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German Pages 313 Year 2006
Jürgen Gerhards unter Mitarbeit von Michael Hölscher Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union
Jürgen Gerhards unter Mitarbeit von Michael Hölscher
Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei 2., durchgesehene Auflage
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage März 2005 2., durchgesehene Auflage August 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-34321-1 ISBN-13 978-3-531-34321-1
Danksagung und Vorwort zur zweiten Auflage
Das Buch ist im Kontext eines dankenswerterweise von der VolkswagenStiftung geforderten Projekts entstanden. Einzelne Kapitel des Buchs sind von Klaus Christian K5hnke, Jorg Rossel, Jochen Roose und Dirk Westerkanip gewinnbringend kommentiert worden. Jorg Rossel war zudem nie verlegen, weiterfuhrende Literaturhinweise zu geben. Besonderer Dank gilt Christian Frohlich und David Glowsky, die als studentische Hilfskrafte nicht nur Recherche-, Formatierungs- und Datenberechnungsaufgaben kompetent und angenehm selbststandig erledigt haben, sondern das Projekt selbst von Anfang an mitbedacht und hilfreiche Anregungen beigesteuert haben. Die meisten Kapitel des Buches sind wahrend eines Aufenthalts von Jiirgen Gerhards am „ Swedish Collegium for Advanced Study in the Social Sciences" geschrieben worden. Das SCASSS ist mit seiner stimulierenden intellektuellen Atmosphare und der gleichzeitigen M5glichkeit, sich zuriickzuziehen, ein hervorragender Ort, u m Biicher zu schreiben; Dank gilt besonders Bjorn Wittrock fiir seine Einladung. Dank geht auch an die Kolleginnen und Kollegen im Institut fiir Kulturwissenschaften der Uni Leipzig, die unter der einjahrigen Abwesenheit zu leiden hatten und einen Teil der Aufgaben mitiibernommen haben. Die erste Auflage des Buches hat eine rege Nachfrage erfahren, so dass bereits nach einem Jahr die zweite Auflage erfolgen kann. Das freut uns natiirlich. Inhaltlich haben wir den Text nicht verandert; wir haben aber die Gelegenheit genutzt, einige Fehler zu korrigieren. Die hier vorgelegten Analysen werden erganzt durch die mittlerweile veroffentlichte Dissertation von Michael Holscher „Wirtschaftskulturen in der erweiterten EU", die 2006 ebenfalls im Verlag fiir Sozialwissenschaften erschienen ist. Berlin, Leipzig Juni 2006
Inhaltsverzeichnis
1.
Fragestellung und konzeptioneller Rahmen 1.1. Der Ausgangspunkt 1.2. Die Fragestellung 1.3. Der konzeptionelle Rahmen 1.4. Zur Methodik der Studie 1.5. Zusammenfassung
9 9 13 18 45 55
2.
Religion im erweiterten Europa 2.1. Religionsvorstellungen der EU 2.2. Die Religionsorientierungen der Burger 2.3. Klassifikation der Lander beziiglich ihres Religionsverstandnisses 2.4. Erklarung der Unterschiede im Religionsverstandnis 2.5. Zusammenfassung
57 59 64
3.
Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen Oder: Wer unterstxitzt die Emanzipation der Frauen 3.1. Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen der EU 3.2. Die Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen der Biirger 3.3. Erklarung der Unterschiede in den Familienund GeschlechtsroUenvorstellungen 3.4. Zusammenfassung
83 89 99
101 103 109 116 127
4.
5.
Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU 4.1. Die Wirtschaftsvorstellungen der EU 4.2. Die Einstellungen der Biirger im Bereich der Okonomie 4.3. Klassifikation der Lander beziiglich ihrer Wirtschaftsvorstellungen 4.4. Erklarung der Unterschiede in den Wirtschaftseinstellungen 4.5. Zusammenfassung
131 133 140 155 161 172
Wohlf ahrtsstaatliche Ideen in der Europaischen Union 5.1. Wohlfahrtsstaatsvorstellungen der Europaischen Union.... 5.2. Die Einstellungen der Biirger zum Wohlfahrtsstaat 5.3. Erklarung der Unterschiede in den Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat 5.4. Zusammenfassung
193 202
Demokratie und Zivilgesellschaft im erweiterten Europa 6.1. Demokratie als reprasentative Demokratie 6.2. Das Europa der Biirger: Zivilgesellschaft 6.3. Ubereinstimmung der Lander mit den EU-Vorstellungen.. 6.4. Zusammenfassung
205 206 225 242 247
7.
Bilanz und Ausblick 7.1. Zusammenfassung der Ergebnisse 7.2. Politische Implikationen der Befunde
251 252 267
8.
Literatur
277
9.
Tabellenverzeichnis
315
6.
175 177 183
1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
1.1 Der Ausgangspunkt Der Prozess der europaischen Integration in den letzten Jahrzehnten ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet. Eine zunehmende Vertiefung des Integrationsprozesses einerseits und eine schrittweise Erweiterung der Anzahl der Mitgliedslander andererseits. Die heutige Europaische Union startete mit der Festlegimg einer gemeinsamen Verwaltung flir die Kohle- und Stahlindustrie, institutionalisiert durch die Montanunion. Schritt fiir Schritt wurden andere, zunachst nur wirtschaftliche Bereiche in den Prozess der Vertiefung einbezogen: Eine Zollunion wurde gegrlindet, ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine Wirtschafts- und Wahrungsunion wurden gebildet, und schliefilich wurde fiir eine Teilgruppe der EULander eine gemeinsame Wahrung eingeflihrt. Mit dem Vertrag von Maastricht wurden die Handlungsfelder europaischer Politik liber die engeren wirtschaftlichen Bereiche hinaus auf die Bereiche AuiSenpolitik und Innen- und Sicherheitspolitik ausgedehnt. Die Ausdehnung der Handlungsfelder europaischer Politik findet ihr institutionelles Pendant in der Entwicklung und Ausdehnung einer europaischen Institutionenordnung, eines eigenstandigen, zunehmend mehr Aufgaben iibernehmenden Herrschaftsverbandes. Dazu haben die Staaten der EU einen Teil der nationalen Souveranitatskompetenzen auf die EU libertragen; die Nationalstaaten und ihre Biirger sind den Beschllissen der EU unmittelbar unterworfen, Europarecht bricht nationales Recht; die Kommission iiberwacht die Implementierung der Beschllisse, und der europaische Gerichtshof kann die Mitgliedsstaaten bei Nichtbefolgung sanktionieren (Lepsius 1990). Die Verlagerung von Souveranitatsrechten von den Nationalstaaten auf die EU manifestiert sich in einer Vielzahl von Indikato-
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1. Fragestellung imd konzeptioneller Rahmen
ren: Die Summe von Entscheidimgen seitens des Europaischen Rates bzw. der Europaischen Kommission ist kontinuierlich gestiegen, die Anzahl der Fachministerrate ebenfalls, die Verflechtiing zwischen europaischer und nationaler Politik hat zugenommen (Knill 2001), und auch die intermediaren Organisationen und Interessengruppen richten ihr Augenmerk zunehmend auf die europaische Ebene (Fligstein und Stone Sweet 2002; Stone Sweet, Sandtholtz und Fligstein 2001; Wessels 1997: 283). Der Prozess der Vertiefung ist bekanntlich nicht gradlinig verlaufen. Immer wieder gab es Briiche, retardierende Momente und riicklaufige BeweguLngen. Die kurzfristigen Schwankungen konnen aber nicht dariiber hinwegtauschen, dass die langfristige Entwicklung in Richtung einer Vertiefung gelaufen ist. Neben einer Vertiefung des Integrationsprozesses durch die Ausdehnung der Handlungsfelder europaischer Politik und durch den Ausbau eines eigenen europaischen Herrschaftsverbandes ist die Entwicklung der europaischen Vereinigung durch eine kontinuierliche Erweiterung der Anzahl der Mitgliedslander gekennzeichnet. 1973 traten Grofibritannien, Danemark und Irland der Gemeinschaft der sechs Grlindungsmitglieder bei; 1981 folgte Griechenland, 1986 Portugal und Spanien, 1990 mit der deutschen Wieder vereinigung die fruber e DDR sowie schliei31ich 1995 Osterreich, Schweden und Finnland. Eine quantitativ und qualitativ andere Dimension hat die sogenannte Osterweiterung der EU.^ Zum 1. Mai 2004 sind zehn Lander der EU beigetreten (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern). Bulgarien und Rumanien werden wahrscheinlich 2007 folgen. Die Tiirkei hat bereits seit 1963 den Status eines assoziierten Mitglieds der damaligen EWG und klopft seitdem an die Tiir der Europaischen Union an und bittet um Einlass. Der Europa-
1 Die Benennung ist insofern nicht ganz treffend, als sich unter den Beitrittslandern auch zwei siideuropaische Lander, Malta und Zypern, befinden. Wir bezeichnen im Folgenden die alten EU-Lander mit „Ah-MitgHeder", „EU-15" oder ahnUch, die zum 1. Mai 2004 beigetretenen Lander als „Beitritt I" bzw. „neue Mitglieder'', und schHeiBlich die Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumanien als „Beitritt 11".
1.1 Der Ausgangspunkt
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ische Rat hat im Dezember 2004 entschieden, dass die Gemeinschaft mit der Tiirkei in Beitrittsverhandlungen einsteigen wird. Kroatien imd Mazedonien sind mittlerweile als Beitrittskandidaten hinzu gekommen, bleiben aber in den folgenden Analysen iinberiicksichtigt. Erfahrungsgemal? bedeutet die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, dass auch ein Beitritt stattfinden wird.^ Innerhalb von wenigen Jahren wird sich die Gemeinschaft der 15 Mitgliedslander also um 12 iind mehr Lander erweitern. Da alle Lander in das Institutionensystem der EU und deren Politiken eingebaut werden miissen, bedeutet die dramatische Erhohung der Mitgliedslander eine besondere Herausforderung fiir den Umbau der Institutionen der Europaischen Union. Aber nicht nur das: Die meisten der neuen Mitgliedslander der EU unterscheiden sich in einem erheblichen AusmaiS in ihrer okonomischen Leistungsfahigkeit von den bisherigen 15 Mitgliedslandem der EU. Die Unterschiede werden durch sogenannte Konvergenzindikatoren erhoben und gemessen. In die Messung der okonomischen Strukturkonvergenz, wie sie von der Deutschen Bank in regelmafiigem Abstand durchgefiihrt wird, geht eine Vielzahl an Indikatoren ein.^ Tabelle 1.1 gibt einen Uberblick liber den 5konomischen Abstand zwischen den bisherigen 15 EU-Mitgliedslandern und den Landern der ersten und zweiten Beitrittsrunde im Jahr 2003 (Deutsche Bank Research 2003). Fiir die Tiirkei liegen keine direkt vergleichbaren Zahlen vor; im Hinblick auf einige der Einzelindikatoren liegt die Tiirkei etwas unter dem Niveau von Rumanien und Bulgarien. Beim Pro Kopf des Bruttoin-
2 Dies gilt unter der Voraussetzung, dass die Bevolkerung des Landes, dessen Regierung eine Mitgliedschaft beantragt hat, einer Mitgliedschaft auch zustimmt, wie die Beispiele der Schweiz und Norwegens gezeigt haben. Gegen den Willen der Bevolkerung ist eine EUMitgliedschaft anscheinend nicht durchsetzbar. 3 BIP pro Kopf; Prozentanteil des BIP-Wachstums im Vergleich zum Vorjahr; Prozentanteil der Investitionen am BIP; Arbeitslosenquote; Prozentanteil des Agrarsektors am BIP; Prozentanteil der Industrie am BIP; Steigerung der Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahr; Prozentanteil des Haushaltssaldo am BIP; Prozentanteil der offentlichen Verschuldung am BIP; Prozentanteil des Leistungsbilanzsaldos am BIP; Prozentanteil der auslandischen Direktinvestitionen am BIP; Prozentanteil der Exporte, der mit EU-Landern erfolgt.
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1. Fragestellimg und konzeptioneller Rahmen
landsprodukts (in Kaufkraftstandards) erreicht z. B. die Tlirkei 23 % des EU-Durchschnitts, Bulgarien und Rumanen 25 %. Im Hinblick auf den Anteil der in der Landwirtschaft Beschaftigten liegt die Tiirkei fast Tabellel.l:
EU-15 Beitritt I Slowenien Estland Tschechien Slowakei Lettland Ungam Polen Litauen Beitritt II Bulgarien Rumanien
Okonomische Strukturkonvergenz zwischen den bisherigen 15 EU-Mitgliedslandern und den Landem der ersten und zweiten Beitrittsrunde (% des EU-15-Durchschnitts) zum Zeitpunkt 2003 100 75,5 71,3 70,6 69,4 69,2 69,0 67,4 66,3 63,1 61,8
gleichauf mit Rumanien am Ende der Skala. In der Tiirkei sind 33,2 %, in Rumanien 37 % der Erwerbstatigen in der Landwirtschaft beschaftigt (Kommission der Europaischen Gemeinschaften 2003: 48). Nun sind die Kosten und der Nutzen der okonomischen Osterweiterimg ftir die Mitglieds- imd Beitrittslander nicht einfach zu kalkulieren (vgl. Bertelsmann Stiftung/Forschungsgruppe Europa 1998; Tang 2000). Die meisten Analysten gehen von einem „umfassenden Positivsummenspiel" aus. Damit ist gemeint, dass langerfristig alle Volkswirtschaften von der Erweiterung der EU profitieren werden. Zugleich wird aber erwartet, dass dem langfristigen Nutzen kurzfristige Kosten gegeniiberstehen, die zudem auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen ungleich verteilt sein werden (Vobruba 2001).
1.2 Die Fragestellung
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1.2 Die Fragestellung Ob imd in welchem Mafie die mitteleuropaischen Lander in die Europaische Union passen, wurde und wird vor allem in okonomischen Termini diskutiert. Strukturdivergenz meint, wie eben erlautert, vor allem okonomische Strukturdivergenz. Von kurzfristigem und langfristigem Nutzen ist die Rede, von einer okonomischen „win win situation" und von okonomischen Verlierern und Gewinnern. Die Konzentration auf die okonomischen Folgen einer Erweiterung der EU mag aus der Perspektive eines Volkswirts nicht weiter tiberraschen. Fiir einen Soziologen, fur den die Gesellschaft nicht nur aus Okonomie, sondem aus einer Vielzahl an Teilsystemen besteht, ist die Engfiihrung der Perspektive allerdings verwunderlich. Gerade well die EU sich nicht mehr nur als Freihandelszone oder Wirtschaftsgemeinschaft versteht, sondern zunehmend andere gesellschaftliche Teilbereiche zum Objektbereich ihrer Gestaltung und Regulierung erklart hat und damit ein europaisches Gesellschaftsmodell realisieren mochte, werden neben okonomischen auch andere Faktoren iiber den Erfolg eines er weiter ten Europas entscheiden (vgl. fiir eine gesellschaftswissenschaftliche Ausdehnung der Perspektive die Beitrage in Bach (2000b)). Wir konzentrieren uns in diesem Buch auf die Analyse der kulturellen Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den EU-Mitglieds- und Beitrittslandern. Chancen und Probleme einer weiteren Integration von Gesellschaften in die EU werden, so unsere Vermutung, nicht nur von okonomischen Unterschieden zwischen den verschiedenen Landem abhangen, sondern auch von den kulturellen Differenzen bzw. Gemeinsamkeiten (vgl. Fuchs und Klingemann 2002). Die Burger in den verschiedenen europaischen Nationalstaaten konnen sehr unterschiedliche Vorstellungen dariiber haben, wie Gesellschaften organisiert sein sollen und wie das Zusammenleben zwischen den Menschen bestimmt sein soil: Welche Rolle weisen sie zum Beispiel der Religion in der Gesellschaft zu? In welchem Mafie ist die Erwerbstatigkeit von Frauen erwiinscht bzw. sind traditionelle GeschlechtsroUenbilder dominant? Welche Vorstellungen liber eine ideale Staatsform haben die Burger und wie sehen ihre Einstel-
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1. Fragestellimg imd konzeptioneller Rahmen
lungen zur Demokratie aus? Wie viel an sozialer Ungleichheit wird als akzeptabel und gerecht interpretiert und welche wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben soil der Staat in einer Gesellschaft iibernehmen? Und schliefilich: Welche Organisationsform der Okonomie wiinschen sich die Burger? Die Vorstelliingen der Burger von einer idealen Gesellschaftsform, von uns hier als „Gesellschaftskultur" bezeichnet, bilden eine entscheidende Bezugsgrofie flir die Stabilitat der Struktur des Institutionengefiiges selbst. Eine erweiterte EU wird langerfristig kein stabiles Institutionengefiige darstellen, wenn dieses nicht mit den Wertevorstellungen ihrer Burger kompatibel ist. Denn bei den von uns analysierten Gesellschaften handelt es sich um Demokratien. Die Eliten konnen die Werte und Praferenzen ihrer Burger nur bei Strafe ihrer Abwahl vernachlassigen. Dieser Strukturmechanismus von Demokratien macht eine Responsivitat der Eliten gegeniiber den Werteorientierungen der Burger sehr wahrscheinlich. Wir untersuchen in den folgenden Kapiteln die unterschiedlichen Vorstellungen der Burger in den Alt-Mitgliedslandern und den Beitrittslandern der EU beziiglich einer idealen Organisationsform der Gesellschaft und fragen, ob und in welchem Mafie die Beitrittslander zur Kultur der Mitgliedslander passen. Unsere Analysen werden durch folgende drei Forschungsfragen strukturiert:
1.2.1 Der normative Bezugspunkt: Das kulturelle Selbstverstandnis der EU Die Frage nach der Passung der Beitrittslander zu den Mitgliedslandern der EU setzt die Definition eines normativen Bezugspunktes voraus. Fiihlt man sich dem Wertfreiheitspostulat von Wissenschaft verpflichtet, so verbietet es sich, den normativen Bezugspunkt selbst einzufuhren. Wie lost man das Dilemma, einen normativen, kulturellen Bezugspunkt zu definieren, ohne diesen selbst einzufuhren? Man muss die normative Frage empirisch wenden. Die Europaische Union lasst sich nicht nur unter strukturellen Aspekten als ein spezifischer Herrschaftsverband inter-
1.2 Die Fragestellimg
15
pretieren, sondern auch kultursoziologisch als eine institutionalisierte Form eines Skriptes. Die Europaische Union hat ein kulturelles Bild von sich selbst entworfen, das die Handlungen der Akteure der EU anleitet (Jachtenfuchs 2002). Dieses Skript dient iins als Bezugspunkt zur Beurteilung einer kulturellen Passung der Beitrittslander zur EU. Wir rekonstruieren dieses kulturelle Selbstverstandnis der EU aus dem Primar- und Sekundarrecht und aus dem Verfassungsentwurf. Die EU versteht sich ganz explizit als Wertegemeinschaft, und wir versuchen in einem ersten Schritt, die Werteordnung der EU, die diese sich selbst gegeben hat, zu rekonstruieren. Dabei unterscheiden wir verschiedene Wertspharen Religion, Familie, Okonomie, Politik etc. - und bestimmen inhaltlich, welche Vorstellungen die EU im Hinblick auf diese Wertspharen entwickelt hat. Die kulturelle Identitat der EU besteht also fiir uns aus dem, was die EU selbst als diese definiert. Der Gegenstandsbereich unserer Untersuchung - die Kultur Europas - ist damit auf eine sehr spezifische „Teilmenge" dessen, was von vielen Autoren als Kultur Europas verstanden wird, eingeschrankt. Ins Visier der Untersuchung kommen nur die Merkmale von Kultur, die von der Europaischen Union als Merkmale ihrer Kultur definiert werden.
1.2.2
Die Deskription: Die Kultur der Biirger der EU
Das kulturelle Selbstverstandnis der EU dient uns also als Bezugspunkt zur Beantwortung der Frage, ob und in welchem Mafie die Beitrittslander zur EU passen oder nicht. Wir priifen dann in einem zweiten Schritt, ob die Gesellschaftsvorstellungen der EU von den Blirgern der Mitgliedslander und den Biirgern der Beitrittslander gleichermafien unterstiitzt werden, oder ob es zwischen ihnen signifikante Unterschiede gibt. Wir bestimmen in dem Projekt die Kultur eines Landes durch die Werteorientierungen der Burger in einem Land zum gegenwartigen Zeitpunkt. Empirische Grundlage der Analyse bilden Sekundaranalysen von reprasentativen Bevolkerungsbefragungen, die in den Mitglieds- und Beitrittslandern durchgefiihrt und in denen die Biirger nach Werteeinstellungen
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
gefragt warden. Wir prtifen fiir jeden der Wertebereiche, inwieweit die Modellvorstellungen der EU (SoU-Vorstellungen) von den Biirgern in den west-, mittel- und osteuropaischen Landern und der Tiirkei akzeptiert werden. Die empirischen Resultate werden in Form von Kreuztabellen dargestellt. Die Frage, ob sich die alten Mitgliedslander und die verschiedenen Gruppen der Beitrittslander voneinander unterscheiden, werden wir mit Flilfe von Diskriminanzanalysen prtifen. Wir orientieren uns in unserem theoretischen wie auch methodischen Vorgehen an einer ausgezeichneten Analyse der politischen Kultur der west-, ost- und mitteleuropaischen Lander von Dieter Fuchs und Hans-Dieter Klingemann (2002).
1.2.3 Die Erklarung der Unterschiede der Werteorientierungen der Burger Die deskriptiven Befunde werden zeigen, dass es in der Tat erhebliche Kulturunterschiede zwischen den Landern gibt. Die Vorstellung, dass Politik und Religion separierte Bereiche sein soUen und dass religiose Toleranz eine erwlinschte Wertevorstellung ist, wird z. B. von den Biirgern in den Mitglieds- und Beitrittslandern in einem recht unterschiedlichen MaJSe unterstiitzt. Neben einer Deskription der kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede gehen wir der Frage nach, wie man die Unterschiede erklaren kann. Lander sind keine soziologisch relevanten Kategorien, sie miissen aufgelost werden in soziale Bedingungsfaktoren, die „hinter'' den jeweiligen Landern lagern. Diese Vorstellung ist zuerst von Emile Durkheim (1895/1976) in seinem Diktum, Soziales solle allein durch Soziales erklart werden, formuliert und dann spater von Adam Przeworski und Henry Teune (1970) methodisch genauer spezifiziert worden. Es bedeutet fiir unseren Analysezusammenhang, dass wir die verschiedenen EU- und Beitrittslander als Chiffre fiir unterschiedliche soziale Bedingungskonstellationen begreifen, die in den jeweiligen Gesellschaften existent sind und die einen Einfluss auf die Wertevorstellungen haben konnen. Wir werden je nach Wertebereich mit unterschiedlichen erklarenden Faktoren
1.2 Die Fragestellung
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arbeiten und diese in den einzelnen Kapiteln dann spezifizieren. Insgesamt ergeben sich aber drei grofie Variablenkomplexe, die bei vielen Erklarungen eine Rolle spielen werden: a. Modernisierungsgrad einer Gesellschaft: Die Lander unterscheiden sich zum einen im Grad der okonomischen Modernisierung und dem damit verbundenen produzierten gesellschaftlichen Wohlstand. Okonomische Modernisierung und Wohlstand haben, so eine von Karl Marx bis Daniel Bell und Ronald Inglehart haufig formulierte und manchmal auch empirisch gepriifte These, einen Einfluss auf die Werteorientierungen der Menschen. Wir werden im nachsten Kapitel genauer ausfiihren, warum man davon ausgehen kann, dass der Modernisierungsgrad einer Gesellschaft in einer zu spezifizierenden Weise die Werteorientierung der Biirger beeinflusst. b. Kulturell-religiose Traditionslinie eines Landes: Max Weber war sicherlich einer der ersten Autoren, die versucht haben zu zeigen, dass die Werteorientierungen der Biirger in hohem Mafie von ihren Religionsvorstellungen beeinflusst werden: Leistungsorientierung, Askese, Konsumverzicht und systematisch-rationale Lebensfuhrung bilden die Merkmale des Geistes des Kapitalismus; sie sind selbst religiosen Ursprungs, insofern sie Ideen des asketischen Protestantismus darstellen. Die Vorstellung, dass die kulturell-religiose Traditionslinie eines Landes die Handlungen der Biirger stark beeinflusst, ist in der Nachfolge Webers von einer Vielzahl von Autoren aufgegriffen und theoretisch und empirisch ausformuliert und weiterentwickelt worden (vgl. dazu genauer die Ausfiihrimgen weiter unten). Wir kniipfen an diese kulturvergleichenden Studien an und gehen theoretisch davon aus, dass die verschiedenen Religionsgemeinschaften, die es in der EU und den Beitrittslandern gibt, eigenstandige Perspektiven im Hinblick auf eine ideale Gesellschaft entwickelt haben und dass diese Vorstellungen entsprechend die Glaubigen der Religionsgemeinschaften beeinflussen. Wir werden fiir die verschiedenen Wertebereiche rekonstruieren, welche Vorstellungen in den Religionen existieren und dann empirisch priifen, ob diese Auswirkungen auf die Werteorientierungen der Burger haben oder nicht.
18 1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen c. Politisch-institutionelle Ordnung: Schliefilich gehen wir davon aus, dass die politisch-institutionelle Ordnung eines Landes einen Einfluss auf die Werteeinstellungen der Biirger hat. Auch diese Grofie kann man nicht abstrakt bestimmen, sondern muss sie fiir die verschiedenen Wertebereiche spezifizieren. Die Lander unterscheiden sich z. B. in den Familienleitbildern, die von der jeweiligen Politik propagiert und iiber politische Mafinahmen gefordert werden. So wurde z. B. in den ehemaligen sozialistischen Landern die Erwerbstatigkeit von Frauen in Familien mit Kindern in hohem Mafie ideologisch imd durch sozialpolitische Mafinahmen gefordert, wahrend in der alten Bundesrepublik eher die Hausfrauenrolle fiir Frauen in Familien mit Kindern ideologisch und strukturell gefordert wurde. Wir vermuten, dass die jeweilige politische Ordnung die Einstellungen der Biirger gepragt hat und wollen dies empirisch priifen. Die statistische Priifung der Erklarungskraft der verschiedenen Variablenkomplexe fiir die jeweiligen Werteorientierungen der Biirger erfolgt mit Hilfe von Regressionsanalysen.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen Wissenschaftliche Untersuchungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich selbst in den Verweisungszusammenhang des „ state of the art" des jeweiligen Fachgebiets einordnen und die Vor- und Nachteile des eigenen Vorgehens im Kontrast zu alternativen Sichtweisen deutlich machen. Diese Notwendigkeit der Selbstlokalisierung besteht vor allem fiir die Wissenschaften, die in geringem Mafie paradigmatisiert sind, in denen es also wenig Konsens im Hinblick auf Definitionen, Basissatze, Methoden und Theorien gibt - und zu diesen gehort nun mal die Soziologie. Deswegen kann man, nach der Erlauterung der Fragestellung dieser Studie, nicht einfach zur Tat schreiten und die empirischen Analysen prasentieren und diskutieren, sondern muss die eigenen Pramissen und den konzeptionellen Rahmen genauer, als dies bisher hier erfolgt ist, explizieren. Wir tun dies durch die Formulierung von Antworten auf selbst gestellte Fragen.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
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1.3.1 Was verstehen wir unter Kultur? Es gibt nur wenige sozialwissenschaftliche Begriffe, die so diffus gebraucht werden wie der der Kultur; zugleich besteht Konsens dariiber, dass es Dissens liber einen einheitlichen Kulturbegriff gibt. Es ist nicht das Ziel dieser Studie, hier zu einer abschliel^enden Klarung des Kulturbegriffs beizutragen. Begriffe sind nominalistische Festlegungen dariiber, welche Vorstellungsinhalte man mit Wortern bezeichnen will. Entsprechend woUen wir den Begriff Kultur fiir unsere Zwecke auf eine spezifische Weise definieren; wir schlieiSen dabei an friihere Uberlegungen an (vgl. Gerhards 2000a). Unter Kultur verstehen wir ein System von Werten, das von Akteuren gemeinsam geteilt und zur Interpretation von „Welt'' benutzt wird. Eine solche Definition enthalt drei Bestimmungselemente, die man genauer bestimmen kann: 1. Werte als eine spezifische Art und Weise der Weltinterpretation, 2. Gegenstandsbereiche, auf die sich die Werte beziehen und 3. Trager bzw. Subjekte von Kultur.
1.3.1.1
Werte als spezifische Weise der Weltinterpretation
Wir verstehen unter Kultur ein System von relativ stabilen Werten. Damit hat man noch nicht viel gewonnen, well die Definition von Werten nicht wesentlich einfacher ist als die von Kultur .^ a. Werte unterscheiden sich von Interessen, Bediirfnissen, Begierden und Praferenzen durch die Tatsache, dass erstere gerechtfertigt werden konnen. Diese Bestimmung kniipft an eines der Merkmale der klassischen Definition von Clyde Kluckhohn (1951: 395) an, der Werte als „conception of the desirable'' definiert. Vorstellungen des Wiinschenswerten sind, wie Helmut Thome (2003) herausgearbeitet hat, weder identisch mit den erstrebten Objekten, noch mit den Bediirfnissen der Subjek-
4 Die Liste der Literatur zum Thema „Werte" ist lang. Wir verzichten hier weitgehend auf Literaturverweise, beziehen uns aber auf die sehr griindliche Begriffsrekonstruktion von Jan van Deth und Elinor Scarbrough (1995).
20
1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
te, da es sich bei Werten um gerechtfertigte Wiinsche handelt.^ „The term 'desirable', however, goes beyond the idea of wish or want to bring in considerations with moral content—principles, ideals, virtues, and the like—in which 'want' is modified by 'ought'. (...) This emphasis of values as desirabilities is indicated by replacing terms such as 'I want' with 'I ought'" (Deth und Scarbrough 1995: 26). Ahnlich definiert Hans Joas (1997: 30f.) den Wertebegriff. Er betont in seiner Kritik an der RationalChoice-Theorie von Werten von Michael Hechter (Hechter 1993), dass es sich bei Werten nicht um Praferenzen, sondem um bewertete Praferenzen handelt. Darauf hatte Clyde Kluckhohn (1951: 396) schon hingewiesen: „A value is not just a preference, but is a preference which is felt and/or considered to be justified." b. Werte sind dadurch gekennzeichnet, dass es sich u m zeitlich generalisierte Orientierungen handelt. Damit ist gemeint, dass Werte sich nicht von heute auf morgen verandern, sondern relativ stabil sind. Auch wenn wir selbst dies nicht empirisch priifen konnen, haben einige Studien gezeigt, dass Werte in der Sozialisation erworben werden und dann relativ stabil bleiben (vgl. Inglehart 1971; Meulemann und Birkelbach 2001). Melvin L. Kohn und Carmi Schooler (1982) konnen auf der Basis einer Wiederholungsbefragung zeigen, welche langerfristigen Effekte die Arbeitsbedingiingen auf die Wertorientierungen und die Personlichkeitsstruktur der Befragten haben imd vor allem, dass die Werte im Zeitverlauf konstant bleiben. Die zeitliche Stabilitat von Werten mag auch mit ihrem Sollenscharakter zusammenhangen. Fritz Heider (1958) hat gezeigt, dass balancierte Systeme von Menschen als angenehm, unbalancierte Systeme hingegen als spannungsreich empfunden werden. Die
5 Thome (2003) hat eine weitere theoretische Prazisierung des Wertebegriffs durch Bezugnahme auf die Luhmannsche Systemtheorie vorgeschlagen. Werte werden als Sinnkonstruktionen verstanden, die sowohl in sachlicher und zeitHcher als auch sozialer Hinsicht generalisiert sind. Dieser Begriffsvorschlag deckt sich im Hinblick auf die zeitUche und soziale Generalisierung mit dem hier verwendeten Kulturbegriff. Im Hinblick auf die sachliche Generalisierung gehen wir - allerdings ebenfalls mit Bezugnahme auf Luhmann davon aus, dass es sinnvoll ist, zwischen verschiedenen Teilsystemen einer Gesellschaft zu unterscheiden und entsprechend von teilsystemspezifischen Kulturen zu sprechen.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
21
Veranderung von Werten fuhrt zu einem kognitiven Ungleichgewicht, und dieses versucht man zu vermeiden. c. Werte sind weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass sie abstrakte Orientierungen darstellen. Dieses Merkmal kann man auch als sachliche Generalisierung bezeichnen. Werte unterscheiden sich in dieser Dimension von Normen und konkreteren normativen Praferenzen. Zugleich beeinflussen Werte Normen und konkrete Einstellungen. Burger konnen sich zum Beispiel fiir eine liberale Abtreibungsregelung aussprechen (Einstellung). Ein Wert wie der der Gleichberechtigung kann einen starken Einfluss auf die spezifische Einstellung zur Abtreibungsfrage haben. Warum ist dem so? Die kognitive Konsistenztheorie hat gezeigt, dass Menschen dazu tendieren, Werte und aus ihnen abgeleitete Normen und Handlungen miteinander im Einklang zu halten (Osgood 1960). Inkonsistenzen zwischen Werten, Normen und Handlungen fuhren zu Stress, und den versuchen Menschen zu vermeiden.
1.3.1.2
Objektbereiche, auf die sich Werte beziehen
Vorstellungen des Wiinschenswerten konnen sich auf unterschiedliche Objektbereiche beziehen. Jiirgen Habermas (1981: 114ff.) unterscheidet im Anschluss an Karl R. Popper drei verschiedene Objektbereiche, auf die sich das Handeln von Menschen beziehen kann: Auf die objektive Welt im Sinne der aufieren Natur, auf die subjektive Welt als der Innenwelt der Menschen und auf die soziale Welt als dem Bereich der Organisation der Interaktionen zwischen Menschen (Gesellschaft). Wir interessieren uns in diesem Forschungskontext fiir Werte, die sich auf die Organisationsform von Gesellschaft beziehen. Wir untersuchen die Kultur der Gesellschaft und bezeichnen damit die Vorstellungen einer gewiinschten Gesellschaft. Und wir gehen im Anschluss an klassische Beschreibungen moderner Gesellschaften davon aus, dass sich Gesellschaft in ihrer Binnenstruktur als eine in verschiedene Teilbereiche differenzierte Gesellschaft begreifen lasst: Religion, Familie, Okonomie, Politik u. a. - mit Jewells spezifischen Strukturen und entsprechend bereichsspezifischen
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1. Fragestellimg iind konzeptioneller Rahmen
Kulturen. Fragt man nach Unterschieden iind Gemeinsamkeiten der Kultur verschiedener Gesellschaften, dann macht es entsprechend Sinn, u. a. eine okonomische Kultur von einer politischen Kultur und einer Familienkultur zu iinterscheiden. Wir unterscheiden also verschiedene Teilsystemkulturen oder Wertspharen einer Gesellschaft. Es gibt in der soziologischen Theoriedebatte bekanntlich unterschiedliche Vorschlage, die Menge der Teilsysteme oder Wertspharen und deren Bestimmungselemente festzulegen. Beziiglich der theoretischen Frage, welche und wie viele Teilsysteme es gibt und wie man diese am besten begrifflich beschreibt, miissen wir uns nicht zwischen Parsons' Strukturfunktionalismus, Luhmanns Systemtheorie, Miinchs Interpenetrationstheorie oder Schluchters postweberianischer Typologie festlegen, weil wir (auch hier) die Frage empirisch wenden: Wir untersuchen die Bereiche, die von der EU als relevante Wertebereiche definiert werden und damit die durch die EU flir die EU konstruierte Kultur. Dies sind Religion, Familie, Wirtschaft, Wohlfahrt und Politik. Die Differenzierung in Wertspharen gilt auch fiir die Analyse der Kultur aus der Perspektive der Burger. Die Burger leben in unterschiedlichen sozialen Welten (Familie, Beruf, Politik). Diejenigen Werte, die in dem einen Bereich fiir sie Geltung besitzen, miissen und werden haufig keine Geltung in einem anderen Bereich haben. Religiose Orientierungen mogen z. B. fiir die Werte im Berufsleben von geringer Bedeutimg sein, wirtschaftliche Leistungsorientierungen spielen wahrscheinlich in der Familie eine nicht sehr entscheidende RoUe.
1.3.1.3
Trager von Kultur
Neben den unterschiedlichen Objektbereichen, auf die sich die Vorstellungen des Wiinschbaren beziehen konnen, unterscheiden wir verschiedene Trager bzw. Subjekte von Kultur. Als Soziologen sind wir nicht an individuellen Werten interessiert, Werten also, die idiosynkratisch nur von einer Person als wichtig erachtet werden. Uns interessieren Werte, die von mehreren Akteuren geteilt werden; im Fokus stehen also „ shared
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
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or collective evaluations" (Deth imd Scarbrough 1995: 34), oder wie an anderer Stelle formuliert: sozial generalisierte Werte (Gerhards 2000a). a. Das Subjekt von Kultur konnen einerseits koUektive Akteure und Institutionen sein. Parteien iind Regierungen etwa haben Vorstellungen dariiber, wie eine Okonomie organisiert sein soil, wie eine moderne Familie aussehen und welche Aufgaben der Staat ubernehmen soil. Institutionen sind eben nicht nur formale, blirokratische Organisationen, sie sind auch Trager von Ideen, von Kultur, insofern sie im Hinblick auf verschiedene Objektbereiche in der Welt Vorstellungen des Wiinschenswerten haben und diese mit ihren „policies" auch zu implementieren versuchen. Auf die kulturelle Dimension von Organisationen und Institutionen haben in den letzten Jahren die Arbeiten des Neoinstitutionalismus hingewiesen, vor allem John Meyer mit seinen Arbeiten zur Weltgesellschaft (zusammenfassend vgl. Meyer, Boli, Thomas und Ramirez 1997). Markus Jachtenfuchs (2002) hat diese Perspektive fiir eine Analyse der EU fruchtbar gemacht. Die Kultur von Institutionen manifestiert sich in von den Institutionen produzierten Texten. Diese k5nnen aus Parteiprogrammen, Gesetzestexten oder offentlichen Stellungnahmen bestehen. Das methodische Verfahren der Rekonstruktion der Kulturelemente aus den Texten ist die Inhaltsanalyse, sei es in ihrer systematischen oder in ihrer qualitativ-hermeneutischen Variante.^ Auch die Europaische Union lasst sich nicht nur unter strukturellen Aspekten als ein institutioneller Herrschaftsverband, sondern auch kultursoziologisch als eine institutionalisierte Form eines Skriptes interpretieren. Die EU hat zum Teil sehr dezidierte Vorstellungen dariiber, wie die Okonomie oder auch die Familie idealiter aussehen soil. Sie verfligt liber ein Skript etner idealen Gesellschaft und versucht dieses mit ihren „policies" zu realisieren. Natiirlich gelingt dies nur in begrenztem Mafie, well sich die Politiken der EU vielfach an den Institutionen der Nationalstaaten brechen und die EU nur vermittelt auf diese Zugriff hat. Ob und
6 Mit Hilfe einer systematischen Inhaltsanalyse der Abtreibungsdebatte haben wir z. B. die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und den USA rekonstruiert (Ferree, Gamson, Gerhards und Rucht 2002).
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1. Fragestellimg iind konzeptioneller Rahmen
in welchem Mafie das Skript der EU realisiert wird, ist aber nicht imsere Forschungsfrage und muss uns hier nicht weiter interessieren/ Wir rekonstruieren das Skript der EU, d. h. die Position der EU im Hinblick auf eine wiinschenswerte Gesellschaft, aus dem Primar- und Sekundarrecht der EU und dem Verfassungsentwurf. Die Vorstellungen der EU zur Rolle von Religion in der Gesellschaft, iiber eine ideale Familie, Wirtschaftsordnung und Staatsform dient uns als ein normativer Bezugspunkt, an dem gemessen man analysieren kann, in welchem MaiSe die Mitglieds- und Beitrittslander zum Selbstverstandnis der EU passen oder nicht. b. Die Subjekte von Kultur konnen aber auch die Burger oder eine Subgruppe (Klasse, Stand) der Biirger einer Gesellschaft sein. Verbunden mit der Unterscheidung der unterschiedlichen Objektbereiche der Gesellschaft konnen die Biirger in Ost- und Westeuropa z. B. unterschiedliche Vorstellungen dariiber haben, welche Aufgaben der Staat in einer Gesellschaft iibernehmen soil, wie man die Okonomie (eher marktwirtschaftlich oder eher staatswirtschaftlich) organisieren soil, welche Rolle die Religion spielen soil und in welchem Mafie eine Erwerbstatigkeit von Frauen erwiinscht ist. Und in der Tat wissen wir aus der kulturvergleichenden Forschung, dass die Burger verschiedener Gesellschaften haufig unterschiedliche Vorstellungen iiber die richtige Organisationsform von Gesellschaft haben.^ Im Hinblick auf Vorstellungen, die sich auf die Organisationsform des politischen Systems beziehen, ist der hier benutzte Kulturbegriff identisch mit dem Kulturbegriff, der in der politischen Kulturforschung von Gabriel A. Almond und Sidney Verba (1963) entwickelt und empirisch nutzbar gemacht wurde. „ When we speak of the political culture of a society, we refer to the political system as internalized in the cognitions, feelings, and evaluations of its population. (...) The political culture of a
7 John Meyer hat in seinen Arbeiten gezeigt, dass die Skripte von Institutionen haufig nicht implementiert werden. Er bezeichnet dies als strukturelle Entkopplung (Meyer et al. 1997). 8 Vgl. z. B. die Beitrage in Jiirgen Gerhards (2000b), die Kuhurunterschiede zwischen Deutschland und USA analysieren.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
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nation is the particular distribution of pattern of orientation toward political objects among the members of the nation/' (Almond und Verba 1963: 13; vgl. auch Kaase 1983). Wir teilen die elaborierte Kritik von Dieter Fuchs (2002) an der Spezifikation dessen, was Almond und Verba unter „political objects" verstehen und auch Fuchsens Vorschlag der Weiterentwicklung des Konzepts. Dies muss ims an dieser Stelle aber noch nicht im Detail interessieren. Wir kommen darauf zuriick, wenn wir die Einstellungen der Burger zur Demokratie analysieren. Wahrend man die Kultur von Institutionen durch eine Inhaltsanalyse von Texten rekonstruieren kann, ist das Instrumentarium der Wahl zur Rekonstruktion der Kultur der Burger die Umfrageforschung. Fassen wir unsere definitorischen Uberlegungen zusammen: Unter der Kultur einer Gesellschaft verstehen wir: • • •
die zeitlich relativ stabilen und abstrakten Vorstellungen einer zviinschensiuerten Gesellschaft, die sich auf unterschiedliche Wertspharen von Gesellschaft beziehen, entweder von den Blirgern oder einer Subgruppe der Biirger einer Gesellschaft gemeinsam geteilt werden, oder von Institutionen und kollektiven Akteuren der Gesellschaft formuliert wurden.
1.3.2 Was verstehen wir unter ^cultural missmatch" und ^cultural overstretch"? In unseren empirischen Analysen vergleichen wir die Vorstellungen der EU beziiglich einer idealen Gesellschaft mit den Gesellschaftsvorstellungen der Burger in der EU-15 und den Beitrittslandern. Wir analysieren beide Ebenen fiir die verschiedenen oben genannten Wertspharen. Das kulturelle Selbstverstandnis der EU dient uns als Bezugspunkt zur Beantwortung der Frage, ob und in welchem Mafie die Gesellschaftsvorstellungen der EU von den Biirgern der EU unterstiitzt werden und ob es zwischen den Mitgliedslandern und den Beitrittslandern signifikante Unterschiede gibt. Durch Kontrastierung der beiden Ebenen von Kul-
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
Tabelle 1.2:
Uberblick liber das Design der Studie Religion
Kultur
Familie und Geschlechterrollen
Wertspharen Wirtschaft Demokratie und Zivilgesellschaft
Wohlfahrtsstaat
Vorstellungen derEU Vorstellungen 1 der Burger
tur konnen wir feststellen, ob diese auseinanderfalien („missmatch") oder nicht und wieweit sie auseinanderfallen („overstrech"). „Missmatch" und „ overstretch" ergeben sich also aus der Diskrepanz zwischen einer „Soll-Grofie" und einer „Ist-Gro6e". Sowohl die Wahl des Skriptes der EU als normativer Bezugpunkt als auch die Messung der Kultur der Lander durch eine Rekonstruktion der Werteeinstellungen der Burger sind begrundungsbediirftig.
1.3.2.1
Das Gesellschaftsskript der EU als normativer Bezugspunkt
In der Literatur gibt es eine Vielzahl von Versuchen, die kulturelle Identitat Europas zu bestimraen und daraus Mitgliedschaftskriterien fiir Beitrittslander abzuleiten. Gerade die mogliche Aufnahme der Tiirkei in die EU hat zu einer breiten wissenschaftlichen und politischen Debatte iiber die Grenzen und das kulturelle Selbstverstandnis der EU geflihrt. Es lassen sich zwei Grundpositionen unterscheiden, die man mit den Etiketten „Substantialisten" (a) einerseits und „Konstruktivisten'' (b) andererseits belegen kann. Man kann die Vorteile der eigenen analytischen Position, die hier als empirischer Substantialismus bezeichnet wird (c), wahrscheinlich besser verstandlich machen, wenn man sie mit den Argumenten vergleicht, die in der Debatte iiber die kulturelle Identitat Europas formuliert wurden. a. Als historische Substantialisten bezeichnen wir diejenigen Autoren, die inhaltliche Merkmale der kulturellen Besonderheit Europas meist mit
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
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Bezug auf die Geschichte definieren und begriinden und entlang dieser Merkmale Mitgliedschaftskriterien fiir die EU definieren. Manche Beobachter sehen die kulturelle Besonderheit Europas in seinen besonderen geisteshistorischen Wurzeln, die von der jiidisch-griechisch-romischen Antike liber die Renaissance, die Aufklarung bis hin zum modernen Wissenschaftsverstandnis reichen. Gesellschaften, die nicht in dieser geisteshistorischen Traditionslinie stehen, wie beispielsweise die Tiirkei, passen nicht zu Europa (Wehler 2002). Andere Beobachter definieren die kulturelle Identitat Europas durch Rekurs auf das Christentum. „Die europaische Identitat bezieht (...) ihren spezifischen Charakter direkt und indirekt aus jener Religion, durch die Europa als kulturelle Einheit geformt wurde, namlich das Christentum" (Brague 1996, 45; vgl. weiterhin Gebhardt 1996; Maurus 1998; Remond 1998; Schilling 1999). Auch fiir Samuel Huntington ist die Religion die zentrale Variable zur Abgrenzung der verschiedenen Kulturraume und zur Definition der Grenzen Europas. So verlauft fiir ihn die Grenze Europas „ entlang der heutigen Grenze zwischen Finnland und RujGland und den baltischen Staaten (Estland, Lettland, Litauen) und RuGland, durch das westliche Weii3rui?land, durch die Ukraine, wo sie den unierten Westen vom orthodoxen Osten trennt, durch Rumanien zwischen Transsylvanien mit seiner katholischungarischen Bev51kerung und dem Rest des Landes, und durch das friihere Jugoslawien entlang der Grenze, die Slowenien und Kroatien von den anderen Republiken trennt" (Huntington 1996: 25 If.). Ein weiteres Beispiel: Die beiden Historiker Hans-Ulrich Wehler (2002) und Heinrich August Winkler (2002) haben sich, wenn auch mit unterschiedlicher Verve, sehr deutlich gegen eine Aufnahme der Tiirkei in die EU ausgesprochen. „Nach geografischer Lage, historischer Vergangenheit, Religion, Kultur, Mentalitat ist die Tiirkei kein Teil Europas" (Wehler 2002). Beide Autoren betonen vor allem, dass die Tiirkei moslemisch und die EU christlich sei und dies nicht zusammenpasse. Die von den zitierten Autoren favorisierte Bestimmung der kulturellen Identitat Europas hat eine empirische und eine normative Dimension. Ketne Frage: Die Mitgliedslander stehen in einer christlichen Traditionslinie. Ob man daraus aber ableiten kann, dass Lander, die in der Traditi-
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1. Fragestellimg und konzeptioneller Rahmen
onslinie einer anderen Weltreligion stehen, nicht Mitglied der EU werden konnen, ist eine normative Setzung. Die Nicht-Vereinbarkeit von zwei Weltreligionen ist eine normative Festlegung der zitierten Autoren, die sich wissenschaftlich nicht gut legitimieren lasst. Die Tatsache, dass z. B. die Tiirkei kein christliches Land ist, ist an sich noch kein Grund, sie nicht in die EU aufzunehmen; derm die Religionsfreiheit der Burger wird ja gerade von der EU garantiert, und dazu gehdrt eben auch die Freiheit, Moslem zu sein. Folgt man dem Wertfreiheitspostulat von Wissenschaft, dann verbietet es sich, die normativen Bezugspunkte zur Bestimmung von Mitgliedschaftskriterien selbst einzufiihren. Genau dies versuchen aber die Autoren, die hier als Substantialisten bezeichnet wurden. b. Als Konstruktivisten kann man diejenigen Autoren bezeichnen, die zeigen (woUen), dass die von Substantialisten ins Feld gefiihrten Kriterien nicht haltbar sind und dass alle Merkmale, die man zur inhaltlichen Bestimmung der Kultur Europas einfiihrt, konstruierte Merkmale sind. Aus dieser Argumentation wird dann abgeleitet, dass die Identitat Europas und damit die Kriterien fur die Mitgliedschaft in der EU kontingent und folglich voluntaristisch formulierbar sind. Exemplarisch kann man diese Position an der Argumentation von Wolfgang Burgsdorf (2004) erlautern. Burgsdorf zeigt, dass die territorialen Grenzen Europas historisch recht flexibel waren und man entsprechend aus der Geschichte kein Argument fiir eine territorial Grenze Europas ableiten kann. Er zeigt weiterhin, dass die Bezugnahme auf die Antike keine plausible Begriindungsfolie offeriert, weil sich die Ausbreitimg antiker Ideen auf den Mittelmeerraum erstreckte, damit einerseits Teile der heutigen Tiirkei einschloss, andererseits weite Teile des heutigen Territoriums der Mitgliedslander der EU ausschloss. Schliefilich betont er, dass auch das Christentum nicht als Bezugspunkt fiir ein Identitatskonzept herhalten kann, nicht nur weil der Apostel Paulus im heutigen Gebiet der Tiirkei aufwuchs und das Christentum nicht aus Europa, sondern aus dem Vorderen Orient stammt, sondern weil dem Christentum ebenso viele antiaufklarerische Ziige eigen sind wie dem Islam. Burgsdorf und andere ahnlich argumentierende Autoren ziehen folgende Schlussfolgerung:
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
29
Eine substantielle Bestimmung der Kultur Europas ist nicht moglich, und folglich ist es ein voluntaristischer Akt, die Grenzen Europas festzulegen: „Der vormalige franzosische Aufienminister Frangois-Poncet aufierte einmal, es ,gebe keine zwingenden historischen, geographischen oder kulturellen Griinde', mit denen die Grenzen der Europaischen Union eindeutig bestimmt werden konnten. Die Geschichte nimmt uns die politische Entscheidung nicht ab" (Burgsdorf 2004: 31). c. Die eigene, hier vertretene Position kann man als empirischen Substantialismus oder als verfassungspositivistisch bezeichnen. Diese Sichtweise grenzt sich gegeniiber konstruktivistischen Positionen insofern ab, als sie davon ausgeht, dass es durchaus substantiell bestimmbare Werte gibt, die fiir die Europaische Union konstitutiv sind. Sie grenzt sich gegeniiber dem historischen Substantialismus ab, insofern sie die Bestimmung der Werte nicht selbst libernimmt, sondern die normative Frage in eine empirische Frage verwandelt und fragt, welche Werte die Gemeinschaft der EU-Mitgliedslander fiir sich selbst als bedeutsam erachtet. Denn die Europaische Union definiert sich nicht durch eine gemeinsame Religion, Ethnie, Sprache oder auch territorial festgelegte Grenze; im Hinblick auf all diese Elemente ist die Union unterbestimmt bzw. versteht sich als eine pluralistische Gemeinschaft. Im Artikel I-l Absatz 2 des Verfassungsentwurfs heifit es: „Die Union steht alien europaischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, sie gemeinsam zu fordern." Wir rekonstruieren diese Werte der EU aus dem Primar- und Sekundarrecht, vor allem aus dem Verfassungsentwurf, unterscheiden verschiedene Wertspharen - Religion, Familie und Geschlechtsrollen, Okonomie, Politik etc. - und bestimmen inhaltlich, welche Vorstellungen die EU im Hinblick auf diese Wertspharen entwickelt hat. Dabei scheint uns die Bezugnahme auf das europaische Recht und vor allem auf die Vertragstexte ein in zweifacher Hinsicht gut begriindbarer normativer Bezugspunkt zu sein. Zum einen handelt es sich bei dem europaischen Recht nicht um unverbindliche Sonntagsreden von Politikern, sondern um rechtsverbindliche Vertrage, die qua Rechtsstatus Geltung beanspruchen diirfen. Zum anderen ist zumindest das Primarrecht, bestehend aus den Vertragen, ein von den demokratisch gewahlten
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
Regierungen der Mitgliedslander ausgehandeltes und imterzeichnetes Recht, das einen hohen demokratischen Legitimitatsanspruch erheben kann. Unsere Bezugsnahme auf den Verfassimgsentwurf ist seit den Entwicklimgen im Jahr 2005 begriindungsbedurftig. Im Mai 2005 batten die Franzosen und die Niederlander in jeweiligen Volksabstimmungen die europaische Verfassung abgelehnt. Seitdem werden eine ganze Reihe von politischen Optionen iiber das weitere Vorgehen erortert. Zur Diskussion stehen u. a. eine umfassende Neuverhandlung des Vertrages, ein Zusatzvertrag zum geltenden Vertrag von Nizza und die Idee eines Europas der zwei Geschwindigkeiten. Welcher Ausweg letztendlich aus der so genannten Verfassungskrise gefunden wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar. Die Tatsache, dass der jetzige Verfassungsentwurf nicht ratifiziert wurde, bedeutet fiir unsere Analysen aber nicht, dass man sich nicht auf die Verfassung beziehen kann, um die Werteordnung Europas zu rekonstruieren. Der Verfassungsentwurf, zumindest in den Teilen, die wir interpretieren, fasst weitgehend hestehende Vertrage und Rechtsordnungen in einem einheitlichen Gebilde zusammen. Der Teil II des Verfassungsentwurfs enthalt zum Beispiel die Grundrechte der EU und besteht in der Ubernahme der Grundrechtecharta, die bereits in Kraft ist. Insofern sind die Werte, die in dem Verfassungsentwurf kodifiziert wurden auch bei nicht Ratifizierung des Verfassungsentwurfs weiterhin in Kraft.
1.3.2.2
Die Messung der Kultur eines Landes durch die Werteorientierungen seiner Burger
Wir kontrastieren die Vorstellungen der EU von einer idealen Gesellschaft mit den aus Umfrageergebnissen gewonnen Werteorientierungen der Biirger. Auch die Bestimmung der kulturellen Verfasstheit eines Landes vermittels der Messung der Werteorientierung ihrer Burger ist begriindungsbedurftig. Man findet in der Literatur eine Vielzahl von Versuchen der Bestimmung der Kultur eines Landes. Haufig wird die
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
31
Kultur mit Bezugnahme auf die geistesgeschichtliche Traditionslinie oder mit Rekurs auf die besondere Geschichte eines Landes beschrieben. Aus einer systematischen, kulturvergleichenden Perspektive ist eine solche Vorgehensweise mit drei Problemen behaftet: a. Ein Vergleich zwischen verschiedenen Einheiten ist nur moglich, wenn man den Bezugspunkt des Vergleichs konstant halt, technisch gesprochen: wenn man in alien zu iintersuchenden Landern Kultur mit demselben Instrumentarium erhebt. Dies scheint aber in den meisten philologisch oder historisch orientierten Beschreibungen in der Regel nicht der Fall zu sein, weil es sich oft um Fallanalysen handelt, die sich auf ein oder zwei Lander beziehen, und somit keinen eigentlichen Vergleich ermoglichen, vor allem keinen Vergleich zwischen 27 verschiedenen Landern. b. Weiterhin ist in den philologisch-historischen Kulturstudien haufig nicht klar, wofiir das analysierte Material eigentlich steht. Das Erkenntnisinteresse von Kultursoziologen ist auf gesellschaftlich wirkungsmachtige Ideensysteme gerichtet. Eine Abhandlung iiber die Unterschiede und Gemeinsamkeiten philosophischen Denkens in West- und Osteuropa mag philologisch sehr interessant sein. Der Verdacht aber, dass es sich dabei um Eliten-Diskurse handelt, die nur einen geringen Einfluss auf die Gesellschaft haben, lasst sich wohl nicht ganz von der Hand weisen. c. SchlieiSlich sind viele Kulturanalysen historisch orientiert. Fiir das Verstandnis der Gegenwart und der Zukunft Europas sind diese Analysen nur dann relevant, wenn man zeigen kann, dass die Geschichte auch in der Gegenwart noch wirkungsmachtig ist. Die beiden Historiker HansUlrich Wehler (2002) und Heinrich August Winkler (2002) bestimmen z. B. den faktischen Unterschied zwischen der Tiirkei und der EU durch Rekurs auf eine unterschiedliche und konflikthafte Geschichte. Eine unterschiedliche Geschichte und die Tatsache, dass das muslimische Osmanenreich Kriege gegen das christliche Europa gefiihrt und vor den Toren Westeuropas gestanden hat, spricht aber nicht an und fiir sich gegen eine Aufnahme der Tiirkei in die EU. Die Tatsache, dass Deutschland zweimal im letzten Jahrhimdert Europa imd die halbe Welt mit einem Krieg iiber-
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1. Fragestellimg und konzeptioneller Rahmen
zogen hat, hat auch nicht dazu gefiihrt, dass Deutschland nicht Teil des politischen Europas geworden ist. Ganz im Gegenteil: Gerade um einen deutschen Sonderweg auch in der Zukunft zu verhindern, wurde die Bundesrepublik in das westliche Biindnis integriert. Das Argument historischer Feindschaft sticht nur dann, wenn die unterschiedlichen historischen Erfahrungen auch noch in der Gegenwart wirkungsmachtig sind und die kulturellen Orientierungen eines Landes weiterhin anleiten. Wenn wir die Kultur eines Landes durch die Werteorientierungen der Burger in einem Land zum gegenwartigen Zeitpunkt operationalisieren, dann ist damit zum einen sicher gestellt, dass es sich um eine gegenwartige und nicht um eine historische Messung von Kultur handelt. Die Tatsache, dass in alien Landern die Werteorientierung der Burger mit einem standardisierten Fragebogen erhoben wurde, erfiillt zudem den Anspruch, dass es sich um eine fast alle Lander der gegenwartigen und zukiinftigen EU umfassende, komparative Studie handelt.^ Schliefilich bedeutet die Tatsache, dass es sich bei den Umfragen um reprasentative Befragungen handelt, dass man von den Ergebnissen auf die Werteorientierungen der Burger eines Landes insgesamt riickschlielSen kann. Begrundungsbediirftig scheint ims darliber hinaus die Frage zu sein, warum Kultur als Werteorientierungen der Biirger iiberhaupt fiir die Entwicklung von Gesellschaften bedeutsam ist. Dazu miissen wir etwas weiter ausholen. a. Werte und soziales Handeln: Im Fokus des soziologischen Erkenntnisinteresses steht bekanntlich das soziale Handeln von Menschen und nicht deren Werteorientierung. Ein allgemeines Modell zur Erklarimg von sozialen Handlungen setzt an der Entscheidungssituation der einzelnen Individuen an, auch wenn das Erkenntnisinteresse der Soziologie ein makrosoziologisches ist (vgl. Coleman 1990). Zur Rekonstruktion der Entscheidungslogik des Individuums hat es sich bewahrt, zwei Parameter zu unterscheiden: Praferenzen der Handelnden einerseits und die Restriktionen und Gelegenheiten andererseits. In einer an Max Weber
' Einzige Ausnahme ist Zypern, fiir das keine vergleichbaren Daten vorliegen.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
33
orientierten Terminologie formuliert M. Rainer Lepsius (2003: 33) ganz ahnlich: „Soziales Handeln auf der ,Akteursebene' erfolgt in strukturierten Handlungskontexten unter Bezugnahme auf Wertevorstellungen/' Eine voUstandige Erklarung von Handlungen muss immer beide Seiten beriicksichtigen: die Praferenzen/Wertvorstellungen einerseits und die Restriktionen/Handlungskontexte andererseits.^^ Wenn wir in unserer Untersuchung die Werteorientierungen der Burger im Hinblick auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche analysieren, dann untersuchen wir nichts anderes als die abstrakten, hewerteten Gesellschaftspraferenzen der Burger, die die konkreten Einstellungen beeinflussen. Wir fragen z. B., ob sich die Burger eine Trennung von Politik und Religion wiinschen oder ob sie die Vorstellung praferieren, dass Politik religios motiviert sein soil. Wiinschen sie sich eher eine traditionelle Familie, in der der Mann berufstatig ist und die Frau Haushalt und Kinder versorgt, oder bevorzugen sie eine Berufstatigkeit von Mann und Frau bei gleicher Verteilung hauslicher Aufgaben? Unsere Untersuchung fokussiert damit auf die generalisierten, bewerteten Praferenzen der Burger. Es gibt nun eine Vielzahl an Untersuchungen, die gezeigt haben, dass die Werteorientierungen der Menschen einen Einfluss auf ihre konkreteren Praferenzen und damit auf ihre Handlungen haben. Gerade die neueren mikrookonomischen Studien, die sich kritisch mit dem Modell des „homo oeconomicus" auseinandersetzen, konnten in Experimenten zeigen, dass die Werteorientierung der Menschen ihre Handlungen stark
10 Man mag z. B. zum Mittagessen geme Erbsensuppe essen; wenn aber auf der Speisekarte eines Restaurants keine Erbsensuppe angeboten wird, lasst sich die Praferenz fiir Erbsensuppe bei den gegebenen Restriktionen nicht realisieren. Umgekehrt wird die Wahl von Erbsensuppe bei einer Speisekarte, die u. a. Erbsensuppe offeriert, nur dann zustande kommen, wenn das Individuum eine Praferenz fiir Erbsensuppe hat. Ein zweites Beispiel, das naher an unserer Fragestellung lokahsiert ist: Ein Anteil der Burger in einer Gesellschaft mag sich gegen eine von der EU garantierte freie Mobilitat der Arbeitskrafte aussprechen, u. a. weil er dadurch seine eigenen Arbeitsplatze gefahrdet sieht. Diese Praferenz kann sich wahrscheinlich dann pohtisch besser reaUsieren, wenn es eine Partei gibt, die ebenfalls diesen Standpunkt vertritt, und die von den entsprechenden Biirgern gewahlt werden kann und die dann die Praferenzen in die politische Entscheidungsarena transportiert. Gibt es diese Partei nicht, laufen die Praferenzen der Burger ins Leere.
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1. Fragestellung iind konzeptioneller Rahmen
beeinflussen. Die hervorragenden Arbeiten von Ernst Fehr imd Mitarbeiter sind hier richtungsweisend (Fehr und Gachter 2002; Fehr und Rockenbach 2003; Henrich et al. 2001).ii Auch wenn die Praferenzen und die generalisierten Praferenzen in Form von Werten fiir die Erklariing von Handlungen wichtig sind, bilden sie nur einen Teilaspekt einer vollstandigen Erklariing. Fine Analyse der Restriktionen und Gelegenheitsstrukturen, der zweite Bestandteil einer vollstandigen Erklarung, bleibt aus unserer Analyse ausgeschlossen. Insofern konnen wir von unseren Befunden nicht auf mogliche Handlungen der Burger schlieCen. Diese ergeben sich erst aus dem Zusammenspiel von Werten und konkreten Einstellungen einerseits und Restriktionen andererseits. Aber: Wir konnen davon ausgehen, dass die Gelegenheitsstrukturen zur Realisierung von bewerteten Praferenzen in unserem Falle besonders giinstig und insofern die Werteorientierungen der Burger recht bedeutsam sind. Ein zentraler Grund dafiir ist, dass es sich bei den von uns analysierten Gesellschaften u m Demokratien handelt. Hier macht es die Konkurrenz der Eliten um Regierungspositionen und ihre Abhangigkeit von den Willensaufierungen der Burger sehr wahrscheinlich, dass sich die Eliten an den Wiinschen der Burger orientieren imd sich im Hinblick auf die Wiinsche der Burger als responsiv erweisen. Unter den restriktiven Bedingungen einer Diktatur werden sich die Praferenzen der Burger in weit geringerem Mal?e Geh5r verschaffen konnen. Gehen wir z. B. davon aus, dass sich die Mehrheit der Burger in einer Gesellschaft fiir einen islamischen Gottesstaat ausspricht. Diese Werteorientierung im Hinblick auf eine gewiinschte Gesellschaftsordnung lasst sich unter den Restriktionen einer Wettbewerbsdemokratie besser realisieren als unter den Bedingungen einer Militardiktatur, in der das Militar jede Vermischung von Religion und Politik aufs Scharfste sanktioniert. Unter Bedingungen einer Wettbewerbsdemokratie ist es recht wahrscheinlich, dass sich eine Partei
11 Sarah Brosnan und Frans B. M. de Waal (2003) zeigen in ihren Experimenten mit Affen, dass sogar diese in ihren Handlungen offensichtlich einer Gerechtigkeitsnorm folgen, zumindest lehnen sie ungerechte „Bezahlungen'' ab.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
35
finden wird, die die Wiinsche der Bevolkerung aufgreift und in ihr Parteiprogramm integriert, um sich fiir die nachste Wahl bei den Wahlern attraktiv zu machen und damit die eigenen Chancen zu erhohen, gewahlt zu werden und die Regierung zu stellen.^^ Gelingt es der Partei, die Regierungsgeschafte zu iibernehmen, kann sie dazu beitragen, die Vorstellungen der Burger durch einen Gesellschaftsumbau zu realisieren. Die Praferenzen der Burger hatten damit zu einem Strukturwandel der Gesellschaft entscheidend beigetragen. Insofern kann man argumentieren, dass unter den Strukturbedingungen einer Demokratie die kulturellen Orientierungen der Burger eine relevante Bezugsgrofie darstellen, die zu einer Strukturveranderung von Gesellschaft beitragen konnen. Dieses theoretische Argument wird durch empirische Untersuchungen unterstiitzt. Benjamin I. Page und Robert Y. Shapiro (1983) konnen in ihrer haufig zitierten Studie zeigen, dass die Einstellungen der Burger die Entscheidungen der Politiker beeinflussen. Die Veranderungen in den Bevolkerungsmeinungen sind den politischen Entscheidungen vorlaufig (vgl. den Uberblick liber den Forschungsstand in Burstein 1998; 2003). Natiirlich mlinden die Werteorientierimgen der Burger nicht unmittelbar in konkrete Politiken und fuhren nicht direkt zu Strukturveranderungen. Der Weg von den Werten der Burger zu den politischen Entscheidungen ist vielfach gefiltert und lauft, wie die Politikwissenschaft gezeigt hat, liber die Vermittlungsschritte der Interessensartikulation und der Interessensaggregation (vgl. flir viele andere Almond et al. 2003: 42). b. Hieran schliefit ein zweites Argument an, dass die Bedeutsamkeit der Werteorientierungen der Burger einer Gesellschaft begrlindet und sich dabei auf die Stabilitat von Institutionen bezieht. Die politische Kulturforschung, die in der Traditionslinie der von Gabriel A. Almond und
12 Bryan Caplan weist darauf hin: „Whether voters' beliefs are rational or irrational, electoral competition pressures politicians to do what voters want. (...) It is costly for politicians to have biased estimates of voters' reactions to their decisions, but cheap to have biased estimates of policies' actual effects." (Caplan 2003: 219; Hervorhebungen im Original). Selbst wenn also die Eliten im Prinzip proeuropaisch sind, so miissen sie sich doch in ihrer Politik an den Wiinschen der Bevolkerung ausrichten.
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
Sidney Verba verfassten Studie ''The Civic Culture" (1963) steht, geht davon aus, dass politische Institutionen nur dann stabil sind, wenn es eine Kongruenz zwischen den Institutionen einerseits und den Wertorientierungen der Burger andererseits gibt. Ronald Inglehart (1988) hat dieses Argument theoretisch und empirisch weiterentwickelt und damit eine grol3ere Diskussion in der empirisch orientierten Demokratieforschung ausgelost. Unter Kongruenz verstehen er und andere Autoren der politischen Kulturforschung, dass Burger die Grundwerte des politischen Systems, das politische Regime und das faktische Handeln der Politiker unterstiitzen (vgl. auch Fuchs 2002). Wenn dies in einem ausreichenden Mal?e der Fall ist, erweisen sich politische Institutionen als stabil. Die Bedeutsamkeit von politischer Kultur in dem gerade definierten Sinne hat im Kontext der Forschungen zur Transformation der vormals staatssozialistischen Gesellschaften hin zu Demokratien eine enorme Renaissance erfahren (Fuchs und Roller 1998; Merkel 1995; 1999; RohrSchneider 1999; Rose, Mishler und Haerpfer 1998). Damit der Transfer und die Implementation demokratischer Institutionen auch zu einer Stabilisierung dieser Institutionen fiihrt, bediirfen sie der Unterstiitzung durch die Burger. Ob diese aufgrund einer Sozialisation in einem antidemokratischen System dazu die richtigen Werteorientierungen mitbringen, war und ist eine der zentralen Fragen der verschiedenen empirischen Studien der Transformationsforschung (z. B. Transformationsbarometer Osteuropa; vgl. Franzen et al. 2002). Die Bedeutsamkeit der Unterstiitzung von Institutionen durch die Werteorientierungen der Burger wird nicht nur im Hinblick auf das politische System, sondern auch beziiglich der Wirtschaft behauptet. Bezogen auf die vormals staatssozialistischen Gesellschaften kann man auch hier sagen, dass der Institutionentransfer weitgehend gelungen ist. Offen ist aber, ob die okonomischen Institutionen durch die Einstellungen und Werte der Bevolkerung unterstiitzt werden, oder ob aufgrund der Sozialisation in einer sozialistischen Planwirtschaft Orientierungen dominant sind, die die neue marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnimg ablehnen. Die Folgen einer solchen Ablehnung formulieren Okonomen als Kosten. "When changes in formal rules are in harmony with the prevailing in-
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
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formal rules, the incentives they create will tend to reduce transaction costs and free some resources for the production of wealth. When new formal rules conflict with the prevailing informal rules, the incentives they create will raise transaction costs and reduce the production of wealth in the community" (Pejovich 2003: 5). Sowohl aus der Perspektive einer Theorie rationaler Wahl, die die besonderen „constraints" von Demokratien beriicksichtigt, als auch aus der Theorieperspektive, die sich fiir die Bedingungen der Stabilitat von Institutionen interessiert, kann man also plausibel machen, dass die auf die Gesellschaft bezogenen Werteorientierungen der Burger eine relevante Bezugsgrofie fiir die Stabilitat und den Wandel der Struktur der Gesellschaft darstellen. Wir vermuten, dass je hoher die Divergenzen im Hinblick auf die Werteorientierungen zwischen verschiedenen Landern sind, desto hoher ist die Konfliktwahrscheinlichkeit imd desto grolJer sind die Integrationsschwierigkeiten.
1.3.3 Wie kann man die kulturellen Unterschiede zwischen verschiedenen Landern erklaren ? Unser Erkenntnisinteresse gilt nicht allein der Beschreibung kultureller Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Mitglieds- und Beitrittslandern der EU, sondern auch einer Erklarung moglicher Differenzen. Drei grofiere gesellschaftliche Rahmenbedingungen scheinen die Werteorientierungen der Burger besonders stark zu beeinflussen. Je nach Wertebereich muss man die Wirkungsweise der drei Parameter genau spezifizieren; wir werden dies in den einzelnen Kapiteln versuchen. Hier mag eine allgemeine Beschreibung der Faktoren ausreichen. a. Modernisierung und Werteorientierungen: Karl Marx war wahrscheinlich einer der ersten Autoren, der einen kausalen Zusammenhang zwischen den Werten der Menschen einerseits und ihren okonomischen Lebensbedingungen andererseits unterstellt hat. In der Auseinandersetzung mit Hegel und dem deutschen Idealismus hat er versucht herauszuarbeiten, dass nicht das Bewusstsein das Sein, sondern umgekehrt das
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
Sein das Bewusstsein bestimmt (Marx 1972; Marx iind Engels 1969). Unter den Bestimmungsfaktoren des Seins hat Marx den okonomischen Faktoren eine besondere Bedeutimg zugeschrieben. Die Marxsche Annahme, dass der okonomische Wohlstand eines Landes und dessen Distribution durch die Produktivkrafte, vor allem aber durch die Besitzverhaltnisse an Produktionsmitteln bestimmt werden, scheint sich historisch als falsch erwiesen zu haben, wenn man die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaften mit der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften vergleicht. In den kapitalistischen Gesellschaften war der produzierte Reichtum (fiir alle) hoher als in den sozialistischen Gesellschaften. Dieser Befund falsifiziert aber noch nicht die Annahme, dass okonomische Entwicklung und Wohlstand (wie auch immer induziert), einen Einfluss auf die Werteorientierungen der Burger haben. Dieses abstrakte Kerntheorem liegt den verschiedenen Modernisierungstheorien zugrunde. Es wtirde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die komplette Modernisierungstheorie mit ihren vielfaltigen Facetten, die vielfach an der Modernisierungstheorie geaufierten Kritikpunkte und die darauf erfolgten Revisionen zu rekonstruieren (vgl. dazu die Uberblicksartikel von Berger 1996; Inglehart 2001; Kn5bl 2003; Zapf 1998).i3 Erschwerend kommt hinzu, dass die Modernisierungstheorie selbst kein geschlossenes Theoriegebaude darstellt, sondern als Sammelbegriff fiir eine Vielzahl von Theoremen benutzt wird, die in unterschiedlicher Weise den Prozess der Entwicklung von traditionellen Gesellschaften hin zu modernen bzw. postmodernen Gesellschaften beschreiben. Wir wissen bis heute nicht genau, welche Faktoren eine Modernisierung befordert haben und wie die Kausalbeziehungen zwischen den verschiedenen Faktoren zu bestimmen sind. Das Ergebnis des Prozesses der Modernisierung ist aber ein historisch einmaliges Wachstum der Okonomie und des Wohlstands der Biirger. Angus Maddison (1995: 21) hat dies durch die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts pro Einwohner fiir den Zeitraum 1820 bis 1992 eindrucksvoll belegt. Wie auch immer man
13 Einen immer noch sehr guten Uberblick uber die verschiedenen Ansatze gibt dariiber hinaus der von Wolfgang Zapf (1971) herausgegebene Sammelband.
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
39
aber das Wachstum iind die Wohlstandsentwicklung sich modernisierender Gesellschaften erklaren kann, auf der Ebene der Phanomenbeschreibung gibt es eine weitgehende Ubereinstimmiing zwischen den verschiedenen Theoretikem, dass modernisierte Gesellschaften durch ein Set von Merkmalen beschreibbar (nicht erklarbar) sind, die zusammen ein Syndrom bilden (vgl. Norris 2002: 20ff.). Daniel Bell (1979; 1996) unterscheidet zwei Phasen des Modemisierungsprozesses. Die erste Phase bezeichnet er als Industrialisierung. Moderne Gesellschaften als industrialisierte Gesellschaften grenzt Bell gegeniiber traditionellen Gesellschaften ab. Traditionelle Gesellschaften wiederum sind durch ein spezifisches Syndrom von Merkmalen gekennzeichnet: Der dominante Produktionsbereich ist der der Landwirtschaft; Produktions- und Konsumtionseinheiten bilden meist Familien; der Grad der Technisierimg der landwirtschaftlichen Produktion ist gering. Die zentrale Vergemeinschaftungseinheit bildet die Familie und die Verwandtschaft; das Bildungsniveau ist gering, der Grad der Urbanisierung ebenfalls. Modernisierung im Sinne von Industrialisierung meint, dass die industrielle Produktion von Giitern der dominante Produktionsbereich wird und Fabriken und formale Organisationen die dominanten Produktionseinheiten werden; Giiter und Dienstleistungen werden iiber Markte vermittelt und distribuiert; der Grad der Technisierung der Produktion ist hoch, das Bildungsniveau steigt an, die Urbanisierung ebenfalls. Die Ausbildung von Gesellschaften mit diesen Merkmalen fiihrt insgesamt zu einer enormen Verbesserung des Wohlstandsniveaus. Die zweite Phase der Modernisierung bezeichnet Bell (1979) als Postindustrialisierung; Inglehart (1997) spricht von Postmodernisierung. Postindustrialisierung ist mit einer Bedeutungszunahme des Dienstleistungssektors verbunden, so dass dieser zum dominanten Produktionsbereich wird. Technik und Wissenschaftsentwicklung gewinnen zunehmend an Bedeutung, das Niveau der Bildung einer Gesellschaft steigt erheblich. Zugleich sind postindustrielle Gesellschaften Wohlstandsgesellschaften, in denen durch Massenkonsum und Wohlfahrtsstaatsentwicklung ein historisch einzigartiges Niveau des verfiigbaren Einkom-
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1. Fragestellimg und konzeptioneller Rahmen
mens und des Konsums fiir breite Bevolkerimgsteile erreicht wird bei gleichzeitig hoher sozialer Sicherheit. Mit der Modernisierung gehen spezifische Werteorientierungen einher. David McClelland (1961) hat in seinen Untersuchungen gezeigt, dass fiir moderne, industrialisierte Gesellschaften eine starke Leistungsorientierung typisch ist. Entsprechend bezeichnet er moderne Gesellschaften auch als „achieving society". Neben einer Leistimgsorientieriing gewinnen individuelle Verantwortung, Wettbewerbsorientierung und die Ablehnung von Fremdbestimmung an Bedeutimg. Andere Autoren gehen davon aus, dass mit einer okonomischen Modernisierung Sakularisierungsprozesse verbunden sind. Religion als das „ Opium fiir das Volk" verliert, so die Annahme der Marxschen Religionssoziologie, dann an Bedeutung, wenn die faktischen okonomischen Lebensbedingungen den Bedarf an ideologischen Kompensationen fiir die Widrigkeiten der Welt sinken lassen. Mit der Entwicklung hin zu postindustriellen Gesellschaften sind wiederum spezifische Werteorientierungen verbunden, die zum Teil die modernen Werte konterkarieren. Im Hinblick auf die Wirtschaftseinstellungen betont Bell, dass die fiir die Industrialisierungsphase konstitutiven Werte wie Leistungs- und Wettbewerbsorientierung, Sparsamkeit und Konsumverzicht ersetzt werden durch eine hedonistische Orientierung (Bell 1979): Pflichtorientierung wird durch eine Spai?orientierung, Arbeit durch Freizeit und rationale Planung durch emotionale Orientierungen ersetzt. Eine ganz ahnliche Argumentationsfigur und Hypothesenformulierung findet man in den Arbeiten von Ronald Inglehart (1997): Die Zunahme der Moglichkeit der Befriedigung materieller Bediirfnisse fuhrt mit einer Zeitverzogerung, so die Inglehartsche These des Wertewandels, zu einer Werteverschiebung in Richtung auf postmaterielle Werte. Zu den postmateriellen Werten gehoren u. a. Wiinsche nach Selbstentfaltung und Partizipation. Was bedeuten diese Uberlegimgen fiir unsere Fragestellung? Sicher ist: Die von uns untersuchten Gesellschaften unterscheiden sich im Grad der okonomischen Modernisierung imd des damit verbimdenen produzierten gesellschaftlichen Wohlstandes. Wir vermuten, dass der Grad der
1.3 Der konzeptionelle Rahmen
41
Modemisierimg einen Einfluss auf die Werteorientierung ihrer Burger hat. Ob und in welchem Mai?e dies der Fall ist, wollen wir empirisch priifen. b. Kulturell-religiose Traditionslinie eines Landes: Wenn Karl Marx der Kronzeuge der Klassiker ist, den man in den Zeugenstand rufen muss, wenn man die Wirkungsmacht der Okonomie auf die Werteeinstellungen formulieren will, dann ist Max Weber sicherlich der Klassiker, auf den man verweisen muss, wenn man die Wirkungsmacht von Religion auf die Werteorientierungen der Menschen plausibel machen mochte. „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder', welche durch ,Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Djmamik der Interessen das Handeln fortbewegte" (Weber 1988: 252). In dem bekannten Zitat formuliert Weber seine Vorstellung der Wirkungsmachtigkeit von Weltbildem auf die Handlungen von Menschen. Seine religionsvergleichenden Untersuchungen gelten dem Versuch zu zeigen, dass der Geist des Kapitalismus - selbst kultureller und konstitutiver Bestandteil der Entstehung des Kapitalismus - religiosen Ursprimgs ist. Die Entstehung des kapitalistischen Geistes setzt Weber bekanntlich in einen ursachlichen Zusammenhang mit den Ideen des asketischen Protestantismus. Den Kausalnexus zwischen religiosen Vorstellungen einerseits (Protestantische Ethik) und Wirtschafts- und Berufsvorstellungen andererseits (Geist des Kapitalismus) begriindet er argumentativ, indem er einerseits die innere Logik des Weltbildes des asketischen Protestantismus mit der inneren Logik des Weltbildes des Katholizismus vergleicht und andererseits beide Religionsvorstellungen mit dem Weltbild einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung in Beziehung setzt (vgl. Lepsius (1986) fiir eine sehr pragnante Zusammenfassung der Argumentation Webers). Das Weltbild des Protestantismus - so die Struktur des Weberschen Arguments - hat im Unterschied zu den Religionsvorstellungen des Katholizismus insofern einen ursachlichen Effekt auf eine kapitalistische Wirtschaftsgesinnung, als in ihm Arbeitsund Berufswerte als verbindlich definiert werden, die auch bedeutsame Werte einer kapitalistischen Gesinnung darstellen. Die inhaltliche Flil-
42
1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
lung der Struktur dieser Argumentation ist hinreichend bekannt und muss hier nicht wiederholt werden. Auch wenn Weber seine religionssoziologischen Studien zur Erklarung der Entstehung des Kapitalismus nicht als eine alternative, sondern eher als eine erganzende Erklarung zu Marx betrachtet hat, hat ihn die Sekundarliteratur sehr friih zum Antipoden von Marx stilisiert. Die Vorstellung, dass die kulturell-religiose Traditionslinie eines Landes starken Einfluss auf die Handlungen der Blirger ausiibt, ist in der Nachfolge Webers von einer Vielzahl von Autoren aufgegriffen und theoretisch und empirisch ausformuliert worden. Vor allem die historischvergleichenden Forschungen von Samuel Eisenstadt (1992; 2000), dann die Arbeiten von Wolfgang Schluchter (1988; 1991) und von Bjorn Wittrock (2001) sind hier zu erwahnen. Neben diesen eher historischphilologisch argumentierenden Studien haben systematisch-empirische Arbeiten die Bedeutsamkeit von Kultur als „unabhangige" Variable herausgearbeitet und dies in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Im Bereich der internationalen Politik beschreibt Samuel P. Huntington (1996) in seinem umstrittenen Werk „Der Kampf der Kultur en" die Struktur der nach 1989 entstandenen weltpolitischen Ordnung. Er geht davon aus, dass die internationalen Konfliktlinien nach dem Ende des Ost-West-Konflikts durch kulturelle Unterschiede bestimmt sein werden. Die kulturellen Unterschiede speisen sich wiederum in erster Linie aus den die Kulturkreise bestimmenden Weltreligionen. Vor allem der Konflikt zwischen der westlichen, in einer christlichen Traditionslinie stehenden Welt einerseits und der arabischen, in einer moslemischen Traditionslinie stehenden Welt andererseits wird demzufolge die Zukunft intemationaler Konflikte bestimmen. Auch im Bereich der Wirtschaftssoziologie und Entwicklungslandersoziologie ist die Variable „Kultur" als unabhangige Variable wiederentdeckt worden. Lawrence E. Harrison (2000: 296) vermutet sogar, dass die lange vorherrschende Dependenztheorie langsam durch ein Kulturparadigma ersetzt wird. Es liegt mittlerweile eine Menge an empirischen Evidenzen vor, die belegen, dass man die Wirtschaftsentwicklimg eines Landes nicht (nur) auf strukturelle Abhangigkeiten zuriickfiihren kann
1.3 Per konzeptionelle Rahmen
43^
(vgl. Landes 2000; Porter 2000). Manche Lander haben sich trotz ahnlich schlechter okonomischer Ausgangsvoraussetziingen in den letzten 30 Jahren wirtschaftlich enorm entwickelt, andere Lander wiederum stagnierten bzw. haben ein riicklaufiges Wirtschaftswachstum zu verzeichnen. Ghana und Siidkorea hatten z. B. in den 60er Jahren eine ahnliche okonomische Ausgangssituation. 30 Jahre spater hatte Siidkorea ein 15fach hdheres Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner als Ghana (Huntington 2000: XIII). Es gibt nicht wenige Analysten, die die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklimg auf Unterschiede in der Wirtschaftskultur und diese wiederum auf Unterschiede der Religionsorientierung ursachlich zuriickfiihren. Weiterhin hat das Konzept der Kultur auch in der vergleichenden Politikwissenschaft eine Renaissance erfahren (vgl. Lane und Errson 2002). Ronald Inglehart wird nicht miide zu betonen und empirisch nachzuweisen, dass die Entwicklimg und Stabilitat von Demokratien von kulturellen Faktoren abhangig ist. Seymour Martin Lipset und Gabriel Salman Lenz (2000) konnen zeigen, wie Familienkulturen einerseits und - wiederum - Religionsorientierungen andererseits Unterschiede im Ausmafi von Korruption in verschiedenen Landern erklaren konnen. SchliejGlich spielen kulturelle Faktoren eine (wiederentdeckte) bedeutsame RoUe bei dem Versuch der Erklarung, warum bestimmte ethnische Minderheiten erfolgreich, andere weniger erfolgreich im Erreichen von Statuspositionen innerhalb der Sozialstruktur der USA sind (vgl. Glazer 2000; Patterson 2000). Besonders interessant fiir unsere Fragestellung sind die Versuche, mit Hilfe der Daten des „World Values Survey" die These Huntingtons zu iiberprtifen, dass die religios definierten Kulturkreise die Werteorientierungen ihrer Burger pragen (Esmer 2002; Inglehart imd Baker 2000; Inglehart, Norris und Welzel 2002; Norris imd Inglehart 2002). Wir kniipfen mit unserer Untersuchung vor allem an die zuletzt genannten kulturvergleichenden Studien an und gehen theoretisch davon aus, dass die verschiedenen Religionsgemeinschaften, die es in der EU und den Beitrittslandern gibt, eigenstandige Perspektiven im Hinblick auf eine ideale Gesellschaft entwickelt haben, und dass diese Vorstellungen die Glaubigen
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
der Religionsgemeinschaften beeinflussen. Wir werden fur die verschiedenen Wertebereiche jeweils rekonstruieren, welche Vorstellungen in den Religionen existieren und dann empirisch priifen, ob diese flir die Vorstellungen der Burger wirkungsmachtig sind oder nicht. Im Unterschied zu oft nur mit Beispielen arbeitenden Kultursoziologen werden wir in der Lage sein zu priifen, ob und in welchem MaiSe die Werteinstellungen der Burger wirklich von den Religionen beeinflusst werden. Dariiber hinaus kdnnen wir den relativen Erklarungswert von Kultur im Vergleich zu okonomischen Modernisierungsfaktoren bestimmen. c. Politisch-institutionelle Ordnung: SchlieiJlich gehen wir davon aus, dass die politisch-institutionelle Ordnung eines Landes einen Einfluss auf die Werteeinstellungen der Burger hat; und da sich die von uns untersuchten Lander in ihrer Institutionenordnung voneinander unterscheiden, vermuten wir, dass diese Differenz zum Teil die Unterschiede in der Werteorientierung erklaren kann. Autoren, die die Bedeutsamkeit nationaler Institutionen betont haben, haben sich mit diesem Argument vor allem gegen modernisierungstheoretische Annahmen gewandt, die haufig von einer Konvergenz modernisierter Gesellschaften ausgehen (vgl. den Uberblick in Skocpol und Amenta 1986; Thelen 1999). Peter Flora und Jens Alber (1981) zeigen z. B., dass der Grad der Industrialisierung eines Landes nicht die Einfiihrung von Sozialversicherungssystemen erklaren kann. Im Bereich der Analyse industrieller Beziehungen und des Wohlfahrtsstaats, der vergleichenden Demokratieforschung, der vergleichenden Familienforschung und des Vergleichs von Gesundheitssystemen liegt mittlerweile erne Fiille von Untersuchungen vor, die zeigen, dass die jeweiligen Nationalstaaten eigene Institutionensysteme entwickelt haben, und dass diese einen pragenden Einfluss auf eine Vielzahl von unterschiedlichen abhangigen GroiSen haben. Dabei stehen vor allem „ policies" (Angebot an Kinder gar tenplatzen, Verrentungsregeln, Sozialversicherimgsregeln, Arbeitsmarktpolitik, Organisationsgrad von Gewerkschaften etc.) im Vordergrund der Analyse der abhangigen Variable. Die Literatur in diesem Bereich ist so reichhaltig, dass wir nicht im Einzelnen darauf eingehen konnen.
1.4 Zur Methodik der Studie
45_
Komparative Analysen, die den Einfluss imterschiedlicher staatlicher Institutionenordnungen auf individuelle Merkmale, wie z. B. die Gestaltung des Lebenslaufs, untersuchen, liegen aber nur wenige vor (vgl. Mayer und Schoepflin 1989); dies gilt besonders und vor allem fur die Frage, wie nationalstaatlich verfasste Institutionen die Werteeinstellungen der Burger beeinflussen. Eine solche Wirkungsrichtung scheint uns aber theoretisch nicht unplausibel zu setn. Die Lander unterscheiden sich z. B. in dem Ausmai?, in dem der Staat in die Wirtschaft eingreift bzw. im Typus des Wohlfahrtstaates, der implementiert ist. Wir vermuten, dass die Wirtschaftsvorstellungen der Biirger, aber auch die Einstellungen in den anderen Wertebereichen, durch die jeweilige politische Ordnung im Land beeinflusst werden. Wir werden in den einzelnen Kapiteln genauer spezifizieren, welche Ordnungsmerkmale welche Effekte auf die Werteorientierungen haben. Die statistische Priifung der Erklarungskraft der verschiedenen Variablenkomplexe auf die jeweiligen Werteorientierungen der Burger erfolgt mit Hilfe von Regressionsanalysen.
1.4 Zur Methodik der Studie Unsere empirischen Analysen beziehen sich auf drei verschiedene Datenquellen. 1. Inhaltsanalyse: Wir rekonstruieren das kulturelle Selbstverstandnis der EU aus dem Primar- und Sekundarrecht der EU. Dabei unterscheiden wir verschiedene Wertspharen - Religion, Familie und Geschlechtsrollen, Okonomie, Wohlfahrtsstaat sowie Politik - und bestimmen inhaltlich, welche Vorstellungen die EU im Hinblick auf diese Wertspharen entwickelt hat. Da der Textkorpus zur Rekonstruktion der Vorstellungen der EU recht eingeschrankt ist, zudem das Recht hierarchisch aufgebaut ist (was es erlaubt, Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen), bedarf es keiner systematischen Inhaltsanalyse, um das Gesellschaftsbild der EU zu bestimmen. Zudem liegen fiir die meisten Bereiche bereits entspre-
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1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
chende Ubersichten vor. Wir werden durch Zitate und Textverweise unsere Interpretation des europaischen Rechts plausibel machen. 2. Bevolkerungsbefragungen zu Werteorientierungen: Die Kultur der Gesellschaften der EU bestimmen wir vermittels der Messung der Werteorientieriing ihrer Burger. Auch die religiose Traditionslinie bestimmen wir auf der Basis von Umfragedaten. Die wichtigste Datengrundlage fiir unsere Analysen bildet die „European Values Study" bzw. „Europaische Wertestudie'' von 1999/2000.^^ Diese Befragung steht im Kontext mehrerer ahnlich gelagerter Wertestudien, die seit 1981 durchgefiihrt wurden. Die erste Europaische Wertestudie (EVS) wurde 1981 durch Initiative der „European Values Systems Study Group" (EVSSG) unter der Flihrung von Jan Kerkhofs und Ruud de Moor durchgefiihrt. Unter der Mitarbeit eines Beratungskomitees, bestehend aus Gordon Heald, Juan Linz, Elisabeth Noelle-Neumann, Jacques Rabier und Helene Riffault fanden Befragungen in zehn westeuropaischen Gesellschaften zu den Einfliissen von Werten und Einstellungen auf das politische und soziale Leben statt. Diese Befragung wurde in weiteren 14 Landern wiederholt - imd unter dem ^Label" World-Values-Survey (WVS) 1981-84 zusammengefasst. Die zweite Untersuchungswelle wurde 1990-93 durchgefiihrt. Das Koordinationskomitee, bestehend aus Ruud de Moor, Jan Kerkhofs, Karel Dobbelaere, Loek Halman, Stephen Harding, Felix Heunks, Ronald Inglehart, Renate Koecher, Jacques Rabier und Noel Timms vereinigte das EVS-Team mit den WVS-Initiatoren und organisierte eine Befragimgswelle in 42 Landern der Welt. Die Weltwertestudie wurde in den Jahren 1995-97 wiederholt, mit besonderem Augenmerk auf die politischen Kulturen in den neu entstandenen Demokratien. Die europaische Forschergruppe nahm daran allerdings nicht teil. Die dritte Welle der Europaischen Wertestudie fand 1999/2000 statt; sie ist wiederum Teil der fast parallel in weiteren Lan-
14 Sehr gute Informationen zur European Values Study und zum World Values Survey findet man unter folgenden beiden Netzseiten: http://www.europeanvalues.nl und http://wvs.isr.umich.edu.
1.4 Zur Methodik der Studie
47
dern, allerdings mit leicht abweichendem Fragebogen, durchgefiihrten Weltwertestudie. Die Europaische Wertestudie von 1999/2000 ist flir iinsere Fragestellung die beste Datenquelle, weil sie die meisten der Mitglieds- und Beitrittslander der EU umfasst (vgl. Halman 2001). Die EVS hat zusatzlich den Vorteil, dass sie relativ aktuell ist.^^ Der Datensatz ist iiber das Zentralarchiv fiir empirische Sozialforschung in Koln iinter der Nummer 3811 zu beziehen. Die nationalen Stichproben sind mit mindestens 1000 zufallig ausgewahlten Befragten fiir die jeweilige Gesellschaft reprasentativ. Befragt wurden Personen ab dem 18. Lebensalter in Form einer miindlichen Befragung. Die in der Europaischen Wertestudie von 1999/2000 beteiligten Lander, deren Primarforscher und die jeweilige Anzahl der Befragten sind in Tabelle 1.3 zusammengefasst. Zusatzlich ist noch die Rate der tatsachlich zustande gekommenen Interviews in den jeweiligen Landern („response rate") angegeben.
^5 Die Aufbereitung international vergleichender Datensatze verlangt einen hohen Koordinationsaufwand und dementsprechend Zeit. Der komplette Datensatz der EVS wurde im April 2003, also zwei Jahre nach Abschluss der Datenerhebungen, vorgestellt und Ende Juni desselben Jahres fiir die Forschung freigegeben.
48 1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen Tabelle 1.3: Land Belgien Bulgarien Danemark Deutschland Estland Finnland Frankreich Griechenland Grofibrit. Irland Island Italien Kroatien Lettland Litauen Luxemburg Malta Niederlande Nordirland Osterreich Polen Portugal Rumanien Russland Schweden Slowakei Slowenien Spanien Tschechien Tiirkei Ukraine Ungarn
Informationen zur Europaischen Wertestudie 1999/2000 Primarforscher Karel Dobbelaere, Jaak Billiet Georgy Fotev, Atanas Atanasov, Mario Marinov Peter Gundelach Wolfgang Jagodzinski, Hans-Dieter Klingemann Andrus Saar Juhani Pehkonen Jean-Frangois Tchemia James Georgas, Kostas Mylonas, Aikaterini Gari Helmut Anheier, Stephen Harding Tony Fahey, Bernadette C. Hayes, Richard Sinnott Fridrik H. Jonsson, Stefan Olafsson Renzo Gubert Josip Baloban Brigita Zepa Stanislovas Juknevicius, Rasa Alisauskiene Pol Estgen, Michel Legrand Anthony M. Abela Wil Arts, Jacques Hagenaars Bernadette C. Hayes, Tony Fahey, Richard Sinnott Paul M. Zulehner Aleksandra Jasinska-Kania, Mira Marody, Joanna Konieczna Jorge Vala, Alice Ramos, Manuel Villaverde Cabral Malina Voicu, Catalin Zamfir, Lucien Pop Elena Bashkirowa Thorleif Pettersson, Bi Puranen Zuzana Kusa Brina Malnar, Niko Tos Javier Elzo, Francisco Andres Orizo Ladislav Rabusic Yilmaz Esmer Olga N. Balakireva Miklos Tomka
Menge der Befragten 1912
Response rate (in %) k.A.
1000
88,0
1023
57,0
2036
42,0
1005 1038 1615
13,1 k.A. 42,0
1142
82,0
1000
80,0
1012
62,0
968 2000 1003 1013 1018 1211 1002 1003
65,5 68,0 k.A. k.A. 75,0 73,0 k.A. 39,6
1000
68,4
1522
77,0
1095
73,0
1000
k.A.
1146 2500 1015 1331 1006 1200 1908 1206 1195 1000
k.A. 72,9 41,0 95,0 53,0 k.A. 65,0 k.A. 66,0 87,5
1.4 Zur Methodik der Studie
49
Die Bestimmung der Kultur eines Landes mit Hilfe der durch Umfragen gewonnenen Werteorientierungen der Burger ist ein nicht ganz unproblematisches Vorgehen und dies aus mehreren Griinden. a. Man setzt voraus, dass die Fragen eines Fragebogens von den Befragten in den verschiedenen Landern gleich oder ahnlich verstanden werden, so dass diese auf bedeutungsgleiche Stimuli antworten. Kritiker der vergleichenden Umfrageforschung machen geltend, dass die Kulturunterschiede zwischen verschiedenen Landern bereits das Verstandnis von Fragen beeinflussen konnen, die Fragen also nicht das gleiche messen, und man entsprechend die Ergebnisse nicht vergleichen kann. Auch wenn die Schlussfolgerung der Kritik vielleicht etwas iibertrieben ist, kann man die Einwande nicht ganz von der Hand weisen. Die Internationale Zusammensetzung von Forschungsteams und die Technik der Riickiibersetzung von Fragen sind angewandte Techniken, den „Kulturbias" von Fragen zu neutralisieren. Wenn in den Forschergruppen Mitglieder aus alien befragten Landern beteiligt sind und wenn man unterstellt, dass diese mit den kulturspezifischen Bedeutungen von Fragen vertraut sind, ist dies eine institutionalisierte Kontrolle gegenliber der Verwendung von Fragen, die in einer Gesellschaft eine abweichende Bedeutung hatten. Weiterhin versucht man durch die Ubersetzung von Fragen und die Riickubersetzimg in die Ausgangssprache mogliche unterschiedliche Bedeutungen von Fragen zu entdecken und dann zu neutralisieren. b. Bei unserer Analyse von Umfragen handelt es sich um eine Sekundaranalyse. Die Umfragen wurden also nicht gesondert fiir unseren Projektzusammenhang erhoben. Entsprechend kdnnen unsere Analysen auch nicht dem Lehrbuchablauf eines Forschungsprozesses folgen: Man definiert die Fragestellung, macht eine dimensionale Analyse der zu messenden theoretischen Konstrukte und bestimmt dann die Indikatoren in Form von Fragen einer Umfrage, die die theoretischen Konstrukte messen sollen. Wir miissen in unseren Analysen auf Fragen zuriickgreifen, die wir nicht selbst formuliert haben und die zum Teil fiir andere Forschungsfragen formuliert worden sind. Daraus kann sich grundsatzlich ein Missverhaltnis zwischen den aus der theoretischen Fragestellung
50
1. Fragestellung und konzeptioneller Rahmen
abgeleiteten Dimensionen einerseits und den Daten zur Messung dieser Dimensionen andererseits ergeben. Und in der Tat werden wir feststellen und in den folgenden Kapiteln erlautern, dass wir fiir manche Gesellschaftsvorstellungen der EU keine geeigneten Fragen finden, um diese auf der Ebene der Burger abzubilden, bzw. nur Fragen zur Verfiigung haben, die das theoretische Konstrukt nur annahernd messen konnen. Dies konnen wir dann nur explizieren und damit ausweisen. Zugleich wird sich aber zeigen, dass wir eine Vielzahl von theoretischen Konstrukten recht gut mit den Fragen der Europaischen Wertestudie operationalisieren konnen. Die Einwande gegen eine vergleichende Kulturanalyse auf der Basis einer Sekundaranalyse von Umfragedaten machen deutlich, dass wir nur in der Lage sein werden, ein recht grobkorniges Bild der kulturellen Verfasstheit der Lander der europaischen Union und der Beitrittslander zu zeichnen. Wir werden im Einzelfall spezifizieren, welche Dimensionen wir nicht oder nicht sehr gut messen konnen. Dass das gezeichnete Bild iiber die kulturelle Verfasstheit Europas aber nicht nur aus methodischen Grlinden grobkornig sein wird, hangt mit der spezifischen Perspektive der Analyse zusammen. Wenn man die Kultur verschiedener Gesellschaften beschreiben will, muss man notgedrungen eine gewisse Abstraktionshohe einnehmen und gleichsam aus einer Hohendistanz auf die Gesellschaften schauen, sonst kann man sie in toto nicht iiberblicken. Tut man dies, dann verliert man die kleinen Taler und Berge, die einzelnen Menschen und Situationen aus dem Blick. Die Perspektive des Weitwinkels ist nolens volens erkauft um den Preis geringerer Tiefenscharfe. Insofern ist eine komparative Beschreibung der Kultur verschiedener Gesellschaften immer vergrobernd. Umgekehrt gilt aber, dass sich die Unterschiede imd Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Gesellschaften nicht aus der Perspektive der Bodenhaftung beschreiben lassen. Eine solche Perspektive ermoglicht zwar eine detaillierte Beschreibung der Gegebenheiten vor Ort, der nachste Berg verstellt aber bereits die Sicht auf das Gesamte, und verfuhrt Analysten recht haufig dazu, ihre Befunde zu generalisieren, ohne
1.4 Zur Methodik der Studie
51_
dass dies empirisch abgesichert ware. Der Vergleich wird daher gerne als „engine of knowledge" (Dogan iind Pelassy 1990: 8) bezeichnet. 3. Makroindikatoren: Das Ziel unsere Studie besteht nicht nur in der Beschreibung der kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Lander, sondern auch in der Erklarung der gefundenen Unterschiede. Zur empirischen Bestimmung der unabhangigen Variablen greifen wir einerseits auf die Umfragedaten selbst zuriick. Ob z. B. die verschiedenen Religionen einen Einfluss auf die Familienvorstellungen der Burger oder auf ihre Vorstellung von der Trennung von Religion und Staat haben, priifen wir, indem wir die Mitgliedschaft der Burger in den verschiedenen Religionen als erklarende Variable mit in die statistischen Analysen aufnehmen. Manche unabhangigen Variablen konnen wir aber nicht auf der Ebene der einzelnen Befragten operationalisieren. Hier greifen wir auf Makro-Variablen zuriick. a. Wir gehen davon aus, dass der Grad der Modernisierung einen Einfluss auf die Werteorientierung der Biirger hat. Zur Messung des Grads der Modernisierung werden in der Literatur zwei verschiedene Indikatoren benutzt. Zum einen bietet sich der „ Human Development Index" (HDI) an. Dieser wird vom „United Nations Development Programme" jahrlich fiir fast alle Lander der Erde erhoben. In den HDI gehen mehrere Mafizahlen zur Bestimmung des Grads der Modernisierung ein: das reale Bruttosozialprodukt pro Einwohner, das Bildungsniveau und die durchschnittliche Lebenserwartung. Eine alternative Messung des Grades der okonomischen Modernisierung besteht in der Bestimmung des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts pro Einwohner. Der „Human Development Index" hat im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt pro Kopf den Vorteil, dass er iiber eine rein okonomische Messung hinausgeht imd damit sensibler ist fiir das allgemeine Wohlstandsniveau in einer Gesellschaft. Es macht fiir die Biirger in zwei Gesellschaften mit dem gleichen Niveau des Bruttoinlandprodukts pro Einwohner einen Unterschied, ob sie in etner Gesellschaft leben, in der dieser Reichtum asymmetrisch verteilt ist oder in einer Gesellschaft, in der er fiir eine Verbesserung von Bildimg und Gesundheit genutzt wird und damit die Wohlfahrt von alien erhoht wird. Wir werden in unseren Analysen vor
52
1. Fragestellimg und konzeptioneller Rahmen
allem den „Human Development Index" verwenden. In Tabelle 1.4 sind beide Werte aufgenommen. Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2000 (Human Development Report Office 2000). b. Wir vermuten weiterhin, dass die politisch-institutionelle Ordnung eines Landes einen Einfluss auf die Werteeinstellimgen der Burger hat. Worin dieser Einfluss genau besteht, muss man pro Wertebereich spezifizieren. Die Lander unterscheiden sich z. B. in dem Ausmafi, in dem sie eine Trennung von Staat und Kirche institutionalisiert haben. Wir vermuten, dass dies einen Einfluss auf die Sichtweisen der Burger im Hinblick auf die Trennung der Spharen von Kirche und Staat hat. Wir werden entsprechend versuchen, die Lander nach dem Grad der institutionellen Trennung von Staat und Kirche zu klassifizieren und diese Grofie in die erklarende Analyse aufnehmen. Im Hinblick auf die Familienvorstellungen gehen wir von der Vermutimg aus, dass die politische Forderung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau durch die jeweilige Politik eines Landes einen Einfluss auf die GeschlechtsroUenvorstellungen hat. Wir messen die Geschlechterpolitik eines Landes durch das sogenannte „Gender Empowerment Measure" (GEM). Ahnlich wie der Human Development Index wird das „ Gender Empowerment Measure" vom „United Nations Development Programme" erhoben und fiir sehr viele Lander der Erde bestimmt (Human Development Report Office 2000). Gemessen wird der Grad der institutionalisierten Gleichberechtigung. Der Index setzt sich aus drei Variablen zusammen: Der Anteil der Frauen und Manner im Parlament, der Anteil der Frauen und Manner an Fiihrungspositionen in Wirtschaft und Politik und die Unterschiede zwischen Mannern und Frauen im Einkommen. Bei kompletter Gleichheit zwischen Mann und Frau erhalt der Index den Wert 1, bei kompletter Ungleichheit den Wert 0. Die Werte fiir Frankreich, Luxemburg, Malta und Bulgarien fehlen leider. Beziiglich der Akzeptanz der von der EU favorisierten Wirtschaftsordnung gehen wir davon aus, dass eine Sozialisation der Biirger in einer sozialistischen Planwirtschaft oder einer kapitalistischen Marktwirtschaft zu unterschiedlichen Vorstellungen von einer idealen Wirtschaftsordnung fiihren wird. Entsprechend klassifizieren wir die Lander entlang
1.4 Zur Methodik der Studie
53-
des Kriteriums „Marktwirtschaft/sozialistische Planwirtschaft" und verwenden als Indikator die Anzahl der Jahre unter einem sozialistischen Regime. Unabhangig von der sozialistischen Vergangenheit eines Landes gehen wir davon aus, dass das AusmalG der Staatseingriffe in eine Wirtschaft die Einstelliingen der Burger zur Wirtschaft pragt. Grofiere Staatseingriffe fuhren meist dazu, dass der Wettbewerb reguliert wird und die Anreize ftir individuelle Leistungen, etwa aufgrund hoher Steuern, sinken. Es gibt verschiedene Moglichkeiten, den Einfluss des Staates zu messen. Ein moglicher Indikator ist die auch in den „Index of Economic Freedom" eingehende Berechnung der „Size of Government'' (Gwartney und Lawson 2003).^^ Die Mafizahlen fiir die verschiedenen in unseren Analysen benutzten Makroindikatoren haben wir in Tabelle 1.4 aufgelistet.
16 Er gibt an, inwieweit Ressourcen in den verschiedenen Landem iiber individuelle Wahl und Markte statt iiber politische Prozesse verteilt werden. Diese Grofie errechnet sich wiederum aus vier verschiedenen Indikatoren: "A General government consumption spending as a percentage of total consumption B Transfers and subsidies as a percentage of GDP C Government enterprises and investment as a percentage of GDP D Top marginal tax rate (and income threshold to which it applies)" (Gwartney und Lawson 2003: 8).
54
1. Fragestellimg imd konzeptioneller Rahmen
Tabelle lA:
EU-15 Frankreich Grofibritannien Deutschland Osterreich Italien Spanien Portugal Belgien Danemark Schweden Finnland Irland Griechenland Luxemburg Beitritt I Estland Lettland Litauen Polen Tschechien Slowakei Ungarn Slowenien Malta Beitritt II Rumanien Bulgarien Tiirkei
Makroindikatoren zur Beschreibung der verschiedenen Gesellschaften Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner (PPPUS$)
Human Development Index (HDI)
Gender Empowerment Measure (GEM)
Size of Government in Economy (EFW)
Jahre unter sozialistischer Herrschaft (SOZANNO)
24,223 23,509 25,103 26,765 23,626 19,472 17,290 25,657 27,178 27,627 24,277 24,996 29,866 16,501 50,061
0,928 0,928 0,925 0,926 0,913 0,913 0,880 0,935 0,939 0,926 0,941 0,930 0,925 0,885 0,925
0,656 0,756 0,710 0,524 0,615 0,618 0,739 0,725 0,791 0,794 0,757 0,593 0,456
2,3 6,2 4,5 3,4 4,6 4,6 5,1 4,5 3,5 3,6 3,0 4,1 6,1 6,4 4,5
0 0 0/44 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
10,066 7,045 7,106 9,051 13,991 11,243 12,416 17,367 17,273
0,826 0,800 0,808 0,833 0,849 0,835 0,835 0,879 0,875
0,537 0,540 0,531 0,512 0,537 0,533 0,487 0,519
5,4 5,2 5,6 3,5 4,6 3,5 4,8 2,9 5,9
51 51 51 42 30 30 40 45 0
6,423 5,710 6,974
0,775 0,779 0,742
0,405
4,0 4,0 7,1
26 20 0
-
0,321
1.5 Zusammenfassung
55
1.5 Zusammenfassung Wir gehen davon aus, dass das Gelingen einer Erweiterung der EU nicht alleine eine Frage okonomischer Konvergenz ist, sondern auch eine kulturelle Komponente besitzt; die EU hat sich selbst im Zuge einer Vertiefung der Integration zunehmend als Wertegemeinschaft definiert. Wir konzentrieren uns in den kommenden Kapiteln auf die Analyse der kulturellen Differenzen zwischen den EU-Landern und den Beitrittslandern. Unter Kultur verstehen wir dabei die zeitlich relativ stabilen nnd abstrakten Vorstellungen einer wiinschenswerten Gesellschaft, die sich auf verschiedene Wertspharen beziehen und die von den Biirgern oder Institutionen einer Gesellschaft geteilt werden. Der normative Bezugspunkt unserer Analysen bildet dabei das kulturelle Selbstverstandnis der EU, wie es sich im Primar- und Sekundarrecht findet. Die Vorstellungen der EU konfrontieren wir mit den landerspezifischen Kulturen. Diese operationalisieren wir iiber die Einstellungen und Werte der Burger, wie sie sich mit Hilfe von international vergleichenden, reprasentativen Bevolkerungsumfragen erheben lassen. Neben einer Deskription versuchen wir die kulturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erklaren. Dabei erweisen sich vor allem drei Variablenkomplexe - der Modernisierungsgrad einer Gesellschaft, die kulturell-religiose Traditionslinie eines Landes und die politisch-institutionelle Ordnung als zentrale Erklarungsfaktoren.
2. Religion im erweiterten Europa
Religion war und ist ein Zentralbestand der Kultur einer Gesellschaft und damit auch ein zentraler Gegenstandsbereich der Kultursoziologie, insofern die Ideensysteme der Religionen einen kraftigen Einfluss auf die Handlungen der in ein Religionssystem eingebetteten Menschen haben. Dieser Einfluss manifestiert sich zum einen in unmittelbar auf die Religion selbst bezogenen Handlungen: Im Beten oder Kirchgang, im Essen von bestimmten Lebensmitteln und Vermeiden anderer, in der Gestaltung des Jahres und des Tages und vielen anderen Handlungen mehr. Religiose Orientierxmgen fanden und finden aber auch ihren Niederschlag in aufierreligiosen Verhaltensweisen. Sie konnen Handlungen wie politische Wahlentscheidungen oder Wirtschaftsaktivitaten anleiten oder Einstellungen zu moralischen Fragen (z. B. Einstellungen zu Abtreibungen und Homosexualitat) mitbestimmen (vgl. Pickel 2001). Sie konnen zu kriegerischen oder biirgerkriegsahnlichen Auseinandersetzungen motivieren, wie die Konflikte zwischen Moslems und Hindus in Indien und Pakistan, Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland und die andauernden Spannungen auf dem Balkan zeigen. Und das Beispiel der USA zeigt, dass der Zusammenhang zwischen Religion und politischem Handeln nicht nur fiir einige der okonomisch schwach entwickelten Lander, sondern auch fiir okonomisch modernisierte Lander gelten kann: Amerikanische Prasidenten beenden in der Regel ihre Regierungserklarungen mit dem Satz "God bless America".^ Die Frage nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der religiosen 1 Wahrend das Thema Religion und Politik lange Jahre kein zentrales Thema politikwissenschaftlicher Forschungen war, hat sich dies in der letzten Zeit verandert. Zwei neuere Sammelbande widmen sich dem Thema (vgl. Minkenberg und Willems 2003; Brocker et al. 2003).
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2. Religion im erweiterten Europa
Orientiening der Burger der EU und der Beitrittslander ist insofern auch eines der zentralen Untersuchungsfelder, wenn man eine kulturelle Landkarte eines erweiterten Europas zeichnen mochte. Die Bedeutsamkeit der Religionsdimension fiir eine gemeinsame europaische Kultur wird sowohl von einigen wissenschaftlichen Beobachtem des Integrationsprozesses als auch von einigen der politischen Akteure hervorgehoben (Kallscheuer 1996; Remond 1998; Zulehner und Denz 1994). So stehen im Zentrum der Diskussionen iiber die Aufnahme der Tiirkei in die EU z. B. nicht so sehr die okonomischen Unterschiede zwischen der EU und der Tiirkei, sondern die kulturell-religiosen Differenzen. Kritiker eines Beitritts der Tiirkei machen geltend, dass sich die jetzigen Mitglieder der EU und die Tiirkei aufgrund einer jeweils ganz unterschiedlichen Geschichte, vor allem aber aufgrund einer anderen Religionsorientierung - christlich einerseits, moslemisch andererseits fundamental voneinander unterscheiden und insofern keine hinreichenden kulturellen Gemeinsamkeiten aufweisen, u m sich ia einem gemeinsamen Verband zusammenzuschliei?en (vgl. z. B. Wehler 2000). Samuel Huntington (1996) zieht in seiner kulturellen Landkarte der Welt die Grenzen des Westens noch etwas enger, indem er nicht nur die Moslems, sondern zusatzlich auch die orthodoxen Christen aus der gemeinsamen Kultur Europas ausschliefit. Fiir Huntington stellt die Ausdehnung des Christentums in seiner protestantischen und katholischen Form auch heute noch das Kriterium fiir die Grenzen Europas dar (Huntington 1996: 251f.).2 Nun ist die Tatsache, dass die Tiirkei kein christliches Land ist und die Mehrheit der Bevolkerung in Bulgarien und Rumanen orthodoxchristlichen Glaubens ist, an sich noch kein Grund, die Tiirkei, Bulgarien und Rumanien nicht in die EU aufzunehmen. Denn die Religionsfreiheit 2 Auch andere Autoren gehen von der christlichen Pragung einer europaischen Kultur aus, auch wenn sie weniger scharfe Grenzen definieren: „Die kulturelle Verwurzelung der Europaischen Gemeinschaft kann auf religiose Zusammenhange nicht verzichten/' (Robbers 1995: 175). „Diese gemeinsame Zugeh5rigkeit zum Christentum ist ein Bestandteil der europaischen Identitat. Auf ihr griindet der eigentliche Unterschied Europas zu anderen Kontinenten/' (Remond 1998: 33; siehe auch Maurus 1998; Schilling 1999). Worin das Erbe des Christentums allerdings besteht, wird nur in den seltensten Fallen wirklich expliziert.
2.1 Religionsvorstelliingen der EU
59
der Burger wird ja gerade von der EU, wie wir gleich noch genauer herausarbeiten werden, garantiert, imd dazu gehort eben auch die Freiheit, Moslem oder christlich-orthodoxen Glaubens zu sein. Entscheidend ist allein, ob aus einer unterschiedlichen Religionsausrichtung eine kulturelle Orientierimg folgt, die mit den Wertevorstellungen der EU nicht kompatibel ist. Wir greifen entsprechend im Folgenden die in der Einleitimg erlauterte begriffliche Differenzierung des Kulturbegriffs auf und rekonstruieren im ersten Schritt das Skript der EU im Hinblick auf ihre Religionsvorstellungen. Welche Anforderungen an die religiose Verfasstheit der EU formulieren die Institutionen der EU, welche Religionskultur definieren sie als die flir die EU verbindliche Kultur? In einem zweiten Schritt untersuchen wir dann, ob und in welchem Mafie sich die Religionskulturen der Burger in den verschiedenen europaischen Landern voneinander unterscheiden und von dem Religionsskript der EU abweichen. In einem dritten Schritt werden wir versuchen, die Lander im Hinblick auf ihre Religionsorientierung insgesamt zu ordnen, um dann in einem vierten Schritt der Frage nachzugehen, wie man die Unterschiede in den Religionseinstellungen erklaren kann.
2.1 Religionsvorstellungen der EU Das Material zur Rekonstruktion der Religionsvorstellungen der EU bilden die Gesetzestexte, Richtlinien, Verordnungen und Empfehlungen, die von den Institutionen der EU erlassen wurden und auf zwei verschiedenen Ebenen institutionalisiert und spezifiziert sind, einerseits im Primarrecht der EG (bestehend aus den Griindungsvertragen, den Protokollen und den Erweiterungsvertragen) und im Verfassungsentwurf, andererseits im Sekundarrecht (bestehend aus den Verordnungen und Richtlinien). Die zwei Ebenen unterscheiden sich durch den Grad der rechtlichen Verbindlichkeit. Gerhard Robbers (2003b) hat eine Zusammenfassung aller religionsrechtlichen Bestimmungen der EU zusammengetragen und dankenswerterweise ins Internet gestellt, so dass wir uns
60
2. Religion im erweiterten Europa
eine eigenstandige Rekonstruktion ersparen konnten (vgl. auch Robbers 2003a). Robbers kortnte allerdings den Verfassungsentwurf des Konvents in seinen Uberlegungen noch nicht beriicksichtigen. Die Religionsvorstellungen der EU lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: 1. Die EU als sakulare Wertegemeinschaft: Die EU versteht sich als eine Wertegemeinschaft, die selbst keine spezifische religiose Orientierung praferiert und entsprechend religios unterbestimmt, ja imgebunden ist. An keiner Stelle des Primarrechts und des Sekundarrechts finden sich Aussagen, die die EU an eine konkrete Religionsorientierung binden. Obwohl alle Mitgliedslander der EU in einer christlichen Traditionslinie stehen, enthalt der Verfassungsentwurf keinen Verweis auf das Christentum oder auf Gott. In der Praambel des Verfassungsentwurfes wird Religion an einer einzigen Stelle erwahnt. Die Union schopfe aus dem „kulturellen, religiosen und humanistischen Erbe Europas". Es gibt weder einen Bezug auf eine bestimmte Religion Europas, noch wird Religion als Legitimationsquelle definiert. Stattdessen wird in den folgenden Satzen welter spezifiziert, dass diese (auch religiosen) Traditionen Europas zu einer Verankerung von individuellen Rechten und des Rechtsstaatsprinzips gefiihrt haben. Entsprechend sind die in Teil I des Verfassungsentwurfs definierten Werte der Union und ihre Ziele allein sakulare Ziele: „Achtung der Menschenwiirde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte'' (Europaischer Konvent 2003: Artikel 2). Die Tatsache, dass sich die Union allein als eine sakulare Werteordnung versteht, ist recht umstritten, wie die Diskussionen im Verfassungskonvent, aber auch die Debatten in den einzelnen Landern gezeigt haben. Von Vertretern der katholischen Kirche und den Parteien und Regierungschefs der Lander, die der katholischen Kirche nahe stehen, bzw. Bev51kerungsteile reprasentieren, die mehrheitlich katholisch sind, ist der fehlende Bezug auf Gott und/oder das Christentum heftig kritisiert worden. Sowohl der spanische als auch der polnische Regierungschef haben den mangelnden Gottesbezug beanstandet. Der Papst hat in den vergangenen Jahren kaum ein Gesprach mit europaischen Politikern
2.1 Religionsvorstellungen der EU
61
ungenutzt gelassen, u m eine verfassungsmafiige Bezugnahme auf das Christentum zu erwirken; iind innerhalb des bundesrepublikanischen Parteienspektrums hat sich vor allem die CSU fiir eine christliche Anbindiing der EU-Verfassung ausgesprochen.^ Alle diese Bemuhimgen haben aber zu keiner Veranderung des Verfassungsentwurfs gefuhrt. 2. Individuelle und kollektive Religionsfreiheit und Toleranz gegeniiber religioser Pluralitat: Die Tatsache, dass sich die Union als sakulare Wertegemeinschaft definiert, die u. a. die individuellen Freiheitsrechte schiitzt, bedeutet eben auch, dass die Europaische Union die Religionsfreiheit der Burger schiitzt. Im Teil I des Verfassungsentwurfs, in dem die Ziele der Union definiert werden, werden u. a. Pluralismus, Toleranz und Nichtdiskriminierung als die zentralen Werte der EU beschrieben. Im Teil II der Verfassung, der die Charta der Grundrechte der Union umfasst, werden die allgemeinen Prinzipien im Hinblick auf die Religionsorientierung spezifiziert: In Artikel 11-70 wird neben der Gedanken- und Gewissensfreiheit die Religionsfreiheit verbrieft, was die Freiheit, die „Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen offentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Brauche und Riten zu bekennen" (Europaischer Konvent 2003: Artikel 11-70) umschlieiSt. Die Garantie der Freiheit individueller und kollektiver Religionsausiibung bedeutet fiir die EU, dass von jeder Religion erwartet wird, dass sie die anderen toleriert. Entsprechend erklart die EU alle Religionen als gleichwertig, sie achtet die Vielfalt der Religionen (Artikel II: 82) und verbietet Diskriminierungen aufgrund von Religion (Artikel II: 81). Analog zu Rosa Luxemburgs These, dass Freiheit stets auch die Freiheit des Andersdenkenden sei, definiert die EU die Religionsfreiheit durch die Freiheit der Andersglaubigen, soil heiiSen: durch die Forderung nach Toleranz gegeniiber religioser Pluralitat. Zur Einhaltung der Prinzipien der Religionsfreiheit und religioser Pluralitat (Nichtdiskriminierung) wird die EU ermachtigt, die notwendigen Mai?nahmen zu ergreifen. Entsprechend finden sich im Teil III des 3 Im Dezember 2003 hatte die CDU/CSU Fraktion im Bundestag den Beschlussantrag in das Parlament eingebracht, dass sich die Regierung fiir einen Gottesbezug auf dem Treffen des europaischen Rats einsetzen solle. Der Antrag wurde am 11. Dezember 2003 abgelehnt.
62
2. Religion im erweiterten Europa
Verfassimgsentwurfs, in dem die Aufgaben der Organe der EU beschrieben werden, zwei Religionsverweise: In Artikel III-118 heifit es, dass die Union bei der Festlegung der Politik darauf achtet, „Diskriminierungen aus Griinden (...) der Religion (...) zu bekampfen". Weiterhin kann der Ministerrat einstimmig, nach Zustimmung des Parlamentes, die fiir die Bekampfung von Diskriminierungen aus Griinden der Religion erforderlichen Mafinahmen durch Europaische Gesetze oder Rahmengesetze festlegen (Artikel III-124). 3. Die Prinzipien der Religionsfreiheit und Toleranz in den verschiedenen Rechtsgebieten: Die Grimdprinzipien der Religionsorientierung der EU finden sich nun operationalisiert und spezifiziert in den verschiedenen Rechtsgebieten und sind im Sekundarrecht der EU und in den verschiedenen Richtlinien rechtsverbindlich kodifiziert. Wir werden im Folgenden nur einige Punke bilanzieren (vgl. zum Folgenden Robbers 2003b): a. In der Richtlinie des Rates von 2000 iiber die „Gleichbehandlung in Beschaftigung und Beruf" wird eine Diskriminierung im Beruf aufgrund der Religionsorientierung im Grundsatz verboten. „Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung (...) konnen die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschaftigimgsniveaus und eines hohen Mafies an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualitat, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidaritat sowie die Freiziigigkeit" (Robbers 2003b: Richtlinie 2000/78). Zugleich werden Ausnahmen einer religi5sen Gleichbehandlung im Beruf definiert, die dann greifen, wenn Religionsmerkmale eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen. So wurde der katholischen Kirche hochstrichterlich erlaubt, einen Arzt, der in einem katholischen Krankenhaus angestellt war, zu entlassen, well dieser sich fiir die Legalisierung von Abtreibungen eingesetzt hatte (Robbers 2003b: 151). b. In verschiedenen Richtlinien schiitzt die EU die aus der unterschiedlichen Religionsorientierung folgenden unterschiedlichen alltaglichen Praktiken innerhalb und aufierhalb des Berufs. I. So kann jedes Mit-
2.1 Religionsvorstellimgen der EU
63
gliedsland selbst entscheiden, ob imd inwiefem der Sonntag Ruhezeit sein muss. II. In der Fleischverordnung der EU ist festgelegt, dass vor religiosen Festen die Schlachtquoten zur Bereitstellung von ausreichend Schaf- und Ziegenlammem iiberschritten werden diirfen. III. Allgemein ist dafiir zu sorgen, dass Tieren bei der Schlachtung Schmerzen und Leiden erspart werden. Um den Vorschriften bestimmter Religionsgemeinschaften Rechnung tragen zu k5nnen, diirfen aber Ausnahmen gemacht werden. Entsprechend ist auch das normalerweise verbotene Aufblasen eines Organs erlaubt, wenn es von den Vorschriften bestimmter Religions gemeinschaf ten gefordert wird. c. Die Ubertragung von Gottesdiensten darf nicht durch Werbung oder Teleshopping unterbrochen werden. Das Gleiche gilt fiir andere Sendungen religiosen Inhaltes mit Sendezeit unter 30 Minuten. Aufierdem diirfen Fernsehsendungen nicht zu Diskriminierung aufgrund von Religionszugehorigkeit aufstacheln oder Fernsehwerbung religiose Uberzeugungen verletzen. d. Schliefilich hat die EU noch gesonderte Mehrwertsteuer- und Zollbestimmungen fiir Cerate, die fiir religiose Zwecke gedacht sind (z. B. Kreuz und Rosenkranz). Alle diese konkreten Richtlinien leiten sich aus den unter Punkt 1. und 2. genannten Grundprinzipien ab: Die EU versteht sich als sakulare Wertegemeinschaft, die keinen konkreten Religionsbezug aufweist, zugleich die Religionsfreiheit von Individuen und Religionsgemeinschaften schiitzt, aber auch die Grenzen einer jeden Religionsgemeinschaft durch die Prinzipien Toleranz und Nicht-Diskrimtnierung klar definiert. Die Union weist der Religion ihren ausdifferenzierten Platz in der Gesellschaft zu und schiitzt diesen; sie versteht sich selbst aber als einen sakularisierten Verband von Gesellschaften, die die Trennung von Politik, Gesellschaft und Religion institutionalisiert haben.'*
4 Dass die liberale Vorstellung der institutionellen und kulturellen Trennung von Kirche und Religion als Hegemonie sakularer Vorstellungen interpretiert werden kann, die nicht weniger partikular sind als religiose Vorstellungen, ist von einigen Theoretikem der politischen Philosophie gezeigt worden (vgl. dazu die Zusammenfassung in Willems 2003).
64
2. Religion im erweiterten Europa
2.2 Die Religionsorientierung der Burger Wir warden im Folgenden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Religionsorientierungen der Burger der Mitglieds- und Beitrittslander der EU auf der Basis der Auswertung von Umfrageergebnissen beschreiben. Wir tun dies in zwei Schritten. In einem ersten Schritt werden wir einige Grundinformationen liber religiose Unterschiede, und Gemeinsamkeiten herausarbeiten, die aber noch nicht auf den Referenzpunkt der Vorstellungen der EU bezogen sind. Erst in einem zweiten Schritt werden wir die Vorstellungen der EU, wie wir sie im letzten Kapitel herausgearbeitet haben, als „benchmark" benutzen, um zu priifen, ob und in welchem Mafie die Burger in den verschiedenen Landern mit diesen Vorstellungen iibereinstimmen.
2.2.1 Grundinformationen iiber die Religionsorientierung der BUrger Es gibt in der Literatur verschiedene Vorschlage der Dimensionierung von Religiositat. Eine der wichtigsten Unterscheidungen differenziert zwischen Kirchlichkeit einerseits und individueller Religiositat andererseits (vgl. z. B. Jagodzinski und Dobbelaere: 1993). Wahrend sich Kirchlichkeit auf die Mitgliedschaft und die Teilhabe an kirchlichen Aktivitaten bezieht, beschreibt individuelle Religiositat die subjektive Religiositat unabhangig von den kirchlichen Organisationen. Diese Unterscheidung ist vor allem in der Debatte iiber Sakularisierungsprozesse bedeutsam. So gehen einige Theoretiker davon aus, dass es in westlichen Gesellschaften einen Riickgang von Kirchlichkeit gegeben hat, nicht aber einen Riickgang der individuellen Religiositat. Wolfgang Jagodzinski und Karel Dobbelaere konnten anhand empirischer Studien den enormen Bedeutungsverlust des Religiosen vor allem in den 60er und 70er Jahren nachweisen (1993). Dieses Ergebnis wird von Detlev Pollack und Gert Pickel
2.2 Die Religionsorientierung der Burger
65
(2003) fiir Ost- und Westdeutschland bestatigt. Zugleich zeigen die Autoren, dass auch der Grad der individuellen Religiositat riicklaufig ist.^
2.2.1.1
Kirchlichkeit und institutionalisierte Religiositat
Tabelle 2.1 gibt die Mitgliedschaftsraten der Biirger in den verschiedenen Religionsgemeinschaften auf der Basis der Auswertung der Europaischen Wertestudie wieder. Die Daten weichen fiir manche Lander von den Ergebnissen anderer Umfragen, aber auch von Angaben, die man in der „Encyclopaedia Britannica" findet, ab. Die Informationen aus der „Encyclopaedia Britannica" scheinen uns aber nicht sehr zuverlassig zu sein. Die dort angegebenen Werte fiir Deutschland weichen z. B. deutlich von den Angaben, die man beim Statistischen Bundesamt findet, ab. Zuverlassige Zahlen iiber die Mitgliedschaftsraten in den Religionsgemeinschaften in den verschiedenen europaischen Landern scheint es nicht zu geben. Die Biirger der jetzigen EU sind, wenn sie Mitglieder einer Kirche sind, in erster Linie Mitglieder der katholischen oder protestantischen Kirche. Eine Ausnahme bildet Griechenland. Die Biirger der zweiten Beitrittsrunde (Bulgarien und Rumanien) sind in erster Linie Mitglieder der orthodoxen christlichen Kirche, wobei Bulgarien iiber eine moslemische Minderheit verfiigt.^ Die Tiirkei weicht dann nochmals von der Religionsfiguration ab, well fast die gesamte Bevolkerung muslimischen Glaubens ist und insofern nicht zu den christlichen Religionsgemeinschaften gehort.
5 Eine aktuell populare Erklamng geht davon aus, dass in Europa vor allem fehlende Marktmechanismen (staatliche Bevorzugung bestimmter Konfessionen, fehlender Pluralismus) im Bereich der Religion zu einer mangelnden Nachfrage fiihren (Finke und Stark 1992; Stark 2000; Chaves und Cann 1992). Pollack und Pickel konnten die gemachten Annahmen allerdings empirisch fiir Europa widerlegen (2000), Voas et al. (2002) zeigen methodische Einwande auf. 6 Es handelt sich dabei grofitenteils um eine tiirkische Minderheit, die sich vor allem in den ostlichen Regionen Bulgariens findet.
2. Religion im erweiterten Europa
66 Tabellel.l:
EU-15 Irland Portugal Italien Spanien Osterreich Luxemburg Belgien Frankreich Danemark Finnland Schweden GroEbritannien Deutschl.-West Deutschl.-Ost Niederlande Griechenland Beitritt I Malta Polen Litauen Slowenien Slowakei Estland Tschechien Ungarn Lettland Beitritt II Bulgarien Rumanien Tiirkei
Mitgliedschaftsraten in Religionsgemeinschaften Katholisch
Protestantisch
ChristlichOrthodox
Muslimisch
42,1 89,0 85,9 81,5 80,8 80,6 65,1 55,3 52,7 0,8 0,1 1,6 13,8 39,3 3,4 22,1 1,5 54,1 97,7 94,1 75,1 66,4 64,2 0,4 29,8 39,2 19,6 3,9 7,5 0,3
24,2 2,0 0,3 0,3 0,9 5,2 0,2 1,2 1,3 87,1 84,2 68,9 57,4 41,3 28,0 10,1
6,2 0,2
0,6
-
-
7,1 0,9 0,3 1,3 0,3 11,2 13,1 3,8 16,2 17,0 1,4 2,0 0,7
0,1 0,7 0,4 0,4 1,2 1,1 0,5 0,2 0,5 0,3 93,8 3,6 0,3 3,0 1,6 0,8 9,8 0,1 0,2 16,8 73,0 85,6 60,5 0,1
0,3 0,2 0,6 3,1 0,1 0,5 0,4 0,9 2,1 0,2 1,1 0,2 0,1 1,1 0,1
0,1 4,2 8,3
-
97,5
Nicht Mitglied in einer Religionsgem. 23,6 6,9 11,4 17,9 18,0 12,5 30,4 35,7 42,6 10,1 11,7 25,3 15,0 14,2 66,0 55,0 4,0 33,5 1,3 4,6 19,5 30,0 23,1 75,8 64,942,340,8 16,2 2,529,9 2,3
Andere
3,3 1,9 2,4 0,3 0,0 0,9 3,3 4,4 2,1 1,6 2,9 3,3 12,7 2,7 2,1 11,8 0,7 1,5 0,1 0,7 1,2 0,6 0,8 0,8 1,4 2,0 5,8 4,2 2,5 0,2 0,1
« Ein Vergleich mit anderen Datensatzen (ISSP 1998, WVS 1995-97) zeigt fiir Tschechien und Ungarn deutliche Abweichungen. Tschechien weist im ISSP lediglich einen Anteil an Nichtkonfessionellen von 43,5 % auf, Ungarn nur 27,2 %. In beiden Landern erhohen sich ziemlich genau die Anteile der Katholiken um die entsprechende Differenz. Fiir Bulgarien wird hingegen ein hoherer Anteil an Nichtkonfessionellen genannt (ISSP: 12,8 %, WVS sogar 33,2 %). Da wir aber keine zusatzlichen Daten zur Verfiigung haben, die eine Entscheidung iiber die zutreffenden Zahlen erlauben, verwenden wir die Daten aus dem EVS weiter.
2.2 Die Religionsorientierung der Burger
67
Im Hinblick auf die Dimension „Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften" ergibt sich also eine Dreiteilung: Die alten EU-Lander und die Lander der ersten Beitrittsriinde (wobei diese zum Teil einen hohen Anteil an Konfessionslosen aufweisen) bilden eine Gruppe, die Lander der zweiten Beitrittsrunde bilden die Gruppe der orthodoxen Christen und die Tiirkei bildet die dritte G r u p p e / Die Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften besagt noch nicht, dass die Mitglieder auch an den Aktivitaten ihrer Kirche partizipieren und in die Institutionen ihrer Kirche eingebunden sind. Gerade fiir die Bundesrepublik wissen wir, dass die Burger weiterhin in einem hohen Mafie Mitglieder einer Kirche sind, aber in einem zunehmenden Mafie nicht mehr an den Aktivitaten der Kirche teilnehmen. Ein guter, well bewahrter Indikator zur Messung der Integration der Glaubigen in „ihre" Kirche ist die Haufigkeit des Kirchgangs.^ Tabelle 2.2 zeigt uns, dass die Kirchgangshaufigkeit in den verschiedenen Landern recht unterschiedlich ist.^
7 Die Zeit des Staatssozialismus hat in alien mitteleuropaischen Landern zu einer Reduzierung des Mitgliederbestands in den Kirchen gefiihrt, wie Olaf Miiller, Gert Pickel und Detlef Pollack (2003) gezeigt haben. Zugleich weisen die Autoren nach, dass es zwischen den Konfessionen grofie Unterschiede gibt, insofern es der katholischen Kirche weit besser als der evangelischen Kirche gelang, ihren Mitgliederanteil zu stabilisieren. 8 Der Indikator fiir die Kirchgangshaufigkeit umfasst insgesamt acht Kategorien von „niemals" (1) bis „mehrmals wochentlich'' (8). 9 Die Kirchgangshaufigkeiten, aber auch andere Religiositatsmessungen in den friiheren sozialistischen Gesellschaften waren in den letzten 15 Jahren grofien Schwankungen ausgesetzt (vgl. Pollack 2003). Vor und nach der Transformation dieser Gesellschaften von sozialistischen zu demokratischen Regimen erfuhren die Kirchen haufig Zulauf und Anerkennung durch die Burger. Dies ist vor allem auf die politische Oppositionsrolle der Kirchen wahrend des Sozialismus in einigen sozialistischen Landern zuriickzufiihren. Die Hinwendung der Burger zu den Kirchen hat sich aber dann zuriickentwickelt, so dass man fiir den Zeitpunkt der Erhebung der Daten der Wertestudie (1999/2000) von einer Normalisierung sprechen kann.
2. Religion im erweiterten Europa
68 Tabelle 2.2:
Haufigkeit des Kirchgangs
EU-15 Irland Italien Portugal Osterreich Spanien Griechenland Finnland Danemark Deutschland-West Luxemburg Frankreich Deutschland-Ost Grofibritannien Niederlande Belgien Schweden Beitritt I Malta Polen Slowakei Litauen Estland Lettland Slowenien Tschechien Ungarn Beitritt II Rumanien Bulgarien Turkei
Einmal im Monat und haufiger 30,6 74,6 53,6 53,2 42,9 36,0 33,6 12,5 11,9 34,7 30,4 12,3 13,4 18,7 25,1 27,8 9,1 37,0 87,2 78,1 49,8 28,9 10,8 15,1 30,7 12,7 17,9 34,2 46,4 21,9 41,2
Seltener als einmal im Monat 36,2 17,6 32,5 31,0 40,6 32,5 61,7 59,4 45,4 41,5 36,3 27,2 29,4 26,2 26,9 25,9 45,2 34,9 8,9 16,0 27,1 53,5 50,9 50,4 39,2 31,1 38,1 49,2 46,1 52,3 26,5
Nie 33,2 7,7 13,9 15,8 16,5 31,5 4,6 28,2 42,7 23,7 33,3 60,4 57,2 55,1 48,1 46,3 45,7 28,1 3,9 5,9 23,1 17,5 38,3 34,6 30,1 56,1 44,0 16,7 7,5 25,8 32,3
Betrachtet man zuerst die Aggregatkategorien, dann sieht man, dass die Kirchgangshaufigkeit in den alten EU-Landem am niedrigsten ist, in den Landern der ersten und zweiten Beitrittsrunde etwas hoher liegt und in
2.2 Die Religionsorientierung der Burger
69
der Tiirkei am hochsten ist.^o Ein Blick auf die Landerunterschiede zeigt aber, dass die Intensitat der Integration in die Kirchen nicht entlang der verschiedenen Stufen der Mitgliedschaft in die EU verlauft, sondern von der Dominanz verschiedener Religionsgemeinschaften abhangt.^^ Lander mit sehr hohem Katholikenanteil haben in der Kegel eine hohe Kirchgangshaufigkeit (Ausnahmen bilden Frankreich und Luxemburg). An zweiter Stelle rangieren die Lander mit hohen Anteilen von Blirgern orthodox-christlichen und moslemischen Glaubens, an letzter Stelle die protestantischen Lander oder die Lander mit hohen Anteilen Konfessionsloser. Die Tatsache, dass die vier Landergruppen eine unterschiedliche Zusammensetzung von Religionsgemeinschaften haben, fiihrt im Aggregat dann zu den beschriebenen Unterschieden.
2.2.1.2
Individuelle Religiositat
Ganz unabhangig von der Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft und der Teilnahme an deren Praktiken konnen Menschen religios sein. Wir konnen zur Operationalisierung individueller Religiositat auf zwei haufig benutzte Fragen zur Messung des Konstrukts „ individuelle Religiositat" zuriickgreifen. So wurde einerseits gefragt, ob man an Gott glaubt (Antwortalternativen: ja / nein), und andererseits, ob man sich selbst als religids einstuft (Antwortmoglichkeiten: „religioser Mensch", „kein religioser Mensch", „uberzeugter Atheist").
10 Fiir diese und alle folgenden Aggregatvergleiche wurde jeweils eine Varianzanalyse durchgefiihrt. Soweit nicht anders ausgewiesen, unterscheiden sich die Gruppen signifikant auf dem 1 %-Niveau. Bei der Kirchgangshaufigkeit unterscheiden sich die zweite Beitrittswelle und die Tiirkei nicht signifikant voneinander. 11 Pollack und Pickel (2003) zeigen in ihrer Analyse christlicher Lander, dass die Kirchgangshaufigkeit vor allem vom Anteil der Katholiken abhangt. Diese sind im Unterschied zu den Protestanten und den Orthodoxen traditionell starker an ihre Kirche gebunden (Need und Evans 2001).
70 Grafik 2.1:
2. Religion im erweiterten Europa Glaube an Gott (% ja)
2.2 Die Religionsorientieriing der Burger Tabelle 2.3:
Religiose; Selbsteinschatzimg (in %)
EU-15 Portugal Italien Osterreich Griechenland Danemark Irland Belgian Finnland Deutschland-West Luxemburg Spanien Frankreich Grofibritannien Schweden Deutschland-Ost Beitritt I Polen Litauen Slowakei Lettland Malta Slowenien Ungarn Tschechien Estland Beitritt II Rumanien Bulgarien Tiirkei
71
Religios 63,7 87,6 85,8 80,9 79,7 76,5 76,4 65,0 64,1 62,1 62,1 61,4 58,9 46,3 41,5 38,8 29,4 69,8 93,9 84,2 81,7 76,8 75,3 70,1 57,5 44,6 41,2 68,8 84,8 52,0 79,7
Nicht religios 29,9 9,3 11,5 17,4 15,7 18,1 22,3 26,6 32,7 33,5 30,2 32,2 34,6 39,1 53,2 54,6 48,9 25,8 4,5 13,9 13,9 20,3 24,5 21,3 36,9 46,6 52,0 27,6 14,4 41,5 18,8
Uberzeugter Atheist 6,5 3,1 2,7 1,8 4,6 5,4 1,2 8,4 3,2 4,4 7,7 6,5 6,5 14,6 5,4 6,6 21,7 4,5 1,6 1,9 4,4 2,8 0,2 8,6 5,6 8,8 6,8 3,6 0,8 6,6 1,5
Beide Indikatoren kommen zu einem ahnlichen Ergebnis.i^ Schaut man sich die Verteilung im Hinblick auf die vier Aggregatskategorien an, dann sieht man, dass der Grad der Religiositat in den alien Mitgliedslan12 Die Korrelation zwischen beiden Variablen betragt ,70 (Pearson's Korrelation) und ist signifikant (0,01).
72
2. Religion im erweiterten Europa
dern imd den Landern der ersten Beitrittsrunde ungefahr gleich hoch ist, die Lander der zweiten Beitrittsrunde, vor allem aber die Tiirkei die hochsten Religiositatsraten aufweisen. Diese Unterschiede sind auf die unterschiedliche Dominanz der verschiedenen Religionsgemeinschaften in den Landern zuriickzufiihren. Die muslimische Tiirkei, die orthodoxchristlichen Lander und die katholischen Lander weisen eine recht hohe Religiositat auf, wahrend die protestantischen Lander und die Lander mit iiberdurchschnittlichen Anteilen an Konfessionslosen eine deutlich geringere individuelle Religiositat aufweisen. Wir erhalten also im Hinblick auf die individuelle Religiositat ahnliche Ergebnisse wie beziiglich der institutionalisierten Religiositat gemessen durch die Kirchgangshaufigkeit. Dies spiegelt sich auch in einer durchgefiihrten Korrelationsanalyse wider. Der statistische Zusammenhang zwischen Kirchgangshaufigkeit und dem Glauben an Gott und der zwischen Kirchgangshaufigkeit und der religiosen Selbsteinschatzung betragt jeweils ,51 (Pearson's Korrelation, signifikant auf dem Niveau von 0,01). Dieser Befund widerspricht, nebenbei bemerkt, der These, dass institutionalisierte Religiositat durch individuelle Religiositat ersetzt wird (zu einem ahnlichen Ergebnis kommen Pollack und Pickel 2003). Gleichzeitig ist zu erkennen, dass die, haufig als europaische Besonderheit beschriebene, Sakularisierung (z. B. Hervieu-Leger 1999), sei es nun im Sinne eines Verlusts von institutionalisierter oder individueller Religiositat, nicht besonders weit fortgeschritten zu sein scheint. In fast alien Landern (deutlichste Ausnahme ist Ostdeutschland) findet sich weiterhin eine Mehrheit, die einer Konfession angehort, an Gott glaubt und sich nicht als atheistisch bezeichnet. Fassen wir die Ergebnisse zusammen: Wahrend die Burger der EUMitgliedslander in erster Linie Mitglieder der katholischen, dann der protestantischen Kirche bzw. konfessionslos sind, wird sich das Religionsgeftige der EU mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumanien einerseits und der Tiirkei andererseits verschieben, insofern mit den Landern der zweiten Beitrittsrunde Burger orthodox-christlichen Glaubens beitreten, mit der Tiirkei bekanntermafien ein komplett muslimisches Land. Ahnlich verhalt es sich mit dem Grad der individuellen Religiositat. Katholiken, Muslime und die orthodoxen Christen weisen die hochsten
2.2 Die Religionsorientierung der Burger
73
Kirchgangsraten und die starkste individuelle Religiositat auf. Da die Tiirkei muslimisch ist und die Rumanen orthodox-christlichen Glaubens sind, die Lander der EU hingegen iiber hohe Anteile an Protestanten und Konfessionslosen verfiigen, die weniger kirchengebunden und religios sind, wird sich das Niveau der Religiositat in der EU nach einem Beitritt dieser Lander nach oben verschieben. Ob damit auch politische Fragen starker religios interpretiert werden, ist eine offene Frage. Da sich die EU, wie wir im Kapitel 2.1 gesehen hatten, als sakulare Wertegemeinschaft versteht, die keine Religionsgemeinschaft praferiert, ist die Aufnahme von Landern, die orthodox-christlich bzw. muslimisch sind oder unterschiedliche Grade an Religiositat aufweisen, komplett mit den Wertekriterien der EU vereinbar. Nicht oder weniger vereinbar ware dies, wenn aus der Religionsausrichtung und der Religiositat Handlungsdispositionen folgten, die eine Trennung der Spharen von Religion und Gesellschaft einerseits und das Prinzip der Toleranz gegenliber anderen Religionen anzweifelten. Ob dies der Fall ist, werden wir im Folgenden priifen.
12.1
Unterschiede zwischen den Religionsvorstellungen der EU und den Religionsvorstellungen der Burger in einer erweiterten EU
Wir hatten gesehen, dass sich die EU als eine sakulare Wertegemeinschaft versteht, die zugleich die Religionsfreiheit von Individuen und Kirchen garantiert. Dieses kulturelle Selbstverstandnis bedeutet, dass sich die EU einerseits fiir eine Trennung der Spharen von Gesellschaft und Religion ausspricht und damit Religion zur Privatsache erklart, andererseits eine wechselseitige Toleranz zwischen den Religionsgruppen erwartet. Ob und in welchem Mafie diese Wertevorstellungen durch die Burger unterstiitzt werden, wollen wir im Folgenden priifen. Wir untersuchen einerseits, ob die Biirger eine Trennung von Religion und Welt unterstiitzen, und andererseits, ob sie sich gegeniiber anderen Religionsgruppen als tolerant erweisen.
74 2.2.2.1
2. Religion im erweiterten Europa Trennimg von Religion und Welt
Wir unterscheiden drei Dimensionen der Trennimg von Religion und gesellschaftlichem Leben. Zum Zwecke einer Vereinheitlichung der Begriffe bezeichnen wir die Oberdimension als „ Trennimg von Religion und Welt", die durch drei Subdimensionen genauer spezifiziert wird. a. Auf einem sehr generalisierten Niveau manifestiert sich die Trennimg von Religiositat und Welt auf der Ebene des Individuums in der Trennimg zwischen religioser und aufierreligioser Lebensfiihrimg. Wir operationalisieren diese Dimension zum einen durch die Frage nach der Wichtigkeit Gottes fiir das gesamte Leben des Befragten. Die Frage wurde mit Hilfe einer lOer-Skala erhoben, die von „u[berhaupt nicht wichtig" bis zu „sehr wichtig" reicht. In der Tabelle 2.4 sind zum einen die Mittelwerte angegeben, zum anderen die Prozentsatzwerte fiir die Auspragung „sehr wichtig" (Punkt 10 auf der lOer-Skala). Wir operationalisieren die generalisierte Einstellung zur Trennimg von Religion und Lebenswelt zweitens durch die Frage, wie wichtig dem Befragten Religion in seinem Leben ist. Diese Frage wurde mit Hilfe von vier Antwortalternativen erhoben (iiberhaupt nicht wichtig, nicht wichtig, wichtig, sehr wichtig). Wir geben auch hier die Mittelwerte und die Prozentsatzwerte fiir die Auspragung „sehr wichtig'' wieder. Im Hinblick auf beide Fragen ergibt sich ein ahnlicher Befimd. Die Wichtigkeit von Gott und Religion steigt mit der Entfemimg der (moglichen) Aufnahme in die Europaische Union. Wahrend fiir die EU-Biirger Gott und Religion fiir die eigene Lebensfiihrimg keine sehr hohe Wichtigkeit haben, steigt diese Bedeutimg fiir die Biirger der zweiten Beitrittsrimde (und hier vor allem fiir die Rumanen) und ist besonders bedeutsam fiir die Tiirken.^^ Qig Trennimg von Religion und Lebensfiihrimg ist in diesen Fallen nicht sehr weit gediehen. Auf der disaggregierten Ebene der Lander sieht man, dass dieses Ergebnis wiederum durch die Starke verschiedener Religionsgemeinschaften in einem Land bestimmt ist.
13 Die Differenz zwischen EU-Mitgliedslandem und Beitritt I sind fiir die Frage nach der Wichtigkeit der ReHgion im Leben nur auf dem 5 %-Niveau signifikant.
2.2 Die Religionsorientierung der Burger Tabelle 2.4:
75
Trennung von Religiositat und eigener Lebensfiihrung
5,66 4,3 4,9 5,5
18,4 8,3 13,8 9,1
2,42 2,17 2,19 2,24
Wichtigkeit der Religion fiir das Leben (Prozentsatz sehr wichtig'O 17,9 10,6 12,6 9,3
3,2
4,5
1,62
3,8
6,6 7,4 5,9 7,8 4,9 5,3 4,0 4,0 5,7 7,7 7,3 5,4 6,08 4,1 5,6 6,5 8,3 3,7 6,6 5,2 9,1 5,0 6,91 8,6 5,1 9,34
26,0 33,1 18,1 36,7 11,1 18,7 6,6 8,9 14,7 39,8 30,6 14,9 27,3 7,0 15,0 26,5 52,3 9,6 29,9 20,6 67,8 14,9 35,4 56,0 14,4 80,9
2,60 2,97 2,29 2,97 2,27 2,43 2,05 2,24 2,35 3,07 2,90 2,34 2,51 1,90 2,19 2,60 3,25 1,84 2,64 2,34 2,23 3,56 2,84 3,25 2,42 3,73
21,4 33,0 14,9 28,2 16,5 20,7 7,9 10,8 12,1 37,6 32,9 14,8 23,1 5,4 10,7 12,2 44,9 8,3 26,8 19,0 67,1 12,2 34,1 51,3 16,3 81,9
Wichtigkeit Got- Wichtigkeit Gottes Wichtigkeit der tes fiir das Leben fiir das Leben Religion fiir das (Mittelwert) (Prozentsatz Leben „sehr wichtig'') (Mittelwert) EU-15 Frankreich GroiSbritannien DeutschlandWest DeutschlandOst Osterreich Italien Spanien Portugal Niederlande Belgien Danemark Schweden Finnland Irland Griechenland Luxemburg Beitritt I Estland Lettland Litauen Polen Tschechien Slowakei Ungarn Malta Slowenien Beitritt II Rumanien Bulgarien Ttirkei
b. Die europaische Wertestudie enthalt drei Fragen, die die Relevanz der Religion zur Losung von gesellschaftlichen Problemen aus der Perspekti-
76
2. Religion im erweiterten Europa
ve der Befragten erheben (Tabelle 2.5).^^ Wir interpretieren diese drei Fragen als eine Messimg einer Trennung von Religion imd Gesellschaft. Je starker Befragte glauben, dass Religion Antworten und Losungen fiir gesellschaftliche Probleme liefem kann, desto geringer ist die subjektive Trennung der Spharen Religion und Gesellschaft fiir den Befragten. Gefragt wurde, ob die Kirche Antworten auf moralische Probleme, Probleme in der Familie und soziale Probleme liefern kdnne (Antwortalternativen: ja oder nein).^^ Wir erhalten auch hier einen ahnlichen Befund wie in Tabelle 2.4. Die Mehrheit der Biirger der alten Mitgliedslander erwartet von der Kirche keine Losungen gesellschaftlicher Probleme.^^ Dies sehen die Burger der Beitrittslander deutlich anders.^^Mit der Entfemung zur EU steigt die Vorstellung, dass Religion gesellschaftliche Probleme losen kann. Entsprechend ist die Trennung von Religion und Gesellschaft - gemessen durch die Erwartung der Losung gesellschaftlicher Probleme durch die Kirche - bei den Tiirken am geringsten.
^4 Die Umfrage enthalt eine vierte Frage, in der nach der Relevanz der Religion fiir geistige Probleme gefragt wurde. Wir haben diese Frage hier nicht ausgewertet, weil sie eher eine innerreligiose Handlungsrelevanz von Religion zu messen scheint. 15 Die Korrelationen zwischen den drei Fragen liegen zwischen Eta ,52 und ,69. 16 Auffallig ist, dass der Kirche die Losung sozialer Probleme praktisch in alien Landern am wenigsten, fiir den Bereich der Moral dagegen am starksten zugetraut wird. Dies ist insofern verstandlich, als die Moral eine klassische Domane der Religion darstellt (vgl. Pickel und Kruggeler 2001). 17 Bei der Frage nach Antworten auf soziale Probleme unterscheiden sich sowohl die beiden Beitrittsrunden als auch die erste Beitrittsrunde und die bisherigen EU-Mitglieder nicht signifikant voneinander.
2.2 Die Religionsorientierung der Burger Tabelle 2.5:
77
Trennung von Kirche und Gesellschaft (Zustimmimg in %)
...moralische Probleme" „Kirche weifi Antworten auf... 39,0 EU-15 Frankreich 35,3 Grofibritannien 32,5 53,6 Deutschland-West 34,6 Deutschland-Ost 37,8 Osterreich Italien 61,8 Spanien 39,9 Portugal 56,0 35,2 Niederlande Belgien 36,2 Danemark 20,0 Schweden 25,6 Finnland 42,0 31,8 Irland Griechenland 43,1 Luxemburg 33,0 Beitritt I 56,5 Estland 44,7 Lettland 58,2 Litauen 81,3 Polen 65,6 Tschechien 36,8 Slowakei 68,2 Ungarn 44,8 Malta 66,6 Slowenien 44,9 Beitritt II 63,6 Rumanien 80,7 Bulgarien 44,5 76,2 Tiirkei
...Familienprobleme' '
...soziale Probleme"
31,5 27,3 30,2 41,6 26,7 28,5 47,7 35,1 45,0 29,6 32,6 15,0 18,3 39,9 29,0 30,6 24,2 53,0 30,1 47,9 78,8 64,4 32,1 63,8 38,9 75,0 42,8 54,8 78,5 28,8 67,2
27,8 20,9 26,5 35,8 15,3 30,7 43,5 28,9 36,8 37,0 27,1 11,5 16,9 29,9 28,4 31,0 23,4 32,8 14,1 26,3 54,2 40,5 16,7 29,7 23,3 57,0 33,8 32,8 52,2 13,9 43,7
Diese Aggregatsinterpretation, die fiir sich sinnvoll ist, darf aber zugleich nicht dariiber hinwegtauschen, dass die Landerunterschiede beachtlich sind. In Landern mit einem hohen Anteil an Muslimen ist die Trennung von Gesellschaft und Religion am schwachsten, gefolgt von Landern mit einem hohen Anteil orthodoxer Christen, wiederum gefolgt von Landern
78
2. Religion im erweiterten Europa
mit einem hohen Katholikenanteil. In protestantischen Landern imd Landern mit hohen Anteilen an Konfessionslosen scheint die Trennung von Kirche und Gesellschaft am starksten vollzogen zu sein. c. SchlieiSlich bietet die Wertstudie noch die Moglichkeit zu priifen, in welchem Ausmai? die Burger glauben, dass Religion und Politik getrennte Spharen sein sollen. Von den drei verschiedenen Dimensionen der Messung der Trennung von Religion und weltlichen Angelegenheiten ist diese Dimension diejenige, die den Vorstellungen der EU am nachsten kommt. Die Interviewten wurden zum einen gefragt, ob sie der Ansicht seien, dass Politiker, die nicht an Gott glauben, ungeeignet fiir ein politisches Amt sind. Weiterhin wurden sie gefragt, ob sie glaubten, dass es besser fiir das Land sei, wenn mehr Menschen mit einer starken religiosen Uberzeugung offentliche Amter innehaben.^^ Zur Beantwortung beider Fragen standen fiinf Antwortalternativen zur Verfligung (stimme liberhaupt nicht zu, stimme nicht zu, weder noch, stimme zu, stimme voll zu). Tabelle 2.6 gibt die Mittelwerte und die Prozentsatze der addierten beiden Zustimmungen wieder.^^
^^ Die Wertestudie enthalt noch zwei andere Fragen, die theoretisch zur Messung der Trennung von Religion und Politik in Frage gekommen waren, die wir aber nicht beriicksichtigt haben. Die Burger wurden gefragt, ob sie der Meinung sind, dass Religionsfiihrer politische Wahlen und politische Entscheidungen beeinflussen sollen. Sowohl eine Korrelationsanalyse als auch eine Faktorenanalyse zeigen, dass diese beiden Fragen offensichtHch eine andere Dimension messen als die von uns ausgewahlten beiden Fragen. 19 Die Korrelation zwischen beiden Fragen betragt ,62 (Pearson's Korrelation auf einem Signifikanzniveau von 0,01).
2.2 Die Religionsorientierimg der Burger Tabelle 2.6:
Trenniing von Kirche iind Politik „Politiker soUten an Gott glauben''
(Mittelwert) EU-15 Frankreich Grofibritannien Deutschland-West Deutschland-Ost Osterreich Italien Spanien Portugal Niederlande Belgien Danemark Schweden Finnland Irland Griechenland Luxemburg
Beitritt I Estland Lettland Litauen Polen Tschechien Slowakei Ungam Malta Slowenien Beitritt II Rumanien Bulgarien Tiirkei
79
2,08 1,70 2,10 2,24 1,96 2,14 2,40 2,21 2,26 1,56 1,70 1,53 1,72 2,25 2,40 3,07 2,11 2,43 2,41 2,64 2,62 2,35 2,06 2,51 2,11 3,06 2,10 3,06 3,46 2,67 3,52
(Prozentsatz der Zustimmung) 12,2 9,2 9,7 17,6 7,7 15,1 15,0 9,5 14,5 1,7 9,1 3,7 4,0 11,9 16,2 37,3 13,1 18,4 13,9 22,2 20,4 15,9 6,3 22,0 12,4 41,7 10,7 38,7 52,0 24,9 62,3
„Es ist besser fiir das Land, wenn Leute mit starkem Glauben offentliche Amter inne haben'' (Mittelwert) 2,41 1,98 2,46 2,74 2,26 2,64 2,68 2,54 2,69 2,17 2,15 1,66 2,09 2,41 2,65 3,04 2,45 2,82 2,77 3,19 3,10 2,79 2,23 3,01 2,52 3,59 2,16 3,31 3,76 2,86 3,42
(Prozentsatz der Zustimmung) 18,8 12,7 16,7 29,7 15,9 26,6 22,2 16,4 25,4 11,8 17,8 5,6 8,8 15,4 24,1 32,0 20,0 31,3 25,0 43,8 36,8 29,3 9,5 37,0 23,1 64,5 12,3 47,2 64,7 28,9 57,1
Die Ergebnisse der beiden Tabellen kommen uns bereits bekarmt vor: Die Idee der Trennung zwischen Religion und Politik ist in den jetzigen Mit-
80
2. Religion im erweiterten Europa
gliedslandern der EU eine von den Biirgern deutlich akzeptierte Vorstellung, sie findet weniger Zustimmung in den Landern der ersten und zweiten Beitrittsrunde (vor allem nicht in Rumanien), wird aber am deutlichsten von den Biirgern der Tiirkei abgelehnt. Diese glauben mehrheitlich, dass politisches Handeln religios angeleitet sein soil und gehen davon aus, dass Religion auf viele politische AUtagsprobleme die richtige Losiang parat hat. Insofern erweisen sich die Tiirkei und Rumanien in dieser Dimension als die am wenigsten mit den Werten der EU iibereinstimmenden Lander.
2.2.2.2
Toleranz gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften
Wir hatten gesehen, dass die Garantie der Freiheit individueller und kollektiver Religionsausiibung fiir die EU umgekehrt bedeutet, dass von jeder Religionsgemeinschaft und ihren Mitgliedern erwartet wird, dass sie die andere toleriert. Die Europaische Wertestudie enthalt leider nur eine einzige Frage, die zur Operationalisierung der Dimension ,, Toleranz" gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften herangezogen werden kann, und auch dies nur mit Einschrankungen. In fast alien Landern wurde gefragt, ob man etwas dagegen hatte, wenn ein Moslem in der Nachbarschaft lebe oder nicht. Leider wurde eine sinngemafie Frage in der Tiirkei nicht gestellt. AUerdings wurde in alien Landern gefragt, ob man etwas dagegen hatte, wenn ein Jude in der Nachbarschaft leben wiirde. Aufgrund der Datenlage sind wir gezwungen, allein diese Frage als Messung der Toleranzorientierung der Biirger auszuwahlen.^o Die Toleranz gegeniiber Juden ist in den alten Mitgliedslandern der EU sehr weit verbreitet und gehort damit zu den festen kulturellen Bestandteilen der EU-Bevolkerung. Dies gilt ebenfalls, wenn auch in einem deutlich geringeren MaiSe, fiir die Lander der ersten und zweiten Beitrittsrunde. Ein Fiinftel der Bevolkerung erweist sich bei letzteren als nicht tolerant gegeniiber Juden. Deutlich anders sieht die Situation in der 20 Aufgrund einer abweichenden Frageformulierung sind die Angaben fiir Ungam vermutlich etwas liberschatzt.
2.2 Die Religionsorientierung der Burger
81
Tiirkei aus. Hier sind es liber 60 % der Befragten, die keine Juden als Nachbarn wlinschen. Grafik 2.2:
Intoleranz gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften (in %)
82
2. Religion im erweiterten Europa
Nun muss man diesen Befund mit Vorsicht interpretieren, da der hier benutzte Indikator eine mehrdeutige Messung von Religionstoleranz darstellen kann. Man kann vermuten, dass die Frage nach der Toleranz gegentiber Juden auch und gerade in moslemischen Landern antiisraelische Einstellungen misst, die sich aus der Politik Israels gegentiber den Palastinensem speisen. Andererseits spricht folgende empirische Analyse fiir die These, dass der Indikator eine generalisierte Toleranz gegentiber anderen Religionsgemeinschaften misst. Der Korrelationskoeffizient zwischen der Einstellung gegentiber Juden als Nachbarn und Moslems als Nachbarn (nicht in alien Landern erhoben) betragt ,47 und ist signifikant (Pearson's Korrelation; Signifikanzniveau 0,01). Die These, dass die Religionstoleranz in der Ttirkei nicht sonderlich ausgepragt ist, wird zudem durch eine von uns durchgeftihrte Sekimdaranalyse des „WorldValues-Survey" von 1990 und 1995/97 bestatigt. In beiden Umfragen wurde die Frage gestellt, ob man etwas dagegen hatte, wenn ein Moslem in der Nachbarschaft lebe; in der Ttirkei wurde gefragt, ob man etwas dagegen hatte, wenn ein Christ in der Nachbarschaft lebe. In beiden Umfragen zeigt sich, dass die religiose Toleranz in der Ttirkei von alien hier analysierten Lander am geringsten ist: 1990 waren es 54,7 % der Befragten, 1995/97 49,1 % der Befragten, die sich keine Christen in ihrer Nachbarschaft wtinschten. Fassen wir die deskriptiven Befumde unserer Analysen zusammen: Die EU versteht sich als sakulare Wertegemeinschaft, die eine Trennung der Spharen von Gesellschaft und Religion favorisiert und wechselseitige Toleranz zwischen den Religionsgruppen erwartet. Diese Vorstellungen finden eine hohe Akzeptanz bei den Btirgern der EU und, wenn auch etwas schwacher, bei den Btirgern der Lander, die 2004 der EU beigetreten sind. Rumanien als eines der Lander der zweiten Beitrittsrunde weicht von diesen Vorstellungen nochmals deutlich ab; vor allem in der Ttirkei ist der Anteil der Btirger, die sich eine Durchdringung von Religion, Gesellschaft imd Politik wtinschen, erheblich.21 Mit der Aufnahme 21 Einen guten tJberblick iiber die Umfragestudien, die die Religionseinstellungen in der Turkei erhoben haben, gibt der Aufsatz von M. Emin Koktas (2002). Die Befunde unterscheiden sich zum Teil von unseren Ergebnissen, was wiederum mit den unterschiedHchen
2.3 Klassifikation der Lander beziiglich ihres Religionsverstandnisses
83
dieser Beitrittslander wird sich das kulturelle Gesamtgefiige der EU im Hinblick auf die Religionsvorstellungen verandern: Der Anteil derer, die die Vorstellungen der Institutionen der EU im Hinblick auf eine Trennung von Religion und Welt nicht teilen, wird zunehmen. Diese Unterschiede auf der Aggregatsebene der vier Landergruppen diirfen aber nicht dariiber hinwegtauschen, dass innerhalb der Landergruppen die Varianz zum Teil erheblich ist. Die Lander mit hohem Protestantenanteil sind diejenigen, die die Vorstellungen der EU am starksten unterstiitzen, die Lander mit hohem Katholiken- und Orthodoxenanteil nehmen eine Mittelposition ein und die muslimische Tiirkei bildet das Schlusslicht. Wir kommen auf diese Unterschiede bei dem Versuch der Erklarung der gefundenen Varianzen zuriick.
2.3 Klassifikation der Lander beziiglich ihres Religionsverstandnisses Auf der Grundlage der deskriptiven Befunde lasst sich nun genauer iiberpriifen, ob die Bewohner der analysierten Lander das europaische Ideal der Trennung von Religion und Welt sowie der Toleranz gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften teilen. Das Verfahren der Wahl ist dabei die Diskriminanzanalyse. Sie erlaubt die Beantwortung von zwei Fragen: Durch die Zusammenfassung der Ergebnisse aller Items kann erstens bestimmt werden, wie sehr die einzelnen Befragten mit den Vorstellungen der EU insgesamt iibereinstimmen. Zweitens berechnet die Diskriminanzanalyse, in welch unterschiedlichem Mal?e die verschiedenen Variablen das Ausmafi der Ubereinstimmung mit den EUVorstellungen bestimmen.
Frageformulierungen zu tun haben mag. Kayhan Mutlu (1996) hat die religiosen Einstellungen von Studenten an einer Universitat in Ankara untersucht. Er zeigt, dass die Religiositat zwischen 1978 und 1991 gestiegen ist. Zugleich argumentiert der Autor, dass die Religionseinstellungen durchaus mit demokratischen Einstellungen kompatibel sind.
84 Tabelle2.7:
2. Religion im erweiterten Europa Trennung zwischen Benchmark-Countries und anderen Landern im Hinblick auf Religionsvorstellungen EU-Position^
Trennung von Religion und Lebensfiihrung ,630 Wichtigkeit der Religion fiir das Leben Wichtigkeit Gottes fiir das Leben ,849 Trennung von Kirche und Gesellschaft ,459 Kirche weifi Antworten auf moralische Probleme ,480 Kirche weifi Antworten auf familiare Probleme ,325 Kirche weifi Antworten auf soziale Probleme Trennung von Religion und Politik Politiker, die nicht an Gott glauben, sind ungeeignet fiir ,759 politisches Amt Besser fiir Land, wenn mehr Religiose offentliche Amter ,713 innehaben Toleranz gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften Nicht als Nachbar gewiinscht: Juden ,392 Giitemafie der Diskriminanzanalyse Eigenvalue ,121 Kanonische Korrelation ,329 Gruppenmittelwerte der Diskriminanzfunktion Zu klassifizierende Gruppe ,166 EU-Position (Benchmark-Countries) -,731 Klassifikationsergebnisse "^ Gruppen (vorhergesagt) 1 Zu klassifizierende Gruppe 2 Benchmark-Countries Korrekt klassifiziert
1 60,3 % (9556) 24,0 % (863)
2 39,7 % (6289) 76,0 % (2729) 63,2 %
3 Benchmark-Countries: Danemark, Deutschland-Ost, Frankreich, Niederlande, Schweden ^ Gemeinsame rotierte Korrelationen innerhalb der Gruppen zwischen Diskriminanzvariablen und standardisierter kanonischer Diskriminanzfunktion ^ Verwendet wurden um die Stichprobengrofie gewichtete Falle, so dass alle Lander gleichwertig beriicksichtigt werden. Daher erscheinen die Fallzahlen etwas emiedrigt.
Wie die bisherigen Ausfuhrungen gezeigt haben, wird das EU-Ideal vor allem von den Blirgern in westlichen Landern mit hohem Protestantenanteil unterstutzt. Besondere Unterstiitzung erfahrt es in Danemark, den Niederlanden, Schweden und Ostdeutschland. Aber auch die Burger des
2.3 Klassifikation der Lander beziiglich ihres Religionsverstandnisses
85
katholischen Frankreichs vertreten aufgrimd der ausgepragt laizistischen Tradition das EU-Ideal. Diese fiinf Lander bilden daher sogenannte „Benchmark-Coimtries" der EU-Position. Durch den Vergleich mit den dort vertretenen Einstellungen lasst sich die Nahe zu den EUVorstelliingen bestimmen. Die Tabelle enthalt verschiedene Angaben. Im ersten Drittel werden die Korrelationen der Indikatoren mit der Diskriminanzfunktion angefiihrt, wobei hohe Werte einen starken Einfluss der Variablen auf die Trennung zwischen den beiden Gruppen der Benchmark-Countries iind den iibrigen europaischen Landern bedeuten.22 Wie man sieht, geht der starkste Effekt von den beiden Dimensionen „ Trennung von Religion und Lebensfiihrung'' und „Trennung von Religion und Politik" aus. Die Korrelationen liegen durchschnittlich liber 0,7. Den groCten Einzelbeitrag liefert die Variable „Wichtigkeit Gottes fiir das Leben". In den beiden Dimensionen „ Trennung von Kirche und Gesellschaft" und „Toleranz gegenliber anderen Religionsgemeinschaften'' scheinen sich dagegen die beiden Gruppen recht ahnlich zu sein. Alle Korrelationen weisen dasselbe positive Vorzeichen auf und liegen damit in der erwarteten Richtung. Eigenvalue und Kanonische Korrelation sind Giitemafie fiir die Fahigkeit der Diskriminanzanalyse, zwischen den Gruppen zu unterscheiden.23 Je hoher die Werte sind, umso besser kann man mit Hilfe der Diskriminanzfunktion zwischen Benchmark-Countries und anderen Landern trennen. Ein weiteres Giitemafi sind die in der letzten Zeile ausgewiesenen korrekt klassifizierten Befragten, in unserem Fall 63,2 %. Beriicksichtigt man, dass sich bei zwei Gruppen eine zufallige Wahrscheinlichkeit fiir eine der Gruppen von 50 % ergibt, so ist die Verbesserung der Vorhersage aufgrund der Diskriminanzfunktion zwar akzeptabel, aber nicht hervorragend.24 Dabei ist allerdings zu beriicksichtigen, dass die 22 Die Variablen wurden aus Griinden der besseren Ubersicht so umkodiert, dass hohe Werte eine starke Orientierung an der Religion bedeuten. 23 Im hier vorliegenden Zwei-Gruppen-Fall entspricht die Kanonische Korrelation der Korrelation zwischen den geschatzten Diskriminanzwerten und der Gruppierungsvariable (vgl. Backhaus et al. 1994:118). 24 Die 50 % ergeben sich bei der Annahme gleicher GruppengrolBe. Kann man aufgrund zusatzlicher Informationen die Gruppengrofien genauer bestimmen, so kann die zufallige
86
2. Religion im erweiterten Europa
von ims ausgewahlten Benchmark-Countries zwar die EU-Position am deutlichsten vertreten, wir damit aber nicht postulieren, dass sich die Position nicht auch in anderen Landern finden lasst. Insofern sind Fehlklassifizierungen in gewisser Weise vorprogrammiert. Wir kommen darauf weiter unten noch einmal zuriick. Die Mittelwerte der Diskriminanzfunktion fiir die BenchmarkCountries (-0,731) und die restlichen Lander (0,166) zeigen einen deutlichen Unterschied. Da alle Variablen positiv mit der Diskriminanzfunktion korreliert sind, bedeuten hohe positive Werte der Diskriminanzfunktion eine starke religiose Orientierung, negative Werte dagegen eine geringe religiose Orientierung. Wie sich bei den Klassifikationsergebnissen zeigt, werden etwa ein Viertel der Befragten aus den BenchmarkCountries falsch eingeordnet, vor allem aber werden iiber 39 % der Befragten aus den restlichen Landern der EU-Position zugeordnet. Insofern zeigt sich, dass wir die Benchmark-Countries relativ streng ausgewahlt haben und dadurch in diese Gruppe deutlich mehr Personen eingeordnet werden, als wir zunachst vorgegeben haben. Unser Interesse gilt allerdings nicht so sehr den individuellen Ergebnissen, sondern den Landern und den Landerunterschieden. Wir haben daher die Werte fiir die Individuen auf Landerebene aggregiert und erhalten so zwei Mai?e, die eng miteinander verbunden sind und Auskunft dariiber geben, inwieweit die Position der EU von den Biirgern dieser Lander geteilt werden oder nicht. Die Ergebnisse finden sich in Tabelle 2.8. Betrachten wir zunachst die vier Aggregatskategorien, so ergibt sich die schon aus den deskriptiven Befunden bekannte Rerhenfolge.^^ Die EU-Position wird am starksten in den EU-Mitgliedslandern unterstiitzt, wo durchschnittlich die Halfte der Befragten die Vorstellungen der Europaischen Union iiber die RoUe der Religion teilen. Deutlich weniger Unterstiitzung erfahrt die EU in den Landern der ersten Beitrittsrunde. In Wahrscheinlichkeit noch hoher liegen. In der Literatur werden fiir die Giitemal^e keine „Grenzwerte" fiir akzeptable Werte angegeben. 25 Berechnet man auf der Landerebene eine Diskriminanzanalyse mit diesen vier Gruppen, so werden sogar knapp 90 % der Lander richtig zugeordnet.
2.3 Klassifikation der Lander beziiglich ihres Religionsverstandnisses
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der zweiten Beitrittsrunde sind es sogar nur noch ein knappes Viertel der Befragten. Praktisch gar nicht geteilt wird die EU-Position von den Biirgern der Tiirkei, von denen nur 7 % den Benchmark-Countries zugeordnet werden. Aber auch hier gibt es wieder deutliche Landerunterschiede innerhalb der Gruppen. Bei den EU-Mitgliedern fallen Italien, Portugal, Irland und Griechenland deutlich gegeniiber den anderen ab. In diesen katholischen bzw. orthodox-christlichen Landern, die zudem eine relativ starke Kirchenbindung aufweisen, scheint die Sakularisierung nicht sehr weit fortgeschritten zu sein, die EU-Position wird nur von einer Minderheit unterstlitzt. Dagegen findet sich bei den neuen EU-Mitgliedern in Slowenien, Estland und vor allem in der Tschechischen Republik eine Mehrheit, die die Vorstellungen der EU imterstiitzt.^^ Dies ist fiir die letzten beiden Lander von daher nicht erstaunlich, da sich in beiden Landern mehr als die Halfte der Leute als keiner Konfession zugehorig eingestuft haben. Slowenien, welches immerhin zu zwei Dritteln katholisch ist, weist eine geringe Kirchenbindung auf, wie wir oben gesehen hatten. Polen, Litauen und vor allem Malta, die drei Lander mit den grol?ten Anteilen an Katholiken unter den Beitrittslandern und relativ starker Kirchenbindung, unterstiitzen das EU-Ideal dagegen in geringem Mai?e. In der Gruppe der Lander der zweiten Beitrittsrunde gibt es, obwohl beide Lander orthodox-christlich gepragt sind, ebenfalls deutliche Unterschiede. Wahrend Bulgarien im guten Mittelfeld liegt und sich dort nur eine knappe Mehrheit gegen die EU-Vorstellungen ausspricht, ist Rumanien neben Malta und der Tiirkei eines der drei Schlusslichter.
26 Tschechien liegt mit seinen Werten sogar im Spitzenfeld der Benchmark-Countries. Nimmt man es in der Diskriminanzanalyse zu diesen hinzu, verbessert sich die Klassifizierung aber um ledigHch ein Prozent. Need und Evans erklaren die starke Sakularisierung in Tschechien mit der Opposition von Katholizismus und Nationalismus seit dem friihen 15. Jahrhundert (Need und Evans 2001).
2. Religion im erweiterten Europa
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Tabelle 2.8:
Nahe der Lander zur EU-Position
Lander^
EU-15 Danemark Schweden Deutschland-Ost Frankreich Niederlande Belgien Grofibritannien Luxemburg Finnland Deutschland-West Spanien Osterreich Italien Portugal Irland Griechenland
Beitritt I Tschechien Slowenien Estland Ungarn Lettland Slowakei Polen Litauen Malta Beitritt II Bulgarien Rumanien Turkei
Prozentsatz der Burger in der Gruppe der BenchmarkCountries 54,2 86,8 76,9 74,7 74,1 68,3 65,0 59,0 57,5 52,2 52,4 49,3 48,4 30,0 26,8 30,5 24,3 40,7 73,0 59,1 59,8 50,6 40,2 34,0 23,3 20,5 6,9 27,6 47,9 8,9 7,2
Durchschnittl. Wahrscheinlichkeit eines Burgers, in die BenchmarkCountry-Gruppe eingeordnet zu werden 0,49 0,65 0,61 0,60 0,59 0,57 0,54 0,51 0,51 0,48 0,47 0,47 0,46 0,38 0,38 0,38 0,32 0,40 0,58 0,51 0,50 0,44 0,40 0,36 0,33 0,30 0,21 0,31 0,45 0,19 0,15
^ Die Lander sind innerhalb der Gruppen nach der durchschnittlichen Wahrscheinlichkeit ihrer Burger, Mitglied in der Benchmark-Gruppe zu sein, geordnet.
2.4 Erklariing der Unterschiede im Religionsverstandnis
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Insgesamt bestatigt die Diskriminanzanalyse damit unsere Interpretationen der deskriptiven Befunde. Mit der Aufnahme der Beitrittslander wird sich das kulturelle Gesamtgefiige der EU im Hinblick auf die Religionsvorstellungen verandern: Der Anteil derer, die die Vorstellungen der Institutionen der EU im Hinblick auf eine Trennung von Religion und Welt nicht teilen, wird zunehmen.
2.4 Erklarung der Unterschiede im Religionsverstandnis Wir wollen im Folgenden versuchen, die Unterschiede im Religionsverstandnis der Burger zu erklaren. Lander und Landeraggregate sind, wie wir in der Einleitung betont haben, keine soziologisch relevanten Kategorien, sie miissen in soziale Bedingungsfaktoren aufgelost werden, die „hinter" den jeweiligen Landern lagern. Dies bedeutet fiir unseren Analysezusammenhang, dass wir die verschiedenen EU- und Beitrittslander als Chiffre fiir unterschiedliche soziale Bedingungskonstellationen begreifen miissen, die in den jeweiligen Gesellschaften existent sind und die einen Einfluss auf Religionsvorstellungen haben konnen. Die abhangigen Variablen ergeben sich aus der Fragestellung dieses Kapitels.2^ Wir unterscheiden vier Variablen: Die drei Dimensionen der Messung der Trennung von Religion und Welt einerseits und die Toleranzeinstellungen der Biirger gegeniiber anderen Religionsgemeinschaften andererseits. 1. Trennung von Religion und Lebensfiihrung: Die Einstellung zur Trennung von Religion und Lebensfiihrung hatten wir zum einen durch die Frage nach der Wichtigkeit Gottes fiir das gesamte Leben, zum anderen durch die Frage, wie wichtig dem Befragten Religion in seinem Leben sei, gemessen, Aus beiden Variablen haben wir durch Addition eine Skala gebildet.28 Cronbach's Alpha der gebildeten Skala betragt ,85. 27 Alle abhangigen Variablen wurden so rekodiert, dass hohe Werte eine starke Trennung der Spharen bzw. eine hohe Toleranz signaHsieren. 28 Da die Variablen auf unterschiedlichen Skalen gemessen wurden, wurde der Range der beiden angepasst.
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2. Religion im erweiterten Europa
2. Trennung von Religion und Gesellschaft: Die Einstellungen zur Trennung von Religion und Gesellschaft hatten wir durch drei Fragen gemessen, die die Relevanz von Religion zur Losiing gesellschaftlicher Probleme (Familienprobleme, soziale Probleme, moralische Probleme) erheben. Aus diesen drei Fragen haben wir ebenfalls durch Addition eine Skala gebildet. Cronbach's Alpha betragt hier ,82. 3. Trennung von Religion und Politik: Auch aus den beiden Fragen zur Messung der Trennung von Religion und Politik haben wir eine Additionsskala gebildet. Cronbach's Alpha betragt hier ,77. 4. Toleranz gegenuber anderen Religionen: Diese messen wir durch die Frage, ob man Juden in seiner Nachbarschaft wlinscht. Bei der Bestimmung der unabhangigen Variablen unterscheiden wir drei verschiedene Variablengruppen. 1. Religionsgemeinschaften und Integration in die Kirche: Wir hatten in unseren deskriptiven Analysen in Kapitel 2.2 gesehen, dass die Verteilungen der Einstellungen zur Trennung von Religion und Lebensfuhrung, Gesellschaft und Politik und die Toleranz gegeniiber anderen Religionen je nach Grad der Einbindung in die Kirchen (a) und der Prasenz der verschiedenen Religionsgemeinschaften in den Landern (b) variieren. a. Wir gehen davon aus, dass alle Religionsgemeinschaften, wenn auch in unterschiedlicher Intensitat, eine Neigung zur Expansion ihres Weltbildes auf aufierreligiose Bereiche haben. Wir vermuten deswegen, dass die Trennung von Religion und Welt und die Toleranz gegenuber anderen Religionen bei Konfessionslosen starker ausgepragt ist als bei Mitgliedern von Religionsgemeinschaften. Weiterhin gehen wir davon aus, dass der Grad der Intensitat der Einbindung in die jeweilige Kirche (gemessen durch die Kirchgangshaufigkeit) die gewiinschte Trennung von Religion und Welt beeinflusst.^^ Je geringer Menschen in die alltaglichen Praktiken ihrer Kirche eingebunden sind, desto eher werden sie sich fiir eine Trennung der Spharen von Religion und Welt aussprechen. b. Ob und in welchem Mafie die verschiedenen Religionen unterschiedliche Vorstellungen liber das Verhaltnis von Religion und Welt
29 Hohe Werte bedeuten dabei haufige Kirchenbesuche.
2.4 Erklarung der Unterschiede im Religionsverstandnis
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imd vor allem von Religion iHid Staat entwickelt haben, ist in der einschlagigen Literatur sehr umstritten. Vor allem ist imter Theologen iind Religionswissenschaftlern umstritten, ob sich die Vorstellungen liber das Verhaltnis von Religion und Welt durch Belegstellen aus der Bibel oder dem Koran unmissverstandlich beglaubigen lassen. Diese Uneindeutigkeiten sind aber aus unserer Perspektive nicht verwunderlich. Sowohl die Bibel als auch der Koran sind iiberaus mehrdeutige Texte, deren Langlebigkeit sicherlich zum Teil aus deren Deutungsoffenheit resultiert. Wir miissen hier iiber die Richtigkeit der verschiedenen Interpretationen aber nicht entscheiden, sondern konnen stattdessen eine Position theoretisch als Hypothese formulieren und dann empirisch priifen, ob sich diese (auf der Ebene der Burger) empirisch bestatigen lasst oder nicht. Dabei gehen wir von folgender hypothetischer Annahme aus.^o Der Islam ist diejenige Religion, in der im Vergleich zu den drei christlichen Religionen die Trennung von Religion und Welt am geringsten voUzogen ist. Die Einheit von Politik und Religion existierte im Islam schon im 7. Jahrhundert n. Chr. bei Muhammad, der gleichzeitig religioser wie politischer Fiihrer der ersten muslimischen Gemeinde war. Der Koran ist ein weltliches und religioses Gesetzbuch. Die Scharia bestimmt das sozialpolitische Leben. Auch wenn der Koran keine bestimmte Staatsform vorschreibt, scheinen Religion und Politik im Islam von Beginn an enger miteinander verwoben zu sein als im Christentum.^i Dort scheint die Trennung von Kirche und Staat weit starker verankert zu sein, wenn auch flir orthodoxe Christen, Katholiken und Protestanten auf unterschiedlichem Niveau. Dem Islam am nachsten kommt die orthodoxchristliche Kirche. Ausgehend von der antiken Kaiserideologie hat der 30 Zum Folgenden vgl. zum einen die Eintragungen unter den Stichw5rtern „Politik und Religion'', „Kirche und Staat" in dem von Hans Dieter Betz et al. (2003) herausgegebenen Lexikon „Religion in Gegenwart und Geschichte", zum anderen die Eintragungen unter den Stichwortern „Kirche und Staat'' und „Politik und Christentum" in der von Gerhard Miiller et al. (1976) herausgegebenen „Theologische Realenzyklopadie". 31 Dass die Trennung von Religion und Staat im Islam nicht vollzogen, umgekehrt aber fester Bestandteil des Christentums ist, ist eine in der Literatur iiberaus umstrittene These. Dietrich Jung versucht z. B. nachzuweisen, dass die Behauptung, dass die politische und religiose Sphare im Islam eine inharente Einheit bilden, historisch falsch ist (Jung 2002).
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2. Religion im erweiterten Europa
Kaiser seit Konstantin dem Grofien starken Einfluss auf die Gestaltung des Verhaltnisses von Kirche und Staat. Beide Bereiche wurden als zwei Erscheinungsweisen einer Christenheit interpretiert. Der Kaiser verlieh den kirchlichen Bestimmungen staatliche Gesetzeskraft (Symphonie). Die romisch-katholische Kirche hat sich stattdessen an Augustinus' Trennung von irdischer und gottlicher Ordnung orientiert. Die Kirche beansprucht flir weltliche Dinge keine „potestas directa", sondern eine „potestas directiva": Sie verkiindet Grundsatze liber die Gestaltung der Welt, aber keine konkreten Einzelentscheidungen. Folgt man der These von Samuel Huntington - und dies tun wir im Folgenden - , dann kann man erwarten, dass die Akzeptanz der Trennung von Religion und Welt entlang folgender Reihenfolge zimimmt (Huntington 1996): Muslime, orthodoxe Christen, Katholiken, Protestanten. Da Muslime, orthodoxe Christen und Katholiken in der Regel auch hohere Integrationsraten in ihre jeweiligen Kirchen haben als Protestanten und Konfessionslose, ist aus den Kreuztabellen nicht erkennbar, ob nicht der Integrationsgrad in die Kirche, ganz unabhangig von der spezifischen Religionsgemeinschaft, der eigentliche Grund fiir eine Ablehnung einer Trennung von Religion und Welt ist. Wir konnen dies in einer multivariaten Regressionsanalyse priifen, indem wir sowohl die Kirchgangshaufigkeit als Indikator fiir den Integrationsgrad in die Kirche als auch die verschiedenen Religionsgemeinschaften (jeweils kodiert als Variablen mit zwei Auspragungen: Mitglied in der Religionsgemeinschaft/Nichtmitglied) mit in die Analyse aufnehmen. 2. Modernisierungsgrad der Gesellschaft: Die Trennung von Religion und Lebensfiihrung, Gesellschaft und Politik wird von vielen Sozialwissenschaftlern mit gesellschaftlicher Modernisierung in einen ursachlichen Zusammenhang gebracht. Je modernisierter eine Gesellschaft, desto starker ist die Akzeptanz der Trennimg von Religion und Gesellschaft. Der Grad der Modernisierung einer Gesellschaft driickt sich in einer Vielzahl von Faktoren aus, u. a. in einer okonomischen und einer bildungsmafiigen Modernisierung. a. Bildung: Die These, dass das Ausmai? der Bildung in einem kausalen Zusammenhang mit der Trennung von Religion und Gesellschaft
2.4 Erklarimg der Unterschiede im Religionsverstandnis
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steht, ist in Ansatzen bereits von Emile Durkheim formuliert worden (Durkheim 1983: 177). Bildung erhoht die Moglichkeit der Selbstreflexion und die Wahrscheinlichkeit einer wissenschaftlichen Weltsicht. Mit wachsender Bildung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Traditionsbestande nicht als gegeben hingenommen, sondern auf ihre Funktionsweise hin befragt werden und eventuell mit ihnen gebrochen wird, so die Hypothese. Wir vermuten entsprechend, dass sich die hoher gebildeten Befragten eher fiir eine Trennung von Religion und Lebensfiihrung, wahrend Personen mit niedriger Bildung sich eher dagegen aussprechen werden. Die Bildung eines Befragten operationalisieren wir durch seinen hochsten Bildungsabschluss; da die nationalen Bildungsabschllisse schwierig miteinander vergleichbar sind, wurde von der Forschergruppe des EVS eine wenigstens annahernd vergleichbare Klassifikation erstellt, die von 0 „kein Abschluss" bis 8 „(Fach-) Hochschulabschluss" reicht. b. Die zweite modernisierungstheoretische Vorstellung, dass die okonomischen Bedingungen, die die Lebensqualitat des Menschen bestimmen, einen Einfluss auf die religiose Interpretation der Welt imd der weltlichen Verhaltnisse haben, geht auf die von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelte Religionssoziologie zuriick. Die Entstehung und Persistenz von Religionen erklaren die Autoren mit Rekurs auf die faktischen irdischen Verhaltnisse. Die religiose Interpretation der Welt ist gleichsam eine Kompensation flir die Widrigkeiten, die die Menschen in der Welt und in ihrem Leben erfahren miissen. „Das religiose Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestaktion gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrangten Kreatur, das Gemlit einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustande ist. Sie ist das Opium fiir das Volk. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Gliickes des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Gliicks." (Marx 1972: 378). Mit der letzten Bemerkimg deutet Marx zugleich die Bedingung an, unter der die Religion an Bindungs- und Uberzeugungskraft fiir die Menschen verlieren wird: Je besser die okonomischen Lebensbedingungen des Menschen sind, desto geringer ist sein Bedarf, die Welt religi5s zu tnterpretieren. Wir vermuten also, dass je hoher der okonomische Wohlstand in einer Gesellschaft ist, desto ho-
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2. Religion im erweiterten Europa
her ist die Wahrscheinlichkeit der Befriedigung materieller Bediirfnisse, iind desto hoher ist der Grad der Trennung von Religion und Gesellschaft. Wir messen den Grad der okonomischen Modernisierung eines Landes durch die Hohe des „Human Development Index" (HDI). In den HDI gehen, wie in der Einleitung genauer erlautert, drei Mai?zahlen zur Messung des Grads der Modernisierung ein: Reales Bruttosozialprodukt pro Einwohner, Bildungsniveau und die durchschnittliche Lebenserwartung.32 \Yir haben leider keine Moglichkeit, den relativen okonomischen Wohlstand aller Befragten in alien Landern auf der Individualebene zu messen. 3. Institutionelle Trennung von Religion und Politik: Die verschiedenen Lander unterscheiden sich in dem Grad der institutionellen Trennung von Kirche und Staat. Die Skala reicht von Landern, die eine strikte Trennung von Kirche und Staat voUzogen haben (Frankreich, Tiirkei) bis hin zu Landern, die eine Staatskirche institutionalisiert haben (England, Schweden, Danemark).^^ Man kann nun vermuten, dass die institutionellen Arrangements der Trennung von Kirche und Staat in den Landern die Einstellungen der Burger beziiglich einer Trennung von Religion und Welt beeinflussen (vgl. Chaves und Cann 1992; Pollack und Pickel 2000; Pollack 2003). Will man dies priifen, muss man Lander im Hinblick auf den institutionalisierten Grad der Trennung von Kirche und Staat klassifizieren. Dies ist weder theoretisch noch empirisch ganz einfach. Eine Vielzahl an Typologien orientiert sich an der rechtlichen und vor allem verfassungsmafiigen Regelung des Verhaltnisses von Kirche und Staat (vgl. den Uberblick in Minkenberg 2003). Gerhard Robbers (1995) unterscheidet fiir Europa drei verschiedene Typen: Staatskirchensysteme, Systeme der strikten Trennung und Systeme der grimdsatzlichen Trennung von Religion imd Politik bei gleichzeitiger faktischer Durchdringung der Bereiche. Maurice Barbier (1995) entwickelt eine ahnliche Typologie mit 32 Eine zweite in der Literatur haufig benutzte Messung des Niveaus der Modernisierung ist das Bruttosozialprodukt pro Einwohner. Wir haben die folgenden Regressionsanalysen auch mit dieser Variable statt mit dem HDI durchgefiihrt. Die Ergebnisse bleiben stabil. 33 Dies wurde in Schweden zwar im Jahr 2000 geandert, zum Zeitpunkt der Befragung hatte Schweden aber noch eine Staatskirche.
2.4 Erklarung der Unterschiede im Religionsverstandnis
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vier Auspragungen, die von laizistisch bis zu nicht laizistisch reicht. Mark Chaves und David Cann (1992) versuchen in ihrer Typologie neben einer rechtlichen Regelung des Verhaltnisses von Kirche und Staat auch okonomische (z. B. Kirchensteuer) und politische Dimensionen (z. B. staatliche Ernennung des Kirchenpersonals) zu beriicksichtigen. Die Lander werden dann mit Hilfe einer 7-Punkte Skala klassifiziert. Die einzigen Arbeiten, die auch osteuropaische Lander mit in die Klassifikation aufnehmen, sind die Studien von Detlef Pollack und Gert Pickel (vgl. Pollack und Pickel 2000; Pollack 2003). Die Autoren konstruieren eine 8Punkte-Skala auf der Basis von fiinf Dimensionen (Existenz eines Staatskirchentums; Existenz theologischer Fakultaten an staatlichen Hochschulen; Religionsunterricht an offentlichen Schulen; Existenz von Militar- und Gefangnisseelsorge; Steuerliche Begiinstigung von Kirchen) und gruppieren die verschiedenen Lander dann auf dieser Skala. Der Wert 7 auf der Skala bedeutet eine sehr geringe Trennung von Kirche und Staat, der Wert 0 eine komplette Trennung der beiden Spharen. Die Autoren klassifizieren von den auch in unseren Analysen betrachteten Landern folgende Gesellschaften (in Klammern sind die jeweiligen Skalenwerte angegeben): Danemark (7), Deutschland (7), Frankreich (2), Grol?britannien (6), Irland (5), Italien (6), Niederlande (4), Osterreich (5), Portugal (6), Schweden (8) und Spanien (5), dann Polen (4), Tschechien (6) und Ungarn (5). Wir haben zusatzlich noch die Tiirkei (1) klassifiziert, weil wir wissen, dass die Trennung von Religion und Kirche hier strikt voUzogen ist. Wir vermuten, dass der Grad der institutionellen Trennung der Spharen von Religion und Staat den Grad der von den Biirgern gewiinschten Trennung der Spharen beeinflusst. Wir messen den Grad der institutionellen Trennung pro Land durch die von Pollack und Pickel entwickelte Skala. Wir haben nun in einer multivariaten Regressionsanalyse den Einfluss der verschiedenen unabhangigen Variablen auf die vier abhangigen Variablen analysiert. Die Analyse erfolgte in zwei Schritten. Da wir nur fiir 15 der 27 analysierten Lander Informationen liber den Grad der institutionellen Trennung von Religion und Staat besitzen, ha-
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2. Religion im erweiterten Europa
ben wir in einem ersten Schritt nur fiir diese Falle die Analysen durchgefiihrt. Die institutionelle Trennung von Kirche und Staat hat einen leichten Effekt auf die subjektiv gewiinschte Trennung von Religion und Lebensflihrung (der standardisierte Regressionskoeffizient Beta betragt ,05), aber in der umgekehrten als erwarteten Richtung und keinen signifikanten Effekt auf die Trennung von Religion und Gesellschaft. Ihr Einfluss auf die Trennung von Religion und Politik (Beta = ,06) fallt dagegen wie erwartet aus. Damit ist die Ausgangshypothese, die von einer Kongruenz von institutionellem Arrangement und individuellen Praferenzen ausging, weder eindeutig belegt noch widerlegt.^^ Dieses multivariate Ergebnis konnte man mit einem Blick auf die Kreuztabellen in Kapitel 2.1.2 bereits erwarten. Die skandinavischen Lander Danemark, Schweden und Finnland mit starken Staatskirchen sind zugleich die Lander, in denen die Burger eine Trennung von Religion und Welt befiirworten. Umgekehrt gehort die Tiirkei zu den Landern, in denen die Trennung von Kirche und Staat im hohen Mafie institutionalisiert ist (vgl. Jung 2003), die Akzeptanz dieser Trennung bei den Blirgern aber, wie wir gesehen hatten, sehr gering ist. Unser Ergebnis deckt sich mit anderen Studien, die den Einfluss der institutionellen Trennung von Religion und Staat auf die Religiositat der Burger (vgl. Pollack 2003), auf den Demokratietypus oder bestimmte „policies" analysiert haben (vgl. Minkenberg 2003). Im Hinblick auf alle abhangigen Variablen gibt es keine oder keine nennenswerten Effekte. Wir haben dann im zweiten Schritt die Variable „ Institutionelle Trennung von Kirche und Staat" aus der Analyse ausgeschlossen mit dem Vorteil, dass wir jetzt alle 28 Lander beriicksichtigen konnen. Tabelle 2.9 gibt die Ergebnisse der durchgefiihrten vier Regressionsanalysen wieder.
34 Fiir den Kernbereich wird sie allerdings, wenn auch schwach, eher belegt: Die institutionelle Trennung von Religion und Staat bezieht sich vor allem auf den Einfluss von Religion auf Politik. Und hier hat sie tatsachlich die erwarteten Effekte.
2.4 Erklarimg der Unterschiede im Religionsverstandnis
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Folgende Befunde lassen sich bilanzieren: a. Ein Blick auf die erklarte Varianz aller vier abhangigen Variablen zeigt iins, dass wir mit den ausgewahlten unabhangigen Variablen sehr gut die Einstellungen zur Trennung von Religion und Lebensfuhrung, von Religion und Gesellschaft und von Religion und Politik erklaren konnen. Dies gilt weniger fiir die Erklarung der Toleranz gegeniiber anderen Religionen. Tabelle2.9:
Erklarung der Einstellungen zur Trennung von Religion und Lebensfiihrung, Gesellschaft und Politik bzw. zur Toleranz gegeniiber anderen Religionen: Regressionsanalysen
Religion ^) Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Integration in die Kirche Modemisierungsgrad HDI Bildung R2
Trennung von Religion und Lebensfiihrung
Trennung von Religion und Gesellschaft
Trennung von Religion und PoHtik
Toleranz gegeniiber anderen Religionen
-,153 -,339 -,222 -,284 -,496
-,105 -,161 -,056 -,080 -,367
-,070 -,093 -,174 -,108 -,360
,023 -,020* -,022 -,183 -,047
,049 ,079 0,57
,164 ,084 0,26
,218 ,134 0,32
,143 ,121 0,10
Ausgewiesen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten der multiplen Regression; soweit nicht anders ausgewiesen, sind sie auf dem 1 %-Niveau signifikant (* = signifikant auf 5 %-Niveau). «) Referenzkategorie fiir die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose''.
b. Die beiden modernisierungstheoretisch abgeleiteten Variablen Bildung und 5konomische Entwicklung haben einen Einfluss auf die Trennung von Religion und Welt und auf die Toleranz gegeniiber anderen Religionen und zwar in der erwarteten theoretischen Richtung. Je hoher gebildet ein Befragter ist und vor allem: je starker modernisiert das Land ist, aus
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dem er kommt, desto eher wird eine Trennung der religiosen iind weltlichen Sphare iind Toleranz gegenliber anderen Religionen befiirwortet.^s c. Was den Einfluss der Religionsgemeinschaften angeht, so sind die Ergebnisse ebenfalls eindeutig. Praktisch alle Konfessionen - mit Ausnahme der Protestanten - weisen eine niedrigere Toleranz gegeniiber anderen Religionen auf. Insbesondere gilt dies fiir die Moslems. Gleichzeitig findet sich bei alien konfessionell Gebundenen eine geringere Akzeptanz der Trennxing von Religion iind Welt.^^ Man kann aber nicht sagen, dass sich diesbeziiglich die orthodoxen Christen und die Moslems auf der einen Seite und die Katholiken und Protestanten auf der anderen Seite voneinander unterscheiden; dazu sind die Ergebnisse zu inkonsistent. Vielmehr gilt: d. Es ist weniger entscheidend, welcher Religionsgemeinschaft der Befragte angehort, sondern entscheidend ist, wie stark jemand in die jeweilige Religionsgemeinschaft integriert ist.^^ Der Grad der Integration in die jeweilige Kirche hat einen sehr starken Einfluss auf die Trennung von religioser und weltlicher Sphare. Dies scheint uns ein liberaus interessanter Befund zu sein. Wir hatten gesehen, dass manche Autoren - Samuel Huntington (1996) und auch Hans-Ulrich Wehler (2002) - im Hinblick auf die Aufnahme der Tiirkei in die EU davon ausgehen, dass eine Trennung von Religion und Welt ein inhaltlicher Bestandteil der christlichen Traditionslinie sei, wahrend dies nicht fiir die moslemische Religion gelte. „Das Nebeneinander von Staat und Kirche, allgemeiner von Staat und Religionsgemeinschaften, ist den modernen Menschen so selbstverstandlich, dass kaum zu Bewusstsein kommt, dass diese Unterscheidung eine Besonderheit der durch das Christentum gepragten Welt ist. Die muslimische und die ostasiatische Welt kennen dies bis heute nicht." (Cam-
^^ Die Modernisierungsindikatoren weisen einen besonders starken Zusammenhang mit der Trennung von Religion und Politik auf, wahrend die Religionsvariablen die Trennung von Religion und Lebensfiihrung dominieren. Dies ist insofem plausibel, als die konkrete Ausdifferenzierung je eigener Spharen von der Lebensfiihrung iiber die Gesellschaft bis zur Politik zunimmt. 36 Die Referenzkategorie der Konfessionsdummies sind die Konfessionslosen. 37 Zu ahnlichen Ergebnissen kommen auch Zulehner und Denz (1994).
2.5 Zusammenfassimg
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penhausen 2002: 98). Diese These wird durch unsere Analysen nicht gestiitzt. Die Tatsache, dass die Tlirkei und auch die dominant orthodoxchristlichen Lander der zweiten Beitrittsrimde im geringeren Maiie die Religionsvorstellungen der EU unterstiitzen, hat weniger mit der inhaltlichen Orientierimg der dort dominanten Religionssysteme zu tun, sondern ist bestimmt durch den Grad der Modernisierung einerseits und die Starke der Integration der Burger in die Kirche andererseits. Da der Modemisierungsgrad in den Landern gering ist und der Grad der Integration in die Kirche vor allem in der Tiirkei sehr hoch ist, ist in diesen Landern auch die Ubereinstimmung mit den Religionsvorstellungen der EU nicht so hoch wie in den anderen Landern.
2.5 Zusammenfassung Die EU hat relativ klare Vorstellungen darliber, wie die Gesellschaft Europas strukturiert sein soil. Zu diesem Skript gehoren auch Vorstellungen liber die RoUe der Religion in Europa. Wir hatten gesehen, dass die EU eine Trennung von religioser und weltlicher Sphare favorisiert und von den Biirgern religiose Toleranz erwartet. Unterscheidet man zwischen den alten und neuen Mitgliedslandern der EU, den Beitrittskandidaten sowie der Tiirkei, so zeigt sich, dass die EU-Position von den Mitgliedsstaaten am starksten und dann von Gruppe zu Gruppe immer schwacher imterstiitzt wird. Dieses Ergebnis zeigt sich sowohl fiir die drei Dimensionen der Trennung von Religion und Welt als auch fiir die der Religionstoleranz. Zugleich haben wir gesehen, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Landern innerhalb einer Landergruppe zum Teil betrachtlich sind. Vor allem in den protestantischen Landern, aber auch in der Tschechischen Republik und Frankreich, findet man bei den Befragten eine starke Unterstiitzung der Religionsvorstellungen der EU, wahrend in den restlichen katholischen, den orthodox-christlichen und vor allem den muslimisch gepragten Landern die Trennung von Religion und Welt in deutlich geringerem Maf3e unterstiitzt wird.
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Mit Hilfe einer multiplen Regression sind wir dann der Frage nachgegangen, wie man die Unterschiede im Grad der Trennung von Religion und Welt und der Religionstoleranz erklaren kann. Wir konnten zeigen, dass die Nahe zur EU-Position werdger durch die spezifische Konfessionszugehorigkeit, sondern starker durch den Integrationsgrad in die jeweilige Religionsgemeinschaft bestimmt wird. Weiterhin hat der Modernisierungsgrad der Gesellschaft einen zentralen Einfluss auf die Akzeptanz der Religionsvorstellungen der EU: Je starker eine Gesellschaft modernisiert ist, desto eher iinterstiitzen die Burger eine Trennung von religidser und weltlicher Sphare und sprechen sich fiir eine religiose Toleranz aus. In Landern, die gering modernisiert sind und in denen die Integration in die Kirchen hoch ist, ist die Unterstlitzung der Trennung von religioser und weltlicher Sphare und die Religionstoleranz entsprechend gering. Diese Bedingungskonstellation gilt vor allem fiir die Tiirkei. Hier fallt der kulturelle Unterschied zudem deswegen so schwer ins Gewicht, weil die Tiirkei heute ein recht bevolkerungsreiches Land ist und aufgrund der hoheren Geburtenziffern wahrscheinlich das bevolkerungsreichste Land einer dann erweiterten EU ware. Wir haben uns in diesem Kapitel auf eine Analyse der Religionsvorstellungen beschrankt. Die Unterschiede in der Rolle, die der Religion in den verschiedenen Landern zugeschrieben wird, werden besonders dann relevant, wenn die religiosen Vorstellimgen die Einstellungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen beeinflussen. „Wo das der Fall ist, wird die Suche nach konsensfahigen Losungen nicht an den religidsen Anteilen dieser Themen vorbei dauerhaft gelingen konnen. Anders: Es ist fiir diesen Fall vorhersehbar, dass die Losung von Problemen in religios aufgeladenen Bereichen durch die tmterschiedliche Bindung der Beteiligten an die Religion erheblich mitbeeinflusst wird." (Zulehner und Denz 1994: 197) Ob und in welchem Mafie religiose Vorstellungen die Werteorientierung in anderen Bereichen (Familie, Wirtschaft, Politik etc.) beeinflussen, werden wir in den folgenden Kapiteln genauer untersuchen. Hier sei vorerst nur festgehalten, dass die Heterogenitaten der Einstellungen zur Religion durch die Erweiterung der Europaischen Union mit jedem Integrationsschritt deutlich zunehmen werden.
3. Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen oder: Wer unterstiitzt die Emanzipation der Frauen
Die Familie ist fiir die Menschen in fast alien Gesellschaften ein zentraler Bereich in ihrem Leben, wenn nicht der zentralste Lebensbereich. Eine solch weitgehende, nicht weiter eingeschrankte Behauptung mag in einem komparativen, die Gesellschaftsunterschiede gerade betonenden Buch iiberraschen. Aber die empirischen Befunde sprechen eine eindeutige Sprache. In der Europaischen Wertestudie wurden die Burger in den verschiedenen Landern gefragt, welche Lebensbereiche (Arbeit, Politik, Religion, Familie, Freizeit, Freunde) ihnen in welchem Mafie wichtig sind. Die Befragten konnten zwischen „sehr wichtig" „wichtig", „unwichtig" iind „uberhaupt nicht wichtig" wahlen. Der Bereich der Familie wird von 85,3 % der Burger als sehr wichtig betrachtet; „Politik" definieren z. B. nur 1,% % als sehr wichtig. Die Zustimmungsraten im Hinblick auf die Familie variieren zwischen 66,8 % in Litauen und 97,2 % in der Tlirkei, sind also in alien Landern sehr hoch. Die Wichtigkeit eines Lebensbereichs sagt noch nichts dariiber aus, wie man sich diesen Bereich inhaltlich gestaltet vorstellt. Soil sich die Familie als Klein- oder GroiJfamilie konstituieren? Gehoren Kinder zu einer Familie und wenn ja, wie viele? Soil die Beziehung zwischen Mann und Frau monogamisch sein und durch die Institution der Ehe verfestigt werden? Wie soil die Arbeitsteilung zwischen Mannern und Frauen organisiert sein? Ein Blick in die historische Familienforschung zeigt uns, dass Familien in der Vergangenheit recht unterschiedlich verfasst waren (vgl. Ehmer et al. 1997; Mitterauer 1999; Mitterauer und Ortmayr 1997; Mitterauer und Sieder 1991; Rosenbaum 1982; Sieder 1987) und dass dies
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3. Familien- imd GeschlechtsroUenvorstellungen
bis heute noch auf die Familienstrukturen nachwirkt. So ist das Heiratsalter westlich einer Linie, die von St. Petersburg nach Triest reicht, deutlich hoher als ostlich dieser Linie (Mitterauer 1999: 314; Oesterdiekhoff 2000). Dieses „European Marriage Pattern" hat sich bis heute erhalten. Und auch die gegenwartigen Strukturentwicklungen der Familie in vielen industrialisierten Gesellschaften, die mit den Begriffen Deinstitutionalisierung, Individualisierung und Pluralisierung beschrieben werden, machen deutlich, dass die inhaltliche Ausgestaltung von Familie variieren kann und empirisch variiert (vgl. Beck-Gernsheim 1994; Burkart und Kohli 1992; Lenz 1997; Lesthaeghe und Meekers 1986). Wir fragen in diesem, wie in den anderen Kapiteln des Buches, nicht nach den realen Unterschieden oder Entwicklungsprozessen familiarer Strukturen, sondern nach den Vorstellungen, die sich die Menschen von einer idealen Familie machen und die, insofern sie von einer Mehrheit der Bevolkerungsmitglieder in einer Gesellschaft geteilt werden, als kulturelle Familienleitbilder fungieren. Zur Dimensionierung des „Einstellungsobjekts" Familie orientieren wir uns an dem Leitbild von Familie, das der EU-Politik zugrunde liegt. Die Struktur des Kapitels folgt damit dem Aufbau der anderen Kapitel: In einem ersten Schritt werden wir die Familien- und Gleichberechtigungsvorstellungen der EU rekonstruieren. In einem zweiten Schritt untersuchen wir dann mit Hilfe einer Sekundaranalyse von Umfragedaten, inwieweit das Familienmodell der EU von den Biirgern in den Mitgliedsund Beitrittslandern akzeptiert wird. Im dritten Kapitel schlieClich gehen wir der Kausalfrage nach, wie man die Unterschiede in den Familienvorstellungen zwischen den verschiedenen Landern erklaren kann. Die Uberlegungen in diesem Kapitel orientieren sich an einem bereits publizierten Aufsatz liber Familienvorstellungen im europaischen Vergleich (vgl. Gerhards und Holscher 2003). AUerdings benutzen wir im Folgenden eine andere Datenbasis (Europaische Wertestudie), die fiir die friiheren Analysen noch nicht zur Verfiigung stand. Der Vorteil der hier analysierten Umfragen im Vergleich zu den damals analysierten Daten des „International Social Survey Programme" besteht vor allem darin, dass
3.1 Familien- vind GeschlechtsroUenvorstellungen der EU
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die Europaische Wertestudie mehr Lander, unter ihnen auch die Tiirkei, umfasst imd zudem aktueller ist.
3.1 Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen der EU Das Material zur Rekonstruktion der Vorstellungen einer wiinschenswerten Familie bilden auch in diesem Kapitel die Gesetzestexte, Richtlinien, Verordnungen und Empfehlungen, die von den Institutionen der EU erlassen wurden. Diese sind weitgehend in den Verfassungsentwurf aufgenommen und eingearbeitet worden. Der Teil II des Verfassungsentwurfs enthalt die Grundrechte der EU und besteht in der Ubernahme der Grundrechtecharta, die bereits in Kraft ist. In Artikel 11-93 Absatz 1 heifit es: „Der rechtliche, wirtschaftliche und soziale Schutz der Familie wird gewahrleistet." Familien bestehen aus einem Mann-Frau-Verhaltnis einerseits und einem Eltern-Kind-Verhaltnis andererseits. Die normativen Vorstellungen im Hinblick auf die Kindheit sind im EU-Recht sehr schwach bzw. nur sehr allgemein ausformuliert. Die EU definiert Kindheit als eine bestimmte Lebensphase des Menschen, die einem besonderen Schutz unterliegt. Im Artikel 3 von Teil I des Verfassungsentwurfs wird der Schutz der Rechte des Kindes als Ziel der EU formuliert, im Artikel 11-84 wird der Schutz des Kindes und die Fiirsorge fiir das Kind als Grundrecht formuliert. Genauer spezifiziert wird der Kinderschutz vor allem im Hinblick auf eine mogliche Erwerbstatigkeit von Kindern. Kinderarbeit ist (bis zum Ende des schulpflichtigen Alters) verboten. Jugendliche genieCen besondere, ihrem Alter angemessene Arbeitsschutzbedingungen (Artikel 11-92). Die AUgemeinheit der Formulierungen und die Tatsache, dass in den von uns analysierten Umfragen keine Fragen enthalten sind, die eine Operationalisierung der Kindheitsvorstellungen der EU erlauben wiirden, zwingt uns dazu, diese Dimension in den folgenden Analysen zu vernachlassigen und uns auf eine Analyse des Verhaltnisses von Mann und Frau zu konzentrieren.
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3. Familien- und GeschlechtsroUenvorstellimgen
Die Beschreibiingen der EU im Hinblick auf das Verhaltnis der Geschlechter zueinander sind genauer spezifiziert.^ Die EU ist vor allem iind in erster Linie als eine Wirtschaftsgemeinschaft entstanden. Fragen der Familie und der Geschlechterbeziehung werden entsprechend zu Politiken der EU, werm sie mit Fragen der Wirtschaft verbindbar sind. Folglich findet man europaische Regelimgen, die sich auf das Aufienverhaltnis von Familien vor allem zum Wirtschaftssystem beziehen, nicht aber Regelungen, die sich auf das Innenverhaltnis von Famiilien unmittelbar beziehen. Dies wird recht schon deutlich, wenn man sich die Uberschrift des Artikels 11-93 des Verfassungsentwurfs anschaut. Der Artikel ist iiberschrieben mit „Familien- und Berufsleben" und versucht vor allem die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie fiir Eltern zu regeln. Da die politischen Regulierungen des Verhaltnisses von Wirtschaft und Familie aber eine Riickwirkung auf das Binnenleben von Familien haben, betreibt die EU auf mittelbarem Wege, also indirekt, auch Familienpolitik und versucht ihre Vorstellungen einer wiinschenswerten Familie zu etablieren. Auf welche Dimensionen beziehen sich die Politiken der EU, welche Werte werden durchzusetzen versucht und welche Auswirkungen auf das Innenverhaltnis von Familien sind damit verbunden? Politiken der EU, die indirekt Familienvorstellungen zum Ausdruck bringen, beziehen sich in erster Linie auf Fragen der Gleichstellung von Mann und Frau, und hier vor allem auf die Gleichstellung im Bereich der Erwerbstatigkeit (Bergmann 1999; Ostner 1993; Watson 2000). Der Gleichstellungsgrundsatz findet sich auf drei verschiedenen Ebenen institutionalisiert und spezifiziert, die sich durch den Grad der rechtlichen Verbindlichkeit unterscheiden: Einerseits im Primarrecht der EG (bestehend aus den Griindungsvertragen, den ProtokoUen und den Erweiterungsvertragen und dem Verfassungsentwurf), andererseits im Sekundarrecht (bestehend aus den Verordnungen und Richtlinien) und schliefilich in den Empfehlungen und Aktionsprogrammen der Kommission, wie sie sich z. B. in der „Sozialpolitischen Agenda" oder im „WeiGbuch Europaische Sozialpolitik" manifestieren (vgl. Bergmann 1999).
I Vgl. dazu die Dissertation von Marcus Carson (2004).
3.1 Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen der EU
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1. Der Grundsatz der Gleichstellung von Mann und Frau findet sich an verschiedenen prominenten Stellen des Verfassungsentwurfs. Im Teil I des Entwurfs werden in Artikel 3 die Ziele der Union definiert. Dort heiGt es „Die Union (...) fordert (...) die Gleichstellung von Frauen und Mannern". Im Teil II (Grundrechtecharta) werden im Artikel 11-81 verschiedene Diskriminierungen verboten. Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts stehen an erster Stelle. 2. Die EU versteht unter Gleichstellung von Mannern und Frauen vor allem Gleichstellung im Wirtschaftsleben. Im Artikel 11-83 wird dies sehr deutlich: „Die Gleichheit von Frauen und Mannern ist in alien Bereichen, einschliefilich der Beschaftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen. Der Grundsatz der Gleichheit steht der Beibehaltung oder der Einfiihrung spezifischer Vergiinstigungen fiir das unterreprasentierte Geschlecht nicht entgegen." Der Grundsatz der Gleichstellung im Beruf wird dann im Teil III des Verfassungsentwurfs (fiir eine Verfassung erstaunlich genau) prazisiert: In Artikel III-210 verpflichtet sich die Union, die Tatigkeiten der Mitgliedslander auf dem Gebiet der Chancengleichheit von Mannern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und der Gleichbehandlung am Arbeitsplatz zu unterstiitzen und zu erganzen. Artikel III-214 spezifiziert diese Zielvorgabe nochmals.^ 2 „(1) Jeder Mitgliedstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts fiir Frauen und Manner bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher. (2) Unter „Entgelt" im Sinne dieses Artikels sind die iiblichen Grund- oder Mindestlohne und -gehalter sowie alle sonstigen Vergiitungen zu verstehen, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhaltnisses dem Arbeitnehmer unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Gleichheit des Arbeitsentgelts ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bedeutet, a) dass das Entgelt fiir eine gleiche nach Akkord bezahlte Arbeit aufgrund der gleichen Mafieinheit festgesetzt wird, b) dass fiir eine nach Zeit bezahlte Arbeit das Entgelt bei gleichem Arbeitsplatz gleich ist. (3) Die Mafinahmen, die die Anwendung des Grundsatzes der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung von Mannern und Frauen in Arbeits- und Beschaftigungsfragen, einschliefilich des Grundsatzes des gleichen Entgelts bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit, gewahrleisten, werden durch Europaisches Gesetz oder Rahmengesetz festgelegt. Es wird nach Anhorung des Wirtschafts- und Sozialausschusses erlassen. (4) Im Hinblick auf die effektive Gewahrleistung der vollen Gleichstellung von Mannern und Frauen im Arbeitsleben hindert der Grundsatz der Gleichbehandlung die MitgUedstaa-
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3. Familien- xind Geschlechtsrollenvorstellimgen
Der Gleichheitsgrundsatz im Erwerbsleben hat in der Geschichte der EU eine lange Tradition. Im Artikel 119 des EWG-Vertrages von 1957 wird er bereits im Hinblick auf die Bezahlung bei Erwerbstatigkeit festgeschrieben („Gleiches Entgelt fiir Manner und Frauen").^ Der Artikel 119 wurde mit dem Vertrag von Amsterdam in den neuen Artikel 141 des EG-Vertrages iibernommen und erweitert. Er wurde in zahlreichen Verordniingen und Richtlinien der Gemeinschaft weiter festgeschrieben und ist zudem durch die Urteile des Europaischen Gerichtshofs weiter konkretisiert und rechtsverbindlich gemacht worden (vgl. Bergmann 1999: 45ff.; Wobbe 2001). Wie wirkungsmachtig der Gleichstellungsgrundsatz ist, hat das Urteil des Europaischen Gerichtshofs im Hinblick auf die Berufstatigkeit von Frauen in der Bundeswehr gezeigt, das nicht nur dazu gefiihrt hat, dass die Klagerin das Recht erhielt, in der Bundeswehr berufstatig zu sein, sondern auch dazu, dass die deutsche Legislative das Grundgesetz andern musste (vgl. Wobbe 2001). Der Gleichheitsgrundsatz umfasst die Gleichbehandlung von Mannem und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschaftigung, zur Berufsberatung und Berufsausbildung, Gleichheit im Hinblick auf die Beschaftigungs- und Arbeitsbedingungen und die Mitgliedschaft in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen. Die Richtlinien der EU sind weitestgehend in das jeweilige nationale Recht der Mitgliedsstaaten umgesetzt worden.^ 3. Von vielen Kritikern der EU-Politik ist die Beschrankung auf eine Erwerbsgleichstellungspolitik mit dem Argument kritisiert worden, dass damit die Voraussetzungen, die eine Erwerbstatigkeit von Frauen iiberhaupt erst ermoglichen, vernachlassigt werden. Solange die hauslichen ten nicht daran, zur Erleichterung der Berufstatigkeit des unterreprasentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergiinstigungen beizubehalten oder zu beschliefien/' 3 Dies ist auf die Initiative Frankreichs zuriickzufiihren, das mit der Initiative aber keine feministische, sondern eine okonomische Intention verfolgte. Man befiirchtete, dass die Arbeitskosten fiir die deutschen Arbeitnehmerinnen geringer ausfallen wiirden und damit Frankreich okonomisch benachteiligt wiirde (vgl. Haas 1958: 515ff.). 4 Dies mag eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung fiir die faktische Gleichheit von Mannem und Frauen im Erwerbsleben sein. Kirstin Bergmann (1999) weist erhebliche Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten der EU trotz rechtlicher Angleichung nach.
3.1 Familien- und Geschlechtsrollenvorstellimgen der EU
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Pflichten und die Familienarbeit in erster Linie von den Frauen erledigt und diese Tatigkeiten nicht als Erwerbstatigkeit interpretiert werden, solange negiert das formale Prinzip der Gleichheit die faktisch ungleichen Chancen, iiberhaupt erwerbstatig sein zu konnen (vgl. Ostner 1993). Die EU hat auf diese Kritik reagiert. Im dem Verfassungsentwurf wird in der Grundrechtecharta im Artikel 11-93 die Vereinbarkeit von Beruf und Familie thematisiert. Der Kiindigungsschutz einer sich in Mutterschaft befindenden Frau, bezahlter Mutterschaftsurlaub und Erziehungsurlaub werden als Grundrechte verbrieft. Mit dem Vertrag von Amsterdam von 1999 hatte zudem bereits eine Ausdehnung des Gleichstellungsprinzips auf mehrere Politikbereiche stattgefunden, als in Artikel 3 (aufgenommen in den Verfassungsentwurf im Artikel 11-83) formuliert ist, dass sich die Gemeinschaft verpflichtet, in alien Politikbereichen die Gleichberechtigung von Frauen und Mannern zu fordern (Laufer 1999). Auf dem Gipfel der europaischen Staats- und Regierungschefs in Lissabon im Marz 2000 ist diese Ausdehnung in den Leitlinien fiir beschaftigungspolitische Mafinahmen weiter konkretisiert worden. Um eine Erhohung der Frauenerwerbsquote in den Mitgliedslandern zu erreichen, wird die Chancengleichheit in alien Politikbereichen angestrebt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum politischen Ziel erklart (Europaischer Rat 2000). Der Gleichstellungsgrundsatz wird am weitesten in den Empfehlungen der Kommission auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche ausgedehnt; Empfehlungen sind aber zugleich auch die unverbindlichste Rechtsform. Um die Vereinbarkeit von Beruf und Haushalt/Familie zu ermoglichen, fordert die Kommission in dem Weii?buch zur europaischen Sozialpolitik von 1994 eine Verbesserung der Angebote zur Kinderbetreuung. Weiterhin thematisiert die Kommission die Aufgabenverteilung zwischen Mann imd Frau im Haushalt: „Fortschritte bei einer neuartigen Ausgestaltung der Ubernahme familiarer Verantwortung konnten die Frauen allmahlich entlasten und es den Mannern ermoglichen, sich starker in die Gesellschaft einzubringen. Jedoch ist ein hoheres Mafi an Solidaritat zwischen Mannern und Frauen erforderlich, wenn Manner eine grofiere Verantwortung im Hinblick auf Pflegeaufgaben in
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3. Familien- imd GeschlechtsroUenvorstellungen
unserer Gesellschaft iibernehmen soUten (...)" (Europaische Kommission 1994: 47). Als Aufgabe wird u. a. formuliert, dass nach Wegen gesucht werden soil, „wie die RoUenstereotype der Geschlechter in der Gesellschaft angegangen werden konnen". Die Diagnosen aus dem WeiiJbuch von 1994 finden sechs Jahre spater Eingang in die „ Europaische Sozialagenda" (Rat der Europaischen Union 2000), in der die politischen Zielvorstellungen bis zum Jahr 2010 festgelegt worden sind. Auch hier steht die Gleichstellung im Wirtschaftsleben im Vordergrund, zugleich werden die Hemmnisse, die eine Erwerbstatigkeit von Frauen verhindern, mit thematisiert und als veranderungswtirdig definiert. Dazu gehdrt die Veranderung von GeschlechtsroUen. Bilanzieren wir die Familienvorstelliingen der EU. Familienpolitik der EU meint vor allem Gleichstellungspolitik im Erwerbsleben fiir Manner und Frauen. Diese sieht die EU nur realisierbar, wenn die Infrastruktur der aufierfamiliaren Kindererziehung entwickelt ist und die traditionelle innerfamiliare Aufgabenteilung zwischen Mannern und Frauen aufgehoben wird. Mit dieser Politikorientierung unterstiitzt die EU das Leitbild einer egalitaren Beziehung zwischen Mann und Frau, das Bild einer berufstatigen Frau und die Vorstellung einer zumindest partiellen Sozialisation der Kinder in aui?erfamiliaren Einrichtungen. Damit wird durch die Politiken der EU ein bestimmtes Familienmodell praferiert, das zum Teil von dem biirgerlichen Familienmodell abweicht.^ Zugleich muss man allerdings die Bedeutung der Familienpolitik fiir die EU richtig gewichten: Auch wenn iiber das Thema Gleichstellung der
5 Die Gleichstellungs- und Familienvorstellungen galten und gelten natiirlich auch fiir die Verhandlungen mit den Beitrittskandidaten Mittel- und Osteuropas (Bretherton 2001). Die Beitrittsverhandlungen werden entlang einer Checkliste von 31 Kapiteln gefiihrt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt geoffnet, verhandelt und nach erfolgreicher Verhandlung geschlossen werden. Die verschiedenen Kapitel sind unterschiedHchen inhalthchen Schwerpunkten der Rechts- und Strukturanpassung der Beitrittslander an die EU gewidmet (Landwirtschaft, Umwelt, Statistik etc.). Die Gleichbehandlung von Frauen und Mannern wird im Kapitel 13 (Beschaftigung und SozialpoHtik) verhandelt und bildet damit ein Aufnahmekriterium fiir die neuen Lander in die EU, auch wenn von manchen Autoren die Implementierung der Prinzipien des „gender mainstreaming" als nicht ausreichend interpretiert wird (vgl. Bretherton 2001).
3.2 Die Familien- und GeschlechtsroUenvorstellimgen der Burger
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Geschlechter die Familienpolitik ein Thema der EU (geworden) ist, muss man in Rechnung stellen, dass dieser Politikbereich im Vergleich zu anderen Politikfeldern - Wettbewerbspolitik, Agrarpolitik - fiir die EU keine herausragende Bedeutung hat, wahrend er allerdings flir die Menschen, wie wir zu Beginn des Kapitels gesehen haben, hochste Prioritat besitzt.
3.2 Die Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen der Burger Wir gehen im Folgenden der Frage nach, ob und in welchem Mai?e die Familien- und Geschlechtervorstellungen der EU von der Bevolkerung in den EU-Landern und den Beitrittslandern unterstiitzt werden. Das von der EU praferierte Geschlechter- und Familienmodell ist, wie wir gesehen haben, vor allem durch die Vorstellung gekennzeichnet, dass Frauen und Manner gleichberechtigt erwerbstatig sein sollen (a). Dieses „Masterziel" sieht die EU nur dann realisierbar, wenn Frauen und Manner sich die Hausarbeit imd die Erziehung der Kinder teilen und Kinder zumindest zeitweise aui?erhalb der Familie versorgt werden, z. B. in Kindergarten und Vorschulen gehen, damit beide Eltern arbeiten konnen (b).^ Grundlage unserer Analyse bildet wiederum in erster Linie die Europaische Wertestudie. Diese enthalt zum Teil recht gute Indikatoren zur Messung der Einstellungen der Biirger zu dem Familien- imd Geschlechtermodell der EU. Leider sind einige der fiir uns relevanten Fragen aber nicht in alien Landern erhoben worden. Will man an dem Vergleich der vier Aggregatskategorien festhalten, ist die Anzahl der Indikatoren recht eingeschrankt. Vor allem konnen wir nicht die Akzeptanz der symmetrischen Verteilung von Hausarbeit und Kinderbetreuung zwischen den Geschlechtern rekonstruieren. Die erste und auch zentralste Dimension des Familienleitbildes der EU-Politik bezieht sich auf die gleichberechtigte Erwerbstatigkeit von Mann und Frau. In welchem Mai?e dieses Leitbild auch in der Bevolke^ Die Art und Weise, wie dies in den verschiedenen Landern realisiert wird, kann dabei sehr unterschiedlich sein.
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3. Familien- imd GeschlechtsroUenvorstellimgen
rung der EU-Staaten und der Beitrittskandidaten seine Unterstiitzung findet, lasst sich mit Hilfe folgender Frage recht gut operationalisieren iHid empirisch bestimmen. Die Burger wurden gefragt, ob sie folgender Aussage zustimmen: „Wenn die Arbeitsplatze knapp sind, haben Manner eher ein Recht auf Arbeit als Frauen." Die Antwortalternativen reichen von „stimme zu" iiber „weder noch" bis zu „lehne ab". Die Frage misst insofern recht gut die Einstellungen zur EU-Idee der Gleichberechtigung von Mannern und Frauen in der Erwerbstatigkeit, als zum einen nicht nur abstrakt nach der Gleichberechtigung gefragt wurde, sondern nach der Berufstatigkeit von Frauen, zum anderen der Fragestimulus eine Knappheit an Arbeitsplatzen unterstellt, was die Befragten zwingt, Farbe zu bekennen, ob ihre Einstellung zur Gleichberechtigung auch unter restriktiven Bedingungen Bestand hat. Schauen wir uns zuerst die Unterschiede zwischen den Aggregatskategorien an. Wie die Tabelle 3.1 ausweist, gibt es zwischen den Gruppen deutliche und signifikante Unterschiede im Hinblick auf die Einstellungen zur Erwerbstatigkeit der Frauen. Wahrend die Idee der Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Arbeitsmarkt in den Mitgliedslandern und in den Landern der ersten Beitrittsrunde eine deutliche Unterstiitzung erfahrt, liegt die Unterstiitzung dieser Vorstellung bei den Biirgern der zweiten Beitrittsrunde bei knapp unter 50 %, in der Tiirkei nur bei einem Drittel der Befragten. Die Akzeptanz des EU-Familienmodells im Hinblick auf die Gleichstellung in der Erwerbstatigkeit ist insofern vor allem bei den Biirgern der Tiirkei nicht gegeben. Zugleich zeigen die Ergebnisse aber auch, dass die jeweiligen Aggregatskategorien durch eine hohe interne Varianz gekennzeichnet sind. Die skandinavischen Lander sind diejenigen, die sich am deutlichsten fiir eine Gleichberechtigung der Frauen aussprechen. In der Gruppe der neuen Mitglieder sind es Polen und Malta, die sich liberdurchschnittlich stark gegen das Gleichberechtigungsmodell der EU aussprechen. Wir kommen auf diese Unterschiede bei der Erklarung unserer Befunde wieder zuriick.
3.2 Die Familien- imd GeschlechtsroUenvorstellungen der Burger TabelleS.l:
Einstellungen zur gleichberechtigten Erwerbstatigkeit von Mannem und Frauen (in %): „Wenn Arbeitsplatze knapp sind, haben Manner eher ein Recht auf Arbeit als Frauen."
EU-15 Schweden Danemark Finnland Niederlande Irland Griechenland Grofibritannien Belgian Frankreich Spanien Luxemburg Portugal Italien Osterreich Deutschland-West Deutschland-Ost Beitritt I Estland Ungarn Slowenien Lettland Tschechien Litauen Slowakei Malta Polen
Beitritt II Bulgarien Rumanien Tiirkei
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Zustimmung 19,7 2,3 6,2 9,0 12,5 16,4 19,9 21,0 25,0 21,7 21,7 23,7 27,2 27,0 28,6 28,4 24,8 25,3 13,6 22,7 17,8 19,8 19,2 22,7 24,1 48,8 37,9 37,3 36,7 37,9 61,9
Ablehnung 69,8 93,4 89,4 84,7 83,4 75,6 72,6 66,9 70,1 68,3 62,5 66,0 61,4 56,8 52,9 52,8 59,0 61,4 75,5 67,9 67,8 69,5 65,3 65,1 54,2 42,7 45,1 47,4 47,5 47,4 34,4
weder... noch 10,5 4,4 4,4 6,3 4,1 8,0 7,5 12,1 4,9 10,0 15,8 10,2 11,3 16,2 18,5 18,8 16,2 13,4 11,0 9,3 14,4 10,7 15,6 12,1 21,7 8,4 17,0 15,3 15,8 14,7 3,8
Wir konnen auf eine zweite Frage zur Messung der Einstellungen zur Gleichberechtigung zwischen Mannern und Frauen zuriickgreifen. Allerdings ist diese Frage nicht in der Tiirkei gestellt worden; zudem misst sie die Einstellungen zum gleichberechtigten Zugang von Mannern und
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3. Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen
Frauen zur Berufstatigkeit nur indirekt und nicht iinter den suggerierten restriktiven Bedingimgen eines knappen Arbeitsmarktes. Die Burger wurden gefragt, ob und in welchem Mafie sie folgender Aussage zustimmen: „Einen Beruf zu haben ist ja ganz schon, aber das, was die meisten Frauen wirklich wollen, sind Heim und Kinder." Die Antwortalternativen reichen von „stimme voll zu", „stimme zu", bis hin zu „stimme nicht zu" und „stimme iiberhaupt nicht zu"7 Fiir die Grafik 3.1 haben wir die Prozentsatze fiir die beiden Zustimmungsalternativen zusammengefasst. Das Ergebnis ahnelt auf der Aggregatsebene demjenigen aus Tabelle 3.1: Die Unterstiitzung des EU-Leitbildes einer berufstatigen Frau sinkt mit der Entfemung der Aufnahme in die Europaische Union. Wahrend etwas weniger als die Halfte der EU-Blirger die Vorstellung unterstiitzt, dass Frauen am liebsten nicht berufstatig waren, sind es in den Landern der ersten Beitrittsrunde iiber 70 %, die diese Ansicht teilen und in den Landern der zweiten Beitrittsrunde fast 80 %. Die Streuung innerhalb der Aggregatskategorien, vor allem zwischen den verschiedenen EULandern, ist aber erheblich. Wir haben schliei?lich noch eine dritte Messung der Einstellungen zur Idee der Gleichberechtigung von Mannern und Frauen durchgefiihrt und uns dabei an den Uberlegungen von Ronald Inglehart und Pippa Norris (2003a) orientiert. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass die Vorstellung der Gleichberechtigung im Berufsleben eingebunden ist in eine generalisierte Einstellung zur Gleichberechtigung von Mannern und Frauen. Zur Messung dieser generalisierten Orientierung haben die Autoren eine Skala entworfen. Diese besteht aus folgenden fiinf Fragen: • „Wenn die Arbeitsplatze knapp sind, haben Manner eher ein Recht auf Arbeit als Frauen." Die Antwortalternativen reichen von „stimme zu" iiber „weder noch" bis zu „lehne ab".^ 7 In Osterreich und Irland wurde noch eine Mittelauspragung „weder/noch'' abgefragt. In die Aggregatsberechnung „EU-Lander'' sind diese beiden Lander daher nicht aufgenommen worden. 8 Diese Frage ist identisch mit unserem ersten Indikator. Eine Analyse im Rahmen des Indexes macht aber trotzdem Sinn, da es sich empirisch um einen anderen Datensatz und theo-
3.2 Die Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen der Burger Grafik3,l:
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Einstellung zur Berufstatigkeit/Hausfrauentatigkeit von Frauen: „Ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen ist ein Heim und Kinder/' (Zustimmung in %)
" in der Tiirkei wurde diese Frage nicht gestellt
retisch um die Einordnung in ein breiteres Konzept von Gleichberechtigungsvorstellungen handelt.
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3. Familien- iind GeschlechtsroUenvorstellungen „Wenn eine Frau ein Kind haben will, ohne eine feste Beziehung zu einem Mann zu haben: Wiirden Sie das gutheifien oder nicht?" Die Antwortaltemativen sind „ gutheifien'', „kommt darauf an" und „nicht gutheifien". „Glauben Sie, dass eine Frau ein Kind haben muss, u m ein erfiilltes Leben zu haben, oder ist das nicht notig?" Die Antwortaltemativen sind „braucht Kinder" und „nicht notig". „Insgesamt betrachtet sind Manner bessere Politiker als Frauen." Die Antwortaltemativen reichen von „stimme sehr zu" iiber „stimme zu" und „stimme nicht zu" bis „stimme iiberhaupt nicht zu". „Ein Universitatsstudium ist fur Jungs viel wichtiger als fiir Madchen." Die Antwortaltemativen sind „stimme sehr zu", „stiinme zu", „stimme nicht zu" und „stiinme iiberhaupt nicht zu".
In der Europaischen Wertestudie sind leider nicht alle fiinf Fragen enthalten. AUerdings finden sich die fiinf Fragen in dem World Values Survey von 1995/1996. Leider haben an dieser Umfrage weit weniger europaische Lander und Beitrittskandidaten teilgenommen. Von den alien Landern der EU haben West- und Ostdeutschland, Schweden, Finnland und Spanien teilgenommen, von den Landern der ersten Beitrittsrunde Polen, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen, von den beiden Landern der zweiten Beitrittsrunde Bulgarien und schliefilich die Tiirkei. Tabelle3.2:
Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse) der Gleichberechtigungsskala
Manner haben eher ein Recht auf Arbeit Nicht gutheifien, dass Frau ohne feste Beziehung ein Kind hat Frau braucht ein Kind fiir erfiilltes Leben Manner bessere Politiker als Frauen Studium fiir Jungs wichtiger als fiir Madchen Erklarte Gesamtvarianz
Faktor ,69 ,41 ,60 ,74 ,68 40,9 %
3.2 Die Familien- und GeschlechtsroUenvorstelliingen der Burger
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Wir haben mit den fiinf Fragen, ahnlich wie Inglehart und Norris, eine Faktorenanalyse durchgefiihrt. Das Ergebnis der Analyse findet sich in Tabelle 3.2. Wir verwenden im folgenden die Faktorwerte fiir die Befragten.^ Hohe positive Faktorwerte bedeuten eine grofie Unterstiitzung der Gleichberechtigung der Frauen, niedrige Werte dagegen eine geringe Unterstiitzung. In Grafik 3.2 sind die Mittelwerte fiir die Lander abgetragen. Grafik3.2:
Einstellungen zur Gleichberechtigung (an den Inglehart/ Norris-Index angelehnte Faktorwerte)
Betrachten wir zunachst wieder die Aggregatskategorien. Wahrend sich die Mittelwerte fiir die beiden Beitrittsrunden nicht signifikant unterscheiden, ist der Mittelwert fiir die EU-Mitglieder auf dem 1 %-Niveau 9 Die Bildung einer additiven Skala ist problematisch, da die einzelnen Variablen einen unterschiedlichen Range haben. Es bleibt leider unklar, wie Inglehart und Norris (2003) das Problem losen. Sie geben lediglich an, dass alle fiinf Variablen in den Index eingehen, der auf eine 100-Punkte-Skala standardisiert wurde.
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3. Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen
signifikant hoher, der fiir die Tiirkei niedriger. AUeine die Zugehorigkeit zu einer der vier Aggregatgruppen erklart 20 % der Varianz des Faktors. Ahnlich wie in der Analyse der Europaischen Wertestudie nimmt die Unterstiitzung der Gleichberechtigung von Frauen mit der Entfemung des Beitrittzeitpunkts zur EU ab. Auch hier zeigt sich, dass die Befragten in der Tiirkei im Vergleich zu alien drei anderen Aggregatskategorien die Vorstellung einer Gleichberechtigung von Frauen am wenigsten unterstiitzen. Zugleich, und teilweise abweichend von den oben diskutierten Ergebnissen, zeigt sich, dass der Abstand zwischen den EU-Landern und den Landern der beiden Beitrittsrunden deutlich hoher ist. Alle alten Mitgliedslander der EU liegen oberhalb der Beitrittslander. Dies ist aber vor allem auf die Tatsache zuriickzufiihren, dass in dem World Values Survey einige Lander fehlen, die in der Europaischen Wertestudie beteiligt waren. Fassen wir die deskriptiven Befunde unserer Analysen zusammen: Die EU versteht sich als eine Gemeinschaft, die sich die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtem und vor allem die Gleichberechtigung im Erwerbsleben auf ihre Fahne geschrieben hat. Diese Vorstellung wird von den Biirgern der alten EU-Mitgliedslander im Durchschnitt auch unterstiitzt. Etwas geringer fallt die Unterstiitzung in den Landern der ersten, noch geringer in den Landern der zweiten Beitrittsrunde aus. Deutlich abweichende Vorstellungen aber haben die Burger in der Tiirkei. Deren Rollenmodell ist weitgehend traditionell orientiert; die Manner geniefien deutliche Vorrechte. Diese Unterschiede auf der Aggregatsebene der vier Landergruppen diirfen aber nicht dariiber hinwegtauschen, dass innerhalb der Landergruppen die Varianz zum Teil erheblich ist.
3.3 Erklarung der Unterschiede in den Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen Wenn wir im Folgenden versuchen, die Unterschiede in den Familienund Geschlechtsrollenvorstellimgen zu erklaren, so begreifen wir auch hier die verschiedenen EU- und Beitrittslander als Chiffre fiir unter-
3.3 Erklaning der Unterschiede in den Familienvorstellungen
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schiedliche soziale Bedingungskonstellationen. Zur Bestimmung dieser Faktoren konnen wir uns an der Forschungsliteratur orientieren. Es liegt mittlerweile eine Vielzahl an empirischen Studien vor, die Unterschiede in den Familien- und GeschlechtsroUenvorstelliingen im Landervergleich zu erklaren versucht haben (vgl. Gomilschak et al. 2000; Flaller und Hoellinger 1994; Inglehart 1997; Inglehart und Norris 2003a; Knudsen und Waemess 1999; Kiinzler et al. 1999; Gerhards und Rossel 2000). Die abhangigen Variablen in unserer Analyse ergeben sich aus der Fragestellung dieses Kapitels und aus den deskriptiven Analysen in Kapitel 3.2. Wir unterscheiden zwei abhangige Variablen: • Die Frage „Wenn die Arbeitsplatze knapp sind, haben Manner eher ein Recht auf Arbeit als Frauen." • Die Frage „Einen Beruf zu haben ist ja ganz schon, aber das, was die meisten Frauen wirklich wollen, sind Heim und Kinder." Diese Frage wurde nicht in der Tiirkei gestellt. Bei der Bestimmung der unabhangigen Variablen unterscheiden wir drei verschiedene Variablengruppen und eine Einzelvariable: 1. Modernisierungsgrad der Gesellschaft: Die Unterstlitzung eines Gleichberechtigimgsmodells wird von vielen Sozialwissenschaftlern mit Modernisierungsentwicklungen in einen ursachlichen Zusammenhang gebracht. Je modernisierter eine Gesellschaft, desto starker ist die Akzeptanz einer Gleichberechtigung von Mann imd Frau. Der Grad der Modernisierung einer Gesellschaft driickt sich in einer Vielzahl von Faktoren aus, u. a. in einer okonomischen und einer bildungsmafiigen Modernisierung. a. Okonomische Modernisierung: Die Lander unterscheiden sich im Grad der okonomischen Modernisierung und des damit verbundenen produzierten gesellschaftlichen Wohlstands. Okonomische Modernisierung und Wohlstand haben, so die empirisch mehrfach gepriifte These von Ronald Inglehart, einen Einfluss auf die generalisierten Werteorientierungen der Menschen, und diese haben wiederum einen Einfluss auf die Familien- und Geschlechtervorstellungen und zwar in folgende Richtung: Je hoher der okonomische Wohlstand in einer Gesellschaft ist, desto
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3. Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen
hoher ist die Wahrscheinlichkeit der Befriedigung materieller Bediirfnisse, und desto h5her ist der Anteil der Bevolkerung, der postmaterialistische Werte praferiert (Inglehart 1997; Inglehart und Norris 2003a). Eine postmaterialistische Werteorientierung umschliefit auch Werte der Selbstbestimmung und der Gleichstellung von Mann und Frau. Insofern kann man erwarten, dass ein Land, das einen hohen Modernisierungsgrad aufweist, in hoherem Mafie ein Familienmodell beflirwortet, das die Berufstatigkeit und die Gleichberechtigung der Frau impliziert.^o Wir messen den Grad der okonomischen Modernisierung eines Landes durch die Flohe des „Human Development Index" (HDI). In den HDI gehen, wie bereits erlautert, mehrere Mafizahlen zur Bestimmung des Grads der Modernisierung ein: Reales Bruttosozialprodukt pro Einwohner, Bildungsniveau und die durchschnittliche Lebenserwartung. Wir haben leider keine Moglichkeit, den relativen okonomischen Wohlstand aller Befragten in alien Landern auf der Individualebene zu messen.^^ b. Bildung: Bildung erhoht die Moglichkeit der Selbstreflexion und die Wahrscheinlichkeit einer wissenschaftlichen Weltsicht. Inglehart bezeichnet den Effekt erhohter Bildung als kognitive Mobilisierung. Mit wachsender Bildung steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Traditionsbestande nicht als gegeben hingenommen, sondern auf ihre Funktionsweise hin befragt werden und eventuell mit ihnen gebrochen wird, so die Hypothese. Die Hinterfragung von Traditionen kann sich auch auf die traditionelle Geschlechterordnung beziehen. Insofern vermuten wir, dass sich die hoher gebildeten Befragten eher fiir eine Gleichberechtigung der Frau einsetzen als Personen mit niedriger Bildung. Bildung operationalisieren wir durch den hochsten Bildungsabschluss der Befragten. Dieser wurde mit Hilfe einer Variable mit acht Auspragungen gemessen, die von „ohne Schulabschluss" bis zu „Universitatsabschluss" reicht.
10 Einen guten Uberblick iiber die Literaturlage zu diesem modernisierungstheoretischen Argument findet man bei Christian Welzel (2000). 11 Eine zweite in der Literatur haufig benutzte Messung des Niveaus der Modernisierung ist das Bruttosozialprodukt pro Einwohner, Wir haben die folgenden Regressionsanalysen auch mit dieser Variable statt mit dem HDI durchgefiihrt. Die Ergebnisse bleiben stabil.
3.3 Erklarung der Unterschiede in den Familienvorstellimgen
119
2. Kulturell-religiose Orientierung: Gesellschaften sind durch unterschiedliche kulturelle Traditionslinien bestimmt iind diese pragen die Familien- und Geschlechtervorstellungen (vgl. Haller und Hoellinger 1994; Inglehart und Norris 2003a). Kulturelle Traditionslinien sind in hohem MaiSe beeinflusst durch die Dominanz von bestimmten Religionsgemeinschaften und die Ideensysteme, die durch diese verkorpert werden. Die Burger der gegenwartigen und zukiinftigen EU sind, wie wir im Kapitel 2 gesehen haben, entweder konfessionslos, Muslime, Katholiken, Protestanten oder Mitglieder der orthodoxen Kirche. Wir gehen davon aus, dass die Mitgliedschaft in den Kirchen die Einstellungen zur Gleichberechtigung der Frauen in folgender Weise beeinflussen wird: a. Allen von uns analysierten Religionen ist, wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmafi und sicherlich historisch sehr variierend, gemeinsam, dass sie die Vormachtstellung des Marines gegeniiber der Frau legitimiert haben und zum Teil noch legitimieren.^^ In den christlichen Religionen zieht sich die Legitimation der Dominanz des Marines durch bis zur Schopfungsgeschichte. Die urspriinglich gleichberechtigte Beziehung zwischen Mann und Frau wird durch den durch die Frau ausgelosten Sundenfall in eine asymmetrische Beziehung verwandelt, in der die Frau dem Mann Untertan ist. Der Koran konstatiert die Uberlegenheit des Marines gegeniiber der Frau, gibt ihm das Recht zur Polygamie imd „gewichtet" Manner z. B. als Zeugen doppelt so stark wie Frauen. Wir vermuten entsprechend, dass der Grad der Intensitat der Einbindung in die jeweilige Kirche (gemessen durch die Kirchgangshaufigkeit) - ganz unabhangig vom Typus der Religion - die gewiinschte Geschlechterordnung beeinflusst. Je geringer Menschen in die alltaglichen Praktiken ihrer Kirche eingebunden sind, desto eher werden sie sich fiir eine Gleichberechtigung von Mann und Frau aussprechen.
12 Die folgenden Ausfiihrungen beziehen sich einerseits auf die Eintragungen zu den Stichwortern „Familie'', „Frau'' und „Mann'' in dem von Hans Dieter Betz et al. (2003) herausgegebenen Lexikon „Religion in Gegenwart und Geschichte'', zum anderen auf die Eintragungen unter den Stichwortern in der von Gerhard Miiller et al. (1976) herausgegebenen „TheologischeRealenzyklopadie''.
120
3. Familien- iind GeschlechtsroUenvorstellimgen
b. Zugleich vermuten wir, dass es zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften Unterschiede in der Interpretation der Geschlechterordnung gibt, die dann auch die Vorstellungen ihrer Mitglieder pragen. Ob und in welchem Mafie die verschiedenen Interpretationen auf grundsatzliche Dispositionen in den jeweiligen Schriften der Religionen zuriickzufiihren sind oder eher Auslegungen der Schriften sind, ist in der Literatur umstritten. Gerade zum Themenkomplex „Die Stellung der Frau im Islam" hat es in den letzten Jahrzehnten eine nicht mehr zu liberschauende Anzahl an Publikationen gegeben. Wir miissen aber hier, ahnlich wie in den anderen Kapiteln, nicht liber die Richtigkeit der verschiedenen Interpretationen entscheiden, sondern kdnnen stattdessen eine Position theoretisch als Hypothese formulieren und dann empirisch priifen, ob sich diese (auf der Ebene der Burger) empirisch bestatigen lasst oder nicht. Wir vermuten, dass die vier Religionen, die in den von uns analysierten Landern prasent sind, in folgender Weise Familien und das Verhaltnis zwischen Mann und Frau interpretieren und entsprechend ihre Mitglieder beeinflussen. Der Islam spricht sich in starkem Mafie fiir eine traditionelle Geschlechterordnung aus, in der die Frau fiir die Kinder und den Haushalt, der Mann fiir das 5ffentliche Leben und den Beruf zustandig ist und zugleich das Machtzentrum innerhalb der Familie darstellt. Ehefrau und Mutter zu sein ist die wichtigste gesellschaftliche Funktion der Frauen, Bildung und Berufstatigkeit sind dem deutlich nachgeordnet (El-Saadawi 1991: 51). Der aufierhausliche Raum ist der mannliche Raum; Frauen, die daran partizipieren, sind aufgefordert, sich zu verschleiern. Auch wenn in der Tiirkei bereits 1926 das Schweizer Zivilrecht eingefuhrt wurde und damit Familien- und Ehefragen der staatlichen, sakularisierten KontroUe unterworfen und die Rechte der Frau gestarkt wurden, gilt bis heute faktisch in weiten Teilen der Turkei das traditionelle, zum Teil aus dem Islam abgeleitete Familienrecht (Nauck und Klaus 2004). Dieses ist deutlich patriarchalisch strukturiert und sichert dem Mann in vielen Dimensionen die Vormachtstellung. Im Vergleich dazu ist das Christentum fiir die Definition der RoUe von Mann und Frau relativ bedeutungslos (Mitterauer 1999: 325). Wir erwarten entsprechend.
3.3 Erklariing der Unterschiede in den Familienvorstellungen
121
dass die Bereitschaft zur Unterstiitzung des Gleichberechtigungsmodells der EU bei den Muslimen - im Vergleich zu den anderen Religionen - am geringsten ist. Von den drei christlichen Religionen scheint die protestantische Religion wiederum diejenige zu sein, die sich am starksten von einer patriarchalischen Interpretation der Geschlechterordnung abgewandt hat. Seit der Reformation haben die Vertreter der katholischen und der protestantischen Kirche unterschiedliche Vorstellungen zur Familie entwickelt, wobei die Protestanten diesen Lebensbereich in starkerem Mai3e als eine weltliche Sphare definiert und entsprechend weniger normativ geregelt haben (Diilmen 1990: 157-164). Die Vorstellungen der katholischen Kirche im Hinblick auf Familie und GeschlechterroUen sind im Unterschied zu denen der protestantischen Kirche wesentlich starker am Leitbild einer biirgerlichen Kleinfamilie orientiert: Der Mann ist der Ernahrer, die Frau flir die Kinder, den Haushalt und die Familie zustandig. Diese Vorstellung liegt auch dem jiingst vom Vatikan veroffentlichten „Schreiben an die Bischofe der Katholischen Kirche iiber die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt'' zu Grunde (Ratzinger und Amato 2004). Zwar erkennt auch der Vatikan die RoUe der Frau im Erwerbsleben an, die eigentliche RoUe der Frau besteht aber in der Mutterrolle. Wir erwarten entsprechend, dass die Bereitschaft der Unterstiitzung des Gleichberechtigimgsmodells der EU bei den Moslems am geringsten ist, gefolgt von den Mitgliedern der orthodoxen und katholischen Kirche, wahrend Protestanten am ehesten das Modell der EU unterstiitzen. 3. Wohlfahrtsstaatsmodelle und institutionalisierte Gleichberechtigung: Schliefilich unterscheiden sich die Lander in dem Ausmafi, in dem ein bestimmtes Familienleitbild von der jeweiligen Politik des Landes propagiert und liber politische Mal?nahmen gefordert wird (vgl. Kaufmann et al. 1997). In der DDR wurde z. B. die Erwerbstatigkeit von Frauen in Familien mit Kindern in hohem Mafie ideologisch und durch sozialpolitische Mal?nahmen gefordert, wahrend in der alten Bundesrepublik eher die Hausfrauenrolle fiir Frauen in Familien mit Kindern ideologisch imd
122
3. Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen
strukturell gefordert wurde (Wendt 1997; Wingen 1997).^^ Wir gehen von der Annahme aus, dass die ideologische und sozialpolitische Fdrderimg der Berufstatigkeit und Gleichberechtigung von Frauen durch die jeweiligen nationalen Politiken auch die Einstellungen der Burger in dieser Richtung beeinflusst. Leider gibt es nach iinserer Kenntnis keine gute empirisch fundierte Klassifikation der verschiedenen Gleichstellungspolitiken der 28 von uns analysierten Lander. Wir wollen aber zumindest die Klassiflkationen, die existieren, kurz diskutieren und dann einen „Ersatzindikator" vorstellen und in die Analyse einbeziehen. Die Familienpolitiken eines Landes sind eingebettet in den Typus von Wohlfahrtsstaat, der in einem Land implementiert ist.^^ Im Hinblick auf eine Klassifikation von Wohlfahrtsstaaten liegen verschiedene Typologisierungsvorschlage vor (vgl. Blossfeld und Drobnic 2001; Korpi 2001; Klinzler et al. 1999; Lessenich und Ostner 1998; O'Connor 1993; Orloff 1993; Pascall und Manning 2000; Pfau-Effinger 2000; Roller 2000a), die sich fast alle auf die Einteilung von Costa Esping-Andersen (1990) in die drei Typen „Liberar', „Konservativ" und „Sozialdemokratisch" beziehen. An dem Vorschlag von Esping-Andersen wird aber u. a. kritisiert, dass er nicht sensibel genug zur Erfassung von Ceschlechtsunterschieden konzeptionalisiert sei (vgl. dazu die Antwort von Esping-Andersen 1999). Von den verschiedenen Vorschlagen, eine Typologie von Wohlfahrtsstaaten zur Erfassung von Ceschlechtsungleichheiten zu entwickeln, hat uns am meisten der Vorschlag von Walther Korpi (2001) iiberzeugt, auch deswegen, well er empirienah konzeptionalisiert ist. Korpi schlagt eine Typologie von geschlechtsrelevanten „policies" vor, die durch zwei Di-
13 Einen guten Uberblick geben die zehn Landerberichte in dem von Franz-Xaver Kaufmann et al. (1997) herausgegebenen Band. 14 Viele Autoren sehen zudem einen Zusammenhang zwischen der religiosen Traditionslinie und dem jeweiligen Wohlfahrtsstaatsmodell (vgl. Kaufmann 1988a; Martin 1978). Die in einer katholischen Traditionslinie stehenden Lander haben meist einen Wohlfahrtsstaat entwickelt, der eher dem „Family support model'' entspricht, die protestantischen Lander haben Wohlfahrtsstaaten entwickelt, die tendenziell eher die beiden anderen Familienmodelle unterstiitzen. Dieser Zusammenhang gilt nicht fiir die mittel- und osteuropaischen Lander.
3.3 Erklariing der Unterschiede in den Familienvorstellimgen
123
mensionen gekennzeichnet ist.^^ Korpi klassifiziert die verschiedenen Lander entlang dieser beiden Dimensionen und erhalt drei Landergruppen, die einen unterschiedlichen Einfluss auf die Familienvorstellimgen haben konnen. Den ersten Typus nennt er „Dual earner support model". Die Unterstiitzung der Kernfamilie ist gering, die Unterstlitzimig der doppelten Erwerbstatigkeit ist hoch. Den zweiten Typus nennt er „General family support model". Fiir diesen Typus gilt, dass die Unterstiitzung der Kernfamilie hoch ist, die der doppelten Berufstatigkeit eher gering. Den dritten Typus nennt Korpi „Market oriented model". Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass weder die doppelte Erwerbstatigkeit noch die Kernfamilie politisch unterstiitzt wird. Marktkrafte regulieren, ob es Kinderkrippen gibt, ob Mutter zu Hause bleiben etc. Das von der EU propagierte Familienmodell der doppelten Erwerbstatigkeit und der Aufteilung der Hausarbeiten wird in den Landern die hochste Akzeptanz haben, die man dem „Dual earner support model" zurechnen kann. Es wird die geringste Akzeptanz in den Landern haben, die man dem „ General family support model" zuordnen kann. Die Lander, die als „Market oriented" klassifizierbar sind, werden eine Zwischenstellung einnehmen. Leider lasst sich der Klassifizierungsvorschlag fiir die von uns analysierten Lander nicht gut empirisch umsetzen: Zwar kann man sich bei der Einordnung der westeuropaischen Lander an der Einteilung von Korpi orientieren; allerdings fehlen hier bereits die Lander Portugal, Griechenland und Luxemburg, da diese von Korpi nicht klassifiziert wurden. Grofie Probleme bereitet die Klassifikation der ehemals sozialistischen Lander Mittel- imd Osteuropas. Wahrend der Zeit des Staatssozi-
15 Die erste Dimension ist bestimmt durch die Starke, mit der durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen die Kernfamilie unterstiitzt wird. Indikatoren zur Messung dieser Dimension sind die Hohe des Kindergeldes fiir junge Kinder und die Hohe der steuerlichen Erleichterung fiir Familien mit kleinen Kindem und einem nicht erwerbstatigen Elternteil. Die zweite Dimension ist bestimmt durch den Grad der Unterstiitzung einer doppelten Erwerbstatigkeit durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen. Indikatoren zur Messung dieser Dimensionen sind die Menge der Kinderkrippen, bezahlte Mutterschaft, offentliche Hilfe fiir alte Menschen u. a. Wahrend eine Forderung der Kernfamilie eher zu einer Unterstiitzung des biirgerlichen Familienmodells fiihren wird, so unsere Hypothese, wird eine Forderung der doppelten Erwerbstatigkeit eher zu einer Ablehnung dieses Modells fiihren.
124
3. Familien- und GeschlechtsroUenvorstellungen
alismus wurde die Erwerbstatigkeit der Frauen in diesen Landem stark gefordert. Entsprechend kann man diese Lander, wenn man sich an der Sekundarliteratur orientiert, der Gruppe des „Dual earner support models'' zuordnen (vgl. Blossfeld imd Drobnic 2001; Getting 1998; Pascall und Manning 2000; Watson 2000). Andererseits haben sich die Bedingungen in diesen Landem seit der Transformation bin zu demokratischen Marktwirtschaften radikal verandert; und auch die Geschlechterund Familienpolitik hat sich tiefgreifend verandert. Dies macht es sehr schwer, diese Lander zu klassifizieren. Ein weiteres Problem bei der Klassifikation der Lander bilden die Tiirkei und Malta. Fiir beide liegen keine Informationen iiber die Familienpolitik vor. Aufgrund dieser insgesamt sehr schlechten Datenlage haben wir die Variable „WohlfahrtsstaatsmodelL' nur in einer ersten Analyse beriicksichtigt/^ dann aber durch das sogenannte „Gender Empowerment Measure" (GEM) ersetzt.^^ Ahnlich wie der Human Development Index wird das „Gender Empowerment Measure" vom „United Nations Development Programme" erhoben und fiir sehr viele Lander der Erde bestimmt (Human Development Report Office 2000).
16 Die Lander wurden folgendermafien klassifiziert: a. Portugal, Luxemburg, Griechenland, Malta und die Tiirkei wurden aus den oben genannten Griinden nicht beriicksichtigt. b. „Dual earner moder': Schweden, Finnland, Danemark, dann alle friiheren sozialistischen Lander. c. „Family support model": Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Osterreich, Irland, Spanien. d. ^Market oriented'': GroJSbritannien, Niederlande. 17 Die Beta-Werte in der Regressionsanalyse ahneln denen, die man erhalt, wenn man das im Folgenden erlauterte „Gender Empowerment Measure'' statt der Wohlfahrtsstaatsmodelle in die Analyse aufnimmt. Goran Therborn (2000: 122 ff.) beschreibt den Emanzipationsprozess der Frauen in verschiedenen europaischen Landern entlang der Veranderungen der Rechtsvorschriften in den Landem. Danach gehoren die Lander Bulgarien und Rumanien z. B. zu den Landern, in denen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen sehr friih erweitert wurden. Dass dies nur geringe Effekte auf die Einstellungen der Burger hatte, haben unsere deskriptiven Analysen gezeigt. Rechtsveranderungen miissen nicht die Einstellungen der Burger verandern. Und sie werden dies vor allem dann nicht tun, wenn sie, wie in staatssozialistischen Gesellschaften von „oben" oktroyiert werden.
3.3 Erklarung der Unterschiede in den Familienvorstellungen
125
Gemessen wird der Grad der institutionalisierten Gleichberechtigiing. Der Index setzt sich aus drei Variablen zusammen: Der Anteil der Frauen nnd Manner im Parlament, der Anteil der Frauen und Manner an Fiihrungspositionen in Wirtschaft und Politik und die Unterschiede zwischen Mannern und Frauen im Einkommen. Bei kompletter Gleichheit zwischen Mann und Frau erhalt der Index den Wert 1, bei kompletter Ungleichheit den Wert 0. Die Werte fiir die verschiedenen Lander fiir das Jahr 2000 sind in der Einleitung aufgelistet. Die Werte fiir Frankreich, Luxemburg, Malta und Bulgarien fehlen leider. Die Benutzung des GEM zur Messung, ob die Politik und der Wohlfahrtsstaat eines Landes eher gleichberechtigungsforderlich ist oder nicht, ist keine optimale Operationalisierung des theoretischen Konstrukts, weil es sich um eine „Output"- bzw. Ergebnismessung von Gleichberechtigung handelt. Der Grad der Gleichberechtigung kann, muss aber nicht auf die entsprechende Politik des Landes zuriickzuflihren sein. Da aber keine bessere Messung vorliegt, greifen wir auf diesen Indikator zuriick. 4. Geschlecht: Zusatzlich haben wir noch die Variable Geschlecht der Befragten beriicksichtigt, da wir davon ausgehen, dass Fragen der Gleichberechtigung die Interessenslagen der beiden Geschlechter unterschiedlich beriihren. Wir vermuten, dass sich Frauen eher fiir die Gleichberechtigung einsetzen als Manner. Die folgende Tabelle enthalt die Ergebnisse der Regressionen.^^
18 Bei der zweiten abhangigen Variable weisen Irland und Osterreich eine abweichende Skala auf, weshalb wir sie aus der Analyse ausgeschlossen haben. Die Ergebnisse verandern sich aber praktisch nicht, wenn man die Skalen der beiden Lander anpasst und sie mit aufnimmt.
126 Tabelle3.3:
3. Familien- und Geschlechtsrollenvorstellungen Erklarung der Einstellungen zur Berufstatigkeit Gleichberechtigung der Frauen: Regressionsanalysen
Modemisierungsgrad HDI Bildung Religion^) Protestanten Katholiken Orthodoxe Muslime Integration in die Kirche GEM Geschlechtb) R2
und
„Frauen gleiches Recht auf Beruf''
„Frauen wollen nicht nur Heim und Kinder''
,080 ,254
,092 ,170
,038 -,081 -,055 -,140 -,081 -,004+ ,082 ,140
-,002+ -,043 -,020* -,047 -,083 ,213 ,064 ,147
Ausgewiesen sind die standardisierten Beta-Koeffizienten der multiplen Regression; soweit nicht anders ausgewiesen, sind sie auf dem 1 %-Niveau signifikant (* = signifikant auf 5 %-Niveau, + = nicht signifikant). 3) Referenzkategorie fiir die Konfessionsvariable sind „Konfessionslose". ^) Referenzkategorie fiir die Geschlechtsvariable sind „Manner".
Welche Befunde lassen sich bilanzieren: a. Ein Blick auf die erklarte Varianz der beiden abhangigen Variablen zeigt uns, dass wir mit den ausgewahlten unabhangigen Variablen zufriedenstellend die Einstellungen zur Berufstatigkeit der Frau und zur Gleichberechtigung von Frauen erklaren konnen. b. Die beiden modernisierungstheoretisch abgeleiteten Variablen Bildung und okonomische Entwicklung haben mit den starksten Einfluss von alien Variablen auf die Gleichberechtigungsvorstellungen der Burger und zwar in der erwarteten theoretischen Richtung. Je hoher gebildet ein Befragter ist bzw. je starker modernisiert das Land ist, aus dem er kommt, desto eher spricht er sich fiir eine Gleichberechtigung der Frauen aus.i9
19 Der Einfluss der Bildung ist deutlich grofier im Vergleich zum HDI. Allerdings ist die Bildung auch auf der Individualebene gemessen, der HDI dagegen auf der Landerebene.
3.4 Zusammenfassung
127
c. Wir sehen auch, dass der Grad der institutionalisierten Gleichberechtigimg, den wir als Ersatzmessimg fiir die Politikorientierung genommen haben, zumindest bei einem unserer Indikatoren deutlich die Wahrscheinlichkeit erhoht, dass man sich fiir die Gleichberechtigung von Frauen einsetzt. d. Von der Mitgliedschaft in den verschiedenen Religionsgemeinschaften geht ein imterschiedlicher Effekt auf die Gleichberechtigungsvorstellungen aus. Im Hinblick auf alle abhangigen Variablen zeigt sich, dass die Mitgliedschaft im Islam die Wahrscheinlichkeit erhoht, dass man die von der EU favorisierte Idee der Gleichberechtigung der Frau ablehnt.^o Dieser Befund gilt auch, wenngleich auf einem etwas niedrigeren Niveau, fiir die orthodoxen Christen und die Katholiken. Auch diese lehnen die Gleichberechtigungsidee eher ab, wahrend die Protestanten eher die Idee der Gleichberechtigung unterstiitzen. Dieses Ergebnis entspricht weitgehend unseren theoretischen Erwartungen. e. Weiterhin zeigt sich, dass der Grad der Integration in die jeweilige Kirche einen negativen Einfluss auf die Unterstiitzung der Gleichberechtigungsidee hat. Auch dies entspricht unseren Annahmen. f. Schliefilich zeigen die Analysen, dass das Geschlecht des Befragten seine Einstellung zur Gleichberechtigungsidee beeinflusst und zwar in der erwarteten Richtung; Frauen sprechen sich deutlicher fiir ihre Emanzipation aus als die Manner.
3.4 Zusammenfassung Familienpolitik der EU meint vor allem Gleichstellungspolitik im Erwerbsleben fiir Manner und Frauen. Diese sieht die EU nur realisierbar, wenn die Infrastruktur der aufierfamiliaren Kindererziehung entwickelt ist und die traditionelle innerfamiliare Aufgabenteilung zwischen Mannern imd Frauen aufgehoben wird. Wir haben dieses aus den Rechtstex20 Der deutlich geringere Wert bei der zweiten abhangigen Variable geht auf die Tatsache zuriick, dass die Tiirkei in der Regression aufgrund fehlender Daten nicht beriicksichtigt werden konnte.
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3. Familien- imd GeschlechtsroUenvorstellungen
ten der EU rekonstruierte Familienleitbild als Ausgangspimkt imserer empirischen Analysen genommen imd iiberpruft, inwieweit es von den Biirgern in den Mitglieds- iind Beitrittslandern der EU akzeptiert wird. Unterscheidet man zwischen den alten und neuen Mitgliedslandern der EU, den Beitrittskandidaten sowie der Tiirkei, so zeigt sich, dass die EUPosition von den Alt-Mitgliedsstaaten am starksten und dann von Gruppe zu Gruppe immer schwacher unterstiitzt wird; die Burger der Tiirkei lehnen die Idealvorstellung von Familie der EU am starksten ab; sie praferieren am deutlichsten eine traditionelle Geschlechterordnung mit einer Vormachtstellung des Marines. Mit Hilfe einer multiplen Regression sind wir dann der Frage nachgegangen, wie man die Unterschiede im Grad der Unterstiitzung der Gleichberechtigungsidee erklaren kann. Wir konnten zeigen, dass die Nahe zum EU-Skript einer idealen Familie durch den Modernisierungsgrad einer Gesellschaft, den Grad der Institutionalisierung der Gleichberechtigung durch die Politik in einem Land, die Religionsorientierung und die Einbindung in die Kirche beeinflusst wird. Aus der Tatsache, dass die von uns herausgearbeiteten Unterschiede in den Familienvorstellxmgen u. a. auf einen unterschiedlichen Grad der okonomischen Modernisierung zuriickzufiihren sind, kann man allerdings nicht rlickschlielJen, dass eine okonomische Angleichung des Lebensstandards der mittel- imd osteuropaischen Lander und der Tiirkei an die jetzigen Mitgliedslander der EU unmittelbar und kurzfristig zu einer Veranderung auf der kulturellen Ebene fiihren wird. Ronald Inglehart (1997) hat gezeigt, dass die Werteorientierungen der Menschen in der Sozialisation vermittelt werden und dann relativ resistent gegeniiber Veranderungen der faktischen Lebensbedingungen sind. Auch wenn die Entstehimg und Auspragung von Kultur in hohem Mafie durch die 5konomische Entwicklung beeinflusst wird, erhalten die kulturellen Orientierungen dann eine Eigenstandigkeit, die relativ immun gegeniiber kurzfristigen 5konomischen Veranderungen ist. Gerade die Entwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Wiedervereinigung hat gezeigt, wie langsam sich kulturelle Orientierungen an die neuen Bedingungen anpassen (vgl. Conradt 1980;
3.4 Zusammenfassung
129
die Beitrage in Pickel et al. 1998a; Fuchs 1999b; Roller 2000a). Zudem ist offen, ob und in welchem Zeitraum es zu einer okonomischen Konvergenz der Mitglieds- und Beitrittslander kommen wird. Unsere empirischen Befunde implizieren aber auch Folgeriongen fiir die Chancen und Probleme des zukunftigen Integrationsprozesses. Vor allem fiir die Akteure, die sich die Emanzipation von Frauen auf die Fahnen geschrieben haben, werden sich mit der Erweiterung der EU die Bedingungen fiir die Durchsetzung ihrer Ziele verschlechtern. Die Erweiterung wird den Gegenwind fiir diese Interessengruppen erhohen, well der Riickhalt fiir ihre Forderungen, die sie in der Vergangenheit vor allem auf der Ebene der EU-Kommission relativ erfolgreich durchsetzen konnten (vgl. Wobbe 2001), nicht mehr gegeben ist. Gerade die westlich inspirierte Frauenbewegung scheint in einem nicht geringen Ausmafi bereits dariiber frustriert zu sein, wie wenig das Thema Gleichstellung in den osteuropaischen Landern - auch bei den Frauen - auf Resonanz stofit (vgl. Watson 2000; Bretherton 2001). Mit der Mitgliedschaft der neuen Lander in der EU erhalten diese auch alle Mitsprache- und Gestaltungsrechte in den Gremien der EU. Damit verschieben sich die Machtverhaltnisse innerhalb der Institutionen der EU. Sogenannte Frauenfragen werden es in Zukunft deutlich schwerer haben, sich politisch Geh5r zu verschaffen. Die Reprasentanten der neuen Lander werden fiir diese Fragen weniger Interesse aufbringen, wenn sie sich an den Vorstellungen ihrer Biirger zu Familie und Geschlechterrollen orientieren. Manche politischen Akteure scheinen dies noch gar nicht richtig bemerkt zu haben.
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
Die heutige Europaische Union startete als Wirtschaftsgemeinschaft, und die Wirtschaft ist bis heute ohne Zweifel der wichtigste Teilbereich der Europaischen Union. Beginnend mit der Montanunion, erweitert durch die Zollunion, die Bildimg eines gemeinsamen Binnenmarktes und einer gemeinsamen Wirtschafts- und Wahrungsunion, schlielSlich durch die Einfuhrung einer gemeinsamen Wahrung fiir eine Teilgruppe der EULander hat sich die Gemeinschaft vor allem als Wirtschaftsgemeinschaft entwickelt, die im zweiten Schritt durch Merkmale einer politischen Union erganzt wurde. Die wirtschaftliche Integration hat dabei, sei es durch die Orientierung an direkten wirtschaftspolitischen Vorgaben der Europaischen Union oder an „best practice^'-Modellen im Rahmen der offenen Koordination, zu einer zunehmenden Harmonisierung der Wirtschaftspolitiken der beteiligten Lander gefiihrt. Beobachter der Entwicklung des europaischen Integrationsprozesses machen zwei miteinander verbundene Griinde daflir geltend, dass die okonomische Integration im Vergleich zur Integration anderer gesellschaftlicher Bereiche so ziigig voranschreiten konnte. Zum einen gab es zwischen den relevanten Akteuren eine Interessensiibereinstimmung, zum anderen lassen sich okonomische Rationalitatskriterien wahrscheinlich besser institutionalisieren als andere Teilsystemrationalitaten. „Europa entwickelte sich aus einer Abfolge von jeweils „kleinen'' Schritten, die sich durch den Glauben an die wirtschaftlichen Erfolge eines groiSen Binnenmarktes legitimierten. Alle sollten durch Rationalisierungseffekte des Binnenmarktes iiber das wachsende Sozialprodukt ihren Vorteil haben. Durch die Isolierung der Wirtschaft aus den iibrigen Lebens- und Politikbereichen konnten die traditionellen innen- und sozialpolitischen Ordnungen erhalten bleiben, auch wenn iiber instrumentelle Eingriffe
132
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
mit Hilfe von Kriterien der Wettbewerbspolitik auf vielfaltige Weise in sie interveniert wurde. Wirtschafts- und sozialpolitische Anpassiingsleistungen zur Abfederung der Folgelasten und zur Umsetzung der neuen Regulierungen oder der Deregulierung alter Strukturen wurden in die Mitgliedslander und ihr soziopolitisches Konfliktmanagement externalisiert." (Lepsius 2003: 39). Wir werden im Folgenden die Einstellungen der Burger des erweiterten Europas zu den Wirtschaftsvorstellungen der EU analysieren. Dazu soil in einem ersten Abschnitt das Wirtschaftsskript der Europaischen Union rekonstruiert werden. Der zweite Abschnitt analysiert die Akzeptanz dieser Vorstellungen in den Mitglieds- und Beitrittslandern; auf dieser Basis werden wir in einem dritten Schritt mit Hilfe einer Diskriminanzanalyse die Lander nach ihrem Abstand zu den Idealvorstellungen der EU klassifizieren. In einem vierten Abschnitt soUen die gefundenen Unterschiede und Gemeinsamkeiten erklart werden. Wir haben in der Einleitung zu begriinden versucht, warum die Einstellungen der Burger fiir die Stabilitat der Institutionenordnung einer Gesellschaft eine wichtige Bezugsgrofie darstellen. Dieses allgemeine Argument gilt auch fiir den Bereich der Wirtschaft. Die Bedeutsamkeit einer Wirtschaftskultur ist gerade im Kontext der Forschungen zur Transformation der vormals staatssozialistischen Gesellschaften, die ja nun Mitgliedslander der EU sind bzw. werden, betont worden.^ Damit der Transfer und die Implementation westlicher Wirtschaftsinstitutionen erfolgreich ist, bediirfen sie der Unterstiitzung durch die Burger. Svetozar Pejovich spricht in diesem Zusammenhang aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht von der „interaction thesis": „When changes in formal rules are in harmony with the prevailing informal rules, the incentives they create will tend to reduce transaction costs and free some resources for the production of wealth. When new formal rules conflict with the prevailing informal rules, the incentives they create will raise transaction costs and reduce the production of wealth in the community." (Pejovich 2003: 5). Entsprechend betrachtet Wolfgang Merkel die Akzeptanz der
' Vgl. etwa die Aufsatze in Hans-Hermann Hohmann (Hg., 2002; 2001; 1999).
4.1 Die Wirtschaftsvorstellungen der EU
133
veranderten okonomischen Spielregeln durch die Eliten und die Bevolkeriing als zwei zentrale Bedingungen der Konsolidierung der Transformationsstaaten (Merkel 1995). Diese Uberlegimgen schliefien an die Erkenntnisse der Wirtschaftssoziologie an, die Peter L. Berger (1991) folgendermafien formuliert: „ Economic institutions do not exist in a vacuum but rather in a context (or, if one prefers, a matrix) of social and political structures, cultural patterns, and, indeed, structures of consciousness (values, ideas, belief systems)." (Berger 1991: 24). Bezogen auf die vormals staatssozialistischen Gesellschaften kann man sagen, dass der Institutionentransfer weitgehend gelungen ist, auch wenn die okonomischen Unterschiede zwischen den Mitgliedslandern und den Beitrittslandern noch erheblich sind.^ Offen ist aber, ob die oko~ nomischen Institutionen durch die Einstellungen und Werte der Bevolkerung unterstiitzt werden, oder ob aufgrund der Sozialisation in einer sozialistischen Planwirtschaft Werteorientierungen dominant sind, die mit der neuen marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung nicht kompatibel sind. Vor dem Hintergrund dieser Argumente wird deutlich, wie bedeutsam eine ahnlich gelagerte Wirtschaftskultur fiir das Gelingen des europaischen Integrationsprozesses sein kann.
4.1 Die Wirtschaftsvorstellungen der EU Da die Wirtschaft den zentralsten Bereich der Europaischen Union darstellt, finden sich hier auch die meisten rechtlichen Regelungen. „EU law is in its substance chiefly public regulation of economic life, i.e. economic legislation." (Lane 2002:1). Die Regelungsdichte einerseits und die Tatsache, dass alte Vertrage haufig weiter gelten und nur in umfassendere Gesetze aufgenommen wurden, macht eine Rekonstruktion der rechtlich kodifizierten Wirtschaftsvorstellungen der EU nicht gerade einfach. Wir 2 Das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner betrug 1999 in den zehn Kandidatenlandern der ersten Beitrittsrunde durchschnittlich lediglich 44,2 % des EUWertes, beriicksichtigt man Bulgarien und Rumanien, sind es sogar nur 38,5 % (Heidenreich 2003).
134
4. Wirtschaftsvorstellimgen in der erweiterten EU
konzentrieren uns im Folgenden auf die grimdlegenden Wirtschaftsvorstellimgen der EU, und diese finden sich vor allem in den Griindungsund Erweiterimgsvertragen und in dem Verfassungsentwurf. Doch auch hier sind die Regelimgen nicht immer einheitlich, was u. a. dem Kompromisscharakter dieser Papiere geschuldet ist.^ Die EU verfolgt mit ihren Wirtschaftsvorstellimgen vor allem ein zentrales „Megazier'. Sie mochte die okonomische Wohlfahrt aller Biirger der Mitgliedslander verbessern. So ist nach Artikel 3, Abs. 1 des Verfassungsentwurf s Ziel der EU, „das Wohlergehen ihrer V51ker zu f5rdern'', und dies durch „nachhaltige Entwicklimg Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums" (Abs. 3; Konferenz 2004). Diese Megazielbestimmimg sieht die EU am besten realisierbar, wenn zum einen bestimmte Wirtschaftsordnungsvorstellungen implementiert werden und zum anderen die Burger mit bestimmten Handlungsorientierungen ausgerustet sind, um als Wirtschaftssubjekte an der Wirtschaft zu partizipieren. Wir unterscheiden entsprechend zwei zentrale Dimensionen, die dann liber Subdimensionen weiter spezifiziert werden, die zusammen das Skript der Wirtschaftsvorstellimgen der EU aufspannen. Die erste Dimension bezieht sich auf Vorstellungen der EU im Hinblick auf die ideale Organisationsform der Wirtschaft (4.1.1). Die zweite Dimension bezieht sich auf die generalisierten Handlungsorientierungen der Burger als Wirtschaftssubjekte (4.1.2).
4.1.1 Wirtschaftsordnungsvorstellungen der EU Ankniipfend an einen Strukturierungsvorschlag von Glaus Giering (2001) schlagt Holger Friedrich (2002) eine Einteilung der Grundziige der europaischen Wirtschaftsverfassung in die fiinf Bereiche „Verbindliche ordnungspolitische Zielsetzung", „Ausschlie61iche Politiken", „Gemeinsame 3 Erschwerend kommt hinzu, dass die Zustandigkeiten der EU bzw. der Mitgliedslander nicht immer klar geregelt sind. „Insbesondere wenn es um die Umsetzung der allgemeinen Zielsetzungen geht, finden sich Widerspriiche und nicht naher definierte Zustandigkeitsverhaltnisse zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten/' (Friedrich 2002: 4).
4.1 Die Wirtschaftsvorstelliingen der EU
135
Politiken", „Erganzende Politiken" sowie „Koordinierte Bereiche" vor. Fiir imsere Fragestellung ist dabei die erste Kategorie die zentrale. Sie enthalt „alle Bestimmungen, welche die europaische Wirtschaftsordnung mitsamt ihrer ordnungspolitischen Zielrichtung betreffen" (Friedrich 2002: 5). Vertraglich festgelegt findet sich das europaische Leitbild vor allem in den Artikeln 2 des Vertrags iiber die Europaische Union (EUV) sowie in den Artikeln 2, 3 und 4 des Vertrags zur Griindung der Europaischen Gemeinschaft (EGV).^ Gepragt ist das ordnungspolitische Leitbild der EU danach durch eine offene, dem Wettbewerb sowie der Sozialstaatlichkeit verpflichteten Marktwirtschaft (vgl. auch Friedrich 2002; Hodl und Weida 2001). Grundlegend sind dabei vor allem die drei Aspekte „Wettbewerb", „Offenheit des Binnenmarktes" und „Staatliche Kontrolle der Wirtschaft". a. Wettbewerb: Die Europaische Union spricht sich dezidiert fiir einen freien Wettbewerb innerhalb des europaischen Binnenmarktes aus (Schmidt und Binder 1998). Die dabei verwendeten Attribute reichen iiber „redlich" (Praambel EGV), „unverzerrt" bzw. „unverfalscht" (Artikel 3 Abs. Ig) bis zu „frei" (Artikel 4 Abs. 1 und 2). Ziel eines freien Wettbewerbs ist die Gestaltung optimaler Marktprozesse. Als Instrumente stehen der EU etwa Kartellverbote, das Verbot des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen oder die Kontrolle staatlicher Beihilfen zur Verfiigung. Die Herstellung von Wettbewerb und die Liberalisierung wettbewerbsbehindernder Reglementierungen verbindet die EU mit der wirtschaftspolitischen Hoffnung der Erzeugung von Wachstum, Fortschritt und Prosperitat (Europaische Kommission 2000). Die Philosophie der Wettbewerbserzeugung durch Deregulierung bezieht sich aber in erster Linie auf das Innenverhaltnis der EU. Wettbewerb des europaischen Wirtschaftsraums im Verhaltnis zu den aufiereuropdischen Volkswirtschaften metnt haufig staatliche Unterstiitzung und Forderung von europaischen Wirtschaftszweigen, u m diese fiir den internationalen Wettbewerb zu riisten. Die Lissabon-Strategie aus dem Jahr 4 Wobei sowohl Giering (2001) als auch Friedrich (2002) darauf hinweisen, dass die Aufgabenhste des Artikel 3 Regelungen auf sehr unterschiedlichem Verbindlichkeits- und Konkretheitsniveau enthalt.
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
2000 will Europa zur d)mamischsten iind wettbewerbfahigsten Region weltweit machen (Europaischer Rat 2000). Dieses Ziel fiihrt dazu, dass bestimmte Sektoren besonders unterstiitzt werden, z. B. durch eine gezielte staatliche Forderving von Forschung und Entwicklung oder durch institutionelle Hilfen bei der grenziibergreifenden Zusammenarbeit, im Einzelfall aber auch durch die Zulassung europaischer Oligopole, um so „einem verscharften internationalen Wettbewerb standhalten zu konnen" (Turek 1997: 346).^ Werkzeuge zur Erreichung dieser Ziele sind insbesondere die Industrie-, z. T. auch die Handelspolitik. Entsprechend konstatieren Norbert Berthold und J5rg Hilpert: „Wettbewerbs-, Industrieund Handelspolitik geraten leicht in Konflikt zueinander. Die in der EU geltenden Vertragsbestimmungen programmieren Konflikte dieser drei Politikfelder vor, weil sie je nach Interessenlage widersprlichlich interpretiert werden konnen." (Berthold und Hilpert 1996:106). b. Ojfenheit des Binnenmarktes: Die Offnung der europaischen Markte fiireinander ist aus der Perspektive der EU eine der zentralen Voraussetzungen fiir den unverzerrten Wettbewerb. Wie in der Einheitlichen Europaischen Akte von 1987 vorgesehen, begann zur Jahreswende 1992/93 der gemeinsame europaische Binnenmarkt mit den sogenannten vier Freiheiten des Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs. Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital soUten sich in der EU genauso frei bewegen konnen, wie es bisher innerhalb der nationalen Volkswirtschaften der Fall war. Htnweise auf die definierte Offenheit des Binnenmarktes finden sich im Vertragswerk an mehreren Stellen, u. a. in alien oben angefuhrten Artikeln und den Praambeln des EUV und des EGV. Die erfolgreiche Einfuhrung des Binnenmarktes wurde durch ein 5 Begriindet wird dies folgendermafien: „Im Binnenmarkt verfiigt die Gemeinschaft iiber ein justitiables Regime, um wettbewerbsverzerrendes Verhalten wirksam zu sanktionieren, Im globalen Mafistab greifen diese Mafinahmen jedoch nicht. Somit konnen in der Konsequenz wettbewerbswirksame Mafinahmen innerhalb des Binnenmarktes den Wettbewerb zwar starken, die Wettbewerbsfahigkeit europaischer Unternehmen gegeniiber der internationalen Konkurrenz aber schwachen. Die Europaische Kommission hat dieses Dilen\ma insofern erkannt, als dafi sie sich um die Gewahrleistung eines effizienten Wettbewerbes in Europa bemiiht und dabei Untemehmenszusammenschliisse im Rahmen weltweiter Strategien auf weltweiten, europaischen oder nationalen Markten untersucht/' (Turek 1997: 348).
4.1 Die Wirtschaftsvorstellungen der EU
137
wirtschaftspolitisches Umdenken in den 80er Jahren ermoglicht, welches auf Starkxing der Wirtschaftskraft durch Marktliberalisierung setzte (vgl. etwa Schafer 2002; Thiel 1996: 125ff.). Die EU hat dabei die notwendigen Voraussetzungen fiir die Offnung der Markte, z. B. ein „Verbot von Zollen und mengenmafiigen Beschrankimgen bei der Ein- und Ausfuhr von Waren" (Artikel 3 Abs. la) geschaffen. Die Offenheit des Marktes ist ein Prinzip, welches in den Volkswirtschaften aller Mitgliedstaaten mehr oder weniger gut verankert ist. Neu ist allerdings die Ausweitung auf einen supranationalen Raum.^ Entsprechend finden sich immer wieder Versuche von staatlicher oder okonomischer Seite, unliebsame auslandische Konkurrenz zu behindem. Richtungsweisend geworden ist in diesem Zusammenhang das „ Cassis de Dijon"-Urteil von 1979, das also bereits vor der eigentlichen Etnfuhrung des Binnenmarktes entschieden wurde. Die Richter des Europaischen Gerichtshofs votierten damals gegen den deutschen Gesetzgeber, dem die 20 % Alkoholgehalt des Likors nicht mit den vorgeschriebenen minimal 32 % des deutschen Rechts vereinbar erschien, und hielten fest: Was in einem Staat der Gemeinschaft erlaubt ist, darf auch in alien anderen verkauft werden (Fritzler und Unser 1998: 62).^ c. Staatliche Kontrolle der Wirtschaft: Etwas schwieriger wird die klare Festlegung der EU-Position im Hinblick auf die Rolle des Staates in ordnungspolitischer Hinsicht. Einerseits spricht sich die EU weitgehend gegen einen Eingriff des Staates in die Wirtschaftsbelange aus, so dass die EU insgesamt als „Motor der Deregulierung" (Donges et al. 1997: 280;
^ Im Rahmen der GATT-Verhandlungen gibt es natiirlich ebenfalls Versuche der weltweiten Marktliberalisierung, die allerdings in vielen Bereichen noch nicht so weit reichen wie in der EU (vgl. zum Verhaltnis der EU zum GATT die Aufsatze in Miiller-Graff 2000). 7 Gleichzeitig bleiben aber bestimmte Bereiche vor der Offnung geschiitzt. Artikel 30 EGV erlaubt den Mitgliedstaaten etwa, den Warenimport aus anderen Landern aus „Grunden der offentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von kiinstlerischem, geschichtlichem oder archaologischem Wert oder des gewerblichen oder kommerziellen Eigentums"' zu beschranken. Ob die Griinde zutreffen, wird von der Kommission gepriift, die bei Verdacht auf willkiirliche Diskriminierung den Gerichtshof anrufen kann (vgl. auch Thiel 1996:128).
138
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
ahnlich Schneider 1998) interpretiert werden kann. Diese wirtschaftspolitische Orientierung schlagt sich in verschiedenen Beschllissen nieder. In den Vertragen werden konkret „staatliche oder aus staatlichen Mitteki gewahrte Beihilfen gleich welcher Art, die (...) den Wettbewerb verfalschen oder zu verfalschen drohen" (EGV Art. 87, Abs. 1) abgelehnt.^ Darliber hinaus haben sich die Mitgliedstaaten auf dem Europaischen Rat in Stockholm verpflichtet, generell staatliche Beihilfen zu reduzieren (Kommission 2002c: 22). Die verstarkte liberale Ausrichtung hat einen ihrer sichtbarsten Niederschlage in der schon erwahnten „Lissabonner Strategie" gefunden. Ziel ist es, ein ordnungspolitisches Klima zu schaffen, welches „den Investitionen, der Innovation und der unternehmerischen Initiative forderlich ist" und „unnotigen burokratischen Aufwand" beseitigt (Europaischer Rat 2000: Punkt 14). All dies weist auf eine eher zuriickhaltende RoUe des Staates im Bereich der Okonomie hin. Gleichzeitig gibt es aber einige Bereiche, in denen die EU staatliche Eingriffe zulasst und sogar forciert. Diese Eingriffe werden aus EU-Sicht durch drei Griinde gerechtfertigt. Die beiden ersten sind innerokonomischer Natur. Das optimale Funktionieren des Binnenmarktes ist auf gewisse Rahmenbedingungen, z. B. gemeinsame rechtliche Regelungen, angewiesen. Diese versucht die EU entweder selbst oder durch die Koordination der Landerpolitiken zu gewahrleisten. Der zweite Grund ist die Schaffung einer wettbewerbsfahigen Position auf dem Weltmarkt. Durch gezielte Investitionen in wirtschaftsrelevante Rahmenbedingungen (z. B. Bildung), aber auch durch die direkte Forderung bestimmter Branchen, soil die europaische Wirtschaft global konkurrenzfahig gemacht werden. Ein dritter Grund fiir politische Eingriffe in das Wirtschaftsleben ist aufierokonomisch begriindet. Die Europaischen Wirtschaftsvorstellungen sind neben den genannten drei Aspekten durch eine dezidiert soziale Komponente gekennzeichnet. Wir kommen im nachsten Kapitel genauer darauf zuriick.
^ Staatliche Beihilfen konnen dann zugelassen werden, wenn sie „strukturell wirksam sein soUen, einen endgiiltigen Charakter haben und dem gesamten Industriezweig zugute kommen" (Turek 1997: 347; vgl. auch Art. 92-94 EGV).
4.1 Die Wirtschaftsvorstellungen der EU
139
4.1.2 Handlungsorientierungen der Burger als Wirtschaftssubjekte Die erste Dimension der Wirtschaftsvorstellungen der EU bezieht sich auf die Vorstellung einer idealen Wirtschaftsordnung. Soil diese Wirtschaftsordnung aber im Hinblick auf das Megaziel erfolgreich sein, so bedarf es zusatzlich gewisser individueller Handlungsorientierungen. Die wichtigsten zwei Werteorientierungen, die von der EU gewiinscht werden, sind Leistungsorientierung und ein generalisiertes Vertrauen. Eine Praferenz fiir Leistungsorientierung ergibt sich direkt aus den Anspriichen der Marktwirtschaft; generalisiertes Vertrauen ist sowohl eine Grundbedingung fiir Wirtschaftshandeln auf anonymen Markten als auch die Basis fiir eine europaische Solidaritat (vgl. zu letzterem Delhey 2004). a. Leistungsorientierung: Ohne dass sich dies explizit in ihren Rechtsgrundlagen findet, setzt die EU auf die Leistungsorientierung ihrer Burger. Zum einen ergibt sich dies direkt aus dem praferierten Wirtschaftsmodell der freien Marktwirtschaft mit Betonung des Wettbewerbs. Ohne eine gewisse Leistungsbereitschaft konnen die Wirtschaftssubjekte unter den Bedingungen der Konkurrenz auf offenen Markten nicht bestehen.^ Eine Betonung der Leistung findet sich explizit in bestimmten Politiken der EU, so etwa in der Umstellung der Arbeitsmarktpolitik von der Nachfrage- auf eine Angebotspolitik (Schafer 2002) oder in der bereits erwahnten Lissabon-Strategie. b. Generalisiertes Vertrauen: Wirtschaftshandeln auf anonymen Markten, wie es fiir moderne Industriestaaten kennzeichnend ist, bedarf eines gewissen Vertrauens zwischen den beteiligten Wirtschaftsakteuren (Mummert 2001). Entsprechend betrachtet Georg Elwert Vertrauen als eine „Bedingung des Markthandebis" (1987: 301). Empirisch lasst sich zeigen, dass Vertrauen in andere Wirtschaftssubjekte Transaktionskosten zu reduzieren hilft und insofern wirtschaftsfdrderlich ist (Dorner 2000: 40ff. und 90ff.; Fukuyama 1995; La Porta et al. 1997; Lagemann 2001; Us9 Dieses Argument findet sich bereits bei Max Weber: „Wer sich in seiner Lebensfiihrung den Bedingungen kapitalistischen Erfolges nicht anpafit, geht unter oder kommt nicht hoch." (Weber 1988: 56).
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
laner 2004).^o Wirtschaftliches Handeln erfordert haufig eine Kooperation xinter Unsicherheit, etwa auf dem anonymen Markt oder in grofien Organisationen. Diese Unsicherheit lasst sich bis zu einem gewissen Grad durch Vertrage auffangen, was allerdings zu steigenden Transaktionskosten fiihrt. Ein kostengiinstiges, fiinktionales Aquivalent stellt Vertrauen dar. 'Trust reduces transaction costs through providing information and a means to enforce contracts, so that the possibility of opportunistic behaviour diminishes/' (Hohmann et al. 2002: 5f.). Hohmann et al. kommen daher zu der Einschatzung: „Low levels of trust constrain market entry, enterprise growth and competition whilst encouraging unproductive forms of entrepreneur ship. High levels of trust, on the other hand, encourage open and dynamic competition structures and foster enterprise growth." (Hohmann et al. 2002: 4).
4.2 Die Einstellungen der Burger im Bereich der Okonomie Im Folgenden wollen wir die Einstellungen der Burger der EU im Landervergleich fiir die fiinf herausgearbeiteten Aspekte analysieren. Wir betrachten zuerst die individuellen Handlungsorientierungen, u m dann im zweiten Schritt die Akzeptanz der Wirtschaftsordnungsvorstellungen der EU zu untersuchen.
4.2.1 Individuelle Handlungsorientierungen Wir hatten im Hinblick auf die individuellen Handlungsorientierungen der Wirtschaftssubjekte zwei Bereiche identifiziert, die als zentral fiir ein erfolgreiches wirtschaftliches Handeln angesehen werden.
^0 In der Forderinitiative der Volkswagenstiftung, die auch unser Projekt finanziert hat, findet sich ein Projekt, welches direkt die Verteilung und Auswirkungen von Vertrauen auf das Wirtschaftshandeln zum Thema hat. (Vgl. Hohmann und Welter (Hg.) 2002 bzw. http://www.rwi-essen.de/servlet/page?_pageid=285&_dad=portal30&_schema=PORTAL30).
4.2 Die Einstellimgen der Burger im Bereich der Okonomie
141
a. Leistungsorientierung: Es gibt verschiedene Moglichkeiten, die Leistungsorientierimg der Individuen zu messen. Ronald Inglehart benutzt als Indikator fiir eine Leistungsorientierung die Praferenz fiir leistungsorientierte Erziehungsziele. Diese sind insofern eine gute Messung, da sie iiber den Bezug auf die nachfolgende Generation eine gewisse zeitliche Stabilitat nahe legen.^^ Die entsprechende Frage in der Europaischen Wertestudie lautete: „Eine Frage zur Erziehung. Wir haben hier eine Liste zusammengestellt mit verschiedenen Forderungen, was man Kindern fiir ihr spateres Leben mit auf den Weg geben soil, was Kinder im Elternhaus lernen sollen. Was davon halten Sie fiir besonders wichtig?" Aus einer Batterie mit insgesamt elf Zielen konnten maximal fiinf ausgewahlt werden.^2 Unter den Zielen befinden sich zwei dezidiert leistungsbezogene Orientierungen: „Hart arbeiten" und „Energie, Ausdauer". Wir haben daraus einen Index gebildet, der fiir jeden Befragten von 0 „keines dieser Ziele'' bis 2 „beide Ziele" reichen kann. In Grafik 4.1 sind die durchschnittlichen Mittelwerte der Lander abgetragen. Betrachtet man zuerst die vier Aggregatskategorien im Hinblick auf den Index, so sieht man, dass die Leistungsorientierung der Biirger der Lander der zweiten Beitrittsrunde am hochsten ist, gefolgt von den neuen EU-Landern und der Tiirkei. Die Leistungsorientierung der Burger in den alten Mitgliedslandern ist am geringsten. Innerhalb der Landergruppen gibt es erhebliche Varianzen. Wahrend etwa die skandinavischen Lander Schweden und Danemark, aber auch Finnland eine geringe Leistungsorientierung zeigen, ist die Leistungsorientierung in Luxemburg und Portugal deutlich ausgepragter.
1^ Feldkircher (1997) fiihrt weitere Argumente an, weshalb Erziehungsziele besonders gute Indikatoren fiir Wertvorstellungen sind. 12 Diese Kodieranweisung wurde anscheinend nicht immer beachtet. Alle Falle mit mehr als fiinf Antworten (insgesamt 3,2 % der Falle) wurden daher von uns aus der Analyse ausgeschlossen. Insgesamt wurde in alien Landern die maximale Anzahl von fast alien Befragten ausgenutzt, so dass die durchschnittlich gewahlte Anzahl in den Landern zwischen 4,38 in Rumanien und 4,98 in der Tiirkei liegt.
142 Grafik 4.1:
4. Wirtschaftsvorstellimgen in der erweiterten EU Wichtigkeit leistimgsorientierter Erziehungsziele (Mittelwert des Indexes)
4.2 Die Einstelliingen der Burger im Bereich der Okonomie Grafik 4.2:
143
Prioritat fiir Arbeit statt Freizeit (Mittelwert)
* Die Frage wurde in Osterreich mit Hilfe einer etwas anderen Skala erhoben. Wir haben die Skala angepasst, die Daten sind aber mit Vorsicht zu interpretieren.
Es gibt einen weiteren Indikator, der die Leistimgsorientierung misst. Die Befragten mussten auf einer fiinfstufigen Skala von „stimme iiberhaupt nicht zu (1)" bis „stimme voll und ganz zu (5)" angeben, wie sie zu folgendem Statement stehen: „Die Arbeit sollte immer zuerst kommen, auch
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4. Wirtschaftsvorstellimgen in der erweiterten EU
wenn das weniger Freizeit bedeutet''.^^ Dieses Item bezieht sich direkt auf die Leistungsorientieriing in der Arbeitswelt. Die Mittelwerte der Lander sind in Grafik 4.2 aufgefiihrt. Hohe Werte bedeuten dabei eine starke Leistungsorientierung. Zentrale Befiinde des ersten Indikators wiederholen sich. So weisen die Alt-Mitglieder der EU wiederum die geringste Leistungsorientierung auf, die Gruppe der Beitrittskandidaten dagegen die hdchste. Die Tiirkei und die neuen EU-Mitglieder liegen dazwischen. Auffallig ist, dass Ostdeutschland mit sozialistischer Vergangenheit den hochsten Wert in seiner Gruppe hat, Malta als einziges Neumitglied in unserem Sample ohne sozialistische Vergangenheit dagegen den geringsten. Die Unterschiede innerhalb der Gruppen sind wiederum recht grofi. Auch gibt es einige Verschiebungen zwischen den beiden Indikatoren.^^ Besonders niedrige Werte weisen die Niederlande und Grofibritannien auf, ausgesprochen hohe dagegen Rumanien und Ungam. Es ist schwierig, diese Befunde einheitlich zu interpretieren. Zum Teil widersprechen die Ergebnisse den theoretischen Erwartungen: Zum einen zeigt sich im Unterschied zu fast alien anderen Analysen, die wir bis jetzt durchgefuhrt haben, dass die Vorstellungen der EU von den Blirgern der Beitrittslander starker unterstiitzt werden als von den Biirgern der Mitgliedslander. Mit dem Beitritt dieser Lander erhoht sich die Unterstiitzung der von der EU propagierten Leistungsorientierung im Gesamtaggregat. Zum zweiten lasst sich die klassische Verbindung von Protestantismus und Leistungsorientierung im vorliegenden Fall nicht bestatigen. Protestantisch gepragte Lander wie Grofibritannien und die Niederlande weisen eine eher geringe Leishingsorientierung, katholische Lander wie Polen imd orthodox gepragte Lander wie Bulgarien dagegen eine hohe Leistimgsorientierung auf. Aber auch die Annahme einer geringeren Leistungsorientierung aufgrund eines sozialistischen Erbes wird 13 Wir haben diesen und alle folgenden Indikatoren, wenn notig, so umkodiert, dass hohe Werte der EU-Position entsprechen. 14 Insgesamt ist die Korrelation der beiden Indikatoren mit 0,117 (Spearman's Rho) nicht ausgesprochen hoch. Deutlich besser ist die Ubereinstimmung mit dem einzelnen Erziehungsziel „Hart arbeiten'' (Spearman's Rho von 0,209).
4.2 Die Einstellimgen der Burger im Bereich der Okonomie
145
widerlegt. Alle exsozialistischen Staaten (inklusive Ostdeutschlands) liegen deutlich iiber dem EU-Durchschnitt, die meisten sogar liber dem leistimgsorientiertesten Land der Gruppe der alten Mitgliedslander. Wir kommen bei der Erklariong der Landerunterschiede in Abschnitt Vier auf diese Fragen zuriick. Grafik 4.3:
Generalisiertes Vertrauen: „Man kann den meisten Menschen vertrauen" (Zustimmung in %)
146
4. Wirtschaftsvorstelliingen in der erweiterten EU
b. Vertrauen: Die zweite wichtige Dimension individueller Wirtschaftseinstellimgen bildet das generalisierte Vertrauen. Wir haben es durch folgende Frage gemessen: „Wurden Sie ganz allgemein sagen, dafi man den meisten Menschen vertrauen kann, oder dafi man da nicht vorsichtig genug sein kann?". Die Befragten mussten sich fiir eine der beiden Alternativen entscheiden. In Grafik 4.3 sind die Werte fiir die verschiedenen Lander abgetragen: Auch bei der Frage nach dem Vertrauen in die Mitmenschen zeigen sich enorme Landerunterschiede. Wiederum belegen die skandinavischen Lander den einen Extrempol, diesmal allerdings die EU-Position unterstiitzend. In Danemark, Schweden, Finnland, aber auch in den Niederlanden wird den Mitbiirgern am starksten vertraut. Das geringste Vertrauen findet sich in der Tiirkei. Sieht man sich die vier Aggregatsgruppen an, so zeigt sich ein schon aus den vorherigen Kapiteln des Buches bekanntes Bild: Die alten EU-Mitglieder weisen das hochste Vertrauen auf (38 %), gefolgt von den Landern der ersten (21 %) und der zweiten Beitrittsrunde (19 %). Die Tiirkei bildet mit unter 7 % der Biirger, die ihren Mitmenschen vertrauen, das Schlusslicht. Die Differenzen innerhalb der Aggregatsgruppen sind allerdings betrachtlich.
4.2.2 Einstellungen zur Wirtschaftsordnung Wir orientieren uns bei der Analyse der Einstellungen der Biirger zu den Wirtschaftsordnungsvorstellungen der EU an den drei erlauterten Dimensionen Wettbewerb, Marktoffenheit und Rolle des Staates. a. Wettbewerb: Wie oben dargestellt, bildet der offene und freie Wettbewerb ein zentrales Merkmal der EU-Wirtschaftsvorstellungen. Fiir die Uberpriifung, ob diese Vorstellung durch erne positive Wettbewerbsorientierung der Biirger der EU gestiitzt wird, liegen zwei Indikatoren vor. Der erste erfragt direkt die Einstellungen der Biirger zum Wettbewerb. Auf einer zehnstufigen Skala konnten die Befragten angeben, inwieweit sie zu einer der beiden vorgegebenen Antwortalternativen tendierten: „Wettbewerb ist gut. Er bringt die Menschen dazu, hart zu arbeiten und
4.2 Die Einstelliingen der Burger im Bereich der Okonomie
147
neue Ideen zu entwickeln." (10) bzw. „Wettbewerb ist schadlich. Er bringt das Schlechte im Menschen zum Vorschein." (1). Die folgende Grafik weist die Landermittelwerte aus. Sieht man sich zunachst die Aggregate an, so erkennt man, dass die Lander der beiden Beitrittsrunden und die Tiirkei wettbewerbsorientierter sind als die bisherigen Mitglieder. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Landern sind aber insgesamt nicht sehr ausgepragt. Alle Lander sprechen sich mehrheitlich fiir den Wettbewerb aus. Am starksten tut dies Rumanien, gefolgt von Malta, der Tschechischen Republik, Osterreich und Slowenien. Am wenigsten stark findet man die Wettbewerbsorientierung in den BeNeLux-Landern und Frankreich. Bis auf Rumanien, sowie (wenn auch knapp) Malta imd Tschechien, liegen damit alle Lander in der bisherigen Spannweite der EU. Das zweite Item erfragt die Einstellungen zum Wettbewerb indirekt. Zunachst wurde eine Situation geschildert, die dann von den Befragten beurteilt werden sollte. „Zwei Sekretarinnen sind gleich alt und tun praktisch die gleiche Arbeit, aber eines Tages stellt die eine fest, daC die andere 400 DM im Monat mehr bekommt. Die besser bezahlte Sekretarin ist jedoch tiichtiger, zuverlassiger und arbeitet rascher. Halten Sie es fiir gerecht, dafi eine mehr bekommt, oder halten Sie es nicht fiir gerecht?". Wettbewerb impliziert, dass das beste Produkt am Markt auch den besten Preis erzielt. Insofern bedeutet eine hohe Zustimmung, dass die ungleiche Bezahlung fair sei, auch eine hohe Zustimmung zum Wettbewerb. Grafik 4.5 zeigt die Anteile der Bevdlkerungen, die zustimmen, in Prozent. Insgesamt zeigt sich ein ahnliches Bild wie bei der ersten Frage. Alle Lander stimmen mehrheitlich zu, dass die bessere Sekretarin auch mehr Geld verdienen soil und unterstiitzen somit die EU-Position. Die meisten Lander, die sich beim ersten Indikator am starksten fiir Wettbewerb ausgesprochen haben, finden sich auch hier in der Spitzengruppe: Tschechien, die Slowakei, Bulgarien, Rumanien, Slowenien und Osterreich. Auch auf der eher wettbewerbsskeptischen Seite gibt es Ubereinstimmungen zwischen den beiden Indikatoren (Belgien, Niederlande, Spanien und Portugal). Entsprechend lasst sich auch beim zweiten Indikator
148
4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
eine leichte Tendenz der Beitrittslander fiir mehr Wettbewerb erkennen; dies gilt vor allem fiir die Lander der zweiten Beitrittsrimde. Grafik 4.4:
Wettbewerbsorientierung 1: „ Wettbewerb ist gut versus Wettbewerb ist schadlich" (Mittelwert)
4.2 Die Einstellungen der Burger im Bereich der Okonomie Grafik 4.5:
149
Wettbewerbsorientierung 2: „Leisttingsangepasste Bezahlur\g: Fair" (in %)
Insgesamt kann man festhalten, dass die Wettbewerbsorientierung der EU in alien Landern mehrheitlich unterstiitzt wird, dies allerdings in einem etwas unterschiedlichem Mafie. Die osteuropaischen Beitrittslander weisen tendenziell eine hohere Wettbewerbsorientierung auf, die
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
BeNeLux-Staaten imd die siidwesteuropaischen Lander dagegen eine geringere. b. Ojfenheit des Marktes: Die Offenheit der Markte innerhalb des Binnenmarktes in den vier Bereichen Personen-, Waren-, Dienstleistungsund Kapitalverkehr bildet das zweite Merkmal des EUWirtschaftsskripts. In den uns vorliegenden Daten der Europaischen Wertestudie gibt es lediglich fiir den Bereich des Arbeitsmarktes, also des freien Personenverkehrs, einen Indikator, der die Einstellungen der Biirger zur Marktoffenheit erfragt. Der Arbeitsmarkt ist allerdings insofern eine gute Messung dieser Dimension, da hier die Konkurrenz aus dem Ausland im Prinzip jeden Burger treffen kann. Die Frageformulierung lautete: „Sagen Sie mir bitte zur folgenden Aussage, ob Sie zustimmen oder nicht zustimmen: Wenn die Arbeitsplatze knapp sind, sollten die Arbeitgeber Deutsche (bzw. die jeweilige Nationalitat) gegeniiber Auslandern vorziehen". Geantwortet werden konnte auf einer dreistufigen Skala mit „stimme zu", „stimme nicht zu" und „weder noch". Die Frage ist relativ restriktiv formuliert, da sie nach der Marktoffenheit in Krisenzeiten fragt. Eine Zustimmung bedeutet eine Zustimmung zur MarktschlielSung und damit die Ablehnung der EU-Position. In der folgenden Grafik sind deshalb die Prozentangaben fiir die Kategorie „stimme nicht zu" fiir die Lander aufgefiihrt. Wahrend die Wettbewerbsorientierung der EU von alien Landern mehrheitlich unterstiitzt wurde, sieht dies bei dem Prinzip der Marktoffenheit deutlich anders aus. In alien Landergruppen findet eine Offnung der Markte mehrheitlich keine Zustimmung. Allerdings fallt das Niveau der Ablehnung recht unterschiedlich aus. Wahrend sich in den alten Mitgliedslandern der EU knapp 40 % fiir offene Arbeitsmarkte aussprechen, sind es in den Landern der beiden Beitrittsrunden jeweils nur gut 10 %. Die Tiirkei liegt mit einem Drittel Zustimmung auf einem mittleren Niveau.
4.2 Die Einstellimgen der Burger im Bereich der Okonomie Grafik 4.6:
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Einstellimgen zur Offenheit des Arbeitsmarktes: „Inlander sollten gegeniiber Auslandern bevorzugt werden" (Ablehnung in %)
Auch hier zeigen sich deutliche Landerunterschiede innerhalb der vier Gruppen. So findet sich in Schweden, den Niederlanden, Danemark und Luxemburg eine Mehrheit fiir die Offenheit des Arbeitsmarktes. Nur knapp verfehlt wird die Mehrheit von Belgien und Estland. Letzteres ist
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
auch der einzige Beitrittskandidat, der den Durchschnitt der alten EUMitglieder erreicht.^^ Nicht einmal 5 % Unterstiitzung fiir die Offenheit des Marktes finden sich dagegen in Litauen, Polen imd Malta. Nun bezieht sich der verwendete Indikator auf Auslander insgesamt, die Marktoffenheit der EU-Position aber auf den europaischen Binnenmarkt. Es konnte sein, dass die Befragten mit dem Begriff „Auslander" eher Personen von aufierhalb der EU assoziieren, sich aber bei entsprechender Frageformulierung nicht gegen eine innereuropaische Offnung des Arbeitsmarktes aussprechen wiirden. Gliicklicherweise lasst sich diese Vermutung anhand einer Frage aus einem anderen Datensatz, namlich dem Eurobarometer Nr. 53 aus dem Jahr 2000, zumindest tendenziell iiberpriifen.^^ Dort wurde gefragt, ob man verschiedene Personengruppen, die im jeweiligen Befragungsland arbeiten wollen, zulassen sollte oder nicht. Als Gruppen wurden Moslems, Personen aus Osteuropa, aus Krisengebieten, politisches Asyl Suchende sowie Personen aus anderen EU-Landern genannt. Es zeigt sich, dass Personen, welche die Marktoffenheit unterstiitzen, dies fiir alle abgefragten Gruppen in relativ gleicher Weise tun. Bildet man einen additiven Index aus den verschiedenen Fragen, so ergibt sich ein erstaunlich hohes Cronbach's Alpha von 0,89. Man kann also davon ausgehen, dass unser Indikator eine zuverlassige Messung fiir die EU-Position der Offenheit des Binnenmarktes ist. c. Staatliche Kontrolle der Wirtschaft: Wie wir oben ausgefiihrt haben, ist die Position der EU zur RoUe des Staates nicht ganz eindeutig. Einerseits setzt die EU auf Liberalisierung und eine mdglichst unregulierte Entwicklung der Wirtschaft. Andererseits sieht die EU aber auch ihre Aufgabe darin, das okonomische Umfeld durch politische Mafinahmen wirtschafts- und wettbewerbsfreimdlich zu gestalten und die europai-
15 Einen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Werten und realem okonomischem Verhalten gibt die Tatsache, dass Estland das einzige exsozialistische Land ist, welches im Index of Economic Freedom 2003 der Heritage Foundation als freie Marktwirtschaft eingestuft wird (Pejovich 2003). 16 Leider umfasst der Datensatz nicht alle hier analysierten Lander. Auf eine ausfiihrlichere Prasentation der Daten wird daher verzichtet.
4.2 Die Einstellimgen der Burger im Bereich der Okonomie
153
sche Wirtschaft im Aufienverhaltnis durch staatliche Interventionen zu starken. Grafik 4.7:
Staatliche Intervention in die Wirtschaft (Mittelwert)
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
Zur Operationalisierung der Einstellungen zur RoUe des Staates enthalt die Wertestudie folgende Frage. Die Befragten konnten auf einer zehnstufigen Skala zwischen zwei Statements wahlen: „Der Staat sollte den Untemehmen mehr Freiheit lassen" (10) bzw. „Der Staat sollte die Untemehmen besser kontrollieren" (1). Grafik 4.7 zeigt die Mittelwerte der Lander. Die Daten zeigen, dass sich die Ambivalenz der EU-Position auch in den Einstellungen der Biirger wiederfinden lasst. Kein Land nimmt eine wirkliche Extremposition ein. Betrachtet man zuerst die Aggregatskategorien, so sieht man, dass der Zuspruch zu einem schlanken Staat bei den Blirgern der alten EU-Lander am starksten ist, wahrend er bei den Biirgern der Tiirkei am geringsten ist. Die Lander der ersten und zweiten Beitrittsrimde nehmen eine Mittelposition ein. Allerdings gibt es auch hier wieder die bekannten Landerunterschiede. Die skandinavischen Lander, aber auch Osterreich und Westdeutschland, unterstiitzen die Liberalisierung am starksten. Auch in Litauen, Malta und in Bulgarien finden sich Mehrheiten fiir diese Position. Dagegen sprechen sich bei den Altmitgliedern Belgien, Griechenland und vor allem Luxemburg fiir einen grofieren Einfluss des Staates aus. Die starkste Intervention des Staates in die Wirtschaft wlinschen sich die Biirger in Lettland, der Slowakei und der Tiirkei. Mit dem Beitritt der osteuropaischen Lander diirfte sich somit eine kleine, aber doch entscheidende Verschiebung der Interessen in Richtung auf mehr Staat ergeben. Fassen wir die Ergebnisse der deskriptiven Analysen zusammen: Im Unterschied zu den bisher analysierten Wertebereichen zeichnet sich im Hinblick auf die Unterstiitzung der Wirtschaftsvorstellungen der EU kein einheitliches Bild ab. In manchen Dimensionen werden die Vorstellungen der EU von den Biirgern der alten Mitgliedslander starker unterstiitzt, in anderen Dimensionen finden sie grol?eren Zuspruch bei den Beitrittslandern. In der Dimension der individuellen Leistungsorientierung und der Wettbewerbsorientierung zeigt sich, dass die Biirger der Beitrittslander leistungs- und wettbewerbsorientierter sind als die Biirger der alten EU. Umgekehrt verhalt es sich mit den Einstellungen zur Offenheit des Marktes, zur RoUe des Staates und dem Vertrauen zu den Mitbiirgern. Die
4.3 Klassifikation beziiglich der Wirtschaftsvorstellungen
155
Idee der Offenheit des Marktes wird von den bisherigen Mitgliedern wesentlich starker unterstiitzt als von den Beitrittskandidaten. Das gleiche gilt fiir das generalisierte Vertrauen in die Mitmenschen. Auch die Vorstellung der EU von einer eher passiven Rolle des Staates findet in den westeuropaischen Landern eine starkere Unterstiitzung, wahrend sich in den Landern beider Beitrittsrunden Mehrheiten fiir einen starkeren Eingriff der Politik in die Wirtschaft finden. Die Tiirkei liegt bei den meisten Fragen eher im Mittelfeld. Trotz dieser auf den ersten Blick ambivalenten deskriptiven Befunde soil im folgenden Abschnitt die Nahe bzw. Feme der einzelnen Lander zur Position der EU bestimmt werden.
4.3 Klassifikation der Lander beziiglich ihrer Wirtschaftsvorstellungen Das Ziel unserer Analysen ist die Bestimmung des Ausmafies, mit dem die Wirtschaftsvorstellungen der Europaischen Union von den Biirgerinnen und Biirgern einer erweiterten Gemeinschaft unterstiitzt werden. Dazu wollen wir die Einzelergebnisse der verschiedenen Indikatoren mit Hilfe einer Diskriminanzanalyse zu einem Gesamtbild tntegrieren. Anders als in den meisten anderen Wertebereichen, die wir analysieren, hat sich in den deskriptiven Befunden keine Landergruppe herausgeschalt, welche das EU-Ideal in besonders guter Weise vertritt und dementsprechend als Gruppe der „Benchmark-Countries" dienen konnte. Statt dessen lassen sich zwei Landergruppen erkennen, die unterschiedliche Aspekte des EU-Ideals besonders stark unterstiitzen. Auf der einen Seite sind dies Schweden, Danemark und die Niederlande. Sie nehmen in den Bereichen „Offenheit des Marktes" und „Vertrauen", die skandinavischen Lander zusatzlich auch in der Dimension „Staatliche Kontrolle der Wirtschaft" einen Platz in der Spitzengruppe ein.^^ Qi^ Biirger dieser Lander unterstiitzen die „Offnungsphilosophie" der EU: Offenheit der Markte, Offenheit gegeniiber den Mitbiirgern (Vertrauen), 17 Die Ergebnisse verandern sich praktisch nicht, wenn man die Niederlande aufgrund ihrer nur mittleren Position bei diesem Item herauslasst.
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4. Wirtschaftsvorstellungen in der erweiterten EU
liberale Bedingimgen fiir unternehmerisches Handeln. Auf der anderen Seite sind dies (erstaunlicherweise) die beiden Lander der zweiten Beitrittsrunde Bulgarien und Rumanien. Die von der EU propagierte Wettbewerbs- und Leistungsorientierung ist in diesen beiden Landern am starksten ausgepragt. Im Kapitel zur Religion haben wir mit Hilfe der Diskriminanzanalyse zwischen zwei Gruppen (EU-Ideal und Nicht-EU-Ideal) unterschieden. Die Diskriminanzanalyse erlaubt aber die gleichzeitige Beriicksichtigung auch mehrerer Gruppen. Sie bestimmt dann bei N Gruppen maximal N-1 Diskriminanzfunktionen. Da wir zwei Gruppen von BenchmarkCountries haben, berechnen wir in der folgenden Analyse zwei Funktionen, die zwischen diesen Benchmark-Countries und den restlichen europaischen Staaten trennen. In der Analyse bilden also Schweden, Danemark und die Niederlande die Benchmark-Gruppe 1, Bulgarien und Rumanien die Benchmark-Gruppe 2 und alle restlichen Lander Gruppe 3. An Variablen beriicksichtigen wir praktisch alle oben analysierten Fragen:^^ Fiir die Leistungsorientierung nehmen wir den ErziehungszieleIndex in die Analyse auf, fiir das Vertrauen die Frage „Man kann den meisten Menschen vertrauen". Fiir die Einstellungen zur Wirtschaftsordnung gehen die beiden Items fiir den freien Wettbewerb („Wettbewerb ist gut", „Leistungsangepasste Bezahlung") sowie die Einstellungen zu den Statements „ Inlander soUen gegeniiber Auslandern bevorzugt werden" und „Staat soUte Untemehmen mehr Freiheit lassen" in die Analyse ein.i9
Das Ergebnis der Diskriminanzanalyse ist in Tabelle 4.1 zusammengefasst.
1^ Der zweite Leistungsindikator („Arbeit kommt immer zuerst'') muss unberiicksichtigt bleiben, da fiir Osterreich keine vergleichbaren Daten vorliegen (vgl. Anm. Grafik 4.2). 19 Da bei der Frage nach der Offenheit des Arbeitsmarktes die Antwortaltemative „weder noch'' inhaltlich nicht interpretierbar ist, wurde sie in der Analyse nicht beriicksichtigt.
4.3 Klassifikation beziiglich der Wirtschaftsvorstellungen Tabelle 4.1:
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Trennimg zwischen den Benchmark-Countries und anderen Landern im Hinblick auf ihre Wirtschaftsvorstellungen Diskriminanzfunktion „Offnungsdimension"^)
Diskriminanzfunktion „Leistungsdimension"^)
Leistungsorientierung Index leistungsorientierter Erziehungsziele ,789 -,183 Vertrauen „Man kann den meisten Menschen vertrauen'' ,604 Wettbewerb „Wettbewerb ist gut'' ,189 ,588 „Leistungsangepasste Bezahlung" (Dummy,316 Codierung mit ,unfair' als Referenzkategorie) Offenheit der Markte ^Inlander sollen gegeniiber Auslandern bevorzugt ,809 werden" (Dummy-Codierung mit „stimme zu" als Referenzkategorie) Rolle des Staates „Staat soUte mehr Freiheit lassen" ,268 Giitemafie der Diskriminanzanalyse ,287 Eigenvalue ,018 Kanonische Korrelation ,472 ,132 % der durch die Funktion erklarten Varianz ^) 75,6 24,4 Gruppenmittelwerte der Diskriminanzfunktionen Benchmark 1 (SE, DK, NL) 1,336 -,575 Benchmark 2 (BG, RO) -,432 ,738 Gruppe 3 (restliche Lander) -,147 ,017 Klassifikationsergebnisse'^) Gruppen (vorhergesagt) Benchmark 1 Benchmark 2 Gruppe 3 Benchmark 1 (SE, DK, NL) 80,4 % (1880) 6,3 % (147) 13,3 % (312) Benchmark 2 (BG, RO) 6,9 % (98) 75,8 % (1076) 17,3 % (246) 23,1 % (3954) 44,6 % (7630) 32,3 % (5518) Gruppe 3 (restl. Lander) Korrekt klassifiziert 40,6 % *) Gemeinsame rotierte Korrelationen innerhalb der Gruppen zwischen Diskriminanzvariablen und standardisierten kanonischen Diskriminanzfunktionen. Werte unter 0,1 werden nicht ausgewiesen. ^) Die Varianz bezieht sich auf die rotierte Losung.