Was ist und was sein soll: Natur und Freiheit bei Immanuel Kant (German Edition) 9783110192261, 3110192268 [PDF]


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German Pages 548 [565] Year 2007

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Table of contents :
Frontmatter......Page 2
Einleitung......Page 16
Von Königsberg nach Rostock. Die Provenienz der Rostocker Kant-Handschriften......Page 28
Denn ich bin ein Mensch gewesen. Einführung in Leben und Werk Immanuel Kants......Page 58
Natur und Freiheit als die beiden Gegenstände derPhilosophie. Eine materiale Propädeutik in Kants Denken......Page 108
„Schuf Gott die rechte Hand zuerst?“ Schöpfungstheologie und Raum beim vorkritischen Kant......Page 162
Der sichere Gang der Wissenschaft......Page 186
Kant über innere Erfahrung......Page 204
Das Problem des Sich-Orientierens nach Kant......Page 222
Kant als Aufklärer und Pädagoge. Zur Aktualität einer Philosophie des kritischen Selber-Denkens......Page 238
Vernünftige Selbstbestimmung und gutes Leben......Page 256
Macht das Sittengesetz unglücklich?......Page 282
Motiva auxiliaria. Kants Motivationstheorie zwischen Aristoteles und der Moralistik......Page 302
Was darf ich hoffen? Kants „dritte Frage” in seiner dritten Kritik......Page 316
Kants Philosophie des Friedens......Page 336
Kants hypothetische Geschichtsphilosophie in rationaltheologischer Absicht......Page 358
Kontingenz und Vorsehung im Werk Immanuel Kants......Page 388
Kirche als „Freistaat“. Zu Immanuel Kants Ekklesiologie......Page 456
Kant als Philosoph des Protestantismus......Page 492
Kants Streit der Fakultäten und die universitäre Theologie der Gegenwart......Page 512
Backmatter......Page 542
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Was ist und was sein soll: Natur und Freiheit bei Immanuel Kant (German Edition)
 9783110192261, 3110192268 [PDF]

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Zitiervorschau

Was ist und was sein soll

Herausgegeben von Udo Kern

Walter de Gruyter

Was ist und was sein soll



Was ist und was sein soll Natur und Freiheit bei Immanuel Kant Herausgegeben von Udo Kern

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019226-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Siglen .................................................................................................................IX UDO KERN.......................................................................................................... 1 Einleitung KARL-HEINZ JÜGELT ..................................................................................... 13 Von Königsberg nach Rostock. Die Provenienz der Rostocker Kant-Handschriften UDO KERN........................................................................................................ 43 „Denn ich bin ein Mensch gewesen.“ Einführung in Leben und Werk Immanuel Kants UDO KERN........................................................................................................ 93 Natur und Freiheit als die beiden Gegenstände der Philosophie. Eine materiale Propädeutik in Kants Denken NIKO STROBACH ...........................................................................................147 „Schuf Gott die rechte Hand zuerst?“ Schöpfungstheologie und Raum beim vorkritischen Kant BERTRAM KIENZLE.......................................................................................171 Der sichere Gang der Wissenschaft DINA EMUNDTS .............................................................................................189 Kant über innere Erfahrung

VI

Inhaltsverzeichnis

WERNER STEGMAIER ...................................................................................207 Das Problem des Sich-Orientierens nach Kant CHRISTA RUNTENBERG................................................................................223 Kant als Aufklärer und Pädagoge. Zur Aktualität einer Philosophie des kritischen Selber-Denkens HANS JÜRGEN WENDEL ..............................................................................241 Vernünftige Selbstbestimmung und gutes Leben BERTRAM KIENZLE.......................................................................................267 Macht das Sittengesetz unglücklich? CAROLINE SOMMERFELD-LETHEN ...........................................................287 Motiva auxiliaria. Kants Motivationstheorie zwischen Aristoteles und der Moralistik CHRISTIAN THIES ..........................................................................................301 Was darf ich hoffen? Kants „dritte Frage“ in seiner dritten Kritik HARTMUT GENEST .......................................................................................321 Kants Philosophie des Friedens ANDREAS URS SOMMER. ..............................................................................343 Kants hypothetische Geschichtsphilosophie in rationaltheologischer Absicht ARNULF VON SCHELIHA. .............................................................................373 Kontingenz und Vorsehung im Werk Immanuel Kants

Inhaltsverzeichnis

VII

UDO KERN......................................................................................................441 Kirche als „Freistaat“. Zu Immanuel Kants Ekklesiologie BERND HILDEBRANDT .................................................................................477 Kant als Philosoph des Protestantismus ROCHUS LEONHARDT ..................................................................................497 Kants Streit der Fakultäten und die universitäre Theologie der Gegenwart Personen ..........................................................................................................527 Sachen ..............................................................................................................535 Autoren ....................................................................................................... 547

Siglen AA Anth BDG Br DRTBaum EaD EEKU EPBaum EVW

FBE FM

FRT GMS GSE GTM GUGR HN

Kant's gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Berlin 1900 ff. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 7, 117-333) Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (AA 2, 63-163) Briefe (AA 10-13) Danziger Rationaltheologie nach Baumbach (AA 28, 1227-1319) Das Ende aller Dinge (AA 8, 325-339) Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (AA 20, 193-251) Baumgarten Ethica Philosophica (AA 27, 733-1015) Immanuel Kants Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von 1765-1766 (AA 2, 303-313) Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen (AA 1, 463-472) Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff's Zeiten in Deutschland gemacht hat? (AA 20, 253-332) Fragment einer späteren Rationaltheologie (AA 28, 1321-1332) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 4, 385-463) Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (AA 2, 205-256) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (AA 2, 273-301) Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (AA 2, 375-383) Handschriftlicher Nachlass (AA 14-23)

X

IaG KU KpV KrV LBlomberg LBR LHerder LPhilippi LPölitz LBusolt LDohna LWiener Log MAM MAN MArnoldt MDohna MHeinze MHerder MK2 MK3 MK3E ML2 MMron MNHerder MPCollins MPKaehler MPMron MPMron

Siglen

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (AA 8, 15-31) Kritik der Urteilskraft (AA 5, 165-485) Kritik der praktischen Vernunft (AA 5, 1-163) Kritik der reinen Vernunft (zu zitieren nach Originalpaginierung A/B) Logik Blomberg (AA 24, 7-301) Neuer Lehrbegriff der Bewegung und der Ruhe (AA 2, 13-26) Logik Herder (AA 24, 1-6) Logik Philippi (AA 24, 303-496) Logik Pölitz (AA 24, 502-602) Logik Busolt (AA 24, 603-686) Logik Dohna-Wundlacken (AA 24, 687-784) Wiener Logik (AA 24, 785-940) Logik (AA 9, 1-150) Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte (AA 8, 107-123) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften (AA 4, 465-565) Metaphysik Arnoldt (K 3) (AA 29) Kant Metaphysik Dohna (AA 28, 611-704) Kant Metaphysik L1 (Heinze) (AA 28) Metaphysik Herder (AA 28, 841-931) Kant Metaphysik K2 (Heinze, Schlapp) (AA 28, 705-816) Kant Metaphysik K3 (Arnoldt, Schlapp) (AA 28, 817-838) Ergänzungen Kant Metaphysik K3 (Arnoldt) (AA 29) Kant Metaphysik L2 (Pölitz, Original) (AA 28, 525-610) Metaphysik Mrongovius (AA 29) Nachträge Metaphysik Herder (AA 28, 839-962) Moralphilosophie Collins (AA 27, 237-471) Immanuel Kant: Vorlesungen zur Moralphilosophie (Hg. von Werner Stark. Berlin/New York 2004) (AA 27, 1205-1206) Moral Mrongovius I (AA 27, 1395-1581) Moral Mrongovius II (AA 29, 593-642)

Siglen

MPölitz MpVT MS RL TL MSchön MSI MSVigil MVolck NG NL NTH NTVolck OP Päd PG PND PPHerder PPPowalski PRPölitz Prol Refl RezHerder

XI

Kant Metaphysik L1 (Pölitz) (AA 28) Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (AA 8, 253-271) Die Metaphysik der Sitten (AA 6, 203-491) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (AA 6, 203-372) Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (AA 6, 373-491) Metaphysik von Schön, Ontologie (AA 28) De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (AA 2, 385-419) Die Metaphysik der Sitten Vigilantius (AA 27, 475-732) Metaphysik Volckmann (AA 28) Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (AA 2, 165-204) Neuer Lehrbegriff der Bewegung und der Ruhe (AA 2, 13-26) Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (AA 1, 215-368) Natürliche Theologie Volckmann nach Baumbach (AA 28, 1127-1226) Opus Postumum (AA 21 u. 22) Pädagogik (AA 9, 437-499) Physische Geographie (AA 9, 151-436) Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (AA 1, 385-416) Praktische Philosophie Herder (AA 27, 1-89) Praktische Philosophie Powalski (AA 27, 91-235) Philosophische Religionslehre nach Pölitz (AA 28, 989-1126) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA 4, 253-383) Reflexion (AA 14-19) Recensionen von J. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menscheit (AA 8, 43-66)

XII

RezHufeland RezSchulz RezUlrich RGV RPölitz SF TG TP ÜE

ÜGTP VAEaD VAKpV VAMS VAProl VARGV VARL VASF VATL VATP VAÜGTP VAVT VAZeF

Siglen

Recension von Gottlieb Hufeland's Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (AA 8, 125-130) Recension von Schulz's Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen (AA 8, 9-14) Kraus' Recension von Ulrich's Eleutheriologie (AA 8, 451-460) Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 6, 1-202) Religionslehre Pölitz (AA 28, 989-1126) Der Streit der Fakultäten (AA 7, 1-116) Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Metaphysik (AA 2, 315-373) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 8, 273-313) Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (AA 8, 185-251) Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie (AA 8, 157-184) Vorarbeit zu Das Ende aller Dinge (AA 23, 149-152) Vorarbeit zur Kritik der praktischen Vernunft (AA 23, 67-71) Vorarbeit zur Metaphysik der Sitten (AA 23, 207-419) Vorarbeit zu den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA 23, 51-65) Vorarbeit zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 23, 87-124) Vorarbeit zur Rechtslehre(AA 23, 207-370) Vorarbeit zum Streit der Fakultäten(AA 23, 421-464) Vorarbeit zur Tugendlehre(AA 23, 371-419) Vorarbeit zu Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 23, 125-143) Vorarbeit zu Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie (AA 23, 73-76) Vorarbeit zu Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (AA 23, 193-195) Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden (AA 23, 153-192)

Siglen

VBO

XIII

ZeF

Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (AA 2, 27-36) Versuch über die Krankheiten des Kopfes (AA 2, 257-272) Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (AA 8, 411-422) Vorlesungen (AA 24 ff.) Vorlesungen Wintersemester 1788/1789 Busolt (AA 25, 1431-1531) Vorlesungen Wintersemester 1772/1773 Collins (AA 25, 1-238) Vorlesungen Wintersemester 1775/1776 Friedländer (AA 25, 465-728) Vorlesungen Wintersemester 1781/1782 Menschenkunde, Petersburg (AA 25, 849-1203) Vorlesungen Wintersemester 1784/1785 Mrongovius (AA 25, 1205-1429) Vorlesungen Wintersemester 1772/1773 Parow (AA 25, 239-463) Vorlesungen Wintersemester 1777/1778 Pillau (AA 25, 729-847) Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen (AA 8, 423-430) Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (AA 8, 387-406) Von den verschiedenen Racen der Menschen (AA 2, 427-443) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (AA 8, 33-42) Was heißt sich im Denken orientiren? (AA 8, 131-147) Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (AA 1, 1-182) Zum ewigen Frieden (AA 8, 341-386)

Luther, WA

Luther, Martin, Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff.

VKK VNAEF Vorl VBusolt VCollins VFried VMensch VMron VParow VPillau VRML VT VvRM WA WDO WS

Einleitung

1

Einleitung Udo Kern

Die Universitätsbibliothek in Rostock ist ein besonderer Ort für Kantkenner. In Deutschland ist sie die Stätte, die die umfangreichste und wichtigste Sammlung eigenhändiger Manuskripte des großen Königsberger Philosophen beherbergt. Rostock ist der Ort, an dem die Manuskripte von Kants Erster Einleitung: Critik der Urtheilskraft (1790), seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) und einigen Kantbriefen aufbewahrt werden. Das Kantjahr 2004 war nicht nur aus diesem, aber auch aus diesem Grund für die Universität Rostock Anlass, sich philosophisch und religionsphilosophisch mit Immanuel Kant zu beschäftigen. Die in diesem Band vorgelegten Beiträge gehen auf eine von mir initiierte Vorlesungsreihe zu Leben und Werk Immanuels Kants im Wintersemester 2004/05 an der Rostocker Alma mater zurück. 1 Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie auch weithin innovative bzw. in der bisherigen Kantforschung wenig oder gar nicht erarbeitete Aspekte im Gesamtwerk Immanuel Kants exemplarisch zur Darstellung bringen. Auf Grund eigener jahrzehntelanger Arbeiten an dem Rostocker Kantfundus im Rahmen neuerer und neuster Forschungen zur Geschichte der Rostocker Universitätsbibliothek schafft deren langjähriger Direktor KarlHeinz Jügelt in seinem Beitrag Von Königsberg nach Rostock Transparenz bezüglich der Provenienz der in Rostock aufbewahrten Handschriften und Briefe Kants. Die drei unterschiedlichen Transformationsstränge der Rostocker Kantmanuskripte werden in ihrer nicht nur z. T. äußerst diffizilen Herkunftsgeschichte präzise analysiert. Es gelingt K.-H. Jügelt auf Grund eigener neuester Untersuchungen, völlige Klarheit hinsichtlich der Wege, die die Kantmanuskripte von Königsberg nach Rostock nahmen und ihrer bibliothekarischen Locierung in der Rostocker Universitätsbibliothek zu bringen. So weist K.-H. Jügelt erstmals nach, dass die 1889 von Wilhelm 1

Hinzugekommen sind die Beiträge von Dina Emundts, Rochus Leonhardt, Arnulf von Scheliha und Andreas Urs Sommer.

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Udo Kern

Dilthey (1833-1911) veröffentlichten acht Kantbriefe an den Kantschüler und späteren Rostocker Philosophieprofessor Jakob Sigismund Beck (1761-1840) von letzterem noch zu Lebzeiten seinem Rostocker Freund und Kollegen Friedrich Joachim Christian Francke (1795-1869) geschenkt wurden und Francke sie am 2. Juli 1857 der Rostocker Universitätsbibliothek übergeben hat. Auch klärt K.-H. Jügelt die Herkunft des achtundsechzigseitigen eigenhändigen Kant-Manuskripts der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefasst (Königsberg 1789) und der übrigen Rostocker fünfundzwanzig Seiten Brief- und Textentwürfe Kants. Wesentliche Aufklärung zur Provenienz der Rostocker Kantiana wird hier also geleistet. In Leben und philosophisches Werden Immanuel Kants führe ich in meinem Beitrag mit dem für manchen Kantleser und Kantkenner vielleicht etwas sperrigen und überraschenden Titel Denn ich bin ein Mensch gewesen 2 ein. Neben den bekannten und geläufigen oder durch neueste Forschungen neu entdeckten oder präzisierten Daten von Kants Vita wird hier besonderer Wert auf die Kants Leben und philosophisches Werden prägenden spezifischen Traditionen und Einflüsse gelegt. Kants Leben und Werk sind weitgehend durch das geistig kulturelle und geistliche Umfeld seiner Heimatstadt Königsberg bestimmt. Die Königsberger Bildungslandschaft (Schule, Kirche, Universität, Bürger- und Soldatengesellschaft) war nachhaltig pietistisch und rationalistisch ausgerichtet. Der Hallische Preußen prägende Pietismus (August Hermann Francke, Phillip Jakob Spener) und Rationalismus (Christian Wolff) gehen nicht nur in Königsberg, aber auch und profiliert in Königsberg (wie in Preußen überhaupt und darüber hinaus), eine produktive Liaison ein, die nachhaltig Kants Leben und Werk beeinflusst hat. Der pietistisch-rationalistische Hintergrund ist in der bisherigen Kantforschung hinsichtlich seiner philosophisch für Kants Denken konstitutiven Relevanz zuwenig beachtet und vernachlässigt worden. Dass dieser Zusammenhang von Kants Denken und Leben wesentlich ist, um dessen Philosophie genetisch und prinzipiell zu verstehen, urgiert mein Beitrag. Kant nennt Natur und Freiheit die beiden Gegenstände der Philosophie überhaupt. Das expliziere ich in meiner materialen Propädeutik zu Kants philosophischem Denken. Die Grundgegenstände der Kantschen Philosophie werden bewusst textnah zur Entfaltung gebracht. Intention ist es, dem Leser das Herzstück des Kantschen philosophischen Werkes in dessen kardinalen Grunddaten möglichst originaliter begegnen zu lassen. Der lange Weg des sogenannten vorkritischen Kant wird ebenso thematisiert 2

Ich verwende hier als Überschrift einen Vers aus Goethes Gedicht "Einlaß".

Einleitung

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wie natürlich der kritische Transzendentalismus Kants in seiner ersten großen Kritik. Der Schlussstein, die Endabsicht der reinen Vernunft, die Kant im Praktischen gegeben sieht, wird als a quo und ad quem der kritischen Philosophie Kants interpretiert. Dem entspricht ein fundamental religionsphilosophischer Grund: der Gott der praktischen Vernunft. Gott, das höchste Wesen, erschöpft sich nicht wie in der spekulativen Vernunft als fehlerfreies Ideal und regulatives Prinzip, sondern wird als Postulat der praktischen Vernunft notwendig für das Funktionieren des allgemeinen autonomen Sittengesetzes und damit der praktischen Vernunft überhaupt. Den Zusammenhang zwischen spekulativer und praktischer Philosophie zu stiften, ist Aufgabe der Urteilskraft. Sie – als a priori gesetzgebendes Vermögen, das Besondere als unter dem Allgemeinen enthalten zu denken – ist das Verbindungsmittel zwischen diesen beiden Teilen der Philosophie zu einem Ganzen. Aus Kants philosophischem Denkvermögen folgen konsequent Achtung und Beachtung der Menschenwürde, verpflichtende Freiheit, Einsicht in die Endlichkeit und auch das radikale Böse des Menschen und das vernünftige Plädoyer für einen Ewigen Frieden. Schöpfungstheologie und Raumtheorie beim vorkritischen Kant untersucht Niko Strobach. Zwei Texte bilden die Grundlage seiner Interpretation. Die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 und der Aufsatz Über den ersten Unterschied der Gegenden im Raume aus dem Jahre 1768. In diesen Texten scheut sich Kant hinsichtlich seines Verständnisses des Raumes und dessen Organisation in kosmischer Dimension nicht, massiv schöpfungstheologisch zu argumentieren. Wie noch im 17. Jahrhundert üblich, sind beim vorkritischen Kant Theologie, Metaphysik und Physik nicht getrennt. So verträgt sich Kants bahnbrechende Nebularhypothese in seiner Theorie des Himmels mit einem konsequenten Deismus. Das Beispiel der Hand als „erstem Schöpfungsstück“ ist einerseits rückverwiesen auf die Raumdebatte zwischen Leibniz und Clarke bzw. Newton. Andererseits stellt sich die von Kant hier aufgeworfene Frage „Was unterscheidet eigentlich rechts und links?“ als ebenso zukunftsweisend heraus wie dessen Nebularhypothese. Niko Strobach plädiert nachhaltig für ein stärkeres philosophisches Beachten des vorkritischen Kant. Entgegen der üblichen Wertung, über den kritischen Kant den vorkritischen nahezu zu vergessen, bzw. nur viatorisch historisch genetisch zu werten, schlägt Strobach vor, dem vorkritischen Kant philosophisch mehr Raum zu geben, da die vorkritische Philosophie Kants im Vergleich zur kritischen Werkphase des Königsbergers vielleicht die kreativere Wissenschaft erlaubt.

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Udo Kern

Kant hat nach Bertram Kienzle wie kein anderer nachcartesianischer Denker den sicheren Gang der Wissenschaft zum philosophischen Thema gemacht. Seine kopernikanische Wende in der Königsdisziplin Metaphysik dient diesem. Der Erkennende selbst ist fundamentaler Ausgangspunkt sicherer Erkenntnis. So gesehen ist die Sicherheit selbstgemacht. Kants erkenntnistheoretisches Instrumentarium – die reinen, d.h. apriorisch vor aller Erfahrung gegebenen Anschauungsformen Raum und Zeit und die reinen Verstandesbegriffe – dient diesem. Die so in den Wissenschaften zu konstruierende Sicherheit bleibt aber erfolglos im Bereich der Metaphysik hinsichtlich ihrer Grundthemen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Heute, so Kienzle, wissen wir, dass die kantsche kopernikanische Wende auch in Mathematik und Naturwissenschaft nicht überzeugt. Aus der Perspektive der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie ist Kants Raum-Zeit-Verständnis nicht mehr haltbar. Kants Weg zu einem sicheren Gang in der Wissenschaft hat sich im 20. Jahrhundert als ein Holzweg gezeigt. In ihrem Beitrag Kant über innere Erfahrung geht Dina Emundts der Frage nach, inwiefern wir ausgehend von Kants Philosophie über innere Zustände (z.B. Wünsche), urteilen können. Sie interpretiert diesbezüglich Abschnitte über die Grundsätze und Paralogismen der Kritik der reinen Vernunft mit dem Ergebnis, dass die Analogien der Erfahrung nicht geeignet sind, um innere Zustände oder Vorstellungen objektiv zu bestimmen. Wenn das so gilt, ergibt sich das Problem, in welcher Weise wir über innere Zustände dann überhaupt reden können. Die Antwort ist eine doppelte: Erstens ist die Rolle der Begleitvorstellung des „Ich denke“ zu berücksichtigen, die es uns ermöglicht, die Vorstellungen als Vorstellungen eines Subjektes aufzufassen. Zweitens ist zu beachten, dass die Rede von inneren Vorstellungen als Vorstellungen, die in der Zeit beharren etc., als derivate Redeweise gegenüber der von äußeren Gegenständen aufzufassen ist. Werner Stegmaier behandelt das Problem des Sich-Orientierens nach Kant. Grundlage ist ihm Kants in der Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn konzipierte Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? aus dem Jahre 1786, in der der Königsberger den Begriff des Sich-Orientierens gründlich bedenkt. „Sich orientieren heißt“, schreibt Kant hier, „den Aufgang zu finden“ (AA 8, 134). Der zunächst geographisch und metaphorisch verstandene Begriff wird bei Kant zur absoluten Metapher im Sinne Hans Blumenbergs. Wissenschaft und Entscheidungen im Leben benötigen im Anfang, im Sinne von prinzipiell, der Orientierung. Der absolute Standpunkt der Orientierung der Vernunft ist nicht objektiv ausweis- und begreifbar. Es ist ihr blinder Fleck. Im Bedürfnis nach Orientierung urteilt die Vernunft,

Einleitung

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so Kant, unter abgenötigten Voraussetzungen, in die sie keine freie Einsicht hat. Der der praktischen Vernunft nach Kant um der Vereinbarkeit von Glückswürdigkeit mit der Glückseligkeit praktisch notwendige moralische Glaube ist dem vernünftigen Denker Wegweiser und Orientierung sowohl in theoretischer als auch in praktischer Absicht. Kant als Aufklärer und Pädagoge. Zur Aktualität einer Philosophie des kritischen Selber-Denkens überschreibt Christa Runtenberg ihren Beitrag. Für sie ist Kants außerordentlich philosophisch interessanter Begriff der Kritik von aktueller philosophischer und philosophiedidaktischer Bedeutung. Selbstbegründung der Vernunft und Untersuchung der Grenzen des Vernunftgebrauches charakterisieren Kants Kritikbegriff. Freiheit des Denkens und Handelns, transzendental philosophisch begründet, ermöglichen kritisches Selbstdenken, das einhergeht mit freier Erkenntnis-, Urteils- und Moralfähigkeit. Zentrale Aufgabe der Philosophie ist nach Kant nicht, (historisches) Wissen philosophischer Theorien zu erwerben, sondern die Erziehung zum Selberdenken. Vorhandene philosophische Ansätze sind unter der Perspektive zu gebrauchen, inwiefern sie kritischem Selbstdenken dienlich und der eigenen Reflexions- und Urteilsfähigkeit förderlich sind. Michel Foucault (1926-1984) aktualisiert und transformiert diesen Kantschen Ansatz. Auch für Foucault ist die Haltung der Kritik, die experimentelle Grenzhaltung im Denken, die zentrale Aktivität der Philosophie. Jedoch versteht er anders als Kant darunter die historische Analyse der Konstitutionsbedingungen von Subjekten und das Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung. In der archäologisch und genealogisch verfahrenden Arbeit des Denkens sieht Foucault die zentrale Aktivität der kritischen Vernunft. Für ihn ist diese kritische Arbeit des Denkens an sich selbst die zentrale philosophische Handlung. Dieses stellt ein – von Kant ausgehendes und an „Aufklärung“ interessiertes – Philosophieverständnis dar, das die Aktualität Kants als Aufklärer und Pädagoge deutlich aufzeigt. Es bietet interessante, nicht transzendentalphilosophisch begründete Ansatzpunkte für das Philosophieren als kritischer Denktätigkeit, deren didaktische Implikationen erst noch ausbuchstabiert werden müssen. Hans Jürgen Wendel konstatiert in seinem Beitrag Vernünftige Selbstbestimmung und gutes Leben bei Kant einen ethischen Paradigmenwechsel der Moderne durch dessen Bestimmung der Moralität als Handeln aus Pflicht. Die Selbstbestimmung qua Vernunft ist die Grundlage der Moral, so dass Moralität und Vernunft koinzidieren. Die Selbstzwecklichkeit des Menschen ist bei Kant das Worumwillen der Moralität. Das Erreichen der Glückseligkeit macht nicht das eigentliche gute Leben aus. Dieses besteht vielmehr in der moralischen Lebensführung. Moralität und Zielorientierung

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Udo Kern

sind nach Kant nicht einander zu versöhnen, schließen vielmehr einander aus. Dennoch stellt sich die Frage nach dem höchsten Gut als dem Sinn moralischen Handelns. Im bedürftigen Vernunftwesen das eigentlich Menschliche zu verwirklichen, id est: praktisch vernünftig gemäß autonomer Willensbestimmung zu handeln, ist für Kant entscheidend. Die vollendete Tugend, verstanden als Moralität und nicht die Glückseligkeit, ist oberstes Gut. Das gute Leben versteht Kant als Inbegriff einer durch das Wollen dem Subjekt mögliche Handlungsorientierung gemäß dem Sittengesetz. Es ist das durch vernünftige Selbstbestimmung auf Beschränkung orientierte gute Leben. Hier, so Hans Jürgen Wendel, ist über Kant insofern hinauszugehen, als selbstbestimmtes Leben auch idealiter nicht eingeschränkt werden sollte auf die im engeren Sinne vernünftige Selbstbestimmung. Wenn wir uns an unserer Fähigkeit zur Selbstbestimmung orientieren, können wir Glück erhoffen. Macht das Sittengesetz unglücklich?, fragt Bertram Kienzle. Die kantsche Gegenüberstellung von Pflicht und Lust bzw. Neigung generiert nicht aus dem Gegensatz von Sittlichkeit und Sinnlichkeit, sondern aus der Differenz von Erfahrungsunabhängigkeit und Erfahrungsabhängigkeit. Die Erfahrungsunabhängigkeit einwandfreier Moral ist erkenntnistheoretisch und nicht handlungsmotivatorisch zu verstehen. Handlungsmotive haben es mit Maximen, mit subjektiven und willkürlichen Grundsätzen des eigenen Handelns zu tun. Kant filtert diese mittels des Universalisierungstest des kategorischen Imperativs. Dieser Filter seiht gewisse Glück bringende Maxime heraus, lässt aber andere Glück bringende Maximen passieren. Das Sittengesetz muss also nicht unglücklich machen, weil es auch transparent für Glück bringende Maximen ist. Die kantschen Postulate der praktischen Vernunft „etablierten“ ein der Sittlichkeit korrespondierendes Glück als philosophisches Erfordernis. So wird am Ende auch unser metaphysisches Bedürfnis (Existenz Gottes, Unsterblichkeit) durch den Konnex von Sittlichkeit und Glück befriedigt. In ihrem Beitrag Motiva auxiliara. Kants Motivationstheorie zwischen Aristoteles und der Moralistik plädiert Caroline Sommerfeld-Lethen in gewisser Weise für eine Beeinflussung Kants von Seiten der Moralistik. Kants Ethik und die Moralistik sind prima facie widereinander. Jedoch entnimmt Kant der Moralistik essentielle anthropologische Ansätze und formt sie zu einer plausiblen Motivationstheorie. In diesem Sinne lobt er in seiner Anthropologievorlesung die Moralisten. Die nicht nur teilweise Beachtung der Ethik der Moralisten des 16. und 17. Jahrhunderts (Montaigne, Gracián) durch Kant bringt dessen normative Ethik in die Differenz zur aristotelischen. Da sie das ethische Schema von Gut und Böse nicht zum Guten

Einleitung

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hin auflöst, sondern gleichsam in der Balance hält, ist die anthropologisch gegründete Ethik der Moralistik nichtnormativ orientiert. Kant profitiert in seiner anthropologiefreien Ethik von der moralistischen Ethik in seinen motiva auxiliara. Seinen beiden ersten Kritiken ordnet Kant die beiden ersten seiner drei berühmten Fragen zu: Der Kritik der reinen Vernunft die Frage Was kann ich wissen?, der Kritik der praktischen Vernunft, die Frage: Was soll ich tun? Mit der dritten kantschen Frage scheint es etwas schwieriger hinsichtlich ihrer Zuordnung zu sein. Christian Thies liest Kants dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft, als Antwort auf dessen dritte Frage Was darf ich hoffen?. Es ist systematisch einleuchtend, dass der so systematische Denker Kant die dritte Frage der dritten Kritik zuordnet. Kants moraltheologische Überlegungen aus der Postulatenlehre der zweiten Kritik fließen hier ein. Seine ästhetischen und naturphilosophischen Reflexionen lassen sich auf diese Frage beziehen. Kants teleologische Geschichtsphilosophie wird hier methodologisch gerechtfertigt. Nicht leicht macht es sich Kant mit dieser alle Menschen bewegenden dritten Frage. Es darf ihm auch nicht Abfinden mit einem schlichten Dualismus von Sein und Sollen, Glück und Moral, Natur und Geist, wie zuweilen geschehen, vorgeworfen werden. Kant stellt sich profiliert der dritten Frage, auf einem philosophischen Niveau, wie es in den letzten zwei Jahrhunderten in der Philosophiegeschichte nicht erreicht worden ist. Jedoch kommt Christian Thies nach sorgfältiger Ventilierung der kantschen Antwort auf dessen dritte Frage Was darf ich hoffen? zu dem Schluss, dass Kant letztlich hier keine befriedigende philosophische Antwort gelungen ist. Kants bekannte Schrift Zum ewigen Frieden, die 1795 in Königsberg in erster Auflage erschien, ist für Hartmut Genest zum einen systematische Darstellung von Kants politischer Philosophie und auch so etwas wie dessen politisches Testament, das überraschend aktuell und richtungsweisend ist. Seiner „Politologie„ hat Kant anlässlich des zwischen Preußen und Frankreich 1795 geschlossenen Baseler Friedens die Gestalt eines Friedensvertrages gegeben. Die kantschen Präliminarartikel sind so etwas, was man heute vertrauensbildende Maßnahmen zum Frieden nennen könnte. Die hinreichenden Bedingungen für einen dauerhaften Frieden (Demokratie, Friedensbund der Völker, Menschenrechte) definieren die drei Definitivartikel. Der Bestimmung des Menschen wird nur der föderale auf Recht und Moral beruhende Weg zum Frieden, nicht jedoch der imperiale auf Macht und Ideologie gründende gerecht. Moralische Politik bedarf nach Kant als Kriterium der Publizität bedürftiger Maximen. Politische Koexistenz der Staaten, kulturelle Konkurrenz der Völker und ökonomische Konvergenz

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der Gesellschaften sind Kant Realtendenzen zum Frieden. Für Hartmut Genest enthält Kants Friedenschrift nicht nur eine Philosophie, sondern auch eine Theologie des Friedens, denn ein ewiger Frieden ist nicht ohne die Einsicht in die Grenzen der Vernunft und ohne die Aussicht auf einen Frieden, der höher ist als alle Vernunft, wahrzunehmen. Andreas Urs Sommer thematisiert Kants hypothetische Geschichtsphilosophie in rationaltheologischer Absicht. Immanuel Kant legt die Grundlagen für eine spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie, die dann im Deutschen Idealismus mit dem Anspruch einer Wissenschaft auftreten kann. In materialer Hinsicht unterscheiden sich Kants geschichtsphilosophische Entwürfe nicht wesentlich von dem, was etwa Isaak Iselin zwei Jahrzehnte früher vorgetragen hat. Wichtiger sind Kants Reflexionen hinsichtlich des wissenschaftstheoretischen Status, den man der Geschichtserkenntnis im Allgemeinen und dem Modell des Fortschritts im Besonderen zuerkennen kann. Unter den Voraussetzungen der Kantischen Erkenntniskritik ist es unmöglich, theoretisches Wissen vom (künftigen) Verlauf der Geschichte zu erwerben. Kant akzentuiert die schon bei Iselin bemerkbaren Zweifel an der Wissenschaftsfähigkeit der Geschichtsphilosophie. Hingegen kann es eine theoretische Hypothese, ja ein praktisches Postulat der menschlichen Vernunft sein, an Fortschritt in der Geschichte zu glauben. Geschichtsphilosophie avanciert so zur Abschlussfigur der Moralphilosophie und beglaubigt die Sätze der moralischen Rationaltheologie. Wie sehr sich die spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie bei Kant auf klassisch theologische Felder begibt, erhellt eine Analyse von Kants dezidiert geschichtsphilosophischer Interpretation der menschlichen Ursprungsgeschichte in der Genesis. Es ist kein Zufall, dass Kant hier in seinem Grundanliegen auf weite Strecken beispielsweise mit dem Neologen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem übereinstimmt. Kontingenz und Vorsehung im Werk Immanuel Kants behandelt Arnulf von Scheliha in seinem Beitrag. Er betont die aus Kants Exposition von dessen transzendentaler Methodenlehre in der Kritik der reinen Vernunft resultierende Verortung der Religion im Konnex letzter Sinn- und Gewissensfragen. Für von Scheliha ist Kants kritische Vernunfttheorie zugleich auch eine der Reflexion von Kontingenzerfahrung. Kontingenz ist ein Problemhorizont, mit dem es die Vernunft bei Kant durchgängig zu tun hat. Kants kontrollierter rationaler Umgang mit dem Kontingenzproblem verdankt sich seiner Theorie der gestuften Verarbeitung von Kontingenzerfahrung mit der ihr inhärenten Zuordnung von Notwendigkeit und Kontingenz. Die hier nötige transzendentalphilosophische Selbstaufklärung geht bei der Interpretation des Kontingenzrisikos einher mit dem

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(keinen Rückfall in die vorkritische Metaphysik darstellenden) Übergang in religiöse Selbst- und Weltdeutung und religiöse Symbolisierung des höchsten Guts als göttliche Vorsehung. Die Selbstaufklärung des Bewusstseins vollendet sich in der Entschränkung der praktisch moralisch unerlässlichen Gottesidee zur Vorsehung. Religion ist in Kants differenzierter Stufentheorie der Deutungsperspektiven vernünftiger Selbstaufklärung unerlässliches Strukturelement moralisch-praktischer Selbstauslegung. Der Vergewisserung des vernünftigen Bewusstseins innerhalb der moralischen Teleologie der Welt dient die religiöse Rationalisierung der Geschichte. Indem Kant religiöse Deutung und Vollzüge von den Funktionen des spekulativen Wissens entkoppelt und radikal philosophisch unbedingt die Grenzen von Erkennen und Freiheit setzt, kommt der von ihm als Vorsehungsglauben gedeutete religiöse Vollzug ganz in der Nähe des lutherischen Fiduzialglaubens zu stehen. Kants aufgeklärte Ekklesiologie, mit der ich mich unter dem Titel Kirche als „Freistaat“ beschäftige, ruht auf vier Fundamentaldaten auf: Das sind 1. die mündige christologisch relationierte Freiheit, 2. die moralische Gewissheit, 3. die hyperphysische Grundlage des Lebens des Menschen und 4. die drei Postulate der praktischen Vernunft: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Im Evangelium findet Kant als Grundlehre den moralischen Glauben. Die evangelische Lehre vom Reich Gottes entspricht einerseits der strengen Forderung der praktischen Vernunft und ist als Basis wahrer Religion Grund der Ekklesiologie. Kirche ist sichtbares Schema des unsichtbaren Reiches Gottes. Die beiden Koordinaten der Ekklesiologie sind der Religions- bzw. Vernunftglaube und der Kirchenglaube. Wobei ekklesiologische Authentizität nur dann gegeben ist, wenn jener diesem vorsteht und kathartisch begleitet. Kirche ist eine Gesellschaft nach Tugendgesetzen. Kant verwendet in seiner religionsphilosophischen Ekklesiologie, also einer innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, sowohl die altkirchliche Lehre von der sichtbaren und unsichtbaren Kirche als auch die der altkirchlichen vier Wesensmerkmale der Kirche (una, sancta, apostolica, catholica ecclesia) und versteht sie konsequent auf seine, seiner kritischen Philosophie entsprechenden Weise. Die vier Kennzeichen der wahren Kirche (notae ecclesiae) sind Kant: 1. Allgemeinheit, 2. Lauterkeit, 3. Freiheit nach innen und außen und 4. Unveränderlichkeit ihrer Konstitution. Der wahre moralische Gottesdienst ist officium liberum. Ihm korrelieren und sind förderlich vier gute sinnliche Mittel (Gebet, Kirchengehen, Taufe und Kommunion). Dem wahren moralischen Grundprinzip des Gottesdienstes müssen auch die Diener der Kirche entsprechen. Diese dürfen keine der Vernunft und der Schriftgelehrsamkeit entbehrende autoritäre Pfaffen und Vorsteher, sondern freie mündige moralische Lehrer und Seelsorger sein. Kants Ekklesiologie wird

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definiert vom vernünftigen Religionsglauben, der philosophisch primär auf dessen Kritik der praktischen Vernunft fußt. Von daher ergeben sich Stärke und Grenzen seiner religionsphilosophischen Lehre von der Kirche. Kant als Philosoph des Protestantismus ist das Thema des Beitrages von Bernd Hildebrandt. Er untersucht, warum man Kant insbesondere in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ausdrücklich als solchen bezeichnete. Mehrere Gründe macht er dafür aus. Zum einen sah man Gemeinsamkeiten zwischen Kants Denken und dem protestantischen Glaubensbewusstsein, zum anderen wurde Kants Metaphysikkritik rezipiert und zum dritten war es Kants Betonung der reinen Pflicht als Grundlage für moralisches Handeln, die für protestantisch substantiiert erachtet wurden. In Kants Betonung der Autonomie meinte man, die protestantische Freiheit eines Christenmenschen erkennen zu können. Kants Urgieren der Grenze für Wissen und Wissenschaft war dem Protestantismus produktiv hilfreich, die Eigenbedeutung des christlichen Glaubens im menschlichen Geistesleben herauszustellen. Heute gilt es von Kant her, so Bernd Hildebrandt, die Denkmöglichkeit Gottes gegenüber einem so genannten wissenschaftlichen Atheismus bzw. ideologischer gefasster Transzendenzvergessenheit herauszuarbeiten. Kant ist somit für die protestantische Theologie nicht nur historisches Fossil, sondern hat aktuelle Bedeutung für die Theologie der Gegenwart. Trotz der zentralen Differenz am zentralen Ort, nämlich im Verständnis der Rechtfertigung, zwischen Kant und dem Protestantismus sollte Abgrenzung nicht das letzte Wort in diesem Verhältnis sein. Denn, so fragt Bernd Hildebrandt, warum sollte nicht Kants Achthaben auf die fremde Vernunft die Möglichkeit eröffnen, diesen Gegensatz neu zu überdenken, wenn anders das Evangelium eben auch als Ruf der fremden Vernunft zu verstehen ist? Rochus Leonhardt betrachtet Kants Streit der Fakultäten aus dem Jahre 1798 unter der Perspektive des Selbstverständnisses gegenwärtiger universitär verankerter wissenschaftlicher Theologie. Er fragt danach, inwiefern Kants entworfenes Modell einer kooperativen produktiven Auseinandersetzung zwischen Theologie und Philosophie (z.B. hinsichtlich der von Kant geforderten gemeinsamen hermeneutischen Verantwortung bei der Schriftauslegung) aktuelle Relevanz für Philosophie und Theologie haben könnte. In der Debatte der letzten Jahre in Deutschland hinsichtlich der vielfältig motivierten Infragestellung des Existenzrechtes Theologischer Fakultäten hat Kants kooperatives Modell kaum eine Rolle gespielt. Jüngst hat Jürgen Habermas aus philosophischer Sicht Offenheit für die Relevanz religiöser Traditionen als Basis einer zeitgenössischen diesbezügli-

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chen Aktualisierung von Kants Ansatz interpretiert. Leonhardt plädiert nun seinerseits aus theologischer Sicht für eine analoge Offenheit hinsichtlich des Eigenrechtes der säkularen Perspektive. Die in diesem Band vorgelegten Beiträge zu Leben und Werk Immanuel Kant sind Ausdruck eines produktiven aktuell relevanten Kantverständnisses. Sie machen dem Leser Mut, in ein fruchtbares Gespräch mit dem Alten aus Königsberg zu treten, aus dem man nicht ohne philosophischen Gewinn zurückkehrt. In unserem Buch überwiegen Beiträge, die Problemstellungen der praktischen Vernunft Kants thematisieren, so dass man fragen kann, ob der gewählte Titel Was ist und was sein soll. Natur und Freiheit bei Immanuel Kant gerechtfertigt ist. Ich belasse es bei der gewählten Überschrift, insbesondere aus zwei Gründen: Zum einen macht bekanntlich für Kant „(d)er Begriff der Freiheit, sofern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, […] den Schlussstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus“ (KpV, AA 5, 3f.) 3 . Kant betont „das Primat“ der reinen praktischen Vernunft gegenüber der reinen spekulativen Vernunft, „weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktische Gebrauche allein vollständig ist.“ (KpV, AA 5, 121) Zum anderen erhalten Aufsätze dieses Bandes mit praktischphilosophischer Themenstellung implizite und explizite spekulative Elemente und Verweisungen. Zum Schluss danke ich allen, die das Erscheinen dieses Buches ermöglichen, den Mitautoren für ihre Beiträge, meinem Assistenten Dipl. theol. Georg Raatz und stud. theol. Christian Lange für die Hilfe bei der Erstellung der Register und der formalen Gestaltung des druckfertigen Buchmanuskriptes und dem Verlag Walter de Gruyter & Co für die gute Zusammenarbeit.

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Kant wird in diesem Band nach der Akademieausgabe zitiert: Kants Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff. (AA). Wie üblich wird jedoch die Kritik der reinen Vernunft nur mit A bzw. B, also gemäß der 1. oder 2. Aufl., angeführt. Die Titel der Schriften Kants Schriften werden gemäß dem diesem Band beigegebnen Siglenverzeichnis angegeben. Die Kantzitate in meinen vier und in weiteren Beiträgen dieses Buches sind der heutigen Schreibweise angepasst worden. Wenn mehrere Zitate aus der gleichen Fundstelle zitiert werden, gebe ich nur bei dem letzten Zitat den Ort an.

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Von Königsberg nach Rostock. Die Provenienz der Rostocker Kant-Handschriften Karl-Heinz Jügelt

Im Jahre 1889 wollte der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911), der Gründer einer wissenschaftlich fundierten Lebensphilosophie, in seinem Aufsatz „Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie“ 1 „[…] die Kreise, die sich mit der Geschichte der Philosophie und weiterhin mit der Geschichte wissenschaftlicher Bewegungen überhaupt beschäftigen, für einen Plan interessieren“, den er bereits am 16. Januar 1889 in einem Vortrag zur Eröffnung der Zusammenkünfte einer Gesellschaft für deutsche Literatur vorgelegt hatte. Es ging dabei um die Schaffung von Archiven der Literatur. „Die Handschriften der Personen von geistiger Auszeichnung, welche Deutschland seit den Tagen des Humanismus und der Reformation hervorgebracht hat – schreibt er –, sind durch Vernachlässigung, die ihnen gegenüber obwaltet, zum größten Teil zu Grunde gegangen.“ Er befürchtet die Zerstörung aller Handschriften, die nicht durch einen glücklichen Zufall in Bibliotheken oder andere öffentliche Stätten gelangt sind. Seinen Plan erläutert er „zunächst an dem uns interessantesten Nachlass, dem Kants.“ Nach einem Überblick über die Verwendung der Handschriften Kants – das waren Konzepte, Entwürfe, Reinschriften, Vorlesungshefte, Kompendien und Briefe –, die dieser Anfang 1800 an den Königsberger Studenten und ab 1795 a. o. Professor an der philosophischen Fakultät Friedrich Theodor Rink 2 (1770-1811) und an den ab 1800 zum engeren Kreis Kants gehörenden Philosophieprofessor Gottlob Benjamin Jäsche (1762-1842) gegeben hatte, damit diese eine Revision und Neuordnung vornehmen und das Geeignete zur Veröffentlichung vorbereiten. Jäsche hatte im Jahre 1800 im Auftrage Kants „Immanuel Kants 1 2

Archiv für Geschichte der Philosophie, 2 (1889), 343-367. Auch Rinck. Namensform nach der Orthographie der AA, die z. B. durch das Titelblatt der „Ansichten“ von 1805 gestützt wird. – Vgl. Stark, Werner, Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants, Berlin 1993, 23.

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Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen herausgegeben“ (Königsberg, bei Friedrich Nicolovius, 1800); durch Jäsche sind Vorlesungsnotizen Kants zur Logik und zur Metaphysik und eine Sammlung Briefe Kants in den Besitz der Universitäts-Bibliothek Dorpat gelangt, nachdem Jäsche im April 1802 an die in diesem Jahre erneuerte Universität nach Dorpat berufen worden war. 3 Aus der Beschreibungen Diltheys kennen wir den Zustand des Nachlasses, wie er nach dem Tode Kants 1804 entstanden war.

1. Kants Tod und sein Testament Als Kant am 12. Februar 1804 gestorben war, galt sein beim Akademischen Gericht der Universität Königsberg hinterlegtes Testament vom 27. Februar 1798, das später noch durch Nachträge ergänzt worden war. Für uns ist eine einzige Bestimmung darin von Bedeutung: „Von der Vererbung meines übrigen Hausgeräthes nehme ich doch meinen ganzen Büchervorrath aus als den ich dem Herrn Professor Gensichen vermache.“ Demzufolge kam die Hauptmasse des wissenschaftlichen – geschriebenen und gedruckten – Nachlasses an den Professor Johann Friedrich Gensichen (1759-1807) als Erben der kleinen Bibliothek. Weitere Nachlassteile befanden sich bei dem Buchhändler Friedrich Nicolovius (17681836) als dem Verleger Kants und dem Pfarrer Ehregott Andreas Christoph Wasianski (1755-1831) als Kant-Biographen und Testamentsvollstrecker. Nach dem Tode von Gensichen und Nicolovius, also 1807 bzw. 1836 kamen deren Nachlässe mit Büchern und Handschriften Kants unter den Hammer und wurden verstreut, nur der Besitz Wasianskis wurde der Universitätsbibliothek Königsberg geschenkt. Nach der Beschreibung des dortigen handschriftlichen Nachlasses nennt Dilthey neben KantHandschriften in Dorpat [heute Tartu, Republik Estland] und Hamburg zum ersten Male auch die Existenz von Kant-Handschriften in der Universitätsbibliothek Rostock. Das war im Jahre 1889.

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Gegründet wurde die Universität bereits 1632.

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2. Die Wege der Kant-Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock von Königsberg nach Rostock

2.1. Komplex: Königsberg - Halle - Rostock (1799) 1852 Dilthey erwähnte unter anderem „in Rostock 7 Briefe Kants an [seinen in Halle lehrenden früheren Schüler Jakob Sigismund] Beck [1761-1840] 1791, 1792, und jene Einleitung zur Kritik der Urteilskraft, welche Kant für das Werk abgefaßt hatte, die dann aber nicht vor dem Werke abgedruckt ist, sondern durch eine kürzere ersetzt wurde.“ Beck hatte einen Extrakt daraus 1794 im zweiten Band seines „Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Prof. Kant. (Riga, 1794) abdrucken lassen 4 und in seiner Vorrede dazu berichtet, dass Kant selbst ihm das Manuskript der „Einleitung“ für diesen Auszug zugesandt hatte. Dilthey beschreibt dann die Handschrift auf der Grundlage der Informationen, die er durch seine Korrespondenz mit dem Rostocker Oberbibliothekar, dem Historiker Professor Friedrich Wilhelm Schirrmacher (18241904), erhalten hatte. Auf Grund seines Vergleichs, den Schirrmacher mit dem „Auszug“ Becks vorgenommen hatte, war er zu dem Ergebnis gekommen, dass das Rostocker Manuskript wesentlich umfangreicher ist und wird – wie Dilthey schreibt, „in künftigen Kantausgaben nun in ihrer wahren Gestalt und ihrem ganzen Umfang auf Grund dieses kleinen Fundes erscheinen können.“ Hinsichtlich der Provenienz dieser Rostocker Kantiana kam er zu dem Schluss: „Da er in Rostock Professor gewesen ist, ist nicht zu verwundern, dass die Handschrift neben den Briefen Kants an Beck dort auf die Bibliothek kam.“ Er hat dann im folgenden Heft 5 des „Archivs für Geschichte der Philosophie“ – das er Schirrmacher gewidmet hat – dessen Bemühungen gewürdigt, der „…nun selber weitere Handschriften Kants aufgefunden…“ und gestattet hat, „…auch aus diesen mitzuteilen und über sie zu berichten.“ Offenbar hatte – wie aus dem Briefwechsel mit Dilthey 6 hervorgeht – Schirrmacher große Mühe, die Rostocker Kantiana, vor allem die Briefe Kants an Beck, zu finden. Mit Datum vom 11. Juni 1889 schrieb er an Dilthey: 4 5 6

Beck, Jakob Sigismund, Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Prof. Kant, 2, Vorwort, Riga 1794, [1]. Archiv (s. Anm. 1), 592-650. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Akademiearchiv. NL Dilthey. Nr. 252 u. 253. Korrespondenz zwischen Dilthey und Schirrmacher. Darin auch Reickes Anfrage vom 25. November 1889.

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„Meine Nachforschungen nach dem Verbleib der meisten Briefe Kants an Beck sind bisher erfolglos geblieben, werden aber fortgesetzt. Hat sie Beck andererseits nicht an Francke verschenkt? Noch suche ich vergebens in den Akten nach einer Notiz darüber, ob unsere Kant-Mss. wirklich alle von dem Letzteren an unsere Bibliothek kamen und wann? Vielleicht kann mir mein Amtsvorgänger, Otto Mejer, auf die Wege helfen.“

Schirrmacher war als öffentlicher ordentlicher Professor der Geschichte seit Ostern 1874 zweiter, seit Johannis 1886 erster Bibliothekar und damit Leiter der Universitätsbibliothek. Im Rahmen der Reorganisation der Bibliothek, die 1838 begann, waren die Handschriften zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht vollständig bearbeitet und wir müssen annehmen, dass erst im Zusammenhang mit dem erfolgreichen Nachforschen die beiden Folio-Bände in Halbleder mit den Rückentiteln konstituiert wurden, wie ich sie im Jahre 1972 bei meinem Amtsantritt vorgefunden habe und wie ihr Inhalt im Bandkatalog der Handschriften eingetragen worden waren. Ein alphabetisches Register gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Leider existiert auch das betreffende Buchbinderbuch nicht mehr, so dass es mir nicht möglich war, genau festzustellen, wann die beiden Bände mit den Kant-Handschriften gebunden wurden. Der erste Band mit dem Rückentitel: „Kantiana (Beck.)“ und der Signatur „Mss. var. 33“ enthielt: „7 Briefe Kants an Beck, damals Magister in Halle mit Datum: 9. Mai und 27. Sept. u. 2. Nov. 1791, 20. Jan., 3. Juli, 16. Octob. und 4. December 1792 (Originale) und Abschrift eines Briefes Kants d. d. 18. Aug. 1793 [Späterer Nachtrag: Abgedruckt in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 592 ff.] Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft, wegen ihrer Weitläuftigkeit vor dem Werke nicht abgedruckt. 34 Blätter. Folio

Was nun dieses 34 Folioblätter umfassende Manuskript betrifft, so ist es zwar nicht von Kants eigener Hand, jedoch mit vielen Verbesserungen und Randbemerkungen Kants versehen. Im Handschriftenkatalog findet sich ein Nachtrag des Bibliothekars Gustav Kohfeldt: „Aus dem Nachlass Becks. Beck vermachte, wie aus einem seiner Briefe hervorgehen soll, die Handschrift seinem Freunde, dem Rostocker Professor Friedr. Francke (Doz. 1824-69), der sie wohl erst in den 60er Jahren der Bibliothek überwiesen hat.“ Enthalten war in diesem Band und im Handschriftenkatalog verzeichnet auch – wie wir sehen werden – irrtümlich die Recension der „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre“ von Immanuel Kant in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ vom 18. Februar. 1797. Mit eigenhändigen Anmerkungen Kants. 10 Blätter. Folio. Und der Titelentwurf zu diesem Werke, 1 Blatt im Quartformat.

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Im Jahre 1972 fand ich allerdings diesen Band auseinander genommen vor, weil 1964 die 17 Foliobogen getrennt wurden und die nun 34 Seiten der „Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft“ verfilmt worden waren für die Vorbereitung einer Faksimile-Ausgabe in Berlin (West), die 1965 unter dem Titel: „Erste Einleitung zur Kritik der Urteilskraft“. Faks. u. Transkription, hg.v. von Norbert Hinske [u.a.], Stuttgart 1965, erschienen ist. Leider war der Band dann sehr unsachgemäß wieder „gelumbeckt“ 7 worden, weshalb ich damals angewiesen habe, dass der Band vollständig auseinander genommen restauriert und die einzelnen Blätter ungebunden in entsprechenden Kästen aufbewahrt werden. Später wurde dann auch der zweite Band auseinander genommen und restauriert; auch diese Manuskripte werden nun ungebunden in Kästen aus holzfreiem Material aufbewahrt. Dieser zweite Folio-Band trug auf dem Rücken in Frakturschrift (oben) die Aufschrift „Kant Anthropologie“ und (unten) „Mss. var. 32“. In ihm waren eingebunden und im Handschriftenkatalog eingetragen: Kants Anthropologie (eigenhändiges Ms.) 76 Blätter. Folio

Auch hier findet sich ein Nachtrag Kohfeldts: „Die letzten 8 Blätter enthalten 3 Abhandlungen über Religion u. über Kästner mit einleit. Brief Kants“. Dieser Nachtrag zeigt, dass die Rostocker Bibliothekare keine „Kantianer“ waren und zu diesem Zeitpunkt die Eigenheiten und Besonderheiten der einzelnen kleineren Handschriften und deren Zuordnung zum Gesamtwerk Kants noch nicht erkennen konnten. Zurück zu Dilthey: In seinem ersten Beitrag über die Rostocker KantHandschriften hat Dilthey dann 1889 erstmalig die „Acht Briefe Kants an Jakob Sigismund Beck“ veröffentlicht und die Philosophie und das Leben Becks dargestellt. In diesem Aufsatz beschreibt er auch den Zusammenhang zwischen dem Manuskript der „Einleitung“ und dem (8.) Brief von Kant an Beck vom 18. August 1793, der nur in der Abschrift Becks vorliegt. Beck hatte das Original dieses Briefes verschenkt und eine Abschrift anfertigen lassen, da er seine Kant-Briefe bereits seinem Freunde, dem Rostocker Philosophie-Professor Friedrich Joachim Christian Francke (1795 bis 1869), testamentarisch zugesprochen hatte. Das erfährt man aus einem undatierten – vermutlich aber in seinen letzten Lebensjahren abgefassten – Promemoria Becks, das dieser Abschrift beigefügt ist. Daraus geht auch hervor, dass Beck das Manuskript der „Einleitung“ bereits früher an seinen Freund Francke gegeben hatte. 7

Ein besonderes Klebebindeverfahren.

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Abb. 1: Erster Brief Kants an Beck vom 9. Mai 1791 + Text des Briefes

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Abb. 2: Kant: Erste Einleitung in die Kritik…

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Abb. 3: Pro Memoria Becks

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Im Wortlaut „P. M. Ich habe diese in diesem Convolut eingeschlossenen Briefe von Kant meinem Freunde dem Prof. Francke zugesagt, dass sie nach meinem Tode ihm von den Meinigen gegeben werden sollten. Nun ist aber jetzt hier ein Engländer, Herr Semple, der mich bittet, ihm einen dieser Briefe zu schenken. Ich werde seinen Wunsch erfüllen. Da aber der Brief, den ich ihm schenken will, gerade das mir von Kant geschenkte Manuscript einer Einleitung zu seiner Critik der Urtheilskraft betrifft, diese ihrer Weitläuftigkeit wegen, seinem Werke nicht vorsetzte, und ich dieses Manuscript schon dem Professor Francke geschenkt habe, so sehe ich mich genöthigt, diesen Brief, ehe ich ihn weggebe, abzuschreiben, damit meinem Freunde, an jener Gabe nichts fehle. Er lautet: [folgt der Brief vom 18. August 1793]“.

Leider hat Beck nicht genau angegeben, wie viele Briefe sich in dem Konvolut befanden; er schreibt nur „ diese in diesem Convolut eingeschlossenen Briefe“. Ich werde später noch einmal darauf zurückkommen. Meine Forschungen zu diesem Komplex „Kant - Beck - Francke“ – also „Königsberg - Halle - Rostock“ der Kant-Handschriften konzentrierten sich in den letzten Monaten auf die im „Pro Memoria Becks“ erwähnte Person des „Engländers“ [eigentlich: Schotten] Semple. Dabei handelt es sich um den schottischen Advokaten John William Semple († 1842), der in den letzten Lebensjahren Becks – wie es im Nekrolog auf Beck von Brüssow 8 – heißt: „von Sehnsucht nach persönlicher Bekanntschaft des berühmten Mannes getrieben“, von Edinburgh nach Rostock kam und Beck täglich besuchte, um „durch diese mündlichen Unterredungen sein Verständnis des Kant’schen Systems zu erweitern und zu vervollständigen“. Dass der Besuch nach 1836 stattgefunden haben muss, ergibt sich aus der Tatsache, dass die UB eine englische Übersetzung von Kants „Die Metaphysik der Sitten“ besitzt, die Semple 1836 in Edinburgh herausgegeben hat 9 , und die der Übersetzer Semple dem Rostocker Professor Beck gewidmet hat.

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Neuer Nekrolog der Deutschen, 18 (1842) 925-928, hier: 927. The metaphysics of ethics by Immanuel Kant. Transl. out of the original German, with an introduction and appendix by J. W. Semple, Edinburgh, 1836.

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Abb. 4: Titelblatt von „The metaphysics of ethics” by Immanuel Kant. (Edinburgh, 1836)

Abb. 5: Eintragung der Dedikation des Übersetzers an Beck.

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„The metaphysics of ethics“ ist nicht das einzige Werk Kants, das Semple übersetzt hat.

Außerdem hat er auch Kants „Religion within the boundary of pure reason“ 10 übersetzt (printed by Thomas Allan & Co. for Thomas Clark; J. B. Bailliere, London; Nestler & Melle, Hamburgh, 1838 x, 275 p ; 24 cm). Weitere Forschungen haben ergeben, dass dieses Buch in dem „Verzeichnis der von dem weil. Hrn. Prof. Dr. J. S. Beck in Rostock nachgelassenen Bücher, […] welche daselbst am 24sten Mai 1841 und in den folgenden Tagen in den Nachmittagsstunden in der Wohnung des Verstorbenen öffentlich versteigert werden sollen. – Rostock 1841. Druck der Rathsbuchdruckerei (J. M. Oeberg.)“ enthalten ist, was bedeutet, dass das Buch erst nach Becks Tod in die UB gekommen ist. Dieses Auktionsverzeichnis befindet sich in der Landesbibliothek Schwerin. 11 Es wird also nachzuforschen sein, ob das Buch bei dieser Auktion von der Bibliothek erworben wurde oder ob es via Francke als Betreuer der Auktion in die Bibliothek gekommen ist. Eine Registrierung als Geschenk oder als Erwerbung durch Kauf aus der Auktion konnte ich bisher nicht feststellen. Als Beck nach seiner Berufung zum rätlichen Professor ordinarius der Metaphysik im Jahre 1799 von Halle nach Rostock wechselte, kamen mit Sicherheit auch die in seinem Besitz befindlichen Kantiana in diesem Jahr nach Rostock, d. h. bereits im Jahre 1799 befanden sich Briefe Kants und das Manuskript der „Einleitung…“ mit Kants Anmerkungen in Rostock. Für uns ist nun interessant, wann und wie diese Handschriften in die Universitätsbibliothek gekommen sind. Wann Beck das Manuskript der „Ersten Einleitung…“ an seinen Freund Francke gegeben hat, lässt sich nur vermuten. Es gibt einige Höhepunkte in der Karriere Franckes in Rostock, die Anlass für ein solches Geschenk gewesen sein könnten. Es ist hier vielleicht der richtige Augenblick, etwas zur Person Franckes zu sagen, über den bisher in der Kant-Literatur nur sehr wenige Informationen zu finden sind. 12 Friedrich Joachim Christian Francke wurde am 29. September 1795 in Boitin bei Bützow als Sohn des dortigen Predigers geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Güstrow studierte er in den Jahren 1812 und 1813 Theologie, aber auch Philosophie bei Beck in Ros10

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Religion within the boundary of pure reason by Immanuel Kant; translated out of the original German, by J. W. Semple, Edinburgh / London / Hamburg, 1838. Diese Information und die entsprechenden Kopien verdanke ich Prof. Werner Stark, Marburg. Die wenigen Daten bei Stark, Nachforschungen (s. Anm. 2) 50 können nach der Rostocker Aktenlage wesentlich ergänzt werden: 1. Biographie Franckes, in: UAR, Album Professorum Nr. 492. (Daten nach Mitteilung der Tochter Clara Francke in Waren); 2. PA Francke mit lateinischem Lebenslauf, in: UAR.

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tock, wechselte dann 1814 nach Halle und studierte 1816 und 1817 in Jena, wo er unter dem Einfluss von Jakob Friedrich Fries (1773-1843) und nach der Teilnahme am Wartburgfest 1817, wodurch er sich verdächtig gemacht hatte, zur Philosophie überging. In den folgenden Jahren war er in Rostock längere Zeit Hauslehrer im Hause des Theologieprofessors Gustav Wiggers, dessen Söhne Moritz und Julius er erzog. 1824 promovierte er zum Dr. phil. und wurde Privatdozent. Endlich 1828 wurde er unter dem Rektorat des Biologen Heinrich Gustav Flörke außerordentlicher Professor der Philosophie, was für Beck der Anlass für eine Schenkung gewesen sein könnte. In Becks Biographien wird er immer als einer der wenigen engeren Freunde Becks bezeichnet. Nach Becks Tod am 29. August 1840 hat Francke dann mit Sicherheit auch die ihm zugedachten Kant-Briefe „die in dem Konvolut enthaltenen“ (sieben Originalbriefe und die Abschrift des achten Briefes) erhalten. Wie wir gesehen haben, hat er 1841 auch die Auktion der Beck’schen Bibliothek betreut. Wann Francke dann aber die Briefe und das Manuskript der „Einleitung…“ der Universitätsbibliothek übergeben hat, wussten wir bis vor kurzem noch nicht genau. Ich neigte in meinem ersten Bericht über die Provenienz der KantHandschriften 1991 zu der Annahme, dass Francke sie noch im gleichen Jahr – also 1840 – übergeben hat, wozu er möglicherweise durch eine andere Schenkung hätte animiert worden sein können, über die noch zu berichten sein wird. Erst im Jahre 1917 wurde bekannt, dass Francke für sich selbst von einem auch sonst für die Universitätsbibliothek tätigen Kopisten sehr saubere Abschriften der sieben Briefe Kants an Beck, dessen „P. M.“ mit der Abschrift des 8. Briefes sowie des Manuskriptes der „Einleitung“ (Mss.var. 033,1 und 033,2) hat anfertigen lassen, als seine Tochter mit Schreiben vom 29. Juni diese Abschriften und die Abschrift eines weiteren Schreibens Kants an Beck vom 19. November 1796 der Universitätsbibliothek geschenkt hat. 13 Ich hatte diesen Fakt auch schon in meinem Aufsatz von 1991 erwähnt und formuliert: „ Die Existenz der Abschrift dieses Briefes aus dem Nachlass Francke hat die Kant-Forschung bisher nicht zur Kenntnis genommen.“ Für mich ergaben sich schon damals eine Reihe von Fragen, die bis heute nicht hinreichend geklärt werden konnten. Es handelt sich dabei um den Brief Kants Nr. 686 der Akademie-Ausgabe, den Eduard Erdmann (1805-1892) vor 1885 mit einem aus Becks Vorbe13

Mss. var. 033a, fol.: In einem Umschlag mit der Aufschrift: „Kantische Manuscripte“ befinden sich 7 Doppelbogen A-O sowie ein Bogen P mit Seitenzählung 1-29. Die 7 Briefe ebenfalls als Doppelbogen Q, R, S, T, U, X, Y. Die Abschrift des P. M. Becks mit der Abschrift des Briefes von Kant an Beck vom 18.08.1793 als Doppelbogen Z. Der Brief Kants an Beck vom 19.11.1796 als Doppelbogen A.a.

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sitz stammenden Exemplar der Erstauflage von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ erworben hatte, inliegend der Brief Kants an Beck vom 19. November 1796. Im Anmerkungsband zum Briefwechsel von 1922 wird bei diesem Brief unter Nr. 722 „Julius Walter, Jena“, als Eigentümer angegeben. 14 Wenn sich aber im Nachlass Franckes neben den Abschriften der übrigen bekannten Briefe auch eine Abschrift dieses Briefes befindet, dann muss sich das Original zum Zeitpunkt der Übergabe – also 1852 – noch in Franckes Hand befunden haben und müsste auch mit übergeben worden sein. Gestützt wird meine Annahme dadurch, dass ich als Ergebnis meiner laufenden Forschungen zum Thema im Geschenkbuch der UB für die Jahre 1845-1863 unter dem 2. Juli 1852 eine Eintragung des Oberbibliothekars Prof. Roeper finden konnte, dass Herr Prof. Francke als Geschenk übergeben hat: „Ein philosoph. Manuskript Becks [darüber: Kants] von XVII fol. Bogen mit einigen handschriftl. Randbemerkungen von Kant sowie 9 Briefe des letzteren“. Also: Francke hat 9 Briefe übergeben!

Abb. 6: Eintragung im Geschenkbuch 1845-1863: 2. Juli 1852: „Ein philosoph. Manuskript Becks [darüber: Kants] von XVII fol. Bogen mit einigen handschriftl. Randbemerkungen von Kant sowie 9 Briefe des letzteren“.

Wie kam der Brief in die Hände von Erdmann? Wie dann in die Hände von Julius Walter in Jena? Wieder offene Fragen… Nach Informationen von Prof. Stark, Marburg, aus den letzten Tagen waren Erdmann und Walter verwandt. Aber woher hat Erdmann vor 1885 den Brief? Papier, Schrift und Wasserzeichen sind für alle Abschriften identisch! Im einzelnen handelt es sich demzufolge bei der Beck-FranckeProvenienz – also Königsberg - Halle - Rostock – um folgende Originalhandschriften bzw. deren Abschriften, die mit weiteren KantHandschriften in einem Buchbinderband vereinigt vorgefunden bzw. 1917 in losen Doppelbogen übergeben wurden: - Kant, Immanuel / Kiesewetter, Johann Gottfried Carl Christian „[Erste Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft]“. 1790. 34 Bl., fol.=S. 1-68 [Seitenzählung auf den für Reproduktionszwecke 1964 auseinandergetrennten Seiten der ursprünglichen Doppelbogen] 14

AA 13, 437.

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Mss. var. 033,3 15 - Dasselbe. Abschrift für Francke. Bl. 1-29. Doppelbogen A-P: „…Zweckmäßigkeit der Natur zu verrichten suchen.“ Mss. var. 033a(A-P) - Kant, Immanuel: [7 eigenhändige Briefe von Kant an Beck] A: 1791.05.09; B: 1791.09.27; C: 1791.11.02; D: 1792.01.20; E: 1792.07.03; F: 1792.10.16; G: 1792.12.04.A-D, F, G: jeweils ein auf Quart gefaltetes Folioblatt; E: 1 Quartblatt; Mss. var. 033,1 [A, B, C, D, E, F, G]16 - Dasselbe. Abschriften für Francke. Bl. 30-42. Doppelbogen Q-Y. Mss. var. 033a(Q,R,S,T,U,X,Y) - Becks Abschrift [des Briefes von Kant an Beck: 1793.08.18] 1 Folioblatt Mss. var. 033,2 17 - Dasselbe. Abschrift für Francke. Bl. 43-44 Mss. var. 033a(Z) - Abschrift [des Briefes von Kant an Beck: 1796.11.19] Bl. 45-46 Mss. var. 033a(A.a.) 18

2. Komplex: Königsberg - Neubrandenburg - Rostock 1840 Bei den von Dilthey als Schirrmachers Entdeckungen genannten Rostocker Kant-Handschriften handelt es sich nach seinem zweiten Bericht 19 um 15 16 17 18

19

AA 20, 195-251. – Neueste Faksimile-Ausgabe: „Erste Einleitung zur Kritik der Urteilskraft“. Faks. u. Transkription. Hg. von Norbert Hinske [u. a.], Stuttgart 1965. AA 11, 243; 277; 290; 300; 333; 361; 379. Abschriften aus dem Nachlass Francke unter Mss.var.033a (Q,R,S,T,U,X,Y) AA 11, 426. – Abschrift aus dem Nachlass Francke unter Mss.var.033a(Z) Brief.-Nr.: 722; Briefdatum: 1796.11.19. – AA 12, 119-12; 13, 437 wird als Besitzer Julius Walter, Jena, genannt. – Erstveröffentlichung in: Altpreußische Monatsschrift 22 (1885) 433-434. Archiv (s. Anm. 1), 3 (1890) 79-90.

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einen Manuskriptband, „welcher eine Handschrift der Kantschen Anthropologie enthält,…, ein Anschreiben Kants an die theologische Fakultät zu Königsberg [in zwei Fassungen] nebst zwei Vorreden zu der Religion innerhalb der Gränzen der blossen Vernunft, dann 6 Folioseiten von Kants Hand mit der Aufschrift: Über Kästners Abhandlungen“, die Dilthey dann in seinem Aufsatz auch erstmals abgedruckt hat. Aus der Korrespondenz zwischen Dilthey und Schirrmacher im Jahre 1889 20 geht hervor, dass es zu diesem Zeitpunkt in Rostock selbst keine gesicherten Kenntnisse hinsichtlich der Provenienz dieser Rostocker Kant-Handschriften gab. Schirrmacher war offensichtlich selbst sehr unsicher, ob wirklich alle Rostocker Kant-Handschriften aus dem Nachlas Becks stammen, wie das später lange Zeit allgemein angenommen wurde. Oswald Külpe, der erste Herausgeber der Handschrift der „Anthropologie“, ging 1907 wohl als erster „nach einer freundlichen Mitteilung des Herrn Dr. Kohfeldt, Bibliothekars an der Rostocker Universitätsbibliothek“ davon aus, dass das Manuskript „wahrscheinlich mit anderen Manuscripten aus dem Nachlass von Jak. Sig. Beck (gest.1840) in den Besitz der Bibliothek gekommen (ist)“. 21

20 21

Nachlass Wilhelm Dilthey (s. Anm. 6). AA 7, 355

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Abb. 7a: „Anthropologie – Des ersten Theils Erstes Buch”

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Abb. 7b: „Der Anthropologie – Zweyter Theil”

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Bezüglich der bis 1990 völlig unklaren Herkunft der übrigen Rostocker Kantiana (Mss. var. 032,1-7 und 033,5) gab es nun neue Erkenntnisse, die im Rahmen der seit einigen Jahren laufenden Forschungen zur Geschichte der Universitätsbibliothek gewonnen werden konnten. Dabei wurde im Archiv der Universitätsbibliothek eine unscheinbare Mappe gefunden, die Unterlagen über Geschenke an die Bibliothek für die Jahre 1832-1845 enthält. Ein Brief in dieser Mappe gibt Auskunft. Demzufolge hat der Neubrandenburger Bau-Kondukteur Wedeke mit seinem Schreiben vom 14.März 1840 an den Rektor, Konsistorialrat Gustav Wiggers (1808-1860) 22 1. das vollständige Original-Manuskript von Kants Anthropologie und 2. einige kleinere Handschriften des berühmten Mannes übergeben. Er schrieb: „Ew. Hochwürden, als jetzigem Rektor der Universität, gebe ich mir die Ehre in der Anlage gehorsamst das volständige Originalmanuskript von Kants Antropologie, und einige kleinere Handschriften dieses berühmten Mannes mit der Bitte zu überreichen, sie der Manuskriptsammlung der dortigen Bibliothek zu überweisen; denn wenngleich hierdurch diese Sammlung nur einen unbedeutenden Zuwachs erhält, so erscheint es doch als zweckmäßiger daß diese Manuskripte dorten, als hier einzeln bei mir aufbewahrt werden. Mit der volkommensten Hochachtung zeichne ich mich als Ew. Hochwürden ergebener Diener Wedeke Bau-Kond[ukteur] NeuBrandenburg, den 14ten Maerz 1840“

Seiner Sendung fügt er ein Gutachten von Gottlieb Friedländer, Kustos der Königlichen Bibliothek zu Berlin, vom 2.Mai 1827 bei, in dem dieser bestätigt: „Genaue Vergleichung der am 1sten Mai vorgelegten Handschrift von Kant’s Anthropologie mit einer bedeutenden Anzahl eigenhändiger Briefe Kants führte zu dem durchaus sicheren Ergebniß, daß die in Rede stehende Handschrift unbedingt Autographum des großen Mannes ist, daß aber die von anderer Hand beiliegenden Blätter von Herrn Pachthofsinspektor Brahl in Königsberg geschrieben sind. Solches wird auf Wunsch hierdurch bescheinigt.“ Friedländer gilt als guter Kenner der Handschriften seiner Zeitgenossen und konnte zu Vergleichszwecken die Briefe Kants an Moses Mendelssohn verwenden, die sich im Besitz der Familie Friedländer befanden. Somit steht seit 1990 fest, dass das Manuskript der „Anthropologie“ (Mss.var.032,1) und Materialien zur 2. Auflage der „Rechtslehre“ (Mss. var. 033,5), d.h. die bekannte 20 Folioseiten umfassende, von Johann Brahl für Kant gefertigte Abschrift der Bouterwek-Rezension aus den „Göttingi22

UAR, UB 1217: 1835-42. Bibl.-Acten. Quartals-Conferenzen. Protokolle und Anlagen. Vol. I. Die Schenkung wird erwähnt im Protokoll 48 vom 26. November 1840 II.A.2. „Bauconducteur Wedecke in Neubrandenburg“.

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schen Anzeigen von gelehrten Sachen“ [2 (1797) 256-276] betreffend die „Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre von Immanuel Kant“ mit den Reflexionen Kants auf den freien linken Randspalten, im März 1840 nach Rostock gelangt sind. Ihre Zuordnung zum Handschriftenband Kantiana Beck war demzufolge falsch; das gilt auch für das 1 Blatt mit dem Titelentwurf zu diesem Werk (Mss.var. 033,4). Schon die frühere Kantforschung hatte diese Zusammengehörigkeit immer als gegeben betrachtet und diesem Titelblatt wegen der daraus abgeleiteten Beteiligung Kants an dieser 2. Auflage besondere Bedeutung beigemessen. 23 Dilthey selbst hatte sich schon 1890 dazu geäußert. 24 Wenn es im Brief Wedekes heißt „und einige kleinere Handschriften des berühmten Mannes“, dann dürfte es sich dabei wohl außerdem um den auf einem Quartbogen konzipierten Entwurf des Briefes Nr. 494(526) an die Theologische Fakultät der Universität Königsberg vom August 1792 (Mss. var. 032,2)

23 24

Vergl. Altpreußische Monatsschrift 52 (1916), 128. Dilthey, Wilhelm, Kants Aufsatz über Kästner und sein Antheil an einer Recension von Johann Schultz in der Jenaer Literatur-Zeitung, in: Archiv (s. Anm. 1), 3 (1890), 275-281.

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Abb. 8: Kant: Entwurf eines Schreibens an die Königsberger Theologische Fakultät

sowie zwei Doppelbogen mit „Vorarbeiten“ zur „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ von 1793 (Mss. var. 032,3 und 032,5) handeln. Auf der letzten Seite des ersten Doppelbogens ist ein weiterer Entwurf des Briefes an die Theologische Fakultät zu finden (Mss. var. 032,4), der ganz offensichtlich zur gleichen Zeit geschrieben wurde. Es ist kaum zu bezweifeln, dass die dann folgenden zwei Skizzen Kants für Johann Schultz’ Rezension von Johann August Eberhards „Philosophischem Magazin“ (Mss. var. 032,6 und 032,7) auch zu dieser Schenkung gehören, zumal sich auch deren Provenienz aus dem Beckschen Nachlas bisher nicht erklären ließ. In diesem Band befanden sich folgende Handschriften, die nun nach der Restaurierung ungebunden in einer Kapsel aufbewahrt werden: Kant, Immanuel: Anthropologie. 1798. Bl.1-76, fol., 38 Doppelbogen. Bogenzählung Kants A-OO. WZ:

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Mss. var. 032,1 25 Kant, Immanuel: „Ich habe die Ehre{…}sich selbst angekündigt hat.“ 1792. Brief-Nr.: 494: An die theologische Fakultät [in Königsberg] Bl.77, 4°, 1 Bogen. WZ: Teschenwald Mss. var. 032,2 26 Kant, Immanuel: „Vorrede Man theilt{…}als diese finden soll“. 1793. Bl.78r-79r, fol.,1 Doppelbogen. WZ: Teschenwald Mss. var. 032,3 27 Kant, Immanuel: „Ich habe die Ehre{…}ausserhalb ihres Gebietes liegend beurtheile.“ 1793(?) Bl.79v, fol., letzte Seite des Doppelbogens Bl.78/79. WZ: Teschenwald Mss. var. 032,4 28 Kant, Immanuel: „Vorrede Obgleich die einzige{…}Betrachtung beurtheilt werden“. 1793 Bl.80-81, fol., 1 Doppelbogen. WZ: Teschenwald Mss. var. 032,5 29 Kant, Immanuel: „a) Über Kästners Abhandlungen{…}kenntlich zu machen“. 1790. Bl.82-83, fol., 1 Doppelbogen WZ:Trutenau II Mss. var. 032,6 30 Kant, Immanuel: „b)Die Metaphysik muß {…} Begriff verbinden.“ 1790. Bl.84, fol. WZ:Trutenau II Mss. var. 032,7 31 25 26

27 28

29 30

Reinschrift/Druckvorlage: 1798, Anthropologie. – AA 7, 395-415. Briefdatum: 1792.08.?? – AA 11, 344-345. Vgl. AA 13, 326-328. Abgedruckt von Dilthey: Der Streit Kants mit der Censur über das Recht freier Religionsforschung, in: Archiv (s. Anm. 1), 3 (1890), 429-430; Vorarbeit dazu vgl. Mss. var. 032,4. Vorarbeit/Nachtrag zu: 1793, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. – AA 20, 427-432. Entwurf eines Schreibens an die Theologische Fakultät der Universität Königsberg. Vgl. Mss. var. 032,2. – AA 13, 325-328. Vorarbeit/Nachtrag zu: 1793, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. – AA 20, 433-440. Vorarbeit/Nachtrag zu: 1790, Schultz ad Eberhard. – AA 20, 410-418.

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Kant, Immanuel: „[Titelentwurf, Rechtslehre II]“ 1798. S.69/70, 4°, 1 Blatt Mss. var. 033,4 32 Kant, Immanuel / Brahl, Johann „Anmerkungen zur Definition {…}ist diejenige Gesellschaft“ 1798. S.71-90, fol., 5 Doppelbogen in Lagen Mss. var.033,5 33 Die notwendigen Erklärungen für den Weg dieser Handschriften von Königsberg nach Rostock über Neubrandenburg liefern die Biographie des Geschenkgebers und seines Vaters sowie die Informationen über das Schicksal von Kants Bibliothek nach seinem Tode am 12. Februar 1804. Johann Christian Wedeke (geb. 20.Juni 1791) ist der älteste Sohn des Kant-Schülers Johann Christoph Wedeke (1755-1815) 34 , der ab 1806 bis zu seinem Tode Oberhofprediger an der Schlosskirche in Königsberg und nach der Promotion zum Dr. theol. ab 1807 auch ordentlicher Professor der Theologie an der dortigen Universität war. 1814 bekleidete er das Amt des Rektors an der Albertina. Von Arthur Warda, der die Universitätsakten bezüglich des Nachlasses des am 7. September 1807 verstorbenen Erben der Bibliothek Kants, Professor Johann Friedrich Gensichen, gefunden und 1922 veröffentlicht hat, wissen wir, dass Johann Christoph Wedeke auf der in der Zeit vom 25.-28.April 1808 in Königsberg durchgeführten Auktion der Bibliothek Gensichens „…die unter Nr. 846 versteigerten Manuskripte Kants …für 2 fl. 6 gl. erstand…“ 35

_____________ 31 32 33

34 35

Vorarbeit/Nachtrag zu: 1790, Schultz ad Eberhard. – AA 20, 419-423. Vorarbeit/Nachtrag zu: 1798, Rechtslehre II. – AA 20, 443. Vorarbeit/Nachtrag zu: 1798, Rechtslehre, Erläuternde Anmerkungen. – AA 20, 445-467. Von dem mit Kant befreundeten Königsberger Akzise-Inspektor Johann Brahl angefertigte saubere Abschrift mit den autographen Bemerkungen Kants. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, 17 (2000), Sp. 1528-1533 (Mathias Wolfes). Warda, Arthur, Kants Bücher, Wiesbaden 1922, 11-14: Königsberg, Universität: Acta des Academischen Senats die Verlassenschafts-Regulierung des den 7ten Septbr. 1807 verstorbenen Professor Johann Friedrich Gensichen betr.(Litt. G. No.4).

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Abb. 9: Titelblatt des Auktionskataloges Gensichen: „Verzeichnis der Bücher des verstorbenen Professors Johann Friedrich Gensichen, wozu auch die demselben zugefallenen Bücher des Professor Kant gehören (25. April 1808)“

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Abb. 10: Seiten 28/29 des Kataloges mit B. Manuscripta Nr. 846 Kants eigenhändige Manuscripte über verschiedene Gegenstände

Als ältester Sohn wird Johann Christian Wedeke die Manuskripte 1815 geerbt haben. Von ihm selbst wissen wir bisher nur, dass er 1834 in Neubrandenburg im Friedländer Quartier Haus Nr. 173 wohnte und 3 Rthl. in die Armenkasse zahlte. 36 Im folgenden Jahr unterzeichnet er die Vorrede eines „Theoretisch-praktischen Handbuches des Chaussée=Baues…“ (Quedlinburg und Leipzig, 1835) aus Güstrow und nennt sich „Königl. Preuß. Baumeister“. Das letzte seiner insgesamt 11 zum Teil sehr umfangreichen Handbücher zur Bau- und Landbaukunst datiert aus dem Jahre 1860. Wedeke war auch künstlerisch tätig, wie eine in Berlin gedruckte Lithographie: „Neu-Krug bei Neu-Brandenburg“ ausweist. 37 Wedekes Schenkung im Jahre 1840 markiert den Weg der genannten Kant-Handschriften von Königsberg über Neubrandenburg nach Rostock und macht deutlich, dass die Rostocker Universitätsbibliothek als vaterländische Institution eines Thesaurus librorum et manuscriptorum einen guten Ruf genoss, so dass viele Gelehrte und Bürger Mecklenburgs offenbar gern zur Vermehrung ihrer Schätze beitrugen.

36 37

Rechnung des Armeninstituts, Neubrandenburg 1835. UB Rostock: Sammlung von Städteansichten.

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3. Komplex: Königsberg - Schwerin - Rostock 1827 Es scheint, als hätten die Anfragen Diltheys unter den Rostocker Bibliothekaren einen Impuls ausgelöst, sich intensiver um die von Ihnen betreuten handschriftlichen Schätze zu kümmern. So ist es zu erklären, dass dann im Jahre 1904 Gustav Kohfeldt selbst einen von ihm unter den Rostocker Handschriften neu entdeckten Brief Kants an den Königsberger Verleger Nicolovius (Mss. var. 124,10) publiziert 38 und über dessen Herkunft berichtet hat. Demzufolge war dieser der Universitätsbibliothek bereits am 28.August 1827 von dem Kommandanten von Schwerin, Oberst von Kampz, geschenkt worden. Das geht aus der Aufschrift auf einem Umschlag hervor, in dem Kohfeldt diesen Brief gefunden hatte.

Abb. 11: Umschlag mit Eintragung Roennbergs

Von Kampz war im Sommer 1812 – wie der Bibliothekar Roennberg auf dem Umschlag schreibt – zu Kants Grab gepilgert und hatte sich in Königsberg Handschriften Kants zeigen lassen und diesen Brief vom Verleger Nicolovius selbst erhalten. 39 38 39

Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 124 (1904) 1, 106-108. Auf dem Umschlag steht: „Hierin ein eigenhändiger Brief des berühmten Philosophen Kant, geschenkt am 28ten August 1827 vom Obristen von Kampz Commandanten zu Schwerin, der im Sommer 1812 in Königsberg zu Kants Grabe wallfahrete, sich dort alle Handschriften Kants zeigen ließ und dies Briefchen vom Buchführer Nicolovius erhielt.“

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Abb. 12: Umschlagseite des Briefes Kants an Nicolovius

Abb. 14: Handschriften-Katalog: Mss. var. 124: Briefe, Autographen

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Abb. 13: Textseite des Briefes Kants vom 29. April 1790

Dieser Brief ist somit die erste Rostocker Kant-Handschrift im Besitz der UB. Kohfeld hat ihn mit anderen Briefen und Autographen in einer Mappe vereinigt, wo er sich in guter Gesellschaft befindet u. a. mit unserem berühmten Kolumbus-Brief aus dem Jahre 1502, mit einem Brief Luthers und Admiral Nelsons. Es handelt sich um folgende Handschrift: Kant, Immanuel „Ew. Hochedelgeb. bitte{…} Der Verleger Nicolovius“

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1 Quartblatt und 1 Folioblatt als Umschlag mit Aufschrift Mss. var. 124,10 40 Die Provenienz dieser Handschrift ist also eindeutig klar: der Brief kam bereits 1812 von Königsberg nach Schwerin und 15 Jahre später nach Rostock. Wer aber war der Schenker und was führte ihn 1812 nach Königsberg?

Abb. 15: Porträt von Kamptz

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Brief-Nr.: 423; Briefdatum: 1790.04.29; AA 13, 267-268.

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Anton Friedrich Ludwig von Kamptz wurde am 28.9.1770 in Schwerin geboren und verlebte seine Jugend in Schwerin und auf den Gütern seines Vaters, wo er Privatunterricht erhielt. 1783 begann seine militärische Laufbahn, die ihn schließlich 1812 mit dem mecklenburgischen Contingentsregiment im Dienste Napoleons nach Russland führte. Die Mecklenburger gelangten bis in den Raum Smolensk und erlitten durch Kampfhandlungen, Kälte und Hunger schwere Verluste. Nach der Rückkehr stiftete er eine bronzene Gedenktafel für die gefallenen Mecklenburger in der Rostocker Marienkirche. Von 15.000 Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren kamen nur etwa 300 zurück in die Heimat. Auch in den folgenden Jahren war er an verschiedenen Feldzügen beteiligt, bis er ab 1819 Kommandant der Residenzstadt Schwerin wurde. Während dieses Russlandfeldzuges hielt sich von Kamptz – wie wir aus dem 1998 von Klaus-Ulrich Keubke aus der Handschrift im Landeshauptarchiv Schwerin veröffentlichten „Tagebuch des Feldzuges in Russland im Jahre 1812“ von Otto Gotthard Ernst von Raven wissen – mit Sicherheit am 14. Juni 1812 in Königsberg auf. Ob er hoch zu Ross an Kants Grab war oder „pilgerte“? Wie mag er den Brief erworben haben? Sei ihm wie ihm wolle. Er hat ihn an den richtigen Ort gebracht. Zusammenfassend kann man sagen: Auf Grund der Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg nennt die neuere Forschung nun die Universitätsbibliothek Rostock mit vollem Recht als „die umfangreichste Fundstelle auf deutschem Boden für eigenhändige Manuskripte Kants“. 41

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Stark, Nachforschungen (s. Anm. 2) 48. – Werner Stark verdanke ich alle wesentlichen Informationen in Bezug auf die neuesten Forschungsergebnisse zum Kant-Nachlass.

Denn ich bin ein Mensch gewesen

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Denn ich bin ein Mensch gewesen. Einführung in Leben und Werk Immanuel Kants Udo Kern

Kant ist zu Recht „der große Reformator der Philosophie“ genannt worden. 1 Goethe und Hölderlin haben Kant in höchsten Tönen gewürdigt. Jener nennt ihn den vorzüglichsten aller neueren Philosophen, dessen größter Nutzen darin bestünde, dass „er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei“ 2 . Hölderlin spricht von Kant als dem „Moses unserer Nation“ 3 . Noch pathetischer verherrlicht ihn Jean Paul 4 : „Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes Sonnensystem auf einmal“. Ein anderer nennt die kantsche „Idee einer Kritik des menschlichen Vernunftvermögens“ die gewaltigste philosophische Revolution. 5 Schärfste Polemik dagegen fährt Nietzsche gegen den „großen Kant“, jenen „hinterlistigen Christen“ 6 und „verwachsensten Begriffs-Krüppel“ 7 mit seinem Königsberger Chinesentum 8 . Hirngespinste des Niedergangs seien Kants Pflicht, Tugend, sein Gutes an sich. Der kategorische Imperativ dieses Moralisten sei lebensgefährlich. Décadence- und Idiotismus-Rezept werde hier verordnet. Verantwortlich für diese Falschmünzerei, Ursache dieser lebensgefährlichen praktischen Décadence-Philosophie sei der ubiquitäre fehlgreifende Instinkt Kants. Otfried Höffe dagegen rechnet Kant „zu den größten 1

2 3 4 5

6 7 8

Diese Charakterisierung stammt von dem Kantschüler und Herausgeber von Kants Logik Gottlob Benjamin Jäsche. Sie steht in der von Jäsche verfassten Vorrede der Kantschen Logik. (Log, AA 9, 5). Eckermann, Johann Peter, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. v. Fritz Bergemann, Leipzig 1968, 222, 336. Zit. Höffe, Otfried, Immanuel Kant, München 52000, 285. Zit. Höffe, Kant, (s. Anm. 3), 285. Döring, Woldemar Oskar, Das Lebenswerk Immanuel Kants, Lübeck 1916, ND Hamburg 1947, 7. Nietzsche, GD, KSA (= Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Krit. Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980) 6, 79. Nietzsche, GD, KSA 6, 110. Nietzsche, AC, KSA 6, 177. Vgl. zum Folgenden ebd., 177f.

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Udo Kern

Denkern des Abendlandes“, der „wie kaum ein anderer die Philosophie der Neuzeit geprägt“ habe. 9 Wie man auch immer über Kant denkt, an ihm kommt man im philosophischen und theologischen Diskurs und darüber hinaus auch heute nicht vorbei. 10 Von nachhaltiger Prägung ist sein philosophisches Denken mit dessen kritischen Transzendentalismus, seine profilierte praktische und ästhetische Vernunft. Kants Lebens 11 ist nachhaltig verbunden mit der Stadt Königsberg und deren Universität. Königsberg – mehr als der Mittelpunkt Ostpreußens – wurde 1255 vom Deutschen Orden gegründet, war seit 1340 Mitglied der Hanse. Oft zitiert wird Kants Eloge auf sein Königsberg, das er „einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als der Weltkenntnis“ 12 nennt. In Königsberg wird Kant am 22. April 9 10

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Höffe, Kant, (s. Anm. 3), 11. „’Kant’ ist ein Zeichen, das innerhalb der europäischen Geistgeschichte ein unvergessliches Ereignis darstellt. Wie die Französische Revolution ist auch Kants philosophische Existenz eine Begebenheit, die im Lauf der Menschheitsgeschichte einen möglichen Fortschritt anzeigt.“ (Geier, Manfred, Kants Welt. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 52004, 10f.) Rudolf Malter stellt mit Recht 1994 hinsichtlich des Quellenmaterials für Kants Biographie fest: „Überblickt man vom heutigem Standpunkt der kantbiographischen Forschung aus die zeitgenössischen Quellen für eine Lebensbeschreibung des Philosophen, so bleibt die schon früh erkannte Rangordnung bestehen: neben den spärlichen autobiographischen Äußerungen Kants und dem für jede Kantbiographie fundamentalen Briefwechsel bilden die drei Biographien (sc. von Borowski, Jachmann und Wasianski) die Hauptbasis für unser Wissen um Kants Lebensgang, seine Persönlichkeit und seinen Umgang mit den Königsberger Mitbürgern.“ (Malter, Rudolf, Einleitung, in: Gross, Felix (Hg.), Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien von Ludwig Ernst Borowski, Reinhold Bernhard Jachmann und Ehregott Andreas Christoph Wasianski, Berlin 1912, ND Darmstadt 1993, VII-XIX, hier: XVIII). Diese drei Biographien erschienen 1804 bei Friedrich Nicolovius in Königsberg. Die drei Verfasser sind Königsberger Vertraute Kants. Zu nennen ist erstens die Biographie des von 1740 bis 1831 lebenden Königlich Preußischen Kirchenrates Ernst Ludwig Borowski. Sie hat den Titel: Darstellung des Lebens und Charakters Immanuel Kants. Von Kant selbst genau revidiert und berichtigt, in: Gross (Hg.), Immanuel Kant, 1-102. Der Kantbiographie Borowskis kommt besondere Bedeutung dadurch zu, weil sie (weitgehend) von Kant selbst im Manuskript durchgesehen, (wenig) korrigiert und gebilligt worden ist. (Borowski, 74).Verfasser der zweiten Biographie ist der 1767 in Königsberg geborene und 1843 gestorbene Königliche Direktor des Conradischen Provinzial-, Schul- und Erziehungsinstitutes Reinhold Bernhard Jachmann. Seine Biographie trägt den Titel: Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, in: Gross (Hg.), Immanuel Kant, 103187. Autor der dritten Kantbiographie ist der von 1755 bis 1831 in Königsberg lebende Diakonus bei der Tragheimschen Kirche in Königsberg Ehregott Andreas Christoph Wasianski. Die von Wasianski verfasste Biographie, die wie die von Borowski und Jachmann 1804 mit diesen gemeinsam publiziert wurde, heißt Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren. Ein Beitrag zur Kenntnis seines Charakters und häuslichen Lebens aus dem täglichen Umgang mit ihm, in: Gross (Hg.), Immanuel Kant, 189-271. „Eine große Stadt, der Mittelpunkt des Reichs, in welchem sich die Landescollegia der Regierung desselben befinden, die eine Universität (zur Kultur der Wissenschaften) und dabei noch die Lage zum Seehandel hat, welche durch Flüsse aus dem Inneren des Landes

Denn ich bin ein Mensch gewesen

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1724 geboren. In Königsberg stirbt er fast achtzigjährig am 12. Februar 1804. Auf den Namen Emanuel wird Kant getauft. Wahrscheinlich seit 1746, nach dem Tode seines Vaters 13 , nannte er sich Immanuel, da er diese Namensform für eine exaktere Wiedergabe des hebräischen Originals erachtete. Kant sprach mit Hochachtung und Stolz bis ins hohe Alter von seinem für ihn, wie er meinte, so passenden Namen. Die „wörtliche Bedeutung“ seines Namens Immanuel (= Gott ist mit ihm) gab ihm „sein ganzes Leben lang Trost und Zuversicht“ 14 . Kants Vater 15 Johann Georg Kant (1682-1746) war Riemermeister 16 , eine Art Sattler, in Königsberg. Anna Regina geb. Reuter (1697-1737), Kants innig geliebte Mutter, war eine Tochter des aus Nürnberg stammenden Riemers Caspar Reuter. Kant ist das vierte Kind. Er hatte 8 Geschwister, von denen 6 schon früh starben. Nur seine jüngste Schwester Katharina Barbara (1731-1807), die ihn auch in seinem Alter pflegte, überlebte ihn. Sein jüngerer 1735 geborener Bruder Johann Heinrich starb 1800 als Pfarrer in Altrahden/Kurland. Kant betonte die außerordentlich große Bedeutung seiner Mutter für ihn, die durch ihre gottesfürchtige tugendhafte Frömmigkeit den Keim des Guten in ihm pflanzte und nährte. Sie habe „einen immerwährenden heilsamen Einfluss“ auf sein Leben gehabt. 17 Nach Kants Urteil zeichnete seine Mutter echte Frömmigkeit, _____________

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sowohl, als auch mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten, einen Verkehr begünstigt, – eine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen schicklichen Platz zu Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als der Weltkenntnis genommen werden; wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.“ (Anth, AA 7, 120f. Anm.). In die Familienbibel schrieb Kant 1746 anlässlich des Todes seines Vaters: „Den 24. März ist mein liebster Vater durch einen seligen Tod abgefordert worden. Gott, der ihm in diesem Leben nicht hat viel Freude genießen lassen, lasse ihm davor die ewige Freude zu Teil werden.“ (Zit. bei Kühn, Manfred, Kant. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, München 2003, 49). Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 43. „Die Vorfahren von … Kants Vater waren aus Preußisch-Litauen, aus Memel … nach Königsberg gekommen.“ (Dietzsch, Steffen, Immanuel Kant. Eine Biographie, Darmstadt 2003, 24). „Die Riemer waren eng mit den Schuhmachern und Sattlern verwandt; sie stellten Geschirre für Pferde, Kutschen und Schlitten her sowie andere Gerätschaften, die zum Transport benutzt wurden. In Preußen waren sie auch für die Ausstattung der Kutschen selbst zuständig. Das Material, mit dem sie in erster Linie arbeiteten, war Leder, und die wichtigsten Gerätschaften ihres Handwerks ähnelten denen der Sattler.“ (Kühn, Kant, [s. Anm 13], 45). „Meine Mutter“, so Kant, „war eine liebreiche, gefühlvolle Frau und eine zärtliche Mutter, welche ihre Kinder durch fromme Lehren und durch ein tugendhaftes Beispiel zur Gottesfurcht leitete. Sie führte mich oft außerhalb der Stadt, machte mich auf die Werke Gottes aufmerksam, ließ sich mit einem frommen Entzücken über seine Allmacht, Weisheit und Güte aus und drückte in mein Herz eine tiefe Ehrfurcht gegen den Schöpfer aller Dinge. Ich werde meine Mutter nie vergessen, denn sie pflanzte und nährte den ersten Keim des

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ein edles Herz und großen natürlichen Verstand aus. 18 Mit Dankbarkeit und Hochachtung sprach Kant stets von seinen Eltern 19 und deren streng pietistischer Erziehung. Frömmigkeit, Fleiß, Redlichkeit, Vermeidung jeglicher Lüge waren prägend in der elterlichen Erziehung. 20 „Waren auch die religiösen Vorstellungen der damaligen Zeit und die Begriffe von dem, was man Tugend und Frömmigkeit nannte, nichts weniger als deutlich und genügend, so fand man doch wirklich die Sache. Man sage dem Pietismus nach, was man will, genug, die Leute, denen er ein Ernst war, zeichneten sich durch eine ehrende Weise aus. Sie besaßen das Höchste, was der Mensch besitzen kann, jene Ruhe und Heiterkeit, jenen inneren Frieden, die durch keine Leidenschaft beunruhigt wurden. Keine Not, keine Verfolgung setzte sie in Missgunst, keine Streitigkeit war vermögend, sie zum Zorn und zur Feindschaft zu reizen. Mit einem Wort, auch der bloße Beobachter wurde unwillkürlich zur Achtung hingerissen.“ 21 Von 1730 bis 1732 besucht Kant die Vorstädter Hospitalschule und erhält den üblichen Elementarunterricht. Seine Förderung verdankt Kant dem Theologen Franz Albert Schultz (1692-1763), der nach seinem theologischen Examen zunächst – Feldprediger ist. Er kommt auf königliche Verfügung 1731 nach Königsberg und wird Pastor an der Altstädtischen Kirche, danach Konsistorialrat, 1732 jüngster Theologieprofessor (für Dogmatik) und 1733 auch Direktor des Collegium Fridericianum. „Ihm verdankt Kant, das, was er wurde und die gelehrte Welt das, was sie durch seine Ausbildung gewann.“ 22 Schultz überzeugte Kants Eltern davon, dass _____________

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Guten in mir, sie öffnete mein Herz den Eindrücken der Natur; sie weckte und erweiterte meine Begriffe, und ihre Lehren haben einen immerwährenden heilsamen Einfluss auf mein Leben gehabt.“ (Kant, zit. bei Jachmann, [s. Anm. 11], 143). „Nach Kants Urteil war seine Mutter eine Frau von großem natürlichem Verstande, den ihr Sohn als Erbteil von ihr erhielt, einem edlen Herzen und einer echten, durchaus nicht schwärmerischen Religiosität.“ (Wasianski, [s. Anm. 11], 222). Noch der alte Kant sagt seine Eltern rühmend, „dass meine beiden Eltern (aus dem Handwerksstande) in Rechenschaft, sittlicher Anständigkeit und Ordnung musterhaft … mir eine Erziehung gegeben haben, die von der moralischen Seite betrachtet gar nicht besser sein konnte.“ (Br, AA 13, 461) Ludwig Ernst Borowski zitiert Kant: „Nie, auch nicht ein einziges Mal hab' ich von meinen Eltern irgend etwas Unanständiges anhören dürfen, nie etwas Unwürdiges gesehen.“ (Borowski, [s. Anm. 11], 12). Von seinen „Eltern bekam K. seine früheste Bildung. Der Vater drang auf einen fleißigen und … redlich denkenden Sohn; die Mutter wollte in ihm auch einen frommen Sohn … haben. Der Vater forderte Arbeit und Ehrlichkeit, besonders Vermeidung jeder Lüge; die Mutter auch noch Heiligkeit dazu.“ (Borowski, [s. Anm. 11], 11). Weis, L., Immanuel Kant, ausgewählt und bearbeitet Hamburg 1906, 15. Vgl. Hinrichs, Carl, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiössoziale Reformbewegung, Göttingen 1971; Yamashita, Kazuya, Kant und der Pietismus. Ein Vergleich der Philosophie Kants mit der Theologie Speners, Berlin 2000. Der alte Kant „bedauerte es sehr, dass er es bis zur Zeit seines Unvermögens verschoben hatte, den verdienstvollen Franz Albert Schultz, Doktor der Theologie, Pfarrer in der Altstadt und zugleich Direktor des Kollegii Fridericiani, ein Ehrendenkmal, wie er es nannte,

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„sie ihren Sohn studieren lassen möchten, und unterstützte ihn auf eine Weise, die mit Kants und seiner Eltern Ehrgefühl bestehen konnte“ 23 . Kant war sich dieser für seinen weiteren Weg elementaren und essentiellen Förderung durch Schultz sehr bewusst. Er lobte den „edlen Charakter“ des seine Eltern oft besuchenden Schultz und erinnerte sich „mit vieler Rührung“ 24 an dessen Förderung. Franz Albert Schultz hatte in Halle Theologie, Philosophie und Mathematik studiert. Der hallesche Pietismus August Hermann Franckes und der Rationalismus Christian Wolffs prägten Schultz. Wolff sah in Schultz seinen authentischen Schüler. Er sei derjenige, der ihn am besten verstanden habe. 25 Schultz, der große Widerstände in Königsberg zu meistern hatte, wurde „eine der bedeutenden Gestalten im intellektuellen und gesellschaftlichen Leben“26 dieser ostpreußischen Metropole. Auf Rat und mit Unterstützung seines Förderers und Pfarrers und späteren Theologieprofessors Franz Albert Schultz besucht Kant von 1732 bis 1740 das Collegium Fridericianum, deren Direktor Schultz 1732 oder 1733 wurde. Diese obere Lehranstalt genoss hohes Ansehen und wurde Vorbild ähnlicher Schulen im Lande. Der erste Direktor dieser Schule wurde auf Empfehlung des berühmten Pietisten, oft als Vater des Pietismus bezeichneten, Philipp Jacob Spener (1635-1705) im Jahre 1702 der Pfarrer und Theologieprofessor Heinrich Lysius (1670-1731). Nachfolger von Lysius als Direktor des Collegium Fridericianum wurde der Pietist Georg Friedrich Rogall (1701-1733). Danach übernahm F. A. Schultz das Direktorenamt. Unter seiner Leitung wurde das pietistisch orientierte Fridericianum stark beeinflusst durch den Wolffischen Rationalismus. Bis in die siebziger Jahre blieb die Schulanstalt unter pietistischer Leitung. Kants Mutter, die 1737 starb, war in enger Verbindung zu Schultz 27 . Sie nahm auch ihre Kinder zu den Schultzeschen Betstunden mit. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war Königsberg „eine Hochburg des Pietismus“ 28 , aus religiösen und politischen Gründen begünstigt und gefördert durch den preußischen König. Zu beachten ist nach Yamashita, dass der unter dem Einfluss Speners und des Hallischen Pietismus ent_____________

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in seinen Schriften zu setzen. Dieser große Menschenkenner entdeckte zuerst Kants große und seltene Anlagen und zog das unbemerkte Genie, das ohne seinen Beitritt vielleicht verkümmert wäre, hervor. Ihm verdankt Kant, das, was er wurde und die gelehrte Welt das, was sie durch seine Ausbildung gewann.“ (Wasianski, [s. Anm. 11], 221f.). Wasianski, (s. Anm. 11), 222. Ebd. Vgl. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 99. Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 55. Borowski ([s. Anm. 11], 12) spricht von der „Anhänglichkeit von seiner (sc. Kants) Mutter an D. Schultz“. Yasmashita, Kant, (s. Anm. 21), 305.

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standene Königsberger Pietismus zunächst bei den niederen sozialen Schichten, so auch bei den Handwerkern, Eingang und Anhänger fand, ehe Schule, Kirche und Universität in Königsberg „pietistisch reformiert“ 29 wurden. Schultz ermöglichte, wie gesagt, Kant von 1732 bis 1740 den Besuch des Collegium Fridericianum. Dieses war orientiert an den von August Hermann Francke in Halle errichteten Franckischen Stiftungen. Pietistisch geprägt war also das Collegium Fridericianum in Königsberg. Dessen Zweck und Ziel war es, dass „eines Teils die Untergebenen aus ihrem geistlichen Verderben errettet, und das rechtschaffene Christentum ihren Herzen … eingepflanzt; anderen Teils aber auch ihr zeitliches Wohl befördert werden möge“; aller Unterricht der Verherrlichung Gottes diene und die Schüler „den Unterricht selbst nicht anders als vor dem Angesicht des allgegenwärtigen Gottes annehmen mögen“ 30 . Christliches Heil und weltliches Wohl wurde unter pietistischer Perspektive zusammengehalten. Im Religionsunterricht wurde hier biblische Geschichte und die Ordnung des Heils behandelt. Biblische Sprüche und Luthers Kleiner Katechismus wurden auswendig gelernt. Die Schüler hatten darüber hinaus zu erlernen, (1) „wie alles ins Gebet zu bringen“ 31 , d.i. der spiritualen Erbauung förderlich und (2) „zum christlichen Leben und Wandel anzuwenden“ sei, also der praxis pietatis diene. Die klassischen für das Theologiestudium notwendigen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein wurden intensiv gelernt. Kant übersetzte das gesamte griechische Neue Testament und große Teile des hebräischen Alten Testamentes. Einleitung in das Alte und Neue Testament stand auf dem Stundenplan. Seine hervorragenden Bibelkenntnisse und sein ausgezeichnetes Latein verdankt er dem Fridericianum, in dem hart und fleißig in pietistischer Zucht gearbeitet wurde, so dass Müßiggang nicht aufkommen konnte 32 . Der Schulunterricht diente in erster Linie der Vorbereitung auf das Theologiestudium. Das wurde auch für diejenigen Schüler als nützlich und notwendig angesehen, die nicht Theologie 33 studieren wollten, „weil sie mehrenteils auf der Akademie dergleichen gar nicht traktieren, und sich gleichwohl in ihrem ganzen Leben darauf gründen müssen“ 34 . Geographie und Geschichte wurde in 29 30 31 32

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Ebd. Zit. Yasmashita, Kant, (s. Anm 21), 94f. Yasmashita, Kant, (s. Anm. 21), 95. Das alltägliche strenge Schulregiment des Fridericianums zur Zeit Kants mit seinem um 7 Uhr beginnenden und 16 Uhr zuendegehenden Schulunterricht beschreibt anschaulich Kühn (Yamashita, Kant, [s. Anm. 21], 63 ff.). Kants Lehrer waren gut geeignet, die Schüler zum Theologiestudium zu präparieren, „denn die meisten von ihnen studierten in höheren Semestern an der Universität Königsberg Theologie“ (Kühn, Kant, [s. Anm. 13], 66). Zit. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 95.

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physikotheologischer Sicht dargeboten. 35 Auch tägliche körperliche Ertüchtigung und Ausflüge in die Natur wurden durchgeführt, letztere, um „die Geschöpfe der Allmacht und Güte Gottes zu betrachten“ 36 . Gustav Zippel berichtet, dass „Kant die theologische, die lateinische, die arithmetische, die kalligraphische, die poetische, die griechische, die geographische, die hebräische, die französische, die mathematische, die philosophische, die Geschichts-, die Altertümer- und die Gesangsklasse“37 besuchte. Besonders hat sich Kant im Fridericianum „mit der Theologie und dem Lateinischen acht Jahre hindurch beschäftigt“ 38 . Sehr gutes Latein lernt Kant in der Schule. Sein Lieblingslehrer Johann Friedrich Heydenreich ist hier zu nennen, dem er bis ins Alter dafür dankbar war, ihm nicht nur die Liebe zu den klassischen lateinischen Schriftstellern, sondern weitgehend seine allgemeinen Kenntnisse über die Antike beigebracht zu haben. Auch im Griechischunterricht erhielten die Schüler entsprechende solide Information. 39 Außerhalb der Schule las Kant darüber hinaus mit seinen Mitschülern Johannes Cunde (1726-1759, später Rektor der Stadtschule in Rastenburg) und David Ruhnken (1723-1798, später Philologieprofessor in Leyden), gelegentlich war auch Georg David Kypke (1723-1779, ab 1746 mit großen Erfolg Prof. der orientalischen Sprachen an der Königsberger Universität) dabei, klassische Autoren. In theologicis und in humanoris erhielt Kant eine vorzügliche Ausbildung in der Schule. Dagegen kritisierte Kant seinen schulischen Philosophie- und Mathematikunterricht und gibt den entsprechenden Fachlehrern Siehr, Eucholovius u.a. schlechte Noten: „Diese Herren konnten wohl keinen Funken, der in uns zum Studium der Philosophie oder Mathese lag, zur Flamme bringen“ 40 , bliesen ihn viel mehr aus und erstickten ihn – wie sein Mitschüler Johannes Cunde hinzufügt. Kant genoss bis über die Schulzeit hinaus strenge pietistische Erziehung sowohl im Elternhaus 41 als auch in den beiden schulischen Lehran35

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„Im Collegium Fridericianum lernte man nach Hallischem Modell Theologie, Latein, Griechisch, Hebräisch, Polnisch, Französisch, Deutsch, Briefschreiben, Philosophie, Poetik, Geographie, Geschichte, Arithmetik, Mathematik, Kalligraphie, Musik usw.“ (Yamashita, Kant, [s. Anm. 21], 94). Zit. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 96. Geschichte des Königlichen Friedrichs-Kollegium zu Königsberg/Pr. 1698-1898, Königsberg 1889, 110, zit. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 94. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 94. „Das Buch, das sie benutzten, war Johann Matthias Gesners 1731 erschienene Chrestomathia. Sie enthielt Auszüge aus Aristoteles, Sextus Empiricus, Herodot, Thukydides, Xenophon, Theophrast, Plutarch, Lukain und Herodian. Daneben lasen die Schüler auch etwas Homer, Pindar und Hesiod.“ (Kühn, Kant, [s. Anm. 13], 66). Borowski, (s. Anm. 11), 66. „Seine Erziehung sowohl im väterlichen Haus, als auch in der Schule war ganz pietistisch.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 109) „Kants Eltern […] waren fromme und nicht schwärmerische

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stalten. Die moralistische Ausrichtung der pietistischen praxis pietatis hat sicherlich Auswirkungen auf Kants (rigoristische) Sittenlehre. 42 Für Friedrich Paulsen ist die Morallehre Kants die Umsetzung des Kant von Elternhaus und Jugend durch pietistische praktischen Frömmigkeit vertrauten und prägenden Christentums. 43 Der sittliche Pietismus seines Elternhauses formt Kant. Kants spätere Beurteilung seiner pietistischen Jugenderziehung und des Pietismus überhaupt ist ambivalent. Einmal gibt es dort die positive Wertung Kants über die streng pietistische Zucht. Kant, so berichtet Jachmann, pflegte seine strenge pietistische Erziehung in Elternhaus und Schule „öfters von sich anzuführen und diese pietistische Erziehung als Schutzwehr für Herz und Sitten gegen lasterhafte Eindrücke aus eigener Erfahrung zu rühmen“ 44 . Andererseits berichtet sein späterer Freund Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796), dass Kant „Schrecken und Bangigkeit überfiele, wenn er an jene Jugendsklaverei“ der „sogenannte(n) Pietisten-Herberge“ 45 , also des Fridericianums sich erinnerte. Sein Schulfreund David Ruhnken spricht in einem Brief vom 10. März 1771 an Kant von der „Zucht der Fanatiker“ unter der sie jahrelang „schmachteten“, dieser „strengen, aber doch nützlichen und nicht verwerflichen Zucht“ 46 . Kant selber sprach trotz aller Kritik an Frömmelei nach Borowski nicht von solcher disciplina fanaticorum 47 . In seiner Religionsschrift kritisiert Kant eine „knechtische Gemütsart“ der Pietisten, „weil sie nie ein Zutrauen in sich selbst setzen“, sondern „in beständiger Ängstlichkeit sich nach einem übernatürlichen Beistande umsehen“ (RGV, AA 6, 184, Anm.). Diese „Selbstverachtung“, die nicht christliche Demut sei und einhergehe mit „stolze(r) Anmaßung“ 48 , lehnt Kant mit der Begründung ab, dass diese pietistische frömmelnde Denkungsart nicht „der inneren Beschaffenheit _____________ 42 43

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Pietisten […] und erzogen ihn … pietistisch. […] Seine Eltern verkörpern das pietistische tätige Christentum“ (Yamashita, Kant, [s. Anm. 21], 305). Vgl. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 98; gegen Kühn (Kant, [s. Anm. 13], 72), der das vehement verneint. Vgl. Friedrich Paulsen, Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 1920, 329; ders., Kant der Philosoph des Protestantismus, in: Kantstudien 4 (1900), 12; Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 305 Anm. 1 und 2. Jachmann, (s. Anm. 11), 109. Zit. bei Yasmashita, (s. Anm. 21), 98 und Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 63. Zit. bei Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 63. „Doch hätte Kant es sich wohl nie zugute gehalten, diese Schule, wie Rhunken in einem Briefe an jenen im Jahre 1771 tat, eine tetricam quidem, sed utilem tamen nec penitendem fanaticorum disciplinam zu benennen.“ (Borowski, [s. Anm. 11], 12 Anm. 6). „… nicht die Verachtung der Frömmigkeit ist es, was den Namen der Pietisten zum Sektennamen gemacht hat […], sondern die phantastische und bei allem Schein der Demut stolze Anmaßung, sich als übernatürlich-begünstigte Kinder des Himmels auszuzeichnen, wenngleich ihr Wandel […] vor dem der von ihnen so benannten Weltkinder(n) in der Moralität nicht den mindesten Vorzug zeigt.“ (SF, AA 7, 57 Anm.).

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des christlichen Glaubens“ entspräche. Dieser Satz darf nicht als undifferenzierte Schelte aller Pietisten durch Kant missverstanden werden. So lobt er vielmehr den „wackere(n) Spener“, der als die „ganz in der Vernunft gegründet(e)“ Aufgabe, um „Gott wohlgefällig zu werden“, von der Kirche in Abgrenzung von dem Observanzenglauben forderte: „(D)er Religionsvortrag muss zum Zweck haben, aus uns andere, nicht bloß bessere Menschen […] zu machen.“ (SF, AA 7, 54) Damit sei tatsächlich der Intention des Stifters des Christentums entsprochen, einem rechten Christentum, das „in den Herzen der Menschen wirklich angetroffen werde (welches mit der Aufgabe einerlei ist: was ist zu tun, damit der Religionsglaube zugleich bessere Menschen mache?)“ (SF, AA 7, 54). Interessantes und in gewisser Weise Charakteristisches für Kants auch positive Stellung zum Pietismus zeigt sich im Kontakt von Kant mit dem durch pietistische und erweckliche Frömmigkeit bekannten Schriftsteller Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817), dem die beiden ersten Kantschen Kritiken Glaubens- und Gottesvergewisserung geben. Kant ist ihm „ein sehr großes Werkzeug in der Hand Gottes“ und seine Philosophie werde „ein weit gesegnetere und allgemeinere Revolution bewirken als Luthers Reformation“, denn sie orientiere auf die auf „die Religion Jesu“ in ihrer „ursprünglichen Reinigkeit“ 49 . Jung-Stilling ist ein Beispiel dafür, wie sich mit Berufung auf Kant spätpietistische Frömmigkeitsformen profiliert herausbilden. Jung-Stilling bekennt Kant seinen neutestamentlich am Evangelium ausgerichteten Glauben. Kant bestärkt ihn in diesem: „Sie tun … daran sehr wohl, dass Sie die letzte Befriedigung Ihres nach einem sichern Grund der Lehre und der Hoffnung strebenden Gemüts im Evangelium suchen, diesem unvergänglichen Leitfaden wahrer Weisheit, mit welchem nicht alleine eine ihre Spekulation vollendende Vernunft zusammentrifft, sondern daher sie auch ein neues Licht in Ansehung dessen bekommt, was, wenn sie gleich ihr ganzes Feld durchmessen hat, ihr noch immer dunkel bleibt, und wovon sie doch Belehrung bedarf“ 50 . Kant gibt somit „dem pietistischen Biblizismus seinen Beifall“, meint Yamashi49

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Jung-Stilling (zit. Yamashita, Kant, [s. Anm. 21], 112) schreibt an Kant, dass er ihn von dem größten Despoten der Menschheit, dem Determinismus – der „jeden Keim zum Guten, und jedes fromme Vertrauen auf Gott“ ersticke, Religion, Sitte und Rettung der Welt destruiere – befreit habe. „Ich las … nun die Kritik der reinen, und dann auch der praktischen Vernunft […] und finde nun apodiktische Wahrheit und Gewißheit allenthalben. Gott segne Sie! – Sie sind ein großes Werkzeug in der Hand Gottes, ich schmeichle nicht. Ihre Philosophie wird eine weit größere gesegnetere und allgemeinere Revolution bewirken als Luthers Reformation. Denn so bald man ihre Kritik der Vernunft wohl gefaßt hat, so sieht man, dass keine Widerlegung möglich ist; folglich muss Ihre Philosophie ewig und unveränderlich sein, und ihre wohltätigen Wirkungen werden die Religion Jesu auf ihre ursprüngliche Reinigkeit, wo sie bloß Heiligkeit hat, führen“. Zit. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 113.

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ta 51 konstatieren zu können. Auch ist er der Meinung, Kant bekämpfe nur einen erstarrten Pietismus. Kant schätze essentielle Elemente des (insbesondere Spenerischen) Pietismus, dessen praxis christiana, Biblizismus und Wiedergeburtsoption 52 , d. i. innere und äußere Profilbildung durch das Evangelium. „Kant gehört eindeutig zu den pietistisch erzogenen Personen“ 53 im pietistisch profilierten Königsberg des 18. Jahrhunderts. Durch diese pietistische auf nüchterne praxis pietatis ausgerichtete Erziehung wird er nachhaltig geformt. 54 Kazuya Yamashita, der sich kürzlich intensiv mit dem Verhältnis Kant und Pietismus beschäftigt hat, konstatiert, dass Kants gesamte Philosophie in ihren erkenntnistheoretischen, ethischen, teleologischen und ästhetisch Dimensionen „seine pietistische Religiosität als Hintergrund“ 55 hat. Pietistischer nüchterner Protestantismus und rationalistische Schulphilosophie, die die von Kant besuchten Erziehungsanstalten, besonders auch das Collegium Fridericianum und weitgehend die Königsberger Universität prägten, haben nachhaltige Auswirkungen auf sein gesamtes philosophisches Denken mit seiner schlussendlichen „Versöhnung“ von Empirie und Rationalismus. Am 24. September 1740 wurde Kant an der Königsberger Universität, der Albertina, immatrikuliert 56 . Er hatte zuvor das testimonium initiationis, also das Zeugnis zum Zugang zur Universität, erhalten, nachdem er sich beim Dekan der Philosophischen Fakultät, dem Theologen und Mathematiker Christoph Langhansen (1691-1770), einer Zulassungsprüfung 57 un51 52 53 54

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Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 113. Vgl. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 113. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 305. „Wir kommen zum Resultat: Man muss die These fallen lassen, dass sich Kants Religiosität in eine ganz andere Richtung als die der pietistischen Erziehung, welche er genoss, entwickelt hat.“ (Yamashita, Kant, [s. Anm. 21], 113). Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 313. Yamashita kommt zu dieser conclusio, indem er besonders Spener und Kant vergleicht. Er vergisst zwar nicht den franckischen und wolffischen Einfluss auf den Kant prägenden Pietismus zu erwähnen, aber diesem müsste quellenhistorisch und genetisch profilierter nachgegangen werden, als es in der Untersuchung Yamashitas auf Grund ihrer spezifischen Fragestellung möglich war. Vgl. Dietzsch, Kant, (s. Anm. 15), 312 Anm. 30: „Immatrikulationseintrag vom 24. September 1740: Immanuel Kandt, in: APO, 1646, Nr. 410, Acta Facultaet Philos. 1732-1751, fol. 394.“ In der (nach Kühn) von Schultz formulierten Anforderungen der Zugangsprüfung wurde gefordert: „Insbesondere muss niemand ex prima Classe ad Academica dimittiret werden, der nicht einen etwas schweren Auctorem als Curtium und Orationes Ciceronis Selectas ziemlich geläufig expliciren und eine kleine Oration absque vitiis grammaticis machen, auch, was Lateinisch geredet wird, notdürftig verstehen könne, dabey aus der Logic das vornehmste aus der Doctrina Syllogistica und das allernothwendigeste aus der Geographie, Historie und Epistolographie inne habe, imgleichen der nicht wenigstens 2 Evangelisten im Griechischen, als Matthäum und Johannem, und die 30 Capitel des 1. Buchs Mosis im Hebräischen fertig exponiren und beydes ziemlich analysiren könne“. (zit. Kühn, Kant, [s.

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terzogen hatte. Das Collegium Fridericianum hat Kant „ausgezeichnet dafür qualifiziert, ein Studium in Theologie, Jura, Philosophie oder klassischer Philologie“ 58 , weniger, obwohl das generell auch möglich gewesen wäre, in Medizin oder Naturwissenschaften aufzunehmen, da hier durch die Lehranstalt weniger gut präpariert worden war. Dass Kant primär Philosophie studieren würde, war für die, die ihn kannten, nach Aussagen seines Schulfreundes Kypke überraschend und nicht vorhersehbar. 59 Sein Mitschüler Ruhnken konnte es nicht verstehen – und er hat darüber geklagt und geseufzt –, dass Kant „aus den blühenden Gefilden der humanistischen Studien sich in die dürren Steppen der Philosophie geworfen und in Ansehung jener den Apostaten gemacht habe“ 60 . Die Wahl dieser unerwarteten Studienrichtung durch Kant verdankt sich nach Borowski der vortrefflichen philosophischen, „physischen" und mathematischen Kant begeisternden und sein Genie fördernden Vorlesungen insbesondere zwei akademischer Königsberger Universitätslehrer, nämlich Martin Knutzens und Johann Gottfried Teskes. 61 Ob Kant sich für das Studium der Theologie 62 einschrieb, ist strittig. Dafür sprechen die entsprechende Annahme Borowskiss und die obrigkeitliche Erwartung, dass jeder Student, sich für eine der drei oberen Fakultäten (Theologie, Jura, Medizin) zu entscheiden hatte. Andererseits wurde das nicht konsequent zumindest bis 1771 abgefragt. Kants Mitgliedschaft in einer der oberen Fakultäten ist nicht dokumentiert. Sehr wahrscheinlich ließ sich Kant m. E. als stud. theol. einschreiben. Dass er als solcher Philosophie hörte, war unumgänglich gefordert, da Voraussetzung für das Studium der Theologie (wie der beiden anderen oberen Fakultäten). Kant studierte vor allem Philosophie, Physik, Mathematik, Astronomie, Theologie. Der Philosoph Martin Knutzen, der Physiker Johann Gottfried Teske und der Theologe Friedrich Albert Schultz waren Kants bevorzugte akademischen Lehrer. „Aber sein Knutzen galt ihm doch vor allen Lehrern am meisten. Dieser zeichnete ihm und mehreren die Bahn vor, auf der sie nicht Nachbeter, sondern dereinst Selbstdenker werden könnten.“ 63 Kant gehörte wie Johann Georg Hamann 64 der von Knutzen _____________ 58 59

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Anm. 13], 82) Durch den Unterricht am Collegium Fridericianum war Kant exzellent für diese Eingangsprüfung zur Universität präpariert. Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 71. Nach Kypke hat man „in der Schule nicht die mindeste Ahnung gehabt …, auch wohl nicht hätte haben können“, dass Kant „sich je ins philosophische Fach werfen würde“. (Borowski, [s. Anm. 11], 66f.). Borowski, (s. Anm. 11), 67. Borowski, (s. Anm. 11), 67. Vgl. zum Folgenden Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 516f. Anm. 10. Borowski, (s. Anm. 11), 14.

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gegründeten Physikotheologischen Gesellschaft 65 an. Martin Knutzen (17131751) stammte aus Königsberg und hatte an der Albertina Philosophie und Mathematik bei Johann Adam Gregorovius (1681-1749), Johann David Kypke (1692-1758) und Christian Friedrich Ammon (1696-1742), Physik bei Johann Gottfried Teske (1704-1772), Theologie bei Abraham Wolff (1638-1731) und Franz Albert Schultz (1692-1763) studiert. Auch Knutzen war Pietist, aber kein radikalpietistischer Schwärmer. Er lernte zunächst bei Ammon und danach vor allem bei Schultz den Pietismus kennen. Sein Pietismus war also von Spener und Francke geprägt. Auch den Wolffianismus Schultzens lernte er kennen. Jedoch kann Knutzen allenfalls, wenn überhaupt, als ein kritischer Wolffianer bezeichnet werden. Einfluss auf sein Denken hatte auch John Locke und seine Schule. In seiner Inauguraldissertation von 1733 De commercio mentis cum corpore kritisierte Knutzen sowohl Leibnizens Theorie der prästabilierten Harmonie wie auch die der Occasionalisten. Schon 1734, also mit 21 Jahren, wurde Knutzen außerordentlicher Professor der Logik und Metaphysik. 1740 erscheint sein philosophisches und theologisches Hauptwerk Philosophischer Beweis von der Wahrheit der christlichen Religion, darinnen die Notwendigkeit einer geoffenbarten Religion insgemein, und die Wahrheit und Gewissheit der Christlichen insbesondere, aus ungezweifelten Gründen der Vernunft nach Mathematischer LehrArt dargetan und behauptet wird. Knutzen bekämpft die Deisten, beweist die Notwendigkeit und Wahrheit christlicher Dogmen, so die der Trinität. Dem pietistischen Charakter seines Christentums begegnet man fundamental in seinen Schriften, oft in apologetischer Intention. In seiner Magisterdissertation Dissertatio metaphysica de aeternitate mundi impossibili (1733) widerlegt er in streng wolffianisch syllogistischer Form die Ewigkeit der Welt zugunsten christlicher Schöpfungslehre, in seiner Schrift Commentario philosophica de humanae mentis individua natura sive immaterialite von 1741 den Materialismus zugunsten der Freiheit und Unsterblichkeit der Seele in der Religion. 66 Knutzen war ein außerordentlich vielseitig interessierter und ausgewiesener Lehrer, auch in Fächern, die nicht zu seinem Fächerspektrum Logik und Metaphysik gehörten, so in Mathematik, Astronomie, Psychologie, Naturrecht, Rhetorik, Algebra etc. Kant war begeistert von Knutzen und besuchte viele seiner Lehrveranstaltungen, denn Knutzens _____________ 64

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Auch Hamann beruft sich mit Stolz auf Knutzen als seinen Lehrer: „Ich bin ein Schüler des berühmten Knutzen in allen Teilen seiner Philosophie, der Mathematik und Privatvorlesungen über die Algebra gewesen, wie auch ein Mitglied einer physiko-theologischen Gesellschaft, die unter ihm aufgerichtet wurde aber nicht zu Stande kam.“ (zit. Kühn, Kant, [s. Anm. 13], 99). „Kants 1755 anonym veröffentlichte Schrift Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels gehört in diesen geistigen Kontext.“ (Dietzsch, Kant, [s. Anm. 15], 52). Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 105.

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wie auch Teskes Vorlesungen waren „wirklich vortrefflich“ 67 . Kant war wie viele von Knutzens Buch 68 über den von ihm vorhergesagten 1744 erschienenen Kometen beeindruckt und animiert zu seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1749. Das „Andenken seines früheren Lehrers Heydenreich und dann der Universitätslehrer Knutzen und Teske“ war Kant „immer sehr heilig“ 69 . Johann Godfried Teske (1704-1772), von 1729 Professor für Naturlehre (Physik) an der Philosophischen Fakultät, imponierte und beeinflusste den Studenten Kant. Auch er war Pietist. Borowski berichtet, dass Kant die Vorlesungen des „gelehrten und überaus wackeren Mannes“ 70 des Professors der Physik und Konsistorialrates Teske mit Gewinn hörte. Wichtige Erkenntnisse der Physik einschließlich der Experimentalphysik erfährt Kant durch Teske. Teskes Untersuchungen über Elektrizität und Feuer präfigurieren zumindest die Themenstellung seiner Magisterdissertation De igne von 1755, von der Teske seinerseits behauptete, viel gelernt zu haben 71 . Johann Godfried Teske und dessen Lob für Kants Magisterdissertation, das für den Kant der fünfziger Jahre große Bedeutung hatte, ist in der bisherigen Kantforschung wenig beachtet worden. 72 „Den hiesigen Theologen Dr. Schultz ehrte er (Kant) lebenslang auf eine ausgezeichnete Art.“ 73 Seinem Entdecker und Förderer begegnet Kant nun auch als Student. Als Kant von Schultz gefragt wurde, warum er denn Theologie höre, antwortete er: „Aus Wissbegierde!“ 74 . Schultz ist profilierter Wolffianer. Hippel, der als Student Lehrveranstaltungen von Schultz besuchte, sagt: „Die Theologie hörte ich bei einem Philosophen, dem größten Wolffianer, den Wolff erzeugt hat, wenigstens soll Baron Wolff immer gesagt haben: Hat mich je jemand verstanden so ist’s Schultz in Königsberg.“ 75 Schultz „lehrte mich (Hippel) die Theologie […], indem er in dieselbe soviel Philosophie brachte, dass man glauben musste, Christus und seine Apostel hätten in Halle unter Wolff studiert“ 76 . Wolff schlug 1724 Schultz zum Philosophieprofessor an der Universität Frank67 68

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Borowski, (s. Anm. 11), 67. Vernünftige Gedanken von den Kometen: darinnen deren Natur und Beschaffenheit nebst der Art und den Ursachen ihrer Bewegung untersuchet und vorgestellet und auch zugleich eine kurze Beschreibung von den merkwürdigen Kometen des laufenden Jahres mitgeteilet wird, 1744. Borowski, (s. Anm. 11), 62f. Borowski, (s. Anm. 11), 13. Vgl. Borowski, (s. Anm. 11), 13. Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 99. Kühn (ebd.) irrt, wenn er schreibt, dass man Teske „als Kants Doktorvater ansehen muss“. Borowski, (s. Anm. 11), 62. Zit. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 101. Zit. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 99. Zit. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 102.

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furt/Oder vor. Schultz lehnt diese Stelle ebenso ab, wie die eines Adjunkten an der Theologischen Fakultät der Universität Halle. Schultz war rationalistischer Wolffianer und Pietist. Um die (pietistische) praxis pietatis ist es ihm zu tun. Deswegen wird er zunächst Feldprediger, wo er mit großem, auch pädagogischem Erfolg zur pietistischen Erbauung der Soldaten beiträgt. Kant hört bei Schultz intensiv dessen theologische dogmatische Vorlesungen in den Jahren 1742 und 1743. 77 Sein Kommilitone und Freund Christoph Friedrich Heilsberg (1726-1806) schreibt: „Wir, Wlömer, Kant und ich entschlossen (sc. uns), […] die öffentlichen Lese-Stunden des noch in bestem Andenken stehenden Konsistorialrates Dr. Schultz […] zu besuchen. […] wir versäumten keine Stunde, schrieben fleißig nach, wiederholten die Vorträge zu Hause und bestanden beim Examen.“ 78 Die von Kant gehörten dogmatischen Schultzschen Vorlesungen sind dem Inhalte nach in Schultzens Schrift Theologia Thetica-Antithetica (1741-44) enthalten. Das rationalistische und pietistische Element wird bei Schultz in seiner Dogmatik so aufeinander bezogen, dass sie nicht im Widerspruch zu einander gesehen werden. Die göttliche Wahrheit transzendiert die ratio. Das bedeutet aber nicht deren Marginalisierung. Ratio und revelatio, deren Originalitäten gelten, bezeugen dem Mensch auf je ihre Weise das Wesen Gottes. Das der Vernunft Erkennbare und auch die dieser unerkennbare christliche Offenbarungswahrheit werden produktiv einander zugeordnet. Entscheidend jedoch ist die praxis christiana, in der die lex moralis und die lex aeterna et divina korreliert werden: „Per legem moralem constans et aeterna dei de nostris liberis actionibus voluntas intelligitur“ 79 . Vernunft und ius naturae lehren moralisch-sittlich das, was der lex divina moralisch entspricht. 80 Nach Auseinandersetzungen mit den Orthodoxen verschaffte sich mit königlicher Unterstützung im 18. Jahrhundert der Pietismus hallischer Prägung Raum in Königsberg, so dass man mit Johannes Wallmann 81 Königsberg als Filiale Halles und einen zweiten pietistischen Schwerpunkt bezeichnen kann. Heinrich Lysius (1670-1731), ein Schüler Speners und Franckes, wurde auf deren Empfehlung vom preußischen König 1702 zum ersten Direktor des Fridericianums ernannt, 1709 zum Ordinarius an der Theologischen Fakultät. Die Pfarrer der Königsberger Hauptkirchen und (oft in Personalunion) die meisten theologischen Lehrer der Universi77 78 79 80 81

Vgl. Borowski, (s. Anm. 11), 70. Zit. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 101. Zit. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 102. „Ratio et ius naturae eadem quidem in genere praecipiunt, quae lex divina scripta moralis“ (zit. Yamashita, Kant, [s. Anm. 21], 102). Zit. Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 85.

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tät waren ab 1730 Pietisten: Abraham Wolf (1689-1731), Georg Friedrich Rogall (1700-1733), Johann Heinrich Lysius (1704-1745), Franz Albert Schultz (1692-1763), Johann David Kypke (1692-1758), Daniel Salthenius (1701-1750), Daniel Heinrich Arnoldt (1706-1775), Joachim Justus Rau (1713-1745). 82 Neben diesen theologischen Lehrern, die oft zugleich andere Fächer unterrichten oder auch wie Georg Friedrich Rogall zugleich Ordinariat für Philosophie und Extraordinariat für Theologie innehatten, waren auch Professoren nichttheologischer Fakultäten (wie z. B. Kants verehrter Lehrer Knutzen) Pietisten, die bei ihren Studierenden und in ihren Publikationen auf pietistische sittliche praxis pietatis aus waren. Allerdings enthielt dieser Königsberger Pietismus „eine erhebliche Dosis Wolff“ 83 , war also auch rationalistisch dimensioniert. Kant wuchs so in einem pietistisch-rationalistischem Königsberger Klima auf, das ihn nachhaltig sowohl affirmativ als auch kritisch-negativ prägte. Für die Genese der Kantschen Philosophie ist dieser pietisch-rationalistischer Hintergrund von kaum zu überschätzender Bedeutung. 84 Hier wartet auf die Kantforschung trotz der von uns mehrfach herangezogenen neueren Dissertation von Kazuya Yamashita noch viel Arbeit, sowohl genetisch hinsichtlich theologie- und philosophiegeschichtlicher Verortungen, als auch systematisch-philosophisch hinsichtlich der pietisch-rationalistischen vestigia in Kants Gesamtwerk. 1746 verlässt Kant nach dem Tode seines Vaters (wahrscheinlich ohne Examen) die Universität, jedoch mit der festen Absicht zurückzukehren und die akademische Laufbahn einzuschlagen. 1746 verfasst er seine Erstlingsschrift Gedanken von der wahren Schätzung der lebendige Kräfte und Beurteilung der Beweise, deren sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen. Wenig Eindruck macht Kant mit dieser nicht von mangelndem Selbstbewusstsein zeugenden Schrift, denn er greift hier „noch zu hoch“ 85 . Er ist davon überzeugt, „ein gewisses edles Vertrauen in seine eigene Kräfte zu setzen.“ 86 Sein eigenes Denken, das er auch künftig verfolgen will, hat er vor Augen: „Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern ihn fortzusetzen.“ 87 Bis 1754 ist Kant Hausleh82 83 84

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Yamashita, Kant, (s. Anm. 21), 85. Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 106. Der Neukantianer H. Cohen hat Recht, wenn er von der Kantschen Ethik sagt, dass sie „im inningsten Geiste verwandt (ist) mit der neuen Religiosität der Reformation, wie auch (der) des Pietismus“ (Cohen, Hermann, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden 31995, 281). Höffe, Kant, (s. Anm. 3), 24. WS, AA 1, 10. Ebd.

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rer 88 bzw. Hofmeister, zunächst bei dem reformierten Pastor Daniel Andersch in dem bei Insterburg liegenden Ort Judtschen, danach von 1751 bis 1753 auf dem Gut Arendsdorf bei Mohrungen bei der Familie des Majors Bernhard Friedrich von Hülsen. Bis 1755 ist er wohl (der Aufenthalt ist strittig) beim Grafen Johann Gebhard Keyserling auf Schloss Rautenburg in der Tilsiter Niederung. Die Frau des Grafen, die der Königlichen Akademie der Künste angehörende sehr gebildete Reichsgräfin Karoline Charlotte Amalie Keyserling geb. Truchseß zu Waldburg, machte auf Schloss Rautenburg und auf Schloss Capustigal (in der Nähe von Königsberg) Kant „mit der feineren Lebensart“ 89 bekannt. Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels erscheint im März 1755. In ihr vertritt er eine Theorie der Entstehung der Planeten und des ganzen Kosmos, die astronomische Wissenschaftsgeschichte als Kant-Laplacesche-Theorie machen sollte. Im gleichen Jahr promoviert er, wie erwähnt, zum Magister mit einer Arbeit über das Feuer. Ebenfalls 1755 habilitiert sich Kant mit der Untersuchung Principorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (Neue Erhellung erster Grundsätze der metaphysischen Erkenntnis). Er erhält die venia legendi und wird magister legens. Da es gemäß der königlichen Verfügung Friedrich II. von 1749 notwendig war, um professorabel zu sein, sich drei öffentlichen Disputationen auf Grund entsprechender Abhandlungen gestellt zu haben, verteidigte Kant am 10.4.1756 seine Schrift über Physische Monadologie: Metaphysicae cum geometria iunctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. continet monadologiam physicam. 90 Somit hatte nun Kant alles geleistet, was notwendig war, um die via academica einzuschlagen. Als magister legens, vergleichbar dem heutigen Privatdozenten, erhält Kant kein öffentliches staatliches Gehalt, sondern lebt von den Vorlesungsgebühren und der Studentenbetreuung. Von 1755 bis 1770 ist Kant Privatdozent. Auch finanziell bedingt liest Kant 16, manchmal über 20 Stunden in der Woche, dazu kamen Privatissima. Mit seiner im Herbst 1755 beginnenden Vorlesungstätigkeit – die er als anstrengende mühevolle Arbeit ansah und die mit weitgehendem „publizistischen Schweigen“ 91 in den ersten Jahren seiner Lehrtätigkeit (1757-61) einhergeht – beschreitet Kant ein weites Feld. Er hält Vorlesungen über Mathematik, Physik, Lo88 89 90

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Das ist eine damals durchaus übliche Tätigkeit des Broterwerbs für mittellose Gelehrte. Schultz, Uwe, Immanuel Kant, Hamburg 22004, 17. Gemäß der königlichen Verfügung von 1749 muss „jeder, der in Königsberg öffentliche Vorlesung halten will“, 1. bei einer Magister- oder Doktorpromotion „Disputationen halten oder als Praeses disputiert haben“. 2. Jeder Extraordinarius hat „als er noch Doctor vel Magister war, wenigstens drei Disputationes als Praeses“ zu halten. 3. Jeder künftige Ordinarius muss „als Extraordinarius dreimal bei Disputationen“ präsidieren. (Dietzsch, Kant, [s. Anm. 15], 60). Höffe, Kant, (s. Anm. 3), 26.

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gik, Metaphysik, Moralphilosophie bzw. Ethik, Geographie, Naturrecht, Enzyklopädie der Philosophie, Geschichte der Philosophie, Anthropologie, Pädagogik, natürliche Theologie, Mineralogie, ja sogar über Fortifikation (Befestigungskunst). 92 „(A)m liebsten las“ Kant über rationale Theologie und freute sich, „wenn viele Theologen seine Zuhörer waren“ 93 . Kants Vorlesungsstunden fielen nicht aus und waren auch zeitlich durch Akkuratesse gekennzeichnet. Seine „Pünktlichkeit und Lehrertreue“94 beeindruckten und wirkten nachhaltig, so dass er nicht wenigen auch darin zum Vorbild wurde. Seine Lehrvorträge hielt Kant „ganz frei“ und oft benutzte er nicht einmal ein besonderes Heft, manchmal lediglich „ein ganz kleines Blättchen“ 95 , hatte sich vielmehr Randnotizen in den von ihm als Leitfaden dienenden Lehrbüchern gemacht. Wie damals üblich trägt Kant auf Grund von Kompendien vor: Die Logik las er nach dem Auszug aus der Vernunftlehre (1752) des Baumgartenschülers und Nachfolgers von Wolff in Halle Georg Friedrich Meier (1718-1777), die Metaphysik 96 zuerst nach Friedrich Christian Baumeisters (1709-1785) 97 Institutiones metaphysicae (1736), dann auf Grundlage der Metaphysica (1739) des Wolffianers Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762). In der „Physik legte er den Erxleben zu(m) Grunde“ 98 , den naturwissenschaftlichen Vorlesungen die Ersten Gründe der Naturlehre (1753) Johann Peter Eberhards (17271779). In der Ethik benutzte er die Ethica philosophica (1740) Baumgartens, in der Mathematik die Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften (1710) bzw. den Auszug aus den Anfangsgründen aller mathematischen Wissenschaften (1713) des bekannten Rationalisten Christian Wolff (1679-1754), im Naturrecht das Jus naturale (1755/6) des Göttinger Juristen Gottfried Achenwall (1719-1772), in der Enzyklopädie den Grundriss der philosophi92

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„Als Privatdozent und in den ersten Jahren seines ordentlichen Lehramts hat Kant mehrere Stunden des Tages Vorlesungen gehalten und auch für Standespersonen, z.B. für den Herzog von Holsten-Beck u.a.m. Privatissima gelesen. In der Folge las er täglich nur zwei Stunden, und zwar außer den öffentlichen Vorlesungen über Logik, Metaphysik und, wenn die Reihe in der philosophischen Fakultät an ihn kam, über Pädagogik, las er noch Privatkollegia über Physik, Naturrecht, Moral, rationale Theologie, Anthropologie und physische Geographie. In den letzten Jahren beschränkte er sich bloß auf seine öffentlichen Vorlesungen und auf die Anthropologie und physische Geographie. Zu diesem Unterricht wählte er viermal in der Woche die Frühstunden von sieben bis neun und zweimal wöchentlich von acht bis zehn, weil er Sonnabends von sieben bis acht das Repititorium hielt.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 116). Jachmann, (s. Anm. 11), 118. Borowski, (s. Anm. 11), 77. Jachmann, (s. Anm. 11), 116. „Er nahm sich einmal vor: Schulzens Erläuterungen über seine Kritik der reinen Vernunft für die Metaphysik zum Lehrbuche zu wählen, aber er führte seinen Vorsatz nicht aus.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 117). Vgl. Borowski, (s. Anm. 11), 15. Jachmann, (s. Anm. 11), 117.

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schen Wissenschaften Johann Georg Heinrich Feders (1740-1821). Jedoch verwandte Kant die seinen Vorlesungen zugrunde liegenden Bücher ledig dazu, „ihrer Haupteinteilung“ zu folgen und gelegentlich „das Unstatthafte ihrer Behauptungen“ 99 zu demonstrieren. Zunächst (1755/56) ging es dem Privatdozenten Kant finanziell nicht nur nicht gut, sondern er war tatsächlich arm: Das Vorlesungssaläre war „sehr klein“ und Kant „musste sich oft so sparsam behelfen, dass er über seinen Lebensunterhalt nicht selten in Verlegenheit geriet.“ 100 Er hatte „als Magister nur ein sehr kärgliches Auskommen“ 101 . So sah er sich genötigt, um „seine dringendsten Bedürfnisse“102 befriedigen zu können, Bücher seiner Bibliothek zu verkaufen. Bald änderte sich jedoch Kants materielle Situation zum Besseren, da seine Vorlesungen gut besucht wurden und seine Einnahmen sich so gestalteten, dass er als einer mit Wenigem Zufriedene (vielleicht besser: als ein sich auf die jeweilige konkrete Situation gut einstellender Mensch) „ganz anständig“, wenn auch ohne Überfluss und der „äußerst drückenden Armut“ 103 nicht mehr ausgesetzt, leben und wohnen konnte. So war er in der Lage, sich seit 1762 einen Diener zu leisten. Das war von 1762 bis 1802 der aus Würzburg stammende im preußischen Dienste gewesene und verabschiedete Soldat Martin Lampe (1734-1806), ein nicht nur einfacher Zeitgenosse, mit dem Kant ständig Probleme hatte, aber an den er sich anderseits so gewöhnt hatte, dass er hoffte, ihm im Jenseits wieder zu begegnen. 104 Kant schätze Lampe, der anfänglich sich durch gute Führung auszeichnete, und war ihm gegenüber „sehr wohltätig“ und liberal, jedoch „missbrauchte“ dieser zunehmend die „Liberalität“ und „Güte seines Herrn auf eine unedle Art, drang ihm Zulagen ab, kam zur unrechten Zeit nach Hause, zankte sich mit der Aufwärterin, und wurde überhaupt mit jedem Tage unbrauchbarer zur Bedienung

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Jachmann, (s. Anm. 11), 116f. Jachmann, (s. Anm. 11), 111. Jachmann, (s. Anm. 11), 174. Jachmann, (s. Anm. 11), 111. Borowski, (s. Anm. 11), 15. „Dass Kant mit dem eiteln Spiel des irdischen Lebens nicht so zufrieden war, dass er seine Rolle noch einmal zu spielen wünschte, sich nach einem Himmel sehnte, dessen Bewohner sich nicht wie hier das Leben einander verleiden, sondern durch Rechtschaffenheit beglücken, lässt sich aus seiner Versicherung schließen, die er einstmals in einer Gesellschaft äußerte, dass er es für kein übles Zeichen seines künftigen Wohnorts ansehen würde, wenn ihm sein damaliger treuer Diener Lampe und andere ihm ähnliche ehrliche Menschen entgegenkämen. Nach einer künftigen Gemeinschaft mit großen Geistern strebte der Mann mit großem Geiste nicht, sondern nach einer Gemeinschaft mit Edlen und Rechtschaffenen. […] Kant suchte seine künftige Seligkeit nicht in der wechselseitigen Mitteilung höherer Weisheit, sondern in dem Umgange mit reinen, tugendhaften Seelen.“ (Jachmann, (s. Anm. 11), 152).

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seines Herrn“ 105 , auch bedingt durch seinen zunehmenden Alkoholismus. Wegen „Lampes Brutalität gegen Kant“ beschloss dieser „Lampen zu entlassen“ 106 mit Gewährung „einer jährlichen Pension“ 107 unter der gerichtlich verbindlichen Bedingung, dass Kant in Zukunft von Lampe in Ruhe gelassen werde. Nachfolger Lampes wurde Johann Kaufmann, der Kant treu und gewissenhaft diente. Er machte den Philosophen frei von der „durch manche ärgerliche Vorfälle“ Lampes induzierten Unruhe, ließ ihn vielmehr „seine Tage ruhig verleben“ 108 . Kant schätzte seinen neuen Diener: „Er ist ein vernünftiger und kluger Mensch.“ 109 Ein anerkannter, geachteter und profilierte Universitätslehrer war Kant. „Er wurde von seinen Zuhörern fast vergöttert“ 110 . Bis 1796 hielt er Vorlesungen. Diese wurden beachtet und berühmt. Herder, der von 1762 bis 1764 unter Kants Katheder saß – und zwischen dem und Kant es später wegen Kants harter Kritik an Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zu Verstimmungen kam, – schreibt in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität: „Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen kennen zu lernen, der mein Lehrer war. Er in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglings, die, wie ich glaube, ihn auch in sein gereiftes Alter begleitet. Seine offene zum Denken gebaute Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude. Die gedankenreichste Rede floss von seinen Lippen, Scherz, Witz und Laune standen ihm zu Gebote, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang. Mit eben dem Geiste, mit dem er Leibniz, Wolff, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Keplers, Newtons und der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erschienenen Schriften Rousseaus, sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf den moralischen Wert des Menschen. Menschen-, Völker-, Naturgeschichte, Naturlehre und Erfahrung waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag schöpfte und seinen Umgang belebte: Nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig. […] Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken. Despotismus war seinem Gemüte fern. Dieser Mann, den ich mit größter Hochachtung und Dankbarkeit nenne, ist I. Kant“ 111 . – Dem allzu eifrigen Mitschreiben 105 106

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Wasianski, (s. Anm. 11), 227. Wasianski, (s. Anm. 11), 227. Auch bei der Entlassung von Lampe zeigte sich Kant großmütig und liberal. So schrieb er in den von Lampe geforderten Dienstschein, in dem auch das Verhalten Lampes zu beurteilen war: „(E)r hat sich treu, aber für mich nicht mehr passend verhalten.“ (Wasianski, [s. Anm. 11], 231). Wasianski, (s. Anm. 11), 230. Wasianski, (s. Anm. 11), 231. Wasianski, (s. Anm. 11), 233. Jachmann, (s. Anm. 11), 119. Zit. nach: Weis, Kant, (s. Anm. 21), 17f.

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in seinen Vorlesungen war Kant abhold, besonders störte ihn, wenn dabei das Nebensächliche notiert und die Hauptsache nicht festgehalten wurde. Oft sagte Kant seinen Zuhörern: „Sie werden […] bei mir nicht Philosophie lernen, aber philosophieren; nicht Gedanken bloß zum Nachsprechen, sondern denken.“ 112 Kant war, so Borowski, „aller Nachbeterei … herzlich gram“ 113 . Gut präpariert, „immer dem Gegenstande vollkommen angemessen“ 114 , innovativ geistvoll gestaltet, mit der Absicht, sich nicht in der Memorierung vergangenen Wissens zu erschöpfen, war sein durch „freie(r)n Diskurs, mit Witz und Laune gewürzt(er)“ 115 Vortrag. Stets hatte er den Zuhörer im Auge 116 . Gut besucht waren die Vorlesungen des weithin verehrten und immer mehr berühmt werdenden Königsberger Philosophen Immanuel Kant: „Vierzig Jahre und darüber war er ein … verehrter Lehrer […], dessen Hörsaal man nie leer sah. Viele kamen freilich nur, um sagen zu können, dass sie bei ihm gehört hätten.“ 117 Auch, vornehmlich in den späteren Jahren, besuchten Offiziere, Kaufleute und andere Bürgerliche seine Vorlesungen zur Berichtigung und Erweiterung ihrer Kenntnisse und damit ihres Gesichtsfeldes. 118 Im April 1756 bewirbt sich Kant vergeblich auf die seit dem Tod Kuntzens (1751) nicht mehr besetzte außerordentliche Professur für Logik und Metaphysik. 1758, zu Beginn der bis 1762 andauernden russischen Besetzung Königsbergs, wird die ordentliche Professur für Logik und Metaphysik durch den Tod des Stelleninhabers Johann David Kypke (1692-1758), in dessen Haus Kant zu Anfang seiner Lehrtätigkeit wohnte, frei. Obwohl er durch seinen Förderer Franz Albert Schultz, der gerade Rektor der Albertina war, protegiert wurde 119 , erhielt nicht Kant, sondern 112 113 114 115 116

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Zit. Borowski, (s. Anm. 11), 76. Borowski, (s. Anm. 11), 76. Jachmann, (s. Anm. 11), 117. Borowski, (s. Anm. 11), 76. „Kant saß etwas erhaben vor einem niedrigen Pulte, über welches er fortsehen konnte. Er fasste bei seinem Vortrage gewöhnlich einen nahe vor ihm sitzenden Zuhörer ins Auge und las gleichsam aus dessen Gesicht, ob er verstanden wäre. Dann konnte ihn aber auch die geringste Kleinigkeit (sc. z. B. der fehlende „Knopf am Rocke“ eines Hörers) stören, besonders wenn dadurch eine natürliche oder angenommene Ordnung unterbrochen wurde, die dann gleichfalls die Ordnung seiner Ideen unterbrach.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 119). Borowski, (s. Anm. 11), 77. Vgl. Borowski, (s. Anm. 11), 77. Schultz, der Kants philosophische Entwicklung im Auge hatte, „ließ K(ant) zu sich rufen, fragte ihn beim Eintritt ins Zimmer sehr feierlich: ‚Fürchten Sie auch Gott von Herzen?’ – wodurch er dieses Mal wohl besonders nur ein Bekenntnis, dass er ehrlich und in Ansehung des ihm zu tuenden Vorschlages – gegen alle verschwiegen sein wolle (Anm. 10: „In dieser Art exegesierte K. mehrere Male … die Anfrage des D. Schultz, auf welchen er überhaupt mit besonderem Behagen das Gespräch zu lenken pflegte.“), abforderte. Hierauf legte er es ihm als Pflicht auf, sich um diese Professur, bei der der Kandidaten mehrere wa-

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Friedrich Johann Buck (1722-1786) das Ordinariat. 1764 wurde Kant die ordentliche Professur für Dichtkunst, die Johann Georg Bock (1698-1762) innegehabt hatte, angeboten, aber Kant lehnte mit der Begründung ab, dass „er sich hier nicht in seinem rechten Fache befinden dürfte“ 120 . Dagegen übernahm er die ihm angebotene Stelle eines Unterbibliothekars, die ihm ein fixes, wenn auch mäßiges Gehalt von 62 Talern pro anno (und Brennholzlieferung) einbrachte und damit Erleichterung seiner „sehr misslichen Subsistenz“ (Br, AA 10, 49). Kant hatte geisttötende Katalogsund Bücherordnungsarbeiten in dunklen, im Winter ungeheizten Räumen der Schlossbibliothek zu leisten und ebendort noch sechs Stunden Besucheraufsicht in der Woche hinter sich zu bringen. 121 Ende der sechziger Jahre hatte er auch die von Saturgus erstellte Stein- und Fossiliensammlung zu betreuen. 1772 beendete er seine Bibliothekarstätigkeit, „weil sie für ihn zu zerstreuend und das ewige Einerlei bei dem Vorweisen der Seltenheiten dieser Bibliothek an bloß neubegierige, oft gar nicht wissbegierige Menschen ihm zu belästigend ward“ 122 und vor allem, weil es, wie Kant an den preußischen König Friedrich II. am 14. April 1772 schrieb, „ungewöhnlich ist, dass die Stelle eines Subbliothecarii von einem Professore Ordinario bekleidet werde, […] so ergehet meine aller untertänigste Bitte an Ewr. Köngl. Majestät mir die Erlassung und Dimission […] allergnädigst zu erteilen, damit ich den Pflichten der mir bei der Universität anvertrauten Profession, geziemend und nach aller Schuldigkeit ein Genüge leisten könne.“ (Br, AA 10, 136) Kant erhielt ab 1769 nach eigenen Angaben Anfragen auswärtiger Lehranstalten, um dort eine ordentliche Professur zu übernehmen. Nach Halle, Jena, Erlangen, Mitau, der Hauptstadt des Kurlandes und „abermals Halle“ 123 wollte man ihn berufen. Kant lehnte ab. Er wollte gerne in Königsberg bleiben, da er das für den ihm besten Ort hielt, „um für das allgemeine Beste werktätig durch Schriften zu werden“ 124 . Begründete Aussicht hatte er, die erstrebte ordentliche Professur an der Albertina zu bekommen. Im 14. März 1770 starb der Königsberger Mathematikprofessor Christoph Langhansen, von dem er seiner Zeit – wie bereits erwähnt – das testimonium initiationis universitatis erhalten hatte. Kant nutzte die Gunst der Stunde und wandte sich sofort am 15. März nach Berlin, nicht um die _____________

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ren, denen Schultz sie nicht wünschte, zu bewerben, und versprach ihm sein tätiges Mitwirken.“ (Borowski, [s. Anm. 11], 16.) „Buck, Flottwell, Hahn, Kant, Thiesen und Watson hatten sich beworben, aber nur die Namen Buck und Kant wurden nach Petersburg weitergegeben.“ (Kühn, Kant, [s. Anm. 13], 144). Borowski, (s. Anm. 11), 17. Vgl. Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 191. Borowski, (s. Anm. 11), 17. Kant zit. Borowski, (s. Anm. 11), 17 Anm. Borowski, (s. Anm. 11), 17.

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Stelle als Mathematikprofessor zu übernehmen, sondern er schlug vor, dass er die von Friedrich Johann Buck eingenommene Professur für Logik und Metaphysik erhalte, welche dieser – worauf Kant ausdrücklich hinwies, um dem eigenen Interesse gemäß zum Zuge zu kommen – „nur bei Gelegenheit des russischen gouvernements“ bekommen habe (Br, AA 10, 91). Buck, der außer Ordinarius für Logik und Metaphysik auch außerordentlicher Professor für Mathematik war, sollte wechseln und die Langenhansensche Mathematikprofessur erhalten. Berlin verfuhr sehr schnell gemäß dem Kantschen Wunsche, da man es an der Zeit sah, den von Friedrich II. geschätzten und belobigten 125 Kant mit einer ordentlichen Professorenstelle zu versorgen. Nur 15 Tage waren nach dem Kantschen Gesuch vergangen, da erfolgte schon am 31. März 1770 Kants Ernennung zum Professore Ordinario der Logik und Metaphysik. 126 Buck erhielt nun sehr überrascht die freigewordene Mathematikprofessur, weder Kant noch Berlin hatten mit ihm gesprochen. 127 Kant bezog jetzt 160 Taler Gehalt 128 und dazu seinen Bibliothekarsverdienst von 60 Talern, also insgesamt 220 Taler in Königsberg. Das war ausreichend, aber nicht sehr üppig. Andernorts wurde z. T. erheblich mehr gezahlt. 129 Allerdings erhöhten sich die Bezüge Kants ab 1786 sehr deutlich auf 620 Taler jährlich. 130 Zum Antritt seiner Professur hat Kant eine Dissertation in Latein vorzulegen. Diese trägt den Titel De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (Von der Form der Sinnes- und Verstandeswelt und ihren Gründen). Die Arbeit wird am 21. August im auditorium maximum der Albertina verteidigt. Responsent war der aus Berlin stammende jüdische Medizinstudent Marcus Hertz. Als Opponenten fungierten der Student der artes liberales Georg Wilhelm Schreiber, der Jurastudent Johann August Stein und der Elbinger Theologiestudent Georg Daniel Schroeter.

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Friedrich II. befahl am 25. Mai 1767 der ostpreußischen Regierung, zwei Magister mit allerhöchster Belobigung zu versehen, denn man habe den Fleiß registriert, den „die Magistri Philosophiae, in Lesung nützlicher Collegiorum bewiesen, und die gute Wahl, welche insbesondere die Magistri Kant und Reusch in den Lesebüchern getroffen, hat nicht weniger unseren höchsten Beifall gefunden.“ (Zit. Dietzsch, Kant, (s. Anm. 15), 103). Vgl. Borowski, (s. Anm. 11), 17. Buck (zit. Kühn, Kant, [s. Anm. 13], 224) klagte: Er habe „um die mathematische Profession zu supplizieren nicht einmal einen Gedanken gehabt“. Kant habe „ohne ein Wort mit mir hiervon vorher zu sprechen, oder mich freundschaftlich vorher zu sondieren, das Hohe königl. Patent mit selbsten unvermuteter Weise zugebracht“. In Jena hätte er 40 Taler mehr erhalten. „Wieland bekam 1769 in Erfurt 500 Reichstaler, 2 Malter Korn, 2 Malter Gerste und 4 Klafter Holz.“ (Kühn, Kant, [s. Anm. 13], 551 Anm. 3). Jachmann ([s. Anm. 13], 174) schrieb, dass „eine Professur auf der Königsbergschen Universität eben kein einträgliches Amt ist“. Vgl. Schultz, Kant, (s. Anm. 89), 23f.

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Literarisch gesehen wird Kants Wirken zwischen 1770 und 1780 treffend gekennzeichnet als die Jahre des Schweigens. Es ist aber zugleich Inkubationszeit für seinen kritischen Transzendentalismus. Ab 1781, mit dem Erscheinen seiner ersten großen Kritik, der Kritik der reinen Vernunft, betritt Kant sozusagen die philosophische Weltbühne. Kant realisiert nun geballt das Programm seiner kritischen Philosophie 131 und zwar: 1. transzendentalkritisch in der Kritik der reinen Vernunft und den Prolegomena zu einer jeden Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), 2. praktischphilosophisch ethisch in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785), der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und der Metaphysik der Sitten (1797), 3. religionsphilosophisch in den beiden ersten Kritiken und speziell in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), auch im Streit der Fakultäten (1798) und Zum ewigen Frieden (1795), 4. durch kritizistische Grundlegung der Naturwissenschaften in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786), 5. ästhetisch und teleologisch in der Kritik der Urteilskraft (1790), 6. rechtsphilosophisch in der Metaphysik der Sitten (1797) mit ihrem ersten Teil Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre und ihrem zweiten Teil Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, 7. speziell-anthropologisch in seiner (auf die von ihm 1772 bis 1796 gehaltenen Vorlesung zur „Menschenkunde“ fußenden) Schrift Anthropologie in pragmatische Hinsicht (1798) 8. kritizistischuniversal im Opus postumum 132 . Kant etabliert sich immer mehr auch in der Königsberger Universitätshierarchie. Er wird mehrmals Dekan (1779/80, 1782/3, 1785/6, 1791, 1794/5 [aber durch Christian Jacob Kraus vertreten]) und Rektor der Albertina (1786, 1788). Von 1780 bis 1804 ist er ständiges Mitglied des Akademischen Senats. 1786 wurde er Mitglied der Akademie in Berlin, 1794 der in Sankt Petersburg und 1798 der im italienischen Siena. Kant lehrte und logierte seit 1755 im Haus des Philosophie- und Theologieprofessors Johann David Kypke (1692-1758) in der späteren Köttelstrasse. Auf „Ruhe im Hause und umher“ 133 legte Kant bei seinen Wohnungen kompromisslos großen Wert. Er wohnte auch in der viele 131 132

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Die im Folgenden in den Punkten 1 bis 8 genannten Kantschriften sind nicht ausschließlich nur an dem Punkt von Bedeutung, wo sie ausdrücklich genannt werden. „Gott, die Welt, und das beide Objekte verknüpfende Subjekt denkende Wesen in der Welt“ in ihrer absoluten Einheit bilden den „höchste(r)n Standpunkt“ der Transzendentalphilosophie. (OP, AA 21, 34f.) „Das Übersinnliche und das Sinnenwesen im All der Dinge (universum) im synthetischen Verhältnis des Systems auf einander vorgestellt“ (OP, AA 21, 17) – das ist Transzendentalphilosophie. Im Opus postumum wird die Transzendentalphilosophie „in einer neuen Ebene, die die Deduktionen der Kritik natürlich nicht aufhebt, nicht von der metaphysischen Deduktion der Kategorien her entwickelt, sondern aus den Ideen von Gott, Weltganzem und denkendem Subjekt“ (Irrlitz, Gerd, Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart/Weimar 2002, 491). Borowski, (s. Anm. 11), 50.

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Universitätslehrer ihr Quartier habenden, nahe dem Pregelfluss liegenden Magistergasse. Hier störte ihn jedoch der Schiffslärm, so dass er Mitte der sechziger Jahre in das Haus des Buchhändlers Johann Jacob Kanter (17381786) zog. Diese Buchhandlung war ein literarischer und gesellschaftlicher, von vielen frequentierter, Begegnungsort des gebildeten lesenden Königsberger Publikums. Wegen eines seine Arbeit störenden Hahns 134 sah sich Kant veranlasst, die Wohnung zu wechseln und zog 1775 in eine Wohnung auf den Ochsenmarkt, später dann noch in ein Quartier in der Nähe des Holztores. Ende Dezember 1783 kaufte sich Kant von der Witwe des ihm bekannten Porträtmalers Johann Gottlieb Becker ein in einer Nebenstrasse (Prinzessinstrasse) nahe dem Schlosse liegendes Haus. Im Erdgeschoss dieses Hauses befand sich der ca. 70 Personen fassende Hörsaal, die Küche und die Wohnung der Köchin, in der ersten Etage die im engeren Sinne von Kant persönlich genutzten Räume: Bibliothek 135 , Schlafzimmer, Studierstube, Besuchszimmer, Esssaal. Die Stube des Dieners mit Nebengelass war im Dachgeschoss. Auffallend spartanisch war die Ausstattung des Hauses: weiße, untapezierte, größtenteils kahle Wände. Alles war funktional ausgerichtet auf das für Kants Lebensvollzug in seinen Augen unmittelbar Erforderliche. Viele Möbel gab es nicht: Tische, Stühle, Kanapee. Die Einrichtung des Studierzimmers bildete ein Schreibtisch mit Sitzgelegenheit, eine Kommode, zwei mit Büchern bedeckte einfache Tische und als einziges Kunstwerk des gesamtes Hauses ein (von Kants Freund, dem 1794 gestorbenen Bankdirektor, Ruffmann geschenkter) Kupferstich des von Kant geschätzten Jean-Jacques Rousseau, der ihn nach eigener Aussage „zurecht gebracht“ hatte in Bezug auf den „Wert“ der Menschen bzw. der Menschheit 136 . 134

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„Eine Zeitlang wohnte er bei dem Direktor Kanter, aus dessen Hause ihn aber ein Nachbar vertrieb, der auf dem Hofe einen Hahn hielt, dessen Krähen unseren K. im Gange seiner Meditationen zu oft unterbrach. Für jeden Preis wollte er dieses laute Tier ihm abkaufen und sich dadurch Ruhe schaffen, aber es gelang ihm bei dem Eigensinn des Nachbarn nicht, dem es gar nicht begreiflich war, wie ein Hahn einen Weisen stören könnte. K. wich also aus. Er bezog dann eine neue Wohnung auf dem Ochsenmarkte“. (Borowski, [s. Anm. 11], 50f.). Kant besaß nur eine kleine Bibliothek von wenigen hundert Büchern. Jachmann ([. Anm. 11], 122f.) schreibt: „Kants eigene Bibliothek war nicht bedeutend und enthielt sehr wenige neuere Werke, diejenigen ausgenommen, welche ihm von ihren Verfassern waren zugesandt worden, die er aber auch größtenteils an seine Freunde wieder verschenkte. Er las in den letzten Jahren fast lauter ungebundene Bücher. Der Buchhändler Nicolovius, […] sein ehemaliger Schüler […], (der) mit ihm im freundschaftlichen Verhältnisse stand und seine Werke verlegte, schickte ihm immer den Meßkatalog seines Sortiments zu, worauf sich Kant die Bücher zu seiner Lektüre notierte und nach und nach aus dem Laden abholen ließ.“ „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei jedem Erwerb. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses allein könnte die Ehre der Menschheit ma-

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Kant war es wichtig, in Ruhe und gewohnter Ordnung zu arbeiten. Verärgert und irritiert war er, wenn ihm diese gestört wurden, so z. B. durch den brüllenden, zur Besserung der Gefangenen im nahen Gefängnis angeordneten Gesang geistlicher Lieder der Gefängnisinsassen 137 oder durch Musik in der Nachbarschaft oder durch den eben erwähnten Hahn. Kant hatte von seiner Studierstube einen unverstellten Blick auf die Löbenichtsche Kirche. Der Ausblick auf die Kirche war ihm bei der Arbeit so wichtig, dass er, als dieser durch größer wachsende Bäume seines Nachbarn minimiert wurde, diesen bat, die Bäume zu kürzen, damit er, indem sein freier Blick auf dem Kirchturm ruhte, unverstellt und produktiv Zeit zum Nachdenken hätte. „(D)er Eigentümer des Gartens (war) ein gutdenkender Mann, der für Kant Liebe und Hochachtung hatte […]; er opferte ihm daher die Wipfel seiner Pappeln auf, so dass der Turm wieder sichtbar wurde und Kant bei dessen Anblick wieder ungestört nachdenken konnte.“ 138 Manches Skurrile und Merkwürdige war Kant eigen. So öffnete er aus Angst vor Wanzen sommers wie winters nie seine Schlafzimmerfenster, da er hartnäckig und unbelehrbar die irrige Meinung vertrat, nicht durch Läden verschlossene Fenster begünstigten die Wanzenpopulation. 139 Kant legte Wert darauf nicht zu transpirieren, maß dem Nicht_____________

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chen u. ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendete Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubete, dass diese Betrachtung allen übrigen einen Wert erteilen könnte, die Rechte der Menschheit herzustellen.“ (HN, AA 20, 44). Kant hatte nichts gegen den Abgesang von Chorälen im Gefängnis und bezweifelte auch nicht dessen therapeutische Wirkung, aber wider das röhrende Gebrüll, ihn in seiner Ruhe Störende dieser Heuchler im Gefängnis schon. So wandte er sich mit der Aufforderung am 9.7.1784 an seinen Freund und Königsberger Bürgermeister Theodor Gottfried Hippel (1741-1796), dieser Störung, die er als Unfug und geistlichen Ausbruch der Langeweile bezeichnete, Abhilfe zu schaffen: „Ew. Wohlgeboren waren so gütig, der Beschwerde der Anwohner im Schloßgraben, wegen der stentorischen Andacht der Heuchler im Gefängnisse, abhelfen zu wollen. Ich denke nicht, dass sie zu klagen Ursache haben würden, als ob ihr Seelenheil Gefahr liefe, wenn gleich ihre Stimme beim Singen dahin gemäßigt würde, dass sie sich selbst bei zugemachten Fenstern hören könnten (ohne auch selbst alsdann aus allen Kräften zu schreien). Das Zeugnis des Schützen, um welches es ihnen wohl eigentlich zu tun scheint, als ob sie sehr gottesfürchtige Leute wären, können sie dessen ungeachtet doch bekommen; denn der wird sie schon hören, und im Grunde werden sie nur zu dem Tone herabgestimmt, mit dem sich die frommen Bürger unserer guten Stadt in ihren Häusern erweckt genug fühlen. Ein Wort an den Schützen, wenn Sie denselben zu sich rufen zu lassen und ihm Obiges zur beständigen Regel zu machen belieben wollen, wird diesem Unwesen auf immer abhelfen, und denjenigen einer Unannehmlichkeit überheben, dessen Ruhestand Sie mehrmalen zu befördern bemüht gewesen und der jederzeit mit der vollkommensten Hochachtung ist Ew. Wohlgeboren gehorsamster Diener I. Kant.“ (Zit. Schultz, Kant, [s. Anm. 89], 62). Wasianski, (s. Anm. 11), 200f. Zu seiner Wanzenhypothese kam Kant durch folgende kontingente Begebenheit: „Er hatte […] in einer … Wohnung, zur Abhaltung der Sonnenstrahlen die Fensterladen stets ge-

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schwitzen erhebliche Beachtung bei und versuchte, Schwitzen generell zu vermeiden. „War aber in einer schwülen Sommernacht nur eine Spur von Schweiß bei ihm eingetreten, so erwähnte er des Falles mit einer Art von Wichtigkeit, als eines ihm zugestoßenen widrigen Ereignisses.“140 Fast paradigmatisch sprichwörtlich ist der exakte geordnete Tagesablauf Kants, aus dem er Kraft, Produktivität und Ruhe schöpfte. Sehr eindrücklich und anschaulich schildert ihn Kants Amanuensis und treuer und sorgfältiger Begleiter seiner alten Tage Ehregott Andreas Christoph Wasianski: „Fünf Minuten vor fünf Uhr morgens, es mochte Sommer oder Winter sein, trat sein Diener Lampe in die Stube mit dem ernsten militärischen Zuruf: Es ist Zeit! Unter keiner Bedingung, auch in dem seltenen Fall einer schlaflosen Nacht, zögerte Kant nur einen Augenblick, dem strengen Kommando den schnellsten Gehorsam zu leisten. Oft tat er bei Tische mit einer Art Stolz an seinen Diener die Frage: Lampe, hat er mich in dreißig Jahren nur an einem Morgen je zweimal wecken dürfen? ‚Nein, hochedler Herr Professor’, war die bestimmte Antwort des ehemaligen Kriegers. Mit dem Schlage fünf saß Kant an seinem Teetische, trank, wie er es nannte, eine Tasse Tee, die er aber in Gedanken und um sie warm zu erhalten, so oft nachfüllte, dass wenigstens zwei, wo nicht mehrere, aus ihr wurden. Dabei rauchte er die einzige Pfeife für den ganzen Tag mit einem zu diesem Behufe längst gebrauchten Hut auf dem Kopfe, und zwar mit solcher Schnelligkeit, dass ein glühender Aschkegel […] zurückbleiben musste. Bei dieser Pfeife überdachte er abermals, wie abends vorher am Ofen, seine Disputationen, und ging gewöhnlich um 7 Uhr zu seinen Vorlesungen und von diesen an seinen Schreibtisch. Um ¾ auf Eins stand er auf, rief der Köchin zu: Es ist dreiviertel! Gleich nach der Suppe nahm er einen Schluck, wie er es nannte, der aus einem halbe Glase Magenwein, Ungar, Rheinwein, oder auch in Ermangelung jener aus Bischof bestand. Diesen Wein brachte die Köchin dann herauf. Er ging damit ins Speisezimmer, goss sich ihn selbst ein und umschlug das Glas mit einem Sedezblatt Papier, um das Verrauchen zu hindern. […] Dieses (war) ein wichtiges Geschäft für Kant. […] Nun erwartete Kant seine Gäste, auch noch in den _____________

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schlossen gehalten, vergaß aber bei einer kleinen Reise aufs Land, vor seiner Abreise die Fensterladen vorlegen zu lassen und fand bei seiner Zurückkunft sein Zimmer mit Wanzen besetzt. Da er nun glaubte, vorher keine Wanzen gehabt zu haben, so machte er den Schluss: das Licht müsse zur Existenz und zum Fortkommen jenes Ungeziefers notwendig erforderlich und die Verhinderung der eindringenden Lichtstrahlen ein Mittel sein, ihrer Vermehrung vorzubeugen.“ (Wasianski, [s. Anm. 11], 202). Wasianski, (s. Anm. 11), 203. Ungewöhnlich war auch Kants Schnupftabakzubereitung: „Kant schnupfte stark Tobak und genoss … sybaritisch selbst darin – er mengte […] mehrere leichte Sorten zusammen und hatte […] die Gewohnheit, den Tobak, ehe er ihn in die Dose brachte, am offenen Fenster aufs Papier auszubreiten, damit derselbe Sauerstoff aus der Luft anziehen möchte, welches er noch dadurch zu befördern suchte, dass er ihn mit den Fingern gewissermaßen wie Getreide umstach.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 183).

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spätesten Zeiten seines Lebens, völlig angekleidet. Bei Vorträgen, in dem Kreise seiner Vertrauten, auch am Tische in Schlafrock zu erscheinen, fand er unschicklich und sagte: Man müsse sich nicht auf die faule Seite legen. So war ein Tag dem anderen ähnlich und in dieser ihm weder lästigen noch langweiligen Gleichförmigkeit gingen Kants Tage in strenger Ordnung froh dahin. Gerade diese Ordnung und seine sich stets gleiche Diät scheinen viel zu seinem langen Leben beigetragen zu haben.“141 „Allein zu essen (solipsismus convictorii) ist für einen philosophischen Gelehrten ungesund; 142 bringt nicht Restauration, sondern als einsames Schwelgen Exaustion, Erschöpfung und nicht das so wichtige belebende Spiel der Gedanken. Wer einsam sein Mahl genießt, verzehrt sich selbst und verliert „die Munterkeit, die er dagegen gewinnt, wenn ein Tischgenosse ihm durch abwechselnde Einfälle neuen Stoff zur Belebung darbietet, welchen er selbst nicht hat ausspüren dürfen.“ (Anth, AA 7, 279f.) Obwohl für Kant das gesellige Tafelgespräch quasi philosophischen Charakter trägt und ihm philosophisch von Bedeutung ist, darf dies nicht in dem Sinne missverstanden werden, als sei dieses in der Sicht Kants gleichsam ein fachphilosophischer Diskurs mit Sättigungseinlage. Das lehnt Kant vielmehr strikt ab. So weigert er sich bei seinen Tafelrunden, Auskunft über sein eigenes philosophisches Schaffen zu geben. Ein Tafelgespräch, das aus den drei Stufen Erzählen, Räsonieren und Scherzen besteht, sollte nicht zusammenhanglos sein und nicht von einem Gegenstand zum anderen springen, sondern erst, wenn ein Thema der Unterhaltung genügend behandelt worden ist, ist ein neues anzugehen. Rechthaberei sollte auch im strittigen Gespräch ebenso wie Schreihälsigkeit und Arroganz, die eine Tischgesellschaft entzweien, nicht Raum gegeben werden. (Anth, AA 7, 280f.) „Zehn an einem Tische“ (Anth, AA 7, 278 Anm.) ist eine gute Zahl für eine Tischgesellschaft. Mit Berufung auf Chesterfield sagt Kant, dass „sie nicht unter der Zahl der Grazien und nicht über die der Musen sein müsse“ 143 . Abhold ist Kant aller musischen Untermalung des Gesprächs einer Tischgesellschaft: „Musik, Tanz und Spiel machen eine sprachlose Gesellschaft aus (denn die wenigen Worte, die zum letzteren nötig sind, begründen keine Konversation, welche wechselseitige Mitteilung der Gedanken fordert)“, dienten vielmehr dem konventionellen erwerbsmäßigen Eigennutz. (Anth, AA 7, 277f.) „Eine Tafelmusik bei einem festlichen

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Wasianski, (s. Anm. 11), 203f. „Denn“, so merkt Kant an, „der philosophierende (sc. Gelehrte) muss seine Gedanken fortdauernd bei sich herumtragen, um durch vielfältige Versuche ausfindig zu machen, an welche Prinzipien er sie systematisch anknüpfen solle, und die Ideen, weil sie nicht Anschauungen sind, schweben gleichsam in der Luft ihm vor.“ (Anth, AA 7, 280 Anm.). Anth, AA 7, 278; vgl. auch Wasianski, (s. Anm. 11), 196.

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Schmause großer Herren ist das geschmackloseste Unding, was die Schwelgerei immer ausgesonnen haben mag.“ (Anth, AA 7, 281) Kant, der kein Instrument spielte, manchmal jedoch Konzerte großer Meister frequentierte, hatte nach Jachmann „(d)en wenigsten Sinn … für Musik“ 144 . Da man durch die Musik „zugleich von wissenschaftlichen Beschäftigungen abgehalten würde“, riet Kant dem Wissenschaftler, sich nicht dieser zu widmen. 145 Die Musik ist für ihn wie die Farbenlehre „Kunst des schönen Spiels der Empfindungen“ und als solche näher „das künstliche Spiel des Gehörs“ (KU, AA 5, 324). Einerseits vindiziert Kant der Musik innerhalb der schönen Künste den letzten, andererseits den ersten Platz. Jener kommt ihr zu, da „sie bloß mit den Empfindungen spielt“, dieser in der Sicht „ihrer Annehmlichkeit“. Die von Empfindungen ausgehende Musik kommt nur zu transitorischen, nicht bleibenden, unbestimmten Ideen. Durch die Einbildungskraft können zwar die von der Musik hervorgebrachten Empfindungen zwecks angenehmer Unterhaltung zurückgebracht und wiederholt werden, aber um den Preis, das „sie uns eher lästig als angenehm“ sind. (KU, AA 5, 330) Ein gewisser Mangel an Urbanität, der einhergehe mit der Beeinträchtigung der Freiheit anderer, eigene der Musik 146 qua den durch sie verursachten Lärm 147 . Allerdings bewirke die Musik körperliche Belebung und diene der Beförderung des Lebensgeschäftes im Körper. Jedoch ist ihre „Belebung … bloß körperlich“, wenn gleich sie „von den Ideen des Gemüts erregt wird […] In der Musik geht dieses Spiel von der Empfindung des Körpers zu ästhetischen Ideen (der Objekte für Affekten), von diesen alsdann wieder zurück, aber mit vereinigter Kraft auf dem Körper.“ (KU, AA 5, 332) Musik ist „ein regelmäßiges Spiel von Empfindungen des Gehörs“, eine begrifflose „Sprache bloßer Empfindungen“; und als solche setzt sie nicht nur mannigfaltige Bewegung, sondern Stärkung des Vitalsinnes. Sie ist weiterhin „Mitteilung der Gefühle in die Ferne“ und ein gemeinschaftlicher für viele offener „gesellschaftlicher Genuss“. (Anth, AA 7, 155)

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Jachmann, (s. Anm. 11), 146. Jachmann, (s. Anm. 11), 146. „Außerdem hängt der Musik ein gewisser Mangel der Urbanität an, dass sie vornehmlich nach Beschaffendheit ihrer Instrumente ihren Einfluss weiter, als man ihn verlangt, (auf die Nachbarschaft) ausbreitet und so sich gleichsam aufdringt, mithin der Freiheit anderer außer der musikalischen Gesellschaft Abbruch tut“. (KU, AA 5, 330). Kant implifiziert das am lärmenden pharisäischen Andachtsgesang: „Diejenigen, welche zu den häuslichen Andachtsübungen auch das Singen geistlicher Lieder empfohlen haben, bedachten nicht, dass sie dem Publikum durch eine solche lärmende (eben dadurch gemeiniglich pharisäische) Andacht eine große Beschwerde auflegen, indem sie die Nachbarschaft entweder mitzusingen oder ihr Gedankengeschäft niederzulegen nötigen.“ (KU, AA 5, 330 Anm.).

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Gleichwohl ist Kant die (nicht durch Musik gestörte) Tischtafel wichtig. Ein feines Tischgespräch ist zwar angesichts des hohen Reinmoralischen nur „ein die Tugend vorteilhaft kleidendes Gewand“, aber doch eine Empfehlung „in ernsthafter Rücksicht“, da es im Gegensatz zu den nicht einladenden, „gesellschaftliches Wohlleben“ vernachlässigenden „verzerrte(n) Gestalten der Tugenden“ des „Purismus des Cynikers“ und „der Fleischestötung des Anachoreten“ der Tugend und der Humanität sehr förderlich ist. (Anth, AA 7, 282) Kant hielt bis zu seinem dreiundsechzigsten Lebensjahr „für gewöhnlich seine Mittagstafel in einem Hotel, wo mehrere Männer von Stande, besonders angesehene Militärpersonen aßen“ und „sich … größtenteils seinetwegen dort einfanden“. 148 Oft aber war er auch zu Privatgesellschaften eingeladen. 149 Kant besuchte, solange er keinen eigenen Hausstand besaß, zum Mittagessen „öffentliche Gasthäuser“, fand ebenda „viele Unterhaltung“, verkürzte sich die Zeit mit einer Partie L’hombre, welches Spiel er als „nützliche Verstandesübung“ der Selbstbeherrschung, ja der „Kultur der Moralität“ 150 dienlich ansah. Kant war auch ein „Lebemann“ 151 , der neben der disziplinierten wissenschaftlichen Arbeit einen beträchtlichen Teil des Tages dem gesellschaftlichen Leben und dessen Zerstreuungen widmete. Er tafelte ausführlich, besuchte Theater und Salons, spielte Karten und Billard, war ein gesuchter Gesellschafter 152 in 148 149

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Jachmann, (s. Anm. 11), 159. „Am öftesten besuchte er die Mittagsgesellschaften bei dem jetzigen Staatsminister v. Schrötter; bei den Gouverneurs von Preußen, Grafen Henkel von Donnersmark und General der Infanterie v. Brünneck; bei dem Herzoge von Holsten-Beck; bei dem Grafen v. Kaiserlingk; Kammerpräsident v. Wagner; Geheimen Rat v. Hippel; Kriegsrat Scheffner; Bancodirektor Ruffmann und Kaufmann Motherby, bei welchem … er regelmäßig alle Sonntage aß. Außerdem … wurde er bei vielen feierlichen Gelegenheiten und von sehr vielen angesehenen Bewohnern Königsbergs öfters eingeladen.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 159f.). Jachmann, 159; vgl. Borowski, (s. Anm. 11), 49. Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 188. „Kant besaß die große Kunst, über eine jede Sache in der Welt auf eine interessante Art zu sprechen. […] In seiner Gesellschaft stockte das Gespräch nie.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 156). „Seine gesellschaftlichen Gespräche … wurden besonders anziehend durch die muntere Laune, mit welcher er sie führte, durch die witzigen Einfälle, mit welchen er sie ausschmückte, und durch die passenden Anekdoten, welche er dabei einstreute. In der Gesellschaft, wo Kant war, herrschte eine geschmackvolle Fröhlichkeit.“ Kant zeichnete „sich nicht bloß durch seine Unterhaltungskunst (aus), sondern auch durch sein feines Betragen in der Gesellschaft … Er hatte einen edlen freien Anstand und eine geschmackvolle Leichtigkeit in seinem Benehmen. Er war in keiner Gesellschaft verlegen und man sah es seinem ganzen Wesen an, dass er sich in und für die Gesellschaft ausgebildet hatte. Sprache und Gebärden verrieten ein feines Gefühl für das Schickliche und Anständige. Er besaß ganz die gesellige Biegsamkeit und wußte sich in den passenden Ton einer jeder besondern Gesellschaft zu stimmen.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 158f.) – Lachen und Weinen sind für Kant der Gesundheit förderlich. Jenes „stärkt durch die heilsame Bewegung des Zwergfells

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„gute(r), anständige(r) Gesellschaft“ 153 . Dieser kleine schöne Mann war ein eleganter Magister 154 . „Wirklich war … Magister Kant der galanteste Mann, … trug bordierte Kleidung, [war] ein Postillon d’amour und besuchte alle Koterien“ 155 . Er legte Wert auf anständige modische Kleidung: „der Mensch müsse in der Kleidungsart nie ganz aus der Mode sein wollen“ 156 . Sein Äußeres betreffend richtete sich Kant „immer nach der herrschenden Sitte gebildeter Gesellschaften“ 157 . Er hatte einen guten modischen Geschmack und handelte gemäß dem „Grundsatz: lieber ein Narr in der Mode, als außer der Mode“ 158 zu sein. Kant erwies sich „in der Gesellschaft als ein feiner Weltmann, dessen hohe innere Würde durch eine feine äußere Bildung emporgehoben wurde.“ 159 Allerdings stank Kant. 160 Gegenüber „Frauenzimmern bewies er eine zuvorkommende Artigkeit, ohne dabei das mindeste Affektierte und Gezwungene zu äußern. Er ließ sich gern mit gebildeten Frauenzimmern in ein Gespräch ein und konnte sich mit ihnen auf eine sehr feine und gefällige Art unterhalten.“ 161 Warum hat Kant nicht geheiratet, zumal er Freunden zur Ehe riet, „aber freilich fast immer nur, um ihre ökonomische Lage zu verbessern“ 162 ? Kant „hat geliebt“ und zwar „zwei seiner ganz würdige Frauenzimmer […], die nacheinander sein Herz und seine Neigung an sich zogen“ 163 . Seine Bedächtigkeit und Zögerlichkeit verhinderten die Bindung. Kant _____________ 153 154 155

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das Gefühl der Lebenskraft“, dieses „ist als schmerzlinderndes Mittel gleichfalls eine Vorsorge der Natur für die Gesundheit“ (Anth, AA 7, 262). Borowski, (s. Anm. 11), 48. Vgl. Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 122ff; Dietzsch, Kant, (s. Anm. 15), 69. Carl August Böttiger, Literarische Zustände und Zeitgenossen, Leipzig 1838, 133, zit. Dietzsch, Kant, (s. Anm. 15), 69. Borowski, (s. Anm. 11), 50. „K. kleidete sich auch immer anständig und gewählt. Später liebte er besonders melierte Farben. Eine Zeitlang sah man ihn in Kleidern, deren Saum mit einem goldenen Schnürchen umfasst war.“ Solange es üblich war, trug er gekonnt den Degen. (Borowski, [s. Anm. 11], 50). Jachmann, (s. Anm. 11), 146. Jachmann, (s. Anm. 11), 146. Kant „trug einen kleinen dreieckigen Hut, eine kleine blondhaarige, weiß gepuderte Perücke mit Haarbeutel, eine schwarze Halsbinde und ein Oberhemd mit einer Halskrause und mit Manschetten, ein mit Seide gefüttertes Kleid von feinem gewöhnlich schwarz, braun und gelb meliertem Tuch, wovon auch die Weste und die Beinkleider verfertigt waren, grauseidene Strümpfe, Schuhe mit silbern Schnallen und einen Degen, als dieser in Gesellschaften noch Mode war, nachmals einen gewöhnlichen Rohrstock.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 146f.). Jachmann, (s. Anm. 11), 159. „Sein Geruch war scharf, wie wir dies gewöhnlich bei Menschen von Geist bemerken; aber natürlich ward er oft eben dadurch beleidigt.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 183). Jachmann, (s. Anm. 11), 159. Borowski, 60. Vgl. Jachmann, (s. Anm.11), 142. Borowski, (s. Anm. 11), 60.

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wurde von Frauen geliebt und verehrt. 164 „Sinn und Gefühl für weibliche Schönheit und Reize“ hatte Kant bis ins höchste Alter, obwohl er „im Zölibat lebte“ und „diesen Zustand“ auch „sehr behaglich fand“ 165 . Das Schöne ist das Frauen auszeichnende, das Erhabene das Männer vornehmliche charakterisierende Merkmal, wenn auch das je eigene Geschlecht nicht gänzlich des Hauptcharakteristikums des anderen ermangelt. 166 Beiden Geschlechtern kommt Verstand zu, jedoch auf je eigene Weise: „Das schöne Geschlecht hat eben so wohl Verstand als das männliche, nur es ist ein schöner Verstand“, während der männliche Verstand „ein tiefer Verstand“, d. i. ein erhabener, ist. (GSE, AA 2, 229) „Mühsames Lernen oder peinliches Grübeln“ sind der Leichtigkeit der Schönheit abträglich und bringen den Frauen, auch wenn sie es darin weit bringen sollten 167 , zugleich die Schwächung ihrer Reize; damit aber begeben sich die Frauen der Herrschaft über das männliche Geschlecht, denn durch ihre Reize üben die Frauen „ihre große Gewalt über das andere Geschlecht“ aus. (GSE, AA 2, 229) Die Verleitung zu diesem „verkehrten Geschmacke“ hinsichtlich des schönen Geschlechtes ist eine „boshafte List der Mannespersonen“, sich der Herrschaft der Frauen über die Männer mittels der Reize des Schönen zu entledigen und den eigenen Vorteil zu suchen. Die Weltweisheit der Frauen „ist nicht Vernünfteln, sondern Empfinden“ (GSE, AA 2, 230). Frauentugend ist „eine schöne Tugend“, Männertugend „eine

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So schreibt die dreiundzwanzigjährige Maria Charlotta Jacobi an Kant: „Werter Freund wundern Sie sich nicht, dass ich mich unterfange an Ihnen als einen großen Philosophen zu schreiben? Ich glaubte, Sie gestern in meinem Garten zu finden, da aber meine Freundin (sc. und ich) […] unsern Freund […] nicht fanden, so beschäftigte ich mich mit Verfertigung eines Degenbandes; dieses ist Ihnen gewidmet. Ich mache Ansprüche auf Ihre Gesellschaft morgen Nachmittag. Ja, Ja, ich werde kommen, höre ich Sie sagen. Nun gut, wir erwarten Sie […] Verzeihen Sie mir diese Erinnerung. Meine Freundin und ich überschicken Ihnen einen Kuss per Sympathie. Die Luft wird doch wohl im Kneiphoff dieselbe sein, damit unser Kuss nicht die sympathetische Kraft verliert. Leben Sie vergnügt und Wohl aus den Garten, den 12. Juni, 1762 Jacobin.“ (Br, AA 10, 39, zit. Dietzsch, Kant [teilweise], (s. Anm. 15), 69 und Schultz, Kant, [s. Anm. 89], 48f.). Jachmann, 142. Kant „äußerte […] nachdrucksvoll, ihn mit Heiratsanträgen zu verschonen.“ (Borowski, [s. Anm. 11], 60). Die Empfehlung des gutmütigen Pfarrers Becker an den 69jährigen Kant, endlich zu ehelichen, nahm er mit großem Humor auf (Jachmann, [s. Anm. 11], 127). GSE, AA 2, 228. „Das Frauenzimmer hat ein angebornes stärkeres Gefühl für alles, was schön, zierlich und geschmückt ist.“ (Ebd., 229). Kant kommentiert solche Erfolge bei Frauen sarkastisch negativ: „Ein Frauenzimmer, das den Kopf voll Griechisch hat, wie die Frau Dacier, oder über die Mechanik gründliche Streitigkeiten führt, wie Marquisin von Chastelet, mag nur immerhin einen Bart dazu haben; denn dieser würde vielleicht die Miene des Tiefsinns noch kenntlicher ausdrücken, um welchen sie sich bewerben.“ (GSE, AA 2, 229f.).

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edele Tugend“ 168 . Der Austausch der Tugenden geschieht in der „einen einzigen moralischen Person“ des vereinigten ehelichen Paares, die „durch den Verstand des Mannes und den Geschmack der Frauen belebt und regiert wird“ (GSE, AA 2, 242). Die „von einer höheren Absicht“ gesetzten „Zweck(e) der Natur bei der Einrichtung der Weiblichkeit“ bestehen 1. in der „Erhaltung der Art“ und 2. in der „Kultur der Gesellschaft und Verfeinerung derselben“. (Anth, AA 7, 305f.) Insbesondere der Begegnung mit gebildeten Frauen maß Kant große, durch nichts zu ersetzende Bedeutung zur Verfeinerung der Sitten zu. 169 „Es ist Pflicht sowohl gegen sich selbst, als auch gegen andere, mit seinen sittlichen Vollkommenheiten untereinander Verkehr zu treiben (officium commercii, sociabilitas), sich nicht zu isolieren (separatistam agere)“ (MSTL, AA 6, 473). Als ein für die Gesellschaft bestimmtes aber zugleich ungeselliges Wesen fühlt der Mensch das mächtige „Bedürfnis sich anderen zu eröffnen“ (MSTL, AA 6, 471), d. h. er ist auf moralische Freundschaft aus. Freundschaft ist Kant (vollkommen gesehen) die „durch gleiche wechselseitige Liebe und Achtung“ geprägte „Vereinigung zweier Personen“ (MSTL, AA 6, 469). Näherhin definiert Kant sie als „das völlige Vertrauen zweier Personen in wechselseitiger Eröffnung ihrer geheimen Urteile und Empfindungen“ unter Berücksichtigung „beiderseitiger Achtung“. (MSTL, AA 6, 471) Freundschaft ist „nicht eine auf wechselhaften Vorteil abgezweckte Verbindung“, vielmehr gilt: sie „muss rein moralisch sein“. (MSTL, AA 6, 470) Kant hatte das Glück, verlässliche Freunde zu haben. Sein bester Jugendfreund war aus Studentenzeiten der spätere Geheime Oberfinanzrat Johann Heinrich Wlömer (1728-1797). 170 Der vertrauteste und innigste Freund Kants war der englische Kaufmann Joseph Green (1727-1786), dessen Tod er „nie ganz verschmerzte“ 171 . Green, der mit Manufakturgütern, Getreide, Heringen und Kohlen handelte, war „der größte und angesehenste Kaufmann der englischen Kolonie von Königsberg“ 172 . Allerdings war seine Leidenschaft nicht so sehr das Kaufmannsein, sondern mehr das Gelehrtenleben. Er führte fast ein168

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GSE, AA 2, 231. So werden Frauen „das Böse vermeiden, nicht weil es unrecht, sondern weil es hässlich ist, und tugendhafte Handlungen bedeuten bei ihnen solche, die sittlich schön sind. Nichts von Sollen, nichts von Müssen, nichts von Schuldigkeit.“ (Ebd.). „Aus diesem vernünftigen Grunde riet er auch seinen jungen Freunden …, den Umgang mit gebildeten Frauenzimmern, so oft sich dazu nur Gelegenheit darböte, auf sorgfältigste zu benutzen, weil dieses das einzige Mittel wäre, ihre Sitten zu verfeinern und zu veredeln.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 128). Kant hatte eigene Erfahrung, so seine oben erwähnte sittliche Prägung hinsichtlich gesellschaftlicher Umgangsformen durch die Gräfin Caroline Charlotte Amalie von Keyserling. Vgl. Jachmann, (s. Anm. 11), 134. Jachmann, (s. Anm. 11), 135f. Zit. Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 184.

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siedlerhaft ein Lektüre- und Bildungsleben. „Der Umgang mit dem originalen höchst rechtschaffenen Engländer Green hat gewiss nicht wenig Einfluss auf Kants Denkart und besonders auf sein Studium englischer Schriftsteller gehabt.“ 173 Beide, Kant und Green, liebten Hume und Rousseau. Mit Green sprach Kant intensiv über seine philosophische Arbeit. 174 Hatte Kant jemanden seine Freundschaft geschenkt, so blieb er auch dessen Freund. Allerdings war Kants Freundschaft „gute, gehaltreiche Prosa“, frei von „vertraulichen Herzergießungen“ 175 und durchwaltet vom Geist der Urbanität. Kant kümmerte sich sehr um das Wohl seiner Freunde und förderte insbesondere auch seine jungen Freunde.176 Kant war nach Jachmann „ein Universalgelehrter“ 177 . Und tatsächlich war Kant in vielen Wissenschaften (oft sehr profiliert, wenn auch nicht immer) zu Hause, so natürlich in der Philosophie, der Mathematik, der Physik, der Astronomie, natürlichen Theologie, Chemie, in der Ästhetik, Logik etc. „Er las auch bisweilen theologische Schriften und freute sich über den systematischen Zusammenhang dogmatischer und moralischer Lehrgebäude.“ 178 Allerdings ist Borowski der Meinung, dass Kants theologisches Wissen hinsichtlich des fachwissenschaftlichen Diskurses generell gesehen nicht über das in den dogmatischen Vorlesungen bei Franz Albert Schultz in den Jahren 1742/43 erworbene hinausreichte. 179 Dieses Dictum Borowskiss ist differenziert zu bewerten. Einerseits ist es sicher richtig, dass Kant wesentliche aktuelle theologische Literatur wenig oder gar nicht kannte (so z. B. die Arbeiten Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems [1709-1789] 180 , Johann Salomo Semlers [1725-1791], Wilhelm Adolf Tellers [1734-1804] u. a. 181 ), andererseits nahm er selektiv diese doch auch wahr. Kant hatte ein besonderes kirchengeschichtliches Interesse. 182 Intensiv las er die zeitgenössischen kirchenhistorischen Werke des einerseits vom rationalen Supranaturalismus anderseits vom supranaturalen Rationa173 174

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Zit. Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 186. Kant habe kaum einen Satz der Kritik der reinen Vernunft „niedergeschrieben, den er nicht zuvor seinem Green vorgetragen und von dessen unbefangenen und an kein System gebundenen Verstand hätte beurteilt lassen“ (zit. Dietzsch, Kant, [s. Anm. 15], 18). „(D)er eigentliche Geburtsort zu seiner Kritik der reinen Vernunft“ ist nach Kants Aussage sein alltäglicher Spaziergang gewesen. (Borowski, [s. Anm. 11], 78). Borowski, (s. Anm. 11), 53f. Vgl. Jachmann, 138 ff. und Borowski, (s. Anm.11), 53ff. Jachmann, (s. Anm. 11), 121. Jachmann, (s. Anm. 11), 122. Vgl. Borowski, (s. Anm. 11), 70. Als ein Schüler Kants „Jerusalems Betrachtungen über die Religion kaufte, erkundigte (er) sich, wer denn dieser Jerusalem wäre, […] und erwähnte …, dass er vor mehreren Jahren Stapfers Grundlegung der Religion gelesen habe.“ (Borowski, [s. Anm. 11], 70). Vgl. Borowski, (s. Anm. 11), 70. Borowski, (s. Anm. 11), 70.

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lismus geprägten Göttinger Kirchenhistorikers Gottlieb Jacob Planck (1751-1833) 183 und des in Wittenberg lehrenden Kirchenhistorikers Matthias Schröckh (1733-1808). Biblische Exegese interessierte ihn weniger und er kannte auch die jüngere wissenschaftlichen Entwicklungen in dieser theologischen Disziplin nicht. Die Bibel selbst wird von Kant hoch geschätzt wegen der „Göttlichkeit ihres moralischen Inhalts“ (SF, AA 7, 64) und als „das beste … taugliche Leitmittel“ „zur Gründung und Erhaltung einer wahrhaftig seelenbessernden Landesreligion“ angesehen. (SF, AA 7, 9) Gute Predigten rühmte er in seinen Vorlesungen, so die Spaldings, da sie „viel Menschenkenntnis enthielten“. 184 Bevor er seine Religionsphilosophie Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zum Druck gab, beschäftigte er sich intensiv mit einem „unserer ältesten Katechismen: ‚Grundlegung der christlichen Lehre’„ aus den Jahren 1732/33. 185 Die „trefflich ausgearbeiteten Predigten“ seines verstorbenen Freundes, des Königsberger Pfarrers Fischer, bedauerte er wegen der Abhaltung durch die „dringenden literarischen Geschäfte“, nicht öfter angehört zu haben. 186 Der alte Kant las mit großer „Zufriedenheit“ Blairs Predigten. 187 Kant war „ein Gottesverehrer“, der „von Herzen überzeugt“ war, dass die „Welt unter einer weisen Providenz stehe“ und „das sittliche Vernunftgesetz mit dem heiligen Willen Gottes übereinstimme“, so dass die treue Befolgung des moralischen Gebotes „die einzig mögliche und vernünftige Gottesverehrung", Gott wohlgefälliger Gottesdienst sei. 188 An Lavater schreibt Kant 1775, dass die Hauptsache der „moralische Glaube“ ist, d. i. „das unbedingte Zutrauen auf die göttliche Hilfe, in Ansehung alles Guten, was, bei unsern redlichsten Bemühungen, doch nicht in unserer Gewalt ist“ 189 . Dem entspricht die Lehre Christi: „Das Wesentlichste und Vortrefflichste von der Lehre Christi ist eben dieses: dass er die Summe aller Religion darin setzte, rechtschaffend zu sein aus allen Kräften im Glauben, d. i. einem unbedingten Zutrauen, dass Gott als dann das übrige Gute, was nicht in unserer Gewalt ist, ergänzen werde“ 190 Das Evangeli183

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„Des ehrwürdigen Planck dahin (sc. zur Kirchengeschichte) gehörigen Werke befriedigten ihn (Kant) ganz vorzüglich. Einstmals […] sagte er: ‚Nun, da lege ich eben den siebzehnten Band der Schröckhschen Kirchengeschichte weg.’ Auf meine Frage, ob er sich durch die siebzehn Bände mit Behagen durchgebracht hätte, versicherte er […], dass er Wort für Wort gelesen hätte.“ (Borowski, [s. Anm. 11], 70). Borowski, (s. Anm. 11), 70f. Borowski, (s. Anm. 11), 70. Jachmann, (s. Anm. 11), 146. Borowski, (s. Anm. 11), 71. Jachmann, (s. Anm. 11), 149. „Kant war weder Atheist noch Materialist.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 151). Kant an Lavater am 28.4.1775, zit. Eisler, Rudolf, Kant-Lexikon, Hildesheim/Zürich/New York 1994, 78. Kant an Lavater nach dem 28.4.1775, zit. Eisler, Kant-Lexikon, (s. Anm. 189), 78.

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um ist Kant der unvergängliche „Leitfaden wahrer Weisheit, mit welchem nicht allein eine ihre Spekulation vollendete Vernunft zusammentrifft, sondern daher sie auch ein neues Licht in Ansehung dessen bekommt, was, wenn sie gleich ihr ganzes Feld durchmessen hat, ihr noch immer dunkel bleibt und wovon sie doch Belehrung bedarf“ 191 . Dem Christentum vindiziert Kant 1. „größte(n) Achtung“ wegen der „Heiligkeit seiner Gesetze“, 2. „Liebeswürdigkeit […] der Sache selbst: nämlich der sittlichen Verfassung, die Er (Christus) stiftete“ und 3. die „die Herzen der Menschen“ gewinnende „liberale Denkungsart“, die „Sklavensinn und … Bandenlosigkeit“ ausschließt. „Das Gefühl der Freiheit in der Wahl des Endzwecks ist das, was ihnen (den Menschen) die Gesetzgebung liebenswürdig macht.“ (EaD, AA 8, 337f.) Dieses liberale liebenswürdige Christentum hat allerhöchste Relevanz, denn: „Sollte es mit dem Christentum einmal dahin kommen, dass es aufhörte liebenswürdig zu sein“, wäre der Antichrist gekommen und würde „das (verkehrte) Ende aller Dinge in moralischer Rücksicht eintreten“. (EaD, AA 8, 339). Kant richtete sich, wie Jachmann schreibt, mit seinem 63. Lebensjahr „seine eigene Ökonomie ein“ und lud zu Tisch ein.192 Er freute „sich nach der vielen Arbeit und Anstrengung auf Speisen und Unterhaltung“. 193 Diese Kantschen Tischrunden hatten z. T. einen fast ritualen Ablauf. Das begann mit der Einladung. Erst am Morgen desselben Tages, an dem er mit den Gästen speisen wollte, lud er sie zum Mittag ein und zwar aus dem Grunde, damit nicht die Geladenen „meiner Einladung wegen irgendeine Aufopferung machen“ müssten. 194 Kant legte Wert darauf, dass seine Gäste und er mittags ordentlich aßen. Für ihn war das Mittagessen die einzige richtige Mahlzeit, die er zu sich nahm. Wenn sein Diener, der alte Krieger Lampe, ihm die Meldung machte: „Die Suppe ist auf dem Tische“, begab sich Kant mit seinen Gästen, die sich zunächst im Bibliothekzimmer aufhielten, unverzüglich in die Essstube. Nachdem man sich gesetzt hatte, eröffnete Kant mit den Worten „Nun, meine Herren“ die Tafel. Es wurde stets ein dreigängiges, aus Vorsuppe, Fleischgericht und 191 192

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Kant an Jung-Stilling, nach dem 1. März 1789, zit. Eisler, Kant-Lexikon, (s. Anm. 189), 78. Der „geheime Rat v. Hippel, Kriminalrat Jensch, Regierungsrat Vigilantius, Doktor Hagen, Kriegsrat Scheffner, Doktor Rink, Professor Kraus, Professor Pörschke, Professor Gensichen, Bancodirektor Ruffmann, Ober-Stadtinspektor Brahl, Pfarrer Sommer, Kandidat Ehrenboth, Kaufmann Johann Conrad Jacobi, Kaufmann Motherby“ und Jachmanns Bruder Johann Benjamin waren „seine gewöhnlichen Gäste, von denen einige in der Woche regelmäßig eingeladen wurden.“ Meistens hatte Kant „einen oder zwei Tischgesellschafter; und wenn er große Tafel gab, so bat er fünf Freunde; denn auf sechs Personen war sein Tisch und seine ganze Ökonomie nur eingerichtet.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 160). Wasianski, (s. Anm. 11), 197. Jachmann, (s. Anm.11), 160f; vgl. zum Folgenden Wasianski, (s. Anm.11), 196f.

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Obst bestehendes, Menu serviert, dazu meistens Rotwein 195 . Nun kam auch dank der von Kant sorgfältigen Wahl seiner Gäste 196 und vor allem wegen der anregenden Aufmerksamkeit des Gastgebers 197 das Erzählen 198 , Räsonieren und Scherzen so kräftig zur Entfaltung, das es oft „von 1 Uhr bis 4, 5, öfters auch später“ andauerte. 199 Mittagsruhe verachtete Kant. Siesta sah er als „eine schimpfliche Trägheit“ 200 an. Vielmehr erfolgte nach der Tischgesellschaft, „ohne Kaffee oder Tee genossen zu haben“ 201 , Kants obligater Spaziergang, den er so regelmäßig und pünktlich antrat, dass erzählt wird, die Königsberger hätten danach ihre Uhren gestellt. 202 Nach dem Spaziergang arbeite er wieder und ging, „ohne sich in spätern Jahren das mindeste zum Abendgenuss reichen zu lassen, um 10 Uhr pünktliches Eilen zur Ruhe. Dies war bei K. einen Tag wie den andern und blieb bei ihm so“ 203 , bis auf die beiden letzten Jahre seines Leben, wo er zunächst um 21 Uhr und zuletzt noch früher zu Bette ging. 204 195

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„Zu jeder Speise nahm Kant Senf, den er für seine Gäste wie für sich selbst sorgfältig herstellte. Neben Wein trank Kant auch Wasser, doch nie Bier, das er für schädlich hielt. Seine Lieblingsspeisen waren Kabeljau, dicke Erbsen, Teltower Rübchen, Göttinger Wurst und Kaviar, den ihm sein Verleger Hartknoch aus Riga schickte.“ (Schultz; Kant, [s. Anm. 89], 25f.). „Bei der Wahl seiner Tischfreunde beobachtete er (Kant) außer den sonst gewöhnlichen Maximen unverkennbar noch zwei andere. Zuerst wählte er sie aus verschiedenen Ständen: Dienstmänner, Professoren, Ärzte, Geistliche, gebildete Kaufleute, auch junge Studierende, um der Unterhaltung Mannigfaltigkeit zu verschaffen. Zweitens waren seine gesamten Tischfreunde jüngere Männer wie (U.K. = als) er.“ (Wasianski, [s. Anm. 11], 198). Als Gastgeber verband Kant „mit seiner feinen gesellschaftlichen Bildung eine zuvorkommende Aufmerksamkeit und Gefälligkeit und bot alles auf, um seine Gäste auf die angenehmste Art zu unterhalten und zu vergnügen.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 160). „Kant vermied in großen Gesellschaften, selbst unter Gelehrten, Gespräche über eigentliche Schulgelehrsamkeit; am wenigsten hörte man ihn über Gegenstände seiner Philosophie argumentieren.“ (Jachmann, [s. Anm. 11], 156) „Die Gegenstände der Unterhaltung waren größtenteils aus der Meteorologie, Physik, Chemie, Naturgeschichte und Politik entlehnt, besonders aber wurden die Geschichten des Tages, wie sie uns die Zeitungen lieferten, scharf beurteilt.“ (Wasianski, [s. Anm. 11], 199). Wasianski, (s. Anm. 11), 197. Jachmann, (s. Anm. 11), 185f. Borowski, (s. Anm. 11), 49. Vgl. Schultz, Kant, (s. Anm. 89), 27. Borowski, (s. Anm. 11), 49f. Bekannt und öffentlich wirksam ist das doch arg einseitige Bild, das Heine von Kants Tagesgeschäft entwirft: „Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte. Er lebt ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben in einem stillen abgelegenen Gäßchen zu Königsberg, einer alten Stadt an der nordöstlichen Grenze Deutschlands. Ich glaube nicht, dass die große Uhr der dortigen Kathedrale leidenschaftsloser und regelmäßiger ihr äußeres Tagewerk vollbrachte, wie ihr Landsmann Immanuel Kant. Aufstehen, Kaffeetrinken, Schreiben, Kollegienlesen, Essen, Spazieren, alles hatte seine bestimmte Zeit, und die Nachbarn wussten ganz genau, dass die Glocke halb vier sei, wenn Immanuel Kant in seinem grauen Leibrock, das spanische Röhrchen in der Hand, aus seiner Haustüre trat und nach der kleinen Lindenallee wandelt, die man seinetwegen noch jetzt den Philoso-

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Kant las viel, besonders am Abend. Hauptlektüre Kants „waren […] die Meisterwerke, die in seinem Hauptfache, in Philosophie und Mathematik erschienen“ 205 . Intensiv las er Hutcheson, Hume und Rousseau, kannte die „neuere ästhetische Literatur“ und hatte „viele theologische Gelehrsamkeit“ 206 . Kant lebte unter der Regierung von vier preußischen Königen. Der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. regierte von 1713 bis 1740, Friedrich II, der Große von 1740 bis 1786, Friedrich Wilhelm II. von 1786 bis 1797 und Friedrich Wilhelm III. von 1797 bis 1840. Die beiden ersten Herrscher waren Vertreter des aufgeklärten Absolutismus 207 . Konfessionelle Toleranz, unabhängige geordnete Rechtsprechung, Abschaffung der Folter, obrigkeitlicher Wohlfahrtsstaat, moderne Bürokratie, effiziente Wirtschaftspolitik und natürlich das Militär prägten das damalige Preußen. 208 Friedrich Wilhelm II. hebt zwar die aufklärerische Entwicklung zum Rechtsstaat nicht generell auf, aber verlässt die aufklärerische Toleranz seiner beiden Vorgänger. Er ersetzt den Kant gewogenen Minister Abraham Freiherr von Zedlitz 209 (1731-1793) durch (den ehemaligen Pfarrer, aufgeklärten Freimauer, später aufklärungsfeindlich mystischtheosophischen Rosenkreuzer) Johann Christoph Wöllner (1732-1800). 1788 erscheint im Juni auf Veranlassung Friedrich Wilhelm II. das so genannte Wöllnersche Religionsedikt und im Dezember das es verschärfende Zensuredikt. (SF, AA 7, 5) Damit wird Kant im Zusammenhang mit der Veröffentlichung seiner Religionsphilosophie Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Schwierigkeiten bekommen. Ein erster Teil dieser Schrift Über das Böse in der menschlichen Natur erscheint im April 1792 ohne Beanstandung der Zensur in der Berliner Monatsschrift. Der zweite Teil Vom Kampf des guten Prinzips mit dem Bösen passierte nicht die Zensurbehörde. Im Sommer 1792 ergänzte Kant die beiden ersten Teile durch zwei _____________

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phengang nennt. Achtmal spazierte er dort auf und ab, in jeder Jahreszeit, und wenn das Wetter trübe war oder die grauen Wolken einen Regen verkündigten, sah man seinen Diener, den alten Lampe, ängstlich besorgt hinter ihm drein wandeln mit einem langen Regenschirm unter dem Arm, wie ein Bild der Vorsehung.“ (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Ders., Sämtliche Werke in zwei Bänden, Essen o. J., Bd. 2, 47). Wasianski, (s. Anm. 11), 209. Borowski, (s. Anm. 11), 69. Vgl. zum Folgenden Borowski, (s. Anm. 11), 69 ff. und Jachmann, (s. Anm. 11), 121 ff. Jachmann, (s. Anm. 11), 122. Friedrich der Große, „der Philosoph von Sanssouci, der einer Epoche den Namen gab (Friderizianisches Zeitalter), war nicht nur ein Aufklärer, sondern auch – als beachtlicher Kenner und Kritiker von Bibel und Kirchengeschichte – ein Laientheologe“ (Wolf-Dieter Hausschild, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 2, Gütersloh 1999, 623). Vgl. Höffe, Kant, (s. Anm. 3), 37. Ihm widmete Kant seine Kritik der reinen Vernunft.

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weitere und gab dem Band den Titel Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Er legte das Buch der Königsberger Theologischen Fakultät vor, um zu klären, ob die Arbeit in ihren Bereich fiele. Der Kantschen Erwartung gemäß erklärt diese sich für nicht zuständig und verweist auf die Philosophische Fakultät. Kant wendet sich daraufhin an die Philosophische Fakultät des geplanten Druckortes Jena und erhält von ihr das Imprimatur, so dass Ostern 1793 seine Religionsschrift erscheinen kann. Im Herbst des kommenden Jahres erhält Kant ein „auf Seiner Köngl. Majestät allergnädigsten Spezialbefehl“ von Wöllner unterzeichnetes Schreiben vom 1. Oktober 1794. Dort wird ihm vor allen Dingen im Hinblick auf seine Religionsschrift vorgeworfen, dass er seine „Philosophie zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christentums missbraucht“ und damit königliches „große(m)s Missfallen“ erregt hat. Er habe gegen seine „Pflicht als Lehrer der Jugend und gegen […] landesväterliche Absichten“ gehandelt. „(B)ei Vermeidung Unserer höchsten Ungnade“ wird Kant befohlen, „sich künftighin Nichts dergleichen … zu Schulden kommen (zu) lassen“, seine Pflicht gemäß seinen Talenten zu tun entsprechend „landesväterliche(r) Intention“. Andernfalls habe er sich „bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen“. (SF, AA 7, 6) In seinem Antwortschreiben sagt Kant, dass er „als Lehrer der Jugend […] in akademischen Vorlesungen“ sich „niemals“ in die „Beurteilung der heil. Schrift und des Christentums eingemischt habe“. (SF, AA 7, 7) Da seine Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft „keine Würdigung des Christentum“ enthielte, hätte er sich „auch keine Abwürdigung desselben … zu Schulden kommen lassen“. Eigentlich ginge es ihm nur um „die Würdigung der natürlichen Religion“. (SF, AA 7, 8) Damit ihm in Zukunft nicht der Vorwurf der „Entstellung und Herabwürdigung des Christentums“ gemacht werden könne, erklärt er „als Ew. Königl. Majestät getreuster Untertan 210 , feierlichst […]: dass ich mich fernerhin aller öffentlichen Vorträge die Religion betreffend, es sei die natürliche oder geoffenbarte […] gänzlich enthalten werde“. (SF, AA 7, 10) Nach dem Tode Friedrich Wilhelm II. 1797 fühlte Kant sich nicht mehr an diese Verpflichtung gebunden.211 1797 erscheint Kants Metaphysik der Sitten. In deren ersten Teil Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre äußert er sich auch praktischphilosophisch zur Obrigkeit. (MSRL, AA 6, 319) Kant zitiert Römer 13,1: 210 211

Diese Aussage interpretiert Kant als Vorbehalt: nicht auf immer, sondern solange dieser König lebt. (SF, AA 7, 10 Anm.). Kant schreibt: „Widerruf und Verleugnung seiner inneren Überzeugung sei niederträchtig und könne niemand zugemutet werden, aber da man nicht die Pflicht habe, alle Wahrheit zu sagen, so werde er als treuester Untertan Ihro Majestät schweigen. Unter einem anderen Monarchen könne seine Freiheit wieder eintreten.“ (Br, AA 12, 380).

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„Gehorchet der Obrigkeit […], die Gewalt über euch hat“ und versteht diesen paulinischen Satz als kategorischen Imperativ: Es „ist ein kategorischer Imperativ …: Gehorchet der Obrigkeit“, allerdings mit der normativen Einschränkung: „in allem, was nicht dem inneren Moralischen widerstreitet“. (MSRL, AA 6, 371f.) Alles infragestellende Räsonieren hinsichtlich der Obrigkeit ist nicht nur obsolet, sondern untersagt. „Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich: d. i. der Untertan soll nicht über diesen Ursprung, als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelndes Recht (ius controversum), werktätig vernünfteln.“ (MSRL, AA 6, 318) Der Grund dieses Verbotes des vernünftelnden Infragestellens des Ursprung der Obrigkeit ist der: „Denn da das Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum imperium) zu urteilen, schon als unter einem allgemein gesetzgebenden Willen vereint angesehen werden muss, so kann und darf es nicht anders urteilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (summum imperans) es will.“ (MSRL, AA 6, 318) Praktisch philosophische Relevanz hat der Satz: „‚Alle Obrigkeit ist von Gott‚“ (Röm. 13,1); und zwar ist er nicht historisch als „Geschichtsgrund der bürgerlichen Verfassung“ zu verstehen. Vielmehr ist er „eine Idee als praktisches Vernunftprinzip …: der jetzt bestehenden gesetzgebenden Gewalt gehorchen zu sollen, ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle.“ So muss die Obrigkeit vorgestellt werden „als ob … (sie) nicht von Menschen“, sondern „von irgend einem höchsten tadelfreien Gesetzgeber herkommen müsse“. (MSRL, AA 6, 319) Schon 1794 dachte Kant daran, „sein Bündel zu schnüren“. Er antwortete, gefragt nach seinen geplanten gelehrten Arbeiten: „Ach was kann das sein. Sarcinas colligere! daran kann ich jetzt nur noch denken!“ 212 Kant macht sich Gedanken über Sterben und Tod. Sterben gäbe es nicht als Selbsterfahrung, sondern nur als Wahrnehmung anderer. 213 Er konstatiert zwar die allen Menschen eignende „natürliche Furcht vor dem Tod“, die jedoch nicht missverstanden werden dürfe als „ein Grauen vor Sterben“, sondern vielmehr „vor dem Gedanken gestorben (d. i. tot) zu sein; den also der Kandidat des Todes nach dem Sterben noch zu haben vermeint“. Allerdings sei dieser Gedanke konsequent gedacht ein unmöglicher: „Der Gedanke ich bin nicht kann gar nicht existieren; denn bin ich nicht, so kann ich mir auch nicht bewusst werden, dass ich nicht bin. Ich kann wohl […] Prädicata von mir selbst verneinend denken […]; aber in der ersten Person sprechend das Subjekt selbst verneinen, wobei … dieses sich selbst vernichtet, 212 213

Zit. Kühn, Kant, (s. Anm. 13), 456. „Das Sterben kann kein Mensch an sich selbst erfahren (denn eine Erfahrung zu machen, dazu gehört Leben), sondern nur an andern wahrnehmen.“ (Anth, AA 7, 166f.).

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ist ein Widerspruch.“ (Anthr., AA 7, 167) Kant selbst war „der ruhigen Erwartung seines Todes stets fähig“: „Meine Herren, ich fürchte nicht den Tod, ich werde zu sterben wissen. Ich versichere ihnen vor Gott, dass wenn ich’s in dieser Nacht fühlte, dass ich sterben würde, so wollte ich meine Hände aufheben, falten und sagen: Gott sei gelobt! Ja, wenn ein böser Dämon mir im Nacken säße und mir ins Ohr flüsterte: Du hast Menschen unglücklich gemacht! dann wäre es etwas anderes.“ 214 Kant hielt seine letzte Vorlesung am 23. Juli 1796. Die letzten von ihm selbst herausgegebenen Druckschriften Der Streit der Fakultäten und Anthropologie in pragmatischer Hinsicht erscheinen 1798. Einige noch vor seinem Tod publizierten wurden nicht von ihm selbst ediert, so Kants Logik (1800), Physische Geographie (1802), Über Pädagogik (1803). Die erste wurde von Gottlieb Benjamin Jäsche, die anderen drei und die 1790 geschriebene Preisschrift Über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz und Wolff (1804) wurden von Friedrich Theodor Rink herausgegeben. Erst nach seinem Tod werden die Vorlesungen Über die philosophische Religionslehre (1817, hg. v. Karl Heinrich Ludwig Pölitz), Die Metaphysik (1821, hg. v. Karl Heinrich Ludwig Pölitz), Menschenkunde oder philosophische Anthropologie (1831, hg. v. Friedrich Chr. Starke) und Eine Vorlesung Kants über Ethik (1924, hg. v. Paul Menzer) gedruckt. 215 Im Alter, sagt Kant, „vertrocknet“ „die poetische Ader“, während die Wissenschaft gut gedeiht. Das rührt daher, dass „Schönheit eine Blüte, Wissenschaft aber Frucht ist“. Im Alter schwindet die für die Poesie als freie Kunst erforderliche Leichtigkeit, während die profilierte Gewohnheit des Alters die Wissenschaft gut voranschreiten lässt. (Anth, AA 7, 249) Seit Frühjahr 1800 zog sich Kant aus der Öffentlichkeit zurück. So unternahm er ab Mai nicht mehr seine gewohnten Spaziergänge, nachdem er im Hause gefallen und sich leicht verletzt hatte. Er wollte nun sich nicht mehr dem Publico zeigen und war hinfort nicht mehr zu bewegen, „einen Fuß aus dem Hause zu setzen“ 216 . Seine körperlichen Kräfte nahmen allmählich ab. „Zuletzt wankte er nur unsicher aus einem Zimmer ins andere, zu Tische, in sein Studierzimmer und in die Schlafstube, bis im 214 215

216

Wasianski, (s. Anm. 11), 208f. Die auf Initiative Wilhelm Diltheys gestartete Akademie-Ausgabe Kants Gesammelte Schriften (AA) erscheint seit 1900. Sie hat 5 Abteilungen: 1. Werke (AA 1-9), 2. Briefwechsel (AA 10-13) 3. Handschriftlicher Nachlass (AA 14-23 [die Bände 21-22 enthalten das Opus postumum]), 4. Vorlesungen (AA 24-29) und 5. Kant-Index (in Vorbereitung). Als erste Bände erschienen 1900 die ersten beiden Briefbände, ihnen folgten 1902 der Werkband 1 (Vorkritische Schriften 1, 1747-1756) und 1903 der Band 4, der die 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, die Prolegomena einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften enthält. Eine gute Übersicht und Charakterisierung der Akademie-Ausgabe gibt Irrlitz, Kant-Handbuch, (s. Anm. 132), 480-503. Jachmann, (s. Anm. 11), 185.

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letzten Winter auch dies ihm zu beschwerlich wurde“ 217 . Wegen Kants zunehmender Hinfälligkeit wurde nun sein Studierzimmer auch Ess- und Schlafzimmer. 218 In den letzen zwei Jahren seines Lebens war es ihm immer mehr weniger möglich, von 5 Uhr bis 22 Uhr wach zu sein. Der Schlaf übermannte ihn jetzt oft schon am Vormittag. Er ging früher zu Bett, in den letzten Monaten schon um 18 Uhr. Der Schlaf erquickte ihn immer weniger. Er schlief unruhig, verspürte ständig Harn- und Ausleerungsdrang, nahm zusehends an Körper und Geist ab. 219 Allerdings war er auch in diesen Zeiten zuweilen „zum Frohsein fähig“; so in der Vorfreude auf seinen 80. Geburtstag und die dann anstehende Geburtagsfesttafel.220 Ende 1803 wurde Kants Unterschrift so undeutlich, dass sich Wasianski, um die Hausgeschäfte abwickeln zu können, eine „Generalvollmacht ausfertigen“ ließ. 221 Kant erkannte immer weniger Freunde und Bekannte, in den letzten vierzehn Tagen auch nicht die ständig sich um ihn Sorgenden, so seine jüngste Schwester, seinen Diener und seinen vertrauten Diakonus Wasianski. Wie Wasianski berichtet waren Kants „Beschäftigungen in den beiden letzten Wochen seines Lebens … nicht bloß zwecklos, sondern zweckwidrig“ 222 . Eindrücklich, anschaulich und einfühlsam beschreibt Wasianski en detail das Zuendegehen des kantischen Lebens, Kants Sterben und Tod. 223 Die undeutlichen, dem Treuen aber verständlichen letzten Worte, die Kant diesem Begleiter seines Alters und Sterbens sagte, nachdem der dem Sterbenden ein Wasser mit Wein gemischt gereicht hatte, waren: „Es ist gut.“ 224 Kant starb am Sonntag, dem 12. Februar 1804. 225 Das Begräbnis Kants fand am 28. Februar statt. Tausende bildeten den Trauerzug, der „unter dem Geläute aller Glocken der Stadt“ Kants Sarg, auf dem die Worte Cineres mortales immortalis Kantii 226 standen, zur Beerdigungsfeier in der Dom- und Universitätskirche folgte. Kant wurde

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Jachmann, (s. Anm. 11), 185. Jachmann, 185; vgl. Wasianski, (s. Anm. 11), 260. „Ein … Gelehrter aus Berlin“, der Kant im Sommer 1803 besuchte, sagte: „Er habe nicht Kant, sondern nur Kants Hülle gesehen“ (Wasianski, [s. Anm. 11], 263). Wasianski, (s. Anm. 11), 259. Wasianski, (s. Anm. 11), 258f. „Im Dezember 1803 konnte er kaum seinen Namen mehr schreiben. Er sah so schlecht, dass er den Löffel nicht mehr fand, und wenn ich mit ihm speiste, … zerlegte ich ihm die Speisen, legte sie ihm in den Löffel und gab ihm denselben in die Hand.“ (Wasianski, [s. Anm. 11], 258). Wasianski, (s. Anm. 11), 262. Vgl. Wasianski, (s. Anm. 11), insbes. 252-271. Wasianski, (s. Anm. 11), 267. „Sein Haupt wurde beschoren und dadurch zum Gipsabguß, den Prof. Knorr übernahm, vorbereitet.“ (Wasianski, [s. Anm. 11], 269). Zit. Dietzsch, Kant, (s. Anm. 15), 273.

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„in der akademischen Totengruft“ dieses Gotteshauses beigesetzt. 227 Am 23. April 1804 fand eine akademische Gedenkfeier der Universität zu Ehren Kants statt. 228 In seiner Gedächtnisrede auf Kant 229 nannte der Dekan der Philosophischen Fakultät und Professor der Beredsamkeit Konsistorialrat Dr. Samuel Gottlieb Wald (1762-1828) Kant „den großen Baumeister …, der nach Plato und Aristoteles, Newton und Leibniz, Wolf und Baumgarten, das Gebiet der Vernunft erforschte, erweiterte, befestigte“. Ihn zu vergessen, was Gott verhüten wolle, sei „philosophische(n)r Vandalismus“, denn „auf dem Grunde …, den seine Architektonik der Vernunft legte“, werde „die Nachwelt weiter fortbauen“. Die spätere, an der ehemaligen Schlossmauer in Königsberg angebrachte, Gedenktafel charakterisiert Kants Werk mit dessen bekannten und berühmten Worten aus dem Beschluß der Kritik der praktischen Vernunft: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Erfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ (KpV, AA 5, 161) Wichtig und unentbehrlich für das Verstehen dieses Satzes ist Kants Interpretation desselben: „Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muss, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen lässt.“ (KpV, AA 5, 162)

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Wasianski, (s. Anm. 11), 271. „Der erste Redner am Grab war der stud. theol. Ernst Gottfried Adolph Böckel (1783 bis 1854), später Professor in Greifswald.“ (Dietzsch, Kant, [s. Anm. 15], 271f.). „Die Kollegen Kants besorgten auf den Tag, der seinem Geburtstage folgte […] am 23. April einen Gedächtnisakt, desgleichen sich sonst nicht in den Jahrbüchern unserer Universität findet. Seine Büste, von Hagemann, Schadows Schüler, gearbeitet, stand … an dem oberen Teile des Hörsaals vor dem Katheder. Nach einer vorhergegangenen Trauermusik sprach der ordentliche Redner der Akademie – [Samuel Gottlieb]Wald von und über Kant, ganz der Würde dieses Namens angemessen.“ (Borowski, [s. Anm. 11], 82). Zit. Dietzsch, Kant, (s. Anm. 15), 273.

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Zeittafel zu Kants Leben und Werk230 1724

1730-1732 1732-1740 1740 1740-1746 1747 1746-1754 1755

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22. April: Geburt Immanuel Kants als viertes Kind des Riemermeisters Johann Georg Kant (1682-1746) und seiner Frau Anna Regina, geb. Reuter (1697-1737), in Königsberg. Besuch der Vorstädter Hospitalschule. Besuch des Collegii Fridericiani; Einfluss Franz Albert Schultz’. Tod Friedrich Wilhelms I.; Friedrich II. (der Große) wird König von Preußen. 24. September 1740 Immatrikulation an der Universität Königsberg; Studium der Philosophie, Mathematik, Naturwissenschaften und Theologie. Erste Abhandlung: Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (AA 1, 1-182). Hauslehrer in Judtschen, Arnsdorf und Rautenburg (Umgebung Königsbergs). Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (AA 1, 215-368). 12. Juni: Promotion zum Magister mit der Dissertation Meditationum quarundam de igne succincta delineatio [„Über das Feuer“] (AA 1, 369-384). 27. September: Erwerb der Lehrbefugnis und Privatdozentur an der Universität Königsberg mit der Dissertation Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio [„Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnisse“] (AA, 1, 385-416). Drei Aufsätze über das Erdbeben von Lissabon (AA 1, 417-472). Erfolglose Bewerbung um die Professur für Logik und Metaphysik in Königsberg. 10. April: Disputation über die Schrift Mataphysicae cum geometria iunctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. con-

Vgl. die Zeittafelangaben bei: Höffe, Otfried, Immanuel Kant, München 20005, 303f.; Irrlitz, Gerd, Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart/Weimar 2002, 507-509; Kühn, Manfred, Eine Biographie, München 2003, 493-498; Schultz, Uwe, Immanuel Kant, Reinbek 22004, 173f.

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tinet monadologiam physicam [„Physische Monadologie“] (AA 1, 473-488). Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde (AA 1, 489-504). Siebenjähriger Krieg. Russische Besetzung Königsbergs. Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren erwiesen (AA 2, 45-62). Herder wird Kants Student (bis 1764). Rousseau, Emilie und Contrat social. Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (AA 2, 63-164). Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (AA 2, 165-204). Kant lehnt eine Professur der Dichtkunst in Königsberg ab. Kant bekommt den zweiten Preis für seine Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (AA 2, 273-302), die er auf eine Preisfrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften verfasste. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (AA 2, 205-256). Unterbibliothekar der Schlossbibliothek (bis 1772). Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (AA 2, 315-384). Beginn des Briefwechsels mit Moses Mendelssohn. Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (AA 2, 375-384). Ablehnung der Rufe aus Erlangen und Jena. Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg. De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis [„Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen“] (AA 2, 385-420). Jahre des Schweigens; Entstehungszeit der Kritik der reinen Vernunft. Karl Abraham von Zedlitz amtiert als Minister der Kirchen- und Unterrichtsangelegenheiten in Preußen. Von den verschiedenen Rassen der Menschen (AA 2, 427-444). Kant wird Dekan der Philosophischen Fakultät. Amerikanische Unabhängigkeitserklärung und Erklärung der Menschenrechte in Virginia. Aufsätze, das Philanthropin betreffend (AA 2, 445-452).

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Ablehnung eines Rufes an die Universität Halle. Dekan. Ständiges Mitglied des Akademischen Senats (bis 1804). Kritik der reinen Vernunft (AA 4, 1-152). Dekan. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (AA 4, 253-384). Im Dezember kauft Kant sich ein Haus. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (AA 8, 15-32). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (AA 8, 33-42). Rezensionen der Herderschen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (AA 8, 43-66). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA 4, 385-464). Dekan. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (AA 4, 465566). Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (AA 8, 107-124). Was heißt: Sich im Denken orientieren? (AA 8, 131-148). Kant amtiert erstmals als Rektor der Universität. Tod Friedrichs des Großen und Thronbesteigung Friedrich Wilhelms II. Kant wird Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften. Zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft (AA 3). Kritik der praktischen Vernunft (AA 5, 1-164). Über den Gebrauch telelogischer Prinzipien in der Philosophie (AA 8, 157-184). Kant ist zum zweiten Mal Rektor. 9. Juli: Preußisches Religionsedikt. 19. Dezember: Preußisches Zensuredikt. Beginn der Französischen Revolution. Kritik der Urteilskraft (AA 5, 165-486). Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (AA 8, 253-272). Dekan. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA 6, 1-202). Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA 8, 273-314). Zweite Auflage von Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.

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Das Ende aller Dinge (AA 8, 325-340). Zum ewigen Frieden (AA 8, 341-386). 23. Juli: Kants letzte Vorlesung. Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie (AA 8, 411-422). Die Metaphysik der Sitten (AA 6, 203-494). Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (AA 8, 423-430). 10. November: Tod Friedrich Wilhelms II.; Friedrich Wilhelm III. ist sein Nachfolger. Mitglied der Akademie der Wissenschaften von Siena. Der Streit der Fakultäten (AA 7, 1-116). Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA 7, 117-334). Offene Erklärung gegen Fichte. Fichte: Appellation an das Publikum. Herder, Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Letzte von Kant selbst veranstaltete Veröffentlichung. Kants Logik, herausgegeben von Gottlob Benjamin Jäsche (AA 9, 1-150). Tod des Bruders und Pfarrers Johann Heinrich (17351800). Physische Geographie, herausgegeben von Friedrich Theodor Rink (AA 9, 151-436). Pädagogik, herausgegeben von Friedrich Theodor Rink (AA 9, 437-500). April: Kants letzter Brief. Oktober: Erste schwere Erkrankung Kants. Tod Herders. 12. Februar, 11 Uhr vormittags: Tod Kants. 28. Februar: Begräbnis Kants. 23. April: Gedenkgottesdienst an der Universität.

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Wichtige Kantliteratur 1. Werkausgaben Gesammelte Schriften, Berlin 1900 ff. (Akademieausgabe, zit: AA): 1. Abt. (Bd. 1-9): Werke, 1902 ff.). 2. Abt. (Bd. 10-13): Briefwechsel, 1900/02. 3. Abt. (Bd. 14-23): Nachlaß, 1900-1955. 4. Abt. (Bd. 24-29) Vorlesungen, 1966 ff. 5. Abt. (Bd. 30 ff.): Kant-Index [noch nicht erschienen]. Werke. Akademie Textausgabe, Bd. 1-9 und 2 Anmerkungsbände, Berlin 1968, Berlin/New York 1977 [gleiche Paginierung wie AA]. Sämtliche Werke, hg. v. Vorländer, Karl, 10 Bde., Leipzig 1904-1914. Werke, hg. v. Cassirer, Ernst, 11 Bde., Berlin 1912-1922, ND Hildesheim 1977. Werke in sechs Bänden, hg. v. Weischedel, Wilhelm, Wiesbaden 1956-64 (ND: Darmstadt 1963/64; seitenidentische Ausgabe in 12 Bänden), Frankfurt/M. 1968, Register: Frankfurt/M. o. J. 2. Hilfsmittel Eisler, Rudolf, Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß, Berlin 1930, ND: Hildesheim 1961, 52002. Hinske, Norbert, Kant-Index, Stuttgart 1986 ff. Irrlitz, Gerd, Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart/Weimar 2002. Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift der Kant-Gesellschaft, Berlin u. a. 1897 ff. (Seit 1960 ff. mit fortlaufender Bibliographie von Arbeiten über Kant). Schmid, Carl Christian Erhard, Kritik der reinen Vernunft zu Vorlesungen nebst einem Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der Kantschen Schriften, Jena 1786, ND: Darmstadt 1976 (hg. v. Hinske, Norbert) 21980, 41990.

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Stegmaier, Werner, (Interpretationen:) Hauptwerke der Philosophie von Kant bis Nietzsche, Stuttgart 1997, 15-135 [Interpretationen v. KrV, KpV, KU]. Delekat, Friedrich, Immanuel Kant. Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften, Heidelberg 1963, 19693. 3. Einführende Sekundärliteratur Cassirer, Ernst, Kants Leben und Lehre, Berlin 21921, ND: Hildesheim 1972. Dietzsch, Steffen, Immanuel Kant. Eine Biographie, Darmstadt 2003. Geier, Manfred, Kants Welt. Eine Biographie, Reinbek 2003. Gerhardt, Volker, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002. Höffe, Otfried, Immanuel Kant, München 20005. Kaulbach, Friedrich, Immanuel Kant, Berlin 1969. Kühn, Manfred, Kant. Eine Biographie, München 2003. Vorländer, Karl, Immanuel Kant. Der Mann und das Werk [1924], Hamburg 19903. Schnädelbach, Herbert, Kant, Leipzig 2005. Schultz, Uwe, Immanuel Kant, Reinbek bei Hamburg [1965], 22004. Simon, Josef, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin-New York 2003.

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Natur und Freiheit als die beiden Gegenstände der Philosophie. Eine materiale Propädeutik in Kants Denken Udo Kern

„Ordnung und Zusammenhang“ erhalten die Wissenschaften erst durch die Philosophie. (Log, AA 9, 26) Nach Kant ist die Philosophie nicht Vernunftwissenschaft (a priori). Das ist nur die Mathematik. „(W)as die Vernunft betrifft“, kann man „nur philosophieren lernen“. Philosophie als Philosophieren darf nicht verwechselt werden mit der (historischen) Kenntnis „fremder Vernunft“. Sie kann in diesem Sinne nicht gelernt werden. So wird man nie philosophischer Meister, sondern bleibt dogmatisch an fremder Vernunft orientiert unselbständiger Lehrling. Philosophieren wird vielmehr geboren „aus der eigenen Vernunft“, die aus den „allgemeinen Quellen der Vernunft“ schöpft. (Log, AA 9, 26) Das vernunftgemäße Philosophieren geht kritisch mit dem „Gelernten“ um. (KrV, B 864f.) Selbstdenker, der souverän frei – und nicht servil und auch nicht dialektisch-sophistisch mit dem „Schein von Wahrheit und Weisheit“ – Gebrauch von seiner Vernunft macht, ist der wahre Philosoph. Die „Würde des Philosophen“ besteht darin, dass dieser „Kenner(s) und Lehrer(s) der Weisheit“ (Log, AA 9, 26), nicht Wissenschaftsarbeiter und Gelehrter, sondern Weisheitsforscher ist. 1 Der Philosophie als „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft“ eignen „zwei Gegenstände“. Das sind Natur und Freiheit. Damit hat es Philosophie mit dem Naturgesetz und dem Sittengesetz zu tun: „Die Philosophie der Natur geht auf alles, was da ist, die der Sitten nur auf das, was da sein soll.“ (KrV, B 868). Bevor Kant zu dieser für ihn grundlegenden Bestimmung von Philosophie kommt, hat er einen langen Weg zurückgelegt. 1

„Was den Philosophen betrifft, so kann man ihn gar nicht als Arbeiter am Gebäude der Wissenschaften, d. i. nicht als Gelehrten, sondern muss ihn als Weisheitsforscher betrachten.“ (Anth, AA 7, 280 Anm.) – Die von mir hier vorgelegte Propädeutik ist bewusst mit vielen Kantzitaten versehen, um Leserinnen und Leser materialiter an Kant orientiert in dessen Werk einzuführen.

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Kant lobt die Einteilung der alten griechischen Philosophie in die drei Wissenschaften: Physik, Ethik und Logik und sieht sie als „vollkommen der Sache angemessen an“; hinzuzutun sei lediglich „das Prinzip derselben“. Er lehrt: „Alle Vernunfterkenntnis ist entweder material und betrachtet irgendein Objekt; oder formal und beschäftigt sich … mit der Form des Verstandes und der Vernunft selbst und den allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt ohne Unterschied der Objekte. Die formale Philosophie heißt Logik, die materiale …, welche es mit bestimmten Gegenständen und den Gesetzen zu hat, denen sie unterworfen sind, ist … zwiefach. Denn diese Gesetze sind entweder Gesetze der Natur, oder der Freiheit. Die Wissenschaft von der ersten heißt Physik, die der andern ist Ethik, jene wird Naturlehre, diese Sittenlehre genannt.“ (GMS, AA 4, 387)

1. Auf dem langen Wege Kants Philosophie ist philosophiegeschichtlich gesehen zunächst einmal die Versöhnung zweier bis in Kants Zeit reichender sich diametral gegensätzlich verstehender philosophischer Ansätze, nämlich der des Rationalismus und Empirismus. Dem Rationalismus, der seine Galionsfiguren in Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Christian Wolff (1679-1754) hatte, ist der Grund aller Erkenntnis der Verstand und nicht die Sinne. Form und Inhalt alles Wissen stammen aus der ratio und sind unabhängig von aller Empirie. Was der Verstand über die Welt aussagt, das ist wahr. Er ist die Quelle wahrer Erkenntnis. Alle Vorstellungen, die wir haben können, sind uns in angeborenen oder apriorischen Vernunftbegriffen gegeben. Von außen her kann nichts in unsere vernünftige Seele hineingelangen. Die Empfindungen, die ja scheinbar durch die Gegenstände der Außenwelt in uns hervorgerufen werden, sind in Wahrheit in uns selber, sind unserer Seele ebenso angeboren wie die Begriffe. Empfindung oder sinnliche Wahrnehmung ist nur dem Grade nach von den Begriffen verschieden, ist verworrene Vorstellung. Wahre Erkenntnis ist nur durch Begriffe möglich. Der Empirismus setzt dagegen auf die Erfahrung als dem grundlegenden Datum alles Wissens. Alle Erkenntnis entspringt aus sinnlicher Erfahrung. Metaphysik als Wissenschaft ist nicht möglich. Kant prägende Vertreter des Empirismus sind John Locke (1632-1704) und David Hume (1711-1776). Nach Locke gibt es keine angeborenen Vorstellungen. Aus der Erfahrung rührt alle Erkenntnis. Erfahrung ist entweder äußere Erfahrung, also Empfindung, oder ist innere Erfahrung, d.h. Selbstwahrnehmung, Reflexion. Dem Verstand liefern die äußere und innere Erfahrung die einfachen Vorstellungen (Ton, Farbe, Geruch, Ausdehnung, Gestalt,

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Bewegung, Denken, Wollen, Lust, Unlust, Dasein etc.). Alles menschliche Wissen ist aus diesen einfachen Vorstellungen zusammengesetzt. Letztere empfängt der Verstand als passiver von außen her, analog einem Bilder von außen her reflektierendem Spiegel. Der Verstand verknüpft nun als aktiver diese einfachen Vorstellungen und es entstehen so zusammengesetzte Vorstellungen (Modi, Substanzen, Relationen). Die sich auf die allgemeinsten Eigenschaften der Dinge (Undurchdringlichkeit, Gestalt, Bewegung) beziehenden einfachen Vorstellungen geben die Dinge so wieder, wie sie objektiv sind. Sie sind wirkliche Vorstellungen der Dinge. Das kann nicht von den einfachen Vorstellungen, die uns nur durch ein Sinnesorgan vermittelt werden (Ton, Farbe, Geruch, Geschmack), gesagt werden. Diese sind nur Wirkweisen und nicht Abbilder der Dinge. Hinsichtlich der zusammengesetzten Vorstellungen gilt: Wenn in der Erfahrung bestimmte Eigenschaften zusammenkommen, entsprechen diese Eigenschaftskomplexe dem Gegenstand, der Substanz. Durch diese Gegensätze von Rationalismus und Empirismus bestimmt und herausgefordert hat sich nun Kant zu seinem eigenen philosophischen Denken hindurchgearbeitet. In den ersten Jahren stand er unter dem Einfluss der in Königsberg herrschenden Leibniz-Wolffschen Richtung. Die Schriften aus dieser rationalistischen Zeit Kants, die etwa bis 1760 andauert, behandeln hauptsächlich Probleme der Physik. Auch hier ist schon eine erstaunliche Selbständigkeit bei Kant zu finden. In seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonschen Grundsätzen abgehandelt (1755) gab Kant eine mit der späteren Lehre Laplaces in vielem harmonierenden, in manchen abweichenden Auffassung von der Entstehung unseres astronomischen Systems, die als KantLaplacesche Theorie Eingang in die naturwissenschaftliche Allgemeinbildung fand. Kant nimmt an, „dass alle Materien, daraus die Kugeln, die zu unserer Sonnenwelt gehören, alle Planeten und Kometen, bestehen, im Anfang aller Dinge, in ihren elementarischen Grundstoff aufgelöst, den ganzen Raum des Weltgebäudes erfüllt haben, darin jetzt diese gebildeten Körper herumlaufen“ (NTH, AA 1, 263). Da die Materie als „der Urstoff aller Dinge“ gesetzmäßig „einer höchst weisen Absicht unterworfen“, um ihren potentiellen teleologischen Vollkommenheiten zu entsprechen, gedacht werden muss, ist die Annahme Gottes als eine über die Materie „herrschende erste Ursache“ für Kant evident. 2 2

„Die Materie, die der Urstoff aller Dinge ist, ist also an gewisse Gesetze gebunden, welchen sie frei überlassen notwendig schöne Verbindungen hervorbringen muss. Sie hat keine Freiheit, von diesem Plane der Vollkommenheit abzuweichen. Da sie also sich einer höchst weisen Absicht unterworfen befindet, so muss sie notwendig in solche übereinstimmende Verhältnisse durch ein über sie herrschende erste Ursache versetzt worden sein,

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In seiner Habilitationsschrift von 1755 Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio lehnt Kant zugunsten des Grundsatzes der Identität das Prinzip des Widerspruchs ab. Zwei Formen sind im ersten zu differenzieren: a) die Formen für die affirmativen Wahrheiten und b) die für die negativen Wahrheiten. Zwei Formen hat auch der Satz vom zureichenden Grund a) die ratio cur (antecedenter determinans), d. i. die ratio essendi vel fiendi und b) die ratio quod (consequenter determinans), d. i. die ratio cognoscendi. David Hume „unterbrach“ Kants „dogmatischen Schlummer“ 3 . Um das Jahr 1760 trat ein Umschwung bei Kant ein. Er hatte sich eingehend mit der Locke/Humeschen Erkenntnislehre beschäftigt und beginnt nun an der (ausschließlichen) Berechtigung des Rationalismus zu zweifeln. In seiner Schrift von 1763 Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration für das Dasein Gottes will Kant das Dasein Gottes „mit mathematischer Evidenz … beweisen“ (BDG, AA 2, 155) und kommt zu dem Ergebnis: „Es ist ein Gott. Es existiert etwas schlechterdings notwendig. Dieses ist einig in seinem Wesen, einfach in seiner Substanz, ein Geist nach seiner Natur, ewig in seiner Dauer, unveränderlich in seiner Beschaffenheit, allgenugsam in Ansehung alles Möglichen und Wirklichen. Es ist ein Gott.“ (BDG, AA 2, 89) Mathematische Evidenz hat weder der kosmologische „aus dem Erfahrungsbegriffe vom Dasein“ noch der kosmologische „aus den Eigenschaften der Dinge der Welt auf das Dasein und die Eigenschaften der Gottheit“ schließende Beweis. Vielmehr gilt: „Es ist nur ein Gott und nur ein Beweisgrund, durch welchen es möglich ist, sein Dasein mit der Wahrnehmung derjenigen Notwendigkeit einzusehen, die schlechterdings alles Gegenteil vernichtigt: ein Urteil, darauf selbst die Beschaffenheit des Gegenstandes unmittelbar führen könnte. Alle anderen Dinge, welche irgend da sind, könnten auch nicht sein. Die Erfahrung von zufälligen Dingen kann demnach keinen tüchtigen Beweisgrund abgeben, das Dasein desjenigen daraus zu erkennen, von dem es unmöglich ist, dass er nicht sei. Nur lediglich darin, dass die Verneinung der göttlichen Existenz völlig Nichts ist, liegt der Unterschied seines Daseins von anderer Dinge ihrem. Die innere Möglichkeit, die Wesen der Dinge sind nun dasjenige, dessen Aufhebung alles Denkliche vertilgt. […] Es ist durchaus nötig, dass man sich vom Dasein Gottes überzeuge; es ist aber nicht eben nötig, dass man es demonstriere.“ (BDG, AA 2, 162f.) In seiner Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral (1764) vindiziert Kant der Mathematik, die das Allge_____________ 3

und es ist ein Gott eben deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.“ (NTH, AA 1, 228). Prol, AA 4, 260. Zum dogmatischen Schlummer vgl. auch Prol, AA 4, 338 und Kants Brief an Christian Garve vom 21.9.1798, (Br, AA 12, 257f.).

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meine qua signa in concreto erkenne, die synthetische Methode, der Philosophie, die das Allgemeine qua signa in abstracto sehe, die analytische. (GTM, AA 2, 276, 278) Der Mathematik eignen wenige unauflösliche Begriffe und unerweisliche Sätze, der Philosophie jedoch unzählige. (GTM, AA 2, 279) Leicht und einfältig ist das Objekt der Mathematik, schwer und verwickelt das der Philosophie. (GTM, AA 2, 282) Philosophisch notwendige Erkenntnis ist die Gottes, d. i. „die schlechterdings notwendiges Existenz eines Wesens“ für die Existenz anderer überhaupt. (GTM, AA 2, 296) „Gott ist also eigentlich an keinem Orte, aber er ist allen Dingen gegenwärtig in allen Orten, wo die Dinge sind. Ebenso so sehe ich ein, dass, indem die auf einander folgenden Dinge der Welt unter seiner Gewalt sind, er dadurch sich nicht selbst einen Zeitpunkt in dieser Reihe bestimme“. (GTM, AA 2, 297) – Die Metaphysik ist nun die schwerste aller Erkenntnisse. Kant bestreitet, dass bereits eine wissenschaftlich zureichende vorliege. Ihre Methode ist mit der von Newton in der Naturwissenschaft zur Anwendung gebrachten identisch: Aus der Analyse der Erfahrung müssen die Regeln zur Erklärung der Erscheinungen gewonnen werden. Auf dem Wege zu seiner Kritik der reinen Vernunft ist Kants Schrift De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (Von der Form der Sinnenund Verstandeswelt und ihren Gründen) von 1770 wichtig. Hier trennt Kant die sinnliche von der intellektuellen Erkenntnis und erklärt beide als voneinander unabhängig. Die sinnliche Erkenntnis gründet sich auf die sensualitas, die in ihrer Rezeptivität die Phänomene der Dinge, die Dinge in ihrer Beziehung zum Subjekt erfasst, während die auf der intelligentia beruhende intellektuelle Erkenntnis die Dinge rational rezipiert, wie sie sind. In der sinnlichen Erkenntnis wird das sinnliche Objekt durch die Empfindung angezeigt, nähere Bestimmungen des Gegenstandes jedoch vermag die Empfindung nicht zu geben. Die Materie ist sensatio, die in ungeordneten Empfindungen der Rezeptivität vorliegt. Um sie zu ordnen, müssen Gesetze herangezogen werden, die ursprünglich im Gemüte vorliegen und aus der ungeordneten Mannigfaltigkeit die geordnete Erscheinung, die apparentia, hervorbringen: Raum und Zeit. Die Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis von 1770, eine wichtige Station aufs Kants via zu seinem kritischen Transzendentalismus, versteht sich als scientia propaedeutica metaphysicae. (MSI, AA 2, § 8, 395) Kant nennt die Metaphysik, wie es seit Aristoteles üblich war, prima philosophia. Als solche „enthält sie die principia des Gebrauchs des intellectus purus“ 4 . Die Aufgabe seiner Dissertation sieht Kant darin, den Unterschied (discrimen) zwischen der cognitio sensitiva und der cognitio intellectualis herauszustellen: „Scientia vero illi propedeutica est, quae discrimen docet sensitivae 4

„Philosophia autem prima continens principia usus intellectus puri est METAPHYSICA“ (MSI, AA 2, § 8, 395).

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cognitionis ab intellectuali; cuius in hac nostra dissertatione exhibemus.“ (MSI, AA 2, § 8, 395) In der Metaphysik gelten nicht die principia empirica. In den Sinnen sind nicht die principia metaphysicae zu finden, sondern nur in der natura intellectus puri. Die principia methaphysicae sind so von den sensualen principia empirica streng unterschieden. Es sind die principia intellectus puri, die hier gelten. Ihre genera sind „possibilitas, exsistentia, necessitas, substantia, causa etc. mit deren opposita oder correlata“ (MSI, AA 2, § 8, 395). Sinnlichkeit (sensualitas) definiert Kant als receptivitas subiecti, dagegen intelligentia bzw. rationalitas als facultas subiecti. Beide sind streng von einander geschieden. Sensualitas als receptivitas subiecti ist die Ermöglichung des status repraesentativus irgendeines Objektes qua Affizierung des Subjektes. Intelligentia als facultas subiecti ist intelligibile und nicht sensibile, enthält folglich nichts, was den sensus zugänglich wäre. So ist also die „cognitio, die den Gesetzen der sensualitas unterworfen ist, sensitiva“, aber die denen der intelligentia unterstellten intellectualis bzw. rationalis. Jene hat es mit dem phaenomenon, diese mit dem noumenon zu tun. (MSI, AA 2, § 3, 392) Die cognitiones sensualitatis sensuativae repräsentieren uns die Dinge, wie sie erscheinen (uti apperent) und die intellectualia, wie sie sind (sicuti sunt). (MSI, AA 2, § 4, 392) Die principia sensitivae cognitionis dürfen nicht illusionär missbraucht werden, in dem sie „ihre Grenzen (termini) überschreiten und die intellectualia affizieren“ (MSI, AA 2, § 24, 411).

2. „Der kritische Weg ist allein noch offen.“ (KrV, B 884) Im Mai 1781 erscheint nach zwölfjähriger Inkubationszeit Kants Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft, das Schopenhauer emphatisch „das wichtigste Buch, das jemals in Europa geschrieben worden“ 5 ist, nennt. Eine kritische Grundlagenphilosophie entwirft Kant. Diese entspricht dem, was philosophisch ansteht. „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss.“ (KrV, A XII). In der Kritik der reinen Vernunft konstruiert Kant dementsprechend in nuce seine kritische Transzendentalphilosophie. Näherhin müsste diese Schrift exakt „Kritik der reinen spekulativen Vernunft“ (KrV, B XXII) heißen, denn es geht Kant in dieser um das spekulative 6 bzw. theoretische Erkenntnisvermögen der Vernunft, in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) um das der praktischen Vernunft, d. i. das Vermögen des Wollens. Kant benennt klar und 5 6

Zit. Höffe, Otfried, Immanuel Kant, München 52000, 35. „Die Erkenntnis des Allgemeinen in abstracto ist spekulative Erkenntnis, die Erkenntnis des Allgemeinen in concreto gemeine Erkenntnis. Philosophische Erkenntnis ist spekulative Erkenntnis der Vernunft und … fängt … da an, wo der gemeine Vernunftgebrauch anhebt, Versuche in der Erkenntnis des Allgemeinen in abstracto zu machen.“ (Log, AA 9, 27.).

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struktural definitiv seine philosophische Absicht: „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ (KrV, A 804/5, B 832f.). 4. Was ist der Mensch? fügt die JäscheLogik 7 hinzu. Diese Fragen verortet Kant präzise: „Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie.“ Die drei ersten Fragen bezögen sich alle auf die Anthropologie. Frage eins behandelt Kant in der Kritik der reinen Vernunft, die zweite in der Moral- und Rechtsphilosophie, die dritte in der Geschichts- und Religionsphilosophie. Der Philosoph, d. i. derjenige, der Philosophieren „nur durch Übung und selbsteigenen Gebrauch der Vernunft“ lernt, hat folglich zu bestimmen: „1) die Quellen des menschlichen Wissens, 2) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens und … 3) die Grenzen der Vernunft. Das Letztere ist das Nötigste aber auch das Schwerste, um das sich aber der Philodox 8 nicht kümmert.“ (Log, AA 9, 25) Kants neue kritische Transzendentalphilosophie ist eine gänzliche Revolution in der bisherigen Geschichte der reinen Vernunft. Letztere typologisiert Kant (KrV, B 881-884) nicht historisch, sondern axiomatisch idealtypisch in die drei „hauptsächlichsten Revolutionen“ der Metaphysik und zwar 1) gegenständlich, 2) genetisch und 3) methodisch: „1. In Ansehung des Gegenstandes aller unserer Vernunfterkenntnisse waren einige bloß Sensual-, andere bloß Intellectualphilosophen. Epikur kann der vornehmste Philosoph der Sinnlichkeit, Plato des Intellectuellen genannt werden. […] Jene (sc. die Sensualisten) räumten intellectuelle Begriffe ein, aber nahmen bloß sensible Gegenstände an. Diese (sc. Intellektualisten) verlangten, dass die wahren Gegenstände bloß intelligibel wären, und behaupteten eine Anschauung durch den von keinen Sinnen begleiteten … reinen Verstand. 2. In Ansehung des Ursprungs reiner Vernunfterkenntnisse, ob sie aus der Erfahrung abgeleitet, oder unabhängig von ihr in der Vernunft ihre Quelle haben. Aristoteles kann als das Haupt der Empiristen, Plato … der Noologisten angesehen werden.“ Zu jenen gehört Locke, zu diesen Leibniz. „3. In Ansehung der Methode“ sind die naturalistische und scientifische zu konstatieren. „Der Naturalist der reinen Vernunft nimmt … sich zum Grundsatze“: Durch „gemeine Vernunft ohne Wissenschaft“ lasse sich hinsichtlich der erhabensten metaphysischen Fragen „mehr ausrichten … als durch Spe-

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Log, AA 9, 25. Der Philodox ist der „Vernunftkünstler“, er „strebt bloß nach spekulativem Wissen, ohne darauf zu sehen, wie viel das Wissen zum letzten Zwecke der menschlichen Vernunft beitrage“ (Log, AA 9, 24).

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kulation.“ 9 Die scientifische, immer systematische, Methode lässt sich in eine dogmatische (Wolff) oder eine sceptische (Hume) unterteilen. Die drei tradionalen philosophischen Argumente hinsichtlich der Lösung höchster Metaphysik genügen Kant nicht. Ihre Wege führen nicht zum Ziel. „Der kritische Weg ist allein noch offen.“ (KrV, B 884) Notwendig ist eine Kritik der reinen Vernunft. Diese Kritik ist nicht fokussiert auf philosophische Literal- und Systemkritik. Kants kritisches Potential richtet sich auf das Vernunftvermögen (unabhängig von aller Erfahrung) hinsichtlich dessen capacitas, dessen Quellen und Grenzen. 10 Es geht auch nicht um das Wie von Denkermöglichung, sondern die „die Hauptfrage“ ist, „was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen“ (KrV, A XVII). Die Kritik der reinen Vernunft hat es „nicht mit Objekten der Vernunft, sondern … bloß mit sich selbst“ zu tun (KrV, B 23). Unser Erkennen beginnt mit der Erfahrung. Unser Erkenntnisvermögen rührt von den unsere Sinne reizenden Gegenständen her. „Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, dass selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlasst) aus sich selbst hergibt“ (KrV, B 1). Die Erkenntnisse sind entweder empirisch oder apriorisch 11 . Jene haben ihre Quelle in der Erfahrung und sind als solche a posteriori, diese sind „schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig. Reine apriorische Erkenntnisse sind solche, denen „nichts Empirisches beigemischt“ wurde. (KrV, B 2f.) Das Denken eines Gegenstandes kann allein dann Erkenntnis werden, insofern dieses auf Gegenstände der Sinne bezogen ist. Alle uns Menschen „mögliche Anschauung [ist] sinnlich (Ästhetik), also kann das Denken eines Gegenstandes überhaupt durch einen reinen Verstandesbegriff bei uns nur Erkenntnis werden, sofern dieser auf Gegenstände bezogen wird.“ (KrV, B 146) Die für die Erkenntnis notwendige Anschauung a 9 10

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„Er behauptet also, dass man die Größe und Weite des Mondes sicherer nach dem Augenmaße, als durch mathematische Umschweife bestimmen könne.“ (KrV, B 883). „Ich verstehe aber hierunter (sc. der Kritik der reinen Vernunft) nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie unabhängig von aller Erfahrung streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien.“ (KrV, A XII). „Die Erkenntnis, die ihren Ursprung in der Erfahrung hat, nennt Kant a posteriori ('vom späteren', weil in den Sinneseindrücken begründet); die Erkenntnis, die von allen Eindrücken der Sinne unabhängig ist, heißt a priori ('vom früheren', weil die Begründung von aller Erfahrung frei ist).“ (Höffe, Kant, [s. Anm. 5], 55)

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priori, also vor aller Erfahrung, geprägt durch apriorisch bereitliegende Anschauungsformen des Raumes und der Zeit und die Denk- bzw. Verstandesformen der Kategorien ermöglichen Erkenntnis. Demnach gehören „zwei Stücke“ zur Erkenntnis: 1. die Kategorie, d. i. „der Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird“ und 2. „die Anschauung“, wodurch der Gegenstand „gegeben wird“. (KrV, B 146) Die reinen Verstandesbegriffe, die Kategorien, können nicht aus sich heraus zur Erkenntnis führen, sondern nur vermittelst empirischer Anschauung, also wenn ihre Gegenstände „als Gegenstände möglicher Erfahrung angenommen werden“ (KrV, B148). Andererseits ist die Erfahrungswelt ein Produkt unseres Denkens. Darum haben die Denkformen Geltung für die Erfahrungswelt. Das Produkt aber kommt nicht ohne das gegebene Mannigfaltige der Erfahrung zustande: die Synthesis braucht ein Material, das verbunden wird. Es gilt also: „ Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen oder Fähigkeiten können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern, und zu unterscheiden. Daher unterscheiden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d. i. Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d. i. der Logik.“ (KrV, B 75f.) Seine Kritik der reinen Vernunft, so ist Kant überzeugt, bedeute eine kopernikanische Wende in der Metaphysik. Durch sie habe er die metaphysische Frage, die bisher nicht wissenschaftlich befriedigend gelöst worden sei, allseitig befriedigend und suffizient einer Lösung zugeführt. „… ich erkühne mich zu sagen, dass nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden. In der Tat ist auch reine Vernunft eine so vollkommene Einheit: dass, wenn das Prinzip derselben auch nur zu einer einzigen aller der Fragen, die ihr durch ihre eigene Natur aufgegeben sind, unzureichend wäre, man dieses immerhin nur wegwerfen könnte, weil es alsdann auch keiner der übrigen mit völliger Zuverlässigkeit gewachsen sein würde.“ (KrV, A XIII) Um rechte Metaphysik wissenschaftlich zu betreiben, ist das erfolgreiche Beispiel der Mathematik und Physik zu beachten. Beide sind vernünftige theoretische Erkenntnisse, die „ihre Objekte a priori“ definieren, die

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Mathematik rein, die Physik teilweise rein. (KrV, B X) Die Metaphysik sollte analogisch zu einer Revolution der Denkungsart aufbrechen. Diese kann nur in einer kopernikanischen Wende bestehen: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.“ (KrV, B XVIf.) Die Erfahrung bzw. die Gegenstände richten sich nach den in mir a priori, d.h. vor aller Erfahrung, vorausgesetzten Begriffen. (KrV, B XVII) Kants „veränderte Methode der Denkungsart“ besteht also darin: Wir können „von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen“ (KrV, B XVIII) 12 . Diese müssen sich aber bewähren hinsichtlich ihrer Beziehung zur sinnlichen Anschauung. So sind die Gegenstände zu einem „als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für Erfahrung“, zum andern „doch als Gegenstände, die man bloß denkt“ (KrV, B XVIII Anm.). Es gilt jedoch, dass wir „nie über die Grenze möglicher Erfahrung hinauskommen können“ (KrV, B XIX). Diese Grenze nicht zu überschreiten, ist essentiell für die spekulative, d. i. theoretische reine Vernunft. Sie ist einerseits negativ im Sinne von Begrenzung, aber letztlich positiv und von großem Nutzen hinsichtlich der „eine gänzliche Revolution“ (KrV, B XXII) ausmachenden, neuen gekehrten Metaphysik. Kant ist der Meinung, dass er mit seiner „durch Kritik 12

Auch die Physik hat „die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß dasjenige in ihr zu suchen, […] was sie von dieser lernen muss, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde. Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden“ (KrV, B XIIIf.).

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geläuterten, dadurch aber auch in einen beharrlichen Zustand gebrachten Metaphysik“ der Nachwelt einen „Schatz“ hinterlassen habe. Dieser besteht in Folgendem: „Man wird“ zunächst „glauben, dass der Nutzen“ der Kantschen Kritik und damit seiner gekehrten Metaphysik „nur negativ sei, uns nämlich mit der spekulativen Vernunft niemals über die Erfahrungsgrenze hinauszuwagen, und das ist in der Tat ihr erster Nutzen. Dieser aber wird alsbald positiv, wenn man innewird, dass die Grundsätze, mit denen sich spekulative Vernunft über ihre Grenze hinauswagt, in der Tat nicht Erweiterung, sondern […] Verengung unseres Vernunftgebrauchs“ bedeutet, „indem sie wirklich die Grenzen der Sinnlichkeit, zu der sie eigentlich gehören, über alles zu erweitern und so den reinen (praktischen) Vernunftgebrauch gar zu verdrängen drohen. Daher ist eine Kritik, welche die erstere einschränkt, sofern zwar negativ, aber, indem sie dadurch zugleich ein Hindernis, welches den letzteren Gebrauch einschränkt, oder gar zu vernichten droht, aufhebt, in der Tat von positivem und sehr wichtigem Nutzen, sobald man überzeugt wird, dass es einen schlechterdings notwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den moralischen) gebe, in welchem sie sich unvermeidlich über die Grenzen der Sinnlichkeit erweitert, dazu sie zwar von der spekulativen keiner Beihilfe bedarf, dennoch aber wider ihre Gegenwirkung gesichert sein muss, um nicht in Widerspruch mit sich selbst zu geraten.“ (KrV, B XXIVf.) Kants Kopernikanische Revolution der Metaphysik beinhaltet erkenntnistheoretisch zwei Grundaussagen: 1. Gegenstände der objektiven Erkenntnis erscheinen nicht von sich selbst. 2. Das transzendentale Subjekt bewirkt die Erscheinung der Gegenstände. 13 „… unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr als Erscheinungen richten sich nach unserer Vorstellungsart“. (KrV, B XX) Die Hauptfrage der reinen spekulativen Vernunft lautet: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ (KrV, B 20) Der Verstand und alle seine Handlungen können auf Urteile zurückgeführt werden. Er ist „ein Vermögen zu urteilen“ (KrV, B 94). Ein Urteil ist „die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen“ (KrV, B 142). Apperzeption ist das Vermögen des Bewusstseins und damit der Klarheit der Vorstellungen. Urteilen vollzieht sich entweder analytisch oder synthetisch. 14 Analytische Urteile sind Erläuterungsurteile, wo das im Prädikat Gesagte schon im Subjekt enthalten, mit diesem durch Identität verbunden ist. Dies ist nicht bei den synthetischen Urteilen der Fall. Hier kommt im Prädikat eine Erweiterung des Subjekts hinzu, etwas, das nicht im Subjekt schon enthalten ist und qua Analyse desselben gefunden werden 13 14

Vgl. Höffe, Kant, (s. Anm. 5), 54. Vgl. zum Folgenden KrV, B 10f.

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könnte. Synthetische Urteile a priori sind in den theoretischen Wissenschaften als Prinzipien enthalten, so in der Mathematik und den Naturwissenschaften. (KrV, B 14) Als Beispiel hinsichtlich der Mathematik dient der Satz: 7 + 5 = 12. Der Begriff 12 ist nicht schon mit der Summe 7 + 5 gedacht. (KrV, B 15f.) In der reinen Geometrie ist der Satz: Die Linie ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten synthetisch, da das Kürzeste nicht analytisch gewonnen werden kann. (KrV, B 16) Für die Naturwissenschaften exemplifiziert Kant das mit dem Hinweis auf die Unveränderlichkeit der Quantität der Materie bei allen Variationen der körperlichen Welt. (KrV, B 17) Auch in der Metaphysik sind „synthetische Erkenntnisse a priori enthalten“ (KrV, B 18). Sie ist nicht auf analytische Zergliederung und Erläuterung aus, sondern auf Erweiterung unserer Erkenntnis a priori „wozu wir uns solcher Grundsätze bedienen müssen, die über den gegebenen Begriff etwas hinzutun, was in ihm nicht enthalten war, und durch synthetische Urteile a priori wohl gar so weit hinausgehen, dass uns die Erfahrung selbst nicht weit folgen kann, z.B. in dem Satze, die Welt muss einen ersten Anfang haben“. Ihrem Zwecke nach besteht die Metaphysik „aus lauter synthetischen Sätzen a priori.“ (KrV, B 18) Kant versucht in Sachen Metaphysik ebenso feste Gewissheit zu finden wie in der Mathematik. Lässt also jene von dieser lernen. Ihm ist die reine philosophische Erkenntnis 15 „die Vernunfterkenntnis aus Begriffen“, die mathematische Erkenntnis die „aus der Konstruktion der Begriffe“, d. h. immer hinsichtlich der ihr „korrespondierende(n) Anschauung a priori“. (KrV, B 741; vgl. B 865) Kant nennt dieses „(d)as große Glück“ des mathematischen Vernunftgebrauches (KrV, B 752). „(D)as Besondere nur im Allgemeinen“ betrachtet die Philosophie, „das Allgemeine im Besonderen“, immer jedoch vernünftig a priori, die Mathematik (KrV, B 742). Das ist die wesentliche Differenz dieser beiden Vernunfterkenntnisarten. Es ist ein formaler und nicht ein gegenständlicher Unterschied (KrV, B 742). Entscheidend jedoch für jedwedes Erkennen ist, dass alle Erkenntnis „sich doch zuletzt auf mögliche Anschauungen“ bezieht, weil nur durch sie uns ein Gegenstand gegeben wird. (KrV, B 747) „Wenn man von einem Begriffe synthetisch urteilen soll, so muss man aus diesem Begriffe hinausgehen und zwar zur Anschauung, in welcher er gegeben ist.“ (KrV, B 749) Metaphysik als Wissenschaft über die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori ist Transzendentalphilosophie. Wegen der dabei angewandten transzendentalen Methode nennt Kant sie Transzendentalphilosophie. Kant definiert: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht 15

„Alle Philosophie … ist entweder Erkenntnis aus reiner Vernunft, oder Vernunfterkenntnis aus empirischen Prinzipien. Die erstere heißt reine, die zweite empirische Philosophie.“ (KrV, B 868).

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sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen.“ (KrV, B 25) Nach der Ermöglichung von Erkenntnis wird gefragt. Transzendental ist „nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, dass und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich“, i.e. „transzendental (d.i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori)“ sind (KrV, B 80). „Die Transzendental-Philosophie ist die Idee einer Wissenschaft, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Prinzipien, entwerfen soll“ (KrV, B 27). Nur „mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun“ hat es die Transzendentalphilosophie (KrV, B 829). Reine apriorische Erkenntnisse sind solche, „denen gar nichts Empirisches beigemischt ist“ (KrV, B 3). – Transzendental ist nicht transzendent. Die „Ausdehnung der Prinzipien möglicher Erfahrung auf die Möglichkeit der Dinge überhaupt ist… transzendent“ (KrV, B 809). Grundsätze, die die Grenzen der Erfahrung überfliegen sollen, sind transzendente Grundsätze. (KrV, B 352) Nun gilt es stricte zu beachten, dass „der objektive Gebrauch der reinen Vernunftbegriffe jederzeit transzendent“, der der reinen Verstandesbegriffe immanent ist, da „auf mögliche Erfahrung eingeschränkt“. (KrV, B 383) Kant unterteilt „die Philosophie der reinen Vernunft“ in zwei Teile: 1) Propädeutik = Kritik, d. i. die Untersuchung des Vernunftvermögens hinsichtlich „aller reinen Erkenntnis a priori“, 2) Metaphysik, d. i. „das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhange“. Diese wiederum lässt sich auf Grund des Gebrauchs der reinen Vernunft differenzieren: einmal in Metaphysik der Natur, zum andern in Metaphysik der Sitten. Diese generiert bei praktischem, jene beim spekulativen usus. (KrV, B 869) Deshalb „waren Theologie und Moral die zwei Triebfedern, oder besser: Beziehungspunkte zu allen … Vernunftforschungen“ (KrV, B 881). „Alles Denken … muss sich […] zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf die Sinnlichkeit beziehen“ (KrV, B 33), denn anders kann uns unmöglich ein Gegenstand gegeben werden. Sinnlichkeit ist die „Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen“. Es gilt: „Vermittelst der Sinnlichkeit … werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen“. Das ist das eine Grunddatum des spekulativen Erkennens, das andere: „(D)urch den Verstand aber werden sie (die Anschauungen) gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.“ (KrV, B 33) Das erste behandelt die transzendentale Ästhetik. Sie ist die transzendentale Untersuchung der Sinnes-

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erkenntnis. Aus „zwei Grundquellen des Gemüts“ kommt also menschliche Erkenntnis, „die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe)“ (KrV, B 74). Rein oder empirisch, d. h. apriorisch oder aposteriorisch, ist zu unterscheiden. Reine Begriffe und reine Anschauungen sind allein a priori, empirische ausschließlich a posteriori möglich (KrV, B 75). Hinsichtlich der Anschauungen gilt die Rezeptivität, hinsichtlich der Begriffe die Spontaneität, das Aktivverbindende. 16 Beide Vermögen, Sinnlichkeit und Verstand, bedürfen einander. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV, B 75) Wo die beiden Vermögen, die „zwei Stämme“ menschlicher Erkenntnis ihren wohl gemeinsamen Wurzelursprung haben, wissen wir Menschen nicht. (KrV, B 29) „Eine Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori nenne ich die transzendentale Ästhetik.“ (KrV, B 35) Sie hat es mit den reinen sinnlichen Anschauungsformen zu tun. Unter den Formen der Anschauung werden nicht die Empfindungen selbst, sondern reine Formen der Anschauung, die unserer Sinnenerkenntnis apriorisch vorausliegen, verstanden. Wir haben hier zwar nicht wie bei der Verstandeserkenntnis allgemeine Begriffe (conceptus generales), sondern zwei Prinzipien der sinnlichen Erkenntnis (bina cognitionis sensitivae principia), und damit reine Anschauungen (intuitus puri). (MSI, AA 2, § 15, 405) Diese bina cognitionis sensitivae principia sind Raum und Zeit. Es sind die „zwei Erkenntnisquellen“, die „reine(n) Formen aller sinnlicher Anschauung“, die als solche synthetische Sätze a priori ermöglichen. (KrV, B 55f.) Sie wohnen uns als „Vorstellungen a priori“ bei, bevor qua Empfindung „ein wirklicher Gegenstand unseren Sinn bestimmt hat“. Das „Materielle oder Reale, dieses Etwas, was im Raume angeschaut werden soll, setzt notwendig Wahrnehmung voraus, und kann nicht unabhängig von dieser, welche die Wirklichkeit von Etwas im Raum anzeigt, durch keine Einbildungskraft gedichtet und hervorgebracht werden. Empfindung ist also dasjenige, was eine Wirklichkeit im Raume und der Zeit bezeichnet, nachdem sie auf die […] sinnliche(n) Anschauung bezogen wird.“ (KrV, A 373) Raum und Zeit sind 1. „die notwendigen Bedingungen aller (äußern und innern) Erfahrung“ und 2. als solche nur „subjektive Bedingungen unserer Anschauung“. 3. Sie beziehen sich nur auf die Erscheinungen und nicht auf das diesen zugrunde liegende Ding an sich. (KrV, B 66) 16

„Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf irgendeine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen: so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses der Verstand.“ (KrV, B 75).

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Kant unterscheidet zwischen äußerer und innerer sinnlicher Anschauungsform. Der Raum ist 1) „die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist“ (KrV, B 42), 2) kein empirischer von äußeren Erfahrungen abgezogener Begriff (KrV, A 23), 3) eine notwendige, allen äußeren Anschauungen zugrunde liegende Vorstellung a priori, 4) damit apodiktische Gewissheit geometrischer Grundsätze und Konstruktionen a priori gebend (KrV, A 24), 5) reine Anschauung und kein diskursiver allgemeiner Begriff (KrV, A 24f.), 6) unendliche Größe (KrV, A 25), 7) als bloße Form der Vorstellungen objektive Realität hinsichtlich aller Erscheinungen (KrV, A 377), 8) keine Eigenschaft der Dinge an sich (KrV, A 26). 9) Nur anthropologisch, subjektiv bedingt können „wir allein äußere Anschauung bekommen“ (KrV, A 26). Kant lehrt also „die Realität (d. i. die objektive Gültigkeit) des Raumes in Ansehung alles dessen, was äußerlich als Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealität des Raumes in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden, d. i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen. Wir behaupten also die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller möglichen äußeren Erfahrung), obzwar zugleich die transzendentale Idealität desselben, d. i. dass er nichts sei, sobald wir die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen, und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zugrunde liegt, annehmen.“ (KrV, A 28) – Die Zeit definiert Kant als „nichts anderes, als die Form des innern Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres innern Zustandes.“ (KrV, B 49) Auf sie treffen die genannten Charakteristika 2 bis 9 des Raumes analog zu. 17 Das Besondere der Zeit dem Raum gegenüber besteht darin, dass „der Begriff der Bewegung (als Veränderung des Orts)“ nur durch die innere Anschauung a priori, also „nur durch und in der Zeitvorstellung möglich ist“ (KrV, B 48). Kant lehrt also die „empirische Realität der Zeit, d. i. objektive Gültigkeit in Ansehung aller Gegenstände, die jemals unseren Sinnen gegeben werden mögen. Und da unsere Anschauung jederzeit sinnlich ist, so kann uns in der Erfahrung niemals ein Gegenstand gegeben werden, der nicht unter die Bedingung der Zeit gehörte. Dagegen bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität, da sie nämlich, auch ohne auf die Form unserer sinnlichen Anschauung Rücksicht zu nehmen, schlechthin den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge. Solche Eigenschaften, die den Dingen an sich zukommen, können uns durch die Sinne auch niemals gegeben werden. Hierin besteht also die transzendentale Idealität der Zeit, nach welcher sie, wenn man von den subjektiven Bedingungen der sinnlichen Anschauung 17

Vgl. „ §4 Metaphysische Erörterung des Begriffs der Zeit“ (KrV, B 46-B 48) und „§ 6 Schlüsse aus diesen Begriffen“ (KrV, B 49-B 53).

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abstrahiert, gar nichts ist und den Gegenständen an sich selbst (ohne ihr Verhältnis auf unsere Anschauung) weder subsistierend noch inhärierend beigezählt werden kann. Doch ist diese Idealität ebenso wenig wie die des Raumes mit den Subreptionen der Empfindungen in Vergleichung zu stellen, weil man doch dabei von der Erscheinung selbst, der diese Prädikate inhärieren, voraussetzt, dass sie objektive Realität habe, die hier gänzlich wegfällt, außer, sofern sie bloß empirisch ist, d. i. den Gegenstand selbst bloß als Erscheinung ansieht“ (KrV, B 52f.) Alle Anschauung hat „eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke“, d. h. in diesem Subjekt wird die Mannigfaltigkeit der Anschauung angetroffen. (KrV, B 132) „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht“ und damit für mich nicht sein könnte. (KrV, B 131f.) Das Ich denke ist hier „ein Actus der Spontaneität, d. i. … kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden“ (KrV, B 132) 18 , und ist als transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins reine Apperzeption (KrV, B 132). „Begriffe gründen sich … auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Rezeptivität der Eindrücke.“ (KrV, B 93) Urteilend macht der Verstand von diesen auf der Spontaneität des Denkens aufruhenden Begriffen Gebrauch. „Das Urteil ist … die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer Vorstellung desselben. In jedem Urteil ist ein Begriff, der für viele gilt und unter diesem Vielen auch eine gegebene Vorstellung begreift, welche letztere denn auf den Gegenstand unmittelbar bezogen wird.“ (KrV, B 93) Gedacht werden die Anschauungen durch den Verstand, dem die „reinen Verstandesbegriffe“ (KrV, B 102), das sind die Kategorien, entspringen, die in das Feld der transzendentalen Analytik fallen 19 . Kategorien sind „die wahren Stammbegriffe des reinen Verstandes“ (KrV, B 107) 20 . Sie sind ebenso wie die Anschauungsformen Raum und Zeit vor aller Erfahrung in uns. Nicht sind sie, wie Locke und Hume behaupten, erst von der Erfahrung abgezogen, denn ohne die Kategorien käme gar keine Erfahrung zustande. Reine Verstandesbegriffe a priori sind die Kategorien. Sie sind die „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungen und gelten also a priori auch von allen 18 19

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„Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Funktion, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung“ (KrV, B 428). Diese Betrachtung hat zwei Seiten, die eine bezieht sich auf die Gegenstände des reinen Verstandes und soll die objektive Gültigkeit seiner Begriffe a priori begreiflich machen, die andere ist darauf gerichtet, den reinen Verstand selbst in subjektiver Beziehung zu betrachten. (Vgl. KrV, B 129ff.). „Ich kenne keine Untersuchungen, die zu Ergründung des Vermögens, welches wir Verstand nennen, und zugleich zu Bestimmung der Regeln und Grenzen seines Gebrauchs wichtiger wären, als die […] der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“, d. i. der Kategorien (KrV, A XVI).

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Gegenständen der Erfahrung“ (KrV, B 161). Die Kategorien sind „die Bedingungen des Denkens in einer möglichen Erfahrung“ und haben „a priori objektive Gültigkeit“, „Objekte überhaupt zu den Erscheinungen zu denken“. (KrV, A 111) „Alle sinnlichen Anschauungen stehen unter den Kategorien, als Bedingungen, unter denen allein das Mannigfaltige derselben in ein Bewusstsein zusammenkommen kann.“ (KrV, B 143) Anders als durch die Kategorien können wir „keinen Gegenstand denken“. Allein durch die den Kategorien entsprechende Anschauungen sind wir in der Lage, einen „gedachten Gegenstand (zu) erkennen“. (KrV, B 165) Also „ist uns keine Erkenntnis a priori möglich, als lediglich von Gegenständen möglicher Erfahrung.“ (KrV, B 166) Wir sind nicht in der Lage, eine einzige Kategorie real zu definieren, „ohne uns sofort zu Bedingungen der Sinnlichkeit, mithin der Form der Erscheinungen, herabzulassen“ (KrV, B 300). Ohne den „Beitritt der Sinnlichkeit“ ist das (kategoriale) Denken, das selbst „kein Produkt der Sinne“ ist, „ohne Objekt“ (KrV, B 343). Die Kategorien reichen „nicht zur Erkenntnis der Dinge an sich“, der Noumena. (KrV, B 343) Wie Aristoteles kennt Kant eine Kategorientafel. Aber die aristotelische Kategorientafel ist Kant zu „mangelhaft“. Aristoteles „raffte“, da „er … kein Prinzipium hatte“, die Kategorien auf, „wie sie ihm aufstießen“. (KrV, B 107) Auf der Tafel der Urteilsformen (KrV, B 95) fußt die Kategorientafel. Jene besteht aus 1. Quantität der Urteile (Allgemeine, Besondere, Einzelne), 2. Qualität (Bejahende, Verneinende, Unendliche), 3. Relation (Kategorische, Hypothetische, Disjunktive) und 4. Modalität (Problematische, Assertorische, Apodiktische). (KrV, B 95) Diesen 12 logischen Funktionen des Verstandes im Urteilen folgen die 12 reinen Verstandesbegriffe, die Kategorien. Kants Kategorientafel (KrV, B 106) enthält vier Klassen von Verstandesbegriffen (= Kategorien), die sich in zwei Abteilungen gliedern. Die erste Abteilung bilden die auf Gegenstände der reinen und empirischen Anschauung bezogenen mathematischen Kategorien: Quantität (Einheit, Vielheit, Allheit) und Qualität (Realität, Negation, Limitation), die zweite die auf die Existenz der Gegenstände der Anschauung (bezogen aufeinander oder auf den Verstand) gerichteten dynamischen Kategorien sind Relation (Inhärenz und Subsistenz [substantia et accidens], Kausalität und Dependenz [Ursache und Wirkung], Gemeinschaft [Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden]) und Modalität (Möglichkeit – Unmöglichkeit, Dasein – Nichtsein, Notwendigkeit – Zufälligkeit). (KrV, B 110) Zu beachten ist stets: „Die Grundsätze des reinen Verstandes, sie mögen nun a priori konstitutiv sein (wie die mathematischen), oder bloß regulativ (wie die dynamischen), enthalten nichts als … nur das reine Schema zur möglichen Erfahrung“ (KrV, B 295f.). – Die Kategorientafel ist unentbehrlich für die theoretische Philosophie. Sie ist der Plan zum Ganzen einer auf Begriffen a priori fußenden Wissenschaft, enthält

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vollständig „alle Elementarbegriffe des Verstandes …, ja selbst die Form eines Systems derselben im menschlichen Verstande“, kann auf alle Momente und Ordnung der spekulativen Wissenschaft angewendet werden. (KrV, A 109f.) Wie aber ist es möglich, so etwas Ungleichartiges wie die reinen Verstandesbegriffe, die Kategorien, und die sinnliche Anschauungen zusammenzubringen, wie können diese unter jene subsumiert werden? (KrV, B 176f.) Das ist das Problem der Kantschen Schematismuslehre. Das total Ungleichartige von Anschauung und reinen Verstandesbegriffen macht „ein Drittes“ notwendig, das sowohl mit den Kategorien als auch mit der diesen völlig ungleichartigen Anschauungen „in Gleichartigkeit stehen muss“ und auf beide anzuwenden möglich ist. Dieses Dritte, „diese vermittelnde Vorstellung muss rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, anderseits sinnlich sein.“ Das leistet „das transzendentale Schema“. (KrV, B 177) Die Zeit ist das Bindeglied zwischen den Kategorien und der Anschauung: „Der Verstandesbegriff enthält reine synthetische Einheit des Mannigfaltigen überhaupt. Die Zeit, als die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes, mithin der Verknüpfung aller Vorstellungen, enthält ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung.“ Aber nicht nur mit der Anschauung ist die transzendentale Zeit gleichartig, sondern auch mit der Kategorie und zwar insofern „als sie allgemein“ und a priori ist. Die transzendentale Zeitbestimmung „ist aber andererseits mit der Erscheinung sofern gleichartig, als die Zeit in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist.“ So können mittelst der transzendentalen Zeitbestimmung die Kategorien auf die Erscheinungen angewandt werden. Als das Schema der Verstandesbegriffe ermöglicht sie die Subsumption der sinnlichen Anschauungen unter die reinen Verstandesbegriffe. (KrV, B 177f.) „(U)nseren reinen sinnlichen Begriffen (liegen) nicht Bilder der Gegenstücke, sondern Schemata zu Grunde.“ 21 Und so ist „ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft“ das Bild, „das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume), ein Produkt […] der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch […] die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriff nur immer vermittels des Schemas, welches sie bezeichnen, ver21

KrV, B 180. „Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. So, wenn ich fünf Punkte hintereinander setze: ….. ist dieses ein Bild von der Zahl Fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, […] so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge […] in einem Bilde vorzustellen […] Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriff.“ (KrV, B 179f.).

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knüpft werden müssen“. Dem gegenüber kann „das Schema eines reinen Verstandesbegriffes“, d. h. das transzendentale Schema, in „kein Bild gebracht werden“. Es ist vielmehr „nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt nach Bedingungen seiner Form (der Zeit) in Ansehung aller Vorstellungen betrifft, sofern diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in einem Begriff zusammenhängen sollten“ (KrV, B 181). Das Schema des Verstandes ist „die formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der Verstand in seinem Gebrauch restringiert ist“. Kant bezeichnet „das Schema dieses Verstandesbegriffs und das Verfahren des Verstandes mit diesen Schematen“ als „Schematismus des reinen Verstandes“ (KrV, B 179). „Zeitbestimmungen a priori nach Regeln“ sind die Schemate. Sie „gehen nach der Ordnung der Kategorien auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung“ und den „Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstücke.“ (KrV, B 184f.) Jetzt ist der Satz verstehbar: Die Kategorien, also die Grundsätze des reinen Verstandes – seien es nun die a apriorisch konstitutiv mathematischen oder die nur regulativ dynamischen – „enthalten nichts als gleichsam nur das reine Schema zur möglichen Erfahrung“ (KrV, B 296). „Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft“ (KrV, B 355). Höheres als die Vernunft wird im Menschen nicht angetroffen. (KrV, B 355) Im Focus von Kants transzendentaler Analytik steht der Verstand, in dem seiner transzendentalen Dialektik die Vernunft. Kant unterscheidet prinzipiell, wenn auch terminologisch nicht immer konsequent, zwischen Verstand, Vernunft, und Idee. Für ihn gilt, wie wir sahen: Durch den Verstand werden Gegenstände gedacht. (KrV, B 30) „Erfahrung ist […] das erste Produkt, welches unser Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet.“ (KrV, A 1) Kant definiert den Verstand als „das Vermögen der Begriffe“ (KrV, B 199). Der Verstand, der „kein Vermögen der Anschauung“ (KrV, B 92) ist, „ist ein Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft“ (KrV, B 130). Er ist „das Vermögen, a priori zu verbinden und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter die Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist“ (KrV, B 135). Der Verstand ist „eine Fähigkeit zur ‚Spontaneität’, zur geistigen Selbsttätigkeit“, die jedoch „der Erweckung, der Empfindung und der Anschauung bedarf.“ Letztere ist verknüpfendes, ordnendes Verbinden der Empfindung. Anschauung stammt nicht von Außen, sondern entspringt im Erkenntnissubjekt selbst, bei Gelegenheit der Sinneswahrnehmung. Anschauungsformen sind Formen der Sinnlichkeit. Das „Vermögen der Erkenntnis“ ist der Verstand,

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d.h. der „ begrifflichen Bestimmung von Inhalten in Urteilen, in denen alles Denken besteht. Er ist das Vermögen der Regeln, indem er die Tendenz hat, alles Gegebene einheitlich zu verknüpfen, unter Gesetze zu bringen. Als Quelle apriorischer Begriffe (Kategorien) und Grundsätze ist er ein ‚reiner Verstand’, dessen Kern die transzendentale Apperzeption ist, durch welche alle Daten zu einer möglichen Erfahrung in objektiver Einheit synthetisch verbunden werden müssen. So erst gibt es Erfahrung, deren Form also im reinen Verstande selbst gegründet ist. Nur im Verein mit der Sinnlichkeit (Anschauung) gibt der Verstand Erkenntnis, und die apriorischen Erzeugnisse des reinen Verstandes gelten nur für Gegenstände möglicher Erfahrung (Erscheinungen), nicht […] für Dinge an sich.“22 Die Vernunft ist Kant „das Vermögen der Prinzipien“ (KrV, A 405), genauer: „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien“ 23 . Reine Vernunft hat „nichts anderes zur Absicht, als die absolute Totalität der Synthesis auf der Seite der Bedingungen“. Nichts zu tun hat sie jedoch „mit der absoluten Vollständigkeit von Seiten des Bedingten“ (KrV, B 393). Auf ein Objekt bezieht sich die Vernunft nie unmittelbar, sondern auf den Verstand. Sie kreiert keine Begriffe von Objekten. Sie ordnet sie. Allein „den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung“ hat die Vernunft „zum Gegenstande“. Während der Verstand „das Mannigfaltige im Objekt durch Begriffe“ zur Einheit zusammenführt, vereinigt die Vernunft „das Mannigfaltige der Begriffe durch Ideen, indem sie eine gewisse kollektive Einheit zum Ziele der Verstandeshandlungen“ hat. (KrV, B 671f.) Gegenwärtig ist die Vernunft in allen Zeiten, selbst aber ist sie jedoch „nicht in der Zeit“. Sie ist zwar in der Zeit „bestimmend, aber nicht bestimmbar“ (KrV, B 584). Die Vernunft geht auf das Unbedingte, der Verstand dagegen auf das konditional gegebene Bedingte. Allerdings bedarf unsere Vernunft, d. i. die eines endlichen Wesens, unbedingt des Verstandes, denn ohne diese vermag sie nicht zu urteilen.24 22 23

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Eisler, Rudolf, Kant-Lexikon, Berlin 1930, ND Hildesheim 1994, 579. „Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittels der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien.“ (KrV, B 359). „Die Vernunft ist ein Vermögen der Prinzipien und geht in ihrer äußersten Forderung auf das Unbedingte; dahingegen der Verstand ihr immer nur unter einer gewissen Bedingung, die gegeben werden muss, zu Diensten steht. Ohne Begriffe des Verstandes aber, welchen objektive Realität gegeben werden muss, kann die Vernunft gar nicht objektiv (synthetisch) urteilen und enthält als theoretische Vernunft für sich schlechterdings keine konstituive, sondern bloß regulative Prinzipien. Man wird bald inne: dass, wo der Verstand nicht folgen kann, die Vernunft überschwänglich wird und in zwar gegründeten Ideen (als regulativen Prinzipien), aber nicht objektiv gültigen Begriffen sich hervortut; der Verstand aber, der mit ihr nicht Schritt halten kann, aber doch zur Gültigkeit für Objekte nötig sein würde, die Gültigkeit jener Ideen der Vernunft nur auf das Subjekt, aber doch allgemein für alle von dieser Gattung, d. i. auf die Bedingung einschränke, dass nach der Natur unseres (mensch-

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Gleichwie „der Verstand der Kategorien der Erfahrung“ bedarf, „so enthält die Vernunft in sich den Grund zu Ideen“. Die Ideen sind „in der Natur der Vernunft“, die Kategorien „in der Natur des Verstandes“. Ideen sind „notwendige Begriffe …, deren Gegenstand gleichwohl in keiner Erfahrung gegeben werden kann.“ (Prol, AA 4, § 40, 328) Die klare Differenzierung zwischen den Ideen als reinen Vernunftbegriffen und den Kategorien, den reinen Verstandesbegriffen, ist für Kant so wichtig, dass er den Beitrag für die Metaphysik der Kritik der reinen Vernunft an diesem Unterschied festmacht. (Kant, Prol, AA 4, § 41, 328f.) „Alle reinen Verstandeserkenntnisse haben das an sich, dass sich ihre Begriffe in der Erfahrung geben und ihre Grundsätze durch Erfahrung bestätigen lassen; dagegen die transzendenten Vernunfterkenntnisse sich weder, was ihre Ideen betrifft, in der Erfahrung geben, noch ihre Sätze jemals durch Erfahrung bestätigen, noch widerlegen lassen“ (Prol, AA 4, § 42, 329). Kant beruft sich auf Platos Ideenverständnis, für den Ideen Urbilder der Dinge selbst seien, die aus der höchsten Vernunft entsprängen und dann der menschlichen zuteil würden. Platos Ideen seien „vorzüglich in allem, was praktisch ist, d. i. auf Freiheit beruht“. Kant kritisiert jedoch und kann Plato nicht folgen, wenn dieser den Begriff der Ideen auch auf spekulative Erkenntnisse (falls a priori) sogar auf die Mathematik ausdehnt, da letztere ihren Gegenstand in möglicher Erfahrung habe. Ebenso lehnt er Platos mystische Deduktion und hypostasierten Übertreibungen in dessen Ideenlehre ab. (KrV, B 371) Kant definiert die Idee als „die Vorstellung des Ganzen, insofern sie notwendig vor der Bestimmung der Teile vorhergeht […] Sie ist das Urbild der Dinge […] Transzendentale Ideen sind die, wo das (absolute) Ganze überhaupt die Teile im Aggregat oder [der] Reihe bestimmt“ 25 . Kant geht es um die transzendentalen Ideen. (KrV, B 376) Reine Vernunftbegriffe bzw. transzendentale Ideen bestimmen „den Verstandesgebrauch im Ganzen der gesamten Erfahrung nach Prinzipien“ (KrV, B 378). Drei Klassen der transzendentalen Ideen 26 sind zu unter_____________

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lichen) Erkenntnisvermögens oder gar überhaupt nach dem Begriffe, den wir uns von dem Vermögen eines endlichen vernünftigen Wesens überhaupt machen können, nichts anders als so könne und müsse gedacht werden: ohne doch zu behaupten, dass der Grund eines solchen Urteils im Objekt liege.“ (KU, AA 5, § 76, 401) Das exemplifiziert Kant KU, AA 5, § 76, 401ff. N 5248, zit. Eisler, Kant-Lexikon, (s. Anm. 22), 263. „Transzendentale Ideen sind Begriffe aus Prinzipien der Spekulation, nicht der Intellektion der Erscheinung, also über die absolute Totalität in der Synthesis der Erscheinungen.“ (N 5074, Eisler, Kant-Lexikon, [s. Anm. 22], 263). „Die Metaphysik hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, so dass der zweite Begriff, mit dem ersten verbunden, auf den dritten, als einen notwendigen Schlusssatz führen soll. Alles, womit sich diese Wissenschaft sonst beschäftigt, dient ihr bloß zum Mittel, um zu diesen Ideen und ihrer Realität zu gelangen.“ (KrV, B 394 Anm.).

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scheiden (KrV, B 391f.): 1. „die absolute (unbedingte) Einheit des denkenden Subjekts“. Das ist der Gegenstand der transzendentalen Seelenlehre, der psychologia rationalis. 2. „die absolute Einheit der Reihe der Bedingungen der Erscheinung“. Das ist der Gegenstand der transzendentalen Weltwissenschaft, der cosmologia rationalis. 3. „die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände des Denkens überhaupt“. Das ist der Gegenstand der Theologie, der theologia transzendentalis. Jedoch ist zu beachten, dass die Ideen nicht konstitutiv, sondern regulativ zu gebrauchen sind. „(D)ie transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so dass dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden“. Falls sie dazu missbraucht werden, entstehen „bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe“. Die Ideen haben aber „einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch“. Der besteht darin, „den Verstand zu einem festen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, […] aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den (sic!) Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.“ (KrV, B 672) Mittels der Ideen bringt die reine Vernunft alle ihre Erkenntnisse in ein System. (KrV, B 394) Nun gibt es aber eine notwendige Kritik gegenüber den Kategorien des Verstandes und den Ideen der Vernunft hinsichtlich deren hyperphysischen Gebrauch, falschen Schein und Anmaßungen. Die transzendentale Dialektik übt diese Kritik des transzendentalen Scheins. 27 Es geht um Kritik, nicht (um die nicht mögliche) Beseitigung des transzendentalen Scheins. Der transzendentale Schein fließt auf Grundsätze, die in ihrem Gebrauch nicht auf Erfahrung angelegt sind, indem er uns „über den empirischen Gebrauch der Kategorien wegführt und uns mit dem Blendwerke einer Erweiterung des reinen Verstandes hinhält.“ (KrV, B 352) Der transzendentale Schein ist eine subjektiv notwendige Illusion, die natürlich und unvermeidlich ist. Sie gibt die subjektiven auch als objektive Grundsätze aus. Der dialektische Schein kommt daher, „dass wir die subjektiven Bedingungen unseres Denkens für objektive Bedingungen der Sachen selbst und eine notwendige Hypothese zur Befriedigung unserer Vernunft für ein Dogma halten“ (Prol, AA 4, § 55, 348). Sitz des transzendentalen Scheins ist die reine Vernunft. (KrV, B 355) Der transzendentale Schein kann nicht aufgehoben werden, da in unserer Vernunft (als dem Sitz des transzendentalen 27

„Der zweite Teil der transcendentalen Logik muss also eine Kritik dieses transcendentalen Scheins sein und heißt transcendentale Dialektik, nicht als eine Kunst, dergleichen Schein dogmatisch zu erregen […], sondern als eine Kritik des Verstandes und der Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs, um den falschen Schein ihrer grundlosen Anmaßungen aufzudecken“ (KrV, B 88).

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Scheins) Grundregeln ihres Gebrauchs liegen, die das Ansehen objektiver Grundsätze ermöglichen, wodurch die subjektive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Begriffe für objektive Notwendigkeit der Bestimmung der Dinge an sich selbst gehalten werden. (KrV, B 353f.) Es gibt einen dreifachen transzendentalen Schein. Dieser gründet in den „drei Fälle(n) des dialektischen Gebrauchs der reinen Vernunft“. Das sind: „1. Die Synthesis der Bedingungen eines Gedankens überhaupt. 2. Die Synthesis der Bedingungen des empirischen Denkens. 3. Die Synthesis der Bedingungen des reinen Denkens.“ Der dreifache transzendentale Schein gibt zu ebenso vielen „scheinbaren Wissenschaften aus reiner Vernunft“, nämlich „der transzendentalen Psychologie, Kosmologie und Theologie“ (KrV, A 397), die Idee an die Hand. Grundsätzlich gilt für unsere Verstandes- und Vernunfterkenntnis, dass sie „nur auf Erscheinungen“ gehen, „die Sache an sich selbst … zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt, liegen lasse(n)“ (KrV, B XX). Es ergibt sich die Notwendigkeit der Unterscheidung von Erscheinungen und Ding an sich 28 . „Die Sinnlichkeit und ihr Feld, nämlich das der Erscheinungen, wird selbst durch den Verstand dahin eingeschränkt: dass sie nicht auf Dinge an sich selbst, sondern nur auf die Art gehe, wie uns vermöge unserer subjektiven Beschaffenheit Dinge erscheinen. Dies war das Resultat der ganzen transzendentalen Ästhetik, und es folgt auch natürlicherweise aus dem Begriffe einer Erscheinung überhaupt: dass ihr etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Erscheinung ist, weil Erscheinung nichts für sich selbst und außer unserer Vorstellungsart sein kann, mithin, wo nicht ein beständiger Zirkel herauskommen soll, das Wort Erscheinung schon eine Beziehung auf Etwas anzeigt, dessen unmittelbare Vorstellung zwar sinnlich ist, was aber an sich selbst, auch ohne diese Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit (worauf sich die Form unser Anschauung gründet), etwas, d.i. ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand, sein muss. Hieraus entspringt nun der Begriff von einem Noumenon, der aber gar nicht positiv ist und eine bestimmte Erkenntnis von irgendeinem Dinge, sondern nur das Denken von Etwas überhaupt bedeutet, bei welchem ich von aller Form der sinnlichen Anschauung abstrahiere.“ (KrV, A 251f.) Folgende Charakteristika kennzeichnen die Erscheinungen: 1) Generell für alle erkennenden Subjekte ist die Erscheinung die Wirklichkeit in Beziehung auf die Sinnlichkeit und den Verstand, also der modus, wie sich das Wirkliche in den Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und des Verstandes (Kategorien) darstellt. 2) „Erscheinungen, sofern sie als Gegenstände nach der Einheit der Katego28

Herbert Schnädelbach ist die Unterscheidung und Relation von Erscheinungen und Ding an sich das entscheidende Element der Kantschen Philosophie überhaupt. Vgl. Schnädelbach, Herbert, Kant, Leipzig 2005.

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rien gedacht werden, heißen Phaenomena.“ (KrV, A 248f.) 3) „Erscheinungen sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar gegeben werden können, und das, was sich darin unmittelbar auf den Gegenstand bezieht, heißt Anschauung.“ (KrV, A 108f.) 4) Alle Erscheinungen sind extensive Größen, denn sie „enthalten der Form nach eine Anschauung in Raum und Zeit, welche ihnen insgesamt a priori zum Grunde liegt“ (KrV, A 162). 5) Die Erscheinung hat „jederzeit zwei Seiten, die eine, da das Objekt an sich selbst betrachtet wird […], die andere, da auf die Form der Anschauung dieses Gegenstandes gesehen wird, welche im Subjekte, dem derselbe erscheint, gesucht werden muss“ (KrV, B 55). 6) Die Differenz zwischen Erscheinung und Ding an sich ist notwendig für die Freiheit. Wenn Erscheinung und Ding an sich identisch wären, gäbe es keine Freiheit. „Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.“ (KrV, B 564) 7) Der Weg von der Erscheinung zur Erfahrung führt nur durch Reflexion gemäß dem logischen Gebrauch des Verstandes. 29 8) Erscheinung ist nicht bloßer Schein, denn in ihr „werden jederzeit die Objekte, ja selbst die Beschaffenheiten, die wir ihnen beilegen, als etwas wirklich Gegebenes angesehen, nur dass, sofern diese Beschaffenheit nur von der Anschauungsart des Subjekts in der Relation des gegebenen Gegenstandes zu ihm abhängt, dieser Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Objekt an sich unterschieden wird.“ (KrV, B 69) Hinsichtlich des Dings an sich gelten folgende Daten: 1) Wir erkennen nicht die Dinge an sich, sondern nur die Gegenstände als Erscheinungen: Also können wir keine Erkenntnis haben von dem „Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur sofern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung“ (KrV, B XXVI). 2) Nicht erkennen, aber denken können wir die Dinge an sich. Es ist also zu beachten, „dass wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, dass Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint.“ (KrV, B XXVIf.) 3) Das Ding an sich ist ein Grenzbegriff. „Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen zu können.“ (KrV, B 310f.) 4) Das Ding an sich als oberste Bedingung unserer Sinnlichkeit ist uns unerforschlich: „Das den Erscheinungen zum Grunde liegende transzendentale Objekt und mit demselben der Grund, warum unsere Sinnlichkeit diese vielmehr als andere oberste Bedingungen habe, sind und bleiben für uns 29

„Ab apparentia … ad experientiam via non est, nisi per reflexionem secundum usum intellectus logicum.“ (MSI, AA 2, § 5, 394).

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unerforschlich, obzwar die Sache selbst … gegeben, aber nur nicht eingesehen ist.“ (KrV, B 641f.) Wir wissen nicht, noch können wir von den Noumena „ganz und gar … Bestimmtes wissen“ (Prol, AA 4, § 32, 315). 5) Der Verstand bedarf des Dinges an sich: „Der Verstand …, eben dadurch, dass er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und sofern können wir sagen, dass die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich“ (Prol, AA 4, § 32, 315) ist. 6) Ein Gegenstand, der nur gedacht werden kann, kann seine objektive Gültigkeit in praktischen Erkenntnisquellen finden. 30 Wenn Erscheinung und Ding an sich verwechselt werden, verstrickt sich die Vernunft notwendiger Weise in Widersprüche. Das ist der Wurzelgrund der Antinomien. „Die einzelnen Antinomien lassen sich zwar durchschauen, aber nicht aufheben; die Dialektik wird zu einem Konstitutionsmerkmal der menschlichen Vernunft, zum Signum menschlicher Endlichkeit.“ 31 Kant behandelt ausführlich in der Kritik der reinen Vernunft (KrV, B 432-611) im 2. Hauptstück des 2. Buches der Transzendentalen Dialektik, das den Titel Die Antinomie der reinen Vernunft trägt, das Antinomieproblem. Er spricht von vier jeweils aus These und Antithese bestehenden Antinomien, die sich aus dem Widerstreit der transzendentalen Ideen ergeben. (KrV, B 454-489) Exemplarisch sei hier an der 1. Antinomie Kants Argumentation verdeutlicht. Der Thesis: „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen“ steht die Antithesis gegenüber: „Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenze im Raume, sondern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raums unendlich.“ (KrV, B 454f.) Der Beweis für die Thesis: Einen Anfang in der Zeit hat die Welt deswegen, weil die Welt ohne Anfang gedacht, eine unendliche Zeitreihe, eine Ewigkeit als Voraussetzung hätte. Endlich jedoch und keinesfalls unendlich ist eine verflossene Zeitreihe. Analog ist die Argumentation hinsichtlich des Raumes. (KrV, B 454/6). Für die Antithesis gilt der folgende Beweis: Die Welt hat keinen Anfang in der Welt, weil der Anfang ein einer Zeit vorhergehendes Dasein vorsetzt, worin die Welt nicht war. Es würde also eine leere Zeit angenommen. In leerer Zeit 30

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„Einen Gegenstand erkennen, dazu wird erfordert, dass ich seine Möglichkeit (es sei nach dem Zeugnis der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, oder a priori durch Vernunft) beweisen könne. Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d.i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korrespondiere oder nicht. Um einem solchen Begriffe aber objektive Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war bloß die logische) beizulegen, dazu wird … mehr erfordert. Dieses Mehrere aber braucht eben nicht in theoretischen Erkenntnisquellen gesucht zu werden, es kann auch in praktischen liegen.“ (KrV, B XXVI Anm.). Höffe, Kant, (s. Anm. 5), 34.

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ist kein Entstehen eines Dinges und damit der Welt möglich. Wie können nun die Thesis und Antithesis mit ihren Beweisen so auf einander bezogen werden, dass es philosophisch stringent ist? Wie können die dialektischen Widersprüche aufgeschlossen werden? Der Schlüssel liegt in dem, was Kant in der transzendentalen Ästhetik meint hinreichend bewiesen zu haben: „dass alles, was im Raum oder Zeit angeschaut wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen, sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben“, also transzendental idealistisch zu verstehen sind. (KrV, B 518f.) Unsere Vorstellungen beziehen sich nur auf Erscheinungen. Wir haben keine sinnliche Anschauung von dem Ding an sich. Das heißt also hinsichtlich der Antinomie 1 mit ihre Thesis und Antithesis und den jeweiligen Beweisen: „Ich kann … nicht sagen: die Welt ist der vergangenen Zeit oder dem Raume nach unendlich“, denn Unendlichkeit ist keine empirisch möglich Größe. Ich werde aber auch hier nicht empirisch von der Endlichkeit sprechen können, „denn die absolute Grenze ist gleichfalls empirisch unmöglich.“ (KrV, B 548) Es gilt also: „Aller Anfang ist in der Zeit und alle Grenze des Ausgedehnten im Raume. Raum und Zeit aber sind nur in der Sinnenwelt. Mithin sind nur Erscheinungen in der Welt bedingterweise, die Welt aber selbst weder bedingt, noch auf unbedingte Art begrenzt.“ (KrV, B 550)

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3. Die „Endabsicht“ der „reinen Vernunft“ ist „im Praktischen“ gegeben“ (KrV, B XXXVIII) Kant sagt: „Alles“ – d.h. alles Theoretische und alles Spekulative 32 – „läuft zuletzt auf das Praktische hinaus“. Das ist ein unbedingter Wert, da der praktische Gebrauch der Vernunft ein „unbedingter Zweck“ ist, insofern er sich auf die Sittlichkeit als das schlechthin absolut Praktische bezieht. Die „die Moralität zum Gegenstand“ habende Philosophie ist die „praktische Philosophie katexochen“ (Log, AA 9, 87). Die durch die spekulative Vernunft anstehenden metaphysischen und theologischen philosophisch nicht angemessener Lösung zugänglichen Probleme können durch die praktische Vernunft gelöst werden. Es muss doch einen „Quell von positiven Erkenntnissen geben“ (KrV, B 823), der die Ahndungen der spekulativen Vernunft philosophisch begründend klären kann. Die Vernunft hat in Ansehung des praktischen Gebrauchs „ein Recht …, etwas anzunehmen, was sie auf keine Weise im Felde der bloßen Spekulation ohne hinreichende Beweisgründe vorauszusetzen befugt wäre“ (KrV, B 804). Die praktische Vernunft „gibt […] Gesetze, welche Imperative, d. i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll“. Sie unterscheiden sich so von „Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, … weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden.“ (KrV, B 830) Die praktische Vernunft „beweist ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich.“ (KpV, AA 5, 3) Sie hat somit ihre eigene Kausalität (vgl. KpV, AA 5, 15). Praktische Vernunft und spekulativ theoretische Vernunft unterscheiden sich prinzipiell: „Der theoretische Gebrauch der Vernunft beschäftigte sich mit Gegenständen des bloßen Erkenntnisvermögens, und eine Kritik derselben in Absicht auf diesen Gebrauch betraf eigentlich nur das reine Erkenntnisvermögen, weil dieses Verdacht erregte, der sich auch hernach bestätigte, dass es sich leichtlich über seine Grenzen unter unerreichbare Gegenstände oder gar einander widerstreitende Begriffe verlöre.“ Anders ist es mit dem praktischen Gebrauch der Vernunft. Hier „beschäftigt sich die Vernunft mit Bestimmungsgründen des Willens, welcher ein Vermögen ist, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder […] seine Kausalität zu bestimmen. Denn da kann wenigstens die Vernunft zur 32

Zu begrifflichen Bestimmung und Zuordnung von theoretischer, spekulativen und praktischer Vernunft vgl. Log, AA 9, 86f. Die hier auch gebrauchte Differenzierung zwischen spekulativer und theoretischer Vernunft wendet Kant nicht immer begrifflich konsequent an. Nicht nur zuweilen differenziert er begrifflich nicht zwischen spekulativer und theoretischer Vernunft, sondern gebraucht sie synonym. Entsprechend verfahre ich in meinem Beitrag.

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Willensbestimmung gelangen und hat sofern immer objektive Realität, als es nur auf das Wollen ankommt.“ (KpV, AA 5, 15.) Die Ideen 33 der praktischen Vernunft sind als moralische Ideen „Urbilder der praktischen Vollkommenheit“ und dienen als Kanon, d. i. „unentbehrliche(n) Richtschnur sittlichen Verhaltens“ (KpV, AA 5, 127 Anm.). In der praktischen Vernunft haben wir es mit einer intelligibelen Ordnung zu tun. Die Kritik der praktischen Vernunft „tut dar, dass reine Vernunft praktisch sein, d. i. für sich unabhängig von allem Empirischen, den Willen bestimmen könne – und dieses … durch ein Faktum, worin sich reine Vernunft bei uns in der Tat praktisch beweiset, nämlich die Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit, wodurch sie den Willen zur Tat bestimmt.“ Zugleich wird gezeigt, „dass dieses Faktum mit dem Bewusstsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei sei, wodurch der Wille eines vernünftigen Wesens, das, als zur Sinnenwelt gehörig, sich gleich anderen wirksamen Ursachen notwendig den Gesetzen der Kausalität unterworfen erkennt, im Praktischen doch zugleich auf einer anderen Seite, nämlich als Wesen an sich selbst, seines in einer intelligibelen Ordnung der Dinge bestimmbaren Daseins bewusst ist, zwar nicht einer besonderen Anschauung seiner selbst, sondern gewissen dynamischen Gesetzen gemäß, die die Kausalität desselben in der Sinnenwelt bestimmen können“. Die uns so beigelegte Freiheit versetzt „uns in eine intelligibele Ordnung der Dinge“. (KpV, AA 5, 42) Im Vergleich zur spekulativen Vernunft, wo nicht „Grundsätze, sondern reine sinnliche Anschauung (Raum und Zeit) … daselbst das erste Datum (war), welches Erkenntnis a priori und zwar nur für Gegenstände der Sinne möglich machte“, also in Bezug auf die Erscheinungen und nicht auf das Dinge an sich, gibt die praktische Vernunft durch „das moralische Gesetz, wenngleich keine Aussicht, dennoch ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Faktum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen lässt.“ (KpV, AA 5, 42f.) Praktische Erkenntnisse stehen als Imperative im Gegensatz zu theoretischen und als Gründe zu möglichen Imperativen in solchen zu spekulativen Erkenntnissen. (Log, AA 9, 86) Der spekulativen Vernunft war es nicht möglich, unbedingte Kausalität zu realisieren. Lediglich konnte ein leerer Platz offen gehalten werden. „Diesen leeren Platz füllt … reine praktische Vernunft durch ein bestimmtes Gesetz der Kausalität in einer intelligibelen Welt (durch Freiheit), nämlich das moralische Gesetz, aus.“ (KpV, AA 5, 49). Es gilt somit gegenüber der spekulativen Vernunft der Primat der 33

Kant definiert die Idee als „eine Vollkommenheit“ (KpV, AA 5, 230 Anm.).

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praktischen Vernunft. Die spekulative Vernunft hat sich der praktischen unterzuordnen und nicht diese jener, „weil alles Interesse zuletzt praktisch ist“ (KpV, AA 5, 121; vgl. ebd., 119-121). „Um ein reines Erkenntnis praktisch zu erweitern, muss eine Absicht a priori gegeben sein, d. i. ein Zweck als Objekt (des Willens), welches unabhängig von allen theoretischen Grundsätzen durch einen den Willen unmittelbar bestimmenden (kategorischen) Imperativ als praktisch notwendig vorgestellt wird, und das ist hier das höchste Gut. Dieses ist aber nicht möglich ohne drei theoretische Begriffe […] vorauszusetzen: … Freiheit, Unsterblichkeit und Gott.“ Die praktische Vernunft bedarf unvermeidlich der Existenz derselben wegen des praktisch schlechthin notwendigen Objekts, des höchsten Gutes. Die theoretische Vernunft erhält so die Berechtigung dieselben vorauszusetzen, aber nicht, spekulativ zu erweitern. (KpV, AA 5, 134) „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und gibt […] ein allgemeines Gesetz, … das Sittengesetz“ (KpV, AA 5, 31). Das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft, der bekannte Kategorische Imperativ, lautet in der Kritik der praktischen Vernunft. „Handele so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ 34 Von grundlegender und nicht zu substituierende Relevanz ist „die Autonomie der reinen praktischen Vernunft, d. i. der Freiheit“. Das moralische Gesetz ist Ausdruck derselben (KpV, AA 5, 33). Folgenden Daten charakterisieren die Autonomie der praktische Vernunft: 1) Einziges Prinzip aller moralischen Gesetze und entsprechender Pflichten ist die Autonomie des Willens. 2) Der Sittlichkeit des Willens widerspricht alle Heteronomie. 3) Das „alleinige Prinzip der Sittlichkeit „ besteht in „der Unabhängigkeit … von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrtem Objekte)“ und ist doch zugleich „Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muss“. 4) Diese „Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen [Verstande], diese eigene Gesetzgebung aber der reinen … praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande.“ 5) Freiheit ist die „formale Bedingung aller Maximen“ der Gesetze der praktischen Vernunft. (KpV, AA 5, 33.) 6) Für Kant ist „das christliche Prinzip der Moral selbst … nicht theologisch (mithin Heteronomie), sondern Autonomie der reinen praktischen Ver34

KpV, AA 5, 30. In der KpV gibt es nur diese eine Formulierung des Kategorischen Imperativs, in der GMS sind weitere unterschiedlich akzentuierte (und zu interpretierende) Formulierungen desselben zu finden: 1)“handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (GMS, AA 4, 421) 2) „handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“ (421) 3) „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (429) 4) „handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.“ (436f.).

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nunft für sich selbst, weil sie die Erkenntnis Gottes und seines Willens nicht zum Grunde dieser Gesetze, sondern nur der Erlangung zum höchsten Gute unter der Bedingung der Befolgung derselben macht, und selbst die eigentliche Triebfeder zu Befolgung der ersteren nicht in den gewünschten Folgen derselben, sondern in der Vorstellung der Pflicht allein setzt“. 7) So „führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d. i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“. 8) „Das moralische Gesetz gebietet, das höchste mögliche Gut […] zum letzten Gegenstande alles Verhaltens zu machen. Dieses … kann ich … nur“ „zu bewirken hoffen […] durch die Übereinstimmung meines Willens mit dem eines heiligen und gütigen Welturhebers“. (KpV, AA 5, 129) Für das „Funktionieren“ der praktischen Vernunft und als notwendige Voraussetzungen des höchsten Gutes sind die Postulate stricte anzunehmen. „Ein Bedürfnis der reinen Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch führt nur auf Hypothesen, das der reinen praktischen Vernunft aber zu Postulaten“ (KpV, AA 5, 142). Folgende Charakteristika bestimmen die Postulate: 1) Kant versteht unter einem Postulat der reinen praktischen Vernunft „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz …, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt“ (KpV, AA 5, 122). 2) Alle Postulate der reinen praktischen Vernunft „gehen vom Grundsatze der Moralität aus, der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch welches Vernunft unmittelbar den Willen bestimmt, welcher Wille eben dadurch, dass er so bestimmt ist, als reiner Wille, diese notwendigen Bedingungen der Befolgung seiner Vorschrift fordert.“ 3) „Postulate sind nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht, erweitern also … nicht das spekulative Erkenntnis, geben aber den Ideen der spekulativen Vernunft im Allgemeinen (vermittels ihrer Beziehung aufs Praktische) objektive Realität“. Unsterblichkeit, Freiheit und Dasein Gottes sind die drei Postulate der praktischen Vernunft. Wobei Freiheit „positiv“ gesehen wird als die „Kausalität eines Wesens, sofern es zur intelligibelen Welt gehört“. Das Postulat Unsterblichkeit „fließt aus der praktisch notwendigen Bedingung der Angemessenheit der Dauer zur Vollständigkeit der Erfüllung des moralischen Gesetzes“. Das Postulat der Freiheit „fließt aus der notwendigen Voraussetzung der Unabhängigkeit von der Sinnenwelt und des Vermögens der Bestimmung seines Willens nach dem Gesetze einer intelligiblen Welt, d. i. der Freiheit“. (KpV, AA 5, 132) „Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist.“ (KrV, B 828) Das Postulat des Daseins Gottes fließt „aus der Notwendigkeit der Bedingung zu einer solchen intelligiblen Welt, um das höchste Gut zu sein, durch die Vorausset-

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zung des höchsten selbständigen Guts, d. i. des Daseins Gottes.“ (KpV, AA 5, 132) Die Postulate der praktischen Vernunft führen zur „Realisation“ von Begriffen, die der spekulativen Vernunft nur als Aufgabe eignen. In Bezug auf die Unsterblichkeit kam die spekulative Vernunft nur zu Paralogismen wegen der Defizienz der Beharrlichkeit. Der praktischen Vernunft ist die erforderliche Dauer „mit dem moralischen Gesetze im höchsten Gute“ gegeben. Hinsichtlich des Postulates der Freiheit kommt die spekulative Vernunft nur zur Antinomie eines denkbaren, aber bezüglich der objektiven Realität nicht bestimmbaren Begriffes, d. i. einer kosmologischen Idee. Als Postulat der praktischen Vernunft erhält die Freiheit „Realität … durch das moralische Gesetz und […] zugleich das Gesetz einer intelligibelen Welt“. Die Existenz Gottes ist innerhalb der spekulativen Vernunft ein „bloßes Ideal“. Als Postulat verschafft die praktische Vernunft „dem theologischen Begriffe des Urwesens Bedeutung“ und zwar „in praktischer Absicht … als einer Bedingung der Möglichkeit des Objekts eines durch“ das moralische „Gesetz bestimmten Willens“, „als dem obersten Prinzip des höchsten Guts in einer intelligibelen Welt durch gewalthabende moralische Gesetzgebung in derselben.“ (KpV, AA 5, 132f.) Gäbe es keine Freiheit, hätten wir bei uns kein moralisches Gesetz. Freiheit ist „die Bedingung des moralischen Gesetzes“, andererseits ist das moralische Gesetz conditio der menschlichen Bewusstseinswerdung von Freiheit. So ist die Freiheit „die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit“. (KpV, AA 5, 4 und Anm.) „Der Begriff der Freiheit, sofern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlussstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen, Vernunft aus“. Freiheit ist „die Bedingung des moralischen Gesetzes …, welches wir wissen“. Gott und Unsterblichkeit sind Bedingungen „des bloß praktischen Gebrauchs unserer reinen Vernunft“. Allein die Freiheit ist es, „wovon wir die Möglichkeit a priori wissen“. Unsterblichkeit und Gott, die „die Bedingungen der Anwendung des moralisch bestimmten Willens auf sein ihm a priori gegebenes Objekt (das höchste Gut)“ sind, schließen sich an die Freiheit an und bekommen durch sie „Bestand und objektive Realität“. (KpV, AA 5, 3f.) Freiheit hat in der praktischen Vernunft „objektive, und obgleich nur praktische, dennoch unbezweifelte Realität“ (KpV, AA 5, 49). Als „ein übersinnliches Vermögen“ (KU, AA 5, 435) kann Freiheit nicht „nach empirischen Prinzipien wie jedes andere Naturvermögen“ erklärt werden (KpV, AA 5, 94). Sie versetzt „uns in eine intelligibele Ordnung der Dinge“ (KpV, AA 5, 42). Genauer gesagt heißt das: Durch die „reine praktische Vernunft vermittelst des moralischen Gesetzes widerfährt“ uns „die herrliche Eröff-

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nung […] einer intelligibelen Welt durch Realisierung des sonst transzendenten Begriffs der Freiheit“ (KpV, AA 5, 94) und damit der moralischen Welt, denn die „intelligible(n), d. i. moralischen Welt“ (KrV, A 811). Durch die Freiheit sind wir qua praktische Vernunft „gesetzgebende Glieder eines […] Reichs der Sitten, aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt desselben“ (KpV, AA 5, 82). Zwischen Freiheit und Gott gibt bzw. kann es auf Grund der Spontaneität der Freiheit und des in keiner Zeitfolge stehenden Gottes keine Schwierigkeiten geben: „Den Begriff der Freiheit mit der Idee von Gott, als einem notwendigen Wesen, zu vereinigen, hat gar keine Schwierigkeit: weil die Freiheit nicht in der Zufälligkeit der Handlung (dass sie gar nicht durch Gründe determiniert sei), d.i. nicht im Indeterminismus (dass Gutes oder Böses zu tun Gott gleich möglich sein müsse, wenn man seine Handlung frei nennen sollte), sondern in der absoluten Spontaneität besteht, welche allein beim Prädeterminismus Gefahr läuft, wo der Bestimmungsgrund der Handlung in der vorigen Zeit ist, mithin so, dass jetzt die Handlung nicht mehr in meiner Gewalt, sondern in der Hand der Natur ist, mich unwiderstehlich bestimmt; da dann, weil in Gott keine Zeitenfolge zu denken ist, diese Schwierigkeit wegfällt.“ (RGV, AA 6, 50). Zu beachten ist jedoch der innerweltliche Bezugsrahmen der Moralität überhaupt: „Man sieht hieraus: dass in der Ethik, als reiner praktischer Philosophie der inneren Gesetzgebung, nur die moralischen Verhältnisse des Menschen gegen den Menschen für uns begreiflich sind: was aber zwischen Gott und dem Menschen hierüber für ein Verhältnis obwalte, die Grenzen derselben gänzlich übersteigt und uns schlechterdings unbegreiflich ist; wodurch dann bestätigt wird […]: dass die Ethik sich nicht über die Grenzen der wechselseitigen Menschenpflichten erweitern könne.“ (MSTL, AA 6, 491) Es liegt „objektiv in der natürlichen Ordnung der Dinge als Objekte der reinen Vernunft“, dass „wir den moralischen Gesetzen unterworfene und zu deren Beobachtung selbst mit Aufopferung aller ihnen widerstreitenden Lebensannehmlichkeiten durch unsere Vernunft bestimmte Wesen sind“. Das Vermögen des Menschen moralisch sein zu können, ist Kant Gegenstand der höchsten Bewunderung und Würde. Das moralische Gesetz, „was zu bewundern wir niemals aufhören können, […] ist zugleich dasjenige, was die Menschheit in der Idee zu einer Würde erhebt, die man am Menschen als Gegenstand der Erfahrung nicht vermuten sollte.“ Dass wir Menschen „auch das Vermögen dazu haben, der Moral mit unserer sinnlichen Natur so große Opfer zu bringen, dass wir das auch können, wovon wir ganz leicht und klar (sc. durch die reine praktische Vernunft) begreifen, dass wir es sollen, diese Überlegenheit des übersinnlichen Menschen in uns über den sinnlichen, desjenigen, gegen den der letztere (wenn es zum Widerstreit kommt) nichts ist, ob dieser zwar in seinen Augen alles ist, diese moralische,

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von der Menschheit unzertrennliche Anlage in uns ist ein Gegenstand der höchsten Bewunderung“. (SF, AA 7, 58) Wahre Demut vor dem moralischen Gesetz führt zu Achtung und Würde der menschlichen Person (MSTL, AA 6, 436). „Allein der Mensch, als Person …, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.“ (MSTL, AA 6, 434f.) „Unser gesamtes Erkenntnisvermögen hat zwei Gebiete, das der Naturbegriffe“ – das ist Gegenstand der spekulativen Vernunft – „und das des Freiheitsbegriffs“ – das ist das Feld der praktischen Vernunft – ; „denn durch beide ist es a priori gesetzgebend. […] Die Gesetzgebung durch Naturbegriffe geschieht durch den Verstand und ist theoretisch. Die Gesetzgebung durch den Freiheitsbegriff geschieht von der Vernunft und ist bloß praktisch. Nur allein im Praktischen kann die Vernunft gesetzgebend sein; in Ansehung des theoretischen Erkenntnisses (der Natur) kann sie nur (als gesetzkundig vermittelst des Verstandes) aus gegebenen Gesetzen durch Schlüsse Folgerungen ziehen, die doch immer nur bei der Natur stehen bleiben. Umgekehrt aber, wo Regeln praktisch sind, ist die Vernunft nicht darum sofort gesetzgebend, weil sie auch technisch praktisch sein können.“ (KU, AA 5, 174f.) Zwischen dem Verstand und der Vernunft gibt es ein Mittelglied, ein besonderes Erkenntnisvermögen. Das ist die Urteilskraft. Sie ist das Denkvermögen, den Zusammenhang zwischen spekulativer und praktischer Philosophie zu stiften. Das „Verbindungsmittel“ zwischen diesen beiden „Teilen der Philosophie zu einem Ganzen“ ist die Kritik der Urteilskraft. (KU, AA 5, 176) Die Urteilskraft definiert Kant als a priori gesetzgebendes „Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“ Kant kennt zwei Formen der Urteilskraft: die bestimmende und die reflektierende Urteilskraft. Nur subsumierend ist die bestimmende Urteilskraft, indem sie bei gegebenem Allgemeinen (Gesetz, Regel, Prinzip) das Besondere letzterem subsumiert. Die reflektierende Urteilskraft soll das Allgemeine bei gegebenem Besonderem finden. (KU, AA 5, 179) Zwischen ästhetischer und teleologischer Urteilskraft ist zu unterscheiden. Jene ist das Vermögen, die formale subjektive Zweckmäßigkeit durch das Gefühl der Lust oder Unlust zu beurteilen. Diese ist das Vermögen, die reale objektive Zweckmäßigkeit der Natur „durch Verstand und Vernunft zu beurteilen“. (KU, AA 5, 193) Die ästhetische Urteilskraft ist „ein besonderes Vermögen, Dinge nach einer Regel, aber nicht nach Begriffen zu beurteilen.“ Die teleologische Urteilskraft ist „kein besonderes

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Vermögen, sondern nur die reflektierende Urteilskraft überhaupt“, insofern sie nach den Prinzipien der nur „reflektierenden, nicht Objekte bestimmenden Urteilskraft“ agiert. Die teleologisch gebrauchte Urteilkraft setzt die bestimmten Bestimmungen, „unter denen etwas (z. B. ein organisierter Körper) nach der Idee des Zwecks der Natur zu beurteilen“ ist. (KU, AA 5, 194) Die teleologische Urteilskraft „kann aber keinen Grundsatz aus dem Begriff der Natur als Gegenstandes der Erfahrung für die Befugnis anführen, ihr eine Beziehung auf Zwecke a priori beizulegen“. Der Grund dafür ist, dass „viele besondere Erfahrungen angestellt und unter der Einheit ihres Prinzips betrachtet werden müssen, um eine objektive Zweckmäßigkeit an einem gewissen Gegenstande nur empirisch erkennen zu können.“ (KU, AA 5, 194) Eine schöne Charakterisierung der drei Denkvermögen (also auch eine entsprechende Verortung der Urteilskraft und ihres Verständnisses) gibt Kant im Sommer 1792 in einem Brief an Fürst von Beloselsky: Die Urteilskraft sei nichts anderes als „das Vermögen, seinen Verstand in concreto zu beweisen“. Sie schaffe nicht neue Erkenntnisse, sondern unterscheide lediglich, wie die vorhandenen anzuwenden seien. „Man könnte sagen, durch Verstand sind wir imstande, zu erlernen (d. i. Regeln zu fassen), durch Urteilskraft, vom Erlernten Gebrauch zu machen (Regeln in concreto anzuwenden), durch Vernunft, zu erfinden, Prinzipien für mannigfaltige Regeln auszudenken.“ 35

4. Der Gott der praktischen Vernunft Empirisch auf dem Wege der Physik oder mittels spekulativer Metaphysik lässt sich hinsichtlich des Daseins Gottes „gar nichts ausrichten“ (KpV, AA 5, 129). In der Kritik der reinen Vernunft untersucht und kritisiert Kant die bisherigen Versuche spekulativ metaphysischer Konstruktionen des Gottesbegriffes. Insbesondere nimmt er die traditionellen Gottesbeweise ins Visier. Diese führt er auf drei Grundformen bzw. die nur drei möglichen „Beweisarten vom Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft“ zurück: den physikotheologischen, den kosmologischen und den ontologischen Gottesbeweis. Der physikotheologische bzw. teleologische Gottesbeweis fängt „von der bestimmten Erfahrung und der dadurch erkannten besonderen Beschaffenheit unserer Sinnenwelt an und steig(en)t von ihr nach Gesetzen der Kausalität bis zur höchsten Ursache außer der Welt hinauf“. Der kosmologische Gottesbeweis legt „nur unbestimmte Erfahrung, d. i. 35

Brief Kants an Fürst Beloselsky vom Sommer 1792, zit. bei Eisler, Kant-Lexikon, (s. Anm. 22), 566.

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irgendein Dasein empirisch zugrunde“. Der ontologische Gottesbeweis dagegen abstrahiert von aller Erfahrung und schließt „gänzlich a priori aus bloßen Begriffen auf das Dasein einer höchsten Ursache“. (KrV, B 618f.) Kant kommt bei seiner Beurteilung der Gottesbeweise zu dem kritischen „Resultat […]: dass für das Dasein des Urwesens als einer Gottheit […] schlechterdings kein Beweis in theoretischer (hvgh. v. U.K.) Absicht […] für die menschliche Vernunft möglich sei; und dieses aus dem ganz begreiflichen Grunde: weil zur Bestimmung der Ideen des Übersinnlichen für uns gar kein Stoff da ist, indem wir diesen letzteren von den Dingen in der Sinnenwelt hernehmen müssten, ein solcher aber jenem Objekte schlechterdings nicht angemessen ist, also ohne alle Bestimmung derselben nichts mehr, als der Begriff von einem nichtsinnlichen Etwas übrig bleibt, welches den letzten Grund der Sinnenwelt enthalte, der doch kein Erkenntnis (als Erweiterung des Begriffs) von seiner inneren Beschaffenheit ausmacht.“ (KU, AA 5, 466) Kant kommt zu einer „Kritik aller Theologie“ und zwar solcher, die sich „aus spekulativen Prinzipien der Vernunft“ speist. (KrV, B 659) Er „behaupte(t) …, dass alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich furchtlos und […] null und nichtig sind, dass … die Prinzipien ihres Naturgebrauchs ganz und gar auf keine Theologie führen; folglich, wenn man nicht moralische Gesetze zum Grunde legt […], es überall keine Theologie der Vernunft geben könne. Denn alle synthetischen Grundsätze des Verstandes sind von immanentem Gebrauch; zu der Erkenntnis eines höchsten Wesens aber wird ein transzendenter Gebrauch derselben erfordert, wozu unser Verstand gar nicht ausgerüstet ist. Soll das empirisch gültige Gesetz der Kausalität zu dem Urwesen führen, so müsste dieses in die Kette der Gegenstände der Erfahrung mitgehören; als dann wäre es aber wie alle Erscheinung selbst wiederum bedingt. Erlaubte man aber … den Sprung über die Grenze der Erfahrung hinaus vermittelst des dynamischen Gesetzes der Beziehung der Wirkungen auf ihre Ursachen: welchen Begriff kann uns dieses Verfahren verschaffen? Bei weiten keinen Begriff von einem höchsten Wesen, weil uns Erfahrung niemals die größte aller möglichen Wirkungen […] darreicht.“ (KrV, B 664f.) Die metaphysische spekulative Konstruktion Gottes muss scheitern, da wir im Rahmen unserer spekulativen theoretischen Vernunft „nie über die Grenze möglicher Erfahrung hinauskommen können“ (KrV, B XIX). Immanuel Kant¸ „der große Reformator der Philosophie“ (Log, AA 9, 5), steht mit seiner Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft auf den Schultern des großen Reformators Martin Luther. Dieser bezeichnet die Vernunft einerseits als regina, als königlichste und größte Gabe Gottes an den Menschen, als gubernatrix aller Künste, Wissenschaften und Tugenden, ja als constitutio hominis. (Luther, WA 39 I, 175,9-15) Die ratio

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habe die Aufgabe, die Welt zu erkennen, zu ordnen und zu gestalten. Anderseits kann Luther von der Hure Vernunft (Luther, WA 10 I, 1, 326,16; 18, 164,24; 51, 126,7ff.) reden, wenn sie Gott definieren will. Die Vernunft ist nicht in der Lage, affirmativ von Gott zu reden. (Luther, WA 8, 629,23-33.) Innerweltlich begrenzt ist die Vernunft 36 . Ein transzendenter Gebrauch der Vernunft ist für Kant nicht möglich, da rationales Erkennen immer auf sinnliche Anschauung angewiesen ist, von dieser nicht abstrahieren kann. Also vom „Übersinnlichen ist, was das spekulative Vermögen der Vernunft betrifft, keine Erkenntnis möglich (Noumenorum non datur scientia).“ 37 Das bedeutet für Kant aber auch andererseits, dass niemand „durch reine Spekulation der Vernunft die Einsicht hernehmen (kann), dass es kein höchstes Wesen als Urgrund von Allem gebe“ (KrV, B 696). Kant bleibt bei der negativen Kritik der metaphysischen spekulativen Theologie, von der er nicht abrückt, nicht stehen. 38 Allein „bloßer Missbrauch“ der Ideen der reinen Vernunft bewirkt „trügliche(r)n Schein“ derselben. An sich enthalten sie selbst keine „ursprüngliche(n) Täuschungen und Blendwerke“. Sie haben „ihre gute und zweckmäßige Bestimmung in der Naturanlage“ der menschlichen Vernunft. (KrV, B 697) Wobei immer die Kantsche Definition der Idee bedacht werden muss: Kant versteht Idee als „einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. Also sind unsere […] reinen Vernunftbegriffe transzendentale Ideen.“ (KrV, B 383) – Gott als Idee der reinen Vernunft muss als regulatives Prinzip der Vernunft verstanden werden. Kant spricht vom großen Nutzen der transzendentalen Theologie. (KrV, B 668f.) Gott als fehlerfreies Ideal ist Kant Schlusspunkt und Krönung aller menschlichen Erkenntnis: „Das höchste Wesen bleibt also für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt“. Gottes „objektive Realität“ kann auf diesem Weg „zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden“. Moraltheologie 36 37 38

„Ratio non potest ad invisibilia se transferre.“ (Luther, WA 40 III, 51,8). FM, AA 20, 277. Mit Recht schreibt Herbert Schnädelbach (Kant, [s. Anm. 28], 103): „In Wahrheit hat Kant nie aufgehört, sich mit der Gottesfrage zu beschäftigen, weil er mit unserer gesamten metaphysischen Tradition davon überzeugt war, dass dies gar nicht möglich wäre; dass man die Existenz Gottes philosophisch nicht beweisen kann, bedeutet eben nicht, dass sich das Thema 'Gott' damit erübrigte. In der Kritik der reinen Vernunft ging es um den 'Gott der Philosophen', d.h. um das 'Urwesen (ens originarium)', das 'höchste Wesen (ens summum)' und das 'Wesen aller Wesen (ens entium)' (KrV, B 605f.), ohne das das System der rationalistischen Metaphysik bodenlos und unvollständig gewesen wäre. Dieser Gottesbegriff bleibt nach Kant auch in der Kritischen Philosophie aktuell, nämlich als 'ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache entspränge, um daraus die Regel einer systematischen und nach allgemeinen Gesetzen notwendigen Einheit in der Erklärung zu gründen' (B 647).“

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ist in der Lage, diesen Mangel zu beheben und so die Unentbehrlichkeit der transzendentalen Theologie erweisen. (KrV, B 669) „Das Ideal des höchsten Wesens ist […] ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache entspränge, um darauf die Regel einer systematischen und nach allgemeinen Gesetzen notwendigen Einheit in der Erklärung derselben zu gründen, und ist nicht eine Behauptung einer an sich notwendigen Existenz. Es ist aber zugleich unvermeidlich, sich vermittelst einer transzendentalen Subreption dieses formale Prinzip als konstitutiv vorzustellen und sich diese Einheit hypostatisch zu denken.“ (KrV, B 647) Jedoch die Gottesidee als regulatives Prinzip der Vernunft gebraucht ist „respektiv auf den Weltgebrauch unserer Vernunft ganz gegründet“ und nicht auf „objektive Gültigkeit“ und damit auf „empirischen Vernunftgebrauch“ anwendbar. (KrV, B 726) Die transzendentale Theologie bleibt dennoch von „sehr große(n)m Nutzen“ für den nur spekulativen Gebrauch der Vernunft. Sie ist in ihrem „wichtigem negativen Gebrauche […] eine beständige Zensur unserer Vernunft, wenn sie bloß mit reinen Ideen zu tun hat, die … darum kein anderes als transzendentales Richtmaß zulassen“ (KrV, B 668). „Der Begriff von Gott und selbst die Überzeugung von seinem Dasein kann nur allein in der Vernunft angetroffen werden“ und nicht in einer Anschauung bewiesen oder demonstriert werden (WDO, AA 8, 142). Seinen adäquaten Ort findet philosophisch der Begriff Gott nicht in der spekulativen, sondern in der praktischen Philosophie. Gott ist „ein ursprünglich nicht zur Physik, d. i. für die spekulative Vernunft, sondern zur Moral gehöriger Begriff“ 39 . Dieser Gott ist als Welturheber von höchster Vollkommenheit, allwissend, allmächtig, allgegenwärtig etc. (KpV, AA 5, 140). Die „Idee eines moralischen Weltherrschers ist eine Aufgabe für unsere praktische Vernunft.“ Da „der Mensch die mit der reinen moralischen Gesinnung unzertrennlich verbundene Idee des höchsten Guts (nicht allein von Seiten der dazugehörigen Glückseligkeit, sondern auch der notwendigen Vereinigung zu dem ganzen Zweck) nicht selbst realisieren kann, gleichwohl aber darauf hinzuwirken in sich Pflicht antrifft, so findet er sich zum Glauben an die Mitwirkung oder Veranstaltung eines moralischen Weltherrschers hingezogen, wodurch dieser Zweck allein möglich ist.“ (RGV, AA 6, 139) Die Physikotheologie gibt keinen befriedigenden bestimmten Begriff von Gott. Ihr „unbestimmter Begriff von Gott hilft mir […] zu gar nichts.“ Im Gegensatz dazu „ist der Begriff von Gott ein moralischer Begriff und praktisch notwendig; denn die Moral enthält 39

KpV, AA 5, 140. „Der Begriff der Moralität dient dazu, den Begriff von Gott desto besser zu bestimmen; denn er ist kein Naturbegriff und nicht in physischer Absicht notwendig“ (NTVolck, AA 28, 1181).

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Bedingungen des Verhaltens vernünftiger Wesens“, die apodiktisch gewiss sind, unter denen sie allein der Glückseligkeit würdig sein können.“ (PRPölitz, AA 28, 1071f.) Das höchste Gut, das in der Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit anzustreben und gemäß der Sittlichkeit (kategorischem Imperativ) unbedingte formale moralische Orientierung ist, kann vom menschlichen Subjekt nicht vollkommen erreicht werden. Der Mensch ist zwar „der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig“. (KpV, AA 5, 110) Die der Sittlichkeit „angemessene Glückseligkeit“ und damit die „Möglichkeit des höchsten Guts“ kann „nur unter der Voraussetzung eines moralischen Welturhebers … eingeräumt werden“ (KpV, AA 5, 145). Die notwendige Übereinstimmung zwischen Glückseligkeit und Sittlichkeit kann der Mensch „aus eigenen Kräften nicht durchgängig“ leisten. Sie muss aber geleistet werden. „Also ist das höchste Gut in der Welt nur möglich, sofern eine oberste Ursache der Natur angenommen wird, die eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität hat.“ Dem entspricht nur Einer. „Also ist die oberste Ursache der Natur, sofern sie zum höchsten Gute vorausgesetzt werden muss, ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Urheber) der Natur ist, d. i. Gott.“ Er ist als „von der Natur unterschiedene(n) Ursache der gesamten Natur“ der „Grund der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit“. (KpV, AA 5, 124f.)40 Kant spricht vom „moralischen Beweise des Daseins Gottes“ (KU, AA 5, 447). Die „a priori auf von unserer Vernunft untrennbaren Prinzipien“ beruhende „moralische Teleologie […] führt auf das, was zur Möglichkeit einer Theologie erfordert wird, nämlich auf einen bestimmten Begriff der obersten Ursache als Weltursache nach moralischen Gesetzen, mithin einer solchen, die unserm moralischen Endzwecke Genüge tut: wozu nichts weniger als Allwissenheit, Allmacht, Allgegenwart usw. als dazu gehörige Natureigenschaften erforderlich sind, die mit dem moralischen Endzwecke, der unendlich ist, als verbunden, mithin ihm adäquat gedacht werden müssen, und so den Begriff eines einzigen Welturhebers, der zu einer Theologie tauglich ist, ganz allein verschaffen. Auf solche Weise führt eine Theologie 40

„Das moralische Gesetz gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstande alles Verhaltens zu machen. Dieses aber kann ich nicht zu bewirken hoffen, als nur durch die Übereinstimmung meines Willens mit dem eines heiligen und gütigen Welturhebers; und obgleich in dem Begriffe des höchsten Guts als dem eines Ganzen, worin die größte Glückseligkeit mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkommenheit als in der genausten Proportion verbunden vorgestellt wird, meine Glückseligkeit mit enthalten ist: so ist doch nicht sie, sondern das moralische Gesetz (welches vielmehr mein unbegrenztes Verlangen darnach auf Bedingungen streng einschränkt) der Bestimmungsgrund des Willens, der zur Beförderung des höchsten Guts angewiesen wird.“ (KpV, AA 5, 129f.).

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auch unmittelbar zur Religion, d. i. der Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote“. (KU, AA 5, 480f.) Der allgemeine wahre, dem Bedürfnisse der praktischen Vernunft gemäße Religions- bzw. Vernunftglaube ist „der Glaube an Gott 1) als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, d. i. moralisch als heiligen Gesetzgeber, 2) an ihn, den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und moralischen Versorger desselben, 3) an ihn, den Verwalter seiner eigenen heiligen Gesetze, d. i. als gerechten Richter. Dieser Glaube enthält eigentlich kein Geheimnis, weil er lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt; auch bietet er sich aller menschlichen Vernunft von selbst dar und wird daher in der Religion der meisten gesitteten Völker angetroffen.“ (RGV, AA 6, 139f.) Kants dreigliedriges (analog den drei Artikeln altkirchlicher Symbole) Glaubensbekenntnis von 1791 lautet dem entsprechend: „Ich glaube an einen einigen Gott, als den Urquell alles Guten in der Welt, als seinen Endzweck; – Ich glaube an die Möglichkeit, zu diesem Endzweck, dem höchsten Gut in der Welt, sofern es am Menschen liegt, zusammenzustimmen; – Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben, als der Bedingung einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr möglichen Gut.“ 41 In seiner von Pölitz herausgegebenen Vorlesung über Rationaltheologie bestimmt Kant näher seinen moralischen Gottesbegriff so: „Ein Wesen, wodurch den moralischen Pflichten objektive Realität gegeben werden soll, muss folgende drei moralischen Vollkommenheiten ohne Schranken besitzen; nämlich Heiligkeit, Gütigkeit und Gerechtigkeit. Diese Eigenschaften machen den ganzen moralischen Begriff von Gott aus.“ (PRPölitz, AA 28, 1073) Luther sagt, dass, „das pro me oder pro nobis, wenn es geglaubt wird, den wahren Glauben macht (facit veram fidem)“ (WA 39 I, 46,7). Theologisch ertraglos sind ihm Spekulationen über die Aseität Gottes. Die Vernunft „weiß (sc. zwar), dass Gott ist. Aber wer …. es sei, da recht Gott heißt, das weiß sie nicht“ (WA 19, 206, 32f.). Den deus pro nobis, den deus vestitus Jesus Christus kennt sie nicht. Kant übernimmt von Luther die theologische Konzentration auf das Pro-me und konkretisiert sie moralisch. „Es liegt uns nicht sowohl daran, zu wissen, was Gott an sich selbst (seine Natur) sei, sondern was er für uns als moralisches Wesen sei; wiewohl wir zum Behuf dieser Beziehung die göttliche Naturbeschaffenheit so denken und annehmen müssen, als es zu diesem Verhältnisse in der ganzen zur Ausführung seines Willens erforderlichen Vollkommenheit 41

Über die von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzten Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat, in: I. Kant, Werke in sechs Bänden, hg. v. Weischedel, Wilhelm, Bd. III, Darmstadt, 1983, 636.

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nötig ist (z.B. als eines unveränderlichen, allwissenden, allmächtigen etc. Wesens), und ohne diese Beziehung nichts an ihm erkennen können.“ (RGV, AA 6, 139) Theologie ist Kant „eine praktische Erkenntnis des menschlichen Willens zu der Erkenntnis von Gott“, Religion „die Moralität, die auf die Theologie angewandt ist“. Anschaulich formuliert Kant: „Die Theologie liegt im Kopf, die Religion im Herzen“ (PPPowalski, AA 27, 169) „Zur Spekulation in Ansehung Gottes gehört viel, sie gehört aber nicht zur Religion, sondern die Religionserkenntnis muss praktisch sein“ (MPCollins, AA 27, 318). Dass Gott ist, ist nicht logisch gewiss – also nicht im Rahmen der spekulativen auf Anschauung angewiesene Vernunft gegeben –, „sondern moralische Gewissheit, und da sie auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muss ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiss, dass ein Gott sei etc., sondern: ich bin moralisch gewiss etc. Das heißt: der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, dass, sowenig ich Gefahr laufe, die letztere einzubüßen, ebenso wenig besorge ich, dass mir der erste jemals entrissen werden könne.“ (KrV, B 857) In der Danziger Rationaltheologie setzt Kant anderseits die apodiktische moralische Gewissheit in für diese notwendige Beziehung zu Gott: „… wäre kein Gott, so wäre es ein absurdum practicum, nach Moral zu handeln.“ 42 Rechte Auslegung der Heiligen Schrift ist „nach dem Prinzip der in der Offenbarung abgezweckten Sittlichkeit“ zu vollziehen. Durch den Gott, der „in uns … selbst der Ausleger“ ist, geschieht mittelst reinmoralische Begriffe unserer Vernunft authentische Interpretation der Bibel (SF, AA 7, 48). Damit wird dem Zweck der Offenbarung, der sittlich ist, entsprochen, wie auch der Moraltheologie, nicht aber der Physikotheologie (KrV, B 660). „Die Theologie hat Würde, weil sie ihre Erkenntnis von der Moral entlehnt.“ (DRTBaum, AA 28, 1236) Die Moral benötigt wegen der ihr notwendigen Endabsicht die Theologie, eine Ethikotheologie, „denn die Moral kann zwar mit ihrer Regel, aber nicht mit der Endabsicht, welche eben dieselbe auferlegt, ohne Theologie bestehen, ohne die Vernunft in Ansehung der letzteren im bloßen zu lassen.“ (KU, AA 5, 485) Hier trifft nun der moralische Beweis Gottes. Dieser ist, wie Kant meint, nicht neu, sondern lediglich ein von ihm „neu 42

„Die moralischen Gesetze sind apodiktisch gewiss, sie setzen aber notwendig einen Gott voraus, weil sie sonst alle verlieren würden, und wir nicht wüssten, warum wir sie befolgen sollten. Es wäre töricht, Gesetze zu befolgen, deren Nichtbefolgung doch glücklicher machte. Kurz, wäre kein Gott, so wäre es ein absurdum practicum, nach Moral zu handeln. Da also die Moralgesetze apodiktisch gewiss sind, so muss auch notwendig ein Gott sein, der eben diese Gesetze liebt und die Menschen nach denselben richten wird.“ (DRTBaum, AA 28, 1291) Vgl. ebd., 1297.

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erörteter Beweisgrund; denn er hat von der frühesten Aufkeimung des menschlichen Vernunftvermögens schon in demselben gelegen, und wird mit der fortgehenden Kultur desselben nur immer mehr entwickelt.“ (KU, AA 5, 458) Zu einem der Theologie tauglichen und möglichen „Begriff der obersten Ursache als Weltursache nach moralischen Gesetzen“ führt die moralische Teleologie, zu dem „Begriff eines einzigen Welturhebers“ mit den Eigenschaften Allwissenheit, Allmacht, Allgegenwart etc. So leitet die Theologie zur „Religion, d. i. der Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote: weil die Erkenntnis unserer Pflicht und des darin uns durch Vernunft auferlegten Endzwecks den Begriff von Gott zuerst bestimmt hervorbringen konnte“ (KU, AA 5, 480f.). Der Endzweck des moralischen Gesetzes ist ohne Gott nicht zu erreichen. Moralischen Grund und moralisches Wesen sind wir praktisch vernünftig genötigt, „als Urgrund der Schöpfung anzunehmen“. Es gilt, dass gemäß „der Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens, wir uns die Möglichkeit einer solchen auf das moralische Gesetz und dessen Objekt bezogene Zweckmäßigkeit, als in diesem Endzwecke ist, ohne einen Welturheber und Regierer, der zugleich moralischer Gesetzgeber ist, gar nicht begreiflich machen können.“ (KU, AA 5, 455) Theologie qua moralischer Teleologie führt zu Gott als einem Wesen mit einer Kausalität nach moralischen Gesetzen. Dagegen ist Gott als theoretisches Wesen (als bloße Ursache der Natur) schwer mit der Sittlichkeit zusammen zu bringen. Die Verbindung zur Sittlichkeit wäre hier eine zwanghafte Unterwerfung. (KU, AA 5, 481). Der Nutzen des praktischen, des moralischen Arguments für die Theologie hinsichtlich der Idee Gottes besteht darin, dass diese Religion nicht in Vernunft verwirrende Theosophie, anthropomorphistische Dämonologie, schwärmerische Theurgie oder abergläubische Idolatrie entarten lässt. (KU, AA 5, 459) Gott als Postulat der praktischen Vernunft kommt „subjektive, aber doch wahre und unbedingte Vernunftnotwendigkeit“ zu. Zum „Behuf einer praktischen Vernunft“, d. h. aus „apodiktischen praktischen Gesetzen“, ist Gott unbedingt notwendig. (KpV, AA 5, 11) Dass Gott, dass ein Welturheber ist, „müssen wir (sc. als) eine moralische Weltursache […] annehmen, um uns gemäß dem moralischen Gesetz einen Endzweck vorzusetzen.“ Das ist jedoch kein objektiver Daseinsbeweis Gottes. Er identifiziert nicht das Dasein Gottes und die Validität des moralischen Gesetzes. Der moralische Beweis „will nicht sagen: es ist ebenso notwendig das Dasein Gottes anzunehmen, als die Gültigkeit des moralischen Gesetzes anzuerkennen“. Wer nicht überzeugt ist vom Dasein Gottes, ist deswegen nicht aus der Befolgung des moralischen Gesetzes entlassen. „Dieses moralische Argument soll keinen objektiv-gültigen Beweis vom Dasein Gottes an die Hand geben, […] sondern, dass wenn er (der Zweifelgläubige) moralisch konsequent denken will, er die Annehmung dieses Satzes (sc.: „es

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sei ein Gott.“) unter den Maximen aufnehmen müsse.“ Wer das moralische Argument hinsichtlich des Daseins Gottes nicht teilt, verfehlt jedoch den der moralischen Vernunft gegebenen unwiderstehlichen Endzweck, mithin die Glückseligkeit als den dem endlichen Wesen dringlichen Endzweck. „… das eine Erfordernis des Endzwecks, wie ihn die praktische Vernunft den Weltwesen vorschreibt, ist ein in sie durch ihre Natur (als endlicher Wesen) gelegter unwiderstehlicher Zweck, den die Vernunft nur dem moralischen Gesetze als unverletzlicher Bedingung unterworfen, oder auch nach demselben allgemein gemacht wissen will und so die Beförderung der Glückseligkeit in die Einstimmung mit der Sittlichkeit zum Endzwecke macht.“ Das moralische Gesetz gebietet uns, entsprechend zu verfahren. Durch die Sittlichkeit ist es notwendig, „die Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität anzunehmen. […] Mithin ist es (sc. das hinsichtlich des moralischen Endzwecks sich ergebende Argument hinsichtlich des Daseins Gottes) ein subjektiv, für moralische Wesen, hinreichendes Argument.“ (KU, AA 5, 450f.) Praktische Vernunft bedarf der Voraussetzung der Existenz Gottes wegen ihres Urteilenwollens und Urteilenmüssens. Unbedingtes „Bedürfnis der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch“ ist es, dass „wir die Existenz Gottes vorauszusetzen […] genötigt werden, wenn wir urteilen wollen“ und „urteilen müssen“. Denn „der reine praktische Gebrauch der Vernunft besteht in der Vorschrift moralischer Gesetze“, die einmal alle auf die Idee des in der Welt durch Freiheit möglichen höchsten Gutes und damit zur Sittlichkeit und zum andern zur Glückseligkeit führen. „Nun bedarf die Vernunft, ein solches abhängiges höchste Gut und zum Behuf desselben eine oberste Intelligenz als höchstes unabhängiges Gut anzunehmen […], um dem Begriffe vom höchsten Gut objektive Realität (hvgh. v. U.K.) zu geben, d. i. zu verhindern, dass es zusammt der ganzen Sittlichkeit nicht bloß für ein bloßes Ideal gehalten werde, wenn dasjenige nirgends existierte, dessen Idee die Moralität unzertrennlich begleitet.“ (WDO, AA 8, 139) Es ist moralisch konsequent gedacht und gehört für Kant zu den Maximen der praktischen Vernunft, das Dasein Gottes subjektiv-notwendig anzunehmen. (KU, AA 5, 451) Gott hat als Postulat der praktischen Vernunft „subjektive, aber … wahre und unbedingte Vernunftnotwendigkeit“ (KpV, AA 5, 11) mit objektiver Geltung für die reine praktische Vernunft (KpV, AA 5, 4). Die subjektive Vernunftnotwendigkeit Gottes ist von objektiver Validität. So wird objektive Realität Gottes nicht durch die Spekulation, sondern in der praktischen Vernunft gesetzt. „Also wird durchs praktische Gesetz […] die objektive Realität“ des Daseins Gottes „postuliert“, ihm profiliert Realität eingeräumt. Das ist assertorischer Zuwachs theoretischer Erkenntnis der reinen Vernunft, jedoch keine Erweiterung der Spekulation in theoretischer Absicht. Die objektive Realität des Daseins Gottes ist

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notwendig für die praktische Vernunft, weil diese jener zur Möglichkeit ihres, und zwar praktisch-schlechthin notwendigen Objekts des höchsten Guts unbedingt unvermeidlich bedarf. So ist die praktische Vernunft berechtigt, die objektive Realität des Daseins Gottes theoretisch vorauszusetzen. (KpV, AA 5, 134f.) 43 Die objektive Realität Gottes ist „in Beziehung auf die Ausübung des moralischen Gesetzes“, jedoch „zu keinem spekulativen Behuf 44 gegeben“ (KpV, AA 5, 138). Mithin ist „der Begriff von Gott“ nicht „ein zur Physik“ und damit auch nicht zur Metaphysik („die nur die reinen Prinzipien a priori der ersteren in allgemeiner Bedeutung enthält“), sondern „ein zur Moral gehöriger Begriff“. (KpV, AA 5, 138) Glaube an die Existenz Gottes ist subjektiv freiwillig gebotener objektiv praktisch notwendiger – zuweilen ins Schwanken aber nie in Unglauben geratener – reiner praktischer Vernunftglaube, und zugleich dem theoretischen Bedürfnisse der Vernunft und ihr zugrunde gelegte konkordante Bestimmung unseres Urteils 45 . Nicht im Rahmen des Wissens der spekulativen auf sinnliche 43

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„Also wird durchs praktische Gesetz, welches die Existenz des höchsten in einer Welt möglichen Guts gebietet, die Möglichkeit jener Objekte der reinen spekulativen Vernunft, die objektive Realität, welche diese ihnen nicht sichern konnte, postuliert; wodurch denn die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft allerdings einen Zuwachs bekommt, der aber bloß darin besteht, dass jene für sie sonst problematische (bloß denkbare) Begriffe jetzt assertorisch für solche erklärt werden, denen wirklich Objekte zukommen, weil praktische Vernunft die Existenz derselben zur Möglichkeit ihres und zwar praktisch schlechthin notwendigen Objekts, des höchsten Guts, unvermeidlich bedarf, und die theoretische dadurch berechtigt wird, sie vorauszusetzen. Diese Erweiterung der theoretischen Vernunft ist aber keine Erweiterung der Spekulation, d. i. um in theoretischer Absicht … einen positiven Gebrauch davon zu machen. Denn da nichts weiter durch praktische Vernunft hierbei geleistet worden, als dass jene Begriffe real sind und wirklich ihre (möglichen) Objekte haben, dabei aber uns nichts von Anschauung derselben gegeben wird […], so ist kein synthetischer Satz durch diese eingeräumte Realität derselben möglich. Folglich hilft uns diese Eröffnung nicht […] in spekulativer Absicht, wohl aber in Ansehung des praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft zur Erweiterung dieses unseres Erkenntnisses.“ (KpV, AA 5, 134f.). „Ich kann also Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zum Behuf des notwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal annehmen, wenn ich nicht der spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher Einsichten benehme, weil sie sich, um zu diesen zu gelangen, solcher Grundsätze bedienen muss, die, indem sie […] bloß auf Gegenstände möglicher Erfahrung reichen, wenn sie gleichwohl auf das angewandt werden, was nicht ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, wirklich dieses jederzeit in Erscheinung verwandeln und so alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft für unmöglich erklären. Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist.“ (KrV, B XXIXf.). Weil die Beförderung der Denkmöglichkeit des höchsten Gutes „und also die Voraussetzung seiner Möglichkeit objektiv (aber nur der praktischen Vernunft zu Folge) notwendig ist, zugleich aber die Art, auf welche Weise wir es uns als möglich denken wollen, in unserer Wahl steht, in welcher aber ein freies Interesse der reinen praktischen Vernunft für die Annehmung eines weisen Welturhebers entscheidet: so ist das Prinzip, was unser Urteil

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Anschauung angewiesenen Vernunft kann Gott gewusst werden, sondern nur im moralisch definierten Glauben der reinen praktischen Vernunft. (KrV, B XXX) Der letzte Zweck Gottes der Schöpfung der Welt ist nicht die Glückseligkeit des vernünftigen Wesens Mensch, sondern das höchste Gut. Die dem höchsten Gute entsprechende Glückseligkeit des Menschen „kann nur mit der Heiligkeit seines (Gottes) Willens als dem höchsten ursprünglichen Gute angemessen“ gedacht werden. So ist der „Zweck in der Schöpfung in die Ehre Gottes“ gesetzt. „Denn nichts ehrt Gott mehr als das, was das Schätzbarste in der Welt ist, die Achtung für sein Gebot, die Beobachtung der heiligen Pflicht, die uns sein Gesetz auferlegt, wenn seine herrliche Anstalt dazu kommt, eine solche schöne mit angemessener Glückseligkeit zu krönen. Wenn ihn das letztere […] liebenswürdig macht, so ist er durch das erstere ein Gegenstand der Anbetung (Adoration).“ (KpV, AA 5, 130f.) Der Vernunftglaube an Gott kann im Rahmen der spekulativen Vernunft nur als „theoretisch unzureichendes Fürwahrhalten“ bezeichnet werden, da ihm die für die spekulative Vernunft unumgängliche Empirie fehlt. (KrV, B 851) Das aber bedeutet keine Abwertung des vernünftigen Gottesglaubens. Es heißt vielmehr eine andere vernünftige Verortung desselben. Der Vernunftglaube ist als moralischer vernünftig gewiss in der praktischen Vernunft. „Da […] die sittliche Vorschrift zugleich meine“ die Vernunft gebietende seinsollende „Maxime ist […], so werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben und bin sicher, dass diesen Glauben nichts wankend machen könne, weil dadurch meine sittlichen Grundsätze selbst umgestürzt würden“ (KrV, B 856). Von diesem praktischen Vernunftglauben hinsichtlich des Daseins Gottes sagt Kant, dass er „dem Grade nach keinem Wissen nachsteht“, obwohl er von dem fürwahrhaltenden Wissen der spekulativen Vernunft „völlig unterschieden ist“. (WDO, AA 8, 141) Kant musste also das spekulative Wissen Gottes im Rahmen der spekulativen Vernunft kritisch aufheben, um zum vernünftigen Gottesglauben Platz zu bekommen innerhalb der reinen praktischen Vernunft. (KrV, B XXX) 46 So kommt es zur „Festigkeit _____________

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hierin bestimmt, zwar subjektiv als Bedürfnis, aber auch zugleich als Beförderungsmittel dessen, was objektiv (praktisch) notwendig ist, der Grund einer Maxime des Fürwahrhaltens in moralischer Absicht, d. i. ein reiner praktischer Vernunftglaube. Dieser ist also nicht geboten, sondern als freiwillige, zur moralischen (gebotenen) Absicht zuträgliche, überdem noch mit dem theoretischen Bedürfnisse der Vernunft einstimmige Bestimmung unseres Urteils, jene Existenz anzunehmen und dem Vernunftgebrauch ferner zum Grunde zu legen, selbst aus der moralischen Gesinnung entsprungen; kann also öfters selbst bei Wohlgesinnten bisweilen in Schwanken, niemals aber in Unglauben geraten.“ (KpV, AA 5, 145f.). Der moralische Glaube „ist daher auch nicht Wissen, und Heil uns! dass er es nicht ist; denn eben darin erscheinet die göttliche Weisheit, dass wir nicht wissen, sondern glauben sollten, dass ein Gott sei. Denn gesetzt, wir könnten durch die Erfahrung […] oder auf diese oder jene Art zu einem Wissen vom Dasein Gottes gelangen; gesetzt, wir könnten davon wirklich,

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des Glaubens“ einschließlich dem „Bewusstsein seiner Unveränderlichkeit. Nun kann ich völlig gewiss sein, dass mir niemand den Satz: Es ist ein Gott, werde widerlegen können; denn wo will er diese Einsicht hernehmen?“ 47 Die Erkenntnis Gottes durch Glauben ermöglicht und entspricht der Moral. 48 Der Gott gemäße Mensch ist nach Kant der sich durch Freiheit verwirklichende. Der Mensch kann gemäß Gottes Willen nur durch Freiheit Mensch sein. „Die Bestimmung des Menschen ist also, seine größte Vollkommenheit durch seine Freiheit zu erlangen.“ Damit entspricht er dem inneren Principium der Welt. Dieses ist nämlich die Freiheit. 49

5. Des Menschen Würde und Freiheit, Endlichkeit und Boshaftigkeit, Torheit und Frieden Kants Philosophie überhaupt und damit auch dessen Religionsphilosophie 50 , die analytischer Bestandteil seines philosophischen Denkens ist, korreliert seinem kritisch affirmativen Aufklärungspathos. 51 Abhold aller _____________ 47

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so wie durch die Anschauung vergewissert werden; so würde alle Moralität wegfallen.“ (PRPölitz, AA 28, 1083f.). „Also“ – fährt Kant fort –“ ist es mit Vernunftglauben nicht so, wie mit dem historischen …, bei dem es immer noch möglich ist, dass Beweise zum Gegenteil aufgefunden würden, und wo man sich immer noch vorbehalten muss, seine Meinung zu ändern, wenn sich unsere Kenntnis der Sachen erweitern sollte.“ (WDO, AA 8, 141f. Anm.). „Es ist auch in Hinsicht auf unsere Moralität sehr gut, dass unsere Erkenntnis von Gott nicht Wissen, sondern Glaube ist; denn auf solche Art kann die Vollbringung meiner Pflicht weit reiner und uneigennütziger sein.“ (PRPölitz, AA 28, 1119). Vgl. Anm. 47. „Die letzte Bestimmung des menschlichen Geschlechtes ist die größte moralische Vollkommenheit, sofern sie durch die Freiheit des Menschen bewirkt wird, wodurch alsdann der Mensch der größten Glückseligkeit fähig ist. Gott hätte die Menschen schon so vollkommen machen und jedem die Glückseligkeit ausgeteilt haben können. Allein als dann wäre es nicht aus dem inneren Principio der Welt entsprungen. Das innere Principium der Welt aber ist Freiheit. Die Bestimmung des Menschen ist also, seine größte Vollkommenheit durch seine Freiheit zu erlangen. Gott will nicht allein, dass wir sollen glücklich sein, sondern wir sollen uns glücklich machen, das ist wahre Moralität. Der allgemeine Zweck der Menschheit ist die höchste moralische Vollkommenheit.“ (Immanuel Kant, Eine Vorlesung über Ethik, hg. v. Gerhardt, Gerd, Frankfurt/Main 1990, 269). „Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung […] vorzüglich in Religionssachen gesetzt“ (WA, AA 8, 41). „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude (U.K: Horaz, epist. II, 2, 40)! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (WA, AA 8, 35) Vgl.

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so bequemen liebgewordenen selbstverschuldeten Unmündigkeit und nicht geknechtet, sondern frei gegenüber der Unmündigkeit anderer gebrauchenden Vormündern buchstabiert Kant mündig und profiliert das Sapere aude. 52 Dessen philosophisches Fundament ist in der ersten und vor allem zweiten Kantschen Kritik Grund gelegt. Kants kritischer Transzendentalismus bedarf unbedingt aufklärerischer Freiheit. „Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar […] die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch 53 zu machen.“ (WA, AA 8, 36). Auf die Aufklärung – die langsam, nicht aber durch Revolution, „als wahre Reform der Denkungsart zustande“ kommt (WA, AA 8, 36) – kann der Einzelne zwar zeitweilig verzichten. Aber prinzipielle Verweigerung darf um der einzelnen Person und der Nachkommenschaft willen nicht akzeptiert werden, denn sie bedeutet für Kant, „die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten“. (WA, AA 8, 39) Jedoch muss Kant gegenüber auf die Gefahr aufmerksam gemacht werden, die von den früher Unmündigen, jetzt aber aufgeklärten Mündigen, sich zu neuen Vormündern zu generieren (wenn man soll will: die Dialektik der Aufklärung) ausgehen kann. Insofern ist Johann Georg Hamanns Kritik _____________ 52

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zum Folgenden Kants berühmten Aufsatz: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (AA 8, 33-42). Zum Sapere aude und zum Kantschen Verständnis der Aufklärung überhaupt vgl. La Rocca, Claudio, Was Aufklärung sein wird. Zur Diskussion um die Aktualität eines Kantschen Konzepts, in: Nagl-Docekal, Herta/Langthaler, Rudolf (Hg.), Recht – Geschichte – Religion. Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, Berlin 2004, 123-138. „[…] der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr eng eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe … unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf.“ Kant nennt hier den Offizier, den pflichtgetreuen Bürger und Geistlichen. So „ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun (sc. auch bei „Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde“); denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen. […] Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch: weil diese immer nur eine häusliche, obzwar noch so große Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen […] Denn dass die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft.“ (WA, AA 8, 37f.).

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an Kants Aufklärung nicht erledigt: dass sich die aufgeklärt früher Unmündigen als neue „Vormünder aufwerfen“ und folglich darum „wahre Aufklärung in einem Ausgange des unmündigen Menschen aus einer allerhöchst selbst verschuldeten Vormundschaft bestehe“ 54 . Auch Hamanns Kritik an Kants spekulativer reiner Vernunft trifft Kant. In seiner Metakritik über den Purismus der reinen Vernunft (1784) stellt Hamann Kant zwei Grundanfragen und diagnostiziert so zwei essentielle Kantische Defizite: 1. Kann menschliches Denken als reines Denken ohne seine sprachliche Grundverfassung angemessen bedacht werden? 2. Kann menschliches Denken als zeitloses Denken ohne seine Einbindung in die Geschichte angemessen bedacht werden? Zweifellos zählt Kant „zu den größten Denkern des Abendlandes und hat wie kaum ein anderer die Philosophie der Neuzeit geprägt.“ 55 Von Kant, meint Woldemar O. Döring mit Bezug auf Herder, sei „die gewaltigste Revolution ausgegangen, die jemals die Philosophie erschüttert hat, […] die Idee einer Kritik des menschlichen Vernunftvermögens.“ 56 Grundlegend für die Philosophie, die Theologie und darüber hinaus bleiben die drei berühmten Kantschen Fragen danach, was ich wissen kann, tun soll und hoffen darf. (KrV, B 833) Das gleiche gilt für das Kantische Kritikpotential (das auch ihm gegenüber anzuwenden ist): „Der kritische Weg ist allein noch offen“ (KrV, B 884). Dem muss sich alles unterwerfen (KrV, A XI). Das ist präzise die Kritik des Vernunftvermögens hinsichtlich dessen Quellen, Grenzen 57 und Prinzipien. Auch Kants philosophische Rezeption und Adaption des alten theologischen, wesentlich von Augustin verfassten, der Lutherischen Orthodoxie verschärften Dogmas von der Erbsünde in seiner Lehre „Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder über das radikale Böse in der menschlichen Natur“ 58 ist nicht philosophi54 55 56 57

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Hamann's Schriften, hg. v. Frd. Roth, 7. Teil, Leipzig 1825, 192 zit. Steffen Dietzsch, Immanuel Kant. Eine Biographie, Darmstadt 2003, 203. Höffe, Kant, (s. Anm. 5), 11. Döring, Woldemar Oskar, Das Lebenswerk Immanuel Kants, Lübeck 31916, 7. „Es ist demütigend für die menschliche Vernunft, dass sie in ihrem reinen Gebrauch nichts ausrichtet und sogar noch einer Disziplin bedarf, um ihre Ausschweifungen zu bändigen und die Blendwerke, die ihr daherkommen, zu verhüten. Allein andererseits […] gibt (es) ihr Zutrauen zu sich selbst, dass sie diese Disziplin selbst ausüben kann und muss, ohne eine andere Zensur über sich zu gestatten, imgleichen dass die Grenzen, die sie ihrem spekulativen Gebrauch zu setzen genötigt ist, zugleich die vernünftelnden Anmaßungen jedes Gegners einschränken, und … alles, was ihr … von ihren vorher übertriebenen Forderungen übrig bleiben möchte, gegen alle Angriffe sicherstellen könne. Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ: da sie nämlich nicht als Organon zur Erweiterung, sondern als Disziplin zur Grenzbestimmung dient und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten.“ (KrV, B 823). RGV, AA 6, 19. „Wenn wir … sagen: der Mensch ist von Natur gut, oder: er ist von Natur böse, so bedeutet dieses […]: er enthält einen (uns unerforschlichen) ersten Grund der

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scher Ladenhüter, sondern evoziert ein Datum des In-der-Welt-Seins des Menschen, das nicht ohne philosophischen Schaden insbesondere für die Anthropologie vernachlässigt werden darf. Aktualität (das zeigt auch die gegenwärtige bioethische Debatte) haben Kants Aussagen zur Würde des Menschen. Sie profilieren abendländischen Standard, der wo und wann auch immer nicht unterschritten werden darf. Menschheit, Sittlichkeit und Würde sind strenge Implikationen, d. h. sie können nicht isoliert, sondern nur im nichtsubstituierbaren Verbund artikuliert werden. „Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebend Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.“ (GMS, AA 4, 435) Das sittliche Handeln erfolgt mithin „aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt. Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ (GMS, AA 4, 434) Der personalen wechselseitigen Würde des Menschen, die durch keinen Preis aufgehoben werden kann, mit ihrer Selbstschätzung der eigenen menschlichen Person, entspricht die notwendige Selbstschätzung anderer. „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden. Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als _____________ Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen; und zwar allgemein als Mensch, mithin so, dass er durch dieselbe(n) zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt. Wir werden also […] sagen: er (sc. der Hang zum Bösen) ist ihm (sc. dem Menschen) angeboren, und doch dabei bei uns immer bescheiden, dass nicht die Natur die Schuld derselben (wenn er böse ist), oder das Verdienst (wenn er gut ist) trage, sondern dass der Mensch selbst Urheber desselben sei. Weil aber der erste Grund der Annehmung unserer Maximen, der selbst immer wieder in der freien Willkür liegen muss, kein Faktum sein kann, das in der Erfahrung gegeben werden könnte: so heißt das Gute oder Böse im Menschen (als der subjektive erste Grund der Annehmung dieser oder jener Maxime in Ansehung des moralischen Gesetzes) bloß in dem Sinne angeboren, als es vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit (in der frühesten Jugend bis zur Geburt zurück) zum Grunde gelegt wird und so als mit der Geburt zugleich vorhanden vorgestellt wird: nicht dass die Geburt eben die Ursache davon sei.“ (RGV, AA 6, 21f.) – Sünde ist für Kant „in Sinnlichkeit verkehrte Freiheit und als solche Schuld.“ (Wenz, Gunther, Theoretische Vernunftkritik in praktischer Absicht, in: Thiede, Werner (Hg.), Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen 2004, 11-66, hier: 61) „Harmatiologie, Soteriologie und ekklesiologisch vermittelte Eschatologie“ nennt Wenz (Vernunftkritik, 60) die Hauptstücke von Kants „Religionsphilosophie in praktischer Absicht“.

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Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der ebenso notwendigen Selbstschätzung anderer als Menschen entgegen handeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit in jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht.“ (MS, AA 6, 462) Kants hohe Wertung der reinen praktischen Vernunft mit deren Fokussierung auf die Sittlichkeit als Schlussstein und Endabsicht des philosophischen Diskurses überhaupt (KrV, B XXXVIII), ja als Philosophie katexochen 59 , verdankt sich seinem protestantischen lutherisch-pietistischrationalistischen Erbe. Wie stark der Philosoph des Protestantismus tatsächlich in seiner gesamten Philosophie protestantisch geprägt ist, ist trotz der bisher dazu vorliegenden Arbeiten 60 in der philosophischen Zunft zuwenig berücksichtigt bei der Hermeneutik des Kantschen Werkes. Kants Sittlichkeit ist geprägt von knochenharter protestantische Ehrlichkeit und Nüchternheit. Das zeigt sich z. B. in seiner rigoristischen Ablehnung der an sich selbst und andern verwerflich seienden Lüge, die er als Destruktion des Sittengesetzes, Verachtung der menschlichen Person, schwere Verletzung, ja Vernichtung der Menschenwürde hinsichtlich der eigenen Person und Menschheit angesichts der gänzlich unbedingten Pflicht der Wahrhaftigkeit und Etablierung der Nichtswürdigkeit des Menschen, den eigentlichen faulen Fleck in der menschlichen Natur interpretiert und deren (der Lüge) Beseitigung als Unterpfand des ewigen Friedens und Zukunft ansieht. 61 Kants praktischphilosophische hehre Betonung der Freiheit 62 , die nicht verwechselt wer59

60

61 62

„Alles läuft zuletzt auf das Praktische hinaus, und in dieser Tendenz alles Theoretischen und aller Spekulation in Ansehung ihres Gebrauchs besteht der praktische Wert unseres Erkenntnisses. Dieser Wert ist aber nur alsdann ein unbedingter, wenn der Zweck, worauf der praktische Gebrauch des Erkenntnisses gerichtet ist, ein unbedingter Zweck ist. Der einige, unbedingte und letzte Zweck (Endzweck), worauf aller praktische Gebrauch unseres Erkenntnisses zuletzt sich beziehen muss, ist die Sittlichkeit, die wir um deswillen auch das schlechthin oder absolut Praktische nennen. Und derjenige Teil der Philosophie, der die Moralität zum Gegenstand hat, würde demnach praktische Philosophie katexochen heißen müssen“. (Log, AA 9, 87). Vgl. Kern, Udo, Immanuel Kants Ekklesiologie: Kirche als ‚Freistaat’ und ‚allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung’ in der 'Liebenswürdigkeit' und 'Fröhlichkeit' ihres Stifters, in: Ders. (Hg.), Kirche – Amt – Abendmahl. Beiträge aus heutiger lutherischer Sicht, Münster 2004, 109 Anm. 287. Vgl. MS, AA 6, 428f.; MpVT, AA 8, 270; VNAEF, AA 8, 421f. „Die philosophische Konzeption der Freiheit ist Kants größte Leistung“, konstatiert emphatisch Volker Gerhardt (Kritische Philosophie des Lebens, in: Nagl-Docekal, Her-

Natur und Freiheit

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den dürfe mit Bandenlosigkeit, sondern die einhergeht mit rigoroser Pflicht, steht auf den Schultern von Luthers libertas christiana, die Kant auf seine philosophische Weise nutzt: Luther beruft sich in seinem Freiheitstraktat auf Paulus, insbesondere auf 1. Kor. 9,19: „Ich bin frei in allen Dingen und habe mich doch jedermann zum Knecht gemacht“.63 Biblisch ergeben sich für Luther zwei Konsequenzen, an denen „wir gründlich erkennen können, was ein Christenmensch sei und wie es um die Freiheit steht, die ihm Christus erworben und gegeben hat“, nämlich die: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“64 Freiheit ist das Grunddatum von Kants religionsphilosophischer Ekklesiologie: Kirche als aufgeklärte Hausgenossenschaft der Freien (RGV, AA 6, 102), gemäß der liberalen Denkungsart allen Sklavensinn und Bandenlosigkeit ausschließenden, Herz und Verstand ergreifenden Liebenswürdigkeit ihres Stifters (Jesus Christus), ist von Außen und Innen durchwaltet von Freiheit und somit verpflichtend auf das Sittengesetz 65 orientiert. (EaD, AA 8, 337f.) Die „moralische Liebenswürdigkeit“ des Christentums (EaD, AA 8, 339) schafft sich Raum in dem „krummen Holze“ der sichtbaren Kirche (RGV, AA 6, 100). Diese liberale Kantsche Ekklesiologie der aufgeklärten Hausgenossenschaft der Freien hat mehr als nur kathartische Relevanz für den aktuellen theologischen nicht allein protestantischen ekklesiologischen theologischen Diskurs. Sie korreliert dem lutherischen semper reformanda ecclesiae. „Gott“, so Volker Gerhardt, „kommt (sc. bei Kant) ins Spiel, um dem Leben als ganzem eine humane Perspektive zu geben“, die auf Gelassenheit zielt. Die Existenz Gottes sei epochal existentiell relevantes Postulat, um die Sinnbedingung menschlichen Handelns zu retten 66 . Diesem pro_____________ 63

64

65

66

ta/Langthaler, Rudolf (Hg.), Recht – Geschichte – Religion, Die Bedeutung Kants für die Gegenwart, Berlin 2004, 195-206, hier 197). Diese Stelle zitiert Luther neben Röm. 13,8 und Gal. 4,4 zu Beginn seiner Freiheitsschrift. Ich zitiere Luthers Tractatus de libertate christiana bzw. Von der Freiheit eines Christenmenschen nach: Martin Luther, Studienausgabe hg. v. Dehlius, Hans Ulrich, Berlin 1979 ff. (= StA), Bd. II, 263-309, = WA 7, 20-38 (V. d. Freiheit e. Christenmensch.); WA 7, 49-73 (De lib. christ.); hier: StA II, 264f. = WA 7, 21; 7, 49f. StA II, 265,2-9 = WA 7, 20,5-21,4. 101. Vgl. Kern, Udo, Freiheit als „Vermächtnis der Reformation“, in: Theologische Zeitschrift 52 (Basel 1996) 347-377. Jesus Christus „repräsentiert […] anschaulich den sittlichen Anspruch des Guten auf den Menschen und kann als inkarniertes Sittengesetz gelten.“ (Wenz, Vernunftkritik, [s. Anm. 58], 63). „Kant postuliert die Existenz Gottes nicht im Interesse einer spekulativen Erlösung des Menschen. Der primäre, der praktische Sinn des Postulats zielt auf Gelassenheit im Dasein: Der Mensch, der sich zwar viel denken und noch mehr vorzustellen vermag, tatsächlich aber nur wenig erreichen kann, soll sich mit seinen begrenzten Kräften zufrieden geben können, ohne an seiner Vernunft irre zu werden. So wird die Existenz Gottes im Interesse der epochalen Existenz des Menschen postuliert. Sie kann damit die Sinnbedingung des

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duktiv aktuell nachzudenken, gäbe auch gegenwärtiger Theologie weiten Raum im allgemein menschlichen und im wissenschaftlichen Diskurs. Kants kritische Philosophie hat nachhaltig bis heute protestantische Kritikkultur geprägt. In seiner Kritik der metaphysisch philosophisch begründeten Metaphysik ist ihm die protestantische Theologie flächendeckend gefolgt. 67 Auch heute kann kein Theologe und Philosoph ungestraft sich der Kantschen kritischen Philosophie verweigern, auch wenn mit Recht die Schwächen 68 des Kantschen philosophischen Systems nicht übersehen werden. Ebenfalls bestimmt Kants philosophische Fokussierung auf die Sittlichkeit im Rahmen der reinen praktischen Vernunft massiv protestantisches Denken im 19. und 20. Jahrhundert und aktuell. Zwar nicht in dem Sinne, dass alle schulmäßig Kantianer geworden wären, sie verarbeiten jedoch alle auf ihre Weise Kantsches Denken.69 Kants philosophischer Entwurf zum ewigen Frieden ist bis heute der diesbezügliche philosophisch gegründetste und für viele überzeugendste Ansatz, philosophisch vom Frieden zu reden. Frieden ist Kant vernunftgemäße Pflicht trotz der Tatsache, dass er nicht wie der Zustand des Krieges (der Feindseligkeiten) status naturalis ist. Es gilt, dass die „Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht“. Frieden kann aber nur durch den „alle Kriege auf immer zu endigen(den)“ Friedensbund (foedus pacificum) gestiftet und gesichert werden. (ZeF, AA 8, 356) Kant will „niemals mehr als ein Mensch“ sein. Daran erinnert er mit seiner Philosophie demütig, kritisch und selbstbewusst. So rät er angesichts des verheerenden Lissabonner Erdbebens von 1755 „dem Prometheus der neueren Zeiten, […] der den Donner entwaffnen“ und das Vulkanfeuer auslöschen will, zu der „demütigende(n) Erinnerung, […], dass er doch niemals etwas mehr als ein Mensch sei.“ 70 Die philosophischen Daten, die das mündige, selbstbewusste und demütige kritische Menschsein, das die kantsche Philosophie durchwaltet, prägen, sind nicht aktuell erledigt, sondern berechtigtes philosophisches Mandat und Pflicht. Kant weiß um die Endlichkeit und (auch destruierenden) Mängel des Menschen, ebenfalls um dessen Destruktionen (das radikale Böse) und Torheit seines Handelns. „Das Ende aller Dinge, die durch der Menschen _____________ 67 68 69 70

menschlichen Handelns retten. Gott kommt ins Spiel, um dem Leben eine humane Perspektive zu geben.“ (Gerhardt, Krit. Phil., [s. Amn. 62], 206). Exemplarisch mag hier Kants Kritik an den klassischen Gottesbeweisen stehen. Vgl. Herbert Schnädelbach, Kant, (s. Anm. 28), 137-141. So ist z.B. Albert Schweitzers berühmte, heute in der Umweltethik wieder stark beachtete, Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben kantianisch „durchsetzt“. FBE, AA 1, 472.

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Hände gehen, ist selbst bei ihren guten Zwecken Torheit: das ist, Gebrauch solcher Mittel zu ihren Zwecken, die diesen gerade zuwider sind. Weisheit, d. i. praktische Vernunft in der Angemessenheit ihrer dem Endzweck aller Dinge, dem höchsten Gut, völlig entsprechenden Maßregeln, wohnt allein bei Gott; und ihrer Idee nur nicht sichtbarlich entgegen zu handeln, ist das, was man etwa menschliche Weisheit nennen könnte.“ Der „erleuchteten praktischen Vernunft“ korreliert die göttliche Vorsehung. „Denn man mag so schwergläubig sein, wie man will, so muss man doch […] eine Konkurrenz göttlicher Weisheit zum Laufe der Natur auf praktische Art glauben, wenn man seinen Endzweck nicht […] aufgeben will.“ Dieses geht einher mit „der größten Achtung“ vor dem Christentum mit seinen unwiderstehlichen Gesetzen und dessen Liebeswürdigkeit, die aus „der sittlichen Verfassung, die Er (= Christus) stiftete“, resultiert. (EaD, AA 8, 336f.) Das kritische 71 theoretische und praktische Potential des Kantschen philosophischen Denkens ist noch nicht ausgeschöpft, sondern hat aktuelle Bedeutung, wenn es entsprechend aufgeschlossen wird, insbesondere hinsichtlich seiner kathartischen Relevanz.

71

„Der Entwurf der kritischen Transzendentalphilosophie (Kants) scheint ein Denkpotential zu enthalten, das sich nicht so rasch aufbraucht, vielleicht bis heute noch nicht ausgemessen ist.“ (Höffe, Kant, [s. Anm. 5], 302).

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„Schuf Gott die rechte Hand zuerst?“ Schöpfungstheologie und Raum beim vorkritischen Kant Niko Strobach

1. Einleitung Es liegt nahe, in einer Überblicks-Vorlesung zu Kant chronologisch vorzugehen und deshalb mit einem Blick ins vorkritische Werk zu beginnen. So nennt man all das, was Kant vor Erscheinen der ersten seiner drei Kritiken, der Kritik der reinen Vernunft, geschrieben hat (evtl. mit Ausnahme der Dissertation von 1770, 1 die in der Mitte steht). Wir sehen den großen, reifen Beitrag Kants zur Philosophiegeschichte heute im kritischen Werk. Kant hat das später genauso gesehen. Das vorkritische Werk ist das, was man bei anderen als das Jugendwerk bezeichnen würde. Das geht bei Kant nicht, wie man leicht nachrechnen kann, wenn man bedenkt: Kant wurde 1724 geboren, die erste Kritik erschien 1781. Der Münsteraner Philosophiehistoriker und Spezialist für das 18. Jahrhundert Werner Schneiders pflegte seine Vorlesung über Kant mit der Bemerkung zu beginnen: „Wäre Kant mit 55 Jahren gestorben, so gäbe es heute über ihn höchstens eine Fußnote in mancher Philosophiegeschichte.“ Man muss sich dazu klar machen: Wer damals seinen 55. Geburtstag erlebte, konnte schon zufrieden sein. Es kann hier nicht darum gehen, einen Überblick über das vorkritische Werk zu geben. Es ist, wenn auch verblüffend schmaler als das kritische Werk, doch noch ziemlich umfangreich und sehr heterogen. Die Themen reichen von der Syllogistik über das Gefühl des Schönen und über allerlei Metaphysisches bis zu einem Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764). 2 Ich möchte nur an zwei Beispielen einen Eindruck vermitteln. Sie handeln, in etwas verschiedener Absicht, von der Erschaffung der 1 2

MSI, AA 2, 385-420. VKK, AA 2, 257-272.

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Welt und vom Raum: die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 3 und der wenige Seiten lange, berüchtigte Aufsatz von 1768 mit dem erklärungsbedürftigen Titel Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume. 4 Warum lohnt sich ein Blick gerade in diese Texte? Aus historischen und auch aus methodischen Gründen. Historisch gesehen erfahren wir zunächst einiges darüber, was Kant im vorkritischen Werk noch ganz anders sieht als im kritischen Werk, und zwar einerseits in erkenntnistheoretischer, andererseits in theologischer Hinsicht (im weiten, ursprünglichen Sinn der Rede von Gott). Insgesamt bekommt man ein anschauliches Beispiel dafür, was Enttheologisierung des wissenschaftlichen Diskurses konkret sein kann. Denn bei beiden Texten stellt man fest: Kant ist auf sehr interessante Themen gestoßen, die in verändertem Gewand auch heute im Grenzbereich von Philosophie und Physik diskutiert werden. Man kann an den Texten aber auch methodisch etwas lernen. Kant macht oft starke und unplausible Voraussetzungen, sein Argument ist manchmal im Detail bis zur Unverständlichkeit obskur und das von ihm behauptete Ergebnis ist nicht selten falsch. Man stößt auch im kritischen Werk auf unplausible Prämissen, obskure Argumente und falsche Ergebnisse – nur ist da alles viel komplizierter. Ein Blick ins vorkritische Werk könnte also helfen, Risiken und Nebenwirkungen für das Kant-Studium generell vorzubeugen. Es ist leicht, in Begeisterung darüber, dass man einen komplizierten Gedanken Kants einigermaßen nachvollziehen kann, unversehens zu meinen: Was so kompliziert ist, muss auch wahr sein. Dies ist nicht der Fall. Kants Lehre von den synthetischen Urteilen a priori z.B. kann u.a. durch die moderne Physik als erledigt gelten. 5 Und wer Kants Ethik ohne weiteres für wahr halten will, der sollte sich zunächst seine eigenen Beispiele dazu ansehen. 6 Man sollte sich auch nicht verkriechen hinter 3 4 5

6

NTH, AA 1, 215-368. GUGR, AA 2, 376-383. Gute systematische Darstellung: Sklar, Lawrence, Space, Time and Spacetime, Berkeley 1974. Neben dem berüchtigten, aber argumentativ nicht uninteressanten Aufsatz „Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen“ von 1797, VRML, AA 8, 423-430 (Lüge über Aufenthaltsort eines Freundes auch bei Mordabsicht des Fragenden unzulässig), sind hierzu besonders lesenswert die Abschnitte 23 bis 27 der „Metaphysik der Sitten“, MS, AA 6, (Sex zwischen Unverheirateten widerspricht den „Rechtsgesetzen der reinen Vernunft“) und das im selben Werk enthaltene Inselbeispiel (333, Befürwortung der Todesstrafe in einem evtl. besonders zweifelhaften Fall). Es ist natürlich zuzugeben, dass sich Kant in seinen Wertungen hier (zum Teil) als Kind seiner Zeit erweist. Das ist ja gerade das Problem, wenn er, wie zu vermuten ist, den Kategorischen Imperativ anzuwenden verstand und dieser auf reiner Vernunft basiert. Denn sollte das Ergebnis dann nicht Kultur- und somit auch Zeit-unabhängig sein?

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einem: „Das erscheint uns heute schon sehr problematisch…“. Den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen bringt man auf, wenn man sagt: „wahr“ oder eben „falsch“. Genauso wenig sollte man sich dahinter verstecken, dass „Kant ja doch noch irgendwie aktuell ist“. Kant kann (streng genommen) schon aus semantischen Gründen gar nicht aktuell sein, auch nicht „der Aufklärer Kant“ oder „der Erkenntniskritiker Kant“ – höchstens dieses bestimmte Argument auf diesen bestimmten Seiten dieses bestimmten Werks; und das auch nur, indem es wenigstens in verwandelter Form Wahrheit beanspruchen kann oder indem es systematisches Skandalon ist. Vielleicht ist Kant nur noch historisch interessant. Ich hoffe aber, einen Eindruck vermitteln zu können, dass er selbst dann noch faszinierend sein kann. Die Gliederung ist sehr einfach, nämlich chronologisch: Zunächst soll es um die Hauptthese der Allgemeinen Naturgeschichte gehen und dann um den Aufsatz über die „Gegenden im Raume“. Um dessen Problemstellung zu verstehen, ist ein kleiner Exkurs zum berühmten Briefwechsel zwischen Leibniz und Samuel Clarke nötig. 7

2. Erstes Beispiel: „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ Die Fächergrenzen sind im 18. Jahrhundert noch nicht erstarrt, der Begriff „Philosophie“ ist außerdem noch viel weiter als heute. Wenn sich der vorkritische Kant zur Physik äußert, so ist das nicht spektakuläre Interdisziplinarität. Newtons Hauptwerk hieß schließlich „Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie“. 8 Kants Publikationsliste beginnt denn auch mit einer physikalischen Arbeit: Sein erstes Buch, entstanden zwischen etwa 1744 und 1749, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, 9 versucht einen Dissens zwischen den bekannten Physikern Descartes und Leibniz beizulegen. Der Text enthält eine ganze Menge detaillierter Kräfte-Berechnungen. Sie beruhen leider auf falschen Ausgangsformeln. Sechs Jahre zuvor hatte d’Alembert zwar die richtige Formel gefunden, aber das hatte sich nicht bis nach Königsberg herumgesprochen. 10 Da ist er noch 7

8

9 10

Ausgabe: Robinet, André (Hg.), Correspondance Leibniz-Clarke, présentée d’après les manuscrits originaux des bibliothèques de Hanovre et de Londres, Paris 1957. Übersetzung: Schüller, Volkmar (Hg. u. Übers.), Der Leibniz-Clarke Briefwechsel, Berlin 1991. Newton, Isaac, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, London 1687, 21713, 31726. Textkritische Ausgabe von A. Koyré und I.B. Cohen, 2 Bde., Cambridge 1972. WS, AA 1, 1-182. Vgl. zur schwierigen Datierung: Gulyga, Arsenij, Immanuel Kant, Frankfurt /M. 1981 (dt. von S. Bielfeldt, russ. Original: Moskau 1977), 24. Vgl. für Details Gulyga, Kant (s. Anm. 9), a.a.O.

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der in seinem Städtchen etwas overdressed auftretende „galante Magister“ und geübte Billiardspieler, fern von den unglaublichen Schrullen des alten Kant. 11 1755 gelingt Kant dann ein ganz großer Wurf als Kosmologe. Leider spricht sich das in der Fachwelt von Königsberg aus nicht so schnell herum, so dass Lambert sechs Jahre später denselben Wurf noch einmal macht und selbst Laplace mit im Prinzip der gleichen Idee noch 1796 reüssieren kann. 12 Es ist aber heute unumstritten, dass Kant an dieser Stelle für die Kosmologie Bedeutendes geleistet hat. Nur mag man sich fragen, ob das nicht ein Missverständnis ist, weil der große Wurf eigentlich kein physikalisches, sondern ein philosophisches, wenn nicht gar theologisches Werk ist. Die Antwort kann nur sein: Es ist alles davon zusammen. Der große Wurf trägt den Titel Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt. Der zweite Teil dieses Buchs (vor allem dessen erstes und siebtes Kapitel) ist ein atemberaubender Text. Er ist nicht einfach die Präsentation einer physikalischen Hypothese, enthält auch keine Berechnungen mehr. Er ist – wenn es das denn geben kann – eine Predigt des Deismus. Immer wieder wird er meditativ unterbrochen durch Gedichtzitate Alexander Popes und des literarischen Alpen-Entdeckers Albrecht von Haller. Unter Deismus verstehe ich (wie üblich) die Ansicht, dass Gott die Welt ein für allemal so weise mit Anfangsbedingungen und Naturgesetzen ausgestattet hat, dass er ihr danach ihren Lauf lassen konnte und in diesen nicht mehr eingreifen muss. Newtons Horizont war im Wesentlichen das Sonnensystem. Und seine Konzeption war in gewissem Sinne statisch: Zwar bewegen sich die Planeten. Aber sie bewegen sich immer gleich. Es gab keinen Grund, dazu eine physikalische Weltgeschichte zu schreiben. Die Fixsterne waren ohnehin unverrückbar, jeder eine Sonne an seinem Ort im unendlichen Raum. Kant beschreibt in einem späteren vorkritischen Werk von 1763 mit dem Titel Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes, wieso er damit unzufrieden war: Einerseits habe Newton gezeigt, dass die Gravitation eine Fernwirkung ist. Man dürfe also nicht mehr annehmen, den Planeten müsse die Kraft, die sie um die Sonne bewegt, erst über riesige Hebel aus fein verteilter Materie oder Äther „eingedrückt“ werden. 13 Ein solches Modell, das an heutige Jahrmarktsmaschinen denken lässt, ist unhaltbar. Zwischen den Planeten ist nun einmal keine Materie, jedenfalls so gut wie keine. Andererseits ist es Kants Meinung nach 11 12 13

Vgl. ebd., 72 und 75-77. Vgl. ebd. 28f. “eindrückte” BDG, AA 2, 144.27f.

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aber auch unplausibel, „Gott unmittelbar die Planeten werfen zu lassen, damit sie in Verbindung mit ihrer Schwere sich in Kreisen bewegen sollten.“ 14 Auch so könnte man zwar den Deismus ausbuchstabieren, aber man versteht gut Kants Unbehagen an diesem Gedanken. Um es in Abwandlung des berühmten Einstein’schen Bonmots zu formulieren, dass Gott nicht würfelt: Gott kegelt nicht. In der Schrift von 1763 verbindet Kant eine Wiederholung seiner Hypothese von 1755 übrigens noch mit dem Versuch eines Beweises der Existenz Gottes als eines notwendigen Wesens – ein Unterfangen, das er in der Kritik der reinen Vernunft dann für prinzipiell hoffnungslos erklären wird. 15 Wie geht Kant in der Allgemeinen Naturgeschichte von 1755 vor? Er erweitert zunächst den newtonschen Horizont. Er beschreibt zuerst die Milchstraße als Sternennebel. 16 Er erkennt dann, indem er die Milchstraße als unseren Sternennebel erkennt, dass es daneben noch viele andere Galaxien gibt. 17 Die existieren aber nicht einfach nebeneinander her, sondern sind Teil eines riesigen Systems, das unserem winzigen Sonnensystem ähnelt. 18 Wie ist es dazu gekommen? Kant bringt als Hypothese vor, dass die Materie zunächst überall verteilt war. 19 Es gab keinen leeren Raum mit Himmelskörpern darin, sondern einen Urnebel in wirbelartiger Bewegung 20 (schon eine kleine Ungleichverteilung der Materie kann einen solchen Wirbel erzeugen). 21 Aufgrund dieser Bewegung klumpen die Himmelskörper erst allmählich aus. Die Himmelskörper sind von vornherein mit einem gleichsam aus dem Urwirbel ererbten Impuls zur regelmäßigen Bewegung ausgestattet. Dazwischen bleibt leerer Raum übrig (Kant benutzt das Wort „Klumpen“ hier selbst sehr häufig). 22 Man kann das ansatzweise in einer Rührschüssel nachspielen, wenn man Nudelteig mit dem elektrischen Rührgerät herstellt. Kants Geschichte setzt also nicht bei einer Erschaffung der Materie aus dem Nichts ein, sondern bei der Entstehung von Ordnung (der Entstehung eines Kosmos im ursprünglichen 14 15 16 17 18 19 20 21

22

Ebd., 28-30. Vgl. KrV B XXX: „Ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen…“. NTH, AA 1, 248, 18-253, 18. NTH, AA 1, 253, 19-255, 12. Vgl. NTH, AA 1, 250; 255, 17-20; 316, 7-9. NTH, AA 1, 263, 16-19. NTH, AA 1, 264, 20-34. Dass der Grundansatz nicht veraltet ist, zeigt schon die Überschrift des 7. Kap. bei Rees, „Before the Beginning“, in dem es um Vorgänge sehr kurz nach dem Urknall geht: „From Primordial Ripples to Cosmic Structures“. Vgl. Rees, Martin, Before the Beginning. Our Universe and Others, Cambridge/Mass. 1998. NTH, AA 1, 265-269.

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Wortsinn), nämlich der Ausdifferenzierung von leerem Raum und Himmelskörpern aus einem fast homogenen materiellen Chaos. In der Allgemeinen Naturgeschichte nennt Kant diesen Prozess der Ordnung die „Schöpfung“. Es wird, wie in Gen.1, keine creatio ex nihilo beschrieben, sondern die Ordnung des Tohu-wa-bohu. Nur: Im Sinne von Kants Gebrauch des Wortes „Schöpfung“ ist Gott, im Gegensatz zu Gen.1, schon gar nicht mehr direkt an der Schöpfung der Himmelskörper beteiligt. Die Schöpfung ist ein zeitlich ausgedehnter Vorgang. Die aus dem Wirbel ausgeklumpten Himmelskörper konservieren dessen Bewegung. Damit beansprucht Kant, ein bedrohliches Problem der Newtonschen Gravitationstheorie zu lösen: 23 Warum stürzen die Fixsterne eigentlich nicht ineinander? Kants Antwortvorschlag ist: weil sie gar nicht völlig fix sind, sondern als Überreste des Urwirbels Fliehkräften unterliegen. Die Welt wird größer und dynamischer als bei Newton. Das bisher Berichtete wird man ungefähr beim Handbuch-Schlagwort „Nebularhypothese“ mitdenken. Kant belässt aber die Dynamisierung der Weltgeschichte nicht bei dem Gedanken, dass nun, nach Ablauf der Schöpfung, eine dynamische Ordnung etabliert ist. Vielmehr vertritt er die Ansicht, dass das Chaos noch gar nicht überall beseitigt ist. Man halte ein Rührgerät in eine unendlich große Rührschüssel. Es dauert dann nicht nur eine Weile, bis der Effekt des Geräts sich an den Rändern durchgesetzt hat, sondern die Verarbeitung dauert unendlich lange. Kant formuliert es so: „…die Sphäre der ausgebildeten Natur ist unaufhörlich beschäftiget, sich auszubreiten. Die Schöpfung ist nicht das Werk von einem Augenblicke. 24 […] Die Schöpfung ist niemals vollendet. Sie hat zwar einmal angefangen, aber sie wird niemals aufhören. 25 […] Ich finde nichts, das den Geist des Menschen zu edlerem Erstaunen erheben kann, indem es ihm eine Aussicht in das unendliche Feld der Allmacht eröffnet, als diesen Teil der Theorie, der die sukzessive Vollendung der Schöpfung betrifft. 26 […] Lasset uns dieser Vorstellung einen Augenblick mit stillem Vergnügen nachhängen.“ 27

Das ist der Stil der Allgemeinen Naturgeschichte. Er ist der Dimension der These angemessen. Schöpfungsgeschichte und Weltgeschichte sind eins: ein Gedanke, den Hegel in viel kleinerem Rahmen später wiederholen

23

24 25 26 27

Das Problem ist genau geschildert im ersten Teil (NTH, AA 1, 250), und dort ist schon die Bewegung der „Fix“-Sterne als Lösung vorgeschlagen. Erst im ersten Kapitel des zweiten Teils stellt Kant jedoch die Hypothese auf, woher die Bewegung kommt: aus dem Urwirbel. NTH, AA 1, 314, 1-3. Ebd. 27f. NTH, AA 1, 312, 31-34. Ebd., 29f.

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sollte – und in gewissem Sinne auch Darwin. Zum Glück verhält es sich mit uns so: „[Wir] befinden uns … in einer Naheit zum Mittelpunkte der ganzen Natur, wo diese sich schon aus dem Chaos ausgewickelt […] hat.“28

Im unendlichen Raum kann von einem Mittelpunkt natürlich nur im physikalischen Sinn die Rede sein, nämlich als Punkt besonderer Materiedichte zu Beginn der Schöpfung. Kant erläutert: „Es kann aber in dem unendlichen Raume kaum eine Art der Austeilung des ursprünglichen Grundstoffes gedacht werden, die einen wahren Mittel- und Senkungspunkt der gesamten Natur setzen sollte, als wenn sie nach einem Gesetze der zunehmenden Zerstreuung, von diesem Punkt an, in alle fernen Weiten eingerichtet ist.“ 29

Man bekommt den Eindruck, dass Gott, wenn er schon nicht gekegelt hat, die Materie doch zumindest mit der Suppenkelle ausgeteilt hat. Doch Kant hat eine gute Motivation, warum das so sein musste: Von einem solchen Mittelpunkt aus kann erklärt werden, dass „die Schöpfung“ (grammatisches Subjekt ist hier nicht „Gott“) „Schwungkräfte ausgeteilet hat“, die der „allgemeinen Anziehung“, die „einen Hang zum Verderben und zur Unordnung“ hat, entgegensetzt sind. Nur so kann die Schöpfung den „Charakter der Beständigkeit mit sich führe[n]“. 30 Um die Stabilität der Welt zu erklären also, „wird man genötiget, einen allgemeinen Mittelpunkt des ganzen Welt-Alls anzunehmen, der alle Teile desselben in verbundener Beziehung zusammen hält und aus dem ganzen Inbegriff der Natur nur ein System machet.“ 31

Es ist bemerkenswert, was für eine Art von Stabilität des Universums das ist: eine durch und durch dynamische und nicht etwa statische, ein Gleichgewicht aus der Bewegung. Doch mit Ausklumpungshypothese und unendlicher sukzessiver Schöpfung ist es noch nicht getan. Kant krönt den Text mit einem Gedanken, den man die Theorie der historischen Welle nennen könnte. Er setzt voraus, dass alles, was einen Anfang hat, auch ein Ende haben muss. 32 Woher er die Prämisse nimmt, muss hier nicht interessieren. Sie gehört zum metaphysischen Standardprogramm der Zeit. Spannend ist, wie er sie ausführt. Während man das gewöhnlich lediglich in der Dimension der Zeit explizieren würde, bezieht Kant die Dimension des Raums mit ein. Die Schwungkräfte am Mittelpunkt erlahmen offenbar irgendwann, und es passiert, was Kant wie folgt beschreibt: 28 29 30 31 32

NTH, AA 1, 313, 18-20. NTH, AA 1, 316, 20-25. Vgl. ebd. 1-5. Ebd. 7-9. NTH, AA 1, 417.24-26.

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„[Das allen Naturdingen verhängte Ende] hebt bei denen Weltkörpern an, die sich dem Mittelpunkte des Welt-Alls am nächsten befinden […] Andererseits ist die Natur auf der entgegengesetzten Grenze der ausgebildeten Welt unablässig beschäftiget, aus dem rohen Zeuge der zerstreueten Elemente Welten zu bilden, und, indem sie an der einen Seite neben dem Mittelpunkte veraltet, so ist sie auf der anderen jung und an neuen Zeugungen fruchtbar.“ 33

Die Wellentheorie beschert Kant also die Möglichkeit des kosmischen Optimismus: Wenn auch über unsere Weltregion die Welle der Ordnung irgendwann ausgelaufen ist und schon wieder die Welle der Unordnung darüber schwappt, so rollt die Welle der Ordnung doch nach außen hin immer weiter und verbreitert sich sogar, so dass die Welt alles in allem immer schöner wird. Was aus der Perspektive unseres kleinen Standpunkts in der Nähe der Weltmitte aussieht wie der Weltuntergang, ist nur ein Überrollt-Werden im Rahmen einer immer weiter gehenden Schöpfung. Aber damit nicht genug des Guten: Die Rückkehr ins Chaos in der Mitte, die Kant beeindruckend als eine Art Ekpyrosis (einen Weltenbrand) beschreibt, versetzt diese ja bei gleichen Naturgesetzen nur wieder in den Anfangszustand zurück, und die nächste Schöpfungswelle kann anrollen. Schließlich auch damit noch nicht genug des Guten: Es lässt uns „die Offenbarung mit Überzeugung [eine Glückseligkeit] hoffen“ 34 , die „die Vernunft nicht einmal zu wünschen sich erkühnen darf“. Die Seele 35 ist nämlich glücklich, wenn sie, „von der Abhängigkeit der endlichen Dinge befreiet“ über 36 „dem Tumult der Elemente und den Trümmern der Natur […] auf eine Höhe gesetzet ist, von da sie die Verheerungen, die die Hinfälligkeit der Dinge verursacht, gleichsam unter ihren Füßen kann vorbei rauschen sehen.“37

Von ernst zu nehmenden physikalischen Annahmen ausgehend steigert sich der Text immer weiter in das hinein, was Kant später nur noch als Spekulation und Schwärmerei und damit als völlig unwissenschaftlich gilt. Am Vergleich von vorkritischem und kritischem Werk bestätigt sich der bekannte Spruch über die schärfsten Kritiker der Elche. Doch ist diese Verquickung von Physik und Metaphysik nicht auch zutiefst beeindruckend? Kant gelingt es, vom physikalischen Wissen seiner Zeit ausgehend, eine Verbindung von mechanischem und theologischem Weltbild denkbar zu machen. Wirbeltheorien, wenn auch nicht so relativ gute, gibt es seit der Antike: Schon Aristophanes macht sich 423 v. Chr. in 33 34 35 36 37

NTH, AA 1, 319.21-32. NTH, AA 1, 322. Satzsubjekt seit AA 1, 321.27. „unter“ offenbar ein Fehler im Text. NTH, AA 1, 322.1-4.

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seiner Komödie Die Wolken einen Spaß daraus, gewisse Naturphilosophen als Leute zu beschreiben, die „Zeus“ als Erklärungsprinzip durch „dinos“, den Wirbel, ersetzen wollen. 38 Kant kombiniert die Gegensätze durch eine konsequente Dynamisierung der Welt aus dem Geist des Deismus. Die Natur bringt selbst etwas „[O]rdentliches“ 39 zustande, weil sie daraufhin eingerichtet wurde. Dass das „kühn“ ist, betont er selbst mehr als einmal; aber ebenso wichtig ist ihm, dass man nicht „in dem Vorwitz solcher Betrachtungen eine Schutzrede des Gottesleugners anzutreffen [besorge]“.40 Heute wissen wir natürlich, dass sich physikalisch einiges anders verhält. So wird man keinen Mittelpunkt der Welt mehr annehmen. Aber es brauchte immerhin die Konzeption der endlichen Raumzeit in der Allgemeinen Relativitätstheorie, um Newtons Stabilitätsproblem anders zu lösen. 41 Davon konnte Kant nichts ahnen, und unter der (falschen) Annahme eines unendlichen zeitunabhängigen euklidischen Raums ist sein Versuch aller Ehren wert. Selbst die Allgemeine Relativitätstheorie in ihrer ursprünglichen Form von 1915 wirkt übrigens statischer als der Kant von 1755. So viel Dynamik gibt es in der Kosmologie erst wieder seit der Dynamisierung der Allgemeinen Relativitätstheorie durch den russischen Mathematiker Friedmann in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. 42 Zwar ist die Wellentheorie falsch, und wenn wir tatsächlich eine Art Chaos am Rand in Gestalt der kosmischen Hintergrundstrahlung finden, dann unter der völlig anderen Voraussetzung, dass wir in der Zeit zurückschauen, wenn wir in den Raum hinausschauen, so dass, was wir am Rand finden, am Ursprungspunkt war. Doch ob auf den Big Bang irgendwann der Big Crunch folgt, und ob das wiederum nur ein Pulsschlag in einer viel längeren Biografie sein könnte, das wird auch heute wieder in der Kosmologie diskutiert. 43 Von Gott ist dabei bei manchen Vertretern der Zunft (z.B. Stephen Hawking) mehr die Rede, als anderen (z.B. Martin Rees) lieb ist. 44 Ist diese Art von Kosmologie Schwärmerei? Vielleicht nur im rigiden Wissenschaftsverständnis des kritischen, nicht aber im liberalen Wissenschaftsverständnis des vorkritischen Kant.

38 39 40 41

42 43 44

Vgl. die Verse 363-395. NTH, AA 1, 227.27. NTH, AA 1, 221.15. Einstein, Albert, Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, Braunschweig 1917, zitiert nach der 23. Auflage (1988) mit den Anhängen der 16. Aufl. (1954), §30f, 6974. Vgl. z.B. Einstein, Relativitätstheorie (s. Anm. 41), Anhang 4, 90. Vgl. z.B. Rees, Before the Beginning (s. Anm. 21), Kap. 12. Vgl. Rees, Before the Beginning (s. Anm. 21), 6, über Hawkings „A Brief History of Time“: „[Hawking] (or maybe his editor) judged that each mention of God would double the [book’s] sales. […] In that respect I shall not follow Stephen’s lead.”

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Zum Abschluss meiner Ausführungen über die Allgemeine Naturgeschichte von 1755 möchte ich auf zwei Probleme zu sprechen kommen: das Theodizeeproblem und ein Problem, das ich das Problem der Feinabstimmung der Schöpfung nennen will. Beide hängen zusammen. Kant sieht das zweite Problem selbst ganz klar: Denn er gibt zu, dass „eher die Bewegung aller Himmelskörper […] können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund werden wird.“45

Dennoch ist er zuversichtlich, dass „der physische Teil der Weltwissenschaft künftighin noch wohl eben die Vollkommenheit zu hoffen habe, zu der Newton die mathematische Hälfte derselben erhoben hat.“ 46

Dabei ist mit dem „physischen Teil der Weltwissenschaft“ die Wissenschaft der Dinge mit Physis, also die Biologie, gemeint, während die Physik zur „mathematischen Hälfte“ zählt. Ohne heutige Molekularchemie und ohne Evolutionstheorie kann Kant zwar noch nicht mehr als hoffen. Aber diese Hoffnung hat sich erfüllt. Der vorkritische Kant hätte, wenn er uns kurz im Traum hätte besuchen können, vermutlich die Evolutionstheorie als deterministische Geschichte verstanden, deren (vorläufiger) Ausgang durch die Anfangsverteilung der Materie und zumindest ab der molekularen Ebene deterministische Naturgesetze vom Schöpfer festgelegt werden konnte. So sieht das heute noch Richard Swinburne, 47 und so kann man es ohne Widerspruch sehen, wenn man denn das Bedürfnis danach verspürt. Ob man dieses Bedürfnis verspüren sollte, möchte ich mit einem ganz kurzen Seitenblick auf Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns Gottes (1762) thematisieren: 48 Kant diskutiert dort, in welchem Sinne man ein verheerendes Erdbeben in Port Royal in der Nähe des heutigen Kingston/Jamaica eine Strafe für die lockere Lebensweise seiner Bewohner nennen könne. Leberzirrhose als natürliche Strafe für übermäßigen Alkoholkonsum fügt sich problemlos ins deistische Weltbild. Im Fall des Erdbebens von Jamaica ist es komplizierter: Da hätte ja der Schöpfer durch die Anfangsbedingungen des Universums sowohl die Entstehung der Erdbeben als auch die Entstehung der lasterhaften Einwohner von Kingston so einrichten müssen, dass eins zur rechten Zeit auf das andere trifft. Kant bemerkt, dass man das auch im Rahmen des deisti-

45 46 47 48

NTH, AA 1, 230, 24-26. Vgl. Rees, Before the Beginning (s. Anm. 21), 2: “A frog poses a more daunting scientific challenge than a star”. NTH, AA 1, 230.27-29. Swinburne, Richard, The Existence of God, Oxford 1979, Kap.7 und 8. BDG, AA 2, 63-164; vgl. dort den Beginn von §1 der 3. Betrachtung.

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schen Bildes übernatürlich nennen dürfe; 49 aber das selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich verknäulte Fazit legt auch nahe, dass ihm die Annahme von derlei Strafen überhaupt zu weit gehen würde und er das bloß nicht deutlich zu schreiben wagt. Ob als Strafe oder nicht: Erdbeben und ähnliches bleiben in der Konzeption der Allgemeinen Naturgeschichte ein Problem. Dennoch hat das für viele seiner Zeitgenossen besonders schockierende große Erdbeben von Lissabon 1755 Kant so sehr Optimist bleiben lassen, dass er in seinem Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus 50 von 1759 noch emphatisch Leibniz' Formel von der besten aller möglichen Welten bejaht – man müsse sie nur recht verstehen. Es ist alles eine Frage der Dimension, in der man es betrachtet. In der Allgemeinen Naturgeschichte zitiert Kant, um diesen Punkt zu vermitteln, die folgenden Verse Popes in der Übersetzung von Brockes: 51 „Der stets mit einem gleichen Auge, Sieht einen Helden untergehn, Sieht eine Wasserblase springen,

weil er der Schöpfer ja von allen, und einen kleinen Sperling fallen, und eine ganze Welt vergehn.“

Doch ist das nicht bloß ein argumentum ex potestate, letztlich ebenso unbefriedigend wie die Verdonnerung am Ende des Hiob-Buchs, über ein Wesen, das stärker ist als selbst das gewaltige Monster Leviathan, habe man sich gefälligst nicht zu beklagen? 52 „Umso schlimmer, wenn Er dann den Sperling fallen lässt…“, möchte man einwenden. Doch damit wäre man mitten in der systematischen Diskussion. Für einen historischen Beitrag muss es genügen, festzuhalten: In Kants Allgemeiner Naturgeschichte verhelfen physikalische Betrachtungen ihm zum Optimismus in Form der Wellentheorie der Schöpfung; und am Ende braucht es eine Offenbarung über die Fortexistenz (wenn schon nicht der Sperlings- so doch) der Menschenseele, um diesen Optimismus aushalten zu können. Historisch fragt sich: Was wird sich entwickeln, wenn die Offenbarung zweifelhaft wird?

49 50 51 52

Ebd. VBO, AA 2, 27-36. NTH, AA 1, 318. 34-36. Hiob 38-41, vgl. besonders 40,25-41,26.

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3. Zweites Beispiel: Der Aufsatz über die „Gegenden im Raum“ von 1768

3.1. Von Leibniz und Newton zu Kant Damit die Problemstellung des Textes von 1768 verständlich wird, ist ein kleiner Vorspann nötig. Er soll außerdem helfen, den historischen Horizont anzudeuten. Dieser Vorspann beginnt neun Jahre vor Kants Geburt, 1715. Leibniz und Newton, die beiden wissenschaftlichen Superhirne des 17. Jahrhunderts, waren bekanntlich nicht sonderlich gut aufeinander zu sprechen, weil sie unabhängig voneinander die Infinitesimalrechnung entdeckt hatten, und nun jeder meinte, der andere hätte plagiiert. Doch man wird kaum daran zweifeln dürfen, dass es auch tiefe Überzeugung in der Sache war, wenn Leibniz im Jahre 1715 seine guten Beziehungen nutzt und seinen großen Kollegen in einem Brief an seine ehemalige Schülerin Caroline von Ansbach, inzwischen Princess of Wales am Hannoveraner Hof von London, religiöser Irrlehren bezichtigt. 53 Caroline hatte ein echtes Interesse an Philosophie und Theologie. Man sollte sie trotz ihrer recht individuellen Art, die französische Sprache in Buchstaben umzusetzen, 54 nicht für ungebildet halten. Caroline hatte außerdem eine gute diplomatische Hand dafür, Wissenschaftler gegeneinander ins Turnier zu schicken. So initiiert sie den berühmtesten wissenschaftlichen Briefwechsel des 17. und 18. Jahrhunderts: fünf lange Briefe von Leibniz und fünf lange Briefe des physikalisch und philosophisch absolut beschlagenen Hofpredigers Samuel Clarke als Stellvertreter Newtons. Einigkeit wäre wohl kaum erzielt worden, selbst wenn Leibniz nicht kurz nach Abfassung des fünften Briefes 1716 gestorben wäre. Worum streiten sich Leibniz und Clarke? Wenn man sagt, „um das Wesen des Raums“, so stimmt das im Rückblick. Das dafür relevante Prüfungswissen wäre: Clarke verteidigt Newtons Konzeption des absoluten Raums; Leibniz bestreitet, dass der Raum absolut ist und vertritt eine relationale Konzeption des Raums. Damit ist allerdings noch nichts sonderlich Informatives gesagt. Denn man muss beim Wort „absolut“ immer fragen, wovon da etwas absolut ist. Genauso muss man beim Wort „relativ“ immer fragen, worauf etwas relativ sein soll. Andernfalls resultiert Unsinn. 53

54

Vgl. die Briefe an Caroline vom 1.5.1715 und von Anfang September 1715 (Nr. 17 und Nr. 22 in der Robinet-Ausgabe [s. Anm. 7]). Kostprobe (vgl. Robinet-Ausgabe [s. Anm. 7], Nr. 27): „Nous panson fort serieusement à faire tradevuire votre deodisé, mais nou cheron un bon traducteur.“

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Ein Beispiel ist die Formel „Ego te absolvo“. Das ist bestens verständlich: Der Sünder soll von den Sünden abgelöst werden. Wovon soll also der Raum absolut sein? Von den Dingen. Doch was hat das hochtheoretische Thema Raum überhaupt mit Newtons angeblicher Ketzerei zu tun? Einerseits streiten sich Leibniz und Clarke über Newtons Formulierung, man müsse sich den Raum als sensorium, also gewissermaßen als Sinnesorgan Gottes vorstellen, und gerade dieses Bild erkläre, wie Gott omnipräsent ist. 55 Andererseits, und das ist in unserem Zusammenhang wichtiger, geht es um Schöpfungstheologie und freien Willen. Clarke vertritt die Ansicht, Gott habe sich bei der Schöpfung zwischen mehreren Alternativen „by mere will“, also völlig spontan und ohne guten Grund für die Erschaffung gerade dieser Welt entschieden. Leibniz meint, dass er einen guten Grund dafür gehabt haben muss, nämlich den, dass sie die beste aller möglichen Welten ist. Clarke hält Leibniz ein geniales Argument entgegen: „Dafür, warum diese bestimmte Zusammenstellung von Materie gerade an diesem Ort erschaffen werden sollte und jene an einem anderen, während es doch andersherum genau dasselbe gewesen wäre, kann es keinen anderen Grund geben als den bloßen Willen Gottes.“ 56

Man kann das Argument so wiedergeben: Musste sich Gott nicht entscheiden, ob er diese Welt schaffen wollte oder aber eine Alternative zu ihr, die zwar in allen Details gleich, aber gegenüber der tatsächlich erschaffenen Welt um einen gewissen Winkel gedreht ist? Da es keinen guten Grund gab, eine der beiden Alternativen zu befürworten, muss diese Entscheidung einfach „by mere will“ erfolgt sein.

Liest man das Argument so, dann behauptet Clarke indirekt gegenüber Leibniz, dass nach dessen Prämissen Gott zwischen zwei gleichwertigen Schöpfungsalternativen hätte verzweifeln müssen und die Schöpfung niemals hätte fertigbringen können. Gott wäre dann nämlich in derselben Situation gewesen wie der sagenhafte (angeblich vom spätmittelalterlichen Logiker Jean Buridan erfundene) Esel, der im gleichen Abstand zwischen zwei gleich großen Heuhaufen verhungert. 57 Das kann Leibniz nicht auf sich sitzen lassen. Seine mindestens ebenso geniale Antwort ist: „Angenommen, der Raum sei etwas an sich und anderes als die Anordnung der Körper zueinander, dann ist es zwar unmöglich, dass es einen Grund gibt, warum 55 56

57

Clarke I, §3; Leibniz II, §3, Clarke II, §3; Leibniz IV, §26 u.ö. Clarke II, §1 (Robinet [s. Anm. 7], 47), Übersetzung: N.St. “Why THIS particular system of Matter, should be created in ONE particular PLACE, & THAT in ANOTHER particular place, when … it would have been exactly the same thing VICE VERSA … there can be no other reason but the MERE WILL of God.” Das Beispiel mit dem Esel findet sich nicht bei Buridan, wohl aber ähnliche Beispiele. Details bei Zupko, Jack, Artikel “Buridan” in: Craig, E. (Hg.), The Routledge Encyclopedia of Philosophy, London/New York 1998, Bd.2, 130-136, hier: 134.

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Gott die Körper im Raum so platziert hat und nicht anders, und warum nicht alles umgekehrt positioniert wurde, z.B. durch einen Tausch von Ost gegen West. Aber wenn der Raum nichts anderes ist als diese Anordnung oder Beziehung, dann unterscheiden sich die beiden Zustände, der eine, wie er ist, der andere der angenommene umgekehrte, gar nicht voneinander; der eine wird gerade dasselbe sein wie der andere, da sie völlig ununterscheidbar sind; und es ist also fehl am Platz, nach einem Vorzug des einen vor dem anderen zu fragen.“58

Leibniz will hier sinngemäß folgendes sagen: Clarke tut so, als sei der Raum bei der Schöpfung unabhängig von seinem Inhalt da gewesen: wie ein Eierkarton mit unabhängig von ihrem Inhalt wohlunterschiedenen Halterungen. Natürlich wäre es ein Unterschied, in welcher Halterung welches Ei liegt, auch wenn die Eier relativ zueinander völlig gleich angeordnet sind. Doch das ist eine ganz falsche Theorie des Raums. Die zwei Beschreibungen „die erschaffene Welt“ und „die um n° gedrehte Alternative zur erschaffenen Welt“ beschreiben vielmehr ein- und dieselbe Schöpfungsalternative. Es sind nur zwei Beschreibungen derselben Situation mit Hilfe zweier unterschiedlicher (räumlicher) Koordinatensysteme. Und die tun wir zum Zweck der Beschreibung dazu. Eine Entscheidung muss man aber nur zwischen de facto-Alternativen treffen, so dass Gott gar nicht in Entscheidungsnot war.

Und da haben wir die Opposition von absoluter und relationaler Raumauffassung, geboren aus dem Geist der rationalen Theologie. Das 18. Jahrhundert hatte kaum eine andere Wahl, als Newton als Sieger nach Punkten einzuschätzen. Das lag vor allem daran, dass man als absoluten Raum auch das ansah, wogegen eine wirkliche, also vom Koordinatensystem unabhängige Bewegung stattfinden sollte. In diesem Zusammenhang war Newtons Einwand unschlagbar, man solle doch erst einmal die in einem rotierenden Wassereimer auftretenden und an der Wasseroberfläche leicht zu beobachtenden Fliehkräfte anders erklären. 59 Doch das ist eigentlich ein ganz anderer Punkt, und seit Ernst Machs Überlegungen im 19. Jahrhundert, 60 vor allem aber seit Einstein, wissen wir, dass auch relationalistische Beschreibungen des rotierenden Wassereimers möglich sind. 61 58

59 60 61

Leibniz III, §5 (Robinet [s. Anm. 7], 53), Ü: N.St.: „… supposé que l’espace soit quelque chose en luy même outre l’ordre de corps entre eux, […] il est impossible qu’il y ait une raison pourquoy Dieu … a placé les corps dans l’espace ainsi et non pas autrement; et pourquoy tout n’a pas été mis à rebours (par exemple) par un échange de l’orient et de l’occident. Mais si l’espace n’est autre chose que cet ordre ou rapport […] ces deux etats, l’un tel qu’il est, l’autre supposé à rebours ne differoient point entre eux […] l’un sera justement la même chose que l’autre, comme ils sont absolument indiscernables; et par consequent, il n’y a pas lieu de demander la preference de l’un à l’autre.” Detaillierte Diskussion: Sklar, Space, Time and Spacetime (s. Anm. 5), Kap. III, B. Vgl. ebd., Kap. III D §2. Vgl. Einstein, Relativitätstheorie (s. Anm. 41), §23 und Sklar, Space. Time, and Spacetime (s. Anm. 4), Kap. III passim (hier, um zu sehen wie kompliziert die Sache ist, besonders 200, 230).

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Was das Problem der Drehung oder Verschiebung des ganzen Universums angeht, ist schon im 18. Jahrhundert zunächst ein Gleichstand der Argumente gegeben – wenn Leibniz und Clarke sich überhaupt bloß über Drehung und Verschiebung gestritten haben. Es ist bis heute in der Forschung umstritten, ob Clarke mit seiner Formulierung „vice versa“ Leibniz mit seiner Formulierung „échange de l’orient et de l’occident“ Spiegelungen mit einbeziehen wollte. 62 Zwar ist das beim Stand der Mathematik ohne weiteres denkbar. 63 Doch es scheint mir unbegreiflich, wieso die beiden das dann nicht ausführlicher diskutiert haben sollten: Clarke hätte merken müssen, dass das sein Argument deutlich verstärkt, und Leibniz, dass die ganze Sache nicht so einfach ist. Ich tendiere daher dazu, dass es eine Weile gedauert hat, bis jemand deutlich gemacht hat, dass Clarkes Argument erst richtig spannend wird, wenn man statt über verschobene oder gedrehte Universen über gespiegelte nachdenkt, und zwar Kant mit seinem Aufsatz von 1768. 3.2. Kants Aufsatz über die Gegenden im Raum Kant vertritt das Ergebnis, dass Newton und Clarke im Prinzip Recht hatten und der Raum absolut von den Dingen existiert. Das ist insofern erstaunlich, als er – offenbar unbeeindruckt vom Wassereimer-Problem – in seiner kleinen Schrift Neuer Lehrbegriff von Bewegung und Ruhe 64 1758 so anschaulich für die Relativität aller Bewegung eintritt, dass man diesen Text jedem Lehrbuch über die Spezielle Relativitätstheorie als historische Vorbereitung voranschicken möchte. Aber von den Dingen absoluter Raum einerseits und vom Koordinatensystem absolute Bewegung andererseits mögen etwas ganz Verschiedenes sein. Warum also sollte nicht

62

63

64

Vgl. Falkenburg, Brigitte, Kants Kosmologie. Frankfurt/M. 2000; Mühlhölzer, Felix: Das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke aus Kantischer und heutiger Sicht, in: KantStudien 83/4 (1992), 436-453. Falkenburg (116) und Mühlhölzer (442) sehen die Möglichkeit dieser Lesart bereits in Leibniz’ ursprünglicher Formulierung angelegt. Das ist nicht ausgeschlossen, aber dann haben Leibniz und Clarke dies nicht ausdiskutiert, wie es angemessen gewesen wäre. Mühlhölzer bemerkt: „Eine explizite Thematisierung der RechtsLinks-Problematik findet sich meines Wissens erstmals bei Kant“ (442, Fußnote 18). Kant hält übrigens ausdrücklich fest, dass das inkongruente Gegenstück zum inkongruenten Gegenstück eines Körpers wieder zu diesem Körper kongruent ist (GUGR, AA 02, 382. 17-20). Der angesichts von Spiegelungen natürliche Gedanke an Produkte von Permutationen lag ihm also nicht fern. Es scheint mir daher übertrieben, wenn Mühlhölzer (Das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke (s. Anm. 62), Abschnitt III „Die kombinatorische Grundlage des Rechts-Links-Phänomens“) gerade dies als prinzipielle, erst auf Hermann Weyl zurück gehende Neuerung gegenüber Kants Zeit herausstellt. NL, AA 2, 13-26.

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jemand, der sich seines eigenen Verstandes bedient, bezüglich des einen Leibniz und bezüglich des anderen Newton näher stehen? Warum meint Kant 1768, dass der Raum absolut von den Dingen ist? Seine Antwort ist verblüffend: Weil es sonst keinen Unterschied zwischen rechts und links gibt. Der volle Titel von Kants Aufsatz lautet: Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume. Angesichts des Titels stellen sich zwei Fragen: Was für eine Art von „erstem Grund“ ist gemeint? Und was sind „Gegenden im Raum“? Zunächst bekommt man eine erste negative Annäherung daran, was die „Gegend“ eines Gegenstandes ist, nämlich etwas anderes als seine „Lage“. Die Lage eines Dinges ist „die Beziehung eines Dinges im Raume auf das andere“,65 seine relative Situation. Man kann damit auch von der Lage der Teile eines komplexen, ausgedehnten Gegenstandes zueinander sprechen. 66 Man kann von einem solchen Gegenstand eine interne Beschreibung geben, indem man die Lage seiner Teile zueinander angibt. 67 Damit ist aber noch nichts über die Gegend gesagt, „wohin diese Ordnung der Teile gerichtet ist“. 68 Als Gegenden aufgezählt werden „Oben“ und „Unten“, „Rechts“ und „Links“, „Vorne“ und „Hinten“. 69 Später erfahren wir: Dass man für die räumliche Beschreibung eines Gegenstandes zusätzlich zur Lage die Gegend, in die er gerichtet ist, angeben muss, zeigt nach Ansicht des vorkritischen Kant, dass der absolute Raum existiert. Der erste Grund der Möglichkeit unterschiedlicher Gegenden im Raum, in die ein Gegenstand gerichtet sein kann, ist demnach nichts anderes als der absolute Raum. Der Titel des Aufsatzes könnte auch einfach „Vom absoluten Raume“ heißen oder „Der absolute Raum als erster Grund der Möglichkeit unterschiedlicher Gegenden im Raume“. Kant gibt drei verschiedene Punkte an, die plausibilisieren sollen, wie wichtig die Gegend, in die etwas gerichtet ist, zusätzlich zur relativen Lage seiner Teile ist: (1) Ununterscheidbarkeit von normaler Schrift und Spiegelschrift bei identischer relativer Lage der Teile eines Schriftzuges zueinander 70 – man denke etwa an eine große Leuchttafel. (2) Ununterscheidbarkeit eines Sternbilds und seines „Spiegelbildes“ trotz vollständiger Information über die relative Lage der Sterne zueinander. 71 Die interne Beschreibung im Sinne der Lage der Sterne der Konstel65 66 67 68 69 70 71

GUGR, AA 2, 377.24f. Ebd. 27f. Ebd. Ebd. 29, Hervorhebung: N.St. GUGR, AA 2, 379.03. GUGR, AA 2, 379.10-21. GUGR, AA 2, 379.22-380.2; 380.27-381.13, v.a. 380.27-32.

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lation zueinander ohne anschauliche Perspektive (vgl. „in Gedanken“ 72 !) ist in beiden Fällen gleich. (3) Ununterscheidbarkeit von Rechts- und Linksgewinden etc. trotz vollständiger Information über die relative Lage der Teile 73 – Beispiele sind Links- und rechtsdrehende Gewinde und Schrauben, 74 rechts- und linksgewundene Schnecken 75 und Pflanzen 76 und schließlich auch linke und rechte Hände. 77 Die Richtung in eine Gegend ist bei einem komplexen Gegenstand nicht einfach die äußere Orientierung, also die Ausrichtung in eine bestimmte Himmelsrichtung, sondern, wie (3) gut zeigt, ein Teil der inneren 78 Organisation der Teile. Kant bringt die Beispiele nun auf einen Begriff: Die Paare von Gegenständen, deren interne Beschreibungen identisch sind, deren räumliche Umrisse aber nicht zur Deckung gebracht werden können (vgl. „man mag ihn drehen und wenden, wie man will“ 79 ), sind Paare aus einem Gegenstand und einem inkongruenten Gegenstück zu ihm. 80 Das ist alles recht plausibel, und es spricht zunächst nichts dagegen, zu sagen: Der Unterschied zwischen einem Gegenstand und seinem inkongruenten Gegenstück besteht in deren Richtung in jeweils unterschiedliche Gegenden. Doch wieso soll das die Existenz des absoluten Raums implizieren? Kant versucht, dies mit einem Schöpfungs-Szenario zu motivieren. Man kann das relevante Textstück etwas entzerren: einerseits in eine Meinung, die Kant ablehnt und ad absurdum zu führen versucht, andererseits in seine eigene Meinung, wie es sich tatsächlich verhält. Die abgelehnte Meinung kennen wir bereits als Leibniz‘ Position – auf welchem Weg auch immer Kant sie rezipiert haben mag: „[1] Nimmt man nun den Begriff vieler neueren Philosophen, vornehmlich der Deutschen an, [so besteht] der Raum nur in dem äußeren Verhältnisse der neben einander befindlichen Theile der Materie[.] 81 [2 W]enn man sich [nun] vorstellt: das erste Schöpfungsstück sollte eine Menschenhand sein, 82 [3] so würde aller wirkliche Raum in dem angeführten Falle [beim ersten Schöpfungsschritt] nur derjenige sein, den diese Hand einnimmt. Weil aber gar kein Unterschied in dem 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

GUGR, AA 2, 379.32. GUGR, AA 2, 380.2-26, v.a. 2-19. GUGR, AA 2, 381.26. GUGR, AA 2, 380.11. GUGR, AA 2, 380f. GUGR, AA 2, 381.31ff, 382.6. Vgl. auch GUGR, AA 02, 382.27. GUGR, AA 2, 382.30f. GUGR, AA 2, 382.01-03. GUGR, AA 2, 383.04-08. GUGR, AA 2, 382.36f.

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Verhältnisse der Theile derselben unter sich statt findet, sie mag eine Rechte oder Linke sein, so würde diese Hand in Ansehung einer solchen Eigenschaft gänzlich unbestimmt sein, d.i. sie würde auf jede Seite des menschlichen Körpers passen, welches unmöglich ist. 83 “

Es würde sich also erst bei fortgesetzter Schöpfung eines Körpers an die Hand (bei der der Raum dann auch um den Körperinhalt wächst) herausstellen, ob das erste Schöpfungsstück eine rechte oder linke Hand war. Das ist absurd, und so sollte man die Sache lieber so sehen: „[4 W]enn man sich vorstellt: das erste Schöpfungsstück sollte eine Menschenhand sein, so ist es nothwendig entweder eine Rechte oder eine Linke, [5] und um die eine hervorzubringen, war eine andere Handlung der schaffenden Ursache [= Gott] nöthig, als die, wodurch ihr Gegenstück gemacht werden konnte.“84

Das absurde Szenario wird demnach vermieden, wenn man sich vorstellt, der Raum habe als „ursprünglicher Raum“ 85 bereits als Bedingung für die Erschaffung der Hand, und damit absolut selbst vom ersten Schöpfungsstück bereit gelegen, damit Gott sie, nunmehr eindeutig entweder als Rechte oder als Linke, in ihn hineinbauen konnte. Auffällig ist, dass wir es wieder mit sukzessiver Schöpfung zu tun haben. Dass der Raum mit der Schöpfung wächst, ist dabei nur eine dem Relationalisten zugeschriebene Position. Ich bin aber nicht sicher, ob es sich hier nur um einen „Mythos“ handelt, wie etwa der Kant-Forscher Felix Mühlhölzer es vertritt. 86 Nur das Beispiel der Hand ist sicher nicht wörtlich zu nehmen; an rechts- oder links drehende Urwirbel mag Kant durchaus ganz ernsthaft gedacht haben. Wie gut ist das Argument? Mühlhölzer meint: „Kant setzt […] voraus, daß dieser Testkörper [der menschliche Körper des zweiten Schöpfungsschritts] […] in seiner ‚üblichen’ Orientierung und nicht in der spiegelbildlichen gemacht wurde. Aber […] das stand gerade zur Debatte. Kants Argument stellt somit einen klassischen Fall von question begging dar.“ 87

Ich meine, dies ist keine faire Kritik. Wenn man genau hinschaut (wobei die Phrase „entweder eine Rechte oder eine Linke“ in einem genommen werden muss) sieht man: Kant setzt das gar nicht voraus. Es könnte vielmehr den ganzen Text Kants hindurch von Typ-A- und Typ-B-Händen die Rede sein. Der Körper kann so oder so gemacht sein, ein Typ-A- oder Typ-B-Körper sein. Dann passt tatsächlich in jedem Fall das erste Schöpfungsstück, egal, ob es eine Typ-A- oder eine Typ-B-Hand ist, nicht an jede beliebige Seite des Testkörpers. Man sieht daran auch, dass es nicht darum 83 84 85 86 87

GUGR, AA 2, 383.9-12. GUGR, AA 2, 382.36-383.03. GUGR, AA 2, 383.17. Vgl. Mühlhölzer, Das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke (s. Anm. 62), 442. Ebd., 443.

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geht, ob uns etwas als „rechts“ oder „links“ erscheint und ob wir jederzeit richtig sagen können, welche Richtung welche ist. Ich glaube, das Problem mit dem Argument liegt auf einer anderen Ebene: Was ist eine vollständige interne Beschreibung? Machen wir uns dafür einen Moment klar, was der Mathematiker René Descartes für eine großartige Idee hatte, als er die analytische Geometrie erfand: Man kann Orte im Raum als Tripel von Abständen zum Ursprung beschreiben, einfach mit den Zahlentripeln rechnen und das Ergebnis dann wieder räumlich interpretieren. Man sagt: Die Menge R3, die Menge aller Tripel von reellen Zahlen, ist ein Modell des wirklichen Raums. Das kann man im Prinzip machen, ohne eine Orientierung anzugeben; d.h. grob und für einen Unterfall ausgedrückt: ohne zu sagen, ob man mit der zweiten Zahl jedes Tripels den Abstand nach links oder aber den Abstand nach rechts vom Nullpunkt meint. Es kommt natürlich in beiden Fällen dasselbe Rechenergebnis heraus. Die Menge R3, die Menge aller Tripel von reellen Zahlen, ist als Modell des wirklichen Raums, insensitiv gegenüber rechts und links. Angesichts des großen Nutzens schon von R3 als Modell des Raums liegt es nahe, eine Beschreibung eines Körpers im Sinne von R3 bereits für eine erschöpfende interne räumliche Beschreibung zu halten. Doch warum sollte eine Beschreibung im Sinne von R3 eine vollständige interne Beschreibung eines Gegenstandes sein? Das Repräsentierte kann reicher sein als das primitive Modell. Warum soll es dann aber nicht auch als eine interne Eigenschaft angesehen werden, ob das Repräsentierte rechts- oder aber links-„drehend“ ist? Man könnte dann gar nicht entscheiden, ob inkongruente Gegenstücke in verschiedene Gegenden gerichtet sind, weil sie einen internen Unterschied aufweisen, oder ob der interne Unterschied gerade darin besteht, dass sie in verschiedene Gegenden gerichtet sind. Wenn aber die Rechts-Links-Unterscheidung auch bloß intern sein kann, ist sie wertlos als Argument für den absoluten Raum. Das ist fatal für Kants Argument, jedenfalls für dessen Oberfläche. Nur zwei Jahre nach Erscheinen des kleinen Aufsatzes, in der Dissertation von 1770, erklärt Kant das Konzept des absoluten Raum für gescheitert. In der "Transzendentalen Ästhetik" in der Kritik der reinen Vernunft liefert er einen Gegenentwurf dazu, wenn der auch aus heutiger Sicht höchst exzentrisch ist: die Konzeption des Raums als Anschauungsform. 88 Damit aufzuhören, wäre jedoch unfair gegenüber dem kleinen Text von 1768. Denn man würde dann zwei Aspekte vernachlässigen, die ihn ganz anders ausschauen lassen, und zwar, wenn man ihn erstens aus der Vergangenheit heraus als Beitrag zum theologischen Streit zwischen Leibniz 88

KrV, B 37-45, Transzendentale Ästhetik, 1. Abschnitt: Von dem Raume.

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und Clarke ansieht; und zweitens, indem man sich vom Standpunkt der Gegenwart aus seine Folgen anschaut. (1) Kant ist es offenbar 1768 noch wichtig, dass Gott sich in seinem Szenario entscheiden muss, ob das erste Schöpfungsstück eine rechte oder eine linke Hand sein sollte. Vielleicht ist hier über das direkte Argument für die Existenz des absoluten Raumes hinaus – gleichsam als zweite Textschicht – noch ein weiteres Argument verborgen, nämlich ein Verbesserungsvorschlag von Clarkes Szenario des gedrehten oder verschobenen Universums. Der Grundgedanke ist dabei, dass man sich ja auch zum ganzen Universum ein inkongruentes Gegenstück vorstellen kann: sein dreidimensionales Spiegelbild. Dann lässt sich damit anstelle von Drehung, Kippung oder Verschiebung so argumentieren: Clarkes Argument in einer Version im Sinne des vorkritischen Kant: Stand Gott bei der Schöpfung nicht vor der Entscheidung, die Welt so zu schaffen, wie er sie geschaffen hat, oder aber deren inkongruentes Gegenstück? In der gespiegelten Welt befinden sich alle Dinge und alle ihre Teile in genau derselben relativen Lage zueinander wie in der erschaffenen, und die internen Beschreibungen sind in beiden Fällen identisch. Damit ist in beiden alles gleich gut (oder gar optimal). Es kann also keinen guten Grund gegeben haben, warum Gott die Welt so geschaffen hat, wie er sie geschaffen hat und nicht ihr Spiegelbild. Es muss sich dabei um eine völlig spontane Entscheidung gehandelt haben (um „mere will“!).

Hierauf hätte Leibniz nicht antworten können, man habe dieselbe Situation vor sich, nur unter verschiedenen Beschreibungen. Er hätte höchstens antworten können, wenn es sich bei der Rechts-/Links-Unterscheidung um einen intrinsischen Unterschied handle, dann müsse eben, falls die Wirklichkeit linksdrehend ist, ein linksdrehendes Universum besser sein als ein rechtsdrehendes – nur dass wir nicht einsehen können, warum: „Ihr müsst es mit mir aus dem Ergebnis schließen“, heißt es dazu in der „Theodicée“. 89 Doch das ist schon bei den dort verhandelten Fällen eine Zumutung – im Falle eines Universums und seiner Spiegelung ist einfach nicht mehr zu begreifen, was das eine besser machen soll als das andere. Kant hätte es dann geschafft, zu Leibniz‘ Theorie ein Buridan-Szenario zu entwickeln, dem Leibniz, anders als dem Clarkes, nichts hätte entgegensetzen können – und zwar gerade deshalb, weil es unabhängig von der Theorie des absoluten Raums ist. Schade, dass er diesen Clou verschenkt hat!

89

“[V]ous le devez juger avec moi ab effectu, puisque Dieu a choisi ce monde tel qu’il est“. Leibniz, Gottfried Wilhelm, Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal. In: Gerhardt, C.I. (Hg.) Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, Nachdr. der Ausg. Berlin 1875, Hildesheim 1978, Bd.6, 1-365, hier: Teil I §10.

„Schuf Gott die rechte Hand zuerst?“

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(2) Das Problem der Rechts-/Links-Unterscheidung ist nicht Sache der Perspektive. Sie impliziert auch nicht den absoluten Raum. Vielmehr ist es noch heute nicht entschieden, ob die Fortentwicklung des Raumes, die Raumzeit der Allgemeinen Relativitätstheorie, als relativ auf oder absolut von darin vorkommenden Körpern konzipiert werden sollte. 90 Aber die Rechts-/Links-Unterscheidung hat sich unabhängig davon als sehr interessant herausgestellt. Der große Physiker und Physikdidaktiker Richard Feynman widmet der Frage in seinen klassisch gewordenen Vorlesungen von 1963 ein ganzes Kapitel. 91 Denn daraus entwickelt er das ganze Thema der Symmetrie der physikalischen Gesetze. Die Erforschung fundamentaler Symmetrien wird in der theoretischen Physik nach wie vor intensiv betrieben. Feynmans Darstellung gipfelt in folgendem Gedankenexperiment: Man steht in einer Art Funkverbindung mit einem Marsmenschen; man hat keine Ahnung von seiner Beschaffenheit und auch nicht von der Beschaffenheit seiner Umgebung; und man steht vor der Aufgabe, ihm nach einigem Fernunterricht in menschlicher Sprache und menschlichen Sitten zu erklären, was es heißt, dass das menschliche Herz meist links schlägt. Man kann ihm keine Stoffproben, etwa linksdrehenden Joghurt, schicken und mit einer Zeigedefinition arbeiten. Man muss mit der Sprache, die man zur Verfügung hat, einen Unterschied angeben. Die Überlegung lässt sich insofern auf die Spitze treiben, als seit 1954 bekannt ist, dass sich bei gewöhnlicher Materie in Zusammenhang mit einem entlegenen subatomaren Prozess, dem sogenannten E-Zerfall, ein eindeutiger Unterschied zwischen Rechts und Links feststellen lässt. Nur ist es bei Antimaterie gerade wieder anders herum, und wir wissen nicht, woraus der Marsmensch besteht, ob aus Materie oder aus Antimaterie. Feynman schließt: Wenn man den Marsianer schließlich trifft und er zur Begrüßung die linke Hand ausstreckt, sollte man lieber nicht einschlagen. Denn dann hat er alles so verstanden, wie er es verstehen musste, wenn er aus Antimaterie ist; Materie und Antimaterie vernichten sich aber gegenseitig bei Kontakt. Dies scheint nebenbei ein schlagender Beweis für die fundamentale Realität des Rechts-/Links-Unterschiedes zu sein. Kants Frage war „Was unterscheidet ‚rechts‘ und ‚links‘?“ Das ist eine echte Philosophenfrage: auf den ersten Blick naiv und irrelevant, zuneh-

90 91

Nach wie vor aktuell dazu: Sklar, Space, Time, and Spacetime (s. Anm. 5), Kap.III. Feynman, Richard, Six Not so Easy Pieces. Einstein’s Relativity, Symmetry and SpaceTime, originally prepared for publication [1963] by R.B.Leighton and M.Sands, London 1999, Kap.2, 23-48.

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mend befremdlich, und am Ende sehr ernst zu nehmen. Seine Antwort war falsch. Was die Frage betrifft, so sehen wir heute mehr denn je, dass sie sehr gut war.

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Am Beginn der philosophischen Neuzeit steht die große Frage: „Wie ist Sicherheit möglich?“ So fragt René Descartes in seinen 1641 erschienenen Meditationen über die Erste Philosophie nach der Sicherheit des Wissens. In seinem zehn Jahre später erschienenen Leviathan stellt Thomas Hobbes die komplementäre Frage nach der Sicherheit des Lebens. Die Frage nach der Sicherheit zieht sich seither wie ein roter Faden durch die Philosophie der Neuzeit. Man kann zwar nicht behaupten, dass alle nachcartesianischen und nachhobbesianischen Philosophen einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage geleistet hätten; aber man kann die Philosophie der Neuzeit am Leitfaden dieser Frage verfolgen, indem man jeden ihrer Vertreter zu ihr ins Verhältnis setzt. Auch Kant macht da keine Ausnahme. Wie kein anderer Nachcartesianer hat gerade er sich die Beantwortung dieser Frage angelegen sein lassen. Seine bedeutendste methodische Errungenschaft, die sog. kopernikanische Revolution, ist der methodische Angelpunkt seiner Antwort. Im Folgenden werde ich anhand seines Hauptwerkes, der Kritik der reinen Vernunft, Hintergründe und Schwierigkeiten dieser Revolution darstellen.

1. „Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft“ Die Aufgabe, die sich Kant in seiner 1. Kritik gestellt hat, kann unter zwei Aspekten betrachtet werden: unter einem inhaltlichen und unter einem methodischen Aspekt. Kant hat das in den Vorreden zu den beiden ersten Auflagen getan. In der Vorrede zur 1. Auflage von 1781 nähert er sich seiner Aufgabe unter ihrem inhaltlichen Aspekt, in der 2. Auflage von 1787 unter ihrem methodischen Aspekt. Dabei gelingt es ihm allerdings erst in der 2. Auflage, sie auf die berühmte Formel „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ zu bringen. Er schickt dieser Formel eine Über-

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legung voraus, deren Beherzigung ich mir selbst zur Maxime gemacht habe und jedem anderen nur empfehlen kann: „Man gewinnt dadurch schon sehr viel, wenn man eine Menge von Untersuchungen unter die Formel einer einzigen Aufgabe bringen kann. Denn dadurch erleichtert man sich nicht allein selbst sein eigenes Geschäft, indem man es sich genau bestimmt, sondern auch jedem anderen, der es prüfen will, das Urtheil, ob wir unserem Vorhaben ein Gnüge getan haben oder nicht. Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft ist nun in der Frage enthalten: Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“ (KrV, B 19)

Um mit gutem Beispiel voranzugehen, möchte ich meine Überlegungen unter die Leitfrage stellen: „Wie weit trägt Kants Antwort auf die Frage nach der Sicherheit des Wissens?“

2. Kants Fragestellung in inhaltlicher Hinsicht Der erste Satz der Vorrede zur 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft lautet: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ (KrV, A VII)

In dieses Dilemma gerät die Vernunft in der rationalen Theologie, der rationalen Kosmologie und der rationalen Psychologie, die zusammen mit der Ontologie die gesamte Metaphysik ausschöpfen. Teil-Disziplin der Metaphysik Rationale Theologie Rationale Kosmologie Rationale Psychologie

Grundthema Gott Freiheit Unsterblichkeit

Grundfrage Gibt es einen Gott Ist mein Wille frei? Ist meine Seele unsterblich?

Die erste Frage ist ohne Zweifel die am leichtesten zugängliche. Schon die zweite bedarf eines Kommentars. Sie lässt sich nicht einfach auf die Frage „Bin ich frei?“ verkürzen; denn wenn Alberich Wotan und Loge fragt „Bin ich nun frei? Wirklich frei?“, will er nicht wissen, ob er einen freien Willen hat, sondern ob er noch immer deren Gefangener ist. So hat jedoch Kant seine Frage nach der Freiheit nicht gemeint; ihm geht es darum, ob die Welt, in der wir leben, Raum für die Willensfreiheit lässt. Aus diesem Grund diskutiert er sie unter der Rubrik Kosmologie. Ebenso wenig wie man die zweite Frage zur Frage nach der eigenen Freiheit verkürzen kann, kann man die dritte Frage zur Frage nach der eigenen Un-

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sterblichkeit verkürzen; denn wir wissen nur allzu genau, dass wir sterben müssen. So kommt es, dass Kant die Seele als das wahre Subjekt für das Prädikat der Unsterblichkeit betrachtet und die dritte Frage im Rahmen der Psychologie diskutiert. Auf die drei Grundfragen der Metaphysik hätten wir gerne eine Antwort – und zwar auch ohne dass (und mithin bevor) wir Gott begegnen, unsere Willensfreiheit erleben und das Zeitliche segnen. Denn wenn wir Gott begegnen, ist es zu spät, um uns auf ihn einzustellen. Und selbst wenn wir niemals ein Zeugnis der Freiheit unseres Willens in der Welt, in der wir leben, anträfen, hätten wir immer noch die Pflicht, uns wie Freie zu verhalten. Und schließlich ist jeder von uns, sterblich wie er ist, daran interessiert zu wissen, ob mit dem Tod alles zu Ende ist oder ob an uns etwas Unsterbliches zu finden ist. Mit dem Wunsch, diese Antworten vor dem, was sich darüber aus der Erfahrung lernen lässt, zu erhalten, geben wir zu verstehen, dass wir in diesen Angelegenheiten von der Metaphysik sog. apriorische Urteile verlangen. Mit dem Adjektiv „apriorisch“ ist eines der Schlüsselwörter aus der Leitfrage der Kritik der reinen Vernunft gefallen. Was darunter zu verstehen ist, hat Kant folgendermaßen illustriert: „So sagt man von jemand, der das Fundament seines Hauses untergrub: er konnte es a priori wissen, daß es einfallen würde, d.i. er durfte nicht auf die Erfahrung, daß es wirklich einfiele, warten. Allein gänzlich a priori konnte er dieses doch auch nicht wissen. Denn daß die Körper schwer sind und daher, wenn ihnen die Stütze entzogen wird, fallen, mußte ihm doch zuvor durch Erfahrung bekannt werden.“ (KrV, B 2)

Wir können also vor der betreffenden Erfahrung oder, wie Kant auf lateinisch sagt, a priori wissen, dass das untergrabene Haus einstützen wird. Aber so ganz ohne jegliche Erfahrung können wir es auch wieder nicht wissen. Insofern ist dieses Wissen nicht gänzlich a priori. Um nun einen klar abgegrenzten Begriff zu bekommen, vereinbart Kant, nur solches Wissen a priori zu nennen, das sich unabhängig von jedweder Erfahrung begründen lässt.

3. Kants Fragestellung in methodischer Hinsicht Der erste Satz der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft lautet: „Ob die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören, den sichern Gang einer Wissenschaft gehe oder nicht, das lässt sich bald aus dem Erfolg beurtheilen.“ (KrV, B VII)

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Nachdem er das Thema Sicherheit gleich im ersten Satz aufs Tapet gebracht hat, geht Kant zunächst der Frage nach, woran es liege, dass andere Wissenschaften so viel Sicherheit enthalten, nur die Metaphysik nicht. Dabei widmet er sich der Reihe nach der Logik, der Mathematik und der Physik. 3.1. Die Logik Zum Beweis dafür, dass die Logik den sicheren Gang einer Wissenschaft „schon von den ältesten Zeiten her“ (KrV, B VIII) eingeschlagen habe, führt Kant ins Feld, „daß sie seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts habe tun dürfen“ (ebd.). Auch stellt er fest, „daß sie bis jetzt [d.h. bis 1787, dem Erscheinungsjahr der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, B. K.] auch keinen Schritt vorwärts hat tun können“ (ebd.), was er als Zeichen ihrer Vollendetheit wertet. In diesem Punkt hat er sich allerdings geirrt, wie wir seit 1879 wissen. In diesem Jahr hat Gottlob Frege in seinem Büchlein Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens 1 einen gewaltigen Schritt über Aristoteles hinaus getan, so dass man Kants Vertrauen in die Logik des Aristoteles als einen Schwachpunkt seiner Vernunftkritik betrachten muss. Doch damit nicht genug. Die Tatsache, dass es auch in der Logik Fortschritte gibt, tangiert nämlich die Art und Weise, wie sich Kant deren sicheren Gang erklärt: „Daß es der Logik so gut gelungen ist, diesen Vortheil hat sie bloß ihrer Eingeschränktheit zu verdanken, dadurch sie berechtigt, ja verbunden ist, von allen Objecten der Erkenntniß und ihrem Unterschiede zu abstrahiren, und in ihr also der Verstand es mit nichts weiter, als sich selbst und seiner Form zu thun hat.“ (KrV, B IX)

Nicht nur, dass Kant den Verstand (wie schon John Locke) als ein Vermögen der Reflexion betrachtet; mehr noch, er sieht in dessen Reflexivität die Instanz, die den sicheren Gang der Logik verbürgt. Denn in ihr habe es der Verstand mit nichts anderem als mit sich selbst zu tun. Mit dieser Diagnose der Sicherheit der Logik können wir allerdings seit und wegen Frege nicht mehr zufrieden sein. Denn der Fortschritt, den dieser über die Aristotelische Logik hinaus erzielt hat, stellt uns vor die Frage „Wie sicher ist eigentlich eine Logik, in der es Fortschritt gibt?“ Einer der wichtigsten Fortschritte, die Frege gegenüber Aristoteles erzielt hat, ist die Behandlung multipler Quantoren, weswegen ein philosophischer Witzbold Frege den Ehrentitel „Quantifex maximus“ verliehen

1

Frege, Gottlob, Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle 1879.

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hat. 2 Dieser Fortschritt bringt zum ersten Mal Aussagen wie „Zu jeder natürlichen Zahl gibt es eine größere“ in den Zugriffsbereich der Logik. Doch dieser Fortschritt hat seinen Preis. Um nur ein Beispiel dafür anzuführen: In der von Kant anerkannten Logik gilt die sog. Conversio per accidens; 3 dieses Gesetz erlaubt den Schluss von einem Satz der Form ɈAlle A sind Bɉ auf einen Satz der Form ɈEinige B sind Aɉ und von einem Satz der Form ɈKein A ist Bɉ auf einen Satz der Form ɈEinige B sind nicht Aɉ. Deshalb darf man z. B. von „Alle verheirateten Philosophen sind Philosophen“ auf „Einige Philosophen sind verheiratete Philosophen“ schließen. In der von Frege aufgestellten mathematischen Logik gilt dieses Gesetz allerdings nicht mehr. Wie immer man zur Frage der Gültigkeit der Conversio per accidens stehen mag, der bloße Umstand, dass es sich um ein umstrittenes Gesetz der Logik handelt, lässt Zweifel an der These aufkommen, die Logik habe „schon von den ältesten Zeiten her“ den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen. Durch diese Zweifel an der Sicherheit der Logik gewarnt, sollten wir prüfen, ob Kants Philosophie der Mathematik in dieser Hinsicht besser dasteht als seine Logik. 3.2. Die Mathematik Es gereicht der Mathematik zur Ehre, dass sie „von den frühesten Zeiten her, wohin die Geschichte der menschlichen Vernunft reicht“, (KrV, B X) den sicheren Gang einer Wissenschaft gegangen ist. Worin die ihr eigentümliche Sicherheit besteht, erklärt Kant folgendermaßen: „Dem ersten, der den gleichschenklichten Triangel demonstrirte, (er mag nun Thales oder wie man will geheißen haben) dem ging ein Licht auf; denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sah, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellte, (durch Construction) hervorbringen müsse, und daß er, um sicher etwas a priori zu wissen, der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem nothwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat.“ (KrV, B XIf.)

Kant unterscheidet hier drei ganz unterschiedliche Wege zum Beweis eines mathematischen Satzes: 1. den empirischen, 2. den begrifflichen und 3. den konstruktiven Weg. Der empirische Weg versucht, den Beweis 2

3

Diese Bezeichnung geht auf W. Yourgrau zurück – vgl. Quine, Willard Van Orman, Existence, in: Physics, Logic, and History, hg.v. Wolfgang Yourgrau und Allen D. Breck, New York/London 1970. 89-103, hier: 91. Die Conversio per accidens ist nicht irgendein willkürlich herausgegriffenes logisches Gesetz, sondern das Gesetz, das die logische Hauptlast von Kants „schulgerechte[m]“ (KrV, B 636) Argument gegen den sog. kosmologischen Gottesbeweis zu tragen hat.

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durch Vermessung einer ganz konkreten, z. B. mit dem Auge wahrnehmbaren Figur zu erbringen. Dieser Weg muss scheitern, weil ein Satz wie der des Thales („Der Winkel im Halbkreis ist ein Rechter“ 4 ) nicht nur für einen einzelnen, in der Erfahrung zugänglichen Winkel im Halbkreis, sondern für alle solchen Winkel überhaupt gilt. Der begriffliche Weg versucht, den Beweis durch bloßes Nachdenken und die Analyse der in dem zu beweisenden Satz verwendeten Begriffe zu erbringen. Auch er muss scheitern. Denn selbst die sorgfältigste logische Analyse der Begriffe Winkel und Halbkreis führt nicht auf den Begriff rechter Winkel, so dass man den Satz des Thales nicht als logische Wahrheit betrachten kann. Kant favorisiert den dritten, den konstruktiven Weg. Ich will diesen Weg nicht am Satz des Thales, sondern an einem anderen, aber ebenfalls von Kant selbst verwendeten Beispiel erklären. In der sog. Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft findet sich die folgende Passage: „Man gebe einem Philosophen den Begriff eines Triangels und lasse ihn nach seiner Art ausfindig machen, wie sich wohl die Summe seiner Winkel zum rechten verhalten möge. Er hat nun nichts als den Begriff von einer Figur, die in drei geraden Linien eingeschlossen ist, und an ihr den Begriff von eben so viel Winkeln. Nun mag er diesem Begriffe nachdenken, so lange er will, er wird nichts Neues herausbringen. Er kann den Begriff der geraden Linie oder eines Winkels oder der Zahl drei zergliedern und deutlich machen, aber nicht auf andere Eigenschaften kommen, die in diesen Begriffen gar nicht liegen.“ (KrV, A 716/B 744)

Mit dieser Überlegung macht Kant, bewusst oder unbewusst, gegen die Humesche Behauptung Front, der Satz über die Winkelsumme im Dreieck drücke eine “relation of ideas”, eine Vorstellungsrelation, aus, deren Vorliegen sich aus einer Analyse der in diesem Satz vorkommenden Begriffe beweisen lasse. 5 Nichts dergleichen ist der Fall; denn der Beweis muss wesentlichen Gebrauch von Sätzen der Geometrie machen, die in diesen Begriffen gar nicht enthalten sind. Einen solchen Beweis skizziert Kant im unmittelbaren Anschluss an die zitierte Stelle: „Allein der Geometer nehme diese Frage vor. Er fängt sofort davon an, einen Triangel zu construiren. Weil er weiß, daß zwei rechte Winkel zusammen gerade so viel austragen, als alle berührende Winkel, die aus einem Punkte auf einer geraden Linie gezogen werden können, zusammen, so verlängert er eine Seite seines Triangels und bekommt zwei berührende Winkel, die zwei rechten zusammen gleich sind. Nun theilt er den äußeren von diesen Winkeln, indem er eine Linie mit der gegen überstehenden Seite des Triangels parallel zieht, und sieht, dass 4 5

Möglicherweise hatte Kant einen anderen Satz von Thales im Sinn, doch illustriert der von mir angegebene Kants Gedanken ebenso gut. Vgl. Hume, David, An Enquiry Concerning Human Understanding, hg.v. Tom L. Beauchamp, Oxford 2000, dt. Übers, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hg.v. Jens Kulenkampff, Philosophische Bibliothek; Bd. 35., Hamburg 1984, 35.

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hier ein äußerer berührender Winkel entspringe, der einem inneren gleich ist, u.s.w. Er gelangt auf solche Weise durch eine Kette von Schlüssen, immer von der Anschauung geleitet, zur völlig einleuchtenden und zugleich allgemeinen Auflösung der Frage.“ (KrV, A 717f./B 744f.)

Versuchen wir diesen Beweisansatz nachzuvollziehen: Im ersten Schritt konstruieren wir ein Dreieck mit den Innenwinkeln ơ, Ƣ und ƣ.

Wie groß ist ơ + Ƣ + ƣ?

Jetzt wissen wir, dass die Summe der Nebenwinkel zwei Rechte beträgt. Demgemäß verlängern wir die eine Seite des Dreiecks – wir wählen die linke Seite – und bezeichnen den Nebenwinkel von ƣ mit „Ƥ“.

Ƥ+ƣ=2R

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Nun ziehen wir durch den Scheitel des Winkels die Parallele zur Grundlinie des Dreiecks. Diese Parallele teilt den Winkel Ƥ in die Teile Ƥ1 und Ƥ2.

Ƥ = Ƥ1 + Ƥ2

Mehr Konstruktionen benötigen wir nicht. In Bezug auf die letzte Konstruktion können wir nun wie folgt argumentieren: Stufenwinkel an Parallelen sind gleich:

Ƥ1 = ơ

Wechselwinkel an Parallelen sind gleich:

Ƥ2 = Ƣ

Aus den vier Gleichungen zusammengenommen folgt: ơ + Ƣ + ƣ = 2R

Nun sind die Konstruktionen natürlich sichtbar und gehören insofern der Erfahrungswelt an. Das wird von Kant nicht nur nicht bestritten, sondern sogar ausdrücklich hervorgehoben. Ganz energisch bestritten wird von ihm allerdings – und das ist für seine Philosophie der Mathematik entscheidend –, dass der vorgeführte Beweis auf einem empirischen Ansatz beruht: „Die einzelne hingezeichnete Figur ist empirisch und dient gleichwohl, den Begriff unbeschadet seiner Allgemeinheit auszudrücken, weil bei dieser empirischen Anschauung immer nur auf die Handlung der Construction des Begriff, welchem viele Bestimmungen, z. E. der Größe, der Seiten und der Winkel, ganz gleichgültig sind, gesehen und also von diesen Verschiedenheiten, die den Begriff des Triangels nicht verändern, abstrahirt wird.“ (KrV, B 741f.)

Von den genannten empirischen Eigenschaften des Dreiecks haben wir bei unserem Beweis gar keinen Gebrauch gemacht. Wir sind ohne Überlegungen zu Stoff, Farbe, Dicke und Geradheit der Linien ausgekommen; wir haben nicht mit der Länge der Seiten und der Größe der Winkel argumentiert. Als wir von Neben-, Stufen- und Wechselwinkeln gesprochen

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haben, haben wir allgemeine Sätze der Geometrie benutzt. So konnten wir unseren Beweis von aller Erfahrung frei oder, mit Kants Spezialausdruck, rein halten. Der Begriff der Reinheit, der ja auch im Titel seiner 1. Kritik vorkommt, war ihm so wichtig, dass er ihn gleich zweimal definiert hat; das erste Mal im Zusammenhang mit der Feineinteilung der apriorischen Wahrheiten: „Von den Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist. So ist z. B. der Satz: eine jede Veränderung hat ihre Ursache, ein Satz a priori, allein nicht rein, weil Veränderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann.“ (KrV, B 2)

und das zweite Mal im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Form und Materie von Erscheinungen: „Ich nenne alle Vorstellungen rein […], in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird.“ (KrV, B 34)

Beiden Stellen ist zu entnehmen, dass Reinheit, anders als Apriorität, nicht so sehr mit der Begründung von Urteilen (bzw. Sätzen), sondern mit dem Inhalt von Vorstellungen und infolgedessen natürlich auch von Urteilen 6 zu tun hat. Ein Urteil besteht aus verschiedenen Elementen: aus Anschauungen und Begriffen. Diese können der Erfahrung entstammen, in welchem Falle Kant sie als „unrein“ bezeichnet, oder sie können ohne „Beimischung von Erfahrung“ sein, in welchem Falle Kant sie als „rein“ tituliert. Was genau an der Erfahrung für die Verunreinigung verantwortlich ist, geht aus einer Stelle zu Beginn der sog. Transzendentalen Logik der Kritik der reinen Vernunft hervor, an der Kant die Begriffe rein und empirisch einander gegenüberstellt und sie wie folgt erklärt: „Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntniß aus, so daß weder Begriffe ohne ihnen auf einige Art correspondirende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe ein Erkenntniß abgeben können. Beide sind entweder rein oder empirisch. Empirisch, wenn Empfindung (die die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraussetzt) darin enthalten ist: rein aber, wenn der Vorstellung keine Empfindung beigemischt ist.“ (KrV, B 74)

Dieser Erklärung zufolge hängt die Reinheit oder Unreinheit eines Urteils davon ab, ob seinen Bestandteilen etwas, das zur Empfindung gehört, „beigemischt ist“ oder nicht. Allerdings verwendet Kant zwei Begriffe von Reinheit: einen weiteren und einen engeren (vgl. ÜGTP, AA 8, 183f.). Im engeren Sinne bedeutet „rein“ soviel wie „a priori“, nämlich: „von nichts Empirischem abhängig“, d.h. zur Begründung nicht auf Erfahrung angewiesen. Im weiteren Sinne bedeutet „rein“ soviel wie „nicht empirisch kontaminiert“, d.h. weder dem Inhalt noch der Begründung nach auf Er6

Kant hat das Urteil als „Vorstellung einer Vorstellung“ (KrV, B 99) bestimmt.

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fahrung angewiesen. Da Kant das Adjektiv „rein“ in der ganzen Kritik der reinen Vernunft stets nur im Sinne von „a priori“ verwendet, scheint sein Hinweis auf unreine Sätze a priori wie das Kausalprinzip überflüssig gewesen zu sein und wäre daher besser unterblieben. Doch für meine Begriffe ist die Unterscheidung von Apriorität und Reinheit alles andere als überflüssig. Denn im Lichte von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie können wir zwar nicht an der Reinheit der Anschauungen von Raum und Zeit, wohl aber an der apriorischen Begründbarkeit gewisser Aussagen über Raum und Zeit festhalten. Zu diesen gehört etwa die Aussage „Wenn etwas der Fall ist, so wird es immer der Fall sein, dass es einmal der Fall war“. Aber zurück zu den Vorstellungen, deren wir uns beim Beweis des Satzes über die Winkelsumme im Dreieck bedient haben. Sie waren in dem Sinne rein, dass sie mit keiner Empfindung kontaminiert waren. Nun nennt Kant die unmittelbare Bezugnahme auf etwas Einzelnes „Anschauung“; und, wenn diese Bezugnahme ohne Rückgriff auf die Empfindung auskommt, spricht er von reiner Anschauung. Infolgedessen war unser Beweis ein Beweis vermittels oder in der reinen Anschauung – es versteht sich: in der reinen Anschauung, die wir am Raum haben. Anders als Kants Begründung für die Sicherheit der Logik, die im Jahre 1879 obsolet geworden war, hatte seine Begründung für die Sicherheit der Geometrie bis ins Jahr 1916 Bestand. Als sich im Jahre 1881 das Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft zum 100. Mal jährte, konnte Hans Vaihinger im 1. Band seines Kommentars noch schreiben: „Der Satz: Die Winkel des ebenen Dreiecks sind = 2R, ist ausnahmslos gültig, nicht nur für alle beliebigen Arten des ebenen Dreiecks, sondern auch für alle in der Natur sich Vorfindenden [sic!]. Das Dreieck, das Erde, Sonne und Sirius in jedem Moment ihrer Bewegung bilden, hat schlechterdings immer jene Eigenschaft. Das können wir mit absoluter Zuverlässigkeit vorausbestimmen, ohne jede empirische Messung […].“ 7

35 Jahre später räumte Albert Einstein in seinem epochalen Aufsatz Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie 8 gründlich mit dieser absoluten Zuverlässigkeit auf. Wenn wir nämlich Vaihingers Dreieck betrachten, dürfen wir die schweren Massen, die sich in seiner Umgebung befinden, nicht mehr länger vernachlässigen; denn schwere Massen beeinflussen die Eigenschaften von Raum und Zeit. Das bedeutet aber, dass die splendid isolation, in der Kant die Begriffe Raum und Zeit gegenüber dem der Emp7 8

Vaihinger, Hans, Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1881. Bd. 1. Neudr. d. 2. Aufl. Stuttgart 1922, hg.v. Raymund Schmidt, Aalen 1970, 203. Einstein, Albert, Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie, in: Hendrik A. Lorentz, Albert Einstein und Hermann Minkowski: Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen, 6. Aufl. (Unveränd. Nachdr. der 5. Aufl. von 1923.) Darmstadt 1958, 81-124.

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findung zugänglichen Gehalt der Erscheinungen gehalten hatte, aufgegeben werden muss. Die Reinheit dieser Anschauungen war aber gerade der Grund dafür, dass Kant das, was er an einem Einzelfall demonstrieren konnte, auf alle anderen Fälle derselben Art glaubte übertragen zu dürfen. Mit anderen Worten, nach Einstein gibt es gar keine reine Anschauung, in der sich der Satz über die Winkelsumme im Dreieck beweisen ließe. Da sich geometrische Wahrheiten aber auch nicht durch begriffliche Analyse beweisen lassen, müssen wir die Erfahrung als Beweismittel heranziehen. Was das für die Sicherheit der Geometrie – ja, am Ende der Mathematik überhaupt – bedeutet, hat Einstein in die berühmten Worte gekleidet: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“ 9

3.3. Die Naturwissenschaft Entsprechendes gilt für die Naturwissenschaft. Das ergibt sich aus Kants Konzeption ihres Verhältnisses zur Mathematik. In seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft lesen wir dazu: „[E]ine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur vermittelst der Mathematik möglich, und da in jeder Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntniß a priori befindet, so wird Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik in ihr angewandt werden kann.“ (MAN, AA 4, 467)

Da aber die Sätze der Mathematik als Aussagen über die Wirklichkeit nicht sicher sind, können es auch die Sätze der Naturwissenschaft nicht sein, wenn anders diese ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht aufgeben will. Denn dieser Anspruch verpflichtet sie ja in den Augen Kants, sich der Mathematik zu bedienen. 3.4. Die Metaphysik: Kants kopernikanische Wende Nachdem sich Logik, Mathematik und Naturwissenschaft als weitaus unsicherer erwiesen haben, als Kant geglaubt hatte, kommen wir nun zum Höhepunkt von Kants Vernunftkritik: zur Sicherheit der Metaphysik. Über sie schreibt Kant: „Der Metaphysik, einer ganz isolirten speculativen Vernunfterkenntniß, die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt und zwar durch bloße Begriffe (nicht wie Mathematik durch Anwendung derselben auf Anschauung), wo also Ver9

Einstein, Albert, Geometrie und Erfahrung, Berlin 1921, 3f.

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nunft selbst ihr eigener Schüler sein soll, ist das Schicksal bisher noch so günstig nicht gewesen, daß sie den sichern Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht hätte, ob sie gleich älter ist als alle übrige und bleiben würde, wenn gleich die übrigen insgesammt in dem Schlunde einer alles vertilgenden Barbarei gänzlich verschlungen werden sollten.“ (KrV, B XIV)

Woran liegt es, dass wir noch nicht mit Sicherheit sagen können, ob Gott existiert, unser Wille frei und unsere Seele unsterblich ist? Es liegt an einer völlig verfehlten Konzeption dessen, was Erkenntnis ist. „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniß erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte.“ (KrV, B XVI)

„[W]odurch unsere Erkenntniß erweitert würde“ schreibt Kant und meint damit, dass es sich um Erkenntnisse handelt, die sich nicht mittels logischer Analyse allein begründen lassen. Es geht also darum, eine Methode zu finden, mit der etwas begründet werden kann, das zwar außerhalb der Logik, aber immer noch innerhalb all dessen liegt, was sich a priori ausmachen lässt. Hier ist Kants berühmte Lösung dieses Problems: „Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntniß derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.“ (KrV, B XVI)

Kants Lösung besteht also in einer „Umänderung der Denkart“ (KrV, B XVI), einer Umänderung, der man die Bezeichnung „kopernikanische Revolution“ gegeben hat. 10 Diese Revolution besteht in der Annahme, nicht wir müssten uns nach den Gegenständen, sondern umgekehrt diese sich nach uns richten. Eine erste Erklärung für diese auf den ersten Blick befremdlich anmutende Annahme findet sich im unmittelbaren Anschluss an die eben zitierten Stellen: „In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Object der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.“ (KrV, B XVIf.) 10

Übrigens hat Kant selbst diese Formulierung nicht in den Mund genommen, obwohl er ihr nahe genug gekommen ist.

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Das ist der eine Schritt, den Kant geht: Die Gegenstände müssen sich nach unserem Anschauungsvermögen richten. Anschauungen werden von ihm als Repräsentationen, also als Vergegenwärtigungen, aufgefasst. Genauerhin sind sie Vergegenwärtigungen von einzelnen Gegenständen. Die andere Art von Vergegenwärtigungen bilden die Begriffe. In Bezug auf sie stellt Kant im Anschluss an die Verkündigung der kopernikanischen Wende fest: „Weil ich aber bei […] Anschauungen, wenn sie Erkenntnisse werden sollen, nicht stehen bleiben kann, sondern sie als Vorstellungen auf irgend etwas als Gegenstand beziehen und diesen durch jene bestimmen muß, so kann ich entweder annehmen, die Begriffe, wodurch ich diese Bestimmung zu Stande bringe, richten sich auch nach dem Gegenstande, und dann bin ich wiederum in derselben Verlegenheit wegen der Art, wie ich a priori hievon etwas wissen könne; oder ich nehme an, die Gegenstände oder, welches einerlei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach diesen Begriffen, so sehe ich sofort eine leichtere Auskunft, weil Erfahrung selbst eine Erkenntnißart ist, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung nothwendig richten und mit ihnen übereinstimmen müssen.“ (KrV, B XVIIf.)

Mit den Begriffen verhält es sich also wie mit den Anschauungen, die Gegenstände müssen sich nach den einen wie nach den anderen richten, wenn sie erkennbar sein sollen. Doch diese kopernikanische Revolution in der Erkenntnistheorie hat ihren Preis. Denn wenn Begriffe und Anschauungen nicht mehr von den Gegenständen abgelesen werden können, sondern in uns selber ihren Ursprung haben, wie können Erkenntnisse dann objektive, willkürfreie Wahrheiten sein? Das ist die schwierigste Frage, der Kant sich gegenübersieht. Doch bevor er sich an eine Beantwortung macht, wehrt er erst einmal ein nahe liegendes Missverständnis ab. Viele glauben oder sind doch geneigt, es bei eingehenderem Nachdenken zu tun, dass die Welt, die wir zu erkennen trachten, uns völlig unabhängig gegenübersteht. Doch das tut sie gar nicht, ja, sie darf es nicht einmal, wenn sie erkennbar sein soll. Es ist ein leider nur allzu weit verbreiteter Irrtum, zu glauben, eine Erkenntnis sei nur dann objektiv, wenn sie die Gegenstände so, wie sie an sich sind, wiedergebe. Das Gegenteil ist der Fall; objektive Erkenntnis kann die Gegenstände gar nicht so wiedergeben, wie sie an sich sind, sondern nur so, wie sie uns erscheinen. Die kopernikanische Wende hat am Ende nur das eine Ziel: ein für allemal mit dem Irrtum von der Erkennbarkeit einer an sich bestehenden Wirklichkeit aufzuräumen. Was von seiner Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen abhängt, ist nicht wenig. Ohne sie müsste der Grundsatz der Kausalität unterschiedslos von allen Dingen überhaupt gelten. Folglich

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könnten wir nicht sagen, unser Wille sei frei; vielmehr müssten wir anerkennen, dass auch er unter den Naturgesetzen steht. Damit wird der metaphysische Sinn von Kants Unterscheidung klar. Dass wir ihn nicht missverstanden haben, geht aus dem hervor, was er selbst in der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft schreibt: „Wenn aber die Kritik nicht geirrt hat, da sie das Object in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung oder als Ding an sich selbst […]: so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) als dem Naturgesetze nothwendig gemäß und so fern nicht frei und doch andererseits als einem Dinge an sich selbst angehörig jenem nicht unterworfen, mithin als frei gedacht, ohne daß hiebei ein Widerspruch vorgeht.“ (KrV, B XXVIIf.)

Es ist also nichts Geringeres als die Freiheit des Willens, die nur durch die Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich widerspruchsfrei soll gedacht werden können, die Kant sich und uns von der kopernikanischen Wende und der von ihr bedingten Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen verspricht. So stellt sich urplötzlich und unerwartet der Hauptertrag der Kritik der reinen Vernunft als etwas dar, was der praktischen Philosophie zugute kommt. Dass wir uns dabei nicht verhört oder verspekuliert haben, geht aus dem hervor, was Kant in der Folge ausführt: „So aber, da ich zur Moral nichts weiter brauche, als daß Freiheit sich nur nicht selbst widerspreche und sich also doch wenigstens denken lasse, ohne nöthig zu haben[,] sie weiter einzusehen, daß sie also dem Naturmechanism eben derselben Handlung (in anderer Beziehung genommen) gar kein Hinderniß in den Weg lege: so behauptet die Lehre der Sittlichkeit ihren Platz und die Naturlehre auch den ihrigen, welches aber nicht Statt gefunden hätte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwissenheit in Ansehung der Dinge an sich selbst belehrt und alles, was wir theoretisch erkennen können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte.“ (KrV, B XXIX)

Das bedeutet zwar nicht, dass uns die kopernikanische Revolution die Freiheit des Willens einzusehen erlaubt; es bedeutet aber immerhin, dass sie uns tatsächlich etwas a priori über dieses Thema der Metaphysik zu sagen erlaubt. Und das ist vielversprechend. Denn Kant war ja ausgezogen, um u. a. auch etwas über dieses Thema herauszubekommen. Nachdem wir gesehen haben, dass sich Kants These, Raum und Zeit seien reine Anschauungen, nicht halten lässt und dass deren Unhaltbarkeit seine Konzeption der Sicherheit von Mathematik und Naturwissenschaft unterminiert, liegt die Vermutung nahe, dass sich auch die Metaphysik nicht in den sicheren Gang einer Wissenschaft bringen lasse. Doch ganz so direkt wie im Falle der Naturwissenschaft können wir das im Falle der Metaphysik nicht nachweisen. Das liegt daran, dass es zwei Arten von synthetischen Urteilen a priori gibt, also von Wahrheiten, die sich weder rein logisch noch unter Einbeziehung der Erfahrung begründen lassen

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(KrV, B 764): die mathematischen und die philosophischen. Bei den mathematischen Urteilen, wie etwa „Die Winkelsumme im Dreieck beträgt zwei Rechte“, sind Subjekt und Prädikat nach Kant in der reinen Anschauung verknüpft; dass diese Charakterisierung des Mediums, in welchem Subjekt und Prädikat verknüpft sind, nicht haltbar ist, haben wir bereits im Zusammenhang mit Einsteins Kritik an der Reinheit von Raum- und Zeitanschauung gesehen. Bei den philosophischen Urteilen dagegen sollen Subjekt und Prädikat in der „Bedingung der Zeitbestimmung in einer Erfahrung“ (ebd.) verknüpft sein. Was ist damit gemeint, und ist diese Charakterisierung vor Einsteins Kritik sicher? Da sich nur dann etwas a priori über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit ausmachen lässt, wenn sich alle Gegenstände nach dem erkennenden Subjekt richten, scheint die Objektivität der Erkenntnis auf der Strecke zu bleiben. Die schwierigsten Passagen der Kritik der reinen Vernunft sind dem Versuch gewidmet, diesen Schein zu widerlegen. In ihnen sucht Kant zu zeigen, dass es einen Satz von Begriffen gibt, der dazu angetan ist, die Objektivität von Erkenntnis zu gewährleisten: die sog. Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe. Zu ihnen gehören z. B. auch die Begriffe Ursache und Wirkung. Da jedoch diese Begriffe, wie ihre Bezeichnung als „reine Verstandesbegriffe“ schon sagt, im reinen Verstand entspringen, ist zunächst einmal völlig unklar, ob und wie sie sich auf Gegenstände der Erfahrung beziehen. Welcher Gegenstand hat z.B. das Zeug zu einer Ursache (und zu einer Ursache wovon)? Und welcher Gegenstand hat das Zeug zu einer Wirkung (und zu einer Wirkung wovon)? Solche Fragen kommen auf, so Kant, weil „reine Verstandesbegriffe in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen ganz ungleichartig“ seien und „niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden“ (KrV, B 176) könnten. Damit sich die reinen Verstandesbegriffe auf etwas in unserer Welt anwenden lassen, bedürfe es eines Dritten, „was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht“ (KrV, B 177). Kant bezeichnet dieses Dritte als „Schema“. Ein solches Schema ist gemeint, wenn er sagt, Subjekt und Prädikat philosophischer Urteile seien durch die „Bedingung der Zeitbestimmung in einer Erfahrung“ (KrV, B 764) verknüpft. Im Falle der Kategorie von Ursache und Wirkung ist diese Bedingung, dieses Schema, wie folgt beschaffen: „Das Schema der Ursache und der Causalität eines Dinges überhaupt ist das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt. Es besteht also in der Succession des Mannigfaltigen, in so fern sie einer Regel unterworfen ist.“ (KrV, B 183)

Wenn man etwas als Ursache bezeichnet, so kann man das nur dann tun, wenn es die dafür geltenden Bedingungen erfüllt. Das tut es aber nur,

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wenn es in das Schema der Kausalität passt. Demzufolge muss es etwas sein, dem etwas anderes nach einer gewissen Regel folgt. Subjekt und Prädikat des Kausalprinzips „Alles, was geschieht, hat eine Ursache“ sind also im Schema der Kausalität miteinander verknüpft. Und was für Subjekt und Prädikat des Kausalprinzips gilt, das gilt natürlich auch für Subjekt und Prädikat aller anderen philosophischen Urteile a priori, die Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft aufstellt. Da nun ein Schema mit seinem reinen Verstandesbegriff gleichartig ist, ist es etwas Allgemeines und folglich keine Anschauung; daher sind Subjekt und Prädikat solcher Urteile – anders als bei mathematischen Urteilen – nicht anschaulich miteinander verknüpft. Da jedoch ein Schema nicht nur eine allgemeine, sondern auch eine „reine“ (KrV, B 179) „Bedingung der Zeitbestimmung“ ist, ist es auf die reine Anschauung der Zeit angewiesen. Damit ist Kant auch in Bezug auf philosophische Urteile a priori auf die Reinheit von Zeit (und Raum) angewiesen. Da sich diese aber als Illusion erwiesen hat, findet er auch für die Metaphysik keinen tragfähigen Grund, auf dem sie den sicheren Gang der Wissenschaft einschlagen könnte.

4. Zusammenfassung Nach Kant hat es die Metaphysik mit den Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu tun. Diese Fragen müssen wir a priori beantworten, d.h. bevor wir Gott begegnet sind, bevor wir die Freiheit erlebt und bevor wir unserer Sterblichkeit Tribut gezollt haben. Eine solche apriorische Antwort verlangt eine „veränderte Methode der Denkungsart“ (KrV, B XVIII); um apriorische Erkenntnis zu gewinnen, müssen wir uns klarmachen, „daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen. […] Dieser Versuch gelingt nach Wunsch und verspricht der Metaphysik in ihrem ersten Theile, da sie sich nämlich mit Begriffen a priori beschäftigt, davon die correspondirenden Gegenstände in der Erfahrung jenen angemessen gegeben werden können, den sicheren Gang einer Wissenschaft.“ (KrV, B XVIIIf.)

Nach Kants Analysen ist die Sicherheit der Erkenntnis selbstgemacht. In der Logik sind Subjekt und Prädikat unserer Urteile im Verstand, in der Mathematik in der reinen Anschauung und in der Metaphysik in den reinen zeitlichen Schemata der (ebenfalls reinen) Verstandesbegriffe verknüpft. Doch die Logik hat eine Geschichte, in deren Verlauf sich einige ihrer

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vermeintlichen Gesetze als problematisch erwiesen haben; und die Konzeption von Raum und Zeit als reiner Anschauungen ist durch die allgemeine Relativitätstheorie widerlegt worden. Damit erweist sich der von Kant gewiesene Weg, auf dem die Metaphysik „den sicheren Gang einer Wissenschaft“ antreten sollte, als Holzweg. Ob damit auch seine Konzeption eines reinen Willens unhaltbar geworden ist, steht allerdings auf einem anderen Blatt. 11

11

An dieser Stelle möchte ich Susanne Finck (Rostock) für die Hilfe bei der Erstellung der Aufsatzfassung dieses Textes danken.

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Dass wir unsere inneren Zustände mittels des inneren Sinns anschauen können, hat Kant verschiedentlich behauptet. Darüber hinaus können wir, so Kant, die inneren Zustände in der Zeit bestimmen, das heißt, sie in einen zeitlich geordneten Zusammenhang bringen. Dies muss man mit Blick auf einige Theoreme der Kantischen Philosophie, insbesondere mit Blick auf die Widerlegung des Idealismus in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, so spezifizieren, dass wir unsere inneren Zustände als in der Zeit geordnet bestimmen können, wenn wir neben den inneren Vorstellungen auch auf einen äußeren Gegenstand Bezug nehmen können, der in der Zeit beharrlich konzipiert wird und mit Bezug auf den wir den Wechsel unserer inneren Zustände als einen Wechsel in der Zeit wahrnehmen und bestimmen können. Sind die inneren Zustände in der Zeit bestimmt, kann man von innerer Erfahrung sprechen. 1 Beide genannten Behauptungen, also die, dass wir innere Zustände in der Zeit bestimmen können und die, dass wir hierfür äußerer Anschauung bedürfen, sind in meinen Augen in der Kantischen Philosophie deutlich vertreten und gut verankert. Die Frage, der ich im Folgenden nachgehen will, ist die, inwiefern wir diese Bestimmung innerer Zustände als eine objektive Bestimmung ansehen können. Oder, um diese Frage etwas weniger Kantisch zu formulieren: Was heißt es, über eine innere Vorstellung, beispielsweise eine Wunschvorstellung, zu sagen, sie dauere in der Zeit, sie verursache eine Handlung, sie sei durch Abwägen von Gründen veränderbar? Dürfen wir diese Äußerungen so auffassen, dass wir mit ihnen sagen oder erklären, was der Fall ist? Von der Beantwortung dieser Frage hängt einiges ab. So hängen mit dieser Frage auch die Fragen zusammen (1) ob wir eine (empirische) Wissenschaft der Psychologie haben können und (2) ob wir dasjenige, was Gegenstand unserer Erfahrung ist, als Materielles konzipieren müssen oder ob etwas, das nicht materiell ist, Bestandteil der Erfah1

Vgl.: KrV, B 277; KrV, A 37/B 54. In den Prolegomena wird gesagt, die innere Erfahrung liege der empirischen Psychologie zugrunde (Prol, AA 4, 265).

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rungswelt ist. 2 Bei der folgenden Untersuchung zum Thema der inneren Erfahrung gilt zu berücksichtigen, dass die hier aufgeworfenen Fragen im Rahmen von Kants theoretischer Philosophie abgehandelt werden. Dass wir aus der Perspektive der praktischen Philosophie eine andere Art der Bestimmung unseres Gegenstands vornehmen können und dann auch rechtmäßig von Gründen als Ursache der Handlung sprechen können, soll hier nicht zur Diskussion stehen.

1. Innere Zustände Aus Gründen, die im Folgenden noch näher dargelegt werden, ist Kant der Überzeugung, dass es keine rationale Psychologie gibt, also keine Erkenntnisse a priori über den Gegenstand des inneren Sinns. In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft äußert sich Kant darüber hinaus kritisch zu der Möglichkeit einer Psychologie als empirischer Wissenschaft. Der Passus lautet wie folgt: „Aber auch nicht einmal als […] Experimentallehre kann [die Psychologie] der Chemie jemals nahe kommen, weil sich in ihr das Mannigfaltige der inneren Beobachtung nur durch bloße Gedankenteilung von einander absondern, nicht aber abgesondert aufbehalten und beliebig wiederum verknüpfen, noch weniger aber ein anderes denkendes Subjekt sich unseren Versuchen der Absicht angemessen von uns unterwerfen läßt, und selbst die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alterirt und verstellt.“ (MAN, AA 4, 471) Das Problem einer empirischen Psychologie, das Kant hier beschreibt, kann man als Problem des spezifischen Gegenstands der Psychologie auffassen: Innere Zustände sind schwer zu individuieren und konstant zu halten und daher eine Bildung und Überprüfung von Hypothesen kaum möglich. 3 Diese Bedenken gegen kausale Erklärungen in der Psychologie und damit gegen ihren wissenschaftlichen Charakter sind einleuchtend. Sie stellen das Ergebnis der Reflexion auf die Besonderheit innerer Erfahrungen dar und könnten zumindest zum Teil auch Ergebnis eines experimentellen Umgangs mit Phänomenen des inneren Sinns sein. In jedem Fall scheinen sie nicht abhängig von der Kantischen Transzendentalphilosophie zu sein. Ich will diesen Bedenken hier nicht nachgehen, sondern die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken: Angesichts dieser Bemerkungen von Kant könnte man vermuten, er setze voraus, dass psychische 2

3

Dass Nicht-Materielles Bestandteil der Erfahrungswelt ist, vertritt etwa: Willaschek, Marcus, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart, Weimar 1992. Ein ähnliches Bedenken formuliert Kant auch in seiner Anthropologie, Anth, AA 7, 142f.

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Vorkommnisse zwar spezifische methodische Probleme der Behandlung mit sich bringen, dass sie aber im Prinzip so handzuhaben sind wie Ereignisse, in denen Materien aufeinander wirken, nämlich dass Kausalerklärungen als Hypothesen angeboten werden können. Diese Vermutung scheint sich auch dadurch bestätigt zu finden, dass Kant die Psychologie an anderen Stellen als eine empirische Wissenschaft bezeichnet4 und dass er Erklärungen, in denen mentale Vorkommnisse wie Vorstellungen oder Wünsche eine Rolle spielen, als theoretische Erklärungen zweifellos akzeptiert. 5 Ich will in meinem Beitrag aber dafür argumentieren, dass die Kantische Philosophie grundsätzlichere Schwierigkeiten mit der Psychologie als empirischer Wissenschaft hat, als es hier zunächst den Anschein hat. Dies ist nun nicht nur deshalb interessant, weil es einen schon bei Kants frühen Kritikern – ich denke hier vor allem an Hegel – gehegten Verdacht nährt, nämlich dass Kant die theoretisch zu erfassende Wirklichkeit auf unorganische, materielle raum-zeitliche Gegenstände restringiert. Die Gründe für diese Schwierigkeiten sind darüber hinaus deshalb interessant, weil sie auf der einen Seite mit Fragen zusammenhängen, die das „Ich denke“ betreffen und damit einen Einblick in Kants Auffassung und Entwicklung der Vorstellung des Ichs geben. Auf der anderen Seite hängen sie mit Fragen zusammen, die die Bedingungen für Erklärungen angehen, also auf die Frage abzielen: was müssen wir behaupten können, um etwas als eine Erklärung zu akzeptieren. Das Resultat mit Blick auf die empirische Psychologie wird sein, dass Kants Standards für empirische Erklärungen ziemlich gering sind. Um die These nachzuweisen, dass Kant Schwierigkeiten mit der empirischen Psychologie hat, die mit seinem transzendentalphilosophischen Ansatz zusammenhängen, ist eine etwas mühsamere Kantexegese erforderlich. Ich werde zunächst die Gründe dafür rekonstruieren, warum die Psychologie keine Erkenntnisse a priori über ihren Gegenstand haben kann. Eine erste Antwort auf diese Frage könnte die sein, dass die Psychologie keinen Gegenstand hat. Anders als etwas, das im Raum gegeben ist und als Gegenstand konzipiert wird, ist etwas, das bloß in der Zeit gegeben wird, kein Gegenstand, sondern nur ein Zustand. 6 Diese Antwort ist aber in meinen Augen unbefriedigend. Denn erstens stellt sich die Frage, was es dann genauer heißt, über innere Zustände zu reden. Und zweitens 4 5 6

Vgl. etwa KrV, A 849/B 877. Vgl. etwa Erste Einleitung der Kritik der Urteilskraft, EEKU, AA 20, 198. So Kant in dem § 2 der Kritik der reinen Vernunft (KrV, A 23/ B 37). Vgl. hierzu etwa Michael Wolff, der mit Blick auf den inneren Sinn von einem „Zustandssinn“ im Unterschied zu einem „Gegenstandssinn“ spricht: Wolff, Michael, Empirischer und transzendentaler Dualismus. Zu Rolf-Peter Horstmanns Interpretation von Kants Paralogismen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), 265-275, hier 267.

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stellt sich die Frage, warum etwas bloß in der Zeit Gegebenes nicht als Gegenstand konzipiert werden kann. Wieso können wir einen inneren Zustand, etwa einen Wunsch, nicht als einen Gegenstand oder als einen Sachverhalt bestimmen? Ich beginne mit der zweiten Frage. Diese scheint mir zum Verständnis der Philosophie Kants von besonderem Interesse zu sein. Denn angesichts dessen, dass das Resultat der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft darin besteht, dass unseren apriorischen Begriffen Bedeutung nur zukommt, wenn wir sie auf Anschauungen beziehen, scheint es tatsächlich überraschend, dass apriorische Begriffe – wie Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft sagt – Sinn und Bedeutung nur durch ihren Bezug auf äußere Anschauung erhalten. 7 Die Zeit als Form der Anschauung müsste, so könnte man vermuten, doch ausreichen, um Begriffen Bedeutung zu geben. Die Frage, der es also zunächst nachzugehen gilt, lautet: Inwiefern gelten die Grundsätze, also die Sätze, die a priori einen Gegenstand bestimmen, nur für etwas, das auch im Raum (also nicht bloß in der Zeit) gegeben ist.

2. Die Grundsätze der Kritik der reinen Vernunft Der erste Grundsatz der Kritik der reinen Vernunft, dass alle Anschauungen extensive Größen sind, gilt offensichtlich für etwas, das im Raum gegeben ist. Da die Zeit nur eine Dimension hat, scheint etwas in der Zeit Angeschautes nicht durch Ausgedehntheit bestimmt werden zu müssen. Nun scheint man allerdings auch etwas dem inneren Sinn Gegebenes als ausgedehnt ansehen zu können, dann nämlich, wenn es sich über einen Zeitraum erstreckt. Es ist angesichts dessen ein naheliegender Vorschlag, dass wir von Ausdehnung etwas dem inneren Sinn Gegebenem zumindest dann sprechen können, wenn wir das dem inneren Sinn Gegebene räumlich darstellen könnten, etwa in einer räumlich zu repräsentierenden Zeitlinie. Die Frage, ob dies uns rechtfertigt, von etwas dem inneren Sinn Gegebenem als ausgedehnt zu sprechen, werde ich nach der Hinzuziehung des zweiten Grundsatzes noch einmal aufnehmen. Zunächst ist festzuhalten, dass der erste Grundsatz eine Bedingung für Anschauungen formuliert, die primär nur für etwas gilt, das im Raum gegeben ist. Bei dem zweiten Grundsatz, der besagt, dass in allen Erscheinungen das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, eine intensive Größe, d.i. einen Grad hat, ist dies jedoch nicht der Fall. Auch etwas nur dem 7

Vgl. MAN, AA 4, 478 und KrV, B 291. Vgl. ferner Kants Bemerkungen im Handexemplar zur ersten Auflage der KrV (AA 23, 30).

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inneren Sinn Gegebenes muss einen Grad haben, wenn es real ist. Es ist hier sogar die Frage aufzuwerfen, inwiefern der zweite Grundsatz der intensiven Größe für etwas dem äußeren Sinn Gegebenes gilt. Genauer betrachtet besteht das Ziel der Überlegungen des zweiten Grundsatzes aber zweifellos darin, dass die Aussage nicht nur für etwas gilt, das in der Zeit gegeben ist, sondern auch für etwas, das im Raum gegeben ist. In diesem Sinne spricht Kant von dem der Empfindung korrespondierenden Gegenstand, der eine intensive Größe haben müsse. Die Tatsache, dass Kant sein Ziel mit Blick auf den äußeren Gegenstand formuliert, gibt wiederum sogar der Vermutung Raum, dass Kant die Bedingungen für Gegenständlichkeit überhaupt nur für Räumliches für relevant hält. Diese Vermutung ist hier aber noch zurückzustellen. Betrachten wir die ersten zwei Grundsätze, so können wir, folgt man den bisherigen Ausführungen, von etwas dem äußeren Sinn Gegebenem sagen, dass es eine intensive und eine extensive Größe haben muss. Etwas dem inneren Sinn Gegebenes hat zunächst nur eine intensive Größe. Wenden wir uns nun der oben aufgeworfenen Frage zu, ob wir etwas dem inneren Sinn Gegebenes als ausgedehnt bestimmen können, wenn wir die Form des Raumes hinzuziehen. Kant scheint dies anzunehmen, wenn er sagt: „Eben so kann leicht dargetan werden, daß die Möglichkeit der Dinge als Größen, und also die objektive Realität der Kategorie der Größe, auch nur in der äußeren Anschauung könne dargelegt, und vermittelst ihrer allein hernach auch auf den inneren Sinn angewandt werden.“ (KrV, B 293) 8 Ich denke allerdings nicht, dass Kant mit diesem Zusatz der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft sagen wollte, dass die Anwendung der extensiven Größe den inneren Zustand als einen bestimmt, der sich über die Zeit hinweg erstreckt. Dies aus folgendem Grund: Wenn wir über einen inneren Zustand sagen, er erstrecke sich in der Zeit, meinen wir damit offenbar nicht, er sei räumlich darstellbar, sondern wir wollen sagen, dass er in der Zeit dauert. Damit würden wir ihn aber nicht unter den ersten Grundsatz stellen, sondern ihn anhand der ersten Analogie der Erfahrung als beharrlich bestimmen. Die Reichweite der Analogien der Erfahrung mit Blick auf innere Zustände wird erst im Folgenden untersucht. Was Kant damit meint, wenn er sagt, wir könnten etwas dem inneren Sinn Gegebenes als extensive Größe betrachten, ist meines Erachtens, dass wir den Grad einer Empfindung als Quantität darstellen können. Wir

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Dies ist ein Zusatz der zweiten Auflage, in der Kant die Raumabhängigkeit seiner Konzeption der Gegenständlichkeit insgesamt klarer herausstellt. (s. Anm. 15.)

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können eine intensive Größe als extensive Größe darstellen 9 und sie auf diese Weise in einer anderen Form bemessen. Dies ist aber etwas anderes als von einem über die Zeit sich erstreckenden inneren Zustand zu sprechen. Zu sagen ein innerer Zustand habe eine extensive Größe heißt nichts anderes als zu sagen, dass seine intensive Größe räumlich dargestellt werden kann. Dies heißt aber weder, er erstrecke sich über die Zeit hinweg. Noch heißt es tatsächlich, dass innere Zustände unter dem ersten Grundsatz stehen, denn der besagt, alle Anschauungen müssten eine extensive Größe sein, und nicht, sie ließen sich als extensive Größen darstellen. Folgt man den bisherigen Bemerkungen, scheint überhaupt ein Einwand nahe zu liegen: Da die Grundsätze für alle Anschauungen gelten sollen, müssen auch innere Zustände unter sie fallen. Genauer betrachtet ist die Gültigkeit für alle Anschauungen aber nicht ohne Probleme. Zunächst ist zu bedenken: Die Grundsätze formulieren nicht Sätze, die für jede synthetisierte Einheit gelten, sondern sie geben die notwendigen Bedingungen dafür an, dass etwas für uns ein Gegenstand ist. Dies kann man sich mit Blick auf den zweiten Grundsatz anhand von geometrischen Gegenständen verdeutlichen. Geometrische Gegenstände haben keine intensive Größe. Daher muss Kant sagen, dass geometrische Formen (die ja zweifellos Einheiten sind), nur insofern Gegenstände sind, als sie Formen von realen Gegenständen sind, denen neben der extensiven auch eine intensive Größe zukommt. Mit Bezug auf innere Zustände lässt sich dann weiterhin sagen: bloß innere Zustände sind keine Gegenstände, sondern wir müssten sie auf die Form des Raumes beziehen, wenn wir sie als Gegenstände betrachten wollten. Um sie als Gegenstände zu betrachten, reicht es allerdings nicht aus, dass sich intensive Größen auch als extensive im Raum darstellen lassen, denn, wie oben erwähnt, heißt dies nicht, dass sie eine extensive Größe sind. Eine andere Interpretation drängt sich hier auf: Die Gültigkeit beider Grundsätze für alle (sinnlichen) Anschauungen lässt sich aufrechterhalten, wenn man sagt: dass alle Anschauungen eine extensive Größe sind, heißt nichts anderes als dass sie räumlich sind. Nur dann, so könnte man sagen, sind sie für uns erfahrbar. In dem Fall von Empfindungen ist dies auch einleuchtend: Eine Rotempfindung ist nur erfahrbar als eine Rotempfindung von etwas Räumlichen (einem Fleck o.ä.). Diese Interpretation ist aber auch wieder nicht ohne Schwierigkeiten. Nicht nur gilt es zu bedenken, inwiefern sie mit dem Kantischen Text

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Die Darstellbarkeit intensiver Größen als extensiver wird wichtig, wenn man beispielsweise eine intensive Größe eines Gegenstandes (wie die Dichte) als extensive Größe berechnen will (etwa durch den zurückgelegten Weg bei einem bestimmten Impuls).

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vereinbar ist, 10 es gibt auch sachliche Probleme: Erstens stellt sich die Frage, ob die hier behauptete Räumlichkeit innerer Zustände bei etwas Mentalem, wie einem Wunsch, auch der Fall ist. Diese Frage muss hier noch zurückgestellt werden. Zweitens ergibt sich auch noch ein weiteres Problem: Für innere Zustände muss gelten: wir können sie nicht dadurch als Gegenstände bestimmen, dass wir ihnen neben der intensiven auch eine extensive Größe zusprechen. Denn innere Zustände müssten Gegenstände der Erfahrung sein (nicht der reinen Wissenschaft wie der Geometrie) und daher müssten sie, um als Gegenstände bestimmt werden zu können, unter die Analogien der Erfahrung zu subsumieren sein. Dies gilt es nun zu prüfen. Die dritte Gruppe der Grundsätze, die Analogien der Erfahrung, formulieren die Regeln, unter denen alle Wahrnehmungen stehen müssen, wenn wir sie als Objekte der Erfahrung konzipieren wollen. Ohne diese Regeln ist es nicht möglich, Erscheinungen eine objektive Stelle in der Zeit zu geben. Die leitende Idee ist die, dass wir die Einheit der Zeit nur denken können, wenn wir die Kategorien anwenden. Diese bilden daher die Bedingungen für Erfahrung. Auch hier stellt sich die Frage, ob man innere Zustände anhand der Kategorien bestimmen kann. Davor muss jedoch etwas über die Funktion der Analogien gesagt werden. Die erste Analogie, so Kant, betrifft nicht die Relation der Erscheinungen zueinander, sondern das Verhältnis zwischen Erscheinungen und der Zeit selbst (KrV, A 215/B 262). Kant gibt hier auch kein Kriterium dafür, wie etwas objektiv in der Zeit zu bestimmen ist, sondern die allgemeine Bedingung dafür, etwas in der Zeit bestimmen zu können. Diese allgemeine Bedingung ist die, dass wir eine Substanz denken können, die absolut beharrt, also ihr Quantum weder vermehrt noch vermindert. Dies muss so sein, weil wir, kurz gesagt, die Idee einer Zeit brauchen, mit Bezug auf die wir alle Erscheinungen bestimmen können. Hätten wir nicht nur eine Zeitlinie sondern mehrere, könnten wir nicht alle Wahrnehmungen als Wahrnehmungen einer Erfahrung bestimmen. 11 Da wir die Zeit selbst nicht wahr10

11

Kant redet von inneren Zuständen so, als seien sie nur in der Form der Zeit gegeben (KrV, A 23/B 37). Auch die Rede von innerer Erfahrung (KrV, B 277f) und die oben zitierte Textstelle (KrV, B 293) scheinen die Möglichkeit der Anschauung nur innerer Zustände zuzulassen. Allerdings könnte man, wie im Folgenden erläutert, materielle und mentale innere Vorstellungen voneinander unterscheiden und die Räumlichkeit nur für materielle Vorstellungen behaupten. (Jedoch wäre mit Blick auf mentale Vorstellungen zu berücksichtigen, dass Kant auch hier natürlich keine nicht-sinnliche Anschauung behaupten will und in der Anthropologie das Vermögen der inneren Erfahrung als passives Erkenntnisvermögen klassifiziert, Anth, 7, 142; vgl. zu dieser Stelle auch die Rostocker Anthropologiehandschrift AA 7, 396ff.) Auf den Unterschied von materiellen und mentalen Vorstellungen werde ich am Ende des Abschnitts im Haupttext noch einmal zurückkommen. Zu diesem oft kritisch eingeschätzten Argument vgl.: Rosenberg, Jay F., Accessing Kant, Oxford 2005, 199-214; Allison, Henry, Transcendental Idealism. An Interpretation and

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nehmen können, müssen wir etwas als das Substratum der Zeit annehmen, das selbst Gegenstand der Wahrnehmung ist. Wir denken uns daher die Materie als unveränderbar in ihrer Quantität, das heißt als absolut beharrlich. 12 Dies absolut beharrliche Substratum, das die allgemeine Bedingung für Bestimmbarkeit in einer Zeit sein soll, ist etwas, das, folgt man Kants Ausführungen, etwas im Raum Gegebenes sein muss. Warum kann es nichts dem inneren Sinn Gegebenes sein? Der Grund scheint folgender zu sein: Wir können die Wechsel von Zuständen, die wir wahrnehmen können, nur dann als Wechsel in einer Zeit (und nur in einer) ansehen, wenn wir sie als Wechsel desselben Dinges verstehen. Dafür muss das Substratum als unabhängig von uns konzipiert werden können: als etwas, das wir trotz des Wechsels unserer inneren Vorstellungen als beharrlich denken können. Dass der einzig mögliche Kandidat etwas Räumliches ist, ist damit allerdings noch nicht bewiesen. Könnte es nicht das Ich sein, das allem Wechsel der Erscheinungen unterliegt? 13 Kant kann dies ausschließen, indem er sagt, dass der absolut beharrlich gedachte Gegenstand zugleich mit den wechselnden Vorstellungen wahrnehmbar sein muss und zugleich Wahrnehmbares nicht in der eindimensionalen Zeit angesiedelt sein kann. Genauer müsste man daher sagen: Das Beharrliche muss etwas im Raum Gegebenes sein, weil es zugleich mit anderen Vorstellungen wahrgenommen und als von ihnen unabhängig gedacht werden können muss. Dies gilt für keine zeitliche Vorstellung, auch nicht für das Ich als alle Vorstellungen begleitende Vorstellung. Als absolut Beharrliches wird also etwas im Raum Gegebenes gedacht. Damit ist natürlich auch noch nicht gesagt, dass wir nicht über innere Zustände sagen können, dass sie in der Zeit dauern. Denn man könnte sagen: Wenn man die Materie als absolut beharrlich (bereits) bestimmt hat, kann man innere Zustände relativ zu dem absolut Beharrlichen auch als beharrlich bestimmen. Dies ist eine naheliegende und gängige Auffassung. Allerdings gilt Folgendes zu bedenken: Die erste Analogie legt fest, dass etwas, das als Substanz gedacht wird, als absolut beharrlich konzipiert wird. Da alle Erscheinungen unter den Kategorien stehen müssen, können _____________ 12

13

Defense, New Haven and London 2004, 242; Watkins, Eric, Kant and the Metaphysics of Causality, Cambridge 2005, 192. Ich denke, mit Substratum sind nicht Substanzen im Sinne von ‚für sich bestehende Entitäten’ gemeint, sondern gemeint ist die Materie als Substratum aller physischen Dinge. Dies kann hier aber nicht eingehender diskutiert werden. Zu diesem Vorschlag vgl.: Gram, Moltke, What Kant really did to Idealism, in: Mohanty, Jintendranath N. and Shahan, Robert W. (Hg.), Essays on Kant’s ‘Critique of Pure Reason’, Norman 1982, 127-156; Guyer, Paul, The Postulates of Empirical Thinking in General and the Refutation of Idealism, in: Mohr, Georg und Willaschek, Marcus (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft (Klassiker Auslegen), Berlin 1998, 297-324.

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wir weiterhin sagen: dass alle Objekte des äußeren Sinns absolut beharrliche Substanzen sind oder ein Substratum haben, das absolut beharrlich ist. Über etwas zu sagen, dass es relativ beharrlich ist, bedeutet, über einen Zustand einer Substanz zu reden, die absolut beharrlich ist. Wie Kant sagt: „[…] alles aber, was wechselt, oder wechseln kann, gehört nur zu der Art, wie diese Substanz oder Substanzen existieren, mithin zu ihren Bestimmungen.“ (KrV, A 183f/B 227) Dies scheint nun aber zu implizieren, dass wir, wenn wir über wechselnde innere Zustände sagen, dass sie relativ beharrlich sind, sie als Zustände einer absolut beharrlichen Substanz ansehen müssen. Die Seele scheidet für Kant als absolut beharrliche Substanz aus. Ebenso wenig können die Zustände als Bestimmungen des Körpers behandelt werden. Daher können wir strenggenommen über innere Zustände überhaupt nicht sagen, dass sie in der Zeit beharrlich sind. Dass wir dies nicht können, bedeutet auch, wir können innere Zustände nicht als Ursachen von etwas bestimmen. Denn die zweite und dritte Analogie geben das empirische Kriterium dafür, dass wir etwas als Substanz ansehen können: Wir müssen in der Lage sein, ein Ding als verursacht durch ein anderes, das ihm in der Zeit vorhergeht, zu bestimmen, und wir müssen es als mit anderen in durchgängiger Wechselwirkung auffassen. Beides, also die Bestimmung der Relation der Ursache-Wirkung und die der Wechselwirkung, setzt für Kant voraus, dass wir etwas als Substratum annehmen. Und was als Substratum angenommen werden muss, ist dasselbe Ding, dessen Zustände wechseln: „Veränderung ist eine Art zu existieren, welche auf eine andere Art zu existieren eben desselben Gegenstandes erfolget. Daher ist alles, was sich verändert, bleibend, und nur sein Zustand wechselt.“ (KrV, A 187/B 230). Da wir bei inneren Zuständen nicht etwas als Substanz oder als Ding bestimmen können, dessen Zustände wechseln, können wir auch nicht (bestimmend) sagen, ein innerer Zustand sei eine Ursache für etwas oder er stehe in einer Wechselwirkung mit anderem. Die bisherigen Überlegungen haben folgende zwei Resultate ergeben: (1) Innere Zustände lassen sich nicht anhand der Grundsätze als Gegenstände bestimmen. (2) Wenn von einem Objekt unserer Erfahrung notwendig gelten muss, was die Grundsätze behaupten, können die inneren Zustände für uns nicht Objekt der Erfahrung werden. Beide Resultate möchte ich noch etwas erläutern: (zu 1) Das Resultat der Untersuchung der Grundsätze besteht zum einen darin, dass sich dasjenige, was nur dem inneren Sinn gegeben ist, nicht a priori bestimmen lässt. Hierbei muss allerdings zwischen den Grundsätzen unterschieden werden. Der zweite Grundsatz muss ausgenommen werden, d.h. man kann a priori wissen, dass etwas dem inneren Sinn Gegebenes einen Grad hat. Beim ersten

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Grundsatz haben sich zwei mögliche Interpretationen ergeben: entweder man sagt, es gibt keine rein inneren Zustände, die für uns wahrnehmbar sind, sondern nur solche, die räumlich vorgestellt werden. Dies ist bei inneren Vorstellungen wie Wünschen etc. allerdings unplausibel. Wir müssten dann zwischen verschiedenen inneren Vorstellungen unterscheiden. Darauf werde ich noch einmal zurückkommen. Oder man sagt: Innere Zustände können auch räumlich repräsentiert werden, dies ist aber etwas anderes als zu sagen, sie hätten eine extensive Größe. In diesem zweiten Fall würde man daher einräumen, dass der erste Grundsatz eigentlich nur für Räumliches gilt. In jedem Fall gilt, dass die ersten beiden Grundsätze ohnehin nicht ausreichen, um etwas dem inneren Sinn Gegebenes als Gegenstand der Erfahrung zu bestimmen, denn dafür sind die Analogien der Erfahrung als Bedingungen hinzuzunehmen. Mit Blick auf sie hat sich aber ergeben, dass der mögliche Kandidat der Anwendbarkeit ausschließlich etwas ist, das in Raum und Zeit gegeben ist. Man könnte dieses Resultat auch so ausdrücken: Das, was wir a priori über einen Gegenstand der Erfahrung sagen können, setzt die Form des Raumes neben der der Zeit voraus. Daher ist etwas nur im inneren Sinn Gegebenes durch unsere a priori möglichen Bestimmungen nicht in vergleichbarer Weise wie etwas dem äußeren Sinn Gegebenes a priori zu bestimmen. Ein System a priori gültiger Sätze, wie es die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft für den Gegenstand des äußeren Sinns geben, ist also mit Blick auf den inneren Sinn nicht möglich. Dies ist ein Grund dafür, warum es eine rationale Psychologie nicht geben kann. 14 Bei der Behandlung der Grundsätze habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass wir mit Blick auf innere Vorstellungen möglicherweise einen Unterschied zwischen sinnlichen (Empfindungen) und mentalen (Vorstellungen) berücksichtigen müssen. Dazu möchte ich nun noch eine kurze Anmerkung machen: Dieser Unterschied ist meines Erachtens für die Frage, inwiefern die ersten beiden Grundsätze gelten, von Wichtigkeit. Gleichwohl ist dieser Unterschied für das Ergebnis der hier angestellten Überlegungen aber insofern nicht relevant, als dass sich auf jeden Fall behaupten lässt, dass wir etwas, das dem inneren Sinn Gegeben ist, nicht anhand der Analogien der Erfahrung bestimmen können. Da es mir pri14

Man könnte hier sagen: das, was wir a priori wissen können, ist mit Blick auf das dem inneren Sinn Gegebene so wenig, dass wir keine Wissenschaft darauf gründen können. Diese Beschreibung macht sich Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft auch zu eigen, wenn er mit Blick auf die Seelenlehre ausführt: „[…] weil Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist, man müßte denn allein das Gesetz der Stetigkeit in dem Abflusse der inneren Veränderung desselben in Anschlag bringen wollen, welches aber eine Erweiterung der Erkenntnis sein würde, die sich zu der, welche Mathematik der Körperlehre verschafft, ohngefähr so verhalten würde, wie die Lehre von den Eigenschaften der Linie zur ganzen Geometrie“ (MAN, AA 4, 471).

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mär um die Bestimmbarkeit von Vorstellungen wie Wünschen etc. geht, ist darüber hinaus auch zu sagen, dass wir hier nicht die Möglichkeit aufzeigen konnten, wie sie sich anhand des ersten Grundsatzes bestimmen lassen sollen. (zu 2) Als Resultat kann darüber hinaus festgehalten werden, dass es für uns überhaupt keinen Gegenstand des inneren Sinns geben kann. Dies ergibt sich daraus, dass die Grundsätze die Regeln formulieren, denen ein Gegenstand der Erfahrung notwendig unterworfen sein muss. Da das dem inneren Sinn Gegebene diesen Grundsätzen nicht unterworfen sein kann, kann es auch kein möglicher Gegenstand der Erfahrung sein. Dieses Resultat hat nun eine nicht nur für die Frage nach der möglichen Behandlung von Zuständen des inneren Sinns wichtige Pointe, sondern für Kants Objektbegriff überhaupt. Die Grundsätze als Bedingungen für Erfahrung operieren mit einem ziemlich engen Objektbegriff: Objekt kann für uns nur werden, was dem äußeren Sinn gegeben ist. 15 Mit Blick auf die innere Erfahrung bedeutet das Resultat, dass sich strenggenommen nichts im inneren Sinn als beharrlich oder als etwas verursachend bestimmen lässt 16 – jedenfalls nicht in der Art, in der es uns bei Gegenständen der äußeren Anschauung möglich ist. In beiden Fällen, also im Fall der Rede von der Dauer eines Zustandes und im Fall der Rede von einem Zustand als Ursache, muss es, soll diese Rede sinnvoll sein, eine andere Lösung geben als die, dass sie im Prinzip wie äußere Gegenstände behandelt werden. Kön15

16

Dies macht Kant, wie bereits im einleitenden Teil hier erwähnt, in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft auch hinreichend deutlich. Vgl. MAN, AA 4, 478 und KrV, B 291. Eckart Förster hat diese These von Kant (dass es nicht nur Anschauungen, sondern äußere Anschauungen geben muss, um den Kategorien Bedeutung zu geben) als eine wesentliche Änderung nach der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft interpretiert: Förster, Eckart, Kant’s final Synthesis. An Essay on the Opus postumum, Cambridge, London 2000, 48-74. Wie aus der obigen Untersuchung zu den Grundsätzen hervorgegangen sein sollte, verstehe ich diese These Kants als schon in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft verankerte These, die in der zweiten Auflage explizit herausgestellt und auf ihre Konsequenzen hin reflektiert wird. Anzumerken ist hier zum Objektbegriff noch, dass er nicht nur durch die Grundsätze der Kritik der reinen Vernunft, sondern auch durch die Metaphysischen Anfangsgründe bestimmt ist. Bedenkt man dies, wird man sagen müssen, Objekt für uns ist nur etwas, das als träge Materie bestimmt ist. Inwiefern dies zu Schwierigkeiten der Anerkennung von Organismen als Objekten für uns führt, hat Kant in der Kritik der Urteilskraft thematisiert. Es ist in meinen Augen aufgrund dieses engen Objektbegriffs auch eine berechtigte Kritik an Kant, den Begriff der Realität tendenziell auf physisch Gegebenes zu restringieren. Wie Hegel sich eine derartige Kritik zu eigen gemacht hat, hat ausgeführt: Horstmann, Rolf-Peter, Hegels Ordnung der Dinge. Die Phänomenologie des Geistes als ‚transzendentalistisches‘ Argument für eine monistische Ontologie und seine erkenntnistheoretischen Implikationen, erscheint in: Hegel-Studien. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt vor dem Hintergrund einer Untersuchung zur Form der Zeit und ihres Raumbezugs: Mohr, Georg, Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewußtsein bei Kant, Würzburg 1991, 78.

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nen wir uns helfen, indem wir sagen, nicht der innere Zustand dauert, sondern das Ich unterhält diesen Zustand über einen Zeitraum hinweg? Mit dieser Frage erreichen wir die Frage, wie wir von dem Ich reden können. Kant wendet sich ihr insbesondere in dem Abschnitt über die Paralogismen in der Kritik der reinen Vernunft zu.

3. Die Paralogismen der Kritik der reinen Vernunft Auch in dem Abschnitt über die Paralogismen der Kritik der reinen Vernunft behauptet Kant, dass wir über die Vorstellungen des inneren Sinns nicht a priori sagen können, sie seien beharrlich. Das Argument, mit dem Kant die Psychologie als strenge Wissenschaft zurückweist, ist nicht nur, wie oft angenommen, 17 dass es keine Erkenntnis von der intellektuellen Vorstellung des Ichs geben kann. Der rationale Psychologe scheitert vielmehr auch daran, dass er die innere Wahrnehmung des „Ich denke“ nicht a priori bestimmen kann. Denn die Analogien der Erfahrung als die Sätze, mit denen ein Gegenstand der Erfahrung sich a priori bestimmen lässt, beziehen sich – wie ich im vorangegangenen Abschnitt ausgeführt habe – nur auf einen Gegenstand der äußeren Anschauung. Auch hier stellt sich dann aber die Frage, wie wir über innere Zustände überhaupt noch reden können. Zunächst ist bemerkenswert, dass Kant (in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft) zwar sagt, man könne die Seele als bloßen Gegenstand des inneren Sinns nicht als beharrlich beweisen, es gebe aber keinen Zweifel über ihre Beharrlichkeit im Leben, wo „das denkende Wesen (als Mensch) sich zugleich ein Gegenstand äußerer Sinne ist“ (KrV, B 415). Will man die Frage klären, was diese Bemerkung bedeuten soll, ist zu berücksichtigen, dass Kant an einer benachbarten Stelle sagt, die Seele sei das Prinzip des Lebens in der Materie (KrV, A 345/B 403). Wir dürfen dies jedoch nicht so auffassen, als seien die inneren Zustände materielle Zustände des menschlichen Körpers, denn dies würde bedeuten, dass wir unseren Begriff der Materie durch eine lebendige Kraft erweitern, die dem Trägheitsgesetz, durch das Materie für Kant bestimmt ist, 18 widerspricht. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass die Seele ein nicht-physisches Prinzip ist, das wir für die Erklärungen einiger Dinge (neben unseren physikalischen Prinzipien) hinzuziehen. Den Wesen, denen die Bewegung aufgrund dieses Prinzips möglich sein soll, sind mit einem Begehrungs17

18

Vgl. u.a. Horstmann, Rolf-Peter, Kants Paralogismen, in: ders., Bausteine kritischer Philosophie, Bodenheim 1997, 79-107. Dies führt Kant in dem Abschnitt über die Mechanik in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft aus.

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vermögen ausgestattet. Wir können dieses Begehrungsvermögen an uns selbst beobachten und es anderen Wesen unterstellen, wenn unsere auf Beobachtungen ihrer Tätigkeiten basierenden Beschreibungen unter dieser Voraussetzung einen Erklärungsvorteil haben. Vorausgesetzt, wir verändern dadurch nicht unseren Naturbegriff, 19 haben wir keinen Grund, ein solches empirisch fundiertes Erklärungsprinzip nicht für sinnvoll zu erachten. Sollen nun wiederum einige dieser Wesen sich ihrer Identität über die Zeit hinweg bewusst werden können, so müssen sie noch mit einer anderen Begabung ausgestattet werden. Diese fasst Kant als das potentielle Vermögen, sich selbst in der Zeit zu bestimmen. Empirisches Bewusstsein meines eigenen Daseins besteht in der Bestimmung innerer Zustände in der Zeit. Damit ist aber wieder die Frage aufgeworfen: Muss ich nicht die Zustände als Zustände auffassen können, deren Träger ich bin oder die ich unterhalte? Tatsächlich scheint es, als müsste ich dafür das Ich als eine Substanz denken, die absolut beharrlich ist. Aber wir sind nicht in der Lage, dieser Rede von dem Ich als Substanz eine theoretische Rechtfertigung zu geben. Diesen uns schon aus der Untersuchung der Grundsätze der Kritik der reinen Vernunft vertrauten Gedanken nimmt Kant im Zusammenhang der Paralogismen wieder auf: Wir wissen nicht, wie Kant an der Stelle der zweiten Auflage in den Paralogismen sagt (KrV, B 420), ob wir als Substanz oder als Akzidenz existieren. Aufgrund der Grenze unserer Erkenntnismöglichkeit können wir uns unserer selbst nur in dem Sinne bewusst sein, dass wir unsere inneren Zustände zeitlich ordnen können. Dass die Grenze möglicher Erkenntnis die Bestimmung der inneren Zustände als Zustände einer Substanz ausschließt, versucht Kant in den Paralogismen dadurch als unproblematisch zu begründen, dass er auf die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung verweist und die Bestimmung innerer Zustände auf diese Weise mit der äußerer Gegenstände parallelisiert: Auch bei Gegenständen des äußeren Sinns wissen wir nicht, was sie an sich sind. Diese Argumentation von Kant ist in meinen Augen aber in gewisser Weise irreführend. Es gibt für den Transzendentalphilosophen einen wichtigen Unterschied der Bestimmung von inneren und äußeren Anschauungen: Bei Gegenständen des äußeren Sinns können wir der Rede von wechselnden Zuständen einen gehaltvollen (theoretischen) Sinn geben. Wir müssen und können sie als Zustände einer absolut beharrlichen Substanz bestimmen. Wann immer wir etwas im Raum Gege19

Dies wäre der Fall, wenn wir Organismen etwas wie ein Begehrungsvermögen unterstellen, um ihre Entstehung und ihre spezifische Form zu erklären, denn damit träte die Erklärung in Konkurrenz zu der von unbelebter Materie. Vgl. hierzu besonders KU, AA 5, 374f. Dies ist bei Erklärungen von Artefakten nicht der Fall. Vgl. hierzu Ginsborg, Hannah, Kant on Understanding Organisms as Natural Purposes, in: Watkins, Eric (Hg.), Kant and the Sciences, Oxford 2001, 231-258.

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benes als sich verändernd begreifen, beobachten wir nicht nur eine Veränderung, sondern wir setzen voraus, dass sich der Zustand von einer beharrlichen Substanz ändert: Wenn wir ein Urteil über den Rauch eines Feuers fällen, setzen wir voraus, dass selbst im Feuer die Materie nicht vergeht. 20 Dies gilt auch für jene Phänomene des äußeren Sinns, über die sich nicht a priori urteilen lässt, wie beispielsweise für chemische Zusammenhänge von Materien. Im Falle einer Veränderung innerer Zustände können wir dagegen offenbar nur sagen: wir beobachten den Wechsel unserer Zustände, ohne dass wir sagen können, wie diese Veränderung zu begreifen ist. Das heißt, folgt man dem Vorangegangenen: Wir können nicht bestimmen, von was diese Zustände Zustände sind. Das klingt allerdings, gerade dann, wenn man von den bisherigen Überlegungen absieht, überraschend. Denn man könnte vorschlagen, dass es ausreicht zu sagen, dass es meine Zustände sind. Zudem besteht über diese Zugehörigkeit zu mir hinaus die Möglichkeit ihrer zeitlichen Lokalisierung. Denn verschiedene Wünsche, die jemand über einen Zeitraum hinweg hat, kann er in eine zeitliche Ordnung bringen. Er kann dies, folgt man Kant, unter der Voraussetzung, dass er etwas dem äußeren Sinn Gegebenes als absolut beharrlich bestimmt. Nun könnte man angesichts dieses Vorschlags aber nachfragen, ob dies ausreicht, um zu sagen, dass wir Wünsche haben. Hier gilt es, die Rolle zu berücksichtigen, die Kant dem Ich in seiner Philosophie positiv zuschreibt: 21 Die Form der Zusammengehörigkeit innerer Zustände kann in dem Gedanken des „Ich denke“, das alle Vorstellungen begleitet, ausgedrückt werden. Dieser Gedanke ist aber nichts, was näher bestimmt werden kann, sondern er fungiert als eine transzendentale oder logische Voraussetzung. 22 Wir können also (im Rahmen der Kantischen Philosophie) tatsächlich sagen, dass wir bestimmte Vorstellungen unterhalten haben. Wir beziehen uns in dieser Rede dann allerdings auf eine transzendentale oder logische Bedingung unseres Denkens, nicht wie bei äußeren Anschauungen auf reale Objekte. Interessanter Weise gibt es einigen Grund (besonders mit Blick auf die zweite Auflage der Paralogismen der Kritik der reinen Vernunft) zu der Vermutung, dass Kant die einheitliche Tätigkeit des Denkens schließlich doch 20 21

22

Vgl. KrV, A 185/B 228. Dies geschieht (in den beiden Auflagen in unterschiedlicher Weise) in der Deduktion der Verstandesbegriffe (KrV, A 96ff/B 129ff), aber auch in den Paralogismen (KrV, A. 341ff/B 399ff). Vgl. hierzu u.a.: Rosefeldt, Tobias, Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffes von sich selbst, Berlin 2000. Den Unterschied von transzendentaler und logischer Voraussetzung kann ich hier nicht erörtern. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass dieser Unterschied als wichtiger Baustein einer entscheidenden Wende zwischen der ersten und der zweiten Auflage der Paralogismen gedeutet werden kann, vgl.: Horstmann, Rolf-Peter, Kants Paralogismen, in: ders., Bausteine kritischer Philosophie, Bodenheim 1997, 79-107.

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als etwas ansehen wollte, das wir in irgendeiner Weise auch wahrnehmen können. Ich kann hier nicht näher diskutieren, ob Kant diese Annahme tatsächlich machen wollte. 23 Aber man kann sich vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen gut verständlich machen, worin die Attraktivität einer solchen Annahme bestehen würde. Denn wenn man sein Urteil über innere Zustände auf Beobachtung gründet, könnte man, ohne die Möglichkeit der Wahrnehmung davon, dass man diese Gedanken unterhält, nur sagen, dass die Einheit ihres Denkens eine transzendentale oder logische Voraussetzung darstellt. Eine bloß transzendentale oder logische Voraussetzung würde aber kaum das Gefühl vermitteln können, tatsächlich derjenige zu sein oder als derjenige zu existieren, der die verschiedenen Gedanken hat. Würde man dagegen zusätzlich zu dem Gedanken „Ich denke“ eine Wahrnehmung oder ein Gefühl der eigenen Tätigkeit zulassen, so hätte die Rede davon, dass ich selbst Vorstellungen oder Gedanken habe, auch eine phänomenale Basis.

4. Wie können wir über innere Zustände reden? Ausgangspunkt dieses Aufsatzes war die Frage, wie wir über innere Zustände reden können. Was heißt es, über eine innere Vorstellung, beispielsweise eine Wunschvorstellung, zu sagen, sie dauere in der Zeit, sie verursache eine Handlung, sie sei durch Abwägen von Gründen veränderbar? Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist, so hat sich ergeben, dass wir dieser Rede einen ganz anderen Sinn geben müssen als bei Gegenständen oder Phänomenen des äußeren Sinns. Bei inneren Zuständen können wir zwar mit Recht sagen, dass wir sie in der Zeit ordnen können. Die in der Zeit bestimmten inneren Zustände nennt Kant innere Erfahrung. Wir können darüber hinaus auch sagen, dass wir innere Zustände haben, insofern sie durch das „Ich denke“ begleitet werden. Wir können die inneren Zustände dadurch aber nicht objektiv bestimmen. Können wir sie dann beispielsweise als in Ursache-Wirkung Relation stehend auffassen? Es stellt sich hier zunächst die Frage, ob eine derartige Rede über innere Zustände überhaupt sinnvoll ist. 24 Ich denke, es spricht in der Kantischen Philosophie nichts dagegen, dass wir so reden können, als gäbe es bei inneren Zuständen Ursache-Wirkungsbeziehungen. Man 23

24

Vgl. Emundts, Dina, Die Paralogismen und die Widerlegung des Idealismus in Kants „Kritik der reinen Vernunft“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), 295-309, hier 304-306. Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die innere Erfahrung hier nur als Bestandteil der theoretischen Philosophie untersucht wird.

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könnte sagen: Wenn wir durch Prinzipien, die wir aufgrund von Beobachtung einführen, wie dem Begehrungsvermögen, etwas erklären können, was wir sonst nicht erklären könnten, ist es auch sinnvoll, dies zu tun. Von der Frage, ob die soeben ausgeführte ‚gegenständliche‘ Rede über innere Vorstellungen sinnvoll ist, ist die zu unterscheiden, ob sie rechtmäßig ist, das heißt, ob sich der Gegenstandsbezug rechtfertigen lässt. Dies ist den vorstehenden Überlegungen zufolge nicht der Fall. 25 Wir können daher nicht sagen, dass diese Erklärungen zu denen der äußeren Anschauungen analog sind. Dies nicht nur deshalb nicht, weil faktisch unsere Überprüfungsmöglichkeiten bei inneren Zuständen nicht an die äußerer Phänomene herankommen. Unterschieden sind diese Erklärungsvorschläge vielmehr auch dadurch, dass uns die Mittel fehlen, Ausdrücken wie „innere Ereignisse“ oder „innere Sachverhalte“ eine reale Bedeutung zu geben. Wir können innere Zustände nicht objektivieren, heißt: Wir können nicht sagen, dass sie objektiv so sind oder auch nur so sein könnten, wie wir sie beschreiben, wenn wir sie als Ereignisse beschreiben. Sie können nicht als reale Bestandteile der Erfahrungswelt aufgefasst werden. Denn dafür müssten sie als objektiv bestimmbare Zustände einer Substanz aufgefasst werden können. Zu sagen, wir erkennen, dass ein Wunsch tatsächlich eine Veränderung in der Welt verursacht, würde nur Sinn machen, wenn wir den Wunsch als Zustand eines Objekts auffassen könnten, das in durchgängiger Wechselwirkung mit anderen Objekten steht. Da wir dies nicht behaupten können, können wir nur sagen, dass wir Gegenstände (Artefakte) in ihrer Form als durch mentale Vorstellungen bedingt beschreiben können. Dass diese Beschreibung nicht unsinnig ist, ist dadurch gewährleistet, dass wir die Dinge nicht als Dinge an sich erkennen, es also möglich ist, dass eine Interaktion von Zuständen, die wir entweder als mental oder als physisch betrachten müssen, auf für uns unerklärliche Weise vonstatten geht. Angesichts dieser Überlegungen zur Rechtmäßigkeit der gegenständlichen Rede über innere Vorstellungen ist allerdings ein Einwand zu bedenken. Man könnte nämlich einwenden, dass die Rede von einer inneren Vorstellung als Ursache (und ähnliche Urteile) nur dann sinnvoll sein kann, wenn sie auch rechtmäßig ist. Dieser Einwand ist aber wie folgt zurückzuweisen: Unsere Begriffe von Ursache-Wirkung usw. haben ihre 25

Die hiermit verbundene Frage, ob man sich bloß subjektive Vorstellungen zuschreiben kann, behandelt: Klemme, Heiner, Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis (Kant-Forschungen Band 17), Hamburg 1996, 192. Er vertritt die These, dass sich jede Vorstellung in eine objektive überführen lassen muss, macht aber auch auf die damit verbundenen Probleme aufmerksam. Wie aus meinen Überlegungen oben hervorgegangen sein sollte, denke ich, dass man der Rede von „objektiv“ bei inneren Vorstellungen einen anderen Sinn als bei äußeren Anschauungen geben muss, genauer: die Objektivierung innerer Vorstellungen ist derivativ und setzt die äußerer Anschauungen voraus.

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rechtmäßige Anwendung bei Gegenständen des äußeren Sinns. Wir übertragen diese Rede auf Gegenstände des inneren Sinns, selbst wenn sie hier nicht als rechtmäßig zu erweisen ist. Die Rede von inneren Vorstellungen als Ursache etc. ist eine derivative Redeweise. Bedenken wir, dass diese Urteile nicht objektiv sind, können wir sie ohne weiteres fällen. Wenn wir, wie Kant dies tut, daran festhalten, dass wir durch Hypothesen über Kausalverhältnisse den Zusammenhang von inneren Zuständen zueinander und zu äußeren Gegenständen erklären können, dann ist die Bedeutung von „erklären“ hier sehr schwach aufzufassen. Die hier behaupteten Unterschiede der Bestimmbarkeit von Gegenständen der inneren und äußeren Anschauung lassen sich, wie die anfangs zitierte Stelle aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (MAN, AA 4, 471) suggerieren könnte, als ein Unterschied im Grad der Wissenschaftlichkeit beschreiben. Angemessener erscheint allerdings zu sagen, dass die Erklärungen des dem inneren Sinn Gegebenen eine andere Art der Wissenschaftlichkeit haben als alle Erklärungen des Gegenstandes des äußeren Sinns. 26 Sie sind nämlich eine Art Beschreibungskunst. Empirische Psychologie verstanden als das Aufstellen von Hypothesen, die dazu nützlich sind, dass die Beschreibung von Zusammenhängen von Gemütszuständen verständlich ist, können wir betreiben.

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Eine Besonderheit bilden hier die Organismen, davon kann hier aber abgesehen werden.

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Das Problem des Sich-Orientierens nach Kant Werner Stegmaier

‚Orientierung’ ist heute ein allgegenwärtiger Begriff ebenso im alltäglichen wie im wissenschaftlichen und, besonders, im philosophischen Sprachgebrauch und dies in den meisten europäischen Sprachen. Er wird, gerade in der Philosophie, zumeist zur Definition anderer Begriffe gebraucht, ohne selbst definiert zu werden und ist damit ein Letzt- und Grundbegriff. 1 In der Sache ist das auch richtig, in doppeltem Sinn: Zum einen geht Orientierung tatsächlich allen Definitionen voraus – man muss bereits ‘orientiert’ sein, um etwas definieren zu können –, zum andern ist Orientierung gerade dann erfolgreich, wenn sie nicht fraglich, nicht problematisch, nicht definitionsbedürftig ist, sondern unauffällig bleibt. Wird sie fraglich, gelingt sie meist schon nicht mehr. Denn Problematisierung ist, zumindest im Alltag, schon die Folge von Desorientierung. Doch Philosophen lassen sich davon natürlich nicht beirren. Sie nehmen Desorientierungen zum Anlass von Reflexionen, hier also der Reflexion der Orientierung selbst. Und das ist in der Sache wiederum richtig. Denn wenn Orientierung allem Begreifen vorausgeht, dann ist sie es, in der sich – weitgehend fraglos – entscheidet, was überhaupt und wie es zu begreifen ist, dann ist (1) 2 Orientierung der Anfang nicht nur aller Entscheidungen im Leben, sondern auch in der Wissenschaft, und dann kommt philosophisch alles auf ihre Klärung an. In der philosophischen Klärung der Orientierung sind schon bedeutsame Schritte gemacht worden, 3 und den bedeutsamsten Schritt hat zweifellos auch hier Kant gemacht. Er hat in seiner kleinen Schrift von 1786 1 2

3

Vgl. etwa die neue bahnbrechende Monographie von Josef Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin/New York 2003. Im Folgenden werden 18 Thesen zum Problem des Sich-Orientierens (nicht nur) bei Kant formuliert, fortlaufend nummeriert und durch Kursive hervorgehoben. Vgl. Verf., Art. Orientierung, in: Enzyklopädie Philosophie, unter Mitwirkung von Detlev Pätzold, Arnim Regenbogen und Pirmin Stekeler-Weithofer hg. v. Hans Jörg Sandkühler, 2 Bde., Hamburg: Meiner 1999, Bd. 2, 987-989, und ders., Art. Weltorientierung, Orientierung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel/Darmstadt 2005, Sp. 498-507.

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„Was heißt: Sich im Denken orientieren?” den Begriff der Orientierung kritisch und gründlich durchdacht, so kritisch und gründlich wie niemand mehr nach ihm, hat ihn jedoch nicht selbst in die Philosophie eingeführt. Das tat Moses Mendelssohn, und er tat es nicht freiwillig, sondern auf eine Nötigung hin. Der Jude Mendelssohn, der sich hohe Anerkennung als Aufklärer erworben hatte, wollte mit Hilfe des Orientierungs-Begriffs den Streit um Glauben und Vernunft schlichten, in den ihn der Christ Friedrich Heinrich Jacobi hineingezogen hatte, den so genannten Pantheismus- oder Spinozismus-Streit. 4 Anlass war die Frage, ob Mendelssohns verstorbener enger Freund Lessing (er hatte Mendelssohn zum Vorbild seines Nathan gemacht), der die Entscheidung zwischen Vernunft und Glauben durch Toleranz zu vermeiden gesucht hatte, Spinozist war – das hieß nach damaligen Verständnis Atheist, und Atheismus war damals noch ein existenzgefährdender Vorwurf. Daran traten bereits zwei Charakteristika der Orientierung hervor. Zum einen ist (2) für alle Orientierung charakteristisch, dass sie aus einer Nötigung hervorgeht, aus einem Handlungsdruck in einer Situation, die man jedoch nicht hinreichend übersehen kann. Zum andern ist es (3) bis heute eine wichtige Funktion des philosophischen Orientierungs-Begriffs geblieben, im Streit um Glauben und Vernunft zu vermitteln. 5

4

5

Zum Verlauf der Debatte vgl. Benno Erdmann, Kant's Kriticismus in der ersten und zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Eine historische Untersuchung, Leipzig 1878, Nachdruck Hildesheim 1973, 118-128 u. 143-148, Karl Vorländer, Einleitung zu: I. Kants Kleinere Schriften zur Logik und Metaphysik, 2. Abt.: Die Schriften von 1766-1786, Leipzig 1905 (Philos. BibI. Bd. 46b), xxvii-xxxviii, Heinrich Scholz (Hg.), Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, Berlin 1916, Hermann Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. 1: Die Spinozarenaissance, Frankfurt am Main 1974, Kurt Christ, Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits, Würzburg 1988, Yirmiyahu Yovel, Mendelssohns Projekt: Vier Herausforderungen, in: Werner Stegmaier (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt am Main 2000, 331-350, und Eva Schürmann, Norbert Waszek und Frank Weinreich (Hg.), Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, bes. Teil II: Aspekte des ‘Spinoza-Streits’, 171-325. – Eine ebenso historisch gründliche wie sachlich aufschlußreiche Aufarbeitung nicht nur des Spinozismusstreits, sondern auch der Spinoza-Rezeption in Deutschland davor und danach liegt vor in Rüdiger Otto, Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a. 1994. S. dort auch die weitere, von Otto sorgfältig ausgewertete Literatur. – In allen genannten Darstellungen bleibt das Philosophem der Orientierung im Hintergrund. In den Vordergrund gerückt hat es inzwischen Bernhard Jensen, Was heißt sich orientieren? Von der Krise der Aufklärung zur Orientierung der Vernunft nach Kant, München 2003, leider auf eine, gemessen an Ottos Arbeit, historisch nachlässige und, gemessen an den früheren Arbeiten, begrifflich wenig sorgfältige Weise. Dalferth, Ingolf U., Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, und dazu Verf., Gott zur Orientierung. Aus Anlaß von Ingolf U. Dalferths Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 30.1 (2005), 97-107.

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Zuvor war ‘Orientierung’ nur ein geographischer Begriff. Der einschlägige Band von ZEDLERS Grossem vollständigen Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste aus von 1740, dem Jahr, als Kant zu studieren begann, führte ‘orienter’ noch als französisches Fremdwort an – Frankreich war damals führend in der Herstellung geographischer Karten: ORIENTER, heisset bey denen Frantzosen so viel, als auf einem Riße durch Einzeichnung eines Compaßes, oder auch nur einer Magnet-Nadel bemercken, wie der Platz gegen die Gegenden der Welt, als Morgen, Mittag, Abend und Mit6 ternacht lieget.

‘Riss’ ist der Aufriss eines Geländes auf festem, handlichem ‘carton’, einer ‘Karte’. Auf ihr wurde ein ‘Kompass’ eingezeichnet und darin die Himmelsrichtungen markiert (‘bemerckt’), und mit dem gezeichneten Kompass auf der Karte konnte die Karte dann nach dem Sonnenstand oder mit Hilfe eines weiteren, echten Kompasses ausgerichtet werden. ‘Orientieren’ ist hier also noch nicht reflexiv gebraucht, und die Substantivierung ‘Orientierung’ wird sich erst viel später, um 1830, einbürgern. Halten wir wiederum fest: (4) Orientieren heißt zunächst Ausrichten von etwas, besonders einer Karte, eines Orientierungsmittels, in eine Richtung, in der man etwas suchen und finden kann, unter anderem ein Ziel, das man erreichen will. ‘Orientierung’ ist also nicht schon ‘Zielorientierung’, ‘Intention’. 7 Der Spinozismus-Streit war ein Streit um die rechte Ausrichtung zu Gott, und darin war er einerseits ein Streit zwischen Religion und Philosophie, andererseits ein Streit unter den Religionen, soweit sie mit der Philosophie, und zwischen den Philosophien, soweit sie mit den Religionen vereinbar sein sollten. Es war Mendelssohns Lebenswerk gewesen, zu zeigen, dass das Judentum mit der Vernunft vereinbar war – mehr noch als das Christentum und ohne dass das Judentum als ein Glaube im christlichen Sinn eines Bekenntnisses verstanden werden sollte. So bedrohte der Angriff Jacobis, der auf dem Glauben als rechter Ausrichtung auf Gott bestand, nicht nur das Ansehen Lessings, sondern zugleich Mendelssohns Lebenswerk, und der Jude Mendelssohn musste sich gegenüber dem Druck des Christen Jacobi umsichtig verhalten, um es nicht noch mehr zu gefährden. Er lehnte auch die Philosophie des Juden Spinoza, des Juden, der ihretwegen aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams verbannt worden war, nicht rundweg ab. Er ging stattdessen den Weg, sich auf den „gesunden Menschenverstand” zu berufen und den Spinozismus eine 6

7

[Johann Heinrich Zedler], Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste, welche bisshero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden […], 64 Bde. [Bde. 19 bis 64 hg. von Carl Günther Ludovici], Halle/Leipzig (Johann Heinrich Zedler) 1732-1750, Bd. 25 (1740), Sp. 1888. Vgl. Sommer, Manfred, Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen, Frankfurt am Main 2002.

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überzogene „Spekulation” oder „Sophisterey” zu nennen, Lessings Spinozismus aber als „geläuterten” und darum vernünftigen Pantheismus darzustellen. Er verschob so die für ihn und das Ansehen seines verstorbenen Freundes bedrohliche Alternative von Glaube und Vernunft auf die ungefährliche Alternative von gesundem Menschenverstand und spekulativer Vernunft, die nicht als ausschließende Alternative verstanden werden musste, – und führte den Begriff des Sich-Orientierens ein: So oft mich meine Spekulation zu weit von der Heerstraße des Gemeinsinns abzuführen scheint, so stehe ich still und suche mich zu orientiren. Ich sehe auf den Punkt zurück, von welchem wir ausgegangen, und suche meine beiden Wegwei8 ser zu vergleichen.

Mendelssohn gebrauchte den Begriff nun reflexiv und metaphorisch (er führte ihn im Rahmen einer allegorischen Traum-Erzählung ein). Er dachte das Sich-Orientieren so, dass der gesunde Menschenverstand, wo nötig, die Spekulation orientiert, indem er ihr den ‘Weg weist’ – Mendelssohn metaphorisierte so die geographische Bedeutung –, und die Spekulation, wo nötig, den gesunden Menschenverstand korrigiert, indem sie ihm Kriterien gibt, die Richtigkeit des Weges zu überprüfen. Reflexiv war der Gebrauch nun, weil es sich ja bei beidem, dem gesunden Menschenverstand und der Spekulation, um die eine Vernunft handelt, die sich orientiert, sich im rechten Weg aber irren und ihn nur im Zusammenspiel ihrer beiden Spielarten, des gesunden Menschenverstands und der spekulativen Vernunft, finden kann. (5) Im Sich-Orientieren richtet sich nach Mendelssohn eine Vernunft aus, die ihre gelegentlich irrenden Kräfte in Übereinstimmung bringt, ohne für diese Übereinstimmung ein übergeordnetes Kriterium zu haben, die also zwischen ihren Kräften entscheidet. Mendelssohn hatten Jacobis Angriffe so zu schaffen gemacht, dass sie seinen Tod beschleunigten. 9 Er starb in den ersten Januartagen 1786 in Berlin. Kant, der mit Mendelssohn in großer gegenseitiger Achtung verbunden war, auch wenn sie philosophisch vieles trennte,10 nahm, von 8

9

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Mendelssohn, Moses, Morgenstunden, in: Mendelssohn, Moses, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. von Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971 ff. [= JA], Bd. III/2 (1974), 82. Vgl. das Vorwort des Herausgebers der Schrift Moses Mendelssohn, An die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobi Briefwechsel über die Lehre des Spinoza, in: Mendelssohn, Moses, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. von Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971 ff. [= JA], Bd. III/2 (1974), 179 ff., und Brandt, Reinhard, Immanuel Kant: „Über die Heilung des Körpers, soweit sie Sache der Philosophen ist.” Und: Woran starb Moses Mendelssohn?, in: Kant-Studien 90 (1999), 354-366. Mendelssohn hatte im „Vorbericht” der Morgenstunden Kant wohl den „alles zermalmenden” genannt (JA III/2, 3), an der viel zitierten Stelle aber vorausgeschickt, dass ihm seine seit vielen Jahren anhaltende „Nervenschwäche” „das Lesen fremder Gedanken” erschwere, so dass die Philosophie für ihn noch auf dem „Punkt” von etwa 1775 stehe. Er wisse, dass seine Philosophie „nicht mehr die Philosophie der Zeiten” sei, dass die „Schule”, in

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vielen Seiten dazu gedrängt,11 nach Mendelssohns Tod die Kontroverse auf. Er hatte sich dabei auch selbst des Spinozismus-Verdachts zu erwehren, da Jacobi seine (im übrigen durchaus aufklärende) SpinozaDarstellung mit Zitaten aus der Kritik der reinen Vernunft untermauert hatte.12 Kant befürchtete von Jacobis Glaubenseifer ein neues Überhandnehmen der „Schwärmerei”, die schließlich, nach dem zu erwartenden Tod Friedrichs des Großen (er starb dann am 17. August 1786), obrigkeitliche Maßnahmen gegen „die Freiheit zu denken” überhaupt auslösen und „dieses Unglück noch dazu dem übrigen, schuldlosen Theile über den _____________

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der er sich „gebildet” habe, „vielleicht allzu eigenmächtig herrschen wollte” und mit ihrem „Despotismus” nun „zur Widersetzlichkeit” reize. Der „Hang zum Materialismus” einerseits und „zur Schwärmerey” andererseits, der so eingerissen sei, erfordere „eine allgemeine Umwälzung”, die freilich „beßren Kräften” vorbehalten sei: denen Kants. Vgl. den Brief von Marcus Herz an Kant vom 27. Febr. 1786, Akademie-Ausgabe [= AA] 10, 431f.: „Was sagen Sie denn zu dem Aufruhr der seit und über Moses Tod unter Predigern und Genies, Teufelsbannern und possigten Dichtern, Schwärmern und Musikanten begint, zu dem der GeheimRath zu Pimplendorf [sc. Jacobi] das Zeichen gab? Wenn doch ein Mann wie Sie diesem lumpigten Schwarm ein einziges ernsthaftes: stille da!: zuriefe; ich wette, er würde zerstreut wie Spreu vom Winde. […] Es heißt hier schon seit einiger Zeit, daß Sie wider Jacobis Schrift einige Bogen drucken lassen, welches mir um so wahrscheinlicher ist, da Sie Moses letzten Brief unbeantwortet gelassen. Wenn es Ihnen doch gefiele, bey der Gelegenheit zum Besten Ihres verstorbenen Freundes wider die gegenwartigen und vermuthlich noch aufstehenden unvernünftigen Jacobiten etc. Etwas zu sagen!” Kant wurde dazu auch dringlich und wiederholt von Johann Erich Biester, einem der Redakteure der Berlinischen Monatsschrift, aufgefordert (vgl. AA 8, 483). Hamann hatte sich erzählen lassen und Jacobi geschrieben, Kant habe sich bei einer Einladung in dieser Richtung geäußert und sei „bis zur Schwärmerey von M.[endelssohns] Originalgenie und seinem Jerusalem eingenommen gewesen. Das erste soll er in die Geschicklichkeit gesetzt haben, mit der M. die Kunst sich jedes Umstandes zu Nutz zu machen gewußt, jede Hypothese in ihr günstiges Licht zu setzen.” (Johann Georg Hamann, Brief vom 9. April 1786 an Friedrich Heinrich Jacobi, in: ders., Briefwechsel, Bd. 6, hg. v. Arthur Henkel, Frankfurt am Main 1975, 349). Vgl. Kühn, Manfred, Kant. Eine Biographie. Aus dem Engl. v. Martin Pfeiffer, München 2003, 369. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785, jetzt in: Ders., Werke. Gesamtausgabe [= WGA], hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Bd. I/1: Schriften zum Spinozastreit, Hamburg/Stuttgart 1998, 96, 105 u.ö., und dazu I/2, 436f. – Kant reagierte darauf so, daß er in einer Anmerkung zur Orientierungs-Schrift Punkte geltend machte, in denen der „Spinozism” „dogmatisch” sei und daher im Gegensatz zu seiner Kritik stehe – in seiner mathematischen Beweismethode, seiner (so Kant) Hypostasierung des Denkens und seiner Anmaßung einer Erkenntnis aus bloßer Vernunft, die „gerade zur Schwärmerei” führe. Er verurteilte ihn nicht als solchen (AA 8, 143f.). Zu Jacobi schrieb Kant an Marcus Herz am 7. April 1786 (AA 10, 442): „Die Jacobische Grille ist keine ernstliche, sondern nur eine affectirte Genieschwärmerey, um sich einen Nahmen zu machen, und ist daher kaum einer ernstlichen Wiederlegung [!] werth. Vielleicht, daß ich etwas in die Berl. M. S. einrücke, um dieses Gaukelwerk aufzudecken.” In der Orientierungs-Schrift spricht Kant (ohne Jacobi beim Namen zu nennen) von „Genies”, die mit ihren „freien Schwüngen” „aller Schwärmerei, Aberglauben, ja selbst der Atheisterei eine weite Pforte” öffnen (Was heißt: Sich im Denken orientiren?, AA 8, 144 und 143).

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Hals ziehen” könne.13 Die Bedrängnis, in die die „Mendelssohn- und Jacobi'sche Streitigkeit”14 die Aufklärung gebracht hatte, war, so Kant, nur durch „Kritik” abzuwenden,15 und so war sie für Kant zugleich eine Gelegenheit, die Leistungsfähigkeit seiner bisher wenig verstandenen Kritik unter Beweis zu stellen. (6) Auch das gehört zur Orientierung: die Fähigkeit, Gelegenheiten wahrzunehmen – im doppelten Sinn: sie zu sehen und sie zu ergreifen. Kant machte Mendelssohns vom Geographischen ins Philosophische verschobenen Begriff des Sich-Orientierens zum Gegenstand und Titelbegriff seiner kleinen Schrift Was heißt: Sich im Denken orientiren?, die in der Berlinischen Monatsschrift vom Oktober 1786 erschien. (7) Er gebrauchte den Begriff des Sich-Orientierens im wesentlichen nur hier, in einer Schrift, die, nach seiner Unterscheidung der Philosophie nach dem ‘Schulbegriff’ und nach dem ‘Weltbegriff’, für die ‘Welt’, nicht nur für die ‘Schule’ bestimmt war. In der 2. Auflage seiner Kritik, die er zu derselben Zeit vorbereitete,16 gebrauchte er ihn nicht und auch später kaum mehr. Das heißt: er behielt ihn Mendelssohn und der Auseinandersetzung mit ihm vor. (8) Der Orientierungs-Diskurs hatte als Diskurs aus persönlicher Verpflichtung begonnen (Mendelssohn verteidigte seinen verstorbenen Freund Lessing), und Kant setzte ihn so fort (er verteidigte den verstorbenen hochgeschätzten jüdischen Aufklärer Mendelssohn), und beide führten ihn als argumentatio ad hominem, als Argumentation gegen einen bestimmten Gegner, hier Jacobi. Nach der Transzendentalen Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft hat es die argumentatio ad hominem „nicht mit der Zensur des Richters, sondern den Ansprüchen ihres Mitbürgers zu tun”. Sie bestehe in der „Rechtfertigung“ gegenüber einem andern (kat' ánthropon), sofern er „dogmatisch“ Wahrheitsansprüche erhebe, nicht nach der Wahrheit (kat' alétheian), die niemand für sich in Anspruch nehmen könne,17 und der „Gebrauch” der Vernunft ist dann, so Kant, „polemisch” (was für ihn ‘kämpfend’, nicht ‘herabsetzend’ hieß). (9) Im 13 14 15 16

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WDO, AA 8, 147. Ebd., 134. Ebd., 138. Vgl. Hamann, Brief vom 25./26. März 1786 an Friedrich Heinrich Jacobi, in: Briefwechsel, Bd. 6, a.a.O., 330. Vgl. Simon, Kant, (s. Anm. 1), 453f. (mit Bezug auf Kants Stellung zu Mendelssohns Judentum). Nach Simon ist „eine auch sich selbst gegenüber kritische Philosophie” sich nicht nur bewusst, „daß sie keinen übergeordneten, von ihrer [eigenen] geschichtlichen Bedingtheit unabhängigen Begriff von Religion geben kann” (455), sondern in allen Punkten von einem geschichtlich bedingten Standpunkt ausgeht. Darum muss im Prinzip stets, „so wie Kant es in allen wichtigen Punkten selbst unternimmt, ad hominem argumentiert werden, d.h. gegen eine andere Person, die ihren Standpunkt absolut setzt, weil sie seinen begrenzten Horizont nicht bemerkt.” (301). In einer argumentatio ad hominem werde aber ebenso „die andere Perspektive und der andere Sprachgebrauch einer fremden Vernunft” gegen den eigenen, möglicher-, weil unerkannterweise ebenfalls dogmatischen Anspruch geltend gemacht (545).

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Blick auf das Problem der Orientierung nimmt Kant den Anspruch auf Wahrheit in der Sache zurück in einen Anspruch auf Wahrheit in der Kommunikation. Er unterstellt damit nicht schon den gemeinsamen Besitz einer Vernunft, sondern unterscheidet, entsprechend der von ihm formulierten Maxime der Aufklärung, sich des „eigenen Verstandes zu bedienen”, die „eigene” von „fremder Vernunft”.18 Kant aber verteidigte Mendelssohn nur als Aufklärer. Soweit auch er dogmatische Ansprüche erhob, setzte er sich mit ihm hart auseinander mit dem Ziel, eine kritische Entscheidung im Streit um Glauben und Vernunft herbei- und dazu nun (10) seine Kritik der reinen Vernunft als Kriterium ins Feld zu führen. Auf ihrer Grundlage wollte er die Bedingungen der Möglichkeit der Vernunft darzulegen, sich selbst zu orientieren, und damit zuletzt auch die „Festigkeit des Glaubens” sichern.19 Aber dabei verschoben sich die Parameter seiner Kritischen Philosophie. Kant kritisierte an Mendelssohn, er habe, wenn er „den schlichten Menschenverstand” zum „Leitungsmittel” des „spekulativen Vernunftgebrauchs” mache, die „Gränze, wo sie [die Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch] stehen bleiben muß”, nicht angeben können20 und so auch „die gemeine gesunde Vernunft” selbst gegenüber der „Speculation” in „Zweideutigkeit” belassen, was eben „zum Grundsatze der Schwärmerei und der gänzlichen Entthronung der Vernunft” dienen könne.21 Die Vernunft 18

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Simon, Kant, (s. Anm. 1), der auf diese Differenz bei Kant aufmerksam gemacht hat, hat dessen Philosophie im ganzen von ihr her neu erschlossen. – Welche Schwierigkeiten das traditionelle philosophische Kant-Verständnis damit hat, zeigt die Besprechung von Gunnar Hindrichs in: Philosophische Rundschau 51.2(2004), 111-115. WDO, AA 8, 141 Anm. Ebd., 138 Anm. Ebd,, 133f. – Für Kant konnte der „gesunde Menschenverstand” ohnehin, wie er bereits in den Prolegomena geschrieben hatte, kein „Leitungsmittel” für den „speculativen Gebrauch der Vernunft” sein, sondern lediglich eine letzte „Nothülfe”, auf die man sich „als ein Orakel beruft”, „wenn man nichts Kluges zu seiner Rechtfertigung vorzubringen weiß”; auch der „schalste Schwätzer” könne damit „ohne alle Einsicht trotzig tun” und es „mit dem gründlichsten Kopfe getrost aufnehmen” (Prol, AA 4, 259). – In seiner – jährlich vorgetragenen – Logik-Vorlesung hielt sich Kant dagegen an Mendelssohn. Es heißt dort: „Der gemeine Menschenverstand (sensus communis) ist auch an sich ein Probirstein, um die Fehler des künstlichen Verstandesgebrauchs zu entdecken. Das heißt: sich im Denken, oder im speculativen Vernunftgebrauche durch den gemeinen Verstand orientiren, wenn man den gemeinen Verstand als Probe zu Beurtheilung der Richtigkeit des speculativen gebraucht.” (Log, AA 9, 57; vgl. auch FM, AA 20, 261 und 301). Gegen Ende der Prolegomena hatte er geschrieben: „Also kann man sich in der Metaphysik, als einer speculativen Wissenschaft der reinen Vernunft, niemals auf den gemeinen Menschenverstand berufen, aber wohl, wenn man genöthigt ist, sie zu verlassen und auf alles reine speculative Erkenntniß, welches jederzeit ein Wissen sein muß, mithin auch auf Metaphysik selbst und deren Belehrung (bei gewissen Angelegenheiten) Verzicht zu thun, und ein vernünftiger Glaube uns allein möglich, zu unserm Bedürfniß auch hinreichend (vielleicht gar heilsamer als das Wissen selbst) befunden wird.” (Prol, AA 4, 371) Hier weist er auf das spätere Orientierungs-Konzept voraus.

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muss sich nach Kant selbst klar begrenzen können. Zugleich aber bleibt auch Kant dabei, vom „Erfahrungsgebrauch” der Vernunft auszugehen, um das Sich-Orientieren zu einer wirklich „nützlichen Maxime” der Philosophie, „selbst im abstrakten Denken” zu machen. Er leitet seine Orientierungs-Schrift damit ein, dass „unsren Begriffen”, mögen wir sie „noch so hoch anlegen, und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahiren”, „doch noch immer bildliche Vorstellungen anhängen, deren eigentliche Bestimmung es ist, sie [die Begriffe], die sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum Erfahrungsgebrauche tauglich zu machen”. Die Philosophie ist nach Kant, anders als die Mathematik, auf „gegebene” Begriffe angewiesen, aus denen sie auch die „reinen” Verstandesbegriffe und „Regeln des Denkens” „herausziehen” müsse,22 und das tut sie, indem sie den gegebenen Wortgebrauch schrittweise „erweitert”, also entgrenzt. (11) In seiner philosophischen Reflexion der Orientierung geht Kant vom alltäglichen metaphorischen Sprachgebrauch aus. Auch ‘Sich-Orientieren’ ist eine Metapher, wo sie über den geographischen Gebrauch hinaus erweitert wird. Sie ist im Sinn von Hans Blumenberg eine ‘absolute Metapher’, sofern sie nicht „in Begrifflichkeit aufgelöst werden”, sondern nur wieder durch andere Metaphern „ersetzt bzw. vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden kann.”23 Die „eigentliche” Bedeutung von ‘Sich-orientieren’ ist nach Kant die geographische: Sich orientiren heißt in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gegebenen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont eintheilen) die übrigen, namentlich 24 den Aufgang zu finden.

Aber auch diese Bedeutung ist schon metaphorisch: ‘sich orientieren’ heißt ‘sich nach Osten ausrichten’, und der Osten war nicht nur wegen des Aufgangs der Sonne, sondern auch wegen der Ausrichtung der Kirchen dorthin bedeutsam. Zu Kants Zeit jedoch wurden Karten längst nach Norden ausgerichtet (und ‚septentrionalisieren’, wie man dann hätte sagen müssen, wäre fast unaussprechbar gewesen). Man kann von jeder „gegebenen Weltgegend” aus jede andere bestimmen, wenn man ihre Abfolge kennt und – Rechts und Links unterscheiden kann. Hier liegt das Anfangsproblem auch der geographischen Orientierung, und Kant stieß darauf schon weit früher, in seiner Abhandlung „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume” von 1768, ohne dass er dort den

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WDO, AA 8, 133. Blumenberg, Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960, Neudruck:], Frankfurt am Main 1998, 12f. WDO, AA 8, 134.

Das Problem des Sich-Orientierens nach Kant

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Begriff der Orientierung schon gebraucht hätte.25 Er zeigte dort, dass die Rechts-Links-Unterscheidung nicht nur Bedingung der Unterscheidungen der Himmelsrichtungen und der Orientierung im Gelände, in Städten, auf dem Meer usw., sondern auch beim Lesen von Schriften ist.26 So ist sie unauffällige Voraussetzung auch aller Wissenschaft. Das Merkwürdige an der Rechts-Links-Unterscheidung ist, dass trotz der „augenscheinlichsten Erfahrung”, dass rechte und linke Hand sich unterscheiden, sie sich nicht nach einem Kriterium unterscheiden lassen, weder im Denken noch in der Wahrnehmung.27 Man kann ‘rechts’ bekanntlich nur durch die Negation von ‘links’ definieren, und man kann zwar nach rechts und links, aber nicht Rechts und Links selbst sehen. Die Rechts-Links-Unterscheidung ist ohne Kriterium, sie ist, so Kant, „gegeben”, ohne verstanden werden zu können („dari, non intelligi”),28 und man kann ihren Gebrauch nur durch Einübung erwerben. „Gegeben” ist sie aber wiederum durch ein anderes „Gegebenes”: den Standpunkt, von dem aus man jeweils Rechts und Links (und ebenso Vorn und Hinten und Oben und Unten) unterscheidet.29 Der Standpunkt ist nach Kant der eines wahrnehmenden Körpers in der Welt.30 Denkt man sich, so Kant, Rechts und Links, Oben und Unten, Vorne und Hinten als „Durchschnittsflächen”, dann ist der Körper (bzw. sein Schwerpunkt) der Punkt, in dem sie sich „durchkreuzen” und von dem sie als Dimensionen ausgehen, und insofern ist er „der erste Grund 25

26

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Kaulbach, Friedrich, Immanuel Kant, Berlin 1969, 84-87, trägt die Begriffe ‘Orientierung’ und ‘Weltorientierung’ unbesehen in die Interpretation der frühen Schrift ein, mit der Folge, dass aus dem „absoluten” oder „reinen Raum” bei Kant ein „für die frühe Subjektivitätsphilosophie Kants” bedeutsamer Orientierungsraum wird. „Bei einem beschriebenen Blatte z.E. unterscheiden wir zuerst die obere von der unteren Seite der Schrift, wir bemerken den Unterschied der vorderen und hintern Seite, und dann sehen wir auf die Lage der Schriftzüge von der Linken gegen die Rechte oder umgekehrt.” (GUGR, AA 2, 379). Ebd., 383. MAN, AA 4, 484. In Aristoteles’ Kosmologie, nach der jeder Körper seinen ihm zugehörigen Ort im Kosmos hat, sind diese Unterschiede (noch) nicht auf einen Standpunkt bezogen (pròs hemâs kaì thései), sondern im Ganzen selbst unterschieden (en autô tô hólo dióristai [Physik III 5, 205b31-34]). Nach (dem Kant-Kenner) Hans Wagner (Aristoteles, Physikvorlesung, übers. von H.W., 4. Aufl. Berlin 1983, 519) bezieht sich thései auf „die Lagerelation zwischen Gefügegliedern”. Darin unterscheidet er sich vom transzendenten „Standpunkt”, „aus dem” der Vernunft „notwendig schwindlicht wird, weil sie sich […] von allem mit der Erfahrung stimmigen Gebrauch gänzlich abgeschnitten sieht” (KrV, A 689/B 717). Kant gebraucht den Begriff „Standpunkt” häufig, bes. in der KrV, in der Regel aber im übertragenen Sinn des Standpunkts einer Beurteilung. Der ‘bodenständige’ Sinn ist noch spürbar in GMS, AA 4, 425: „Hier sehen wir nun die Philosophie in der That auf einen mißlichen Standpunkt gestellt, der fest sein soll, unerachtet er weder im Himmel, noch auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt wird.” und in OP, AA 21, 348: „Vom Schwindeln aus einem hohen Standpunct u. der Seekrankheit”.

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[…], den Begriff der Gegenden im Raume zu erzeugen”.31 Doch sofern „wir alles, was außer uns ist, durch die Sinnen nur in so fern kennen, als es in Beziehung auf uns selbst steht”, ist „unser Körper” auch der Bezugspunkt aller sinnlichen Wahrnehmung.32 (12) In einer Philosophie der Orientierung ist vom Standpunkt eines sich orientierenden Körpers in der Welt auszugehen. Nur von ihm aus sind Rechts und Links zu unterscheiden; außer ihm ist die RechtsLinks-Unterscheidung, die Bedingung aller Orientierung in der Welt ist, ohne Kriterium. Der Standpunkt der Orientierung ist ein absoluter Standpunkt auch für das Denken, das nach Kant „die Handlung” ist, „gegebene Anschauung” durch Begriffe „auf einen Gegenstand zu beziehen”,33 sofern alle „gegebene Anschauung” auf diesen Standpunkt bezogen, zu ihm relativ ist. ‚Standpunkt’ aber ist wiederum eine absolute Metapher, sofern es sich einerseits nicht eigentlich um einen ‚Punkt’ handelt, auf dem man steht’, und andererseits auch die Meinungen, die jemand ‚vertritt’, auf einen metaphorischen ‚Standpunkt’ bezogen werden, der durch seine ganze bisherige Lebensgeschichte bedingt und insofern ebenfalls absolut ist. Sofern es für die Rechts-Links-Unterscheidung also kein objektives Kriterium gibt, weist Kant das „Urtheil der Gegenden” einem „Gefühl” zu, dem „verschiedenen Gefühl der rechten und linken Seite”.34 Aber auch dies ist noch eine Verlegenheitsauskunft. Denn Rechts und Links werden ja auch nicht auf irgendeine Weise gefühlt. Auch in der Orientierungs-Schrift von 1786 nimmt Kant die Rede vom „Gefühl” wieder auf, spricht nun aber von dem „Gefühl eines Unterschiedes an meinem eigenen Subject” (statt wie zuvor an „unserem Körper”). In seiner kurz zuvor (1785) publizierten Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hatte er allerdings (in Parenthese) die Berufung auf Gefühle zur Begründung von Erkenntnissen scharf zurückgewiesen: so leicht auch die Berufung auf selbigen ist, indem diejenigen, die nicht denken können, selbst in dem, was bloß auf allgemeine Gesetze ankommt, sich durchs Fühlen auszuhelfen glauben, so wenig auch Gefühle, die dem Grade nach von Natur unendlich von einander unterschieden sind, […] auch einer durch sein Gefühl 35 für andere gar nicht gültig urtheilen kann.

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GUGR, AA 2, 378f. Ebd. KrV, A 247/B 304. GUGR, AA 2, 380. GMS, AA 4, 442. – Erst in der Kritik der Urteilskraft, so Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001, 16f., wird Kant zu seiner Überraschung entdecken, dass empirische Erkenntnisse auch auf Gefühle begründet werden können und müssen: „Bei der Konzeption der kritischen Philosophie hatte Kant zunächst jedenfalls noch nicht damit gerechnet, daß die apriorische Ausstattung der Subjektivität die Sphäre der Emotionen berühren und an wenigstens einer Stelle sogar in sie hineinreichen könnte.” In der Reflexion der Orientierung ist Kant das früh klar geworden.

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So sagt er statt „Gefühl” dann „subjectiver Unterscheidungsgrund”, der, weil er ja nicht aus der Erfahrung stammt, „a priori” sei, und definiert dann (in einer Anmerkung) das Sich-im-Denken-Orientieren so: Sich im Denken überhaupt orientiren heißt also: sich bei der Unzulänglichkeit der objectiven Principien der Vernunft, im Fürwahrhalten nach einem subjectiven 36 Princip derselben bestimmen.

In der Kritik der reinen Vernunft ist er vom dogmatischen Ansatz bei der „Wahrheit” zum kritischen Ansatz beim „Fürwahrhalten” übergegangen. In der Transzendentalen Methodenlehre, auf die die Kritik hinausführt, hat er drei Modi des Fürwahrhaltens unterschieden, Meinen, Glauben und Wissen, die er auch in der Orientierungs-Schrift wieder aufnimmt.37 Unter „Glauben” versteht er dabei nicht nur ein religiöses, sondern jedes pragmatische Fürwahrhalten, das in einer Situation der Ungewißheit ausreicht, um sich zu einem Handeln zu entscheiden.38 Das Sich-im-DenkenOrientieren wäre danach als Glauben zu verstehen. Kants Definition des Glaubens in der Orientierungs-Schrift ist denn auch nahe an seiner Definition des Sich-Orientierens: Aller Glaube ist nun ein subjectiv zureichendes, objectiv aber mit Bewußtsein unzu39 reichendes Fürwahrhalten; also wird er dem Wissen entgegengesetzt.

Beim Sich-im-Denken-Orientieren entfällt das Definiens „mit Bewußtsein”, das mit dem „Denken” schon vorausgesetzt ist, und statt „Fürwahrhalten” steht „im Fürwahrhalten”. Das ist ein feiner, aber bedeutungsvoller Unterschied. Das Sich-Orientieren, auch im Denken, ist nicht eine Art des Fürwahrhaltens neben den übrigen, sondern eine Voraussetzung allen Fürwahrhaltens – sofern alles Fürwahrhalten, Meinen, Glauben und Wissen, im Sich-Orientieren unvermeidlich von einem Standpunkt ausgeht. (13) Der absolute Standpunkt, auf den alle Orientierung bezogen ist, ist für sie selbst nicht objektiv – weder zu beobachten noch zu begreifen. Der Standpunkt der Orientierung der Vernunft in der Welt ist ihr blinder Fleck.

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WDO, AA 8, 136 Anm. KrV, A 820-831/B 848-859; WDO, AA 8, 141. – Simon, Kant, (s. Anm. 1), hat die Modi des Fürwahrhaltens zum Schlüssel seiner Kant-Interpretation gemacht; zu ihrer Systematik vgl. bes. 131f. Vgl. KrV, A 824/B 852: „Der Arzt muß bei einem Kranken, der in Gefahr ist, etwas tun, kennt aber die Krankheit nicht. Er sieht auf die Erscheinungen, und urteilt, weil er nichts Besseres weiß, es sei die Schwindsucht. Sein Glaube ist selbst in seinem eigenen Urteile bloß zufällig, ein anderer möchte es vielleicht besser treffen. Ich nenne dergleichen zufälligen Glauben, der aber dem wirklichen Gebrauche der Mittel zu gewissen Handlungen zum Grunde liegt, den pragmatischen Glauben.” Gemeinsam ist dem religiösen und dem pragmatischen Glauben der Bezug auf ein letztlich Unerkennbares, dort Gott in seiner Unbegreiflichkeit, hier die Handlungssituation in ihrer Unüberschaubarkeit. WDO, AA 8, 141. Vgl. KrV, A 822/B 850.

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Kant spricht von einem „Mangel” der Vernunft, einem Mangel, den sie einsieht und den sie, als auf Begriffe drängende Vernunft zu „ergänzen”, „auszufüllen” oder „durch Analogien zu ersetzen” versucht.40 Er denkt darum das „Gefühl” des Sich-Orientierens von diesem Mangel her. Danach ist es nicht die Vernunft, die „fühlt”, sondern die Vernunft „wirkt” ein Gefühl, das „Gefühl des Bedürfnisses”: Die Vernunft fühlt nicht; sie sieht ihren Mangel ein und wirkt durch den Erkennt41 nißtrieb das Gefühl des Bedürfnisses.

Damit ist Kant vom Begriff des Gefühls zum Begriff des Bedürfnisses übergegangen,42 und das Sich-Orientieren, zu dem Mendelssohn vorgedrungen war, ist dann, so Kant, „nicht Erkenntniß, sondern gefühltes Bedürfniß der Vernunft”.43 Aber damit ist nun die Vernunft bedürftig: die Vernunft, auf deren Autonomie Kant in ihrem praktischen und freien Gebrauch so pocht, ist in ihrer Orientierung in der Welt bedürftig, sofern sie nämlich auf etwas angewiesen ist, das sie selbst nicht ausweisen und über das sie nicht verfügen kann. Kant zieht selbst daraus starke Folgerungen für die Legitimation von Erkenntnissen. Er räumt das „Recht des Bedürfnisses der Vernunft ein, als eines subjectiven Grundes etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objective Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf”. Es handele sich dann nicht um „freie Einsicht”, sondern um „abgenöthigte Voraussetzung”, und im Sich-Orientieren stehe somit „Bedürfniß für Einsicht”. Genauer: aus prinzipiellem Mangel an Einsicht bleibt „doch ein genugsamer subjectiver Grund der Annehmung [von etwas] darin, dass die Vernunft es bedarf: etwas, was ihr verständlich ist, voraus zu setzen, um diese gegebene Erscheinung daraus zu erklären, da alles, womit sie sonst nur einen Begriff verbinden kann, diesem Bedürfnisse nicht abhilft.”44 Kurz: (14) Das Bedürfnis nach Orientierung rechtfertigt nach Kant unausweisbare Annahmen. Das führt am Ende der Orientierungs-Schrift zu einem paradoxen Begriff, in dem der Gegensatz von Vernunft und Glauben, der den Orientierungs-Diskurs ausgelöst hatte, kurzgeschlossen ist, zu dem Begriff des „Vernunftglaubens”. Im „Raume des Übersinnlichen”, um den es, so Kant, in der „Mendelssohn- und Jacobi'schen Streitigkeit” ging, könne das „Leitungsmittel” weder der (religiöse) Glaube noch die (bloße) Vernunft, sondern nur dieser „Vernunftglaube” sein.

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Vgl. KrV, A 530/B 558, A 625/B 653, A 637/B 665, A 641/B 669, A 33/B 50. WDO, AA 8, 139f. Anm. Ebd., 136. Ebd., 139. Ebd., 137-139 mit Anm.

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Kant hatte ihn in seiner Kritik der reinen Vernunft als „moralischen Glauben” konzipiert.45 In seiner Orientierungs-Schrift rekonstruiert er ihn nun vom „geographischen” Verfahren der Orientierung aus auf dem Weg über ein „mathematisches” und ein „logisches” Verfahren, sich zu orientieren. Er „erweitert” oder entgrenzt dabei schrittweise den „Raum” der Orientierung. In dem, was er „sich […] mathematisch orientiren” nennt, sieht er zunächst einerseits von den „Weltgegenden” oder Himmelsrichtungen, andererseits von der sinnlichen Wahrnehmung ab. Er geht dabei von einem „gegebenen Raum” aus, in dem man im Sinn der frühen Schrift über die Gegenden im Raume die Lagebeziehungen vollständig kennt. Der Raum ist hier zum Beispiel „ein mir bekanntes Zimmer”, in dem ich, so Kant, „wenn ich nur einen einzigen Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtniß habe, anfassen kann”, auch im Finstern die übrigen finde. In der „mathematischen” Orientierung ist dabei dann auch vom sinnlichen Anfassen noch abzusehen. So bleibt nur noch der Rechts-Links-Unterschied vorausgesetzt: hätte mir jemand zum Spaße alle Gegenstände zwar in derselben Ordnung unter einander, aber links gesetzt, was vorher rechts war, so würde ich mich in einem 46 Zimmer, wo sonst alle Wände ganz gleich wären, gar nicht finden können.

Beim Verfahren, sich „überhaupt im Denken, d.i. logisch, zu orientiren”, wird, so Kant, auch noch von den Lagebeziehungen in einem „gegebenen Raum” abstrahiert. Damit ist „nach der Analogie” das „Geschäft der reinen Vernunft” erreicht, die „ganz und gar kein Objekt der Anschauung, sondern bloß Raum für dieselbe” vorfindet. „Raum” ist hier, wie schon zuvor, nicht die ‘reine Anschauungsform’ aus der Transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft, sondern ein weiter metaphorisch verschobener Raum, der „für uns mit dicker Nacht erfüllte Raum des Übersinnlichen”, und in diesem „Raum”, in dem sie keinerlei Anhaltspunkte außer sich selbst mehr hat, soll nun die Vernunft das „Recht” haben, sich „lediglich durch ihr eigenes Bedürfniß zu orientiren”.47 Kant wagt die Metaphorisierungen des „Raums” wohl deshalb, weil Mendelssohns Metapher der Orientierung einen Raum voraussetzt. Die „Zweideutigkeit”, in die Mendelssohn die Vernunft gebracht hatte, soll nun der Begriff des „Vernunftglaubens” beseitigen, der Begriff eines Glaubens, den die Vernunft, genötigt durch ihr Bedürfnis nach Orientierung, wagen muß, und dazu verhilft der metaphorisierte Begriff des Raumes. Die Nötigung liegt freilich nur, so Kant, beim „praktischen”, nicht auch beim „theoretischen Gebrauch” der Vernunft vor. Nach der Kritik der reinen Vernunft „wollen” 45 46 47

KrV, A 828f./B 856f. selbst. WDO, AA 8, 135. Ebd., 137.

– Am ausführlichsten behandelt er ihn in der Orientierungs-Schrift

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wir im Raum des Übersinnlichen wohl „urteilen” – also über die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes –, können und müssen es aber nicht. „Urtheilen müssen” wir dagegen im „praktischen Gebrauch” der Vernunft, der ebenfalls „rein” von allem Sinnlichen ist und in der „Vorschrift der moralischen Gesetze” besteht. Darum hat der „Vernunftglaube” nach Kant allein ein praktisches „Recht”. (15) Eine Philosophie der Orientierung nach Kant darf nicht theoretisch, sondern muss praktisch, bei der praktischen Nötigung der Vernunft zum Urteilen ansetzen und nach den dabei „abgenöthigten Voraussetzungen” fragen, in die sie dann keine „freie Einsicht” hat. Der Glaube, zu dem die Vernunft praktisch genötigt wird – nach Kant der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes, um den moralischen Kampf um Glückswürdigkeit mit der Hoffnung auf Glückseligkeit vereinbar zu machen –, ist dann kein Wissen, sondern ein Orientierungsmittel, ein Wegweiser oder Compaß, wodurch der speculative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände orientiren, der Mensch von gemeiner doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen Weg sowohl in theoretischer als auch in praktischer Absicht dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung, zum Grunde gelegt 48 werden muß.

(16) Der Vernunftglaube ist der „Compaß”, die „Karte” ist die Kritik. Sie legen nicht schon fest, was zu wissen und was zu tun ist, sondern umreißen nur den „Spielraum”49 dafür. (17) Der Ansatz bei der Orientierung läßt Spielräume für unterschiedliches Fürwahrhalten und so auch immer neue Übergänge im Meinen, Glauben und Wissen zu.50 Kant geht in pragmatischer Hinsicht ganz selbstverständlich von einer beweglichen, nicht von einer 'festen' Orientierung aus. In der Einleitung seiner regelmäßig gehaltenen Logik-Vorlesung hat er eine Vielzahl von „Horizonten” der Orientierung unterschieden und sie nach mehreren Gesichtspunkten eingeteilt. Die Einteilungen folgen keinem Prinzip und lassen sich nicht in ein System einfügen: sie sind empirisch, also im Zug der Orientierung selbst gewonnen. Das gilt insbesondere für die PrivatHorizonte mit ihren jeweiligen „Standpunkten”: Die Bestimmung des Privat-Horizonts hängt ab von mancherlei empirischen und speciellen Rücksichten, z.B. des Alters, des Geschlechts, Standes, der Lebensart 48 49

50

Ebd., 142. Kant selbst verwendet den Begriff des Spielraums theoretisch im Sinn eines Spielraums für Wahrheit und Irrtum, praktisch im Sinn eines Spielraums für die Erfüllung „weiter” oder „unvollkommener” Pflichten und ästhetisch im Sinn eines Spielraums der Einbildungskraft. Vgl. (u.a.) Log, AA 9, 25, Reflexionen zur Logik, AA 26, 269, Anth, AA 7, 225, und MS, AA 6, 390, 393 und 446. Ihr Spielraum lässt nach Kants sog. ‘vierter Kritik’, der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), auch Platz für unterschiedliche positive Religionen.

Das Problem des Sich-Orientierens nach Kant

221

u.dgl.m. Jede besondre Klasse von Menschen hat also in Beziehung auf ihre speciellen Erkenntnißkräfte, Zwecke und Standpunkte ihren besondern, jeder Kopf nach Maaßgabe der Individualität seiner Kräfte und seines Standpunktes seinen eigenen Horizont.

Und hier unterscheidet Kant dann auch einen „Horizont der gesunden Vernunft” und einen „Horizont der Wissenschaft”: Endlich können wir uns auch noch einen Horizont der gesunden Vernunft und einen Horizont der Wissenschaft denken, welcher letztere noch Principien bedarf, um 51 nach denselben zu bestimmen, was wir wissen und nicht wissen können.

Nur dieser letzte Horizont der Wissenschaft lässt sich, so Kant, „fixiren”.52 Aber auch dazu muss man genötigt sein, hier durch die Forderung der Objektivität an die Wissenschaft, die Kant gegen Hume neu beherzigte und der er mit seiner Kritik der reinen Vernunft nachzukommen suchte. (18) Unter dem Gesichtspunkt des Bedürfnisses der Vernunft nach Orientierung ist so auch die Kritik noch Teil einer umfassenden Kritischen Philosophie der Orientierung. Eine solche umfassende Kritische Philosophie der Orientierung, die Kant nicht mehr entwickelt hat, kann dann wiederum fragen, ob nicht auch die Rede von der ‘Vernunft’ eine ‘abgenötigte Voraussetzung’ ist, die Vernunft also ihrerseits ein Orientierungsmittel ist, das nur unter den Vorgaben der Orientierung zu gebrauchen ist, wie sie Kant ermittelt hat. Antworten darauf gehören jedoch nicht mehr hierher.53

51

52

53

Zu diesen individuellen Kräften gehören auch die „Gemütsgaben” Verstand, Urtheilskraft und Vernunft. In der Anthropologie stellt Kant ausführliche „Beobachtungen” an, „wie einer von dem andern in diesen Gemüthsgaben oder deren gewohnten Gebrauch oder Mißbrauch unterschieden ist, erstlich in einer gesunden Seele, dann aber auch in der Gemüthskrankheit.” (Anth, AA 7, 197). „Der rationale Horizont dagegen läßt sich fixiren, es läßt sich z.B. bestimmen, auf welche Art von Objecten das mathematische Erkenntniß nicht ausgedehnt werden könne. So auch in Absicht auf das philosophische Vernunfterkenntniß, wie weit hier die Vernunft a priori ohne alle Erfahrung wohl gehen könne?” (Log, AA 9, 41). Vgl. Verf. (Hg.), Orientierung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt am Main 2005, und ders., Philosophie der Orientierung (in Vorbereitung).

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Kant als Aufklärer und Pädagoge

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Kant als Aufklärer und Pädagoge. Zur Aktualität einer Philosophie des kritischen SelberDenkens Christa Runtenberg

Kants Philosophie, vor allem die Philosophie der drei großen Kritiken, begründet im Zeitalter der Aufklärung, wie Kant selbst sagt, einen Begriff der Kritik, der in der gegenwärtigen Philosophie zugleich prominent und umstritten ist. Es geht Kant in seinen Kritiken um die Selbstbegründung der Vernunft und die Grenzen des Vernunftgebrauchs. Kant spricht immer wieder vom „Gerichtshof der Vernunft“, vor dem alle Streitigkeiten sowohl der theoretischen wie der praktischen Vernunft ausgetragen werden sollen. Ähnlich einem Gerichtsverfahren ist der Ausgang des Prozesses der Erkenntnissuche ein Ergebnis, das den Charakter einer imperativen Verbindlichkeit beansprucht – es wird als etwas verstanden, das universelle und absolute Geltung und Verbindlichkeit hat. Kritik heißt für Kant Selbstbegründung der Vernunft sowie die Untersuchung der Grenzen des Vernunftgebrauchs. 1 In der Kritik der theoretischen Vernunft untersucht Kant, ob die Metaphysik den sicheren Gang der Wissenschaft gehen kann, ob das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Denkens a priori, also unabhängig von aller Erfahrung, begründet werden können. In der praktischen Philosophie geht es Kant darum zu begründen, dass es widerspruchsfrei möglich ist, den Willen des Menschen als frei und sein Handeln als eines zur Moral fähigen Handelns zu denken. Es geht Kant um nicht weniger als die Begründung der Freiheit des Denkens und Handelns, um die Begründung einer von der Naturkausalität unabhängigen Eigengesetzlichkeit der Vernunft, um die Begründung der Möglichkeit freier, allgemein gültiger Erkenntnis-, Entscheidungs- und Urteils- und damit auch Moralfähigkeit. Kant entwirft damit, wie Michel Foucault festgestellt hat, nicht nur das „historische 1

Vgl. Geuss, Raymond, Kritik, Aufklärung, Genealogie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), 273-281, hier: 275.

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Christa Runtenberg

Schema unserer Modernität“ 2 , sondern auch einen Begriff von Philosophie als Kritik und Selbstdenken, dessen Aktualität spannende Ansatzpunkte für gegenwärtiges Philosophieren bietet. In diesem Artikel werden zentrale Auffassungen von Kant zur Pädagogik und zur Aufklärung thematisiert, die ein gegenwärtiges Verständnis vom Philosophieren als kritisches Selber-Denken begründen können. Kants Projekt der Kritik dient als Folie: vor diesem Hintergrund sollen vor allem Schriften zur Aufklärung und Pädagogik interpretiert werden, um auf aktuelle Ansatzpunkte einer Philosophie als Kritik zu verweisen, die sowohl philosophisch als auch philosophiedidaktisch äußerst spannend sind.

1. Das Ziel der praktischen Philosophie Kants

1.1 Die Begründung der Möglichkeit selbstbestimmter moralischer Orientierung Kant versucht in seiner praktischen Philosophie, und ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, ein universelles Moralprinzip auszuweisen und zu begründen, im Sinne von: auf einen Grund stellen. Er hält dieses Anliegen für moralisch geboten, denn er will zeigen, dass der Mensch zum freien vernünftigen Handeln fähig ist und deshalb nicht nur die Pflicht, sondern eben auch das Recht hat, frei zu handeln. Kant begründet mit seiner Ethik ein Konzept einer aus Vernunft moralisch selbstverpflichteter Personen; er zeigt die Bedingungen der Möglichkeit zu moralischer Selbstverpflichtung auf; dass wir moralische Wesen sind, das Faktum der reinen praktischen Vernunft, setzt er voraus. Er will, jedenfalls in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht motivieren, den moralischen Standpunkt einzunehmen, sondern erinnert uns als moralische Wesen an die Verpflichtung gegenüber dem obersten Prinzip der Moralität, von der wir wissen, dass wir sie haben. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten versucht Kant, dieses oberste Moralprinzip zu ergründen. Ein solches Prinzip muss, wenn es als Bedingung einer universellen Verbindlichkeit, als moralisches Gesetz gelten soll, „absolute Notwendigkeit bei sich führen“ 3 , das heißt, es darf nicht im 2

3

Foucault, Michel, Was ist Kritik? Aus dem Französischen von Walter Seitter, Berlin 1992, 28; vgl. auch Geier, Manfred, Kants Welt. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2003, 154f. GMS, AA 4, 389,13.

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Glücksstreben des Menschen, seinen Bedürfnissen und Neigungen oder in kontingenten Umständen in der Welt begründet sein, da auf dieser Basis nur subjektive und heteronome Entscheidungen möglich wären. Das Prinzip muss aber, soll es die Anforderungen eines Moralprinzips erfüllen, a priori in Begriffen der reinen Vernunft gesucht werden. Denn als frei und damit zur Moral fähig können wir uns nur denken, wenn wir uns als Wesen verstehen können, die sich von heteronomen Antrieben unabhängig machen und nach allgemeinen Gesetzen handeln können. Kant versucht in der Grundlegung zu zeigen, dass der Mensch sich als Wesen verstehen kann, das aus Vernunft zu moralischer Selbstverpflichtung und Selbstbestimmung fähig ist und frei handeln kann, nach vernünftigen Prinzipien, die allgemein und notwendig sind, z.B. dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit, der Allgemeinheit, der Gesetzlichkeit. Vernünftig handeln können wir nach Kant aufgrund des von der Vernunft hervorgebrachten guten Willens. Dieser gute Wille macht es uns möglich, die Maxime unserer Handlungen zu bestimmen aus Pflicht, aus dem von der Vernunft gewirkten Gefühl der „Achtung vor dem Sittengesetz“ 4 . D.h. wir können uns bei der Entscheidung für oder gegen eine Handlungsmaxime davon frei machen, uns von Bedürfnissen, Neigungen, instrumentellen Zwecken leiten zu lassen. Wir können und sollen uns nur von dem leiten lassen, was uns die Pflicht, die Achtung vor dem Vernunftgesetz gebietet, sprich von dem, was die Vernunft als Gesetz gibt, was vernünftig ist. Vernünftig, sprich allgemein und notwendig und ohne subjektive Antriebe kann nach Kant nur eine solche Maxime sein, von der wir wollen können, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Wir sollen also so handeln, dass wir auch wollen können, dass die Maxime unserer Handlungen ein allgemeines Gesetz werde, oder, anders formuliert, wir sollen – angetrieben durch die vernünftige Einsicht – unsere subjektiven Handlungsmaximen einem Test unterwerfen und prüfen, ob sie in ein System von Gesetzen für alle vernünftigen Wesen passen würden. Das Gebot, nur den Maximen zu folgen, die diesem Test standhalten, bezeichnet Kant als kategorischen Imperativ; kategorisch, weil er absolut und allgemein gilt und jedem anderen Motiv oder Gebot übergeordnet ist. Voraussetzung dieser Art zu wählen ist Freiheit des Willens, die Eigengesetzlichkeit, die Autonomie der Vernunft; als intelligente Wesen, die dem „Reich der Zwecke“ oder der Verstandeswelt angehören, können wir uns als freie Wesen denken, die sich von heteronomen Antrieben frei machen und gemäß dem kategorischen Imperativ handeln können. 5 Als vernünftige und damit selbstzweckliche Wesen müssen wir auch jedes andere vernünftige Wesen als ein solches denken, das Zweck an sich 4 5

GMS, AA 4, 401,17ff. GMS, AA 4, 440,15ff.

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selbst ist, denn der Vernunftgrund, der für mich gilt, muss also auch für die anderen als gültig gedacht werden. Daraus folgt, dass ich andere vernünftige Wesen niemals nur als Zweck, sondern immer auch als Selbstzweck behandeln soll. Es ist zwar nicht, so Kant, empirisch auszumachen, ob es einen solchen Imperativ gibt; man kann kein Beispiel zeigen, dass der Wille durch das Gesetz bestimmt werde. Man kann auch nicht theoretisch beweisen, dass es ihn gibt, da er ein synthetisch-praktischer Satz a priori, also ein Begriff der reinen praktischen Vernunft ist – man kann nur, so Kant, durch die Analyse der Begriffe der Sittlichkeit zeigen, dass Moral sinnvoll nur als Autonomie des aus Vernunft handelnden Menschen gedacht werden kann 6 . Kants Ethik begründet ein Moralprinzip, dass als Testverfahren strittiger Normen verstanden werden kann: Kants Prinzip – der kategorische Imperativ – ist vor allem ein normativ-rekonstruktives Verfahren: es schlägt keine inhaltlichen Normen vor, sondern ist ein Verfahren zur kritischen Prüfung und Rechtfertigung von Normen, das in den Köpfen aller vernünftigen Wesen durchgeführt werden kann. Die dritte Formulierung des kategorischen Imperativs, die „Selbstzweckformel“, birgt in sich das Instrumentalisierungsverbot von vernünftigen Wesen, ein Ansatzpunkt der Kantischen Ethik, der für aktuelle Fragen der angewandten Ethik sehr wichtig ist. Der Anspruch des kategorischen Imperativs wendet sich an jeden zur Vernunft fähigen Menschen und fordert ihn zu moralischer Selbstbestimmung auf! Gleichzeitig eröffnet aber der kategorische Imperativ auch jedem Menschen die Möglichkeit moralischer Orientierung – durch die Fähigkeit der kritischen Reflexion vorfindlicher Normen und das Fällen eines selbstbestimmten Urteils. Nach Kant können wir als vernünftige Wesen befähigt werden, nach dem kategorischen Imperativ zu handeln; dies erfordert aber, so Kant, durch Erfahrung geschulte und geschärfte Urteilskraft. Der kategorische Imperativ impliziert somit Anforderungen an Erziehung und Bildung, die im Folgenden skizziert werden sollen. 1.2 Die Bedeutung einer Erziehung zur Moralfähigkeit Kants Pädagogik ist kein Nebenprodukt der Ethik, sondern Ethik und Pädagogik hängen eng zusammen. Denn nur Bildung und Erziehung gewährleisten, dass gedacht – und damit auch ethisch reflektiert werden kann. Nach Kant ist der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen – die Fähig6

GMS, AA 4, 440f.

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keit zum Guten und zur Vernunft sind in ihm angelegt. Diese Anlagen müssen aber entwickelt, durch Erziehung und Bildung gefördert werden, denn: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht“ 7 . Zur Vernunft, zum philosophischen Nachdenken erzogen werden kann grundsätzlich jeder Mensch. Zwar weiß Kant um die, wie er in seiner Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“ sagt, „Untauglichkeit des gemeinen Menschenverstandes zu subtilen Spekulation und Vernunftkritik“ 8 . Grundlegende philosophische Fragen aber, wie die nach einem Leben nach dem Tod, der Existenz Gottes oder einer angemessenen Moral treiben, so Kant, „jeden Menschen“ um, sie sind eine „allgemeine menschliche Angelegenheit“ 9 . Um die Fähigkeit der Nachdenklichkeit und des Selbstdenkens fördern zu können, muss die menschliche Vernunft angemessen in all ihren Dimensionen ausgebildet werden. Dazu gehört nach Kant die Ausbildung der Gemütskräfte und der Verstandeskräfte; letztere umfassen den Verstand, die Urteilskraft und die Vernunft, nicht die spekulative Vernunft, sondern die Vernunft als die „Reflexion über das, was vorgeht, nach seinen Ursachen und Wirkungen“ 10 . Um wirklich das Denken – Lernen zu fördern, muss Unterricht angelehnt werden an den natürlichen Fortschritt menschlicher Erkenntnis. Die Methode, die das Selbstdenken fördert, ist die induktive Methode, die bei den Erfahrungen der Lernenden ansetzt und von elementaren Kenntnissen zu den Urteilen und Begriffen aufsteigt: „Denn da der natürliche Fortschritt der menschlichen Erkenntnis dieser ist, dass sich zuerst der Verstand ausbildet, indem er durch Erfahrung zu anschauenden Urteilen und durch diese zu Begriffen gelangt, daß darauf diese Begriffe in Verhältnis mit ihren Gründen und Folgen durch Vernunft und endlich in einem wohlgeordneten Ganzen vermittelst der Wissenschaft erkannt werden, so wird die Unterweisung ebendenselben Weg nehmen. Von einem Lehrer wird also erwartet, dass er an seinem Zuhörer erstlich den verständigen, dann den vernünftigen Mann und endlich den Gelehrten bilde.“ 11

Dieser Weg der Bildung darf, so Kant, keinesfalls umgekehrt werden, denn: „Wenn man diese Methode umkehrt, so erschnappet der Schüler eine Art von Vernunft, ehe noch der Verstand an ihm ausgebildet wurde, und trägt erborgene Wissenschaft, die an ihm gleichsam nur geklebt und nicht gewachsen ist, wobei seine Gemütsfähigkeit noch so unfruchtbar wie jemals, aber zugleich durch den Wahn von Weisheit viel verderbter geworden ist. Dieses ist die Ursache, weswe-

7 8 9 10 11

Päd, AA 9, 443,19f. KrV. B XXXII, XXXIII. KrV. B XXXIV, XXXV. Päd, AA 9, 476,34f. EVW, AA 2, 305,16-25.

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gen man nicht selten Gelehrte (eigentlich Studierte) antrifft, die wenig Verstand zeigen […].“ 12

Ein Schüler muss also zunächst zu einem verständigen, erst dann zu einem vernünftigen Menschen gebildet werden. Um den Menschen zu einem vernünftigen Menschen zu erziehen, der selber denkt, muss der Mensch erzogen werden, durch Menschen, die bereits selbst erzogen sind – eine der größten und schwersten Aufgaben, die, wie Kant sagt, den Menschen aufgegeben werden kann. Dazu ist zunächst Disziplin, oder gar Zucht, wie Kant sagt, notwendig. Mit Disziplin und Zucht ist eine bestimmte Negation gemeint: dem Kinde wird nichts Neues beigebracht, sondern die regellose Freiheit wird eingeschränkt, oder „Disziplin ist also bloß Bezähmung der Wildheit“ 13 . Diese Einschränkung ist nicht als äußerliche willkürliche Disziplinarmaßnahme zu verstehen, sondern ist angelegt in der Struktur von Bildung selbst: „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ 14

Ziel ist die Erziehung zur Autonomie, zur Selbstbestimmung und die Förderung der natürlichen Vernunftanlagen, die zum Guten entwickelt werden müssen – gut wird der Mensch nur, „wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt“. Erziehung, über Generationen hinweg, eröffnet, so Kant, „den Prospekt zu einem künftig glücklichen Menschengeschlechte“ und der „Vervollkommnung der Menschheit als Ganzer“ 15 . Er selbst schlägt eine stufenorientierte Förderung der moralischen Kompetenzen vor – von der Mäßigung der Neigungen zur Ausbildung des moralischen Sinns, oder, anders formuliert, über die Stufen der Disziplinierung, Kultivierung, und Zivilisierung zur Reflexions- und Moralfähigkeit. Auf der letzten Stufe kann der Mensch selber denken; jetzt ist er in der Lage, nur gute Zwecke zu wählen und gemäß dem kategorischen Imperativ zu handeln. Bildung und Erziehung intendieren demnach nicht die Ausbildung moralischer Haltungen, sondern die Förderung moralischer Urteilsfähigkeit – sie sind zu verstehen als ein Stufen – Programm der Kompetenzentwicklung. Die Philosophie hat an der „rechten Erziehung“ einen großen Anteil: Es ist eine zentrale Aufgabe der Philosophie, das Denken lernen zu fördern. Kant macht deutlich, dass die Unabgeschlossenheit der Philosophie es unmöglich macht, für die Ausbildung Inhalte zu bestimmen und festzu12 13 14 15

EVW, AA 2, 306,3-9. Päd, AA 9, 449,30. Päd, AA 9, 453,28ff. Päd, AA 9, 444,18.

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legen, die nachvollziehend angeeignet werden könnten. Man kann, so Kant, keine „Philosophie lernen; denn wo ist sie, wer hat sie im Besitze, und woran läßt sie sich erkennen? Man kann nur philosophieren lernen“ 16 . Aus der Unabgeschlossenheit der Philosophie und aus seinem Begriff von Aufklärung richtet sich Kants Begriff des Selbstdenkens gegen den reinen Nachvollzug philosophischer Inhalte. „Der Zögling soll nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, dass er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll.“ 17 Kant gibt auch Tipps zu Medien und Methoden, die zur Schulung der Urteilskraft besonders geeignet sind: vor allem Beispielfälle pflichtgemäßen Handelns, etwa aus Biographien, sollen herangezogen werden; als Methode plädiert er für die sokratisch-dialogische Methode, also vor allem das Gespräch mit den Lernenden, in dem der Lehrer durch Fragen den Gedankengang der Lernenden führt und die „Anlage zu gewissen Begriffen in demselben durch vorgelegte Fälle bloß entwickelt (er ist die Hebamme seiner Gedanken; […]“ 18 . Ziel der Erziehung ist nach Kant aufgeklärtes Selber-Denken, das Ausdruck findet in dem Wahlspruch: „Habe Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Der Mensch kann entweder nur dressiert, abgerichtet, mechanisch unterwiesen oder aber „wirklich aufgeklärt werden“ 19 . Dazu gehört es vor allem, dass „Kinder denken lernen“ und urteilsfähig werden. 1.3 Das Ziel von Kants praktischer Philosophie Kant versucht, in seiner praktischen Philosophie universelle Prinzipien auszuweisen und zu begründen, um zu zeigen, dass der Mensch zum freien Denken und Handeln fähig ist und es deshalb auch gute Gründe gibt, ihm das Recht, die entsprechende Bildung und den politischen Rahmen für Mündigkeit im Sinne kritischer, autonomer Selbstbestimmung zu zu gestehen. Kant untersucht, um diese Freiheit zu verteidigen, in seinen großen Kritiken auch die Grenzen des Vernunftgebrauchs. Seine Intention entspricht dem Wahlspruch des Aufklärers, der in seinem berühmten Artikel zur Frage: „Was ist Aufklärung?“ formuliert wurde: „Habe Mut,

16 17 18 19

EVW, AA 2, 306,31f. EVW, AA 2, 306,23-25. MS, AA 6, 478,15-17. Päd AA 9, 450,15f.

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dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ 20 Aufgeklärt, d.h. vernünftig zu denken hat Kant als das Wagnis bezeichnet, selbst zu denken, seine Vernunft zu gebrauchen, damit wohl auch das Vermögen zu gebrauchen, das durch nichts als Vernunft Bedingte, oder anders formuliert, das Unbedingte zu denken und zu verwirklichen. Unbedingt gilt für ihn – bezogen auf die praktische Philosophie, z.B.: nicht zu lügen, kein Versprechen zu brechen, jedes vernünftige Wesen als Selbstzweck zu achten, moralische Urteile mittels des kategorischen Imperativs zu prüfen, seine Autonomie und Urteilsfähigkeit auszubilden oder die Menschen zu selbst denkenden und vernünftigen Wesen zu erziehen.

2. Kritik an Kants universalistischer Perspektive der praktischen Philosophie Kritik an Kants universalistischer Begründung der Ethik und Pädagogik wird aus verschiedensten Perspektiven formuliert: so sind Vertreter kommunitaristischer oder tugendethischer Ansätze der Auffassung, dass moralische Werte und Normen immer nur aus einer gemeinsam geteilten Lebenswelt entstehen können. Aus verschiedenen Perspektiven der angewandten Ethik wird die mangelnde Situations- und Kontextbezogenheit des Kategorischen Imperativs kritisiert, oder Vertreter des Radikalen Konstruktivismus argumentieren, dass Vernunft-Erkenntnisse immer nur subjektabhängige Konstruktionsleistungen sind und keinerlei universale Geltung beanspruchen können. An dieser Stelle soll keine Auseinandersetzung mit all diesen Ansätzen stattfinden; es geht vielmehr darum, die Aktualität von Kants Bildungsund Erziehungsideen für eine „Philosophie als Kritik“ aufzuzeigen auch aus einer Perspektive, die Kants Universalismus nicht folgt. Deshalb beziehe ich mich im Folgenden über einen ganz kurzen Einschub von Nietzsche auf den Kant lesenden Foucault, der Kants Aufsatz über die Frage: „Was ist Aufklärung“ neu aufgegriffen und so transformiert hat, dass seine Aktualität offen zutage tritt. Er erkennt in Kant den ersten Philosophen, der „wie ein Bogenschütze den Pfeil auf das Herz einer zur Aktualität verdichteten Gegenwart richtet und damit den Diskurs der Moderne eröffnet“ 21 . 20

21

WA, AA 8, 35,7f. Zur Bedeutung des Aufklärungsgedankens und des kritischen Denkens im Werk Kants siehe auch das Kapitel von Manfred Geier: „Revolutionärer Enthusiasmus.“, in: Geier, Kants Welt, (s. Anm.2), 273-286. Habermas, Jürgen, Zu Foucaults Vorlesung über Kants „Was ist Aufklärung?“ In: die tageszeitung 7. Juli 1984, Magazin, 13; siehe auch Geier, Kants Welt, (s. Anm. 2), 186

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2.1 „Der Fuchs im Käfig“ – Nietzsches Kritik an Kants Universalismus Die Kritik am Universalismus wird radikal von Nietzsche nicht nur gegen Kant, sondern gegen alle universalistischen Ethik-Theorien formuliert. Nietzsche ist nicht nur der Auffassung, dass allgemeine ethische Urteile niemals die Besonderheiten spezifischer Situationen aufgreifen können. Er sieht moralische Prinzipien, Entscheidungen, Orientierungen vor allem als historisch konstituierte an, und er kritisiert aufs Schärfste, dass diese Entstehungsbedingungen ignoriert und damit kontingente Entwicklungen als universelle Verbindlichkeiten ausgegeben werden. Moralische Entscheidungen, die sich am Gewissen und am Pflicht-Begriff orientieren, diffamiert er als unreflektierten Glauben, der aber reflektiert werden muss: „Dein Urteil ‚so ist es recht’ hat eine Vorgeschichte in deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen; ‚wie ist es da entstanden?’ mußt du fragen, und hinterher noch: ‚was treibt mich eigentlich, ihm Gehör zu schenken?’ […] Daß du aber dies und jenes Urteil als Sprache des Gewissens hörst – also, daß du etwas als recht empfindest, kann seine Ursachen darin haben, daß du nie über dich nachgedacht hast und blindlings annahmst, was dir als recht von Kindheit an bezeichnet worden ist: oder darin, daß dir Brot und Ehren bisher mit dem zuteil wurde, was du deine Pflicht nennst – es gilt dir als ‚recht’, weil es dir deine ‚Existenz-Bedingung’ scheint […] Und, kurz gesagt, wenn du feiner gedacht, besser beobachtet und mehr gelernt hättest, würdest du diese deine ‚Pflicht’ und dies dein ‚Gewissen’ unter allen Umständen nicht mehr Pflicht und Gewissen benennen: die Einsicht darüber, wie überhaupt jemals moralische Urteile entstanden sind, würde dur diese pathetischen Worte verleiden. […]“22

Vor allem gegen das Kantische Universalisierungsprinzip und den kategorischen Imperativ formuliert Nietzsche seine Moralkritik: „Und nun rede mir nicht vom kategorischen Imperativ, mein Freund! – diess

Wort kitzelt mein Ohr, und ich muß lachen, trotz deiner so ernsthaften Gegenwart: ich gedenke dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, dass er das ‚Ding an sich’ – auch so eine lächerliche Sache! – sich erschlichen hatte, vom ‚kategorischen Imperativ’ beschlichen wurde und mit ihm im Herzen wieder zu ‚Gott’, ‚Seele’, ‚Freiheit’ und ‚Unsterblichkeit’ zurückverirrte, einem Fuchs gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt: – und seine Kraft und Klugheit war es gewesen, welche diesen Käfig erbrochen hatte! Wie? Du bewunderst den kategorischen Imperativ in dir? Diese ‚Festigkeit’ deines sogenannten moralischen Urteils? Diese ‚Unbedingtheit’ des Gefühls ‚so wie ich, müssen hierin alle urteilen’? Bewundere vielmehr deine Selbstsucht darin! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchslosigkeit deiner Selbstsucht! Selbstsucht nämlich ist es sein Urteil als Allgemeingesetz zu empfinden; und eine blinde, kleinliche und anspruchslose Selbstsucht hinwiederum, weil sie verrät, daß du dich selber noch nicht entdeckt, dir selber noch kein eigenes, eigenstes Ideal geschaffen hast – dies nämlich könn-

22

Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft (1881), in: Colli, Giorgio und Montinari, Mazzino (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, Berlin 1967ff., Bd. 3, Viertes Buch, Aph. 335, 561f.

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te niemals das eines anderen sein, geschweige denn, Aller, Aller!“23

Aus Nietzsches Sicht ist es unmöglich, allgemein gültige moralische Urteile zu fällen; zum einen, weil Entscheidungssituationen niemals gleich sind und Handlungen immer individuelle Handlungen sind, deren Maximen nicht auf ein und dasselbe Prinzip zurück zu führen sind. Zum Zweiten geht Nietzsche, ausgehend von der Analyse der Kultur seiner Zeit und seiner Diagnose des Werteverfalls davon aus, dass moralische Orientierungen und Wertentscheidungen immer historisch bedingt sind und als solche auch analysiert werden müssen. Radikaler als viele spätere Philosophen dringt er darauf, die Unsicherheit aller festen Werte und Normen zu erkennen, den illusionären Halt moralischer Regeln aufzugeben und sich neue Wege zu schaffen. Entscheidend ist für Nietzsche die Reflexion der historisch kontingenten Bedingungen von Moral – dies hält er für einen unabdingbaren Anspruch des intellektuellen Gewissens. Kant, der kluge, und kraftvolle Fuchs verirrt sich zurück in den Käfig – was sagt Nietzsche mit diesem Bild? Der kluge und kraftvolle Fuchs, ist das der Aufklärer Kant, der sich durch die philosophische Beschäftigung mit den Grenzen der Vernunft in den Käfig der universalistischen Transzendentalphilosophie verirrt, indem er die historisch-kritische Reflexion der Entstehungsbedingungen von Wissen und Moral verkennt? So jedenfalls könnte man Nietzsches Bild deuten, wenn man Michel Foucaults Auseinandersetzung mit Kant, die an Nietzsche anschließt, folgt. 2.2 Die Transformation des Kritik-Projekts – Michel Foucault Der im Juni 1984 verstorbene französische Philosoph, Historiker, Kritiker, Michel Foucault setzt sich etwa 200 Jahre nach Kant mit dessen Begriff von Aufklärung und Kritik auseinander. Ziel seiner gesamten Arbeit war es, so sagt Foucault selbst, die „Geschichte der Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“ 24 . Er geht dabei von drei Achsen der Erfahrung aus, durch die Menschen zu Subjekten gemacht werden, die Achse der Wissensformationen, die Achse der Macht- und Teilungspraktiken, und die Achse der Selbstpraktiken, also der Weisen, wie Menschen sich selbst zu Subjekten machen. Aus dieser Orientierung heraus kritisiert Foucault, ähnlich wie 23 24

Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, (s. Anm. 22), 562. Foucault, Michel, Warum ich die Macht untersuche: Die Frage des Subjekts, in: Dreyfus, H.L./Rabinow, Paul, Foucault, Michel, Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Mit einem Nachwort von und einem Interview mit Michel Foucault, Weinheim 1994, 243-250, hier: 243.

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Nietzsche, Kants Projekt der Kritik als transzendentalphilosophische Begründung universalistischer Prinzipien. Kant sieht im Moment der Geschichte, in dem die Menschen beginnen, ihre eigene Vernunft zu gebrauchen, die Notwendigkeit der Kritik; er hält es für wichtig, die Bedingungen zu definieren, so sagt Foucault, „unter denen der Gebrauch der Vernunft zur Bestimmung dessen legitim ist, was erkannt und gewußt werden kann, was getan werden soll, was gehofft werden darf“ 25 ; es geht Kant, und hier folgt ihm, so meint Foucault, eine bedeutende Traditionslinie der Philosophie in Deutschland, um die Bedingung der Möglichkeit objektiver Urteile in bezug auf Erkenntnis, Moralität und ästhetische Erfahrung. Demgegenüber folgt Foucault selbst einem Denktypus, der, von Nietzsche ausgehend, die Analyse der konkreten, immer historisch situierten Voraussetzungen von Wissen, Denken und Urteilen ins Zentrum der „kritischen Aufgabe“ rückt. Statt allgemeinen Vernunftregeln auf der Spur zu sein, geht es um die Problematisierung der historisch entstandenen und gesellschaftlich und individuell wirksamen Voraussetzungen aller menschlichen Erfahrungen. Statt Kritik zu verstehen als transzendentalphilosophisches Projekt der Begründung universalistischer Prinzipien plädiert Foucault, in Anlehnung an Nietzsche – für einen anderen Begriff von Kritik. Kritik heißt für ihn: Entwicklung historischer Untersuchungen, genealogischer und archäologischer Studien, die bestehende gesellschaftliche Formationen, Praktiken, Rationalitäten problematisieren und als solche Strukturen auf zu decken, die ihre Akzeptanz jeweils erst herausbilden. Diese kritischen Untersuchungen rekonstruieren keine Wesensbestimmungen menschlichen Lebens, keine a priorischen Bedingungen aller Erfahrung und auch keine geschichtlichen Notwendigkeiten, sondern sie zeigen die Zusammenhänge, die Akzeptabilitäten, in und aus denen heraus sich Zwangsmechanismen, Erkenntnisinhalte, Selbstpraktiken entwickeln. Foucault nennt diese Art der Prüfung, die nicht nach Legitimitätsbedingungen, sondern nach dem einem Ereignis vorausgehendem Geflecht seiner Verwandtschaften, seiner Entstehungs- und Akzeptabilitätsbedinungen fragt, eine „Ereignishaftigkeitsprüfung“ 26 . Er entfaltet Kants transzendentalen Begriff der Kritik in historischen Begriffen; statt das erkenntnistheoretische Apriori eines denkenden Subjekts untersucht Foucault das „historische Apriori“ des Denkens. 27 Und eben an 25

26

27

Foucault, Michel, Was ist Aufklärung?, in: Eva Erdmann, Rainer Forst, Axel Honneth (Hg.), Ethos der Moderne: Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1990, 35-54, hier: 41. Foucault, Was ist Kritik?, (s. Anm. 2), 30; vgl. auch: Figal, Günther, Kritik als Problem der Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), 267-271, hier: 268. Dazu ausführlich: Hemminger, Andrea, Kritik und Geschichte. Foucault – ein Erbe Kants?, Berlin Wien 2004, 24ff.; Thompson, Christiane, Foucaults Zuschnitt von Kritik

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diesem Punkt sieht sich Foucault in der Tradition von Kant: Foucault ist der Auffassung, dass seine Frage der Kritik an Kants Frage der „Aufklärung“ anknüpft! In Frankreich müsse man sich, so sagt Foucault, die Frage nach der Kritik als Frage nach der Aufklärung stellen – ein Problem, dass man zu lange verschoben habe. In Deutschland ist die kritische Haltung der Aufklärung verschoben worden in die Frage der Kritik als transzendentalphilosophisches Projekt. Diese Verschiebung will Foucault umkehren: „Die Bewegung, welche die kritische Haltung in die Frage der Kritik hat umkippen lassen, die Bewegung, welche das Unternehmen Aufklärung in das Projekt der Kritik hat übergehen lassen, worin sich die Erkenntnis von sich eine richtige Idee machen wolle, diese Kippbewegung, diese Verschiebung, dieses Verschickung der Frage der Aufklärung in die Kritik […] müßte man nicht versuchen, jetzt den umgekehrten Weg einzuschlagen?“ 28

Aber warum sollte man die Frage: „Was ist Aufklärung?“ oder „Was ist Kritik?“ überhaupt aufnehmen und zur zentralen Frage machen? Foucault antwortet: „[…]– so doch wohl vor allem aufgrund eines entschiedenen Willens nicht regiert zu werden, jenes entschiedenen Willens – einer individuellen und zugleich kollektiven Haltung, aus der Unmündigkeit herauszutreten, wie Kant sagte.“29

Mit diesem Interesse liest Foucault Kants Text: „Was ist Aufklärung?“ und versucht, das Projekt der Aufklärung zu analysieren und den Verbindungsfaden zu einer gegenwärtigen Philosophie als Kritik auf zu zeigen. Er weiß, dass er sich im Problemfeld der Dialektik der Aufklärung bewegt – mit den Analysen der Frankfurter befindet er sich, wie er selbst sagt, „in einem Verhältnis der Brüderlichkeit“ 30 . Dennoch versucht Foucault, mit Bezug zu Kant, trotz alledem, der Aufklärung einen aktuellen Sinn zu verleihen.

3. Foucault liest Kant: „Was ist Aufklärung?“ Michel Foucault hat sich wiederholt mit Kants kleinem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ beschäftigt. Das Faszinierende an dieser Schrift bestand für ihn darin, dass er in ihr die historisch erste klare Formulierung einer philosophischen Aufgabe fand, der er sich in seinen eigenen Arbeiten verpflichtet fühlte. Erstmalig wurde die Analyse eines historischen Ereignisses als _____________ 28 29 30

und Aufklärung, in: Pongratz, L.A./Nieke, W./Masschelein, J., Nach Foucault, Diskursund machtanalytische Perspektiven der Pädagogik, Wiesbaden 2004, 30-49. Foucault, Was ist Kritik?, (s. Anm. 2), 41. Foucault, Was ist Kritik?, (s. Anm. 2), 41. Foucault, Was ist Kritik?, (s. Anm. 2), 27.

Kant als Aufklärer und Pädagoge

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philosophisches Problem hingestellt, denn Kant fragt, so sagt Foucault: Was ist unsere Gegenwart? In was für einer Welt leben wir heute? Kant beantwortet die Frage mit dem Begriff des Ausgangs – für ihn ist die Aufklärung der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Im Begriff des Ausgangs steckt für Foucault das Spannende der Analyse Kants; Kant sucht, so Foucault, nach einer Differenz, nach der „Differenz, die das Heute im Unterschied zu dem Gestern einführt“ 31 . Das Ergebnis der historischen Analyse hat Folgen für die weitere philosophische Arbeit und die Akzentuierungen der weiteren Arbeit – Kant schreibt, nach der Analyse des historischen Moments als Moment, in dem die Menschheit anfängt, selbst ihre Vernunft zu gebrauchen, das „Handbuch der in der Aufklärung mündig gewordenen Vernunft“ 32 . Kant analysiert einen Moment der Geschichte und zugleich die Perspektiven seiner weiteren Arbeit; er gibt Gründe an, warum und wie er in diesem Moment der Geschichte auf seine bestimmte Weise weiter arbeiten wird. Sein Aufsatz ist, so meint Foucault, eine Reflexion über sein eigenes Unternehmen. Diese Haltung Kants, die Analyse eines historischen Moments, die darauf folgende Reflexion und Transformation der eigenen Arbeit, faszinieren Foucault. Aber auch einige inhaltliche Aspekte des Textes von Kant interessieren Foucault. Er nimmt sie auf und transformiert sie zu seinem Verständnis von Philosophie als Kritik. Kant definiert die Aufklärung, diesen Moment der Geschichte, so meint Foucault, durch eine Veränderung der bestehenden Beziehungen zwischen Wille, Autorität und dem Gebrauch der Vernunft. Der Wahlspruch „Sapere aude“ steht für die mutige SelbstBestimmung des Menschen, für die Fähigkeit des ständigen InfrageStellens und der Problematisierung vorgefundener Verhältnisse. Der Wahlspruch ist also einerseits zu verstehen als ein Akt des Mutes, der persönlich, aber zugleich in einem kollektiven Prozess erbracht werden muss. Denn die Menschen sind Teile und Handelnde desselben Prozesses, und er ereignet sich nur, wenn sie daran teilnehmen. Andererseits betrifft die Aufklärung „die gesamte Menschheit“, sagt Kant weiter, und freier Vernunftgebrauch muss da erlaubt sein, wo die Menschen als Glieder eines „ganzen gemeinsamen Wesens“ angesehen werden. Foucault interessiert zunächst die Zweideutigkeit im Begriff der Menschheit und des „ganzen gemeinsamen Wesens“. Spielt Kant damit an auf einen Prozess eines historischen Wandels, der die politische und soziale Existenz aller Menschen auf der Erdoberfläche berührt, oder geht es um die Veränderung dessen, was das Menschliche des menschlichen Wesens konstitu31 32

Foucault, Was ist Aufklärung?, (s. Anm. 25), 37. Foucault, Was ist Aufklärung?, (s. Anm. 25), 41.

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iert? 33 Foucault versteht unter Aufklärung (als Kritik) beides: die Problematisierung der historischen Prozesse und Ereignisse und der Weisen, wie die Subjekte sich selbst konstituieren. Mit der Unterscheidung von „privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch“ zeigt Kant auf, so Foucault, dass der Mensch als Teil der Maschine „gehorchen“, den freien Vernunftgebrauch gesetzten Zielen unterordnen muss, damit die Maschine funktioniert. Der freie Vernunftgebrauch soll aber da möglich sein, wo der Mensch unabhängig von einem Amt oder einer Funktion, öffentlich, als vernünftiges Wesen, als Mitglied einer vernünftigen Menschheit denkt. Aufklärung kann es also nur dort geben, wo der universale, freie und öffentliche Gebrauch der Vernunft sich überlagern. Damit ist Aufklärung als Selbst-Denken nicht nur Aufgabe und Verpflichtung des Subjekts, des Individuums, sondern zugleich auch ein politisches Problem, sagt Foucault: „Die Maschine, als deren Teil das Individuum gehorchen soll, damit sie funktioniert, funktioniert nur unter der Bedingung, dass sie selbst mit dem freien Vernunftgebrauch, mit der universalen Vernunft übereinstimmt.“ 34 Ausgehend von diesen Aspekten in Kants Text entwickelt Foucault sein eigenes Verständnis einer Philosophie als kritische Haltung. Foucault greift die von Kant vorgelebte reflexive Beziehung zur Gegenwart auf – vor allem in dieser Haltung sieht Foucault den Verbindungsfaden zur Aufklärung. Aufklärung ist zu verstehen als ein philosophisches Ethos der Grenzhaltung, als Haltung der Kritik, als Analyse von Grenzen und ihrer Überschreitung. Diese Haltung verfolgt kein Begründungsprogramm universeller Strukturen von Erkenntnis oder unveränderlicher Geltungsgrundlagen, sondern entspricht dem „Infragestellen und der Problematisierung aller Gegebenheiten“ 35 oder, anders formuliert, einer „urteilendkritischen Eigenständigkeit“ 36 . Kritik nicht als transzendentale, sondern als historische Untersuchung der Ereignisse, die Menschen dazu geführt haben, sich als Subjekte dessen zu konstituieren und anzuerkennen, was sie tun, denken und sagen. Kritik impliziert für Foucault: die ständige Reaktivierung des Ethos der Grenzhaltung, der Analyse von Grenzen und die Möglichkeit ihrer Überschreitung, die permanente Analyse unseres Seins als historisch-kritische Untersuchung, die Verabschiedung von allen Projekten, die beanspruchen, global oder radikal zu sein zu Gunsten des experimentellen Tests von Grenzen 37 , das Zustandebringen neuer „For33 34 35 36

37

Foucault, Was ist Aufklärung?, (s. Anm. 25), 38ff. Foucault, Was ist Aufklärung?, (s. Anm. 25), 40. Geuss, Kritik, Aufklärung, Genealogie, (s. Anm. 1), 276f. Früchtl, Josef, Spielerische Selbstbeherrschung. Ein Beitrag zur ‚Ästhetik der Existenz’, in: Steinfath, Holmer (Hg.): Was ist ein gutes Leben?: philosophische Reflexionen, Frankfurt am Main 1998, 124-148, hier: 128f. Foucault, Was ist Aufklärung?, (s. Anm. 25), 48f.

Kant als Aufklärer und Pädagoge

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men von Subjektivität“ 38 und „den entschiedenen Willen, nicht regiert zu werden“ 39 .

4. Zur Aktualität Kants: Philosophie als kritische Haltung Eine der zentralen Intentionen der Kritischen Theorie war es, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären. Foucaults Projekt kann wohl als rechtmäßiger Erbe dieser Intention gelten. Ebenso kann man Foucault als den Philosophen verstehen, der Kants Idee der Aufklärung aktualisiert und transformiert, auch wenn er sich selbst nicht als Philosoph, allenthalben als „Kritiker“ 40 verstand. Es gibt diese Spur, die, trotz aller Unterschiede, Kants praktische Philosophie und Foucaults Genealogie verbindet und die Idee der „Aufklärung“ als Prozess des Selber -Denkens für eine Philosophie als Kritik aktualisiert. Die Frage, was ist Aufklärung, beantwortet Kant 1783 folgendermaßen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“. 41

Zentral ist für Kant die Erziehung zur Autonomie und Kritikfähigkeit. Theodor W. Adorno greift Kants Begriff der Autonomie und Kritikfähigkeit Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts zunächst wieder auf und sagt: „Mir scheint das Programm von Kant, dem man auch mit bösestem Willen Unklarheit nicht wird vorwerfen können, heute noch außerordentlich aktuell.“ […] 42 „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. […] Die einzig wahre Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nichtmitmachen.“ 43

38 39 40 41 42

43

Foucault, Warum ich die Macht untersuche, (s. Anm. 24), 250. Foucault, Was ist Kritik?, (s. Anm. 2), 41. Foucault, Was ist Kritik?, (s. Anm. 2), 17. WA, AA 8, 35,1-8. Adorno, Theodor W., Erziehung zur Mündigkeit (1969), in: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt am Main 1971, 133147, hier 133. Adorno, Theodor W., Erziehung nach Auschwitz (1966), in: Erziehung zur Mündigkeit, (s. Anm. 42), 88-104, hier: 93.

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Adorno verweist in seinen erziehungsphilosophischen Beiträgen auf die große Bedeutung einer Erziehung zu Mündigkeit, Reflexion zum Nichtmitmachen damit so etwas wie Auschwitz nicht noch einmal sei. Auch Foucault kann, trotz der Kritik an Kants Kritik-Projekt, dessen Reflexion über die Aufklärung eine „Bedeutung verleihen“: „Vieles in unserer Erfahrung überzeugt uns, daß das historische Ereignis der Aufklärung uns nicht mündig gemacht hat und daß wir es noch immer nicht sind. Dennoch scheint mir, daß der kritischen Befragung der Gegenwart und unserer selbst, die Kant in einer Reflexion über die Aufklärung formulierte, eine Bedeutung verliehen werden kann. Es scheint mir, daß Kants Reflexion selbst eine Weise des Philosophierens ist, die während der letzten zwei Jahrhunderte nicht ohne Bedeutung oder Wirksamkeit geblieben ist. Die kritische Ontologie unserer selbst darf beileibe nicht als eine Theorie, eine Doktrin betrachtet werden, auch nicht als ständiger, akkumulierender Korpus von Wissen; sie muß als eine Haltung vorgestellt werden, ein Ethos, ein philosophisches Leben, in dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen ist und ein Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung.“ 44

Für Kant war die Erziehung zum Selber Denken eine zentrale Aufgabe der Philosophie. Ihr zentrales Anliegen ist nicht der Erwerb von Wissen oder der reine Nachvollzug komplizierter paradigmatischer Konzeptionen, sondern die Erziehung zur Problematisierung und Beurteilung vorgelegter Systeme, die Förderung des Philosophierens als kritischer Denkhaltung und die Förderung der Reflexions- und Urteilsfähigkeit. Auch für Foucault ist das Ethos der Kritik, der historischen Analyse der Konstitutionsbedingungen von Subjekten und das Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung als Aktivität der Vernunft die zentrale Aktivität der Philosophie. Auch wenn Foucault selbst von sich sagt, kein Philosoph, sondern eher ein Kritiker zu sein, ist für ihn „die kritische Arbeit des Denkens an sich selber“ die zentrale philosophische Aktivität. Dieses stellt ein von Kant ausgehendes und an „Aufklärung“ interessiertes – Philosophieverständnis dar. Dieser Begriff der philosophischen Aktivität – die Neugier im Denken, die kritische Arbeit des Denkens, das experimentelle Denken, das Grenzen überschreitet und Neues zu denken wagt, – birgt spannende Potentiale für die philosophiedidaktische Forschung. Es müsste untersucht werden, wie diese Aktivität gefördert und an verschiedenen Lernund Arbeitsorten der Philosophie umgesetzt werden kann – gerade auch in Zeiten der grundlegenden Umstrukturierung der Lernorte Schule und Universität. Dass dies ein genuines Ziel des Philosophierens ist, für das es sich zu engagieren lohnt, kann man nicht besser als mit Foucaults eigenen

44

Foucault, Was ist Aufklärung?, (s. Anm. 25), 52f.

Kant als Aufklärer und Pädagoge

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Worten zum Ausdruck bringen, mit denen er seine wissenschaftliche Arbeit begründet und die hier zum Schluss zitiert werden sollen: „Es war Neugier, die einzige Art Neugier, die die Mühe lohnt, mit einiger Hartnäckigkeit betrieben zu werden: nicht diejenige, die sich anzueignen sucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es gestattet, sich von sich selbst zu lösen. Was sollte die Hartnäckigkeit des Wissens taugen, wenn sie nur den Erwerb von Kenntnissen brächte und nicht in gewisser Weise das Irregehen dessen, der erkennt? Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist. Man wird mir vielleicht sagen, daß diese Spiele mit sich selber hinter den Kulissen zu bleiben haben […]. Aber was ist die Philosophie heute – ich meine die philosophische Aktivität – wenn nicht die kritische Arbeit des Denkens an sich selber? Und wenn sie nicht, statt zu rechtfertigen, was man schon weiß, in der Anstrengung liegt, zu wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken? Es ist immer etwas Lächerliches im Diskurs, wenn er von außen den anderen vorschreiben will, wo ihre Wahrheit liegt und wo sie zu finden ist, oder wenn er ihnen in naiver Positivität vorschreiben will, wie sie zu verfahren haben. Aber es ist sein Recht zu erkunden, was in seinem eigenen Denken verändert werden kann, indem er sich in einem ihm fremden Wissen versucht. Der „Versuch“ – zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des anderen zu Zwecken der Kommunikation – ist der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie einst war: eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken. [ … ]“ 45

45

Foucault, Michel, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1993, 15f.

Vernünftige Selbstbestimmung und gutes Leben

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Vernünftige Selbstbestimmung und gutes Leben Hans Jürgen Wendel

Unter Ethik verstehen wir die Beschäftigung mit der Frage nach der sinnvollen, „guten’’ oder „richtigen“ Lebensführung. Strittig ist dabei merkwürdigerweise jedoch immer aufs Neue, worin diese besteht. Ist das wirkliche, gelungene, gute Leben orientierendes Ziel oder ein Leben in den Tugenden einer gegebenen Lebensform? Mit der Bestimmung von Moralität als Handeln aus Pflicht, losgelöst vom Streben nach Glück, hat Kant den Paradigmenwechsel der Moderne auch in der Ethik vollzogen. Obwohl die Philosophie der Moderne, namentlich in der von Kant bestimmten Form, scharf zwischen Glück und gutem Leben bzw. moralischer Pflicht unterscheiden will, entspringen die Aporien der modernen Ethik wesentlich dem Zusammenhang beider, der zwar weiter wirkt, aber unsichtbar wird und sich erst wieder im Zusammendenken von Sittlichkeit und Religion zeigt. War im vormodernen Denken Tugend, verstanden als Maßstab der Trefflichkeit der Person (arethē), noch zwanglos mit dem Telos des Glücks verwoben, gewinnt mit der modernen Entbindung von Moralität und Glück eine neue Frage Kontur: die nach dem Sinn von Moralität. Mit ihr kommt zwangsweise auch die nach der Rolle des Glücks wieder ins Spiel, und mit ihr tritt das Problem der Explikationsbedürftigkeit eines moralischen oder normativen Geltungsanspruchs in den Vordergrund. Wie sich im Zuge der Kritik des ethischen Formalismus insgesamt immer wieder gezeigt hat, bedarf es vor aller Betrachtung eines Entscheidungsverfahrens im Hinblick auf Richtigkeit von Handlungsmaximen oder Handlungsnormen einer Klärung dessen, worin denn moralische, bzw. normative Richtigkeit überhaupt zu sehen ist. 1 Diesem Problemkreis 1

Vgl. Hegel, G.W.F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, §§ 135 ff. Der Grundgedanke wird bereits entwickelt in ders. „Ueber die wissenchaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stellung in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften“, in: Kritisches Journal der Philosophie, Zweyten Bandes Zweytes Stück, Tübingen 1802, 34-37. Zu ähnlichen Folgerungen gegenüber Kant kommt Georg Simmel in seinen Kant-Vorlesungen, wo es heißt: „Statt als eine selbständige Feststel-

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der Klärung der Fragestellung der Ethik soll hier durch eine Untersuchung des problematischen internen Zusammenhanges, den Subjektivität, Vernunft und Selbstbestimmung in der Kantischen praktischen Philosophie bilden, nachgespürt werden. Dabei sollen die Rekonstruktion und der Aufweis von Bruchstellen der Kantischen Konzeption der Moralphilosophie auf bestimmte Voraussetzungen, die in diese eingehen, aufmerksam werden lassen und zur Beantwortung der weitergehenden Frage beitragen, wie die Kantischen Intentionen einer Ethik der Selbstbestimmung vor dem Hintergrund der heutigen Diskussionslage über das Fundament der Ethik fruchtbar gemacht werden können, und zwar ohne deren Schwierigkeiten letztendlich zu reproduzieren. Wie aber müsste ein gangbarer Weg aussehen? Die Geschichte der Probleme der Ethik erlaubt hier ex negativo zumindest eine Charakterisierung der Leistungen, die eine normative Ethik zu erbringen hätte. Es bleibt einzig der Weg eines nicht naturalistisch verstandenen Subjektivismus, der es verstehen muss, der Skylla des Formalismus und der Skarybdis erschlichener Substantialität zu entgehen. Die Grundidee der Ethik der Moderne, der Ansatz bei der konstitutiven Leistung der Subjektivität bietet, trotz aller Schwierigkeiten, hierzu genügend Spielraum. Bereits die Idee der normsetztenden Kraft der Autonomie und der Selbstzwecklichkeit der autonomen Subjektivität als einer – wenn auch nur für Vernunftwesen – nicht beliebigen Zielsetzung des Handelns, lässt sich aus ihrer Einbettung in Zusatzannahmen, welche erst in die bekannten Aporien führen, herauslösen und als die eigentliche Grundlage moralischer und normativer Verbindlichkeit bereits bei Kant aufweisen (I). Dann lässt sich auch zeigen, dass gerade mit der Einbindung der Ethik in religionsphilosophische Überlegungen der Sinn moralischen Handelns aus seiner Einbindung in den Gesamtzusammenhang menschlicher Orientierung zu sehen ist – die bei Kant allerdings enggeführt ist, insofern er den wertvollen Kern menschlicher Subjektivität allein in der Vernunft sieht. Dass sich Ethik letztendlich um die Frage nach dem sinnvollen und „guten“ Leben dreht, finden wir bei genauerem Hinsehen selbst bei Kant, der Fragen der Moralität und Fragen des Glücks eigentlich streng getrennt wissen wollte (II).

_____________ lung des Sittlichen enthüllt sich also die Kantische Formel als bloßes Mittel für die Klärung und Auseinanderlegung von anderweitig […] schon anerkannten sittlichen Werten.“ Simmel, Georg, Kant. Sechzehn Vorlesungen. Gehalten an der Berliner Universität, 4. erw. Aufl., München und Leipzig 1918, 9. Vorlesung, 124.

Vernünftige Selbstbestimmung und gutes Leben

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I. Moralisches Handeln als Selbstbestimmung transzendentaler Subjektivität

1. Moralische Willensbestimmung ist dasselbe wie vernünftige Willensbestimmung Den Anknüpfungspunkt zur Klärung des Zusammenhanges von moralischer Orientierung und gutem Leben gibt die Beschäftigung mit der Frage, deren Beantwortung sich in der Untersuchung der Kantischen Ethik immer wieder als unauflösbar erwiesen hat: die Frage, weshalb – unter Kantischen Voraussetzungen – die Bestimmung des Willens gemäß dem Kategorischen Imperativ allein moralische Willensbestimmung sei. Kant gibt hierfür zwar nur unbefriedigende Erklärungen ab, Erklärungen jedoch, die dennoch in die Richtung zu einem adäquaten Verständnis der Natur normativer Richtigkeit weisen. Der Kategorische Imperativ sollte allein Moralität, verstanden als vernünftige Willensbestimmung, ermöglichen. Er sollte uns angeben können, welche Handlungsweisen – im moralischen oder normativen Sinne – richtig sind und daher vom Menschen gewollt werden sollten. Wie sich jedoch herausstellte, funktioniert dieses Verfahren der Beurteilung von Maximen nur unter der stillschweigenden Voraussetzung einer materialen Wertebasis, von der dann allerdings nicht mehr gesagt werden kann, weshalb sie überhaupt Verbindlichkeit beanspruchen darf. Bei genauerer Betrachtung sind es allerdings nur die sogenannte Grundformel und die Naturgesetzesformel des Kategorischen Imperatives, welche kein brauchbares Beurteilungsverfahren der Moralität von Handlungsweisen darstellen, weil sie zu den wohlbekannten Aporien des ethischen Formalismus führen. 2. Für Kant gibt es neben gewöhnlichen empirischen Zwecken noch einen Zweck an sich selbst Kant unterscheidet drei Klassen von Vernunftgründen des Handelns im Hinblick auf deren Reichweite: Bei den hypothetischen Imperativen ist die Notwendigkeit etwas zu tun, auf eine nichtnotwendige Bedingung als Ziel bezogen, während beim kategorischen Imperativ alle einschränkenden Voraussetzungen ausgeschlossen sind. Während die technischen Imperative der Geschicklichkeit Mittel zu einer beliebigen Absicht gebieten, und die pragmatischen Imperative der Klugheit Handlungen vorschreiben, die das Glück als die tatsächliche Zielsetzung bedürftiger Vernunftwesen befördern, die

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Vorschriften bei beiden also unter einer Bedingung stehen und insofern hypothetisch von einer Voraussetzung abhängen, sind moralische Verbindlichkeiten ohne jede Einschränkung verbindlich – gebieten kategorisch. Während es ein Merkmal des Menschen als empirisches, bedürftiges Naturwesen ist, in seinen Zielsetzungen von seinen Neigungen, seinem eigenen Vorteil, mithin der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit abzuhängen, ist für Kant im Kontrast hierzu die Willensbestimmung des Menschen durch seine Vernunft, d.h. insofern er Vernunftwesen ist, so zu denken, dass sie keine Ziele enthält. Denn materiale Ziele sind für ihn „Gegenstände der Neigungen“ und sind bestimmt durch empirische, gegebene Bedürfnisse, also etwas nur Partikulares; d.h. sie könnten auch anders sein, „denn wenn die Neigungen und darauf gegründete Bedürfnisse nicht wären, so würde ihr Gegenstand ohne Wert sein“ 2 . „Also ist der Wert aller durch unsere Handlungen zu erwerbenden Gegenstände jederzeit bedingt.“ 3 Eine im Gegensatz hierzu rein vernünftige – autonome – Willensbestimmung müsste nur auf formale Eigenschaften abheben, Handlungen als von jeder Zielsetzung unabhängig ansehen. Der Kategorische Imperativ soll dem Rechnung tragen. Nun unterscheidet Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ bekanntlich drei Formeln oder Formen des einen Kategorischen Imperativs: Neben der sogenannten Grundformel und der Naturgesetzesformel, die ohne größere Probleme als eine Erläuterung und Präzisierung der Grundformel angesehen werden kann, unterscheidet Kant noch die sogenannte Selbstzweckformel des Kategorischen Imperatives, deren genauere Untersuchung uns, im Gegensatz zu den ersteren, einen Hinweis auf den eigentlichen Grund für die Verbindlichkeit des Kategorischen Imperatives vermittelt; es heißt dort nämlich: „Handle so, daß Du die Menschheit […] jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“4 Während die Grundformel sowohl wie die Naturgesetzesformel daran kranken, kein Kriterium angeben zu können, welche von zu prüfenden Inhalten von Maximen verallgemeinerbar sind, ist dies bei der Selbstzweckformel nicht der Fall. In der Selbstzweckformel wird nämlich im Gegensatz zu den beiden anderen Formulierungen eigenartigerweise ein Zweck angegeben. Die Frage ist daher, wie sich dies mit der Charakterisierung des Kategorischen Imperatives als frei von jedweder Einschränkung verträgt. Sofern Inhalte von Zwecken aber immer nur empirisch gegeben sein können, müsste es ein „Zweck an sich selbst“, eine Art von Zweck ohne (empirischen) Inhalt sein. D.h. Handeln müsste dabei auf einen Zweck bezogen 2 3 4

GMS, AA 4, 428. GMS, AA 4, 428. GMS, AA 4, 429.

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sein, der völlig neigungsunabhängig – d.h. vollkommen frei von Heteronomie – ist. Aus diesem Grund kann für Kant eine „Vorstellung dessen, was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an sich selbst ist, ein objektives Prinzip des Willens“, ein „oberstes praktisches Prinzip“ ausmachen. Mithin nur, wenn es einen nicht bloß kontingent (durch die Neigungen, die Selbstliebe) gegebenen, sondern durch Vernunft einsehbaren – d.h. notwendigen – Zweck gäbe, als einen Zweck, „dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d.i. praktischen Gesetzes, liegen“ 5 . Der sogenannte Kategorische Imperativ ist demnach strenggenommen gar kein – reines – kategorisches Gebieten, sondern nur eines, das unter der Bedingung eines besonderen Zweckes, eines „Zweckes an sich“ steht. 3. Die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperatives beruht auf einem zusätzlichen Postulat Ein Gesetz, das befehlen würde, einen „Zweck an sich“ anzustreben, wäre für jedes vernünftige Wesen verpflichtend, denn ein solcher Zweck wäre selbst vernünftig und das heißt für Kant: in seiner Notwendigkeit einzusehen. Was aber könnte ein von aller Neigung unbedingter – notwendiger – Zweck sein? Diesen führt Kant nun als ein Postulat ein. Im Grunde unmissverständlich heißt es bei ihm: „Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen, jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ 6 Mit diesem Postulat bestimmt Kant hier somit den Inhalt dieses Zweckes an sich. Die Frage ist jedoch: Weshalb aber sollte der Mensch „jederzeit zugleich als Zweck“ betrachtet werden? Als „Grund dieses Prinzips“ führt Kant jedoch nur als weiteres Postulat an: „[D]ie vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst.“ 7 Der Mensch ist somit insofern „Zweck an sich selbst“, als er als „vernünftige Natur“ existiert, was wiederum heißt: als eine solche, die sich autonom allgemeingültige und notwendige Gesetze des Handelns gibt. Die Notwendigkeit – und somit die Vernünftigkeit – dieses Postulats sieht Kant darin, dass nur 5 6 7

GMS, AA 4, 428. GMS, AA 4, 428. GMS, AA 4, 429.

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im Falle eines solches „obersten praktischen Prinzips“, verstanden als etwas, das notwendigerweise für jedes Subjekt Zweck ist, es einen Kategorischen Imperativ geben kann. Jenes ist also das – subjektive und objektive – „Prinzip, woraus, als einem obersten praktischen Grunde, alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können.“ 8 Erst zusammen mit diesem Postulat der Selbstzwecklichkeit des Menschen erhalten wir den Imperativ der Selbstzweckformel. Die Selbstzweckformel ist also gar nicht, wie dies Kant meint, mit der Grund- und der Naturgesetzesformel äquivalent, weil in sie das Postulat vom Menschen als Zweck an sich eingeht. In der Grundformel und der Naturgesetzesformel wird moralische Willensbestimmung als vernünftige erklärt und das heißt gemäß Kants Verständnis des Vernünftigen als des Subjektiven: sie muss allein aus der Subjektivität, als Spontaneität der Willensbildung erfolgen und daher – gemäß Kants Verständnis des Subjektiven – allgemeingültig und notwendig sein. Darauf heben bei der Bestimmung der Erfordernisse, denen eine Handlungsmaxime genügen müsse, damit sie praktischvernünftig ist, die Formulierungen ab, dass verlangt werde, „daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ bzw.: „zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“ 9 . Über die Bestimmung der Vernünftigkeit an Hand dieser Kriterien geht Kant in der Selbstzweckformel jedoch hinaus: Hier geht es nicht mehr nur darum, wie praktisch-vernünftige Willensbildung ihrer Form nach aussieht, sondern auch um ein unbedingtes inhaltliches Ziel derselben: das menschliche Subjekt als Selbstzweck. Selbstzwecklichkeit ist selbst etwas Vernünftiges, und das heißt genauer betrachtet: Selbstzweck ist das Vernünftige im Menschen; und dieses Vernünftige heißt im praktischen Bereich: die Autonomie als positive Freiheit, die Fähigkeit der Selbstbestimmung zu vernünftigem i.e. moralischem Handeln. Die Erhaltung und Sicherung der Freiheit, der (praktischen) Vernunft ist Kant eine unbedingte Pflicht der Vernunft, denn „die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst“ 10 . 4. Die Annahme einer vernünftigen Einsicht in die Selbstzwecklichkeit des Menschen hat einen ungereimten Erkenntnisstatus Vernunft kann nach Kants Überzeugung allenfalls gar keine inhaltliche Orientierung geben, denn dies ginge über unser endliches Erkenntnisvermögen hinaus. „Wir können […] durch Vernunft nur das […] Formale erkennen, daher auch nur, was im Verhältnis gut ist, oder die Form des 8 9 10

GMS, AA 4, 429. GMS, AA 4, 421. GMS, AA 4, 429.

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Guten; aber die erste constitutiva des Guten erkennet nur der, dessen Vernunft anschauend ist; wir aber haben keine erste data des Wohlgefallens als die Sinne.“ 11 Deutlich wird dies etwa auch dort, wo er sich mit der Konzeption eines vernünftigen Interesses als „das, wodurch Vernunft praktisch, d.i. eine den Willen bestimmende Ursache, wird“ 12 , auseinandersetzt. Danach gibt es einerseits die willenbestimmende oder motivierende Kraft empirischer Ziele oder Neigungen im Falle hypothetischer Imperative, in denen die Vernunft auf die Verwirklichung der Mittel zur Erreichung dieser Ziele geht, „die Vernunft nur zum Mittel dient, die Art zu bestimmen, wie die größte Summe der Neigungen befriedigt wird, und die Mittel dazu“ bereit stellt. In diesem Falle, wenn sie „den Willen nur vermittelst eines anderen Objects des Begehrens, oder unter Voraussetzung eines besonderen Gefühls des bestimmen kann, so nimmt die Vernunft nur ein mittelbares Interesse an der Handlung“ 13 . Dort, wo es um moralische Willensbestimmung durch ein kategorisches Sollen, also um die Vernünftigkeit von Zielen geht, kann die Vernunft also nicht diese Ziele selbst geben. „Die Vernunft allein kann keinen Zwek geben […]; sie ist es aber, die alle Zweke ohne Unterschied so einschränkt, dass sie unter einer einzigen gemeinschaftlichen Regel stehen.“ 14 Diese Regel ist aber gegeben durch das Kriterium der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit; „denn die praktische Vernunft ist, als Freiheit, nur mit dem Vermögen verbunden, „so zu handeln, dass das Princip der Handlungen der wesentlichen Beschaffenheit einer Vernunftursache, d.i. der Bedingung der Allgemeingültigkeit der Maxime, als eines Gesetzes, gemäss sey“ 15 . D.h. sie ist das Vermögen, nur solche Handlungsprinzipien zu wollen, die allgemeingültig und notwendig sind. Sie kann aber nicht inhaltlich bestimmen, welche diese „als Objecte des Willens“ sind, an denen die Vernunft ein „unmittelbares Interesse“ 16 nehmen könnte. Dies hat für Kant mit der Reichweite der Vernunfteinsicht zu tun. Die Vernunft komme zwar, „um sich selbst als praktisch zu denken“ 17 ohne die Annahme einer „Verstandeswelt“ und die Idee einer anderen Gesetzgebung des Willens als der durch den „Naturmechanismus“ aus, was es notwendig mache, den Begriff einer „intelligiblen Welt“ zu denken – allerdings „blos ihrer formalen Bedingung nach, d.i. der Allgemeinheit der Maxime des Willens, als Gesetze, mithin der Autonomie des letzteren, die 11 12 13 14 15 16 17

Refl, Nr. 6750, AA 19, 148. GMS, AA 4, 459 (Fußnote). GMS, AA 4, 459 (Fußnote). Refl, Nr. 7029, AA 19, 230. GMS, AA 4, 458. GMS, AA 4, 459f. (Fußnote). GMS, AA 4, 458.

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allein mit der Freiheit desselben bestehen kann“ 18 . D.h. materialiter in bezug auf den Inhalt von Zwecken als „Objekten des Willens“ kann die Vernunft keine praktischen Gesetze geben; denn wollte sie über die Form der Maxime hinaus „noch ein Object des Willens, d.i. Bewegursache aus der Verstandeswelt herholen, so überschritte sie ihre Grenzen, und maasste sich an, etwas zu kennen, wovon sie nichts weiss“19 . Den Grund hierfür sieht Kant darin, dass „alle Gesetze, die auf ein Object bestimmt sind, Heteronomie geben, die nur an Naturgesetzen angetroffen werden und auch nur die Sinnenwelt treffen kann“ 20 . Wegen dieser Unmöglichkeit durch die Vernunft „Objecte des Willens“ zu bestimmen, „da Vernunft für sich allein weder Objecte des Willens, noch ein besonderes ihm zu Grunde liegendes Gefühl ohne Erfahrung ausfindig machen kann“ 21 , sei es auch nicht möglich, irgendein „Interesse ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne“22 . Damit sehen wir deutlich, dass Kant mit dem Postulat, dass „der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen […] als Zweck an sich selbst“ existiert 23 nach eigenem Veständnis über die Grenze der Vernunft ausschwärmt. Denn Kennzeichen der Vernunft ist für Kant – in theoretischer wie in praktischer Hinsicht – die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit. Nur sofern wir etwas als allgemeingültig und notwendig einsehen, erkennen wir dessen Vernünftigkeit. Dass der Mensch „Zweck an sich selbst“ ist, dies ist jedoch in diesem Sinne nicht mehr als vernünftig einsehbar, sondern nur als vernünftig postuliert. Insofern dies Postulat in eine Formulierung des Sittengesetzes mit eingeht, und das Bewußtsein des Sittengesetzes nach Kant ein Faktum der Vernunft darstellt 24 , wäre somit auch dieses Postulat – zumindest als Teil – Faktum der Vernunft. Es ist viel gesagt worden über den systemwidrigen Status eines solchen „Faktums der Vernunft“, und es geht hier auch nicht darum, dessen Vereinbarkeit mit der Kantischen Philosophiekonzeption darzutun. Systematisch wichtig erscheint mir die Leistung für eine Moralbegründung. Ungeklärt ist allerdings, wenn der Mensch als Subjekt Zweck an sich ist, was den Wert von dessen Zweckhaftigkeit, den Wert eines Zwecks an sich ausmacht.

18 19 20 21 22 23 24

GMS, AA 4, 458. GMS, AA 4, 458. GMS, AA 4, 458. GMS, AA 4, 459f. (Fußnote). GMS, AA 4, 459f. GMS, AA 4, 428. KpV, § 7, AA 5, 31.

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5. Das in die Selbstzweckformel eingegangene Postulat bezieht Moralität auf ein oberstes Ziel Während die beiden anderen Formeln des Kategorischen Imperatives also etwas sagen über die Struktur moralischer Willensbildung, über formale Bedingungen, denen diese bei der Prüfung von Maximen genügen muss, geht die Selbstzweckformel darüber hinaus, indem sie die Erhaltung der subjektiven praktischen Vernunft, der Freiheit als des Vermögens zur praktischen Vernunft, zur Bedingung einer jeden moralischen Willensbildung erklärt. Auch wenn kritisch anzumerken ist, dass Kant es nicht vermag, irgendeine Begründung für die Selbstzwecklichkeit zu geben, diese ein bloßes Postulat ist, das zudem als Vernunftfaktum keinen eigentlichen Platz in der Kantischen Philosophiekonzeption hat, so ist sie doch insofern interessant, als durch sie die Hegelschen Einwände gegen den Formalismus – zum Teil – entkräftet werden. Sie lassen sich zurückweisen, weil durch die Selbstzwecklichkeit der „vernünftigen Natur“ ein materialer Maßstab, ein oberstes Ziel – wenn auch letztlich nur dogmatisch – eingeführt wird. (Man kann auch sagen, dass der Mensch ein Wesen ist, dem es wesentlich um sich selbst geht.) Wenn der Mensch außerdem Selbstzweck ist, Subjektivität wesentlich somit in aktualer Selbstbestimmung besteht, dann bezieht sich Selbstzweck auf Selbstzwecklichkeit der selbstbestimmten Lebensführung. Kant sieht alle drei Formeln als äquivalent an, denn nur so ergibt die Rede von den drei Formeln desselben Kategorischen Imperatives Sinn. Dies zu zeigen, zieht er die Selbstzweckformel heran, um mittels dieser alle die Beispiele nochmals zu prüfen, die er schon früher an Hand der beiden anderen Formeln erörtert hat. Da die Selbstzweckformel einerseits mehr Bestimmungen als die beiden anderen aufweist, andererseits deren Merkmale mit einschließt, umfasst sie daher auch alle die Maximen, auf die die anderen beiden Formeln bezogen sind und führt für diese auch zur gleichen Beurteilung. Das gleiche Ergebnis bei der Prüfung von Beispielen soll die Gleichwertigkeit der verschiedenen Formeln belegen. Dass diese aber nicht gegeben ist, sehen wir, wenn wir uns an Hand der Selbstzweckformel nochmals die Hegelschen Einwände gegen den Formalismus vergegenwärtigen: Jetzt können wir nämlich bei jeder Prüfung der Verallgemeinerbarkeit von Maximen zusätzlich danach fragen, ob sie der Selbstzwecklichkeit des Menschen dienen. Durch sie haben wir aber ein zusätzliches materiales Kriterium für die Verallgemeinerbarkeit und können fragen: Dient es dem Menschen als Zweck an sich und ist daher verallgemeinerbar? Diese Frage ist aber erst durch das hinzugenommene Postulat möglich geworden. Damit zeigt sich, dass jene beiden anderen Formeln nicht mit der Selbstzweckformel äquivalent sein können,

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dass wir es gar nicht mit nur verschiedenen Formulierungen ein und desselben Imperatives zu tun haben können. Mit der Selbstzweckformel wird ein oberstes inhaltliches Ziel – gewissermaßen als oberstes Gut – erst eingeführt, durch das Willensbildung gemäß Grundformel und Naturgesetzesformel überhaupt erst möglich werden. Die positive Freiheit als Zweck ist das inhaltliche Auswahlkriterium, das erst verallgemeinerbare von nicht verallgemeinerbaren Maximen scheidet. Nur durch diejenigen Maximen, die immer auch auf Erhalt und Sicherung der Freiheit gerichtet sind, kann ich „zugleich“ wollen, dass sie allgemeines Gesetz – bzw. durch meinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz – werden. 6. Der Kategorische Imperativ ist ein auf ein notwendiges Ziel bezogener hypothetischer Imperativ Selbstbestimmung durch Vernunft – und das heißt Sicherung der positiven Freiheit, die das Selbst des Menschen als Vernunftwesen ausmacht – ist somit das eigentliche Anliegen, welches bei Kant Moralität erst ausmacht. Moralität ist willentlich im Dienste der Selbstbestimmung stehende Handlungsorientierung; d.h. Selbstbestimmung spielt hier die Rolle eines selbst vernünftigen Zieles. Dieses – somit selbst moralische 25 – Grundziel der Selbstbestimmung und damit die Willensbildung durch den Kategorischen Imperativ (nach der Grundformel) als vernünftiges Mittel hierzu werden bei Kant jedoch konfundiert. Dies zeigt sich zum einen darin, dass alle drei Formeln als im Grunde identische ausgegeben werden und zum anderen in der Spannung zwischen der Annahme eines Zweckes an sich und der Charakterisierung des Kategorischen Imperatives als Gegensatz zu nur hypothetischen Imperativen. Denn Kants Bestimmung des Kategorischen Imperatives erfolgte in Abgrenzung zu hypothetischen gerade durch Rekurs auf die Unabhängigkeit von jedweder Zielsetzung, was jedoch mit der Qualifizierung des Kategorischen Imperatives gemäß der Selbstzweckformel im Grunde aufgegeben wird. Im Lichte dieses Unterschiedes sollte der Kategorische Imperativ eine Handlungsanleitung sein, die ohne jede Einschränkung Gültigkeit beansprucht. Wenn sich nun aber zeigt, dass sich der Kategorische Imperativ (unmittelbar) aus dem Begriff der Sittlichkeit als schlechthin Gutem, somit der (anthropologischen) Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen erst durch die Zusatzannahme der Selbstzwecklichkeit ergibt, die als Prämisse zum ‚eigentlichen’ Imperativ (gemäß der Grund- oder der Naturgesetzesformel) hinzukommt, dann heißt dies: Auch er ist genaugenommen ein hypothetischer Imperativ, der 25

Denn moralisch muss dieses Ziel sein, wenn Moralität als Willensbestimmung durch praktische Vernunft verstanden wird.

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besagt: „Handle gemäß der Selbstzwecklichkeit des Menschen, weil Selbstbestimmung sein soll!“ Oder: „Handle so, wenn Du werden willst, was Du bist!“ Man kann Kant durchaus darin zustimmen, dass der Kategorische Imperativ eine Antwort auf die Frage: „Was soll ich tun?“ ist. Nur ist diese zu ergänzen durch den Passus: „– sofern ich hoffen darf, menschliche Selbstbestimmung zu verwirklichen!“ Er unterscheidet sich im Hinblick auf die Notwendigkeit also nur hinsichtlich dieser Qualifizierung der Bedingung des Handelns durch die Selbstzwecklichkeit als absolutem Zweck von nichtmoralischen – hypothetischen – Imperativen, die zwar auch bedingte Verbindlichkeiten des Handelns sind, die Geltung aber nur insofern beanspruchen, als jemand die entsprechende Qualifizierung bejaht. Wenn wir nun die postulierte Selbstzwecklichkeit des Menschen (insofern er Vernunftwesen) als eine selbst der Vernunft zugängliche Einsicht, als ein Faktum der Vernunft, auffassen, dann muss auch sie die Merkmale der Allgemeingültigkeit und der Notwendigkeit aufweisen. Denn nur wenn die Selbstzwecklichkeit eine nicht-kontingente Zielsetzung ist, dann ist sie vernünftig – und damit auch der Imperativ, der deren Verwirklichung gebietet. Dennoch ist der Inhalt einer zu prüfenden Maxime damit auf einen Zweck bezogen, wenn auch auf einen aus der Vernunft selbst stammenden, somit autonom gesetzten „Zweck an sich“ – also auf einen, der aus keiner Neigung herrührt, Willensbildung damit nicht auf Heteronomie beruht. Insofern also alle inhaltliche, empirische Willensbestimmung ihrerseits immer auch auf Selbstbestimmung, die Bejahung des Vernünftigen des Subjektes als absolutem Zweck bezogen sein muss – nichts anderes meint die Qualifizierung der Selbstzweckformel –, ist sie Bedingung jedes Handelns, das Anspruch auf Moralität erheben darf. Der Kategorische Imperativ ist somit genaugenommen auch hypothetisch; nur ist die Zielsetzung, die er zur Bedingung hat, das Ziel der Erhaltung der Autonomie, ein von Kant als unbedingt angesehenes Ziel. Die Kantische Morallehre steht und fällt somit mit dem Akzeptieren des Vernunftcharakters der Selbstzwecklichkeit der Persönlichkeit 26 , d.h. der Selbstzwecklichkeit von Autonomie als der positiven Freiheit, also damit, ob wir bereit sind, dies zu wissen, als ein Faktum der Vernunft – das selbst einem Akt derselben entspringt – zu akzeptieren. Die Verbindlichkeit des Sittengesetzes ist in der Kantischen Philosophie nur dann verständlich zu machen, wenn wir 26

Diese Trennung ist nicht immer konsequent terminologisch durchgehalten. Es finden sich Stellen, wo Kant mit „Person“ gerade das sittlich Vernünftige des Menschen bezeichnet. Vgl. hierzu Schmidt, Wilhelm, Der Begriff der Persönlichkeit bei Kant, Langensalza 1911, 77. Beim Wort „Person“ ist bei Kant also immer genau zu prüfen, in welchem Sinne er es gerade verwendet.

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von der Formulierung in der Selbstzweckformel ausgehen, die das Postulat von der Selbstzwecklichkeit des Menschen enthält. Ist das Bewußtsein des Sittengesetzes ein Faktum der Vernunft, so muss, als ein Teil davon, auch dieses Postulat vernünftig sein. Im Grunde genommen ist es sogar der wesentlichere Teil, denn ohne es würde sich der Kategorische Imperativ – auch wenn wir ihn als ein Vernunftfaktum ansehen –, wie dies bei der Grund- und der Naturgesetzesformel zu sehen ist, unauflöslich in die von Hegel aufgewiesenen Aporien verstricken. 7. Praktische Freiheit ist „Willkür aus Grundsätzen“ Kant sah seine Reform der Philosophie wesentlich darin, den Geltungsanspruch metaphysischer Erkenntnis auf die subjektiven Bedingungen möglicher Erfahrungserkenntnis einzuschränken, Erkenntnisansprüche im Hinblick auf die erfahrungstranszendenten Gegenstände der traditionellen Metaphysik der Schulphilosphie (Gott, die Seele, das Weltganze) jedoch als haltlose Überschwenglichkeiten der Vernunft zurückzuweisen. Die der erkennenden Subjektivität zugänglichen allgemeingültigen und notwendigen Strukturen der Erkenntnis sind ihm zugleich die Strukturen der Vernunft. Diese transzendentalen Strukturen, welche seine ‚Metaphysik der Subjektivität’ klärt, sind damit zugleich die Strukturen des Vernünftigen. Für den Bereich der praktischen Philosophie bedeutet dies, dass auch die Prinzipien der Sittlichkeit, als subjektive Handlungsgründe, somit eo ipso vernünftige sein müssen. Bloß anders als in der theoretischen Philosophie, wo Subjektivität und Natur auseinandertreten, wo Natur das zu Erkennende Andere, das der „Affizierung Bedürftige“, der Subjektivität ist, geht in der praktischen Philosophie die Trennung durch das Subjekt selbst. Dies ergibt sich aus der fundamentalen Rolle der Freiheit für mögliche Sittlichkeit, die – obwohl nach den Ergebnissen der theoretischen Philosophie gerade kein möglicher Erkenntnisgegenstand, sondern nur eine Idee – postuliert werden muss, wenn wir die Wirklichkeit des Sittlichen konzedieren. Damit gerät dies in Widerstreit mit der Auffassung der durchgängigen kausalen Bestimmtheit der Natur, zu der der Mensch als empirisches Wesen auch gehört. Denn für den Bereich der Welt der Erscheinungen, im System der Erfahrung, sind die Erscheinungen als nach dem Kausalgesetz verknüpft zu betrachten, denn ohne dessen unbedingte Geltung würde „der Zusammenhang nach allgemeinen Gesetzen sich einander nothwendig bestimmender Erscheinungen, den man Natur nennt, […] verschwinden“ 27 . 27

KrV, B 479.

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Dies gilt Kant aber nur für die Natur- bzw. Erfahrungserkenntnis. Freiheit als ein transzendentales Vermögen der Subjektivität könne aber angenommen werden, sofern es als außerhalb der Welt der Erscheinungen angesetzt werde. Im Rahmen der Kantischen Unterscheidung zwischen phänomenalem und noumenalem Bereich kann der Widerspruch vermieden werden, wenn Freiheit nur als außerhalb des Phänomenalen, als des Erfahrbaren, liegend angesehen wird. In einer intelligiblen Welt kann Kausalität durch Freiheit angenommen werden, auch wenn in der empirischen ausnahmslos alles kausal bestimmt ist. D.h. an die transzendentale Idee der Freiheit knüpft Kant nun den praktischen Begriff der Freiheit. Wir müssen sie als Bedingung postulieren, wenn wir von der Wirklichkeit des Sittlichen ausgehen. 8. Selbstbestimmung ist positive menschliche Freiheit Kants Postulat, wonach der Mensch Zweck an sich selbst ist, und daher auch in allen Handlungen zugleich als Zweck zu betrachten sei, ist die eigentliche Grundlage seiner Ethik. Betrachten wir näher, was die Subjektivität, die Persönlichkeit, die unbedingter Zweck sein soll, bei Kant charakterisiert. Praktische Subjektivität – als eigentlich menschliche Subjektivität – ist charakterisiert durch Autonomie, die Fähigkeit der Selbstbestimmung als Selbstgesetzgebung durch Vernunft. Nun gibt Freiheit als bloße Unabhängigkeit von kausaler Bestimmung verstanden nurmehr eine negative Charakterisierung. Freiheit als Gesetzlosigkeit des Handelns wäre die bloße Freiheit der Willkür; in ihr findet sich noch nichts von dem, was Kant zufolge den Wert der Person gerade auszeichnet – nichts, worin sich Subjektivität als bestimmend zeigt 28 . Aber gerade um eine solche Bestimmung ist es Kant zu tun. Soll demnach Handeln aus Freiheit zugleich vernünftig

28

Freiheit so als „subiective Gesetzlosigkeit „im Sinne reiner Willkür verstanden, ist für Kant sogar etwas, das der eigentlich menschlichen Natur in keiner Weise entspricht: Denn dies hat zur Folge dass man dann gar nicht weiß, „nach welcher Regel man seine eigenen oder anderer Menschen Handlungen beutheilen soll. Einfälle, seltsamer Geschmak, böse oder leere Grillen könen Wirkungen hervorbringen, auf die Man nicht vorbereitet war. Sie verwirret also. Die gantze Natur, wenn sie sich nicht selbst obiectiven Regeln unterwirft, die aber nichts anderes seyn können als die Allgemeinen Bedingungen der Einstimmung mit der Natur überhaupt, wird dadurch in Verwirrung gebracht. Daher ohne moralische Gesetzte der Mensch selbst unter das Thier verächtlich und mehr als dasselbe hassenswürdig wird. Wer nach obiectiven Gesetzen nicht verfährt, muß nach physischen gezwungen werden.“ ( Refl, Nr. 6960, AA 19, 214) Und so kann er auch sagen: „Der Werth der Person beruht auf der mit sich selbst nach ursprünglichen Regeln einstimmigen Freyheit.“(Refl, Nr. 6861, AA 19, 183).

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sein, so muss sich hier Subjektivität zeigen. D.h. Freiheit muss auch positiv, als das, wie Subjektivität Freiheit verwirklicht, charakterisiert werden. Vernunft zeichnet sich nun aber, wie bereits die theoretische Philosophie Kants ausführt, durch die Merkmale der Allgemeinheit und Notwendigkeit, also durch Gesetzmäßigkeit aus. Autonomie im Sinne von Willensbestimmung durch Subjektivität zeigt sich somit erst dann, wenn sich in ihr zugleich praktische Gesetzgebung durch eine reine Subjektivität zeigt. Bloße Willkür ist zwar Voraussetzung der Autonomie der Person, diese erschöpft sich aber nicht darin: „Die reine Willkühr liegt jeder anderen zur Bedingung (conditio sine qua non); denn sie ist die Bedingung der […] Möglichkeit der Handlungen aus allgemeingültigen principien. folglich des Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der freyheit und der Bestimmung dieses an sich Gesetzlosen Vermögens nach Regeln.“ 29 Handlungsbestimmung durch reine praktische Subjektivität ist für Kant daher: „Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist“ 30 . Moralität ist für Kant Betätigung der Freiheit in diesem Sinne: „reine Willkühr aus Grundsätzen“ 31 . Moralisch relevante Freiheit ist für Kant somit niemals bloß negative Freiheit der Willkür, Wahlfreiheit, die keinem bestimmenden Prinzip folgt; sondern sie ist etwas, das zugleich einer allein durch die Vernunft gegebenen praktischen Gesetzlichkeit, „als einer für sich allein hinreichenden Triebfeder der Willkür“ 32 , folgt. Moralität als tätige Freiheit zeichnet allein die Spontaneität der vernünftigen Subjektivität aus. Wie aber schon die Spontaneität der erkennenden Subjektivität nichts Planloses und Willkürliches ist, sondern sich gerade in ihrer gesetzmäßigen Strukturierungsleistung zeigt, so sieht Kant auch die Spontaneität als praktische Freiheit als gesetzesartig bestimmend an 33 . Subjektivität ist als Bewußtsein sowohl wie als Wille insofern vernünftig, als sie gesetzmäßig, d.i. allgemeingültig und notwendig bestimmt. Nur indem sie als nicht bloß kontingent Gegebenes erfassbar ist, ist sie als Subjektives erkennbar. Die bestimmte, eigentümliche Gesetzmäßigkeit, nach der die reine praktische Vernunft, als Subjektivität, den Willen bestimmt, ist die des Sittengesetzes.

29 30 31 32 33

Refl, Nr. 6948, AA 19, 211. KpV, AA 5, 87; vgl. auch Refl, Nr. 1522. Refl, Nr. 6846, AA 19, 177; ganz in diesem Sinne auch die Refl, Nr. 7062, AA 19, 239 wo es heißt: „Freyheit überhaupt unter Gesetzen ist Moralitaet.“ RGV, AA 4, 69. Vgl. KpV, § 194, AA 5.

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Nur dann, wenn sich die moralische Persönlichkeit, als vernünftige durch das Sittengesetz in ihren Handlungsmaximen bestimmt, ist sie Autonomie, welche das im Menschen zur Geltung bringt, was den Wert eines Zweckes an sich hat. Denn nur das Allgemeingültige und Notwendige ist Selbstgesetzgebung aus Spontaneität, auf der für Kant der „Wert der Person“ beruht. 34 Das Handeln eines rein vernünftigen Wesens wäre also eo ipso moralische Selbstbestimmung. Da der Mensch aber ein „bedürftiges Naturwesen“, Natur und Vernunft ist und er auch Antriebe durch die empirische Neigung erfährt, zeigt sich die Vernunft in ihm als Pflicht. Handeln aus bloßer Neigung ist demnach die ständig drohende Gefahr der Heteronomie, selbstverschuldete Unmündigkeit, da er auf die Stimme der Vernunft in ihm hören kann. Selbstbestimmung betrifft bei Kant daher immer nur die Subjektivität als moralische Persönlichkeit, die ihm das ‘eigentliche’ Selbst ist, wobei Selbstbestimmung somit Autonomie als positive Freiheit der noumenalen Persönlichkeit ist, und Selbstbestimmung bei Kant daher immer Selbstbestimmung im Gegensatz zu empirischer, neigungsbedingter Handlungsbestimmung ist. Selbstbestimmung ist für ihn keine Freiheit der Willkür, sondern Selbstbestimmung durch das Vernünftige im Menschen. Kant hat die Selbstbestimmung zur Grundlage von Moral gemacht. Selbstbestimmung durch Vernunft und Moralität fallen so zusammen. Aber es ist auch schon eine materiale Vernunft. Vernünftige Wesen sind dem Sittengesetz nicht nur unterworfen, Vernunft ist auch dessen Quelle 35 . D.h. der Kategorische Imperativ entspringt der Subjektivität und dient deren Selbstbestimmung. Selbstbestimmung als Autonomie ist nur sittliche Selbstbestimmung; verhinderte Selbstbestimmung – Entfremdung – ist Heteronomie. Von zentraler Bedeutung ist somit, dass Kant eine Zielsetzung im Sinne einer Konzeption des guten Lebens des Menschen – die Selbstzwecklichkeit des Menschen – als das Worumwillen der Moralität einführt. Bedeutsam ist weiterhin, dass ihm Kant diese Selbstzwecklichkeit nur als „vernünftige Natur“ beimisst, was für ihn dasselbe heißt wie das, was Subjektivität eigentlich – ‚transzendental’ – ausmacht. Die Schwierigkeiten der Kantischen Ethik entstehen nun gerade dadurch, dass Subjektivität, Vernunft sowie Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit aus systemimmanenten Zwängen zusammengeschlossen werden. Die Selbstzwecklichkeit – weil inhaltlich – ist damit nicht mehr einsichtig, erhält den Status eines postulierten, aber systemwidrigen „Faktums der Vernunft“. Die Frage ist, ob die Probleme der Kantischen Ethik nicht gerade in der Engführung von Subjektivität als bloßer Vernunft, d.h. durch die I34 35

Refl, Nr. 6861, AA 19. Körner, Stephan, Kant, 2. unveränd. Aufl., Göttingen 1980, 123.

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dentifizierung des Subjektiven mit dem Allgemeingültigen und Notwendigen und dem Ausschluss des Materialen zu tun haben. Denn sprengt nicht bereits das Postulat der Selbstzwecklichkeit der Subjektivität als Vernunft den selbstgesetzten Rahmen und wird dessen Vernünftigkeit nicht nur dadurch vorgetäuscht, dass es einfach vernünftig genannt wird? Für die hier ins Auge gefassten systematischen Probleme einer EthikBegründung bedeutsam ist zunächst die fundamentale Rolle, die Kant der Selbstbestimmung hierfür einräumt: Moralität ist Handeln um der Selbstbestimmung als absolutem Zweck willen. Unbefriedigend bleibt im Weiteren allerdings die Begründung hierfür, die letztendlich auf ein bloßes Postulat mit einem nur prätendierten Anspruch auf Vernunft ist, obwohl Vernunfteinsicht nach Kant Inhaltlichkeit gerade ausschließt. Der Stellenwert der Moralität ergibt sich bei Kant erst daraus, dass eigentliches, höheres Menschsein bedeutet, durch Vernunft zu handeln. Willensbestimmung durch Vernunft ist aber eo ipso kategorische. D.h. sofern ich moralisch, d.h. als Vernunftwesen handele, handele ich trefflich in bezug auf mein Menschsein. Die ‚Arete’ des Menschen ist bei Kant also allein durch Orientierung an Vernunft bestimmt. Wir können aber weiter fragen, ob der Gedanke der Selbstbestimmung als Lebensführung aus Prinzipien menschlicher Subjektivität als Grundlage von Moralität – unabhängig von seiner Einbettung in die Kantische Konzeption der Philosophie – nicht systematisch fruchtbar gemacht werden kann. Die Denker des Deutschen Idealismus sehen die Defizite der Kantischen Philosophie deutlich. Hegel schließlich überbietet mit seiner Lösung geradezu den Kantischen Ansatz, indem er Subjektivität als ein reicheres Vermögen ansieht, das mehr vermag, als nur formale Bedingungen von Erkennen und Handeln bereitzustellen; aber er folgt Kant durchaus darin, Subjektivität und Vernunft aneinanderzuketten. Seine ‚Lösung’ besteht darin, Subjektivität zu hypostasieren und alles Wirkliche zum Ausfluss von Subjektivität zu machen, wodurch es als vernünftig anzusehen ist und einsehbar wird. Vernunft, als absolute Vernunft – und das heißt als die eines göttlichen Subjektes – ist so zugleich materiale Vernunft. Substantialität und Vernünftigkeit scheinen so keinen Gegensatz mehr zu bilden. Wenn wir somit Kants Engführung von Selbstbestimmung als Autonomie im Sinne von Selbstbestimmung, die eo ipso Selbstbestimmung durch Vernunft ist, in dem von ihm qualifizierten Sinne nicht mitmachen und Subjektivität als inhaltlich reicheres Vermögen fassen, ohne jedoch – wie Hegel – alle Inhaltlichkeit sofort wieder als vernünftig zu hypostasieren, aber gleichwohl an der Selbstbestimmung als Grundlage und Sinn von Moralität festhalten, so erhalten wir zweierlei: Wir können zum einen in die Selbstbestimmung von Subjekten auch Inhaltliches mit einbeziehen,

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ohne empirische und vernünftige Subjektivität zu entzweien und zum anderen Moralität auf das telos des guten Lebens beziehen, ohne beide zu identifizieren.

II. Glück und Moral Das eigentliche gute Leben besteht in Kants Verständnis nicht im Erreichen des Zieles der Glückseligkeit, sondern in der moralischen Lebensführung. Dies liegt für ihn darin begründet, dass sich nur in der moralischen Lebensführung Vernunft – und das heißt: Subjektivität – zeigt. Mit dieser Vorgabe treten Glücks- und Pflichtorientierung in ein Spannungsverhältnis. Moralische Lebensführung ist nicht auf einen Endzweck bezogen. Zielorientierung und Moralität schließen einander bei Kant grundsätzlich aus. Nun hat allerdings auch Kant, worauf bereits Schopenhauer aufmerksam gemacht hat 36 , die Verbindungen zwischen Moralität und Glück nicht völlig zerschnitten. Wer nur gemäß dem Sittengesetz handelt, weil er sich im Diesseits oder im Jenseits eine belohnende und strafende – ausgleichende – Gerechtigkeit erwartet, verfehlt nach Kant Moralität von vorn herein; denn diese ist frei von (empirischen) Zielen als Triebfeder (Motivation). Aber auch wenn Moralität nie im Dienste eines Zieles stehen könne, so könne sich die Vernunft dennoch nicht der Frage nach dem Sinn moralischen Handelns als des höchsten Gutes entziehen. Das oberste für den Menschen anstrebbare Gut, in dem er sich als Mensch bewähren könne, sieht Kant darin: das eigentlich Menschliche in sich – im bedürftigen Vernunftwesen – zu verwirklichen; und das heißt gemäß autonomer Willensbestimmung praktisch vernünftig zu handeln. Oberstes Gut ist somit nicht die Glückseligkeit 37 , sondern die vollendete Tugend – verstanden als Moralität. Dennoch gibt es eine Verbindung zwischen Tugend und Glück: In der sich durch diese moralische Motivation einstellenden Handlungsorientierung könne der Mensch zwar um seine Glückswürdigkeit wissen; dies heiße aber nicht, dass der glückswürdige Mensch auch tatsächlich glücklich werde. Glückseligkeit sei nicht notwendig proportional zur Glückswürdigkeit, wenngleich eine der gelebten Sittlichkeit angemessene Glück36

37

Die beiden Grundprobleme der Ethik. Behandelt in zwei akademischen Preisschriften, zweite verbesserte und vermehrte Aufl. Leipzig 1860, II. Über das Fundament der Moral, §§ 3-6 (Meiner Ausgabe 15-52). Glück allerdings verstanden als Inbegriff der vollständigen Erfüllung aller je auftretenden Interessen und Sehnsüchte. Es ist dort, wo alles menschliche Verlangen endgültig gestillt ist; es ist totale Versöhnung.

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seligkeit das höchste Gut wäre 38 . Die Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit sei nur das zu erhoffende höchste Gut, nämlich dass der Tugendhafte gemäß seiner Tugend belohnt werde. D.h. ein Leben in Tugendhaftigkeit begründet aus Kants Sicht zwar keinen Anspruch auf Glück, da ansonsten Tugend zum Mittel der Glückseligkeit herabsänke; es berechtigt aber, als gutes Leben, zur Hoffnung. Das gute Leben ist für Kant demnach der Inbegriff einer Handlungsorientierung, die man in Übereinstimmung mit dem Sittengesetz wollen kann, ohne dass daran die Erwartung eines Zielzustandes als Motivation geknüpft ist. Moralisch zu handeln gibt die grundlegende Orientierung für die Lebensführung mit der Hoffnung, dadurch ein möglichst gelungenes Leben erreichen zu können. Deshalb waren für ihn alle ethischen Konzeptionen, die von einem zu erreichenden Ziel des Handelns, einem zu begehrenden Gegenstand – sei es Glückseligkeit, Vollkommenheit, ein bestimmtes Gefühl oder auch der Wille Gottes – ausgehen, eigentlich keine wirklichen ethischen Theorien autonomer Willensbestimmung, denn mit solchen Bestimmungsgründen sei ihre Grundlage „allemal Heteronomie gewesen: sie mussten unvermeidlich auf empirische Bedingungen zu einem moralischen Gesetz stoßen: weil sie ihren Gegenstand, als unmittelbaren Bestimmungsgrund des Willens, nur nach seinem unmittelbaren Verhalten zum Gefühl, welches allemal empirisch ist, gut oder böse nennen konnten.“ 39 Dass Kant trotz dieser ausdrücklichen Abgrenzung im Grunde dennoch gutes Leben als vollendet menschliches Leben und Glück zusammendenkt, das zeigen seine Überlegungen zu einem Idealzustand, in dem alle vernünftigen Wesen als „heilig“ gedacht werden: Dies ist der gedachte Zustand des Menschen in vollendeter Tugend, der Zustand uneingeschränkter Angemessenheit der Gesinnung an das Sittengesetz. Diese „Heiligkeit“ ist allerdings nur eine gedachte Vollkommenheit, „deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkt seines Daseins fähig ist“ 40 . Aber auch wenn es nur ein Idealzustand bedürftiger Vernunftwesen ist, so sollten sie zumindest in diesem Zustand auch in dem Maße und der Art glückselig sein, wie sie es verdienen – und dies heißt: im Grade ihrer Glückswürdigkeit. Damit müsse dieser Zustand aber auch möglich sein, denn Verpflichtung erheische die (Denk-)Möglichkeit der Verwirklichung, und diese erfordere neben der „Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauerenden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens“ (ibid.) auch die Voraussetzung der Existenz Gottes. Denn: „Wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muss) zu befördern suchen. Also wird auch das Dasein einer von der Natur un38 39 40

KrV, A 223-224. KrV, A 114. KrV, A 220.

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terschiedenen Ursache der gesamten Natur, welches den Grund […] der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit enthalte, postuliert.“ 41 Kant will damit zum Ausdruck bringen, dass das höchste Gut, die Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, nur als realisierbar zu denken ist, wenn Gott existiert. Wichtig für die ethische Problematik sind bei diesen Überlegungen nicht die theologischen Implikationen, wie sie etwa Schopenhauer denunziert, sondern die Bedeutsamkeit, die selbst Kant damit dem Zusammenhang von Moralität und Glückseligkeit einräumt. Alle diese Überlegungen – samt ihren theologischen Konsequenzen – wären nämlich überflüssig, wenn nicht zumindest die Vorstellung des möglichen Glückes, als eines mit der Tugendhaftigkeit verbundenen Sinnhorizontes, sogar für ihn eine wichtige Rolle ethischen Denkens spielte. So erwünscht ihm die theologischen Verbindungen sein mochten, die Postulierung der Existenz Gottes (und der Unsterblichkeit der Seele) gehen überhaupt nur aus der Moral hervor, weil im Ideal des guten Lebens Tugend als autonomes Handeln korrelativ auf die Glückseligkeit bezogen wird: Die ewige Fortdauer der Persönlichkeit erlaubt die Vollendung der Sittlichkeit als unbedingte Herrschaft der praktischen Vernunft im Handeln. Der Preis dieser neuerlichen Verbindung von Glückseligkeit und Tugend besteht darin, dass eine Zuteilung von Glück gemäß der Glückswürdigkeit erst im gedachten Jenseits realisierbar ist. Die Annahme der Existenz Gottes erlaubt es, die Möglichkeit der Annäherung an das höchste Gut zu denken. Unsterblichkeit wird als Bedingung der Heiligkeit und das Dasein Gottes als die Bedingung der Möglichkeit von Übereinstimmung von Tugend und Glückseligkeit gedacht. Auch wenn Kant nicht der Auffassung ist, es sei „zur Sittlichkeit notwendig, die Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität anzunehmen“, sondern umgekehrt: es sei „durch sie notwendig“, so bleibt doch bestehen, dass er Glückseligkeit und Verwirklichung des Menschseins zusammenschließt. Ohne dies wäre die Postulierung einer unsterblichen Seele und der Existenz Gottes überflüssig. Somit liegt selbst bei Kant der Sinn der Selbstbestimmung im transzendenten Telos der Verbindung des guten Lebens mit der Glückseligkeit. Zugleich ist das gute Leben das selbstbestimmte. Aber nur eigentliche Selbstbestimmung, d.h. solche gemäß der Vernunft, verweist aufs Glück. Dem Vorwurf der Wiedereinführung heteronomer Motive entgeht Kant dadurch, dass er die Erwartung des Glücks als empirisches Ziel ersetzt durch die Hoffnung auf Glückseligkeit gemäß der Glückswürdigkeit, welche Handlungsmotivation frei von Zielen erheischt. Kant will also Tugend und Glück auseinandergehalten wissen und sieht es geradezu als den Kar41

KrV, A 225.

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dinalfehler der antiken Ethiker an, „daß sie Tugend und Glückseligkeit nicht als zwei verschiedene Elemente des höchsten Guts gelten ließen“ 42 . Es liege ein grundlegender Fehler darin, „zwischen äußerst ungleichen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend, Identität zu ergrübeln“ 43 . Damit zeigt sich, dass Ethik, selbst in der rigorosen Form der Kantischen Pflichtenethik, nicht unabhängig von der Idee des guten Lebens, als erfülltes, sinnvolles und glückliches Leben zu denken ist. Es wäre daher falsch, Moralität und gutes Leben zu trennen, oder das eine auf das andere reduzieren zu wollen. Wichtig ist es allerdings, deren Beziehung aufeinander genau zu bestimmen, ohne dabei die alten Probleme objektivistischer Ethiken zu reproduzieren. Wichtig an diesen Überlegungen ist zum einen, dass Glück schon bei Kant ein eigentümlich uneigentliches Ziel ist: „Allein, es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d.i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein ansolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist. Nun ist’s unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle.“44

Man kann sich nicht das Ziel setzen, glücklich zu werden und dann daran gehen, dieses Ziel zu verwirklichen. Glück kann nur eine Begleiterscheinung sinnvoller Lebensführung sein und somit etwas, dessen Auftreten wir lediglich erhoffen können; zum anderen schließen sich Glück und selbstbestimmte Lebensführung – Moralität als Motivation – unter bestimmten Voraussetzungen gar nicht aus, weil das gute, und d.h. das moralische Leben aufs Glück verweist. Eigentliche Subjektivität, mithin Spontaneität und Autonomie des Handelns, gehen für Kant immer nur auf das Vernünftige – und das ist das Verallgemeinerbare: „Die Natur hat gewollt, daß der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringt und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommenheit teilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinkt, durch eigene Vernunft verschafft hat.“45

Dagegen kann jede individuelle Orientierung am Glück immer bloß empirisch motiviert und somit heteronom sein. 42 43 44 45

KrV, A 200. KrV, A 201. GMS, AA 4, 418. IaG, AA 8, 19.

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„Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an […], und ein subjektiv notwendiges Gesetz (als Naturgesetz) ist also objectiv ein gar sehr zufälliges praktisches Princip, das in verschiedenen Subjecten sehr verschieden sein kann und muß, mithin niemals ein Gesetz abgeben kann.“ 46

Moralität als Inbegriff selbstbestimmter, d.h. im eigentlichen Sinne menschlicher Lebensführung, will aber gerade die „auf Neigung gegründete Maxime“ einschränken, „um ihr die Allgemeinheit eines Gesetzes zu verschaffen und sie so der reinen praktischen Vernunft angemessen zu machen“ 47 . Apriorische Strukturen des Daseins im Sinne der „Jemeinigkeit“ sind für Kant undenkbar. Handeln aus Moralität dient nicht dazu, uns glücklich zu machen; es macht uns nur glückswürdig. Moral ist nicht „die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen“ 48 . Für Kant schließt demnach ein Leben in Selbstbestimmung ein an Glück orientiertes Leben aus. Denn menschliche Selbstbestimmung ist wesentlich Selbstbestimmung durch Vernunft; Orientierung an Glückseligkeit ist dagegen immer heteronom. Den Grund hierfür sieht Kant darin, dass ein notwendiger Inhalt der Glückseligkeit nicht angebbar ist, sondern der Inhalt für jedes Individuum ein anderer, mithin kontingenter ist. Den Inhalt dessen, was ihn glücklich macht, entwirft sich jeder Mensch selbst „und zwar auf so verschiedene Art durch seinen mit der Einbildungskraft und den Sinnen verwickelten Verstand, er ändert sogar diesen so oft, daß die Natur, wenn sie auch seiner Willkür gänzlich unterworfen wäre, doch schlechterdings kein bestimmtes allgemeines und festes Gesetz annehmen könnte, um mit diesem schwankenden Begriff und so mit dem Zweck, den jeder sich willkürlicherweise vorsetzt, übereinzustimmen. Aber selbst, wenn wir entweder diesen auf das wahrhafte Naturbedürfniß, worin unsere Gattung durchgängig mit sich übereinstimmt, herabsetzen, oder anderseits die Geschicklichkeit, sich eingebildete Zwecke zu verschaffen, noch so hoch steigern wollten: so würde doch, was der Mensch unter Glückseligkeit versteht, und was in der That sein eigener letzter Naturzweck (nicht Zweck der Freiheit) ist, von ihm nie erreicht werden; denn seine Natur ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden.“ 49

Der hauptsächliche Grund, warum Kant Orientierung am Glück als moralische Motivation oder erkennbare Orientierung ausschließt, ist sein Verständnis des guten menschlichen Lebens als des moralischen Lebens und das heißt wiederum als des Vernünftigen, das immer das Merkmal des 46 47 48 49

KrV, § 3 (Anm. II) A 46. KrV, §8 (Anm. I), A 61. KrV, A 235. KU, AA 5, § 83, 430.

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Allgemeinen, des Gesetzmäßigen, aufzuweisen hat. Da Glück auf bestimmte Inhalte verweise, solche Inhalte aber nicht als notwendige Ziele nachweisbar seien, müssen diese empirische und Willensbestimmung durch sie mithin heteronom sein. Interessanterweise scheidet Kant auf der einen Seite Orientierung am Glück als heteronome Willensbestimmung aus, verweist auf der anderen aber dennoch darauf, dass der Inhalt des Glücks nicht empirisch bestimmbar ist. Glück als orientierender Selbstentwurf ist nämlich durch Jemeinigkeit bestimmt; es entzieht sich damit einer transzendentalen und einer anthropologischen Bestimmung Wenn wir die Strukturen der Subjektivität nicht nur im Allgemeingültigen und Notwendigen, in einem ‚Wesen’ suchen, sondern das menschliche Dasein als das Sein, das wir „je selbst“ sind, betrachten, das Sein des Seienden somit je Besonderes, Einzelnes – je meines – ist, so kann man in Anlehnung an Heidegger durchaus sagen: „Das ‘Wesen’ des Daseins liegt in seiner Existenz“ 50 . D.h. der so verstandenen Existenz kommt der Vorrang vor aller Wesentlichkeit zu. Dasein ist ‘wesentlich’ je mein Dasein; weshalb dessen Struktur nie das der Spezies als einer Gattung des Seienden sein kann. Dies zu unterstreichen kann man mit Heidegger vom „Charakter der Jemeinigkeit“ sprechen (SuZ, 42). Fassen wir als ‚ontologisches‘ (existentiales) Faktum der subjektiven Existenz auf, dass Inhalte der Selbstbestimmung immer nur etwas je für mich Gegebenes sind, so ist Glück selbst ein „Existential“. Wir können dann sagen, Glück ist das, was wir je erhoffen können, wenn wir ein Leben in Verwirklichung selbstbestimmter, ‚jemeiniger‘ Inhalte leben. Glück ist somit ein nur ‚uneigentliches’ Ziel, etwas, dessen Erkenntnis auf Reflexion beruht. Auch Kant sah dies durchaus, dass Glück seiner Form nach schon Besinnung ist: „Die Materie der Glückseeligkeit ist sinnlich, die Form derselben aber ist intellectuel“ 51 . Glückseligkeit, heißt es weiter, bestehe zwar im „Wohlbefinden“, aber eben insofern, als „es nicht äußerlich zufällig ist, auch nicht empirisch abhängend, sondern auf unserer eigenen Wahl beruht.“ 52 Sie ist „die Lust, aus dem Bewußtseyn seiner Selbstmacht, zufrieden zu seyn.“ (ibid.) Es ist mithin Ergriffensein vom Bewußtsein in Verwirklichung der selbstbestimmten Inhalte zu leben oder gelebt zu haben. Wegen dieses Zusammenhanges des Glückes mit der Selbstbestimmung kann es für Kant auch den Zusammenhang zwischen vernünftiger Selbstbestimmung und Glückseligkeit geben: Der Wert der Tugend beruht 50 51 52

Heidegger, Martin, Sein und Zeit (SuZ) (1927) 7. Aufl. Tübingen, 1993, 42. Lose Blätter aus Kants Nachlass, mitgetheilt von Rudolf Reicke, Erstes Heft, Königsberg in Pr., 1889, 6., 9. Lose Blätter aus Kants Nachlass 6., 10.

Vernünftige Selbstbestimmung und gutes Leben

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darauf, dass sie „Selbstzufriedenheit“ 53 mit sich bringt, die auf Freiheit beruht. Glück ist in der Reflexion; Glückseligkeit ist „nicht etwas Empfundenes, sondern Gedachtes“ (ibid.) Und da Glück auf Selbstbestimmung beruht, wird für Kant unter seinen Prämissen das eigentliche Glück „durch moralische Kategorien“ vorgestellt: „Moralität ist die Idee der Freyheit als eines Princips der Glückseeligkeit (regulatives Princip der Glückseeligkeit a priori). Daher müssen die Gesetze der Freyheit unabhängig von der Absicht auf eigene Glückseeligkeit gleichwohl die formale Bedingung derselben a priori enthalten.“ 54

Glück – und sein Gegenteil, das Elend – ist somit etwas Intellektuelles. „Glück und Elend sind nicht empfunden, sondern auf bloßer Reflexion beruhende Zustände“. Verstehen wir nun Selbstbestimmung nicht mehr als Durchsetzung des Subjektiven nur wie Kant gleichbedeutend mit Durchsetzung des Allgemeinen im Sinne einer Spontaneität des Handelns transzendentaler Subjektivität, dann schließen sich Selbstbestimmung des Subjektes und dessen Streben nach Glück nicht mehr aus. Schließlich will Kant selbst den erkennbaren Grundriß eines guten Lebens geben; es ist ihm das selbstbestimmte – trotz aller Engführung von Selbstbestimmung als Vernunft 55 . Besteht Moralität wesentlich in der Handlungsmotivation im Dienste der Selbstbestimmung, so ist von Neuem nach dem Verhältnis von Selbstbestimmung, gutem Leben und Glück zu fragen. Wenn wir, durchaus in Einklang mit Kant, das gute Leben als das verwirklichte selbstbestimmte verstehen – allerdings ohne seine Beschränkung der Selbstbestimmung auf in seinem Sinne vernünftige Selbstbestimmung –, so können wir sagen, dass Glück sich als Folge eines gelungenen Lebens einstellen kann, d.h. ein selbstbestimmtes Leben ist noch nicht mit einem affektiven und kognitiven Zustand der Zufriedenheit gleichzusetzen; es kann als ein Ideal eingesehen werden, das zwar nicht notwendig zu realisieren ist, aber dennoch den Horizont menschlicher Handlungsorientierung bildet. Glückseligkeit ist dann ein möglicher idealer Zustand, der sich einstellen kann, wenn jemand gemäß seiner Selbstbestimmung sein Leben führt und führen kann. Über dabei anzustrebende Inhalte läßt sich dabei allerdings notwendig nichts Allgemeines sagen, da diese eo ipso immer je meine sind. Etwas sagen läßt sich jedoch über die Bedingungen der Verwirklichung. Der Konflikt zwischen Moral und Glück ist demnach aufzulösen: Glück können wir aufs ganze Leben – oder Teile desselben – besehen erhoffen, wenn wir uns eingedenk der Fähigkeit zur Selbst53 54 55

Lose Blätter aus Kants Nachlass 6., 11. Lose Blätter aus Kants Nachlass 6., 13. Man denke hier nur an das Pathos des Anfangs der „Aufklärungsschrift“.

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bestimmung orientieren. Der dem Menschen mögliche Blick aufs Leben als ganzes schafft erst den Konflikt zwischen selbstbestimmtem Handeln und der momentanen Einschränkung von Zielerreichungen und damit von episodischem Glück, wenngleich auch im Interesse eines guten – somit glückswürdigen – Lebens aufs Ganze besehen.

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Macht das Sittengesetz unglücklich?

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Macht das Sittengesetz unglücklich? Bertram Kienzle

Ich beginne mit einer Selbstverständlichkeit. Natürlich zielt die Frage aus der Überschrift auf das Sittengesetz, wie es von Kant konzipiert wurde. Schließlich gehört dieser Vortrag ja in eine Ring-Vorlesung zum Gedächtnis der 200. Wiederkehr des Todestages von Immanuel Kant. Es wäre jedoch einfach zu umständlich gewesen, die Frage so zu formulieren: „Macht das Sittengesetz im Kantischen Sinne dieses Terminus unglücklich?“ Aber genau so ist sie gemeint. Kant selbst hätte darauf wohl mit „Das Sittengesetz kann unglücklich machen, muss es aber nicht“ geantwortet. Friedrich Schiller dagegen scheint einem eindeutigen „Es muss unglücklich machen“ angehangen zu haben. In einem berühmt-berüchtigten Xenion mit dem Titel „Gewissensskrupel“ 1 dichtet er: „Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, und so wurmt es mir [sic!] oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“

Und die Auflösung dieser Skrupel folgt sogleich in einem Xenion mit dem Titel „Decisium“ 2 : „Da ist kein anderer Rat, du musst suchen, sie zu verachten, und mit Abscheu alsdann tun, was die Pflicht dir gebeut.“

Wenn diese Verse tatsächlich ernst gemeint sein sollten, so verraten sie ein grobes Missverständnis der Kantischen Lehre. Wenn uns das Sittengesetz wirklich unglücklich machen würde, wäre es widernatürlich und falsch. Kants ipsissima verba können gegen Schiller ins Feld geführt werden: „Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört, und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses und wo möglich auch eines zukünftigen Lebens, zu machen.“ (KpV, AA 5, 61)

1

2

Schiller, Friedrich, Werke, begr. von Julius Petersen. Fortgef. von Lieselotte Blumenthal. Hrsg. im Auftr. der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Norbert Oellers. Nationalausgabe, Bd. 1, Weimar 1943, 357. Ebd.

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Nicht weniger deutlich ist die folgende Bemerkung Kants: „[…] diese Unterscheidung des Glückseligkeitsprinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht sofort Entgegensetzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, so bald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen.“ (KpV, AA 5, 93)

Man könnte dem Schillerschen Xenien-Paar ein Paar entgegensetzen, das der Kantischen Auffassung des Verhältnisses von Pflicht und Glück oder, wie Kant zu sagen pflegt, Glückseligkeit, die in den beiden eben zitierten Stellen zum Vorschein kommt, gerechter wird: Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider aus Neigung, und so wurmt es mir [sic!] oft, dass ich nicht tugendhaft bin. Da ist kein anderer Rat, du musst suchen, sie hochzuachten, und aus Achtung alsdann tun, was die Pflicht dir gebeut.

Ich habe am Schillerschen Original ganze vier Wörter geändert: „Abscheu“ und „verachten“ habe ich durch „Achtung“ und „hochachten“ ersetzt, welche Wörter den entgegengesetzten Inhalt transportieren. Doch wichtiger ist die zweimalige Ersetzung des Wörtchens „mit“ durch das Wörtchen „aus“. Mit dem letzteren nennt man das Motiv, das einen zum Handeln bestimmt: man tut etwas z.B. aus Achtung fürs Gesetz oder aus unüberwindlicher Abneigung; und mit dem ersteren nennt man einen Begleitumstand des Handelns: man tut etwas beispielsweise mit Todesverachtung oder mit Neigung und Hingabe. Wenn Schiller die richtige, für die Nennung des Handlungsmotivs geeignete Präposition gewählt hätte, wäre er vermutlich auch auf die beiden anderen Änderungen gekommen. Jedenfalls halte ich es für unwahrscheinlich, dass er nicht bemerkt hätte, dass es völlig unkantisch wäre, zu sagen: „Da ist kein anderer Rat, du musst suchen, sie zu verachten, und aus Abscheu alsdann tun, was die Pflicht dir gebeut“. Denn nicht Abscheu, sondern Achtung ist ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ (GMS, AA 4, 401), das alle Neigung überwiegen und uns dazu bestimmen können soll, unsere Pflicht zu tun. Wenn wir unsere Pflicht tun, so nicht angetrieben von einem Gefühl der Abscheu (denn dieses entstammt unserer sinnlichen Abneigung), sondern weil wir uns von einem Gefühl der Achtung bestimmen lassen (denn nur dieses ist rein und damit der Apriorität der Sittlichkeit angemessen). Kants Gegenüberstellung von Pflicht und Neigung entspringt nicht dem Gegensatz zwischen Sinn- und Sittlichkeit, zwischen den niederen Beweggründen, welche Lust und Unlust darstellen, und dem hehren Beweggrund, den die Vorstellung der Pflicht abgibt, sondern vielmehr dem erkenntnistheoretischen Unterschied von Erfahrungsabhängig und -unabhängigkeit. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass alles, was moralisch ein-

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wandfrei ist, unabhängig von aller Erfahrung – kurz: a priori – sein muss. Aber was hat diese erkenntnistheoretische Eigenschaft mit Handlungsmotiven zu tun? Nun, diese Eigenschaft ist eine Art von Filter. Filter dienen dazu, bestimmte Dinge aus einer Reihe von Dingen auszusondern. Einen solchen Filter stellt die erkenntnistheoretische Eigenschaft der Apriorität dar. Nur Handlungsmotive, die nicht in ihm hängen bleiben, sind rein genug, um als moralisch einwandfrei zu gelten. Aber wie funktioniert dieser Filter eigentlich? Und was hat das Filtern von Handlungsmotiven mit Glück zu tun? Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen; dabei werden diese fünf Themen zur Sprache kommen: 1. Maximen 2. Maximen und Glück 3. Der sog. Universalisierungstest als Filter 4. Glück und Gesetz: die profane Konstruktion 5. Glück und Gesetz: die Kantische Konstruktion Hinter diesem Aufriss verbirgt sich der folgende Gedankengang: Wenn es um Handlungsmotive geht, geht es immer um Maximen. Sie sind die Dinge, die Kant erkenntnistheoretisch filtert, um die reinen von den unreinen zu trennen. Als Filter dient ihm dabei der sog. Universalisierungstest. Da alle Maximen letztendlich aus der eigenen Vorstellung von Glück entspringen, filtert dieser Test zwar gewisse Glück bringende Maximen heraus, lässt dafür aber andere, ebenfalls Glück bringende Maximen passieren. So kommt es, dass das Sittengesetz nicht unglücklich machen muss.

1. Maximen Handlungsmotive, die dem Kantischen Filtertest ausgesetzt werden sollen, müssen die Gestalt von Maximen haben, um von seinem Filter erfasst werden zu können. Was sind Maximen? Gehen wir von einem Beispiel aus: „(E)s kann sich jemand zur Maxime machen, keine Beleidigung ungerächt zu erdulden […].“ (KpV, AA 5, 19)

Um sich das zur Maxime zu machen, muss man nicht mehr und nicht weniger tun, als keine Beleidigung ungerächt erdulden wollen. So gesehen besteht eine Maxime darin, etwas zu wollen. Natürlich will man immer etwas Bestimmtes. Das Bestimmte, das man im Falle unseres Beispiels will, ist, keine Beleidigung ungerächt erdulden. Der bestimmte Inhalt des Willens kann nun mehr oder minder allgemein ausfallen. Wer keine Beleidigung von seinem Vorgesetzten ungerächt erdulden will, der hat keinen allgemeinen, sondern einen besonderen Willen; denn der Vorgesetze ist ja eine besondere Person. Wer dagegen grundsätzlich keine Beleidigung

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erdulden will, gehe sie nun von seinem Vorgesetzten oder von einer anderen Person aus, der hat einen eher allgemeinen Willen; denn inhaltlich gesehen bezieht sich sein Wollen auf niemand Besonderen, und auch sonst ist es in keiner Weise auf etwas Besonderes eingeschränkt. Es ließe sich ja z.B. denken, dass jemand nur solche Beleidigungen nicht ungerächt erdulden will, die ihm in der Öffentlichkeit zugefügt werden; doch das ist hier nicht der Fall. Ich habe mich vorsichtig ausgedrückt und gesagt, unser Willenssubjekt habe einen „eher“ allgemeinen Willen; denn ob er wirklich allgemein ist oder lediglich so aussieht, lässt sich nur auf der Grundlage einer Maxime in Normalform entscheiden. Wie sieht diese Normalform im Falle unserer Beispielmaxime aus? Nun, wer eine Maxime hat, also etwas will, der will es von jemandem. Ich kann von jemandem wollen, dass er etwas für mich tut, z. B. mich in einer bestimmten Angelegenheit berät; ich kann von ihm wollen, dass er etwas für jemand anderen tut, z.B. dass er ihm bei der Bewältigung einer bestimmten Aufgabe hilft. Aber von wem will ich etwas, wenn ich keine Beleidigung ungerächt erdulden will? Offenbar von mir selbst: Ich will, dass ich keine Beleidigung ungerächt erdulde. Dieser Satz spricht klipp und klar aus, was in der Maxime, „keine Beleidigung ungerächt zu erdulden“, bereits unausgesprochen enthalten war und bringt dabei ein weiteres inhaltliches Element des Willens an den Tag: die Person, von der etwas gewollt wird. Im Falle von Maximen ist das die Person, die etwas will. Maximen sind eben Grundsätze für das eigene Handeln. Nun können sich Personen in dem, was sie wollen oder, wie Kant lieber sagt, begehren, unterscheiden. Dank seines Begehrungsvermögens will der eine dieses und der andere jenes. Eine Übereinstimmung in dem, was verschiedene Personen begehren, wäre mehr oder weniger Zufall. Die Quelle, aus der die Maximen entspringen, wird von Kant auch als „Willkür“ (MS, AA 6, 226) bezeichnet. Demzufolge sind also die Unterschiede in den Maximen willkürlich und beruhen auf Unterschieden in den Begehrungsvermögen der Personen, die sie entworfen haben. Deshalb haftet einer Maxime der Gestalt „Ich will, dass ich keine Beleidigung ungerächt erdulde“ immer noch etwas Besonderes an. Es ist hinter dem Personalpronomen „ich“ verborgen. Dieses ist ein syntaktischer Indikator dafür, dass der Inhalt einer Maxime nicht unbedingt allgemein sein muss. Da man diesem Pronomen nicht ansehen kann, worin das Besondere dieses Inhalts besteht, kann man in jede Maxime eine Bedingungsklausel aufnehmen und sagen ɈUnter der-und-der Bedingung will ich, dass ich dasund-das tue/bin/habeɉ; aber auch ohne diese Klausel hätten wir eine echte Maxime vor uns. Damit können wir die Normalform einer Maxime so beschreiben: Sie besteht aus der eigentlichen Maxime, einem Satz der

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Form ɈNN will, dass er das-und-das tut/ist/hatɉ, und einer optionalen Bedingungsklausel der Form ɈUnter der-und-der Bedingungɉ. Man braucht nicht lange zu suchen, um bei Kant ein Beispiel für eine Maxime in Normalform zu finden; so schreibt er etwa in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „[I]ch mache es mir aus Selbstliebe zum Princip, wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen.“ (GMS, AA 4, 422)

Das Prinzip, das sich hier jemand zu Eigen macht, lautet: „Unter der Bedingung, dass das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als Annehmlichkeit verspricht, will ich, dass ich es mir abkürze“. An diesem Beispiel lässt sich sehr gut ablesen, dass das Bestehen auf der Normalform einer Maxime keine Pedanterie ist. 3 Macht es doch einen gewaltigen Unterschied, ob jemand unter der besagten Bedingung will, dass er sich das Leben abkürzt oder dass jemand anders es tut. Im zweiten Fall enthält sein Wollen keinen Grundsatz für das eigene Handeln und ist infolgedessen auch gar keine Maxime im Kantischen Sinn. Was also sind nach alledem Maximen? Kant definiert sie als eine spezifische Art von praktischen Grundsätzen. Das wiederum sind „Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat“ (KpV, AA 5, 19). Diese Grundsätze „sind subjectiv oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjects gültig von ihm angesehen wird“ (KpV, AA 5, 19). Nach dieser Definition ist die Maxime, „keine Beleidigung ungerächt zu erdulden“, durchaus allgemein genug, um als subjektiver Grundsatz gelten zu können. Denn dazu kann ja nur verlangt werden, dass das, was sich mit Hilfe ihrer Infinitiv-Form ausdrücken lässt, allgemein ist. Aber ist sie auch allgemein genug, um als objektiver Grundsatz, d. h. als praktisches Gesetz, anerkannt zu werden? Diese Frage kann man nur im Ausgang von ihrer Normalform entscheiden. Maximen lassen sich also in Sätzen der Form ɈUnter der-und-der Bedingung will NN, dass er das-und-das tut/ist/hatɉ aussprechen; das ist ihre Normalform. In dieser Form bestehen sie aus der Bedingungsklausel ɈUnter der-und-der Bedingungɉ und der eigentlichen Maxime ɈNN will, dass er das-und-das tut/ist/hatɉ. Maximen sind etwas Persönliches. Darin liegt dreierlei: 1. sie sind Grundsätze für das eigene Handeln; 2. sie werden zunächst einmal nur von den Subjekten dieser Grundsätze anerkannt; 3.

3

Dieses Beispiel gibt mir ferner die Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass man sich bei Maximen trotz ihrer Willkürlichkeit und Subjektivität immer fragen kann, warum sie sich jemand zu Eigen gemacht hat oder machen sollte. In unserem letzten Beispiel macht Kant hierfür die Selbstliebe verantwortlich.

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ihr Inhalt steht ganz im Belieben dieser Subjekte. Kurz und gut, Maximen sind subjektive und willkürliche Grundsätze des eigenen Handelns.

2. Maximen und Glück Warum will jemand keine Beleidigung ungerächt erdulden? Darauf sind viele Antworten möglich. Der eine wird sagen, dass er ungerächte Beleidigungen nicht mit seiner Ehre vereinbaren könne. Aber warum liegt ihm so viel an seiner Ehre? Hierauf könnte die Antwort lauten: „Weil er sonst nicht glücklich sein kann.“ Ein anderer will keine Beleidigung ungerächt erdulden, weil er das für ein Zeichen von Schwäche halten würde und weil er nicht als Schwächling dastehen will. Aber warum liegt ihm soviel an Stärke und an dem Eindruck, den er auf andere macht? Wieder könnte die Antwort lauten: „Weil er sonst nicht glücklich sein kann.“ Ein dritter will keine Beleidigung ungerächt erdulden, weil ungerächte Beleidigungen sein Leben aus dem Gleichgewicht brächten. Aber warum liegt ihm soviel an einem ausgeglichenen Leben? Einmal mehr könnte die Antwort lauten: „Weil er sonst nicht glücklich sein kann.“ Diese Frage/Antwort-Ketten führen die Maximen verschiedener Personen auf einen einheitlichen Grund zurück: auf den Wunsch, glücklich zu sein. Doch diese Einheitlichkeit täuscht. Zwar will jede der drei Personen glücklich sein, aber jede setzt ihr Glück in etwas anderes: die eine in ihre Ehre, die andere in ihre Stärke und ihr Erscheinungsbild und die dritte in ein ausgeglichenes Leben. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass sich verschiedene Personen in dem, worein sie ihr Glück setzen, unterscheiden können; aber darin, dass es ihnen überhaupt um ihr Glück geht, unterscheiden sie sich nicht, wenn man Kant folgen will. So lesen wir in seiner Kritik der praktischen Vernunft: „Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens.“ (KpV, AA 5, 25)

Ganz ähnlich hieß es schon in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Es ist gleichwohl ein Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen (so fern [sic!] Imperative auf sie, nämlich als abhängige Wesen, passen) als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht etwa bloß haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, dass sie solche insgesamt nach einer Naturnothwendigkeit haben, und das ist die Absicht auf Glückseligkeit.“ (GMS, AA 5, 415)

Alle Menschen streben von Natur nach Glück. Aber worin besteht das Glück oder, wie Kant sagt, die Glückseligkeit? Seine Antwort lautet: „[Im] Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Le-

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bens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet“ (KpV, AA 5, 22). 4 Das so verstandene Glück macht sich darin bemerkbar, dass es das Prinzip aller sog. materialen praktischen Prinzipien darstellt (ebd.). Was Kant damit meint, ist Folgendes: Den bestimmten Inhalt, den jemand will, will er letzten Endes einzig und allein seines Glückes wegen. Worein er jedoch sein Glück setzt, das ist seine eigene Sache. Wie wir bereits festgestellt haben, unterscheiden sich die Vorstellungen, welche verschiedene Menschen von ihrem Glück haben. Kant erklärt sich das damit, dass das Glück ein Ideal der Einbildungskraft sei (GMS, AA 4, 418). Wäre es nämlich eines der Vernunft, so müsste jedes vernünftige Wesen sein Glück in ein und dasselbe setzen. Was das Glück zu einem Ideal macht, ist der Umstand, dass man von ihm im Singular sprechen und es als „das Glück eines Menschen“ bezeichnen muss. Ein Ideal ist nämlich für Kant „ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares oder gar bestimmtes Ding“ (KrV, B 596). Der Einbildungskraft ist dieses Ideal zuzurechnen, weil man sich eine Vorstellung von Glück machen muss, ohne dass es den Sinnen ganz gegenwärtig wäre. Da es einen Zustand der Annehmlichkeit des ganzen Lebens betrifft, kann vergangenes Glück den Sinnen nicht mehr und zukünftiges Glück noch nicht gegenwärtig sein; folglich kann das Glück nicht unmittelbar empfunden, sondern nur in der Einbildung vorgestellt werden. Ist doch die Einbildungskraft „das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ (KrV, B 151). Da die Einbildungskraft ein Vermögen ist, das bei verschiedenen Personen unterschiedlich ausgeprägt ist, sollte sich niemand wundern, wenn deren Vorstellungen von Glück verschieden ausfallen. Diese Verschiedenheit muss dazu führen, dass sich verschiedene Personen von ihrer ganz persönlichen Idealvorstellung von Glück zur Bildung entsprechend verschiedener Maximen bestimmen lassen. Daher steckt in diesen die Subjektivität und Willkür, die wir an ihnen beobachtet haben. Alle Menschen streben also von Natur aus nach Glück. Da Glück das Bewusstsein der Annehmlichkeit des ganzen Lebens ist, kann es den Sinnen nie zur Gänze gegenwärtig sein und muss daher in der Einbildungskraft vorgestellt werden. Wie die Erfahrung lehrt, unterscheiden sich die Menschen in ihrer Einbildungskraft. Daher wird der eine sein Glück in dies und der andere in jenes setzen; nur zufällig werden zwei Menschen in ihren Vorstellungen von Glück übereinstimmen. Da sich jemand je nach4

Nach einer anderen Stelle scheint Bewusstsein ein entbehrliches Bestimmungsstück des Begriffes Glückseligkeit zu sein: „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht […].“ (KpV, AA 5, 124)

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dem, worein er sein Glück setzt, diese oder jene Maxime zu Eigen macht, sind Maximen der ganz persönliche Ausdruck seiner Vorstellung von Glück. Warum er es sich gerade so und nicht anders vorstellt, mag zwar einer Begründung fähig sein, ist ihrer aber nicht bedürftig. Es ist seine ureigene Entscheidung.

3. Der sog. Universalisierungstest als Filter Manche Maximen lassen sich zusammen verwirklichen. Es kann aber ebenso gut sein, dass der Wille des einen dem des anderen widerspricht. Als Beispiel hierfür nennt Kant die „Anheischigmachung König Franz des Ersten gegen Kaiser Karl den Fünften […]: was mein Bruder Karl haben will (Mailand), das will auch ich haben“ (KpV, AA 5, 28). Die Pointe dieses Beispiels besteht darin, dass die Gleichheit der Formulierung des Gewollten nicht die Gleichheit des Gewollten selbst und damit auch nicht dessen friedliche Verwirklichung garantiert. Denn obwohl sowohl Franz I. als auch Karl V. unisono „Ich will Mailand haben“ – sprich: „Ich will Mailand ganz für mich haben“ – sagen können, dürfte die Verwirklichung ihrer gleichlautenden Maximen zu Mord und Totschlag führen. Von daher liegt es auf der Hand, dass man die Verwirklichung der Maximen, die sich die einzelnen Personen zu Eigen gemacht haben, das Ausleben der persönlichen Willkür, in irgendeiner Weise reglementieren muss. Aber wo sollen wir die Grenze ziehen zwischen Maximen, die verwirklicht werden dürfen, und solchen, die es nicht dürfen? Wie sieht ein geeigneter Trenn-Filter aus? Wenn der Inhalt der Maximen untrennbar mit der Vorstellung vom eigenen Glück verknüpft und damit ein für allemal der Willkür verhaftet ist, so scheidet er als Filter aus. So kommt es, dass die Form einer Maxime in den Mittelpunkt des Interesses rückt (KpV, AA 5, 27). Es gelingt Kant zu zeigen, dass ein durch die Form seiner Maximen allein bestimmbarer Wille nicht dem Gesetz der Naturkausalität unterliegt, sondern vielmehr frei ist (vgl. KpV, AA 5, 29). 5 Ein derartiger Wille ist keinerlei empirischen Einflüssen ausgesetzt. Daher ist eine Maxime, die kraft ihrer Form den Willen auch nur einer Person zu bestimmen vermag, in der Lage, jedermanns Willen zu bestimmen. Denn alle Unterschiede zwischen dem, was verschiedene Personen tatsächlich wollen, sind empirisch bedingt und betreffen lediglich den Inhalt ihrer

5

Zu einer Analyse dieses Beweises vgl. Kienzle, Bertram, Die erste Aufgabe der Vernunft. – In: ders., Filosofia, liberdade e conhecimento. Esboços para um existencialismo analítico, hg. v. Valerio Rohden (Diálogos Brasil-Alemanhas Ciências Humanas; Bd. 10.) Porto Alegre 1999, 59-84, hier: 61-64.

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Maximen. So kommt es, dass Kant schließlich das folgende „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ aufstellt: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (KpV, AA 5, 30)

Das ist der berühmte kategorische Imperativ (hier in der Formulierung der Kritik der praktischen Vernunft). Wie funktioniert er? Wie bekommt man heraus, ob eine Maxime „jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“? Dazu muss man den sog. Universalisierungstest durchführen. Ausgangspunkt ist eine Maxime, wie etwa die, „keine Beleidigung ungerächt zu erdulden“. Bevor sie universalisiert werden kann, muss sie freilich noch in die richtige Form gebracht werden. Da Maximen eine allgemeine Willensbestimmung enthalten, muss der Test offenbar bei folgender Paraphrase ansetzen: Ich will keine Beleidigung ungerächt erdulden. Doch auch in dieser Form ist unsere Maxime noch nicht universalisierungstauglich. Noch ist die Person, von der etwas gewollt wird, nicht namhaft gemacht. Um auch noch diesem Mangel abzuhelfen, müssen wir unsere Maxime auf ihre Normalform bringen: Ich will, dass ich keine Beleidigung ungerächt erdulde. Die Universalisierung besteht darin, das Personalpronomen der ersten Person im Hauptsatz durch einen Allquantor, der über vernunftbegabte Wesen läuft, zu ersetzen und seine Verwendung im Nebensatz entsprechend anzupassen. Das Ergebnis dieser Prozedur lautet: Jeder will, dass er keine Beleidigung ungerächt erduldet. Betrachten wir als zweites Beispiel die (Normalform der) Maxime des Selbstmörders: Unter der Bedingung, dass das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als Annehmlichkeit verspricht, will ich, dass ich es mir abkürze. Die Universalisierung besteht diesmal darin, das Personalpronomen der ersten Person im Hauptsatz durch einen Allquantor, der über vernunftbegabte Wesen läuft, zu ersetzen und seine Verwendung an den beiden Stellen im Nebensatz entsprechend anzupassen. 6 Das Ergebnis dieser Prozedur lautet:

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Die Universalisierung dieser Maxime stellt uns vor das Problem, wie wir die Bedingungsklausel syntaktisch konstruieren sollen: entweder als Vorderglied eines Konditionals mit dem Wollenssatz als Hinterglied: Wenn mein Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als Annehmlichkeit verspricht, will ich es mir abkürzen; oder als Vorderglied eines Konditionals, dem ein „Ich will“ vorhergeht: Ich will folgendes: wenn mein Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als Annehmlichkeit verspricht, dann kürze ich es mir ab. Eine systematische Rekonstruktion des sog. Universalisierungstests müsste diese Doppeldeutigkeit entscheiden. Für unsere Zwecke reicht es jedoch aus, auf dieses Problem hingewiesen zu haben.

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Unter der Bedingung, dass das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als Annehmlichkeit verspricht, will jeder, dass er es sich abkürzt. Was ist mit solchen universalisierten Maximen gewonnen? Auf den ersten Blick gar nichts. Denn mit dem Übergang von „Ich will, dass ich keine Beleidigung ungerächt erdulde“ zu „Jeder will, dass er keine Beleidigung ungerächt erduldet“ vollzieht man einen Schritt, der demjenigen von „Der erste jemals wahrgenommene Schwan ist weiß“ zu „Jeder Schwan ist weiß“ vergleichbar ist. Derlei induktive Schlüsse sind jedoch logisch ungültig. Gleichwohl ist der Übergang von einer Maxime zu ihrer universalisierten Form überaus aufschlussreich. Er gibt nämlich Auskunft über die Apriorität der betreffenden Maxime. Um nachzuweisen, dass der Satz „Die Winkelsumme im Dreieck beträgt zwei rechte“ a priori wahr ist, konstruiert Kant in der Erfahrungswelt ein einzelnes Dreieck (vgl. KrV, A 717f./B 744f.). 7 Dann zeigt er, dass die Winkelsumme in diesem Dreieck zwei rechte beträgt. Da er dabei auf keine einzige von dessen empirischen Eigenschaften zurückgreifen muss, kann er am Ende behaupten, dass das, was er an ihm gezeigt hat, auch für den allgemeinen Fall gelte. Die entscheidende Voraussetzung dieses Verallgemeinerungsschrittes besteht darin, dass das, was er an dem empirischen Dreieck demonstriert hat, von allen empirischen Beimischungen rein oder frei geblieben war. Dieselbe Idee liegt dem Universalisierungstest zugrunde. Wenn eine Maxime ohne alle empirischen Beimischungen begründet werden kann, so muss sie a priori wahr sein. Kants Universalisierungstest dient dazu, herauszufinden, ob eine Maxime a priori ist oder nicht. Sie ist es genau dann, wenn sie den Test besteht. Wenn ein vernunftbegabtes Wesen mit einer Maxime etwas will, das auch von jedem anderen vernunftbegabten Wesen gewollt werden kann, so gibt es keinen empirischen Unterschied zwischen ihm und diesen anderen Wesen, der dazu führen könnte, dass auch nur eines von ihnen diese Maxime nicht wollen kann. Was alle vernunftbegabten Wesen wollen können, ist daher gegenüber empirischen Unterschieden zwischen ihren Begehrungsvermögen bzw. zwischen ihren persönlichen Vorstellungen von Glück invariant. Wer folglich etwas will, was alle vernunftbegabten Wesen wollen können, der kann für sich in Anspruch nehmen, mit seiner Maxime etwas zu wollen, das von den Besonderheiten seines Begehrungsvermögens bzw. seiner persönlichen Vorstellung von Glück unabhängig ist. Daher ist der Universalisierungstest ein Filter, der die empirisch reinen von den empirisch unreinen Maximen zu trennen erlaubt. Eine Maxime, 7

Hierzu: Kienzle, Bertram, Der sichere Gang der Wissenschaft (in diesem Band).

Macht das Sittengesetz unglücklich?

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die nicht rein ist, müsste sich, so die Überlegung Kants, dadurch verraten, dass sie nicht unterschiedslos von jedem vernunftbegabten Wesen gewollt werden kann. Ergibt sich aus der Universalisierung der Maxime, „keine Beleidigung ungerächt zu erdulden“, also kein Widerspruch, so kann jedes vernunftbegabte Wesen wollen, was diese Maxime beinhaltet. In diesem Fall gebietet eine faire Reglementierung, jedem oder keinem zu erlauben, nach ihr zu handeln. Ergibt sich dagegen ein Widerspruch, können offenbar nicht alle nach dieser Maxime handeln wollen. In diesem Fall gebietet eine faire Reglementierung, nicht nur demjenigen, der die widersprüchliche Maxime entworfen hat, sondern jedermann zu verbieten, nach ihr zu handeln. Wenn jedoch die Widersprüchlichkeit einer universalisierten Maxime zu einem Verbot führt, so muss deren Erfüllbarkeit zu einer Erlaubnis führen, wenn anders das Verhältnis von Widersprüchlichkeit und Erfüllbarkeit sich in dem Verhältnis von Verbot und Erlaubnis widerspiegeln soll. So kommt es, dass der kategorische Imperativ bzw. der zu ihm gehörende Universalisierungstest von Kant als Kriterium der Erlaubtheit einer Maxime eingesetzt wird. 8 Der kategorische Imperativ stellt also das Sittengesetz so dar, wie es in Bezug auf ein endliches, bedürftiges Wesen, das nach seinem Glück strebt, formuliert werden muss. Er filtert die unerlaubten, weil empirisch verunreinigten unter den Maximen heraus, die sich ein solches Wesen auf der Grundlage seiner persönlichen Vorstellung von Glück zu Eigen gemacht hat, und lässt nur die erlaubten, weil reinen Maximen passieren. Ihre Reinheit besteht dabei in ihrer Invarianz gegenüber empirischen Unterschieden zwischen den Begehrungsvermögen verschiedener vernunftbegabter Wesen bzw. zwischen deren persönlichen Vorstellungen von Glück. Der zum kategorischen Imperativ gehörende Universalisierungstest lässt den Inhalt einer Maxime unangetastet und manipuliert nur deren Form. Kann die universalisierte Maxime gewollt werden, so war schon die Ausgangsmaxime erlaubt, sonst war sie verboten. Erlaubte Maximen dürfen verwirklicht werden.

4. Glück und Gesetz: die profane Konstruktion Wenn wir herausfinden, dass sich eine universalisierte Maxime wollen lässt, so können wir sagen, dass es erlaubt ist, nach ihr zu handeln. Ihre Erlaubtheit ist allerdings keine Eigenschaft, die ihr durch den Universalisierungstest zuwachsen würde. Erlaubt war sie schon vorher. Der Test hat 8

Vgl. hierzu Ebert, Theodor, Kants kategorischer Imperativ und die Kriterien gebotener, verbotener und freigestellter Handlungen, in: Kant-Studien 67 (1976), 570-583.

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Bertram Kienzle

diese Eigenschaft lediglich ans Licht gebracht. Da er den Inhalt der Maxime gar nicht antastet, bedeutet das, dass die Maxime mit genau dem bestimmten Inhalt, den sie schon vorher hatte, erlaubt war. Dieser bestimmte Inhalt ist, wie wir bereits festgestellt haben, der Ausfluss der Vorstellung, die sich das Subjekt der Maxime von seinem Glück gemacht hat. Damit haben wir in einer universalisierbaren Maxime einen praktischen Grundsatz, dessen Inhalt von ihrem Subjekt gewollt wird und der moralisch erlaubt ist. In diesem Falle darf es tun, was es tun will, obwohl es dadurch seinem persönlichen Glück ein Stück näher kommt. Deshalb kann man nicht sagen, dass das Sittengesetz in jedem Fall unglücklich mache. Was das betreffende Subjekt tut, wenn es nach einer universalisierbaren Maxime handelt, ist zwar moralisch erlaubt. Aber solange es keine moralische Pflicht ist, kann es nicht aus „Achtung fürs Gesetz“ (GMS, AA 4, 400) getan werden, und nur eine solche Handlung hätte nach Kantischer Lehre einen moralischen Wert. Da man eine erlaubte, aber nicht gebotene Handlung schlechterdings nicht aus „Achtung fürs Gesetz“ tun kann, wird man sich faute de mieux durch ein anderes Motiv zum Handeln bestimmen lassen müssen. Jemandem daraus einen moralischen Vorwurf zu machen, wäre grotesk. Indem unser Subjekt seine Maxime dem Universalisierungstest unterworfen hat, hat es alles getan, was man billigerweise von ihm verlangen kann. Wenn es nun das Motiv zum Handeln aus dem Inhalt seiner Maxime und damit aus seinem Glücksstreben ableitet, wird man ihm daraus keinen moralischen Vorwurf machen können. Zwar ist es für Kantische Moralbegriffe ein Defekt, wenn man seine Pflicht nicht aus „Achtung fürs Gesetz“ tut; aber wenn man bei einer Handlung, die man aus solcher Achtung tut, Freude empfindet, so ist man deshalb noch lange kein schlechter Mensch. Mit einem Seitenblick auf Schiller können wir hieraus den Schluss ziehen, dass man sich keine moralischen Vorhaltungen machen lassen bzw. selbst machen muss, wenn man den Freunden zwar mit Neigung, aber aus Achtung dient. 9 Moralisch erlaubte Handlungen sind also durchaus dazu angetan, zum eigenen Glück beizutragen. Was aber, wenn wir etwas tun/sein/haben wollen, was dem kategorischen Imperativ widerspricht? Dann müssen wir die zugrunde liegende Maxime eben aufgeben. Aber haben wir in diesem Fall nicht einen klaren Beweis dafür, dass das Sittengesetz unglücklich macht? Auf den ersten Blick: ja. Denn falls eine Maxime den Universalisierungstest nicht besteht, muss sie aufgegeben werden, so dass die 9

In diesem Fall wäre die „Achtung fürs Gesetz“ zugleich die Achtung für die Freunde. Denn als vernunftbegabte Wesen sind diese ja Zwecke an sich, und diese müssen nach der Mensch-Zweck-Formel des kategorischen Imperativs (GMS, AA 4, 429, 437f.) stets als solche geachtet, sprich: behandelt, werden.

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Glücksbilanz ihres Subjektes schlechter auszufallen scheint, als es bei ihrer Verwirklichung der Fall gewesen wäre. Insofern kann die Befolgung des Sittengesetzes dem persönlichen Glück abträglich sein. Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch, dass auch jemand, der eine seiner Maximen auf Grund ihrer Nicht-Universalisierbarkeit aufgibt, darob nicht unbedingt unglücklich werden muss. Allerdings ist es nicht so einfach, ihm das zu Bewusstsein zu bringen. Und ohne dieses Bewusstsein erlangt zu haben, kann er nicht glücklich sein, wenn anders Glück „das Bewusstsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet,“ (KpV, AA 5, 22) ist. Vielleicht kann man ihm dieses Bewusstsein mit folgendem Argument vermitteln: Wer eine nicht universalisierbare Maxime fallen lässt, der verwirklicht das Sittengesetz; und wer das Sittengesetz verwirklicht, der handelt einer universalisierbaren Maxime gemäß. Nun hat jede Maxime nicht nur eine Form, sondern auch einen Inhalt (GMS, AA 4, 436), und dieser entspringt letzten Endes in der Vorstellung vom eigenen Glück. Das ist bei der Maxime, nach der man bei der Verwirklichung des Sittengesetzes handelt, nicht anders als bei einem subjektiven praktischen Grundsatz. Folglich erreicht man auch durch das Aufgeben einer nicht universalisierbaren Maxime ein Stück Glück. Allerdings genügt dieses so erreichte Stück einer Vorstellung von Glück, in der sich die endlichen vernunftbegabten Wesen gerade nicht unterscheiden würden. Es ist keine Vorstellung von einem persönlichen, sondern – wenn man so will – von einem allgemeinen Glück. Wenn wir uns an die Maximen Franz’ I. und Karls V. erinnern, beginnen wir zu ahnen, dass dieses allgemeine Glück getreu der Losung „et in terra pax hominibus bonae voluntatis“ (Lk 2, 14) im Frieden bestehen könnte. Damit sind wir auf dem besten Wege zum Höhepunkt der Metaphysik der Sitten: „Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein […].“ (MS, AA 6, 354)

Wer das durch die Aufgabe einer nicht universalisierbaren Maxime entgangene persönliche Glück nicht höher bewertet als das Glück, das der Frieden darstellt, kann keine schlechtere Glücksbilanz ziehen, als er sie bei der Verwirklichung seiner Maxime hätte ziehen müssen. Nur wenn ihm der Frieden weniger wert ist als sein persönliches Glück, wird er in meiner Argumentation wenig mehr sehen als eine Etüde in philosophischer Spitzfindigkeit. Statt jedoch dem Thema Glück und Frieden auf den Grund zu gehen, wollen wir uns der Frage zuwenden, nach welcher Maxime man bei der

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Verwirklichung des Sittengesetzes eigentlich handelt. 10 Wenn wir von der Gestalt ausgehen, in der es uns im kategorischen Imperativ entgegentritt, kann es offenbar nur die folgende Maxime sein: Ich will so handeln, dass eine jede Maxime meines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.

Setzen wir diese Maxime dem Universalisierungstest aus, so erhalten wir folgende universalisierte Maxime: Jeder will so handeln, dass eine jede Maxime seines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.

Nun ist nichts Widersprüchliches an der Vorstellung, dass eine jede Maxime so beschaffen ist, dass sie jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Also ist es erlaubt, nach dieser Maxime zu handeln. Wer also nach dem kategorischen Imperativ handelt, der wird nicht unglücklich oder – eingedenk dessen, dass ja zum Glücklichsein Bewusstsein gehört, vorsichtiger formuliert – der muss nicht unglücklich werden. Denn entweder ist seine Maxime universalisierbar, dann darf er nach ihr handeln und verwirklicht auf diese Weise sein persönliches Glück; oder sie ist nicht universalisierbar, dann muss er sie fallen lassen und verwirklicht auf diese Weise das allgemeine Glück. Da der kategorische Imperativ eine Einkleidung des Sittengesetzes für endliche Wesen darstellt, folgt hieraus, dass das Sittengesetz nicht unglücklich machen muss. Diese Schlussfolgerung widerspricht in keiner Weise der Kantischen Lehre, dass unser Motiv zur Befolgung moralischer Gebote nicht der Gedanke an unser Glück, sondern die „Achtung fürs Gesetz“ sein muss, wenn unsere Handlung einen moralischen Wert haben soll.

5. Glück und Gesetz: die Kantische Konstruktion Kant hat nicht so argumentiert. Möglicherweise hat er dieses Argument nicht gesehen. Vielleicht war er auch der Meinung, es könne nicht stichhaltig sein, da es mit einer Vorstellung von Glück arbeitet, die sich von einem endlichen Vernunftwesen zum anderen offenbar nicht unterscheidet. Wahrscheinlich glaubte er aber einfach, ein schlagenderes Argument für die These zu haben, dass das Sittengesetz nicht unglücklich machen muss. Immerhin war ihm das Verhältnis von Sittlichkeit und Glück so wichtig, dass er ihm ein ganzes Buch seiner Kritik der praktischen Vernunft 10

Diese Frage ist alles andere als abwegig. In (GMS, AA 4, 400f.) spricht Kant selbst von der „Maxime, einem solchen Gesetze [gemeint ist das Sittengesetz – B.K.], selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen, Folge zu leisten“.

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gewidmet hat: die sog. Dialektik der reinen praktischen Vernunft (KpV, AA 5, 107-148). Diese Dialektik kann man sich folgendermaßen zurechtlegen: Sittlichkeit oder, wie Kant in diesem Zusammenhang zu sagen pflegt, Tugend auf der einen und Glückseligkeit auf der anderen Seite gehören untrennbar zusammen. Denn Tugend mache das oberste, Glückseligkeit aber das ganze höchste Gut aus (KpV, AA 5, 110). Das oberste höchste Gut sei die Tugend, weil es keinem anderen Gut unter- oder nachgeordnet sei; und das ganze höchste Gut sei die Glückseligkeit, weil sie nicht Teil eines noch umfassenderen Ganzen sei. Nun ist die Tugend nach Kant zwar das oberste, nicht aber das ganze höchste Gut; „denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfordert und zwar nicht bloß in den parteiischen Augen der Person, die sich selbst zum Zwecke macht, sondern selbst im Urteile einer unparteiischen Vernunft, die jene [ergänze: Person, B.K.] überhaupt in der Welt als Zweck an sich betrachtet. Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen.“ (KpV, AA 5, 110)

Angesichts dieser Äußerungen Kants erweisen sich Schillers eingangs zitierte Gewissensskrupel endgültig als völlig haltlos. Es liegt Kant ganz fern, einen Keil zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit zu treiben. Im Gegenteil, ihm zufolge ist es sogar vernünftig, wenn Personen guten Willens Glückseligkeit zuteil wird. Wenn das Sittengesetz unglücklich machte, so wäre es nicht nur widernatürlich – denn schließlich streben wir alle von Natur aus nach Glück –, sondern auch unvernünftig. Ganz in diesem Sinne hatte Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten geschrieben „Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht“ (GMS, AA 4, 399) und zur Begründung angeführt: „denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten werden.“ (GMS, AA 4, 399)

Wenn die Sicherung des eigenen Glückes Pflicht ist, dann sind Sittlichkeit und Glück keine Gegensätze, so dass man nicht behaupten kann, das Sittengesetz müsse unglücklich machen. Kant geht sogar noch weiter. Als wenn das bisher Gesagte noch nicht genügte, macht er die Gültigkeit des Sittengesetzes von der sittlich einwandfreien Erreichbarkeit des Glückes abhängig: „Da nun die Beförderung des höchsten Guts, welches diese Verknüpfung [scil. von Tugend und Glückseligkeit, B. K.] in seinem Begriffe enthält, ein a priori nothwendiges Object unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen. Ist also das höchste Gut nach praktischen Re-

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geln unmöglich, so muss auch das moralische Gesetz, welches gebietet[,] dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.“ (KpV, AA 5, 114)

Diese Passage ist an Deutlichkeit nicht zu überbieten. In ihr wird zweimal klipp und klar gesagt: Wenn Sittlichkeit und Glück nicht zusammen erreichbar sind, das Sittengesetz also unglücklich macht, dann ist es falsch. Aber wie hat man sich die Verbindung von Sittlichkeit und Glück zu denken? Um diese Frage zu beantworten und damit die Wahrheit des Sittengesetzes sicherzustellen, formuliert Kant zwei Postulate: das Postulat der Unsterblichkeit der Seele und das Postulat der Existenz Gottes. Für das Unsterblichkeitspostulat bringt er folgendes vor: „Die Bewirkung des höchsten Guts in der Welt ist das nothwendige Object eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens.“ (KpV, AA 5, 122) Dieses Gut, also die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, zu bewirken, sei aber nur einem heiligen Willen möglich. Darunter versteht Kant einen Willen, dessen Maximen notwendig mit dem Sittengesetz übereinstimmen (GMS, AA 4, 439). Endliche Wesen, wie wir es sind, hätten zwar keinen heiligen Willen; da aber auch von ihnen gefordert werde, das höchste Gut in der Welt zu bewirken, und da das nur einem heiligen Willen gelinge, müssten auch sie in der Lage sein, einen heiligen Willen zu bilden. Das könne aber „nur allein in einem ins Unendliche gehenden Fortschritte zur völligen Angemessenheit mit dem Sittengesetze“ (KpV, AA 5, 122) geschehen. Da ein solches Fortschreiten „aber nur unter der Voraussetzung einer ins Unendliche fortdauernden Existenz und Persönlichkeit“ (ebd.) möglich sei, müssten sie eine unsterbliche Seele besitzen. Was heißt das anderes, als dass wir die Unsterblichkeit unserer Seele annehmen müssen, damit unsere guten Taten, die ja hienieden zumeist unbelohnt bleiben, in der Ewigkeit in Glückseligkeit aufgewogen werden können? Doch ganz so simpel ist Kants Argument nicht. Es beruht vielmehr auf dem Prinzip „Sollen impliziert können“. 11 Die Kurzfassung seines Argumentes lautet wie folgt: Da wir das Sittengesetz erfüllen sollen, müssen wir es auch erfüllen können – obwohl es eine Ewigkeit dauert, bis wir es tun. Hier ist nun auch der Ort, Kants obstinate Rede von Glückseligkeit aufzuklären. Von Glückseligkeit statt nur von Glück spricht er, weil uns zwar die „Heiligkeit der Sitten […] in diesem Leben schon zur Richtschnur angewiesen, das dieser proportionierte Wohl aber, die Seligkeit, nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt“ (KpV, AA 5, 128f.) werde. Demnach zieht er den Begriff der Glückseligkeit dem des Glückes vor, weil in ihm bereits die Unsterblichkeit der Seele mitgedacht wird. 11

Vgl. KpV, AA 5, 30. Dieses Prinzip ist mit der lateinischen Rechtsregel „ultra posse nemo obligatur“ äquivalent, auf die sich Kant an anderer Stelle beruft – vgl. (ZeF, AA 8, 370).

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Kants Argument für das Unsterblichkeitspostulat ist nicht als Beweis für die Unsterblichkeit, sondern nur als Beweis für die Vernünftigkeit des Glaubens an sie gemeint. Es scheint ihm allerdings entgangen zu sein, dass dieses Postulat ungeeignet ist, um die Erfüllbarkeit des Sittengesetzes sicherzustellen. Behauptet er doch, dass die Aufgabe, sittlich zu sein, „nur in einer Ewigkeit völlig aufgelöset werden kann“ (KpV, AA 5, 124). Allein, in demselben Augenblick, da ich sie ’auflöste‘, wäre der Fortschritt ins Unendliche, in welchem allein sie doch auflösbar sein soll, zu Ende. Welchen Grund gäbe es dann noch, die Unsterblichkeit meiner Seele zu postulieren? Das Unsterblichkeitspostulat scheint nur dann gerechtfertigt, wenn die Erfüllung des Sittengesetzes eine Sisyphus-Arbeit ist. Nun hängt jedoch Kant, wie gesagt, dem Grundsatz „Sollen impliziert Können“ an. Da demzufolge niemand zu etwas verpflichtet sein kann, das er nicht zu bewältigen vermag, scheint sich aus seinem Argument für die Unsterblichkeit der Seele paradoxerweise gerade zu ergeben, dass das Sittengesetz gar keine verpflichtende Kraft besitzt. Wenn es also niemanden gäbe, der das Sittengesetz ganz ohne ’ins Unendliche gehenden Fortschritt‘ erfüllte, wäre das Sittengesetz ewig unerfüllbar und damit falsch. Das bedeutet, dass wir nicht darum herum kommen, die Existenz eines Wesens zu postulieren, das einen heiligen Willen besitzt. Dieses Wesen ist nun aber niemand anderer als Gott. „Nun war es Pflicht für uns[,] das höchste Gut [scil. die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, B. K.] zu befördern, mithin nicht allein Befugniss, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfnis verbundene Nothwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen, welches, da es nur unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der Pflicht unzertrennlich verbindet, d. i. es ist moralisch nothwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.“ (KpV, AA 5, 125)

Damit ist klar, warum das Sittengesetz in den Augen Kants nicht unglücklich machen kann: Es gibt einen Gott, der den Zusammenhang von Sittlichkeit und Glück nicht nur garantiert, sondern sogar in propria persona selbst darstellt, so dass wir des Glückes, dessen wir uns durch die Sittlichkeit unserer Maximen würdig gemacht haben, in der Ewigkeit teilhaftig werden können. Das ist nun aber in der Tat nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele möglich. Kant konstruiert also einen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit, demzufolge das Sittengesetz falsch wäre, wenn es uns unglücklich machte. Wenn Glückseligkeit nicht das Bewusstsein des eigenen Zustandes erforderte, könnten wir sagen, dass das Sittengesetz nicht unglücklich machen kann und infolgedessen auch nicht unglücklich macht. So aber können wir nur sagen, dass das Sittengesetz nicht unglücklich machen muss. Da wir das höchste Gut, nämlich die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, angeblich nur in einem Fortschritt ins Unend-

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liche erreichen können, postuliert Kant die Unsterblichkeit der Seele. Und da wir selbst nicht in der Lage sind, das der Sittlichkeit proportionierte Glück selbst hervorzubringen, postuliert er ferner die Existenz eines Wesens, das dazu in der Lage ist. So kommt es, dass Kant unser metaphysisches Bedürfnis, etwas über die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele auszumachen, am Ende durch das Nachdenken über den Zusammenhang von Sittlichkeit und Glück befriedigt.

6. Coda In diesem Artikel habe ich zwei Wege vorgestellt, auf denen man sich davon überzeugen kann, dass das Sittengesetz nicht unglücklich machen muss: einen profanen Weg, der ohne die Unsterblichkeit der Seele und ohne die Existenz Gottes auskommt, und den von Kant eingeschlagenen Weg. Es ist nun am Leser, sich für den einen oder anderen zu entscheiden oder beide zu verwerfen. 12

12

An dieser Stelle möchte ich Caroline Sommerfeld-Lethen und Christian Thies (beide Rostock) für kritische Hinweise und Anregungen danken. Ferner gilt mein Dank Susanne Finck (Rostock) für die Hilfe bei der Erstellung der Aufsatzfassung dieses Textes.

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Motiva auxiliaria

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Motiva auxiliaria. Kants Motivationstheorie zwischen Aristoteles und der Moralistik Caroline Sommerfeld-Lethen

Den Versuchen von Otfried Höffe zum Trotz, Kants und Aristoteles' Ethiken nicht als Gegner, sondern als vereinbare Konzeptionen zu inszenieren, möchte ich von einer grundlegenden Differenz ausgehen. Höffe betont zu Recht die Urteilskraft bzw. Klugheit in den Ansätzen beider Autoren, die sie vereine, während ich an dem Punkt der Motivation zu moralischem Handeln Differenzen sehe. In der Nikomachischen Ethik lesen wir: „Wir philosophieren nämlich nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden. Sonst wäre dieses Philosophieren ja nutzlos. Daher müssen wir unser Augenmerk auf das Gebiet des Handelns richten, auf die Frage, wie wir die einzelnen Handlungen gestalten sollen, denn diese beeinflussen (…) in entscheidender Weise das Wie der sich herausbildenden ethischen Grundhaltungen.“ 1

1. Kants Motivationsproblem Aristoteles beantwortet die Frage „Wie moralisch werden?“ mit seiner klassisch gewordenen Theorie der langsamen Gewöhnung. Philosophieren diene dem Erkennen des Guten, müsse aber in Handlung umgesetzt werden, reine Erkenntnis nütze für die Praxis nichts, hält er Platon entgegen. Dabei geht Aristoteles davon aus, einzelne Handlungen führten zu einer ethischen Grundhaltung (héxis). „Ethisch“ ist bei Aristoteles nun nicht im modernen Sinne definiert, in dem Ethik die theoretische Reflexion der Moral ist, sondern im Sinne seiner Unterscheidung von ethischen und dianoetischen Tugenden, wovon die ethischen den Charakter und seine Bildung betreffen, und die dianoetischen den Verstand und seine Vermö1

Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1103b 26.

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gen. Der ganze Mensch habe sich, um eine „edle Grundgewöhnung“ anzunehmen, umzubilden. Kants Problem mit einer auf diese Weise skizzierten Motivationstheorie ist folgendes: Gegenüber Aristoteles' handlungsorientierter Ethik nimmt er eine regeldeontologische Position ein. Einzelne Handlungen, so seine Befürchtung, können keine stabile Moralität erzeugen. Was heißt aber stabile Moralität? Für Aristoteles ist ein gefestigter Charakter allemal stabil genug, um jederzeit verlässlich moralisch gut zu handeln. Inwiefern soll nun noch mehr Stabilität her, und wenn dann, in welcher Hinsicht? In der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ verwirft Kant alle Kandidaten für das Gute außer dem „guten Willen“. Implizit stellt Kant die Frage: Was könnte denn alles „gut“ genannt werden? Er entnimmt der normalen Sprache und ihrer Verwendung des Prädikats „gut“ die Möglichkeiten: Handlungen, Glück, Menschen und Dinge. Handlungen können nicht „gut“ heißen, argumentiert Kant, weil nur der Wille, sie auszuführen, moralisch beurteilt werden kann, die Handlungen als Folgen des Willens jedoch wegen ihrer Mannigfaltigkeit und Zufälligkeit viel zu vage sind, um sie „moralisch gut“ zu nennen. Glück ist ein problematischerer Fall für Kant 2 : zwar strebten alle Menschen nach Glück, doch fiele das jeweilige Glück dann sehr verschieden aus. Menschen „gut“ zu nennen legt die Tradition seit Aristoteles nahe, Kant führt hier einen differenzierenden Schnitt durch: der Mensch ist „Bürger zweier Welten“, mithin nur zu einem, nämlich dem intelligblen Teil, prinzipiell „gut“ zu nennen, während die sinnliche Seite des Menschen ambivalent ist. Aristoteles' Vorstellung, Tugenden im Sinne des Gutseins auch Dingen zuzuschreiben (er spricht von der areté eines Messers), hält Kant für zu undifferenziert, denn wir unterscheiden schon im vorphilosophischen Sprachgebrauch, dass etwas gut zu einem Zweck sei, wie das Messer zum Schneiden, und anderes ohne jeden äußeren Zweck gut sei. Für alle diese Kandidaten gibt Kant also Einschränkungen an, und auch auf aristotelische Charaktertugenden blickt er in dieser kritischen Perspektive: „Mäßigung in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar einen Teil von innern Wert der Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden)“ […] denn: „ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden.“ 3

2 3

Vgl. hierzu: Kienzle, Bertram, Macht das Sittengesetz unglücklich? (in diesem Band). GMS, AA 4, 394.

Motiva auxiliaria

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Woher bezieht Kant nun sein Argument dafür, „gut“ allein den moralisch guten Willen zu nennen? Ich möchte das grundlegende Argument Kants sein Kontingenzargument nennen und folgendermaßen veranschaulichen: x

Transzendenz

x

Freiheit

x

Vernunft

x

Sinnlichkeit

x

Kontingenz

x

Anthropologie

In diesem Bild erscheinen oben die Charakteristika des „guten Willens“ intelligibler Wesen, die durch die unten aufgeführten korrespondierenden Faktoren eingeschränkt werden. Man könnte in der unteren Ebene die Gefahr für die obere Ebene sehen: Vernunft läuft Gefahr, durch Sinnlichkeit kontingent gesetzt zu werden, Freiheit durch Zufall und Zwang, mithin kontingente Faktoren, und die transzendentale Argumentationsweise Kants durch die Anthropologie. Was folgt aus diesem Bedrohungsszenario? Trotzige metaphysische Hypostasierung der oberen Ebene kann sich Kant als kritischer „Alleszermalmer“ der bisherigen Philosophie nicht leisten. Und einen Aristotelismus, der Sinnlichkeit, historische und individuelle Kontingenzen und Anthropologie als Fundamente in die Ethik mit einbezieht, will er sich nicht leisten. Was also tun? Kant ist, auch wenn man diesen Begriff eher Positionen im 20. Jahrhundert zuzuordnen gewohnt ist, Semiotiker. In der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ stellt Kant dem intelligiblen Charakter den empirischen Charakter gegenüber, indem er sie als „Unterscheidungszeichen“ betrachtet. 4 Der Witz dieser Zeichenunterscheidung ist, dass wir mit ihrer Hilfe menschliches Handeln unterschiedlich interpretieren können: wir verstehen es als Handeln aus intelligiblen Gründen, wenn es moralisches Handeln ist, und als empirisch begründet, wenn es anderweitiges Handeln ist. An diesem Punkt kann man Kants moderne Trennung von Moralbegründung und Handlungstheorie nachvollziehen und in einen Gegensatz zu Aristoteles stellen, bei dem beides zusammenfällt. 4

Anth, AA 7, 285.

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Kants semiotischer Trick hilft ihm zwar, moralische Gründe von außermoralischen zu scheiden, der Versuch, Moral hieb- und stichfest gegen die Gefahr der Kontingenz zu begründen, führt jedoch wie jede gute theorietechnische Lösung zu einem neuen Problem. Moral grenzt er als „System der sich selbst lohnenden Moralität“ 5 als von äußeren Zwecken unabhängig begründeten Bereich ab von den handelnden Personen selber, also auch von ihren Motiven und Zwecken. Das ist in bezug auf die Begründung von Ethik unerlässlich, motivationstheoretisch jedoch fatal: denn was Moral zu ihrer Verwirklichung braucht, sind natürlich handelnde Personen. Insofern kann man mit Kant die Frage „Warum moralisch sein?“ als Frage nach der Begründung formulieren, die als motivationale Antwort allenfalls die Einsicht in das Sittengesetz liefert, was aber gerade den bei Aristoteles so sorgfältig herausgearbeiteten Prozess der Charakterbildung im Sinne der Moralisierung voraussetzt oder aussetzt. Demgegenüber wäre die Frage „Wie moralisch werden?“ als Frage nach der Motivation zur Moral zu verstehen, und diese Frage will ich nun mit Kant diskutieren. Kant ist sich der Problemlage durchaus völlig bewusst, wenn er in der „Grundlegung“ schreibt, ethische Imperative sagten „… dass etwas zu tun oder zu unterlassen gut sein würde, allein, sie sagen es einem Willen, der nicht immer darum etwas tut, weil ihm vorgestellt wird, dass es zu tun gut sein würde.“ 6 Zwischen kognitiver Einsicht, die begründungslogisch als Grund für das Moralischsein angegeben werden kann, und dem faktischen Handeln „fehlt noch viel“. 7 Eine Handlungstheorie „hat einen praktischen Fehler, wo die Triebfeder wegfällt, und […] einen theoretischen Fehler, wo die Beurteilung wegfällt“. 8 Das wohlbegründete Moralsystem kann seine Grenze nur aufrichten, wenn es sich gegen seine empirische Umwelt (Menschen, ihren Willen, ihre Motive, Neigungen, Triebfedern etc.) abgrenzt. Dennoch muss „reine Vernunft praktisch werden“ können, d.h. auf Handelnde bezogen werden, sonst wäre sie sinnlos, wie wir seit Aristoteles mitdenken müssen. Wie kommt nun eine Bindung von Handelnden an Moral zustande? Hierzu gibt es in der Ethik unterschiedliche theoretische Vorlagen, von denen ich die aristotelische eingangs angedeutet hatte, und später noch genauer betrachten werde, weil sie diejenige ist, mit der Kants Moralistikrezeption am meisten zu kämpfen hat. Dagegen lassen sich zwei andere Vorlagen an dieser Stelle verwerfen. Das „immer schon“-Argument von Hume hat Kant verworfen, insofern dieser motivierte Personen voraus5 6 7 8

KrV, B836/A808. GMS, AA 4, 413. Menzer, Paul, Eine Vorlesung Kants über Ethik. Im Auftrag der Kantgesellschaft herausgegeben, Berlin 1924, 54. A.a.O., 45.

Motiva auxiliaria

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setzt, wenn er Moral erklären will. Wer moralisch handelt, ist dazu motiviert, meint Hume. Dieses halte ich für ein personinternalistisches Übergehen des Motivationsproblems. Ein zweites „immer schon“-Argument einiger Kantianer verwerfe ich, weil es davon ausgeht, dass kognitive Einsicht in das, was man zu wollen theoretisch gezwungen ist, als Motiv missverstanden wird. Insofern handelt es sich hier um ein begründungstheoretisches Übergehen des Motivationsproblems. Meine These ist die: Die Grenze des Moralsystems bestätigt sich selbst, aber nur in Abgrenzung und Beziehung zu den außerhalb gelegenen Motiven zur Moral. Diese Motive liegen nun in der Moralistik in aufbereiteter Form vor. Hier holt Kant sie ab, um damit Individuen an das System zu binden.

2. Moralistische Ethik Welche Motive sind das? Ich habe an anderer Stelle ausführlicher dafür argumentiert 9 , folgende Motive als moralistisches Erbe Kants anzusehen: a.) Selbstbestimmung b.) Gewohnheit c.) Kultur statt Natur d.) Motivation zum Schein e.) Klugheit Das Problem ist: alle diese Motive sind für Kant nicht moralisch, sondern allenfalls „subjektive Triebfedern“, also im Handelnden, nicht im Moralsystem angesiedelt. Wie aber können sie dem Handelnden zur Moral verhelfen, und, wie er sagt, „motiva auxiliara“, also helfende Motive werden? Dazu lohnt sich ein Rückgriff auf die Tradition der Moralistik. Darunter verstehe ich zuerst einmal vom Textkorpus her solche Texte wie: Montaignes „Essais“ (1580), Baldassare Castigliones „Hofmann“ (1581), Francis Bacons „Essays“ (1625), Torquato Accettos „Von der ehrenwerten Verhehlung“ (1641), Descartes’ „Über die Leidenschaften der Seele“ (1649) und „Discours de la méthode“ (1637), Balthasar Graciáns „El Heroé“ (1637) und sein „Handorakel“ (1653) und La Rochefoucaulds „Maximen und Reflexionen“ (1665). Darüber hinaus lässt sich Moralistik auch systematisch eingrenzen. Normalerweise ist Ethik, also auch die Ethik Kants oder diejenige des Aristoteles zum Beispiel, normativ, insofern ihre Aufgabe die Begründung des Guten ist. Dagegen ist moralistische Ethik eher als funktional konzi9

Sommerfeld-Lethen, Caroline, Wie moralisch werden? Kants moralistische Ethik, München 2005.

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piert zu verstehen: gut/böse fungieren als Zweierschema, das keine Auflösung zum Guten hin zulässt, so dass ein Moralist wie Montaigne bekennen kann, er wolle „wie jenes Weiblein in der Sage ohne Bedenken dem heiligen Michael eine Kerze darbringen und seinem Drachen eine zweite.“ 10 Zwei der oben genannten Motive möchte ich im folgenden exemplarisch an die Moralistik rückbinden, um sie im nächsten Schritt dann bei Kant aufzusuchen, nämlich Gewohnheit und Schein. 2.1. Gewohnheit in der Moralistik Suchen wir wieder Rat bei Montaignes „Essais“: „Schwerlich wird die Erziehung zum diskursiven Denken, selbst wenn wir noch soviel davon halten, je wirkungsmächtig genug sein, uns auf den Weg des Handelns zu führen, falls wir nicht gleichzeitig unsere Seele durch praktische Erfahrung ausbilden und in den Gang einüben, zu dem wir sie befähigen wollen; andernfalls wird sie, wenn es zur Tat zu schreiten gilt, zweifellos ins Stolpern geraten.“ 11

Das klingt stark nach Aristoteles' Einübung in den gefestigten Charakter! Zweifellos ist dieser eine der antiken Quellen von Montaigne, im Grunde bewegt sich die ganze Moralistik was dieses Thema anbelangt, in aristotelischen Bahnen. Doch was bei Aristoteles ein normatives Thema war, wird in der Moralistik zu einem funktionalen zweipoligen Konzept ohne gutes Ziel. Was zeichnet den Gang, zu dem wir die Seele befähigen wollen, denn aus? Descartes bahnt uns hier einen Weg, den Montaigne weitergehen kann, und den Kant später weitergehen wird. „Es muß festgehalten werden, dass das, was man gewöhnlich Tugenden nennt, Gewohnheiten der Seele sind, die sie zu bestimmten Gedanken veranlassen, wobei sie zwar von dem Gedanken verschieden sind, aber sie hervorbringen können und umgekehrt auch durch diese hervorgebracht werden, (…) und dass sie infolgedessen Handlungen der Tugenden sind und zugleich Leiden(schaften) der Seele.“ 12

Hier wird im ersten Schritt an Aristoteles angeknüpft, um im zweiten dann deutlich zu machen, dass die Moralistik abweicht vom aristotelischen Ziel. Gewohnheiten thematisiert Descartes als „passions“, die nicht gut sein müssen, nur weil sie der Seele widerfahren. Es muss also eine andere Instanz her, die entscheidet, welchen „Gang der Seele“ eine Person denn nun will. 10 11 12

Montaigne, Michel de, Essais, hg. und übers. von Hans Stilett, Frankfurt/Main 1998, 392. A.a.O., 183. Descartes, Über die Leidenschaften der Seele, hg. und übers. von Klaus Hammacher, Hamburg 1996², 255.

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„Wer sein Naturell zu besiegen trachtet, möge sich weder zu große, noch zu kleine Aufgaben stellen. … Am Anfang soll man sich gewisser Hilfen bedienen, wie es die Schwimmer mit Blasen oder Binsen tun; nach einiger Zeit muß man es sich mühsamer machen wie Tänzer mit schweren Schuhen.“ 13

Bacon verrät uns noch nicht, wer oder was denn nun Ziele des Handelns vorgeben kann, sondern nur, wie man es anzustellen hat, sein Naturell zu besiegen: man muss langsam machen! Gewohnheit hat für die Moralisten den Vorteil der Temporalisierung der Moral. Durch langsames Eingewöhnen kommt man weg vom „Naturell“, hin zum erwünschten Charakter. Gewohnheit ist also sowohl Selbstbestimmung als Umgang mit Motiven bei Montaigne, Umwandlung von Passion in Aktivität bei Descartes, als auch Affektkontrolle bei Bacon. Da uns die Moralisten ein normatives Ziel der Handlungsrichtung verweigern, bleibt ein Theorieproblem ungelöst, das Kant dann aufgreifen wird: ist Gewohnheit eigentlich erst handlungsermöglichend, weil sie Normalität und Motivation erzeugt, oder ist sie nicht vielmehr handlungslähmend, weil man sich bestimmtes gleichförmiges Handeln angewöhnt, statt von seiner Handlungsfreiheit Gebrauch zu machen? 2.2. Schein in der Moralistik Der zweite moralistische Topos entwirft ein ähnliches Problemfeld. In der Moralistik wird der Schein zum zentralen handlungstheoretischen Gegenstand. In der höfischen Gesellschaft kommt man nicht ohne ihn aus, zugleich führt er notwendigerweise sein Gegenteil, Aufrichtigkeit, mit sich, das als Ideal hochgehalten wird. Schein hat die Tendenz, sich in der Zweipoligkeit von Verstellung und Echtheit zu verlieren. Der Jesuit Baltasar Gracián schreibt in seinem „Handorakel“: „Da jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr durch die Wahrheit selbst zu täuschen: sie ändert ihr Spiel, um ihre List zu ändern, indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet.“ 14

Warum ist soviel Reflexionsaufwand nötig? Hier kommen wir der Sache näher, wenn wir Jean Chapelain zu Worte kommen lassen:

13

14

Bacon, Essays oder Praktische und Moralische Ratschläge, hg.v. und übers.v. Levin L. Schücking, Ditzingen 1982, 163. Gracián, Baltasar, Handorakel oder Kunst der Weltklugheit. Übersetzt von Arthur Schopenhauer, Stuttgart 1964, 10.

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„C’est tromper, il est vrai; mai c’est tromper vertueusement que de ne tromper que pour faire mieux parvenir à la vertu.“ 15

Tugendhafter Betrug („tromper vertueusement“) – in diesem Paradox mündet das moralistische Konzept Schein/Aufrichtigkeit. Der Schein im Verhalten, seien es Höflichkeitsformeln, Galanterie im Umgang der Geschlechter, Erziehung der Fürsten, religiöse Frömmigkeit oder politisches Handeln, wie es etwa Macchiavelli vorschwebt, ist dazu da, um die Tugend, nein, nicht unmittelbar zu erzeugen, sondern „faire mieux parvenir“, besser erscheinen zu lassen. Tugend ist nackt 16 zu grob, um ertragen werden zu können, meinen die Moralisten. Und noch etwas kommt hinzu. In der Geselligkeit des Umgangs ist der Schein ein perfektes Mittel der indirekten Moralisierung der Menschen. „Der Umgang ist von ergreifender Wirkung: Sitten und Geschmack teilen sich mit; die Sinnesart, ja sogar den Geist nimmt man an, ohne es zu merken.“17 „Um es [ein gutes Benehmen] sich anzueignen, genügt es fast, es nicht zu verachten, denn auf diese Weise merkt man auf das Benehmen der anderen, und das übrige kommt dann schon von selbst.“ 18

Schein als Mittel zur Moralisierung feiert hier seinen theoriegeschichtlichen Höhepunkt, auch wenn er bei Aristoteles schon thematisiert wird. In der Moralistik entfaltet sich nämlich derjenige Typus, den David Riesman den „außengesteuerten“ genannt hat: seine Motive sind keine Frage des Gewissens, sondern der Rückkopplung mit der Außenwelt, der eigenen Wirkung auf andere Menschen. Nur dadurch gewinnt dieser Typus der moralistischen „persona“ (Gracián) die Herrschaft über sich, eine Fähigkeit, die in der Antike der Lebenskunst des animal rationale überantwortet worden war. „Die Verhehlung ist die Fertigkeit, die Dinge nicht so zu zeigen, wie sie sind. Man heuchelt etwas vor, das nicht ist, man verhehlt etwas, das ist. Vergil sagt von Aeneas: … es heuchelt Hoffnung sein Blick … er preßt den tiefen Schmerz in die Seele. Diese Verse enthalten die Vortäuschung einer Hoffnung und die Verhehlung eines Schmerzes. Die eine fehlte Aeneas, und vom andern war sein Herz voll; aber er wollte seinen Kummer nicht nach außen dringen lassen.“19

15

16 17 18 19

Chapelain, Jean, Dialogue de la gloire , Bibliothèque Nationale, Fr 12848, in: J.-E., FidaoJustiniani, L'esprit classique et la préciosité au XVII e siècle , Paris, 1914, 147-190. Diesen Topos wird Nietzsche später aufgreifen, wenn er schreibt, die Tugend sei ein nacktes Weib – anziehend und abstoßend zugleich. Gracián, Handorakel, (s. Anm. 14), 54. Bacon, Essays, (s. Anm. 13), 215. Torquato Accetto, Von der ehrenwerten Verhehlung, Berlin 1995, 29.

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3. Schein und Gewohnheit bei Kant Wie verwandelt sich Kant nun der Moralistik an? Mit seinem oben erläuterten Kontingenzargument sind weder Gewohnheit noch Schein vereinbar, da beide moralistische Topoi der moralischen Reinheit entbehren, mithin in der Umwelt des „für sich selbst lohnende(n) System(s) der Moralität“ liegen. Kant hat hier offenbar einen anderen Zugang, meines Erachtens den der Anthropologie. Diese darf zwar, wie er in der „Grundlegung“ unmissverständlich dekretiert hatte, nicht als theoretische Begründung der Ethik herhalten 20 , zur Anwendung und zum Behelf des Menschen in der moralischen Welt ist sie nichtsdestoweniger unentbehrlich. Denn: „Wären die Menschen alle gut, so könnten sie offenherzig sein, aber jetzt nicht.“ 21

Kants Anthropologie bezieht durchweg eine zeitliche Perspektive mit ein, sowohl individual- als auch menschheitsgeschichtlich. Das Individuum muss sich erst moralisch entwickeln, wenn es anschlussfähig an das Moralsystem werden soll, und die Menschheit muss sich gleichermaßen entwickeln. Wenn die Menschen heutzutage (oder seinerzeit) nicht durchweg „gut“ sind, bedürfen sie des Scheins, der zivilisiert.22 „Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler; sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen. (…) Denn dadurch, dass Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt, und gehen in die Gesinnung über.“23

Kants Argumente für den Schein kann ich nun in drei Thesen zusammenfassen: 1. Schein wird im Umgang der Menschen (nicht im Umgang mit sich selbst!) schließlich zur Tugend. 2. Schein hilft bei der zeitlichen Übereinstimmung von Motiv und Handlung. 3. Mit Schein kann der Mensch die Neigungen bezähmen. Sollte auch die Gewohnheit ein geeignetes „motivum auxiliarum“ sein, das den Handelnden moralisieren kann? Was beim Schein spielend leicht zu sein scheint, nämlich etwas Äußeres so mir nichts, dir nichts, „in die Gesin20 21 22

23

GMS, AA 4, 410. VüE, 284. Vgl. Sommerfeld-Lethen, Caroline/Lethen, Helmut, Schein zivilisiert, in: Brigitte Felderer/Thomas Macho (Hg.), Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, München 2002. Anth, AA 7, 151.

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nung“ übergehen zu lassen, gestaltet sich im Falle der Gewohnheit als hindernisreicherer Weg. Das Problem ist sachlich dasselbe wie beim Schein: Gewohnheit ist kontingent, also nicht kompatibel mit der „Freiheit der Willkür“, die für moralisches Handeln zwingend aufrechterhalten werden muss. In Kants Moralbegründung hat der Schein keinen Platz. Das Lügenverbot aus der „Grundlegung“ funktioniert so, dass die allgemeine Unterstellung unwahren Sprechens jedes wahre Sprechen logisch unmöglich machen würde. Interessanterweise bleibt Kant aber ein Weg offen, um Handelnde strukturell an die Moral zu koppeln: durch Verzeitlichung. Sein primäres Argument gegen die Gewohnheit als moralisches Motiv ist schon zeitlich arrangiert: Es erfolgt beim Moralischwerden im günstigsten Falle eine „Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instinkts auf einmal erfolgt.“ 24 Dieser einmalige Wandel (Kant spricht an anderer Stelle auch von einer „Revolution“), gilt indes nur für die eine Zeichenebene, auf der man Handeln verstehen kann, nämlich die „Denkungsart“. Für die „Sinnesart“, also den empirischen Charakter, ist dagegen – das ist sein Argument für die Gewohnheit – eine „allmähliche Reform“ nötig. Wie kann aber, auch wenn es hier um dem anthropologisch bestimmbaren Teil des Menschen geht, die Freiheit des Handelns gewahrt bleiben, droht doch Gewohnheit latent zu „lähmender Gewohnheit“ zu werden? Kant findet, wie immer durch Unterscheidung, nicht umsonst ist er ein kritischer Philosoph im Wortsinne, eine Lösung: „Fertigkeit (habitus) ist eine Leichtigkeit zu handeln und eine subjektive Vollkommenheit der Willkür. – Nicht jede solche Leichtigkeit aber ist eine freie Fertigkeit (habitus libertatis); denn, wenn sie Angewohnheit (assuetudo); d.i. durch öfters wiederholte Handlung zur Notwendigkeit gewordene Gleichförmigkeit derselben ist, so ist sie keine aus der Freiheit hervorgehende, mithin auch nicht moralische Fertigkeit. Die Tugend kann man also nicht durch die Fertigkeit in freien gesetzmäßigen Handlungen definieren, wohl aber, wenn hinzugesetzt würde, »sich durch die Vorstellung des Gesetzes im Handeln zu bestimmen«.“25

Der Trick ist, dass es für Kant nicht, wie wir bei Aristoteles eingangs beobachten konnten, die Gewohnheit an Handlungen sein kann, die moralische Motivation hervorbringen kann, sondern diejenige an Maximen. Unter Zuhilfenahme von Maximen kann man sich „durch die Vorstellung des Gesetzes im Handeln […] bestimmen“. Unter dieser für Kants Ethik zentralen Annahme ist Gewohnheit freiheitsermöglichend. In der „Metaphysik der Sitten“ finden kritisch-transzendentale Moralbegründung und moralistische Motivation zur Moral zusammen, indem 24 25

Anth, AA 7, 294. MSTL, AA 6, 407.

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„…die moralische Triebfeder (die Vorstellung des Gesetzes) durch Betrachtung (contemplatione) der Würde des reinen Vernunftgesetzes in uns, zugleich aber auch durch Übung (exercito) erhoben wird.“ 26

Kant hat aus der Tradition der Moralistik, die auf den ersten Blick inkompatibel mit Kants Ethik zu sein scheint, wesentliche anthropologische Ansätze entnommen und diese zu einer plausiblen Motivationstheorie weiterentwickelt. So nimmt es nicht wunder, dass er sich selber in seiner Anthropologievorlesung in die Reihe der Moralisten stellt: „Das ist die Pflicht eines Moralisten nicht wieder die menschliche Natur zu handeln, sondern sich der Neigung der Menschen zu accomodiren und die Tugend ihnen Liebenswürdig vorzutragen. Ihr wahres Bestreben soll seyn, die Tugend nicht als eine schwere Pflicht vorzutragen, sondern sie sollen suchen eine Lust zur Ausübung der Tugenden hervorzubringen, nicht deßwegen weil ein Richter da ist, sondern weil sie das Leben angenehm macht, und an sich was vollkommenes ist; (sie ist auch in der That nicht schwer vor den, der durch Albernheit noch nicht verdorben ist) so müßte die ganze Moral vorgetragen werden.“27

Dieses Programm einer moralistischen Ethik hat Kant vor seinen Studenten der Anthropologie im Wintersemester 1772/73 vorgetragen. Ich nenne es deshalb ein moralistisches Programm, weil er versucht, in der Anthropologie, sowohl in der schließlich publizierten Fassung von 1798, als auch in den Vorlesungen zwischen 1772-1789, Moralphilosophie in diesem Sinne zu betreiben. Eine Ethik, die ein Ideal fordert, für das sie anthropologisch nicht einstehen kann, nennt er eine „betrügerische Ethik“ 28 , dagegen ist die Forderung, „sich der Neigung der Menschen zu accomodiren“, eher eine „schmeichelnde Ethik“. In der „Vorlesung über Ethik“ erklärt er sich für eine „mürrische Ethik“ 29 , die damit lebt, dass Pflicht eine schwierige Sache des Selbstzwanges sein muss. Seine programmatische Assimilationsthese kann man hier so verstehen, dass der Aspekt der Motivation in den Vordergrund tritt, um dem empirischen Menschen die Tugend „liebenswürdig“ zu machen. Es geht ihm nicht darum, ihn von den Mühen der Selbstbeherrschung zu entlasten, denn das hieße, ihm zu „schmeicheln“, sondern außermoralische Ergänzungen zur Handlungsmotivation zuzulassen. Allerdings können Lustgewinn, ein angenehmes Leben und Vollkommenheit als vorgestellte Zwecke nach wie vor nicht selbst moralisches Tun bewirken, sie können aber der Moral Beistand leisten und sind daher „erlaubt“. Dagegen sind ethische Selbstpraktiken wie Selbstzwang, Gewohnheit, Schein und Affektkontrolle keine bloß äußeren Ergänzungsstücke, sondern lassen im Gegensatz zu den „erlaubten“ Ideen die deontologische 26 27 28 29

A.a.O., A 33. VCollins, AA 25, 114. VüE 97. A.a.O.

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Moral erst wirken. Kants Assimilation nimmt eine kreuzende Bewegung an: in der einen Richtung nähert sich das Handeln vertretungshalber der Moral an, in der anderen Richtung nähert sich die Moral dem empirischen Charakter an, beides, um Motivation zu befördern.

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Was darf ich hoffen? Kants „dritte Frage” in seiner dritten Kritik Christian Thies

Man kann sie schon fast nicht mehr hören … die drei Kantischen Fragen, an denen unsere Vernunft interessiert sei und die die Philosophie zu beantworten suche: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Es gibt drei Textstellen, an denen Kant diese Fragen aufzählt und kurz erläutert: Die erste findet sich am Ende der „Kritik der reinen Vernunft” (KrV, A 805/B 833); der zweite Fundort sind die „Logik”-Vorlesungen, die Kant regelmäßig gehalten hat und die 1800, also noch zu seinen Lebzeiten, einer seiner Schüler, der Königsberger Privatdozent Gottlob Benjamin Jäsche, herausgab (Log, AA 9, 25); schließlich werden die Fragen aufgezählt in einem Brief vom 4. Mai 1793 an den Göttinger TheologieProfessor Carl Friedrich Stäudlin anläßlich der Übersendung der Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft” (RGV, AA 11, 429). An den letzten beiden Fundstellen nennt Kant als vierte, zusammenfassende Frage: „Was ist der Mensch?” Darauf kann ich hier gar nicht eingehen. 1 Die erste und die zweite Frage lassen sich eindeutig der Erkenntnistheorie („Kritik der reinen Vernunft”) und der Moralphilosophie („Kritik der praktischen Vernunft”) zuordnen. Problematischer ist die dritte Frage. Im Brief an Stäudlin schreibt Kant, dass die dritte Frage in der beiliegenden religionsphilosophischen Publikation beantwortet werde. Doch merkwürdigerweise taucht sie in dieser gar nicht auf; vom Hoffen ist nur an wenigen Stellen die Rede (RGV, AA 6, 115f., 161f., 185 u.a.), ohne dass dort irgendetwas gesagt würde, was über die anderen Schriften hinausginge. 1

Vgl. Thies, Christian, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 2004, 10ff.

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So stellt sich die Frage, in welchem Werk Kant die dritte Frage behandelt. Meine These lautet, dass dies vor allem in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) geschieht. In dieser Schrift erörtert Kant viele verschiedene Probleme; selbstverständlich kann meine kurze Abhandlung nicht der Komplexität und dem Inhaltsreichtum dieses Werkes gerecht werden. Es geht mir auch gar nicht um Kant-Exegese, sondern um die Rekonstruktion einiger Argumente, die heute noch eine gewisse Aktualität beanspruchen könnten. Dabei wird sich zeigen, dass Kant verschiedene Antworten auf die genannte Frage erwogen hat. Ich beginne mit einer Erläuterung der Frage selbst.

1. Was heißt „Was darf ich hoffen?“? Kants Formulierung ist wohlüberlegt. Er fragt nicht: „Was hoffe ich?” Die Antwort wäre einfach: Alle Menschen hoffen, dass sie glücklich werden, dass ihnen alles nach Wunsch und Willen geschehe. Kant hat einen ähnlichen Begriff des Glücks wie Epikur, Bentham oder Freud: Glückseligkeit, wie er mehrfach ausführt, ist einfach die Befriedigung aller unserer Neigungen, so viel wie möglich, so intensiv wie möglich und so lange wie möglich (KrV, A 806/B 834; KpV, AA 5, 124; GMS, AA 4, 399, 405 u.ö.). Kant unterscheidet also nicht zwischen Glück und Lust. Er fragt auch nicht: „Was soll ich hoffen?” Das Hoffen ist keine Handlung, die man moralischen Normen unterwerfen könnte, also einem Sollen untersteht. Wenn wir davon absehen, lässt sich wiederum eine einfache Antwort zurechtlegen: Wir sollen hoffen, dass alles in der Welt moralisch zugehe, dass sich die empirische Welt der idealen Sphäre des normativ Geforderten zumindest immer weiter annähere. Diese beiden Fragen sind also von Kant nicht gemeint und aus seiner Sicht auch ziemlich uninteressant. Wie die dritte Frage tatsächlich zu verstehen ist, wird bereits in der Methodenlehre der „Kritik der reinen Vernunft” klar herausgearbeitet. „Was darf ich hoffen?” heißt: Was darf ich berechtigterweise hoffen? Meine Hoffnungen richten sich immer, wie bereits festgestellt, auf das eigene Glück. Zu Hoffnungen berechtigt bin ich aber nur, wenn ich moralisch gehandelt habe, und zwar nicht bloß den legitimen Normen gemäß (Legalität), sondern auch aus Pflicht, also aus der Einstellung heraus, dass die entsprechende Handlung wirklich die normativ richtige ist (Moralität). Kant spitzt das Problem auf folgendes Begriffspaar zu: Werde ich dann, wenn ich mich als glückswürdig erwiesen habe, auch glückselig werden? Eine ausführlichere Fassung der dritten Frage lautet demnach: Wenn ich immer so handele, wie ich soll, nämlich moralisch, darf ich dann hoffen, glücklich zu werden?

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Die Einheit von Glück und Moral bezeichnet Kant als das höchste Gut. Er gibt diesem Begriff der klassischen Philosophie (lat. summum bonum) eine gegenüber der Tradition präzisere Fassung. Das oberste Gut, an dem keine Abstriche zu machen sind und das keinem anderen untergeordnet werden darf, ist die Moral. Man dürfe die Einheit von Glück und Moral also nicht durch einen Kompromiss herstellen, durch ein Treffen auf halbem Wege. Abzulehnen ist etwa folgender Vermittlungsvorschlag: Nur die negativen Pflichten, also dass wir beispielsweise niemandem schaden dürfen, gelten absolut; den positiven Pflichten, also Hilfsbereitschaft und Wohltätigkeit, könne man sich hingegen entziehen, wenn diese der Befriedigung unserer egoistischen Neigungen im Wege stehen. Nein, der kategorische Imperativ gebietet uneingeschränkt und unbedingt. Aber das oberste Gut ist, wie Kant schreibt, „nicht das ganze und vollendete Gut“ (KpV, AA 5, 110), weil es noch durch Glückseligkeit ergänzt werden könne. Eine Welt, in der die moralischen Menschen glücklich sind, wäre zweifellos besser als eine Welt, in der die moralischen Menschen unglücklich sind. Auf diese beste aller möglichen Welten richtet sich somit letztlich unser Hoffen. Aber ist diese Hoffnung berechtigt? Oder leben wir, wie Camus später sagen wird, in einer Situation der Absurdität, hier verstanden als Auseinanderfallen von moralischem Subjekt und a-moralischer Welt? Diese Frage ist nicht bloß eine akademische. Denn der Lauf der Dinge beweist uns immer wieder, dass gute Menschen gerade durch ihr moralisches Handeln leiden müssen und dass böse Menschen triumphieren. Durch die Literatur des Aufklärungszeitalters sowie durch historische und alltägliche Erfahrungen war sich Kant dieser Diskrepanz von Glück und Moral bewusst. In seinem „Theodizee“-Aufsatz (1791) weist er all die Argumente zurück, die diese Kluft verschleiern wollen. So führen manche an, dass ein Verbrecher, selbst wenn er seiner gerechten Strafe entgeht, doch leiden müsse, nämlich Gewissensqualen; der Böse leide innerlich sogar mehr, als der Gute dies äußerlich tue. Dagegen setzt Kant, dass das einfach empirisch nicht stimmen würde – „und der Lasterhafte, wenn er nur der äußern Züchtigungen wegen seiner Frevelthaten entschlüpfen kann, lacht über die Ängstlichkeit der Redlichen sich mit selbsteigenen Verweisen innerlich zu plagen” (MpVT, AA 8, 261). Das zweite Verschleierungsargument bestreitet nicht die Diskrepanz von Glück und Moral, führt aber an, dass das Leiden eben zur Tugend gehöre und der moralische Mensch sich dadurch innerlich noch mehr erheben könne. Dagegen setzt Kant, dass man das Leiden bestenfalls als vorangehendes oder begleitendes Mittel der Moral ansehen könne; wenn am Ende nicht doch das rechte Verhältnis von Glück und Moral wiederhergestellt werde, bliebe das Missverhältnis stehen. Unsere Erfahrung belege aber durch viele Beispiele, dass keineswegs gelte: Ende gut, alles gut. Wer nun, so Kant weiter,

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behaupte, vielleicht sei das Ende, also unser Tod, gar nicht das Ende, der berufe sich auf etwas, was er auf Grund unserer begrenzten kognitiven Fähigkeiten unmöglich beweisen könne. Entsprechendes gilt für die Annahme einer über-irdischen Welt, in der alles seinen gerechten Ausgleich finde. Eines der wichtigsten Resultate der „Kritik der reinen Vernunft“ war nämlich, dass unsere spekulative Vernunft notwendigerweise bestimmte Vorstellungen hervorbringt, vor allem die Idee eines unvergänglichen Kerns unserer Personhaftigkeit (Seele) sowie die Idee eines vollkommenen Wesens (Gott). Die Grenzen unserer Vernunft machen es jedoch unmöglich, die Existenz dieser Ideen aufzuzeigen; allerdings sei auch der Gegenbeweis, also der ihrer Nichtexistenz, nicht zu erbringen. Die Frage, ob Glück und Moral in dieser Welt zusammenkommen können, ist ein ernstes und tiefgründiges Anliegen all der Menschen, die konsequent über die Grundfragen menschlichen Erkennens und Handelns nachdenken. In dieser dritten Frage unserer Vernunft verbinden sich sogar die ersten beiden; in ihr geht es um die Einheit der Philosophie überhaupt. Die theoretische Philosophie, geleitet durch die Frage „Was kann ich wissen?”, sucht nach den Gesetzen der Natur, soweit diese uns als Erscheinung zugänglich ist. Die Frage, wie ich glücklich werden könne, fällt nach Kants Auffassung in diesen Bereich. Zwar gibt es individuell verschiedene Glücksvorstellungen und je nach Situation unterschiedliche Wege zum Ziel, aber prinzipiell ließen sich die Mittel, mit denen wir das jeweils gewünschte Glück am besten erreichen können, empirisch erforschen. Das Ergebnis dieser theoretischen Bemühungen sind hypothetische Imperative der folgenden Form: Wenn du glücklich sein willst (und das will jeder Mensch), dann solltest du unter den gegebenen Bedingungen x tun. Hingegen richtet sich die praktische Philosophie, geleitet durch die Frage „Was soll ich tun?“, nicht auf das, was ist (oder wie etwas erreicht werden kann), sondern auf das, was sein soll bzw. auf die Zwecke, die erreicht werden sollen. Eine solche Frage ist nach Kants Auffassung nicht empirisch, sondern nur apriorisch zu beantworten, und zwar durch die praktische Vernunft. Aus dieser entspringt der kategorische Imperativ, der von uns moralisches Handeln aus Pflicht fordert, ohne Wenn und Aber. Zuständig für das menschliche Glück ist also eine pragmatisch orientierte theoretische Vernunft (Zweckrationalität), dagegen für Moral die normativ orientierte praktische Vernunft (Wertrationalität). Insofern ist „Hoffen” für Kant ein Begriff der theoretischen und der praktischen Philosophie zugleich. Im Prinzip Hoffnung, so kann man sagen, findet Kants Philosophie ihren Abschlussgedanken. Eine vernünftige Hoffnung muss zwei Bedingungen erfüllen: Sie muss erstens vernünftig sein im normativ-praktischen Sinne, d.h., sie muss sich an den unbedingten Forderungen der Moral orientieren. Sie muss zweitens vernünftig

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sein im empirisch-theoretischen Sinne, d.h., sie muss den wirklichen Bedürfnissen des glücksuchenden Wesens entsprechen und darf sich nicht auf etwas richten, was faktisch unmöglich ist. Kurz gesagt: „Was darf ich hoffen?” ist die Frage nach der Einheit von Kants Denken unter Bewahrung des Primats der praktischen Philosophie.

2. Der erste Antwortversuch: Die religionsphilosophische Postulatenlehre Die erste Antwort auf die dritte Frage steht am Ende der „Kritik der praktischen Vernunft“. In der Methodenlehre der „Kritik der Urteilskraft“ (KU, AA 5, §§ 86ff.) wird sie wieder aufgegriffen. Dieser Lösungsvorschlag bildet zugleich den Kern von Kants rationaler Moraltheologie; insofern ist auch sein eingangs erwähnter Verweis auf die Religion zutreffend. Kant stellt die transzendentalphilosophische Frage: Unter welchen Bedingungen ist das höchste Gut überhaupt nur möglich? Es müssen, so meint er, zwei Voraussetzungen erfüllt sein: a. Mir steht eine unendliche Zeit für die Erreichung des höchsten Gutes zur Verfügung. Ein Erdenleben allein reicht gleichsam nicht. b. Ein allwissendes, allmächtiges und heiliges Wesen sorgt für die Einheit von Glück und Moral. Denn unsere eigenen Kräfte werden durch diese Aufgabe überfordert.

Wie man leicht sehen kann, werden hier die beiden Ideen, die Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ als unberechtigt zurückgewiesen hatte, nämlich Unsterblichkeit und Gott, im Kontext der Moralphilosophie erneut erzeugt, als Postulate der praktischen Vernunft. Das erste Postulat können wir vernachlässigen; es hängt vom zweiten ab (ohne Gott keine Unsterblichkeit) und wird an den entsprechenden Stellen der „Kritik der Urteilskraft“ kaum noch erwähnt. Demnach lautet, in grober Verkürzung, Kants erste Antwort: Wenn ich ein moralischer Mensch bin, darf ich hoffen, dass es Gott als allmächtiges und allgütiges Wesen gibt, das die Verwirklichung des höchsten Gutes sichert. Das ist der so genannte moralische Gottesbeweis, über den sich bekanntlich schon Heinrich Heine lustig gemacht hat. 2 Tatsächlich scheint es so, als wenn Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ alle bisherigen Gottesbeweise zurückgewiesen hätte, nur um später selbst einen eigenen zu erfinden. Dieser Verdacht übersieht aber die folgenden zwei Einschränkungen, auf die Kant am Ende der dritten Kritik nachdrücklich hinweist: 2

Heine, Heinrich, Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835), Stuttgart 1997, 104f.

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Erstens wird nicht, wie in den klassischen Gottesbeweisen, die Existenz Gottes objektiv bewiesen, nicht einmal intersubjektiv plausibel begründet. Wir wissen nach Kants Argumentation nicht, dass Gott existiert, sondern wir glauben es nur (vgl. KU, AA 5, § 90). Was heißt hier „glauben“? Kant unterscheidet zwischen Meinen, Glauben und Wissen (KrV, A 820/B 848ff.; KU, AA 5, § 91). Meinen ist ein subjektiv und objektiv unzureichendes Fürwahrhalten; Glauben ist subjektiv zureichend, aber nicht objektiv; Wissen ist subjektiv und objektiv zureichend. Etwas anders formuliert: Unter Glauben versteht Kant subjektive Gewissheiten, die sich intersubjektiv nicht überprüfen lassen. Kant meint also gezeigt zu haben, dass die Existenz Gottes für vernünftige Wesen subjektiv gewiss sei. Zweitens ist Gott nicht Gegenstand eines theoretischen, sondern eines praktischen Glaubens. Die subjektive Gewissheit ist also nicht im kognitiven Bereich angesiedelt, sondern gehört zu den Voraussetzungen unseres Handelns (vgl. KU, AA 5, § 88). Obwohl Kant dem Begriff „Gott“ auch eine theoretische Funktion zuschreibt (vgl. KrV, A 685/B 714ff.), besitzt die Idee einer moralischen Weltregierung nur in praktischer Hinsicht Gültigkeit. Damit ist nicht gemeint, dass Gott existieren sollte. Eine solche Forderung wäre sinnlos, da Gott als dasjenige definiert ist, was uns an Macht und Wert übersteigt sowie unserer Verfügbarkeit entzogen ist; seine Existenz kann nicht Gegenstand eines Sollens sein. Kant meint vielmehr, dass moralisch handelnde Menschen notwendigerweise an Gott glauben werden. Trotz dieser Einschränkungen bleiben massive Zweifel an Kants Postulatenlehre; tatsächlich hat sie heute nur noch wenige Befürworter. 3 Einige der wichtigsten Einwände seien genannt. Der christliche Einwand ist, dass hier die Religion für andere Zwecke instrumentalisiert werde. Diese Kritik findet sich, ohne Kant namentlich zu erwähnen, bereits 1799 in Schleiermachers epochaler Publikation „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern”. Es sei eine „Erniedrigung” und „Verachtung gegen die Religion”, sie auf diese Weise nach ihrem Nutzen zu beurteilen. 4 Im 20. Jahrhundert hat sich vor allem die dialektische Theologie gegen diese Art einer Funktionalisierung Gottes gewehrt. Der anti-christliche Einwand lautete schon immer, dass man auf die Religion in Sachen der Moral völlig verzichten könne. Der Glaube an Gott führe zu Dogmatismus, ja Fanatismus, mit den bekannten schrecklichen Konsequenzen von der Inquisition über Kreuzzüge bis zum religiös motivierten Terrorismus. Nicolai Hartmann hat die konträre Gegenposition zu Kant 3

4

Eine Ausnahme: Hösle, Vittorio, Praktische Philosophie in der modernen Welt, München ²1995, 31. Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), Stuttgart 1969, 25 u. 23.

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entwickelt: einen postulatorischen Atheismus. Gott soll nicht sein, damit unser Leben sinnvoll werden kann. 5 Entscheidend ist aber der argumentationslogische Einwand. Kants moralischer Gottesbeweis lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: 1. Die praktische Vernunft fordert mit überzeugenden Gründen: Das höchste Gut soll verwirklicht werden. 2. Was normativ gefordert ist, muss möglich sein. 3. Dann müssen alle Bedingungen vorhanden sein, damit es verwirklicht werden kann. 4. Zu diesen Bedingungen gehört Gott. Æ Also gibt es Gott.

Dieses Argument ist aber nicht triftig. Der entscheidende Schwachpunkt liegt im zweiten Satz, im Wörtchen „möglich“. 6 Sollen setzt Können voraus; das normativ Geforderte muss möglich sein. Aber was heißt hier „möglich“? Es kann bedeuten: (a) begrifflich möglich, (b) empirisch potentiell möglich, (c) empirisch aktual möglich. Sicherlich darf (a) nichts begrifflich Unmögliches gefordert werden, was bei Kants Vision einer Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit auch nicht der Fall ist. Dagegen wäre es beispielsweise widersprüchlich, die moralische Forderung aufzustellen, dass jeder Mensch alle anderen lieben solle, wenn man zugleich unter Liebe die bedingungslose Zuwendung zu einer bestimmten Person versteht. Der Unterschied zwischen (b) und (c) ist formuliert in Anlehnung an den mathematischen Begriff der Unendlichkeit: Bei (b) ist die Verwirklichung des höchsten Gutes prinzipiell möglich, aber nur als Ergebnis eines fortschreitenden Prozesses; bei (c) ist die Verwirklichung direkt möglich, sie ist als Tatsache gegeben. Nehmen wir als Beispiel die elementare moralische Forderung, dass kein Mensch hungern sollte: Dieses Gebot muss (b) empirisch potentiell zu verwirklichen sein; dafür erforderlich ist eine ausreichende Menge von Ressourcen (Lebensmitteln, Rohstoffen, Wasser u.a.) pro Kopf, was wohl der Fall ist. Eine apriorische Bedingung wie Gott ist nicht notwendig. Im Sinne von (c) müsste dieses Gebot durch meine Handlungen (oder die kollektiven Handlungen einer Institution) sofort zu verwirklichen sein; das ist sicherlich nicht der Fall. Nur an dieser Stelle wäre der Rückgriff auf eine transzendente Macht nötig. Aber die Anforderung ist, wie leicht zu sehen, überflüssig. Es reicht aus, wenn man sich auf den Weg machen kann; es ist keineswegs notwen5

6

Hartmann, Nicolai, Ethik (1926), Berlin-West 41962, 248f.; ders., Sinngebung und Sinnerfüllung (1934), in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin-West 1955, 245-279, bes. 270ff. Mackie, John L., Das Wunder des Theismus, Stuttgart 1985, 173ff.; vgl. Tetens, Holm, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, München 2004, 249ff.

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dig, dass die empirische Verwirklichung gesichert ist oder sich sogar in meiner Lebenszeit ereignen wird. Beharrliches moralisches Handeln erfordert nicht die Möglichkeit der direkten Verwirklichung, sondern nur die der unmittelbaren Beförderung des höchsten Gutes. Deshalb müssen auch nur die Bedingungen gegeben sein, das höchste Gut zu befördern. Zu diesen gehört aber nicht die Annahme der Existenz Gottes. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei noch einmal betont, dass diese Kritik an der Postulatenlehre die Begründung von Kants Moralphilosophie in keinster Weise gefährdet. Der verpflichtende Charakter des kategorischen Imperativs bleibt erhalten, ob nun der moralische Gottesbeweis schlüssig ist oder nicht. Das macht Kant am Ende der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten” ganz klar, wenn er dort schreibt, es sei unsere Pflicht, nach einem „ewigen Frieden” zu streben, auch wenn wir nicht wissen können, ob wir jemals in der Lage sein werden, ihn zu verwirklichen (MS, AA 6, 354f.). Es geht Kant nur darum, die motivationale Stärke des kategorischen Imperativs zu erhöhen. Als Beispiel nennt er am Ende von § 87 „einen rechtschaffenen Mann (wie etwa den Spinoza)“ (KU, AA 5, 452): Dieser würde sein moralisches Streben aufgeben, er müsste gewissermaßen verzweifeln, wenn er nicht an eine göttliche Unterstützung der beschriebenen Art glauben würde. Man kann darin ein Überbleibsel von Kants früher eudämonistischer Ethik sehen: Wir streben immer nach Glück und werden davon nicht ablassen. Ein moralisch Handelnder, der nicht an die Realisierbarkeit des höchsten Gutes glaubt, sei sogar ein gutmütiger Trottel, der sein eigenes Glück opfert. 7 Jeder handelt eher aus Pflicht denn aus Neigung, wenn er weiß, dass sich auch für ihn alles zum Guten wenden wird. Man kann dies als anthropologischen Realismus bezeichnen, vielleicht sogar als Pessimismus, durch den sich Kant von den meisten Aufklärern unterscheidet. Beispielsweise schreibt Lessing: „sie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, da der Mensch, je überzeugter sein Verstand einer immer bessern Zukunft sich fühlet, von dieser Zukunft gleichwohl Bewegungsgründe zu seinen Handlungen zu erborgen, nicht nötig haben wird; da er das Gute tun wird, weil es das Gute ist” 8 . Dessen ist sich Kant keineswegs gewiss. Er steht, wie Luther und Hobbes, viel stärker in der Tradition eines anthropologischen Pessimismus. Kann man Kants moralischen Gottesbeweis reduzieren auf die Tatsachenfeststellung, dass moralische Menschen an Gott glauben? Der folgende Einwand liegt auf der Hand: Nicht alle moralisch willensstarken Men7 8

Schmitz, Hermann, Was wollte Kant? Bonn 1989, 81-99. Lessing, Gotthold Ephraim, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777), Stuttgart 1965/1997, § 85.

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schen sind Theisten und nicht alle Atheisten leiden unter Willensschwäche. Mir ist keine empirische Untersuchung bekannt, die überzeugend belegt, dass für moralisches Handeln irgendeine Art von Religiosität notwendig wäre. Festhalten kann man wohl nur die These, dass moralisches Handeln nicht ohne irgendwelche Formen subjektiver Gewissheiten möglich ist. Wir müssen darauf vertrauen, dass die Welt nicht kurz vor dem Untergang steht, dass nicht alle Menschen unsere erbitterten Feinde sind, soziale Institutionen verlässlich sind usw., kurz: dass das Gute möglich ist. Eine solche Hoffnung auf einen Erfolg unserer moralischen Handlungen gehört wohl zu den Voraussetzungen dieser. Aber deren Berechtigung kann gerade nicht gezeigt werden, weder apriorisch noch empirisch, weder durch die theoretische noch die praktische Vernunft.

3. Der zweite Antwortversuch: Ästhetische und naturphilosophische Indizien Wenn die Postulatenlehre nicht überzeugend ist, bleibt dann die Kluft erhalten? Oder lässt sich der Dualismus auf andere Weise überwinden? Ich verstehe die materialen Überlegungen der „Kritik der Urteilskraft” zur Ästhetik und Naturphilosophie als einen erneuten Vermittlungsversuch. Allerdings werden Frage und Antwort gegenüber dem, was Kant in den beiden ersten Kritiken versuchte, abgeschwächt. Erstens will Kant keine zwingenden Gründe mehr liefern, sondern nur noch Hinweise auf einen solchen Zusammenhang geben bzw. dessen Spuren sichern. Man könnte in der von Kant bevorzugten Metaphorik des Gerichtsprozesses sagen: Es geht nicht um Beweise, sondern bloß noch um Indizien. Zweitens zielt die Frage nicht mehr auf die Einheit von Glück und Moral. Vielmehr geht es jetzt um die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit. Denn als Naturwesen unterliege ich denselben kausalen Gesetzmäßigkeiten wie jeder andere Gegenstand im Universum; als moralisches Subjekt bin ich jedoch nach Kants Auffassung frei, ein sich selbst Gesetze gebendes (autonomes) Wesen. Die Einheit dieser beiden Perspektiven unter Preisgabe der Freiheit wäre problemlos möglich; das Ergebnis wäre das materialistische Weltbild der Naturwissenschaften. Kant sucht aber nach einer Einheit unter dem Primat der Freiheit. Als Brückenprinzip dient der Begriff des Zwecks. Wir kennen dieses Prinzip, weil wir handelnde Wesen sind: Bewusst intendierte Handlungen (und auch, wie wir spätestens seit Freud wissen, viele unbewusste) haben einen Zweck; wir verfolgen mit ihnen bestimmte Ziele, die in einer Rangordnung stehen. Der höchste Zweck aller unserer Handlungen, die aus Neigung geschehen, ist die Glückseligkeit. Aber es gibt auch Handlungen

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aus Pflicht, die auf Vernunftzwecke wie Gerechtigkeit und Solidarität gerichtet sind. Vor allem aber ist es moralisch gefordert (so die berühmte Formulierung des kategorischen Imperativs), alle anderen Menschen nicht bloß als Mittel, sondern auch als Zweck zu behandeln (GMS, AA 4, 429). Diese Sichtweise der praktischen Vernunft findet aber in der theoretischen Philosophie kein Echo; im Gegenteil, Kant hatte in der „Kritik der reinen Vernunft“ die universale Gültigkeit des Kausalprinzips aufgezeigt; in der Welt geschieht alles nach Wirk- und nicht nach Zweckursachen. In der „Kritik der Urteilskraft“ wird die Teleologie jedoch vorsichtig rehabilitiert. Es gibt nämlich, so Kants Gedankengang, ein menschliches Vermögen, mit dem wir unsere Begriffe untereinander vergleichen und die verschiedenen Erkenntnisarten in Zusammenhang zu bringen versuchen: die reflektierende Urteilskraft. Diese kognitive Kompetenz arbeitet, wie auch die Vernunft, mit apriorischen Begriffen, vor allem mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit. Zu Erkenntnissen im eigentlichen Sinne, zu Aussagen über die Gegenstände der Erscheinungswelt, gelangt die reflektierende Urteilskraft nicht; vielmehr wird unser Wissen einer Reflexion unterzogen, einer zweiten Deutung. Aus der Perspektive der reflektierenden Urteilskraft können wir die Dinge so betrachten, als ob sie zweckmäßig wären. Dabei unterscheidet Kant verschiedene Formen der Zweckmäßigkeit. Am wichtigsten sind die subjektiv-formale Zweckmäßigkeit und die objektivmateriale Zweckmäßigkeit. Aus ihnen ergeben sich zwei Indizien für eine Konvergenz von Natur und Freiheit. Das erste Indiz entwickelt Kant im ersten Teil der dritten Kritik: die ästhetische Erfahrung der schönen Natur. 9 (Auf die Erörterung der ästhetischen Erfahrung des Erhabenen muss ich hier verzichten.) Naturwissenschaftlich (seit Darwin evolutionstheoretisch) lässt sich problemlos erklären, dass wir eine sinnliche Lust empfinden bei der Befriedigung unserer somatischen Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Sexualität, Bewegung, Entspannung usw.; Kant bezeichnet diese Art von Lust als das Angenehme. Aus Kants Sicht ist es aber nicht auf dieselbe Weise erklärbar, dass wir ein interesseloses Wohlgefallen empfinden, wenn wir uns in einer beeindruckenden Landschaft befinden, den Gesang der Nachtigall hören, einen schönen Menschen sehen o.ä. Kant deutet diese ästhetischen Erfahrungen so: Weder die Sinne allein noch der Verstand werden befriedigt, es kommt vielmehr zu einem freien Zusammenspiel dieser unserer Vermögen. Dabei empfinden wir ein interesseloses Wohlgefallen. Lust (bzw. Wohlgefallen) 9

Ausführlich dazu: Thies, Christian, Beförderung des Moralischen durch das Ästhetische? Überlegungen im Anschluss an Kants „Kritik der Urteilskraft“, in: Gerhardt, Volker u.a. (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin/New York 2001, Bd. 3, 630-638.

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bereiten immer Phänomene, die einen Zweck erfüllen, die zweckmäßig sind. Dem paradoxen Fall eines interesselosen Wohlgefallens korrespondiert deshalb der paradoxe Fall einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Damit meint Kant, dass wir Phänomene als zweckmäßig deuten, von denen wir genau wissen, dass sie nicht Produkte zweckgerichteter Aktivitäten sein können. Denn als moderne Menschen wissen wir ja, dass die gesamte Natur das Resultat einer endlosen Kette kausaler Prozesse ist. Dennoch erscheint uns die schöne Natur so, als ob sie für uns geschaffen wäre. Das zweite Indiz, das im zweiten Teil der „Kritik der Urteilskraft“ entfaltet wird, ist die Möglichkeit, Organismen und ökologische Zusammenhänge als zweckgerichtete Phänomene zu beschreiben. Auch die heutigen Biowissenschaften bedienen sich oft einer Sprache, die ein teleologisches Vokabular enthält: Es scheint so, als ob in einem Organismus oder in einem Ökosystem alle Teile zweckmäßig aufeinander abgestimmt sind; es scheint so, als ob die Natur wie mit einem vorgefertigten Plan ihre Produkte hervorgebracht habe. Von Interesse ist hier zunächst die innere Zweckmäßigkeit der Organismen, die sich durch folgende Merkmale auszeichnen (KU, AA 5, § 65): (a) Das Ganze entsteht nicht (wie es eine mechanistische Physik nahe legt) aus seinen Teilen, sondern die Teile sind nur durch das Ganze möglich; (b) Ursache und Wirkung sind nicht (wie die theoretische Philosophie verlangt) eindeutig getrennt, sondern die Teile sind zugleich Ursache und Wirkung; (c) das Ganze ist nicht bloß ein Produkt, sondern hat die Fähigkeit, sich selbst hervorzubringen. Ein Naturphänomen, das sich auf diese Weise beschreiben lässt, bezeichnet Kant als ein „sich selbst organisirendes Wesen“ (KU, AA 5, 374). Er verwendet viel Mühe darauf, um zu zeigen, dass solche teleologischen Beschreibungen mit der Vorstellung eines universalen Kausalzusammenhangs kompatibel sind. So kann man sich beispielsweise (wie schon Leibniz) alle Gesetze als kausale denken, diese aber wiederum in einen teleologischen Rahmen stellen (KU, AA 5, 414f.). Kant treibt seine transzendentalphilosophischen Reflexionen noch einen Schritt voran: Die Bedingung der Möglichkeit des korrekten Operierens der reflektierenden Urteilskraft ist die nicht weiter bestimmbare Idee eines übersinnlichen Grundes, sowohl in uns als auch (korrespondierend dazu) außer uns. Zweckmäßigkeiten erfordern nämlich gedanklich die Annahme einer zwecksetzenden Instanz, bei subjektiven Zweckmäßigkeiten in uns, bei objektiven Zweckmäßigkeiten außer uns. Zudem, so argumentiert Kant, ist auch das Zusammenspiel sowohl der Erkenntnisvermögen im ästhetischen Urteil als auch die Vereinbarkeit von mechanischen und teleologischen Prinzipien in der Naturdeutung nur denkbar, wenn wir einen übersinnlichen Grund annehmen, wiederum im einen Fall in uns, im anderen Fall außer uns. Für letzteren Fall werden wir notwendigerweise

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sogar zu der nicht beweisbaren, aber auch nicht widerlegbaren Annahme einer höheren Intelligenz geführt. Kant erwähnt hier die platonische Idee eines Weltbaumeisters (intellectus archetypus, KU, AA 5, 408). Diese Überlegungen sind aber nicht zwingend. Zumindest bezogen auf die objektiven Zweckmäßigkeiten der Natur verfügen wir mit der von Darwin begründeten Evolutionstheorie über eine wissenschaftliche Hypothese, die uns diese ohne die Annahme einer personalen schöpferischen Intelligenz verständlich machen kann. Was hat Kant mit diesen hier sehr stark vereinfachten und immer noch schwer nachvollziehbaren Reflexionsschritten erreicht? Er möchte zeigen, dass wir uns die Natur nicht als etwas vorstellen müssen, das uns entgegensteht, eventuell sogar zu bekämpfen ist, sondern als etwas, das uns entgegenkommt, mit uns verwandt ist. Die ästhetische Erfahrung der schönen Natur und die Möglichkeiten teleologischer Beschreibungen von Naturphänomenen sind Indizien dafür, dass eine untergründige Affinität zwischen uns und der Natur existiert. Bisher kannten wir nur einen Zweck an sich, uns selbst als Vernunftwesen. Aus der Perspektive der reflektierenden Urteilskraft erscheint es nun so, als ob auch die Natur am Reich der Zwecke teilhabe. Das hat Kant in einer oft zitierten Reflexion bereits 1771 festgestellt: „Die Schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe …” (Refl, AA 16, 127, Nr. 1820a) So soll die Kluft zwischen dem ‚kalten’ mechanischen Determinismus und unserem ‚warmen’ moralischen Selbstbild überbrückt werden. Für den ‚kalten‘ Mechanismus ist das Universum eine große Maschine, die nach Kausalgesetzen funktioniert; wir selbst aber müssen uns als Wesen mit einem ‚warmen’ moralischen Kern betrachten. Die reflektierende Urteilskraft hat mittels des Prinzips der Zweckmäßigkeit zwischen Natur und Vernunft einen Zusammenhang hergestellt, der es erlaubt, beide in Kontinuität zu denken. Indem die „Kritik der Urteilskraft” diese beiden Welten vermittelt, gibt sie uns auch Grund zu der Hoffnung, dass unsere (praktische) Vernunft nicht etwas ist, das in dieser Welt völlig exzentrisch, total fremd ist. 10 Kants zweite Antwort lautet also: Ich darf hoffen, dass ich als rationales und freies Wesen in dieser Welt nicht völlig auf verlorenem Posten stehe. Dieser Gedanke wird von Autoren fortgeführt, die den Kants eingeführten Begriff der Selbstorganisation auf die gesamte Natur oder sogar den gesamten Kosmos anwenden wollen. 11 In allen komplexen Systemen, so die These, seien autopoietische Kräfte am Werk. Auf die Idee einer transzendenten Intelligenz wird verzichtet; stattdessen greift man Ansätze 10

11

Vgl. Recki, Birgit, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001, 133ff. Jantsch, Ernst, Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist, München 1979/1982; Laszlo, Ervin, Evolution. Die neue Synthese, Wien u.a. 1987.

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aus der Quantenphysik, der Chaostheorie, der Thermodynamik offener Systeme und der Zellbiologie auf. Im Unterschied zu Kant wird kein statisches, sondern ein dynamisches Modell entwickelt; obwohl der Evolutionsgedanke in der „Kritik der Urteilskraft“ an einigen Stellen angedeutet wird (etwa in § 80), spielt er in Kants philosophischer Deutung keine Rolle. Die große Gemeinsamkeit mit Kant besteht aber in der Rehabilitierung einer immanenten Teleologie. Allerdings muss noch einmal klargestellt werden: Kants These ist nicht, dass die gesamte Natur zweckmäßig organisiert ist. Erstens sind die teleologischen Prinzipien weder idealistisch noch realistisch zu verstehen, sondern transzendental. „Zweckmäßigkeit“ ist zwar ein apriorischer Begriff, den wir notwendigerweise bilden. Aber es ist keine Kategorie unseres Verstandes, die notwendigerweise auf die Erscheinungswelt oder gar die Dinge an sich zutrifft. Es ist vielmehr ein Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, das wir nicht auf die Natur selbst, sondern auf unsere Erkenntnisse von dieser anwenden. Es handelt sich um unsere Zutat, eine Art Interpretationsschema, das es uns erlaubt, Naturphänomene so zu beschreiben, als ob sie zweckmäßig seien. Der Nutzen dieses Begriffs liegt zum einen in der Vereinheitlichung bisherigen Wissens, zum anderen dient er als heuristisches Prinzip für die Suche nach weiteren Erkenntnissen. In Anlehnung an Schelling hat Hegel diese Einschränkungen bewusst zurückgenommen und die Einsichten der reflektierenden Urteilskraft als echte Erkenntnisse aufgefasst. 12 Umgekehrt hat einige Jahrzehnte später Hans Vaihinger sämtliche Erkenntnisse, auch die der Logik, Mathematik, Physik und Moralphilosophie, als Fiktionen, als Als-ob-Aussagen gedeutet. 13 Zweitens ist Zweckmäßigkeit zwar ein transzendentales Prinzip, das wir mit Notwendigkeit erzeugen. Aber es ist keine unhintergehbare Voraussetzung (Präsupposition), sondern eine Unterstellung (Präsumtion), die auch scheitern oder widerlegt werden kann. Einen ähnlichen Status hat etwa die hermeneutische Maxime des Vorgriffs auf Vollkommenheit (principle of charity) oder die juristische Maxime „in dubio pro reo“: Wir unterstellen die Vollkommenheit eines Textes und der Unschuld des Angeklagten, aber oft ist doch das Gegenteil der Fall. Tatsächlich lassen sich viele Phänomene nicht nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit deuten; sie sind vielmehr zweckwidrig, entweder ästhetisch zweckwidrig oder physisch zweckwidrig. Das bedeutet auf der ästhetischen Ebene, dass Natur nicht immer als schön erfahren wird. Sie kann auch als hässlich oder langweilig, sogar als ekelhaft und abstoßend er12 13

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), In: ders., Werke, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1970, §§ 55ff. Vaihinger, Hans, Philosophie des Als-ob (1911, entstanden 1876-78), Leipzig 41920.

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scheinen. Auf der naturphilosophischen Ebene zeigt sich das Zweckwidrige im Leiden. Nicht jedes Leiden ist ein Beleg, aber jedes unnötige Leiden. Kant gibt davon im Theodizee-Aufsatz eine eindrucksvolle Schilderung. Ob Naturkatastrophen, Krankheiten oder der Überlebenskampf die Ursache sind, ist nebensächlich. Kant geht so weit zu behaupten, dass angesichts der Leiden, die uns im Laufe der Zeit zustoßen, kein Mensch bereit wäre, sein Leben noch einmal zu leben. Nur durch unsere Moralität ragen wir aus diesem Elend heraus; nur durch unser moralisches Handeln können wir dem Leben einen Wert geben.

4. Der dritte Antwortversuch: der geschichtliche Fortschritt Schließlich wird in der „Kritik der Urteilskraft” noch eine dritte Antwort angedeutet und vorbereitet. Diese beruht auf der Möglichkeit, nicht nur Naturphänomene, sondern auch die Menschheitsgeschichte teleologisch zu beschreiben. Bereits in einigen Veröffentlichungen vor 1790, etwa in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784), hatte Kant mit teleologischen Prinzipien gearbeitet. Wir können die Menschheitsgeschichte so deuten, als ob sie darauf angelegt sei, die menschlichen Fähigkeiten zu entwickeln, allerdings nicht beim Einzelnen, sondern in der Gattung insgesamt. Dies könne aber nur geschehen, wenn es für unser Zusammenleben innere und äußere Formen gibt, die diese Entwicklung ermöglichen: eine republikanische Staatsverfassung und einen rechtlich abgesicherten Friedenszustand zwischen den Staaten. Kant spricht von einem „Leitfaden“ (IaG, AA 8, 17 u. 18), der uns erlaubt, die Naturgeschichte teleologisch zu rekonstruieren; denselben Begriff wird später Marx für seine geschichtsphilosophischen Reflexionen verwenden. 14 Die methodologische Begründung für eine solche teleologische Sichtweise wird in der dritten Kritik nachgeliefert. Ausgangspunkt ist jetzt nicht die innere Zweckmäßigkeit von Organismen, sondern die äußere Zweckmäßigkeit, die wir aus der Perspektive der reflektierenden Urteilskraft etwa in ökologische Zusammenhänge hineinlesen können. Alles in der Natur ist Mittel für etwas anderes; jeder Zweck ist erneut Mittel; einen letzten Zweck gibt es nicht. Aber wir als moralische Wesen, so hatte Kant schon in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ festgestellt, können uns selbst nur als Zweck betrachten (GMS, AA 4, 428). Sofern wir uns als Produkt der Natur ansehen, denken wir uns deshalb notwendigerweise als 14

Marx, Karl, Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), in: Marx/Engels-Werke, Bd. 13, Berlin-Ost 1956, 8 (Vorwort).

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letzten Zweck der Natur. In § 83 fragt Kant: Was ist denn der (unterstellte) Zweck, den die Natur mit dem Menschen verbindet? Es kann nicht das sein, was wir uns von unserem Leben erhoffen, die Glückseligkeit. Eben wurde bereits erwähnt, dass die äußere und die innere Natur dieser zu oft widerstreiten. Als einzige Alternative sieht Kant die Möglichkeit bzw. „Tauglichkeit“, sich selbst Zwecke zu setzen. Man kann auch sagen: Der letzte Zweck der Natur ist die Freiheit des Menschen. Diese natürliche Voraussetzung der Freiheit nennt Kant Kultur. Damit gelingt es Kant, zwischen den konträren Positionen von Voltaire und Rousseau zu vermitteln: Man darf Natur und Kultur nicht so gegeneinander ausspielen, wie es bei diesen beiden Exponenten der Aufklärung geschah. In der „Kritik der Urteilskraft“ unterscheidet Kant zwei Begriffe einer freiheitsermöglichenden Kultur. Zum einen gibt es die Kultur der Geschicklichkeit; diese entwickelt sich durch Antagonismen, die sich im Rahmen einer bürgerlichen Gesellschaft und eines weltbürgerlichen Ganzen abspielen sollten. In der „Kritik der Urteilskraft“ wird auch der Krieg noch als ein Mittel gerechtfertigt, „alle Talente, die zur Cultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln“ (KU, AA 5, 433, ebenso 107). Wenige Jahre später, wahrscheinlich nach den Erfahrungen des ersten Koalitionskriegs gegen Frankreich ab 1792, hat Kant seine Auffassung in dieser Hinsicht geändert. Zum anderen gibt es die „Cultur der Zucht (Disciplin)“ (ebd. 432), durch die sich der Mensch von seinen Begierden befreien kann; in diesem Zusammenhang werden die schönen Künste und die Wissenschaften gelobt, die „den Menschen nicht sittlich besser, doch gesittet machen” (ebd. 433). In anderen Texten, u.a. in seinen Vorlesungen „Über Pädagogik“ (Päd, AA 9, 440, 449f. u.a.), hat Kant diese verschiedenen Begriffe weiter ausgearbeitet und einen detaillierten Stufenplan der Entwicklung des Menschengeschlechts vorgelegt. Den ersten Schritt bildet die Behütung der kleinen Menschenkinder, die unsere natürlichen Mängel kompensiert. Der zweite Schritt ist die Disziplinierung, also die Kultur der Zucht, die unsere destruktiven Triebe zügelt und anspruchsvollen Bedürfnissen Raum gibt. Der dritte Schritt ist die Kultivierung, durch die der Mensch Fertigkeiten erwirbt, die er zu beliebigen Zwecken nutzen kann, also die Kultur der Geschicklichkeit in der Entwicklung von Technik und Wissenschaft. Der vierte Schritt ist die Zivilisierung, die den Menschen mit den Umgangsformen ausstattet, die für ein „bürgerliches” (ziviles) Leben notwendig sind; das ist der positive Begriff, den Kant von bürgerlicher Gesellschaft hat. Es folgt der fünfte Schritt, die Moralisierung, die nicht die Mittel und Umgangsformen betrifft, sondern die von uns gewählten Zwecke. Allerdings wird diese zunächst nur in der Dimension der Legalität festzustellen sein, also darin, dass Handlungen den legitimen Normen äußerlich ent-

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sprechen, mithin pflichtgemäß sind. Der sechste Schritt ist dann die innere und (viel schwerer noch) die äußere Institutionalisierung der Legalität in einer Verfassung und einem internationalen Friedenszustand. Schließlich kann es erst im letzten Schritt zu Fortschritten an Moralität, also der Innenseite moralischen Handelns kommen, dem moralischen Handeln aus Pflicht. Im ersten Zusatz zum „Ewigen Frieden” stellt Kant ausdrücklich fest: Erst wenn es eine „gute Staatsverfassung” geben wird, ist „die gute moralische Bildung eines Volks zu erwarten” (ZeF, AA 8, 366). Dieser Entwurf einer Geschichtsphilosophie kann auf die dritte Kantische Frage bezogen werden, die damit folgendermaßen beantwortet wird: Wir dürfen hoffen, dass die Menschheit sich in moralischer Hinsicht in einem Fortschritt zum Besseren befindet. Dieser Fortschritt hat mindestens zwei Dimensionen: Zum einen verbessern sich die äußeren Umstände für moralisches Handeln. Zum anderen aber ändern sich auch die Menschen selbst; sie entwickeln Neigungen, Bedürfnisse und Interessen, die nicht von vornherein im Gegensatz zu den Anforderungen des moralischen Sollens stehen. Im Unterschied zu den transzendentalen Bedingungen des höchsten Gutes, von denen im ersten Antwortversuch die Rede war, geht es Kant hier um dessen empirische Bedingungen. Zudem wendet Kant die Frage ins Praktische: Wir müssen die (gesellschaftlichpolitischen) Bedingungen herstellen für die Konvergenz von Glück und Moral. Verfassungsstaat und Weltfrieden sind gleichsam weitere Postulate der praktischen Vernunft. Wer moralisch sein will, muss eine Gesellschaft wollen, in der man moralisch sein kann. Diese These führt von der Moralphilosophie in die politische Philosophie. Sie findet sich schon bei den antiken Klassikern Platon und Aristoteles: Die Einheit von Glück und Moral ist nur in der vollkommenen (utopischen oder weniger utopischen) Polis möglich. Hegel greift diesen Gedanken auf; deshalb endet seine „Rechtsphilosophie” nicht mit der Moralität, sondern mit der Verwirklichung des freien Willens in den Institutionen der Sittlichkeit, vor allem im Staat. Marx kokettiert sogar mit dem politisch verhängnisvollen Gedanken, dass Moral und Menschenrechte gar nichts wert seien ohne die Herstellung humaner gesellschaftlicher Verhältnisse. Eine schöne Version der Idee, die Einheit von Glück und Moral politisch herzustellen, vertritt Bertolt Brecht. 15 In verschiedenen Dramen hat er die Unzulänglichkeiten individueller Moralität dargestellt: So thematisiert „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ das Problem, dass unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise moralisches Handeln politisch auf fatale Weise ausgenutzt werden kann. In anderen Stücken, 15

Vgl. Fahrenbach, Helmut, Brecht zur Einführung, Hamburg 1986, 80-91.

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etwa „Der Herr Puntila und sein Knecht Matti“, behandelt Brecht die innere Zerrissenheit der Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft. Am direktesten wird die Frage nach der Einheit von Glück und Moral in dem Parabelstück „Der gute Mensch von Sezuan” gestellt (Uraufführung 1943). Wir leben in einer Gesellschaft, so will Brecht wohl sagen, in der wir nur die Wahl zwischen Moral und Glück haben. Wer die Gebote der Nächstenliebe befolgt, der muss scheitern; vergeblich suchen die Götter gute Menschen, die auch glücklich sind. In seinen Aufzeichnungen hat sich Brecht ausdrücklich zu Kants kategorischem Imperativ geäußert. „Denn der Satz ‚Handle so, daß dein Handeln die Maxime für das Handeln jedes sein kann‘ muß erweitert werden in den Satz ‚Schaff einen Zustand, wo dein Handeln die Maxime für das Handeln jedermanns sein kann‘, und das ist etwas anderes”. 16 In einem solchen Zustand wäre Moral letztlich sogar überflüssig. An anderer Stelle schreibt Brecht: „Sind die Institutionen gut, muß der Mensch nicht besonders gut sein. Freilich ist ihm dann die Möglichkeit gegeben, es sein zu können. Er kann frei, gerecht und tapfer sein, ohne daß er oder andere zu leiden haben.” 17 Ist die geschichtsphilosophische Antwort, bis hin zu ihrer marxistischen Konkretisierung, der Weisheit letzter Schluss? Ein Gegenargument liegt auf der Hand: Hier geht es um die Konvergenz von Glück und Moral in the long run für die Menschheit insgesamt – das nützt mir als Individuum gar nichts. Im Gegenteil, für mich, der ich mein Glück eventuell für künftige Generationen opfere, verschärft sich die Divergenz von Glück und Moral sogar. Zweitens zehrt die geschichtsphilosophische Antwort von einem Fortschrittsglauben, den Kant im Medium der reflektierenden Urteilskraft meint rechtfertigen zu können. Daran sind spätestens nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts Zweifel angebracht – und das 21. Jahrhundert hat nicht viel besser begonnen. Wir würden gern hoffen, dass es einen allgemeinen Fortschritt gibt, aber viele Argumente sprechen nicht für einen solchen.

5. Ein kurzes Fazit Mein Beitrag konnte nicht mehr sein als eine kurze argumentative Skizze. Ihren Ausgangspunkt bildete die von Kant formulierte dritte Grundfrage der Philosophie: Was darf ich hoffen? Zwar kann keine von seinen Antworten letztlich überzeugen. Aber es ist deutlich geworden, wie intensiv, 16 17

Brecht, Bertolt, Werke, Bd. XXII/1, Berlin/Weimar/Frankfurt 1993, 279. Brecht, Bertolt, Buch der Wendungen, in: ders., Werke, Bd. XVIII, Berlin/Weimar/Frankfurt 1995, 45-194, hier 150.

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beharrlich und einfallsreich sich Kant um eine solche bemüht hat. Er hat sich keineswegs, wie oft unterstellt, mit einem schlichten Dualismus von Sein und Sollen, Glück und Moral, Natur und Freiheit abgefunden. Ich sehe in der Philosophie der letzten beiden Jahrhunderte keinen vergleichbaren Versuch, diese Grundfragen menschlichen Lebens auf demselben Niveau abzuhandeln. Insofern bleibt die Frage „Was darf ich hoffen?“ unbeantwortet. Das Ziel dieses Aufsatzes war jedoch ein bescheideneres: Es sollte gezeigt werden, dass wir die „Kritik der Urteilskraft“ als Antwort auf Kants dritte Frage lesen können. Die ästhetischen und naturphilosophischen Reflexionen lassen sich auf diese beziehen; die Moraltheologie aus der Postulatenlehre der „Kritik der praktischen Vernunft“ wird weitergeführt und seine teleologische Geschichtsphilosophie wird methodologisch gerechtfertigt. Bei einem so systematischen Denker wie Kant wäre es doch auch sehr erstaunlich gewesen, wenn sich seine erste und zweite Frage den ersten beiden Kritiken zuordnen ließen, die dritte aber nicht der dritten.

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Kants Philosophie des Friedens Hartmut Genest

1. Frieden der Vernunft Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795 ist wohl der bedeutendste philosophische Versuch, das Problem der Friedensstiftung in allen seinen Dimensionen wahrzunehmen und die Aussichten seiner Lösung zu erörtern. Sie war die erste philosophische Schrift 1 , die ich mir 1955 als Schüler der 9. Klasse kaufte und auch las. Ich fand sie damals zwar interessant, aber nicht aktuell. Das hat sich im Laufe der fünfzig Jahre, die ich mich dann immer wieder mit dieser Schrift befasste, gründlich geändert: Mit dem andauernden Studium des Kantschen Gesamtwerkes und der Beteiligung an der jeweiligen politischen Friedensdiskussion erschloss sich mir mehr und mehr ihr tiefer philosophischer Gehalt und ihre aufregende politische Aktualität. Kants Friedensschrift ist keine bloße Gelegenheitsschrift, obwohl sie bei Gelegenheit des Basler Friedens zwischen Preußen und Frankreich in der vorliegenden, als Vertragsentwurf stilisierten Form 1795 kurzfristig geschrieben und veröffentlicht wurde. Ihrem Gehalt und ihrem Anspruch nach ist diese Schrift vielmehr die von Kant erwartete systematische Darstellung seiner politischen Theorie. Bevor wir den Inhalt unserer Schrift 2 zusammenfassend darstellen und würdigen, muss noch die Überschrift „Zum ewigen Frieden“ Gegenstand ein1 2

I. Kant: Zum ewigen Frieden, (Hg. D. Bergner), Reclam Leipzig, 1954. Neben der Friedensschrift (ZeF, AA 8, 341-386) werden folgende Schriften zur Friedensthematik herangezogen: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), IaG, AA 8, 15-31. Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), MAM, AA 8, 107-123. Kritik der Urteilskraft (1790), KU, AA 5, 165-485. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), RGV, AA 6, 1-202. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis (1793), TP, AA 8, 273-313. Die Metaphysik der Sitten (1797), MS, AA 6, 203-491.

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er kurzen, aber für das Verständnis des Ganzen wichtigen Besinnung werden. Kant war sich der Problematik, von einem „ewigen“ Frieden zu reden, durchaus bewusst und sprach in diesem Zusammenhang von einem „verdächtigen Pleonasmus“ 3 . Auch hatten der Abbé Saint-Pierre und Rousseau nur von einem „Projet de paix perpétuelle“, also von einem dauerhaften, nicht von einem ewigen Frieden gesprochen. Warum behält Kant also diesen Begriff bei und hebt ihn am Schluss seiner Friedensschrift sogar noch durch Kursivsetzung hervor? Weil der Begriff des Friedens für Kant eine durchaus emphatische Bedeutung hat. Während das Wort in den vorkritischen Schriften nicht vorkommt, gewinnt es in den kritischen Schriften die Bedeutung eines programmatischen Zieles sowohl für die theoretische als auch für die praktische Philosophie. Ohne auf einzelne Stellen 4 einzugehen, verweisen wir nur auf die Tatsache, dass Kant seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) eine Schrift folgen lässt mit dem Titel „Verkündigung eines nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie“ (1796). Es gibt also für Kant nicht nur eine Vernunft des Friedens im praktischpolitischen, sondern auch einen Frieden der Vernunft im theoretischphilosophischen Bereich 5 . Beide Male ist es die kritische Philosophie Kants, die im Bereich des Handelns und des Denkens einen „beharrlichen“ Frieden stiften will und kann. Auch weist das Wort „ewig“ daraufhin, dass Kants „philosophischer Entwurf“ über ein bloß politisches Projekt hinausgeht, und seine Philosophie des Friedens nicht nur immanent-politische, sondern auch transzendental-ethische, ja transzendent-theologische Aspekte hat, die man nicht übersehen oder übergehen darf, dass also die Mehrdimensionalität des so verstandenen Friedens aus dem Gesamtsinn des Kantschen Denkens heraus erarbeitet werden muss. Friede auf Erden – das ist für Kant das „höchste politische Gut“.6 Nicht zuerst, weil er das Glück der Völker, sondern vor allem, weil er das Gebot _____________

3 4 5

6

Der Streit der Fakultäten (1798), SF, AA 7, 1-116. Vorarbeiten zum ewigen Frieden, VAZeF, AA 23, 153-192. Texte aus diesen Schriften werden mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl nachgewiesen. ZeF, AA 8, 343. Z.B.: KrV, A 751f.; RGV, AA 6, 122ff. Der „ewige Friede in der Philosophie“, den die Kantsche kritische Philosophie gegen Dogmatismus und Skeptizismus in Aussicht stellt, zeigt, dass sich über das Transzendente weder pro noch contra etwas beweisen lässt, zugleich aber, dass die Ideen der Vernunft eine moralisch-praktische Realität haben, nämlich uns so zu verhalten, als ob ihre Gegenstände (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) gegeben wären. MS, AA 6, 355.

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der moralisch-praktischen Vernunft ist 7 und nur durch seine Stiftung zwei Katastrophen vermieden werden, die sonst der Menschheit drohen: der Verlust der Freiheit als das moralische Ende der Menschheit und der Ausrottungskrieg als das physische Ende der Menschheit. Kant spricht in diesem Zusammenhang vom „Kirchhof der Freiheit“ und vom „Kirchhofe der Menschengattung“. 8 Dass uns nach Auschwitz und Hiroshima die Vermeidung genau dieser beiden Abgründe auf dem Weg in die Zukunft zur politischen Aufgabe schlechthin geworden ist, unterstreicht die Aktualität der Kantschen Friedensschrift.

2. Der Anspruch der Vernunft (Das Vorwort) Das in einem ironischen Ton gehaltene Vorwort gibt sich anspruchslos: als ob das Folgende nur ein weiterer Traum, ein neues Projekt, ein bloßes „Spiel mit Ideen“ 9 sei. Nachdem Kant sich mit seiner Religionsschrift den Vorwurf zugezogen hatte, das Christentum herabgewürdigt zu haben, verwahrt er sich gegen den Verdacht, mit seiner Friedensschrift den Staat zu gefährden. Dass sich aber hinter dem understatement ein hoher Anspruch verbirgt, zeigen nicht nur die Ausführungen im Ganzen, sondern auch die zusammenfassende Schlußbemerkung 10 , wo Kant durchaus assertorisch redet. Kant wendet sich gegen eine an der Friedensfähigkeit der Menschheit zweifelnde Skepsis, wie sie etwa in der Äußerung von G.W. Leibniz zum Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre zum Ausdruck kommt: „Ich erinnerte mich dabei irgendeiner Aufschrift über einer Kirchhofspforte, welche lautete: Ewiger Friede. Denn freilich die Toten schlagen sich nicht mehr, die Lebenden aber sind anderer Stimmung, und die Mächtigsten unter ihnen zollen den Aussprüchen der Gerichtshöfe keine Achtung“ 11 . Eine solche Skepsis lässt sich nur durch eine überzeugende Darlegung der Lösbarkeit der Aufgabe der Friedensstiftung überwinden. Wenn es aber um die „der Welt brauchbaren Mittel des ewigen Friedens“ 12 geht, streiten sich nach Kant der Theoretiker (Philosoph, Metaphysiker) und der Praktiker (Staatsmann, Weltmann): Verfolgt jener schwärmerische Träume, indem er „das Unmögliche“ 13 will, so beruft sich 7 8 9 10 11 12 13

ZeF, AA 8, 355f.; MS, AA 6, 354. ZeF, AA 8, 367 u. 347. VAZeF, AA 23, 155. ZeF, AA 8, 386. Zit. Nach K.Vorländer (Hg.): I. Kant. Zum ewigen Frieden, Leipzig 1914, XII. VAZeF, AA 23, 155. Vgl. TP, AA 8, 277. VAZeF, AA 23, 155.

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dieser auf die Erfahrung und betreibt Politik als Kunst des Möglichen. Dieser Antagonismus scheint unaufhebbar zu sein, da die Staatsmänner „des Krieges nie satt werden können“ 14 und von den Philosophen gilt: „Alle Menschen (halten) Frieden, allein die Philosophen nicht“ 15 . Also Abschaffung des Staates oder Ausschaltung der Philosophie? Oberhalb des unfruchtbaren Antagonismus von Friedenstraum und Sicherheitspolitik formuliert Kants kritische Philosophie den Anspruch der Vernunft, das Problem der Friedensstiftung durch eine transzendentale Erörterung der „Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens“ 16 wirklich und endgültig zu lösen. Dass mit der Lösung dieses Problems auch der Antagonismus von Staatsmacht und Philosophie in einen fruchtbaren Synergismus sich aufhebt, wird sich zeigen.

3. Vom Krieg zum Frieden (Die Präliminarartikel) Während die Menschen in den Staaten befriedet im bürgerlichen Zustand leben, herrscht zwischen den Staaten der Naturzustand und also Krieg. Kant geht davon aus, dass der Krieg zwar „provisorisch“ 17 in die Natur des Menschen gelegt ist, er aber nicht endgültig zur Bestimmung des Menschen gehört. Es muss daher eine geschichtliche Zeit des Übergangs vom Krieg zum Frieden geben. Diese Epoche, die als solche noch durch den Kriegszustand bestimmt ist, macht es möglich und erforderlich, Schritte zum Frieden zu unternehmen, die aber durchaus noch keine friedlichen Schritte sind 18 , sondern ‚vor der Schwelle’ der eigentlichen Friedensstiftung liegen. Es sind Maßnahmen, die Misstrauen abbauen und Hindernisse auf dem Weg zum Frieden wegräumen sollen 19 . Diese zum Ausgang aus dem Zustand des Krieges notwendigen, aber für den Frieden selbst noch nicht hinreichenden Maßregeln formulieren die Präliminarartikel. Man versteht sie am besten, wenn man ihre Reihe von hinten nach vorne liest 20 und sie als „Maximen der Kriegsführung“ 21 , als Maßregeln „im Krieg“, „zum Krieg“ und „nach dem Krieg“ 22 auffasst.

14 15 16 17 18 19 20 21 22

ZeF, AA 8, 343. VNAEF, AA 8, 417. Vgl. ZeF, AA 8, 369. ZeF, AA 8, 368. ZeF, AA 8, 363. Vgl. ZeF, AA 8, 376. ZeF, AA 8, 345. SF, AA 7, 193. ZeF, AA 8, 369. MS, AA 6, 343. Vgl. §§ 56-58.

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Die Artikel sechs und fünf betreffen das Verhalten der Staaten im Konfliktsfall: Haben die Staaten die Pflicht, sich im Falle eines (außenpolitischen) Konflikts aller Mittel zu enthalten, „welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“ 23 , d.h. ihre Friedensfähigkeit nicht zu zerstören, so gibt es für die gewaltsame Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates überhaupt keine Rechtfertigung. Denn während die Staaten außenpolitisch immer im Zustand gegenseitiger Läsion 24 existieren, stellt der innenpolitische Zustand eines Staates keine Läsion der anderen dar. Die Artikel vier und drei betreffen den Umgang mit den ökonomischen, militärischen und politischen Machtpotentialen 25 . Diese Potentiale vergrößern die „Leichtigkeit Krieg zu führen“ und „bedrohen andere Staaten unaufhörlich“ 26 . Darum sollten die ökonomischen Potentiale nicht militarisiert, die militärischen und politischen begrenzt und schließlich reduziert werden. Die Artikel zwei und eins formulieren Maximen der Vertragspolitik auf dem Wege zum Frieden. Da alle Staaten Völkerrechtssubjekte sind, ist ihre Souveränität unbedingt zu respektieren. Das schließt eine Festschreibung des status quo in dem Sinne ein, dass es verboten ist, einen bestehenden „Staat gleichsam auf der Erde verschwinden zu machen“ 27 . Nicht ausgeschlossen bleibt die Entstehung neuer Staaten auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker – was freilich nur auf Kosten des Territoriums bestehender Staaten geschehen kann. Die territoriale Integrität der Staaten gehört aber nicht ebenso unbedingt zur Subjektivität der Staaten wie ihre Souveränität. Bei der Abfassung internationaler Verträge sind subjektive Vorbehalte moralisch unzulässig, während später auftretende (objektive Veränderungen voraussetzende) Auslegungsdifferenzen so zu klären sind, dass der fragliche Vertrag nicht vom Kriegszustand her, sondern auf die Friedensstiftung hin verstanden wird. Es zeigt sich, dass die Präliminarartikel eine zeitlich und sachlich sinnvolle Folge von Schritten zum Frieden formulieren. Dass Kant in seiner Friedensschrift in umgekehrter Reihenfolge vorgeht, ist wohl mehr der äußeren Veranlassung der Schrift als der inneren Logik der Sache geschuldet 28 . 23 24 25 26 27 28

ZeF, AA 8, 346. ZeF, AA 8, 349. ZeF, AA 8, 345. „Geldmacht“, „Heeresmacht“, „Bundesmacht“. Vgl. 344.384. ZeF, AA 8, 45. MS, AA 6, 349. Überhaupt scheint Kant für die systematische Darstellung seiner Politologie zunächst an ein anderes Gliederungsprinzip (etwa in Anlehnung an die „Kritik der praktischen Vernunft“) vorgesehen zu haben. Denn der von Kant gebotene Stoff fügt sich durchaus nicht restlos in die von ihm gewählte Form eines Vertragsentwurfs. Der Frieden von Basel hat

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Schließlich führt Kant eine für sein politisches Verständnis charakteristische Unterscheidung ein. Anders als in der abstrakten Utopie, die da anfängt, wo die Realität aufhört 29 , gibt es in Kants philosophischem Entwurf eine Anknüpfbarkeit an die Wirklichkeit, den status quo, der zwar unbedingt verlassen werden muss, von dem aber jedenfalls auszugehen ist. Sind die Präliminarartikel lauter „Verbotsgesetze“, so kann man doch hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit, Dringlichkeit und Durchführbarkeit differenzieren 30 . So sind etwa das erste, fünfte und sechste Verbot so beschaffen, dass ihre Einhaltung ohne Eingriff in bestehende Zustände allein durch den politischen Willen realisierbar ist. Dagegen erfordern das zweite, dritte und vierte Verbot die Änderung bestehender Zustände und können daher nicht immer unverzüglich realisiert werden, zumal dies auch von der Kooperation anderer Staaten abhängt. So ist Kants kritische Philosophie in der Lage, zwischen den Forderungen der Moral und den Anforderungen der Realität zu vermitteln.

4. Frieden und Freiheit (Die Definitivartikel) Beschreiben die Präliminarartikel Schritte, die aus dem Zustand des Krieges an die Schwelle des Friedens führen, so umschreiben die Definitivartikel die Konstitution eines Friedens innerhalb der Grenzen der Vernunft. Der Kriegszustand ist natürlich-geschichtlich vorgegeben31 , die Stiftung des Friedens ist durch die Vernunft aufgegeben 32 . Konnten die Präliminarartikel als „Maximen der Kriegsführung“ bestenfalls zu einem Zustand des Nicht-Krieges führen, so beinhalten die Definitivartikel die „Maximen der Friedensstiftung“ 33 . Friedensstiftung setzt das Bestehen einer Rechtsverfassung voraus. Von daher wird das die Definitivartikel fundierende Postulat einleuchtend: „Alle Menschen, die aufeinander wechselseitig einfließen (physischen Einfluss nehmen H.G.) können, müssen zu irgendeiner bürgerlichen Verfassung gehören“ 34 . Weltfriede ist ohne eine weltweite Rechtsgemeinschaft undenkbar und solange der Friede nicht Weltfriede ist, kann er auch nicht ein dauerhafter Friede sein 35 . Die Definitivartikel _____________

29 30 31 32 33 34 35

ihn wohl veranlasst, statt der „philosophischen“ die „diplomatische“ Darstellungsart (vgl. ZeF, AA 8, 355) zu wählen, um dem publizistischen Interesse gerecht zu werden. Das hat freilich zur Unterschätzung der philosophischen Bedeutung dieser Schrift beigetragen. Vgl. ZeF, AA 8, 376. ZeF, AA 8, 347f. ZeF, AA 8, 365. Vgl. MAM, AA 8, 115. ZeF, AA 8, 356. Vgl. MS, AA 6, 354. ZeF, AA 8, 369. ZeF, AA 8, 349. ZeF, AA 8, 360.

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erscheinen im Unterschied zu den Präliminarartikeln, die die Gestalt von Verboten bzw. „Erlaubnisgesetzen“ 36 haben, als Gebote. Sie formulieren die positiven, zum Frieden hinreichenden Maßregeln. Da es um die Konstituierung einer weltbürgerlichen Verfassung als Bedingung des Friedens geht, müssen alle möglichen Relationen politischer Handlungssubjekte berücksichtigt werden. Kant nennt das „Staatsbürgerrecht“, das „Völkerrecht der Staaten“ und das „Weltbürgerrecht der Menschen und Staaten“ als notwendige Dimensionen eines „öffentlichen Menschenrechtes“ 37 und so ergibt sich, dass es drei und nur drei Definitivartikel geben kann. Der erste Definitivartikel verklammert innerstaatliche Struktur und außenpolitisches Verhalten, indem Kant behauptet, dass die republikanische Verfassung (bzw. Regierungsart 38 ) eines Staates nicht nur die Freiheit der Bürger, sondern durch sie auch den Frieden der Völker ermögliche 39 . Die Republik ist „nicht kriegssüchtig“, sondern „ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt“ 40 . Warum ist das so? Kant gibt zwei miteinander zusammenhängende Begründungen: 1. Nur die Republik garantiert den Menschen die Freiheit, d.h. „die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können“ 41 . Das gilt auch hinsichtlich der Frage, „ob Krieg sein solle oder nicht“ 42 . Und da ist „nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten … sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“. Nur in einer Republik gibt es eine Mitentscheidung durch die Betroffenen und nur in ihr ist also diese Bedingung des Friedens erfüllt. 2. Nur in der Republik ist den Staatsbürgern die Gleichheit garantiert, d.h. die durch das Gesetz vermittelte wechselseitige Verbindlichkeit, von der niemand ausgenommen ist. Das schließt also die Mitbetroffenheit der Entscheidungsträger ein. „Dahingegen in einer Verfassung, wo der Untertan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigentümer ist … (und) durch den Krieg nicht das mindeste einbüßt, diesen … aus unbedeutenden Ursachen (zu) beschließen“ 43 . Wie wichtig Kant diese theoretischen Begründungszusammenhänge sind, zeigt sich daran, dass er die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit 36 37 38 39 40 41 42 43

ZeF, AA 8, 347.373. Vgl. KU, AA 5, 166. ZeF, AA 8, 349.360; MS, AA 6, 311. ZeF, AA 8, 351.353. ZeF, AA 8, 351; SF, AA 7, 85.90f. SF, AA 7, 188; ZeF, AA 8, 356. ZeF, AA 8, 350. ZeF, AA 8, 351. Vgl. TP, AA 8, 297.311; MS, AA 6, 344-346 (§55). ZeF, AA 8, 351.354.

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hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit selbst auf das Verhältnis des Menschen zu höheren Wesen als anwendbar ansieht 44 . Diese Zusammenhänge gewinnen aber auch praktisch an Bedeutung: Einerseits wächst das Bewusstsein der Menschen, dass es in der Frage von Krieg und Frieden eine Mitentscheidung durch die Betroffenen geben muss. Andererseits führt die Entwicklung der technischen Zivilisation unvermeidlich zu einer Mitbetroffenheit der Entscheidungsträger 45 . Der zweite Definitivartikel erörtert das Verhältnis der Völkerrechtssubjekte, d.h. der Staaten zueinander 46 . Zwischen der „positiven Idee einer Weltrepublik“ und der „gesetzlosen Freiheit“ vermittelt das „negative Surrogat“ eines freien Föderalismus freier Staaten 47 . Auch hier zeigt sich Kants Bestreben, einen gangbaren Weg zwischen Friedenstraum und Realpolitik zu finden und so zu einem Frieden in Freiheit zu gelangen. Denn ein Frieden ohne Freiheit ist noch weniger wert als eine friedlose Freiheit 48 . „Nach der Vernunft“ wäre ein Völkerstaat, in dem die vorfindlichen Staaten aufgehen, die Lösung der Aufgabe der Befriedung der Staaten. Da aber die existierenden Staaten dies „nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen“ 49 und ein Völkerstaat darum nur durch Gewalt und als Despotie durchzusetzen wäre 50 , so ist „ein föderativer Zustand der Staaten, welcher bloß die Entfernung des Krieges zur Absicht hat, der einzige, mit der Freiheit derselben vereinbare, rechtliche Zustand“ 51 . Die Freiheit und Gleichheit 52 der Staaten steht also auch um des Friedens willen nicht zur Disposition. Der „Friedensbund“ 53 erstrebt also nicht selber staatliche Macht, sondern dient der Erhaltung der Freiheit der Staaten und der Verhinderung des Ausbruchs eines Krieges 54 . Kant stellt sich diesen Friedensbund als eine wachsende Assoziation vor, als einen „Congreß … durch welchen allein die Idee eines zu errichtenden öffentlichen Rechts der Völker, ihre Streitigkeiten auf civile Art, gleichsam durch einen Proceß, nicht auf barbarische … nämlich durch Krieg, zu entscheiden, realisiert werden kann“ 55 .

44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55

ZeF, AA 8, 350. Vgl. TP, AA 8, 291. ZeF, AA 8, 360.380.311. ZeF, AA 8, 354; MS, AA 6, 343 (§53). ZeF, AA 8, 357.356.354. TP, AA 8, 311; MS, AA 6, 34. ZeF, AA 8, 357.367.354.355. ZeF, AA 8, 367.312f. ZeF, AA 8, 385. ZeF, AA 8, 344.24. ZeF, AA 8, 356. ZeF, AA 8, 357.383.385.356. MS, AA 6, 351. Vgl. ZeF, AA 8, 383.356.

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Der dritte Definitivartikel bringt eine „notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrecht überhaupt und so zum ewigen Frieden“ 56 . Mit dieser Ergänzung hat Kant die Idee der bewohnten Erde als Verantwortungs- und Schicksalsgemeinschaft formuliert und damit eine Realität antizipiert, die erst in unserem Jahrhundert in das allgemeine Bewusstsein tritt. Das Recht aller Menschen auf die Erde (als Kugelfläche) und die aus der Endlichkeit derselben folgende Tendenz zu universeller Kommunikation sind die entscheidenden Faktoren bei der Stiftung des ewigen Friedens. Kant hat mit seiner Forderung, das Anrecht auf die Erde auf die „Bedingungen der allgemeinen Hospitalität“ einzuschränken 57 , vor allem die Menschen und Völker im Blick, die Objekte der europäischen Kolonialpolitik geworden waren – die so genannte dritte Welt. Der Verkehr mit „unpolizierten“ (Fr. Schlegel) Völkern hat zivilisiert, d.h. „nicht mit Gewalt, sondern nur durch Vertrag, und selbst dieser nicht mit Benutzung der Unwissenheit jener Einwohner“ zu geschehen. Zwar trägt der Weltverkehr zur Zivilisierung der unterentwickelten Völker und zur Förderung einer weltbürgerlichen Verfassung bei, doch kann dies „den Flecken der Ungerechtigkeit in den dazu gebrauchten Mitteln nicht abwaschen“ 58 . Von Bedeutung ist ferner, dass Kant Menschen (!) und Staaten zu Subjekten des Weltbürgerrechts macht, was natürlich Rückwirkungen auf den Umgang mit den Menschen innerhalb der Staaten hat. Die Menschenrechte sind also nicht nur ethisch zu fordernde, sondern rechtlich einklagbare Bedingungen des Friedens 59 . Zusammenfassend ist festzustellen, dass es in den Definitivartikeln um eine Wertsynthese von Frieden und Freiheit geht: Die Freiheit als Rechtszustand ist die innere Bedingung des Friedens, ohne welche er nicht einmal wünschbar ist. Der Frieden als Verzicht auf die Anwendung gesetzloser Gewalt ist die äußere Bedingung der Freiheit, ohne den sie nicht zu verwirklichen ist.

5. Die Nötigung zum Frieden (Erster Zusatz) In der Stilisierung als Friedensvertrag hat dieser Abschnitt den Titel „Von der Garantie des ewigen Friedens“ 60 . Es geht in ihm um die Gewährleistung der Realisierbarkeit des Friedens. Eine solche Garantie kann nur von außen, durch andere ‚Akteure’, nicht durch die politischen Handlungssub56 57 58 59 60

ZeF, AA 8, 360. ZeF, AA 8, 357; MS, AA 6, 352f. (§62). MS, AA 6, 353. ZeF, AA 8, 357.380.385. ZeF, AA 8, 360.

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jekte allein geschehen. Es wird hier also nicht auf die innere Willigkeit, sondern auf die äußere Nötigung zum Frieden abgehoben. Es geht um die Frage, ob die „Natur der Dinge“ so beschaffen ist, dass eine umfassende „Friedenssicherung zuletzt notwendig“ wird 61 . Kant nimmt das noch heute aktuelle Thema ‚Triebstruktur und Gesellschaft’ (H. Marcuse) auf, indem er fragt, wie sich die (physische) Konstitution „der Menschengattung als einer Tierklasse“ zur Konstituierung einer Friedensordnung im Sinne der (moralischen) Vernunft verhalte; ob der Naturzweck mit dem Vernunftzweck so übereinstimmt, dass „durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen“ und so der Friede zustande kommt 62 . Kant argumentiert in diesem Abschnitt nicht als Moralist und Politiker, sondern als Anthropologe und Geschichtsphilosoph. Er erörtert zunächst die „provisorische Veranstaltung“ der Natur hinsichtlich des Menschen. Da der Mensch als animal universale überall leben kann, ist durch den Krieg (als intraspezifischer Aggression) dafür gesorgt, dass er auch überall lebt und gezwungen wird, „in mehr oder weniger gesetzliche Verhältnisse zu treten“ 63 . Diesen Ausführungen Kants liegt eine interessante Einschätzung der Triebstruktur des Menschen zugrunde: Der einzelne Mensch als solcher „will Eintracht; aber die Natur weiß es besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht“64 . Dem Individuum, dem es um seine Erhaltung zu tun ist, dürfte die Flucht viel nützlicher sein als das Risiko des Kampfes. Aber für die Gattung und deren Entwicklung ist der Kampf von Vorteil. Also ist es der Krieg (bzw. die Drohung mit ihm), der Antagonismus, der der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung ist und der schließlich auch die Stiftung des Friedens erzwingt. Der Krieg ist ein ‚Gattungstrieb’, der „keines besonderen Beweggrundes“ bedarf; er „scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein, und sogar als etwas Edles, wozu der Mensch durch den Ehrtrieb, ohne eigennützige Triebfedern, beseelt wird, zu gelten“ 65 . Bedenkt man im Lichte dieser Auffassung der Triebstruktur des Menschen noch einmal die Ausführungen Kants zum ersten Definitivartikel, dann muss man sagen: Die Friedfertigkeit der Republik beruht auf der Tatsache, dass in ihr der bourgeois den citoyen pazifiziert 66 . Denn der Mensch ist in seiner Eigenschaft als bourgeois friedlich, in seiner Rolle als citoyen aber kriegerisch. Dass diese Interpretation der Auffassung Kants entspricht, belegt

61 62 63 64 65 66

TP, AA 8, 313; ZeF, AA 8, 362f. ZeF, AA 8, 365.360. ZeF, AA 8, 363.364. IaG, AA 8, 21. ZeF, AA 8, 365. TP, AA 8, 295. Vgl. ZeF, AA 8, 383.

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eine bemerkenswerte Stelle aus der Analytik des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft: „Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war und sich mutig darunter hat behaupten können: da hingegen ein langer Friede den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt“ 67 . Was aber tut die Natur für den „peremtorischen“ Vernunftzweck des Menschen, den Frieden in Freiheit? Die erste Antwort im Blick auf das Staatsrecht lautet: Nicht nur „innere Mißhelligkeit“ sondern vor allem der „Krieg von außen“ zwingt die Menschen in eine rechtsstaatliche Verfassung; und hier ist es wieder die republikanische Verfassung, die nicht nur „dem Recht der Menschen vollkommen angemessen“, sondern auch geeignet ist, „den inneren sowohl als äußeren Frieden zu befördern und zu sichern“ 68 . Kant legt Wert auf die Feststellung, dass es bei der Lösung des Problems der Staatseinrichtung nicht primär auf den guten Willen der Bürger, sondern auf die Rationalität der Staatsverfassung ankommt: „Das Problem der Staatseinrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln … auflösbar … (wenn sie nur Verstand haben) 69 . Die zweite Antwort im Blick auf das Völkerrecht geht davon aus, dass jeder Staat die immanente Tendenz zum Imperium hat, „solange er einen anderen neben sich hat, den er zu bezwingen hoffen darf, sich durch diese Unterwerfung zu vergrößern und also zur Universalmonarchie“ zu werden. Durch eine solche „Zusammenschmelzung“ der Staaten soll die Welt „in den dauernden Friedenszustand“ versetzt werden 70 . Aber dieser Weg zum Frieden ist ein Holzweg: Nicht nur widerspricht er der Idee des Völkerrechts und des Staatsrechts, weil die Verwirklichung einer Universalmonarchie (Weltdiktatur) den Verlust der Freiheit von Staaten und Menschen bedeuten würde. Der imperiale Einheitsstaat vergewaltigt auch die kulturelle Identität der Völker und ist nur durch Krieg zu erreichen. Schließlich verfällt „ein seelenloser Despotismus, nachdem er die Keime des Guten ausgerottet hat, zuletzt doch in Anarchie“ 71 . Es bleibt dabei: Wahrer Frieden ist nur in wirklicher Freiheit erreichbar. Kann man zwar 67 68 69 70 71

KU, AA 5, 263. Vgl. ZeF, AA 8, 345. ZeF, AA 8, 365.366.367. ZeF, AA 8, 366. MS, AA 6, 34; ZeF, AA 8, 367. ZeF, AA 8, 367.

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Staaten (mit Gewalt) zusammenschmelzen, so behaupten Völker (durch ihre in Sprache und Religion erscheinende kulturelle Identität) doch ihre Besonderheit. Eine dem Frieden in Freiheit entsprechende Weltkultur besteht in einem „Gleichgewicht im lebhaftesten Wetteifer“72 . Die dritte Antwort im Blick auf das Weltbürgerrecht zeigt, dass auch diesem idealen „Begriff“ eine Realtendenz entgegenkommt. Die Menschen und die Völker werden vereint durch den „wechselseitigen Eigennutz“. „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt“ 73 . Es sind der bourgeois, die Ökonomie, die „Geldmacht“, nicht der citoyen, die Politik, die „Staatsmacht“, die letztlich den Frieden befördern, ja erzwingen. Dieser Gedanke des ökonomischen Sachzwanges zum Frieden spielt bei Kant die entscheidende Rolle. Wirklicher Handelsgeist ist mit kriegerischer Gesinnung nicht vereinbar. Krieg widerspricht der ökonomischen Rationalität. Vielmehr sind es die Interessen des Staates, die eine Militarisierung der Wirtschaft verursachen und den Markt verzerren, z.B. durch aufgeblähte Rüstungshaushalte 74 . Dagegen sind es ökonomische Zwänge, die letztlich den Staat zur Demokratisierung nötigen und die Staaten veranlassen, die Erhaltung und Sicherung des Friedens zur vorrangigen Aufgabe der Politik zu machen75 . Es gibt also drei prinzipielle Tendenzen in der geschichtlichen Entwicklung, die den Vernunftzweck des Menschen, den Frieden in Freiheit befördern: die politische Koexistenz der Staaten, die kulturelle Konkurrenz der Völker und die ökonomische Konvergenz der Gesellschaften. Diese Tendenzen liegen in der „Natur der Dinge“ und erhalten zunehmend den Charakter von Sachzwängen, denen zu entsprechen vorteilhaft, denen zuwiderzuhandeln letztlich nachteilig ist. „Die Natur will unwiderstehlich, daß das Recht zuletzt die Obergewalt behalte. Was man nun hier verabsäumt zu tun, das macht sich zuletzt selbst, obzwar mit viel Ungemächlichkeit.“ Der Friede in Freiheit ist nicht nur das kategorische Gebot der moralisch gesetzgebenden Vernunft, sondern auch die reale Tendenz im Lauf der Welt. Der Weltfriede ist notwendig, an ihm entscheidet sich das Schicksal der Menschheit: fata volentem ducunt, nolentem trahunt 76 . Damit ist die objektive Realität der Idee des ewigen Friedens durch eine transzendentale Erörterung der Bedingungen ihrer Möglichkeit erwiesen: So „garantiert die Natur, durch den Mechanismus in den menschlichen Neigungen 72 73 74 75 76

ZeF, AA 8, 367. ZeF, AA 8, 368.364. Vgl. KU, AA 5, 263. ZeF, AA 8, 345. ZeF, AA 8, 368.27f. Vgl. 24f.121.311f. ZeF, AA 8, 367.365.313. (Das Schicksal führt den Willigen, den Widerstrebenden schleift es mit [Seneca]).

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selbst, den ewigen Frieden; freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen, aber doch in praktischer Absicht zulangt, und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß chimärischen) Zweck hinzuarbeiten“ 77 .

6. Die Macht der Vernunft (Zweiter Zusatz) Dieser Abschnitt ist erst in der zweiten Auflage von 1796 hinzugefügt worden und kann insofern als ein Nachwort Kants zum Ganzen gelesen werden. Hatte er im Vorwort den Anspruch der Vernunft formuliert, das Problem der Friedensstiftung wahrhaft zu lösen, so gibt er hier darüber Auskunft, wie sich der Anspruch der Vernunft verwirklicht. Es geht um die Frage, wie der unfruchtbare Antagonismus von Friedenstraum und Sicherheitspolitik zu überwinden sei. Dabei mögen moralische Idealisten eher an eine Abschaffung des Staates denken und politische Realisten eine Ausschaltung der Philosophie betreiben. Grundsätzlich wäre freilich noch eine dritte Auflösung des Widerstreits denkbar: die Identifizierung von philosophischer Vernunft und politischer Macht. Diese Lösung ist sehr verführerisch und hat seit Plato immer wieder die Geister bewegt: „Nicht eher wird daher das Menschengeschlecht seiner Leiden ledig werden, als bis entweder die wirklichen, wahrhaften Philosophen zu staatlicher Macht gelangen oder die politischen Führer durch eine göttliche Fügung echte Philosophen werden“ 78 . Kant hat auch diese Scheinlösung im Blick und – lehnt sie ab: „Daß Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt“ 79 . Es geht nicht darum, dass die Vernunft zur Macht, sondern dass sie zu Wort komme. Kritische Philosophie ist Selbstbegrenzung der Vernunft und impliziert einen Machtverzicht. „Eben diese Anspruchslosigkeit, bloß frei zu sein, aber auch frei zu lassen, bloß die Wahrheit zum Vorteil jeder Wissenschaft auszumitteln und sie zum beliebigen Gebrauche der oberen Fakultäten hinzustellen, muß sie (die philosophische Fakultät-H.G.) der Regierung selbst als unverdächtig, ja als unentbehrlich empfehlen“ 80 . Nur wer selbst nicht über Macht verfügt oder sie anstrebt, kann die Machthabenden beraten. Diese Beratung geschieht am besten nicht in der Rolle des politischen Beraters, sondern in der Beratung des Politischen, d.h. in 77 78 79 80

ZeF, AA 8, 368. Vgl. SF, AA 7, 188. 7. Brief; St. 326. In: Platon, Briefe, hg.v. J. Irmscher, Berlin, 1960, 53. ZeF, AA 8, 369. SF, AA 7, 128. Vgl. SF, AA 7, 135.

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der freien und öffentlichen Erörterung der Bedingungen des Friedens 81 . Die Vernunft verwirklicht ihre Macht im vernünftigen Gespräch, im freien öffentlichen Diskurs. Dieser Diskurs muss die Bedingungen der Freiheit und der Publizität erfüllen, um seine Aufgabe wahrnehmen zu können: Der öffentliche Diskurs muss frei, d.h. ohne vorher anderwärts (‚höheren Orts’) festgelegte Ergebnisse sein. Denn es gibt nach Kant eine „lügenhafte Publizität“, die dazu beiträgt, „daß die wahre, zu Recht beständige Verfassung gar nicht mehr gesucht wird: weil man sie in einem schon vorhandenen Beispiel gefunden zu haben vermeint“ 82 . Der freie Diskurs muss öffentlich sein und darf sich nicht auf einen privaten Meinungsaustausch beschränken, da es ja in der Sache um die res publica geht. „So verhindert das Verbot der Publizität den Fortschritt eines Volkes zum Besseren, selbst in dem, was das mindeste seiner Forderung, nämlich bloß sein natürliches Recht, angeht“ 83 . Ein in diesem Sinne geführter Diskurs lässt den unfruchtbaren Antagonismus in der Frage der Friedensstiftung zu einem fruchtbaren Synergismus werden. Denn Politik und Philosophie können dann je ihre Rolle spielen, ohne sich zu übernehmen. Wenn die Philosophen die Grundsätze der Friedensstiftung erörtern, nehmen sie den Politikern die Verantwortung nicht ab, sondern ermöglichen durch die „Beleuchtung ihres Geschäfts“ erst die Wahrnehmung von politischer Verantwortung. In einem so „aufgeklärten“ Gemeinwesen kann die Theorie die Praxis nicht ersetzen wie auch die Praxis die Theorie nicht erübrigt. Denn das Denken kann das Wagnis des Handelns nicht ersparen und das Handeln kann der denkenden Begleitung nicht entraten84 .

7. Theorie der Politik (Anhang) In seiner Schrift „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ von 1793, in der sich Kant erstmals zusammenhängend zur Politik äußerte, bezeichnet der Philosoph den Widerspruch von moralischer Theorie und politischer Praxis als „Skandal der Philosophie“. Und in der im gleichen Jahr erschienenen Religionsschrift spricht er von den Grundsätzen der Staaten, „die noch kein Philosoph mit der Moral hat in Einstimmung bringen, und doch auch (welches arg ist) keine besseren, die sich mit der menschlichen Natur vereinigen 81 82 83 84

ZeF, AA 8, 368f. SF, AA 7, 190. Vgl. ZeF, AA 8, 373. SF, AA 7, 189. ZeF, AA 8, 369; SF, AA 7, 189,32-36; IaG, AA 8, 28.

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ließen, vorschlagen können“ 85 . Im Anhang zu seiner Friedensschrift unternimmt es Kant, „die praktische Philosophie mit sich selbst einig zu machen“, d.h. die Moral als betrachtende Rechtslehre (Theorie) mit der Politik als ausübender Rechtslehre (Praxis) zu vereinigen. Dabei geht er aus von der bestehenden „Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik, in Absicht auf den ewigen Frieden“ und entwirft zunächst eine Kritik der politischen Moral. Um die „Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts“ herzustellen, formuliert er dann Kriterien einer moralischen Politik 86 . a. Kritik der politischen Moral (I) Kant vergleicht zwei Friedensstrategien miteinander: den imperialen Weg zum Frieden, der die natürliche Tendenz der Staaten ist 87 , und den völkerrechtlichen Weg zum Frieden, der der moralisch gesetzgebenden Vernunft entspricht 88 . Jener Weg ist der der (gegenwärtigen) politischen Moral, dieser der Weg einer (künftigen) moralischen Politik. Es lässt sich zeigen, dass die Strategie der politischen Moral dem ewigen Frieden „im Wege ist“ 89 , weil sie nicht nur unmoralisch, sondern auch untauglich, ja unpolitisch ist. Die Strategie der politischen Moral (der „großen Mächte“) besteht in der „Vergrößerung ihrer Macht, auf welchem Wege sie auch erworben sein mag“ 90 . Einer solchen Machtpolitik dient der „politische Moralist … der sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vorteil des Staatsmanns sich zuträglich findet.“ 91 . Diese Moral folgt den Maximen des Machiavellismus: der Schaffung vollendeter Tatsachen, lügenhafter Propaganda, der Stiftung von Zwietracht 92 . Da hier Moral zu einer bloßen „Klugheitslehre“ wird, „d.i. eine Theorie der Maximen, … zu seinen auf Vorteil berechneten Absichten die tauglichsten Mittel zu wählen, d.i. leugnen, daß es überhaupt eine Moral gebe“ 93 . Die Strategie der politischen Moral ist aber auch als Weg zum Frieden untauglich. Denn sie erfordert „viel Kenntnis der Natur … um ihren Me85 86 87 88 89 90 91 92 93

TP, AA 8, 277; MS, AA 6, 34. ZeF, AA 8, 376.370.381. Vgl. VAZeF, AA 23, 182. ZeF, AA 8, 367. TP, AA 8, 313. ZeF, AA 8, 376. ZeF, AA 8, 375. ZeF, AA 8, 372. ZeF, AA 8, 374f. Vgl. ZeF, AA 8, 385. ZeF, AA 8, 370.375.

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chanismus zu dem gedachten Zweck zu benutzen, und doch ist alle diese ungewiß in Ansehung ihres Resultats, den ewigen Frieden betreffend“ 94 . Denn weder die empirische Menschenkenntnis, noch die geschichtlichen Erfahrungen, noch die Einsicht in vermeintliche (soziologische) Gesetzmäßigkeiten 95 können die Tatsache aus der Welt schaffen, dass „wir … es mit freihandelnden Wesen zu tun (haben), denen sich zwar vorher diktieren läßt, was sie tun sollen, aber nicht vorhersagen läßt, was sie tun werden“ 96 . Die Strategie der politischen Moral läuft auf eine Abschaffung des Politischen als verantwortliches Handeln hinaus. Für das Kalkül der Machtpolitik wird der ewige Friede zu einer bloßen „Kunstaufgabe (problema technicum)“ 97 und Politik zur Sozialtechnologie. Nach der Kritik der politischen Moral geht es nun um die Begründung einer moralischen Politik. Die entscheidende Voraussetzung der Vereinbarkeit von Theorie und Praxis ist die moralische Einschränkung der Politik 98 oder anders formuliert: „Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden“99 . Während der politische Moralist nur hypothetischen Imperativen und materialen Prinzipien folgt und „indem er so die Grundsätze dem Zweck unterordnet (d.i. die Pferde hinter den Wagen spannt), seine eigene Absicht vereitelt, die Politik mit der Moral in Einverständnis zu bringen“ 100 , geht der moralische Politiker von dem formalen kategorischen Imperativ aus („danach es heißt: handle so, daß du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden [der Zweck mag sein, welcher er wolle]“) und damit vom Rechtsprinzip, das „unbedingte Notwendigkeit hat. Denn der ewige Frieden ist „nicht nur als physisches Gut, sondern auch als ein aus Pflichtanerkennung hervorgehender Zustand“ herbeizuführen 101 . Nicht der Zweck heiligt die Mittel, sondern die Mittel müssen zuerst gerechtfertigt sein – das ist das Wort des Philosophen des Protestantismus’ gegen „Jesuitenkasuistik“ aller Art und Herkunft 102 . „Da heiß es denn: ‚Trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohltat des ewigen Friedens) von selbst zufallen“ 103 . 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103

ZeF, AA 8, 377. ZeF, AA 8, 374.371.374.377f. SF, AA 7, 183; ZeF, AA 8, 370. ZeF, AA 8, 377. ZeF, AA 8, 370.372. VRML, AA 8, 429. ZeF, AA 8, 370.376. ZeF, AA 8, 377. ZeF, AA 8, 344.385. ZeF, AA 8, 378. Vgl. Mt 6,33

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Allein eine moralische Politik hat auch Aussicht auf Erfolg. „Denn das hat die Moral Eigentümliches an sich, … daß, je weniger sie das Verhalten von dem vorgesetzten Zweck, dem beabsichtigten, es sei physischem oder sittlichem Vorteil, abhängig macht, desto mehr sie dennoch zu diesem im allgemeinen zusammenstimmt.“ Nur eine moralisch verantwortbare Politik entspricht auch dem objektiven Lauf der Welt („dem Mechanismus der Natur“ 104 ). Sogar dann, wenn „die despotisierenden (in der Ausübung fehlenden) Moralisten (Rousseau, Robespierre-H.G.) wider die Staatsklugheit (durch übereilt genommene oder angepriesene Maßregeln) mannigfaltig verstoßen, so muß sie doch die Erfahrung, bei diesem ihrem Verstoß wider die Natur, nach und nach in ein besseres Gleis bringen; statt dessen die moralisierenden Politiker, durch Beschönigung rechtswidriger Staatsprinzipien … das Besserwerden unmöglich machen, und die Rechtsverletzung verewigen“ 105 . Entartet politische Moral zur bloßen Sozialtechnologie, so ist moralische Politik eine sittliche Aufgabe („problema morale“), deren Lösung allein Praxis (im Unterschied zu bloßen „Praktiken“) und insofern „wahre Politik“ genannt zu werden verdient. „Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Knie vor dem ersteren beugen, kann aber dafür hoffen, obzwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird“ 106 . b. Kriterien einer moralischen Politik (II) Um dem politisch Handelnden „ein leicht zu brauchendes, a priori in der Vernunft anzutreffendes Kriterium“ 107 anzugeben, geht Kant auf den aller Politik zugrunde liegenden Begriff des öffentlichen Rechts zurück. In dessen Bereich muss jeder Anspruch und jede Maxime die „Fähigkeit zur Publizität“ haben. Das führt zur ersten „tranzendentalen Formel des öffentlichen Rechts“: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht“ 108 . Diese Formel gilt insbesondere für die „Maximen der Kriegs-

104 105 106 107 108

ZeF, AA 8, 378. ZeF, AA 8, 373. ZeF, AA 8, 377.373.380. ZeF, AA 8, 381.383. ZeF, AA 8, 381.

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führung und Friedensstiftung“, also für den Bereich des Völkerrechts 109 . So ist etwa ein „Verbot der Publizität“ (Zensur) ipso facto ein Akt des Unrechts und kann niemals friedensfördernd sein“ 110 . Freilich ist dieses notwendige Kriterium (ähnlich wie die Präliminarartikel) „bloß negativ, d.i. es dient nur … was gegen andere nicht recht ist, zu erkennen“, es ist also ein „Kennzeichen der Nichtübereinstimmung der Politik mit der Moral“ 111 . Für eine Bestimmung moralischer Politik ist es noch nicht hinreichend, da, „wer die entschiedene Obermacht hat, seiner Maximen nicht Hehl haben darf“ 112 . Um das Kriterium in diesem Sinne zu ergänzen, führt Kant eine zweite Formel ein: „Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen) stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen“ 113 . Diese (positive) Formel ist zur Bestimmung einer moralischen Politik hinreichend, da sie von einer Maxime nicht nur die Fähigkeit zur Publizität fordert (dass sie also „dem allgemeinen Zweck des Publikums [der Glückseligkeit] gemäß“ sein muss), sondern dass sie der Publizität bedürftig ist (d.h. „auch mit dem Recht des Publikums in Eintracht stehen“ muss). Eine „lügenhafte Publizität“ (Propaganda), die der Publizität (scheinbar) auch bedarf, wird diesem Kriterium darum nicht gerecht, weil „die Hinterlist einer lichtscheuen Politik doch von der Philosophie durch die Publizität jener ihrer Maximen leicht vereitelt werden würde, wenn jene es nur wagen wollte, dem Philosophen die Publizität der seinen angedeihen zu lassen 114 . In diesem letzten Abschnitt von Kants Politologie bemüht sich der Philosoph um eine sorgfältige Abgrenzung der Sphäre des Politischen von den Bereichen des Privatrechts und der Individualethik: Das Privatrecht „bedarf“ der Publizität nicht und die Sphäre der Individualethik „verträgt“ keine Publizität 115 . Allein das Politische ist der Raum, der die Publizität nicht nur verträgt, sondern ihrer bedarf. Politik ist per definitionem öffentliche Angelegenheit, res publica und darum nur in einer Republik möglich, die die Freiheit und Gleichheit aller realisiert. Mit dieser Erkenntnis endet Kants „philosophischer Entwurf“, den man sehr zu Recht als sein politisches Testament bezeichnet hat116 . 109 110 111 112 113 114 115

116

ZeF, AA 8, 369.382-384 (Kants Beispiele). SF, AA 7, 189; ZeF, AA 8, 369. ZeF, AA 8, 381.384. ZeF, AA 8, 384.382. ZeF, AA 8, 386. SF, AA 7, 190; ZeF, AA 8, 386.369. ZeF, AA 8, 381. Das Verbrechen muss seine Absicht „verheimlichen“, weil es sonst den Widerstand aller gegen sich aufbringen würde. Die tätige Güte darf sich nicht „öffentlich bekennen“, weil sie sonst selbst verkehrt ). Vgl. Mt 6,1ff. K.Vorländer a.a.O. (Anm.11), XXXI.

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8. Vernunft des Friedens „Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis“ – auf dem Titelblatt des 1713 erschienenen „Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe“ des Abbé de Saint-Pierre wird auf dieses Bibelwort Bezug genommen. In ihm werden zwei weitere Dimensionen der Friedensstiftung sichtbar: Ein ewiger Friede ist ohne die Einsicht in die Grenzen der Vernunft und ohne die Aussicht auf einen Frieden des Ewigen, der höher ist als alle Vernunft, nicht wahrzunehmen. Immanuel Kant war sich dessen durchaus bewusst. Das unterscheidet ihn von seinen Vorgängern (Erasmus, Franck, Penn), die diese biblische Erinnerung mehr naiv als frommen Wunsch aussprachen – aber auch von seinen Nachfolgern (Schlegel, Görres, Heynich), die diese Dimension bewusst ausklammerten 117 . Wenn der Frieden der Vernunft den Streit von Politik und Moral auch objektiv beenden kann, so ist er subjektiv („in dem selbstsüchtigen Hange der Menschen“) nicht zu Ende. Und so besteht der schwerere Teil der „außerordentlichen moralischen Anstrengung“ (C.F. von Weizsäcker 118 ) auf dem Weg zum Frieden nicht darin, „den Übeln und Aufopferungen mit festem Vorsatz sich entgegenzusetzen, welche hierbei übernommen werden müssen, sondern dem weit gefährlicheren lügenhaften und verräterischen, aber doch vernünftelnden, die Schwäche der menschlichen Natur zur Rechtfertigung aller Übertretung vorspiegelnden bösen Prinzip in uns selbst in die Augen zu sehen und seine Arglist zu besiegen“ 119 . Die Wahrnehmung der eigenen Friedlosigkeit ist der schwerste Schritt auf dem Weg zum Frieden. Gerade diese Bedingung haben die Nachfolger Kants nicht anerkannt und so geraten ihre Entwürfe theoretisch ins Utopische und praktisch in den Terror 120 . Freilich bedeutet Kants Realismus keineswegs die Resignation: Die Frage, ob das „menschliche Geschlecht im ganzen zu lieben“, d.h. ob der Mensch nicht nur Gegenstand eines Wohlwollens, sondern auch eines Wohlgefallens sein könne, hat Kant immer

117

118 119 120

Auch in der gegenwärtigen Auslegung der Kantschen Schrift bleiben diese Dimensionen ausgeblendet. So schreibt etwa der Herausgeber der Klassiker-Auslegung O.Höffe programmatisch: „Nirgendwo bei Kant tauchen religiöse Motive auf“… „(Er) entwickelt eine rein philosophische Argumentation“ … „Das Beiwort ‚ewig’ verweist weder auf eine jenseitige Welt noch auf einen Rückzug in die Innerlichkeit … In beiden Fällen würde Kants Rang als politischer Denker geschmählert; beide Befürchtungen treffen aber nicht zu.“ (Höffe, Otfried (Hg.), Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Berlin, 2004, 14 u. 6.) C.F. von Weizsäcker: Bedingungen des Friedens, Berlin, 1965, 12. ZeF, AA 8, 379.375. Vgl. Weizsäcker, C.F. von, Das moralische Problem der Linken und das moralische Problem der Moral, in: Ders., Der Garten des Menschlichen, 1978, 116ff.

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wieder beschäftigt 121 . Zuletzt hat er in der allgemeinen und enthusiastischen Teilnahme der Menschen an der „Revolution eines geistreichen Volkes“ ein „Geschichtszeichen“ dafür erblickt, „daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde“ 122 . Der Philosoph hat die Frage der Friedensstiftung nicht nur geschichtsphilosophisch reflektiert, sondern diese in einen theologischen Rahmen gestellt: So stellt er in der Frage nach der Garantie des ewigen Friedens eingehende Überlegungen zur Frage der göttlichen Vorsehung an und kommt zu dem Ergebnis, das in praktischer (theologischer) Hinsicht auf die Geschichte sehr wohl von der ‚Vorsehung’, in theoretischer (philosophischer) Hinsicht aber besser von der ‚Natur’ gesprochen werden solle 123 . So ergänzt er den „philosophischen Chiliasmus“, den Gedanken des ewigen politischen Friedens durch den „theologischen Chiliasmus“ als moralische Vollendung der Geschichte. 124 Und das kategorische Friedensgebot, das „die Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab“ erläßt 125 , muss im Sinne Kants zugleich „als göttliches Gebot“ erkannt und anerkannt 126 werden, um die Fülle des Friedens, den ewigen Frieden als Frieden des Ewigen – das höchste politische und moralische Gut – wahrnehmen zu können. Es geht in der Geschichte nicht nur um das „Heil des Staates“ und das Glück der Menschen 126 , sondern zutiefst um die Ehre Gottes. Denn wenn die Stiftung des Friedens misslingt, weil die Moral des Menschen versagt, dann mag „die Vorsehung im Laufe der Welt“ gerechtfertigt sein. „Die Schöpfung allein, daß nämlich ein solcher Schlag von verderbten Wesen überhaupt hat auf Erden sein sollen, scheint durch keine Theodizee gerechtfertigt werden zu können“ 127 . Und so wird an den Grenzen der Vernunft der Glaube notwendig, „daß Gott den Mangel unserer eigenen Gerechtigkeit, wenn nur unsere Gesinnung echt war, auch durch uns unbegreifliche Mittel ergänzen werde, wir also in der Bestrebung zum Guten

121 122 123 124 125 126 126 127

TP, AA 8, 307. Vgl. SF, AA 7, 179. SF, AA 7, 184.85.88. ZeF, AA 8, 360f. RGV, AA 6, 34. ZeF, AA 8, 384 ; MS, AA 6, 354. KpV, A 233. MS, AA 6, 318; ZeF, AA 8, 386. ZeF, AA 8, 380.

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nichts nachlassen sollen“ 128 . Nur eine solche Hoffnung kann die Enttäuschungen auf dem harten Weg zum Frieden vor dem Sturz in die Verzweiflung an Mensch und Welt bewahren. Kants Philosophie des Friedens kann uns darum so viel bedeuten, weil sie die notwendige moralische Einschränkung der Politik verbindet mit einer religiösen Entschränkung der Moral, welche allein eine hinreichende Wahrnehmung des Friedens möglich macht.

128

ZeF, AA 8, 362.337.310.

Kants hypothetische Geschichtsphilosophie

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Kants hypothetische Geschichtsphilosophie in rationaltheologischer Absicht* Andreas Urs Sommer

Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) thematisiert die Möglichkeitsbedingungen philosophischer Geschichtsbetrachtung, während der wenig gelesene Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) eine solche Geschichtsbetrachtung im Hinblick auf Natur und Freiheit exemplarisch ins Werk setzt, und zwar bei der Auslegung der in der Genesis dokumentierten menschlichen Urgeschichte. Diese beiden Texte sollen hier im Mittelpunkt einer Betrachtung stehen, die danach fragt, wie sich Kants Denken in die Entstehungsgeschichte der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie einfügt, die sich etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts allmählich konstituiert und versucht, eine philosophische Antwort auf die Frage nach dem historisch Kontingenten zu geben. 1 Geschichtsphilosophie integriert bei Kant auf eine für die weitere Theoriegeschichte folgenreiche Weise geschichtstheologische Elemente, ohne doch selber bloßes Säkularisat herkömmlicher Geschichtstheologie zu sein. 2 Mit Kants Geschichtsphilosophie hebt die Geschichtsphiloso*

1

2

Die folgenden Ausführungen stellen eine leicht modifizierte, bibliographisch erweiterte Version der entsprechenden Kapitel in meiner Greifswalder Habilitationsschrift dar: Sommer, Andreas Urs, Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuniversalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, (Schwabe Philosophica VIII), Basel 2006. Der Abschnitt über MAM beruht in Teilen auf: Sommer, Andreas Urs, Felix peccator? Kants geschichtsphilosophische Genesis-Exegese im Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte und die Theologie der Aufklärungszeit, in: Kant-Studien 88 (1997), 190-217. Siehe dazu im Vergleich mit Nietzsche: Sommer, Andreas Urs, Sieben Thesen zur Geschichtsphilosophie bei Kant und Nietzsche, in: Himmelmann, Beatrix (Hg.), Kant und Nietzsche im Widerstreit. Internationale Konferenz der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Gesellschaft, Naumburg an der Saale, 26.-29. August 2004, Berlin/New York 2005, 217-225, hier: 219f. Riedel, Manfred, Einleitung, in: Kant, Immanuel, Schriften zur Geschichtsphilosophie, hg. von Manfred Riedel, Stuttgart 1999, 7f., betont im Anschluss an eine Notiz in Kants Refle-

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Andreas Urs Sommer

phie des Deutschen Idealismus an – eine Geschichtsphilosophie, die die ihr eigene, von Geschichtswissenschaft und offenbarungsgegründeter Geschichtstheologie unterschiedene Reflexionsform findet. Inwiefern kann die Kantische Geschichtsphilosophie dem kritischen Geschäft treu bleiben, ohne sich in außerwissenschaftliche Metaphysik zu transfigurieren oder dogmatisch zu werden? 3

I. Bereits der Titel von Kants erster geschichtsphilosophischer Schrift deutet an, dass er nicht daran denkt, über den Umweg der Geschichte jene rationalistische Metaphysik zu restituieren, gegen deren Erkenntnisanspruch in transempirischen und transzendenten Belangen sich die drei Jahre zuvor erschienene Kritik der reinen Vernunft gewandt hat. Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte bietet auf der einen Seite im Stil jener spekulativuniversalistischen Geschichtsphilosophie, die sich von 1750 an herauszubilden begann, eine materiale Geschichtsdeutung mit dem Anspruch, den sinnhaften Zusammenhang der Gesamtheit aller res gestae zu erschließen. Auf der anderen Seite stellt die Evokation der titelgebenden „Idee“ den Anschluss an die Transzendentale Dialektik und Transzendentale Methodenlehre her, wo Ideen qua „Vernunftbegriffe“ als „heuristische Fiktionen“ „regulative Prinzipien des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung […] gründen“ sollen: Sie haben „freilich keinen Gegenstand in irgend einer Erfahrung, aber bezeichnen darum doch nicht gedichtete und zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände“ (KrV, A 771/B 799, vgl. Log, AA 9, § 3, 92). 4

_____________

3 4

xionen zur Logik, Nr. 2018, AA 16, 197, dass sich Kant dezidiert von der traditionellen „heilsgeschichtlichen Behandlung der Universalhistorie“ abwende (siehe auch Riedel, Manfred, Geschichtstheologie, Geschichtsideologie, Geschichtsphilosophie. Zum Ursprung und zur Systematik einer kritischen Theorie der Geschichte bei Kant, in: Philosophische Perspektiven 5 (1973), 161-192). Das ist richtig, wenn man diese Heilsgeschichte beispielsweise mit Jacques-Bénigne Bossuets Modell assoziiert. Im folgenden wird demgegenüber zu zeigen sein, dass sich Kant mit der philosophisch modernisierten, neologischen Geschichtstheologie durchaus berührt. Wie es beispielsweise Yovel, Yirmiahu, Kant and the Philosophy of History, Princeton 1980, 154, Kant ankreidet. Mit Recht stellt Vaihinger, Hans, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Berlin 1911, 619, die Erörterung von Kants Ideenlehre unter den Gesichtspunkt der „heuristischen Fiktionen“.

Kants hypothetische Geschichtsphilosophie

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Was Kants materiale Geschichtsdeutung angeht, so bewegt sie sich in den Bahnen der aufklärerischen Fortschrittsgeschichtsschreibung: 5 Expliziert wird die Teleologie des geschichtlichen Prozesses zur „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“ (IaG, AA 8, 22). 6 Die Errichtung eines Staatenbundes stellt den weiteren Zielhorizont der geschichtlichen Entwicklung dar. Allerdings erschöpft sich diese Teleologie nicht in der Herstellung eines rechtlichen Zustandes auf staatlicher und Staatenbunds-Ebene. Dieser Zustand ist vielmehr die Bedingung dafür, dass die „Natur“ „alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann“ (IaG, AA 8, 27). 7 Ja, so etwas wie eine Fortschrittsentwicklung zu einem moralischen „Reich Gottes“ könnte sich abzeichnen (RGV, AA 6, 122f.), 8 wiewohl wahre Religion kein öffentlicher Zustand, sondern einer des Herzens ist und daher keine „Universalhistorie“ von ihr möglich erscheint (RGV, AA 6, 124). 9 Der Übergang von der Rechtsphilosophie zur Moralphilosophie gestaltet sich in der Geschichtsphilosophie gleichwohl erstaunlich problemlos: „Alles Gute […], das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend.“ (IaG, AA 8, 26) Dabei ist die Ausgangsüberlegung der materialen Geschichtsdeutung schöpfungsökonomisch akzentuiert 10 und macht starke Anleihen bei Konzeptionen, wie sie vor Kant Isaak Iselin (1728-1782) oder Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709-1789) vorgeschlagen hatten: „Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmässig auszuwickeln.“ (IaG, AA 8, 18) Während bei den Tieren in 5

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9

10

Eher oberflächlich auf diesen Traditionsbezug verweist Dupré, Louis, Kant’s Theory of History and Progress, in: The Review of Metaphysics. A Philosophical Quarterly 51 (1998), 813-828, hier: 813, wenn er Kant attestiert, „he […] resisted the uncritical optimism of the philosophes“, ohne für diesen vorgeblich unkritischen Optimismus valable Belege beizubringen. Die Evolution der Rechtsverfassungen ist für Kant dabei zunächst die eigentliche Fortschrittsbewegung, vgl. Riedel, Einleitung, (s. Anm. 2), 19. Vgl. dazu auch Beck, Gunnar, Autonomy, History and Political Freedom in Kant’s Political Philosophy, in: History of European Ideas 25 (1999), 217-241, 228f. Siehe Murrmann-Kahl, Michael, Immanuel Kants Lehre vom Reich Gottes. Zwischen historischem Offenbarungsglauben und praktischem Vernunftglauben, in: Essen, Georg/Striet, Magnus (Hg.), Kant und die Theologie, Darmstadt 2005, 251-274, und Sala, Giovanni B., Das Reich Gottes auf Erden. Kants Lehre von der Kirche als „ethischem gemeinem Wesen“, in: Fischer, Norbert (Hg.), Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, (Kant-Forschungen 15), Hamburg 2004, 225-264. Dennoch argumentiert Axinn, Sidney, The Logic of Hope. Extensions of Kant’s View of Religion, Amsterdam/Atlanta 1994, 4, Kants Religionsphilosophie löse sich am Ende in Geschichtsphilosophie auf. Unterstrichen wird diese schöpfungsökonomische Akzentuierung durch die explizite Rede von „Geschöpfe[n]“ (IaG, AA 8, 18). Systematisch interessiert an Kants Schöpfungsbegriff ist Bohlen, Stephanie, Geschöpflichkeit und Freiheit. Ein Zugang zum Schöpfungsgedanken im Ausgang von der kritischen Philosophie Kants, (Philosophische Schriften 53), Berlin 2003, die versucht, die ethischen Dimensionen dieses Begriffs deutlich zu machen.

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Andreas Urs Sommer

jedem einzelnen Individuum das Gattungs-Telos realisiert wird, entfalten sich beim Menschen die vernunftbezogenen Naturanlagen nicht im Individuum, sondern in der Gattung, d. h. im Rahmen einer geschichtlichen Gattungsentwicklung (vgl. IaG 2).11 Die persona agens dieser Entwicklung ist „die Natur“: Sie „hat gewollt“, dass sich der Mensch „Glückseligkeit oder Vollkommenheit […] durch eigene Vernunft“ verschaffe (IaG, AA 8, 19); sie „bedient“ sich dazu eines „Mittels“, nämlich des „Antagonism“ der menschlichen Anlagen, der „ungeselligen Geselligkeit“ (IaG, AA 8, 20), die der Geschichte ihre teleologische Dynamik verleiht. Die Religionsschrift pointiert diese Sichtweise noch: „Wenn man dieser [sc. der „grossen Gesellschaften, Staaten genannt“] ihre Geschichte bloss als das Phänomen der uns grossteils verborgenen inneren Anlagen der Menschheit ansieht, so kann man einen gewissen maschinenmässigen Gang der Natur, nach Zwecken, die nicht ihre (der Völker) Zwecke, sondern Zwecke der Natur sind, gewahr werden.“ (RGV, AA 6, 34) Dass der geschichtliche Prozess durch den Plan und das Handeln der „Natur“ abgesichert wird, ist eine Vorstellung, die in der ‚vorkritischen‘ Geschichtsphilosophie vielfach im Schwange war. Bei Iselin beispielsweise tritt die Natur als weise Erzieherin auf, die den Menschen mit dem Vermögen zur Selbst- und Weltveränderung beschenkt; 12 sie setzt die Rahmenbedingungen fest, unter denen Entwicklung erst möglich wird. 13 Metaphysikverdacht gegen Kants geschichtsphilosophischen Naturbegriff schürt scheinbar die Koppelung von Natur und Vorsehung in der Skizze einer historischen Theodizee am Ende der Idee zu einer allgemeinen Geschichte: „Eine solche Rechtfertigung der Natur - oder besser der Vorsehung – ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen.“ (IaG, AA 8, 30) Zwar konzediert Kant im Ewigen Frieden (1795), dass wir die Vorsehung weder zu erkennen noch zu erschließen vermöchten, „sondern (wie in aller Beziehung der Form der Dinge auf Zwecke überhaupt) nur hinzudenken können“, aber eben auch hinzudenken „müssen“ (AA 8, 362). Daher sei der „Gebrauch des Worts Natur […] schicklicher für die Schranken der menschlichen Vernunft ([…]) und bescheidener, als der Ausdruck einer für uns erkennbaren Vorsehung“ (ebd.). An Gewicht und Gehalt des Postulats ändert die Selbstbescheidung im Sprachgebrauch wenig. 14 11 12 13

14

Dazu ausführlicher Sommer, Andreas Urs, Geschichte als Trost? Isaak Iselins Geschichtsphilosophie, Basel 2002, 64f. Vgl. Iselin, Isaak, Über die Geschichte der Menschheit [1764]. Neue mit dem Leben des Verfassers vermehrte Auflage, Carlsruhe 1791, Bd. 1, 135. Vgl. Iselin, Isaak, Über die Geschichte der Menschheit [1764]. Neue und verbesserte Auflage, Zürich 1768, Bd. 1, 53. Im Aufsatz Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis (1793) wird dies anschaulich: „von der Vorsehung allein, können wir einen Erfolg er-

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Mit dem Vorsehungsbegriff ist der Anschluss an die Sprechweise sowohl der herkömmlichen Geschichtsphilosophie wie auch der Geschichtstheologie vollzogen. Allerdings macht Kant klar, dass „Natur“ oder „Vorsehung“ kein metaphysisches Realium meint, sondern einen Entwurf der Vernunft zum Zwecke einer sinnvollen Ordnung des geschichtlichen Materials. 15 Ob es diese geschichtsphilosophisch agierende Natur oder Vorsehung tatsächlich gibt, entzieht sich unserem theoretischen Wissen. 16 Im Postulat des Natur- oder Vorsehungswaltens ist jene Idee „zu einer allgemeinen Geschichte“ konkretisiert, die sich die Vernunft bildet, um den scheinbar chaotischen geschichtlichen Stoff auf den Begriff zu bringen: Der Philosoph solle versuchen, „ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher, von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich sei“ (IaG, AA 8, 18). 17 Freilich brauchen wir nach Kant nicht in völligem Dunkel über den Gang der Geschichte befangen zu bleiben, scheint es doch eine empirische Plausibilisierung der apriorischen Idee zu geben: „Es kommt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke.“ (IaG, AA 8, 27) In der Erscheinungswelt sind alle menschlichen Handlungen kausalen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, wofür Kant zu Beginn der Idee zu einer allgemeinen Geschichte einen Beleg in _____________

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warten, der aufs Ganze und von da auf die Theile geht, da im Gegenteil die Menschen mit ihren Entwürfen nur von den Teilen ausgehen, wohl gar nur bei ihnen stehen bleiben und aufs Ganze als ein solches, welches für sie zu gross ist, zwar ihre Ideen, aber nicht ihren Einfluss erstrecken können“ (AA 8, 310). Bei der geschichtlich wirksamen Vorsehung handelt es sich um ein Postulat der praktischen und nicht bloss um eine Hypothese der theoretischen Vernunft. In der geschichtsphilosophischen Natur „porträtiert sich Vernunft selbst; aber sie legt sich zugleich höchste Macht bei, wodurch garantiert wird, dass für den politisch-geschichtlich handelnden Menschen die Hoffnung gerechtfertigt ist, dass er in seinem Einsatz für die Vernunft nicht scheitert“ (Kaulbach, Friedrich, Art. Natur V.2, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel/Darmstadt 1971ff., Bd. 6, 471-475, hier: 474, siehe auch Kaulbach, Friedrich, Welchen Nutzen gibt Kant der Geschichtsphilosophie?, in: KantStudien 66 [1975], 65-84). Insofern ist auch Balthasar, Hans Urs von, Die Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen, Bd. 1, Salzburg/Leipzig 1937, 121 zuzustimmen: „Geschichtssinn ist nicht etwas, worin der Mensch als Individuum oder Gattung wie in einem vorgezeichneten Geleise fährt, sondern etwas, was der Geist, als das eigentlich geschichtliche Sein, selber spendet.“ Gerhardt, Volker, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, 251, wählt im Anschluss an die Idee die an Vaihinger (s. Anm. 4) anklingende, vorsichtigere Formulierung, die Natur dürfe „unter bestimmten Bedingungen so betrachtet werden […], als ob sie im Gang ihrer Entwicklung eine Absicht verfolge“. Überdies hebt Gerhardt auf Seite 248f. im Anschluss an Düsing, Klaus, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, Bonn 21986, hervor, dass die kausalen Verhältnissen unterworfene Geschichte sich nicht ausserhalb des Naturgeschehens abspielen könne.

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der Regelmäßigkeit statistisch erhebbarer Daten wie Geburts-, Sterbe- und Eheschließungsraten findet. Hier wird – unabhängig vom freien Willen, der hinter jeder einzelnen menschlichen Handlung stehen mag, und ebenso unabhängig von den individuellen Handlungsmaximen, in denen kein Interesse am allgemeinen Besten zu herrschen braucht und meist auch tatsächlich nicht herrscht – eine Ordnung sichtbar, die zur Plausibilisierung der Idee eines teleologischen Geschichtsverlaufs weiter beiträgt, so wenig sich daraus auch ein Beweis ableiten lässt. Dasjenige, von dessen Verlauf sich die Vernunft eine Idee bildet, nämlich die Gesamtheit der Geschichte, ist prinzipiell nicht erkennbar, weil diese Gesamtheit uns schlechterdings nicht gegeben ist. 18 Entsprechend lässt sich diese Idee allenfalls an ihrer „empirischen Brauchbarkeit“, 19 d. h. an ihrer historiographischen Operationalisierbarkeit ‚überprüfen‘. Dass eine solche ‚Überprüfung‘ selber immer nur vorläufig und situativ ist, scheint sich von selbst zu verstehen – obgleich das „Geschichtszeichen“ der moralischen Zuschauerreaktion auf die Französische Revolution im Streit der Fakultäten ein „Phänomen“ sei, das nicht mehr vergessen werde (SF, AA 7, 88) und für Kant 1798 schließlich einen positiven, offenbar unaufhebbaren Beweis für den moralischen Fortschritt des Menschengeschlechts abgibt. Wenn sich Kants Geschichtsphilosophie in materialer Hinsicht an die Vorgaben des geschichtsphilosophischen Aufklärungsdenkens hält, so unterscheidet sie sich von diesen Vorgaben in der kritischen Fundamentierung der materialen Geschichtspostulate. Wer Kants Geschichtsphilosophie unter Metaphysikverdacht stellt, sollte dabei nicht übersehen, dass wir es hier mit einer geschichtsphilosophischen Metaphysik als ob zu tun haben. Die Hoffnung auf einen Newton der Geschichte (vgl. IaG, AA 8, 18), der das historische Material nach Maßgabe des „Leitfadens“ qua Idee synthetisiert, kann schwerlich die Annahme implizieren, einem solchen 18

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Diese kritische Beschränkung menschlicher Erkenntnisfähigkeit in der Geschichte spielt noch in der modernen Geschichtsphilosophie eine wesentliche Rolle; siehe Baumgartner, Hans Michael, Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik, in: ders./Rüsen, Jörn (Hg.), Seminar: Geschichte und Theorie, Frankfurt am Main 1976, 274-302, hier: 288: „Das Ganze der Geschichte kann nicht als objektiv gegeben, nicht als realer Prozess, mithin nicht als erkennbare Realität gedacht werden, sondern ausschliesslich als regulative Idee.“ Der Anschluss an Kants Geschichtsphilosophie ist gegenwärtig ohnehin populär (siehe z. B. Dahrendorf, Ralf, Teilnahme am Guten. Über die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Juni 2002, Nr. 142, 6), auch wenn kritische Stimmen unüberhörbar bleiben, bspw. Matthews, Richard, Einige Vorbehalte gegenüber weltbürgerlicher Geschichte, in: Städtler, Michael (Hg.), Kants „Ethisches Gemeinwesen“. Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie, Berlin 2005, 247-256. Siehe Kleingeld, Pauline, Zwischen kopernikanischer Wende und grosser Erzählung. Die Relevanz von Kants Geschichtsphilosophie, in: Nagl-Docekal, Herta (Hg.), Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten, Frankfurt am Main 1996, 173-197, hier: 185-188.

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Synthetisator werde es gelingen, allgemeingültige teleologische Gesetze der Geschichte selbst zu erschließen. Allenfalls wird er feststellen, dass die geschichtlichen Ereignisse qua Erscheinungen von „allgemeinen Naturgesetzen“ (IaG, AA 8, 17), d. h. kausal bestimmt sind, und dass die den Naturgesetzen unterworfenen Ereignisse teleologisch interpretiert werden können. Den Beweis, dass sie so interpretiert werden können, liefert Kants Schrift freilich schon selbst, so dass man sich fragen darf, wozu ein Newton der Geschichte schließlich noch gut sein soll. Kant will mit seiner Schrift die Grundlage einer philosophisch orientierten Geschichtswissenschaft schaffen. 20 Die eigentlich interessante Frage wäre, ob Kant die Auffassung vertritt, wir müssten als vernünftige Wesen die Idee eines teleologischen Geschichtsverlaufs annehmen, weil ein Vernunftbedürfnis uns dies gebiete. 21 Insofern die Idee im Allgemeinen einen „notwendigen Vernunftbegriff“ (KrV, A 327/B 383) darstellt, ist die Vernunft ihrem Wesen nach gezwungen, sich ihn zu bilden, ohne dass diese Begriffsbildung einen Anhalt an irgendwelchen empirischen Gegenständen zu haben braucht. Daher sei ein „regulative[r] Gebrauch der Ideen“ (KrV, A 642ff./B 670ff.), ein „hypothetische[r] Vernunftgebrauch“ (KrV, A 647/B 675) zu machen, „um dadurch, soweit als es möglich ist, Einheit in die besonderen Erkenntnisse zu bringen“ – wobei diese Einheit „lediglich nur projektierte Einheit“ sei, „die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muss; welche aber dazu dient, zu dem Mannigfaltigen und besonderen Verstandesgebrauch ein Principium zu finden“ (ebd.). Wie ein ontologisierend-metaphysischer Gebrauch der drei Arten transzendentaler Ideen – Seele, Welt, Gott – demgegenüber in Paralogismen und Antinomien führen kann, zeigt Kant ausführlich. Sind die Ideen auch in theoretischer Hinsicht „problematisch“ und als „objektive Realität“ (KpV, A 242) ungesichert, werden die Ideen „Freiheit, Unsterblichkeit, und Gott“ in praktischer Hinsicht unentbehrlich, „wodurch denn die theoretische Erkenntnis der reinen Vernunft allerdings einen Zuwachs bekommt, der aber bloss darin besteht, dass jene für sie sonst problematische (bloss denkbare) Begriffe jetzt assertorisch für solche erklärt werden, denen wirkliche Objekte zukommen, weil praktische Vernunft die Existenz derselben zur Möglichkeit ihres, und zwar praktisch-schlechthin notwendigen, Objekts des höchsten Guts unvermeidlich bedarf, und die theoreti20

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Dazu eingehend Riedel, Manfred, Geschichte als Aufklärung. Kants Geschichtsphilosophie und die Grundlagenkrise der Historiographie, in: Neue Rundschau 84 (1973), 289-308. Zu Kants Begriff „Bedürfnisse der reinen Vernunft“ (vgl. KpV, AA 5, 142ff.) siehe Himmelmann, Beatrix, Bedürfnisse der Vernunft. Vom Umgang mit den Grenzen des Vernunftgebrauchs, in: Hogrebe, Wolfram (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, 23.-27. September 2002 in Bonn. Sektionsbeiträge, Bonn 2002, 917-926.

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sche dadurch berechtigt wird, sie vorauszusetzen“ (ebd.). 22 Die praktische Vernunft ist es also, die zu ihrer Selbstabsicherung einen objektiven Gehalt dieser Ideen voraussetzt und ihn daher behauptet – wodurch sie zugleich auch der theoretischen Vernunft eine transzendentale Absicherung zu geben im Stande sich wähnt. Zwischen „theoretischen Ideen“ und „praktischen Ideen“ lässt sich ein Übergang bewerkstelligen: In der „Teleologie […] [ist] das Reich der Zwecke eine theoretische Idee zu Erklärung dessen, was da ist. Hier [sc. in der Moral] ist es eine praktische Idee, um das, was nicht da ist, aber durch unser Thun und Lassen wirklich werden kann, und zwar eben dieser Idee gemäss zu Stande zu bringen“ (GMS, AA 4, 436 Fn.). Die Idee an sich ist bei alledem ein für den Verstandesgebrauch „nothwendiger Grundbegriff“ (Log, AA 9, § 3, 92); nur bei der theoretischen Idee der Freiheit lasse sich ein Beweis ihrer objektiven Realität beibringen, „und zwar, weil diese die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, dessen Realität ein Axiom ist“ (ebd., AA 9, 93). Gleichzeitig konzediert Kant aber, dass die für die Geschichtsphilosophie so relevante „Idee der Menschheit, die Idee einer vollkommenen Republik, eines glückseligen Lebens […] den meisten Menschen“ fehle, da die sich lieber an „Autorität“ und „Instinkt“ hielten (ebd.). Das Streben der Aufklärung zielt nun gerade darauf ab, den Ausgang aus der Autoritäts- und Instinktbestimmung zu weisen – ein Ausgang, der gemäß dem Mutmaßlichen Anfang schon beim Essen vom Erkenntnisbaum im Paradies seinen ersten Anfang nahm. Die faktisch häufige Abwesenheit der aufgezählten, geschichtsphilosophisch relevanten Ideen ändert offenbar nichts daran, dass die „Idee eines Endzwecks im Gebrauche der Freiheit nach moralischen Gesetzen subjektiv-praktische Realität“ habe: „Wir sind a priori durch die Vernunft bestimmt, das Weltbeste, welches in der Verbindung des grössten Wohls der vernünftigen Weltwesen mit der höchsten Bedingung des Guten an demselben, d. i. der allgemeinen Glückseligkeit mit der gesetzmässigsten Sittlichkeit, besteht, nach allen Kräften zu befördern.“ (KU, AA 5, § 88, 453.) In der Idee zu einer allgemeinen Geschichte findet eine Übertragung der für das Reich der Natur postulierten Teleologie auf den Bereich der Geschichte statt, die freilich hier nichts von ihrem postulatorischen Charakter verliert. 23 Soweit wir es bei der Geschichte mit Erscheinungen zu tun haben, appliziert die Vernunft im Interesse systematischer Einheit auf sie dieselbe Teleologie-Idee, wobei sich der hypothetische Charakter dieser teleologischen Interpretation zweifach potenziert, „wenn sie vom Einzel22

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Vgl. Himmelmann, Beatrix, Brauchen wir Kants Idee des höchsten Guts?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53 (2005), Heft 4, 541-550. Darauf hebt Krasnoff, Larry, The Fact of Politics. History and Teleology in Kant, in: European Journal of Philosophy 2 (1994), 22-40, eindringlich ab.

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organismus auf das Ganze der Natur ausgedehnt wird und dann auf die nicht-naturale Totalität der Geschichte übertragen wird“. 24 Der „Leitfaden“, mit dem Kant die Geschichte zu betrachten heißt, ist die TeleologieIdee, die ihre Rechtfertigung, sofern Geschichte dem Reich der natürlichen Erscheinungen zugeordnet wird (wie zu Beginn des Aufsatzes), aus dem Postulat einer allgemeinen Naturteleologie bezieht. Sofern Geschichte aber das Produkt freier menschlicher Handlungen ist, müsste sich ihre Ausrichtung auf einen weltbürgerlichen Zustand nicht aus einer allgemeinen Naturteleologie, als vielmehr aus den individuellen Handlungsteleologien ergeben. Von einer entsprechenden Abzweckung der individuellen Handlungen und ihrer Maximen ist aber im gegenwärtig beobachtbaren Normalfall nach Kant keine Rede, so dass der Philosoph „bei Menschen und ihrem Spiele im Grossen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen kann“ (IaG, AA 8, 18). Die Naturabsicht wird daher zur Stellvertreterin individuell vernünftiger und moralischer Handlungsabsichten, solange sich die Mehrheit der Menschen noch nicht dazu durchgerungen hat, ihre Geschichte nach Maßgabe eines weltbürgerlichen Endzwecks zu gestalten. Die geschichtliche Naturabsicht läuft darauf hinaus, die Menschen in die Lage zu versetzen, sich ihre Vollkommenheit aus sich selbst, emanzipiert von der Natur, zu schaffen (vgl. IaG 3). 25 Die Teleologisierung der Geschichte kommt in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte also in doppelter Perspektive zum Tragen: Einerseits – und das wäre das moralisch Gesollte – ist ein vom Endzweck des weltbürgerlichen Zustandes normativ bestimmtes, vernünftiges und moralisches Handeln der einzelnen Menschen die Ursache für die Herbeiführung dieses geschichtlichen Endzwecks. Andererseits bewirkt bis zum Zeitpunkt derartiger vernünftig-moralischer Selbstbestimmung der Menschen die Natur selbst die Annäherung an dieses Telos. Nun ist es freilich heikel, auf der Grundlage des Kantischen Kritizismus von der Natur als einer dem Menschen übergeordneten Geschichtsmacht zu sprechen, die irgendwelche Dinge beabsichtigt, plant, will und tut. Die Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft dekretiert bekanntlich, „dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, dass […] sie die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse“ (KrV, B XIII): An der Natur ist nur verstehbar, „was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt“ (KrV, B XIV). Auch im Falle der ge24 25

Angehrn, Emil, Geschichtsphilosophie, Stuttgart/Berlin/Köln 1991, 80, vgl. IaG, AA 8, 24-26. Dann wäre auch eine „wahrsagende Geschichtserzählung des Bevorstehenden“ a priori möglich, da dann „der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt“ (SF, AA 7, 79f.).

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schichtsphilosophisch wirksamen Natur wird es sich schwerlich anders verhalten; auch hier ist das Reden von Absicht, Plan und Wille der Natur eine Projektion der Vernunft. 26 Eine offenbar praktisch notwendige Projektion allerdings, insofern die Ordnungs- und Einheitsidee der Vernunft eben gerade im Bereich der faktisch von Menschen gemachten Geschichte nach Befriedigung heischt und zu dieser Befriedigung der Teleologie bedarf. Die anthropomorphe Redeweise von Plan, Absicht und Willen der Natur dient dazu, die Teleologie-Hypothese, die die Vernunft an ‚die Natur heranträgt‘, zu verbalisieren: Kant sagt nicht allein, der in der Geschichte wirksamen Natur wohne eine Teleologie inne (wie der Geschichte), sondern die Natur gebe der Geschichte ein Telos vor. Diese Figur lässt die Personifizierung der Natur als fast unumgänglich erscheinen. Bei alledem ist aber entscheidend, dass es jene praktische, auf den weltbürgerlichen Zustand abzweckende Vernunft selber ist, die der Natur die teleologischen Absichten zuschreibt, also genau jene Vernunft, die sich im realen Geschichtsprozess bei den meisten Menschen noch nicht hinreichend Gehör verschafft hat – eben weil diese Menschen ihre Maximen nach kurzsichtigen Eigennutz-Interessen bestimmen. Zu dem Zeitpunkt, wo die Menschen ihr Handeln an der künftigen Vollkommenheit der Gattung zu orientieren beginnen, wird auch die teleologische Naturabsicht ‚bewiesen‘ sein: Dann wird sich das bisherige Geschehen als Entwicklung hin zu dieser vernünftig-moralischen Selbstbestimmung der Menschen lesen lassen, zu deren Erklärung man eben gerade einer Naturabsicht bedarf, weil es noch nicht die vernünftig-moralische Selbstbestimmung der Menschen gewesen sein kann, die diesen Zustand herbeigeführt haben wird. Die Implementierung der Natur-Teleologie in den Bereich der Geschichte bringt eine für die ganze spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie signifikante Naturalisierung der Geschichte mit sich, die Kant bei der Besprechung von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit gerade kritisiert hatte (AA 8, 53-55). Die Naturabsicht konterkariert das individualmenschliche Handeln, solange es sich nicht am vernünftigen Endzweck der Geschichte ausrichtet. Mit der Naturalisierung der Geschichte durch Natur-Teleologie geht eine Anthropozentrierung der Natur-Teleologie einher: „Wenn nun Dinge der Welt, als ihrer Existenz nach abhängige Wesen, einer nach Zwecken handelnden obersten Ursache bedürfen, so ist der Mensch [sc. nicht als Sinnen-, sondern als moralisches Vernunftwesen] der Schöpfung Endzweck; denn ohne diesen 26

Vgl. aber Zum ewigen Frieden, Erster Zusatz: „Wenn ich von der Natur sage: sie will, dass dieses oder jenes geschehe, so heisst das nicht soviel, als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu thun (denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie thut es selbst, wir mögen wollen oder nicht (fata volentem ducunt, nolentem trahunt).” (AA 8, 365).

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wäre die Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet“ (KU, AA 5, § 84, 435). Die hier von Kant vollzogene, transzendentalphilosophische Restitution des naturteleologischen Anthropozentrismus ist für die nachkantische Entwicklung der Geschichtsphilosophie bestimmend. Auch die früheren spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophien kamen nicht ohne vergleichbare Restitutionen des teleologischen Anthropozentrismus aus. Obwohl Kant in der „physischen Teleologie“ betont, wie problematisch unsere Zweckzuschreibungen im Falle natürlicher Organismen sind, schreitet in seiner „moralischen Teleologie“ die praktisch-reflektierende Urteilskraft unangefochten weiter fort zum praktischen Postulat „eines moralischen Welturhebers, d. i. Gottes“ (KU, AA 5, § 87, 453), „um uns, gemäss dem moralischen Gesetze, einen Endzweck vorzusetzen“ (ebd., 450). Dem ist als „das höchste in der Welt mögliche, und so viel an uns ist, als Endzweck zu befördernde, physische Gut […] Glückseligkeit“ (ebd.) zur Seite gestellt. Auch wenn für Kant selbstverständlich gilt, dass „Endzweck […] bloss ein Begriff unserer praktischen Vernunft“ ist und „aus keinen Datis der Erfahrung zu theoretischer Beurteilung der Natur gefolgert, noch auf Erkenntnis derselben bezogen werden“ (KU, AA 5, § 88, 454) kann, wird mit der „Ethikotheologie“ doch ein Übergang zu rationaltheologischen Postulaten hergestellt, die sowohl in der Moralphilosophie wie in der Geschichtsphilosophie als unverzichtbar ausgewiesen werden sollen. Der Rekurs auf die Vorsehung ist demnach in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte keineswegs eine topische Floskel: Mit der „Natur“ gekoppelt, reicht ihre Funktion über bloße Stabilisierung ewiger geschichtlicher Kreisläufe 27 weit hinaus: Vorsehung muss als Fortschrittsplanungsinstanz postuliert werden, solange die Menschen ihre Zukunft nicht vernünftigmoralisch selber in die Hand nehmen. Die Kantische Geschichtsphilosophie als ganze hat dabei die Funktion, die ethikotheologische und -teleologische Idee eines moralischen Gottes a posteriori zu belegen. So wächst einer nach der geschichtsphilosophischen Teleologie-Idee verfahrenden Geschichtsschreibung tatsächlich die Aufgabe zu, die Vorsehung zu rechtfertigen, d. h. eine Theodizee zu liefern. 28 Die Geschichtsphilosophie soll – und das ist ihr zentraler Topos 29 – „eine tröstende Aussicht in 27

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So bei Vico, vgl. Vico, Giambattista, La scienza nuova seconda. Giusta l’edizione del 1744 con le varianti dell’edizione del 1730 e di due redazioni intermedie inedite. A cura di Fausto Nicolini. Terza edizione riveduta = Vico, Giambattista, Opere IV/1 und IV/2, Bari 1942, Abschnitt 1108 und passim. Zum Vorsehungsglauben bei Kant siehe auch Scheliha, Arnulf von, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1999, 117-172. Anders Kleingeld, Zwischen kopernikanischer Wende und grosser Erzählung, (s. Anm. 19),189.

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die Zukunft“ (IaG, AA 8, 30) eröffnen, nämlich zum Zwecke der „Versöhnung mit der Welt“, 30 aber eben auch einer Versöhnung mit Gott, insofern dieser als moralischer Welturheber konzipiert wird. 31 Entsprechend kann auch die Philosophie „ihren Chiliasmus haben“ (IaG, AA 8, 27). Die daseinsorientierende Stabilisierungsfunktion des Rekurses auf Natur, die in politicis nach Ausweis der Schrift Zum ewigen Frieden als Garantin des ewigen Friedens fungiert (AA 8, 360-368),32 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die von der theoretischen Vernunft postulierte NaturTeleologie auch im geschichtsphilosophischen Zusammenhang von der moralischen Teleologie überboten werden soll und nur deren vorläufiges Substitut ist. Die Idee zu einer allgemeinen Geschichte stellt unmissverständlich klar, dass sich die Natur zugunsten der vernünftig-moralischen Selbstbestimmung des Menschen selber nach und nach überflüssig macht (vgl. IaG, AA 8, 19). Damit ist eine dauerhafte Fremdbestimmung des Menschen durch Natur oder Vorsehung ausgeschlossen – insofern ist der Mensch auch nicht bloßer Spielball anonymer und nur notdürftig personalisierter Geschichtsmächte. Im Gemeinspruch wird die fragliche „Natur“ explizit als „menschliche Natur“ ausgewiesen (AA 8, 310). 33 Zugleich trägt Kant dem Umstand Rechnung, dass die gemeinhin beobachtbaren Menschen keineswegs bewusst Herren ihrer Geschichte sind. So gelingt es der Kantischen Geschichtsphilosophie, sowohl das moralisch unbedingte 30

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Angehrn, Geschichtsphilosophie, (s. Anm. 24), 85. Nagl-Docekal, Herta, Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich?, in: dies. (Hg.), Der Sinn des Historischen, (s. Anm. 19), 7-63, hier: 29, meint demgegenüber, Kants Argumentation laufe „weder auf eine ‚grosse Erzählung‘ noch auf eine ‚Legitimationserzählung‘ hinaus“. Da diese Versöhnung geschichts- und moralphilosophisch bewerkstelligt wird, ist es nur konsequent, wenn Kant in der Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft die christlichen Gnadenmittel eskamotiert (B 311, AA 6, 199f.), vgl. Kittsteiner, Heinz Dieter, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt am Main 1998, 85. Andererseits erleidet in der Religionsschrift vielleicht auch Kants „moralischer Fortschrittsoptimismus“ empfindliche Einbussen (Hartwich, Wolf-Daniel, Apokalyptik der Vernunft. Die eschatologische Ästhetik Kants und Schillers, in: Faber, Richard/GoodmanThau, Eveline/Macho, Thomas (Hg.), Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, Würzburg 2001, 181-192, hier: 189). Skirl, Miguel, Politik – Wesen, Wiederkehr, Entlastung, (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 138), Berlin 2005, 161, spricht davon, „dass sich die Geschichtsphilosophie Kants über seine politische Philosophie legt und das Gefühl für Geschichte, als ein Gefühl für Politik, die Kritik der Erhabenheit, die die Kritik der Urteilskraft ist, jederzeit zugleich übertüncht.“ Vgl. Cheneval, Francis, Über die projektive Selbstimplikation der Geschichtsphilosophie als Hermeneutik politischen Handelns. Überlegungen zu Kant, in: Studia philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft 60 (2001), 127-141, hier: 131: „‚Natur’ bedeutet […] innerhalb der normativen Geschichtsphilosophie [sc. Kants] immer die ektypische Natur, das vom Menschen zu schaffende Gegenbild der Verstandeswelt in der Sinnenwelt.“

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Sollen – die, wie es im Gemeinspruch heißt, „angeborne Pflicht […] so auf die Nachkommenschaft zu wirken, dass sie immer besser werde“ (AA 8, 309) 34 –, unsere (theoretisch wie praktisch) vernünftige Teleologie-Idee und unsere rationaltheologischen Erwartungen als auch die faktische Beschränkung menschlichen Vermögens zu integrieren, ohne den Menschen vollständig unter Natur- oder Vorsehungs-Vormundschaft zu stellen, aber auch ohne ihn zum gottgleichen Schöpfer des eigenen Gewordenseins, zur causa sui zu verklären. Für Kant besteht – so viel sollten die bisherigen Darlegungen klarstellen – kein Zweifel, dass die Idee eines teleologischen Geschichtsverlaufs ein Bedürfnis der theoretischen und der praktischen Vernunft beantwortet, und zwar ein Bedürfnis nach Einheit und Ordnung, das von keiner anders gearteten Idee befriedigt werden könne: Jede andere Idee – etwa diejenige von kontinuierlichem geschichtlichen Verfall oder von geschichtlichem Chaos – würde die Einheit und Ordnung vernünftiger Welterkenntnis hintertreiben und damit ihr ganzes System in den Grundfesten erschüttern. Deshalb hat die Geschichtsphilosophie im Gesamtkontext der Kantischen Transzendentalphilosophie nicht bloß akzidentellen Charakter, sondern ist von konstitutiver Bedeutung: Geschichtsphilosophie als Abschluss und Erfolgsgarantin des Systems. Allerdings zeigt schon der Modus des Hypothetischen, in dem Kant die Geschichte abhandelt – bezeichnenderweise in essayistischer Form –, dass es um die Absicherung dieses Systemabschlusses selbst prekär bestellt ist. Fast an jeder Stelle der geschichtsphilosophischen Argumentation ließen sich die getroffenen Unterscheidungen problematisieren und in andere Richtung treiben, um den Preis allerdings, die teleologische Ordnungsund Einheits-Hypothese aufgeben zu müssen. Zwar beweist der historische Hinweis, dass ein auf die Geschichte appliziertes Ordnungsbedürfnis der Vernunft bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts offenbar kaum verspürt worden ist (oder seine Befriedigung in heilsgeschichtlichen Konzepten fand), keineswegs, dass ein solches Ordnungsbedürfnis oder die von ihm postulierte Ordnung gar nicht existiert. Aber offenbar war es mittlerweile möglich geworden, die Annahme einer alles umfassenden Ordnung, wie sie die klassische und die schulphilosophische Metaphysik geteilt hatten, schlicht zu bestreiten: Erst die Möglichkeit dieser Bestreitung fordert das Postulat eines Ordnungsbedürfnisses der Vernunft heraus. Die Fundamentalkritik an der metaphysischen Ordnungsannahme ist kennzeichnend für die radikaleren Strömungen der Aufklärung, auf die die spekulativuniversalistische Geschichtsphilosophie reagierte. Drastisch artikuliert sich 34

Dass diese moralphilosophische Begründung des Fortschrittspostulats logisch inkonsistent sei, will Kleingeld, Zwischen kopernikanischer Wende und grosser Erzählung, (s. Anm. 19), 180-182, nachweisen.

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die Skepsis gegenüber der metaphysischen Ordnungsannahme und insbesondere gegenüber der ihr inhärenten, universellen Teleologie in Georg Christoph Lichtenbergs vordergründig unscheinbaren Betrachtungen über die physischen Revolutionen, die die menschlichen Fähigkeiten mit den „Heerstrassen zu Malta“ vergleichen, die „am Ende gerade hinaus ins Blaue führen“. 35 Unter diesem Verdacht hat die metaphysische Ordnungsannahme universeller Teleologie einen schweren Stand, selbst dann, wenn sie transzendentalphilosophisch, im Modus des Als-ob, restituiert wird. Die spekulativ-universalistische Geschichtsphilosophie (nicht nur Kantischen Zuschnitts) will der skeptischen Teleologie-Verweigerung und Ordnungs-Annihilation entgegensteuern, indem sie im scheinbar Ungeordnetsten, in der Geschichte, Teleologie und Ordnung aufweist. Ansonsten gehört „historisches Erkenntniss“ ohne Bezug auf die Besserung des Menschen „unter die Adiaphora, mit denen es jeder halten mag, wie er es für sich erbaulich findet“ (RGV, AA 6, 44 Fn.; vgl. AA 6, 111f.) Das Hauptproblem des Kantischen Ansatzes besteht darin, dass diese Teleologie schon als Vernunft-Idee vorausgesetzt ist, und sie daher nur von dem akzeptiert wird, wer der transzendentalphilosophischen Rekonstruktion der Ordnungs-Metaphysik als ob wenigstens ansatzweise schon Glauben schenkt oder aber dem praktischen Postulat gehorcht, sein Handeln so zu bestimmen, als ob es eine weltbürgerliche Gesellschaft geben solle – „es mag mit der Geschichte stehen wie es wolle“ (RGV, AA 6, 158f.). Was wäre, wenn jemand das Ordnungsinteresse der Vernunft statt als nützliche als illusionäre Fiktion denunzierte und im Gestus einer nochmals radikalisierten Metaphysikkritik zu verstehen gäbe, dass wir die Geschichte mit der Idee einer sie vereinheitlichenden und sie umfassenden Teleologie überforderten? Wenn, nach Kants Orientierungsschrift, 36 Sich-Orientieren im Denken bedeutet, „sich bei der Unzulänglichkeit der objectiven Prinzipien der Vernunft im Fürwahrhalten nach einem subjectiven Prinzip derselben [zu] bestimmen“ (AA 8, 136 Fn.), wäre es doch immerhin möglich, dass in einem solchen subjektiven Prinzip die Einheits- und Ordnungs35

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Lichtenberg, Georg Christoph, Einige Betrachtungen über die physischen Revolutionen auf unsrer Erde, in: Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1794, [Göttingen 1793, Reprint Mainz 1993], 79-112, hier 105. Siehe Stegmaier, Werner, „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ Zur Möglichkeit philosophischer Weltorientierung nach Kant, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 17/1 (1992), 1-16, und den Aufsatz von Stegmaier im vorliegenden Band, ferner Kaulbach, Friedrich, Weltorientierung, Weltkenntnis und pragmatische Vernunft bei Kant, in: ders./Ritter, Joachim (Hg.), Kritik und Metaphysik. Heinz Heimsoeth zum achtzigsten Geburtstag, Berlin 1966, 60-75, sowie Schwaiger, Clemens, Denken des ‚Übersinnlichen’ bei Kant. Zu Herkunft und Verwendung einer Schlüsselkategorie seiner praktischen Metaphysik, in: Fischer (Hg.), Kants Metaphysik, (s. Anm. 8), 331-345, hier: 338-341.

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Idee bewusst aufgegeben würde. 37 Das gefühlte Bedürfnis der Vernunft, sich über die Gegenstände der Erfahrung zu erheben, könnte, anstatt sich zu einem „ersten Urwesen“ und „höchsten Gute“ (AA 8, 137), zu einem „Vernunftglauben“ (AA 8, 140) hin zu orientieren und damit seiner Weltbetrachtung Teleologie zu unterlegen, zu einem Verzicht auf solches Ausgreifen raten und stattdessen skeptische Bedürfnisbescheidung und Bedürfnisbeschneidung empfehlen. 38 Was sollte dieses Vernunftbedürfnis – sein Vorhandensein einmal vorausgesetzt – denn zu einer entsprechenden Erfüllung nötigen? Immerhin erwies sich – trotz der immer wieder erhobenen skeptischen Einwände – die Metaphysik in Gestalt spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie als überlebensfähig, ja als ausgesprochen erfolgreiches Paradigma, von dem her sich bei Fichte, Schelling und Hegel die gesamte klassisch-rationalistische Metaphysik erneuern ließ. Die Hypothetisierung unserer an die Geschichte herangetragenen Vernunftideen ermöglichte es Kant, den kritischen Anspruch seiner Transzendentalphilosophie aufrecht zu erhalten und zugleich die für die spekulativuniversalistische Geschichtsphilosophie so kennzeichnende ReAnthropozentrierung zu betreiben, die es der Vernunft wieder erlauben sollte, sich in der nach ihren Ideen organisierten Welt zurecht zu finden. Die Kopernikanische Wende wird auch in der Geschichtsphilosophie vollzogen, womit sie sich für ihre weitere, nunmehr auch akademische Karriere qualifiziert, während sie bis zu Kant ‚popularphilosophische‘ Reflexionsform gewesen war. Im folgenden soll anhand des Aufsatzes zum Mutmaßlichem Anfang der Menschengeschichte und seiner theologischen Vorgeschichte erörtert werden, auf welche Weise Kant genuin (offenbarungs)theologische, näherhin heilsgeschichtliche Motive geschichtsphilosophisch integriert. Dieser Text rekonstruiert für die biblisch bezeugte Vergangenheit, was die Idee zu einer allgemeinen Geschichte für die Zukunft postuliert. Wenn man projektiv über die Zukunft und den weltbürgerlichen Endzweck der Geschichte handelt – „[n]ur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt“ (IaG, AA 8, 23) –, muss man auch von seinem Anfang sprechen, von der Initialzündung des Geschichtlichen. Daher gehört der Mutmaßliche Anfang wesentlich zum Corpus von Kants geschichtsphilosophischen Schriften.

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„[E]s würde verwegen sein, den Horizont Anderer bestimmen zu wollen, weil man theils ihre Fähigkeiten, theils ihre Absichten nicht genug kennt“ (Log, Einleitung VI, AA 9, 43). Vgl. Sommer, Andreas Urs, Die Kunst des Zweifelns. Anleitung zum skeptischen Philosophieren, München 2005.

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II. Als geschichts- und religionsphilosophischer Text hat der Mutmaßliche Anfang der Menschengeschichte – obwohl heute selbst von Spezialisten gerne überlesen – Schule gemacht: Friedrich Schiller schreibt in seinem Geiste fort; 39 Heinrich von Kleists Allegorese von Genesis 3 lässt unverhohlen die Kantische Hoffnung anklingen, dass „vollkommene Kunst wieder Natur“ (AA 8, 117f.) werde; 40 und Kants Vorgabe bestimmt die Auslegung der Paradieserzählung bei den Alttestamentlern des beginnenden 19. Jahrhunderts in starkem Maße. 41 Zum Verständnis von Kants Aufsatz ist es hilfreich, ihn in den Rahmen der zeitgenössischen Diskussionen zu stellen, 42 namentlich der innertheologischen Polemik gegen die Erbsündenlehre, die in der paulinisch-augustinischen Ausformung 43 eine Säule der protestantischen Orthodoxie gebildet hatte. 44 Individualethischen, aufklärerischen Begriffen musste eine Auffassung widerstreben, die die anhaltende Hinfälligkeit und Schuld der kontingenten Tat eines Urahnen

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Schiller, Friedrich von, Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde, in: Schillers sämmtliche Werke in zwölf Bänden, [hg. von C. G. Körner], Bd. 10, Stuttgart/Tübingen 1838, 387-408. Kleist, Heinrich von, Über das Marionettentheater, in: ders., Werke in sechs Teilen. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu hg. von Hermann Gilow, Willy Manthey, Wilhelm Waetzoldt, 5. Teil: Vermischte Aufsätze, hg. von Wilhelm Waetzoldt, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart, o. J., 73-79, hier: 79. Vgl. Metzger, Martin, Die Paradieserzählung. Die Geschichte ihrer Auslegung von J. Clericus bis W. M. L. de Wette, Bonn 1959, 152. Den Versuch, Kants geschichtsphilosophische Entwürfe im Rahmen der europäischen Aufklärungshistoriographie zu kontextualisieren, unternimmt Waszek, Norbert, Le cadre européen de l’historiographie allemande à l’époque des Lumières et la philosophie de l’histoire de Kant, in: Littérature et Nation, no. 21 (1999): La philosophie de l’histoire: héritage des Lumières dans l’Idéalisme Allemand, sous la direction de Myriam Bienenstock, Tours 2001, 23-58. Dabei rückt er v. a. den Bezug zu Hume in den Vordergrund, so dass wir uns hier auf die deutschen Diskussionszusammenhänge beschränken können. Vgl. auch Aner, Karl, Zum Paulusbild der deutschen Aufklärung, in: Harnack-Ehrung. Beiträge zur Kirchengeschichte. Ihrem Lehrer Adolf von Harnack zu seinem 70. Geburtstage (7. Mai 1921) dargebracht von einer Reihe seiner Schüler, Leipzig 1921, 366-376, ferner Schweitzer, Albert, Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart, Tübingen 1911. Dazu noch immer einschlägig Aner, Karl, Die Theologie der Lessingzeit, Halle/Saale 1929, 158-164 und 297-299. Allgemein zur aufklärungstheologischen Wissenschaft sehr hilfreich Sparn, Walter, Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theologischen Wissenschaften im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Vierhaus, Rudolf (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, 18-57 sowie Beutel, Albrecht/Leppin, Volker (Hg.), Religion und Aufklärung. Studien zur „neuzeitlichen Umformung des Christlichen“, Leipzig 2004; zur Erbsünde bei Kant: Wenzel, Knut, Die Erbsündenlehre nach Kant, in: Essen/Striet (Hg.), Kant und die Theologie, (s. Anm. 8), 224-250.

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anlastete („Lapsus [i. e. primum peccatum] est in se contingens“ 45 ), nur damit sich dereinst in der stellvertretenden Genugtuung des Gottessohnes die Gnade des Weltschöpfers erwiese. Dergleichen scholastische Restbestände auszuräumen trat die protestantische Aufklärung an, die von der Fähigkeit des Menschen überzeugt war, aus freien Stücken das Gute tun zu können. „Ergo oppositum lapsus est in se possibile“, hieß es schon in der von Kant vielfach verwendeten Metaphysica Alexander Gottlieb Baumgartens (1714-1762); 46 und dem führenden neologischen Exegeten, Wilhelm Abraham Teller (1734-1804), 47 fiel in seinem Wörterbuch des Neuen Testaments unter dem Lemma „Sünde“ zur paulinischen Konzeption von Sünde und Gnade nicht viel mehr ein als: „Sie sind allzumal Sünder. Röm. 3, 23 geht auf die damalige Allgemeinheit des Sittenverderbens unter Juden und Heyden“. 48 Auf diesem Hintergrund unterwarf die aufklärerische Theologie die ersten Genesis-Kapitel einer neuen Lektüre und erprobte dabei die jetzt zu Gebote stehenden Mittel einer philologisch-historischen Kritik. Der wundersame Bericht von der sprechenden Schlange und dem verbotenen Baum der Erkenntnis erschwerte eine literale Auslegung, die seit der Reformation als exegetische Kardinalmethode gegolten hatte. Baruch de Spinoza (1632-1677) trat im Tractatus theologico-politicus (1670) dafür ein, der Paradieserzählung als einer „Parabel“ statt eines historisch-literalen einen moralischen Sinn abzugewinnen; 49 und im englischen Deismus wurde bisweilen die allegorische Schriftauslegung als einziges Mittel gepriesen, 45 46 47

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Baumgarten, Alexander Gottlieb, Metaphysica. Editio III, Halle 1750, § 966, 350. A.a.O., § 966, 350. Winter, Aloysius, Theologiegeschichtliche und literarische Hintergründe der Religionsphilosophie Kants, in: Ricken, Friedo/Marty, François (Hg.), Kant über Religion. Mit Beiträgen von Hans Michael Baumgartner u. a., Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 17-51, nimmt an, Kant habe Tellers Schriften gekannt (wiederabgedruckt in: Winter, Aloysius, Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants. Mit einem Geleitwort von Norbert Hinske, Hildesheim/Zürich/New York 2000, 425-476). Zu Tellers Wörterbuch siehe auch Hornig, Gottfried, Wilhelm Abraham Tellers Wörterbuch des Neuen Testaments und Friedrich Christoph Oetingers Emblematik, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 22 (1998), Heft 1, 76-86. Teller, Wilhelm Abraham, Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der christlichen Lehre [1772]. Vierte mit Zusätzen und einem Register vermehrte Auflage, Berlin 1785, 372. Spinoza, Baruch de, Theologisch-Politischer Traktat [1670]. Auf der Grundlage der Übersetzung von Carl Gebhardt neu bearbeitet, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick = Sämtliche Werke in sieben Bänden, hg. von Carl Gebhardt, Bd. 3, Hamburg 1976, 75 (Kapitel 4). Zu den Parallelen der Spinozanischen und der Kantischen Bibelhermeneutik siehe Yovel, Yirmiahu, Bible Interpretation as Philosophical Praxis. A Study of Spinoza and Kant, in: Journal of the History of Philosophy 11 (1973), 189-212. Kant dürfte über Moses Mendelssohns Jerusalem mit dem Tractatus theologico-politicus mindestens indirekt in Berührung gekommen sein (a. a. O., 190). Vgl. auch Yovel, Kant and the Philosophy of History, (s. Anm. 3).

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die Glaubwürdigkeit der Bibel zu erhalten. 50 Die Frage blieb, ob die Erzählung vom ersten Menschenpaar einen historischen Kern besitze, oder ob sie, als bloße Erdichtung, einen freieren Zugang gestatte. So schlug Johann David Michaelis (1717-1791) mit seinen Gedancken über die Lehre der heiligen Schrift von der Sünde (1752) eine naturalistische Lesart vor: Der Mensch im Garten Eden habe zuerst vom Baum des Lebens gegessen, dessen Früchte einer Verhärtung der Gefäße und Organe vorgebeugt hätten, und dann vom Baum der Erkenntnis, dessen verbotene Frucht nicht nur die Begierde angestachelt, sondern auch die Blutgefäße verhärtet habe und damit unweigerlich den Tod der Menschen heraufbeschwören musste. 51 Somit hat Gott die Frucht nicht willkürlich verboten, kannte er doch deren todbringende Wirkung. Der Schöpfer wird so vom Vorwurf freigesprochen, er enthalte den Menschen despotisch ein Gut vor und verursache damit selbst die Sünde. In der Vorrede zur zweiten Auflage der Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft findet Kant bei Michaelis seine eigene Auffassung von der Kompetenz des „philosophischen Religionsforschers“ (B XXIV, AA 6, 13) bestätigt, der Vernunftreligion und historischen Schriftglauben in Übereinstimmung bringen möchte. 52 Die Schlange der Paradieserzählung wurde nach der neologischen Eliminierung des Teufels beispielsweise zu einer „Hieroglyphe“ der Sinnlichkeit umfunktioniert. So hält sie Teller „für eine symbolische bildliche Vorstellung der Macht der Sinnlichkeit […], welche so oft in dem Menschen sich die Vernunft unterwirft“. 53 „Theologie nach dem Tode des Teufels führt notwendig zu einer Theorie der Entmythologisierung der Theologie“. 54 Die exegetische ‚Entmythologisierungspraxis’, etwa von 50

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Siehe Troeltsch, Ernst, Deismus, in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, begr. von Johann Jakob Herzog, hg. von Albert Hauck, Leipzig 31896-1913, Bd. 4, 532-559, hier: 541f. Zu Kants Beschäftigung mit dem englischen Deismus vgl. Winter, Theologiegeschichtliche und literarische Hintergründe, (s. Anm. 47), 39-48; systematisch interessiert ist der Aufsatz von McCammon, Christopher, Overcoming Deism. Hope Incarnate in Kant’s Rational Religion, in: Firestone, Chris L./Palmquist, Stephen R. (Hg.), Kant and the New Philosophy of Religion, Bloomington (Ind.) 2006, 79-89. Vgl. Metzger, Die Paradieserzählung, (s. Anm. 41), 136, ferner Michaelis, Johann David, Dogmatik. Zweite umgearbeitete Ausgabe, Göttingen 1784, §§ 84f., 315ff. Kant besaß Johann David Michaelis’ Einleitung in die Göttlichen Schriften des neuen Bundes (Göttingen 1750, vgl. Warda, Arthur, Immanuel Kants Bücher. Mit einer getreuen Nachbildung des bisher einzigen bekannten Abzuges des Versteigerungskataloges der Bibliothek Kants, Berlin 1922, 43, Nr. 8) und erwähnt seine „Moral“ in der Religionsschrift auch andernorts (z. B. AA 6, 110, Fn.). Teller, Wörterbuch des Neuen Testaments, (s. Anm. 48), 352 (Lemma „Schlange“). Lötzsch, Frieder, Vernunft und Religion im Denken Kants. Lutherisches Erbe bei Immanuel Kant, Köln/Wien 1976, 98. Zur theologischen Elimination des Teufels siehe nach wie vor Roskoff, Gustav, Geschichte des Teufels. Eine kulturhistorische Satanologie von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert [1869], 2 Bde., Nachdruck Nördlingen 1987, zum sogenannten neologischen „Teufelsstreit“ Aner, Die Theologie der Lessingzeit, (s. Anm. 44),

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Johann Salomo Semler (1725-1791) oder Johann Joachim Spalding (17141804) eifrig vorangetrieben, 55 stellte die Theologen vor das Problem der Akkomodation: Ist die Wahrheit mit der Bibel in eine Hülle verpackt, die sie den damaligen Hörern und Lesern hätte schmack- und glaubhaft machen sollen? Wie kann, wenn man diese Frage bejaht, der Inhalt der Botschaft Gottes aus dem tradierten Schriftkanon destilliert werden? Mit Kant betrachteten die radikaleren Theologen das von Unvernünftigkeiten gereinigte Christentum als einen idealen, pädagogischen Vermittler moralischer Religiosität. Die partiell rehabilitierte, allegorische Schriftauslegung diente einer Anpassung der Botschaft an die verschiedenen Verhältnisse des Lebens; die Neologen wollten in den biblischen Berichten und den kirchlichen Lehren allerdings nur eine lange Reihe von Metaphern und Allegorien der Vernunftwahrheiten erkennen. Bei Semler werden Bibel und Sakramente die vehicula der eigentlichen religiösen Botschaft, während bei Kant der Kirchenglaube insgesamt als Vehikel der Sittlichkeitsreligion gilt. 56 Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Auslegung der Sündenfallgeschichte dürfte auf Kant unmittelbar eingewirkt haben. 57 In den Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten wird die Geschichte als „moralisches Lehrgedicht“ präsentiert, „durch das sich die ersten Menschen, nachdem _____________

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234-252. Drastisch hatte schon der dissidente Johann Christian Edelmann den Teufel ausgetrieben; vgl. [Edelmann, Johann Christian], Moses mit aufgedecktem Angesichte von schon bekannten beyden Brüdern noch ferner beschauet; die bey Gelegenheit der weitern Betrachtung der sogenannten Schöpffung, von der anjetzt so sehr belobten Besten Welt freymüthig mit einander discurriren […]. Dritter Anblick, o. O. 1740, 67. Dass „der Einfluss Semlers auf Kant sehr stark war“, hält Bohatec, Josef, Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“. Mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch-dogmatischen Quellen, Hamburg 1938, 27, Fn. 30, fest (vgl. dann 457-465 und 472-477), während Spaldings Name bei Bohatec nicht fällt, was Winter, Theologiegeschichtliche und literarische Hintergründe, (s. Anm. 47), 32, zwar beklagt, aber nicht kompensiert. Zu Kants Spalding-Rezeption siehe die knappen Hinweise in der Einleitung zu: Spalding, Johann Joachim, Religion, eine Angelegenheit des Menschen, hg. von Tobias Jersak und Georg Friedrich Wagner = ders., Kritische Ausgabe, hg. von Albrecht Beutel. Erste Abteilung: Schriften, Bd. 5, Tübingen 2001, XXV, sowie Giovanni, George di, Freedom and Religion in Kant and His Immediate Successors. The Vocation of Humankind, 1774-1800, Cambridge 2005, 7-10 und passim; zu Spalding selbst Sommer, Andreas Urs, Sinnstiftung durch Individualgeschichte. Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 8 (2001), 163-200, sowie Claussen, Johann Hinrich, Glück und Gegenglück. Philosophische und theologische Variationen über einen alltäglichen Begriff, Tübingen 2005, 275-325. Siehe Winter, Theologiegeschichtliche und literarische Hintergründe, (s. Anm. 47), 29. Kant besaß die Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (Warda, Immanuel Kants Bücher, [s. Anm. 52], 43, Nr. 6). Müller, Wolfgang Erich, Von der Eigenständigkeit der Neologie Jerusalems, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 26 (1984), 289-309, hier: 303-309, vergleicht Kants Religionsschrift mit Jerusalems Ansatz. Vgl. auch Sommer, Andreas Urs, Einleitung zu: Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm, Werke, Bd. 1, Hildesheim 2007.

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sie die Mühsal des Lebens und die üblen Folgen ungezügelter Leidenschaften erfahren hatten, zum Gehorsam gegen Gottes Gesetze und zur Beherrschung der Triebe ermahnen und sich die Hauptwahrheiten der Religion, nämlich, dass Gott der Schöpfer und moralische Regent der Welt sei, vor Augen halten wollten“. 58 Von einer Ursünde, die eine Korruption der menschlichen Anlagen verursacht habe, spricht der Text nach Jerusalem nicht. Zwar werde das „göttliche Gebot“ „hier wirklich übertreten; die Sünde ist da, und bleibt immer warnende strafbare Verblendung. Aber wo ist die abscheuliche Empörung gegen den göttlichen Befehl, wo nur der Schein von dem sträflichen Hochmuthe, von der empörenden Verbindung mit dem Verführer, dem Feinde GOttes?“ 59 Das Essen vom Baum ziehe Schamgefühl und Reue nach sich. Indes stellt Jerusalem die faktische Realität des Lebens- und des Erkenntnisbaumes in Abrede. Stattdessen sieht er ersteren als „Bild einer beständigen Glückseligkeit“ und letzteren als „Bild des göttlichen Gesetzes“. 60 Mehr als ein „warnendes Bild vor der Verführung der sinnlichen Begierden zur Übertretung des göttlichen Gesetzes“ 61 sei auch die Schlange nicht. Um den beschränkten Denkhorizont der mosaischen Frühzeit nicht zu überschreiten, bediene sich die Gleichnisrede damaliger Mythologeme. 62 Geschildert werde in Genesis 3 nicht der einmalige und bis zur Inkarnation Christi unwiderrufliche Akt des Abfalls von Gott, sondern die allgemein menschliche Tendenz, der Sinnlichkeit vor der Vernunft den Vorzug zu geben. Komplementär zur Entfachung der Sinnlichkeit wächst das Bedürfnis nach Erziehung, die von Gott gewollt und eingerichtet sei. „Und dies sollen nicht bloss Erziehungsgeschäffte während der Kindheit, sondern Erziehungsgeschäffte des ganzen Lebens seyn. Denn das ganze Leben ist Stand der Zucht, wo die Grund-Sätze der Religion, und besonders dieser grosse Gedanke von GOtt, von einer vergeltenden Vorsehung und einer Ewigkeit immer der herrschende Gedanke bleiben […] muss“. 63 Die Welt als eine göttliche Erziehungsanstalt, bei der die geschichtsphilosophische

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Metzger, Die Paradieserzählung, (s. Anm. 41), 44. Zu Jerusalems Geschichtsphilosophie siehe Sommer, Andreas Urs, Neologische Geschichtsphilosophie. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 9 (2002), 169-217. [Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm], Lehre von der moralischen Regierung Gottes über die Welt oder Die Geschichte vom Falle. Aus dem zweyten Bande des zweyten Theiles der Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, Braunschweig 1780, 20. A.a.O., 43. A.a.O., 47. Vgl. a.a.O., 50-62 und passim. A.a.O., 90.

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Ausrichtung sich deutlich abzeichnet: „Alle Vernunft muss wieder einen solchen Stand der Unschuld annehmen“. 64 Johann Gottfried Herder (1744-1803) hat die Tendenz der Genesisinterpretation zu einem geschichtsphilosophischen Bonum-durch-MalumSchema weiter verstärkt. 65 Neben Jean-Jacques Rousseaus Contrat social und den Discours, Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion und allenfalls Iselins Geschichte der Menschheit dürfte Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts Kants Mutmaßlichen Anfang unmittelbar angeregt haben. 66 „Warum stand also der Baum da? Weil der Mensch ohn' ihn ein Thier gewesen wäre, ein Menschenthier im Paradiese. ‚Iss von allen Bäumen im Garten! folge den Sinnen, thue, was dir beliebt, sei ohne Gebot!‘ was hiesse das anders, als ‚Mensch sei Vieh!‘“ 67 Am Ende zeitigt Verfehlung der noch kindlichen Menschen, auch wenn sie aus dem Paradies vertrieben werden, „nicht Unter- sondern Über- und Fortgang des Menschengeschlechts im Plane Gottes“. 68 Der Mensch ist dazu bestimmt, das Paradies zu verlassen und die Welt zu kultivieren. Herders Erwägungen münden schließlich – im Unterschied zu Jerusalem – in eine christologische Deutung des felix culpa-Motivs. 69 Inzwischen war die Interpretation der Paradiesgeschichte in emanzipatorischer Absicht zu einem eigentlichen Modethema geworden. So fand der Stürmer und Dränger Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) in seinen Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen von 1780 „in der ganzen Erzählung vom vermeinten Fall Adams keine Spur von Erbsünde“ 70 und wertete nun seinerseits die Konkupiszenz als Triebkraft 64 65

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A.a.O., 41. Marquard, Odo, Felix culpa? Bemerkungen zu einem Applikationsschicksal von Genesis 3, in: Fuhrmann, Manfred/Jauss, Hans Robert/Pannenberg, Wolfhart (Hg.), Text und Applikation, Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, München 1981, 53-71, sieht die Genesis-Auslegung, die seit Augustinus mit dem felix culpaMotiv operierte, von Leibniz an unter dem Bann der Kompensationsidee „bonum durch malum“ zum Zwecke der Theodizee stehen. Vgl. Bohatec, Die Religionsphilosophie Kants, (s. Anm. 55), 193. Zu Kant und Rousseau vgl. Herb, Karlfriedrich, Contrat et histoire. La transformation du contrat social à Kant, in: Revue germanique internationale 6 (1996): Kant: philosophie de l’histoire, 101-112. Herder, Johann Gottfried, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts [1774/76], in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. 6, Berlin 1883, 193-530 und Bd. 7, Berlin 1884, 1-172, hier: Bd. 7, 27. A.a.O., Bd. 7, 116. Vgl. a.a.O., Bd. 7, 121-150. Vgl. ausführlich zum Thema Bultmann, Christoph, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, Tübingen 1999, und allgemein Willi, Thomas, Herders Beitrag zum Verstehen des Alten Testaments, Tübingen 1971. Lenz, Jakob Michael Reinhold, Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen. Faksimiledruck der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1780. Mit einem Nachwort hg. von Christoph Weiß, St. Ingbert 1994, 38.

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menschlichen Handelns auf, nicht ohne manche orthodoxen Elemente beizubehalten, die bei den Neologen aufgegeben worden waren. 71 Das bei Jerusalem bemerkbare, bei Herder und Kant vorherrschende geschichtsphilosophische Interesse an der Genesis tritt bei Lenz zugunsten eines außergeschichtlich-anthropologischen zurück.

III. Eigentümlich ist Kants Anspruch, mit dem er seine geschichtsphilosophischen Erläuterungen der Sündenfallerzählung im Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte als „blosse Lustreise“ (AA 8, 109) einführt: Seine Mutmaßungen, deren problematischer wissenschaftstheoretischer Status ihm bewusst ist, wollen kein allzu „ernsthaftes Geschäft“ sein. Das Bemerkenswerte an Kants Einleitung liegt im erklärten Willen, „Erholung und Gesundheit des Gemüths“ wo nicht zu bewirken, wenigstens kraft der heilsamen „Bewegung“ „der Einbildungskraft in Begleitung der Vernunft“ zu fördern. Kant teilt diese therapeutische Anwartschaft mit dem althergebrachten Selbstverständnis religiöser, namentlich christlicher Seelsorge, aber auch mit der platonischen Vorstellung vom Philosophen als Arzt. Kants Unternehmung will keine wissenschaftliche im strengen Sinn des Wortes sein, weswegen er auch keine sachlichen Bedenken zu hegen braucht, eine der Theologie zugehörige Domäne probehalber zu annektieren. Am Ende gelingt es ihm, den versprochenen Sinn zu stiften, falls der wohlwollende Leser die altbekannte Voraussetzung akzeptiert, dass die mala physica Folgen des malum morale (und des malum metaphysicum) seien. Die im Mutmaßlichen Anfang skizzierte geschichtsphilosophische Theodizee lässt sich unter den strengen metaphysikkritischen Maßstäben, die Kant an anderer Stelle anlegt, 72 nur dann aufrecht erhalten, wenn man sie als praktisches Vernunftpostulat begreift und das „Gemüth“ als eigentlichen Adressaten mitreflektiert. Dafür klingen die Bedürfnisse der (neologischen) Theologie mit den Ergebnissen der Weltweisheit – genauer: mit dem prak71

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Siehe dazu Sommer, Andreas Urs, Theodizee und Triebverzicht. Zu J. M. R. Lenzens „Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen“, in: Lichtenberg-Jahrbuch 1995, 242-250, und Lehmann, Johannes Friedrich, Vom Fall des Menschen. Sexualität und Ästhetik bei J. M. R. Lenz und J. G. Herder, in: Bergengruen, Maximilian/Borgards, Roland/Lehmann, Johannes Friedrich (Hg.), Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, Würzburg 2001, 15-35, sowie Bosse, Heinrich/Lehmann, Johannes Friedrich, Sublimierung bei Jakob Michael Reinhold Lenz, in: Begemann, Christian/Wellbery, David E. (Hg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg im Breisgau 2002, 177-201. Kant, Immanuel, Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee [1791], in: AA 8, 253-271.

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tischen Bedürfnis der Vernunft nach einer teleologischen Geschichtsauffassung 73 – wieder einhellig zusammen, ganz nach dem Geschmack jenes allmählich ‚bildungsbürgerlich‘ werdenden Publikums, das die Berlinische Monatsschrift und damit Kants Aufsatz las. Obwohl Kant seinen Essay keineswegs als „Roman“ und „Erdichtung“ (AA 8, 109) verstanden wissen will, hat der Mutmaßliche Anfang doch zu diesen Gattungen eine unverkennbare, vielleicht sogar „prekäre Nähe“. 74 Demgegenüber beklagt Kant 1784 in seiner ersten Besprechung von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit einen quasi belletristischen Missbrauch der Philosophie, „deren Besorgung mehr im Beschneiden als Treiben üppiger Schösslinge besteht“ (AA 8, 55). Offenbar hat sich Herder nach Ansicht des Rezensenten, anstatt „bestimmte Begriffe“ zu bilden, von einer „durch Metaphysik oder durch Gefühle beflügelten Einbildungskraft“ (ebd.) dazu verleiten lassen, diese philosophische (Selbst-)Disziplin zu verraten. Was sich hier als eine grundsätzliche Differenz im Verständnis des Philosophierens auszukristallisieren scheint – nämlich belletristische ‚Popularphilosophie‘ im Dienste der Einbildungskraft auf der einen Seite, strenge Arbeit am Begriff auf der anderen 75 – wird schon bald durch Kants eigene geschichtsphilosophische Schriftstellerei relativiert. Dies macht offenkundig, dass trotz des in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte unternommenen Versuchs, einer Geschichtsschreibung, die als Wissenschaft wird auftreten können, einen apriorischen „Leitfaden“ zu diktieren, Geschichtsphilosophie noch immer nicht ganz zu einer akademisch-wissenschaftlichen Disziplin mit einem ihr eigentümlichen wissenschaftlich-literarischen Genre geworden ist und noch immer enge Bindungen zur Einbildungskraft aufrecht erhält. Gerade die Anfangskapitel der Geschichte werden zum Prüfstein der Leistungs73

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Dieses Vernunftbedürfnis arbeitet Pauline Kleingeld in ihrer einschlägigen Dissertation eindringlich heraus (Kleingeld, Pauline, Geschichtsphilosophie bei Kant. Rekonstruktion und Analyse. Proefschrift ter verkrijging van de graad von Doctor aan de Rijksuniversiteit te Leiden, Leiden 1994, 80-93 und passim; modifiziert Kleingeld, Pauline, Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg 1995). Vgl. auch Kleingeld, Pauline Kant, History, and the Idea of Moral Development, in: History of Philosophy Quarterly 16 (1999), Heft 1, 59-80, und Muglioni, Jean-Michel , Le principe téléologique de la philosophie kantienne de l’histoire, in: Revue germanique internationale 6 (1996): Kant: philosophie de l’histoire, 113-127. Goetschel, Willi, Kant als Schriftsteller, Wien 1990, 136. Siehe auch Pénisson, Pierre, Kant et Herder. Le „recul d’effroi de la raison“, in: Revue germanique internationale. 6 (1996): Kant: philosophie de l’histoire, 63-74, der herausstellt, wie gering die inhaltliche Kluft zwischen Herders und Kants Geschichtsphilosophien ist, während die Art und Weise des Philosophierens für Kant das tatsächliche Problem darstelle, nämlich Herders „metaphorischer Stil“. Demgegenüber betont Riedel, Manfred, Historismus und Kritizismus. Kants Streit mit Georg Forster und Johann Gottfried Herder, in: Kant-Studien 72 (1981), 41-57, die systematischen Differenzen.

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kraft einer hypothetisch verfahrenden Geschichtsphilosophie; hier vermochte die wissenschaftliche Historie nichts auszurichten. 76 Kant bewegt sich bei seiner „Lustreise“ auf den Fährten der „heiligen Urkunde“; seine Annahmen stützen sich, abgesehen von der verbrieften Karte der Genesis, auf die „Voraussetzung“, dass die Natur, aus deren Schoß der Mensch hervorgeht (oder die sein ursprüngliches Wesen ausmacht), am Anfang „nicht besser und nicht schlechter“ gewesen sei als heute, was ihm in „Analogie“ und aus der „Erfahrung“ eine begründete Annahme zu sein dünkt. Hiermit ist die alte dogmatische Lehre, der Urstand, die Natur des Menschen sei durch den Sündenfall dauerhaft und substantiell zum Schlechten hin verändert worden, stillschweigend beseitigt. Diese Lehre wird bei der Bestimmung der Prämissen nicht einmal mehr der Diskussion für würdig befunden. Wenn der Mensch sich, wie dies im folgenden behauptet wird, aus der Herrschaft der Instinkte löst und sich die Welt der Freiheit zu erschließen beginnt, dann findet da zwar ein qualitativer Bruch statt, gleichwohl wird die Freiheitsfähigkeit und die praktische Vernunft im Menschen, in seinem Wesen immer schon angelegt gewesen sein. Die „Lücken“ (AA 8, 109), mit denen wir unser historisches Wissen komplettieren, klaffen am Anfang der Geschichte besonders weit. Das Verfahren, mit dem wir sie zu schließen versuchen, hat bei Kant ebenso wie in der im 18. Jahrhundert einsetzenden Erdgeschichtsschreibung Mutmaßungscharakter; es ist abduktiv. Der Mensch stellt sich uns gleich „in seiner ausgebildeten Grösse“, „in einem Paare“, „nur einem einzigen Paare“ vor, haust in einem paradiesartigen „Garten“ und hat die Fähigkeit, zu „stehen“, zu „gehen“ und zu „sprechen“ bereits erworben (AA 8, 110). Das Heraustreten des Menschen aus seiner anfänglichen „Rohigheit“ wird – wie bei Iselin – ausgespart, „um bloss die Entwickelung des Sittlichen in seinem Thun und Lassen, welches jene Geschicklichkeit nothwendig voraussetzt, in Betrachtung zu ziehen“ (AA 8, 111). Offenbar entfalten sich praktische und reine bzw. ‚instrumentelle‘ Vernunft nicht synchron. Bezeichnend für Kants Lesart von 1. Mose 2-3 ist die Invisibilisierung der eigentlichen Hauptperson des biblischen Berichts: Gott tritt weder als Schöpfer, noch als Gesetzgeber auf – präsent ist er nur auf dem Umweg des „Instinct[s], diese[r] Stimme Gottes“, und, was sich aus der Idee zu einer allgemeinen Geschichte ableiten lässt, im Walten der „Natur“, das ein Walten der Vorsehung ist. Natürlich schickt sich für eine Philosophie, die der Theologie nicht die Schleppe nach –, sondern die Fackel vorantragen möchte (vgl. AA 8, 369) und deshalb aller Überhebung der rationalistischen Metaphysik abgeschworen hat, keine positiv76

Dazu eingehend Seifert, Arno, Von der heiligen zur philosophischen Geschichte. Die Rationalisierung der universalhistorischen Erkenntnis im Zeitalter der Aufklärung, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), 81-117, hier: 108ff.

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eindeutige Aussage über Tun und Sein Gottes. Kant liegt daran, Gott als Postulat des sittlichen Handelns zu erweisen und nicht schon vorauszusetzen. Im Mutmaßlichen Anfang soll die Geschichts- und Naturteleologie das Gottespostulat plausibilisieren. So lässt sich die praktische Philosophie Kants als Lösungsvorschlag auf die eminente Frage nach der Heils- oder Sinngewissheit auffassen; den Gehalt dieser Antwort kann man mit Hans Blumenberg auf die Formel bringen: „Descartes hatte die Güte Gottes zum Garanten für die Vernunft gemacht; Kant macht die Vernunft zum Garanten für die Güte Gottes.“ 77 Vorderhand beschränkt er sich in unserem Fall auf die hypothetische Beschreibung des göttlichen Wirkens. Das Göttliche will offenbar einerseits die Freiheit des Menschen, seine Selbstbestimmung und andererseits die Ausdifferenzierung all seiner Anlagen. Der „Instinct“ hält den Menschen in Abhängigkeit, solange dieser nicht eigenmächtig den Gehorsam aufkündigt. Alsbald beginne sich im Naturwesen Mensch die „Vernunft“ „zu regen“; er stelle Vergleiche an zwischen dem ihm Bekannten und dem, was ihm die anderen Sinne zeigen, um „seine Kenntniss der Nahrungsmittel über die Schranken des Instincts zu erweitern“ (ebd.). Diese curiositas verfällt keinem Bannfluch mehr. Ausgelöst worden sei die Abwendung vom Naturtrieb vermutlich durch etwas Geringfügiges, eine lockende Frucht beispielsweise, die, vom Instinkt 78 missbilligt, aber von einem Tier ohne Schaden verzehrt wurde, was die Vernunft veranlasste, „mit der Stimme der Natur zu chikanieren ([Genesis] III, 1), und trotz ihrem Widerspruch den ersten Versuch von einer freien Wahl zu machen, der als der erste wahrscheinlicherweise nicht der Erwartung gemäss ausfiel“ (AA 8, 112). Schlimme Nachwirkungen mochten sich daraus nicht ergeben haben, „so gingen dem Menschen hierüber doch die Augen auf ([Genesis 3] V. 7). Er entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensreise auszuwählen und nicht gleich anderen Thieren an eine einzige gebunden zu sein.“ (ebd.) 79 In Kants Nacherzählung fährt kein zornentbrannter Gott auf die Erde herab und verstößt das Urelternpaar aus dem Garten Eden, sondern der Mensch beendet selbst die Unbeschwertheit seiner fremdbestimmten 77 78

79

Blumenberg, Hans, Kant und die Frage nach dem gnädigen Gott, in: Studium Generale 7 (1954), 554-570, 559. „Instinkt ist ein innerlicher Trieb, etwas zu tun oder zu lassen, den die Natur in ein Geschöpf gelegt hat.“ Lichtenberg, Georg Christoph, Beiträge zu Rabeners Wörterbuche, in: ders., Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Frankfurt am Main 1994, Bd. 3, 502-507, hier: 505. Die Akademie-Ausgabe emendiert wie die erste Gesamtausgabe von Gustav Hartenstein (Bd. 4, Leipzig 1838, 344) „Lebensreise“ stillschweigend zu „Lebensweise“. Bei dieser Lesart wird die metaphorische Parallele zur Reise, die der Leser mit Kant auf den Flügeln der Einbildungskraft unternimmt, unterschlagen, weswegen ich hier der editio princeps folge.

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Existenz. Göttliche Gesetze hat der Mensch nur insofern verletzt, als er auf die „Stimme Gottes“, den Instinkt nicht mehr hörte. Von nun an wird er den Kurs seiner „Lebensreise“ selbst bestimmen und sein eigener Gesetzgeber werden. Nach der Verstoßung aus dem „Gängelwagen des Instincts“, auf dem der Mensch die elementaren „Geschicklichkeiten“ erworben habe, werde er in „Angst“ und „Bangigkeit“ gestoßen (ebd.), denn er wisse nicht, wie er „mit seinem neu entdeckten Vermögen zu Werke gehen sollte. Er stand gleichsam am Rande eines Abgrundes“. Der ungeheuren Fülle von Möglichkeiten seiner Wahl ist der Mensch noch nicht gewachsen, weshalb er bemüht sein wird, sie einzuschränken, einen Horizont zu schaffen, innerhalb dessen er sich zu orientieren vermag (vgl. auch Log, Einleitung VI, AA 9, 40-44). Um seinen Geschlechtstrieb anzustacheln und ihn gleichzeitig in der Phantasie „dauerhafter und gleichförmiger“ (AA 8, 112) auszuleben, verhülle der Mensch alsbald seine Nacktheit. Kant schenkt dem Umstand besondere Aufmerksamkeit, dass das bewusste Sich-selbst-Entziehen des begehrten Objektes eine Abstraktionsleistung darstellt. Denn hier wird die bloße Gegenwartsbezogenheit aufgegeben. Ein Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft bildet sich. Dieser Verzicht zur Steigerung der Lust ist bereits „Weigerung“ im emphatischen Sinn. Das dann tatsächlich Erreichte und Ergriffene (und wenn es nur die ominöse Frucht gewesen ist) bedeutet immer eine Überwindung des bloß Möglichen, der immensen Menge von Möglichkeiten. Der Mensch schafft sich seine Welt und auferlegt ihr seine Regeln. Eben diese Entscheidung gegen bloß Mögliches zugunsten des Getanen und Zutuenden ist für das weitere Fortschreiten wegweisend. Als nächste Stufe der Selbsterziehung lege der Mensch sich Sittsamkeit zu. Obgleich äußerlich von der Sittlichkeit kaum zu unterscheiden, folgt die Sittsamkeit nur den egoistischen Interessen des Individuums, das nicht einem absoluten Sollen gehorcht, vielmehr allein seinen sinnlichen Gelüsten und dem Selbsterhaltungstrieb. Deswegen stuft sie Kant auch erst als „kleine[n] Anfang“ auf dem Weg zur Vervollkommnung ein, ohne dass er jedoch den qualitativen Sprung von Sittsamkeit zu Sittlichkeit weiter begründen könnte. Der „dritte Schritt der Vernunft“ ist Kant zufolge die „überlegte Erwartung des Künftigen“. Das Element der Planung und das Bewusstsein von Kausalität werden vorrangig; sie schaffen „Sorgen und Bekümmernisse“, weil die Folgen des eigenen Tuns nur bedingt berechenbar sind. Schließlich sei die Gewissheit des eigenen Todes nicht mehr zu verdrängen, wodurch das in einem Leben Mögliche als beschränkt erfahren wird, was wiederum der jeweiligen Wahl (einer Route auf der Lebensreise) ungeahntes Gewicht verleiht. Da die Vernunft dies alles sichtbar hat werden lassen, werde sie vom Menschen für die Übel verantwortlich gemacht. Viertens begreife der Mensch sich selbst als „Zweck der Natur“ (AA 8, 114), als

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Herrn dieser Welt, die um seinetwillen geschaffen ist, weshalb er „zum Schafe sagte, der Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog, und sich selbst anlegte“. In seinem Mitmenschen erkenne er hingegen die letzte Zweckhaftigkeit; er dürfe sich seiner, so fange er zu begreifen an, nie „bloss als Mittel zu anderen Zwecken“ (AA 8, 114) bedienen. Wie und warum diese Anerkennung des andern als Zweck einer vom vernünftigen Eigeninteresse unterschiedenen Quelle entspringen solle, erläutert Kant nicht. In der „Anmerkung“ formuliert Kant die geschichtsphilosophische Quintessenz. Aus der Perspektive der Gattung kann demnach die Ablösung von der Naturvormundschaft nur positiv gewürdigt werden, denn deren „Bestimmung“ bestehe „in nichts als im Fortschreiten zur Vollkommenheit“ (AA 8, 115). Dagegen müsse das Individuum gewärtigen, dass ihm Eintracht und Glück hienieden nach dem Verlust des Urstandes nicht mehr beschieden sei, und es persönlich nicht (unbedingt) zum Besseren fortschreite. Da die praktische Vernunft, als sie „ihr Geschäft anfing“, noch nicht voll entwickelt gewesen sein konnte, „kam“ sie „mit der Thierheit und deren ganzen Stärke ins Gemenge“. Eine ähnliche Position verteidigt neben Iselin die Aufklärungstheologie, namentlich Jerusalem, der den ursprünglichen Konflikt zwischen Sinnlichkeit und Vernunft noch stärker hervorhebt, ohne dass deswegen die Sinnlichkeit als Sinnlichkeit schon verwerflich wäre. Aus dem Kampfe entstehen laut Kant Übel und „bei cultivirterer Vernunft Laster“ (ebd.) als unumgängliche Nebenprodukte. Der „erste Schritt“ hinaus aus der Obhut der Natur soll „also“ „auf der sittlichen Seite ein Fall“ gewesen sein, obwohl „ehe die Vernunft erwachte“ „kein Gesetz oder Verbot“ existierte (ebd.). Der Nachsatz stipuliert im orthodoxen Stil, die „Menge nie gekannter Übel des Lebens“ müssten als Konsequenzen des Falles, „mithin“ als „Strafe“ akzeptiert werden, sind sie doch Folgen des Vernunftgebrauchs. Was Kant als moralisch bedenklich in Rechnung stellt, ist offenbar weniger der Griff nach der Frucht, sondern die Folgen des von da an geübten, aber noch sehr unvollkommenen Vernunftgebrauchs: Schuldig werden die Menschen nicht durch die allererste Handlung ohne Instinktgängelung, sondern durch die sich daran anschließenden, nicht pflichtkonformen Handlungen. Sobald die Vernunft sich regt, ist offenbar auch das Sittengesetz in unbedingter Geltung. „Für das Individuum, welches im Gebrauche seiner Freiheit bloss auf sich selbst sieht, war bei einer solchen Veränderung Verlust; für die Natur, die ihren Zweck mit dem Menschen auf die Gattung richtet, war sie Gewinn.“ (AA 8, 115f.) Die Natur (qua Vorsehung) hat den „Fall“ des Menschen gewollt, weil auch das Verschulden und das Böse zur Vervollkommnung der Schöpfungsordnung beitragen, um den Menschen zu

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ihren Zwecken anzuspornen, die seine ureigensten Zwecke seien. Die geschichtliche Heilsökonomie der Natur ist eine innerweltliche Angelegenheit; in dieser Welt führt sie den Menschen seiner Vollendung entgegen – den Menschen als Gattung wohlverstanden, solange er noch nicht selbst seine Maximen vernunftgemäß bestimmt: Naturteleologie präludiert moralische Teleologie. Das Individuum hat, ganz gemäß der alten theologischen Doktrin, „alle Übel die es erduldet und alles Böse das es verübt, seiner eigenen Schuld zuzuschreiben“ (AA 8, 116), kann aber auf die Aufhebung seiner Leiden bestenfalls hoffen, indem es sich einer transmundanen Glückseligkeit würdig erweist. Dieser Aspekt individueller Glückswürdigkeit bleibt aber im Mutmaßlichen Anfang ausgeklammert, während etwa bei Jerusalem oder Lessing die Aussicht auf individuelle Unsterblichkeit die teleologische Gattungsentwicklung sekundiert und so die Härten der geschichtsphilosophischen Gattungsorientierung mildert. In Kants geschichtsphilosophischen Schriften wird diese Engführung gattungsgeschichtlicher und individualgeschichtlicher Erwartungen nicht nachvollzogen; hier hat das Individuum in seinem Leiden nur „die Weisheit und Zweckmässigkeit der Anordnung zu bewundern und zu preisen“ (AA 8, 116). Diese Ausgrenzung des individuellen Glücksinteresses aus der Geschichtsphilosophie, mit der sich Kant gegen Rousseau 80 und Herder verwahrt, insofern sie die Befriedigung des individuellen Glücksbedürfnisses nicht zugunsten eines geschichtlichen Gattungsziels eingeschränkt wissen wollten, sollte für die weitere Theoriegeschichte bis Hegel und Marx bestimmend bleiben und zugleich ein Hauptangriffspunkt der Kritik an der spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie überhaupt werden. 81 Die „Schlussanmerkung“ des Mutmaßlichen Anfangs unterstreicht die Hauptabsicht des geschichtsphilosophisch-exegetischen Unternehmens: Damit sich beim nachdenklichen Betrachter keine „Unzufriedenheit mit der Vorsehung, die den Weltlauf im Ganzen regiert“ (AA 8, 120f.), einniste, sei es für ihn „von der grössten Wichtigkeit: mit der Vorsehung zufrieden zu sein“ (AA 8, 121). 82 Hier kommt der therapeutische Topos der sich 80 81

82

Vgl. dazu Cassirer, Ernst, Kant und Rousseau [1939], in: ders., Rousseau, Kant, Goethe, hg. und eingeleitet von Rainer A. Bast, Hamburg 1991, 3-61, hier: 42-44. In der maßgeblichen Monographie zum Thema Glück bei Kant kommt daher das Thema Geschichtsphilosophie nur marginal vor: Himmelmann, Beatrix, Kants Begriff des Glücks, (Kantstudien. Ergänzungshefte 142), Berlin/New York 2003. Demgegenüber stellt Holzhey, Helmut, „Das Ende aller Dinge“. Immanuel Kant über apokalyptische Diskurse, in: ders./Georg Kohler (Hg.), In Erwartung eines Endes. Apokalyptik und Geschichte, Zürich 2001, 21-34, hier: 31, bei der Untersuchung der Kantischen Komplementärschrift zum Mutmaßlichen Anfang, dem Ende aller Dinge (1794) fest, dass es der entmythologisierend-moralphilosophischen Interpretation christlichen Redens von der Ewigkeit nicht wirklich gelänge, die eschatologische Unruhe zu pazifizieren: „Gegen diese Unruhe, die mehr ist als Mangel an individueller ‚Zufriedenheit‘, ist philosophisch kein

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etablierenden Geschichtsphilosophie voll zum Tragen, unbeschadet der Hintanstellung individueller Glücksinteressen: Angesichts der offenbaren Übel sollen wir im festen Glauben an das Walten der Vorsehung neue Zuversicht schöpfen. Solches Vorsehungswalten wäre hypothetisch der Vernunfttätigkeit zu unterstellen und wird von ihr unterstellt; also ist die Vorsehungszuversicht insgeheim eine Vernunftzuversicht. So lassen sich für die einzelnen Übel treffliche geschichtsphilosophische Rechtfertigungen beibringen: „Auf der Stufe der Cultur also, worauf das menschliche Geschlecht noch steht, ist der Krieg ein unentbehrliches Mittel, diese noch weiter zu bringen“ (AA 8, 121).83 Die „Kürze des Lebens“ (AA 8, 122) sei ebenfalls nicht beklagenswert, da niemand ernstlich die „Verlängerung eines mit lauter Mühseligkeiten beständig ringenden Spiels“ (ebd.) wünschen könne. Die Spielmetapher kann als Reminiszenz der barocken Welttheatervorstellung gelesen werden, die unterschwellig trotz aller menschlichen Freiheit in der geschichtsphilosophischen Vorstellungswelt mitschwingt. 84 Schließlich sei die Sehnsucht nach einer Wiederkunft des Goldenen Zeitalters nur ein Zeichen des Überdrusses „am civilisirten Leben“, obwohl der Mensch doch von der Vernunft angehalten werde, „dem Leben durch Handlungen einen Werth zu geben“. Der Urzustand, in den sich manche zurückwünschen, erweise sich als unhaltbar, sobald die Vernunft erwache. Ein antirousseauistischer Tenor ist hier unverkennbar, wohingegen die vorangehende Zivilisationskritik an Rousseau anschließt. 85 Wenn die physischen Übel gegen unser Verdienst aufgerechnet werden, so würden wir „schwerlich“ von mehr Leiden behelligt, als wir verdienten. Von einer ungleichen und ungerechten Verteilung der Leiden will der Text nichts wissen. „Zufriedenheit mit der Vorsehung und dem Gange menschlicher Dinge im Ganzen“ zu bewirken, ist Sinn der geschichtsphilosophischen Theodizee am Ende. Ein jeder sei „durch die Natur selbst berufen“, am „Fortschritte“ mitzubauen, „so viel in seinen Kräften steht“ (AA 8, 123) – selbst dann, wenn wir es nur einer geschichtsphilosophischen Metaphysik als ob zu tun haben. _____________

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Kraut gewachsen. Auch für Kant gibt es keine tranquillitas animi, die sich aus dem Gefühl der Sicherheit in Bezug auf den Gang der Dinge nähren könnte.“ Gerade Kants Geschichtsphilosophie bringt freilich zumindest eine ‚Beruhigung als ob‘ (vgl. auch a.a.O., 33). Vgl. auch Schwarz, Hans, Ende und Erfüllung. Teleologie und Eschatologie bei Kant, in: Thiede, Werner (Hg.), Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen 2004, 191-205. Zum Thema Krieg und Geschichtsphilosophie ausführlich Sommer, Andreas Urs, Krieg und Geschichte. Zur martialischen Ursprungsgeschichte der Geschichtsphilosophie, Bern 2002. Weyand, Klaus, Kants Geschichtsphilosophie. Ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zur Aufklärung, Köln 1964, 131, meint dagegen, dieses theologische Relikt sei im Mutmaßlichen Anfang bereits überwunden. Vgl. auch Wood, Allen, Kant’s Ethical Thought, Cambridge 1999, 291ff.

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Die Werke von Hermann Lübbe und Niklas Luhmann haben mit großer Wirkung die religionstheoretische Bedeutung des Begriffs der Kontingenz eingeschärft. 1 Eine problemgeschichtliche Analyse zeigt, dass die von Lübbe und Luhmann unter Anwendung ganz unterschiedlicher Theorien vorgebrachten Einsichten nicht neu sind. Vielmehr hatte schon Ernst Troeltsch das Problem der Kontingenz als philosophisches Zentralproblem formuliert, seine Geschichte seit der Scholastik rekonstruiert und die Aufklärung als diejenige Epoche identifiziert, in der innerhalb des Empirismus gegen den Rationalismus die Kontingenz der Erfahrungswelt betont worden sei. Ausdrücklich nimmt Troeltsch auf Immanuel Kant Bezug, der „bei allem prinzipiellen Rationalismus doch die verités de fait und die verités de raison oder auch den Rationalismus der Kategorien von der Kontingenz des Erfahrungsstoffes unterschieden“ 2 habe. In der Tat zeigt sich bei näherem Zusehen, dass das Problem der Kontingenz von Kant auf allen Ebenen seines philosophischen Denkens implizit und explizit präsent ist, auch in die Religions- und Christentumstheorie eingegangen ist und mit dem Verweis auf den Vorsehungsglauben einer letzten Lösung zugeführt worden ist. Diesem Zusammenhang von theoretischer, praktischer und ‚angewandter’ Philosophie bei Kant wird in der folgenden Studie nachgegangen. Der Anspruch, mit dem Hermann Lübbe und Niklas Luhmann ihre Philosophien jeweils versehen haben, nämlich Funktion der Aufklärung zu sein, wird hier an diejenige Philosophie zurückgebunden, 1

2

Vgl. Lübbe, Hermann, Religion nach der Aufklärung, Graz u.a. 21990; Luhmann, Niklas, Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1977; Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. III, Frankfurt a.M. 1989; Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002. Zu den problemgeschichtlichen Hintergründen vgl. von Scheliha, Arnulf: Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1999, 41-116. Primat der praktischen Vernunft, Freiburg i. B. 1971, 111-133, hier: 128. Troeltsch, Ernst: Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 769-778, hier: 773.

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die die Epoche der Aufklärung historisch und systematisch auf den Begriff gebracht hat.

1. Aufklärung als kritische Selbstreflexion der Vernunft Mit Kants Philosophie beginnt dasjenige Stadium der Epoche der Aufklärung, in der sie ihrer selbst durchsichtig wird. Zu diesem Vorgang gehört, dass sich das aufgeklärte Denken radikalisiert, insofern es bislang noch nicht durchschaute Denkvoraussetzungen problematisiert und seine genuinen Intentionen in allen Kultursphären zur Durchsetzung zu bringen trachtet. Kant definiert in seiner berühmten Programmschrift die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (WA, AA 8, 35). 3 Das menschliche Denken und Handeln emanzipiert sich in allen Bereichen von der Bindung an durch Tradition legitimierte Normen. Die Geschichte der Befreiung vom „Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (ebd.) greift auf alle Gebiete der Wirklichkeitserkenntnis und -gestaltung aus. Kant ist es, der in jener Wendung diese Intention der Aufklärung auf den Begriff bringt und damit die in sich durchaus vielschichtigen und z.T. widerstreitenden Denkbewegungen, die sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ihren Weg in allen Bereichen der menschlichen Kultur bahnen, begrifflich bündelt. Die spezifische Leistung, die Kant im Zuge der Auslegung des Begriffs der Aufklärung erbringt, besteht darin, dass er eine kritische Bestimmung der Reichweite eben jenes vernunftgeleiteten Denkens und Handelns vornimmt, das sich seiner Freiheit von den metaphysischen, sittlichen und religiösen Autoritäten bewusst ist. Die kritische Grenzbe3

Ich beziehe mich auf folgende Schriften Kants: „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himels [NTH, AA 1]; „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ [Anth, AA 7]; „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ [WA, AA 8, 33-42]; „Das Ende aller Dinge“ [EaD, AA 8]; „Der Streit der Facultäten“ [SF, AA 7]; „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ [RGV, AA 6]; „Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft“ [EEKU, AA 20]; „Kritik der Urteilskraft“ [KU, AA 5]; „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ [GMS, AA 4]; „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ [IaG, AA 8]; „Kritik der praktischen Vernunft“ [KpV, AA 5]; „Logik, (hg. von Jäsche)“ [Log, AA 9]; „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ [MAM, AA 8]; „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik“ [Prol, AA 4]; „Recensionen von I.G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ [RezHerder, AA 8]; „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ [ÜGTP, AA 8]; „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee“ [MpVT, AA 8]; „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ [TP, AA 8]; „Zum ewigen Frieden“ [ZeF, AA 8]; „Die Kritik der reinen Vernunft“ [KrV] wird nach der ersten (A) bzw. zweiten (B) Auflage zitiert.

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stimmung, die Kant unternimmt, unterscheidet sich methodisch und inhaltlich in grundlegender Weise von jenen Bindungen, die die Vernunft gerade abgestreift hatte. Denn die Vernunft bedient sich nun ihrer selbst, um sich über ihre Leistungskraft aufzuklären. Die kritische Vernunft ist vernünftige Selbstkritik. Die Aufklärung der Aufklärung ist Selbstaufklärung. Die reflexive Vernunft ist das Vehikel ihrer eigenen Autonomie. 4 In der Transzendentalphilosophie Kants kommt die auf Autonomie abzielende neuzeitliche Reflexionskultur zu sich selbst, weil die Vernunft ihre gesamte, auf Wirklichkeitserkenntnis und -gestaltung abgestellte Kraft auch auf sich selbst anwendet, um sich ihre Fähigkeiten und Grenzen zu vergegenwärtigen. 5 Die beiden Gesichtspunkte, die für Kants Verständnis der Aufklärung einschlägig sind, betreffen auch sein Verhältnis zur Religion. Die Kritik an den Gegenständen der traditionalen Religion wird von Kant am Maßstab der Vernunft durchgeführt. Auch darin vollendet Kant die Aufklärung. 6 Während noch Christian Wolff (1659-1754) die Vernunft der Offenbarung unterordnete, reduzierte dann die Neologie den Inhalt der Offenbarung beträchtlich, um noch von einer Harmonie von Glauben und Wissen sprechen zu können. Kant dagegen folgt Gotthold Ephraim Lessing (1744-1803) und verabschiedet die Religion aus dem Bereich des – im strengen Sinne – Wissbaren. Die Erkenntniskritik erschüttert auch den Vorsehungsglauben, der eine religiöse Grundkonstante der Aufklärungsepoche war. Für die aufgeklärte Philosophie und Theologie galt das Walten der göttlichen Vorsehung als Inbegriff der religiösen Grundierung der Wirklichkeit. In der zweckmäßigen Einrichtung der Welt kommt die höhere Notwendigkeit der göttlichen Vorsehung zum Ausdruck. Die Welt ist nicht kontingent, sondern dient im Großen wie im Kleinen der Darstellung der ihr inhärenten physiko-theologischen Teleologie. Der für die Stimmung der Aufklärung charakteristische Zug der Frömmigkeit besteht denn auch darin, Spuren der Providenz in der natur- und geschichtsphilosophischen Ge4

5

6

Diesen Gedanken hat Kant im ersten und umfänglichsten Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre der KrV entwickelt. Unter Disziplin versteht Kant „den Zwang, wodurch der beständige Hang, von gewissen Regeln abzuweichen, eingeschränkt, und endlich vertilgt wird“ (KrV, A 709/B 737). Kant operationalisiert den erkenntnistheoretischen Kritizismus und entwickelt die These, dass die Disziplin der reinen Vernunft Vehikel ihrer Autonomie ist. Denn die Vernunft in der Funktion ihrer transzendentalphilosophischen Selbstaufklärung kann und muss „diese Disziplin selbst ausüben […], ohne eine andere Zensur über sich zu gestatten“ (KrV, A 795/B 823). Zum Philosophieverständnis der Aufklärung vgl. Schneiders, Werner, Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters. Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant, in Viehaus, R. (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, 58-92. Vgl. Aner, Karl, Theologie der Lessingzeit, Halle a.d. Saale 1929.

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samtschau ebenso wie in der unmittelbaren Umwelt und in der intimsten Lebensgeschichte zu suchen und zu finden. Den ersten Schlag gegen die im Vorsehungsglauben ausgedrückte Überzeugung von der zweckmäßigen Einrichtung der Welt und ihrer Teile durch Gott führt jedoch schon das Erdbeben von Lissabon 1755 aus, dessen Wirkung durch Voltaires „Candide“ vervielfältigt wird. Sodann erleidet die physiko-theologische Naturauffassung durch die erfahrungswissenschaftliche Durchdringung der Wirklichkeit weitreichende Plausibilitätseinbußen. 7 All dies bewirkt, dass der These, nach der der providentiell gebündelte Natur- und Geschichtsverlauf auf das Wohl des Menschen abgestellt sei, zunehmend der erlebnismäßige Untergrund entzogen wird. Das wachsende Interesse an der Theodizee drückt diese Entwicklung aus.8 Auch die aufgeklärte Betrachtung der humanen Geschichte kann sich einer religiösen Unterfütterung weitgehend entschlagen. Die Kirche wird nicht mehr wie selbstverständlich als die Anstalt der Heilsvermittlung, sondern als sozio-historisches Phänomen aufgefasst. Die menschliche Kulturbewegung gilt nicht mehr als Ausdruck supranaturaler Einwirkungen himmlischer Mächte, sondern wird pragmatisch gedeutet. Ihr Verlauf erklärt sich aus rein innerweltlichen Ursachen, die auch die Religionsgeschichte bestimmen. Die Interpretation des Gesamtsinns der Geschichte wendet sich von den biblischen Schemata ‚Schöpfung-Fall-Erlösung-Vollendung’ oder ‚Alter Bund-Neuer Bund’ ab und legt sich die menschliche Geschichte als ‚Erziehung des Menschengeschlechts’ zurecht: die humane Kulturbewegung führt aus rohen Anfängen empor zur Bildung allgemeiner Humanität und Ausfaltung der inneren Möglichkeiten des Menschen. Die Bedeutung der den Vorsehungsbegriff verwendenden religiösen Interpretation der Wirklichkeit sinkt entweder zu bloßem „rhetorischen Schmuck“ 9 herab oder gibt höchstens noch „einen Endeindruck auf das Gemüt“ 10 wieder. Kant tritt das Erbe der radikalisierten Emanzipation von der im aufgeklärten Vorsehungsglauben ausgedrückten religiösen Grundierung der Wirklichkeit an. Ein wesentliches Ziel seiner Philosophie besteht in der Vergewisserung des erfahrungswissenschaftlichen Objektbewusstseins, das am Paradigma der aufkommenden Naturwissenschaften entwickelt und transzendentalphilosophisch begründet wird. Dieses Interesse signalisiert, dass die kritische Philosophie als ‚Theorie der Erfahrung’ 11 indirekt 7

8 9 10 11

Vgl. dazu Udo Krolzig: Säkularisierung der Natur. Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis der Frühaufklärung, Neukirchen-Vluyn 1988. Kant selbst hat diese Entwicklung in „Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee“ zusammenfassend resümiert (vgl. MpVT, AA 8, 253-271). Aner, Theologie der Lessingzeit, (s. Anm. 6), 334. Ebd. Vgl. Cohen, Hermann, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1871.

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auch deren Gegenständen verpflichtet ist. Gerade weil die kritisch begrenzte Vernunft von Kant exklusiv als „Maß und Richtschnur“ 12 der Wirklichkeitserkenntnis, -gestaltung und schließlich des Glaubens erhoben wird, ist sie – in unterschiedlicher Weise – nicht nur auf die Dinge der Natur, sondern auch der Geschichte und der Religion bezogen. Es ist das Verdienst Troeltschs daraufhingewiesen zu haben, daß Kant auch an der „Genesis des modernen historischen Sinnes“ 13 partizipiert, die nach Troeltsch im 18. Jahrhundert anzusetzen ist. Kant forciert das Interesse seiner Epoche an der historischen Aufklärung über ihr Gewordensein. Wenn „man Hobbes und Locke, Voltaire, Hume und Rousseau kennt, so zeigt sich bei Kant […] ein fortgeschrittenes, an Tiefe, Weite und Feinheit über diese Begründer der modernen Geschichtsphilosophie hinausgehendes Interesse und Verständnis, eine völlige Antecipation des modernen historischen Gedankens zugleich mit der Einsicht, dass eine bloss empirische Geschichtsforschung zu zunehmenden Relativismus führen müsse, dem nur eine fest gegründete, rational-geschichtsphilosophische Theorie über Ziel und Entwickelungsgang der Geschichte seine trostlosen Wirkungen nehmen kann“. 14 Daher ist Kants streng rationale, auf die apriorischen Bedingungen von Erkenntnis gerichtete Philosophie nicht in einen Gegensatz zur Geschichtserkenntnis zu bringen, sondern als der Versuch einer Klärung ihrer Voraussetzungen einzustufen. Gleiches gilt für die Auffassung der Religion. Schon die Tatsache, dass Kant die Ideen der christlichen Religion nicht verabschiedet, sondern einer kritischen „Umbildung“ 15 unterzieht, bezeugt sein affirmatives Interesse an der geschichtlichen Religion. Um ihrer lebensweltlichen Bedeutung willen sucht er „im rationalen Apriori-Gehalt der Religion auch die giltige Wahrheit der Religion“ 16 zu erweisen. In der Kombination seines Interesses an den kontingenten Gegenständen der Erfahrungswelt mit der transzendentalphilosophischen Bestimmung derjenigen Vermögen, die diese Erfahrungswelt konstituieren, liegt Kants spezifische Leistung, die ihn aus der Aufklärung heraushebt. Die Fortwirkungen seines Denkens auf die protestantische Theologie sind so weitreichend, dass keine Neubestimmung der Vorsehungslehre an Kants erkenntniskritischer Bestimmung des Erfahrungsbegriffs, die auch die Bedingungen für die religiöse Wirklichkeitsdeutung innerhalb des neuzeitlichen Denkens formuliert, 12

13 14 15 16

Hirsch, Emanuel, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bde., Gütersloh 1949-1954, Nachdruck Münster 1985, hier: IV, 321. Troeltsch, Ernst, Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, Berlin 1904, hier: 27 A1. A.a.O. 30. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV, (s. Anm. 12), 323. Troeltsch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie, (s. Anm. 13), 29.

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vorbeigehen kann: Die in der klassischen Dogmatik mit der Vorsehungslehre verbundenen Themen einer Kosmologie (Schöpfungslehre), die subtilen Spekulationen über die göttliche Erhaltung der Welt und vor allem der als ‚Offenbarung’ aufgefasste religiöse Supranaturalismus sind grundlegend erschüttert. Doch Kant hat in methodischer Hinsicht auch einen neuen theologischen Theorietyp freigesetzt. Die Theologie, die sich, wie etwa die Schleiermachers, als Theologie nach Kant versteht, fundiert methodisch die Theorie des Christentums in einem allgemeinen Religionsbegriff. 17 Sein bleibendes Interesse an der ‚guten Sache’ der Religion hat Kant selbst vielfach und, werkgeschichtlich betrachtet, früh ausgesprochen. Bereits in der Schrift „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ von 1755 kritisiert er die kosmologische Auslegung des Vorsehungsbegriffs. Die ihm in der klassischen Dogmatik zugewiesene Funktion eines ‚Lückenbüßers’ für naturwissenschaftlich noch nicht erschlossene, grundsätzlich jedoch erschließbare Sachverhalte treibt für Kant die Religion in den Ruin: „Die ganze Natur, vornehmlich die unorganisirte, ist voll von solchen Beweisen, die zu erkennen geben, daß die sich selbst durch die Mechanik ihrer Kräfte bestimmende Materie eine gewisse Richtigkeit in ihren Folgen habe […]. Wenn ein Wohlgesinnter, die gute Sache der Religion zu retten, diese Fähigkeit der allgemeinen Naturgesetze bestreiten will, so wird er sich selbst in Verlegenheit setzen und dem Unglauben durch eine schlechte Vertheidigung Anlaß zu triumphiren geben“ (NTH, AA 1, 224f; vgl. ÜGTP, AA 8, 172. 178). Religion kann nicht in Konkurrenz zur Naturerkenntnis treten. Daher verweist Kant die Religion auf ihr eigenes Feld. Die im Vorsehungsbegriff gebündelte religiöse Dimension der Naturbetrachtung verbindet er, wie später Schleiermacher, weniger mit der Idee ihrer extramundanen Gegründetheit als mit Regelmäßigkeit der natürlichen Abläufe (vgl. NTH, AA 1, 228). Vierzig Jahre später hat Kant in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ diese Kritik an der unmittelbar-kosmologischen Deutung mundaner Sachverhalte mittels des Vorsehungsbegriffs wiederholt. Er rekapituliert in diesem Zusammenhang die von Augustin stammende und in der christlich-dogmatischen Tradition vielfach modifizierte schulmäßige Einteilung des Begriffs in providentia conditrix, gubernatrix, directrix ordinaria bzw. extraordinaria, universalia specialia bzw. specialissima. Ebenso ihre direkte wie (vermittels der Vorstellung vom concursus divinus) indirekte Anwendung auf einzelne Begebenheiten mit dem Ziel, diese „als solche erkennen 17

Vgl. Troeltsch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie, (s. Anm. 13), 29 und zur Durchführung dieser These Barth, Ulrich, Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhangs von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion, Göttingen 1983.

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zu wollen“, sei, so führt er aus, „thörichte Vermessenheit des Menschen […]: weil aus einer einzelnen Begebenheit auf ein besonderes Princip der wirkenden Ursache […] zu schließen ungereimt und voll Eigendünkel ist, so fromm und demüthig auch die Sprache hierüber lauten mag“ (ZeF, AA 8, 361A). Die zur modernen Naturwissenschaft methodisierte Naturerkenntnis wird von religiös-dogmatischen Prämissen befreit. Die Natur ist nicht Ausdruck göttlicher Notwendigkeit, sondern der Bereich von Kontingenzerfahrung. Freilich erteilt Kant der religiösen Valenz von Natur-, Geschichts- und Selbsterfahrung keine vollständige Absage. Vielmehr behält auch der Vorsehungsbegriff eine bestimmte Funktion im Rahmen der religiösen Interpretation des Lebens. Kant hebt den Begriff jedoch aus der Naivität, mit der er im Aufklärungszeitalter z.T. hochinflationär verwendet wurde, heraus und führt ihn einer präzise bestimmten Funktion zu. Sie kann jedoch erst in einem Akt kritischer Selbstaufklärung der Vernunft erhellt werden. Dass innerhalb der vernünftigen Selbstaufklärung die religiöse Dimension von Kant angesprochen wird, geht schon aus der architektonischen Disposition seines Hauptwerkes, der „Kritik der reinen Vernunft“ hervor. Sie zeigt, dass die philosophische Rechenschaft über die empirische Reichweite und über „die Grenzen des Sinns“ 18 sich nicht mit der Restriktion der spekulativen Bedürfnisse der menschlichen Vernunft begnügen kann. Vielmehr findet der erkenntnistheoretische Kritizismus seinen höchsten Zweck in der Einsicht, dass der „Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs gewisser Erkenntnisvermögen“ (KrV, A 796/B 824) dorthin ausläuft, wo orientierende Antworten auch auf die Fragen „Was soll ich tun?“ und „Was darf ich hoffen?“ gegeben werden (KrV, A 805/B 833). Die Philosophie Kants intendiert eine umfassende Analyse der menschlichen Vernunft, die die praktische und religiöse Dimension menschlichen Selbstverständnisses in die philosophische Rechenschaft einbezieht und einer Neubestimmung zuführt. Dies wird an der transzendentalen Methodenlehre von Kants Hauptwerk deutlich. Versteht man Kants KrV in der Doppelsinnigkeit des Genetivs als Unternehmen kritischer Selbstaufklärung der Vernunft, dann bekommt die transzendentale Methodenlehre, die den zweiten Hauptteil der KrV umfasst, besonderes Gewicht. Denn hier nimmt die auf Selbstdurchsichtigkeit zielende Vernunft einen Perspektivenwechsel von der theoretischen zur praktischen Sphäre vor, durch den – über weitere Vermittlungsschritte – auch Religion und Geschichte in den Horizont der vernünftigen Selbstbesinnung treten. Es wird daher interpretatorisch an dieser Schnittstelle eingesetzt, zumal sich inhaltlich zeigen wird, dass hier bereits die 18

Strawson, Peter F., Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft (1966), Königsstein/Ts. 1981.

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entscheidenden Einsichten enthalten sind, die Kant in seinen anderen Schriften breit ausgeführt hat. 19 In der knappen Einleitung zur „transzendentalen Methodenlehre“ resümiert Kant das epochale Ergebnis der erkenntniskritischen Selbstanalyse der Vernunft in einem – von ihm mehrfach aufgegriffenen (vgl. KrV, B 7. 9) – Bild: „Wenn ich den Inbegriff aller Erkenntnis der reinen und spekulativen Vernunft wie ein Gebäude ansehe, dazu wir wenigstens die Idee in uns haben, so kann ich sagen, wir haben in der transzendentalen Elementarlehre den Bauzeug überschlagen und bestimmt, zu welchem Gebäude, von welcher Höhe und Festigkeit er zulange. Freilich fand es sich, daß, ob wir zwar einen Turm im Sinne hatten, der bis an den Himmel reichen sollte, der Vorrat der Materialien doch nur zu einem Wohnhause zureichte, welches zu unseren Geschäften auf der Ebene der Erfahrung gerade geräumig und hoch genug war, sie zu übersehen; daß aber jene kühne Unternehmung aus Mangel an Stoff fehlschlagen mußte, ohne einmal auf die Sprachverwirrung zu rechnen, welche die Arbeiter über den Plan unvermeidlich entzweien, und sie in alle Welt zerstreuen mußte, um sich, ein jeder nach seinem Entwurfe, besonders anzubauen“ (KrV, A 707/B 735).

Das Bild vom gescheiterten Turmbau erfasst die beiden Richtungen, in die das Ergebnis von Kants kritischer Erkenntnistheorie zu beschreiben ist. In positiver Hinsicht geht es um die Theorie der Erfahrung, die Kant als ‚Herzstück’ im ersten Teil der transzendentalen Elementarlehre der Kritik, in Ästhetik, Logik und Analytik grundgelegt und entfaltet hatte. In kritischer Hinsicht deutet Kant, auf die alttestamentliche Geschichte vom Turmbau zu Babel (Gen 11, 1-9) anspielend, das Ergebnis seiner im zweiten Teil der Elementarlehre durchgeführten Kritik an der klassischen Metaphysik und der von ihr hervorgebrachten Ideen von Seele, Welt und Gott an. Es zeugt von formaler Eleganz, dass Kant seine Zerstörung der theologia rationalis et naturalis, vordem ein Grundpfeiler der christlichen Dogmatik, im Medium der religiösen Metapher formuliert und damit – neben den rationalen Kriterien, die Kant in der transzendentalen Dialektik ansetzt – auch den im Grunde genommen areligiösen Charakter der üblichen Gottesbeweise zur Geltung bringt. Man kann dies als einen versteckten Hinweis auf Kants These, nach der die Kritik der Metaphysiklastigkeit der traditionalen Dogmatik ein Beitrag zur Befreiung der Religion zu sich selbst ist, auffassen.

19

So, trotz seiner Betonung des heterogenen und fragmentarischen Charakters von Kants Entwürfen zur Religion, auch Schweitzer, Albert, Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1899), Hildesheim [u.a.] 1990: Die religionsphilosophische Skizze in KrV „weist auf die Zukunft und enthält die ganze kommende Entwickelung gleichsam in nuce“ (70).

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2. Das Erfahrungsbewusstsein und die Kontingenz seiner Gegenstände und Vermögen Die Metapher vom zureichend hohen und geräumigen Wohnhaus bezieht sich auf die von Kant inaugurierte „gänzliche Revolution“ (KrV, B XXII) auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie, die er auch als kopernikanische Wende hat beschreiben können (vgl. KrV, B XVIf., XXIIf.). Seine grundlegende These besteht darin, dass Gegenstandsbewusstsein nur dann als gesichert gelten kann, wenn die Prinzipien der Objekterkenntnis nicht der kontingenten Gegenstandswelt, sondern dem erkennenden Subjekt entnommen sind. Die Rekonstruktion der notwendigen und apriorischen Strukturen des erkennenden Geistes ist die Aufgabe der Transzendentalphilosophie in theoretischer Hinsicht. Im Ergebnis führt sie zu einer transzendentalphilosophischen Legitimation der naturwissenschaftlichen Forschung. Der transzendentale Idealismus fördert den „sicheren Gang einer Wissenschaft“ (KrV, B XIX) deswegen, weil er zeigen kann, dass die invarianten Strukturen der Naturwelt Ausdruck der formalen Ausrüstung des erkennenden Geistes sind. Es sind vor allem die beiden voneinander unabhängigen und nicht aufeinander reduzierbaren Erkenntnisstämme, deren Kooperation Erfahrung konstituiert. Der erkennende Geist rezipiert einerseits Daten der sinnlichen Wahrnehmung, die durch das Vermögen der Anschauung nach den Formen Raum und Zeit koordiniert werden. Zum Aufbau von Objektbewusstsein kommt es, wenn durch spontane Tätigkeit des Verstandes Einheit in das solchermassen raumzeitlich koordinierte Anschauungsmannigfaltige gebracht wird. Vermittels der – durch die Einbildungskraft als Subvermögen des Verstandes ermöglichten – Anwendung der logischen Funktion der Urteile auf das Anschauungsmannigfaltige wird das darin Gegebene kategorisiert. Die solchermaßen schematisierten Begriffe des reinen Verstandes sind die Kategorien. Sie sind nichts anderes als „Funktionen zu urteilen, sofern das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung in Ansehung ihrer bestimmt ist“ (KrV, B 143). Wegen dieser ihrer Synthesistätigkeit stellen sie die hinreichende Bedingung der Möglichkeit von Objektbewusstsein dar. Die im Strudel der rezipierten, bloß raumzeitlich koordinierten Daten der sinnlichen Wahrnehmung Einheit und Objektivität stiftende Synthesisfunktion des Verstandes ist selbst begründet im Jemeinigkeitsbewusstsein der Verstandestätigkeit, das Kant die synthetische Einheit der Apperzeption nennt. „Das Ich denke“, das „alle meine Vorstellungen begleiten können“ (KrV, B 131, HiO) muss, ist diejenige Funktion des Selbstbewusstseins, indem alle Verstandestätigkeit, und damit jede Erfahrung, ihren Ursprung hat. Erfahrung kommt zustande, indem durch die Sinne vermitteltes Anschauungsmannigfaltiges durch den Verstand kategorial erfasst wird. Um-

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gekehrt vertritt Kant die Restriktionsthese, dass die Reichweite des erkennenden Geistes beschränkt ist auf die Bereitstellung der notwendigen apriorischen Strukturen mit der Funktion der Einheitsstiftung im Anschauungsmannigfaltigen. Das setzt voraus, dass er durch ein gegebenes Faktum, das über die Anschauung gegenwärtig wird, affiziert werden muss. Diese Affektion ist gegenüber den apriorisch vorausgesetzten Strukturen des erkennenden Geistes kontingent: „Die Bedingungen a priori der Anschauung sind […] in Ansehung einer möglichen Erfahrung […] notwendig, die des Daseins der Objekte einer möglichen empirischen Anschauung an sich nur zufällig“ (KrV, A 160). 20 Das Materiale der Anschauungsmannigfaltigkeit ist „das transzendentallogisch Zufällige“. 21 Gerade die Zufälligkeit der möglichen Objekte der Erfahrung liefert Kant das entscheidende Argument dafür, dass der Maßstab ihrer Verknüpftheit und Objektivität nicht noch einmal der Wahrnehmung entnommen, sondern in der Subjektivität des erkennenden Geistes aufgesucht werden muss: „Nun kommen […] in der Erfahrung die Wahrnehmungen nur zufälligerweise zueinander, so, daß keine Notwendigkeit ihrer Verknüpfung aus den Wahrnehmungen selbst erhellt, noch erhellen kann, weil Apprehension […] keine Vorstellung von der Notwendigkeit der verbundenen Existenz der Erscheinungen“ (KrV, B 219) ist. Erst durch die apriorischen Erkenntnisfunktionen wird das kontingente, sinnlich gegebene brutum factum als Objekt der Erfahrung gesichert. Jede empirischrelevante Erfahrung ist also eine Synthesis von Kontingenz (der affizierenden Wahrnehmung) und Notwendigkeit (der Einheitsstiftung qua Kategorisierung). Weil die Kategorien als Bedingung der Möglichkeit von Objektbewusstsein gelten, kann Kant formulieren, dass sie „der Natur, als dem Inbegriffe aller Erscheinungen […], Gesetze a priori vorschreiben“ (KrV, B 163). In diesem Sinn ist Natur auf notwendige Gesetzmäßigkeit gebrachtes kontingentes Mannigfaltiges der sinnlichen Anschauung. Erkennen bedeutet, dass das durch kontingente Affektion vorstellige Anschauungsmannigfaltige nach Maßgabe der Erkenntnisstrukturen als Erkenntnisobjekt zur Erscheinung gebracht und in ein der Form nach allgemeines und notwendiges Urteil überführt wird. Erfahrung ist, so könnte man sagen, der grundsätzlichste Fall der Verarbeitung von Kontingenz. Diese allgemeinste Weise von Kontingenzverarbeitung verdankt sich einer synthetischen Bewusstseinsleistung. Das Gegebene wird nicht so, wie es an sich selbst ist, erkannt, sondern es wird nach Maßgabe der aprio20

21

Vgl. die Wendung: Erscheinungen sind „zufällige Vorstellungsarten intelligibler Gegenstände“ (KrV, A 566/B 594). Lask, Emil, Fichtes Idealismus und die Geschichte (1902), in: Gesammelte Schriften Bd. I, Tübingen 1923, 1-273, hier: 42.

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rischen Strukturen des erkennenden Bewusstseins von diesem vorgestellt. 22 Das erscheinende Objekt ist, sofern es sinnlich gegeben ist, empirisch kontingent. Sofern es als Objekt nach Maßgabe der apriorischen Erkenntnisvermögen bestimmt wird, ist es empirisch notwendig. 23 Die Kontingenzverarbeitung des Erfahrungsbewusstseins auf dieser Stufe kann also als eine Synthese von Kontingenz und Notwendigkeit beschrieben werden. Um die mit der Theorie der Zweistämmigkeit der Erkenntnis verbundene Produktivität des erkennenden Bewusstseins hervorzuheben, führt Kant die transzendentale Unterscheidung von ‚Erscheinung’ und Ding-ansich ein. Das empirisch ebenso notwendige wie kontingente Objekt wird von dem Ding-an-sich selbst betrachtet 24 unterschieden, das vom Bewusstsein nicht zur Erscheinung gebracht wird. Der Begriff des Ding-ansich drückt die Selbstaufklärung des Erfahrungsbewusstseins über die 22 23

24

„Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen, die, nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind“ (KrV, B 164). Vgl. zur Identität von empirischer Notwendigkeit und empirischer Kontingenz Cramer, Konrad, Kontingenz in „Kants Kritik der reinen Vernunft“, in: Tuschling, B. (Hg.), Probleme der „Kritik der reinen Vernunft“. Kant-Tagung Marburg 1981, Berlin/New York 1984, 143-160. Gerold Prauss hat gezeigt, dass die Rede vom Ding-an-sich eine – schon bei Kant selbst bisweilen bemerkbare – unzulässige Verkürzung und Verunklarung der streng reflexionslogisch aufzufassenden Differenz von ‚Erscheinung’ und Ding-an-sich ist. Schon durch reine Wortstatistik werde sichtbar, dass diese Unterscheidung begrifflich präzise und vollständig wiedergegeben werden muss als: ‚Ding als Erscheinung betrachtet’ einerseits und ‚Ding an sich selbst betrachtet’ andererseits. Daran wird deutlich, dass die Rede vom sogenannten Ding-an-sich aus transzendentalphilosophischer Perspektive heraus formuliert wird, die die erkenntniskritische Rekonstruktion der Zweistämmigkeit des Erfahrungsbewusstseins hinter sich hat. Sie ist eine hochstufige Reflexion auf das Ergebnis der Kantischen Erkenntnistheorie, nach der Objektbewusstsein durch kategoriale Erfassung von raumzeitlich zur Erscheinung gebrachten sinnlichen Data zustandekommt. Wird das Ding-an-sich selbst betrachtet, so vollzieht die Vernunft nichts anderes, als dass sie methodisch davon absieht, dass Dinge nur als Erscheinungen gegeben und damit nur so wirklich sind: „Dasjenige, wovon jeweils abgesehen wird, wenn man die Dinge an sich selbst betrachtet, ist genau dies, daß sie als Erfahrungsdinge jeweils Gegenstände von Sinnlichkeit und Verstand eines Subjektes sind. Da eben darin aber gerade der Grund lag, sie als Erscheinungen zu betrachten, heißt Dinge an sich selbst betrachten gar nichts anderes als genau von diesem ihrem Erscheinungscharakter auch wieder abzusehen, sie auch wieder nicht als Erscheinungen zu betrachten. […] Die Dinge ‚an sich selbst’ betrachten heißt mithin nichts anderes als die Dinge ‚nicht als Erscheinungen’ zu betrachten“ (Prauss, Gerold, Zur Problematik der Dinge an sich, in: Funke, G. (Hg.), Akten des 4. internationalen Kant-Kongresses Mainz 1974, Teil II, 1: Sektionen, Berlin/New York 1974, 222-239, hier: 235). Dieser, die Dinge an sich selbst betrachtende Reflexionsschritt setzt also den ersten, demzufolge die Dinge immer schon als Erscheinung betrachtet worden sein müssen, voraus. Das ‚An-sich(-selbst)(betrachtet)’ ist bloß positives Korrelat zu seinem negativen Bezug (vgl. KrV, A 494/B 522). Strikt hält Kant daran fest, dass die Dinge an sich keine Gegenstände der Erfahrung sind und das transzendentale Objekt als „bloßes Gedankending“ (KrV, A 566/B 594) zu bezeichnen ist.

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Konstruktivität seiner Kontingenzverarbeitung aus, welche darin besteht, zur Hervorbringung der Vorstellung notwendige Strukturen zur Anwendung zu bringen. Der transzendentale Begriff eines Ding-an-sich ist aber selbst noch einmal ein, wenn auch anderer, Fall von Kontingenzerfahrung. Weil es eben nicht erkannt werden kann, repräsentiert das Ding-ansich einen Sachverhalt absoluter Kontingenz. Im transzendentalphilosophischen Begriff hält Kant damit die Grenzen des Rationalisierbaren fest. Kants sogenannter Rationalismus ist ein kontrollierter Umgang mit dem Irrationalen. 25 Dieser Sachverhalt verdichtet sich am Selbstbewusstsein. Wenn es im inneren Sinn vermittels Selbstaffektion zur Selbsterfahrung des erkennenden Bewusstseins kommt, ist das Selbst an die grundsätzliche Zweistämmigkeit seines Erkenntnisvermögens gebunden: „[…] aber die Bestimmung meines Daseins kann nur […] gemäß nach der besonderen Art, wie das Mannigfaltige, das ich verbinde, in der inneren Anschauung gegeben wird, geschehen, und ich habe also demnach keine Erkenntnis von mir wie ich bin, sondern bloß wie ich mir selbst erscheine. Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht ein Erkenntnis seiner selbst“ (KrV, B 157f, HiO). 26 Die Selbstvergegenwärtigung erschließt nicht das Ich an sich. Das Selbstbewusstsein wird seiner nicht vollständig durchsichtig, sondern es bleibt sich wegen der Unerkennbarkeit seiner An-Sichheit grundsätzlich verschlossen. Nun wird auch im empirischen Bewusstsein des Selbst nichts vorgestellt, „wenn nicht zugleich ein Wissen, daß Ich habe, und im Haben bin, stets (als mögliches oder wirkliches Bewußtsein) dem zugrunde liegt“.27 Die Vorstellung vom Selbst setzt eine stetige Instanz, die „transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins“ (KrV, B 132) voraus. Diese „ursprüngliche Apperzeption“ (ebd.) hat die Funktion, die identische Meinigkeit der Vorstellungen vom Selbst zu begründen. Im Selbstbewusstsein ist sich das Ich der Vorstellungen, die es von sich hat, als seiner Vorstellungen von sich 25

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Zwar ist die Unterscheidung von ‚Erscheinung’ und Ding an sich eine der Transzendentalphilosophie. Doch ist Kant der Meinung, dass auch „der gemeinste Verstand“ von der Einsicht ausgeht, „daß alle Vorstellungen […] uns die Gegenstände nicht anders zu erkennen geben, als sie uns afficieren, wobei, was sie an sich sein mögen, uns unbekannt bleibt“ (GMS, AA 4, 450f). Vgl. GMS, AA 4, 451: „[…] nach der Kenntnis, die der Mensch durch innere Empfindung von sich hat, darf er sich nicht anmaßen zu erkennen, wie er an sich selbst sei“. In seiner vorkritischen Phase hatte Kant noch angenommen, „daß im Ich-denke jedes einzelne Subjekt unmittelbar sich selbst als seiende Substanz ergreife und so direkten Zugang gewinne zum Substantiell-Realen überhaupt“ (Heimsoeth, Heinz, Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der Kantischen Philosophie (1924), in: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und Ontologische Grundlagen, Köln 1956 (KantSt.E 71), 227-257, hier: 231; vgl. 231-234). Heimsoeth, Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich, (s. Anm. 26), 235.

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bewusst und zwar so, dass es sich als die Instanz der Einheit stiftenden Verbindung der Vorstellungen von sich weiß. Die Einheit des Selbstbewusstseins ist zugleich die „objektive Bedingung aller Erkenntnis […] unter der jede Anschauung stehen muß, um für mich Objekt zu werden“ (KrV, B 138). Jedoch bleibt die transzendentale Apperzeption auf ihre Funktion beschränkt, das Bewusstsein der Identität seiner selbst als Bedingung jedweder Synthesisleistung des Verstandes zu begründen. Das „Ich denke“ ist „das Vehikel aller Begriffe überhaupt“ (KrV, A 341/B 399; vgl. KrV, B 406), das „nur dazu dient, alles Denken, als zum Bewußtsein gehörig, aufzuführen“ (KrV, A 341/B 399f). Für sich selbst ist es eine „an Inhalt gänzlich leere Vorstellung […], ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet […], nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken […] = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können“ (KrV, A 345f/B 404). 28 Das reine Selbstbewusstsein gelangt nicht weiter als zur spontanen Vergegenwärtigung der reinen Spontaneität des Denkens selbst. Es ist nichts mehr als das reflexive SichErfassen der Spontaneität des Denkens, indem sich die Tätigkeit des Verbindens auf sich selbst bezieht. Darin ist es ein schlechthin allgemeines und einer individuierenden Selbstbestimmung nicht fähig. 29 Vielmehr bin ich „im Bewußtsein meiner Selbst beim bloßen Denken […] das Wesen selbst, von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist“ (KrV, B 429). 30 Kant vertritt ein Modell einer Theorie des Selbstbewusstseins, das grundsätzlich von der Objektbezüglichkeit und – damit verbunden – von der inneren Opakheit des Selbstbewusstseins ausgeht. Das Selbst kann sich nicht anders vergegenwärtigen, als dass es sich verobjektiviert. Wenn es sich solchermaßen als empirisches Selbstbewusstsein erfasst, bleibt es den Bedingungen der Zweistämmigkeit des Erfahrungsbewusstseins verhaftet. Bezieht sich das Selbst im Aufbau von Objektbe-

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„Das mit sich selbst identische, im Vorstellungsfluß beharrende Ich der Apperzeption hat seinen ganzen Sinn in der synthetischen Funktionalität; es wird zum leeren oder toten Abstraktum, wenn es, für sich allein und ohne tiefere Erfüllung, zur einfachen, gleichsam nur punktuellen und insofern unauflöslichen, also ‚unsterblichen’ Substanz gestempelt wird“ (Heimsoeth, Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich, [s. Anm. 26], 240). Dagegen versucht Heimsoeth den Individualitätsgedanken in die transzendentale Apperzeption hineinzulesen (vgl. Heimsoeth, Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich, [s. Anm. 26], 241). Weiterführung auf den Gedanken der Intersubjektivität: „Nun kann ich von einem denkenden Wesen durch keine äußere Erfahrung, sondern bloß durch das Selbstbewußtsein die mindeste Vorstellung haben. Also sind dergleichen Gegenstände nichts weiter, als die Übertragung dieses meines Bewußtseins auf andere Dinge, welche nur dadurch als denkende Wesen vorgestellt werden […] seiner bloßen Möglichkeit nach […] (es mag dergleichen nun existieren oder nicht)“ (KrV, A 347/B 405).

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wusstsein auf die darin liegende eigene Spontaneität 31 , gelangt es nicht weiter als zur reflexiven Vergegenwärtigung des eigenen – und inhaltlich leeren – Vollzugs dieser Spontaneität. In keinem Fall erzielt es Durchsichtigkeit in bezug auf sein ‚An-Sich-Sein’. Auch das Ich-an-sich steht außerhalb der Grenzen des Sinns. Es ist ein Fall absoluter Kontingenz, während die empirische Selbstvorstellung sein zur Erscheinung gebrachtes Ich nur als kontingent hinnehmen kann. 32 Auf der Ebene der Theorieform entspricht diesem Befund Kants Vermögens- bzw. Prinzipienpluralismus. Beide Radikalvermögen der Erkenntnis können nicht aus einem höheren Prinzip abgeleitet werden. 33 „Allein es läßt sich sehr leicht darthun, und seit einiger Zeit hat man es auch schon eingesehen, daß dieser, sonst im ächten philosophischen Geiste unternommene Versuch, Einheit in diese Mannigfaltigkeit der Vermögen hineinzubringen, vergeblich sey“ (Erste Einleitung in die KU: EEKU, 31

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Objektbezug ist Voraussetzung für den Aufbau von Selbstbewusstsein überhaupt: „Wie […] diese eigenthümliche Eigenschaft unsrer Sinnlichkeit selbst oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Denken zum Grunde liegenden nothwendigen Apperception möglich sei, läßt sich nicht weiter auflösen und beantworten, weil wir ihrer zu aller Beantwortung und zu allem Denken der Gegenstände immer wieder nöthig haben“ (Prol, AA 4, 318). Vgl. Sommer, Manfred: Mit dem Zufall leben, Mit dem Zufall leben. Überlegungen zu Kants Moralphilosophie, in: NHP 22 (1983), 95-112. Vgl. dazu die Erwägungen von Dieter Henrich: „Der Gedanke, […] daß die Subjektivität sich aus mehreren voneinander unabhängigen, in ihrer wechselseitigen Beziehung kontingenten Faktoren konstituiert, wird […] von Kant […] als eine Möglichkeit genommen, die am Ende aller Einsicht offen bleibt“ (Henrich, Dieter, Über die Einheit der Subjektivität, in: PhR 3 (1955), 28-69, hier: 33). Henrich setzt sich mit der bekannten Interpretationsthese Martin Heideggers auseinander, nach der die Einbildungskraft „vielleicht“ die „gemeinschaftliche[ ], aber uns unbekannte[ ] Wurzel“ (A 15) der beiden basalen Erkenntnisvermögen Sinnlichkeit und Verstand sei. Henrich weist nach, dass Kant mit jenem „vielleicht“, mittels dessen er die Möglichkeit dieser jedoch unerkennbaren Wurzel einräumt, nicht den Anstoß zu idealistischer Spekulation, zu der Henrich der Problemstellung nach auch Heidegger zählt (vgl. 55), liefern wollte, sondern eine von Locke, der eine irreduzible Pluralität der Seelenvermögen vertrat, über Leibniz, Wolff und Baumgarten, die die Pluralität der Seelenvermögen auf eine wesentliche Grundkraft zu reduzieren trachteten, zu Andreas Rüdiger, Christian August Crusius und Johann Nikolaus Tetens verlaufende Diskussion resümiert. Kants Rekurs auf die Kritik der letztgenannten erhellt, dass sich seine Kritik am Kräftemonismus nicht spezifisch kritizistischen Einsichten verdankt. Vielmehr ergibt sich die transzendentalphilosophische Mittellage Kants zwischen monistischer Reduktion einerseits und bloßer Pluralitätsbehauptung andererseits aus dem von Kant in der transzendentalen Dialektik rekonstruierten Einheitsbedürfnis der Vernunft, das bloß hinsichtlich seiner konstitutiven Funktion kritisiert, in seiner regulativen Funktion zugelassen wird. Auf sie bezieht sich nach Henrich das „vielleicht“ bezüglich einer gemeinschaftlichen Wurzel. Das entscheidende systematische Argument Henrichs gegen die Selbständigkeit, ja Prävalenz der Einbildungskraft gegenüber Sinnlichkeit und Verstand besteht darin, dass ein (freilich leeres) Fungieren von Sinnlichkeit und Verstand je für sich denkbar, wohingegen eine Aktion der Einbildungskraft ohne die von Sinnlichkeit und Verstand bereitgestellten Objekte nicht denkbar ist (vgl. 52f).

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AA 20, 206). Während das transzendentale Bedingungs- und Vermögensgefüge als a priori notwendig erschlossen werden kann, lässt sich von „der Eigentümlichkeit unseres Verstandes […] nur vermittels der Kategorien […] Einheit der Apperzeption a priori zustande […] bringen, […] ebensowenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu urteilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind“ (KrV, B 145f). Die Vernunft setzt sie, ebenso wie sich selbst, im Vollzug der Selbstaufklärung voraus, ohne sie irgendwoher ableiten zu können. Damit ist die diesbezügliche Grenze der transzendentalen Selbstaufklärung der Vernunft bestimmt und ein dritter Fall der Thematisierung von Kontingenz erreicht. Indem Kant auf eine metaphysische oder idealistische Letztbegründung seiner Vermögenslehre bzw. der Prinzipien der Erfahrung verzichtet, räumt er die Gleichzeitigkeit von Apriorität und Kontingenz sowohl des pluralen Gegebenseins als auch der Kooperativität der erkenntnistheoretischen Radikalvermögen ein. 34 Während das durch Anschauung und Verstand repräsentierte ‚Bauzeug’ zur Errichtung eines geräumigen Wohnhauses der erfahrungswissenschaftlichen Welterschließung ausreicht, fällt die erkenntniskritische Prüfung des Vermögens der Vernunft im Endergebnis negativ aus und führt zum Einsturz des ‚metaphysischen Turmbaus zu Babel’. Darin besteht freilich nicht das einzige Resultat. Denn im ersten Buch der transzendentalen Dialektik („Von den Begriffen der reinen Vernunft“) werden die metaphysischen Ideen der Vernunft („Gott“, „Welt“ und „Seele“) aus der Struktur der Vernunft selber abgeleitet und dann erst im zweiten Buch („Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft“) hinsichtlich ihrer Geltung kritisch analysiert. Unter Vernunft versteht Kant einerseits „das Vermögen zu schließen“ (KrV, A 330/B 386), andererseits „das Vermögen der Prinzipien“ (KrV, A 34

„Nun ist aber alle menschliche Einsicht zu Ende, so bald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelangt sind; denn deren Möglichkeit kann durch nichts begriffen, darf aber auch eben so wenig beliebig erdichtet und angenommen werden“ (KpV, AA 5, 46f). Zu ihnen ist auch die Freiheit zu rechnen (vgl. Heimsoeth, Heinz, Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus (1924), in: Studien zur Philosophie Immanuel Kants. Metaphysische Ursprünge und Ontologische Grundlagen, Köln 1956, KantSt.E 71, 189-225, hier: 222f). Vgl. Henrich, Über die Einheit der Subjektivität, (s. Anm. 33), 53f A14, der von der „Tatsache der kontingenten Dreidimensionalität des Erfahrungsraumes“ bzw. der „Kontingenz der Anschauungsformen“ bzw. von der „Kontingenz im Subjekte“ spricht. Vgl. Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.M. 1929, 19734, 31-39; Barth, Ulrich, Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin/New York 1992, 471-475 (zu Kant) und Baum, Manfred, Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur Kritik der reinen Vernunft, Königsstein/Ts. 1986, 13. 16. 131. 143.

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405). Der Vernunftgebrauch setzt dort ein, wo die Funktion des Verstandes, die in der Stiftung von begrifflicher Einheit im Anschauungsmannigfaltigen besteht, endet. 35 Die jede Erfahrung auszeichnende Synthesis aus Kontingenz und Notwendigkeit bewirkt die Unabschließbarkeit der Erfahrung und damit die grundsätzliche Unvollständigkeit der Verstandesleistung. Dagegen intendieren die Vernunftbegriffe „die collektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung“ (Prol, AA 4, 328). Die Vernunft verhält sich zum Verstand wie der Verstand zur Sinnlichkeit. Die Vernunft überschreitet die Sphäre der Erfahrung und wird „transscendent“ (ebd.). Sie übt diese Funktion aus, indem sie vom bedingten Gegebenen auf die unbedingte Totalität des möglichen Gegebenen schließt. Aus den drei logischen Funktionen der Vernunftschlüsse leitet Kant die drei Ideen des Unbedingten ab. Der kategorische Schluss führt auf den Vernunftbegriff einer vollständigen Einheit des Subjektes (psychologische Vernunftidee). Der hypothetische Schluss führt auf den Vernunftbegriff einer vollständigen Einheit aller Bedingungen, die nicht wieder bedingt ist, die Welt (kosmologische Vernunftidee). Der disjunktive Schluss führt auf den Vernunftbegriff einer vollständigen Einheit alles Möglichen, von dem aus alle Begriffe abgeleitet werden können, Gott (theologische Vernunftidee). Kant weist somit nach, dass die klassischen metaphysischen Ideen unmittelbar aus der internen Verfassung der Vernunft abgeleitet werden können. „Metaphysik als Naturanlage der Vernunft ist wirklich, aber sie ist auch für sich allein […] dialektisch und trüglich“ (Prol, AA 4, 365). Im zweiten Buch der ‘transzendentalen Dialektik’ (KrV) überführt Kant die Vernunft eines widersprüchlichen Umganges mit den von ihr produzierten Ideen. Die metaphysischen Scheinurteile der Vernunft stellen sich im Vollzug ihrer natürlichen Funktion ein, wenn die Vernunft ihr logisches Schließen auf Gegebenes anwendet. Einerseits erfüllt sie ihre auf Einheit gerichtete Totalitätsfunktion, wenn sie vom Bedingten auf das Unbedingte zurückschließt, sie muss aber andererseits, da der Ausgangspunkt ein bedingtes Gegebenes ist, das von ihr erschlossene Unbedingte als gegeben ausweisen. Der mit den Vernunftideen verbundene Schein tritt also durch den logischen Grundsatz auf, nach dem, wenn das Bedingte gegeben ist, auch das Unbedingte – oder die systematische Einheit des Gegebenen – gegeben ist. Damit gerät die Conclusio in Konflikt mit der Zweistämmigkeit des Erfahrungsbewusstseins, wonach Gegebenes eine Synthese aus kontingentem Anschauungsmannigfaltigen und notwendiger Erkenntnis35

Vgl. zum Folgenden Barth, Ulrich, Religion oder Gott?, Die religionstheoretische Bedeutung von Kants Destruktion der spekulativen Theologie, in: Barth, U./ Gräb, W. (Hg.), Gott im Selbstbewußtsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh 1993, 11-34, hier: 11-13.

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struktur sein muss. Diesem Kriterium genügen die nur erschlossenen Inhalte der Vernunftideen aber gerade nicht. In der Vierten Gestalt der Antinomie der reinen Vernunft führt Kant vor, wie sich die Anwendung der kosmologischen Vernunftidee auf die Erfahrung der Kontingenz von Gegebenem in Widersprüche verwickelt. Kant zeigt zum einen, dass kein Teil der Welt oder ihre Ursache als ein notwendiges Wesen ausgewiesen werden kann, da jedes Gegebene eine empirisch angebbare Ursache hat, die ihrerseits als entstanden und als empirisch bedingt angesehen werden muss, so „daß das Aufsteigen in der Reihe der Ursachen […] niemals bei einer empirisch unbedingten Bedingung endigen könne“ (KrV, A 457/B 485). Zum anderen weist Kant nach, dass auch die Kontingenz der Welt, ihrer Teile und Ursachen nicht als unbedingt und absolut angesetzt werden kann. Vielmehr führt die für die Vernunft spezifische Perspektive der Ganzheit der Sinnenwelt auf den Begriff eines Schlechthinnotwendigen (vgl. KrV, A 454/B 482), welches freilich selbst zu dem Ganzen gehört, als dessen Bedingung es eingeführt wird. 36 Die erkenntnistheoretische Pointe der von Kant bestrittenen These von der absoluten Kontingenz der Welt formuliert Kant gegen den Skeptizismus. Ginge man, „wie Hume tat, von einer öfteren Beigesellung dessen, was geschieht, mit dem, was vorhergeht, und einer daraus entspringenden Gewohnheit, […] Vorstellungen zu verknüpfen“ (KrV, B 5) aus, würden die Prinzipien der Erfahrung ihrerseits nur kontingenterweise gelten. Eine zusammenhängende und allgemein geltende Naturerkenntnis wäre nicht denkbar. Dagegen setzt Kant die Einsicht, dass das Problem der Kontingenz der Welt nur vermittels einer Theorie der notwendigen Struktur des Erfahrungsbewusstseins gelöst werden kann. Der metaphysische Scheinschluss wird vermieden, wenn die Ideen auf einen bloß regulativen Gebrauch restringiert werden, d.h. ihr transzendenter Gehalt für den immanenten Gebrauch des Erfahrungsbewusstseins fruchtbar gemacht wird. So wird einerseits das Bedürfnis der Vernunft nach höchster systematischer Einheit befriedigt. 37 Da diese Einheit nun jedoch nicht objektiv gegeben ist, sondern als „ein heuristischer […] Begriff“ (KrV, A 671/B 699) fungiert, treibt sie andererseits die Verstandeserkenntnis an, indem sie das nie als gegeben vorgestellte Prinzip als Vollständigkeitsziel aufgibt (vgl. Prol, AA 4, 332). Diese methodisch indirekte Anwendung der Vernunftideen als normative Schemata der Einheit auf Gegebenes vollzieht sich durch Transzendentalisierung der drei logischen

36 37

Vgl. Cramer, Kontingenz in Kants „Kritik der reinen Vernunft“, (s. Anm. 23). „Die reine Vernunft ist […] mit nichts als sich selbst beschäftigt, […] weil ihr […] die Verstandeserkenntnisse zur Einheit des Vernunftbegriffs, d. i. des Zusammenhanges in einem Prinzip gegeben werden“ (KrV, A 680/B 708).

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Begriffsschlüsse als Prinzipien der Einheitsstiftung der Verstandesbegriffe nach Gesetzen der Gleichartigkeit, Spezifikation und Affinität. 38 Das Ergebnis der Metaphysik-Kritik Kants besteht in der Transformation der Funktion der vernünftigen Totalitätsideen in ein methodisches Regulativ. Es besagt, dass Kontingenz und Notwendigkeit im Objektbewusstsein zu vermitteln sind. Die metaphysische Ableitung von Kontingentem aus Notwendigem führt zu einem dogmatischen Schein. Wird umgekehrt kontingent Gegebenes als Ding-an-sich aufgefasst, verfängt sich die Vernunft im empiristischen Schein und kommt zu keiner gesicherten Erfahrung. Die Ideen der Vernunft haben daher für die Erfahrung keine konstitutive Funktion, sondern sie geben die Totalität der Bedingungen eines Gegebenen gleichsam auf und treiben den Verstand zu fortgesetzter Erkenntnis an. Emil Lask hat diese Pointe von Kants Erkenntnistheorie, die in dem rational kontrollierten Umgang mit der „Zufälligkeit oder Irrationalität“ 39 der empirischen Wirklichkeit besteht, pointiert herausgearbeitet. Das menschliche Erkenntnisvermögen stellt die notwendigen Bedingungen für Erfahrungen bereit, so dass deren Inhalte als das angesehen werden können, was sie sind: irrational und kontingent. Die erkenntniskritische Selbstbegrenzung der Vernunft auf einen „kritischen Antirationalismus“ 40 eröffnet der erfahrungswissenschaftlichen Welterschließung einen Spielraum, der als solcher durch keinerlei metaphysische oder religiöse Schranken begrenzt ist, sondern der in der Perspektive der methodisch gewendeten Totalitätsideen als auszuschöpfen aufgegeben ist. Auch für die Selbstvorstellung bedeutet dieser Befund, dass in theoretischer Hinsicht eine abschließende Sichselbstdurchsichtigkeit nicht erzielt werden kann.

3. Der Perspektivenwechsel der Selbstvorstellung „Jetzt ist es uns nicht sowohl um die Materialien, als vielmehr um den Plan zu tun, und, indem wir gewarnt sind, es nicht auf einen beliebigen blinden Entwurf, der vielleicht unser ganzes Vermögen übersteigen könnte, zu wagen, gleichwohl doch von der Errichtung eines festen Wohnsitzes nicht wohl abstehen können, den Anschlag zu einem Gebäude in Verhältnis auf den Vorrat, der uns gegeben und zugleich unserem Bedürfnis angemessen ist, zu machen“ (KrV, A 707/B 735). 38

39 40

In den Prolegomena erwägt Kant, ob man die solchermaßen operationalisierten Vernunftschlüsse als konstitutiv für die Erfahrung bezeichnen muss (vgl. Prol, AA 4, 364f). Wie auch immer das von Kant offen gelassene Ergebnis dieser Erwägungen ausgehen mag, entscheidend ist, dass es sich bei ihnen um eine indirekte Funktion für die Erfahrung handelt. Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte, (s. Anm. 21), 43. Ebd.

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Mit diesen Worten setzt Kant das oben angeführte Beispiel vom Turmbau fort. Obgleich die erfahrungswissenschaftliche Weltdeutung in einem ‚sicheren Gebäude’ untergebracht werden konnte, stehen noch Aufgaben an. Die kritizistische Einschränkung der Vernunftideen auf eine bloß regulative Funktion hat offensichtlich, um im Bild zu bleiben, einen Materialienüberschuss an ‚Bauzeug’ hinterlassen, der nach einem ‚Plan’ zu einem ‚festen Wohnsitz’ fragen lässt, der in einem proportionierten „Verhältnis auf den Vorrat, der uns gegeben ist“ (ebd.), steht. Dieser ‚Überschuss’ kann nur eine mögliche konstitutive Prinzipienfunktion der Vernunft, die im Bereich des Erkennens freilich nicht gegeben sein kann, betreffen. Ist die Errichtung eines vollständigen, d.h. über die Erkenntnistheorie hinausgehenden Systems, in dem allen Elementen eine konstitutive Funktion zukommt, möglich? In der prospektiven Bejahung dieser Frage besteht die Funktion des zweiten Hauptteils der KrV, der transzendentalen Methodenlehre. Rein gliederungstechnisch betrachtet liegt eine Gleichberechtigung zwischen den beiden Hauptteilen der KrV, der „Transzendentalen Elementarlehre“ einerseits und der „Transzendentalen Methodenlehre“ andererseits, vor. Dagegen scheint die Verteilung der Menge der Druckseiten zu sprechen. So wird denn auch in der Regel der Methodenlehre inhaltlich nicht das gleiche Gewicht zugemessen wie der Elementarlehre mit ihren hochrangigen Themen der transzendentalen Ästhetik, Logik, Analytik und Dialektik. Jedoch begegnet das Einteilungsschema in drei weiteren Werken Kants. In der „Kritik der praktischen Vernunft“ (KpV) versteht Kant unter der – gleichfalls knappen – Methodenlehre die „Art […], wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüth, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen, d.i. die objektiv praktische Vernunft auch subjektiv praktisch machen könne“ (KpV, AA 5, 151). Hier geht es um eine Propädeutik für die subjektive Realisierung des objektiv-praktisch Gedachten in der „moralischen Bildung und Übung“ (KpV, AA 5, 161). Der Stellenwert der – deutlich umfangreicheren – Methodenlehre der „Kritik der Urteilskraft“ (KU) ist gewichtiger. Dort erörtert Kant natur-, moral- und geschichtsphilosophische Abschlussfragen seines philosophischen Systems. Insofern steht sie inhaltlich den in der transzendentalen Methodenlehre der KrV prospektiv entfalteten Themen nahe, deren Aufgabe es ist, „die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft“ (KrV, A 707f/B 735f) vorzunehmen. Die Durchführung der Methodenlehre der KU kann als Einlösung der in der Methodenlehre der KrV angerissenen Probleme verstanden werden. Die Einteilung in Elementar- und Methodenlehre findet sich schließlich noch einmal in der Logik Kants. Dort beinhaltet die Elementarlehre die Lehre von den Begriffen, Urteilen und

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Schlüssen, während es – vom Umfang her wieder deutlich knapper – in der Methodenlehre um die „Beförderung der logischen Vollkommenheit des Erkenntnisses durch Definition, Exposition und Beschreibung der Begriffe“ (Log, AA 9, 140) bzw. „durch logische Eintheilung der Begriffe“ (Log, AA 9, 146) geht. Eine Bemerkung im opus postumum zeigt, dass die Einteilung in Elementar- und Methodenlehre für Kant allgemeine wissenschaftstheoretische Bedeutung genießt. Dort heißt es: „Das Fortschreiten in einer Erkentnis als Wissenschaft überhaupt […] fängt davon an die Elemente derselben aufzufinden und dann die Art, wie sie zusammengeordnet werden sollen (systematisch) zu verknüpfen da dann die Eintheilung dieses Geschäftes in Elementarlehre und Methodenlehre die oberste Einteilung ausmacht, wovon jene die Begriffe, diese die Anordnung derselben, um ein Ganzes der Wissenschaft zu begründen vorstellig macht“ (OP, AA 21, 386). Die Methodenlehre als Lehre von der systematischen Verknüpfung der Elemente verweist also auf die das Ganze, das ‚Gebäude’ einer Wissenschaft begründende Funktion der Elementarbegriffe der Wissenschaft und gibt für diese Hinsicht die formalen Bedingungen an, die Kant für den Fall der Wissenschaft vom System der reinen Vernunft mit den Stichworten Disziplin, Kanon, Architektonik und Geschichte andeutet (vgl. KrV, A 708/B 736). 41 Es ist deutlich, dass es in der transzendentalen Methodenlehre um die systematische Affirmation der transzendentalphilosophisch rekonstruierten Strukturen a priori geht. Für den Fortgang der kritischen Selbstaufklärung der Vernunft ist der gedankliche Weg vorgezeichnet: Kant bleibt weder bei der Legitimation eines „Empiriototalismus“ 42 stehen, noch verharrt er – bezüglich einer konstitutiven Funktion der Vernunftideen – im Skeptizismus (vgl. Prol, AA 4, 351. 360f). Vielmehr drängt die systematische Differenz von Verstand und Vernunft auf vollständige Analyse der Prinzipien- und Schlussfunktion der Vernunft. Von besonderer Bedeutung ist das zweite Hauptstück der Methodenlehre, das Kant mit „Kanon der reinen Vernunft“ überschrieben hat. Es ist das Herzstück der transzendentalen Methodenlehre, weil hier die in theoretischer Hinsicht gezogenen Restriktionen bezüglich der Funktion der Vernunft entschränkt und die positiv-konstitutive Funktion der Vernunft in praktischer, d.h. moralphilosophischer Hinsicht grundgelegt wird. Unter Kanon versteht Kant den „Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs gewisser Erkenntnisvermögen überhaupt“ (KrV, A 41

42

„Wenn man nun die Einteilung dieser Wissenschaft aus dem allgemeinen Gesichtspunkte eines System überhaupt anstellen will, so muß die, welche wir jetzt vortragen, erstlich eine Elementar-Lehre, zweitens eine Methoden-Lehre der reinen Vernunft enthalten“ (KrV, A 15/B 29). Das gewählte Gliederungsschema ergibt sich aus dem Begriff des wissenschaftlichen Systems. Schmitz, Hermann, Was wollte Kant?, Bonn 1989, 230.

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796/B 824). Nach dem Ergebnis der transzendentalen Dialektik haben die transzendentalen Vernunftideen in Bezug auf Erkenntnis keine direkte Funktion. „Nun ist alle synthetische Erkenntnis der reinen Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauche […] gänzlich unmöglich“ (ebd.). Dieses negative Resultat liefert den inneren Grund für den Perspektivenwechsel, den Kant jetzt vornimmt, um das Vernunftvermögen bezüglich seines möglichen „richtigen Gebrauch[s]“ (KrV, A 797/B 825) zu analysieren. Über die affirmativ-systematische Verknüpfung der drei Vernunftideen kann nur etwas ausgesagt werden, wenn die Bezugsebene gewechselt wird. Thema ist nicht mehr: „was kann ich wissen?“ (KrV, A 805/B 833). Diese Frage ist, wie Kant sich mit Recht schmeichelt (vgl. ebd.), erschöpfend behandelt. Eine Methodenlehre der reinen Vernunft kann es nur in anderer, und wie sich herausstellt, praktischer Hinsicht geben. Kant steuert den Perspektivenwechsel vorsichtig an. Erst nachdem er den in spekulativer Hinsicht negativen Ertrag der Vernunftkritik doppelt resümiert hat, 43 stellt er die These auf: „Indessen muß es doch irgendwo einen Quell von positiven Erkenntnissen geben, welche ins Gebiet der reinen Vernunft gehören und die […] in der Tat […] das Ziel der Beeiferung der Vernunft ausmachen“ (KrV, A 795f/B 823f). Anschließend mutmaßt er: „Vermutlich wird auf dem einzigen Wege, der ihr noch übrig ist, nämlich dem des praktischen Gebrauchs, besseres Glück für sie zu hoffen sein“ (KrV, A 796/B 824, mH, AvS). Diese Vermutung wird, nachdem der Ausfall eines Kanons in spekulativer Hinsicht feststeht (vgl. KrV, A 796/B 824), durch einen apagogischen Schluss in eine heuristische These umformuliert: „Folglich […] wird dieser [der Kanon] […] den praktischen Vernunftgebrauch betreffen“ (KrV, A 797/B 825, HiO). Worauf gründet sich jene Forderung nach einer positiv-konstitutiven Funktion der Vernunftideen im Gebiet der reinen Vernunft und wie ist die Vermutung, diese könnten sie im Felde ihres praktischen Gebrauches einnehmen, begründet? Oder, im Blick auf das eingangs zitierte Baustellen-Gleichnis bezogen gefragt: Worin liegt der innere Grund für den Plan der Errichtung eines Gebäudes, das in einer ausgewogenen Proportion zu dem Materialienvorrat steht (vgl. KrV, A 707/B 735)? Bezogen auf die Durchführung Kants: Wäre nicht auch eine Alternative zur moralischen Abzweckung der Vernunftideen denkbar? Könnte man sich in dieser Funktion nicht z.B. den ästhetischen Gebrauch der Vernunft vorstellen? Oder, noch radikaler, wäre nicht auch ein resignatives Ergebnis, nach dem es gar keinen Kanon der reinen Vernunft gäbe, denkbar? 43

„Es ist demütigend für die menschliche Vernunft, daß sie in ihrem reinen Gebrauche nichts ausrichtet […]“ (KrV, A 795/B 823). „Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ; da sie […] zur Grenzbestimmung dient, und […] nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten“ (ebd.).

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a. Naturphilosophische Prämissen des Perspektivenwechsels Die Richtung, in der man die Antworten suchen muss, deutet Kant im Rahmen der KrV immer dort an, wo er den Gang der reinen Vernunftwissenschaft zur Gänze skizziert. In solchen konspektiven Passagen (wie die Übergangstexte, die Einleitung der zweiten Auflage der KrV oder die „Prolegomena“) werden über den inneren Argumentationszusammenhang hinausweisende Prämissen seines Denkens deutlich, die in den Bereich der Naturphilosophie und Anthropologie (vgl. Prol, AA 4, 362) fallen und die in der Kant-Forschung als „Privatmetaphysik“ bezeichnet werden. 44 Mehrfach spricht Kant in solchen Zusammenhängen von der „Natur der Vernunft“ 45 , vom „Hang ihrer Natur“ (KrV, A 797/B 825), von der letzten Absicht der weislich uns versorgenden Natur“ 46 . Die Natur, oder – wie er in gleichsinniger Absicht auch religiös formulieren kann – die göttliche „Vorsehung“ (KrV, A 743/B 771) 47 ist es, die die Vernunft so ausgestattet und eingerichtet hat, wie sie sich der transzendentalphilosophischen Kritik darstellt. In diesem Zusammenhang äußert Kant Thesen, die für die Einschätzung des systematischen Stellenwerts des ersten Buches der transzendentalen Dialektik entscheidend sind. Danach ist die Metaphysik „wenngleich nicht als Wissenschaft, doch als Naturanlage (metaphysica naturalis) wirklich“ (KrV, B 21) und „die Fragen, welche reine Vernunft sich aufwirft“, entspringen „aus der Natur der allgemeinen Menschenvernunft“ (KrV, B 22). Es handelt sich bei der transzendentalen Dialektik also weniger um die Zerstörung der metaphysischen Ideen der menschlichen Vernunft als um deren kritische Rekonstruktion. Denn das dialektische Problem, das Kant in den Paralogismen der Seelenlehre, der Antinomie der reinen Vernunft und in der Kritik der Gottesbeweise traktiert, besteht ja nicht in der Produktion der Ideen selbst, sondern betrifft die Bestimmung ihres epistemischen Status: Sie fallen nicht unter die Bedingungen der Wahr44

45

46 47

Als prominentester Vertreter dieser These gilt Heimsoeth. Er benennt v.a. folgende metaphysische ‚Realitäten’, die sich trotz kritizistischer Restriktion und moralisch-praktischer Umformung der Metaphysik durchhalten: Unendlichkeitspathos, das Leben (der Organismus), die Teleologie des Weltzusammenhanges, die sittliche Realrepugnanz, der intelligible Charakter, das absolut notwendige Wesen (Heimsoeth, Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus, ([s. Anm. 34], 225; vgl. Heimsoeth, Heinz, Astronomisches und Theologisches in Kants Weltverständnis, in: Studien zur Philosophie Immanuel Kants II. Methodenbegriffe der Erfahrungswissenschaften und Gegensätzlichkeiten spekulativer Weltkonzeptionen, Bonn 1970, KantSt.E 100, 86-108). KrV, A 797f/B 825f; vgl. KrV, B XXXII 18. 21. 22f.; KrV, A 669/B 697; KrV, A 695/B 723; Prol, AA 4, 327f. KrV, A 801/B 829; vgl. KrV, B 7. 8; KrV, A 669/B 697; GMS, AA 4, 394-396. Zur grundsätzlichen Äquivalenz des metaphysischen Naturbegriffs und seiner religiösen Deutung vgl. KrV, A 699/B 724 oder ZeF, AA 8, 362.

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heitswertigkeit des Bewusstseins, können daher kein Objekt von Erkenntnis sein und Gegenstand des Wissens werden. Die Kritik der metaphysischen Ideen wird von Kant auf ihre mangelhafte Durchführung in den unterschiedlichen philosophischen Systemen beschränkt. Dagegen „ist wirklich in allen Menschen, sobald Vernunft sich in ihnen bis zur Spekulation erweitert, irgendeine Metaphysik zu aller Zeit gewesen und wird auch immer darin bleiben“ (KrV, B 21). Die Vernunftideen sind Ausdruck von, nun metaphysisch verstanden, Naturnotwendigkeit: Metaphysik ist eine „Naturanlage unserer Vernunft“ (Prol, AA 4, 353), deren „Erzeugung […] nicht dem ungefähren Zufalle, sondern einem ursprünglichen Keime zuzuschreiben ist, welcher zu großen Zwecken weislich organisirt ist“ (ebd.). Der Relativsatz im voranstehenden Zitat macht zugleich deutlich, warum Kant den möglichen Gedanken, dass den metaphysischen Ideen keine positiv-konstitutive Prinzipienfunktion zukommen könne, kaum einmal streift. Vielmehr begründet Kant seine fortgetriebene Suche nach positivkonstitutiver Prinzipienfunktion der Vernunft mit einer Erweiterung der oben angeführten naturphilosophischen Prämisse, nach der „Alles, was die Natur selbst anordnet, […] zu irgendeiner Absicht gut“ (KrV, A 743/B 771) 48 ist. Die Annahme motiviert in formaler Hinsicht die im Kanon-Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre gestellte Frage sowohl nach dem positiv-konstitutiven Gebrauch der über den Erfahrungsgebrauch hinausgehenden Ideen als auch die damit verbundene Intention auf „Einheit“ (KrV, A 798/B 826) der höchsten Vernunftzwecke. Die Option, das System der Vernunft im Hinblick auf die Moralität zu vollenden, begründet Kant auch mit anthropologischen Erwägungen. In der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (Anth, AA 7, 117-334) formuliert er zunächst den naturphilosophischen Grundsatz, nach dem die Natur „wolle, daß jedes Geschöpf seine Bestimmung erreiche, dadurch daß alle Anlagen seiner Natur sich zweckmäßig für dasselbe entwickeln, damit, wenngleich nicht jedes Individuum, doch die Species die Absicht derselben erfülle“ (Anth, AA 7, 329). Sodann definiert Kant den Menschen schulmäßig nach genus proximum und differentia specifica als „animal rationabile“ (Anth, AA 7, 321). Spezifisch besteht daher die natürli48

Vgl. die Wendung „[…] so bleibt es noch immer eine der Nachforschung würdige Aufgabe, die Naturzwecke, worauf diese Anlage zu transscendenten Begriffen in unserer Natur abgezielt sein mag, auszufinden, weil alles, was in der Natur liegt, doch auf irgend eine nützliche Absicht ursprünglich angelegt sein muß“ (Prol, AA 4, 362, mH, AvS.). Äquivalent ist die Formulierung: „Wir sind […] nicht frei vor der Nachfrage nach diesen [die Dinge an sich], uns gänzlich derselben zu enthalten“ (Prol, AA 4, 351). Gleiches gilt für das von Kant wiederholt benutzte Diktum, „daß alle Fragen, welche die reine Vernunft aufwirft, schlechterdings beantwortlich sein müssen, […] weil uns hier […] allein durch die Natur der Vernunft und lediglich über ihre innere Einrichtung […] die Fragen vorgelegt werden“ (KrV, A 695/B 723).

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che Bestimmung des Menschen in der Ausfaltung seiner Vernünftigkeit in Form von technischen, pragmatischen und moralischen Fähigkeiten, die er durch Vergesellschaftung erringt: „Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren, […] sich […] thätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen“ (Anth, AA 7, 324f, HiO). Der Übergang der Selbstaufklärung des Menschen in die Sphäre der vernunftgeleiteten Wirklichkeitsgestaltung liegt also innerhalb der natürlichen Bestimmung des Menschen. Sie begründet, warum Kant erstens überhaupt eine positiv-konstitutive Funktion im Vernunftsystem sucht und warum sie zweitens im Bereich der Moralität verortet wird. Der ausschließlich vernunftbegründeten Wirklichkeitsgestaltung, die Kant als Moralität bestimmen wird, sind alle anderen Sphären wie Ästhetik und Wissen als Mittel zum Zweck untergeordnet. Aus dem Hinweis auf die menschliche Gesellschaft schließlich wird deutlich, warum diese Einsicht erst sukzessiv im Verlauf der Geschichte zur Geltung kommt. Denn, so Kant, im Falle des Menschen erreicht nur die Gattung die zweckmäßige Entwicklung aller Anlagen der Natur, die darin besteht, „durch […] eigene Thätigkeit die Entwickelung des Guten aus dem Bösen dereinst zu Stande zu bringen“ (Anth, AA 7, 325). Insofern spielt die geschichtsphilosophische Selbstverortung der transzendentalen Vernunftkritik in diesem Zusammenhang eine gewisse Rolle (vgl. KrV, B XIVf; B 8f). Der von Kant selbst am Ende des zweiten Abschnittes vom Kanon-Hauptstück gegebene Hinweis auf die „Geschichte der menschlichen Vernunft“ (KrV, A 817/B 845) lässt erkennen, dass sich die Reinigung, Bestimmung und Systematisierung der moralischen Begriffe, historisch-empirisch betrachtet, eine weitreichende Kultivierung der Natur voraussetzt und dass dabei der christlichen Religion eine hervorragende Rolle zugemessen wird. Darauf wird zurückzukommen sein. Der im Kanonkapitel der transzendentalen Methodenlehre zu vollziehende Übergang der Vernunftkritik in die praktische Philosophie verdankt sich zuletzt Grundannahmen naturphilosophisch-anthropologischer Provenienz, die dem gesamten System der reinen Vernunft eine innere Teleologie, einen Richtungssinn auf die Begründung vernunftkonstituierter Moralität geben. 49 Der in der Methodenlehre vollzogene, womöglich zu-

49

So formuliert Kant: „so glaube ich gewahr zu werden, daß diese Naturanlage dahin abgezielt sei, unseren Begriff von den Fesseln der Erfahrung und den Schranken der bloßen Naturbetrachtung so weit loszumachen, daß er wenigstens ein Feld vor sich eröffnet sehe, was blos Gegenstände für den reinen Verstand enthält, die keine Sinnlichkeit erreichen

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nächst kontingent anmutende Perspektivenwechsel wird von Kant mit dem Hinweis auf die ‚Weisheit der Natur’ bzw. die göttliche Vorsehung begründet. Solche religiös-naturphilosophischen Annahmen können entweder als privatmetaphysische Begründungen Kants aufgefasst werden oder man deutet sie gewissermaßen als Antizipationen desjenigen moralischen praktischen Vorsehungsglaubens, den Kant erst in der Methodenlehre begründen will. Folgt man dieser Spur, wäre dies ein Hinweis auf das im Duktus der transzendentalen Elementarlehre bisweilen durchscheinende innere Gefälle der Philosophie Kants in Richtung praktischer Philosophie. b. Die praktische Selbstvorstellung als Versetzung in die Freiheit Berücksichtigt man diese Prämissen, liegt im ersten Abschnitt des KanonHauptstückes eine schulmäßige Deduktion seiner These zum „letzten Zwecke des reinen Gebrauchs unserer Vernunft“ (KrV, A797/B825) vor: Obersatz: „Die ganze Zurüstung […] der Vernunft […] ist […] auf die drei gedachten Probleme [Wille, Gott, Welt] gerichtet“ (KrV, A 800/B 828). Untersatz: „Diese selber […] haben […] ihre entferntere Absicht, nämlich, was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine künftige Welt ist“ (ebd.). Conclusio: „so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellt“ (KrV, A 801/B 829). Damit ist die letztlich praktische Abzweckung der Selbstaufklärung der Vernunft abgeleitet. Nach der Deduktion dieser neuen Bezugsebene der vernünftigen Selbstaufklärung schiebt Kant den Freiheitsbegriff nach. Er unterscheidet drei Stufen voneinander (vgl. KrV, A 802f/B 830f): tierische Willkür (pathologische Steuerung des Willens durch sinnliche Anreize), freie Willkür (Bestimmung des Willens durch Vernunftgründe) und transzendentale Freiheit (Bestimmung des Willens bloß durch Vernunftgründe als Bedingung der Möglichkeit von freier Willkür). Die sich von der Elementarlehre her aufdrängenden Probleme der Begründung des Freiheitsbegriffs suspendiert Kant in diesem Abschnitt und verweist sie in den Bereich des spekulativen ‚Wissens’. Die Begründungsprobleme des Freiheitsbegriffs hat Kant – im Rekurs auf die Auflösung der Dritten Gestalt der Antinomie der reinen Vernunft – in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (GMS) und vor allem in der KpV aufgegriffen. Ausgangspunkt ist die erfahrungstheoretische Feststellung, dass Freiheit aus dem Bereich der Welt der Erscheinungen _____________ kann, […] in der Absicht, […] damit praktische Principien […] sich […] ausbreiten könnten, deren die Vernunft in moralischer Absicht unumgänglich bedarf“ (Prol, AA 4, 362f).

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ausgeschlossen ist: „Die Richtigkeit jenes Grundsatzes, von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt, nach unwandelbaren Naturgesetzen, steht […] als ein Grundsatz der transzendentalen Analytik fest“ (KrV, A 536/B 564). Die Aufgabe der Transzendentalphilosophie in praktischer Hinsicht besteht darin, zu ermitteln, wie überhaupt Freiheit angesichts der vollständigen Bestimmbarkeit der Welt nach Maßgabe der notwendigen und apriorischen Strukturen des erkennenden Geistes gedacht und konstituiert werden kann.50 Zur Lösung knüpft Kant einerseits an die – freilich prekäre – Erfahrung bedingtpraktischer Freiheit an, nach der sich der Mensch durch vernünftige Überlegungen von einer unmittelbaren Affektion suspendieren und seinen Willen „unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe […] von selbst […] bestimmen“ (KrV, A 534/B 562) kann. Zugleich greift Kant die in der theoretischen Philosophie aufgemachte Unterscheidung von Erscheinung und Ding-an-sich auf und macht sie für die Theorie des praktischen Selbstbewusstseins fruchtbar. Wie gezeigt wurde, gelangt das empirische Selbstbewusstsein nicht zur vollständigen Sich-Durchsichtigkeit, sondern wird seiner als Synthese von Kontingenz und Notwendigkeit inne, weil es sich nur nach Maßgabe und Reichweite seiner apriorischen Verstandesbegriffe vorstellen kann. Bezieht sich das Selbst aber auf die Bewusstseinsproduktivität seiner Selbstvorstellung, d.h. versteht es sich solchermaßen, dass es die Unterscheidung von Erscheinung und Ding-an-sich auf sich anwendet, so gelangt es zur Einsicht, dass es sich auch „zur intellectuellen Welt zählen muß, die er doch nicht weiter kennt“ (GMS, AA 4, 451). Die Bedingung der Möglichkeit dieser Annahme eines „Ich, so wie es an sich selbst beschaffen sein mag“ (ebd.) in der Unterscheidung vom Ich, wie es sich zur Erscheinung bringt, ist das in der theoretischen Philosophie als Funktion der Jemeinigkeit Objektbewusstsein benannte Bewusstsein dessen, „was in ihm reine Thätigkeit sein mag“ (ebd.), die Vernunft, die „reine Selbstthätigkeit“ (GMS, AA 4, 452). 51 In ihm „findet der Mensch […] ein Vermögen, dadurch er sich von allen anderen Dingen, ja von sich selbst, sofern er durch Gegenstände afficirt wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft“ (ebd.). Mittels der Vergegenwärtigung der je eigenen reinen Spontaneität im Zuge der Hervorbringung von Objektbewusstsein und durch die Anwendung der Kategorie der Kausalität auf sein intelligibles Subjekt-Sein, kann sich das 50

51

„Man sieht leicht, daß, wenn alle Kausalität in der Sinnenwelt bloß Natur wäre, so würde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein, und mithin, da die Erscheinungen, sofern sie die Willkür bestimmen, jede Handlung als ihren natürlichen Erfolg notwendig machen müßten“ (KrV, A 534/B 562). Diese Deutung, nach der nach Kant „das Spontaneitätsbewußtsein […] ein Freiheitsbewußtsein irgendwelcher Art sein muß“, vertritt auch Heimsoeth, Persönlichkeitsbewußtsein und Ding-an-sich, (s. Anm. 26), 251.

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Selbst als freies Subjekt zwar nicht erkennen, wohl aber denken: „Dieser intelligible Charakter könnte zwar niemals unmittelbar gekannt werden, weil wir nichts wahrnehmen können, als sofern es erscheint, aber er würde doch den empirischen Charakter gemäß gedacht werden müssen, so wie wir überhaupt einen transzendentalen Gegenstand den Erscheinungen in Gedanken zum Grunde legen müssen, ob wir zwar von ihm, was er an sich selbst sei, nichts wissen“ (KrV, A 540/B 568). Im Falle des Erkennens transformiert die Produktivität der erkennenden Vernunft das kontingente Anschauungsmannigfaltige vermittels der Verstandesbegriffe in notwendige Erfahrungsurteile. In praktischer Hinsicht „schafft sich die Vernunft die Idee von einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln“ (KrV, A 533/B 561), indem sie die in der theoretischen Philosophie bloß negativ-funktional aufgemachte Unterscheidung von Erscheinung und Ding-an-sich zur praktischen Selbstbestimmung als freies Selbstbewusstsein heranzieht. Den produktiven Anteil der Vernunft hält Kant in Wendungen fest, mit denen er beschreibt, dass wir uns als vernünftige Wesen „Freiheit zuschreiben“ (GMS, AA 4, 447), „die Idee der Freiheit leihen“ (GMS, AA 4, 448), „allen vernünftigen Wesen“ (GMS, AA 4, 447) Freiheit beilegen (vgl. GMS, AA 4, 448), uns als frei annehmen (vgl. GMS, AA 4, 450f), „uns als frei denken“ (GMS, AA 4, 453) bzw. als freie Wesen denken (vgl. ebd.) können. Danach gibt es zwei voneinander grundsätzlich unterscheidbare Perspektiven der Selbstdeutung: „wenn wir uns als frei denken, so versetzen wir uns als Glieder in die Verstandeswelt […]; denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt […] gehörig“ (GMS, AA 4, 453). Sofern wir uns nicht nur als Sinnenwesen auffassen, denken wir uns durch einen Akt von Selbstversetzung 52 einer Sphäre zugehörig, in der exklusiv die notwendige und allgemeine Vernunft gelten soll. Dafür wird lediglich „erfordert, daß sie blos sich selbst vorauszusetzen bedürfe“ (KpV, AA 5, 20f). 53 Diese Form der Selbstbestimmung erfolgt, indem das Bewusstsein sich dem durch die Vernunft aufgestellten Sittengesetz unterstellt und den Willen von kontingenten Bestimmungsgründen durch Universalisierung der Maximen reinigt. 54 Die Vernunft ist zugleich Gesetzgeberin, ausführende Gewalt und Richterin, weil sie es ist, die über die 52 53

54

Der Ausdruck von ‚Selbstversetzung’ findet sich als Prädikatsterm schon in KrV, A 814/B 842. Zu Genese und systematischem Zusammenhang von Kants Lehre vom Faktum der Vernunft vgl. Henrich, Dieter, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Prauss, G., (Hg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973, 223-254. Vgl. Höffe, Otfried, Kants nichtempirische Verallgemeinerung. Zum Rechtsbeispiel des falschen Versprechens, in: Ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a.M. 1989.

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Moralität der Gesinnung entscheidet. In konstitutionstheoretischer Hinsicht verdankt sich die Moralität bzw. Freiheit der Selbstdeutung des Menschen, „so fern sich die handelnde Person […] als Noumenon betrachtet“ (KpV, AA 5, 114) und sich als vernünftiges Wesen auffasst: „Als ein vernünftiges, mithin zur intelligibelen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Causalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt […] ist Freiheit“ (GMS, AA 4, 452). 55 Die Selbstdeutung als praktisches Freiheitsbewusstsein führt, insofern sie am noumenalen Aspekt der theoretischen Selbstvorstellung anknüpft, also zu einem „weiteren und tieferen Kontakt mit dem inneren Ding-an-sich“ 56 , als es unter den Bedingungen der bloß theoretischen Selbsterkenntnis möglich war. Zugleich wird die Kontingenz des empirischen Selbstbewusstseins einer höheren Notwendigkeit unterstellt. Die kontingenten Merkmale des empirischen Selbstbewusstseins sind für den Aufbau des Freiheitsbewusstseins irrelevant, weil bei dessen Konstitution nur die Vernunft vorausgesetzt ist. Zur Begründung von Freiheit muss sich die Vernunft gleichsam nur selbst in Kraft setzen und sich als Freiheit entwerfen. Dieses Freiheitsbewusstsein stellt ebenso wie das Erfahrungsbewusstsein einen Fall von Kontingenzbewältigung dar, insofern sich beide spontan-produktiven Bewusstseinsleistungen verdanken. Während sich das Erfahrungsbewusstsein als Synthese von Kontingenz und Notwendigkeit aufbaut, konstituiert sich das Freiheitsbewusstsein als Notwendigkeit, den Willen nur durch die Vernunft zu bestimmen. Die Freiheit unterstellt sich der Pflicht, den Willen nur durch Vernunft zu bestimmen. Und „Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (GMS, AA 4, 400). Die Formulierung des Sittengesetzes in der Form des Kategorischen Imperativs ermöglicht eine rationale Überprüfung der möglichen Maximen des Willens, welche nur notwendige Bestimmungsgründe gelten lässt. Vernünftige Freiheit oder Moralität, so könnte man formulieren, schließt die Negation von Kontingenz ein. Für die Beantwortung der Frage nach der positiv-konstitutiven Funktion der metaphysischen Ideen in praktischer Hinsicht ist es für die Aufgabenstellung der transzendentalen Methodenlehre der KrV ausreichend, an die Erfahrung bedingt-praktischer Freiheit anzuknüpfen, nach der sich 55

56

Die Vernunftidee der Freiheit, in deren Realität als einer besonderen Art von Kausalität man durch noumenale Selbstversetzung gelangen kann, rechnet Kant, wie die „Gegenstände für Begriffe, deren objektive Realität […] durch Erfahrung […] bewiesen werden kann“ (KU, AA 5, 468), zu den „Tatsachen“, da sie sich „durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung dartun läßt“ (ebd.). Heimsoeth: Persönlichkeitsbewußtsein und Ding-an-sich, (s. Anm. 26), 253. In den ‚Prol’ beschreibt Kant die transzendentale Freiheit als Ding-an-sich (vgl. § 53).

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der Mensch durch vernünftige Überlegungen von der kontingenten Neigungsaffiziertheit des Willens suspendieren und seinen Willen „unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe […] von selbst […] bestimmen“ (KrV, A 534/B 562) kann. Weil die Möglichkeit transzendentaler Freiheit in der Auflösung der dritten Gestalt der Antinomie der reinen Vernunft gezeigt wurde (vgl. KrV, A 801f/B 829f) und auf den Sachverhalt empirischer Freiheit mit dem Hinweis auf sittliche Evidenz verwiesen werden kann (vgl. KrV, A 807/B 835), besteht die Aufgabe noch darin, die neue, vernünftig-praktische Bezugsebene zur Beantwortung der letzten Fragen „ist ein Gott? ist ein künftiges Leben?“ (KrV, A 803/B 831) fruchtbar zu machen.

4. Das Kontingenzrisiko der Freiheit und seine religiöse Aufklärung Mit Recht ist der Abschnitt „Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft“ (KrV, A 804-819/B 832-847) als „Kernthema“ des Kanon-Hauptstückes der transzendentalen Methodenlehre bezeichnet worden. 57 In der Tat fallen hier die Vorentscheidungen für die spätere Ausgestaltung des Gesamtsystems. Die Themen der KpV, der KU, der Religions- und Geschichtsphilosophie sind – trotz gewisser Schwankungen bezüglich später explizierter Begründungszusammenhänge – bereits hier präsent. Der erste Absatz leitet mittels einer neuerlichen Problembeschreibung den Gedanken ein: „ob […] reine Vernunft im praktischen Gebrauche […] zu den Ideen führe, welche die höchsten Zwecke der reinen Vernunft […] erreichen?“ (KrV, A 804/B 832). Die Absätze zwei bis fünf (vgl. KrV, A 804-806/B 832-834) diskutieren vor dem Hintergrund des kritizistischen Ergebnisses der Transzendentalphilosophie die Reichweite der drei existentiellen Interessenssphären der Vernunft (Wissen: „was kann ich wissen?“; Handeln: „was soll ich tun?“, Hoffen: „was darf ich hoffen?“ [KrV, A 805/B 833]) zur Beantwortung der Ausgangsfrage. Im Erörterungszusammenhang der dritten Frage stellt Kant die heuristische These auf, nach der die existenziell-vernünftige, auf „Glückseligkeit“ gerichtete und sich zum Praktischen und Theoretischen strukturgleich verhaltende Haltung des „Hoffens“ die Methode der Problemlösung erkennen lässt, nach welcher „das Praktische […] als ein Leitfaden zur Beantwortung der 57

Vgl. Heidemann, Ingeborg, Das Ideal des höchsten Guts. Eine Interpretation des Zweiten Abschnittes im „Kanon der reinen Vernunft“, in: Heidemann, I./Ritzel, W. (Hg.), Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781*1981, Berlin/New York 1981, 233-305, hier 233.

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theoretischen, und, wenn diese hoch geht, spekulativen Frage führt“ (ebd.). Festzuhalten ist die Stufigkeit, die Kant hier vorgibt. 58 Der Gedankengang wird demnach, der Themenstellung der transzendentalen Methodenlehre gemäß, zurückbezogen auf die erkenntnistheoretische Fragestellung der KrV. Der Wechsel der Bezugsebene ist zunächst methodisch motiviert. Das Ziel besteht in der Formulierung der Systemeinheit, die „nicht blos den praktischen, sondern auch den höchsten Zweck des speculativen Gebrauchs der Vernunft“ (Prol, AA 4, 350) erfasst. Sein Argumentationsziel erreicht Kant durch eine Abfolge von drei aufeinander aufbauenden, zum Teil jeweils schon vorgreifenden, 59 in sich verästelten Gedanken, die am Glückseligkeitsbegriff orientiert sind. Im ersten Argumentationsschritt (vgl. KrV, A 806-809/B 834-837) wird der methodischen Vorgabe gemäß die das Handeln betreffende Frage beantwortet: „Tue das, wodurch du würdig wirst, glücklich zu sein“ (KrV, A 808f/B 836f). Für die leitende Fragestellung springt die Deduktion der Idee der moralischen Welt heraus. Angelpunkt der Argumentation ist der Begriff der Glückseligkeit. Er wird bestimmt als „Befriedigung aller unserer Neigungen“ (KrV, A 806/B 834) und gilt als allgemeinster Gegenstand bzw. letzter Zweck aller denkbaren Handlungsmaximen. Er hat gleichsam den Rang eines anthropologischen Universale. Ihm entsprechen pragmatische Klugheitsregeln, um die eudaimonia, die Zufriedenheit mit dem ganzen Zustand, zu erlangen. Unter der Bedingung der Geltung des Sittengesetzes, in der die Vernunft exklusiv den Willen bestimmt und von Zweck und Folgewirkungen der Handlungen abgesehen wird, reduziert sich die am Glückseligkeitsbegriff orientierte Beschreibung des Zwecks der Handlungen auf „die Würdigkeit, glücklich zu sein“ (KrV, A 806/B 834). Wird die Vernunft der Tatsache eingedenk, dass das Sittengesetz von endlichen Vernunftwesen realisiert wird, die ihre Tugendgesinnung mit kontingent-empirischen „Bedingungen (Zwecken)“ (KrV, A 808/B 836) anreichern bzw. ganz und gar „Hindernissen der Moralität“, nämlich der „Schwäche oder Unlauterkeit der menschlichen Natur“ (ebd.), ausgesetzt sind, muss die Möglichkeit seiner Geltung gedanklich sichergestellt werden. Die Vernunft entwirft daher einen intelligiblen Vollbegriff ihrer Realität als „eine besondere Art von systematischer Einheit“ (KrV, A 807/B 835), in dem die endlich-vernünftigen Handlungen in einer moralisch adäquaten Weise vorgestellt werden. Das ist die Idee einer moralischintelligiblen Welt, in der zugleich, als corpus mysticum, der antagonistische Pluralismus der Freiheitsbetätigung als gelöst gedacht wird. Das von 58

59

Vgl. die Unterscheidung von theoretischer, praktischer und theoretisch-spekulativer Erkenntnis in KrV, A 633ff/B 661ff. Vgl. den vorgreifenden Hinweis auf die Geschichtsphilosophie in KrV, A 807/B 835 und auf die die Natur betreffende Wirksamkeit des Absoluten in KrV, A 810/838.

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Kant bezüglich der ihn leitenden Frage vorgetragene Argument lautet also: Da die reine praktische Vernunft kategorisch gebietet, dass moralische Handlungen stattfinden sollen, so müssen sie auch geschehen können (vgl. KrV, A 807/B 835). 60 Im Begriff der moralischen Welt denkt die Vernunft die intersubjektive Geltung des Sittengesetzes. In diesem ersten Argumentationsschritt bleibt aber offen, wie sich der Begriff der moralischen Welt zu der im Sittengesetz vorgestellten Würdigkeit, glücklich zu sein, verhält. Daher begründet Kant im zweiten Schritt (vgl. KrV, A 809-812/B 837-840) die These, nach der „jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat“ (KrV, A 809/B 837). Der argumentative Fortschritt ergibt sich dadurch, dass Kant die empirischen Merkmale des Begriffs der Glückseligkeit, von denen er im ersten Argumentationsschritt abstrahiert hatte, einbezieht. Sie übernehmen eine Schlüsselfunktion. 61 Denn einerseits gilt Glückseligkeit als Zweck aller menschlichen Handlungen. „Glückseligkeit also […] macht allein das höchste Gut einer Welt aus“ (KrV, A 814/B 842). Andererseits konstituiert sich das Freiheitsbewusstsein durch Negation kontingenter Bestimmungsgründe des Willens, wozu auch die empirischen Merkmale von Glückseligkeit gehören. Diese Differenz zwischen Zweck- und Freiheitsbestimmung des Willens sprengt das System „der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit“ (KrV, A 809/B 837). Indem sich das vernunftbegründete Freiheitsbewusstsein über die Bedingungen seiner Realisierung aufklärt, erkennt es, dass der Freiheit die Proportion von Moralität und Glückseligkeit nicht zu Gebote steht. Vielmehr ist die Verwirklichung des Handlungszwecks zufällig. Das der guten Gesinnung grundsätzlich eigene Kontingenzrisiko ist also darin begründet, dass die Realisierung des Zwecks aller Handlungen außerhalb der Reichweite der vernünftigen Selbstbestimmung zu stehen kommt. Die Proportion von Tugendgesinnung und Glückseligkeit, die mit dem Begriff der sittlichen Welt verbunden ist, aber außerhalb der vernünftigen Bestimmungsgründe 60

61

Zur methodischen und modallogischen Rekonstruktion dieses Arguments und seiner Kritik vor dem Hintergrund des moralischen Gottes‚beweises’ in der Kritik der Urteilskraft vgl. Vossenkuhl, Wilhelm, Die Paradoxie in Kants Religionsschrift und die Ansprüche des moralischen Glaubens, in: Ricken, F./Marten, F., Kant über Religion, Stuttgart [u.a.] 1992, 168-180, hier: 172-174. Zur systematisch tragenden Funktion des Begriffs der Glückseligkeit bei Kant vgl. Jürgen Eckhardt, Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles. Glückseligkeit als höchstes Gut menschlichen Handelns, Würzburg 1984. Pleines arbeitet heraus, dass „das Glückseligkeitsprinzip nach Kantischer Auffassung nicht als Rechtfertigungsgrund vernünftigen Handelns angesehen werden könne“ (150), wohl aber „als bestimmendes Moment des Handelns unbedingt erhalten bleiben“ (ebd.) musste, so dass die „Vermittlung beider Momente“ (ebd.) der Vernunft und Tugend einerseits und der Begierde und Glückseligkeit andererseits eine „unabweisbare Aufgabe“ (ebd.) für Kant war.

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des Willens liegt, setzt die sich realisierende Freiheit einer grundsätzlichen Ungewissheit aus. Daher wird von Kant zur Sicherstellung jener Proportionierung eine „höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet“ (KrV, A 810/B 838) angenommen. Das eigentliche Argument, apagogisch eingeführt, lautet: „Ohne also einen Gott und eine für uns jetzt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimmt und notwendig ist, erfüllen“ (KrV, A 813/B 841). Der Gottesgedanke wird von Kant also als notwendiges Moment der Selbstaufklärung der praktischen Vernunft eingeführt. Er kommt an der Stelle zu stehen, wo die vernünftig-freiheitliche Selbstbestimmung der von ihr nicht überbrückbaren Differenz zu ihren eigenen Zwecken grundsätzlich eingedenk ist. Im Gottesgedanken wird die Realisierung der menschlicherseits nicht herzustellenden, aber notwendig anzunehmenden Proportion von Sittlichkeit und Glückseligkeit vorgestellt. Gott ist „die Idee einer solchen Intelligenz, in welcher der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, sofern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit glücklich zu sein) in genauem Verhältnis steht“ (KrV, A 810/B 838). In der Selbstaufklärung der Freiheit über ihr Kontingenzrisiko bekommt die transzendentale Vernunftidee des Absoluten Konstitutionsfunktion für die Realisierung der vernunftbegründeten Moralität unter natürlich-geschichtlichen Bedingungen. Da der hier in Anschlag gebrachte Gebrauch der Vernunft weder in den Bereich Erfahrung noch in den vernünftiger Selbstbestimmung des Willens fällt, erhält sein Gegenstand den verringerten epistemischen Status, den des „Hoffens“ bzw., wie der dritte Abschnitt des Kanon-Hauptstückes „Vom Meinen, Wissen und Glauben“ zeigen wird, den des reinen Vernunftglaubens. Im Rekurs auf das Absolute wird die notwendig anzunehmende, aber rational nicht disponible Realisierung der Proportion von Sittlichkeit und Glückseligkeit vorgestellt und, gemeinsam mit der Idee der Unsterblichkeit der Seele, zum Moment der moralisch-praktischen Selbstbeurteilung. 62

62

„Der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen, ebensowenig besorge ich, daß mir der zweite jemals entrissen werden könne“ (KrV, A 829/B 857). Die Gottesidee ist für Kant also ein notwendiges Moment der moralischen Selbstdeutung. Daher kommt es einer schuldogmatischen Überfrachtung gleich, wenn man wie Habichler, Alfred, Reich Gottes als Thema des Denkens bei Kant Entwicklungsgeschichtliche und systematische Studie zur kantischen Reich-Gottes-Idee, Mainz 1991 Kants Begriff des Reiches Gottes konsequent eschatologisch deutet.

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Mit dieser moralphilosophischen Begründung des Gottesgedankens ist im Kanonkapitel der systematische Ort des Religionsbegriffs im Denken Kants bestimmt. Religion wird also im Zusammenhang letzter Sinn- und Gewissheitsfragen thematisiert. 63 Die hier erfolgende Exposition der Gottesidee in der Funktion der Konstitution der Realisierbarkeit vernunftbegründeter Moralität ist systematisch gerahmt durch den in der Dialektik der Methodenlehre erfolgten Aufweis der regulativ-funktionalen Denknotwendigkeit und fehlerfreien Denkbarkeit des Höchsten Wesens (vgl. KrV, A 641/B 670). Im moralphilosophisch begründeten Gottesgedanken wird die empirische Kontingenz der praktisch-notwendigen Proportionierung von Moralität und Glückseligkeit bewältigt, sofern die Glückseligkeit als notwendiges Merkmal in die moralische Selbstbestimmung einbezogen wird. In einem, im nächsten Abschnitt darzustellenden, dritten Schritt führt Kant den Gedanken weiter aus, indem er die Dimension der Selbstaufklärung weiter entschränkt (vgl. KrV, A 812-816/B 840-845). Die Idee des Höchsten ursprünglichen Gutes wird „auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge“ (KrV, A 815/B 843, mH, AvS) übertragen.

5. Die naturteleologische Entschränkung des moralischen Vernunftglaubens „Glückseligkeit also, in dem genauen Ebenmaße mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch sie derselben würdig sind, macht allein das höchste Gut einer Welt aus, darin wir uns nach den Vorschriften der reinen aber praktischen Vernunft durchaus versetzen müssen, und welche freilich nur eine intelligible Welt ist, da die Sinnenwelt uns von der Natur der Dinge dergleichen systematische Einheit der Zwecke nicht verheißt, deren Realität auch auf nichts anderes gegründet werden kann, als auf die Voraussetzung eines höchsten ursprünglichen Guts, da selbständige Vernunft, mit aller Zulänglichkeit einer obersten Ursache ausgerüstet, nach der vollkommensten Zweckmäßigkeit die allgemeine, obgleich in der Sinnenwelt uns sehr verborgene Ordnung der Dinge gründet, erhält und vollführt“ (KrV, A 814/B 842).

Vergegenwärtigt sich das moralische Bewusstsein die Realisierungsbedingungen und -folgen seiner moralischen Selbstbestimmung, ergeben sich zwei disparate Deutungshinsichten: Nach der Seite seiner empirischen Welt- und Selbsterfahrung weiß sich das Subjekt als Bestandteil der Sinnenwelt. Der Natur der Dinge gemäß bringt es die Welt und sich selbst mittels der synthetischen Prinzipien a priori zur Erscheinung. Nach der 63

Vgl. Wimmer, Rainer, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York 1990 (KantSt.E 124) 1-16.

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Seite seiner vernunftbegründeten moralischen Existenz versetzt es sich in die intelligible moralische Welt. Bezüglich der Realisierung des zum Begriff der vernunftbegründeten Moralität notwendig gehörenden Ebenmaßes von Glückseligkeit und Sittlichkeit hofft es – aus Gründen der reinen praktischen Vernunft – auf die Existenz des Höchsten ursprünglichen Gutes. Dessen Funktion einer Herstellung jener Proportion verleiht der moralisch-praktischen Weltdeutung eine auf teleologische Einheit gerichtete Perspektive, die die bloße Naturbetrachtung ausgeschlossen hatte. Kants These lautet: Die Proportionierung von Moralität und Glückseligkeit kann nur „gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird“ (KrV, A 810/B 838, mH, AvS). Als Begründung wird angeführt: „Die Welt muß als aus einer Idee entsprungen vorgestellt werden, wenn sie mit demjenigen Vernunftgebrauch […], nämlich dem moralischen, […] zusammenstimmen soll“ (KrV, A 815f/B 843f). 64 Mit anderen Worten: Die Natur, die unter Anwendung des regulativen Gebrauchs der Vernunftideen mit dem Ziel der Vollständigkeit vor allem nach Maßgabe von Ursache und Wirkung erschlossen wird, darf im Verhältnis zur Vernunft im moralischen Gebrauch nicht als disparat vorstellig gemacht, sondern muss in irgendeiner Weise als mit ihr zusammenstimmend gedeutet werden. Dies ist wegen des als Objekt der praktischen Vernunft vorgestellten Begriffs der Glückseligkeit und der mit ihm verbundenen empirischen Züge notwendig. Denn, wie Kant in der KpV deutlicher ausführt: „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht, und beruht also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens“ (KpV, AA 5, 124, mH, AvS). Die aus der Position der Moralität in zwei ‚Reiche’ zerfallende Welt wird im Ideal des Höchsten Gutes wieder in eine – teleologische – Einheit gebracht, die als Bedingung der Möglichkeit der Realisierung des ‚vollen’ Objekts der praktischen Vernunft zu stehen kommt. Die Position vernunftbegründeter Moralität deutet daher – sofern sie ihrer

64

In der KpV hat Kant diese Gedanken ausführlicher in der Lehre vom Höchsten Gut im Rahmen des zweiten Hauptstückes der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“ und der „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ ausgeführt. Vgl. Barth, Ulrich, Kants Begriff eines Gegenstands der praktischen Vernunft und der systematische Ansatz der Religionsphilosophie, in: Schnelle, U. (Hg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/New York 1994, 267-302. Daneben entfaltet Kant dort die in KrV nur angedeutete Postulatenlehre und bestimmt den epistemischen Status der dem moralischen Bewusstsein inhärenten Überzeugung vom Dasein Gottes als „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz“ (KpV, AA 5, 122).

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Realisierungsbedingungen durchsichtig wird – Gott als Urheber der – teleologisch auf sie hingeordneten – Natur. 65 a. Die teleologische Beurteilung der Natur Aus der inneren Logik des sich über seine Realisierung aufklärenden moralischen Bewusstseins entspringt das Interesse an der Deutung von Natur und Welt unter der Perspektive der zweckmäßigen Einheit aller Dinge. Um dem Einwand eines unkritischen Überspringens der kritizistischen Einsichten zu begegnen, macht Kant daher für eine moralischteleologische Deutung der Natur die Bedingung geltend, dass „wir von der Kenntnis der Natur selbst keinen zweckmäßigen Gebrauch […] machen [können], wo die Natur nicht selbst zweckmäßige Einheit hingelegt hat; denn ohne diese hätten wir sogar selbst keine Vernunft, weil wir keine Schule für dieselbe haben würden, und keine Kultur durch Gegenstände, welche den Stoff zu solchen Begriffen darböten“ (KrV, A 816f/B 844f). Der „Gebrauch des teleologischen Princips […] [ist] jederzeit empirisch bedingt“ (ÜGTP, AA 8, 182). 66 Der ursprüngliche Ort der teleologischen Naturdeutung ist aber die theoretische Anschauung der Natur selbst, in der die Natur sich als teleologisch strukturiert zu erkennen gibt (vgl. KrV, A 816f/B 844f). 67 Das bis heute gültige Paradigma für die Teleologie ist der Organismus. Ein organisches Wesen ist „eine Materie […], in der Alles wechselseitig als Zweck und Mittel auf einander in Beziehung steht, und dies sogar nur als System von Endursachen gedacht werden kann, mithin die Möglichkeit desselben nur teleologische […] Erklärungsart wenigstens der menschlichen Vernunft übrig läßt“ (ÜGTP, AA 8, 179; 65

66

67

Wenn „wir aus dem Gesichtspunkte der sittlichen Einheit, als einem notwendigen Weltgesetze, die Ursache erwägen, die diesem allein den angemessenen Effekt, mithin auch für uns verbindende Kraft geben kann, so muß es ein einiger oberster Wille sein, der alle diese Gesetze in sich befaßt“ (KrV, A 815/B 843). Hansmann, Otto, Unterscheidung und Zusammenhang von äußerer und innerer Zweckmäßigkeit bei Kant, in: Pleines, J.-E. (Hg.), Zum teleologischen Argument in der Philosophie. Aristoteles  Kant  Hegel, Würzburg 1991, 78-112 vertritt die These, dass das in KU hervortretende Schwanken zwischen der Ableitung der Teleologie aus einer kritischen Handlungstheorie einerseits (vgl. 82f) und der inneren Organisation der Natur selbst andererseits (vgl. 79. 83) dazu führt, dass „die Vermittlungsaufgabe der ‚Kritik der Urteilskraft’ als letztendlich gescheitert beurteilt werden“ (83) muss, sofern man den erkenntniskritischen Restriktionen der Kritik der reinen Vernunft folgt. Dagegen wird hier die These vertreten, dass Kant die Anwendung der Teleologie methodisch kontrolliert, was unter anderem an der vorsichtigen, bloß stufenweise vorgenommen Entschränkung ihres Gebrauchs hervortritt. Vgl. Koch, Lutz: Kants Begründung einer kritischen Teleologie, in: Pleines, J.-E. (Hg.), Teleologie. Ein philosophisches Problem in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 1994, 113-131.

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vgl. 181). Dahinter steht die Einsicht, dass die Organisation eines Organismus nur nach den Gesichtspunkten der inneren Zweckmäßigkeit hinreichend erläutert werden kann. Die Betrachtung eines Organismus unter exklusiver Anwendung der Kategorie der Kausalität kann diesen als Gesamtheit nur als Zufall hinnehmen. 68 Der Gebrauch der Teleologie ist also ein zusätzliches und spezielles kategoriales Instrument für den grundsätzlichsten Fall von Kontingenzbewältigung, der Herstellung von Erfahrungsbewusstsein. Dem Nachweis der Möglichkeit, Notwendigkeit und Grenzen einer Naturdeutung, die nicht an die in der KrV in Anschlag gebrachten Prinzipien der Erfahrung gebunden ist, aus Gründen, die die Natur selbst bereitstellt, dient die KU. Kant weist darin nach, dass Ästhetik und Teleologie solche, durch ein hohes Maß an Allgemeingültigkeit ausgezeichnete Betrachtungsweisen sind, deren Legitimität, Reichweite und Grenzen er in den beiden ersten Teilen dieser Kritik erörtert. Die beiden diesbezüglich namhaft gemachten Vermögen sind bestimmende und reflektierende Urteilskraft. Sie ist „ein Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft“ (KU, AA 5, 177). Die teleologische Naturerkenntnis kommt in erkenntnistheoretischer Hinsicht unterhalb des kritizistischen Grundsatzes zu stehen, nach dem sich Wirklichkeitserkenntnis der spontan-konstruktiven Tätigkeit von Funktionen des erkennenden Geistes verdanken. Die naturkausale Analyse von mundanen Sachverhalten und deren Beurteilung nach teleologischen Gesichtspunkten sind, wie Kant in der Auflösung der Antinomie der teleologischen Urteilskraft zeigt, jeweils Maximen zur Erforschung der Natur in unterschiedlichen Hinsichten. Dabei bringt Kant wieder die Unterscheidung von Erscheinung und Ding-an-sich in Anschlag. Die „Maxime des Mechanismus […] gilt nur für Erscheinungen in Raum und Zeit. Die […] Maxime der Naturteleologie bezieht sich gedanklich durch den Begriff des Naturzwecks für Organismen zugleich auf deren übersinnlichen Grund“. 69 Die Betrachtung der Natur nach Zwecken hat daher einen geringeren epistemischen Status als Erkenntnis, die nach der Theorie der Zweistämmigkeit des Erfahrungsbewusstseins zustandekommt. Die teleologische Betrachtung der Natur ist „ein heuristisches Princip“ (KU, AA 5, 411) der reflektierenden Urteilskraft. Die hier getroffenen Aussagen haben 68

69

Vgl. Kants diesbezügliche Erwägungen am Beispiel der menschlichen Rassen in AA 8, 89106. 159-166. Dazu Koch, Lutz: Zufall und Besonderheit in der Teleologie, in: Pleines, J.E. (Hg.), Zum teleologischen Argument in der Philosophie. Aristoteles-Kant-Hegel, Würzburg 1991, 26-42. Düsing, Klaus, Naturteleologie und Metaphysik bei Kant und Hegel, in: Fulda, H.-F./ Horstmann, R.-P. (Hg.), Hegel und die „Kritik der Urteilskraft“, Stuttgart 1990, 139-157, hier: 144.

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den Charakter einer „Beurteilung“. 70 Das teleologische Prinzip „macht keine Existenz aussagen [sic], sondern es gibt ‚nur’ einen Leitfaden an die Hand, um die Natur durchgehend als zweckmäßig für das organische und speziell das menschliche Leben zu beurteilen“. 71 Als „ein bloß regulatives Prinzip“ 72 verstrickt sich die Urteilskraft in Widersprüche und Aporien, wenn sie sich in kosmologischen Reduktionen versucht. 73 Bei der teleologischen Naturdeutung handelt es sich um ein zwar subjektives, aber notwendiges, weil unverzichtbares Prinzip der Wirklichkeitsbetrachtung und beurteilung. Seine Apriorität legitimiert die Allgemeingültigkeit und Wissenschaftlichkeit der teleologischen Naturdeutung. 74 b. Die theologische Einheit von Naturkausalität und Naturteleologie Wie verhalten sich kausale und teleologische Betrachtung der Natur zueinander? Das Problem besteht darin, dass die kausale Naturdeutung kontingentes Anschauungsmannigfaltiges nach Gesetzen als empirisch notwendig deutet. Dies gelingt ihr nicht bezüglich organischer Natursachverhalte. Diese bleiben für die am Kausalitätsprinzip orientierte Naturerschließung zufällig und können nur durch die Urteilskraft nach teleologischen Gesichtspunkten als notwendig beurteilt werden. Um die Möglichkeit der Kompatibilität von Naturkausalität und Naturteleologie zu bestimmen, greift Kant erneut die transzendentale Unterscheidung von Erscheinung und Ding-an-sich auf. In einem ersten Schritt zieht Kant das epistemisch nicht zur Erscheinung zu bringende Ding an sich zu einem übersinnlichen Substrat zusammen. 75 In einem zweiten Schritt konstruiert er einen dieses übersinnliche Substrat der Natur erkennenden Verstand, 70 71 72 73

74 75

Koch, Kants Begründung einer kritischen Teleologie, (s. Anm. 67), 115. A.a.O. 121f. A.a.O. 122. So besteht der Mangel der Physikotheologie, die „aus den Zwecken der Natur (die nur empirisch erkannt werden können) auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften“ (KU, AA 5, 436) schließt, darin, dass sie – abgesehen davon, dass sie bloß zu einem unzureichenden Gottesbegriff gelangt, wie Kant in der KrV zeigt (vgl. KrV, A 627f/B 655f) – „den Zweck, wozu die Natur selbst existiert […] gar nicht […] in Anfrage bringen kann“ (KU, AA 5, 437). Mit anderen Worten: Der Physikotheologie gelingt es nicht, die Kontingenz der Natur (verstanden als Inbegriff der kausalen und teleologischen Vernetzungen der Welt) als Ganze auf die Intentionalität des von ihr unterschiedenen und tätigen Absoluten zu reduzieren. Eine Erklärung „von einem Endzwecke der Schöpfung“ (ebd.) kann sie nicht erzielen. Vgl. Koch, Kants Begründung einer kritischen Teleologie, (s. Anm. 67), 124-128. „Da es aber doch wenigstens möglich ist, die materielle Welt als bloße Erscheinung zu betrachten