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German Pages 238 [235] Year 2003
Jens Timmermann Sittengesetz und Freiheit
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Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler, Wolfgang Wieland
Band 60
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003
Sittengesetz und Freiheit Untersuchungen zu Immanuel Kants Theorie des freien Willens von
Jens Timmermann
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2003
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017699-8 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
쑔 Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Meinen Eltern
Vorwort Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 1997/98 von der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen angenommen wurde. Zum Gelingen dieser Arbeit haben Menschen und Institutionen beigetragen, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich herzlich für die Förderung meines Studiums in Göttingen und Oxford und für ihr Promotionsstipendium im Anschluß an die reguläre Studienzeit. Bei den Herausgebern der Quellen und Studien bedanke ich mich für die Aufnahme des Buches in diese Reihe. Dank gebührt meinen Kommilitonen in Göttingen und Oxford für lange Abende philosophischer Diskussionen; vor allem jedoch meinem Doktorvater Herrn Professor Günther Patzig und Herrn Professor Konrad Cramer, die diese Arbeit betreut und durch intensive Gespräche, Anregungen und Randnotizen vorangebracht haben. Ihre freundschaftliche Förderung hat weit über die Seiten dieses Buches hinaus meinen philosophischen Werdegang begleitet und geprägt.
Deptartment of Moral Philosophy, St. Andrews, im Frühjahr 2003
Jens Timmermann
Inhalt Vorwort ................................................................................................. VII Vorbemerkungen zu diesem Buch ....................................................... X I Einleitung §1. Der menschliche Wille ............................................................ 1 §2. Grenzen der Freiheit ............................................................... 6 §3. Freiheitsbegriffe ....................................................................... 11 §4. Handlungstheorie: ein erster Versuch ................................... 15 1. Teil. Grundlagen: Freiheit und Wille Kapitel I. Freiheit und Indifferenz §5. Die Unzulänglichkeit negativer Freiheit ............................... 20 §6. Freiheit und Moral .................................................................. 26 §7. Handlungsalternativen ............................................................ 45 Kapitel II. Der Wille als »das Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen, d.i. nach Prinzipien, zu handeln« §8. Grundlegung 412: Deutungen ................................................ 66 §9. Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen und nach Zwecken ................................................................... 73 2. Teil. Willensfreiheit und Moralpsychologie Kapitel III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur §10. Die Antinomie ......................................................................... 82 §11. Auflösung I: Prolegomena ...................................................... 103 §12. Auflösung II: Kritik der reinen Vernunft .............................. 114 §13. Freiheit und Naturdeterminismus ......................................... 127 §14. Kritische Bewertung ................................................................ 135 §15. Exkurs: »Praktische Freiheit« im »Kanon« ........................... 140
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Inhalt
Kapitel IV. Maximen §16. Urteil, Willkür, Autonomie .....................................................145 §17. Maximenbegriffe ......................................................................149 §18. Bewußtsein und Geltung ........................................................ 154 §19. Regeln und Maximen ...............................................................159 §20. Kants Maximenethik ............................................................... 173 §21. Eine Notiz zur Begriffsgeschichte ..........................................179 §22. Maximen und Charakter ......................................................... 181 §23. Konsequenzen ..........................................................................184 Kapitel V. Moralische Motivation: das Phänomen der Achtung §24. Präsenz und Durchsetzungskraft ...........................................189 §25. Achtung als Triebfeder der Sittlichkeit .................................. 194 Literaturverzeichnis ............................................................................... 208 Personenregister .................................................................................... 219 Sachregister ............................................................................................ 221
Vorbemerkungen zu diesem Buch Dies Buch behandelt eine Reihe von Themen, die für das Verständnis und den philosophischen Nutzen der Ethik Kants eine große Rolle spielen.1 Die ersten beiden Kapitel befassen sich mit grundlegenden Fragen zur Freiheitslehre. Kapitel I fragt danach, was »Freiheit« für Kant überhaupt bedeutet; denn da die Bedeutung des Begriffs menschlicher Willensfreiheit intuitiv klar zu sein scheint, wird sie in der Literatur zu Kant wie in systematischen Erörterungen des Themas allzuoft übergangen. Doch die Untersuchung vieler Äußerungen Kants zeigt, daß sich sein Freiheitsverständnis von demjenigen, das im allgemeinen in der philosophischen Diskussion des Problems vorausgesetzt wird, deutlich unterscheidet; denn Freiheit bedeutet für Kant, wenn nicht allein: daß man moralisch handelt, so doch: daß man vernünftig handeln kann. Es wird gezeigt, daß Kants asymmetrischer Freiheitsbegriff mit unserem Alltagsverständnis moralischer Freiheit übereinstimmt, was ihn über den Bereich der Kant-Interpreation hinaus als Grundlage systematischer Überlegungen empfiehlt. Kapitel II untersucht ein in der Literatur kontrovers diskutiertes Problem der Kantischen Handlungstheorie: Was ist gemeint, wenn es in der Grundlegung heißt, der Wille sei das Vermögen, »nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien, zu handeln«? Und was ist der menschliche Wille überhaupt für Kant? Nachdem diese beiden Grundbegriffe geklärt sind, werden drei weiterführende, für das Verständnis von Kants Theorie der Willensfreiheit wie für seine Ethik und Moralpsychologie im ganzen wichtige Bereiche erörtert. Kapitel III wendet sich der notorisch schwierigen Frage zu, wie Kant sich den Ausgleich zwischen der in praktischer Absicht notwendigen transzendentalen Willensfreiheit und der für die theoretische Philosophie unverzichtbaren naturgesetzlichen Ordnung der Welt vorstellt. Neben dem locus classicus, dem dritten »Widerstreit der transzendentalen Ideen« der Kritik der reinen Vernunft, werden Texte herangezogen, die zwar unser Verständnis der Auflösung erheblich voranbringen, dann jedoch auch zeigen, daß diese Aufgabe von Kant nicht vollkommen befriedigend gelöst werden 1
Es stellt sich damit in die Tradition von Henry Allisons Buch Kant’s Theory of Freedom, dessen Lektüre entscheidend zu seiner Entstehung beigetragen hat.
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Vorbemerkungen
konnte. Im Anschluß wird, in Kapitel IV, Kants Theorie der Maximen untersucht; die Wahl der Maxime durch die Willkür (d.h. die Wahl des subjektiven Prinzips, aus dem heraus Handlungen erfolgen) ist für Kant der eigentliche Akt absoluter Spontaneität, der durch transzendentale Freiheit gesichert werden soll. Doch der Maximenbegriff Kants ist vielschichtiger als bisher vermutet. Die nötigen Differenzierungen ergeben ein klareres Bild einer »Maximenethik«, die von vielen Absurditäten frei ist, welche der Ethik Kants — vor allem der Grundformel des kategorischen Imperativs — gemeinhin vorgeworfen werden. Zuletzt wird in Kapitel V das Phänomen betrachtet, das auf moralpsychologischer Ebene die absolute Freiheit des menschlichen Willens von natürlicher Determination sichern soll: die Achtung für das Sittengesetz. Denn das Motiv der Achtung garantiert nach Kant, daß wir in allen moralisch relevanten Situationen das tun können, was wir für moralisch richtig erkennen, d.h. im höchsten Maße frei und vernünftig handeln können. Das Bild vom Willen als Waage wird abschließend bemüht, um die Kantische Theorie der Willensfreiheit zusammenfassend zu illustrieren. Wie dieser kurze Überblick bereits andeutet, ist die Behandlung des Themas weitgehend auf die Rekonstruktion und Prüfung philosophischer Argumente beschränkt. Die historischen Vorbilder der Freiheitslehre Kants werden nur gelegentlich erwähnt, die Wirkungsgeschichte der Kantischen Theorie nur dort angeführt, wo es das philosophische Verständnis des Kant-Textes erleichtert. Die Entwicklungslinie der Kantischen Theorie wird an einigen Stellen vorsichtig neu gezeichnet. Dies ist jedoch nicht der Hauptzweck der Arbeit, zumal Kant seit der Abfassung der Kritik der reinen Vernunft seine Meinung nur in vergleichsweise wenigen Punkten geändert zu haben scheint und er einen Gutteil der relevanten Auffassungen zum Freiheitsproblem bereits in der vorkritischen Zeit vertreten hat. Eine Rekonstruktion des philosophischen Gehalts der Kantischen Theorie soll uns jedoch auch eine genauere Einschätzung der Positionen ermöglichen, die wir in systematischer Sicht vertreten möchten. So können Interpretation klassischer philosophischer Texte und systematische Überlegungen einander befruchten. Im ganzen wurde auf eine möglichst breite Textgrundlage geachtet. Neben den klassischen publizierten Schriften werden die sog. »Reflexionen« und die Vorarbeiten zu den zu Kants Lebzeiten gedruckten Schriften aus dem Nachlaß Kants herangezogen. Zwar ist dabei Vorsicht geboten, da sie z.T. offenbar Gedanken enthalten, deren Kant sich nicht ausreichend sicher war, um sie in den Druck zu geben. Doch auch dies kann wichtig sein. Zudem spricht Kant in einigen von ihnen — vielleicht bedingt durch den
Vorbemerkungen
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Mangel an Platz, den ihm seine Handexemplare ließen — so konzis und prägnant wie selten in den Veröffentlichungen. Ein Zitat aus Reflexion 7229 (zwischen 1780 und 1789) mag dies verdeutlichen; dort schreibt Kant: »Der Wille aber als frey muß determinirt seyn, folglich nur so fern er allem Wollen zur Regel dienen kan.« Es enthält in nuce die Kernsätze der Kantischen Freiheitslehre. Notiz zur Zitierweise. Zitiert wird aus den Kantischen Schriften im allgemeinen unter Angabe der Bandnummer und der Seitenzahl der Akademie-Ausgabe (etwa: »IV:412«). Ausnahmen bilden Zitate aus den drei Kritiken, denen die Seitenzahl der ersten oder zweiten Originalausgabe (»A« bzw. »B«) beigefügt ist. Reflexionen sind mit einem »R« gekennzeichnet. Die Orthographie der ersten neun Bände der Akademie wurde vorsichtig dem Stand der Rechtschreibung vor der sogenannten Rechtschreibreform angenähert; sie ist weder unsere noch die Kantische. Dagegen werden Zitate aus den Bänden X ff. der Akademie-Ausgabe »diplomatisch« wiedergegeben, wie auch die Herausgeber dieser Bände buchstabengetreu den Wortlaut der Manuskripte bieten. Kants Hervorhebungen sind generell durch S p e r r s c h r i f t, die des Autors dieses Buches im Kantischen Text durch Kursivschrift gekennzeichnet. So sind doppelte Hervorhebungen möglich, und es ist auf den ersten Blick ersichtlich, wer für sie verantwortlich ist. Fremdsprachliche, v.a. lateinische, Ausdrücke sind ebenfalls kursiv gesetzt. Bei Sekundärliteratur wird der Name des Autors und der Titel des Buches bzw. des Aufsatzes angegeben, ggf. in gekürzter Form. Titel von Monographien, Sammelbänden etc. sind kursiviert, Aufsatztitel und Kapitelüberschriften in Anführungszeichen eingeschlossen. Die genauen bibliographischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. Hinweise auf Paragraphen beziehen sich, sofern nicht anderes vermerkt, als Querverweise auf die Paragraphen dieses Buches.
Einleitung §1. Der menschliche Wille 1.1 Was bedeutet es, frei zu handeln? Welche Voraussetzungen müssen vorliegen? Welche Konsequenzen ergeben sich? In Kants Schriften finden sich verschiedene Definitionen der »praktischen«, d.h. der aufs Handeln bezogenen Freiheit. Eine davon, vom Anfang der Auflösung des scheinbaren Widerspruchs von Freiheit und Naturkausalität in der Kritik der reinen Vernunft, lautet wie folgt: Die F r e i h e i t i m p r a k t i s c h e n Ve r s t a n d e ist die Unabhängigkeit der Willkür von der N ö t i g u n g durch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkür ist s i n n l i c h, so fern sie p a t h o l o g i s c h (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) a f fi z i e r t ist; sie heißt t i e r i s c h (arbitrium brutum), wenn sie p a t h o l o g i s c h n e c e s s i t i e r t werden kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen. (Kritik der reinen Vernunft, A533 f./B561 f.)1
Was verbirgt sich hinter diesem auf den ersten Blick verwirrenden Gestrüpp von Terminologie? Daß die menschliche Willkür »sinnlich affiziert« ist, bedeutet erstens, a fortiori, daß Menschen überhaupt sinnliche, d.h. im weitesten Sinne körperliche, Bedürfnisse besitzen, die auf ihre Handlungen2 Einfluß haben können. Dies geschieht bisweilen auf Kosten der — praktischen — Vernunft. Das mag uns trivial erscheinen, für Kant ist es das nicht. Denn beispielsweise Gott, der in der Ethik Kants oft als Gedankenbeispiel dient, besitzt nach der allgemeinen, von Kant geteilten Vorstellung einen heiligen 1
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Parallelstellen: Kritik der praktischen Vernunft, A57; Metaphysik der Sitten, »Rechtslehre«, Einleitung, VI:213. Ferner ist die Passage in der Kritik der reinen Vernunft, »Methodenlehre«, A801/B829 ff., zu nennen; diese Diskussion der »praktischen Freiheit« birgt wohlbekannte interpretatorische Schwierigkeiten, die unten in einem Exkurs (§15) gesondert diskutiert werden. Zum Handlungsbegriff bei Kant vgl. v. a. Marcus Willaschek, Praktische Vernunft, 37–41. Willaschek bemerkt, Kant habe den Begriff »aus der deutschen schulmetaphysischen Tradition« übernommen, in der er keineswegs auf menschliche Handlungen eingeschränkt ist. Handlung ist vielmehr die Bestimmung einer Substanz als Ursache (S. 38, vgl. Metaphysik Pölitz, XXVIII:565).
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Einleitung
Willen.1 Er hat also keine sinnlichen Bedürfnisse oder Neigungen, die mit seiner Vernunft in Konflikt geraten könnten. Selbst wenn wir uns solchen theologischen Vorstellungen nicht anschließen wollen, die auch von Kant mehr zu Argumentationszwecken angeführt werden als mit dem Anspruch auf dogmatische theologische Gewißheit, wird es im Verlauf dieser Untersuchung nützlich sein, als Grenz- und Kontrastfall einerseits einen reinen, heiligen Willen im Blick zu haben, in dem die Vernunft von widerstrebenden Bedürfnissen ungehindert zum Zuge kommt, andererseits ein arbitrium brutum, bei dem keine Vernunft das Spiel natürlicher Triebe beeinflußt.2 Von ganz anderer Art als der Wille Gottes oder die Willkür der Tiere ist der Wille erwachsener Menschen. Zweitens folgt daraus, daß unser Wille laut Kants Definition ein »sinnlich affizierter« Wille genannt wird, etwas weniger Offensichtliches. Die Sinnlichkeit macht ihre Ansprüche nicht nur geltend, sie versucht diese Geltung auch vor der Vernunft anzumelden. Da die sinnlichen Bedürfnisse nicht immer mit der Vernunft übereinstimmen, birgt gerade diese Eigenschaft unseres Willens große Gefahren für eine vernünftige Lebensführung. Beim Handeln regt sich zunächst die Sinnlichkeit, dann reagiert die Vernunft, die das letzte Wort haben kann und soll. Es zeigt sich hier eine Parallele zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie Kants:3 Wie all unsere Erkenntnis, so beginnt auch all unser Handeln mit der Erfahrung; und man mag fortsetzen, daß es ebenso problematisch ist anzunehmen, unser Begehrungsvermögen (also unser Wille) wie unser Erkenntnisvermögen, könne auf andere Weise »zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren« (Kritik der reinen Vernunft B1).4
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Wenn man bei ihm überhaupt vernünftigerweise von einem Willen sprechen kann. In den Prolegomena äußert Kant im Rahmen der Erörterung des deistischen Gottesbegriffes Bedenken, die in diese Richtung weisen: Von einem göttlichen Willen haben wir im Grunde keinen Begriff, und Gott einen Willen zuzuschreiben, wie wir ihn aus eigener Erfahrung kennen, scheint erst recht unangemessen (vgl. §57, IV:356). Vorsichtig formuliert Kant in der um 1770 entstandenen Reflexion 4218: »Wenn in Gott eine Willkühr ist, so ists freye Willkühr.« An vielen anderen Stellen jedoch spricht er scheinbar ohne Vorbehalte vom »göttlichen Willen«. Man beachte, daß der tierische Wille strenggenommen nur ein Vermögen ist, in dem Entscheidungen im beschriebenen Sinn getroffen werden (arbitrium). Tiere besitzen anders als vernünftige Wesen keine voluntas. Vgl. Henry E. Allison, »Autonomy and spontaneity in Kant’s conception of the self«, S.132. Das gilt mit Einschränkungen selbst für das durch reine Vernunft »gewirkte« Gefühl der Achtung, das einerseits auf komplizierte Weise mit der Sinnlichkeit zusammenspielt (und auf diese angewiesen ist), uns jedoch andererseits als positives reines Gefühl vor große Erklärungsschwierigkeiten stellt. Vgl. Kapitel V.
§ 1. Der menschliche Wille
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Die genaue Lektüre der entsprechenden Stellen zeigt, daß die Annahme, die Sinnlichkeit mache sich zuerst — vor der Vernunft — bemerkbar, vielen Beispielen zugrunde liegt, die Kant in seinen moralphilosophischen Schriften verwendet, etwa in den Beispielen zur Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs im zweiten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Dort ist es stets so, daß die sinnliche Natur dem Akteur eine Handlungsweise (und damit implizit eine Handlungsmaxime) suggeriert, der Mensch aber »noch so weit im Besitze seiner Vernunft« ist, daß er sich z. B. »selbst fragen kann, ob es auch nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu nehmen.« Dann »versucht er: ob die Maxime seiner Handlung wohl ein allgemeines Naturgesetz werden könne«.1 Moralisches Handeln beginnt für ein Wesen, das wie wir ein arbitrium sensitivum sed liberum besitzt, damit, daß es innehält, um die Prinzipien des eigenen Handelns zu überdenken und mit vernünftigen Maßstäben zu vergleichen. Explizit macht Kant die These, die sinnlichen Neigungen regten sich zuerst, dann reagiere die Vernunft, im Triebfedernkapitel der Kritik der praktischen Vernunft. Er schreibt, die »Eigenliebe« sei »natürlich und noch vor dem moralischen Gesetze in uns rege« (A129); und wir fänden unsere Natur, als sinnlicher Wesen so beschaffen, daß die Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung, oder Furcht) sich zuerst aufdringt, und unser pathologisch bestimmbares Selbst, ob es gleich durch seine Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung ganz untauglich ist, dennoch, gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt sei. (A131)
Die »Materie des Begehrungsvermögens« sind die Zwecke und Absichten, die wir aus Neigung verfolgen möchten; wir stehen ihnen positiv oder negativ gegenüber, betrachten sie mit Hoffnung oder Furcht; und unsere »pathologisch bestimmbare«, sinnliche Seite versucht die Handlungen und ihre Prinzipien zu bestimmen, obwohl sie so zur »allgemeinen Gesetzgebung« nicht taugen, weil sie von zufälligen Umständen abhängen. Verläßlichkeit und Allgemeinheit garantiert allein die Vernunft, die nun auf die Anmaßungen der Neigung, »die doch allemal das erste Wort« (A264) hat, reagiert. Diese durchaus nicht unplausible Grundannahme erklärt den antagonistischen und rigoristischen Zug der Kantischen Ethik. Man »muß sich selbst zu klugen und sittlich guten Handlungen zwingen. Daher imperativi. Die 1
1. Beispiel, IV:421 f.; im zweiten Beispiel wird konstatiert, der Akteur habe noch »so viel Gewissen, sich zu fragen: ist es nicht unerlaubt und pflichtwidrig« etc. (IV:422); im dritten: »noch frägt er aber: ob außer der Übereinstimmung, die seine Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich hat, sie auch mit dem was man Pflicht nennt, übereinstimme.« (IV:423).
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Einleitung
Ursache ist, weil seine Willkühr auch sinnlich ist, und die erste Bewegung ist von daher« (R 6998). Ein vollkommen harmonischer Charakter, in dem Sinnlichkeit und Vernunft miteinander im Einklang sind, ist von vornherein ausgeschlossen. 1.2 Kant ist nun offensichtlich der Meinung, daß die Ansprüche der Sinnlichkeit, mögen sie sich auch zuerst bemerkbar machen und weiterhin aufdringlich nach Befriedigung verlangen, nicht mechanisch die Handlungen eines Menschen bestimmen, wie dies seiner Ansicht nach bei den Tieren geschieht.1 Die Sinnlichkeit hat bei freien Handlungen erwachsener, vernünftiger Menschen zwar allemal das erste, aber nicht das letzte Wort. Dementsprechend beschreibt er die menschliche Willkür als eine »pathologisch affizierte (obgleich dadurch nicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür« (Kritik der praktischen Vernunft A57). Der Parallelismus zwischen theoretischer und praktischer Vernunft läßt sich nun noch einen Schritt weiterführen. Denn, so mag man sagen: wenn aber gleich alles unser Handeln mit der Erfahrung anhebt, so entspringt es darum doch nicht eben alles aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein (so schreiben wir den Text weiter fort) daß selbst unser empirisch motiviertes Handeln ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Begehrungsvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt. Unverändert schließen wir an: »welchen Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur Absonderung desselben geschickt gemacht hat« (Kritik der reinen Vernunft, B1 f.). Dies ist gerade die schwierige Aufgabe der Grundlegung! Die Handlungen eines Menschen bestimmt also nicht direkt seine sinnliche Natur. Er hat offenbar die Möglichkeit, sich selbst zu bestimmen, indem er fähig ist, innezuhalten und mit Vernunft und Überlegung die Handlungsvorschläge der Sinnlichkeit zu prüfen. Er kann sie gegebenenfalls modifizieren oder ganz zurückweisen. Der Mensch wird nicht von Stimuli zum Handeln bestimmt; er hat das Vermögen, nach — vernünftigen — Motiven zu handeln. Dabei geht Kant mit der philosophischen Tradition davon aus, 1
Vgl. das folgende Zitat aus Reflexion 3855 (1764–68), in dem der Unterschied zwischen komparativer und absoluter Freiheit am Beispiel von Tier und Mensch illustriert wird: »Also beweiset alle Veränderung, aller Ursprung einen ersten Anfang und mithin freyheit. Weil aber der Anfang comparative der erste seyn kan, nemlich nach mechanischen Gesetzen. z.E. Wenn der Hund ein Aas anricht, so fängt in ihm Bewegung an, die, weil sie nach mechanischen Gesetzen nicht vom Geruch erzeugt, sondern durch rege Machung der Begierde verursacht war. Bey Thieren aber ist dieses eben so wohl eine äußere Nöthigung als in machinen; daher sie automata spiritualia heißen. aber beym Menschen ist in jedem Falle die Kette der determinirenden Ursachen abgeschnitten, und daher unterscheidet man auch das immateriale als ein principium des Lebens vom materiellen.«
§ 1. Der menschliche Wille
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daß die Vernunft das Wesentliche am Menschen ist, sein »eigentliches Selbst«, während im Vergleich dazu seine sinnliche Natur — seine Neigungen, Bedürfnisse, Begierden, Affekte, Leidenschaften etc. — das weniger Wesentliche, auch Fremde darstellt (vgl. etwa IV:457 f.). 1.3 Gibt es für diese These der philosophischen Tradition gute Gründe? Ist es nicht Ausdruck eines ungerechtfertigten und einseitigen Rationalismus, wie Kant zu fordern, die für das Menschsein vorgeblich wesentliche Vernunft, nicht die uns zwar unmittelbar nahen und höchstens auf den zweiten oder dritten Blick fremden Bedürfnisse, sollte unser Handeln bestimmen? Zwei Antworten liegen nahe, eine formale und eine inhaltliche. Erstens kann man ganz allgemein feststellen, daß Menschen später oft das bereuen, was sie ohne hinreichende Überlegung getan haben. Sie bedauern, daß sie nicht nachgedacht und der Überlegung gemäß gehandelt haben, weil sie jetzt mit den Folgen ihres unbedachten Handelns konfrontiert werden; erst dann realisieren sie, was sie getan haben. Bedauern und Reue deuten darauf hin, daß wir es am Ende doch mit der Vernunft halten und uns mit ihr identifizieren. Gegen die Lösung, die, wie man im Englischen sagt, »all things considered« die beste ist, läßt sich nichts einwenden. Damit ist noch nicht festgelegt, was im einzelnen die Vernunft gebietet. Es folgt jedoch, daß auch wir uns im Streitfall zwischen unmittelbaren Bedürfnissen und vernünftiger Überlegung trotz anfänglich entgegengesetzter Sympathien tatsächlich auf die Seite der Vernunft zu schlagen pflegen. Zweitens. Die Antwort fällt komplizierter aus, wenn wir fragen, was »vernünftig« oder »praktisch vernünftig« konkret bedeuten soll. Zunächst denkt man vielleicht an die Vernünftigkeit langfristigen Nutzens. In der Tat können die unmittelbaren Begierden dem längerfristigen Wohlergehen schaden, so daß man sich für solche Konfliktfälle eine Freiheit wünscht, wie Kant sie dem menschlichen Willen zuschreibt: die Unabhängigkeit von der Nötigung durch aktuelle »sinnliche Antriebe«. Eine Art nachträglicher Reue bezieht sich also auf Situationen, in denen wir unklug gehandelt haben. In diesem Fall scheint die Identifizierung der vernünftigen mit der richtigen und erwünschten Handlung problemlos. Eine ganz andere Art der Reue bezieht sich auf Fälle, in denen wir etwas getan haben, was wir bei rechter Überlegung für moralisch falsch halten. Auch dann wünschen wir uns, wir hätten anders gehandelt. Gerade in Situationen von moralischem Belang ist die metaphysische Frage der Freiheit von der »Nötigung durch sinnliche Antriebe« dringend. Allerdings ist weniger offensichtlich als beim Maßstab der Klugheit, daß die moralische Handlung die vernünftige Handlung ist. Kants Ethik ist ein Versuch, dies zu erklären.
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Einleitung
Die Berechtigung moralischen Interesses ist zudem leichter skeptischen Einwänden ausgeliefert als die des Eigeninteresses, zumal wir diese Einwände nicht so leicht wie Kant mit Rekurs auf ein starkes, allgemein verbreitetes moralisches Bewußtsein zurückweisen können. Doch fürs erste läßt sich feststellen, daß uns tatsächlich etwas daran liegt, nicht von unserer jeweiligen physischen und psychologischen Konstitution zum Handeln bestimmt zu werden, sondern uns ruhig und vernünftig selbst zum Handeln bestimmen zu könnnen. Die weiterführende Frage, ob wir deshalb so weit gehen sollen, die Vernunft unser »eigentliches Selbst« zu nennen und die sinnlichen Bedürfnisse als wesentlich fremd anzusehen, ist damit freilich noch nicht entschieden. Wer sich gegen diese Gleichstellung wehrt, wird auch Kants Lehre von der Autonomie (Selbstgesetzgebung) des menschlichen Willens mit einiger Skepsis betrachten, die auf der Identifikation von Vernunft und Mensch beruht. Doch zu alledem später mehr.
§2. Grenzen der Freiheit 2.1 Die im vorigen Paragraphen genannte Charakterisierung der menschlichen Willkür als eines arbitrium sensitivum sed liberum weist auch auf die konkreten Grenzen unserer Freiheit und Selbstbestimmung hin: Es ist Menschen nicht immer möglich, mit Vernunft und Bedacht zu handeln. Wie weit also reicht die Freiheit unseres Willens? Anders gewendet: welche Handlungen haben für Kant als freie und verantwortbare Handlungen zu gelten, und durch welche Faktoren werden Freiheit und Verantwortbarkeit gefährdet oder gar zerstört? Abgesehen von der philosophischen Bedrohung, die Kant im Fall der uneingeschränkten Gültigkeit des Naturdeterminismus sieht, wird Freiheit durch ganz »handfeste« Einflüsse eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt. Um vernünftigerweise von einer freien Handlung sprechen zu können, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, die in den zitierten Formulierungen aus den Beispielen der Grundlegung bereits zur Sprache gekommen sind: Der Handelnde war »noch so weit im Besitze seiner Vernunft« (o.ä.), um die mögliche Allgemeingültigkeit seines Handlungsprinzips überprüfen zu können. In der »Kritischen Beleuchtung der Analytik« der Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant, das »gesetzwidrige Betragen« führe für den Menschen, der sich im Nachhinein an seine Handlung erinnert, Selbsttadel mit sich,
§ 2. Grenzen der Freiheit
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wenn er weiß, daß er zu der Zeit, als er das Unrecht verübte, nur bei Sinnen, d.i. im Gebrauche seiner Freiheit war. (A176)
Für Kant muß also vergleichsweise wenig vorausgesetzt werden, damit ein Mensch sich selbst mit Recht für eine moralisch fragwürdige Handlung verantwortlich macht. Solange er »bei Sinnen« war, wird er urteilen, daß er sie auch hätte unterlassen können. Doch es gibt Grenzen.Wann ist die Voraussetzung nicht mehr gegeben? Kant geht unter anderem in der Kritik der Urteilskraft auf die Faktoren ein, die dazu führen, daß ein Mensch in seinem Handeln nicht mehr frei ist, Affekte und Leidenschaften. A f f e k t e n sind von L e i d e n s c h a f t e n spezifisch unterschieden. Jene beziehen sich bloß auf das Gefühl; diese gehören dem Begehrungsvermögen an und sind Neigungen, welche alle Bestimmbarkeit der Willkür durch Grundsätze erschweren oder unmöglich machen. Jene sind stürmisch und unvorsätzlich, diese anhaltend und überlegt: so ist der Unwille als Zorn ein Affekt; aber als Haß (Rachgier) eine Leidenschaft. Die letztere kann niemals und in keinem Verhältnis erhaben genannt werden: weil im Affekt die Freiheit des Gemüts zwar g e h e m m t , in der Leidenschaft aber a u f g e h o b e n wird. (B121 Anm.)1
Leidenschaften und Affekte führen dazu, daß der Handelnde nicht mehr vernünftig überlegen und entscheiden kann, weil die sinnlichen Antriebe auf direkterem Wege sein Handeln beeinflussen. Die Vernunft wird in ihrem Wirken beeinträchtigt oder ganz ausgeschaltet. Dabei wirken Affekte und Leidenschaften auf unterschiedliche Weise: Affecten sind Rührungen, die dem Besitz seiner Selbst wiederstreiten; man wird dadurch außer sich gesetzt. (R1025)
Wer im Affekt handelt, ist »außer sich«, wie man auch heute noch sagt. Ein besonders heftiges Gefühl setzt die regulären Überlegungs- und Handlungsmechanismen außer Kraft, und der vom Affekt Betroffene agiert, ohne im engen Sinn zu handeln. Erst wenn der zeitweilige Sturm des Affekts vorüber ist, kommt der Akteur wieder zu sich und erlangt seine Fähigkeit zum willentlichen, vernünftigen Handeln ebenso plötzlich wieder, wie er es verlor. Kants Beispiel ist das des Zorns. Anders ist es um die Leidenschaften bestellt:
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Meint Kant, daß die Rachgier (nicht Leidenschaften allgemein) niemals erhaben sein kann? Zumindest wäre es sehr unplausibel, wenn Affekte bisweilen verdienten, »erhaben« genannt zu werden, Leidenschaften jedoch nie. — Zu diesem Zitat vgl. auch den Abschnitt »XVI. Zur Tugend wird zuerst erfordert die Herrschaft über sich selbst« der Einleitung in die »Tugendlehre« der Metaphysik der Sitten, VI:407 f.; und Reflexion 5449 über den »versklavten« Willen, die abermals die enge Verbindung von Selbstbestimmung und Freiheit betont: »Arbitrium servum est, in qvo imperium in semet ipsum cessat.«
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Einleitung Leidenschaften sind Begierden, die der Herschaft seiner Selbst wiederstreiten; man wird dadurch seiner selbst nicht mächtig. (ebd.)
Wer leidenschaftlich handelt, ist zwar nicht außer sich und handelt vorsätzlich, vielleicht sogar mit Überlegung. Doch er verliert dabei die vernünftige Handlungsoption aus dem Blick. In der Anthropologievorlesung wird Leidenschaft (»passio animi«) definiert als die Neigung, »durch welche die Vernunft verhindert wird, sie in Ansehung einer gewissen Wahl mit der Summe aller Neigungen zu vergleichen« (VII:265). Einer Neigung wird auf Kosten aller anderen der Vorzug gegeben, womöglich gar auf Kosten der Moral.1 Allzu leidenschaftlichen Menschen wird so unmöglich, vernünftige feste Grundsätze auszubilden. Die Diskussion in der Anthropologie macht übrigens deutlich, daß Leidenschaften der Freiheit der menschlichen Willkür viel gefährlicher sind als Affekte, weil sie mit »Überlegung« und »Vernünfteln« vereinbar sind, wenn auch nicht mit »Vernunftgebrauch« in der vollen Bedeutung dieses Wortes für Kant. Er vergleicht den Affekt mit einem Rausch, die Leidenschaft mit einer Krankheit, »welche alle Arzneimittel verabscheut und daher weit schlimmer ist, als alle jene vorübergehende Gemütsbewegungen, die doch wenigstens den Vorsatz rege machen, sich zu bessern; statt dessen die letztere eine Bezauberung ist, die auch die Besserung ausschlägt.« (VII:265) Etwas optimistischer schreibt er ein wenig später im Text: Der Affekt tut einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft über sich selbst. Die Leidenschaft gibt sie auf und findet ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn. Weil indessen die Vernunft mit ihrem Aufruf zur innern Freiheit doch nicht nachläßt, so seufzt der Unglückliche unter seinen Ketten, von denen er sich gleichwohl nicht losreißen kann: weil sie gleichsam schon mit seinen Gliedmaßen verwachsen sind. (VII:267)
Leidenschaften mißbrauchen also die Vernunft für ihre Zwecke, die dennoch das Bewußtsein ihrer Unabhängigkeit nicht ganz verliert. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Vermögen menschlicher Akteure, auf sinnliche Stimuli zu reagieren und frei nach Maßgabe der Vernunft zu handeln, durch Affekte oder Leidenschaften behindert oder außer Kraft gesetzt wird. Nur Aktionen, bei denen der Akteur »bei Sinnen« ist, sind im moralphilosophischen Sinn Handlungen, so daß für den Menschen Handeln — noch näher zu bestimmendes — freies Handeln ist.
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Vgl. Reflexion 1514 aus den Jahren 1780–84: »Herrschende Neigung ist Leidenschaft. Sie herrscht aber statt der Vernunft, wenn sie es unmöglich macht, den Einflus der Neigung ihrem Verhältnis zur Summe aller Neigungen gemäs zu machen.« Das heißt: kluges Handeln wird unmöglich. Handeln wird einseitig, indem es nicht einmal mehr versucht, all dem, was ein Mensch will, Rechnung zu tragen.
§ 2. Grenzen der Freiheit
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2.2 Über den moralischen Status von Leidenschaften erfahren wir noch mehr. Kant schreibt, ebenfalls in der Anthropologie, sie seien nicht bloß, wie die Affekten u n g l ü c k l i c h e Gemütsstimmungen, die mit viel Übeln schwanger gehen, sondern auch ohne Ausnahme b ö s e, und die gutartigste Begierde, wenn sie auch auf das geht, was (der Materie nach) zur Tugend, z.B. der Wohltätigkeit, gehörte, ist doch (der Form nach), so bald sie in Leidenschaft ausschlägt, nicht bloß p r a g m a t i s c h verderblich, sondern auch m o r a l i s c h verwerflich. (VII:267)
Daß man das moralisch Richtige tun soll, weil es das moralisch Richtige ist, wissen wir aus dem ersten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Leidenschaftlich wohltätiges Handeln kann natürlich keinen moralischen Wert haben, wenn schon Wohltätigkeit aus einer herkömmlichen Neigung moralisch wertlos ist. Im einen Fall kümmert man sich nicht um die mögliche Allgemeingültigkeit der Handlungsmaxime (die »Form«), die der kategorische Imperativ fordert, im anderen kommt sie einem gar nicht erst zu Bewußtsein. Überdies fällt die Radikalität ins Auge, mit der Kant selbst gutartige und nützliche Begierden verdammt, wenn sie zur Leidenschaft wird, eben weil diese die menschliche Freiheit außer Kraft setzen.1 Dann aber fragt man sich, wie er denn überhaupt noch sagen kann, Leidenschaften seien »böse« und »moralisch verwerflich«, wenn sie tatsächlich die Funktionstüchtigkeit des menschlichen Willens so stark beeinträchtigen; schließlich ist für Kant die Freiheit menschlichen Wollens eine unabdingbare Voraussetzung für gerechtfertigte moralische Urteile. Drei Antworten scheinen möglich. Zum einen ist die Vernunft, wie gesehen, an Handlungen aus Leidenschaft auf eine verquere Weise beteiligt. Kant mag der Ansicht gewesen sein, daß schon allein der Mißbrauch der Vernunft durch die Leidenschaft das Prädikat »böse« verdient. Zweitens spricht Kant davon, die Leidenschaften seien böse, nicht etwa der Mensch, der unter dem Joch der Leidenschaft steht, oder sein Charakter. Denn obwohl man bei leidenschaftlichen Handlungen aus Maximen handelt (VII:266), und nicht wie bei Affekten unüberlegt und impulsiv, so entscheidet sich ein leidenschaftlicher Akteur in seiner Engstirnigkeit doch nicht im vollen Bewußtsein der richtigen Handlung für die falsche. Sein Charakter ist
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Kant übersieht hier offenbar, daß man nicht alle Leidenschaften im nachhinein mißbilligt. So scheint es der Sache nach unangebracht, etwa im Fall leidenschaftlicher Wißbegierde von der »Lust und Befriedigung am Sklavensinn« zu sprechen, obwohl auch den von uns eher positiv bewerteten Leidenschaften eine gewisse Einseitigkeit eigen ist, die sie gegebenenfalls mit Vernunft und Moral in Konflikt geraten lassen können. Trotzalledem scheint Kants Verdammung der Leidenschaften zu pauschal.
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Einleitung
deshalb nicht so schlecht wie der Charakter desjenigen, der mit Umsicht das Falsche tut. Drittens ist hier mit Bezug auf Leidenschaften (wie auf Affekte) an die Aristotelische Lösung dieses Problems zu erinnern, die in der Rechtsprechung als actio libera in causa bezeichnet wird. Wir machen einen Betrunkenen verantwortlich, wenn er im Rausch straffällig wird, mag er auch im Moment der Handlung nicht mehr gewußt haben, was er tat; denn es lag in seiner Hand, sich gar nicht erst zu betrinken.1 In Athen mußten Betrunkene für ihre Verfehlungen sogar das doppelte Strafmaß ertragen, wie Aristoteles weiter berichtet. Kant war mit diesem Ausweg vertraut. Er sagt einer Nachschrift seiner Ethikvorlesungen zufolge sehr präzise: Was jemand in Betrunkener Wuth gethan hat, kann wohl ihm nicht imputirt werden, aber die Trunkenheit kann ihm zugerechnet werden. (Moral Mrongovius, XXVII:1440.).2
Auf diese vollkommen vernünftige und naheliegende Lösung wird man zweifellos oft zurückgreifen, wenn es um die Bewertung konkreter Fälle und Beispiele geht, in denen Affekte und Leidenschaften wirken; dann, wenn sie so stark sind, daß man vom »freien Willen« des Betroffenen nicht mehr wird sprechen wollen. 2.3 Zum Vergleich: bei der tierischen Willkür haben die sinnlichen Einflüsse nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort. Tiere sind nicht in der Lage, sich zurückzunehmen, mögliche Optionen vernünftig zu reflektieren. Ihnen fehlt die Fähigkeit zu höherstufigen Willensakten, die nicht direkt in konkrete Handlungen münden, sondern sich ihrerseits auf Willensakte beziehen. Einem Wesen, das ein arbitrium brutum besitzt, ist es unmöglich, nach Grundsätzen zu handeln.3 Es hat vermutlich noch nicht einmal einen Begriff davon, was dies bedeuten würde. Somit können Tiere nach Kant »pathologisch necessitiert« werden: Ihre physische und psychologische Konstitution generiert zwangsläufig und mechanisch eine Reaktion auf äußere Einflüsse, die anders nicht hätte ausfallen können. Obwohl dies beim menschlichen Willen anders ist, soll schon an dieser Stelle vor dem Mißverständnis gewarnt werden, er könne als solcher nicht necessitiert werden, oder es sei für sich genommen etwas Schlechtes, wenn dies der Fall wäre — wie Vertreter gegensätzlichster philosophischer Posi1 2
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Nikomachische Ethik 1113b30 ff. Freilich warnt Kant im Anschluß an die zitierte Passage aus der Ethikvorlesung davor, den Grad der Moralität einer Handlung mit dem Grade der Imputabilität zu »vermengen«. Doch man darf wohl vermuten, daß Kant das ethische Problem auf ähnliche Weise gelöst hätte wie den juristischen Parallelfall. In Harry Frankfurts Terminologie sind das »wantons«; vgl. »Freedom of the will and the concept of a person«, S.16.
§ 3. Freiheitsbegriffe
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tionen behaupten, unter Berufung auf ein vermeintlich alltägliches Verständnis menschlicher Willensfreiheit.1 Denn wenn die Nötigung nicht sinnlich ist, sich nicht auf menschliche Neigungen, Wünsche und Begierden richtet sondern vernünftig ist, so stellt sie keine Gefahr für die Freiheit des Willens dar.2 In diesem Sinn sagt Kant in der »Tugendlehre«: Je weniger ein Mensch physisch, je mehr dagegen moralisch (durch die bloße Vorstellung der Pflicht) kann gezwungen werden, desto freier ist er. (VI:382 Anm.)
§3. Freiheitsbegriffe Bisher standen die spezifischen Eigenschaften eines Willens wie des menschlichen im Vordergrund sowie die Bedingungen, die menschliche Handlungen erfüllen müssen, um freie Handlungen zu sein. Nur am Rande wurde die Frage berührt, worin ihre Freiheit besteht. Dieser Frage soll nun im Detail nachgegangen werden. Eine Untersuchung der einschlägigen Kantischen Texte ergibt zunächst vier deutlich verschiedene grundlegende Aspekte der Freiheit, die in einem engen und für Kants Theorie überaus charakteristischen Zusammenhang stehen: (i) Die grundlegende Definition menschlicher Freiheit wurde bereits zitiert: »Freiheit im praktischen Verstande« ist »Unabhängigkeit der Willkür von der N ö t i g u n g durch Antriebe der Sinnlichkeit« (Kritik der reinen Vernunft, A534/B562)3; man vergleiche die Religion, wo er schreibt, Freiheit sei »Unabhängigkeit von der Macht der Neigungen« (VI:57 f. Anm.). Neigungen sind habituierte Bedürfnisse, die nach Befriedigung verlangen und deren Befriedigung Vergnügen bereitet. Deshalb heißt es schon in der frühen Reflexion 6598 (wohl 1769–70) prägnant, die Freiheit sei ein »Vermögen zu handeln, ob es gleich nicht vergnügt«.
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Der klassische »Kompatibilismus« (Hobbes, v. a. Hume), der Handlungsfreiheit und Verantwortung selbst in einer vollkommen mechanistischen Welt nicht gefährdet sieht, stimmt darin mit vielen Theorien, die einen anspruchsvolleren anti-deterministischen Freiheitsbegriff voraussetzen, überein. Wiederum wird deutlich, daß Kant den Menschen im strengen Sinne mit seiner Vernunft identifiziert, nicht mit seinen veränderlichen, oft kontingenten Neigungen. Das macht Kants Klassifizierung der sinnlichen Bedürfnisse und Neigungen (die nicht vernünftig sind) als »egoistisch« (also »selbstisch«) freilich ein wenig prekär. Kant muß also streng genommen behaupten, daß man ein falschverstandenes Eigeninteresse verfolgt, wenn man egoistisch ist. Oft wählt Kant ähnliche, negative Formulierungen, etwa in der frühen Reflexion 3872, die zwischen 1764 und 1768 (oder 1771) entstanden sein dürfte: »Die Freyheit besteht in dem Vermögen, unabhängig von äußern bestimmenden Gründen nach intellectualer Willkühr handeln zu können«.
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Einleitung
Als erstes — negatives — Charakteristikum1 der menschlichen Willensfreiheit können wir somit die Freiheit von der Nötigung durch sinnliche und deshalb der Vernunft, dem eigentlichen Selbst des Menschen »fremde« Antriebe festhalten.2 (ii) Dieses Moment kann man auch auf eine andere Weise fassen: Wenn wir unabhängig von fremden, äußerlichen Einflüssen handeln können, unsere Handlungen sich also aus diesen nicht mechanisch ergeben, so steht es in unserer Gewalt, spontan, d.h. aus uns selbst heraus, Einfluß auf die Welt auszuüben. Freiheit ist somit ein Vermögen, unabhängig und von allein »einen Zustand zuerst anzufangen«3: Spontaneität. Der Kontrast mit der Selbsttätigkeit des Menschen erklärt übrigens auch, warum Kant unsere sinnlichen Neigungen »pathologisch« (also »erlitten«) nennt. Dabei wird die Verbindung zwischen negativer Freiheit und Spontaneität in der Auflösung der Freiheitsantinomie folgendermaßen konstruiert: [Die (praktische) Freiheit] setzt voraus, daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen s o l l e n , und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten g a n z v o n s e l b s t anzufangen. (A534/B562, s.a. o. A533/B561.)
Die Behauptung, die Ursache einer Handlung in der Erscheinung sei »nicht so bestimmend« gewesen, daß nicht unser Wille für die Handlung allein maßgeblich war, ist freilich der Grund erheblicher Schwierigkeiten. Wie soll eine Ursache bestimmend sein, wenn sie nicht tatsächlich die Wirkung bestimmt? Doch vorerst können wir festhalten, daß das zweite — positive — Merkmal der Freiheit der menschlichen Willkür für Kant darin besteht, daß sie Handelnde befähigt, durch eine Handlung eine Veränderung in der Welt spontan hervorzubringen.
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»Negativ« und »positiv« werden hier wie bei Kant für die Freiheit »von« bzw. »zu« etwas verwendet. In einer Vorarbeit zum Gemeinspruch schreibt Kant: »Freyheit ist die Unabhängigkeit von Anderer ihrer Willkühr außer nach Gesetzen zu denen er selbst zusammenstimmt.« (XXIII:141). Hier wird die Verbindung des metaphysischen u. handlungstheoretischen mit dem politischen Freiheitsbegriff deutlich. In keinem der beiden Bereiche ist Freiheit mit Gesetzlosigkeit zu identifizieren. Vgl. Anthropologie, VII:330, und Reflexion 7251 (1780– 89) zur »allgemeinheit der Freyheit«. Reflexion 4338, zwischen 1769 und 1775. So Kant des öfteren. Wir sprechen eher davon, daß ein Zustand »herbeigeführt« oder »hervorgebracht« wird.
§ 3. Freiheitsbegriffe
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(iii) Was hat es nun damit auf sich, daß wir einen Zustand in der Welt unabhängig und selbsttätig »anfangen« können? Warum sollte uns daran gelegen sein? Die soeben zitierte Textstelle (A534/B562) deutet eine Antwort auf diese Fragen an. Einerseits scheint schon allein darin etwas Erstrebenswertes zu liegen, daß man mit Recht von sich sagen kann, man handele selbst (nicht etwa meint zu treiben, und doch getrieben wird). Andererseits ist Kant daran gelegen, sicherzustellen, daß wir so handeln können, wie wir handeln sollen, d.h. daß wir bisweilen auch hätten so handeln können, wie wir de facto nicht gehandelt haben. Wie wir handeln sollen, sagt uns die Vernunft; und so gelangt Kant zu der Ansicht, daß von der Nötigung der Sinnlichkeit unabhängige Freiheit, einen Zustand in der Welt hervorzurufen, dazu dient, daß man vernünftig handeln kann. Es finden sich viele Textstellen, an denen er die menschliche Freiheit als Vermögen, vernünftig zu handeln, bestimmt, etwa in der frühen Reflexion 3865: »Die Freyheit ist eigentlich ein Vermögen, alle willkürliche Handlungen der Vernunft zu unterordnen.«1 Drittens eignet somit der menschlichen Willensfreiheit das — positive — Vermögen, nach Maßgabe unserer Vernunft zu handeln.2 (iv) Neben Affekten und Leidenschaften gibt es noch eine zweite, subtilere Gefahr für eine von pathologischer Nötigung unabhängige, spontane und vernüftige menschlichen Willkür: die Möglichkeit, daß der menschliche Wille in seinem Handeln nur zu der Art von Freiheit fähig ist, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft »komparative« Freiheit nennt (A171). Dann hieße das eine »freie Wirkung«, »davon der bestimmende Naturgrund i n n e r l i c h im wirkenden Wesen liegt«. Anders ausgedrückt: all unser Handeln ist vollständig durch naturgesetzliche Vorgänge bestimmt, doch die Kausalketten nehmen ihren Verlauf durch das menschliche Ich. Eine unabhängig entscheidende, motivierende und handelnde Vernunft wäre Illusion. (Dies ist die Willensfreiheit des klassischen naturalistischen Kompatibilismus: Wir nennen auch »die Bewegung einer Uhr eine freie Bewegung«, weil »sie ihren Zeiger selbst treibt, der also nicht äußerlich geschoben werden darf« (A171 f.). Da dann auch freie Handlungen nichts anderes als natürlich Abläufe sind, ist es im Rahmen dieser Theorie — wie der Name andeutet — überhaupt nicht schwierig, Freiheit und Naturkausalität miteinander zu vereinbaren.)
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Damit ist angedeutet, daß Freiheit für Kant gerade nicht ein Vermögen ist, unterschiedslos so oder anders zu handeln. Ein solches Vermögen wären zudem von höchst fragwürdigem Wert. Dazu ausführlich Kapitel I. Diese ersten drei Freiheitsbegriffe sind überdies wiederum mehrdeutig, weil sie sowohl die Potentialität (das bloße Vermögen) als auch deren Aktualisierung (die Ausübung des Vermögens) bezeichnen.
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Einleitung
Nicht natürliche Verursachung als solche, sondern Umstände, die eine ungezwungene Entscheidung des Handelnden verhindern oder stören, bedrohen Handlungsfreiheit und Verantwortung im Rahmen kompatibilistischer Theorien. Doch auch eine Theorie, die Handlungen der Menschen nach »mit Vernunft gedachte[n] Bestimmungsgründe[n]« erklärt, führt nicht entscheidend über den komparativen Begriff von Freiheit hinaus, »wenn diese bestimmende Vorstellungen […] den Grund ihrer Existenz doch in der Zeit und zwar dem v o r i g e n Z u s t a n d e haben, dieser aber wieder in einem vorhergehenden etc.« (A172). Das wäre »psychologische und nicht mechanische Kausalität« (ibid.); diese Art der Freiheit nennen wir dementsprechend »psychologische Freiheit« (A173). Immer noch »würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein« (Kritik der reinen Vernunft, A534/B562), was praktische Freiheit, wie sie sich uns in den vorausgehenden drei Abschnitten gezeigt hat und wie Kant sie in der Moralphilosophie voraussetzen möchte, nur noch in einer abgeschwächten Variante zuließe. Wenig später sagt Kant, bloße psychologische und komparative Freiheit sei der »Freiheit eines Bratenwendes« vergleichbar, »der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet« (A 174). Damit gibt sich Kant nicht zufrieden. Bis zu welchem Grad Freiheit von der Natur, zu selbständigem Handeln und zur Realisierung vernünftiger Maximen möglich ist, hängt somit letztlich von der Möglichkeit transzendentaler Freiheit ab. Obgleich Kant nicht bestreitet, daß psychologische und komparative Freiheit für freies menschliches Handeln unabdingbar sind, so muß die menschliche Willensfreiheit in ihrer eigentlichen Bedeutung, samt moralischem Gesetz und Zurechnung, doch immer viertens — negative — »transzendentale, d.i. absolute zugleich« (ebd.) sein.1 Autonomie erlangt erst mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Prominenz, die Kritik der reinen Vernunft kennt den Begriff noch nicht. Er wird hier deshalb nicht zu den Grundbedeutungen des Kantischen Freiheitsbegriffs gezählt (und wird Gegenstand der §§6 und 16 sein). 1
Schon an dieser Formulierung sieht man, daß die Gültigkeit der Naturgesetze, die mit der komparativen Freiheit einhergeht, durch die transzendentale Freiheit des Menschen nicht gefährdet werden soll. — Zur Notwendigkeit absoluter Spontaneität vgl. R 4225: »Da die Freyheit eine vollständige selbstthätigkeit des Willens ist, ohne durch stimulos oder durch irgend etwas anderes, was das subiect afficirt, bestimmt zu seyn, so kommt es bey ihr nur auf die Gewisheit der Persohnlichkeit an daß sie nemlich (sich) bewußt sey, sie handle aus eigner Willkühr, der Wille sey thatig und nicht leidend, weder durch stimulos noch durch fremde Eindrücke. sonst müste ich sagen: ich bin getrieben oder bewegt, so oder so zu handeln, welches so viel heißt als: ich bin nicht handelnd, sondern leidend. Wenn Gott die Bestimmungen der Willkühr regirt, so handelt er; wenn die reitze der Dinge sie nothwendig bestimmen, so nöthigen sie; in beyden Fällen entspringt die Handlung nicht aus mir, sondern ich bin nur das mittel einer andern Ursache.« (1769–75).
§ 4. Handlungstheorie: ein erster Versuch
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§4. Handlungstheorie: ein erster Versuch 4.1 Das Moment der Freiheit der menschlichen Willkür besteht im besonderen in der freien Wahl der Maxime einer Handlung, also des angenommenen Grundsatzes, der für das Handeln den Ausschlag gibt. Denn um Freiheit denken zu können, müssen wir annehmen, daß nicht die sinnlichen Bedürfnisse eine menschliche Handlung bestimmen, sondern der Mensch selbst. Dies geschieht, indem er frei das Prinzip dieser Handlung, die Maxime, wählt:1 [D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, a l s n u r s o f e r n d e r M e n s c h s i e i n s e i n e M a x i m e a u f g e n o m m e n h a t (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. Allein das moralische Gesetz ist für sich selbst im Urteile der Vernunft Triebfeder, und wer es zu seiner Maxime macht, ist m o r a l i s c h gut. (Religion, VI:23 f.)2
Kants Maximentheorie, die in dieser Passage aus der Religionsschrift mehr angedeutet als erklärt wird, ist einer der Gründe dafür, daß sich der kategorische Imperativ auf die Maximen bezieht, auf die subjektiven Prinzipien menschlicher Handlungen, nicht unmittelbar auf Handlungen selbst. Der kategorische Imperativ, etwa in seiner Grundformel, gebietet deshalb nicht, (i) nach einer Maxime zu handeln und, (ii) nach derjenigen Maxime zu handeln, durch die man zugleich wollen kann, daß sie ein allgemeines Gesetz werde, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag (vgl. Grundlegung, IV:420
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Diese Rolle der Maximen ist in letzter Zeit von mehreren prominenten angelsächsischen Autoren hervorgehoben worden, von John Rawls, Andrews Reath, Thomas Hill Jr. und v.a. von Henry E. Allison, dessen Studie Kant’s Theory of Freedom als das ausführlichste Plaidoyer für die sog. incorporation thesis, freie Handlungen ruhten auf der freien Aufnahme von Triebfedern in die Maxime einer Handlung, zu gelten hat. Es fällt allerdings auf, daß Allison die Struktur von Maximen und die genaue Rolle, die Maximen in der Kantischen Handlungstheorie und Moralpsychologie spielen, im Verhältnis zu der Bedeutung, die er der freien Maximenwahl beimißt, nur unzureichend beleuchtet. Allisons Defizit versucht Kapitel IV dieses Buches wettzumachen. Daraus glaubt Kant ableiten zu können, daß es nur zwei Arten von Charakter gibt: gute und schlechte. Dies nennt er die »rigoristische Entscheidungsart«. Auf Kants eigentümliche Theorie, mit der Achtung für das Sittengesetz werde das Gesetz zur Triebfeder, geht Kapitel V dieses Buches ausführlich ein. — Eine andere Formulierung der Inkorporationsthese steht in der Anmerkung der Seiten VI:57 und 58 derselben Schrift. Interessanterweise wird sie dort nicht auf den moralischem Wert, sondern auf das Böse bezogen. Kant sagt, das Böse hätte in einem Menschen nicht Platz nehmen können, »ohne daß wir es in unsere Maxime aufgenommen hätten«, und etwas später, das Böse sei nicht in den Neigungen, »sondern in der verkehrten Maxime und also in der Freiheit selbst« zu suchen. Es ist nur folgerichtig, daß das, was der Mensch frei wählt, die Maxime, auch der eigentliche Gegenstand moralischer Beurteilung und Bewertung ist. Zu verschiedenen Spielarten des Kantischen Rigorismus ausführlich: J. Timmermann, »Alles halb so schlimm: Bemerkungen zu Kants ethischem Rigorismus«.
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Einleitung
f. und §20 u.). Kant geht vielmehr davon aus, daß Menschen, wenn sie — im Unterschied zu bloßen Affekten oder Reflexen — handeln, nach Maximen handeln. Der kategorische Imperativ gebietet, nur nach derjenigen der frei wählbaren Maximen zu handeln, von der man wollen kann, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. Eine Maxime ist somit zuallererst das selbstgewählte implizite Prinzip, das ein Mensch angesichts der sich zuerst aufdrängenden sinnlichen Antriebe wählt und dem gemäß er handelt. In einer Reflexion versichert Kant in gewohnter Weise, die Handlungen seien »durch sinnlichkeit großen Theils veranlaßt, aber nicht gänzlich bestimmt; denn die Vernunft muß ein complement der Zulänglichkeit geben« (R 5611). Dieses »complement«, das seinen Ursprung in der Vernunft hat, oder doch haben kann und soll, ist die frei gewählte Maxime einer Handlung.1 4.2 Da der kategorische Imperativ ein Kriterium für die moralische Unbedenklichkeit von Maximen darstellt, ist in vielen Fällen noch nicht entschieden, wie ein Mensch handeln soll, wenn er in seinem Leben den Anforderungen der Moral Rechnung tragen will. Es steht ihm offen, seine Maximen auszubilden, solange er dabei nicht in Konflikt mit ethischen Geboten gerät. Kant scheint der Meinung gewesen zu sein, daß sozusagen der »grüne Bereich« des moralisch Zulässigen sehr weit reicht. Es ist daher wenig plausibel, daß jemand, der dem kategorischen Imperativ gehorcht, rund um die Uhr aus Pflicht moralische Heldentaten vollbringen muß, (obwohl er in dem, was er tut, freilich nie gegen die Gebote der Pflicht verstoßen darf). Es bleibt ihm, so würde Kant vermutlich sagen, ausreichend viel freie Zeit, in der er anderen Beschäftigungen nachgehen kann, solange er moralische Grenzen nicht überschreitet und zudem gewisse Tugenden kultiviert. Sind damit Einwände gegen Kants Ethik entkräftet, nach denen sie — ähnlich wie der Utilitarismus, der den allgemeinen Nutzen zu maximieren gebietet und damit prima facie keinen Raum für moralisch neutrale Handlungen läßt — die Gefahr berge, den Menschen durch extrem hohe Ansprüche zu überfordern?2 Ja und nein. Denn es ist einerseits klar, daß Kant die Menschen mit seiner Ethik nicht etwa in wohltätige Geschäftigkeit stürzen wollte, die ihm für das erfüllte Berufs- und Familienleben eines Geschäftsmanns, einer Ärztin oder eines Universitätsgelehrten o. ä. keine Zeit mehr ließe. Andererseits erscheint es angesichts allgegenwärtiger Hilfsbedürftigkeit wenig plausibel, daß die Moral uns soviel Freiraum läßt, wie Kant es offenbar vorsieht. Wenn die Hilfspflichten auch »weite« Pflichten sind, 1 2
Zur Maxime als dem »complement der Zulänglichkeit« vgl. Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.39. Vgl. z.B. Susan Wolfs engagierten Aufsatz »Moral Saints«.
§ 4. Handlungstheorie: ein erster Versuch
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denen wir nach eigener Urteilskraft nachkommen können, so entspringen sie doch dem kategorischen Imperativ; und zweifellos helfen wir oft deshalb nicht, weil wir uns nach einer egoistischen Maxime den Vorzug vor anderen geben. Es scheint, daß Kant den Umfang moralisch erlaubter Handlungen überschätzt. Manchmal gibt es nun nur eine einzige moralisch einwandfreie Maxime, und dann ist die aus dieser Maxime sich ergebende Handlung moralisch geboten. Da Kant entschieden der Meinung ist, daß man seiner Pflicht in jedem Fall muß genügen können, führt er ein Motiv (»Triebfeder«) ein, das von den übrigen »pathologischen« Triebfedern radikal verschieden ist. Bei allem nicht-moralischen Handeln muß eine ausreichend starke Triebfeder schon vorliegen, damit eine Handlung erfolgt. Es ist jedoch kontingent, ob das entsprechende nicht-moralische Motiv tatsächlich vorliegt, und damit ist auch das Ausführen der Handlung selbst kontingent. Wenn ich urteile, dies oder jenes zu tun wäre gut, ich aber gerade gar nicht motiviert bin, gut zu sein, ist mir diese Handlung zu diesem Zeitpunkt unmöglich, weil mir jeder Antrieb fehlt. Es wäre für Kants Ethik fatal, wenn die Motivation für moralisches Handeln auf ähnlich unsicherem Grund stände. Anders als um die anderen, gewöhnlichen Motive steht es deshalb um das a priori gewirkte Gefühl der Achtung für das Gesetz, welches auf das moralische Urteil folgt und bewirkt, daß die moralisch korrekte Option in jedem Fall gewählt werden kann. Die Möglichkeit moralischen Handelns hängt deshalb für Kant nicht davon ab, was der Akteur gerade Lust hat zu tun, noch von dem, was er nach reiflicher Überlegung als klug erkennt und deshalb tun möchte. Sie ist durch das besondere moralische Motiv der Achtung für das Sittengesetz unabhängig von allen Motiven, die auf nach Befriedigung von Begierden oder Neigungen trachten. Nur so ist ein kategorisches, streng notwendiges Gebot möglich. Das moralisch gute Handeln nach einer Maxime der Achtung für das Sittengesetz ist für Kant der paradigmatische Fall freien Handelns. Die kontingenten natürlichen Begierden und Neigungen sind wirkungslos, und praktische Vernunft kommt in ihrer reinen Form zum Zuge. Ohne das Achtungsgefühl geriete nicht allein ein kategorisch gebietender Imperativ ins Wanken; das mit seiner Befolgung einhergehende Maximum an Unabhängigkeit von der Natur, Selbsttätigkeit und an realisierter Vernunft, d.h. Freiheit im vollen Sinn der oben aufgeführten ersten drei Bedeutungen, wäre uns Menschen ohne dieses merkwürdige Gefühl unerreichbar. Es mangelte dem Menschen an der Möglichkeit, sich selbst das Gesetz für sein Handeln zu geben: an Autonomie.
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Einleitung
Damit ist der Rahmen dieser Untersuchung abgesteckt. Gegenstand des ersten Kapitels werden der Zusammenhang zwischen negativer und positiver Freiheit sein sowie die Konsequenzen, die sich aus dem positiven Freiheitsbegriff ergeben; im zweiten Kapitel wird Kants Konzeption vom Willen als einem Vermögen, objektiven Standards zu genügen, diskutiert werden; während im dritten Kants Versuch eines Ausgleichs zwischen Naturmechanismus und transzendentaler Willensfreiheit im Mittelpunkt stehen wird; das vierte Kapitel ist dem für die Kantische Handlungstheorie und Freiheitslehre zentralen Begriff der Maxime gewidmet; und das fünfte Kapitel analysiert jenes eigenartige Motiv, das allein den Menschen zu einem wirklich freien Wesen macht: die moralische Triebfeder der »Achtung fürs Gesetz«.
1. Teil Grundlagen: Freiheit und Wille
I. Freiheit und Indifferenz §5. Die Unzulänglichkeit negativer Freiheit 5.1 Stephan Körner beginnt seinen Akademievortrag über Kants Theorie der Willensfreiheit folgendermaßen: A traveller arrives at a cross-road. After some deliberation he chooses to turn left rather than right and so continues his journey. Nature and his past being what they are, he may be mistaken in his assumption that it was open to him to take the other turning. Is any traveller, and quite generally any planner, ever right in assuming that a realizable or effective choice between genuine alternatives is open to him; or do nature, and his past in it, alone determine his every course of action?1
So wird die Frage der menschlichen Willensfreiheit oft gestellt. Man hält den freien Willen für das Vermögen, so oder anders zu handeln, und fragt sich, wie ein solches Vermögen angesichts der durchgängigen Geltung von Kausalgesetzen, die nur einen Verlauf der Welt zuzulassen scheinen, möglich sein soll. Überdies wird die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit, wie Stephan Körner sie zu Beginn seines Vortrags formuliert, oft an Kant gestellt.2 Man greift damit zumindest einen negativen Freiheitsbegriff auf, der Freiheit von der Determination des Willens durch Neigungen und Kausalgesetze bedeutet. Doch ist es vernünftig, mit dieser Frage an die Kantische Theorie der Willensfreiheit heranzutreten? Ja ist es überhaupt vernünftig, sie so zu stellen, wie Körner est tut? Beide Fragen sollen in diesem Kapitel beantwortet werden. Nach Erörterung der Konsequenzen, die sich aus einem isoliert betrachteten negativen Freiheitsbegriff ergeben (§5), wird der Zusammenhang zwischen negativer Freiheit, positiver Freiheit und moralischen Geboten untersucht (§6); schließlich wird mit Blick auf Kants Theorie und auf die Sache die These überprüft, daß die Möglichkeit, anders zu handeln, eine notwendige Voraussetzung von Willensfreiheit und Verantwortung darstelle (§7). 1 2
Stephan Körner, »Kant’s Conception of Freedom«, S.193. Um nur einige Beispiele zu nennen: Neben Stephan Körner stellen auch Hud Hudson (Kant’s Compatibilism, vgl. §7.3), Michael Rosen (»Kant’s Anti-Determinism«) und Henrik Walter (»Die Freiheit des Deterministen«) diese Frage.
§ 5. Die Unzulänglichkeit negativer Freiheit
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Wie in der Einleitung gezeigt wurde, besteht die erste große Gefahr für die Freiheit der menschlichen Willkür in der Abhängigkeit von sinnlichen Beweggründen, die in doppelter Gestalt vorliegen kann: in der Beeinträchtigung der Willensfreiheit durch Affekte und Leidenschaften oder, subtiler, dann, wenn diejenigen Philosophen Recht hätten, die dem menschlichen Willen nur »komparative« Freiheit innerhalb des Spiels natürlicher Ursachen und Wirkungen lassen. Kant ist der Ansicht, daß nur transzendentale Freiheit des Willens die absolute Unabhängigkeit von natürlich bedingten Motiven sichert.1 Wenn man jedoch zu dem Ergebnis gelangt ist, daß der menschliche Wille auf die beschriebene Weise von der Nötigung durch natürliche Ursachen grundsätzlich frei ist, so hat man das Problem der Willensfreiheit nur zu einem Teil behandelt. Denn der negative Freiheitsbegriff ist in zweifacher Hinsicht unzulänglich. Er gibt, erstens, keine adäquate Beschreibung der Willensfreiheit oder ihrer Möglichkeit bei vernünftigen Wesen wie uns Menschen; und man geriete, zweitens, sogar in erhebliche philosophische Schwierigkeiten, wenn man nicht mehr über den menschlichen Willen sagen wollte, als daß er zwar sinnlich affiziert wird, aber so nicht zu Handlungen gezwungen werden kann. Laut Metaphysik Mrongovius führt Kant einen unzulänglichen Begriff von Handlungsfreiheit, zu tun was man will, darauf zurück, daß »man sich den Begriff der Freiheit bloß negative gedacht hat. Aber wir müssen doch einen positiven Begriff von ihr haben, sonst haben wir gar keinen Begriff« (XXIX:902). Ein Zitat aus Lewis Carrolls Alice kann uns dabei helfen, das erstgenannte Defizit des negativen Freiheitsbegriffs näher zu bestimmen: The Cat only grinned when it saw Alice. It looked good-natured, she thought: still it had very long claws and a great many teeth, so she felt that it ought to be treated with respect. ‘Cheshire-Puss,’ she began, rather timidly, as she did not at all know whether it would like the name: however, it only grinned a little wider. ‘Come, it's pleased so far,’ thought Alice, and she went on. ‘Would you tell me, please, which way I ought to go from here?’ ‘That depends a good deal on where you want to get to,’ said the Cat. ‘I don't much care where—’ said Alice. ‘Then it doesn't matter which way you go,’ said the Cat.
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Diese doppelte Gefahr und den angesprochenen Ausweg scheint Kant in der kurzen und kryptischen Reflexion 3863 vorzuschweben: »Freyheit von der brutalitaet (spontaneitas practice talis)// Freiheit von der fatalitaet (transscendentalis).« Freiheit von der »Brutalität« übermächtiger Neigungen ist nur eine abgeleitete praktische Freiheit; allein ursprüngliche, transzendentale Freiheit schützt vor den befürchteten »fatalistischen« Konsequenzen uneingeschränkter Naturnotwendigkeit.
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I. Freiheit und Indifferenz ‘—so long as I get somewhere,’ Alice added as an explanation. ‘Oh, you’re sure to do that,’ said the Cat, ‘if you only walk long enough.’1
Alice geht es zwar nicht um die Frage, ob sie frei ist, sich für den einen oder den anderen Weg zu entscheiden, sondern darum, daß sie nicht weiß, welchen der beiden Wege sie wählen soll. Die Beantwortung dieser Frage, bedeutet die Katze, hängt entscheidend davon ab, wohin sie gelangen möchte. Wer nicht weiß, wohin er will, sollte andere nicht nach dem Weg fragen, weil diese mangels Information auch bei genauer geographischer Kenntnis so keine Antwort geben können. Eine kategorische Antwort für alle gibt es hier nicht. Die Frage ist belanglos.2 Doch wie die Frage, welchen Weg man wählen soll, keinen Sinn ergibt, wenn man nicht weiß, wohin man gehen will, so ist die Frage, ob ein Reisender »frei« ist, den einen oder den anderen Weg zu wählen, sinnlos, wenn man nicht weiß, was es mit der Wegewahl auf sich hat. Ein negativer Freiheitsbegriff ist für sich genommen »unfruchtbar« und verstattet keinen Einblick in das »Wesen« der Freiheit.3 Es wird nur gesagt, wovon der Mensch in seinen Handlungen frei ist, nicht auch wozu. Fragt also der Reisende: »Bin ich frei, die Vergangenheit mag aussehen, wie sie will, die eine Richtung zu wählen oder die andere?«, so muß auch er sich die Frage der Katze gefallen lassen, wohin er denn eigentlich will.4 Die zweite systematische Schwierigkeit der rein negativen Freiheit ist eine direkte Folge dessen, daß auf dieser unzureichenden Basis die Frage nach dem Sinn der Freiheit ohne befriedigende Antwort bleiben muß. Weil wir nur wissen, wodurch der menschliche Wille nicht bestimmt wird, jedoch kein Gesetz des Wollens und Handelns durch eine Antwort auf die Frage nach der positiven Bestimmung des freien Wollens angeben können, müssen
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The Complete Works of Lewis Carroll, S.64–65. Wir setzen hier voraus, daß die Wegewahl moralisch ohne Belang ist. Andernfalls erübrigt sich die Frage nach den Zielen desjenigen, der an der Weggabelung steht; ihm tritt ein Sollen gegenüber, das ohne vorangehendes Wollen auskommt. Grundlegung, IV:446, zu Beginn des dritten Abschnitts; dazu ausführlich §6.1. Ferner: Wenn der Reisende weiß, daß er an einen bestimmten Ort gehen möchte und daß er dorthin auf dem linken Wege gelangt, was kann ihm dann noch daran liegen, daß er, die Vergangenheit mag aussehen, wie sie will, frei ist, den rechten Weg einzuschlagen, den er doch gar nicht einschlagen will? Er mag wollen, daß er nicht physikalisch determiniert ist, sondern selbst bestimmt. Doch damit sind wir noch nicht beim Entweder-Oder des Indifferentismus (d.h. der Theorie, welche die »Gleichgültigkeit« verschiedener uns offenstehender Handlungsoptionen für das definierende Merkmal der Freiheit hält). Die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit wird dann interessant, wenn wir Grund haben anzunehmen, daß jemand etwas tut, das er nach reiflicher Überlegung im Grunde lieber nicht täte. Dann erst kann man vernünftigerweise fragen, ob der Handelnde, die Vergangenheit mag aussehen, wie sie will, auch hätte unterlassen können, was er getan hat, und statt dessen hätte etwas anderes tun können. Hätte jemand, der etwas Unvernünftiges getan hat, auch die vernünftige Option wählen können, obwohl er sie de facto nicht gewählt hat? Zu diesen Fragen vgl. §7.
§ 5. Die Unzulänglichkeit negativer Freiheit
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wir davon ausgehen, daß bei von Regeln bzw. Gesetzen der Natur freien Handlungen Regellosigkeit und Zufall herrschen. In einer Reflexion ruft Kant zu einem entsprechenden Gedankenexperiment auf: Man stelle sich die Freyheit, d.i. eine Willkühr vor, die von Instinkten oder überhaupt der Leitung der Natur unabhängig ist, so ist sie an sich selbst eine Regellosigkeit und der Ursprung alles Übels und aller Unordnung, wo sie nicht sich selbst eine Regel ist. Es muß demnach die freyheit unter der Bedingung der allgemeinen Regelmäßigkeit stehen und eine Verständige freyheit seyn, sonst ist sie blind oder wild. (R7220, wohl 1780er Jahre)
Es scheint ein wenig übertrieben, eine radikal unabhängige Willkür den »Ursprung alles Übels und aller Unordnung« zu nennen (es sei denn, der Schöpfer der Welt wäre mit einer solchen Willkür ausgestattet). Doch auch in der Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant, die Handlungen eines Wesens von der Naturnotwendigkeit ausnehmen »wäre so viel, als es dem blinden Ungefähr übergeben« (A170). Bemerkenswert konzis deutet Kant in der zitierten Reflexion den Weg an, auf dem der Gefahr zu entkommen ist: Selbst transzendentale Freiheit vom Kausalgesetz ist nicht gleichbedeutend mit Unordnung oder Ungefähr. Die Regelgemäßheit der Handlung eines von fremder Leitung freien Willens wird dadurch garantiert, daß er sich selbst eine Regel ist. Dies ist auch der Tenor der folgenden Reflexion, die abermals die Gefahr regelloser Freiheit beschwört und zugleich einen Ausweg zeigt: Ausser der Zusammenstimmung mit der Natur muß der freye Wille mit sich selbst in Ansehung der innern und äußern Unabhangigkeit von Antrieben zusammen stimmen. Ohne moralitaet herrschen thorheit und Zufall über das Glük [viz. Schicksal] der Menschen. (R6961, wohl 1776–78)1
Der negative Freiheitsbegriff ist also für sich genommen unbrauchbar; und obwohl er menschliche Verantwortlichkeit zu sichern helfen soll, ist negative Freiheit für sich genommen eine ebensogroße Gefahr für den Menschen wie ein unabgeschwächter Naturmechanismus. 5.2 Aus dem bisher Gesagten lassen sich weiterreichende Schlüsse ziehen. Es besteht eine Spannung zwischen zwei prima facie widersprüchlichen Anfor1
Man fragt sich, ob Kant an dieser Stelle zu weit geht, wenn er zur Koordination der menschlichen Antriebe Moralität für nötig hält. Kann das Wollen nicht auch durch den Gedanken des langfristigen Eigeninteresses in eine geregelte Bahnen gelenkt werden? Dies scheint problematisch, denn es wäre sich der Wille nach der Kantischen Autonomielehre doch noch nicht selbst ein Gesetz, weil die Gesetze seiner Handlungen letztlich auf Neigungen zurückgingen, die befriedigt werden wollen. Zudem bestünde noch immer die Gefahr, daß Menschen, die ihr eigenes Wohlergehen befördern, die an sich berechtigten Interessen der anderen verletzen. Nur moralisches Handeln schließt solche Interessenskollisionen aus und verbannt, soweit es in menschlicher Macht ist, Torheit und Zufall.
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I. Freiheit und Indifferenz
derungen, die erfüllt werden müssen, wenn wir Handlungen als Handlungen denken wollen, die ihren Ursprung in freien, verantwortlichen Akteuren haben: Zum einen müssen wir Handeln als etwas verstehen, das — anders als z.B. Reflexe — nicht bloß nach der Art eines naturgesetzlichen Prozesses abläuft, sondern das der handelnde Mensch selbst tut. Wenn man menschliche Handlungen auf das Spiel von natürlichen Ursachen und Wirkungen reduziert, so nimmt man ihnen offenbar genau das, was sie als genuine menschliche Handlungen auszeichnet. Sie mit dem mechanischen Ablauf einer Uhr zu vergleichen, scheint das Charakteristische an ihnen zu verfehlen. Zum anderen müssen wir Handlungen jedoch als etwas verstehen, das aus dem Charakter des Akteurs folgt, sie also gerade als Folge von gesetzmäßigen Faktoren begreifen, nicht etwa des Zufalls; denn sonst bleibt unklar, warum der Handelnde für die Handlung verantwortlich ist und sich nicht mit Verweis auf den regellosen Zufall entschuldigen kann. Diese Schwierigkeit hat Henry Allison die »Antinomie des Handelns« der vernünftigen Anforderungen der Spontaneität und der Erklärbarkeit von Handlungen genannt.1 Kant war sich dieser Antinomie bewußt. Thesis und Antithesis der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft plädieren implizit für Spontaneität bzw. Erklärbarkeit menschlicher Handlungen.2 Die »Handlungsantinomie« findet sich in der folgenden (allerdings nicht ganz eindeutigen) frühen Reflexion: Die größte Schwierigkeit stekt darin: wie eine subjectiv unbedingte Willkühr könne gedacht werden (est obiective hypotheticum) in (nach) dem nexu causarum efficientium sive determinantium oder, wenn man davon abgeht, wie die imputabilitaet der Handlungen möglich sey. (R3860, 1764–69)3
Die Alternative ist demnach die folgende: Es ist schwierig, eine »subjectiv unbedingte« — d.h. eine negativ freie Willkür, die sich nicht durch Naturursachen bestimmt sieht — mit der durchgängigen Bestimmung der Natur nach dem Kausalgesetz zu vereinbaren. Gibt man jedoch den Gedanken der 1
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»Antinomy of Agency«, vgl. Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.28. Das »activity requirement« (Handlungen müssen genuine Aktionen sein, die nicht bloße Wirkungen vorangegangener Naturursachen sind) steht dem »explicability requirement« gegenüber (Handlungen müssen ebenso wie alle anderen Geschehnisse erklärbar sein). Vgl. Kapitel III, §10. Zu Baumgartens Metaphysica. Es ist nicht eindeutig, wie diese Reflexion zu interpretieren ist. Eine andere mögliche Deutung als die vorgelegte ergibt sich, wenn man meint, Kant überlege im zweiten Teil, wie Zuschreibung möglich sein soll, nicht (i) wenn man vom Kausalnexus abgeht (die hier favorisierte Lesart), sondern (ii) von der subjektiv unbedingten Willkür. Dennoch scheint die erste Lösung der zweiten aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen überlegen. Vor allem ist, setzt man die zweite Lesart voraus, schwer verständlich, wie Kant sich das Abgehen von einer subjektiv unbedingten Willkür vorstellt, die er für phänomenal gegeben hält; s.u., §6.4 und die dort zitierte Passage aus der Einleitung in die Metaphysik der Sitten, VI:226.
§ 5. Die Unzulänglichkeit negativer Freiheit
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durchgängigen kausalen Determination in der Natur auf, so wird die Imputation von Handlungen fragwürdig, weil sie regellos, ohne jeden Zusammenhang mit vorangegangenen Ereignissen in der Welt aufzutauchen scheinen. Es fehlt jeder Anhaltspunkt, sie als natürliche Abläufe zu erklären oder sie Personen, wie wir sie kennen, als Handlungen zuzuschreiben.1 Kants kritische Philosophie begegnet dieser Schwierigkeit mit der — im dritten Kapitel noch näher zu erläuternden — Lehre der zwei unterschiedlichen Bereiche oder Welten, denen jeder Mensch als Vernunft- und Sinnenwesen angehört. Womöglich hat Kant in den gedruckten Schriften der kritischen Zeit die Antinomie nicht mehr so pointiert formuliert wie in der zitierten frühen Reflexion, weil er sich des Weges, den die Auflösung beschreiten muß, schon zu sicher war. Die Auflösung selbst blieb freilich ein Problem.2
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Welchen Zusammenhang könnte ein gesetz- und charakterloser Wille mit der handelnden Person haben? Vgl. Reflexion 7202 (1780–89): »Ich bin frey aber nur vom Zwange der Sinnlichkeit, kan aber nicht zugleich von einschränkenden Gesetzen der Vernunft frey seyn; denn eben darum, weil ich von ienem frey bin, muß ich unter diesen stehen, weil ich sonst von meinem eigenen Willen nicht sagen kann.« Freiheit kann nicht absolute Freiheit von allen Bestimmungen überhaupt sein; vgl. §6.1. Paul Guyer schreibt über die historischen Ursprünge der Schwierigkeit: »Kant’s mature work on freedom of the will consists of a perhaps never quite completed attempt to reconcile the Leibnizian insight that we can only be responsible for actions produced in accordance with a law with the Crusian insight that responsibility requires a radical freedom of choice not compatible with the thoroughgoing predictability of human action.« (»The starry heavens and the moral law«, S.6) Die Pointe, die Guyer hier Leibniz zuschreibt, findet sich auch bei David Hume. Der locus classicus ist das Kapitel »On Liberty and Necessity« in den Enquiries, das insgesamt den diversen Freiheitsvorstellungen gegenüber konzilianter ist als der entsprechende Abschnitt im Treatise. Hume betont vor allem, daß man eine Person für ihre Handlungen nur dann verantwortlich machen kann, wenn sie als Ausdruck ihres Charakters gewertet werden können: »The only proper object of hatred or vengeance is a person or creature, endowed with thought and consciousness; and when any criminal or injurious actions incite that passion, it is only by their relation to the person, or connexion with him. Actions are, by their very nature, temporary and perishing; and where they proceed not from some cause in the character and disposition of the person who performed them, they can neither redound to his honour, if good; nor infamy, if evil.« (Enquiries 76, S.98). Weit davon entfernt, Zurechnung und Moral entgegenzustehen, ist für Hume die Notwendigkeit und Regelmäßigkeit von Handlungen vielmehr deren Voraussetzung. Humes Ausführungen sind allerdings in einem Punkte ergänzungsbedürftig: Wir tadeln Menschen auch für übereilte oder nachlässige Handlungen, von denen wir nicht annehmen, daß sie Folge eines festen Charakters sind — es sei denn wir räumen ein, daß auch Übereilung und Nachlässigkeit im weitesten Sinne Ausdruck des Charakters sind. Zur Vieldeutigkeit des Charakterbegriffs vgl. §22. — Vertreter eines stärkeren, inkompatibilistischen Freiheitsbegriffs, die Freiheit und Naturdeterminismus für unversöhnlich halten, sind zwar im Besitz einer auf den ersten Blick attraktiven Antwort auf die Frage, die Hume am Ende unbeantwortet lassen muß: Wie können wir sichergehen, daß bei durchgängigem Kausalnexus nicht der Schöpfer der Welt und der Menschen für alles Übel verantwortlich ist? Doch sie erkaufen dies damit, daß sie die Handlungen der Menschen als unverursachte Ursachen aus der durchgängigen Naturnotwendigkeit ausnehmen, so die Handlungen vom Handelnden und seinem Charakter trennen und sie dem Zufall übergeben. Diese Lektion hat Kant gelernt. Die Lehre vom intelligiblen Charakter ist ein Versuch, ihr wie auch plausiblen inkompatibilistischen Argumenten Rechnung zu tragen (vgl. Kapitel III, §12).
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I. Freiheit und Indifferenz
Zusammenfassend läßt sich über den negativen Freiheitsbegriff folgendes sagen: Mag diese Art der Freiheit auch wichtig sein — für Kant wie für unser eigenes Verständnis der Bedingungen von Freiheit und Verantwortung — so ist eine Bestimmung der Willensfreiheit als Freiheit von natürlicher Determination doch unvollständig. Sie gibt keine positive Bestimmung der Freiheit an; sie lehrt uns nicht, wozu Freiheit gebraucht werden kann und soll. Negative Freiheit treibt uns vielmehr unmittelbar in die Arme des Indifferentismus, den Kant mit guten Gründen ablehnt. Freiheit kann nicht durch die subjektive Gleichgültigkeit verschiedener Handlungsoptionen definiert werden. Zudem führt sie uns aus der »Antinomie des Handelns« nicht hinaus. Es wäre deshalb sonderbar, wenn die Frage nach der Vereinbarkeit von menschlicher Willensfreiheit und dem Kausalgesetz der Natur gleichsam in einem normativen Vakuum befriedigend gelöst werden könnte, ohne auf den positiven Begriff der Freiheit einzugehen. Worin besteht also der Zusammenhang zwischen der für sich genommen defizienten Freiheit von der Nötigung durch die Natur und der positiven Charakterisierung der Freiheit? Wie ist diese genau zu bestimmen? Und warum ist sie empirisch noch weniger greifbar als die Freiheit in ihrer negativen Bestimmung? Diese Fragen sollen im folgenden Paragraphen beantwortet werden.
§6. Freiheit und Moral 6.1 Das Problem des Zusammenhangs von negativer und positiver Freiheit führt uns auf die Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit und Moral; denn positive Freiheit ist das Vermögen, vernünftig zu handeln; und moralisch gute Handlungen sind für Kant Paradefälle vernünftigen Handelns. Kants Auffassung in der Kritik der praktischen Vernunft ist, konzis gefaßt, daß »Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz« wechselseitig »auf einander zurück« verweisen (A52). Henry Allison hat dieses Wechselverhältnis von Freiheit und Moral die »Reciprocity Thesis«1 genannt, die Kant in einer vieldiskutierten Fußnote zur Vorrede der genannten Schrift wie folgt expliziert:
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Vgl. Allison, Kant’s Theory of Freedom, Kapitel 11, S.201 ff., und »Autonomy and Spontaneity in Kant’s Conception of the Self«, bes. S.136 ff. Mit der Fußnote reagiert Kant auf einen Punkt der Kritik, den J. F. Flatt in einer 1786 in der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« veröffentlichten Rezension der Grundlegung vorgetragen hat. Vgl. Lewis White Beck, Kommentar, S.67 und S.268 f. Anm. 33 und 37. Schon in der Grundlegung gesteht sich Kant einen — scheinbaren — Zirkel ein: vgl. IV:450 u. unten, §6.3.
§ 6. Freiheit und Moral
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Damit man hier nicht I n k o n s e q u e n z e n anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes nenne und in der Abhandlung nachher behaupte, daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit b e w u ß t w e r d e n können, so will ich nur erinnern, daß die Freiheit allerdigs die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft e h e r deutlich gemacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), a n z u n e h m e n. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar n i c h t a n z u t r e f f e n sein. (A5 Anm.)
Kant reagiert damit auf die Kritik des Tübinger Rezensenten der Grundlegung, J.F. Flatt1, der trotz Kants Auflösung des »Zirkels« (IV:450 f.) eine petitio principii in der Begründung von Freiheit und Sittengesetz im dritten Abschnitt ausgemacht haben wollte. Nun ist zumindest die Frage der Priorität der beiden Dinge geklärt. Freiheit ist der Seinsgrund des Sittengesetzes, und durch das Bewußtsein der Geltung des Sittengesetzes sind wir uns unserer Freiheit bewußt. Ehe wir die beiden Teilthesen im Detail untersuchen, müssen jedoch die Begriffe der ratio essendi und der ratio cognoscendi noch genauer bestimmt werden.2 Die zitierte Fußnote macht hinreichend deutlich, was Kant unter einer ratio cognoscendi versteht: Das Bewußtsein moralischer Verbindlichkeit ist der Grund dafür, daß wir unsere Willensfreiheit erkennen. Denn um einem notwendig geltenden moralischen Gebot Folge leisten zu können, muß der Mensch frei sein. Wären all seine Handlungen, auch die moralisch schlechten, mechanisch vorausbestimmt, so könnte es kein unbedingtes moralisches Gebot geben, das auf aktuelle Neigungen und Wünsche keine Rücksicht nimmt. Problematischer ist der Begriff einer ratio essendi, der in der Anmerkung nicht weiter bestimmt wird. Vor allem der letzte Satz scheint nahezulegen, unter einem solchen Grund sei nur eine notwendige Bedingung zu verstehen — ohne Freiheit hätte das moralische Gesetz für uns keine Geltung, ja es wäre uns nicht einmal bewußt. Diese These ist vergleichsweise harmlos und geht kaum über das hinaus, was der erste Teil der These vom Bewußtsein des Sittengesetzes als Erkenntnisgrund der Freiheit impliziert: Wenn wir nicht die Freiheit besitzen, dem moralischen Gesetz Genüge zu tun, gilt es für uns nicht. Doch Kant stellt eine wesentlich weiterreichende Behauptung auf, wenn er von der Freiheit als der ratio essendi des Sittengesetzes spricht. Das
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Vgl. L. W. Beck, Kants »Kritik der praktischen Vernunft«, S. 67. Zu deren historischen Ursprüngen in den Zweiten Analytiken des Aristoteles vgl. Günther Patzig, »Erkenntnisgründe, Realgründe und Erklärungen (zu »Analytica Posteriora« A13)«.
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I. Freiheit und Indifferenz
bedeutet nämlich, daß die Freiheit des Willens nicht (allein) eine notwendige, sondern sogar die hinreichende Bedingung für die Geltung des Sittengesetzes ist.1 Wenn — transzendentale — Freiheit vorausgesetzt werden darf, gilt eo ipso »das moralische Gesetz in mir«, und ich bin mir dieser Anforderung bewußt. Wie begründet Kant diese These? Die ausführlichste Herleitung des Sittengesetzes in der Form des kategorischen Imperativs aus der Voraussetzung negativer bzw. transzendentaler Freiheit findet sich zu Beginn des dritten Abschnitts der Grundlegung unter der Überschrift »Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens« (IV:446 f.). Ein Satz-für-Satz-Kommentar dürfte die angemessene Methode sein, den komplizierten und dichten Gedankengang dieser Stelle zu erklären: [1] Der W i l l e ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und F r e i h e i t würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie b e s t i m m e n d e n Ursachen wirkend sein kann; so wie N a t u r n o t w e n d i g k e i t die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden.
Vernünftige Lebewesen, so scheint es hier, besitzen als solche ein Begehrungsvermögen, das durch Vernunft geleitet werden kann, d.h. einen Willen.2 Wenn der Wille vernünftig ist, so ist er auch frei. Ein freier Wille — die »Kausalität«, der die Eigenschaft der Freiheit zukommt — wird in vertrauter Weise als Vermögen definiert, unabhängig von der Bestimmung durch natürliche, der Vernunft fremde Ursachen auf die Natur Einfluß zu nehmen. Denn das willentliche Handeln des Menschen, das Ingangsetzen einer Kausalkette, wirkt in natürlichen Ereignissen fort. Vernunftlose Wesen sind
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Ratio essendi und ratio cognoscendi sind Termini der Leibniz-Wolffschen Schule. Kant selbst gibt in der Nova dilucidatio die folgende Erklärung: »PROP. IV. Determinare est ponere praedicatum cum exclusione oppositi. Quod determinat subiectum respectu praedicati cuiusdam, dicitur ratio. Ratio distinguitur in antecedenter et in consequenter determinantem. Antecedenter determinans est, cuius notio praecedit determinatum, h. e. qua non supposita derterminatum non est intelligibile. Consequenter determinans est, quae non poneretur, nisi iam aliunde posita esset notio, quae ab ipso determinatur. Priorem rationem etiam rationem cur s.[ive] rationem essendi vel fiendi vocare poteris, posteriorem rationem quod s.[ive] cognoscendi.« (I:391 f.) — Durch Freiheit ist das Sittengesetz demnach eindeutig bestimmt. Es sieht zudem so aus, als stelle Vernunft allein sicher, daß Lebewesen einen freien Willen besitzen. Dies ist zumindest in der Grundlegung Kantische Lehrmeinung, wie die bald folgende Überschrift (IV:447) verkündet: »Freiheit muß als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden«; und zwar deshalb, weil Moral für uns nur als für vernünftige Wesen notwendig sein kann. Auch in der Kritik der praktischen Vernunft spricht Kant so, als ob Vernunft und einen Willen zu besitzen und einen freien Willen zu besitzen ein und dasselbe wären, denn dort heißt es, das Sittengesetz gelte »für alle vernünftigen Wesen, so fern sie überhaupt einen Willen, d.i. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen« (A57), was nur dann möglich ist, wenn diese Wesen einen freien Willen haben. Es ist wahrscheinlich, daß Kant diese These in späterer Zeit aufgegeben hat. Vgl. unten, §6.3.
§ 6. Freiheit und Moral
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dagegen in ihrem Wirken passiv und ganz durch das Wechselspiel von Bedürfnissen und äußeren Einflüssen bestimmt. Vernunft hat auf ihr Verhalten keinen Einfluß. Wenn man von der Vernunftfähigkeit des Menschen absieht, so ist freilich auch er als Teil der Natur ein vernunftloses Wesen, das scheinbar durch den Einfluß fremder Ursachen bestimmt wird. In der Natur — in der Abfolge von Ursache und Wirkung in der Welt — gibt es keine Vernunft. Doch dieser Blick ist einseitig und stellt für Kant eine unzulässige Verkürzung menschlichen Handelns dar. Der transzendentale Idealismus liefert den Schlüssel für die Vereinbarkeit von Vernunft und Natur.1 [2] Die angeführte Erklärung der Freiheit ist n e g a t i v, und daher, um ihr Wesen einzusehen, unfruchtbar; allein es fließt aus ihr ein positiver Begriff derselben, der desto reichhaltiger und fruchtbarer ist.
Der negative Freiheitsbegriff ist, wie gesehen (§5), wenig aussagekräftig, wenn es darum geht, Sinn und Zweck der Freiheit zu bestimmen. Er sagt uns nur, was Freiheit nicht ausmacht, und gerade nicht, worin sie besteht. Doch wie soll aus der Erklärung des negativen Freiheitsbegriffs ein aufschlußreicherer »positiver« Begriff der Freiheit »fließen«? [3] Da der Begriff einer Kausalität den von G e s e t z e n bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge,2 gesetzt werden muß: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art, sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding. 1
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Zu H. E. Allisons Rekonstruktion der Ableitung des Sittengesetzes aus negativer Freiheit (Kant’s Theory of Freedom, Kapitel 11, S.201–213) ist an dieser Stelle zweierlei zu bemerken: (i) Allison leitet den kategorischen Imperativ aus negativer Freiheit ab, indem er nach der stärkstmöglichen Rechtfertigung für Handlungen bzw. deren Maximen sucht. Allisons Rekonstruktion ist sicherlich in Kants Sinn, doch es ist fraglich, ob Kant diese Konsequenzen seiner Theorie am Beginn des dritten Abschnitts der Grundlegung schon im Auge hatte. Der hier geführte Beweis hingegen kommt weitgehend ohne Rekurs auf die Rechtfertigung von Maximen aus. Zudem macht er implizit vom Begriff eines heiligen Willens Gebrauch, der gar nicht nach Maximen handelt. (ii) Allison will Kants prima facie zu schwaches Argument durch die Einführung transzendentaler Freiheit als starker Prämisse retten (vgl. S.207, 212). Dabei übersieht er, daß der Begriff negativer Freiheit, den Kant voraussetzt, selbstverständlich der Begriff negativer transzendentaler Freiheit ist, der in der Auflösung der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft entwickelt wurde. (Ein schwächeres Konzept praktischer Freiheit, das ohne transzendentale Freiheit auskommt, war für Kant in der kritischen Zeit nicht mehr interessant. Es wäre ungereimt, wenn Kant meinte, aus einemso schwachen Freiheitsbegriff lasse sich der kategorische Imperativ herleiten.) Allisons Deus ex machina, die transzendentale Freiheit, war also schon zu Anfang des Stücks auf der Bühne. Aus dieser Voraussetzung folgt direkt, daß nur die stärkste Form der Universalisierung, die von aller materiellen (d.h. vorausgesetzten) Bestimmung absieht, der Bedingung idealer Freiheit genügen kann. Die »Folge« bezeichnet hier (wie bei Kant des öfteren) das, was auf die Ursache folgt, also die Wirkung. Wenn wir von einer kausalen Verknüpfung sprechen, so bedeutet dies, daß eine Wirkung von ihrer Ursache nach Gesetzen hervorgebracht denken. Natürlich kennt Kant auch die epistemische Folge (im Verhältnis von Grund und Folge), die er an manchen Stellen von der Kausalfolge nicht deutlich zu trennen scheint — was uns freilich noch nicht zu der Annahme berechtigt, er sei sich des Unterschieds nicht bewußt gewesen.
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I. Freiheit und Indifferenz
Der Begriff eines gesetzlosen, einzig durch seine Unabhängigkeit von der Natur gekennzeichneten freien Willens ist für sich nicht verständlich. Er läßt uns im dunklen darüber, wie eine freie Handlung zustande kommt; und die Gesetzlosigkeit der Handlungen hätte für den handelnden Menschen verheerende Folgen. Welche Schlüsse sind dann aus der vorausgesetzten Unabhängigkeit unseres Willens von natürlichen Bestimmungsgründen zu ziehen? Wenn natürliche Interessen nicht zur Bestimmung eines freien Willens dienen können, weil eben darin die Freiheit besteht, von ihnen unabhängig zu sein: was kann dann als Richtschnur beim Handeln dienen? Welchen Gebrauch darf der Wille überhaupt von seiner Freiheit, die Unabhängigkeit ist, machen?1 Es gibt noch einen zweiten Grund dafür, daß Kant hier nach einer Regel für freie Handlungen sucht und einen regellos freien Willen für ein »Unding« hält. Es ist nämlich für Kant ein analytischer Satz, daß Kausalität notwendig Gesetzen gehorcht. (Es ist andererseits natürlich ein synthetischer Satz (a priori), daß alle Veränderungen in der Welt dem Kausalgesetz unterliegen. Begriffserklärungen und Existenzbeweise müssen streng unterschieden werden.) Laut Einleitung in die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft enthält der Begriff der Ursache »den Begriff einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel« (B5). Der Wille ist eine Variante der Kausalität, weil wir durch ihn als Ursachen auf die Welt einwirken. Da Freiheit zunächst Freiheit von der Naturkausalität bedeuet, gesetzlose Freiheit jedoch unmöglich ist und wir außerdem gute Gründe haben, auch den freien Willen qua Kausalität für gesetzmäßig zu halten, müssen wir nach dem spezifischen Kausalgesetz der Kausalität durch Freiheit suchen.2 Dies führt abermals auf die Frage nach dem Gesetz freier Handlungen. 1
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Vgl. die bereits erwähnte Reflexion 7202 aus den 1780er Jahren: »Da die Frage ist, ob meine Freyheit in diesem Puncte durch nichts eingeschränkt sey, so vermuthe ich einen Grund der Auflösung derselben, der nicht blos auf diesen fall, sondern überhaupt auf freyheit geht. Freyheit ist an sich selbt ein Vermögen, unabhängig von empirischen Gründen zu thun und zu lassen. Also kan es keine Gründe geben, welche uns in allen dergleichen Fällen empirisch zu bestimmen das Gewicht hätten. Die Frage ist also: wie darf ich mich meiner freyheit überhaupt bedienen? Ich bin frey aber nur vom Zwange der Sinnlichkeit, kan aber nicht zugleich von einschränkenden Gesetzen der Vernunft frey seyn; denn eben darum, weil ich von ienem frey bin, muß ich unter diesen stehen, weil ich sonst von meinem eigenen Willen nicht sagen [sc. nicht sprechen] kann.« Demnach verfehlt Henry Allison eine bedeutende philosophische Pointe Kants, wenn er ein Argument für die Notwendigkeit der Bestimmung auch des freien Willens durch ein Gesetz bei Kant nicht finden kann und eine dogmatische Setzung oder eine petitio principii vermutet: »Apart from the passage from the Groundwork cited at the beginning of this section, which seems to be little more than a dogmatic assertion, Kant does not appear to offer any argument in support of the claim that a free will must be law governed or determinable. In fact, the account in the second Critique suggests that this essential quesion is simply begged.« (Kant’s Theory of Freedom, S.203).
§ 6. Freiheit und Moral
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[4] Die Naturnotwendigkeit war eine Heteronomie der wirkenden Ursachen; denn jede Wirkung war nur nach dem Gesetze möglich, daß etwas anderes die wirkende Ursache zur Kausalität bestimmte; was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein, als Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein?
Den genannten Fragen ist folgendermaßen zu begegnen: Wenn der Wille die »externe« Leitung der Natur, Heteronomie, zurückweist, so bleibt einzig die Möglichkeit der Autonomie, daß er sich nämlich aus sich selbst heraus leitet. Dabei sind die Begriffe der Autonomie und der Heteronomie sind im vorangegangenen zweiten Abschnitt der Grundlegung ausführlich diskutiert worden. Wie das Imperfekt »war« andeutet, greift Kant an dieser Stelle zu Beginn des dritten Abschnitts einfach auf die Ergebnisse des zweiten Abschnitts zurück. Ein neues Argument für die Disjunktion Autonomie– Heteronomie liefert er nicht. Weil ein freier Wille nicht heteronom bestimmt ist, muß er sich selbst eine Regel sein.1 Damit stellt sich die Frage, welche Art Wille an dieser Stelle gemeint ist. Wenn ein empirisch affizierter Wille wie der menschliche die Leitung der Natur ablehnen soll, weil seine Freiheit gerade darin besteht, sich von natürlichen Neigungen und Begierden lösen zu können, so bedeutet das noch nicht, daß er von dieser Freiheit immer Gebrauch macht, obwohl ihm diese Freiheit als Vermögen immer gegeben ist. Ein solcher Wille kann und soll sich selbst in all seinem Handeln ein Gesetz sein, obwohl er es nicht immer — im rein deskriptiven Sinn — ist. Für einen vollkommen freien göttlichen Willen hingegen, dem die Natur gar nicht Leitfaden sein kann, besteht dieses Problem nicht. Er soll sich nicht von der Natur emanzipieren, weil er von 1
Vgl. die bereits zitierte Reflexion 7220. Vorausgesetzt wird selbstverständlich, daß es außer der Vernunft und der Natur keine weitere Quelle für Handlungsnormen geben kann. Autonomie und Heteronomie bilden eine vollständige Disjunktion. — Bei Kant findet sich in der Frage der Selbstgesetzgebung eine weitere aufschlußreiche Parallele im theoretischen Vernunftgebrauch. In der Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? von 1786 konstatiert Kant, zweifellos unter dem Einfluß seiner kürzlich ausgearbeiteten Auffassungen zur Ethik, die Freiheit im Denken sei nicht nur, erstens, dem bürgerlichen Zwang und, zweitens, dem Gewissenszwang entgegengesetzt, sondern bedeute auch, drittens, »die Unterwerfung der Vernunft unter keine andere Gesetze als: die sie sich selbst gibt; und ihr Gegenteil ist die Maxime eines gesetzlosen Gebrauchs der Vernunft (um dadurch, wie das Genie wähnt, weiter zu sehen, als unter der Einschränkung durch Gesetze). Die Folge davon ist natürlicher Weise diese: daß, wenn die Vernunft dem Gesetze nicht unterworfen sein will, das sie sich selbst gibt, sie sich unter das Joch der Gesetze beugen muß, die ihr ein anderer gibt; denn ohne ein Gesetz kann gar nichts, selbst nicht der größte Unsinn sein Spiel lange treiben. Also ist die unvermeidliche Folge der erklärten Gesetzlosigkeit im Denken (einer Befreiung von den Einschränkungen durch die Vernunft) diese: daß Freiheit zu denken zuletzt dadurch eingebüßt und, weil nicht etwa Unglück, sondern wahrer Übermut daran schuld ist, im eigentlichen Sinne des Worts verscherzt wird.« (VIII:145). Diese Ausführungen, wie auch die folgenden über Schwärmerei und Aberglaube, gelten mutatis mutandis für die Theorie wie für die Praxis — was schon deshalb wenig erstaunlich ist, weil dies nach allgemeiner Kantischer Auffassung die beiden Tätigkeitsfelder der einen Vernunft sind.
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I. Freiheit und Indifferenz
ihr ohnehin vollkommen frei ist, ja ihm fehlt sogar — ohne daß dies negativ zu Buche schlüge — die Möglichkeit, das Gesetz seiner Handlungen aus einer anderen Quelle als aus sich selbst zu schöpfen. Der erstgenannte Wille ist autonom, weil er sich selbst stets ein Gesetz sein kann und soll; damit übernimmt er die Verantwortung auch für diejenigen Fälle, in denen er seiner Freiheit zum Trotz natürlichen Antrieben gehorcht, von denen er sich besser löste; der Wille der zweiten Art ist autonom, weil er sich selbst stets ein Gesetz ist. Wenn Kant, wie hier, von der Autonomie als der Eigenschaft eines Willens spricht, sich selbst ein Gesetz zu sein, so hat er den Idealfall eines heiligen Willens vor Augen. Denn nur für die Handlungen eines heiligen Willens gelten die Gesetze der Autonomie so, wie die Gesetze der Heteronomie für Ereignisse in der Natur gelten.1 [5] Der Satz aber: der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach keiner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann. Dies ist aber gerade die Formel des kategorischen Imperativs und das Prinzip der Sittlichkeit: also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei.
Wenn Kant an dieser Stelle von einem Willen spricht, der sich stets selbst ein Gesetz ist, so hat er offenbar (wie schon im vorigen Satz [4]) den ideal freien Willen im Blick, aus dessen negativer Freiheit ipso facto realisierte positive Freiheit folgt, weil er nicht anders als vernünftig handeln kann. Wenn Kant jedoch direkt danach von einem Willen spricht, der dem Sittengesetz in der Gestalt des kategorischen Imperativs folgen kann, so kehrt er zum empirisch affizierten und doch transzendental freien Willen des Menschen zurück. Für 1
H. J. Paton hat in seinem Kommentar zur Grundlegung an dieser Stelle den Einwand gegen Kants Vorgehen erhoben, das Naturgesetz sei ein deskriptives Gesetz, während das Sittengesetz ein für uns präskriptives Gesetz sei, das lediglich Handlungsanweisungen gebe und die Rolle eines Kausalgesetzes, das Ursache und Wirkung verbindet, aus diesem Grunde nicht übernehmen könnte (vgl. The Categorical Imperative, S.211). Er hat dabei übersehen, daß es Kant hier nur um das Ideal vollkommen autonomer Handlungen zu tun ist, in denen die Befolgung des Sittengesetzes tatsächlich den Willen eines vernünftigen Wesens bestimmt und somit deskriptiv als Kausalgesetz fungieren kann. Zudem haben in hypothetischen Imperativen auch Naturgesetze normative Kraft. Den Fehler, anzunehmen, an dieser Stelle der Grundlegung spreche Kant vom menschlichen Willen und nicht von einer Art idealer Autonomie, begeht auch Gideon Yaffe in seiner detaillierten Rekonstruktion des Arguments; vgl. »Freedom, Natural Necessity and the Categorical Imperative«. Yaffes Autonomiebegriff ist folglich zu schwach: »[A]bsolutely every causal event in which the will causes an event has the property of freedom […], that is, the property of the will itself not being caused to act by anything external to itself, and it is this property which is being equatetd with autonomy.« (S.452). Somit wären negative Freiheit und Autonomie koextensiv. Doch das Sittengesetz ist nicht das Kausalgesetz jeder negativ freien menschlichen Handlung, nicht jede negativ freie menschliche Handlung ist eo ipso eine autonome Handlung. Für Kant fällt negative Freiheit nur mit dem Vermögen zu positiver Freiheit und Autonomie zusammen, d.h. mit dem Vermögen dem kategorischen Imperativ zu folgen und moralische Maximen zu wählen. Nur in einem abgeleiteten Sinn heißt ein Wille, der dies Vermögen besitzt, autonom. Es ist ein Grundproblem der Moral, daß Menschen dieses Vermögen nicht immer nutzen. Vgl. §6.4.
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uns Menschen als Wesen, die nach Maximen handeln, weist das Prinzip »Der Wille ist in allen Handlungen sich selbst ein Gesetz« auf den kategorischen Imperativ. Auch daß das Prinzip der Autonomie dem kategorischen Imperativ entspricht, wurde im zweiten Abschnitt der Grundlegung gezeigt. Da Kant mit dem Sittengesetz als Imperativ wieder zum menschlichen Beispiel zurückkehrt, ist bezeichnenderweise vom freien Willen als einem Willen unter sittlichen Gesetzen die Rede. Dies ist ein Wille, der anders als der heilige Wille nicht als solcher nach sittlichen Gesetzen handelt und doch nach sittlichen Gesetzen handeln kann, die eben aus diesem Grund für ihn normative Gültigkeit besitzen.1 Dies verwirrende Hin und Her zwischen bloßer Naturkausalität, dem menschlichem Willen und dem Ideal eines reinen Willens ist das Ergebnis der Parallelisierung von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit, von Naturgesetz und Sittengesetz. Das erfordern die — extremen — Beispiele von den Begehrungsvermögen zweier grundverschiedener Wesen, von denen eines allein nach Naturgesetzen, das andere allein nach dem Sittengesetz handelt. Weil Menschen nicht dem Zwang der Naturgesetze unterliegen, besitzen sie das Vermögen, ihre Handlungen nach Gesetzen der Vernunft zu ordnen. Andererseits sind sie von natürlichen Antrieben auch nicht vollkommen frei. Deshalb steht ihnen auch die Möglichkeit offen, unvernünftig zu handeln, was sie allzuoft auch tun. Der menschliche Wille liegt auf der Mitte zwischen idealer Autonomie und unausweichlicher Heteronomie. Doch allein Autonomie ist der Maßstab, an dem er sich orientieren soll.2 Wenn der Mensch dagegen dem Gebot der Vernunft zuwider handelt, so läßt er — unnötigerweise! — seinen Willen von Naturgesetzen bestimmen. Wenn der Mensch handelt, wie er soll, so tritt das Sittengesetz an die Stelle der Naturgesetze hypothetischer Imperative als Kausalgesetz des Willens.3
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Vgl. Kritik der Urteilskraft, B421 Anm.: »Ich sage mit Fleiß u n t e r moralischen Gesetzen. Nicht der Mensch n a c h moralischen Gesetzen, d.i. ein solcher, der sich ihnen gemäß verhält, ist der Endzweck der Schöpfung.« — Jeder Wille, der nach sittlichen Gesetzen handelt, steht in gewisser Weise auch unter diesen Gesetzen, während die Umkehrung nicht gilt: Nicht jeder Wille, der unter sittlichen Gesetzen steht und deshalb frei ist, handelt ihnen gemäß. In der z.T. zitierten Fußnote aus der Kritik der Urteilskraft geht es Kant um einen Willen, der bloß unter moralischen Gesetzen steht, d.h. um einen Willen der Art des menschlichen. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, A56: Die Vernunft hält »die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen […], d.i. an sich selbst, indem sie sich als a priori praktisch betrachtet«. Dies kann als knappe Zusammenfassung des dritten Abschnitts der Grundlegung gelten. In der »Erscheinung« geschehen natürlich auch moralische Handlungen nach dem Naturgesetz von Ursache und Wirkung. Vgl. Kapitel III zu Kants Versuch eines Ausgleichs zwischen Freiheit und Naturkausalität, v.a. §11.
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Die heikle Frage, wie dieses Sollen zustande kommt, versucht Kant im weiteren Verlauf des dritten Abschnitts der Grundlegung zu beantworten. Zum Vergleich bietet sich der §6 der Kritik der praktischen Vernunft an, in dem von der Freiheit des Willens auf das ihn bestimmende Gesetz geschlossen wird, ohne von der Konzeption der Autonomie Gebrauch zu machen. Die Aufgabe, die sich Kant dort stellt, ist die unter der Voraussetzung, »daß ein Wille frei sei, das Gesetz zu finden, welches ihn allein notwendig zu bestimmen tauglich ist« (A52). Das soll wie folgt geschehen: Da die Materie des praktischen Gesetzes, d. i. ein Objekt der Maxime, niemals anders als empirisch gegeben werden kann, der freie Wille aber als von empirischen (d. i. zur Sinnenwelt gehörigen) Bedingungen unabhängig, dennoch bestimmbar sein muß: so muß ein freier Wille unabhängig von der M a t e r i e des Gesetzes, dennoch einen Bestimmungsgrund in dem Gesetze antreffen. Es ist aber außer der Materie des Gesetzes nichts weiter in demselben als die gesetzgebende Form enthalten. Also ist die gesetzgebende Form, so fern sie in der Maxime enthalten ist, das einzige, was einen Bestimmungsgrund des Willens ausmachen kann. (ibid.)
Die Materie steht hier nach der üblichen Kantischen Unterscheidung für die in einer Maxime enthaltenen Zwecke, die natürlichen Ursprungs sind. (Selbst wenn Achtung eine Maxime nahelegt, geschieht dies mittelbar durch psychologische Mechanismen. Form schafft Materie.) Mit der »gesetzgebenden Form« hingegen ist allein die Tauglichkeit zum allgemeinen Gesetz gemeint. Maximen müssen also streng allgemeingültig sein, um Freiheit zu realisieren. Auf verschiedenem Wege, doch mit Hilfe desselben Grundgedankens, sind Grundlegung und Kritik der praktischen Vernunft zum gleichen Ergebnis gelangt. Man vergleiche auch die folgede Reflexion: Alle obligation beruht auf der Form der maxime; die materie derselben kan sie nicht zur allgemeinen Regel machen, denn die ist willkührlich. […] Der Wille aber als frey muß determinirt seyn, folglich nur so fern er allem Wollen zur Regel dienen kan. (R7229, 1780–89).
Kein konkreter Zweck, nichts Materielles, kann für sich genommen universalisiert werden. Universalisierung kann allein die Form der Maxime garantieren. Daraus ergibt sich die Bestimmung eines freien Willens. 6.2 Weder zu Beginn des dritten Abschnitts der Grundlegung noch in §6 der Kritik der praktischen Vernunft wird ein Beweis der Gültigkeit des Sittengesetzes (in der Form des kategorischen Imperativs) geführt. (Denn für die negative Freiheit, die vorausgesetzt werden muß, damit die positive Freiheit und mit ihr das moralische Gesetz folgt, kann es keinen empirischen oder theoretischen Beweis geben.) Allerdings gilt, daß die Realität der Moral folgt, wenn man nur transzendentale Freiheit voraussetzt, während die Rea-
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lität des kategorischen Imperativs nicht folgt, wenn man nur das gute Wollen voraussetzt. Dies ist der Sinn der verwirrenden Anfangssätze des dritten Absatzes des dritten Abschnitts der Grundlegung, der sich direkt an die besprochenen Sätze [1] bis [5] anschließt: Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus, durch bloße Zergliederung ihres Begriffs. Indessen ist das letztere doch immer ein synthetischer Satz: ein schlechterdings guter Wille ist derjenige, dessen Maxime jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthalten kann; denn durch Zergliederung des Begriffs von einem schlechthin guten Willen kann jene Eigenschaft der Maxime nicht gefunden werden. (IV:447)
Der zweite Satz verblüfft. Hat Kant nicht in den ersten beiden Abschnitten aus dem Begriff eines guten Willens »das letztere«, sc. das Prinzip, den kategorischen Imperativ abgeleitet? Nein. Denn erstens wurde die Formel aus dem Begriff der Pflicht abgeleitet (IV:397), nicht direkt aus dem des guten Willens. Sie ist deshalb synthetisch, sie gebietet dem menschlichen Willen etwas genuin Neues. Zweitens wurde unter Voraussetzung des allgemeinen moralischen Bewußtseins gezeigt, nach welchem Prinzip sich ein guter Wille richten müßte, wenn denn der kategorische Imperativ für ihn Geltung besäße. Daß er Geltung besitzt, wurde nicht gezeigt. Der Nachweis der Gültigkeit des »synthetischen« kategorischen Imperativs wurde im zweiten Abschnitt aufgeschoben: [W]ie ein solches absolutes Gebot möglich sei, wenn wir auch gleich wissen, wie es lautet, wird noch besondere und schwere Bemühung erfordern, die wir aber zum letzten Abschnitte aussetzen. (IV:420).
Anfangs des dritten Abschnitts hat Kant deshalb die Möglichkeit noch nicht ausgeschlossen, daß das Ideal eines menschlichen guten Willens für uns aus prinzipiellen Gründen unerreichbar ist. Das »Dritte«, das für diese Aufgabe benötigt wird und das der postitive Begriff der Freiheit »schafft« (IV:447 — nicht etwa ist oder darstellt!), ist die Idee unser Zugehörigkeit zu einer intelligiblen Welt.1 Dies ist das ambitiöse Projekt einer »Deduktion« (Rechtfertigung) des Sittengesetzes, mit dem Kant die Grundlegung abschließt. 1
Vgl. IV:452. — Hypothetische Imperative sind analytisch, weil sie gelten, wenn man nur den Zweck als gewollt voraussetzt, während der kategorische Imperativ unangesehen der Zwecke, die ein Mensch natürlicherweise verfolgt, notwendig Gültigkeit besitzen soll. Vgl. IV:420 Anm.: Der kategorische Imperativ ist »ein praktischer Satz, der das Wollen einer Handlung nicht aus einem anderen, schon vorausgesetzten analytisch ableitet (denn wir haben keinen so vollkommenen Willen), sondern mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens unmittelbar als etwas, das in ihm nicht enthalten ist, verknüpft«. Es muß also gezeigt werden, wie ein notwendiges Sollen möglich ist, das für alle Menschen als Vernunftwesen gültig ist, ungeachtet dessen, was sie gerade wollen. Bei einem heiligen Willen entfällt das Problem, weil wir voraussetzen können, daß er ohnehin schon immer das Gute will.
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Die Kritik der praktischen Vernunft bietet auf den ersten Blick ein anderes Bild: Freiheit muß aus dem Bewußtsein der Gültigkeit des moralischen Gesetzes für uns geschlossen werden, das keiner weiteren Deduktion fähig ist. Dies ist der zweite Teil der eingangs zitierten These Kants aus der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft, daß Sittengesetz und Willensfreiheit wechselseitig aufeinander verweisen:1 Das Bewußtsein der Gültigkeit des Sittengesetzes übernimmt in der Kritik der praktischen Vernunft die Rolle der ratio cognoscendi der Freiheit, indem man sich vor Augen führt, was das allen Menschen bewußte unbedingte Sollen des kategorischen Imperativs impliziert. Es folgt daraus, daß sie ein Vermögen besitzen müssen, in moralisch relevanten Situationen unerachtet ihrer Neigungen stets das moralisch Richtige zu tun. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn der Wille absolute negative, d.h. transzendentale Freiheit besitzt.2 Im Grunde ist die These der wechselseitigen Verweisung von Freiheit und Moral ein wenig komplizierter (und dadurch verständlicher), als es die knappe eingangs zitierte Fußnote nahelegt. Denn in beiden Richtungen dient der Begriff der positiven Freiheit (bzw. Autonomie) als Mittelstück zwischen der zunächst bloß negativen transzendentalen Willensfreiheit, die in der Kritik der reinen Vernunft erörtert wurde, und der uns als gültig bewußten Moral. Wir gelangen vom negativen Freiheitsbegriff zum positiven, von diesem ausgehend zum Sittengesetz in der Form des kategorischen Imperativs; und wir schließen aus unserem Pflichtbewußtsein auf die positive Freiheit, die als die andere Seite der Münze negativer Willensfreiheit angesehen werden muß. Wieder ist zu beklagen, daß Kant die positive und die negative Bedeutung von »Freiheit« in seinen Darlegungen nicht immer klar beim Namen nennt. 6.3 Die These, transzendentale Freiheit und Sittengesetz seien »Wechselbegriffe«, findet sich in beiden kritischen Hauptwerken zur Ethik, doch allein die Kritik der praktischen Vernunft nimmt die Zuordnung von Freiheit als ratio essendi des Sittengesetzes und Sittengesetz als ratio cognoscendi der Freiheit vor.
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Eigentümlich ist, daß Henry Allison unter dem Titel der »Reciprocity Thesis« diesen zweiten, allerdings weit weniger problematischen Teil nicht diskutiert, so daß bei ihm die These der gegenseitigen Verweisung einseitig zu sein scheint. Vgl. §7.4 zum »Du kannst, denn du sollst!«. Im Gegensatz dazu kann die These von der Freiheit als Seinsgrund des Sittengesetzes mit der paradox klingenden Formel »Du sollst, denn du kannst!« umschrieben werden. Das Sollen ergibt sich, wie soeben gesehen, für Kant tatsächlich daraus, daß wir unabhängig von natürlichen Antrieben sind und deshalb den Geboten der Vernunft gemäß handeln können. Vgl. auch J. Timmermann, »Sollen und Können«.
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In der Grundlegung hingegen wird die These folgendermaßen eingeführt:1 Es zeigt sich hier, ich muß es frei gestehen, eine Art von Zirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus zu kommen ist. Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Dinge als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben; denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe, davon aber einer eben um deswillen nicht dazu gebraucht werden kann, um den anderen zu erklären und von ihm Grund anzugeben, sondern höchstens nur, um in logischer Absicht verschieden scheinende Vorstellungen von eben demselben Gegenstande auf einen einzigen Begriff (wie verschiedne Brüche gleiches Inhalts auf die kleinsten Ausdrücke) zu bringen. (IV:450)
Kants Formulierung verwirrt. Die Frage, die sich als erste stellt, lautet: Worin besteht der Zirkel? Ein Schluß vom einen aufs andere und dann wieder vom anderen aufs eine ist nur schwer auszumachen; und doch liegt ein ebensolcher Zirkel vor. Der Schlüssel liegt im Finalsatz — »um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken«. In ihm steckt die These vom Bewußtsein kategorischer moralischer Gebote als ratio cognoscendi der Freiheit. Das wird erst deutlich, wenn man den Satz umstellt. Der Zirkel ist deshalb folgendermaßen zu paraphrasieren: Damit wir uns sittlichen Gesetzen unterworfen denken können, schreiben wir uns transzendentale Freiheit zu (die Moral ist der Erkenntnisgrund der Freiheit); und weil wir uns frei denken, stehen wir unter diesen Gesetzen (die Freiheit ist der Seinsgrund der Moral). In beiden Richtungen schließt Kant analytisch; was das Problem einer unabhängigen, zirkelfreien Rechtferigung der Moral so dringlich macht. Im Text der Grundlegung findet sich der Schluß von der Gültigkeit des Sittengesetzes auf die Freiheit des Menschen im zweiten Unterabschnitt des dritten Abschnitts: Freiheit muß als Eigenschaft aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden — und zwar weil Moral für uns als vernünftige Wesen gilt (IV:447 f.). Anders ist ihr Anspruch auf Notwendigkeit und Allgemeinheit nicht zu erklären. Dem Zirkel entkommt Kant nur mit dem Verweis auf einen synthetischen Satz: daß wir Mitglieder einer intelligiblen Welt sind 1
Zum »Zirkel« im dritten Abschnitt der Grundlegung und seinen Auflösungen in diesem Werk und in der Kritik der praktischen Vernunft vgl. neben den Kommentaren: v. a. D. Henrich, »Die Deduktion des Sittengesetzes«, K. Ameriks, »Kant’s Deduction of Freedom and Morality«, H. Allison, Kant’s Theory of Freedom, Kapitel 12, S.214–229. Zur Stellung des »Zirkels« innerhalb des dritten Abschnitts vgl. Reinhard Brandt, »Der Zirkel im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, und neuerdings ausführlich und kontrovers: D. Schönecker, Grundlegung III. — In diesem Abschnitt kann das Verhältnis von Grundlegung III und Kritik der praktischen Vernunft nur angedeutet werden. Eine ausführliche Behandlung dieses vieldiskutierten Themas würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.
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(deren Gesetze, wie dann gezeigt wird, Vorrang vor den Gesetzen der anderen, natürlichen Welt beanspruchen dürfen). Als ratio cognoscendi dafür allerdings dient wiederum etwas Moralisches: unser unerklärliches Interesse, die Achtung fürs moralische Gesetz. An dieser Stelle beginnt die Factumslehre der Kritik der praktischen Vernunft.1 Eine »große Wende« (Ameriks) ist dies nicht. Kant vertritt in beiden Schriften die Auffassung, daß wir die Gültigkeit der Moral aus dem notwendigen Selbstverständnis rationaler und moralischer Wesen erkennen und sie auf rein theoretischem Wege nicht bewiesen werden kann; eine Deduktion des Sittengesetztes »von außen« ist letztlich nicht möglich.2 Allerdings ist erwägenswert, ob spätestens mit der Kritik der praktischen Vernunft eine Verengung der Perspektive eintritt, die am besten mit Bezug auf Kants Unterscheidung der Imperative erläutert wird. Der Gedanke, daß die Kenntnis von unserer negativen, transzendentalen Freiheit mit unserem Bewußtsein, nach Imperativen handeln zu sollen, in engem Zusammenhang steht, ist in Kants Schriften schon vor der Kritik der praktischen Vernunft prominent, zum Beispiel in der Auflösung der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft : Daß diese Vernunft nun Kausalität habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den I m p e r a t i v e n klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regeln angeben. Das S o l l e n drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was d a i s t oder gewesen ist oder sein wird. Es ist unmöglich, daß etwas darin anders s e i n s o l l, als es in allen diesen Zeitverhältnissen in der Tat ist; ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung. (A547/B575)
Daß etwas hätte geschehen sollen, obgleich es nicht geschehen ist, gilt für hypothetische Imperative, d.h. Regeln der Geschicklichkeit und Ratschläge der Klugheit, ebenso wie für das unbedingte moralische Sollen des kategorischen Imperativs. Im dritten Abschnitt der Grundlegung versucht Kant, die Notwendigkeit unserer Selbstauffassung als freie Wesen daraus zu erklären, daß wir uns überhaupt für vernünftig handelnde Wesen halten. Unter vernünftigen Wesen verstehen wir Wesen, die nach Imperativen handeln können (wenn sie nicht als vollkommen vernünftige Wesen ohnehin nach objektiven Gesetzen handeln). 1
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Zu dem Punkt, daß die Factumslehre der Kritik den Schlußstein der Moralbegründung liefert (und sie nicht etwa überflüssig macht!) vgl. M. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 171 ff. Für Willaschek ist das Factum nicht etwas bloß Gegebenes, sondern eine Tat der Vernunft, die unser Bewußtsein der Möglichkeit moralischer Handlungen begründet. Auf dieser Grundlage sind die Eingangsparagraphen dieser Kritik zu verstehen. Dies hebt M. Willaschek mit Recht hervor: Praktische Vernunft, S. 191.
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In der Zeit bis zur Abfassung des dritten Abschnitts der Grundlegung und (spätestens) der Kritik der praktischen Vernunft scheint Kant sein Vertrauen in die Aussagekraft bedingten Sollens verloren zu haben. Denn es besteht die theoretische Möglichkeit vernünftiger Wesen, die entweder nur bedingtem Sollen nachkommen können, die also nur nach hypothetischen Imperativen handeln können, nicht jedoch nach dem kategorischen Imperativ (etwa deshalb, weil ihnen das moralische Motiv fehlt, das sittliche Handlungen ermöglicht), oder die überhaupt nicht vernünftig handeln. Im erstgenannten Fall folgte aus dem Bewußtsein vernünftigen Handelns nicht mehr, daß der Wille als absolut frei — und damit als moralisch — gedacht werden muß. Die Gefahr, daß alle Imperative, »die kategorisch scheinen, doch versteckter Weise hypothetisch sein mögen« (IV:419), die sich Kant für den dritten Abschnitt der Grundlegung vorbehält, wird somit bei rechter Betrachtung nicht gebannt. Der Grund dafür, daß wir uns als Mitglieder einer intelligiblen Welt verstehen und uns ihren Gesetzen unterordnen wollen, kann Kant dort nicht mehr angeben. In der zweiten Kritik erhält es den Namen des Factums der Vernunft.1 6.4 Die Tatsache, daß positive Freiheit und Autonomie aus vorausgesetzter negativer Freiheit abgeleitet werden können, hat bedeutende Konsequenzen für unsere Gesamtkonzeption des Freiheitsbegriffs; denn der Indifferentismus, dem zufolge Freiheit bedeutet, nach Belieben unterschiedslos so oder so handeln zu können, wird durch Kants positive Konzeption von vernünftiger, moralischer Freiheit ausgeschlossen, während er allein auf der Grundlage negativer, transzendentaler Freiheit zunächst nahezuliegen schien. Mit der positiven Freiheit tritt die Vernunft als Maßstab auf: Jetzt werden freie Handlungen nach ihrer Vernünftigkeit beurteilt, und ein Mangel an Vernunft ist zugleich ein Minus an Freiheit.
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Z.B. in der Religionsschrift (VI:26 Anm.) äußert sich Kant sehr skeptisch über die Schlüsse, die wir aus der Vernünftigkeit eines Wesens zu ziehen berechtigt sind: »[E]s folgt daraus, daß ein Wesen Vernunft hat, gar nicht, daß diese ein Vermögen enthalte, die Willkür unbedingt durch die Vorstellung der Qualifikation ihrer Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung bestimmen und also für sich selbst praktisch zu sein: wenigstens soviel wir einsehen können. Das allervernünftigste Weltwesen könnte doch immer gewisser Triebfedern, die ihm von Objekten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen; hiezu aber die vernünftigste Überlegung, sowohl was die größte Summe der Triebfedern, als auch die Mittel, den dadurch bestimmten Zweck zu erreichen, betrifft, anwenden: ohne auch nur die Möglichkeit von so etwas, als das moralische, schlechthin gebietende Gesetz ist, welches sich als selbst und zwar höchste Triebfeder [selbst als, und zwar höchste, Triebfeder? (G. Patzig)] ankündigt, zu ahnen. Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür anschwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unabhängigkeit unserer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht.« — Zu Kants eigentümlicher Theorie, daß sich das Gesetz selbst als höchste Triebfeder ankündigt, vgl. Kapitel V.
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In der Einleitung in die Metaphysik der Sitten wendet sich Kant in Reaktion auf zeitgenössische Kritik ausdrücklich gegen eine indifferentistische Deutung seiner Theorie: Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln (libertas indifferentiae), definiert werden — wie es wohl einige versucht haben —, obzwar die Willkür als P h ä n o m e n davon in der Erfahrung häufige Beispiele gibt. Denn die Freiheit (so wie sie uns durchs moralische Gesetz allererst kundbar wird) kennen wir nur als n e g a t i v e Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnlichen Bestimmungsgründe zum H a n d e l n genötigt zu werden. Als N o u m e n aber, d.i. nach dem Vermögen des Menschen bloß als Intelligenz betrachtet, wie sie in Ansehung der sinnlichen Willkür n ö t i g e n d ist, mithin ihrer positiven Beschaffenheit nach, können wir sie theoretisch gar nicht darstellen. […]1
Dabei fällt auf, daß Kant das Phänomen der subjektiven Gleichgültigkeit der Handlungsgründe durchaus zur Kenntnis nimmt, und daß er versucht, diese Erfahrung als den Grund indifferentistischer Freiheitstheorien aufzuklären.2 Denn obgleich negative wie positive Freiheit theoretisch nicht unter Beweis gestellt werden können, ist uns jene doch als Ausbleiben der Nötigung zu bestimmten Handlungen subjektiv vertraut. Die negative Freiheit von fremden, sinnlichen Antrieben kann auf Grund ihres negativen Charakters nicht endgültig nachgewiesen werden, und es besteht immer die von Kant oft beschworene Gefahr, daß subtile sinnliche Triebfedern unbemerkt auf unser Handeln Einfluß nehmen. Positive Freiheit können wir dagegen 1
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VI:226. Man vergleiche die Ausführungen im Opus postumum, XXI:470 ff., die von den Herausgebern der Akademie-Ausgabe auf die Zeit vor 1796 datiert werden: »Die Freyheit der Willkühr kennen wir eigentlich nur als negative Eigenschaft nämlich der Unabhängigkeit der Bestimmung durch Triebfedern die (außer dem Willen selbst) der Lust oder Unlust dem Gesetz gemäß oder zu wieder die Willkühr bestimmten. Aber sie ist doch eben darum auch ein obgleich uns unbegreifliches Vermögen der Willkühr jenen sinnlichen Triebfedern zu w i e d e r s t e h e n (die an sich weder gut noch böse sind) nicht blos ein Vermögen zwischen ihnen zu wählen. […] (Wir können die Freyheit der Willkühr nicht so definieren daß sie ein Vermögen sey dem Gesetz gemäs oder auch zuwieder zu handeln denn das wäre eine völlige subjective Gesetzlosigkeit derselben (indifferentia arbitrii) Unabhängigkeit von allen Bestimmungsgründen derselben woraus gar keine Handlung entspringen kann.)«. Zum Argument, daß Gleichgültigkeit (das »Äquilibrium« der Stimuli oder der Motive) nicht zum Handeln führen kann, vgl. Metaphysik Mrongovius, XXIX:901 ff. Kant hällt es zudem für ausgeschlossen, daß es ein vollkommenes Gleichgewicht der Motive geben könnte. Er ist der Ansicht, daß im Zweifelsfall subjektive Motive wie Habsucht oder Ungeduld, womöglich unbewußt, den Ausschlag geben, die erstbeste Entscheidung zu treffen. »Sonst wird der Mensch beim völligen Äquilibrium nichts wählen können. Libertas aequilibrium ist also nichts. Denn wir handeln hier doch immer nach der größeren Menge der Triebfedern und also nicht nach eigenem Dünkel.« (XXIX:902). Vgl. Reflexion 6960 (zwischen 1770 und 1778, wahrscheinlich 1776–1778): »Die freyheit ist eine subiective Gesetzlosigkeit. Man weiß nicht, nach welcher Regel man seine eigenen oder anderer Menschen Handlungen beurtheilen soll.« — Deshalb muß sich der Wille allgemeinen und objektiven Regeln unterwerfen, wie Kant auf uns vertraute Weise im Folgenden ausführt. Wiederum malt Kant in krassen Farben den Fall, in dem der Mensch sich dieser Freiheit ohne Orientierung an moralischen Gesetzen bedient. Dann werde er »selbst unter das thier verächtlich und mehr als dasselbe hassenswürdig […]«; dazu vgl. §5.
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nicht verifizieren, weil der direkte Einfluß der Vernunft auf unser Handeln weder a priori noch a posteriori theoretisch nachweisbar ist. Im Bereich dessen, was wir theoretisch erkennen und erklären können, gibt es also weder radikale Unabhängigkeit vom Kausalgesetz der Natur noch eine aus reiner Vernunft entspringende Freiheitskausalität.1 Auch wenn wir die Nötigung der Vernunft zu bemerken glauben, können wir uns nie vollkommen sicher sein, daß es nicht in Wirklichkeit sinnliche Triebfedern sind, die uns zum Handeln drängen. Zudem führt der Zwang der Vernunft nicht automatisch zur Handlung, sondern wir erfahren eine trügerische negative »Freiheit«, dem Sittengesetz nicht zu gehorchen, die in Wirklichkeit ein Unvermögen ist. Dazu nun im folgenden mehr. 6.5 Wir sind nun in der Lage, die in der Einleitung (§3) unternommenen Definitionsversuche der Freiheitskonzeption Kants fortzuführen und zu präzisieren. Eine umfassende Freiheitsdefinition müßte demnach folgendermaßen lauten: Freiheit [des Willens] bezeichnet das Vermögen, unabhängig von Naturursachen selbsttätig vernünftig zu handeln.2 Je nach Situation ist vernünftiges Handeln kluges oder moralisch gutes Handeln. In jedem Fall ist vernünftiges Handeln gutes Handeln.3 Besonderes Gewicht liegt bei den Kantischen Definitonen auf dem Wort »Vermögen«, und zwar nicht nur deshalb, weil so ein normativer Standard in den Freiheitsbegriff eingeführt und das gleichgültige Entweder–Oder endgültig verbannt wird, sondern auch, weil ein Vermögen selbst dann fortbesteht, wenn es nicht aktualisiert wird.4 Es ist aus diesem Grunde nicht so, wie man Kant oft vorgeworfen hat, daß allein moralisch motivierte Handlungen freie Handlungen sind, wenngleich sie ein Höchstmaß an Vernunft und damit an Freiheit (von empirischen bestimmenden Gründen) realisieren. Um unvernünftigen Handlungen Freiheit zuschreiben zu können, reicht es aus, daß der Handelnde zum Zeitpunkt der Handlung hätte ver-
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Vgl. hierzu die sehr deutlichen Ausführungen im ersten Abschnitt des Gemeinspruchs (VIII:284 f.). Diese Freiheit zur Vernunft kommt auch darin zum Ausdruck, daß man nach Kant nicht rein äußerlich gezwungen werden kann, unvernünftig, v.a. unmoralisch, zu handeln: Der leidenschaftliche Liebhaber der Anmerkung zu §6 der Kritik der praktischen Vernunft verdeutlicht dies: Der Anblick des Galgens zwingt ihn im ersten Fall zur klugen Handlung, so wie uns das Gesetz und gesetzlich angedrohte Strafen zu legalen Handlungen zwingen, indem sie bewirken, daß sich Illegalität nicht lohnt. Doch im zweiten Fall kann die Androhung der Todesstrafe den Handelnden nicht zur unmoralischen Handlung zwingen. Handlungen, die gegen die Moral verstoßen, können nie vernünftig und, wenn Klugheit eine Art der Vernünftigkeit ist, auch nicht klug sein. Deshalb sind sie auch nicht gut. Dies geht aus dem »Kalkerdebeispiel« der Kritik der praktischen Vernunft hervor, vgl. u., §11. Einer der wenigen Interpreten, die dies hinreichend klar hervorheben, ist Nelson Potter, »Does Kant have Two Concepts of Freedom?«.
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nünftig handeln können, daß er »bei Sinnen« war, d.h. daß er das Vermögen besaß, vernünftig zu handeln.1 In einer Reflexion schreibt Kant konzis: Die Handlungen aus Neigung, wobey es möglich war, durch freyheit zu handeln, sind auch frey. (R6931, 1776–78)
Wenngleich sich in seinen Schriften eine durchgängige terminologische Unterscheidung der beiden Fälle der Freiheit nicht erkennen läßt, so ist doch klar, daß Kant in jedem Fall von aktualisierter positiver Freiheit spricht, wenn er wie in der zitierten Reflexion sagt, eine Handlung sei aus oder durch Freiheit zustande gekommen. In einer im Tenor ganz ähnlichen Passage der Prolegomena werden »aus Vernunft, mithin durch Freiheit« (IV:345) ausdrücklich gleichgesetzt.2 Damit geht eine Abwertung des unvernünftigen Handelns einher: Das Vermögen, das erkante Gute, was in unserer Gewalt ist, thätig zu wollen, ist die Freyheit; aber es gehört nicht eben so nothwendig dazu das Vermögen, das erkante Böse, dessen Verhinderung in unsrer Gewalt ist, zu wollen. Dieses ist auch nicht eigentlich ein Vermögen, sondern eine Möglichkeit zu leiden. Böse Handlungen stehen zwar unter der Freyheit, aber geschehen nicht durch sie. (R3868)3
Wer unvernünftig handelt, sogar böse, nimmt durch seine Vernunft weniger Einfluß auf sein Wollen, als es ihm möglich wäre. Deshalb ist die Möglichkeit, Böses zu wollen, eine »Möglichkeit« zu leiden, nicht ein »Vermögen«. 1
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Gerold Prauss fragt, ob nicht nur Handlungen aus Pflicht freie Handlungen sind (Kant über Freiheit als Autonomie, S.80; dagegen: M. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 233 ff.). Einen solchen Einwand hat schon Kants Zeitgenosse Carl Leonhard Reinhold erhoben. Vgl. Bittner/Cramer, Materialien, S.252–274 und S.310–324, sowie H. Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.133–135. Die in §6.4 zitierte Kritik am Indifferentismus aus der Einleitung der Metaphysik der Sitten ist teils eine Reaktion auf die Einwürfe Reinholds. Zum §53 der Prolegomena ausführlich: Kapitel III, §11. Vgl. auch Reflexion 5976: »Der Satz: alles geschieht entweder nach dem Mechanism der Natur oder durch blinden Zufall, verstattet ein drittes, namlich: durch Freyheit, namlich einen Zureichenden Grund in der Welt, aber nicht als phaenomenon, sondern Noumenon.« 1783–84. Statt »nach dem Mechanism« der Natur hätte Kant konsequenter »durch« den Mechanism der Natur schreiben sollen; denn »nach« dem Naturmechanismus geschehen auch Handlungen durch Freiheit. Verfaßt zwischen 1764 und 1771. Zwei weitere Reflexionen aus diesem Umfeld weisen ähnliche Pointen auf: »Die Freyheit ist eigentlich ein Vermögen, alle willkührliche Handlungen den Bewegungsgründen der Vernunft unterzuordnen.« (R3865) und »Niemand rechnet zur Freyheit das Vermögen, das, was verabscheuungswürdig ist (böse), begehren zu können.// Wir haben also sinnliche Erkentnisse. sinnliche Lust und Unlust und sinnliche Begierden. Das Vermögen nach Bewegungsgründen der Vernunft ist die Freyheit. Die Möglichkeit, das, was durch die Vernunft gemisbilligt wird, mit Bewustseyn zu wollen, ist der schwache Wille; die Fertigkeit, das Böse zu wollen, ist der böse Wille.« (R3867). — Wie man aus den zitierten Reflexionen aus den 1760er bis 1780er Jahren und aus der oben aufgeführten Einleitung zur Metaphysik der Sitten von 1797 sieht, ist die asymmetrische Definition von Freiheit als Vermögen zum Vernünftigen, Moralischen, Guten etc. ein durchgängiges Charakteristikum der Kantischen Moralphilosophie. Autoren wie Ortwein (Kants problematische Freiheitslehre) und Silber (in der Einleitung zur englischen Übersetzung der Religionsschrift), die Kant einen ständigen Meinungswechsel attestieren, haben vor allem diese Definition übersehen.
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Nun ist verständlich, warum Kant in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten, in der er sich abermals gegen den Indifferentismus wendet, schreibt, die Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft sei »eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen.« (VI:227). Durch die Annahme transzendentaler Freiheit soll sichergestellt werden, daß der Mensch sich das Abweichen von der Gesetzgebung der Vernunft selbst zuzuschreiben hat.1 Je nachdem, ob das Vermögen, vernünftig und gut zu handeln, realisiert ist oder nicht, ergeben sich also die folgenden beiden Bedeutungen für freie Handlungen: (i) Handlungen stehen lediglich unter der Freiheit und sind in einem schwachen Sinn frei, indem die handelnde Person nicht von sinnlichen Antrieben zu einer unvernünftigen Handlung gezwungen wird, sondern auch hätte vernünftig handeln können.2 (ii) Handlungen geschehen durch Freiheit und sind einem starken Sinne frei, wenn zusätzlich positive Freiheit realisiert wird. Das ist nur bei vernünftigen, im höchsten Grade allein bei moralischen Handlungen der Fall.
Die doppeldeutige Redeweise, in der sowohl potentiell vernünftige als auch tatsächlich vernünftige Handlungen es verdienen, »freie« Handlungen genannt zu werden, zieht sich durch die gesamte kritische Freiheitslehre und ist für ihr Verständnis entscheidend wichtig; und sie gilt — wie bereits angedeutet wurde — auch für Kants Autonomiebegriff. Im Höchstmaß sind allein moralisch motivierte Handlungen autonom, denn nur dann gibt der Wille sich selbst das vernünftige Gesetz, nachdem er sich richtet. Denn, erstens, hat an allen anderen Willensakten die Natur mehr oder weniger Anteil, indem die Wahl der Maxime, einer moralisch falschen, einer unklugen wie einer klugen, zumindest zum Teil sinnlich bedingt ist. Nur die Wahl moralischer Maximen ist überhaupt nicht von unserer Natur als Sinnenwesen abhängig, sondern allein von der Vernunft, d.h. von uns selbst. Zweitens zeichnen sich nur moralische Maximen dadurch aus, daß sie zu Gesetzen taugen. Also wird strenggenommen nur beim Handeln aus Pflicht und aus Achtung für das moralische Gesetz die menschliche Autonomie realisiert.
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Vgl. Opus postumum, XXI:472: »In dem Begrif der Freyheit einer Willkühr denkt man sich zugleich ein Vermögen allen Gesetzwiedrigen Neigungen zum Trotz doch dem Gesetz zu folgen, die Moglichkeit davon abgeleitet zu werden ist ein Unvermögen welches nicht von der Erfahrung gelehrt sondern daraus geschlossen wird«. Kant spricht von Handlungen »unter der Freiheit« wie von Handlungen die bloß »unter dem moralischen Gesetz«, nicht um des Gesetzes willen, geschehen.
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In einem erweiterten Sinn können wir dann auch einem Willen wie dem menschlichen die Eigenschaft der Autonomie beilegen, weil er doch allemal das Vermögen ist, nach vollkommen vernünftigen Prinzipien zu handeln, obwohl in der Realität nicht alle Handlungen aus vollkommen vernünftigen Prinzipien heraus erfolgen. 6.6 Damit können wir auch einen Einwand entkräften, der am prägnantesten in einem Aufsatz von Henry Sidgwick in der Zeitschrift Mind aus dem Jahre 1888 erhoben wurde.1 Nach Sidgwick verwendet Kant in seinen Ausführungen zur Moralphilosophie das Wort »Freiheit« unbewußt in doppelter Bedeutung: My aim is to show that, in different parts of Kant’s exposition of his doctrine, two essentially different conceptions are expressed by the same word freedom [‘good’ or ‘rational’ freedom and ‘neutral’ or ‘moral’ freedom]; while yet Kant does not appear to be conscious of any variation in the meaning of the term.2
Der Begriff der »guten« oder »rationalen« Freiheit falle mit dem der Autonomie in eins, derjenige der »neutralen« oder »moralischen« mit dem der freien Willkür. Sidgwick nennt die neutrale Freiheit auch »moralische« Freiheit, weil es seiner Ansicht nach diese Spielart der Freiheit ist, die moralische Verantwortung sichert. Vor dem Hintergrund der Kantischen Lehre selbst ist das irreführend, denn dort ist die moralische Freiheit — das Vermögen, moralisch zu handeln — gerade nicht als neutrales So-oder-so gemeint. Korrekt wäre also gut-vernünftig-moralische Freiheit vs. neutrale Freiheit — wenn die letztgenannte bei Kant denn eine Rolle spielte. Das Mißliche besteht nach Sidgwick nicht allein darin, daß Kant zwischen beiden Konzepten nicht klar begrifflich unterscheide und mit »Freiheit« einmal das eine, dann wieder das andere meine; dann könnte man noch hoffen, durch einfache terminologische Korrekturen die Kantische Ethik in ihrer Gesamtheit zu retten. Das philosophische Problem liege tiefer. Es sei schwer zu sehen, wie beide Arten der Freiheit überhaupt zu vereinbaren sein sollen, da der eine für eine freie Handlung das fordert, was der andere bestreitet. Das verleitet Sidgwick dazu, die »rationale« Konzeption der Freiheit als Autonomie aufzugeben, so daß nur noch die Freiheit als Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse übrigbleibt. Leider greift Sidgwick das Dilemma beim falschen Horn; und zwar sowohl in systematischer Absicht als auch mit Blick auf Kant. Es ist zwar richtig, daß Kant mit mehreren Freiheitsbegriffen operiert; und wir müssen 1
2
Er ist gekürzt im Anhang der siebenten Auflage seiner Methods of Ethics wieder abgedruckt. Vgl. auch Allen W. Wood, »Kant’s Compatibilism«, S.78 f., und den og. Aufsatz von Nelson Potter. Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S.511.
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wohl auch annehmen, daß er sich nicht immer vollkommen darüber im klaren war, welchen der verschiedenen Freiheitsbegriffe er im Einzelfall gerade benötigte. Allerdings besteht zwischen bloß negativer Freiheit — die für sich genommen Sidgwicks »neutral freedom« entspricht — und aktualisierter positiver Freiheit ein klarer Zusammenhang, und diese beiden Freiheitsbegriffe sind durchaus miteinander verträglich. Vor allem ist der negative Freiheitsbegriff isoliert unzureichend, um Freiheit verständlich zu machen. Sidgwicks »neutral freedom« ist jedoch ein isolierter Begriff negativer Freiheit, den es so bei Kant nicht gibt und der auch philosophisch als Grundlage für zu verantwortendes Handeln fragwürdig ist, wie der folgende Paragraph zeigen wird.
§7. Handlungsalternativen 7.1 Daniel Dennett bezeichnet als eine der wenigen »calm islands of near unanimity« die These, daß wir nur dann für unsere Handlungen verantwortlich sind, wenn wir hätten anders handeln können, als wir de facto gehandelt haben.1 In diesem Sinne schreibt Ernst Tugendhat: Das »Problem« der Willensfreiheit in diesem Sinn von Zurechnungsfähigkeit ist seit eh und je die Frage nach dem richtigen Verständnis des eben genannten Satzes: »sie [die Person] hätte auch anders handeln können.«2
Dennett hält diese These jedoch für falsch, und schon vor Dennett hat Harry Frankfurt in einer Reihe vielbeachteter Aufsätze die Richtigkeit dessen bestritten, was er das »Prinzip der anderen Möglichkeit« (Principle of Alternate Possibilities, PAP)« nennt, daß man nämlich nur dann für eine Tat verantwortlich ist, wenn man etwas anderes hätte tun können.3
1
2 3
Daniel C. Dennett, Elbow Room, S.131. Hier übergeht Dennett, wie vor ihm Frankfurt, das Bindeglied zwischen moralischer Verantwortung und Handlungsalternative, die Freiheit, zumindest verbal. Im Folgenden wird die These, daß Verantwortung genau dann vorliegt, wenn eine Handlung frei war, vorausgesetzt und der Zusammenhang zwischen Freiheit bzw. Verantwortung einerseits und der Möglichkeit der Handlungsalternative andererseits problematisiert. — Die These, daß wir nur für Freiwilliges moralisch verantwortlich sein können, war nicht immer selbstverständlich. In jüngerer Zeit ist sie von Robert Merrihew Adams bestritten worden (vgl. dessen Aufsatz »Involuntary Sins«). Adams will Menschen auch für unfreiwillige Gefühle verantwortlich machen, wenn sie als Reaktionen auf das Verhalten anderer unbegründet sind, z.B. für unberechtigten Zorn, Neid und Eifersucht; und zwar selbst dann, wenn die »sündigen« Gefühle von der betreffenden Person mißbilligt werden und keinen Einfluß auf ihre Handlungen haben. Diese offenbar religiös motivierte Auffassung muß im folgenden unberücksichtigt bleiben. Ernst Tugendhat, »Der Begriff der Willensfreiheit«, S.374. »[A] person is morally responsible for what he has done only if he could have acted otherwise.« (»Alternate Possiblities and Moral Responsibility«, S.1).
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I. Freiheit und Indifferenz
In diesem Paragraphen ist nun zweierlei zu leisten. Es soll einerseits Kants Position zum »Prinzip der anderen Möglichkeit« gezeichnet werden, und andererseits untersucht, was an dem intuitiv so plausiblen Prinzip richtig ist, daß man auch hätte anders handeln können müssen, um im Handeln frei und deshalb für die eigene Handlung verantwortlich zu sein. Aus den Ergebnissen der ersten beiden Paragraphen dieses Kapitels ergeben sich Konsequenzen für dieses Feld, die über die Kantinterpretation hinausführen und von erheblichem systematischem Interesse sind. Die von Dennett konstatierte herrschende Einmütigkeit1 verdeckt zunächst die Tatsache, daß wir es tatsächlich mit drei unabhängigen Thesen zu tun haben, die drei verschiedene Freiheitsbegriffe als Mittelstück verlangen: These I: Eine freie und zu verantwortende Handlung liegt nur dann vor, wenn dem Akteur eine andere Handlungsoption zur Verfügung steht; die wiederum nur dann, wenn die äußeren Umstände ihm Freiheit zu mehreren Handlungen lassen. These II: Eine Handlung ist nur dann mit Recht frei und verantwortbar zu nennen, wenn es dem Akteur — subjektiv — möglich erscheint, sich für eine andere Option zu entscheiden, d.h. etwas anderes zu wollen. Das ist nur dann gegeben, wenn er etwa von leidenschaftlichen Neigungen frei ist, d.h. wenn kein psychischer Zwang die Handlungsmöglichkeiten subjektiv sehr stark einschränkt. Davon noch zu unterscheiden ist: These III: Eine Handlung ist nur dann frei und muß verantwortet werden, wenn abgesehen von äußeren und psychischen Beeinträchtigungen auch keine metaphysischen Faktoren wie ein ungemilderter Determinismus den Handelnden daran hindern, anders zu handeln. Das ist nur dann möglich, wenn prinzipiell nicht im voraus bestimmt war oder vorausberechnet werden konnte, für welche Option er sich entscheiden würde.
Alle drei Behauptungen besitzen auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität. Betrachten wir sie nacheinander im Detail. (i) Was es mit der ersten These auf sich hat, die besagt, daß dem Handelnden eine andere Handlungsoption offenstehen mußte, wird bei näherer Betrachtung sogenannter Frankfurt cases deutlich. Frankfurt attackiert in seinem klassischen Aufsatz »Alternate Possibilities and Moral Responsibility« das von ihm so genannte »Principle of Alternate Possibilities«, indem er Beispiele konstruiert, in denen jemand sich freiwillig entscheidet und handelt, er jedoch von einer ihm unbekannten im Hintergrund lauernden Macht zu 1
Eine m.E. korrekte Zusammenfassung der allgemein verbreiteten Auffassungen in puncto Entscheidungsalternative und des angenommenen Konflikts von Freiheit und Notwendigkeit findet sich bei Rosemarie Rheinwald, »Zur Frage der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus«, S.194 f.
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ebendieser Handlung gezwungen worden wäre, hätte er sich entschieden, anders zu handeln. (Das Beispiel von Jones4 wird unten näher erläutert werden.) Die Intuitionen der meisten Menschen gehen in solchen Fällen dahin, zu sagen, daß dieser Mensch für seine Handlung, die er bewußt und willentlich ausgeführt hat, voll verantwortlich ist, obwohl er letztlich nicht anders hätte handeln können. Denn die übermächtige Instanz im Hintergrund hat auf den Handlungsverlauf gar keinen Einfluß gehabt. Selbst wenn der Akteur von den Interessen einer drohenden Macht wüßte, die ihn in eine bestimmte Richtung zu drängen versucht, stände damit noch nicht fest, daß dieses Wissen handlungsleitend wäre. Die vermeintlich ausweglose Situation mag dem Akteur bloß als Ausrede für etwas dienen, das er ohnehin geneigt war zu tun. Die Motivation des Handelnden kann freilich im Einzelfall oft nur schwer oder gar nicht ermittelt werden. Frankfurts Kritik am »Principle of Alternate Possibilities« und sein positiver Gegenvorschlag für die Bedingungen von Verantwortung lauten in knapper Form: The fact that a person lacks alternatives does not preclude his being morally responsible when he alone accounts for his behavior.1
Für diese These argumentiert Frankfurt, indem er zu zeigen versucht, daß wir, dem ersten Anschein zum Trotz, das »Prinzip der Handlungsalternative« in besonderen Fällen intuitiv für falsch halten. Einer dieser Fälle ist der von Jones4: Jemand, genannt Black, möchte jemand anderen, den besagten Jones4, dazu bringen, eine bestimmte Handlung auszuführen. Er ist bereit, zu diesem Zweck Dinge zu tun, die normalerweise die Verantwortung von Jones4 für seine Tat schmälern würden, etwa Zwang oder Gewalt anzuwenden, möchte es jedoch auch vermeiden, von seiner Macht unnötig Gebrauch zu machen. Er wartet ab, bis Jones4 zur Entscheidung schreitet. [H]e does nothing unless it is clear to him (Black is an excellent judge of those things) that Jones4 is going to decide something other than what he wants him to do. If it does become clear that Jones4 is going to decide to do something else, Black takes effective steps to ensure that Jones4 decides to do, and that he does do, what he wants him to do. Whatever Jones4’s initial preferences and inclinations, then, Black will have his way.2
Auf diese Weise bewirkt Black, daß Jones4 — äußerlich betrachtet — nicht anders handeln kann, als er de facto handelt. Denn welche Entscheidung
1 2
Harry G. Frankfurt, »What we are morally responsible for«, S.95. Harry G. Frankfurt, »Alternate possibilities and moral responsibility«, S.6.
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Jones4 auch fällt, Black wird darauf achten, daß die Handlung nach seinem Willen geschieht. Frankfurt führt eine Reihe möglicher Interventionsmittel an, die zwar nicht zur Anwendung kommen, wenn Jones4 ohnehin das tut, was Black von ihm will; dann jedoch eingesetzt würden, wenn Jones4 sich anschickte, den Intentionen Blacks zuwiderzuhandeln: eine schreckliche Drohung, ein Zaubertrank, Hypnose.1 Doch nehmen wir mit Frankfurt an, Jones4 entspricht in allen seinen Handlungen aus eigenem Willen den Erwartungen Blacks, und dieser muß nie einschreiten, um seinen Willen zu bekommen. Dann trägt, so argumentiert er, Jones4 genau dieselbe Verantwortung für sein Handeln wie im Falle von Blacks Abwesenheit, in dem Jones4 eine echte Handlungsalternative gehabt hätte. Denn sollten wir Jones4 damit entschuldigen (oder, bei guten Handlungen, ihm unser Lob versagen), daß ihm, was er doch nicht wußte, keine andere Handlung offenstand? Blacks Abwarten im Hintergrund hatte auf sein Überlegen und Handeln überhaupt keinen Einfluß. Selbst wenn Jones4 von Blacks Macht gewußt hätte, könnte sie ihn nicht in jedem Falle entschuldigen. Blacks Absichten könnten ihm als Vorwand dienen, was aus moralischer Sicht nicht unbedenklich wäre. Es kommt für die Zumessung von Verantwortung allein auf das selbständige Überlegen und Wollen des Handelnden an, nicht auf das, was er nicht gewußt oder gewollt hat: die vorhandenen oder nicht vorhandenen Alternativptionen, q.e.d. Im nächsten Schritt wird der Dämon durch Naturkräfte ersetzt. Frankfurt will auf diesem Wege zeigen, daß ein Naturdeterminismus, der Menschen ohne ihr Wissen Handlungsalternativen verschließt, uns nicht daran hindert, Verantwortung zuzuschreiben, wie wir auch Jones4 für voll verantwortlich halten, wenn er will, was er tut, obwohl im Hintergrund Black lauert und ihm im Grunde keine freie Wahl läßt. (Fraglich ist allerdings, ob der Naturdeterminismus tatsächlich so leicht an die Stelle des Dämons treten kann, und welche Konsequenzen sich dann ergäben.)2 1
2
Es ist nicht klar, inwieweit all diese Mittel geeignet sind, Jones4 die »andere Möglichkeit« zu verschließen. Schon hier deutet sich an, daß der Frankfurtsche Handlungsbegriff zu unscharf ist. Welche Kriterien haben wir für die Abgrenzung von Handlungen gegenüber alternativen/gleichen Handlungen? Dann wären alle äußeren Handlungen des Menschen vorherbestimmt, er mag mit ihnen einverstanden sein oder nicht. Wenn nicht, so läge jedoch an ihm, sich mit seinen Handlungen zu identifizieren und Verantwortung für sie zu übernehmen, ein für die meisten Menschen wenig tröstliches Bild, das schon die Stoiker entworfen haben. Es erinnert auch an die Erklärung des Scheins der Indifferenz durch Schopenhauer. Wir erfahren unsere Willensentscheidungen a posteriori. Im Unterschied zu Schopenhauer wird Frankfurt vermutlich nicht so etwas wie eine freie Wahl des intelligiblen Charakters nach dem Vorbild des Platonischen »Mythos des Er« postulieren wollen. Überdies stellt sich die Frage, ob nur Handlungen dem Determinismus unterliegen, oder auch Akte der Identifikation und Übernahme von Verantwortung. Dann schiene der Stoizismus Frankfurts perfekt, seine Polemik gegen Epiktet verblüffend (»Three concepts of free action«, S.57). Zu Frankfurts Theorie der Identifikation vgl. »Identification and wholeheartedness«.
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Daß es ein Fehler war, den Begriff der moralischen Verantwortung ungeklärt zu lassen, zeigt sich an Frankfurts Charakterisierung einiger seiner Beispiele: So ist Frankfurt zufolge jemand, der sich unter Druck oder Zwang für die in der gegebenen Situation rationale Handlung entscheidet, nicht für sein Handeln verantwortlich.1 Das klassische Beispiel sind die Seeleute des Aristoteles, die im Sturm entgegen ihrer ursprünglichen Intention die Ladung über Bord werfen, um das Schiff vor dem Untergang zu bewahren.2 Ist es also richtig, zu sagen, die Seeleute seien für das, was sie tun, nicht verantwortlich? Nein. Frankfurt meint, daß wir die Seeleute nicht dafür tadeln, daß sie die wertvolle Ladung ins Meer geworfen haben, was bei ruhigem Seegang unentschuldbar wäre. Doch, so ist Frankfurt zu entgegnen, aus der Unangemessenheit des Tadels folgt nicht die Abwesenheit von Verantwortung. Wir mögen die Seeleute sogar dafür loben, daß sie in einer schwierigen Situation angemessen gehandelt und so zwar die Ladung geopfert, das Leben der Besatzung und das Schiff jedoch gerettet haben. Verantwortung in strenger Bedeutung hört nur dann auf, wenn man die Minimalanforderungen freien und rationalen Handelns nicht mehr erfüllt, also der Handelnde, wie in der Einleitung (§2) dargelegt, nicht mehr bei Verstand ist. Aus Frankfurts verfehlter Analyse von Handlungen unter Zwang ergibt sich noch ein zweites Problem: Es sind nicht allein Lob und Tadel von der Verantwortung im allgemeinen zu unterscheiden; wenn man von Verantwortung spricht, muß man auch im einzelnen sagen, wofür jemand verantwortlich gemacht wird. In gewissem Sinne ist es richtig, daß die Seeleute nicht für den Verlust der Fracht, der in anderen Fällen unverzeihlich wäre, verantwortlich gemacht werden können, wenn sie ihrer Verantwortung für Schiff und Besatzung gerecht werden. Doch auch diese Analyse rechtfertigt es nicht zu sagen, die Seeleute seien oder handelten simpliciter nicht verantwortlich. An diesen Unklarheiten krankt auch Frankfurts Vorschlag für eine Neuformulierung des PAP: [A] person is not morally responsible for what he has done if he did it only because he could not have done otherwise.3
Zudem sagt diese (negativ formulierte) neue These noch nichts über die positiven Bedingungen dafür, daß jemand tatsächlich moralisch verantwortlich ist. Sie verstattet also die Ergänzung: If not, he is not morally responsible either.
1 2 3
Vgl. etwa H. Frankfurt, »Three concepts of free action«, S.50. Vgl. Aristoteles, Nic. Eth. 1110a8–11. Harry G. Frankfurt, »Alternate possibilities and moral responsibility«, S.10.
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Frankfurt hat also bislang allenfalls gezeigt, daß die traditionelle Formulierung des »Principle of Alternate Possibilities« so, wie sie ist, nicht haltbar ist. Seine konstruktiven Vorschläge hingegen sind nicht überzeugend. Peter van Inwagen und Harry Frankfurt haben, zweitens, das folgende Beispiel diskutiert. Jemand beobachtet vom Fenster seiner Wohnung aus, wie auf der Straße ein Passant von mehreren Männern überfallen, mißhandelt und beraubt wird. Er will zum Telephon greifen und die Polizei rufen, hält dann jedoch inne. Er überlegt sich, daß sich die Räuber an ihm rächen könnten, daß eine Aussage auf dem Polizeirevier viele Unannehmlichkeiten bedeuten würde, daß er am folgenden Tag früh aufstehen muß und es nun schon sehr spät ist. Deshalb faßt er den Entschluß, sich aus der Sache herauszuhalten. Er greift nicht zum Telephonhörer, sondern versucht, das Gesehene zu vergessen. Er wußte nicht, daß das gesamte Telephonnetz der Stadt defekt war und stundenlang keine Anrufe möglich waren.1 Van Inwagen zufolge ist das dem genannten Prinzip der Handlungsalternative (PAP) verwandte Prinzip, daß jemand nur dann für Unterlassungen verantwortlich gemacht werden kann, wenn er die betreffende Handlung hätte ausführen können (»Principle of Possible Action«, PPA), von diesem Beispiel nicht betroffen. Der Beobachter war also nicht dafür verantwortlich, argumentiert van Inwagen, daß er nicht die Polizei gerufen hat. Frankfurt versucht das Prinzip PPA dadurch zu untergraben, daß er zwischen voller Verantwortung und Teilverantwortung unterscheidet, die auch dem Beobachter des Beispiels noch zugeschrieben werden kann. Doch so läßt sich die Frage der Verantwortung im beschriebenen Fall nicht lösen. Die Diskussion verfehlt den Kern des Problems: Van Inwagen verteidigt eine vernünftige These mit zu schwachen Argumenten, die wiederum Frankfurt mit noch schwächeren attackiert. Zunächst einmal: so etwas wie eine Pflicht, die Polizei per Telephon zu verständigen, gibt es natürlich nicht. Es gibt eine Pflicht, der in Not geratenen Person zu helfen — oder es doch zumindest mit allen Kräften zu versuchen. Wie das im Einzelfall geschieht, hängt von der Situation ab. Es ist heutzutage das Nächstliegende, die Polizei telephonisch zu verständigen, doch das ist nicht die einzige Möglichkeit. Wenn sich beim Versuch herausstellt, daß das Fernsprechnetz defekt ist, so kann man über den Hinterausgang schnell Hilfe zu holen versuchen; man kann versuchen, die Nachbarn zusammenzurufen und die Straßenräuber zu überwältigen; man kann im Notfall die Szene photographieren, damit die Schuldigen nachher leicht gefaßt werden können, und dem Opfer schnellstmöglich zur Hilfe kommen, 1
Peter van Inwagen, »Ability and Responsibility«, S.204 f.; Harry Frankfurt, »What we are morally responsible for«, S.98.
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wenn keine Gefahr mehr fürs eigene Leben besteht usw. Der Zusammenbruch des Telephonnetzes ist keine Entschuldigung für die unterlassene Hilfeleistung. Wir werden den Beobachter des geschilderten Beispiels für sein Verhalten tadeln. Selbst wenn es dem Beobachter — ohne sein Wissen — vollkommen unmöglich sein sollte, dem Opfer auf irgendeine Weise zur Hilfe zu kommen, so rechtfertigt das doch nicht, daß er gar keine Anstalten unternimmt, dem überfallenen Menschen zu helfen. Will man Verantwortung, wie es vernünftig erscheint, ganz auf das beschränken, was in der Gewalt des Handelnden liegt, so besteht im strengen Sinn keine Pflicht zu helfen (denn das kann immer irgendwie vereitelt werden), sondern eine Pflicht, ernsthaft zu helfen zu versuchen. Diese Pflicht reicht so weit wie die Möglichkeiten des Akteurs. Ihr ist der Beobachter des Beispiels nicht nachgekommen, und so trifft ihn moralische Schuld.1 So haben wir aus dem von Frankfurt und van Inwagen diskutierten Beispiel zumindest gelernt, wie weit moralische Verantwortung reicht. Auch Kants guter Wille in der Grundlegung zeichnet sich dadurch aus, daß er mit der »Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind« (IV:394) einhergehen muß. Die Grenzen unserer Verantwortung mögen im Einzelfall schwer zu bestimmen sein, doch die gezogene Linie ist prinzipiell als Maßstab sehr vernünftig. Die trotz allem berechtigte Pointe der Argumente Frankfurts beschreibt Dennett folgendermaßen: [Frankfurt cases] draw attention to the importance, for responsibility, of the actual causal chain of deliberation and choice [die zur Handlung führen] running through the agent — whatever may be happening elsewhere.2
Doch den Akteuren bleibt zumindest die Wahl ihrer Handlungsgründe, mögen diese auch letztlich durch den Eingriff einer im Hintergrund lauernden Macht zu äußerlich ununterscheidbaren Handlungen und Ergebnissen führen. Der dritte Kardinalfehler Frankfurts ist, daß er nicht hinreichend genau spezifiziert, was er meint, wenn er von »derselben Handlung« oder von »moralischer Verantwortung« spricht, oder davon, daß jemand »anders hätte handeln können«. Frankfurts Einwände gegen das PAP besitzen also 1
2
Es ist eine Frage der Einschätzung des Phänomens des Moralischen Zufalls, ob wir bereit sind zu sagen, daß ihn ebensoviel Schuld trifft wie denjenigen, dem es technisch möglich gewesen wäre, Hilfe zu holen, wenn Überlegung und Entscheidung bei demjenigen, der ohne sein Wissen diese Möglichkeit nicht besaß, bis ins Detail die gleichen waren. Zum Thema »Moral Luck« vgl. die Aufsätze dieses Titels von Thomas Nagel und Bernard Williams sowie Günther Patzig, »Philosophische Bemerkungen zu Willensfreiheit, Verantwortung, Schuld«, v.a. S.204 f. Daniel Dennett, Elbow Room, S.132.
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nur beschränkte Gültigkeit, weil sie nur die äußeren Handlungsoptionen, nicht auch die subjektiven Entscheidungsoptionen betreffen, die Gegenstand der zweiten Variante des PAP sind (These II). Das Versäumnis in Sachen Begriffsklärung gibt Frankfurt, wenngleich nur in einer Fußnote, offen zu: The two main concepts employed in the principle of alternate possibilities are ‘moral responsibility’ and ‘could have done otherwise.’ To discuss the principle without analyzing either of these concepts may well seem like an attempt of piracy. The reader should take notice that my Jolly Roger [also die Piratenflagge, JT] is now unfurled.1
Vor allem für den positiven Teil der Theorie ist dies Versäumnis fatal, wenngleich Frankfurts Beispiele noch immer ausreichen, den Anspruch des PAP auf uneingeschränkte Gültigkeit und Allgemeinheit ins Wanken zu bringen. Ist die zweite, psychologische These gleichermaßen betroffen? (ii) These II zufolge ist ein Akteur nur dann mit Recht für eine Handlung verantwortlich zu machen, wenn ihm subjektiv eine andere Option offenstand, wenn er also anders wollen konnte. Auch diese Behauptung scheint zunächst einleuchtend. Während es bei der ersten These um effektiven äußerlichen Zwang ging, der dem Akteur (mit seinem oder ohne sein Wissen) eine Option verschloß, haben wir es hier mit psychischen Faktoren zu tun, die Überlegung und Handlungen prägen. Liegt verantwortliches Handeln also nur dann vor, wenn dem Handelnden mehr als eine Option attraktiv, subjektiv möglich oder akzeptabel erscheint? Es gibt sicherlich Fälle, in denen wir an der Verantwortlichkeit von Akteuren zweifeln, weil sie ein Ziel verfolgen, ohne mögliche andere Handlungen auch nur zu erwägen, etwa bei Affekten und Leidenschaften, die freies Handeln unterdrücken (vgl. Einleitung). Doch es zeigt sich bald, daß auch die zweite These ihren pauschalen Geltungsanspruch nicht aufrechterhalten kann. Wir halten einen allzu leidenschaftlichen Akteur nicht einfach deshalb für unzurechnungsfähig, weil alle Handlungsmöglichkeiten bis auf eine aus seinem Blickfeld schwinden, sondern deshalb, weil er das moralisch Gebotene vollkommen aus den Augen verliert und dies es ihm gleichsam unmöglich macht, die geplante Tat zu unterlassen. Anders urteilen wir jedoch, wenn einer Person eine Handlung so eindeutig geboten erscheint, daß alle anderen Handlungen keine wirkliche Option mehr sind. Daniel Dennett fragt, ob wir Martin Luther auf dem Reichstag in Worms für unzurechnungsfähig halten sollten, nur weil er nach eigener Aussage »nicht anders 1
Harry G. Frankfurt, »Alternate possibilities and moral responsibility«, S.6 Anm. 1.
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konnte«, als an seinen religiösen Überzeugungen festzuhalten.1 Die schon erwähnten Seeleute aus Aristoteles’ Nikomachischer Ethik sind ein weiteres Beispiel. Ihnen bleibt womöglich auch subjektiv keine Alternative: Gute Gründe zwingen sie, die Ladung zu opfern. Dennoch sind sie verantwortlich für das, was sie tun. Menschen werden also auch dann für ihre Handlungen verantwortlich gemacht, und ihnen wird sogar moralisches Lob zuteil, wenn sie aus subjektiver praktischer Notwendigkeit handeln, d.h. wenn sie sich gar nicht vorstellen können, etwas anderes zu tun, als sie tatsächlich tun. Deshalb kann auch die Wahl aus mehreren plausiblen oder möglichen Handlungsoptionen für verantwortliches Handeln nicht konstitutiv sein. (iii) Zur dritten These. Muß eine Handlung prinzipiell unvorherbestimmt und unvorhersehbar sein, damit sie frei genannt werden darf? Das Argument gegen diese Behauptung ist dem gegen die zweite These sehr ähnlich. Auch hier scheint nicht Regelmäßigkeit selbst bedrohlich zu sein, sondern eine bestimmte Form der Regelmäßigkeit und Voraussagbarkeit, die zu unerwünschten Ergebnissen führt. Wenn die richtige Art der Bestimmtheit vorliegt und unser Handeln notwendig vernünftig ist, so halten wir unsere Freiheit nicht für bedroht. Ein Beispiel von Henry Sidgwick kann diesen Punkt weiter illustrieren. Sidgwick bittet seine Leser, sich vorzustellen, sie seien davon überzeugt, daß alle Planeten einen freien Willen besäßen und daß ihre periodischen Umdrehungen auf kontinuierlichen freien, vernunftbestimmten Willensakten zugunsten ihrer Umlaufbahnen angesichts starker zentrifugaler oder zentripetaler Neigungen beruhten.2 Durch eine solche Annahme sei die Astronomie als Wissenschaft, so Sidgwick, nicht gefährdet. Wir ergänzen: wenn sich die Planeten aus Vernunftgründen immer wieder für ihre Bahn entscheiden und diese mathematisch genau beschrieben und vorausberechnet werden kann, so gefährdet das die Willensfreiheit der Planeten nicht im geringsten. In selbständigen, vernünftigen Entscheidungen zeigt sich, daß die Vernunft ebenso wie die Natur nach Gesetzen verfährt. Es ist ein Fehler, von freien Entscheidungen Unregelmäßigkeit oder Unberechenbarkeit zu verlangen.3 1
2 3
Daniel C. Dennett, Elbow Room, S.133 f. — Solche Fälle sind in der neueren Literatur unter dem — bewußt kantianisierenden — Titel der »praktischen Notwendigkeit« (practical necessity) verhandelt worden. Vgl. Bernard Williams, »Practical necessity« und »Moral incapacity«. Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, S.70. Sidgwicks eigene Pointe ist eine andere. Er möchte mit dem Beispiel illustrieren, daß wir bei Prognosen menschlicher Handlungen die Möglichkeit freier Willensentscheidungen nicht eigens in Anschlag bringen (wie wir es bei den Planeten nicht täten, nähmen wir an, sie besäßen einen freien Willen). Damit möchte er seine These stützen, das Problem der Willensfreiheit sei für den praktischen Bereich, v.a. für die Ethik, irrelevant. Vgl. §15.3.
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Das Prinzip, daß ein Akteur auch anders hätte handeln können müssen, um frei und moralisch verantwortlich zu sein, ist also in allen drei oben formulierten Varianten falsch. Allerdings rechtfertigt dieses Ergebnis nicht den Schluß, daß alle denkbaren Varianten dieses Prinzips ebenso falsch sind. Zu dessen systematisch haltbarem Kern kehren wir nach der Diskussion von Kants Position wieder zurück. 7.2 Wie steht nun Kant zu den drei aus systematischer Sicht bedenklichen Thesen? Zwar hat er sie, wie andere Philosophen vor und nach ihm, nicht scharf voneinander getrennt oder sich systematisch zu ihnen geäußert. Doch für Kant zu antworten, ist nicht schwierig. (i) Kant hält die erste These für falsch, nach der eine freie und zu verantwortende Handlung nur dann vorliegt, wenn dem Akteur eine andere Handlungsoption zur Verfügung steht und ihm die äußeren Umstände die Freiheit zu mehreren Handlungen lassen. Schuld, Verdienst und Verantwortung — der moralische Wert — sind für Kant eine Sache der Maxime des Handelnden, nicht der äußeren Umstände, die er womöglich noch nicht einmal kennt. Auch Kant wird gemeint haben, daß jemand für eine Unterlassung nicht verantwortlich gemacht werden kann, die eindeutig unvermeidlich war. Im Falle der defekten Telephonleitung kann die betreffende Person nicht dafür verantwortlich gemacht werden, daß sie telephonisch keine Hilfe rufen konnte. Doch das rettet die erste These in ihrer Allgemeinheit nicht. Auf eine ablehnende Haltung Kants gegenüber der These I dürfen wir deshalb auch in Abwesenheit von Spekulationen à la Frankfurt in Kants Werken schließen.1 (ii) Interessanter ist die zweite These, nach der eine Handlung nur dann mit Recht frei genannt werden darf und vom Handelnden zu verantworten ist, wenn es ihm subjektiv möglich scheint, sich für eine andere Option als die tatsächlich gewählte zu entscheiden. Die These geht von der Annahme aus, daß seine Handlungsmöglichkeiten nicht durch psychischen Zwang so stark eingeschränkt werden, daß ein Andershandeln unmöglich wird. Doch wie die folgende, sehr typische Reflexion zeigt, weist Kant diese These explizit zurück:
1
Auf die berühmte Eingangspassage der Grundlegung und das dort vom guten Willen geforderte Aufbieten »aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind« (IV:394), wurde bereits hingewiesen. Von der externen Verfügbarkeit der Mittel hängt die moralische Beurteilung somit nicht ab — sondern allein vom Prinzip des Wollens, der Maxime.
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Man kan nicht sagen, daß das gegentheil aller unserer Handlungen müsse subiectiv moglich seyn, damit man frey sey (gute Handlungen), sondern nur der aus Sinnlichkeit entspringenden.1
Nur das Gegenteil der sinnlichen, d.h. unvernünftigen, Handlungen muß möglich sein, wenn wir eine Handlung mit Recht frei nennen. Denn Freiheit ist ihrer positiven Bestimmung zufolge das Vermögen, gut und vernünftig zu handeln. Deshalb ist es der menschlichen Willensfreiheit nicht abträglich, wenn die Vernunft die sinnlichen Antriebe zwingt. Es wurde bereits erwähnt, daß Kant in der »Tugendlehre« die auf den ersten Blick widersinnige, vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von Freiheit und Vernunft jedoch verständliche These aufstellt: »Je weniger ein Mensch physisch, je mehr dagegen moralisch (durch die bloße Vorstellung der Pflicht) kann gezwungen werden, desto freier ist er.« (VI:382 Anm.)2 Im Bereich der Moral ist es die Achtung für das Sittengesetz, welche die Sinnlichkeit zum Gehorsam zwingen will und auf vernünftiges Handeln drängt. Kant akzeptiert also nicht einmal die Grundthese aller klassischen kompatibilistischen Theorien, daß Freiheit und Verantwortung durch äußeren oder inneren Zwang aufgehoben werden.3 Es kommt für Kant ganz darauf an, welche Art des Zwangs vorliegt, d.h. welchen Ursprungs er ist. Sehr schön beschreibt diesen entscheidend wichtigen Unterschied die Vorlesung Metaphysik Mrongovius: Der Zwang ist nicht neceßitatio arbitrii sensitivi, sondern intellectualis; denn wäre er neceßitatio per stimulos, so wäre der Mensch ein Thier. So aber kann der Mensch durch Vernunft sich immer auch bei der stärksten physischen Nötigung ein Uebergewicht über die sensitiven Vorstellungen geben. Das heißt: Voluntas non potest cogi physice, sed semet ipsam cogere potest volendi. So können wir andere zwingen, wenn wir ihnen Motiva vorstellen, welche sie bewegen, daß sie sich selbst zwingen. Neceßitatio actionis invicem moraliter bonae est obligatio, 1
2
3
R5619; Kant fährt fort: »Aber auch in diesem Falle sind sie unter der Sinnlichkeit bestimmt, obzwar überhaupt genommen noch unbestimmt. Sinnlichkeit und Vernunft bestimmen einander nicht, sondern jedes wirkt nach seinen Gesetzen; aber sie dirigiren einander (harmonie). — Vgl. R 4226, 1764–70: »Darin besteht nicht die Freyheit, daß das Gegentheil uns hätte belieben können, sondern nur daß unser Belieben [sc. unsere Willkür] nicht passive genötigt war.« Vgl. Reflexion 6998: »Je mehr man sich selbst zwingen kan, selbst durch pragmatischen Zwang, desto freyer ist man.« Mit dem »pragmatischen« im Gegensatz zum praktischen Zwang meint Kant den Einfluß der klugen, empirisch-praktischen Vernunft. Durch die Vorstellung von überzeugenden, vernünftigen Gründen kann man auch andere Menschen »zwingen«, indem man sie dazu bringt, sich selbst zu zwingen, ohne daß dies ihrer Freiheit abträglich wäre. Zu unvernünftigen Handlungen hingegen kann man Menschen nach Kant nicht zwingen. — Wiederum ist bemerkenswert, daß die frühen Reflexionen mit den späteren, publizierten Schriften übereinstimmen. Daß die Entgegensetzung zum Zwang uns in der Frage der Willensfreiheit auf eine falsche Spur führt, meint auch Bernard Williams, wenngleich aus anderen Gründen. Vgl. »How free does the will need to be?«, S.5.
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I. Freiheit und Indifferenz das ist der practische Zwang. Wäre der practische oder auch obiective Zwang bei dem Menschen zugleich immer subiectiv, so wäre er vollkommen frei. (XXIX:897)1
Wer dem Zwang der Vernunft unterliegt, gewinnt dadurch an Freiheit. (iii) Zur dritten These. Muß man nach Kant nur dann eine Handlung als eine freie Handlung verantworten, wenn sie nicht oder nicht vollständig determiniert war und deshalb aus prinzipiellen Gründen nicht vorausgesagt werden konnte? Kant lehnt auch These III in dieser Pauschalität ab. Nicht die Determination als solche ist für Kant erschreckend, sondern eine bestimmte Variante der Determination, die Determination der Natur. Wäre alles menschliche Handeln nichts anderes als eine Folge von Naturursachen und ihren Wirkungen, so gäbe es Kant zufolge in ihm kein Vermögen, die Gebote der Vernunft in die Praxis umzusetzen; es gäbe kein Sollen, keine Ethik, nichts moralisch Gutes; sondern nur Natur, die nach ihren eigenen Gesetzen funktioniert, die nicht die Gesetze der Vernunft sind. Dies ist die Art des Determinismus, die der Vertreter der Antithesisseite der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft verteidigt und gegen die sich Kant — beispielsweise — in der »Kritischen Beleuchtung der Analytik« der Kritik der praktischen Vernunft wendet. Ein vollkommen anderes Bild ergibt sich für einen, wenn man so will, »Determinismus« der Vernunft. Die Handlungen eines Wesens, das sinnliche Antriebe nicht mehr reizen (oder nicht mehr so stark reizen, daß sie noch auf unsere Handlungen Einfluß nehmen können), stehen unweigerlich mit der Vernunft in Einklang wie die Handlungen Gottes. Diese Variante des Determinismus hält Kant keineswegs für bedrohlich: »Wäre alles durch Vernunft bestimmt, so wäre alles nothwendig, aber auch gut.« (R5611). — De facto stehen wir als Menschen stets zwischen Vernunft und Natur, und daraus ergeben sich für Kant alle moralischen Probleme.2 1
2
Vgl. auch Reflexion 1021: »Würde unsere Willkühr die objective necessitation subjectiv auch als solche empfinden, so würde das der Freyheit nicht entgegen sein, und das Vermögen, der objectiven necessitation entgegen zu handeln, beweiset nicht die Freyheit. Diese ist Spontaneität, und zwar reine der Willkühr.« Kant trifft in der Religion die wichtige, von ihm allerdings sonst selten terminologisch beachtette Unterscheidung zwischen Determinismus und Prädeterminismus. Allein die letztgenannte Theorie stellte ein Problem für die Freiheit dar: »Die, welche diese unerforschliche Eigenschaft als ganz begreiflich vorspiegeln, machen durch das Wort D e t e rm i n i s m u s (den Satz der Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe) ein Blendwerk, gleich als ob die Schwierigkeit darin bestände, diesen mit der Freiheit zu vereinigen, woran doch niemand denkt; sondern: wie der P r ä d e t e r m i n i s m, nach welchem willkürliche Handlungenals Begebenheiten ihre bestimmende Gründe i n d e r v o rh e r g e h e n d e n Z e i t haben (die mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjekts sein muß, zusammen bestehen könne: das ists, was man einsehen will und nie einsehen wird.« (VI:49 f. Anm.).
§ 7. Handlungsalternativen
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Was Kant am uneingeschränkten Naturdeterminismus stört, ist somit nicht der Determinismus als vielmehr das Moment der Natur, das die Vernunftkonformität des Weltlaufs kontingent werden läßt.1 Auch aus Kants Haltung zur Determinismusfrage wird deutlich, daß für Kant eine grundlegende Asymmetrie besteht: Von freien Handlungen, die nicht nur im negativen Sinne frei sind, sondern auch den Gesetzen der Vernunft Rechnung tragen, verlangt er nicht, daß ihr Erfolg unbestimmt und daß eine andere Handlung dem Handelnden möglich gewesen sein muß. 7.3 »Die Freyheit des göttlichen Willens besteht nicht darinn, daß er auch etwas anderes als das Beste hätte wählen können; denn darin besteht nicht einmal die Menschliche Freyheit, sondern daß ihn nothwendig die Idee des Besten bestimme, welchen dem Menschen mangelt und darum auch seine Freyheit einschränkt.« (R6078, 1783–84) — Wenngleich die Möglichkeit, objektiven Gesetzen entgegenzuhandeln, die Freiheit nicht unter Beweis stellt,2 so ist sie uns de facto, anders als Gott, doch immer gegeben. Ihn bestimmt notwendig die Idee des Besten, den Menschen nicht. Menschen können gut und schlecht, vernünftig und unvernünftig, klug und unklug handeln. Doch es wäre irrig anzunehmen, darin bestehe ihre Freiheit. In der Kritik der Urteilskraft heißt es dementsprechend: Denn wo das sittliche Gesetz spricht, da gibt es objektiv weiter keine freie Wahl in Ansehung dessen, was zu tun sei; […] (B16)
Der Spruch des Sittengesetzes entscheidet die freie Wahl. Darüber hinaus gibt es »weiter« keine Freiheit. Freiheit ist Kant zufolge für einen heiligen Willen wie für den Willen des Menschen »einseitig« definiert. Freiheit bedeutet für beide, vernünftig handeln zu können. Daß Gott nicht unvernünftig handeln kann, tut seiner Freiheit deshalb keinen Abbruch. Gegen Gottes Freiheit spricht nicht einmal, daß er gar keine Auswahlmöglichkeit hat, auch nicht aus verschiedenen guten Optionen. Wie die angeführte Reflexion zeigt, besteht für Kant die Freiheit Gottes gerade darin, daß er notwendig das Beste tut. Die Freiheit des Menschen wird dadurch eingeschränkt, daß er der Vernunft zuwider handeln kann. Doch wir können bei der Erklärung der stets vorhandenen Handlungsalternative und damit der Möglichkeit menschlichen Versagens noch einen Schritt weiter gehen. Der Grund für die subjektive Entscheidungsalternative 1 2
Die Komplikationen, die sich durch die Annahme eines Schöpfergottes ergeben, lassen wir hier außer acht. Vgl. Kapitel III, §13.3. Vgl. o., Reflexion 1021. Wenn objektive Nötigung auch subjektiv empfunden würde, so täte das der Freiheit keinen Abbruch; und die Möglichkeit, ihr entgegenzuhandeln, beweist nicht Freiheit.
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I. Freiheit und Indifferenz
liegt Kant zufolge in der besonderen Eigenart des menschlichen Willens begründet.1 Interpreten von Kants Theorie der Willensfreiheit übersehen oft, daß für ihn der Mensch nicht mit irgendeinem freien Willen oder mit dem freien Willen schlechthin ausgestattet ist, sondern mit einem arbitrium sensitivum sed liberum, dem eine eigentümliche Mittelstellung zwischen einem vollkommen freien heiligen Willen und dem ganz und gar unfreien Begehrungsvermögen der Tiere zufällt.2 Sie gehen deshalb davon aus, daß Kant dort, wo er vom freien Willen spricht, den menschlichen Willen meint — was z.B. an prominenten Stellen im dritten Abschnitt der Grundlegung nicht der Fall ist. Obwohl sinnliche Neigungen, die mit vernünftigem Handeln nicht notwendig in Einklang sind, der menschlichen Willkür keine Handlungen aufzwingen können, lassen die Versuchungen der Sinnlichkeit den Menschen doch nicht vollkommen unberührt. Sie versuchen, die Vernunft in ihrem Einfluß auf das Handeln zurückzudrängen, und sie sind damit manchmal erfolgreich. Es liegt heutzutage nahe, den schwankenden menschlichen Wille für den freien Willen überhaupt zu halten, weil der noch zu Kants Zeiten populäre Grenzfall des heiligen Willens aus dem Blick geraten ist. Nach wie vor betrachten wir menschliches Handeln im Kontrast zum Verhalten der Tiere, die — so das vielleicht allzu vereinfachende Bild — nicht die Möglichkeit der bewußten Reflexion und Auswertung ihres Tuns besitzen. Demgegenüber muß menschliches Handeln als frei erscheinen. Diese Einschätzung verführt jedoch einerseits zu einer Überschätzung der menschlichen Fähigkeiten im Handeln, andererseits zu der irrigen 1
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Der Unterschied zwischen dem, was emprisch vorliegt, und dem, was zur Definition der Willensfreiheit gehört, wird in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten erklärt: »Denn ein Anderes ist, einen Satz (der Erfahrung) einräumen, ein Anderes, ihn zum E r k l ä r u n g s p r i n z i p (des Begriffs der freien Willkür) und allgemeinen Unterscheidungsmerkmal (vom arbitrio bruto s. servo) machen; weil das Erstere nicht behauptet, daß das Merkmal n o t w e n d i g zum Begriff gehöre, welches doch zum Zweiten erforderlich ist.« (VI:226 f.). Hud Hudson begeht auf besonders krasse Weise den Fehler, die de facto gegebene Handlungsalternative beim Kant der kritischen Periode für ein Definitionsmerkmal der Freiheit zu halten: »Still, during his critical period, Kant seems quite willing to hold this stronger thesis [= PAP] as well. According to him, on any given occasion in which we act freely, not only are we always able to carry out the prescriptions of the moral law, we are also always able to refrain from carrying out those prescriptions. […] Kant believes that human agents possess a special type of will, an arbitrium liberum. Two consequences of possessing this type of will are that we are never simply pathologically necessitated to perform the action that most appeals to our sensuous nature, the fate of those with an arbitrium brutum, nor are we intellectually necessitated to perform only those actions that are required by moral law; we have neither an animal will nor a holy will.« Kant’s Compatibilism, S.73. Hier muß es so erscheinen, als seien eine tierische Willkür und die göttliche Willkür unfrei und nur die menschliche frei, weil sie zwischen gut und böse wählen kann. Doch das ist gerade nicht die Kantische Sicht der Dinge. Der menschliche Wille ist nicht der paradigmatisch freie Wille; und Kant bedauert nachgerade, daß unsere Willkür schwankt und nicht ganz durch Vernunft determiniert ist. An der unvernünftigen Option liegt ihm nichts. — Deutlicher sieht die Kantische Pointe A. Wood. Vgl. dessen Aufsatz »Kant’s Compatibilism«, S.80 f.
§ 7. Handlungsalternativen
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Annahme, Willensfreiheit sei essentiell ein Vermögen, sich zwischen alternativen Optionen zu entscheiden. Die Fiktion eines Wesens, das anders als wir rein vernünftig denkt und handelt, könnte auch heute noch die nützliche Aufgabe erfüllen, die vergleichsweise unvollkommene Freiheit des menschlichen Willens hervorzuheben, die darin zum Ausdruck kommt, daß wir uns zwischen Vernunft und Unvernunft, Gut und Böse entscheiden müssen und es uns nicht immer leicht fällt, das Vernünftige und Gute zu tun.1 Daß wir de facto immer vor der Alternative stehen, der Vernunft oder der Sinnlichkeit zu gehorchen, und zwar selbst dann, wenn beide zur äußerlich gleichen Handlung raten, ist für Kant eine Folge unserer gemischten Natur als Vernunft- und Sinnenwesen. Die stets gegebene Möglichkeit, anders zu handeln, ist gerade nicht Ausdruck unserer absoluten Freiheit, sondern einer unvollkommenen Freiheit und Vernünftigkeit im Handeln, die wir mühsam wettmachen müssen. Wiederum hilft die Metaphysik Mrongovius: So ist Freiheit das Vermögen, das zu wählen, was an sich und nicht bloß als Mittel gut ist. Wir sind also frei, wenn wir unsere Handlungen ganz nach den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft einrichten, und ie mehr wir dies thun, desto freier sind wir. (XXIX:899)
Freiheit läßt nach Kant Grade zu graduell. In einer Reflexion nennt Kant die Freiheit des menschlichen Willens eine libertas hybrida (R5618).2 Wir wären freier im eingangs definierten Sinn der Freiheit von der Sinnlichkeit und zur
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Bernard Williams weist die Titelfrage »How free does the will need to be?« gleich auf der ersten Seite dieses Aufsatzes zurück: Die Freiheit des Willens, definiert als Möglichkeit, zwischen mehreren Handlungsverläufen auszuwählen (S.5, das sog. »Plurality Principle«), müsse als Existenzbehauptung auftreten und sei im Gegensatz zu menschlicher Handlungsfreiheit nicht in Graden zuschreibbar. Im Anschluß an das John Locke zugeschriebene bon mot, die Frage sei nicht, ob unser Wille frei ist, sondern ob wir einen Willen besitzen (vgl. Essay concerning Human Understanding II.21.14–21), scheibt Williams: »Locke’s remark reminds us that the freedom of the will that has been the subject of the classical problem, if it comes at all, does not come in degrees.« (S.3). Unsere Untersuchung zeigt jedoch, daß den Kern des Problems nicht pauschal die Frage ausmacht, ob wir anders hätten handeln können, sondern die Frage, ob wir, wenn wir unvernünftig gehandelt haben, auch richtig und vernünftig hätten handeln können; Kants Abgrenzung des menschlichen Willens vom heiligen Willen Gottes und vom bestialischen Willen der Tiere verdeutlicht, daß Willensfreiheit durchaus nach Graden unterschieden werden kann. — Diese Kritik trifft freilich mehr das von Williams korrekt referierte »klassische Problem« als Williams’ eigene Ausführungen, weil er sich durch seine Neuformulierung der Kompatibilismusfrage (S.6 f.) sowie durch die Zurückweisung der starken Ansprüche der »Moral« (im Williamsschen Sinn von »Morality«) von der traditionellen Diskussion des Problems Willensfreiheit löst (vgl. S.16). Eine »hybride« Freiheitsdefinition erhalten wir dementsprechend, wenn wir eine mögliche, in der Erfahrung gegebene Wahlmöglichkeit zum Charakteristikum der Freiheit machen. Dies stellt Kant in der schon mehrfach zitierte Einleitung in die Metaphysik der Sitten deutlich heraus: »Die Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen. Wie kann nun jenes aus diesem erklärt werden? Es ist eine Definition, die über den praktischen Begriff noch die A u s ü b u n g desselben, wie sie die Erfahrung lehrt hinzutut, eine B a s t a r d e r k l ä r u n g (definitio hybrida), welche den Begriff im falschen Lichte darstellt.«
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I. Freiheit und Indifferenz
vernunftgemäßen Handlung, wären wir wie der heilige Wille Gottes ausschließlich durch Vernunft determiniert, gerade weil uns dann keine andere Wahl bliebe.1 7.4 Diese Analyse der Kantischen Haltung zu dem vermeintlich konsensfähigen Grundsatz, man sei nur dann frei und für eine Handlung verantwortlich, wenn man auch anders hätte handeln können, läßt das kurz mit »Du kannst, denn du sollst!« charakterisierte Prinzip Kants unerwartet in doppeltem Licht erscheinen. Das meint Kant, wenn er vom moralischen Gesetz als der ratio cognoscendi der Freiheit spricht. Zwar findet sich das Prinzip bei Kant nicht in der genannten prägnanten Form eines Merkspruchs, doch letzten Endes ist dies seine Antwort auf den gegen seine Ethik erhobenen Vorwurf, sie möge in der Theorie richtig sein, tauge jedoch nicht für die Praxis: Daß der Mensch sich bewußt ist, er könne dieses, weil er es soll: das eröffnet ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihm gleichsam einen heiligen Schauer über die Größe und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung fühlen läßt. (VIII:287f.)
In diesem Sinn heißt es auch in der Religion: Daß der Begriff der Freiheit der Willkür nicht vor dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes in uns vorhergehe, sondern nur aus der Bestimmbarkeit unserer Willkür durch dieses, als ein unbedingtes Gebot, geschlossen werde, davon kann man sich bald überzeugen, wenn man fragt: ob man auch gewiß und unmittelbar sich eines Vermögens bewußt sei, jede noch so große Triebfeder zur Übertretung […] durch festen Vorsatz überwältigen zu können. Jedermann wird gestehen müssen: e r w i s s e n i c h t, ob, wenn ein solcher Fall einträte, er nicht in seinem Vorsatz wanken würde. Gleichwohl gebietet ihm die Pflicht unbedingt: e r s o l l e ihm treu bleiben; und hieraus s c h l i e ß t er mit Recht: er müsse es auch k ö n n e n , und seine Willkür sei also frei. (VI: 49 f. Anm.)
Die Doppeldeutigkeit tritt zutage, wenn man auf die zwei Bedeutungen acht hat, die das »Sollen« aufweist. In einer ersten, weiten, nicht spezifisch Kantischen Bedeutung sprechen wir von »sollen« dann, wenn ein objektives Gesetz gilt; und es entspricht den Intuitionen vieler, daß ein Gesetz nur dann für den Fall einer einzelnen Handlung normative Geltung besitzen 1
Allen Wood hat versucht, Kant vor der Konsequenz einer graduellen Freiheit in Schutz zu nehmen. Ihm zufolge ist die Möglichkeit, von den Geboten der Vernunft abzuweichen, »due to a lack of power and not to a lack of freedom«, so wie auch das Ertrinken eines guten Schwimmers in schwierigen Umständen auf einen Mangel an Kraft, nicht einen Mangel an schwimmerischem Können, zurückzuführen sei (»Kant’s Compatibilism«, S.82). Doch Woods Gedanke einer kraftlosen und dennoch vollständigen Freiheit kann nicht überzeugen. Auch im Fall des Schwimmers können wir sagen, daß er unter den gegebenen Umständen nicht gut genug schwimmen konnte. Freilich muß Kant behaupten, daß selbst unsere eingeschränkte Freiheit in allen moralisch relevanten Fällen prinzipiell ausreicht, die Möglichkeit der richtigen Wahl zu garantieren. Zu den systematischen Schwierigkeiten, die das Konzept einer unvollkommenen Freiheit aufwirft, vgl. Kapitel III, §14.3.
§ 7. Handlungsalternativen
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kann, wenn der Handelnde — äußerlich, psychisch und metaphysisch, um die vorhin getroffenen Unterscheidungen wieder aufzunehmen — in der Lage war, diesem Gesetz Genüge zu tun.1 Der von Kant so gern als Grenzfall angeführte »heilige Wille«, dessen Wollen ohne weiteres mit den Gesetzen der Vernunft übereinstimmt, bildet keine Ausnahme. Auch für ein heiliges Wesen gelten objektive Gesetze; ihm ist es — a fortiori — möglich, diesen Gesetzen nachzukommen, weil er ihnen unfehlbar wirklich nachkommt. In der zweiten, engen und dezidiert Kantischen Bedeutung kann vom »Sollen« (d.h. von Geboten und Imperativen) nur dort vernünftigerweise gesprochen werden, wo das Wollen nicht von vornherein mit dem Sollen übereinstimmt.2 In diesem Sinn gibt es für den heiligen Willen kein Sollen, keine objektive und dann auch subjektive Nötigung, der andere (zum Beispiel natürliche) Interessen entgegenstehen können. Wenn wir das Sollen in dieser engeren Bedeutung zugrundelegen, können wir mit Kant auch sagen, daß für diese Art des Sollens in der Tat nicht nur das Vermögen, dem objektiven Gesetz nachzukommen, sondern auch die Möglichkeit, gegen das objektive Gesetz zu verstoßen, charakteristisch ist, obgleich diese Möglichkeit des Versagens wiederum nicht als ein Merkmal der Freiheit aufgefaßt werden darf, sondern als Versagen ein Ausdruck begrenzter Freiheit ist. 7.5 Was bleibt uns nun, mit Kant, von dem prima facie so einleuchtenden Prinzip, daß jemand nur dann für eine Handlung verantwortlich gemacht werden kann, wenn er auch anders hätte handeln können? Es ist in den ersten Abschnitten dieses Paragraphen deutlich geworden, daß die These mehrdeutig ist, und daß sie in ihren drei eindeutigen Varianten ohne Einschränkung nicht gültig sein kann. Doch es wäre übereilt, das Prinzip der Handlungsalternative für durchweg falsch zu halten, nur weil es nicht durchweg richtig ist; das Prinzip muß also in seinem Geltungsbereich eingeschränkt werden. Doch zuvor sollen drei grundlegende Punkte festgehalten werden, die sich aus Unklarheiten der von Frankfurt, van Inwagen, Dennett etc. bestrittenen Diskussion ergeben haben. Erstens ist es wenig sinnvoll, moralische Verantwortung als Eigenschaft einer handelnden Person per se mit Schuld und Verdienst oder mit Tadel und Lob gleichzusetzen. Denn es gibt offenbar viele Handlungen, die frei, bewußt, verantwortlich etc. vollzogen werden, ohne daß wir dem Handeln1 2
Hierin steckt, wie im folgenden §7.5 zu zeigen wird, der plausible und haltbare Kern des »Principle of Alternate Possibilites«. Vgl. IV:413 der Grundlegung: »Alle Imperativen werden durch ein S o l l e n ausgedrückt und zeigen dadurch das Verhältnis eines objektiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an, der seiner subjektiven Beschaffenheit nach dadurch nicht notwendig bestimmt wird (eine Nötigung).« — vgl. auch IV:449 u. ö.
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I. Freiheit und Indifferenz
den deshalb Schuld oder Verdienst zusprechen würden. Je nachdem, wie hoch die Maßstäbe für Schuld und Verdienst angesetzt werden, wird dieser Bereich größer oder kleiner sein. Gehen wir von unserem Alltagsverständnis von Schuld und Verdienst aus, so scheint der neutrale Bereich einen erheblichen Teil unseres Handelns auszumachen.1 Überdies hat Susan Wolf darauf hingewiesen, daß sich auch Tadel und Lob zueinander nicht symmetrisch verhalten: Wenn uns auch viel daran liegt, daß wir sowohl unser Lob als auch unseren Tadel mit Recht verteilen, so liegt uns doch insgesamt mehr daran, daß unser Tadel berechtigt ist. Denn wenn wir jemanden beschuldigen oder bestrafen, so schaden wir ihm, während wir jemandem nützen, wenn wir ihn loben. Ungerechtfertigter Tadel oder ungerechtfertigte Strafe sind deshalb in einem größeren Maße Unrecht als ungerechtfertigtes Lob oder ungerechtfertigte Belohnung, die unter Umständen nur ein harmloser Fehler sein mögen. Schuld, Verdienst und (allgemein) Verantwortung sind also strikt zu unterscheiden.2 Zweitens müssen wir, wenn wir von Schuld, Verdienst und Verantwortung sprechen, immer spezifizieren, woran die handelnde Person schuld ist, worin ihr Verdienst besteht, allgemein wofür sie verantwortlich ist. Die Seeleute, die im Orkan das Schiff zu retten versuchen, sind, pace Frankfurt, für ihr Handeln ganz und gar verantwortlich. Sie sind auch verantwortlich dafür, daß sie im Sturm die Ladung über Bord geworfen haben, obwohl wir ihnen im von Aristoteles vorgegebenen Rahmen deshalb keine Schuld zuschreiben oder sie dafür tadeln würden. Denn es im Sturm ist es vollkommen vernünftig, wertvolle Ladung über Bord zu werfen, wenn Schiff und Besatzung nur so gerettet werden können. Letztlich loben wir die Seeleute sogar — doch genaugenommen nicht deshalb, weil sie die Ladung über Bord geworfen haben, sondern deshalb, weil sie durch diese mutige Tat das höherwertige Gut des Schiffs und des Lebens von Besatzung und Passagieren gerettet haben.
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Es wird vorausgesetzt, daß Tadel bzw. Strafe verhältnismäßig zur Schuld, Lob und Belohnung verhältnismäßig zum Verdienst ausgeteilt werden sollen. Davon ist nicht nur die Verantwortlichkeit des Handelnden im allgemeinen, sondern auch die moralische Richtigkeit der Handlung zu unterscheiden, weil Schuld und Verdienst nicht allein von der moralischen Richtigkeit abhängen. In die Bemessung von Schuld und Verdienst gehen nämlich außerdem die Handlungsumstände und die psychische Konstitution des Handelnden ein.Wir werden (1.) ein Wesen mit einem heiligen Willen für eine richtige und vernünftige Handlung nicht auf dieselbe Weise loben wie (2.) jemanden, der sich unter schwierigen Umständen »aus Pflicht« zur moralisch richtigen Handlung durchgerungen hat; und wir werden (3.) jemanden, dem ohne Schuld die Gelegenheit, die moralisch richtige Handlung auszuführen, genommen wurde, nicht gleichermaßen tadeln wie (4.) jemand anderen, dem es leicht möglich gewesen wäre, moralisch richtig zu handeln, der es dann jedoch leichtfertig unterließ. Alle vier Akteure sind für ihr Handeln verantwortlich. Vgl. Susan Wolf, »Asymmetrical Freedom«, S.156.
§ 7. Handlungsalternativen
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Drittens: wie sich auch am Beispiel der Seeleute zeigt ist, zu bedenken, daß Handlungen über verfolgte Zwecke zu individualisieren sind, nicht durch den äußeren Handlungsverlauf. Ändern wir das Beispiel auf etwas absurde Weise ab. Wenn die Seeleute in derselben Situation aus purer Bosheit die Ladung über Bord werfen, weil sie dem Eigentümer der Güter schaden wollen und nun dafür einen Vorwand sehen (der allerdings für wohlwollende und vernünftige Seeleute ein guter Grund gewesen wäre, die Ladung über Bord zu werfen), wird unser Lob unter dem Strich schwächer ausfallen. In diesem Variante des Aristotelischen Beispiels wird die Rettung von Schiff und Menschen zur Nebensache, so wie die faire Behandlung seiner Kunden für den klugen Kaufmann der Grundlegung eine Nebensache ist. Die Seeleute führen unterschiedliche Handlungen aus, je nachdem ob sie die Ladung aus Bosheit über Bord werfen oder deshalb, weil der Seegang es erfordert. Die Ergebnisse der Untersuchungen dieses Paragraphen versetzen uns in die Lage, abschließend den Versuch einer eingeschränkten Neuformulierung des »Prinzips der Handlungsalternative« zu unternehmen. Dabei klammern wir den Fall des Lobes als weniger interessant aus1 und sprechen von Schuld oder Tadel, nicht pauschal von Verantwortung, weil — wie die verschiedenen Frankfurt cases zeigen — verantwortliches Handeln simpliciter nichts mit der Möglichkeit, anders zu handeln, zu tun hat, sondern allein mit dem selbständigen, reflektierten Wollen des Handelnden. Zudem greifen wir die eingangs dieses Paragraphen getroffene Unterscheidung in äußerliche, psychische und »metaphysische« Hinderungsgründe wieder auf; und als Folge unserer Einschränkung auf tadelnswerte, d.i. unvernünftige Handlungen richten wir das Prinzip vor allen Dingen auf das Gute aus, indem wir es einseitig dahingehend einschränken, daß es der handelnden Person möglich gewesen sein muß, das Richtige/Vernünftige zu tun, das sie ex hypothesi unterlassen hat. Wir erhalten die folgende These, die sich aus der ersten im vorangegangenen Abschnitt angeführten Bedeutung des Prinzips »Du kannst, denn du sollst« ergibt:2 Wir tadeln nur dann jemanden mit Recht dafür, daß er etwas 1
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Die entsprechende Formulierung müßte etwa lauten: Wir loben dann jemanden mit Recht dafür, daß er etwas Gebotenes getan hat, wenn es nicht selbstverständlich war; wenn es Faktoren gab, die ihn von der Handlung hätten abbringen können; wenn er Hindernisse überwinden mußte, um so zu handeln o. ä. Das geläufige doppelseitige »Prinzip der Handlungsalternative«, das im Zusammenhang mit einer indifferentistischen Freiheitstheorie vorgetragen wird (so wie Frankfurts Kritik am PAP eine Variante des Kompatibilismus stützen soll), scheint erstens aus der Vermischung der hier folgenden »einseitigen« These zur gerechtfertigten Zuschreibung von Schuld entstanden zu sein (Übergeneralisierung), und zweitens aus dem Wunsch, mit einer komplementären »Freiheit zum Bösen« den Sündenfall und damit das theologische Problem des Übels in der Welt zu erklären. (Doch dies ist nur eine historische Vermutung.)
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I. Freiheit und Indifferenz
Gebotenes nicht getan hat, wenn es ihm — äußerlich, psychisch und »metaphysisch« — möglich war, dies Gebotene zu tun.1 Wenn es jemandem an der äußeren Möglichkeit fehlt, das Gebotene oder Vernünftige zu tun, werden wir ihn nicht dafür verantwortlich machen, daß er es nicht getan hat. Wir werden auch nicht mehr sagen, daß er dies Gebotene hätte tun sollen. Das Gebot tritt außer Kraft. Wir werden diesen Menschen jedoch unter Umständen dafür tadeln, daß er nicht einmal versucht hat, das Gebotene zu tun, v.a. dann, wenn es ihm nicht bekannt war, daß es ihm unmöglich war, das Gebotene zu tun.2 Wenn es jemandem subjektiv psychisch unmöglich war, das Gebotene zu tun, so machen wir ihn für seine Unterlassung nicht verantwortlich. Es ist dies ein besonders heikler Fall, weil es im einzelnen schwer auszumachen ist, ob eine Leidenschaft oder ein Affekt wirklich die Verantwortlichkeit des Handelnden zerstört hat. Kant will durch das Ausnahmegefühl der Achtung als moralische Triebfeder sicherstellen, daß bei allen normalen und bewußten Handlungen in moralisch relevanten Situationen ein hinreichend starkes Gegengewicht zu den nicht-moralischen Motivationen existiert. Nur so glaubt er seinen entschiedenen Intuitionen in dem Punkt des »Du kannst, denn du sollst« Rechnung tragen zu können. Noch prekärer als die Frage nach der psychischen Unmöglichkeit ist jedoch die der metaphysischen Unmöglichkeit: Die subtilste Gefahr für die Freiheit als das Vermögen, in moralisch relevanten Situationen moralisch richtig zu handeln, scheint ein ungemilderter Naturdeterminismus zu sein, dem zufolge sich jedes Ereignis, menschliche Handlungen eingeschlossen,
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Auch die Fälle, in denen wir auf die Argumentationsfigur der actio libera in causa zurückgreifen müssen, werden hierbei abgedeckt. — In der neueren Literatur zum Thema Willensfreiheit hat Susan Wolf versucht, das Prinzip der Handlungsalternative »asymmetrisch« zu qualifizieren. Im bereits erwähnten Artikel »Asymmetrical Freedom« lautet ihr Vorschlag für ein revidiertes Prinzip: »He could have done otherwise if there had been good and sufficient reason.« (S.159); diese einseitige Ausrichtung auf gute Gründe ist ganz im Sinne Kants (wie auch der Titel ihres Buches Freedom Within Reason andeutet, das sich trotz kantianisierender Sprache auf seinen historischen Vorgänger nur selten bezieht). Gute Gründe würde er als vernünftige, d.h. kluge oder moralisch gute, Gründe ausbuchstabieren. — Allerdings unterscheidet sich Susan Wolf von Kant in ihrer Rekonstruktion des guten bzw. moralischen Handelns, die von dem Kantischen Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit frei ist; vgl. S.161 f. Ein weiterer, verwandter Punkt ist der, daß Wolf ohne eine transzendentale »Kausalität aus Freiheit« auskommt. Diese Unterschiede verdeutlichen jedoch, daß es für die systematische These der asymmetrischen Freiheit unabhängig von der jeweiligen Moralphilosophie und -psychologie starke Gründe zu geben scheint, wenn man einmal zugibt, daß (pace Reinhold, Sidgwick, Körner et al.) das Problem der Willensfreiheit ohne die Voraussetzung von Handlungsnormen nicht vernünftig diskutiert, geschweige denn gelöst werden kann. Ist es vernünftig, zu sagen, daß das Gebot, etwas zu versuchen, bestehen bleibt, selbst wenn das Gebot, es zu tun, außer Kraft gesetzt ist? Wenn ja, so dürfte der Grund im Unwissen des Handelnden liegen.
§ 7. Handlungsalternativen
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aus anderen Ereignissen und Gesetzen, die nicht in unserer Gewalt sind, notwendig ergibt.1 Kants Versuch, Freiheit und Vernunft angesichts der Naturgesetze durch transzendentale Freiheit zu sichern, wird uns in Kapitel III beschäftigen. Nun, nachdem hinlänglich erörtert wurde, was Kant unter Freiheit versteht (und was nicht), wenden wir uns in Kapitel II seiner Konzeption des Willens zu.
1
Man bedenke, daß sich für Kant die Schwierigkeit der Vereinbarkeit von Naturgesetzen und Willensfreiheit wiederum nicht aus der Freiheit des menschlichen Willens ergibt, sondern aus deren Unvollkommenheit; aus seiner Anfälligkeit für empirisch bedingte Motivation. Wäre der Mensch (wie Gott) ein vollkommen freies Wesen, so wünschte er sich nie, anders gehandelt zu haben oder anders handeln zu können, und die Regelmäßigkeit der Gesetze der Vernunft besäße uneingeschränkte Gültigkeit. Damit wäre auch der Schwierigkeit des Zusammenhangs der Handlungen mit dem Kausalnexus der Natur die Schärfe genommen.
II. Der Wille als »das Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen, d.i. nach Prinzipien, zu handeln« §8. Grundlegung 412: Deutungen 8.1 »Ein jedes Ding in der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, n a c h d e r Vo r s t e l l u n g der Gesetze, d.i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen W i l l e n. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Ve r n u n f t erfodert wird, so ist der Wille nichts anders, als praktische Vernunft.« (Grundlegung, IV:412). — Diese Passage, der auf Grund ihrer Stellung zu Anfang der Einführung des Begriffs eines Imperativs überhaupt und der verschiedenen Arten von Imperativen besonderes Gewicht zukommt, hat in der Kantliteratur der neueren Zeit einige Aufmerksamkeit erfahren.1 Für das Thema dieses Buches ist sie von offensichtlicher Bedeutung: Die Konzeption eines freien Willens kommt kaum ohne die Beantwortung der Frage aus, was es überhaupt heißt, einen Willen zu haben; und es ist zunächst einmal alles andere als klar, was »nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien« zu handeln bedeutet. Diese Unklarheit spiegelt sich in den sehr verschiedenen Interpretationen wider, von denen ich diejenigen von Rüdiger Bittner, Konrad Cramer und Harald Köhl herausgreifen möchte. Obwohl sie, wie sich zeigen wird, aus diversen Gründen insgesamt nicht akzeptiert werden können, helfen sie doch, die m. E. korrekte Auffassung deutlich zu machen, indem sie in anderen Punkten Berechtigtes betonen. (i) Im zweiten Teil seines Kongreßbeitrages »Maximen« hat Rüdiger Bittner eine Interpretation der betreffenden Passage vorgelegt, die seine Ausführungen zur Maximenthematik stützen soll.2 Bittner zufolge ist »Handeln nach der Vorstellung der Gesetze, d.i. nach Prinzipien«, gleichbedeutend mit Handeln nach Maximen, die er als Lebensregeln von gewisser Allgemeinheit 1
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Vgl. Pierre Laberge, »La définition de la volonté comme faculté d’agir selon la représentation des lois«. Auf Laberges — zu konzilianten — eigenen Interpretationsvorschlag komme ich gesondert zu sprechen. Zu Cramers und Bittners Deutung vgl. man auch M. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 302–305. Zu Bittners Lesart von Maximen als »Lebensregeln« vgl. Kapitel IV, v.a. §§18 ff.
§ 8. Grundlegung 412: Deutungen
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deutet. Mit Hilfe dieser Gleichsetzung gelangt er dann zur Bestimmung einer »Maxime« als »wesentlich subjektiv vorgestelltes Gesetz«.1 Der Wille wäre dann insofern praktische Vernunft, als diese Handlungen von Maximen ableitet.2 (ii) Eine andere Deutung trägt Konrad Cramer im Rahmen seiner Ausführungen zu »hypothetischen Imperativen« vor. Allerdings scheint auch diese Diskussion des Handelns nach der Vorstellung der Gesetze durch den größeren Rahmen, in dem sie steht, bestimmt zu sein. Für Cramer handeln Akteure nach der Vorstellung derjenigen Gesetze, nach denen »ein jedes Ding in der Natur« wirkt: nach der Vorstellung von Naturgesetzen, verstanden als »Regeln der kausalen Verknüpfung zeitlicher Ereignisse oder Zustände«.3
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Bittner, »Maximen«, S.492. Mir scheint diese Definition Bittners alles andere als eindeutig. Soll ein »wesentlich subjektiv vorgestelltes Gesetz« ein Gesetz sein, das wesentlich als subjektiv vorgestellt wird? Bittner läßt dies allenfalls vermuten. Doch scheint das als Definition von »Maxime« eher abwegig. Wie Bittner selbst sagt, wird durch jemandes Handeln ein zunächst bloß subjektives Gesetz in ein objektives Gesetz seines Verhaltens überführt. (Dieser Punkt läßt sich unabhängig davon aufrecht erhalten, daß man meint, dies sei notwendig ein Handeln nach Maximen.) Wenn Bittner Maximen »wesentlich subjektiv vorgestellte Gesetze« nennt, so mag er zudem die unglücklich gewählte Formulierung des §1 der Kritik der praktischen Vernunft im Blick gehabt haben: »[Praktische Grundsätze] sind subjektiv oder M a x i m e n, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird.« (A35); vgl. Kapitel IV. Ferner: würde Kant wirklich »Gesetz« sagen, wenn er »Maxime« meint? In seinem späteren Aufsatz »Handlungen und Wirkungen« hat Bittner seine Deutung erneut vorgetragen und mit dem zusätzlichen Argument zu stärken versucht, Prinzipien wie Maximen seien die höchsten Sätze für das betreffende Gebiet (S.16 Anm.). Diese Auffassung beruht auf einer falschen historischen und etymologischen Deutung des Maximenbegriffs. Nicht jede Maxime ist eine höchste Maxime; die gibt es auch, sie sind dann aber als »höchste« gekennzeichnet. Vgl. Kapitel IV, bes. §6. Cramer, »Hypothetische Imperative«, S.172. Im übrigen folgt aus der These Cramers, daß mit den Gesetzen, nach deren Vorstellung sich Handlungen vollziehen, nicht allein das moralische Gesetz oder moralische Gesetze angesprochen sein können, noch nicht, daß moralische Gesetze nicht auch, eventuell neben dem Naturgesetz, gemeint sind (s. S.167 f.). — Ebenfalls problematisch ist Cramers Behauptung, daß »das moralische Gesetz nicht im Plural auftreten« kann (ebd.). So sollen zum Beispiel »moralische Gesetze für jedes vernünftige Wesen überhaupt« gelten (Grundlegung, IV:412), und es gibt eine »gemeine Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze« (IV:389). Vgl. Laberge, »La définition de la volonté«, S.84. Ähnlich lax spricht Kant bisweilen im Plural von »kategorischen Imperativen«. — Schließlich stellt es auch keinen durchweg akzeptablen Einwand gegen die in ihrer Einseitigkeit allerdings unzutreffende Interpretation der Gesetze allein als moralischer Gesetze dar, wenn man sagt, »daß es nicht sinnvoll wäre, der Ableitung des Begriffs des Imperativs einen Willen voranzustellen, der schon durch die Befolgung des kategorischen Imperativs bestimmt ist« (Cramer, »Hypothetische Imperative«, S.167). Denn (i) ist in der Definition von dem Vermögen(!) die Rede, nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln, nicht aber davon, daß dieses Vermögen immer realisiert wird; und (ii) schließt die Willensdefinition einen Willen ein, der zwar nach dem Sittengesetz handelt, aber nicht auf die Weise, daß er damit einem Imperativ genügt. Es wäre allerdings prima facie mißlich, wenn das Handeln nach hypothetischen Imperativen mit der Willensdefinition nicht oder nur beiläufig erfaßt würde. Der Kern der Cramerschen Einwandes bleibt so erhalten.
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II. Der Wille als Vermögen, nach Prinzipien zu handeln
(iii) Harald Köhl geht im Verlauf seiner Untersuchung zu Kants Gesinnungsethik auf die zitierte Definition des Willens eher beiläufig ein, allerdings in bewußter Absetzung von Bittner. Er weist darauf hin, daß Maximen für Kant gerade nicht per se Gesetze sind, und setzt dagegen, Kant meine mit »Gesetzen« hier »klarerweise Imperative generell«, d. h. hypothetische und kategorische Imperative.1 Sowohl Bittner und Cramer als auch Köhl haben jedoch die argumentative Stellung der Definition des Willens als des Vermögens, nach der Vorstellung der Gesetze oder nach Prinzipien zu handeln, übersehen; genauer: sie haben verkannt, daß an dieser Stelle der Grundlegung noch gar nicht vom menschlichen Willen als einem sinnlich affizierten und dennoch freien Willen die Rede ist, sondern vom Willen allgemein. Denn im Folgenden werden zwei Arten des Willens unterschieden, die beide unter die genannte Definition fallen: erstens die Art des Willens, den die Vernunft »unausbleiblich bestimmt«; dann sind »die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d.i. der Wille ist ein Vermögen, n u r d a s j e n i g e zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d.i. als gut erkennt.« (IV:412).2 Erst dann heißt es, zweitens, für denjenigen Willen, den »die Vernunft für sich allein« nicht hinlänglich bestimmt und der »noch subjektiven Bedingungen (gewissen Triebfedern) unterworfen« ist, seien »die Handlungen, die objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig« (IV:412 f.). Die Bestimmung dieses Willens nach objektiven Gesetzen nennt Kant »Nötigung«. Erst dieser Wille, »der nicht a n s i c h völlig der Vernunft gemäß« ist, ist ein Wille wie der menschliche.3 8.2 Wenn es nun so ist, daß der Wille im allgemeinen das Vermögen ist, nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln, und damit nach Prinzipien, so kann nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln nicht ipso facto bedeuten, nach Maximen zu handeln; denn nach Maximen zu handeln ist ein Charak1 2
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Köhl, Kants Gesinnungsethik, S.48 f. Anm. Diese zweite Willensdefinition geht zwar auf den Willen, der notwendig vernunftgemäß handelt, also den reinen oder heiligen Willen, der von jeder Neigung unabhängig ist. Doch deutet Kant an dieser Stelle zumindest implizit an, daß der per se durch Vernunft bestimmte reine Wille als nur annäherungsweise zu erreichendes Ideal für den empirisch affizierten Willen eines Vernunftwesens zu gelten hat, und daß die verünftigen Handlungen vor den unvernünftigen derart ausgezeichnet sind, daß es falsch wäre, den Willen als ein Vermögen zur Unvernunft zu kennzeichnen. Vgl. Kapitel I. Die Unterscheidung der zwei Arten von Willen wird auf dem Weg zur Einführung der Imperative explizit getroffen, während nirgends eine Differenzierung zwischen subjektiven und objektiven Prinzipien eingeführt wird, obwohl ab S.IV:413 des öfteren von »objektiven Gesetzen« und »objektiven Prinzipien« gesprochen wird. Das darf als ein weiteres Indiz dafür gewertet werden, daß Kant im zweiten Satz der eingangs zitierten Passage mit dem Handeln »nach Prinzipien« das Handeln nach objektiven Prinzipien meint.
§ 8. Grundlegung 412: Deutungen
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teristikum der menschlichen Willkür, bei der Vernunft und Handlung nicht notwendig miteinander im Einklang stehen, weil sie nicht nur durch Vernunft, sondern auch durch die sich aufdringenden Triebfedern der Sinnlichkeit bestimmt werden kann.1 In der Kritik der praktischen Vernunft erklärt Kant, eine Maxime sei »nur alsdenn moralisch echt, wenn sie auf dem bloßen Interesse, das man an der Befolgung des moralischen Gesetzes nimmt« beruhe, und fährt fort: Alle drei Begriffe aber, der einer Tr i e b f e d e r, eines I n t e r e s s e und einer M a x i m e, können nur auf endliche Wesen angwandt werden. Denn sie setzen insgesamt eine Eingeschränktheit der Natur eines Wesens voraus, da die subjektive Beschaffenheit seiner Willkür mit dem objektiven Gesetze einer praktischen Vernunft nicht von selbst übereinstimmt; […] Auf den göttlichen Willen können sie also nicht angewandt werden. (A141)
Die voluntas Dei, der Paradefall eines heiligen und freien Willens, ist unausbleiblich durch Vernunft bestimmt.2 Unsere Willensdefinition schließt sie ein: Wenn es uns auch nicht verstattet ist, Einsicht in die genaue Funktionsweise des göttlichen Willens zu nehmen, so ist doch für argumentative Zwecke im Rahmen der Moraltheologie klar, daß Gott in Ausübung seines heiligen Willens stets nach der Vorstellung von Gesetzen handelt, nach — objektiven — Prinzipien, und zwar ohne dazu Maximen zu benötigen. Damit fällt Bittners Deutung, obschon seine Ausführungen zum — menschlichen — Willen weiterhin beachtet werden müssen.3 8.3 Nun scheint Kant adem Zitierten im Laufe der Diskussion der Gültigkeit des Sittengesetzes in der Kritik der praktischen Vernunft (Anmerkung zu §7) zu widersprechen, auf die wir im folgenden Paragraphen dieses Buches noch genauer eingehen werden. Dort definiert er einen heiligen Willen als
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Die Definition des Willens von Seite IV:412 der Grundlegung ist eine Definition des Willens als vernünftigen Begehrungsvermögens insgesamt, einer voluntas, nicht eines arbitrium. Vernunftlose Tiere haben in diesem Sinne keinen Willen, nur ein arbitrium brutum. Vgl. Einleitung. Vgl. Reflexion 6067, 1785–89: »Der Verstand bestimt bey ihm [Gott] unmittelbar den Willen, nicht durch die Vermittelung der Lust oder Unlust; der Wille Gottes ist kein vom Gefühl des obiects abhangiges Vermogen.«; ferner Reflexion 6071. Für die Deutung der Prinzipien als objektiv spricht ebenfalls die Definition von Gebot und Imperativ auf Seite IV:413: »Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt I m p e r a t i v.«; daß hier von der »Vorstellung eines objektiven Prinzips« gesprochen wird, während nach einem Prinzip zu handeln bedeuten sollte, nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln, ist wohl nur als Verdeutlichung zu verstehen: es wird in der Tat eine Vorstellung vorgestellt, und das ist die Vorstellung der Gesetze. In der Einleitung zur »Tugendlehre« setzt Kant ausdrücklich die »moralische Tr i e b f e d e r« mit der »Vorstellung des Gesetzes«, d.h. des Sittengesetzes, gleich (VI:397).
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II. Der Wille als Vermögen, nach Prinzipien zu handeln einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre.
Und wenig später: In der allergenugsamsten Intelligenz wird die Willkür, als keiner Maxime fähig, die nicht zugleich objektiv Gesetz sein könnte1, mit Recht vorgestellt, und der Begriff der H e i l i g k e i t, der ihr um deswillen zukommt, setzt sie zwar nicht über alle praktische, aber doch über alle praktisch-einschränkende Gesetze, mithin Verbindlichkeit und Pflicht hinweg. (A58 f.)
Im Folgenden erhebt er diese Heiligkeit zur praktischen Idee und zum Urbild für den »ins Unendliche gehenden Progressus« (ebd.) der Maximen der Menschen. Doch Kant scheint sich hier nur zu widersprechen, wie man bei näherem Hinsehen bemerkt. Erstens wählt er in beiden Fällen die negative Formulierung: »zu keiner […] widerstreitenden Maxime fähig«, »als keiner Maxime fähig, die nicht […]«. Daraus kann man noch nicht folgern, daß der heilige Wille der »allergenugsamsten Intelligenz« tatsächlich zu einer Maxime fähig ist, die zugleich zum objektiven Gesetz taugt. Daß ein solcher Schluß irrig wäre, erhellt, zweitens, daraus, daß Kant in beiden Fällen im Konjunktiv spricht: »fähig wäre«, »objektiv Gesetz sein könnte«. Man wird also nicht fehlgehen, wenn man den Konjunktiv als Irrealis auffaßt; denn im Zusammenhang mit Kants Ausführungen über den vollkommenen Willen Gottes als Ideal und Urbild für den menschlichen lassen sich diese Zitate folgendermaßen deuten: Wir können uns nur insofern dem Willen des unendlichen Wesens annähern, als wir Maximen ausbilden, nach denen auch dies Wesen handelte, wenn denn sein Wille — per impossibile — Maximen benötigte. Gott ist keiner Maxime fähig, die nicht mit dem moralischen Gesetz in Einklang stände; aber auch zu keiner anderen Maxime.2 Die Interpretation Patons, der ebenfalls meint, es sei Kant hier um das Handeln nach Maximen zu tun, ist mit demselben Argument wie die Bittnersche zu widerlegen. Daß Paton eine andere, deskriptive und handlungstheoretische Konzeption von Maximen voraussetzt, in der Maximen die de facto zugrundeliegenden Prinzipien konkreter Handlungen sind, spielt
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So die plausible Verbesserung der Akademie-Ausgabe; »konnte« A. Leser des handschriftlichen Nachlasses wissen, wie nachlässig Kant mit den beiden Punkten, die Konjunktiv II und Imperfekt unterscheiden, umgegangen ist. Stellt das eine Schwierigkeit für Gottes Allmacht dar? Kant würde vielleicht entgegnen, daß Maximen auszubilden, die dem Sittengesetz zuwider sind, nicht eine Macht, sondern eine Ohnmacht bedeutet, wie man den Willen nicht als das Vermögen definieren kann, der Vernunft zuwider zu handeln. Erst dann jedoch ist die Rede von »Maximen« sinnvoll, wenn sie in dem Sinne subjektiv sind, daß die entsprechende Willkür nicht notwendig mit den Geboten der Vernunft übereinstimmt.
§ 8. Grundlegung 412: Deutungen
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dabei keine Rolle.1 Entscheidend ist allein, daß Maximen auch in dieser Bedeutung subjektive Prinzipien sind. 8.4 Es ist womöglich der Fall, daß ein Wille wie der menschliche Wille so beschaffen ist, daß er nicht nur nach der Vorstellung von Gesetzen handeln kann, sondern überdies immer nach Maximen handelt. Doch die Vertreter dieser Auffassung — etwa Paton und Allison — können sich aus den genannten Gründen ebensowenig auf die Willensdefinition berufen wie Bittner, der durch sie seine Auslegung der Maximen als »Lebensregeln« von gewisser Allgemeinheit bestätigt sieht. In einer allgemeinen Willensdefinition können Maximen keine Rolle spielen, da diese erst dann ihre Stelle einnehmen können, wenn sie als subjektiv vom objektiven Gesetz unterschieden werden müssen. Diese Notwendigkeit jedoch besteht dann nicht, wenn das Wollen ohnehin mit der Vernunft in Einklang steht.2
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Vgl. Paton, The Categorical Imperative, S.81 f. und Körner, Kant, S.110. Vgl. Cramer, »Hypothetische Imperative«, S.168 ff. Cramers erstes Argument gegen Paton, nach dem Maximen nicht mit den Gesetzen identifiziert werden können, die da vorgestellt werden, trägt deshalb nicht, weil jemand, der sich dazu genötigt sieht, mit Maximen nur diejenigen subjektiven Grundsätze zu meinen, die zur allgemeinen Gesetzgebung taugen, nicht sagen muß, daß der Wille notwendig danach handelt (wie Cramer zu meinen scheint), sondern lediglich, daß der Wille ein Vermögen ist, nach der Vorstellung dieser Gesetze zu handeln. Richtig ist statt dessen, daß die angesprochenen Gesetze nicht Maximen sein können, weil Kant an der betreffenden Stelle das Subjektive, das Maximen auszeichnet, noch gar nicht im Blick hat. Ebensowenig kann Cramers Argument gegen eine Identifizierung des Handelns nach der Vorstellung von Gesetzen als Handeln nach Maximen überzeugen. Es ist zwar korrekt, insofern es konstatiert, daß mit dieser Auffassung die Schwierigkeit verbunden wäre, daß den solchermaßen vorgestellten Gesetzen nicht der »unabhängig von ihrem Auftritt in einer solchen Vorstellung interpretierbare Status« (S.169) zukommen könnte, nach dem Gesetze verlangen, wenngleich auch diese Kritik auf einer nicht selbstverständlichen Auffassung von Maximen beruht. Gegen eine Lesart, die den Unterschied zwischen Gesetz und Maxime nur noch in der Vorstellung sieht, kann jedoch nicht}plain eingewendet werden, daß dann unverständlich werde, »wie sie eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten können soll, die an eine Bedingung geknüpft ist, die nur als für den Willen eines Subjekts gültig angesehen wird« (ebd.). Denn damit setzt man die problematische Maximendefinition des §1 der Kritik der praktischen Vernunft voraus, die bei weitem nicht die Standarddefinition ist, wie im IV. Kapitel zu zeigen sein wird (s. auch oben zu Bittners »wesentlich subjektiv vorgestellten Gesetzen«). Verfechter der Bittnerschen oder der Patonschen Lesart können sich nicht darauf berufen, daß Kant Maximen bisweilen »Prinzipien« nennt; denn es ist klar, daß Maximen subjektive Prinzipien sind, während die Definition lediglich vom Handeln »nach Prinzipien« spricht. Dem könnte Bittner entgegnen, ein Wille sei das Vermögen, nach denjenigen subjektiven Prinzipien (nach Maximen) zu handeln, die mit den objektiven Prinzipien (den vorgestellten Gesetzen) übereinstimmen. Das scheint jedoch allzu gezwungen. Einerseits ist damit das angesprochene Problem noch nicht ausgeräumt, daß Kant zunächst eine allgemeine Willensdefinition gibt, in der für subjektive Prinzipien noch gar kein Platz ist, andererseits spräche man dann von Maximen in einer sehr eigentümlichen und engen Bedeutung, die sicherlich nicht überall als angemessen vorausgesetzt werden kann, wo in den Kantischen Schriften von »Maximen« gehandelt wird. Doch damit sind wir schon wieder mitten in der Diskussion, die Gegenstand des vierten Kapitels sein wird. Pace Cramer (»Hypothetische Imperative«, S.168, Anm. 6) ist die Frage »Was ist eine Maxime?« für die Deutung der Willensdefinition durchaus von einiger Wichtigkeit, dann nämlich, wenn man ausschließen will, daß mit dem Handeln nach der Vorstellung der Gesetze das Handeln nach Maximen (und sei es auch nur beim menschlichen Willen) gemeint sei.
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II. Der Wille als Vermögen, nach Prinzipien zu handeln
Einen ähnlichen, wenn auch weniger schwerwiegenden Fehler begeht Köhl, wenn er das Handeln nach der Vorstellung der Gesetze schon an dieser Stelle mit dem Handeln nach Imperativen generell gleichsetzt. Es ist immerhin richtig, daß die Willensdefinition Kants dem Anspruch nach alle möglichen Handlungsarten eines vernünftigen Wesens abdecken muß, beim Menschen also die verschiedenen Arten der Rationalität, die den verschiedenen Typen der Imperative entsprechen; zutreffend ist auch, daß Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen für uns als sinnlich affizierte Vernunftwesen ein Handeln nach Imperativen ist, d.h. daß das Vermögen, nach Prinzipen zu handeln, für uns das Vermögen ist, Imperativen, in denen uns Gesetze gegenübertreten, nachzukommen. Doch ist das nicht für jeden Willen so; und an der Stelle, an welcher der Wille als das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln, definiert wird, ist dies noch gar nicht gezeigt. Kant ist dort erst auf dem Wege dahin, seine Auffassung von hypothetischen Imperativen und vom kategorischen Imperativ plausibel zu machen.1 Schließlich ist es voreilig, wie Cramer zu sagen, die vorgestellten Gesetze seien Naturgesetze, denn es ist alles andere als ausgemacht, daß auch ein heiliger Wille nach der Vorstellung von Naturgesetzen handelt. Überdies ist es fraglich, ob bei Menschen auch moralisch gute Handlungen auf der Vorstellung von Naturgesetzen beruhen, wenngleich wahrscheinlich ist, daß einige moralische Maximen mit Hilfe von technischen Imperativen (und damit von Naturgesetzen) umgesetzt werden.2 1
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Den ausschließlich objektiven Charakter der Gesetze, nach derenVorstellung ein Wille zu handeln vermag, übersieht auch Pierre Laberge, wenn er meint, dies bedeute allgemein, entsprechend den verschiedenen Imperativen, nach bloßen Regeln (nicht nach Maximen [eine problematische These]), nach klugen Lebensregeln (Maximen in Bittners Sinn) oder nach moralischen Maximen zu handeln (»La définition de la volonté«, S.90 f.). Der Vernunftcharakter der Gesetze und Prinzipien wird auch von der zweiten Willensdefinition betont, der gemäß ein Wille das Vermögen ist, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft als gut erkennt (s.o.). Auch aus diesem Grunde können die Prinzipien, von denen in der ersten Definition die Rede ist, nicht subjektive oder objektive Prinzipien sein, sondern allein Prinzipien der letztgenannten Art. — Selbst Henry Allison läßt sich (im Rekurs auf Laberge, ohne eigenständige Diskussion) sehr rasch darauf ein, daß an der genannten Stelle mit dem Handeln nach der Vorstellung der Gesetze das Handeln nach Maximen gemeint ist: Kant’s Theory of Freedom, S.86. Zwar handeln Menschen de facto nach Maximen, wenn sie nach der Vorstellung von Gesetzen handeln. Doch das ist in der ersten Definition auf Seite 412 nicht gemeint; und ein loser de-facto-Zusammenhang, der Kant zufolge auf der Natur des Menschen beruht, kann Bittner wie Allison nicht genügen. Vgl. §9.3. — Für Cramers Interpretation spricht allerdings die Verwendung wenn nicht des Demonstrativpronomens, so doch des bestimmten Artikels: Kant sagt, es handele sich um ein Vermögen, nach der Vorstellung »der« Gesetze zu handeln, und damit könnte er sich auf die Naturgesetze des vorigen Satzes beziehen. Doch scheint dieser Punkt zu schwach, um darauf eine Rekonstruktion zu stützen, gegen die vieles andere spricht; wenn auch nicht Bittners Argument aus »Handlungen und Wirkungen« (S.16 Anm.), demnach die beiden verschiedenen Bedeutungen, die »nach« in den ersten beiden Sätzen der eingangs dieses Paragraphen zitierten Passage annehmen kann, als Indiz dafür gelten können, daß auch von Gesetzen in doppelter Bedeutung gesprochen wird.
§ 9. Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen und nach Zwecken
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§9. Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen und nach Zwecken 9.1 Um dem Sinn der Definition des Willens als eines Vermögens, nach der Vorstellung von Gesetzen, d.i. nach Prinzipien, zu handeln, ans Licht zu bringen, ist es ratsam, sich parallele Willensdefinitionen anzusehen, etwa diejenige, die Kant im Rahmen der Ausführungen über den Geltungsbereich des Sittengesetzes in der Anmerkung zu §7 der zweiten Kritik gibt: Dieses Prinzip der Sittlichkeit nun, eben um der Allgemeinheit der Gesetzgebung willen, die es zum formalen obersten Bestimmungsgrunde des Willens, unangesehen aller subjektiven Verschiedenheiten desselben, macht, erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftige Wesen, so fern sie überhaupt einen Willen, d.i. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen, mithin so fern sie der Handlungen nach Grundsätzen, folglich auch nach praktischen Prinzipien a priori (denn diese allein haben diejenige Notwendigkeit, welche die Vernunft zum Grundsatze fodert), fähig sein. (A57)
Durch die Erläuterung als Prinzipien a priori ist klar, daß mit den Grundsätzen objektive Grundsätze gemeint sind, also praktische Gesetze. Es soll wiederum nicht geleugnet werden, daß dieses Handeln beim Menschen (und bei möglichen anderen Wesen, die mit einem ähnlichen Willen ausgestattet sind) nach Maximen geschieht, nach subjektiven Prinzipien des Wollens. Den objektiven Grundsätzen, an welche die Vernunft so hohe Ansprüche stellt, müssen subjektive Grundsätze, Maximen, genügen können.1 Doch können Maximen als subjektive Grundsätze des Wollens eben deshalb mit den Grundsätzen, nach denen handeln zu können bedeutet, einen Willen zu haben, nicht identifiziert werden. Die zitierte Definition aus der Kritik der praktischen Vernunft, die in einem anderen Argumentationszusammenhang Verwendung findet als die bereits behandelte Willensdefinition aus dem zweiten Abschnitt der Grundlegung, birgt ein neues Argument gegen die Bittnersche Identifikation: Wenn man unter einem Willen lediglich das Vermögen faßte, nach subjektiven Grundsätzen zu handeln, so könnte gar nicht garantiert werden, daß diese subjektiven Grundsätze Prinzipien a priori, d.h. objektiven, vernünftigen Grundsätzen, in der Lage wären zu ent1
Man vergleiche die Anmerkung der Grundlegung (IV:420 f.), in der Kant Maximen und Gesetz voneinander absetzt: »M a x i m e ist das subjektive Prinzip zu handeln, und muß vom o b j e k t i v e n P r i n z i p, nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden. Jene enthält die praktische Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjekts gemäß […] bestimmt, und ist also der Grundsatz, nach welchem das Subjekt h a n d e l t ; das Gesetz aber ist das objektive Prinzip, gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es h a n d e l n s o l l, d.i. ein Imperativ.« Dies ist nur eine, grundlegende Bedeutung, den »Maxime« in der Kantischen Moralphilosophie und Handlungstheorie annehmen kann; es ist die Patonsche, nicht die Bittnersche. Zu Maximen in ihren verschiedenen Bedeutungen vgl. Kapitel IV, bes. §17. — Die zitierte Passage macht deutlich, wieviele Mißverständnisse Kant dadurch anrichten kann, daß er oft nur von »Prinzipien« spricht, ohne zu erklären, ob er subjektive oder objektive Prinzipien meint.
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II. Der Wille als Vermögen, nach Prinzipien zu handeln
sprechen. Dann besäße das Sittengsetz nicht für alle mit einem Willen ausgestatteten Vernunftwesen Geltung. Die Definition kann ohne den objektiven Maßstab des Gesetzes nicht leisten, was an dieser Stelle verlangt wird.1 Der Wille ist somit auch nach dieser Definition ein Vermögen, den Gesetzen der Vernunft (hier im besonderen dem moralischen Gesetz) im Handeln gerecht zu werden. Nur so ist nachvollziehbar, wie das Sittengesetz »für alle vernünftigen Wesen, so fern sie überhaupt einen Willen […] haben«, gültig sein soll. 9.2 Noch eine weitere Definition des Willens findet sich im Text des zweiten Abschnitts der Grundlegung: Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, d e r Vo r s t e l l u n g g e w i s s e r G e s e t z e g e m ä ß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein. (IV:427)
Diese Willensdefinition bleibt zunächst hinter den bereits angeführten darin zurück, als sie nicht von Grundsätzen oder Prinzipien spricht, nach denen zu handeln nach (oder gemäß) der Vorstellung von Gesetzen zu handeln bedeuten soll. Sie geht jedoch über die anderen Definitionen hinaus, indem zum ersten Mal in der Grundlegung deutlich wird, daß ein Wille das vernünftige Wesen, das mit ihm ausgestattet ist, dazu befähigt, sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Ein praktisch-vernünftiges Wesen ist kein bloßer Mechanismus, der auf Manipulationen von außen reagiert. Es ist autonom, es handelt selbst.
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Anders formuliert: wäre es die vorrangige Aufgabe der praktischen Vernunft, Handlungen von Maximen abzuleiten, wie es Bittner vorschlägt, so könnte man gar nicht verstehen, wie praktische Vernunft den bloß subjektiven Motiven Widerstand entgegenzusetzen imstande sein sollte, wie es weiter unten im Text heißt: »Das moralische Gesetz ist daher bei jenen ein Imperativ, der kategorisch gebietet, weil das Gesetz unbedingt ist; das Verhältnis eines solchen Willens zu diesem Gesetze ist A b h ä n g i g k e i t, unter dem Namen der Verbindlichkeit, welche eine N ö t i g u n g, obzwar durch bloße Vernunft und deren [Ak.; dessen A] objektives Gesetz, zu einer Handlung bedeutet, die darum P fl i c h t heißt, weil eine pathologisch affizierte (obgleich dadurch nicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür einen Wunsch bei sich führt, der aus s u b j e k t i v e n Ursachen entspringt, daher auch dem reinen objektiven Bestimmungsgrunde oft entgegen sein kann, und also eines Widerstandes der praktischen Vernunft, der ein innerer, aber intellektueller, Zwang genannt werden kann, als moralischer Nötigung bedarf.« (A57). Praktische Vernunft leitet auch hier Handlungen von praktischen Gesetzen ab, wenn sie die pathologisch affizierte Willkür eines vernünftigen Wesens bestimmt; ist sie dazu nicht in der Lage, generiert sie lediglich Handlungsvorschriften, konkrete Imperative. — Die zitierte Charakterisierung der menschlichen Willkür ist ebenso präzise wie umständlich. Problematisch ist hingegen, wie Cramer von einem »empirischen Willen« zu sprechen oder gar von einem »empirisch bestimmten Willen« (»Hypothetische Imperative«, S.170 f.). Es ist anzunehmen, daß ein empirisch bestimmter Wille tatsächlich stets nach der Vorstellung von Naturgesetzen handelt. Doch das wird Cramer nicht im Sinn gehabt haben. Zudem ist, wie gesehen, in der besprochenen Definition der Grundlegung noch nicht einmal vom empirisch affizierten Willen die Rede, sondern vom Willen überhaupt.
§ 9. Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen und nach Zwecken
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Wenn man weiterliest, erfährt man noch mehr Neues. So heißt es dort, es sei dasjenige, »was dem Willen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Z w e c k, und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftigen Wesen gleich gelten« (ebd.); ähnlich definiert die Kritik der Urteilskraft, B33: »Das Begehrungsvermögen, sofern es nur durch Begriffe, d.i. der Vorstellung eines Zwecks gemäß zu handeln, bestimmbar ist, würde der Wille sein.«1 Und in der »Tugendlehre« der Metaphysik der Sitten schlägt Kant expressis verbis die Brücke zwischen der Willensfreiheit und der freien Wahl der Zwecke, die der Wille verfolgt: Z w e c k ist ein G e g e n s t a n d der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt (wodurch jener hervorgebracht wird). Eine jede Handlung hat also ihren Zweck, und da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür s e l b s t zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der F r e i h e i t des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der N a t u r, irgend einen Zweck der Handlungen zu haben.2
Die beiden Erläuterungen des Willensbegriffs sind komplementär. Sie betonen denjenigen Aspekt, der im jeweiligen Argumentationsverlauf eine vorrangige Rolle spielt. Am Anfang der Einführung der verschiedenen Imperative wird betont, daß der Wille das Vermögen ist, nach der Vorstellung von Gesetzen, nach objektiven Prinzipien, zu handeln; wenn es darum geht, einen objektiven, absoluten und von jedem menschlichen Wollen zu respektierenden Zweck zu finden, wird betont, der Wille sei ein Vermögen, durch die Vorstellung eines Zwecks bestimmt zu werden. Beide Aspekte vereint in sich die Definition der Kritik der praktischen Vernunft, der zufolge man den Willen als »das Vermögen der Zwecke« definieren kann, »indem sie jederzeit Bestimmungsgründe des Begehrungsvermögens nach Prinzipien sind« (A103). 9.3 Kant spricht explizit davon, daß unser Wille von der Vorstellung des Sittengesetzes bestimmt werden kann, und zwar in dem Fall, in dem wir nicht mit dem Blick auf die erwartete Wirkung, sondern moralisch handeln: Es kann […] nichts anders als die Vo r s t e l l u n g d e s G e s e t z e s an sich selbst, d i e f r e i l i c h n u r i m v e r n ü n f t i g e n We s e n s t a t t fi n d e t, so fern sie, nicht aber die erhoffte Wirkung, der Bestimmungsgrund des Willens ist, das so vorzügliche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen […]. (IV:401)
Beim moralischen Handeln bestimmt die Vorstellung »des Gesetzes an sich selbst« die Willkür. Doch es leuchtet kaum ein, daß auch bei bloß legalen oder gar unmoralischen Handlungen die Vorstellung des Sittengesetzes den 1 2
Vgl. dazu die Ausführungen Konrad Cramers, »Hypothetische Imperative«, S.174 ff. VI:384 f. Von dort aus gelangt Kant zum kategorischen Imperativ, der bedingungslos die Zwecke der eigenen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit gebietet.
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II. Der Wille als Vermögen, nach Prinzipien zu handeln
Bestimmungsgrund der Willkür abgeben sollte.1 Und wenn wir nach der Vorstellung anderer Gesetze handeln, wäre es zumindest problematisch zu sagen, der Wille sei ein Vermögen, nach der Vorstellung des Sittengesetzes zu handeln. Wenn es also bei nicht-moralischen Handlungen nicht das moralische Gesetz ist, nach dessen Vorstellung wir handeln, der Wille aber das Vermögen sein soll, nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln, so liegt es nahe, für diesen Fall ein anderes Gesetz oder andere Gesetze anzunehmen, nach deren Vorstellung ebenso gehandelt werden kann. Denn beispielsweise aus guten Klugheitsgründen zu handeln ist für Kant auch vernünftiges Handeln, das durch unsere Definition abgedeckt werden sollte, wenn es auch nicht auf dieselbe Weise vernünftig ist wie die Moral. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß Kant durchweg von einem Dualismus der Gesetze ausgeht: Es gibt für ihn nur Gesetze der Natur und Gesetze der Freiheit.2 Die Wissenschaft von den erstgenannten heißt »Physik« oder »Naturlehre«, die von den letztgenannten »Ethik« oder »Sittenlehre« — so in der »Vorrede« zur Grundlegung nachzulesen (IV:387). Folglich liegt es nahe zu meinen, daß in den Fällen, in denen nicht die Vorstellung des Sittengesetzes, das uns als kategorischer Imperativ gegenübertritt, allein den Willen bestimmt, es die Vorstellung eines Naturgesetzes in Form eines hypothetischen Imperatives ist.3 Das moralische Gesetz tritt uns somit, vorgestellt, als kategorischer Imperativ gegenüber; Naturgesetze, wenn wir sie vorstellen, als hypothetische Imperative. Es ist bemerkenswert, daß man in einer Handlung sowohl technischen hypothetischen Imperativen als auch entweder dem Imperativ der Moral oder dem Imperativ der Klugheit folgen kann.4 Oft benötigen wir Regeln, die angeben, wie man moralische oder kluge Zwecke verfolgt.5 Die Wahl der zugrundeliegenden Maxime folgt, wenn sie vernünftig ist, Rat1
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Eine solche Deutung hat A. R. C. Duncan in seinem Buch Practical Reason and Morality vorgelegt (vgl. S.103). Auch Laberge kritisiert sie als zu einseitig; vgl. »La définition de la volonté«, S.84 ff. Vgl. §6.1 und das dort zur Parallelität von Natur- und Sittengesetz Gesagte. Auch darin, daß wir sowohl nach der Vorstellung des Sittengesetzes als auch nach Vorstellung von Naturgesetzen handeln können, kommt zum Ausdruck, daß wir »Bürger zweier Welten« sind. Tiere handeln für Kant vielleicht nicht einmal nach der Vorstellung von Naturgesetzen, sondern schlicht nach Naturgesetzen. Wir haben die Freiheit, uns für das Gesetz der Vernunft zu entscheiden, obwohl die Sinnlichkeit uns widersprechende Maximen anträgt. Vgl. Einleitung. Vgl. §19, Kapitel IV, wo näher zu untersuchen sein wird, inwiefern Regeln dabei helfen, auf geschickte Art moralische Maximen in Handlungen umzusetzen. Vgl. Paton, The Categorical Imperative, S.95: »The general principle of skill is similarly [as in the case in which it is conditioned by the principle of self-love] taken up into the principle of morality: a good man will use the most effective means to the attainment of his moral ends, and it is only particular principles of skill which are conditioned by the principles of morality.«
§ 9. Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen und nach Zwecken
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schlägen der Klugheit oder Geboten der Sittlichkeit, während die Umsetzung dieser Maxime mit Hilfe von Regeln der Geschicklichkeit vonstatten geht. Somit kann bei uns Menschen auch moralisches Handeln mit der Bestimmung der Willkür durch die Vorstellung von Naturgesetzen einhergehen.1 Doch kann es nicht darin aufgehen. Der Grund für die Wahl der moralischen Maxime muß die Vorstellung des Sittengesetzes in der Form des kategorischen Imperativs sein. Die Erklärung hierfür ist die folgende: Hypothetische Imperative gebieten nur, insofern ein Zweck schon gewollt wird, während der kategorische Imperativ den Zweck selbst ohne Rücksicht auf bereits vorliegende Zwecke des handelnden Menschen gebietet. Im einzelnen stellt sich die Situation so dar, daß Regeln der Geschicklichkeit, wenn man sie vorstellt, angeben, wie ein beliebiger Zweck, den ich auf Grund meiner Maxime verfolge, realisiert werden kann. Diese Regeln der Geschicklichkeit geben konkrete natürliche Zusammenhänge an, etwa den, um Kants eigenes Beispiel aufzugreifen, daß man Korn mahlen, Teig anrühren und backen muß, ja eventuell allererst die Mühle und den Ofen konstruieren, wenn man aus Rohstoffen und ohne im Besitz von Geräten zu sein ein Brot herstellen will. Regeln der Geschicklichkeit sind moralisch neutral. Problematisch-hypothetische Imperative dienen der Anwendung, aber nicht der Auswahl von Maximen, wie dies, neben moralischen Imperativen, assertorisch-hypothetische Imperative tun. Denn die letztgenannten beiden Arten der Imperative sind den übergreifenden Zwecken unserer Handlungen gegenüber nicht neutral wie technische Imperative.
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Daß es im Fall der technischen Imperative Naturgesetze sind, die vorgestellt werden, ist v.a. deshalb plausibel, weil Kant Regeln der Geschicklichkeit als im Grunde »bloß theoretische Prinzipien« (Kritik der praktischen Vernunft, A46 f.) bezeichnet. Sein Beispiel ist das einer Geschicklichkeitsregel als des theoretischen Prinzips, »wie derjenige, der gerne Brot essen möchte, sich eine Mühle auszudenken habe« (ebd.). Ebenso werden assertorisch-hypothetische Imperative, also Ratschläge der Klugheit, Naturgesetze sein, die spezifizieren, wie ein vorgegebener Zweck, unsere eigene Glückseligkeit, erreicht werden kann. Allerdings geht ihnen der Charakter strenger Gesetze ab, weil es mit viel Unsicherheit verbunden ist, wie man das nunmehr fest vorgegebene Ziel der eigenen Glückseligkeit angesichts der Unwägbarkeiten des Empirischen tatsächlich am besten befördern kann. Allwissenheit in Hinsicht auf die vielen empirischen Faktoren, die zur Glückseligkeit beitragen oder ihr schaden, ist uns nicht gegeben; vgl. ebd., auch Grundlegung IV:418. Ausdrücklich werden beide Arten der hypothetischen Imperative in der Kritik der Urteilskraft der theoretischen Philosophie zugeordnet: »Alle technisch-praktische Regeln (d.i. die der Kunst und Geschicklichkeit überhaupt, oder auch der Klugheit, als einer Geschicklichkeit auf Menschen und ihren Willen Einfluß zu haben, so fern ihre Prinzipien auf Begriffen beruhen, müssen nur als Corollarien zur theoretischen Philosophie gezählt werden. Denn sie betreffen nur die Möglichkeit der Dinge nach Naturbegriffen, wozu nicht allein die Mittel, die in der Natur dazu anzutreffen sind, sondern selbst der Wille (als Begehrungs-, mithin als Naturvermögen) gehört, sofern er durch Triebfedern der Natur jenen Regeln gemäß bestimmt werden kann.« (BXIII f.)
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II. Der Wille als Vermögen, nach Prinzipien zu handeln
Bei assertorisch-hypothetischen Imperativen ist es das Bedürfnis nach harmonischer, langfristiger Befriedigung unserer Neigungen, das uns eine Maxime zu wählen nötigt. Dabei wird dieser Zweck vorausgesetzt; der Imperativ sagt uns, wie wir den vorhandenen Zweck der Glückseligkeit, den Kant für ein natürliches und in den Grenzen der Moral berechtigtes Anliegen aller Menschen hält, zu verfolgen haben. Die Unsicherheit, die bei der Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit besteht, läßt die Rede von Gesetzen, nach deren Vorstellung ein Mensch handelt, wenn er diesem Imperativ Folge leistet, problematisch erscheinen. Ein Mensch »ist nicht vermögend, nach irgend einem Grundsatze, mit völliger Gewißheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werden, darum, weil hiezu Allwissenheit erforderlich sein würde« (Grundlegung, IV:418). Vielleicht spricht Kant aus diesem Grunde an der oben (§9.1) behandelten Stelle aus der Kritik der praktischen Vernunft (A57) vorsichtiger von der Vorstellung von Regeln. Wenn man Ratschlägen der Klugheit folgt, wird jedoch ebenso wie beim Handeln nach Geschicklichkeitsregeln ein Zweck verfolgt, indem man »Regeln der kausalen Verknüpfung zeitlicher Ereignisse oder Zustände« nutzt. Sie sind allerdings so komplex, daß man nicht mit Bestimmtheit wissen kann, ob sie dem vorausgestzten Zweck der eigenen Glückseligkeit tatsächlich zuträglich sind. Beim Handeln nach hypothetischen Imperativen kommt die Cramersche Deutung zu ihrem Recht.1
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Es ist das entscheidende Merkmal von Maximen (im Gegensatz zu bloßen Regeln), daß sie nicht nur (a) die Absicht spezifizieren, dies oder das zu tun, wenn (b) eine bestimmte Situation gegeben ist, sonder auch (c) den zugrundeliegenden Zweck, den man mit der Absicht verfolgt. Der zu Beginn des ersten Abschnitts der Grundlegung als Beispiel angefürte Krämer (IV:397) hat die Wahl zwischen, erstens, der Maxime, (a) »unerfahrne Käufer« nicht zu übervorteilen, (b) wenn er im Laden tätig ist, (c) aus unmittelbarer menschenfreundlicher Neigung (so diese vorliegt), zweitens der Maxime, (a) seine Käufer nicht zu überteuern, (b) wenn etc., (c) weil es sich langfristig auszahlt, den Ruf eines redlichen Geschäftsmannes zu wahren, und, drittens, der Maxime, (a) seine Kunden nicht zu überteuern, (b) wenn etc., (c) um damit der Moral zu entsprechen, d.h.: weil es moralisch richtig ist. Die erste Option, das Handeln aus unmitelbarer Neigung, bedeuet Verzicht darauf, bei der Maximenwahl vernünftigen Maßstäben zu genügen, während die zweite und die dritte Option empirisch-praktischer bzw. reiner praktischer Vernunft entsprechen. Diese drei Arten der Motivation führen zu drei verschiedenen Maximen. Nur so ist erklärlich, daß Kant immer wieder die Maximen als den locus moralischer Bewertung anführt. Der Vorsatz oder die Handlungsregel »Ich will meine Kunden nicht überteuern« ist für sich genommen noch keine Maxime und deshalb moralisch neutral. Vgl. §19 des IV. Kapitels. — Außerdem wird aus dem Beispiel klar, daß die Maximenwahl, wenn sie auch frei ist, nicht vollkommen frei sein kann. Sie ist die Wahl zwischen einer sehr begrenzten Anzahl von Optionen, unter denen in moralisch relevanten Situationen allerdings immer die moralisch richtige ist; dafür sorgt das nicht empirisch gewirkte Gefühl der Achtung (vgl. Kapitel V). Weil es stets nur eine begrenzte Anzahl möglicher Maximen gibt, treffen Einwände, die mit der vermeintlichen Beliebigkeit der Maximenformulierung operieren, Kant nicht. Wer meint, nach einer komplizierten verallgemeinerungsfähigen Maxime zu handeln, täuscht sich über seine Motivation; und Kant warnt immer wieder vor der moralischen Selbsttäuschung! Vgl. Kapitel IV, §23.
§ 9. Handeln nach der Vorstellung von Gesetzen und nach Zwecken
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Bei der Auswahl von Maximen nach dem kategorischen Imperativ wird nun auf die empirischen (»pathologischen«) Bedürfnisse des Individuums gar keine Rücksicht genommen. Anders als die Naturgesetze, die ihm dabei helfen können, vorgegebenen Zwecke durch angemessene Handlungen nachzugehen, trägt das Sittengesetz zur Verwirklichung dieser Zwecke nichts bei. Da es allein auf die mögliche Allgemeingültigkeit des Wollens sieht, erkennt man nicht leicht, wie es überhaupt zur Umsetzung einzelner Zwecke dienen können sollte. Es gebietet der menschlichen Willkür kategorisch die Aufnahme von moralisch einwandfreien Zwecke in moralisch einwandfreie Maximen. »Bloße Vernunft« kann in einem freien Willen Zwecke geben; er ist nicht auf von der Natur vorgegebene »pathologische« Zwecke angewiesen.1 Beim Erörtern der Schwierigkeiten, die in der eingangs angeführten Willensdefinition verborgen sind, haben wir den ersten Satz der zitierten Passage, welcher der Definition vorausgeht, aus dem Blick verloren: »Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen.« Daraus folgt, daß vernünftige Wesen, die mit dem Vermögen ausgestattet sind, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln, nach Gesetzen wirken, insofern sie Dinge der Natur sind; und dies scheint gerade die Pointe der ansonsten rätselhaften Gegenüberstellung zu sein.2 Nun sind Menschen, im Gegensatz zu Gott, zumindest teilweise Dinge der Natur. Deshalb liegt es nahe, zu fragen, wie Geschehen nach Gesetzen mit dem Vermögen vereinbart werden kann, nach der Vorstellung von 1
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Das a priori gewirkte, in jeder moralisch relevanten Situtation mit dem Urteil auftretende Gefühl der Achtung soll die Möglichkeit moralischer Handlungen dadurch ermöglichen, daß mit der Achtung Menschen immer ein unmittelbares Bedürfnis verspüren, moralische Zwecke zu verfolgen. Die Vorstellung des Sittengesetzes allein könnte nicht zur Wahl einer moralischen Maxime führen, wenn aus ihr nicht ein Verlangen folgte, dem Gesetz gemäß zu handeln. Dazu Kapitel V. Vgl. Bittner, »Handlungen und Wirkungen«, S.14: »Unterschieden werden also zwei Arten von Wirken. Es werden nicht sogleich auch zwei getrennte Arten von Wesen untershieden, die auf jene beiden Arten wirken. Zumindest ist es nicht zwingend, »Ding der Natur« und »vernünftiges Wesen« als Bezeichnungen disjunkter Klassen von Dingen zu lesen. Kants Ausdruck »nur ein vernünftiges Wesen« stellt es frei, den Satz so zu verstehen: unter den Dingen der Natur sind es allein diejenigen, die zugleich vernünftige Wesen sind, welche nach der Vorstellung der Gesetze zu wirken vermögen. Daß Kant ihnen nur ein Vermögen zu solchem Wirken zuschreibt, unterstützt diese Deutung.« Das stimmt, wie gesehen, deshalb nicht, weil die Dinge der Natur und die vernünftigen Wesen de facto zum Teil disjunkte Klassen sind: Gott ist kein Ding der Natur und hat dennoch einen Willen. Bittner übergeht den springenden Punkt der Gegenüberstellung, wenn er im direkt Folgenden schreibt: »Die vernünftigen Wesen wirken manchmal, aber nicht immer nach der Vorstellung der Gesetze. So können sie auch manchmal als Dinge der Natur bloß wirken nach Gesetzen.« (ebd.) Als Dinge der Natur wirken selbst vernünftige Wesen immer bloß nach Gesetzen! — Unberührt von den Kritikpunkten bleibt die Bittnersche Analyse, der zufolge das »nach« in »nach Gesetzen« und in »nach der Vorstellung von Gesetzen« bzw. »nach Prinzipien« nicht dieselbe Bedeutung haben kann: Die beiden letztgenannten Ausdrücke bedeuten nicht bloß Gesetzeskonformität; sie bedeuten, daß man etwas »als Fall einer Regel« will oder tut (S.17). Allein, diese Regel ist keine Maxime.
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II. Der Wille als Vermögen, nach Prinzipien zu handeln
Gesetzen frei gewählte Zwecke zu verfolgen. Dies ist das Problem der Kompatibilität von Willensfreiheit und Naturmechanismus, das uns im folgenden Kapitel III beschäftigen soll.1
1
Ähnlich stehen Wille, (negative) Freiheit und Naturnotwendigkeit im ersten Absatz des »Übergangs von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft« nebeneinander: »Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu werden.« (IV:446) Wie geht die Eigenschaft des menschlichen Willens, als Kausalität eines vernünftigen Wesens unabhängig von fremden ihn bestimmenden Ursachen wirken zu können, mit der Naturnotwendigkeit zusammen? — Auch über den Willen als Kausalität ist noch nicht viel gesagt worden; vgl. Kritik der praktischen Vernunft, Einleitung S.A29 f.: Der Wille ist ein Vermögen, »den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder doch sich selbst zu Bewirkung derselben (das physische Vermögen mag nun hinreichend sein, oder nicht), d. i. seine Kausalität zu bestimmen«.
2. Teil Willensfreiheit und Moralpsychologie
III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur §10. Die dritte Antinomie 10.1 Kant widmet sich dem Problem des Ausgleichs zwischen Naturgesetzlichkeit und menschlicher Freiheit am ausführlichsten im »dritten Widerstreit der transzendentalen Ideen« der Kritik der reinen Vernunft.1 Auch auch in den Schriften, die nach 1781 entstanden sind, verweist er immer wieder auf ihn als Schlüsselstelle.2
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Zur Terminologie. Bewußt findet der Ausdruck »Kompatibilismus« hier keine Verwendung, obwohl man Kants Unternehmen in einer (der wörtlichen und grundlegenden) Bedeutung des Wortes durchaus mit Recht als »kompatibilistisch« bezeichnen kann; wenn man nämlich unter »Kompatibilismus« all diejenigen Positionen faßt, die in ihrer jeweiligen Ausprägung behaupten, menschliche Willensfreiheit sei mit Naturgesetzlichkeit vereinbar. In dieser Bedeutung ist »Kompatibilismus« gleichbedeutend mit »weichem Determinismus«, der Gegenposition zum »harten Determinismus«, welcher aus der Annahme des Determinismus schließt, menschliche Freiheit sei eine Illusion, und zum Libertarismus oder Indifferentismus, der den Gedanken durchgängiger Naturkausalität aufgibt, um für eine radikale Wahlfreiheit des Willens Platz zu schaffen. In der geläufigeren, engeren Bedeutung versteht man unter Kompatibilismus »naturalistische« Versuche des Ausgleichs zwischen Freiheit und Determinismus, wie sie in der Nachfolge Thomas Hobbes’ und David Humes in der angelsächsischen Philosophie lange Zeit vorherrschend waren und auf dem Kontinent etwa von Gottfried Wilhelm Leibniz und Moritz Schlick vertreten wurden. Unter den neueren Interpreten der Kantischen Freiheitslehre haben v.a. diejenigen den Ausdruck »Kompatiblismus« für sich beansprucht, die sie als eine Vorläuferin des »anomalen Monismus« Donald Davidsons sehen, so Ralf Meerbote und Hud Hudson. Da Kant in der Freiheitsfrage weder in der Tradition Humes steht noch als Davidsonianer gelesen werden darf (vgl. §12.4 Anm.), sollte man von ihm lieber nicht als »Kompatiblisten« sprechen. Ebenso irreführend ist jedoch der von Hudson mit Recht beanstandete Sprachgebrauch Henry Allisons, dem zufolge Kant eine »incompatibilistic conception of freedom« vertrete (Kant’s Theory of Freedom, S.3, vgl. S.21 u. ö.; ferner Idealism and Freedom, S.201 f.; Hudsons Kritik: Kant’s Compatibilism, S.53 ff.). Denn »Inkompatibilismus« wendet sich hier nur gegen die Leibniz-Humesche Variante des Kompatibilismus, nicht gegen Ausgleichstheorien im allgemeinen. Ebenso problematisch scheint die Redeweise von Kants »Indeterminimsus« zu sein, der sich Allison (ebenso wie Hudson) in gleicher Bedeutung bedient, denn die Welt ist für Kant keineswegs indeterministisch. — Ein Ausweg wäre, vom »Rekonzilianismus« der Kantischen Theorie zu sprechen, in Anlehnung an Daniel Dennetts »reconciliationalism« (Elbow Room, S.2). Da der Anspruch der Kantischen Lösung klar ist, soll jedoch im folgenden versucht werden, ohne derlei Etiketten auszukommen. So (implizit) im dritten Abschnitt der Grundlegung, v.a. IV:455 f., in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, BXXVII ff., explizit zu Beginn der Vorrede zur Kritik der praktischen Vernunft, ferner im Text dieser Schrift A53 f., A192 f. und v.a. A205 f., ehe Kant zur Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft schreitet. Überdies ist die Auflösung der dritten Antinomie Grundlage der Diskussion in der »Kritischen Beleuchtung«, A159 ff.
§ 10. Die Antinomie
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Aus mehreren Gründen jedoch ist bei der Interpretation dieses Textes Vorsicht geboten. Zum einen steht die Antinomienlehre zunächst im Rahmen des Projekts einer kritisch zu läuternden transzendentalen Kosmologie, von der zunächst einmal gar nicht klar ist, in welchem Zusammenhang sie mit den Kant sonst so wichtigen ethischen Themen steht. Zweitens ist das Ziel, das sich die Auflösung der dritten Antinomie stellt, ein eher bescheidenes. Weder die Wirklichkeit noch die Möglichkeit transzendentaler Freiheit möchte Kant gezeigt haben: Daß […] diese Antinomie auf einem bloßen Scheine beruhe, und, daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens n i c h t w i d e r s t r e i t e, das war das einzige, was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war. (A558/B576)
Zunächst ist Freiheit nicht mehr als eine transzendentale Idee, die mit unserem Erfahrungswissen entgegen dem ersten Anschein und trotz der Argumentation der Antithesis (s.u.) nicht kollidieren muß. Das bedeutet jedoch gerade nicht, daß wir das Zusammenspiel von Freiheit und Naturnotwendigkeit, wie es sich de facto bei menschlichen Handlungen findet, auf dieser Grundlage verstehen können.1 Drittens ist zu beachten, daß Kants Ethik und Moralpsychologie zu der Zeit, als er die Kritik der reinen Vernunft verfaßte, noch nicht den Stand der Schriften der mittleren und späten 1780er Jahre erreicht hatte. Die Autonomielehre der Grundlegung, die Theorie der Achtung als einzig akzeptables moralisches Motiv, wie sie uns in ausgearbeiteter Form im »Triebfedernkapitel« der Kritik der praktischen Vernunft vorliegt, auch die These, daß das moralische Gesetz und die menschliche Freiheit aufeinander verweisen (Allisons »reciprocity thesis«) ist allenfalls in Ansätzen vorhanden.2 Freilich sollten diese Unterschiede auch nicht überbewertet werden. Nicht nur die schon erwähnten späteren Verweise auf die Antinomie der Kritik der reinen Vernunft als Schlüssel zur Vereinbarkeitsfrage sprechen dafür, daß Kant seine Auffassung nach 1781 nicht wesentlich geändert hat, sondern auch die
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2
Daß die Antinomie und ihre Auflösung nur eine sehr schwache Basis zum Verständnis menschlicher Freiheit bieten, drückt Bennett folgendermaßen aus: »The doctrine that there is noumenal freedom could be consistent with itself and with determinism merely by being vacuous. One suspects that if Kant has achieved consistency in his reconciling theory, that is only because one half of it has no real content.« (Kant’s Dialectic, S.194) Das ist zu pessimistisch. Richtig ist, daß eine Hälfte fehlt. Es fehlt die Moral. Man vgl. Kapitel 3.III (»Freedom in Kant’s moral theory circa 1781«) von Henry Allisons Buch Kant’s Theory of Freedom, S.66–70; und Dieter Henrichs klassischen Aufsatz »Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft«. Als Kantische Quellen kommen neben verstreuten Bemerkungen in der Kritik der reinen Vernunft und den in diese Zeit datieren »Reflexionen« aus dem Nachlaß v.a. die in Band XXVII der Akademie-Ausgabe edierten Vorlesungen zur Moralphilosophie aus der Entstehungszeit der Kritik in Frage.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Tatsache, daß die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft das Antinomienkapitel (im Gegensatz zur transzendentalen Deduktion, zum Kapitel über »Phaenomena und Noumena« und den Paralogismen) praktisch unverändert abdruckt und seine zentrale Rolle in der Vorrede betont. Ehe wir uns — mit der gebotenen Vorsicht — an die Argumente von Thesis und Antithesis sowie an die Auflösung der dritten Antinomie begeben, sind einige Bemerkungen über das Phänomen einer Antinomie der reinen Vernunft am Platze. 10.2 Die Antinomie entspringt nach Kant dem unserer Vernunft eigentümlichen Bedürfnis, die Welt als ein Ganzes zu verstehen, das keine Bedingung ihres Daseins außer ihr selbst hat. Die Vernunft versucht, die Kategorien (genauer: diejenigen, »in welchen Synthesis eine Reihe ausmacht«, A409/ B436), über die Grenzen einer möglichen Erfahrung hinaus zu erweitern.1 Dies geschieht dadurch, daß sie zu einem gegebenen Bedingten auf der Seite der Bedingungen (unter denen der Verstand alle Erscheinungen der synthetischen Einheit unterwirft) absolute Totalität fodert, und dadurch die Kategorie zur transzendentalen Idee macht, um der empirischen Synthesis, durch die Fortsetzung derselben bis zum Unbedingten (welches niemals in der Erfahrung, sondern nur in der Idee angetroffen wird), absolute Vollständigkeit zu geben. (ebd.)
Zurückgeführt wird diese Forderung der Vernunft auf den folgenden Grundsatz: [W]enn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte g e g e b e n, wodurch jenes allein möglich war. (ebd.)
Unsere Vernunft verlangt deshalb nach Vollständigkeit der Bedingungen im Regreß, die sie nicht aus der Erfahrung schöpfen kann — und dies scheint tatsächlich eine treffende Beschreibung des sozusagen unrealistischen intellektuellen Appetits unserer diskursiven Vernunft zu sein.2 Ein Konflikt ergibt sich, weil die Suche nach diesem Ganzen auf zweierlei Weise beendet werden kann: indem nämlich (i) ein erstes Glied der Reihe von Bedingungen angenommen und diese damit zum Abschluß gebracht wird, oder indem (ii) ein solches vermeintlich erstes Glied stets zurückge1
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Die Beschränkung auf die vier Kategorien Einheit, Realität, Kausalität und Notwendigkeit wirkt künstlich, auch die Zuordnung zu den vier Problemen in der Antinomie ist wenig einleuchtend und wird wohl mit Recht oft als eine Folge übertriebener architektonischer Spitzfindigkeit angesehen. Vgl. Henry Allison, Kant’s Transcendental Idealism, S.37 und Norman Kemp Smith, Commentary, S.379. Jonathan Bennett (Kant’s Dialectic, S.260 f.) gibt allerdings zu bedenken, daß Kant durch die Charakterisierung der aufsteigenden Vernunft, sei sie auch korrekt, sein eigenes klares Bild von der Vernunft als einem deduktiven Vermögen der Schlüsse verwischt. Auch die Aufgabenverteilung zwischen Verstand und Vernunft ist nicht immer eindeutig. Doch dies sind eher terminologische Schwierigkeiten als Sachfragen.
§ 10. Die Antinomie
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wiesen wird und die Vernunft in infinitum nach weiteren Gründen oder Bedingungen sucht, um die Reihe zu vervollständigen. So entstehen zwei gleichermaßen zwingende, auf den ersten Blick allerdings einander widersprechende Auffassungen des unbedingten Ganzen, deren Widerstreit durch Erfahrung nicht entschieden werden kann; denn weder die eine noch die andere Variante der absoluten Totalität, weder ein erstes Glied, das nichts voraussetzt und alles erklärt, noch eine unendliche Ganzheit von Gliedern, kann empirisch festgestellt werden. Somit muß mit einer Reihe empirischer Bedingungen, die durch ein erstes Glied begrenzt ist, es die Vernunft dem Verstand »zu kurz machen«, während sie es ihm »zu lang macht«, wenn die Totalität in einer unendlichen empirischen Reihe gesucht wird,1 so daß sie gleichsam von der einen Seite der Antinomie zur anderen springt, ohne je zufrieden sein zu können. Die »Vollständigkeit in der Reihe der Prämissen, die zusammen keine andere voraussetzen« (A416/B444) ist auf empirischem Wege nicht zu haben. In den prima facie widersprüchlichen Auffassungen besteht die Antithetik der reinen Vernunft. Darunter versteht Kant nicht die dogmatische Behauptungen der Gegenthese, sondern »den Widerstreit der dem Scheine nach dogmatischen Erkenntnisse (thesin cum antithesi), ohne daß man einer vor der andern vorzüglichen Anspruch auf Beifall beilegt.« (A420/B448) Diese dialektische Situation ist doppelt mißlich, wie Kant im Folgenden ausführt: Ein dialektischer Lehrsatz der reinen Vernunft muß demnach dieses, ihn von allen sophistischen Sätzen Untescheidendes, an sich haben, daß er nicht eine willkürliche Frage betrifft, die man nur in gewisser beliebiger Absicht aufwirft, sondern eine solche, auf die jede menschliche Vernunft in ihrem Fortgange notwendig stoßen muß; und zweitens, daß er, mit seinem Gegensatze, nicht bloß einen gekünstelten Schein, der, wenn man ihn einsieht, sogleich verschwindet, sondern einen natürlichen und unvermeidlichen Schein bei sich führe, der selbst, wenn man nicht mehr durch ihn hintergangen wird, noch immer täuscht, obschon nicht betrügt, und also zwar unschädlich gemacht, aber niemals vertilgt werden kann. (A421/B449 f.)
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Vgl. A529/B557. Bei den mathematischen Antinomien, die sich dadurch auszeichnen, daß die Reihen nur aus gleichartigen, empirischen, Gliedern bestehen können, konnte entsprechend die Lösung nur darin bestehen, die Ansprüche beider Seiten als unberechtigt zurückzuweisen, ist, während bei den dynamischen Antinomien ein erstes Glied, das außerhalb der empirischen Reihe von Bedingungen und Bedingten steht, zugelassen werden kann. Daraus ergibt sich die von Kant nicht eigens thematisierte Schwierigkeit für die letztgenannten Antinomien, daß die Berechtigung der Antithesis fragwürdig wird und sie nur durch eine künstliche und, so scheint es, sophistische Beschränkung auf den Bereich der Erscheinungen legitimiert werden kann; auf dieses Problem werden wir in der abschließenden Diskussion der Freiheitsantinomie zurückkommen (§10.6).
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Diese Behauptung Kants ist problematisch. Zu Recht konstatiert Henry Allison eine Spannung zwischen den beiden Thesen, (i) beide Beweise seien gleichermaßen klar, evident und zwingend, und (ii) der Widerstreit sei bloß dialektisch und bereite dem transzendentalen Idealismus den Weg, der als Schlüssel zu dessen Auflösung dienen soll.1 Um die Möglichkeit einer Illusion zu verdeutlichen, die sich auch dann nicht vollkommen verflüchtigt, wenn man ihre Gründe durchschaut, führt Kant an anderer Stelle das Beispiel des Meeres an, das in der Mitte höher scheine als am Ufer, ferner das des Mondes, der selbst dem Astronomen beim Aufgang größer scheine als in der Höhe, »ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird« (A 297/ B353 f.) Ein geläufiges Beispiel aus neuerer Zeit ist die Müller-Lyer Illusion. Kant erklärt den unvermeidlichen »transzendentalen« Schein damit, daß die Vernunft dazu neigt, subjektive Grundregeln ihres Gebrauchs für objektive Grundsätze zu halten und von subjektiver Notwendigkeit auf objektive Notwendigkeit zu schließen (ebd.). Die transzendentale Betrachtungsweise ist der Vernunft in ihrem Drang nach Vollständigkeit offensichtlich nur schwer beizubringen. Aus heutiger Sicht muß auch der Vergleich mit optischen Täuschungen problematisch erscheinen. Sie beruhen, wie wir nun wissen, auf der vollkommen unbewußten »Aufbereitung« unserer Sinneseindrücke nach Opitimierungskriterien im Großhirn, nicht auf bewußtem Nachdenken wie die Lösungsversuche der Antinomie. Der transzendentale Schein läßt sich deshalb schwerlich in Analogie zum optischen Schein erklären. Ohne die kritische Aufklärung jedoch gewinnt für Kant beim Hin und Her im Streit auf dem »dialektischen Kampfplatz« stets der energische Angreifer, und »rüstige Ritter« sind sicher, »den Siegeskranz davon zu tragen, wenn sie nur dafür sorgen, daß sie den letzten Angriff zu tun das Vorrecht haben, und nicht verbunden sind, einen neuen Anfall des Gegners auszuhalten« (A423/B450). Unparteiische Schlichtung in Ansehung der übrigen, vor allem moralischen Interessen soll die »skeptische Methode« bringen, indem sie »den Punkt des Mißverständnisses zu entdecken sucht« (A424/B452). Und diese Methode ruht wesentlich auf der Kantischen Transzendentalphilosophie. Da Kant die vier einzelnen Widerstreite der Ordnung der Kategorientafel entsprechen läßt, geht es in der dritten Antinomie um eine Kategorie der Relation. Bei Akzidenzien und bei der Gemeinschaft von Substanzen glaubt Kant keine Reihe von Bedingungen und Bedingtem vorzufinden, weil in beiden Fällen nur Beiordnung, keine Folge, vorliege. 1
Vgl. Kant’s Transcendental Idealism, S.45, ferner S.313.
§ 10. Die Antinomie
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Damit bleibt die Kategorie der Kausalität, d.h. die Kategorie von Ursache und Wirkung.1 Tatsächlich fällt es uns leicht, mit Bezug auf diese Kategorie von Bedingungen und Bedingtem zu sprechen. Bedingungen sind die Ursachen, das Bedingte die Wirkungen, die durch sie hervorgerufen werden, also Ereignisse oder »Erscheinungen«. Entsprechend charakterisiert Kant den dritten Widerstreit in der Antinomientafel als das Problem der absoluten »Vollständigkeit der E n t s t e h u n g einer Erscheinung überhaupt« (A415/B443).2 10.3 Die Thesis des dritten Widerstreits also lautet: »Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig.« (A444/B472) — Dies ist eine sehr vorsichtige Behauptung; immerhin wird zugestanden, daß die Erscheinungen in der Welt insgesamt, d.h. in ihrer Totalität, nach Gesetzen der Naturkausalität abgeleitet werden können. Darüber hinaus soll es jedoch noch eine zweite Art der Kausalität geben, ohne welche diese Erscheinungen nicht erklärt werden können.3 Implizit vorausgesetzt wird schon hier (wie auch im Beweis), daß eine bloße Ableitung eines Ereignisses nach Gesetzen nicht ausreicht, seine Existenz hinreichend zu erklären und unsere Vernunft zufriedenzustellen. 1
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Sehr konzis schreibt Kant: »Es werden hier [in der Antinomie der reinen Vernunft] also Erscheinungen als gegeben betrachtet, und die Vernunft fodert die absolute Vollständigkeit der Bedingungen ihrer Möglichkeit, so fern diese eine Reihe ausmachen, mithin eine schlechthin (d.i. in aller Absicht) vollständige Synthesis, wodurch die Erscheinung nach Verstandesgesetzen exponiert werden könne.« — Kants Argumentation für das Ausscheiden der Substanz- und der Gemeinschaftskategorie ist jedoch problematisch: Läßt sich nicht mit dem gleichen Argument der räumliche Teil der ersten Antinomie zurückweisen? Auch im Raum fällt es schwer, von einer Folge der Bedingungen von Räumen in dem Sinn zu sprechen, wie es eine Folge von Bedingungen in der Zeit geben kann. Kant ist sich dieser Schwierigkeit bewußt; vgl. A413/B440 und Henry Allison, Kant’s Transcendental Idealism, S.37. Wie schon die ersten beiden Antinomien, so hat Sadik Al-Azm in seinem Standardwerk über den Ursprung der Argumente in Kants Antinomien auch den dritten Widerstreit historisch auf den Streit zwischen dem Isaac Newton vertretenden Samuel Clarke und Gottfried Wilhelm Leibniz zurückgeführt. Newton vertritt demnach die Seite der Thesis, indem er (i) einen ersten Ursprung der Welt in einem göttlichen Schöpfer und (ii) dessen ständigen Eingriff in den Lauf der Welt vertritt, also neben der Naturkausalität noch eine Kausalität (göttlicher) Freiheit annimmt. Leibniz steht auf der Seite der Antithesis, die für die uneingeschränkte und alleinige Geltung der Naturnotwendigkeit argumentiert. Vgl. The Origins of Kant’s Arguments in the Antinomies, S.86 ff. Kants Formulierung der Thesis ist mißverständlich. Wenn man den ersten Satz allein betrachtet, erwartet man die vergleichsweise schwache These, daß es auch noch eine zweite Art der Kausalität gibt, aus der die Erscheinungen in der Welt abgeleitet werden können. Der Verfechter der Thesis vertritt dagegen die stärkere These, daß eine zweite Art der Kausalität für die Erklärung, die über die bloße Ableitung hinausgeht, notwendigerweise anzunehmen ist. Der Unterschied zwischen Ableitung und Erklärung zeigt sich im übrigen auch darin, daß man in beiden Richtungen der Zeit Ereignisse auseinander ableiten kann, während eine Erklärung nur mit Rekurs auf vorausgehende Ereignisse möglich ist. Es gibt keine Bedingungen aktueller Ereignisse, die in der Zukunft liegen.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Der Beweis für die Thesis (A444/B472–A446/B474) sieht folgendermaßen aus — die einzelnen Sätze sind der Einfachheit halber durchnumeriert: [1] Man nehme an, es gebe keine andere Kausalität, als nach Gesetzen der Natur: so setzt alles, w a s g e s c h i e h t, einen vorigen Zustand voraus, auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt.
Für die Richtigkeit der Thesis wird auf indirektem Wege argumentiert.1 Vorausgesetzt wird allerdings nicht die Wahrheit der Antithesis im genauen Wortlaut, sondern die Antithesisposition, so wie sie ein Vertreter der Thesis auffaßt. Die Position der Gegenseite wird dabei so vereinfacht, wie es auch die Gegenseite selbst tut: im Sinne eines transzendentalen Realismus. Nur aus der Sicht der Kantischen Philosophie erkennt man die eingeschränkte Gültigkeit der Behauptungen und ihrer Beweise. Es wäre problematisch, wenn Kant hier tatsächlich mit einem gültigen Argument die Antithesis ad absurdum führen wollte; denn die soll schließlich aus kritischer Sicht der Thesis nicht widersprechen, und beide Seiten sollen wahr sein können. Nehmen wir also an, die Naturkausalität als einzige Art der Kausalität in der Welt sei auch die einzige Art der Kausalität überhaupt.2 Nehmen wir an, daß es überhaupt nur eine Art der Kausalität gibt, so setzt tatsächlich alles, was geschieht, einen vorhergegangenen Zustand voraus sowie eine Regel, nach der die Wirkung auf ihn folgt. Es ergibt sich folgendes: [2] Nun muß aber der vorige Zustand selbst etwas sein, was geschehen ist (in der Zeit geworden, da es vorher nicht war), weil, wenn es jederzeit gewesen wäre, seine Folge auch nicht allererst entstanden, sondern immer gewesen sein würde.
Der vorige Zustand, auf den ein Ereignis nach einem Naturgesetz folgt, muß seinerseits ein Ereignis sein, das wiederum auf ein noch weiter zurückliegen1
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Kant äußert in der »Methodenlehre« der Kritik der reinen Vernunft Vorbehalte gegen die apagogische Beweisart, die auch die Beweise der Antinomie treffen: »Der direkte oder ostensive Beweis ist in aller Art der Erkenntnis derjenige, welcher, mit der Überzeugung von der Wahrheit, zugleich Einsicht in die Quellen derselben verbindet; der apagogische dagegen kann zwar Gewißheit, aber nicht Begreiflichkeit der Wahrheit in Ansehung des Zusammenhanges mit den Gründen ihrer Möglichkeit hervorbringen. Daher sind die letzteren mehr eine Nothülfe, als ein Verfahren, welches allen Absichten der Vernunft ein Genüge tut.« (A789/B817 f.). Die mangelnde Begreiflichkeit der wahren Gründe einer These macht den apagogischen Beweis besonders fehleranfällig: »Die apagogische Beweisart kann aber nur in denen Wissenschaften erlaubt sein, wo es unmöglich ist, das Subjektive unserer Vorstellungen dem Objektiven, nämlich der Erkenntnis desjenigen, was am Gegenstande ist, unterzuschieben. Wo dieses letztere aber herrschend ist, da muß es sich häufig zutragen, daß das Gegenteil eines gewissen Satzes entweder bloß den subjektiven Bedingungen des Denkens widerspricht, aber nicht dem Gegenstande, oder daß beide Sätze nur unter einer subjektiven Bedingung, die fälschlich für objektiv gehalten, einander widersprechen, und, da die Bedingung falsch ist, alle beide falsch sein können, ohne daß von der Falschheit des einen auf die Wahrheit des andern geschlossen werden kann.« (A791/B819) — Der letztgenannte Fehler findet sich in den ersten beiden, der erstgenannte in den letzten beiden Antinomien. Kant versteht im Zusammenhang der Antinomienlehre unter der Welt »das mathematische Ganze aller Erscheinungen und die Totalität ihrer Synthesis« (A418/B446).
§ 10. Die Antinomie
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des Ereignis nach einem Gesetz folgt. Wäre dieser Zustand nicht wiederum etwas Entstandenes, so wäre nicht erklärlich, wie die Wirkung ein zu einem bestimmten Zeitpunkt auftretendes Ereignis sollte sein können. Kant folgert: [3] Also ist die Kausalität der Ursache,1 durch welche etwas geschieht, selbst etwas G e s c h e h e n e s, welches nach dem Gesetze der Natur wiederum einen vorigen Zustand und dessen Kausalität, dieser aber eben so einen noch älteren voraussetzt usw.
Dieses Spiel läßt sich beliebig fortsetzen. Jede Ursache ist ihrerseits Wirkung einer vorhergehenden Ursache, diese wiederum Wirkung einer weiteren Ursache etc. Verantwortlich dafür ist das »Gesetz der Natur« (im Singular!), das unten in Schritt [5] näher erläutert wird. [4] Wenn also alles nach bloßen Gesetzen der Natur geschieht, so gibt es jederzeit nur einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang, und also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen.
In der Sprache der Thesis selbst heißt das: die Wirkungen in einer Kausalkette können zwar — aus ihren jeweiligen Ursachen — abgeleitet, aber letzten Endes nicht erklärt werden, weil ein zureichender Grund eines ersten Anfangs — ein erster Anfang, der nicht geschehen ist und der unsere Vernunft auf ihrer Suche nach immer weiter zurückliegenden Gründen zur Ruhe kommen lassen würde — nicht gegeben werden kann, wenn wir an der uneingeschränkten Gültigkeit des Kausalgesetzes der Natur festhalten. [5] Nun besteht aber eben darin das Gesetz der Natur: daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe.
An dieser Stelle soll die These der uneingeschränkten Geltung der Naturgesetze scheitern. Mit der Möglichkeit eines ersten Anfangs einer Kette von Ursachen und Wirkungen steht und fällt der Argumentation zufolge die »hinreichend a priori bestimmte Ursache« derselben. Was meint Kant mit diesem Ausdruck? Er ist weniger rätselhaft, als manche Interpreten meinen. Bennetts lakonischer Vorwurf z.B., es sei typisch, daß Kant diesen Ausdruck, mit dem das Argument stehe und falle, nicht erkläre, trifft die Sache nicht,2 denn aus dem einleitenden zweiten Abschnitt des ersten Buchs der transzendentalen Dialektik »Von den transzendentalen Ideen« wird deutlich, daß Kant sich hier des Ausdrucks »a priori« in der älteren, wörtlichen Bedeutung (»von vorn-
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D. h. die Eigenschaft von etwas, etwas anderes zu bewirken, also das, was etwas zur Ursache für eine Wirkung macht. Vgl. Wolff, Ontologia, §884. Jonathan Bennett, Kant’s Dialectic, S.184.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
herein«) bedient, nicht der sonst bei Kant üblichen, in der das Apriorische dem Empirischen entgegengesetzt wird. Damit zielt Schritt [5] des Arguments nicht schon per se auf eine noumenale Ursache, die allein dem unendlichen Regreß soll Einhalt gebieten können.1 In diesem Fall läge eine gar zu offensichtliche petitio principii vor. Kant hätte seine Leser vor diesem naheliegenden Irrtum bewahrt, wenn er auch hier präziser von einer »hinreichend a parte priori bestimmten Ursache« gesprochen hätte, wie er es in seinen allgemeinen Darlegungen zur Dialektik und zur Antithetik gemeinhin tut.2 [6] Also widerspricht der Satz, als wenn alle Kausalität nur nach Naturgesetzen möglich sei, sich selbst in seiner unbeschränkten Allgemeinheit, und diese kann also nicht als die einzige angenommen werden.
Unsere Vernunft ist Kant zufolge bemüht, durch die Ermittlung immer weiter zurückliegender Ursachen der Genese einer Erscheinung immer weiter auf den Grund zu gehen. Sie will erklären, nicht lediglich immer wieder ableiten. Wenn alles in der Welt eine Folge nach bloßen Naturgesetzen wäre, wie es die Antithesis behauptet, so ist ein Ende dieser Suche nicht abzusehen. Zu jeder Ursache muß es wiederum eine weitere Ursache geben. Die Vernunft kommt auf dieser Suche nicht zur Ruhe, weil sie eine letzte, unbe-
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So interpretiert, neben Arthur Schopenhauer u. a., auch Norman Kemp Smith in seinem Kommentar: »The vital point of this argument lies in the assertion that the principle of causality calls for a sufficient cause for each event, and that such sufficiency is not to be found in natural causes which are themselves derivative or conditioned.« (S.492 f.) Und wenn eine natürliche Ursache nicht hinreicht, müssen wir zu noumenalen Ursachen greifen. Vgl. Jonathan Bennett, Kant’s Dialectic, S.184 ff., Henry E. Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.16 ff. — Überdies spricht Kant nicht von einer hinreichenden Ursache a priori, sondern von einer »hinreichend a priori bestimmten Ursache«. Schon diese Formulierung spricht gegen die auf den ersten Blick naheliegende Kemp-Smithsche Lesart. In ihr kommen demnach zwei Fehler zusammen: (i) Das »a priori« wird im üblichen, hier jedoch unzutreffenden Kantischen Sinn interpretiert; und (ii), die »hinreichend bestimmte Ursache« wird fälschlich mit einer »hinreichenden Ursache« (im Gegensatz zur bloßen notwendigen, partiellen Ursache) identifiziert. Kant spricht beispielsweise A331/B388 f. über aufsteigende und absteigende Reihen der Vernunftschlüsse a parte priori/a parte posteriori und A417/B444, wo von einer Reihe die Rede ist, die »a parte priori ohne Grenzen (ohne Anfang), d.i. unendlich« ist. In der Kritik der praktischen Vernunft ist sogar in der Diskussion des Freiheitsproblems selbst von der »a parte priori unendliche[n] Reihe der Begebenheiten« die Rede, »die ich immer nur nach einer schon vorherbestimmten Ordnung fortsetzen, nirgend von selbst anfangen würde«; sie »wäre eine stetige Naturkette, meine Kausalität also niemals Freiheit« (A170). — Der bei Kommentatoren oft anzutreffende Rekurs auf Heinz Heimsoeths Kommentar ist deshalb unnötig; s. etwa J. Bennett, Kant’s Dialectic, S.185 f., H. E. Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.16, A. Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie, S.68 f. Zwar hat Heimsoeth vollkommen recht, wenn er sagt, »a priori« müsse »in dem vor Kant gebräuchlichen Sinne genommen werden: a parte ante in der Herleitung« (Transzendentale Dialektik II, S.239 Anm. 72). Es wäre jedoch sinnvoll gewesen, hätte Heimsoeth diese These mit einem Verweis auf die einschlägigen Stellen belegt. So wandert sie als eine von mehreren, rivalisierenden von einem Kommentar zum anderen, ohne daß ihr auf den Grund gegangen wird. Der Argumentationszusammenhang der Kritik zeigt jedoch, daß an eine andere Interpretation gar nicht zu denken ist.
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dingte, alles erklärende Ursache, die nicht wiederum die bloße Wirkung einer vorangehenden Ursache wäre, in der Welt nicht finden kann. Jede Erklärung von Ereignissen in der Welt müßte auf diesem Wege unvollständig bleiben. Nehmen wir an, das Gesetz der Natur aus Schritt [5] bestehe darin, daß ohne eine für sich selbst hinreichend bestimmte Ursache nichts geschieht. Dann werden wir mit Bezug auf ein bestimmtes Ereignis sagen, daß es zwar zwar einerseits aus seiner Ursache nach einer festen Regel folge, daß die Ursache andererseits dieses Ereignis nicht erkläre, weil sie selbst wiederum nach einer Erklärung verlange. Genaugenommen müßten wir also sagen, daß es lediglich aus seiner Ursache zusammen mit einem Gesetz abgeleitet werden kann und die Ursache für sich genommen nicht reicht, es zu erklären, insofern sie selbst wiederum von einer weiteren Ursache abhängig ist. Eine unbedingte Ursache, die alle weiteren erklärt, d.h. das erste Glied einer a parte priori vollständigen Reihe, ist abermals nicht in Sicht. Was macht diese Situation so problematisch? Und warum sollte die Antithesis, die hier von der Thesis ad absurdum geführt werden soll, überhaupt fordern, daß ein Ereignis neben einer hinreichenden vorausgehenden Ursache, auf die es nach einem Gesetz erfolgt, auch noch eine unbedingte Ursache hat? Das bloße Kausalpinzip der zweiten Analogie der Erfahrung bietet schließlich den Vertretern der Thesis keinen hinreichenden Angriffspunkt: Es ist nicht zu sehen, wie dieses Prinzip allein in einen Widerspruch führen oder gar sich selbst widersprechen sollte.1 Mit einer einfachen Antwort können wir dieses Rätsel nicht lösen. Wir müssen zwischen der (dogmatischen) Position der Antithesis, die sich als unhaltbar erweisen soll, und Kants eigener Version des Prinzips unterscheiden. Was jene betrifft, so verbirgt sich hinter ihr der Leibnizsche Satz des zureichenden Grundes, der in Schritt [6] dann ad absurdum geführt werden soll. Leibniz hebt in seiner Auseinandersetzung mit dem Newton nahestehenden Gelehrten Samuel Clarke immer wieder als das Prinzip hervor, das es uns allererst ermöglicht, die Natur wissenschaftlich zu erforschen.2 Kant selbst vertritt neben dem Kausalprinzip der zweiten Analogie den bereits als für die Antinomie grundlegend zitierten Grundsatz, daß »auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben [ist], 1 2
Dies ist ein geläufiger Einwand derjenigen Interpreten, welche die »hinreichend bestimmte Ursache« für nichts anderes als eine »hinreichende Ursache« halten. So etwa im zweiten Schreiben an Clarke, §1: »[…] Mais pour passer de la Mathematique à la Physique, il faut encor un autre Principe […], c’est le Principe du besoin d’une Raison suffisante; c’est que rien n’arrive, sans qu’il y ait une raison pourquoy cela soit ainsi plustost qu’autrement.« — Zu den Leibnizischen Ursprüngen der Antithesisposition und ihrer Rolle im Argument für die Thesis vgl. v.a. Sadik Al-Azm, The Origins of Kant’s Arguments in the Antinomies, S.87 ff. und Henry Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.17 f.
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wodurch jenes allein möglich war«, wenn ein Bedingtes gegeben ist (A409/ B436). Es besitzt allerdings in der kritischen Philosophie einen anderen Status als der Satz vom zureichenden Grunde in der Leibnizschen, woraus die Beschränkung des Anspruchs der Thesis folgt: Die Existenz des schlechthin Unbedingten kann auf diese Weise nicht mehr bewiesen werden. Es wird zur bloßen Vernunftidee. Diesen Punkt sieht der dogmatische Vertreter der Thesis freilich noch nicht. Die ausschließliche Geltung von Naturgesetzen läßt sich also mit dem Anspruch des Satzes vom zureichenden Grund in seiner ursprünglichen Form wie in seiner Kantischen Variante nicht vereinbaren. Selbst wenn wir diese Analyse der Argumentation für die Thesis akzeptieren, ist noch immer nicht klar, wie die Behauptung der Antithesis, alle Kausalität sei nur nach Naturgesetzen möglich, in den Selbstwiderspruch führen soll.1 Man gelangt m. E. nur dann zum gewünschten Ergebnis des Selbstwiderspruchs, wenn man »das« Gesetz der Natur Leibnizscher Provenienz als eines von vielen in »die« — im übrigen mechanistischen — Gesetze der Natur einreiht. Erst diese wenig überzeugende terminologische Korrektur erklärt die Schlußfolgerung, die Annahme der uneingeschränkten Geltung der Naturgesetze widerspreche sich selbst. Dies ist die eigentliche Schwäche der Argumentation der Thesis. Sie schließt mit der folgenden Bemerkung: [7] Diesemnach muß eine Kausalität angenommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorhergehende Ursache, nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, d.i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transzendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Natur niemals vollständig ist.
Doch zeigt dieses Argument wirklich die Notwendigkeit der absoluten Spontaneität einer ersten Ursache? Kant macht wiederum die an dieser Stelle abermals benötigte Prämisse nicht explizit, daß für uns überhaupt nur zwei Arten der Kausalität denkbar sind: Kausalität der Natur und Kausalität der Freiheit, definiert als Unabhängigkeit von der erstgenannten Art der Kausalität, als Spontaneität, als transzendentale Freiheit. Setzen wir dies voraus, so ist der Übergang in Schritt [7] unproblematisch.2
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Schritt [6] des Beweises der Thesis zieht eindeutig diesen starken Schluß, nicht den schwächeren, die ausschließliche Geltung der Naturgesetze widerspreche dem Gesetz der Natur als der auf die Welt übertragenen Anforderung unserer Vernunft. Vgl. A532/B560: »Man kann sich nur zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht, denken, entweder nach der Natur, oder aus Freiheit.«
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10.4 Die Antithesis1 behauptet dagegen: »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.« (A445/B473) — Auf dieser Seite wird für die uneingeschränkte und ausschließliche Geltung der natürlichen Kausalgesetze argumentiert, insofern etwas, wie Kant sich ausdrückt, »in der Welt« vorkommt. Wie bei der Thesis läßt sich dies im Sinne der transzendentalen Unterscheidung von Erscheinung und Ding neu deuten: der Bezug auf die »Welt« schränkt für Kant den Geltungsanspruch der Antithesis ein. Dies ist später, wenn es in der Auflösung um die Vereinbarkeit von Naturgesetzlichkeit (in der Welt) und kosmologischer bzw. praktischer Freiheit geht, von entscheidender Bedeutung. Der transzendentale Realist jedoch, der die Position der Antithesis vertritt, wird diesen Zusatz für unbedeutend oder überflüssig halten, denn ihm steht die Unterscheidung von Ding an sich selbst und Erscheinung nicht zur Verfügung. Deshalb folgt für den Vertreter der Antithesis aus der uneingeschränkten Geltung des Naturgesetzes in der Welt, daß es überhaupt keine Freiheit gibt. Für Kant folgt das nicht.2 Wie also argumentiert Kant auf Seiten der Antithesis für die uneingeschränkte Geltung des Kausalgesetzes in der Welt? Betrachten wir nun den Beweis (A445/B473–A449/B475) im Detail: [1] Setzet: es gebe eine Freiheit im transzendentalen Verstande, als eine besondere Art von Kausalität, nach welcher die Begebenheiten der Welt erfolgen könnten, nämlich ein Vermögen, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen: so wird nicht allein eine Reihe durch diese Spontaneität, sondern die Bestimmung dieser Spontaneität selbst zur Hervorbrinung der Reihe, d.i. die Kausalität, wird schlechthin anfangen, so daß nichts vorhergeht, wodurch diese geschehende Handlung nach beständigen Gesetzen bestimmt sei.
Auch der Beweis für die Seite der Antithesis wird apagogisch geführt, und wieder wird die Richtigkeit der Behauptung der »anderen Seite« zugrundegelegt. Es ist der Kern des Beweises für die Antithesis, daß von der Existenz der transzendentalen Freiheit als einer besonderen Art von Kausalität ausgegangen wird, und zwar als einer solchen, »nach welcher Begebenheiten in der 1 2
Vgl. meine Ausführungen in Kant-Studien 91 (2000): »Warum scheint transzendentale Freiheit absurd?«. Bennett und Allison zum Beispiel ignorieren das »in der Welt« in ihrer Paraphrase der Antithesis schlicht: »The Antithesis says that the only causality is the causality of nature, in which an event is caused by something earlier.« (Kant’s Dialectic, S.184, vgl. S.189, Bennetts Hervorhebung); »[The antithesis] affirms instead that all causality (without exception) must be of the Second Analogy Type.« (Kant’s Theory of Freedom, S.14, meine Hervorhebung); »[…] must be of the mechanistic type« (Kant’s Transcendental Idealism, S.311). Doch bei genauer, »kritischer« Betrachtung behauptet die Antithesis dies keineswegs, noch wird ein Beweis für eine solche Behauptung geführt. Al-Azm ist mit Recht vorsichtiger: The Origins of Kant’s Arguments in the Antinomies, S.86.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Welt erfolgen könnten.1 Schließlich handelt es sich hier um denjenigen kosmologischen Widerstreit, der die übertriebenen Ansprüche der Vernunft an die Kausalitätskategorie zum Gegenstand hat. Aus der Annahme transzendentaler Freiheit als Kausalität schließt der Beweis nun darauf, daß diese einer Kausalität gleichkomme, die als ein Vermögen, »einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen«, nicht ihrerseits Wirkung einer vorangehenden Ursache ist — was freilich nicht bedeutet, daß dem Zustand kein anderer Zustand vorangeht; denn transzendentale Freiheit zeichnet sich dadurch aus, daß sie von den Gesetzen der Natur unabhängig ist. Dann finge diese Art der Kausalität schlechthin an; und eine vorhergehende Ursache, nach der sie wiederum nach einem Gesetz bestimmt ist, darf nicht angenommen werden, weil — wie wir in den die Beweisführung abschließenden Schritten [4] und [5] erfahren — unter Voraussetzung des transzendentalen Realismus kein anderes Kausalgesetz als das der Natur überhaupt gedacht werden kann, und in der Welt schon lange nicht. Wie wir bei der Diskussion des Satzes [7] des Thesisbeweises gesehen haben, sind für Kant überhaupt nur zwei Arten der Kausalität vorstellbar; und entsprechend auch nur zwei Varianten des Kausalgesetzes. Daß Freiheit ein anderes Kausalgesetz eigen sein könnte, nimmt die Antithesis gar nicht zur Kenntnis. Hielte sie die Beschränkung ihres Anspruchs auf die Welt nicht für tautologisch, so hätte sie recht.
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Die bisherige Literatur hat sich auf die Interpretation des Beweisganges der Thesis konzentriert, der so offensichtliche Schwierigkeiten bereitet, und darüber die vermeintlich klare Argumentation für die Gegenseite vernachlässigt, obwohl sich auch hier ein nicht unbedeutendes Problem stellt: Wenn man die traditionelle Deutung akzeptiert, führt der Beweis der Antithesis nicht in den Selbstwiderspruch, wie man es von einem apagogischen Beweis erwarten sollte, sondern lediglich zu einem Widerspruch mit möglicher Erfahrung: »A crucial feature of this argument […] is that unlike the thesis argument [the antithesis argument] contends that the proposition to be denied contradicts the conditions of possible experience rather than that it is self-contradictory.« (Henry Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.20; ähnlich Jonathan Bennett, Kant’s Dialectic, S.187 f.). Damit scheint Kant jedoch die Ergebnisse der Analytik, v.a. die zweite Analogie der Erfahrung, vorauszusetzen; was im Beweis des Dogmatikers für die uneingeschränkte Geltung der Naturkausalität als illegitim zu gelten hat, denn ihm stehen die Ressourcen der Kantischen Kritik nicht zur Verfügung. Henry Allison versucht dem Problem aus dem Wege zu gehen, indem er konstatiert, die Analogien, deren zweite vermeintlich der nervus probandi des Arguments ist, würden auch vom transzendentalen Realisten anerkannt. Das ist zwar richtig, kommt aber an dieser Stelle nicht entscheidend ins Spiel, wie im folgenden gezeigt werden soll. Zur traditionellen Interpretation vgl. des weiteren Henry Allison, Kant’s Transcendental Idealism, S.312; Heinz Heimsoeth, Transzendentale Dialektik II, S.243 ff.; Peter Strawson, The Bounds of Sense, S.208 f.; Hud Hudson, Kant’s Compatibilism, S.21; ähnlich Kemp Smiths Commentary (S.494 f.) und, diesem beipflichtend, Schmucker, Das Weltproblem, S.152 f. Einzig Al-Azm legt eine alternative Interpretation im Sinne von Allisons »antinomy of agency« (vgl. §5.2) vor: The Origins of Kant’s Arguments in the Antinomies, S.103 f. Wenngleich Al-Azm darin zuzustimmen ist, daß das Problem der Zuschreibung von Handlungen in der Argumentation der Antithesis anklingen dürfte, so ist doch auch dies nicht der Kern der reductio.
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[2] Es setzt aber ein jeder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus, und ein dynamisch erster Anfang der Handlung einen Zustand, der mit dem vorhergehenden eben derselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität hat, d.i. auf keine Weise daraus erfolgt.
Ein dynamischer erster Anfang kann — anders als der mathematisch erste Anfang des ersten Widerstreits — auf einen vorangehenden Zustand der Welt folgen. Doch wenn man Naturgesetze als die einzigen Kausalgesetze betrachtet und transzendentale Freiheit als Unabhängigkeit von diesen versteht, kann ein dynamisch erster Anfang nur als eine Ursache verstanden werden, die nicht ihrerseits als natürliche Wirkung eines vorangehenden Zustandes nach einem Gesetz aufgefaßt werden kann. [3] Also ist die transzendentale Freiheit dem Kausalgesetze entgegen, und eine solche Verbindung der sukzessiven Zustände wirkender Ursachen, nach welcher keine Einheit der Erfahrung möglich ist, die also auch in keiner Erfahrung angetroffen wird, mithin ein leeres Gedankending.
Wenn die Antithesis hier vom »Kausalgesetz« spricht, dem transzendentale Freiheit vermeintlich widerspricht, so meint sie zweierlei: Sie meint in erster Linie jede Art von Kausalität überhaupt, die nur nach Gesetzen stattfinden kann, weil der Begriff der Kausalität analytisch den von Gesetzen »bei sich führt«.1 Sie meint in zweiter Linie das Kausalgesetz der Natur — welches das einzige Kausalgesetz ist, das der für sie argumentierende Dogmatiker kennt. Es muß also so scheinen, als bestehe zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zuständen keinerlei Verbindung, weil Naturgesetze dies ex hypothesi nicht leisten können, wenn die Natur der einzige Gesichtspunkt ist, unter dem wir die Welt betrachten; und dann läge ein Fall »gesetzloser Kausalität« vor. Darin läge der Selbstwiderspruch der Kausalität durch Freiheit. Die herkömmliche Interpretation hat nur den zweiten, abgeleiteten Aspekt gesehen, dem zufolge transzendentale Freiheit den Kausalgesetzen der Natur, der Einheit der Erfahrung etc. widerspricht; während der Beweis de facto auf dem ersten Aspekt ruht und tatsächlich demonstriert, daß unter
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Vgl. etwa den im ersten Kapitel behandelten Anfang des dritten Abschnitts der Grundlegung (IV:446): »Da der Begriff einer Kausalität den von Gesetzen bei sich führt, nach welchen durch etwas, was wir Ursache nennen, etwas anderes, nämlich die Folge, gesetzt werden muß: so ist die Freiheit, ob sie zwar nicht eine Eigenschaft des Willens nach Naturgesetzen ist, darum doch nicht gar gesetzlos, sondern muß vielmehr eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art, sein; denn sonst wäre ein freier Wille ein Unding.« und Religion, VI:35: »Sich als ein frei handelndes Wesen und doch von von dem einen solchen angemessenen Gesetze (dem moralischen) entbunden denken, wäre so viel, als eine ohne alle Gestze wirkende Ursache denken (denn die Bestimmung nach Naturgesetzen fällt der Freiheit halber weg): welches sich widerspricht.« — Laut Einleitung in die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft enthält der Begriff der Ursache »den Begriff einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel« (B5).
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
den gegebenen Voraussetzungen Kausalität aus Freiheit sich selbst widerspricht. Die inkompatibilistische Wende in der Antithesis der dritten Antinomie, in der plötzlich von gesetzloser Freiheit gesprochen wird, rührt allein daher, daß unter den Voraussetzungen ihrer dogmatischen Vertreter transzendentale Freiheit nur gesetzwidrig und deshalb als Kausalität überhaupt nicht konsistent gedacht werden kann. Kant selbst ist ihr nicht verpflichtet.1 Denn erfolgten in diesem Rahmen auch freie Handlungen nach Gesetzen, so müßten dies Naturgesetze sein, da eine zweite Art von Gesetzen im Reiche der Natur ex hypothesi nicht denkbar (und in der Tat auch nicht vorhanden) ist.2 Dann aber gibt es keine absolute, sondern nur komparative Freiheit, die »Freiheit eines Bratenwenders«. Nach Kantischer Auffassung, die wir aus der Analytik kennen und die auch der dogmatische Vertreter der Naturgesetzlichkeit nicht in Frage stellen wird, ist zudem Erfahrung unmöglich, wenn die Einheit der Erfahrung durchbrochen wird. Der Nachsatz, der auf diesen Punkt zielt, ist — entgegen der herrschenden Interpretation — für den Argumentationsverlauf ohne Bedeutung. Kant hätte besser daran getan, ihn, und damit die Ergebnisse seiner transzendentalphilosophischen Untersuchungen, aus dem Beweis herauszuhalten. Hier, und noch mehr in den Anmerkungen, zeigt Kant eine Tendenz, in die kritische Betrachtungsweise abzugleiten. Auf ihrer Grundlage bleibt freilich die Antithesis insofern bestehen, als Kausalität aus Freiheit in der Welt und in der Erfahrung aus prinzipiellen Gründen nicht angetroffen werden kann. Der Verfechter der Antithesis zieht folgende Schlüsse: [4] Wir haben also nichts als Natur, in welcher wir den Zusammenhang und Ordnung der Weltbegebenheiten suchen müssen. Die Freiheit (Unabhängigkeit), von den Gesetzender Natur, ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln.
Gleichzeitig mit den Schlußfolgerungen wird die inkompatibilistische Prämisse explizit gemacht, die den ersten drei Sätzen zugrundelag. Freiheit als 1
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Pace Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.21 f. Der Verwunderung mancher Interpreten über die unkantische Gleichsetzung von Freiheit und Gesetzlosigkeit, die für den Beweis der Antithesis benötigt wird, ist auf die soeben beschriebene Weise zu begegnen, nicht indem man wie Allison Kant selbst diese These vertreten läßt. Kemp Smith ist auf der richtigen Spur, wenn er sagt, die Gleichsetzung von Freiheit und Gesetzlosigkeit beruhe auf einer »Verstümmelung« der Kantischen Lehre (Commentary, S.495). Ähnlich äußert sich Ortwein, Kants problematische Freiheitslehre, S.27 f. Leider sind Kemp Smith und Ortwein den Ursachen für diese Verstümmelung nicht nachgegangen. Entsprechend leugnet die Thesis, daß die Kausalität nach Gesetzen der Natur die einzige ist, etc. Beide Seiten teilen diesen Anspruch der Antithesis, deren Geltungsanspruch Kant vorsichtig auf die Welt beschränkt, damit sie letztlich doch mit dem in der Thesis Gesagten kompatibel sein kann.
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»Unabhängigkeit von den Gesetzen der Natur« wird verstanden als Freiheit von allen Regeln überhaupt. Das ist nun ebensowenig Kants Meinung wie das folgende: [5] Denn man kann nicht sagen, daß, anstatt der Gesetze der Natur, Gesetze der Freiheit in die Kausalität des Weltlaufs eintreten, weil, wenn diese1 nach Gesetzen bestimmt wäre, sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anders als Natur wäre.
Das kann man nur dann nicht sagen, wenn man die Natur für das Ding an sich selbst nimmt; nur dann ist Kausalität nicht anders als Naturkausalität denkbar. Wie noch zu zeigen sein wird, ist das in diesem 5. Satz als unsinnig Dargestellte die eigentliche Kantische Option. [6] Natur also und transzendentale Freiheit unterscheiden sich wie Gesetzmäßigkeit und Gesetzlosigkeit, davon jene zwar den Verstand mit der Schwierigkeit belästigt, die Abstammung der Begebenheiten in der Reihe der Ursachen immer höher hinauf zu suchen, weil die Kausalität an ihnen jederzeit bedingt ist, aber zur Schadloshaltung durchgängige und gesetzmäßige Einheit der Erfahrung verspricht, da hingegen das Blendwerk von Freiheit zwar dem forschenden Verstande in der Kette der Ursachen Ruhe verheißt, indem sie ihn zu einer unbedingten Kausalität führet, die von selbst zu handeln anhebt, die aber, da sie selbst blind ist, den Leitfaden der Regeln abreißt, an welchem allein eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist.
Dieser letzte Satz des Beweises betont noch einmal die unkantische Gleichsetzung von Freiheit und Gesetzlosigkeit, ebenso die Gefahr, die eine transzendentale Freiheit in der Welt für die Einheit der Erfahrung bedeuten würde; und er bringt den Vorzug der Thesisposition zur Sprache, der Vernunft beim Aufsteigen in der Kette von Wirkungen und Ursachen einen Ruhepunkt zu verstatten; doch dieser Vorzug fällt für den Vertreter der Antithesisposition im Verhältnis zu den Problemen, welche die Thesisposition laut seinem Beweisgang birgt, offenbar nicht ins Gewicht. 10.5 Den Interpreten der dritten Antinomie hat der Übergang von der transzendentalen Freiheit im theoretisch-kosmologischen Kontext zur transzendentalen Freiheit als Grundlage praktischer menschlicher Willensfreiheit, wie er in der Anmerkung zum Beweis der Thesis vollzogen wird, erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Die Annahme eines Schöpfungsakts als Aktes absoluter Spontaneität reicht aus, um dem Bedürfnis unserer Vernunft nach Vollständigkeit der Reihe der Gründe und Ursachen zu genügen. Demnach ist die Vernunft auf Seiten der Thesis mit einer Welt zufrieden, die durch einen spontanen Akt der Schöpfung entstanden ist und seitdem nach mechanischen Gesetzen wie eine Uhr abläuft, die menschlichen Handlungen nicht
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Wohl die Kausalität, nicht die Freiheit.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
ausgenommen. Für die Notwendigkeit, daß auch sie auf absoluter Spontaneität beruhen, findet sich im Beweis der Thesis kein Argument. Dennoch ist das Interesse an der Thesis bei ihrem Parteigänger ebenso wie bei Kant zu einem Gutteil ein praktisches.1 Die Anmerkung zur Thesis der dritten Antinomie kommt deshalb bald auf absolute Spontaneität als den »eigentlichen Grund der Imputabilität« (A448/B476) zu sprechen. Des weiteren heißt es: Nun haben wir diese Notwendigkeit eines ersten Anfangs einer Reihe von Erscheinungen aus Freiheit zwar nur eigentlich in so fern dargetan, als zur Begreiflichkeit eines Ursprungs der Welt erfoderlich ist, indessen daß man alle nachfolgende Zustände für eine Abfolge nach bloßen Naturgesetzen nehmen kann. Weil aber dadurch doch einmal das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen, bewiesen (obzwar nicht eingesehen) ist, so ist es uns nunmehr auch erlaubt, mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen, der Kausalität nach, von selbst anfangen zu lassen, und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln. (A448/B478 f.)
Ist dies die Stelle, an der Kant den Übergang zur Ethik vollzieht? Die Kantforschung ist weitgehend der Ansicht, daß diese Frage positiv zu beantworten ist.2 Sie ist allerdings ebenso weitgehend der Ansicht, daß es sich um ein grobes non sequitur handelt: Denn warum sollten wir zur Annahme praktischer Freiheit berechtigt sein, nur weil gezeigt wurde, daß die Annahme einer freien Weltschöpfung das Interesse unserer Vernunft an einer unbedingten Bedingung befriedigt? Es ist richtig, daß zu dem genannten Schluß nichts berechtigt; es ist falsch, daß dies Kants Fehler ist. Schon bei der Diskussion der Beweise haben wir gesehen, daß die dort verwendeten Argumente nur in modifizierter Form oder gar nicht Kants Unterstützung fanden. So schien dem Verfechter der Antithesis eine Kausalität aus Freiheit unmöglich, weil er für sie kein Gesetz finden konnte. Kant dagegen ist deshalb selbstverständlich nicht zeitweilig von seiner Ansicht abgegangen, daß Freiheit ihre eigenen Gesetze hat. Im zitierten Abschnitt aus der Anmerkung zur Thesis spricht nun ein parteiischer Verfechter dieser Positition. Sowenig wie die Gesetzlosigkeit der Freiheit vertritt Kant die Ansicht, daß eine plausibel gemachte Annahme 1
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Die Verbindung zwischen kosmologischer und praktischer Freiheit geht nicht auf Kant zurück, sondern wird schon von Samuel Clarke in seinem Briefwechsel mit Leibniz vollzogen: Schon Clarke argumentiert, es gäbe im Universum keine aktiv Handelnden, sondern lediglich passiv Erleidende, wenn die mechanistische Kausalität der Natur die einzige Art der Kausalität wäre. Vgl. dessen fünftes Schreiben, §§1–20 und 92–95. Dazu: Sadik Al-Azm, The Origins of Kant’s Arguments in the Antinomies, S.94 ff. Vgl. z.B. Jonathan Bennett, Kant’s Dialectic, S.187 f.; Lewis White Beck, Kommentar, S.179 f.; Henry Allison, Kant’s Transcendental Idealism, S.314 und Kant’s Theory of Freedom, S.26; Andreas Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie, S.58 f. und S.83 f. — u. a. m.
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eines Ursprungs der Welt aus transzendentaler Freiheit — im Zitat wird dogmatisch vom Beweis des Vermögens gesprochen! — uns deshalb zur Annahme praktischer Freiheit beim Menschen berechtige. Hätte er das gemeint, so wäre kaum begreiflich, daß es ihm in der Auflösung so sehr um praktische Freiheit geht; denn dann sollte es genügen, einen freien Schöpfungsakt zu erklären. Die apagogischen Beweise und Anmerkungen der Theseis und Antitheseis der dynamischen Antinomien sind also behutsam zu behandeln. Die Argumente der Vertreter beider Seiten, die auf dem Boden des transzendentalen Realismus stehen,1 sind von Kants eigenen Argumenten streng zu unterscheiden, selbst wenn das nicht immer einfach ist. Es soll hier an die — in Kants wie in unserem Sprachgebrauch — »merkwürdige« Tatsache erinnert werden, daß Kant zu Beginn der Kritik der praktischen Vernunft den umgekehrten Weg einschlägt und auf moralphilosophischem Wege die Thesis des dritten Widerstreits der reinen spekulativen Vernunft beweisen will: Mit diesem Vermögen [der reinen praktischen Vernunft] steht auch die transzendentale Freiheit nunmehro fest, und zwar in derjenigen absoluten Bedeutung genommen, worin die spekulative Vernunft beim Gebrauche des Begriffs der Kausalität sie bedurfte, um sich wider die Antinomie zu retten, darin sie unvermeidlich gerät, wenn sie in der Reihe der Kausalverbindung sich das Unbedingte denken will […]. (Kritik der praktischen Vernunft, A4)
Somit mache der Begriff der Freiheit, »so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, […] den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus« (ebd.). Damit vertritt die Gewißheit der Gültigkeit des kategorischen Imperativs nichts Geringeres als die Erkenntnis eines freien Schöpfungsaktes unserer Welt.2 10.6 Anders als bei den beiden mathematischen Antinomien ist bei den dynamischen Antinomien nicht offensichtlich, daß Kants kritische Philosophie und der transzendentale Idealismus als Schlüssel zur Auflösung zu dem Ergebnis führen, das Kant als offizielles ausgibt. In den beiden erstgenannten Fällen sollten Thesis und Antithesis beide falsch sein, nun sollen sie gleichermaßen richtig sein können. Ist diese Lösung plausibel zu machen?
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Die Beweise der mathematischen ersten beiden Antinomien erreichen jedoch das Ziel, die jeweilige — nach kritischer Auffassung falsche — Gegenseite zu widerlegen. Wolfgang Ertl hat vor kurzem eine ausführliche und gründliche Studie zum Zusammenhang von Kants Freiheitslehre und dem Schöpfungsgedanken vorgelegt (Kants Auflösung der »dritten Antinomie«. Zur Bedeutung des Schöpfungskonzepts für die Freiheitslehre), dessen Diskussion leider den Rahmen dieser Studie sprengen würde.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
P.F. Strawson hat die Ansicht vertreten, die korrekte kritische Auflösung bestehe vielmehr darin, die Thesis (die ein illegitimes praktisches Interesse zu stützen scheint) zu verwerfen und an der Richtigkeit der Antithesis, der unumschränkten Geltung des Kausalgesetzes, allein festzuhalten. It seems obvious what the correct ‘critical’ solution of this conflict should be. Since things in space and time are appearances, the series of ever remoter causes should no more be regarded as existing as a whole than the series of ever remoter temporal states of the world or the series of ever remoter spatial regions of the world. Since the series does not exist as a whole, there is no question of its existing either as an infinite whole or, as it is asserted in the thesis, as a finite whole with a first, uncaused member. Every member of the series which is actually ‘met with’ in experience, however, may, and must, be taken to have an antecedent cause. The thesis, then, is false, the antithesis true.1
Doch wir haben gesehen, daß obwohl die Thesis das entschiedene Votum der praktischen Philosophie für sich hat, doch auch ein genuin theoretisches Interesse in der Kosmologie für sie spricht. Strawsons »kritischer« Lösungsversuch schlägt deshalb fehl, und nicht nur das. Auf Grund der schillernden Restriktion des Geltungsanspruchs der Antithesis auf die Welt, die ihr Vertreter als transzendentaler Realist gar nicht für eine Restriktion hält, wenn er sie denn versteht, schlägt das Pendel vielmehr in die andere Richtung aus. Nun scheint es plausibel, daß der Thesis im Grunde Recht zu geben, die Antithesis hingegen zu verwerfen sei. Schließlich sind sich beide Seiten in der Frage der uneingeschränkten Geltung der zweiten Analogie für Erscheinungen einig.2 Worin besteht die Berechtigung der Antithesis und die Leistung ihrer Argumentation? Gegen einen indeterministischen Freiheitsbegriff, der dem Anhänger der Antithesis auf Grundlage des transzendentalen Realismus unumgänglich erscheint, werden berechtigte Einwände ins Feld geführt; und auch Kant ist der Ansicht, daß für Spontaneität in der Welt kein Platz ist. (Nur ist der Verteidiger der Seite der Antithesis daraus nicht zu schließen berechtigt, daß es überhaupt keine Freiheit gebe, wie er als transzendentaler Realist zu schließen geneigt ist.) Setzen wir also voraus, daß die Antithesis mit Gründen auf der Gültigkeit des Kausalgesetzes in der Welt insistiert, so ist die Frage nach der Art der Entgegensetzung von Thesis und Antithesis und ihren jeweiligen Geltungsansprüchen noch immer nicht erschöpfend behandelt. Denn nun mag es so erscheinen, als sei die Behauptung der Antithesis begründet und 1 2
Peter F. Strawson, The Bounds of Sense, S.209. Vgl. Henry Allison, Kant’s Transcendental Idealism, S.313: »In fact, since the thesis admits the role of mechanistic causality within nature and insists only on its supplementation by causality through freedom in order to ‘think the whole,’ the actual outcome of Kant’s analysis is that the antithesis is unjustified in its move from the denial of the possibility of the latter mode of causality within the sensible world to the denial in general.«
§ 10. Die Antinomie
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berechtigt, als bringe sie aber gegenüber dem, was die Thesis und ihr Beweis sagen, nichts Neues. Schließlich bestreitet die Thesis nicht, daß die Kausalität nach Gesetzen der Natur zur Grundlage der Ableitung der Erscheinungen in der Welt dienen kann.1 Sie betont lediglich, daß dies nicht die einzige Kausalität ist, und daß es die Vernunft fordert, noch eine weitere Art der Kausalität anzunehmen, die jedoch in der Welt, auf die sich die Antithesis bezieht, gar nicht anzutreffen ist. Es mag so erscheinen, als sei die Antithesis entweder in ihrer Einseitigkeit falsch oder trivial, indem sie nur das bekräftigt, was die Thesis ohnehin voraussetzt, indem sie es für insgesamt unzulänglich erklärt: die unverbrüchliche Geltung des Kausalgesetzes in der Welt. Diesem Bedenken könnte man entgegnen, daß die Antithesis das zu beweisen sucht, was die Thesis lediglich voraussetzt: daß Spontaneität in der Welt nicht vorkommen kann; den Eindruck, daß die Antithesis im Verhältnis zur Thesis eine marginale Rolle spielt und spielen sollte (nicht umgekehrt, wie Strawson meint!), wird dieser Einwand dennoch nicht vollständig zerstreuen können. Es bleibt also ein Fünkchen Wahrheit an dem von Allison eingeforderten Primat der Thesis. Es besteht darin, daß der Beweis für die Thesis (sehen wir von der genannten Äquivokation ab) im wesentlichen korrekt ist und ganz und gar auf »transzendentalphilosophische Füße« gestellt werden kann, wenngleich er dann seinen Status als Existenzbeweis verliert;2 während der Beweisgang der Antithesis auf einem naiven transzendentalen Realismus und auf der — allerdings unter der gegebenen Voraussetzung, daß das Naturgesetz das einzige Kausalgesetz ist, unvermeidbaren — indifferintistischen bzw. indeterministischen Prämisse ruht, die Kant selbst nicht teilt.
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Es allerdings fraglich, wieviel der Thesis-Seite an der durchgängigen Geltung der Naturgesetze in der Welt wirklich liegt. Es ergibt sich die Möglichkeit, Kant gegen den oben (§10.3) erhobenen Vorwurf der Äquivokation in puncto »Gesetz der Natur« in Schutz zu nehmen, weshalb der Beweis der Thesis nicht zu dem Ergebnis führen kann, daß die Antithesis in den Selbstwiderspruch führt. Man könnte argumentieren, die solchermaßen zu Unrecht ausgenutzte Mehrdeutigkeit sei auch nur dem Verteidiger der Thesis zuzuschreiben, so wie der Indifferentismus und Indeterminismus im Beweisgang der Antithesis lediglich im Dienste eines eingeschränkt gültigen Arguments steht und nicht Kants eigene Auffassung wiederspiegelt. Eine solche Strategie ist möglich, doch sie führt in eine ernsthafte Schwierigkeit, die darin besteht, daß die attestierte Äquivokation nicht so harmlos für das Argument in Anspruch genommen werden kann wie der in gewisser Weise folgerichtige indeterministische Freiheitsbegriff, von dem im Beweis der Antithesis Gebrauch gemacht wird. Wenn die genannte Mehrdeutigkeit vorliegt, kann der Beweis der Thesis nicht mehr apagogisch geführt werden und ist deshalb hinfällig. Dann aber fällt die Antinomie selbst, die nur dann Gültigkeit haben (d.h. den Schein eines Widerspruch von Thesis und Antithesis aufrecht erhalten) kann, wenn beide Beweise wenn auch erläuterungsbedürftig, so doch gewissermaßen korrekt sind. Aus diesem Grunde, wie auch deshalb, weil die Conclusio des Beweises der Thesis doch allzu Kantisch ist, scheint die obige Interpretation nach wie vor die plausiblere, selbst wenn man mit ihr Kant einen Fehler attestieren muß.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Die von Kant vertretene These, daß Thesis und Antithesis des Widerstreits entgegen dem Anschein einander nicht widersprechen und überdies berechtigten Ansprüchen unserer Vernunft Ausdruck verleihen, kann somit nur dann aufrecht erhalten werden, wenn man zugibt, daß beide Seiten in der Formulierung ihrer Behauptung einer unbewußten Doppeldeutigkeit schuldig sind, die sich die kritische Philosophie zunutze machen kann. Wenn man Thesis und Antithesis so versteht wie ihre dogmatischen Vertreter, so sind beide falsch. (i) Falsch ist die Thesis, weil auf dem eingeschlagenen Wege die Notwendigkeit einer noumenalen ersten Ursache keineswegs bewiesen werden kann; und das mußte das Ziel des Dogmatismus sein. Kant kritisiert auf den in die Antinomienlehre einleitenden Seiten den Hang der Vernunft, von einer Denknotwendigkeit auf die Existenz des Denknotwendigen zu schließen. Aus kritischer Perspektive ist das nicht mehr erlaubt. Sie ist richtig, insofern wir durch die Argumentation ihres Beweises zur Idee einer ersten freien Weltursache geführt werden, und insofern in der kritischen Auflösung gezeigt werden kann, daß Kausalität aus Freiheit, an der unsere Vernunft ein praktisches Interesse zeigt, auch ohne Verletzung des naturgesetzlichen Weltlaufs denkbar ist. Die Mehrdeutigkeit steckt im Wort »annehmen«, das an prominenter Stelle im Text vorkommt1 und das eine starke wie eine schwächere Deutung zuläßt, d.h. im dogmatischen wie im kritischen Sinne gelesen werden kann. (ii) Die Antithesis ist strenggenommen zu verwerfen, weil sie offensichtlich durchweg davon ausgeht, daß der Nachweis, in der Welt gebe es keine Freiheit, einem Nachweis der Unmöglichkeit der Freiheit tout court gleichkommt. Sie ist nur dann richtig, wenn wir die Behauptung der Unmöglichkeit transzendentaler Freiheit auf die Welt beschränken.2
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Nämlich in der Thesis selbst und in der Schlußfolgerung [7]. Interessante Spekulationen zur Geltung der Antithesisposition enthält R 5962, XVIII:404: »Das Gegentheil von dem Satze: ›alle Begebenheiten (Dinge) in der (Sinnen)Welt stehen unter dem Mechanism der Naturcaussalitaet‹, ist: ›sie stehen nicht darunter‹. Hier können nicht beyde Satze falsch seyn; aber sie könnten beyde wahr seyn, weil der zweyte weniger in sich enthalt, als zur contradictorischen opposition erfodert wird. Denn da müßte hinzukommen, daß sie als Dinge der Sinnenwelt nicht unter dem gedachten Mechanism stehen. Weil es aber noch statt finden kann, daß die Dinge der Sinnenwelt, welche die Ursachen der Begebenheiten in ihr sind, auch als intelligibele Wesen betrachtet Ursachen seyn könnten (denn das kan ohne wiederspruch und, ohne das der Begrif: Ursache Erkentnis ist, gedacht werden), so könnten sie so fern vom Mechanism der Naturnothwendigkeit ausgenommen werden, ohne doch dem zu wiedersprechen, daß sie als Dinge der Sinnenwelt dazu gehöreten.« — Das läßt darauf schließen, daß Kant sich der Mehrdeutigkeit in der Formulierung der Antithesis bewußt war. — Im übrigen wäre strenggenommen das kontradiktorische Gegenteil des angeführten Satzes: »einige Begebenheiten stehen nicht darunter«. Auch dies würde für Kants Zwecke genügen.
§ 11. Auflösung I: Prolegomena
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Die zweifelhafte Annahme kommt im leichtfertigen Übergang zum Geschehen »in der Welt« in der Formulierung der Antithesis zum Vorschein: »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.« Ergänzen wir — mit Zustimmung des Dogmatikers — ein »in der Welt« vor dem Komma, so wird die generelle Leugnung der Freiheitskausalität relativiert und die Antithesis kann neben der Thesis bestehen. Wie sich Kant dieses Nebeneinander vorstellt, ist der Gegenstand der folgenden Paragraphen.
§11. Auflösung I: Prolegomena 11.1 Bis jetzt wurde eher beiläufig darauf eingegangen, wie sich Kant einen Ausgleich der einander scheinbar widersprechenden Ansprüche von Thesis und Antithesis in der dritten Antinomie vorstellt: Es soll eine Art vernünftiger Kausalität aus Freiheit geben, die dennoch den Kausalnexus in der Welt der Erscheinungen intakt läßt. In diesem und in den folgenden drei Paragraphen des III. Kapitels wird Kants Auflösung der Freiheitsantinomie erörtert und auf ihre systematische Brauchbarkeit hin untersucht werden. In der Kritik der reinen Vernunft sind der Auflösung der dritten Antinomie lange und wenig durchsichtige Ausführungen innerhalb des 9. Abschnitts, »Von dem empirischen Gebrauche des regulativen Prinzips der Vernunft, in Ansehung aller kosmologischen Ideen« gewidmet, die für sich länger sind als die Lösungsversuche der anderen Antinomien zusammengenommen. Kant müht sich sichtlich mit der Auflösung des Problems ab, von der er später in der »Kritischen Beleuchtung der Analytik« der Kritik der praktischen Vernunft sagt, sie habe »doch viel Schweres in sich« und sei »einer hellen Darstellung kaum empfänglich« (A 184). Kants wesentlich konzisere Erläuterungen zur Auflösung der dritten Antinomie in § 53 der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können wurden von den bisherigen Kantinterpreten jedoch kaum zur Kenntnis genommen.1 Da in ihnen der Kern von Kants Versuch des Ausgleichs zwischen menschlicher Freiheit des Willens und dem Mechanismus der Natur deutlicher wird als sonst in seinen Schriften, soll ihre Diskussion derjenigen der Auflösung in der Kritik (s.u., §12) vorangestellt werden. Kant schreibt in den Prolegomena:
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Vgl. M. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 318–321. Carnois paraphrasiert diese Stelle, ohne auf ihre Schwierigkeiten oder ihr argumentatives Potential einzugehen (The Coherence of Kant’s Doctrine of Freedom, S.13 f.); andere, auch Allison, übergehen sie ganz.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Nun kann ich ohne Widerspruch sagen: alle Handlungen vernünftiger Wesen, sofern sie1 Erscheinungen sind, (in irgend einer Erfahrung angetroffen werden) stehen unter der Naturnotwendigkeit; eben dieselbe Handlungen aber, bloß respective auf das vernünftige Subjekt, und dessen Vermögen nach bloßer Vernunft zu handeln, sind frei. Denn was wird zur Naturnotwendigkeit erfodert? Nichts weiter als die Bestimmbarkeit jeder Begebenheit der Sinnenwelt, nach beständigen Gesetzen, mithin eine Beziehung auf Ursache in der Erscheinung, wobei das Ding an sich selbst, was zum Grunde liegt, und dessen Kausalität unbekannt bleibt. Ich sage aber: d a s N a t u r g e s e t z b l e i b t, es mag nun das vernünftige Wesen aus Vernunft, mithin durch Freiheit, Ursache der Wirkungen der Sinnenwelt sein, oder es mag diese auch nicht aus Vernunftgründen bestimmen. Denn, ist das erste, so geschieht die Handlung nach Maximen, deren Wirkung in der Erscheinung jederzeit beständigen Gesetzen gemäß sein wird: ist das zweite, und die Handlung geschieht nicht nach Prinzipien der Vernunft, so ist sie den empirischen Gesetzen der Sinnlichkeit unterworfen, und in beiden Fällen hängen die Wirkungen nach beständigen Gesetzen zusammen; mehr verlangen wir aber nicht zur Naturnotwendigkeit, ja mehr kennen wir an ihr auch nicht. Aber im ersten Fall ist Vernunft die Ursache dieser Naturgesetze, und ist also frei, im zweiten Falle laufen die Wirkungen nach bloßen Naturgesetzen der Sinnlichkeit, darum, weil die Vernunft keinen Einfluß auf sie ausübt: sie, die Vernunft, wird aber darum nicht selbst durch die Sinnlichkeit bestimmt, (welches unmöglich ist) und ist daher auch in diesem Falle frei. (§53, IV:345 f.)
Es ist auf den ersten Blick deutlich, daß es für Kant zwei grundsätzlich verschiedene Arten gibt, wie ein vernünftiges Wesen handeln, d.h. »Ursache der Wirkungen in der Sinnenwelt« sein kann: auf vernünftige und auf unvernünftige Weise. In beiden Fällen ist der Akteur2 frei, wenngleich nicht auf dieselbe Art; denn im Falle vernünftigen Handelns ist er aktual frei, im Fall unvernünftigen Handelns ist er in einem schwächeren Sinn »auch« frei.3 In beiden Fällen soll der Kausalnexus der Natur nicht gestört werden. Kant schließt die zitierte Auflösung der 3. Antinomie in den Prolegomena deshalb folgendermaßen: Die Freiheit hindert also nicht das Naturgesetz der Erscheinungen, so wenig, wie dieses der Freiheit des praktischen Vernunftgebrauchs, der mit Dingen an sich selbst, als bestimmenden Gründen, in Verbindung steht, Abbruch tut. (§53, IV:346)
Wenn wir die vielen schwierigen Behauptungen der Auflösung der Vereinbarkeitsfrage in den Prolegomena durchgehen, wie es in den Abschnitten dieses Paragraphen geschehen soll, so stellt sich zunächst die Frage, welche Handlungen als vernünftig gelten dürfen, welche nicht. Anders gewendet: 1 2 3
Sc. die Handlungen. Bzw., wie Kant hier sagt, seine (praktische) Vernunft, d. h. sein Wille. Vgl. §§6.4, 6.5 und die dort bereits zitierte Reflexion 6931: »Die Handlungen aus Neigung, wobey es möglich war, durch freyheit zu handeln, sind auch frey.«
§ 11. Auflösung I: Prolegomena
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bei welchen Handlungen ist der Mensch in dem uns aus Kapitel I bekannten stärkeren Sinn frei, d.h. macht er von seinem Vermögen der Freiheit der Unabhängigkeit von der Natur, und damit seiner Spontaneität oder Selbsttätigkeit, vollen Gebrauch? In erster Linie kommen als Beispiele für Handlungen »aus Vernunftgründen« oder »nach Prinzipien der Vernunft« natürlich moralisch gute Handlungen in Frage, bei denen der Akteur nach der Vorstellung des Sittengesetzes handelt. Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, sind moralisch gute Handlungen freie und vernünftige Handlungen par excellence, weil in ihnen, wie Kant in seinen späteren Schriften sagt, reine Vernunft praktisch ist und der Handelnde vollkommen unbeinflußt von seinen natürlichen Interessen handelt.1 In zweiter Linie versteht Kant unter vernünftigem Handeln auch das Handeln nach klugen Maximen, die den Ergebnissen empirisch-praktischer Vernunft Rechnung tragen (und moralisch zumindest zulässig sind). Auch kluge Handlungen nach der Vorstellung von Naturgesetzen sind somit Ausdruck menschlicher Freiheit, wenngleich sie darin hinter moralisch gebotenen Handlungen zurückstehen, daß man in ihnen von der Natur vorgegebene Zwecke verfolgt. Es ist quasi eine nicht-reine Wirkung unserer Kausalität a priori.2 Menschen handeln folglich vernünftig und frei, wenn sie so handeln, wie sie handeln sollen, dieses Sollen mag ihnen in der Form von kategorischen oder hypothethischen Imperativen entgegentreten. Doch wenn sie unver-
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Zur privilegierten Position moralischer Handlungen als freie Handlungen vgl. Reflexion 5436: »Freyheit ist das Vermögen, nur durch Vernunft determinirt zu werden, und nicht bloß mittelbar, sondern unmittelbar, also nicht durch Materie, sondern form des Gesetzes. also moralisch.« Zu diesem Ergebnis kommt auch Reflexion 1028, in der Kant ähnlich wie im §53 der Prolegomena strikt zwischen vernünftiger und unvernünftiger Bestimmung der Willkür unterscheidet: »Die Menschliche Willkühr ist freye Willkühr, in welcher entweder die Antriebe der sinnlichkeit ein Übergewicht haben, und denn heißts: die sinnliche; da wo die Bewegungsgründe als vorstellungen der Vernunft Ausschlag geben: die vernünftige Willkühr, welche letztere rein ist, wenn auch indirecte jene keinen Einflus haben.« (1776–78). In der etwas späteren Reflexion 5617 hingegen (wahrscheinlich 1778–79), deren Tenor stark an die zitierte Passage aus den Prolegomena erinnert, hebt Kant die Vernünftigkeit der moralischen Handlungen stärker hervor: »Unter den Erscheinungen muß alles bestimt seyn, aber entweder nach pathologischen oder moralischen Gesetzen; ist das erste, so ist das gegentheil doch moglich nach Vernunftgesetzen, also der Mensch frey; ist das letztere, so ist das subiect auch frey«; (im Grunde hätte Kant sagen müssen: erst recht frei). — Es ist möglich, daß hier die »moralischen Gesetzen« auch moralisch-zulässige Gesetze (nicht nur moralisch gebotene) umfassen, unter die auch einige Klugheitsregeln fallen. Immerhin ist Kant der Ansicht, daß wir eine indirekte Pflicht haben, klug zu sein. Dann fiele die getroffene Unterscheidung mit der in vernünftige und unvernünftige Handlungen in eins. Jedenfalls steht fest, daß Handlungen nach nicht-kategorischen Geboten der Vernunft für Kant nur »zweite Wahl« sind und damit eine Art Mittelstellung zwischen Vernunft und Natur einnehmen.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
nünftig handeln, sind sie »auch« frei und haben diesen Fehler selbst zu verantworten, weil sie auch vernünftig hätten handeln können.1 Wie ist in Fällen zu verfahren, bei denen sich die Forderungen der Sittlichkeit und der eigenen Glückseligkeit widersprechen? Wird durch sie nicht die saubere Dichotomie in Handlungen »aus Vernunft, mithin durch Freiheit« einerseits und Handlungen, die »nicht nach Prinzipien der Vernunft« geschehen andererseits, untergraben? Kant verneint dies. Auch bei Konflikten fällt nämlich das Urteil der praktischen Vernunft immer eindeutig aus: Die Ansprüche des Imperativs der reinen praktischen Vernunft (der Moral) bringen als kategorisch alle Ansprüche der Glückseligkeit zum Schweigen. In solchen Fällen ist die auf den ersten Blick kluge Handlungsoption weder vernünftig noch geboten, weil moralische Gründe gegen sie sprechen. Daß das Kluge den Bonus der Vernünftigkeit verliert, heißt jedoch nicht, daß es seine Attraktivität verloren hat.2 Somit kann die eindeutige Unterscheidung des §53 der Prolegomena in vernünftige und unvernünftige Handlungen aufrechterhalten werden: Wer im genannten Konfliktfall moralisch handelt, handelt vernünftig, wer seinen momentanen Neigungen nachgibt oder sein
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Vgl. Grundlegung IV:413: »Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft), und die Formel des Gebots heißt Imperativ. Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausgedrückt und zeigen dadurch das Verhältnis eines objektiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an, der seiner subjektiven Beschaffenheit nach dadurch nicht notwendig bestimmt wird […]«; ferner Kritik der reinen Vernunft A802/B830, wo es heißt, Überlegungen »von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zusatandes gut und nützlich ist, beruhen auf Vernunft. Diese gibt daher auch Gesetze; welche Imperativen, d.i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden.« — Freilich sind es strenggenommen die Formulierungen der Gesetze, die etwas sagen oder von etwas handeln, nicht die Gesetze selbst. Das wird im sogenannten »Kalkerde-Beispiel« der Kritik der praktischen Vernunft besonders deutlich: »Es ist, als ob der Scheidekünstler der Solution der Kalkerde in Salzgeist Alkali zusetzt; der Salzgeist verläßt so fort den Kalk, vereinigt sich mit dem Alkali, und jener wird zu Boden gestürzt. Eben so haltet dem, der sonst ein ehrlicher Mann ist (oder sich doch diesmal nur in Gedanken in die Stelle eines ehrlichen Mannes versetzt), das moralische Gesetz vor, an dem er die Nichtswürdigkeit eines Lügners erkennt, so fort verläßt seine praktische Vernunft (im Urteil über das, was von ihm geschehen sollte) den Vorteil, vereinigt sich mit dem, was ihm die Achtung für seine eigene Person erhält (der Wahrhaftigkeit), und der Vorteil wird nun von jedermann, nachdem er von allem Anhängsel der Vernunft (welche nur [nun? JT] gänzlich auf Seiten der Pflicht ist) abgesondert und gewaschen worden, gewogen, um mit der Vernunft noch wohl in anderen Fällen in Verbindung zu treten, nur nicht, wo er dem moralischen Gesetze, welches die Vernunft niemals verläßt, sondern sich innigst damit vereinigt, zuwider sein könnte.« (A165 f.). Zur hier beschriebenen Verschiedenheit andersartiger Motive vgl. auch M. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 186. — Die heutige Chemie sieht das beschriebene Phänomen übrigens anders als und wesentlich komplizierter als Kant. Um nur einige Unterschiede zu nennen: Weder liegt zu Anfang eine Lösung vor, noch vereinen sich einfach Salzgeist und Alkali und stürzen den Kalk zu Boden. Es läuft eine komplizierte Reaktion ab, in deren Verlauf Calciumhydroxid »zu Boden gestürzt wird«, jedoch nicht von der Salzsäure (Salzgeist), weil die Säure schon bei der Anfertigung der »Solution« entwichen ist. (Ich verdanke diesen Hinweis Steffen Pilotek.)
§ 11. Auflösung I: Prolegomena
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langfristiges Eigeninteresse befördert, das ex hypothesi hier der Moral widerspricht, handelt unvernünftig.1 Die Vernunft fällt ein klares Urteil, »all things considered«. Mit einer Reflexion aus den 1780er Jahren, in der schon die Unterscheidung zwischen legislativer Vernunft (dem Willen) und exekutiver Willkür gezogen wird, dürfen wir zusammenfassend feststellen: »Es sind […] viel Neigungen, 2erley Willkühr und nur ein Wille.« (R1046).2 11.2 Daß es zwei grundverschiedene Arten der Determination der Willkür gibt, kann man der Kantischen Moralphilosophie dort entnehmen, wo er über den moralischen Wert menschlicher Handlungen spricht. Der »zweite Satz« im ersten Abschnitt der Grundlegung, zu dem der erste fehlt, lautet bekanntlich: [E]ine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert n i c h t i n d e r A b s i c h t, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem P r i n z i p des Wo l l e n s, nach welchem die Handlung, unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen ist. (IV:399 f.)
Wenn der Wert moralischer Handlungen nicht in der erwarteten Wirkung besteht, so kann er nur im Prinzip des Wollens, der Maxime, liegen, und zwar »unangesehen der Zwecke, die durch solche Handlung bewirkt werden können«; und Kant fährt fort: »denn der Wille ist mitten inne zwischen seinem Prinzip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege, und, da er doch irgend wodurch muß bestimmt werden, so wird er durch das formelle Prinzip des Wollens überhaupt bestimmt werden müssen, wenn eine Handlung aus Pflicht geschieht, da ihm alles materielle Prinzip entzogen worden« (IV:400). (Wir können aus diesen Äußerungen nichts über den Sta-
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Die Lehre des eindeutigen Urteils der Vernunft, die sich für Kant aus unserem moralischen Bewußtsein ergibt, mag uns fragwürdig erscheinen. Ist nicht in einer moralisch relevanten Situation die Handlung des konsequenten Egoisten, der bei der Maximierung seiner Glückseligkeit moralische Gebote ganz außer acht läßt, doch noch vernünftiger als die Handlung desjenigen, der seine aktuell vorhandenen Begierden befriedigt? Die Antwort ist davon abhängig, ob wir (i) einen eindeutigen, kategorisch gebietenden Imperativ annehmen und ihn (ii) als Ausdruck praktischer Vernunft verstehen. Wenn wir, wie Kant, beide Thesen vertreten, muß die Frage negativ beantwortet werden. Entstanden wahrscheinlich zwischen 1780 und 88; im vollen Wortlaut: »Die Neigung geht auf ein obiect, die Willkühr auf ein obiect in Beziehung auf andere obiecte der Neigungen, der Wille auf alle Gegenstände der Willkühr oder der Begierden oder alle Begierden zusammen genommen. Es sind daher viel Neigungen, 2erley Willkühr und nur ein Wille.« — Mit der doppelten Willkür sind die widerstreitenden Funktionen der Willkür gemeint, die zutage treten, je nachdem ob jemand vernünftig handelt oder nicht. Wie schon Baumgarten unterscheidet Kant auch zwischen »oberer« und »unterer« Willkür (oder Begehrungsvermögen). Zur Unterscheidung Wille-Willkür vgl. Kapitel IV, §16.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
tus der schillernden vernünftig-klugen Handlungen erfahren, weil es Kant hier um Handlungssituationen geht, in denen das moralische Gesetz Anwendung finden kann und so alle Ansprüche der Klugheit zunichte macht. Der »Scheideweg« wird in anderen Fällen zwischen kluger und unkluger Option bestehen.) Bisweilen drückt sich Kant noch drastischer aus, wenn er von den verschiedenen Einflüssen auf das menschliche Handeln spricht. In einer Reflexion heißt es, am Menschen müsse man »das Thier, d.i. ihn nach den Gesetzen der Sinnlichkeit, und den Geist: nach Gesetzen der Vernunft« (R3872) unterscheiden. Albrecht von Hallers Charakterisierung des Menschen als »zweideutig Mittelding von Engeln und von Vieh«, die Kant in der Metaphysik der Sitten erwähnt (VI:461), stimmt mit dessen Sicht der Dinge trotz der dort geäußerten Vorbehalte gut überein.1 11.3 Wie steht es nun um die unvernünftigen Handlungen? Um zu zeigen, daß auch sie das für die Imputation notwendige Minimum an Freiheit aufweisen, die negative Freiheit vom Zwang der Naturdetermination, greift Kant auf die traditionelle These von der Vernunft als einem aktiven Prinzip zurück, das durch fremde Einflüsse nicht bestimmt werden kann. Für den praktischen Bereich ist dies eine Lehre, die Kant seit der vorkritischen Zeit vertritt und die in der späten Metaphysik der Sitten noch immer präsent ist, in der er sagt, der Wille (d.h. die praktische Vernunft in ihrer legislativen Funktion) sei über alle Maßen frei und deshalb, sozusagen, weder frei noch unfrei (VI:226). Eine aufschlußreiche Charakterisierung der Vernunfttätigkeit lesen wir in einer der für die Frage der Willensfreiheit sehr fruchtbaren Heimsoeth-Reflexionen:2 Die wahre Thätigkeit der Vernunft und ihr effect gehört zum mundo intelligibili. Daher wissen wir auch nicht, in welchem Maaße wir imputiren sollen. Gleichwohl wissen wir so viel von der einfließenden Gewalt der Vernunft, daß sie durch
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Im Folgenden wendet sich Kant dagegen, deshalb dem Menschen eine Anlage zum Laster beilegen wollen, nicht dagegen, daß der Mensch gleichsam zwischen gut und böse steht (und sich für die gute Seite entscheiden soll). In einer Vorarbeit zum Gemeinspruch bestätigt Kant das Hallersche Bild: »Die Naturtriebe der Sinnlichkeit sind nicht das Hindernis der Moralischen Anlage sondern die Phänomene von den ersteren mit denen der letzteren nämlich die in die Sinne fallende Handlungen wovon die Gründe über die Erscheinungen hinaus liegen. Es ist ein Kampf zwischen einem guten und einem bösen Princip wovon wir uns den Grund nicht erklären können.« (XXIII:142) — Hier wird dem Menschen überdies Verantwortung für die eigenen — eben nur zum Teil natürlichen — Neigungen zugewiesen, die im Unterschied zu Affekten als Folge höherstufiger Maximen im Sinne von (bewußt oder unbewußt gesetzten) Lebensregeln anzusehen sind. D. h. den Reflexionen 5611 bis 5620 aus der Zeit der Erstauflage der Kritik der reinen Vernunft, die Heinz Heimsoeth in »Freiheit und Charakter« sowie im Anhang zu seinem Kommentar zur Dialektik besprochen hat. Es scheint richtig, daß Kant in ihnen Spekulationen vorträgt, deren er sich nicht so sicher war, daß er sie ohne Bedenken in Druck gegeben hätte. Dies gilt jedoch vor allem für das Rekonziliationsproblem, vgl. §13.1.
§ 11. Auflösung I: Prolegomena
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keine Phänomena bestimmt und necessitirt, sondern frey sey, und beurtheilen die Handlung blos nach rationalen Gesetzen (bey der imputation). (R5612)
Erstaunlich ähnlich klingt die viel frühere Reflexion 4225: In der Sinnenwelt ist nichts begreiflich, als was durch vorhergehende Gründe necessitirt ist. Die Handlungen der freyen willkühr sind phaenomena; aber ihre Verknüpfung mit einem selbstthatigen subiect und mit (dem Vermögen) der Vernunft sind intellectual; demnach kan die Bestimmung der freyen Willkühr den legibus sensitivis nicht submittirt werden. (wohl zwischen 1769 und 1775)
Wenn wir nicht wissen, in welchem Maße wir imputieren sollen (oder: den Tatsachen entsprechend imputieren müßten, denn wir tun es in moralischen Angelegenheiten ungeachtet unseres mangelnden Wissens) — wie können wir dann »gleichwohl« wissen, daß die Vernunft durch Phänomene nicht bestimmt wird? Ist dies nicht eine Anmaßung, Einsicht in Intelligibilia zu besitzen, über die wir doch im Grunde nichts wissen können? Anders gewendet: Wenn wir wissen, daß Phänomene durch Phänomene bestimmt werden, woher wissen wir, daß die Vernunft nicht durch Phänomene bestimmt wird?1 Diese Variante der »Trendelenburgsche Lücke«2 kann hier, im praktischen Bereich, jedoch geschlossen werden, weil es eine Bedingung der Möglichkeit vernünftigen und vor allen Dingen moralischen Handelns ist, daß Vernunft ein aktives Prinzip ist, das bestimmt, ohne bestimmt zu werden, und zwar in doppelter Hinsicht: Die Vernunft wird weder in ihrem Urteil
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Zur These, der Wille sei weder frei noch unfrei, vgl. Kapitel IV, §16.2 Anm. Der zugrundeliegende Gedanke ist der, daß nur dasjenige verdient »frei« genannt zu werden, das auch als unfrei denkbar ist. Die Vernunft (oder: der legislative Wille) ist im Gegensatz zur Willkür über jeden derartigen Verdacht erhaben. In Reflexion 3872 schreibt Kant: »Der freye Wille ist gleichsam isolirt. Nichts äußeres bestimmt ihn; er ist thätig, ohne zu leiden.«. Das Factum, daß der Wille (verstanden als das dijudikative Prinzip der Vernunft) entschieden nicht unfrei ist, läßt Kant in den Prolegomena und in anderen kritischen Schriften sagen, er sei frei, in der Metaphysik der Sitten, er falle aus der Unterscheidung frei/unfrei heraus. — Vgl. auch Reflexion 3856: »Bestimmt zu seyn bey der Freyheit geht schon an, aber nicht leidend, weder durch die Art wie objecte afficiren, noch durch eine oberste hervorbringende Ursache. Ich kan sagen: in diesem Augenblicke bin ich frey (liber aut devinctus) und u n g e b u n d e n zu thun, was mir beliebt; aber es ist doch unumganglich nothwendig, daß ich so handle. Es ist ein Gesetz der Selbstthätigkeit, welches das Gegentheil unmoglich macht. Kan man auch in Ansehung des (moralisch) Bösen eben so aus freyem Vorsatz bestimmt sein. Nein! man kann dazu nur leidend oder gar nicht determinirt seyn, weil der reine Wille doch immer bleibt und also gar nicht gebunden werden kan, aber seine Thätigkeit nicht immer exisitirt.«. Dies ist vor dem Hintergrund des in Kapitel I herausgearbeiteten »einseitigen« positiven Freiheitsbegriffs zu sehen, der mit Handlungsalternativen nichts zu tun hat. Zu der schwierigen Äußerung, die Tätigkeit des unbeeinflußbaren Willens existiere nicht immer, vgl. §14.3. So genannt nach Adolf Trendelenburg, der in seinen Logischen Untersuchungen den Einwand erhoben hat, Kant habe nicht bewiesen, daß Raum und Zeit, die er für bloße Anschauungsformen hält, nicht auch den Dingen an sich selbst zukommen. Diese Lücke ist eines der Hauptargumente für die double aspect interpretation des transzendentalen Idealismus, die sie zu schließen vermag. Zur Deutung dieser Theorie vgl. §12.4.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
über das, was getan werden soll, noch in der Ausführung des Erkannten von den Phänomenen (Neigungen, Begierden etc.) bestimmt. Die letztgenannte Teilthese ist wesentlich problematischer als die erste. Man wird Kant vergleichsweise leicht zugestehen, daß wir uns ein korrektes, unparteiliches Urteil darüber, was gut und richtig ist, bilden können. Doch das richtige Urteil garantiert notorischerweise noch nicht die Ausführung, ja nicht einmal ihre Möglichkeit.1 Kant scheint sich der Motivationstheorie, die bis zur Grundlegung noch vergleichsweise rudimentär zu nennen ist, in den Folgejahren immer stärker bewußt geworden zu sein. Die »Ästhetik« der Kritik der praktischen Vernunft ist das Ergebnis seiner Bemühungen.2 Für die Prolegomena gilt, daß wir ihre Argumentation in §53 im Sinne der doppelten Anforderung ausführen müssen, damit sich ein verständliches Argument ergibt. Ob Kant dies so im Auge hatte, bleibt unausgemacht. 11.4 Damit sind noch lange nicht alle Rätsel, die uns der §53 aufgibt, gelöst. Wie haben wir es beispielsweise zu verstehen, wenn Kant sagt, die Vernunft sei bei den Handlungen, die durch sie geschehen, »Ursache dieser Naturgesetze«? Diese Formulierung ist ebenso bedeutsam wie erstaunlich. Denn daß unvernünftige Handlungen, mit denen wir natürliche Interessen verfolgen, nach Naturgesetzen (»bloßen« Naturgesetzen!) ablaufen, ist nicht weiter verwunderlich; viel problematischer ist die These, daß es Handlungen gibt, in denen Vernunft als ein gestaltendes Prinzip3 die Naturgesetze der Erscheinungen hervorbringt und deshalb die Handlungen im Einklang mit der Natur stehen; oder daß »Vernunft als Ursache«, die keine Erscheinung sei und von Erscheinungen nicht bestimmt werde, »so fern frei vom Mechanism der Natur« sei, »aber doch, was die Erscheinung ihrer Wirkung betrifft,
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Vielleicht teilen wir nicht den Kantischen Vernunftoptimismus, daß »die allgemeine Menschenvernunft« den kategorischen Imperativ »jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurteilung braucht« (Grundlegung, IV:403). Dennoch scheint es richtig zu sein, daß uns moralisches Urteilen leichter fällt als die Ausführung dieses Urteils. Überdies ist auch Kant der Ansicht, daß unter dem Einfluß des Glückseligkeitstriebes eine »natürliche Dialektik« entspringt, »d.i. ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln, und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen, und sie, wo möglich, unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d.i. sie im Grunde zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen, welches denn doch selbst die gemeine praktische Vernunft am Ende nicht gutheißen kann.« (IV:405). Das Urteil der Vernunft ist also auch nach Kant nicht ganz so robust, wie es die obigen Stellen erscheinen lassen. Dies ist ein prominentes Thema der ersten beiden »Stücke« der Religionsschrift. Dazu ausführlich Kapitel V, §§24, 25. Diese Idee ist schon sehr früh präsent. Vgl. Reflexion 3858: »Bei allen Handlungen liegt der Grund, die caussalitaet, (der Materie nach) in der Natur; der Form nach aber entweder blos in der natur, e. g. Anziehung, oder in einem andern Vermögen, welches die Kräfte der Natur innerlich dirigirt. Das letztere ist Freyheit.«. Diese Reflexion dürfte somit in den späten 1760er Jahren entstanden sein. Die von ihr vorgetragene Dichotomie hat Kant, wie wir gesehen haben, auch noch 20 Jahre später vertreten.
§ 11. Auflösung I: Prolegomena
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wirksam nach dem Mechanism der Natur« sei (R5975, 1783–84). Es heißt ferner: Das Vermögen, sich selbst ursprünglich gesetze zu geben, ist die Freyheit. (Das Vermögen, independenter vom Mechanism der Natur diesen Mechanism selbst zu bestimmen, ist Freyheit.) (ebd.)1
Diese beiden Sätze erinnern uns an Kapitel II, dessen Gegenstand der Wille als das Vermögen, »nach der Vorstellung von Gesetzen, d.h. nach Prinzipien zu handeln« war. Daß Freiheit nun das Vermögen genannt wird, »sich selbst ursprünglich Gesetze zu geben«, wird also bedeuten, daß jemand ohne Voraussetzung irgendwelcher empirischer Motivation allein nach der Vorstellung eines Gesetzes, d.h. moralisch handelt. Dann macht er von seiner Freiheit vollen Gebrauch und bestimmt ganz unabhängig von Naturursachen den Mechanismus der Natur. Der subjektiven Regelmäßigkeit der Maxime, die jemand sich entweder — wie soeben beschrieben — allein auf Grund der Vorstellung des moralischen Gesetzes oder zur Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses nach der Vorstellung eines Naturgesetzes zu eigen macht, entspricht demnach eine objektive naturgesetzliche Regelmäßigkeit im Verlauf der Erscheinung einer Handlung.2 Auf diese Weise ist die Wahl von Maximen und damit von Handlungen eine Wahl der Naturgesetze der Erscheinungen der Handlungen.3 11.5 Die Analyse des vorangehenden Abschnitts weist auf die Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs: [H]andle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte. (IV:421)
Denn Kant macht auch hier von der Idee Gebrauch, daß unser freier Wille dazu in der Lage ist, naturgesetzlich zu wirken, d.h. sich menschliches Handeln, das sich als solches nach gewissen Regeln gemäßen Handlungsprinzipien (Maximen) vollzieht,4 in naturgesetzlichen Abläufen äußert. Der Bezug
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In Reflexion 5975 findet sich auch noch die im Tenor ähnliche Definiton: »Das Vermögen, Dinge an sich selbst vorzustellen und durch diese Vorstellung Ursache der Erscheinungen zu seyn, ist ein Vermögen, nach dem Mechanismus der Natur und doch von selbst zu handeln, d.i. Begebenheiten zu bewirken, ohne selbst von einer Begebenheit abhangig und bestimt zu seyn, d.i. Freyheit.«. Vgl. Reflexion 5435: »Der Wille ist ein Vermögen, nach der Vorstellung einer Regel als Gesetzes zu handeln. Vermögen der Zwecke. stimuli sind Lust, die dem Gesetz vorhergeht, independentia a stimulis ist, wo das Gesetz der Lust vorhergeht. (arbitrium purum.) (Freyheit ist caussalitaet der reinen Vernunft in Bestimmung der Willkühr.)« (wahrscheinlich 1780er Jahre). Auch diese Behauptung ist noch nicht recht verständlich. Sie wird in §12.2 f. weitere Klärung erfahren. Vgl. die Kapitel II und IV, vor allem §§17, 18.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
auf §53 der Prolegomena macht deutlich, daß sie entweder nach bloßen Naturgesetzen geschehen oder nach solchen, die ihren Ursprung in der Vernunft haben. Wir sollen so handeln, als ob unsere Maxime nicht nur im Fall unserer eigenen Handlung zu gesetzlich beschreibbaren Abläufen in der Natur führt, sondern allgemein im Falle all derjenigen, die sich in einer vergleichbaren Entscheidungssituation befunden haben, befinden oder später einmal befinden werden.1 So sucht die Vernunft die Materie der Natur nach rein formalen Kriterien zu ordnen.2 11.6 Kant weicht von der verbreiteten indifferentistischen Freiheitskonzeption nicht nur darin ab, daß er die Möglichkeit, unvernünftig zu handeln, d.h. überhaupt eine Alternative (zur Vernunft) zu haben, für eine Folge begrenzter menschlicher Freiheit hält. Er ist, wie sich aus dem bisher Gesagten ergibt, darüber hinaus der Ansicht, daß auch die wohl oder übel vorhandene Handlungsalternative immer sehr begrenzt ist. Prolegomena §53 legt nahe, daß Kant für jede Situation praktischer Entscheidung überhaupt nur zwei Optionen für faktisch möglich hält: eine vernünftige und eine unvernünftige. Kants Beispiele bestätigen dieses Bild der klaren Alternative. Doch wahrscheinlich bedarf der Bereich der unvernünftigen Option, die in Kants dualistischem System der Motivation der »Selbstliebe« zugeordnet werden muß, darüber hinaus einer Unterteilung in die kurzfristig und die langfristig nützliche; doch selbst dann sind es letztlich maximal drei Handlungen, bzw. Maximen (Handlungsprinzipien erster Stufe), die einem Menschen in einer gegebenen Situation offenstehen: (i) die kurzfristig-angenehme, (ii) die langfristig-kluge und, ggf., (iii) die eine moralische. Wiederum zeigt sich, daß menschliche Willensfreiheit für Kant kein phantastisches Vermögen ist, alles Beliebige zu tun. Aus der genannten Begrenzung der Handlungsoptionen spricht tatsächlich eine gewisse Realitätsnähe.3 1
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Vgl. Reflexion 7269: »Principium objectivum: Die Übereinstimmung der freyheit mit der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Natur. 1. Muß diese Einstimmung freywillig seyn; 2. nicht mit den Naturgesetzen, sondern bloß der allgemeinen Gesetzmaßigkeit der Natur, so daß die Maxime unserer Handlungen mit unserm Willen ein allgemeines Naturgesetz seyn könne.« (1780–89). Vgl. die im vorigen Abschnitt zitierte Reflexion 3858. Gegen diese Teiltheorie praktischer Vernunft spricht nicht, daß wir uns in vielen Fällen nicht darüber im klaren sind, welche Option die langfristig klügere oder sogar die angenehmere ist. Wir stehen vor der Wahl aus zwei moralischen Adiaphora, wenn wir uns etwa fragen, ob wir (in Kants Beispiel) Bier oder Wein trinken sollen (»Tugendlehre«, VI:409), und Kant zufolge ist es oft sehr schwer, die wirklich klügste Entscheidung zu fällen, weil in Fragen der Klugheit sich die Vernunft beim Entscheiden nicht wie in der Moral auf rein formale Kriterien stützen kann. Wir dürfen vielleicht annehmen, daß Kant in moralisch neutralen Fällen, bei denen der größere Vorteil oder Nachteil einiger Optionen nicht leicht zu ermitteln ist und nicht sehr ins Gewicht fällt, gegen eine rein »willkürliche« Entscheidung nichts einzuwenden gehabt hätte. Wenn die Vernunft nicht mehr entscheiden kann, entscheidet der Geschmack. Vgl. §19.4 zum Thema der »Mikrologie« — der übertrieben spezifischen Grundsätze — im Leben.
§ 11. Auflösung I: Prolegomena
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Die eng begrenzte Anzahl möglicher Handlungen begünstigt zudem die Erklärbarkeit menschlicher Handlungen nach Naturgesetzen: Handlungen des ersten lassen sich ohnehin aus der natürlichen Konstitution des Handelnden erklären, vielleicht auch die des zweiten Typs;1 die moralischen Handlungen des dritten Typs gehen dagegen auf das praktisch notwendige Bedürfnis, moralisch zu handeln, zurück, d.h. auf die moralische Triebfeder der Achtung. 11.7 Wir stehen jedoch nun vor einer weiteren Schwierigkeit, die uns an die Grenzen der Tragfähigkeit der Kantischen Freiheitstheorie führt: Selbst wenn wir Kant zugestehen, daß (i) vernünftige Maximen sich in regelmaßigen Handlungen äußern, in denen die Natur zwar weiterhin nach ihren Gesetzen abläuft, dabei jedoch durch die Vernunft aktiv bestimmt und geordnet wird, und daß (ii) Handlungen nach Maximen, die von der Vernunft nicht gebilligt werden, nach bloßen, in ihrer Vernunftgemäßheit kontingenten Gesetzen der Natur vonstatten gehen, so ist doch nicht klar, daß im Wechselspiel zwischen den eng begrenzten Optionen der Vernunft und der Unvernunft in menschlichen Handlungen das Naturgesetz gewahrt bleibt. Dieses Problem kann nur zum Teil durch dem Verweis gemildert werden, daß die Ordnung, welche die Vernunft verlangt, derjenigen gegenüber, die bloße Natur mit sich bringt, auf einer höheren Stufe steht, denn es ist nach wie vor denkbar, daß in ein und derselben Situation die Vernunft eine Maxime bzw. Handlung fordert, die natürlichen Interessen des Menschen eine andere. Wenn sich der betreffende Mensch nun für die unvernünftige Handlung entscheidet, die sich nach »bloßen« Naturgesetzen vollzieht, so ist schwer zu sehen, wie nun noch, da ein alternativer Weltverlauf möglich gewesen sein muß, die Regelmäßigkeit in der Natur intakt hätte bleiben können, wenn sich der Akteur für die vernünftige Option entschiedenen hätte.2 Diese Schwierigkeit ist real, und dessen war Kant sich bewußt, wie Reflexionen aus dem Umkreis der Kritik der reinen Vernunft zeigen
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Was motiviert uns zu klugen Handlungen? Kants Antwort ist nicht so eindeutig auszumachen, was eine Folge seiner Konzentration auf die Triebfeder der Moralität und auf die reine praktische Vernunft überhaupt in seinen Schriften zur Ethik sein dürfte. Doch in Reflexion 1028 (1776–78) fordert er ein praktisches Gefühl für die Klugheit, das in vielem dem Achtungsgefühl der Moralität ähnelt: »Selbst die Anrathungen der Klugheit erfodern ein praktisch Gefühl (nicht gefühl der Sinne); sonst billigt man sie Zwar, aber sie sind ohne Kraft. Dazu hört nicht ein größerer Grad der Vernunft, sondern Stärke derselben. Die Leidenschaften treiben oft ihr Spiel mit der Vernunft, so daß sie zu lauter falschen Voraussetzungen und Trugschlüssen verleiten und sie mit unaufhorlichen Blendwerken hintergehen. Zum praktischen Gefühl wird erfodert, daß die Allgemeinheit der Vorstellung in eine Rührung verwandelt werden könne. Das praktische Gefühl geht nicht vor der Vernunfterkenntnis vorher.«. Das ist freilich auch davon abhängig, wie strikt die Anforderungen sind, an denen man an diese Regelmäßigkeit mißt.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
(vgl. § 13). Deshalb scheint die oben zitierte Konklusion der Auflösung der dritten Antinomie in den Prolegomena, die Freiheit hindere »nicht das Naturgesetz der Erscheinungen, so wenig, wie dieses der Freiheit des praktischen Vernunftgebrauchs, der mit Dingen an sich selbst, als bestimmenden Gründen, in Verbindung steht, Abbruch tut«, (§53, IV:346) trotz der Aufklärung, die diese schwierige Passage bisher erfahren hat, selbst unter Kants eigenen Voraussetzungen fragwürdig. Aus dem §53 lernen wir, in summa, daß alle Handlungen nach Gesetzen vonstatten gehen, es gesetzlose Handlungen also nicht gibt; denn Menschen handeln entweder vernünftig, dann sind die Gesetze der Vernunft handlungsbestimmend, oder sie handeln unvernünftig, dann geschehen Handlungen »nach bloßen Naturgesetzen der Sinnlichkeit«. In beiden Fällen jedoch laufen die Erscheinungen nach Naturgesetzen ab, die im erstgenannten Fall eine Wirkung der Vernunft sind, im zweiten nicht. Deshalb kann Kant zumindest ohne Schwierigkeiten sagen, ein und dieselbe Handlung sei einerseits frei (im emphatischen oder im schwachen Sinn) und geschehe doch andererseits nach Gesetzen der Natur. Doch wir haben auch gesehen, daß selbst dies die stärkere Schlußfolgerung, Natur und Wahlfreiheit seien ohne weiteres vereinbar, nicht rechtfertigt. Nach der Diskussion der Lösung der Freiheitsantinomie in der Kritik der reinen Vernunft in §12 wird §13 wird dies Thema abschließend erörtern.
§12. Auflösung II: Kritik der reinen Vernunft 12.1 Nun, mit den Argumenten der Antinomie und mit den Ausführungen aus §53 der Prolegomena gleichsam »im Rücken«, gehen wir das Problem der Verträglichkeit von Natur und Freiheit in der Kritik der reinen Vernunft noch einmal von neuem an. Kant setzt offenkundig voraus, daß in der Natur alles nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung vonstatten geht (nach »dem Naturgesetz«), und daß es in jedem Fall beständige Gesetze gibt (die »Naturgesetze«), die beide miteinander verbinden.1 Menschliche Handlungen, die eigenen wie die anderer Menschen, sind natürliche Prozesse und können als solche davon nicht ausgenommen werden. Daraus folgt, daß jede menschliche Handlung eine gesetzmäßige Folge vorhergehender natürlicher Ereignisse ist und daß Freiheit, zunächst negativ verstanden als Unabhän-
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Vgl. etwa Kritik der reinen Vernunft, A536/B564: »Die Richtigkeit jenes Grundsatzes, von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt, nach unwandelbaren Naturgesetzen, steht schon als ein Grundsatz der transzendentalen Analytik fest […]«.
§ 12. Auflösung II: Kritik der reinen Vernunft
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gigkeit von der Natur, empirisch nicht nachgewiesen — nach Kant freilich auch nicht widerlegt — werden kann. Dieses Bild befriedigt die theoretische Vernunft, solange sie in der Reihe von Wirkungen und Ursachen nicht nach Vollständigkeit verlangt. Dann allerdings droht der Regreß, der in der Kosmologie aufgehalten wird, indem »sich die Vernunft die Idee von einer Spontaneität« schafft, »die selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetze der Kausalverknüpfung zu bestimmen« (A533/B561). Doch wie der Beweis der Antithesis gezeigt hat, spricht in theoretischer Absicht alles für und nichts gegen einen durchgängigen Kausalnexus in der Natur. Die praktische Vernunft hingegen zwingt uns nach Kant zu der problematischen Annahme von Akten einer freien Kausalität auch im Weltlauf: Es ist überaus merkwürdig, daß auf diese t r a n s z e n d e n t a l e I d e e der F r e i h e i t sich der praktische Begriff derselben gründe, und jene in dieser das eigentliche Moment der Schwierigkeiten ausmache, welche die Frage über ihre Möglichkeit von jeher umgeben haben. (A533/B561)
Wir sehen uns aus praktischer Sicht genötigt, anzunehmen, daß jemand, der gegen die Gebote der Vernunft gehandelt hat, auch das Vernünftige hätte tun können, obwohl sich jene Handlung nach Naturgesetzen vollzog und wir theoretisch nicht begreifen können, wie sie hätte anders ausfallen können; d.h. wir müssen voraussetzen, daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen s o l l e n,1 und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkür eine Kausalität liege, unabhängig von jenen Naturursachen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas hervorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimmt ist, mithin eine Reihe von Begebenheiten g a n z v o n s e l b s t anzufangen. (A534/B562)
Im Fall der dritten Antinomie ist verständlich, daß unser theoretisches Interesse die Antithesis stützt, während für die Seite der Thesis »ein gewisses praktisches Interesse« spricht. Kant hält das Interesse beider Seiten für notwendig. Das bedeutet freilich, daß keine der beiden Seiten durch Berufung auf Erfahrung den Streit schlichten kann, denn Notwendigkeit ist in der Erfahrung nicht anzutreffen. Dennoch ist die Erfahrung, weil sie das Kausalgesetz der Natur zumindest bestätigt, ganz auf der Seite der Antithesis. Dies ist der Grund für den ungleichen Status von Freiheit und Natur:
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… und also auch geschehen können. Vgl. §7.4, Kapitel I, und die dort angeführten Belegstellen.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Daher ist Freiheit nur eine I d e e der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Ve r s t a n d e s b e g r i f f, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muß. (Grundlegung, IV: 455)
Der Philosophie fällt die Aufgabe zu, die Verträglichkeit von Vernunftidee und Verstandesbegriff zu sichern. Sollte dies Projekt eines Ausgleichs zwischen Freiheit und Natur scheitern, so wäre die Antithesis auf Grund der Stützung, die sie durch die Empirie erfährt, in der stärkeren Position, und die Ansprüche der Praxis1 müßten als trügerisch aufgegeben werden. Doch Kant hegt die Hoffnung, daß es so weit nicht kommen muß.2 12.2 Wie können wir dem Konflikt des theoretischen Interesses mit dem praktischen entgehen? Kant wählt den Ausweg, die Naturgesetzlichkeit nicht für den letzten Grund menschlicher Handlungen zu halten; wir müssen uns als Wesen denken, die ihrerseits für die jeweils geltenden Gesetze natürlicher Abläufe, unserer Handlungen, verantwortlich sind, ohne wiederum naturgesetzlich bestimmt zu sein. Das ist im Rahmen eines transzendentalen Realismus, der die nach Naturgesetzen bestimmten »Erscheinungen« für die Dinge an sich selbst hält, unmöglich: Einem transzendentalen Realisten fehlen die philosophischen Ressourcen, einen Grund der Natur anzunehmen, der nicht selbst Natur ist. Es kann für ihn keine durch ihre Unabhängigkeit von Naturursa-
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Ganz korrekt scheint die Identifizierung mit dem praktischen Standpunkt allerdings nicht, aus den folgenden beiden Gründen: (i) Kant plädiert vom praktischen Standpunkt aus eher für eine Ausweitung des Geltungsbereichs der Thesis als für die schlichte Existenzbehauptung der Thesis selbst. Das Interesse daran, daß »mein denkendes Selbst […] in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhoben sei« (A466/B494) führt aus dem ursprünglichen kosmologischen Kontext der Antinomie hinaus. (ii) Die praktische Seite hat auch ein Interesse daran, daß sich menschliche Handlungen ohne Lücke in den Kausalnexus der Natur einfügen, weil sie Handlungen als Handlungen von Akteuren erklären will. Auch die Unerklärlichkeit von Handlungen auf der Ebene der Erscheinungen wäre eine Gefahr für die Imputation. Vgl. die »Antinomie des Handelns«, §5.2. — Um die These zu stützen, in praktischer Absicht seien wir den Theseis verpflichtet, bringt Kant die zweite Antinomie mit der Existenz unserer Seele als »einfacher und daher unverweslicher Natur« in Zusammenhang und verläßt damit ebenso den kosmologischen Rahmen der Antinomie. Zudem soll das praktische Interesse für einen Weltanfang und für die Existenz eines notwendigen Wesens sprechen. Wie vieles in der »Dialektik« wirkt die pauschale Behauptung, das praktische Interesse spreche allein für die Theseis, insgesamt doch sehr gezwungen; während es durchaus richtig ist, daß die Antitheseis dem praktischen Interesse wenig und dem spekulativen Interesse der Vernunft erheblich mehr zu bieten haben als die Gegenseite (vgl. A468/B496). »Gesetzt nun, die Moral setze notwendig Freiheit (im strengsten Sinne) als Eigenschaft unseres Willens voraus, indem sie praktische in unserer Vernunft liegende ursprüngliche Grundsätze als D a t a derselben a priori anführt, die ohne Voraussetzung der Freiheit schlechterdings unmöglich wären, die spekulative Vernunft aber hätte bewiesen, daß diese sich gar nicht denken lasse, so muß notwendig jene Voraussetzung, nämlich die moralische, derjenigen weichen, deren Gegenteil einen offenbaren Widerspruch enthält, folglich Freiheit und mit ihr Sittlichkeit […] dem Naturmechanism den Platz einräumen.« (BXXVIII f.).
§ 12. Auflösung II: Kritik der reinen Vernunft
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chen charakterisierte Freiheit geben, selbsttätig eine neue Reihe von Ursachen und Wirkungen zu beginnen1; denn für ihn ist alles Natur. Deshalb sollen wir, so Kant, im Interesse praktischer Freiheit den naheliegenden transzendentalen Realismus zugunsten seines transzendentalen Idealismus aufgeben.2 Wieder zeigt sich eine Parallele zwischen praktischer und theoretischer Philosophie; denn auch in puncto Willensfreiheit hat Kant im Verhältnis zu seinen Vorgängern mit dem Schritt zum transzendentalen Idealismus eine »copernicanische Wende« vollzogen. In Anlehnung an die berühmte Passage aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (BXVI) stellen wir fest, daß Kant die naheliegende Annahme, alle unsere freien Handlungen müßten sich nach den Naturgesetzen richten (d.h. müßten durch sie bestimmt sein) zurückweist. Unter dieser Voraussetzung ergibt sich nur komparative Freiheit, die nach Kant zur Sicherung der Ethik nicht taugt. Besser kommen wir in den Aufgaben der Moralphilosophie fort, wenn wir annehmen, die Naturgesetze der Erscheinungen müssen sich nach unseren freien Handlungen richten. Wenn nun »Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der Tat sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind.« (A536 f./B564 f.) Auf diese Weise vollzieht sich die erwünschte Relativierung der Naturkausalität. Der Grund einer Erscheinung wird seinerseits nicht von Erscheinungen bestimmt. Nennen wir diesen Grund eine »intelligibele Ursache«3 so steht sie samt ihrer Kausalität außer der Reihe; dagegen ihre Wirkungen in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden. Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden (A537/B565).
Der bis jetzt lediglich referierte philosophische Schachzug ist alles andere als luzide, wenn auch die Motivation verständlich ist. Unklar bleibt vor allem, wie ein gedachter »intelligibeler Grund« der Erscheinungen eine Ursache sein und Kausalität besitzen soll. Kants Lehre von den beiden ungleichen
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Die Andeutung der Kantischen Option, »daß, anstatt der Gesetze der Natur, Gesetze der Freiheit in die Kausalität des Weltlaufs eintreten,« die dennoch als Gesetze der Natur erscheinen, wurde explizit im Beweis für die Antithesis als bloßes begriffliches Ausweichmanöver zurückgewiesen. Vgl. A447/B475 und §10.4. Die umstrittene Deutung dieser Theorie soll fürs erste ausgeklammert werden; vgl. dazu §12.4. »Intelligibel« wird gerade definiert als »dasjenige an einem Gegenstande der Sinne, was selbst nicht Erscheinung ist« (A538/B566).
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Kausalitäten kann jedoch mit einem Beispiel aus der hellenistischen Philosophie illustriert werden.1 Wie Cicero in seiner unvollständig überlieferten Schrift De fato berichtet, trat Chrysipp ähnlich wie Kant als arbiter honorarius im Streit zwischen Verantwortung und Fatum auf.2 Dabei kehre er zurück […] ad cylindrum et ad turbinem suum, quae moveri incipere nisi pulsa non possunt, id autem cum accidit, suapte natura quod superest et cylindrum volvi et versari turbinem putat. (XVIII/42)
Die Details der stoischen Lehre sollen uns an dieser Stelle nicht interessieren.3 Zentral ist der Gedanke, daß durch deterministische, äußere Einflüsse allein die Aktion einer materiellen Sache nicht determiniert ist. Sie hängt von deren Natur ab, die zusammen mit den vorangehenden Ursachen als eine andere Art von Kausalität letzten Endes die Bewegung bestimmt. Es ist deshalb korrekt, zu sagen, der Stoß sei die Ursache dafür, daß die Walze rollt und der Kreisel sich dreht. Doch dies ist nicht die ganze Wahrheit. Fragen wir nämlich nach der Ursache dafür, daß die Walze rollt, während sich der Kreisel dreht, so ist die Antwort, daß wir sie schließlich angestoßen haben, unzureichend. Der Unterschied der Bewegungen läßt sich so gerade nicht erklären läßt, weil die vorhergehenden Ursachen der Walze nicht ihre »volubilitas« (XIX/43), dem Kreisel nicht seine Rotationsfähigkeit geben. Die Ursache dafür, daß die Walze rollt und der Kreisel sich dreht, liegt vielmehr in der unterschiedlichen Natur dieser beiden Gegenstände. In Kants Sprache: sie unterscheiden sich in ihrem empirischen Charakter, im Gesetz ihrer Kausalität.4
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Vgl. hierzu: Michael Frede, »The Original Notion of Cause«, v.a. S.125 und S.138 f. Vgl. Abschnitt XVII/39. Die Passage, auf die im folgenden bezug genommen wird, reicht bis XIX/43. Bemerkenswert ist allerdings die Ähnlichkeit zwischen der Chrysippschen Lehre der assensio zu den Sinneseindrücken, die ein Mensch frei geben oder verweigern kann, was sich in unterschiedlichen Handlungen äußern wird, und der Kantischen These der freien Maximenwahl, die ebenfalls eine Reaktion auf determinierte äußerliche Eindrücke darstellt. Das in §13.1 diskutierte Beispiel Kants vom Trinken könnte ebensogut stoisch sein. Das esse ist in der Tat dem operari vorgeordnet, wie Schopenhauer bemerkt (§10 der Preisschrift über die Grundlage der Moral). Doch wir haben keinen Grund, das esse für so starr zu halten wie Schopenhauer es tat. Vgl. u., §13.1 Anm. Vgl. auch Reflexion 5975: »Non datur casus. In der Welt geschieht alles nach dem mechanismus der Natur, namlich als Folge aus dem, was selbst geschieht, so fern die Welt ein phaenomenon ist; ausser so fern es als noumenon betrachtet werden kan, das sich von selbst, unabhangig von phaenomenis, bestimt, d.i. eine Vernunft als princip der spontaneitaet. Da geschieht alles zwar auch nach dem mechanism der Natur in der Sinnenwelt; diese Verbindung selbst aber gründet sich auf dem Grunde der Erscheinungen überhaupt.// Die Nothwendigkeit der Begebenheiten in der Natur ist nicht die nothwendigkeit der Dinge selbst, d.i. der Existenz der Natur. Diese, wenn sie den Erscheinungen beygelegt wird, ist fatum. Folglich ist in der Existenz der Natur selbst keine innere Notwendigkeit, weil sie kein absolutes Gantze ist, mithin gänzlich ausser ihr.« (1783–84).
§ 12. Auflösung II: Kritik der reinen Vernunft
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Ganz im Sinne der Thesis der dritten Antinomie ist Kant der Ansicht, daß der Verweis auf geltende empirische Gesetze noch keine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Grund von Ereignissen in der Natur darstellt. Wir müssen deshalb nach einem Grund für die Geltung der jeweiligen Naturgesetze suchen, der selbst nicht wiederum in einem Ereignis begründet ist. Naturgesetze sind keine Ereignisse, doch die Kausalität nach Gesetzen der Natur kann aus den vorangegangenen Ereignissen abgeleitet werden. Da Kant jedoch nach einer Erklärung der Naturkausalität sucht, sieht er sich genötigt, Substanzen eine freie Kausalität beizulegen, die dem Regreß zu immer weiter zurückliegenden Naturursachen Einhalt gebietet. Ihr intelligibler Charakter, der dem empirischen zugrundeliegt, muß frei gewählt sein. Diese Art von Kausalität ist keine Ereigniskausalität, sondern eine Art Substanzkausalität im obengenannten Sinne: Die Substanz ist der Grund für die Kausalität, durch die Ereignisse an ihr und von ihr ausgehend naturgesetzlich ablaufen.1 Wie das Beispiel von Walze und Kreisel zeigt, widersprechen sie einander keineswegs. Der Ausgleich zwischen Natur- und Freiheitskausalität beruht demnach auf Ineinandergreifen zweier grundsätzlich verschiedener Arten von Kausalität. 12.3 An mehreren Stellen deutet Kant an, wie er sich die Bildung des menschlichen Charakters, auf den die Vernunft Einfluß nehmen kann, vorstellt. So heißt es zum Beispiel, der Mensch sei im Vergleich zu anderen natürlichen Wesen dadurch bestimmt, »daß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft, indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfektionieren« (Anthropologie, VII:321). Er könne dadurch »als mit Ve r n u n f t f ä h i g k e i t begabtes Tier (animal rationabile) aus sich selbst ein v e r n ü n f t i g e s Tier (animal rationale) machen« (ebd.). In einer der »Heimsoeth-Reflexionen« aus dem Umkreis der Erstausgabe der Kritik der reinen Vernunft erfahren wir Genaueres: Die Vernunft zieht die sinnlichkeit allmahlig im habitus, erregt triebfedern und bildet daher einen Charakter, der aber selbst der Freyheit beyzumessen ist und selbst in den Erscheinungen nicht hinreichend gegründet ist. Darum hängen alle Handlungen mit Gesetzen der Sinnlichkeit gut zusammen […]. (R5611)
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Die zu Kants Zeiten geläufige und auch uns noch verständliche Redeweise von der Sonne, welche die Ursache dafür ist, daß der Stein sich erwärmt, zeigt, daß uns der Gedanke einer Kausalität von Substanzen nicht so fremd ist, wie es im ersten Augenblick erscheinen mag. Wir sagen auch, das Salz sei die Ursache dafür, daß das Wasser nicht friere, oder gar (mit Aristoteles, Physik 195a13–14), die Abwesenheit des Kapitäns sei die Ursache für das Schiffsunglück. Kant selbst spricht auf B111 davon, daß »eine Substanz Ursache von etwas in einer anderen Substanz werden könne«. Zur Diversität des Ursachenbegriffs: Michael Frede, »The Original Notion of Cause«, S.125 f.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Kant sagt vermutlich mit Bedacht, sie hingen — wenn die Vernunft die Sinnlichkeit formt — »gut« mit den Gesetzen der Sinnlichkeit zusammen, was einer Einschränkung gleichkommt; denn im vorangehenden Satz heißt es noch, der Charakter sei in den Erscheinungen nicht hinreichend gegründet.1 Doch kehren wir noch einmal zu Chrysipps Beispiel zurück, und nehmen wir einen Moment lang an, Kreisel und Walze seien Personen wie wir, also Vernuftwesen, die nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln können. Mit Kant dürfen wir dann sagen: Kreisel und Walze haben verschiedene empirische Charaktere. Sie reagieren anders auf die gleichen empirischen Einflüsse. Doch wir müssen annehmen, daß sie für die ihnen eigentümliche Natur selbst verantwortlich sind, und daß diese sich erst mit der Zeit in ihrer eigenen Verantwortung herausgebildet hat. Wir betrachten ihren empirischen Charakter als die Konsequenz eines intelligiblen Charakters, den sie selbst frei gewählt haben und weiter formen können, und zwar durch die Aufnahme von Triebfedern in Maximen höherer Stufe.2 12.4 Die Frage, wie Kants transzendentaler Idealismus zu deuten sei, damit er für die Auflösung der Freiheitsantinomie fruchtbar gemacht werden kann, ist bis jetzt unerörtert geblieben. Sie soll Gegenstand dieses Abschnitts sein.3 Den Weg der Auflösung beschreibt Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft wie folgt: 1 2
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Dieses Problem wird in §13 weiter verfolgt werden. Vgl. Kapitel IV. — Auch »normale« Walzen und Kreisel haben nach Kant über ihren empirischen Charakter hinaus einen intelligiblen Charakter. Doch anders als im Fall von uns Menschen haben wir keinen Grund, Walzen und Kreiseln Freiheit bei einer Wahl der sie beherrschenden Naturgesetze zuzuschreiben, denn wir betrachten sie nicht als Vernunftwesen, für die ein Sollen gilt und für die daraus ein Können folgt. (Freilich haben wir auch keinen guten Grund, ihnen Freiheit ihres »Willens« abzusprechen.) Über den intelligiblen Charakter von Kreiseln und Walzen, d.h. über sie als Dinge an sich, können wir keine begründeten Aussagen machen. — Kant zeigt hier nicht »zu viel«, wie Lewis White Beck meint: »A proof which shows that if anything is free then everything is free proves too much.« (»Five Concepts of Freedom«, S.42). Denn intelligibler Charakter und Freiheit sind zu unterscheiden, wenngleich diese ohne jenen nicht möglich ist. In diesem Sinne auch: Henry Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.73. Aus einem vielzitierten Brief an Garve aus dem September 1798 erhellt, daß die Antinomien für die Deutung des transzendentalen Idealismus besondere Bedeutung besitzen. Dort beschreibt Kant das Verhältnis des Antinomienkapitels zu den Paralogismen und der Widerlegung der Gottesbeweise folgendermaßen: »Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: »Die Welt hat einen Anfang —: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freyheit im Menschen, — gegen den: es ist keine Freyheit, sondern alles ist in ihm Naturnothwendigkeit;« diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben.« (XII:255.). Wenn man bei Kants Selbstinterpretationenen auch vorsichtig sein muß (vgl. dazu W. Carls Der schweigende Kant), so ist die von Kant auch selbst oft zitierte Antinomie doch ein guter Prüfstein für Interpretationen des transzendentalen Idealismus. Vgl. auch E. Watkins, »The Antinomy of Pure Reason, Sections 3–8«, S. 462 f.
§ 12. Auflösung II: Kritik der reinen Vernunft
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Wenn aber die Kritik nicht geirrt hat, da sie das Objekt in z w e i e r l e i B e d e u t u n g nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst; wenn die Deduktion ihrer Verstandesbegriffe richtig ist, mithin auch der Grundsatz der Kausalität nur auf Dinge im ersten Sinne genommen, nämlich so fern sie Gegenstände der Erfahrung sind, geht, eben dieselbe aber nach der zweiten Bedeutung ihm nicht unterworfen sind: so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) als dem Naturgesetze notwendig gemäß und so fern n i c h t f r e i, und doch andererseits, als einem Dinge an sich selbst angehörig, jenem nicht unterworfen, mithin als f r e i gedacht, ohne daß hiebei ein Widerspruch vorgeht. (Kritik der reinen Vernunft, BXVII f.)1
Kants eigenartige Redeweise von der doppelten Möglichkeit der »Bedeutung«2 scheint die double aspect interpretation des transzendentalen Idealismus zu stützen, die seit etwa 30 Jahren unter Kant-Interpreten immer mehr Bedeutung gewinnt.3 Ihren Hauptvertretern zufolge geht sie mit einer De-ontologisierung der Unterscheidung von »Ding an sich selbst« und »Erscheinung« einher. Demnach ist sie allein als eine methodologische und — nach Henry Allison — als epistemische Unterscheidung zu sehen.4 Zur grundlegenden Alternative der traditionellen »phänomenalistischen« Lesart des transzendentalen Idealismus, die Erscheinungen für Vorstellungen in uns hält, und der neuen Zwei-Aspekte-Lehre schreibt Beck:
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Vgl. die folgende Passage aus der schon mehrfach zitierten Reflexion 5975 (1783–84): »Die Dinge der Sinnenwelt können auf zwiefache Weise betrachtet werden: 1. als Erscheinungen, und da geschieht alles nach dem Mechanismus überhaupt, sie aber sind die subiecte, darin etwas geschieht; 2. als subiecte, die sich Erscheinungen vorstellen; und da stellen sie sich zwar vor, was geschieht, aber es geschieht in ihnen nichts, sondern ist in ihnen der Grund von den Vorstellungen, daß etwas geschehe.«; es ist allerdings sonderbar, daß Kant hier pauschal von den »Dingen der Sinnenwelt« spricht, wo zu erwarten wäre: vernünftige Wesen. Vgl. ferner Kritik der praktischen Vernunft, A5 Anm. Wir würden heute vermutlich präziser die Gegenstände und unser Sprechen von ihnen trennen und hier von zwei »Hinsichten« bzw. »Aspekten« sprechen, oder auch von zwei »Weisen der Betrachtung«, wie Kant es in der og. Reflexion 5975 tut. Vgl. für den Bereich der theoretischen Philosophie: Graham Bird, Kant’s Theory of Knowledge; Gerold Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich; Henry E. Allison, Kant’s Transcendental Idealism; für den Bereich der Ethik v.a.: Lewis White Becks Kommentar zur Kritik der praktischen Vernunft und dessen »Five Concepts of Freedom«; Gerold Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie; H. E. Matthews, »Strawson on Transcendental Idealism«; Henry E. Allison, Kant’s Theory of Freedom; einen aktuellen Überblick gibt Henry Allison in »Transcendental idealism: A retrospective«; skeptischer sind Andreas Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie, S.153 ff.; und Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts II.II: »Die metaphysische Dimension der Erkenntnis: Transzendentaler Gegenstand, Ding an sich und Noumenon«, S.245–270. Allison geht in seinem Buch Kant’s Transcendental Idealism darin über seine Vorgägner hinaus, daß er stärker die epistemischen Bedingungen betont, unter denen uns Gegenstände als Vorstellungen gegeben sind: »[…] I introduced the conception of an epistemic condition as a heuristic device. By this I meant a necessary condition for the representation of objects, that is, a conditions without which our representations would not relate to objects or, equivalently, possess ‘objective reality’.« (»Transcendental idealism: A retrospective«, S.4). Er unterscheidet die epistemischen Bedingungen von bloß psychologischen und ontologischen Bedingungen.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
The noumenal and the phenomenal are not ontologically disctinct (like an object and a picture of it) but are aspects determined by methodological procedures chosen with regard to the divergent purposes of two kinds of enquiry. (»Five Concepts of Freedom«, S.44)
Doch es läßt sich zeigen, daß eine Doppelaspektlesart des transzendentalen Idealismus, die in ihm allein eine erkenntnistheoretische und methodologische Unterscheidung sieht, Kants Intentionen nicht gerecht werden kann. Beschränken wir uns auf den Bereich der praktischen Philosophie, so ist klar, daß solch eine Theorie der Willensfreiheit zum Scheitern verurteilt wäre. Einerseits gibt es nicht wenige Stellen, an denen Kant trotz der Betrachtungsmetaphorik eine ontologische Unterscheidung von Ding an sich selbst und Erscheinung voraussetzen muß,1 so zum Beispiel bei der Auflösung der Rekonziliationsfrage in der Kritik der praktischen Vernunft: Um nun den scheinbaren Widerspruch zwischen Naturmechanismus und Freiheit in ein und derselben Handlung an dem vorgelegten Falle aufzuheben, muß man sich an das erinnern, was in der Kritik der reinen Vernunft gesagt war oder daraus folgt: daß die Naturnotwendigkeit, welche mit der Freiheit des Subjekts nicht zusammen bestehen kann, bloß den Bestimmungen desjenigen Dings anhängt, das unter Zeitbestimmungen steht, folglich nur denen des handelnden Subjekts als Erscheinung, daß also so fern die Bestimmungsgründe einer jeden Handlung desselben in demjenigen liegen, was zur vergangenen Zeit gehört und n i c h t m e h r i n s e i n e r G e w a l t i s t […]. Aber ebendasselbe Subjekt, das sich anderseits auch seiner als Dinges an sich selbst bewußt ist, betrachtet auch sein Dasein, s o f e r n e s n i c h t u n t e r Z e i t b e s t i m m u n g e n s t e h t, sich selbst aber nur als bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch Vernunft selbst gibt […]. (A174 f.)
Es ist schwer zu glauben, daß auch hier keine ontologische Unterscheidung beabsichtigt sein soll. Den entscheidenden moralischen Einwand jedoch formuliert Terence Irwin wie folgt: Now if an event is determined, it is true of it under all true descriptions that it is determined, even though only some true descriptions, those referring to the relevant laws, show why it is determined. Hence if an event is phenomenally determined under its phenomenal description, it is also phenomenally determined under its noumenal description.2
1
2
Selbst wenn übrigens »Ding an sich« oder »Ding an sich selbst«, wie Gerold Prauss annimmt, eine Verkürzung von »Ding — an sich selbst betrachtet« darstellt (vgl. Kant und das Problem der Dinge an sich, S.20 f.), so läßt dies kaum Schlüsse auf eine nicht-ontologische Interpretation der genannten Unterscheidung zu. »Morality and Personality«, S.38. Irwin hätte wohl genauer »pre-determined« schreiben sollen, denn gegen Determination von Handlungen hat Kant nichts einzuwenden; jede Handlung ist sogar noumenal und phänomenal durch ein Gesetz bestimmt. Das jeweilige Gesetz ist allerdings nicht prä-determiniert. In der Religion unterscheidet Kant zwischen Determinismus und Prädeterminismus: VI:49 f. Anm., VI:50 Anm.; vgl. oben, §7.4.
§ 12. Auflösung II: Kritik der reinen Vernunft
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Wenn ein Ereignis, etwa eine schlechte Handlung, vorausbestimmt ist, so ist gar nicht einzusehen, wie sie nach einer anderen Beschreibung frei sein soll; oder wie die Beschreibung als freie Handlung unser moralisches Urteil ändern sollte. Wenn sie vorausbestimmt ist, verblaßt der Eindruck der Freiheit zur Illusion; und selbst wenn Freiheit und Prädetermination nebeneinander bestehen könnten, bleibt doch die Frage offen, warum wir den einen Aspekt für grundlegender halten sollten als den anderen. Wenn eine Handlung trotz des Determinismus der Phänomene für frei halten sollen, warum nicht auch eine freie Handlung auf Grund des Determinismus der Phänomene für vorausbestimmt? Lewis White Beck, einer der ersten Interpreten, die von der traditionellen Lesart des transzendentalen Idealismus in der praktischen Philosophie zugunsten einer Zwei-Aspekte-Lehre abgehen, hat — anders als oft seine Nachfolger — dieses Problem gesehen. Er glaubt daraus die Konsequenz ziehen zu müssen, in Anlehnung an die Antinomie der Kritik der Urteilskraft (§70) sowohl Freiheit als auch Naturkausalität als rein methodologische Maximen zu interpretieren.1 Indem er so das Kausalprinzip schwächt, bietet sich ihm die Möglichkeit, zu sagen, bei menschlichen Handlungen liege stets nur die eine oder die andere Art der Determination, Freiheit oder Natur, vor. Kant läßt freilich keinen Zweifel daran, daß das Kausalprinzip ein konstitutives Prinzip des Verstandes ist.2 Er läßt auch keinen Zweifel daran, daß er immer von einem Sowohl/als-auch von Freiheit und Naturkausalität ausgeht, wie auch die soeben zitierte Passage aus der »Kritischen Beleuchtung der Analytik« der Kritik der praktischen Vernunft verdeutlicht. Als Interpretation muß Becks Theorie scheitern (wenn sie denn als Kant-Interpretation gedacht war). Immerhin hat Beck die richtige Konsequenz aus der Doppelaspektlehre gezogen und sich nicht zu der These verpflichtet, ein und dasselbe zukünftige Ereignis sei gleichermaßen sowohl vorausbestimmt als auch nicht vorausbestimmt. Die Schwierigkeit des Sowohl/als-auch wird gehoben, wenn man auch freie Handlungen nach Gesetzen (der Natur oder der Vernunft) vonstatten gehen läßt und dies als Grund für die Naturgesetzmäßigkeit der Erschei1
2
Vgl. Becks Kommentar zur Kritik der praktischen Vernunft, v.a. S.182 f.; auch Becks Aussage, Kant zeige in seiner Freiheitslehre »zu wenig«, trifft somit nicht zu (»Five Concepts of Freedom«, S.42) — oder zumindest nicht so, wie er sie verstanden wissen wollte. Systematisch erörtert Beck seine Position der Standpunkte des Akteurs und des Betrachters in seinem Buch von 1975, The Actor and the Spectator. Wir haben keinen Grund zur Annahme, daß Kant selbst zur Zeit der Kritik der Urteilskraft, auf die Beck sich bezieht, die Meinung vertreten hat, ein Ausgleich zwischen Teleologie und Naturmechanismus erfordere die Abschwächung des Kausalgesetzes der Natur zu einem bloß regulativen Prinzip.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
nung annimmt, wie es Kant in der Tat getan hat.1 Ähnlich wie der Vertreter der Antithesis scheint Lewis White Beck (und mit ihm Henry Allison) zu meinen, Freiheit sei gesetzlos, weil sie die Unabhängigkeit von Gesetzen der Natur bedeutet. Daß Gesetze der Freiheit in den Weltlauf eintreten und damit etwas anderes sind als bloße Gesetze der Natur, dies nehmen weder der Verfechter der Antithesis noch Lewis White Beck noch Henry Allison recht ernst.2 Dennoch bleiben Becks methodologische Maximen korrekt, obgleich das Kausalprinzip der Natur zudem nach wie vor ein konstitutives Prinzip ist, ein Verstandesbegriff; transzendentale Freiheit dagegen eine regulative Idee der Vernunft. De facto ist ihre Vereinbarkeit gerade eine Folge dessen, daß Verstandesbegriff und Vernunftidee auf verschiedenen theoretischen Ebenen angesiedelt sind und sich deshalb nicht widersprechen. Über die methodischen Konsequenzen dieser Unterscheidung äußert sich Kant sehr deutlich in einer Vorarbeit zum Gemeinspruch: Wenn wir gesetzmäßige oder gesetzwidrige Handlungen als Begebenheiten in der Welt erklären d.i. ihre Ursache und die Art wie die Wirkung aus ihr erfolgt uns begreiflich machen wollen und zwar i n t h e o r e t i s c h e r A b s i c h t so können wir nichts als Naturursachen des Guten oder Bösen auffinden welches aber alsdann nicht moralisch ist. — Wollen wir sie nach ihrer Moralität erklären (die wir an ihnen denken) so können wir sie nicht aus der Beschaffenheit der Handlungen in Beziehung aufs Gesetz sondern nur aus den Gesinnungen und Maximen erklären die den Handlungen von uns selbst zum Grunde gelegt werden und diese Gesinnungen können wir nicht unmittelbar erkennen sondern nur aus den Handlungen aber nur in practischer Rücksicht schließen wobey was wir zum practischen Behuf annehmen müssen zum Grunde der Beurtheilung der Handlung gelegt wird d.i. wir können die Handlungen aber nicht das Geschehen der Handlungen was sie werth sind aber nicht woher sie entspringen anführen denn jenes gehört zu den noumena dieses zu den phaenomena. (XXIII:142) 1 2
Dies gilt zumindest für die Determination einer Handlung, wenn auch nicht für ihre Prä-Determination. Vgl. §13. Allisons Kritik an Beck (Kant’s Theory of Freedom, S.71 f.) ist halbherzig: Nicht allein das Kausalgesetz der zweiten Analogie ist dafür verantwortlich, daß wir freie Handlungen aus dem Kausalnexus der Natur nicht ausnehmen dürfen. Dies ist v.a. auch deshalb nicht nötig, weil (negative) freie Handlungen doch immer durch Gesetze bestimmt sind. Daß Handeln aus Gründen (reasons) für Kant mit der Kausalität der Vernunft (causality of reason) zusammenfällt, gilt nur für gute Gründe (und findet, selbst wenn es richtig ist, im Text wenig Unterstützung). Der Gleichklang von Vernunft und Grund in der englischen Sprache legt die trügerische Gleichsetzung nahe. Diese Gefahr besteht z. B. bei Christine Korsgaard, »Skepticism about Practical Reason«. Für Kant ist praktische Vernunft weit mehr als ein bloßes Vermögen, nach Gründen zu handeln. Er spricht nicht über Handlungsgründe, sondern über Imperative, Gesetze, Maximen, Widersprüche etc. — Im übrigen neigen Vertreter der Doppelaspekttheorie dazu, die intelligible Kausalität als Ereigniskausalität mißzuverstehen. Doch das scheint keine notwendige Folge einer de-ontologisierten Doppelaspektlehre, sondern eher die Folge des Mißverständnisses der beiden Arten der Kausalität und der Schwierigkeiten, die sich daraus für die Interpretation der Kantischen Freiheitslehre ergeben.
§ 12. Auflösung II: Kritik der reinen Vernunft
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Doch die methodischen Konsequenzen sind Folge einer ontologischen Unterscheidung, in deren Rahmen das Ding an sich selbst samt seiner Gesinnung (dem Charakter) Priorität vor seinen Erscheinungen erhält und deshalb die Erscheinungen bestimmt, ohne eindeutige Spuren zu hinterlassen, oder von ihnen bestimmt zu werden. Ohnehin ist schwer zu verstehen, wie die von Kant geforderte »Einbahnstraße« der intellektuellen Kausalität unter Voraussetzung einer reinen Doppelaspektlehre möglich sein soll. Wenn Erscheinung und Ding an sich selbst tatsächlich nicht mehr als zwei gleichwertige Beschreibungen ein und derselben Sache sind, die sich aus dem jeweiligen Erkenntnisinteresse ergeben: wie soll dann ein Vermögen, das die Kräfte der Natur »innerlich dirigirt«1 überhaupt noch möglich sein? Die Kausalität der Vernunft als Handeln aus Gründen zu erläutern, wie Allison es tut, wird dem nicht gerecht. Deshalb muß es ontologische Implikationen haben, wenn Kant von der »Betrachtung« eines und desselben Gegenstandes oder einer und derselben Handlung auf doppelte Weise spricht. Es muß hinter den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen »noch immer etwas Unsichtbares, für sich selbst Tätiges« geben, wie es der »gemeinste Verstand« erwartet (Grundlegung, IV:452). Diesem Unsichtbaren, das wir nur aus praktischer Perspektive erschließen können, folgen die Erscheinungen. Im Sinne der oben beschriebenen »copernicanischen Wende« in der Ethik (§12.1) richtet sich die Natur nach dem Willen des Menschen. All dies muß uns noch nicht dem »klassischen« Phänomenalismus in die Arme treiben.2 1 2
R3858, s.o., §11.2. Was gegen die Zwei-Aspekt-Interpretationen von Beck, Prauss und Allison angeführt werden kann, spricht a fortiori auch gegen die Lesart Ralf Meerbotes, der in Kant einen anomalen Monisten à la Davidson sieht. (Vgl. Ralf Meerbote, »Kant on Freedom and the Rational and Morally Good Will« und »Kant on the Nondeterminate Character of Human Actions«. Dazu die Kritik Henry Allisons, Kant’s Theory of Freedom, S.76–82. In der Tradition Meerbotes steht auch Hud Hudson, Kant’s Compatibilism.) Doch Davidson und die Davidsonianer gehen in zwei weiteren Punkten exegetisch fehl: (i) Davidson schreibt zu Beginn seines Aufsatzes: »Kant believed freedom entails anomaly« (S.207), wobei »anomaly« am besten mit »Irregularität« übersetzt wird. In Kapitel I wurde gezeigt, daß Freiheit für Kant ganz im Gegenteil eine besondere Art von Gesetzmäßigkeit ist. Selbst die »Wahlfreiheit«, die einem unvollkommenen Willen wie dem menschlichen notgedrungen bleibt, ist eine Wahl zwischen Gesetzen. Mit der Irregularität ist es bei Kant also nicht weit her. (ii) Ein verwandter Punkt: Für Davidson, Meerbote etc. sind die Freiheit des Mentalen und die Gesetzmäßigkeit des Physikalischen die beiden Dinge, die als miteinander vereinbar erwiesen werden müssen. Schon diese Grenzziehung verläuft quer zu der Kants, der keinen Zweifel daran läßt, daß auch das Mentale, so wie es uns im inneren Sinn erscheint, dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterliegt: Auch der Fluß unserer Gedanken gehört zu unserem empirischen Charakter. Der eigentlich freie »intelligibele Charakter« wird bei den davidsonianischen Interpreten völlig ausgeklammert. Ihre Lösung der Kompatibilitätsfrage gehört deshalb im Grunde gar nicht in die Transzendentalphilosophie. — Selbstverständlich sagt die unzutreffende Kant-Interpretation Davidsons und seiner Nachfolger nichts über die Meriten seines eigentlichen systematischen Ansatzes.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Der Phänomenalismus legt nahe, daß wir nur Vorstellungen sehen, nicht aber die Dinge selbst, was doch sehr gegen ihn spricht. Es ist demgegenüber ein wichtiger Vorzug der double aspect theory, daß sie erklärt, wie man tatsächlich ein und dasselbe Ding auf zweifache Weise betrachtet. Ist eine Synthese möglich, welche die Vorteile beider Lesarten, d.h. die Wahrung der substantiellen Einheit von Gegenstand und Erscheinung einerseits, die ontologische Abwertung der Phänomene andererseits, auf sich vereint und gleichzeitig ihren diversen Nachteilen aus dem Wege geht? Die Möglichkeit einer solchen Theorie kann hier nur angedeutet werden. Sie muß der Tatsache Rechnung tragen, daß einerseits die Erscheinung ein Aspekt des Gegenstandes ist, den wir wahrnehmen, nicht bloß eine Vorstellung, daß es andererseits darüber hinaus noch etwas Fundamentaleres an diesem Gegenstand gibt, das seine Erscheinung bestimmt und das unserer Erkenntnis verschlossen ist. Ein Gegenstand der Erfahrung ist quasi eine »black box«, die wir nicht öffnen können. Es ist richtig, daß wir in jedem Fall die Box sehen, auch daß es ein und dieselbe Box ist, die wir empirisch wahrnehmen und auf deren Inneres wir im Feld der Praxis schließen. Doch dieser numerischen Identität zum Trotz ist unser empirisches Bild von ihr unvollständig; wir können deshalb mit Grund sagen, daß wie die Box, wie sie an sich selbst ist, nicht kennen.1 Kant resümiert seinen Versuch des Ausgleichs zwischen Naturdeterminismus und Moral in der B-Vorrede folgendermaßen: 1
Reflexion 5612 zufolge sind die Handlungen in der Welt »bloße Schemata von der intelligiblen; indessen hängen diese Erscheinungen (dieses Wort bedeutet schon Schema) doch nach empirischen Gesetzen zusammen, wenn man die Vernunft selbst nach ihren Äußerungen als ein phaenomenon (des Charakters) ansieht.« — Henry Allison schreibt: »Although Kant certainly holds that from the practical point of view we are entitled to predicate transcendental freedom or absolute spontaneity of the will and that this is possible only because transcendental idealism allows us to consider the will (or self) from two points of view, he never takes this to mean that we really are free and only appear to be causally determined. That would amount to as great a perversion of Kant’s view as the contrary claimthat we really are causally determined and only believe that (or act as if) we are free. On the contrary, Kant is committed to the thesis that we are both causally conditioned and free (in an indeterminist sense), albeit qua considered from different points of view.« (Allison, »Transcendental idealism: A retrospective«, S.19). Kant scheint mir — pace Allison — doch der erstgenannten Auffassung gewesen zu sein, zumindest dann, wenn man mit »determiniert« wie üblich »empirisch determiniert« oder »prädeterminiert« meint. Unsere Handlungen scheinen tatsächlich nur prädeterminiert zu sein, während unsere moralischen Intuitionen uns fest glauben lassen, daß sie es de facto nicht sind. Allisons eigenes Sowohl/ als-auch von Determination und Freiheit einer einzigen Sache hat sich oben als unhaltbar erwiesen. Selbst die zweite Option, die des Vaihingerschen »Als ob«, ist noch kantischer als die von Henry Allison. Vaihinger schreibt mit Bezug auf IV:447 f. der Grundlegung: »[G]anz klar und unzweideutig erklärt Kant hier die Freiheit für eine blosse Idee ohne Realität.« (Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, S.648). M. E. verkennt Vaihinger hier die argumentative Stellung der von ihm herangezogenen Passage im Kontext des Projektes von Grundlegung III. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, daß nicht wenige der Äußerungen Kants eine Interpretation der Freiheit als einer reinen Fiktion nahelegen; und mit theoretischer Strenge läßt sich allemal nicht schlüssig beweisen, daß diese Lesart falsch ist. Ob wir sie akzeptieren, hängt von unserer Deutung der Kantischen Ethik ab.
§ 13. Freiheit und Naturdeterminismus
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So aber, da ich zur Moral nichts weiter brauche, als daß Freiheit sich nur nicht selbst widerspreche, und sich also doch wenigstens denken lasse, ohne nötig zu haben, sie weiter einzusehen, daß sie also dem Naturmechanism eben derselben Handlung (in anderer Beziehung genommen1) gar kein Hindernis in den Weg lege: so behauptet die Lehre der Sittlichkeit ihren Platz, und die Naturlehre auch den ihrigen, welches aber nicht Statt gefunden hätte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwisseheit in Ansehung der Dinge an sich selbst belehrt, und alles, was wir theoretisch e r k e n n e n können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte. (BXXIX)
Doch selbst Kant wohlgesonnene Leser werden noch immer ihre Zweifel haben, ob dieser Lösungsvorschlag akzeptabel ist.
§13. Freiheit und Naturdeterminismus 13.1 In den vorigen beiden Paragraphen sind wir der Lösung der Schwierigkeit eines Ausgleichs zwischen Naturdeterminismus und menschlicher Freiheit näher gekommen, doch gelöst wurde sie nicht. Zwar ergab sich, daß sowohl bei vernünftiger Determination der Willkür als auch bei deren sinnlicher Bestimmung in den Erscheinungen alles nach Naturgesetzen abläuft, doch reichte dies nicht aus, um dem Problem des Ausgleichs angemessen zu begegnen. Denn wenn dabei der empirische Charakter, in dem bloße Naturgesetze und — empirisch unbeobachtbar — Vernunftgesetze als Naturgesetze erscheinen, durch einen starren intelligiblen Charakter festgelegt wäre, so wäre zwar die Einheit der Erscheinungen nach Naturgesetzen gerettet; doch an der Realität der Freiheit des menschlichen Willens müßten wir wieder zweifeln. Denn wenn ich bei vollständiger Kenntnis der materiellen Welt und all ihrer Gesetze heute prinzipiell voraussagen kann, daß eine Bekannte übermorgen lügen wird, so scheint der moralische Imperativ in seinem kategorischen Anspruch gefährdet. Einige Interpreten haben versucht, dieser Schlußfolgerung durch eine vor der Geburt stattfindende Charakterwahl aus dem Wege zu gehen.2 Bei Kant finden sich Spekulationen, die so gedeutet werden könnten, jedoch erst in der späten Religionsschrift, und sie sind allemal schwer mit unserem vorphilosophischen Selbstverständnis als moralische Akteure in Einklang zu bringen, auf das Kant doch sonst so viel Wert 1 2
Sc. erst in Beziehung auf den empirischen Charakter, zweitens in Beziehung auf ihren intelligiblen Charakter. Eine solche Deutung hat zuerst Arthur Schopenhauer vorgelegt. Ihr zufolge ist der intelligible Charakter des Menschen von ihm selbst vor seiner Geburt gewählt worden wie die Menschen im Platonischen Mythos des Er im zehnten Buch der Republik ihr künftiges Leben wählen. Vgl. §10 seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral. — Gefährlich nahe an Schopenhauers Ansatz ist bisweilen Allen Wood, »Kant’s Compatibilism«.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
legt.1 Es bleibt also die Frage zu klären, wie die von der Moral geforderte »Offenheit« zukünftiger Handlungen des Menschen angesichts der Geltung des Kausalgesetzes im Bereich der Erscheinungen möglich sind.2 Es tut sich eine grundsätzliche Differenz in unserem Umgang mit den Erscheinungen menschlicher Handlungen auf, je nachdem ob unser Blick nach vorn oder rückwärts gewandt ist. Der Grund dafür ist, daß wir menschliche Handlungen nach Naturgesetzen erklären können, wie es Kants reflektierte Meinung ist (vgl. §12.4), bedeutet noch nicht, daß wir sie auch mit Sicherheit voraussagen können; und das ist genau die Wirkung unseres freien Willens als eines Vermögens, Handlungsprinzipien auszuwählen und damit natürliche Prozesse zu bewirken, deren Gesetze sich nicht im voraus berechnen lassen. Zu diesem Schluß berechtigt zum Beispiel die folgende Reflexion aus der Heimsoeth-Reihe: Die Vermischte Menschliche Willkühr (libertas hybrida) handelt auch nach Gesetzen, aber deren Gründe nicht in der Erscheinung ganzlich vorkommen;3 daher bey denselben Erscheinungen derselbe Mensch anders handeln kan. Hiebey muß man zuerst einen Charakter abwarten, und denn hat man ein Gesetz, die
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Die Religion spricht von einer (fast »berüchtigt« zu nennenden) zeitlosen »intelligiblen Tat«, die für die oberste Maxime verantwortlich ist (VI:31). Daß sie »vor aller Erfahrung vorhergeht« (VI:39 Anm.) muß nicht notwendig zeitlich gedeutet werden. Tut man dies doch, so scheint die vernünftigste Auffassung die zu sein, daß damit nur der Ausgangszustand unserer moralischen Verfassung zu Beginn des Erwachsenenalters bestimmt ist, nicht auch unsere weitere moralische Entwicklung. Dafür spricht, daß Kant auch in der Religion davon ausgeht, daß man den eigenen Charakter nachträglich ändern kann. Er sagt, »das Böse, das schon Platz genommen hat (es aber, ohne daß wir es in unsere Maxime aufgenommen hätten, nicht würde haben tun können)« müsse »aus seinem Besitz« vertrieben werden (VI:58 Anm.). Mit drastischen Worten fordert er eine »Revolution in der Gesinnung im Menschen«; alle Reformen seien nutzlos, wenn jemand »nicht bloß ein gesetzlich, sondern moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d.i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon)« — werden soll. (Das spricht vielleicht gegen Willascheks These, eine Revolution äußere sich in durchweg legalen Handlungen; vgl. Praktische Vernunft, S. 162.) Noch eindringlicher beschwört Kant die notwendige »Explosion« in der Anthropologie, VII:294: »Der Mensch, der sich eines Charakters in seiner Denkungsart bewußt ist, hat ihn nicht von der Natur, sondern muß ihn jederzeit erworben}plain haben. Man kann auch annehmen: daß die Gründung desselben gleich einer Art der Wiedergeburt, eine gewisse Feierlichkeit der Angelobung, die er sich selbst tut, sie und den Zeitpunkt, da diese Umwandlung in ihm vorging, gleich einer neuen Epoche ihm unvergeßlich mache. […] Vielleicht werden nur Wenige sein, die diese Revolution vor dem 30sten Jahre versucht, und noch wenigere, die sie vor dem 40sten fest gegründet haben.« — Solche Äußerungen sind mit einer vorgeburtlichen Charakterwahl, wie sie Schopenhauer vorsieht, kaum vereinbar. Bezeichnenderweise hat Kant den entgegengesetzten Fall, daß jemand sich desillusioniert von seinen moralischen Idealen verabschiedet, offenbar nicht vorgesehen. Wieder ist zu bedenken, daß es — wie Kants Beispiele zeigen — hauptsächlich die im emprischen Charakter vorherbestimmten schlechten Handlungen sind, welche die Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Natur aufwerfen; denn sie hätten anders ausfallen sollen. Wären wir mit unserem empirischen Charakter stets zufrieden, so könnten wir annehmen, er werde immer durch Vernunft bestimmt, und dadurch ergebe sich die Regelmäßigkeit der Erscheinungen. Abweichende Weltverläufe wären nicht mehr wünschenswert, das Problem verschwände. Sc. aber deren Gründe kommen nicht gänzlich in der Erscheinung vor.
§ 13. Freiheit und Naturdeterminismus
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Erscheinungen z u e r k l ä r e n , a b e r n i e m a l s s i e z u b e s t i m m e n. (R5618)1
Die These von der »vermischten menschlichen Willkür«, die uns aus der Diskussion des §53 der Prolegomena hinlänglich bekannt ist, wird hier direkt auf das Problem der Voraussage menschlicher Handlungen angewandt. Die Handlungen, »deren Gründe nicht in der Erscheinung ganzlich vorkommen«, sind vernünftige Handlungen, die immer möglich sein müssen. Ob der Mensch sich am Scheideweg für die Vernunft oder für die Sinnlichkeit entscheiden wird, d.h. was für einen Charakter er an den Tag legen wird, muß abgewartet werden. Im nachhinein kann man die Wahl nach Naturgesetzen erklären. Die Asymmetrie von Voraussage und Erklärung ist abermals keine empirische oder auch nur empirisch überprüfbare These, sondern sie ruht auf Kants Auffassung vom Sollen, wie ein weiterer Ausschnitt aus den Heimsoeth-Reflexionen verdeutlicht: Wir erklären begangene freye Handlungen nach Gesetzen der Natur des Menschen, aber wir erkennen sie nicht dadurch als bestimt; sonst würden wir sie nicht als zufällig ansehen und verlangen, daß sie hätten anders geschehen sollen und müssen. (R5612)
Jede Handlung ist nach ihren jeweiligen Naturgesetzen aus vorausgehenden Ursachen und dem empirischen Charakter eines Menschen erklärbar. Es folgt wiederum, daß unsere Selbstauffassung als praktischer Vernunft fähiger Lebewesen uns dazu nötigt, anzunehmen, ein anderes Naturgesetz hätte an die Stelle desjenigen treten können, nach dem sich de facto die Handlung vollzogen hat. Können wir in unserer Erklärung dieser eigentümlichen Ansicht noch weiter fortschreiten? Das Ende verständlicher Rekonstruktion scheint erreicht. Es sollen deshalb lediglich noch zwei Spekulationen vorgestellt werden, eine Kantische und eine in neuerer Zeit vorgebrachte, die Kant vielleicht auch für richtig gehalten hätte.
1
Es bestätigt den oben (§10.6) diagnostizierten Primat der Thesis, wenn Kant des weiteren schreibt: »Alles, was geschieht, ist zureichend bestimt, aber nicht aus Erscheinungen, sondern nach Gesetzen der Erscheinung.« (R5616). — In Reflexion 5619 heißt es ausführlicher: »Es [das Gesetz] kan aber nicht vorherbestimt werden, weil die Vernunft ein principium ist, welches nicht erscheint, also nicht unter den Erscheinungen gegeben ist. Daher können die Ursachen und deren Beziehung auf Handlung nach Gesetzen der Sinnlichkeit a posteriori wohl erkannt werden, die Bestimmung derselben zum actu aber nicht. Dieser Zusammenhang der Handlungen nach Gesetzen der Erscheinung ohne Bestimtheit durch dieselbe ist eine Nothwendige Voraussetzung praktischer Regeln der Vernunft, welche an sich selbst die Ursache einer Regelmäßigkeit der Erscheinungen sind, weil sie nur vermittelst der Sinnlichkeit zu Handlungen übergehen. In den Erscheinungen ist kein hiatus vor dem Verstand, aber diese lassen sich a priori, d.i. vom absolut ersten an, auch nicht bestimmen.«
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
(i) In Reflexion 5616 soll »von dem intellectuellen bis zur bestimmten Handlung […] eine unendliche Zwischenreihe von Triebfedern« die Aufgabe übernehmen, genügend viel Raum zu schaffen, um die Naturgesetze in die richtige Bahn zu lenken.1 Kant gibt das folgende »Exempel«: Es reitzt mich iemand zum Trunk, dieser Reitz verleitet mich und kan also nach Gesetzen der Sinne erklärt werden. Die Verleitung würde auch nothwendig seyn, wen ich blos thierisch wäre. Indessen ist es moglich, daß die intellectuelle Willkühr sich einmische, die von dem Gesetze der Abhängigkeit von Sinnen ausgenommen ist; diese bestimmt nun einen anderen Lauf der Sinnlichkeit. Dieser kan auch mit dem ersten Gegebenen Zustande nach Naturgesetzen verknüpft werden, aber nur durch eine unendliche Zwischenreihe von Erscheinungen. Also geschieht so wohl das Laster als die Tugend nach Naturgesetzen und muß darnach erklärt werden. (ebd.)
Es geht Kant also darum, zwei Prozesse, die vollständig nach Naturgesetzen erklärt werden können, zu verbinden: den sinnlichen Reiz und das Trinken. Allerdings sind wir der Ansicht, daß der Reiz zum Trinken führt, doch die Verbindung der beiden Ereignisse darf nicht mit Notwendigkeit erfolgen, obwohl sie — auf der Ebene der Erscheinungen — natürlich auch Naturgesetzen unterliegen muß. Die Vernunft hätte eingreifen können. Doch wie ist denkbar, daß sich die Vernunft in naturgesetzliche Abläufe einmischt, noch dazu auf eine Art und Weise, welche die Gesetze der Natur nicht verletzt? Die zitierte Passage legt nahe, daß der Gedanke einer unendlichen Zwischenreihe von Erscheinungen Abhilfe schaffen könnte. Sie sind allesamt nach Naturgesetzen miteinander verknüpft, und damit verbinden sie auch den Reiz und die Handlung des Menschen, etwa das Trinken, doch die Unendlichkeit scheint eine gewisse Lockerheit der Verbindung zu garantieren. Wenn die Vernunft sich eingemischt hätte, so gäbe es auch eine unendliche Reihe von Ereignissen, die Reiz und Handlung verbände, und alles wäre nach Gesetzen der Natur geschehen, doch die Wirkung wäre eine andere. Würde die Handlung direkt auf den Reiz nach mechanischen Gesetzen folgen, so könnte die Vernunft sich nicht einmischen, das ist wahr. Doch es ist leider nicht recht verständlich, wie der Gedanke einer unendlichen Zwischenreihe von Triebfedern oder Erscheinungen uns aus der Schwierigkeit der Kompatibilität von Freiheit und Natur helfen soll. Die Einführung von Zwischenschritten, und seien es auch unendlich viele, machen die letztliche Wirkung nicht weniger notwendig.
1
Der Gedanke einer unendlichen Anzahl von Ereignissen in einer endlichen Zeit findet sich (wohl unabhängig von der Kant-Reflexion) als Lösungsvorschlag zum Determinismusproblem auch bei Jan Lukasiewicz. Vgl. Günther Patzig, »Aristoteles, Lukasiewicz und die Ursprünge der mehrwertigen Logik«, S.226.
§ 13. Freiheit und Naturdeterminismus
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(ii) Ein wenig attraktiver als dieses Modell ist eine Überlegung Anthony Kennys: Kenny diagnostiziert eine weitverbreitete »confusion between the notion of a set of laws being exceptionless and its being complete«. Die beiden Fälle seien keinesfalls gleichzusetzen: »[L]aws may be exceptionless (apply to all items of a certain kind) without being complete in the sense of determining each item of that kind: as the laws of chess are exceptionless (they apply to every move in the game) without determining every move in the game […].«1 Eine solche begrenzte Wahl zwischen gesetzmäßigen Aktionen erinnert an die Kantischen Handlungs- und Freiheitstheorie, so wie sie hier interpretiert wurde. Doch die Frage bleibt, ob Kennys Vorschlag mit der strengen Notwendigkeit und Allgemeinheit des Kausalgesetzes verträglich ist, die Kant zufolge zwischen Ursache und Wirkung herrscht. Die Regeln eines Spieles legen nur fest, was erlaubt ist, und scheinen zumindest prima facie etwas grundsätzlich anderes zu sein als die Gesetze, welche die Natur beherrschen. Letzten Endes bleibt das Problem des Ausgleichs zwischen Freiheit und Natur bei Kant also ungelöst, weil Kant abweichende Weltverläufe, von deren moralischer Notwendigkeit wir überzeugt sind, im Rahmen seines Determinismus nicht zulassen kann. Doch es ist schon ein Fortschritt, genau zu sehen, an welchem Punkt die Lösung ins Stecken gerät. 13.2 Einige notorisch deterministische Stellen aus Kants Werken können nun allerdings »entschärft« werden. So lesen wir in der Auflösung der Antinomie in der Kritik: Weil dieser empirische Charakter selbst aus den Erscheinungen als Wirkung und aus der Regel derselben, welche Erfahrung an die Hand gibt, gezogen werden muß: so sind alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten. In Ansehung dieses empirischen Charakters gibt es also keine Freiheit. (Kritik der reinen Vernunft, A549 f./ B577 f.)
Daß Kant behauptet, es gebe im empirischen Charakter keine Freiheit, ist nicht weiter erstaunlich. Beunruhigend ist allerdings, daß alle menschlichen Handlungen vorausgesagt und sogar aus den vorhergehenden empirischen Bedingungen als notwendig erkannt werden können sollen. Diese Möglichkeit ist jedoch an eine Bedingung geknüpft: wir müssen alle Erscheinungen der Willkür des Menschen »bis auf den Grund« erforschen können — und 1
»Freedom, spontaneity and indifference«, S.103.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
das ist prinzipiell unmöglich, denn der Grund der Erscheinungen ist nicht selbst Erscheinung, sondern der von Kant postulierte intelligible Charakter, der qua intelligibel unserer Erkenntnis nicht zugänglich ist. Darum heißt es auch, nach empirischem Charakter und mitwirkenden Ursachen seien die Handlungen naturgemäß bestimmt. Der empirische Charakter (d.h. die Kausalgesetze der Handlungen) geht seinerseits auf den intelligiblen Charakter zurück, der die causa principalis darstellt, und so werden die vorangehenden empirischen Ursachen der Sinnlichkeit zu bloßen mitwirkenden Ursachen. Auf ähnliche Weise per impossibile argumentiert Kant in der Kritik der praktischen Vernunft dafür, daß man »eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte, und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei«, dies unter der Kautel, daß es für uns möglich wäre »in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen« (A177). Wieder gilt, daß uns die Einsicht in unsere eigene (praktische) Denkungsart (d.h. unsere Maximen, unsere Gesinnung, unseren Charakter) oder die eines anderen Menschen aus prinzipiellen Gründen verwehrt ist. Wenn wir allerdings wüßten, wie sie sich auf seinen »Triebfedernhaushalt« auswirkt und welche äußeren Einflüsse auf ihn einwirken, so könnten wir auch seine Handlung voraussagen.1 Kant geht es in diesen und ähnlichen Passagen vor allem darum, zu betonen, daß menschliche Handlungen die Einheit der Erfahrungen nicht verletzen und trotz ihrer Freiheit und gewissen Unbestimmtheit nicht dem »blinden Ungefähr« anheimgegeben werden. Wenn Kant nun sagt, jede willkürliche Handlung eines Menschen sei »im empirischen Charakter vorher bestimmt, ehe noch als sie geschieht« (Kritik der reinen Vernunft, A553/B581), so wird er meinen, daß sie einen Moment lang vorherbestimmt war; denn die muß natürlich aus natürlichen Triebfedern heraus erfolgen, was vermutlich einige Zeit in Anspruch nimmt. Kant sagt nicht, die Handlungen der Menschen seien seit langem oder gar seit aller Ewigkeit vorausbestimmt. Zwar geschehen auch menschliche Handlungen 1
Der Fortlauf der Passage bestätigt diese Deutung: »Wenn wir nämlich noch eines andern Blicks, (der uns aber freilich gar nicht verliehen ist, sondern an dessen Statt wir nur den Vernunftbegriff haben,) nämlich einer intellektuellen Anschauung desselben Subjekts fähig wären, so würden wir doch inne werden, daß diese ganze Kette von Erscheinungen in Ansehung dessen, was nur immer das moralische Gesetz angehen kann, von der Spontaneität des Subjekts, als Dinges an sich selbst, abhängt, von deren Bestimmung sich gar keine physische Erklärung geben läßt.« (A177). Abermals wird vorausgesetzt, daß Freiheit ihre eigenen Gesetze hat.
§ 13. Freiheit und Naturdeterminismus
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nach Naturgesetzen, doch wir müssen, wie oben gesehen, das Gesetz »abwarten« und können es weit im voraus nicht bestimmen: Denn das wäre der Standpunkt der Vo r s e h u n g der über alle menschliche Weisheit hinausliegt, welche sich auch auf f r e i e Handlungen des Menschen erstreckt, die von diesem zwar g e s e h e n, aber mit Gewißheit nicht v o r h e r g e s e h e n werden können (für das göttliche Auge ist hier kein Unterschied), weil er zu dem letzteren den Zusammenhang nach Naturgesetzen bedarf, in Ansehung der künftigen f r e i e n Handlungen aber dieser Leitung oder Hinweisung entbehren muß. (Streit der Fakultäten, VII:83)
Das Problem der göttlichen Vorsehung, das spätestens seit Augustin Philosophen und Theologen plagt, führt uns zu einem verwandten theologischen Problem, das Kant sehr ernst nahm. 13.3 Bevor wir den Kantischen Rekonzilianismus einer kritischen Würdigung unterwerfen, soll kurz eine »Schwierigkeit der Freiheit« zur Sprache kommen, »die, selbst nachdem alles Bisherige eingewilligt worden, der Freiheit dennoch mit ihrem gänzlichen Untergange droht« (Kritik der praktischen Vernunft, A179). Es ist dies das Problem, daß jeder Mensch seine Existenz als Substanz Gott verdankt, und daß dann seine Handlungen »in demjenigen ihren bestimmenden Grund« [haben], w a s g ä n z l i c h a u ß e r i h r e r G e w a l t i s t, nämlich in der Kausalität eines von ihm unterschiedenen höchsten Wesens, von welchem das Dasein des erstern, und die ganze Bestimmung seiner Kausalität ganz und gar abhängt« (A180). Die Auflösung soll »kurz und einleuchtend« folgendermaßen geschehen: Wenn die Existenz i n d e r Z e i t eine bloße sinnliche Vorstellungsart der denkenden Wesen in der Welt ist, folglich sie, als Dinge an sich selbst, nicht angeht: so ist die Schöpfung dieser Wesen eine Schöpfung der Dinge an sich selbst; weil der Begriff einer Schöpfung nicht zu der sinnlichen Vorstellungsart der Existenz und zur Kausalität gehört, sondern nur auf Noumenen bezogen werden kann. Folglich, wenn ich von Wesen in der Sinnenwelt sage: sie sind erschaffen; so betrachte ich sie so fern als Noumen. So, wie es also ein Widerspruch wäre, zu sagen, Gott sei ein Schöpfer von Erscheinungen, so ist es auch ein Widerspruch, zu sagen, er sei, als Schöpfer, Ursache der Handlungen in der Sinnenwelt, mithin als Erscheinungen, wenn er gleich die Ursache des Daseins der handelnden Wesen (als Noumenen) ist. Ist es nun möglich (wenn wir nur das Dasein in der Zeit für etwas, was bloß von Erscheinungen, nicht von Dingen an sich selbst gilt, annehmen), die Freiheit, unbeschadet dem Naturmechanism der Handlungen als Erscheinungen, zu behaupten, so kann, daß die handelnden Wesen Geschöpfe sind, nicht die mindeste Änderung hierin machen, weil die Schöpfung ihre intelligibele, aber nicht sensibele Existenz betrifft, und also nicht als Bestimmungsgrund der Erscheinungen angesehen werden kann; welches aber ganz anders ausfallen würde, wenn die Weltwesen als Dinge an sich selbst i n d e r Z e i t existierten, da der Schöpfer der Substanz zugleich der Urheber des ganzen Maschi-
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
nenwesens an dieser Substanz sein würde. Von so großer Wichtigkeit ist die in der Krit. der r. spek. V. verrichtete Absonderung der Zeit (so wie des Raumes) von der Existenz der Dinge an sich selbst. (Kritik der praktischen Vernunft, A183 f.)
Doch das ist weder kurz noch einleuchtend. Warum soll Gott für die Erscheinungen nicht verantwortlich gemacht werden, wenn er die Substanz als Ding an sich erschaffen hat, die nach ihren Gesetzen die Handlungen in der Erscheinung ausführt? Außerdem: ist Gott nicht auch als Schöpfer der Welt der Urheber der Erscheinungen? Vielleicht ist es richtig, daß »diese Schwierigkeit viel stärker […] das System drückt, in welchem die in Zeit und Raum bestimmbare Existenz für die Existenz der Dinge an sich selbst gehalten wird« (A180). Daß sie dieses System allein drückt, wie Kant in der Auslassung suggeriert, hat er nicht überzeugend darlegen können, und die Gefahr, daß der Mensch »Marionette, oder ein Vaucansonsches Automat« ist, »gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke«, und dessen »Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient« (A181), ist nicht ausgeräumt. Und in der Tat: dies ist einer der wenigen Fälle, da wir mit einiger Sicherheit sagen können, daß Kant im Alter seine Meinung geändert hat.1 Denn zum Problem der Freiheit einer erschaffenen Substanz schreibt er in der Religion: Es ist aber für unsere Vernunft schlechterdings unbegreiflich, wie Wesen zum freien Gebrauch ihrer Kräfte e r s c h a f f e n sein sollen: weil wir nach dem Prinzip der Kausalität einem Wesen, das als hervorgebracht angenommen wird, keinen andern innern Grund seiner Handlungen beilegen können als denjenigen, welchen die hervorbringende Ursache in dasselbe gelegt hat, durch welchen (mithin durch eine äußere Ursache) dann auch jede Handlung desselben bestimmt, mithin dieses Wesen selbst nicht frei sein würde. Also läßt sich die göttliche, heilige, mithin bloß freie Wesen angehende Gesetzgebung mit dem Begriffe einer Schöpfung derselben durch unsere Vernunfteinsicht nicht vereinbaren, sondern man muß jene schon als existierende freie Wesen betrachten, welche nicht durch ihre Naturabhängigkeit vermöge ihrer Schöpfung, sondern durch eine bloß moralische, nach Gesetzen der Freiheit mögliche Nötigung, d.i. eine Berufung zur Bürgerschaft im göttlichen Staate, bestimmt werden. So ist die Berufung zu diesem Zwecke moralisch ganz klar, für die Spekulation aber ist die Möglichkeit dieser Berufenen ein undurchdringliches Geheimnis. (Religion, VI:142 f.)
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Davon zeugen auch andere Dokumente: In den Metaphysikvorlesungen der 1770er Jahre war Kant der Ansicht, »die spontaneitas absoluta in einem ente dependente« könne zwar durch die Vernunft nicht begriffen werden, sie könne jedoch auch nicht widerlegt werden. »Hier muß das Ich wieder heraushelfen. […] Das Ich beweiset aber, daß ich selbst handele.« (XXVIII:268). Wiederum andere Versuche finden sich in den Reflexionen 6101 und 6118, die beide aus dem Wintersemester 1783/4 stammen dürften, q. v.
§ 14. Kritische Bewertung
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§14. Kritische Bewertung 14.1 Nun liegt Kants Lösungsvorschlag für das Problem derVereinbarkeit menschlicher Willensfreiheit mit dem Determinismus der Natur vor uns. Was haben wir davon zu halten? Eine grundlegende Frage jeder kritischen Bewertung der Grundgedanken von Kants Rekonzilianismus ist sicherlich die, ob wir bereit sind, an so etwas wie eine außerhalb der Natur stehende Instanz zu glauben, die bestimmt, nach welchen Naturgesetzen unsere Handlungen ablaufen. Das jedoch hängt davon ab, ob wir Kants philosophische Motivation teilen. Für Kant ist die Annahme »transzendentaler« Freiheit, die Beck mit Recht »transzendent« zu nennen versucht ist,1 nämlich die Folge von mindestens zwei kontroversen Vorannahmen: erstens, der »inkompatibilistischen« Annahme,2 daß Menschen nicht als Akteure begriffen werden könnten, wenn Naturkausalität die einzige Art der Kausalität darstellte; zweitens, der festen Überzeugung, daß moralisches Sollen nur mit einem kategorisch, d.h. bedingungslos, gebietenden Imperativ korrekt beschrieben werden kann, der rein formal ist und auf die vorgegebenen, nicht-moralischen Bedürfnisse des Menschen keine Rücksicht nimmt; denn ein solches Gebot gilt nur dann, wenn die Person, die es trifft, ihm notfalls, wie Kant nicht müde wird zu betonen, auch unter Abbruch all seiner natürlichen Bedürfnisse und Neigungen tatsächlich nachkommen kann.3 Wenn wir, wie Kant, diese beiden Annahmen für zwingend halten und zudem von der These der durchgängigen Geltung des Kausalprinzips in der Natur nicht abgehen wollen, so stellt die von ihm ausgearbeitete Freiheitslehre eine ernsthafte Option dar, so schwierig es auch sein mag, sich ein Vermögen, Naturkräfte zu dirigieren, in seiner konkreten Anwendung vorzustellen. Kant gelangt zu diesem Ergebnis mit eigentümlichen, aber nicht grotesk falschen Argumenten. Eingehende Beschäftigung mit den Schriften Kants stützt die Überzeugung, daß er mit gutem Erfolg versucht hat, aus dem Vorgegebenen das Beste zu machen.
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Vgl. Lewis White Beck, »Five Concepts of Freedom«, S.40. Zu Problemen der Terminologie vgl. die erste Fußnote dieses Kapitels. »Inkompatibilistisch« geht hier darauf, daß Kant die bloß »komparative« Freiheit des klassischen Kompatibilismus, die »Freiheit eines Bratenwenders«, für unzureichend hielt. Es ist nicht gemeint, daß Kant Natur und Freiheit nicht für kompatibel hielt. In §6.3 wurde die These vertreten, daß für Kant der erste Punkt bis zur Grundlegung, der zweite in und ab der Kritik der praktischen Vernunft größeres Gewicht besaß. Wenn dies zutrifft, so käme es einer Akzentverschiebung gleich, nicht einem radikalen Wende in seinen Auffassungen. Die beiden Punkte bezeichnen für Kant unabdingbare Bedingungen (i) vernünftigen Handelns allgemein und (ii) sittlichen Handelns. Sie schließen einander nicht aus, sondern sind vielmehr komplementär.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Kants Ethik ist also in letzter Konsequenz keine Ethik ohne Metaphysik. Doch dies allein darf ihr nicht als Fehler angekreidet werden. Kant nimmt mit dem seiner Meinung nach allgemeinen moralischen Bewußtsein einen durchaus unmetaphysischen Anfang und bemüht sich stets, dem philosophischen Status seiner Überlegungen Rechnung zu tragen. Nur müssen wir uns, selbst wenn wir im großen und ganzen seinen Ausgangspunkt akzeptieren, auf das Spiel der metaphysischen Rechtfertigung überhaupt einlassen? 14.2 Peter Strawson hat dies verneint.1 Er fragt ähnlich wie Kant, welche Auswirkungen die Annahme einer wissenschaftlich erfaßbaren und erklärbaren Natur auf unsere moralischen Vorstellungen von Verantwortung, Verdienst und Schuld, die »reactive attitudes« (wie er sie nennt), haben sollten,2 und er ist wie Kant der Ansicht, daß wir notwendig unter der Idee der Freiheit handeln und unsere Einstellung anderen gegenüber nicht »objektivieren« können. Doch damit läßt er es bewenden. Strawson versucht nicht, eine philosophische Theorie der Vereinbarkeit beider Bereiche aufzustellen. Er hält das für einen Fall unnötiger »Überintellektualisierung«. Es sei nutzlos, zu fragen, ob es vielleicht vernünftig sei, etwas zu tun, das wir unserer Natur gemäß gar nicht können.3 Zudem ist er der Ansicht, unser System der reactive attitudes sei einer Rechtfertigung von außen weder zugänglich, noch sei sie möglich: [Q]estions of justification are internal to the structure or relate to modifications internal to it. The existence of the general framework of attitudes itself is something we are given with the fact of human society. As a whole, it neither calls for, nor permits, an external ‘rational’ justification. (S.78)
Doch dies scheint recht dogmatisch; ein Argument liefert Strawson nicht. Sein wittgensteinscher Versuch, die philosophische Diskussion zu beschränken, schiene Kant unbefriedigend, und mit ihm nicht wenigen anderen. Kants Freiheitslehre beginnt dort, wo Strawson — der sagen würde: in weiser Bescheidung — aufhört. 14.3 Selbst wenn wir uns auf eine weitergehende Verteidigung der Freiheit einlassen und sogar prinzipiell bereit sind, an eine »Kausalität aus Freiheit« zu glauben, birgt Kants Theorie eine bis jetzt noch nicht genannte Schwierigkeit, an der sie zu scheitern droht. Kant scheint zu übersehen, daß seine Freiheitslehre mit zwei »Welten«, einer Sinnenwelt und einer Verstandeswelt, nicht auskommt; er benötigt überdies noch eine »dritte Welt«, denn 1 2 3
In »Freedom and Resentment«; vgl. auch Analysis and Metaphysics, Kapitel 10. Strawson sieht die reactive attitudes — charakteristischerweise — in der Natur des Menschen und im gesellschaftlichen Zusammenleben gegründet, nicht in der Vernunft. Vgl. »Freedom and Resentment«, S.74.
§ 14. Kritische Bewertung
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eine einzige intelligible Welt kann den widersprüchlichen Aufgaben, die sie für ein unvollkommen freies Sinnenwesen wie den Menschen übernehmen soll, nicht gerecht werden.1 Der Widerspruch tritt auf, weil Menschen nach den Geboten der Vernunft, aber auch gegen sie zu handeln pflegen. Der Akteur soll einerseits für seine Handlungen verantwortlich sein, weil die vorangehenden Naturursachen sie nicht notwendig gemacht haben, d.h. weil sie Ausdruck des von ihm (negativ) frei gewählten intelligiblen Charakters sind. Andererseits dient die intelligible Welt als Quelle der Normen, denen nachzukommen Menschen (positiv) frei sind. Die intelligible Welt soll somit gleichzeitig eine deskriptive und eine normative Aufgabe übernehmen. Sie muß sowohl das bisweilen unvollkommenene und vernunftwidrige Gesetz als Grund der Handlungen in den Erscheinungen bereitstellen2 als auch den idealen Vernunftstandard, nach dem sich menschliche Handlungen richten sollen.3 Diese Ambivalenz kommt besonders klar im dritten Abschnitt der Grundlegung zum Ausdruck, wo zunächst die Lehre vom Standpunkt der Verstandeswelt dazu dient, die Normativität des kategorischen Imperativs zu begründen und dem Zirkel, der durch die gegenseitige Verweisung von Freiheit und Sittengesetz droht, zu entkommen (IV:450 ff.). Dann verwendet er die theoretische und die praktische Betrachtungsweise eines Subjekts dazu, den »Scheinwiderspruch« zwischen Natur und Freiheit zu heben (IV:456).
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Roger J. Sullivan hat dieses Problem offenbar erkannt: »When we try to make sense of what Kant says, we may find ouselves wanting to adopt a new version of Plato’s ‘Third Man Argument’ by looking for a more ultimate self behind the phenomenal-noumenal viewpoints, being pulled and tugged between them and ultimately determining our decision. But this strategy makes no sense within Kant’s philosophy. In fact, Kant himself rejects any description of human beings as being somewhere between the angels and the beasts.« (Immanuel Kant’s Moral Theory, S.285). Er verweist auf das in 11.2 zur Sprache gebrachte Haller-Wort, der Mensch sei ein »zweideutig Mittelding von Engeln und von Vieh« in der Meinung, Kant stimme in der Metaphysik der Sitten mit seinem Lieblingsdichter nicht überein. Doch wenn Kant es auch »unausgemacht« läßt, ob Haller recht hat (womöglich, weil die Formulierung gefährlich indifferentistisch klingt), so besteht doch kaum Zweifel daran, daß Kants Konzeption eines arbitrium sensitivum sed liberum in ebendiese Richtung weist (vgl. §§5, 11). Die von Sullivan mit Recht diagnostizierte Schwierigkeit ist so leicht nicht zu beseitigen. Zumindest muß sie signalisieren, daß einige Handlungen (die unvernünftigen) nach bloßen Naturgesetzen ablaufen, während in anderen die Vernunft aktiv den Lauf der Natur gestaltet. Die zum Beispiel von H. Lauener in »Der systematische Stellenwert des Gefühls der Achtung in Kants Ethik« diskutierte Frage, ob die Willkür (also das Entscheidungszentrum) in die intelligible Welt oder in die Welt der Erscheinungen gehört, ist eine Folge dieser Unklarheit. Einerseits scheint die fehlbare Willkür nicht in die vollkommene intelligible Welt zu gehören, in die phänomenale Welt jedoch auch nicht ganz, denn dann wäre sie nicht frei.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Das Problem beschränkt sich nicht auf die Grundlegung.1 Schon in der Kritik der reinen Vernunft ist die Spannung zwischen Deskriptivität und Normativität des Intelligiblen spürbar. In der Auflösung der Antinomie spricht Kant zunächst von der rein aktiven, bestimmenden, empirisch nicht bestimmbaren Vernunft und fährt fort: Daher kann man nicht fragen: warum hat s i c h nicht die Vernunft anders bestimmt? sondern nur: warum hat sie die E r s c h e i n u n g e n durch ihre Kausalität nicht anders bestimmt? Darauf aber ist keine Antwort möglich. Denn ein anderer intelligibeler Charakter würde einen andern empirischen Charakter gegeben haben, und wenn wir sagen, daß, unerachtet seines ganzen, bis dahin geführten Lebenswandels, der Täter die Lüge doch hätte unterlassen können, so bedeutet dieses nur, daß sie unmittelbar unter der Macht der Vernunft in ihrer Kausalität keinen Bedingungen der Erscheinung und des Zeitlaufs unterworfen ist, der Unterschied der Zeit auch, zwar einen Hauptunterschied der Erscheinungen respective gegen einander, da diese aber keine Sachen, mithin auch nicht Ursachen an sich selbst sind, keinen Unterschied der Handlung in Beziehung auf die Vernunft machen könne. (A556/B584)
Menschen unterlassen es bisweilen durch eigene Schuld, vernünftig zu handeln. Die Frage, warum die Vernunft in diesen Fällen nicht in die Erscheinungen eingegriffen hat, weist Kant mit Rekurs auf den intelligiblen Charakter zurück. Die Vernunft, die in ihrem Urteil nicht von den Begierden des Lügners noch überhaupt von seiner empirischen Konstitution beeinflußt wird sondern unter zeitlos gültigen Gesetzen steht, hätte ihn richtig handeln lassen können. Es ist uns unerklärlich, warum das, was doch hätte geschehen sollen, nicht geschehen ist.2 In einem anderen als in dem von Bernard Williams intendierten Sinn spricht somit einiges dafür, daß Willensfreiheit keine graduelle Angelegenheit ist.3 Ohne Probleme sind Wesen denkbar, die einen vollkommen freien 1
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Kant spricht von einem Standpunkt, in den wir uns versetzen, wenn es ihm darum geht, die Zugehörigkeit des Menschen zum Intelligiblen als dessen eigentliche und höhere Bestimmung zu charakterisieren oder diese Zugehörigkeit allein zu betrachten; die sinnliche Hälfte wird in solchen Fällen ausgeblendet; vgl. Grundlegung, IV:450, 452, 455, 458 und das folgende Zitat aus Reflexion 5616 (1778–79): »Vor der Handlung setzen wir uns blos in den Standpunkt des Verstandes. Weil der Verstand nun eigentlich nicht afficirt wird, aber die Sinnlichkeit afficiren kan: so ist seine Handlung nicht vorherbestimmt, sondern spontaneo bestimmend; und das Gegentheil von dem, was ohne Verstand geschieht, hätte immer geschehen können. Also ist die Handlung nur bedingter Weise Zufallig (unter Bedingungen des Verstandes), so fern sie unvernünftig ist.« — Von zwei Arten der Betrachtung, der Verhältnisse etc. spricht er, wenn es ihm um die Zugehörigkeit ein und desselben Menschen zu beiden Welten zu tun ist, z.B. IV:456. Im erstgenannte Kontext steht dementsprechend die Frage nach der Quelle der Normativität im Vordergrund, im zweiten die Rekonziliationsfrage. Diese terminologische Unterscheidung ist jedoch eher Ausdruck der genannten Schwierigkeit als die Andeutung einer Lösung. Zur Unerklärlichkeit moralischen Versagens vgl. auch M. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 239–248. Zweifelhaft scheint allerdings, ob, wie Willaschek abschließend andeutet, der Anspruch, auch das Unvernünftige vernünftig zu erklären, tatsächlich sinnlos ist. Bernard Williams, »How free does the will need to be«, S.3; vgl. §7.3 Anm.
§ 14. Kritische Bewertung
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Willen besitzen und immer vernünftig handeln; so denkt sich Kant den heiligen Willen Gottes.1 Ebenso problemlos ist der Gedanke von Wesen, die überhaupt nicht die Fähigkeit besitzen, sich von ihren natürlichen Antrieben zu emanzipieren; Kant ist der Ansicht, Tiere seien mit einem solchen arbitrium brutum ausgestattet. Wie hingegen ein bloßes Vermögen, frei und vernünftig zu handeln, möglich sein soll, ist vollkommen unverständlich. Daß Kant dies ab und an zugibt, hilft uns wenig.2 Dies ist einer derjenigen Punkte, in denen die von Kant in kritischen Fällen oft diagnostizierte »Unerklärlichkeit« fatale Konsequenzen hat. Die Unerklärlichkeit des Gesetzwidrigen gibt Kant auch in einer Passage des Opus postumum unumwunden zu, die auf die Zeit der Niederschrift der Metaphysik der Sitten datiert wird. Sie kann uns als Übergang zum IV. Kapitel dienen: Die Freyheit ist die Eigenschaft eines Menschen als Noumens, die Willkühr als eines phaenomens die sich selbst bestimmende (nicht durch gegebene Objecte (der Sinne) bestimmte) Willkühr ist die freye Willkühr Die Freyheit der Willkühr in Ansehung der Wahl des Gesetzmäßigen u. Gesetzwiedrigen ist blos respective Spontaneität u. ist libertas phaenomenon — die der Wahl der Maximen der Handlungen ist absolute Spontaneität u. ist libertas noumenon. Von der letzteren kann man nie einen Grund angeben warum etwas Gesetzwiedriges geschieht (XXI:470 f.)
Auffällig ist, daß die Willkür hier auf Prozesse in den Erscheinungen beschränkt wird, was sie freilich richtig ist, wenn man sie auf dieser Ebene als den Ort gesetzmäßiger Entscheidungen zu Handlungen betrachtet. Doch die respektive oder komparative Spontaneität in den Erscheinungen ist ihrerseits eine Wirkung absoluter Spontaneität. Darüber hinaus müssen wir deshalb auch eine noumenale Wahl der Maxime der entsprechenden Handlung annehmen, die den wahren Grund der jeweiligen Entscheidung ausmacht. Diese von allen natürlichen Bestimmungen absolut freie Wahl der 1
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Wenn sich die Handlungen eines heiligen Willens in einem empirischen Charakter zeigten, so wären sie von vollkommener Regelmäßigkeit gekennzeichnet. Abweichende Naturverläufe wären weder möglich noch nötig. Vgl. §7.3. Vgl. die bereits erwähnte Vorarbeit zum Gemeinspruch: »Woher die Möglichkeit der Macht die das Gesetz hat unerachtet der sinnlichen Hindernisse es zu befolgen und umgekehrt es unerachtet des Wiederstandes der moralischen Anlage und des Gesetzes zu übertreten können ist nicht zu erklären.« (XXIII:142). Ferner heißt es in einer ebenfalls schon zitierten Reflexion: »Warum daß die Vernunft bisweilen nicht thue und der Mensch nicht nach dem intellectualen willen handele, ist unbekant. Eben daher geschieht es, daß der Mensch als Geist betrachtet sich als Thier tadelt, mit sich in Wiederspruch und streit ist, sich selbst andere Neigungen wünscht, aber sich oft in der sinnlichkeit verliert.« (R3872). — Diese »Unbekanntheit« geht über die Unbegreiflichkeit noch hinaus, die sich daraus ergibt, daß freie Handlungen zu erklären, »indem wir es von einer Ursache nach den Gesetzen der Natur ableiten« (Metaphysik der Sitten, VI:380); denn dieser (im Wortsinn) Kategorienfehler trifft vernünftige wie unvernünftige Handlungen gleichermaßen: Wenn man sie erklärt, betrachtet man sie als natürliche Prozesse und gerade nicht als frei. Warum wir unvernünftig handeln ist dagegen schlicht unbegreiflich.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Maxime (d.h. des Komplements der Sinnlichkeit, des Prinzips, das einer Handlung zugrundeliegt etc.), ist das eigentliche Moment der Freiheit des Willens. Im IV. Kapitel wird dann Kants Theorie der Maximen im Detail erörtert werden. Doch zum Abschluß des III. Kapitels soll gesondert noch eine in der Literatur lebhaft diskutierte Schwierigkeit aufgelöst werden, welche die Einheitlichkeit der Kantischen Freiheitslehre im Ganzen der Kritik der reinen Vernunft betrifft.
§15. Exkurs: »Praktische Freiheit« im »Kanon« 15.1 Ein Text, der Interpreten der Kantischen Freiheitslehre oft vor große Verständnisschwierigkeiten gestellt hat, ist die Diskussion der »Freiheit im praktischen Verstande« im »Kanon« der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft. Während in der Dialektik ein enger Zusammenhang zwischen praktischer und transzendentaler Freiheit hergestellt wird, scheint die Methodenlehre diesen Zusammenhang zu leugnen: In der Auflösung der dritten Antinomie heißt es, die Aufhebung der transzendentalen Freiheit müsse auch »zugleich alle praktische Freiheit vertilgen« (A354/B562), während im »Kanon« gesagt wird, man werde sich des Begriffs der Freiheit »nur im praktischen Verstande bedienen« und »den in transzendentaler Bedeutung, welcher nicht als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden kann, sondern selbst ein Problem für die Vernunft ist« als »oben abgetan bei Seite setze[n].« (A801/B829 f.) Im Folgenden wird die »freie Willkür« auf die übliche Weise in Abgrenzung zur arbitrium brutum als eine Willkür bestimmt, »welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellt werden, bestimmet werden kann«. Kant fügt hinzu: »[A]lles, was mit dieser [der freien Willkür], es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird p r a k t i s c h genannt.« (A802/B830) Problematisch ist nun vor allem das folgende: Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht uns im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vo r s c h r i f t des Verhaltens zunächst befragen, nichts an, sondern ist eine bloß spekulative Frage, die wir, so lange als unsere Absicht aufs Tun und Lassen gerichtet ist, bei Seite setzen können. (A803/B831)
§ 15. Exkurs: »Praktische Freiheit« im »Kanon«
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Und weiter: Wir erkennen also die praktische Freiheit durch Erfahrung, als eine von den Naturursachen, nämlich eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, indessen daß die transzendentale Freiheit eine Unabhängigkeit dieser Vernunft selbst (in Ansehung ihrer Kausalität, eine Reihe von Erscheinungen anzufangen) von allen bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt fodert, und so fern dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung, zuwider zu sein scheint, und also ein Problem bleibt. Allein für die Vernunft im praktischen Gebrauche gehört dieses Problem nicht…« (ebd.)
Sollen wir aus diesen Stellen schließen, daß Kant im »Kanon« den Ergebnissen der Dialektik widerspricht? Ein möglicher Ausweg ist, auf die Entstehungsgeschichte der Kritik der reinen Vernunft zu verweisen: Es ist gut möglich, daß die Methodenlehre wesentlich früher als die Dialektik entstanden ist.1 Auf diese — philosophisch langweilige — Weise läßt sich allerdings fast jede scheinbare oder tatsächliche Unstimmigkeit im Wortlaut des Textes erklären. Doch nicht allein deshalb scheint es angebracht, nach anderen Lösungen Ausschau zu halten; gegen den leichtfertigen Rekurs auf die Zettelkastentheorie spricht, wie Henry Allison bemerkt, daß »praktische Freiheit« im Kanon »in essentially the same terms« definiert wird wie auch sonst.2 Zudem macht die bloße Tatsache, daß Kant sowohl am Anfang (A802/B830, s.o.) als auch am Ende (A804/B832) der Diskussion der »praktischen Freiheit« im »Kanon« auf die Auflösung der Freiheitsantinomie in der Dialektik verweist, es recht unwahrscheinlich, daß Kant eine so bedeutende Unstimmigkeit bei der Revision der Methodenlehre nicht bemerkt haben sollte. Bei genauerem Hinsehen eröffnet sich eine Lösung, die weder auf die Geschichte der Entstehung der Kritik der reinen Vernunft rekurrieren noch eine Mehrdeutigkeit des Begriffs der »praktischen Freiheit« behaupten muß. Wie die oben angesprochene konventionelle Definition der »praktischen Freiheit« bereits nahelegt, spricht Kant im »Kanon« von ihr in derselben Bedeutung, wie er es auch sonst zu tun pflegt. Doch der Zusammenhang ist ein grundlegend anderer als in der Auflösung der dritten Antinomie in der
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So schreibt Norman Kemp Smith in seinem Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft: »[Kant] first disposes of the problem of freedom; and does so in a manner which shows that he had not, when this section was composed, developed his Critical views on the nature of moral freedom.« (S.569); vgl. Carnois, The Coherence of Kant’s Doctrine of Freedom, S.29. Kant’s Theory of Freedom, S.57. Allison führt als weiteren Grund an, daß die These von Interpreten wie Kemp Smith und Carnois, Kant halte in der Methodenlehre eine klassische kompatibilistische Konzeption der praktischen Freiheit für ein ausreichendes Fundament (»sufficient foundation«) für die Moral, noch nicht einmal für den vorkritischen Kant vor 1770 gelte (ebd.). Dieses Argument Allisons hinkt deshalb, weil es, wie unten zu zeigen sein wird, nicht richtig ist zu sagen, in der Methodenlehre gelte das dort verwendete Konzept einer »praktischen Freiheit« als Grundlage der Moral.
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
Dialektik. Während es dort um »praktische Freiheit« als ein Problem der theoretischen Vernunft ging, betrachten wir sie nun aus der Perspektive der praktischen Philosophie. Warum meint Kant aus der Perspektive der praktischen Philosophie die transzendentale Freiheit außenvor lassen zu können? 15.2 Die Antwort auf diese Frage ist komplex. Zunächst ist ausdrücklich zu betonen, daß Kant an der späteren Stelle nicht bestreitet, daß praktische Freiheit ohne transzendentale Freiheit »nicht zu haben ist«. Vielmehr sagt er, er setze die transzendentale Freiheit »als oben abgetan, bei Seite« (A802/ B830); sie gehöre nicht »für die Vernunft im praktischen Gebrauche« (A803/B831); bzw. die Frage, ob nicht alle vermeintlich freien Handlungen letzten Endes doch durch Einflüsse der Natur bestimmt sind, gehe uns »im Praktischen, da wir nur die Vernunft um die Vo r s c h r i f t des Verhaltens zunächst befragen, nichts an«, sondern sei »eine bloß spekulative Frage, die wir, so lange als unsere Absicht aufs Tun und Lassen gerichtet ist, bei Seite setzen können« (ebd.); schließlich, die Frage nach der transzendentalen Freiheit betreffe »bloß das spekulative Wissen, welche wir als ganz gleichgültig bei Seite setzten können, wenn es um das Praktische zu tun ist« (A804/ B832).1 Das bedeutet nicht, daß die Antwort, welche die theoretische Philosophie geben kann, für die praktische Philosophie unbedeutend ist; sondern eher, daß die Antwort, so wie sie die theoretische Erörterung in der Dialektik gegeben hat, uns im praktischen Bereich als solchem nicht zu interessieren braucht. Kant widerspricht den Ergebnissen der Dialektik nicht. Er setzt sie voraus. Wäre dort gezeigt worden, daß transzendentale Freiheit existiert oder daß sie unmöglich ist, so könnte die Diskussion hier nicht den Weg nehmen, den sie tatsächlich nimmt. Erstens scheint Kant also sagen zu wollen, daß dadurch, daß transzendentale Freiheit und die auf ihr beruhende praktische Freiheit der Naturgesetzlichkeit unserer Welt laut Dialektik nicht widersprechen, dieses Problem nun nicht mehr behandelt zu werden braucht, sondern als hinlänglich erörtert zu gelten hat. Überdies ist Kant der 1
Vgl. Lewis White Beck in seinem Kommentar zur Kritik der praktischen Vernunft: »Im letzten Absatz des ersten Abschnitts [des »Kanons«] heißt es nun [nicht], es könne praktische Freiheit geben, auch wenn die transzendentale Freiheit nicht real wäre. Kant sagt lediglich, diese Frage gehe uns im Praktischen oder in einem Kanon […] nicht an.« (Iltings Übersetzung, korrigiert nach dem Original, S.289, Anm. 40). Beck verweist auf die Anmerkung der IV:448 der Grundlegung, in der es heißt, es reiche aus, wenn vernünftige Wesen bei ihren Handlungen die Freiheit »bloß in der Idee zum Grunde« legen, damit Kant sich »nicht verbindlich machen dürfte, die Freiheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen«. Allison dagegen sieht einen Widerspruch zwischen Kanon und dem Haupttext der Kritik. Vgl. Kant’s Theory of Freedom, Kapitel 3, S.54–70; »Kant on freedom: A reply to my critics«, v.a. S.109–111. Die These, Kant gebrauche den Begriff der praktischen Freiheit in zweideutiger Weise, wird auch von Marcus Willaschek vertreten (Praktische Vernunft, S. 92 f.).
§ 15. Exkurs: »Praktische Freiheit« im »Kanon«
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Meinung, daß die normative Ethik mit der Frage nach der Möglichkeit transzendentaler Freiheit nichts zu tun hat, wenn sie Ergebnisse der theoretischen Vernunftkritik voraussetzt. Die Vernunft muß sich in ihrem praktischen Gebrauch nicht der Existenz transzendentaler Freiheit versichern. Kants Text legt zwei — sachlich zusammenhängende — Deutungen dieser Tatsache nahe: (i) In konkreten, alltäglichen Situationen, in denen wir uns fragen, was zu tun sei, spielt das Problem der transzendentalen Freiheit keine Rolle. Mittels praktischer Vernunft können wir die Vorschrift ermitteln, nach der wir handeln sollen, und die Erfahrung zeigt, daß unser arbitrium, das nicht wie bei Tieren allein durch natürliche Faktoren determiniert ist, es uns als arbitrium liberum dann auch möglich macht, zumindest dem Buchstaben nach so zu handeln, wie es die Vorschrift verlangt. (ii) In der Moralphilosophie ist es legitim so vorzugehen, daß man zunächst das, mit den Ethik-Vorlesungen zu sprechen, principium diiudicationis ermittelt und danach erst überprüft, ob wir, so wie unser Begehrungsvermögen beschaffen ist, überhaupt prinzipiell in allen relevanten Situationen unserem Urteil angemessen motiviert sein und ihm in unserem Handeln nachkommen können. Die ersten beiden »analytischen« Abschnitte der Grundlegung gehen in der Tat so vor: Kant schreibt im zweiten Abschnitt (IV:425) vorsichtig: »Noch sind wir aber nicht so weit, a priori zu beweisen, daß dergleichen Imperativ [der kategorische Imperativ] wirklich stattfinde, daß es ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne alle Triebfedern für sich gebietet, und daß die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei.«1 Kant versucht sich an diesem Beweis erst im III. Abschnitt des Werks. Kants Vorgehen im »Kanon« der Kritik der reinen Vernunft ist also kein Relikt aus vorkritischer Zeit; es befindet sich vollkommen in Übereinstimmung mit der Verfahrensweise in der Grundlegung. 15.3 Kants Argumentation erinnert an die Vorgehensweise Henry Sidgwicks in seinen Methods of Ethics; auch dort wird das Problem der Willensfreiheit als für die Moralphilosophie im engen Sinne, die Ermittlung des principium diiudicationis, nicht relevant zu Anfang der Erörterungen beiseite gesetzt:
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Schon nach der Einführung des Begriffs eines kategorischen Imperativs (und des Begriffs von hypothetischen Imperativen) findet sich eine ähnliche Mahnung zur Vorsicht, die sehr an den Verdacht, den Kant an der oben zitierten Stelle hinsichtlich »höherer und entfernterer wirkenden Ursachen« äußert: »Nur ist immer hiebei nicht aus der Acht zu lassen, daß es durch kein Beispiel, mithin empirisch auszumachen sei, ob es überall irgend einen dergleichen Imperativ gebe, sondern zu besorgen, daß alle, die kategorisch scheinen, doch versteckter Weise hypothetisch sein mögen.« (IV:419).
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III. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Natur
In this conflict of arguments, it is not surprising that the theoretical question as to the Freedom of the Will is still differently decided by thinkers of repute; and I do not myself wish at present to pronounce any decision on it. But I think it possible and useful to show that the ethical importance of deciding it one way or another is liable to be exaggerated; and that any one who will consider the matter soberly and carefully will find this importance to be of a strictly limited kind. (The Methods of Ethics, S.66)
In zwei Bereichen gesteht Sidgwick dem Problem der Freiheit des Willens einiges Gewicht zu: in der Frage von Strafe und Belohnung, die er jedoch letzten Endes in utilitaristischer Manier löst; und in einer theologischen Lösung des Konflikts von Pflicht und Eigeninteresse, die zwar ohne die Voraussetzung eines im emphatischen Sinne »freien« Willens nicht auskommt, doch als theologisch nicht zur Ethik gehört und ohnehin nicht im Mittelpunkt von Sidgwicks Interesse steht. Zusammenfassend schreibt er: In all ordinary cases, therefore, it does not seem to me relevant to ethical deliberation to determine the metaphysical validity of my consciousness of freedom to choose whatever I may conclude to be reasonable, unless the affirmation or negation of the Freedom of the Will somehow modifies my view of what it would be reasonable to choose to do if I could choose to do if I could so choose. (ebd.).
Im weiteren Verlauf des Buches spielt die Freiheitsfrage keine bedeutende Rolle mehr.
IV. Maximen §16. Urteil, Willkür, Autonomie 16.1 »Wie ist es m o g l i c h , d a ß m a n s i c h s e l b s t t a d e l n k a n, wenn das Selbst nicht so zu sagen zwiefach ist? Denn sonst kan man ia kein ander urtheil von sich selbst fällen, als was von sich selbst hergenommen ist und auch mit sich übereinstimmt.« — So Kant in der frühen Reflexion 3872, die Mitte bis Ende der 1760er Jahre entstanden sein dürfte. In manchen Fällen tadelt sich ein Akteur deshalb, weil er es versäumt hat, so zu handeln, daß er in die Lage versetzt wurde, etwas anderes, Gebotenes zu tun. Er hat beispielsweise eine Situation falsch eingeschätzt, weil ihm wichtige Fakten unbekannt waren, die er hätte in Erfahrung bringen können. In diesem Fall hat er Gebotenes unterlassen, ohne zum Zeitpunkt des Unterlassens zu wissen, was zu tun angemessen war. In anderen Fällen ist uns zu einem gegebenen Zeitpunkt durchaus bewußt, was wir tun sollen, wir tun es aber trotzdem nicht. Traditionelle Namen dafür sind »Willensschwäche«, »Unbeherrschtheit« oder (griechisch) »Akrasia«. Wenn man einen möglichst allgemeinen Ausdruck sucht, um diese Phänomene angemessen zu bezeichnen, so kann man vom Handeln wider besseres Wissen bzw. gegen das eigene bessere Urteil sprechen. Wie ist es also »moglich«, daß man gegen das eigene bessere Urteil handelt? Wäre für Urteil und Ausführung nur ein einziges Vermögen im Menschen zuständig, so könnte man gar nicht gegen das eigene Urteil handeln. Dies war der Weg, den Sokrates und nach ihm die Stoiker beschritten. Kant ist anderer Meinung, nicht nur in der zitierten Reflexion. Am deutlichsten tritt die Trennung von Urteil und Ausführung in einer Passage aus den Ethikvorlesungen zutage: Wenn ich durch den Verstand urtheile, daß die Handlung sittlich gut sey, so fehlet noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilet habe. Bewegt mich aber dieses Urtheil, daß ich die Handlung thue, so ist es das Moralische Gefühl. Das kann und wird auch niemand einsehen, daß der Verstand eine bewegende Kraft haben sollte, urtheilen kann der Verstand zwar freilich, allein diesem Urtheile Kraft zu geben, daß es eine Triebfeder, den Willen zur Ausübung
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IV. Maximen
einer Handlung zu bewegen, werde, dieses einzusehen ist der Stein der Weisen. (Moral Mrongovius, XXVII:1428)
Das spezifisch moralphilosophische und -psychologische Problem, das in diesen Worten anklingt, wird uns im nächsten Kapitel beschäftigen. Fürs erste ist es wichtig festzuhalten, daß der Gedanke, für Ausführung und Urteil (zusamt dem nachträglichen Urteil über die Ausführung) müßten verschiedene Aspekte des menschlichen Willens verantwortlich sein, die nicht notwendig miteinander übereinstimmen, Kant schon lange vertraut war. Dennoch scheint es in den Schriften der 1780er Jahre so, als versuche er, durch seine Theorie des nicht empirisch gewirkten Gefühls der Achtung das Urteil und seine Ausführung möglichst nahe aneinander zu rücken. Die späten Schriften zur Moral- und Religionsphilosophie lassen dagegen eine — dringend benötigte — terminologische Unterscheidung erkennen, durch die beide Elemente wieder stärker einzeln hervortreten. Es ist dies die bereits mehrfach beiläufig erwähnte Unterscheidung von Wille und Willkür.1 16.2 Die Definition von »Wille« und »Willkür«, die gemeinsam den »Willen« im umfassenden Sinne, das gesamte (menschliche) Begehrungsvermögen, ausmachen, findet sich in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten«: Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts anderes, als bloß auf Gesetze geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung f ä h i g ist. Nur die W i l l k ü r also kann f r e i genannt werden. (VI:226)2
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Marcus Willaschek hat darauf hingewiesen, daß sie in der auch von Kant verwendeten traditionellen Unterscheidung von unterem und oberem Begehrungsvermögen eine Vorläuferin hat (Praktische Vernunft, S. 199). Das bestätigt, daß eine solche Unterteilung des menschlichen Willens implizit auch in der Grundlegung und in der Kritik der praktischen Vernunft vorhanden ist, daß es sich also sachlich nicht um ein Erfindung der späten Schriften handelt. Es ist auffällig, daß dem Willen im engeren Sinn, von dem die Gesetze ausgehen, weder Freiheit noch Unfreiheit zugesprochen werden können soll. Allison weist darauf hin, daß Kants Meinung in dieser Frage geschwankt hat (Kant’s Theory of Freedom, S.131 f.). In den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten sagt Kant beispielsweise auch, der Wille sei »auf eine andere Art frei« (XXIII:249). Das Lavieren scheint nur sprachlich; hinter ihm verbergen sich Kants Bedenken, etwas frei zu nennen, was als »selbst keiner Nötigung fähig« gar nicht unfrei sein kann (vgl. das in §11.3 zur freien Tätigkeit der Vernunft Gesagte). Man denkt an Wittgensteins Abneigung in Über Gewißheit, uns Gewisses »Wissen« zu nennen, das nämlich, von dem wir uns gar nicht vorstellen können, es könnte auch falsch sein; und an die des Aristoteles in der De anima, Sinneswahrnehmung wahr zu nennen, weil sie gar nicht falsch sein kann. — Auf die hier zitierte Passage folgt die Wendung gegen die libertas indifferentiae, die bereits Gegenstand des I. Kapitels war. Die Freiheit der Willkür besteht nicht im So-oder-so-handeln-Können; dies ist vielmehr Kennzeichen einer unvollkommen freien Willkür.
§ 16. Urteil, Willkür, Autonomie
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Während sich Kant des Wortes »Wille« in den Schriften der 1780er Jahre in drei Bedeutungen bediente,1 übernimmt nun der Terminus »Willkür« ganz die Rolle des exekutiven Aspekts unseres Begehrungsvermögens, die er sich vordem mit »Wille« teilen mußte.2 Die Unterscheidung bringt Licht in die ansonsten recht dunkle und widersprüchlich wirkende Redeweise von der Selbstgesetzgebung des Willens, der Autonomie:3 Der Wille im umfassenden Sinn gibt sich selbst ein Gesetz, indem seine legislative Instanz der Willkür als seiner exekutiven Instanz ein Gesetz gibt und letztgenannte im Lichte dieser Norm eine Maxime wählt. Nur dem Willen im umfassenden Sinn kann Autonomie zugesprochen werden, dem Gesamtbegehrungsvermögen eines vernünftigen Wesens, einer Person.4 Dem könnte man entgegnen, Kant bediene sich, wenn es um die Autonomie des Willens so steht, eines bedenklichen terminologischen Schachzugs. In Wirklichkeit liege gar keine Selbstgesetzgebung vor, wie man leicht merke, wenn man legislative und exekutive Instanz trenne: Der legislative Wille gebe der exekutiven Willkür ein Gesetz. Die Einführung eines Oberbegriffs für beide sei nicht nur terminologisch unglücklich, sondern ändere auch an der Sache nichts. Weder der bloß gesetzgebende Wille noch die ausführende Willkür sei autonom. 1
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Indem er nämlich so (i) die legislative bzw. urteilende Instanz, (ii) die exekutive Instanz (die Willkür) und (iii) das aus beiden bestehende gesamte menschliche Begehrungsvermögen bezeichntete. Daß der Teil des Willens, der für die Wahl und Ausbildung von Maximen zuständig ist, das ausführende Element des Willens darstellt, ist eine Folge von Kants Handlungstheorie. Demnach muß jede menschliche Handlung auf einer Maxime beruhen, und unter denselben Umständen könnte eine andere Handlung nur auf Grund einer anderen Maxime erfoglt sein, deren Wahl der Willkür zufällt. Dazu im Verlaufe dieses Kapitels mehr. Zum Sinn und Unsinn, der bis in die heutige Zeit aus dem Autonomiebegriff gemacht wurde, vgl. Thomas E. Hill, Jr., »The Kantian Conception of Autonomy«, v.a. S.77–82; zur Geschichte des Autonomiebegriffs vgl. J. B. Schneewinds ausführliche Studie The Invention of Autonomy; zu dessen Bedeutung für die heutige Ethik: Günther Patzig, »Philosophische Bemerkungen zum Begriff der Autonomie«. Vgl. H. E. Allisons Darlegungen: »Thus, it is Wille in the narrow sense that provides the norm and Willkür that chooses in light of this norm. Similarly, this distinction allows us to speak of the will as giving the law to, or even as being the law for, itself, since this is just a matter of Wille giving the law to, or being the law for, Willkür. Strictly speaking, then, it is only Wille in the broad sense that has the property of autonomy, since it is only Wille in this sense that can be characterized as a law to itself.« (Kant’s Theory of Freedom, S.130 f.). — Genaugenommen ist es freilich in letzter Konsequenz der Mensch, der kraft seines freien Willens autonom ist. Die Redeweise vom Willen führt nicht notwendig zu der (allerdings abwegigen) Konsequenz, daß der Wille, nicht nicht die Person, entscheidet. (Dies Problem sieht Günther Patzig, »Philosophische Bemerkungen zu Willensfreiheit, Verantwortung, Schuld«, S.192 f.) Der Grund dafür ist, daß Kants plausibler Ansicht zufolge Personen wesentlich mit ihrem Willen, ihrer praktischen Vernunft, zu identifizieren sind. Wenn die Räder rollen, so rollt auch das Fahrrad. Es wäre — mit Bezug auf ein intaktes Fahrrad — absurd, zu behaupten, die Räder rollten, nicht jedoch das Fahrrad. Zumindest hier verbirgt sich kein guter Grund, auf die Redeweise vom Willen (oder von Vorder- und Hinterrad) zu verzichten.
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IV. Maximen
Doch dieser Einwand trifft die Kantische Pointe nicht. Denn, erstens, scheint es vernünftig, für die exekutive und die legislative Instanz des Begehrungsvermögens einen gemeinsamen Oberbegriff zu wählen, eben den des Begehrungsvermögens oder des Willens, weil nur im Zusammenspiel beider — begrifflich deutlich distinkter — Instanzen eine prinzipiengeleitete Handlung zustande kommen kann. Zweitens ist auch die Rede von der Autonomie des Gesamtwillens vollkommen legitim und sinnvoll, weil möglich ist, daß bei mangelnder Autonomie die legislative Instanz ihrerseits nicht Ursprung des Gesetzes ist, sondern das Gesetz von anderer Seite erhält; und dann wäre auch der Gesamtwille nicht autonom. Und genau das meint Kant, wenn er von heteronomen ethischen Theorien und von einem heteronomen Willen spricht.1 Ein Beispiel aus dem politischen Bereich, dem der Autonomiebegriff letztlich entstammt, mag dies verdeutlichen. Wenn wir sagen, eine Kolonie habe vollständige Autonomie oder Eigenständigkeit erlangt, so meinen wir damit, daß sie sich von ihrem früheren Mutterland politisch gelöst hat. Nun kann die ehemalige Kolonie selbst bestimmen, welche Gesetze in ihr gelten sollen. Damit ist jedoch über die innere Struktur des neuen Staates noch gar nichts gesagt. Es ist gut möglich, daß ein Monarch nun, wie der Kantische Wille in der eingeschränkten Bedeutung, die Gesetze seinem Volk auferlegt; um eine selbständig gewordene Kolonie autonom zu nennen, ist nicht nötig, daß in ihr das Volk herrscht. Unabhängig von ihrer politischen Verfassung ist sie autonom, wenn sie sich in Gesetzesdingen nicht mehr nach dem Mutterland richten muß. 16.3 Während leicht zu verstehen ist, daß der Wille als legislative Instanz dasjenige in uns sein soll, von dem Gesetze ausgehen, ist auf den ersten Blick nicht so leicht zu sehen, wie genau Kant die Willkür mit Maximen in Verbindung bringt. In der Religion nennt Kant die Maxime eine Regel, »die die Willkür sich selbst zum Gebrauch ihrer Freiheit macht« (VI:21). Wie geht das vonstatten? Die Antwort auf diese Frage hängt entscheidend davon ab, was wir unter einer Maxime verstehen. Somit liegt es nahe, sich nun dem Maximenbegriff selbst zuzuwenden. In der Tafel der Kategorien der Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft nennt Kant Maximen die »Willensmeinungen des Individuum« (A117). Das ist eine Definition, die viele Bedeutungen umschließt, die das Wort »Maxime« bei Kant annehmen kann. Es wird sich als lohnend 1
Die genannte Art der Unabhängigkeit betont die einschlägige Autonomiedefinion im zweiten Abschnitt der Grundlegung: »Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist.« (IV:440).
§ 17. Maximenbegriffe
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erweisen, die teils sehr verschiedenen einzelnen Bedeutungen zu unterscheiden; denn wie andere Begriffe der Kantischen Terminologie, so ist auch der der Maxime nicht eindeutig.1 Es hat seit Rüdiger Bittners fruchtbarem Beitrag »Maximen« (1974) immer wieder Versuche gegeben, Kants Maximenbegriff auf eine einzige, relativ enge Interpretation festzulegen; dabei wurde übersehen, daß Kant im moralphilosophischen und handlungstheoretischen Kontext2 in mindestens drei distinkten, wenn auch sachlich zusammenhängenden Bedeutungen von »Maximen« spricht (§§17, 18). (Eine entsprechende Mehrdeutigkeit liegt beim Begriff des Charakters vor, der mit dem der Maxime in einem engen Zusammenhang steht (§22).) Überdies sind Maximen von bloßen Regeln und Einzelabsichten zu unterscheiden (§19). Erst nach der Klärung der Mehrdeutigkeit und der Nuancen des Kantischen Maximenbegriffs können wir verstehen und würdigen, was man in Anlehnung an Otfried Höffe Kants normative »Maximenethik« nennen mag (§20). Ebenso müßig wie die Frage nach der Bedeutung von »Maxime« bei Kant ist die nach dem historischen Vorbild, auf das seine Maximenlehre zurückgeht: Sowohl der Wolffianismus A. G. Baumgartens als auch J. J. Rousseau sind relevant (§21). Schließlich wird Kants geklärte Philosophie der Maximen dazu dienen, die Unterscheidung zwischen Handlungen aus Pflicht und bloß pflichtgemäßen Handlungen zu klären (§23).3
§17. Maximenbegriffe Es scheint eine Grundannahme der Kant-Interpreten vergangener Zeiten wie unserer eigenen Zeit, daß Kant überall dort, wo er von »Maximen« spricht, ein und dasselbe gemeint hat; denn Unterscheidungen verschiedener Bedeutungen oder Nuancen finden sich bei ihnen nicht. Setzt man dies voraus, so müssen allerdings weite Teile der Kantischen Handlungstheorie und Moralpsychologie unstimmig erscheinen. Etwa die Frage nach der Bewußt1 2
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Eine erhellende und detaillierte Erörterung dieser Kategorien leistet Susanne Bobzien, »Die Kategorien der Freiheit bei Kant«. Daneben gebraucht Kant das Wort »Maxime« in der auch uns geläufigen Bedeutung »Sinnspruch« oder »Leitsatz«, die aber für unserre Zwecke nicht direkt relevant ist und deshalb nicht eigens erörtert werden wird. Vgl. beispielsweise die »Maximen des gemeinen Menschenverstandes«, Kritik der Urteilskraft, B158, ähnlich Anthropologie, VII:228; die »gefallenden Maximen oder Manieren«, VII:282; oder die »Maximen der Philosophen«, die von den Staaten zum Wohle des Friedens zu Rate gezogen werden sollen (Zum ewigen Frieden, VIII:368). Die Maximen der theoretischen Vernunft (vgl. A666/B694) und der Urteilskraft (vgl. z.B. Kritik der Urteilskraft, BXXX) werden ebenfalls nicht eigens thematisiert. Eine gekürzte englische Version der folgenden Ausführungen zum Thema Maximen ist im Harvard Review of Philosophy erschienen (vgl. Literaturverzeichnis).
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IV. Maximen
heit, die Frage, ob wir bei all unseren Handlungen nach Maximen handeln, oder auch die Frage, ob Maximen allgemeine Geltung besitzen, scheint Kant an einigen Stellen positiv, an anderen negativ zu beantworten (vgl. § 18). Wenn man Kants Theorie der Maximen vor diesen offenkundigen Widersprüchen bewahren möchte, muß man allerdings die Einheitlichkeit von Kants Maximenbegriff zugunsten einer Mehrzahl ineinandergreifender Konzeptionen aufgeben. Das folgende stellt einen Versuch dar, anhand relevanter Textstellen die verschiedenen Bedeutungen von »Maxime« und ihren Zusammenhang untereinander herauszustellen. 17.1 Maximen als die Prinzipien erster Stufe von Handlungen — Eine Maxime ist nach den relevanten Definitionen der Grundlegung zu allererst »das subjektive Prinzip des Wollens« (IV:400), »das subjektive Prinzip zu handeln«1 oder »der Grundsatz, nach welchem das Subjekt h a n d e l t« (IV:420, Anm.).2 Der schon bekannte Passus (§4.1), anhand dessen Allison seine Incorporation Thesis erläutert, macht ebenso von diesem Maximenbegriff Gebrauch: [D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, a l s n u r s o f e r n d e r M e n s c h s i e i n s e i n e M a x i m e a u f g e n o m m e n h a t (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen. (Religion, VI:23 f.)
Diesen Zitaten kann man entnehmen daß zumindest in einer Bedeutung von »Maxime« jeder Mensch bei jeder freien Handlung, d.h. wenn er nur »bei Sinnen« ist, auf Grund einer Maxime handelt,3 die nicht das Produkt bloß natürlicher Faktoren ist. Jede einzelne freie Handlung ist das Resultat einer »noumenal« freien Maximenwahl, eines Aktes absoluter Spontaneität. Maximen müssen als subjektive Prinzipien von Imperativen, den objektiven Prinzipien, streng unterschieden werden. Denn Imperative sind normative Grundsätze, nach denen Menschen vielleicht nicht handeln, jedoch handeln sollen. Hier findet sich im Ansatz die spätere terminologische Unterscheidung von Wille und Willkür wider. Der Wille ist für die Imperative zuständig, die Willkür dafür, daß die subjektiven Prinzipien, also die
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Es ist eine Pointe der Kantischen Handlungstheorie, daß auf dieser Ebene zwischen Wollen (»subjektives Prinzip des Wollens«, s.o.) und Handeln nicht unterschieden wird. Vgl. Schwemmer, Philosophie der Praxis, S.136 f. Die Hervorhebung stammt von Kant! Das verdeutlicht auch ein Nachtrag zur Reflexion 1018, wo es heißt: »involuntariae nicht nach maximen« — offensichtlich im Gegensatz zu den freiwilligen Handlungen, den Handlungen im Vollsinn, die nach Maximen vollzogen werden.
§ 17. Maximenbegriffe
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Maximen, diesen objektiven Prinzipien des Willens entsprechen. Das bedeutet natürlich auch, daß die Handlungen entsprechend ausfallen sollen. Diesem ersten, deskriptiven oder handlungstheoretischen Maximenbegriff zufolge ist eine Maxime also das subjektive Prinzip, nach dem eine gegebene Handlung tatsächlich geschieht. In der Terminologie Harry Frankfurts sind diese Maximen die Prinzipien der »first order volitions«, der Willensakte erster Stufe, die in einer Handlung des Akteurs Ausdruck finden.1 Als subjektive Regeln müssen Maximen übrigens mit Bezug auf die erste (d.i. die handelnde) Person formuliert werden, wie es in Kants Beispielen auch stets der Fall ist, etwa im ersten Beispiel zur Illustration der Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung: Ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen. (IV:422)
Allenfalls wenn man über die Maximen anderer spricht, kann man sich der zweiten oder dritten Person bedienen, wie Kant es auch manchmal in seinen Beispielen tut, solange der Bezug auf den Handelnden deutlich wird. Doch das ist nur eine abgeleitete, nicht die ursprüngliche und korrekte Redeweise. In der Literatur findet man des öfteren Formulierungen, die sich in der Form von Imperativen auf die dritte Person beziehen und so den entscheidenden Unterschied zwischen Maximen und Imperativen, zwischen subjektiven und objektiven Prinzipien verwischen. Selbst Allison begeht diesen Faux pas: In the light of these considerations, a maxim may be characterized as a self-imposed, practical principle or rule of action of the form: When in S-type situations, perform A-type actions. (Kant’s Theory of Freedom, S.89 f.)
Während Allisons Definition insofern korrekt ist, als sie den Aspekt der Maxime als konkreten Handlungsprinzips betont, geht sie nicht nur in der imperativischen Formulierung fehl, sondern auch darin, daß sie ein bedeutendes Charakteristikum von Maximen übergeht: Eine Maxime schließt einen Zweck ein, um dessentwillen ich in einer Situation eines bestimmten Typs eine Handlung einer bestimmten Art ausführen will. Die bloße Absicht, diese oder jene Handlung auszuführen, reicht für eine Maxime nicht aus. Oft können Maximen allein durch ihre verschiedenen Zwecke unterschieden werden. Eben aus diesem Grund sind sie der Ort der Moralität. Zwei Menschen, die in den gleichen Situationen gleich handeln können dies doch aus moralisch ganz unterschiedlich zu bewertenden Maximen 1
Vgl. Harry Frankfurt, »Freedom of the will and the concept of a person«.
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IV. Maximen
tun,1 wie das berühmte Beispiel des Kaufmanns im ersten Abschnitt der Grundlegung beweist (IV:397). Daß sich Maximen als subjektive Prinzipien schon in ihrer Formulierung auf die Person des Handelnden beziehen müssen, gilt auch für die übrigen Maximenbegriffe. 17.2 Maximen höherer Stufe — Kant spricht jedoch von »Maximen« auch dann, wenn er sich auf die regelhaften Prinzipien von Willensakten höherer Stufe bezieht, von Willensakten also, die sich ihrerseits auf Willensakte niederer Stufe erstrecken und nicht direkt zu Handlungen führen. Konkrete Handlungen sind auch Folge höhererstufiger Prinzipien, d.h. die Maxime einer Handlung wird von der Willkür im Lichte höherstufiger Maximen ausgewählt. Diese Prozedur schildert Kant vielleicht am deutlichsten gegen Ende der Einleitung zur »Tugendlehre«, zumindest für die unvollkommenen Pflichten, deren Ausführung besondere Ansprüche an die Urteilskraft stellt: Die Ethik hingegen2 führt wegen des Spielraums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet, unvermeidlich dahin, zu Fragen, welche die Urteilskraft auffordern auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei und zwar so: daß diese wiederum eine (untergeordnete) Maxime an die Hand gebe (wo immer wiederum nach einem Prinzip der Anwendung dieser auf vorkommende Fälle gefragt werden kann); und so gerät sie in eine K a s u i s t i k, von welcher die Rechtslehre nichts weiß. (VI:411)
H. Allison hat die Diskussion der Kantischen Konzeptionen von »Gesinnung« und »radikalem Bösen«, wie wir sie in den späten Schriften zur Moral- und vor allem zur Religionsphilosophie finden, wieder stärker in das Blickfeld der moralphilosophischen Forschung.3 In der Religion geht Kant von einer Hierarchie von Maximen aus, deren niedere jeweils mit Blick auf die höheren gewählt werden. Um böse Gesinnungen zu erklären, spricht er beispielsweise vom »Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist.« (VI:20) Entscheidend ist nun, welche Priorität man Sittengesetz und Selbstliebe in seiner höchsten, »allgemeinen« Maxime gibt, d.h. was von beiden als Bedingung des anderen dient.
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Dazu ausführlich §. 19. Im Gegensatz zum Recht; die Schwierigkeit der Anwendung moralischer Regeln bringt es Kant zufolge mit sich, daß die »Tugendlehre« anders als die »Rechtslehre« neben der Elementarlehre auch einer Methodenlehre bedarf, also eine Disziplin, die den Menschen moralische Gebote nahebringen und verständlich machen soll. Diese klare Trennung vermag nicht ganz einzuleuchten. Vielleicht ist der Bedarf nach einer ethischen Methodenlehre größer, doch warum sollten nicht auch Richter von einer Methodenlehre profitieren können? Zu diesen beiden Themen vgl. Kant’s Theory of Freedom, vor allem S.136–145 und S.146– 161; und die Ausführungen von M. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 151–159.
§ 17. Maximenbegriffe
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Zwei oberste Maximen1 sind prima facie möglich: Ich mache es mir entweder zum Prinzip, moralischen Geboten nur so weit nachzukommen, wie es mir die Selbstliebe erlaubt; oder — besser! — umgekehrt.2 Im zweiten Fall darf nach Maximen, welche die eigene Glückseligkeit zu fördern zum Zweck haben, erst dann gehandelt werden, wenn den Geboten der Moral Genüge getan wurde, d.h. wenn diesen Zweck zu fördern moralisch erlaubt ist. Unter die höchste Maxime müssen weitere treten, bis einzelne Maximen sich in konkreten Handlungen äußern können. Es ist nicht nötig, daß diese höherstufigen Prinzipien als solche schon eine besondere Schärfe oder Durchsetzungskraft besitzen. Jemand mag die (allerdings törichte und den Umständen nach auch unmoralische) Maxime haben, bei der Wahl von Maximen erster Stufe, d.i. bei seinem Handeln, den gerade vorhandenen Impulsen und Neigungen stets nachzugeben, ja selbst dies Prinzip bisweilen verletzen. Das heißt nur, daß seine höherstufigen Maximen zu lax und deshalb dringend revisionsbedürftig sind, nicht aber, daß er gar keine hat. Man kann anhand des Textes nicht mit Sicherheit entscheiden, ob Kant zur Zeit der Abfassung der Grundlegung schon das feingliedrige Bild der späten Schriften vor Augen hatte;3 doch in jedem Fall benötigt er Prinzipien höherer Stufe, um den in der Grundlegung vorherrschenden Begriff von Maximen als den Prinzipien konkreter Handlungen mit dem folgenden dritten Maximenbegriff zu verbinden, den die Grundlegung durchaus auch kennt:4 17.3 Maximen als feste Grundsätze. — Kant spricht auch dann schlicht von »Maximen«, wenn er bewußt angenommene, besonders klare, charakteristische Handlungsprinzipien einer Person meint, in deren Licht einzelne 1
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Zur Hierarchisierung von Maximen vgl. Beck, Kommentar, S.118; Paton, The Categorical Imperative, S.136 f.; T. C. Williams, The Concept of the Categorical Imperative, S.13 f. — Handelt man nicht auch mit Blick auf das Sittengesetz? Ja, doch seine Triebfeder kann im Verhältnis zu den anderen Triebfedern, die durch höherstufige Maximen unterstützt werden, vergleichsweise schwach sein, wenn die oberste Maxime nicht die Selbstliebe der Moral unterordnet. Allein durch eine Revolution des Herzens können die Versuchungen der Sinnlichkeit, die der Durchsetzung der Moralität im Wege sind, minimiert werden. So läßt sich Kants Rigorismus in bezug auf die »höchste Maxime« erklären; s.u., §23. Religion, VI:36. Die genannte Alternative ergibt sich deshalb, weil es uns als Vernunft- und Sinnenwesen nach Kant nicht möglich ist, Selbstliebe oder Sittlichkeit vollkommen zu ignorieren (im zweiten Fall wären wir für Kant Tieren, im ersten Engeln oder Göttern gleich); vielmehr machen beide Seiten notwendig ihre Ansprüche geltend, so daß die Frage nach einem Ausgleich nicht abgewiesen werden kann. Der Gedanke, daß man Maximen verschiedener Ordnung haben kann, war ihm allerdings schon zur Zeit der Abfassung der »Methodenlehre« der ersten Kritik geläufig: »[Die Metaphysik] betrachtet die Vernunft nach ihren Elementen und obersten Maximen, die selbst der Möglichkeit einiger Wissenschaften, und dem Gebrauche aller, zum Grunde liegen müssen.« (A850/B878 f.). … wenn Kant IV:454 von der »Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Teilnehmung und des allgemeinen Wohlwollens« spricht.
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IV. Maximen
Handlungsentscheidungen gefällt werden, d.h. subjektive Grundsätze, die mit objektiven Prinzipien übereinstimmen können oder nicht; ein klassisches Beispiel stammt aus Kants Diskussion des Depositumproblems in der zweiten Kritik: »Ich habe z.B. es mir zur Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern.« (A49).1 Es ist diese Bedeutung des Maximenbegriffs, auf die »Maximenethiker« wie Otfried Höffe und Michael Albrecht gern verweisen.2 Öfter als in den Schriften zu den Grundlagen der Ethik spricht Kant von solchen Maximen in der Pädagogik, beispielsweise dort, wo er die These vertritt, die »Kultur der Gemütskräfte« beruhe »nicht auf Disziplin, sondern auf Maximen« (IX:475); oder in der Ethikvorlesung, wo es heißt es sei »ärger«, Böses zu tun aus Maximen denn aus Neigung, Gutes aber müsse man »aus Maximen« tun (Moral Mrongovius, XXVII:1502). Dieser Maximenbegriff ist sehr geläufig, und von ihm wird weiter unten noch die Rede sein. Diese Unterscheidungen erlauben es, die in der Literatur kontrovers diskutierten Fragen präzis zu beantworten, ob Maximen notwendig bewußt sind, ob wir sie uns ausdrücklich »setzen« oder »machen«, ob sie jeder Handlung zugrundeliegen, und ob sie Ausnahmen zulassen. Ihnen wollen wir uns nun zuwenden.
§18. Bewußtsein und Geltung 18.1 Es gibt mehr als eine Antwort auf die vieldiskutierte Frage, ob man sich seiner Maximen bewußt sei, je nachdem, in welchem Sinn man von »Maximen« spricht. Wenn man mit »Maxime« das konkrete Prinzip meint, das einer Handlung zugrundeliegt, ist es nicht der Fall, daß man sich dessen beim Handeln deutlich bewußt ist. Wir machen uns nicht mit jeder Handlung das Prinzip klar, das ihr zugrundeliegt. Kant sieht zudem prinzipielle Schwierigkeiten in diesem Bereich der Selbsterkenntnis, denn es muß oft unklar bleiben, welche Zwecke man tatsächlich mit seinem Tun verfolgt. 1
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Die Formulierung dieser Maxime ist unvollständig, weil man ihr den Zweck, der mit entsprechendem Handeln bzw. Wollen verfolgt wird, nicht eindeutig entnehmen kann; s.u., §19. Weniger mißverständlich wäre deshalb der Ausdruck »Ethik der festen Grundsätze«, der nicht an der Mehrdeutigkeit des Maximenbegriffs krankt. Der Begriff des (subjektiven) Grundsatzes ist im Kontext der Kantischen Moralphilosophie und in unserem eigenen Sprachgebrauch weit weniger mehrdeutig, wenn auch vielleicht nicht vollkommen eindeutig: Es grenzt an Paradoxie zu sagen, jemand habe es sich zum Grundsatz gemacht, keine Grundsätze zu haben. Doch für unsere Zwecke wie für die Zwecke Kants ist der Begriff des (festen) Grundsatzes eng genug.
§ 18. Bewußtsein und Geltung
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Dabei kommt es auf die Maxime an. Auch die höherstufigen Prinzipien, die uns nach Maximen erster Stufe handeln lassen, sind uns nicht notwendig bewußt. Notorisch schwierig ist es nach Kant, zu erkennen, ob man in einem gegebenen Falle nur pflichtmäßig oder tatsächlich aus Pflicht gehandelt hat, und das entscheidet sich nach der tatsächlichen Maxime der Handlung.1 Für feste Grundsätze gilt dagegen, daß sie ex hypothesi zumindest bewußt gefaßt sind; wenn sie wirksam sind und man nach ihnen handelt, sind sie auch in ihrer Ausführung bewußt, wenngleich wir kein sicheres Wissen von ihnen haben: Wir können uns immer über unsere Maximen täuschen. Schließlich haben wir eine Pflicht, bestimmte Maximen bewußt auszubilden und ihnen gemäß zu leben, wie in §20 zu zeigen sein wird. 18.2 Damit wende ich mich gegen die von Rüdiger Bittner und Otfried Höffe vertretene Auffassung von Maximen als wesentlich bewußten Lebensregeln von gewisser Allgemeinheit, die im deutschen Sprachraum vorherrscht. Diese Interpretation ist wenigstens einseitig. Bittner greift im Zuge der Diskussion der nun zu erörternden, der vorigen eng verwandten Frage, ob wir uns unsere Maximen selbst gesetzt haben, das Beispiel der zweiten Kritik von demjenigen auf, der keine Beleidigung ungerächt lassen will.2 Daraus, daß mein Verhalten Regelmäßigkeiten zeige, könne man nicht schließen, ob ich mir dieser Regelmäßigkeiten bewußt sei, oder sogar, ob ich das Bestehen der Regel selbst wolle. Das gelte selbst dann, wenn die betreffenden Handlungen bewußte Handlungen sind mit der Intention »dem Betreffenden zu schaden, sogar bewußt deshalb, weil er mich beleidigt hat«, ich jedoch weder wisse noch wolle, »daß ich immer so handle«. Bittner folgert: So kann die von dem äußeren Beobachter bemerkte Regelmäßigkeit zwar sinnvoll als ein Gesetz meines Wollens und Handelns verstanden werden, aber nicht als meine Maxime; denn ich habe sie mir nicht selbst zu meiner Regel gemacht. […] Maxime ist nur, was einer sich zur seinen macht.3 Es ist vollkommen richtig, daß wir uns unsere Maximen selbst machen; eben deshalb sind wir für unsere Handlungen verantwortlich. Doch darf man an dieses »Machen« keine allzu hohen Anforderungen stellen, zumindest fürs erste nicht. Es bedeutet nur, daß sie uns von unserer sinnlichen Natur nicht aufgezwungen werden;4 der erste Anstoß zum Handeln, der 1 2 3 4
Vgl. §19 zu Maximen und Zwecken, §23 zur Unterscheidung pflichtmäßig/aus Pflicht. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, A36; R. Bittner, »Maximen«, S.486. Rüdiger Bittner, »Maximen«, S.486 f., Hervorhebung JT. Andernfalls wäre unser Wille unfrei, und es wäre problematisch, überhaupt noch von »Maximen« zu sprechen; vgl. Einleitung, §1.2.
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IV. Maximen
erste Vorschlag einer Maxime, stammt zwar von ihr, doch bedarf es eines Actus der freien Willkür, um entsprechend (oder anders) zu handeln. Auf dieser Grundlage ist es allererst möglich, auf das Setzen unserer Maximen Aufmerksamkeit zu verwenden und sie hinsichtlich der Forderungen von Klugheit und Moral zu revidieren. Das bewußte Setzen von Maximen spielt also dort eine Rolle, wo es Kant um normative Ethik geht, also um das, was wir tun sollen. Denn es ist sicher richtig, daß wir gehalten sind, moralisch gute, feste Prinzipien auszubilden und nach ihnen zu handeln. Einerseits also handeln wir immer nach Maximen: menschliche Handlungen im engeren Sinne (nicht bloße Reflexe, Affekte oder Fälle, in denen wir unter pathologischem Einfluß die Kontrolle über unser Tun verloren haben) beruhen als solche auf — in einem schwachen Sinn — selbstgesetzen Prinzipien, auf Maximen; wir tragen Verantwortung für unser Handeln und seine subjektiven Prinzipien. Andererseits erwächst gerade aus der Tatsache, daß unser Begehrungsvermögen vernünftigen Einflüssen zugänglich ist, die Pflicht, diese Regeln zu prüfen, zu ordnen, zu revidieren: Wir sollen uns bewußt und eigenständig die richtigen moralischen Maximen setzen. 18.3 Geschehen alle Handlungen auf Grund von Maximen? — Legen wir die erste Bedeutung von »Maxime« zugrunde, so fällt die Antwort positiv aus. Selbst wenn wir uns der konkreten Maxime unserer Handlung nicht bewußt sind und uns nicht bewußt vorgenommen haben, nach ihr zu handeln, so müssen wir doch davon ausgehen, daß Maximen als selbstgewählte Prinzipien unserem Handeln zugrundeliegen, wenn wir uns als frei handelnde Wesen auffassen. Dies kann am Beispiel des falschen Versprechens aus der Grundlegung besonders einfach gezeigt werden: Dort ist zunächst davon die Rede, daß jemand Lust hat, ein falsches Versprechen zu tun, um sich aus Geldnot zu befreien. Diese Lust führt nicht automatisch zur Handlung, denn »noch […] hat er so viel Gewissen, sich zu fragen: ist es nicht unerlaubt und pflichtwidrig, sich auf solche Art aus Not zu helfen?« (IV:422) — dies ist nichts anderes als eine Variante der Frage nach der Übereinstimmung der Maxime der erwogenen Handlung, die er Lust hat zu tun, mit dem Sittengesetz. Dementsprechend heißt es im Folgenden: »Gesetzt aber, er beschlösse es doch, so würde seine Maxime der Handlung so lauten: wenn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen, und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen«1 (ebd.).
1
Man ergänze: um mich aus meiner unangenehmen Geldnot zu befreien.
§ 18. Bewußtsein und Geltung
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Seine Maxime würde lauten, wenn er so oder so handelte: d.h. wie er auch handelte, es gäbe eine Maxime, die nicht notwendig ein fester, bewußt gefaßter und feierlicher Beschluß ist, jetzt und immerdar so oder so zu handeln, sondern vielmehr das implizite Prinzip der konkreten Handlung, die dann erfolgt, auf die er Lust hat oder zu der seine Vernunft ihn drängt, je nachdem. Wenn Maximen der ersten Art immer vorliegen, lassen sie a fortiori nicht zu, daß man ihnen zuwider handelt — weil man gerade ihnen gemäß handelt. Die Möglichkeit, daß man seinen Maximen zuwiderhandelt, kommt erst dort ins Spiel, wo Maximen höherstufige Prinzipien sind, möglicherweise auch Prinzipien von höherer Allgemeinheit. In diesem Sinne konstatiert die Religionsschrift, »zwischen der Maxime und der Tat« sei »noch ein großer Zwischenraum« (VI:46).1 Daß feste Maximen in der dritten Bedeutung, also feierliche Vorsätze und Lebensregeln im Bittnerschen Sinn, nicht all unseren Handlungen zugrundeliegen und man ihnen, wenn man sie hat, auch zuwider handeln kann, ist offenkundig. 18.4 Lassen Maximen Ausnahmen zu? — Die Antwort auf diese Frage hängt nicht nur davon ab, was man unter »Maximen« versteht, sondern auch davon, was man meint, wenn man sagt, etwas lasse eine Ausnahme zu. Wenn es richtig ist, daß Menschen bisweilen gegen ihre eigenen Maximen höherer Stufe handeln, so lassen sie zumindest in dem Sinne Ausnahmen zu, daß ihnen de facto nicht uneingeschränkt Rechnung getragen wird. Albrecht sagt, das Resumé Ralf Ludwigs, Maximen ließen Ausnahmen zu, beleuchte »die traurige Schieflage der Forschung« (»Kants Maximenethik«, S.145); und er bekräftigt, das Gegenteil sei richtig, indem Maximen als solche »allemal auf dauerhafte Befolgung angelegt« seien, und wenig später spricht er sogar von der »Unwandelbarkeit« unserer Maximen (ebd.). Als deskriptive These ist sie klar verfehlt.2 Richtig ist, daß Maximen in ihrem Anspruch auf Gültigkeit keine Ausnahmen verstatten. Maximen sind als Grundsätze, die Gegenstand vernünftiger Überprüfung sein können, auf Regelmäßigkeit angelegt, doch wenn man in einer bestimmten Situation nach einer Maxime handelt, so folgt daraus noch lange nicht, daß man auch weiterhin nach dieser Maxime handelt. Die Konfusion, die bei der Frage nach Ausnahmen und Geltungsanspruch in der Literatur herrscht, läßt sich sehr gut an Otfried Höffes Cha1
2
An dieser Stelle dürfte Kant Maximen höchster Allgemeinheit im Auge haben; vgl. §17.2, ferner Religion, VI:58 Anm., wo es um die Erschwerung der Ausführung der guten Maxime geht. Vgl. Ralf Ludwig, Kategorischer Imperativ und Metaphysik der Sitten, S.51.
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IV. Maximen
rakterisierung von Maximen als gleichförmige Regeln zeigen. Er macht denselben Fehler, der auch Albrechts These zugrundezuliegen scheint. Höffe zufolge gelten Maximen »nicht nur für einen unwiederholbar einmaligen Fall, sondern für eine Mehrzahl gleicher Fälle«.1 Das ist nun ganz im Sinne Kants; doch es rechtfertigt nicht die Schlußfolgerung, die Höffe im direkt folgenden Satz zieht: Durch Maximen werden die Bestimmungsgründe des Wollens vereinheitlicht; in die Kontingenz des Setzens und Verfolgens von Zwecken wird eine gewisse Ordnung und Kontinuität gebracht.2
Denn aus dem Geltungsanspruch von Maximen folgt nicht, daß ihm auch Rechnung getragen wird; und nur, wenn ein Akteur beständig nach einer Maxime handelt und sie nicht etwa ändert, tritt die beschriebene Konsequenz ein, daß Ordnung und Kontinuität in seinem Handeln sichtbar werden.3 Dabei ergibt sich der Geltungsanspruch der Maxime als »allgemeiner Regel, nach der man sich verhalten will« direkt aus der Natur unserer Vernunft: Wenn es in einer gegebenen Situation vernünftig war, durch eine Handlung bestimmter Art einen Zweck zu verfolgen, so wird es auch in allen hinreichend ähnlichen Situationen vernünftig sein, eine Handlung derselben Art auszuführen. Vernunft ist nicht zeitabhängig, sie selbst fordert Konstanz im Handeln, indem man sich an eine vernünftige Regel hält. Doch unsere Natur als sinnlich affizierte und versuchte Vernunftwesen führt dazu, daß diese Konstanz alles andere als selbstverständlich ist. Wenn man Vernunftkriterien nicht nachkommt, können auch Konflikte einzelner höherstufiger Maximen entstehen. Zusammenfassend läßt sich über den Grund der Verwirrung, welche die vier behandelten Themen in der Literatur ausgelöst haben, das folgende sagen: Die in der »Schieflage der Forschung« ergibt sich, allgemein gesprochen, daraus, daß die Frage, was es denn überhaupt heißen soll, daß eine »Maxime« eine »Ausnahme zulasse«, nicht gestellt wurde, bevor man sich daran begab, die Frage zu beantworten, ob Maximen Ausnahmen zulassen. Sie ist im besonderen erstens darin zu suchen, daß man von einem einheitlichen Maximenbegriff ausging, wo zumindest zwei (Maximen als konkrete Handlungsprinzipien und Maximen als Grundsätze) anzusetzen gewesen wären; dann aber, zweitens, vor allem darin, daß man Sein und Sollen nicht hinreichend unterschied: Kant fordert von uns, daß wir bewußt moralische Maximen ausbilden und stärken, und als den Geboten der Ver1 2 3
Otfried Höffe, »Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen«, S.88. Ebd. In einem ganz anderen Sinne wirken Maximen tatsächlich vereinheitlichend: sie ordnen und koordinieren Regeln, die unter ihnen stehen; vgl. §19.
§19. Regeln und Maximen
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nunft unterliegende Regeln erheben Maximen Geltungsansprüche, die über die Fälle hinausweisen, in denen sie tatsächlich Handlungen zugrundeliegen; allein, das bedeutet gerade nicht, daß wir schon immer in diesem Sinne nach (konstanten) Maximen handeln. Nur etwas, das nicht per se vorliegt, kann man von einem Menschen als einem freien Wesen fordern — eine Einsicht, die Kant nicht gerade hier vergessen haben wird. Bevor wir uns der Aufgabe widmen können, die Kantische Ethik der Maximen qua Grundsätze zu beschreiben, ist noch zu klären, wie allgemein Maximen sind bzw. sein sollten und wie sie sich von bloßen Regeln unterscheiden.
§19. Regeln und Maximen 19.1 Maximen unterscheiden sich von bloßen Regeln dadurch, daß sie nicht nur besagen, man werde sich in einer bestimmten Situation so oder so verhalten, sondern neben dieser Absicht auch einen Zweck spezifizieren, um dessentwillen man diese Absicht verfolgt. Wenn es denn richtig ist, daß in Maximen zum Ausdruck kommt, »was für ein Mensch ich sein will«, dann aus diesem Grunde.1 Weil Maximen essentiell Zwecke enthalten und die Wahl der Maxime einer Handlung das Moment ihrer Freiheit ausmacht, sagt Kant, es zeichne den Menschen aus, daß er die Zwecke seines Handelns selbst setzten kann (vgl. Tugendlehre, VI:389). Obwohl Kant beispielsweise in der Grundlegung ausdrücklich sagt, jede Maxime habe »eine Materie, nämlich einen Zweck« (IV:436), ist dieses Charakteristikum in seinen eigenen Beispielen vom Maximen oft nicht explizit zu finden. Die wahrscheinliche Erklärung liegt darin, daß er der Meinung war, der verfolgte Zweck — nicht die bloße Absicht der Einzelhandlung — liege auf der Hand. Das zweite Beispiel für die Anwendung der Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung kann uns zur Illustration dienen. Die Maxime lautet dort: »[W]enn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen, und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen« (IV:422). Zu welchem Zweck will ich dieses Versprechen geben? Selbstverständlich zu dem von mir erstrebten Zweck, mich 1
So Höffe und Bittner wiederholt. Vgl. Bittner, »Maximen«, S.489 (s.u., §20.1); Höffe, »Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen«, S.90. — Wie Kant spreche ich hier und im folgenden von Regeln zum Teil im objektiven Sinn, als Regeln der Geschicklichkeit, zumeist jedoch im subjektiven Sinn, als Regeln, die ich mir zu eigen gemacht habe. Von Maximen wird, soweit nicht anders angegeben, in den geläufigeren und aufeinander aufbauenden, komplementären ersten drei Bedeutungen die Rede sein.
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IV. Maximen
aus der unangenehmen Geldnot zu befreien. Hier ist der Zweck recht offensichtlich. Doch bei der Lektüre der Kantischen Beispiele ist oft einige Aufmerksamkeit nötig, ehe man den Zweck erkennt, der mit einer Maxime verfolgt werden soll. Nicht immer ist es so einfach wie in diesem Fall, für ein Beispiel bei Kant den Zweck anzugeben, der in einer Maxime enthalten ist. Welchen Zweck verfolge ich zum Beispiel mit der Maxime aus der Anmerkung zu §1 der Kritik der praktischen Vernunft, keine Beleidigung ungerächt zu erdulden (A36)? Mehrere Antworten sind möglich, etwa die, dem Beleidiger bewußt zu schaden, dem eigenen Groll Genüge zu tun, eine (falsch verstandene) Gerechtigkeit walten zu lassen oder einfach, um sich zu rächen, also als Selbstzweck. Die Erklärung dafür, daß Kant an dieser Stelle keinen Zweck angibt, ist die, daß er der Ansicht war, kein Zweck könne eine solche Maxime rechtfertigen. So wird unsere Intuition durch den kategorischen Imperativ bestätigt, daß es moralisch falsch ist, möglichen Rachegelüsten nachzugehen. Eine Rachemaxime ist eindeutig nicht universalisierbar, wenn sie die Gestalt hat, die Kant ihr hier gibt; denn ein erlittenes Unrecht wird mit einem anderen vergolten, für das sich das Opfer der Rache nach derselben Maxime wiederum rächen wird, etc. Bei allgemeiner Verbreitung dieser Maxime wäre die ganze Welt sehr bald nur noch damit beschäftigt, sich aneinander zu rächen.1 Man sollte natürlich mit nüchternem Kopf einen Täter seiner verdienten Strafe zuführen. Selbst wenn das eine (äußere) Handlung ist, die ein anderer aus Rachsucht ausgeführt hätte, wäre es doch falsch zu sagen, wir hätten uns so aus Gerechtigkeitsstreben und ohne uns bestimmende Emotionen an dem Übeltäter gerächt. Anders steht es um das erste Beispiel bei Kants Diskussion der Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung, obwohl es für diesen Fall einfacher ist, den konkreten Zweck, nämlich die Vermeidung von drohenden Unannehmlichkeiten, zu spezifizieren. Wie Allen Wood bemerkt, hat man die Beispiele oft so aufgefaßt, als sollten sie zeigen, es sei immer pflichtwidrig, sich zu töten und falsche Versprechen zu geben, und es sei ebenso stets geboten, die eigenen Talente zu kultivieren und anderen zu helfen.2 Wood wendet sich gegen diese Deutung: Es sei eine Sache zu zeigen, daß eine Handlung falsch sei, wenn sie auf Grund einer bestimmten Maxime geschehe, eine ganz andere zu beweisen, daß eine Handlung einer bestimmten Art falsch sei, bzw. daß es immer der Pflicht entgegen sei, Handlungen dieser Art auszuführen. Dementsprechend bedeute zu zeigen, daß Selbsttötung falsch sei, wenn sie auf Grund einer 1 2
Man vgl. auch Kants kritische Ausführungen zum Duell in der »Rechtslehre«, VI:336f. A. Wood, »Kant on False Promises«, S.614.
§19. Regeln und Maximen
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bestimmten Maxime geschehe, noch lange nicht, daß es immer moralisch falsch sei, Suizid zu begehen, bzw. daß wir eine unhintergehbare Pflicht hätten, uns nicht zu töten. Und dann: »To show that suicide is always wrong, Kant would have to show that no maxim involving suicide could be universalizable. But Kant plainly does not do this in the Foundations or even attempt to do it.« (ebd.) Soweit die Paraphrase reicht, ist Wood Recht zu geben; schließlich gehen Grund- und Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs auf Maximen, nicht auf Handlungen. Doch mit dem Zitierten schießt er über sein Ziel hinaus. Zwar ist es richtig, daß Kant mit seinem ersten Beispiel nicht zeigen kann, daß es unter allen Umständen pflichtwidrig ist, sich zu töten. Er schließt nicht aus, daß es in gewissen Situationen gute Gründe für den Suizid gibt. In der »Tugendlehre« der Metaphysik der Sitten führt Kant nach Ende des Abschnitts »Über die Selbstentleibung« mehrere »kasuistische Fragen« an, die es wahrscheinlich machen, daß er Selbsttötung in bestimmten Fällen für erlaubt oder sogar geboten gehalten hat, wenngleich die Antworten auf diese Fragen fehlen. So fragt er zum Beispiel in Anspielung auf Friedrich II., ob man es »einem großen unlängst verstorbenen Monarchen« anrechnen könne, »daß er ein behend wirkendes Gift bei sich führte, vermutlich damit, wenn er in dem Kriege, den er persönlich führte, gefangen würde, er nicht etwa genötigt sei, Bedingungen der Auslösung einzugehen, die seinem Staate nachteilig sein könnten…« (VI:423). Doch durch die erste Illustration der Grundlegung ist mehr gezeigt, als das von Wood Zugegebene, daß nur die dort angeführte Maxime »Ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen« (IV:422) als nicht zum allgemeinen Naturgesetz tauglich der Pflicht widerspricht. Betrachtet man nämlich den Grund für dieses Widersprechen, so zeigt sich, daß für jede Maxime, die einen Zweck spezifiziert, der auf dem Nachgeben angesichts einer Neigung (auf Selbstliebe) beruht, dasselbe gilt. Im Falle der Maxime, so wie sie Kant formuliert, ist der Zweck die Vermeidung großer Unannehmlichkeiten; doch für jeden Zweck, den uns die Selbstliebe nahebringen möchte, könnte Kant auf dieselbe Weise zeigen, daß sie nicht zum allgemeinen Naturgesetz taugt, wie er es mit der Maxime zu tun versucht, die er im Text anführt. Das Argument kann also für jeden Zweck einer bestimmten Art ähnlich rekonstruiert werden. (Damit steht freilich noch nicht fest, ob Kants Argumente gegen eine Selbsttötung aus Neigung haltbar sind.
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IV. Maximen
Ob es andererseits auch Fälle gibt, in denen die Pflicht es erlaubt oder sogar fordert, sich das Leben zu nehmen, bleibt (anders als beim Rachenehmen) offen.1 Manchmal führt Kant jedoch die Zwecke, die durch Maximen verfolgt werden, ausdrücklich an. Ein besonders erhellendes Beispiel findet sich in der »Tugendlehre« unter der Überschrift »Vom Geize«: Die M a x i m e des h a b s ü c h t i g e n G e i z e s (als [des? JT] Verschwenders) ist: alle Mittel des Wohllebens i n d e r A b s i c h t a u f d e n G e n u ß anzuschaffen und zu erhalten. — Die des k a r g e n Geizes ist hingegen der Erwerb sowohl, als die Erhaltung aller Mittel des Wohllebens, aber o h n e A b s i c h t a u f d e n G e n u ß […].2
Der Verschwender und der Karge unterscheiden sich wiederum nicht so sehr in ihren Handlungen, die das Einbringen von Geld betreffen, als in den Zwecken, die sie damit verfolgen; und diese Zwecke sind Teil ihrer jeweiligen Maximen, die sonst gleich sein und sogar ähnliche Regeln unter sich enthalten mögen. Sie könnten etwa sein: das eigene Vermögen mit allen sicheren Mitteln zu vergrößern, (i) um daraus möglichst viel Genuß zu ziehen oder (ii) als Selbstzweck.3 Die oberste Maxime der Moral allein ist ganz formal: Ich will den Anforderungen der Moral als solchen nachkommen (und erst dann auf meine egoistischen Interessen sehen). In ihr wird auf keinen weitergehenden, durch den Willen hervorzubringenden Zweck verwiesen.4 19.2 Maximen spezifizieren die Zwecke, die man in seinem Handeln verfolgt. Unter Maximen stehen Regeln, die man auch zum Handeln braucht, obwohl sie nicht den Status von Grundsätzen oder Prinzipien haben und deshalb keine Zwecke enthalten. Laut §1 der Kritik der praktischen Ver1
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Ebenso kann es noch andere Gründe geben, die eine Selbsttötung unmoralisch sein lassen, womöglich viel bessere, als diejenigen, die Kant uns zu bieten hat; z.B. unsere Pflichten anderen Menschen gegenüber. VI:432; vgl. VI:404, Anm.: »Der G e i z (als Laster) ist von der Sparsamkeit (als Tugend) nicht darin unterschieden, daß diese z u w e i t getrieben wird, sondern hat ein ganz a n d e r e s P r i n z i p (Maxime), nämlich den Zweck der Haushaltung nicht im G e n u ß seines Vermögens, sondern mit Entsagung auf denselben bloß im B e s i t z desselben zu setzen: so wie das Laster der Ve r s c h w e n d u n g nicht im Übermaße des Genusses seines Vermögens, sondern in der schlechten Maxime zu suchen ist, die den Genuß, ohne auf die Erhaltung desselben zu sehen, zum alleinigen Zweck macht.« Übrigens spricht Kant hier vom Geiz in der alten Bedeutung des Wortes, die noch in unserem »Ehergeiz« anklingt: Geiz ist dann nicht nur übertriebene Sparsamkeit, sondern auch eine Art von Habsucht. Hier besteht eine Parallele zum theoretischen Maximenbegriff, wie er in dem im Jahre 1800 von Gottlob Benjamin Jäsche herausgegebenen Kollegmanuskripts Kants über Logik definiert wird. Dort heißt es, die Philosophie »nach dem Weltbegriffe« könne eine Wissenschaft »von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft« genannt werden, »sofern man unter Maxime das innere Prinzip der Wahl unter verschiedenen Zwecken« verstehe (XI:24). — In dieselbe Richtung weist die Gegenüberstellung von Ethik und Recht auf Seite VI:380 der Metaphysik der Sitten. Vgl. Paton, The Categorical Imperative, S.136.
§19. Regeln und Maximen
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nunft soll die allgemeine Willensbestimmung eines praktischen Grundsatzes, also etwa einer Maxime, »mehrere praktische Regeln unter sich« haben (A35). Wozu dienen Regeln? Wie helfen sie uns beim Handeln? Wir können uns bei der Antwort auf diese Frage an Lewis White Becks Analyse des Handelns orientieren.1 Demnach handeln wir nach Maximen, indem die unter eine Maxime fallende Handlungsoption mittels einer Regel als unter die Maxime subsumierbar erkannt wird: Unrecht zu rächen, ist stets meine Absicht — Maxime oder Grundsatz.2 Diese Lüge würde ein Unrecht rächen — nach einer Regel. Also lüge ich.3
Indem nach der Vorstellung objektiver Gesetze (oder gegen sie)4 eine Maxime gewählt wird, erfolgt — bei durch Urteilskraft subsumierter klarer Handlungsoption — die Handlung. Hier tritt die Verbindung von Willkür, Handlung und Maxime hervor.5 19.3 Zwei problematische Auffassungen der Natur von Maximen, aus denen eine seltsame Vermengung von Regel- und Maximenbegriff spricht, sollen noch behandelt werden, bevor das Verhältnis von Maximen, Zwecken und Regeln sozusagen »in der Praxis« untersucht werden wird.
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L. W. Beck, Kommentar, S.84 f. Das »stets« gibt dem Leser einen Hinweis auf den Zweck, nämlich: kein Unrecht ungerächt zu lassen. Ich ersetze Becks »Also beabsichtige ich zu lügen.« durch die Handlung der Lüge, wie es die aristotelische Tradition fordert, in der Kant steht. Durch die Wahl der Maxime (erster Stufe) wird die Handlung vollzogen. Zu Kants aristotelischen Wurzeln s.u., §21.1. Vgl. Kapitel II. Die Stellen, die Beck angibt, um seine Interpretation zu stützen, scheinen mir dazu nur begrenzt geeignet. In der ersten Passage (Kritik der praktischen Vernunft, A162) begründet Kant die Einteilung der Analytik, die er mittels eines syllogistischen Beispiels illustriert, die zweite (»Rechtslehre«, VI:437 f.) steht ganz in einem juristischen, nicht im handlungstheoretischen oder moralphilosophischen Kontext. Einschlägiger ist Reflexion 1164, die aus den Jahren 1772–75 stammen dürfte: »Der Character erfodert zuerst, daß man sich maximen mache und denn Regeln. Aber Regeln, die nicht durch maximen eingeschrankt seyn, sind pedantisch, wenn sie ihn selbst einschränken, und storrisch, ungesellig, wenn sie andre einschränken. Sie sind der Gangelwagen der Unmündigen. Die Maxime bestimmt der Urteilskraft den Fall, der unter der Regel ist.« Oder soll es heißen: Der Maxime bestimmt die Urteilskraft den Fall etc.? Eine weitere Möglichkeit hat Höffe, vielleicht auch in Anschluß an diese Reflexion, entwickelt. Nach Höffe hat die Maxime »im Grundsatz ihr normatives Kriterium, aus dem sich erst mit Hilfe von produktiven Beurteilungsprozessen die besonderen Regeln gewinnen lassen.« (»Der kategorische Imperativ als Kriterium der Sittlichkeit«, S.91 f.) Das wird kaum funktionieren, denn die Regeln, in der Grundlegung der Geschicklichkeit zugeordnet, sind empirischen Ursprungs und müssen Maximen die Anwendung erleichtern. — Vermutlich meint Kant mit »Regeln, die nicht durch Maximen eingeschrankt seyn« solche Regeln, die man zum Prinzip, d.h. zur Maxime dadurch gemacht hat, daß man sie mit weitergehenden Zwecken versieht oder gar als Selbstzweck betreibt. Sie sind dann unter Umständen nicht nur »storrisch« oder »ungesellig«, sondern sogar moralisch bedenklich; s.u., §19.4 f.
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IV. Maximen
Zunächst die Bittnersche Lesart, der zufolge Maximen als solche Lebensregeln von gewisser Allgemeinheit sind, die mehrere konkrete Regeln überspannen. Sie ist mit den Beispielen nicht durchgängig vereinbar. Wie wir bereits gesehen haben ist im ersten Beispiel der Erläuterung der Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs in der Grundlegung jemand versucht, nach der Maxime zu handeln, sich das Leben zu nehmen, wenn es »bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeiten verspricht«. Das ist eine sehr enge »Lebensregel«, wenn man sie partout so nennen möchte.1 Auf der anderen Seite zieht Michael Albrecht in seinem Aufsatz »Kants Maximenethik und ihre Begründung« die frühen Kantbiographien für weitere Beispielmaximen heran, die ebenfalls sehr speziell sind, so speziell, daß sie für Höffe und Bittner als Maximen ohne Zweifel nicht in Betracht kommen: Ebenso hatte er sich über sein Tabakrauchen, welches vielleicht sein höchstes sinnliches Vergnügen war, die Maxime gemacht, täglich nur eine Tonpfeife auszurauchen, weil er auch nicht absah, wo er sonst stehen bleiben sollte. Hätte es eine Art von Tabakpfeifen gegeben, die mehrere kleinere in sich faßt, so hätte er sie gewiß benutzt, weil dies nicht gegen seine Maxime stritt, aber selbst zu einem andern Pfeifenkopf war er durchaus nicht zu bereden.2
Dies sind R. B. Jachmanns Worte. Albrecht möchte dieses Zitat zur Stützung seiner These, Maximen seien Lebensregeln, verwenden. Dies Verfahren ist fragwürdig. Bieten die frühen Kantbiographien wirklich ein Veranschaulichungsmaterial für Kants philosophischen Maximenbegriff, das nur »von der Forschung bisher nicht herangezogen wurde«, wie Albrecht meint?3 Mir scheint Jachmann (nicht einmal Kant selbst!) dort eher von von »Maximen« in einem uns auch heute noch geläufigen alltagssprachlichen Sinne zu sprechen, so daß wir uns von ihnen zwar möglicherweise Aufschlußreiches über Kants Leben, nicht aber über seine Moralphilosophie und Handlungstheorie erhoffen können. »Nur eine Pfeife pro Tag« taugt — hoffentlich auch für den historischen Kant — bestenfalls zur Anwendungsregel, die unter der Maxime stehen kann, körperlichen Genüssen nur so weit nachzugehen, daß die eigene Gesundheit nicht gefährdet wird.4 1 2 3 4
Der Grund dafür, daß moralische Maximen eine gewisse Allgemeinheit auszeichnet, wird in §19.6 deutlich werden. In: Borowski/Jachmann/Wasianski, Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, S.158 f.; vgl. Albrecht, »Kants Maximenethik«, S.133. M. Albrecht, »Kants Maximenethik«, S.133 f. Zu Kants geregeltem Lebenswandel und der biographischen Bedeutung des 40. Lebensjahrs vgl. man Manfred Kuehn, Kant, S. 144–187 (der allerdings wie Albrecht einen Zusammenhang zwischen alltäglichem und philosophischem Maximenbegriff herstellen möchte).
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19.4 Regeln bestimmen also, auf welche Weise ein Ziel, das zu verfolgen meine Maxime angibt, tatsächlich verfolgt werden soll. Sie geben sozusagen vor, wie man »geschickt« die eigenen Zwecke verfolgt. Wenn es sich beispielsweise eine Professorin zur Maxime gemacht hat, Ungesundes zu vermeiden, um ein von Krankheiten möglichst unbeschwertes Leben zu führen, so reicht das zum konkreten Handeln noch nicht aus. Sie wird sich vornehmen, auf übermäßig viel fette oder süße Nahrung zu verzichten, mit dem Fahrrad zu ihren Lehrveranstaltungen zu fahren, Alkohol und Nikotin zu meiden etc.; doch wird sie das Radfahren z.B. nicht zum Prinzip erheben, es steht allein im Dienst der Maxime und ihres Zwecks der Gesundheit. Die Umstände können sie dazu zwingen, das Radfahren aufzugeben. Dann muß sie die in der Maxime spezifizierten Zwecke anders zu verwirklichen suchen, etwa dadurch, daß sie hin und wieder Sport treibt. Es grenzt an »Mikrologie«, wie Kant selbst sagt, wenn man für jeden Situationstyp grundsätzlich festlegt, wie man verfahren will.1 (Das läßt im übrigen auch unwahrscheinlich erscheinen, daß seine »Pfeifenmaxime« eine Maxime, ein praktischer Grundsatz, im Sinn der Kantischen Ethik war, wie Albrecht meint.) Man darf die Befolgung einer bloßen Regel, die ein Mittel zum Zweck angibt und deshalb von ihm abhängig ist, nicht selbst zum Zweck werden lassen. Das hieße, eine Regel zur Maxime zu machen, und das kann nicht nur »mikrologisch«, sondern auch unmoralisch sein, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden wird.2 Michael Albrecht und Harald Köhl sind uneinig in der Frage, ob man sich »für alles und jedes« Maximen macht. Köhl ist der Ansicht, daß die Kantische Theorie dies fordere, hält es jedoch für falsch, daß wir es tun.3 Albrecht gibt Köhl in systematischer Hinsicht recht und ergänzt: »Daß er damit Kant entschieden zu widersprechen meint, ist Köhls Irrtum.«4 — Machen wir uns für alles und jedes Maximen? Mit Immanuel Kant können wir antworten: hoffentlich nicht! 19.5 Maximen lassen sich somit durch Zwecke individuieren. Damit können wir einen Einwand zurückweisen, den Henry Allison gegen eine These Onora O’Neills erhoben hat, und überdies diese These präzisieren. In ihrer Rezension von Alasdair MacIntyres »After Virtue« versucht O’Neill Kant
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Vgl. »Tugendlehre«, VI:409; Albrecht, »Kants Maximenethik«, S.131. Natürlich dürfen Maximen auch nicht zu allgemein sein; denn je weiter und allgemeiner eine Maxime ist, desto mehr Spielraum wird den in einer gegebenen Situation vorherrschenden Neigungen eingeräumt. Maximen des richtigen Allgemeinheitsgrades zu haben, bedeutet, den Neigungen einen angemessenen, vernünftigen Spielraum zuzugestehen. H. Köhl, Kants Gesinnungsethik, S.60. M. Albrecht, »Kants Maximenethik«, S.131.
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IV. Maximen
gegen den Vorwurf in Schutz zu nehmen, dieser sei von kulturinvarianten und starren Normen ausgegangen, die für uns heute nicht akzeptabel seien. O’Neill legt einen Maximenbegriff zugrunde, der wie der erste oben unterschiedene eine Maxime als das Prinzip tatsächlichen Wollens und Handelns auffaßt und nach dem Menschen immer nach Maximen handeln. Den naheliegenden Gedanken, Maximen mit Absichten zu identifizieren, lehnt sie allerdings mit einem guten Grund ab: Es sei absurd, daß wir für all unsere verschiedenen Einzelabsichten ebensoviele einzelne Maximen haben sollten; es sei wesentlich plausibler, anzunehmen, daß mehrere Absichten von einer Maxime unter einen einheitlichen Zweck gestellt würden1 — wie es die Allgemeinheit der Willensbestimmung nahelegt, die praktischen Grundsäzten eigen ist. Ihr nun folgendes Beispiel ist, explizit gemacht, das der folgenden Maxime: »Wenn ich einen Gast habe, möchte ich ihn auf angenehme Weise willkommen heißen, um ihm eine Freude zu machen.« Eine Möglichkeit, nach dieser Maxime zu handeln, ist, ihm eine Tasse Tee anzubieten. Wenn man jemandem aber eine Tasse Tee anbieten möchte, muß man Wasser kochen, Zucker bereitstellen, etc. — dies sind einzelne Handlungen, mit denen man einzelne Absichten verfolgt, die bloßen Regeln entsprechen. Die Maxime bleibt gleich. Wir sehen leicht, daß O’Neills Unterscheidung zwischen einzelnen Absichten und Maximen auf der obigen Unterscheidung zwischen Regeln und Maximen beruht, indem maximengeleitetes Handeln nach Regeln, die unter die Maxime fallen, eben Handeln ist, das bestimmte Absichten des in der Maxime liegenden Zwecks wegen ausführt; denn das geschieht nach Regeln. Die Gastgeberin möchte möglichst geschickt bei der Ausführung ihrer Maxime sein.2 Es ist nicht nur ungereimt, für einzelne Intentionen unterhalb der Ebene der Maximen konkreter Handlungen wiederum viele einzelne Maximen anzusetzen: Nach dem Gesagten ist es sogar so, daß Regeln, wenn man sie zur Maxime erhebt, moralisch unzulässig sein können. Wenn es sich etwa jemand zum Grundsatz machte, einem Gast Tee anzubieten, um ihn will1
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Sie schreibt: »[…] there are many such specific intentions in most sequences of action, but there is supposedly a single maxim.« (»Kant after Virtue«, S.151, vgl. »Consistency in Action«, S.84.). Die Wendung gegen MacIntyres These ergibt sich dadurch, daß ein Grieche derselben Maxime durch vollkommen andere Handlungen und damit Einzelabsichten hätte nachkommen können. Der soeben vollzogene Brückenschlag zwischen einzelnen Intentionen und Regeln (der Geschicklichkeit, im Gegensatz zu den koordinierenden Maximen) findet sich bei O’Neill nicht, ist jedoch sicher in ihrem Sinn. Die englische Gastgeberin wird es schwierig haben, einen Athener der klassischen Zeit auf geschickte Weise willkommen zu heißen, wenn sie sich an die ihr zur Gewohnheit gewordenen Regeln hält! Was geschickt ist, variiert von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit; die Sittlichkeit bleibt.
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kommen zu heißen, so wäre diese Maxime nicht universalisierbar, weil man Zweck und Mittel verwechselt hat. Noch absurder, und offensichtlich nicht universalisierbar, ist die Maxime, sich die Begrüßung eines Gastes mit einer Tasse Tee zum Selbstzweck zu machen. Diese Maximen mögen moralisch harmlos erscheinen, allenfalls »ungesellig«, doch sind sie es bei näherer Betrachtung, die auch Extremfälle erwägt, nicht ganz: Aus ihnen spricht mangelnde Flexibilität und mangelndes Eingehen auf die Wünsche des Gastes, der aus »Prinzipienreiterei« gezwungen wird, entweder Tee zu trinken oder durstig zu bleiben. Die Regel, jemanden mit einer Tasse Tee auf nette Weise willkommen zu heißen, hat beschränkte Gültigkeit; sie kann nicht zum Prinzip erhoben werden, sondern muß ihrerseits mit Urteilskraft unter ein Prinzip gestellt werden: unter eine Maxime.1 Während wir uns der befolgten Regeln sicherlich bewußt sind, wenn wir nach ihnen handeln, bleibt die Maxime mit ihrem übergeordneten Zweck, der eigentliche locus moralischer Bewertung, uns und anderen oft unklar. Henry Allison wendet gegen Onora O’Neill ein, Kants Agnostizismus hinsichtlich der Moralität unserer Handlungen dürfe nicht als Agnostizismus hinsichtlich unserer Maximen verstanden werden.2 Dagegen spricht, daß Kant immer wieder wie hier in der Metaphysik der Sitten die Maxime den Gegenstand moralischer Bewertung nennt, nicht den bloßen Akt, die Handlung: Die Übereinstimmung einer Handlung mit dem Pflichtgesetze ist die G e s e t z m ä ß i g k e i t (legalitas) — die der Maxime der Handlung mit dem Gesetze die S i t t l i c h k e i t (moralitas) derselben. (VI:225)
Der Grund für diese Unterscheidung ist, daß es gerade die in der Maxime spezifizierten, uns beim Handeln nicht notwendig bewußten Zwecke sind, die moralische Relevanz besitzen. Noch deutlicher wird dies in einem Passus aus der Religionsschrift: Nun kann man zwar gesetzwidrige Handlungen durch Erfahrung bemerken, auch (wenigstens an sich selbst) daß sie mit Bewußtsein gesetzwidrig sind; aber die Maximen kann man nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst, mithin das Urteil, daß der Täter ein böser Mensch sei, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen. Also müßte sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime und aus
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Als Kontinentaleuropäer bekommt man in Großbritannien tatsächlich des öfteren auch Kaffee angeboten, weil gute britische Gastgeber ihre — gleichbleibende — lobenswerte Maxime anhand der Regel realisieren, daß man uns vielleicht mit einer Tasse Kaffee eine größere Freude macht als mit einer Tasse Tee. Allerdings sollten sie es sich auch nicht zur Maxime machen, alle Gäste vom Kontinent mit englischem Kaffee zu begrüßen! H. E. Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.93.
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IV. Maximen
dieser auf einen in dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch-bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen lassen, um einen Menschen böse zu nennen. (Religion, VI:20)
Maximen, Gesinnungen, Grundsätze sind direkt nicht erfahrbar. Diesen Punkt übergeht Allison auch, wenn er schreibt: »One might be aware of the fact that one is acting on a maxim, say of treating people fairly, without being sure whether one is doing this from duty or self-interest.« (ebd.) und übersieht dabei, ein weiteres Mal, daß die bloße Absicht, Menschen fair zu behandeln, noch nicht zur Maxime ausreicht, eben weil unbestimmt ist, welches die Gründe für das eigene Handeln sind.1 Die Moralität des Krämers der Grundlegung hinge nicht von seiner Maxime ab, wenn diese nur darin bestände, Menschen anständig zu behandeln. Daß die Maximen aus bestimmten Gründen angenommen werden, die wiederum Maximen sind und die ebenfalls moralisch oder unmoralisch sein können, ist eher ein Argument für O’Neill als für Allison, wenn dieser auch versucht, durch die Unterscheidung des subjektiven Grundes und der Maxime die Maxime selbst von weitergehenden Zwecken freizuhalten: In that case, then, it becomes necessary to distinguish, as Kant does in Religion within the Limits of Reason Alone, between the maxim and the ‘ultimate subjective ground’ of the adoption of the maxim [VI:25]. (ebd.)
Maximen (und ihre Zwecke) werden im Lichte höherer Maximen (und ihrer Zwecke) gewählt.2 19.6 Ein prominentes Thema in der Literatur der vergangenen zwei Jahrzehnte sind sogenannte »puzzle maxims«. Bittner nennt die subjektive Handlungsregel, jeden Montag bei Freunden zu Abend zu essen, und zwar nur einmal am Tage und in deren Gesellschaft, einen Vorsatz, der mangels Allgemeinheit nicht zur Maxime taugte.3 Der weitere Verlauf von Bittners Untersuchung scheint zu ergeben, daß eine Maxime nur dann Maxime im eigentlichen Sinne ist, kein bloßer Vorsatz, wenn es sich dabei um eine 1
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Die Situation ist vermutich noch komplizierter. Sprechen wir von der Maxime, Menschen im moralischen Sinn anständig zu behandeln, so ist darin natürlich ein angemessener Zweck enthalten, nämlich die Moralität. Dann kann man sich freilich nicht sicher sein, ob man in seinem Handeln auch genau diese Maxime befolgt. Geht es allderings um eine bloße Absichtserklärung, Menschen in Übereinstimmung mit allgemein anerkannten Maßstäben der Anständigkeit zu behandeln, so handelt es sich um eine bloße Regel, von der man im Zweifelsfall nicht weiß, unter welcher Maxime sie steht. In beiden Fällen sind uns die Maximen, und damit die verfolgten Zwecke, letztlich unbekannt. Der Schritt von der geschilderten Auffassung, die O’Neill in ihrem Buche Acting on Principle vorgelegt hat (S.34–42), zur dargestellten These ist also, pace Allison, als Fortschritt zu bewerten. R. Bittner, »Maximen«, S.487. — Ein Vorsatz könnte allenfalls darin bestehen, daß man sich vornimmt, nach einer Regel im oben beschriebenen Sinne zu handeln, ist also eine bloße Handlungsregel höherer Stufe, die unter Maximen (als Vorsätzen) steht.
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»Lebensregel« handelt, um eine Regel, »welche die Art und Richtung meines Lebens als ganzen zum Gegenstand hat«. Maximen in Bittners Sinn sind deshalb nur aus besserer Einsicht aufzugeben oder zu ändern. Warum er damit das Pferd am Schwanze aufzäumt, werden wir gleich sehen.1 Barbara Herman führt zwei Beispiele für »puzzle maxims« an, die aus unveröffentlichen Vorlesungen ihres Lehrers Tim Scanlon stammen. Auch diese Rätselmaximen stellen deshalb für die Kantinterpretation eine Schwierigkeit dar, weil sie moralisch unproblematisch erscheinen, obwohl sie nicht universalisierbar sind und jemand, der nach ihnen handelt, sich darauf verlassen muß, daß nicht all seine Mitmenschen ebenso handeln. Es gibt zudem zwei Varianten: »timing maxims« und »coordination maxims«. Die Beispiele sind die folgenden: A acts on a maxim of saving money by shopping in this year’s after-Christmas sales for next year’s Christmas presents. If everyone acted as A does, the practice of Christmas sales would die out, and A would not be able to pursue his economies as he now does. What makes A’s maxim rational is plainly his knowledge that others do not act as he does. B knows that the best time to play tennis is Sunday morning when her neighbors are in church. At all other times the courts are crowded. B acts on a maxim of playing tennis Sundays at 10:00. If everyone acted as B does, the courts would be crowded Sunday mornings as well as all other times. What makes B’s maxim rational is her knowledge that others can be counted on not to act on the same maxim.2
Wenn allein das Ergebnis der Universalisierung zählt, wie etwa Christine Korsgaard es vorgeschlagen hat,3 dann wären diese Rätselmaximen unmoralisch. Herman wendet gegen diese Interpretationsrichtung ein, daß dies Ergebnis nicht einzuleuchten vermag. Sie setzt eine Variante der traditionellen »logischen« Interpretation dagegen, um das absurde Resultat zu vermeiden. Die Details dieser beiden Lesarten brauchen uns an dieser Stelle nicht zu interessieren. Wichtig ist Hermans Strategie, die Koordinations- und Zeitabstimmungsmaximen vor dem Vorwurf der moralischen Bedenklichkeit zu schützen. Betrug, so Herman, sei nicht deshalb unmoralisch, weil der Betrüger sich darauf verlasse, daß andere es ihm nicht gleichtun, sondern deshalb, weil er seine Betrugsabsicht verheimlichen muß, um sein Ziel zu erreichen. Er verläßt sich, im Falle des free riding, auf die Unterstützung einer Institution, die andere unterstützen, die er selbst jedoch täuscht, untergräbt und ausnutzt. 1 2 3
R. Bittner, »Maximen«, S.488. Ganz ähnlich verfährt Otfried Höffe; vgl. »Der kategorische Imperativ als Kriterium des Sittlichen«, S.92 f. Barbara Herman, »Moral Deliberation and the Derivation of Duties«, S.138. »Kant’s Formula of Universal Law«, S.36.
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IV. Maximen
Das sei bei (im Prinzip öffentlichen) Koordinationsmaximen nicht der Fall, »general knowledge of coordination maxims will not affect their efficacy«.1 Bittner wendet gegen Rätselmaximen ein: Das sind nicht Maximen! Herman bringt die Heimlichkeit des Unmoralischen ins Spiel, so daß sie keine Probleme mehr darstellen. Beide möchten die Kantische Ethik vor Ungereimtheiten bewahren. Wir können nun den eigentlichen Grund beider Einwände ergänzen: Der kategorische Imperativ bezieht sich auf Maximen, nicht auf bloße Regeln, d. h. auf Prinzipien, aus denen sich nicht nur Handlungsabsichten ergeben, sondern die Zwecke angeben. Regeln können am sozusagen »mißbrauchten« kategorischen Imperativ scheitern, obwohl sie als Regeln unter passablen Maximen nichts Unmoralisches an sich haben. Sie sind moralisch neutral, weil sie dazu dienen, einen Zweck zu verfolgen, der durch die zugrundeliegende Maxime der Handlung allererst vorgegeben wird. Probleme ergeben sich, wenn man sie durch eigene Zwecke erweitert und so zu Maximen und Prinzipien macht.2 (i) Hermans Analyse ist folgendermaßen zu präzisieren und zu korrigieren: Die angegebenen Regeln sind, so wie sie Herman (bzw. Scanlon) formuliert, keine Maximen, zumindest dann nicht, wenn man ihnen keinen Zweck zusetzt dadurch, daß man sie sich zum Prinzip macht, sie also beispielsweise um ihrer selbst willen verfolgt. Sie sind bloße Regeln, die unter einer geeigneten Maxime stehend vollkommen vernünftig sind. Deshalb wird man auch nicht darauf drängen, nach ihnen handeln zu können; sind mir andere zuvorgekommen, werde ich mich arrangieren und nach anderen Mitteln 1 2
B. Herman, »Moral Deliberation and the Derivation of Duties«, S.141. Schon früh hat allerdings Günther Patzig Kants Auffassungen von kategorischem Imperativ und Maxime gegen einen den genannten Beispielen ähnlich gelagerten Einwand Franz Brentanos verteidigt. Brentano zufolge gerät Kant in dem Fall in Schwierigkeiten, in dem die Maxime eines Beamten, eine Bestechung zurückzuweisen, deshalb nicht verallgemeinerungsfähig sein soll, weil eine allgemeine auf dieser Maxime ruhende Praxis jeden Bestechungsversuch von vornherein unterbinden und somit auch die Maxime des lauteren Beamten, Bestechungen stets zurückzuweisen, vereiteln würde, eben deshalb, weil niemand mehr einen Bestechungsversuch unternähme (ganz in Analogie zum Darlehens- bzw. Versprechensbeispiel der Grundlegung). Patzig weist demgegenüber mit Recht darauf hin, daß es nicht eigentlich die Maxime des Beamten ist, konkrete Bestechungen standhaft zurückzuweisen, sondern vielmehr, Bestechung überhaupt zu unterbinden (wir mögen ergänzen: um so zu tun, was moralisch richtig ist). Wenn niemand mehr versuchte, andere Menschen zu bestechen, wäre das Ziel seiner Maxime erreicht. Ebenso ist es nicht das Ziel des Pazifisten, Pazifist zu sein, wenn man damit meint, pazifistische Demonstrationen zu veranstalten, sondern geradezu, in einer friedlichen Welt nicht mehr Pazifist sein zu müssen, während es allerdings das Zweck des Räubers ist, seine Mitmenschen zu berauben; Günther Patzig, »Der Gedanke eines Kategorischen Imperativs«, S.85–87. Wir können auf Grund der Ergebnisse der obigen Untersuchung ergänzen, daß die Maxime des Beamten oder des Pazifisten, wenn sie tatsächlich das konkrete Zurückweisen von Bestechungsgeldern und pazifistische Tätigkeiten als übergeordnete Zwecke spezifizieren, störrisch oder ungesellig zu nennen und als moralisch fragwürdig einzuordnen sind. Das Mittel wird zum Zweck erhoben.
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suchen, meine Zwecke zu realisieren. Man kann von Regeln wie von Maximen ruhig öffentlichen Gebrauch machen; niemand wird sich dann daran stören, daß jemand Geld spart, indem er kurz nach Weihnachten einkauft, selbst wenn es sich um Geschenke fürs darauffolgende Weihnachtsfest handelt; und niemandem bereitet es Probleme, daß jemand dann Tennis spielt, wenn er selbst in der Kirche ist (solange er keinen allzu großen missionarischen Drang verspürt). Ferner: Würden wir nicht sagen, daß die Regel, immer nach Weihnachten auf Vorrat für das nächste Weihnachtsfest einzukaufen, oder die, immer dann Tennis zu spielen, wenn die Nachbarn in der Kirche sind, wenn jemand sie zum Prinzip erhebt, tatsächlich auf eine charakterliche Schwäche hinweist? Auch in diesr Hinsicht bestätigt der kategorische Imperativ unsere intuitiven Moralvorstellungen. Solche Prinzipien zeugen von einem übertriebenen Verlangen nach günstigem Einkauf und von mangelndem Respekt gegenüber den religiösen Überzeugungen der Mitbürger. Solche Grundsätze und Zwecke würde man sich tatsächlich scheuen, publik zu machen.1 Vernünftige Grundsätze wären (unter der Bedingung moralischer Unbedenklichkeit): sich Schnäppchen zu sichern, wenn das leicht möglich ist, um Geld zu sparen; oder: Sport zu treiben, wenn gute äußerliche Bedingungen gegeben sind, um einer angenehmen und gesunden körperlichen Tätigkeit nachzugehen. Um die »timing and co-ordination rules« (nicht: »maxims«) des nachweihnachtlichen Schnäppchenangebots und sonntäglich leeren Tennisplätze ergänzt, führen sie zu vernünftigem und moralisch unbedenklichem Handeln.2
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Man vergleiche die Begründungen: ich gehe sonntagmorgens Tennis spielen, weil dann der Platz frei ist; und: ich gehe sonntagmorgens Tennis spielen, weil dann alle in der Kirche sind. Im ersten Fall geht es dem Akteur darum, Tennis zu spielen; den im zweiten Fall ein sehr seltsames Interesse an den religiösen Gepflogenheiten seiner Mitbürger treibt, wenn seine Begründung überhaupt verständlich ist. Eine Maxime der zweiten Art führt, zum allgemeinen Gesetz erhoben, dazu, daß für den Fall, in dem man sich nicht die Mühe macht, die Mitmenschen beim Kirchgang zu beobachten, die Tennisplätze überfüllt sind. Prüfen jedoch alle nach, ob die Nachbarn auch wirklich brav in der Kirche sind, wird es eine große Ansammlung schaulustiger Menschen vor der Kirche geben; niemand geht in den Gottesdienst, niemand kommt zum Tennisspielen, und so taugt auch im zweiten Fall die Maxime des sonntäglichen Tennisspiels nicht zum allgemeinen Gesetz. Barbara Herman schlägt eine ähnliche Modifizierung der Maximen vor, wendet aber gegen diese Strategie ein: »that would leave actions permissible under one but not another description. We would need to argue that the coordination description is erroneous.« (S.139). Diesen Einwand können wir mit Hilfe der Unterscheidung von Maximen (samt Zwecken) und bloßen Regeln entkräften, indem wir darauf verweisen, daß es Kant ohnehin gar nicht in erster Linie um äußere Handlungen geht, sondern eben um die Moralität von Maximen und durch sie verfolgten Zwecken, wie die oben (§19.5) zitierte Stelle aus der Metaphysik der Sitten (VI:225) deutlich macht. Es ist gar nicht ungewöhnlich, daß ein und derselbe Akt auf Grund verschiedener Maximen mit verschiedenem moralischem Gehalt erfolgt. Der kategorische Imperativ ist — anders als etwa das Nutzenprinzip des Utilitarismus — kein Kriterium, mit dem sich die Moralität einzelner Akte zweifelsfrei feststellen ließe.
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IV. Maximen
(ii) Bittner versucht, Maximen und Vorsätze dadurch zu unterscheiden, daß er jene durch ihren Allgemeinheitsgrad als »Lebensregeln« auszeichnet. Wir haben oben (§19.3) bereits gesehen, daß diese Interpretation nicht trägt, wenn man Beispiele von Maximen in Anschlag bringt, die Kant selbst gibt. Jetzt können wir das Richtige und das Verfehlte an Bittners Ansatz noch genauer unterscheiden. Wenn Maximen (als Grundsätze) Regeln sind, die man als in gewissem Sinne »richtungsweisend« nur aus besserer Einsicht ändert und die eine gewisse Allgemeinheit haben, so liegt das daran, daß sie Zwecke spezifizieren und daß Regeln, zur Maxime erhoben, problematisch werden. Jemand, der es sich tatsächlich zur Maxime (zum Grundsatz) macht, jeden Montagabend bei Freunden zu essen, stellt damit entweder mangelndes Fingerspitzengefühl oder in der Tat die moralische Bedenklichkeit seiner Maxime unter Beweis.1 Er genießt die Vorteile seiner Freundschaften, und zwar ceteris paribus ohne den Gedanken daran, sich etwa zu revanchieren. Wer sich eine solche Maxime setzt, ist zudem nahe daran, die eigenen Freunde nur als Mittel zum Zweck der Ernährung und Unterhaltung zu benutzen. Deshalb sind so spezielle Maximen wie die, aus Prinzip jeden Montagabend bei Freunden zu essen, tatsächlich moralisch bedenklich. Es ist zwar richtig, daß Maximen, mit denen man moralisch bedenkliche Zwecke verfolgt, sich gerade dadurch auszeichnen, daß sie nicht universalisierbar sind; und daß Maximen, die dem kategorischen Imperativ genügen, Maximen von gewisser Allgemeinheit sein werden, die einzelnen Regeln ihre geschickte Anwendung verdanken. Der hohe Allgemeinheitsgrad, den Bittner seinen Maximen als Lebensregeln zuschreibt, scheint dadurch selbst dann nicht gerechtfertigt, wenn man mit »Maximen« ausschließlich von der Vernunft gebilligte Lebensregeln, die Zwecke zu verfolgen bestimmen, meinte. Es ist, zusammenfassend, festzustellen, daß eine bloße Regel, wenn sie um einen entsprechenden höheren Zweck ergänzt wird, z.B. um ihrer selbst willen ausgeführt wird, und sie damit nicht mehr nur im Dienste einer Maxime und ihres Zweckes steht, durchaus zur Maxime (in allen drei Bedeutungen) dienen kann. Es ist nicht die Allgemeinheit, die eine Maxime auszeichnet, wie es auch nicht die Universalisierbarkeit ist, sondern ihr Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Eine bloße Regel zum Prinzip zu erheben, ist jedoch ein Mißbrauch der Regel; man verfolgt mit diesem Prinzip 1
Veränderte Begleitumstände mögen unser Urteil verändern, etwa die zusätzliche Maxime, jeden Dienstag all die Freunde, die ihn gewöhnlich an den Montagen einladen, bei sich zu Hause zu bewirten. Für unser Beispiel gehen wir davon aus, daß derlei »entschuldigende« Umstände nicht vorliegen.
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die Zwecke, die doch nur zu Mitteln taugen, man setzt falsche Akzente, und das kann, in Abhängigkeit von den Umständen, eigentümlich, bedenklich oder unmoralisch sein.1 Eine gute Regel kann, zum Prinzip erhoben, eine sehr schlechte Maxime abgeben.
§20. Kants Maximenethik 20.1 Seit Rüdiger Bittners Kongreßbeitrag ist über Maximen in ihrer Funktion als »Lebensregeln«, allgemein über Kants Ethik als »Maximenethik«, mit viel Begeisterung gehandelt worden, manchmal auf Kosten der Klarheit. Höffe schreibt in seinem Kantbuch: »Durch Maximen werden die Teile eines Lebens zu einheitlichen Sinnzusammenhängen verbunden […].«;2 und Bittner: Die Maxime, die sich als Lebensweisheit aus konkreter Welterfahrung bildet, stellt damit die »natürliche Moral« eines Menschen dar, im Gegensatz zu der aus reiner Vernunft bestimmten. Denn in ihr drückt sich die subjektive Vorstellung eines guten Lebens aus. Maximen sind Lebensregeln: sie sprechen aus, was für ein Mensch ich sein will — einer, den niemand ungestraft beleidigen kann; oder einer, den keine fremde Not bekümmert; ein Leben der Habsucht, oder ein Leben des Genusses. Sie enthalten den Sinn meines Lebens; wenn nämlich »Sinn« nicht als transzendente Erfüllung, sondern einfach als eine Weise genommen wird, in der ich mir dies Leben als ganzes denke, »Sinn« nicht als Ziel, sondern als Richtungssinn verstanden.3
Das ist vielleicht ganz vernünftig; doch bei Kant steht es nicht, und Kant hat das auch nicht gemeint. Von Maximen als »natürlicher Moral« kann für die Ethik Kants schon gar nicht die Rede sein. Moralität ist eine Sache der Freiheit, und Freiheit ist für Kant Selbsttätigkeit und Unabhängigkeit von allen Einflüssen der Natur.4 Der Grund dafür, daß man Kants Ethik mit Recht 1
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In der Vorlesung Metaphysik Mrongovius spricht Kant ganz in diesem Sinn über den Fall des Geizes: »Wir müssen daher bloß des Zwecks wegen ein Mittel zum Wohlgefallen haben, und thun wir das nicht, so handeln wir thörigt, z.E. wer am Gelde an sich selbst ein Wohlgefallen hat, ohne es als Mittel zu einem Zweck anzusehen, und es daher immer in seinen Kisten verschließt, ist ein Geizhals.« (XXIX.1.2:891). O. Höffe, Kant, S.188. Rüdiger Bittner, »Maximen«, S.489. Paul Guyer schreibt: »The underlying assumption of Kant’s argument is nothing less than the assumption that moral worth can be ascribed ony to products of agents’ activity, and that what principles agents adopt, not what inclinations agents have, are an expression of their activity. Inclinations are products of nature, but our formulation of and adherence to principles can be products of freedom, and that is the proper locus for purely moral evaluation.« (»Duty and Inclination«, S.344); ferner: »Kant’s ultimate idea seems to be that moral worth attaches to the active use of our free will, rather than to any inclinations that we have, precisely because it is this which distinguishes us from all other animals as mere products of nature.« (ebd. S.347). Auch das ist etwas überschwenglich ausgedrückt; doch es kommt der (Kantischen) Wahrheit näher.
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IV. Maximen
eine »Maximenethik« nennen kann, ist nicht der, der offenbar bei Höffe und Bittner im Hintergrund steht und den Albrecht explizit macht: daß der kategorische Imperativ nicht auf Handlungen, sondern auf Maximen geht.1 Denn hier sind mit Maximen noch nicht höherstufige Grundsätze, sondern die Maximen erster Stufe gemeint; daß sich der kategorische Imperativ auf Maximen bezieht, ist zunächst einmal nichts anderes als eine Konsequenz aus der Kantischen Handlungstheorie.2 Darüber hinaus müssen freilich auch die höherstufigen Maximen unseres Handelns dem kategorischen Imperativ genügen, um zu befördern, daß es die Maximen erster Stufe tun. Eine weitere Überlegung macht es plausibel, daß sich der kategorische Imperativ auf Maximen der ersten Stufe bezieht: Es ist nicht leicht zu sehen, wie eine Handlung zum allgemeinen Gesetz taugen soll. Kant braucht etwas, das dem Sittengesetz, welches uns als kategorischer Imperativ gegenübertritt, auf subjektiver Seite entsprechen kann oder nicht entsprechen kann, und zu diesem Zweck sind Handlungen allein unzureichend. Das Prinzip auf subjektiver Seite, das der moralischen Bewertung unterzogen werden soll und das uns selbst wollen und handeln läßt, impliziert, daß ein vernünftiges Wesen in vergleichbarer Situation des gleichen Zwecks wegen eine ähnliche Handlung vollziehen würde; eben dies ist eine Maxime. Erst wenn man dieses Prinzip herausgestellt hat, kann man fragen, was wohl geschehen würde, wenn alle anderen sich nach demselben Prinzip richteten: Wie, wenn nun ein jeder in jedem Fall deine Maxime zum allgemeinen Gesetz machte, würde eine solche wohl mit sich selbst zusammenstimmen können? (»Tugendlehre«, VI:377).3
Aus diesem Grunde, d.h. weil sich auf die beschriebene Weise der kategorische Imperativ in erster Linie auf die Prinzipien konkreten Wollens und Handelns bezieht, ist es auch nicht ganz richtig zu sagen, er beziehe sich »auf konkretes Handeln methodisch nicht direkt, sondern nur über den Weg von Maximen«, wie es Höffe tut, einen Einwand gegen die Kantische Ethik referierend.4
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M. Albrecht, »Kants Maximenethik«, S.129; vgl. S.145. Falsch ist Albrechts Behauptung, Kant beziehe in all seinen Schriften »den kategorischen Imperativ jedesmal ausschließlich auf Maximen« (ebd.). Die Zweck-Mittel-Formulierung, Patons Formel II, ist so formuliert, daß sie sich auf Handlungen bezieht: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« (IV:429). Allerdings bezieht sich auch diese Formulierung nicht auf bloße Akte, vgl. §20.2. Dies ist der Maximenbegriff aus §17.1. Wie man von dort aus zu Maximen als Grundsätzen (§§17.3) gelangt, wird in §20.4 gezeigt werden. Die Idee ist schließlich nicht die, daß alle Menschen plötzlich und ohne Grund die gleiche äußerliche Handlung ausführen. In: »Der kategorische Imperativ als Kriterium des Sittlichen«, S.100, Hervorhebung JT.
§ 20. Kants Maximenethik
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Richtig ist, daß er sich nicht rein äußerlich auf Handlungen bezieht, sondern durch die Maxime auf die Zwecke, die ein Mensch bei seinem Handeln verfolgt. Doch wenn nicht nur das äußerliche Handeln geprüft, sondern eine Handlung moralisch bewertet werden soll, wird sich der kategorische Imperativ eben auf eine Maxime beziehen (oder, im Falle der Zweck-Mittel-Formel, direkt auf die mit Handlungen beabsichtigten Zwecke), auf das Prinzip, das hinter der Handlung steht. Das ist kein Umweg. Es ergibt sich weiterhin, wenn man das Begriffspaar Maxime/Regel zugrundelegt, aus der Tatsache, daß Regeln, als im Dienste von Maximen stehend, nicht dem Test durch den kategorischen Imperativ unterworfen werden können: Versucht man es doch, führt es zu absurden Konsequenzen; erhebt man die Regeln zur Maxime, so wird diese das Kriterium des kategorischen Imperativs nicht erfüllen, wie wir im vorigen Paragraphen gesehen haben. Er hat es deshalb mit Maximen — die Prinzipien der Handlungen und des Wollens zunächst der ersten, dann auch der höheren Stufen — nicht mit bloßen Regeln zu tun. Regeln sind moralisch neutral, Giftmischer und Arzt verwenden dieselben Rezepte (Grundlegung, IV:415). 20.2 Nicht an allen Stellen bezieht Kant (pace Albrecht) den kategorischen Imperativ auf Maximen. Schon aus diesem Grund muß der Versuch scheitern, eine normative Ethik der Grundsätze direkt aus den Formulierungen des kategorischen Imperativs abzuleiten, weil dieser sich schließlich immer auf Maximen beziehe. Wenn wir die verschiedenen Formulierungen als grundsätzlich äquivalent betrachten, stellt sich die Frage, warum Maximen in den meisten von ihnen als Gegenstand der Anwendung fungieren, in der »Zweck-an-sich-selbst-Formulierung« jedoch nicht. Sie sei zur Erinnerung noch einmal zitiert: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. (IV:429)
Nicht nur die Formulierung selbst macht vom Maximenbegriff keinen Gebrauch. Auch die erneute Besprechung der vier Beispiele, die schon im Anschluß an die Naturgesetzformel durchgespielt wurden, kommt ohne ihn aus. Dennoch kann diese Formulierung nicht nur für bloße äußerliche Handlungen gelten; die »Arbeit«, die Maximen als locus der Moralität leisten, muß von einem anderen Element übernommen werden. Es ist nicht schwierig, zu sehen, wie dies geschieht; denn diese Formulierung macht direkt vom Begriff des Zwecks Gebrauch, den jemand mit einer Handlung verfolgt. Sie ist also nicht rein äußerlich gekennzeichnet. Wenn wir den Maximenbegriff in die Formulierung einbinden, so lautet sie wie
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IV. Maximen
folgt: Handle nach der Maxime, in der Menschen als Vernunftwesen stets als Zwecke berücksichtigt werden. Diese Vermutung bestätigt sich beim Weiterlesen. Dort, wo Kant die verschiedenen Varianten des kategorischen Imperativs im Vergleich erläutert, heißt es für die zweite Variante, sie sage mit Bezug auf den Zweck einer Maxime, »daß das vernünftige Wesen, als Zweck seiner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst, jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse« (IV:436 der Grundlegung). Dort wird auch gesagt, wo die Einseitigkeit der zweiten Formulierung liegt, die sich nicht direkt auf Maximen bezieht: das Formale der Maxime wird vernachlässigt. Die hier vorgelegte Analyse der »Zweck-an-sich-selbst-Formulierung« ist ein weiterer Beleg für die Interpretation von Maximen als Prinzipien konkreten Wollens und Handelns, wenn sie Gegenstand des kategorischen Imperativs sind. Dieser ist als Kriterium der Moralität von Handlungen auf Maximen in der Bedeutung von festen Grundsätzen nicht angewiesen. — Im Prinzip kann er jedesmal von neuem zur Ermittelung der moralisch richtigen Handlungsoption dienen. Der kategorische Imperativ ist damit allerdings in der zweiten Variante ebenso wie in den anderen Formulierungen tatsächlich ein Kriterium der Moralität von Handlungen und den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien, nicht ein Maßstab für die bloße Legalität äußerer Handlungen (ein geläufiges Mißverständnis derjenigen, die Kant dem Regelutilitarismus annähern wollen). Er gebietet: »Handle pflichtmäßig aus Pflicht.«1 20.3 »Zuerst einen Character überhaupt bilden, denn einen guten Character. Das erste geschieht durch übungen in einem festen Vorsatz, in Annehmung gewisser Maximen aus reflexion.« (R1162). — Wie gelangt Kant zu seiner These, daß wir Maximen ausbilden sollen, wenn der Weg über die Formulierungen des kategorischen Imperativs offenbar nicht beschritten werden kann? Der Versuch der Beantwortung dieser Frage nötigt zu einem Rückgriff auf Kants Vorstellungen zum Thema Erziehung. Es gehört zu Kants pädagogischer Strategie, erst einmal durch »übungen in einem festen Vorsatz« die Neigungen des Zöglings gefügig zu machen und ihn an das Handeln nach Grundsätzen überhaupt zu gewöhnen, um dann zur Einübung der Moral überzugehen. Die offensichtlich unvollstän1
In diesem Punkte ist Otfried Höffe zuzustimmen. Vgl. »Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen«, S.98 f. — Es wäre geradezu widersinnig, wenn das oberste Prinzip der Sittlichkeit (das Sittengesetz, wie es sich uns »endlichen Sinnenwesen« darstellt) nur ein Kriterium für die Pflichtgemäßheit von Handlungen abgäbe. Zu Kants Unverträglichkeit mit utilitaristischen Theorien vgl. meine Replik auf R. M. Hares Aufsaz »Could Kant have been a utilitarian?«.
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dige Reflexion 1162 fortzusetzen, ist nicht weiter schwierig. Das Fehlende wird etwa folgendermaßen lauten: Das zweite geschieht durch bewußtes, reflektiertes Setzen und Befolgen moralischer Maximen. Dabei soll es Kant zufolge ein Leben lang bleiben. Oft warnt er davor, selbst gutes Handeln zur bloßen Gewohnheit werden zu lassen, etwa in der Pädagogik: »Man muß darauf sehen, daß der Zögling aus eigenen Maximen, nicht aus Gewohnheit gut handle, daß er nicht bloß das Gute tue, sondern es darum tue, weil es gut ist. Denn der ganze moralische Wert der Handlungen besteht in den Maximen des Guten.«1 Nach dem in §18.2 Gesagten wäre Gewohnheit die schwächste Variante des Selbstsetzens, weshalb wir für derartiges Handeln immer noch verantwortlich sind. Was bedeutet es dann, aus Gewohnheit richtig oder gut zu handeln? Kurz spricht Kant darüber in einer Passage der Einleitung zur »Tugendlehre«, die das Zitieren lohnt: Tugend ist aber auch nicht bloß als F e r t i g k e i t und […] für eine lange, durch Übung erworbene G e w o h n h e i t moralisch-guter Handlungen zu erklären und zu würdigen. Denn wenn diese nicht eine Wirkung überlegter, fester und immer mehr geläuterter Grundsätze ist, so ist sie wie ein jeder andere Mechanism aus technisch-praktischer Vernunft weder auf alle Fälle gerüstet, noch vor der Veränderung, die neue Anlockungen bewirken können, hinreichend gesichert. (VI:384)
Kant meint, wenn er sagt, jemand handle aus Gewohnheit richtig, zwar nicht, daß dieser Mensch dadurch zu einem bloßen Mechanismus wird, der automatisch entsprechende Handlungen ausführt; doch kommt dieser Mensch dem dadurch nahe, daß er die richtige Handlung aus dem falschen Motiv ausführt. Wie das nächste Kapitel zeigen wird, ist die einzige moralisch akzeptable Triebfeder für Kant die Achtung vor dem Sittengesetz, die ihn gerade nicht bewegt, sondern eben: die Gewohnheit. Damit hat er auch nicht moralische Maximen, sondern lediglich solche, die seine Handlungen zwar äußerlich pflichtmäßig sein lassen, aber nicht zu Handlungen aus Pflicht führen. Seine Maximen sind der Natur entlehnt, auf die sich der legal zu handeln Gewohnte aus Gewohnheit nur allzu rasch einläßt. Damit aber wird moralkonformes Handeln kontingent. Es fließt nicht aus der festen moralischen Maxime des Handelnden, sondern aus einer nicht universalisierbaren Maxime, die je nach äußeren Umständen auch zu unmoralischen Handlungen führen kann, wenn auch nicht muß. 1
IX:475; vgl. »Tugendlehre«, VI:409, und Anthropologie, VII:147: »Daher kann man die Tu g e n d nicht so erklären: sie sei die F e r t i g k e i t in freien rechtmäßigen Handlungen; denn da wäre sie bloß Mechanism der Kraftanwendung; sondern Tugend ist die m o r a l i s c h e S t ä r k e in Befolgung seiner Pflicht, die niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll.«
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IV. Maximen
In der Pädagogik schreibt Kant, die Maximen müßten aus dem Menschen selbst entstehen (IX:481). Kant fordert Autonomie. 20.4 Versuchen wir schließlich, eine Begründung für Kants Maximenethik zu finden. Den Ausgangspunkt bildet der kategorische Imperativ, der sich in der in den ersten Abschnitten dieses Paragraphen angegebenen Weise auf Maximen (erster Stufe) bezieht. Wir sollen also nach derjenigen Maxime handeln, von der wir wollen können, daß sie zugleich ein allgemeines Gesetz werde. Da nun (i) Maximen aber den Anspruch erheben, für alle relevant ähnlichen Situationen gültig zu sein (in diesem Sinne keine »Eintagsfliegen« sind, vgl. §18.4) und (ii) auch der kategorische Imperativ als Gebot der Vernunft natürlich den Anspruch erhebt, für alle vergleichbaren Situationen ebenso gültig zu sein, bedeutet das, daß ich durchgängig in Situationen bestimmter Art nach dieser Maxime handeln soll, die vom kategorischen Imperativ gebilligt wird. Da Menschen in Kants Worten »sinnlich affizierte Sinnenwesen« sind, die nicht schon auf Grund ihres Vermögens, sich durch die Vernunft bestimmen zu lassen und moralisch zu handeln, dieses Vermögen realisieren und entsprechende Maximen (erster Stufe) wählen, sondern oft auch nicht vernünftig sind, ist es nötig, daß sie starke, bewußte, höherstufige Maximen ausbilden, die ihnen moralisches Handeln erleichtern. Der Grund für Kants positive These, daß man nach Maximen handeln soll, ist also der, daß allein so die durchgängige moralische Qualität von Handlungen befördert werden kann. Wie wir soeben in dem zitierten Absatz aus der »Tugendlehre« gesehen haben, hieße alles andere, das eigene Handeln von kontingenten Umständen und dem Spiel der eigenen Neigungen abhängig zu machen. Nur Maximen, die einem rein formalen Kriterium genügen, sind ihnen gegenüber resistent. Solche »festen und immer mehr geläuterten Grundsätze« helfen dem Sittengesetz bei der Durchsetzung seiner kategorischen Ansprüche. Indem die Wahl vernünftiger Maximen Ausdruck realisierter meschlicher Freiheit ist, kann man dann mit Albrecht auch sagen: »Der Mensch soll nach Maximen leben, um seine Bestimmung als ein Wesen, dem die Freiheit möglich ist, zu erfüllen.«1
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M. Albrecht, »Kants Maximenethik«, S.144. So weit kann man Albrecht in seinem Versuch der Beantwortung der Frage nach der Begründung der Kantischen Maximenethik folgen, weiter nicht. Die Probleme, die Albrechts Exposition der These, Maximen ließen keine Ausnahme zu, birgt, sind in §18.4 zur Sprache gekommen.
§ 21. Eine Notiz zur Begriffsgeschichte
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§21. Eine Notiz zur Begriffsgeschichte 21.1 Seine historischen Wurzeln hat der handlungstheoretische, deskriptive Maximenbegriff (Maxime als »der Grundsatz, nach welchem das Subjekt h a n d e l t) in der Philosophie Christian Wolffs. Mit ihr war Kant seit seinem Studium aus vielen Quellen vertraut.1 Dazu zählen Alexander Gottlieb Baumgartens Ethica Philosophica und dessen Metaphysica, die Kant zur Grundlage seiner Vorlesungen über Methaphysik und Moralphilosophie dienten.2 Dieser Aspekt von Kants Handlungstheorie ist letzten Endes traditionell aristotelisch. Nach Aristoteles besteht ein praktischer Syllogismus aus einem Obersatz, der ein allgemeines Wollen ausdrückt, und einem Untersatz, dem zufolge eine bestimmte Handlung in einer gegebenen Situation unter die Beschreibung des Obersatzes fällt. Die Conclusio ist, nach der Meinung der Tradition, die Handlung. Baumgarten nennt nun Maximen in Sectio X der Ethica Philosophica die »maiores propositiones syllogismorum practicorum« (§246); in einem deutschen Zusatz zur dritten Auflage: »die Regeln des freyen Verhaltens die man sich angewöhnt hat«.3 In diesem Modell kann damit keine Handlung erfolgen, ohne daß ein Obersatz (eine Maxime) vorliegt; und Maximen weisen hier nicht notwendig die Festigkeit und Bestimmtheit auf, die sie bei Kant im dritten und vierten oben unterschiedenen Sinn haben.4 Daß Baumgartens Maximen diese Kriterien nicht erfüllen müssen, sondern einfach die Regeln oder Prinzipien konkreter Handlungen sind, wird auch in §699 seiner Metaphysica (Sectio XVIII) deutlich, der die Definition von Maximen als den Obersätzen praktischer Syllogismen wiederholt:
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Wenn man gleich Michael Albrechts Ausführungen zum Verhältnis der Kantischen Maximenethik zum Maximenbegriff des Wolffianismus nicht zustimmen kann (s.u.), so ist ihm doch darin Recht zu geben, daß es für unsere Zwecke ausreicht, pauschal vom »Wolffianismus« zu sprechen und die Frage, »ob und wenn ja welche Werke Wolffs Kant gelesen hat«, auszuklammern (S.135). — Über die Geschichte des Maximenbegriffs seit seiner Begründung durch Boethius informiert Rüdiger Bubner im »Begriffsgeschichtlichen Anhang« zum Maximenkapitel (III.7) seines Buches Handlung, Sprache und Vernunft auf den Seiten 196–200 (ähnlich, aber weniger ausführlich, im gemeinsam mit U. Dierse verfaßten Artikel »Maxime« in Ritters Historischem Wörterbuch). Aus diesem Grund druckt sie die Akademie-Ausgabe der Schriften Kants mit ab: Der hier relevante psychologische Teil der Metaphysik findet sich in Band XV, die Ethica in ihren verschiedenen Auflagen in Band XXVII. Akademie-Ausgabe der Werke Kants XXVII:937. Die Lebensregelethiker können also nicht aus der wörtlichen Bedeutung von »Maxime« ablesen, daß es sich um Prinzipien höherer Allgemeinheit handelt, wenn Kants Maximenbegriff zumindest auch auf Aristoteles, Wolff und Baumgarten fußt. Dann ist eine Maxime einfach das, was im praktischen Syllogismus ganz oben steht. Einen derartigen Versuch unernimmt Rüdiger Bittner, »Maximen«, S.497, Anm. 10.
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IV. Maximen
maiores suas propositiones syllogismorum practicorum s[ive] maximas saepe mutans variabilis (inconstans, varius), rarius mutans bonas constans, malas pertinax est. (XV:54)
Baumgartens Maximenbegriff entspricht dem ersten, grundlegenden Maximenbegriff Kants;1 und Albrechts Argument gegen diejenigen, die meinen, nach Kant wie nach Wolff handelten alle Menschen zumindest in einer Bedeutung des Wortes immer nach Maximen, geht ins Leere. Bei Kant ist die Maxime bzw. der Grundsatz von Anfang an a) eine bewußte Entscheidung, die b) von wenigen vollzogen und angewendet wird. Für den Wolffianismus dagegen handelt a) jeder Mensch allemal nach gewissen Maximen, die er sich b) gar nicht bewußt macht.2
Wie gesehen, haben beide Aspekte ihre Berechtigung.3 Betrachten wir nun die historischen Ursprünge der normativen Maximenethik, der zufolge Maximen bewußte Entscheidungen erfordern und vergleichsweise selten anzutreffen sind. 21.2 Wenn es auch ein Fehler war, Kants Wolffianismus und Aristotelismus zu ignorieren, so hat Albrecht doch überzeugend gezeigt, daß Kants normative Maximenethik — oder: Kants Ethik der festen Grundsätze — auf Rousseau zurückgeht. Dieser Punkt wird von der obigen Kritik nicht berührt: Es wurde zwar gezeigt, daß Kant, pace Albrecht, von »Maxime« nicht nur dann spricht, wenn er »Grundsätze« meint, die man sich bewußt setzt; doch »fester Grundsatz« bleibt selbstverständlich eine wichtige Bedeutung dieses Begriffs, die Kant vermutlich seiner Rousseau-Lektüre verdankt.4 Rousseau führt als Grundsatz (»maxime«) in der Neuen Héloise an, zwischen Freunde keine Geheimnisse treten zu lassen: »J’ai pour maxime de ne point interposer de secrets entre les amis« (IV.14). Um einen Zweck — naheliegend wäre: die Erhaltung der Freundschaft — erweitert, kommt er durch1
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Auf die Nähe Kants zur aristotelischen Tradition verweist auch Rüdiger Bittner in »Handlungen und Wirkungen«, S.20 f. Bittners Kritik: »Daß man nicht Handlungen, nur Sätze über Handlungen ableiten kann, liegt doch auf der Hand!« (S.22), trifft weder Aristoteles noch Kant. (Zu Aristoteles vgl. J. Timmermann, »Impulsivität und Schwäche«.) Für beide steckt Motivation im Obersatz, die durch die Subsumption einer Situation oder Handlung unter ihn zum Tragen kommt. Es soll nicht etwa eine Handlung aus bloßen Sätzen abgeleitet werden, wie Bittner suggeriert. Gelänge das, so wäre es allerdings merkwürdig (im älteren, Kantischen, wie im modernen Sinn). Michael Albrecht, »Kants Maximenethik«, S.135. Damit ist auch Albrechts (im übrigen unnötig polemische) Kritik an Bubner, der ebenfalls auf Wolff und Baumgarten verweist, hinfällig; vgl. »Kants Maximenethik«, S.136, und ebd. Anm. 35. Zu Kants »Rousseauscher Wende« nach 1762 vgl. Keith Ward, The Development of Kant’s Views of Ethics, S.38 ff., und Paul Arthur Schilpp, Kant’s Pre-Critical Ethics, v.a. S.22 ff. — Es mutet paradox an, daß Albrecht für Rousseau drei Bedeutungen von »maxime« unterscheidet: »knapp formulierte Lebensregel«, »Leitsatz«, schließlich »Grundsatz« (S.134); während er bei Kant nur einen einzigen, monolithischen Maximenbegriff zu finden vermag, welcher der Komplexität der Kantischen Theorie nicht gerecht wird.
§ 22. Maximen und Charakter
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aus als Kandidat für eine Maxime im dritten (und zweiten) Kantischen Sinne in Frage; eventuell ergänzt durch praktische Regeln ist er auch konkret genug, Obersatz in einem praktischen Syllogismus, also die Maxime erster Stufe einer Handlung zu sein.1 Er taugt zum »subjektiven praktischen Grundsatz«. Ähnliche Ausführungen über »Grundsätze« lesen wir in Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen aus dem Jahre 1764(!), wie Albrecht bemerkt: Hier findet sich Rousseaus zitierter Maximenbegriff mit dem Wort »Grundsatz« wieder. 1764 betont Kant besonders, daß nur wenige Menschen nach Grundsätzen handeln [S.II:227], obwohl doch echte Tugend auf Grundsätzen beruht [S.II:217 f.]. Damit ist gemeint, daß auf bloß »gutherzige Regungen« [S.II:221] kein Verlaß ist; Tugend setzt also die bewußte Entscheidung voraus, also die nur durch Grundsätze zu erringende »Standhaftigkeit« [S.II:221].2
Man erkennt leicht den Maximenbegriff in der dritten der oben unterschiedenen Bedeutungen. 21.3 Damit haben wir die Ursprünge zumindest von zwei der Bedeutungen, in denen Kant von »Maximen« spricht: von Maximen als Handlungsregeln erster Stufe und von Maximen als festen Grundsätzen. Der zweite, nach dem Maximen die Regeln höherstufigen Wollens darstellen, ist das nötige theoretische Mittelstück, das den ersten (wolffianischen) mit dem dritten (Rousseauschen) Maximenbegriff verbindet: Denn einem festen, klar umschriebenen Grundsatz zu folgen, bedeutet, wie wir schon bei Bittner gesehen haben, nicht nur wiederholt in bestimmter Weise zu wollen und zu handeln, sondern auch fest zu wollen, daß man auf diese klar umschriebene Weise will und handelt. Grundsätze sind also nur möglich, wenn es Willensakte und damit Regeln von Willensakten gibt, die sich auf konkretes Wollen erster Stufe und seine Regeln beziehen.
§22. Maximen und Charakter 22.1 Eine ähnliche Mehrdeutigkeit wie beim Maximenbegriff liegt vor, wo Kant vom »Charakter« eines Menschen spricht.3 Diese Tatsache ist deshalb bedeutsam, weil der Begriff des Charakters für Kant mit dem der Maxime eng verknüpft ist, wie schon mehrfach in diesem Kapitel anklang: Wir haben 1 2 3
Die Ausführungen in §46 der »Tugendlehre« lassen es fragwürdig erscheinen, ob Kant diese Maxime für vernünftig gehalten hätte. Michael Albrecht, »Kants Maximenethik«, S.135. Dies bemerkt auch M. Willaschek, Praktische Vernunft, S. 284–286.
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IV. Maximen
gesehen, daß in der Wahl moralischer oder nicht-moralischer Maximen ein guter oder schlechter Charakter besteht. Der intelligible Charakter wurde mit dem Kausalgesetz der Kausalität aus Freiheit in Verbindung gebracht.1 Der Begriff »Charakter« wird in seiner weiten Bedeutung im Eingangsparagraphen des ersten Abschnitts der Grundlegung als die »eigentümliche Beschaffenheit« des Willens definiert (IV:394).2 Trivialerweise haben dann auch diejenigen Menschen einen Charakter, die in einem stärkeren Sinne gerade keinen Charakter haben. Wir charakterisieren sie dadurch, daß sie charakterlos sind, daß ihr Verhalten keine erkennbaren, verläßlichen Regelmäßigkeiten aufweist. Kant fordert von Menschen, deren Handlungsregeln so vage oder so schwach sind, daß ihre Neigungen und äußeren Einflüsse in bestimmten Handlungssituationen zu großes Gewicht erhalten, sie sollten ihr Leben auf Maximen, d.h. auf feste Grundsätze, gründen. So ergibt sich ein Charakter in der engeren Bedeutung, die der dritten der obigen Bedeutung von Maxime entspricht. Von ihr lesen wir in Reflexion 1218 im Gegensatz zur Gemütsart: »Die Gemüthsart besteht aus lauter Neigung, der Charakter beruht auf Maximen und also bestimmte allgemeine Regeln. Daher Gemüthsart ohne Charakter.«3 Den Zusammenhang zwischen normativer Maximenthese und normativem Charakterbegriff stellt Kant in der Pädagogikvorlesung ausdrücklich her: »Die erste Bemühung bei der moralischen Erziehung ist, einen Charakter zu gründen. Der Charakter besteht in der Fertigkeit, nach Maximen zu handeln.« (IX:481). Hier ist wiederum eindeutig nicht irgendein Charakter gemeint; und es wird nicht von Maximen gesprochen, nach denen man ohnehin handelt. Dafür, daß der Begriff des Charakters auch darin dem Maximenbegriff entspricht, daß er eine noch engere, »eigentliche« Bedeutung annehmen kann, finden wir in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht einen Beleg: In pragmatischer Rücksicht bedient sich die allgemeine, n a t ü r l i c h e (nicht bürgerliche) Zeichenlehre (semiotica universalis) des Worts C h a r a k t e r in zwiefacher Bedeutung, dam man teils sagt: ein gewisser Mensch hat d i e s e n oder jenen (physischen) Charakter, teils: er hat überhaupt e i n e n Charakter (einen 1 2
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Vgl. Reflexion 1130: »der caracter besteht in der herrschenden Regel der Handlungen, in dem principio derselben«. Zum intelligiblen Charakter: Kapitel III, v.a. §12.3. In der späteren, präziseren Terminologie könnte man unmißverständlich von »Willkür« sprechen und damit den geläufigen Einwänden zuvorkommen, nach denen Kant mit seiner Eloge auf den »guten Willen« eine praxisferne, schöngeistige Gesinnungsethik, der es um Handlungen gar nicht zu tun ist, begründet. Wenn der gute Wille auch »nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet« (IV:394) gut ist, so bewirkt er doch, mutatis mutandis, das Gute. Zum Charakter als Unterscheidungszeichen vgl. auch Marcus Willaschek, Praktische Vernunft, 114–118. Vgl. Reflexion 1126: »Das Gute Naturel ist passiv Gut, der gute Character activ gut. Jenes: Mildigkeit, Gelindigkeit, nicht abschlagen können. Dieser: gut nach Regeln und Maximen.«
§ 22. Maximen und Charakter
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moralischen), der nur ein einziger, oder gar keiner sein kann. Das erste ist das Unterscheidungszeichen des Menschen als eines sinnlichen oder Naturwesens; das zweite desselben als eines vernünftigen, mit Freiheit begabten Wesens. (VII:285)
Kant stellt hier sehr hohe Anforderungen an einen Charakter in moralischer Bedeutung (die des physischen können wir als eine weitere, für moralphilosophische Zwecke irrelevante Verwendung des Wortes beiseite lassen): Es hat nur derjenige Mensch einen Charakter im strengsten Sinne, der einen prägnanten, und zwar moralisch guten Charakter hat. Kant hat, dem Zitierten zum Trotz, wenig später keine Scheu, von einem Menschen »von bösem Charakter« zu sprechen; und er fährt fort zu definieren: Einen Charakter aber schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat. (VII:292)
Im unmittelbar folgenden Satz tritt wiederum der Zusammenhang mit festen Grundsätzen, Maximen in der dritten Bedeutung, hervor: Ob nun zwar diese Grundsätze auch bisweilen falsch und fehlerhaft sein dürften, so hat doch das Formelle des Wollens überhaupt, nach festen Grundsätzen zu handeln (nicht wie in einem Mückenschwarm bald hiehin bald dahin abzuspringen), etwas Schätzbares und Bewundernswürdiges in sich; wie es denn auch etwas Seltenes ist. (ebd.)
Kurz darauf sagt Kant sogar, man könne »nicht füglich sagen«, die Bosheit eines Menschen sei »eine Charaktereigenschaft desselben; denn alsdann wäre sie teuflisch; der Mensch aber b i l l i g t das Böse in sich nie, und so gibt es eigentlich keine Bosheit aus Grundsätzen, sondern nur aus Verlassung derselben.« (VII:293). Mit »Grundsätzen« meint Kant hier offensichtlich wiederum Maximen in ihrer dritten Bedeutung; und auch der Tenor dieser Passage ist uns nicht neu. 22.2 »Maxime« und »Charakter« stehen mit ihrer Mehrdeutigkeit nicht allein. Es ist ein bekanntes Phänomen, daß Begriffe eine umfassende und eine oder mehrere enge Bedeutungen haben können. »Moralisch« nennen wir sowohl etwas, das moralisch relevant ist, als auch etwas, das moralisch gut ist. Oft muß man einiges Hintergrundwissen mitbringen, um die beiden Bedeutungen unterscheiden zu können: Die Beispielsätze »Seine moralischen Grundsätze fand ich eigentümlich.« und »Sie handelt stets nach moralischen Grundsätzen.« mögen das illustrieren; wir meinen auch etwas anderes, wenn wir von jemandem sagen, er habe Geschmack, als wenn wir konstatieren, er habe einen schlechten Geschmack etc.
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IV. Maximen
§23. Konsequenzen 23.1 Es wurde bereits angesprochen, daß für Kant bloße äußere Akte etwas anderes sind als Handlungen im umfassenden Sinn, bei deren Bewertung man mit einbezieht, aus welchem Prinzip heraus sie vollzogen werden, d. h. welchen Zweck der Handelnde mit ihnen verfolgt. Dieser Punkt hilft uns auch dabei, eine Antwort auf Schillers vielzitierte Distichen zu finden: Gewissensskrupel Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Decisum Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.1
Es ist hier nicht der Ort, die Kontroverse zwischen Schiller und Kant neu aufzurollen, deren die Distichen nur ein kleiner, sicher besonders prägnanter Teil sind.2 Doch man kann sich zunächst eine kleine sprachliche Ungenauigkeit zunutze machen, um Schiller in Kants Sinn folgendes zu entgegnen: Es ist eine Sache, etwas aus Neigung zu tun, eine andere, eine Handlung mit Neigung auszuführen. Das bloße Vorhandensein einer Neigung verdirbt nicht schon den moralischen Wert. Deshalb ist es nicht nötig, die Freunde zu verachten, um seinen Handlungen moralischen Wert zu verleihen.3 Zweitens sollte man auch die Möglichkeit erwägen, daß nicht jede Hilfeleistung Freunden gegenüber einer Pflicht entspricht; gerade weil es unsere Freunde sind, denen wir helfen, gehen wir damit über das übliche und gebotene Maß des Helfens hinaus. Schiller schreibt bezeichnenderweise, er diene seinen Freunden. Das können und werden sie nicht verlangen, gerade dann nicht, wenn man ihnen de facto dient, und gerne dient. Wenn nun die Dienste an meinen Freunden einerseits über das hinausgehen, was die moralische Pflicht von mir verlangt, andererseits — so nehmen wir an — auch nicht die Grenze zum moralisch Bedenklichen überschreiten, dann fallen sie in den »grünen Bereich« des Erlaubten. Somit ist auch gegen den Freundschaftsdienst aus Neigung nichts einzuwenden. Allerdings fällt er dann nicht in den Bereich der Tugend im engen Kantischen Sinne als der »moralischen Gesinnung im Kampfe«. 1 2 3
Fr. Schiller, Werke Band I, S. 299–300. Vgl. H. Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.180–184, und Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, S.240–259. Kant antwortet Schiller in einer Fußnote in der Religion, VI:23. Dies hat etwa G. Prauss klar herausgestellt. Vgl. auch B. Herman, »On the Value of Acting from the Motive of Duty«; und H. Allison, Kant’s Theory of Freedom, Abschnitt »A good will and moral worth«, S.107–120. — Kant konstruiert seine Beispiele, etwa das des Misanthropen (IV:398), oft so, daß dadurch, daß eine moralische Handlung selbst gegen widerstreitende Neigungen erfolgt, Moralität und moralische Motivation deutlich werden.
§ 23. Konsequenzen
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23.2 Was nun die eigentlichen Pflichten betrifft, so würde Kant in der Tat darauf bestehen, daß sie aus dem Pflichtmotiv heraus, auf der Grundlage einer moralischen Maxime, erfolgen müssen. Mit dem Vorschlag, das Pflichtmotiv solle nur dann »einspringen«, wenn die Neigung versagt, kann Kant nicht zufrieden sein. Pflicht (auf dem Wege über die Achtung für das Sittengesetz, wie wir gleich sehen werden) darf für ihn nicht zum bloßen Reservemotiv werden; und es gibt auch gar keinen guten Grund, warum es das werden sollte.1 Der Grund dafür ist zunächst einmal darin zu suchen, daß für Kant nicht die äußere Handlung geboten ist, sondern eine Handlung, die aus einer bestimmten Maxime heraus erfolgt. Er sagt, es komme in der Ethik nicht auf die Handlungen an, die man tun solle, sondern auf das Principium, woraus man sie tun solle: auf die Maxime (R7078). In Fällen, in denen »das Sittengesetz spricht«, sind aus der Sicht der Kantischen Ethik alle Maximen, die einen sinnlichen Zweck zu verfolgen erlauben, gleich schlecht.2 Wenn nun die Pflicht nur noch als Reservemotiv fungiert, vollzieht man nach Kant nicht die Handlung, die geboten ist. Man handelt zwar pflichtmäßig, aber nicht aus Pflicht, während der kategorische Imperativ verlangt, sowohl pflichtmäßig als auch aus Pflicht zu handeln — nach der richtigen Maxime. Diese Antwort mag man für kaum mehr als eine Neuformulierung des Problems halten. Warum sollen wir Kants Anforderungen an das menschliche Handeln teilen? Können wir nicht die Motivationsfrage auf sich beruhen lassen und uns damit zufrieden geben, daß eine Handlung der Pflicht gemäß ist?3 Die Diskussion der »obersten Maxime« in der Religion legt die folgende Antwort nahe (vgl. §17.2): Wir müssen eine grundsätzliche Entscheidung treffen, ob wir im Konfliktfall dem Sittengesetz oder den Neigungen den Vortritt lassen wollen; wenn man in moralisch relevanten Situationen Neigungen nachgibt, ist es kontingent, daß die äußere Handlung pflichtgemäß ist. Eine solche Handlung muß als Ausdruck einer obersten Maxime angese1
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Ich greife mit der Unterscheidung zwischen Haupt-, Neben- und Reservemotiven eine Unterscheidung auf, die Günther Patzig und Bettina Schöne-Seifert in die philosophische Diskussion eingeführt haben; vgl. Günther Patzig, »Bemerkungen zum »Lustprinzip««, S.125 f. Dies scheint ein bedenklicher Zug der Ethik Kants: Sollte es keine Kriterien geben, mehr oder weniger Gebotenes, Erlaubtes oder Verbotenes voneinander zu unterscheiden, auch über die problematische Unterscheidung in vollkommene und unvollkommene Pflichten hinaus? Ist alles, was absolut verboten ist, gleichermaßen absolut verboten? Ist nicht ein Mord schlimmer als das Einbehalten eines Depositums oder eine Lüge? Welche philosophischen Ressourcen hat Kant, um hier weiter zu differenzieren? In diesem Fall kann auch der kategorische Imperativ als Kriterium für die Sittlichkeit der Maximen im Kantischen Sinn nicht mehr ohne weiteres in Anspruch genommen werden.
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IV. Maximen
hen werden, die Pflicht der Neigung unterzuordnen. Wer bei günstiger Neigung die Pflicht in den Hintergrund drängt, wird zudem bei widrigen Neigungen nicht die Kraft haben, sie »aus der Reserve hervorzulocken«.1 23.3 Werfen wir zum Abschluß abermals einen Blick auf Allisons incorporation thesis. Wir sind mit Allison weiterhin der Meinung, daß Handlungen nur auf Grund von Maximen erfolgen können, und daß die Maximenwahl das eigentliche Moment der Freiheit und der Spontaneität bedeutet.2 Doch der im IV. Kapitel entwickelte Maximenbegriff unterscheidet sich erheblich von Allisons, indem Maximen nun essentiell einen übergeordneten Zweck spezifizieren, der moralisch neutrale Regeln koordiniert. Die Freiheit in der Wahl der Maximen ist eine Freiheit in der Wahl grundlegender Zwecke des eigenen Handelns. Nun sagt Kant an der für die incorporation thesis in Anspruch genommenen Stelle aber auch, freie Handlungen entstünden dadurch, daß Triebfedern in Maximen aufgenommen werden, in denen wir leicht die Antriebe erkennen, die genannten übergeordneten Zwecke zu verfolgen. In moralisch relevanten Situationen sind wahrscheinlich, wie schon in §11.6 festgestellt wurde, drei grundverschiedene und mehr oder weniger starke Triebfedern vorhanden, die durch eine Maxime in eine konkrete Handlung münden können. Da sind zunächst die aktuellen Begierden, denen man Lust hat nachzugehen. Es gibt, zweitens, die kluge Option der Selbstliebe, die zu einer optimalen Befriedigung der Neigungen, die wir ausgebildet haben, führt, eventuell auf Kosten der momentanen Begierden.3 Klugheit muß durch feste kluge Maximen höherer Stufe gestützt werden. Drittens haben wir die Wahl, uns für die Triebfeder der Moralität zu entscheiden, die womöglich sowohl der momentanen Lust als auch der Klugheit Abbrucht tut.
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Eine andere Konsequenz der Theorie Kants ist die: Wenn wir auch nicht wissen, welche Zwecke jemand verfolgte, als er eine Straftat beging, und vor allen Dingen nicht mit Sicherheit ausmachen können, ob er sie auf Grund eines festen, überlegten Grundsatzes beging, oder ob er sich nur von seiner Begierde zu ihr verleiten ließ, trotz guter Grundsätze, so können wir doch sagen, daß er die gesetzwidrige Maxime, die seiner Handlung zugrundelag, nicht wegen ihrer Gesetzwidrigkeit gewählt hat, sondern deshalb, weil ihm ein empirischer Zweck attraktiv erscheint. In der Religionsschrift sagt Kant deshalb, der Mensch wolle nicht das Böse als Böses (VI:37). Der eigentliche Actus der Maximenwahl bleibt allgemein und besonders im Falle der obersten Maxime im dunkeln. Vor allem kann der Grund der Gesinnung, die für die Maximenwahl verantwortlich ist, nicht wiederum angegeben werden, obwohl wir danach unvermeidlich fragen müssen. Vgl. Religion, VI:25. Könnten wir die Gesinnung nach Gesetzen erklären, sähe Kant ihre Freiheit gefährdet. In der bemerkenswerten Reflexion 1028 zur Anthropologie spricht Kant davon, daß ähnlich wie die Moralität auch die »Anrathungen der Klugheit« ein praktisches Gefühl erfordern, das nicht das Gefühl der Sinne sei; »sonst billigt man sie Zwar, aber sie sind ohne Kraft. Dazu gehört nicht ein größerer Grad der Vernunft, sondern Stärke derselben.« (1776–78).
§ 23. Konsequenzen
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Dies ist der Entscheidungsrahmen, in denen eine konkrete Maximenwahl, d.h. ein konkreter Akt der Willkür, konkretes Handeln steht. Es ist nun von entscheidender Wichtigkeit, daß Handlungen, die aus Maximen resultieren, welche die von Triebfedern nahegelegten Zwecke in sich als zu verfolgende Zwecke aufnehmen, nicht in dem Sinne frei sind, daß sie aus dem Nichts kommen. Sie lassen sich aus der empirischen Konstitution und den — zunächst einmal bloß angenommenen, nicht erkannten — Maximen eines Menschen erklären. Man kann nämlich im nachhinein sagen, daß jemand impulsiv, klug oder moralisch gehandelt haben muß, wenn auch im Einzelfall auf Grund der Schwierigkeit, die Maxime einer Handlung bei sich und bei anderen zu erkennen, nicht gesagt werden kann, welche dieser drei Optionen gewählt wurde. Kants von Paton so genannte »Methode der Isolierung« in den Beispielen beruht gerade auf der Beschränktheit der möglichen Motivationen, Maximen und Handlungen. Wenn dies richtig ist, läßt sich ein immer wieder gegen die Kantische Ethik erhobener Vorwurf leicht entkräften. Oft heißt es, der kategorische Imperativ sei unbrauchbar, weil sich immer Maximen finden ließen, die eine Handlung erlaubt erscheinen lassen, etwa besonders subtile oder spezielle Maximen, obwohl die Handlung doch offenbar nicht erlaubt ist. Wenn eine Handlung, die aus der Wahl einer konkreten Maxime erster Stufe resultiert, aber nur vonstatten gehen kann, indem eine Auswahl aus einer begrenzten Anzahl von Triebfedern (und damit von durch Motivation gestützten Zielen) vorgenommen wird, so sind diese sehr speziellen Maximen mit guter Wahrscheinlichkeit rein theoretische Optionen, die tatsächlich gar nicht gewählt werden konnten. Diese subtil erdachten Maximen passieren zwar vielleicht den Universalisierungstest des kategorischen Imperativs, doch genügen sie weder der momentanen Lust noch der klugen Selbstliebe des Handelnden, noch der Moralität.1 Kant geht von den verschiedenen motivierenden Bedürfnissen aus, die ein Mensch besitzt und kultivieren kann, nicht von beliebigen, am »grünen Tisch« entworfenen Maximen. Wenn man aus einer bestimmten Motivation heraus handelt, sich aber eine Maxime zurechtlegt, nach der man de facto nicht gehandelt hat, ergibt sich genau das Phänomen, vor dem Kant immer wieder warnt: das Phänomen der Selbsttäuschung, des Vernünftelns wider die Moral. Daß man sich eine passable Maxime zurechtlegen kann, ist nicht wichtig; wichtig ist allein, nach welcher Maxime man tatsächlich gehandelt hat.
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Daß es für Kant kein Problem darstellt, daß ein Akt unter der einen Beschreibung erlaubt und unter der anderen verboten ist, wurde schon in §19.6 gesagt.
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IV. Maximen
Mit diesem Hintergrund soll nun versucht werden, das komplizierte Problem der moralischen Triebfeder, des »rein intellektuell gewirkten Gefühls« der Achtung für das Sittengesetz zu klären.
V. Moralische Motivation: das Phänomen der Achtung §24. Präsenz und Durchsetzungskraft 24.1 Die im ersten Kapitel festgestellte Besonderheit der Kantischen Theorie der Willensfreiheit, daß Freiheit stets Freiheit zum Vernünftigen ist, findet in der Moralpsychologie darin Ausdruck, daß Willensfreiheit ohne das Gefühl der »Achtung fürs Gesetz« unmöglich ist.1 Ohne dieses Gefühl könnte das moralische Gesetz nicht direkt den menschlichen Willen bestimmen und moralisch motivierte Handlungen wären unmöglich, die allein ein Maximum an Unabhängigkeit von natürlichen Einflüssen und an Vernünftigkeit aufweisen. Kant schreibt in dem Kapitel »Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft« der zweiten Kritik, der Hauptquelle für die Theorie der Achtung,2 das wesentliche der Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz sei, »daß er als freier Wille, mithin nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben und mit Abbruch aller Neigungen, so fern sie jenem Gesetze zuwider sein könnten, bloß durchs Gesetz bestimmt werde« (A128). Die Fragen der Möglich1
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In seiner Theorie der moralischen Motivation spricht Kant fast durchgängig von der Achtung »für das« oder »fürs« Gesetz, nicht »vor dem« Gesetz. Dieser Unterschied ist wichtig für die Interpretation von Tugendverpflichtung und Tugendpflicht bzw. bloßer Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit in der Metaphysik der Sitten. Kant sagt dort (VI:410), die »Achtung vor dem Gesetze überhaupt« begründe »noch nicht einen Zweck als Pflicht«. Wäre hier mit »Achtung« die Achtung für das Sittengsetz der Kantischen Moralpsychologie gemeint, so ließe sich der Satz kaum verständlich machen; denn es ist gerade die Achtung für dieses Gesetz, die moralisch gebotene Zwecke vorgibt. In der Metaphysik der Sitten hingegen ist ist mit der Achtung »vor dem Gesetze« die äußerliche Beachtung der Verpflichtung gemeint, und die hat — wie das vielzitierte Beispiel des Krämers zeigt, der seine Kunden fair bedient — mit den verfolgten Zwecken in der Tat noch nichts zu tun. Zum Terminus »Triebfeder«: In der Grundlegung, IV:428, wird »Triebfeder« als »subjektiver Grund des Begehrens« definiert, im Kontrast zum »Bewegungsgrund« als einem »objektiven Grund des Wollens«. Ähnlich in der Kritik der praktischen Vernunft, eingangs des Triebfedernkapitels, A127: Triebfeder (elater animi) ist »der subjektive Bestimmungsgrund des Willens eines Wesens […], dessen Vernunft nicht, schon vermöge seiner Natur, dem objektiven Gesetze notwendig gemäß ist«. In moderner Sprache können wir sie mit Beck den »dynamischen oder konativen Faktor des Wollens« nennen (Kants »Kritik der praktischen Vernunft«, S.203). Die Frage nach der moralischen Triebfeder ist somit die, wie wir überhaupt ein Interesse daran haben, moralisch zu handeln, und wie dieses Interesse im Handeln aktiv ist. — Zu den folgenden Ausführungen, v. a. dem subjektiv-ästhetischen Aspekt der Achtung vgl. man P. König, Autonomie und Autokratie, S. 198–230. Eine ausführliche entwicklungsgeschichtliche Studie zum moralischen Gefühl hat Lee Ming-huei vorgelegt: Das Problem des moralischen Gefühls in der Entwicklung der Kantischen Ethik.
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V. Moralische Motivation: das Phänomen der Achtung
keit moralischer Motivation durch das Gesetz und der Freiheit des Willens, die für die theoretische Vernunft auf Grund ihres die metaphysischen Charakters letztlich gleichermaßen unlösbar sind, werden daher von Kant explizit miteinander identifiziert: [W]ie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könnte (welches doch das wesentliche aller Moralität ist), das ist ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem und mit dem einerlei: wie ein freier Wille möglich sei. (ebd.)
Daraus ergibt sich eine Beschränkung der Aufgaben des Kapitels über die Triebfedern der reinen praktischen Vernunft: Es wird »nicht den Grund, woher das moralische Gesetz in sich eine Triebfeder abgebe, sonden was, so fern es eine solche ist, sie im Gemüte wirkt (besser zu sagen, wirken muß) a priori anzuzeigen haben« (ebd.).1 Es folgt eine detaillierte, oft dunkle Diskussion desjenigen Falles, in dem ein Mensch sich tatsächlich vom moralischen Motiv leiten läßt, d. h. eine Beschreibung erfolgreicher moralischer Motivation. Dies Vorgehen trägt zur Undurchsichtigkeit des Triebfedernkapitels nicht wenig bei. Die großen Verständnisschwierigkeiten, auf die ein Leser dieses Kapitels unweigerlich stößt, sind zu einem Gutteil darauf zurückzuführen, daß Kant nur den Erfolgsfall beschreibt und nicht ebenso sagt, was in einem Menschen vorgeht, der sich nicht von moralischen Motiven bestimmen läßt, bei dem also die Neigungen die Oberhand behalten.2 Zudem hat es zu schwerwiegenden Mißverständnissen in der Kantliteratur geführt. 24.2 Eines dieser Mißverständnisse soll gleich zu Anfang ausgeräumt werden: Kant sei der Ansicht gewesen, daß Achtung als das moralische Gefühl, das zur moralischen Triebfeder dienen kann,3 in jedem Fall ihres Auftretens tatsächlich die Willkür des Akteurs, der sie verspürt, zugunsten der moralisch richtigen Maxime und Handlung bestimme. 1
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Warum ist es besser zu sagen: »wirken muß«? Weil dadurch der apriorische und — in unserem Sinn — spekulative Charakter von Kants Moralpsychologie deutlich wird. Aus unserem Selbstverständnis als praktisch-vernünftige Wesen heraus müssen wir annehmen, daß das moralische Gesetz mit der Achtung eine Triebfeder besitzt, die auf eine bestimmte Weise in uns entsteht und wirkt. Ebenso wie die eng verwandte Lehre von der transzendentalen Freiheit ist die Theorie der Achtung fürs Gesetz eine Folge der Grundintuition Kants, daß Moral nur als ein System unbedingter Gebote adäquat beschrieben werden kann. Vgl. auch die unten, §24.3, zitierte Passage Kritik der praktischen Vernunft A141 f. Der Grund dafür liegt vermutlich in der Schwierigkeit, die für Kant das Abweichen menschlichen Handelns von den Geboten der Vernunft darstellte. Dieser Fall ist, sozusagen, noch unerklärlicher als der Fall erfolgreicher moralischer Motivation. Vgl. §14.3. Der Terminus »moralisches Gefühl« ist weiter als der der »Achtung fürs Sittengesetz«, weil er auch die Lust an eigener Tugend und die Unlust oder den Schmerz an eigenem Laster umfaßt; vgl. Ming-huei, Das Problem des moralischen Gefühls, S. 213. Im folgenden wird uns jedoch nur das moralische Gefühl der Achtung als Triebfeder der Moralität beschäftigen.
§ 24. Präsenz und Durchsetzungskraft
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Diese Auffassung hat Harald Köhl in seinem Buch Kants Gesinnungsethik vertreten. Er fragt, erstens, ob Achtung »die einzige und alleinige moralische Triebfeder« sei und, zweitens, ob sie »eine hinreichende Triebfeder für moralische Handlungen« darstelle; seiner Ansicht nach beantwortet Kant beide Fragen positiv.1 Köhl meint, die in der Religion explizit zu findende Behauptung Kants, Achtung sei eine »für sich hinreichende Triebfeder der Willkür« (VI:27) zwinge uns zu der Auffassung, »daß, wo jemand nicht moralisch handelt, ihm die Achtung fehlte«.2 Damit aber wäre, wie Köhl folgerichtig einwendet, das nur allzu bekannte Phänomen der moralischen Willensschwäche unmöglich: daß das schwächere moralische Motiv einem stärkeren, widermoralischen unterliegt. Die These, die Kant hier zugeschrieben wird, ist allerdings abwegig. Sie wird jedoch von Kant auch nicht vertreten. Wenn er sagt, Achtung sei für sich hinreichend, die Willkür zu bestimmen, so meint er damit lediglich, daß in jedem Fall, in dem ein Mensch in einer moralisch relevanten Situation Achtung für das moralischen Gesetz fühlt, sie ihm als hinreichende Motivation zur moralisch richtigen Handlung dienen kann, nicht daß sie in solcher Situation tatsächlich zugunsten der sittlich guten Handlung wirkt.3 Die These, daß sich Achtung jederzeit gegen widerstreitende Neigungen durchsetzen kann, ist zusammen mit der These, daß Achtung in allen moralisch relevanten Situationen zugegen ist (und gerade nicht fehlt, wenn jemand dem Sittengesetz zuwider handelt), und der Grundannahme, Achtung gehe im Gegensatz zu einfachen Begierden oder Neigungen mit dem Bedürfnis einher, genau das moralisch Richtige zu tun, gerade das, was Kant für seine Konzeption von Moralität und Verantwortung benötigt. Der Möglichkeit moralischen Handelns ist alle Zufälligkeit genommen, der Wirklichkeit freilich nicht. Das Konstrukt der a priori gewirkten moralischen Trieb-
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Harald Köhl, Kants Gesinnungsethik, S.138. Der Tatsache, daß die — in der Tat positive — Antwort auf die erste Frage die These vom Unterschied des Handelns »aus Pflicht« und des Handelns »aus Achtung« (ebd., S.124–130) in erhebliche Schwierigkeiten bringt, trägt Köhl nicht hinreichend Rechnung. Es scheint mir vollkommen eindeutig zu sein, daß für uns Menschen als pathologisch affizierte Sinnenwesen aus Pflicht (nicht bloß der Pflicht gemäß) zu handeln ebendies bedeutet, die eigene Willkür vom Gefühl der Achtung bestimmen zu lassen. Ebenso Kritik der praktischen Vernunft, A144 und A146. Köhl unterschätzt den Stellenwert der erstgenannten Passage und geht auf die zweite gar nicht ein. Zu »aus Pflicht« und »aus Achtung« vgl. auch Henry Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.120 passim; ders., »On a presumed gap in the derivation of the categorical imperative«, S.144; Henri Lauener, »Der systematische Stellenwert des Gefühls der Achtung in Kants Ethik«, S.263; oder Richard McCarty, »Motivation and Moral Choice in Kant’s Theory of Rational Agency«, S.15. Harald Köhl, Kants Gesinnungsethik, S.139. So heißt es auch in der Kritik der praktischen Vernunft im Rückblick auf die »Ästhetik«, es werde dort die Sinnlichkeit als Gefühl betrachtet, »das ein subjektiver Grund des Begehrens sein kann« (A161).
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V. Moralische Motivation: das Phänomen der Achtung
feder »Achtung fürs Gesetz« garantiert, daß jemand, der etwas moralisch Falsches tut, sich stets hätte moralisch korrekt verhalten können.1 24.3 An einer Stelle des Triebfedernkapitels der Kritik der praktischen Vernunft wird besonders deutlich, daß Achtung nicht nur bei erfolgreicher moralischer Motivation, sondern — wunderbarerweise — immer dann auftritt, wenn wir uns moralischen Forderungen ausgesetzt sehen: Es liegt so etwas Besonderes in der grenzenlosen Hochschätzung des reinen, von allem Vorteil entblößten, moralischen Gesetzes, so wie es praktische Vernunft uns zur Befolgung vorstellt, deren Stimme auch den kühnsten Frevler zittern macht, und ihn nötigt, sich vor seinem Anblicke zu verbergen: daß man sich nicht wundern darf, diesen Einfluß einer bloß intellektuellen Idee aufs Gefühl für spekulative Vernunft unergründlich zu finden, und sich damit begnügen zu müssen, daß man a priori doch noch so viel einsehen kann: ein solches Gefühl sei unzertrennlich mit der Vorstellung des moralischen Gesetzes in jedem endlichen vernünftigen Wesen verbunden. (A141 f.)
Im folgenden Satz wird das erwähnte Gefühl, das unzertrennlich mit der Vorstellung des moralischen Gesetzes verbunden ist, dann explizit »dieses Gefühl der Achtung« genannt. Daß Achtung »auch den kühnsten Frevler zittern macht«, allgemein die These, daß auch Menschen, die oft unmoralisch sind, sich doch des rechten Weges wohl bewußt sind, ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in Kants Schriften zur Moralphilosophie. Sie ist Teil von Kants moralphilosophischem Optimismus.2 Wir haben gesehen, daß »kühnen Frevlern« die Achtung absprechen bedeuten würde, ihnen Willensfreiheit und damit Verantwortlichkeit abzusprechen. Das aber hieße, das Kantische Programm ins Gegenteil verkehren. Die Belege, die man hier anführen könnte, sind Legion. Ich greife nur einige besonders deutliche Beispiele heraus: In der Grundlegung schreibt Kant, es sei niemand, »selbst der ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist,« der, hält man ihm »Beispiele der Redlich1
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J. B. Schneewinds präzise Charakterisierung des Achtungsgefühls verdient es, zitiert zu werden: »Respect is unlike other motives in two further ways. First, it is a feeling that arises solely from our awareness of the moral law as the categorical imperative. And it always arises from such awareness. While other motives may or may not be present in everyone at all times, every rational agent always has available this motive, which is sufficient to move her to do what the categorical imperative bids. Second, other motives, such as fear of punishment, greed, love, or pity can lead us to act rightly. But it is merely contingent if they do. Love, like greed or hatred, can lead one to act immorally. The sole motive that necessarily moves us to act rightly is respect, because it alone is only activated by the dictates of the categorical imperative.« (»Autonomy, obligation, and virtue«, S.326). Auch Personen gegenüber verspüren wir unwillkürlich Achtung: »Ac h t u n g ist also ein Tr i b u t, den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurückhalten, so können wir doch nicht verhüten, sie innerlich zu empfinden.« (Kritik der praktischen Vernunft, A137).
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keit in Absichten, der Standhaftigkeit in Befolgung guter Maximen, der Teilnehmung und des allgemeinen Wohlwollens (und noch dazu mit großen Aufopferungen von Vorteilen und Gemächlichkeit verbunden)« vor Augen, »nicht wünsche, daß er auch so gesinnt sein möchte« (IV:454); und in der »Tugendlehre« der Metaphysik der Sitten: Der Mensch aber findet sich doch a l s m o r a l i s c h e s We s e n zugleich (wenn er sich objektiv, wozu er durch seine reine praktische Vernunft bestimmt ist, (nach der M e n s c h h e i t in seiner eigenen Person) betrachtet) heilig genug, um das innere Gesetz u n g e r n zu übertreten; denn es gibt keinen so verruchten Menschen, der bei dieser Übertretung in sich nicht einen Widerstand fühlte und eine Verabscheuung seiner selbst, bei der er sich selbst Zwang antun muß. (VI:379 f. Anm.)1
Doch es stellt sich ein weiteres Problem. Wie Harald Köhl zur Stützung seiner These anführt, hat Kant nie einen Zweifel daran gelassen, »daß man Gefühle nicht fordern kann«.2 Daraus glaubt Köhl schließen zu können, daß man auch nicht fordern kann, jemand müsse Handlungen »aus dem Gefühl der Achtung (als der moralischen Triebfeder) heraus ausführen«. Doch das folgt keineswegs. Wir können Kant zufolge gerade deshalb von jemandem fordern, daß er durch die Triebfeder der reinen praktischen Vernunft, Achtung, motiviert wird, weil diese, im Gegensatz zu kontingent auftretenden »pathologischen« Gefühlen der Lust und Unlust, ihm immer als Motivationsquelle der moralisch korrekten Handlung zur Verfügung steht. Dies ist gerade ihre genuine Funktion. Es bleibt allerdings dabei, daß Gefühle nicht gefordert werden können: »pathologische« Gefühle deshalb nicht, weil es nicht bei uns liegt, sie spontan hervorzurufen; das moralische Gefühl der Achtung nicht, weil es sich ohnehin einstellt, wenn das moralische Gesetz von uns eine bestimmte Handlung fordert. In diesem Sinn schreibt Kant im Abschnitt »Über die Achtung« (für vernünftige Wesen) der »Tugendlehre«, man könne nicht vernünftigerweise sagen, der Mensch habe »eine Pflicht der Selbstschätzung«. Es müsse vielmehr heißen: »das Gesetz in ihm zwingt ihm unvermeidlich A c h t u n g für sein eigenes Wesen ab, und dieses Gefühl (welches von eigner
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Vgl. ferner die Religionsschrift, in der sich doch auch die Lehre vom radikalen Bösen findet: »Der Mensch (selbst der ärgste) tut, in welchen Maximen es auch sei, auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht. Dieses dringt sich ihm vielmehr kraft seiner moralischen Anlage unwiderstehlich auf; und wenn keine andere Triebfeder dagegen wirkte, so würde er es auch als hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen, d.i. er würde moralisch gut sein.« (VI:36). Harald Köhl, Kants Gesinnungsethik, S.123. Vgl. z.B. Grundlegung, IV:399, Kritik der praktischen Vernunft, A147 zur Unmöglichkeit, jemandem Liebe zu befehlen.
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V. Moralische Motivation: das Phänomen der Achtung
Art ist) ist ein Grund gewisser Pflichten, d.i. gewisser Handlungen, die mit der Pflicht gegen sich selbst zusammen bestehen können; […]« (VI:402 f.). Natürlich könnte man von jemandem, dem ein moralisches Gefühl ganz und gar fehlt, nicht fordern, daß er sich dieses erwerbe, weil das moralische Gefühl allererst die Grundlage des »Bewußtseins der Verbindlichkeit« ist, wie es in der Metaphysik der Sitten heißt (VI:399). Diese Stelle führt Köhl zur Stützung seiner These an. Doch ist das dort angeführte Scenario vollkommen kontrafaktisch; und so fährt Kant unmittelbar fort zu sagen, »ein jeder Mensch (als ein moralisches Wesen)« habe das moralische Gefühl »ursprünglich in sich«; die Verbindlichkeit könne nur darauf gehen, es zu kultivieren und zu stärken (ebd.).1 Im Folgenden sagt Kant dann sehr deutlich: Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung wäre er sittlich tot, und wenn (um in der Sprache der Ärzte zu reden) die sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach den chemischen Gesetzen) in die bloße Tierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden. (VI:400)
Kurz: obwohl wir von Menschen Gefühle nicht fordern können, so doch das, daß sie das durch Vernunft hervorgebrachte moralische Gefühl der Achtung für das Sittengesetz zur Triebfeder ihrer Handlugen machen.
§25. Achtung als Triebfeder der Sittlichkeit 25.1 Betrachten wir nun Kants Versuch im Detail, im Triebfedernkapitel der Kritik der praktischen Vernunft »sorgfältig zu bestimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen, als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe« (A126 f.). Zuerst müssen zwei Facetten des Phänomens »Achtung fürs Sittengesetz« voneinander unterschieden werden. Der negative Aspekt besteht darin, daß das Bewußtsein der freiwilligen Unterwerfung des eigenen Willens unter das Sittengesetz die egoistischen Neigungen der Sinnlichkeit einschränkt. Und weiter: Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellektuellen Kausalität, d.i. der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mit
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Welchen Grund gäbe es, das moralische Gefühl zu kultivieren und zu stärken, wenn es, wie Köhl behauptet, in jedem Fall ohnehin ausreichte (nicht nur ausreichen kann), die moralisch richtige Handlung hervorzubringen?
§ 25. Achtungs als Triebfeder der Sittlichkeit
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dem subjektiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der A c h t u n g und, indem es ihn sogar n i e d e r s c h l ä g t, d.i. demütigt, ein Gegenstand der größten A c h t u n g, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls, das nicht empirischen Ursprungs ist und a priori erkannt wird. Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können. (A130)
Zunächst stellt sich der negative Effekt der intellektuellen Kausalität ein, der auf den Urteilenden einen so starken Eindruck macht, daß daraus ein positives Gefühl entsteht, das die eigentliche Triebfeder des moralischen Gesetzes darstellt. Damit ist die Wechselwirkung zwischen positiver und negativer Seite der Achtung noch nicht zu Ende, denn die »Wegräumung des Hindernisses«, also der Neigungen, wird »einer positiven Beförderung der Kausalität gleichgeschätzt« (A133). Es heißt sodann, »die Demütigung auf der sinnlichen Seite« sei »eine Erhebung auf der moralischen, d.i. der praktischen Schätzung des Gesetzes selbst, auf der intellektuellen, mit einem Worte Achtung fürs Gesetz, also auch ein seiner intellektuellen Ursache nach positives Gefühl, das a priori erkannt wird« (A140). Die zitierten Formulierungen lassen es plausibel erscheinen, daß die positive Seite ganz auf die negative reduziert werden kann. Damit wären positiver und negativer Aspekt nur zwei Beschreibungen desselben Phänomens, so wie wir ein und dasselbe Glas Wassers mit gleichem Recht als halb voll und als halb leer beschreiben können. Doch diese These erweist sich bei näherem Hinsehen als nicht korrekt. Zwar vergrößert die Verminderung der Widerstände den Einfluß des moralischen Gesetzes auf menschliche Entscheidungen, doch es muß auch darüber hinaus etwas da sein, was überhaupt befördert werden kann: das positive Gefühl der Achtung für das Sittengesetz, das unwillkürlich als Reaktion auf die Demütigung unserer sinnlichen Antriebe entsteht. Dieses Gefühl weckt in uns das Bedürfnis, aus moralischen Maximen zu handeln. Es ist ein Wechselspiel zweier Aspekte, deren der eine den anderen hervorruft, der jenen wiederum stärkt. Wir können es, so Kant, so weit vorantreiben, daß die Triebfeder Achtung stark genug ist, die moralisch richtige Handlung herbeizuführen. Zudem wird auf diese Weise das rein intellektuelle Gefühl der Achtung in die natürliche Konkurrenz der Triebfedern eingebunden. 25.2 Neben der Tatsache, daß in diesem Kapitel der Erfolgsfall moralischer Motivation im Zentrum steht, erschwert der mittlerweile vertraute terminologische Punkt unser Verständnis des Triebfedernkapitels erheblich, daß Kant die legislative bzw. dijudikative und die exekutive Funktion des menschlichen Begehrungsvermögens, des »Willens« im umfassenden Sinne,
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V. Moralische Motivation: das Phänomen der Achtung
noch nicht wie in der »Tugendlehre« klar als »Wille« und »Willkür« unterscheidet. »Wille« kann sowohl (i) für den — gesetzgebenden — »Willen« im eingeengten Sinn der »Tugendlehre«, als auch (ii) für die — ausführende — Willkür (lat. arbitrium), als auch (iii) für das aus beidem bestehende gesamte menschliche Begehrungsvermögen (dann lat. voluntas) stehen.1 Für dementsprechend viel Verwirrung hat gesorgt, daß der »Wille« in allen drei Bedeutungen »unmittelbar« vom Sittengesetz bestimmt werden soll, damit eine moralische Handlung erfolgt.2 Es ist alles andere als klar, was dies im einzelnen bedeuten soll. (i) Der Wille als Gesetzgeber wird bei der Dijudikation direkt durch das Gesetz bestimmt. — Bisweilen meint Kant, wenn er in der »Ästhetik« der Kritik der praktischen Vernunft sagt, das moralische Gesetz selbst bestimme den Willen, daß Neigungen im Urteil darüber, was richtig und vernünftig ist zu tun, keine Rolle spielen. In diesen Fällen wird »Wille« in der engeren, später der »freien Willkür« gegenübergestellten Bedeutung verwendet, z.B. zu Beginn der ausführlichen zusammenhängenden Beschreibung des Ablaufs moralischer Handlungen im »Triebfedernkapitel«. »Zuerst bestimmt das moralische Gesetz objektiv und unmittelbar den Willen im Urteile der Vernunft«; und weiter unten spricht Kant vom Gesetz, das »objektiv, d.i. in der Vorstellung der reinen Vernunft, ein unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens ist« (A140).3 Hier ist vom moralischen Urteil, nicht von der Ausführung dieses Urteils die Rede; und diesem Urteil geht als solchem kein »pathologisches« Gefühl der Lust oder Unlust voraus, wie wenn wir etwas daraufhin untersuchen, ob es für uns nützlich sein kann. Es wird direkt durch das Sittegensetz bestimmt.4
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Zu »Wille« und »Willkür« ausführlich: Kapitel IV, §16. In Situationen, in denen moralisches Handeln geboten ist, kann es freilich auch geschehen, daß jemand gegen den — gesetzgebenden — Willen handelt. In solchen Fällen wird nur er, nicht die Willkür oder das gesamte arbitrium, direkt vom Sittengesetz bestimmt. — Eine analoge Mehrdeutigkeit besteht beim Ausdruck »Kausalität der Vernunft«. Einerseits folgt schon auf das Urteil durch eine (unrerklärliche) Kausalität der Vernunft das intellektuell gewirkte Gefühl der Achtung. Andererseits sind in einem schwachen Sinn alle Handlungen der freien Willkür Akte einer intellektuellen Kausalität; und schließlich reden wir von Kausalität der Vernunft, wenn beim moralischen Handeln Achtung erfolgreich die Willkür bestimmt. In diesem Falle ist reine Vernunft praktisch. So auch in der Anmerkung auf IV:401 der Grundlegung (»Die unmittelbare Bestimmung des Willens durchs Gesetz und das Bewußtsein derselben heißt Achtung, so daß diese als Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache desselben angesehen wird.«) und im Gemeinspruch, VIII:283, wo es heißt, das moralische Gefühl sei nicht Ursache, sondern Wirkung der Willensbestimmung. Im Jahre 1793 mag Kant schon auf die terminologische Trennung von Wille und Willkür geachtet haben. Die Wendung gegen ein moralisches Gefühl als Grundlage der Dijudikation ist wesentlich für das, was Köhl die »moralphilosophische Pointe« nennt; vgl. Kants Gesinnungsethik, S.143 ff.
§ 25. Achtungs als Triebfeder der Sittlichkeit
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In anderen Fällen darf der Wille, die legislative Instanz, sich durchaus an einem vorausgehenden Gefühl und an natürlich vorgegebnenen Zwecken orientieren; dann nämlich, wenn Moral nicht berührt, sondern mit Recht gefragt wird, was zu tun das klügste ist. Selbst dann wird er von natürlichen Faktoren nicht automatisch zur Handlung bestimmt. Er befindet sich dann im Tätigkeitsfeld der empirisch-praktischen Vernunft. (ii) Die Willkür, die exekutive Instanz, wird beim moralischen Handeln durch das Sittengesetz selbst in der Form der Achtung bestimmt. — An anderen Stellen ist, wenn von der unmittelbaren Wirkung des Gesetzes auf den Willen die Rede ist, zweifellos die Wirkung des Gesetzes auf die freie Willkür gemeint, etwa wenn Kant schreibt, »das Gesetz selbst« müsse »in einem moralisch guten Willen [im dritten, umfassenden Sinne verwendet] die Triebfeder sein« (A141), also der subjektive Bestimmungsgrund des Willens in der Bedeutung »Willkür«. Wie haben wir es zu verstehen, daß »das Gesetz selbst« dazu in der Lage sein soll, die ausführende Instanz des Willens zu bestimmen? War dies nicht die Aufgabe der Achtung als moralischer Triebfeder? Auch im Eingangssatz des Triebfedernkapitels sieht es zunächst so aus, als solle das Sittengesetz bei moralischen (im Unterschied zu bloß legalen Handlungen) die Willkür ohne die Vermittlung überhaupt irgendeines Gefühls bestimmen: Das wesentliche alles sittlichen Werts der Handlungen kommt darauf an, d a ß d a s m o r a l i s c h e G e s e t z u n m i t t e l b a r d e n W i l l e n b e s t i m m e. Geschieht die Willensbestimmung zwar g e m ä ß dem moralischen Gesetze, aber nur vermittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens werde, mithin nicht u m d e s G e s e t z e s w i l l e n: so wird die Handlung zwar L e g a l i t ä t, aber nicht M o r a l i t ä t enthalten. (A126 f.)
Wie jedoch schon Lewis White Beck in seinem Kommentar zur Kritik der praktischen Vernunft angemerkt hat, ist der Nachsatz »das vorausgesetzt […] werde« entscheidend.1 Es handelt sich offensichtlich um einen bestimmenden Relativsatz. Nur solche Gefühle sollen als Triebfedern der reinen praktischen Vernunft ausgeschlossen werden, die vorausgesetzt werden müssen, damit das moralische Gesetz ein hinreichender Bestimmungsgrund des Willens wird. Ein Gefühl, das diese Eigenschaft nicht aufweist, dient der Vernunft in der Tat zur Triebfeder: das rein intellektual gewirkte Gefühl der Achtung fürs Gesetz.
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Vgl. den Abschnitt »Eine angebliche Inkonsistenz«, S.208 f. des Kommentars.
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V. Moralische Motivation: das Phänomen der Achtung
Die Redeweise, ein Gefühl müsse vorausgesetzt werden, damit etc., kann noch weiter erläutert werden. Damit ist erstens gemeint, daß ein Gefühl der Lust oder Unlust dem Urteil darüber, was zu tun sei, vorausgeht; und zweitens, daß zudem die Vernunft gerade auf dieses (pathologische) Gefühl angewiesen ist, um zur entsprechenden Handlung zu motivieren. Beim moralischen Urteil und dem moralischen Gefühl der Achtung trifft beides nicht zu. So gelesen, finden wir im zweiten Satz des des besagten Kapitels eine präzise Bestimmung dessen, was es heißt, daß das moralische Gesetz »unmittelbar« den Willen bestimmt: Dem ersten Anschein zuwider bestimmt das Sittengesetz die Willkür mittels der Achtung.1 Zu sagen, das Gesetz gebe eine Triebfeder ab oder bestimme die Willkür, ist demnach eine für Kant typische verkürzte Redeweise, die überdies die objektive Perspektive im Kontrast zur subjektiven Sicht des Handelnden hervorhebt.2 Schon präziser ist es zu sagen, unser Bewußtsein des moralischen Gesetzes motiviere. Korrekt ist die, allerdings schwerfällige, Formulierung: Die Vorstellung des moralischen Gesetzes wird durch die Achtung, die es durch das moralische Urteil erweckt, zur Triebfeder. (iii) Der Wille (voluntas), d.h. das gesamte menschliche Begehrungsvermögen, wird beim moralischen Handeln direkt durch das Sittengesetz bestimmt. — Die dritte These folgt aus der Verbindung der ersten beiden. Auch sie soll am Text belegt werden. Der zweite Abschnitt des »Triebfedernkapitels« beginnt mit einer Erörterung der Rolle der Triebfeder, mit der dem moralischen Gesetz »Einfluß auf den Willen«, d. h. die Willkür, verschafft werden soll (A127). Noch im gleichen Absatz jedoch gebraucht Kant »Wille« als eine Bezeichnung für das menschliche Begehrungsvermögen insgesamt: »Denn wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das wesentliche aller Moralität ist), das ist ein für die menschliche Vernunft 1
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So deutlich in der Schrift über den Gemeinspruch von 1793: »Die Triebfeder, welche der Mensch vorher haben kann, ehe ihm ein Ziel (Zweck) vorgesteckt wird, kann doch offenbar nichts andres sein, als das Gesetz selbst durch die Achtung, die es (unbestimmt, welche Zwecke man haben und durch dessen Befogung erreichen mag) einflößt.« (VIII:282, Anm.) Vgl. Grundlegung, IV:400: »Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung, und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als, objektiv, das Gesetz, und, subjektiv, reine Achtung für dieses praktische Gesetz […].«; so auch Kritik der praktischen Vernunft, A144. In Reflexion 5436 wird hinsichtlich der Determination durch die Vernunft explizit die Verbindung zwischen »mittelbar« und »durch Materie« einerseits sowie »unmittelbar«, der »Form des Gesetzes« und der Moralität andererseits hergestellt. Weil das Gefühl der Achtung ein intellektuell gewirktes Gefühl ist und auf einem Urteil beruht, das nichts Materiales voraussetzt (vgl. (i) dieses Abschnitts), bewirkt es, daß die Willkür durch die Form des Gesetzes bestimmt wird, also — dem ersten Anschein entgegen — unmittelbar durch die Vernunft.
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unauflösliches Problem und mit dem einerlei: wie ein freier Wille möglich sei.« (A128) Denn hier kann mit »Wille« und »freier Wille« nicht allein die legislative Instanz gemeint sein, denn das würde als Frage nach dem moralisch freien Willen zu kurz greifen, doch auch nicht allein die exekutive Instanz, denn es geht Kant an dieser Stelle nicht allein um die negative Freiheit der Willkür, sondern um moralische Freiheit, also um die Möglichkeit der Bestimmung der Willkür durch reine Vernunft, die das gesamte Begehrungsvermögen beansprucht. Es ist oft nicht einfach zu sehen, in welcher Bedeutung Kant sich im »dritten Hauptstück« der Analytik über die »Triebfedern der reinen praktischen Vernunft« des Ausdrucks »Wille« bedient, und viele weitere Passagen dieses Kapitels müssen hier unerörtert bleiben. Dennoch zeichnet sich insgesamt das folgende Bild moralischer Motivation ab. Wenn wir uns in einer moralisch relevanten Situation befinden und versucht sind, aus unseren unmittelbaren »pathologischen« Bedürfnissen oder aus Neigung heraus zu handeln, so beginnt unwillkürlich durch das moralische Urteil über die möglichen Handlungsoptionen den Motivationsprozeß. Ohne Voraussetung eines empirischen Interesses wird der legislative Wille allein durch die Vorstellung des moralischen Gesetzes bestimmt. So entsteht — für uns unerklärlich — das unabhängig von unseren natürlichen Wünschen und Neigungen gewirkte Gefühl der Achtung, das sich einerseits dadurch auszeichnet, daß es den Neigungen, die sich vor dem moralischen Urteil bemerkbar gemacht haben, Abbrucht tut, andererseits dadurch, daß es ein positives Gefühl ist, das in Konkurrenz zu den Neigungen tritt und ebenso wie diese zur Triebfeder dienen kann, die Willkür eine Maxime auswählen zu lassen. Durch dieses Gefühl also versucht der legislative Wille die exekutive Willkür zu bestimmen, die nun wie Herkules vor der Wahl zwischen Laster und Tugend steht.1 Nur dann, wenn sie sich für die Tugend entscheidet, macht sie von ihrer Freiheit richtigen Gebrauch. 1
Es ist also nicht so, wie u. a. Ming-huei meint, daß die Triebfeder der Achtung eine »unmittelbare Wirkung der Bestimmung der Willkür durch das Sittengesetz« darstellt (Das Problem des moralischen Gefühls, S.214, meine Hervorhebung). Ähnlich schreibt Paul Guyer: »The feeling of respect is thus a complex but ultimately pleasurable state of feeling produced by our decision to adhere to the moral law, grounded, like other feelings of pleasure, in the recognition of the possibility of the realization of our own objectives but reflecting in its very complexity the fact that not all of our objectives are conjointly satisfiable.« (»Duty and Inclination«, S.360). Im Folgenden sagt Guyer, Achtung sei nicht das Motiv moralisch guter Handlungen; doch dies ist gerade die Aufgabe, die Achtung zwischen legislativem Willen und der Entscheidung der exekutiven Willkür erfüllen soll. Guyer verwechselt hier die Triebfeder des Sittengesetze, die Achtung, mit dem moralischen Gefühl im weiteren Sinne, der Zufriedenheit mit der eigenen moralischen Qualität (s.o.). Achtung ist somit eine Wirkung der Willensbestimmung (gemäß (i)) in dem doppelten Sinne, daß der legislative Wille im Urteil vom moralischen Gesetz bestimmt wird und seinerseits bestimmt, wie die Willkür sich entscheiden soll. Die Bestimmung der Willkür (hier ist der Genetiv nur noch gen. obi.) ist (auf psychologischer Ebene) tatsächlich eine Wirkung der Achtung.
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V. Moralische Motivation: das Phänomen der Achtung
Damit bleibt es dabei, daß Kant den »Stein der Weisen« nicht gefunden hat:1 Wir sehen immer noch nicht ein, wie es kommt, daß reine Vernunft praktisch ist, wenngleich wir durch das »Factum« a priori wissen, daß dies möglich sein muß. Dadurch werden Dijudikation und Exekution für den Fall moralischen Handelns näher aneinander gerückt; denn das Urteil der Vernunft darüber, was zu tun moralisch richtig ist, gibt zumindest eine Triebfeder ab, die sogar immer ausreichen kann, zur moralisch korrekten Handlung zu motivieren. Es ist jedoch ebenso möglich, daß die Handlung durch empirische Beweggründe bestimmt wird, unbeschadet der besseren Einsicht. Dijudikation und Exekution bleiben in diesem Sinn deutlich unterschieden. 25.3 Wie hat man nun die enigmatische These Kants zu verstehen, die Achtung für das Gesetz sei »nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet« (A134)? Sie klärt sich bei näherer Betrachtung des genauen Wortlauts. Auch hier wird nicht bestritten, was Kant nicht bestreiten wird: daß die Achtung Triebfeder der Sittlichkeit ist. Doch es ist hier zu unterscheiden zwischen einer Triebfeder der Sittlichkeit und einer Triebfeder zur Sittlichkeit. Die letztgenannte Rolle kann und darf Achtung nicht übernehmen; es ist — wie soeben, in §25.2, unter (i) festgestellt — nicht Achtung, die uns dazu nötigt, den moralischen Standpunkt einzunehmen und das Urteil zu fällen, daß wir dies oder jenes tun sollen; den moralischen Standpunkt einzunehmen und ein moralisches Urteil zu fällen führt vielmehr dazu, daß wir Achtung empfinden. Achtung für das Sittengesetz ist das Motiv, aus dem heraus ein moralischer Mensch moralisch korrekte Handlungen ausführt.2 Sie ist die sittliche Qualität eines Menschen, die er sich als Triebfeder zunutze macht. Weiter unten auf derselben Seite der Kritik der praktischen Vernnft wird diese Vermutung bestätigt. Es heißt dort, das moralische Gefühl diene »nicht zur Beurteilung der Handlungen, oder wohl gar zur Gründung des objektiven Sittengesetzes selbst, sondern bloß zur Triebfeder, um dieses in sich zur Maxime zu machen« (ebd.). Dem moralischen Urteil geht (im Unterschied zum Urteil über das mir Zuträgliche) kein Gefühl voraus. In diesem Sinne 1 2
Vgl. Moral Mrongovius, XXVII:1428; s.o. Kapitel IV, §16.1. In diesem Sinne auch Köhl, Kants Gesinnungsethik, S.146 f. Für Köhl muß dieser Stelle dadurch besonderes Gewicht zukommen, daß er Achtung für eine in jedem Fall hinreichende Bedingung moralischer Handlungen hält (vgl. §24.1). — Andrews Reath schlägt in seinem Aufsatz »Kant’s Theory of Moral Sensibilty« eine andere sinnvolle, wenn auch in diesem Zusammenhang unwahrscheinlichere Interpretation vor. Reath betont, daß nicht eigentlich die Triebfeder das Handeln bestimme, sondern der Akt der freien Willkür, und daß deshalb die Triebfeder allein durch ihre Stärke die moralische Handlung nicht hervorbringen kann, sondern darauf angewiesen ist, daß ihr Einfluß auf die Willkür verstattet wird, sie also als Triebfeder betrachet wird (S.290).
§ 25. Achtungs als Triebfeder der Sittlichkeit
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wird zur Sittlichkeit keine Triebfeder benötigt. Die entsteht allererst mit dem Urteil.1 25.4 In bezug auf Urteil und Ausführung soll an dieser Stelle ein aufschlußreicher Unterschied zur Sprache gebracht werden, der Dijudikation, Exekution und nachträgliches Urteil von Geboten der Moral und der Klugheit betrifft: Moralische Urteile sind (i) leicht zu fällen, aber (ii) unsicher in bezug auf die Ausführung, während (iii) das Urteilen in Sachen Klugheit oft Schwierigkeiten bereitet, es aber (iv) einfacher ist, eine eindeutig als klug erkannte Handlungsmöglichkeit auszuführen.2 Zwei besonders deutliche Textstellen sollen als Belege genügen. Zu (i) und (iii): bei der Erörterung des Depositum-Beispiels im der Schrift Über den Gemeinspruch schreibt Kant:3 Der Wille also nach der Maxime der Glückseligkeit schwankt zwischen seinen Triebfedern, was er beschließen solle; denn er sieht auf den Erfolg, und der ist sehr ungewiß; es erfordert einen guten Kopf, um sich aus dem Gedränge von Gründen und Gegengründen herauszuwickeln und sich in der Zusammenrechnung nicht zu betrügen. Dagegen wenn er sich fragt, was hier Pflicht sei: so ist er über die sich selbst zu gebende Antwort gar nicht verlegen, sondern auf der Stelle gewiß, was er zu tun habe. (VIII:287)
Die Sicherheit, das Urteil über die Pflicht mit sich bringt, ist eine Konsequenz des rein formalen Charakters des Sittengesetzes. Für den Test unserer Maximen benötigen wir empirische Informationen darüber, was uns zuträglich ist. Zu (ii) und (iv): der »wollüstige Liebhaber« aus der Kritik der praktischen Vernunft blickt, vor zwei sich in puncto Moralität und Klugheit unterscheidende Alternativen gestellt, folgendermaßen auf seine zukünftigen Handlungen: 1
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Was genau soll es heißen, daß jemand das Sittengesetz »in sich zur Maxime« machen soll? Zwei Interpretationen liegen nahe: Damit könnte (i) gemeint sein, daß ich mir das Sittengesetz dadurch in mir zur Maxime mache, indem ich eine Maxime wähle, die diesem konform ist. Es könnte jedoch hier auch (ii) »Maxime« das bedeuten, was Kant in der Religionsschrift »oberste Maxime« nennt (vgl. VI:36; zitiert in §24.2). Da es Kant im Triebfedernkapitel um konkrete Entscheidungen geht, ist die erste Lesart wahrscheinlicher. Das mag, unter Einbeziehung des Bereichs der rein »pathologischen« Bedürfnisse des Augenblicks, der Sinn der Anfangssätze der Reflexion 6722 von Anfang bis Mitte der 1770er Jahre sein: »Die treibende Kraft der moralischen Bewegungsgründe ist die Schwächste; stärker ist die der pragmatischen, noch stärker die der pathologischen. also alles Umgekehrt nach der regel der diiudication. […]«. Vgl. Grundlegung, IV:402 f.: »Nun ist es doch etwas ganz anderes, aus Pflicht wahrhaft zu sein, als aus Besorgnis der nachteiligen Folgen; indem, im ersten Falle, der Begriff der Handlung an sich selbst schon ein Gesetz für mich enthält, im zweiten ich mich allererst anderwärtsher umsehen muß, welche Wirkungen für mich wohl damit verbunden sein möchten. Denn, wenn ich von dem Prinzip der Pflicht abweiche, so ist es ganz gewiß böse; werde ich aber meiner Maxime der Klugheit abtrünnig, so kann das mir doch manchmal sehr vorteilhaft sein, wiewohl es freilich sicherer ist, bei ihr zu bleiben.«
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V. Moralische Motivation: das Phänomen der Achtung
Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgibt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdenn nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange raten, was er antworten würde.1 Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm, unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe, zumutete, ein falsches Zeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es tun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urteilet also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre. (A54)
In Fragen der Klugheit fällt richtiges Handeln vernünftigen Menschen deshalb leichter, weil sie von vorneherein ein Interesse am Ergebnis ihrer Handlung haben, und weil die praktische Vernunft es leicht hat, Interessen von der gleichen Art gegeneinander abzuwägen.2 Zwar braucht man für solche Entscheidungen empirische Informationen, doch will man auch (vernünftigerweise) das Mittel, wenn man den Zweck will. In der Retrospektive ist es vergleichsweise einfach, zu sagen, ob man die mutmaßlich kluge Option gewählt hat; in vielen Fällen erfährt man jedoch erst dann, ob man tatsächlich klug gehandelt hat. In moralischen Fragen hingegen stehen sich Bestimmungsgründe ungleicher Art gegenüber; und wenn die Vernunft sich auch eindeutig für die Seite der Moral entscheidet und gebietet, moralisch zu handeln, so bringt sie es doch nicht zustande, daß uns die Option der empirischen Seite nicht noch immer die angenehmere scheint.3 Im Rückblick ist es dann unmöglich, mit 1
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Carl Stange, Die Ethik Kants, ist der Meinung, daß nach Kants Ansicht »der von der wollüstigen Neigung Beherrschte auch durch den drohenden Galgen sich nicht von der Befriedigung seiner Neigung abhalten lassen werde, während der zum falschen Zeugnis Genötigte weiß, daß es ihm wenigstens möglich ist, das falsche Zeugnis zu verweigern« (S.88). Diese Interpretation ist eher abwegig. Es muß gemeint sein, daß der ansonsten vernünftige Liebhaber, der vorgibt, die Neigung sei etc., sich zweifellos beherrschen könnte und dem Tod entgehen, wenn es nur eine Frage der Klugheit ist, daß er aber eventuell sogar den Tod in Kauf nehmen würde, wenn er sich gezwungen sähe, anderenfalls moralisch fehlzuhandeln. In diesem Sinne Roger Scruton, Kant, S.72 f. Auch da können Fehler unterlaufen, wie das Phänomen der Zeitpräferenz zeigt. Man vergleiche das folgende Zitat aus der Kritik der praktischen Vernunft: »Die Ungleichartigkeit der Bestimmungsgründe (der empirischen und rationalen) wird durch diese Widerstrebung einer praktisch-gesetzgebenden Vernunft, wider alle sich einmengende Neigung, urch eine eigentümliche Art von Empfindung, […] nämlich durch das efühl einer Achtung, dergleichen kein Mensch für Neigungen hat, sie mögen ein, welcher Art sie wollen, wohl aber fürs Gesetz, so kenntlich gemacht nd so gehoben und hervorstechend, daß keiner, auch der gemeinste Menschenverstand, in einem vorgelegten Beispiele nicht den Augenblick inne werden sollte, daß durch empirische Gründe des Wollens ihm zwar ihren Anreizen zu folgen geraten, niemals aber einem anderen, als ediglich dem reinen praktischen Vernunftgesetze, zu gehorchen zugemutet werden könne.« (A164).
§ 25. Achtungs als Triebfeder der Sittlichkeit
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Sicherheit zu sagen, daß man tatsächlich nicht nur moralkonform, sondern auch aus moralischer Motivation heraus gehandelt hat. Die Sicherheit von Dijudikation, Exekution und retrospektivem Urteil sind also davon abhängig, ob der Akteur moralisch oder klug handelt. 25.5 Nach dem Urteil darüber, was in einer gegebenen moralisch relevanten Situation zu tun sei, wirken in einer Person also mehrere Triebfedern, die letzten Endes mit der Wahl einer Maxime durch die Willkür zu einer entsprechenden Handlung führen. Setzen wir diese Lesart der Kantischen Handlungstheorie voraus, so bleibt immer noch unklar, wie die Bestimmung der Willkür vonstatten geht, sei es, daß das moralische Gesetz und die damit einhergehende Achtung die Oberhand behalten, sei es, daß die Neigungen diesen Streit gewinnen. Viele Formulierungen Kants, etwa die von Gewicht und Gegengewicht, legen dem Anschein nach eine Lesart nahe, wie sie Richard McCarty in seinen (nicht nur im Titel ähnlichen) Aufsätzen »Kantian Moral Motivation and the Feeling of Respect« und »Motivation and Moral Choice in Kant’s Theory of Rational Agency« geliefert hat. Seiner Ansicht nach bestimmt die Stärke der Triebfedern nach dem Urteil quasi mechanisch die Willkür, und damit die resultierende Handlung, wie die Masse der einzelnen Gewichte, die auf die Waagschalen verteilt sind, den Ausschlag einer Waage bestimmt.1 Im Gegensatz zu Allison betont McCarty den Akt der Willkür, mit dem sie eine Maxime (erster Stufe) und somit eine Handlungsoption auswählt,
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»The outcome of a moral choice-event, where agents are antecedently motivated to one course of action by the moral incentive of respect for law, and to an alternative course of action by incentives of inclination, is in fact always determined by the relative strength of the conflicting incentives.« (McCarty, »Motivation and Moral Choice«, S.25). Im englischen Sprachraum hat sich der nicht ganz glückliche Ausdruck »conflict-of-forces conception« für diese Theorie eingebürgert. Vgl. Allison, Kant’s Theory of Freedom, S.126: »Central to such a conception is the assumption that inclinations directly determine the will by exerting an affective force on it.« Das Bild von der Vektorsumme, stammt von Reath, der es (wie Allison) als Kant-Interpretation ablehnt; er formuliert, in terminologischer Anlehnung an Rawls, sein »principle of election«, das der »Incorporation Thesis« entspricht: »an incentive never determines the will directly, but only through a choice made by the individual which can be expressed as the adoption of a maxim. This would seem to rule out the idea that the will is determined solely by the force that an incentive might have, or that actions should be understood as resulting from the balance of forces acting on the will. In short, it suggests that Kant’s conception of choice should not be understood on the analogy of a sum of vector forces (or of mechanical forces acting on an object). Kant can allow an incentive to have an affective force of some sort, but the role assigned to such force in motivation and the explanation of action must be limited so as to leave room for the notion of choice. Thus, we may think of respect for the law as one incentive in competition with others, against which it sometimes wins out. But rather than prevailing against its competitors by exerting the greater force on the will, its influence comes from providing a certain kind of reason for choice.« (»Kant’s Theory of Moral Sensibility«, S.290). — Das klassische Modell für die rein mechanische Bestimmung der Willkür ist das der Waage, das sich bereits bei Pierre Bayle und Gottfried Wilhelm Leibniz findet; vgl. dessen Theodicée, III §324 f.
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V. Moralische Motivation: das Phänomen der Achtung
kaum. Die Maxime samt ihrer Wahl spiele in Kants Psychologie der Motivation keine bedeutende Rolle; sie diene lediglich als Formel der moralischen Bewertung unserer Handlungen.1 Die bisherigen Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, daß McCartys Lesart nicht überzeugend ist.2 Gegen das »Waagschalenmodell« in seiner klassischen, vollkommen mechanistischen Form spricht, wie McCarty selbst einräumt, vor allem, daß in ihm für Willensfreiheit nur sehr begrenzt Platz ist. Wir brauchen uns nur an die »kritische Beleuchtung« der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft zu erinnern und an Kants harsche Kritik an komparativen Konzeptionen der Freiheit, die sich damit zufriedengeben, menschliche Handlungen als bloßes Resultat natürlicher Kräfte anzusehen. Zudem würde, hätte McCarty recht, das moralische Gefühl seines Sonderstatus entledigt. Es kann keine Rede mehr davon sein, daß in jeder Situation, in der wir uns einem moralischen Anspruch gegenüber sehen und Achtung fürs Gesetz empfinden, diese Achtung hinreichen kann, uns als Triebfeder zum moralisch richtigen Handeln zu dienen, wie McCarty selbst einräumt.3 Das Bewußtsein kategorischer moralischer Gebote wäre trügerisch. Doch wer die Reduktion der Kantischen Konzeption des Willens auf das Modell einer Waage ablehnt, sollte deshalb noch nicht behaupten, daß natürliche Triebfedern und das intellektuell gewirkte Gefühl der Achtung nicht unterschiedlich stark auftreten, wie Henry Allison es tut. Das hieße die Rolle der Maximenwahl und der menschlichen Freiheit überschätzen. Die Handlung ist das Resultat aus Stärke der Triebfedern und der frei gewählten Maxime, die auf die Durchsetzungskraft der Triebfedern Einfluß nimmt. Waagschalenmodell und incorporation thesis schließen einander nicht aus, wie Allison meint; sie sind zwei Aspekte, die gemeinsam einen vollständiges Abriß von Kants Theorie der Willensfreiheit vermitteln können. 1
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»My view on this question is that maxims do not add anything to the motivational psychology I have so far explained, but merely serve as formulae for the moral assessment of our actions.« (McCarty, »Motivation and Moral Choice«, S.28). McCartys Interpretation des Phänomens des »radikalen Bösen« in der Religionsschrift geht darin fehl, daß dort von der Stärke der höheren Maximen die Rede ist, in deren Licht die Auswahl einzelner Maximen stattfindet, nicht von der moralischen Dijudikation und dem resultierenden Gefühl der Achtung. »Motivation and Moral Choice«, S.26 f.; »Kantian Moral Motivation«, S.426 f. »All this implies, then, that moral agents can always encounter circumstances where they simply lack sufficient motivational resources to do what they ought to do, and where, motivationally speaking, their hands are tied.« (»Motivation and Moral Choice«, S.27). McCartys Lösung, wir könnten moralische Vergehen nicht als moralisch zuschreiben, wenn wir nicht davon ausgingen, daß wir auch hätten anders handeln können (S.28), beruht klar auf einer petitio principii und formuliert das Problem nur neu, anstatt es zu lösen. — Freilich sind uns unsere Hände, wie oben (§11.6 und §23.3) gezeigt wurde, in dem Sinne gebunden, daß wie nicht alles Beliebige tun können, sondern stets nur die Auswahl aus einer kleinen Zahl möglicher Handlungen haben, unter denen jedoch auf Grund der Achtung die moralisch richtige immer zu finden ist.
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25.6 Es ist bemerkenswert, daß sich Kant nicht nur der Ausdrücke »Gewicht« und »Gegengewicht«, sondern auch des Bildes des Willens als einer mechanischen Einrichtung bisweilen explizit bedient, so in einer Reflexion aus den frühen 70er Jahren:1 Was die subjektive bewegende Gründe der Sittlichkeit oder die triebfedern betrift, so hat der Verstand wohl eine Kraft, den Wunsch eines so guten Willens zu wege zu bringen; allein die gewichte, welche den sinnlichen Menschen bewegen sollen, müssen aus dem Vorrath der Sinnlichkeit entlehnt seyn, ob sie zwar durch den Verstand auf ihre Hebel zweckmäßig sollen vertheilt werden. (R6763)
Dies steht im Einklang mit der oben (§§11 und 12) diskutierten Charakterisierung des freien Willens als Vermögen, Naturgesetze hervorzubrigen, die Kräfte der Natur innerlich zu dirigieren, also als Vermögen, »independenter vom Mechanism der Natur diesen Mechanism selbst zu bestimmen« (R5975, 1783–84). Dabei ist die Vernunft trotz ihrer Freiheit »was die Erscheinung ihrer Wirkung betrifft, wirksam nach dem Mechanism der Natur« sei (ebd.). Auf der psychologischen Ebene, die uns empirisch zugänglich ist, entspricht die Funktionsweise des menschlichen Willens der einer Waage. Die Willkür wird durch die stärksten Triebfedern bestimmt, so wie sich eine Waage zu der Seite neigt, auf der die schwersten Gewichte liegen. Wir handeln immer »nach der größten Menge der Triebfedern und also nicht nach eigenem Dünkel« (Metaphysik Mrongovius, XXIX:902). Doch unser moralisches Bewußtsein davon, daß ein kategorisches Gebot den Ausschlag in vielen Fällen hätte anders bestimmen sollen, läßt uns annehmen, dieses Bild vermittele nicht die ganze Wahrheit. Nach Kant ist es wie folgt zu ergänzen: Die Waage gehorcht zwar mechanischen Gesetzen, doch die Verteilung der Gewichte liegt bis zu einem gewissen Grade bei uns. Wir können sie nicht beliebig verteilen, doch wir können die Gewichte der unmittelbaren Neigung durch die Wahl geeigneter Maximen so verändern, daß wir langfristig klug oder moralisch handeln. Unsere Maximen sind die Prinzipien, nach denen diese Verteilung geschieht. Die Sonderstellung der Achtung läßt sich folgendermaßen illustrieren. Sie ist ein Satz von Gewichten, die von uns im Zuge der Neuverteilung der Gewichte auf die Seite der vernünftigen Option gelegt werden können. Uns stehen hier so viele Gewichte zur Verfügung, daß alle Gewichte in der Waagschale der Sinnlichkeit prinzipiell übertroffen und damit die Waagschale der 1
Vgl. auch den Abschnitt »Von Gleichgültigkeit und Gleichgewicht« der Metaphysikvorlesung Mrongovius, wo Kant mit Hilfe des Modells des Willens als Waage gegen den Indifferentismus argumentiert; XXIX.1.2:901 f., hier zitiert §6.4 Anm.
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Vernunft in allen moralisch relevanten Situationen zum Neigen gebracht werden kann, wenn wir nur wollen. Wir sehen, wie die richtigen höheren Maximen vernünftiges Handeln erleichtern (wenngleich nicht automatisch machen); sie bewirken, daß schon bei frühen Stufen der Gewichteverteilung die Seite der Vernunft gestärkt wird. Wir sehen auch, wie gemischte Motivation möglich ist. Kant warnt immer wieder davor, beim moralischen Handeln »auch nur n e b e n dem moralischen Gesetze noch einige andere Triebfedern (als die des Vorteils) mitwirken zu lassen« (Kritik der praktischen Vernunft, A128).1 Sie entsteht, wenn in einer verkehrten obersten Maxime die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse den Anforderungen der Moral vorgeordnet wird. Dann nämlich wird der Ausschlag der Waage zur richtigen Seite abhängig davon, daß schon vergleichsweise viele kluge Gründe für diejenige Handlung sprechen, die auch die Moral gebietet, daß also auf der Waagschale der vernünftigen Handlung schon relativ viele Gewichte der Klugheit liegen.2 Die konkrete Handlung kann in diesem Fall immer noch moralisch motiviert sein; wir legen bewußt noch ein paar moralische Gewichte der Achtung auf die richtige Waagschale. Doch in anderen Fällen, in denen die Neigungen gegen die Moral sprechen, werden die wenigen »moralischen Gewichte«, die wir zusätzlich auf die Seite der Vernunft tun, nicht mehr ausreichen, die moralisch richtige Handlung zu motivieren. Dann wird es uns schwerer, die moralisch korrekte Maxime zu wählen, und die Gefahr des Scheiterns wächst. Bei gemischter Motivation hängt der Erfolg wieder vom Zufall ab.
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Eine Mitwirkung pathologischer Triebfedern ist problematisch, wenn man damit meint, daß sie direkt dazu drängen, eine moralische Maxime zu wählen. Denn wie sollte das möglich sein? Sie können doch allenfalls eine legale, pflichtgemäße Handlung motivieren, die auf Grund einer nicht-moralischen Maxime erfolgt. Die Wahl der moralischen Maxime kann nur aus moralischen Gründen erfolgen, also aus Achtung für das Sittengesetz. Ebenso problematisch ist der Gedanke von Konjunktions- oder Disjunktionsmaximen gleicher Stufe, in denen zwei einzelne Maximen verbunden werden sollen, wie Henry Allison gezeigt hat (Kant’s Theory of Freedom, S.111–120). Diese beiden Wege können also nicht beschritten werden. Einige empirische Triebfedern stehen der Vernunft näher als andere und ziehen öfter »am selben Strang«. Der Moral besonders nahe ist das Ehrgefühl, wie uns Kant in Reflexion 7215 mitteilt: »Die Ehre ist die einzige Neigung, die auf Grundsätze gebaut werden kan, weil der unpartheische Beyfall anderer nur auf Grundsätze beruht, daher Ehrliebe mit der tugend verwandt ist.« Die »Trefferquote« ist hier besonders groß. Es tritt der Achtung oft zur Seite, egoistische Interessen »niederzuschlagen«, weil man sich den unparteiischen Beifall anderer erhofft, der qua unparteiisch in dieselbe Richtung weist wie das Sittengesetz. Die Universalisierung geht gleichsam »extern« vonstatten. Freilich bleibt richtig, daß diesen Neigungen, selbst der Ehre, »wenn sie glücklicherweise auf das trifft, was in der Tat gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwert ist, Lob und Aufmunterung, aber nicht Hochschätzung« verdienen (Grundlgegung, IV:398).
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Daß das dem Kompatibilismus entlehnte Bild des Willens als Waage, auf unkonventionelle Weise modifiziert, dazu dienen kann, Kants Freiheitslehre zu illustrieren, beweist wiederum, daß Kant aus den üblichen Kategorien der Freiheitsdisskussion auf interessante Art herausfällt. Es tut ihrer Bedeutung und dem Reiz, den sie ausübt, keinen Abbruch, daß letztlich nicht alle Details der Theorie stimmig gemacht und gerechtfertigt werden konnten.
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Personenregister Adams, R. M. 45n
Carl, W. 120n
Albrecht, M. 154, 157–158, 164, 165n, 174–175, 178, 179n, 180–181
Carnois, B. 103n, 141n
Al-Azm, S. 87n, 91n., 93n, 94n, 98n
Cicero 118
Allison, H. E. 2n, 15n, 16, 24, 26, 29n, 30n, 36n, 37n, 42n, 71, 72n, 82n, 83, 84n, 86, 87n, 90, 91n, 93n, 94, 96n, 98n, 100n, 101, 103n, 120n, 121, 124 –125, 126n, 141, 142n, 146n, 147n, 150–152, 165, 167–168, 184, 186, 191n, 203–204, 206n
Clarke, S. 87n, 91, 98n
Carroll, L. 21
Cramer, K. 42n, 66–68, 71n, 72, 74n, 75, 78 Davidson, D. 82n, 125n Dennett, D. C. 45–46, 51–52, 53n, 61, 82n
Ameriks, K. 37n, 38
Duncan, A. R. C. 76n
Aristotleles 10, 49, 53, 62–63, 119n, 139n, 146n, 163n, 179, 180n
Ertl, W. 99n
Augustin 133 Baumgarten, A. G. 24n, 107n, 149, 179– 180 Bayle, P. 203n Beck, L. W. 26n, 27n, 98n, 120n, 121, 123–124, 125n, 135, 142n, 153n, 163, 189n, 197
Flatt, J. F. 26n, 27 Frankfurt, H. G. 10n, 45–52, 54, 61–63, 151 Frede, M. 118n, 119n Garve, C. 120n Gunkel, A. 90n, 98n, 121n Guyer, P. 25n, 173n, 199n
Bennett, J. 83n, 84n, 89, 90n, 93n, 94n, 98n
Haller, A. von 108, 137n
Bird, G. 121n
Heimsoeth, H. 90n, 94n, 108, 119, 128– 129
Bittner, R. 42n, 66, 67n, 68, 69, 70, 71, 72n, 73, 74n, 79n, 149, 155, 157, 159n, 164, 168, 169, 170, 172, 173, 174, 179n, 180n, 181 Bobzien, S.149n Brandt, R. 37n Bubner, R. 179n, 180n
Hare, R. 176n
Henrich, D. 37n, 83n Herman, B. 169–170, 171n, 184n Hill, Th. E., Jr. 15n, 147n Hobbes, Th. 11n, 82n Höffe, O. 149, 154–155, 157–158, 159n, 163n, 164, 169n, 173, 174, 176n
220
Personenregister
Hudson, H. 20n, 58n, 82n, 94n, 125n
Reinhold, C. L. 42n, 64n
Hume, D. 11n, 25n, 82n
Rheinwald, R. 46n
Irwin, T. 122
Rosen, M. 20n
Jachmann, R. B. 164
Rousseau, J. J. 149, 180–181
Kemp Smith, N. 84n, 90n, 94n, 96n 141n
Schiller, F. 184
Kenny, A. 131
Schilpp, P. A. 180n
Klemme, H. 121n
Schlick, M. 82n
Köhl, H. 66, 68, 72, 165, 191, 193–194, 196n, 200n
Schmucker, J. 94n
König, P. 189n
Schönecker, D. 37n
Körner, S. 20, 64n, 71n Korsgaard, C. M. 124n, 169
Schopenhauer, A. 48n, 90n, 118n, 127n, 128n
Kuehn, M. 164n
Schwemmer, O. 150n
Laberge, P. 66n, 67n, 72n, 76n
Scruton, R. 202n
Lauener, H. 137n, 191n
Sidgwick, H. 44–45, 53, 64n, 143–144
Leibniz, G. W. 25n, 28n, 83n, 87n, 91 –92, 98n, 203n
Silber, J. R. 42n
Locke, J. 59n
Stange, C. 202n
Ludwig, R. 157
Strawson, P. F. 94n, 100–101, 121n, 136
Lukasiewicz, J. 130n
Sullivan, R. J. 137n
Matthews, H. E. 121n
Trendelenburg, A. 109
McCarty, R. 191n, 203–204
Tugendhat, E. 45
Meerbote, R. 82n, 125n
Vaihinger, H. 126n
Ming-huei, L.189n, 190n, 199n
van Inwagen, P. 50–51, 61
Nagel, Th. 51n
Walter, H. 20n
Newton, I. 87n, 91
Ward, K. 180n
O’Neill, O. 165–168
Watkins, E. 120n
Ortwein, B. 42n, 96n Paton, H. J. 73n, 76n, 153n, 162n, 174n, 176, 187
Willaschek, M. 1n, 38n, 42n, 66n, 103n, 106n, 128n, 138n, 142n, 146n, 152n, 181n, 182n
Patzig, G. 27n, 39n, 51n, 130n, 147n, 170n, 185n
Williams, B. A. O. 51n, 53n, 55n, 59n, 138, 153
Pilotek, St. 106n
Williams, T. C. 153n
Platon 48n, 127n
Wittgenstein, L. 136, 146n
Potter, N. 41n, 44n
Wolf, S. 16n, 62n, 64n
Prauss, G. 42n, 121n, 122n, 125n, 184n
Wolff, C. 28n, 89n, 99n, 149, 179–181
Rawls, J. 15n, 203n
Yaffe, G. 32n
Reath, A.15n, 200n, 203n
Schneewind, J. B. 147n, 192n
Sokrates 145
Sachregister Achtung 2n, 15n, 17–18, 34, 38, 43, 64, 78n, 79n, 83, 113, 146, 185, 189–206 anomaler Monismus 125n Antinomie in der Kritik 12, 24–25, 38, 56, 82–140 des Handelns 24–26 Autonomie 6, 14, 17, 23n, 28, 31–34, 36– 37, 39, 43–44, 74, 145–149, 178, 192n Charakter 4, 9–10, 15n, 24, 25n, 119– 120, 125, 126n, 128, 129, 171
Freiheit komparative 4n, 13–14, 21, 96, 117, 134, 135n, 139, 204 negative 12, 14, 18, 20–26, 28–29, 32, 34, 36, 38–41, 45, 80n, 108, 114, 124, 137, 199 positive 12–13, 18, 20, 21–22, 26, 29, 32, 34, 36, 39–40, 42–43, 45, 49, 52, 55, 109n, 137 transzendentale 14, 18, 21, 23, 28, 29n, 32, 34, 36–39, 43, 64–65, 92–101, 124, 135, 140–143, 190n
empirischer 120, 125n, 127, 128n, 129, 131–132, 138, 139n
Handlungsalternativen 45–65, 109n, 112
intelligibler 25n, 48n, 119, 125n, 127, 132, 137, 138
incorporation thesis 15n, 150, 186, 203n, 204
und Maximen 149, 181–183
Indeterminismus 82n, 100–101, 126
Charakterwahl 127, 128n
Kanon 140–144
Deduktion des Sittengesetzes 35–35, 38
kategorischer Imperativ 32–37, 67n, 68, 72, 74n, 75n, 76–77, 79, 99, 105–106, 107n, 110n, 111, 127, 135, 137, 143, 148, 151, 160–161, 164, 170–172, 174– 176, 178, 185, 187, 204–205
der Kategorien 84, 121 Determinismus 6, 11n, 25n, 46, 48, 56– 57, 64, 82n, 83n, 118, 122n, 127–134, 135 Dogmatismus 102 Egoismus 11n, 17, 107n, 194, 206n Erklärung 24–25, 38, 41, 87, 89–92, 113, 116n, 118–119, 124, 128–130, 138– 139, 186n, 187, 196n, 199 Erscheinung 12, 33n, 84, 85n, 87, 88n, 90–93, 98, 100–104, 105n, 108n, 110– 111, 114–134, 137–141 Factum der Vernunft 38–39, 200
Kausalität 12, 14, 28–33, 38, 41, 64n, 73, 80n, 82n, 83, 87–90, 92–105, 115, 117– 119, 121, 123, 124n, 125, 133–136, 138, 141, 182, 194–195, 196n Kompatibilismus 11n, 13–14, 25n, 59n, 63, 82n, 96, 125n, 135n, 141n, 207 Lebensregeln 66, 71, 72n, 108n, 155, 157, 164, 169, 172, 173, 179n, 180n Maximen 3, 9, 14, 15–18, 29n, 31n, 32– 35, 39n, 43, 54, 66–72, 73–74, 76–79,
222
Sachregister
104–105, 107–108, 111–113, 120, 123–124, 128, 138–140, 145–188, 190, 193, 195, 199–201, 203–206 Neigung 2–3, 7–8, 11–12, 15n, 20, 21n, 36, 39n, 42, 43n, 58, 78, 104n, 106– 107, 139n, 154, 161, 165n, 184–187, 189–191, 195, 199, 202n, 203, 205– 206 Prädeterminismus 56n, 122n, 123, 126n radikal Böses 152, 193n, 204n reciprocity thesis 26, 36n, 83 Regeln (der Geschicklichkeit) 38, 73n, 76, 77–78, 149, 159–173, 175, 186 Rigorismus 3, 15n, 153n Selbstbetrug 78, 187
transzendentaler Idealismus 29, 86, 99, 117, 120–126 transzendentaler Realismus 88, 93–94, 99– 101, 116–117 Verantwortung 6, 10, 14, 20, 23–24, 25n, 26, 32, 44–65, 108n, 116, 118, 120, 134, 136–137, 146, 147n, 155–156, 191–192 Voraussage 53, 127–129, 132 Wille 1–5, 66–80, 145–149 göttlicher 2n, 31, 57, 58n, 69, 134 tierischer 2, 4, 10, 58, 59n, 69, 76n, 139, 143, 153n Willensschwäche 42n, 145, 191 Willkür (im Ggs. zum Willen) 107, 145– 149