135 32 11MB
German Pages 270 Year 1998
Max Scheler (1874-1928), der Begründer der „materiellen Wertethik" und Neubegründer der philosophischen Anthropologie, hat ein einflußreiches und vielseitiges Werk hinterlassen, dessen Bedeutung für Philosophie und Soziologie unbestritten ist. Wolfhart Henckmann geht in diesem Buch der nicht eben geradlinigen Entwicklung in Schelers Denken nach - von seinen Anfängen im Zeichen des Neukantianismus über die phänomenologische Philosophie in den mittleren Jahren bis hin zu seinem Evolutionären Panentheismus im Spätwerk. Wolfhart Henckmann ist Professor für Philosophie an der Universität München. Bei C.H. Beck ist von ihm erschienen: Lexikon der Ethik (mit K. Lotter), 1992 (BsR 466). Die Reihe der „Denker" wird herausgegeben von Otfried Hoffe, Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Über die weiteren Bände der Reihe siehe S. 272.
WOLFHART HENCKMANN
Max Scheler
VERLAG C.H.BECK
Mit 6 Abbildungen
Für Gisela, Joachim und Antje
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Henckmann, Wolßart: Max Scheler / Wolfhart Henckmann. - Orig.-Ausg. - München : Beck, 1998 (Beck'sche Reihe ; 543 : Denker) ISBN 3 406 41943 7
Originalausgabe ISBN 3 406 41943.7 Umschlagentwurf: Uwe Göbel, München Umschlagabbildung: L. Lechner, Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin. ©C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1998 Gesamtherstellung·. C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany
Inhalt Zitierweise I. Einleitung II. Leben und philosophische Entwicklung 1. Jugend, Studium und erste Dozentenzeit . . . . 2. Von der Münchner Dozentur zum freien Schriftsteller 3. Vom Theismus zum Panentheismus III. Vom Wesen der Philosophie 1. Philosophie als Wertkritik des Bewußtseins . . 2. Phänomenologische Philosophie 3. Philosophie als Einheit von Phänomenologie und Metaphysik 4. Zur Einteilung der Philosophie IV. Grundzüge der Ersten Philosophie 1. Die Evidenzordnung und die Lehre von den Arten des Seins 2. Geist und Welt oder die Funktionalisierung der Aktarten des Geistes und das Sphärenproblem 3. Das Problem der Seinsrelativität 4. Wissen und Bewußtsein 5. Transzendente Erstreckung der Wesenserkenntnis 6. Das Aprionsmusproblem V. Erkenntnistheorie 1. Der ontologische Begriff des Wissens
8 9 16 16 20 29 40 40 43 49 53 57 63 68 73 75 76 77 79 83
2. Die Lehre von den Wissensarten 3. Ekstatisches und reflexives Wissen 4. Die obersten Wissensformen 5. Von den Maßstäben der Erkenntnis 6. Philosophie und Wahrnehmung . . 7. Spezielle Erkenntnistheorie 8. Zur deskriptiven Weltanschauungslehre VI. Philosophie der Werte 1. Über Wesen und Erkenntnis der Werte 2. Die objektive Rangordnung der Werte 3. Relativität und Absolutheitsanspruch Werte
85 87 87 90 93 97 98 100 102 107 der
VII. Materiale Wertethik 1. Die Akte des Werterkennens und die Rangordnung der Werte a) Gut und Böse b) Zur Differenzierung der Wertrangordnung c) Ethischer Personalismus d) Schelers Kritik der Sollensethik 2. Der Begriff der sittlichen Handlung 3. Zur Tugendlehre 4. Das Problem der Freiheit 5. Solidarität als höchstes Prinzip der Sozialethik 6. Absolutismus und Relativismus in der Ethik. . 7. Moral und Religion VIII. Religionsphilosophie 1. Die Wesensontik des Göttlichen 2. Die Formen der Selbstmitteilung Gottes und die Wesensformen der homines religiosi 3. Die Phänomenologie des religiösen Aktes und die Lehre von den Erweisarten Gottes 4. Wesenslehre von den Strukturformen religiöser Gemeinschaften und der geschichtlichen
110 115 119 121 122 122 123 125 127 129 130 132 136 138 143 148 150
Ordnung der Offenbarungsformen des Göttlichen
153
IX. Probleme der Sozialphilosophie 1. Zur phänomenologischen Grundlegung des Sozialen a) Über die Wesensformen menschlicher Verbände b) Die Lehre von Vorbild und Führer 2. Aspekte der Geschichtsphilosophie a) Zur Wesensontologie von Geschichte . . . . b) Die Lehre von den geschichtlichen Wirkfaktoren c) Zur Lehre von der Funktionalisierung des Geistes d) Die Perspektive auf das Weltalter des Ausgleichs 3. Zur Philosophie des Politischen a) Die Lehre von Führer und Gefolgschaft... b) Das Verhältnis von Politik und Moral . . . . c) Krieg und Frieden 4. Zur Kritik der modernen Sozialverhältnisse . . a) Zum Problem der Arbeit b) Zur Kritik des Kapitalismus
156
169 170 171 172 173 175 175 177
X. Kultur- und Wissenssoziologie 1. Grundzüge der Kultursoziologie 2. Grundzüge der Wissenssoziologie a) Die obersten Axiome der Wissenssoziologie b) Die obersten Wissensarten
179 181 184 186 188
XL Anthropologie 1. Zur Typologie des Selbstbewußtseins des Menschen 2. Zur Wesensontologie des Menschen 3. Systematischer Vergleich zwischen Mensch und Tier
191
157 159 162 163 164 166 168
194 198 201
a) Das Stufenreich des Psychischen b) Der Geist c) Über die Monopole des Menschen 4. Über den zeitlichen Ablauf des Menschenlebens 5. Über den Ursprung des Menschengeschlechts. 6. Fragen der vergleichenden Anthropologie . . . XII. Metaphysik 1. Der Begriff der Metaphysik 2. Zur Metaphysik erster Ordnung: die Metaszienzien 3. Metaphysik zweiter Ordnung: Die Lehre vom Ens a se
201 205 207 208 210 211 213 218 220 224
XIII. Zur Wirkung 1. Ethik 2. Religionsphilosophie 3. Anthropologie 4. Wissenssoziologie
230 235 236 237 239
Anhang 1. Anmerkungen 2. Zeittafel 3. Literaturverzeichnis 4. Abbildungsnachweise 5. Personenverzeichnis 6. Sachverzeichnis
242 242 252 255 264 264 267
Zitierweise Schelers Werke werden nach der von Maria Scheler und ab 1970 von M. S. Frings betreuten Ausgabe der Gesammelten Werke mit bloßer Band- und Seitenzahl zitiert. Gelegentlich habe ich auf die Erstveröffentlichung und auf den Nachlaß zurückgegriffen. Schelers Nachlaß befindet sich in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek München (BSB) unter der Signatur Ana 315; die Detailsignierung geht auf E. Avé-Lallemants Nachlaßverzeichms zurück (vgl. Bibliographie). Die Hervorhebungen innerhalb der Zitate stammen alle von Scheler selbst.
I. Einleitung Es gibt keine glanzvollere Würdigung Max Schelers als Martin Heideggers in „In memoriam Max Scheler", kurz nachdem er von seinem plötzlichen Tod erfahren hatte: „Max Scheler ist tot. Mitten heraus aus einem großen und weitschichtig angelegten Arbeiten, im Stadium eines neuen Anlaufes zum Vordringen in das Letzte und Ganze, am Beginn einer neuen Lehrtätigkeit, von der er sich viel erhoffte -. Max Scheler war - vom Ausmaß und der Art seiner Produktivität ganz abgesehen - die stärkste philosophische Kraft im heutigen Deutschland, nein, im heutigen Europa und sogar in der gegenwärtigen Philosophie überhaupt. [...] Entscheidend und kennzeichnend für sein Wesen war die Totalität des Fragens. Mitten im Ganzen des Seienden stehend hatte er eine ungewöhnliche Witterung für alle neu aufbrechenden Möglichkeiten und Kräfte. Ihm eignete ein unbezähmbarer Drang, immer im Ganzen zu denken und zu deuten. Und so war es kein Zufall, daß er, von Hause aus katholisch, in einer Zeit des Zusammenbruches erneut seinen philosophischen Weg nahm in die Richtung des Katholischen als einer universalhistorischen Weltmacht, nicht im Sinne der Kirche. Neue Bedeutung gewannen Augustinus und Pascal — neu als Antwort auf und gegen Nietzsche. Aber auch diese Möglichkeit zerbrach für Max Scheler wieder. Erneut trat ins Zentrum seiner Arbeit die Frage, was der Mensch sei - diese Frage wieder gestellt im Ganzen der Philosophie, im Sinne der Aristotelischen Theologie. Ungeheuer kühn gesehen die Idee vom schwachen Gott, der nicht Gott sein kann ohne den Menschen, so daß der Mensch selbst gedacht wird als ,Miterwirker Gottes'. Dies alles blieb weit entfernt von einem platten Theismus oder verschwommenen
Pantheismus. Schelers Plan ging auf die philosophische Anthropologie, eine Herausarbeitung der Sonderstellung des Menschen. War seine Wandlungsfähigkeit Zeichen einer Substanzlosigkeit, einer inneren Leere? Aber man erkennt - was freilich nur wenige unmittelbar erfahren durften in tage- und nächtelangen Auseinandersetzungen und Kämpfen mit ihm -: eine wahre Besessenheit durch die Philosophie, der er selbst nicht Herr wurde und der er folgen mußte; was ihn, bei der Zerrissenheit des heutigen Daseins, oft in Ohnmacht und Verzweiflung trieb. Aber diese Besessenheit war seine Substanz. Und bei allem Wandel ist er dieser inneren Richtung seines Wesens in immer neuen Anläufen und Anstrengungen treu geblieben. Und diese Treue muß die Quelle gewesen sein, der die kindliche Güte entsprang, die er zuweilen zeigte. Keiner unter den heute ernsthaft Philosophierenden, der ihm nicht wesentlich verpflichtet wäre - keiner, der die lebendige Möglichkeit an Philosophie, die mit ihm dahingegangen ist, ersetzen könnte. Diese Unersetzlichkeit aber ist das Zeichen seiner Größe [...]."' Inzwischen sind siebzig Jahre vergangen. Schelers Gestalt steht nicht mehr alles überragend vor unseren Augen. Andere Gestalten, keineswegs minder große, sind hinzugetreten und geben ein eindrucksvolles Gesamtbild der philosophischen Bestrebungen des 20. Jahrhunderts. Mancher wird unter ihnen nur noch bei genauerem Hinsehen Schelers Gestalt erkennen können. Da die Philosophie der Gegenwart nicht mehr, wie Heidegger es von der Philosophie der zwanziger Jahre bezeugt hat, unter Schelers lebendiger und wegweisender Wirkung steht, ist in der Tat ein genaueres Hinsehen auf sein Werk und sein Leben erforderlich, um zu erkennen, was eigentlich Schelers ,Besessenheit durch die Philosophie' in Bewegung gehalten hat. An die eigentliche „Substanz" seines Philosophierens, das Heidegger noch unmittelbar erlebt hat, gelangt ein Leser Ende des 20. Jahrhunderts nur noch indirekt, durch die Vermittlung 10
seiner Schriften und Lebenszeugmsse, wenn er sie überhaupt noch zu erfassen vermag und nicht Schelers „Weg der Philosophie ins Dunkel" zurückgefallen ist, wie es am Ende von Heideggers Nachruf heißt. Der Weg über die von Scheler selbst veröffentlichten Schriften, einschließlich derjenigen Schriften und Fragmente, die seit den fünfziger Jahren aus dem Nachlaß herausgegeben worden sind, ist nicht nur ein mühseliger Weg, sondern er bricht in Schelers Schriften auch immer wieder ab und verläuft sich immer wieder in Digressionen, mit denen man sich unverhofft an ganz anderen Orten der philosophischen Problemlandschaft wiederfindet. Aus der Ferne betrachtet zeigen sich jedoch übergreifende Zusammenhänge. Die Linien von Schelers Denkwegen versuche ich in dieser einführenden Schrift nachzuzeichnen. Schelers Philosophie stellt in einem besonderen Maße ein .Lebenswerk' dar: Leben und Philosophie, Denken und literarischer Ausdruck bilden ein komplexes Spannungsgefüge, das sich fortwährend ausbildet und umgestaltet. In späteren Jahren bekannte sich Scheler gerne zu Goethes Wort: Nur wer sich wandelt, ist mit mir verwandt. Diejenigen, die sich mit ihm geistig verwandt fühlten, erkannten oft zu spät, daß er sich schneller gewandelt hatte, als mit ihren Vorstellungen von einer selbstverantwortlichen geistigen Existenz vereinbar erschien. Schelers Wandlungen erfolgten jedoch nicht willkürlich oder zufällig, sondern folgten einem tieferliegenden, in den Wandlungen nur mittelbar zum Ausdruck kommenden Gesetz, seinem persönlichen „Daimonion". Sein Philosophieren war nur zum Teil den Problemen zugewandt, die er behandelte; zum anderen Teil war es geleitet von der ständig gegenwärtigen, aber nicht immer explizit gestellten noch überhaupt bewußten existentiellen Frage Schelers, ob sein ganzes Philosophieren, dem er sich mit der phänomenologischen Maxime „zurück zu den Sachen" verschrieben hatte, jenes dunkle, Zusammenhang und Konsequenz verleihende Gesetz zum Ausdruck bringe. Von daher erklärt sich auch der „barocke" Stil von Inhalt und Form seines Lebenswerks. Philosophie, das hat 11
Scheler immer wieder betont, hat ihre tiefere Einheit in der Person ihres Autors, die keineswegs bloß eine rein geistige Person ist - wie Scheler erst nach und nach zuzugeben bereit war. Philosophie folgt allein dem inneren personalen Gesetz, nicht dagegen, wie die positiven Wissenschaften, einem unpersönlichen Fortschrittsgesetz. Man hat Schelers philosophisches Lebenswerk, da es nicht die explizite Struktur eines geschlossenen Systems aufweist, auf eine Reihe von Grundproblemen zurückgeführt, um die sein Denken lebenslang kreiste: Liebe, Wert, Person, Welt, Gott, um nur die wichtigsten fünf zu nennen. Will man aber nicht nur erschließen, worin Scheler den philosophischen Sinn dieser Grundprobleme in der einen oder anderen Schrift gesehen hat, sondern wie sie untereinander und darüber hinaus mit anderen Themen von Schelers Lebenswerk zusammenhängen und wie sie sich infolge von Schelers Wandlungen in sich selbst und in der Stellung zueinander wandelten, muß man einen anderen Ansatz als den bei den „Grundproblemen" wählen. Deshalb sollen in dieser Schrift der Behandlung der in der Regel als in sich konsistent aufgefaßten Grundprobleme zwei andere Gesichtspunkte vorgeordnet werden: der Gesichtspunkt einer gewissen Systematik philosophischer Disziplinen und der Gesichtspunkt der zeitlichen Entwicklung; beide lassen sich zwanglos vereinigen im Begriff eines dynamischen „offenen Systems", zu dem sich Scheler auch immer wieder bekannt hat. Mit der offenen Disziplinensystematik soll, wenn man so will, ein sechstes Grundproblem herausgestellt werden. Scheler hat seit seiner Dissertation in immer wieder neuen Ansätzen über die Stellung der philosophischen Disziplinen zueinander und zu einem Sinnganzen der Philosophie nachgedacht. Dabei gingen seine Überlegungen auch über den Bereich der Philosophie hinaus, indem sie die Stellung der Philosophie zum persönlichen und sozialen Leben und zu den Wissenschaften zu bestimmen suchte - nicht zuletzt auf diesen Überlegungen beruhte seine Überzeugung, daß nur ein offenes System dem Wesen der Philosophie angemessen sei. 12
Ähnlich rigoros wie die These von den Grundproblemen ist die These von den zwei oder drei „Perioden" von Schelers Lebenswerk vertreten worden. Einige Interpreten sind allerdings der Auffassung, daß Schelers Lebenswerk im Grunde eine Einheit bilde, andere unterscheiden immerhin eine frühere Periode von einer späteren, die Anfang der zwanziger Jahre mit Schelers Absage an den Theismus und die katholische Kirche einsetzte, wiederum andere gliedern die frühere Periode in zwei Abschnitte: in die neukantianische Periode, die unter dem Einfluß der Philosophie von Schelers Doktorvater R. Eucken stand, und in die phänomenologische Periode, die nach seiner Begegnung mit Husserl (1902) und insbesondere nach seiner Umhabilitation an die Universität München (1906) einsetzte. Heidegger hat in seinen Gedenkworten diese Wandlungen anklingen lassen. Aber auch die dem Entwicklungsgang Schelers wohl angemessenere Einteilung in drei Perioden darf nicht allzu streng genommen werden. Von Schelers markanteren Standpunktwechseln waren nicht alle seine Lehren in gleicher Weise betroffen, worauf er 1922 im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Habilitationsschrift oder 1926 im Vorwort zur dritten Auflage des Formalismusbuchs selber hingewiesen hat. Einige seiner Lehren haben sich relativ konstant erhalten, andere haben sich modifiziert, einige haben sich auch in ihr Gegenteil verkehrt, ohne daß Scheler über alle diese Vorgänge genau Buch geführt hätte. In den zwanziger Jahren ließ ihn sein zunehmendes Interesse, Einheit in sein Werk zu bringen, über manche Brüche und Widersprüche hinwegsehen. Deshalb müßte jeder seiner Lehren eine detaillierte Entwicklungsgeschichte vorangestellt werden, bevor ihr eigentlicher Lehrgehalt dargestellt wird. Um einigermaßen die Grenzen einer Einführungsschrift einzuhalten, habe ich mich darauf beschränkt, nur den verschiedenen philosophischen Disziplinen und einzelnen wandlungsreicheren Problemauffassungen einige Hinweise auf ihre Entwicklung voranzustellen. Die Linienzüge von Schelers Denkwegen sind jedoch nur unvollständig durch ein Netzwerk diachroner und synchroner Verflechtungen darzustellen. Näher an die besondere Gestalt 13
philosophischer Problementfaltung, wie Scheler sie immer wieder in mehr oder weniger konsequenter Durchführung vorgeführt hat, kommt man vielleicht mit einem Denkmodell, das den inneren Aufbau seiner Art von Problementfaltung wiedergibt. Den sachlichen Ursprung eines Problems suchte Scheler stets in der Ebene auf, die er „Wesensontologie" oder „Eidetik" nannte. Sie gab ihm die Grenzen und die Richtung vor, in der sich ein Problem unter den Bedingungen realer Erfahrungen entfaltete. Um dieser Entfaltung angemessen nachgehen zu können, unterzog er die überlieferten Lehrmeinungen einer Kritik, die er häufig zu einer Typik der maßgeblichen (Irr)Lehren zu verdichten suchte. Anschließend konnte er darauf eingehen, wie sich ein Problem im Horizont dessen darstellte, was er die natürliche Weltanschauung nannte, sowie im Rahmen der Einzelwissenschaften, die für das behandelte Problem zuständig waren. Hierbei ließ er es an Kritik nicht fehlen, doch ging es ihm in erster Linie darum, mit seinem in sich strukturierten Verfahren das Problem in eine angemessene Form zu bringen. Wenn er die verschiedenen Maßnahmen zur Rekonstruktion einer angemessenen Problemauffassung durchgeführt hatte, ging er zur eigentlichen Problementfaltung über. Hierbei berief er sich oft auf ein Wort von Hegel, daß die rekonstruierten Problemfassungen „Fenster ins Absolute" öffneten - das meint, durch sie eröffneten sich die metaphysischen Problemdimensionen. Sie verlangten nicht allein, daß man tatsächlich auch durch das Fenster hindurchsehe auf das Absolute, sondern es mußte auch die gesamte Wegstrecke der Problementfaltung - von der Wesensontologie an über die Bereiche der Realverhältnisse hinweg bis zum „Fenster ins Absolute" - mit dem „absoluten Weltgrund" vermittelt werden, so daß sich am Ende die philosophische Problementfaltung als ein notwendiger Bestandteil des Werdeprozesses des Weltgrundes selbst darzustellen hätte. Ein solches Modell philosophischer Problementfaltung muß in konfliktreicher Spannung zu den Gesetzmäßigkeiten stehen, die die synchrone und diachrone Entwicklung von Ideen und Theorien bestimmen. Andererseits kann sich eine philosophi14
sehe Problementfaltung, wie Scheler sie paradigmatisch praktizierte, nicht unabhängig von Synchronie und Diachronie realisieren. Im Gegenteil: in diesem gesamten Spannungsgefüge von Diachronie, Synchronie und Tiefenstruktur philosophischer Problementfaltung haben sich Schelers Reflexionen über die disziplinäre Ordnung der Philosophie artikuliert, und in diesem Sinne und in dieser Lagerung sind sie ein wesentlicher Bestandteil und ein Grundproblem seiner - wie Heidegger sagte — aufs „Letzte und Ganze" ausgerichteten Philosophie.
II. Leben und philosophische Entwicklung 1. Jugend, Studium und erste Dozentenzeit Max Ferdinand Scheler wurde am 22.8. 1874 als Sohn des Rittergutsbesitzers Gottlieb Scheler (1831-1900) und seiner Ehefrau Sophie geb. Further (1844-1915) in München geboren. Seine Mutter soll eine strenggläubige Jüdin gewesen sein, „orthodox genug, um einen Rabbiner zum Antisemiten zu machen", wie Schelers Nichte Ciaire Goll meinte,1 doch Scheler selbst hat dies ganz anders gesehen: seine Mutter habe das Verhältnis zu ihrer Konfession verloren und nie in dieser Richtung auf ihn eingewirkt.2 Das religiöse Problem wird Schelers ganzes Leben und Denken begleiten. Von seinem Vater hat Scheler keine religiöse Orientierung erhalten. Um Sophie Further heiraten zu können, konvertierte er vom protestantischen zum jüdischen Glauben. Dabei soll die Aussicht auf die Erbschaft Sophie Furthers eine maßgebliche Rolle gespielt haben. So eng auch die familiäre Beziehung zum Erbonkel Hermann Further gewesen sein mag - zu Hause, schreibt Scheler, wurde er in „christlichen Gebeten" (welcher Konfession?) erzogen, so daß er zur „jüdischen so verehrungswürdigen Tradition" keine innere Beziehung gewann. „Erwachsen, trat ich aus der jüdischen Gemeinde aus, da ich mich nicht als Jude empfand, auch von meinen jüdischen Kameraden nie als solcher empfunden wurde." Schon während der Gymnasialzeit im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren hat sich Scheler der katholischen Religion zugewandt. Allzu eng •wurde diese Bindung zunächst nicht. Es scheint, daß sein zeitweilig starkes religiöses Bedürfnis die institutionalisierten Glaubensformen daraufhin testete, welche seinem Wesen am meisten entspräche, auf der Suche nach einem „persönlichen Gott". In seinen letzten Lebensjahren fühlte er 16
sich in keiner institutionalisierten Rehgionsform mehr geborgen. Schul- und Gymnasialzeit in München verliefen nicht ohne Probleme. Seine undisziplinierte Natur ließ ihn zu keiner geordneten Arbeitsweise finden. Da sich seine Eltern wenig um ihn kümmerten und insbesondere seine luxusgewöhnte Mutter ihr kleines Prinzchen nach Belieben gewähren ließ, nahm sich ein Onkel, Ernst Further, seiner Erziehung an. Er wies den hochbegabten, geistig vagabundierenden Jungen unter anderem auf die Schriften von Nietzsche und Schopenhauer hin. Schon damals muß Scheler wähl- und maßlos gelesen haben. Wegen seiner mangelhaften schulischen Leistungen wurde er für zwei Jahre auf eine private Paukanstalt gegeben. 1894 konnte er schließlich am Ludwigsgymnasium in München die Reifeprüfung ablegen. Auf einer Reise nach Südtirol, die ihm sein Onkel Ernst zum Schulabschluß schenkte, lernte er die getrennt von ihrem Mann lebende Amélie von Dewitz-Krebs (geb. 1867) aus Berlin kennen. Es entstand eine leidenschaftliche Beziehung, die beide zuerst auf Gedeih, später auf Verderb aneinander fesselte. Gedeihlich war Améhes Einfluß, indem sie Schelers unstetes Wesen zu zügeln und auf ein alles in allem geordnetes Studium zu konzentrieren wußte. Im Wintersemester 1894/95 schrieb sich Scheler an der Universität München für Medizin ein, doch galt sein Interesse bereits überwiegend der Philosophie, Psychologie und den Naturwissenschaften, vor allem der Biologie. In München hörte er hauptsächlich bei Th. Lipps, einem der prominentesten Vertreter des Psychologismus. Ein Jahr später zog er nach Berlin, wo Amélie lebte, und studierte zwei Semester an der Universität, was nur für eine Vorlesung über Sozialpsychologie bei Simmel und eine über Geschichte der Philosophie bei Dilthey bezeugt ist. Im Wintersemester 1896/97 setzte er sein Studium in Jena beim Naturphilosophen E. Haeckel und dem Neukantianer O. Liebmann fort. Im Neoidealisten R. Eucken fand er nicht nur seinen Doktorvater, sondern auch einen väterlichen Freund. Im Dezemoer 1897 promovierte Scheler mit 17
einer schon in Berlin begonnenen Dissertation über Beiträge zur Feststellung der Beziehungen zwischen den logischen und ethischen Prinzipien (1899), eine systematisch ausgerichtete erkenntnistheoretische Schrift, in der er bereits eine auffallende geistige Selbständigkeit zeigte. Nach einem kurzen Studienaufenthalt in Heidelberg 1898 arbeitete Scheler in Jena seine Habilitationsschrift über Die transzendentale und die psychologische Methode (Jena 1900) aus, mit der er sich 1900 habilitierte. Seinen philosophischen Standpunkt identifizierte er mit Eukkens „Noologie", einer vom Neukantianismus inspirierten Geistphilosophie. 1899 konvertierte er zum katholischen Glauben und heiratete die inzwischen geschiedene Amélie. Die Ehe führte jedoch schon bald zu heftigen Zerwürfnissen, teils wegen Amélies ins Krankhafte gesteigerten Hysterie und Eifersucht, teils wegen Schelers bohèmehaftem Lebenswandel, der ihn über seine Verhältnisse leben ließ und in allerlei Amouren verwickelte - in allen Situationen, auch in seinen gut besuchten Lehrveranstaltungen, lernte er die suggestive Wirkung seines genialischen Geistes kennen, und er gefiel sich darin. Als Privatdozent las Scheler über Erkenntnistheorie und Ethik, außerdem über die neuere Geschichte der Philosophie. Eucken suchte den begabtesten seiner Schüler zu geordneter Arbeit anzuhalten, die aber Scheler ebenso floh wie sein Zuhause, dessen unleidliche Zustände seinen Geist mehr und mehr lähmten. Die von Eucken vermittelte Funktion in der Redaktion der Kantstudien (1903/4) gab Scheler bald wieder auf, ebenso den ehrenvollen, wiederum von Eucken vermittelten Auftrag, für die Festschrift für Kuno Fischer (Die Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 1905) einen Forschungsbericht über die Ethik zu schreiben. Einen auch wieder von Eucken vermittelten Verlagsvertrag für ein Buch über Logik suchte er über Jahre hinweg zu erfüllen, bis er den bereits gedruckten ersten Band zurückzog und auch dieses Projekt fallen ließ. Scheler war in eine Schaffenskrise geraten, deren Ursachen er in den psychisch belastenden häuslichen Verhältnissen sah, doch spielte wohl auch eine Rolle, daß sein unruhevoller Geist in der weichen, idealisierenden Atmosphäre von 18
Euckens Philosophie keine wesensgemäße Heimstatt gefunden hatte. Im Januar 1902 begegnete Scheler auf einem Empfang, den H. Vaihinger den Mitarbeitern der Kantstudien gab, dem Philosophen Edmund Husserl (1859-1938) - eine für seinen weiteren Lebensweg entscheidende Begegnung.3 Scheler fand bei Husserl das gleiche Erkenntnisinteresse, das sein eigenes Denken beherrschte: Überwindung des lebensfernen Methodologismus und Konstruktivismus der beiden herrschenden neukantianischen Schulen durch den Rückgang auf einen über die bloße sinnliche Erfahrung hinausreichenden Begriff der Anschauung, der als Fundament nicht bloß des Ganzen wissenschaftlicher Erkenntnisse, wie es Husserl vorschwebte, sondern des Ganzen der Kultur fungieren könnte. Husserls Einfluß auf die zeitgenössische Philosophie stand damals noch weit hinter dem der Lebensphilosophie von Dilthey, Nietzsche und Henri Bergson zurück. Zunächst war es hauptsächlich der fundamentalphilosophische Ansatz der Lebensphilosophie, der Scheler über die Noologie Euckens hinausführte. Gerade in der Zeit, in der Eucken Scheler drängte, die Logik zu vollenden, damit er ihn für den Titel eines außerordentlichen Professors vorschlagen könne, führte Amélie, veranlaßt durch Schelers leichtsinnigen und unbürgerlichen Lebenswandel und ihre extreme Reizbarkeit, einen öffentlichen Skandal herbei, der zur Folge hatte, daß sie selber in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde und Scheler gezwungen war, sich mitten im WS 1905/06 von der Universität beurlauben zu lassen. Scheler setzte sogleich alle Hebel seiner weitläufigen Beziehungen zu einer Umhabilitation an eine andere Universität in Bewegung - Berlin, Göttingen, Heidelberg faßte er ins Auge, doch am Ende nahm ihn die Universität seiner Geburtsstadt München auf. Dem Inhaber des Münchner Konkordatslehrstuhls G. v. Hertling stellte er seine philosophische Position selbstbewußt und strategisch geschickt folgendermaßen dar: „1. Ich ordne die Einzelprobleme den Weltanschauungsfragen unter. 2. Ich gehe von Kant aus insofern, als ich es für richtig halte, daß die Gegenstände der Erkenntnis, wie Kant gezeigt 19
hat, in Denk- und Anschauungsgesetzen gründen, die nicht auf Erfahrung gründen, sondern diese möglich machen; ich suche von hier aus eine radikale Überwindung des subjektiven Idealismus [...], insbesondere der subjektivistischen Elemente in Kants eigener Philosophie, anzubahnen, indem ich zu zeigen suche, daß die Gesetze des Geistes, um dessen Begriff es sich hier handelt, von aller Sonderbeschaffenheit der menschlichen Gattung und ihrer Organisation unabhängig sind [...]• Der noch in Kant steckende Sensualismus soll durch diese hier nur anzudeutende Theorie völlig überwunden werden. In diesen Fragen bin ich von der französischen Philosophie der Gegenwart, besonders von Bergson, vielfach belehrt worden [...]. 3. Ich halte dafür, daß es Ziel der exakten Naturwissenschaft sein muß, die Natur soweit als möglich mechanisch zu verstehen; daß aber die mechanischen Naturbilder selbst einen nur technisch utilitaristischen Wert haben [...], keineswegs aber einen Wahrheitswert [...]. 4. In der Ethik und Religionsphilosophie stehe ich Kant ferner wie in der theoretischen Philosophie [...], da ich die Gemeinschaft der individuellen Vernunftperson voranstelle und die reine Liebe für eine von den sinnlichen Empfindungen und Gefühlen, mit denen sie Kant zusammenwirft, unabhängige Funktion des Geistes halte, die dem Vernunftprinzip der Gerechtigkeit übergeordnet ist [...]. Meine Lehrmeister sind in diesen Dingen, vor allem der Augustinismus, Pascal, von neueren Eucken [...]. Ich bin Theist und Realist, suche aber den großen Wahrheiten der christlichen Mystik nach Möglichkeit gerecht zu werden."4 Im Dezember 1906 gelang die Umhabilitation nach München, für die Scheler auch eine Empfehlung von Husserl zu gewinnen wußte.
2. Von der Münchner Dozentur zum freien Schriftsteller In München schloß sich Scheler dem Schülerkreis von Th. Lipps an, dessen Mitglieder sich unter dem Einfluß von J. Daubert seit 1902/03 im Ausgang von Husserls Logischen Untersuchungen um die Entwicklung einer phänomenologi20
Abb. 1: Göttinger Phänomenologiekreis 1909
sehen Philosophie bemühten - neben A. Pfänder und M. Geiger gehörte Scheler bald zu den führenden Köpfen dieses Kreises. Die Arbeitsprojekte aus der Jenaer Zeit - die Ethik, die Erkenntnistheorie - versuchte Scheler nun aus einer phänomenologischen Einstellung heraus zu vollenden, auch neue Projekte traten hinzu: eine Grundlegung der Geisteswissenschaften, der Geschichtsphilosophie, der Biologie. Doch haben ihn die vielerlei Pläne nicht aus seiner geistigen Schaffenskrise befreit. Er versöhnte sich mit Amélie und veranlaßte sie leichtsinnigerweise, ebenfalls nach München zu kommen. Die Unverträglichkeit beider Naturen trat schon bald wieder zutage. Scheler reichte 1907 eine Scheidungsklage ein, zog sie aber kurz darauf wieder zurück. 1908 gab er die häusliche Gemeinschaft mit Amélie endgültig auf. Als diese erfuhr, daß er sich wenige Wochen nach der Trennung auf ein Verhältnis mit einer erheblich jüngeren Frau eingelassen hatte, für die er außer21
dem großzügig Geld ausgegeben haben soll, während er ihr gegenüber vorgab, die Alimente für seinen 1905 geborenen Sohn Wolfgang nicht oder nicht pünktlich zahlen zu können, verwandelte sich ihr verletzter Stolz in einen ungehemmten Vernichtungswillen. Sie verleumdete Scheler bei der Universität, ließ den unsittlichen Lebenswandel des „Professors für Ethik" in der sozialdemokratisch orientierten Münchener Post anprangern, und als Scheler durch den Druck der öffentlichen Meinung und des Senats der Universität gezwungen wurde, 1910 gegen die Münchener Post einen Beleidigungsprozeß anzustrengen, trat im Laufe der gerichtlichen Verhandlungen ein höchst zweifelhaftes Bild von der „Würde des Hochschulprofessors" zutage, das in allen Tageszeitungen detailliert geschildert wurde. Unmittelbar nach dem Freispruch des Journalisten wurde Scheler seines Amtes als Privatdozent enthoben. Er kündigte in unverständlicher Verkennung der Sachlage eine Berufung an, zog sie aber wieder zurück, weil er hoffte, in dem nun in die Wege geleiteten Scheidungsprozeß ein geeigneteres Forum für den Erweis seiner immer noch öffentlich beteuerten Unschuld zu finden. In dem Scheidungsprozeß wurde er 1912 jedoch als alleinschuldiger Teil von Amélie geschieden. Ein dreiviertel Jahr nach der Scheidung heiratete Scheler Märit Furtwängler (1891-1971), Tochter des Archäologen Adolf Furtwängler und Schwester des Dirigenten Wilhelm Furtwängler. Trotz seines üblen Leumunds wurde die Ehe kirchlich geschlossen. Scheler verließ mit seiner 17 Jahre jüngeren Frau München und ließ sich in Berlin als freier Schriftsteller nieder. Die Scheidung von Amélie wirkte wie eine Katharsis und löste den Bann, der zehn Jahre lang Schelers geistige Kräfte gelähmt hatte. Zwar führten all seine Bemühungen um eine akademische Lehrstelle, in die er eine Vielzahl von ihm näher oder ferner stehenden Personen von einigem Einfluß einbezog und selbst Universitäten in Japan, Kairo, New York in Erwägung zog, zu keinem Erfolg, aber sein genialischer Geist, vollkommen unberührt vom Ausgang des Münchner Skandalprozesses, ergoß sich in eine Vielzahl von größeren und kleineren Schriften, die zum Teil, bezeichnenderweise, Krankheitser22
Abb. 2: Das Ehepaar Märit und Max Scheler
scheinungen der menschlichen Psyche und des modernen gesellschaftlichen Lebens behandelten. Die drei wichtigsten Arbeiten waren die Aufsätze „Über Selbsttäuschungen" (1912, später unter dem Titel „Die Idole der Selbsterkenntnis", III, 213-292), „Über Ressentiment und moralisches Werturteil" (1912; später u.d.T. „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen", III, 33-147) und die Schrift Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß (1913; 2., wesentlich veränderte und erweiterte Auflage 1922 u.d.T. Wesen und Formen der Sympathie, VII, 7-258). Hinter allen diesen Arbeiten stehen auch persönliche Erfahrungen, die durch die phänomenologische Sichtweise ihrer individuellen Veranlassung entkleidet und auf apriorische Wesensgesetze zurückgeführt wurden. Die phänomenologische Anschauungsund Denkweise war wie geschaffen für die Freisetzung des philosophischen Impetus von Scheler. Durch die Vermittlung seines Freundes und Schülers Dietrich v. Hildebrand wurde Scheler von Husserls Schülern, die an der Universität Göttingen eine Gesellschaft für Philosophie gegründet hatten, vom Sommersemester 1910 an regelmäßig zu Vorlesungen eingeladen. Schelers Vorträge mußten in Gasthöfen stattfinden, weil er wegen seiner unehrenhaften Entlassung nicht an der Universität lesen durfte. Scheler war inzwischen im phänomenologischen Denken so sicher geworden, daß Husserl ihn zusammen mit A. Reinach, A. Pfänder und M. Geiger zum Mitherausgeber seines Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung (1913 ff.) machte. Alle vier Herausgeber stellten sich im ersten Band des Jahrbuchs mit paradigmatischen Untersuchungen vor, die ihr spezielles Arbeitsgebiet und ihre persönliche Auffassung von Phänomenologie dokumentierten. Scheler veröffentlichte den ersten Teil seiner berühmten Abhandlung über den Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, deren zweiter Teil 1916 im zweiten Jahrgang des Jahrbuchs erschien; beide Teile zusammen erschienen 1916 auch als selbständiges Buch, von dem zu Lebzeiten Schelers noch zwei weitere Auflagen gedruckt wurden (1921 und 1927). 24
Abb. 3: Edmund Husserl Durch Husserls Abhandlung über Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie kam es unter den München-Göttinger Phänomenologen zu einer Trennung: die meisten von ihnen machten Husserls Wendung zur Transzendentalphilosophie, zum „subjektiven Idealismus" nicht mit. Pfänder, Geiger, Hedwig Conrad-Martius, D. v. Hildebrand und Scheler vertraten eine „Wesensanalyse", die mit Hilfe der phänomenologischen Betrachtungsweise zu einer Freilegung der ontologischen Voraussetzungen aller geistigen Akte überhaupt zu gelangen suchte. Husserl warf ihnen erkenntnistheoretische Naivität und Unverständnis seiner eige25
nen philosophischen Intentionen vor, doch versagte er ihnen nicht, auch weiterhin im Jahrbuch zu veröffentlichen. Das Formalismusbuch gilt mit Recht als Schelers Hauptwerk. Es sollte eine positive „Grundlegung der philosophischen Ethik bezüglich aller wesentlichen für sie in Frage kommenden Grundprobleme" darstellen (II, 9). „Grundlegung" bedeutete dabei weder „vollständigen Ausbau" der Ethik noch eine streng wissenschaftliche Verknüpfung der behandelten Grundprobleme zu einer systematischen Einheit. Das Buch setzt sich vielmehr aus sechs relativ selbständigen Abhandlungen zusammen, die, wie Scheler schreibt, „mit stark komprimierten Gedanken und Digressionen in verschiedene philosophische Sachgebiete" ausgreifen (II, 12). Die erste Abhandlung über „Materiale Wertethik und Güter- resp. Zweckethik" stellt eine kritische Auseinandersetzung mit der sog. Güterethik dar, entwickelt aber auch grundlegende Gesichtspunkte für eine allgemeine Werttheorie, womit die Grenzen der Ethik beträchtlich überschritten sind. Die zweite Abhandlung über „Formalismus und Apriorismus" setzt die Grundlegung einer allgemeinen Werttheorie fort, geht aber zugleich auf erkenntnistheoretische Grundprobleme ein, die ebenfalls weit über die Ethik hinausgehen. Die dritte Abhandlung über „Materiale Ethik und Erfolgsethik" kann als die erste spezifisch ethische Abhandlung bezeichnet werden. In kritischer Abhebung vom Utilitarismus entwirft Scheler die Grundzüge einer Handlungstheorie und einer Theorie materialer ethischer Werte. Auch die vierte Abhandlung über „Wertethik und imperative Ethik" ist einer grundlegenden ethischen Problematik gewidmet: der Entfaltung des ethischen Wertbegriffs und seiner Abgrenzung vom Sollensbegriff - hier wendet sich Scheler hauptsächlich gegen die Ethik Kants. Die fünfte Abhandlung über „Materiale Wertethik und Eudaimonismus" läßt sich eher einer Theorie der Gefühle als der Ethik zuordnen. Die sechste Abhandlung, die umfangreichste, stellt mit „Formalismus und Person" die Grundlegung einer phänomenologischen Philosophie überhaupt und einer Sozialphilosophie dar. Sie entwickelt den Begriff der Person im Unterschied zum Ich und stellt den 26
Zusammenhang zwischen Person und Gottesidee sowie den grundsätzlich möglichen Sozialformen des Menschen dar. Die perspektivenreiche, aber unsystematische Darstellungsweise des Formalismusbuchs ist wiederholt kritisiert worden. Scheler hat die Kritik anerkannt, aber keine Konsequenzen daraus gezogen. Seine wegweisenden Ideen zu einer neuartigen Theorie des Geistes, der Person, der Werte, der Gefühle, der Erkenntnis, der Gottesidee und Soziallehre haben die formalen Mängel weit überstrahlt. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs versetzte Scheler wie die meisten Deutschen in eine nationalistische Euphorie. Scheler betrachtete den Krieg vornehmlich als „deutschen" Krieg (IV, 139). Die Eigenart der deutschen Nation, die er als kulturelle, geistige Gesamtperson auffaßte, liege im „Kosmopolitismus", der mit „Internationalismus" nicht verwechselt werden dürfe: er stelle eine geistige Einstellung dar, die auf eine Vergemeinschaftung unverwechselbarer geistiger Individualitäten ausgerichtet sei. Hinter den kämpfenden Parteien stünden „große, historisch bewährte Kulturideen" (IV, 108), die, weit über bloß politisch-ökonomische Interessen hinausgehend, um ihre Vormacht kämpften (Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Aufsatzsammlung, Leipzig 1915, 3 1917). In einer kurz darauf erschienenen neuen Aufsatzsammlung Krieg und Aufbau (Leipzig 1916) sah er den Sinn des Weltkriegs als „erstem Gesamterlebnis der Menschheit" darin, sie zu innerer Umkehr und Reue aufzurufen. In dem umfangreichen Aufsatz über die „Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Kriege", mit dem Scheler 1916 in der Zeitschrift Hochland missionierend für die katholische Kirche auftrat, versuchte er „Leitlinien zu geben, nach denen die in der katholischen Kirche latenten Kräfte des Glaubens, des Geistes und Gemütes zum Wiederaufbau einer europäischen Ordnung und zur Heilung unseres todkranken Vaterlandes entbunden werden könnten" (VI, 223). Von seiner enthusiastischen Deutung des „deutschen Krieges" distanzierte sich Scheler im Laufe des Krieges mehr und 27
mehr, nicht aber von der Überzeugung, daß der Krieg ein gottgewolltes Ereignis in der Geschichte der Menschheit darstelle und daß es darauf ankomme, Gottes Plan zu begreifen und die gesamten Lebens- und gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend zu erneuern. Aus seiner im katholischen Glauben fundierten Weltanschauung und Geschichtsphilosophie heraus nahm Scheler in den Kriegsjahren Stellung zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen - zu Kapitalismus, Sozialismus, Militarismus bis hin zur Frauenbewegung und zum sexuellen Liberalismus. In dieser Zeit seiner engagierten Mitarbeit am Hochland (1916-1919) fand seine größte geistige Annäherung an die katholische Kirche statt. Seine meist aus Vorträgen und Rezensionen hervorgegangenen Aufsätze hatte Scheler in einer zweibändigen Sammlung von Abhandlungen und Aufsätzen (Leipzig 1915) zusammengestellt, die er 1919 unter dem bezeichnenderen Titel Vom Umsturz der Werte in zweiter Auflage erscheinen ließ. Während der Kriegsjahre, in denen er wegen seiner Kurzsichtigkeit nicht aktiv dienen konnte, setzte er seine Bemühungen um eine akademische Anstellung fort. Es gelang ihm jedoch nur, 1917 und 1918 im Dienst des Auswärtigen Amtes in der Schweiz und in Holland vor internierten Deutschen Vorträge über aktuelle gesellschaftlich-weltanschauliche Probleme zu halten, doch bedeutete dies bereits eine partielle Rehabilitation. Als ihm Ende 1918 in Berlin der Titel eines Honorarprofessors verliehen wurde, waren die letzten Auswirkungen des Münchner Skandals behoben. Scheler war durch seine Aufsätze im Hochland, durch seine Vortragsreisen und seine Bücher zu einem der einflußreichsten katholischen Publizisten geworden. Für Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, schien er der geeignete Mann zu sein, die deutsch-katholische Kultur in den linksrheinischen Gebieten gegen die französische Propaganda lebendig zu halten. Er setzte es durch, daß Scheler 1919 als einer von drei Direktoren an das neu gegründete „Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften" berufen wurde. In dem kulturpolitisch ausgewogenen Dreiergremium sollte Scheler neben 28
dem Sozialisten Hugo Lindemann und dem Liberalen Leopold v. Wiese der katholischen Weltanschauung Einfluß auf die Forschungen des Instituts verschaffen. Im gleichen Sinne sollte Scheler als Professor für Philosophie an der wiedereröffneten Kölner Universität wirken. Scheler empfand die Berufung als lange ersehnte Wiedergutmachung der in München erfahrenen Unbill. Durch die Befreiung von den Sorgen um einen standesgemäßen Lebensunterhalt hoffte er, Muße für die Ausarbeitung großangelegter philosophischer Untersuchungen zur Erkenntnistheorie, Sozialphilosophie und Religionsphilosophie zu finden.
3. Vom Theismus zum Panentheismus Seine vom Katholizismus überformte phänomenologische Philosophie fand ihren abschließenden Ausdruck in dem Buch Vom Ewigen im Menschen (Leipzig 1921), wiederum einer Aufsatzsammlung, die Scheler als Vorarbeiten für größere systematisch zusammenhängende Werke konzipiert hatte. Dem ersten Band über das Ewige im Menschen sollte ein zweiter mit einer Fortsetzung der Ethik und ein dritter mit Schelers Erkenntnistheorie folgen; diese beiden Bände, die auf der geistigen Grundlage „vom Ewigen im Menschen" beruhen sollten, hat Scheler schon nicht mehr ausgearbeitet. Der erste Band ist vor allem durch die umfangreiche Abhandlung „Probleme der Religion. Zur religiösen Erneuerung" (V, 101-354) einflußreich geworden. Nachdem Scheler die phänomenologische Betrachtungsweise für die Ethik und die Wertphilosophie fruchtbar gemacht hatte, tat er es nun für die Religionsphilosophie. Seine Abhandlung enthält die „ersten Fundamente des systematischen Baus" (V, 8) der Religionsphilosophie. Der programmatische Aufsatz „Vom Wesen der Philosophie" (V, 61-99), der einen Gegenentwurf zu Husserls Aufsatz über „Philosophie als strenge Wissenschaft" (1911) darstellt, entwickelt die Grundzüge eines personalistischen Philosophiebegriffs, der als Einleitung zu einer - nicht vollen29
deten - Schrift über Phänomenologische Reduktion und voluntativen Realismus — eine Einleitung in die Theorie der Erkenntnis dienen sollte (V, 11). Unabhängig von, aber gleichzeitig mit Scheler führte N. Hartmann eine ähnliche Konzeption in seinem Buch Metaphysik der Erkenntnis (1921) aus, während er in Anlehnung an Scheler die Idee einer materialen Wertethik in seiner Ethik (1926) ebenso umfassend wie detailliert ausgeführt hat. N. Hartmann kann mit diesen Werken als der systematisierende Vollender von Schelers genialischen Visionen gelten. So sehr Scheler auch N. Hartmanns Schriften begrüßte, wurde er durch sie doch mit der Gefahr konfrontiert, durch die systematischen Vollender seiner Ideen zu einem bloßen Anreger und Vorläufer herabgesetzt zu werden. Er versuchte dieser Gefahr dadurch zu begegnen, daß er sich mit so großer Energie, wie seine vielen Vortragsreisen, Lehrverpflichtungen und seine angegriffene Gesundheit zuließen, dem systematischen Ausbau seiner Philosophie widmete. Doch zwangen ihn finanzielle Probleme, immer wieder Gelegenheitsarbeiten zu übernehmen und kleinere Aufsatzsammlungen herauszugeben. Anfang der zwanziger Jahre plante Scheler, statt einer erneuten Auflage von Krieg und Aufbau (1916) eine Sammlung von Aufsätzen unter dem Reihentitel Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre unter aussagekräftigeren Untertiteln herauszugeben und mit neuen Aufsätzen zu ergänzen. 1923/24 sind drei von vier geplanten Bändchen mit den Titeln Moralia, Nation und Weltanschauung und Christentum und Gesellschaft erschienen. Der vierte Band sollte Schelers Geschichtsphilosophie enthalten - er blieb eines seiner vielen ungeschriebenen Werke. Aufsehen erregte ein Passus aus dem vom „Dezember 1923" datierten Vorwort zu den beiden Halbbänden Christentum und Gesellschaft, in denen Scheler die „Auswertungsmöglichkeiten religiöser Ideen und religiöser Energien für die Gestaltung gesellschaftlichen Daseins" (VI, 224) prüfen wollte. Dort heißt es: „Obgleich sich der Verfasser stets klar bewußt war, daß er nach den strengen Maßen der Theologie der römischen Kirche sich einen .gläubigen Katholiken' 30
zu keiner Zeit seines Lebens und seiner Entwicklung nennen durfte (hatte er doch schon in seinem Buche ,Der Formalismus in der Ethik usw.' den Bestand einer göttlichen Strafgerechtigkeit restlos bestritten und geleugnet), so wußte er sich während der Niederschrift dieser Aufsätze dem kirchlichen Gedankensystem immerhin erheblich näher als heute. Über das Maß und die Art der Entfernung des Verfassers von diesem System (die bereits Inhalt und Begründungsform der Gottesidee mitbetrifft) werden eine Reihe metaphysischer Abhandlungen, insbesondere der in Vorbereitung befindliche zweite Band von ,Vom Ewigen im Menschen' der Öffentlichkeit seinerzeit genauen Aufschluß erteilen. Wenn aber gleichwohl der Verfasser gefragt würde, welcher von den religiösen und geistigen Kollektivmächten, die überhaupt noch einen Richtung und Gestalt gebenden Einfluß auf die Gesellschaft und ihre Fortbildung geben können, er am meisten wertvolle praktische und erzieherische Kraft und Heilsamkeit zugleich zuschreibe, so würde er auch heute nicht anstehen zu antworten: der christlichen Kirche in der Form, die sie im römischen Katholizismus angenommen hat. Wer in diesen beiden Positionen des Verfassers einen einfachen sog. .Widerspruch' sehen würde, würde unseres Erachtens die Kompliziertheit dieser Welt unterschätzen." (VI, 224 f.) Daß einer der prominentesten Vordenker der katholischen Erneuerungsbewegung, die sich seit dem Kulturkampf aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im kulturellen Leben erfolgreich entwickelt hatte, dem katholischen Glauben nur noch eine gesellschaftsformierende Bedeutung zusprach, sich selber aber von zentralen Lehrgehalten lossagte, mußte im katholischen Köln und in der Öffentlichkeit überhaupt, nicht zuletzt unter denen, die unter Schelers Einfluß zum katholischen Glauben übergetreten waren, und unter denen, die ihn als Erneuerer katholischen Geistes in einer dem Pragmatismus und Kapitalismus anheimfallenden Industriegesellschaft nach Köln gerufen hatten, als Zusammenbruch eines einstmals großen Geistes, wenn nicht gar als Betrug erscheinen. Einige, wie der konvertierte katholische Schriftsteller Th. Haecker, erklärten 31
sich diesen Umbruch dadurch, daß Scheler im Grunde nie ein Katholik gewesen sei. Andere dagegen erklärten ihn aus der zwiespältigen Persönlichkeit Schelers: „Es liegt ein Bruch in seiner Philosophie vor, wie er radikaler nicht gedacht werden kann, ein Bruch, an dem nicht zu deuten ist. Zu verstehen ist derselbe nur aus dem Menschen Scheler, aus der ganzen Tragik seiner Natur und seines Lebensschicksals." So der einstige Freund Schelers, Dietrich v. Hildebrand,6 der sich nun brüsk von Scheler abwandte (was er später bereut haben soll). In Köln kursierten Gerüchte, daß Schelers Gesinnungswandel allzu menschliche Ursachen habe. Denn kurz nach seiner Berufung nach Köln 1919 hat er die junge Studentin Maria Scheu kennengelernt, zu der ihn eine schnell aufflammende Leidenschaft hinzog. Maria Scheu wurde Hilfsassistentin am Forschungsinstitut und arbeitete eng mit Scheler zusammen. Seine Liebe zu Märit hatte sich schon seit längerem ins Seelische sublimiert. In dem Konflikt zwischen vitaler Leidenschaft und geistiger Liebe faßte Scheler die Idee einer Liebe zu dritt, sah sich aber im katholischen Köln innerlich gezwungen, hierfür eine andere, eine, wie er meinte, tiefere Rechtfertigung zu suchen, als katholischer Glaube und bürgerliche Moral ermöglichten. Lebensdrang und Geist machte er zu gleichsam gleichberechtigten metaphysischen Mächten, die danach streben, sich miteinander zu versöhnen, wodurch sich in und mit ihnen eine jenseitige, überpersönliche, schlechthin absolute Gottheit mehr und mehr zur Wirklichkeit bringe. Märit, die unter Schelers Einfluß zum Katholizismus übergetreten war, versagte sich einer Liebe zu dritt. Scheler ließ sich von ihr scheiden (1923). Maria Scheu und ihre gutbürgerliche Familie drängten auf eine Legalisierung des Verhältnisses, so daß sich Scheler schließlich bereit fand, Maria zu heiraten (1924). Freunde zogen sich von ihm zurück, die katholische Publizistik griff ihn an, die kirchlichen Kreise verschlossen sich vor ihm. In der gleichen Zeit nahmen seine Erschöpfungszustände zu, langwierige Krankheiten stellten sich ein, mehrfach ließ sich Scheler, nachdem es ihm gelungen war, sein Extraordinariat in einen ordentlichen Lehrstuhl umwandeln zu lassen, von seinen Lehrverpflichtun32
gen beurlauben. Die Befürchtung, sein philosophisches Lebenswerk, das auch eine Rechtfertigung seiner gewandelten Weltanschauung sein sollte, nicht mehr vollenden zu können, nahm zu, was ihn wiederum veranlaßte, ein noch vor dem Weltkrieg konzipiertes kleines Werk über Tod und Fortleben neben seinen anderen Werkplänen weiterzuführen - es wuchs sich in immer weiter ausgreifende anthropologische und metaphysische Dimensionen aus, wurde aber nicht vollendet. Den Bruch in seiner philosophischen Weltanschauung sah Scheler selbst nicht ganz so radikal wie seine katholischen Kritiker. Im Vorwort zur dritten Auflage des Formalismusbuchs schrieb er 1926: „Es ist der Öffentlichkeit nicht unbekannt geblieben, daß der Verfasser in gewissen obersten Fragen der Metaphysik und der Philosophie der Religion seinen Standort seit dem Erscheinen der zweiten Auflage dieses Buches [1921, W. H.] nicht nur erheblich weiterentwickelt, sondern auch in einer so wesentlichen Frage wie der Metaphysik des einen und absoluten Seins (das der Verfasser nach wie vor festhält) so tiefgehend geändert hat, daß er sich als einen ,Theisten' (im herkömmlichen Wortsinne) nicht mehr bezeichnen kann [...]. Um so wichtiger erscheint es dem Verfasser, an dieser Stelle scharf hervorzuheben, daß die im vorliegenden Werke niedergelegten Gedanken durch diese Umbildung der metaphysischen Grundansicht des Verfassers nicht nur nicht mitbetroffen -wurden, sondern daß im Gegenteil sie ihrerseits einige der Gründe und geistigen Motive darstellen, die diese Umbildung erst herbeigeführt haben. [...] Die Änderungen der metaphysischen Ansichten des Verfassers sind außerdem überhaupt nicht auf irgendwelche Änderungen in seiner Philosophie des Geistes und der gegenständlichen Korrelate der geistigen Akte, •sondern auf Änderungen und Erweiterungen seiner naturphilosophischen und anthropologischen Anschauungen zurückzuführen." (II, 17) Aus den verwickelten Problemstellungen und Denkwegen, denen er gefolgt war, traten in den zwanziger Jahren mehr und mehr drei philosophische Disziplinen in den Vordergrund: die Erkenntnistheorie, die Anthropologie und die Metaphysik. 33
Alle drei weisen eine sehr komplizierte Binnenstruktur auf, durch die sie außerdem vielfältig miteinander verzahnt sind. Die Erkenntnistheorie, an der Scheler seit seiner Jenaer Dozentenzeit durch die Wandlungen seines Philosophieverständnisses hindurch weitergearbeitet hatte, trat nun einerseits unter die Perspektive eines der großen Forschungsprojekte des Kölner Instituts, der Wissenssoziologie, andererseits unter die Perspektive der Metaphysik. Im Vorwort zu seinem Werk über Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926), das die beiden Untersuchungen „Probleme einer Soziologie des Wissens" (VIII, 15-190) und „Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt" (VIII, 191-382) enthält, schreibt Scheler unter Anspielung auf eine berühmte Formulierung Kants: „Die gleichzeitige Aufnahme einer wissenssoziologischen Abhandlung und einer ausgedehnten erkenntnistheoretischen und ontologischen Arbeit in ein und dasselbe Werk könnte auf den ersten Blick Verwunderung erregen. Sie hat ihren tieferen Grund in der mich leitenden prinzipiellen Überzeugung, daß erkenntnistheoretische Untersuchungen ohne gleichzeitige Erforschung der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung der obersten Typen menschlichen Wissens und Erkennens zu Leere und Unfruchtbarkeit verurteilt sind; eine Entwicklungslehre und Soziologie des menschlichen Wissens aber [...] richtungs- und haltlos und ohne letztes Fundament bleiben muß, wenn nicht klar bewußte erkenntnistheoretisch sachliche Überzeugungen das Unternehmen führen." (VIII, 9) Prinzipientheorie und Empirie ergänzen sich, und das Ergebnis ist eine Lehre der Vernunft, die in Geschichtsphilosophie und Metaphysik zugleich begründet ist. „Beide größeren Abhandlungen aber haben im Zusammenhange der Veröffentlichungen des Verfassers und seiner geistigen Entwicklung [...] den gewichtigen Sinn, ein Eingangstor zu eröffnen für streng methodisches metaphysisches Erkennen und Denken. [...] Man wird die Metaphysik des Verfassers nur verstehen, wenn man dieses Buch gelesen hat." (VIII, 11) In den Kontext der Erkenntnistheorie, Ontologie und Metaphysik gehört auch die 34
Abb. 4: Martin Heidegger, 1927
Bruchstück gebliebene Abhandlung über „IdealismusRealismus", die 1927 in Plessners Philosophischem Anzeiger erschienen ist (IX, 183-241). Wie die Erkenntnistheorie, ja mehr noch als sie, stand die Anthropologie im Mittelpunkt von Schelers Denken. „Die Fragen: Was ist der Mensch, und was ist seine Stellung im Sein? haben mich seit dem ersten Erwachen meines philosophischen Bewußtseins •wesentlicher beschäftigt als jede andere philosophische Frage", heißt es im Vorwort zu der aus einem Vortrag hervorgegangenen Schrift über Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928; IX, 9). Sie stellt eine „kurze, sehr gedrängte Zusammenfassung meiner Anschauungen über einige Hauptpunkte der philosophischen Anthropologie' dar, die ich seit Jahren unter der Feder habe, und die zu Anfang des Jahres 1929 erscheinen wird" (IX, 9) - was nicht mehr geschah; am 19. Mai 1928 war Scheler überraschend an einem Herzversagen gestorben, und der Nachlaß enthielt keine druckreifen Ausarbeitungen. 35
Für Scheler schien sich in seinem letzten Lebensjahr alles noch zum Besseren wenden zu wollen, denn 1928 war es seinen Freunden nach jahrelangen Bemühungen gelungen, ihn aus dem ungeliebten, düsteren, katholischen Köln an die junge Universität Frankfurt auf einen Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie zu berufen. Hier wollte er, ähnlich wie bei seiner Ankunft in Köln 1919, die vielen angesammelten Materialien und Teilausarbeitungen von Problemstellungen endlich zu einer großangelegten systematischen Philosophie vereinigen. Ihre Krönung sollte die Metaphysik darstellen, die er parallel zur Anthropologie auszuarbeiten begonnen hatte. Von ihr ist nicht einmal ein so gedrängter Abriß erschienen wie von der Anthropologie, doch hat Scheler in Vorträgen, die er noch zu einer kleinen Sammlung Philosophische Weltanschauung zusammenstellen konnte - sie erschien posthum 1929 —, einige Grundzüge seiner Metaphysik angedeutet, vor allem in den Vorträgen über „Spinoza" (1923; IX, 171-182), „Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs" (1927; IX, 145-170) und „Philosophische Weltanschauung" von 1928, dem letzten von Scheler veröffentlichten Aufsatz (IX, 75-84). Aus den Fragmenten zur Metaphysik, die M. S. Frings 1979 aus dem Nachlaß herausgegeben hat, sind die Grundzüge von Schelers später Metaphysik nur andeutungsweise erkennbar (Bd. XI). In den Nachrufen ist häufig darauf hingewiesen worden, daß Schelers Spätphilosophie ein getreues Spiegelbild seiner Person darstelle. Sein persönliches Auftreten bot selten einen einheitlichen Gesamteindruck; etwas Flackerndes, Irritierendes mischte sich ein, das sich auch auf seine physische Erscheinung bezog: in den zwanziger Jahren war er klein, beleibt, kahlköpfig, fast ohne Hals, so daß der Kopf unmittelbar auf dem massigen Körper aufsaß, mit einer breiten, fleischigen, brutal wirkenden Kinnlade, die beim Essen, dem sich Scheler gern und ungehemmt hingab, unerhörte Mengen wahllos zusammengegriffener Eßwaren zu bewältigen vermochte. Doch über seiner massigen, formlosen Animalität leuchtete ein hellblaues, leicht aus dem Kopf hervortretendes Augenpaar so ausdrucksstark und faszinierend, daß es die Anwesenden in Bann schlug und sie 36
Abb. 5: Max Scheler über die unsauber wirkende physische Erscheinung hinwegsehen ließ. 1926 malte ihn Otto Dix - das Bild hängt in der Universität Köln - Gadamer nannte es treffend „ein begeisterndes Dokument des Stils der neuen Häßlichkeit".7 Scheler akzeptierte das Porträt: „Dix hat mich also gemalt", schrieb er am .17.3.1926 an Märit Furtwängler, „überlebensgroß, ernst, schwer - mehr die härteren Züge meines Wesens - wie mich ein genialer Proletarier sieht. Aber sehr treu und genau" (Mader 1980, 96). Dem Betrachter fällt wie allen, die Scheler noch persönlich gekannt haben, der Widerspruch zwischen den aktiven, geradezu stechenden, weit geöffneten Augen und der schweren Kinnpartie auf - ein Porträt des Widerstreits 37
zwischen Geist und Lebensdrang. Chr. Eckert, Geschäftsführer des Kölner Forschungsinstituts, mit Scheler spannungsreich befreundet, faßte den Gesamteindruck so zusammen, wie er sich bei vielen anderen auch findet: „Ein Geistes- und Triebmensch in einer Person, dämonisch in einzelnen Zügen, zugleich kindlich naiv."9 Seine geschichtsphilosophische Vision, daß durch die Äonen hindurch die beiden Weltprinzipien von Geist und Lebensdrang einer wechselseitigen Durchdringung und damit einer Versöhnung entgegenstrebten, mochte ihm in seiner eigenen Zerrissenheit Trost gewährt haben. Für seine Freunde stellte sich aber nur einmal mehr die Frage, ob so ein „metaphysischer Trost" der Täuschbarkeit des menschlichen Geistes enthoben ist. Den Christen unter den (einstigen) Freunden bedeutete Schelers Lebensweg die dämonisch getriebene Selbstzerstörung eines reichen Geistes. Für den Philosophen P. F. Linke, der ebenfalls über die Phänomenologie hinausgegangen war, stellte Scheler den lebendigsten Beweis für die Vermittlung von Geist und Leben dar - „naiv in dem doppelten Sinne des Kindlichen und des Triebhaften, konnte er in Freude wie in Leid den urtümlich-einfachen Seiten des Daseins zugewandt sein und dabei doch Geist bleiben". Für Moritz Geiger, Schelers Freund aus den Tagen der Münchner Phänomenologen-Gruppe, schienen die beiden Prinzipien nicht zu Konflikten führen zu müssen. Er sieht das Auszeichnende Schelers darin, „daß er vom Leben erfüllt war wie wenige, und doch zugleich vom Geiste besessen wie kaum einer" (Voss. Zeitung, Berlin 1. 6. 1928). Und N. Hartmann, der Kölner Kollege und Freund Schelers, hat Schelers Stärke gerade in der Kraft stetigen Umlernens, unentwegter Wandlung und Neugestaltung gesehen, aus der heraus er sorglos frühere Behauptungen aufgeben konnte, als Ausdruck einer spezifischen „Lebensphilosophie" (Kantstudien 1928, S. X, XIV). Die Besessenheit im Sinnlichen und Geistigen empfanden viele, wie Scheler übrigens selber auch, als etwas Dämonisches, andere als etwas Genialisches. Edith Stein hatte Scheler vor dem Ersten Weltkrieg in Göttingen gehört. „Nie wieder ist mir an einem Menschen 38
Abb. 6: Die Totenmaske
so rein das ,Phänomen der Genialität' entgegengetreten", schrieb sie in ihren Erinnerungen" - wobei offen bleibt, ob sie mit dem Phänomen der Genialität wirklich etwas so Positives gemeint hat, wie es sich anhört. Sieht man Scheler als „Phänomen des Genialischen" zusammen mit seinem Lebensschicksal vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Stellungnahmen, dann nimmt sein Bild tatsächlich dämonische Züge an, die ebenso gut auf einen „Ikarussturz" 12 wie auf einen Weg zur Selbstdeifikation gedeutet werden können; der Fall entzieht sich einem eindeutigen Urteil.
III. Vom Wesen der Philosophie Schelers geistige Entwicklung, die ihn vom Neukantianismus zur Phänomenologie und Metaphysik sowie durch die verschiedensten philosophischen und nicht-philosophischen Problemkreise geführt hat, wirkte sich auch auf seine Reflexionen über Wesen und Aufgabe der Philosophie aus. Deshalb muß, abgesehen von der inhaltlichen Differenzierung, parallel zur Entwicklung seines Denkens mindestens zwischen drei verschiedenen Philosophiebegriffen unterschieden werden. Allerdings muß man sich auch darauf einstellen, daß die theoretische Bestimmung des Philosophiebegriffs nicht immer übereinstimmt mit Schelers Praxis des Philosophierens; diese Dimension des Problems soll im folgenden jedoch ausgeklammert bleiben.
1. Philosophie als Wertkritik des Bewußtseins Die erste Periode von Schelers Entwicklung ist bereits geprägt von einer umfassenden, hoch differenzierten und durchgehend reflektierten Auffassung der Philosophie. Wie sein Lehrer R. Eucken beschränkt Scheler sich nicht darauf, den Begriff der Philosophie Standpunkt-immanent zu bestimmen, was meistens verbunden ist mit dem Entwurf eines Ideals, das dem Publikum zum Nachvollzug angepriesen wird, Scheler reflektiert vielmehr die Philosophie zugleich von außen. Er stellt die Philosophie von Anfang an in übergreifende Kontexte: in den Kontext ihrer eigenen Geschichte mit der Mannigfaltigkeit verschiedener Standpunkte, in den Kontext nicht-philosophischer Wissenschaften und in den Kontext weltanschaulicher, kultureller, religiöser und auch politischer Bestrebungen der Zeit. So zeichnet sich bereits in Schelers erster Periode ab, daß 40
die Frage nach dem Wesen und der Aufgabe der Philosophie zu einer Ortsbestimmung der Philosophie in der Gegenwartskultur überhaupt führt. Schon in der Dissertation (1899) und mehr noch in der Habilitationsschrift (1900) nimmt Scheler die Auseinandersetzung mit Standpunkten auf, die die Philosophie in Abhängigkeit von positiven Wissenschaften zu bringen suchen, insbesondere von Psychologie und Mathematik. Wenn Scheler die Philosophie definiert als „Wertkritik des Bewußtseins" (I, 12, 14), dann ist die engere, vom südwestdeutschen Neukantianismus ausgehende Aufgabe, die Gesetzmäßigkeiten und Grenzen der menschlichen Vernunft kritisch zu bestimmen, zugleich auf die allgemeinsten kulturellen Wertsysteme der modernen Gesellschaft bezogen. Ähnlich wie Eucken geht es ihm um den „Kampf um einen geistigen Lebensinhalt".1 Scheler trat der Tendenz der Moderne zur Verselbständigung der drei wichtigsten Kulturbereiche, die sich unter den Wertsystemen des Guten, Wahren und Schönen entwickelt haben, dadurch entgegen, daß er die Beziehungen herauszuarbeiten begann, die zwischen ihnen bestehen und ein fruchtbares Zusammenwirken ermöglichen könnten. Mit dieser Aufgabenstellung bekannte sich Scheler nicht nur zu einem umfassenden, systematischen Philosophiebegriff, sondern setzte sich in einer metaphysikfeindlichen Zeit auch schon für die Wiedergeburt der Metaphysik ein, die die Sinn-Einheit der Kultur gewährleisten sollte - auch dies ein Erbe Euckens. Seine über die aktuellen Zeitverhältnisse hinausgreifenden Intentionen ließen ihn auf philosophische Bemühungen früherer Epochen zurückgreifen — er war überzeugt, daß diese nicht als .überwunden' gelten konnten. In seinen Augen unterlag vielmehr die Philosophie, ebenso wie die anderen grundlegenden Kulturleistungen, nicht wie die exakten Wissenschaften und die Entwicklung der Zivilisation einem einlinigen Fortschrittsgesetz, das frühere Leistungen unwiederbringlich der Vergangenheit überantwortet. Vielmehr folgten die Kulturleistungen insgesamt dem ganz andersartigen Gesetz eines überhistorischen Wachstums, einer „steten Bereicherung des geistigen Le41
bens" (1,11). So versuchte er schon frühzeitig die Grenzen zwischen dem philosophischen und dem positiv-wissenschaftlichen Erkennen sowie zwischen den verschiedenen Formen des Wissens und anderen Ausdrucksformen von Sinngehalten zu bestimmen, wie der Kunst und Religion. Doch fand sein umfassendes Philosophieprogramm auch schon Gegner. O. Liebmann warf ihm in seinem Gutachten zur Habilitationsschrift eine universalistische Tendenz vor. Sie gehe immer wieder in eine bunte Polyhistorie über und eröffne im Ganzen gesehen eher nur programmatische Ausblicke, als daß sie die Fruchtbarkeit des projektierten Standpunkts für die Überwindung der Unzulänglichkeiten der beiden wichtigsten methodologischen Ansätze der Gegenwart, des psychologischen und transzendentalen Standpunkts, erweise.2 Scheler ließ sich durch Liebmanns Kritik jedoch nicht beirren. In einem Ferienkurs über „Einleitung in die Philosophie", den er im August 1901 hielt, faßte er die Aufgabe, „Wesen, Definition und Einteilung der Philosophie" zu bestimmen, in folgenden Punkten zusammen: „1. Motive zum Philosophieren: Weltstellung des Menschen. (Piaton, Aristoteles, Pascal, Kant.) 2. Gleichartigkeit der geschichtlichen Lagen, in denen Philosophie entstanden ist. 3. Schwierigkeiten der Definition. Historisch genetischer Weg zur Definition. Vier Hauptgestaltungen der Philosophie: Indische Philosophie, Philosophie der Griechen und Römer, Mittelalterliche Philosophie, Philosophie der Neuzeit. Die Definitionen von Aristoteles und Kant. 4. Welt- und Schulbegriff der Philosophie. Ihr Verhältnis. 5. Einteilung der Philosophie: Normwissenschaften, Erkenntnislehre, Psychologie, Metaphysik. Historische Variabilität der Beziehungen dieser Wissenschaften zu einander und der Philosophie überhaupt zu den Einzelwissenschaften. Der gegenwärtige Stand der Frage."3 Mit diesem Fragenkatalog hat er Inhalt und Aufgaben einer Metatheorie der Philosophie umrissen, an der er zeit seines Lebens fortgearbeitet hat. 42
2. Phänomenologische Philosophie Erst in seiner Münchner Dozentenzeit (1906ff.) konnten sich die Anregungen entfalten, die Scheler nach seiner persönlichen Begegnung mit Husserl (1902) durch die Logischen Untersuchungen (1900/01), aber auch durch Bergsons Philosophie der Intuition erhalten hatte. In dem posthum erschienenen „Aufsatz über die Lehre von den drei Tatsachen" (1910/11), der im Kontext seiner nie vollendeten Einführung in die Erkenntnistheorie entstanden ist, unterscheidet er die Philosophie sowohl vom alltäglichen Erkennen, das er als „natürliche Weltanschauung" bezeichnet, als auch von den Erkenntnissen, die die positiven Wissenschaften erbringen. Beide sind Erkenntnisarten realer Gegenstände, die relativ sind auf den psychophysischen Organismus des Menschen. Die als Phänomenologie aufgefaßte Philosophie führt durch die sog. „Reduktion" zu einer Neutralisierung der Realitätsdimensionen aller erfahrbaren Dinge, weil durch das Realitätsmoment einschränkende oder irreführende Erkenntnisinteressen evoziert werden. Durch die Neutralisierung der Realitätsdimension und ihrer Modifikationen (des Wahrscheinlichen, Unwirklichen usw.), die sowohl das Subjekt als auch die Objekte umfaßt, bleibt allein der auf pure Bedeutungen bzw. „reine Tatsachen" oder „Phänomene" ausgerichtete Bewußtseinsakt übrig, für den Scheler schon sehr bald den Begriff „Akt des Geistes", und zwar speziell der „geistigen Anschauung" verwendet. Das der Wirklichkeit enthobene Phänomen muß durch Akte der Analyse von seinen mehr oder weniger zufälligen Bedeutungsaspekten gereinigt werden, bis schließlich durch alle mögliehen Variationen der Erscheinungsweisen der Gegenstände hindurch ihr invariabler Bedeutungskern, ihr „Wesen" geistig anschaubar wird (X, 443 ff.), und zwar in „reiner Intuition" (X, 445). Die gesamte Sphäre der der Realitätsdimension enthobenen geistigen Erkenntnisakte und der ihnen korrelierenden Gegenstandsarten, d.h. der Wesenheiten und ihrer gesetzmäßigen Zusammenhänge, wurde das eigentliche For43
schungsgebiet der phänomenologischen Philosophie. Scheler gliederte es gemäß der „Intentionalität" des Geistes, der zufolge die Bewußtseinsakte stets auf bestimmte, ihnen wesensmäßig entsprechende Sachverhalte ausgerichtet sind, in drei Bereiche: in die „Sachphänomenologie", in die „Aktphänomenologie" und in die Phänomenologie der Korrelationen zwischen Akt und Gegenstand, also dem Feld der Intentionalität (II, 90). Anfangs war Scheler mit Husserl noch der Auffassung, daß die Reduktion ein bloßes „Absehen von" der Realitätsdimension, also ein bloßer Abstraktionsakt sei. Phänomenologie war ihm deshalb auch eher eine geistige „Einstellung" denn eine Methode, so daß er Reflexionen über eine phänomenologisch fundierte Philosophie für zweitrangig halten konnte - der „Erkenntniswert der in der phänomenologischen Einstellung gefundenen Sätze auf allen Gebieten der Philosophie" sei ganz unabhängig „von der Klärung der Frage nach dem allgemeinen Wesen der .Phänomenologie', von Angaben, was Phänomenologie ist und wolle" - so 1914 in dem erst posthum veröffentlichten Bericht über „Phänomenologie und Erkenntnistheorie" (X, 379). Als er an sich selbst erfahren hatte, daß sich die Realitätsthematik keineswegs einfach durch Abstraktionen neutralisieren ließ, begann er, die Reduktion zu einer wohlüberlegten geistigen Praxis und Methodik zu entwickeln. In seinem Aufsatz über das Wesen der Philosophie, der das geplante Buch über Phänomenologie und Erkenntnis einleiten sollte, schrieb er: Erst wenn der Begriff der Philosophie bestimmt ist, „können die philosophischen Disziplinen entwickelt und kann das Verhältnis der Philosophie zu allen Arten nichtphilosophischer Erkenntnisart: 1) zur natürlichen Weltanschauung, 2) zur Wissenschaft, 3) zu Kunst, Religion, Mythos entwickelt werden" (V, 83). Hier kehrt das gesamte Programm seiner Jenaer Einleitungsvorträge wieder. Scheler hat diese Konzeption eines sehr weitgefaßten und vielgestaltigen Wissensbegriffs bis zuletzt für seine Vorlesungen über die Einleitung in die Philosophie beibehalten. Die Philosophie ist für ihn nicht eine Fachdisziplin neben anderen, er will sie vielmehr wieder in ihre 44
alten Rechte als Königin aller Wissenschaften, aller Wissensformen einsetzen. Der Frage nach dem Wesen der Philosophie spricht er dann auch folgerichtig die Aufgabe der Selbstkonstitution der Philosophie zu (V, 63). Was Scheler in dieser Zeit unter der „phänomenologischen Reduktion" verstanden hat, kommt im Untertitel seines Aufsatzes „Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens" (1917) zum Ausdruck: die Reduktion wird zu einem moralischen Verhalten. Um den Standpunkt jenseits der Realitätsverflechtungen zu erreichen, von dem aus allein Philosophie als voraussetzungsfreie, reine Wissenschaft möglich ist, bedarf es einer Art von Befreiungsaktion aus den Netzen der Realität. Scheler legt seiner Theorie der Reduktion, die mehr und mehr das zentrale Bestimmungsstück seiner Auffassung von Phänomenologie wird, das an Piaton orientierte Modell des geistigen Aufstiegs zugrunde, weicht aber zugleich erheblich von ihm ab: „Im Gefüge dieser moralischen, die philosophische Erkenntnis wesensmäßig disponierenden Grundakte unterscheiden wir eine positive Grundaktart und zwei negativ gerichtete Grundaktarten, die nur in ihrem einheitlichen Zusammenwirken den Menschen an die Schwelle möglicher Gegebenheit des Gegenstandes der Philosophie gelangen lassen: 1. die Liebe der ganzen geistigen Person zum absoluten Wert und Sein, 2. die Verdemütigung des natürlichen Ich und Selbst, 3. die Selbstbeherrschung und dadurch erst mögliche Vergegenständlichung der die natürliche sinnliche Wahrnehmung stets notwendig mitbedingenden Triebimpulse des als leiblich' gegebenen und als leiblich fundiert erlebten Lebens." (V, 89) Wenn Scheler die Liebe als die positive Grundaktart schlechthin bezeichnet, dann erstreckt sich dies zwar prinzipiell auf alle verschiedenen Aktarten des Geistes, soll hier aber nur für die Aktarten reiner Erkenntnis in Anspruch genommen werden, für die Aktarten der geistigen Anschauung und des Ideen-Denkens. Unter der Liebe versteht Scheler, weit 45
über den umgangssprachlichen Wortsinn hinausgehend, etwas wie eine grundsätzliche Offenheit zur Welt, ein selbstloses Interesse an erkennender Teilhabe an der Welt im Ganzen und an allen ihren Details und eine uneingeschränkte Bejahung all dieser erkennbaren Gegebenheiten in ihrer eigentümlichen Beschaffenheit, vergleichbar Gottes Schau auf die Welt am sechsten Schöpfungstage: „und siehe da, es war sehr gut" (1. Mos. 1, 31). Ohne das Vertrauen auf die Fundiertheit der Liebe in der Liebe Gottes zur Welt ist die Liebe als Grundakt des Geistes nicht zu verstehen. Die beiden klassischen Tugenden der Demut und der Selbstbeherrschung legt Scheler auf eine sehr ungewöhnliche Weise aus. Die Demut soll uns vom zufälligen Dasein irgendeines Etwas der Umwelt „in die Richtung zum Wesen, zum puren Wasgehak der Welt" führen und die Selbstbeherrschung von einem nur mittelbaren Meinen der Gegenstände „in die Richtung der vollen Adäquation der anschauenden Erkenntnis" (V, 90). Zweierlei fällt hierbei auf. Erstens, daß Scheler die beiden Tugenden allein nach den Bedingungen auslegt, wie der Mensch die Möglichkeit reiner Erkenntnis erreichen kann, und zweitens, daß er von den klassischen Kardinaltugenden nur zwei auswählt, also die für Piaton so wichtigen Tugenden etwa der Tapferkeit und vor allem der Gerechtigkeit und die für die christliche Lehre so wichtigen Tugenden von Glaube und Hoffnung übergeht - warum wählt Scheler nur die Demut und die Selbstbeherrschung aus? Vermutlich deshalb, weil die Befreiung, die er durch diese Tugenden erreichen möchte, sich allein auf die Verformungen der reinen Erkenntnis bezieht, die diese durch die Involvierung des Menschen in die alltägliche Umwelt (die natürliche Weltanschauung) und in die auf Beherrschung der realen Welt ausgerichteten positiven Wissenschaften erfährt. Die Tugenden der Demut und der Selbstbeherrschung lösen die geistige Person des Erkennenden von den Formen menschlicher Subjektivität ab, die der natürlichen Weltanschauung und der Welt der wissenschaftlichen Erkenntnis zugeordnet sind, sie machen sie frei für die geistige Liebe. Demut und Selbstbeherrschung überwinden die Zwän46
ge, die vom psychophysischen Ich und dem sich zum Herrn der Welt aufwerfenden Selbst ausgehen. Ihnen stellt Scheler die mit emphatischen Ausdrücken apostrophierte „geistige Person" gegenüber, die zum Grundbegriff seiner gesamten phänomenologischen Philosophie geworden ist. Hier bezeichnet er sie als das „konkrete Ganze des menschlichen Geistes" (V, 84) bzw. als den „ganzen Menschen mit der konzentrierten Gesamtheit seiner höchsten geistigen Kräfte" (V, 84). Philosophische Erkenntnis ist nicht Erkenntnis bloß des isolierten Verstandes oder Gemüts, auch nicht Erkenntnis eines besonders zum Philosophieren veranlagten Charakters, sondern Erkenntnis des noch nicht in verschiedene Aktarten und Lebenstätigkeiten geschiedenen „Zentrums" der geistigen Person, das durch die Liebe der reinen, „selbst-losen", überindividuellen Erkenntnis des Ganzen der Welt entgegenstrebt und einer solchen universalen Erkenntnis auch prinzipiell fähig ist - die Korrelativität und grundsätzliche Kompatibilität von Geist und Welt kann man als das Grundaxiom von Schelers phänomenologischer Philosophie bezeichnen. Am Ende seines Aufsatzes stellt Scheler folgende, ziemlich terminologiebefrachtete Definition der Philosophie auf: „Philosophie ist ihrem Wesen nach streng evidente, durch Induktion unvermehrbare und unvemichtbare, für alles zufällig Daseiende ,a priori' gültige Einsicht in alle uns an Beispielen zugänglichen Wesenheiten und Wesenszusammenhänge des Seienden, und zwar in der Ordnung und dem Stufenreich, in denen sie sich im Verhältnis zum absolut Seienden und seinem Wesen befinden. " (V, 98) Es geht der phänomenologischen Philosophie wohlgemerkt allein um apriorische Erkenntnisse bzw. um Wesenserkenntnisse und die ihnen korrelierenden reinen Erkenntnisakte, nicht dagegen um Erkenntnis der Realität durch ein empirisches, individuelles Ich. Und es geht um voraussetzungsfreie Erkenntnis, die nicht im Dienst irgendwelcher ideologischer oder lebensweltlicher Ziele steht. Scheler grenzt die Philosophie ausdrücklich ab vom „Traditionalismus" (Dominanz überlieferter autoritärer Lehren - Neukantianismus, Neothomismus), „Scientifismus" (Dominanz naturwissenschaftlicher oder mathematischer Er47
kenntnis -,more geometrico'), „Fideismus" (Dominanz des religiösen Glaubens - „christliche Philosophie")4 und vom besonders hartnäckigen „Dogmatismus des gesunden Menschenverstandes", der durch die Dominanz der natürlichen Weltanschauung entsteht („naiver Realismus", V, 64). Scheler hat sich in seinen Untersuchungen stets auf die aktuelle Forschung bezogen und sich nie „mit geschlossenen Augen und Ohren" (Descartes) seinen Intuitionen überlassen. In fast allen seiner Schriften beginnt er mit einer kritischen Auseinandersetzung mit überlieferten Lehren - Heidegger nennt diesen Aspekt der phänomenologischen Methode „Destruktion". Die Destruktion führt bei Scheler bis hin zur Kennzeichnung des eigenen Standpunkts und der Eröffnung zukünftiger Aufgaben und Entwicklungsmöglichkeiten. Am ausführlichsten hat er seinen Standpunkt im Kontext der zeitgenössischen Philosophie 1922 am Ende seiner phänomenologischen Periode in „Die deutsche Philosophie der Gegenwart" dargestellt (VII, 259-326): „Eine universale, durch die nationalen Mythen nicht gebundene, mit traditionalistischen Schulstandpunkten und ihren terminologischen Geheimsprachen prinzipiell brechende S