Versandhandelsmanagement : Grundlagen, Prozesse und Erfolgsstrategien für die Praxis [2., aktualisierte und erg. Aufl] 9783834901460, 3834901466 [PDF]


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Versandhandelsmanagement : Grundlagen, Prozesse und Erfolgsstrategien für die Praxis [2., aktualisierte und erg. Aufl]
 9783834901460, 3834901466 [PDF]

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Zitiervorschau

Jan Thieme Versandhandelsmanagement

Jan Thieme unter Mitarbeit von Jochen Barringer, Rolf Becker, Jorg Bernhard, Uwe H. Drescher, Bernd Heidemeyer und Patrick Palombo

Versandhandelsmanagement Grundlagen, Prozesse und Erfolgsstrategien fur die Praxis 2., aktualisierte und erganzte Auflage

GABLER

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uber abrufbar.

Dieser Ausgabe liegt ein Post-it® Beileger der Firma 3M Deutschland GmbH bei. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser urn Beachtung.

1.Auflage2003 2., aktualisierte und erganzte Auflage Mai 2006 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr.Th. Gabler I GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat; Barbara Moller Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschlieftlich alter seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. Jede Verwertung aufterhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen,UbersetzungenfMikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Satz: FROMM MediaDesign GmbH, Selters/Ts. Druck und buchbinderische Verarbeitung: Wilhelm & Adam, Heusenstamm Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-8349-0146-6 ISBN-13 978-3-8349-0146-0

Geleitwort

Der Siegeszug des Direktmarketings durch die Branchen und Anwendungsgebiete hat seinen Anfang im Versandhandel genommen. Zu dem Verkauf von Waren per Paket, heute haufig Distanzhandel genannt, kamen die Abonnentenwerbung fiir Zeitungen und Zeitschriften, der Direktvertrieb von Lotterielosen oder Ferienreisen. In den 90er Jahren traten die Direktbanken und Direktversicherungen als weitere wichtige Anwenderbranchen hinzu. Heutzutage werden Dienstleistungen aller Art - darunter Telekommunikation oder Energie - auf dem Wege des Direktmarketings beworben und verkauft. Das Direktmarketing ist eine wichtige Erganzung der klassischen Werbung geworden und verbessert nachweislich die Erfolgschancen der Markenartikelindustrie. Direktmarketing ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil des Marketings im Business-to-Consumer und im Business-to-Business geworden. Den Anfang hat diese Entwicklung allerdings im Versandhandel genommen. Hier bestehen die langsten und fundiertesten Erfahrungen auf diesem Gebiet. Der Versandhandel war immer Vorreiter auf Gebieten wie Customer Relationship Management (CRM), Database Marketing, Kundenbindung oder Customer Service. Alle anderen Anwendungsgebiete des Direktmarketings haben die Erfahrungen des Versandhandels adaptiert und zum Teil weiterentwickelt. Durch die Verbreitung des Internets mit E-Commerce und Online-Versandhandel hat der Versandhandel, der in Deutschland auf eine lange Tradition zuriickblickt, eine neue Aktualitat erhalten und auch einen wirtschaftlichen Aufschwung genommen. Der Kreis der Distanzhandler hat zugenommen und wird in der Tendenz auch noch weiter wachsen. Das Internet hat fiir viele Player den Marktzutritt wesentlich erleichtert. Gerade auch fiir die neuen Marktteilnehmer ist ein professionelles Managementwissen, das iiber den engen Bereich des Online-Marketings hinausgeht, von erfolgsentscheidender Bedeutung. Versandhandel ist jedoch sehr viel mehr als nur Direktmarketing. Neben dem Direktmarketing stehen als ebenso wichtige Saulen des Versandhandelsmanagements Sortimentsentwicklung, Einkauf, Fulfillment mit Customer Service, Call Center und Logistik. Erst das optimale Ineinandergreifen der

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verschiedenen betrieblichen Funktionen ermoglicht ein erfolgreiches Versandhandelsgeschaft. Die Einbettung des Direktmarketings in den betrieblichen Gesamtprozess ist fur den professionellen Direktmarketer von genauso groSer Bedeutung wie ein professionelles Direktmarketing selbst. Jan Thieme legt in seinem Buch iiber das Versandhandelsmanagement eine umfassende Darstellung der Gesamtproblematik vor, wie es sie bisher auf dem Markt noch nicht gibt. Der Autor verfugt iiber eine langjahrige Erfahrung als ein Personalberater, der sich in Deutschland fiihrend auf Direktmarketing und verwandte Gebiete spezialisiert hat. Er hat das Wissen, das er aus zahllosen Interviews mit Profis aus den unterschiedlichen Berufszweigen des Versandhandels gesammelt hat, in diesem Buch einer breiteren Offentlichkeit zur Verfiigung gestellt. In der Darstellung dieses Wissens haben ihn die Mitautoren Jochen Barringer, Rolf Becker, Jorg Bernhard, Uwe H. Drescher, Bernd Heidemeyer und Patrick Palombo unterstiitzt, die sich zum Teil auch fuhrend im Deutschen Direktmarketing Verband engagiert haben. Das Verdienst dieses Werkes liegt wesentlich in der umfassenden und ubergreifenden Darstellung, die keinen Aspekt von Bedeutung auslasst. Gerade deshalb hat der DDV „Versandhandelsmanagement" in seine gemeinsam mit dem Gabler Verlag herausgegebene Buchreihe „ Direktmarketing - Wissen fiir den Profi" aufgenommen. Das Buch sei alien Anwendern und Dienstleistern im Direktmarketing zur Lekture empfohlen. Ich wiinsche der zweiten Auflage weiterhin eine erfolgreiche Akzeptanz und groSe Verbreitung.

Wiesbaden, im April 2006

Dieter Weng President Deutscher Direktmarketing Verband e. V. (DDV)

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Geleitwort

Vorwort zur ersten Auflage

Es ist schon erstaunlich: Es gibt in Deutschland circa 4 700 bekannte Versandhandelsunternehmen. Darunter sind mit den Konzernen Otto und Quelle/ Neckermann Unternehmen, die zu den groSten Handelskonzernen der Welt zahlen. Hinzu kommen circa 1 700 auf den Versandhandel gerichtete Dienstleistungsunternehmen. Die Branche beschaftigt einschliefilich Dienstleistungsunternehmen rund 200 000 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen jahrlichen Umsatz von etwa 21 Milliarden €. Der Versandhandel hat in Deutschland eine lange Tradition, die schon in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zuriick reicht. Die Branche ist durch Fachverbande, Kongresse und Fachzeitschriften als „ Community" wohl organisiert. Und nicht zuletzt durch einen regen Personalwechsel verbreitet sich das Know-how gleichmafiig iiber die Branche. Man kann durchaus einen Kanon allgemein anerkannten handwerklichen Wissens der Branche erkennen, einen „Common state of the art". Aber, und das ist das Erstaunliche: Es gibt keine deutsche Monographic, noch nicht einmal ein Handbuch, die dieses Wissen im Uberblick zusammenfiihren. Es gibt zahlreiche Darstellungen zu Teilaspekten des Versandhandelsmanagements, insbesondere zum Direktmarketing mit seinen Unterdisziplinen wie Direktwerbung, Databasemarketing oder Call-Center-Management. Aber es gibt keine Darstellung, die den Gesamtprozess des Versandhandelsbetriebs und die Interdependenzen innerhalb dieses Prozesses abdeckt. Diese Lucke zu schlieEen ist Ziel dieses Buches. Ein Uberblick wie der vorliegende kann keine Vollstandigkeit fur sich beanspruchen, insbesondere nicht in der Tiefe. Dafur sind die Einzeldarstellungen der Teilgebiete vorgesehen. Das Augenmerk wird auf die Zusammenhange zwischen den Teilprozessen gelegt. Versandhandel ist in besonderer Weise ein komplexes Optimierungsproblem. Die Optimierung eines Teilprozesses kann negative Auswirkungen auf andere Teilprozesse nach sich ziehen. Dieses macht im Ubrigen gerade auch die intellektuelle Herausforderung einer Beschaftigung im Versandhandel aus.

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Aber vor der Darstellung von Interdependenzen und komplexen Optimierungsproblemen steht die einfache Beschreibung der Grundtatsachen und Elemente eines Versandhandelsbetriebs. Bei diesem Buch handelt es sich um eine Einfiihrung, die sich eben gerade auch durch eine Darstellung von Basiswissen auszeichnet. Das Buch wendet sich damit zum Ersten an Studenten der Wirtschaftswissenschaften, insbesondere auch an diejenigen der Betriebswirtschaftslehre, die sich vielleicht mit Handelsbetriebslehre beschaftigen und hier eine Vertiefung in Fragen des Versandhandels suchen. Auch wer durch die Penetration des Internets zu einer Beschaftigung mit dem Distanzhandel - ein Synonym des Begriffs Versandhandel - angeregt ist, findet hier eine Einfiihrung in das Thema. Vielleicht tragt das Buch auch dazu bei, in dem einen oder anderen Falle die Entscheidung fur den Berufseinstieg nach dem Studium abzustutzen. Das Buch wendet sich zum Zweiten an Berufsseinsteiger im Versandhandel, seien es Berufsanfanger oder Quereinsteiger. Junge Berufsanfanger, denen als Trainees oder Auszubildende bisweilen nicht der Einblick geboten wird, den sie sich vielleicht wiinschen, konnen sich durch die Lektiire ein erganzendes Bild verschaffen. Das Buch dient sicherlich auch als sinnvolle Erganzung einer berufsbegleitenden Fortbildung zum Handelsfachwirt, Direktmarketingfachwirt oder anderem. Zum Dritten wendet sich dieses Buch an den Versandhandelspraktiker. Der langjahrige Versandhandelspraktiker - gemeint ist selbstredend immer auch die Praktikerin - kann, wenn er denn kein Generalist ist, ein neues Verstandnis fiir die Fragestellungen seiner benachbarten Fachbereiche und fiir die Gesamtschau eines Versandhandelsunternehmers entwickeln. Er kann den Blick des Generalisten gewinnen. Das gilt auch fur den Dienstleister des Versandhandlers, etwa fur den Berater in einer Direktwerbeagentur, der sich gedanklich in die Lage seines Auftraggebers versetzen mochte. Dem verantwortlichen Versandhandelsmanager kann dieses Buch als Checkliste zur Verbesserung von Teilbereichen seines Geschafts oder als Anregung zur Vertiefung von Teilaspekten dienen. Und - das ist vom Autor beabsichtigt - er wird manches ihm bekannte Problem in einer anderen Sichtweise und Formulierung wiederentdecken, das er dann aus einer anderen Perspektive vielleicht besser einer Losung zufiihren kann. Die Systematisierung und Kategorisierung der Fragestellungen im Versandhandel kann auch dazu verhelfen, manche Einzelfrage aus einem strategischen Blickwinkel neu zu beantworten. Insbesondere im 6. Kapitel werden strategische Aspekte des Versandhandelsgeschafts beleuchtet.

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Vorwort zur ersten Auflage

Zum Vierten wendet sich dieses Buch an den unternehmerisch ambitionierten Neueinsteiger, der sich im Versandhandel als Grunder oder tfbernehmer engagieren mochte. Wer nach der Melodie aus der Zeit des Goldrauschs „There is plenty of gold, so I am told" zu agieren geneigt ist, dem wird eine sehr sorgfaltige Lekture dieses Buches dringend angeraten. Noch einmal: Versandhandel ist ein komplexes Optimierungsproblem. Nur wer das Geschaft in hohem MaEe professionell betreibt, hat eine Chance, sich im Wettbewerb zu behaupten. Es ist auch ein Nutzen, wenn das Buch die Wirkung jener reifierischen Versandhandelsanzeige hat, in der es hief?: „Sofort bestellen: Alles, was Sie iiber Sex wissen miissen." Im Paket lag dann nur ein Zettel, auf dem stand: „ Lassen Sie die Finger davon". Die Darstellungsmethode basiert auf der Praxis des Versandhandels. Von einem Lehrbuch werden Weisheiten ex cathedra erwartet. Diese Weisheit bietet die Praxis selbst. Es wird die differenzierte Wirklichkeit des Versandhandels beschrieben, und es wird erklart, warum in bestimmten Fallen die Dinge so und nicht anders gemacht werden. Da die Erscheinungen des Versandhandels in ihrer Vielfalt aber selten auf alle Falle verallgemeinert werden konnen, finden sich in diesem Buch standig Ausdrucksweisen wie „manchmal, bisweilen, in der Regel, in aller Regel, meistens, vielfach, haufig", aber auch „selten, kaum, in Ausnahmen" u. a. m. Der geneigte Leser moge es dem Autor nachsehen. Das Buch wendet sich an Praktiker und solche, die es werden wollen. Es ist kein Buch mit einem hohen Anspruch an Theorie. Theorie wird lediglich angewendet, nicht erortert. Es ist ein Buch von Praktikern fur Praktiker. Der aufieren Form nach ist dieses Buch die Monographic eines Autors. Wegen der Darstellung des Gesamtzusammenhanges und der Interdependenzen und Riickkopplungen war ein Werk aus einem Guss erforderlich. In Wahrheit ist das Buch jedoch als Gemeinschaftsleistung mehrerer, erfahrener Versandhandelspraktiker entstanden. Ich danke meinen Mitautoren, ohne deren Beitrage dieses Werk nicht zustande gekommen ware. Rechtsanwalt Rolf Becker hat das Kapitel 5.5 Besondere Rechtsfragen des Versandhandels beigesteuert, das unverandert eingefiigt wurde. Dipl.-Math. Jorg Bernhard hat das Kapitel 4 Der Prozess der Geschdftsabwicklung kritisch durchgesehen und iiberarbeitet. Insbesondere die Kapitel 4.1.1 Telefonische Bestellung und 4.3 Logistik hat er wesentlich erganzt. Bernd Heidemeyer hat die Kapitel 2.1 Einkauf sowie 6.4 Retourenvermeidung kritisch durchgesehen und erganzt; die Abschnitte Import und Musterungen (in Kapitel 2.1.3) stammen von ihm. Jorg Bernhard und Bernd Heide-

Vorwort zur ersten Auflage

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meyer haben mir reichhaltiges statistisches Material zur Verfiigung gestellt, das ich insbesondere im Kapitel 1 Bedeutung und Formen des Versandhandels sowie im Kapitel 4 Der Prozess der Geschdftsabwicklung eingearbeitet habe. Uwe H. Drescher und Patrick Palombo haben die Kapitel 1 Bedeutung und Formen des Versandhandels und 2 Der Prozess der Angebotserstellung kritisch durchgesehen und durch zahlreiche Hinweise und Erganzungen verbessert. Patrick Palombo hat die Abschnitte TV-Shoppings Online-Shopping (in Kapitel 1.2.1) sowie die Kapitel 2.2.2 Online-Shop, 2.2.3 CD-ROM, DVD und mobile Kommunikation und 2.2.4 TV-Shopping beigesteuert. Der Abschnitt Grundregeln der Katalog- und Mailinggestaltung in Kapitel 2.2.1 basiert im Wesentlichen auf der von Uwe H. Drescher im „ Versandhausberater" veroffentlichten „Katalogwerkstatt". Dipl.-Kfm. Stefan Riittinger hat einige Hinweise sowie Empfehlungen zum Abschnitt Einstufige und mehrstufige Werbung in Kapitel 2.3.3 beigesteuert; der Terminplan fur die Katalogproduktion (Abbildung 5) stammt aus seiner Agenturpraxis. Dipl.-Kfm. Werner Ollech hat Kapitel 4.4 Inkasso kritisch durchgesehen und verbessert. Heinz Fischer und Regine Luther-Fischer haben mich bei der Erstellung des Literaturverzeichnisses unterstiitzt. Dipl.-Kfm. Bjarne Siems hat das Namens- und Sachregister sowie die Verzeichnisse besorgt, und er hat das Werk redaktionell bearbeitet. Stud. rer. pol. Johann Thieme hat den grofSten Teil der Graphiken angefertigt. Meinem alten Lateinlehrer Oberstudienrat a. D. Karl-Ernst Muhling verdanke ich den Hinweis auf Menenius Agrippa. Ich danke alien Beteiligten fur ihre Mitwirkung. Fur alle Fehler, Mangel und Formulierungen iibernehme indessen ich allein die Verantwortung. Und ich mochte last not least den Hunderten von Gesprachspartnern aus dem Versandhandel danken, die mir in meiner mittlerweile neunjahrigen Personalberatertatigkeit als Kandidaten im Interview ihren Beruf beschrieben haben oder als Mandanten mit mir ihr Anforderungsprofil fur eine Vakanz entwickelt haben. Ich habe daraus unendlich viel iiber die unterschiedlichen Versandhandelstypen und die dort vorkommenden betrieblichen Prozesse und Optimierungsprobleme lernen diirfen. Ich empfinde dafur eine tiefe Dankbarkeit. Hamburg, im August 2003

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Jan Thieme

Vorwort zur ersten Auflage

Vorwort zur zweiten Auflage

Der im Vorwort der ersten Auflage gestellte Anspruch, mit diesem Buch die Liicke einer fehlenden Gesamtiibersicht iiber das Versandhandelmanagement zu schlieSen, kann als erfullt bezeichnet werden. Die erste Auflage erfreute sich einer so positiven Resonanz im Inland und Ausland, dass schon nach kurzer Zeit eine zweite Auflage folgt. Die Welt des Versandhandels ist dynamisch. Auf der einen Seite sind seit dem Erscheinen der ersten Auflage bedeutende Namen wie ODD, Em oder Tien aus der deutschen Versandhandelsszene verschwunden. Der Karstadt/QuelleKonzern ist in eine tiefe Krise geraten. Auf der anderen Seite haben die Online-Angebote sprunghaft zugenommen. Der Marktzutritt ist leichter geworden und damit die Anzahl auch sehr kleiner Anbieter gewachsen. Nicht zuletzt hat dazu auch die Popularisierung von Ebay beigetragen. Die zweite Auflage ist gegeniiber der ersten Auflage in den Abschnitten 1.2 Versandhandelstypen, 1.4 Bedeutung und Struktur des Versandhandels in Deutschland sowie 1.5 Versandhandel im internationalen Vergleich vollstandig aktualisiert worden. Der Abschnitt 2.3.1 Die Zielgruppe ist erganzt worden. An verschiedenen Stellen sind kleinere inhaltliche und redaktionelle Korrekturen vorgenommen worden. Um der aktuellen Diskussion in der Versandhandelsszene Rechnung zu tragen, sind an zwei Stellen wesentliche Erganzungen und Uberarbeitungen vorgenommen worden. Im Abschnitt 2.3.4 Kundenaktivierung mussten angesichts der Auflosung der traditionellen Katalogsaison-Muster bei den GroEversendern die Betrachtungen iiber die Anstofikette wesentlich erweitert werden. Der Abschnitt 6.1.2 Elemente der Preispolitik ist im Zeitalter der Rabattschlachten und Konsumzuriickhaltung vollig iiberarbeitet worden.

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Die Aktualisierung und Erganzungen in der zweiten Auflage sind zum weit uberwiegenden Teil von M. S. Jochen Barringer vorgenommen worden, der auch die erste Auflage noch einmal systematisch durchgesehen hat. Ich danke Jochen Barringer fiir seine bereitwillige Mitarbeit. Er hat durch seine langjahrige Managementerfahrung im Versandhandel zur Verbesserung des Buches beigetragen. Hamburg, im April 2006

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Jan Thieme

Vorwort zur zweiten Auflage

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort Vorwort zur ersten Auflage Vorwort zur zweiten Auflage 1

2

5 7 11

Bedeutung und Formen des Versandhandels

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1.1 Was ist Versandhandel? 1.2 Versandhandelstypen 1.2.1 Business-to-Consumer(B-to-C)-Versandhandel Sortimentsversandhandel Spezialversandhandel TV-Shopping Online-Shopping Hybrid-Versender Vertreter-Versandhandel (Direktvertrieb) 1.2.2 Business-to-Business(B-to-B)-Versandhandel 1.3 Motivationen zum Kauf im Versandhandel 1.3.1 Allgemeine Kaufmotive 1.3.2 Sortimentsorientierte Kaufmotive 1.4 Bedeutung und Struktur des Versandhandels in Deutschland 1.5 Versandhandel im internationalen Vergleich

23 28 28 28 29 39 41 43 43 45 48 49 50 52 56

DerProzessder Angebotserstellung

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2.1 Einkauf 2.1.1 Strategische Sortimentsentwicklung Versandhandelseignung des Sortiments Zielgruppenpassung des Sortiments Behauptung des Sortiments im Wettbewerb 2.1.2 Die Sortimentsstruktur 2.1.3 Einkaufsquellen und Lieferanten Sourcing Lieferantenpolitik Import Musterungen

59 59 60 62 63 65 67 67 68 69 71

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2.1.4 Einkaufskonditionen 2.1.5 Sortimentsoptimierung 2.1.6 Disposition und Beschaffung 2.1.7 Einkaufssteuerung 2.2 Entwicklung der Angebotstrager 2.2.1 Kataloge und Mailings Ablauf Grundregeln der Katalog- und Mailinggestaltung 2.2.2 Online-Shop Das Businessmodell Die Bedeutung der Marke Der Erstellungs- und Abwicklungsprozess Grundregeln der Gestaltung von Online-Shops: derRahmen Grundregeln fur die Gestaltung von Online-Shops: der Inhalt/Content 2.2.3 CD-ROM, DVD und mobile Kommunikation CD-ROM und DVD Mobile Kommunikation 2.2.4 TV-Shopping Grundsatzlicher Ablauf Live-Ausstrahlungen Technische Ausstattung Moderatoren Die Produktprasentation Grundregeln der Gestaltung von DRTV-Spots Grundregeln der Gestaltung von Infomercials 2.3 Marketing 2.3.1 Die Zielgruppe Zielgruppenidentifikation Zielgruppendefinition Zielgruppenfindung 2.3.2 Marktforschung 2.3.3 Neukundengewinnung Planung und Optimierung Einstufige und mehrstufige Werbung Direkt adressierte Werbung Medienwer bung Sonderwege

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72 74 77 81 83 83 83 87 91 92 94 95 98 102 103 103 105 107 107 108 109 110 112 113 114 115 115 115 118 120 123 125 125 128 130 133 135

Inhaltsverzeichnis

3

4

2.3.4 Kundenaktivierung Kundenentwicklung Katalogeinsatz AnstoEkette 2.3.5 Databasemarketing Datenmodell, Data warehouse und MIS Datenquellen Datamining 2.3.6 Verkaufssteuerung, Planung und Controlling 2.4Verkauf 2.4.1 Verkaufsforderung 2.4.2 Kundenbindungsinstrumente 2.4.3 Telefonmarketing Einsatzmoglichkeiten Systemtechnische Voraussetzungen Personal und Verkauf 2.4.4 Sammelbesteller und Absatzmittler 2.4.5 Integrierte Kommunikation 2.4.6 Stationare Ladengeschafte 2.4.7 Uberhangverwertung 2.4.8 Ausland 2.5 Der Prozess der Angebotsbereitstellung im Uberblick

136 137 143 144 150 150 151 152 155 158 159 160 162 163 164 166 168 170 172 175 176 177

Vertreter-Versandhandel (Direktvertrieb)

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3.1 Eignung des Sortiments fiir den Direktvertrieb 3.2 Marketing im Direktvertrieb 3.3 Verkauf im Direktvertrieb 3.3.1 Rekrutierung von Verkaufern 3.3.2 Ausbildung und Personalentwicklung 3.3.3 Vergiitung und Incentives 3.3.4 Fuhrung und Motivation 3.4 Die Integration von Direktvertrieb und Direktmarketing

180 181 185 185 188 191 194 197

Der Prozess der Geschaftsabwicklung

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4.1 Bestellannahme 4.1.1 Telefonische Bestellung 4.1.2 Schriftliche Bestellung 4.1.3 Website-Bestellung 4.2 Fakturierung und Kundenkonto

200 201 208 209 210

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4.3 Logistik 4.3.1 Wareneingang 4.3.2 Lagerorganisation 4.3.3 Kommissionierung 4.3.4 Packerei und Versand 4.3.5 Personaleinsatz 4.3.6 Retourenannahme und technischer Kundendienst 4.4 Inkasso 4.4.1 Zahlungsarten 4.4.2 Kreditpolitik Bonitatspriifung Verbundene Risiko- und Ertragsschatzungen 4.4.3 Mahnungen und Beitreibung 4.4.4 Versandhausbetrug 4.5 Kundenbetreuung 4.6 Zusammenfassung: Der Prozess der Geschaftsabwicklung imUberblick 4.6.1 Das optimale Prozessniveau 4.6.2 Die Hauptprozesse des Versandhandels im Zusammenhang 5

18

213 213 214 216 217 219 221 223 223 225 225 226 227 229 229 230 230 233

Querschnittsthemen des betrieblichen Gesamtprozesses

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5.1 Funktionalitaten eines IT-Systems im Versandhandel 5.2 Die Aufbauorganisation eines Versandhandels 5.2.1 Die klassische Linienorganisation 5.2.2 Die Produktmanagement- und Matrixorganisation 5.2.3 Grenzfalle 5.3 Berufsbilder im Versandhandel 5.3.1 Einkaufer 5.3.2 Direktmarketer und Direktwerber 5.3.3 Databasemarketing- und Adressmanager 5.3.4 Call Center Manager 5.3.5 Logistikleiter 5.4 Dienstleister des Versandhandels und Outsourcing 5.4.1 Einkaufsagenturen 5.4.2 Werbeagenturen 5.4.3 Adress- und Datenbankdienstleister 5.4.4 Call Center 5.4.5 Fulfillmentdienstleister

235 240 240 242 243 246 246 247 249 250 251 252 254 254 256 257 259

Inhaltsverzeichnis

5.5 Besondere Rechtsfragen des Versandhandels (von Rolf Becker) 5.5.1 Zielgruppen als rechtliches Differenzierungskriterium 5.5.2 Besondere Verbraucherrechte im Fernabsatz (Widerruf und Riickgabe) 5.5.3 Informationsverpflichtungen 5.5.4 Der Versand-Vertrag im eiektronischen Geschaftsverkehr Korrekturmoglichkeiten Technische Bestellinformationen Bestellbestatigung Abrufbarkeit und Speichermoglichkeiten Ausnahmen 5.5.5 Rechtsaspekte der Geschaftsabwicklung Versandhandelsrisiko und Erfiillungsort Riickabwicklung von Bestellungen Versandkosten und Preisangaben 5.5.6 Rechtsaspekte der kommerziellen Kommunikation Allgemeine Kennzeichnungspflichten Kennzeichnungspfiichten in der eiektronischen Kommunikation 5.5.7 Werbung im Rahmen von Telediensten 5.5.8 Verkaufsforderung im Fernabsatz Zahlpause und Kredit im Versandhandel Rabatte Kundenbindung Verbot des iibertriebenen Anlockens 5.5.9 Gewinnspiele und ihre Bedingungen 5.5.10 Besondere Grundsatze der Telefon-, Teiefaxund eiektronischen Werbung 5.5.11 Datenschutzregelungen 5.5.12 Neuerungen nach der UWG-Noveile 2003 Interdependenzen, Riickkopplungen und Optimierungsprobleme im Gesamtprozess 6.1 Kalkulation und PreispoHtik 6.1.1 Kalkulationsgrundlagen 6.1.2 Elemente der PreispoHtik Versandhandel in Zeiten der Rabattschlachten und Konsumzuriickhaltung

261 262 264 270 272 273 273 274 276 277 279 279 279 280 281 281 282 283 284 284 285 286 286 289 291 293 293

295 295 295 298 298

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6.2 6.3

6.4

6.5 6.6

6.7

6.8

6.9

Konditionenpolitik Preiskommunikation Preislagen Wechselwirkungen preispolitischer MaSnahmen Die Optimierung von Sortimentsbreite und Sortimentstiefe Disposition, Nachfrageausschopfung und Kundenbindung 6.3.1 Das „Zeitungsjungen-Problem" 6.3.2 Die optimale Politik der Warendisposition Retourenvermeidung 6.4.1 Retourengriinde und Retourenvermeidung 6.4.2 Die Retourenquote als Optimierungsproblem Verkaufschancen und Kreditrisiken (Die Fair-Isaac-Informa-Methode) Strategische Entwicklung und Struktur des Kundenbestands 6.6.1 Methoden der Kundenbewertung 6.6.2 Die optimale Kundenstruktur Kernkompetenzen und Expansionsstrategien 6.7.1 Kernkompetenzen imVersandhandel 6.7.2 Expansionsstrategien im Versandhandel Die Bewertung von Versandhandelsunternehmen 6.8.1 Bewertungsanlasse und Wachstumsfinanzierung 6.8.2 Substanzbewertung 6.8.3 Ertragsbewertung 6.8.4 Strategische Bewertung Das Optimierungssystem des Versandhandels

Literaturverzeichnis Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Namensregister Sachregister DieAutoren

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298 301 306 307 309 311 311 314 317 318 322 326 330 330 335 340 340 342 346 346 348 349 353 354 357 359 361 363 369

Inhaltsverzeichnis

1 Bedeutung und Formen desVersandhandels

1.1 WasistVersandhandel? Wir beginnen mit einer Definition des Versandhandels. Als Versandhandel wollen wir zunachst jede Form von Einzelhandel mit zum Endverbrauch vorgesehenen Produkten bezeichnen, bei der das gekaufte Produkt vom Kaufer nicht beim Handler mitgenommen oder abgeholt wird, sondern bei der es dem Kaufer in seine Wohnung oder in seine Geschaftsraume zugestellt wird. Zur Definition des Versandhandels gehort weiter, dass der Kaufer das gekaufte Produkt vor dem Kauf nicht korperlich sieht, fuhlt, schmeckt, in seiner Funktion oder in anderer Form korperlich priift. Der Kaufer erhalt vor dem Kauf lediglich eine Abbildung und/oder eine Beschreibung des Produkts, sei es in schriftlicher Form als Katalog oder Werbebrief (Mailing) oder in elektronischer Form als Internetprasentation, CD oder TV-Spot oder auch nur als telefonische Beschreibung. Soweit es sich um Einzelhandel an Privathaushalte (Business to Consumer, kurz: B-to-C) handelt, bedarf es keiner weiteren Erlauterung der Beschrankung auf den Einzelhandel. Es gibt jedoch auch Versandhandel, der sich an Unternehmen richtet (Business to Business, kurz: B-to-B). Als Versandhandel wollen wir jedoch nur diejenigen Handelsformen ansehen, die mit Produkten fur den Endverbrauch der Unternehmen handeln, nicht jedoch mit Handelsware der Unternehmen. Der B-to-B-Versandhandel handelt mit Produkten fur den betrieblichen Bedarf. Handelsunternehmen, die mit Handelsware handeln, die von den Kaufern wiederum verkauft wird, bezeichnen wir als GroEhandel. GroEhandler, die ihre Handelsware dem Kaufer zustellen, sind demnach keine Versandhandler, sondern ZustellgroEhandler. Die Grenzen zwischen B-to-B-Versandhandel und GroShandel sind in der Wahrnehmung der Praxis flieSend. Die Begriffe betrieblicher Bedarf und Handelsware sind in der Praxis nicht immer ganz trennscharf. Es gibt allerdings eine Reihe von B-to-B-Handlern, die sich als Versandhandler bezeichnen, insbesondere weil ihre betrieblichen Prozesse versandhandelstypisch sind.

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Es gibt Handelsformen, bei denen der Kaufer zwar nicht dasselbe Produkt, das er kauft, auch korperlich sieht. Er bekommt jedoch ein Muster zu sehen, das er auch sonstwie korperlich priifen kann. Nach der Kaufentscheidung aufgrund der Priifung des Musters wird ihm dann das Produkt zugestellt. Solche Handelsformen sind Showrooms oder der Vertreter-Versandhandel. Showroom-Konzepte wollen wir nicht als Versandhandel ansehen, da sich der Kaufer zur Priifung des Angebots zum Verkaufer bewegen muss. Beim Vertreter-Versandhandel stellt der Vertreter des Versandhandels in der Regel ein Muster des Produkts in der Wohnung der Kaufers vor. Der Kaufer braucht sich also weder zur Priifung des Angebots noch zum Empfang der Ware zum Verkaufer zu bewegen. Insoweit wollen wir unsere erste Definition zum Versandhandel erweitern. Es gibt Versandhandelsunternehmen, die zwar alien Anforderungen an unsere Definition von Versandhandel geniigen, sich aber zur Werbung ihrer Kunden so genannter Absatzmittler bedienen. Diese Absatzmittler sind Sammelbesteller, stationare Agenturen oder andere Gewerbetreibende, die ihrer Kundschaft neben ihrem Hauptgeschaft auch das Angebot eines Versandhandlers zur Verfiigung stellen. In der Regel erhalt der Endkunde vom Absatzmittler einen Katalog oder ein anderes Werbemittel, und er empfangt die Ware vom Absatzmittler. Wir wollen diese Handelsformen auch als Versandhandel ansehen, wenn auch streng genommen die begriffliche Trennung zum ZustellgroShandel nicht ganz eindeutig ist. Der Absatzmittler ist zwar einerseits der Kunde des Versandhandelsunternehmens, er erhalt aber andererseits in der Regel nur eine Provision fur die Vermittlung eines Geschafts. Der Absatzmittler agiert nicht als Handler mit Warenbestandsrisiko und Kalkulationsfreiheit. In der Praxis gibt es Mischformen. Es gibt Unternehmen, die gleichzeitig B-to-B-Versandhandel und GroShandel sind. Sie vermarkten ihre Sortimente fur unterschiedliche Bedarfstrager auf unterschiedlichen Kanalen. Das gilt auch fur die so genannten Hybrid-Versandhandler. Hybrid-Versandhandler sind Versandhandler, die ihr Sortiment nebeneinander im Katalog (oder in anderen Distanzwerbemitteln wie Internet oder Fernsehen) und in stationaren Ladengeschaften anbieten. Es wird auch der Begriff Distanzhandel verwendet. Distanzhandel ist fur uns ein Synonym fur Versandhandel. Begriffe wie Online-Shopping, Online-Versandhandel oder E-Commerce (im Sinne von Warenhandel), aber auch TVShopping, Katalogversandhandel und andere sind im Sinne unserer Definition Unterformen des Versandhandels, die im nachsten Abschnitt naher betrachtet werden.

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Der Vertrieb der Publikumsverlage von Zeitschriftenabonnements konnte auch als Versandhandel angesehen werden. Der Kaufer braucht sich weder zur Prufung des Angebots noch zum Empfang der Ware aus seiner Wohnung heraus zu bewegen. Auch weisen die betrieblichen Prozesse bei Marketing, Werbung, Versand oder Inkasso starke Ahnlichkeiten mit dem Versandhandel auf. Die Zeitschriftenverlage werden allerdings in der Praxis nicht als Versandhandler betrachtet, da sie eigene Produkte direkt vertreiben und nicht Handelsware durchhandeln. Auch die von den Verlagen bisweilen eingesetzten Vertriebsfirmen („Werbender Buch- und Zeitschriftenhandel", WBZ) werden nicht als Versandhandler angesehen, da sie keine Handler sondern Provisionsvertreter sind. Die Grenzen sind hier zugegebenermafien flieSend. Aber Definitionen sind bekanntlich auch Konventionen. Versandhandel ist, wie wir ihn definiert haben, eine Form des Einzelhandels. Der iibrige Einzelhandel ist in der Abgrenzung dazu der stationare Einzelhandel und der ambulante Handel (vgl. Abbildung 1). Wichtige Formen des stationaren Einzelhandels sind Warenhauser, GroSmarkte, Fachmarkte, Fachgeschafte, Lebensmittel-Ketten, Kfz-Handel, Marktbeschicker u. a. m. Der ambulante Handel, dessen Bedeutung stark zuriickgegangen ist, unterscheidet sich vom Vertreterversandhandel dadurch, dass er nicht nur ein Muster mit sich fiihrt, sondern die zu verkaufenden Produkte dem Kunden gleich aushandigt. Auch sind hier, wie wir sehen werden, die Grenzen flieEend.

GroBhandel

stationarer Einzelhandel

Einzelhandel

Versandhandel

Handel

!

ambulanter Handel

Abbildung 1: Ubersicht der Handelsformen

Die unterschiedlichen Typen von Versandhandelsunternehmen (vgl. Kapitel 1.2 Versandhandelstypen) haben uniibersehbare Gemeinsamkeiten in den betrieblichen Prozessen, durch die sie sich vom stationaren Einzelhandel unterscheiden. Die betrieblichen Prozesse werden damit auch zum Definitionselement von Versandhandel. Was ist Versandhandel?

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Es sind im Versandhandel zwei Hauptprozesse zu unterscheiden, die gewissermaSen aufeinander zulaufen, der eine von der Unternehmensseite und der andere von der Kundenseite. Diese beiden Prozesse, der Prozess der Angebotsbereitstellung bzw. der Prozess der Geschaftsabwicklung, werden in Kapitel 2 bzw. 4 im Einzelnen dargestellt. Der Prozess der Angebotsbereitstellung beginnt mit der Sortimentsentscheidung, die von der strategischen Positionierung im Markt bis zur Entscheidung fur den einzelnen Artikel mit seinem Preis reicht. Diese Entscheidungen gibt es im stationaren Einzelhandel selbstverstandlich auch. Da im Versandhandel der potenzielle Kunde im Prinzip namentlich bekannt ist, hangen diese Entscheidungen jedoch in einem interaktiven Prozess wesentlich von den Entscheidungen im Marketing ab: Welcher potenzielle Kunde soil mit welchen Angeboten ausgestattet werden? Die Sortimentsentscheidung miindet einerseits in die Entscheidung liber die Warendisposition, also in die Entscheidung iiber die optimale Lagerbevorratung. Dieser Prozess unterscheidet sich vollig von dem, was hier im stationaren Einzelhandel erforderlich ist. Wahrend der Kunde im stationaren Einzelhandel beim Betreten des Ladengeschafts zwar in der Regel eine Sortimentserwartung, aber nicht immer eine Erwartung hinsichtlich ganz bestimmter Artikel hat und meist auf vorhandene, ahnliche Ersatzartikel ausweichen kann, erwartet der Versandhandelskunde, genau das zu erhalten, was ihm im Distanzwerbemittel angeboten wird. Die Warendisposition muss im Versandhandel also viel praziser sein und stellt einen ungemein komplexeren Prozess als im stationaren Einzelhandel dar, und er findet wiederum in einer Interaktion mit den MaSnahmen des Marketings statt. Die Sortimentsentscheidung fliefit andererseits in die Entwicklung der Distanzwerbemittel ein. Das ist im Wesentlichen der Katalog, aber auch der Internet-Auftritt oder der TV-Spot. Die Sortimentsentscheidung wird im Angebotstrager umgesetzt. Die Entwicklung eines bestellfahigen und verkauferisch erfolgreichen Katalogs, der sowohl den Intentionen des Einkaufs als auch denen des Marketings entspricht, ist ein eigener Teilprozess, der dem stationaren Einzelhandel vollig fremd ist. Das Marketing muss im weiteren Verlauf des Prozesses Entscheidungen iiber den Einsatz der Distanzwerbemittel fallen: Wer bekommt welches Angebot? Wo sind Bestellwahrscheinlichkeit und Zahlungswahrscheinlichkeit (!) am hochsten? Die Investition in welche Kunden verspricht den hochsten Ertrag? Das sind alles Fragestellungen des Direktmarketings, die es so im stationaren Einzelhandel nicht gibt. Sicherlich versucht man mittlerweile, auch im statio-

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

naren Einzelhandel Kunden mit Methoden des Direktmarketings zu aktivieren und zu binden, etwa mit Kundenkarten und Bonusprogrammen. Der wesentliche Unterschied ist jedoch, dass sich im stationaren Einzelhandel das Angebot durch die Offnung des Ladengeschafts im Prinzip an jedermann richtet. Im Versandhandel richtet sich das Angebot des Direktmarketings an bestimmte namentlich bekannte Adressaten. Das bedingt besondere betriebliche Prozesse. Wenn das Angebot des Versandhandels an bestimmte Empfanger herausgegangen ist, setzt der zweite Hauptprozess, der Prozess der Geschaftsabwickhmg, auf, der sich von der Geschaftsabwicklung im stationaren Einzelhandel vollig unterscheidet. Die Geschaftsabwicklung beginnt mit der Bestellannahme durch die verschiedenen Medien: Telefon, Internet, E-Mail, Telefax, Brief oder Vertreter. Aus dieser Sicht zeigt sich, dass der Online-Versand nicht etwa eine neue Handelsform ist; es handelt sich lediglich um eine weitere Form der Bestellannahme und der Warenprasentation. Nach Eingang der Bestellung muss abgeglichen werden, ob die Ware lieferbar ist, eine dem stationaren Einzelhandel im Prinzip unbekannte Fragestellung. Es folgen Fakturierung, Kommissionierung der Sendung im Lager und der Versand. Damit verbunden sind die bereits erwahnte Disposition und der gesamte logistische Prozess. Ein Sonderprozess sind die Retouren. Auch im stationaren Einzelhandel gibt es den „Umtausch". Da der Kaufer die Ware jedoch vor dem Kauf nicht korperlich priifen kann und nur Abbildung und Beschreibung erhalt, spielen die Retouren im Versandhandel eine bisweilen entscheidende Rolle fur den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Das Thema Retouren stellt ein Optimierungsproblem eigener Art dar. Hat der Kunde die Ware bestellt, erhalten und behalt er sie auch, sind schliefSlich die Probleme des Inkassos zu losen. Dabei geht es neben der rationellen Abwicklung um die Optimierung des Ausfallrisikos. Hier besteht wieder ein enger Bezug zu den Marketingentscheidungen: Wem unterbreite ich ein Angebot und wessen Bestellung fiihre ich dann tatsachlich aus? Im stationaren Einzelhandel ist das einfacher: Wer bezahlt, erhalt die Ware. In Kapitel 2 und 4 werden die beiden Hauptprozesse des Versandhandelsbetriebs dargestellt. Es wird im Wesentlichen eine Darstellung der einzelnen Prozesselemente geboten. Es folgt dann in Kapitel 5 mit den Querschnittsthemen IT, Aufbauorganisation, Outsourcing und Recht eine auf Kapitel 2 und 4 aufbauende Vertiefung und Erganzung einzelner Aspekte des betrieblichen Prozesses. In Kapitel 6 wird der Gesamtprozess noch einmal im Uberblick mit besonderer Beriicksichtigung der Interdependenzen, Rikkkopplungen und iibergeordneten Optimierungsprobleme dargestellt.

Was ist Versandhandel?

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1.2 Versandhandelstypen Eine Typisierung des Versandhandels kann nach vielen Kriterien vorgenommen werden. Eine Uberschneidung verschiedener Kriterien macht dann die Darstellung leicht uniibersichtlich. Wir richten uns in einer Typisierung nach den gangigen Sichtweisen der Praktiker und nehmen dafiir moglicherweise Kompromisse in der Systematik in Kauf. Eine Typisierung des Versandhandels gehort unbedingt in eine Darstellung des Versandhandelsmanagements, denn sie zeigt Alternativen in der Gestaltung eines Versandhandelsunternehmens auf. Zunachst ist nach der Hauptzielgruppe zu unterscheiden: private Haushalte (B-to-C) oder Unternehmen (B-to-B). Die Angaben in Kapitel 1.2 zu Umsatzen und Artikelanzahlen einzelner Unternehmen sind dem „ Verzeichnis des Versandhandels 2005" (FID-Verlag) entnommen, soweit sie dort aufgefiihrt werden.

1.2.1 Business-to-Consumer (B-to-C)-Versandhandel Im Versandhandel, der sein Angebot an private Haushalte richtet (B-to-C-Versandhandel), werden zunachst die so genannten Sortimentsversender von den Spezialversendern unterschieden. Da Versender in aller Regel Katalogversender sind, werden in Abweichungen von dieser Systematik Versender mit einer anderen Art der Warenprasentation noch gesondert unterschieden, wie TVShopping, Vertreter-Versandhandel, Hybrid-Versender oder Online-Shops. Sortimentsversandhandel

Als Sortimentsversender werden Versandhandelsunternehmen bezeichnet, die ein warenhausartiges Vollsortiment fiihren. Diese Unternehmen richten sich im Prinzip an die gesamte Familie, an Kunden aller Generationen sowie an Manner und Frauen. Das Sortiment ist so breit, dass im Prinzip der gesamte „Warenhausbedarf" gedeckt werden kann. Sortimentsversender richten sich dabei nicht unbedingt an jedermann; sie haben sehr wohl bestimmte Zielgruppen im Auge, die durch eine bestimmte soziale Schichtung, ein bestimmtes Einkommensniveau oder einen besonderen Lifestyle gekennzeichnet sind. Fur Sortimentsversender ist auch die Bezeichnung Universalversender gebrauchlich. Der ursprunglich breite Anspruch tritt zunehmend mehr hinter eine Zielgruppensegmentierung mit Spezialsortimenten und gezielt versendeten Spezialka-

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

talogen zuriick. Auch gibt es in den umfangreichen Hauptkatalogen der Sortimentsversender klare Angebotsschwerpunkte. Deutsche Sortimentsversender sind:

Tabelle 1:

Sortimentsversandhandel

Die Sortimentsversender, insbesondere die groSen Organisationen Otto/ Schwab sowie Quelle/Neckermann, unterhalten grol?e Sammelbestellerorganisationen. Sammelbesteller verbreiten die Kataloge in ihrem Umfeld wie Nachbarschaft, Freundeskreis oder Betrieb und nehmen dann von den so genannten Mitbestellern Bestellungen auf. Die Sammelbesteller iibernehmen auch die Endverteilung der Ware und das Inkasso. Der Sortimentsversandhandel ist wegen der Breite seines Angebots offensichtlich besser als der Spezialversandhandel fur den Betrieb einer Sammelbestellorganisation geeignet. Die Sortimentsversender entwickeln Spezialkataloge fur Teilzielgruppen, die sie identifizieren. Sie halten im Portfolio der Unternehmensgruppe auch Spezialversender. In dieser Rolle sind sie dann Spezialversender und nicht Sortimentsversender. Spezialversandhandel Der deutsche Spezialversandhandel ist sehr vielfaltig in seinem Angebot. Man kann sagen, es gibt nichts, was es nicht gibt. Darin liegt ja auch eine Rechtfertigung des Spezialversandhandels gegenuber dem stationaren Einzelhandel. Der Spezialversandhandel unterbreitet Angebote fur so spezielle Zielgruppen, dass sie nicht in geniigender Breite vorkommen, als dass ein stationarer Einzelhandler mit notwendig lokaler Bedeutung davon existieren konnte. In BalVersandhandelstypen

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lungszentren sind jedoch aus dem Versandhandel kommende bedeutende stationare Fachhandelskonzepte entstanden (vgl. Abschnitt Hybrid-Versender in Kapitel 1.2.1). Es ist unmoglich, hier einen vollstandigen Uberblick uber den deutschen Spezialversandhandel zu geben. Die genannten Unternehmen in jeder Teilgruppe werden nur als Beispiele angefiihrt. Eine vollstandige Ubersicht aller bekannten deutschen Versandhandelsunternehmen findet sich im Versandhandelsverzeichnis. Wir gehen dennoch auf die unterschiedlichen Sortimente im Spezialversandhandel etwas detaillierter ein, da wir dadurch erste Erkenntnisse fiir strategische Entscheidungen im Prozess der Angebotsbereitstellung ablesen konnen. Wichtige Teilgruppen der Spezialversender sind aus unserer Sicht Versender fiir folgende Sortimente: Mode/Textilien Die Textilversender stellen die grofiten Spezialversender, darunter bedeutende Versender, die zu den Konzernen Quelle/Neckermann oder Otto/Schwab gehoren. Diese Spezialversender haben spezielle Zielgruppen im Auge und unterbreiten im Gegensatz zu den Sortimentsversendern (ihren Muttergesellschaften) ein praziser ausgerichtetes Angebot an Qualitat und Preis. Als wichtige Vertreter sind zu nennen:

Tabelle 2:

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Mode- und Textllversandhandel

Bedeutung und Formen des Versandhandels

Die Modeversender treffen zum Teil spezielle Zielgruppen, die sich in ihren speziellen Bediirfnissen vom stationaren Textileinzelhandel nicht geniigend beriicksichtigt fuhlen. Bei berufstatigen Zielgruppen spielt sicherlich auch der Wegfall der Beschrankungen durch die Ladenoffnungszeiten eine Rolle. In jedem Fall miissen die Modeversender beim Kaufer den Eindruck erwecken, dass sie etwas Besonderes bieten, das so woanders nicht oder nicht so leicht zu bekommen ist.

Mobel und Inneneinrichtungen Die grofien Sortimentsversender bedienen ihre Kunden ebenfalls mit Ausziigen aus dem Hauptkatalog und zusatzlichen Sortimenten aus dem Mobelund Inneneinrichtungsbereich. Quelle bietet Spezialkataloge fur Mobel, Einbaukikhen, Einbaugerate, Leuchten und Sauna/Solarium an. Otto bietet sogar noch mehr Differenzierung, mit Katalogen fur Junges Wohnen, Wohnkultur auf gehobenem Niveau, preiswerte Wohnideen, Wohntrend fiir modernes Leben, Kiiche & Co., Technik Update und Heimwerkerbedarf (obi@otto-Katalog). Erfahrungsgemal? ist der Spezialversandhandel mit Mobeln umsatzmafiig nicht so bedeutend wie Mode und Textilien, was sich aus der geringeren Bestellfrequenz ergibt und dem starker ausgepragten Kundenwunsch, die Ware vor dem Kauf zu sehen und auszuprobieren. Neben den Sortimentsversendern gibt es noch Spezialisten, die insbesondere im dekorativen Bereich tatig sind. Neuerdings ist IKEA auch verstarkt im Versand aktiv. Das schwedische Mobelhaus hat angekiindigt, die geografisch weif?en Flecken nicht mehr ausschlieSlich mit der Flachenexpansion zu beseitigen, sondern verstarkt auf den Versand zu setzen.

Tabelle 3: Versender von Mobeln und Inneneinrichtungen

Versandhandelstypen

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Sport und Hobbybedarf Die Vielfalt der Sportarten und Hobbys ist so groS, dass hier nur ein Eindruck von der sich daraus ergebenden Vielfalt von Spezialversendern gegeben werden kann.

Tabelle 4: Versender von Sport- und Hobby-Bedarf

Diese Spezialisten zeichnen sich durch eine erhebliche Sortimentstiefe aus, die von einem stationaren Handler wegen der beschrankten Verkaufsflache nie erreicht werden kann. Das Versandhandelsverzeichnis nennt im Bereich der Sport- und Hobbyversender insgesamt 300 Namen. Technische Artikel Technische Artikel, elektronische Bauteile oder Werkzeug konnen sicherlich auch in die Kategorie Hobby eingeordnet werden. Die beiden groSten Versender auf diesem Gebiet (siehe Tabelle 5) bieten eine Sortimentsbreite und eine Vielfalt der Anwendungsmoglichkeiten, die von keinem stationaren Handler erreicht wird. Das Versandhandelsverzeichnis nennt in den Kategorien Bau und Heimwerkerbedarf/Hobby sowie EDV/Hard- und Software/Telekommunikation insgesamt circa 500 Versandhandler, unter letzteren sicherlich einige B-to-B-Versender.

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Tabelle 5: Versender von technischen Artikeln

Sammelartikel Eine besondere Gruppe unter den Spezialversandhandlern sind die Versender fur Sammelartikel. Als wichtige Versender sind hier zu nennen:

Tabelle 6: Versender von Sammelartikeln

Die Versender von Sammelartikeln (Collectibles) entwickeln sammelbare Produktserien. Bei den versandten Produkten handelt es sich haufig um erst vom Versender entwickelte Sammelprodukte. Soweit allgemein verbreitete Sammelprodukte wie Munzen oder Briefmarken versendet werden, entwickelt der Versender eine eigene Sammelserie. Es wird dann dem Sammler vorgegeben, was und in welcher Reihenfolge er sammelt. Der Versand von Sammelartikeln kann ein sehr profitables Geschaft sein, da der einmal mit hohen Kosten gewonnene Neukunde aus der Sicht des Versenders eine lange „Haltbarkeit" aufweist. Die Versender von Sammelartikeln unterliegen starken konjunkturellen Schwankungen, zumal sie den Bedarf fur ihre Produkte meist erst wecken mussen. Die Rekordzahlen aus der ersten Halfte der 90er Jahre des

Versandhandelstypen

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20. Jahrhunderts sind bisher in der Regel nicht wieder erreicht worden. Immerhin nennt das Versandhandelsverzeichnis in dieser Kategorie circa 100 Versender.

Bucher und andere Medien Bucher sind ein wichtiges Versandhandelsthema. Die traditionell groEten Buchversender sind die Buchclubs. Mittlerweile sind alle Buchclubs bis auf die vergleichsweise kleine Buchergilde Gutenberg im Bertelsmann-Konzern konzentriert. Die Buchclubs vertreiben mit einer gewissen Zeitverzogerung nach dem ersten Erscheinungstermin eigene Lizenzausgaben von im stationaren Buchhandel erhaltlichen Biichern zu Preisen bis zu einem Drittel unter den durch den Verlag gebundenen Preisen. Die Buchclubs konnen insoweit von der Buchpreisbindung abweichen. Die Kunden (Buchclubmitglieder) verpflichten sich, im Quartal fur einen Mindestbetrag Bucher oder auch andere Medienprodukte abzunehmen. Die Belieferung eines geschlossenen Kundenkreises halt auch als Rechtfertigung fiir die Abweichung von der Buchpreisbindung her. Wenn das Buchclubmitglied in einem Quartal nichts aus eigenem Antrieb kauft, erhalt es den so genannten Hauptvorschlagsband unaufgefordert zugesandt, den es allerdings umtauschen kann. Selbstverstandlich ist der Buchclub bestrebt, seinen Mitgliedern haufiger als einmal im Quartal etwas zu verkaufen. Da die Bereitschaft des Publikums, sich in dieser Weise zum quartalsweisen Kauf zu verpflichten, in den letzten Jahren stark abgenommen hat, stehen die Buchclubs vor der Herausforderung, ihre Konzepte den neuen Gegebenheiten anzupassen. Eine Reaktion darauf ist einfach ein Versand fiir Medienprodukte ohne Abnahmeverpflichtung. Hier ist als ein hochst erfolgreicher Wettbewerber des Bertelsmann-Buchclubs der Weltbild Verlag zu nennen. Weltbild bietet ein Katalogprogramm mit einem hohen Anteil eigener Verlagsausgaben, die zu selbst gesetzten Preisen angeboten werden konnen, und erreicht damit einen Umsatz von liber 600 Millionen € (2003). Ein weiterer Sonderfall ist der Verlag Das Beste/Reader's Digest, dessen Kernkonzept darin besteht, den Lesern der Zeitschrift Das Beste/Reader's Digest weitere Medienprodukte wie Bucher, Tontrager oder Videos/DVDs anzubieten. Hier wird der Kundenbindungseffekt durch das Zeitschriftenabonnement ausgenutzt. Mit der Verbreitung des Internets hat ein wahrer Siegeszug von Online-Versendern fur Bucher und Medien eingesetzt. Der bekannteste unter ihnen ist Amazon, der weltweit 49 Millionen Kunden zahlt und fiir 2005 einen Umsatz

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

von 8,67 Milliarden US-$ angestrebt hat. Die angestammten groSen Buchversender sind mit eigenen Projekten auf den Markt getreten, so Bertelsmann mit Buch.de und Weltbild im Joint Venture mit anderen mit Booxtra. Biicher und CDs gehoren zu den im Internet am haufigsten nachgefragten Produkten. Der Online-Buchhandel, der seinen Umsatz im Jahr 2003 laut Borsenverein um 10 % auf 350 bis 400 Millionen € steigerte und damit ca. 4,5 % des Gesamtumsatzes mit buchhandlerischen Produkten ausmachte, wird nach Schatzungen des Branchenverbandes weiter wachsen; der Anteil der iiber das Internet verkauften Biicher soil demnach in zwei bis drei Jahren auf 10 % anwachsen. Eine wichtige Gruppe der Buchversender sind die so genannten Modernen Antiquariate. Das Moderne Antiquariat vertreibt Restauflagen oder Reprints von Buchern, die vom Verlag aus der Preisbindung herausgenommen worden sind, da sich der Produktzyklus des Titels dem Ende zuneigt. Dieses ist ein klassisches Versandhandelsthema, um das sich der stationare Buchhandel naturgemal? nicht kummert. Wichtige Versender sind hier z. B. Zweitausendeins, Rhenania, Frolich & Kaufmann oder Mailorder Kaiser. Die letzten drei gehoren im Ubrigen zur Ganske Verlagsgruppe. Im modernen Antiquariat wird auch ein beachtlicher Anteil an erotischer Literatur verkauft. Das Versandhandelsverzeichnis nennt insgesamt circa 800 Versender fur Biicher und Medien.

Tabelle 7: Versender von Buchern und Medien

Erotik

Die bekanntesten Versender fur Erotik-Artikel sind die beiden, aus verschiedenen Zweigen der Familien Rothermund entstandenen Versender Beate Uhse und Orion, beide urspriinglich in Flensburg ansassig. Die Mehrheitsanteile Versandhandelstypen

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der Beate Uhse AG sind mittlerweile von der GEZED-Gruppe, NL, ubernommen worden. Offensichtliches Motiv fur den Kauf von Erotik-Artikeln im Versandhandel ist die Anonymitat, die im stationaren Einzelhandel nicht gewahrleistet ist. Das Versandhandelsverzeichnis nennt insgesamt circa 30 Versender fur Erotik-Artikel.

Tabelle 8:

Erotlkversender

Wein, Tee, Lebens- und Genussmittel Wein, Tee, Zigarren, Delikatessen und dergleichen sind offensichtlich auch versandhandelsgeeignete Artikel. Das Versandhandelsverzeichnis nennt hier circa 600 Unternehmen, darunter alleine circa 300 Wein versender. Insbesondere bei Wein, aber auch bei Tee gibt es eine hohe Vielfalt an Sorten und eine gewisse Intransparenz des Gesamtangebotes. Das Bediirfnis, etwas Besonderes, Exklusives zu erwerben, kann durch den Versandhandel befriedigt werden. Es kommt hierbei in besonderer Weise auf die Produktbeschreibung, auf die „Story" an, die der Versender vermitteln muss. In den letzten Jahren sind besonders viele Versender fur okologische Lebensmittel entstanden, die das eingeschrankte stationare Angebot erweitern. Ein weiterer Aspekt der Versandhandelseignung ist, dass es sich um Verbrauchsartikel mit einer hohen Wiederverkaufsfrequenz handelt; der einmal geworbene Kunde verspricht bei Zufriedenheit eine langere Haltbarkeit. Wichtige Anbieter in diesem Segment sind:

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Tabelle 9: Versender von Wein, Tee, Lebens- und Genussmitteln

Gesundheit, Kosmetik Ein weiteres Segment des Spezialversandhandels, das mit dem Angebot von Verbrauchsartikeln auch auf die Haltbarkeit einmal gewonnener Kunden setzt, sind die Versender von Gesundheitsprodukten und Kosmetik. Gesundheitsprodukte sind Nahrungserganzungsmittel wie Mineralien oder Vitamine oder auch Nahrungsmittel, die eine gesunde Ernahrung ermoglichen. Hinzu kommen rezeptfreie Arzneimittel, so genannte OTC-Produkte. Wegen des gesetzlichen Verbots eines Heilversprechens befinden sich diese Versender mit ihrer Werbeaussage haufig auf einer schwierigen Gratwanderung. Bei den Versendern von Kosmetika wird haufig auf die Naturbelassenheit und die besondere Vertraglichkeit der Produkte abgehoben. Insofern besteht bisweilen eine gewisse Nahe zu den Gesundheitsprodukten. Beim Kaufer wird wiederum der Eindruck erweckt, er konne hier etwas Besonderes kaufen, was er im stationaren Einzelhandel nicht erhalte.

Tabelle 10: Versender von Gesundheitsprodukten und Kosmetik

Versandhandelstypen

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Okologische Versender Es gibt eine Reihe okologisch orientierter Versender, die ganz unterschiedliche Warengruppen anbieten. Den angebotenen Produkten ist gemeinsam, dass sie bestimmten Anforderungen an die Herstellung genugen. Diese Spezialversender heben sich dadurch vom stationaren Einzelhandel ab, dass sie hier eben keine industrielle Massenware vertreiben, sondern dem Kaufer wiederum etwas bieten, was er sonst so nicht bekommt. Es ist allerdings einzuraumen, dass die „Oko-Welle" stark abgeflaut ist und dadurch einige namhafte Versender auf diesem Gebiet in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind. Als wichtige Unternehmen konnen hier genannt werden:

Tabelle 11: Okologische Versender

Geschenke, „Neuheiten", Schmuck und Spielzeug Bei Geschenken sind die Kaufer wiederum haufig bestrebt, etwas Besonderes und Exklusives zu finden. Deshalb ist auch diese Warengruppe ein geeignetes Betatigungsfeld fur den Spezialversandhandel. Hierzu kommen die Versender von so genannten Neuheiten, allerlei praktischen Erfindungen fur Haushalt, Garten etc., die zum Teil auch als Geschenke dienen, sowie Schmuck- und Spielzeugversender. Wichtige Versender in diesem Bereich sind:

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Tabelle 12: Geschenke, Neuheiten, Schmuck und Spielwaren

TV-Shopping Ein weiterer Typ des Versandhandels sind Verkaufe iiber das Medium Fernsehen. Hierbei unterscheidet man grob drei Formate: Teleshopping DRTV (Direct-Response-Television)-Spots Infomercials Beim Teleshopping handelt es sich meistens um 24-Stunden-Verkaufskanale, die laut Definition des Rundfunkstaatsvertrages nicht als Werbung eingestuft werden, sondern eher als Spezialformat. Daher gilt flir diese Sender auch keine zeitliche Limitierung von Verkaufsveranstaltungen. Diese Teleshopping-Sender wie Home Shopping Europe (HSE) oder Quality and Value for Customers (QVC) sind weder als Sortimentsversender noch als Spezialversender einzuordnen, sondern passen sich mit dem Sortiment sehr schnell der Sendezeit, dem jeweiligen Zuschauercluster und der aktuellen Abkaufssituation an. Bei DRTV-Spots redet man von Ultra-kurz-Formaten, die 15, 30, maximal 60 Sekunden dauern. Ein Spot-Anbieter belegt Sendezeiten bei unterschiedlichen Fernsehsendern und prasentiert seine Produkte im bewegten Bild. Die Bestellmoglichkeit erfolgt dann iiber eine ins Bild eingeblendete Telefonnummer oder Internet-Adresse, die zum sofortigen Antworten provozieren sollen - „Direct Response". In einer Presentation wird in der Regel nur ein Artikel vorgestellt. Ziel kann nicht nur der reine Warenabverkauf sein, sondern es

Versandhandelstypen

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geht audi um Image-Aufbau und/oder Adressengenerierung. Fur Anbieter so genannter „ Collectibles" wie Gode, Time Life etc. bietet DRTV die ideale Plattform. Last, not least handelt es sich bei Infomercials um, wie der Name schon sagt, eine starke Mischung aus Information und kommerziellem Hardselling. Dieses stark amerikanisch gepragte Format erweckt den Eindruck von Informationsvermittlung, meistens auf Basis einer ausgiebigen Demonstration. In Formaten zwischen 20 und 30 Minuten werden, oft unter Einbezug eines scheinbar objektiven Studiopublikums, erklarungsbediirftige Produkte vorgefuhrt. Typische Vertreter dieses Formates sind z. B. Best Direct oder der Teleshop, die Produkte wie Kiichenutensilien, Fitnessartikel etc. anbieten. Ein TV-Shop bietet zwar Produkte aus sehr unterschiedlichen Warengruppen an. Er hat dabei aber keineswegs das Bestreben, ein abgerundetes kompetentes Sortiment darzustellen. Es werden lediglich diejenigen Artikel angeboten, die gerade in einem Spot beworben worden sind. Unter Berucksichtigung einer gewissen Nachlaufzeit der Bestellungen umfasst das aktive Sortiment eines TV-Shops wie etwa QVC nur circa 300 Artikel. Ein TV-Shop konzentriert sich zwar auf gewisse typische Warengruppen; er wird damit jedoch noch kein Spezialversandhandel. Als Ausnahme kann man hier vielleicht Time Life ansehen. Der TV-Shop setzt auf den spontanen Gelegenheitskauf, auf die eingangige Produktprasentation durch das Fernsehen oder auf das Schnappchen. Typische Sortimente eines TV-Shops sind Medien (Tontrager, Video/DVD), Schmuck, Do-it-yourself und Sport/Wellness. Die bedeutendsten Anbieter auf dem deutschen Markt sind:

Tabelle 13: TV-Shopping-Versender

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Online-Shopping Unter Online-Shopping versteht man aus heutiger Sicht den Vertrieb von Waren und Dienstleistungen iiber das Internet. Dabei differenziert man beim Internet-Shopping zwischen dem „Marktplatz" Internet und dem Internet als komplementarem „Vertriebsweg". Der Marktplatz stellt eine ganzheitliche Shoppingplattform dar, unter der ein Versender angesehen wird, der seine Kunden im Wesentlichen iiber das Internet akquiriert, im Internet die Ware prasentiert und die Bestellung dann online entgegennimmt. Wegen des kostengiinstigen Prozesses (kein Katalogversand, automatisierte Bestellabwicklung) sind grofie Hoffnungen in diese Handelsform gesetzt worden. Die mit Aufkommen der New Economy Ende der 90er Jahre in die Entwicklung von Online-Shops gesetzten Erwartungen haben sich jedoch bei weitem nicht erfiillt. Es hat zwar jede Menge Versuche auf diesem Gebiet gegeben - sie sind aber nahezu allesamt gescheitert. Als nennenswerte reine Online-Shops sind nur die bereits benannten Bucher- und Medienversender iibrig geblieben sowie die Auktionshauser, alien voran Ebay; und auch hier ist die Marktbereinigung noch nicht abgeschlossen. Neben allfalligen Unzulanglichkeiten im Einzelfall sind im Wesentlichen zwei Griinde fur die Entwicklung zu nennen. Erstens gilt wohl nach wie vor, dass der Traffic auf einer Website nicht in erster Linie aus dem Internet erzeugt wird, sondern erst von anderen Medien ins Netz gelenkt wird. So hat es zunachst als reine Online-Shops konzipierte Versender gegeben, die dann mit erheblichem Aufwand an schriftlicher Werbung den erforderlichen Traffic, das heifit Bestellvolumen, auf ihrer Website erzeugt haben. Dadurch ist natiirlich die ursprungliche Kalkulation des Projekts gesprengt worden. Zweitens ist der Gesamtprozess des Versandhandelsbetriebs so komplex, dass mogliche Vorteile aus der Internet-Nutzung die Nachteile bei der suboptimalen Gestaltung anderer Teile des betrieblichen Prozesses nicht ausgeglichen haben. Kurzum, die neuen Online-Shops waren gegeniiber angestammten, hoch professionell gefuhrten Versendern nicht wettbewerbsfahig. Wie bereits oben erwahnt, wird das Internet, gerade von grofien Versendern, als zusatzlicher Vertriebsweg genutzt. Die Definition des Vertriebswegs ist einfach: Produkt in einem anderen Vertriebskanal sehen (Print, stationar etc.), online per Eingabe von Bestellnummer und/oder Artikelbezeichnung ordern. Marktplatzangebote von GroSversendern sind durchaus auch als OnlineShops zu betrachten, wenn sie medien- und zielgruppenadaquater GesetzmaEigkeit gehorchen; gerade weil diese Marktplatzangebote ein zusatzliches Klientel ansprechen sollen, das unter normalen, alltaglichen Umstanden nicht

Versandhandelstypen

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per Katalog kaufen wiirde. Nahezu jeder Versender hat heute eine Website mit seinen Warenangeboten und einer Bestellmoglichkeit als Erganzung zu den klassischen Vertriebskanalen. Einige Versender sind hier weiter als andere; das hangt einerseits von der Affinitat der Zielgruppe zu dem neuen Medium Internet ab, andererseits aber auch von der Integration des Internets in die Cross-Promotions-Aktivitaten eines Versenders. So hat der Technik-Versender Conrad zwar mit fast 20 % einen hohen Anteil an Bestellungen aus dem Internet, aber groSe Hauser wie Quelle schaffen durch eine homogene Integrationsstrategie auch einen Nachfrageanteil per Internet von deutlich iiber 10 %. Und das, obwohl man der Kernzielgruppe traditioneller Versender auf den ersten Blick keine hohe Internet-Affinitat unterstellen wiirde. Die Bedeutung des Vertriebskanals Internet wird eher zunehmen, besonders in dem Mafie, wie jiingere Zielgruppen, die mit dem Internet groS geworden sind und eine Affinitat dazu haben, in den Markt eintreten. Der Vollstandigkeit halber sollen auch Shopping-Portale erwahnt werden, vor ein paar Jahren hoffnungsvoll auch als Shopping-Malls lanciert. Diese Malls biindeln unter ihrem Markendach eine gewisse Anzahl von Shops, sei es von dem gleichen Konzern (Sbopping24 von Otto), sei es als neutrale Plattform im Sinne eines virtuellen Einkaufszentrums (eVita von Lycos Europe). Solche Portale machen nur dann Sinn, wenn sie unter einem starken Markendach weniger bekannte Sub-Shops promoten, die sonst keine oder weniger Chancen hatten, ihren Bekanntheitsgrad am Markt zu erhohen. Starke Marken unter einem weniger bekannten Markendach zu positionieren macht weniger Sinn, denn erstens wird dem Verbraucher eher die Internetadresse des etablierten Sub-Shops einfallen als die der Mall, und zweitens konnten sich mehrere Anbieter unter einem Dach sogar eher kontraproduktiv auf den Geschaftsabschluss auswirken. Denn wenn ein Kunde unter einem virtuellen Dach z. B. seine Schuhe bei Anbieter x, seine Hose bei Anbieter y und seine Biicher bei Anbieter z bestellen mochte, so ist erst einmal die Convenience fur ihn nicht erkennbar. Er muss namlich dreimal den Bestellprozess durchfiihren, das heiSt dreimal Adresse eingeben, Zahlungswunsch erfassen lassen etc. Abgesehen davon bekommt der Kunde auch nicht alles einem Guss nach Hause geschickt: Mehrere Pakete, mehrere Rechnungen, mehrere Serviceadressen und gegebenenfalls mehrere Riicksendeadresse fur Retouren sind moglich.

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Hybrid-Versender Hybrid-Versender sind Versender, die das gleiche Sortiment im Versandhandel und im stationaren Einzelhandel verkaufen. Hybrid-Versender gibt es nur als Spezialversender, wenngleich noch in den 70er Jahren der Sortimentsversender Quelle einmal Quelle-Kaufhauser betrieben hat. Haufig ist der stationare Einzelhandel der Ursprung des Geschafts, der dann um den deutlich komplexeren und riskanteren Versandhandel erganzt wurde. Bekannte Beispiele fur Hybrid-Versender sind:

Tabelle 14: Hybrid-Versender

Die Vorteile einer Hybrid-Konzeption liegen in der gegenseitigen Kundenwerbung und -aktivierung beider Handelsformen und in der Moglichkeit, liber die stationaren Filialen Warenuberhange abzuschleusen. Daflir gibt es besondere Anforderungen an die Logistik sowie moglicherweise Koordinationsund Reaktionsprobleme bei der Preisfestsetzung (Naheres dazu in Kapitel 2.4.6 Stationare Ladengeschdfte).

Vertreter-Versandhandel (Direktvertrieb) Der Vertreter-Versandhandel oder Direktvertrieb prasentiert seine Waren durch Vertreter in der Wohnung des Kaufers. Der Vertreter zeigt Muster und gibt dazu Erklarungen ab. Er nimmt die Bestellung auf, die dann vom Versender ausgefiihrt wird. Auf die besonderen Fragestellungen des Vertreter-Versandhandels in der Rekrutierung und Fiihrung der AuEendienstmitarbeiter, der rechtlichen Gestaltung der Verhaltnisse zwischen Versender und Vertreter, die auch angestellt sein konnen, und auf die Besonderheiten des Verkaufs soil an dieser Stelle

Versandhandelstypen

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noch nicht eingegangen werden. Es geht lediglich um eine Typisierung der Versandhandelsunternehmen. Weitergehende Ausfiihrungen zum Vertreter-Versandhandel finden Sie in Kapitel 3. Lieferservice Unter den Vertreter-Versandhandlern gibt es einen Unternehmenstyp, bei dem zwar im Prinzip Bestellungen vom Versender ausgefiihrt werden, der Vertreter die Bestellung jedoch auch bedienen kann und in begrenztem Umfang iiber die Bestellungen hinaus noch Ware mit sich fiihrt und verkauft. Die Grenze zum ambulanten Handel ist hier flieSend. Diesen Unternehmenstyp wollen wir Lieferservice nennen, und es gibt zwei prominente Beispiele aus dem Heimdienst mit Tiefkuhlkost:

Tabelle 15: Hefkuhl-Lieferservice

Vertreter-Direktvertrieb Der klassische Vertreter-Versandhandel wird auch als Vertreter-Direktvertrieb bezeichnet. Wichtige Beispiele sind in der Tabelle 16 aufgelistet.

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Wilh. Drache KG GmbH & Co.

Besteek, Porzellan, Glas

Eismann Tiefkuehl Heimservice

Eis, Tiefkuhlkost

EMG - Elektro & Metallwaren Vertrieb

Elektro- und Metallwaren

Gonis GmbH & Co. KG

Kreativprodukte, Tee und Kerzen

Haka Kunz GmbH

Haushaltspflegemittel, Waschmittel, Gesichts- und Kdrperpflegemittel

Hakawerk W. Schlotz GmbH

Wasch-, Reinigungs- und Kdrperpflegemittel

Heim & Haus Kunststofffenster Produktionsgesellschaft mbH & Co. KG

Kunststofffenster, RoIIIaden, Markisen, Hausturanlagen

Inmediaone Bertelsmann Direktvertriebe

Reihenwerke, Lexika, Enzyklopadien

Jafra Cosmetics GmbH & Co. KG

Kosmetikprodukte

Kurfuersten Hof Weinkellerei GmbH

Weine, Geschenke

Lux (Deutschland) GmbH

Bodenreinigungsgerate

Mary Kay Cosmetics GmbH

Kosmetikprodukte

Niederthaeler Hof Weingut GmbH

Weine, Geschenke

PartyLite GmbH

Kerzen, Accessoires

Pierre Laforest GmbH

Weine

Pierre Lang Schmuckhandels GmbH

Modeschmuck

Reichsgraf von Ingelheim Weingut

Weine, Geschenke

Tupperware Deutschland GmbH

Kunststoffbehalter, Spielwaren

Vorwerk Deutschland Stiftung & Co. KG

Raumpflegegerate, Einbaukuchen

Weekenders Deutschland GmbH

Modekollektionen

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Tabelle 16: Mitgliedsfirmen des Bundesverbands Direktvertrieb

1.2.2 Business-to-Business(B-to-B)-Versandhandel Der B-to-B-Versandhandel ist immer Spezialversandhandel und im Grundsatz klassischer Katalog-VersandhandeL Es gibt hybride Formen (z. B. Schafer Shop, Staples), jedoch kein TV-Shopping. Es gibt auch Vertreterversandhandel (z. B. Behrendsohn, Wurth, Friweg). Es gibt Versuche als Online-Shop (z. B. office.XL). Uberdies gibt es Versandhandler, die ihre Sortimente sowohl an private Haushalte als auch an Unternehmen verkaufen (z. B. Hawesko, Conrad). Beim B-to-B-Versandhandel haben sich einige typische Warensortimente im wiederkehrenden Unternehmensbedarf etabliert. Diese richten sich in der Regel an groEe Zielgruppen. Dazu gehoren: Versandhandelstypen

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Burobedarf Die groSten Versender im B-to-B-Versandhandel findet man im Burobedarf. Die Kundenstruktur wird als „Small Office and Home Office (SOHO)" beschrieben. Dazu gehoren Betriebe mit bis zu 20 Mitarbeitern im Biiro. Die Zielgruppe besteht ahnlich wie im B-to-C-Versandhandel aus einer groSen Masse an potenziellen Kunden. Daraus ergibt sich in den Prozessen eine Ahnlichkeit zum B-to-C-Versandhandel. Wichtige Versender in diesem Bereich sind:

Tabelle 17: Burobedarfsversender

Lager- und Betriebsausstattungen Lager- und Betriebsausstattungen werden ebenfalls in einer grofSen Anzahl von Unternehmen nachgefragt; es ist ein Querschnittsbedarf durch verschiedene Branchen. Bedeutende Versender sind hier:

Tabelle 18: Versender von Buroausstattungen

Computer-Zubehor, Elektronik Der Querschnittsbedarf Computer-Zubehor wird unter anderem von den Versendern angeboten, die in der Tabelle 19 aufgefiihrt sind. Auch der bereits genannte Elektronik-Versender Conrad bietet einen groSen Teil seines Sortiments zusatzlich im B-to-B-Katalog an. 46

Bedeutung und Formen des Versandhandels

Tabelle 19: EDV-Versender

Fachverlage Man kann es als Grenzfall betrachten, ob Fachverlage als Versandhandler anzusehen sind. Dennoch sollen hier einige bedeutendere Verlage erwahnt werden, die sich mit Methoden des Direktmarketings an eine groSere Zahl von Unternehmen mit Fachinformationen als Querschnittsbedarf wenden. Die angebotenen Medien sind Biicher, Fachzeitschriften, Loseblattwerke, CDs oder Software. Die Inhalte sind Wirtschaftsinformationen fiir Querschnittsfunktionen (z. B. IT, Personal, Sekretarinnen, Rechnungswesen) oder fiir bestimmte Branchen und Berufsgruppen (z. B. Versandhandel, Steuerberater, Bauingenieure). Beispiele sind:

Tabelle 20: Fachverlage

Werbegeschenke Eine Reihe von Versendern beschaftigt sich mit dem Verkauf von Werbegeschenken. Hier werden zum Teil echte Unternehmensbedarfe befriedigt wie die Ausstattung der Unternehmen mit Werbegeschenken zur Kundenbindung, die Bestuckung von Incentiveprogrammen fiir Mitarbeiter, von Bonusprogrammen oder Werbepramienprogrammen fiir Kunden (z. B. fiir Zeitungsabonnements). Derartige Programme sind dann haufig mit weiteren Serviceleistungen (Pramienkatalog, Datenbankpflege, Direktversand) oder Werbepramienprogrammen fiir Kunden (z. B. fiir Zeitungsabonnements) verbunden. Die Versender von Werbegeschenken decken zum Teil jedoch einen verkappten Privatbedarf, der bewusst angepeilt wird, denn jeder Katalogempfanger in einem Unternehmen ist gleichzeitig auch Privatperson. Nach der InVersandhandelstypen

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solvenz der Hach AG und der mit ihr verbundenen Oppermann AG im Jahre 2002 sind als bedeutende Player in diesem Markt noch Schneider/Wedel und die Neckerrnann-Tochter Saalfrank zu nennen. Prasentservice Ein weiteres Beispiel fur die Uberschneidung von B-to-B-Versandhandel und B-to-C-Versandhandel sind die Prasentservices. Dazu gehoren z. B. die Weinversender, die ihr Sortiment auch im Prasentservice anbieten, der vorwiegend von Unternehmen genutzt wird. Arbeitskleidung Ein anderes Beispiel fur die Befriedigung eines Querschnittsbedarfs unterschiedlicher Branchen ist der Versand von Arbeitskleidung (Berufsmoden, Sicherheitsbekleidung). Es gibt hier Spezialisten wie Engelbert Strauss oder die in der Merkatura-Gruppe zusammengefassten Aktivitaten des Quelle-Konzerns. Diese Sortimente sind auch als Teile anderer Sortimente zu finden, etwa bei den Henry Schein-Tochtem fur Arztebedarf oder bei den genannten Versendern fur Betriebsausstattung oder Sicherheit.

1.3 Motivation en zum Kauf im Versandhandel Es gibt rund 36 Millionen so genannte Postkaufer, die sich auf etwa 1 400 anmietbare Adressenlisten verteilen (mit Uberschneidungen). Damit kaufen rund zwei Drittel aller Haushalte irgendetwas im Versandhandel. Der Rest ist nicht zum Postkauf zu bewegen. Nicht alle Postkaufer kaufen mit gleicher Intensitat im Versandhandel; nicht alle kaufen im Sortimentsversandhandel und nicht alle im Spezialversandhandel, die Kaufmotive sind durchaus unterschiedlich. Der Bundesverband des Versandhandels (BVH) nennt als Kaufmotive:

Quelle: BVH

Tabelle 21: Griinde fur den Kauf im Versandhandel

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Man kann uber Kaufmotive spekulieren. Man kann Postkaufer nach ihren Motiven befragen. Man kann aber auch Riickschliisse aus den Kaufmotiven ziehen, auf die die Versandhandler mit ihren Angeboten offensichtlich abzielen. Wenn diese Angebote uber einen langeren Zeitraum erfolgreich aufrechterhalten werden, kann man davon ausgehen, dass die so erschlossenen Kaufmotive auch tatsachlich vorhanden sind. Der Kauf im Versandhandel muss besonders motiviert sein, wenn man den Kauf im stationaren Einzelhandel als so etwas wie die naturliche Handelsform ansieht. Immerhin werden circa 94 % des relevanten Einzelhandelsumsatzes im stationaren Einzelhandel getatigt. Im Versandhandel kann man die Ware nicht korperlich sehen und priifen. Man muss sich auf die Abbildung und Beschreibung der Ware oder auf die Versprechungen des Vertreters verlassen. Es miissen also Motive vorliegen, die diesen Nachteil aufwiegen. Und tatsachlich ist es so, dass der Versandhandel mit seinem Angebot immer wieder auf bestimmte Motive abzielt. Sicherlich braucht der Kaufer ein besonderes Vertrauen zum Versandhandler, um dort „trotzdem" zu kaufen. Dieses Vertrauen kann durch eine starke Marke gebildet werden. Als Beispiele fur starke Marken lassen sich Tchibo, Otto, Quelle oder Neckermann anfiihren. Aber der stationare Einzelhandel hat mindestens ebenso starke Marken, die einem sofort einfallen. Markenvertrauen ist also sicherlich die Voraussetzung fur den Kauf im Versandhandel; als besonderes Kaufmotiv reicht es allein jedoch nicht aus.

1.3.1 Allgemeine Kaufmotive Es gibt einige allgemeine Kaufmotive, auf die das Sortiment des Versandhandels kaum abzielen kann: Ein hierunter immer wieder genanntes Motiv fur den Kauf im Versandhandel ist die schlechtere Versorgung mit stationaren Einzelhandelsgeschaften auf dem Land. Dieses Motiv erscheint jedoch historisch liberholt, zumal sich die Einzelhandelslandschaft mit Fachmarkten und Grofimarkten „auf der griinen Wiese" entscheidend gewandelt hat. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Bonmot des verstorbenen „Papstes" der Handelsbetriebslehre Professor Bruno Tietz hinzuweisen: „Die eigentliche Emanzipation der Frau ist die Automobilisierung der Frau." Ein weiteres, sicherlich etwas ernster zu nehmendes Kaufmotiv fur den Versandhandel ist der Ladenschluss des stationaren Einzelhandels. Es gibt Versender, die mit ihrem Angebot darauf abzielen, etwa mit Mode fur die berufMotivationen zum Kauf im Versandhandel

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lich engagierte Frau. Allerdings hat die Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes von 1996 keinen spurbaren negativen Effekt auf den Versandhandel gehabt. Sicherlich ist auch noch als allgemeines Kaufmotiv, auf das ein Versender nicht gesondert abzielen kann, die Bequemlichkeit des Kaufs von zu Hause zu nennen. Der Weg in die Innenstadt oder ins Einkaufszentrum mit Verkehrsstau und Parkplatzsuche entfallt. Es entfallen Gedrange und Hektik, vergebliches Suchen in mehreren Geschaften, gestresstes oder auch gar nicht verfiigbares Verkaufspersonal. Auf der anderen Seite entfallt vielleicht aber auch ein positives Einkaufserlebnis.

1.3.2 Sortimentsorientierte Kaufmotive Es gibt eine Reihe von Motiven fur den Kauf im Versandhandel, auf die das Sortimentsangebot des Versandhandels in besonderer Weise zielt. Wir wollen diese Motive sortimentsorientierte Kaufmotive nennen. Dem Motiv der Bequemlichkeit verwandt ist das Motiv der Ersparnis von Einkaufskosten. Dieses Motiv spielt im B-to-B-Versandhandel eine groSe Rolle. Zu den Einkaufskosten gehoren nicht nur die Wege- und Transportkosten, sondern in erster Linie die Personalkosten fur die Arbeitszeit des einkaufenden Personals. Um mogliche Nachteile des Versandhandelskaufs auszugleichen, bemuhen sich gerade die B-to-B-Versender um sehr kurze Lieferzeiten mit einem moglichst perfekten Service. Ein wichtiges Motiv fur den Kauf beim Sortimentsversender ist die Moglichkeit des Kreditkaufs, die offensiv beworben wird. Teilzahlung fur Fernseher oder Waschmaschinen gibt es zwar auch im stationaren Einzelhandel. Die groSen Sortimentsversender bieten hier jedoch ungleich komfortablere Systeme. Es ist in der Regel kein gesonderter Kreditvertrag erforderlich. Und jedes Paar Socken kann in einem Revolving-Credit-System in mehreren Monatsraten bezahlt werden, solange das individuelle Kreditlimit nicht ausgeschopft ist. Verstarkt wird das Kreditangebot der Sortimentsversender noch durch das Sammelbestellersystem. Die Sammelbestellerinnen erhalten von den Mitbestellern Geld fur die ausgelieferte Ware, das an das Versandhaus in der Regel erst monatsversetzt abgefiihrt wird. Die Sammelbestellerinnen erhalten dadurch zusatzliche Liquiditat. Das System ermoglicht also einen Barkredit fur die Sammelbestellerinnen. Hierin liegt im Ubrigen das eigentliche Motiv, Sammelbestellerin zu sein. Die haufig nur geringen Provisionen oder der soziale Kontakt zu den Mitbestellern treten dahinter zuriick.

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Ein weiteres Kaufmotiv ist die Anonymitat. Beim Kauf von Erotikartikeln ist dieses Motiv offensichtlich. Es kann auch beim Kauf von Gesundheitsartikeln, wie etwa Inkontinenzhilfen, auftreten. Das Motiv der Anonymitat ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschatzen. Es spielt auch bei einem so unverfanglichen Sortiment wie Mode eine groSe Rolle. Manche Kauferin, deren Alter oder Figur nicht danach ist, mochte sich etwas zulegen, was ihr im Katalog gefallt. Sie wagt es jedoch nicht, so etwas „6ffentlich" in einem stationaren Ladengeschaft anzuprobieren. Ahnlich ist die Motivlage etwa bei Truckeroder Bikermoden, Militaria oder (frei verkauflichen) Waffen. Ein durchgehendes Motiv zum Kauf beim Versandhandel wollen wir Exklusivitat nennen. Es ist der bewusst durch die Versandhandelswerbung hervorgerufene Eindruck, etwas Besonderes, Einzigartiges zu kaufen, das es woanders so nicht gibt. Der Kunde kauft etwas Besonderes, und damit ist er etwas Besonderes. Diese Motivlage kann auch mit Begriffen wie Selbstwertgefiihl, Prestige oder Ansehen umschrieben werden. Es ist klar, dass die entsprechende Werbung dem Kaufer hier auch eine gewisse Illusion vermitteln muss. Ein Artikel gewinnt fur den Kaufer bisweilen erst einen Wert, wenn er mit einer „ Story" verbunden ist. Haufig kommen Exklusivitat im beschriebenen Sinne und Anonymitat gemeinsam vor. Ein weiteres Motiv kann mit dem Begriff Spontankauf umschrieben werden. Hier liegt keine geplante Befriedigung eines bewussten Bedarfs vor. Der Artikel wird gekauft, weil er gerade angeboten wird. „Neuheiten"-Versender, Geschenkversender oder TV-Shops bauen auf diese Motivlage. Es ist klar, dass hier besondere Anspriiche an die Auslobung des Artikels gestellt werden miissen, damit das Spontankauf-Motiv angesprochen wird. Der Spontankauf wird bisweilen durch verkaufsfordernde Mafinahmen wie Gewinnspiele angeregt. Trotz aller wettbewerbsrechtlichen Beschrankungen in diesem Bereich funktionieren derartige Verkaufstechniken, die an Spieltrieb oder Gewinnstreben appellieren und nicht notwendig einen Bezug zum Warenangebot haben. Die Versender von Sammelartikeln propagieren die Wertsteigerung der von ihnen angebotenen Produkte. Auch hier wird haufig das Mittel der Illusion verstarkend herangezogen. Eine Vielzahl von Spezialversendern setzt auf die Sortimentskompetenz, insbesondere auf eine Sortimentstiefe, die vom stationaren Einzelhandel aus bereits erwahnten Griinden nicht erreicht werden kann. Hier gibt es tatsachlich so spezielle Artikel oder ein so abgerundetes Sortiment wie nirgendwo anders.

Motivatlonen zum Kauf im Versandhandel

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Schliefilich gibt es noch gemeinniitzige Motive, im Versandhandel zu kaufen. Darunter fallen die Unterstiitzung von Organisationen wie Greenpeace oder des World Wildflife Fund, die Lizenzen zum Betrieb eines Versandhandels vergeben haben, oder auch die Unterstiitzung von Produzenten aus der Dritten Welt, deren Produkte im Versandhandel zu „fairen Preisen" angeboten werden. Wer Versandhandel erfolgreich betreibt oder betreiben will, wird sein Angebot daran messen, inwieweit es diese Motive trifft. Dabei miissen nicht alle, aber doch mindestens eines der genannten Motive sehr gut getroffen werden.

1.4 Bedeutung und Struktur des Versandhandels in Deutschland Nach Angaben des Bundesverbandes des Versandhandels (BVH) erzielt der Versandhandel in Deutschland einen Jahresumsatz von rund 20,3 Milliar den €. Das entspricht etwa 5,6 % des Einzelhandelsumsatzes im engeren Sinne (ohne Kraftfahrzeuge, Brenn- und Kraftstoffe sowie Apothekenumsatze). Beide Werte sind seit Mitte der 90er Jahre konstant. In den 70er und 80er Jahren lag der Anteil des Versandhandelsumsatzes mit Schwankungen um 4,5 % herum. Mit der Offnung der neuen Bundeslander ist der Anteil sprunghaft angestiegen, allerdings ist der Umsatz von 2003 auf 2004 um ca. 720 Milionen € gesunken. Im Jahr 2002 ist der Anteil des Versandhandels auf 6 % gestiegen - eine bisher nie erreichte Grdfie. Dabei spielte die Schwache des stationaren Einzelhandels aber auch das Vordringen des Verkaufs uber Internet eine Rolle (zu den beliebtesten Online-Shops vgl. Tabelle 22) Beinahe jeder vierte Euro wird im Distanzhandel inzwischen uber das Web umgesetzt, genauer 4,9 Milliarden €. Im deutschen Versandhandel sind rund 100 000 Menschen beschaftigt. Es wird geschatzt, dass in den auf den Versandhandel gerichteten Dienstleistungsunternehmen aus Zustellung, Logistik, Call Center, Druck oder Werbung noch einmal 100 000 Menschen beschaftigt sind (BVH-Angaben). Fast 40 % des Versandhandelsumsatzes entfallen auf Textilien und Bekleidung. Gemessen am gesamten deutschen Einzelhandelsumsatz haben diese Sortimente einen Anteil von ca. 14 %. Die Sortimentsversender haben einen Umsatzanteil von nur noch circa 50 %, die Spezialversender dagegen haben ihren Anteil auf etwa die Halfte am deutschen Versandhandelsumsatz gesteigert (BVH-Angaben).

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Quelle: Enigma GfK/NFO Infratest, Online Shopping Survey, 2003

Tabelle 22: Die beliebtesten Online-Shops

Rund 36 % aller Deutschen liber 14 Jahre haben schon einmal irgendwo irgendetwas im Versandhandel bestellt (Verbraucheranalyse des Heinrich Bauer Verlags 2001). Das entspricht einer Abdeckung von zwei Dritteln aller Haushalte, in denen es mindestens einen Versandhandelskaufer gibt. Der Anteil der Versandkaufer nimmt iiberdies mit der Haushaltsgrofie zu.

(Lies: Der Anteil der Ein-Personen-Haushalte an den Versandkaufern betragt 75 % des Anteils der Ein-Personen-Haushalte an der Gesamtbevolkerung. Ind e x ^ 00: Anteil der Haushaltsgrofie an der Gesamtbevolkerung und an den Versandhandelsverkaufern ist gleich.) (BVH-Angaben) Nach Altersgruppen unterscheiden sich die Anteile der Versandhandelskaufer als Index dargestellt wie folgt:

Bedeutung und Struktur des Versandhandels in Deutschland

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Und nach Einkommensklassen (in 1 000 €/Monat) verteilen sich die Versandhandelskaufer so:

Interessant ist auch die Verteilung der Versandhandelskaufer nach OrtsgroEenklassen (in 1 000 Einwohnern):

Altersstruktur, HaushaltsgroSe und Einkommensverteilung, aber auch Konsumgewohnheiten und Lifestyle unterscheiden sich zwischen GroSstadt und Land. Der Versandhandel profitiert auf dem Land von einer tendenziell konservativeren Einstellung, weniger Dichte im stationaren Einzelhandel und breiterer Kaufkraftverteilung. Der deutsche Versandhandel wird von zwei Konzernen dominiert, Otto und Quelle/Neckermann, die sowohl grofie Sortimentsversender als auch verschiedene Spezialversender in ihrem Portfolio halten. Zum Otto-Konzern gehoren als Sortimentsversender der Otto Versand selbst, Schwab mit einem nahezu identischen Hauptkatalog sowie der Baur-Versand. Diese Versender erzielen im Inland einen Umsatz von 3,3 Milliarden €. Zum Konzern gehoren eine Reihe bedeutender Spezialversender, wie Heine, Bon Prix (konnen als Sortimentsversender angesehen werden), Alba Moda, Witt/Weiden, Eddie Bauer, Sport Scheck, 3 Pagen, Rainbow, Jelmoli, Frankonia, Manufactum u.a. sowie etwa 50 Versandhandelsbeteiligungen im Ausland. Der gesamte Inlandsumsatz des Konzerns wird mit 14,4 Milliarden € angegeben. Zum Quelle/Neckermann-Konzern gehoren Quelle und Neckermann selbst als Universalversender mit einem Umsatz von zusammen 4,7 Milliarden €. Auch in diesem Konzern gibt es bedeutende Spezialversender wie die Modeversender Madeleine, Atelier Goldener Schnitt (AGS), Hahn und Elegance, weiter Home Shopping Europe (HSE), Walz, Schecker, Hess und Fritz Berger und im B-to-B-Versandhandel Krahe, Saalfrank und die Merkatura-Holding. Der Gesamtumsatz der Gruppe liegt bei rund 13,5 Milliarden €. (2004, Angaben des Versandhausberaters)

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Die Summe dieser Umsatze der beiden Konzerne ist nicht ganz konsistent mit dem Branchenumsatz von rund 20 Milliarden €, denn in den Umsatzen sind auch stationare Handelsaktivitaten mitgezahlt. Es gibt mit Klingel eine weitere Unternehmensgruppe mit den Versendern Klingel und Wenz als Akteure im Sortimentsversandhandel. Zur Gruppe gehoren Diemer, Mona, Beyeler, Babista und Meyer/Bayreuth als Spezialversandhandel. Der Gruppenumsatz liegt bei 0,8 Milliarden €. SchlieSlich ist neben Klingel und Wenz der dritte Pforzheimer Sortimentsversender Bader mit einem Umsatz von circa 0,45 Milliarden € zu nennen. (Umsatzangaben 2004, nach Versandhandelsverzeichnis) Im Spezialversandhandel gibt es eine Reihe von groSeren, meist mittelstandischen Unternehmensgruppen. Dazu gehoren im B-to-B-Versandhandel die Haniel Beteiligung TAKKT AG (Kaiser+Kraft, Gaerner, Topdeq) mit 728 Millionen € Umsatz, Schafer Shop (circa 500 Millionen €), Printus (circa 400 Millionen €), Viking (480 Millionen €), Schneider/Wedel (240 Millionen €) und Henry Schein (170 Millionen €). Diese Gruppen haben Tochterunternehmen im Versandhandel akquiriert oder aufgebaut. Zum Teil haben sie auch Aktivitaten im B-to-C-Versandhandel in der Gruppe. Daneben gibt es eine Reihe grofierer Mittelstandler und Tochter anderer Konzerne im B-to-C-Versandhandel, wie z.B. Westfalia Werkzeug (380 Millionen €), Hawesko (94 Millionen €), Tchibo Versand (360 Millionen €), QVC (516 Millionen €) und Yves Rocher (176 Millionen €), Weltbild (822 Millionen €) oder Walbusch (197 Millionen €). Walbusch liegt im Versandhandelsverzeichnis auf Platz 27 der Umsatzreihenfolge. Die grofien Tochterunternehmen der Konzerne werden hier mit eigener Platznummer gezahlt. Auf Platz 60 liegt ein Unternehmen mit 70 Millionen € Jahresumsatz, auf Platz 80 eines mit 46 Millionen € und auf Platz 100 eines mit 25 Millionen €. Das Versandhandelsverzeichnis zahlt circa 4.700 Versandhandelsunternehmen. Davon abweichend ist das Angebot des fuhrenden Adressenvermittlers Schober Information Group mit 10.361 Versandhandelsadressen, die sich wie folgt aufteilen: • • •

Kleinbetriebe 8.469 (bis 10 Beschaftigte), Mittelbetriebe 1.674 (10 bis 100 Beschaftigte), Grogbetriebe 218 (iiber 100 Beschaftigte).

Bedeutung und Struktur des Versandhandels in Deutschland

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Trotz einer starken Konzentration an der Spitze und einer Dominanz bedeutender Gruppen ist die Struktur des deutschen Versandhandels nach wie vor als mittelstandisch zu bezeichnen. Der typische deutsche Versandhandel ist durch eine Vielzahl von Unternehmerpersonlichkeiten gepragt, die es geschafft haben, eine Spezialisierung zu entdecken und auszubauen. Sie haben ihre Zielgruppe identifiziert und es verstanden, dieser ein auf sie passendes Sortiment anzubieten und ihr Angebot wirksam zu kommunizieren. Auch die Versender, die sich zu Konzernen entwickelt haben, sind von Untemehmerpersonlichkeiten gepragt, die deutsche Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit geschrieben haben, darunter Grete und Gustav Schickedanz (Quelle), Werner Otto, Josef Neckermann oder Dr. Friedrich Baur.

1.5 Versandhandel im internationalen Vergleich Der weltweite Versandhandelsumsatz wird auf eine GroSenordnung von 145 Milliarden € geschatzt. Davon entfalien 73 Milliarden € auf die USA, 51 Milliarden € auf Europa und gut 10 Milliarden € (mit wachsender Tendenz) auf Japan. Die Umsatzverteilung in Europa (2003, BVH-Angaben) ist in Tabelle 23 dargestellt. Aus diesen Angaben wird schon deutlich: Versandhandel ist weltweit ein Thema der hoch entwickelten Industrienationen mit einer ausgepragten Konsumdifferenzierung.

Tabelle 23: Versandhandel in Europa

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

Dort, wo das Konsumangebot hinreichend differenziert ist, finden die Spezialitaten des Versandhandels ihre Nische. Das wird durch folgende Zahlen noch deutlicher:

Tabelle 24: Pro-Kopf-Umsatze im Versandhandel

In alien anderen europaischen Landern sind Pro-Kopf-Umsatz und Einzelhandelsanteil des Versandhandels vollig unbedeutend. Die Konzentration auf die hoch entwickelten Industrienationen ist nicht nur im Wohlstandsniveau und in den Konsumgewohnheiten eines Landes begrundet, sondern auch in den infrastrukturellen Voraussetzungen des Versandhandels. Dazu gehoren zuverlassige Zustelldienste (Post oder private Dienste) sowohl fur Warensendungen als auch fur Werbesendungen, funktionierende Zahlungssysteme mit der Durchsetzbarkeit von Forderungen und Verfugbarkeit von Adressen fur Direktmarketingzwecke. An Letzterem mangelt es noch in Ostmitteleuropa. Die ersten beiden Voraussetzungen sind in Sudeuropa und auch in Belgien teilweise schlecht erfiillt. Die infrastrukturellen Voraussetzungen sind eher in Landern mit einem hoher entwickelten wirtschaftlichen Niveau anzutreffen. Und schliefilich spielt die Marktgrofie eine entscheidende Rolle. Bei kleinen Landern mit einer eigenen Nationalsprache konnen z. B. bei der Katalogherstellung nur schwer verniinftige Kostendegressionen erreicht werden. Fur einen deutschen Versender, der ins Ausland expandieren mochte, kommt daher

Versandhandel im internationalen Vergleich

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nur eine beschrankte Anzahl von Landern in Frage, in denen ein hinreichendes Marktpotenzial anzutreffen ist. Und dort sind die Tochtergesellschaften deutscher Versender auch zu finden: Osterreich und Schweiz (insbesondere wegen der Ubernehmbarkeit deutscher Kataloge), USA, Frankreich, GroEbritannien, Niederlande, skandinavische Lander (haufig mit lokalem Kooperationspartner), Japan (mit der Investitionskraft eines Otto-Konzerns). Umgekehrt stammen die Versender, die vom Ausland auf den deutschen Markt kommen, aus den USA (z. B. Viking, Staples, Reader's Digest, Q VC, Henry Schein), Frankreich (z. B. Yves Rocher, Raja Pack, Club des Createurs de Beaute, Eurotops) und Norwegen (z. B. Sammler Huset/MDM). Der Standort Deutschland ist mit 90 Millionen deutschsprachigen Einwohnern in Deutschland und Nachbarlandern nach den USA der fiihrende Versandhandels-Standort der Welt. Deutschland ist daher nicht nur als Markt fur auslandische Versender interessant. Aus dem hier kumulierten Know-how ergeben sich erhebliche Geschaftschancen fur deutsche Versender im Ausland.

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Bedeutung und Formen des Versandhandels

2 Der Prozess der Angebotserstellung

Eine prozessorientierte Darstellung des Versandhandelsbetriebs beschreibt die einzelnen Funktionen im Ablauf. Lange nicht in alien Versandhandelsbetrieben gibt es alle dargestellten Funktionen als Position in der Aufbauorganisation. Die einzelnen Tatigkeiten im Ablauf werden jedoch in der Regel von irgendjemandem ausgeiibt. Hier geht es zunachst nur um die Darstellung der einzelnen Tatigkeiten im Ablauf. Die Beschreibung der Aufbauorganisation eines Versandhandelsbetriebs folgt in Kapitel 5.

2.1 Einkauf 2.1.1 Strategische Sortimentsentwicklung Nur selten hat der Versandhandelspraktiker die Chance, ein Sortiment vollig neu zu planen und am Markt neu einzufuhren. Meist muss er ein bereits bestehendes Sortiment fortentwickeln und am Markt verteidigen. In beiden Fallen muss er sich jedoch Gedanken liber die strategische Positionierung des Sortiments am Markt machen. Bei einem bestehenden Sortiment muss er dabei insbesondere die Veranderungen seines Umfelds wie Veranderungen der Zielgruppe oder Veranderungen des Wettbewerbangebots im Blick behalten. Vor der Entscheidung fur einen bestimmten Artikel muss also die strategische Grundentscheidung fur die Positionierung des Sortiments und gegebenenfalls fur dessen Umpositionierung stehen. Zu Beginn der strategischen Positionierung des Sortiments stehen drei Grundfragen: 1. 1st mein Sortiment iiberhaupt versandhandelsgeeignet? 2. Wer ist meine Zielgruppe und passt das Sortiment zu meiner Zielgruppe? 3. Hat mein Sortiment eine Chance, sich im Wettbewerb zu behaupten, und zwar erstens gegen den stationaren Einzelhandel und zweitens gegen den iibrigen Versandhandel?

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Es geht hierbei wohlgemerkt um die Wettbewerbsfahigkeit eines ganzen Sortiments, nicht um den einzelnen Artikel. Versandhandelseignung des Sortiments

Eine wichtige, gerade von Neueinsteigern in das Versandhandelsgeschaft nicht immer beriicksichtigte Voraussetzung fur die Versandhandelseignung eines Sortiments ist eine ausreichende Kalkulation. Die Kosten des Versandhandels sind im Allgemeinen deutlich hoher als im stationaren Einzelhandel. Der Versandhandel hat die Kosten der Kommissionierung, der Verpackung und des Versands. Die Kosten der Neukundengewinnung und der Katalogstreuung sind erheblich und mit hohen Risiken belastet. Zunachst ist also zunachst ein Sortiment zu identifizieren, das eine entsprechende Kalkulation zulasst. Hier einige Beispiele fur die Kalkulation typischer Versandhandelssortimente, „von oben" gerechnet, also den Rohertrag (nach Einkaufspreisen und Warenbezugskosten, ohne Abschriften) als Prozentsatz des Verkaufspreises ausgedriickt:

Tabelle 25: Handelsspannen im Versandhandel

Eine weitere Voraussetzung fur die Versandhandelseignung ist die Bewaltigung der Anforderungen der Logistik, Logistik in einem weiten Sinne verstanden. Im Prinzip ist jedes gehandelte Gut auch irgendwie lieferbar. Aber die Kosten der Logistik konnen die Kalkulation sprengen. Dabei miissen im Einzelnen unter anderem folgende Aspekte berucksichtigt werden: Sperrigkeit der Produkte, Haltbarkeit, Verderblichkeit, Empfindlichkeit gegen Verunreinigung, Bruch, Faltung etc., tjbereinstimmung mit dem Katalogangebot wie Passgenauigkeit bei Bekleidung oder Beschaffenheitsabweichung bei Naturprodukten, Serviceanfalligkeit, z. B. bei elektrischen Geraten,

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Der Prozess der Angebotserstellung

notwendige Garantiezusagen, Kontinuitat und modischer Wandel, Nachbeschaffbarkeit, Mengen- und Zeitrestriktionen. Sicherlich sind die meisten Probleme irgendwie losbar. Die Losung kann nur so teuer werden, dass das Sortiment nicht mehr versandhandelsgeeignet ist. Zu beriicksichtigen sind auch gesetzliche Vorschriften. Nicht alles darf versendet werden. Besondere Vorschriften gelten fur den Betrieb einer Versandapotheke. Problematisch sind Waffen oder jugendgefahrdende Medien. Ein eigener Problemkreis ist die Produkthaftung bei Importen, wenn diese nicht auf den Importeur abgewalzt werden kann. Bei einigen Produkten, z. B. Spielwaren, sind bestimmte Normen einzuhalten. Nach diesen eher formellen Vorprufungen kommen wir zu der viel wichtigeren, inhaltlichen Priifung des Sortiments auf Versandhandelseignung. Die liegt darin, dass durch das Sortiment mindestens eines der in Kapitel 1.3.2 genannten sortimentsorientierten Kaufmotive getroffen werden muss. Fur den B-to-C-Versandhandel sind dieses insbesondere Anonymitat, Exklusivitat oder Verleitung zum Spontankauf. Die Produkte sollen Selbstwertgefuhl, Prestige und Ansehen des Kaufers steigern. Die Produkte mussen so beschaffen sein, dass in der Katalogdarstellung eine entsprechende Anmutung oder gar Illusion hervorgerufen werden kann. Diese Priifung kann ganz einfach vorgenommen werden, indem man sich fragt, warum der Kunde ein Produkt jetzt und hier kaufen soil. Oder warum er es iiberhaupt und nicht woanders oder spater kaufen soil. Wenn diese Darstellung bei dem Gros der Produkte nicht iiberzeugend gelingt, ist das Sortiment nicht versandhandelsgeeignet. Das Sortiment muss einen wiederkehrenden Bedarf decken. Ideal sind so genannte Wiederkaufartikel, die verbraucht und nachbeschafft werden, wie Wein oder Kosmetika. Es kommen auch sehr breite Sortimente in Frage, aus denen man immer wieder etwas gebrauchen kann. Bei den Spontankaufartikeln wird auf ein konstantes Verhaltensmuster der Kaufer gesetzt. Bei der Behandlung der verschiedenen Versandhandelstypen ist klar geworden, dass alle erfolgreichen Sortimente auf wiederkehrenden Bedarfen basieren. Wenn die Kunden nicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wieder kaufen, rentieren sich die hohen Investitionen in die Neukundengewinnung nicht. Bei Mobeln, Fahrradern und anderen Produkten mit „Investitionscharakter" muss die Neukundengewinnung bereits rentabel sein.

Einkauf

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Zielgruppenpassung des Sortiments Der Versandhandel richtet sich mit seinem Angebot an bestimmte, namentlich bekannte Personen (Adressen). Er kann also einen in einem bestimmten Sinne homogenen Personenkreis (Zielgruppe) ansprechen. Wenn er diese Zielgruppe moglichst genau, das heiEt mit moglichst geringen Streuverlusten trifft und ein Angebot fur diese Zielgruppe unterbreitet, hat er eine Erfolgschance. Der Versandhandel kann im Gegensatz zum stationaren Einzelhandel viel homogenere Zielgruppen herausfiltern und diesen dann passgenaue Angebote unterbreiten. Diese Chance richtig zu nutzen, ist allerdings auch die Voraussetzung fiir den Erfolg eines Versandhandels. Die Identifikation und Abgrenzung von Zielgruppen ist Gegenstand des Marketings und wird in Kapitel 2.3.1 Die Zielgruppe behandelt. Die Zielgruppe soil fiir die Sortimentsentwicklung an dieser Stelle als gegebene Grofie hingenommen werden. Aber es deutet sich hier bereits an, dass der Versandhandelsbetrieb ein interdependentes System mit einer Vielzahl von inneren Riickkopplungen ist. Bisweilen ist die Zielgruppe auch durch das Sortiment definiert: Wer dieses Sortiment kauft, gehort zur Zielgruppe. Dann ist jedoch zu identifizieren, was das Besondere dieses Sortiments ausmacht, um seine Zielgruppe nicht zu verfehlen. Die Zielgruppenpassung eines Sortiments soil hier nicht abstrakt, sondern anhand einiger konkreter Beispiele erlautert werden: Der Versender fiir Seglerbedarf a.w.niemeier hat zunachst einmal die Segler als Zielgruppe. Es gibt mit Compass einen anderen bedeutenden Versender fiir Seglerbedarf. a.w.niemeier ist im Gegensatz zu Compass starker an Hartwaren und technisch orientiert; Compass ist etwas starker in der Mode und Funktionsbekleidung. a.w.niemeier steht hauptsachlich im Wettbewerb zu den lokalen Einzelhandlern in der Nahe der Marinas, a.w.niemeier hat eine unbestritten fiihrende Sortimentskompetenz in technischem Seglerbedarf und iibertrifft in diesem Bereich jeden Wettbewerber an Sortimentstiefe. Das Preisniveau ist allerdings iiber dem seiner Wettbewerber. a.w.niemeier ist iiberdies ein hamburgisches Traditionsunternehmen. Damit ist die Zielgruppe etwas enger: Die Zielgruppe sind die Segler mit einem uberdurchschnittlichen Budget fiir ihr Hobby, die sich entweder mehr leisten konnen und die groSeren Boote haben oder die ihr Hobby ernster nehmen und mehr auf die Qualitat der Technik achten.

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Der Prozess der Angebotserstellung

Der Versender Ompex bietet Spontankaufartikel in Preislagen bis 25 € an. Dazu gehoren im Wesentlichen Hartwaren wie Geschenke, Haushaltswaren oder „Neuheiten". Der Spontankauf wird noch zusatzlich durch Gewinnspiele systematisch angeregt. Das Hauptkaufmotiv liegt auch eher im Gewinnspiel als im Nutzen der Produkte. Die Zielgruppe wird als eher weiblich, alter, eher nicht berufstatig und sozial schwacher beschrieben, mit dem geistigen Anspruch von Yellow Press-Leserinnnen. Es wiirde hier sicherlich die Zielgruppe verfehlen, Qualitatsprodukte in hoheren Preislagen anzubieten. Borek MDM handelt mit Sammelartikeln wie Miinzen und Medaillen. Es werden Miinzserien von giiltigen Zahlungsmitteln aus dem In- und Ausland angeboten. Medaillen sind von Borek MDM entwickelte thematische Serien ohne Zahlungsmittelfunktion; die Themen sind Sport, Lander, Staatsoberhaupter, Events u. a. Die Zielgruppe ist eher mannlich, im Alter ab Mitte 40 aufwarts, politisch eher burgerlich-konservativ eingestellt, von Bildung und Einkommen her obere Mittelschicht. Die echten Numismatiker, die historische Miinzen sammeln, werden im stationaren Miinzhandel besser bedient werden; derartige Sortimente waren nicht zielgruppengerecht. Auch eine Medaillenserie iiber bedrohte Tierarten ware weniger Erfolg versprechend. Denn etwa die Kunden des Greenpeace-Versands, die in Einkommen, Bildungsniveau und Alter ahnlich liegen mogen, waren auch eine andere Zielgruppe, weniger biirgerlich, weniger auf Prestige und Wertsteigerung ausgerichtet. Betrachten wir noch die Positionierung von zwei Sortimentsversendern im Vergleich. Die Versender Otto und Bader haben weitgehend ubereinstimmende Warengruppen: Dennoch ist der Unterschied in den Sortimenten schon fiir den Laien augenfallig. Wahrend Otto sich betont modisch und j linger gibt und auch mehr Sexappeal nutzt, wirkt Bader vergleichsweise bieder. Der Unterschied der Zielgruppen liegt sicherlich im Alter, aber auch im Lifestyle-Typus. Der Otto-Typus ist aktiver und mobiler. Der Unterschied liegt, auch gemessen an den Preislagen, nicht in der sozialen Schichtung. Die Otto-Kundin konnte vielleicht die Tochter der Bader-Kundin sein. Die Otto-Kundin ware vielleicht auch lieber Tochter geblieben. Behauptung des Sortiments im Wettbewerb Wenn ein fiir den Versandhandel geeignetes Sortiment bestimmt oder entwickelt worden ist, das auch auf die identifizierte Zielgruppe passt, muss es sich noch vom Wettbewerb abheben, um erfolgreich zu sein. Die erste Forderung in diesem Zusammenhang an das Sortiment ist eine eindeutige Identitat. Wofiir steht dieser Versandhandel? Was bietet er, das andere

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nicht bieten? Worauf bezieht sich der Anspruch, am besten zu sein? Dieser Anspruch von Einzigartigkeit ist im Versandhandel so wichtig, weil der Verkaufer zum Kaufer kommt und nicht unbedingt gerufen wurde. Im stationaren Einzelhandel kommt der Kaufer im Prinzip mit der Absicht zum Verkaufer, etwas zu kaufen. Es reicht haufig schon aus, dass der Eindruck der Einzigartigkeit fur den Augenblick der Bestellung anhalt. Das konkrete Sortiment und dessen Darstellung, die „Story" darum herum, sind also untrennbar miteinander verbunden. Denkbare Alleinstellungsmerkmale eines Sortiments, aus denen sich dann die zu verfolgende Strategic ergibt, konnen sein: Die Sortimentsbreite. Hier gibt es alles, was man sich zu einem Thema vorstellen kann, auch angrenzende Gebiete und Anwendungen. So breit ist auf diesem Gebiet kein anderer sortiert. Als Beispiel fur diese Strategic kann der Versender fur elektronische Bauteile Conrad genannt werden. Die Sortimentstiefe. Hier beschrankt man sich zwar auf ein klar abgegrenztes Thema. Es gibt jedoch fur die einzelnen Artikel eine Vielzahl unterschiedlicher Ausfuhrungen, GroEen, Hersteller, Qualitaten, Preislagen etc. Als Beispiel ist noch einmal der Versender fur Seglerbedarf a.w.niemeier zu nennen. Sortimentsbreite und Sortimentstiefe sind nicht immer klar auseinander zuhalten. Haufig werden sie gleichzeitig verfolgt. Der Oberbegriff fur beide Strategien ist Sortimentskompetenz, umgangsprachlich auch haufig als „Auswahl" bezeichnet. Die neben der Sortimentskompetenz in der Realitat mindestens ebenso wichtige Strategic wollen wir Anmutung oder Illusion nennen. Es gelingt dem Versender besser als anderen, durch Auswahl und Darstellung des Sortiments beim Kunden ein Geftihl der Identifikation mit dem Sortiment zu erreichen: Wenn ich das kaufe, bin ich so sportlich, elegant, sexy, cool, ziinftig, solide, mannlich oder kultiviert, wie es mir die Kataloganmutung suggeriert. Es geht bei dieser Strategic also darum, mit dem Sortiment ein gewiinschtes Selbstbild der Kunden aus der Zielgruppe moglichst genau zu treffen. Eine weitere Strategic konnte schlieSlich Preisaggressivitat sein, eine im Versandhandel wegen der Kostenstruktur, aber auch wegen des Widerspruchs zu anderen Strategien nur selten verfolgte Strategic

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2.1.2 Die Sortimentsstruktur Die strategische Entscheidung fur eine Positionierung des Sortiments muss zunachst in eine Sortimentsstruktur umgesetzt werden. Eine systematische, professionelle Vorgehensweise ware es dann, die einzelnen Artikel in diese Struktur hinein einzukaufen. Da sich die Angebote der Lieferanten fortentwickeln, wird in der Praxis haufig auch gleichzeitig artikelorientiert vorgegangen. Die Entwicklung einer Sortimentsstruktur ist ein interaktiver Prozess. Wichtigstes Gliederungsmerkmal der Sortimentsstruktur ist der Warengruppenplan. Klassisch werden dann Gewichte fur die einzelnen Warengruppen und Untergruppen festgelegt, nach denen die Katalogseiten verteilt werden. Diese Vorgehensweise bietet sich fur Sortimentsversender sowie fur Spezialversender an, die eine Strategic der Sortimentskompetenz verfolgen. Bei der Optimierung der Gewichte der einzelnen Warengruppen wird im Grundsatz eine Maximierung des Rohertrags des Gesamtsortiments angestrebt. (Naheres dazu im Kapitel 2.1.5 Sortimentsoptimierung.) Dabei ist ein Gleichgewicht zwischen dem Streben, weniger profitable Teilsortimente zu reduzieren, und der Erhaltung der Sortimentskompetenz haufig nicht eindeutig erreichen. Erganzend zur horizontalen Gliederung des Sortiments nach Warengruppen gibt es innerhalb der Untergruppen noch eine quasi vertikale Gliederung, die die Sortimentstiefe bestimmt. Vertikale Gliederungsmerkmale sind Preislagen, Qualitaten, Ausfiihrungen, Marken etc. Es ist zu entscheiden, welche und wie viele Preislagen etc. man anbieten mochte. Der Einkaufer muss dann entsprechend dieser Detailstruktur geeignete Artikel einkaufen. Die Sortimentsversender und die Textilversender denken in Katalogsaisons. Die Sommersaison geht in der Regel von Januar bis Juni und die Wintersaison von Juli bis Dezember. Aber auch andere Versender, die weniger stark saisonabhangige Sortimente anbieten, haben bestimmte regelmaSige Zeitpunkte im Jahr, zu denen sie ihre Kataloge versenden; daran schlieSen sich dann auch Katalogsaisons an. Daraus ergeben sich weitere Gliederungsmerkmale des Versandhandelssortiments: saisoniibergreifendes Standardsortiment und saisonales Sortiment. Es gibt Artikel, die im Saisonwechsel wieder auftauchen. Es gibt andere, die nur einmal in einer Saison angeboten werden. Artikel, die schon in der Vor- oder Vergleichssaison angeboten wurden, heif?en Ubernahmeartikel. Ubernahmeartikel bieten den Vorteil, dass einmal gestaltete Katalogseiten oder zumindest Fotos und Texte ubernommen werden konnen. AuSerdem entfallt das Problem der Restantenverwertung. Auf der anderen Seite

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muss ein wettbewerbsfahiges Sortiment Neuheiten bieten und mit der Mode gehen. Hier haben wir es audi mit einem strategischen Optimierungsproblem zu tun. Schliefilich gibt es noch „Hero-Artikel" zur werblichen Aufwertung des Sortiments, die auEerhalb der Sortimentsstruktur geplant werden konnen. Dazu gehoren Orderstarter auf dem Bestellformular, Artikel auf herausgestellten Katalogseiten wie Titel und Rucktitel, besonders preisaggressive Angebote, Imageartikel und anderes mehr. Versender, die nicht auf Sortimentskompetenz setzen, konnen bei der Entwicklung einer Sortimentsstruktur auch nach anderen als den beschriebenen, klassischen Gliederungsmerkmalen vorgehen. Hier sind werbemittelorientierte und zielgruppenorientierte Sortimentsstrukturen zu nennen. Als werbemittelorientierte Sortimentsstruktur konnen z. B. die „ Welten" rund um ein Thema beim Tchibo-Versand angesehen werden, wie z. B. Bad, Garten oder Reise. Es werden dann Artikel aus unterschiedlichen klassischen Warengruppen gesucht, die zu einer Welt passen. Mit Welten arbeitet auch Schrader Tee. Oder der Sortimentsversender Neckermann verfolgt dieses Konzept (Modewelt, Kinderwelt, Mannermodewelt, Wohnwelt, Freizeitwelt, Technikwelt). Die Absicht, die hinter diesen Welten steckt, ist es, den Kunden zu Zusatzbestellungen anzuregen und die Kompetenz fur die Sortimente der entsprechenden Welten zu erhohen. Daneben geht es darum, den Artikel im emotionalen Umfeld zu zeigen und dadurch Wiinsche beim Kunden zu wecken. Auch wenn die Arbeitsteilung der Einkaufer wieder nach klassischen Warengruppen erfolgt, bleibt die Sortimentsstruktur, um die es hier geht, werbemittelorientiert. Werbemittelorientierte Sortimentsstrukturen finden wir auch bei Versendern, die auf den Spontankauf gerichtet sind. Es geht hier in erster Linie darum, einen Werbeanstofi so mit einem Sortiment zu fullen, dass moglichst viele Spontankaufer darauf reagieren. Dahinter liegen natiirlich zumeist Erfahrungen, welches Sortimentsmix nach Warengruppen geeignet ist. Zielgruppenorientierte Sortimentsstrukturen finden sich z. B. bei den Versendern von Sammelartikeln. Wer sich fur Olympiagedenkmiinzen interessiert, wird vielleicht auch fur Medaillen zur FuSballweltmeisterschaft zu begeistern sein. Der Archiv Verlag bringt so genannte Stadtearchive mit faksimilierten historischen Dokumenten heraus. Wenn es vielleicht noch kein Stadtearchiv Leipzig geben sollte, dann konnte das Sortiment mit Blick auf die Zielgruppe Bildungsbiirger von Leipzig erweitert werden.

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Der Prozess der Angebotserstellung

2.1.3 Einkaufsquellen und Lieferanten Sourcing Wenn die Sortimentsstruktur im Detail festgelegt ist, ist nach Lieferanten zu suchen, die in der Lage sind, diese Struktur mit ihren Angeboten zu fullen. Dieser Prozess wird Sourcing genannt. Die weltweite Suche ist das Global Sourcing. Wahrend des Sourcing stofit der Einkaufer meist auch auf Artikel, die nicht notwendig in seine vorgegebene Sortimentsstruktur passen, die er aber fur profitabel verkauflich halt. So wird die Sortimentsstruktur zumindest fur spatere Saisons in einem interaktiven Prozess beeinflusst. Haufig bieten die Lieferanten auch ganze Teilsortimente. Die Sortimentsstruktur des Lieferanten kann, wenn er selbst eine hohe Sortimentskompetenz hat, in hohem MaEe die Sortimentsstruktur des Versandhandlers beeinflussen. Der Einkaufer findet die Artikel auf verschiedenen Wegen, z. B.: Fachmessen im In- und Ausland. Lieferantenverzeichnisse und Direktanfrage bei den Lieferanten. Store Checks. Sie spielen insbesondere in der Mode eine Rolle. Der Einkaufer holt sich durch den Besuch von Einzelhandelsgeschaften in den Metropolen wie Paris, New York oder Rom Anregungen, die er von seinen Lieferanten umsetzen lasst. Wettbewerbsbeobachtung. Werden Artikel von anderen Versendern wiederholt oder groE beworben, ist davon auszugehen, dass sie sich gut verkaufen. Lieferantenangebote. Jedes Angebot sucht sich seine Nachfrage. Es ist davon auszugehen, dass der Vertrieb jedes Lieferanten seinerseits ein Sourcing danach betreibt, wer fur ihn als Kunde in Frage kommt. Bei bestehenden Lieferantenbeziehungen sind die Lieferantenangebote eine wichtige Quelle der Sortimentsentwicklung. Einkaufsagenturen sind Dienstleistungsunternehmen, die im Auftrag von Handelsunternehmen insbesondere im Ausland das Sourcing und die Beschaffung ubernehmen. Die grofien Sortimentsversender unterhalten eigene Einkaufsbiiros im Ausland, insbesondere in Fernost. Die Informationsbeschaffung und die Suche nach Lieferanten und Produkten findet immer starker im Internet statt.

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Lieferantenpolitik Wenn eine Entscheidung fiir die einzelnen Artikel getroffen ist, erfolgt die Lieferantenauswahl. Normalerweise gibt es fiir einen Artikel mehrere Lieferanten. Wenn es nur einen Lieferanten gibt, ist zu entscheiden, ob der Artikel aus Grunden der Lieferantenpolitik dann in das Sortiment soil. Die Kriterien der Lieferantenauswahl sind zunachst: die Ubereinstimmung von Lieferantenangebot und angestrebter Sortimentsstruktur, die ausgehandelten Einkaufskonditionen (Naheres dazu unter Kapitel 2.1.4 Einkaufskonditionen), die dauerhafte Gewahrleistung der definierten Qualitatsstandards, die Zuverlassigkeit des Lieferanten, insbesondere Termin- und Liefertreue sowie die Wahrscheinlichkeit fiir eine langerfristige Bestandskraft des Unternehmens, die Lieferung von Exklusivprodukten, mit denen kein Wettbewerber beliefert wird. Auch wenn ein Lieferant alle genannten Kriterien in bester Weise erfiillt, kann es sinnvoll sein, mit mehreren konkurrierenden Lieferanten zu arbeiten, um bei stark steigender Nachfrage oder bei unvorhergesehenem Ausfall eines Lieferanten einen Ersatzlieferanten zu haben. Lieferantenausfalle richten im Versandhandel schwere Schaden an, da nicht nur die Nachfrage in der laufenden Katalogsaison nicht bedient werden kann, sondern auch die einmal teuer gewonnenen Kunden enttauscht werden und in der nachsten Saison vielleicht nicht wieder kaufen. Im Grundsatz sollte man die Anzahl seiner Lieferanten jedoch begrenzen, um iiber ein groEeres Einkaufsvolumen je Lieferant die Einkaufskonditionen besser beeinflussen zu konnen. Wegen des hohen Aufwands fiir den Aufbau und die Pflege eines Lieferantenbewertungssystems sind dauerhafte Lieferantenbeziehungen wichtig und wirtschaftlich erfolgreich. Die Optimierung des Lieferantenportfolios gehort zu den wichtigen und folgenreichen Aufgaben des Einkaufs. Es ist zu entscheiden, ob bei GroShandlern oder Herstellern und ob bei Importeuren oder direkt im Ausland eingekauft werden soil. Der Einkauf bei Herstellern und der Direktimport bringen im Allgemeinen Konditionenvorteile. Haufig reichen bei kleineren Versendern dazu jedoch die Einkaufsvolumina nicht aus. Und durch GroEhandler und Importeure wird das Lieferantenportfolio sowie die Moglichkeit von Exklusivvereinbarungen eher begrenzt. Sicherlich gehort es zu den Fiihrungsaufgaben im Einkauf zu iiberpriifen, ob hier stets eine optimale Entscheidung getroffen wird oder ob der Einkaufer vorrangig den Service des GroShandlers nutzen mochte.

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Der Prozess der Angebotserstellung

Ein besonderer Aspekt der Lieferantenpolitik im Versandhandel ist die erwahnte Exklusivitat der gelieferten Produkte. Zur strategischen Positionierung des Sortiments gehort, wie in den Kapiteln 1.3.2 Sortimentsorientierte Kaufmotive und 2.1.1 Strategische Sortimentsentwicklung erortert, haufig die Exklusivitat. Dem unbedarften Kaufer erscheint es sogar oft so, als sei der Versender der Hersteller der Produkte. Einige Versender haben tatsachlich einmal ihren Beginn als Hersteller gehabt (z. B. Ern-Gruppe) oder fertigen heute noch Teile ihres Sortiments selber (z. B. Sport-Thieme). Wenn der Lieferant sich hier nicht zu sehr in die Abhangigkeit vom Versender begeben mochte oder die abgenommenen Mengen fur eine Exklusivfertigung nicht ausreichen, werden bisweilen nur kleinere, rein optische Veranderungen vorgenommen und diese mit einer Eigenmarke des Versenders versehen. Eigenmarken konnen sich zu einer erheblichen Marktbedeutung entwickeln, wie etwa die Marke Privileg fur die weiEe Ware bei Quelle. Hinter Eigenmarken konnen tatsachlich auch originare Produktentwicklungen stecken, die dann von einem Hersteller nach den Vorgaben des Versenders gefertigt werden (z. B. die Dampfdruckreiniger des Tien Versands). Im Bereich der Textilien ist es gang und gabe, dass die Sortimentsversender und die grofSeren Spezialversender auf diesem Gebiet den Herstellern Vorgaben fur die zu fertigenden Produkte machen. Dann handelt sich wirklich im Wortsinn um kreative Einkaufer. Import Die Entscheidung, ob Handelsware selbst (direkt) importiert wird oder von Importeuren gekauft wird, hangt von mehreren Risikofaktoren ab. Liegen vom Originalartikel oder von vergleichbaren Produkten Erfahrungswerte vor, ist die Entscheidung zum Direktimport erheblich leichter. Bei Direktimporten sind folgende Faktoren zu berucksichtigen: Der Vorlauf fur die Produktion (neues Produkt) dauert im Regelfall mehrere Monate. Die Hersteller bestellen das Vormaterial erst nach Erhalt des Auftrags, meistens sogar erst nach Eroffnung des Letter of Credit (LC). Nach der Produktionszeit kommt noch die Transportzeit hinzu. Bei Fernostlieferungen per Schiff sind das etwa vier bis fiinf Wochen. Die Mindest-Produktionen sind meistens der Inhalt eines 20- oder 40Fufi-Containers. Stiickgutfrachten (Sammelcontainer) sind moglich, wenn von einem Lieferanten (Hersteller) mehrere Artikel zur gleichen Zeit bestellt werden, die dann auch noch zur gleichen Zeit produziert werden.

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Nachbestellungen sind moglich, wenn sie die Kriterien der Erstbestellung erfiillen. Die Herstellen legen sich in den wenigsten Fallen Rohmaterialien, z. B. Stoffe, Game, Kunststoffe und Zukaufteile wie Knopfe, ReiEverschliisse, Batterien (bei technischen Produkten) ans Vorratslager. Der Regelfall ist immer eine Auftragsproduktion, ohne Abruf- oder Optionsmengen. Jedes Unternehmen mit Direktimport benotigt vor Ort einen Agenten, ein Einkaufsbiiro oder sonstige Partner, die die Warenkontrolle (zum Produktionsstart fiir das Vormaterial) durchfiihren. Im Regelfall wird wahrend der Produktion noch einmal ein Quality-Check gemacht. Nach Beendigung der Produktion wird die Endkontrolle entsprechend der vereinbarten Qualitatsnormen (z. B. Materialpriifung laut Textilkennzeichnungsgesetz, CE Norm) gemacht. Diese Priifung ist sehr zeitnah bei Produktionsschluss durchzufiihren, denn meistens verfugen die Hersteller iiber keine oder nur sehr begrenzte Zwischenlager-Kapazitaten. AuSerdem drangt der Hersteller nach Produktion auf die Presentation der Papiere fiir die Zahlungsabwicklung. Haufig werden die Vormaterialien iiber Kredite finanziert. Indirektimporte iiber Importeure haben den Vorteil, dass die Warenkontrolle bei Lieferung und die Zahlung nach Lieferung erfolgt. Auch die Abwalzung von eventuellen Forderungen aus dem Produkthaftungsgesetz ist beim Kauf von einem Importeur erheblich leichter. Im Falle der Anwendung des Produkthaftungsgesetzes ist der „Inverkehrbringer", also der Versender, der das Produkt an den Endabnehmer liefert, immer haftbar. Er kann aber auf seinen Vorlieferanten (den Importeur) abwalzen. Dies ist bei Direktimporten aus Fernost sehr schwer, ja meistens unmoglich. Sind die Mengen pro Artikel nicht sehr grofi, kann der Preis, den der Importeur anbietet, durch seine groSen Mengen, die er einkauft, fiir den Versender gegebenenfalls ahnlich gut sein wie bei einem Direktimport. Haufig wird mit Importeuren bei deren Exklusivartikeln auch ein Streckengeschaft vereinbart. Der Versender kauft bei dem Agenten oder dem Biiro des Importeurs direkt. Der Importeur wickelt die Zahlung (meist Letter of Credit des Versenders), die Warenpriifung und die Verschiffung ab. Somit wird das Risiko (inklusive Produkthaftung) bei entsprechenden Vertragen auf den Importeur verlagert, der Versender hat aber den Preisvorteil des Direktimports. Fiir die Leistungen verlangt der Importeur natiirlich eine Provision, oder er rechnet die Leistungen und seine Marge zum Einkaufspreis hinzu. Bei der Kalkulation von Importen ist darauf zu achten, dass alle Kosten (z. B. Verpackungen, Container-Standzeiten, Letter-of-Credit-Gebiihren, eventuell

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Letter-of-Credit-Anderungsgebiihren bei Verschiebung des Verschiffungstermins, Agentur-Provisionen, Zolle, Verzollungskosten, Seefrachten, Versicherungen, Inlandsfrachten etc), beriicksichtigt werden. Es sollte auch immer ein Import-Risikozuschlag kalkuliert werden (fiir eventuelle Nachkaufe von Zusatzmengen bei Importeuren oder fiir nicht geplante Luftfrachtlieferungen). Auch sollte das Wahrungsrisiko durch Absicherung des Kurses bei Eroffnung des Letter of Credit oder durch einen weiteren Risikozuschlag beriicksichtigt werden. Der Direktimport lohnt sich, wenn die Abwicklung durch erfahrene Mitarbeiter oder durch erfahrene Vertragsspediteure durchgefiihrt wird und es zu keinen Storungen (Terminverzogerungen, Qualitatsbeanstandungen bei Quality Checks) kommt. Qualitatsreklamationen nach Empfang der Ware sind in der Regel nur auSerst selten zur Zufriedenheit des importierenden Unternehmens zu regeln. Musterungen Musterungen sind das Ergebnis der Sortimentszusammenstellungen der Einkaufer/Produktmanager. Sie finden mindestens vier Wochen vor Ubergabe/Briefing an die Werbung statt. Der Vorlauf ist notwendig, damit eventuelle Anderungen, die in der Musterung besprochen werden, noch rechtzeitig umgesetzt werden konnen. Vor einer Musterung wird nach den Vorgaben der Geschaftsfiihrung eine Sortimentskonzeption erstellt. Basis dafiir sind intensive Analysen der entsprechenden Vorsaison oder der Vorjahres-Werbemittel. Musterungen werden fiir einzelne Werbemittel, fiir Werbemittelstrecken oder fiir eine gesamte Saison durchgefiihrt. Die Muster der einzelnen Produkte werden korperlich prasentiert, nur in Ausnahmefallen wird per Bild gemustert. Anhand der Vorjahresergebnisse schildert der Einkaufer die erarbeitete und bereits vorher verabschiedete Sortimentskonzeption mit alien Kennzahlen seines Bereichs und der einzelnen Werbemittel, wie z. B. Umsatze und Deckungsbeitrage gesamt, pro Werbemittel, pro Warengruppe, pro Seite, pro Strecke (z. B. bei Milieuabbildungen wie bei Heine), Spannen, Lieferbereitschaften, Retourenquoten,

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Importquoten, gewichtete Verkaufspreise, Wettbewerbsveranderungen, Marktveranderungen etc. Danach prasentiert er sein Sortiment mit Simulationskennzahlen, Planwerten, Best- und Worstcase Betrachtungen, Neuheitenanteilen, Durchlauferquoten, Retourenquoten, Lieferbereitschaften, neuen Lieferanten, neuen Produkten mit Ergebnissen der Qualitatspriifung, Lieferantenbeurteilungen, Sonderplatzierungen etc. Neben dem Einkaufer und der Geschaftsleitung sind beteiligt: Disponent, Einkaufssteuerung, Einkaufsleiter/Beschaffungsleiter, Werbung, Marketing, Qualitatskontrolle. Das Musterungsergebnis wird protokolliert.

2.1.4 Einkaufskonditionen Die zentrale Einkaufskondition ist der Einkaufspreis. Mit steigenden Abnahmemengen und mit der Aussicht auf eine kontinuierliche Abnahme in der Zukunft steigt die Bereitschaft der Lieferanten zu Zugestandnissen. Diese Zugestandnisse miissen zum Teil individuell ausgehandelt werden; zum Teil gibt es auch feste Rabattstaffeln. Gelegentlich sind vom Versender bessere Einkaufspreise gegen hohere Abnahmemengen mit einem entsprechenden Oberhangrisiko abzuwagen. Bisweilen fiihren derartige Entscheidungen mit der Chance, einen preislich sehr attraktiven Artikel anzubieten, zu Veranderungen der geplanten Sortimentsstruktur.

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Manche Versender kaufen von vornherein so grofie Mengen ein, dass ein Teil davon zum Weiterverkauf an andere Handler eingeplant ist; sie iibernehmen dann auch eine GroiShandelsfunktion. Versender, die fur die gleichen Produkte gleichzeitig GroShandler sind, konnen diese Produkte dann als Versender allerdings nicht mehr exklusiv anbieten. Es gibt allerlei Nebenkonditionen wie Vereinbarungen liber die Ubernahme der Kosten des Warenbezugs (Eingangsfrachten, Zolle u. a.), Zahlungsziele, Vertragsstrafen bei Nichteinhaltung von Lieferterminen, Preisabschlage bei Qualitatsmangeln, Vereinbarungen iiber die Rikknahme nicht verkaufter Ware oder Werbekostenzuschiisse der Hersteller. Diese Nebenkosten miissen zur Vergleichbarkeit in eine Gesamtkondition umgerechnet werden. Fur den Versandhandel sind dabei die Fragen der Liefertreue und der Uberhangverwertung von besonderer Bedeutung. Der Versender ist ganz anders als der stationare Einzelhandler darauf angewiesen, dass er genau die Mengen genau zu den Zeitpunkten erhalt, die der Kundennachfrage entsprechen. In der Verhandlung mit den Lieferanten iiber die Konditionen sind mehrere Strategien verbreitet. Durchaus beliebt ist es, den Lieferanten mit der Aussicht auf kiinftig hohere Einkaufsvolumina anfangs schon bei kleineren Mengen zu Konditionszugestandnissen zu bewegen („Zuckerbrot"). Ublich sind auch Rahmenkonditionen iiber ein Umsatzvolumen unabhangig von der Anzahl der georderten Artikel. Bei der Aufnahme neuer Lieferantenbeziehungen oder beim Test neuer Teilsortimente und Artikel ist ein derartiges Vorgehen durchaus gerechtfertigt. Man kann diesen Kniff aber meistens nur einmal anwenden, ohne dass sich dann kiinftig tatsachlich hohere Einkaufsvolumina einstellen. Fiir erfolgreiche Einkaufer, deren Abverkaufe steigen und die somit ihr Wort halten, ist dieses jedoch durchaus ein gangbarer Weg. Eine weitere Strategic zielt darauf ab, mit einem Lieferanten ein so hohes Einkaufsvolumen zu entwickeln, dass hier eine gewisse Abhangigkeit entsteht, mit der man den Lieferanten unter Druck setzen und zu Konditionszugestandnissen bewegen kann („Peitsche"). Gleichzeitig hat der Lieferant durch die Rahmenvereinbarung eine langfristige Planungs- und Absatzsicherheit, die ihm wiederum Vorteile bei den Verhandlungen mit seinen Vorlieferanten bringen. Kontinuitat schafft nicht nur Preisvorteile, auch die verprobte Abwicklung (Produktion und Lieferung) bietet beiden Partnern Kostenvorteile. Die Strategic „Peitsche" findet eine Grenze in den objektiven Moglichkeiten des Lieferanten, der sicherlich auch eine Gegenstrategie durch die Erweiterung seines Kundenkreises einschlagen wird. Und jeder Einkaufer muss sich bewusst sein, dass eine (offene oder verdeckte) Drohung wirkungslos ist, wenn

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nicht die ernste Bereitschaft besteht, sie auch wahr zumachen. Der Einkaufer muss also iiber realistische und erprobte Alternativen verfiigen. Uber die verfiigt er, wenn er eine gute Lieferantenportfolio-Politik betrieben hat. Jeder professionelle Einkaufer wird auf der Klaviatur von „Zuckerbrot und Peitsche" spielen konnen. Es setzt sich jedoch zunehmend die Auffassung durch, dass eine langfristig erfolgreiche Strategic durch ein partnerschaftliches Verhaltnis zwischen Einkaufer und Lieferant gepragt ist. Beide Partner sind, wenn sie denn jeder auf ihrem Gebiet leistungsfahig sind, aufeinander angewiesen. Wenn die Einkaufskonditionen festliegen, kann die Kalkulation der Verkaufspreise erfolgen. Das Thema wird in Kapitel 6.1 Kalkulation und Preispolitik behandelt.

2.1.5 Sortimentsoptimierung Jeder Absolvent eines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums kann sich daran erinnern, was er im ersten Semester gelernt hat: Wenn ein Konsument ein begrenztes Ausgabenbudget hat, das er auf mehrere Giiter verteilen will, dann maximiert er seinen Gesamtnutzen, indem er das Budget so auf die verschiedenen Giiter verteilt, dass der Grenznutzen bei alien von ihm gekauften Gutern gleich ist. Anders ausgedriickt: Der Konsument wiirde bei zwei Gutern A und B also so lange die Verteilung seiner Nachfrage zugunsten des Gutes A verschieben, bis der zusatzliche Nutzen (das ist der „Grenznutzen") einer zusatzlichen Einheit von A iiber dem entgangenen Nutzen der Einheiten von B liegt, auf die er wegen des beschrankten Budgets dann verzichten muss. Wenn die Grenznutzen von A und B gleich sind, wird die Verteilung nicht mehr verandert. Das Problem der Sortimentsoptimierung hat unter bestimmten Voraussetzungen dieselbe Struktur wie das bekannte Problem der Nutzenmaximierung. Die Aufgabenstellung lautet hier: Bei einem festgelegten Katalogumfang sind die Katalogseiten so auf die Warengruppen zu verteilen, dass der Rohertrag (Umsatz minus Wareneinsatz) des gesamten Sortiments maximiert wird. Teilen wir der Einfachheit halber das Sortiment in nur zwei Warengruppen, Hartwaren und Weichwaren (= Textilien). Dann wird man etwa die Katalogseiten mit Hartwaren so lange auf Kosten der Katalogseiten mit Weichwaren ausweiten, bis die letzte zusatzliche Hartwaren-Seite nicht mehr Rohertrag als die letzte zuruckgenommene Weichwaren-Seite bringt (vgl. Abbildung 2). Das Prinzip ist, Starken noch zu verstarken, also Warengruppen mit hohem Rohertrag auszuweiten.

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Der Prozess der Angebotserstellung

Katalogseiten mit Hartwaren H

u. V %

%

4 | 7 ^ ^ K u r v e n gleichen Ertragsniveaus

Katalogseiten mit Textilien T Abbildung 2: Nutzenmaximierung bei alternativen Mittelverwendungen

Wohlgemerkt, es geht um den gesamten (erwarteten) Rohertrag einer Katalogseite. Dazu muss man die Rohertrage fur jeden einzelnen Artikel auf der Seite jeweils mit den erwarteten Absatzmengen multiplizieren. Die einzelnen Einkaufer, die die Verantwortung fur bestimmte Katalogseiten ubernommen haben, geraten dadurch miteinander in einen beabsichtigten Wettbewerb um die knappe Ressource Katalogseiten. Die Einkaufer miissen mit den von ihnen besttickten Katalogseiten rechtfertigen, dass sie einen bestimmten Grenzrohertrag erreichen. In der Praxis betrachtet man natiirlich mehr als zwei Warengruppen, die man auch noch in weitere Untergruppen unterteilt. Theoretisch kann man so jede Katalogseite als einzelne Warengruppe ansehen. Das Optimum ware bei dieser Betrachtungsweise erreicht, wenn alle Katalogseiten den gleichen Rohertrag (der in dieser Betrachtung dann Grenzertrag ist) erreichen. Aus verschiedenen Griinden gelingt dieses in der Praxis nicht. Deshalb wird als Naherungslosung in der Praxis haufig ein Mindestrohertrag je Seite angesetzt, den jeder Einkaufer erreichen muss. Der angesetzte Mindestrohertrag je Seite ist ein Erfahrungswert, der, wenn er richtig festgelegt ist, dem Grenzrohertrag je Einkauf

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Warengruppe entspricht. Es ist klar, dass es bei einer derartigen Grenzbetrachtung immer audi Katalogseiten gibt, die liber dem Grenzertrag liegen. Haufig wird der Mindestrohertrag je Seite auch als Zielsetzung und Fuhrungsmittel fur die Einkaufer angesetzt. Statt des Rohertrags je Seite wird diese Zielsetzung bisweilen auch als Rohertrag pro Quadratzentimeter oder Seitenanteil (eine halbe, eine Viertel-, eine Achtelseite etc.) ausgedriickt, was eine noch feinere Analyse zulasst. Bei Teilsortimenten mit schlechterer Kalkulation oder geringeren Absatzmengen ist es eine Strategic des einzelnen Einkaufers zur Erreichung des Mindestrohertrags, mehr Artikel auf eine Seite zu bringen. Diese Strategic findet ihre Grenze darin, dass durch eine dann zwangslaufig kleinere Darstellung der Artikel die Werbewirkung des Katalogs fiir diese Artikel sinkt. Die Artikel werden am Ende so klein, dass sie buchstablich aus dem Katalog verschwinden. Andere, lukrativere Teilsortimente nehmen dafiir ihren Platz ein. Man kann in vielen Katalogen einerseits Seiten mit gro6 herausgestellten Einzelangeboten und andererseits uniibersichtliche Seiten mit einer Vielzahl von Artikeln finden. Diese Artikelbestiickung der Seiten lasst in der Wettbewerbsbeobachtung sehr gute Schliisse auf die Ertrags- und Absatzlage in den einzelnen Teilsortimenten anderer Versender zu. In der Praxis kann der Mindestrohertrag je Katalogseite nicht als alleinige Richtschnur fiir die Sortimentsoptimierung dienen. In einigen Fallen muss man Teilsortimente, die das Ziel nicht erreichen, zur Aufrechterhaltung der Sortimentskompetenz mitfiihren. Man darf die Optimierung nicht so weit treiben, dass die strategische Positionierung des Sortiments verloren geht. Ein Losungsansatz ist es hier, das Gesamtsortiment in wenige grofiere Teilsortimente einzuteilen und hier einen Mindestwert fiir den durchschnittlichen Seitenrohertrag jedes Teilsortiments anzusetzen. Innerhalb des Teilsortiments, wenn es denn insgesamt geniigend zur Deckung der Fixkosten des Unternehmens beitragt, kann man aus strategischen Griinden ein paar schwachere Katalogseiten mitschleppen. Die Entscheidung sollte davon abhangig gemacht werden, ob die mitgeschleppten Seiten Zusatzseitenumsatze generieren oder ob sie Substitutionsumsatze darstellen. Die bisherige Betrachtung ging von einer begrenzten Anzahl von Katalogseiten aus, innerhalb derer das Sortiment zu optimieren ist. Warum, wird sich der aufmerksame Leser gefragt haben, weitet man nicht einfach das Sortiment und damit den Katalogumfang aus oder versendet zusatzliche Kataloge? Dieses wird ja in der Praxis von erfolgreichen Versendern getan. Das andert jedoch im Prinzip nichts an der Messlatte Seitenrohertrag.

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Jede zusatzliche Katalogseite erzeugt zusatzliche Werbekosten, beim Uberspringen vom Gewichtsgrenzen auch noch zusatzliche Portokosten. Ein zusatzlicher Katalog verursacht in jedem Fall zusatzliche Kosten. Jeder zusatzliche Artikel bringt Logistikkosten, erhoht den Lagerbestand und bedeutet ein zusatzliches Uberhangrisiko. Alle diese Kosten der Katalogausweitung miissen durch einen erwarteten Mindestrohertrag abgedeckt sein. In der Praxis ist der angesetzte Mindestrohertrag in der Regel auch eher kostenorientiert, als dass er den Grenzertrag reflektiert. In einer iibergeordneten Betrachtung kann man statt der Teilsortimente auch die verschiedenen Kataloge, die sich hinsichtlich des Sortiments unterscheiden, optimieren. Dann wiirde man bei einem gegebenen Werbebudget die verschiedenen Kataloge so ausweiten, dass ihre Grenzrohertrage gleich sind. Oder, wiederum praktisch, miisste jeder Katalog einen Mindestrohertrag je Euro Katalogkosten erreichen. Der Mindestrohertrag bleibt also auch bei einer Erweiterung der Betrachtung fur die Praxis ein guter Mafistab zur Optimierung des Sortiments.

2.1.6 Disposition und Beschaffung Wenn schliefilich die Sortimentsentscheidung im Detail gefallen ist, muss die Ware in den Mengen und zu den Zeitpunkten vom Lieferanten beschafft werden, die der Kundennachfrage entsprechen. Diese Tatigkeit heifit Disposition. Es gibt Standardsortimente, die im Jahresverlauf mehr oder weniger regelmaf?ig nachgefragt werden und die auch mittelfristig keinen groiSen modischen oder technischen Schwankungen unterliegen. Mit der Disposition dieser Sortimente wollen wir uns hier nicht beschaftigen, denn sie stellen nicht die Realitat des Versandhandels dar. Der Versandhandel hat in Bezug auf die Disposition zwei besondere Probleme: 1. Die Nachfrage schwankt sehr stark, zum einen saisonal und damit sortimentsbedingt, und zum anderen durch den KataloganstoS verursacht. Die Nachfrage hangt im Versandhandel ganz anders als im stationaren Einzelhandel sehr stark von den WerbeanstoEen und deren Zeitpunkten ab. 2. Die Ware ist im Prinzip nur bis zum Saisonende bzw. bis zum Ende der Kataloglaufzeit verkauflich. Bis dahin muss sie abverkauft sein, sonst entsteht ein Uberhangproblem.

Einkauf

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Die Disposition im Versandhandel hat also folgendes Optimierungsproblem: Entweder ist nicht ausreichend Ware zu dem Zeitpunkt vorhanden, zu dem sie bestellt wird. Dann kann es zu Nachlieferungen (mit Mehrkosten), Retouren, Nichtlieferungen mit Ertragsausfall oder gar zu Kundenverlusten kommen. Oder es ist am Ende der Saison zu viel Ware vorhanden. Dann entsteht ein Uberhangproblem mit Abschriften bei der Uberhangverwertung. (Eine mogliche Losung dieses Optimierungsproblems wird im Abschnitt 63 Disposition, Nachfrageausschopfung und Kundenbindung dargestellt.) Die Disposition ist daruber hinaus fur die Steuerung der Lagerbestande verantwortlich. Die Disposition stutzt sich bei ihren Prognosen auf die Werbeplane und die Response-Erwartungen fur die einzelnen Werbemafinahmen, auf die Erfahrungen der Vorsaison bzw. der Vergleichssaison, auf die individuellen Trendeinschatzungen der Einkaufer, auf die Ergebnisse der Marktforschung und auf die Abverkaufsergebnisse im Laufe der Saison. Zunachst gibt es eine Erstorder beim Lieferanten fur die Warenausstattung zu Beginn der Kataloglaufzeit. In einigen Fallen hat man die Moglichkeit, Pretests durchzufiihren. Dann sendet man Kataloge oder Katalogausziige vor Saisonbeginn an ausgewahlte Kunden und versucht aus den ersten Bestellungen hochzurechnen. Sortimentsversender mit Sammelbesteller-Organisationen laden ihre Sammelbesteller und deren Mitbesteller vor Saisonbeginn mit Incentives zu so genannten Renner/Nieten-Tests ein und rechnen die Bestellungen dieser Events hoch. Wer nicht die Moglichkeit zu derartigen Pretests hat, leitet seine Prognose aus den Erfahrungen vorangegangener Saisons hoch. Dabei spielt es immer auch eine Rolle, wie aggressiv ein Artikel im Katalog beworben wurde. Bei der Erstorder in einer Saison befindet man sich meistens noch auf der sicheren Seite; diese wird in den meisten Fallen auch verkauft werden. Wenn der Katalog ausgesandt ist, gibt es je nach Saison und Versender einen typischen Kurvenverlauf des Bestelleingangs, zu Beginn mit einem sehr steilen Anstieg und dann eine allmahliche Abflachung. Die Kurve hat eine durch die langjahrige Erfahrung erwartete Form (vgl. Abbildung 3). Wenn die Kurve in den ersten Tagen steiler oder flacher als erwartet verlauft, lassen sich bei unveranderter Form der Kurve fruhzeitig Hochrechnungen fiir den weiteren Verlauf der Kurve ableiten. Je nach Lagerbestand aus der Erstorder, Dauer der Nachbeschaffung einschliefilich Transportzeit (Fernost!) und Hochrechnungsergebnis aus dem ersten Katalogversand ergibt sich die erste Nachorder. Je kiirzer die Nachbeschaffungszeit ist, desto langer kann die Nachorder herausgezogert werden,

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um die Prognose auf eine noch fundiertere Grundlage zu stellen. Insbesondere bei exklusiven Produkten kann es erforderlich werden, beim Hersteller vorsorglich Kapazitaten zu reservieren. Zu einem spateren Zeitpunkt wird dann erst bestimmt, welche konkreten Artikel auf diesen Kapazitaten hergestellt werden.

Abbildung 3: TypischerVerlauf eines Bestelleingangs

Sollten sich im Laufe der Saison Schwierigkeiten in der Warenversorgung abzeichnen, muss der Disponent im Notfall geeignete Ersatzartikel aus dem Sortiment in Betracht Ziehen, die dem Kunden angeboten werden konnen. Die Mengen flir die Ersatzartikel sind dann gesondert zu berucksichtigen. Wenn eine zweite oder dritte Nachorder innerhalb der Saison notwendig werden sollte, verfugt man schon iiber eine sehr gute Grundlage fur die Hochrechnung aus den Bestellergebnissen der laufenden Saison. Sicherlich muss man dann besondere Kenntnisse iiber den Saisonverlauf, Feiertage, Urlaubszeiten usw. einfliefen lassen. Spatestens bei der zweiten Nachorder sind die Retouren zu berucksichtigen, die als wiederverkaufliche Ware den Lagerbestand erhohen. Bei Retourenquoten von 40 bis zu 70 % im Textilversand konnen Nachorders bisweilen auch ganz entfallen. Je weiter die Saison fortgeschritten ist, desto besser sind die Kenntnisse iiber die Retourenanfalligkeit einzelner Artikel (Abbildung 4). Einkauf

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Erste Bestel • , n n e n

Worh

Erstorder

i

Pmfihnis

Vorsaison/Spiegelsaison ^l

Resteverwertung AV

Uberhanqe



1. Nachorder

(•

2. Nachorder

4—-—^^^ 4

Retouren Saisonverlauf Kundenaktivierung

Abbildung 4: Schema eines Dispositionszyklus

Die Disposition findet in enger Abstimmung mit der Werbeplanung statt. Im Grunde muss fur jedes Waren tragende Werbemittel gesondert disponiert werden. Zusatzlich miissen diejenigen Werbeanstofie beriicksichtigt werden, die den Kunden aktivieren, einen bereits versandten Katalog noch einmal zur Hand zu nehmen. Disposition Gesamt-Nachfrage-Einschatzung pro Artikel pro Werbemittel pro Saison Abzug von Retouren (wieder einsetzbare Ware) mit Berucksichtigung der Retouren-Laufzeit und -Verfugbarkeit (am Anfang der Saison mindenstens vier Wochen spater verplanbar, am Ende der Saison sind Retouren meistens Uberhange) Unterteilung der Gesamt-PIanmenge (nach Retouren) in -» Erstausstattung -^ Abrufmengen (mehrere Termine mit Abnahmeverpflichtung) -» Optionsmengen mit Entscheidungsterminen (damit der Lieferant, wenn die Option nicht genutzt wird, die Ware noch anderweitig verkaufen kann) Tabelle 26: Kalkulationsschema Hochrechnung

Den Versandhandlern stehen heute systemgestiitzte Dispositionshilfen zur Verfugung, die dem Disponenten automatisch einen Dispositionsvorschlag unterbreiten. Typische Responsekurven, bisherige Bestell- und Retourenergebnisse sowie Saisonkalender sind in diesen Programmen als Rechenalgorithmus hinterlegt. Diese Dispositionshilfen greifen auf die aktuelie Lagerbestandsdatei zu.

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Der Prozess der Angebotserstellung

2.1.7 Einkaufssteuerung Das komplexe Optimierungssystem von Sortimentsgestaltung und Disposition bedarf eines feinen Controllings, das auch Einkaufssteuerung genannt wird. Die Gegenstande der Einkaufssteuerung betreffen alle Optimierungsprobleme des Einkaufs: Plammg von Umsatzen, Rohertragen, Retouren und anderen Kennzahlen nach Warenuntergruppen, Warengruppen bzw. nach Katalogseiten und Werbemitteln Controlling der Umsatze und Rohertrage nach Artikel, Warenuntergruppen, Warengruppen etc. In einem guten Einkaufscontrolling sind jederzeit die Rohertrage und Abverkaufsmengen fur jeden Artikel verfiigbar, sowohl nach Warengruppen als auch nach Werbemitteln zusammengefasst. Dieses ist die unabdingbare Voraussetzung sowohl fiir die Erfolgskontrolle der Werbemittel als auch fiir die Optimierung des Sortiments anhand von Mindestrohertragen je Katalogseite. Hier werden als Steuerungsmittel haufig konventionelle Plan/Ist-Rechnungen eingesetzt. (Manche Artikel werden in unterschiedlichen Werbemitteln gleichzeitig angeboten. Die Kennung, aus welchem Werbemittel der Artikel bestellt worden ist, erreicht man durch einen einfachen Kniff: Man verschlusselt in der Artikelnummer die Werbemittelnummer. Ein Artikel kann demnach mehrere Bestellnummern haben.) Uberwachung der Lagerbestande. Zu hohe Lagerbestande bedeuten Kapitalkosten und das Risiko von Uberhangen. Zu niedrige Lagerbestande erhohen das Risiko, nicht liefern zu konnen oder zu Mehrkosten nachliefern zu mussen. Nachfrage (= Bestellungen) ist noch kein Umsatz, wenn nicht geliefert werden kann. Uberwachung des Lagerumschlags, berechnet als das Verhaltnis von Umsatz (zu Einkaufspreisen) zum Lagerbestand. Der Lagerumschlag lasst sich durch kleine Nachordermengen und kurze Dispositionsrhythmen positiv beeinflussen. Das Verhaltnis von Lieferungen zu Nachfrage heif?t Nachfrageausschopfung; eine gute Einkaufssteuerung wirft auf diese Grofie immer ein wachsames Auge. Der Rohertrag wird nach Ablauf oder am Ende der Saison noch einmal durch die Abschriften geschmalert, wenn die Uberhange zu verwerten sind. Es gibt bei den grofien Sortimentsversendern auch Systeme, die mit kalkulatorischen Abschriften je nach Lagerbestand und Fortschritt der Saison arbeiten und auf diese Weise den Einkauf steuern.

Einkauf

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Daran schlieEt sich eine Uberwachung der Dispositionsgenauigkeit an. Sicherlich liefert die Einkaufsteuerung hier auch die Grundlage fiir den Einsatz von Fiihrungsinstrumenten in der Disposition. Im Sinne eines konstruktiven Controllings gehort hierhin auch die Anpassung der Hochrechnungsparameter bei der systemgestiitzten Hochrechnung wie Bestellverlaufe, Saisonverlaufe, Daten aus der Werbeplanung etc. Die Einkaufsteuerung wirkt bei der Optimierung der Hochrechnungsmethoden mit. Eine fiir den wirtschaftlichen Erfolg eines Versenders entscheidende Grofie sind die Retouren (Naheres dazu in Kapitel 5.4). Wahrend sich das Marketing eher mit dem kundenbezogenen Retourenverhalten beschaftigt, muss die Einkaufsteuerung die artikelbezogene Retourenanfalligkeit im Auge behalten, um dem Einkauf gezielte Hinweise geben zu konnen. Uberwachung des Lieferantenportfolios auf Ubereinstimmung mit der verfolgten Portfoliostrategie (siehe Abschnitt Lieferantenpolitik in Kapitel 2.1.3). Dazu gehoren Fragen der Lieferantenqualitat wie Termintreue, Lieferfahigkeit, Riicknahmevereinbarungen oder Warenreklamationen sowie die Uberwachung einer verabredeten Konditionenpolitik und Konditionenvergleiche. Die Einkaufsteuerung iiberwacht die Beschaffungszeitraume sicherlich im Sinne einer Soll/Ist-Analyse, aber auch durch konstruktive Vorschlage zur Straffung der Beschaffungsablaufe. Zu den Aufgaben der Einkaufssteuerung gehort schlieSlich auch die Uberwachung der Einkaufskosten und der Effizienz des Einkaufs mit den wichtigen GroEen Personalkosten und Reisekosten. Die Vorgehensweise bei Abschriften sei anhand eines Beispiels dargestellt. Die Gesamt-Dispomenge eines Fernostartikels wird bereits zum Erscheinungstermin des Katalogs abgewertet, wenn der Vortest ergibt, dass die Menge nicht verkauft wird. Der Sondervertrieb ubernimmt die Ware mit folgenden Abschlagen: vor Start Hauptkatalog: circa 10 %, vier Wochen nach Start: circa 30 %, Mitte Laufzeit: circa 50 %, vier Wochen vor Saisonende: circa 70 %, Katalogende (Saisonende): circa 85 bis 90 %. Diese Werte beziehen sich auf Mode. Hartwarenabschlage liegen circa 30 % unter diesen Abschlagen. Es werden nur die Mengen abgewertet, die an den Sondervertrieb gehen. Der Sondervertrieb vermarktet gegebenenfalls sogar innerhalb der Saison in Werbemitteln, allerdings an andere Kunden als die des Sortiments versenders.

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Der Prozess der Angebotserstellung

2.2 Entwicklung der Angebotstrager Der Prozess der Angebotserstellung verzweigt sich nach der detaillierten Sortimentsentwicklung einerseits in den Prozess der Disposition und Beschaffung und andererseits in den Prozess der Entwicklung der Angebotstrager. Das Sortiment muss nun so dargestellt werden, wie es dem Kunden prasentiert werden soil. An dieser Stelle des Prozesses setzen wir wieder auf.

2.2.1 Kataloge und Mailings Ablaut Es gibt schriftliche, Waren tragende Werbemittel unterschiedlichen Umfangs. Die Hauptkataloge der Sortimentsversender Otto und Quelle umfassen bis zu 1 400 Seiten. Grofie Spezialversender kommen auf Kataloge von 500 Seiten und mehr. Aber es gibt auch Aktivierungs- und Zwischenkataloge oder Spezialkataloge von Nischenversendern mit 16 oder 32 Seiten sowie alle dazwischen liegenden Umfange. Uberdies gibt es Mailings mit nur einem oder sehr wenigen Artikeln, die auf nur einem Blatt dargestellt werden. In jedem Fall beginnt der Prozess mit einer Konzeption des Werbemittels, bei Katalogen Katalogstrecke genannt. Die Katalogstrecke legt fest, welche Teilsortimente in welcher Reihenfolge der Katalogseiten dargestellt werden. Die Anteile der einzelnen Teilsortimente ergeben sich aus der Sortimentsoptimierung (vgl. Kapitel 2.1.5). Der nachste Schritt besteht darin, die Katalogstrecke in Doppelseiten einzuteilen. Der Kataloggestalter denkt immer in Katalogdoppelseiten, da der Katalog so vom Betrachter wahrgenommen wird. Den einzelnen Doppelseiten werden dann konkrete Artikel zugeordnet. Es ist nach Gesichtspunkten der Sortimentsoptimierung zu entscheiden, wie viele Artikel auf eine Doppelseite sollen. Der Einkaufer im Versandhandel versteht sich immer auch als Verkaufer. Er kauft die Artikel schlieElich danach ein, wie sie verkauft werden konnen. Der Einkauf plant auch im Wesentlichen die Katalogstrecke sowie die Belegung der Doppelseiten mit den einzelnen Artikeln. Natiirlich ist dieses ein interaktiver Prozess mit dem Marketing und den Werbefachleuten. Wenn die Katalogstrecke mit der Artikelbelegung steht, wird das Layout jeder einzelnen Doppelseite entworfen, das heifit die Darstellung der einzelnen Artikel wird auf die Flache der Doppelseite verteilt. Diese Tatigkeit wird klassisch Entwicklung der Angebotstrager

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von einem ausgebildeten Grafiker durchgefuhrt. Die Layoutphase kann in ein Groblayout und in ein Feinlayout unterteilt werden. Manchmal fallen beide Phasen auch in einem Arbeitsgang zusammen. Im Groblayout geht es darum, die Nutzung der verfiigbaren Flache zu bestimmen; dabei werden beabsichtigte Abbildungsgrofie und benotigte Textflache bestimmt. Im Feinlayout werden zeichnerisch Details fur die Warenprasentation bestimmt. Das Feinlayout ist die Arbeitsanweisung fur den Fotografen. Hier wird z. B. festgelegt, dass ein Model sich in eine bestimmte Pose begeben soil, damit ein Detail des angebotenen Kleidungsstiicks sichtbar wird. Der Layouter wird vom Einkaufer gebrieft, und der Einkaufer muss das Layout genehmigen, damit es als Arbeitsanweisung an den Fotografen gehen kann. Der aufwandige Layout-Prozess kann beim Verkauf von Hartwaren etwas weniger kompliziert als beim Verkauf von Textilien sein. Haufig gibt es auch Ubernahmeseiten aus vorangegangenen Katalogen, bei denen nur einzelne Artikel ausgetauscht werden mlissen. Mittlerweile existieren Sofware-Tools, die den Prozess des Layouts wirksam unterstiitzen. Dort sind in Datenbanken Abbildungen und Texte bereits hinterlegt, die dann elektronisch auf eine Bildschirmseite verteilt werden. Dieses Verfahren wird Database Publishing genannt. Es gibt halbautomatische Layoutverfahren, bei denen der Layouter nur noch Korrekturen anbringt. Solchen Verfahren liegen modulare Seitenschemata zugrunde, die im Prinzip fur jede Seite angewendet werden konnen. Besonders geeignet fur die Anwendung solcher Schemata sind Hartwarensortimente (z. B. Westfalia Werkzeug) oder Biicher (z. B. Bertelsmann Buchclub). Der Prozess verzweigt sich nun in Fotografie und Text. Mit dem Layout und den vom Einkauf besorgten Fotomustern sowie gegebenenfalls mit den Models werden die Artikel fotografiert. Hartwaren konnen haufig im Studio fotografiert werden. Mode wird fast immer an einer Location der Erde mit besonders giinstigen Sonnenlichtverhaltnissen fotografiert. Meist nimmt auch ein Vertreter des Einkaufs oder der Werbeabteilung an den Fototerminen teil, um Fotoregie zu fiihren, also die Einhaltung der Arbeitsanweisungen fur den Fotografen zu iiberwachen. Es gibt bisweilen auch die Moglichkeit, Lieferantenfotos der Artikel zu ubernehmen; hiervon wird jedoch meistens Abstand genommen, da diese Bilder sich kaum in ein gestaltetes Seitenlayout einfiigen. In den anderen Zweig des Prozesses, das Schreiben der Katalogtexte, ist der Einkaufer ebenfalls involviert. Der Einkaufer muss zumindest die sachliche Artikelbeschreibung liefern, die er haufig vom Lieferanten erhalt. Die Artikelbeschreibungen mussen die wichtigsten Features, technische Angaben, Materialzusammensetzung u. A. enthalten. Lieferantentexte sind jedoch meistens genauso wenig wie Lieferantenfotos zur direkten Ubernahme in den Katalog

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geeignet. Die Texte miissen werblich iiberarbeitet werden, indem besondere Nutzenargumente herausgestellt, Anwendungen beschrieben und Alleinstellungsmerkmale hervorgehoben werden. Sortimente sind nicht per se exklusiv, sondern sie werden es erst mit der Darstellung, mit der „Story" darum herum. Deshalb kommt den Katalogtexten eine auSerordentliche Bedeutung zu. Die Texte der verschiedenen Artikel eines Katalogs sollen einer einheitlichen Linie folgen, um die Positionierung des Sortiments insgesamt zum Ausdruck zu bringen. (Es gibt einen bekannten, sehr erfolgreichen mittelstandischen Versender mit einer Umsatzgrofienordnung von 200 Millionen € p. a., bei dem der auf die 60 Jahre gehende Inhaber die Katalogtexte zum groSen Teil selber getextet hat und sich jeden Katalogtext zur Genehmigung hat vorlegen lassen. Dieses unterstreicht noch einmal die Bedeutung des Katalogtextes.) Die Artikeltexte werden jedoch meist entweder von ausgebildeten Werbetextern oder auch von geiibten Einkaufern selbst geschrieben. In jedem Fall muss der Einkaufer den Text abnehmen und noch einmal auf sachliche und formelle Richtigkeit (Preise, Bestellnummern etc.) priifen. Diese formelle Priifung wird heute schon durch Systeme unterstiitzt. Neben den Artikeltexten gibt es noch Headlines fur die Doppelseiten und artikelunabhangige Image-Texte. Hinzu kommen die Einstiegs- und Serviceseiten, die gesondert gestaltet werden miissen. Dazu gehoren Imagedarstellungen, Testimonials, Bestell- und Service-Hinweise, Bestellformulare, Allgemeine Geschaftsbedingungen etc. Die Titelseiten werden wegen ihrer besonderen Bedeutung ebenfalls gesondert gestaltet. Die Layouts und Werbetexte sowie die Titel- und Einstiegsseiten werden haufig zur kreativen Gestaltung an eine Werbeagentur gegeben (Naheres dazu im Kapitel 5.4.2 Werbeagenturen). In jedem Fall wird die Druckvorstufe an ein geeignetes Dienstleistungsunternehmen herausgegeben. Dort werden dann die in elektronischer Form vorliegenden und gestalteten Seiten in Druckvorlagen fur die Druckerei umgesetzt. Druckvorstufe, Druck und schlieElich Versand der Kataloge miissen bis zum Ende hinsichtlich Qualitat und Termintreue iiberwacht werden. Der Prozess der Katalogproduktion ist in der Praxis eine komplexe Organisationsaufgabe (siehe Muster eines Terminplans in Abbildung 5). Die Auslieferungstermine liegen aus Markt- und Wettbewerbsgrunden vorher fest; Druckereien und Lettershops reservieren fur diese Termine Kapazitaten. Die Produktionsplane miissen dann unter alien Umstanden eingehalten werden. Ein Versender plant wahrend einer Saison mehrere Werbeanstofie, und die Vorbereitung eines Katalogs reicht bisweilen auch weiter als in die unmittelbare Vorsaison zuriick. Es ist also davon auszugehen, dass immer mehrere Stufen des Prozesses fur unterschiedliche Werbemittel parallel laufen. Entwicklung der Angebotstrager

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Die Werbeleitimg ist bemuht, nicht nur den Ablauf der parallelen Werbemittelproduktion zu koordinieren. Sie optimiert audi die Kosten, indem sie die Ubernahme von Seiten, Fotos, Texten etc. von einem Werbemittel in das andere organisiert. Dieses betrifft nicht nur die Kataloge, sondern auch die Werbemittel zur Neukundenakquisition und Verkaufsforderung, die in den nachsten Abschnitten behandelt werden. Grundregeln der Katalog- und Mailinggestaltung Die Gestaltung der gedruckten Angebotstrager im Versandhandel (Kataloge) ist fur den Erfolg eines Versenders von entscheidender Bedeutung. Die Thematik ist allerdings so umfangreich, dass sie im Rahmen dieser Einfuhrung nicht vollstandig behandelt werden kann. Zu unterschiedlich sind auch die Bedingungen fur die verschiedenen Zielgruppen und Sortimente, als dass hierauf im Einzelnen eingegangen werden kann. Es sollen jedoch Entscheidungsfelder angegeben werden, die bei der Gestaltung von Werbemitteln abzuarbeiten sind. Fur den Versandhandelsmanager ist wichtig zu wissen, dass es bestimmte getestete Erfolgsregeln gibt, von denen er nicht ohne Not abweichen sollte. Der Versandhandelsmanager sollte insbesondere gegeniiber allzu kreativ erscheinenden Neuerungen zunachst skeptisch sein. Er ist sicherlich gut beraten, wenn er sich auf das Urteil erfahrener Versandhandels- und Direktwerbeprofis verlasst, bevor er auf kreativ erscheinende Ideen branchenfremder Werbefachleute eingeht. Auch fur die Gestaltung der Werbemittel gilt: Testen, testen, testen. Vermeintliche kreative Einzigartigkeit kann teuer werden und sollte in jedem Fall hinter dem abgesicherten, professionellen Wissen der Branche zuriickstehen. Die Dialogmethode Die konzeptionelle Grundlage der Direktwerbung ist nach wie vor die von Siegfried Vogele entwickelte Dialogmethode. Diese Methode unterstellt einen fiktiven Dialog zwischen dem Absender des Katalogs oder Mailings und dessen Empfanger. Der Kataloggestalter muss dabei berucksichtigen, dass der Betrachter des Katalogs oder der Leser des Mailings „unausgesprochene" Fragen hat, die vorwegzunehmen und zu beantworten sind. Es muss dafur sorgen, dass keine Frage offen bleibt oder auch dass Fragen vielleicht gar nicht erst auftauchen. Der Dialog mit dem Kunden ist so aufzubauen, dass der Kunde im Verlauf dieses Dialogs uber eine Folge von ,Ja"-Antworten letztlich zum „Ja" beim Kaufabschluss, also bei der Bestellung kommt. Vogele hat eine Reihe von gra-

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fischen und textlichen Gestaltungselementen identifiziert, die ein „Ja" eher befordern oder eher behindern. Diese Gestaltungselemente heiEen Verstarker und Filter. Filter konnen dabei durchaus bewusst eingesetzt werden, um eine ganz bestimmte Zielgruppe zu erreichen. Vogele hat mit einer Augenkamera umfangreiche empirische Forschungen mit Probanden durchgefuhrt. Dabei sind Gestaltungsmerkmale in den Werbemitteln identifiziert worden, die die Blickfiihrung des Betrachters beeinflussen. Die Blickfiihrung des Betrachters lasst sich also unter Ausnutzung dieser Erkenntnisse steuern. Die Zielsetzung ist dabei, dass der Blick des Betrachters dabei nicht aus dem Werbemittel herauslauft, sondern dass er die Verkaufsangebote aufmerksam wahrnimmt. Dem Direktwerbeprofi sind diese Zusammenhange bekannt, und er setzt sie bewusst ein. Im Prinzip muss jedes Gestaltungselement eines Direktwerbemittels einem Zweck gehorchen. Da die Gestaltungsalternativen gegeneinander testbar sind, muss im Prinzip nichts der Willkiir oder der Spekulation iiberlassen werden. Die Gestaltungsergebnisse wirken daher haufig werblich „aggressiv" oder unaufgeraumt. In der Direktwerbung hat allerdings der verkauferische Erfolg Prioritat vor der Aussicht, „in Schonheit zu sterben".

Kataloggestaltung Eine Grundentscheidung bei der Kataloggestaltung ist die Unverwechselbarkeit der „Marke" des Versenders. Wofiir steht der Versender? Womit soil er identifiziert werden? Dieses auEert sich in Gestaltungselementen wie Logo, Slogans („Otto, find' ich gut", „Erst mal sehen, was Quelle hat"), aber auch anderen Elementen, die zum Sortiment und zur Zielgruppe passen. Eine weitere Grundsatzentscheidung der Kataloggestaltung ist das Katalogformat. Kreative Originalitat kann dabei aber nicht das Leitmotiv sein. Ein Katalog sollte eine fur den Kunden nachvollziehbare Struktur haben. Sinnvoll ist bei Versendern mit Sortimentskompetenz ein Inhaltsverzeichnis. Katalogteilstrecken, identifizierbare Blocke, Themenwelten sind moglich. Diese konnen durch gestalterische Elemente wie Farbe, Headlines u. a. herausgestellt werden. Querverweise innerhalb des Katalogs unterstiitzen die Struktur. Eine besondere Funktion haben die Einstiegs- und Titelseiten. Sie sollen in den Katalog hineinfuhren, Spannung und Neugier wecken. AuSerdem sind die Titel- und Rucktitelseite prominente Verkaufsflachen fur so genannte Hot spots.

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Umschlagseiten und Katalogriicken sind auch wichtig fur die Wiederzugriffsfunktion; der Katalog soil schlieSlich iiber eine langere Zeit fur Bestellungen sorgen. Ein Element zur Gestaltung der Katalogstruktur sind so genannte Stopperseiten, die bewusst aus der inhaltlichen und/oder gestalterischen Linie der umgebenden Katalogseiten herausfallen. Sie sollen neue Spannung und Aufmerksamkeit erzeugen. Die Darstellung der Produkte erfolgt konzeptionell nach Doppelseiten, da der Betrachter immer eine Doppelseite wahrnimmt. Daran orientiert sich auch die Beeinflussung der Blickfuhrung. Man versucht Blickfanger stets auf der linken Seite zu positionieren, um den Betrachter auf der Doppelseite zu halten und nicht mit dem Umblattern rechts herauswandern zu lassen. Bei den Layouts unterscheidet man Raster-Layouts und frei gestaltete Layouts. Raster-Layouts empfehlen sich eher fur Hartwaren, technische Artikel oder B-to-B-Kataloge. Dabei kann man durchaus unterschiedliche Raster in einem und demselben Katalog verwenden. Gestaltete Layouts sind bei emotionalen Anmutungen, der Erzeugung von Image oder der Animation durch Storys erforderlich. Solche Storys, bei denen die Models kleine Szenen darstellen, sind ein Gestaltungselement, um die Produkte emotional aufzuladen. Der Katalog kann eher den Charakter eines Handbuchs oder eines Nachschlagewerks haben, was sich z. B. bei B-to-B-Katalogen oder bei Sortimentsversendern empfiehlt. Der Katalog kann auch Magalog-Charakter haben, also iiber die reine Produktprasentation hinaus noch quasi journalistische Zusatzinformationen enthalten. Magaloge konnen Imagewirkungen erzeugen und Authentizitat fur bestimmte Zielgruppen vermitteln, z. B. bei Outdoor-Ausriistungen.

Weitere Gestaltungselemente Im Bereich der Mode- und Bekleidungsversender ist grundsatzlich zwischen der Presentation als gelegter Ware und der Ware am Model zu unterscheiden. Gestaltungselemente bei der Presentation am Model sind Styling, Posing, Casting (Modelauswahl), Fotoauffassung, Beleuchtung, Blickrichtung, Blickkontakt, Emotionalitat u. a. Wichtig ist, dass diese Elemente so eingesetzt werden, dass sie auf die Zielgruppe passen und die beabsichtigte Wirkung hinsichtlich des Images erreichen.

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Weitere graphische Gestaltungselemente sind Farbstimmungen und Fondfarben. Fondfarben sollen sich deutlich von der prasentierten Ware abheben und die Lesbarkeit der Texte nicht beeintrachtigen. Bildhintergrunde etwa bei Outdoor-Aufnahmen diirfen nicht zu unruhig sein und vom Produkt ablenken. Es sollte eine grundsatzliche Linie existieren, was outdoor und was indoor fotografiert wird. Um bestimmte Produktdetails besser darzustellen, wird mit Vignetten gearbeitet. Models werden vor dem Hintergrund der Umgebung dargestellt oder „freigestellt". Bei Freistellungen kann an den Haaren leicht der „Stahlhelmeffekt" auftreten. Falls erforderlich sollten GroSenbeziige von Produkten in der Abbildung hergestellt werden. Von groEer Bedeutung fiir den verkauferischen Erfolg ist die fur den Kunden erkennbare Zuordnung von Bild und Text (Produktcopy). Es mussen klare Regeln existieren, die innerhalb des Katalogs stringent durchgehalten werden. Abweichungen verwirren den Kunden und wirken als Filter. Texte konnen direkt an das Bild platziert werden, in der Regel unter das Bild. Es kann auch mit Suchnummern oder Buchstaben gearbeitet werden. Dariiber hinaus sollten Regeln iiber die Zuordnung der Preise am Bild oder am Text existieren. Ein haufig nicht professionell behandelter Komplex ist die Lesefreundlichkeit, obwohl es hierzu sehr gut abgesicherte Erkenntnisse gibt. Es gilt: Serifenschrift verwenden, nicht in GroSbuchstaben schreiben, rechtsbiindiger Flattersatz statt Blocksatz, Negativschriften auf dunklem Grund vermeiden. Ausgeschlossen sollten Schriften auf strukturiertem Hintergrund sein. Wechsel der Schrifttypen sollten vermieden werden bzw. es sollte eine Anzahl definierter Schrifttypen fur bestimmte Zwecke verwendet werden, wie Produktcopy, Headlines, Preise, Serviceseiten oder Stopperseiten. Abweichung erzeugt Verwirrung. Verwirrung und Leseunfreundlichkeit sind Filter. In der Textgestaltung, eher im Mailing als im Katalog, kann mit Textauflockerungen gearbeitet werden. Dazu gehoren Hervorhebungen (Unterstreichungen, Fettschrift, Farbe), Zwischenuberschriften und das obligatorische P.S., das besondere Aufmerksamkeit erzeugt. Das Augenmerk des Texters richtet sich auf Lesefluss und Fixationspunkte. Definiert werden sollten SchriftgroSe, Satzspiegel und Satzspaltenbreite. Die inhaltliche Gestaltung von Produkttexten muss sich aus Raumgrunden meist konzentrieren. Auch hier gilt besonders: Die Gestaltung muss zweckgerichtet sein. Nutzenargumente, Anwendungsmoglichkeiten, aber auch emotionale Anmutungen stehen im Vordergrund. Es gibt auch sehr textlastige Kataloge, bei denen bewusst grofie Textmengen eingesetzt werden. Im Allgemeinen gilt es jedoch, ermiidende „Bldwiisten" zu vermeiden. Es gibt meis-

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tens Regeln iiber den Textaufbau: Beginn mit einem Teaser oder Produktbegriff, Hauptanwendung bzw. Nutzen, Produkteigenschaften (Selling Points), Behandlung von Materialzusammensetzung, technischen Daten, GroSen und Farbvarianten etc. Verbreitet ist auch die so genannte Bullet-Copy, die die Selling Points des Produkts hervorhebt. Ein besonderes Thema ist die Preiskommunikation. In einer aggressiveren Hardselling-Werbung nimmt sie ein groEeres Gewicht ein. In einer Softselling-Werbung wird eher auf Qualitatsaspekte der Produktprasentation Wert gelegt. Wenn eine hinreichend grofie Anzahl an Produkten vom Kunden als preisgiinstig empfunden wird, iibertragt sich dieser Eindruck auf den gesamten Katalog. Eine Instrument sind hier so genannte Heroes, besonders groE herausgestellte Artikel, die mit einer entsprechend „lauten" Preiskommunikation verbunden werden. Bei der graphisch-typographischen Gestaltung sollte auch eine vom Kunden „erlernbare" Linie durchgehalten werden. Verkaufsforderungselemente ohne direkten Produktbezug sind Testimonials und der iibliche President's Letter, also der Brief des Inhabers auf den Einstiegsseiten. Zur Kataloggestaltung gehoren auch die Serviceseiten und Bestellelemente. Trotz rechtlicher Beschrankungen ist auf Lesefreundlichkeit, Verstandlichkeit und Ubersichtlichkeit zu achten. Widersprikhe sind zu vermeiden. Bestimmte Servicevorteile konnen innerhalb des Katalogs wiederholt werden, wenn sie zu Bestellungen hinfiihren wie z. B. die Telefonnummer. Ein Gestaltungselement sind hier auch Piktogramme und Symbole. Auch hier gilt: Keep it stupid and simple (KISS).

2.2.2 Online-Shop Entscheidend fur den Erfolg bzw. Misserfolg eines Online-Shops sind einige Faktoren, die nicht ausschliefilich mit der reinen Online-Konzeption zusammenhangen und die vom Anbieter bereits in der Planungsphase zu berticksichtigen sind. Online-Shops sind selten als absolute Grdfie planbar, und ohne sie in ganzheitliche Vertriebsstrategien einzubetten, machen sie oft wenig Sinn. Unter Umstanden gefahrdet ein isolierter Auftritt auch betriebswirtschaftliche Erfolge und Ziele. Daher bedarf es im Vorfeld einer genauen Betrachtung des strategischen Ansatzes unter den Gesichtspunkten Businessmodell und Marke.

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Das Businessmodell Mehr als in jeder anderen Vertriebs- und Kommunikationsform sollte im Vorfeld eine griindliche und realistische Einschatzung des Marktes in Verbindung mit dem Medium vorgenommen werden. Bestimmte Produkte, Dienstleistungen oder Informationen sind geradezu pradestiniert, um online vertrieben zu werden. Andere hingegen werden in diesem Medium iibersehen oder bewusst vermieden. Ein konkretes Beispiel sind reine Food- oder Textil-Anbieter, die sich bis heute nicht im Internet etablieren konnten. Das Businessmodell muss alle direkten und indirekten Komponenten umfangreich abdecken. Zu den direkten Komponenten gehoren alle shopspezifischen Aufwande, die ausschlieSlich diesem Medium und Vertriebsweg zuzuordnen sind (Design, Shoppingplattform, Webserver etc.). Die indirekten Aufwande sind z. B. Leistungen, die iiber bereits existierende Bereiche bezogen werden und den Online-Shop nicht mit Schwerpunkt bedienen (IT, Call Center etc.). Auch sollte die mittel- bis langfristige Nachhaltigkeit des Engagements beriicksichtigt werden. Oft werden Engagements bereits nach ein paar Milestones nervos abgebrochen. Gerade solitare Vertriebsformen werden nicht iiber Nacht erfolgreich. Ein schnelles Medium wie das Internet erwirtschaftet einen Return-on-Investment genauso schnell oder sogar schneller als andere Vertriebswege. Der Erfolg eines Online-Shops lasst sich unter drei Nutzenaspekten betrachten: die originar betriebswirtschaftlicheBetrachtung des Online-Shops als Profitcenter, der Substitutionseffekt im eigenen Unternehmen („positiver Kannibalismus"), der Imagefaktor. Bei der betriebswirtschaftlichen Betrachtung spielt eine realistische Kalkulation, die den Online-Auftritt zu Vollkosten abbildet, die Hauptrolle. Dazu gehoren neben den originaren Kosten fur das Front-End, die Shopping-Plattform und die Pflege des Shops auch alle Zusatzkosten. Zu diesen zahlen z. B. die begleitende Offline-Kommunikation (Werbestrecken) und hausinterne Verrechnungskosten. Gerade letztere Aufwande werden oft gerne iibersehen bzw. schon gerechnet, spielen aber fur die Ergebnisrechnung des OnlineShops eine grofie Rolle. Wie viel aufwendiger, langwieriger und teurer ware mancher Online-Auftritt, wenn einige Anbieter nicht auf bestehende Strukturen, vorhandenes Material oder eine Crosspromotion zuriickgreifen konnten?

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So sehr auch einerseits der Vollkostenaspekt in Budgets und Businessplanen vernachlassigt wird, so haufig wird der eigentliche Nutzen, der iiber die betriebswirtschaftlichen Ziele von Umsatz und Ergebnis hinausgeht, nicht deutlich genug herausgearbeitet. Wenn der Online-Shop nicht als solitarer Auftritt, also Marktplatz, konzipiert wurde, sondern komplementar zu weiteren Offline-Vertriebswegen steht, lassen sich Aufwand und Nutzen noch tiefer definieren und kalkulieren. Beispielsweise spielen Substitutionseffekte eine grofe Rolle, wenn Kunden nicht mehr iiber Call Center ihre Bestellungen abwickeln, sondern, gewissermaEen in Selbstbedienung, ihren Auftrag iiber das Internet direkt in die vitalen Systeme des Anbieters platzieren und der Auftrag danach von einem bereits installierten automatisierten Prozess ausgefiihrt wird. An dieser Stelle sollte sich der Einsparungseffekt von personalintensiven Overhead-, Strukturkosten etc. gegeniiber anderen Vertriebswegen in einer gesamtunternehmerischen Kostenbetrachtung wiederfinden. Klassische Anbieter wissen auch den Kostenvorteil der Neukundenakquisition iiber das Internet zu schatzen. Der Budgetaufwand betragt nur einen Bruchteil dessen, was bis dahin fiir klassische (Direkt-)Marketingmethoden ausgegeben wurde. Der messbare Erfolg liegt online nicht selten im zweistelligen Prozentbereich, wahrend sich klassische Mailingaktionen oft mit einem Wert im Promille-, maximal in einem einstelligen Prozentbereich begniigen miissen. Im dritten Punkt geht es darum, nach Moglichkeit den Imagefaktor, besser noch den Imagewert in einem Businessmodell abzubilden. Dieser Wert lasst sich durch seine direkte Korrelation zum Neukundenpotenzial, welches iiber Online-Shops gewonnen wird, genau beziffern. Akquisitionskosten, Neukundenumsatz (Erstumsatz, Nachkaufverhalten etc.) lassen sich extrahieren und Zielgruppen zuordnen, die bis dahin kaum Anstalten gemacht haben, sich beim Anbieter iiber seine traditionellen Vertriebswege einzudecken. Wenn es aber erst einmal darum geht, eine neue Art der Wahrnehmung (Awareness) fiir die Marke zu schaffen, lasst sich der Image-Wert nicht immer in harter Wahrung nachweisen. Gerade langjahrige Traditionsmarken haben mit Online-Shops eine reelle Chance, iiber Jahrzehnte entstandene Patina abzutragen und die Marke zeitgemafier aufzupolieren. Vorausgesetzt, der unter dem Absatz „Marke" erwahnte Spagat zwischen konsequenten Markenfiihrung und medien-/zielgruppenadaquatem Auftritt wird durchgehalten.

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Die Bedeutung der Marke Handelt es sich bei dem Online-Shop um ein Stand-alone-Format in Form eines Marktplatzes und muss das Branding neu aufgebaut und positioniert werden? Oder ist der Online-Shop ein verlangerter Vertriebsarm eines Traditionsunternehmens? Der gemeinsame Nenner aller erfolgreichen Online-Formate, seien sie von Newcomern aus dem Stand initiiert oder von etablierten Unternehmen erganzend installiert, ist, fruhzeitig Wahrnehmung, also „Awareness", fur diesen interaktiven Vertriebsweg zu schaffen. Newcomer unterschatzen oft den Aufwand, die Langwierigkeit, aber auch den Nutzen von Markenbildung. Gerade wenn es darum geht, Marken mit Mehrwerten aufzuladen, die das Unternehmen von Wettbewerbern abgrenzen sollen, sollte man sich iiber die Markenstrategie und ihre Bedeutung im Klaren sein. Zum Beispiel hat es das Unternehmen Amazon, ein im Handel relativ junger Newcomer, innerhalb kurzer Zeit geschafft, eine Marke als Synonym fur „Bucher kaufen iibers Internet" aufzubauen. Wahrend Markenaufbau bei Newcomern die grofite Rolle spielt, ist es bei bestehenden Unternehmen oft die konsequente Markenfuhrung, die im Online-Vertrieb Probleme bereitet. Dabei gilt es in erster Linie die Balance zu halten zwischen stringenter Markenfuhrung einerseits und Eigenwertigkeit des Online-Auftritts andererseits. Dieser Balanceakt wird besonders deutlich, wenn etablierte Unternehmen versuchen, iiber das Online-Medium Zielgruppen zu erreichen, die normalerweise nicht zu ihrer Klientel gehoren. Dabei sind die Chancen ungleich grofier als die Risiken, wenn die etablierte Marke den Ankerpunkt fur Seriositat, Vertrauen und Sicherheit bildet. Dieses Wertefundament stellt eine solide Grundlage fur alle neuen Kundenbeziehungen dar, insbesondere fur die, die iiber das Internet entstehen. Aber jede Marke ist nur endlich belastbar, so dass der Online-Auftritt sich natiirlich der kritischen Frage stellen muss, wie viel Eigenwertigkeit die Dach- bzw. Handelsmarke online aushalt. Gerade die „ Value Propositions" der Traditionsunternehmen stellen eine Riesenchance und einen enormen Vorsprung gegeniiber Start-up-Shops dar. Im Idealfall steht eine eingefuhrte Marke mit ihrem Bekanntheitsgrad fur: Vertrauen, Kompetenz, geringen Vorstellungsbedarf, klaren Fokus versus breite Spreizung, festen Ankerpunkt als Orientierung.

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So ist es z. B. dem traditionsreichen Versandhandler Quelle bereits Mitte 1995 gelungen, durch seinen Internetauftritt das Image und damit die Marke QUELLE signifikant um progressive Elemente aufzuladen. Die Folge war unter anderem die Generierung eines sehr hohen Neukundenanteils, der iiber traditionelle Direktmarketingaktionen schwer zu erreichen gewesen ware. Der Erstellungs- und Abwicklungsprozess Der Erstellung- und Abwicklungsprozess eines Online-Shops ist stark an den Prozess eines traditionellen Handlers, respektive eines Versandhandlers angelehnt. Daher haben Versandhauser noch nach wie vor eine „Pole Position", da sie ihren Online-Auftritt meistens auf iiber Jahrzehnte gewachsene Ablaufe, Systeme und Systematiken aufsetzen konnen. Online-Shopping ist so gesehen kein wirklich neuer Vertriebsweg, sondern nur eine weitere Nuance im Distanzgeschaft, also Versandhandel per se. Umso verstandlicher wird dann die Betrachtung der klassischen Prozesskette, die streng genommen ein Prozesskreislauf, der, erganzt um Online-Spezifika, dem nachfolgenden Schema folgt:

Abbildung 6: Erstellungs- und Abwicklungsprozess von Online-Shops

Dabei handelt es sich beim Massenprozess um Teilschritte in der Prozesskette, die unabhangig von einer direkten Zielgruppenansprache wesentliche Bestandteile eines Retail-Prozesses bilden. Die Individualschritte konnen unter bestimmten Voraussetzungen bereits auf kleinere Kunden-Cluster, wenn nicht sogar auf Einzelprofile abgestimmt werEntwicklung der Angebotstrager

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den. Gerade hier konnen Anbieter der Vision des „One-to~One"-Marketing (1-2-1) sehr nahe kommen. Unter „One-to-One-Marketing" versteht man das Ziel, den Kunden, mit seinem Einverstandnis, als Individuum zu identifizieren und ihn als solches auch zu bedienen. Damit stehen sie im Gegensatz zu klassischen Direktmarketingmethoden, die zwar Zielgruppen fein selektieren konnen, Kunden aber immer noch, verglichen mit dem One-to-One-Marketing, im „GieEkannenverfahren" adressieren. Die Schritte der Prozesskette im Einzelnen: 1. Einkauf, Sourcing steht am Anfang einer Retail-Prozesskette und sorgt fur die Grundversorgung mit distributionsfahigen Waren- und Dienstleistungen, aber auch veraufSerbaren Informationen. Dabei konnen bereits in diesem Schritt Produktinformationen in ein Warenwirtschaftssystem eingepflegt werden. 2. Wahrend der Einkauf das vollstandige Grundsortiment des Anbieters beschafft, handelt es sich bei der Sortimentierung um die verfeinerte Zuordnung zum jeweiligen Medium oder Vertriebsweg. Hier werden Weichen gestellt, um z. B. Produkte dem stationaren Handel, dem Katalogweg, dem Online-Shopping oder sonstigen Vertriebswegen zuzuordnen. Dieses geschieht naturlich nicht nach dem AusschlieSlichkeitsprinzip, sondern kann in einer gewissen verkaufsfordernden Dramaturgic verschiedene Kommunikationsstrecken abdecken. Allerdings sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass jeder Artikel iiber jeden Vertriebsweg gleich gut abzusetzen ist. 3. Beim Erstellungsprozess der Inhalte wird Basismaterial vor- und aufbereitet, um Produkte online stellen zu konnen. Bereits hier setzt die mediumadaquate Umsetzung an, wenn Bilder, Texte, Copytexte, Logos, Labels, Farbtabellen, Glossars etc. fur einen Online-Shop zusammengestellt bzw. erstellt werden. Dieses kann eine Zweitverwertung von bestehendem Printmaterial sein, das fur einen Online-Shop adaptiert wurde, oder auch die Neuproduktion von Material. Hier werden bei einigen Versendern handwerkliche Fehler gemacht, wenn sie z. B. eine vorhandene Katalogproduktion eins zu eins ins Internet umsetzen. Nicht nur, dass die Produktdarstellungen dann kaum iiber Vignettenformate aus Katalog-Doppelseiten hinaus kommen, sondern weit folgenreicher ist es, wenn alle zuvor genannten Elemente eines Produkts in einer Abbildung fest „verbacken" sind und so der Print-Look Online fortgefiihrt wird. Nahere Informationen dazu im Abschnitt Grundregeln der Gestaltung von Online-Shops: der Rahmen in Kapitel 2.2.2.

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4. Der eigentliche Webauftritt wird in dieser Prozessstufe gestaltet. Beim Content-Assembling geht es darum, im Rahmen eines Screendesigns eine emotional ansprechende Gestaltung gepaart mit Funktionalitat auf eine technische Plattform zu stellen. In der Zusammensetzung der Inhalte soilten sich neben dem Kernsortiment komplementare Mehrwerte wiederfinden, die mittels Informationen, Servicekomponenten, Cross-Selling- und Cross-Promotion-Hinweisen die Bedeutung der Basisprodukte unterstreichen, ohne von diesen zu sehr abzulenken. Die inhaltliche Zusammensetzung des Shops kann mit Hilfe eines Redaktionssystems erfolgen und bedarf einer permanenten Pflege. Einzelne Inhalte lassen sich auch automatisiert darstellen. Dann vor allem, wenn auf Produktseiten wesentliche Informationen dynamisch erstellt und in Platzhalter, so genannte Templates, eingespielt werden, aber auch sinnvollerweise wieder dynamisch entfernt werden konnen. Ein empfehlenswerter Schritt, der auf Kundenseite Frust vermeidet, gerade bei Imprasenzen (Imprasenz bedeutet, dass bei Nichtverfugbarkeit der Ware am Lager der Artikel gar nicht mehr abgebildet wird). Diese produkt-immanenten Informationen werden meistens direkt aus dem Warenwirtschaftssystem herausgezogen und in die dafiir vorgesehenen Templates ubernommen. 5. Einen flankierenden Charakter hat die Werbung und Kommunikation bzw. die begleitende Information zum Online-Shop. Diese MaSnahmen werden leider selten geplant, meistens vom klassischen Werbeetat abgezweigt und noch seltener im Budget oder Businessplan des Online-Shops auf der Kostenseite abgebildet. Kein Online-Shop kann aus eigener Kraft entstehen und auf langere Sicht bestehen. Klassische Werbekampagnen sollten den Auftritt flankieren, Cross-Promotion-Aktivitaten aus anderen Vertriebswegen mussen vom ersten Tag an auf den Online-Shop hinweisen. Online muss in diesem Fall von Print gestiitzt werden, auch wenn es einigen widersprikhlich erscheint. Der Riickverweis von online auf Printoder stationare Aktivitaten ist iibrigens genauso legitim. In traditionellen Unternehmen entziinden sich gerade an dieser Stelle „Kannibalismus-Debatten". Nur, sich selbst zu kannibalisieren ist allemal besser und „nahrhafter", als von aufien kannibalisiert zu werden. 6. Die Bestellannahme am Front-End ist der fur den Kunden sichtbare Einstieg in den Bestellprozess. Die Bestellannahme kann zwei Funktionen beinhalten: - Die Bestellung aus einem anderen Vertriebsweg/Medium wie z. B. einem Printkatalog. Hier ist die Eingabemaske gewissermaSen nur ein elektronischer Bestellschein, der allerdings der online-spezifischen Systematik folgen muss. Entwicklung der Angebotstrager

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Die Bestellung aus dem Marktplatz des Online-Shops, die aus dem Kontext des gesehenen Produkts erfolgt.

Die Bestellannahmeprozedur, die damit verbundene Gestaltung und der hiermit gekoppelte Ablauf werden sehr oft in ihrer Bedeutung unterschatzt und entscheiden in einem nicht unerheblichen Mafie iiber das Image, das Vertrauen und die vermittelte Kompetenz des Online-Shops. Dieser Prozessschritt ist in seiner Wirkung ein mindestens genau so starker Schliisselfaktor wie ein ansprechendes Front-End. Es muss zu denken geben, dass bei einigen Online-Anbietern der Bestellvorgang, der in einem virtuellen Warenkorb miindet, von 30 bis 35 % aller Nutzer abgebrochen wird. Die Grunde sind vielfaltig: Der Bestellvorgang ist zu kompliziert, zu undurchschaubar, zu unlogisch, technisch instabil etc. 7. Die Auftragsabwicklung ist der Prozessschritt, der nach dem sichtbaren Schritt der Bestellannahme am Front-End in Gang gesetzt wird. Entscheidend fur die Effizienz, Schnelligkeit und damit den betriebswirtschaftlichen Erfolg des Shops ist eine Abwicklung, die nach Moglichkeit die Bestellung gleich nach ihrer Eingabe, iiber vorhandene so genannte „LegacySysteme" vor-verarbeitet, priift und erfasst. Zu diesen Systemen gehoren unter anderem die Warenwirtschaft und das Datawarehouse. Eingesteuert wird dieser Prozess iiber eine Shopping-Plattform, die die Verkniipfung zwischen Front-End und diesen Basis-Systemen herstellt. Das ShoppingSystem kann eine vom Anbieter oder seinem Dienstleister selbst konzipierte bzw. programmierte und integrierte, proprietare Plattform sein. Alternativ kann die Shopping-Software aber auch auf dem Standardpaket eines Softwarehauses basieren.

Grundregeln der Gestaltung von Online-Shops: der Rahmen Theoretisch muss ein Online-Shop maximal nur aus vier Kernelementen bestehen: den zu veraufiernden Produkten, dem virtuellen Bestellschein, den allgemeinen Geschaftsbestellbedingungen (AGB) inklusive Impressum und, sinnbildlich oben dariiber, einer Navigationsleiste. So weit die Theorie. Wenn man nach einer optimalen Form der Verschmelzung von Form und Inhalt sucht, wird einem sehr schnell bewusst, dass es sich hierbei tatsachlich nur um blanke Theorie handelt. Wie bei jedem Kommunikationsmittel unterscheiden wir namlich zwischen dem gestalterischen Rahmen, also der Form, und dem Inhalt, dem so genannten Content. Dabei wird in der Kombination von Form und Inhalt oft iibersehen, dass sich der Bildschirm eher fur plakative Darstellungen eignet als fur iippige Textwiisten. Was Rahmen und Inhalt vom

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Grundsatz verbinden sollte, ist der Verzicht auf redundantes Beiwerk, das die Website iiberfrachten wiirde. Ziel einer optimalen Gestaltung muss es sein, mittels gestalterischer und technischer Komponenten eine intuitive Oberflache zu schaffen, die das Nutzerverhalten widerspiegelt oder dieses in unaufdringlicher Art pragt und konditioniert. Es ist selbstredend, dass sich im „Look-and-feel" des Online-Shops die Markenstrategie des Anbieters mit seinem Corporate Design (CD) wiederfinden muss. Der grofite Fehler, der bei der CD-Adaptation im Online-Bereich gemacht werden kann, ist die Verleugnung von bestimmten Corporate-Werten oder Markenelementen. Und sei es auch nur, um sich einer bestimmten Zielgruppe anzunahern. Oft werden online sogar Teile der eigenen Markenidentitat verleugnet, nur um die neue Zielgruppe nicht mit traditionellen Werten zu konfrontieren. Dieses fuhrt haufig sogar zu einer Modifizierung von Logos oder Labels, um Markenmerkmale dieser neuen, angeblich progressiven Zielgruppe anzupassen. Das Ende vom Lied sind Kommunikationsbruche liber die unterschiedlichen Vertriebsplattformen hinweg und die Irritation des potenziellen Verbrauchers. Online-Shops bilden mehrdimensionale Einheiten, die iiber verschiedene Ebenen relativ ziigig bedient werden miissen. Dieses unterscheidet den virtuellen Shop von seinen gedruckten Pendants oder dem Point-of-Sale (POS). Existierende Welten oder physische Realitaten nachzubauen, ergaben fur einen Online-Shop keinen Sinn. Daher sollte auf jede Eins-zu-Eins-Ubernahme aus gedruckten Katalogen verzichtet werden. Dennoch scheuen sich selbst groEere Anbieter nicht, bereits „verbackene" Katalogseiten, auf denen alle Produktelemente auf engstem Raum untergebracht und miteinander verschweiSt sind, auch im Internet einzusetzen. Auch wenn die Versuchung noch so groE sein mag, Kosten durch Zweitverwertung von Material zu sparen, in der Konsequenz leidet nicht nur die Anmutung und Asthetik des Shops, sondern man verbaut sich dadurch viele eigentliche Vorteile der Online-Prasenz. Diese Vorteile liegen auf der Hand, denn wahrend der gedruckte Katalog ein linear-sequenzielles Medium mit fester Seitenabfolge ist, liegen die Hauptchancen von Online-Angeboten in ihrem interaktiven Zugriff und einer konsequenten Verkniipfung, z. B. iiber Navigationsroutinen oder eine Cross-Selling-Matrix (siehe Inhalt).

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Der Katalog schrankt eine Angebots- und Cross-Selling-Vielfalt auf ein paar cm 2 pro Seite ein. Und vor lauter Informationen, die pro Artikel untergebracht werden miissen, quellen diese Seiten auch formlich iiber. Farb-, GroSentabellen mit Angaben von Bestellnummern-Orgien wollen im Kontext des Produkts untergebracht sein, genauso wie unzahlige andere verkaufsfordernde Elemente. Dies alles fiihrt zum Informations-,, Overkill" auf Doppelseiten und erschlagt den Rezipienten formlich. Obwohl sich die Online-Prasentation von der Katalogdarstellung unterscheiden sollte, gelten dennoch ahnliche gestalterische Regeln wie in einem Printmedium, was Farbklima, Typographic, Seitenkomposition etc. angeht. Letzten Endes muss man da von ausgehen, dass ein Bildschirm in seiner heutzutage iiblichen GrofSe von 17 Zoll, aus einer Entfernung von 60 bis 80 cm betrachtet wird. Und da der Mensch immer mehr in diesem 17 Zoll-Format und weniger in DIN A4 kommuniziert, kommuniziert er dementsprechend im Querformat und wird dadurch gewissermaSen auch zum Querdenken animiert. Dieses zieht automatisch eine neue Art von Seitenkomposition nach sich, die es schaffen muss, alle wichtigen Elemente in diesem Format unterzubringen. Naturlich lassen sich Bildschirmseiten fast unendlich weiter-„scrollen", was aber zu Lasten der Bedienerfreundlichkeit geht. Daher an dieser Stelle auch die klare Empfehlung, alle wesentlichen Shopelemente so unterzubringen, dass sie in mit einer Standard-Grafikauflosung und mit dem meistgenutzten Browsern auf einen Blick, ohne zu scrollen sichtbar sind. Wahrend man friiher bei der Gestaltung noch Rucksicht auf unterschiedlichste Auflosungen und Browserversionen nehmen musste, haben sich bestimmte Parameter mittlerweile als gangige Standards durchgesetzt. Eine Auflosung von 1024 x 768 und der Microsoft Internet Explorer sind solche Standards, die aktuell auch die privaten Haushalte dominieren. Bessere technische Ausstattungen und grofiere Bandbreiten verfiihren naturlich auch dazu, immer wieder an die Grenzen des technisch Machbaren zu gehen und samtliche multimedialen Features auszureizen. Davon muss, gerade in einem Online-Shop, dringend abgeraten werden. Animationen, Video, Audio sollten sparsamst bis gar nicht benutzt werden. Hochstens im Produktkontext, allerdings nur auf Interaktion des Anwenders hin, also gewissermafien „on demand". Dort sollen diese Elemente die „Heros", namlich die Produkte, unterstreichen und nicht von diesen ablenken.

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Was sich allerdings durch groSere Bandbreiten, also schnellere Netzgeschwindigkeit, verbessert hat, ist der groSziigigere Einsatz von „ Stills", also Standbildern. Wahrend man vor ein paar Jahren noch mit briefmarkengroEen Vignetten arbeiten musste, um die Geduld des Surfers beim Seitenaufbau nicht iiberzustrapazieren, ist man heute dazu iibergegangen, Bilder grofier und flachiger einzusetzen. Zusatzlich wurde die durchschnittliche Bildanzahl pro Artikel erhoht, um diese z. B. in verschiedenen Farben, von unterschiedlichen Seiten oder in verschiedenen Skalierungen zu zeigen. Diese Bild-Features werden manchem hochpreisigen oder erklarungsbedurftigen Produkt gerechter und stellen einen unschatzbaren, verkaufsfordernden Wert fiir den Online-Shop dar. Sicherlich eines der wichtigsten Elemente einer Website ist die Navigationsleiste. Zwar ist vieles an der Gestaltung einer Navigationsleiste Geschmackssache, genauso wie ihre Positionierung. Aber manche ihrer Komponenten entscheiden in nicht unerheblichem Mafi iiber den Erfolg eines Online-Shops. Denn Navigationsleisten sollten auf jeden Fall sein: sofort als solche erkennbar, ubersichtlich, vollstandig, logisch, intuitiv verstandlich, aus Nutzersicht schliissig, einmalig im Sinne, dass es iiber den gesamten Shop hinweg nur eine Navigationsleiste geben darf, durchgangig in Gestaltung, Position und Inhalt, mehrdimensional. Gerade der letzte Punkt kann dem Nutzerwunsch nach einem 2-bis-3-ClickShopping entgegenkommen. Durch eine geschickte Programmierung lasst sich z. B. das Durchhangeln durch einen Online-Shop mittels mehrerer Mausklicks auf ein Minimum beschranken. Empfehlenswert sind so genannte Roll-over-Funktionen, die sich nach einfacher Bewegung mit dem Mauszeiger iiber (Roll-over) den Link zu Pull-down-Meniis offnen. So lasst sich gerade beim Navigieren durch die Produktauswahl ein einzelnes Produkt relativ schnell finden, indem der Anwender den Artikel-Strukturbaum von der Artikelgruppe bis zum Einzelartikel verfolgt, ohne auch nur einmal eine Maustaste gedriickt zu haben.

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Grundregeln fur die Gestaltung von Online-Shops: der Inhalt/Content Wenn beim Rahmen, also der Gestaltung oft weniger mehr ist, so spricht beim Content nichts dagegen, einen Online-Shop inhaltlich etwas aufregender zu gestalten. Warum z. B. nicht auch online den Regeln der klassischen Werbung folgen, dem A.I.D.A.-Prinzip (Attention, Interest, Desire, Action)? Die Aufmerksamkeit (A) des Rezipienten kann durch geschickte Cross-Promotion oder schlichte Bannerwerbung in adaquatem Umfeld erreicht werden. Entweder bereits auflerhalb des eigentlichen Online-Shops oder, wenn der Anwender bereits auf der Homepage ist, durch eine klare Struktur, die sofort die Einzigartigkeit des Anbieters und seiner Produkte erkennen lasst. Ziel muss es auch im Online-Shopping sein, mittels der ^Unique Selling Propositions" (USP) relativ fruh auf sich und seine Leistungen aufmerksam zu machen. Es spricht auch nichts dagegen, sich klassischer Marketingmethoden zu bedienen. Ein Promotionartikel mit einem hoch attraktiven Angebot wirkt auch online manchmal Wunder. Gerade wenn man als Neukunde einen Online-Shop testen mochte, ohne gleich eine groSere Bestellung abzugeben. Das Kundeninteresse (I) weckt man online nicht nur durch das originare Produktportfolio, sondern auch durch menschliche Elemente, die gerade im Internet leider immer mehr in den Hintergrund geraten, obwohl sie gerade da zu vertrauensbildenden Mafinahmen beitragen konnen. Authentische Testimonials von anderen Kunden, Fachleuten oder der Geschaftsfiihrung bilden eine Briicke zwischen dem Interessenten und dem Anbieter. Sie wecken auch Interesse herauszufinden, um was fur Produkte es sich tatsachlich handelt, wenn andere Zeitgenossen diese sachkundig, uberzeugt und uberzeugend anpreisen. Das Verlangen/Desire (D) nach Produkten lasst sich steigern, wenn diese in einer bis dahin noch nie dagewesenen Art und Weise erklart, demonstriert und offeriert werden. Dazu gehort nicht nur, das eigentliche Produkt auszuloben, sondern spatestens an dieser Stelle die Mehrdimensionalitat des Online-Mediums voll auszureizen, um uber Verknupfungen Mehrwerte darzustellen. Dadurch lassen sich z. B. erklarungsbediirftige Waren- und Dienstleistungen mit mindestens der gleichen Kompetenz wie bei einem realen Verkaufer plastisch erlautern. Technische Produkte werden nach klaren Vorgaben (Preisvorstellungen, technische Spezifikationen, Marke etc.) aus einem Gesamtsortiment herausgefiltert. Glossare und technische Lexika vermitteln Know-how und bauen beim Verbraucher glaubwiirdig Nutzbarrieren ab. Eine immer aktuell gepflegte und passende Cross-Selling-Matrix erweitert das Spektrum um das Kernprodukt herum. Dadurch werden z. B. Zusatzkaufe oder ein „Upselling" ausgelost.

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Dies ist gerade eine Chance fur Modeanbieter, die sich nach wie vor im Web schwer tun. Vielleicht aber auch, weil weit und breit kein (virtueller) Verkaufer zur Seite stent, um Modetipps und -trends zu verraten. Ein interaktiver Typberater, der nach Eingabe aller Typenspezifikationen auf passende Kollektionen oder Accessoires hinweist, ist im Textilbereich hochgradig verkaufsfordernd. Erst recht, wenn die Cross-Selling-Matrix gepflegt ist und z. B. im Kontext einer empfohlenen Kollektion auf dazu passende Schuhe, Giirtel oder Schmuck verweist. Oder auch nur um diskret auf das andere, zwar etwas teuere, aber daftir umso wertigere Modell hinzuweisen. Also fast wie im richtigen Leben. Was fehlt, ist nur noch die Aktion (A), um den Kunden zur Kasse zu bitten und die Bestellung damit zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Zur Erinnerung: Genau hier finden die meisten Bestellabbruche statt. Voile Warenkorbe werden in den virtuellen Gangen unseres Shops liegengelassen. Wenn der Frust iiber komplizierte und missverstandliche Abwicklungsprozesse iiberwiegt, konnen vorher Verlangen (D) und Lust noch so groE gewesen sein, der Kunde verlasst nicht nur den Warenkorb, sondern den ganzen Shop. Auch wie im richtigen Leben - Frust als Lustkiller. Als kleiner psychologischer Trick wirkt manchmal ein simpler Order-Starter, der manchem klassischen Bestellschein auf die Beine hilft. Es gilt, dass Online-Zielgruppen eine relativ niedrige Frustrationsschwelle und damit ein eher unloyales Smart-Shopper-Verhalten an den Tag legen. Und Tatsache ist, dass Online-Shops nicht nur an ihrem vordergriindigen Auftritt gemessen werden, sondern auch daran, ob sie das Qualitatsversprechen, das sie am Front-End abgeben, auch konsequent und durchgangig bis zur Auftragsabwicklung durchhalten und erfiillen.

2.2.3 CD-ROM, DVD und mobile Kommunikation CD-ROM und DVD Als das Medium CD-ROM Mitte der 90er Jahre auch von Consumer-PCs nutzbar wurde, lagen die Vorteile auf der Hand: hohe Speicherkapazitat, auswechselbar, (wieder)beschreibbar, schnell (im Vergleich zu Disketten), giinstig in der Massenproduktion und Distribution. Aufgrund dieser Vorteile erschien den groEen Versandhausern dieses Medium pradestiniert, um dariiber Teile ihrer Produktpalette, spater ganze Kataloge abzubilden. Erklartes Ziele war - neben dem Wunsch, sich ein progressives Entwicklung der Angebotstrager

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Unternehmensimage zu geben - die Ansprache neuer, j lingerer Zielgruppen. Aufierdem sollte die CD-ROM als Experimentierplattform fur neuartige Produktprasentationen genutzt werden. Sicherlich spielte auch der betriebswirtschaftliche Faktor eine Rolle. Nur angesichts der noch relativ geringen Verbreitung von CD-ROM-Laufwerken und des verhaltnismafiig hohen Produktionsaufwands war die Deckungsbeitragsrechnung bei den Versendern nicht die erste Prioritat. Allerdings waren die damaligen Formate fur ihre Verhaltnisse revolutionar. Produkte wurde erstmalig grofiformatig gezeigt und nicht mehr als kleine Vignette wie in Katalogen. Das GroSversandhaus Quelle verzichtete beispieisweise bewusst auf eine Quasi-Katalog-Darstellung und den Slogan „Der Katalog auf CD-ROM", so wie es Wettbewerber machten, die ihre Printwerke in Doppelseiten-Optik eins zu eins auf CD-ROM pressten. Stattdessen machte man sich die hohe Speicherkapazitat fur multimediale Prasentationen zunutze. Neben flachigen, hochwertigen Produktabbildungen brachte man weitere grafische Elemente, Videos, Animationen, Musik und allgemeine Audioeinspielungen unter. Gerade die Multimedialitat war es, die den bis dahin statisch prasentierten Produkten Leben einhauchte und diese in neuer Qualitat darbot. Beinahe perfekt wurde das Ganze, als es die GroSversender schafften, das Offline-Medium CD-ROM iiber das damalige Bildschirmtext-System (BTX) der Telekom an die Auftragsabwicklungssysteme der Anbieter zu koppeln. Durch diese Konvergenz wurden nicht nur Auftrage abgewickelt. Der Nutzer erhielt durch das Online-Medium BTX zusatzliche, tagesaktuelle Informationen inklusive Prasenzauskiinfte iiber Artikelverfiigbarkeiten. Mit der verstarkten Verbreitung des Internets ab 1995 verlagerten die meisten Handelshauser ihre Neue-Medien-Aktivitaten auf dieses Online-Medium. Das war nicht nur eine Prestigefrage, sondern letzten Endes auch eine Frage der verfiigbaren Budgets, die es auf dieses neue, viel versprechende Medium zu konzentrieren gait. Aus technischer Sicht hatte damals das Internet kaum Vorteile gegeniiber einer CD-ROM, aufier dass der Interessent beim Internet immer den Eindruck hatte, das Gesehene sei tagesaktuell, was de facto meistens nicht stimmte. Aus heutiger Sicht macht der Versandhandelsbetrieb mittels CD-ROM oder DVD kaum noch Sinn. Das Internet hat die meisten seiner Kinderkrankheiten, die das Medium schlechter als Offline-Medien abschneiden liefien, iiberstanden. Es ist durch hohere Bandbreiten schneller geworden, so dass auch multimediale, anspruchsvolle Prasentationen keine Illusion mehr sind. Beim Inter-

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net liegt die Haushaltspenetration bei iiber 50 Prozent; dies ist eine gesunde Basis, um auch einen betriebswirtschaftlichen Nutzen zu bringen. Wahrend CD-ROM und DVD physikalische Guter sind, die distribuiert werden wollen, stehen beim Internet Produktions- und Distributionskosten mittlerweile in einem vernunftigen Preis-Leistungs-Verhaltnis, vor allem wenn Inhalte in Bild, Ton, Text, Bewegtbild etc., also die voile Multimedia-Palette, innerhalb kiirzester Zeit aktualisiert werden konnen, was bei reinen Offline-Medien wie CD-ROM und DVD nicht der Fall ist. Aus heutiger Sicht kann dem Versandhandel fur diese Datentrager die folgende Empfehlung gegeben werden: Diese Medien sollten bei hochwertigen, erklarungsbediirftigen und animiert zu demonstrierenden Produkten eingesetzt werden. Fur Produktdemonstrationen mit „ Full-Screen "-Videos sind CDROMs, besser noch DVDs, ideal geeignet. Die Kopplungsmoglichkeit mit dem Internet gibt dem Anbieter zusatzlich die Moglichkeit, tagesaktuelle Informationen einzuspielen und damit die Aktualitatsspanne des Mediums zu erhohen. Mobile Kommunikation Bei der Betrachtung elektronischer Medien, die geeignet sind, Konsumenten zu erreichen und die sich zum Einsatz im Versandhandel eignen, spielt die mobile Kommunikation eine immer wesentlichere Rolle. Darin zusammengefasst finden sich mobile Endgerate wie Handys, PDAs (Personal Digital Assistants), Navigationssysteme etc. Zwar steckt der mobile Handel (Mobile bzw. M-Commerce) noch in den Kinderschuhen, doch konkrete Entwicklungen sind bereits iiber das Entwicklungsstadium hinaus bzw. laufen schon. Allerdings geht es auch oder gerade in der mobilen Kommunikation darum, redundante Formate und Applikationen zu vermeiden, um die Anwendung naturlichen Nutzgesetzmafiigkeiten anzupassen. Aufgrund ihrer Grofie weisen mobile Endgerate scheinbar zwei wesentliche Handicaps auf: Das Display ist fur emotionale Darstellungen zu klein und die Eingabeart (Tasten, Stift, Touchpanel etc.) zwingt zu hochst disziplinierter Interaktion. Das bedeutet, dass reine „Hardselling"-Methoden, also das platte Anpreisen von Waren/Dienstleistungen und die Aufforderung zum Kaufen, wenig phantasievolle Anwendungen sind, die auch eher auf Desinteresse stolen diirften. Deshalb empfiehlt sich der Einsatz mobiler Kommunikation im Rahmen und als Bestandteil eines cross-medialen Marketingmixes. Dann sind z. B. Anwen-

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dungen denkbar, die statische Printwerbungen (Anzeigen, Plakat etc.) mit Interaktions- und Bestellmoglichkeit per mobilem Endgerat koppeln. Dies ist fur Versender durchaus von Bedeutung, denn damit lassen sich ansonsten „tote" Anzeigen mit Werbe-, Reaktions- bzw. Responsekennzeichen und -element versehen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Neben einer weiteren Werbeerfolgskontrolle fur den Versender bietet dieser seiner potenziellen Zielgruppe einen zusatzlichen Reaktionsweg an, den diese immer mehr direkt verfiigbar hat. Wenn sogar im Vorfeld mittels permission Marketing" die Autorisierung des Kunden eingeholt wurde, ihm auf Basis seiner Profildaten passende Informationen zukommen zu lassen, so sind Anwendungen denkbar wie: Reminder-Service - Der Kunde wird iiber sein mobiles Endgerat zu einem bestimmten Termin an Events und Aktionen erinnert. Dabei kann ihm ubermittelt werden, dass z. B. ein Wunschprodukt gunstiger geworden oder wieder verfiigbar ist. Oder dass jemand Geburtstag hat und ein Geschenk im Rahmen seiner Kundenvorgaben bestellbar ist. Reduziert auf ein paar Basisinformationen kann iiber das Endgerat dann auch die Transaktion erfolgen. Location Based Marketing (LBM) - LBM auch geo-codiertes Marketing genannt, ist eine neuere, sicherlich eine der interessantesten Marketinganwendungen. Voraussetzung ist, dass der Kunde iiber seinen Mobil-Provider zugestimmt hat, dass er und sein aktueller Standort nicht nur lokalisiert werden diirfen, sondern dass ihm auch auf Basis dieser Informationen Location Based Services, also Standort-bezogene Informationen angeboten werden diirfen. Diese Einwilligung lasst sich auch kurzfristig wieder zuriickziehen, so dass die Kontrolle zu jeder Zeit in den Handen des Anwenders bleibt. Nun sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, um im Dreieck von Kunde, Zeit und Ort auf Kundenprofile zugeschnittene Angebote mit Ortsbezug „just in time" einzusetzen. Unter den Versendern profitieren diejenigen Unternehmen am meisten von LBM, die im Rahmen ihrer Multichannel-Strategie auch den stationaren Handel als Vertriebskanal einsetzen. Dann konnen Kunden gezielt mit attraktiven Angeboten zur richtigen Zeit passend auf ihr Profil zugeschnitten in Geschafte gelenkt werden. Sie konnen z. B. durch den Reminder-Service aufmerksam gemacht werden, dass Wunschprodukte nicht nur gunstiger geworden sind, sondern auch gleich in der Nahe am POS begutachtet und gekauft werden konnen.

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2.2.4 TV-Shopping Grundsatzlicher Ablauf TV-Shopping hat sich in Europa, respektive Deutschland, im Gegensatz zu den USA relativ spat entwickelt und mehrere Anlaufe nehmen miissen, um sich als Verkaufs- und Vertriebsform zu etablieren. Wobei dies noch etwas zu hoch gegriffen ist: Fur manchen Kunden, aber auch Handler ist dieser Handelsweg noch zu exotisch, als dass man hier von einem selbstverstandlichen Absatzkanal reden konnte. Erstaunlich eigentlich, denn Deutschland bietet ideale Voraussetzungen fur Tele-Shopping. Es ist das Land mit weltweit einem der hochsten Versandhandelsanteile am jeweiligen Einzelhandelsumsatz. Der Versandhandel hat eine hohe Akzeptanz - und Teleshopping ist, wie OnlineShopping, ebenfalls Versandhandel per se. Dieses impliziert natiirlich, dass ein GroEteil aller Prozesse und Ablaufe klassische Versandhandelsablaufe sind. Im Erstellungs- und Abwicklungsprozess finden sich in den Teilprozessschritten ahnliche Ablaufe wie im klassischen Versandhandel und im elektronischen Handel. Lediglich die Content- und Formataufbereitung unterliegt einer anderen Gesetzmafiigkeit. Als die sensibelste Schnittstelle im Ablauf diirfte die Mensch-Mensch-Schnittstelle gelten - die Auftragsannahme durch ein Call Center. Hier geht es darum, das Vertrauen, das im Vorfeld durch die Moderation und Presentation aufgebaut wurde, nahtlos weiter zu transportieren und durch Annahme- und Abwicklungskompetenz zu rechtfertigen. Ein Kommunikations- und Qualitatsbruch an dieser Stelle hat nicht nur unmittelbar Einfluss auf den aktuellen Auftrag, sondern weit reichende Konsequenzen. Einmal abgeschreckt, wird der Kunde sicherlich nicht schwer zuriickzugewinnen sein. Erwahnenswert ist die Auftragsannahme nicht nur iiber Call Center und Internet, sondern auch mittels elektronischer Spracheingabe oder „ TouchTone "-Eingabe. Diese in den USA oft genutzte Eingabetechnik ermoglicht dem Kunden eine direkte Bestellung und dem Anbieter hohe Effizienz bei geringen Erfassungskosten. Der Kunde spricht entweder, gefiihrt nach einem automatisierten, akustischen Leitfaden, seine Bestellung ins Telefon oder gibt diese mittels seiner Telefontastatur ein. Letzteres kommt der Hemmung vieler hiesiger Kunden entgegen, die ungern mit einem Computer „reden" wollen, setzt allerdings auch die entsprechende Netz- oder Endgerate-Technik voraus.

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Was die Steuerung des gesamten Betriebs angeht, kann nicht oft genug betont werden, dass diese Vertriebsform von versandkundigen Mitarbeitern und Managern gesteuert werden sollte. Ein Fehler der Pionierzeit war es oft, Mitarbeiter aus dem klassischen Broadcasting, also der TV-Szene zu rekrutieren, in der Annahme, man wolle nur ein weiteres Fernsehformat entwickeln. Natiirlich ist TV-Know-how gefragt, gerade wenn es um den Sendebetrieb oder Sendetechnik geht. Aber weder Marketing-basierte, kaufmannische, juristische, noch operative Elemente haben im Regelfall auch nur ansatzweise mit dem Betrieb eines Fernsehsenders zu tun. Das Fernsehsignal ist das Tragermedium, darauf setzt allerdings ein vollwertiger Versandhandelsbetrieb auf, idealerweise durchgangig gesteuert von Versandhandelsprofis - vom Geschaftsfiihrer bis zum Retourenabwickler. Live-Ausstrahlungen

Eines der elementaren Erfolgsrezepte von Teleshopping ist die Live-Ausstrahlung, im Gegensatz zu vorgefertigten Formaten. Der Beweis wurde in Deutschland Mitte der 90er Jahre erbracht, als man z. B. die aufgezeichneten Sendungen sukzessive durch Live-Moderationen ersetzte. Die effektive Reichweite entwickelte sich sprunghaft nach oben. Das heif?t, eine tatsachlich zuschauende Zielgruppe, ein Bruchteil der technischen Reichweite, nahm dramatisch zu. Was natiirlich auch einen Einfluss auf den betriebswirtschaftlichen Erfolg hatte. Die Griinde fiir den Erfolg und die Vorteile eines Live-Formats liegen auf der Hand: Kein steriles Abspulen von „Verkaufskonserven", sondern der Charme und die Authentizitat des „Hier und Jetzt". Echte Einbindungsmoglichkeit des Zuschauers durch so genanntes „Call~m". Zuschauer rufen wahrend der Sendung an und fungieren als authentische Testimonials zu Qualitat, Service des Unternehmens oder geben selbst, von Kunde zu Kunde, Tipps zum gezeigten Produkt. Kopplung von Sende-Format und -Inhalt mit Backoffice-Systemen (Warenwirtschaft, Call Center etc.), dadurch Nutzung von Marketinginstrumenten wie Restbestandsanzeige u. a. in Echtzeit. Dramaturgische Steuerung von Darstellungsintensitat und Ausstrahlungszeit pro Produkt, je nach Absatzmenge, Zuschauerreaktionen etc.

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Technische Ausstattung Kostenoptimierte Produktionen ohne QualitatseinbuEen stellen die wesentliche Basis in einem betriebswirtschaftlich erfolgreichen Sendebetrieb dar. Dabei muss der Anbieter sehr friih die Wahl treffen zwischen Produktionsmodellen mit groSerem Einsatz von Personal oder weitgehend automatisierten Prozessen. Gerade in Deutschland stand ersteres Vorgehen als Messlatte fur Premium-Teleshopping. Viele Mitarbeiter sollten vor, wahrend und nach der Produktion ein Hochstmafi an Ausstrahlung- und Darstellungsqualitat sicherstellen. Heraus kam eine Hochglanzproduktion, nett anzusehen, aber mit einigen kaufmannischen „Unwuchten". Erkennbar daran, dass dieser Aufwand manchmal nur getrieben wurde, um z. B. einen Ring fur damalige 89,99 DM „on air" zu bringen. Seitdem amerikanische Unternehmen entweder selbst als Unternehmen in Deutschland FuE gefasst haben (QVC) oder als Teilgesellschafter die Geschicke mafigeblich mitbestimmen (HSN bei HSE), hat sich das Produktions- und damit das Kostenbewusstsein dramatisch verandert. Zwar hat man vom anderen (Produktions-)Extrem Abstand genommen, was bedeutet hatte, absolut „low-cost" zu fahren. Denn die Muttergesellschaften produzieren weitgehend mit automatisierten Prozessen und geringstem Personalaufwand. Studios sind mit Drehbuhnen ausgestattet, die wiederum mit minimalistischem Dekor fur ein Produkt nach dem anderen herhalten miissen. Aufgenommen wird mit ferngesteuerten Kameras (Robot-Cam), die mittels Joystick aus der Regie gesteuert werden. Das Gleiche gilt fur den Ton, der oft von derselben Person mitkontrolliert wird. Die Studios sind nicht hermetisch abgeriegelt, sondern haufig offen, so dass sie sogar direkt visuell an einem Call Center angebunden sind. Nebengerausche storen die Moderatoren nicht, im Gegenteil, sie ziehen aus dem Gerauschpegel oft mehr Motivation als aus ruhigen, klinisch reinen Umgebungen. Naturlich hat diese Nonchalance auch einen Einfluss auf die Sendungsqualitat und ihre subjektive Wahrnehmung. Allerdings reagieren Zielgruppen im internationalen Vergleich unterschiedlich. Wahrend amerikanische Verbraucher sich nicht oder wenig am Rahmen storen und viel mehr Wert auf Produkte und Personlichkeit des Moderators legen, reagieren deutsche Zuschauer erfahrungsgemaE konservativer und kritischer auf das Gesamtbild. Diese Feststellung bedarf allerdings einer individuellen Justierung, auch abhangig von Produkten und anvisierter Zielgruppe.

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Die Wahrheit bzw. die Ausstattungskriterien fur Deutschland liegen sicherlich in der Mitte. So hat man durch den Einfluss amerikanischer Unternehmen auf teilautomatisierte Prozesse umgestellt. Dennoch steht der Hang zum hiesigen Produktionsperfektionismus noch mancher Effizienz im Wege. Doch auch im Teleshopping gilt „Content is King". Moderatoren Um diesem Content auch konigliche Ehren zukommen zu lassen, kommt es selbstverstandlich auf eine adaquate Presentation an. Wichtigstes Bindeglied zwischen dem Zuschauer und dem Produkt scheint in erster Linie der/die Moderatoren) zu sein. Bereits dieser Begriff diirfte im Teleshopping jedoch kaum angebracht sein. Warum soil denn zwischen einem Produkt und dem potenziellen Verbraucher moderiert werden? Mit dem Begriff „Moderation" assoziiert man eine kritische Distanz zwischen zwei Faktoren. Da trifft der in Amerika verwendete Begriff schon eher den Kern - „Host", zwar auch mit „Moderator" ubersetzbar, aber im ursprlinglichen Sinne Gastgeber. Dem Zuschauer wird das Gefuhl vermittelt, er sei der willkommene Gast in einem heimeligen Umfeld. Dementsprechend sollte beim Casting auch die Auswahl dieser Gastgeber(innen) stattfinden. Zwar nett anzuschauen, aber in erster Linie naturlich wirkend, glaubwiirdig und uberzeugend. So wie das Klischee der netten Nachbarin oder einer guten Freundin, der man vertraut. Auch wenn hier von weiblichen Bezugspersonen die Rede ist, gelten diese Kriterien selbstverstandlich ebenso fur mannliche Hosts. Selbstredend, im wahrsten Sinne des Wortes, sollte die Ausdrucks- und allgemeine Sprach-/Sprechfahigkeit sein. Geruchten zufolge „casten" amerikanische Unternehmen auch gerne Laienprediger, die in der Lage sind, ellenlang ihr Publikum mit nur einem Thema zu unterhalten. Einen besonderen Stellenwert nehmen beruhmte Zeitgenossen als Co-Moderatoren ein. Das Ausloben von Produkten durch diese „Celebrities", in der taglichen Print- und TV-Werbung bereits gang und gabe, nimmt auch im Teleshopping zu. Gerade bei Beauty- und Wellness-Produkten ist ein Trend zu erkennen, dass manch eine/r, der sich oder den der Sender fur geeignet halt, seine eigene oder die auf ihn/sie zugeschnittene Produktlinie in die Kamera halt. Dabei gelten beim Werben mit Beriihmtheiten immer dieselben Grundregeln: Man muss sich bewusst sein, dass Prominente, mehr als „normale" Presenter, meistens polarisieren. Entweder man mag die Person, oder man mag sie nicht. Entsprechende Auswirkungen hat der Einsatz dann auf die zu transportierende Botschaft.

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Der Prozess der Angebotserstellung

1st diese Person nicht nur glaubwiirdig, authentisch und iiberzeugend, sondern offensichtlich auch vom eigenen Produkt iiberzeugt? Oder wie ein Insider einmal formulierte, dass „die Vorfiihrung einer Anti-Falten-Creme wenig plausibel erscheint, wenn Haut und Hals Falten werfen wie bei einer Schildkrote ...". Steht, trotz prominenter Beihilfe, das Produkt als „Hero" nach wie vor im Mittelpunkt oder lenkt der Prominente durch Person und Selbstdarstellung vom Hardselling-Ziel zu sehr ab? Der Idealfall einer optimalen Produktprasentation ist allerdings das Zusammenspiel zwischen einem Moderator, in diesem Fall passt der Begriff beinahe, und einem „Produktvorfiihrer". Dieser, meistens von der Industrie gestellt, ist durch und durch vertraut mit dem Produkt und holt bei Demonstrationen das Letzte aus der Ware heraus. Diese aus dem stationaren Handel bekannten Propagandisten haben fiir den potenziellen Kaufer und fur den Teleshopping-Anbieter unmittelbare Effekte und Nutzen: Propagandisten sind bestens mit der Ware vertraut. Sie konnen nicht nur komplexere Produkte einfach erklaren, sondern sind in der Lage, um das Produkt herum eine Geschichte zu erzahlen, die die Ware noch begehrenswerter erscheinen lasst. Beim Schmuck werden Herkunft und Schliff von Steinen erklart. Bei technischen Geraten werden Tipps von Frau zu Frau oder von Mann zu Mann gegeben, gerade bei Haushaltswaren und im „Do-it-yourself"-Bereich. Diese geschulten Fachverkaufer haben den direkten „Draht" zur Zielgruppe. Nicht nur, weil sie nicht gestylt auftreten, sondern weil sie oft reden, wie ihnen „der Schnabel gewachsen ist", nicht gestelzt, sondern bodenstandig, meistens sogar im Dialekt. Und sie wissen auch meistens iiber die taglichen Probleme und Problemchen der Zielgruppe Bescheid, gehen darauf ein und verstehen es bestens, das Produkt geschickt zur Problemlosung anzupreisen und in der Vorfiihrung einzusetzen. Fiir den Teleshoppingbetreiber sind sie die effektivsten, effizientesten und kostengiinstigsten Vermittler von Waren- und Dienstleistungen. Vor allem, weil sie oft von der Industrie kostenlos gestellt werden oder zumindest keine direkte Belastung stattfindet. Fiir die Industrie stellen sie einen Sicherheits- und Garantiefaktor dafiir dar, dass das Produkt tatsachlich im Sinne des Herstellers vorgefiihrt wird. In dieser Kombinationsvielfalt aus Moderator, Celebrity und Propagandist sollte jedoch nicht das Wesentliche aus den Augen verloren werden: das Produkt.

Entwicklung der Angebotstrager

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Die Produktprasentation

Was banal klingt, ist noch lange nicht selbstverstandlich. Ein Produkt muss immer in Aktion, in Anwendung oder bei der Nutzung gezeigt werden: Mit Haushaltswaren muss hantiert, gekocht, gebiigelt und geputzt werden. Was ist ein Kochtopfset, wenn darin nicht gekocht und gebraten wird? Was ist eine teure Dampfbiigelstation, wenn diese nicht vorgefuhrt und damit Berge von Wasche bearbeitet werden? Beauty- und Wellness-Produkte mussen aufgetragen und erklart werden. Gerade diese Produkte leben von einer Vertrauensbriicke, die zwischen Anbieter und Kunde geschlagen wird. Es sind intime Produkte, die positiven Einfluss auf Aussehen und Gesundheit nehmen sollen. Schmuck muss nah gezeigt, gewendet, erklart und an schonen Handen oder Dekolletes getragen werden. Hilfreich ist hier nicht nur der Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie Drehtellern zur allseitigen Presentation oder Effektfiltern, die den Glanz und das Feuer der Ware zeigen. Man sollte sich auch nicht scheuen, Handdoubles einzusetzen, die an einer perfekt geformten, gebraunten und gestylten Hand Ringe, Ketten und andere Schmuckstueke zur Geltung bringen. Auch diese Produktkategorie lebt von Vertrauen, Vertrauen in Wertigkeit und Tragegefiihl. Stoffe, Textilien und Mode mussen bewegt und getragen werden, sie soilten „flief?en &: fallen". Die Auswahl von prasentierenden Models muss die Balance halten zwischen Glamour und Natiirlichkeit. Gerade wenn beim Teleshopping die Chance besteht, Mode von alien Seiten zu zeigen, muss die vorfuhrende Person die Personlichkeit nach hinten und das Produkt nach vorne nehmen. Damit wird dem Zuschauer die Projektion der eigenen Person auf/in das Textilprodukt leichter gemacht. Technische Produkte und „Do-it-yourself"-Artikel leben von der Anwendung und dem praktischen Nutzen. Dabei ist Teleshopping pradestiniert, komplexere Produkte und Anwendungen vorzufuhren, denn heutzutage haben Kaufer so gut wie keine Chance mehr, diese Art von Produkten am POS vorgefuhrt zu bekommen. Was aber auch hier den eigentlichen Kaufanreiz ausmacht, ist nicht nur die Vorfuhrung der Ware, sondern ihr praktischer Nutzen in einer Anwendung des Alltags, an der man normalerweise verzweifelt. Mit dem guten Gefuhl „das kann ich auch", greifen dann gerade Manner, aber immer mehr Frauen, besonders gerne zu ... Was alien Produkten abgeht, ist die Haptik, die durch andere emotionale Elemente kompensiert werden muss. Der Zuschauer muss das Gefuhl bekommen, dass der Presenter fiir ihn stellvertretend Stoffe fiihlt, Parfiims riecht, Maschinen bedient. Das ganze Stimmungsbild aus Bewegtbild, Standbild (da-

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Der Prozess der Angebotserstellung

zwischen geschnittene, so genannte „Packshots"), eventuell Musikhintergrund, muss in sich stimmig nur auf eines fokussiert sein - das Produkt. Grundregeln der Gestaltung von DRTV-Spots Unter alien Teleshopping-Formaten ist der DRTV-Spot sicherlich derjenige, der am schwersten zu gestalten und zum Erfolg zu bringen ist. Er muss nicht nur das A.I.D.A.-Prinzip innerhalb kiirzester Zeit anwenden, sondern muss dem Zuschauer auch noch technische und gegebenenfalls juristische Bestellhinweise innerhalb dieser Frist vermitteln. Meistens schalten die Anbieter nach ein paar Minuten, noch im selben Werbeblock, so genannte Reminder von etwa fiinf Sekunden als Mini-Erinnerungsspots. Was die Produkteignung angeht, so muss sich der Anbieter dariiber im Klaren sein, welches Ziel er tatsachlich verfolgt: Geht es um einen Warenabverkauf mit einem, unterm Strich, betriebswirtschaftlich positiven Ziel aus den jeweiligen Spots? Dann sollten leicht erklar- und vermittelbare Produkte dominieren, die in unteren bis mittleren Preissegmenten angeboten werden. Beispiele dafur sind Tontrager, DVD, Haushaltswaren und andere schnell erklarte Produkte. Die Refinanzierung des Spots kann meistens auch nur dann erfolgen, wenn der Spot auf?erhalb der klassischen Primetime ausgestrahlt wird. Dieser Zeitblock mit der hochsten effektiven Reichweite, meistens zwischen 18 und 22.30 Uhr, hat zwar die meisten Zuschauer, steht aber mit seinen iiberproportional hohen Schaltkosten in keinem Verhaltnis zu den erzielbaren Ergebnissen. Besser geeignet sind fur diese Art von Produkten eher Zeiten, die zwar eine geringere Zuschauerquote aufweisen, deren Kundensegment aber dafur klarer abgrenzbar ist und wo Schaltkosten in einem besseren Verhaltnis zur Nachfrage bzw. zum Umsatz stehen. Oft sind mit den Sendeanstalten bzw. schaltenden Agenturen auch individual zugeschnittene Abkommen mdglich. Also nicht nur auf Basis reiner Schaltkosten pro Sekunde/Minute, sondern auch auf der Grundlage von CPO- (Cost per Order), CPC- (Cost per Call), CPA- (Cost per Adress)-Modellen oder in Kombination mit Umsatzbeteiligungsmodellen, bei denen der Sender keine oder nur geringe Schaltgebuhren erhebt, aber dafur am Umsatz beteiligt wird. Diese Art von Modellen schafft meistens eine Win-win-Situation zwischen Sender und Werbetreibenden. Sender lasten ihre erfahrungsgemaS schwacher gebuchten Werbeblocke besser aus, die Anbieter bieten zu uberschaubaren Kosten ihre Ware an und teilen ihr Risiko mit dem Sender.

Entwlcklung der Angebotstrager

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1st das reine Hardselling iiber den Spot fast nebensachlich und geht es in erster Linie um die Generierung von Adressen oder Abonnements? Es liegt auf der Hand, dass sich besonders niedrig kalkulierte Produkte hervorragend zur Adressgenerierung eignen. Allerdings sollte von minderwertigen Lockangeboten Abstand genommen werden, da dadurch ein Ruf oder Image moglicherweise nachhaltig Schaden nimmt. Seit der Lockerung von Gesetzen gegen den unlauteren Wettbewerb finden sich z. B. auch Anbieter, die Ware zu aggressiven Preisen in limitierter Stiickzahl anbieten. Gehen mehr Bestellungen ein, als Ware vorhanden ist, kommen die Bestellungen in eine Auslosung. Diese Kopplung aus scheinbarem Hardselling und Lotterie generiert Adressen in so hoher Stuckzahl, dass sich Schaltkosten sehr schnell amortisieren konnen. Vor allem wenn man den tatsachlichen Wert einer Neukundenadresse bedenkt, die auf herkommlichem Werbeweg immer schwerer zu bekommen ist. Beim Abonnement-Ziel findet man neben den Klassikern wie Miinzen, Puppen oder CDs auch immer mehr andere „Collectiblesw, die dem Sammlertrieb des Menschen Rechnung tragen. Allerdings ist die Absicht der Folgeverkaufe im DRTV-Spot oft auch nicht als solche fur den Zuschauer erkennbar. Meistens gibt das Call Center dann die Information, nachdem bereits mit dem Telefonanruf iiber eine 0180- oder 0190-Nummer Geld verdient wurde. Einige schwarze Schafe haben bereits den Ruf der DRTV-Branche angekratzt. Zuschauer, Verbraucher und Verbraucherschiitzer sind bei dieser Form von Versandgeschaft besonders misstrauisch geworden, und Vertrauen muss gewonnen, oft auch wiedergewonnen werden. Daher sollten sowohl die Kommunikation, der Abwicklungsprozess als auch die weitere Kundenbindung bei dieser Art von Distanzgeschaft aufs Sorgfaltigste gehandhabt werden. Grundregeln der Gestaltung von Infomercials

Infomercials, eine Teleshopping-Form aus Information und Hardselling, sind in Deutschland bekannt und beruchtigt geworden durch ihre, meistens schlechte, Synchronisation aus amerikanischen Formaten und das oft frenetisch jubelnde Studiopublikum, das bei jedem Handgriff des Vorfiihrers am banalen Kiichengerat in Ekstase ausbricht. Infomercials auf diese Auswiichse zu reduzieren, tate diesem interessanten Format jedoch unrecht. Denn mit ausgiebigen Langen bis 20, 30 Minuten lassen sich Produkte ausfiihrlichst und iiberzeugend prasentieren.

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Daher ist dieses Format auch bestens geeignet, um erklarungsbedurftige Pro dukte und Dienstleistungen anzubieten wie: Sportartikel, Haushaltswaren, technische Gebrauchsgiiter, Unterhaltungselektronik, Hard- und Software, Finanzdienstleistungen wie Versicherungen o. A., Reisen. Infomercials-Spots haben starke gestalterische Ahnlichkeiten mit Einzelformaten aus dem Teleshopping. Das wichtigste Bindeglied zwischen Angebot und Nachfrage bei diesem Format bleibt der Mensch, der auch hier authentisch, iiberzeugt und iiberzeugend verkaufen muss. Oft finden sich als Infomercials auch diese Einzelformate aus TeleshoppingSendern wieder, die in ihrer Zweit- und Mehrfachverwertung beispielsweise in nachtlichen Werbefenstern von Privatsendern eingesetzt werden. Dieses relativiert die Kosten, tragt zu einer hoheren Wertschopfung bei und eroffnet den Privatsendern eine zusatzliche Einnahmequelle, etwa aus Umsatzbeteiligungen.

2.3 Marketing Wenn das Sortiment festgelegt ist, die entsprechenden Artikel beschafft und in den Werbemitteln dargestellt sind, legt das Marketing fest, wem die Angebote des Versenders unterbreitet werden. Marketing im Versandhandel ist im Wesentlichen Direktmarketing.

2.3.1 Die Zielgruppe Zielgruppenidentifikation

Das Sortiment muss auf die Zielgruppe des Versenders passen. Bevor der Versender sein Sortiment gestaltet, muss er seine Zielgruppe identifizieren. Er gestaltet ein Sortiment, das auf die identifizierte Zielgruppe passt. Wenn das Sortiment dann gestaltet ist, muss er die Mitglieder seiner Zielgruppe finden. Zielgruppenidentifikation und Zielgruppenfindung sind also zwei verschiedene Vorgange. Marketing

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Der Vorgang der Zielgruppenidentifikation wird bisweilen auch als Zielgruppendefinition bezeichnet, wenngleich dieser Begriff ein wenig irrefiihrend ist. Es geht hier nicht um eine freie Konvention, eben eine Definition, sondern um die korrekte Beschreibung der Realitat. Diese reale Zielgruppe ist aus der Masse der Verbraucher heraus zu identifizieren. Die identifizierte Zielgruppe gibt es tatsachlich, und auf diese Zielgruppe passen bestimmte Sortimente. Die Definition des Begriffs Zielgruppe mutet zunachst etwas tautologisch an: Eine Zielgruppe sind alle die potenziellen Kunden, auf die ein bestimmtes Sortiment passt. Die Zielgmppenidentifikation muss es nun leisten, bestimmte reale Verbrauchergruppen zu identifizieren, auf die ein bestimmtes reales Sortiment passt. Diese abstrakten Uberlegungen sollen anhand eines konkreten Beispiels illustriert werden: Es gibt in der Realitat Menschen, die Segelsport betreiben, darunter solche, die ein eigenes Boot haben, und andere, die eines chartern oder als Gast mitsegeln. Es gibt Segler auf Binnenseen, in beliebten Revieren wie der Ostsee oder der Agais, und es gibt Weltumsegler. Es gibt sportlich ambitionierte Segler, die an Regatten teilnehmen, und andere, die das Segeln vornehmlich als Erholung und Freizeitbeschaftigung ansehen. Es gibt auch den „Campingplatz" in der Marina. Es gibt unter den Seglern handwerklieh Geschickte und andere, die Warnings- und Pflegearbeiten lieber gegen Bezahlung erledigen lassen. Die Segler unterscheiden sich nach Generationen, junge Leute, Mannercrews, Familien mit Kindern oder Senioren. Die aus dieser realen Vielfalt identifizierte Zielgruppe konnten die Segler schlechthin sein, auf die ein entsprechend breites Sortiment an Funktionsbekleidung, Sicherheitsausriistung, Pflegemitteln, Bordausriistung oder Ersatzteilen passt. Moglicherweise lasst sich aber auch eine Teilzielgruppe identifizieren, die mit den Attributen mannlich, eher Senior, handwerklieh geschickt und „Campingplatz" zu beschreiben ist. Ein Sortiment fur diese Zielgruppe miisste vielleicht technisch orientiert sein, Ersatzteile, Werkzeuge und Pflegemittel enthalten, sich durch Sortimentstiefe auszeichnen und preislich wettbewerbsfahig sein. Eine andere Teilzielgruppe ware vielleicht mit den Attributen jiinger, mannlich/weiblich, Paare, weniger handwerklieh interessiert, sportlicher ambitioniert und iiberdurchschnittliche Einkommen zu beschreiben. Ein hier passendes Sortiment konnte modische Funktionsbekleidung enthalten, iiberhaupt starker textillastig sein, sich in hoheren Preislagen bewegen und vielleicht auch besonderen Wert auf elektronische Navigations- und Steuerhilfen legen.

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Der Prozess der Angebotserstellung

So wie die Zielgruppe nur einen Teil der Segler ausmachen kann, ist auch denkbar, dass sie iiber den Kreis der aktiven Segler hinaus geht. Es mag eine Zielgruppe geben, die Segeln und maritime Sujets als Lifestyle-Elemente schatzt, aber nicht notwendig selber segelt oder es nur gelegentlich tut. Vorstellbar sind Feriengaste und Besitzer von Wochenendhausern in Kustenregionen oder Menschen, die aktive Segler in ihrem Familien- und Freundeskreis haben, beruflich mit der Seefahrt zu tun haben oder hatten oder aus rein emotionalen Griinden eine Verbindung zum Maritimen haben. In einem auf diese Zielgruppe passenden Sortiment konnte Mode mit maritimen Designs, die nicht unbedingt als Funktionsbekleidung genutzt wird, oder Einrichtungsund Haushaltsartikeln zu finden sein. Den Reiz dieser Artikel macht es aus, dass sie mdglichst „original" sind, so wie sie auch an Bord verwendet werden. Dieses Bediirfnis unterstiitzen hochwertige Marken, deren durable Qualitat Wind und Wetter ausgesetzt werden kann. Die Kunst der Zielgruppenidentifikation liegt also darin, die richtigen Selektionsmerkmale zu finden, die den Mitgliedern der Zielgruppe in Bezug auf ein denkbares Sortiment gemeinsam sind. Als Selektionsmerkmale kommen im B-to-C-Geschaft unter anderem folgende Kriterien in Frage: Alter, Geschlecht, HaushaltsgroSe, Einkommen, Berufsgruppe, Wohngebaudetyp, Wohnort (Gemeindegrofie oder Wohngegend), Bildungsstand, aber auch: Werthaltungen, politische Grundhaltungen, Personlichkeitsstrukturen, Konsumneigungen, Lifestyle-Gruppen und psychographische Kriterien. Haufig sind es nicht die harten, soziodemographischen Merkmale, sondern gerade die letztgenannten weichen Kriterien, mit denen eine Zielgruppe zu identifizieren ist. Hier liegt die eigentliche Herausforderung einer Zielgruppenidentifikation.

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Zielgruppendefinition Eine verbreitete Methode zur Beschreibung der Zielgruppen nach LifestyleGruppen und psychografischen Kriterien sind die so genannten SINUS-Profile (vgl. Abbildung 7). Hier werden die Kunden nach den Dimensionen soziale Schichtung und moderne/konservative Grundeinstellung beschrieben. Im Einzelnen ergeben sich daraus folgende gesellschaftliche Leitmilieus: Etablierte:

Das selbstbewusste Establishment: Erfolgsethik, Machbarkeitsdenken und ausgepragte Exklusivitatsanspruche

Postmaterielle:

Das aufgeklarte Nach-68-Milieu: Liberale Grundhaltung, postmaterielle Werte und intellektuelle Interessen

Moderne Performer:

Die junge unkonventionelle Leistungselite: Intensives Leben - beruflich und privat, Multioptionalitat, Flexibilitat und Multimedia-Begeisterung

Konservative:

Das alte Bildungsburgertum: Konservative Kuiturkritik, humanistisch gepragte Pflichtauffassung und gepflegte Umgangsformen

Traditionsverwurzelte:

Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegsgeneration: Verwurzelt in der kleinburgerlichen Welt bzw. in der traditionellen Arbeiterkultur

1 DDR-Nostalgische: Die resignierten Wende-Verlierer: Festhalten an preuSischen Tugenden und altsozialistischen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Solidaritat Biirgerliche Mitte:

Das statusorientierte moderne Mainstream: Streben nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhaltnissen

Konsum-Materialisten:

Die stark materialistisch gepragte Unterschicht: Anschluss halten an die Konsum-Standards der breiten Mitte als Kompensationsversuch sozialer Benachteiligungen

Experimentalisten:

Das extrem individualistische neue Boheme: Ungehinderte Spontaneitat, Leben in Widerspruchen, Selbstverstandnis als Lifestyle-Avantgarde

Hedonisten:

Die spa&orientierte moderne Unterschicht/untere Mittelschicht: Verweigerung von Konventionen und Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft

Die Zahlen in den Feldern der so gebildeten Cluster geben den Anteil des Clusters an den gesamten Versandhandelskaufern in Deutschland (Summe = 100 %, Rundungsdifferenz) an. Die Kundengruppen bzw. Zielgruppen der einzelnen Versender konnen dann dadurch beschrieben werden, ob sie in einzelnen Clustern iiber- oder unterdurchschnittlich vertreten sind.

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Der Prozess der Angebotserstellung

Abbildung 7: Sinus-Milieus in Gesamtdeutschland 2004. Soziale Lage und Grundorientierung - Versandhauskaufer und Versender Quelle: Sinus Sociovision

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So sind z. B. folgende Profile fur ausgewahlte Versender festgestellt worden:

Tabelle 27; Sinus-Profile fur ausgewahlte Versender

Nicht jeder Versender kann seine identifizierte Zielgruppe genau beschreiben. In der Praxis reicht es haufig aus, geniigend Mitglieder der Zielgruppe zu finden, die einfach dadurch definiert sind, dass sie beim Versender bestellen. Zielgruppenfindung Die Zielgruppenfindung oder auch das Treffen der Zielgruppen ist die praktische Umsetzung der Zielgruppenidentifikation. Es geht darum, die Mitglieder der identifizierten Zielgruppe einzeln aufzuspiiren. Dieses geschieht, indem man mit solchen Medien wirbt, die die Zielgruppe auch treffen. Dazu gehoren die direkten Medien (personalisierte und anmietbare Adresslisten: Post, E-Mail, Telefon) und die Streumedien (Print-Anzeigen und Beilagen, Direct Response TV, Internet). Die Technik der Zielgruppenfindung oder auch Zielgruppenerreichung wird in den Kapiteln 2.3.3 Neukundengewinnung und 2.3.5 Databasemarketing beschrieben. In diesem Abschnitt sollen zunachst einige grundsatzliche Uberlegungen zur Zielgruppenfindung vorgestellt werden. In einer modellartigen Vorstellung segmentiert man den gesamten Markt konzentrisch um die Zielgruppe herum, wobei die inneren Kreise immer Teilmengen der jeweils auSeren Kreise sind (Abbildung 8). Der Weg ins Zentrum der Kreise zeichnet dabei den Entwicklungsweg des einzelnen Kunden nach.

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Der Prozess der Angebotserstellung

Gesamtmarkt Zielgruppensuchfeld Interessenten (= Reagierer)

Neukunden Gelegenheitskunden Stammkunden

Abbildung 8: Zielgruppenkreise

Das Zielgruppensuchfeld setzt sich aus den Reichweiten unterschiedlicher Medien zusammen, die sich zum Teil iiberschneiden konnen. Zielgruppensuchfeld und identifizierte Zielgruppe sind nicht identisch, sondern das Zielgruppensuchfeld deckt nur einen Teil der Zielgruppe ab. Um das Beispiel weiter zu bemuhen: Die Special Interest-Zeitschrift fur Segler deckt mit ihrer Reichweite die Zielgruppe bei weitem nicht ab (Abbildung 9). Und die Promotion-Aktion zur Adressgewinnung in einem Seebad trifft zwar viele Segler, die dort in der Marina liegen, aber auch mindestens so viele Landratten, die dort nur am Kai spazieren gehen. Die Vorgehensweise der Zielgruppenfindung ist nun, im System der konzentrischen Kreise von auEen nach innen vorzudringen, indem durch Qualifizierung (= Informationsbeschaffung) Mitglieder der aufSeren Kreise aus diesen Teilmengen heraus selektiert werden, die zu weiter innen liegenden Kreisen gehoren. Die Qualifizierung geschieht im Direktmarketing dadurch, dass man den potenziellen Kunden zu Responses (Kataloganforderung, Bestellung) stimuliert.

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1

Zielgruppensuchfeld \

-~^^ , \ \ \ ^

yS*

/

tatsachliche Zielgruppe

/^/fZielgrupperP ^ / j X ^ Treffer5< - ^ / ^ < moglich>
^

\

Zielgruppe nicht gefunden

Abbildung 9: Zielgruppe und Zielgruppensuehfeld

Die identifizierte Zielgruppe ist nicht homogen. Man kann sie sich auch in konzentrische Kreise segmentiert vorstellen. Es gibt dabei Randzielgruppen und Kernzielgruppen. Ein empirischer Ansatz zur Segmentierung der Zielgruppe kann der Verbraucheranalyse 2001 des Heinrich Bauer Verlags entlehnt werden (referiert nach „Der Versandhausberater" 3/2001). Danach wurden nach einer Cluster-Analyse unter Berticksichtigung von soziodemographischen und psychographischen Daten sowie versenderrelevanten Merkmalen und Lifestyle-Daten sieben Typen von Versandhandelskaufern gebildet: 1. Wenig-Kaufer: Kauft ein- bis zweimal jahrlich, eher alter 2. Selten-Kaufer: 75 % kaufen fiinf- bis neumal jahrlich, eher weiblich, mittleres Alter 3. Stamm-Kaufer: Kauft ein- bis zweimal jahrlich, junge Frauen 4. Spontan-Kaufer: Kauft ein- bis dreimal jahrlich, mannlich, kauft bei Spezialversendern 5. Special-Kaufer: Kauft zwei- bis viermal j ahrlich, weiblich, alter, lange Wiederbeschaffungszyklen 6. Intensiv-Kaufer: Kauft drei- bis fiinfmal jahrlich, hohe Bestellwerte, hoher Manneranteil 7. Komplett-Kaufer: 75 % kaufen neunmal und ofter, hohe Bestellwerte, weiblich

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Der Prozess der Angebotserstellung

Es gehort auch zur Zielgruppenidentifikation, die eigene Zielgruppe in dieser oder anderer, fiir das Geschaft geeigneter Weise zu segmentieren, um dann moglicherweise im Sortiment auf die Kaufertypen Riicksicht zu nehmen.

2.3.2 Marktforschung Unter dem Begriff Marktforschung werden im Versandhandel mehrere Aufgabenstellungen zusammengefasst. Die Erhebung empirischer Daten zur Zielgruppenidentifikation kann als Marktforschung im engeren Sinne bezeichnet werden. Diese Aufgabenstellung ist der Marktforschung im klassischen Marketing noch am ahnlichsten. Fragestellungen der Marktforschung im engeren Sinne sind unter anderem: Entwicklung der eigenen Zielgruppe nach Umfang sowie Veranderung der Konsumgewohnheiten und Bediirfnisse, Differenzierungen innerhalb der Zielgruppe, Entstehen neuer Zielgruppen, die auch fiir Angebote des Versenders in Frage kommen. Kennzeichen dieser Art von Marktforschung ist immer, dass die Daten nicht direkt durch Response vom eigenen Kunden oder Interessenten erhoben werden. Diese Daten stammen aus Befragungen oder aus soziodemographischen Erhebungen, und die Ergebnisse miissen auf die Zielgruppe iibertragen werden. Derartige Schlussfolgerungen aus dem Marktumfeld auf das eigene Kundenpotenzial sind dem Direktmarketer, der der Versandhandler nun einmal ist, grundsatzlich fremd. Der Direktmarketer nimmt die Ergebnisse der Marktforschung zwar interessiert zur Kenntnis; er verlasst sich bei dem Einsatz seines Werbebudgets aber lieber auf die Response-Ergebnisse seiner Tests mit tatsachlichen Angeboten an bestehende und potenzielle Kunden (zu Tests vgl. auch Abschnitt Direkt adressierte Werbung in Kapitel 2.3.3). Der Nutzen der klassischen Marktforschung fiir den Direktmarketer liegt eher im strategischen Bereich: Soil er auf neue oder zusatzliche Zielgruppen setzen? Wie muss er sein Angebot verandern, um der Entwicklung seiner Zielgruppe zu folgen? Wegen des standigen Kundenkontakts, des standigen Feedbacks vom Markt, wegen der Testbarkeit jeder Einzelheit in Warenangebot, Preis oder Angebotsdarstellung betreibt der Versender tatsachlich standig Marktforschung ohne die Notwendigkeit, aus Umfrageergebnissen eines Samples auf seine eigenen Kunden schlieEen zu miissen. Deshalb sind naturgemaS im Versandhandel die

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Budgets fiir klassische Marktforschung sehr begrenzt und bei kleineren Versendern in aller Kegel iiberhaupt nicht vorhanden. Sehr viel Aufwand hingegen wird im Versandhandel fiir die Marktforschung in einem anderen Sinne getrieben: Marktforschung ist im Versandhandel haufig mit Wettbewerbsbeobachtung gleichzusetzen. Die Marktforschung in diesem Sinne muss sich die Werbemittel und Kataloge anderer Versender beschaffen und sie detailliert auswerten. Beobachtet werden beim Wettbewerb unter anderem: Sortimente und einzelne Artikelangebote, Preise, werbliche Darstellungen, Verkaufsforderungsaktionen, Anstofiketten (= Folgen von mehreren Werbeanstofien), Reaktionen auf Bestellungen: Das „System Wettbewerber" wird nach Werbeintensitat bei unterschiedlichem Bestellverhalten ausgetestet. AuSerdem werden dabei Erkenntnisse liber Lieferbereitschaft, Waren- und Servicequalitat gewonnen. Diese Art von Marktforschung unterstellt insbesondere bei der Veranderung von Sortimenten, Preisen, werblichen Darstellungen und AnstojSketten, dass Veranderungen, die vom Wettbewerber wiederholt und beibehalten werden, dort im Markt erfolgreich sind. Dieses ist dann eine sehr direkte Art von Marktforschung. Nicht immer hat man als Versender einen vergleichbaren Wettbewerber; dann miissen die Beobachtungsergebnisse sinnvoll auf die eigenen Verhaltnisse iibertragen werden. Der vorsichtige Versender wird seine Erkenntnisse auch aus dieser Art von Marktforschung zunachst bei seinen eigenen Kunden testen, bevor er sie iibernimmt. Marktforschung des Versandhandels in einem dritten Sinne ist die Ermittlung der Kundenzufriedenheit. Die Reaktionen des Kunden durch Kauf oder Nichtkauf sind ein gutes Mittel zur Beurteilung von Werbemitteln, Sortimenten und Preisen. Sie reichen jedoch nicht aus, wenn es um die Beurteilung anderer Prozesselemente des Versandhandels wie Warenqualitat, Qualitat von Kommissionierung, Versand und Zustellung oder um die Qualitat des Kundenservice geht. Hier werden dann zusatzlich Kundenbefragungen sinnvoll. Wahrend sich aus dem Retourenverhalten schnell Hinweise auf die Warenqualitat und Mangel im logistischen System ergeben, sind Befragungen zur Kundenzufriedenheit insbesondere fiir den Kundenservice (Call Center) erforderlich. Hier gibt es die offene Zufriedenheitsbefragung, die meist telefonisch

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vorgenommen wird. Und es gibt das Silent Monitoring; dabei wird die Qualitat des Call Centers durch Testanrufer iiberpriift, die sich nicht als solche zu erkennen geben. Offene Kundenbefragungen und Silent Monitoring bediirfen beide der Zustimmung durch den Betriebsrat. Zum Beispiel beim Otto Versand gehen die Ergebnisse regelmaSiger Kundenbefragungen in die Beurteilung der Fiihrungskrafte in der Kundenbetreuung ein.

2.3.3 Neukundengewinnung Wenn die Zielgruppe identifiziert ist und ein auf die Zielgruppe passendes Sortiment entwickelt und in Angebotstragern dargestellt ist, miissen die Mitglieder der Zielgruppe gefunden und als Kunden gewonnen werden. Dieser Vorgang heiSt Neukundengewinnung. Planung und Optimierung Die Neukundengewinnung im Versandhandel kennt zwei Randparameter als zwei Formulierungen des gleichen Optimierungsproblems: die Neukundenplanung und das Neukunden-Werbebudget. Entweder ist bei gegebenem Neukundenplan (= in der Saison zu werbende Neukunden) das Neukunden-Werbebudget zu minimieren, oder es ist bei gegebenem Werbebudget die Anzahl der Neukunden zu maximieren. In der Praxis werden in der Kegel beide Gro6en geplant und aus der Erfahrung ein Funktionszusammenhang zwischen beiden Grofien Budget und Neukundenzahl unterstellt. Der Kundenstamm eines Versenders unterliegt einem natiirlichen Abschmelzungsprozess. Die Kunden wachsen aus der Zielgruppe heraus, weil sich ihre Lebensumstande verandern. Nicht jeder Kunde kann zufrieden gestellt werden, und der Wettbewerb bleibt auch nicht untatig. Ein Teil der Kunden stirbt auch. Allein um den Kundenbestand zu halten, muss ein Versender in jeder Saison Neukunden gewinnen. Jeder Versender hat Erfahrungen zur „Lebenserwartung" oder „Haltbarkeit" seiner Kunden. Er kann meist in Abhangigkeit von der Saison des Eintritts und des seinerzeitigen Gewinnungsweges differenzierte Wahrscheinlichkeitsaussagen iiber den Abschmelzprozess einer Kundenkohorte machen. (Naheres dazu im Abschnitt Kundenentwicklung in Kapitel 2.3.4). Daraus errechnet sich dann das Ziel fiir die Neukundengewinnung einer Saison, wenn nur die Bestandserhaltung erreicht werden soil.

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Zu der rein bestandserhaltenden Neukundengewinnung kommt noch die notwendige Neukundengewinnung hinzu, die das Erreichen der Wachstumsziele des Unternehmens erlaubt. Gerade bei jungen Versandhandelsunternehmen oder neuen Projekten spielt das Wachstum eine vorrangige RoUe. Da die Abschmelzung einer Kundenkohorte immer nur mit einer Wahrscheinlichkeit vorgesagt werden kann, also mit Unsicherheiten belegt ist, und da vielleicht Kohorten im Bestand sind, die in den nachstkommenden Saisons einer groEeren Abschmelzung unterliegen werden, ist eine Wachstumsplanung bisweilen auch nur eine Vorsichtsmafinahme zur Bestandserhaltung. Neukundenwerbung und Alterstruktur des Kundenbestands nach Eintrittszeitpunkten sind damit strategische Gro6en fiir die kiinftige Entwicklung eines Versenders, die im Ubrigen auch eine erhebliche Rolle bei der Ermittlung des Unternehmenswertes spielen (vgl. Kapitel 6.6 Strategische Entwicklung und Struktur des Kundenbestands), Es wird bei verschiedenen Versendern unterschiedlich definiert, was ein Neukunde ist. Das hangt auch davon ab, wer als Kunde angesehen wird, jemand der in den letzten 12 Monaten bestellt hat? Oder jemand, der in den letzten 24 Monaten bestellt hat? Wer in den letzten 12 oder 24 Monaten nicht mehr bestellt hat, wird bisweilen als „Altkunde" bezeichnet. Wie lange ist jemand Altkunde? Ist er dann irgendwann gar kein Kunde mehr? Hier gibt es betriebliche ZweckmaSigkeiten, eine Sache so oder so zu definieren. Es erscheint logisch, die Reaktivierung von Altkunden, die keine „Kunden" mehr sind, als einen Teil der Neukundenwerbung anzusehen. Dieses ist auch vielfach iiblich. Wenn die Anzahl der zu werbenden Neukunden geplant ist, wird aufgrund der Kosten- und Erfolgserfahrungen der Vergangenheit mit den verschiedenen Werbewegen ein Werbebudget aufgestellt. Hier stellt sich dann wieder das Optimierungsproblem, das der Leser seiner Struktur nach schon aus dem Kapitel 2.1.5 Sortimentsoptimierung kennt: Bei gegebenem Werbebudget ist dieses so auf die verschiedenen Neukunden-Gewinnungswege zu verteilen, dass die Anzahl der Neukunden maximiert wird. Dieses ist theoretisch dann der Fall, wenn mit jedem auf den verschiedenen Gewinnungswegen zusatzlich ausgegebenen Euro die Anzahl der Neukunden gleich, das heiEt der Grenzertrag der Neukundengewinnung auf alien Gewinnungswegen gleich ist. Die Neukundengewinnungswege lassen sich ahnlich wie die Warengruppen im Falle der Sortimentsoptimierung sehr fein nach einzelnen Schaltmedien und Adressenlisten aufgliedern, so dass es wiederum fiir die Praxis einen sinnvollen Optimierungsansatz darstellt, in der Neukundengewinnung mit einem Mindestwerbeerfolg fiir jeden ausgegebenen Werbe-Euro zu arbeiten. Ein iib-

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Der Prozess der Angebotserstellung

liches Ma6 zum Vergleich des Werbeerfolgs verschiedener Gewinnungswege sind die Cost per Order (CPO), was nur eine Umkehrung des Wertes Neukunden pro Werbe-Euro darstellt.

Tabelle 28: Beispiel eines Neukunden-Werbeplans

Sicherlich wird man das Werbebudget erst einmal in den Gewinnungswegen einsetzen, die den hochsten Werbeerfolg versprechen. Wenn man das Werbebudget hier ausdehnt, wird man jedoch irgendwann zu abnehmenden Werbeerfolgen kommen. Ein Gewinnungsweg ist irgendwann „ausgelutscht" und muss sich dann aus der Sicht des Versenders wieder regenerieren. AuSerdem sind die Gewinnungspotenziale auch limitiert; Leserzahlen von Zeitschriften oder anmietbare Adressenlisten sind endiich. Es muss dann auf den schlechteMarketing

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ren Zeitschriftentitel oder die schlechtere Liste zuriickgegriffen werden. Diese Verhaltnisse andern sich im Zeitablauf. Auch deshalb ist die Festlegung eines Mindestwerbeerfolges ein fiir die Praxis brauchbarer Optimierungsansatz. Insoweit sei auch auf die Ausfiihrungen in Kapitel 2.1.5 Sortimentsoptimierung verwiesen. Neukunden sind nicht gleich Neukunden, da sie sich in ihrer Hahbarkeitsprognose unterscheiden. Es gibt wie schon erwahnt Unterschiede bei den Gewinnungswegen; beispielsweise wird jemand, der mit attraktiven Werbepramien geworben worden ist, vielleicht nur ein Schnappchenjager bleiben. Auch kann man schon anhand der bei Eintritt des Kunden bekannten Daten wie Alter, Sortiment der Erstbestellung, Wohngegend usw. Prognosen liber die Haltbarkeit ableiten (Naheres dazu im Kapitel 2.3.5 Databasemarketing), Eine konsequente Optimierung der Neukundengewinnung beriicksichtigt diese Umstande. Die zu maximierende Grofie ware dann nicht die Anzahl der Neukunden, sondern das Ertragspotenzial der geworbenen Neukunden, der Einfachheit halber vielleicht gemessen als voraussichtliche durchschnittliche Haltbarkeitsdauer mal Anzahl Neukunden (Vgl. hierzu auch Kapitel 6.5 Verkaufschancen und Kreditrisiken (Die Fair-Isaac-Informa-Methode)). Fiir jeden Gewinnungsweg miisste dann ein Mindestertragspotenzial festgelegt werden. Einstufige und mehrstufige Werbung

Unabhangig vom Gewinnungsweg unterscheidet man einstufige und mehrstufige Neukundengewinnung. In der einstufigen Neukundengewinnung erhalt der Neukunde im ersten Kontakt ein Waren tragendes, bestellfahiges Werbemittel; er kann sofort - in einer Stufe - Kunde werden. In der zweistufigen Werbung erhalt der Kunde im ersten Kontakt kein bestellfahiges Werbemittel, sondern nur ein Werbemittel, mit dem er einen Katalog, das bestellfahige Werbemittel, bestellen kann. Wenn er dann aus dem Katalog bestellt, wird er - in der zweiten Stufe ~ Kunde. Es sind auch Varianten denkbar, in denen der Kunde in der zweiten Stufe erst nur eine kleine Bestellung tatigen kann, um dann in der dritten Stufe an die groEen und teuren Produkte des Versenders herangefiihrt zu werden. Das klassische Beispiel fiir die zweistufige Werbung ist die Kleinanzeige in einem Printmedium, in der zur Bestellung eines Katalogs aufgefordert wird. Ob besser der ein- oder der zweistufige Werbeweg eingeschlagen wird, lasst sich durch ein einfaches Rechenexempel ermitteln:

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Der Prozess der Angebotserstellung

Beispielkalkulation

Tabelle 29: Einstufige und zweistufige Werbung

Zweistufige Werbewege bieten sich eher an, wenn die Responsequote der ersten Stufe erwartungsgemal? niedrig und die Responsequote der zweiten Stufe hoch ist, wohlgemerkt, wenn beides zusammen zutrifft. Der zweistufige Weg eignet sich also fiir Versender, deren Zielgruppe weit verstreut ist, an die man also zunachst mit einem breit streuenden Medium (Zeitung, allgemeine Publikumszeitschrift) herangeht. Der zweistufige Weg bietet sich iiberhaupt an, wenn ein breit streuendes Medium als Gewinnungsweg bestimmt worden ist. Wenn dann aber ein Mitglied der Zielgruppe durch die Anforderung eines bestellfahigen Werbemittels identifiziert ist, ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass es bestellt. Dann lohnt es sich auch, in der zweiten Stufe ein aufwendiges Werbemittel herauszugeben, das die Bestellwahrscheinlichkeit wiederum erhoht. In diesem Zusammenhang soil kurz das Thema der Self liquidating Offer angeschnitten werden. Dabei werden die Kosten der Neukundengewinnung schon in der ersten Stufe hereingeholt. Diesen Fall gibt es in der Realitat kaum noch. Er ist denkbar bei sehr teuren und ertragreichen Produkten (z. B. Lexika fiir mehrere 100 €). Man sollte ehrlicherweise dann aber genau hinsehen, ob es sich wirklich um eine Kaltakquise oder um irgendwie und mit Kosten vorquaMarketing

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lifizierten Adressen handelt. Normalerweise muss sich der Versender darauf einstellen, dass die Werbung eines Kunden eine Investition ist, die sich erst nach einiger Zeit amortisiert. Direkt adressierte Werbung

Wenn der Versender geniigend Informationen liber die eigene Zielgruppe hat und wenn es andere Versender oder Direktmarketing-Anwender gibt, die eine ahnUche Zielgruppe bedienen, kann es vielversprechend sein, diesen fremden Kunden auch seine eigenen Werbemittel zuzusenden. Zu diesem Zweck kann man fremde AdressUsten zum einmaHgen Gebrauch anmieten. Adressen werden iiblicherweise gemietet und nicht gekauft; man kann sie mehrfach hintereinander mieten. Es gibt in Deutschland rund 1 400 anmietbare Listen von unterschiedlichen Listeignern, darunter Versandhandler, Zeitschriftenverlage, Kunden- und Fanclubs, Touristikunternehmen, Lotterieeinnehmer oder Finanzdienstleister. Dieses Geschaft ist volHg legal und iiblich; es sind gewisse Vorschriften des Datenschutzgesetzes einzuhalten (Naheres dazu in Kapitel 5.5 Besondere Rechtsfragen des Versandhandels). Die Vermietung wird ublicherweise iiber so genannte Listbroker vermittelt. Direktgeschafte mit dem Listeigner sind zwar moglich, aber selten. Die Listeigner geben aus verstandlichen Griinden ihre Listen nur ungern auiSer Haus. Der Listbroker als fiir beide Seiten vertrauenswiirdiger Partner in der Mitte, der auch den Versand der adressierten Mailings steuert, iibernimmt meist noch zusatzliche Dienstleistungen wie Beratung bei der Listauswahl und die EDV-technische Aufbereitung. Das Vermieten der eigenen Liste ist ein eintragliches Nebengeschaft, das von den Versendern gerne mitgenommen wird. Voraussetzung fiir die Vermietung ist allerdings, dass der Mieter keine Sortimente verkauft, die zu denen des Vermieters im Wettbewerb stehen. Bei den Sortimentsversendern ist das problematisch. In der Kegel gibt der Listeigener seine Liste einem Listbroker zur Vermarktung an die Hand. Die deutschen Listbroker stehen allerdings im Kontakt zueinander, so dass man normalerweise jede Liste iiber jeden Listbroker erhalten kann. Es ist moglich, aus einer Liste nach bestimmten Selektionen nur Telle zu mieten. Die Vermieter bieten bisweilen an, nur die Altkunden zu mieten. Die Mieter sind eher an einer positiven Qualifizierung der Adresse beispielsweise nach Bonitatsmerkmalen, letztem Kaufdatum, Alter, Geschlecht, Wohngegend, Interesse an bestimmten Sortimenten u. a. m. interessiert.

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Der Prozess der Angebotserstellung

Neben den vermietbaren Listen bieten einige Listbroker auch so gemammte Haushaltsdateien an, die im Prinzip alle deutschen Haushalte enthalten und mit Zusatzmerkmalen angereichert sind.

Testen undAbgleichen Vor der Anmietung der vollen Liste steht der Test. Der Listbroker bietet meist mehrere Listen an, von denen zu vermuten ist, dass eine Ahnlichkeit zur gesuchten Zielgruppe besteht. Nehmen wir als Beispiei an, es geht urn einen Versender fiir okologisch angebaute Weine. Andere Weinversender scheiden aus Wettbewerbsgriinden als Vermieter zunachst aus. Der Listbroker wird nun vielleicht je eine Liste von einem anderen Oko-Versender, einem Delikatessenversender, einem Gesundheitsversender und einem Versender mit Kunden der gleichen Altersgruppe anbieten. Nach einem Test, bei dem beispielsweise der Oko-Versender besonders gut abschnitten hat, wird er den Test mit weiteren Oko-Versendern anbieten, bevor dann der Full Run mit einer vollen Liste gewagt wird. Die Lange der Teststichprobe nimmt bei gegebener Fehlertoleranz mit der erwarteten Responsequote zu. Es gibt hierzu Tabellen fiir unterschiedliche Fehlertoleranzen. 5 000 ist eine iibliche Stichprobengrofie. Bevor man in den Full Run geht, kann man auch noch einen Nachtest mit einer groSeren Stichprobe machen. Wenn man ein funktionierendes Mailing oder eine funktionierende Liste hat, soUte man diese immer zu einem Vergleichstest heranziehen. Dieses stufenweise Herantesten ist eine typische Vorgehensweise im Direktmarketing. Wichtig ist es dabei, saubere Testanlagen zu konstruieren, bei denen man genau einen Aspekt gegeneinander testet und nicht mehrere Aspekte miteinander vermischt. Man kann so Adresslisten, Preise, Aussendezeitpunkte, werbliche Kreationen u. a. testen. Das Testen erscheint anfangs als kostspielig. Es macht sich jedoch mittelfristig bezahlt, und die Erfahrungen stellen ein wichtiges Know-how-Kapital des Unternehmens dar. Vor dem Einsatz der angemieteten Fremdliste finden eine postaHsche Bereinigung und ein Doublettenabgleich statt. Die angemieteten Adressen werden mit Hilfe von Referenzdateien auf postalische Richtigkeit und Aktualitat gepriift. Doubletten, die im eigenen Bestand schon vorhanden sind, werden ausgeschieden. Bei einer erkannten Doublette muss entschieden werden, ob die eigene oder die fremde Adresse postalisch richtiger ist. Die Adressanmietung tragt also indirekt auch zur Pflege des eigenen Bestands bei. Die Adressbereinigung ist eine hoch professionell entwickelte Dienstleistung mit vielen interessanten Facetten, auf die hier im Detail nicht eingegangen werden kann. Es ist das Fachgebiet der Listbroker. Marketing

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Gewinnungswege Das direkt adressierte Mailing hat fiir die Neukundengewinnung im B~to-BVersandhandel wegen der zuriickgegangenen Responsequoten an Bedeutung abgenommen. Der CPO ist relativ hoch. Responsequoten sind gut gehiitete Betriebsgeheimnisse. Aber eine Grofienordnung, mit der man bei sinnvoU ausgewahlten kalten Adressen rechnen kann, liegt bei 0,5 bis 3 %. Die Reaktivierung von Altkunden gehdrt auch zu den direkt adressierten Gewinnungswegen, da die Altkunden dem Versender namentlich bekannt sind. Die Responsequoten sind hier in der Regel deutiich holier als die bei Kaltadressen. Ein weiterer direkt adressierter Gewinnungsweg ist die Paketbeilage des eigenen Katalogs in das Paket eines anderen Versenders. Dieser Weg ist haufig sehr erfolgreich, da er sich an postalisch aktuelle Adressen aktiver, gerade kaufender Kunden richtet. Dieses Geschaft wird iiblicherweise im direkten Kontakt zwischen den Versendern abgewickelt, kann jedoch auch iiber einen Listbroker vermittelt werden, der dann bei der Suche nach geeigneten Partnern behilflich ist. Die Anzahl der so erreichbaren Adressen ist jedoch nur auf diejenigen Kunden begrenzt, die im verabredeten Zeitraum ein Paket erhalten. SchlieSlich konnen unter den direkt adressierten Neukundengewinnungswegen noch die so genannte Freundschaftswerbung (MGM, Member-getMember) und die Katalogempfehlung genannt werden. Hier wird nicht der prospektive Neukunde unmittelbar angesprochen, sondern der bestehende Kunde wird direkt adressiert und als Neukundenwerber eingesetzt. In der Freundschaftswerbung werden meist Sachpramien fiir die Werbung eines Neukunden ausgelobt. Der Vorteil besteht darin, dass mit einer giinstig eingekauften Sachpramie eine hohe Wertanmutung der Pramien erzeugt werden kann. Sehr verbreitet ist diese Methode im Abonnementgeschaft, da hier sehr eindeutig festgelegt ist, was ein Neukunde ist, und der Ertrag fiir den Versender auch klar kalkuUerbar ist. Die Katalogempfehlung beruht im Allgemeinen auf der freiwilligen Leistung des Kunden, einem Bekannten o. A. ebenfalls den Katalog zukommen zu lassen, aus dem er selbst bestellt. Im B-to-B-Versandhandel ist es weniger verbreitet, Adressenlisten anderer Versender anzumieten, da hier die wettbewerbsbedingten Empfindlichkeiten groi?er sind. Zum einen gibt es bei den relevanten Playern eine groSere Nahe im Sortiment und fast immer auch Uberschneidungen. Zum anderen - und das ist mindestens so gewichtig - ist es ungleich schwieriger, korrekte Business-Adressen zu halten und zu pflegen. Dieser Wettbewerbsvorteil wird des-

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Der Prozess der Angebotserstellung

halb haufig nicht nach draufien gegeben, denn man wiirde ja mit der eigenen Adresse wie oben erwahnt zur Pflege des Adressbestands eines potenziellen Wettbewerbers beitragen. Die Probleme in der Adresspflege von Business-Adressen liegen zum einen darin, dass Unternehmen, insbesondere Konzernunternehmen an verschiedenen Standorten tatig sind und verschiedene Tochterunternehmen und Niederlassungen haben, dass die Firmierung eines Unternehmens manche Tiicken hat und dass es vielfaltige und wechselnde Ansprechpartner in einem Unternehmen gibt, die man fur die angebotenen Leistungen jedoch genau treffen mochte. Statt der Listen anderer Versender mietet man im B-to-B-Versandhandel allgemeine Branchenadressen an. Es gibt mit Schober, Hoppenstedt und Bertelsmann u. a. groSe Anbieter von Branchenadressen. Die Leistung dieser Anbieter besteht darin, die Adressen aus unterschiedUchen Quellen wie Branchenverzeichnissen, Telefonbiichern, Handeisregistereintragungen u.a.m. und teiiweise auch durch aufwendige Recherchen (Telefon oder Fragebogenversand) standig zu aktualisieren. Es gibt Spezialanbieter, die in bestimmten Nischen eine noch groSere Prazision erreichen. Einige B-to-B-Versender betreiben diese AktuaUsierung fiir ihre Zielgruppe auch selbst im eigenen Haus. Medienwerbung

Anmietbare AdressenHsten werden im Direktmarketing auch als direkte Medien bezeichnet, weil der Empfanger der Werbung namentUch bekannt ist. Die ubrigen Medien werden Streumedien genannt. Die nach wie vor wichtigsten Streumedien fiir die Neukundengewinnung des Versandhandeis sind die Printmedien, darunter Tageszeitungen, Pubiikumszeitschriften, Special-Interest-Titel und fiir den B-to-B-Versandhandel in erster Linie Fachzeitschriften. DRTV-Spots und OnUne-Angebote sind ebenfalls Streumedien im Sinne der Neukundenwerbung (Naheres dazu in Kapitel 2.2.2 Online-Shops und 2.2.4 TV-Shopping), Es gibt im Prinzip zwei Werbeformen in den Printmedien. Die eine Werbeform ist die Anzeige, meist als Coupon-Anzeige, gelegentlich als Tip-on-Anzeige. Eine Anzeige zur Neukundengewinnung muss immer responsefahig sein, also zumindest Telefonnummer und Internet-Adresse enthalten. Reine Imageanzeigen sind im Versandhandel sinnlos. Anzeigen sind eher fiir die zweistufige Werbung geeignet. ResponsegroEenordnungen fiir Responseanzeigen in Bezug auf die Auflage liegen bei 0,5 Promille.

Marketing

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Die wichtigsten Gestaltungselemente einer Responseanzeige sind: eine Headline, die Neugier erzeugt, Klarheit, ob die Headline eine Bestellung oder eine Kataloganfrage erzeugen soil, die visuelle Anziehungskraft und Hervorhebung aus dem Anzeigenumfeld, Verstandlichkeit des Angebots, Attraktivitat des Angebots: Preis, Begrenzung von Menge oder Zeit. Die andere Werbeform sind Beilagen. Beilagen sind bestellfahige Kleinkataloge von 8,16 oder auch 32 Seiten mit Responseelement (Antw^ortkarte, Coupon). Beilagen v^erden in aller Kegel fiir die einstufige Werbung eingesetzt. ResponsegroSenordnungen fiir Beilagen in Bezug auf die Auflage liegen bei 1,0 Promille. Empfehlungen fur die Tltelauswahl Bei der Auswahl der Zeitungs- und Zeitschriftentitel muss man sich ahnlich w^ie bei den Adressenlisten an die besten Titel herantesten. Im Prinzip gilt fiir die Titelauswahl: Breit streuende Titel wie Tageszeitungen und allgemeine Publikumszeitschriften bieten sich bei einer breit streuenden Zielgruppe an, die sich schv^ierig durch soziodemographische Kriterien oder objektives Kaufverhalten erfassen lasst. Die w^egen der groSen Auflagen hohen Schaltkosten lohnen sich haufig wegen der hohen Response. Diese Titel sind auch fiir Sortimente geeignet, die eher einen einmaligen Bedarf darstellen; diese Bedarfe konnen schwer gezielt getroffen v^erden, sondern sie miissen mit einem groSen Netz breit abgefischt werden (z. B. Dampfdruckreiniger/T/^w Versand oder Fernschulkurse). Der Leser sehe sich unter diesem Gesichtspunkt einmal die Versandanzeigen in der ADAC-Mitgliederzeitschrift an. Wenn etv^as mehr liber die Zielgruppe bekannt ist, bieten sich zielgruppenorientierte Publikumstitel etwa fiir Frauen unterschiedlichen Alters oder unterschiedlicher Lifestyle-Orientierung, Manner, Jugendliche, Leser mit gehobener Bildung etc. an. Die Verlage halten dazu eindrucksvolle Leseranalysen vor, die jedoch keine Garantie fiir den Responseerfolg bieten. Um das Testen kommt man auch hier nicht herum, zumal die Beschreibung der eigenen Zielgruppe haufig unprazise ist oder mit den von den Verlagen angebotenen Profilen nicht deckungsgleich ist. Bei SpeciaUnterest-Titeln kann man als Spezialversender fiir eine Sportart/Hobby seine Zielgruppe haufig sehr gut treffen. So ist es naheliegend, dass ein Versender fiir Seglerbedarf in einer Seglerzeitschrift v^irbt. Wegen

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Der Prozess der Angebotserstellung

des geringen Streuverlustes bietet sich hier haufig die einstufige Werbung mit Beilagen an. Mancher Versender interessiert sich dafiir, die Abonnentenliste des Verlags als direktes Medium anzumieten; die Verlage sind hier jedoch meistens zuriickhaltend, da sie als Schaltmedium hohere Erlose erwirtschaften konnen. Die Fachzeitschriften kommen ftir den B-to-B-Versandhandel in Frage, wenn er mit Sortimenten handeit, die in erster Linie eine bestimmte Branche oder einen bestimmten Anwenderkreis betreffen. Dann gilt im Prinzip Ahnliches wie bei den Special-Interest-Titeln. Wir haben jedoch gesehen, dass die B-to-B-Versender vorwiegend mit Querschnittssortimenten ftir groSe Massen von Anwendern in unterschiedlichen Branchen handeln (siehe oben Kapitel 1.2.2 Business-to-Business(B-to-B)-Versandhandel), Es gibt gelegentlich Verlage, die sich darauf einlassen, eine so genannte CPO-Anzeige zu schalten. Der Anzeigenpreis richtet sich dann zumindest teilweise nach dem Response. Schwierigkeiten treten hier naturgemafi bei der Abrechnung auf. Es gibt auch findige Agenturen, die Anzeigenplatze bei den Verlagen einkaufen und als CPO-Anzeige weiterverkaufen. Diese Agenturen haben dadurch, dass sich mehrere Versender daran beteiligen, einen gewissen Risikoausgleich. Die praktische Bedeutung derartiger Konzepte ist allerdings eher gering. Eine andere Form von Kombiwerbemittel ist durchaus verbreitet. Ein Unternehmen mit dem bezeichnenden Namen Multibus verbreitet Couponhefte oder Blocks mit Antv^ortpostkarten unterschiedlicher Anbieter auf verschiedenen Wegen, u.a. als Zeitschriftenbeilage, adressiertes Mailing oder Paketbeilage. Dieser Werbeweg ist deswegen fiir den Versandhandel geeignet, weil dadurch Responseelemente verbreitet werden. In der Regel handeit es sich hier um eine zweistufige Werbung. Sonderwege Die groSen Sortimentsversender unterhalten eine AuSendienst-Organisation zur Betreuung ihrer Sammelbesteller und Absatzmittler (Naheres dazu im Kapitel 2.4.4 Sammelbesteller und Absatzmittler). Diese AuSendienstmitarbeiter, Bezirksleiter genannt, haben auch die Aufgabe, neue Sammelbesteller zu werben, die sie im Kreise der Mitbesteller oder auch auf dem Wege der Kaltakquise an der Haustiir finden. Die Hybridversender haben durch ihre stationaren Ladengeschafte den Zugang zu Neukunden ftir ihren Versandhandel, indem sie in ihren Ladengeschaften Kataloge auslegen, aus denen die stationaren Kunden spater bestelMarketing

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ien. Oder die Kunden werden beim Kauf nach ihrer Anschrift gefragt, um ihnen dann spater adressierte Werbemittel zukommen zu lassen. Die eigenen Kunden konnen auch als Neukundenwerber eingesetzt werden, indem ihnen dafiir Sachpramien (auch als Bonuspunkte flir einen Pramienkatalog) ausgeiobt werden. Dieser als Freundschaftswerbung oder Memberget-Member (MGM) bezeichnete Weg ist bei Buchclubs und Zeitschriftenabonnements verbreitet. Dieser Weg bringt eine relativ gute Response, ist jedoch wegen der Pramienkosten und der vielfachen Mitnahmeeffekte sowie der so genannten Schaukelwerbung kostspielig. Deshalb wird er auch vorwiegend bei einer erwarteten langen Kundenhaltbarkeit, also im Club- oder Abo-Geschaft eingesetzt. Manche Versender unternehmen Versuche mit Kooperationspartnern und Absatzmittlern, bei denen Kataloge ausgelegt werden. Denkbar sind hier z. B. Einzelhandelsgeschafte. Die Bestellelemente sind mit einer Nummer des Kooperationspartners versehen, der eine Provision erhalt. Fiir manche kleineren Facheinzelhandler kann dieses Verfahren eine sinnvoUe Erganzung ihres Sortiments darstellen; dem entgegen stehen Empfindlichkeiten gegenliber dem Wettbewerb. Eine andere Form der Kooperation ist die Auslage von Katalogen gegen Entgelt. Diese Kooperation hat mehr den Charakter einer Medienschaltung als einer Absatzmittlung. Denkbar ist die Auslage von Katalogen in Hotels oder Verkehrsmitteln (Bahn, Flugzeug). Als einen Sonderfall der Auslage kann man den Verkauf von Katalogen der grofien Sortimentsversender durch Zeitschriftenkioske ansehen. Insgesamt muss jedoch bei aller konzeptionellen Kreativitat auf diesem Gebiet festgestellt werden, dass die Sonderwege der Neukundenwerbung von untergeordneter Bedeutung sind.

2.3.4 Kundenaktivierung Das Marketing entscheidet, wer die Angebote des Versenders erhalt. Um den Gesamtzusammenhang der Aufgabe des Marketings zu verdeutlichen, werden im folgenden Abschnitt Kundenentwicklung zunachst einmal die Neukundengewinnung und die Kundenaktivierung als Telle eines gemeinsamen Systems dargestellt. Die einmal geworbenen Kunden miissen als Kunden aktiv gehalten werden, damit sie nicht inaktiv und damit zu Altkunden werden. Auch das Budget fiir 136

Der Prozess der Angebotserstellung

die Kundenaktivierung ist limitiert. Eine Aufgabe des Marketings besteht also darin, die Mittel fiir die Kundenaktivierung optimal einzusetzen. Diese Thematik wird im Abschnitt Katalogeinsatz weiter unten behandelt. Hier geht es um die Frage, welcher Kunde welches Werbemittel bekommt. Es geht dabei zwar im Wesentlichen um den Einsatz von Katalogen, daneben jedoch auch um andere WerbeanstoEe wie Mailings oder Telemarketing. Die mehr instrumentellen Aspekte der Kundenaktivierung werden noch einmal im Kapitel 2.4 Verkauf aufgegriffen. Eine v^eitere, auch zunachst weniger instrumentelle Aufgabe des Marketings ist die Verteilung der AktivierungsanstoSe fiir einen Kunden iiber die Zeit. Diese Verteilung heiEt AnstoEkette und wird im Abschnitt Anstofikette am Ende von Kapitel 2.3.4 behandelt. Kundenentwicklung Nach dem Modellansatz konzentrischer Kreise um die Kernzielgruppe herum (vgl. Kapitel 2.3.1 Die Zielgruppe), steigt mit der Bewegung ins Zentrum dieser Kreise die Responsequote. In Anlehnung an dieses Modell lassen sich die Kunden auch nach ihrer Ertragsaussicht ordnen. Die Ertragsaussicht wird unter anderem durch Responsequote, durchschnittlichen Bestellwert, Kalkulation der bestellten Sortimente und Retourenquote beeinflusst. Wahrend in den auSeren Kreisen die Kosten der Neukundengewinnung in der Regel iiber den Ertragen aus den Neukundenumsatzen liegen werden, miissen die Kosten der WerbeanstoSe in den inneren Kreisen unter den Ertragen aus den Stammkundenumsatzen liegen. Der Versender hat also ein Interesse daran, dass sich moglichst viele Kunden von den auSeren Kreisen in die inneren Kreise entwickeln. Nachfolgend wird ein einfaches Modell der Kundenentwicklung eines Versenders dargestellt. Es wird zur besseren Nachvollziehbarkeit anhand eines Zahlenbeispiels demonstriert. In das Modell gehen folgende Annahmen ein: Kundenentwicklung: Der Deckungsbeitrag (DB) pro Saison eines neu gewonnenen Kunden soil sich im Durchschnitt wie folgt entwickeln:

In einem komplizierteren Modell kann die Entwicklung der Deckungsbeitrage aus der Entwicklung von Anzahl Bestellungen pro Saison, Bestellwerten und Retourenquoten hergeleitet werden. Marketing

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Kundenhaltbarkeit: Von den in einer Saison gewonnenen Neukunden solien in der nachsten Saison im Durchschnitt nur 75 % Wiederkaufer sein; 25 % der Kunden werden Altkunden. Dann entwickelt sich die in einer Saison gewonnene Kundenkohorte von 1 000 Kunden in dieser Weise:

Zu Demonstrationszwecken begrenzen wir die Haltbarkeit auf sechs Saisons (vgl. Abbildung 10).

Abbildung 10: Verlaufsstruktur

Daraus lasst sich eine Verlaufsstruktur der Kundenkohorte durch MuhipHkation der beiden Reihen (Kunden-Deckungsbeitrag X Anzahl Kunden, z. B. 100 € X 1 000 = 100 Tausend €) ableiten:

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Der Prozess der Angebotserstellung

Unter diesen Voraussetzungen lasst sich der Wachstumsprozess des Kundenbestands in einem Mehrperiodenmodell darstellen. Dabei wird zunachst angenommen, dass in jeder Periode (z. B. Saison) die gleiche Anzahl Kunden (1 000) geworben wird und jede geworbene Kundenkohorte in gleicher Weise abschmilzt:

Tabelle 30: Bestandserhaltende Neukundenwerbung: Anzahl Neukunden

Bei unveranderter Kundenentwicklung und Kundenhaltbarkeit ergeben sich dariiber hinaus die Verlaufsstrukturen fiir jede geworbene Kunden-Kohorte und damit Entwicklung des gesamten Deckungsbeitrags. Im eingeschwungenen Prozess ab der sechsten Saison ergibt sich daraus ein gesamter Deckungsbeitrag pro Saison von 650 T€, vorausgesetzt in jeder Saison werden konstant 1 000 Neukunden geworben (vgl. Tabelle 31).

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Tabelle 31: Bestandserhaltende Neukundenwerbung: Deckungsbeitrage in Tausend € (Verlaufsstrukturen)

Wenn der Deckungsbeitrag des Unternehmens in jedem Jahr um 5 % wachsen soil, muss bei unveranderter Verlaufstruktur in jedem Jahr die Anzahl der Neukunden um 5 % wachsen (vgl. Tabelle 32). Der Leser kann sich vorstellen, wie bei veranderlichen Verlaufsstrukturen oder unstetigen Wachstumsraten der Neukundenentwicklung der Bedarf an Neukunden zur Erreichung bestimmter Ziele errechnet werden kann.

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Der Prozess der Angebotserstellung

Tabelle 32: Neukundenwerbung mit 5 % Bestandswachstum: Anzahl Neukunden

Tabelle 33: Neukundenwerbung mit 5 % Bestandswachstum: Deckungsbeitrage in Tausend € (Verlaufsstrukturen)

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Fiir die Beeinflussung des Ertragswachstums eines Versenders gibt es also zwei grundsatzliche Aktionsparameter: die Neukundengewinnung und die Beeinflussung der Verlaufsstmktur. Die positive Beeinflussung der Verlaufsstruktur kann unter anderem durch folgende Aktionsparameter vorgenommen werden: Die Verlangerung der Haltbarkeit durch MaSnahmen der Kundenbindung (vgl. Kapitel 2.4.2 Kundenbindungsinstrumente) Die Verbesserung der Kundenentwicklung innerhalb der Haltbarkeitszeit durch Beeinflussung von - Bestellhaufigkeit - Bestellwert mit - Anzahl der Bestellpositionen und - Preislage/Wert der Bestellpositionen - Ertragspotenzial der Bestellung mit - Lenkung der Kundenentwicklung in besser kalkulierte Sortimente Lieferfahigkeit/Nachfrageausschopfung - Retourenquote Die auf die Verbesserung der Kundenentwicklung gerichteten MaSnahmen sollen beim Kunden dessen Bestellhaufigkeit, Bestellwerte sowie das Ertragspotenzial im Laufe seiner Haltbarkeitszeit verbessern. Ein Neukunde soil sich zum Stammkunden und Bestkunden entwickeln. Sowohl die Haltbarkeit als auch die Kundenentwicklung werden durch eine Aktivierung wahrend der Haltbarkeitszeit beeinflusst. Zur Kundenaktivierung gehoren Angebote, die die Kunden zum Kauf stimulieren sollen. Es gibt hier mehrere, hierarchisch geordnete Optimierungsprobleme: 1. die optimale Verteilung des Mitteleinsatzes auf Neukundengewinnung und Aktivierungsmafinahmen zur Verbesserung der Verlaufsstruktur, 2. die optimale Verteilung des Mitteleinsatzes auf die unterschiedlichen Aktivierungsmafinahmen, insbesondere auf die Mafinahmen zur Verlangerung der Haltbarkeit (Kundenbindung) und zur Verbesserung der Kundenentwicklung, 3. die optimale Verteilung des Mitteleinsatzes auf die unterschiedlichen Teilziele der Kundenentwicklung. Die Optimierungsmethode ist bereits mehrfach beschrieben, und sie unterscheidet sich von der Optimierung des Mitteleinsatzes in der Neukundengewinnung im Prinzip nicht (vgl. Abschnitt Planung und Optimierung in Kapitel 142

Der Prozess der Angebotserstellung

2.3.3). Das Optimum ist dort erreicht, wo der Grenzertrag aller Aktivierungsmafinahmen gleich ist. Praktisch wird die Optimierung dadurch angestrebt, dass alle Aktivierungsmafinahmen einen gleichen Mindestgrenzertrag erreichen miissen. Aus dem Optimierungsergebnis werden die Werbeerfolgsplanung und die Werbekostenplanung abgeleitet. Katalogeinsatz Wenn das Budget zur Aktivierung der Kunden limitiert ist, wird man vorrangig die Kunden mit dem hochsten Ertragspotenzial aktivieren. Als Mai? fiir das Ertragspotenzial hat sich in der Kundenaktivierung die Bestellwahrscheinlichkeit durchgesetzt. Die Kunden werden nach ihrer Bestellwahrscheinlichkeit sortiert. Wenn das Budget den Versand von 100 000 Katalogen erlaubt, erhalten die 100 000 Kunden mit der hochsten BestellwahrscheinHchkeit einen Katalog; die iibrigen werden bei diesem Anstol? nicht beriicksichtigt. Ein anderer Weg ist es, eine bestimmte, kostendeckende BestellwahrscheinHchkeit vorzugeben. Alle Kunden, die diesen Wert nicht erreichen, werden nicht beriicksichtigt. Man nennt diese Verfahren auch optimaler Cut-off. Einzelheiten der Ermittlung von Bestellwahrscheinlichkeiten werden im Kapitel 2.3.5 Databasemarketing behandelt. In der Praxis wird allerdings noch sehr verbreitet mit einem einfachen RFM-Ansatz gearbeitet (Recency, Frequency, Monetary Rate, bisweilen auch RFMR genannt). Dieser Ansatz beruht auf der Erfahrung, dass die Bestellwahrscheinlichkeit bei solchen Kunden hoher ist, die kiirzlich (recently), haufig (frequently) und fiir viel Geld (money) bestellt haben. Im Databasemarketing berechnet man Regressionen, die diese drei und weitere Bestimmungsfaktoren der Bestellwahrscheinlichkeit quantifizieren und miteinander ins Verhaltnis setzen. Sehr einfache RFM-Ansatze gehen von MindestgroEen aus, z. B.: Wer zwei Jahre nicht mehr bestellt hat, bekommt keinen Katalog mehr. Oder: Wer in den letzten beiden Jahren nicht mindestens fiir x Euro bestellt hat, bekommt keinen Katalog mehr. Man kann sich auch ein einfaches, heuristisches Punktesystem fiir die drei RFM-Gro6en vorstellen: Nur wer eine Mindestpunktzahl erreicht, erhalt einen Katalog. In der Praxis Hegt man damit haufig gar nicht so weit von den Ergebnissen einer Regressionsrechnung entfernt, die die Punkte (Scores) statistisch ermittelt. Differenziertere Ansatze miissten nicht nur die Bestellwahrscheinlichkeit, sondern das gesamte Ertragspotenzial eines Kunden beriicksichtigen. Dazu gehort auch eine Wahrscheinlichkeitsaussage iiber das Bestellvolumen und die Haltbarkeitserwartung. Die Haltbarkeitserwartung wird haufig implizit beriicksichtigt, indem Neukunden und neuere Kunden nicht so schnell aufgegeben werden; ihnen wird quasi eine Chance gegeben. Marketing

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Wenn das Ertragspotenzial und damit die Katalogausstattung der Kunden allein aus dem bisherigen Bestellverhalten hergeleitet wiirde, wiirde das dazu fiihren, dass immer weniger Kataloge ausgesendet wiirden, denn der Kundenbestand unterliegt tendenziell stets einem Abschmelzungsprozess. Die dahinter steckende Philosophie ware: Es hat ja sowieso keinen Zweck mehr, dann brauchen wir auch nicht mehr zu werben. Das ware eine vollige Verkehrung der Annahme iiber die Werbewirkung, namlich: Weil wir werben, bestellen die Kunden. Der daraus zu ziehende Schluss ware nun, gerade diejenigen Kunden zu bewerben, die nicht bestellen. Es wird bisweilen von aufien mit Erstaunen festgestellt, dass insbesondere mittelstandische Spezialversender die zur Verfiigung stehenden, elaborierten Methoden zur Ermittlung des so genannten optimalen Cut-off nicht nutzen. Wie wir jedoch gesehen haben, kann man sich auch „zu Tode optimieren". Die Beschrankung, unter der der Budgeteinsatz zur Kundenaktivierung zu optimieren ist, kann mittelfristig wohl nicht das Werbebudget sein. Es ist also nicht die Frage: Welche Kunden aktiviere ich mit gegebenem Werbebudget? Die Beschrankung, unter der die Optimierung stattfinden muss, sind die Umsatz- und damit Deckungsbeitragsziele sowie die Kundenbestandsziele des Unternehmens. Die Frage lautet also, welche Kunden muss ich noch aktivieren, damit ich meinen Umsatz respektive meinen Kundenbestand erreiche. Ein Losungsansatz fiir die Optimierungsprobleme wird in Kapitel 6.6.2 Die optimale Kundenstruktur dargestellt. AnstoBkette

Als AnstoEkette bezeichnet man die zeitliche Abfolge von alien Mafinahmen wahrend der Saison, mit denen die Kunden beworben werden, also Kataloge, Mailings, Aktivitaten wie Telefonmarketing und E-Mail-Marketing usw. Die Festlegung der Anstofikette findet zu Beginn der Saisonplanung statt, da sie die Anzahl der Bestellungen und damit die Warendisposition maSgeblich beeinflusst. Der Begriff der Anstofikette soil eigentlich die Kettenverbindung des Wechsels von AnstoS und Bestellung versinnbildlichen. Nach jedem Anstofi gibt es jene typische Kurve des Bestellverlaufs, zunachst sehr steil ansteigend und mit zunehmender zeitlicher Entfernung vom Anstoi? flach abfallend. Der Sinn von neuen Anstofien ist es, die abfallende Bestellkurve wieder hochzureiSen und fiir einen moglichst kontinuierlichen Bestelleingang zu sorgen. Die Herausforderung besteht darin, die Haufigkeit und die Zeitpunkte so zu optimieren, dass ein moglichst giinstiges Verhaltnis von Bestellungen und Anstofikosten erreicht wird.

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Der Prozess der Angebotserstellung

Bestelleingang 4

Hauptkatalog

Hauptkatalog

AnstoB

Zeit Abbildung 11: AnstoSkette und Bestellkurven im Hauptkatalogmodell

Am Anfang der Anstofikette steht immer die Frage, wann die Kunden das neue Angebot erwarten und wann sie entsprechend kaufbereit sind. Hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen dem stationaren Einzelhandel und dem Versandhandel. Im Modebereich ist das gut zu beobachten in der Zeit nach Weihnachten, wenn in den Laden der Winterschlussverkauf tobt und gleichzeitig die Versandkataloge mit der neuen Saisonware versendet werden. Der Unterschied ist deutlich: die Kunden erwarten in den Ladengeschaften giinstige Saisonschlussware und in den Katalogen die neue Friihjahrsmode. Der Versandhandel bezieht aus dieser unterschiedlichen Kundenwahrnehmung fiir eine kurze Zeit Vorteile, die im Laufe der Saison wieder durch die haufigeren Sortimentswechsel und Preisaktionen der Einzelhandler relativiert werden. Ein weiterer wichtiger Faktor fiir die Bestimmung des richtigen Zeitpunktes ist das Sortiment. Die Modeangebote haben klassischerweise Ende Dezember bis Anfang Januar den Start in die Friihjahr-Sommersaison, entsprechend fiilien sich zum Jahresanfang die Briefkasten mit den Katalogen der Universalund Modeversender. Aber ein Versender fiir Gartenmobel startet erst zwei Monate spater, ebenso wie hartwaren- und techniklastige Versender.

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Wenn der Start der neuen Saison bestimmt ist, beginnt die Anstofikette in der Kegel mit dem neuen Hauptwerbemittel der Saison, „Hauptkataiog" genannt. Ganz typisch ist diese Vorgehensweise fiir die Universalversender, die ihre iiber 1 000 Seiten starken Hauptkataloge traditioneil im Dezember/Januar zur Fruhjahr-ZSommer saison und im Juli/ August zur Her bst-/Winter saison versenden. Diese Tradition ist aktuell stark im Wandel begriffen, getrieben durch die sich stark verandernden Einkaufsgewohnheiten der Kunden. Seit einigen Jahren ist im Einzelhandei zu beobachten, dass insbesondere im fiir den Versandhandei wichtigen Modebereich die Produktzykien immer kiirzer werden. Starke Protagonisten fiir diese Entwicklung sind die vertikal organisierten Modeunternehmen wie Hennes & Mauritz, Zara oder Benetton, Diese Unternehmen stellen alle Phasen der Wertschopfungskette selbst dar, von der Produktentwicklung iiber die Herstellung bis zur Vermarktung. Durch die immer haufiger wechselnden Sortimente (H&M bringt circa 13 Sortimente pro Jahr auf den Markt) und die immer schneiiere Umsetzung von Trends (Zara bringt eine Produktidee innerhalb von circa sechs Wochen in die Laden) veralten die Angebote auch sehr viel schneller als bisher. Schon nach sechs Wochen w^erden die eben noch aktuellen Angebote durch neue ersetzt und erleben einen rasanten Preisverfall. Das fiihrt zu haufigen Preisreduktionen im stationaren Einzelhandei. Diese aggressive Angebotspolitik blieb nicht ohne Folgen fiir das Kaufverhalten. Insbesondere jiingere Zielgruppen wurden daran gewohnt, dass sie standig neue Angebote, neue Sortimente, neue Kaufanreize und permanente Preisreduktionen (siehe auch das Kapitel 6.1.2 Elemente der PreispoUtik) prasentiert bekommen. Diese veranderte Angebotspolitik des Einzelhandels hat sich unisono im Versandhandei ausgewirkt und dort die jahrzehntelange Erfahrung der Universalversender, dass die Hauptkataloge sechs bis sieben Monate „laufen" und durch Zwischenkataloge und Mailings aktiviert w^erden, zur Geschichte gemacht. In der neuen Realitat brechen die Hauptw^erbemittel schon nach drei bis vier Monaten ein und miissen durch zusatzliche Kataloge und stark aktionistische Aktivitaten erganzt und aktiviert werden. Dies hat zu fulminanten Veranderungen bei den groEten deutschen Versandhandlern gefiihrt, so versendete Otto in 2005 erstmals drei Hauptkataloge im Jahr: im Dezember/Januar den 1. Hauptkatalog mit den neuen Friihjahrsangebote, im April den 2. Hauptkatalog mit Angebotserganzungen im Modebereich, im August den 3. Hauptkatalog mit den neuen Herbstangeboten. Der 1. Hauptkatalog markiert den Saisonstart in die Friihjahr-ZSommersaison. Der 2. Hauptkatalog basiert im Wesentlichen auf den Angeboten des 1. 146

Der Prozess der Angebotserstellung

und soil das Loch fiillen, in das der Fruhjahr-ZSommerkatalog nach Ostern stiirzt. So kann auch das Saisonende der Fruhjahr-ZSommersaison moglichst weit nach hinten verschoben werden, und der Versandtermin des 3. Hauptkataloges fiir die Herbst-ZWintersaison im August daran anschHeSen. Das wiederum lasst auf einen starkeren Start in den Herbst hoffen, da das Herbst-ZWinterangebot aktueller und saisonnaher versendet werden kann und nicht wie bisher schon im Juni oder Juli. Quelle folgt einer anderen Strategie, indem die Hauptkataloge in separate Textil- und Hartwarenkataloge gesplittet werden. Die Textilkataloge wechseln sortimentsbedingt haufiger als die Hartwarenkataloge. Welche Strategie erfolgreicher sein wird, mussen die jeweiligen Kunden entscheiden. Zwischen den Hauptkatalogen gibt es so genannte Zwischen- oder Aktivierungskataloge. Das sind kleinere Kataloge mit Ausziigen vom Hauptsortiment fiir spezielle Kundengruppen (z. B. „Kindermode" fiir Eltern) oder mit besonderen Saisonangeboten. Diese Kataloge generieren Bestellungen, aktivieren den Hauptkatalog und schaffen beim Empfanger „Prasenz", d. h. die Wiedererkennung des Unternehmens wird gesteigert. Das erzielt auch im Fall eines Nichtkaufs zumindest einen Teilnutzen, da der Wettbewerb auf Distanz gehalten wird. Bei Spezialversendern und B-to-B-Versendern, die ein weniger saisonabhangiges Angebot haben, kann der Hauptkatalog mit leichten Variationen (andere Titelseiten, Umstellung der Katalogstrecke) auch mehrfach im Jahr versendet werden, um hiermit mehrere AnstoSe zu erreichen. Die Frequenz der Anstofikette hangt stark vom Sortiment und seiner Bedarfsfrequenz sowie den verfiigbaren Anlassen ab. Im B-to-C gangige Anlasse sind beispielsweise die Wechsel der Jahreszeiten, „Muttertag", „Ostern", „Nikolaus", „Weihnachten", „Firmenjubilaen", mediate Ereignisse (z. B. die „Fu6ball-WM 2006" in Deutschland) oder es werden Anlasse geschaffen (z. B. „Hausputz", „Alles fiir die Regentage", „Sie wurden fiir einen Gewinn ausgewahlt", „Auf Ihrem Konto ist ein Guthaben" oder auch AuEendienstbesuche bei Sammelbestellern, Incentive-Aktionen bei Kundenbindungsprogrammen, Gewinnspiele u. a. m.). Die Anlasse sind wichtig, um bei den Kunden die notwendige Aufmerksamkeit zu erreichen. Im B-to-B-Versandhandel fiir Biiromaterial gibt es zum Teil AnstoSfrequenzen im wochentlichen Rhythmus, da in vielen Biiros wochentlich Biiromaterial gekauft wird und man moglichen Wettbewerbern zuvorkommen mochte. Bei Spezialversendern fiir Giiter des nicht taglichen Bedarfs gibt es Frequenzen von sechs bis acht Wochen. Diese Haufigkeit erzeugt erfahrungsgemaS den Eindruck einer standigen Prasenz; geringere Frequenzen werden nicht empfohlen. Bei Sortimentsversendern mit

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einem breiten Sortiment, das haufig die Chance hat, auf einen Bedarf zu treffen, variieren die Frequenzen je nach Ertragspotenzial des Kunden dazwischen. In der letzten Zeit mehren sich die Versender, die immer haufiger und ausgesprochen anlassbezogen aktiv sind. Allen voran ist hier Tchibo erfolgreich mit der Strategie ,Jede Woche eine neue Welt". Dadurch erhoht sich auch der Druck auf die anderen Anbieter, ihre Frequenzen und Sortimentserneuerungen zu erhohen. Das hat ganz erhebliche Auswirkungen auf die Werbekosten, da die Zusatzanstofie in der Kegel nur einen schwachen Return on Investment bieten, der umso schlechter ausfallt, je kiirzer die Laufzeit bis zum nachsten AnstoE ist. Neben den auf den Versender bezogenen Bedingungen fiir die AnstoEkette wird diese auch auf die Kunden und deren Historic abgestimmt. In der Kegel legt man drei parallel nebeneinander ablaufende Anstofiketten auf: Zieigruppe 1: Aktive Kunden, die innerhalb der letzten vier Saisons kaufaktiv waren Zieigruppe 2: Inaktive Kunden, die vor vier Saisons kaufaktiv waren, und Kataloginteressenten aus der Vorsaison Zieigruppe 3: Neukunden und Interessenten, die zum ersten Mai einen Katalog anfordern oder bestellen. Die Ablaufe der AnstoSketten innerhalb dieser Zielgruppen unterscheiden sich aus w^irtschaftlichen und anlassbezogenen Griinden. Die Zieigruppe 1 erhalt in der Kegel alle Werbemittel, und die allerbesten Kunden werden meist noch mit aufwandigeren Aktionen, wie z. B. Telefonmarketing oder Kundenevents, beworben. Die Zieigruppe 2 erhalt teilw^eise die Hauptwerbetrager und inhaltlich spezifische Mailings, die eine Keaktivierung provozieren soUen, z. B. „Umfragen" (Haben wir Sie enttauscht?), so genannte „AZAs" (Aufforderung zur Anforderung, z. B.: „Keservieren Sie sich Ihr personliches Katalogexemplar") oder besondere Geschenke oder Kabatte, damit wieder gekauft w^ird. Die Zieigruppe 3 erhalt eine Anstofikette, die wahrend der Saison mit der Kataloganforderung beginnt und dann spezifische und zeitlich an diesem Zeitpunkt orientierte Aktivitaten beinhaltet. So erhalten Kataloginteressenten circa drei Wochen, nachdem sie den Katalog zugesendet bekommen, aber noch nicht gekauft haben, einen Brief, der sie zum Kauf oder zur Mitteilung der Griinde auffordert, oft noch begleitet von einem zusatzlichen Gutschein. In welcher Zieigruppe die effektivsten und wirtschaftlichsten MaEnahmen umgesetzt werden, wird durch regelmaSige Tests herausgefunden. Einen stark wachsenden Einfluss auf die AnstoSkette hat das Internet. Die GfK (Gesellschaft fiir Konsumforschung, Niirnberg) hat berichtet, dass im

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Der Prozess der Angebotserstellung

Jahr 2004 iiber 25 Millionen „Online-Shopper" via Internet eingekauft haben. Das Deutsche Versandhandels-Institut lasst regelmafiig den Anteil der Bestellwege uberpriifen und hat seit 2002 eine Zunahme der Nutzung des Internets als Bestellweg von 27,5 % auf 46 % in 2005 festgestellt, v^as den zweitwichtigsten Bestellv^eg nach dem Katalog bedeutet. Versandhausshopper nutzen in aller Kegel haufig das Internet zur Information, zur Kommunikation und zur Bestellung beim Versender. AuSerdem bietet das Internet den Versendern sehr kostenglinstige Wege, um personalisierte Werbung an die Kunden zu senden, und es wird aktiv davon Gebrauch gemacht. Wenn man sich heute bei einem Versender zum Newsletter anmeldet, erhalt man in der Kegel alle 14 Tage ein Angebot per E-Mail. Allerdings hat dieses E-Mail-Marketing ein erheblich schw^acheres Aufforderungspotenzial als Kataloge und Mailings und kann diese nicht ersetzen, sondern nur erganzen. Die optimale Anstofikette hat zur Aufgabe, die Umsatzpotenziale auszunutzen, die Kunden bereits fiir den Folgekauf in der nachsten Saison positiv vorzubereiten und den Bestelleingang moglichst kontinuierlich zu gestalten. Dazu muss Sie die richtige Frequenz finden: 1. Wenn die AnstdEe zu v^eit auseinander liegen, werden die Umsatzpotenziale nicht ausgenutzt. Die Kunden waren schon bei einem friiheren Anstol? bereit gew^esen, w^ieder zu bestellen. Moglicherv^eise ist ein Wettbev^erber zuvorgekommen und hat diese Kaufbereitschaft genutzt. 2. Wenn die AnstoSkette zu dicht ist, dann verpufft der Effekt. Die Kunden hatten bei einem spateren AnstoS kaum v^eniger bestellt, da sie noch nicht bereit v^aren, w^ieder zu bestellen. Die zusatzlichen Anstofikosten werden in diesem Fall nicht durch zusatzliche Bestellungen gedeckt. 3. Wenn die AnstoSe zu intensiv sind, z. B. durch sehr hohe Versandauflagen pro Tag, wird die telefonische Bestellannahme schnell iiberlastet, was zu einem schlechten Servicelevel fiihrt (siehe Kapitel 4.1.1 Telefonische Bestellung). Im schlechtesten Fall konnen die Kunden ihre Bestellung nicht aufgeben, und damit ist die Wirkung des AnstoSes nicht nur verpufft, sondern dreht sich ins Gegenteil. Die Kunden werden so nachhaltig verargert und sind in der Zukunft weniger bestellgeneigt. Eine wirtschaftlich erfolgreiche AnstoEkette ist in der Kegel nur moglich, wenn sie von einem professionellen Databasemarketing (siehe Kapitel 2.3.5 Databasemarketing) unterstiitzt wird. Damit werden die passenden Zielgruppen und Ansto6mechanismen aufeinander abgestimmt, die Wirtschaftlichkeit iiberwacht, neue Verfahren ausgetestet und der Kiicklauf fiir die Kapazitatsplanung in der telefonischen Bestellannahme geplant.

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2.3.5 Databasemarketing Datenmodell, Datawarehouse und MIS Es ist schon mehrfach angeklungen: Das Marketing im Versandhandel benotigt als Direktmarketing Daten iiber seine Kunden, um die Marketinginstrumente differenziert nach unterschiedlichen Kunden einsetzen zu konnen. Die grundsatzliche Idee des Databasemarketing ist, Daten iiber die Kunden (und potenziellen Kunden) zu beschaffen und Schiiisse aus diesen Daten dariiber zu Ziehen, welche Kunden mit weichen MarketingmaSnahmen angesprochen werden soUen. Die Anwendungen des Databasemarketing im Versandhandel sind iibUcherweise: Die Sortimentsentwicklung. Aus den Daten iiber die Kunden, darunter das Reaktionsverhalten auf die angebotenen Sortimente, lasst sich eine Segmentierung des Kundenbestands herbeifiihren, um dann unterschiedUchen Kundensegmenten differenzierte Angebote zu unterbreiten. Die Neukundengewinnung. Aus Daten iiber die eigenen Kunden werden Schiiisse auf die anzusprechenden Zielgruppen gezogen, z. B. die Eignung anzumietender Adressen beurteih. Man spricht hier auch vom Profiling der eigenen Kunden. Die Kundenaktivierung. Aus Daten iiber die Kunden werden Schiiisse darauf gezogen, wie Katalogeinsatz und AnstoSkette differenziert zu gestalten sind, um eine moglichst hohe BestellwahrscheinHchkeit zu erreichen und damit die Kunden mit dem hochsten Ertrags- und Entwicklungspotenzial zu erreichen. Die Bonitatspriifung. Aus Daten der eigenen Kunden sowie aus externen Daten werden Schiiisse auf das Kreditrisiko eines (neuen) Kunden gezogen und dann iiber die Ausfiihrung einer Bestellung entschieden. Insbesondere Bonitatsrisiken und Ertragschancen konnen mit einer verbundenen Betrachtung beriicksichtigt werden (vgl. dazu Kapitel 6.5 Yerkaufschancen und Kreditrisiken (Die Fair-Isaac-Informa-Methode)). Der Aufbau eines Databasemarketing beginnt mit der Formulierung der Aufgabenstellungen und der Festlegung der dazu benotigten Daten, die in ein Datenmodell einflieSen. Ein Datenmodell legt die zu verarbeitenden Daten und die Beziehungen der Daten zueinander fest. Es sind die Datenquellen festzulegen (Naheres im folgenden Abschnitt Datenquellen). Die Daten aus unterschiedlichen Datenquellen sind in ein einheitliches Format zu transferieren. Daten sind gegebenenfalls anzureichern, zu reduzieren oder zu aggregieren. 150

Der Prozess der Angebotserstellung

Und es sind Entscheidungen iiber die Behandlung von fehlenden oder fehlerhaften Daten zu fallen. Die Daten, die aus unterschiedlichen Datenquellen stammen und in unterschiedlichen Datenbanken vorliegen, konnen in einem Datawarehouse integriert werden. Ein Datawarehouse ist eine integrierte Sammlung mehrerer Datenbanken, quasi eine Meta-Datenbank. Die Daten aus den unterschiedlichen Quellen werden im Datawarehouse miteinander verkniipft und ausgewertet. Diese technischen Voraussetzungen fiir die Anwendung des Databasemarketings sind umfangreich und konnen hier nicht im Einzelnen beschrieben werden. Es leuchtet ein, dass das Databasemarketing desto effizienter einsehbar sein wird, je mehr Datenquellen integriert werden und Integration auch wirklich Zugriff und Kompatibilitat bedeutet. Die Datawarehouse-Idee bedeutet, dass bestehende IT-Strukturen im operativen Tagesgeschaft, auch Produktion genannt, im Prinzip nicht angetastet werden. Das Datawarehouse ist quasi eine Parallelstruktur als Grundlage fiir das Management Information System (MIS). Anders liefie sich Databasemarketing auch kaum in einen laufenden Betrieb integrieren. Databasemarketing ist ein Teil des Management Information Systems. Datenquellen Bei den Datenquellen lassen sich interne und externe Datenquellen unterscheiden. Die relevanten internen Datenquellen fiir das Databasemarketing eines Versandhandels sind: die Kundenstammdatei mit Geschlecht, Geburtsdatum, Anschrift, Anlagedatum der Adresse u. a., die Kommunikationshistorie mit Kundengewinnungsweg und WerbeanstoEen, die Kundenkonten mit Bestellungen, Lieferungen, Zahlungen, Mahnungen, Retouren etc. Insbesondere interessieren die RFM-Gro6en Bestellaktualitat, Bestellhaufigkeit und Bestellwert; hinzu kommen Sortimente, die bestellt wurden. Das Retourenverhalten kann nach Umfang und Retourengrund differenziert werden, das Zahlungsverhalten nach Zahlungsart, -zeitpunkt und -umfang. Das Kundenverhalten soil den WerbeanstoSen zuzuordnen sein; deshalb mtissen alle Aktionen und Reaktionen mit dem Datum verfiigbar sein.

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Bei Sortimentsversendern konnen es bis zu mehrere hundert Daten sein, die einem Kunden zuzuordnen sind, was man sich bei einer entsprechend langen Kundenhistorie und stark differenziertem Sortimentsspeicher leicht vorstellen kann. Entsprechend differenziert kann im Datamining dann nach Erkenntnissen iiber den Kundenbestand gesucht werden. Die internen Daten konnen noch mit externen Daten angereichert werden. Oder externe Daten werden auf „externe" Adressen bei der Neukundengewinnung oder der Bonitatspriifung angewendet. Als fiir den Versandhandel relevante externe Datenquellen sind zu nennen: iiber Listbroker anmietbare Adressen, Adressen aus Haushaltsdatenbanken, Adressen aus Firmendatenbanken (B-to-B), Bonitatsinformationen der Schufa, Creditreform, Inkassobiiros u. A. so genannte Lifestyle-Daten. Es werden regelmaSig Haushaite nach Konsumwiinschen und Konsumgewohnheiten befragt. Diese Adressen kann man anmieten. mikrogeographische Daten. Auf kleinsten Raumen (minimal fiinf Haushaite) werden verfiigbare Daten wie Kfz-Nutzung, Wohngebaudeklassifizierung, Soziodemographie, Kaufverhalten (z. T. aus Versenderlisten) ermittelt und den vorhandenen Adressen zugeordnet. Dabei wird von einer gewissen Homogenitat des Konsumverhaltens in diesen Kleinstraumen ausgegangen. Auch auf Basis der zuvor gesammelten Lifestyle-Daten, die den Kleinstraumen zugeordnet wurden, kann man mikrogeographische Qualifizierungen vornehmen. Diese externen Daten, den eigenen Kundendaten zugeordnet, ergeben eine Erweiterung der Kundenmerkmale, aus denen dann im Prozess des Dataminings Schliisse fiir das Marketing gezogen werden konnen. Datamining Das Datamining im Versandhandel ist der Prozess des Suchens und Testens von datenbasierten Hypothesen iiber die eigenen und die potenziellen Kunden. Im Datamining werden Methoden der schliefienden Statistik angewendet. Die Aussagen des Dataminings iiber eine konkrete Kundengruppe sind also stets Wahrscheinlichkeitsaussagen. Beispiele fiir derartige Aussagen konnen sein: Bei einem begrenzten Werbebudget kann nur eine bestimmte Anzahl von Kunden mit einem Katalog versorgt werden. Die Kunden werden dann

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Der Prozess der Angebotserstellung

nach ihrer Bestellwahrscheinlichkeit geordnet, und es werden nur diejenigen mit der hochsten Bestellwahrscheinlichkeit beworben, die gerade noch mit dem begrenzten Budget erreichbar sind. Die ubrigen Kunden werden bei dieser Werbeaktion abgeschnitten (optimaler Cut-off). Fiir eine derartige Vorgehensweise braucht man Wahrscheinlichkeitsaussagen wie z. B.: - Kunden (oder Interessenten), die bestimmte Merkmale aufweisen (z. B. weiblich, jlinger als 25 Jahre, Kauf von bestimmten Modesortimenten), werden mit einer hoheren Wahrscheinlichkeit auf ein bestimmtes Angebot (z. B. dekorative Kosmetik) reagieren als andere Kunden, die diese Merkmale nicht aufweisen (diskrete oder qualitative Merkmale). - Kunden, die bestimmte Merkmale in einer hoheren Auspragung (z. B. jiingeres Alter, hohere Kaufhaufigkeit, hohere Retourenquote) aufweisen, werden mit einer hoheren Wahrscheinlichkeit auf bestimmte Angebote (z. B. junge und ausgefallenere Mode) reagieren (stetige oder quantitative Merkmale). Bisweilen wird die Fragestellung nach der Bestellwahrscheinlichkeit auch in Form einer Kundensegmentierung beantwortet. Bestimmte identifizierte Kundensegmente erhalten dann die eine Werbung, andere Segmente eine andere Werbung. Dann wird man Aussagen nach dem Muster suchen: Wer bestimmte Merkmale oder Merkmalsauspragungen aufweist, wird mit einer hoheren Wahrscheinlichkeit auf das eine Angebot reagieren; die ubrigen werden mit einer hoheren Wahrscheinlichkeit auf das andere Angebot reagieren. Anstatt der Bestellwahrscheinlichkeit kann auch die Bezahlwahrscheinlichkeit bzw. das Zahlungsausfallrisiko von Interesse sein. Dann kommen Aussagen von folgender Art zur Anwendung: Kunden, die bestimmte Merkmale aufweisen oder in bestimmten Auspragungen aufweisen (z. B. Alter, Wohngegend, Bestellung bestimmter Artikel), stellen ein hoheres Bonitatsrisiko dar als andere. Auch hier wird man eine kritische Grenze definieren, wann man den Besteller noch gegen Rechnung beliefert. Die mit statistischen Methoden vorgenommene Kundensegmentierung ist immer nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit „richtig". Es konnen zwei Arten von Fehlern entstehen. Beim so genannten Fehler erster Art werden Kunden, die zu einem gesuchten Segment A gehoren, nicht beriicksichtigt. Beim so genannten Fehler zweiter Art werden auch Kunden beriicksichtigt, die gar nicht zum Segment A, sondern zum Segment B gehoren (vgl. Abbildung 12).

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Abbildung 12: Fehler in der Kundensegmentierung

Die statistischen Verfahren oder Methoden, die im Datamining angewendet werden, sind unter anderem: Regressionsanalyse. Hier wird ein Funktionszusammenhang zwischen einer erklarten Variable (z. B. Bestelivolumen) und mehreren erklarenden Variablen (z. B. Kundenmerkmale) aufgestellt. Das Gewicht der erklarenden Variablen wird quantifiziert. Diskriminanzanalyse. Hier wird der Kunde aufgrund von Kundenmerkmalen dem einen oder dem anderen Segment zugeordnet (z. B. kreditwiirdig, ja oder nein). Klassifikationsbaume/Chaid-Analyse. Hier werden die Kunden in einem hierarchischen Trennverfahren in einer Baumstruktur untersegmentiert (z. B. Hartwaren-ZTextilkaufer und darunter etwa junge Mode/konservative Mode). Clusteranalyse. Hier werden Kunden gesucht, die sich hinsichtlich bestimmter Merkmale untereinander ahneln und sich von anderen Kunden darin moglichst stark unterscheiden. Diese Cluster konnen dann als Kundensegmente interpretiert werden. Neuronale Netze. In diesen Verfahren werden mehrere Funktionszusammenhange, die wiederum als Regressionen berechnet werden konnen, in einem „Netz" miteinander verkettet, um die Komplexitat realer Zusammenhange noch besser zu approximieren. Das Schatzverfahren fur die Gewichte der erklarenden Variablen besteht aus mehreren Durchgangen („Training" oder „Lernen" genannt).

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Der Prozess der Angebotserstellung

Es gibt strenge mathematisch-statistische Voraussetzungen fiir die Anwendbarkeit dieser Verfahren, die nicht immer vorliegen. Die Interpretation der Rechenergebnisse sollte man also immer unter Hinzuziehung eines mathematisch-statistisch ausgebildeten Fachexperten vornehmen. Es gibt am Markt einige Standardsoftwareprodukte fiir das Datamining mit einer bedienerfreundlichen Oberflache und eindrucksvoUen Moglichkeiten zur Visualisierung der Ergebnisse. Auch diese Tools ersetzen eine fachmannische Interpretation der Ergebnisse nicht. Bei der Anwendung von Regressionsanalysen konnen die Werte der erklarenden Variablen nicht so, wie sie sind, in die Rechnung iibernommen werden. Sie miissen bisweilen etwas geglattet, klassifiziert oder gestreckt werden, um zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen. Zu diesem Zweck kodiert man die Originalwerte in geeigneter Weise in Punkte (Scores) um, mit denen man dann wirklich rechnet. Aus der geschatzten Regressionsfunktion errechnet sich eine Gesamtpunktzahl fiir jede Kombination von Merkmalsauspragungen (= fiir jeden Kunden). Beim optimalen Cut-off w^ird dann eine Punktzahl festgelegt, die erreicht v^erden muss, um mit einem Katalog bedient oder fiir kreditw^iirdig gehalten zu werden. Die Rechenvorschrift, nach der Punkte zu vergeben sind, wird auch Score-Card genannt. Dieses empirisch-statistisch fundierte Scoring ist von dem oben erwahnten, heuristischen Scoring zu unterscheiden, das bisweilen bei einfachen RFM-Ansatzen zwar plausibel, aber im Grunde willkiirlich vorgenommen wird. Der Siegeszug, den das Databasemarketing in den letzten Jahren im Versandhandel gehalten hat, spricht fiir sich. Der Erfolg der Methoden zumindest bei entsprechend groi?en Datenmengen ist unbestreitbar. Das gilt sowohl fiir den B-to-C- als auch fiir den B-to-B-Versandhandel. Gerade in schwierigen Zeiten knapper werdender Werbebudgets ist die Neigung zum Einsatz dieser Methoden grol?. Langfristig ist allerdings wegen des erorterten Effekts des „zu Tode Optimierens" Vorsicht geboten.

2.3.6 Verkaufssteuerung, Planung und Controlling Direktmarketing ist in erster Linie eine Zahlenkunst. Die Optimierung des Werbemitteleinsatzes in der Neukundengewinnung und in der Kundenaktivierung sowie die optimale Verteilung des Mitteleinsatzes zwischen Neukundengewinnung und Kundenaktivierung beruht auf Zahlen. Die Voraussetzungen fiir die Optimierung sind unter anderem:

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die Planung des Mitteleinsatzes, auch Werbeplanung genannt, die Erfassung und Verfiigbarkeit der Erfolgsdaten durch ein geeignetes Management Information System (MIS), das Controlling, auch als Werbeerfolgskontrolle (WEK) bezeichnet. Die in der WEK ermittelten Abweichungsergebnisse flieSen in die nachste Werbeplanung ein bzw. sie werden zur Korrektur der laufenden Werbeplanung genutzt. Die Werbeplanung ist die verbindliche Vorgabe fiir die Neukundengewinnungs- und KundenaktivierungsmaSnahmen und damit fiir alle Mafinahmen im Verkauf (vgl. auch Kapitel 2.4 Verkauf), Der Verkauf ist die Umsetzung des Marketings. Das System von Werbeplanung, MIS und WEK wird daher analog zur Einkaufssteuerung (vgl. Kapitel 2.1.7 Einkaufssteuerung) auch als Verkaufssteuerung bezeichnet. Werbeplanung In der Werbeplanung werden alle Werbe- und VerkaufsmaSnahmen, alle Anstofie einzeln geplant. Dazu gehoren nicht nur die beschriebene Neukundenwerbung und die AnstoEkette, sondern auch die im folgenden Abschnitt beschriebenen MaSnahmen der Verkaufsforderung und Kundenbindung. Die MaSnahmen werden einzeln fiir Mailings, Kataloge, Telefonmarketing, Internet usw. nach ihren instrumentellen Besonderheiten geplant. Die Planung enthalt voraussichtliche Kosten und Erfolge. Es wird je nach instrumenteller Besonderheit des Werbeweges ein Funktionszusammenhang zwischen eingesetzten Kosten und erwarteten Erfolgen unterstellt. Die einfachste Form des Funktionszusammenhangs ist die Responsequote. Die Funktionsmodelle konnen bei mehrstufiger Werbung oder integrierter Kampagnen-Kommunikation (vgl. Kapitel 2.4.5 Integrierte Kommunikation) komplexer werden. Aus der Aggregation aller geplanten WerbeanstoSe ergibt sich dann das gesamte geplante Werbebudget. Aus den damit verkniipften Funktionszusammenhangen ergibt sich der gesamte Erfolg. Der Erfolg wird zunachst als Bestellwert geplant. Nach Beriicksichtigung von Nachfrageausschopfung, Retouren, Forderungsausfallen und Wareneinsatz sowie anderen Kosten ergeben sich die Deckungsbeitrage (siehe Kapitel 6.1.1 Kalkulationsgrundlagen)^ die nach Werbewegen und Werbemitteln differenziert werden konnen. Die Funktionszusammenhange zwischen Kosten und Erfolg flieSen in ein Kundenentwicklungsmodell ein, wie es in einer einfachen Struktur im Abschnitt Kundenentwicklung in Kapitel 2.3.4 dargestellt wurde. In ein komplexeres Modell iiber mehrere Saisons flieSen dann nicht nur die Neukundengewinnungskosten, sondern auch die Aktivierungskosten kommender Saisons

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Der Prozess der Angebotserstellung

ein. Dadurch erhalt man eine langfristige Werbeplanung, die in eine strategische Planung einmlindet. In der strategischen Pianung geht es unter anderem darum, das optimale Niveau der Neukundengewinnung zu ermitteln (vgl. Kapitel 6,6 Strategische Entwicklung und Struktur des Kundenbestands). Voraussetzung fiir die der Planung folgende WerbeerfolgskontroUe ist die penible Erfassung der Werbeerfolge. Jede Response (Kataloganforderung, Bestellung) muss so prazise wie moglich einem Werbeanstol? zuzuordnen sein. Die Codierung der Responseelemente (Antwortkarten, Anzeigencoupons, Bestellscheine) ist eine Selbstverstandlichkeit. Hinzu kommt eine Verschliisselung der Werbemittel in der Artikeinummer, um telefonische Bestellungen zuordnen zu konnen. WerbeanstoSe, die in zeitlichem Zusammenhang miteinander stehen, miissen hinsichtlich ihres Erfolges in Zusammenhang gebracht werden (z. B. Zwischenkatalog aktiviert Bestellung aus dem Hauptkatalog).

Management Information System Alle fiir die Planung und die Erfolgskontrolle relevanten Daten miissen in einem Management Information System (MIS) verfligbar sein (vgl. Abschnitt Datenmodell, Datawarehouse und MIS in Kapitel 2.3.5) Die Daten der Vergangenheit werden zur Schatzung der Funktionszusammenhange zwischen Kosten und Erfolgen herangezogen. Die aktuellen Responsedaten werden mit Ertragsdaten verkniipft, um den monetaren Erfolg des Werbeanstoi?es zu ermitteln. Ein modernes Schlagwort in diesem Zusammenhang lautet Customer Relationship Management (CRM). Neben einer ganzheitlichen, kundenorientierten Philosophie der Unternehmensfiihrung werden unter diesem Begriff Software-Tools angeboten, die alle Kundenbeziehungen des Unternehmens abbilden, erfassen und analysieren. CRM ist fiir den Versandhandel im Prinzip ein alter Hut. Versandhandel ist CRM. Gleichwohl gehen modernere SoftwareTools iiber den traditionellen Funktionsumfang einer Versandhandelssoftware (vgl. Kapitel 5.1 Funktionalitdten eines IT-Systems im Versandhandel) hinaus und bilden auch die komplette Kommunikationshistorie ab.

Werbeerfolgsl 0

Interdependenzen, Riickkopplungen und Optimierungsprobleme im Gesamtprozess

Nachfrageausschopfung A

100% Retourenquote

Abbildung 36: Nachfrageausschopfung und Retourenkosten

Durch den Einsatz von Retourenvermeidungskosten werden Retourenkosten K gespart. Diese Ersparnis kann als „Ertrag" angesehen werden. Das Optimierungsproblem besteht jetzt darin, die Gesamtkosten K+M aus (5) und (8) zu minimieren. Wir erhalten (9)

K + M = kA + M - m r

und unter Verwendung von (3) eine quadratische Gleichung. Die optimale Retourenquote ergibt sich nach der gleichen Methode jetzt als 2n 2nk Das Modellergebnis in (10) zeigt, dass mit einem hoheren Kostenfaktor der Retourenvermeidung m eine niedrigere optimale Retourenquote einhergeht. Wenn die Vermeidung von Retouren teurer wird, dann wird man sich eher Retouren leisten (miissen). Auch wenn diese Betrachtungen nicht immer unmittelbar in der Praxis anzuwenden sind, ergibt sich doch die folgende Erkenntnis: Ahnlich wie im Falle des optimalen Serviceniveaus im Fulfillment kann die Senkung der Retourenquote kein isoliertes und zu verabsolutierendes Ziel sein. Es gibt eine optimale Retourenquote, und die ist nicht immer die minimale Retourenquote.

Retourenvermeidung

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6.5 Verkaufschancen und Kreditrisiken (Die Fair-lsaac-lnforma-Methode) Forderungsausfalle sind fiir den Versandhandel ebenso von Ubel wie Retouren. Dennoch gibt es auch hier ein Optimierungsproblem. Die optimale Ausfallquote ist nicht null. Denn es kann Kundengruppen geben, die eine hohere Forderungsausfall-Wahrscheinlichkeit haben, dafiir aber eine hohere Responsequote bescheren und so nach Beriicksichtigung der Forderungsausfalle immer noch einen hoheren Ertrag bringen als andere Kundengruppen, die ein geringeres Ausfallrisiko und eine geringere Responsequote aufweisen. Dieses ist durchaus eine praxisrelevante Konstellation. Bestimmte, wirtschaftlich schwachere Zielgruppen haben eine hohere Responseneigung auf Versandhandelsangebote. Nehmen wir an, die prospektiven Neukunden einer anzumietenden Adressliste lieSen sich aufgrund vorliegender externer Informationen und eines Vergleichs mit den eigenen Kunden mit Methoden des Datamining nach ihrer Responsewahrscheinlichkeit sortieren. Praktisch teilt man diese prospektiven Kunden in Klassen mit gleicher Responsewahrscheinlichkeit ein (Abbildung 37).

Abbildung 37: Responsekiassen mit Ausfallwahrscheinlichkeiten

In einer eindimensionalen Betrachtung wiirde man unter einer Budgetrestriktion die besten Adressen bewerben, bis die Budgetrestriktion erreicht ist (optimaler Cut-off).

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Interdependenzen, Ruckkopplungen und Optimierungsprobleme im Gesamtprozess

Nehmen wir weiter an, es bestiinde ein messbarer Zusammenhang zwischen Responsewahrscheinlichkeit und Ausfallwahrscheinlichkeit, der vielleicht durch eine Regression ermittelt worden ist. Dann konnen jeder Responseklasse Ausfallwahrscheinlichkeiten durch eine Funktion 4 zugeordnet werden. Wenn das Ziel die Maximierung des Deckungsbeitrags ist, konnen wir die Zielfunktion als Erwartungswert hinschreiben c

^ Xjfjil- aj)D -^ max c!

mit a-, = fa(rj)

i

und der Anzahl prospektiver Kunden Xj in der Klasse i, der Responsewahrscheinlichkeit ri und der Ausfallwahrscheinlichkeit 2i\ der Klasse i sowie dem Deckungsbeitrag D und der Anzahl der Klassen c, die mit dem Cut-off beriicksichtigt werden. Der maximale Erwartungswert wird durch Simulationsrechnungen fiir verschiedene Cut-off-GroSen c analog zur Losung des „Zeitungsjungen-Problems" (vgl. Kapitel 6.3.1) ermittelt. Das c, fiir das der hochste Erwartungswert errechnet wird, ist dann der optimale Cut-off. In dieser Formulierung des Problems ist der optimale Cut-off unabhangig von der Budgetrestriktion. Der optimale Cut-off kann also dazu fiihren, dass das Budget entweder nicht ausgeschopft oder nicht eingehalten wird.

Die Fair-lsaac-lnforma-Methode Ein anderer, von dem Beratungsunternehmen Fair Isaac Informa entwickelter Losungsansatz beriicksichtigt die Budgetrestriktion. In diesem Losungsansatz wird jedem prospektiven Kunden eine Responsewahrscheinlichkeit und eine Ausfallwahrscheinlichkeit zugeordnet. Die prospektiven Kunden j werden anhand der Zielfunktion Xjrj(l-aj)D bewertet und geordnet. Der optimale Cut-off ist dann bei dem prospektiven Kunden, der gerade noch mit der Budgetrestriktion vereinbar ist. Praktisch wird hier wieder mit Kundenklassen gearbeitet, in denen alien Kunden einer Klasse gleiche Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden. Anstatt der Ausfallwahrscheinlichkeit wird im Fair Isaac Informa-Ansatz die Annahmequote als MaE fiir das Kreditrisiko jeder Klasse verwendet. Der Losungsansatz soil anhand eines konstruierten Rechenbeispiels erlautert werden. Es gebe fiinf Responseklassen, wobei die Klasse 1 die hochste Responseerwartung habe, hier als Index der durchschnittlichen Responseerwartung liber alle Klassen dargestellt und in der rechten Randverteilung von Tabelle 41 als obere Zahl mit 180,0 %, 150,0 %, 100,0 % usf. ablesbar.

Verkaufschancen und Kreditrisiken (Die Fair-lsaac-lnforma-Methode)

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Tabelle 41: Zahlenbeispiel Response- und Annahmequoten (Angaben in Prozent)

Fiir jede Responsequote sei eine Annahmequote bekannt, ebenfalls als Index angegeben und in der rechten Randverteilung als untere Zahl mit 80,0 %, 87,5 %, 105,0 % usf. ablesbar. Die Zahlenpaare an der rechten Randverteilung geben den Funktionszusammenhang zwischen Responsequote und Ausfallwahrscheinlichkeit a[ = fa(ri) wieder: Mit sinkender Responsewahrscheinlichkeit steigt die Annahmequote.

Tabelle 42: Ausschopfungsquote

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Interdependenzen, Ruckkopplungen und Optimierungsprobleme im Gesamtprozess

Wir unterstellen, dass die Responseklassen so gewahlt sind, dass die ersten beiden Responseklassen je 25 % und die iibrigen je 16,7 % der prospektiven Neukunden umfassen. Wenn wir nun jeweils die Responsequoten mit den Annahmequoten multiplizieren, erhalten wir fiir jede Responseklasse die Ausschopfungsquoten der angemailten Liste. Diese Werte finden sich in der rechten Randverteilung der Tabeiie 42 (z. B. 180,0 % x 80,0 % = 144,0 %). Wenn die Budgetrestriktion das Anmailen von 50 % der Adressen erlaubt, dann schiosse der Cut-off gerade die ersten beiden Klassen ein. Aus (144,0 % + 1 3 1 , 3 % ) x 2 5 % = 6 8 , 8 % ergibt sich ein Index fiir die Potenziaiausschopfung nach dem Cut-off. Es gebe nun vier Annahmeklassen mit unterschiedlichen Annahmequoten, die wiederum als Index in der unteren Randverteilung von Tabelle 41 dargestellt sind (142,0 %, 112,0 % usf.). Die Klasse 1 ist die Klasse mit dem geringsten Ausfallrisiko. Jede der vier Annahmeklassen umfasse 25 % des Neukundenpotenzials. Zur Modellvereinfachung wird hier angenommen, dass nichts liber die Responsewahrscheinlichkeiten in den verschiedenen Annahmeklassen bekannt ist. Wir konnen die gleiche Prozedur wie bei Responseklassen nach Annahmeklassen durchfiihren. Dann erhalten wir bei einem Cut-off nach 50 % des Potenzials 63,5 % als Index fiir die Potenziaiausschopfung. Dieses sind die Ergebnisse der eindimensionalen Betrachtung. Der zweidimensionale Losungsansatz besteht nun darin, das Neukundenpotenzial zellenweise nach Responseklassen und Annahmeklassen zu betrachten. In der Tabelle 42 finden sich fiir jede Zelle die Produkte aus oberer und unterer Indexzahl aus Tabelle 41. Der optimale Cut-off bei einer Budgetrestriktion von 50 % des Potenzials umfasst nun diejenigen Zellen mit 50 % des Potenzials, die die hochsten Potenzialsauschopfungen erreichen in Tabelle 42 (grau unterlegt). Aus der gewichteten Summe der Zellenwerte ergibt sich nun in der Indexwert von 78,8 %. In diesem einigermaSen willkiirlich gewahlten Zahlenbeispiel zeigt sich, dass durch eine zweidimensionale Betrachtung von Verkaufschancen und Kreditrisiko gegeniiber der eindimensionalen Optimierung nach Responseklassen, dass die Potenziaiausschopfung um 78,8 % / 68,8 % - 1 = 14,5 % und gegeniiber der eindimensionalen Optimierung nach Annahmeklassen die Potenziaiausschopfung um 24,1 % verbessert werden kann. Fair Isaac Informa berichtet aus seiner Praxis von realen Fallen, in denen die Ergebnisverbesserung in der GroSenordnung von 40 % gelegen hat. Der Optimierungseffekt der zweidimensionalen Betrachtung liegt darin, dass nicht mehr die gesamte Klasse undifferenziert betrachtet wird, sondern dass aus jeder Klasse die besten Zellen ausgewahlt werden. Verkaufschancen und Kreditrisiken (Die Fair-lsaac-lnforma-Methode)

329

Neukundengewinnung nach Retouren Die Fair-Isaac-Informa-Methode kann auch fiir eine Reihe anderer mehrdimensionaler Optimierungsprobleme angewendet warden, so z. B. die verbundene Optimierung von Neukundengewinnung und Wiederkaufverhalten (Haltbarkeit). Da die Neukundengewinnung in der Kegel nicht self liquidating, sondern eine Investition ist, muss die Neukundeninvestition durch Wiederkaufe amortisiert werden. Die Optimierung der Responsquote ist also noch keine langfristige Optimierung im Sinne des Unternehmens. Methodisch werden hier Zellen aus Responseklassen und Wiederkaufsklassen gebildet, und daraus werden in der beschriebenen Weise die optimalen Zellen ausgewahlt. Auch das im vorangegangenen Abschnitt behandelte Problem der optimalen Retourenquote konnte mit dieser Methode bearbeitet werden. Die potenziellen Neukunden werden in Responseklassen und Retourenklassen segmentiert. Der Losungsweg ist dann identisch mit dem Losungsweg zur verbundenen Schatzung von Verkaufschancen und Kreditrisiken. Statt der Annahmequote setze man die erwartete Umsatzquote (Auslieferungen minus Retouren).

6.6 Strategische Entwicklung und Struktur des Kundenbestands 6.6.1 Methoden der Kundenbewertung Die Frage der Kundenbewertung ist bereits im Zusammenhang mit der Optimierung von Dispositionsverhalten und Retourenpolitik angesprochen worden, als es darum ging, die Kundenverluste durch eine Unterdisposition oder retourenanfallige Werbung und Sortimente zu bewerten. Die Kundenbewertung ist allgemein fiir den Versender von Bedeutung, da er jede auf den einzelnen Kunden gerichtete MaEnahme daran ausrichten kann. Der Versender wird in der Neukundenwerbung eher hochwertige Kunden werben und auch in der Aktivierung und Kundenbindung eher die hochwertigen Kunden halten wollen. Die Bewertung der Kunden spielt auch fiir die Bewertung von Versandhandelsunternehmen eine RoUe (vgl. hierzu Kapitel 6.8 Die Bewertung von Versandhandelsunternehmen).

330

Interdependenzen, Riickkopplungen und Optimierungsprobleme im Gesamtprozess

Zur Bewertung der Kunden gibt es im Prinzip zwei Ansatze: Der eine Ansatz basiert auf realen Daten der Vergangenheit und orientiert sich an der „Herstellkosten" eines Kunden. Der andere Ansatz basiert auf den geschatzten Ertragserwartungen der Zukunft; er orientiert sich quasi an den „Ertragswerten" des Kunden. Beide Ansatze sind fiir unterschiedliche Fragestellungen sinnvoll.

Kundenbewertung zu Herstellkosten Bei der Kundenbewertung zu Herstellkosten legt man die Kosten der Neukundengewinnung eines Kunden zugrunde. Die Kosten einer Neukundengewinnungskampagne werden durch die Anzahl der gewonnen Kunden geteilt. Dieser Wert heiSt auch Cost per Order (CPO). Der CPO-Ansatz bietet sich an fiir die Bewertung von Kundenverlusten, z. B. durch Unterdisposition, Retouren, zu geringes Serviceniveau. Es ist sinnvoll, den „Schadensersatz" zu Wiederbeschaffungskosten zu bewerten. Es muss allerdings berlicksichtigt werden, ob die verlorenen Kunden auch kiinftig noch zu den Kosten gewonnen werden konnen, zu denen sie einmal geworben worden sind. Das ist z. B. nicht der Fall, wenn sich das Responseverhalten verschlechtert hat. Bewertung eines Adressbestands, z. B. im Rahmen einer VerauSerung des Unternehmens oder bei der VerauSerung des Adressbestands selbst. Der Kaufer wird sich bei isolierter Bewertung des Adressbestands auch an den Herstellkosten orientieren, wenn er diese Kunden zu den gleichen Kosten selber werben konnte. Das CPO-Konzept wird auch zur Bewertung von Kundengewinnungswegen herangezogen. Dieses ist jedoch nur unter sehr engen Voraussetzungen sinnvoll, namlich dann, wenn die kiinftigen Ertrage aus den Kunden fiir alle Gewinnungswege gleich sind. Das mag im Abonnementgeschaft der Fall sein.

Kundenbewertung zu Ertragswerten Die Kundenbewertung zu Ertragswerten beriicksichtigt die erwarteten zukiinftigen Ertrage eines Kunden. Das Berechnungskonzept dieses Kundenwerts heiEt Customer Lifetime Value (CLV): n

n

Strategische Entwicklung und Struktur des Kundenbestands

331

mit dem Deckungsbeitrag D^ des betrachteten Kunden in der Periode t, einer „Lebensdauer" (lifetime) des Kunden n, dem kalkulatorischen Zinssatz r und der Investition in die Gewinnung des Kunden zu Beginn der Periode 1, Ii. Die Grofie Ii entspricht dem CPO. Der CLV ist also die Summe aller auf den Gewinnungszeitpunkt diskontierten, erwarteten Deckungsbeitrage abziiglich der Gewinnungsinvestition. Der CLV ist ein bekanntes Konzept aus der Investitionsrechnung. Als Deckungsbeitrage D^ konnen die Deckungsbeitrage II (DBII) nach kundenindividueller Zuordnung der WerbemaSnahmen angesehen werden. (zum Konzept des DBII vgl. Kapitel 6.1.1 Kalkulationsgrundlagen), Hinter dem Konzept des CLV steht die Vorstellung, man konne jedem Kunden individuell seine erwarteten Umsatze, die vom gekauften Sortiment abhangigen Wareneinsatze, seine Logistik- und Betreuungskosten sowie die Kosten der WerbeanstoSe zu seiner Aktivierung zuordnen. Es handelt sich dabei um erwartete Deckungsbeitrage, praziser: um die Erwartungswerte der Deckungsbeitrage. Die unbekannten Deckungsbeitrage der Zukunft werden also als Zufallsvariablen definiert, und ihren moglichen Auspragungen werden Wahrscheinlichkeiten zugeordnet. Das bedeutet fiir die praktische Ermittlung der Deckungsbeitrage, dass sie nicht kundenindividuell ermittelt werden. Die Erwartungswerte ergeben sich als Durchschnittswerte des Kundenbestands oder von Teilsegmenten des Kundenbestands. Die Bildung der Erwartung beruht in aller Kegel auf den Erfahrungen der Vergangenheit; insofern ist nicht nur der CPO, sondern auch der CLV ein vergangenheitsbasiertes Konzept. Zur Ermittlung des CLV wird fiir die Entwicklung des Deckungsbeitrags modellartig eine Form des zeitlichen Verlaufs unterstellt. Diese zeitlichen Verlaufsstrukturen konnen aus den Abbruchs- oder Kundenverlustentwicklungen eines in einer Periode gewonnenen Kundenbestands hochgerechnet werden. In der Praxis werden diese Verlaufskurven standig aufgrund jiingerer Erfahrungen aktualisiert (vgl. Abbildung 10 Verlaufsstruktur im Abschnitt Kundenentwicklung auf Seite 138). Fiir den zeitlichen Verlauf des erwarteten Deckungsbeitrags gibt es eine typische Form. Ein Sonderfall ist dabei der Verlauf einer Haltbarkeitserwartung im Abonnementgeschaft (Anwendungen bei Buchclubs, Sammelartikeln oder Zeitschriftenabos). Im erwarteten Verlauf konnen auch geplante Werbeansto6e, etwa bei der Reaktivierung von Altkunden, beriicksichtigt werden.

332

Interdependenzen, Ruckkopplungen und Optimierungsprobleme im Gesamtprozess

Standardfall

Reaktivierung

Abonnement

Abbildung38: Verlaufskurven Kundenhaltbarkeit

Der CLV bringt die erwartete, zukiinftige Ertragschance zum Ausdruck, die mit einem Kunden verbunden ist. Es ist auch die Aufgabe des Databasemarketings, den Kundenbestand nach seinem Kundenwert zu segmentieren. Die Kunden mogen sich hinsichtlich Bonitat/Zahlungsverhalten, Retourenverhalten, Bestellvolumen, Logistikkosten (durchschnittlicher Bestellwert!), Ertragspotenzial der gekauften Sortimente u.a.m. unterscheiden. Alle diese Kundenmerkmale wirken sich auf den CLV aus und konnen vom Databasemarketing segmentiert werden (vgl. Kapitel 2.3.5 Databasemarketing). Daraus ergeben sich die Anwendungsmoglichkeiten der Kundenbewertung zu Ertragswerten: Suche nach solchen Kundensegmenten in der Neukundengewinnung, die einen mogUchst hohen CLV erwarten lassen Aktivierung solcher Segmente des Kundenbestands, die einen moghchst hohen CLV erwarten lassen Bei Untersteilung eines zeidichen Verlaufs der Deckungsbeitrage ist es hier eine differenziertere Vorgehensweise, nach dem restlichen, erwarteten CLV vorzugehen. Ein alterer Kunde wird eine kiirzere Resthaltbarkeit als ein Neukunde haben. Differenzierung der Kundenbedienung hinsichtHch BeUeferung (z. B. Praferenzen bei hmitierter Lieferfahigkeit fiir Neukunden) oder des Serviceniveaus. (Es gibt Mobilfunkbetreiber, die anhand der Telefonnummer die

Strategische Entwicklung und Struktur des Kundenbestands

333

Wertigkeit ihrer Kunden identifizieren und diese differenziert hinsichtlich der Warteschlange im Call Center behandeln.) Optimierung der Retourenquote anhand individueller Kunden. Es mag Kunden geben, die trotz iiberdurchschnittlicher Retourenquote noch einen guten Deckungsbeitrag erwirtschaften. (Dieses ware im Ubrigen eine praktische Anwendung der theoretischen Uberlegungen aus Kapitel 6.4.2 Die Retourenquote als Optimierungsproblem,) Eine weitere Anwendung des CLV-Konzepts wird im Kapitel 6.8 Die Bewertung von Versandhandelsunternehmen beschrieben. Eine aus dem CLV-Konzept abgeleitete KenngroEe ist die Pay-off-Periode. Die Pay-off-Periode ist die Zeit, in der der CLV Break-even erreicht. Es ist also die Zeit, die verstreicht, bis die kumulierten und diskontierten Deckungsbeitrage die GroSe der Investition zur Neukundengewinnung erreichen. Irrtiimlich wird als Break-even haufig der Zeitpunkt bezeichnet, an dem in einer Periode der Deckungsbeitrag erstmalig positiv ist. Richtig ist jedoch: Der Zeitpunkt an dem die gesamte Investition zu einem (kumulierten, diskontierten) positiven Deckungsbeitrag fiihrt. Mathematisch ausgedriickt ist die Pay-off-Periode das t, fiir das gilt: n

Q

I, = ] ^ — ^ -

n

oder haufig in der Praxis auch nur: 1^ = J ) D^

In der Praxis wird die Pay-off-Periode als Kennzahl zum Vergleich von Neukundengewinnungswegen verwendet. Wenn alle Kunden die gleiche zeitliche Verlaufsform der Entwicklung ihrer Deckungsbeitrage haben, was modellartig haufig angenommen wird, dann fiihrt der Vergleich von CLV und Pay-offPerioden zu den gleichen Ergebnissen. Eine andere auch aus dem CLV-Konzept hergeleitete Kennzahl ist die Haltbarkeitserwartung, tautologisch bisweilen als durchschnittliche Haltbarkeitserwartung bezeichnet. Die Haltbarkeitserwartung ist der Erwartungswert der Lifetime des Kunden, also der Erwartungswert von n. Wenn wieder alle Kunden die gleiche zeitliche Verlaufsform der Entwicklung ihrer Deckungsbeitrage haben, dann fiihrt der Vergleich von CLV und Haltbarkeitserwartung ebenfalls zu den gleichen Ergebnissen. Die Haltbarkeitserwartung wird in der Praxis bei der Bewertung von Abonnements angewendet, da diese sich wahrend ihrer Laufzeit in der Verlaufsform nicht unterscheiden.

334

Interdependenzen, Ruckkopplungen und Optimiemngsprobleme im Gesamtprozess

6.6.2 Die optimale Kundenstruktur Die optimale Wachstumsrate (Golden Age) Im Abschnitt Kundenentwicklung in Kapitel 2.3.4 wurde ein praktisches Mehrperiodenmodell zur Ermittlung der bestandserhaltenden Neukundengewinnung vorgestellt. Bestandserhaltung ist sicherlich eine sinnvolle Zielsetzung, aber bestenfalls eine Minimalzielsetzung. Ein Versandhandelsunternehmen steht durchaus unter einem Zwang zum Wachstum (Naheres dazu vgl. Kapitel 6.7 Kernkompetenzen und Expansionsstrategien). Der Versender steht auch hier wieder vor einem Optimierungsproblem: Wenn der Versender im einen Extrem voUstandig auf die Neukundengewinnung verzichtete, ware langfristig das Ende des Unternehmens absehbar: Bei gleichen Haltbarkeitserwartungen fiir alle Kunden im Bestand fiele das erwartete Ende des Unternehmens mit der Haltbarkeitserwartung der zuletzt gewonnenen Neukunden zusammen. Auf der anderen Seite wiirde kurzfristig das Unternehmensergebnis verbessert werden, da die Mittel fiir die Neukundengewinnung eingespart wiirden. Der auslaufende Kundenbestand wiirde nur noch „abgemolken". Die Verfolgung einer derartigen Verabschiedungsstrategie kommt in der ReaHtat durchaus vor. Entweder beabsichtigt ein Inhaber, sich zur Ruhe zu setzen, und er sieht keine lukrativen Chancen, das Unternehmen zu verauiSern. Oder die Gesellschafter beabsichtigen, das Unternehmen zu verkaufen, und sie bauen darauf, dass die verbesserte Ergebnissituation den Kaufpreis starker beeinflusst als die Struktur des Kundenbestands. Im anderen Extrem werden alle verfiigbaren Mittel in die Neukundengewinnung investiert. Dadurch wiirde kurzfristig die Ergebnissituation erheblich angespannt werden, aber dafiir moglicherweise langfristig ein erhebliches Wachstum erzeugt werden. Diese forcierte Wachstumsstrategie findet jedoch eine Grenze darin, dass die in die Neukundengewinnung investierten Mittel teilweise an anderer Stelle fehlen. So sind vielleicht zur Erhaltung der Wettbewerbsfahigkeit genauso Investitionen in die Logistik, in das Serviceniveau, in die Effizienz der Prozesse oder in das Sortiment erforderlich. Das Wachstum erfordert in der Regel auch eine Kapazitatserweiterung im Fulfillment. SchlieSlich fiihrt eine forcierte Wachstumsstrategie zu einer Anspannung der Liquiditatssituation und macht dadurch das Unternehmen im Falle von Geschaftsschwankungen angreifbar. Bei der Betrachtung dieser forcierten Wachstumsstrategie ist implizit vorausgesetzt worden, dass das Wachstum selbst- und nicht fremdfinanziert wird. Eine Veranderung dieser Voraussetzung wiirde im Prinzip nichts an der Betrachtung andern, da auch Kreditlinien in der Regel irgendwann begrenzt sind. Strategische Entwicklung und Struktur des Kundenbestands

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Der optimale Wachstumspfad und das damit verbundene Investitionsniveau in der Neukundengewinnung ist also eine Abwagung zwischen den kurzfristigen und den langfristigen Erfordernissen des Unternehmens. Der volkswirtschaftlich gebildete Leser erkennt in dieser Probiemstellung die gleiche Struktur wie im Problem der optimalen Sparquote zur Erreichung des optimalen Wachstumspfades. Wir werden uns daher in der weiteren Argumentation fiir eine Weile an das Instrumentarium der Wachstumstheorie anlehnen und zunachst das Optimierungsproblem etwas praziser formulieren. Fiir den Zweck dieser Uberlegung wollen wir den Cash-flow C als Summe aus Gewinn G und Investition I definieren. Wir tun so, als gabe es nur Investitionen in die Neukundengewinnung. Die Mittel, die investiert werden, wollen wir in einer selbst finanzierten Unternehmung implizit als Ersparnis definieren (I=S). Es gilt also: (1) G = C - I

Die Zielsetzung sei, eine nachhaltige Maximierung des Gewinnniveaus zu erreichen. Es wird jener Wert der Investitionsquote gesucht, der die Maximierung des Gewinnniveaus erlaubt. Wenn zu wenig investiert wird, wird die Grundlage fiir kiinftige Gewinne reduziert (Verabschiedungsstrategie). Wenn zu viel investiert wird, wird der gegenwartige Gewinn reduziert (forcierte Wachstumsstrategie). Unterschiedliche Investitionsquoten (= Sparquoten) I/C flihren zu unterschiedlichen Entwicklungspfaden des Gewinns. Gesucht wird die Investitionsquote I/C, die zum hochsten Entwicklungspfad fiir den Gewinn G fiihrt. Wir betrachten I als Netto-Investition, also die iiber die Bestanderhaltung hinausgehende Investition. Dann ist die Investition I gleich der Veranderung des Kundenbestands B im Zeitraum t, oder (2) l = AB/At = (AB/At)/B X B =

WB

XB

mit WB als der Wachstumsrate des Kundenbestands. (2) in (1) eingesetzt ergibt dann (3)

G = C-WBXB

Es ist danach gefragt, welche Entwicklung des Kundenbestands B die hochste Entwicklung des Gewinnes G hervorruft. Das Maximum ist erreicht, wenn die Erhohung von G durch eine Erhohung von B nicht mehr ansteigt, also gleich null ist, wenn also gilt:

336

Interdependenzen, Ruckkopplungen und Optimierungsprobleme im Gesamtprozess

(4) AG/AB = AC/AB - WB = 0

(1. Ableitung von (3) nach B)

Daraus folgt die Bedingung flir das optimale Wachstum (5) AC/AB = WB^ die sich wie folgt interpretieren lasst: Der optimale Wachstumspfad des Kundenbestands WB entspricht der Grenzproduktivitat des Kundenbestands AC/AB. Mit anderen Worten: Der Kundenbestand muss in der gleichen Rate wachsen, wie eine Erhohung des Kundenbestands den Cash-flow erhoht. Dieser Wachstumspfad wird in der volkswirtschaftlichen Theorie als der „ Golden-Age "-Wachstumspfad bezeichnet. Wir konnen hier auch von einer Golden-Age-Strategie sprechen. Machen wir uns das Ergebnis noch etwas deutlicher: Wenn der Kundenbestand schneller als seine Grenzproduktivitat wachst (forcierte Wachstumsstrategie), dann werden Investitionsmittel verschwendet, die man produktiver hatte anlegen konnen. Man befindet sich von Investitionsperiode zu Investitionsperiode auf einem Pfad sinkender Grenzproduktivitaten und sinkt damit unter das Niveau alternativer Mittelverwendungen. Wenn andererseits der Kundenbestand langsamer als seine Grenzproduktivitat wachst (Verabschiedungsstrategie), dann werden Investitionsmoglichkeiten nicht ausgenutzt. Man bleibt von Periode zu Periode weiter hinter seinen Moglichkeiten zuriick. Alternative Mittelverwendungen finden in einem Bereich niedrigerer Grenzproduktivitaten statt, als sie bei der Neukundengewinnung mogHch waren; das gilt ganz offensichtlich im Falle der Gewinnentnahme im Rahmen einer Verabschiedungsstrategie. Das Ergebnis der Golden-Age-Strategie stimmt mit der bereits mehrfach verwendeten Erkenntnis iiberein, dass die optimale Verteilung begrenzter Mittel diejenige ist, bei der die Grenzertrage aller Mittelverwendungen gleich sind. Wie kann man die Grenzproduktivitat des Kundenbestands (in Bezug auf eine Ausweitung des Kundenbestands) in der Praxis abschatzen? Dazu mlissen wir zunachst von der in Wahrheit realwirtschaftlichen Betrachtung der Wachstumstheorie in eine monetare Betrachtung umdenken. Eine Investition in die Neukundenwerbung bedeutet bei bestimmten Responseerwartungen eine bestimmte Erhohung des Kundenbestands. Diese Neukunden werden mit einer bestimmten Ertragserwartung (Customer Lifetime Value, CLV) versehen sein. Um den Ertrag auf die Investitionsperioden zu beziehen, ist der CLV durch die Haltbarkeitserwartung n zu dividieren. Die Grenzproduktivitat des Kundenbestands, monetar ausgedriickt: die Grenzproduktivitat der Neukundenin-

Strategische Entwicklung und Struktur des Kundenbestands

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vestition, ist die Summe der CLV aus dieser Werbekampagne dividiert durch n. Nach der Golden-Age-Regel soUte also der Kundenbestand mit der Rate 1 ^ 1 CLV, "t

wachsen, mit der Haltbarkeitserwartung von n Neukundengewinnungsperioden, dem Customer Lifetime Value CLVi fur alle in der Periode gewonnenen Neukunden i und der Investition I^ in die Neukundengewinnung in der Periode t. Die optimale Kundenstruktur Aus der Wachstumsrate der Golden-Age-Regel und der Haltbarkeitserwartung lasst sich bei gleichen zeitlichen Verlaufen der Deckungsbeitrage aller Kunden die optimale Kundenstruktur nach Gewinnungsperioden ermitteln. Bin iiberalterter Kundenbestand deutet auf eine Verabschiedungsstrategie und ein junger Kundenbestand auf eine Wachstumsstrategie bin bzw. lassen sich aus der Abweichung von der Soll-Kundenstruktur Planungen fiir die Neukundengewinnung herleiten, um den gewlinschten Wachstumspfad wieder zu erreichen. Diese Uberlegungen gelten auch, wenn nicht die GoldenAge-Wachstumsrate, sondern eine andere Wachstumsrate, etwa 5 %, gewahlt werden soil (vgl. Tabelle 43). Die Verlaufsstruktur der Deckungsbeitrage einer Kundenkohorte, die in einer Periode gewonnen worden ist, sei Do, D_v D_2,... D_n (im Zahlenbeispiel: 100 %, 75 %, 56,3 %, 42,2 %, 31,6 %, 23,7 %; n = 6)

mit der Haltbarkeitserwartung n. In diesem Kundenbestand, der mit konstanter Rate wg (= 5 %) wachst und in dem sich die Verlaufsstruktur sowie die Haltbarkeitserwartung von Gewinnungsperiode zu Gewinnungsperiode nicht verandern, gelten hinsichtlich der Kundenstruktur nach Gewinnungsperioden t folgende Verhaltnisse: Bt/Bt-i=(Do/D_i)/(1+WB) Bt_i/Bt_2 = (D.i/D_2)/(1+WB)

Bt_n+i/Bt_n = (D_n+l/D_J/(1+WB) (Vergleiche dazu im Zahlenbeispiel der Tabelle 43: Zeile der Periode 11: 1163/1629 = (75 %/100 %)/105 % = 71,4 %)

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Interdependenzen, RiJckkopplungen und Qptimierungsprobleme im Gesamtprozess

Tabelle 43: Mehrperiodenwachstumsmodell (identisch mitTabelle 32)

Dieses ist die Probe auf die Struktur des Kundenbestands. Selbst wenn nur Bestandserhaltung angestrebt wird, muss z. B. mindestens B^/Bt-i = DQ/D^I gelten. Wenn die Verhaltnisse B|-/Bt_i zu klein sind, deutet das auf die tatsachliche (nicht notwendig: beabsichtigte) Verfolgung einer Verabschiedungsstrategie bin, und wenn sie zu gro6 sind, auf eine zu forcierte Wachstumsstrategie. Dann muss entsprechend gegengesteuert werden. WB ist dabei die angestrebte Wachstumsrate; im Golden-Age-Wachstum ist WB als optimale Wachstumsrate zu interpretieren. Wenn es Anzeichen fiir eine Veranderung der Verlaufsstrukturen in Richtung kiirzerer Haltbarkeitserwartungen oder geringerer CLVs gibt, dann miissen die Verhaltnisse B^/Bt-i mit wachsendem t also in jiingerer Zeit zunehmen. Bei der Analyse des Kundenbestands ist festzulegen, was ein „Kunde" ist. Eine einfache Analyse aller Kunden nach Zugangsperioden, die jemals gekauft haben, wiirde zu einem irrefiihrenden Ergebnis fiihren, da dabei Verlaufsstruktur und Haltbarkeit auEer Acht gelassen wiirden. Es ist zu empfehlen, nur die Kaufer als „Kunden" anzusehen, die innerhalb einer definierten Frist (z. B. in den letzten zwolf oder 24 Monaten) zuletzt gekauft haben. Wer langer zuriickliegend zuletzt gekauft hat, gilt als „Altkunde". Ein Versender ist daran interessiert, Kunden mit einer langen Haltbarkeitserwartung zu gewinnen. Je langer jedoch die Haltbarkeitserwartung ist, desto

Strategische Entwicklung und Struktur des Kundenbestands

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langerfristiger sind die Wirkungen eines Umsteuerns oder auch einer Fehlsteuerung. Entweder hat man noch Substanz fiir die Zukunft, oder sie fehlt und kann auch nicht kurzfristig aufgebaut werden. Eine Kursanderung muss bei langen Hahbarkeitserwartungen lange vorausgeplant werden. Wenn sich dann noch der Wind dreht und sich die Verlaufsstrukturen und Hahbarkeiten verandern, wird der Kundenbestand zu einem schwierig zu steuernden Tanker in schwerer See. Umso wichtiger ist dann eine prazise Navigation durch die friihzeitige Wahrnehmung aller Anzeichen von Veranderungen in der Bestandsstruktur, um auf dem Golden-Age-Kurs zu bleiben. Es geht dabei angesichts des drohenden Sogs in den Strudel einer Verabschiedungsstrategie auch um die Substanzerhaltung des Unternehmens.

6.7 Kernkompetenzen und Expansionsstrategien 6.7.1 Kernkompetenzen im Versandhandel Eine Kernkompetenz ist eine Fahigkeit eines Unternehmens, durch die es sich von anderen im Wettbew^erb abhebt. Eine Kernkompetenz ist ein Wettbewerbsvorteil, der durch Investitionen in Sachanlagen, Mitarbeiter oder Know-how erreicht wird. Eine Kernkompetenz wird haufig iiber mehrere Jahre aufgebaut. Sie kann von einem Wettbewerber nur mit einem erhebUchen Aufwand ebenfalls erreicht werden; dieser Aufwand behindert den Wettbewerber beim Markteintritt. Kernkompetenzen werden nur temporar gehalten und miissen fortentwickelt werden, um Kernkompetenz zu bleiben. Wenn die Kernkompetenz ubiquitar wird, iiberall verfiigbar ist, hat sie aufgehort, Kernkompetenz zu sein. Es gibt im Versandhandel im Grundsatz drei Kernkompetenzen: 1. Die Sortimentskompetenz ist die Fahigkeit, ein fiir die Zielgruppe passendes Sortiment zu gestalten und zu wettbewerbsfahigen Preisen zu beschaffen. Zur Sortimentskompetenz gehoren - Sortimentsbreite und/oder Sortimentstiefe, - die Kenntnis der Beschaffungsmarkte, insbesondere die Kenntnis der relevanten Lieferanten, - die Fahigkeit, Mengen einzukaufen, bei denen wettbewerbsfahige Einkaufspreise zustande kommen, - die Kenntnis der Bediirfnisse der Zielgruppen und das Wissen, welche Sortimente mit welcher Darstellung an sie verkauft werden konnen.

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Interdependenzen, Ruckkopplungen und Optimierungsprobleme im Gesamtprozess

Die Sortimentskompetenz existiert stets in Bezug auf eine bestimmte Zielgruppe. Die Sortimentskompetenz ist bei einem Versender meistens neben der Zielgruppenkompetenz vorhanden; sie ist jedoch nicht dasselbe. 2. Die Zielgruppenkompetenz ist die Fahigkeit, die Zieigruppe, fiir die ein Sortiment angeboten wird, auch zu erreichen. Dazu gehoren: - an erster Stelle und mit Abstand in der Bedeutung: der Kundenbestand. Das Verfiigen iiber (anmietbare) Adressen reicht nicht; es miissen eigene Adressen, die Adressen der eigenen Kunden sein; - die Fahigkeit, auf wirtschaftHchen Wegen Neukunden zu gewinnen, also den Kundenbestand zu erhahen und zu erweitern; - die Analysefahigkeit zur Identifikation der Kundensegmente mit dem hochsten Ertragspotenzial, das heifit Fahigkeiten unter anderem im Databasemarketing; - die spezifische Kommunikationsfahigkeit zur erfolgreichen Ansprache der eigenen Zieigruppe; das sind insbesondere die Fahigkeiten in der Werbung und im Verkauf. 3. Die Fulfillment-Kompetenz ist die Fahigkeit, den Prozess der Geschaftsabwicklung effizient zu organisieren, und die Fahigkeit, das optimale Prozessniveau oder optimale Serviceniveau anzusteuern. Dazu gehoren: - wegen des Gesetzes der Integration: Die Grofie der Fulfillmentkapazitaten, insbesondere im Call Center und in der Logistik; - Know-how, um die Prozesse effizient zu steuern; - die Fahigkeit, eine hohe Prozessgeschwindigkeit zu erreichen; - die Fahigkeit, bei gegebenem Budget Servicequalitat zu erreichen; - das IT-System. Die Prozesseffizienz ist auch im Einkauf oder in Marketing und Verkauf von Bedeutung, um die Sortimentskompetenz bzw. die Zielgruppenkompetenz zu erhalten. Die Kernkompetenzen im Versandhandel stehen in einem gewissen Zusammenhang miteinander. So ist es durchaus vorstellbar, dass ein Versender auf seine Fulfillmentkompetenz verzichtet und diese Leistungen outsourct (vgl. dazu Kapitel 5.4.5 Fulfillmentdienstleister). Es gibt - wie dort bereits erwahnt - erfolgreiche Versender, die nur eine Sortiments- und eine Zielgruppenkompetenz haben. Es ist auch denkbar, dass ein Versender lediglich eine Zielgruppenkompetenz hat und auf seine Sortimentskompetenz verzichtet; er wiirde dann seinen Adressbestand als einen Vertriebskanal unter mehreren fur ein anderes Sortiment zur Verfiigung stellen (ein Beispiel hierfiir ware der Versender Lands' End in Deutschland, der das Sortiment seiner amerikanischen

Kernkompetenzen und Expansionsstrategien

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Muttergesellschaft anbietet). Ein Versandhandel ohne Zielgruppenkompetenz, also ohne eigenen Kundenbestand, ware nach unserem Verstandnis kein Versandhandel mehr. Die Trennung der Kernkompetenzen bei Sortiment und Zielgruppe ist zwar denkbar, aus gutem Grund jedoch kaum verbreitet. Denn es macht ja gerade die Sortimentskompetenz aus, ein wettbewerbsfahiges Sortiment fiir eine bestimmte Zielgruppe anzubieten. Der Grund fiir die Abtrennung der Fulfillmentkompetenz liegt darin, dass sie dazu tendiert, ubiquitar zu werden und fiir viele Versender ihre Eigenschaft als Kernkompetenz zu verlieren. Der Besitz von Kernkompetenzen (= temporar unangreifbare Wettbewerbsvorteile) und deren Fortentwicklung steht im Zusammenhang mit der Unternehmensgrofie, was hier nur exemplarisch und nicht vollstandig dargestellt wird: Die Sortimentskompetenz nimmt mit den Konditionenvorteilen im Einkauf durch groEere Abnahmemengen und mit einer groEeren Sortimentsbreite bzw. Sortimentstiefe zu. Die Zielgruppenkompetenz nimmt qua definitionem mit einem groEeren Kundenbestand zu. Die Fulfillmentkompetenz nimmt wegen des Gesetzes der Integration mit groEeren Kapazitaten im Call Center und in der Logistik zu. Ein Versender, der nicht wachst, lauft also Gefahr, seine Kernkompetenzen und damit seine Wettbewerbsfahigkeit zu verlieren und an andere, die wachsen, abzutreten. Darin liegt fiir den Versender der Zwang zum Wachstum. Dieser Zwang zum Wachstum ist immer relativ im Verhaltnis zum Potenzial der Wettbewerber zur Entwicklung der eigenen Kernkompetenzen zu sehen. Wenn die anderen auch nicht wachsen oder nicht die eigenen Kernkompetenzen angreifen, ist der Zwang weniger stark.

6.7.2 Expansionsstrategien im Versandhandel Die Expansionsstrategie eines Versandhandelunternehmens setzt an seinen Kernkompetenzen an. Dort ist ein Wettbewerbsvorteil und damit die Chance zum erfolgreichen Eintritt in ein anderes Marktsegment zu erwarten. Eine Expansionsstrategie besteht dann darin, mindestens eine vorhandene Kernkompetenz zu nutzen, um in ein Marktsegment vorzudringen, in dem eine andere Kompetenz vielleicht noch nicht so ausgepragt ist.

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Interdependenzen, Riickkopplungen und Optimierungsprobleme im Gesamtprozess

Sinnvoile Kombinationen fiir eine Expansionsstrategie sind bei der Nutzung einer vorhandenen Kernkompetenz: 1. Sortimentsstrategie: Zu einer vorhandenen Sortimentskompetenz werden weitere Zielgruppen erschlossen, auf die das Sortiment oder Teile davon passen. (Beispiel: Schneider/Wedel, der einen Teil seines Pramiensortiments fiir B-to-B-Anwendungen zusatzlich in einem gesonderten B-to-CKatalog anbietet.) 2. Zielgruppenstrategie: Zu einer bestehende Zielgruppenkompetenz werden weitere Sortimente erschlossen, die auf die vorhandene Zielgruppe passen. (Beispiel: Walbusch, der seiner Zielgruppe Senioren mit dem Averna-Katalog neben dem Stammgeschaft Bekleidung zusatzlich Gesundheitsprodukte anbietet.) 3. Fulfillmentstrategie: Zu einer vorhandenen Fulfillmentkompetenz werden weitere Zielgruppen mit den dazu passenden Sortimenten erschlossen, die iiber die vorhandenen Fulfillmentkapazitaten abgewickelt werden. (Beispiel: Der Elektronikversender Conrad erwirbt Volkner mit ahnlichem Sortiment/Zielgruppe und lasst Volkner nur noch als Marke bestehen.) Die Fulfillmentstrategie wird in der Form der Unternehmensakquisition angewendet oder in der Form einer Wandlung des Versenders zum Fulfillmentdienstleister. Es ist auch moglich, mehrere vorhandene Kernkompetenzen kombiniert zu nutzen. Sinnvoll ist hier die 4. Zielgruppen-ZFulfillmentstrategie: Zu einem vorhandenen Kundenbestand und vorhandenen Fulfillmentkapazitaten wird ein weiteres Sortiment erschlossen, das dem Kundenbestand angeboten und liber die vorhandenen Kapazitaten versandt wird. (Beispiel: ODD erwirbt den Conterna-Versand mit einer starken Zielgruppeniiberscheidung) Diese Strategie tritt auch haufig in der Form der Unternehmensakquisition auf. 5. Sortiment-ZFulfiilmentstrategie: Zu einem vorhandenen Sortiment und vorhandenen Fulfillmentkapazitaten wird eine weitere Zielgruppe erschlossen. Diese Strategie ist der Sortimentsstrategie sehr ahnlich. 6. Cross-Selling-Strategie: Zu einem vorhandenen Kundenbestand und einem vorhandenen Sortiment wird eine andere Zielgruppen-ZSortimentsKombination erschlossen, bei der das vorhandene Sortiment zusatzlich der neuen Zielgruppe und das zusatzliche Sortiment zusatzlich der vorhandenen Zielgruppe angeboten wird. Die Cross-Selling-Strategie ist eine Kombination aus der Zielgruppenstrategie und der Sortimentsstrategie.

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Eine weitere Klasse von Expansionsstrategien setzt zwar auch an den eigenen Kernkompetenzen an, baut aber nicht darauf, sich eine neue Zielgruppe, ein neues Sortiment oder einen neuen Fulfillment-Mandanten zu erschlieSen. Diese Strategien zielen auf eine Ausdehnung des Marktanteils im gleichen Marktsegment. Es wird dabei ein Wettbewerber mit den gleichen Kernkompetenzen in Zielgruppe und Sortiment iibernommen. Diese Strategien kann man unterscheiden in: 7. Einmarkenstrategie: Der Wettbewerber wird iibernommen, die Kunden werden vom iibernehmenden Versender bedient, und die iibernommene Marke wird eingestellt (Beispiel: Einstellung von Schopflin durch Quelle). 8. Mehrmarkenstrategie: Es gibt mehrere Versender nebeneinander mit nahezu identischen Sortimenten/Katalogen und Zielgruppen. (Beispiele: Otto und Schwab, Kaiser+Kraft und Gaerner). Die Umsetzung einer Mehrmarkenstrategie ist auch in der Form denkbar, dass kein Wettbewerber iibernommen wird, sondern parallel ein nahezu identisches Katalogkonzept auf den Markt gebracht wird. Der Sinn der Mehrmarkenstrategie liegt darin, das Marktpotenzial besser auszuschopfen und somit auch ein Zutrittshindernis fiir Wettbewerber zu schaffen. SchlieSlich lasst sich noch eine Klasse von Expansionsstrategien beschreiben, die weniger an den drei Kernkompetenzen Sortiment, Zielgruppe und Fulfillment ansetzen, sondern eher an einer Methodenkompetenz zur Entwicklung von Kernkompetenzen. Sinnvoll denkbar sind hier: 9. Strategic der Sortiments-Methodenkompetenz: Dieses ist die Fahigkeit, wettbewerbsfahige Sortimente fiir vorhandene Zielgruppen selber zu entwickeln. Als Beispiele sind hier die verbreiteten Spezialkataloge zu nennen, die an Teile des vorhandenen Kundenbestands versandt werden. 10. Strategic der Fulfiilmcnt-Mcthodcnkompctenz: Dieses ist die Fahigkeit, Fulfillmentkapazitaten zu multiplizieren oder an neue Sortimente und Zielgruppen anzupassen. Diese Strategic spick eher bei Fulfillmentdienstleistern wie Outsourcing-Call-Centern cine Rolle. Die denkbare Strategic der Zielgruppcn-Mcthodcnkompctenz untcrscheidet sich von der oben genannten eigentlichen Zielgruppenkompetcnz praktisch nicht. Die Anwendung einer Methodenkompetcnz-Strategic setzt voraus, dass auf mindestens zwei der drei Kompetenzgebiete eine Kernkompetenz vorhanden ist, und zwar auf dem Kompctenzgebieten, auf dem auch Methodenkompetenz bestcht, und noch auf cinem weiteren Kompetenzgebiet. Fiir die Auswahl der Expansionsstratcgic spielen verschiedene Kritcrien eine Rolle:

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Die Ausstattung mit Kernkompetenzen. Vor der Auswahl der Strategic sind die eigenen Kompetenzen zu bewerten, das heiSt mit den Kompetenzen des tatsachlichen und potenziellen Wettbewerbs zu vergleichen. Je besser die Ausstattung mit Kernkompetenzen ist und je besser diese ausgepragt sind, desto groiSer sind hier die Wahlmoglichkeiten. Die Effizienz der Strategic unter den Bedingungen des Marktes. Wenn es keine Zielgruppe mehr gibt, fiir die das eigene Sortiment in Frage kommt, ist eine Sortimentsstrategie nicht sehr sinnvoll. Es kommt also auf das Umsetzungspotenzial der Strategic und das damit verbundene Ertragspotenzial an. Hier greifen dann klassische, nicht unbedingt versandhandelsspezifische Muster der Strategieauswahl. Die Effizienz der Strategic hangt auch von den Kosten der Strategieumsetzung ab. Hier ist cine Optimierung im Vcrhaltnis zu den erkannten Kernkompetenzen vorzunchmen. Die weitere Starkung der eigenen Kernkompetenzen, etwa durch Ausnutzung des Gesetzes der Integration bei der Erweiterung der Fulfillmcntkapazitatcn. Durch die Akquisition einer Einkaufsabteilung kann sowohl die Sortimentskompctenz als auch die Sortimentsmethodenkompetcnz gestarkt werden. Letztcrer Effekt ist bei den groSen Versandhandelskonzernen cingetreten; deshalb haben diese in der Wahl ihrer Expansionstrategie auch einen hoheren Freiheitsgrad. Die Expansion verstarkt die Kernkompetenzen und damit die ExpansionsmogHchkeiten. In der Umsetzung der gewahlten Expansionsstrategie gibt es grundsatzlich zwei Alternativen, die Akquisition von anderen Versendern oder die Investition in eigene Projekte. Letzteres kann in unterschicdhchen Formen umgesctzt werden: Spezialkataioge, Cross SelHng in der eigenen Untcrnehmensgruppe, AuslandsfiUalcn, stationare Einzelhandelsgeschafte, neues Logistikcenter u. a. m. Die Entscheidung fiir eine Expansionsstrategic hat Konsequenzen fiir das Outsourcing. So wird man nicht solche Dienstleistungen outsourcen, fiir die man eine eigene Kernkompetenz erkannt hat. Der Versender wird sich anhand der fiir sich erkannten Kernkompetenzen iangfristig entscheiden miissen, ob er weiter in die eigene Fulfillmcntkompetenz investiert oder ob er auf seine Sortiments- und Zielgruppenkompetenz setzt und das Fulfillment grundsatzlich outsourct.

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6-8 Die Bewertung von Versandhandelsunternehmen 6.8.1 Bewertungsanlasse und Wachstumsfinanzierung Es gibt unterschiedliche Anlasse fiir die Bewertung von Versandhandelsunternehmen oder von deren Unternehmensteilen, unter anderem: die Aufnahme von Krediten, insbesondere Bankkrediten und deren Besicherung durch Aktiva des Unternehmens, die Abgabe von Gesellschaftsanteilen an GeschaftsfiihrerA^orstande, die Hereinnahme von weiteren Gesellschaftern mit einer Kapitalerhohung etwa zur Finanzierung des w^eiteren Wachstums, die VerauSerung des Unternehmens oder einer Mehrheitsbeteiligung im Zuge einer Altersnachfolge und/oder Unternehmenssicherung (Acquisition), die Fusion zweier Unternehmen zur Starkung der gemeinsamen Kernkompetenzen (Merger). Die Anlasse fiir die Bewertung von Versandhandelsunternehmen sind also im Wesentlichen deren VerauEerung oder deren externe Finanzierung. Die VerauSerung von Versandhandelsunternehmen oder von Beteiligungen betrifft die Versender sowohl in der Rolle als VerauEerer als auch als Erwerber. Versandhandelsunternehmen werden in der Kegel als strategische Akquisition von anderen Versendern erworben, die dadurch ihre Expansionsstrategie umsetzen. Die Bewertung eines Versandhandelsunternehmens wird dann fiir den Erwerber zur Kostenermittlung seiner Expansionsstrategie und damit fiir die Auswahl der Expansionsstrategie relevant (vgl. Kapitel 6.7.2 Expansionsstrategien im Versandhandel). Fiir den Versandhandelsinhaber als VerauSerer kann der Verkauf seines Unternehmens die von ihm angestrebte Kronung seiner Karriere darstellen. Im Sinne einer Shareholder Value-Politik kann die Losung aller Optimierungsprobleme eines Versandhandels auch unter das Oberziel der Maximierung des Unternehmenswerts gestellt werden. Die Maximierung des Unternehmenswerts wird dann das Optimierungsproblem, dem alle betrieblichen Teillosungen unterzuordnen sind. Die deutsche Versandhandelsbranche ist von erheblichen Konzentrationsbewegungen gekennzeichnet (vgl. Kapitel 1.4 Bedeutung und Struktur des Versandhandels in Deutschland). Sie wird durch die beiden groSen Universalversandkonzerne Otto und Quelle/Neckermann dominiert, die sowohl Sorti-

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mentsversender, aber auch Spezialversender in ihrem Portfolio halten und standig weitere Spezialversender akquirieren. Es gibt Gruppen mittlerer Grofie wie Klingel/Wenz oder TAKKT, die ihre Expansionsstrategie ebenfalls mit Hilfe von Akquisitionen umsetzen, Und es gibt die grofie Zahl mittlerer und kleiner, unabhdngiger Versender, von denen man immer wieder Nachrichten Uber den Anschluss an eine grofiere Gruppe hort. Die spezifischen Griinde in der Versandhandelsbranche fiir diese Konzentrationsbewegungen sind im Wesentlichen: Im Versandhandel miissen die grofiten Investitionen in die Starkung der Zielgruppenkompetenz vorgenommen werden, insbesondere in die Erhaltung und Erweiterung des Kundenbestands, aber auch in Kataloge und Internet-Auftritte. Investitionen in Fulfillmentkapazitaten konnen auch durch Outsourcing-Leistungen ersetzt werden. Die Investitionen in den Kundenbestand gelten jedoch als Good Will und sind nicht bilanziell aktivierbar. Deshalb ist die eigentliche Wachstumsinvestition des Versandhandels auch nicht besicherbar und wird von den Banken nicht fremdfinanziert. Eine externe Finanzierung der Expansion ist in der Kegel nur durch die Hereinnahme von weiteren Gesellschaftern oder letztlich durch die VerauEerung des Unternehmens finanzierbar. Die expansionsstrategischen Vorteile einer Akquisition durch einen anderen Versender sind meist so hoch, dass der Erwerber auch bereit ist, so hohe Preise zu zahlen, dass die Akquisition auch zustande kommt. Die Verfolgung einer Sortiments-, Zielgruppen- oder Fulfillmentstrategie bringt hohe Synergien zur weiteren Starkung der eigenen Kernkompetenzen und zu deren Entwicklung zu Methodenkompetenzen. Nicht zuletzt deshalb sind die Akquisitionen von Versandhandelsunternehmen in der Kegel strategische Akquisitionen durch andere Versender. Es gibt im Allgemeinen zwei Verfahren zur Unternehmensbewertung, die Ermittlung des Substanzwerts und die Ermittlung des Ertragswerts eines Unternehmens. Fiir die Bewertung wird dann haufig ein irgendwie gewichtetes Mittel aus diesen beiden Werten zugrunde gelegt. Eine bestimmte Gewichtung wird durch das so genannte Stuttgarter Verfahren vorgegeben. Es konnen sich fiir einen strategischen Investor Synergie-Effekte aus der Akquisition ergeben, die fiir den Erwerber die isolierte Ertragsbewertung modifizieren.

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6.8.2 Substanzbewertung Wir wollen bei der Substanzbewertung nur auf diejenigen Bilanzpositionen eingehen, bei denen spezifische Eigenttimlichkeiten des Versandhandels zu erwahnen sind. Da sind im Umlaufvermogen zunachst die Kundenforderungen, die nach ihrer Risikobehaftung zu unterscheiden und zu bewerten sind. Hier sind Forderungshohe, Alter der Forderung, Grad der Ausmahnung, Qualifizierung durch ein Credit Scoring etc. zu berticksichtigen. Bei der Bewertung des Forderungsbestands konnen Erfahrungswerte iiber die Realisierbarkeit in den verschiedenen Mahnstufen bzw. nach Abgabe an ein Inkassobliro zugrunde geiegt werden. Moglicherweise empfiehlt es sich im Rahmen einer Due Diligence noch einmal ein Credit Scoring iiber den aktuellen Forderungsbestand zu legen (vgl. auch Abschnitte Datamining in Kapitel 2.3.5 und Bonitdtsprufung in Kapitel 4.4.2). Fine weitere Position des Umlaufvermogens ist der Warenbestand, der grundsatzlich zu Einkaufspreisen zu bewerten ist. Wenn Artikel im Sortiment des Erwerbers ebenfalls vorkommen und er diese Artikel billiger einkauft, wird er Abschlage vornehmen. Wichtig fiir die Bewertung des Warenbestands ist, ob die Artikel courant sind, ob diese Artikel aktuell verkauft werden oder ob sie mit moglichen Abschriften belastet sind. Die Abschlage auf incourante Artikel richten sich danach, ob die Verkaufspreise eventuell unter den Einkaufspreise liegen werden, und nach den Verwertungskosten. Besonders bei Saisonware ist im Rahmen der Due Diligence eine sorgfaltige Priifung vorzunehmen und insbesondere das Dispositionsverhalten unter die Lupe zu nehmen. (Wegen einer wohl zu groEziigigen Bewertung des Warenbestands von Oppermann bei der Ubernahme durch die Metro hat es im Nachhinein noch jahrelange gerichtliche Auseinandersetzungen gegeben.) Ein Sonderposten im Umlaufvermogen sind die Vorrate an Werbemitteln, insbesondere an Katalogen, die im Laufe der Saison noch ausgesandt werden sollen. Wahrend die Investition in Gestaltung, Fotografie, Texte als immaterielles Gut nicht aktivierbar ist, konnen in einer Substanzbewertung die Bestande an gedruckten Katalogen durchaus zu Herstellkosten bewertet werden. Sinnvoll ist es dabei sicherlich, die Gestaltungskosten anteilig auf den vorhandenen Restbestand umzulegen. Im Anlagevermogen des Versenders konnen selbsterstellte Software, Datensubstanzen wie Bild- und Textdatenbanken (Database Publishing) fiir Werbemittel, Online-Shops oder abgespeicherte TV-Spots als selbst erstellte Anlagen

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mittel, Online-Shops oder abgespeicherte TV-Spots als selbst erstellte Anlagen angesehen werden. Auch hier sind wieder die Aktualitat und Wiederverwendbarkeit im Detail zu prlifen und im Rahmen einer Due Diligence gegebenenfalls Abschreibungen iiber das normale MaE hinaus vorzunehmen. Bei den Anlageinvestitionen in Fulfillmentkapazitaten sind Call Center und Logistik zu unterscheiden. Telekommunikationsanlagen und IT-Netzwerke im Call Center unterliegen einer hohen Abschreibung. Sie sind wegen sinkender Hardware-Preise und wegen des technischen Fortschritts in der Kegel nur schwer zu verwerten. Zudem sind Call-Center-Kapazitaten wirklich ubiquitar und leicht im Outsourcing zu ersetzen. Logistik-Kapazitaten, insbesondere automatisierte Anlagen und Fordergerate, sind relativ wertbestandig und konnen mit iiblichen Abschreibungssatzen auf die Anschaffungskosten bewertet werden. SchlieSlich kommen wir zu der groSten und wichtigsten Investition eines Versenders, dem Kundenbestand. In einer Substanzbewertung wiirde man den Kundenbestand zu Herstellkosten, also zum CPO bewerten (vgl. Kapitel 6.6.1 Methoden der Kundenbewertung) und darauf je nach Alter im Bestand Abschreibungen nach der erwarteten Resthaltbarkeit vornehmen. Also auch bei einer CPO-orientierten Bewertung des Kundenbestands ist eine Analyse der Kundenstruktur nach Zugangsperioden erforderlich. Eine CPO-orientierte Bewertung gehort wegen der Natur des Versandhandels nach unserem Daflirhalten zwar zu einer voUstandigen Substanzbewertung. Im bilanziellen Sinne handelt es sich jedoch um Good Will, der nicht als Banksicherheit geeignet ist. Auf der Passivseite sind moglicherweise Riickstellungen fiir die genannten Risiken und andere handelstypische Risiken zu beriicksichtigen: Riickstellungen fiir Forderungsausfalle, Garantie- und Produkthaftungsriickstellungen, Riickstellungen fiir Abschriften u. a. So wie die einzelnen Aktivpositionen zu bewerten sind, sind gegebenenfalls die entsprechenden Riickstellungen zu iiberpriifen.

6.8.3 Ertragsbewertung Fine pauschale Ertragsbewertung legt z. B. das durchschnittliche Unternehmensergebnis der letzten drei Jahre zugrunde und wendet darauf einen Multiplikationsfaktor an, um den Unternehmenswert zu erhalten. Dieser Faktor ergibt sich aus einer unternehmerischen Verzinsung des Risikokapitals, etwa 6,7 = 1/15 %. Wenn in der Zeitreihe der Unternehmensergebnisse ein Trend zu

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vorliegen, kann dieser Faktor noch mit einem Zu- oder Abschlag versehen werden. Eine derartige pauschale Ertragsbewertung fiihrt jedoch im Versandhandel leicht zu irrefiihrenden Ergebnissen. Wenn ein Unternehmen nicht mehr in den Kundenbestand investiert hat und eine „Verabschiedungsstrategie" verfolgt, konnen die Unternehmensergebnisse im Verhaltnis zum verbliebenen Kundenbestand iibertrieben sein, weil kiinftig diese Ergebnisse mit dem iiberaiterten Kundenbestand nicht mehr erreichbar sein werden (vgl. Kapitel 6.6.1 Methoden der Kundenbewertung), Wenn auf der anderen Seite eine „forcierte Wachstumsstrategie" verfolgt wird, konnen die Unternehmensergebnisse im Verhaltnis zum vorhandenen Kundenbestand untertrieben sein, weil kunftig mit diesem Kundenpotenzial viel hohere Ergebnisse erreichbar sein werden. Eine naheliegende Methode, derartige Ergebnisverzerrungen auszugleichen, ware es, die Investitionen in den Kundenbestand (= Kosten der Neukundengewinnung) in der Bilanz zu aktivieren. Abgesehen davon, dass dieses Vorgehen bilanzrechtlich nicht moglich ist, konnte fiir Zwecke der Unternehmensbewertung eine Sonderbilanz aufgestellt werden. Dieses setzte jedoch eine richtige Zuordnung der Aufwande zu den Kosten der Neukundengewinnung und eine zuverlassige Relation zwischen Gewinnungskosten und Anzahl gewonnener Kunden voraus. Anstatt derartige Hilfsrechnungen vorzunehmen, ist es sinnvoUer, gleich den tatsachlichen Kundenbestand zu analysieren. Eine angemessene Ertragsbewertung eines Versandhandelsunternehmens ergibt sich daher aus einer Einzelbewertung nach Kunden-Ertragswerten. Der Ertragswert des Unternehmens ist dann die Summe der Ertragswerte aller Kunden, und zwar die Summe der je nach Kundenalter zu erwartenden Restertragswerte. Der Ertragswert eines Kunden ist die diskontierte Summe seiner kiinftigen Ertrage. Das ist fiir einen neuen Kunden der Customer Lifetime Value (CLV) zuziiglich der Investition in die Kundengewinnung:

(vgl. dazu Kapitel 6.6.1 Methoden der Kundenbewertung), Um den reinen Kundenertragswert zu erhalten, muss die Investition Ii zum CLV hinzugerechnet werden. Denn es geht hier ja gerade um die Ermittlung der Akquisitionsinvestition, des Kaufpreises fur den Kunden. Wir wollen diese GroSe aus Summe von Deckungsbeitrag und Investition den Kundenertragswert oder Customer Cash-flow CCF nennen; der Customer Cash-flow zu Beginn der Gewinnungsperiode 1 ist CCFi.

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Fiir die Ermittlung des Kundenertragswerts eines Kunden, der sich schon t=j-l Perioden lang im Bestand befindet, kann nur der restliche Kundenertragswert ohne die Perioden 1 bis j-1 angesetzt werden, also nur CCF|=Y—%^

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