findet sich für „involuntary churn“ auch der Begriff Exit-Management. Vgl. Reinartz/Krafft/Hoyer (2004), S. 295. Vgl. Homburg/Schäfer (1999), S. 2; Sauerbrey/Henning (2000), S. 4. In einem weiter gefassten Begriffsverständnis beinhaltet das Kundenrückgewinnungsmanagement auch die Ansprache abwanderungsgefährdeter Kunden. Vgl. Bruhn (2001), S. 119; Büttgen (2001), S. 397. Vgl. Frenzen/Krafft/Peters (2007), S. 381-404. Die Bedeutung der Heterogenität für das ChurnManagement wird ausführlich in Abschnitt 3.1 untersucht.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Wachstum
Reife
Gefährdungsphas Gefährdungsphase e
Sozialisation Sozialisation
Gefährdungsphas Gefährdungsphase e
Anbahnung
Gefährdungsphas Gefährdungsphase e
Phase Phasen n
Beziehungsintensitä Beziehungsintensität t
Nutzungsebene unterschieden werden, die für die Beendigung von Geschäftsbeziehungen von Relevanz sein können.99
Kündigung
Abstinenz
Revitalisierung sierung Zeit Zeit
AkquisitionsAkquisitions managemen management t
Kundenbindungs -
Kundenbindungsmanagement managemen t
Churn ChurnManagement
Kundenrück- Rückgewinnungs gewinnungsmanagement
Abbildung 5: Churn-Management im Kundenlebenszyklus Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Rutsatz (2004), S. 23; Stauss (2000), S. 16.
Vor diesem Hintergrund wird das Churn-Management für die vorliegende Arbeit wie folgt definiert: Churn-Management ist der Prozess der frühzeitigen Identifizierung und präventiven Ansprache abwanderungsgefährdeter Kunden unter Berücksichtigung von heterogenem Nutzer- und Geschäftskundenverhalten sowie hierarchischen Kundenstrukturen.
2.1.2.2 Ziele und Prozess des Churn-Managements Aus der dieser Arbeit zu Grunde gelegten Definition des Churn-Managements lassen sich zwei elementare Ziele ableiten. Erstens sollen abwanderungsgefährdete Kunden identifiziert werden, bevor sich das Abwanderungsverhalten bspw. in Form einer
99
Die hierarchische Kundenstruktur und die daraus resultierenden Konsequenzen für das ChurnManagement werden ausführlich in den Abschnitten 2.2, 3.1 sowie 3.3 diskutiert.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
29
Vertragskündigung manifestiert. Zweitens ist nach der Identifizierung abwanderungsgefährdeter, ökonomisch attraktiver Kunden der potenziellen Beendigung der Kundenbeziehung durch entsprechende Maßnahmen zu begegnen. Diesen übergeordneten Zielen sind im Zielsystem des Churn-Managements weitere Ziele zuzuordnen, die nachfolgend kurz erläutert werden: -
Identifikation zentraler Einfluss- bzw. Erklärungsfaktoren auf das ChurnVerhalten Optimierung der Dienstleistungen bzw. Produkte Reduktion der Kosten des Kundenmanagements (Akquisitions- und Transaktionskosten) Sicherung des Ertragspotenzials der Kunden Entgegenwirken negativem Word-of-Mouth-Verhaltens
Die Identifikation zentraler Einfluss- bzw. Erklärungsfaktoren steht in direkter Beziehung zu den eingesetzten quantitativen Methoden, mit denen das Nutzungs- und Transaktionsverhalten von Kunden analysiert wird.100 Auf Basis dieser Verfahren können Muster im Verhalten der Kunden identifiziert werden, die eine Abwanderungsgefahr oder loyales Verhalten als wahrscheinlich erscheinen lassen. Aus diesen Mustern bzw. Profilen lassen sich sodann die wesentlichen Treiber des ChurnVerhaltens erkennen. Erst durch diese Identifikation zentraler Einflussfaktoren ist eine gezielte Prävention durch individuelle Angebote möglich.101 Mit der Identifikation von Variablen, die das Churn-Verhalten erklären, ist das Ziel der Optimierung von Dienstleistungen und Produkten verbunden. Durch die intensive Analyse der Beziehungsgefährdungsgründe können grundlegende Unzulänglichkeiten im Erstellungsprozess der Dienstleistungen bzw. Produkte entdeckt und behoben werden. Auf diese Weise ermöglicht das Churn-Management die Reduktion der Fehlerkosten sowie eine stärkere Orientierung an den Kundenbedürfnissen, und leistet insofern einen Beitrag für den Unternehmenserfolg.102
100 101 102
Vgl. Kapitel 3. Vgl. Wathne/Biong/Heide (2001), S. 55. Vgl. Joho (1995), S. 100 f.; Platzek (1999), S. 26; Sauerbrey/Henning (2000), S. 7 f.; Stauss/ Friege (1999), S. 348.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Neben der potenziellen Reduktion von Fehlerkosten ergeben sich weitere Potenziale, die Kosten des Kundenmanagements zu reduzieren. Zunächst können durch das Churn-Management zusätzliche Akquisitionskosten, die beim Ersetzen von abgewanderten Kunden anfallen, vermieden bzw. verringert werden.103 Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass bei den durch das Churn-Management erfolgreich gebundenen Kunden die Kosten der individuellen Leistungserstellung geringer ausfallen.104 Auf Grund der bereits vorhandenen gegenseitigen Erfahrungen und den höheren Informationsstand sind zudem die Transaktionskosten bei weiteren Geschäftsabschlüssen potenziell niedriger als im Falle neu akquirierter Kunden.105 Gleichsam sichert ein erfolgreiches Churn-Management dem Unternehmen mittelfristig das Ertragspotenzial von abwanderungsgefährdeten wertvollen Kunden.106 So liegt die Wahrscheinlichkeit eines Wiederholungskaufs bzw. des Erwerbs zusätzlicher Unternehmensleistungen durch Stammkunden bei 60 bis 70%.107 Die Preiselastizität gebundener Kunden ist zudem geringer.108 Mit dem Churn-Management ist insofern ein großes Potenzial zur Umsatzsteigerung sowie zur Steigerung der Profitabilität des Kundenmanagements verbunden.109 Das Churn-Management genügt diesen Ansprüchen indessen nur, wenn die durch die Verhinderung der Abwanderung gesicherten Erlöse die Kosten für die dafür nötigen Präventionsmaßnahmen übersteigen. Das erfolgreiche Binden von Kunden wirkt sich zudem auch potenziell positiv auf das Word-of-Mouth-Verhalten aus.110 Vor dem Hintergrund des zuvor beschriebenen Zielsystems des ChurnManagements wird im Folgenden der Prozess des Churn-Managements erläutert.111 103
104 105 106 107 108 109 110
111
Empirische Studien zu den mit der Akquisition bzw. der Abwanderungsprävention verbundenen Kosten zeigen, dass sich die Kosten der Abwanderungsprävention lediglich auf ein Fünftel der Kosten für die Neukundenakquisition belaufen können. Vgl. Mittal/Lassar (1998), S. 177. Vgl. Kim/Song/Kim (2005), S. 265. Vgl. Ganesh/Arnold/Reynolds (2000), S. 65; Hulbert/Pitt/Ewing (2003), S. 43; Keaveney (1995), S. 71; van den Poel/Larivière (2004), S. 197; Zeithaml/Berry/Parasuraman (1996), S. 32. Vgl. Büttgen (2003), S. 62; Stauss/Friege (2006), S. 516 f.; Thomas/Blattberg/Fox (2004), S. 31. Vgl. Griffin/Lowenstein (2001). Vgl. Joo/Jun/Kim (2002), S. 351. Vgl. Smith/Willis/Brooks (2000), S. 532. Das Word-of-Mouth-Verhalten bezieht sich auf die positive bzw. negative Empfehlung von Produkten und Dienstleistungen durch Kunden an andere (potenzielle) Kunden. Vgl. Caruana (2004), S. 256; Keaveney (1995), S. 79 sowie ausführlich Nießing (2007). Vgl. Rüger (2003); Smith/Willis/Brooks (2000). In Erweiterung zu Rüger (2003) wird die Analyse von Einflussfaktoren auf das Churn-Verhalten an den Anfang des Prozesses gestellt. Hierfür spricht, dass erst das Wissen um die Einflussfaktoren dem Unternehmen gestattet, abwanderungsgefährdete Kunden zu identifizieren. Vgl. auch Bruhn/Michalski (2005), S. 253.
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Aus der Abbildung 6 ist ersichtlich, dass sich dieser Prozess aus fünf zentralen Schritten zusammensetzt.
Abbildung 6: Prozessschritte des Churn-Managements Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Rüger (2003); Smith/Willis/Brooks (2000).
Der Prozess des Churn-Managements beginnt mit der Identifikation der zentralen Prädiktoren auf das Churn-Verhalten von Kunden. Auf dieser Stufe steht die Analyse potenzieller Gründe bzw. Variablen im Vordergrund, die einen drohenden Kundenverlust indizieren können.112 Die Zahl dieser potenziellen Prädiktoren ist groß. Einzelne Prädiktoren lassen sich einerseits auf Basis der bereits erwähnten und im Kapitel 3 ausführlich diskutierten Methoden zur Analyse des Nutzungs- und Transaktionsverhaltens identifizieren. Andererseits können mögliche Prädiktoren auch im Rahmen von Kundenbefragungen erhoben werden. Auch Studien oder Publikationen anderer Unternehmen oder Branchen können helfen, Prädiktoren abzuleiten.113 Die Zusammenführung dieser Möglichkeiten der Identifikation von Churnbeeinflussenden Variablen erfolgt im Zusammenhang mit der Entwicklung eines
112 113
Vgl. Michalski (2006), S. 583 f. Vgl. Rüger (2003), S. 33.
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konzeptionellen Bezugsrahmens des Churn-Managements im B2B-Kontext (Abschnitt 2.4). Im Anschluss an die Prädiktorenanalyse erfolgt in einem zweiten Prozessschritt die Analyse von Kundendaten in Hinblick auf die im ersten Schritt identifizierten Prädiktoren. Mit Hilfe geeigneter quantitativer Analysemethoden können potenzielle Abwanderer identifiziert und von loyalen Kunden unterschieden werden.114 Als dritte Prozessstufe schließt sich die Profilierung bzw. die Segmentierung der Kunden mit einer (in)stabilen Beziehung zu Unternehmen an. Die Profilierung kann dabei einerseits auf Basis der im ersten Schritt identifizierten Prädiktoren erfolgen oder andererseits anhand von Variablen, die zur Beschreibung der abwanderungsgefährdeten Kunden hilfreich sein können, aber gleichzeitig keinen direkten Einfluss auf das Churn-Verhalten aufweisen müssen.115 Während traditioneller Weise die Identifikation und Profilierung in zwei separaten Schritten erfolgen, finden sich neuere Ansätze, welche die abwanderungsgefährdeten Kunden identifizieren sowie simultan profilieren und segmentieren. Hierdurch wird der Gefahr begegnet, dass für die Profilierung relevante Variablen im ersten Schritt aus der weiteren Analyse ausgeschlossen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Latent Class-Regression, die im Kapitel 3 ausführlich vorgestellt wird. Grundsätzlich sollten bei der Segmentierung der Kunden auch Profitabilitätsaspekte Berücksichtigung finden, da Maßnahmen zur Festigung der Kundenbeziehung mit einem erheblichen Kostenaufwand verbunden sind und erst nach einer Kosten-Nutzen-Analyse erfolgen sollten.116 Mit der Segmentierung von Churn-gefährdeten Kunden ist das erste globale Ziel des Churn-Managements realisiert worden. Daraufhin rückt die Prävention der Abwanderung durch geeignete Maßnahmen als zweites elementares Ziel in den Fokus des Churn-Managements. Auf Basis der abgeleiteten Profile gilt es, für potenzielle Abwanderer entsprechende spezifische Aktivitäten und Angebote zur Stabilisierung der Kundenbeziehung zu entwickeln. Unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus den vorherigen Stufen kann dabei grundsätzlich auf produkt-, preis-, kommunikationsoder distributionspolitische Maßnahmen zurückgegriffen werden.117 Die Maßnahmen sollten gleichwohl auf die Bedürfnisse der einzelnen Kundensegmente abgestimmt
114 115 116 117
Vgl. Geppert (2002), S. 3. Vgl. Joo/Jun/Kim (2002); Page et al. (1996). Vgl. Büttgen (2003), S. 65; Heimann (2002), S. 28. Vgl. Meffert (2000).
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werden und sich an den Ergebnissen der vorherigen Ursachenanalyse orientieren.118 Letztlich schließt eine Erfolgskontrolle den Churn-Management-Prozess ab. Auf dieser letzten Stufe findet die Untersuchung der Nachhaltigkeit des Churn-Managements hinsichtlich der Fokussierung auf die relevanten Prädiktoren, die tatsächlich gefährdeten Kundenbeziehungen sowie die Effizienz und Effektivität der Aktivitäten statt. Um den Erfolg des Churn-Managements sicherzustellen, ist jede der aufgezeigten Stufen des Churn-Management-Prozesses sorgfältig durchzuführen. Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass insbesondere die Konzeptionalisierung des ChurnManagements in Hinblick auf die Prädiktoren des Churn-Verhaltens und die anzuwendenden Methoden zur Identifikation und Profilierung von abwanderungsgefährdeten Kunden eine besondere Gründlichkeit erfordern. Hierfür spricht, dass diese Teilaufgaben das Fundament des Prozesses bilden. Gleichsam ist festzuhalten, dass sich ein systematisches Churn-Management insbesondere in Branchen einsetzen lässt, die über sehr detaillierte kundenindividuelle Nutzungs- und Transaktionsdaten verfügen. Beispiele für solche Branchen finden sich vermehrt im Dienstleistungssektor wie z.B. die Assekuranz-, Autovermietungs-, Finanzdienstleistungs-, Luftfahrt- oder Telekommunikationsbranche.119 Aus diesem Grund fokussieren sich die weiteren Ausführungen auf das Churn-Management im Dienstleistungssektor. Die aufgezeigte Bedeutung bzw. das grundlegende Verständnis des ChurnManagements entstammt aus Forschungsbeiträgen zum Churn-Verhalten von Endkunden. Im folgenden Abschnitt 2.2 wird hingegen mit dem B2B-Marketing der für diese Arbeit relevante Untersuchungskontext diskutiert. Denn wie im Kapitel 1 bereits dargelegt, fokussiert die vorliegende Studie auf die Analyse der Eignung des ChurnManagements in eben diesem B2B-Kontext.
118 119
Vgl. Krafft/Bromberger (2001), S. 169 f. Vgl. Athanassopoulou (2006); Smith/Willis/Brooks (2000).
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2.2 Dienstleistungsbezogene Kundenbeziehungen im B2B-Kontext Im vorherigen Abschnitt wurde bereits auf die hier vorzunehmende Untersuchung des Churn-Managements im dienstleistungsbezogenen B2B-Kontext hingewiesen. In Bezug auf die Untersuchung des Churn-Managements fokussiert sich die vorliegende Arbeit dementsprechend nicht auf die Untersuchung des Churn-Verhaltens von Endkunden, und steht damit im deutlichen Gegensatz zu bisherigen Studien zum Churn-Management.120 Vielmehr steht die Analyse des Churn-Verhaltens von Unternehmen in B2B-Kundenbeziehungen im Vordergrund der Analyse. Im Folgenden sollen daher die zentralen Grundlagen des B2B-Marketing insbesondere in Hinblick auf Kundenbeziehungen bei Dienstleistungen erläutert werden.121 Der Abschnitt 2.2 gliedert sich dabei wie folgt: Zunächst erfolgt eine definitorische Abgrenzung des Begriffs B2B-Marketing sowie eine Einordnung von Dienstleistungen in den B2BKontext (Abschnitt 2.2.1). Daran schließt sich mit der Fokussierung auf den Individualisierungsgrad und die Multipersonalität der Beschaffungsprozesse die Erläuterung der für diese Arbeit zentralen Charakteristika von Kundenbeziehungen im B2B-Kontext an (Abschnitt 2.2.2).
2.2.1 Definitorische Abgrenzung von Dienstleistungen im B2B-Kontext 2.2.1.1 Charakteristika des Business-to-Business-Kontext Der Begriff B2B-Marketing ist grundlegend von dem Begriff B2C-Marketing zu differenzieren. Während sich das B2C-Marketing auf die Gestaltung von Geschäftsbeziehungen zu Endkunden fokussiert, bezieht sich das B2B-Marketing auf sämtliche Austauschprozesse von Produkten und Dienstleistungen zwischen Organisationen wie Unternehmen oder öffentliche Verwaltungen.122 Bei der Diskussion des Begriffs Kunden wird in den folgenden Ausführungen eine Differenzierung zwischen Endkunden und Geschäftskunden vorgenommen. Dies entspricht der in der MarketingLiteratur geläufigen Unterteilung in Konsumgüter- und Industriegütermarketing.123 Mit Geschäftskunden werden demnach organisationale Käufer bezeichnet, welche die 120
121 122 123
Studien zum Churn-Verhalten von Endkunden finden sich bspw. bei Hüppelshäuser (2005); Lemmens/Croux (2006); Neslin et al. (2006) sowie Rüger (2003). Eine Bestandsaufnahme zentraler Beiträge der Literatur zum Churn-Management findet sich im Abschnitt 2.4.1. Im Folgenden werden die Begriffe B2B-Marketing, B2B-Beziehungen und B2B-Kontext synonym verwendet. Vgl. Anderson/Narus (2004), S. 4; Backhaus/Voeth (2007), S. 3-7; Morris/Pitt/Honeycut (2001), S. 3. Vgl. Backhaus/Voeth (2004), S. 7-10, Gerpott (2004), S. 1240; Vitale/Giglierano (2002), S. 4 f.
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Beschaffungsentscheidungen von Unternehmen tätigen bzw. die den Bezug von Produkten und Dienstleistungen anderer Unternehmen steuern.124 Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden diese organisationalen Leistungsverflechtungen als B2BKundenbeziehungen bezeichnet. In der deutschsprachigen Marketing-Literatur wird der Begriff B2B-Marketing gleichzeitig mit Begriffen wie Industriegütermarketing, industrielles Marketing oder Investitionsgüter-Marketing genannt.125 Backhaus/Voeth nehmen hingegen eine explizite Trennung zwischen Industriegüter- und B2BMarketing vor.126 Nach ihrer Auffassung weisen das B2B- bzw. Industriegütermarketing zwar eine relativ große Schnittmenge auf. Das B2B-Marketing sei aber insofern umfassender, als dass es auch auf Handelsunternehmen gerichtete Marketingaktivitäten berücksichtigt. In der vorliegenden Arbeit wird der Argumentation von Backhaus sowie Backhaus/Voeth gefolgt und bei der Untersuchung des ChurnVerhaltens im B2B-Kontext ein über das Marketing von Industriegütern hinausgehendes Verständnis des Begriffs B2B unterstellt. Prinzipiell liegt dem Verständnis von B2B-Märkten demnach die Abgrenzung anhand der Art des Nachfragers zu Grunde. Das Kaufverhalten von Geschäftskunden in B2B-Beziehungen unterscheidet sich nach herrschender Auffassung grundsätzlich vom Endkundenverhalten in B2CKundenbeziehungen.127 Für das Verhalten von Geschäftskunden in B2B-Beziehungen sind dabei zahlreiche Charakteristika kennzeichnend, die für die weitere Untersuchung des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden von potenzieller Bedeutung sind.128 Die zentralen Charakteristika von Kundenbeziehungen im B2B-Kontext zeigt die folgende Abbildung 7, die zugleich der Strukturierung der folgenden Ausführungen dient.129
124 125 126 127 128 129
Vgl. Anderson/Narus (2004), S. 4 f. Der Begriff Endkunden umfasst demnach sämtliche Endverbraucher bzw. nicht-organisationale Käufer von Leistungen. Industriegüter sind grundsätzlich Produkte, die zur Erstellung weiterer Leistungen verwendet werden. Vgl. Bruhn/Homburg (2001), S. 91; Hombrug/Krohmer (2006), S. 144 und S. 1055. Vgl. hier und im Folgenden Backhaus/Voeth (2004), S. 6 f. sowie Backhaus/Voeth (2007), S. 5-7. Vgl. Backhaus/Voeth (2004), S. 9; Gerpott/Rams (2000), S. 740. Zunächst werden diese Charakteristika einzeln vorgestellt und anschließend wird diskutiert, inwieweit diese Eigenschaften auch für die hier betrachteten Dienstleistungen relevant sind. Nachdem der Fokus dieser Arbeit eindeutig auf Kundenbeziehungen im B2B-Kontext liegt, werden im Folgenden die Begriffe Geschäftskunden und Kunden synonym verwendet. Gleiches gilt für die Begriffe Geschäftsbeziehung und Kundenbeziehung. Beziehen sich Ausführungen auf den B2C-Kontext, wird dagegen allein der Begriff Endkunden verwendet.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext Charakteristika des B2B-Marketing Komplexer Problemlösungsbedarf
Formalisierter Entscheidungsprozess
Multipersonalität
Identifizierter Markt
Interaktionsparadigma
Eigenständige Marketingkonzeption erforderlich
Abbildung 7: Charakteristika des B2B-Marketing Quelle: In Anlehnung an Backhaus/Voeth (2004), S. 8.
Auf Grund der hohen Komplexität der Beschaffungsentscheidung liegt ein umfangreicher Problemlösungsbedarf vor, dem durch einen formalisierten Entscheidungsprozess entsprochen werden kann.130 Dieser formalisierte Entscheidungsprozess spiegelt sich auch darin wider, dass i.d.R. sowohl bei den Geschäftskunden als auch auf Seiten der Anbieter von Produkten und Dienstleistungen mehrere Personen involviert sind.131 Diese Eigenschaft von Geschäftsbeziehungen im B2B-Kontext wird auch als Multipersonalität bezeichnet.132 Hinsichtlich der Anbieterseite ist für B2BBeziehungen weiterhin kennzeichnend, dass die Anzahl der aktuellen und potenziellen Geschäftskunden im Vergleich zu der Anzahl potenzieller Endkunden in B2C-Märkten gering und damit relativ gut zu determinieren ist.133 Insofern liegt ein identifizierter Markt vor. Nicht zuletzt aus diesem Grund weisen die Produkte und Dienstleistungen
130 131
132
133
Vgl. Krummenerl (2005), S. 122; Yanamandram/White (2006), S. 164. Im Folgenden werden die Begriffe Bezugs-, Beschaffungs-, Einkaufs- und Kaufentscheidung synonym verwendet. Damit sind grundsätzlich die Entscheidungsprozesse in Hinblick auf die Auswahl eines Anbieters gemeint. Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 11; Frenzen/Krafft/Peters (2007), S. 381-404. Eine detaillierte Diskussion des Begriffs Mehrpersonalität im Beschaffungsprozess und die damit verbundenen Implikationen für die Analyse des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext wird im Abschnitt 2.2.2. Vgl. Krafft (2007), S. 100; Krummenerl (2005), S. 122; Narayandas (2005), S. 132.
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im B2B-Kontext einen höheren Individualisierungsgrad als im B2C-Bereich auf.134 Daraus lässt sich mit dem Interaktionsparadigma ein weiteres Kennzeichen von Kundenbeziehungen im B2B-Kontext ableiten. Die individuelle Ausgestaltung der Produkte und Dienstleistungen bedingen gegenseitige Einflussnahmen und Verhandlungen über Leistung und Gegenleistung.135 Ein weiterer relevanter Aspekt ist die gegenüber dem B2C-Marketing höhere Bedeutung ökonomisch vorteilhafter Beziehungen.136 Im Vergleich zu Beziehungen zwischen Endkunden und Unternehmen dominieren demzufolge rationale und ökonomische Entscheidungen das Verhalten von Geschäftkunden.137 Hierbei lässt sich unterstellen, dass die Geschäftskunden nur dann eine Geschäftsbeziehung zu einem Anbieter eingehen, wenn diese unter Berücksichtigung ökonomischer Kennzahlen im Vergleich zu Angeboten alternativer Anbieter das bessere Preis-Leistungs-Verhältnis aufweisen.138 Diese Überlegenheit des eigenen Leistungsangebots gegenüber dem Angebot von Wettbewerbern fassen Backhaus und Voeth im Konzept des komparativen Konkurrenzvorteils (KKV) zusammen.139 Demnach verfügen Anbieter im Vergleich zu ihren relevanten Wettbewerbern über Vorteile, wenn es ihnen gelingt, „vorhandene oder latente Bedürfnisse umfassender (...) zu befriedigen (Effektivitätsposition), um daraus einen eigenen ökonomischen Vorteil zu ziehen (Effizienzposition)“.140 Die Effektivitätsposition drückt sich im Netto-Nutzen-Vorteil als Differenz aus Nutzen und Preis einer Anbieterleistung aus. Kunden gehen demnach einen Trade-off zwischen dem Nutzen aus dem Bezug einer Leistung und dem Opfer in Form des zu zahlenden Preises ein.141 Die Effizienzposition bezieht sich hingegen darauf, ob Geschäftskunden für die Realisierung des Effektivitätsvorteils eine genügend hohe Zahlungsbereitschaft aufweisen.142 In enger Beziehung zum Konzept von Backhaus und Voeth steht das „Value“-Konzept von Anderson und Narus.
134 135 136 137 138 139 140 141 142
Vgl. Backhaus/Voeth (2004), S. 9. Vgl. Backhaus/Voeth (2004), S. 10. Vgl. Homburg/Krohmer (2006), S. 149. Vgl. Kumar/Grisaffe (2004), S. 46 f.; Pförtsch/Schmid (2005), S. 15. Vgl. Backhaus/Baumeister/Mühlfeld (2005), S. 202 f. Vgl. hierzu ausführlich und im Folgenden Backhaus/Voeth (2007), S. 15-28. Backhaus/Voeth (2007), S. 15. Vgl. Kumar/Grisaffe (2004), S. 46 f.; Liu (2006), S. 30-32. Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 17.
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Diese Autoren sehen in der Generierung von „Value“ das Fundament des B2BMarketing.143 In ihrem Begriffsverständnis des „Value“-Konzepts folgen die Autoren der Definition von Anderson, Jain und Chintagunta. Diese Autoren definieren „Value“ als „…the perceived worth in monetary units of the set of economic, technical, service and social benefits received by the customer firm in exchange for the price paid for a product offering, taking into consideration the available alternative suppliers’ offerings and prices”.144 Dieser Definition liegt die Annahme zu Grunde, dass sich Geschäftskunden für die Leistungen des Anbieters entscheiden, bei dem die Differenz aus dem wahrgenommenen Wert und dem gezahlten Preis am höchsten ist.145 Aus diesen beiden Konzepten leitet sich für die vorliegende Arbeit die Implikation ab, dass insbesondere die Nutzen-Kosten-Relation von Leistungen im Vergleich zu Wettbewerbern für das B2B-Marketing von immanenter Bedeutung ist. Bevor auf die begriffliche Abgrenzung von Dienstleistungen im B2B-Kontext eingegangen wird, erfolgt abschließend eine Differenzierung des B2B-Marketing in Bezug auf Geschäftstypen. Hierfür spricht, dass sich in Abhängigkeit vom zu Grunde liegenden Geschäftstyp Konsequenzen für den zentralen Untersuchungsgegenstand des Churn-Managements im B2B-Kontext ergeben können.146 Geschäftstypen sind Typologien von kontextspezifischen Transaktionsformen auf B2B-Märkten, die eine typologiespezifische Ausrichtung der Marketingprogramme ermöglichen.147 Der Ansatz von Backhaus und Voeth differenziert auf Basis der Kriterien Kaufverbund und Kundenbezug die in Abbildung 8 dargestellten Geschäftstypen.148
143
144 145
146 147 148
Vgl. Anderson/Narus (2004), S. 4-7. In ihrer Monographie diskutieren Anderson/Narus ausführlich den Business Market Process und stellen explizit auf das Verständnis, die Generierung und die Umsetzung von „Value“ ab. Anderson/Jain/Chintagunta (1993), S. 5. Vgl. Anderson/Narus (2004), S. 5. Im Zusammenhang mit dem Value-Konzept differenziert Ulaga (2001) zwischen Value für Kunden, dem Anbieter sowie einem gemeinsamen KundenAnbieter-Value. In der hier eingenommen Perspektive steht daher die Genierung von „Value“ für den Kunden im Vordergrund. Vgl. Backhaus/Baumeister/Mühlfeld (2005), S. 206-215. Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 182. Backhaus/Voeth (2007) geben eine ausführliche Übersicht zu den existierenden Ansätzen der Systematisierung von B2B-Märkten. Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 195-204.
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Anbieter QR* Keine Anbieter QR Fokus Kaufverbund
Systemgeschäft
Anlagengeschäft
Produktgeschäft
Fokus Einzelkunde
Fokus der Studie
Fokus Einzeltransaktion
Zuliefergeschäft
Nachfrager QR
Keine Nachfrager QR
Fokus anonymer Markt * QR: Quasirente
Abbildung 8: Geschäftstypenansatz von Backhaus/Voeth Quelle: In Anlehung an Backhaus/Voeth (2007), S. 202.
Während die Existenz eines Kaufverbunds nach einem Erstkauf weitere Käufe bedingt, bezieht sich die Dimension Kundenbezug darauf, ob die Unternehmensleistungen für einen einzelnen Kunden oder für einen relativ anonymen Markt hergestellt wird. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal dieser Typologisierung ist das Vorliegen einer Ex-Post-Abhängigkeit eines oder beider Marktpartner.149 Für die im nächsten Abschnitt erfolgende Abgrenzung des Begriffs Dienstleistungen im B2BKontext sind insbesondere die Geschäftstypen Produkt- und Systemgeschäft von Interesse. Die beiden Typen zeichnen sich durch die für diese Arbeit bedeutsamen Eigenschaften aus, dass entweder keine Ex-post-Abhängigkeit (Produktgeschäft) oder eine nachfragerseitige Ex-Post-Abhängigkeit (Systemgeschäft) existiert. Zudem ist für diese beiden Fälle charakteristisch, dass Anbieter ihre Leistungen für einen relativ anonymen Markt herstellen. Dem Produktgeschäft werden Leistungen zugeordnet, die ein hohes Maß an Standardisierung aufweisen und isoliert voneinander nachgefragt 149
Die Ex-post-Abhängigkeit wird durch das Anfallen der sog. Quasirente operationalisiert. Die Quasirente entspricht dem „Einkommensüberschuss eines spezifischen Faktors über die Entlohnung, die in der nächst besten Verwendung erzielt werden könnte“ (Backhaus/Voeth (2007), S. 196) und zeigt das Gefährdungspotenzial von getätigten spezifischen Investitionen an.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
werden. Demgegenüber steht das Systemgeschäft für Leistungen, die Wiederholungskäufe bedingen und somit zu einem Systembindungseffekt führen können. Wenngleich an dieser Stelle keine detaillierte Erläuterung der Geschäftstypen erfolgen kann, deuten die Ausführungen auf eine zentrale Implikation hin: Im B2B-Kontext unterscheiden sich die zentralen Marketingparameter in Abhängigkeit vom zu Grunde liegenden Geschäftstyp.150 Zusammenfassend lässt sich resümieren, dass mit dem B2B-Marketing einige relevante Besonderheiten und insbesondere eigenständige Transaktionsprozesse bzw. -typen verbunden sind, die im Churn-Management Beachtung finden sollten. Die Charakteristika des B2B-Kontexts deuten zudem auf eine immanente Bedeutung des Managements von langfristigen Kundenbeziehungen und insofern der Verhinderung von Kundenabwanderung hin.151 Während sich die Ausführungen in diesem Abschnitt eher auf die Vermarktung von Sachgütern fokussiert haben, wird vor diesem Hintergrund im folgenden Abschnitt 2.2.1.2 diskutiert, ob die aufgezeigten Besonderheiten und Geschäftstypen des B2B-Marketing auch für die in dieser Arbeit zu untersuchenden Dienstleistungen zutreffen.
2.2.1.2 Dienstleistungen im Business-to-Business-Kontext Wenngleich einige Gemeinsamkeiten zwischen der Vermarktung von Industriegütern und Dienstleistungen existieren, sind beim Anbieten von Dienstleistungen im B2B-Kontext einige Besonderheiten zu beachten. Diese Unterschiede sind u.a. durch die Spezifika der Dienstleistungen bedingt.152 Meffert und Bruhn definieren Dienstleistungen als „... selbständige, marktfähige Leistungen, die mit der Bereitstellung und/oder dem Einsatz von Leistungsfähigkeiten verbunden sind.“153 Neben dieser Potenzialorientierung sind die Integration eines externen Faktors (dem Kunden) im Leistungserstellungsprozess sowie die Immaterialität der Leistung weitere zentrale Eigenschaften von Dienstleistungen.154 Die Bereitstellung von Leistungen und Fähigkeiten durch den Dienstleistungsanbieter erfolgt dabei mit dem Ziel, bei den Kunden nutzenstiftende Wirkungen zu erzielen. Als zentrale Merkmale von Dienstleistungen 150 151 152 153 154
Für eine ausführliche Darstellung der Besonderheiten von Produkt- und Systemgeschäftstypen vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 205-303 und 401-472. Vgl. Athanassopoulou (2006), S. 88; Ulaga (2003), S. 677; Weiber/Kollmann/Pohl (2006), S. 86-94; Wilson (2006), S. 38. Vgl. Kumar/Grisaffe (2004), S. 47 f. Meffert/Bruhn (2006), S. 33. Vgl. Kumar/Grisaffe (2004), S. 47 f.; Meffert/Bruhn (2006), S. 36.
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lassen sich zudem Individualität, Nichtlager- bzw. Nichttransportfähigkeit sowie die Simultanität von Erstellung und Nutzung anführen.155 In der Literatur zum B2B-Marketing stehen Dienstleistungen im engen Zusammenhang mit industriellen Services.156 Nach Kleinaltenkamp, Plötner und Zedler umfassen industrielle Services alle Dienstleistungen, die in absatzwirtschaftlicher Beziehung zu Industriegütern stehen. Dabei unterscheiden diese Autoren Pre sales-, At sales- und After sales-Services.157 Auch Backhaus und Voeth sehen in Dienstleistungen eine anbieterseitige Möglichkeit zur Differenzierung von Wettbewerbern, insbesondere auf Märkten mit weitestgehend standardisierten Produkten.158 Gerade diese Unterscheidung unterstützt die Sinnhaftigkeit der Verwendung des weiter gefassten Begriffs B2B-Marketing anstelle von Industriegütermarketing, da mit Dienstleistungen in der vorliegenden Arbeit nicht allein Leistungen gemeint sind, die zur Erstellung und Unterstützung anderer Produkte dienen.159 In dieser Arbeit wird die Auffassung vertreten, dass Dienstleistungen im B2BMarketing selbstständige und marktfähige Unternehmensleistungen darstellen. Diese werden von einem anbietenden Unternehmen für nachfragende Unternehmen (Geschäftskunden) erstellt und stehen aus diesem Grund nicht in Verbindung mit Sachgütern. Dementsprechend werden Dienstleistungen im B2B-Kontext hier nicht funktional als Teilaspekt angesehen, die bei der Vermarktung von physischen Produkten zusätzlich zur Steigerung des Absatzes angeboten werden. Die folgende Abbildung 9 verdeutlicht die Fokussierung auf Dienstleistungen als eigenständige Unternehmensleistungen im B2B-Kontext.
155 156 157 158 159
Vgl. Taher/El Basha (2006), S. 332; Yanamandram/White (2006), S. 164. Vgl. Friege (1995), S. 35 f.; Homburg/Garbe (1996), S. 258 f.; Simon (1993), S. 3-23. Vgl. Kleinaltenkamp/Plötner/Zedler (2004), S. 629-633. Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 260-263. Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 260.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Güterart
Sachleistungen
Dienstleistungen
Kunde
B2C-Marketing Dienstleistungsmarketing
Geschäftskunde / Organisationen
B2B-Marketing
Fokus der Studie
Endkunde
Allgemeines Marketing Abbildung 9: Einordnung von Dienstleistungen in das B2B-/ B2C-Marketing Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Backhaus/Voeth (2007), S. 7.
Im Mittelpunkt der vorliegenden Analyse stehen der Bezug von Dienstleistungen durch Geschäftskunden sowie die Gestaltung der vertraglichen Kundenbeziehungen zwischen den beteiligten Unternehmen. Zahlreiche Geschäftskunden sind ähnlich wie Endkunden auf eigenständige Dienstleistungen angewiesen, die als Hilfsmittel zur Koordination der grundsätzlich kommerziellen Leistungserstellung von Unternehmen dienen.160 Dabei behalten die allgemeinen Charakteristika von Dienstleistungen wie z.B. Immaterialität gleichwohl ihre Gültigkeit. Beispiele für die gewählte Perspektive in Bezug auf die Kundenbeziehungen im B2B-Kontext sind die im Abschnitt 2.1 erwähnten Branchen Assekuranz, Autovermietung, Finanzdienstleistung, Luftfahrt oder auch Telekommunikation.161 In Abhängigkeit von der Unternehmensgröße lässt sich im Verhalten der Geschäftskunden ein Kontinuum zwischen eher B2C-ähnlichem und eher B2B-ähnlichem Verhalten unterstellen. Dieser Fokus der vorliegenden Studie auf die Nahtstelle zwischen B2B-Marketing und B2C-orientierten Dienstleistungen ist in der obigen Abbildung 9 entsprechend gekennzeichnet. Für den in der Abbildung gekennzeichneten Fokus spricht auch, dass der aus dem B2C-Kontext stammende Ansatz des Churn-Managements auf den B2B-Kontext übertragen werden soll.
160 161
Vgl. Gerpott (2004), S. 1240. Industrieunternehmen schließen bspw. Versicherungspolicen für ihre Produktionsanlagen bei Assekuranz-Unternehmen ab, Unternehmensberatungen vereinbaren Verträge mit Fluggesellschaften, welche die ganzheitliche Mobilität der Berater sichern und rüsten die Berater mit Mobiltelefonen aus, die auf Basis von Verträgen zwischen den Unternehmensberatungen und den Telekommunikationsanbietern zur Verfügung gestellt werden.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
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Für Dienstleistungsanbieter sind die Beziehungen zu Geschäftskunden aus mehreren Gründen von besonderem Interesse. Zum einen sind diese i.d.R. deutlich profitabler als B2C-Kundenbeziehungen, zum anderen gestalten sich die Entscheidungsprozesse für einen Anbieter rationaler, wodurch die Anbieter gezielter auf die Bedürfnisse eingehen können. Insbesondere durch die Betonung rationaler Entscheidungen ist die Preiselastizität von Geschäftskunden größer als bei Endkunden.162 Vor diesem Hintergrund ist es für den weiteren Verlauf der Analyse des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden von Bedeutung, ob die für das klassische B2B-Marketing charakteristischen Eigenschaften auch für die hier betrachteten Dienstleistungen zutreffen. Zudem interessiert, ob die mit dem B2B-Marketing verbundenen Besonderheiten in der Untersuchung v.a. in der Entwicklung eines konzeptionellen Bezugsrahmens des Churn-Managements im B2B-Kontext anzuwenden sind. Wie im Abschnitt 2.2.1.1 erläutert, sind folgende Besonderheiten für das B2B-Marketing kennzeichnend: -
ein komplexer Problemlösungsbedarf ein formalisierter Kaufentscheidungsprozess zwischen Organisationen Multipersonalität ein identifizierter Markt ein hoher Grad an Individualisierung das Interaktionsparadigma
In Bezug auf die hier untersuchten Dienstleistungen ist festzuhalten, dass potenzielle Geschäftskunden bei ihren Entscheidungen eine Vielzahl von Aspekten wie z.B. die optimale Eignung der Dienstleistung zur Problemlösung oder die ökonomische Vorteilhaftigkeit berücksichtigen, wodurch auch bei Dienstleistungen ein komplexer Problemlösungsbedarf vorliegt. Weiterhin werden die Entscheidungen über den Bezug von Dienstleistungen insbesondere bei Großkunden üblicher Weise in Form von formalisierten Prozessen über die Einkaufs- oder Beschaffungsabteilung des Geschäftskunden getroffen, bei denen auch mehrere Mitarbeiter involviert sein können.163 Demnach sind auch die Kriterien formalisierte Kaufentscheidungen sowie Multipersonalität erfüllt. Den Anbietern von Dienstleistungen sind zudem die potenziellen Geschäftskunden bekannt (identifizierter Markt), für die im Rahmen des Entscheidungsprozesses spezifische Angebote erstellt werden. Diese Angebote
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Geschäftskunden reagieren dementsprechend stärker auf Preisänderungen als Endkunden. Vgl. Jain/Muller/Vilcassim (1999), S. 135 f. Vgl. Gerpott/Rams (2000), S. 740.
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resultieren aus dem auf Grund des Interaktionsparadigmas existierenden individualisierten Interessenaustauschs zwischen Anbieter und Nachfrager. Auf Grund der Individualisierung und den damit verbundenen spezifischen Anforderungen sind die Dienstleistungen zudem an die organisatorischen Rahmenbedingungen technisch anzupassen.164 Auch bei der Vermarktung von Dienstleistungen im B2B-Marketing ist die Interaktion zwischen Anbieter und Kunden ein dominantes Merkmal der Geschäftsbeziehung, das sich u.a. in der Organisationsstruktur der Anbieter in Form von eigenen B2B-Vertriebs- und Marketingabteilungen widerspiegelt.165 Vor diesem Hintergrund sind Dienstleistungen i.S. dieser Arbeit dem B2B-Marketing zuzuordnen. Für das Verständnis von Dienstleistungen ist abschließend eine Abgrenzung des Begriffs in Hinblick auf die Geschäftstypen vorzunehmen. Diese Notwendigkeit resultiert aus dem oben erläuterten Sachverhalt, dass sich in Abhängigkeit vom zu unterstellenden Geschäftstyp Implikationen für das Churn-Management im B2B-Kontext ergeben.166 Für die vorliegende Arbeit sind dabei die Geschäftstypen Produkt- und Systemgeschäft von besonderem Interesse.167 Zu Beginn dieses Abschnitts wurde der hier unterstellte Charakter der Dienstleistungen als Hilfsmittel zur Koordination bzw. Erleichterung der Kernprozesse von Geschäftskunden diskutiert. Mit Blick auf die angeführten Beispiele wie Telekommunikations-, Luftfahrt- oder Autovermietungsdienstleistungen lassen sich eine vermehrte Bedeutung des Preises als Auswahlkriterium sowie eine Annäherung der Nachfrage an das Marktsättigungsniveau feststellen.168 Weiterhin gleichen sich die Leistungen unterschiedlicher Anbieter zunehmend an. Hierdurch verringern sich die anbieterseitige Möglichkeit zur Differenzierung vom Wettbewerb ebenso wie der Aufbau nachfragerseitiger Ex-PostAbhängigkeiten. Diese Tendenzen einer „commoditization“ der zu untersuchenden Dienstleistungen sprechen für deren Zuordnung zum Produktgeschäft. Demgegenüber weisen die angeführten Dienstleistungen auch Eigenschaften des Systemgeschäfts auf. Backhaus, Baumeister und Mühlfeld empfehlen bspw. die gezielte Förderung bzw. den expliziten Aufbau der Systemgeschäftseigenschaften bei Leistungen aus dem
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Vgl. Jackson/Cooper (1988), S. 164 f.; Lam et al. (2004), S. 298. Autovermietungen wie Avis, Europcar oder Sixt verfügen bspw. über individuelle Geschäftskundenbereiche innerhalb ihrer Internetpräsenz sowie über eine eigene Außendienstbetreuung für Geschäftskunden. Vgl. Avis (2007); Europcar (2007); Sixt (2007). Vgl. Backhaus/Baumeister/Mühlfeld (2005), S. 206-215. Zu den zentralen Charakteristika der Geschäftstypen vgl. Abschnitt 2.2.1.1. In der Telekommunikationsbranche ist bspw. ein Trend in Richtung von günstigen Flat-RateAngeboten festzustellen (vgl. Abschnitt 2.4.3).
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Produktgeschäft, um die Ex-Post-Abhängigkeit von Kunden zu erhöhen.169 Im Rahmen von Vielfliegerprogrammen werden bspw. gezielt die Nutzer angesprochen, die über die Inanspruchnahme der Dienstleistung spezifisch in den Aufbau von Bonuspunkten investieren. Auch in einer vertraglich fixierten Mindestlaufzeit ist eine kundenseitige Abhängigkeit vom Dienstleistungsanbieter zu sehen. Weiterhin sind mit Dienstleistungen z.T. spezifische Investitionen in Infrastruktur verbunden, die zu einem Kaufverbund führen. Beispiele hierfür sind die Ausstattung von Mitarbeitern mit Mobiltelefonen oder auch die Anschaffung eines anbieterspezifischen Servers zur Weiterleitung von Emails an die Mobiltelefone der Außendienstmitarbeiter des Geschäftskunden. Letztlich lassen sich die einzelnen Dienstleistungen somit nicht völlig trennscharf einem der Geschäftstypen zuordnen. Die Ausführungen in diesem Abschnitt haben die Besonderheiten des B2BMarketing verdeutlicht. Diese Spezifika manifestieren sich insbesondere in der immanenten Relevanz der Erzielung von KKV, der mehrpersonalen Interaktion zwischen Anbieter und Nachfrager sowie in den formalisierten, ökonomisch-orientierten Beschaffungsprozessen. Während sich die bisherige Forschung auf dem Gebiet des B2BMarketing grundsätzlich eher auf die traditionelle Sichtweise der Vermarktung von Industriegütern bezieht,170 konnte auf Basis der Besonderheiten von B2B-Beziehungen in Bezug auf deren Charakteristika und Geschäftstypen gezeigt werden, dass auch das Angebot von Dienstleistungen einen wesentlichen Aspekt des B2B-Marketing darstellt. Mit Blick auf die weiteren Analysen bleibt zu resümieren, dass der aufgezeigte B2B-Kontext den weiteren Ausführungen zu Grunde gelegt werden kann. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen forschungstheoretischen Orientierung dieser Arbeit sind v.a. die Implikationen für das Churn-Management im B2B-Kontext interessant, die sich aus der Multipersonalität und dem heterogenen Kundenverhalten resultieren.171 Im Folgenden werden daher die Implikationen beleuchtet, die sich aus der Multipersonalität der Kaufentscheidung sowie der Heterogenität ergeben.
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Vgl. Backhaus /Mühlfeld (2005), S. 46-51. Ein Beleg hierfür ist in der Vielzahl an Publikationen in Form von Beiträgen in Zeitschriften, Monographien oder Herausgeberbänden zum B2B- bzw. Industriegütermarketing zu sehen. Neben den bereits oben angeführten Publikationen seien hier beispielhaft genannt Backhaus/ Bauer (2000); Bowman/Narayandas (2001); Dwyer/Tanner (1999); Möller/Wilson (1995); Nielson (1996); Palmatier/Gopalakrishna/Houston (2006). Eine ausführliche Übersicht zur internationalen Lehrbuchliteratur findet sich bei Backhaus/Bonus/Sabel (2004). Zur grundsätzlichen forschungstheoretischen Orientierung dieser Arbeit vgl. Abschnitt 1.2.
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2.2.2 Hierarchische Kundenstrukturen und heterogenes Kundenverhalten als zentrale Charakteristika von Dienstleistungen im B2B-Kontext Die obigen Ausführungen haben bereits verdeutlicht, dass bei der Betrachtung von Dienstleistungen im B2B-Kontext zahlreiche Besonderheiten zu beachten sind. Im Folgenden sind die Charakteristika Multipersonalität und der hohe Grad an Heterogenität von besonderem Interesse und bedürfen einer detaillierten Betrachtung. Die Multipersonalität im Kaufentscheidungsprozess drückt sich grundsätzlich in der Einbeziehung mehrerer Personen in die einkaufsentscheidenden Gremien der Geschäftskunden aus.172 Im Zusammenhang mit Dienstleistungen ist mit der Mehrstufigkeit bzw. Hierarchie eine zusätzliche Dimension in der Multipersonalität ausdrücklich zu erfassen. Während auch im klassischen Industriegütermarketing die Trennung von Einkaufsentscheidung und eigentlicher Produktnutzung vorkommt, ist dies bei Dienstleistungen noch stärker der Fall. Diese mehrstufige bzw. hierarchische Struktur ist einerseits auf die Natur bzw. Eigenschaften der Dienstleistungen als immaterielle Leistung und andererseits auf die Organisationsstruktur der Geschäftskunden zurückzuführen. Die Organisationsstruktur zeichnet sich dabei dadurch aus, dass bei Geschäftskunden eine Entscheidungsebene bspw. als Buying Center und eine Nutzer- bzw. Anwenderebene existiert.173 Die Entscheidungsebene verantwortet die Auswahl eines bestimmten Dienstleistungsanbieters. Die für das B2B-Marketing zentrale Organisationsform des Buying Centers und der damit verbundene extensive Kaufentscheidungsprozess sind hierbei von besonderer Relevanz.174 Die Nutzung der Dienstleistung selbst erfolgt auf der Anwenderebene, die indessen grundsätzlich keinen unmittelbaren Einfluss auf die Anbieterwahl hat. Bei großen Industrieunternehmen oder Unternehmensberatungen nutzen bspw. hunderte oder tausende von Angestellten auf der Nutzerebene die Telekommunikationsdienstleistungen. Den Telekommunikationsanbietern liegen demnach Nutzungs- und Transaktionsverhaltensdaten dieser Mitarbeiter in großem Umfang vor. Gleichzeitig trifft die Einkaufsabteilung der Unternehmen auf Geschäftskundenebene die Anbieterwahl. Hieraus wird deutlich, dass bei den Geschäftskunden eine hierarchische bzw.
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Vgl. Brinkmann (2006), S. 2; Homburg/Jensen (2004), S. 493; Yanamandram/White (2006), S. 164. Die Zusammensetzung der Entscheidungsebene (Buying Center) sowie die Analyse des selben sind nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Für eine ausführliche Diskussion von Buying Centers vgl. Brinkmann (2006). Vgl. Homburg/Jensen (2004), S. 493.
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mehrstufige Struktur vorliegt.175 Die Konsequenzen, die sich aus der Existenz der hierarchischen Kundenstrukturen für das Churn-Management ergeben, werden in Abschnitt 2.3 aufgezeigt. Nach Gerpott bedingen die hierarchischen Strukturen für das Marketing von Dienstleistungen einen Prozess, der in zwei Phasen unterteilt wird und von hoher Relevanz ist.176 Gerpott differenziert am Beispiel von Geschäftsbeziehungen aus der Telekommunikationsbranche zwischen einer Anschlussphase, in der potenzielle Kunden den Zugang zu einem Netz kaufen, und einer Kontraktphase, in der neue Kunden den entsprechenden Netzzugang zu den Telekommunikationsdienstleistungen technisch erhalten bzw. die eigentlich Nutzung der Dienstleistung erfolgt. Dieser Argumentation folgend, kann – übertragen auf die Nachfrage von Dienstleistungen bei B2B-Kundenbeziehungen im Allgemeinen – demnach analog die Initiierungs- bzw. Abschlussphase von der Nutzungs- und Anwendungsphase unterschieden werden. Bei der Initiierungsbzw. Abschlussphase steht der grundsätzliche Beginn der Geschäftsbeziehung im Vordergrund. Dabei können Entscheidungen über den Umfang des Bezugs der Dienstleistung sowie die konkrete Ausgestaltung der Dienstleistung Gegenstand der Gespräche zwischen Anbieter und Geschäftskunde sein. In Abhängigkeit von der Dienstleistung ist z.T. auch die Vertragslaufzeit festzulegen. Erst nach der Initialisierung der Geschäftsbeziehung erfolgt die eigentliche Inanspruchnahme der Dienstleistung. In Bezug auf die Anbieterauswahl ist festzuhalten, dass die Entscheider nicht zwangsläufig über Nutzungserfahrungen verfügen müssen. Hieraus lässt sich für das Management dieser Kundenbeziehungen aus Sicht der Dienstleistungsanbieter die Implikation ableiten, dass sowohl die Anbieterauswahlentscheidung als auch die eigentliche Nutzung durch Mitarbeiter des Geschäftskunden die jeweiligen Ansprüche bzw. Bedürfnisse dieser Anspruchsgruppen bestätigen bzw. befriedigen müssen.177 Wenngleich die Anzahl der Geschäftskunden im Vergleich zu Endkunden relativ gering ist, erwächst die Bedeutung dieser Kundengruppe für die Dienstleistungsanbieter erstens aus dem vergleichsweise hohen Umsatzanteil und zweitens aus dem grundsätzlich höheren Ergebnisbeitrag.178 Zudem bedingen, wie die Ausführungen zum KKV bzw. zur Generierung von „Value“ gezeigt haben, im Vergleich zu
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176 177 178
Die Begriffe hierarchische und mehrstufige Strukturen werden im Folgenden synonym verwendet. Für eine ausführliche Diskussion der methodischen Implikationen, die sich aus der Mehrstufigkeit ergeben, vgl. Kapitel 3. Vgl. hier und im Folgenden Gerpott (2004), S. 1248-1250. Vgl. Gerpott (2004), S. 1248. Vgl. Caruna (2004), S. 265 f.; Gerpott (2006), S. 505.
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Endkunden vermehrt ökonomische Kriterien die Entscheidungen der Dienstleistungsnachfrager.179 Damit sich Anbieter im Wettbewerb behaupten können, spielen grundsätzlich die schnelle Verfügbarkeit der Dienstleistung sowie ein individuelles und leistungsstarkes Angebot zu kompetitiven Preisen eine entscheidende Rolle.180 Geschäftskunden, insbesondere solche mit Organisationsstrukturen wie einem Buying Center, schließen auch mit Dienstleistungsanbietern Lieferantenverträge auf Basis formalisierter Einkaufs- bzw. Beschaffungsprozesse ab.181 Im Rahmen dieser Beschaffungsprozesse wird ein Katalog an Anforderungen hinsichtlich der zu erbringenden Dienstleistung definiert. Obwohl die Anbieter ihre Dienstleistungen für einen vergleichsweise anonymen Markt bereit halten, ist die Adaption der Angebote an diese spezifischen Wünsche der Kunden eine notwendige Bedingung. Dementsprechend sollte das anzubietende Leistungsspektrum hinreichend groß sein. Letztlich erwächst aus dieser Individualität der Kundenbedürfnisse ein sehr heterogenes Verhalten der Geschäftskunden. Aus diesem Grund sind wirkliche Standardlösungen, die für die meisten Geschäftskunden geeignet sind, im Vergleich zu den Angeboten für Endkunden sehr selten anzufinden. Die Heterogenität in den Geschäftsbeziehungen spiegelt sich z.B. in der Anzahl an Endgeräten in der Telekommunikationsbranche oder in einem zu determinierenden Kontingent an Flügen in der Luftfahrtbranche und typischer Weise in divergierenden Bezugspreisen wider. Dienstleistungsanbieter stehen infolgedessen vor der Herausforderung, im Spannungsfeld zwischen Erfüllung der individuellen Anforderungen der Geschäftskunden und ökonomischer Vorteilhaftigkeit der Geschäftsbeziehungen zu agieren. Zusammenfassend stehen im B2B-Kontext die Anbieter von Dienstleistungen einerseits vor der Aufgabe, die Entscheider der Geschäftskunden in ihrer Anbieterwahl zu bestätigen, und andererseits auch die Nutzung der Dienstleistung durch die Mitarbeiter der Geschäftskunden anzuregen. Auf Grund dieser extensiven Kaufentscheidungsprozesse und der potenziell hohen Bedeutung von Geschäftskunden für den Unternehmenserfolg sollten Dienstleistungsanbieter an einer möglichst langfristigen Bindung der Geschäftskunden interessiert sein. Gleichsam ist festzuhalten, dass der Kaufentscheidungsprozess von Dienstleistungen im B2B-Kontext bisher in der
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Vgl. Gerpott (2004), S. 1249. Vgl. Meffert/Bruhn (2006), S. 63 f. und S. 395 f. Vgl. Gerpott/Rams (2000), S. 740.
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Marketingforschung nicht hinreichend untersucht wurde. Für das Churn-Management im B2B-Kontext spielen in Hinblick auf den Churn-Management-Prozess die Gründe für das Abwanderungsverhalten von Geschäftskunden bzw. die Prädiktoren des ChurnVerhaltens, insbesondere bei profitablen Kundenbeziehungen, eine zentrale Rolle. Die letztgenannten Aspekte stellen gleichzeitig den Ansatzpunkt für die Diskussion der Besonderheiten (Abschnitt 2.3) sowie für den konzeptionellen Bezugsrahmen des Churn-Managements im B2B-Kontext (Abschnitt 2.4) dar.
2.3 Besonderheiten des Churn-Managements im B2B-Kontext Nachdem die begrifflichen Grundlagen des Churn-Managements (Abschnitt 2.1) und die zentralen Charakteristika des B2B-Marketing (Abschnitt 2.2) diskutiert wurden, sollen diese beiden grundlegenden Aspekte im Folgenden zusammengeführt werden. Ziel ist es, die Besonderheiten bzw. Anforderungen des Churn-Managements im B2B-Kontext herauszustellen. Die Besonderheiten dienen gleichzeitig als Fundament für die Entwicklung eines konzeptionellen Bezugsrahmens für den im Fokus stehenden Untersuchungsgegenstand. Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit betrachtete Beziehung des Churn-Managements von Dienstleistungsanbietern im B2B-Kontext ist, wie oben gezeigt, noch nicht eingehend untersucht worden.182 Auf Basis der bisherigen Ausführungen lässt sich weiterhin konstatieren, dass der B2B-Kontext einige Besonderheiten im Vergleich zum B2C-Kontext aufweist, die im Churn-Management Berücksichtigung finden sollten. Hierzu zählen die aus Abschnitt 2.2 bereits bekannten Charakteristika: -
182
Vorliegen eines komplexen Problemlösungsbedarfs ein formalisierter Kaufentscheidungsprozess zwischen Organisationen ein identifizierter Markt Multipersonalität ein hoher Grad an Individualisierung Existenz des Interaktionsparadigmas
In Bezug auf das B2B-Marketing ist festzustellen, dass sich die vorhandenen Publikationen zwar mit der Gestaltung von Beziehungen zu Geschäftskunden auf dem Industriegütermarkt auseinandersetzen, gleichzeitig untersuchen diese nur z.T. die Kundenloyalität bzw. -bindung. Vgl. Backhaus (1997); Backhaus/Voeth (2007); Caruana (2004); Gierl/Gehrke (2004); Homburg/ Jensen (2004); Liu (2006); Nielson (1996); Wathne/Biong/Heide (2001).
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Ein erfolgreiches Churn-Management im B2B-Kontext zeichnet sich dadurch aus, dass Geschäftskunden die Kundenbeziehung aufrecht erhalten, indem bspw. eine Vertragsverlängerung erfolgt und die Nutzer die vertraglichen Leistungen in Anspruch nehmen.183 Um dieses Ziel zu realisieren, sind die B2B-Charakteristika von den Dienstleistungsanbietern zu beachten. Die o.g. Charakteristika dienen im Folgenden dazu, die Besonderheiten des Churn-Managements im B2B-Kontext systematisch herauszuarbeiten. Der komplexe Problemlösungsbedarf bezieht sich auf die grundsätzlich höhere Komplexität der Beschaffungsentscheidung von Geschäftskunden. Geschäftskunden beziehen die Dienstleistungen i.S. dieser Arbeit zur Unterstützung und Förderung ihrer originären Erwerbszwecke.184 Dementsprechend messen Geschäftskunden den aus der Sicht der Dienstleistungsanbieter wichtigen Beschaffungsentscheidungen eine eher nachrangige Bedeutung bei. Insofern sollten Dienstleistungsanbieter die Beschaffungsentscheidungen durch entsprechend effizient gestaltete Strukturen erleichtern und Abläufe beschleunigen. Die Forderung nach Effizienz in der Koordination zwischen Nachfrager und Anbieter gilt auch für nachfolgende Managementmaßnahmen wie dem Churn-Management. Aus dem komplexen Problemlösungsbedarf ergeben sich formalisierte Kaufentscheidungsprozesse. Der Kaufentscheidungsprozess erfolgt dabei in erster Linie unter Abwägung von Preis- und Nutzenkriterien.185 Von einer Abwanderung abzusehen und sich somit weiterhin an einen Dienstleistungsanbieter zu binden, ist für den Geschäftskunden nur dann interessant, wenn er dadurch Effektivitätsvorteile i.S. einer Leistungssteigerung realisiert oder die Bindung zu Effizienzvorteilen i.S. einer Kostensenkung bei der Erstellung der eigenen Leistungen führt.186 Für das ChurnManagement ist aus diesem Grund die Wirtschaftlichkeit der Geschäftsbeziehung aus Sicht der Geschäftskunden von besonderer Bedeutung. Demnach sollte ein systematisches Churn-Management dazu beitragen, Nutzen- und Kostenaspekte auf individueller Geschäftskundenebene zu messen und zu bewerten. Dabei empfiehlt es sich, die vorliegenden kundenindividuellen Transaktions- und Nutzungsdaten gezielt auf eine kundenseitige suboptimale Nutzung der Dienstleistungen zu prüfen und diese
183 184 185 186
Vgl. Gerpott (2006), S. 503. Vgl. Gerpott/Rams (2000), S. 740. Vgl. Homburg/Jensen (2004), S. 494. Vgl. Backhaus/Baumeister/Mühlfeld (2005), S. 201.
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Informationen für eine Optimierung der in Anspruch genommenen Dienstleistungen aktiv zu nutzen.187 Ein weiteres Charakteristikum des B2B-Kontexts ist der umfassend identifizierte Markt. Im Vergleich zum Markt für Endkunden ist die Zahl aktiver und potenzieller Kunden auch in den hier betrachteten Geschäftstypen „Produkt- bzw. Systemgeschäft“ vergleichsweise gering. Wenngleich diesem Charakteristikum im Churn-Management nicht die größte Bedeutung zukommt, ergibt sich sehr wohl die Implikation, das Nutzungs- und Transaktionsverhalten der Kunden für die Erstellung individualisierter Profile zu nutzen. Die Profile können erstens für die Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden und zweitens für die Erstellung spezifischer Angebote zur Abwanderungspräventation herangezogen werden. Auf Grund der geringen Kundenzahl ist die Profilierung der Geschäftskunden im B2B-Marketing deutlich besser möglich als im B2C-Marketing. Für die vorliegende Untersuchung von vermeintlich größerer Relevanz ist hingegen die Multipersonalität. Sie ist das zentrale Charakteristikum des Churn-Managements im B2B-Kontext. Während die Multipersonalität grundsätzlich die Beteiligung mehrerer Personen in den Entscheidungsprozessen bezeichnet, verbindet sich hiermit in der vorliegenden Untersuchung auch die Existenz hierarchischer Kundenstrukturen aus Entscheider- und Nutzerebene. Das Churn-Management sollte diese hierarchischen Strukturen bei der Analyse von Transaktions- und Nutzungsdaten berücksichtigen. Hieraus resultiert gleichzeitig die Forderung, dass spezifische Daten sowohl für die Entscheider- als auch für die Nutzerebene zur Analyse der hierarchischen Strukturen erfasst werden sollten. Diese Forderung begründet sich in der Annahme, dass bei Vorliegen hierarchischer Strukturen beide Ebenen die Abwanderungsbereitschaft beeinflussen.188 Insofern sollten sich die Maßnahmen der Churn-Prävention auf die Anspruchsgruppen innerhalb der beiden Ebenen richten. Während auf der oberen Ebene letztlich die Entscheidung über den grundsätzlichen Fortbestand der Geschäftsbeziehungen erfolgt, können die Nutzer auf der unteren Ebene durch ihr Nutzungsverhalten auch auf die Entscheidung Einfluss nehmen. Allerdings ist es für die Dienstleistungsanbieter problematisch, dass die Transaktions- und Nutzungsdaten zumeist auf der Nutzerebene vorliegen, aber nur wenige Daten auf der Entscheidungsebene existieren bzw. separat zu erfassen sind. Bei großen Industrieunternehmen oder 187 188
Vgl. Joo/Jun/Kim (2002), S. 351. Vgl. Homburg/Jensen (2004), S. 491-493.
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Unternehmensberatungen nutzen bspw. hunderte oder tausende von Angestellten Telekommunikationsdienstleistungen. Den Telekommunikationsanbietern liegen demnach Daten des Nutzungs- und Transaktionsverhaltens dieser Mitarbeiter in großem Umfang vor, die für das Churn-Management herangezogen werden können.189 Für die Entscheidungsebene liegen hingegen keine direkt erfassbaren Transaktionsund Nutzungsdaten vor. Ein Beispiel aus dem Bereich Autovermietung verdeutlicht die potenzielle Einflussnahme der Nutzerebene auf die Abwanderungsentscheidung: Das Einkaufsgremium eines Geschäftskunden hat sehr gute Konditionen für die Inanspruchnahme der Dienstleistung eines Autovermieter ausgehandelt und sich daher für diesen Anbieter entschieden. In der täglichen Nutzung der Autovermietung machen die Mitarbeiter des Geschäftskunden indessen regelmäßig negative Erfahrungen mit der gebotenen Dienstleistung. Diese negativen Erfahrungen können letztlich zu einer Abwanderung des Geschäftskunden führen, obwohl die vertraglichen Konditionen besser sind als die von Wettbewerbern. Aus diesen Ausführungen lässt sich auch die in Abschnitt 2.2. aufgezeigte Bedeutung des Trade-off zwischen Nutzen und Preis erkennen. Gleichsam prägen ein hoher Grad an Individualisierung sowie das Vorherrschen des Interaktionsparadigma das B2B-Marketing. Die Individualisierung bezieht sich einerseits auf vielfältige Beratungen hinsichtlich der Form und Möglichkeiten des Einsatzes der Dienstleistung im Vorfeld eines Vertragsabschlusses, die insbesondere im Falle eines Nicht-zu-Stande-Kommens für den Dienstleistungsanbieter „sunk costs“ darstellen.190 Andererseits erfolgt nach einem Vertragsabschluss eine anbieterseitige Anpassung der Dienstleistungen an die individuellen Bedürfnisse der Geschäftskunden. Im Gegensatz zum Endkundengeschäft finden sich im B2B-Marketing daher vermehrt individualisierte Dienstleistungslösungen.191 Demnach ist ein entsprechend heterogenes Kundenverhalten zu erwarten. Vor diesem Hintergrund ist es für den Dienstleistungsanbieter und dessen Churn-Management bedeutsam, die Abwanderung von Geschäftskunden zu verhindern und bereits zu Beginn der Geschäftsbeziehung Vertrauen aufzubauen. Gleichsam sollte die Heterogenität der Geschäftskunden Berücksichtigung finden.192
189 190 191 192
Vgl. Wilson (2006), S. 38. Vgl. Homburg/Jensen (2004), S. 490. Vgl. Abschnitt 2.2.2. Ansätze hierfür sind bspw. sog. Latent Class-Regressionsmodelle. Vgl. Joo/Jun/Kim (2002), S. 359 sowie Kapitel 3.
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Mit der Individualisierung ist das Interaktionsparadigma als weiteres B2BCharakteristikum eng verbunden. Die Erstellung individualisierter Angebote sowie die Erbringung der eigentlichen Dienstleistungen erfordern i.d.R. einen extensiven Austauschprozess zwischen Anbieter und Geschäftskunden. Im Rahmen des ChurnManagements können diese Interaktionen zur Erfassung einer potenziellen Abwanderungsgefahr ebenso genutzt werden wie zur Erfassung veränderter Kundenbedürfnisse. Häufig ist zudem der Preis Gegenstand der Interaktionen.193 In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass der Anbieter sich die Nicht-Abwanderung eines Geschäftskunden „erkaufen“ kann, indem er entsprechend günstige Konditionen anbietet. Dementsprechend ist innerhalb des Churn-Managements zu entscheiden, ob und mit welchen Zugeständnissen die Abwanderung eines Geschäftskunden verhindert werden soll. Auch der jeweils vorliegende Geschäftstyp ist bei der Gestaltung des ChurnManagements zu beachten. Bereits die Ausführungen im Abschnitt 2.2.1.2 haben dargelegt, dass die hier relevanten Geschäftstypen Produkt- und Systemgeschäft unterschiedliche Anforderungen an das B2B-Marketing stellen. Telekommunikationsunternehmen könnten bspw. gezielt Leistungen vermarkten, die für die Geschäftskunden zu einem Kaufverbund führen oder technische Abhängigkeiten erzeugen.194 Insofern lässt sich folgern, dass im Rahmen des Churn-Managements die Existenz solcher Ex-PostAbhängigkeiten gesucht bzw. in die Analyse einfließen werden. Im Gegensatz zum Systemgeschäft ist es dem Anbieter im Produktgeschäft nur bedingt möglich, die Geschäftskunden durch kundenseitige spezifische Investitionen an sich zu binden.195 In diesem Fall sollten sich die für das Churn-Management verantwortlichen Manager bei der Analyse auf die ökonomischen Dimensionen der Kundenbeziehung fokussieren und auf die Wirtschaftlichkeit des Angebots für die individuellen Kunden achten. In Bezug auf die Abwanderungsgefahr empfiehlt es sich weiterhin, etwaig getätigte spezifische Investitionen des Anbieters in die Kundenbeziehung zu beachten, da diese sich auf das Churn-Verhalten der Geschäftskunden auswirken können. Gleichsam könnte durch Marketing-Aktivitäten ein Geschäftstypenwechsel vom Produkt- in das Systemgeschäft anbieterseitig herbeigeführt werden.196 Letzterer Aktionsparameter
193 194 195
196
Vgl. Homburg/Jensen (2004), S. 492. Vgl. Backhaus/Baumeister/Mühlfeld (2005), S. 211. Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 195-204. Zu spezifischen Investitionen und deren Auswirkungen auf die Abwanderungsgefahr von Geschäftskunden vgl. bspw. Liu (2006); Nielson (1996); Wathne/Biong/Heide (2001). Vgl. Backhaus/Baumeister/Mühlfeld (2005), S. 216-220.
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kann allerdings nicht allein durch Maßnahmen im Rahmen des Churn-Managements realisiert werden. Vielmehr bedarf es hierfür der Anstrengungen des gesamten Marketing. Diese Ausführungen verdeutlichen, dass die Gestaltung des Churn-Managements im B2B-Kontext grundlegend durch die beschriebenen Charakteristika des B2BMarketing, insbesondere der Multipersonalität sowie des Geschäftstyps, determiniert wird. Die Entwicklung von Geschäftsbeziehungen im B2B-Kontext ist auf Grund der starken Leistungsindividualisierung und der positiven wirtschaftlichen Folgen von längerfristigen Beziehungen mit wertvollen Kunden von entscheidender Bedeutung.197 Insbesondere in wettbewerbsintensiven Branchen ist das Wissen um die Gründe für eine Beendigung von Geschäftsbeziehungen eine bedeutende Einflussgröße auf den Erfolg im Wettbewerb.198 Neben dem Angebot von nicht-konkurrenzfähigen Leistungen lassen sich weitere Gründe für die Abwanderung bzw. Churnbeeinflussende Variablen für die Identifikation von abwanderungsgefährdeten Geschäftskunden auf Basis der abgeleiteten Besonderheiten des Churn-Managements im B2B-Kontext herausarbeiten.199 Während in der Praxis direkt auf die Analyse der Transaktions- und Nutzungshistorie von Geschäftskunden abgestellt wird, steht in den folgenden Ausführungen des Abschnitts 2.4 die Entwicklung eines grundlegenden konzeptionellen Bezugsrahmens im Mittelpunkt. Ziel ist es, zentrale Gründe bzw. Prädiktoren für das Churn-Verhalten von Geschäftskunden herauszuarbeiten und zu systematisieren. Der angestrebte Bezugsrahmen integriert simultan die Eigenschaften des B2B-Marketing und das aus dem B2C-Marketing entstandene Churn-Management zu einer geschlossen Systematik und füllt insofern die im Abschnitt 1.1 aufgezeigte Forschungslücke der systematischen Untersuchung des Churn-Managements im B2BKontext.
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198 199
So weisen langjährige Geschäftskunden eine höhere Preiselastizität als Endkunden auf. Vgl. Athanassopoulou (2006), S. 86; Jain/Muller/Vilcassim (1999), S. 135 f.; Kalwani/Narayandas (1995), S. 5. Vgl. Wathne/Biong/Heide (2001), S. 63. Vgl. Joo/Jun/Kim (2002), S. 353.
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2.4 Konzeptioneller Bezugsrahmen des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext Der vorherige Abschnitt 2.3 hat gezeigt, dass sich aus dem B2B-Kontext vielfältige Implikationen für das Churn-Management ergeben, die eine grundlegende Konzeptionalisierung des Churn-Managements im B2B-Kontext erforderlich erscheinen lassen. Auf Grund der Fokussierung auf die Teilschritte des Churn-ManagementProzesses Identifikation von Prädiktoren, Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden und Segmentierung wird bei der Konzeptionalisierung nicht auf potenziell einzusetzende Maßnahmen zur Churn-Prävention eingegangen.200 Den Erläuterungen aus Abschnitt 1.2 folgend, steht bei der Entwicklung des Bezugsrahmens weniger die theoretische Fundierung als vielmehr die Entwicklung eines idealtypischen konzeptionellen Ansatzes im Vordergrund.201 Hierfür spricht die aufgezeigte Einordnung der vorliegenden Arbeit in den „logischen Empirismus“. Der folgende Abschnitt gliedert sich wie folgt: Zunächst werden die Literatur zum ChurnManagement (Abschnitt 2.4.1) sowie die grundlegende Bedeutung und Konzeption des Bezugsrahmens diskutiert (Abschnitt 2.4.2). Daran schließen sich die detaillierte Untersuchung wesentlicher Determinanten des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext an (Abschnitt 2.4.3) an.
2.4.1 Kritische Bestandsaufnahme der Literatur zum Churn-Management Bevor die konkrete Entwicklung des konzeptionellen Bezugsrahmens erfolgt, empfiehlt es sich, die vorhandene Literatur zum Churn-Management zu systematisieren. Im Fokus stehen dabei die Ergebnisse konzeptioneller Studien im Allgemeinen und empirischer Untersuchungen zum Churn-Management im Speziellen. Die Erkenntnisse aus der Bestandsaufnahme dienen in den nachfolgenden Abschnitten zur Entwicklung des Bezugsrahmens und sind gleichzeitig ein Beleg für die noch unzureichende Untersuchung des Churn-Managements im B2B-Kontext unter Verwendung von elaborierten statistischen Methoden.202
200 201
202
Vgl. Abschnitt 2.1. Die Begriffe Entwicklung und Konzeptionalisierung werden im Folgenden synonym verwendet. Dementsprechend wird mit dem in diesem Abschnitt zu entwickelnden Bezugsrahmen nicht der Anspruch erhoben, eine Theorie zu operationalisieren bzw. einen Beitrag zur Ergänzung einer Theorie zu liefern. Vgl. hierzu auch Harrison-Walker/Neeley (2004), S. 27. In diesem Abschnitt erfolgt keine ausführliche Diskussion der angeführten Beiträge, da deren zentralen Befunde in die Entwicklung des konzeptionellen Bezugsrahmens innerhalb des Abschnitts 2.4.3 eingehen. Auf diese Weise können inhaltliche Redundanzen vermieden werden.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Die Analyse der Literatur zum Churn-Management erfasst neben den zwei Aspekten „Autoren“ und „Untersuchungsgegenstand“ die Kriterien eingesetzte „Methode(n)“, die erfassten „Einflussfaktoren“ und „zentrale Befunde“. Weiterhin enthält die Literaturtabelle Informationen über die Berücksichtigung der für die vorliegende Arbeit besonders relevanten Kategorien „B2B-Kontext“, „Hierarchie“ und „Heterogenität“, „Telekommunikationsbranche“ sowie „Data Mining“. Das Kriterium „Einflussfaktoren“ bezieht sich dabei auf die integrierten Determinanten und Prädiktoren des Churn-Verhaltens. Die beiden Begriffe stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Die Determinanten stellen übergeordnete Einflussgrößen auf das ChurnVerhalten dar. Demgegenüber dienen Prädiktoren der Operationalisierung der Determinanten. Im Abschnitt 2.1. konnte bereits gezeigt werden, dass die Identifikation der Prädiktoren den ersten Schritt im Churn-Management-Prozess darstellt und die Prädiktoren insbesondere bei der Datenanalyse von großer Bedeutung sind. Anzumerken ist weiterhin, dass die Determinanten, wenn auch nicht überschneidungsfrei, sog. Konstrukten zugeordnet werden können. Konstrukte stellen übergeordnete, z.T. theoretisch fundierte, Beziehungszusammenhänge dar.203 Die anderen Kriterien dienen dazu, die einzelnen Beiträge darauf zu untersuchen, ob sie sich erstens auf die Analyse des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden (B2B-Kontext) fokussieren, sie zweitens in den Analysen simultan hierarchische Kundenstrukturen und heterogenes Kundenverhalten integrieren (Hierarchie und Heterogenität), drittens die Untersuchungen am Beispiel der Telekommunikationsbranche erfolgen und viertens die Daten mit Hilfe von Data Mining-Ansätzen untersucht wurden. In der folgenden Tabelle 1 sind die relevanten Beiträge in chronologischer Reihenfolge aufgeführt, sodass sich die Entwicklung der Forschungsschwerpunkte im zeitlichen Ablauf nachvollziehen lässt.
203
Vgl. Abschnitt 2.4.2.1.
Tarifgestaltung, Endgerät, Interaktionsintensität, Nutzungshäufigkeit, Qualität Qualität, Beziehungsdauer, Interaktionen, Kundenzufriedenheit Nutzungshäufigkeit, Nutzungsintensität, Qualität, Monetary Value, Cross- u. UpSelling-Verhalten
Conjoint-Analyse, Dynamische Modellierung (n=85) Explorative Faktorenanlayse u. Diskriminanzanalyse (n= 494) Logistische Regression, Entscheidungsbäume u. Neuronale Netze (n=46.744)
X
X X
X X
X
Tarif- u. Endgerätpreisoptimierung
Unterschiede zwischen Churnern u. NichtChurnern
Erklärung v. Kundenunzufriedenheit u. Churn-Verhalten
Vergleichende Analyse von Methoden der Churn-Modellierung am Beispiel von Versicherungen
Nützlichkeit von Data Mining für das ChurnManagement
Zusammenhang Churn- zw. Preisoptimierung Determinantenu. & Churn-Verhalten Churn-Prozess
Jain/Muller/ Vilcassim (1999)
Ganesh/Arnold/ Reynolds (2000)
Mozer et al. (2000)
Smith/Willis/ Brooks (2000)
Lejeune (2001)
Danaher (2002)
X
Hazard-Regression Logistische Regression (n=296)
Konzeptionelle Analyse
Logistische Regression, Entscheidungsbäume u. Neuronale Netze (n=20.914)
Fortsetzung auf der nächsten Seite (Legende: X = Aspekt wurde in der Analyse berücksichtigt)
X
X
X
Großes Potenzial des Data Mining bei der Identifikation der Churn-Gefahr Qualitätsbezogene Grundgebühr u. Nutzungspreis Einflussfaktoren mitund unterschiedlichem starke Nutzungshäufigkeit Einfluss auf fördern ChurnKundenabwanderung Verhalten
Tarif, Nutzungshäufigkeit, Umsatz, Service-mängel, Tarif (Grundgebühr, Nutzungshäufikeit, Nutzungspreis), demographische Beschwerden, Endgerät Variable
Positiver Nutzen von Data Mining im Churn-Management; minimale Überlegenheit von Neuronalen Netzen ggü. Logistischer Regression; schlechtere Eignung von Entscheidungsbäumen
Möglichkeit zur Gewinnsteigerung durch Data Mining-orientiertes ChurnManagement; bessere Eignung von Neuronale Netzen als Logistische Regression u. Entscheidungsbäume
Existenz von Unterschieden im Verhalten zwischen Churnern u. NichtChurnern
Analytisches Modell zur Untersuchung von Tarif- u. Endgerätpreisgestaltung
Hohes Churn-Risiko durch Kundenunzufriedenheit; Kundenzufriedenheit kein Garant für Kundenloyalität
Nutzungshäufigkeit, Qualität, Monetary Value
Nutzungsverhalten, Beziehungsdauer, demographische Variable
Qualität, Kundenzufriedenheit, Interaktionsintensität
Diskriminanzanalyse auf Basis einer Befragung (n=233)
Kundenzufriedenheit als Determinante des Churn-Verhaltens, Notwendigkeit einer Nutzungs- und Transaktionsdatenanalyse
Erklärung des Churn-Verhaltens
Mittal/Lassar (1998)
v X
Chi-Quadrat-Test auf Basis einer Logistische Regression Kundenbefragung (n=3.361)
Ökonomische Vorteilhaftigkeit, Qualität, Kundezufriedenheit
X
X
Proportional HazardRegression u. Kundenzufriedenheitsbefragung (n=650)
Dauer von Kundenbeziehungen und deren Determinanten
Bolton (1998)
X
X
Notwendigkeit der Analyse des ChurnVerhaltens von Geschäftskunden; ökonomische Vorteilhaftigkeit von Kundenbindung ggü. Kundenakquisition
Methode(n)
Ökonomische Vorteilhaftigkeit, Qualität, negatives Word-ofMouth-Verhalten, Preisgestaltung, Beziehungsdauer
Data Mining
Sensitivitätsanalyse u. konzeptionelle Analyse
Analyse u. Verhinderung von Churn-Verhalten
Page/Pitt/Berthon (1996)
TK-Branche
Kundenzufriedenheit Kundezufriedenheit und undBeschwerden Beschwerden als Einflussfaktoren als Einflussfaktoren auf das auf das ChurnChurn-Verhalten Verhalten
Heterogenität Kundenzufriedenheit, Tarif, Umsatz, Service-mängel, Beschwerdeverhalten Nutzungshäufikeit, (Rechnungen, Netzabdeckung, Beschwerden, Endgerät Endgerät)
Zusammenhang zw. ChurnBeschwerde- u. Determinanten & AbwanderungsChurn-Prozess verhalten
Bolton/Bronkhorst (1995)
Hierarchie
Zentrale Befunde
B2B
Einflussfaktoren
Untersuchungsgegenstand
Autor(en)/Jahr
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext 57
Enge Qualitätsbezogene Beziehung zwischen Einflussfaktoren vertraglichen und u. beziehungsorientierten starke Nutzungshäufigkeit Wechselkosten fördern und Kundenabwanderung dem Churn-Verhalten Einfluss von Beziehungsdauer, Kundenzufriedenheit, Qualität uEndgerät auf das Churn-Verhalten
Nutzungshäufigkeit, Nutzungsintensität, Cross- u. Up-Selling-Verhalten, Qualität Tarif, Spezifische Umsatz, Investitionen, Service-mängel, gemeinsame Nutzungshäufikeit, Erfahrungen, Beschwerden, Wechselkosten Endgerät Qualität, Kundenzufriedenheit, demographische Variablen, Cross-Selling, Tarifgestaltung, Endgerät, Beziehungsdauer
Hazard-Regression u. Logistische Regression (n=40.000) Kanonische Korrelationsanalyse auf Logistische Regression Basis einer Befragung (n=200) Logistische Regression auf Basis einer Befragung (n=973)
X X
Zusammenhag zw. Beschwerde- u. ChurnVerhalten
Churn-Management u. Relationship Marketing
Auswirkungen von ChurnWechselkosten auf das Determinanten & AbwanderungsChurn-Prozess Verhalten
Determinanten des Churn-Verhaltens in der Mobilfunkindustrie
Pricing im Kundenrückgewinnungs- u. Churn-Management
Ertragsorientierte Kundenbindung
Hulbert/Pitt/Ewing (2003)
Rüger (2003)
Caruana (2004)
Kim/Yoon (2004)
Thomas/Blattberg/ Fox (2004)
Hüppelshäuser (2005)
X
Beschwerde- u. Dialogverhalten
Theoretischkonzeptionelle Analyse
Zusammenhang Churn- zw. Kundenwissen Determinanten und& Churn-Verhalten Churn-Prozess
Capraro/ Broniarczyk/ Srivastava (2003)
X
X
X
X
Beziehungsdauer, Preisgestaltung Tarife, Nutzungshäufigkeit, Nutzungsintensität, Qualität, Cross- u. Up-Selling-Verhalten
Hazard-Regression (n=566) Hazard-Regression u. Logistische Regression (n=64.000)
Qualitätsbezogene Einfluss des Kundenwissens Einflussfaktoren überund starke Wettbewerbsangebote Nutzungshäufigkeit auffördern das Kundenabwanderung Churn-Verhalten
Kundenzufriedenheit, Tarif, Umsatz, Service-mängel, Wechselbarrieren u. Nutzungshäufikeit, Kundenwissen über Beschwerden, Endgerät Wettbewerbsangebote
Logistische Regression auf Basis einer Logistische Regression Kundenbefragung (n=235)
Bessere Eignung der Logistischen (Hazard-) Regression zur Identifikation von (il)loyalen Kunden
100%-ige Kundenbindung nicht ratsam; Relevanz von dynamischer Preisgestaltung
Nützlichkeit des Data Mining innerhalb des Churn-Managements
Verhinderung von Churn-Verhalten durch Interaktion zwischen Kunden u. Unternehmen sowie Beschwerdemanagement
Große Relevanz des ChurnManagements in der Mobilfunkbranche; sehr gute Eignung von Nutzungs- u. Transaktionsdaten
Nutzungshäufigkeit, Nutzungsintensität, Beziehungsdauer, Tarif
Entscheidungsbäume (n=114.000)
Fortsetzung auf der nächsten Seite (Legende: X = Aspekt wurde in der Analyse berücksichtigt)
X
X
X
X
X
Eignung von Nutzungsverhalten zur Erklärung von ChurnVerhalten
Adaptierte Neuronale Netze (n=300.000)
Besseres Verständnis der Ursachen des Churn-Verhaltens durch den vorgestellten Ansatz
Wei/Chiu (2002)
X
Monetary Value, Nutzungsverhalten, Mobilfunknetznutzung von Wettbewerbern
X
Erklärung und Prävention von ChurnVerhalten
Kein direkter Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit u. Kundenbindungsverhalten
Qualität, Kundenzufriedenheit, Interaktion zwischen Kunden u. Anbieter
ANOVA-Regression auf Basis einer Befragung (n=700)
Ultsch (2002)
Verhinderung von Churn-Verhalten durch Vermeidung von Tarifwahl-Bias
Transaktions- u. Produktnutzungsdaten, demographische Variablen, Beziehungsdauer, Monetary Value
Hazard-Regression (n=10.000)
X
Zentrale Befunde
Einflussfaktoren
Methode(n)
Determinanten der Kundenbindung bzw. des Churn-Verhaltens
X
Data Mining
Khatibi/Ismail/ Thyagarajan (2002)
TK-Branche
X
Heterogenität
Tarifwahl-Bias u. Churn-Verhalten
Hierarchie
Joo/Jun/Kim (2002)
B2B
Untersuchungsgegenstand
Autor(en)/Jahr
58 Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Quelle: Eigene Darstellung.
Tabelle 1: Beiträge zum Churn-Management X
Identifikation von Churn-Gefahr durch ex-post Kundenprofile
Prognose von ChurnVerhalten
Churn-Management im B2B-Kontext
Qian/Jiang/Tsui (2006)
Fader/Hardie (2007)
Eigene Untersuchung
X
X
X
X
X
X
X
X
X
Nutzungsverhalten, Beziehungsdauer, Qualität,
Beziehungsdauer
Nutzungs- u. Transaktionsverhalten
Shifted-Beta-Geometric Modelle (n= k.A.) Logistische Regression, LCR u MLCR (n=21.276)
Nutzungshäufigkeit, Nutzungsintensität, Monetary Value, Interaktionsintensität, demographische Variable
Logistische Regression, Entscheidungsbäume, Neuronale Netze (n=151.000) Finite Mixture Modelle (n=1787)
Bessere Erklärung des Churn-Verhaltens durch optimierte Entscheidungsbäume als bei der Logistischen Regression; Vorteilhaftigkeit von balancierten Samples Monetary Value, Nutzungshäufigkeit, Beziehungsdauer, Interaktionsintensität
Entscheidungsbäume u. Logistische Regression (n=150.000)
Vgl. Kapitel 4 u. 5
Shifted-Beta-Geometric Modelle als Möglichkeit zur Prognose von ChurnVerhalten
Große Relevanz des ChurnManagements für Unternehmen; bessere Ressourcenallokation durch eine ex-post Profilierung von Kunden
Relevanz von Methoden der ChurnModellierung; zeitliche Stabilität der Methoden gegeben; Überlegenheit von Entscheidungsbäumen
Verbesserte Erklärung des ChurnVerhaltens durch Berücksichtigung von unbeobachteter Heterogenität
Monetary Value, Qualität, Beschwerdeverhalten, demographische Variablen
(Legende: X = Aspekt wurde in der Analyse berücksichtigt)
X
X
Vergleichende Analyse von Methoden der Churn-Modellierung
Neslin et al. (2006)
X
X
Optimierung von Entscheidungsbäumen zur Erklärung von Churn-Verhalten
Lemmens/Croux (2006)
X
Heterogene HazardRegression (n=2.801)
Optimierung der Identifikation u. Prognose von ChurnGefahr
Jamal/Bucklin (2006)
X
Nutzungshäufigkeit, Rabatte, demographische Variablen,
Galguera/Luna/ Méndez (2006)
Entscheidungsbäume u. Logistische Regression auf Basis von Befragungen (n=705)
Prognose von Teilnehmersegmenten in Kundenkartenprogrammen
X
X
Bessere Eignung von Entscheidungsbäumen bei der Prognose der (Nicht)Teilnahme an Kundenkartenprogrammen als bei der Logistischen Regression
Qualitätsbezogene Einfluss von Veränderungen Einflussfaktoren im und monatlichen starke Nutzungshäufigkeit Nutzungsverhalten fördern auf das Kundenabwanderung Churn-Verhalten
Tarif, Nutzungshäufigkeit, kumulierte Nutzung, Nutzungserfahrung
Proportional HazardRegression (n=18.252)
X
Dynamisches Nutzungsverhalten u. Churn-Verhalten
Dover/Murthi (2006)
Förderung von Kundenabwanderung durch qualitätsbezogene Einflussfaktoren u. starke Nutzungshäufigkeit
Tarif, Umsatz, Servicemängel, Nutzungshäufikeit, Beschwerden, Endgerät
Logistische Regression (n=5789)
X
Divergierendes Verhalten zw. abwanderungsgefährdeten und loyalen Kunden
Nutzungshäufigkeit, Qualität, Beziehungsdauer, Nutzungsintensität
X
Neuronale Netze (n=255)
Methode(n)
Zentrale Befunde
Data Mining Einflussfaktoren
Churn-Determinanten u. Churn-Prozess
TK-Branche
Ahn/Han/Lee (2006)
Heterogenität
Churn-Prävention auf Basis von Neuronalen Netzen
Hierarchie
Kim/Song/Kim (2005)
B2B
Untersuchungsgegenstand
Autor(en)/Jahr
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext 59
60
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Die Literaturübersicht verdeutlicht, dass der Fokus der integrierten Beiträge bisher maßgeblich auf dem B2C-Kontext lag. Es finden sich lediglich sechs Studien, die sich auf Dienstleistungen im B2B-Kontext fokussieren.204 Allerdings erfasst keine dieser Untersuchungen die hierarchischen Kundenstrukturen oder das heterogene Kundenverhalten i.S. dieser Arbeit. Aus der Literaturübersicht geht weiterhin hervor, dass die Untersuchungen in der überwiegenden Zahl der Beiträge am Beispiel der Telekommunikationsbranche vorgenommen wurden. Zudem finden im Wesentlichen Variablen aus drei Gruppen von Einflussfaktoren Eingang in die jeweilige Datenanalyse. Diese Gruppen lassen sich als produkt-, interaktions- und transaktionsbezogene Determinanten bezeichnen.205 Hierunter zählen Einflussfaktoren wie z.B. „Nutzungshäufigkeit“, „Tarifgestaltung“ oder „Qualität“. Für die vorliegende Arbeit sind insbesondere die bislang eingesetzten Methoden zur Erklärung des Churn-Verhaltens interessant. Aus dem Literaturüberblick geht hervor, dass keine der eingesetzten Methoden den anderen Ansätzen eindeutig vorzuziehen ist. So kommen z.B. Mozer et al. zu dem Schluss, dass Neuronale Netze sich besser zur Erklärung des Churn-Verhaltens eignen als die Logistische Regression oder Entscheidungsbäume.206 Hingegen ziehen Neslin et al. das Fazit, dass Entscheidungsbäume bei der Analyse des Abwanderungsverhaltens die höchste Erklärungsgüte aufweisen.207 Weiterhin wird aus der Bestandsaufnahme deutlich, dass das ChurnManagement verstärkt in den Fokus der empirischen Marketingforschung rückt. So stammen alleine sieben Beiträge aus wissenschaftlichen Zeitschriften aus dem Jahr 2006.208 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich keine der aufgeführten bzw. dem Verfasser bekannten Untersuchungen mit dem Churn-Management im B2B-Kontext unter Berücksichtigung von hierarchischen Kundenstrukturen und heterogenem Kundenverhalten beschäftigt. Für die im Abschnitt 2.4.3 erfolgende Entwicklung des konzeptionellen Bezugsrahmens ergibt die Bestandsaufnahme der Literatur zum Churn-Management, dass insbesondere produkt-, interaktions- und transaktionsbezogene Einflussfaktoren bei der Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden zu 204 205 206 207 208
Vgl. Caruana (2004); Ganesh/Arnold/Reynolds (2000); Jain/Muller/Vilcassim (1999); Mozer et al. (2000); Page/Pitt/Berthon (1996); Qian/Jiang/Tsui (2006). Die Determinantengruppen werden in Abschnitt 2.4.3 ausführlich erläutert. Vgl. Mozer et al. (2000). Vgl. Neslin et al. (2006). Vgl. Ahn/Han/Lee (2006); Galguera/Luna/Méndez (2006); Dover/Murthi (2006); Jamal/Bucklin (2006); Lemmens/Croux (2006); Neslin et al. (2006); Qian/Jiang/Tsui (2006).
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
61
berücksichtigen sind. Auch konnte keine eindeutige Überlegenheit eines einzelnen statistischen Ansatzes zur Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden festgestellt werden.
2.4.2 Grundlegende Ansatzpunkte des konzeptionellen Bezugsrahmens Nachdem die noch unzureichende Erforschung des Churn-Managements im B2BKontext auf Basis der Literaturbestandsaufnahme aufgezeigt werden konnte, zielen die folgenden Abschnitte auf eine Systematisierung der Einflussgrößen des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden ab. Dabei gilt es, die im Abschnitt 2.3. diskutierten Besonderheiten des Churn-Managements im B2B-Kontext mit den Erkenntnissen aus der Literaturanalyse zu einem ganzheitlichen konzeptionellen Bezugsrahmen zu integrieren. Letztlich kommt es darauf an, die für das Churn-Verhalten im B2BKontext relevanten Determinanten zu identifizieren.209 Aus diesem Grund kann auf die Ergebnisse der im obigen Abschnitt 2.4.1 vorgestellten Studien zum ChurnManagement ebenso zurückgegriffen werden wie auch auf die nachfolgend zu diskutierenden ausgewählten Erkenntnisse der Kundenmanagementforschung.
2.4.2.1 Erkenntnisse der Kundenmanagementforschung Im Folgenden stehen die zentralen Wirkungsbeziehungen zwischen Konstrukten zur Erklärung des Abwanderungsverhaltens von Geschäftskunden im Vordergrund. Ausgangspunkt der Diskussion sind die grundlegenden Erkenntnisse der Kundenmanagementforschung von Krafft.210 Der Autor stellt auf das Beziehungsgefüge zwischen den Konstrukten „Kundennähe“, „Kundenzufriedenheit,“ „Kundenbindung“ und „Kundenwert“ sowie deren Operationalisierung auf Basis von im Unternehmen existierenden Daten ab. Gleichsam sind auch Eigenheiten des B2B-Kontexts in der Entwicklung des Beziehungsgefüges zu beachten. In Abschnitt 2.2 ist die Relevanz der Interaktion zwischen Anbietern und Geschäftskunden sowie die Individualisierung der Leistung herausgearbeitet worden. Aus diesem Grund wird das Beziehungsgefüge von Krafft in der Form verändert, dass neben dem Konstrukt
209
210
Im Gegensatz zu Studien wie bspw. die von Homburg/Giering/Menon (1996) steht in der vorliegenden Arbeit nicht die Validierung der Beziehungen zwischen den einzelnen Konstrukten i.S. von Strukturgleichungsmodellen im Vordergrund. Vielmehr werden Determinanten identifiziert, die einen signifikanten Einfluss auf das Churn-Verhalten haben können. Zu Strukturgleichungsmodellen vgl. ausführlich Götz/Liehr-Gobbers (2004). Vgl. Krafft (2007).
62
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
„Kundenzufriedenheit“ das Konstrukt „Nutzungs- und Beziehungsintensität“ integriert wird.211 Zudem ist bereits auf die Bedeutung von Wirtschaftlichkeitskriterien für den Fortbestand von Geschäftsbeziehungen im B2B-Kontext aus Kundensicht verwiesen worden (Abschnitt 2.2). Aus diesem Grund wird auch das Konstrukt „ökonomische Vorteilhaftigkeit“ in das Beziehungsgefüge einbezogen.212 Die Konstrukte werden zueinander in Beziehung gesetzt und dienen zur Erklärung des Abwanderungsverhaltens von Geschäftskunden.213 Bevor die Beziehungen zwischen den genannten Konstrukten Gegenstand der Ausführungen sind, sollen diese überblicksartig diskutiert werden.214 Innerhalb der Kundenmanagementforschung stand das Konstrukt „Kundenzufriedenheit“ im B2Bund B2C-Marketing im Mittelpunkt zahlreicher Forschungsbeiträge.215 Ansatzpunkte zur theoretischen bzw. konzeptionellen Erklärung der Kundenzufriedenheit sind u.a. die Equity-Theorie sowie das Confirmation/Disconfirmation-(C/D-)Paradigma.216 Die Equity-Theorie zählt zu den verhaltenswissenschaftlichen Theorien und erklärt das manifeste Verhalten von Kunden in Austauschbeziehungen als Resultat von Vergleichsprozessen.217 Das C/D-Paradigma ist keine Theorie, sondern ein zentrales, konzeptionelles Erklärungsmodell für die Kundenzufriedenheit. Nach dem Paradigma resultiert Kundenzufriedenheit dabei aus einem Vergleichsprozess zwischen erwarteter und tatsächlicher Leistung.218 Entspricht die tatsächliche der erwarteten Leistung, liegt Confirmation und dementsprechend Kundenzufriedenheit vor. Sofern die tatsächliche
211
212 213
214 215 216
217
218
Vgl. Krafft (2007), S. 60-66. Das Konstrukt „Nutzungs- und Beziehungsintensität“ trägt dem B2B-Kontext Rechnung und geht inhaltlich über das von Homburg (1998) geprägte Verständnis von Kundennähe hinaus. Insbesondere durch den Beziehungsaspekt kommt die Bedeutung der Interaktion zwischen Anbietern und Geschäftskunden besser zur Geltung. Vgl. hierzu ebenfalls Krafft/Betz (2003). Vgl. Lam et al. (2004), S. 294-298. In der Kundenmanagementforschung wird vermehrt auf die Kundenbindung als zu erklärende Größe abgestellt. Die Einordnung des Churn-Managements in das Kundenbindungsmanagement rechtfertigt indessen die im weiteren Verlauf dieses Abschnitts vorgenommene Orientierung an den Forschungsergebnissen zum Kundenbindungsmanagement. Zu den Konstrukten vgl. Homburg (1998); Krafft (2007). Für eine ausführliche Diskussion des Konstrukts „Kundenzufriedenheit“ vgl. Athanassopoulos/ Iliakopoulos (2003); Homburg (2006); Krafft (2007). In einer empirischen Studie konnten Patterson/Johnson/Spreng belegen, dass das C/D-Paradigma auch für Dienstleistungen im B2B-Kontext anwendbar ist und Geschäftskunden die erwartete mit der tatsächlichen Leistung vergleichen. Vgl Patterson/Johnson/Spreng (1997), S. 14. Vgl. Adams (1965), S. 268 f.; Berscheid/Walster (1967), S. 437 f. Eine Übersicht zu weiteren Theorien zur Erklärung der Kundenzufriedenheit findet sich bei Homburg/Stock-Homburg (2006), S. 19-34. Auf Grund des induktiven Forschungsansatzes der vorliegenden Arbeit erfolgt in den folgenden Ausführungen keine detaillierte Diskussion unterschiedlicher Theorien. Vgl. Sharma/Ojha (2004), S. 109 f.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
63
die erwartete Leistung übererfüllt (untererfüllt), liegt positive (negative) Disconfirmation vor und es kommt zur (Un-)Zufriedenheit.219 Das Konstrukt „ökonomische Vorteilhaftigkeit“ steht in enger Beziehung zu dem in Abschnitt 2.2.1.1 diskutierten Value-Konzept von Anderson und Narus.220 Demnach steht bei diesem Konstrukt inhaltlich die Wirtschaftlichkeit von Geschäftsbeziehungen aus Kundensicht im Vordergrund.221 Im Speziellen ist das Verhalten der Geschäftskunden das Resultat aus einem Vergleich von Kosten und Nutzen bei der Inanspruchnahme einer Dienstleistung. Demnach kommen auch verstärkt ökonomische Theorien wie z.B. die Neue Institutionenökonomik zur Anwendung.222 Aus der Analyse der Kosten- und Nutzenkomponenten lassen sich zudem Aussagen in Hinblick auf die Stärken und Schwächen der jeweils angebotenen Dienstleistungen treffen.223 Weiterhin soll im Beziehungsgefüge auch das für den B2B-Kontext besonders relevant erscheinende Konstrukt „Nutzungs- und Beziehungsintensität“ Eingang finden. Während sich die Nutzungsintensität auf das eigentliche Nutzungsverhalten der Kunden richtet, steht bei der Beziehungskomponente die Interaktion zwischen Anbietern und Kunden im Vordergrund. Die Interaktion erstreckt sich dabei sowohl auf den Kontakt mit Außendienstmitarbeitern als auch auf den Kontakt mit anderen Serviceeinheiten des Anbieters wie z.B. Call-Centers. Zur theoretischen Fundierung dieses Konstrukts und seiner Effekte lassen sich Ansätze aus der Verhaltenstheorie sowie der ökonomischen Theorie heranziehen.224 So kann bspw. auf Basis der verhaltenswissenschaftlich orientierten Lerntheorie erklärt werden, wie es durch Erfahrungen zu Wissens-, Verhaltens- oder Einstellungsveränderungen kommt.225 Der Erfahrungsaspekt spielt insbesondere bei Entscheidungen der Anbieterwahl im B2BKontext auf Grund des umfangreichen Problemlösungsprozesses sowie der Immaterialität von Dienstleistungen potenziell eine Rolle.
219 220 221 222 223 224 225
Vgl. Anderson/Fornell/Lehmann (1994); Hoyer/MacInnis (2006); Morgan/Anderson/Mittal (2005); Santos/Boote (2003). Vgl. Anderson/Narus (2004). Vgl. Ulaga (2001), S. 317. Vgl. Williamson (1975) sowie für einen ausführlichen Überblick Krafft/Albers/Lal (2004); Nacif (2003), S. 57-69. Vgl. Lam et al. (2004), S. 308. Eine Diskussion der Determinanten des Customer Value findet sich bei Homburg et al. (2005). Vgl. Homburg (1998). Vgl. Engel/Blackwell/Miniard (1990), S. 396; Homburg/Becker/Hentschel (2005), S. 102.
64
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Das Beziehungsgefüge auf der Konstruktebene zielt auf die grundsätzliche Erklärung des Churn-Verhaltens ab.226 Zunächst lassen empirische Ergebnisse auf einen grundsätzlich positiven Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung und dementsprechend auf einen negativen Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Abwanderungsverhalten schließen. Gleichsam lässt sich auf eine positive Beziehung zwischen der ökonomischen Vorteilhaftigkeit und Kundenzufriedenheit schließen. Auch auf die Bindung wirkt sich eine kundenseitig wahrgenommene ökonomische Vorteilhaftigkeit positiv aus. In Bezug auf die Nutzungsund Beziehungsintensität lassen sich folgende Beziehungen unterstellen: Eine intensive und interaktive Beziehung kann zu einer Bindung der Geschäftskunden an den Anbieter führen. Hierfür spricht, dass gemeinsame Erfahrungen gesammelt und Vertrauen aufgebaut werden konnten. Gleichsam ist die Annahme begründet, dass zufriedene Kunden auch eher zu einer engen und intensiven Beziehung bereit sind. Das Beziehungsgefüge wird in der folgenden Abbildung 10 zusammengefasst.
Abbildung 10: Beziehungsgefüge zentraler Konstrukte im Churn-Management Quelle: Eigene Darstellung.
Die obigen Ausführungen zum Beziehungsgefüge zeigen, dass zur Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext produktbezogene, interaktionsbezogene und 226
Die Abwanderung von Kunden ist dabei die Kehrseite der Kundenbindung. Zu den Beziehungen zwischen den hier betrachteten Konstrukten vgl. hier und im Folgenden Backhaus/Bauer (2000); Homburg/Giering/Menon (2003), S. 50; Homburg/Rudolph (2001); Krafft (2007).
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
65
transaktionsbezogene Besonderheiten zu berücksichtigen sind, die im Abschnitt 2.4.3 ausführlich beschrieben werden. Das Beziehungsgefüge dient als Ausgangspunkt zur Entwicklung eines Erklärungsansatzes des Abwanderungsverhaltens. Allerdings ist die Orientierung an den genannten Konstrukten und deren Beziehungen zueinander zu global und zu wenig handlungsorientiert. Aus diesem Grund erfolgt die Operationalisierung anhand von Determinanten, die sich zu produkt-, interaktions- und transaktionsbezogenen Determinantengruppen zusammenfassen lassen. Damit wird die Zielsetzung verfolgt, einen konzeptionellen Bezugsrahmen für die Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext zu entwickeln, der die charakteristischen Eigenschaften von Geschäftskunden integriert. Zuvor stehen im folgenden Abschnitt 2.4.2.2 zwei übergreifende Ansätze zur Differenzierung des Abwanderungsverhaltens im Vordergrund. Der erste Ansatz fokussiert auf globale Abwanderungsgründe. Der zweite Ansatz bezieht sich auf dem Zusammenhang zwischen dem Churn-Management und der Unternehmensgröße von Geschäftskunden.
2.4.2.2 Globale Differenzierung von Abwanderungsverhalten Ein erster grundlegender Ansatzpunkt für die Analyse des Abwanderungsverhaltens ist die Differenzierung nach den drei übergeordneten Marktteilnehmern Dienstleistungsanbieter, Geschäftskunde und Wettbewerb.227 Bei anbieterinduzierten Abwanderungsgründen liegen überwiegend Komplikationen im Leistungserstellungsprozess bzw. in der Interaktion zwischen Anbieter und Kunden vor. Beispiele hierfür sind mangelnde Netzkapazitäten, regelmäßige Verspätungen oder langwierige Schadensregulierungen.228 Bei kundeninduzierten Abwanderungsgründen sind die Ursachen in den Rahmenbedingungen der Geschäftskunden zu suchen. Bspw. kann auf Grund des Outsourcings der Außendienstmitarbeiter des Geschäftskunden der Bedarf an mobilen Telekommunikationsdienstleistungen nicht mehr gegeben sein oder der Geschäftskunde ist insolvent und stellt seinen Geschäftsbetrieb ein.229 Ist die Ursache für eine Abwanderung im aktiven oder passiven Verhalten von Wettbewerbern zu sehen, liegen wettbewerbsinduzierte Abwanderungsgründe vor. Während bei aktivem Verhalten der Wettbewerber A gezielt auf die Geschäftskunden von Dienstleistungsanbieter B zugeht, wird der Kontakt zu Wettbewerber A bei passivem Verhalten durch 227 228 229
Vgl. Michalski (2002), S. 43 f. Vgl. Büttgen (2003), S. 68; Keaveney (1995), S. 76 f.; Sauerbrey/Henning (2000), S. 22. Vgl. Büttgen (2003), S. 68; Terlutter/Kricsfalussy (2006), S. 643. Für eine ausführliche Diskussion zur Frage der „Vertikalen Integration“ bzw. des Outsourcing der Funktion des Außendienstes vgl. Krafft (1995); Krafft (1996) sowie Krafft/Albers/Lal (2004).
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
die Geschäftskunden selbst initiiert. Beispiele hierfür sind eine kundenseitig wahrgenommene bessere Leistungserstellung oder günstigere Konditionen. Die folgende Abbildung 11 verdeutlicht, dass der konzeptionelle Bezugsrahmen des Churn-Managements im B2B-Kontext in eben diesem Spannungsfeld aus anbieter-, wettbewerbs- und kundeninduzierten Abwanderungsgründen zu positionieren ist. unbefriedigende Leistungserstellung, Interaktionsprobleme
anbieterinduziert
Churn-Management im B2B-Kontext wettbewerbsinduziert
kundeninduziert
aktive / passive Abwerbung
Auflösung des Außendienstes, Insolvenz
Abbildung 11: Globales Spannungsfeld des Churn-Managements im B2B-Kontext Quelle: Eigene Abbildung in Anlehnung an Michalski (2002), S. 43.
In Hinblick auf die Ableitung handlungsorientierter Implikationen ist es für die Entwicklung des konzeptionellen Bezugsrahmens für das Churn-Management im B2B-Kontext von Bedeutung, solche Abwanderungsgründe zu identifizieren, die auch von Dienstleistungsanbietern selbst identifizierbar und adressierbar sind. Dementsprechend fokussiert sich die folgende Diskussion des Bezugsrahmens mehr auf die anbieter- als auf die wettbewerbsinduzierten Abwanderungsgründe.230 Aus diesem Grund sind auch die kundeninduzierten Abwanderungsgründe aus der Entwicklung auszuklammern, da die Dienstleistungsanbieter diesen Abwanderungsgründen am wenigsten begegnen können.
230
In einer empirischen Studie konnten Perrien/Paradis/Banting (1995) zeigen, dass über 90% der Abwanderungen auf anbieterinternen Gründen basieren.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
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Neben diesem ersten globalen Ansatzpunk zur Differenzierung von Abwanderungsverhalten im B2B-Kontext ist die Unterscheidung von Kunden anhand von Unternehmensmerkmalen ein zweiter grundlegender Ansatzpunkt. Während im B2CMarketing soziodemographische Kriterien wie Geschlecht oder Alter hierfür herangezogen werden können, unterscheiden sich Geschäftskunden bspw. in ihrer Mitarbeiterzahl.231 Dabei lassen sich Klein- und Mittelstandsunternehmen (KMU) sowie Großunternehmen als Geschäftskunden voneinander abgrenzen, die gleichzeitig ein unterschiedliches Kauf- bzw. Beschaffungsverhalten aufweisen.232 Während sehr wohl Gemeinsamkeiten im Verhalten dieser beiden globalen Kundengruppen existieren, gibt es auch vielfältige individuelle Besonderheiten, die für das Churn-Management von Bedeutung sind.233 Bei Kleinunternehmen sind die Verfügbarkeit der Dienstleistung sowie deren Preise bzw. Tarife zentrale Treiber des Kaufverhaltens. Zusätzlich spielen bei Mittelstandsunternehmen auch die Bereitstellungs-, Fehleraufnahme- und Problemlösungsfähigkeit innerhalb der Anbieterwahl und der Vertragsverlängerungsentscheidung eine Rolle. Ein weiteres Charakteristikum der Dienstleistungsnachfrage von KMU ist in dem vergleichsweise eng definierten Nachfragespektrum und der damit verbundenen limitierten Umsatz- und Deckungsbeitragspotenziale zu sehen.234 Dennoch weisen KMU in Hinblick auf die Inanspruchnahme von Dienstleistungen und die Betreuung spezifische Anforderungen auf, die sich sehr wohl von denen der Endkunden unterscheiden. In Abhängigkeit von der betrachteten Branche ergeben sich auf diese Weise Erfordernisse, die in die Ausgestaltung der Dienstleistungsangebote für KMU potenziell Eingang finden können.235 Eine Betreuung der Kunden durch Außendienstmitarbeiter des Anbieters erfolgt nicht notwendigerweise. In vergleichbarer Form weist auch das Kauf- und Beschaffungsverhalten von Großkunden (GU) Besonderheiten auf.236 Auf Grund ihres relativ großen Umsatz- und Ergebnisbeitrags werden GU i.d.R. durch eine separate Vertriebseinheit betreut.237 GU 231 232 233
234 235 236 237
Vgl. Joo/Jun/Kim (2002), S. 352. Klein- und Mittelstandsunternehmen umfassen dabei alle Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern. Vgl. z.B. Gerpott (2004), S. 1252. Die Unterscheidung und die allgemeine Charakterisierung der globalen Geschäftskundengruppen in diesem Abschnitt dienen in der nachfolgenden Entwicklung des Bezugsrahmens als Basis. Eine detaillierte Diskussion potenzieller Prädiktoren des Churn-Verhaltens erfolgt in den nachfolgenden Abschnitten. Vgl. Gerpott (2004), S. 1253. Vgl. Gerpott (2004), S. 1254. Unternehmen zählen zu der Gruppe der Großkunden bei einer Mitarbeiterzahl von über 500. Die Betreuung durch eine gesonderte Vertriebseinheit wird auch als Key Account Management
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stellen weiterhin spezifische Anforderungen an Dienstleistungsunternehmen wie z.B. größte Flexibilität und Zuverlässigkeit in der Bereitstellung der Dienstleistung. Ebenso erwarten sie von den Anbietern Kompetenzen in der Verknüpfung komplementärer Dienstleistungen, individualisierte und flexible Angebote- und Abrechnungsmodalitäten.238 Letzteres hat in der Luftfahrtbranche zur Entwicklung von Allianzen wie „Star Alliance“ oder „One World“ zwischen verschiedenen Fluggesellschaften geführt.239 Für die Großkunden der Fluggesellschaften, wie Unternehmensberatungen, lassen sich daraus eine Reihe von Vorteilen ableiten. Hierzu zählen u.a. abgestimmte Flugpläne, flexible Buchungs- und Umbuchungsmöglichkeiten oder die übergreifende Gültigkeit von Vielfliegerprogrammen. Sowohl KMU als auch GU erwarten von den Anbietern gleichsam ein individuelles, auf ihre Bedürfnisse abgestimmtes Leistungsspektrum. Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass bei der Entwicklung des Bezugsrahmens zur Erklärung des Abwanderungsverhaltens von Geschäftskunden zum einen die globalen Ursachen für Abwanderungsverhalten, zum anderen aber auch die Merkmale von Geschäftskunden zu berücksichtigen sind.
2.4.3 Ausgestaltung des konzeptionellen Bezugsrahmens Auf Basis der Ausführungen in den Abschnitten 2.4.1 und 2.4.2 konnten erste Leitlinien für die in diesem Abschnitt erfolgende erstmalige Entwicklung eines Bezugsrahmens zur Analyse von Churn-Verhalten im B2B-Kontext herausgearbeitet werden. Insbesondere das im Abschnitt 2.4.2.1 diskutierte Beziehungsgefüge fungiert im Folgenden als Rahmen für die Beschreibung von Determinanten des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden. Mit Hilfe dieser Determinanten sollen abwanderungsgefährdete Geschäftskunden identifiziert werden. Die Determinanten lassen sich wiederum den übergeordneten Konstrukten „Kundenzufriedenheit“, „ökonomische Vorteilhaftigkeit“ sowie „Nutzungs- und Beziehungsintensität“ zuordnen.240 Die Determinanten dienen in diesem Zusammenhang der Operationalisierung der Konstrukte, wobei, wie oben gezeigt, die Gruppen der produkt-, interaktions- und transaktionsbezogenen Determinanten zu unterscheiden sind. Diese Determinantengruppen lassen sich anhand von spezifischen Determinanten bzw. Prädiktoren weiter differenzieren.241 Im Folgenden
238 239 240 241
bezeichnet. Vgl. hierzu ausführlich MacDonald/Rogers (1998). Vgl. Gerpott (2004), S. 1258. So hat sich bspw. Lufthansa mit 17 anderen Fluggesellschaften zur „Star Alliance“ zusammengeschlossen. Vgl. Lufthansa (2007). Vgl. Abschnitt 2.4.2.1. Hierbei ist anzumerken, dass in der Marketingforschung nur sehr wenige Studien existieren, die
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werden je Gruppe spezifische Determinanten des Churn-Verhaltens abgeleitet (Abschnitt 2.4.3.1-2.4.3.3).242 Die Determinantenauswahl erfolgt dabei auf Basis der oben diskutierten konzeptionellen (Abschnitte 2.1-2.3) und empirischen (Abschnitt 2.4.1) Erkenntnisse.243 Dabei werden die einzelnen Determinanten überblicksartig charakterisiert und zum Churn-Management in Beziehung gesetzt. Die Bedeutung einzelner Determinanten leitet sich für die konkreten Zwecke der vorliegenden Arbeit weiterhin daraus ab, inwiefern es dem Unternehmen möglich ist, die Determinanten auf Basis von im Unternehmen vorhandenen Daten zu operationalisieren.244
2.4.3.1 Produktbezogene Determinanten Produktbezogene Determinanten spiegeln Churn-beeinflussende Faktoren wider und fokussieren auf die eigentliche Nutzungsweise der Dienstleistung. Eine mögliche Determinante ist die Qualität der eigentlichen Kernleistung, wie z.B. der Flug zwischen zwei Städten. Weiterhin können auch die Zahl und die Qualität von Produkteinführungen bzw. Innovationen potenzielle Determinanten des Churn-Verhaltens darstellen. Auf Grund der Fokussierung auf Dienstleistungen lassen sich auch die Determinanten „Preise, Konditionen und Tarife“ sowie ein daraus abgeleiteter TarifwahlBias der Gruppe der produktbezogenen Determinanten zuordnen. In den Abschnitten 2.1 bis 2.3 wurde regelmäßig auf die Bedeutung von langfristigen Kundenbeziehungen hingewiesen. Weiterhin ist auch die „Attraktivität von Konkurrenzangeboten“ von Interesse. In welcher Form die genannten Determinanten potenziell in Beziehung zum Churn-Verhalten der Geschäftskunden stehen, wird im Folgenden diskutiert.
242
243 244
das Churn-Verhalten von Kunden im B2B-Kontext untersuchen (vgl. auch Abschnitt 2.4.1). Aus diesem Grund werden in Analogie zu Erkenntnissen der Churn-Forschung im B2C-Kontext entsprechende Determinanten identifiziert, die auch für den B2B-Kontext potenziell von Relevanz sind. Für eine verstärkte Fokussierung auf die Ebene der Determinanten spricht, dass hierdurch die Komplexität insofern reduziert wird, als dass kein zu starkes Gewicht auf die Zuordnung der Determinanten zu den Konstrukten gelegt wird. Eine solche Zuordnung ist auf Grund der vorhandenen fehlenden Trennschärfe nicht zu empfehlen. Auch ist eine Integration aller potenziell existierenden Determinanten in den konzeptionellen Bezugsrahmen nicht möglich. Die Vielzahl an potenziellen Einflussfaktoren lässt eine Fokussierung auf die im Literaturüberblick identifizierten zentralen Determinanten notwendig erscheinen. Hierfür spricht die in Abschnitt 1.2 diskutierte forschungsstrategische Orientierung der vorliegenden Untersuchung als induktiver Untersuchungsansatz.
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2.4.3.1.1 Qualität der Kerndienstleistung Eine notwendige Bedingung, um die Abwanderung von Kunden zu verhindern, besteht darin die Leistungsfähigkeit und damit die Qualität der Kerndienstleistung sicherzustellen.245 Fehler und eine mangelhafte Ausführung der Kernleistung können zur Abwanderung der Geschäftskunden führen.246 Die Determinante „Qualität“ der Kerndienstleistung bezieht sich dementsprechend auf die Ausführung der eigentlichen Dienstleistungen und lässt sich dem Konstrukt „Kundenzufriedenheit“ zuordnen.247 Der Determinante „Qualität“ kommt bei Dienstleistungen potenziell eine große Bedeutung zu, da sich die Sicherstellung der Qualität v.a. für die Anbieterwahl von Geschäftskunden als ein bedeutsames Kriterium erwiesen hat.248 Auf Grund der Immaterialität lässt sich die Qualität einer Dienstleistung nur bedingt objektiv messen.249 Im Vordergrund steht die Frage, ob die Leistung und damit zusammenhängende Komponenten in vollem Umfang erbracht werden. Eine mangelhafte Erbringung der Dienstleistung führt zu Unzufriedenheit, die sich auch in einem Churn-Verhalten der Geschäftskunden insgesamt niederschlagen kann.250 Auch Veränderungen in der Ausgestaltung der angebotenen Dienstleistung können zur Abwanderung führen.251 Erklären lässt sich dieser Prozess bspw. mit Hilfe des C/D-Paradigmas. Indem die Erwartungen der Geschäftskunden mit der tatsächlich erbrachten Leistung verglichen werden, kann auf die Zufriedenheit mit der Dienstleistung geschlossen werden. Die Erwartungen wiederum sind nicht zuletzt ein das Resultat des Trade-offs zwischen
245 246 247
248 249
250
251
Vgl. Homburg/Rudolph (2001), S. 24-30; Patterson/Johnson/Spreng (1997), S. 14. Vgl. Mozer et al. (2000), S. 691;Yanamandram/White (2006), S. 171 f. Die Determinante „Qualität“ könnte auch ein eigenständiges Konstrukt darstellen. In dieser Arbeit wird Krafft (2007), S. 20-29 gefolgt und Qualität lediglich als Determinante berücksichtigt. Zum Zusammenhang zwischen Qualität und Kundenzufriedenheit vgl. Bruhn (2003); Khatibi/Ismail/Thyagarajan (2002); Liu (2005). Vgl. Howard/Doyle (2006), S. 271; Sharma/Ojha (2004), S. 125. Die Determinante „Qualität“ ist Gegenstand zahlreicher Publikationen. In dieser Arbeit erfolgt eine Beschränkung auf den Zusammenhang zwischen Qualität und Churn-Verhalten von Geschäftskunden. Für eine ausführliche Diskussion vgl. Babakus/Bienstock/van Scotter (2004); Meffert/Bruhn (2006); Parasuraman/Zeithaml/Berry (1994). Dies bestätigen auch Erkenntnisse aus der Nutzentheorie, die zur Erklärung des Beschaffungsverhaltens von Unternehmen herangezogen werden kann. Demnach ist unter dem Begriff Nutzen das Ausmaß an Bedürfnisbefriedigung bzw. Wertschätzung zu verstehen. Die Aussagekraft der Nutzentheorie wird indessen dadurch eingeschränkt, dass sich die Messung des Nutzens nicht realisieren lässt und dass grundsätzlich ein interpersonell subjektiver Nutzenvergleich vorliegt. Vgl. Woll (2003), S. 152. Vgl. Perrien/Paradis/Banting (1995), S. 320.
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Nutzen und Kosten aus der Inanspruchnahme der Dienstleistung und somit der Operationalisierung des Konstrukts „ökonomische Vorteilhaftigkeit“.252 In zwischenbetrieblichen Austauschprozessen kommt es regelmäßig zu Friktionen, die sich zum Teil auf eine mangelhafte Erbringung von Dienstleistungen zurückführen lassen.253 Bei Dienstleistungen für B2B-Märkte kommt insbesondere der Qualität der Dienstleistung eine Bedeutung zu.254 Dienstleistungen i.S. dieser Arbeit unterstützen die Mitarbeiter der Geschäftspartner bei ihren arbeitsteiligen Leistungserstellungsprozessen. Aus diesem Grund sind zuverlässig und qualitativ hochwertig erbrachte Dienstleistungen unentbehrlich. Werden im betrieblichen Austauschprozess die erwarteten und vertraglich vereinbarten Qualitätsstandards der Dienstleistungen nicht erfüllt, sind negative Diskonfirmation und letztlich Kundenunzufriedenheit die Folge. In letzter Konsequenz kann eine Kundenabwanderung auf Grund einer mangelhaften Qualität der Dienstleistungen resultieren. Die Operationalisierung der Qualität von Dienstleistungen auf der Anbieterseite ist mit einigen Herausforderungen verbunden. Bei Dienstleistungen lassen sich z.B. objektive Bewertungskriterien auf Grund des immateriellen Charakters nur bedingt bestimmen. Zudem ist das Qualitätsempfinden von Mitarbeitern auf den unterschiedlichen Ebenen der Kundenstruktur sehr subjektiv.255 Unterschiedliche Wahrnehmungen der Mitarbeiter hinsichtlich der Dienstleistungsqualität sind daher sehr wohl möglich. Eine Flugverspätung von einer Viertelstunde kann bspw. durch zwei Unternehmensberater diametral wahrgenommen werden.256 Während der eine Unternehmensberater die Verspätung als qualitativ akzeptabel befindet, kann diese für den andere völlig inakzeptabel sein. Für das Churn-Management ist zur Operationalisierung von Qualität insbesondere die Zahl fehlgeschlagener Dienstleistungen von Bedeutung.257
252 253 254 255 256 257
Vgl. Patterson/Johnson/Spreng (1997). Vgl. Backhaus/Bauer (2000), S. 28-30. Vgl. Homburg/Rudolph (2001). Vgl. Parasuraman/Zeithaml/Berry (1985), S. 46 f.; Parasuraman/Zeithaml/Berry (1988), S. 13-15. Vgl. Meffert/Bruhn (2006), S. 290-292. Vgl. Bruhn/Meffert (2002), S. 102.
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2.4.3.1.2 Produkteinführungen und Innovationsgrad Für Dienstleistungsanbieter erlangt die Determinante „Produkteinführungen und Innovationsgrad“ eine zunehmende Relevanz für den Fortbestand von Geschäftsbeziehungen und damit für das Churn-Management im B2B-Kontext.258 Die Relevanz ist insbesondere in den Fällen groß, in denen die Kerndienstleistung Gegenstand der Innovationen ist.259 Die Bedeutung der Determinante resultiert daraus, dass sie einerseits die Kundenzufriedenheit der Geschäftskunden sowie andererseits deren Wertschätzung beeinflusst.260 Der Betrachtung von Innovationen im Churn-Management liegt die Annahme zu Grunde, dass Innovationen zu einer Verbesserung der Kerndienstleistung führen.261 Unter Berücksichtigung, dass das Beschaffungsverhalten von Geschäftskunden sehr stark von rationalen Gesichtspunkten geprägt ist, werden Geschäftskunden neue Dienstleistungen allein dann beziehen, wenn ein tatsächlicher Bedarf vorliegt.262 Können Geschäftskunden von Innovationen überzeugt werden, erhöht sich demnach die Attraktivität des Anbieters und dadurch die Bindungsbereitschaft seitens der Kunden. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass Unternehmen dem produkt- bzw. innovationsbedingten Churn-Verhalten der Kunden entgegenwirken können, indem die etablierten und neuen Dienstleistungen den Bedürfnissen von Geschäftskunden besser entsprechen und zu höherer Produktivität der einzelnen Mitarbeiter führen.263 Bei der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Innovationsgrad und dem Abwanderungsverhalten von Kunden bleibt anzumerken, dass die Bezugsgröße der Innovation auf Grund des immateriellen Charakters von Dienstleistungen schwierig zu operationalisieren ist. In der Telekommunikationsbranche kann bspw. ein Mobilfunkanbieter schon deshalb für Geschäftskunden attraktiv und innovativ erscheinen, weil dieser Anbieter regelmäßig die neuesten Mobiltelefone führt. Wenngleich hierdurch die Abwanderungsgefahr reduziert wird, ist der Innovationsgrad der eigentlichen 258 259 260
261 262 263
Vgl. Athanassopoulou (2006), S. 88. Im Folgenden werden die Begriffe Produkteinführungen und Innovationen synonym verwendet und allein von Innovationen gesprochen. Eine ausführliche Betrachtung der Beziehung zwischen Innovationen und CRM findet sich bei Krieger (2005). Vgl. Athanassopoulou (2006), S. 88. Die Beziehung zwischen Innovationen und Kundenabwanderung lässt sich mit der Nutzentheorie begründen. Gemäß dieser Theorie entscheiden sich Geschäftskunden für den Bezug der Dienstleistungen, die ihre Bedürfnisse besser befriedigen und ihren Nutzen maximieren. Vgl. Bruhn (2001), S. 20; Voeth (2003), S. 56; Woll (2003), S. 146-152. Vgl. Kumar/Grisaffe (2004), S. 73. Vgl. Wathne/Biong/Heide (2001), S. 62. Vgl. Kleinaltenkamp/Jacob (2006), S. 36 f.
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Kerndienstleistung davon nicht direkt berührt.264 Insofern ist zumindest in der Telekommunikationsbranche eine Operationalisierung des Innovationsgrads anhand der Nutzung neuer Endgeräte möglich.
2.4.3.1.3 Preise, Konditionen und Tarife Es ist davon auszugehen, dass neben der Qualität der Dienstleistung auch die Determinante „Preise, Konditionen und Tarife“ eine entscheidende Rolle für das Abwanderungsverhalten von Geschäftskunden spielt.265 Bei langfristig existierenden Kundenbeziehungen können insbesondere Veränderungen im Preis die Abwanderung induzieren.266 Insofern dient diese Determinante der Operationalisierung des Konstrukts „ökonomische Vorteilhaftigkeit“ und wirkt darüber auch auf die Kundenzufriedenheit.267 Für diesen Zusammenhang sprechen zum einen das auf ökonomische Kriterien basierende Entscheidungsverhalten von Geschäftskunden sowie zum anderen die Bedeutung von Preisen, Konditionen und Tarifen für die Vermarktung von Dienstleistungen.268 Die Preise und damit der Zugang zu Dienstleistungen können grundsätzlich über verschiedene Gestaltungsformen abgebildet werden:269 -
264 265
266 267 268
269
Zweiteilige Preissetzung Grundgebühr und Nutzungspreis „Lineare“ Preissetzung: Nutzungspreis Pauschalpreissetzung (Flatrate)
Zum Einfluss des Neuheitsgrads von Endgeräten auf das Abwanderungsverhalten vgl. Ahn/Han/Lee (2006); Kim/Yoon (2004); Neslin et al. (2006). Vgl. Lambrecht/Skiera (2005), S. 220. Im Folgenden wird keine Differenzierung zwischen Preisen, Konditionen und Tarifen vorgenommen. Mit allen drei Begriffen ist das zu zahlende Entgelt für die Inanspruchnahme der Dienstleistung gemeint. Vgl. Perrien/Paradis/Banting (1995), S. 320. Vgl. Anderson/Narus (2004), S. 82. Vgl. Meffert/Bruhn (2006), S. 550-591. Die Determinante „Preise, Konditionen und Tarife“ lässt sich in Bezug auf das Abwanderungsverhalten u.a. mit der Equity-Theorie fundieren. Nach dieser Theorie setzen Kunden eine Beziehung zu Anbietern fort, sofern das Verhältnis zwischen Beziehungsinput und -output durch die Kunden als gerecht beurteilt wird. Die Determinante „Preise, Konditionen und Tarife“ ist eine wesentliche Komponente des Beziehungsinputs. Zu hohe Preise können deshalb das Gerechtigkeitsempfinden der Kunden negativ und die ChurnNeigung positiv beeinflussen. Vgl. Adams (1965), S. 268 f.; Austin (1975), S. 475. Detaillierte Übersichten über Preisstrukturen finden sich bei Lambrecht (2005), S. 9-14; Taher/El Basha (2006), S. 334-338.
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Bei der zweiteiligen Preissetzung setzt sich das vom Geschäftskunden zu zahlende Entgelt aus einer nutzungsunabhängigen Grundgebühr sowie einer nutzungsabhängigen Komponente zusammen. Auf Grund der nutzungsunabhängigen Grundgebühr unterscheidet sich die Preisgruppe von der „linearen“ Preissetzung. Die „Linearität“ bezieht sich darauf, dass der Kunde nur für die tatsächliche Nutzung zahlt und keine Grundgebühr anfällt.270 Die Komplexität dieser beiden Preisstrukturen wird durch zwei Differenzierungsmöglichkeiten gesteigert. Erstens kann in Abhängigkeit von der Inanspruchnahme der Dienstleistung zusätzlich eine zeitabhängige Differenzierung des Nutzungspreises erfolgen. In der Praxis findet sich ein solche Differenzierung in höheren Preisen während der Hauptverkehrszeit bei Bahn- und Flugreisen wieder. Zweitens wirkt die Möglichkeit der Integration eines spezifizierten Freikontingents innerhalb der Grundgebühr komplexitätssteigernd. Im Rahmen dieses Freikontingents wird für die Nutzung kein zusätzliches Nutzungsentgelt in Rechnung gestellt. Für diese Gestaltungsform finden sich ebenfalls Beispiele. So können Unternehmensberatungen über eine definierte Zahl von Freiflügen verfügen, die sie während der Vertragsverhandlungen mit der anbietenden Fluggesellschaft vereinbart haben. Auch in der Telekommunikationsbranche können Angebote inklusive eines Freikontingents gefunden werden. Die Verträge zwischen Geschäftskunden und Dienstleistungsanbietern enthalten i.d.R. zudem Vereinbarungen darüber, was mit dem Freikontingent bei Nichtausnutzung geschieht. Übersteigt die tatsächliche Nutzung die im Freikontingent enthaltene Nutzungsmenge, wird ein entsprechender Preis je Nutzungseinheit berechnet. Die letztgenannte Preisgestaltungsform „Pauschalpreissetzung (Flatrate)“ entspricht der Zahlung eines fixierten Grundpreises. Gegen Zahlung dieses Grundpreises kann die Dienstleistung beliebig häufig in Anspruch genommen werden. Dienstleistungsunternehmen und Geschäftskunden vereinbaren bei Vertragsabschluss in diesem Fall die Zahlung eines bestimmten nutzungsunabhängigen Betrags, dessen Höhe zum Teil deutlich über der Grundgebühr liegt. Die Zahlungen können dabei zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgen, z.B. monatlich, vierteljährlich oder jährlich. Folgende Abbildung 12 fasst die möglichen Preissetzungen zusammen.
270
In der englischsprachigen Marketingforschung hat sich für die nutzungsabhängige Preissetzung der Begriff „pay-per-use“ etabliert. Vgl. Easton/Goodale (2005); Nunes (2000).
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Möglichkeiten der Preisgestaltung
Zweiteilige Preissetzung
Nutzungspreis
zeitunabhängig
zeitabhängig
Grundgebühr
mit Freikontingent
ohne Freikontingent
„Lineare“ Preissetzung
Pauschalpreissetzung (Flatrate)
Nutzungspreis
Grundpreis
zeitunabhängig
zeitabhängig
Abbildung 12: Möglichkeiten der Preisgestaltung Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Lambrecht (2005), S. 14.
Auch in Bezug auf die Preissetzung lassen sich Determinanten identifizieren, die das Churn-Verhalten von Geschäftskunden auf Grund der immanenten Bedeutung ökonomischer Aspekte bei der Entscheidung über den Fortbestand einer Geschäftsbeziehung zu erklären vermögen. Prinzipiell ist hierbei das Konstrukt „ökonomische Vorteilhaftigkeit“ als Vergleich aus Nutzen und zu zahlendem Entgelt entscheidend.271 Im Fokus der weiteren Diskussion steht jetzt die Entgeltkomponente des Vergleichs, die durch die Grundgebühr, die gewählte Tarifoption und den Tarifwahl-Bias operationalisiert wird. Zur Erklärung des Einflusses der zu entrichtenden Grundgebühr auf das ChurnVerhalten von Geschäftskunden ist deren Höhe zu betrachten. Geschäftskunden werden eine Geschäftsbeziehung verlassen, sofern ein anderer Anbieter eine ähnliche Leistung nachhaltig günstiger bereitstellen kann. Die Grundgebühr ist insofern von Bedeutung, als dass sie für Geschäftskunden allein den Zugang zur Dienstleistung ermöglicht. Eine vergleichsweise hohe Grundgebühr wirkt auf die Geschäftskunden unattraktiv und fördert die Abwanderungsbereitschaft.272 Dieser Sachverhalt spiegelte sich auch in einer Untersuchung in der US-amerikanischen Telekommunikationsbranche wider. Es zeigte sich, dass die Höhe der Grundgebühr einen Einfluss auf das Churn-Verhalten ausübt.273 Ebenso kam eine Studie zum Churn-Verhalten bei der Dienstleistung Internet Access zum Ergebnis, dass die Grundgebühr substanziell auf
271 272 273
Vgl. Anderson/Jain/Chintagunta (1993). Vgl. Lemmens/Croux (2006), S. 278. Vgl. Danaher (2002), S. 134.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
das Churn-Verhalten wirkt.274 Die Höhe der Grundgebühr kann aus diesem Grund zur Operationalisierung herangezogen werden. Demgegenüber lässt sich argumentieren, dass eine hohe Grundgebühr bei zugleich moderater Nutzungsgebühr ähnlich den Flatrate-Angeboten zu zuverlässig abschätzbaren Gesamtausgaben führt. Hieraus können sich eine potenziell verringerte Planungskomplexität sowie eine höhere Bindungsneigung auf Seiten des Geschäftskunden ergeben. Neben der Grundgebühr allein ist das gesamte Nutzungsentgelt ebenfalls ein potenzieller Einflussfaktor auf das Churn-Verhalten.275 Das gesamte Nutzungsentgelt steht in engem Zusammenhang mit der gewählten Tarifoption. Im B2B-Kontext ist die Annahme begründet, dass die Dienstleistungen intensiver genutzt werden als durch Endkunden. Weicht die tatsächliche Nutzung von der im Vorfeld der Anbieterwahl antizipierten Inanspruchnahme ab, haben die Geschäftskunden ggf. eine falsche Tarifoption gewählt und insofern eine suboptimale Entscheidung getroffen. Ein Grund hierfür ist, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung keine vollkommenen Informationen hinsichtlich der zukünftigen Nutzung der Dienstleistung vorliegen.276 Die Geschäftskunden können zwar die Dienstleistungen und die damit verbundenen zu zahlenden Preise im Vorfeld der Entscheidung unter ökonomischen Gesichtspunkten auf ihre Vorteilhaftigkeit beurteilen. Dennoch bleibt insbesondere in Hinblick auf die tatsächliche zukünftige Nutzung der Dienstleistung eine Unsicherheit bestehen. Aus diesem Grund können sich Unternehmen für Dienstleistungen in Verbindung mit entsprechenden Entgelten entscheiden, die sich bei einer ex-post Betrachtung der tatsächlich Nutzungsmenge im Vergleich zu anderen Tarifoptionen als zu teuer erweisen. Dieser Sachverhalt wird als Tarifwahl-Bias bezeichnet.277 Bei Vorliegen eines Tarifwahl-Bias kann daraus eine ökonomisch motivierte Kundenabwanderung resultieren.278 Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen Vertreter von den Dienstleistungsanbietern zu dem suboptimal gewählten Tarif geraten haben.
274 275 276
277
278
Vgl. Hüppelshäuser (2005). Vgl. Lambrecht/Skiera (2006), S. 220. Der Begriff vollkommene Information bedeutet, dass Wirtschaftssubjekten alle Informationen vorliegen, die für eine optimale Entscheidung notwendig sind. Vgl. hierzu ausführlich Bamberg/ Coenenberg (2002), S. 76-125. Nach Lambrecht (2005) liegt ein Tarifwahl-Bias vor, wenn ein Kunde einen Tarif wählt, obwohl er in einem anderen Tarif bei gleicher Nutzungsmenge weniger gezahlt hätte. Vgl. Lambrecht (2005), S. 29. Vgl. Joo/Kun/Kim (2002).
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Die Existenz eines derartigen Bias ist in der empirischen Marketingforschung untersucht worden.279 Lambrecht und Lambrecht/Skiera beschränken sich bei ihrer Untersuchung auf die Existenz eines Bias bezogen auf die nutzungsabhängige und pauschale Preissetzung und zeigen die Konsequenzen daraus auf.280 Es konnte dabei gezeigt werden, dass das Vorliegen eines Tarifwahl-Bias die Churn-Wahrscheinlichkeit erhöht. Gleichzeitig ermöglicht das Vorliegen und Erkennen eines TarifwahlBias, den Unternehmen aktiv zu agieren. Indem der Dienstleistungsanbieter aktiv eine Tarifoptimierung vorschlägt, steuert dieser Anbieter einer Kundenabwanderung entgegen.281 Allerdings kommt es auf die Auswahl der richtigen Kunden an, für welche die Tarife optimiert werden sollen.282 Das Erkennen eines Tarifwahl-Bias seitens der Geschäftskunden führt zu einer Beeinträchtigung der ökonomischen Vorteilhaftigkeit und der Kundenzufriedenheit.283 Eine erhöhte Abwanderungsgefahr ist die Folge. Die obigen Ausführungen zu den vielfältigen Möglichkeiten der Preisgestaltung haben bereits die Komplexität dieser Determinante verdeutlicht. Hieraus lässt sich schließen, dass die Nutzungs- und Transaktionsdaten auf die Existenz eines kundenindividuellen Tarifwahl-Bias hin untersucht werden sollten. Die Identifikation eines Tarifwahl-Bias kann auf Basis der tatsächlichen Nutzungsmenge erfolgen. Die Nutzungsmenge ist vergleichsweise leicht zu ermitteln, indem die Anbieter von Dienstleistungen auf die systematisch gespeicherten geschäftskundenindividuellen Nutzungsdaten zurückgreifen. Die Nutzungsmenge wird daraufhin mit den Preismerkmalen verglichen. Lassen sich dabei bspw. signifikante Abweichungen vom Median der Nutzung feststellen, indiziert dies einen Tarifwahl-Bias.284 Der Geschäftskunde hat bei der Entscheidung über den Bezug der Dienstleistung eine potenziell falsche Tarifwahl getroffen. Wenngleich die o.g. Studien sich überwiegend mit dem Tarifwahl-Bias in Endkundenmärkten beschäftigen, so lassen sich die Ergebnisse auf den B2B-Kontext übertragen. So können Geschäftskunden ebenfalls aus verschiedenen Varianten eines Dienstleistungsangebots und dementsprechend variierenden Preismodellen wählen. 279 280 281 282 283 284
Vgl. Joo/Kun/Kim (2002); Lambrecht/Skiera (2006); Miravete (2002); Mozer (2000); Nunes (2000). Vgl. Lambrecht (2005); Lambrecht/Skiera (2006). Vgl. Joo/Jun/Kim (2002), S. 350. Vgl. Joo/Jun/Kim (2002), S. 350. Vgl. Mozer et al. (2000), S. 691. Vgl. von Auer (2005), S. 509.
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Bei großen Nutzungsvolumina bietet sich z.B. die Wahl eines nutzungsunabhängigen Pauschalpreises und bei kleineren Nutzungsvolumina ein nutzungsabhängiger Preis an. Auf Grund der beschriebenen Situation komplexer Tarifstrukturen und allein approximativ abgeleiteter Erwartungen der Dienstleistungsnutzung kommt es auch bei Geschäftskunden zum Tarifwahl-Bias.285 Die starke Orientierung an Aspekten der Wirtschaftlichkeit führt letztlich dazu, dass sich die Geschäftskunden der Existenz eines Tarifwahl-Bias bewusst sind. Infolgedessen sind Geschäftskunden bestenfalls zu einem Tarif- oder schlimmstenfalls zum Anbieterwechsel eher bereit als Endkunden, welche die Anbieterwahl tendenziell im geringeren Maße an die Wirtschaftlichkeit ausrichten. Dementsprechend kann der Anbieter der Dienstleistung aktiv einer möglichen Abwanderung der Geschäftskunden entgegensteuern, indem die Kundendaten gezielt in Hinblick auf die Existenz eines Tarifwahl-Bias analysiert werden. Aus den Transaktions- und Nutzungsdaten lässt sich die gewählte Tarifoption und auch das Vorliegen eines Tarifwahl-Bias ableiten. Beide Aspekte können deshalb als Prädiktoren des Abwanderungsverhaltens in eine Analyse einbezogen werden.
2.4.3.1.4 Attraktivität des Konkurrenzangebots Die Bereitstellung qualitativ hochwertiger Dienstleistungen reicht nicht aus, um Geschäftskunden dauerhaft an einen Anbieter zu binden. Sind Dienstleistungsangebote anderer Wettbewerber aus Kundensicht ökonomisch vorteilhafter, kann es aus diesem Grund zur Beendigung der Beziehung durch den Geschäftskunden kommen.286 Auch die Einführung neuer, innovativer oder auch technologisch überlegener Dienstleistungen durch Wettbewerber kann eine Ursache für das Abwanderungsverhalten sein.287 Von Relevanz ist dabei auch, inwieweit die Geschäftskunden über die Leistungen anderer Wettbewerber informiert sind.288 Hinweise auf eine derart gefährdete Geschäftsbeziehung ermöglicht eine Operationalisierung auf Basis einer Analyse der Nutzungshäufigkeit von Dienstleistungen des Wettbewerbs. Allerdings sind die hierfür benötigten Nutzungs- und Transaktionsdaten bei den Dienstleistungsanbieter allenfalls im begrenzten Umfang 285 286
287 288
Vgl. Joo/Jun/Kim (2002), S. 358. Vgl. Yanamandram/White (2006), S. 176 f. Der Zusammenhang zwischen Attraktivität des Konkurrenzangebots und der Kundenabwanderung ist durch die Nutzentheorie zu fundieren. Führt die Inanspruchnahme von Konkurrenzdienstleistungen aus Sicht der Geschäftskunden zu einem höheren Nutzen, ist ein Anbieterwechsel für sie von Vorteil. Vgl. Voeth (2003), S. 55-58. Vgl. Athanassopoulou (2006). Vgl. Capraro/Broniarczyk/Srivastava (2003), S. 171.
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vorhanden, wodurch sich die Identifikation der Abwanderungsgefahr entsprechend erschwert.289 Beispiele für die Analyse finden sich in den Branchen Finanzdienstleistungen und Telekommunikation.290 So deuten vermehrte Transaktionen zwischen Konten eines Geschäftskunden bei anderen Banken auf eine Intensivierung der Nutzung von Wettbewerbsleistungen hin. Zudem verfügen in einigen Branchen die Außendienstmitarbeiter über Informationen hinsichtlich der Verwendungshäufigkeit von Wettbewerbsprodukten. Führen Mitarbeiter von Geschäftskunden auf Grund ihrer geschäftlichen Verpflichtungen vermehrt Telefonate in andere Mobilfunknetze, können die verantwortlichen Einkäufer die ökonomische Vorteilhaftigkeit der Dienstleistungen des aktuellen Anbieters beim Vergleich zu den Angeboten der Wettbewerber in Frage stellen.291 Trotz einer vertraglich fixierten Laufzeit der Geschäftsbeziehung und einer damit verbundenen befristeten Mindestkundenbindungsdauer können diese Erkenntnisse einen nachhaltigen Einfluss auf den nächsten Beschaffungsvorgang haben. Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass die Nutzungshäufigkeit von Wettbewerbsdienstleistungen vergleichsweise schwer zu bestimmen ist, potenziell aber eine wichtige Erklärungsgröße für die Abwanderungswahrscheinlichkeit von Geschäftskunden darstellt.292 Die folgende Abbildung 13 fasst die Ausführungen zu den produktbezogenen Determinanten des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden zusammen.
289 290 291 292
Vgl. Bell et al. (2000). Vgl. Bruhn/Michalski (2005), S. 259. Vgl. Lemmens/Croux (2006), S. 277 f.; Ultsch (2002), S. 316. Vgl. Godefroid (2003), S. 115.
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Produktbezogene Determinanten
Qualität
Anzahl fehlgeschlagener Dienstleistungen
Produkteinführungen, Innovationsgrad
Preise, Konditionen, Tarife
Nutzung moderner Endgeräte
Höhe der Grundgebühr
Anzahl in Anspruch genommener Innovationen
Gewählte Tarifoption
Attraktivität des Konkurrenzangebots Anzahl in Anspruch genommener Wettbewerbsdienstleistungen
Tarifwahl-Bias
Abbildung 13: Produktbezogene Determinanten des Churn-Verhaltens Quelle: Eigene Darstellung.
2.4.3.2 Interaktionsbezogene Determinanten Interaktionsbezogene Determinanten zur Erklärung des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden beziehen sich auf den Kontakt zwischen Anbieter und Geschäftskunden. Dieser Kontakt kann in vielfältiger Form erfolgen. Im B2B-Kontext steht dabei der Kontakt mit Außendienstmitarbeitern des Anbieters im Vordergrund. Gleichsam beziehen sich die Determinanten dieser Gruppe auf Ereignisse, bei denen Kunden und Unternehmen miteinander kommunizieren. Solche Ereignisse können bspw. Rückfragen, Beschwerden oder andere Interaktionen zwischen den Partnern sein. Eine weitere interaktionsbezogene Determinante ist die Dauer der Geschäftsbeziehung. Bei den interaktionsbezogenen Determinanten stehen die aktive Unterstützung der Geschäftskunden innerhalb der Akquisitionsphase sowie die Gewährleistung der Unterstützung auch in der Bindungsphase im Mittelpunkt.293 Insofern kommt bei den interaktionbezogenen Determinanten dem Erfahrungsaspekt bzw. der Interaktionsintensität eine entscheidende Bedeutung zu.294
293 294
Vgl. Harrison-Walker/Neeley (2004), S. 28. Vgl. Perrien/Paradis/Banting (1995), S. 324.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
81
2.4.3.2.1 Außendienstbetreuung Der aufgezeigte Charakter der Dienstleistungen im B2B-Kontext erfordert eine nachhaltige Orientierung an den individuellen Bedürfnissen der Geschäftskunden in Hinblick auf die Ausgestaltung der Dienstleistungsangebote. Es ist daher nicht überraschend, dass die Individualisierung ein zentrales Merkmal des B2B-Marketing und die Konsequenz aus dem sehr divergierenden Verhalten der jeweiligen Nutzer ist. Im divergierenden Verhalten spiegelt sich das heterogene Kundenverhalten wider.295 Eine nachhaltige Orientierung an den speziellen Ansprüchen der Geschäftskunden führt empirischen Studien zufolge zu Zufriedenheit und insofern zu einer Verringerung der Abwanderungsneigung.296 Allerdings bedingen die Immaterialität von Dienstleistungen sowie die individualisierte Nachfrage im B2B-Kontext eine subjektive Beurteilung der Leistungen durch die Geschäftskunden.297 Mittels Betonung und Förderung der interorganisationalen Beziehungen zwischen Anbietern und Geschäftskunden lassen sich diese Einschränkungen ausgleichen.298 Insofern kommt der Gestaltung des Außendienstes bzw. der Außendienstbetreuung eine besondere Bedeutung in Hinblick auf die Churn-Neigung der Geschäftskunden zu. Diese Ausführungen lassen weiterhin auf einen engen Zusammenhang zwischen der Determinante „Außendienstbetreuung“ und den Konstrukten „Beziehungsintensität“ und „Kundenzufriedenheit“ schließen.299 Innerhalb von Kundenbeziehungen im B2B-Kontext sind es insbesondere bei Großkunden die Außendienstmitarbeiter der Anbieter, die den direkten Kontakt zu Kunden haben.300 Der Kontakt im Rahmen der Außendienstbetreuung kann sich dabei auf verschiedene Phasen des Kundenlebenszyklus wie der Kundengewinnungs- oder der Kundenbindungsphase erstrecken.301 Die Betreuung erfolgt bspw. persönlich in Form von Kundenbesuchen oder auch unpersönlich per Telefon. Auf Grund des engen
295 296 297 298 299
300 301
Vgl. Abschnitt 2.2.1. Vgl. Abschnitt 2.4.2.1. Vgl. Abschnitt 2.2.1.2. Vgl. Perrien/Paradis/Banting (1995), S. 325. Vgl. Gerpott (2006), S. 521; Homburg/Rudolph (2001), S. 29. Der Einfluss der Determinante „Außendienstbetreuung“ auf das Abwanderungsverhalten lässt sich auf Basis der Equity- und der Nutzentheorie theoretisch fundieren. Das Verhalten der Außendienstmitarbeiter ist für Geschäftskunden ein zentrales Kriterium für die Beurteilung der Austauschbeziehung. Gleichsam leiten Geschäftskunden u.a. aus den Handlungen des Außendiensts ihren Nutzen ab. Friktionen zwischen Außendienst und Geschäftskunden beeinflussen insofern die Nutzenwahrnehmung des Geschäftskunden negativ. Vgl. Blodgett/Hill/Tax (1997); Voeth (2003). Vgl. Krafft (1995). Vgl. Gerpott (2006), S. 521; Krafft (1995). Zum Kundenlebenszyklus vgl. Abschnitt 2.1.1.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Kundenkontakts verfügen die Außendienstmitarbeiter über nachfragerspezifische Informationen wie z.B. Anzeichen zu einer potenziellen Abwanderungsgefahr. Weiterhin gewährleistet der Einsatz von Außendienstmitarbeitern eine intensive Betreuung der Geschäftskunden. Potenzielle Qualitätsmängel, Fehlentwicklungen oder eine anderweitig begründete Unzufriedenheit der Nutzer der Dienstleistung können auf diese Weise frühzeitig identifiziert werden. Dieses frühzeitige Erkennen der Problemursachen ermöglicht es, eine schnelle Lösung zu finden. In Bezug auf die Verhinderung von Kundenabwanderung ist ein Vorteil weiterhin darin zu sehen, dass die Außendienstmitarbeiter die Entscheider und z.T. auch die Nutzer beim Geschäftskunden persönlich kennen.302 Die in dieser Studie betrachteten Dienstleistungen unterstützen die Geschäftskunden in ihrer originären Leistungserstellung. Aus diesem Grund kommt ihnen aus Sicht der Geschäftskunden eine geringere Bedeutung zu als bspw. Industriegütern, die im direkten Zusammenhang mit dem Leistungserstellungsprozess stehen.303 Gleichwohl ist in einer unzureichenden Betreuung bzw. Unterstützung durch den Anbieter eine Ursache für ein potenzielles Abwanderungsverhalten der Geschäftskunden zu sehen.304 Dem kann ein Dienstleistungsanbieter indessen entgegenwirken, indem er einerseits die Qualifikation und die notwendigen Fähigkeiten der einzelnen Außendienstmitarbeiter sicherstellt und andererseits die Intensität der Kundenbetreuung entsprechend kontrolliert.305 Eine weitere wichtige Aufgabe des Außendienstes ist das Sammeln relevanter Informationen. Die Informationen sind für das Anbieten und die Entwicklung von Dienstleistungen von besonderem Interesse.306 In der Praxis ist regelmäßig das Phänomen anzutreffen, dass Außendienstmitarbeiter kundenspezifische Informationen als ihr privates Wissen ansehen und dementsprechend restringiert die Informationen weitergeben. Gleichsam fordern die Außendienstmitarbeiter bestmöglich aufbereitete Informationen über einzelne Kunden.307 Das Wissen der Außendienstmitarbeiter ist dabei vielfältiger Natur. Es kann sich u.a. auf Komponenten der Dienstleistungserstellung, Beschwerden oder Angebote von Wettbewerbern beziehen.308 Weiterhin können Außendienstmitarbeiter über Informationen hinsichtlich möglicher Preis- oder
302 303 304 305 306 307 308
Vgl. Perrien/Paradis/Banting (1995), S. 322. Vgl. Abschnitt 2.2.1.2 sowie Gerpott (2004), S. 1240. Vgl. Palmatier/Gopalakrishna/Houston (2006), S. 488. Vgl. Heß (1994), S. 254. Vgl. Athanassopoulou (2006), S. 88; Hulbert/Pitt/Ewing (2003), S. 47-49. Vgl. Wilson (2006), S. 42. Vgl. Krafft (1995), S. 7-9.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
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anderer Tarifanpassungen verfügen, die als potenzielle Prädiktoren für das ChurnVerhalten im B2B-Kontext heranzuziehen sind. Zur Operationalisierung dieser vielfältigen Anforderungen an den Außendienst in Bezug auf die Kundenabwanderung bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. Zunächst kann bereits die Zahl der Außendienstbesuche Hinweise auf die Beziehungsintensität geben. Auch die Nutzungsintensität eines Vertriebsinformationssystems ermöglicht Hinweise auf die Betreuungsqualität des Außendienstes.309 Durch die Implementierung derartiger Systeme kann sichergestellt werden, dass die Informationen des Außendienstes dem Unternehmen zur Verfügung stehen und nicht als privates Wissen der Außendienstmitarbeiter betrachtet werden. In der Erweiterung hierzu bietet sich zudem eine Operationalisierung durch den Grad der Nutzung des Vertriebsinformationssystems je Außendienstmitarbeiter an. Als Prädiktor für das Churn-Verhalten von Geschäftskunden lässt sich weiterhin die Anzahl der Vertragsanpassungen heranziehen. Dieser Prädiktor steht im engen Zusammenhang mit der Beziehungsintensität und indiziert, inwiefern die Anbieter auf die Bedürfnisse der Geschäftskunden eingehen.
2.4.3.2.2 Interaktionsintensität In engem inhaltlichen Zusammenhang mit der Determinante „Außendienstbetreuung“ steht die Determinante „Interaktionsintensität“, die das Verhältnis zwischen Anbieter und Kunde beschreibt und bei der Operationalisierung des Konstrukts „Beziehungsintensität“ hilft.310 Für das Abwanderungsverhalten ist insbesondere die Verhaltensweise der Anbieter im Rahmen dieser Interaktion von Relevanz.311 Eine zentrale Voraussetzung für eine kundengerechte Verhaltensweise kann potenziell in einer ganzheitlichen Ausrichtung der Anbieter auf die Bedürfnisse der Geschäftskunden gesehen werden. Eine effektive Interaktion innerhalb der Beziehung ist demzufolge die Basis einer Erfolg versprechenden Geschäftsbeziehung.312
309 310
311 312
Vgl. hierzu ausführlich Ahearne/Srinivasan/Weinstein (2004); Winkelmann (2005), S. 195-264. Vgl. Abschnitt 2.4.2.1. Die Equity-Theorie eignet sich wie bei der Determinante „Außendienstbetreuung“ zur theoretischen Fundierung des Einflusses der Determinante „Interaktionsintensität“ auf das Abwanderungsverhalten. Eine intensive Interaktion führt zu einer positiven Beurteilung der Austauschbeziehung durch den Geschäftskunden und damit zur Bereitschaft, die Beziehung fortzusetzen. Vgl. Bies/Shapiro (1987). Vgl. Perrien/Paradis/Banting (1995), S. 320. Vgl. Homburg/Giering/Menon (2003), S. 50; Palmatier/Gopalakrishna/Houston (2006), S. 488.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Dabei ist die Interaktion in Hinblick auf Quantität und Qualität kundenindividuell anzupassen. Die Determinante „Interaktionsintensität“ bezieht sich auf den Informationsaustausch hinsichtlich des Dienstleistungsangebots. Auch das Eingehen auf die Bedürfnisse der Kunden steht in direktem Zusammenhang mit dieser Determinante. Insbesondere bei technisch anspruchsvollen Dienstleistungen sind neue Entwicklungen und Potenziale frühzeitig durch den Anbieter aufzuzeigen (etwa in Form möglicher Änderungen des Dienstleistungsangebots).313 Aus Anbietersicht ist es insbesondere bei neuartigen Dienstleistungen unerlässlich, einerseits die Entscheider und andererseits die Nutzer zu identifizieren und eine Interaktion zu diesen beiden Gruppen gezielt zu initiieren.314 Da diese beiden Gruppen die Anbieterwahl nachhaltig beeinflussen, sollten die Interaktion bzw. der Informationsaustausch mit ihnen adäquat gestaltet werden. Auf Basis einer intensiven Interaktion versucht der Geschäftskunde, sein Risiko in Hinblick auf eine qualitativ mangelhafte Erbringung der Dienstleistung zu minimieren.315 Es sind diese, aus der Interaktion resultierenden gemeinsamen Erfahrungen, welche die Abwanderungsgefahr mindern können.316 Um eine Kundenabwanderung zu verhindern, können Anbieter dementsprechend in Vertrauen bildende Programme oder in die Implementierung von Informationsaustauschsystemen investieren.317 In einer empirischen Studie am Beispiel von Finanzdienstleistungen im B2BKontext konnte bspw. gezeigt werden, dass eine intensive Interaktion zwischen Anbietern und Geschäftskunden die Wahrscheinlichkeit der Kundenabwanderung deutlich verringert.318 Um die Interaktionsintensität und damit deren Einfluss auf das Abwanderungsverhalten zu operationalisieren, empfiehlt es sich, die Kontakthäufigkeit kundenindividuell und anlassspezifisch zu erfassen. Als eine weitere Möglichkeit zur Operationalisierung der Interaktionsintensität im B2B-Kontext lässt sich die Reaktion der Geschäftskunden auf eine Kontaktinitiierung durch den Anbieter heranziehen. Erfolgt eine Reaktion der Geschäftskunden auf die Kontaktinitiierung, deutet dies auf
313 314 315 316 317 318
Vgl. Homburg/Rudolph (2001), S. 29. Vgl. Godefroid (2003), S. 113. Vgl. Athanassopoulou (2006), S. 87; Homburg/Sieben/Stock (2004), S. 37. Vgl. Perrien/Paradis/Banting (1995), S. 324. Vgl. Homburg/Giering/Menon (2003), S. 53. Vgl. Wathne/Biong/Heide (2001), S. 56 und S. 60.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
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ein grundsätzliches Interesse an den Dienstleistungen der Anbieter hin.319 Die Erfassung von kundenseitigen Reaktionen trägt demzufolge dazu bei, eine potenzielle Abwanderungsgefahr zu identifizieren. Die kundenseitigen Reaktionen können sich auf neue Dienstleistungsangebote, modifizierte Komponenten oder eine Kontaktinitiierung durch die Anbieter beziehen. Ein intensiver Informationsaustausch im Rahmen der Anbieter-Kunden-Interaktion wirkt sich zusammenfassend positiv auf eine Geschäftsbeziehung aus und trägt somit zu einer Verhinderung der Kundenabwanderung bei.
2.4.3.2.3 Beschwerdeintensität Bei Dienstleistungen für B2B-Märkte kommt der Qualität der Dienstleistung eine besondere Bedeutung zu.320 Obgleich Geschäftsbeziehungen im B2B-Kontext prinzipiell durch eine Langfristigkeit charakterisiert sind, kann es dennoch zu Störungen und Problemen kommen.321 Diese Störungen und Probleme lassen sich z.T. auf die mangelhafte Ausführung der Dienstleistungen zurückführen.322 Eine mögliche Konsequenz hieraus sind gegenüber den Anbietern geäußerte Beschwerden. Die Determinante „Beschwerdeintensität“ steht in enger inhaltlicher Beziehung zu den Konstrukten „Kundenzufriedenheit“ und „Beziehungsintensität“.323 Vor diesem Hintergrund bietet sich zur Erklärung des Kundenabwanderungsverhaltens insbesondere die Erfassung von Beschwerden bzw. der Beschwerdeintensität an. Formulierte Beschwerden enthalten Informationen, die für das Unternehmen von hoher Relevanz sind. So ermöglichen Beschwerden bspw. Rückschlüsse auf etwaige prinzipielle Probleme im Erstellungsprozess der Dienstleistung, die direkt auf die Beziehungsintensität und Kundenzufriedenheit wirken. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, die Geschäftskunden aktiv zur Formulierung etwaiger Beschwerden aufzufordern bzw. zu ermuntern.324 Unternehmen sollten die Beschwerden zur Zufriedenheit der Kunden lösen und gleichzeitig die generierten Informationen zur Leistungsverbesserung nutzen. Auf diese Weise lassen sich Fehlerkosten minimieren und
319 320 321 322 323 324
Vgl. Lemmens/Croux (2006), S. 278. Vgl. Abschnitt 2.4.3.1.1. Vgl. Backhaus/Bauer (2000), S. 28. Vgl. Bolton/Bronkhorst (1995), S. 94 f.; Caruna (2004), S. 256 f. Vgl. Anderson/Sullivan (1993), S. 141; Homburg/Rudolph (2001), S. 30. Vgl. Plötner (2006), S. 514 f.
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Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
gefährdete Kundenbeziehungen stabilisieren.325 Das Management von Beschwerden trägt insofern zur Kundenzufriedenheit bei und leistet gemäß dem im Abschnitt 2.4.2.1 entwickelten Beziehungsgefüge einen Beitrag zur Erhaltung der Kundenbeziehung bei.326 Neben den bereits zitierten Quellen gibt es weitere empirische Studien, an denen der Zusammenhang zwischen der Determinante „Beschwerdeintensität“ und dem ChurnVerhalten untersucht wurde. Bei Kunden von Mobilfunkunternehmen nimmt die Wahrscheinlichkeit einer Kündigung zu, wenn Kunden ihre Unzufriedenheit in Form von Beschwerden ausdrücken.327 Am Beispiel der Dienstleistung Internet Access konnte ebenfalls gezeigt werden, dass ein verstärktes Beschwerdeverhalten in enger inhaltlicher Beziehung zum Churn-Verhalten steht.328 Weiterhin ergab eine empirische Untersuchung am Beispiel von Finanzdienstleistungen, dass Beschwerden, wenngleich nicht primär, ein typisches Merkmal von Abwanderungsprozessen sind.329 Eine schnelle und unbürokratische Bearbeitung von Beschwerden wirkt dem ChurnVerhalten ebenso entgegen.330 Auf Grund der intensiven Interaktion zwischen Anbietern und Geschäftskunden im B2B-Kontext ist darüber hinaus anzunehmen, dass Beschwerden während der Interaktion bspw. in Gesprächen mit Außendienstmitarbeitern geäußert werden.331 Eine Initiative des Geschäftskunden, sich zu beschweren, muss insofern nicht vorliegen. Zur Operationalisierung der Determinante „Beschwerdeintensität“ auf Basis von im Unternehmen vorhandenen Daten bietet sich die Erfassung der Häufigkeit von Beschwerden an. Neben der reinen Anzahl können zusätzlich die Länge der Beschwerde(anrufe) sowie deren Inhalte als Prädiktoren des Churn-Verhaltens herangezogen werden. Insbesondere eine Veränderung der Beschwerdehäufigkeit bzw. des Beschwerdeausmaßes lässt auf Friktionen innerhalb der Geschäftsbeziehung schließen.
325 326
327 328 329 330 331
Vgl. Ahn/Han/Lee (2006), S. 566; Tomczak/Reinecke/Diettrich (2006), S. 120; Yanamandram/ White (2006), S. 178. Vgl. Abschnitt 2.4.2.1 sowie Krafft (2007), S. 28 und S. 298 . Von Beschwerden geht ein direkter Einfluss auf die Beurteilung der Beziehungen durch die Geschäftskunden aus. Sofern die Anbieter nicht auf die Beschwerden eingehen, können Beschwerden nach der EquityTheorie zur Abwanderung führen. Vgl. Blodgett/Anderson (2000); Smith/Bolton/Wagner (1999). Vgl. Bolton/Bronkhorst (1995), S. 99. Vgl. Hüppelshäuser (2005), S. 321 f. Vgl. Bruhn/Michalski (2003), S. 440 f. Vgl. Tomczak/Reinecke/Diettrich (2006), S. 121. Vgl. Bruhn/Michalski (2005), S. 258.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
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2.4.3.2.4 Beziehungsdauer Geschäftskunden versuchen bei ihren Beschaffungsentscheidungen, das kaufspezifische Risiko zu minimieren. Die Risikominimierung bezieht sich dabei bspw. auf die Vermeidung eines Tarifwahl-Bias.332 Empfinden die Geschäftskunden das Risiko in Bezug auf die Anbieterwahl sowie die spätere Nutzung der Leistung als zu hoch, kommen Geschäftsbeziehungen nicht zu Stande bzw. werden nicht fortgesetzt. In letzterem Fall ist eine Kundenabwanderung die Folge. Dieses Risiko kann durch die Wahl eines im jeweiligen Markt etablierten Anbieters oder durch eine dauerhafte Geschäftsbeziehung reduziert werden. Im Folgenden steht die Determinante „Beziehungsdauer“ im Vordergrund, die der Operationalisierung des Konstrukts „Beziehungsintensität“ dient.333 Im B2B-Kontext wird der Beziehungsdauer insbesondere bei technologisch komplexen Leistungen eine bedeutsame Stellung beigemessen. Während des Bestehens einer Geschäftsbeziehung haben beide Partner vielfältige gemeinsame Erfahrungen sammeln können. Diese beziehen sich v.a. auf Erfahrungen im Umgang mit den Leistungen der Anbieter. Eine dauerhafte Geschäftsbeziehung kann vor diesem Hintergrund als Anhaltspunkt für u.a. den Fortbestand der Beziehung und dementsprechend zur Operationalisierung der Churn-Gefahr dienen.334 Zur Operationalisierung der Abwanderungsgefahr eignet sich auch eine getrennte Analyse des Zusammenhangs zwischen Beziehungsdauer und Churn-Verhalten für relativ kurz und sehr lang existierende Kundenbeziehungen. Allerdings ist auf Grund des im B2BMarketing dominanten Vorherrschens rationaler Entscheidungen die Länge der Beziehungen noch kein Garant für deren Fortbestehen.335 Vielmehr wird ein Geschäftskunde eine Beziehung nur dann über einen längeren Zeitraum fortsetzen, wenn diese ihm zum Vorteil gereicht. Die Ausführungen in diesem Abschnitt 2.4.3.2 haben gezeigt, dass eine Reihe von interaktionsbezogenen Determinanten existiert. Diese sind in der folgenden Abbildung 14 zusammengefasst.
332 333
334 335
Vgl. Abschnitt 2.4.3.1.3. Der Zusammenhang zwischen Beziehungsdauer und Abwanderungsverhalten kann auf Basis der Risikotheorie fundiert werden. Dieser Theorie zufolge kann in einer dauerhaften Beziehung eine Möglichkeit gesehen werden, das kaufspezifische Risiko zu reduzieren. Vgl. Bauer (1960); Sheth/Parvatiyar (1995). Vgl. Kim/Yoon (2004), S. 761; Perrien/Paradis/Banting (1995), S. 324. Vgl. Homburg/Giering/Menon (2003), S. 51 f.
88
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext Interaktionsbezogene Determinanten
Außendienstbetreuung
Interaktionsintensität
Beschwerdeintensität
Beziehungsdauer
Nutzung von Vertriebsinformationssystemen
Anzahl Außendienstbesuche
Kontakthäufigkeit (nach Anlass)
Anzahl Beschwerden
Gesamtdauer der Beziehung
Anzahl Vertragsanpassungen
Nutzungsintensität von Vertriebsinformationssystemen
Kundenreaktionen auf Interaktionen
Ausmaß von Beschwerden
gruppenspezifische Analyse der Beziehungsdauer
Abbildung 14: Interaktionsbezogene Determinanten des Churn-Verhaltens Quelle: Eigene Darstellung.
2.4.3.3 Transaktionsbezogene Determinanten Die Untersuchung von transaktionsbezogenen Determinanten ist für einen Dienstleistungsanbieter eine weitere Möglichkeit, das Churn-Verhalten von Geschäftskunden zu erklären. Transaktionsbezogene Determinanten resultieren aus der tatsächlichen Nutzung von Dienstleistungen und stehen insofern in enger Beziehung zu den produktbezogenen Determinanten.336 Zu dieser Determinantengruppe zählen die aus dem Direktmarketing bekannten Determinanten „Monetary Value“ und „Nutzungshäufigkeit“.337 Gleichsam ermöglicht auch das Cross- und Up-Selling-Verhalten von Geschäftskunden Rückschlüsse auf eine (nicht) existierende Abwanderungsgefahr. Gerade bei Dienstleistungen, die sich dem Systemgeschäft zuordnen lassen, ist zudem die Existenz spezifischer Investitionen zu vermuten. Diese spezifischen Investitionen können potenziell auch einen Einfluss auf das Abwanderungsverhalten ausüben.
336 337
Vgl. Lemmens/Croux (2006), S. 277 f. Vgl. Krafft (2007); Hüppelshäuser (2005); Neslin et al. (2006).
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
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2.4.3.3.1 Monetary Value Die Determinante „Monetary Value“ (Monetärer Wert) ist ein Bestandteil der im Direktmarketing verbreiteten Recency, Frequency, Monetary Value (RFM)-Metrik.338 Der monetäre Wert von Geschäftsbeziehungen anhand von Umsatzzahlen kann als potenziell bedeutsame Determinante zur Erklärung des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden beitragen. Insbesondere das Konstrukt „ökonomischer Vorteil“ lässt sich mit Hilfe dieser Determinante operationalisieren.339 Gleichsam sind steigende oder fallende Umsätze von Geschäftskunden Ausdruck einer sich verändernden Nutzungsintensität. Können Anbieter durch ihre Dienstleistungen keinen ökonomischen Vorteil für die Geschäftskunden generieren oder können die Anbieter die Vorteilhaftigkeit nicht vermitteln, ist ein ökonomisch bedingtes Abwanderungsverhalten der Geschäftskunden die Folge.340 Die für die Analysen notwendigen kundenindividuellen Umsatzzahlen vergangener Perioden sind meistens in den Unternehmensdatenbanken enthalten.341 In Hinblick auf die Daten erlauben entsprechende Softwaresysteme eine kundenindividuelle Analyse der Umsätze.342 Ein höherer Monetary Value führt vorliegenden Studien zufolge dabei zu einer höheren erwarteten Kundenlebenszeit und dementsprechend zu einer geringeren Churn-Wahrscheinlichkeit.343 Ein hoher Umsatz deutet insofern darauf hin, dass die Geschäftskunden Interesse an der Fortführung der Geschäftsbeziehung haben. Zur Operationalisierung der Determinante „Monetary Value“ auf Basis von im Unternehmen vorhandenen Daten empfiehlt sich eine geschäftskundenindividuelle Analyse sowie die Verwendung von kumulierten Umsatzzahlen über den gesamten Betrachtungszeitraum. Kumulierte Umsatzzahlen stehen in engem Zusammenhang mit
338
339
340 341 342 343
Das RFM-Modell ist ein auf Nutzungs- und Transaktionsverhalten basierender Ansatz. Vgl. Elsner/Krafft/Huchzermeier (2004), S. 193 f.; Krafft (2007), S. 80; Malthouse (2003), S. 176 f. Die vorliegende Untersuchung fokussiert auf vertraglich fixierte Kundenbeziehungen. Daher wird die RFM-Komponente „Recency“, die eher bei nicht-vertraglichen Kundenbeziehungen von Relevanz ist, nicht weiter betrachtet. Zur Rolle von Recency vgl. Krafft (2007), S. 80; Nacif (2003), S. 144 f. und S. 277 f. Vgl. Anderson/Narus (2004), S. 60-74. Die Determinante „Monetary Value“ nimmt direkt Einfluss auf die Wahrnehmung des Nutzens der Kundenbeziehung durch die Geschäftskunden und lässt sich insofern nutzentheoretisch fundieren. Vgl. Voeth (2003), S. 55-67. Vgl. Anderson/Jain/Chintagunta (1993). Vgl. Lemmens/Croux (2006), S. 278. Vgl. Godefroid (2003), S. 114. Vgl. Krafft (2007), S. 80 und S. 151; Rüger (2003), S. 144.
90
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
dem Prädiktor „Kundenstatus“.344 Dienstleistungsanbieter ordnen dabei Nutzern oder Geschäftskunden in Abhängigkeit von deren Gesamtumsatz einen entsprechenden Kundenstatus zu, der im Rahmen des Churn-Managements eine mögliche Abwanderungsneigung indizieren kann. Auch ist die Verwendung von Prädiktoren, welche die Entwicklung der Determinante „Monetary Value“ im Zeitverlauf indizieren und insofern Vergleiche ermöglichen, von Vorteil. Der aktuelle Umsatz kann bspw. mit vergangenen Umsätzen verglichen werden, um Umsatzrückgänge bzw. -steigerungen zu identifizieren. Solche Umsatzentwicklungen stehen im direkten Zusammenhang mit der Churn-Wahrscheinlichkeit.345 Allerdings sollten bei der kundenindividuellen Analyse dieser Determinante Preisentwicklungen berücksichtigt werden. Dadurch wird der Gefahr von Verzerrungen auf Grund von veränderten Preisen Rechung getragen.
2.4.3.3.2 Frequency Die Determinante „Frequency“ (Nutzungshäufigkeit) ist ebenso ein Bestandteil der RFM-Metrik wie die Determinante „Monetary Value“.346 Die Nutzungshäufigkeit ist eine zentrale Determinante für die Beschreibung des Churn-Verhaltens von Kunden und dient zur Operationalisierung des Konstrukts „Nutzungsintensität“.347 Der Determinante liegt die Annahme zu Grunde, dass Kunden eine Beziehung zu einem Dienstleistungsanbieter fortsetzen, wenn sie die Leistungen der Anbieter häufig in Anspruch nehmen.348 Bereits mehrfach wurde auf die Bedeutung des rationalen Verhaltens sowie der ökonomischen Vorteilhaftigkeit bei der Anbieterwahl hingewiesen.349 Um die Entscheidung hinsichtlich der Fortführung einer Geschäftsbeziehung zu begründen, greifen Geschäftskunden auf Kennzahlen zurück, die das tatsächliche Nutzungs344
345 346 347 348
349
Dem Prädiktor „Kundenstatus“ liegt der Kundenwertansatz zu Grunde. Der Kundenwert entspricht dem Ertragswert von Kundenbeziehungen aus Unternehmenssicht und stellt insofern den ökonomischen Wert von Kunden dar. In der englischsprachigen Literatur hat sich hierfür der Begriff „Customer Lifetime Value“ durchgesetzt. Vgl. Fader/Hardie/Lee (2005); Krafft (2007); Kumar/Reinartz (2006); Venkatesan/Kumar (2004). Vgl. Lemmens/Croux (2006), S. 282. Vgl. Elsner/Krafft/Huchzermeier (2004), S. 193 f.; Krafft (2007), S. 80; Malthouse (2003), S. 176 f. Vgl. Dover/Murthi (2006), S. 14. Im Gegensatz zur Determinante „Monetary Value“ ist die Determinante „Nutzungshäufigkeit“ nicht um potenzielle Preiseffekte zu korrigieren. Vgl. Wei/Chiu (2002), S. 105. Eine häufige Inanspruchnahme der Dienstleistung indiziert den grundsätzlich vorhandenen Nutzen und steht daher mit der Nutzentheorie in Beziehung. Gleichzeitig reduziert die häufige Nutzung die Transaktionskosten. Vgl. Bendapudi/Berry (1997), S. 15-37; Voeth (2003), S. 55-67. Vgl. Abschnitte 2.2.1.1 sowie 2.4.3.1.4.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
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verhalten und damit die Zweckmäßigkeit des Bezugs der Dienstleistung objektiv erscheinen lassen. Hierdurch sollen suboptimale Entscheidungen vermieden werden. Eine abnehmende Nutzungshäufigkeit könnte für die Geschäftskunden den Bezug der Dienstleistung in Frage stellen. Eine solche negative Entwicklung der Nutzung lässt vor diesem Hintergrund auf eine gefährdete Kundenbeziehung schließen. Eine zurückgehende Nutzung der Dienstleistung ist dabei u.a. auf qualitative, technologische oder auch ökonomische Ursachen zurückzuführen. Erfolgt die Erstellung einer Dienstleistung bspw. mangelhaft, sind die Geschäftskunden in der Nutzung der Dienstleistung eingeschränkt. In der Mobilfunkbranche führt z.B. eine mangelhafte Netzabdeckung dazu, dass die Außendienstmitarbeiter des Geschäftskunden nicht überall auf diese Dienstleistung zurückgreifen können. Weniger Telefonate und eine damit verbundene abnehmende Nutzungshäufigkeit sowie eine zunehmende Abwanderungsgefahr sind die Folgen. Die Analyse der Nutzungshäufigkeit ermöglicht eine auf tatsächlichem Transaktionsverhalten basierende Operationalisierung der Nutzungsintensität. Empirische Studien haben gezeigt, dass Kunden mit einer hohen Nutzungshäufigkeit weniger abwanderungsgefährdet sind als Kunden mit niedrigeren Nutzungsniveaus.350 Der Zusammenhang zwischen Nutzungshäufigkeit und Churn-Verhalten wird in einer empirischen Studie am Beispiel eines Web-Browers untersucht.351 Demnach erklärt der Prädiktor „Nutzungshäufigkeit“ signifikant das Abwanderungsverhalten von Endkunden. Auch bei Dienstleistungen im B2B-Kontext kann ein Zusammenhang zwischen Nutzungshäufigkeit und Churn-Verhalten von Geschäftskunden postuliert werden. Die Nutzungshäufigkeit lässt sich disaggregiert auf Ebene der Mitarbeiter von Geschäftskunden analysieren, indem deren Nutzungs- und Transaktionsverhaltensdaten durch den Dienstleistungsanbieter monatlich erfasst werden. Alternativ kann die Nutzungshäufigkeit für die jeweiligen Mitarbeiter über den Betrachtungszeitraum aggregiert analysiert werden. Allerdings sind in derart kumulierten Daten keine Informationen über die zeitliche Entwicklung enthalten, wodurch die Erklärungskraft der aggregierten Nutzungshäufigkeit eingeschränkt ist.352 Zusammenfassend lässt sich auch für den B2B-Kontext annehmen, dass die Nutzungshäufigkeit eine potenziell bedeutsame Determinante des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden darstellt.
350 351 352
Vgl. Keaveney/Parthasarathy (2001), S. 378-382; Ranganathan/Seo/Babad (2006), S. 271 und S. 273 f. Vgl. hier und im Folgenden Rüger (2003). Vgl. Schulz (1995), S. 150.
92
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
2.4.3.3.3 Cross- und Up-Selling Eine weitere relevante transaktionsbezogene Determinante ist das Cross- und UpSelling-Verhalten von Geschäftskunden. Diese Determinante ist eng an das Konzept des Share-of-Wallet (SOW) angelehnt und dient der Operationalisierung des Konstrukts „Nutzungsintensität“.353 Beim Up-Selling fokussiert sich der Anbieter darauf, dem Geschäftskunden über die Zeit höherwertigere Dienstleistungen zu verkaufen.354 Die Vermarktung von ergänzenden Dienstleistungen oder Produkten wird als Cross-Selling bezeichnet.355 Nicht zuletzt auch auf Grund der engen Beziehung zu den Konstrukten „Nutzungsintensität“ und „ökonomische Vorteilhaftigkeit“ ist die Determinante „Cross- und Up-Selling“ für die Erklärung des ChurnVerhaltens von Geschäftskunden von Relevanz.356 Positive Erfahrungen in Hinblick auf Zuverlässigkeit und Qualität der Leistungen von Anbietern führen zu einer Reduktion des Auswahlrisikos und damit gleichzeitig zu einer größeren Bereitschaft, Geschäftsbeziehungen durch Cross- oder Up-Selling zu intensivieren.357 Dementsprechend bauen Unternehmen eine Beziehung zu einem Anbieter i.S. von Cross- und Up-Selling nicht aus, wenn die Entscheider mit der Beziehung keine Vorteile verbinden, mit der Leistung unzufrieden sind oder andere negative Erfahrungen mit den Dienstleistungen des Anbieters vorliegen. In Hinblick auf eine potenzielle Abwanderungsgefahr spricht für die Integration dieser Determinante, dass der Koordinationsaufwand für Geschäftskunden im Vergleich zum Einzelerwerb der Leistungen deutlich reduziert wird.358 Geringere Transaktionskosten und eine daraus damit c.p. einhergehende größere ökonomische Vorteilhaftigkeit der Geschäftsbeziehung aus Sicht der Geschäftskunden sind die Folge. Die Beziehung zwischen Cross- und Up-Selling und dem Churn-Verhalten der Geschäftskunden ist in einigen empirischen Studien im B2B- und B2C-Kontext
353
354 355 356
357 358
SOW spiegelt den Anteil am Gesamtbedarf einer Dienstleistung wider, den ein Kunde bei einem Anbieter deckt. Vgl. hierzu ausführlich Du/Kamakura/Mela (2007) sowie kritisch Peters/Krafft/Malthouse (2007). Vgl. Hippner/Wilde (2005), S. 474 f. Vgl. Büschken (2004), S. 113. Vgl. Akcura/Srinivasan (2005); Anderson/Fornell/Lehmann (1994); Lau/Chow/Liu (2004). Cross- und Up-Selling-Verhalten spiegelt den Nutzen der Beziehung aus Sicht der Geschäftskunden wider und senkt gleichsam die Transaktionskosten der Kunden. Vgl. Bendapudi/Berry (1997); Voeth (2003). Vgl. Perrien/Paradis/Banting (1995), S. 324. Vgl. Meffert/Bruhn (2006), S. 407-409.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
93
untersucht worden.359 Die Ergebnisse weisen grundsätzlich auf einen negativen Zusammenhang zwischen Cross- bzw. Up-Selling und dem Churn-Verhalten hin. In einer empirischen Studie auf Grundlage einer Befragung von Geschäftskunden konnte gezeigt werden, dass durch Cross- und Up-Selling die Abwanderungsgefahr gemindert wird.360 Zur Operationalisierung der Determinante „Cross- und Up-Selling“ auf Basis von im Unternehmen vorhandenen Daten kann bspw. die Anzahl insgesamt genutzter Dienstleistungen herangezogen werden. Dabei ist anzumerken, dass jede zusätzliche Dienstleistung gleich wertvoll ist und sich von anderen Dienstleistungen differenzieren lässt. Weiterhin kann diese Anzahl ins Verhältnis zu den insgesamt von Anbietern angebotenen Dienstleistungen gesetzt werden.361
2.4.3.3.4 Spezifische Investitionen Einen Einfluss auf das Churn-Verhalten von Geschäftskunden wird auch der Determinante „spezifische Investitionen“ zugesprochen.362 Im B2B-Kontext sind entstehende Transaktionskosten ein Kriterium zur Beurteilung von Geschäftsbeziehungen. Auch bei Dienstleistungen sind durch den Geschäftskunden spezifische Investitionen in die Beziehung zu tätigen.363 Die spezifischen Investitionen lassen sich je nach Bezugsgröße in prozess-, produkt- oder beziehungsspezifische Investitionen differenzieren, die bei einer Beendigung von Geschäftsbeziehungen i.S. von „sunk costs“ verloren gehen können.364 Aus spezifischen Investitionen resultieren für die Geschäftskunden Wechselkosten, die mitunter gezielt durch die Anbieter von Dienstleistungen gesteuert werden.365 Dienstleistungsanbieter können bspw. durch die Generierung von Wechselkosten einen bindungsfördernden Geschäftstypenwechsel vom Produkt- ins Systemgeschäft initiieren.366 Gleichzeitig verhindert ein Unternehmen auf diese Weise ein 359 360 361 362
363 364 365
366
Vgl. Pearson (1996); Reinartz/Kumar (2000a); Reinartz/Kumar (2000b); Rüger (2003). Vgl. Peter (1999). Vgl. Du/Kamakura/Mela (2007). Die Determinante „spezifische Investitionen“ lässt sich aus der Transaktionskostentheorie ableiten, die als Teil der Neuen Institutionenlehre in die betriebswirtschaftliche Forschung Eingang gefunden hat. Vgl. Heide/John (1992); Krafft (1995); Williamson (1985). Vgl. Butzer-Strothmann (1999), S. 45. Vgl. Cannon/Perreault (1999), S. 443; Heide/John (1990), S. 27; Jones/Mothersbough/Beatty (2002), S. 441-444; Liu (2006), S. 37; Vaaland (2004), S. 45 f. Die Wechselkosten, die in der englischsprachigen Literatur als „switching costs“ bezeichnet werden, sind Gegenstand zahlreicher Publikationen insbesondere zum Industriegütermarketing. Vgl. Lam (2004); Nielson (1996); Tähtinen/Vaaland (2006). Vgl. Abschnitt 2.2.1.1 sowie Backhaus/Mühlfeld (2005).
94
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
opportunistisches Verhalten seiner Geschäftskunden und mindert die Abwanderungsgefahr, da es ökonomisch als wenig zweckmäßig erscheint, die Beziehung zu beenden.367 Eine solche Situation lässt sich auch als Lock-in-Effekt bezeichnen.368 Die Abwanderungsgefahr ist insbesondere dann hoch, wenn die spezifischen Investitionen des Kunden in prozess-, produkt- oder beziehungsbezogene Bestandteile der Geschäftsbeziehung relativ gering sind.369 Dieser Einfluss konnte auch in einer empirischen Studie belegt werden. Es zeigte sich, dass die Höhe der anbieterseitigen Wechselkosten die Churn-Wahrscheinlichkeit beeinflusst.370 Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch Lam et al. am Beispiel der Wechselkosten in Industrieunternehmen.371 Im hier betrachteten Untersuchungskontext ergibt sich in Hinblick auf die Wechselbeziehung zwischen spezifischen Investitionen und Churn-Verhalten im B2B-Kontext eine Besonderheit. Auf Grund des immateriellen Charakters von Dienstleistungen sind spezifische Investitionen schwer zu operationalisieren. Demzufolge lässt sich auch das Churn-Verhalten von Geschäftskunden nur bedingt beeinflussen. Eine Möglichkeit hierzu bietet der Aufbau von Bonusprogrammen, wie sie z.B. in der Luftfahrtbranche üblich sind.372 Zudem können die Dienstleistungsangebote zusammen mit materiellen Komponenten offeriert werden, wie es bspw. in der Telekommunikationsbranche verbreitet ist.373 Die folgende Abbildung 15 fasst die transaktionsbezogenen Determinanten zusammen. Weiterhin verdeutlicht die Abbildung die Möglichkeiten zur Operationalisierung der Determinanten auf Basis von im Unternehmen zur Verfügung stehenden Nutzungs- und Transaktionsdaten.
367 368 369 370 371 372 373
Vgl. Heide/John (1990), S. 27. Vgl. Krafft/Bromberger (2001); Lee/Lee/Feick (2001), S. 38 f.; Williamson (1985), 52-56. Vgl. Hu/Hwang (2006), S. 75; Wathne/Biong/Heide (2001), S. 56. Vgl. Wathne/Biong/Heide (2001). Vgl. Lam et al. (2004). Vgl. Krafft/Klingsporn (2007). Vgl. Joo/Jun/Kim (2002), S. 353.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
95
Transaktionsbezogene Determinanten
Monetary Value
Frequency
Cross- & UpSelling
Spezifische Investitionen
kumulierter Umsatz
kumulierte Nutzung
Anzahl in Anspruch genommener Dienstleistungen
Teilnahme an Bonusprogrammen für Geschäftskunden
Umsatzentwicklung im Zeitverlauf
Nutzungsentwicklung im Zeitverlauf
Verhältnis aus Anzahl genutzter Dienstleistungen und Gesamtanzahl
Investitionen in materielle Komponenten (z.B. Server)
Kundenstatus
Abbildung 15: Transaktionsbezogene Determinanten des Churn-Verhaltens Quelle: Eigene Darstellung.
2.5 Zusammenfassende Darstellung des konzeptionellen Bezugsrahmens Die Ausführungen im Abschnitt 2.4 haben die Komplexität des Churn-Managements im B2B-Kontext aufgezeigt. Dabei konnte auf Basis eines umfassenden Literaturüberblicks verdeutlicht werden, dass das Abwanderungsverhalten von Geschäftskunden auf Basis von im Unternehmen vorhandenen Nutzungs- und Transaktionsdaten bislang nur sehr selten Gegenstand von Untersuchungen war. Gleichsam lässt sich festhalten, dass sich zentrale Konstrukte und Determinanten des Churn-Verhaltens identifizieren lassen. Zentrale Konstrukte sind die „ökonomische Vorteilhaftigkeit“, „Kundenzufriedenheit“ und „Beziehungs- und Nutzungsintensität“.374 Die Determinanten dieser Konstrukte spiegeln sich in produkt-, interaktions- und transaktionsbezogenen Aspekten von Kundenbeziehungen wider. Diese Determinanten üben einen erwarteten nachhaltigen Einfluss auf das Churn-Verhalten von Geschäftskunden aus.375 Resümierend liegt dem Abwanderungsverhalten eine Kombination verschiedener Einflussgrößen zu Grunde.376 Hier sind z.B. die Determinanten „Qualität“, „Interaktionsintensität“ oder das “Cross-und Up-Selling-Verhalten“ zu 374 375 376
Vgl. Abschnitt 2.4.2.1. Vgl. Abschnitt 2.4.3. Diese Einschätzung bestätigen bspw. auch Smith/Willis/Brooks (2000).
96
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
nennen. Stärke und Wirkungsrichtung dieser Determinanten sind dabei branchenspezifisch zu untersuchen.377 Es ist davon auszugehen, dass Geschäftskunden die Beziehungen zu Dienstleistungsanbietern beenden, weil die angebotenen Dienstleistungen nicht ihren Nutzen maximieren und sie insofern mit den Anbietern nicht zufrieden sind. Bei der Analyse des Churn-Verhaltens sind weiterhin Kontextfaktoren zu beachten.378 Diese generellen Einflüsse beziehen sich auf den Untersuchungskontext des B2B-Marketing, Unternehmensmerkmale der Geschäftskunden sowie globale Abwanderungsursachen. Der Untersuchungskontext steht in enger Beziehung zu den Charakteristika des B2B-Marketing im Allgemeinen sowie den hierarchischen Kundenstrukturen und dem heterogenen Kundenverhalten im Speziellen.379 Weiterhin sind bei der Analyse des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden deren Unternehmensmerkmale von Interesse. So stellen Großunternehmen z.T. andere Anforderungen an die Dienstleistungsanbieter als klein- und mittelständische Unternehmen. Letztlich sind auch globale Abwanderungsursachen zu berücksichtigen. Während Anbieter grundsätzlich unternehmensinduzierten Abwanderungsursachen entgegenwirken können, sind die Handlungsoptionen bei Vorliegen von kunden- oder wettbewerbsinduzierten Abwanderungsursachen vergleichsweise begrenzt. Die folgende Abbildung 16 zeigt den in diesem Kapitel entwickelten konzeptionellen Bezugsrahmen. Aus diesem ergeben sich Implikationen für die Auswahl geeigneter quantitative Methoden zur Identifikation der Abwanderungsneigung von Geschäftskunden (Kapitel 3). Gleichzeitig wird versucht, substanzielle Teile des Bezugsrahmens am Beispiel der Telekommunikationsbranche empirisch zu überprüfen (Kapitel 4).
377 378 379
Im Kapitel 4 erfolgt die empirische Untersuchung am Beispiel der Telekommunikationsbranche. Vgl. für die folgenden Ausführungen die Abschnitte 2.2 und 2.4.2.2. Im Abschnitt 2.2.1.2 konnte gezeigt werden, dass diese Charakteristika auch für Dienstleistungen grundsätzlich zutreffend sind.
Konzeptionelle Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
97
Konzeptioneller Bezugsrahmen zur Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext am Beispiel von Dienstleistungen
Churn-Verhalten von Geschäftskunden
Konzeptioneller Bezugsrahmen
Zentrale Kontextfaktoren
Zentrale Konstrukte des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext Ökonomische Vorteilhaftigkeit
Kundenzufriedenheit
Beziehungs- und Nutzungsintensität
Zentrale Determinanten des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext Produktbezogene Determinanten Qualität Produkteinführungen, Innovationen Preise, Konditionen, Tarife Attraktivität des Konkurrenzangebots
Interaktionsbezogene Determinanten Außendienstbetreuung Interaktionsintensität Beschwerdeintensität Beziehungsdauer
Transaktionsbezogene Determinanten
Unternehmensmerkmale Großkunden Klein- und Mittelstandskunden
Monetary Value Frequency Cross- & Up-Selling Spezifische Investitionen
Abbildung 16: Bezugsrahmen des Churn-Managements im B2B-Kontext Quelle: Eigene Darstellung.
B2B-Charakteristika Hierarchische Kundenstruktur Heterogenes Kundenverhalten Geschäftstyp
Globale Abwanderungsursachen unternehmensinduziert kundeninduziert wettbewerbsinduziert
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
99
3 Methodische Grundlagen zur Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext Die bisherigen Ausführungen dienten der Fundierung des Churn-Managements im B2B-Kontext aus konzeptioneller Sicht. Im Folgenden werden methodische Ansätze vorgestellt, die sich grundsätzlich zur Identifikation von Abwanderungsgefahr eignen. Zunächst werden Anforderungen an einen Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens im aufgezeigten B2B-Kontext abgeleitet, die auf den im Kapitel 2 erarbeiteten Erkenntnissen fußen (Abschnitt 3.1). Daraufhin erfolgt die Erörterung von klassischen Verfahren, die traditionell im Rahmen des Churn-Managements Anwendung finden (Abschnitt 3.2).380 Hierbei wird insbesondere auf die Grundlagen der Logistischen Regression – einem in der Praxis weit verbreiteten Ansatz – eingegangen. Nach der Vorstellung der Grundzüge der ausgewählten klassischen Ansätze erfolgt deren Beurteilung anhand der in Abschnitt 3.1 abgeleiteten Anforderungen.381 Ein besonderes Gewicht wird im aktuellen Kapitel 3 auf die Vorstellung und Diskussion von Ansätzen zur Erfassung hierarchischer und heterogener Kundenstrukturen gelegt. (Abschnitt 3.3) Im Vordergrund stehen dabei die Latent Class-Regression sowie die Multilevel Latent Class-Regression als neuere Methoden im Churn-Management. Kapitel 3 schließt mit einer Gegenüberstellung und Bewertung der vorgestellten Methoden. Die folgende Abbildung 17 zeigt die einzelnen Methoden(-gruppen) im Überblick. Dabei bilden die Anforderungen den Rahmen für die Beurteilung der Ansätze.
380
381
Klassische bzw. traditionelle Ansätze beziehen sich dabei auf quantitative Methoden, die zur Erklärung des Abwanderungsverhalten von Kunden im B2C-Kotext eingesetzt wurden bzw. werden. Vgl. hierzu auch Kapitel 2.
100
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Anforderungen an einen Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext Ansätze zur Erklärung des Churn-Verhaltens
Klassische Ansätze
Entscheidungsbäume
Neuronale Netze
HazardRegression
Logistische Regression
Neuere Ansätze
Latent ClassRegression
Multilevel Latent ClassRegression
Abbildung 17: Ausgewählte Methoden zur Erklärung des Churn-Verhaltens Quelle: Eigene Darstellung.
3.1 Anforderungen an einen Ansatz zur Churn-Modellierung Bei der Modellierung des Churn-Verhaltens bzw. der Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden können eine Reihe unterschiedlicher quantitativer Modellierungsansätze angewandt werden. Der Einsatz dieser einzelnen Verfahren ist mit methodenimmanenten Prämissen verbunden. Darüber hinaus ergeben sich aus der Darstellung der konzeptionellen Grundlagen zur Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext einige spezifische Anforderungen an die Methoden.382 Werden diese Prämissen und Anforderungen bei der Churn-Modellierung verletzt oder nicht beachtet, können die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Prüfung auf Validität und Reliabilität nicht standhalten. Dementsprechend ist bei einer Prämissenverletzung die Relevanz dieser Ergebnisse für die unternehmerische Praxis in Frage zu stellen. Vor diesem Hintergrund sollte die Überprüfung der Eignung einzelner Methoden zur Prognose des Churn-Verhaltens abwanderungsgefährdeter Kunden anhand von
382
Vgl. Kapitel 2.
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
101
relevanten Evaluationskriterien erfolgen. Die von Marketing-Forschern oder Marketing-Entscheidern eingesetzten Modelle haben gezeigt, dass die eingesetzten Verfahren für die Erklärung des Abwanderungsverhaltens von zentraler Bedeutung sind.383 Weiterhin kann festgehalten werden, dass der Erfolg des Churn-Managements von der Eignung dieser Modelle abhängt, das Churn-Verhalten erklären und prognostizieren zu können. Insofern kommt der Auswahl eines Ansatzes unter Berücksichtigung der spezifischen Zielsetzungen der Analysen eine besondere Rolle zu.384 Die einzelnen Anforderungen werden im Folgenden beschrieben. Dabei kommt dem Kriterium „Erfassung von Heterogenität im Kundenverhalten“ eine besondere Bedeutung zu, die sich auch im Detaillierungsgrad der folgenden Ausführungen niederschlägt.
3.1.1 Berücksichtigung von Heterogenität als zentrale Anforderung an einen Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens 3.1.1.1 Relevanz der Heterogenität in der statistischen Modellierung Zunächst sollte ein Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens potenzielle Churner möglichst treffsicher identifizieren.385 Hierzu sollten die Methoden die Heterogenität in Bezug auf das Churn-Verhalten und somit auf die abhängige Variable abbilden können. Insofern ist die explizite Erfassung der individuellen Unterschiede im Verhalten der Geschäftskunden von zentraler Bedeutung für die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit. In Kapitel 2 wurde die Multipersonalität von industriellen Kaufentscheidungen als konstituierendes Merkmal des Managements von B2B-Kundenbeziehungen herausgestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung insbesondere auf der Betrachtung hierarchischer Strukturen innerhalb der Organisation der Dienstleistungsnachfrager. Neben der damit verbundenen Komplexität ist eine starke Heterogenität vorzufinden. Diese bezieht sich auf die grundsätzliche Verschiedenartigkeit des Leistungsspektrums und der Kundenbedürfnisse in B2B-Märkten.386 Die verschiedenartigen Kundenbedürfnisse resultieren dabei aus den spezifischen Anforderungen der Nutzer an die in Anspruch genommenen Dienstleistungen. Heterogenität als Ausdruck für die Vielfalt der Bedürfnisse 383 384
385 386
Eine Metaanalyse zu den im Churn-Management eingesetzten Prognoseverfahren findet sich bei Neslin et al. (2006), S. 204-211. Innerhalb des Churn-Managements von Unternehmen kann bspw. der Schwerpunkt auf der Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden liegen. Eine andere Zielsetzung könnte die Analyse der wesentlichen Einflussfaktoren auf das Churn-Verhalten sein. Vgl. hier und im Folgenden Neslin et al. (2006), S. 204-211 sowie Abschnitt 2.1.2.2. Vgl. Frenzen/Krafft/Peters (2007), S. 384; Homburg/Rudolph (2001), S. 16.
102
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
ist einer der Ursprungsgedanken der Marketingforschung.387 Um diese Heterogenität zu erfassen und entsprechend differenzierte Produkte und Dienstleistungen entwickeln zu können, erfolgt üblicherweise eine Segmentierung von Märkten vorgenommen.388 Dabei gilt grundsätzlich: Je unterschiedlicher das Verhalten von Kunden ist, desto weniger eignet sich eine aggregierte Analyse.389 Zur Erfassung der Heterogenität bzw. zur Segmentierung auf Basis des Verhaltens von Geschäftskunden stehen eine Vielzahl von Methoden und Ansätzen zur Verfügung.390 Diese lassen sich danach unterscheiden, ob sie die Aufteilung auf Basis beobachtbarer Kriterien bzw. Variablen vornehmen oder vielmehr auf nicht direkt beobachtbare Variablen zurückgreifen. Zudem kann eine Differenzierung nach kundenund nutzungsbezogenen Variablen als Segmentierungsbasis dienen.391 Diesen Sachverhalt zeigt die folgende Tabelle 2:
Beobachtbar
Nichtbeobachtbar
Kundenbezogene Variablen
Nutzungsbezogene Variablen
-
ökonomische Variablen geographische Variablen unternehmensbezogene Variablen
-
Nutzungshäufigkeit Dauer der Geschäftsbeziehung Cross-Buying
-
Zielsystem Unternehmensphilosophie Entscheidungsfreudigkeit
-
organisatorische Entscheidungsregeln Präferenzen Elastizitäten
-
Tabelle 2: Systematisierung von Segmentierungskriterien Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Backhaus (2003), S. 229 und Gensler (2003), S. 89.
Im Folgenden gilt das besondere Interesse der Heterogenität, die sich nicht allein aus manifesten Variablen wie „Unternehmensgröße“ oder „Umsatzwachstum“ erkennen lässt.392 Für diese Form der Heterogenität findet sich in der einschlägigen Literatur 387 388
389 390 391 392
Vgl. Frank/Massy/Wind (1972), S. 7; Wedel/Kamakura (2000). Unter Segmentierung wird generell die Aufteilung eines Marktes anhand a priori festgelegter Kriterien in intern homogene und untereinander heterogene Segmente verstanden. Vgl. Homburg/Krohmer (2006), S. 485; Meffert (2000), S. 181; Smith (1956). Ein anschauliches Beispiel für die Konsequenzen bei Nicht-Berücksichtigung von Heterogenität findet sich bei Gensler (2003), S. 83 f. Vgl. Allenby/Rossi (1999), S. 57. Eine ausführliche Darstellung von Segmentierungsansätzen findet sich bei Backhaus et al. (2006); Herrmann/Homburg (2000) sowie Wedel/Kamakura (2000). Vgl. Backhaus/Voeth (2007), S. 120; Gensler (2003), S. 88 f. Ein Grund hierfür ist, dass im Gegensatz zu der Segmentierung auf Basis von manifesten Variablen die unbeobachtete Heterogenität nach Kenntnis des Verfassers noch nicht bei
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
103
auch die Bezeichnung „unbeobachtete Heterogenität“.393 Die Segmentierung von Geschäftskunden im Rahmen der statistischen Modellierung zielt darauf ab, die Unterschiedlichkeit bzw. die Variabilität im Kundenverhalten zu erfassen und eine entsprechende Zusammenfassung der Geschäftskunden in homogene Klassen zu ermöglichen. Allerdings können i.d.R. nicht alle relevanten Variablen zur Differenzierung in entsprechenden Untersuchungen berücksichtigt werden, da diese zum Teil nicht beobachtbar sind, was in der Konsequenz zu „unobserved heterogeneity“ führt. Um die unbeobachtete Heterogenität dennoch zu erfassen, werden in der statistischen Analyse sog. „Latente Variablen“ herangezogen, die in diesem Kontext auch als „Random Effects“ bezeichnet werden.394 Auf diese Weise lässt sich der gemeinsame Effekt der unbeobachteten Einflüsse auf das hier untersuchte Churn-Verhalten abbilden. Unbeobachtete Heterogenität kann bei der Segmentierung von Geschäftskunden zu segmentspezifischer Abhängigkeit sowie Überdispersion führen, sofern diese Effekte nicht explizit in der Modellierung berücksichtigt werden.395 Ein Beispiel für die explizite Berücksichtigung von unbeobachteter Heterogenität ist die Integration von sog. „Random Intercepts“ in Regressionsmodellen.396 Ein Random Intercept stellt dabei die Abweichung eines Segmentmittelwerts vom Gesamtmittelwert dar und wird auf Basis von stochastischen Verteilungen geschätzt. Eine Konsequenz aus der Existenz von unbeobachteter Heterogenität ist, dass sich der statistische Zusammenhang zwischen kundenseitiger Reaktion und beobachtbaren Variablen in einem Segment von der Beziehung in der Gesamtstichprobe unterscheidet. Diese Besonderheiten der Heterogenität müssen dementsprechend auch bei deren Modellierung berücksichtigt werden. Während die Methoden zur Erfassung der Heterogenität insbesondere im Abschnitt 3.3 Gegenstand der Diskussion sind, beziehen sich die folgenden Ausführungen auf konzeptionelle Grundlagen der Erfassung von Heterogenität. Diese
393 394
395
396
Kundenbeziehungen im B2B-Kontext untersucht wurde. Vgl. hier und im Folgenden Skrondal/Rabe-Hesketh (2004), S. 9-14. Vgl. auch Goldstein (2003), S. 13-48. Die Ausführungen in diesem Abschnitt dienen allein der Veranschaulichung des Konzepts der unbeobachteten Heterogenität. Methodische Ansätze werden im Abschnitt 3.3 am Beispiel der Latent Class-Analysen ausführlich beschrieben. Zu segmentspezifischer Abhängigkeit kann es kommen, wenn in einem Segment zwischen Variablen starke Korrelationen auftreten, die sich darin niederschlagen, dass die Variablenausprägungen auf derselben Seite vom Mittelwert liegen. Überdispersion bezieht sich hingegen darauf, dass die Varianz einer Verteilung größer ist als der Mittelwert. Die Streuung in den tatsächlich beobachteten Daten ist insofern größer als die geschätzte Streuung. Vgl. McCullagh/ Nelder (1999), S. 124-128; Skrondal/Rabe-Hesketh (2004), S. 10 f. und S. 27. Eine ausführliche Darstellung dieser Modelle findet sich im Abschnitt 3.3.1.3.
104
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
dienen dem besseren Verständnis der in den Abschnitten 3.3.2 und 3.3.3 diskutierten Latent Class-Regressionsansätzen.
3.1.1.2 Ansätze zur Modellierung der segmentbezogenen Heterogenität Im vorangegangenen Abschnitt wurde die Bedeutung der Erfassung der individuellen Heterogenität und eine damit verbundene Segmentierung verdeutlicht. Eine aggregierte Analyse über alle Kunden ohne Erfassung der Heterogenität kann demnach zu irreführenden Implikationen führen, wodurch die Untersuchung des Kundenverhaltens nach verborgenen Strukturen erforderlich erscheint.397 Hierfür stehen verschiedene Methoden zur Verfügung, die sich generell durch die jeweilige Zuordnung der Kunden zu den einzelnen Segmenten unterscheiden. Wedel/Kamakura (2000) differenzieren die Zuordnungsmöglichkeiten in nicht-überlappende, überlappende und Fuzzy-Zuordnungen (Abbildung 18).398
Segmentierungsansätze
Nichtüberlappend
Überlappend
FuzzyZuordnungen
Fuzzy Sets
Finite MixtureModelle
Abbildung 18: Ansätze zur Segmentierung von Kunden Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Wedel/Kamakura (2000).
Werden Kunden mit Hilfe eines Segmentierungsansatzes auf Grund ihrer heterogenen Merkmalsausprägungen der relevanten Variablen allein einem Segment zugeordnet, wird von einer nicht-überlappenden Zuordnung gesprochen.399 Dabei findet der Aspekt der Unsicherheit keine Berücksichtigung, was letztlich einerseits die Modellierungskomplexität reduziert, aber andererseits auch den Bezug zur Realität 397 398 399
Vgl. Becker (2004), S. 138. Vgl. Wedel/Kamakura (2000), S. 40-42. Vgl. Arabie et al. (1981), S. 310; Hruschka (1986), S. 118.
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
105
verliert.400 Dieses Vorgehen impliziert die Bildung von disjunkten Segmenten: Kein Kunde befindet sich in mehr als einem Segment.401 Dies ist der zentrale Unterschied zu überlappenden Segmentierungsansätzen, die eine gleichzeitige Zugehörigkeit von Kunden zu mehreren Segmenten erlauben.402 Für eine überlappende Zuordnung spricht die größere Nähe zur Realität. Demgegenüber bedingt dieser Ansatz eine schlechtere Trennung der Segmente sowie eine damit verbundene eingeschränkte Möglichkeit zur differenzierten Kundenansprache. Auch bei der Fuzzy-Zuordnung können Kunden verschiedenen Segmenten angehören. Die Fuzzy-Ansätze lassen sich jedoch von den überlappenden Zuordnungen dadurch differenzieren, dass bei ihnen keine strikte Segmentzuordnung erfolgt, sondern vielmehr ein Segmentzugehörigkeitsgrad und somit eine Ungewissheit über die tatsächliche Zugehörigkeit zu einem Segment unterstellt wird. Dieser Segmentzugehörigkeitsgrad lässt sich als Wahrscheinlichkeit der Segmentzugehörigkeit interpretieren. Für jeden Kunden nimmt die Summe der einzelnen Wahrscheinlichkeiten zwar den Wert „Eins“ an, die Interpretation der Wahrscheinlichkeiten in Hinblick auf die Segmentzuordnung variiert indessen zwischen den so genannten Fuzzy Sets und den Finite Mixture-Modellen. Während bei der Methode der Fuzzy Sets unterstellt wird, dass die Kunden zu einem spezifischen Grad mehreren Segmenten angehören, liegt den Finite Mixture-Modellen die Annahme zu Grunde, dass die Kunden letztlich nur einem Segment angehören. Insofern erfolgt eine modale Zuordnung der Kunden. Dennoch drückt der Segmentzugehörigkeitsgrad aus, dass ein Kunde auf Grund unvollständiger Informationen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den Segmenten zuzuordnen ist. Damit eine möglichst gute Separation der Segmente sichergestellt ist, wird in der Literatur eine Zuordnungswahrscheinlichkeit von mindestens 80% empfohlen.403 Die Wahrscheinlichkeit wird mit Hilfe einer Zugehörigkeitsfunktion ermittelt, die den einzelnen Kunden eine reelle Zahl zwischen 0 und 1 zuordnet und die kundenindividuelle Wahrscheinlichkeit der Segmentzugehörigkeit ausdrückt. Die folgende
400
401
402 403
Unsicherheit bzw. Risiko bedeutet in diesem Zusammenhang, dass hinsichtlich des Eintretens verschiedener Zustände entweder objektive oder subjektive Wahrscheinlichkeiten vorliegen. Die Realitätsnähe ist eingeschränkt, da keine abschließende Sicherheit darüber existiert, dass Kunden tatsächlich einem spezifischen Segment angehören. Vgl. hierzu ausführlich Bamberg/ Coenenberg (2002), S. 76-125. Zu dem Begriff „disjunkt“ vgl. Bleymüller/Gehlert/Gülicher (2004), S. 26. Diese Zuordnung entspricht dem Vorgehen bei der Anwendung traditoneller Clusterverfahren. Vgl. hierzu Backhaus et al. (2006), S.489-555. Vgl. Hruschka (1986), S. 118; Wedel/Kamakura (2000), S. 41. Vgl. Cohen/Ramaswamy (1998), S. 16.
106
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Tabelle 3 zeigt exemplarisch die unterschiedlichen Zuordnungsmöglichkeiten für einen Kunden auf.404
Segment Segment A Segment B Segment C ... Segment i
Nicht-überlappende Zuordnung 1 0 0 … 0
Überlappende Zuordnung 1 1 0 … 1
Fuzzy-Zuordnung 0,85 0,10 0,00 … 0,05
Tabelle 3: Zuordnung von Kunden zu unterschiedlichen Segmenten. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Gensler (2003), S. 90.
Zusammenfassend ist zu resümieren, dass die Erfassung von Heterogenität ein zentraler Bestandteil der Analyse von Kundenverhalten ist und aus diesem Grund auch in der folgenden Diskussion relevanter Verfahren zur Modellierung des ChurnVerhaltens als wichtiges Beurteilungskriterium einzubeziehen ist. Während Heterogenität in vielen Formen und Anwendungsgebieten in der empirischen Marketingforschung Berücksichtigung findet, konzentriert sich die vorliegende Studie auf die Integration von Heterogenität in den Methoden zur Erklärung des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden. Die Berücksichtigung der Heterogenität sollte eine bessere Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden ermöglichen.405 Neben der Heterogenität sind indessen weitere Anforderungen bei der Beurteilung von Ansätzen zur Erklärung des Churn-Verhaltens potenziell relevant. Diese Kriterien sind Gegenstand des nächsten Abschnitts.
404
405
Der Kunde wird bei der nicht-überlappenden Zuordnung dem Segment A sowie bei der überlappenden den Segmenten A, B und i zugeordnet. Bei einer Segmentierung auf Basis von Fuzzy-Ansätzen gehört der Kunde mit einer Wahrscheinlichkeit von 85% dem Segment A, zu 10% dem Segment B und zu 5% dem Segment i an, was der Untergruppe der Fuzzy Sets entspricht. Bei Anwendung von Finite Mixture-Modellen gehört der Kunde allein dem Segment A an. Vgl. Jamal/Bucklin (2006), S. 27.
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
107
3.1.2 Weitere Anforderungen an einen Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens Bei der Entwicklung von Modellen, die das Churn-Verhalten von Geschäftskunden erklären sollen, ist der Einsatz verschiedener Methoden denkbar, die sich nicht nur danach differenzieren lassen, ob sie Heterogenität erfassen, sondern auch danach, inwieweit sie folgende weitere Eigenschaften aufweisen. Hierzu zählen:406 -
Berücksichtigung hierarchischer Kundenstrukturen Methodische Robustheit Aufwand zeitliche Stabilität Transparenz des Verfahrens
Aus der Anforderung, hierarchische Kundenstrukturen zu berücksichtigen, resultiert die Notwendigkeit, eine Methode anzuwenden, welche die Beziehungen zwischen Geschäftskunden- und Nutzerebene in der Modellierung abbildet. Diese Forderung impliziert, dass die gegenseitigen Einflüsse der Geschäftskunden- und Nutzerebene ebenso berücksichtigt werden wie eine ebenenspezifischen Berechnung der ChurnWahrscheinlichkeiten. Wie die Ausführungen zu den Grundlagen des B2B-Marketing verdeutlicht haben, üben beide Ebenen einen Einfluss auf die geschäftsbeziehungsspezifischen Prozesse aus. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Entwicklung von Modellen, die simultan Beobachtungen auf verschiedenen Ebenen berücksichtigen können. Diesem Kriterium kommt bei der Evaluierung der Methoden eine große Relevanz zu; zumal hierarchische Strukturen in der im Weiteren Verlauf dieser Arbeit diskutierten empirischen Anwendung einen bedeutsamen Untersuchungsaspekt darstellen. Als weiteres Kriterium wird die methodische Robustheit angeführt. Diese Anforderung zielt zum einen auf das Potenzial einer Methoden-individuellen Integration von Variablen mit verschiedenen Skalenniveaus und zum anderen auf die Kontinuität der Ergebnisse ab. Ersteres indiziert die Flexibilität hinsichtlich der zugelassenen Ausprägungsformen der Prädiktoren, wenn bspw. simultan metrische und nicht-metrische erklärende Variablen in die Analyse einbezogen werden können. Letzteres bedeutet, dass sich auch bei nochmaligem Durchlauf der Modelle oder bei leicht modifizierten Modellen ähnliche Ergebnisse ergeben. Im engen Zusammenhang zu der
406
Vgl. hier und im Folgenden Hüppelshäuser (2005), S. 97-100; Rüger (2003), S. 73.
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methodischen Robustheit steht auch die Komplexität des Verfahrens. Dabei ist zu erwarten, dass komplexere Methoden anfälliger im Falle von Prämissenverletzungen sind. Dementsprechend bezieht sich die methodische Robustheit im statistischen Sinne bspw. darauf, auch dann zu einer annähernd richtigen Bewertung des unterstellten Zusammenhangs zu gelangen, wenn die Verteilung der Residuen nicht den Annahmen entspricht. Weiterhin ist anzumerken, dass sich eine höhere Komplexität auch in einer höheren Erklärungsgüte des Churn-Verhaltens niederschlagen sollte.407 Mit dem Kriterium der methodischen Robustheit ist der Aufwand eines Verfahrens eng verbunden. Dieser wird durch den Zeit- und Rechenaufwand operationalisiert. Statistisch anspruchsvollere Verfahren erfordern grundsätzlich einen höheren zeitlichen Bedarf für die Modellschätzungen. Gleichzeitig steigt mit der Komplexität auch der Anspruch an die Rechenkapazität des Computers, was gegebenenfalls den Aufbau neuer und kostenspieliger Ressourcen bedingt. Die Rechenkapazität wird zudem durch die Forderung nach möglichst großen und umfangreichen Datensätzen zusätzlich belastet, was den Auf- oder Ausbau eines größeren Data Warehouse erforderlich macht.408 Die Datensatzgröße richtet sich dabei nach dem Erhebungsdesign, der Fallzahl sowie der Anzahl an Prädiktoren. Je größer die Fallzahl, d.h. je mehr Kunden in die Analyse einbezogen werden, und je höher die Anzahl an Prädiktoren ist, desto größer ist das Potenzial, die Aussagekraft in Hinblick auf die Allgemeingültigkeit der Modelle für den gesamten Kundenstamm zu gewährleisten. Aus den vorangehenden Ausführungen wird deutlich, dass mit dem Einsatz von elaborierten Methoden ein großer Aufwand verbunden sein kann. Nicht zuletzt daraus resultiert die Anforderung der zeitlichen Stabilität der Modelle bzw. der Ergebnisse. Die aus den Modellen abgeleiteten Implikationen für das Churn-Management im B2BKontext sollten sich, bezogen auf ihre Gültigkeit, längerfristig nicht verändern. Erfüllt eine Methode diese Anforderung, führt eine erneute Kalibrierung der Modelle grundsätzlich zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Dadurch ist gewährleistet, dass der auf Basis der Einflussfaktoren identifizierten Churn-Neigung einzelner Kunden gezielt durch das Management begegnet werden kann.409
407 408 409
Vgl. Hüppelshäuser (2005); Neslin (2006). Zur Bedeutung von Transaktions- und Nutzungsdaten für das Churn-Mangement vgl. Abschnitte 2.1 und 2.4. In Abschnitt 2.1.2.1 konnte gezeigt werden, dass in der aktiven Ansprache abwanderungsgefährdeter Kunden das zweite zentrale Merkmal des Churn-Managements zu sehen ist.
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
109
Auch sollten die Modelle sowie die Methoden, auf deren Basis die Modelle geschätzt werden, transparent sein. Dabei bedeutet Transparenz, dass die Anwender nachvollziehen können, wie sich die einzelnen Resultate ergeben bzw. dass die beobachtbaren Erklärungszusammenhänge offen gelegt werden.410 Hierdurch soll sich die Interpretierbarkeit und die Verständlichkeit der geschätzten Modelle verbessern. Die folgende Abbildung 19 fasst die Anforderungen an die Eignung von Methoden zur Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext zusammen. In den folgenden Abschnitten Abschnitten 3.2 und 3.3 werden die einzelnen in Hinblick auf deren grundlegende Konzeption vorgestellt. Im Anschluss daran erfolgt jeweils eine Beurteilung der Eignung dieser Methoden anhand der vorgestellten Anforderungen.
Abbildung 19: Anforderungen an einen Churn-Managementansatz Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Rüger (2003).
410
Diese Anforderung wirkt dem „Black-Box“-Phänomen entgegen und verhindert, dass mögliche Anwendungsfehler gemacht werden. Vgl. hierzu ausführlich Kroeber-Riel/Weinberg (2003); Türling (1999), S. 159 f.
110
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3.2 Klassische Ansätze zur Erklärung des Churn-Verhaltens Innerhalb dieses Abschnitts werden klassische Verfahren zur Identifikation von abwanderungsgefährdeten Kunden diskutiert. Im Vordergrund stehen dabei die generelle Eignung der Verfahren innerhalb des Churn-Managments im B2B-Kontext sowie die Anwendungsvoraussetzungen und zentralen methodischen Grundlagen. Wie aus der Literaturübersicht im Abschnitt 2.4.1 ersichtlich wurde, kommen in der empirischen Forschung zum Churn-Management insbesondere die folgenden Ansätze zum Anwendung:411 Entscheidungsbäume, Neuronale Netze, Hazard-Regression und Logistische Regression. Diese sind Gegenstand der folgenden Ausführungen. Nach einer kurzen Vorstellung der einzelnen Ansätze werden diese vor dem Hintergrund der in Abschnitt 3.1 herausgearbeiteten Anforderungen beurteilt.412
3.2.1 Entscheidungsbäume Entscheidungsbäume dienen der Entscheidungsunterstützung und basieren auf pfadorientierten Regelsystemen i.S.v. „Wenn-Dann“-Aussagen.413 Mit Hilfe der „Wenn-Dann“-Aussagen sollen dabei bspw. loyale von abwanderungsgefährdeten Kunden differenziert werden. Im Rahmen des Entwicklungsprozesses derartiger Entscheidungsbäume erfolgt die Identifikation der relevanten erklärenden Variablen (Prädiktoren).414 Die Variablenselektion kann einerseits auf Basis von Erfahrungen der Mitarbeiter bzw. früheren Churn-Studien erfolgen. Hiermit ist indessen eine sehr große Subjektivität verbunden. Andererseits lässt sich auch der sog. Chi-Square Automatic Interaction Detection(CHAID)-Algorithmus zur Auswahl der Variablen heranziehen, der zu den bekanntesten Schätzalgorithmen von Entscheidungsbäumen zählt.415
411
412
413 414 415
Hierbei ist anzumerken, dass es sich bei den genannten Methoden nicht um eine abschließende Aufzählung aller potenziellen Ansätze zur Churn-Prävention handelt. Ausschlaggebend für die vorgenommene Auswahl sind die bisherigen Anwendungen der Methoden im ChurnManagement. Vgl. Mozer et al. (2000); Neslin et al. (2006); Smith/Willis/Brooks (2000); Wie/Chiu (2002), S. 104. Die Ausführungen in diesem Abschnitt fokussieren sich allein auf die im Churn-Management klassischer Weise eingesetzten Ansätzen. Vgl. hierzu die Literaturübersicht im Abschnitt 2.4.1. Die im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit vorgestellten Latent Class-Regression und Multilevel Latent Class-Regression werden in diesem Abschnitt ausgeklammert, da es nach Kenntnis des Verfassers noch keine Anwendung im Bereich Churn-Management existiert. Aus diesem Grund erfordern die neueren Ansätze eine detailliertere Diskussion (Vgl. Abschnitt 3.3). Vgl. Lemmens/Croux (2006), S. 276 f.; Michalski (2001), S. 229. Vgl. Rüger (2003), S. 108. Der CHAID-Algorithmus dient der Entdeckung von statistischen Beziehungen zwischen Variablen und erleichtert insofern die Variablenselektion. Vgl. Berry/Linoff (2004), S. 182; Galguera/Luna/Méndez (2006), S. 460-463.
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
111
In Hinblick auf die im Abschnitt 3.1 herausgearbeiteten Anforderungen an einen Ansatz zur Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden sind Entscheidungsbäume wie folgt zu bewerten. Eine zentrale Anforderung ist die Abbildung der Heterogenität, die nur bedingt durch Entscheidungsbäume erfüllt werden kann. Während die Verfahren der Entscheidungsbäume für jeden Kunden eine einzelne Churn-Wahrscheinlichkeit berechnen und insofern zwischen zwei Gruppen differenzieren, wird die Kundenheterogenität darüber hinaus nicht weiter erfasst. Weiterhin lässt sich zwar anhand der einzelnen Entscheidungsknoten potenziell eine Profilierung erstellen und damit die Heterogenität erfassen. Allerdings nimmt erstens die Komplexität der Profilierung mit zunehmender Anzahl an Variablen zu und zweitens erfolgt die Profilierung nicht simultan bei der Schätzung, sondern ex-post. Während die Entscheidungsbäume in der Lage sind, die Abwanderungsgefahr individueller Kunden nach erfolgreicher Modellspezifikation zu modellieren, sind die Entscheidungsbäume auf Grund der Fokussierung auf die Nutzerebene nicht dazu geeignet, simultan hierarchische Kundenstrukturen zu analysieren. Daher können etwaige Einflüsse der Kundenstrukturen, wie sie im B2B-Kontext anzufinden sind, nicht abgebildet werden. Demgegenüber ist die Methode vergleichsweise transparent. So sind die Entscheidungen je Pfad sowie die abgeleiteten Implikationen in Hinblick auf die Abwanderungsgefahr einzelner Kunden nachvollziehbar.416 Grundsätzlich positiv ist das Verfahren in Bezug auf dessen methodische Robustheit und zeitliche Stabilität zu bewerten. Kategoriale und metrisch skalierte erklärende Variablen lassen sich z.B. in die Modellierung integrieren. Zudem kommen die Entscheidungsbäume auch bei wiederholten Schätzungen zu den gleichen Ergebnissen. Hingegen gestaltet sich die Variablenselektion vergleichsweise subjektiv und aufwändig. Diese Selektion hat exante durch die Anwender zu erfolgen. Hieraus resultiert die Gefahr, dass Churnbeeinflussende Variablen übersehen und die Modelle unvollständig spezifiziert werden. Eine suboptimale Modellgüte ist die Folge.
416
Vgl. Lee (2006), S. 124.
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3.2.2 Neuronale Netze Neben Entscheidungsbäumen lassen sich im Rahmen des Churn-Managements auch empirische Anwendungen von Neuronalen Netzen finden.417 In deren Fokus steht dabei die Verkettung von sog. Neuronen mit Hilfe von nichtlinearen Aktivierungsfunktionen.418 Die Verbindung der einzelnen Neuronen kann über verschiedene Schichten erfolgen, wodurch sich die Flexibilität zugleich aber auch die Komplexität der Methode in Hinblick auf die Wirkungszusammenhänge zwischen der abhängigen Variable und den unabhängigen Prädiktoren erhöht. Als klassisches Data MiningVerfahren wird mit Hilfe des Ansatzes der Neuronalen Netze versucht, Zusammenhänge in den historischen Kundendaten zu entdecken und auf aktuelle Kunden bzw. deren Daten zu übertragen.419 Dabei sind die Wirkungszusammenhänge zwischen den einzelnen Variablen nicht a priori festzulegen. Hinsichtlich der Erfüllung der Anforderungen an einen Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens sind die Neuronalen Netze differenziert zu beurteilen sind. So ist der Ansatz vergleichsweise intransparent. Die spezifische Verknüpfung zwischen den einzelnen Schichten ist formal nicht nachzuvollziehen. In diesem Zusammenhang wird auch von einer „Black-Box“-Eigenschaft Neuronaler Netze gesprochen.420 Weiterhin können die Neuronalen Netze, wenngleich sie sehr vielschichtig sind, nicht Heterogenität in den Kundenstrukturen i.S. dieser Arbeit abbilden.421 Auf Grund der diskutierten „Black-Box-Eigenschaft können“ z.B. keine unmittelbaren Implikationen in Hinblick auf eine Profilierung der Churn-gefährdeten Kunden gezogen werden. Für die vorliegende Arbeit ist weiterhin die Fähigkeit einer quantitativen Methode von Interesse, hierarchische Strukturen, wie sie im B2B-Kontext anzufinden sind, analysieren zu können. Diese Strukturen lassen sich durch Neuronale Netze nicht explizit abbilden. Während Neuronale Netze geeignet sind, das Churn-Verhalten von Endkunden zu erklären, können diese die Einflüsse unterschiedlicher hierarchischer Ebenen nicht integrieren.
417 418 419 420
421
Vgl. Dubs (1998); Schneider/Nelke/Poloni (2003); Schommer/Muster/Grund (2003); Ultsch (2002). Vgl. Türling (2000), S. 161 f. Vgl. Schneider/Nelke/Poloni (2003), S. 155. In Bezug auf Neuronale Netze bedeutet „Black-Box“-Eigenschaft, dass die Ermittlung der Beziehungen zwischen Input-Variablen und Output-Variablen nicht nachzuvollziehen ist. Vgl. Schomer/Musster/Grund (2003), S. 282. Vgl. Abschnitt 3.1.1.
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
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Die methodische Robustheit des Verfahrens ist differenzierter zu beurteilen. Generell ist es von Vorteil, dass sowohl kategorial als auch metrisch skalierte Variablen zur Erklärung der abhängigen Variablen einsetzbar sind. Gleichzeitig können Neuronale Netze auch problemlos größere Datenmengen, wie sie klassischer Weise im Dienstleistungskontext existieren, analysieren.422 Demgegenüber ist anzumerken, dass nach der Kalibrierung der Neuronalen Netze auf Basis von Testdaten diese Ergebnisse auf davon unabhängige Validierungsdaten übertragen werden. Eine Anpassung des Neuronalen Netzes an die tatsächlichen Beobachtungen findet nicht mehr statt.423 Insofern sind die Neuronalen Netze regelmäßig zu aktualisieren. Die zeitliche Stabilität der Erkenntnisse sowie die methodische Robustheit sind insofern grundsätzlich in Frage zu stellen. Gleichsam resultiert aus den erforderlichen Aktualisierungen ein zusätzlicher Aufwand.
3.2.3 Hazard-Regression Der Ursprung der Hazard-Regression liegt in der Prognose der Lebenszeit von Individuen und damit in den Naturwissenschaften bzw. der Medizin. Aber auch in der Modellierung von Kundenlebenszeiten kommt die Hazard-Regression vermehrt zur Anwendung.424 Die Hazard-Regression zeichnet sich insbesondere durch ihre inhärente Fähigkeit aus, Längsschnittanalysen des Kundenverhaltens zu ermöglichen. Dabei werden Prozesse mit diskreten Zuständen und stetiger Zeit untersucht.425 Die Analyse von Zeitreihen erfordert ein ereignisorientiertes Erhebungsdesign der Daten, die zum einen kundenindividuelle Zustandsänderungen sowie zum anderen den genauen Zeitpunkt dieser Zustandsänderung beinhalten.426 Grundsätzlich können mehrere Zustandswechsel in die Analyse einbezogen werden. Im Rahmen des ChurnManagements bei vertraglichen Geschäftsbeziehungen fokussiert sich die Analyse zumeist auf die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit eines einzelnen Zustandswechsels, der Vertragskündigung. Die Vertragskündigung stellt dabei die Realisation eines stochastischen (parametrischen oder nicht-parametrischen) Prozesses dar.427 Bei
422 423 424 425 426 427
Vgl. Rüger (2003), S. 110. Vgl. Berry/Linoff (2004), S. 255. Vgl. Danaher (2002), S. 119-238; Hüppelshäuser (2005); Krafft (2007); Rüger (2003). Vgl. Blossfeld/Hamerle/Meyer (1986), S. 11. Vgl. Hüppelshäuser (2005), S. 101. Parametrische bzw. nicht-parametrische Modellierungsansätze unterscheiden sich in Hinblick auf die Unterstellung von Verteilungsannahmen. Demnach erfolgt bei parametrischen Ansätzen im Gegensatz zu nicht-parametrischen Ansätzen eine ex-ante Festlegung auf eine definierte Verteilung. Vgl. Collet (2003); Alfò/Trovato (2004), S. 451.
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der Hazard-Regression kommt der Hazard-Rate eine besondere Bedeutung zu. Die Hazard-Rate spiegelt das kundenindividuelle Risiko wider, dass ein Kunde zu einem bestimmten Zeitpunkt die Geschäftsbeziehung verlässt. Diese Information ist für das Churn-Management von hoher Relevanz, da auf diese Weise Churn-gefährdete Kunden frühzeitig angesprochen werden können. Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 3.1 abgeleiteten Anforderungen ist mit dem Einsatz der Hazard-Regression zur Analyse des Churn-Verhaltens von Kunden grundsätzlich ein großes Potenzial verbunden. Auf Grund der stochastischen Zusammenhänge, auf denen die Hazard-Regression basiert, ist das Verfahren einerseits vergleichsweise komplex. Andererseits führt die Verwendung stochastischer Verteilungsannahmen zu einer sehr großen Transparenz. Durch die zu Grunde gelegten Verteilungsannahmen wird auch die methodische Robustheit sowie die Stabilität des Ansatzes gestärkt. Für die Beurteilung der methodischen Robustheit der HazardRegression ist zudem positiv, dass sich erklärende Variablen mit unterschiedlichen Skalenniveaus in die Modelle integrieren lassen. Zudem ist eine dynamische Analyse der Erklärungszusammenhänge möglich. Hingegen ist mit der Hazard-Regression ein vergleichsweise großer Aufwand verbunden. Der Aufwand erwächst zunächst aus der Notwendigkeit, Längsschnittdaten zu erfassen. Hierfür müssen Unternehmen sehr große Datenbanksysteme aufbauen bzw. unterhalten. Die Analyse von Längsschnittdaten sind zudem rechen- und zeitintensiv. Die Möglichkeit zur Erfassung der Heterogenität im Kundenverhalten ist insbesondere auf Grund der Erfassung von zeitlichen Entwicklungen im Nutzungsund Transaktionsverhalten als gut zu beurteilen. In Hinblick auf die Abbildung hierarchischer Strukturen ist die hier vorgestellte Form der Hazard-Regression nicht sehr gut geeignet. Erstens würde die Erfassung von hierarchischen Daten zusätzliche Datenbanksysteme erfordern. Zweitens würde sich die Komplexität der stochastischen Modellformulierung so stark erweitern, dass die Modellschätzung sehr aufwändig wäre.428
428
Vgl. hierzu auch Snijders/Bosker (2004), S. 166-199.
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115
3.2.4 Logistische Regression 3.2.4.1 Grundmodell der Logistischen Regression Im Rahmen des Churn-Managements wird die Fragestellung betrachtet, ob ein Kunde beabsichtigt, eine Geschäftsbeziehung zu beenden. Zur Analyse solcher dichotomen Fragestellungen wird in der betriebswirtschaftlichen Forschung regelmäßig die Logistische Regression verwendet.429 Wie andere Regressionsanalysen dient auch die Logistische Regression der Untersuchung von Beziehungen zwischen einer abhängigen Variablen (Regressand) und einer oder mehreren unabhängigen Variablen (Regressoren). Vor dem Hintergrund der Problemstellung der vorliegenden Arbeit wird die Existenz einer Kündigung im Betrachtungszeitraum als abhängige Variable betrachtet. Die Variable „Kündigung“ ist dichotom skaliert mit den Ausprägungen:430
1)
y
1 ® ¯0
sofern Kunde kündigt sofern Kunde nicht kündigt
Für diese beiden Ausprägungen werden auf Basis der Logistischen Regression Wahrscheinlichkeiten für den Eintritt der Beobachtungswerte.431 Hierzu wird angenommen, dass eine nicht empirisch beobachtete latente Variable z* existiert, welche die dichotome Ausprägung der abhängigen Variable „Kündigung“ erzeugt.
2)
y
1 ® ¯0
Kunde kündigt, sofern z*>1 Kunde kündigt nicht, sofern z* d 1.
Dieses Vorgehen bildet die Basis für die Logistische Regression und führt gleichzeitig dazu, dass Schätzgrößen (die Wahrscheinlichkeiten) allein Werte zwischen Null und Eins annehmen. Im nächsten Schritt wird die latente Variable z* in Beziehung zu den unabhängigen Variablen gesetzt; es ergibt sich folgendes Regressionsmodell:
429
430 431
Die häufige Anwendung der Logistischen Regression begründet die im Vergleich zu den anderen klassischen Ansätzen ausführliche Darstellung dieses Verfahrens. Die Ausführungen beschränken sich gleichwohl allein auf die Darstellung der wesentlichen Grundzüge der Logistischen Regression. Vgl. hierzu ausführlich Backhaus et al. (2006), S. 425-487; Hüppelshäuser (2005), S. 131-135; Krafft (1997), S. 625-642; Menard (2001). Vgl. im Folgenden Backhaus et al. (2006); Krafft (1997); Yang/Chen (2005). Vgl. Menard (2001), S. 6-11. Die Wahrscheinlichkeit für eine Kündigung wird mit P(y=1) und für die Nicht-Kündigung mit P(y=0) bezeichnet. Vgl. Backhaus et al. (2006), S. 426; Krafft (1997), S. 626-628.
116
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3)
K
z*i
E0 ¦ Ek x ik u i k 1
mit: z*i:
Ausprägung der latenten Variablen des Individuums i (i I),
ȕ0 :
Konstante,
ȕk :
Regressionskoeffizient der k-ten unabhängigen Variablen x ik (k K),
x ik :
Ausprägung der k-ten unabhängigen Variablen (k K) des Individuums i (i I),
ui:
Störterm,
I: K:
Indexmenge der Individuen und Indexmenge der unabhängigen Variablen.
Aus den Gleichungen lässt sich auf die Kündigungswahrscheinlichkeit eines Individuums P(yi 1) schließen:
4)
Pi
P(yi
1)
K K ª ª § § ·º ·º P « u i ! ¨ ß0 ¦ Ek x ik ¸ » 1 F « ¨ ß 0 ¦ Ek x ik ¸ » k 1 k 1 © ¹¼ ¹¼ ¬ ¬ ©
Dabei stellt F die kumulierte Verteilung des Störterms u dar. Ist die Verteilung von F symmetrisch, lässt sich durch weitere Vereinfachungen die Likelihood-Funktion zur Schätzung der Regressionskoeffizienten aufstellen: 5)
L
P u 1 P i
yi 1
i
yi 0
Im Rahmen der Logistischen Regression ist diese Funktion zu maximieren. Die Maximierung der Likelihood-Funktion erfolgt auf Basis des Maximum-Likelihood (ML)-Schätzverfahrens.432 Dabei kommt in Abhängigkeit von der Verteilung des Störterms bspw. ein Probit- oder Logit-Modell zur Anwendung. In der hier zu untersuchenden Fragestellung wird eine logistische Verteilung des Störterms, also ein Logit-Modells, unterstellt:
432
Bei der Maximierung werden die Parameter iterativ so gewählt, dass der Beobachtung für diesen Schätzwert eine maximale Wahrscheinlichkeit zukommt. Vgl. hierzu ausführlich Backhaus al. (2006), S. 436-439. Eine ausführliche Diskussion des ML-Schätzverfahrens erfolgt innerhalb der Ausführungen zu den Latent Class-Analysen (Abschnitt 3.3.3). Hierfür spricht, dass bei den Latent Class-Analysen dem ML-Algorithmus eine besondere Bedeutung zukommt.
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6)
F Zi
e Zi 1 e Zi
117
1 1 e Zi
Wie oben gezeigt, ergibt sich Zi zu: 7)
Zi
K
E0 ¦ Ek x ik . k 1
Die Logarithmierung des Quotienten aus Wahrscheinlichkeit und Gegenwahrscheinlichkeit, der auch „Logit“ genannt wird, resultiert im sog. „Odds Ratio“: ª F Zi º log « » ¬«1 F Zi ¼»
8)
ª P º log « i » ¬1 Pi ¼
Zi
K
E0 ¦ Ek x ik k 1
Diese Ausführungen zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit (P=1), das Odds Ratio und der Logit drei unterschiedliche Ausdrucksweisen für denselben Sachverhalt und insofern ineinander überführbar sind.433
3.2.4.2 Eignung der Logistischen Regression zur Erklärung des Churn-Verhaltens Wenngleich die Logistische Regression als robustes Schätzverfahren für die Klassifizierung von Individuen anzusehen ist, sind mit ihrer Anwendung einige Voraussetzungen verknüpft:434 -
Unabhängigkeit der Regressoren und damit keine vollständige Multikollinearität, Linearität zwischen den Regressoren und dem Logit, keine Heteroskedastizität (gleiche Varianz der Störterme).
Verletzungen dieser Prämissen können verzerrte und ineffiziente Schätzer zur Folge haben, auf deren Basis insofern keine inferenzstatistischen Aussagen erfolgen sollten.435 433 434 435
Vgl. Menard (2001), S. 13. Vgl. hier und im Folgenden Hüppelshäuser (2005), S. 233-243; Krafft (1997), S. 626 und S. 639; Rüger (2003), S. 104 f. Im Rahmen der betriebswirtschaftlichen Forschung wurde der Ansatz der Logistischen Regression schon sehr oft der Diskriminanzanalyse gegenübergestellt. Es konnte dabei gezeigt
118
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
In Hinblick auf die in Abschnitt 3.1 abgeleiteten Anforderungen an einen Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens ist die Anwendung der Logistischen Regression insgesamt nicht ohne Einschränkung zu empfehlen. Grundsätzlich sind die Anforderungen an die Anwendbarkeit der Logistischen Regression vergleichsweise gering. Die Modellierung ist zudem auf Grund ihrer einfachen Modellstruktur sehr transparent. Die abgeleiteten Ergebnisse sind insofern jederzeit nachzuvollziehen. Hieraus resultiert auch eine positive Bewertung der methodischen Robustheit. In der Modellierung können metrisch sowie kategorial skalierte erklärende Variablen berücksichtigt werden. Zudem lassen sich die Ergebnisse bzw. Schätzungen ohne weiteres reproduzieren. Gleichsam sind die Resultate leicht interpretierbar. Auch die zeitliche Stabilität der Methode ist positiv zu beurteilen. Grundsätzlich ermöglicht die Logistische Regression auch Prognosen des Churn-Verhaltens über den Beobachtungszeitraum hinaus. Dynamische Phänomene lassen sich mit Hilfe dieses Ansatzes indessen nicht explizit abbilden. Der mit der Logistischen Regression verbundene Aufwand ist hingegen als vergleichsweise gering einzuschätzen. Der Aufwand für die Datenaufbereitung und die Anwendung des Verfahrens ist begrenzt. Daher ist mit dem Einsatz der Logistischen Regression aus technischer und finanzieller Sicht eine vergleichsweise geringe Ressourcenbeanspruchung verbunden. An einen Ansatz zur Erklärung des Churn-Verhaltens wird zudem die Anforderung gestellt, die Heterogenität der Kunden zu erfassen und in der Modellierung zu berücksichtigen. Die Logistische Regression stellt auf kundenindividuelle Daten auf Nutzerebene ab. Allerdings eignet sich die Logistische Regression nur sehr bedingt dazu, vorhandene Unterschiede im Churn-Verhalten zwischen individuellen Nutzern simultan abzubilden. Wenngleich die Methode kundenindividuelle Churn-Wahrscheinlichkeiten errechnet und dabei zwischen Churnern und Nicht-Churnern unterscheidet, erfolgt keine weitere Differenzierung zwischen einzelnen Kunden. Eine einzige Regressionsfunktion hat demnach Gültigkeit für die gesamte Datenbasis bzw. sämtliche Kunden. Auch hierarchische Kundenstrukturen als ein zentrales Charakteristikum im B2B-Kontext finden in diesem Verfahren keine Berücksichtigung. Die Logistische Regression ist bspw. nicht in der Lage, Einflüsse der Entscheidungsebene auf die Nutzerebene explizit abzubilden.
werden, dass die Logistische Regression im Vergleich zur Diskriminanzanalyse überwiegend als robuster zu beurteilen ist. Vgl. hierzu ausführlich Frenzen/Krafft (2007).
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
119
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Anwendung der vorgestellten klassischen Ansätze, insbesondere vor dem Hintergrund des aufgezeigten heterogenen Kundenverhaltens sowie der hierarchischen Kundenstrukturen im B2B-Kontext, nicht ohne Einschränkungen zu empfehlen ist.436 Jedes der diskutierten Verfahren weist in Bezug auf das Churn-Management im B2B-Kontext Vor- und Nachteile auf.437 Um einen Vergleich mit dem nachfolgend diskutierten neueren Ansätzen zu ermöglichen, soll dennoch ein klassischer Ansatz als Benchmark-Methode ausgewählt werden. Die bisherigen Ausführungen haben ergeben, dass die Logistische Regression ein robustes Verfahren zur Analyse des Churn-Verhaltens darstellt, das mit vergleichsweise geringem Aufwand implementierbar ist und gleichzeitig weite Verbreitung gefunden hat. Im Gegensatz zu den anderen klassischen Verfahren basiert die Logistische Regression auf einem ähnlichen Modellierungsansatz, wie die im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung diskutierten neueren Verfahren der Latent ClassRegression sowie der Multilevel Latent Class-Regression. Die Logistische Regression ermöglicht damit zumindest eine begrenzte Vergleichbarkeit der Methoden. Auf diese Weise können zudem die Einflüsse der Berücksichtigung von heterogenem Kundenverhalten sowie hierarchischer Kundenstrukturen auf die Erklärung des Churn-Verhaltens im B2B-Kontext explizit herausgearbeitet werden. Infolgedessen dient die Logistische Regression in der empirischen Untersuchung als Vergleichsmaßstab für die methodisch anspruchsvolleren und in den nächsten Abschnitten dargestellten Methoden der Latent Class-Regression und der Multilevel Latent Class-Regression.
436 437
Für eine ausführliche Diskussion der Charakteristika des B2B-Kontexts vgl. Kapitel 2. Auch die Bestandsaufnahme der Literatur zum Churn-Management ergab, dass keiner der angewendeten Ansätze den anderen Methoden eindeutig vorzuziehen ist. Vgl. Abschnitt 2.4.1.
120
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
3.3 Neuere Ansätze zur Erklärung des Churn-Verhaltens mit expliziter Berücksichtigung hierarchischer Kundenstrukturen und heterogenem Kundenverhalten Im Abschnitt 3.2 wurden klassische Ansätze zur Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden vorgestellt. Dabei zeigte sich, dass mit dem Einsatz dieser Verfahren Vor- und Nachteile verbunden sind. Festzuhalten ist, dass keines der diskutierten Verfahren den Anforderungen, die aus hierarchischen Kundenstrukturen und heterogenem Kundenverhalten resultieren, vollständig gerecht wird. Für den vorliegenden Untersuchungskontext sind diese beiden Aspekte aber von zentraler Bedeutung.438 Aus diesem Grund sollen im Folgenden mit der Latent Class-Regression (LCR) und der Multilevel Latent Class-Regression (MLCR) zwei Verfahren erörtert werden, die hierarchische und heterogene Kundenstrukturen potenziell berücksichtigen können. Zunächst stehen die allgemeinen Grundlagen der Modellierung hierarchischer und heterogener Kundenstrukturen im Vordergrund (Abschnitt 3.3.1). Insbesondere die vorangestellten Ausführungen zur Kovarianzanalyse (ANCOVA) sowie zu Random Coefficients Modellen dienen dem besseren Verständnis der LCR und MLCR. Darauf folgt eine ausführliche Beschreibung der LCR als Möglichkeit zur expliziten Erfassung von Heterogenität (Abschnitt 3.3.2), die neben der allgemeinen Modellstruktur und dem Schätzalgorithmus u.a. die Grundlagen der Finite Mixture und Latent Class-Analysen behandelt. Gegenstand des Abschnitts 3.3.3 ist schließlich die MLCR. In Übereinstimmung mit dem vorherigen LCR-Abschnitt wird für das bessere Verständnis der MLCR zunächst die Multilevel Latent Class-Analyse (MLCA) diskutiert, um im Anschluss daran die Modellstruktur und den Schätzalgorithmus der MLCR zu erörtern. Die Abschnitte 3.3.2 und 3.3.3 schließen jeweils mit einer Beurteilung der Verfahren anhand der in Abschnitt 3.1 abgeleiteten Anforderungen an methodische Ansätze zur Identifikation abwanderungsgefährdeter Kunden im B2BKontext.
438
Vgl. Kapitel 2.2.2.
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
121
3.3.1 Grundlagen der Modellierung hierarchischer und heterogener Strukturen 3.3.1.1 Definitorische Grundlagen Bevor auf die Besonderheiten von LCR und MLCR eingegangen wird, sollen die zeitliche Entwicklung der Modelle zur Erfassung von Hierarchie und Heterogenität sowie die methodischen Grundlagen diskutiert werden. Im Abschnitt 3.1 konnte gezeigt werden, dass hierarchische Kundenstrukturen und heterogenes Kundenverhalten ein vielfach anzutreffen Merkmal in B2B-Geschäftsbeziehungen sind.439 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Entwicklung von Modellen, die simultan heterogene Beobachtungen auf verschiedenen hierarchischen Ebenen berücksichtigen können. Mit dieser Notwendigkeit begründet sich die Entwicklung hierarchischer Modelle, die auch unter dem Begriff Mehrebenenanalyse subsumiert werden können und der Erfassung von Heterogenität dienen.440 Die Anfänge dieser Modelle gehen auf die Entwicklung von Mixed Model Analysen zurück. Die ersten Anwendungen dieser Methode fanden in der Astronomie durch Airy statt.441 Wegweisend waren zudem die Arbeiten von Fisher.442 Die Unterscheidung zwischen gruppenabhängigen und gruppenunabhängigen Effekten bzw. Einflüssen geht auf Eisenhart zurück.443 In der Zeit zwischen 1950 und 1970 dominierten die Forschungsbeiträge von Henderson zu der Schätzung von Variance Components.444 Für die Verständlichkeit der weiteren methodischen Ausführungen sind zunächst einige grundlegende definitorische Aspekte in Hinblick auf hierarchische Modelle zu darzulegen. Hierarchische Strukturen bestehen generell aus Beobachtungen auf einer unteren Ebene, die wiederum in höheren Ebenen eingebettet sind.445 Im Vordergrund dieser Arbeit steht die Untersuchung von hierarchischen Strukturen über zwei Ebenen, wie sie bei Geschäftskunden im B2B-Kontext vorzufinden sind. Bezogen auf die 439
440
441 442 443 444 445
Studenten lassen sich bspw. Universitäten zuordnen. Vgl. Win/Miller (2005). Im Kapitel 2 konnte zudem gezeigt werden, dass hierarchische Strukturen auch in der unternehmerischen Praxis bspw. im B2B-Kontext existieren. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts wird v.a. auf hierarchische Modelle abgestellt. Eine Triebfeder der Entwicklung hierarchischer Modelle war bzw. ist das Streben, die in der Realität existierende Heterogenität besser zu erfassen. Insofern impliziert die Fokussierung auf hierarchische Strukturen gleichzeitig die Berücksichtigung von Heterogenität. Vgl. Hummel (1972), S. 5; Kreft/De Leeuw (1999), S. 1. Vgl. Airy (1861). Vgl. Fisher (1918); Fisher (1925). Vgl. Eisenhart (1947). Vgl. Henderson (1953). In der englischsprachigen Forschung zu Multilevel Analysen hat sich für die Beschreibung der Beziehung zwischen unterer und oberer Ebene der Begriff „nested structures“ etabliert. Vgl. Hummel (1972), S. 5; Vermunt/Magidson (2005c), S. 176.
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untere Ebene werden die Begriffe Mikro-, Nutzer- und Individualebene synonym verwendet. Gleiches gilt für die Begriffe Makro-, Gruppen-, Kunden- oder Kontextebene für die obere Ebene.446 Dementsprechend werden alle Modelle, die sich auf die Analyse von Daten über mehrere Ebenen fokussieren, als Multilevel Modelle bezeichnet. Bei der Analyse dieser hierarchischen Strukturen lassen sich Variablen bzw. Prädiktoren identifizieren, die einerseits das Verhalten der Individuen und andererseits der Gruppen beeinflussen bzw. widerspiegeln. Durch die explizite Berücksichtigung der hierarchischen Beziehungen lassen sich zu untersuchende Zusammenhänge besser bzw. realitätsnäher abbilden.447 Zur Analyse dieser hierarchischer Strukturen stehen inferenzstatistische Verfahren zur Verfügung, die eine Mehrebenenanalyse ermöglichen.448 Auf diese Verfahren fokussieren sich die nachfolgenden Ausführungen. Bei der Modellierung von hierarchischen Strukturen werden im Rahmen der vorliegenden Studie spezifische Regressionsmodelle aus der Generalized Linear Model (GLM)-Familie für einzelne Segmente auf Gruppen- und Individualebene entwickelt.449 Für gewöhnlich werden für jedes der Segmente die gleichen erklärenden Variablen sowie die gleiche funktionale Struktur unterstellt. Die einzelnen Parameter der Regressionsmodelle nehmen segmentspezifische Werte an und unterscheiden sich dementsprechend zwischen den Gruppen. Die Verknüpfung der einzelnen Modelle erfolgt dabei auf Basis eines Gruppenebenenmodells, bei dem die Regressionskoeffizienten des Individualebenenmodells auf die erklärenden Variablen der Gruppenebene regressiert werden. Insofern bedingt die Struktur des Modells auf der Makroebene die Anforderungen an die gesamten Daten.450 Anzumerken ist, dass eine gruppenweise Regression in Verbindung mit der Regression der Koeffizienten der 446
447 448 449
450
Für Untersuchungen, die sich allein auf die Kontextebene beziehen, findet sich der Begriff „Aggregatdatenanalyse“. Kennzeichnend für diese Analysen ist, dass die Untersuchungseinheiten nicht Individuen, sondern Aggregate von Individuen sind. Vgl. Engel (1998), S. 26. Vgl. Saldern (1985), S. 7. Vgl. Engel (1998), S. 5; Yamaguchi (2000), S. 1704. GLM ist der Sammelbegriff für eine Gruppe von Modellen wie Probit- oder Logit-Modelle. Diese Modelle unterstellen als gemeinsame Eigenschaft u.a. die Linearität der Einflüsse und zeichnen sich durch die Verwendung einer „Link Function“ aus. Der Begriff GLM wurde durch Nelder/Wedderburn (1972) geprägt. Für eine detaillierte Beschreibung der GLM-Familie vgl. McCullagh/Nelder (1999). Der Ausdruck „Gruppe“ bezieht sich auf die unterschiedlichen Objekte auf der Kontextebene. In der vorliegenden Arbeit sind dies die einzelnen Geschäftskunden. Die Objekte auf der Individualebene sind die eigentlichen Nutzer der Dienstleistung. Vgl. auch Kapitel 2. Vgl. Kreft/De Leeuw (1999), S. 2.
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Individualebene auf die erklärenden Variablen der Gruppenebenen für die vorliegende Untersuchung nicht ausreicht und insofern nicht als Multilevel-Modell anzusehen ist. Vielmehr ist es für diese Studie von immanenter Bedeutung, dass die spezifischen Modelle der Individualebene in die Modellierung integriert werden. Diese Forderung lässt sich damit begründen, dass die eigentliche Nutzung der Dienstleistungen auf der Mikroebene stattfindet. Aus den obigen Ausführungen lässt die Vielschichtigkeit der Analyse hierarchischer Strukturen ableiten. Für die Analyse dieser Strukturen aus Individual- und Kontextebene stehen eine entsprechende Vielzahl an Methoden zur Verfügung.451 Für das Grundverständnis der erwähnten Methoden ist insbesondere der Begriff Cross-LevelInteractions von Relevanz. Cross-Level-Interactions bezeichnen die gegenseitigen Einflüsse zwischen Variablen unterschiedlicher Ebenen in hierarchischen Modellen.452 Im Kontext der hier betrachteten B2B-Geschäftsbeziehungen könnte bspw. eine Wechselwirkung zwischen bestimmten Charakteristika der Nutzer (z.B. Einsatz neuer Technologien) und Charakteristika der Entscheider (z.B. Technikaffinität) existieren.453 Hierdurch wird die in der linearen Regression anzutreffende Annahme der Unabhängigkeit der Beobachtungen verletzt. Da sich die Cross-Level-Interactions auf Wirkungsbeziehungen zwischen den beiden Hierarchieebenen beziehen, werden diese Effekte auch als Mikro-Makro-Interaktionen bezeichnet.454 Für die weitere Diskussion der Multilevel-Modelle lassen sich daraus zusammenfassend zwei Implikationen ableiten. Erstens erfordert erst die Existenz bzw. die fundierte Annahme der Existenz solcher Cross-Level-Interactions die Anwendung bzw. die Entwicklung von Methoden zur Untersuchung hierarchischer Strukturen. Andernfalls wäre die Schätzung separater Modelle auf den beiden Ebenen hinreichend. Zweitens ist der Interaktionseffekt umso stärker, je größer der jeweilige gegenseitige Einfluss der Variablen auf den unterschiedlichen Ebenen ist. Zur Berücksichtigung dieser Interaktionseffekte und insofern der Hierarchie und Heterogenität der zu untersuchenden Daten stehen unterschiedliche Ansätze zur Verfügung. Diese lassen sich nach ihrer Komplexität und ihrer Fähigkeit unterscheiden, die Interaktionseffekte abzubilden und stehen somit selber in einem 451 452 453 454
Vgl. Allenby/Rossi (1999); Ebbes/Böckenholt/Wedel (2004); Gupta/Chintagunta (1994); Kamakura/Russel (1989); Vermunt (2003). Vgl. Kreft/De Leeuw (1999), S. 12. Vgl. Abschnitt 2.2.2. Vgl. Tsong/Chen/Chen (2003), S. 381.
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hierarchischen Verhältnis zueinander.455 Im Folgenden werden mit der Analysis of Covariance (ANCOVA) sowie den Random Coefficients Models (RCM) zwei grundlegende Methoden diskutiert, welche die methodische Basis für die nachfolgend beschriebenen LCR und MLCR darstellen.456
3.3.1.2 Analysis of Covariance Die Analysis of Covariance (ANCOVA) ist ein traditioneller Ansatz zur Analyse hierarchischer Strukturen über zwei Ebenen.457 In ANCOVA-Modelle können Unterschiede zwischen den Gruppen berücksichtigt werden, indem unterschiedliche Werte für die Konstanten (Intercepts) geschätzt werden.458 Zudem lassen sich unterschiedlich skalierte Variablen in die ANCOVA einbeziehen. Nominal-skalierte Variablen gehen mit Hilfe einer Dummy-Kodierung in die ANCOVA ein, die ihrer Form nach ein Regressionsmodell dargestellt.459 Im Rahmen der ANCOVA können weiterhin gruppenspezifische Einflüsse integriert werden. Auf diese Weise ist die Berücksichtigung der grundlegenden Unterschiede zwischen den Gruppen gewährleistet. Auf diese Weise ist es möglich, eine Aussage darüber zu treffen, ob Geschäftskunden sich in ihrem Verhalten ähneln oder sich grundsätzlich voneinander unterscheiden. Dabei können Unterschiede im Verhalten der Nutzer abgebildet werden. Grundsätzlich liegt der Schwerpunkt bei diesen Analysen auf dem Gruppen- und nicht auf dem Individualebeneneinfluss.460 Dementsprechend dienen die Variablen der Individualebene lediglich als Kovariate, während der Gruppenebene die entscheidende Rolle in dem Modell zukommt.461 Die ANCOVA lässt sich durch die folgende Funktion abbilden:462 9)
455 456
457 458 459 460 461 462
yij
a j bx ij eij
Vgl. Kreft/De Leeuw (1999), S. 22. Weitere Methoden sind bspw. die „total regression“, die allein Unterschiede auf der Individualebene ermöglicht, sowie die „aggregated model“, die allein Abweichungen auf Gruppenebene modelliert. Daher werden diese Formen nicht weiter beachtet. Für eine ausführliche Diskussion vgl. Kreft/De Leeuw (1999); Snijders/Bosker (2004). Vgl. Tsong/Chen/Chen (2003). Vgl. Abschnitt 3.1.1.1. Vgl. ausführlich Proschan/Leifer/Liu (2005). Vgl. Liu/Tung/Pong (2006), S. 3; Snijders/Bosker (2004), S. 22. Vgl. Black/Diaz/Wolverton (1997), S. 50-53. Vgl. Kreft/De Leeuw (1999), S. 31.
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Unterschiedliche Werte für den Achsenabschnitt aj deuten auf generelle Niveauunterschiede zwischen den Gruppen hin. Im hier betrachteten Untersuchungskontext des Churn-Managements existieren demnach unterschiedlich hohe ChurnRisiken je Gruppe. Der Achsenabschnitt kann dabei jeden beliebigen Wert annehmen. Aus der Formel ist weiterhin ersichtlich, dass keine unterschiedlichen Steigungen (b) unterstellt werden, d.h. der Zusammenhang zwischen einzelnen Ausprägungen der erklärenden Variablen und den Ausprägungen der abhängigen Variablen ist nicht gruppenabhängig. Mit anderen Worten ist der Einfluss der erklärenden Variablen auf das Churn-Verhalten somit für alle Geschäftskunden identisch. Die ANCOVA hilft, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen zu bestimmen und ermittelt die Varianz, die auf den Gesamtunterschied zwischen Gruppen zurückzuführen ist. Allerdings ist die ANCOVA nicht in der Lage, die gruppenspezifischen Einflussfaktoren auf das Verhalten zu identifizieren, die für die Varianzen verantwortlich sind. Insofern kann mittels der ANCOVA allein eine Aussage darüber getroffen werden, wie groß der Gesamtgruppeneffekt ist. Demgegenüber liegt ein Vorteil der ANCOVA darin, dass mit ihr die Varianz zwischen den Gruppenmittelwerten bestimmt werden kann. Damit eignet sich die ANCOVA insbesondere dazu, im Vorfeld von gruppenspezifischen Analysen den aggregierten Gruppeneffekt zu schätzen.463 Es sind indessen aber diese gruppenspezifischen Unterschiede in Hinblick auf die erklärenden Variablen, die bei der Analyse des ChurnVerhaltens bei hierarchischen Strukturen von großem Interesse sind. Diese Effekte können durch Random Coefficients Modelle abgebildet werden. Diese sind Gegenstand des nächsten Abschnitts.
3.3.1.3 Random Coefficients Models Die LCR und MLCR basieren grundsätzlich auf dem Ansatz der Random Coefficients Models (RCM), die sich von der ANCOVA insbesondere in Hinblick auf die Parameterschätzungen der einzelnen Modelle unterscheiden.464 Entgegen dem Vorgehen bei Verfahren wie der Logistischen Regression sind die Koeffizienten für die Achsenabschnitte (Intercept) und Steigungen (Slope) in RCM nicht fixiert und 463 464
Vgl. Proschan/Leifer/Liu (2005), S. 600 f. In der englischsprachigen Forschung hat sich der Begriff Random Coefficients Models als Standard für derartige Verfahren etabliert. Dem folgend wird der Begriff nicht übersetzt. Des weiteren findet sich auch der Begriff Hierarchical Linear Models für diese Art von Modellen. Vgl. Malthouse/Oakly/Calder (2004).
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somit nicht für alle Untersuchungsobjekte gleich.465 Vielmehr werden die Werte der einzelnen Koeffizienten auf Basis einer Verteilungsfunktion geschätzt.466 Das zeigt sich auch in der folgenden Formel:467 10)
yij
a j b j x ij eij
Der Index j bezieht sich auf die Objekte der Makro- und der Index i auf die Objekte der Mikroebene. Die Modelle der einzelnen Gruppenobjekte differieren deshalb möglicherweise auf Grund von erstens unterschiedlichen Achsenabschnitten, zweitens unterschiedlichen Steigungen sowie drittens unterschiedlichen Achsenabschnitten und Steigungen.468 yij ist der Wert der abhängigen Variablen für das Individuum i aus der Gruppe j. xij ist hingegen die Ausprägung der erklärenden Variablen auf der Individualebene für dieselbe Beobachtung. aj ist der gruppenspezifische Achsenabschnitt und bj die gruppenspezifische Steigung. Für jeden dieser Koeffizienten kann separat vorgegeben werden, ob er zufallsabhängig oder eindeutig determiniert ist. eij ist der Fehlerterm mit einem Erwartungswert von Null und einer Varianz ı2. Weiterhin wird angenommen, dass die Fehlerterme voneinander unabhängig sind. yij und eij stellen dabei Random Variables.469 Im weiteren Verlauf der Ausführungen werden aj und bj als Random Coefficients spezifiziert. Im Rahmen der Multilevel-Analyse gelten die Koeffizienten des first-level Regressionsmodells als zufallsbedingt (Random Effects). Dabei richtet sich das Interesse z.B. auf die Bestimmung der Erwartungswerte dieser Parameter oder der Varianz der Koeffizienten.470 Die Schätzung von RCM ist mit einigen Besonderheiten verbunden. Zunächst werden bei den RCM die Koeffizienten nicht für jede Gruppe separat geschätzt. Weiterhin wird ein Random Coefficient für die Steigung in zwei Teilen geschätzt. Der erste Teil bezieht sich auf die Gesamtsteigung, die über alle Individuen geschätzt wird, unabhängig davon, aus welcher Gruppe die Individuen
465 466 467 468
469 470
Vgl. Candel (2004), S. 198-204. Zur Logistischen Regression vgl. Abschnitt 3.2.4. In der englischsprachigen Forschung haben sich die Begriffe Random Intercept für den Achsenabschnitt sowie Random Slope für die Steigung etabliert. Vgl. Snijders/Bosker (2004). Vgl. Alfò/Trovato (2004), S. 427; Kreft/De Leeuw (1999), S. 35; Win/Miller (2005), S. 3. In diesem Zusammenhang deuten unterschiedliche Achsenabschnitte hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands auf ein unterschiedliches Grundniveau hin. Stimmen die Koeffizienten der Steigung nicht überein, deutet dies auf eine divergierende Reaktion bzw. Wirkung auf Veränderungen der erklärenden Variablen hin. Vgl. Kreft/De Leeuw (1999), S. 36. Vgl. Alfò/Trovato (2005), S. 427-433.
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stammen. Beim zweiten Teil wird die gruppenabhängige Abweichung von der Gesamtsteigung auf Basis der Varianz der Steigung ermittelt. Somit setzen sich Koeffizienten aus einem durchschnittlichen bzw. festen sowie aus einem variablen bzw. zufallsabhängigen Teil zusammen. Dieser zufallsabhängige Teil stellt daher die Varianz auf der Makroebene dar und zeigt die Abweichung von der Gesamtlösung. Diese Varianz wird auch als Makroebenenvarianz bezeichnet, da sich die Koeffizienten auf der Makroebene voneinander unterscheiden. Die Gleichungen auf der Makroebene drücken die Eigenschaften der zufallsbedingten Steigung und des Achsenabschnitts in Bezug auf das Gesamtsample aus. Daraus lassen sich die beiden folgenden Gleichungen ableiten:471 11)
aj
J 00 u 0 j sowie
12)
bj
J10 u1 j
Die Fehlerterme der Makroebene uoj und u1j in den beiden Gleichungen indizieren, dass sich sowohl der Achsenabschnitt Ȗ00 als auch die Steigung Ȗ10 in Abhängigkeit von den Gruppen unterscheiden. Ȗ00 ist dabei der durchschnittliche Achsenabschnittseffekt über alle Gruppen und u1j, als Fehlerterm der Makroebene, misst die Abweichung jeder Gruppe von diesem Mittelwert. Gleiches gilt für die Steigung: Ȗ10 ist die durchschnittliche Steigung über alle Gruppen und u1j ist die gruppenindividuelle Abweichung der Steigung von der durchschnittlichen Steigung. Die Indizes der Gammas setzen sich wie folgt zusammen: Der erste Index bezieht sich auf die Variable der Individualebene, der zweite Index zeigt die Variable auf der Gruppenebene. Somit spiegelt Ȗst den Einfluss der Variablen t der Gruppenebene auf den Regressionskoeffizienten der Individualebenenvariablen s. Der Index 0 steht für den Achsenabschnitt. So zeigt Ȗ00 den Effekt des Achsenabschnitts der Makroebene auf den Achsenabschnitt der Mikroebene. Weiterhin sind mit der zufallsabhängigen Variablen uoj die Varianz IJ00 und mit der zufallsabhängigen Variablen u1j die Varianz IJ11 verbunden. IJ10 und IJ01 sind die entsprechenden Kovarianzen. Die folgende Matrix fasst die Varianzkomponenten eines RCM mit zufallsbedingtem Achsenabschnitt und zufallsbedingten Steigungen zusammen. Diese sind die Parameter, die im Vergleich zu der ANCOVA zusätzlich bei RCM zu schätzen sind. Letztlich stellen die Varianzen IJ
471
Für eine grundlegende Übersicht zur RCM vgl. Kreft/De Leeuw (1999). Ein Anwendungsbeispiel findet sich bei Sriram/Balachander/Kalwani (2007).
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den Grad dar, um den die Objekte auf Gruppenebene vom Durchschnitt abweichen. Die nachstehende Matrix T verdeutlicht diesen Zusammenhang:472
13)
§W T ¨ 00 © W10
W01 · W11 ¸¹
Die folgende Gleichung führt die beschriebenen Gleichungen zusammen und gibt Aufschluss über die Beziehungen zwischen Individual- und Gruppenebene. 14)
y ij
J 00 J10 x ij (u 0 j u1 j x ij eij )
Dabei wird die Einzigartigkeit jedes Kontexts durch die Fehlerterme der Makroebene ausgedrückt, welche die Abweichungen von der Gesamtlösung abbilden. Zudem wird deutlich, dass eine einzige Regressionsgerade das Resultat der Random Coefficients Analyse für jede Gruppe ist. Sofern die Varianzen auf Makroebene sich signifikant von Null unterscheiden, hat die hierarchische Struktur einen bedeutenden Einfluss. Grundsätzlich sind RCM in Hinblick auf die Anzahl der zu schätzenden Parameter nicht so sparsam wie traditionelle lineare Regressionsmodelle. Modelle der ANCOVA unterstellen gruppenabhängige Unterschiede, wobei allerdings nur die Achsenabschnitte variieren können. Demgegenüber können bei RCM die Achsenabschnitte und die Steigungen variieren, d.h. dass die Koeffizienten innerhalb der Gruppe systematisch als Funktion der Gruppenzugehörigkeit variieren. Insofern bilden sie die Realität auf Grund höherer Modellflexibilität besser ab. Gleichzeitig sind sie aber auch in Hinblick auf die Parameterschätzung aufwändiger. Bislang konzentrierten sich die Ausführungen auf die Modellierung hierarchischer Beziehungen unter Berücksichtigung unabhängiger Variablen auf der Individualebene. Zur weiteren Erklärung der Unterschiede zwischen einzelnen Objekten auf der Gruppenebene empfiehlt sich die Integration erklärender Variablen auf Gruppenebene. Generelle Unterschiede können dabei durch entsprechende Anpassungen des Achsenabschnitts und spezifische Unterschiede durch variierende Steigungen abgebildet werden. Dazu wird die Gleichung der RCM in zwei Schritten erweitert. In einem ersten Schritt wird versucht, die Varianz des Achsenabschnitts durch die Berück-
472
Vgl. Kreft/De Leeuw (1999), S. 42.
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
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sichtigung von erklärenden Variablen zu erklären. Dies zeigt die folgende Gleichung, die sich aus dem Grundeffekt sowie einer zufallsbedingten Veränderung ergibt:473 15)
aj
J 00 J 01z j u 0 j .
Im zweiten Schritt werden erklärende Variable einbezogen, welche die Variation der zufallsbedingten Steigung erfassen. Die erklärenden Variablen zj werden hierfür in die Gleichung 12 der Makroebene einbezogen. Auf diese Weise lässt sich eine Interaktion zwischen erklärenden Variablen auf der Individual- und Gruppenebene modellieren. Dies führt zu folgender Gleichung:474 16)
bj
J10 J11z j u1 j
Werden die beiden Gleichungen in die Gleichung 10 des RCM eingesetzt, ergibt sich die folgende Gleichung:475 17)
y ij
J 00 J 01z j J10 x ij J11x ijz j (u 0 j x iju1 j eij )
Das Ergebnis der Schätzung dieses Modells gibt im Vergleich zu den Ergebnissen des Basismodells Aufschluss darüber, ob die Variablen der Makroebene zu einer besseren Erklärung der Zusammenhänge führen und ob Interaktionseffekte zwischen den beiden Ebenen vorliegen. Die Achsenabschnitte und Steigungen werden durch dieses Vorgehen in Relation zueinander geschätzt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass hierarchische Modelle eine gruppenabhängige Abweichung des Achsenabschnitts und der Steigungen von dem jeweiligen Mittelwert erlauben. Aber erst durch die Integration von erklärenden Variablen der Gruppenebene in die RCM resultieren sog. Multilevel-Modelle. Die folgende Tabelle 4 stellt die zentralen Regressionsannahmen in Bezug auf die gruppenspezifischen Achsenabschnitts- und Steigungskoeffizienten der ANCOVA sowie der RCM gegenüber. Zusätzlich werden die Annahmen für die Logistische 473
Vgl. hier und im Folgenden Kreft/De Leeuw (1999), S. 49 f. sowie Win/Miller (2005), S. 3. Eine entsprechende Veränderung der Gleichung für die Steigung wird noch nicht vorgenommen. Daher ergibt sich die Gleichung für die Steigung erneut zu: b j J10 u1 j .
474
Vgl. Sriram/Balachander/Kalwani (2007), S. 65. Vgl. Kreft/De Leeuw (1999), S. 50.
475
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Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Regression integriert, um einen Vergleich zwischen hierarchischen und nichthierarchischen Ansätzen zu ermöglichen. Die Koeffizienten für Achsenabschnitt und Steigung nehmen bei der Logistischen Regression den gleichen Wert für alle Untersuchungsobjekte an. Demgegenüber bilden ANCOVA-Verfahren grundsätzliche Niveauunterschiede zwischen Gruppen durch unterschiedliche Steigungskoeffizienten für den Achsenabschnitt ab. Darüber hinaus ermöglichen RCM die Modellierung von gruppenspezifischen Einflussfaktoren, indem je Gruppe unterschiedliche Koeffizienten für die einzelnen erklärenden Variablen geschätzt werden. Ausprägung der Achsenabschnittskoeffizienten
Ausprägung der Steigungskoeffizienten
ANCOVA
ungleich
gleich
RCM
ungleich
ungleich
gleich
gleich
Ansatz
Logistische Regression
Tabelle 4: Vergleichende Gegenüberstellung der Koeffizienten Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kreft/DeLeeuw (1999), S. 44.
Der Vorteil der RCM liegt in der Möglichkeit zur Erforschung von hierarchischen Beziehungen. Im Vergleich zu ANCOVA lässt sich die empirische Realität mit Hilfe der RCM besser abbilden. Gleichzeitig sind bei den RCM die Anzahl zu schätzender Parameter gering.476 Die Stabilität der Modelle wird dadurch ebenso erhöht wie die Prognosegüte bzw. -verlässlichkeit. Demgegenüber ist mit dem Einsatz der RCM der Nachteil verbunden, dass Schätzungen für Objekte der Gruppenebene mit einer geringen Anzahl an Beobachtungen auf Grund des Schätzalgorithmus vergleichsweise instabil sind.477 Zudem ist die Verwendung von RCM bei einer großen Anzahl an Gruppen nicht sehr praktikabel. Schließlich bedingt der Einsatz von RCM die Schätzung von spezifischen Modellen für jede einzelne Gruppe. Für die in den folgenden Abschnitten 3.3.2 und 3.3.3 beschriebenen LCR und MLCR sind die obigen Ausführungen zu ANCOVA und RCM relevant, da letztere die Basis für die LCR und MLCR darstellen. Es konnte deutlich gemacht werden, dass ANCOVA und RCM Methoden zur Abbildung von hierarchischen Strukturen und demnach von Heterogenität darstellen. Dabei sind zum einen die Erkenntnisse in 476
477
Grundsätzlich sind allein die Varianzen bzw. Kovarianzen für die Mikro- und Makroebene, die entsprechenden Achsenabschnitte sowie Cross-Level-Interactions zu schätzen. Vgl. Kreft/De Leeuw (1999), S. 54. Vgl. Kreft/De Leeuw (1999), S. 54.
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Hinblick auf allgemeine gruppenspezifische Unterschiede, die durch die spezifischen Achsenabschnitte modelliert werden, von besonderer Relevanz. Gleiches gilt zum anderen für die Abbildung gruppenspezifischer Einflüsse der erklärenden Variablen, die über unterschiedliche Steigungskoeffizienten modelliert werden.
3.3.2 Latent Class-Regression (LCR) Die Latent Class-Regression (LCR) ist eine Erweiterung der RCM und besonders geeignet, die Heterogenität im Verhalten von Untersuchungsobjekten (Kunden) zu berücksichtigen.478 Im Gegensatz zu den RCM wird bei der LCR eine latente hierarchische Struktur unterstellt.479 Dementsprechend handelt es sich bei den Objekten auf der Kontextebene nicht um manifeste, sondern um latente Untersuchungseinheiten (Klassen) zur Berücksichtigung der im Abschnitt 3.1.1 diskutierten unbeobachteten Heterogenität. Der Ansatz der LCR verbindet den Ansatz der FuzzySegmentzuordnung mit der inferenzstatistischen Erklärung von Abwanderungsverhalten. Dies geschieht, indem das Verfahren auf Basis der Ausprägungen der erklärenden Variablen (Prädiktoren) auf der Individualebene simultan die individuellen Churn-Wahrscheinlichkeiten bestimmt und Nutzersegmente bildet.480 Neben dem kundenindividuellen Risiko, eine Kundenbeziehung zu verlassen, wird darüber hinaus gleichzeitig die Segmentzugehörigkeit von Kunden geschätzt.481 Bevor die LCR in Hinblick auf die statistische Modellierung diskutiert wird, empfiehlt es sich für das Verständnis dieses Ansatzes, mit den Finite Mixture-Modellen und der Latent Class-Analyse die methodischen Grundlagen der LCR zu erarbeiten.482 Die LCR ist gleichwohl als eine Erweiterung bzw. eine Variante der Latent Class-Analysen aufzufassen. 478 479 480
481
482
Vgl. Hedeker (2003); Lenk/DeSarbo (2000); Wedel/DeSarbo (1995); Yamaguchi (2000). Vgl. Abschnitt 3.1.1. Zu den Merkmalen und Ausprägungen der Fuzzy-Segmentzuordnung vgl. Gensler (2003) sowie Abschnitt 3.1.1.2. Auf Grund der Verknüpfung des Finite Mixture Ansatzes und des Regressionsansatzes finden sich auch die Begriffe „Clusterwise Regression Models“ sowie „Switching Regression Models“. Vgl. hierzu die ersten Modellierungsansätze, die von Späth (1979) und Quandt (1972) stammen. Die Begriffe Segmentzugehörigkeit und Klassenzugehörigkeit werden im Folgenden synonym verwendet. In der vorliegenden Untersuchung stehen Geschäftskunden bzw. Nutzer im Vordergrund. Gleichwohl sind die LCR bzw. die LCA vielfältig einsetzbar. Klassische Anwendungsgebiete sind die Sozial-, die Medizin- oder die Organisationsforschung. Im weitern Verlauf der Ausführungen werden die Begriffe Nutzer und Individuen synonym verwendet. Sie beziehen sich auf die jeweils betrachteten Untersuchungseinheiten. Vgl. Erichsen/Brockhoff (2004). Während die ANCOVA und RCM die allgemeine methodische Grundlage der LCR darstellen, bilden die Finite Mixture und die Latent Class-Analyse die speziellen methodischen Grundlagen.
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3.3.2.1 Methodische Grundlagen der LCR Finite Mixture-Modelle stehen in enger inhaltlicher Beziehung zu den Latent ClassAnalysen (LCA). LCA sind Spezifikationen dieser Finite Mixture-Modelle, die auch als endliche Mischverteilungen bezeichnet werden und somit zunächst die Segmentierung von Kunden in den Vordergrund stellen.483 Aus diesem Grund sollen zunächst die Grundlagen der Finite Mixture-Modelle erarbeitet werden.
3.3.2.1.1 Finite Mixture-Modelle Aus Abschnitt 3.1.1.2 ist bereits bekannt, dass Finite Mixture-Modelle eine Möglichkeit zur Berücksichtigung von unbeobachtbarer Heterogenität darstellen. Dem Ansatz liegt die Idee zu Grunde, dass zur Erfassung der individuellen Unterschiede zwischen Kunden verschiedene Verteilungen unterstellt werden können, d.h. es wird nicht eine einheitliche Verteilung für alle Kunden angenommen.484 Im Allgemeinen beschreiben spezifische Verteilungen für einzelne Kundensegmente bzw. -klassen die entsprechenden Wirkungszusammenhänge. Im Speziellen repräsentieren die Ausprägungen der Segmentierungsvariablen die Realisationen spezifischer Dichtefunktionen, denen unterschiedliche Verteilungen zu Grunde liegen. Im Abschnitt 3.1.1.2 wurde aufgezeigt, dass Finite Mixture-Modelle Kunden einen Klassenzugehörigkeitsgrad zuweisen. Damit ist die Annahme verbunden, dass sich die Gesamtheit der Ausprägungen aller kundenindividuell beobachteten Variablen aus mindestens zwei homogenen Klassen zusammensetzt, die in einem zu entdeckenden Verhältnis gemischt sind.485 Dieses Mischungsverhältnis wird durch den Klassenzugehörigkeitsgrad ausgedrückt, der sich wiederum aus der unterstellten Dichtefunktion ergibt. Das Mischungsverhältnis ist a priori unbekannt bzw. nicht beobachtbar und wird durch die Verwendung der Finite Mixture-Modelle bzw. durch die Berechnung der spezifischen Dichtefunktionen determiniert.486 Hieraus ergeben sich die Größe der jeweiligen Klassen sowie die Zuordnung der Kunden zu den
483
484 485 486
Die Entwicklung der Finite Mixture-Modelle erfolgte ursprünglich durch Newcomb (1886) und Pearson (1894). Die Modelle sind seitdem vielfach bei diversen Fragestellungen angewandt und weiterentwickelt worden. Für einen ausführlichen Überblick vgl. Wedel/Kamakura (2000) sowie Yang/Chen (2004). Eine erste Anwendung auf Fragestellungen des Marketing findet sich bei Green/Carmone/Wachpress (1976). Auch Dillon/Kumar (1994) beschäftigen sich mit Finite Mixture-Modellen. Zu Möglichkeiten der Segmentierung vgl. Abschnitt 3.1.1. Vgl. hier und im Folgenden McLachlan/Peel (2000); Wedel/Kamakura (2000), S. 75-123. Vgl. Dillon/Kumar (1994), S. 296; Qian/Jiang/Tsui (2006), S. 2915. Vgl. Gensler (2003), S. 96.
Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
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einzelnen Segmenten bzw. Klassen. Auf Basis der zu schätzenden Funktionsparameter lassen sich dabei die Dichtefunktionen je Klasse beschreiben. Neben diesen Annahmen ist die lokale Unabhängigkeit eine zentrale Prämisse der Finite Mixture-Modelle, wobei unterstellt wird, dass den beobachteten Ausprägungen der Variablen eine Anzahl k an nicht beobachtbaren übergeordneten Segmenten zu Grunde liegt.487 Diese auch als latente Klassen (Latent Classes) bezeichneten Segmente können als Konkretisierung des Konzepts der unbeobachteten Heterogenität angesehen werden. Durch die Existenz der latenten Klassen erklären sich die Zusammenhänge zwischen den beobachtbaren Variablen. Es wird unterstellt, dass die Kovarianz zwischen den beobachteten Ausprägungen der Variablen durch die latenten Klassen verursacht wird, zu denen Beobachtungsobjekte wie z.B. Befragungsteilnehmer oder Nutzer zählen.488 Die unbeobachtete Heterogenität kann insofern als kombinierter Effekt aller nicht beobachtbaren Kovarianzen bezeichnet werden. Demzufolge sind die beobachteten Variablenausprägungen innerhalb jeder Klasse voneinander unabhängig. Die Klassenzuordnung erfolgt im Rahmen des Konzepts der unbeobachteten Heterogenität, indem für jeden Kunden auf Grund seiner individuellen Variablenausprägung eine nominal-skalierte latente Variable zugeordnet wird, deren binäre Ausprägung letztlich über die Klassenzugehörigkeit entscheidet.489 Durch die Schätzung der latenten Klassen ermitteln Finite Mixture-Modelle die einzelnen Wirkungszusammenhänge zwischen den individuellen Beobachtungen. Resümierend manifestiert sich die unbeobachtete Heterogenität also in den Ausprägungen der latenten Variablen und den damit verbundenen klassenspezifischen Parametern.490 Im Gegensatz zu traditionellen Verfahren wie der Cluster Analyse kann die (unbeobachtete) Heterogenität von Kunden durch die Finite Mixture-Modelle in besonderer Weise abgebildet werden.491 Anstatt eine gemeinsame Verteilung für alle Kunden zu Grunde zu legen, können für die unterschiedlichen Klassen spezifische Verteilungen unterstellt werden. Hierzu bedarf es indessen zunächst der segmentspezifischen 487 488 489 490 491
Hierin wird auch der hierarchische Charakter der LCA deutlich. Vgl. Lazarsfeld/Henry (1968). Vgl. Wedel/DeSarbo (1994), S. 353. Vgl. Vermunt (2005), S. 285. Während die latente Variable in der vorliegenden Untersuchung diskret verteilt ist, kann diese auch stetig verteilt sein. Vgl. Magidson/Vermunt (2006), S. 353. Vgl. Erichsen/Brockhoff (2004), S. 247 f.; Hedeker (2003), S. 1435. Für eine ausführliche Betrachtung der Cluster-Analyse vgl. Backhaus et al. (2006), S. 489-555.
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Methodische Grundlagen des Churn-Managements im B2B-Kontext
Schätzung der ex-ante unbekannten Parameter der einzelnen Dichtefunktionen und Mischungsverhältnisse.492 Der Grundgedanke bei der Ermittlung dieser spezifischen bzw. bedingten Dichtefunktionen der latenten Klassen besteht aus statistischer Sicht darin, dass sich die Wahrscheinlichkeit des Eintretens der beobachteten Ausprägung einer Variable in Folge der Zugehörigkeit zu einer latenten Klasse ergibt, also in Abhängigkeit von der Klasse, der ein Kunde angehört, resultieren die manifesten Ausprägungen der Variablen. Demgegenüber stellt die unbedingte Dichtefunktion der Beobachtungen für ein Individuum die Summe aller mit der relativen Klassengröße gewichteten segmentspezifischen Dichtefunktionen dar. Die relative Segmentgröße resultiert dabei aus den Wahrscheinlichkeiten der Klassenzugehörigkeiten. Die folgende Formel zeigt die unbedingte Dichtefunktion eines Finite Mixture-Modells:493 18)
g i yi | S, T
¦S
k
g i,k (yi | Tk )
kK
Dabei ist g i < die Dichtefunktion des i-ten Kunden und ș der Vektor aller zu schätzenden Parameter. yi entspricht dem Vektor der Response-Variablen des Kunden i. Weiterhin stellen ʌk die relative Klassengröße der k-ten Klasse und g i,k < die Dichtefunktion des i-ten Kunden bei gegebener Klassenzugehörigkeit und gegebenem Parametervektor der k-ten Klasse dar. Die Herausforderung bei der Anwendung von Finite Mixture-Modellen besteht in der Ermittlung der a priori unbekannten Segmentgrößen ʌk und den Funktionsparametern ș (ȝ, ı²).494 Weiterhin lassen sich mit Finite Mixture-Modellen segmentspezifische Parameter schätzen und gleichzeitig kundenindividuelle Segmentzugehörigkeitswahrscheinlichkeiten ermitteln. Finite Mixture-Modelle sind flexibel
492 493 494
Vgl. Wedel/Kamakura (2000), S. 75. Vgl. Gensler (2003), S. 96. Für eine ausführliche Darstellung der Modellierung von Finite Mixture-Modellen vgl. Wedel/DeSarbo (1994), S. 352-359; Wedel/Kamakura (2000), S. 75-99.
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einsetzbar und können mit einer Vielzahl von Analysemethoden kombiniert werden. Im vorliegenden Fall der Untersuchung des Churn-Verhaltens von Geschäftskunden erfolgt eine Verknüpfung mit dem Verfahren der Regressionsanalyse.495 Zu Beginn dieses Abschnitts wurde auf die enge Beziehung zwischen Finite Mixture-Modellen und Latent Class-Analysen hingewiesen. Der Zusammenhang ergibt sich dabei aus dem Vorgehen bei der Modellierung. Während Finite MixtureModelle unbedingt sind, stellen Latent Class-Analyse (LCA) bedingte Modelle dar. Der Unterschied liegt dabei in der Ermittlung der spezifischen Parameter der Dichtefunktionen. Finite Mixture-Modelle schätzen, wie in diesem Abschnitt aufgezeigt, direkt die entsprechenden segmentspezifischen Parameter (ȝ und ı²) und errechnen auf dieser Basis die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Antwortmusters. Bei LCA erfolgt die probabilistische Segmentierung der Kunden hingegen auf Basis der Schätzung eines Regressionsmodells zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeiten.496 Somit ergeben sich die einzelnen Wahrscheinlichkeiten als Funktion der Regressionsparameter und nicht als eine spezifische Funktion der jeweiligen Mittelwerte und Varianzen. Die Besonderheiten der Latent Class-Analyse werden im Folgenden aufgezeigt.
3.3.2.1.2 Latent Class-Analyse als Grundlage der LCR Latent Class-Analysen (LCA) sind ebenso wie die Finite Mixture-Modelle flexibel mit anderen Methoden zu kombinieren. In der empirischen Forschung finden sich bspw. Verbindungen mit der Cluster-, der Regressions- sowie der Faktoren-Analyse.497 Während im Abschnitt 3.3.2.2 die spezifischen Charakteristika der Latent ClassRegression (LCR) diskutiert werden, sollen zuvor, um ein besseres Verständnis der Modellierung zu gewährleisten, die Grundlagen der LCA erarbeitet werden, welche für alle Verbindungen prinzipiell identisch sind.
495
496 497
Weiterhin finden sich bspw. auch Kombinationen mit MNL-Modellen, Conjointanalysen oder Strukturgleichungsmodellen. Vgl. bspw. Gupta/Chintagunta (1994); DeSarbo et al. (2001); Gensler (2003), Hahn (2002); Kamakura/Russel (1989). Vgl. Wedel/Kamakura (2000), S. 101. Vgl. Vermunt/Magidson (2005a), S. 4-6.
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Bei der Modellierung von LCA wird wie bei den bereits vorgestellten Finite Mixture-Modellen unterstellt, dass die latente Variable nominal-skaliert ist.498 Auch die Grundannahmen der LCA entsprechen grundsätzlich denen der Finite MixtureModelle: Jeder Kunde gehört genau einer einzigen von k latenten Klassen an und die Ausprägungen der beobachtbaren Variablen sind bei gegebener Klassenzugehörigkeit unabhängig voneinander.499 Die Modellierung der Latent Class-Modelle (LCM) erfolgt dabei auf Basis von unbedingten Wahrscheinlichkeiten der Zugehörigkeit zu einer latenten Klasse und bedingten Response-Wahrscheinlichkeiten als Parameter.500 Die Ausprägungen der manifesten Variablen sind insofern nicht direkt miteinander verbunden, sondern über den gemeinsamen Ursprung der latenten Variable auf der Kontextebene.501 Ziel der LCA ist es, die minimale Anzahl an latenten Klassen zu finden, welche die Beziehungen zwischen den beobachtbaren Variablen hinreichend gut erklären.502 Grundsätzlich besteht ein Latent Class-Modell (LCM) aus drei Komponenten:503 -
Wahrscheinlichkeitsstruktur Verteilungsannahmen regressionsorientierte Restriktionen
Während die Wahrscheinlichkeitsstruktur die Menge an bedingten Unabhängigkeitsannahmen determiniert, sind die Verteilungsannahmen bezüglich der Responsevariable von deren Skalenniveau abhängig.504 Weiterhin sollen mit Hilfe regressionsorientierter Restriktionen möglichst „sparsame“ Modelle entwickelt werden. „Sparsam“ bezieht sich auf die verwendete Zahl an erklärenden Variablen. Modelle mit weniger Variablen werden dabei gegenüber Modellen mit einer höheren Zahl an Variablen bei vergleichbarer Modellgüte bevorzugt. Dieser Grundsatz lässt sich als Parsimony-
498
499 500 501 502 503 504
Vgl. Vermunt/Magidson (2004), S. 175. Die Entwicklung der LCA ist wie die Entwicklung des Maximum Likelihood-Algorithmus maßgeblich durch Goodman (1974a, 1974b) forciert worden. Vgl. Hedeker (2003), S. 1433. Vgl. Magidson/Vermunt (2004), S. 175. Vgl. Erichsen/Brockhoff (2004), S. 250. Vgl. Magidson/Vermunt (2004), S. 176. Vgl. Vermunt/Magidson (2005a), S. 6-19; Wedel/DeSarbo (1994), S. 352-359; Wedel/ Kamakura (2000); Yang/Chen (2004), S. 763-765. Die Response-Variable bezieht sich in der LCA auf das Antwortmuster eines Individuums. In der LCR ist die Response-Variable die zu erklärende abhängige Variable.
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Prinzip bezeichen.505 Welche Konsequenzen sich aus diesen Komponenten für die Modellierung ergeben, wird im Folgenden diskutiert. Die verschiedenen Formen der LCM basieren auf der gleichen Wahrscheinlichkeitsstruktur, welche die Zusammenhänge bzw. Beziehungen zwischen exogenen, latenten und abhängigen Variablen beschreiben. 19)
ƒ(yi | z i )
K
¦ P(x | z ) ƒ(y i
i
| x, z i )
x 1
Im Fokus der Modellierung steht dabei die Schätzung der segmentspezifischen Dichtefunktionen für die Response-Variable y bei einem gegebenen Vektor zi, der die Ausprägungen der exogenen Variablen darstellt. Die latente Variable x im mittleren Teil der Gleichung verbindet die Response-Variable y und den Vektor zi Der Ausdruck P(x | z i ) repräsentiert die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit eines Kunden i zu
einem latenten Segment x bei gegebenen Ausprägungen der Kovariaten. Dieser Term wird auch als „mixing weight“ bezeichnet. Demgegenüber stellt f (yi | x, zi ) die Dichtefunktion von yi dar, sofern x und zi gegeben sind. Dieser formale Zusammenhang wird auch als Mixture-Dichtefunktion bezeichnet. Die Ausprägungen der latenten Variable können somit durch die Kovariate (z) beeinflusst werden, und die Response-Variablen entsprechend durch die latente Variable und die Kovariate. Für den letzten Teil der Gleichung ( ƒ(yi | x, zi ) ) gilt die Annahme, dass bei gegeben Werten für die latenten Variablen x und Kovariaten zi die Response-Variablen yi unabhängig voneinander sind. Dieser Zusammenhang wird durch folgende formale Beziehung ausgedrückt. 20)
H
ƒ(yi | x, z i )
ƒ(y
ih
| x, z i )
h 1
Das Subskript h indiziert wiederholt beobachtete Response-Variablen, wie sie z.B. bei Paneldaten vorliegen. Sofern die Response-Variablen der selben Wiederholung h
505
Zur Modellauswahl dienen die im Abschnitt 3.3.2.2 noch zu diskutierenden Informationskriterien. Zur Bedeutung des Parsimony-Grundsatzes vgl. Yuengert (2006).
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angehören, dürfen diese innerhalb eines latenten Segments miteinander korreliert sein.506 Ein weiterer relevanter Aspekt von LCM sind die Verteilungsannahmen, die den Modellen zu Grunde liegen. In Abhängigkeit vom Skalenniveau der Kovariate in einem Set wird für die Response-Variable yih eine spezifische Verteilung unterstellt. Dieses Set kann eine oder mehrere kategoriale, metrisch-skalierte oder auch einfache Count-Variablen enthalten. Bei einer kategorialen Variable wird bspw. eine multinomiale Verteilung für yih angenommen.507 In diesem Kontext wird die unterstellte Verteilungsfunktion der Response-Variable auch als Fehlerfunktion bezeichnet.508 Die LCA zählen ebenso wie die Finite Mixture-Modelle zu der Familie der GLM. In GLM beeinflussen die erklärenden Variablen die Response-Variable allein mittels des sog. Linearen Prädiktors.509 Dabei werden die erwarteten Werte der Response-Variable auf Basis einer „Link Function“ mit den erklärenden Variablen verbunden. Die erwarteten Werte, die in Form von Wahrscheinlichkeiten vorliegen, werden dabei zu „arbitrary real values“ transformiert.510 Somit beschreibt die „Link Function“ den funktionellen Zusammenhang zwischen der erwarteten Response-Variable und dem linearen Prädiktor.511 Für nominal skalierte Response-Variablen ergibt sich dabei eine Multinomialverteilung mit M t Einträgen. Demnach nimmt die Wahrscheinlichkeitsfunktion für jede Response-Variable yih die Form einer Exponentialfunktion an und ähnelt in dieser Hinsicht der Logit-Funktion bei der Logistischen Regression:512
506
507 508 509
510 511 512
Bei der Latent Class Cluster Analyse wird bspw. die Formel vereinfacht, da die Mixing Weights bzw. die a priori Klassenzugehörigkeitswahrscheinlichkeit nicht von Kovariaten abhängig sind. Vgl. Vermunt/Magidson (2005a), S. 8. Entsprechend unterstellen LCM für metrische Variablen eine Normalverteilung und für Count Variablen eine Poisson- bzw. Binomialverteilung. Hierfür hat sich in der englischsprachigen Marketing-Forschung der Begriff „error function“ etabliert. Vgl. Brown/Wyatt/Tiño (2005); Repin/Sauter/Smolianski (2003), S. 2003. Vgl. Skrondal/Rabe-Hesketh (2004), S. 22. Der Lineare Prädiktor ist eine Linearkombination der erklärenden Variable sowie der zu schätzenden Modellkoeffizienten. Vgl. Krafft (1997), S. 628-630; Wedel/Kamakura (2000), S. 107. Die Wahl der „Link Function“ sollte dabei vom Modellfit, der Interpretierbarkeit und der Angemessenheit abhängig sein. Vgl. Snijders/Bosker (2004), S. 212 f. Vgl. Skrondal/Rabe-Hesketh (2004), S. 24. Vgl. Abschnitt 3.2.2.
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21)
P(yit
m | x, zi ) Sm|t,x,zi
139
t exp(Km|x,z ) i
¦
m' 1
t exp(Km'|x,z ) i
Der Term Sm|t,x,z spiegelt die Wahrscheinlichkeit wider, dass die Response-Variable i
bei gegebenen Ausprägungen der exogenen Variablen zi und Klassenzugehörigkeit x t ist der lineare Prädiktor, der im Falle nominal die Ausprägung m annimmt. Km|x,z i
skalierter Variablen durch entsprechende logistische Regressionsmodelle restringiert wird.513 Aus den Gleichungen ergibt sich, dass die zu berechnenden Wahrscheinlichkeiten eine Funktion der linearen Prädiktoren sind, die wiederum durch Regressionsmodelle bedingt sind. Weiterhin ist die Eigenschaft von LCA als bedingte Modelle erkennen.514 Mit Hilfe des Prädiktors ist es möglich, die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, mit der ein Kunde bei gegebener Segmentzugehörigkeit ein bestimmtes Verhalten zeigt. Wie bei den nominal- bzw. ordinal-skalierten Response-Variablen wird auch für die Werte der latenten Variable bei gegebenen Ausprägungen der individuellen Kovariaten unterstellt, dass die Werte der latenten Variable einer multinomialen Verteilung entstammen. Diese multinomiale Wahrscheinlichkeitsfunktion P(x | z i ) lässt sich wie folgt parametrisieren:515
22)
P(x | zi )
S x|zi
exp(Kx|zi )
¦
K x 1
exp(Kx '|zi )
Bei der für diese Arbeit relevanten Latent Class-Regression liegt eine nominal-skalierte latente Variable vor, woraus erneut ein multinomiales Logit-Modell resultiert.516 Die genaue Form der Transformation der Werte der abhängigen Variable in Wahrscheinlichkeiten mit Hilfe des linearen Prädiktors ist modellspezifisch. Daher soll im Zusammenhang mit den „Link Functions“ zunächst die allgemeine Formulierung der
513 514
515 516
Für eine Übersicht der von Skalenniveau abhängigen Linearen Prädiktoren vgl. Vermunt/ Magidson (2005a), S. 9-13. Wie oben beschrieben werden nicht die segmentspezifischen Parameter (wie Mittelwert oder Varianz) geschätzt, sondern vielmehr wird eine Wahrscheinlichkeitsfunktion zur Schätzung der Parameter eingesetzt. Vgl. Yang/Chen (2004), S. 763-765. Vgl. hierzu Abschnitt 3.3.2.2.
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Regressionsmodelle diskutiert werden. Dabei stellt y die Ergebnisvariable dar. zip steht für die erklärenden Variablen. Im Rahmen dieser Arbeit soll bspw. das ChurnVerhalten von Geschäftskunden mit einer dichotomen Ausprägung (Churn: ja/nein) erklärt werden. Damit ist die abhängige Ergebnisvariable nominal-skaliert und unterliegt insofern einer diskreten Verteilung. Dies führt, unter Verwendung von DummyCoding, bei dem die Referenzkategorie mit m bezeichnet wird, zu dem linearen Prädiktor Km|z , der durch folgende lineare Regressionsgleichung mit den Wahrscheini
lichkeiten (0